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TAGE

ALTER MUSIK
IN HERNE

MODE UND STIL


VORLIEBEN UND WANDEL IM
MUSIKALISCHEN GESCHMACK
VOM MITTELALTER BIS ZUR
MODERNE

9. BIS 12. NOVEMBER 2023

Eine Veranstaltung mit der


VERANSTALTUNGSORTE

KULTURZENTRUM HERNE
Willi-Pohlmann-Platz 1
44623 Herne
\ U 35 »Archäologie-Museum/Kreuzkirche«

KREUZKIRCHE
Europaplatz 4
44623 Herne
\ U 35 »Archäologie-Museum/Kreuzkirche«

FLOTTMANN-HALLEN
Straße des Bohrhammers 5
44623 Herne
\ Bus 312 »Flottmann-Hallen«
\ U 35 »Hölkeskampring« oder »Berninghausstaße«. Von diesen Halte-
stellen aus erreichen Sie die Flottmann-Hallen nach ca. 10-minütigem
Fußweg über die Flottmannstraße oder die Straße des Bohrhammers.
\ Bus-Shuttle für das Nachtkonzert zwischen dem Kulturzentrum und
den Flottmann-Hallen

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TAGE
ALTER MUSIK
IN HERNE

MODE UND STIL


VORLIEBEN UND WANDEL
IM MUSIKALISCHEN GESCHMACK
VOM MITTELALTER BIS ZUR MODERNE

9. BIS 12. NOVEMBER 2023


INHALTSÜBERSICHT 5

8 GRUSSWORTE

10 EINFÜHRUNG

DO 9. NOVEMBER 2023

20.00 UHR / KREUZKIRCHE


13 FRÜHE INFLUENCERIN
Vokal- und Instrumentalmusik nach dem Geschmack der Isabella d’Este
ANONIMA FROTTOLISTI

FR 10. NOVEMBER 2023

15.00 UHR / KULTURZENTRUM (SAAL CRANGE)


21 WDR 3 TONART VOR ORT
Live-Musik und -Gespräche mit verschiedenen Mitwirkenden
der Tage Alter Musik in Herne
LISA RUHFUS / Moderation

16.00 UHR / KREUZKIRCHE


23 À LA FRANÇAISE
Sonaten, Canzonen, Ouvertüren und Suiten des 17. und 18. Jahrhunderts
in Italien, Frankreich und Deutschland
ENSEMBLE MASQUES
OLIVIER FORTIN / Leitung, Cembalo

20.00 UHR / KULTURZENTRUM


31 STURM UND DRANG
Orchesterwerke von Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Jannik Giger
ALINA IBRAGIMOVA / Violine
KAMMEROCHESTER BASEL
KRISTIAN BEZUIDENHOUT / Leitung, Hammerflügel
6

SA 11. NOVEMBER 2023

12.00 UHR / KULTURZENTRUM


39 STIL MODERNO
Werkstattkonzert der Stadt Herne
STUDIERENDE DES INSTITUTS FÜR ALTE MUSIK
DER HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND TANZ KÖLN
GERALD HAMBITZER / Leitung, Moderation

16.00 UHR / KREUZKIRCHE


41 PARODIEN
Populäre Gesänge im Spiegel der Kontrapunktkunst des 16. bis 19. Jahrhunderts
HUELGAS ENSEMBLE
PAUL VAN NEVEL / Leitung

19.00 UHR / KULTURZENTRUM


49 AMORE MIT AMOUR
ANTONIA BEMBO
L’Ercole amante (Paris 1707)
FLORIAN GÖTZ / Bariton
ANITA ROSATI / Sopran
DAVID TRICOU / Tenor
ALENA DANTCHEVA / Sopran
FLORE VAN MEERSSCHE / Sopran
ARNAUD GLUCK / Alt
ANDRÉS MONTILLA-ACURERO / Tenor
CARINE TINNEY / Sopran
HANS PORTEN / Bariton
IL GUSTO BAROCCO
JÖRG HALUBEK / Leitung, Cembalo

23.00 UHR / FLOTTMANN-HALLEN


61 GUILLAUME UND GILLES
Gesänge aus der Blütezeit Burgunds
ENSEMBLE LEONES
MARC LEWON / Leitung, Laute, Quinterne, Viola d’arco
INHALTSÜBERSICHT 7

SO 12. NOVEMBER 2023

11.00 UHR / KULTURZENTRUM


69 HERBST DER GAMBE
Johann Sebastian Bach im Dialog mit Carl Friedrich Abel und Georg Friedrich Händel
TEODORO BAÙ / Viola da gamba
ANDREA BUCCARELLA / Cembalo

16.00 UHR / KREUZKIRCHE


77 TANZ!
Barocke Ostinati und Tanzphänomene des 20. und 21. Jahrhunderts
FREIBURGER BAROCKCONSORT
ENSEMBLE RECHERCHE

19.00 UHR / KULTURZENTRUM


85 IMPERIALSTIL
ANTONIO CALDARA
Il Venceslao (Wien 1725)
MAX EMANUEL CENCIC / Countertenor
NICHOLAS TAMAGNA / Countertenor
DENNIS ORELLANA / Countertenor
SUZANNE JEROSME / Sopran
SONJA RUNJE / Mezzosopran
STEFAN SBONNIK / Tenor
PAVEL KUDINOV / Bass
{OH!} ORKIESTRA
MARTYNA PASTUSZKA / Leitung, Violine
8 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

IM BESTEN SINNE EUROPÄISCH


In dem jüngst in Kooperation mit dem WDR seinen Sendungen nicht nur als Kulturver-
erschienenen Handbuch Alte Musik heute mittler auftritt, sondern auch als Initiator
wird deutlich, dass die Alte-Musik-Szene und Veranstalter – hier in einer seit 1980
lebendig, innovativ und vor allem europä- währenden äußerst erfolgreichen Zusam-
isch ausgerichtet ist. In diesem Handbuch menarbeit mit der Stadt Herne.
wird auch das Jubiläum zum 25-jährigen Be-
stehen der Konzertreihe Forum Alte Musik Auf WDR 3 bilden die TAGE ALTER MUSIK
Köln gefeiert, an dem der WDR beteiligt ist. IN HERNE bis zum Jahresende einen Pro-
Noch viel länger bestehen freilich die TAGE grammschwerpunkt. Mit vier Live-Übertra-
ALTER MUSIK IN HERNE, die 2023 zum gungen und fünf zusätzlichen Konzertaben-
47. Mal stattfinden. den werden wir das Festivalthema »Mode
und Stil« musikalisch auf eine manchmal
Es ist der Anspruch der Programmmacher überraschende und hintergründige Weise
unseres Herner Festivals, jedes Jahr die Mo- ausdeuten.
dernität und den Zeitbezug dieses Musik-
genres unter Beweis zu stellen. Dafür stehen Als zusätzlicher Verbreitungsweg kommen
die Ensembles, die dieses Jahr ins Ruhrgebiet das digitale Angebot auf wdr3.de und die
kommen und fast alle ihr Herne-Debüt ge- Übernahme durch internationale Rund-
ben: Anonima Frottolisti aus Assisi, Il Gusto funkanstalten der European Broadcasting
Barocco aus Stuttgart, Ensemble Leones Union (EBU) dazu, in die wir unsere Mit-
aus Basel u. a. schnitte einbringen. Denn – siehe oben –
Eine Besonderheit in diesem Jahr: Wir dürfen das Interesse an den TAGEN ALTER MUSIK
gespannt sein, wie sich Alte Musik und Avant- IN HERNE geht längst über Deutschland hin-
garde die Hände reichen in dem gemeinsa- aus und ist im besten Sinne europäisch.
men Auftritt des Freiburger BarockConsorts
mit dem ensemble recherche.

Offenheit, was die Genres, die Herkunft


und die Stilistik anbelangt, prägen auch die
künstlerischen Beiträge des Kulturradios MATTHIAS KREMIN
WDR 3, immer mit einem Fokus auf Nord- Programmchef WDR 3 & WDR 5
rhein-Westfalen. Ein Programm, das in
GRUSSWORTE 9

LIEBE GÄSTE,
ich begrüße Sie ganz herzlich zu den TAGEN Werke von Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus
ALTER MUSIK IN HERNE 2023. Mozart und Jannik Giger näher.
Dieses Jahr steht das renommierte Musik- Ob alte Vokalpolyphonie, Gesänge aus der
festival unter dem Motto »Mode und Stil«. Blütezeit Burgunds oder barocke Ostinati –
Künstler:innen aus ganz Europa präsentieren charakteristische Melodien und Kompositi-
uns Vorlieben und Wandel im musikalischen onen prägen die stilistische Bandbreite gan-
Geschmack vom Mittelalter bis zur Moder- zer Epochen. Auf die Darbietungen stilisti-
ne. Dass nahezu alle Ensembles dieses Jahr scher Besonderheiten dürfen wir daher
ihr Debüt bei den TAGEN ALTER MUSIK gespannt sein. Mein besonderer Dank gilt
IN HERNE geben, freut mich besonders. traditionsgemäß Herrn Dr. Richard Lorber,
dem Künstlerischen Leiter der TAGE ALTER
Mode und Stil sind zwei Begriffe, die beide MUSIK IN HERNE, und seinem Team. Wie
mit dem Faktor ›Zeit‹ in Verbindung stehen: in den vergangenen Jahren ist es uns
Reflektiert Mode eine kurzlebige Gegen- eine große Freude, Gastgeber dieser be-
wart, assoziieren wir mit Stil eine längerfris- deutenden Veranstaltung sein zu können.
tige, einheitlichere Äußerung des Zeitgeis-
tes, eine Epoche oder Ära mit bestimmten Mein Dank richtet sich auch an alle Besu-
charakteristischen Merkmalen. cher:innen, an die Künstler:innen und die
Ich freue mich sehr, dass sich die TAGE ALTER vielen Menschen, die mit ihrem Engagement
MUSIK mit diesem spannenden Thema aus- diese Veranstaltung so erfolgreich machen.
einandersetzen und dabei Vorlieben, Trends Allen Gästen wünsche ich viel Vergnügen
und stilprägende Phänomene im Laufe der bei den Veranstaltungen. Die wunderbaren
Zeit mit einem exzellenten Programm be- Konzerte werden uns einmal mehr verdeut-
leuchten. So können wir uns unter anderem lichen, dass bestimmte charakteristische
auf das Ensemble Anonima Frottolisti aus As- Kompositionen nicht nur einer Mode zuzu-
sisi freuen, das zum Auftakt ein facettenrei- schreiben sind, sondern stilprägend für gan-
ches Porträt der Isabella dʼEste aus der Zeit ze Nationen waren.
des Humanismus darbietet. Den französi-
schen Stil des 17. und 18. Jahrhunderts, der Ihr
sich in ganz Europa niederschlug, präsentiert
uns das international besetzte Ensemble
Masques um den Cembalisten Olivier Fortin.
Die musikalischen Besonderheiten der ›Sturm DR. FRANK DUDDA
und Drang‹-Zeit bringen uns hingegen die Oberbürgermeister der Stadt Herne
10 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

MODE UND STIL


Mode ist nach Immanuel Kant eine Sache der wollte sich bald sein eigenes Versailles schaf-
Eitelkeit und des Wetteifers, einander zu fen. Um in der Musik »französisch« zu wir-
übertreffen. Aber erst, wenn Geist und Ge- ken, reichte es aber schon, die kunstvollen
schmack dazu kommen, wird aus der »verän- französischen Tanzsätze und die dazu pas-
derlichen Lebensweise« der Mode etwas sende Verzierungskunst zu adaptieren (En-
Beständiges, ein Produkt, das der Philosoph semble Masques am 10.11.).
als Poesie (als ein Werk der schönen Kunst) Französische Stildominanz hielt die Kompo-
bezeichnet. An solchen Übergängen vom nistin Antonia Bembo, die in der Gunst von
eine Zeit lang Beliebten hin zu Stilen, die die Ludwig XIV. stand und einst Schülerin von
künstlerische Eigenart ganzer Nationen prä- Cavalli gewesen war, nicht davon ab, fast ein
gen können, sind wir in diesem Jahr bei den halbes Jahrhundert später dasselbe Libretto
TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE interessiert. über den »verliebten Herkules« für Paris
noch einmal zu vertonen, jetzt mit einer ge-
Manchmal waren es einzelne Personen mit schickten Vermischung französischer und
ihren Vorlieben, die solche kulturellen Bewe- italienischer Stilelemente (Il Gusto Barocco
gungen in Gang setzten, etwa Isabella d’Este am 11.11.).
in Mantua im frühen 16. Jahrhundert. Heute
würde man sie als »Influencerin« bezeichnen. Was und wie getanzt wird, unterliegt den Mo-
Die bedeutende Mäzenin, die selbst Sängerin den, heute wie im Barockzeitalter. Manchmal
war und verschiedene Instrumente spielte, gibt es aber eine Art Revival. Da zeigen alte
dokumentierte ihren Geschmack in rund Tänze über ostinate Bässe wie die Folia sich
12.000 Briefen und konnte so Trends auch in plötzlich einem Techno-Rave verwandt oder
der Musik und den bildenden Künsten setzen der Salsa dem Contredanse französisch-eng-
(Anonima Frottolisti am 9.11.). lischer Provenienz (Freiburger BarockConsort
und ensemble recherche am 12.11.).
Francesco Cavalli, dessen Opern in Venedig
groß in Mode standen, schrieb mit L’Ercole Die Chanson L’homme armé, die von einem
amante eine Hochzeitsoper für den französi- furchterregenden waffenstarrenden Mann
schen König Ludwig XIV., die allerdings erst berichtet, in dem man im 15. Jahrhundert
zwei Jahre später aufgeführt wurde und durch- Karl den Kühnen von Burgund zu erkennen
fiel, weil Italienisches in Paris inzwischen nicht glaubte, war das Grundelement – der Cantus
mehr goutiert wurde. Mehr und mehr ent- firmus – vieler sogenannter Parodiemessen.
wickelte sich in Frankreich nämlich eine Art Die früheste stammt von Guillaume Dufay,
staatlich protegierter Kunstgeschmack, der der dem Herzog eng verbunden war. Aber
grenzüberschreitend stilprägend wurde. noch bis in unsere Zeit war diese charakte-
Jeder Fürst in Europa, der etwas auf sich hielt, ristische Melodie Gegenstand kompositori-
EINFÜHRUNG 11

scher Beschäftigung, weniger aufgrund poli- Hofburg. Dabei war die Selbstdarstellung
tisch-geschichtlicher Assoziationen als we- und Selbstvergewisserung der Herrscher
gen ihrer Tauglichkeit für musikalische Bear- nicht auf die Architektur beschränkt, son-
beitungen, ebenso wie die beliebte Sechs- dern fand beispielsweise auch in der Musik
tonfolge »Ut – re – mi – fa – sol – la« (Huel- statt. Während in Frankreich aber alles
gas Ensemble am 11.11.). Fremdländische zur Seite gedrängt wurde,
Dufay war überhaupt ein Komponist, des- machten in Wien viele Italiener Karriere,
sen Erfindungsreichtum in allen musikali- wie der Komponist Antonio Caldara und
schen Gattungen unerschöpflich war. Er und der Dichter Apostolo Zeno. Sie lieferten
Gilles Binchois gehörten zu den stilbildenden 1725 zum Namenstag von Kaiser Karl VI.
Musikern des 15. Jahrhunderts, und viele ih- mit der Oper Il Venceslao ein Musterbei-
rer Chansons regten wiederum die Zeitge- spiel für den prunkvollen »imperialen«
nossen und Nachfolger zu Bearbeitungen an Hofopernstil ({oh!} Orkiestra am 12.11.).
(Ensemble Leones am 11.11.).
Im Programm der TAGE ALTER MUSIK IN
Künstlerische Vorlieben und Eigenarten kön- HERNE geht es also um stilprägende Phäno-
nen in die Zukunft weisen, wirken manchmal mene in einem umfassenden Sinn. Kurioser-
aber auch wie ein nostalgischer Abschluss, weise finden sich in heutigen Modemagazi-
so wie bei Carl Friedrich Abel, dem letzten nen immer wieder Tipps zur Stilbildung, die
großen Interpreten auf der Gambe. Jenem im man augenzwinkernd auch über das Pro-
18. Jahrhundert aus der Mode kommenden gramm der TAGE ALTER MUSIK IN HERNE
Instrument hatte Johann Sebastian Bach mit legen könnte. Sie reichen von »Beschäftige
seinen Gambensonaten ein spätes Denkmal dich mit dem, was dir gefällt« bis zu »Sortiere
gesetzt. Abel, ein Schüler von Bach, schrieb regelmäßig aus«. Eigentlich eine schöne
auch noch für die Gambe, galt aber kompo- Beschreibung des Spannungsverhältnisses
sitorisch als Avantgardist (Teodoro Baù und zwischen Mode und Stil.
Andrea Buccarella am 12.11.).
Nach Herne kommen in diesem Jahr wieder
Über Mozart heißt es manchmal, er sei unbe- Ensembles aus ganz Europa, die fast alle ihr
stritten ein musikalisches Genie gewesen, Debüt bei unserem Festival geben. Im Kul-
aber kein eigentlicher musikalischer Innova- turradio WDR 3 werden sie in den vier Live-
tor wie Haydn und Beethoven, sondern ein Übertragungen und den sich bis in den De-
einzigartiger Vollender, ob in der Oper oder zember anschließenden Konzertsendungen
in der sinfonischen Musik. Das trifft mit ein überregionales, später in den Übernah-
Sicherheit auf sein Klavierkonzert Es-Dur men durch die European Broadcasting Union
KV 271 und sein letztes Violinkonzert A-Dur ein internationales Publikum finden.
KV 219 zu. Hier führt er den musikalischen
»Sturm und Drang« zu klassischer Perfektion
(Kammerorchester Basel am 10.11.).

Ihre Macht und Größe präsentierten die DR. RICHARD LORBER


Bourbonen sinnbildlich mit dem Schloss von Künstlerische Leitung
Versailles, die Habsburger mit der Wiener WDR 3
13

DO 9. NOVEMBER 2023 / 20.00 UHR


KREUZKIRCHE

FRÜHE INFLUENCERIN
VOKAL- UND INSTRUMENTALMUSIK NACH DEM GESCHMACK DER ISABELLA D’ESTE

HUMANISMUS ANONYMUS
QUANDO LO POMO VIEN DA LO POMARO
Frottola zu 3 Stimmen
FRANCISCUS BOSSINENSIS (UM 1500)
aus dem Apografo Miscellaneo Marciano
IL BUON NOCHIER
(Manuskript Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana)
Madrigal für Sopran und Begleitstimmen
aus: Ottaviano Petrucci, Tenori e contrabassi GIOVANNI AMBROGIO DALZA
intabulati col sopran in canto figurato per cantar (UM 1500)
e sonar col lauto Libro II (Fossombrone 1511) MARCHESANA
für Laute, aus: Manuskript Paris, Bibliothèque
JOSQUIN DESPREZ (UM 1455 – 1521) nationale de France
UNE MOUSQUE DE BISCAYE
Chanson zu 4 Stimmen MARCO CARA
aus dem Canzoniere di Isabella d’Este (UM 1465 – UM 1525)
(Manuskript Rom, Biblioteca Casanatense) SE GRAN FESTA ME MOSTRASTI
Frottola zu 4 Stimmen
JOHANNES LULINUS (UM 1500) aus dem Basevi-Codex (Manuskript Florenz,
SURGE DALL’ORIZZONTE IL BIONDO APPOLLO Conservatorio di Musica Luigi Cherubini)
Frottola zu 4 Stimmen
aus: Ottaviano Petrucci, Frottole Libro XI DOMENICO DA PIACENZA
(Fossombrone 1514) (UM 1420 – UM 1475)
ROSTIBOLI
ANTONIO CAPRIOLI Ballo, aus: De Arte Saltandi et Choreas Ducendi
(UM 1470 – NACH 1514) (Manuskript Paris, Bibliothèque nationale)
SOTTO UN VERDE E ALTO CIPRESSO
Frottola zu 4 Stimmen ERFOLG
aus: Ottaviano Petrucci, Frottole Libro VIII
(Venedig 1507) JOSQUIN DESPREZ
NACH ANTOINE BUSNOYS
MODE (UM 1435 – 1492)
FORTUNA DESPERATA / POI CHE T’EBI NEL CORE
LOYSET COMPÈRE (UM 1440 – 1518) Chanson zu 3 Stimmen
ODER BONNEL PIETREQUIN aus: Manuskript Segovia, Archivo Capitular de la
(SPÄTES 15. JAHRHUNDERT) Catedral
MAIS QUE CE FUST SECRETEMENT
Chanson zu 3 Stimmen
aus dem Canzoniere di Isabella d’Este
14 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

DOMENICO DA PIACENZA PHILOSOPHIE


LA GILOXIA
Ballo, aus: De Arte Saltandi et Choreas Ducendi MARCO CARA
FORSI CHE SÌ FORSI CHE NO
ANONYMUS Frottola zu 4 Stimmen
POI CHEL CIEL E LA FORTUNA aus: Ottaviano Petrucci, Frottole Libro III
Frottola zu 4 Stimmen (Venedig 1504)
aus: Ottaviano Petrucci, Frottole Libro XI
(Fossombrone 1514) GIOVANNI AMBROGIO DALZA
PIVA, aus: Ottaviano Petrucci, Intabulatura de Lauto
MUSIK Libro IV (Venedig 1508)

BARTOLOMEO TROMBONCINO MARCO CARA


(UM 1470 – NACH 1535) NON È TEMPO D’ASPECTARE
SE MI DUOL ESSER GABATO Frottola zu 4 Stimmen
Frottola zu 4 Stimmen aus: Ottaviano Petrucci, Frottole Libro I
aus: Andrea Antico, Canzoni nove con alcune scelte (Venedig 1504)
de varii libri di canto (Rom 1510)

LASSA, DONNA, I DOLCI SGUARDI


Frottola zu 4 Stimmen ANONIMA FROTTOLISTI
aus: Ottaviano Petrucci, Frottole Libro VI Miriam Trevisan / Gesang
(Venedig 1505) Luca Piccioni / Laute, Gesang
Emiliano Finucci / Viola da braccio, Gesang
JOHANNES MARTINI (UM 1440 – 1497) Simone Marcelli / Clavicytherium, Gesang
[OHNE TEXT] Massimiliano Dragoni / Dulcimelo, Perkussion
Satz zu 3 Stimmen Kateřina Ghannudi / Harfe, Gesang
aus dem Codex Banco Rari (Manuskript Florenz, Jacob Mariani / Laute, Viola ad arco
Biblioteca Nazionale Centrale) Andrea Angeloni, Luigi Germini / Zugtrompete,
Posaune
MARCO CARA Alessio Nalli / Pommer, Sackpfeife, Flöte
CHI ME DARÀ PIÙ PACE Ludovico Mosena / Flöte, Schalmei, Pommer,
Frottola zu 3 Stimmen Drehleier
aus: Ottaviano Petrucci, Frottole Libro I
(Venedig 1504)
Konzert ohne Pause
GS-
GESAN M
ZU
TEXTE AD:
L O
D OW N E
W D .D
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SENDUNG
MO 13. NOVEMBER 2023, 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
FRÜHE INFLUENCERIN / DO 9. NOVEMBER 2023 15

NACH ISABELLAS LEBENSART


Die Bewegung des Humanismus und die lich hatte sie vor vielen anderen ihrer Zeit
Hofgesellschaft, in der er sich zwischen dem erkannt, dass sich Macht nicht allein mit
15. und dem 16. Jahrhundert etablierte, ha- Waffengewalt, sondern auch mit Intelligenz,
ben auch die folgenden Epochen geprägt Redekunst und Kultur in all ihren unter-
mit ihrem einzigartigen kulturellen Erbe, das schiedlichsten Facetten demonstrieren lässt
so reich an Studien und Erkenntnissen zur und letztlich ein tödlicheres Instrument sein
Antike war. Wir können dieses Erbe heute kann als ein Schwert.
noch betrachten und erforschen. Die Kultur
dieser Zeit erzählt in den darstellenden Als weltgewandte Frau war sich Isabella
Künsten, in der Musik und im Theater von bewusst, dass kulturelle Integration einen
einer Erwartungshaltung, der Sehnsucht unermesslichen Reichtum darstellt. Und
nach einer Welt fern dem Alltag und von dass die Möglichkeit, Dinge, die es in ihrem
einem Kosmos, dessen Grundlage die Höfe italienischen Umfeld sonst nicht gab, zu
als Veranstalter wie als Publikum bildeten. besitzen und mit eigenen Händen zu berüh-
ren, den Verstand für neue Lösungen, neue
Eine der interessantesten Mäzeninnen Geschäfte und neue Kontakte öffnete.
damals war sicherlich Isabella d’Este Dies galt für Besitz sowohl materieller Art
(1474 – 1539), eine kunst- und modebegeis- (Kunstgegenstände, Kleidungsstücke, Juwe-
terte Frau, dazu ebenso erfahren in interna- len, Bücher usw.) als auch immaterieller Na-
tionaler Politik wie in der Verwaltung ihres tur, wie etwa die Musik. All dies erforderte
eigenen Hofes. Unser Konzertprogramm ist natürlich Investitionen. Nicht nur in Form
eine Reise in und durch die Zeit, die Mode, von Geld, über das der Hof der Gonzaga
die Musik und die Philosophie dieser Mark- verfügte wie andere Höfe auch. Sondern vor
gräfin von Mantua, mit Musik, die an ihrem allem bedurfte es eines beträchtlichen zeit-
Hof komponiert und gespielt wurde. lichen Aufwands zur Kontaktpflege – der
Aufrechterhaltung von teilweise weit ent-
ALLA MANTOVANA fernten Beziehungen, dem Knüpfen von
neuen Freundschaften. Hierbei war Isabel-
Es wäre sicher keine Übertreibung, den las bevorzugtes Instrument, sofern sie nicht
Begriff »alla Mantovana« mit »auf Isabellas persönlich anwesend sein konnte, ein um-
Art« zu übersetzen. Isabella hatte als Mark- fangreicher Briefverkehr. Die Korrespondenz
gräfin von Mantua nämlich das gesamte an und von Isabella d’Este besteht aus über
Umfeld ihres Hofes so umfassend geprägt, 15.000 Schreiben und bildet eine ungeheuer
dass dieser schlichtweg zur Projektionsflä- wichtige Quelle – nicht nur, um die Welt Isa-
che ihrer Persönlichkeit, ihres Geschmacks, bellas überhaupt zu begreifen, sondern auch,
ihrer ganzen Lebensart wurde. um sich einen Einblick in das gesamte politi-
Heute würden wir Isabella als eine geradezu sche und kulturelle Panorama der europäi-
fanatische Sammlerin bezeichnen. Tatsäch- schen Renaissance zu verschaffen.
16 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

AUFFÜHRUNGSPRAXIS IN DER EPOCHE Zur musikalischen Entourage Isabellas am


DES HUMANISMUS Hof von Mantua gehörte auch der berühm-
te Serafino Aquilano. Ein Sänger, Dichter
Da Isabella eine begeisterte Musikliebhabe- und Lautenist, von dem Isabella offenbar ei-
rin und auch selbst ausübende Musikerin ne »umfangreiche Abschrift seiner Stram-
war, ist es kaum verwunderlich, dass ein botti« [kurze Volksgedichte] besaß, wie ihr
beträchtlicher Teil ihrer Korrespondenz Bruder Ferrante in einem Brief an seine
reichhaltige Informationen zur musikali- Schwester formulierte, als er sich einige da-
schen Aufführungspraxis in der Zeit des von erbat. Serafino wird auch in der be-
Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert rühmten Korrespondenz zwischen Isabella
liefert. Anders als bei Bildern, deren sym- und Lorenzo da Pavia oft erwähnt. Dieser
bolische Bedeutung bisweilen zweifelhaft Lorenzo Gusnasco, wie er eigentlich hieß,
sein kann, sind Auskünfte zu Aufführungs- war Isabellas Lieblings-Lautenbauer. Aber
ästhetik, zum Instrumentenbau, zu Instru- seine Rolle ging weit über die bloße Kon-
mentalbesetzung oder zum aufgeführten struktion von Instrumenten wie Lauten, Cla-
Repertoire umso wertvoller, wenn sie etwa vichorden oder Orgeln hinaus. Oft fungierte
aus einem Briefdokument stammen, sei es Lorenzo nämlich als Mittelsmann zwischen
offizieller oder privater Natur. ihr und Giovanni Bellini, Pietro Perugino
und Leonardo da Vinci. Oder er gab ihr
Die musikalische Ausbildung der jungen Isa- Nachrichten aus seiner Werkstatt in Vene-
bella begann in Ferrara im Haus ihres Vaters dig weiter, die sie interessieren mochten.
Ercole, der Johannes Martini für sie enga- Lorenzo konstruierte, aber beschaffte auch
gierte. Sogar nach ihrer Übersiedlung nach unermesslich viele Kunstgegenstände für
Mantua mochte Isabella nicht lange auf ihn die Markgräfin, dank seines Bruders Giovan-
verzichten, wie ein Brief vom 30. August 1490 ni Giacomo, der Seehandel betrieb: Rosen-
belegt: »Mein hochverehrter Herr Vater. Ich kränze aus Elfenbein oder Schildblatt, Käst-
wünsche meinen Gesang weiter auszubilden, chen aus Ebenholz, Zeichenfedern aus Hai-
und weil ich hier keinen Menschen bei mir fischzahn, Spiegel, Manikür-Sets, Schach-
habe, der mich so zufriedenstellt wie Johann spiele, Kristallblumen, Straußenfedern,
Martino, der mir Kammermusik und andere Wollhüte aus Flandern … bis hin zu Soria-
Sachen beibrachte, bitte ich Eure Exzellenz, no-Katzen. Exotische Materialien gefielen
ihn mir für fünfzehn oder zwanzig Tage aus- Isabella so sehr, dass sie sogar anordnete,
zuleihen zu geruhen. Nichts könnte mir grö- diese für den Bau von Musikinstrumenten
ßere Freude bereiten.« Ercole d’Este sollte zu verwenden, wie etwa Lauten aus Eben-
seiner Tochter die Hilfe des Flamen gewäh- holz und Elfenbein.
ren. Und schon zwei Monate später wendete
sich Isabella erneut an ihn mit einer Bitte, die MUSIKALISCH GEBILDET VON
sich diesmal um ein »Buch mit Canzonen« KINDESBEINEN AN
dreht. Neben der Musikausbildung kümmer-
te sich Martini auch als einzigartiger ›Talent- Seit ihrer Kindheit in Ferrara hat die Mark-
Scout‹ Isabellas um die Verbesserung der gräfin Laute, Clavichord und Viola da gamba
Mantuaner Hofkapelle, indem er ihr immer gespielt, wie unterschiedliche Zeugnisse
wieder Musiker empfahl. belegen. Darunter ist ein Brief an Anna
FRÜHE INFLUENCERIN / DO 9. NOVEMBER 2023

d’Alençon di Monferrato vom 24. November Zeremonien oder bei privateren Veranstal-
1517, in dem Isabella ihr den Lautenisten tungen zum Tanz aufspielte.
Giovanni Angelo Testagrossa wärmstens als
Lehrer empfiehlt: »Ich habe gehört, dass der Bei einem derart einzigartigen musikalischen
hochverehrte Herr Markgraf einen Lautenis- Ambiente versteht es sich von selbst, warum
ten namens Giovanni Angelo Testagrossa aus der Terminus »alla Mantovana« sowohl auf
seinen Diensten entlassen hat. Ich erinnere die Art und Weise des Musizierens als auch
Eure Hoheit daran, dass es gut wäre, wenn auf einen ganz speziellen, deutlich differen-
Ihr unser Hochverehrtes gemeinsames zierten Stil angewendet wurde, der das ge-
Töchterchen von ihm unterrichten ließet. samte europäische Musikpanorama der
Denn er hat eine sanfte Hand und eine aus- Renaissance beeinflusst hat.
gezeichnete Art zu unterrichten, war doch »Ich lobe die Tatsache, dass Ihr Euch ent-
auch ich seine Schülerin, selbst wenn ich schieden habt, sie die Laute erlernen zu las-
ihm wenig Ehre gemacht habe, aber das lag sen, denn es ist eine sehr lohnenswerte Fä-
nicht an ihm.« Die damals 9-jährige Maria higkeit für eine Frau in unseren Zeiten.« –
Paleologa, eine Tochter Annas, war da gera- In diesem Satz, den Isabella am 11. Dezem-
de zur zukünftigen Ehefrau von Isabellas ber 1517 an Anna d’Alençon di Monferrato
17-jährigem Sohn Federico Gonzaga be- wieder mit Blick auf deren Tochter schrieb,
stimmt worden. spiegelt sich ihre ganze Politik, ihr ganzer
modus operandi, letztlich ihre Lebensmaxi-
VIELLEICHT JA, VIELLEICHT NEIN me: »alla Isabella d’Este« oder eben: »alla
Mantovana«.
Ein Lautenist und erprobter Hofmusiker war
auch Marco Cara, einer der wohl produk-
tivsten Komponisten von Frottole. Diese MASSIMILIANO DRAGONI
eingängige musikalische Gattung war so ty- Übersetzung: Sabine Radermacher
pisch für den Hof von Mantua, dass Isabella
den Text aus Caras Frottola Forse che sì, for-
se che no in einen Plafond des Palazzo Duca-
le eingravieren ließ.
Neben Cara gehörte Bartolomeo Trombon-
cino zu den kreativsten Schöpfern im Frot-
tola-Genre. Er war am Hof von Mantua so
geschätzt, dass er nach dem Mord an seiner
Ehefrau Antonia und deren Geliebten, die in
flagranti entdeckt worden waren, sogar be-
gnadigt wurde. Wie sein Nachname schon
vermuten lässt, war Tromboncino Posaunist
und leitete wahrscheinlich die berühmte Al-
ta Cappella des Hofes von Mantua, die sich
aus Blasinstrumenten zusammensetzte und
bei festlichsten Anlässen wie öffentlichen
18 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ANONIMA FROTTOLISTI

Das Ensemble ANONIMA FROTTOLISTI


entstand 2008 in Assisi aus der Begegnung
von Musikern, die bereits international Er-
fahrungen mit musikalischen Forschungen
und Aufführungen gesammelt hatten. Ziel
des Ensembles ist die Auseinandersetzung
mit dem Repertoire des europäischen Hu-
manismus. Die Forschung und Praxis des
Ensembles basiert auf der Verwendung und
Analyse von Originalpartituren, im Bewusst-
sein des Wertes der Schriften und der Theo-
rie dieser Epoche. Die Ästhetik des Ensemb-
les wird ständig von allem beeinflusst, was
als lebendiger Beweis für die Kultur früherer
Zeiten gelten kann, von der mündlich über-
lieferten Musik bis zur Gelehrtenkunst. Die
Forschung von Anonima Frottolisti zielt dar-
auf ab, zu bewerten, wie diese beiden Wel-
ten sich ständig gegenseitig bereichern. Das
Ensemble ist bei zahlreichen Konzertreihen
und Festivals zu Gast, sowohl in Italien als
auch in Schweden, Slowenien, Bosnien,
Frankreich, der Schweiz und Kroatien. Mit
dem heutigen Konzert gibt das Ensemble
sein Deutschland-Debüt.
FRÜHE INFLUENCERIN / DO 9. NOVEMBER 2023
21

FR 10. NOVEMBER 2023 / 15.00 – 17.45 UHR


KULTURZENTRUM (FOYER / SAAL CRANGE)

WDR 3 TONART VOR ORT


LIVE-MUSIK UND -GESPRÄCHE
MIT VERSCHIEDENEN MITWIRKENDEN DER TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

LISA RUHFUS / Moderation

Die WDR 3 Tonart sendet einen Nachmittag live von den TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE.
Tauchen Sie mit Moderatorin Lisa Ruhfus und vielen Gästen ein in einzigartige Klangwelten!
Es erwarten Sie spannende Live-Auftritte, Einblicke in die Spiel- und Gesangstechniken
verschiedener Musikrichtungen und ein neuer, musikalischer Blick auf die Stadt Herne.

Als Live-Publikum sind Sie mittendrin. Stellen Sie Fragen, teilen Sie Ihre Eindrücke oder
genießen Sie einfach die besondere Atmosphäre. Erleben Sie WDR 3 Tonart an diesem
Nachmittag live vor Ort in Herne oder im Radio – direkt aus dem Saal Crange im Foyer
des Kulturzentrums!

SENDUNG
LIVE
WDR 3 TONART
23

FR 10. NOVEMBER 2023 / 16.00 UHR


KREUZKIRCHE

À LA FRANÇAISE
SONATEN, CANZONEN, OUVERTÜREN UND SUITEN
IN ITALIEN, FRANKREICH UND DEUTSCHLAND

SALAMONE ROSSI (1570 – 1730)


SONATA QUARTA SOPRA L’ARIA DI RUGGIERO
für 2 Violinen und Basso continuo
aus: Il terzo libro de varie sonate, sinfonie, gagliarde, brandi e corrente, op. 12 (Venedig ²1623)

JEAN-BAPTISTE LULLY (1632 – 1687)


XERXÈS
Sechs Entrées zur Oper Serse von Francesco Cavalli (Paris 1660)
für 2 Oboen, Streicher und Basso continuo
Ouverture – Bourrée pour les Basques – Air pour les Paysans et les Paysanes –
2ème air pour les postures de Scaramouche – Gigue pour Bacchus – Gavotte en rondeau

GIOVANNI MARIA TRABACI (1575 – 1647)


CANZONA FRANCESA CROMATICA
für 4 Stimmen
aus: Ricercate, Libro 1 (Venedig 1603)

JEAN-PHILIPPE RAMEAU (1683 – 1764)


SUITE AUS DEM OPÉRA-BALLET »LES INDES GALANTES« (Paris 1735)
für 2 Oboen, Streicher und Basso continuo
Ouverture – Entrée des Quatre Nations – Air Polonois – Premier et second menuets –
Air pour les esclaves – Rigaudons 1 & 2 – Air pour les sauvages

GEORG MUFFAT (1653 – 1704)


OUVERTÜRENSUITE NR. 1 D-DUR »EUSEBIA«
für Streicher und Basso continuo
aus: Suavioris harmonie instrumentalis hyporchematicae florilegium primum (Augsburg 1695)
Ouverture – Air – Sarabande – Gigue 1 – Gavotte – Menuet – Gigue 2

Pause
24 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

GEORG PHILIPP TELEMANN (1681 – 1767)


OUVERTÜRENSUITE B-DUR »LA BOURSE«, TWV 55:B11
für 2 Oboen, Streicher und Basso continuo (Frankfurt am Main, um 1720)
Ouverture – Le repos interrompu – La guerre en la paix – Les vainqueurs vaincus – La solitude associée –
L’espérance de Mississippi

JOHANN SEBASTIAN BACH (1685 – 1750)


OUVERTÜRENSUITE NR. 3 D-DUR, BWV 1068
in der Frühfassung für Streicher und Basso continuo (Köthen um 1720?)
Ouverture – Air – Gavotte 1 & 2 – Bourrée – Gigue

ENSEMBLE MASQUES
Jasu Moisio, Lidewei de Sterck / Oboe
Sophie Gent, Tuomo Suni / Violine
Kathleen Kajioka / Viola
Robert Smith / Viola da gamba
Mélisande Corriveau / Violoncello
Benoît Vanden Bemden / Violone

OLIVIER FORTIN / Leitung, Cembalo

SENDUNG
DI 21. NOVEMBER 2023, 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
À LA FRANÇAISE / FR 10. NOVEMBER 2023 25

NACH DES BERÜHMTESTEN


LULLY ART
»Von Lüneburg aus hatte er Gelegenheit, sich toine Emeraud die Melodien vorgespielt
durch öftere Anhörung einer damals berühm- hatte, mit Musik aus dem Pariser Hofreper-
ten Capelle, welche der Hertzog von Zelle toire Heinrichs IV. Die hatte der Geiger Pierre-
unterhielt, und die mehrentheils aus Frantzo- Francisque Caroubel zu einem Gastauftritt
sen bestand, im Frantzösischen Geschmacke, nach Wolfenbüttel mitgebracht.
welcher, in dasigen Landen, zu der Zeit was
ganz Neues war, fest zu setzen«. ITALIENISCHE WURZELN
Johann Sebastian Bach muss seinem Sohn
Carl Philipp Emanuel die erste Begegnung Maître Caroubel war als Pierfrancesco Caru-
mit dem französischen Musikstil sehr ein- belli in der oberitalienischen Geigenbauer-
dringlich geschildert haben, dass der sie Metropole Cremona geboren worden. Dort
noch Jahrzehnte später in seinem Nachruf profilierte sich um 1600 die Violine, der So-
in die vorstehenden Worte kleidete. Etwas pran des Streicherchores, als tonangebendes
»ganz Neues« war der französische Stil kurz Virtuoseninstrument. Am Hof der Gonzaga
nach 1700 zweifellos für den Internatsschü- in Mantua stand damals Salamone Rossi an
ler Bach. In Celle hatte die Musik à la mode der Spitze der Streicher und im engen Aus-
française bereits ein Vierteljahrhundert zu- tausch mit dem Kapellmeister Claudio Mon-
vor Einzug gehalten. Denn nach der offiziel- teverdi, um die gewünschte Instrumental-
len Vermählung mit Eléonore Desmier d’Ol- musik beizusteuern. Unter Rossis wegwei-
breuse, einer ehemaligen Pariser Hofdame, senden Beiträgen zum Erfolgsmodell der
hatte Herzog Georg Wilhelm im Jahr 1676 barocken Triosonate findet sich jene Kom-
eine durchweg aus Franzosen bestehende position über die damals populäre Ruggie-
Hofkapelle von etwa 15 Musikern etabliert, ro-Weise mit ihrer leicht fasslichen, hier
darunter ein Drittel Oboisten. beständig wiederholten Harmoniefolge.

Celle war kein Einzelfall. Fast überall in Von den frankophonen Chansons, leicht-
Deutschland orientierten sich die unzähli- füßigen polyphonen Verwandten der italie-
gen kleineren und größeren Adelsresiden- nischen Madrigale, ließ sich der Hofkapell-
zen an der sonnenköniglichen Selbstinsze- meister des spanischen Vizekönigs in Nea-
nierung Ludwigs XIV., von den Accessoires pel, Giovanni Maria Trabaci, zu instrumen-
des Alltagslebens bis zur hohen Kunst. Noch talen »Canzone francese« inspirieren, grazi-
länger dominierte Französisches schon die len Kontrapunktgebilden in Partiturnota-
höfische Tanzkultur. Bereits 1612 kombinier- tion. Carlo Gesualdo, der komponierende
te Michael Praetorius in seiner einzigen voll- Fürst von Venosa, fertigte sich von dieser
endeten Instrumentalsammlung Terpsichore Tastenmusik mit den effektvollen chromati-
eigene Ballettsätze, zu denen ihm der her- schen Halbtonfolgen eigene Streicherfas-
zoglich-braunschweigische Tanzmeister An- sungen an.
26 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

EIN FLORENTINER IN PARIS Pastorales und Tragédies lyriques wurden


europaweit zum Synonym für französische
Musik dieser Art prägte wohl die frühe Ju- Musik und blieben es weit über Lullys Tod
gend jenes Florentiner Wunderkindes, das 1687 hinaus. Tief beeindruckt kehrten aus-
sich bald im Glanz Ludwigs XIV. sonnen soll- wärtige Prinzen von ihrer standesgemäßen
te und zu diesem Glanz das Seine beitrug: Grand Tour mit der unvermeidlichen Audi-
Giovanni Battista Lulli alias Jean-Baptiste enz beim Sonnenkönig nach Hause zurück.
Lully. Mit 13 Jahren war er als Kammerdiener War dort nun nicht an Opernaufführungen
der Anne-Marie-Louise d’Orléans und als ihr zu denken, sollten Lullys sprühende Orches-
Konversationspartner fürs Italienische in die terfarben wenigstens den Ballsaal zieren.
Pariser Tuilerien gekommen. Die Violine Der Amsterdamer Verleger Jean Philip Heu-
spielte er ebenso geschickt wie die Gitarre; ser erkannte die Marktlücke und druckte
bald beherrschte er auch das Französische seit 1682 entsprechende Ausgaben, die je-
perfekt und nicht weniger das Komponieren. weils die Ouvertüre und weitere ›Highlights‹
Nicht lange, und er trat in Ballettdarbietun- einer Lully-Oper im vierstimmigen Instru-
gen neben dem König auf. mentalsatz boten. Daraus ließen sich nach
Zum Nationalkomponisten wurde Lully im Belieben passable Suiten formen.
November 1660. Die Uraufführung von Die Geschichte wiederholte sich in den spä-
Francesco Cavallis Oper L’Ercole amante ten 1730er Jahren mit den musikdramati-
zur Vermählung Ludwigs XIV. mit Maria schen Werken einer neuen Komponistenge-
Theresia von Spanien musste verschoben neration: Zwei Jahre nachdem sich der ver-
werden, da der passende Theaterneubau sierte Tastenmeister Jean-Philippe Rameau
noch nicht vollendet war. Dem ersatzweise als spätberufener Musikdramatiker erstmals
gebotenen Xerxès – einem überarbeiteten mit einer Oper an die Öffentlichkeit gewagt
venezianischen Serse Cavallis – stahl Lully hatte, reüssierte er 1735 mit dem Opéra-bal-
die Show mit sechs eigens komponierten let Les indes galantes. Seine Szenenfolge stellt
Balletteinlagen nach französischem Gout. Bewohner aus mehr oder weniger ›exoti-
Sie trumpfen mit einer unverwechselbaren schen‹ Ländern vor, darunter die titelgeben-
Klangsprache auf, von der pathetisch anhe- den »Indianer« Nordamerikas. Da kann auch
benden Ouvertüre mit den manieriert punk- das instrumentale Potpourri in Suitenform
tierten Rhythmen und dem eleganten Fu- mit kontrastreichen Tableaus aufwarten.
gensatz über die rustikalen Genrestücke bis
zu koketten Tänzen. Den saftigen fünfstim- PARTEIGÄNGER DER FRANZÖSISCHEN
migen Streichersatz überwölben Oboen mit MUSIK
nasalem Timbre.
Früh schon machte sich der Passauer Hof-
DIE GEBURT DER OUVERTÜRENSUITE kapellmeister Georg Muffat die bezaubern-
de Eleganz der französischen Musik zu ei-
Im Mai 1661 ernannte Ludwig XIV. seinen gen. In Savoyen geboren, hatte er von sei-
treuen Lully zum alles bestimmenden Surin- nem zehnten bis sechzehnten Lebensjahr in
tendant de la musique du roi. Dessen drama- Paris gelebt, bevor er seine weitere Ausbil-
turgisch und choreographisch eindrucksvol- dung bei den Jesuiten in Elsass und dann in
le Divertissements, Comédies-ballets, Ingolstadt erhielt. Als Salzburger Hoforganist
À LA FRANÇAISE / FR 10. NOVEMBER 2023 27

mit Rom-Stipendium ließ er sich 1681 auch VERMISCHTER GESCHMACK


von Arcangelo Corelli und seiner Concer-
to-grosso-Idee begeistern. Doch in seiner Zweihundert Ouvertürensuiten will Tele-
Suiten-Sammlung Florilegium primum von mann alleine binnen zweier Jahre in Sorau
1695 zeigt sich Muffat ganz als Experte für geschrieben habe. Der Freund und Kollege
»des berühmtesten Johann Baptist Lully Johann Sebastian Bach ließ es dagegen
Art«. Er offeriert hier, den antikisierenden wohl bei seinen uns überlieferten vier Wer-
Titeln zum Trotz, keine Opernextrakte, son- ken dieses Genres bewenden, obwohl er
dern »Ballet-Compositiones mit fließendem sich nach der eingangs erwähnten ersten
und natürlichem Gang« – ein Versprechen, Begegnung nahezu fünf Jahrzehnte lang im-
dass die Suite Eusebia glänzend einlöst. mer wieder mit dem französischen Stil be-
schäftigte. Der zweite Satz der D-Dur-Suite
»Je suis un grand partisan de la musique BWV 1068, vermutlich ein Werk aus seinen
Française«, konstatierte Georg Philipp Köthener Kapellmeistertagen, hat kurioser-
Telemann 1718 – fast zwei Jahrzehnte, bevor weise dafür gesorgt, dass sich die französi-
es ihm vergönnt war, selbst einmal nach Pa- sche Bezeichnung »Air« heute untrennbar
ris zu reisen und zu erleben, dass dort die mit seinem Namen verbindet. Dabei ist es
führenden Hofmusiker seine Kompositionen der italienischste Satz des ganzen Stücks:
goutierten. ein kantables Largo mit Solo-Violine über
Schon als Kapellmeister des Erdmann von einem gehenden Bass, von den weiteren
Promnitz auf Schloss Sorau in Schlesien hat- Stimmen sanft begleitet und durchaus ge-
te sich Telemann 1704 in das Komponieren eignet als Mittelsatz eines venezianischen
von Ouvertürensuiten vertieft, »weil der Violinkonzertes. Schon das Fugato der un-
Herr Graf kurtz vorher aus Franckreich wie- zweifelhaft auf Lully anspielenden Ouvertü-
dergekommen war, und also dieselben lieb- re lässt in seinen Solo-Episoden eher an An-
te.« Die programmatische Suite La Bourse tonio Vivaldi denken.
schrieb er um 1720 als Musikdirektor in
Frankfurt am Main. Da hat sich Telemann Sich über Stilgrenzen hinwegzusetzen, war
vom geschäftigen Treiben an der dortigen seinerzeit unter Deutschlands Musikern
Börse zu einer Folge von Charakterstücken aber auch besonders beliebt. Der Meister-
inspirieren lassen, die nach der Ouvertüre flötist und preußische Kammerkomponist
als der Eröffnung des Aktienhandels dessen Johann Joachim Quantz definierte solch ei-
bewegtes Auf und Ab nachzeichnen. Der nen »Vermischten Geschmack« 1752 gerade-
letzte Satz thematisiert die Hoffnung auf zu als Ideal, »wenn man aus verschiedener
satte Gewinne durch Goldfunde am Missis- Völker ihrem Geschmacke in der Musik, mit
sippi – dieses Territorium gehörte damals gehöriger Beurtheilung, das Beste zu wäh-
noch zum französischen Kolonialreich. Im len weiß.«
Mai 1720 verursachte die ›Mississippi-Blase‹
einen gigantischen Pariser Börsenkrach. BERND HEYDER
28 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ENSEMBLE MASQUES

Das ENSEMBLE MASQUES begann seine 2022 erschien die Aufnahme der Ouvertü-
Karriere mit dem Gewinn der Dorian Early rensuiten Johann Sebastian Bachs in solisti-
Music America Competition im Jahr 2000. scher Besetzung. Das Ensemble wird durch
Diesem Preis folgte die erfolgreiche Teilnah- die DRAC Bourgogne-Franche-Comté, die
me am Alte-Musik-Wettbewerb in York 2001. Region Bourgogne-Franche-Comté, das De-
Der Name der Formation leitet sich vom hö- partment Saône et Loire und die Organisati-
fischen Maskenspiel des Elisabethanischen onen CNM, SPEDIDAM und ADAMI unter-
Zeitalters ab. Die Mitglieder des Ensembles stützt. Hauptsponsor ist das Mécénat Musi-
stammen aus Kanada, Frankreich, Australien, cal Société Générale.
Finnland und Belgien. Sie gastieren bei allen
wichtigen Alte-Musik-Festivals in Europa und
Übersee. Sein außerordentlich erfolgreiches
Debüt in Deutschland gab das Ensemble un-
ter Leitung von Olivier Fortin 2017 im Rah-
men der Tage Alter Musik in Regensburg. Es
schloss sich die erfolgreiche Teilnahme am
Festival Heidelberger Frühling im März 2019
an, der eine sofortige Wiedereinladung für
2020 folgte. Spontaneität und Eleganz zeich-
nen das Spiel des Ensembles aus und sind auch
in seinen zahlreichen CD-Veröffentlichungen
immer wieder dokumentiert. Dabei steht
das eher unbekannte Repertoire des 17. und
18. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Arbeit.
Die Einspielung von Werken des vergessenen
österreichischen Komponisten Romanus
Weichlein aus der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts wurde mit zahlreichen Preisen aus-
gezeichnet, u. a. mit dem Diapason d’or.
À LA FRANÇAISE / FR 10. NOVEMBER 2023 29

OLIVIER FORTIN

Der Cembalist OLIVIER FORTIN studierte


am Konservatorium in Québec und machte
seinen Master an der Universität Montreal.
Er studierte bei Pierre Hantaï in Paris und
Bob van Asperen in Amsterdam. 1997 ge-
wann er Preise beim Bach-Wettbewerb in
Montreal und beim Cembalo-Wettbewerb in
Brügge. Olivier Fortin ist als Solist und Kam-
mermusiker sowohl in Europa als auch in den
USA und in Kanada gefragt, u. a. mit Capric-
cio Stravagante und dem Tafelmusik Baroque
Orchestra. Ferner tritt er im Duo mit dem
Cembalisten Skip Sempé und auch im Trio
mit Sempé und Pierre Hantaï auf. Mit dem
Ensemble Masques hat Olivier Fortin zahlrei-
che CDs aufgenommen. Zu seinen Solo-Ver-
öffentlichungen gehört eine Gesamteinspie-
lung der Pièces de Clavecin en Concerts von
Jean-Philippe Rameau. Olivier Fortin unter-
richtete von 2004 bis 2008 am Konservato-
rium von Québec. Er leitet die Sommerkurse
für Alte Musik in Cluny und ist Professor für
Basso continuo und Kammermusik an der
École Supérieure de Musique de Bourgogne-
Franche-Comté.
31

FR 10. NOVEMBER 2023 / 20.00 UHR


KULTURZENTRUM

STURM UND DRANG


JOSEPH HAYDN (1732 – 1809) ALINA IBRAGIMOVA / Violine solo
SINFONIE NR. 52 C-MOLL, HOB. I:52
für 2 Oboen, 2 Hörner, Streicher und Bass KAMMERORCHESTER BASEL
(Eisenstadt 1771) Susanne Regel, Francesco Capraro / Oboe
Allegro assai con brio – Andante – Carles Cristobal / Fagott
Menuetto. Allegretto – Presto Olivier Darbellay, Mark Gebhart / Horn
Baptiste Lopez, Irmgard Zavelberg, Mirjam
WOLFGANG AMADEUS MOZART Steymans-Brenner, Tamás Vásárhelyi / Violine 1
(1756 – 1791) Anna Faber, Eva Miribung, Nina Candik,
KONZERT ES-DUR, KV 271 »JENAMY« Mathias Weibel / Violine 2
für Pianoforte, 2 Oboen, 2 Hörner, Mariana Streiff-Doughty, Bodo Friedrich,
Streicher und Bass (Salzburg 1777) Anne-Françoise Guezingar / Viola
Allegro – Andantino – Rondeau Christoph Dangel, Hristo Kouzmanov / Violoncello
Stefan Preyer / Kontrabass
Pause
KRISTIAN BEZUIDENHOUT / Leitung,
JANNIK GIGER (*1985) Hammerflügel
TROISIÈME ŒIL
für 2 Oboen, 2 Hörner, Streicher und Bass
(2023, Uraufführung) Kristian Bezuidenhout spielt auf einem Instrument
von Johann Ludwig Dülken, München 1793,
WOLFGANG AMADEUS MOZART aus dem Pianoatelier des WDR.
(1765 – 1791)
KONZERT A-DUR, KV 219
für Violine solo, 2 Oboen, 2 Hörner,
Streicher und Bass (Salzburg 1775)
Allegro aperto – Adagio –
Rondeau. Tempo di Menuetto

SENDUNG
LIVE ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
32 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

VOR ALLEM EMOTION


»Die Stimme des Herzens ist ausschlagge- den. In den über 100 Sinfonien, die Joseph
bend für die vernünftige Entscheidung.« Haydn überwiegend als Kapellmeister der
Dieses Bonmot von Johann Gottfried Her- Fürsten Esterházy in Eisenstadt komponier-
der wurde zum Motto einer künstlerischen te, finden sich immer wieder stürmisch-
Strömung, die als »Sturm und Drang« in drängende Sätze. Ganz und gar durch-
die Geschichte einging. Sie lässt sich vor drungen von diesem Stil ist die spannungs-
allem in der deutschen Literatur der zwei- volle Sinfonie Nr. 52 c-Moll. Um 1771 ent-
ten Hälfte des 18. Jahrhunderts verorten. standen, ist sie eine der wenigen Moll-Sin-
Johann Wolfgang von Goethes Briefroman fonien von Haydn. Schon die Tempobe-
Die Leiden des jungen Werther, seine Ode zeichnung des ersten Satzes, »Allegro as-
Prometheus und Friedrich Schillers Drama sai con brio« (›sehr schnell, mit Feuer‹),
Die Räuber wurden stilbildend für den lite- spricht Bände. Im kernigen Forte eröffnen
rarischen Sturm und Drang. Als Parallel- Streicher und Fagott den Satz unisono mit
und Gegenbewegung zur Aufklärung, in einem schroffen Staccato-Thema. Nur we-
der die Vernunft, die »Ratio«, in den Fokus nige Takte später erscheint das gleiche
rückt, geht es den Anhängern des Sturm Thema im Piano und in weicher Legato-
und Drang um die Darstellung und Reflexi- Artikulation. Aber bald kehrt mit hastigen
on des Gefühls, der »Emotio«. Die Errun- Tonrepetitionen die anfängliche Unruhe
genschaften der Aufklärung verwerfen sie zurück. Ein Wechselbad der Gefühle prägt
aber nicht gänzlich, denn beide Geistes- den gesamten Satz, dessen Zerrissenheit
haltungen verbindet die Überzeugung, eine hoch emotionale Wirkung hat. Intro-
dass die Freiheit das höchste Gut der vertierter erscheint das Andante, nicht zu-
Menschen ist. letzt, weil die Streicher hier mit Dämpfer
spielen. Einen wirklichen Ruhepol bildet
MIT FEUER der Satz mit seinen Wechseln zwischen
Staccato und Legato, dem nervösen Zwei-
Die Ideen des Sturm und Drang inspirieren unddreißigstel-Motiv und vielen Moll-
auch viele Musiker. In ausgewählten Wer- eintrübungen nicht. Auch im folgenden
ken erlauben sie sich kompositorische Menuett will keine tänzerische Gelöstheit
Freiheiten und stellen den emotionalen aufkommen. Chromatik und verminderte
Ausdruck über satztechnische Regeln und Intervalle verleihen auch ihm eine düstere
traditionelle Gattungskonventionen. Schwere. Allein im C-Dur des Trio-Mittel-
Atemlose Tempi, vorwärtsdrängende Ton- teils hellt sich die Stimmung auf. Das Fina-
repetitionen, kleinteilig zerrissene The- le der Sinfonie eröffnet Haydn dann er-
men sowie dynamische und artikulatori- staunlich transparent mit agilen und zu-
sche Kontraste sind die Markenzeichen gleich zerbrechlich wirkenden Streicher-
dieses Stils. Vor allem aber soll das Publi- klängen. 45 Takte dauert es, bis mit einem
kum mit Unerwartetem überrascht wer- Forte-Einsatz der Bläser erstmals das volle
STURM UND DRANG / FR 10. NOVEMBER 2023 33

Orchester zu hören ist. Unruhige Tonrepe- fach beinahe verstummt. Einen denkbar
titionen und synkopische Rhythmen trei- großen Kontrast dazu bildet das Finale, ein
ben den Satz voran, aber Generalpausen mitreißendes Rondo. Wieder wartet Mozart
bremsen ihn mehrfach aus. Haydn spielt mit Unerwartetem auf: Er unterbricht den
hier facettenreich mit Stimmungen und virtuosen Fluss mit einem getragenen Me-
Emotionen – ein Paradebeispiel des musi- nuett.
kalischen Sturm und Drang!
EIN LETZTES VIOLINKONZERT
GEGEN DIE KONVENTION
Auch das Konzert A-Dur KV 219 ist für
Auch Wolfgang Amadeus Mozart sucht manche Überraschung gut. Es ist das spä-
und findet in den 1770er Jahren neue Stil- teste von Mozarts fünf Violinkonzerten.
und Ausdrucksmöglichkeiten, unter ande- Sie alle entstehen zwischen 1773 und 1775.
rem in seinem Konzert Es-Dur KV 271. Es Als Salzburger Konzertmeister ist die Vio-
wurde als »Jenamy«- oder »Jeunehomme«- line damals sein – nicht eben geliebtes –
Konzert bekannt, denn Mozart widmete es Hauptinstrument. »Keinen Geiger gebe
Anfang 1777 der jungen Klaviervirtuosin ich nicht mehr ab; beym Clavier will ich
Louise Victoire Jenamy. Damals ist er noch dirigieren«, wird er 1777 an Vater Leopold
Konzertmeister in der Hofkapelle des Salz- schreiben. Der allerdings ist sicher, dass
burger Fürsterzbischofs Hieronymus von sein Sohn der »erste Violinspieler in Euro-
Colloredo. Bald wird er die Salzburger En- pa« hätte werden können.
ge verlassen und sich schließlich als ›Free- Im A-Dur-Konzert hegt Mozart eine gewis-
lancer‹ in Wien niederlassen. se Opposition gegen die Rituale einer vor
In seinem letzten Salzburger Klavierkon- allem auf Virtuosität angelegten höfischen
zert stellt Mozart die traditionellen Gat- Konzertkultur. Er eröffnet den ersten Satz
tungskonventionen in Frage. Gerade ein- zwar ganz traditionell mit einem agilen Or-
mal einen Takt gewährt er dem Orchester, chesterritornell, aber anders als eigentlich
um sich im Unisono zu ›exponieren‹, bevor üblich greift die Solovioline das dort vor-
sich das Soloklavier mit zwei ungeduldigen gestellte Thema nicht auf. Im Gegenteil!
Einwürfen erstmals zu Wort meldet. Dann Mozart gestaltet ihren ersten Auftritt als
taucht es für die nächsten 50 Takte wieder elegisches Adagio. Dessen eigene Gedan-
in den Orchesterklang ein, und erst da- kenwelt bringt die Violine in das nach we-
nach kommt das konzerttypische Frage- nigen Takten wieder anhebende Allegro
Antwort-Spiel zwischen Solo und Tutti mit ein, in dem sich nun eine Fülle an gei-
richtig in Gang. Auf diese virtuose Eröff- gerischen Extravaganzen auftut. Einige
nung folgt – erstmals in Mozarts Konzert- Seufzerfiguren daraus übernimmt Mozart
schaffen – ein Mittelsatz in Moll. Er hebt dann im langsamen zweiten Satz als prä-
an mit einem Dialog der beiden Violinen, gendes Motiv.
deren seufzende Motive den melancholi- Das liebliche Adagio in E-Dur verdunkelt
schen Charakter des Satzes vorgeben. Das sich vor allem in seinem Mittelteil immer
Klavier stimmt mit einem eigenen, ernst- wieder ins melancholische, bisweilen tra-
klagenden Part ein, der eher an ein Rezita- gisch anmutende Moll. Als unbeschwertes
tiv als an eine Kantilene erinnert und mehr- Menuett zeigt sich dann zunächst das
34 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

Rondo des Finales. Umso drastischer wirkt ziehungen und Interaktionen zwischen Ak-
die Trio-Episode. Mit fremdartiger Harmo- teuren und Artefakten des Kulturbetriebs«.
nik und akzentuierter Rhythmik inszeniert Troisième Œil ist Teil eines Zyklus, in dem
Mozart hier einen »türkischen Marsch« sich Giger mit der dreistimmigen Chanson
und spielt so auf die Begeisterung für ori- Qu’est devenu ce bel œil des französischen
entalische ›Exotik‹ an, die in der zweiten Renaissance-Komponisten Claude Le Jeu-
Hälfte des 18. Jahrhunderts in Mode ne auseinandersetzt. Dabei handelt es sich
kommt. Seine »Turcaria« nimmt aber mit um eine zu Herzen gehend Liebesklage,
dynamisch auf- und abschwellenden chro- die Le Jeune mit eindrucksvoller und für
matischen Linien beinahe schon eine Gru- das 16. Jahrhundert höchst ungewöhnli-
sel-Szene aus einer romantischen Oper cher Chromatik würzt. Diese »chromati-
vorweg. Zwar kehrt der Konzertsatz bald sierte Harmonik« inspirierte Giger bereits
zum heiteren Menuett zurück, die aufge- 2020 in seinem Trio für Sopran, Bassklari-
wühlte Stimmung des Trios schwingt aber nette und fiktive Orgel. 2021 folgte dann
in manchen Wendungen der Solovioline mit Œil (›Auge‹) eine zweite Transformati-
nach. on für Streichquartett. Mit Troisieme Œil
erweitert er den Zyklus nun zu einer Art
UNERHÖRT NEU Triptychon.
Entstanden ist das Werk in einem assozia-
Auf geniale Weise hinterfragt Mozart in tiven Prozess, so Jannik Giger: »Ich kom-
seinen späten Salzburger Konzerten die poniere immer von Takt zu Takt und ent-
traditionelle, schon etwas verkrustete Ar- scheide nach intuitiven musikalischen und
chitektur des Solokonzertes. Das wird man dramaturgischen Prozessen, wie sich ein
damals als unerhört neu empfunden ha- Stück entwickelt. Im Vorfeld war nur klar,
ben, was dem konservativen Fürsterz- dass ich das freie Variieren und Integrieren
bischof sicher nicht ganz behagte – und der Chanson unter anderen instrumenta-
Leopold Mozart wohl auch nicht. len Vorzeichen beibehalten wollte. Tonale
Harmonik und mikrotonale Verunreinigun-
Einen im wörtlichen Sinne »unerhört neu- gen werden verwoben, vertraute Tonalität
en« Kontrapunkt zu den Werken des durch die Mikrotonalisierung verstimmt
18. Jahrhunderts bietet der Schweizer und geschmolzen. Ähnlich wie beim Surre-
Komponist und Videokünstler Jannik Giger alismus in der bildenden Kunst wird Ver-
bei den TAGEN ALTER MUSIK IN HERNE trautes so unvertraut. Außerdem klingen
mit der Uraufführung von Troisième Œil, Reminiszenzen an Jean-Philippe Rameaus
zu Deutsch: ›drittes Auge‹. In seinen Or- Ballett-Oper Les Fêtes d’Hébé ebenso an
chester-, Kammer- und Samplingkom- wie Strukturen aus dem ›Danse macabre‹
positionen, aber auch in Videoarbeiten, von Camille Saint-Saëns. Es ist ein Spiel
Klang- und Rauminstallationen geht es Gi- mit anachronistischen Illusionen, sie sollen
ger nach eigenen Worten um eine kreative irritieren und Erwartungen aufbrechen.«
»Auseinandersetzung mit künstlerischen
Inszenierungsritualen, hierarchischen Be- HELGA HEYDER-SPÄTH
35
36 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ALINA IBRAGIMOVA KAMMERORCHESTER BASEL

ALINA IBRAGIMOVA widmet sich als In- Das KAMMERORCHESTER BASEL ist mit
terpretin einem Repertoirespektrum von zwei Abonnementreihen fest in Basel veran-
der Barockmusik bis hin zu neuen Komposi- kert und weltweit mit mehr als 60 Konzerten
tionen auf modernen und historischen In- pro Saison unterwegs. 2019 als erstes Or-
strumenten. Sie wurde 1985 in Russland ge- chester mit einem Schweizer Musikpreis ge-
boren und besuchte die Moskauer Gnesin- ehrt, zeichnet sich das Kammerorchester
Schule sowie in England die Yehudi Menu- Basel durch Exzellenz und Vielseitigkeit,
hin School und das Royal College of Music, Tiefgang und Durchhaltevermögen aus wie
wo sie bei Natasha Boyarsky, Gordan Niko- beim Langzeitprojekt Haydn2032 unter der
litch und Christian Tetzlaff studierte. Als So- Leitung des Principal Guest Conductor Gio-
listin tritt Alina Ibragimova heute regelmä- vanni Antonini und gemeinsam mit dem En-
ßig in Konzerten mit dem Royal Concertge- semble Il Giardino Armonico. Seit der Sai-
bouw Orchestra, dem London Symphony son 2022/23 widmet sich das Kammeror-
Orchestra, dem Chamber Orchestra of Eu- chester Basel unter der Leitung von Philippe
rope und dem Orchestra of the Age of En- Herreweghe allen Sinfonien von Felix Men-
lightenment auf. Neben ihre preisgekrönte delssohn Bartholdy. Es arbeitet mit ausge-
Partnerschaft mit dem Pianisten Cédric wählten Solistinnen und Solisten wie Patri-
Tiberghien tritt die Arbeit mit dem Chiaros- cia Kopatchinskaja, Franco Fagioli, Isabelle
curo Quartet, einem der gefragtesten En- Faust und Kristian Bezuidenhout unter der
sembles der Historischen Aufführungspra- künstlerischen Leitung seiner Konzertmeis-
xis, dessen Gründungsmitglied sie ist. Die ter:innen zusammen sowie unter der Stab-
Diskografie von Alina Ibragimova reicht von führung ausgewählter Dirigent:innen wie
Bach-Konzerten mit dem Ensemble Arcan- Nodoka Okisawa, Heinz Holliger, René
gelo bis zu Prokofjew-Sonaten mit Steven Jacobs und Pierre Bleuse. Die Konzertpro-
Osborne. Ihre Aufnahme der Violinkonzerte gramme sind so vielfältig wie die 48 Musi-
von Schostakowitsch aus dem Jahr 2020 ker:innen und reichen von Alter Musik auf
wurde mit dem Gramophone Award ausge- historischen Instrumenten über historisch
zeichnet. Sie spielt auf einer Violine von An- informierte Interpretationen bis hin zu zeit-
selmo Bellosio aus dem Jahr 1775, die ihr Ge- genössischer Musik. Seit 2019 ist die Clariant
org von Opel zur Verfügung gestellt hat. Foundation sein Presenting Sponsor.
STURM UND DRANG / FR 10. NOVEMBER 2023 37

KRISTIAN BEZUIDENHOUT

KRISTIAN BEZUIDENHOUT darf als einer Bachs Sonaten für Violine und Cembalo mit
der bemerkenswertesten Tastenkünstler der Isabelle Faust, Haydns Klaviersonaten und
Gegenwart gelten. Er ist gleichermaßen auf alle Beethoven-Konzerte mit dem Freiburger
dem Hammerflügel, dem Cembalo und dem Barockorchester.
modernen Klavier zu Hause. 1979 in Südafri-
ka geboren, begann er sein Studium in Aus-
tralien, schloss es an der Eastman School of
Music in den USA ab und lebt heute in Lon-
don. Nach einer ersten Ausbildung als Pia-
nist bei Rebecca Penneys beschäftigte er
sich mit frühen Tasteninstrumenten und
studierte Cembalo bei Arthur Haas, Ham-
merflügel bei Malcolm Bilson sowie Conti-
nuospiel und Aufführungspraxis bei Paul
O’Dette. Im Alter von 21 Jahren erlangte er
erstmals internationale Anerkennung, als
er den ersten Preis und den Publikumspreis
beim renommnierten Fortepiano-Wettbe-
werb in Brügge gewann. Heute ist er regel-
mäßiger Gast bei den führenden Ensembles
der Welt, darunter ebenso das Orchestra of
the Age of Enlightenment und Les Arts Flo-
rissants wie das Chicago Symphony Orche-
stra und das Gewandhausorchester Leipzig.
Formationen wie das English Concert und
das Dunedin Consort leitet er vom Cembalo
oder Hammerflügel aus. Seine mit vielen
Preisen bedachte Diskografie umfasst die
gesamte Klaviermusik von Mozart. Zu sei-
nen jüngsten Veröffentlichungen gehören
Schuberts Winterreise mit Mark Padmore,
39

SA 11. NOVEMBER 2023 / 12.00 UHR


KULTURZENTRUM

STIL MODERNO
WERKSTATTKONZERT DER STADT HERNE

VOKAL- UND INSTRUMENTALWERKE VON


DARIO CASTELLO, ANTONIO CESTI,
FRANCESCO GEMINIANI, GEORG FRIEDRICH HÄNDEL,
GEORG PHILIPP TELEMANN und CARL PHILIPP EMANUEL BACH

STUDIERENDE DES INSTITUTS FÜR ALTE MUSIK


DER HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND TANZ KÖLN
GERALD HAMBITZER / Leitung, Moderation

Während das Adjektiv »modern« in vielen Bereichen des täglichen Lebens stark dem Zeit-
geschmack unterworfen ist, üben Meisterwerke der Kunst auch Jahrhunderte nach ihrer
Entstehung noch eine faszinierende Anziehungskraft aus. Das Werkstattkonzert stellt einst
innovative Kompositionen vor, die bis heute nichts von ihrem Reiz eingebüßt haben. Zu den
großen musikalischen Neuerern des 18. Jahrhunderts zählte Carl Philipp Emanuel Bach, und
an der Wende von der Renaissance zum Barock vollzogen Komponisten wie Dario Castello
und Antonio Cesti einen drastischen Neubeginn. Ihr »stil moderno« stellte durch improvi-
sierende Elemente den subjektiven Ausdruck und vielfältige Affektwechsel dar. Das Violon-
cello mit klangvoller Solo-Literatur aus der reinen Begleitrolle im Generalbass hervorzuhe-
ben, gelang Francesco Geminiani, und bürgerlichen Kreisen wies Georg Friedrich Händel
mit seinen Neun deutschen Arien ein neuen, schlichteren musikalischen Weg. Als erstem deut-
schen Musiker wurde Georg Philipp Telemann die Ehre zuteil, eigene Werke im Rahmen der
berühmten Concerts spirituels in Paris vorstellen zu dürfen.

Dieses Konzert wendet sich besonders auch an Kinder und Jugendliche.

Förderung des Werkstattkonzertes durch


41

SA 11. NOVEMBER 2023 / 16.00 UHR


KREUZKIRCHE

PARODIEN
POPULÄRE GESÄNGE IM SPIEGEL DER KONTRAPUNKTKUNST
DES 16. BIS 19. JAHRHUNDERTS

ANONYMUS ANONYMUS
BERZERETTE SAVOYENNE L’HOMME ARMÉ
Volkslied aus Savoyen Lied aus dem 15. Jahrhundert

JOSQUIN DESPREZ (UM 1455 – 1521) ROBERT MORTON (UM 1430 – NACH
BERZERETTE SAVOYENNE 1479)
Chanson zu 4 Stimmen L’HOMME ARMÉ / IL SERA POUR VOUS CONBATU
aus: Harmonice Musices Odhecaton (Venedig 1501) Chanson zu 3 und 4 Stimmen
aus: Manuskript Rom, Biblioteca Casanatense
ANTOINE BRUMEL (UM 1460 – 1520)
AGNUS DEI zu 4 Stimmen aus der Missa »Berzerette JOSQUIN DESPREZ
Savoyenne« AGNUS DEI zu 3 und 4 Stimmen aus der Missa
aus: Missae Antonii Brumel (Venedig 1503) »L’homme armé«
aus: Misse Josquin (Venedig 1502)
***
GIACOMO CARISSIMI (1605 – 1674)
ANONYMUS KYRIE zu 12 Stimmen aus der Missa »L’homme armé«
DA PACEM DOMINE aus: Manuskript Paris, Bibliothèque nationale de
Gregorianische Antiphon France

PIERRE DE MANCHICOURT (1510 – ***


1564)
SUSTINUIMUS PACEM / DA PACEM ANONYMUS
Motette zu 6 Stimmen ES WAREN ZWEI KÖNIGSKINDER
aus: Liber secundus cantionum sacrarum quinque et Volksballade aus dem 16. Jahrhundert
sex vocum (Leuven 1554)
MAX REGER (1873 – 1916)
*** ES WAREN ZWEI KÖNIGSKINDER
Ballade zu 4 und 5 Stimmen
aus: Acht ausgewählte Volkslieder (München 1899)

***
42 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ORLANDO DI LASSO (1532 – 1594) HUELGAS ENSEMBLE


UT QUEANT LAXIS – RESONARE FIBRIS – Malwine Nicolaus, Hannah Ely,
MIRA GESTORUM – FAMULI TUORUM Helen Cassano / Sopran
Motette zu 5 Stimmen Witte Maria Weber / Alt
aus: Sacrae cantiones, quinque vocum (München 1582) Stefan Steinemann, Daniel Thomson, Ozan Karagöz,
George Pooley, François-Olivier Jean, Tom Phillips /
STEFANO FELIS (1538 – 1603) Tenor
AGNUS DEI zu 7 Stimmen aus der Missa super Tim Scott Whiteley, Roland Faust / Bass
»la sol fa mi re ut«
aus: Missarum sex vocum liber primus (Prag 1588)
PAUL VAN NEVEL / Leitung
CONSTANZO FESTA (UM 1490 – 1545)
FANTASIA SUPER UT RE MI FA SOL LA zu 4 Stimmen
aus: Manuskript Bologna, Civico Museo Bibliografico
Musicale

GIOVANNI PIERLUIGI DA PALESTRINA


(1525 – 1594)
AGNUS DEI zu 6 und 7 Stimmen aus der Missa
super »ut re mi fa sol la«
aus: Missarum liber tertius (Rom 1570)

***

ANONYMUS
AVE REGINA
Gregorianische Antiphon

CIPRIANO DE RORE (1515 – 1565)


AVE REGINA
Motette zu 7 Stimmen
aus: Manuskript München, Bayerische Staatsbibliothek

GS-
GESAN M
ZU
TEXTE AD:
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D OW N E
W D .D
R 3

SENDUNG
MO 27. NOVEMBER 2023, 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
PARODIEN / SA 11. NOVEMBER 2023 43

VOM ORIGINAL ZUR PARODIE


Unter dem Begriff ›Parodie‹ wird heutzutage HOMMAGE AN DAS KOMPOSITORISCHE
meist die komische oder verspottende Nach- VORBILD
ahmung eines Originalwerks verstanden.
Geht es um Musik der Renaissance, bedeutet Den Komponisten der Renaissance stand es
Parodie aber die schöpferische Weiterver- frei, für ihre Parodien eigene oder fremde
wendung und Bearbeitung eines Originals Musikvorlagen zu wählen. Warum sie sich in
zu einer neuen, eigenständigen Komposition. der Regel für fremde entschieden, kann man
Diese Spielart der Parodie war vom 15. bis heute nur vermuten. Tatsache ist, dass nach
ins 17. Jahrhundert hinein in Mode. Originäre damaliger Auffassung ein Komponist mit
Musikwerke und ihre Bearbeitungen galten der Verwendung einer fremden Musik seine
damals als künstlerisch absolut ebenbürtig, Wertschätzung des Originals bzw. seine
und es ist eine Fülle an Parodien aus dieser Hochachtung gegenüber dessen Urheber
Zeit überliefert. Das Musikrepertoire und ausdrückte. War das Original bekannt und
den Musikstil der Renaissance prägen sie beliebt, rückte auch das Parodiewerk mehr
ganz entscheidend. in den allgemeinen Fokus. Weshalb natürlich
viele Komponisten populäre Musiken als
Parodiewerke knüpfen an Musikvorlagen wie Vorlage auswählten.
Volkslieder, gregorianische Choralweisen,
Motetten oder Chansons an. Bei weltlichen Bei der Ausarbeitung der Parodie hatte der
Vorlagen geht mit der Bearbeitung oft auch Komponist seine Kreativität und seinen künst-
ein Genrewechsel ins geistliche Metier ein- lerischen Gestaltungswillen in Einklang mit
her. So gibt es z. B. zahllose Renaissance- den strengen Regeln der Lehre vom Kontra-
Messen, die auf weltlichen Melodien oder punkt zu bringen. Sie schreibt vor, wie man
Liedsätzen beruhen. Wer diese Vorlagen er- zu einer vorhandenen Melodie eine oder
kennt und heraushört, für den schwingen mehrere Gegenstimmen erfindet. So sind
Text und Stimmung des Originals auch im nur bestimmte Zusammenklänge zwischen
neuen geistlichen Kontext mit. Das damalige den Einzelstimmen erlaubt, und auch für den
Publikum wusste das sicherlich zu schätzen. melodischen Verlauf der Stimmen gibt es kla-
Aus kirchlicher Sicht war es natürlich absolut re Regeln. Ziel ist es, einen Tonsatz aus abso-
inakzeptabel, um nicht zu sagen: Teufelswerk. lut gleichberechtigten Stimmen zu kreieren.
Weshalb das Konzil von Trient in den 1560er Zusätzliche Gestaltungsmittel sind u. a. Imi-
Jahren die Verwendung weltlicher Musikvor- tation und Kanontechnik, die in ihrer Anwen-
lagen für Messen und andere geistliche Kom- dung ebenfalls den Kontrapunktregeln unter-
positionen verbot – allerdings ohne dauer- worfen sind.
haften Erfolg.
44 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

IM DREISCHRITT ZUR PARODIEMESSE Melodie erklingt in langen Notenwerten in


der Tenorstimme, die von den übrigen Stim-
Zentrale musikalische Gattung für das Paro- men im freien Kontrapunkt umspielt wird.
dieverfahren ist die Messkomposition, wobei Diese Stimmen haben allerdings einen ande-
je nach musikalischer Vorlage unterschiedli- ren Text als der Tenor, eben »Sustinuimus
che Typen von Messe entstehen. Eine Can- pacem«. Das ist typisch für die Form der so-
tus-firmus-Messe beispielsweise beruht auf genannten Tenor-Motette.
einer geistlichen oder weltlichen Melodie, Cipriano de Rores siebenstimmige Motette
die meistens im Tenor zitiert wird. Grund- Ave Regina coelorum beruht auf der
sätzlich gilt: Je komplexer die musikalische gleichnamigen Marien-Antiphon. Drei der
Vorlage, um so anspruchsvoller ihre Bearbei- sieben Stimmen sind teilweise streng kano-
tung. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, ob nisch geführt, was der großartigen Klangwir-
die Vorlage einstimmig oder mehrstimmig ist. kung des Werkes und seiner Ausdrucksstärke
Die Königsdisziplin des Parodieverfahrens in keiner Weise im Wege steht.
stellt die Parodiemesse dar, die auf einer
mehrstimmigen Vorlage beruht. HIT UND POLITIKUM
Die Missa »Berzerette Savoyenne« von An-
toine Brumel zeigt mehrere Merkmale einer Kaum eine andere Melodie hat als Parodie-
Parodiemesse, stellt aber keine Parodiemes- vorlage im 15. Jahrhundert so Karriere ge-
se im strengen Sinne dar. Sie ist das dritte macht wie das Lied L’homme armé. Über
Glied einer Art Parodiekette. Deren Anfang mehrere Jahrzehnte war es geradezu ein Hit.
bildet ein altes Volkslied aus Savoyen. Josquin Vermutlich hat es seinen Ursprung im Um-
Desprez hat daraus eine vierstimmige Chan- feld des burgundischen Hofes, im Zusam-
son gestaltet, in der das Lied von Tenor und menhang der dortigen Kreuzzugsinitiativen.
Sopran nahezu original in Form eines freien Sein politisch-militanter Text spielt mögli-
Kanons vorgetragen wird. Und diese Chan- cherweise auf Herzog Karl den Kühnen an,
son hat Brumel seiner Messe zugrunde ge- der einen Großteil seines Lebens mit Feld-
legt. Die einzelnen Messsätze starten alle zügen zubrachte und auf dem Schlachtfeld
mit der typischen Eröffnungsphrase des Lie- starb.
des. Anschließend kommt Josquins kano- L’homme armé hat einen markanten Rhyth-
nisch-kontrapunktische Verarbeitung der mus, und die Melodie geht mit ihren charak-
Melodie mit ins Spiel. Höhepunkt ist das teristischen Quart- und Quintsprüngen
»Agnus Dei«, in dem Brumel die Liedweise schnell ins Ohr. Eine der frühesten polypho-
zunächst original und dann rückwärts prä- nen Bearbeitungen des Liedes ist Robert
sentiert. Am Ende sind dann nur noch Melo- Mortons dreistimmige Chanson Il sera pour
diemotive zu hören, die sich im Wechsel vous conbatu. Darin wird das Lied samt Text
zwischen den einzelnen Stimmen hoch ex- kanonisch geführt von den beiden Unterstim-
pressiv entfalten. men gesungen. Hierzu hat Morton eine kon-
Sehr beliebt als musikalische Vorlage für Par- trapunktische Oberstimme geschrieben, de-
odien waren in der Renaissance gregoriani- ren französischer Text auf einen gewissen
sche Gesänge. Pierre Manchicourt hat seine Symon le Breton anspielt. Er war wie Morton
Motette Sustinuimus pacem über die Anti- Sänger und Komponist in der burgundischen
phon Da pacem Domine komponiert. Ihre Hofkapelle zur Zeit Philipps des Guten.
PARODIEN / SA 11. NOVEMBER 2023 45

Rund 50 Messen über L’homme armé sind sehr dichten Kontrapunktstil geschrieben
heute überliefert, zwei stammen von Josquin und setzt die einzelnen Stimmen zudem durch
Desprez. Er hat sie vermutlich während seiner Imitation in enge Beziehung zueinander.
Zeit als Sänger der Cappella Sistina in Rom Auch durch Giovanni Pierluigi da Palestrinas
geschrieben, also in den 1480er und -90er Missa Ut re mi fa sol la zieht sich die Sechs-
Jahren. In seiner Missa l’homme armé super tonfolge wie ein roter Faden: Als stetig auf-
voces musicales beweist Josquin seine Meis- und absteigende Melodie in den Oberstim-
terschaft in der Kanontechnik. Höhepunkt ist men, die in einen vielfältigen und kontrastrei-
das rhythmisch sehr komplexe »Agnus Dei«, chen Kontrapunkt der übrigen Stimmen ein-
in dessen Mittelteil die einzelnen Stimmen in gebettet sind. Im zweiten Teil des »Agnus
unterschiedlichen Metren singen. Dei« erweitert Palestrina die Besetzung von
Nach 1600 geriet die Melodie von L’homme sechs auf sieben Stimmen und führt auf Grund-
armé langsam aus der Mode, wurde aber lage des Hexachord-Motivs die zweite Sopran-
trotzdem hin und wieder verwendet – das und dritte Altstimme in einem freien Kanon.
letzte Mal um 1640 für eine klangprächtige Ebenso begegnet das Hexachord-Thema in
zwölfstimmige Messe, die Giacomo Carissimi der nur textlos überlieferten Sammlung von
in Rom zugeschrieben wird. Kontrapunkt-Sätzen des ebenfalls in Rom
wirkenden Sängers und Komponisten Con-
REIZ DER SECHSTONFOLGE stanzo Festa.

Ein weiteres musikalisches Mode-Thema des IM VOLKSTON


15. Jahrhundert war eine ebenso schlichte wie
eingängige Sechstonfolge, der Hexachord. Mit Max Regers Chorballade Es waren zwei
Er besteht aus einem Halbtonschritt in der Königskinder wirft das Huelgas Ensemble
Mitte, der von zwei Ganztonschritten einge- schließlich noch einen Blick auf die im 19. Jahr-
rahmt wird. Diese Folge wird unabhängig von hundert außerordentlich beliebten Chorsätze
einer bestimmten Lage im Tonsystem mit »im Volkston«. Sie verraten weniger über die
den Silben Ut – re – mi – fa – sol − la be- Zeit, aus der das zugrundeliegende Volkslied
nannt, nach den Anfängen der Halbverse ei- stammt, als über die musikalische Gedanken-
nes mittelalterlichen Johannes-Hymnus: und Gefühlswelt der Romantik. Reger, des-
»Ut queant laxis / resonare fibris / mira ge- sen Geburtstag sich im März zum 150. Mal
storum / famuli tuorum / solve polluti / labii jährte, macht da keine Ausnahme. So schlicht
reatum / Sancte Iohannes«. seine Königskinder-Ballade wirkt, so entspricht
sie doch ganz Regers avancierten musikali-
Orlando di Lasso führt die Ableitung der Ton- schen Vorstellungen. Er präsentiert eine alte
silben aus dem Hymnus mit seiner Motette Melodie in völlig neuem Gewand – so wie die
Ut queant laxis sehr anschaulich vor Ohren. Komponisten der Renaissance Jahrhunderte
Stefano Felis verwendet den Hexachord in zuvor in ihren Parodiewerken.
seiner Missa La sol fa mi re ut vor allem
rückwärts. Die Sechstonfolge ist das gesam- GELA BIRCKENSTAEDT
te Werk hindurch präsent und erklingt meis-
tens in langen Notenwerten in der Oberstim-
me. Felis hat die Messe in einem virtuosen,
46 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

HUELGAS ENSEMBLE

Das HUELGAS ENSEMBLE ist seit mehr des 17. Jahrhunderts und vereinzelt auch aus
als fünfzig Jahren eines der renommiertes- der Moderne. Seine im März erschienene
ten Ensembles für die Aufführung der poly- Aufnahme mit zwei Messen von Ludwig
phonen Musik des Mittelalters und der Re- Daser wurde kürzlich mit dem Gramophone
naissance. Für seine originellen Programm- Award ausgezeichnet. Das Huelgas Ensemb-
zusammenstellungen vor allem unbekannter le wird durch die Vlaamse Overheid, die
Werke ist es weltweit berühmt; die Interpre- Stadt Leuven und die Katholieke Universi-
tationen sind dabei durch detaillierte Kennt- teit van Leuven unterstützt.
nis der Musikästhetik und Gesangspraxis
des Mittelalters und der Renaissance ge-
kennzeichnet, dabei wird immer wieder die
Lebendigkeit und Klarheit der Darstellung
gerühmt. Gerade aufgrund dieser musikali-
schen Qualitäten wird das Huelgas Ensemb-
le mehr und mehr auch von zeitgenössi-
schen Komponisten gebeten, ihre Werke
aufzuführen, darunter Wolfgang Rihm und
James MacMillan. Das Huelgas Ensemble
gastiert in nahezu allen wichtigen Musik-
zentren der Welt und bei den großen Festi-
vals für Alte Musik, wo es bevorzugt in alten
Kapellen, Kirchen und Klöstern auftritt und
eine interdisziplinäre Brücke zwischen Ar-
chitektur und Polyphonie schlägt. Seit 2019
veranstaltet das Huelgas Ensemble jährlich
ein eigenes Pfingstfestival im Dorf Talant in
Burgund, das weiten Raum für musikalische
Experimente bietet. Die Diskografie umfasst
rund einhundert Aufnahmen vokaler und in-
strumentaler Werke vom 12. bis zum Beginn
PARODIEN / SA 11. NOVEMBER 2023 47

PAUL VAN NEVEL

PAUL VAN NEVEL gründete das Huelgas ponisten durch die Beschaffenheit der Land-
Ensemble 1971 als Erweiterung seiner Aktivi- schaft hervorgebracht wurde, in der sie ihre
täten an der Schola Cantorum Basiliensis. Kindheit verbrachten. Paul Van Nevel erhielt
Als Pionier und Galionsfigur für die Erfor- zahlreiche Auszeichnungen, darunter neben
schung und Aufführung der europäischen vielen Schallplattenpreisen den Prix in Ho-
Polyphonie vom 12. bis zum 16. Jahrhundert norem der Académie Charles Cros in Paris
steht er für eine interdisziplinäre Herange- (1994).
hensweise an die originalen Quellen unter
Berücksichtigung des kulturellen Umfelds
(u. a. Literatur, historische Aussprache, Rhe-
torik, Stimmung und Tempo). Auf steter Su-
che nach unbekannten Werken gilt sein be-
sonderes Augenmerk der franko-flämischen
Polyphonie. Paul Van Nevel war Gastdozent
am Sweelinck Conservatorium Amsterdam,
der Musikhochschule Hannover und dem
Centre de Musique Ancienne in Genf. Seit
nun schon 30 Jahren ist er Gastdirigent des
Nederlands Kamerkoor. Er gab moderne
Editionen von Renaissancemusik heraus,
verfasste unter anderem eine Monographie
über Johannes Ciconia und ein Werk über
Nicolas Gombert. In einem Buch über Lissa-
bon beschreibt er anhand von atmosphäri-
schen Eindrücken, persönlichen Vorlieben
und zufälligen Begebenheiten seine dreißig-
jährige Beziehung zu dieser Stadt. In Het
landschap van de polyfonisten: de wereld van
de Franco-Flamands (1400 – 1600) geht er der
Hypothese nach, dass der melancholische
und imitative Stil der franko-flämischen Kom-
49

SA 11. NOVEMBER 2023 / 19.00 UHR


KULTURZENTRUM

AMORE MIT AMOUR


ANTONIA BEMBO (UM 1640 – UM 1720)
L’ERCOLE AMANTE
Oper in fünf Akten (Paris 1707)
Libretto von Francesco Buti

Ercole: FLORIAN GÖTZ / Bass


Iole: ANITA ROSATI / Sopran
Hyllo: DAVID TRICOU / Tenor
Deianira: ALENA DANTCHEVA / Sopran
Giunone: FLORE VAN MEERSSCHE / Sopran
Licco: ANDRÉS MONTILLA-ACURERO / Tenor
Venere, Pasitea: CARINE TINNEY / Sopran
Paggio: ARNAUD GLUCK / Countertenor
Nettuno, Ombra del re Eurito: HANS PORTEN / Bariton

IL GUSTO BAROCCO
Claire Genewein, Yasuka Kribus / Traversflöte
Georg Fritz, Priska Comploi / Oboe
Andrew Burn / Fagott
Andres Murillo, Sonoko Asabuki / Violine
Zohar Alon-Shner, Barbara Konrad / Viola
Jonathan Pešek / Violoncello
Fred Uhlig / Kontrabass
Josías Rodríguez Gándara / Laute
Chiara Granata / Harfe
Alexander Gergelyfi / Orgel
Guillem Borràs Garriga / Dramaturgie und Edition

JÖRG HALUBEK / Leitung, Cembalo


GS-
GESAN M
E Z U
Pause nach dem 2. Akt TEXT AD:
N L O
D OW E
WDR 3 .D

SENDUNG
ZEITVERSETZT 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
50 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ZWISCHEN DEN ZEITEN,


ZWISCHEN DEN KULTUREN
Für Frauen gab es im 17. Jahrhundert drei Venedig um 1640 als Tochter eines Arztes,
Möglichkeiten, am Musikleben teilzuneh- war sie zwar nicht von adliger Geburt, er-
men. Da war erstens eine adlige Geburt: hielt aber eine sorgfältige Ausbildung, zu
Musik war, wie Lesen und Schreiben, der auch die Musik gehörte. Nach eige-
selbstverständlicher Teil der Erziehung, nem Bekunden war kein Geringerer als
und zwar nicht nur Gesang oder das Be- der berühmte Opernkomponist und nach-
herrschen eines Instruments, sondern malige Markuskapellmeister Francesco
auch Musiktheorie und sogar das Kompo- Cavalli einer ihrer Lehrer. 1659 wurde sie
nieren. All dies fand freilich nur im priva- an Lorenzo Bembo aus einer der großen
ten Umfeld statt. Da waren zweitens die venezianischen Patrizierfamilien verheira-
Nonnen: In ihren Klöstern mussten (durf- tet, und sie hätte wohl das Leben einer
ten) sie selbst die Musik machen, und vornehmen Dame geführt, wäre diese Ehe
nicht wenige von ihnen waren nicht nur als glücklicher verlaufen, hätte ihr Gemahl sie
Musikerinnen, sondern auch als Kompo- nicht geschlagen, notorisch betrogen und
nistinnen tätig. Auch zu den Klöstern gab ihr Geld in einer Weise durchgebracht,
es wenig öffentlichen Zutritt. Und da wa- dass sie ihre Juwelen vor ihm in einem
ren drittens Musikerinnen, die sich in der Kloster verstecken musste, um dort den
Öffentlichkeit präsentierten – ihnen hafte- Aufenthalt ihrer Tochter finanziell garan-
te generell die Faszination des Anrüchigen tieren zu können. 1672 wagte sie den Ver-
an: Unter den Kurtisanen fanden sich such, sich von ihm scheiden zu lassen,
manche, zu deren Dienstleistungen auch freilich ohne Erfolg.
das Musizieren gehörte. Berufssängerin- Irgendwann danach fasste sie den Ent-
nen, die auf der Opernbühne ihr Geld ver- schluss, Venedig zu verlassen und sich an-
dienten, galten ebenfalls als wenig ehrbar, derswo ein neues Leben aufzubauen. Da
und ein Ausnahmetalent wie die Sängerin kam ihr der Aufbruch des venezianischen
und Komponistin Barbara Strozzi konnte Botschafters nach Frankreich gerade recht,
auch deshalb ihre musikalischen Begabun- in der Delegation mitzureisen. Am Hof des
gen verwirklichen, weil sie als unehelich Sonnenkönigs fiel sie durch ihre musikali-
geborene, früh von einem verheirateten schen Fertigkeiten auf und erhielt von
Liebhaber geschwängerte Frau ohnedies Ludwig XIV. eine Pension und eine Woh-
nicht für die Rolle als ebenso achtbare wie nung in einem christlichen Damenstift zu-
unsichtbare Ehefrau infrage kam. gesprochen, wo sie zurückgezogen bis zu
ihrem Tod um 1720 lebte und sich zuneh-
EINE VENEZIANISCHE EXILANTIN mend der Komposition weltlicher und
geistlicher Musik widmete. 1695 überreich-
Antonia Bembo gehört in keine der drei te sie Ludwig XIV. eine erste große Samm-
Kategorien, aber auf eine seltsame Weise lung weltlicher Kantaten in italienischer
kommt sie allen dreien nahe. Geboren in und sogar in französischer Sprache, und
AMORE MIT AMOUR / SA 11. NOVEMBER 2023 51

1707 vertonte sie ein altes Opernlibretto lag ihm daran, den italienischen Gesang in
noch einmal neu, das eng mit Ludwig XIV. seiner Hochzeitsoper mit französischem
verbunden war. Tanz zu erweitern. Es entstand, in der Zu-
sammenarbeit mit seinem bevorzugten
OPERNPREMIERE MIT HINDERNISSEN Tanzkomponisten Jean-Baptiste Lully, mit
Xerxès eine Oper, in der sich die Musik Ca-
Ludwig XIV. hatte im Juni 1660 die spanische vallis mit der Lullys mischte – eine Hybride
Infantin Maria Teresa geheiratet, und die- aus italienischem Gesang und französi-
se Hochzeit war ein großer diplomatischer scher Instrumentalmusik. Zehn Jahre spä-
Erfolg des Premierministers, Kardinal Jules ter präsentierte Lully seine erste franzö-
Mazarin. Als Giulio Mazzarini geboren und sischsprachige Oper.
in Rom aufgewachsen, hatte dieser sich,
seit er 1642 zum ersten Minister aufgestie- DIE OPER IM STILDISPUT
gen war, darum bemüht, den päpstlichen
Einfluss am französischen Hof zu mehren Was mag Antonia Bembo dazu bewogen
und den jungen Ludwig XIV. mit italieni- haben, 45 Jahre nach der Uraufführung
scher Kultur zu beeindrucken. 1649 war dieses alte Libretto noch einmal hervorzu-
die erste italienische Oper am französi- holen und neu zu vertonen? Auf eine Auf-
schen Hof vor dem elfjährigen König auf- führung zu spekulieren, wäre wohl hoff-
geführt worden. Für die Hochzeitsfeier- nungslos gewesen. Die Geschmacksvor-
lichkeiten 1660 beauftragte Mazarin dann stellungen davon, welche Geschichten auf
mit Francesco Cavalli den berühmtesten der Opernbühne mit welchen Erzählstra-
italienischen Opernkomponisten, die tegien abgehandelt werden sollten, hatten
Festoper zu schreiben: In Ercole amante sich extrem geändert. Italienische Oper
geht es um die Geschichte von Herkules wurde überall in Europa gespielt, nur nicht
und seiner Gemahlin Deianira, um deren in Frankreich. Und Bembo hatte keinerlei
Sohn Hyllos und die Prinzessin Iole, die Kontakte zu Opernhäusern.
Hyllos liebt, aber von Herkules begehrt Vielleicht ging es der Komponistin aber gar
wird. Nach vielen Verwicklungen stirbt nicht um eine Aufführung, sondern noch
Herkules und vermählt sich im Himmel einmal um eine Reflexion dessen, was die
mit Bellezza, der Schönheit, während auf italienische und die französische Musik
Erden Iole und Hyllos heiraten können. ausmachte. Der Anlass könnte eine Dis-
Verschiedene Hindernisse führten dazu, kussion gewesen sein, die zu Beginn des
dass Ercole amante nicht rechtzeitig auf 18. Jahrhunderts in den Pariser Salons ent-
die Bühne gebracht werden konnte. Als brannte und fast ein Jahrhundert lang
die Oper dann im Februar 1662 tatsächlich nicht verstummen sollte. 1702 hatte
aufgeführt wurde, war alles anders gewor- François Raguenet, Priester und Schrift-
den. Mazarin war in der Zwischenzeit ge- steller, ein Buch mit dem Titel Parallèle des
storben, und Ludwig XIV. beeilte sich, eine Italiens et des Français en ce qui regarde la
Wende in der Kulturpolitik herbeizuführen musique et les opéras veröffentlicht, in dem
– weg vom italienischen Einfluss, hin zu er sich als glühender Verehrer der italieni-
einer genuin französischen Kultur. Ludwig schen Oper offenbarte und die französi-
XIV. war ein begeisterter Tänzer, und so sche im Vergleich dazu mittelmäßig fand.
52 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

Ihm hatte ein anderer Autor, der Jurist und Koloraturen, wie sie der italienischen Oper
Politiker Jean-Laurent Le Cerf de La Viévil- eigen waren.
le, mit einer zweibändigen Comparaison Bedenkt man allerdings, dass Antonia
de la musique italienne et de la musique Bembo ihren Ercole amante im selben Jahr
française geantwortet, was Raguenet 1705 fertigstellte, in dem Alessandro
noch einmal zu einer Erwiderung unter Scarlatti in Venedig Mitridate Eupatore und
dem Titel Défense du Parallele des italiens et Georg Friedrich Händel in Rom sein Ora-
des françois, en ce qui regarde la musique et torium Il trionfo del tempo e del disinganno
les opéra herausforderte. In diesem Disput aufführten, wird die stilistische Entwick-
ging es um die Kühnheit der italienischen lung deutlich, die die italienische Musik in-
Musik und das allzu Regulierte der franzö- zwischen durchlaufen hatte.
sischen. In der Sache waren sich die Kon- Scarlatti wie Händel bevorzugten die gro-
trahenten sogar einig, in der Beurteilung ßen virtuosen Da-capo-Arien, die Ercole
allerdings lagen sie weit auseinander. amante schon deshalb nicht zu Gebote
standen, weil die Arienformen in den
KÜHNE GESÄNGE, GEMESSENE 1660er Jahren, als das Libretto entstand,
RHYTHMEN noch gänzlich anderen Gesetzen gehorch-
ten.
Mit Sicherheit hat Antonia Bembo diese
Diskussion verfolgt, und vielleicht hat sie Antonia Bembos Oper scheint auch des-
sich noch einmal mit den kompositorischen halb ein wenig aus der Zeit gefallen zu
Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, sein, weil ihr Libretto eine frühere Sicht
vergewissern wollen, wie es um die italie- der Kommunikation zwischen den Prota-
nischen und die französischen Anteile in gonisten repräsentiert. Ihre Auseinander-
Ercole amante beschaffen sein konnte. Ihre setzung mit Ercole amante ist eine sehr
Version ist ein komplexes Gebilde aus ty- persönliche Rückschau auf eine Opern-
pisch italienischen und typisch französi- form, die nirgendwo mehr existierte, ein
schen Anteilen, und das mit einer Musik, eigener Beitrag, der gar nicht für die Öf-
die beides in sich trägt – die Kühnheit des fentlichkeit selbst gedacht war, vielleicht
Gesangs und die Gemessenheit der Rhyth- eine letzte, imaginäre Konversation, eine
men. Typisch französisch sind die zahlrei- letzte Hommage an den alten Sonnenkö-
chen Tänze und die großen Chorszenen, nig, der sich für Oper schon seit längerer
die sogenannten Divertissements, wie sie Zeit gar nicht mehr interessierte, dem sie
Lully für die französische Oper entwickelt aber viel zu verdanken hatte.
hatte, etwa die Unterweltchöre zu Beginn
des 5. Aktes. Typisch italienisch sind dage- SILKE LEOPOLD
gen die Arien der Protagonisten – der tra-
gischen ebenso wie der komischen. Den
Unterschied zwischen französischer und
italienischer Musik macht gleich der Be-
ginn der Oper deutlich – eine französische
Ouvertüre, gefolgt von einem Auftritt der
Titelfigur mit einer Arie voller virtuoser
AMORE MIT AMOUR / SA 11. NOVEMBER 2023 53

PERSONEN UND HANDLUNG


ERCOLE / Herkules 3. UND 4. AKT
DEIANIRA / Gattin des Herkules
HYLLO / Hyllos, Sohn von Herkules und Deianeira Im Garten hat Venus eine verzauberte Bank
IOLE / Geliebte des Hyllos, von Herkules umworben vorbereitet. Auf ihr erwacht Ioles Liebe zu
GIUNONE / Juno, Göttin der Ehe und Fürsorge Herkules. Er bittet Iole um ihre Hand, da
LICCO / Lichas, Diener des Herkules versetzt Juno ihn in tiefen Schlaf. Sie befreit
VENERE / Venus, Göttin der Liebe Iole aus dem Zauber und drängt sie, Herku-
PASITEA / eine der Grazien les zu töten. Als Iole das Schwert erhebt,
PAGGIO / Page des Herkules hält Hyllos sie ab. Lichas weckt Herkules,
NETTUNO / Neptun, Gott des Meeres der seinen Sohn mit dem Schwert erblickt.
OMBRA DEL RE EURITO / Schatten des Wollte er ihn töten? Er sucht Rache. Deiani-
Königs Eutyros, Vater der Iole ra bittet um Gnade. Iole verspricht ihm die
CORO / Chöre der Grazien, Winde und Bäche, Heirat, um Hyllos zu verschonen. Herkules
Zephyren, Hofdamen, Opferpriester und Wesen der lässt ihn einsperren und verbannt Deianira.
Unterwelt In einem Turm gefangen, erfährt Hyllos von
der Hochzeit und stürzt sich ins Meer. Juno
rettet ihn mit Neptuns Hilfe. Auf dem Fried-
1. UND 2. AKT hof trauern Deianira und Lichas um ihn. Iole
ruft den Geist ihres Vaters Eutyros. Deianira
In einem Wald beklagt Herkules, die Liebe erzählt ihr von Hyllosʼ Tod. Iole will sterben.
von Iole nicht erobern zu können. Venus Lichas hat die Lösung: Überredet Iole Her-
verspricht, ihm zu helfen. Als Beschützerin kules, den Umhang des Zentauren Nesso
der Ehe muss Juno verhindern, dass Herku- anzulegen, wird er Deianira wieder lieben.
les seine Gattin Deianira vernachlässigt und
die Liebe zwischen Iole und Hyllos, ihrem 5. AKT
gemeinsamen Sohn, zerstört. Herkules
selbst tötete einst Ioles Vater, König Euty- In der Hölle will sich der Geist von Eutyros
ros. Im Hof des Königspalasts schwören sich an Herkules rächen. Herkules ist glücklich
Hyllos und Iole ewige Liebe, als Herkules’ über die Heirat mit Iole. Als er Nessos Um-
Page von Iole verlangt, ihn im Garten zu hang anlegt, verspürt er furchtbare Schmer-
treffen. Er erzählt Lichas und Deianira von zen, die ihn in den Tod treiben. Deianira er-
Herkules’ Plänen. Deianira sieht ihr eigenes kennt den unbeabsichtigten Mord an ihrem
und das Glück ihres Sohnes zerschlagen. Ju- Mann. Da erscheint der totgeglaubte Hyllos.
no muss Venus’ Pläne durchkreuzen. In der Juno tröstet sie: Herkules ist in den Olymp
Höhle der Träume bittet sie die Grazie Pasi- aufgestiegen und hat La Bellezza, die
tea, ihr den Gott der Träume zu leihen. Schönheit, geheiratet.

DANIELA MARXEN
54 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

FLORIAN GÖTZ ANITA ROSATI

FLORIAN GÖTZ studierte Gesang an der ANITA ROSATI stammt aus Osttirol und
Guildhall School of Music and Drama in studierte an der Universität für Musik und
London sowie an der Musikhochschule in darstellende Kunst Wien. 2013 debütierte
Weimar. Von 2010 bis 2014 war er Ensem- sie im Schlosstheater Schönbrunn. 2015/16
blemitglied am Theater Erfurt, wo er u. a. in war sie Mitglied des Thüringer Opernstu-
der Zauberflöte, dem Freischütz, La Bohème dios und damit am Deutschen Nationalthea-
und Turandot zu erleben war. Mit Vincent ter in Weimar sowie am Theater Erfurt tätig.
Dumestre und seinem Ensemble Le Poème 2017 nahm sie am Young Singers Project der
Harmonique feierte er 2014 sein New-York- Salzburger Festspiele teil. 2018 debütierte
Debüt am Miller Theater; im gleichen Jahr sie am Theater an der Wien als Jemmy in
übernahm er unter der Leitung von Konrad Rossinis Guillaume Tell unter der Leitung
Junghänel die Rolle des Testo in Montever- von Diego Matheuz. Darüber hinaus konnte
dis Il combattimento di Tancredi e Clorinda. sie im Sommer 2019 in der Produktion Der
Inzwischen ist er regelmäßig Gast bei den Reigen von Bernhard Lang im Rahmen der
renommiertesten Festivals für Alte Musik. Bregenzer Festspiele mitwirken, wofür sie
Intensiv widmet er sich dem Liedgesang mit 2020 in der Kategorie ›Beste weibliche Ne-
Partnern wie Alexander Schmalcz, Daniel benrolle‹ für den österreichischen Musik-
Heide und Georg Michael Grau. Auf CD leg- theaterpreis nominiert war. Jüngste Engage-
te er kürzlich gemeinsam mit dem Grund- ments führten sie an die Philharmonie Lu-
mann-Quartett eine Aufnahme von Schu- xembourg und ans Theater an der Wien.
berts Winterreise vor. In der aktuellen Spiel- Darüber hinaus wurde ihr ein Sonderpreis
zeit gastiert Florian Götz am Rokokotheater im Finale des Cesti-Wettbewerbs in Inns-
Schwetzingen in der Titelpartie von Reinhard bruck verliehen. Weitere Engagements führ-
Keisers Oper Nebucadnezar. Ebenso ist er ten die junge Sängerin u. a. zu den Musik-
dort und in Berlin mit dem RIAS Kammer- festspielen Potsdam Sanssouci. In der
chor und der Akademie für Alte Musik Ber- Produktion der Oper Adonis von Johann
lin unter der Leitung von Justin Doyle in Sigismund Kusser mit Il Gusto Barocco
Purcells King Arthur zu erleben. übernahm Anita Rosati die Rolle des Cupido.
AMORE MIT AMOUR / SA 11. NOVEMBER 2023 55

DAVID TRICOU ALENA DANTCHEVA

DAVID TRICOU studierte Gesang zunächst ALENA DANTCHEVA begann ihre musika-
am Konservatorium seiner Heimatstadt lische Ausbildung im Alter von fünf Jahren
Montpellier und dann am Pariser Conserva- in ihrer Heimatstadt Sofia. Später führten
toire National Supérieur, wo er das Examen sie ihre Studien an das Conservatorio Giu-
mit Auszeichnung ablegte. Seine Tenorstim- seppe Verdi in Turin, wo sie Abschlüsse in
me ist wie geschaffen für das barocke Re- den Fächern Harfe und Gregorianischer
pertoire des französischen Haute-contre. Gesang erwarb. Danach setzte sie ihre Ge-
So sang er in Rameaus Pygmalion und sangsausbildung bei Laura Bracco, Claudia
Anacréon auf einer internationalen Tournee Visca und Daniel Muñoz fort. Alena Dant-
mit William Christie und in Castor et Pollux cheva tritt als Solistin und Ensemblemit-
bei den Festivals von Sablé und La Chaise- glied in Europa, den USA und Japan mit ei-
Dieu. Ebenso liegen ihm aber Mozart-Par- nem breiten Repertoire von mittelalterlicher
tien wie der Tamino aus der Zauberflöte, bis hin zu zeitgenössischer Musik auf. Sie
Marzio aus Mitridate und Ferrando aus Così singt regelmäßig in Ensembles für Alte Mu-
fan tutte. Er verkörperte den Almaviva in sik wie Concerto Italiano, La Capella Reial
Rossinis Il barbiere di Siviglia und den Nemo- de Catalunya, I Barocchisti, La Venexiana
rino in Donizettis Lʼelisir d’amore. Im Bereich und Accademia Montis Regalis. Eine intensi-
der zeitgenössischen Musik war er an der ve und langjährige Zusammenarbeit verbin-
Uraufführung von Tales of the Pale and Sil- det sie mit dem auf spätmittelalterliche Mu-
very Moon after the Rain von Xavier Dayer sik spezialisierten Ensemble La Fonte Musica
beteiligt. Auf dem Konzertpodium arbeitet unter der Leitung von Michele Pasotti. Ihre
David Tricou mit Sébastien Daucé und sei- Leidenschaft gilt auch der zeitgenössischen
nem Ensemble Correspondances, Nicolas Musik, sowohl in Solodarbietungen mit Kla-
Achten und seinen Scherzi Musicali sowie vierbegleitung als auch mit kleineren En-
Damien Guillon und Le Banquet Céleste zu- sembles. Mit Il Gusto Barocco nahm sie
sammen. Mit dem Pianisten Masumi Fukaya 2018 Monteverdis Marienvesper für CD auf.
ist er regelmäßig in französischen und deut-
schen Kunstliedern zu hören.
56 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

FLORE VAN MEERSSCHE ANDRÉS MONTILLA-ACURERO

FLORE VAN MEERSSCHE schloss ihr Mas- ANDRÉS MONTILLA-ACURERO stammt


terstudium in Liedgestaltung und Konzert- aus Venezuela und arbeitet regelmäßig mit
gesang in München bei Fenna Kügel-Sei- Dirigenten wie Jordi Savall, Andrea Marcon,
fried mit Auszeichnung ab. Meisterkurse bei Rinaldo Alessandrini und Alessandro Quar-
Malcolm Martineau, Helmut Deutsch, Ian ta sowie mit renommierten Ensembles wie
Bostridge, Dietrich Henschel, Kai Wessel Concerto Italiano, La Cetra und Concerto
und Andreas Staier ergänzten ihre Ausbil- Romano zusammen. Sein Repertoire um-
dung. 2021 war sie Teilnehmerin des Meis- fasst Tenor-Partien des 17. und 18. Jahrhun-
terkurses Young Bach Soloists mit Philippe derts, darunter die Evangelisten-Rollen in
Herreweghe und Peter Kooij in Gent. Im Bachs Passionen, aber ebenso die Alt-Parti-
Sommer 2022 gab sie ihr Debüt bei den en italienischer Werke des 17. Jahrhunderts
Salzburger Festspielen als Sacerdotessa in und die französischen Haute-contre-Partien
Verdis Aida unter der Leitung von Alain Alti- des 17. und 18. Jahrhunderts. In jüngster Zeit
noglu. Darüber hinaus sang sie unter der sang er die Titelrollen in Lullys Persée in
Leitung von Dirigenten wie Daniel Baren- Antwerpen, in Rameaus Zoroastre in Rimini
boim, Philippe Herreweghe und Philippe und in Stradellas San Giovanni Battista am
Pierlot; sie musizierte mit den Wiener Phil- Teatro Argentina in Rom. In Opern Monte-
harmonikern, dem Collegium Vocale Gent, verdis war er als Arnalta in L’incoronazione di
der Camerata Salzburg, dem Ricercar Con- Poppea in Bologna, als Pastore in L’Orfeo in
sort und der Bayerischen Kammerphilhar- Barcelona, Adelaide und Peking, als Eumete
monie. Eine besondere Leidenschaft hegt in Il ritorno d’Ulisse in patria in Rom und Rie-
Flore Van Meerssche für das Kunstlied. 2021 ti sowie als Nutrice in L’incoronazione di Pop-
gewann sie mit ihrem Duo-Partner Gyeong- pea in Kiel zu erleben. Andrés Montilla-Acu-
taek Lee den Prix de Mélodie beim Interna- rero ist auch Wissenschaftler: Er promovier-
tionalen Lied-Wettbewerb »Nadia et Lili te in Politischer Philosophie bei Paul Gilbert
Boulanger« in Paris. Sie ist Stipendiatin des an der Pontificia Università Gregoriana in
Deutschen Bühnenvereins, des Richard- Rom.
Wagner-Verbands München und von Live
Music Now München.
AMORE MIT AMOUR / SA 11. NOVEMBER 2023 57

CARINE TINNEY ARNAUD GLUCK

CARINE TINNEY erlernte zunächst Geige ARNAUD GLUCK debütierte im Alter von
und Klavier an der Douglas Academy im neun Jahren im Chor der Petits Chanteurs
schottischen Milngavie, bevor sie mit 17 Jah- Limousin und studierte dann bis zu seinem
ren ihr Gesangstudium an der Edinburgh 18. Lebensjahr am Conservatoire à Rayonne-
Napier University bei Andrew Doig und Paul ment Régional de Limoges. Von 2018 an
Keohane aufnahm. An der Hochschule für setzte er seine Ausbildung an der Schola
Musik Detmold absolvierte sie erfolgreich Cantorum in Basel bei Ulrich Messthaler
die Masterstudiengänge Liedgestaltung und und Flavio Ferri-Benedetti fort, derzeit stu-
Operngesang bei Gerhild Romberger und diert er dort im Master-Studiengang bei
Manuel Lange. 2014 wurde sie beim Interna- Carlos Mena. Regelmäßig tritt er als Solist
tionalen Wettbewerb für Liedkunst der Hu- auf, unter anderem mit dem Ensemble Cor-
go-Wolf-Akademie Stuttgart ausgezeichnet. respondances unter der Leitung von Sébas-
Sie debütierte 2018 bei den Händel-Fest- tien Daucé und mit dem La Cetra Barock-
spielen in Halle mit der Camerata Bern un- orchester unter der Leitung von Andrea
ter der Leitung von Attilio Cremonesi. Im Marcon. Seit Ende 2022 ist er Mitglied des
gleichen Jahr wirkte sie bei der Urauffüh- Chors an der Opéra Royal de Versailles.
rung der Oper Are these waves von Jane Sein Schwerpunkt ist die barocke Oper. Ar-
Dickson im Théâtre Royal de La Monnaie in naud Gluck wurde 2022 Preisträger des
Brüssel mit. Zu Höhepunkten ihrer bisheri- Wettbewerbs Jeunes Talents in Paris im En-
gen Konzerttätigkeit zählen Aufführungen semble Saint-Honoré mit der Sopranistin
von Gustav Mahlers Auferstehungssinfonie in Camille Canapa, dem Geiger Sacha Lévy
der Berliner Philharmonie, Händels Messiah und dem Cembalisten und Organisten Va-
mit dem Saint Paul Chamber Orchestra in lentin Rouget. Außerdem erwarb er 2020 ei-
den USA und Mozarts c-Moll-Messe in der nen Abschluss in Ingenieurwissenschaft an
Dresdner Kreuzkirche. der École Centrale de Lyon und einen Mas-
ter in Akustik an der Universität Lyon.
58 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

HANS PORTEN IL GUSTO BAROCCO

HANS PORTEN begann seine Gesangskar- Das Orchester IL GUSTO BAROCCO wur-
riere als Mitglied der Aurelius Sängerkna- de 2008 durch Jörg Halubek in Stuttgart ge-
ben Calw und war in diesem Rahmen be- gründet. Es hat sich auf seine Fahnen ge-
reits als Knabe an der Berliner Staatsoper schrieben, den aktuellen Forschungsstand
Unter den Linden in Mozarts Zauberflöte zu beim Musizieren hörbar zu machen. Aus ei-
erleben. Ab 2018 studierte er Gesang an der nem festen Kreis kommen für die verschie-
Hochschule für Musik und Darstellende denen Projekte Musikerinnen und Musiker
Kunst in Stuttgart, wo er bereits 2015 als zusammen, die in der Tradition der Schola
Jungstudent aufgenommen wurde. Er war Cantorum Basiliensis stehen und eine lang
in der Opernstudio-Produktion von Kurt gewachsene musikalische Vertrautheit ver-
Weills Street Scene und als Gast in der Partie bindet. Zentrum des Repertoires ist die Mu-
des Cajus in Otto Nicolais Die lustigen Wei- sik des 17. und 18. Jahrhunderts in all ihren
ber von Windsor zu erleben. Außerdem wur- Facetten. 2020 stellte Il Gusto Barocco Ge-
de er als Orpheus in Glucks Orpheus und org Friedrich Händel dreifach in den Mittel-
Eurydike bei den Classic Open Wildberg und punkt: mit der Opern-Ausgrabung Cleofida
als Starveling in Brittens A Midsummer und in einer Reihe mit weltlichen Kantaten
Night’s Dream am Wilhelma-Theater Stutt- des jungen Händel und italienischer Zeitge-
gart engagiert. Während der Münchner nossen sowie Konzerten, die Händels Werke
Opernfestspiele 2022 gab er in Capriccio in Bearbeitungen von Telemann, Johann Da-
von Richard Strauss mit der Partie eines vid Heinichen und Johann Mattheson prä-
Dieners sein Debüt an der Bayerischen sentierten. Weitere Höhepunkte der letzten
Staatsoper. Hans Porten ist Mitglied des Jahre waren unter anderem Residenzen als
Sindelfinger Vokalensembles und des Chors Festspielorchester der Bachwoche Ansbach
Figure Humaine. und als Gastorchester am Nationaltheater
Mannheim sowie die Uraufführungen von
Heinichens Flavio Crispo und Giuseppe An-
tonio Brescianellos Tisbe. Beide Opern hat
Il Gusto Barocco inzwischen auch auf CD
vorgelegt.
AMORE MIT AMOUR / SA 11. NOVEMBER 2023 59

JÖRG HALUBEK

JÖRG HALUBEK lehrt als Professor für


Historische Tasteninstrumente an der Mu-
sikhochschule Stuttgart. Dort und in Frei-
burg studierte er Kirchenmusik, Orgel und
Cembalo bei Jon Laukvik und Robert Hill.
An der Schola Cantorum Basiliensis speziali-
sierte er sich bei Jesper Christensen und
Andrea Marcon auf die Historische Auffüh-
rungspraxis. Als Dirigent gilt Jörg Halubeks
Interesse der dramatischen Aktualität der
alten Stoffe. Daher ist es ihm ein Anliegen,
in die Zusammenarbeit mit Regisseuren zu
investieren und Flexibilität für dramatische
Konzepte mitzubringen. Mit seinem Ensem-
ble Il Gusto Barocco veröffentlichte er 2022
in einer Serie mit Bach-Werken als zweites
Album Suite & Concertos, in diesem Jahr folg-
te die Einspielung von Cleofida, die Bearbei-
tung von Händels Poro durch Georg Philipp
Telemann. Neben seiner Tätigkeit als Diri-
gent ist Jörg Halubek seit dem Gewinn des
Internationalen Johann-Sebastian-Bach-
Wettbewerbs in Leipzig 2004 als Cembalist
und Organist im In- und Ausland tätig. 2019
startete er sein multimedial angelegtes Pro-
jekt Bach Organ Landscapes, eine Gesamt-
einspielung der Orgelwerke Bachs an Origi-
nalinstrumenten mit online zugänglichem
Zusatzmaterial.
61

SA 11. NOVEMBER 2023 / 23.00 UHR


FLOTTMANN-HALLEN

GUILLAUME UND GILLES


GESÄNGE AUS DER BLÜTEZEIT BURGUNDS

ANONYMUS GUILLAUME DUFAY


AVE DULCE TU FRUMENTUM SE LA FACE AY PALE
(»cantasi come Geleymors«) Ballade zu 3 Stimmen (Manuskript Wolfenbüttel,
Kontrafaktur zum Tenor »Je loe amours« von Herzog August Bibliothek, u. a.)
Gilles Binchois aus dem Lochamer-Liederbuch, Nürn-
berg um 1450 (Manuskript Berlin, Staatsbibliothek) ANONYMUS
O INCOMPARABILIS VIRGO
GILLES BINCHOIS (UM 1400 – 1460) Kontrafaktur zu »Or me veult« von Guillaume Dufay
JE LOE AMOURS (Manuskript München, Bayerische Staatsbibliothek)
Ballade zu 3 Stimmen
(Manuskript Oxford, Bodleian Library) PORTUGALER
Estampie über »Or me veult« von Guillaume Dufay
ANONYMUS aus dem Codex St. Emmeram, Regensburg um 1450
JELOYAMORS »in Cytharis vel etiam in Organis« (Manuskript München, Bayerische Staatsbibliothek)
Intabulatur aus dem Buxheimer Orgelbuch, um 1470
(Manuskript München, Bayerische Staatsbibliothek) ***

*** ANONYMUS
TRISTE PLAISIR
GUILLAUME DUFAY (1397 – 1474) Tenor aus den Basses Danses der Margarete von
PAR DROIT JE PUIS BIEN COMPLAINDRE ET GEMIR Österreich (Brüssel, Bibliothèque royale Albert Ier)
Rondeau zu 4 Stimmen (Manuskript Oxford, Bodleian Arrangement von Marc Lewon
Library, u. a.)
OSWALD VON WOLKENSTEIN
*** (1376 – 1445)
O WUNNIKLICHER WOLGEZIERTER MAI
ANONYMUS Kontrafaktur zu »Triste plaisir« von Gilles Binchois
SE LE FATZE AY PALE
Intabulatur zu »Se la face ay pale« von Guillaume GILLES BINCHOIS
Dufay aus dem Buxheimer Orgelbuch TRISTE PLAISIR
Ballade zu 3 Stimmen (Manuskript Oxford, Bodleian
Library)

***
62 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

OSWALD VON WOLKENSTEIN GUILLAUME DUFAY


MIR DRINGET ZWINGET HELAS MON DUEIL
(»Den Techst vber das geleÿemors Wolkenstainer«) Virelai zu 3 Stimmen (Manuskript Porto, Biblioteca
Kontrafaktur zu »Je loe amours« von Gilles Binchois Municipal)
(Manuskript München, Bayerische Staatsbibliothek)
Rekonstruktion von Marc Lewon GILLES BINCHOIS
[OHNE TEXT]
*** Satz zu 3 Stimmen aus dem Schedelschen Liederbuch,
Leipzig um 1460 (Manuskript München, Bayerische
GUILLAUME DUFAY Staatsbibliothek)
LE SERVITEUR HAULT GUERDONNÉ
Rondeau zu 3 Stimmen aus dem Chansonnier cordifor- GUILLAUME DUFAY
me (Manuskript Paris, Bibliothèque nationale) HE, COMPAIGNONS, RESVELONS NOUS
Rondeau zu 4 Stimmen (Manuskript München,
GILLES BINCHOIS Bayerische Staatsbibliothek)
FILES A MARIER
Chanson zu 4 Stimmen (Manuskript Rom, Biblioteca
Apostolica Vaticana)
ENSEMBLE LEONES
*** Tessa Roos, Sabine Lutzenberger / Sopran
Jacob Lawrence / Tenor
ALEXANDER AGRICOLA (1446 – 1506) Elizabeth Rumsey / Viola d’arco
COMME FEMME Rui Stähelin / Plektrumlaute
Chanson zu 4 Stimmen aus dem Medici-Chansonnier
über einen Tenor von Gilles Binchois (Manuskript MARC LEWON / Leitung, Plektrumlaute,
Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana) Quinterne, Viola d’arco

GUILLAUME DUFAY
LA BELLE SE SIET Konzert ohne Pause
Ballade zu 3 Stimmen (Manuskript Oxford, Bodleian
Library)

***

GS-
GESAN M
E Z U
TEXT AD:
N L O
D OW E
WDR 3 .D

SENDUNG
DI 12. DEZEMBER 2023, 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
GUILLAUME UND GILLES / SA 11. NOVEMBER 2023 63

LA CONTENANCE ANGLOISE
Burgund – heute ist es vor allem für seine Hennegau geboren, wo man im intensiven
Weine berühmt. Im 14. und 15. Jahrhundert kulturellen Austausch mit dem französi-
war es eine gewichtige Größe im politischen schen und burgundischen Hof steht. Bin-
Machtgefüge Europas. Ausgehend von ihrem chois tritt 1424 zunächst in die Dienste des
Stammsitz Dijon spannten die Herzöge von Grafen von Suffolk, einem Funktionär der
Valois-Bourgogne, einer Seitenlinie des fran- englischen Besatzung. Durch ihn dürfte er
zösischen Königshauses, ihr Netzwerk über die englische Musik kennengerlernt haben,
weite Teile Frankreichs, das Heilige Römi- deren besonderer Stil damals auf dem Kon-
sche Reich und bis in die Niederlande mit tinent in Mode kommt. Um 1427 fällt Bin-
den Handelsmetropolen Gent, Brügge und chois’ Name dann bereits im Umfeld des
Leuven. Der wirtschaftliche Einfluss der bur- burgundischen Hofes, Anfang der 1430er
gundischen Herzöge weckte Begehrlichkei- Jahre gehört er fest zur Hofkapelle. Ihr hält
ten. Immer wieder kam es zu Konflikten mit er – bestens bezahlt – ein Leben lang die
der französischen Krone. Erst als 1415 die Treue. Bald schon avanciert er zu einem der
Truppen des englischen Königs Heinrich V. bekanntesten Musiker Europas. Von seinem
in Frankreich einfielen, rückte man zeitwei- innovativen Stil zeigt sich unter anderem
se enger zusammen. der Kleriker und Poet Martin Le Franc be-
eindruckt. In seiner Philipp dem Guten
GILLES gewidmeten Dichtung Le Champion des
Dames beschreibt er um 1442 jenen neuen,
Unter Philipp dem Guten erlebt Burgund in aus England stammenden Musikstil, den
der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine er »La contenance angloise« nennt. Diese
kulturelle Blüte. Der Herzog leistet sich un- ›englische Haltung‹ zeichne sich vor allem
ter anderem eine der größten und besten durch ihre »frischen Harmonien« aus. Ne-
Hofkapellen Europas. Viele ihrer Mitglieder ben dem Engländer John Dunstable nennt
stammen aus dem franko-flämischen Raum, Le Franc mit Gilles Binchois und Guillaume
der damals die stilbildende musikalische Dufay zwei franko-flämische Komponisten,
Kaderschmiede Europas ist. Engagiert vor die den angesagten Stil meisterhaft beherr-
allem als Sänger, sind sie in Personalunion schen.
oft zugleich Instrumentalisten und Kompo-
nisten. So verleihen sie der burgundischen GUILLAUME
Hofhaltung den gebührenden musikalischen
Glanz – in Gottesdiensten, bei prächtigen Kurz vor 1400 geboren, gilt auch Guillaume
Festbanketten und in der privaten Fürsten- Dufay als herausragender Musiker. Anders
kammer. als der Höfling Binchois, der sein Berufsle-
Der mit Abstand prominenteste Sängerkom- ben überwiegend in Burgund verbringt, reist
ponist an Philipps Hof ist Gilles de Bins, ge- der Kleriker Dufay quer durch Europa und
nannt Binchois. Er wird um 1400 in Mons im steht in Diensten verschiedener Fürsten und
64 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

Päpste. Ende der 1420er Jahre wird er Mit- höchst bescheidenen musice professoris
glied der päpstlichen Kapelle in Rom, ist in G. Du Fay«.
den nächsten Jahren aber immer wieder am In der Tat sind Binchois’ ausgewogene Melo-
Hof der Herzöge von Savoyen anzutreffen. dien für seine Zeit einzigartig. Dufay dage-
Als junger Mann nimmt Dufay in diplomati- gen besticht durch seinen schier grenzenlo-
scher Mission am Konstanzer Konzil teil. sen Erfindungsreichtum. Während der eine
Dass dieses politische Großereignis zwi- hauptsächlich weltliche Chansons für den
schen 1414 und 1418 auch unzählige Musiker Hof von Burgund komponiert, nutzt der an-
aus allen Ecken Europas nach Konstanz spült, dere nahezu alle Formen der polyphonen
wird ihn nachhaltig geprägt haben. Denn sie Musik seiner Zeit. Bis weit ins 16. Jahrhun-
alle bringen ihre regionalen Stile und Moden dert gehören Dufays Kompositionen euro-
mit an den Bodensee. Der Chronist Ulrich paweit zum Repertoire. Auch die eleganten
von Richental schwärmt vor allem vom Melodien von Binchois sind damals noch
»engelsschen [englischen] süßen Gesang allgegenwärtig, kursieren aber vor allem in
mit den prosonen [Posaunen], darüber Bearbeitungen.
Tenor, Discant und Medium [Mittelstimme]«. Bei aller Unterschiedlichkeit treffen sich
Solche dreistimmigen melodiebetonten Guillaume und Gilles in ihrem gemeinsamen
Werke werden wegweisend für die Musik Interesse an galanten Chansons, in denen es
des 15. Jahrhunderts. vor allem um die höfische Liebe geht. Eine
Auswahl solcher liedhaften Werke stellt das
HONIGSÜSSE LIEDER, HIMMLISCHE Ensemble Leones mit seinem Programmm
HARMONIEN in einen größeren Kontext und beleuchtet
so die beeindruckende Bandbreite der Aus-
Binchois und Dufay schätzen sich. Sie sind drucksmöglichkeiten beider Komponisten.
sich vermutlich mehrfach persönlich begeg- Ein Schwerpunkt liegt dabei auf jenen Melo-
net. Le Franc berichtet von einem Zusam- dien und Chansons, die Zeitgenossen und
mentreffen, das 1434 am Hof von Chambéry nachfolgende Generationen zu instrumen-
in Savoyen stattgefunden haben könnte. talen Bearbeitungen und Kontrafakturen,
Dort erleben die beiden Meisterkomponis- also Neutextierungen inspirierten. Diese als
ten zwei blinde Vielle- und Lautenspieler, Wertschätzung zu verstehende Praxis beför-
auf deren faszinierende Darbietung sie etwas dert damals nicht nur den Ruhm von Dufay
beschämt und nicht ohne Neid reagiert ha- und Binchois, sondern erhebt beide zugleich
ben sollen. In einer um 1450 entstandenen zu mode- und stilbildenden Vorbildern.
Abschrift des Champion des Dames findet
sich eine Miniatur, die Dufay im blauen Kle- GESUNGEN, GESCHLAGEN UND
rikerhabit neben einer Orgel stehend abbil- GEZUPFT
det, ihm gegenüber Binchois im auffallend
roten Gewand, elegant auf eine Harfe ge- Binchois’ Chanson Je loe amours scheint be-
stützt. sonders populär gewesen zu sein. Zumin-
In einem Schreiben an den Hof von Savoyen dest dient sie im 15. Jahrhundert in vielfälti-
von 1439 erwähnt Le Franc beide als vorbild- ger Weise als Ausgangspunkt für Neutextie-
liche Komponisten und preist die »honigsü- rungen und (instrumentale) Bearbeitungen.
ßen Lieder von Binchois« sowie die »himmli- Als geistliche Kontrafaktur Ave dulce tu
schen Harmonien unseres exzellenten und frumentum überliefert sie das Lochamer-
GUILLAUME UND GILLES / SA 11. NOVEMBER 2023 65

Liederbuch. In dieser bedeutenden, Mitte ihre Tenorstimme wurde ein Gassenhauer.


des 15. Jahrhunderts in Nürnberg entstan- Sie findet sich in einem Tanzbüchlein, das
denen Handschrift wird aber nur der Tenor Margarete von Österreich um 1500 in Auf-
verwendet, also die tiefste Stimme im drei- trag gab, als Grundlage für eine basse danse,
stimmigen Satz, in der die eigentliche Melo- einen majestätischen Schreittanz, der damals
die liegt. Eine den ursprünglichen Titel ver- in Mode war. Oswald von Wolkenstein hat
ballhornende Anweisung »cantasi come der Melodie seinen Text O wunniklicher wol-
Geleymors« (›zu singen wie Je loe amours‹) gezierter mai unterlegt.
verweist hier sogar ausdrücklich auf die Her- Auch einige von Dufays Werken werden zu
kunft der Melodie. In Mir dringet zwinget ›Schlagern‹. Seine Chanson Le serviteur ist
nimmt der berühmte Dichter und Kompo- in nahezu allen Chansonniers der Zeit zu fin-
nist Oswald von Wolkenstein den Diskant den und wird von vielen angesehenen
der Chanson als Ausgangspunkt, die kunst- Komponisten bearbeitet, unter anderem
voll ausgeschmückte Oberstimme. von Alexander Agricola. Der greift in einem
Auch bei Organisten ist Je loe amours offen- seiner Werke auch auf den Tenor von Bin-
sichtlich beliebt. Zumindest enthält das chois’ Chanson Comme femme zurück.
ebenfalls im Süddeutschen zu verortende Eine Rarität findet sich im Schedelschen
Buxheimer Orgelbuch, eine der wichtigsten Liederbuch. Diese ebenfalls in Nürnberg
Sammlungen spätmittelalterlicher Tasten- entstandene Handschrift enthält als Unikat
musik, gleich sieben verzierte Fassungen. eine Chanson, die zwar ohne Text notiert ist,
Eine davon ist mit dem Hinweis versehen, dafür aber ausdrücklich Binchois als Kompo-
sie sei »in cytharis vel etiam in organis« aus- nisten nennt – was damals eher unüblich war.
zuführen, also auf Zupf- oder Tasteninstru- Auch wenn das Werk vorerst namenlos blei-
menten. Auf solche aufführungspraktische ben muss, ist es doch ein weiteres instrumen-
Vielfalt beruft sich das Ensemble Leones in tales Zeugnis für die umfassende internatio-
seinen Interpretationen. nale Wirkung dieses Ausnahmekomponisten.

HITPARADE ANNO 1450 MARC LEWON / HELGA HEYDER-SPÄTH

Auch die Werke von Guillaume Dufay sind


im 15. Jahrhundert beliebte Grundlagen für
Kontrafakturen und Bearbeitungen. So fin-
det sich im Buxheimer Orgelbuch eine in-
strumentale Fassung seiner Ballade Se la
face ay pale. Seine Ballade Or me veult exis-
tiert ebenfalls in unterschiedlichsten Versio-
nen. Heute Abend erklingt sie einerseits mit
einem geistlichen Text in der Motette O in-
comparabilis virgo und andererseits in einer
tänzerischen Estampie namens Portugaler.
Zu den heute bekanntesten Chansons von
Binchois gehört die innige Liebeklage Triste
plaisir. Im dreistimmigen Original ist sie
zwar nur in einer Quelle überliefert, aber
66 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ENSEMBLE LEONES

Das ENSEMBLE LEONES wurde 2008 ge- der burgundischen Epoche, woraus 2016 die
gründet und hat sich unter Leitung von CD-Einspielung zum Chansonnier Cordifor-
Marc Lewon der Aufführung Früher Musik me (Straight from the Heart), 2022 zum
verschrieben. Es vereint auf dieses Reper- (Plektrum-)Lautenduo des 15. Jahrhunderts
toire spezialisierte Musikerinnen und Musi- (Two Lutes with Grace) und 2023 zu den Uni-
ker, für die eine genaue Kenntnis der origi- ca des neuentdeckten Leuven-Chansonniers
nalen Quellen und eine verinnerlichte Ver- entstanden (Unicum). Das Ensemble konzer-
trautheit mit den historischen Musikstilen tiert mit großem Erfolg auf den Bühnen re-
unabdingbar zur Virtuosität und Lebendig- nommierter Festivals. Seine Mitglieder
keit der Aufführung gehören. Ein Marken- kommen zum großen Teil aus der Schola
zeichen des Ensembles ist die Entdeckung Cantorum Basiliensis und spielen ebenso
bislang unbekannter Werke aus Mittelalter bei anderen führenden Ensembles für Musik
und Renaissance. 2011 erschien das Debüt- aus Mittelalter und Renaissance.
Album Les fantaisies de Josquin, das als Bonus-
Track die Ersteinspielung von Arvo Pärts
Sei gelobt, du Baum enthält. Mit der 2012
veröffentlichten CD Neidhart – A Minnesin-
ger and His ›Vale of Tears‹ offeriert Leones
eine neue Hör-Art des Minnesangs. Zusam-
men stecken beide Produktionen die musi-
kalische Bandbreite des Ensembles ab: von
der Einstimmigkeit des 13. Jahrhunderts bis
zur Instrumentalmusik um 1500. Das dritte
Album Colours in the Dark mit Instrumental-
musik von Alexander Agricola erschien 2013.
Mit der im Jahr darauf veröffentlichten CD
The Cosmopolitan – Songs by Oswald von
Wolkenstein setzte Leones seine Arbeit an
deutschsprachigen Repertoires des Mittel-
alters fort. In den Folgejahren beschäftigte
sich das Ensemble verstärkt mit Chansons
GUILLAUME UND GILLES / SA 11. NOVEMBER 2023 67

MARC LEWON

MARC LEWON ist Spezialist für die Musik der monatlichen Basler Konzertreihe
aus Mittelalter und Renaissance und ein an- ReRenaissance tätig.
erkannter Experte im Bereich der Frühen
Musik. In ihm vereinigen sich musikalisches
Talent und Forschergeist zur Entwicklung
neuer Perspektiven für die Aufführungspra-
xis, die sich in zahlreichen CD- und Rund-
funk-Einspielungen sowie Publikationen
über Frühe Musik dokumentieren. Als inter-
national konzertierender Musiker arbeitet
Marc Lewon mit führenden Ensembles und
Solisten der Frühen Musik und als künstleri-
scher Berater für mehrere Festivals. 2008
gründete er sein eigenes Ensemble Leones.
Neben Dozenturen an der Musikhochschule
Leipzig sowie den Universitäten Wien und
Heidelberg gibt er Meisterklassen und En-
semblekurse. Er ist maßgeblich am For-
schungsprojekt Musikleben des Spätmittel-
alters in der Region Österreich (ca. 1340 –
ca. 1520) unter der Leitung von Birgit Lodes
und Reinhard Strohm an der Universität
Wien sowie am internationalen Forschungs-
projekt E-LAUTE (Electronic Linked Annota-
ted Unified Tablature Edition) beteiligt. 2017
übernahm Marc Lewon die Professur für
Lauteninstrumente des Mittelalters und
der frühen Neuzeit an der Schola Cantorum
Basiliensis. 2018 erhielt er seinen Doctor
of Philosophy in Music an der Universität
Oxford. Seit 2020 ist er im Leitungskreis
69

SO 12. NOVEMBER 2023 / 11.00 UHR


KULTURZENTRUM

HERBST DER GAMBE

JOHANN SEBASTIAN BACH TEODORO BAÙ / Viola da gamba


(1685 – 1750) ANDREA BUCCARELLA / Cembalo
SONATE G-DUR, BWV 1027
für obligates Cembalo und Viola da gamba
Adagio – Allegro ma non tanto – Andante – Allegro
Moderato

CARL FRIEDRICH ABEL (1723 – 1787)


SÄTZE IN D-MOLL
für Viola da gamba solo
aus dem Drexel-Manuskript (New York, Public Library
for the Performing Arts)
(Prélude) – Allegro – Adagio – Allegro

JOHANN SEBASTIAN BACH


SONATE D-DUR, BWV 1028
für obligates Cembalo und Viola da gamba
Adagio – Allegro – Andante – Allegro

GEORG FRIEDRICH HÄNDEL


(1685 – 1759)
CHACONNE G-DUR, HWV 435
für Cembalo solo

JOHANN SEBASTIAN BACH


SONATE G-MOLL, BWV 1029
für obligates Cembalo und Viola da gamba
Vivace – Adagio – Allegro

Konzert ohne Pause

SENDUNG
DI 19. DEZEMBER 2023, 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 KONZERT WDR 3 KONZERTPLAYER
70 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

BAROCKE KLASSIKER
»Sicardsburg und van der Nüll haben beide Ingenheim nachweisbar, sind aber seither
keinen Styl!«, spottete man im Wien der verschollen). Die Besetzung der drei Sona-
1860er Jahre über die Architekten der Wie- ten ist damit eindeutig festgelegt: Zwar wäre
ner Staatsoper. Der Kaiser selbst war ›not ja am Tasteninstrument nicht zu zweifeln
amused‹ und trieb Eduard van der Nüll, der gewesen, doch anstelle der tonschwächeren
gemeinsam mit August Sicard von Sicards- Gambe – ihre geringere Lautstärke und da-
burg, Gottfried Semper und Heinrich von mit mangelnde Eignung für die aufkommen-
Ferstel den Historismus des Wiener Stadt- de Orchestermusik wird meist als Grund
bilds prägte, mit seinem ignoranten Bau- ihres Verschwindens im Laufe des 18. Jahr-
meister-Bashing in den Selbstmord. Der hunderts angeführt – hätte damals schon
Architekt erhängte sich am 3. April 1868. das daneben in Gebrauch stehende Violon-
Sein Kompagnon Sicardsburg starb nur zehn cello verwendet werden können. Werke die-
Wochen später an einem Herzinfarkt. ses Tonbereiches wurden sicher schon viel-
Nun, so tragisch wie mit diesen beiden Her- fach auf beiden Instrumenten ausgeführt;
ren ging es mit Johann Sebastian Bach nicht die Gambe verfügt indes aufgrund ihrer Bau-
zu, obwohl er sich nicht scheute, den Unwil- weise über einen Ton, der ›klarer‹ zeichnet als
len der Obrigkeit zu provozieren – mit »hals- der des Violoncellos und damals gemeinhin
starriger Bezeugung« schon in jungen Jahren noch als aristokratisch-vornehm galt.
in Weimar, später dann sehr prominent in
Leipzig. Bachs Kompositionsstil mit der Neo- Bach stand von 1717 bis 1723 als Kapellmeister
renaissance und dem Neobarock spätroman- in Diensten des Fürsten Leopold von An-
tischer Baukunst zu vergleichen, mag man- halt-Köthen, wo er eine kleine Kapelle von
chen entschieden zu weit gehen. Gleichwohl insgesamt 18 Mann zur Verfügung hatte. Ei-
gehört Bach mit seiner nie verhohlenen ner dieser ihm unterstellten Musiker war der
»musikalischen Gelahrtheit« in die erste Rei- Gambist Christian Ferdinand Abel (1683 –
he jener Komponisten, die Tradition und In- 1737), mit dem Bach rasch Freundschaft
novation zu einem universellen Personalstil schloss und für dessen erstgeborene Tochter
verschränken konnten, der auf eine unheim- er 1720 als Taufpate fungierte. Abels jüngster
liche Weise unnachahmlich bleiben sollte. Sohn, Carl Friedrich, sollte die aussterbende
Gambe dann noch bis weit ins 18. Jahrhundert
IM KLAREN GAMBENKLANG hinein sehr kunstvoll am Leben erhalten, wes-
halb Teodoro Baù für das heutige Programm
»Sonata à Cembalo e Viola da gamba di vier seiner virtuosen Stücke für Viola da
J. S. B.« steht auf dem Titelblatt der Sonate gamba solo zu einer kleinen Suite zusammen-
G-Dur, der einzigen im Autograph erhalte- gestellt hat. Abel senior war wohl aber auch
nen der drei Sonaten BWV 1027 – 1029 (die Lehrer des hochmusikalischen Fürsten Leo-
Originalstimmen der g-Moll-Sonate waren pold, der neben dem Cembalo und der Vio-
noch 1860 im Besitz der Gräfin Eugenie von line eben die Gambe spielte. Für seinen Un-
HERBST DER GAMBE / SO 12. NOVEMBER 2023 71

terricht hat Bach möglicherweise die drei So- ZWISCHEN BAROCK UND KLASSIK
naten BVW 1027 – 1029 geschrieben oder
zumindest umgeschrieben. Formal handelt es sich bei der ersten Sonate
G-Dur (BWV 1027) um eine sogenannte Kir-
TRIOS FÜRS DUO chensonate. Bach hatte das Repertoire der
Sonata da chiesa bereits in jungen Jahren
Ebenso wie die wahrscheinlich zur selben gründlich studiert, wie seine Bearbeitungen
Zeit entstandenen Sonaten für Violine und für Orgel von Werken Giovanni Legrenzis
Cembalo sind auch diese Gambensonaten (BWV 574) und Arcangelo Corellis (BWV 579)
wahre Meisterwerke, Kammermusik von ei- zeigen. Dieser Typus, der tatsächlich für li-
nem Typus, der damals so gut wie neu war: turgische Zwecke dienen konnte, bestand
Anstelle der bisher gepflegten Art der ins- aus jeweils vier Sätzen in paarweiser Anord-
trumentalen Partnerschaft, die aus zwei nung ›langsam – schnell / langsam – schnell‹,
Stimmen – Melodie und Bass – mit Akkord- wobei meist nur der dritte Satz aus der Grund-
füllung bestand, brachte Bach die obligate tonart ausbrach (und das selten weiter als
dreistimmige Stimmführung zur Anwen- bis in die parallele Dur- oder Moll-Tonart).
dung, wobei das Tasteninstrument zwei Nach dem langsamen Einleitungssatz folgte
Stimmen auszuführen hat, somit gleichbe- in der Regel ein schneller Satz von fugiertem
rechtigt neben dem Melodieinstrument oder mindestens polyphonem Charakter;
steht. der dritte hatte oft den Gestus einer Aria,
Vorbilder dafür könnten italienische Trio- der vierte konnte dem ersten ähnlich sein
sonaten gewesen sein, die bekanntlich von oder sich an das Tanzmodell eines Suitensat-
zwei Melodieinstrumenten und Tasten- zes, etwa eine Gigue, anlehnen.
instrument ausgeführt wurden. In diesem Die zweite Sonate D-Dur (BWV 1028) ist
Zusammenhang ist interessant, dass die ers- ebenfalls viersätzig und folgt dem entspre-
te der drei Gambensonaten eine Umarbei- chenden Triosonaten-Modell. Das erste Ada-
tung einer Triosonate für zwei Flöten und gio beruht auf einer Art Alberti-Bass, über
Basso continuo darstellt. Doch ist die struk- dem sich die beiden Oberstimmen in einem
turelle und formale Beschaffenheit von zarten Dialog erheben. Im zweiten Satz sind
Bachs Kammermusiksonaten eine so gänz- die Oberstimmen in Terzen und Sexten ge-
lich andere, dass mehr als eine Anregung führt, sodass man an Kompositionen Georg
nicht von dieser Seite gekommen sein kann. Philipp Telemanns oder auch Johann Adolph
Eine Parallele findet man lediglich bei Bach Hasses erinnert wird. Der dritte Satz ist ein
selbst: bei seinen Orgelsonaten, die eben- modisches Siciliano, in dem der Komponist
falls obligat dreistimmig sind und ähnlichen seiner Vorliebe für Chromatik und Dissonanz
formalen Zuschnitt aufweisen – tatsächlich nachgeht, wobei die einzelnen Stimmen
existiert vom Finalsatz der Sonate G-Dur imitatorisch geführt sind. Am Ende erklingt
auch eine Bearbeitung Bachs für Orgel. ein fugiertes Finale, das sich aus einem
72 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

bewegten Thema im 6/8-Takt entwickelt. Chaconne G-Dur (HWV 435) entwarf Händel
Der dritten Sonate g-Moll (BWV 1029) fehlt ein prägnantes Thema, in dem sich vier ab-
der langsame Einleitungssatz, wodurch sich steigende Töne und eine Kadenzformel mit
bereits eine deutliche Annäherung an den einem einprägsamen Rhythmus verbinden.
Typus der späteren klassischen Sonate er- Das Stück enthält 21 Variationen und glie-
gibt. Tatsächlich nehmen keine anderen dert sich anschaulich in drei sich verkürzen-
Werke der Literatur eine ähnliche Brücken- de Teile, die einer jeweils eigenen Steige-
stellung zwischen Barock und Klassik ein wie rungsdynamik folgen. Am Schluss rauscht
die Bach’schen Sonaten für Cembalo und ein und wallt es im Cembalo so wie die üppi-
Melodieinstrument. Diese Zwischenstellung gen Rüschen aus Händels Hemdbrust und
zeigt sich auch in der häufigen Binnen-Drei- Rockärmeln.
teilung der Sätze, ja gelegentlich in Kontrast-
wirkungen, die schon die Präsenz von zwei AUCH EINE FRAGE DER GARDEROBE?
Themen anzunehmen gestatten.
Apropos: Sollten Stil- und Modefragen –
PIÈCEN NACH CORELLIS ART auch und vor allem im Zusammenhang mit
der Historischen Aufführungspraxis Alter
Anders als Bach war Georg Friedrich Händel Musik – noch etwas genauer die Garderoben
nicht zuletzt als Opernunternehmer auf dem jener Zeit in Blick nehmen? Wie hat es sich
heißen Londoner Pflaster tief in die Launen überhaupt angefühlt, im schweren barocken
des Publikumsgeschmacks verstrickt. Kehr- Gehrock mit seinen ausladenden Manschet-
seite seiner schillernden Karriere waren zahl- ten Geige, Gambe oder Cembalo zu spielen?
reiche Raub- und Nachdrucke, gegen die sich Wieviel Bewegungsfreiheit erlaubte dieser
Händel zeitlebens zur Wehr setzte. In die- Anzug? Der Autor dieser Zeilen kann aus
sem Zusammenhang steht auch eine unter wiederholter Erfahrung am eigenen Leib be-
seiner Beteiligung zusammengestellte Samm- richten: ›Lümmeln‹ kann man in solcher Ge-
lung von Suites de Pièces pour le Clavecin, wandung nicht. Allein Gewicht und Enge des
die 1733 in London erschien und mit der er taillierten Rocks zwingen zum aufrechten
eine frühere, ohne sein Wissen und Zutun Gang und Sitz. Die Herren Bach und Händel
erschienene Amsterdamer Ausgabe ersetzen als durch und durch barocke Menschen wie-
wollte. Die Sammlung enthält zwei Chacon- sen wohl ihre Schneider an, da und dort et-
nen, die vor 1726 entstanden sein müssen. was »herauszulassen«. Ein anderes Körper-
Die Chaconne hatte sich im 17. Jahrhundert und Selbstbewusstsein zeitigt eben auch
zu einer in ganz Europa verbreiteten Basso- andere Moden und Stile.
ostinato-Form entwickelt, einer Variations-
reihe mit einer durchgehend beibehaltenen PETER REICHELT
Tonfolge im Bass. Für seine »corellisierende«
HERBST DER GAMBE / SO 12. NOVEMBER 2023 73

TEODORO BAÙ

TEODORO BAÙ wurde 1992 geboren und glied des Ensembles La Fonte Musica, in
begann schon früh mit dem Studium der dem er im frühen Repertoire der Ars Subtili-
Viola da gamba bei Claudia Pasetto am Kon- or die mittelalterliche Fidel spielt. Teodoro
servatorium von Castelfranco Veneto. 2012 Baù unterrichtet Viola da gamba im Rah-
schloss er dieses Studium am Konservatori- men der Sommerkurse für Alte Musik in Ur-
um von Verona unter Massimo Lonardi mit bino.
Auszeichnung ab. Es folgten bis Mai 2017
weitere Studien an der Schola Cantorum
Basiliensis bei Paolo Pandolfo (Viola da
gamba) und Peter Croton (Theorbe), die
er ebenfalls mit Auszeichnung abschloss.
Danach erweiterte er seine Spezialkenntnis-
se noch bei Vittorio Ghielmi am Mozarteum
in Salzburg. Er gewann 2015 den Bach-Abel-
Wettbewerb in Köthen und 2021 den ersten
Preis und den Outhere-Preis beim Musica-
antiqua-Wettbewerb in Brügge. Von 2013
bis 2015 wurde er durch das Schweizerische
Bundesstipendium für Exzellenz in den Küns-
ten unterstützt. Teodoro Baù wirkte an vie-
len CD-Aufnahmen mit und arbeitet unter
anderem mit Cecilia Bartoli, I Barocchisti,
Gli Incogniti, La Cappella Mediterranea und
La Cetra Basel zusammen. In den letzten
Jahren wechselte er von der solistischen zur
kammermusikalischen Tätigkeit; er ist Mit-
74 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ANDREA BUCCARELLA

ANDREA BUCCARELLA begann seine 2023 vertrat er an der Schola Cantorum


musikalische Ausbildung als Sängerknabe Basiliensis Andrea Marcon, dessen Cembalo-
im Chor der Sixtinischen Kapelle in Rom. klasse er seit dem laufenden Semester als
An das Diplom für Orgel und Orgelkomposi- Assistent unterrichtet.
tion am dortigen Conrvatorio Santa Cecilia
schloss er ein Studium für Cembalo und his-
torische Tasteninstrumente zunächst bei
Enrico Baiano und nachfolgend an der Scho-
la Cantorum Basiliensis bei Andrea Marcon
an (Masterabschlüsse ›mit Auszeichnung‹).
Andrea Buccarella konzertiert als Maestro
al Cembalo mit verschiedenen vokalen und
instrumentalen Ensembles. Er leitet das Ab-
chordis Ensemble, das 2015 den ersten Preis
beim Göttinger Händel-Wettbewerb errang.
Solistisch war er 2018 Sieger beim Wettbe-
werb Musica Antiqua Brügge und gewann
zudem den Outhere Award. Seine CD Toccata
erhielt 2020 den Diapason d’Or Découverte.
Darüber hinaus hat Andrea Buccarella Bachs
Konzerte für zwei Cembali und Streicher mit
Francesco Corti und Il Pomo dʼOro einge-
spielt sowie Bachs Konzert für vier Cembali
und Streicher mit Rinaldo Alessandrini und
Concerto Italiano. In Zusammenarbeit mit
Solostimmen wie Marie Lys, Arianna Vendit-
telli und Sergio Foresti hat er als Leiter sei-
nes Abchordis Ensemble verschiedene Ein-
spielungen aus dem italienischen Vokal-
repertoire des 18. Jahrhunderts vorgelegt.
77

SO 12. NOVEMBER 2023 / 16.00 UHR


KREUZKIRCHE

TANZ!
BAROCKE OSTINATI UND TANZPHÄNOMENE DES 20. UND 21. JAHRHUNDERTS

HENRY PURCELL (1659 – 1696) GEORG MUFFAT (1653 – 1704)


SUITE AUS »THE MARRIED BEAU« PASSACAGLIA G-DUR
für 2 Violinen, Viola und Basso continuo (London für 2 Violinen, Viola und Basso continuo
1694) aus: Armonico tributo (Salzburg 1682)
Overture – Slow Air – Hornpipe – Air – Hornpipe –
Jig – Trumpet Air – March – Hornpipe on a Ground DONNACHA DENNEHY (*1970)
GLAMOUR SLEEPER
DAVID LANG (*1957) für Klarinette, Violine, Perkussion, Klavier und Elek-
BURN NOTICE tronik (2003)
für Flöte, Violoncello und Klavier (1988)

ANTONIO BERTALI (1605 – 1669)


CIACCONA C-DUR FREIBURGER BAROCKCONSORT
für Violine und Basso continuo Petra Müllejans, Judith von der Goltz / Violine
aus dem Partiturbuch des Jakob Ludwig, Gotha 1662 Anna Kaiser / Viola
(Manuskript Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek) Matthias Müller / Viola da gamba
Mariona Mateu Carles / Violone
MICHAEL GORDON (*1956) Johannes Ötzbrugger / Laute
THE LIGHT OF THE DARK Torsten Johann / Cembalo
für Flöte, Klarinette, Perkussion, Klavier, Violine
und Violoncello sowie Gitarre, Mundharmonika und ENSEMBLE RECHERCHE
Akkordeon (2008) Anja Clift / Flöte
Shizuyo Oka / Klarinette
GUILLAUME CONNESSON (*1970) Klaus Steffes-Holländer / Klavier
TECHNO PARADE Christian Dierstein / Perkussion
für Flöte, Klarinette und Klavier (2002) Melise Mellinger / Violine
Åsa Åkerberg / Violoncello
ANTONIO VIVALDI (1678 – 1741) Sebastián Zuleta / Klangregie
LA FOLLIA D-MOLL
für 2 Violinen und Basso continuo Konzert ohne Pause
aus: Sonate da camera a tre, op. 1 (Venedig 1705)

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78 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

PURE LEBENSFREUDE
»Dancing is the poetry of the foot« – der Das Konzert des Freiburger BarockConsort
englische Barockdichter John Dryden fühlte und des ebenfalls in Freiburg ansässigen en-
sich beim Jonglieren mit Wort, Reim und semble recherche stellt Kompositionen des
Metrum an die virtuose Fußarbeit beim Tanz 18. Jahrhunderts und der Neuzeit gegenüber,
erinnert. Für seinen deutschen Zeitgenos- die auf unterschiedliche Weise Elemente der
sen, den früh verstorbenen Lyriker Paul Tanzmusik ihrer Epoche verarbeiten.
Fleming, trägt der Tanz gar zur Bildung und
Veredelung des Charakters bei: »Lasst uns VOLKSTANZ UND POP
tanzen, lasst uns springen! / Lasst uns laufen
für und für! / Denn durch Tanzen lernen wir / In seiner Semi-Opera The married beau greift
eine Kunst von schönen Dingen.« Henry Purcell auf typische Volktanz-Rhyth-
men seiner Zeit zurück. So erklingen neben
Während Musik durch Töne wirkt, ist das einer Jig gleich drei Hornpipes – ursprüng-
Material des Tanzes der ganze Mensch. An- lich ein lebhafter Tanz der Landbevölkerung
geregt durch den Rhythmus beginnt er sich im Norden Englands. Später entwickelte
zu bewegen: schreitet oder springt, dreht sich die Hornpipe zu einem virtuosen Solo-
sich oder hüpft; alleine oder im Paar; im tanz, bei dem das Klappern der hölzernen
Kreis, in einer Kette, im Reigen oder wild Schuhsohlen einen perkussiven Effekt er-
durcheinander; mal jauchzend und jubelnd, zeugte – ein Vorläufer des Stepptanzes.
mal meditativ und würdevoll. Tanz ist eine Der zeitgenössische amerikanische Kompo-
der ursprünglichsten Ausdrucksformen des nist David Lang, bekannter Vertreter des
Menschen. Schon Höhlenmalereien aus der ›post-minimalistischen‹ Stils, lässt sich in vie-
Steinzeit zeigen tanzende Figuren. Rhythmi- len seiner Werke von Elementen der Rock-
sche Bewegung zu Musik als Ausdruck der musik anregen. Die rhythmisch getriebenen
Lebensfreude: »Salto, ergo sum: Ich tanze, Figuren und vielfachen Wiederholungen in
also bin ich!« Burn Notice erinnern an Pop-Idiome, auch
Es verwundert kaum, dass die stilisierten wenn das Stück nicht tanzbar ist.
Tanzformen der ›upper classes‹ meist auf
den erdigen Rhythmen der ›einfachen Be- Auch die Chaconne, eine der beliebtesten In-
völkerung‹ basieren. Der Walzer wurde strumentalformen der Barockzeit, ist durch
als unzüchtig verboten, bevor er Ende des ständige Wiederholungen geprägt. Ihr liegt
18. Jahrhunderts in die Salons einzog. Der ein immer gleichbleibendes kurzes Harmo-
Tango aus den Bordellen und Hafenkneipen nieschema zu Grunde – meist vier oder acht
von Buenos Aires wurde unter den Händen Takte. Glaubt man den spanischen Chronis-
von Meistern wie Astor Piazzolla zum Kunst- ten des 16. Jahrhunderts, war die Chaconne
werk. Auch die Musik der Barockzeit und die anfangs ein wilder, zügelloser Tanz der
der Avantgarde haben immer wieder auf schwarzen Sklaven in Lateinamerika. In der
populäre Tanzrhythmen zurückgegriffen. höfischen Kultur des Abendlandes entwickel-
TANZ! / SO 12. NOVEMBER 2023 79

te sich daraus eine virtuose Variationskunst, Wörtlich übersetzt bezeichnet ›Follia‹ die
meist im bedächtigen Tempo – so wie die Verrücktheit. Von Portugal aus hatte ihr aus-
Chaconne des italienischen Violinvirtuosen gelassener Rhythmus damals halb Europa er-
Antonio Bertali, der im 17. Jahrhundert Ka- obert. Doch ähnlich wie bei der Chaconne
pellmeister am Kaiserhof in Wien war. änderte sich der Charakter des Tanzes, als
er Eingang in die Welt der höfischen Musik
HOMMAGE AN ROCK UND TECHNO fand. Das Metrum der Follia wurde ruhiger,
das Augen- oder Ohrenmerk lag auf den viel-
Samples, Elektrogitarren, wilde Rhythmen fältigen und kunstvollen Variationen der
und Spielweisen bis hin zur Vehemenz der Oberstimme. Die Follia, mit der Antonio
Einstürzenden Neubauten prägen das Werk Vivaldi sein Debüt-Opus mit zwölf Trioso-
des amerikanischen Komponisten David naten abschließt, ist eine der schönsten Be-
Gordon. Neue Musik dürfe sich nicht im arbeitungen des Themas.
Elfenbeinturm einmauern, sondern müsse Eng verwandt mit der Form der Chaconne
integrieren, was Rock und Pop an Material ist die Passacaglia – über einer ständig wie-
bieten – so die Überzeugung des Komponis- derholten Bass-Linie von vier oder acht Tak-
ten. Gordons Werk The Light of the Dark ten entfaltet sich eine Folge von Variationen.
greift auf ein rein akustisches Instrumenta- Der barocke Musikgelehrte Johann Gottfried
rium zurück: über monoton schnarrenden, Walther schreibt über den Unterschied der
schrägen Glissandi des Cellos bewegen sich beiden Gattungen, dass die Melodie der
Violine, Flöte, Akkordeon und andere Instru- Passacaglia »mattherziger und die Expression
mente in einem wilden, makabren Melodien- nicht so lebhaft ist«. Das trifft auf die sanfte
Tanz. Passacaglia des barocken Komponisten
Guillaume Connesson, einer der meistge- Georg Muffat zu. Sie enthält 25 Variatio-
spielten französischen Komponisten der nen – ein hörenswerter Vorläufer von Jo-
Gegenwart, veröffentlichte 2002 sein Trio hann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen.
Techno Parade, eine virtuose Hommage an
die Techno-Musik. Connesson selbst Zur sanften Musik der Passacaglia bildet das
schreibt zu seinem Werk: »Das Stück besteht abschließende Stück des Konzertes einen
aus einem Satz mit einem beständigen Beat großen Kontrast: der irische Komponist
von Anfang bis Ende. Das Heulen der Klari- Donnacha Dennehy schreibt über seine
nette und die obsessiven Patterns des Kla- musikalischen Einflüsse: »Ich liebe eine Art
viers versuchen, die rohe Energie von Tech- Intensität. Und diese Intensität hat eine
no-Musik nachzuahmen.« Verbindung zu Rock. Obwohl ich das nie
direkt zitiere: aber ich mag die ausgedehnte
ZEITLOSE ERFOLGSMUSTER Ekstase von Rock und Electronic Dance
Music.« In Glamour Sleeper wird diese Vor-
Die barocke Follia könnte man als Techno liebe deutlich hörbar.
des 17. Jahrhunderts bezeichnen. »Ein rüpel-
hafter, wilder Tanz«, schrieb ein Chronist.
»Man schlägt wie verrückt auf der Schellen-
trommel herum, und der Lärm ist so gewal-
tig, dass alle wie von Sinnen scheinen.«
80 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

UNTER EINEM DACH

Das Freiburger BarockConsort und das en-


semble recherche wagen in ihrem gemein-
samen Konzertprojekt den Brückenschlag
zwischen Alter und Neuer Musik und prä-
sentieren neben schillernden Werken des
Hochbarocks zeitgenössische Werke, die in
ungewohnte Hörregionen entführen. Die
beiden Ensembles arbeiten seit etwa zwan-
zig Jahren regelmäßig zusammen, etwa in ih-
rer jährlichen Ensemble Akademie: Musikstu-
dierende, die sich sowohl für historisches als
auch zeitgenössisches Material interessieren,
sind eingeladen, mit Mitgliedern aus beiden
Ensembles kleine Programme zu erarbeiten,
die während der einwöchigen Veranstaltung
auch im Konzert aufgeführt werden.
2012 wurde für die Musikerinnen und Musi-
ker des Freiburger Barockorchesters und
des ensemble recherche das Ensemblehaus
Freiburg gebaut – seitdem proben und ar-
beiten die beiden Ensembles parallel an der
Verwirklichung ihrer Programme und Kon-
zepte. Wenn unter einem gemeinsamen
Dach aus der einen Ecke Alte und aus der
anderen Neue Musik tönt, liegt es nahe,
dass sich die beiden Ensembles hin und
wieder künstlerisch aufeinander beziehen.

Weit mehr als um das Nebeneinander unter-


schiedlicher Stile und Epochen geht es um
eine vielfältige Durchdringung älterer und
neuerer Musik. Zentral ist die gegenseitige
künstlerische Inspiration. Der Erfahrungs-
austausch über unterschiedliche Auffüh-
rungspraktiken spielt dabei ebenso eine
Rolle wie die Horizonterweiterung durch
neue Zugänge.

THOMAS DAUN
TANZ! / SO 12. NOVEMBER 2023 81

FREIBURGER BAROCKCONSORT

Das FREIBURGER BAROCKCONSORT Besetzung aufgeführt und mit Dorothee


hat sich auf die kleiner besetzte Musik des Mields ein Programm mit Orfeo-Kantaten
17. und frühen 18. Jahrhunderts spezialisiert. von Giovanni Battista Pergolesi, Alessandro
Bestehend aus Mitgliedern des Freiburger Scarlatti und Johann Joseph Fux gestaltet.
Barockorchesters, verfolgt es seit seiner In jüngerer Zeit arbeitet das Freiburger Ba-
Gründung das Ziel, mit ausgefallenen rockConsort verstärkt mit dem belgischen
Programmen abseits des gängigen Konzert- Vokalensemble Vox Luminis zusammen.
repertoires liegende Stücke wiederzuent-
decken oder vermeintlich Bekanntes aus un-
gewohnter Perspektive in neuem Licht er-
klingen zu lassen. Der programmatische
Horizont erstreckt sich dabei von engli-
scher über norddeutsche Musik, Kompositi-
onen aus dem Habsburgerreich und dem
italienischen Frühbarock bis hin zur Kombi-
nation von barocker und zeitgenössischer
Musik. Neben CD-Einspielungen mit Wer-
ken von Komponisten wie Heinrich Ignaz
Franz Biber, Johann Heinrich Schmelzer,
Georg Muffat und Antonio Bertali hat sich
das Ensemble erfolgreich für die in Verges-
senheit geratene Kammermusik Georg Phil-
ipp Telemanns eingesetzt. Das Freiburger
BarockConsort widmet sich auch der Auf-
führung von Vokalmusik. So hat es zusam-
men mit dem Orlando di Lasso Ensemble
Madrigale von Giovanni Valentini einge-
spielt, Bachs Johannes-Passion in solistischer
82 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

ENSEMBLE RECHERCHE

Seit 1985 widmen sich die Mitglieder des lierten Komponist:innen setzt es Impulse
ENSEMBLE RECHERCHE dem Neuen und und beeinflusst maßgeblich die Entwicklung
Unbekannten. Über den Zeitraum von mehr der gegenwärtigen Musik. 2018 erhielt das
als drei Jahrzehnten mit über 600 Urauffüh- ensemble recherche den Reinhold-Schnei-
rungen und rund 50 CD-Einspielungen hat der-Preis der Stadt Freiburg.
das Freiburger Ensemble musikalische Ge-
genwart gestaltet und Musikgeschichte ge-
schrieben. Die acht Musikerinnen und Musi-
ker – allesamt international konzertierende
Solisten im Bereich der Neuen Musik – ver-
bindet die große Lust am Experimentieren
und die Begeisterung für die intensive Aus-
einandersetzung mit der Gegenwart. Sie
stellen ihre enorme Musikalität und ihre in-
dividuellen Persönlichkeiten in den Dienst
des Kollektivs, um gemeinsam an der musi-
kalischen Gegenwart zu forschen. Das en-
semble recherche hat sich als einer der
wichtigsten Akteure der Neuen Musik etab-
liert. Es wird regelmäßig zu den renommier-
testen Festivals Europas eingeladen und war
auf internationalen Konzerttourneen u. a. in
Israel, Japan, China, Russland, Mexiko, in den
USA und Südamerika zu Gast. In Freiburg
bringt das Ensemble in seiner eigenen Kon-
zertreihe dem Publikum neue Entwicklun-
gen der zeitgenössischen Musik und span-
nende Komponist:innen-Persönlichkeiten
nah. In Kollaboration mit jungen wie etab-
85

SO 12. NOVEMBER 2023 / 19.00 UHR


KULTURZENTRUM

IMPERIALSTIL
ANTONIO CALDARA (1660 – 1736)
IL VENCESLAO
Dramma per musica in 5 Akten (Wien, Hoftheater, 4. November 1725)
Libretto von Apostolo Zeno

Venceslao: MAX EMANUEL CENCIC / Countertenor


Casimiro: NICHOLAS TAMAGNA / Countertenor
Alessandro: DENNIS ORELLANA / Countertenor
Lucinda: SUZANNE JEROSME / Sopran
Erenice: SONJA RUNJE / Mezzosopran
Ernando: STEFAN SBONNIK / Tenor
Gismondo: PAVEL KUDINOV / Bass

{OH!} ORKIESTRA
Adam Pastuszka, Bartłomiej Fraś / Violine 1
Sulamita Ślubowska, Marzena Biwo, Izabela Kozak / Violine 2
Dymitr Olszewski, Szymon Stochniol / Viola
Vladimir Waltham / Violoncello
Michał Bąk / Kontrabass
Anna Firlus / Cembalo
Pedro Castro, Benoît Laurent / Oboe, Blockflöte
Tomasz Wesołowski / Fagott
Thomas Steinbrucker, Martin Sillaber, Andreas Lackner, Gerd Bachmann / Trompete
Jarosław Kopeć / Pauken

MARTYNA PASTUSZKA / Leitung, Violine (Konzertmeisterin)

Pause nach dem 3. Akt

GS-
In Kooperation mit dem All'improvviso Festival Gliwice und Les Lumières e. V., GESAN M
ZU
gefördert durch die Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen TEXTE AD:
L O
D OW N E
Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten,
W D .D
R 3
Internationales sowie Medien
des Landes Nordrhein-Westfalen
und Chef der Staatskanzlei

SENDUNG
ZEITVERSETZT 20.04 UHR ZUM NACHHÖREN IM
WDR 3 OPER WDR 3 KONZERTPLAYER
86 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

DES KAISERS HOFOPER


Seit ihrer ›Erfindung‹ um das Jahr 1600 hat- chen gebührender massen zurückhalten«.
te sich die Oper als besonders aufwändige Karls eher nüchterner persönlicher Ge-
und spektakuläre Propagandagattung zu- schmack und seine Vorliebe für antik-römi-
nächst an Fürstenhöfen in Italien bewährt, sche Sujets prägten den Stil der Wiener Hof-
bevor sie dort ein Musiktheater für alle wur- oper seiner Zeit. Während diese ab den
de. Diesseits der Alpen blieb sie bis weit ins 1720er Jahren musikalisch immer mehr in
18. Jahrhundert ein fast ausschließlich höfi- Isolation geriet (wenngleich auf höchstem
sches Statussymbol von hoher, auch real- Niveau), weil sich Komponisten lokalen Ge-
politischer Bedeutung. Dabei entwickelten pflogenheiten anpassten, statt Innovation
sich Paris bzw. Versailles und Wien parallel anzubieten, übernahm sie dramaturgisch
zu ihrem wachsenden politischen Einfluss in geradezu eine Vorreiterrolle. Die Wiener
Europa und ihrer gleichermaßen wachsen- Hofpoeten, die in ihren Operntexten als
den Rivalität zu Hauptzentren höfischer ›PR-Agenten‹ der Habsburger Monarchie
Opernpflege. Während Frankreich unter deren aktuelle Positionen vertreten muss-
Ludwig XIV. die Tragédie lyrique in französi- ten, waren nämlich auch Protagonisten einer
scher Sprache kreierte, setzt der Habsbur- »arkadischen« Reform der italienischen
ger »Theatralstaab« auf italienisches Musik- Oper in dieser Zeit. Ihre für Wien geschaffe-
theater im »Imperialstil«. nen Libretti wurden anderswo reihenweise
neuvertont, mit enormen inhaltlichen wie
EIN EHER NÜCHTERNER GESCHMACK stilistischen Konsequenzen für die Gattung.
So war etwa die zunehmende Eliminierung
Die Regierungszeit Karls VI. von 1711 bis komischer Szenen aus der Opera seria in
1740 gilt als Endphase höfischer Pracht und dieser Zeit nicht zuletzt der »gestrengen
regelmäßiger ausschließlich höfischer Hofhaltung« unter Karl VI. geschuldet, die
Opernpflege in Wien. Fixpunkte im Hof- »das Komische und Verweichlichte nicht
opernkalender waren der Geburtstag der vertragen kann«, wie Apostolo Zeno notier-
Kaiserin (28. August) und der Namenstag te, der poeta cesarea von 1718 bis 1729.
des Kaisers (4. November), die Hauptbühne
das 1700 von Francesco Galli Bibiena reno- EIN FIKTIVER KÖNIG WENZEL
vierte Leopoldinische Hoftheater mit rund
5.000 Plätzen. Hier hatten auch bei ›öffent- Für die Fest-Oper zum kaiserlichen Namens-
lichen‹ Festvorstellungen neben Mitglie- tag am 4. November 1725 hatte Zeno ursprüng-
dern der kaiserlichen Familie und ihrem lich eine Vorlage mit dem Titel Caio Mario in
Hofstaat lediglich der »appartementfähige« Minturno entworfen, mit dem Feldherrn und
Adel, Gesandte, die Geistlichkeit und Staatsmann Gaius Marius als Identifikations-
»Freunde von Distinction« Zutritt. Das figur für den Kaiser. Schwere gesundheitliche
»eintringen wollende gemeine Volk aber« Probleme zwangen Zeno jedoch zu einer
mussten kraft kaiserlichem Befehl »die Wa- völlig anderen, kompromissartigen Lösung
IMPERIALSTIL / SO 12. NOVEMBER 2023 87

unter dem Titel Il Venceslao. Tatsächlich war Frankreich. Maria Leszczyńskas Vater war
›Wenzel‹ der vierte von insgesamt acht Vor- als Stanislaus I. von 1704 bis 1709 gewählter
namen des Kaisers. Allerdings geht es in König von Polen gewesen (und wollte es
diesem Libretto nicht um dessen frühmittel- später mit Unterstützung Frankreichs wie-
alterlichen Namenspatron, sondern um ei- der werden). Der Titelheld von Il Vencesclao
nen fiktiven König von Polen, der seinen als dynastisch legitimierter König von Polen
ältesten Sohn zum Tode verurteilen muss, lässt sich daher auch als Gegenentwurf zur
nachdem dieser seinen Bruder ermordet Realität des polnischen Wahlkönigtums se-
hat. Zur ›Authentifizierung‹ der ansonsten hen. Bezeichnend dafür die Worte des Titel-
erfundenen Handlung legte Zeno, der in helden im Schlussmonolog: »Was für einen
Wien auch die Position eines Hofhistorikers König hattest du, Polen! Der außerordentli-
innehatte, der Oper nachträglich zwei histo- che Umstand, durch den du ihn verlierst, sei
rische Gegebenheiten zugrunde: die Union dir eine Lehre.«
der Königreiche Polen und Litauen seit 1569
(sie hatte bis 1795 Bestand) sowie die Kämp- AUF HOFTAUGLICHKEIT GETRIMMT
fe von »Kosaken«, Schweden und Moskowi-
tern gegen den polnischen Staat im 17. Jahr- Ursprünglich hatte Zeno Il Vencesclao 1703 für
hundert. Dabei dienten ihm für Venceslao die Karnevalssaison des Teatro San Giovanni
und seinen bösartigen Sohn Casimiro wahr- Grisostomo in seiner Heimatstadt Venedig
scheinlich Władysław IV. Waza (1595 – 1648, gedichtet, wo das zahlende Publikum Spekta-
gewählter König von Polen, Großherzog von kel, Effekte, Klamauk und gerne auch Obrig-
Litauen und Titularkönig von Schweden) und keitskritik bis hin zur Herrschersatiren gebo-
dessen Bruder und Nachfolger Jan Kazimierz ten bekam. Seitdem war es mehrfach vertont
als Modell. Als Sohn der Anna von Öster- worden, unter anderem in Rom, London und
reich und Gemahl der Erzherzogin Cecilia München. Die Handlung basiert auf mehre-
Renata von Österreich war Władysław IV. in ren Tragikomödien aus dem 17. Jahrhundert
weiblicher Linie mit den Habsburgern ver- und bedient sich vor dem Hintergrund eines
bunden. Zwar betont Zeno im Vorwort die grausamen Verbrechens (Brudermord in ›hö-
Unterschiede zwischen der Opernhandlung fischer‹ Gesellschaft) vieler klassischer Komö-
und der realen Situation in der polnisch- dien-Topoi, darunter Missverständnisse, Ver-
litauischen Wahlmonarchie. Gerade damit wechslungen, Verkleidungen, Betrug, Begeg-
lenkte er jedoch das Augenmerk des Publi- nungen im Dunklen, enthüllende Billetts.
kums auf die Gegenwart: Am 15. August Zenos ganze Kunst als Hofpoet bestand im
1725 hatte der kränkelnde König Ludwig XV. Herbst 1725 darin, Il Vencesclao ›hoftauglich‹
von Frankreich die polnische Prinzessin Ma- zu machen. Dazu kürzte er ein Fünftel der
ria Leszczyńska geheiratet – eine Ehe weit Musiknummern, darunter eine üppige Er-
unter Standesniveau, hastig geschlossen zur öffnungsszene des zweiten Akts mit Gott-
Sicherung der bourbonischen Erbfolge in heiten, Drachen und viel Bühnenmaschinerie
88 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

sowie die Schlussszene der Vier Elemente, der Dichter in den zweiten Akt eine Szene
die das bunte Publikum in Venedig 1703 be- ein, in der ein müder alternder Venceslao
geistert haben dürften, inzwischen aber in (der damals 58-jährige Kastrat Domenico
gebildeten Kreisen als Paradebeispiele für Orsini) seinen Sohn zur Raison zu bringen
schlechten »barocken« Geschmack galten. versucht. Und er ließ den Ratgeber Gismon-
Stattdessen fügte Zeno in Wien mehrere do heftige Kritik an der Hofgesellschaft
Tanzszenen ein, für die Nicola Matteis der üben. Am Ende waren die spektakulärsten
Jüngere die Musik und die Hof-Ballettmeis- Nummern, gerade zum Aktschluss, nicht
ter Simone Pietro Levassori della Motta und den drei Kastraten vorbehalten, sondern
Alessandro Philebois die Choreographien vermeintlichen Nebenrollen wie etwa Gis-
schufen. Der Dichter forderte in seinen Sze- mondo (dem Bassisten Christoph Praun)
nenanweisungen ein Großaufgebot an Sta- oder Ernando. Letzterer wurde 1725 von
tisterie und beschloss den Opernabend mit Francesco Borosini interpretiert, einem der
einer Licenza als direkter Herrscherhuldi- wenigen Tenöre von Starformat in dieser
gung an Karl VI. Zeit, der neben einer Eröffnungsarie mit
Pauken und Trompeten die Schlussarie des
ROLLENANPASSUNGEN dritten Akts sang und ein furioses Rachedu-
ett im vierten Akt (mit Anna d’Ambreville,
In einem Akt von Selbstzensur zur Vermei- seiner Ehefrau im realen Leben).
dung diplomatischer Zwischenfälle oder
moralisch-höfischer Bedenken änderte Zeno CALDARA SCHÖPFT AUS DEM VOLLEN
die rebellierenden »Moldauer« aus dem Ori-
ginaltext (die gerade erst im Zentrum eines Als wahres Stil-Chamäleon, der seine Musik-
Konfliktes zwischen dem Habsburgerreich sprache meisterhaft den lokalen Traditio-
und den Ottomanen gestanden hatten), in nen, Moden und dem Geschmack seiner so
»Kosaken«; der kopflose Leichnam ihres ge- unterschiedlichen Auftraggeber anzupassen
fallenen Anführers blieb nun nicht mehr verstand, hatte Antonio Caldara zwischen
»dort am Donauufer«, sondern lediglich seiner Heimatstadt Venedig, Mantua, Rom
»leblos sein Vergehen bezeugend« zurück. und Wien Karriere gemacht. 1708 kompo-
Zeno machte aus der Ungarin Lucinda (ge- nierte er in Barcelona die Hochzeitsoper für
sungen von Faustina Bordoni) eine Königin den späteren Kaiser Karl. Seit 1716 war er
von Litauen und schrieb ihr im dritten Akt kaiserlicher Vizekapellmeister in Wien an
eine zusätzliche Arie (es wurde die mit Ab- der Seite von Johann Joseph Fux. Während
stand längste Nummer der Oper). Er änder- er weiter als freier Komponist an veneziani-
te den Stand der Erenice (Anna d’Ambrevil- schen Opernhäusern mit ihrem Bedarf an
le) von einer »Nachfahrin der alten polni- rasanter Dramatik in kleiner Orchesterbe-
schen Könige« in eine »Prinzessin könig- setzung präsent war, prägte Caldara in Wien
lichen Geblüts« und strich viele Passagen, den musikalischen Imperialstil der 1720er
die den Königssohn Casimiro (der Kastrat Jahre nach dem Geschmack des Kaisers mit
Pietro Casati war spezialisiert auf Bösewich- farbenreicher dichter Kontrapunktik für die
ter) als extrem skrupellosen Verführer und große Besetzung der Kaiserlichen Hofkapel-
zügellosen Liebhaber zeigten. Dafür fügte le. Diese umfasste damals bei Aufführungen
IMPERIALSTIL / SO 12. NOVEMBER 2023 89

im Großen Hoftheater rund 20 Violinen und Bordoni bei ihren zahllosen Fans. Viele zeit-
Bratschen, fünf Violoncelli, zwei Gamben, genössische Formulierungen bezeichneten
sechs Oboen, vier Fagotte, mehrere Akkord- ihre stupende Virtuosität in Läufen, Passa-
instrumente in der Continuo-Gruppe und gen und Verzierungen (»Bebungen« waren
zusätzlich bis zu 17 clarini und trombe, Trom- ihre Spezialität) als so »neu« und »unver-
peten im hohen und tiefen Register, nebst wechselbar«, dass sie damit bald Trends
Pauken. In Il Vencesclao lässt sich die hohe setzte und viele Nachahmer fand. Faustina
Qualität dieses Orchesters nicht zuletzt in Bordoni wurde zur Galionsfigur eines neuen
den vielen instrumentalen Arienvorspielen stile alla moda des italienischen Opern-
hören, wobei Caldara mit Angaben zu Ins- gesangs. Man schuf dafür sogar ein eigenes
trumenten in seiner Partitur äußerst spar- Verb, bezeugt der Literat Vincenzo Marti-
sam umgeht und eine eindeutige Zuordnung nelli 1758: »Jeder und jede will, trotz entge-
heute oft nicht möglich ist. gengesetzter Talente und Fähigkeiten, auf
Hofgemäß üppig muss auch die Probenzeit jeden Fall faustinieren.«
in Wien bemessen worden sein. So gab es
schon am 6. Oktober 1725, fast einen Monat SABINE RADERMACHER
vor der Uraufführung, einen Probendurch-
lauf der ersten drei Akte.

DIE NEUE SIRENE

Nach dem Gusto der Zeit konzipierte Calda-


ra seine Venceslao-Partitur als Fest hoher
Stimmen. Fünf von sieben Partien, allesamt
Adelige darstellend, waren mit Frauen oder
Kastraten besetzt. Dafür stand Caldara ein
erstklassiges Ensemble aus langjährigen
Mitgliedern der Wiener Hofkapelle zur Ver-
fügung – mit einer Ausnahme: Star der Ur-
aufführung war ein international gefeierter
Gast, die damals 28-jährige Venezianerin
Faustina Bordoni. Ihr Auftritt als Königin Lu-
cinda (inkognito und in Männerkleidung)
mischt die Karten am »polnischen« Hof
sprichwörtlich neu. Die Bordoni hatte diese
Rolle bereits im Frühjahr 1724 in Parma ge-
sungen, damals in einer Vertonung von Gio-
vanni Maria Capello. Im August 1725 hatte
sie in Wien debütiert; Zeno und Caldara
kannten die Sängerin aber schon aus ihrer
gemeinsamen Heimatstadt.
»La nuova Sirena« war der Kosename der
90 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

PERSONEN UND HANDLUNG


VENCESLAO / König von Polen 2. AKT
CASIMIRO und ALESSANDRO / seine Söhne, Als vermeintlicher Bote aus Litauen kon-
in Erenice verliebt frontiert Lucinda Casimiro vor seinem Vater
LUCINDA / Königin von Litauen, in Casimiro verliebt mit seinem Heiratsversprechen. Venceslao
ERENICE / Prinzessin königlichen Geblüts, verspicht ihr Wiedergutmachung. Casimiro
Geliebte Alessandros nennt sie einen Betrüger. Lucinda fordert
ERNANDO / General und Günstling des Casimiro zum Duell. Casimiro bedrängt Er-
Venceslao, Freund Alessandros und heimlich in enice. Dann erfährt er durch Gismondo von
Erenice verliebt ihren Hochzeitsplänen und rast vor Zorn.
GISMONDO / Hauptmann der Wachen und
Vertrauter Casimiros 3. UND 4. AKT
Nach dem verpatzten Duell gegen Casimiro
macht sich Lucinda selbst Mut. Nachts su-
VORGESCHICHTE chen Venceslao und Gismondo nach Casi-
Seit Jahren unterhalten Alessandro und miro. Der kehrt mit blutigem Schwert in sei-
Erenice eine heimliche Liebesbeziehung ne Gemächer zurück und gesteht Ernando
aus Angst vor dem brutalen Casimiro, der im Dunkeln erstochen zu haben. Aber plötz-
Erenice auch begehrt. Sie werden von lich kommt der General herein. Dafür bringt
Ernando gedeckt. Casimiro hatte seinerseits Erenice die Nachricht von der Ermordung
Lucinda in Litauen ein Eheversprechen Alessandros. Venceslao lässt Casmirio in
gegeben, sie aber bald danach verlassen. den Kerker werfen. Lucinda fleht um Gnade.
Ernando hadert mit Königstreue und Rach-
1. AKT sucht. Lucinda besucht Casimiro im Kerker,
Krakau feiert Sieg und Rückkehr von Gene- und die beiden versöhnen sich. An Ales-
ral Ernando und seinen Truppen. König Ven- sandros Urne schwören Erenice und Ernan-
ceslao gewährt Ernando eine Belohnung. do, seinen Tod zu rächen.
Dieser will die Hochzeit von Alessandro und
Erenice erbitten, wird aber von Casimiro da- 5. AKT
ran gehindert. Venceslao rügt Casimiros rü- Weil das Volk das Leben Casimiros fordert,
des Verhalten. Lucinda ist als Mann verklei- geben Ernando und Erenice ihre Mord- und
det an den polnischen Königshof gereist, Umsturzpläne vorerst auf. Venceslao hält
um Casimiro zurückzugewinnen. Casimiro Gericht über seinen Sohn. Um ihn nicht zum
leugnet jedwede Beziehung. Obwohl er Er- Tode verurteilen zu müssen, dankt Vences-
enice selbst heimlich liebt, schlägt Ernando lao zu dessen Gunsten ab. Als regierender
Alessandro vor, sie noch in dieser Nacht zu König ist Casimiro irdischer Rechtsprechung
heiraten, um Casimiro und Venceslao vor entzogen.
vollendete Tatsachen zu stellen. Gismondo
hat Mitleid mit Lucinda. SR
IMPERIALSTIL / SO 12. NOVEMBER 2023 91

MAX EMANUEL CENCIC NICHOLAS TAMAGNA

MAX EMANUEL CENCIC erhielt seine erste NICHOLAS TAMAGNA hat sich in den letz-
musikalische Ausbildung als Wiener Sänger- ten Jahren als weltweit gefragte Altstimme
knabe und begann bereits 1992 eine Solokar- profilieren können. Sein breit gefächertes
riere als Sopranist, die er ab 2001 als Counter- Repertoire umfasst sowohl Werke der Alten
tenor fortsetzte. Mit seinem virtuosen Mez- Musik als auch moderne Kompositionen, da-
zosopran tritt er weltweit in den großen Opern- runter Uraufführungen. Es führte ihn bereits
und Konzerthäusern auf und arbeitet dabei an zahlreiche internationale Opernhäuser in
regelmäßig mit Dirigenten wie William Chris- Europa, den Vereinigten Staaten und Aus-
tie, René Jacobs, Ottavio Dantone, George tralien. Mit der Figur des Spirit aus Henry
Petrou, Christophe Rousset, Emmanuelle Purcells Dido and Aeneas war er sowohl an der
Haïm und Riccardo Muti zusammen. Als Opéra de Rouen als auch an der Opéra Royal
Produzent und Dirigent ist er verantwortlich de Versailles zu erleben. 2020 gab er mit
für die Konzeption, Leitung und Aufführung der Partie des Narciso sein Debüt an der
wichtiger Werke des italienischen Barocks, Metropolitan Opera New York in Händels
darunter als sensationelle Wiederentdeckung Agrippina an der Seite von Joyce DiDonato
Leonardo Vincis letzte Oper Artaserse. Seine unter der Leitung von Harry Bicket. Im ver-
umfangreiche Diskografie, die verschiedene gangenen Jahr war er als Tolomeo in Giulio
Weltersteinspielungen aufweist, erhielt zahl- Cesare in Egitto bei den Göttinger Händel-
reiche Preise. Für sein künstlerisches Schaf- Festspielen zu erleben, außerdem gab er
fen wurde er vom französischen Kulturminis- 2022 sein Debüt bei Bayreuth Baroque als
terium als Chevalier dans l’Ordre des Arts et Timagene in der Inszenierung von Vincis
des Lettres ausgezeichnet und erhielt 2021 für Alessandro nell’Indie durch Max Emanuel
sein Lebenswerk einen Ehrenpreis der deut- Cencic an der Seite von Bruno de Sá, Fran-
schen Schallplattenkritik. Längst hat sich co Fagioli und Jake Arditti. In den kommen-
Max Emanuel Cencic auch als Regisseur in- den Spielzeiten wird er an der San Francisco
ternational einen Namen gemacht. Seit Sep- Opera, der Israelischen Nationaloper in Tel
tember 2020 ist er künstlerischer Leiter des Aviv, dem Theater an der Wien, der Pinchgut
Opernfestivals Bayreuth Baroque. Dort in- Opera in Sydney und wiederum bei Bayreuth
szenierte er in diesem Jahr Händels selten Baroque zu hören sein.
gespielte Opernsatire Flavio, in der er selbst
die Partie des Guido übernahm.
92 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

DENNIS ORELLANA SUZANNE JEROSME

Der Sopranist DENNIS ORELLANA wurde SUZANNE JEROSME wurde in Paris gebo-
im Jahr 2000 in Honduras geboren und be- ren. Sie studierte an der Guildhall School of
gann sein professionelles Musikstudium im Music and Drama in London und danach an
San Pedro Sula Youth Symphonic Orchestra der Hochschule für Musik und Tanz in Köln.
als Posaunist bei Alfonso Flores. Seine Ge- Noch während des Studiums debütierte sie
sangsausbildung verband er mit seinem als Barbarina in Mozarts Le nozze di Figaro
Hochschulstudium in Informatik und Digital und als Emmie in Brittens Albert Herring. Seit
Design. Im September 2019 wurde er an der 2015 tritt sie regelmäßig am Theater Aachen
Escuela Superior de Canto in Madrid aufge- auf, seit der Spielzeit 2017/18 als festes En-
nommen, die sich ausschließlich an Opern- semblemitglied. 2016 war Suzanne Jerosme
sänger richtet. Es folgte ein Jahr an der Staat- Finalistin des Cesti-Gesangswettbewerbs in
lichen Hochschule für Musik und Darstellen- Innsbruck, bei den Festwochen der Alten
de Kunst in Stuttgart im Rahmen des Pro- Musik trat sie dort u. a. in der Titelrolle von
gramms Erasmus+. Im März 2021 debütierte Reinhard Keisers Oper Octavia auf. Sie gas-
er in Madrid als Amor in der modernen tierte außerdem an den Opernhäusern von
Erstaufführung der frühbarocken Oper La Avignon, Versailles, Nancy und Dijon und ar-
selva sin amor von Filippo Piccinini. Sein pro- beitete mit Dirigenten wie Jean-Christophe
fessionelles und internationales Debüt gab er Spinosi, Hervé Niquet und Leonardo García
im August 2021 in Porporas Carlo il Calvo im Alarcón zusammen. 2020 debütierte sie beim
Escorial an der Seite von Max Emanuel Cen- Opernfestival Bayreuth Baroque als Giuditta
cic, Julia Lezhneva und Franco Fagioli mit in Porporas Carlo il Calvo in der Inszenierung
dem Ensemble Armonia Atenea unter der von Max Emanuel Cencic. In der Titelpartie
Leitung von Markellos Chryssicos. Im Feb- von Cleofida, Königin von Indien ist sie in der
ruar 2022 sang er in Brittens Sommernachts- CD-Produktion von Il Gusto Barocco unter
traum am Wilhelma-Theater in Stuttgart. Es der musikalischen Leitung von Jörg Halubek
schlossen sich Engagements unter anderem zu hören. Ebenso nahm sie mit Damien Guillon
als Ernesto in Bononcinis Griselda und als und seinem Banquet Céleste Oden von
Alessandro in Caldaras Il Venceslao an. Henry Purcell für CD auf.
IMPERIALSTIL / SO 12. NOVEMBER 2023 93

SONJA RUNJE STEFAN SBONNIK

SONJA RUNJE absolvierte ihren Masterab- STEFAN SBONNIK ist ein international täti-
schluss in der Studienrichtung Operngesang ger Opern- und Konzertsänger. Nach dem
an der Musikakademie der Universität Zagreb Studium in Osnabrück und Münster sowie
bei Martina Gojčeta Silić mit Auszeichnung. an der Theaterakademie August Everding in
Momentan arbeitet die junge Mezzosopra- München war er Mitglied im Opernstudio
nistin regelmäßig mit Eva Blahová in Bratis- der Opéra national du Rhin in Straßburg
lava zusammen. In der aktuellen Spielzeit er- und Akademist des Festivals in Aix-en-Pro-
wartet sie die Titelpartie in Händels Amadigi vence. Er wurde mit einem Richard-Wagner-
bei den Händel-Festspielen Halle. In der Par- Stipendium und Sonderpreisen beim Podium
tie der Teodata war sie in Händels Flavio beim junger Gesangssolisten ausgezeichnet. Ste-
Opernfestival Bayreuth Baroque zu erleben. fan Sbonnik gastierte an den Opernhäusern
Als Angelo di Giustizia wird sie in Galuppis von Heidelberg, Münster, Aachen, Passau,
Adamo am Musiktheater an der Wien und im Strasbourg, Rennes, Metz, Bordeaux, dem
Musiikkitalo Helsinki singen. Sonja Runje ist Theater an der Wien und für eine CD-
auch eine gefragte Oratorien- und Konzert- Einspielung von Verdis Attila beim Münchner
sängerin. Dabei nehmen die Vokalwerke Jo- Rundfunkorchester. Sein Repertoire reicht
hann Sebastian Bachs eine bedeutende Rolle dabei vom Barock bis in die Gegenwart. Zu
ein und neben weiterem barocken Repertoi- seinen wichtigsten Partien gehören der Ta-
re Mozarts Requiem, Mendelssohns Sommer- mino in Mozarts Zauberflöte, Danilo in
nachtstraum und Elias, die Alt-Rhapsodie von Lehárs Die lustige Witwe, Bill in Jonathan
Brahms, aber auch die Kroatische Messe von Doves Oper Flight sowie die Titelpartie in
Papandopulos und de Fallas Sietes canciones Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria. Kon-
populares espanolas. Sonja Runje arbeitet re- zerte führten ihn unter anderem mit Brittens
gelmäßig mit namhaften Dirigenten wie Ge- War Requiem in die Kathedrale von Exeter,
orge Petrou, Christian Curnyn, Rubén Du- mit Saint-Saëns’ Oratorio de Noël nach Salz-
brovsky, Benjamin Bayl und Aapo Häkkinen burg und mit Beethovens 9. Sinfonie in die
zusammen. Philharmonie von Paris.
94 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

PAVEL KUDINOV {OH!} ORKIESTRA

PAVEL KUDINOV wurde im russischen Di- Das {OH!} ORKIESTRA wurde 2012 im
mitrovgrad geboren und machte seine Aus- Südwesten Polens gegründet und versam-
bildung am Sobinov-Konservatorium in Sara- melt Spezialistinnen und Spezialisten auf
tov, wo er schon während seines Studiums in dem Gebiet der Historischen Aufführungs-
verschiedenen Opernrollen zu erleben war. praxis um die Geigerin und musikalische Lei-
Der Preisträger zahlreicher Wettbewerbe, terin Martyna Pastuszka. Im Laufe der letz-
darunter die Competizione dell’opera in ten Jahre etablierte sich das Ensemble als ei-
Dresden, der Gesangswettbewerb Ferruccio nes der führenden Orchester Europas, das
Tagliavini und der Valsesia Musica Concorso ein breites Repertoire vom Barock bis zum
Internazionale, gab sein Auslandsdebüt als Beginn des 20. Jahrhunderts abdeckt. Es ar-
Ruslan in Ruslan und Ludmilla von Glinka am beitet regelmäßig mit wichtigen polnischen
Badischen Staatstheater Karlsruhe. Es folg- Institutionen und Festivals zusammen, dar-
ten Gastengagements an der Wiener Volks- unter das Schlesische Museum Katowice,
oper, beim Festival des Deux Mondes in Spo- das Nationale Symphonieorchester des Pol-
leto, an der Deutschen Oper am Rhein in nischen Rundfunks, das Adam-Mickiewicz-
Düsseldorf und am Teatro Regio in Turin. Die Institut und das Fryderyk-Chopin-Institut.
Rolle des Sarastro sang er darüber hinaus im Das {oh!} Orkiestra konnte über die Jahre sei-
Bolschoitheater in Moskau sowie an den nen erstklassigen Ruf in renommierten
Opern von Leipzig und Bonn. Zu seinem ba- Opern- und Konzerthäusern und bei wichti-
rocken Repertoire gehören Basspartien aus gen internationalen Festivals festigen, ob in
Händel-Opern wie der Leone in Tamerlano, Wien, Berlin, Moskau oder London. Seine
Clito in Alessandro, Emireno in Ottone und Diskografie umfasst preisgekrönte Aufnah-
Segeste in Arminio. Pavel Kudinov wirkte bei men, darunter Einspielungen, die sich den
CD-Einspielungen von Vivaldis Tamerlano, polnischen Komponisten Jakub Gołąbek und
Händels Alessandro und Ottone und zuletzt Karol Kurpiński widmen. Zudem spielte das
Porporas Polifemo mit. Regelmäßig arbeitet Orchester Vincis Gismondo, re di Polonia mit
er mit namhaften Dirigenten wie Teodor Max Emanuel Cencic in der Titelpartie ein;
Currentzis, Christophe Rousset, Christopher diese Aufnahme erhielt 2021 den Opus Klassik
Moulds, Marc Minkowski, George Petrou in der Kategorie ›Orchester / Ensemble des
und Pedro Halffter zusammmen. Jahres‹.
IMPERIALSTIL / SO 12. NOVEMBER 2023 95

MARTYNA PASTUSZKA

MARTYNA PASTUSZKA wurde in Ober- cker französischer Kammermusik aufgenom-


schlesien geboren. In ihrer langen Karriere men hat. Neben ihrer aktiven Konzerttätig-
konnte sie sich mit europaweiten Auftrit- keit unterrichtet Martyna Pastuszka seit
ten als Solistin, Konzertmeisterin, Kammer- 2007 Barockvioline an der Musikakademie
musikerin und Orchesterleiterin etablieren. Katowice.
Am Konzertmeisterpult und solistisch war sie
unter anderem mit Le Concert de la Loge,
Concerto Copenhagen, der Hofkapelle Mün-
chen, der Capella Cracoviensis, Le Parlement
de Musique, Le Concert Lorrain und dem
Collegium Marianum zu hören. Ebenso arbei-
tet sie regelmäßig mit dem Ensemble Alte-
ra Pars und dem Ensemble Polyharmoni-
que zusammen. 2012 gründete Martyna
Pastuszka das {oh!} Orkiestra, mit dem sie
regelmäßig bei wichtigen Festivals und in re-
nommierten Konzerthäusern zu Gast ist. Hier
musiziert sie mit Künstlerpersönlichkeiten
wie Andreas Staier, Max Emanuel Cencic, Ja-
kub Józef Orliński, Jean-Guihen Queyras und
Barthold Kuijken. 2022 wurde sie zur künstle-
rischen Leiterin des Festival Misteria Pascha-
lia in Krakau berufen. Martyna Pastuszkas
Diskografie umfasst beinahe 60 Aufnahmen.
Ihre jüngsten Einspielungen wurden mehr-
fach mit renommierten Auszeichnungen ge-
ehrt, darunter der polnische Kulturpreis
Paszport Polityki. Gemeinsam mit Anna und
Krzysztof Firlus bildet sie das {oh!} Trio, mit
dem sie zuletzt das Album Portraits mit baro-
96 TAGE ALTER MUSIK IN HERNE

DOKUMENTATIONEN
DER KONZERTE (BIS 2021)
2004: VIVO O DELIRO (4 CDs) 3,00 €
2008: FÜR DICH. FÜR MICH. FÜR ALLE (4 CDs) 3,00 €
2009: TABUS (4 CDs) 3,00 €
2010: ODYSSEE (4 CDs) 5,00 €
2011: ALTER EGO (4 CDs) 5,00 €
2012: DIE ZEHN GEBOTE (4 CDs) 5,00 €
2013: KLANGLANDSCHAFTEN OSTEUROPAS (4 CDs) 10,00 €
2014: SEELENTÖNE (4 CDs) 10,00 €
2015: KULT (4 CDs) 10,00 €
2016: HOMMAGE (4 CDs) 10,00 €
2017: AUFBRUCH (4 CDs) 15,00 €
2018: TODSÜNDEN (4 CDs) 15,00 €
2019: VERSTEHEN – VERWIRREN (4 CDs) 15,00 €
2021: ZURÜCK ZUR NATUR! (4 CDs) 20,00 €

CD-PAKET 2012, 2013, 2014 (12 CDs) 15,00 €


CD-PAKET 2015, 2016, 2017 (12 CDs) 25,00 €
CD-PAKET 2018, 2019, 2021 (12 CDs) 40,00 €

KONTAKT
Stadt Herne, Fachbereich Kultur, Maurice Margraf
Willi-Pohlmann-Platz 1, 44623 Herne
Telefon 02323 162839
maurice.margraf@herne.de
DOKUMENTATIONEN 97

DOKUMENTATIONEN
DER SYMPOSIEN (1999 – 2010)
Veranstalter und Herausgeber: Stadt Herne … CON CEMBALO E L’ORGANO …
Redaktion: Christian Ahrens und Gregor Klinke Das Cembalo als Generalbassinstrument
Musikverlag Katzbichler / München – Salzburg Symposium 2004 (erschienen 2008)
ISBN 978–3–87397–595–8 / Preis 29,80 €
DAS DEUTSCHE CEMBALO
Symposium 1999 (erschienen 2000) … IN LIEBE ZERFLOSSENES GEFÜHL.
ISBN 3–87397–580–7 / Preis 24,80 € DIE KLARINETTE
Symposium 2005 (erschienen 2008)
ZUR GESCHICHTE VON CORNETTO ISBN 987–3–87397–596–5 / Preis 24,80 €
UND CLARINE
Symposium 2000 (erschienen 2001) LAUTE UND THEORBE
ISBN 3–87397–581–5 / Preis 24,80 € Symposium 2006 (erschienen 2009)
ISBN 987–3–87397–597–2 / Preis 28,00 €
FUNDAMENT ALLER CLAVIRTEN
INSTRUMENTEN – DAS CLAVICHORD VON MOZART BIS CHOPIN:
Symposium 2001 (erschienen 2003) DAS FORTEPIANO 1770–1850
ISBN 3–87397–582–3 / Preis 24,80 € Symposium 2007 (erschienen 2010)
ISBN 978–3–87397–598–9 / Preis 34,00 €
VIOLA DA GAMBA UND VIOLA DA BRACCIO
Symposium 2002 (erschienen 2006) FLÖTE, OBOE, KLARINETTE UND FAGOTT:
ISBN 3–87397–583–1 / Preis 29,80 € HOLZBLASINSTRUMENTE BIS ZUM ENDE
DES 18. JAHRHUNDERTS
WIR LOBEN DEINE KUNST, Symposium 2008 (erschienen 2011)
DEIN PREISS IST HOCH ZU SCHÄTZEN … ISBN 978–3–87397–599–6 / Preis 30,00 €
Der Orgelbauer Gottfried Silbermann (1683 – 1753)
Symposium 2003 (erschienen 2007) CEMBALO, CLAVECIN, HARPSICHORD:
ISBN 978–3–87397–584–2 / Preis 24,80 € REGIONALE TRADITIONEN DES CEMBALOBAUS
Symposium 2010 (erschienen 2012)
ISBN 978-3-87397-589-7 / Preis 36,00 €
Promotion und Presse
IMPRESSUM
Kristina Bausch
(WDR Presse und Information),
Herausgegeben von
Ina Bruch (WDR 3), Nicola Oberlinger
Westdeutscher Rundfunk Köln
Anstalt des öffentlichen Rechts Recording producer
Marketing Günther Wollersheim, Stephan Hahn,
Stadt Herne, Der Oberbürgermeister, Stephan Schmidt (Kulturbühne)
Fachbereich Kultur
Aufnahme- und Übertragungstechnik
Redaktion und künstlerische Leitung Sonja Rauchs (Technische Leitung), Gudrun Hausen,
Dr. Richard Lorber, WDR 3 Katharina Kiefer, Christian Meurer, Michaela Höck,
Frederike Mathes, Andreas Jender, Dennis Heynen,
Programmleitung
Patrick Both (Multimedia- und Großproduktion),
Matthias Kremin, Programmchef WDR 3 & WDR 5
Andre Kools, Udo Schilz (Mobile Aktuelle Produktion)

Pianotechnik
Oktober 2023
Paul Müller, Ulrich Busch
Änderungen vorbehalten
(HA Orchester und Chor / Zentrale Koordination)

Stagemanagement
Angelika Maul, Andreas Möllers
PROJEKTTEAM
Produktionsassistenz
WESTDEUTSCHER RUNDFUNK KÖLN
Tim Roth, Nina Basten
Produktionskoordination
Ruth Wirtz (Kulturbühne) Übertitelinspizienz
Lara Vinciguerra
Dramaturgie
Sabine Radermacher
STADT HERNE
Redaktion der Publikationen
Bernd Heyder Kulturbüro
Claudia Stipp (Leiterin Fachbereich Kultur und
Autor:innen
Geschäftsführerin Kulturzentrum Herne)
Gela Birckenstaedt, Thomas Daun,
Chris Wawrzyniak (Leiter Kulturbüro)
Helga Heyder-Späth
Maurice Margraf (Projektmanagement Tage Alter
Bildrecherche Musik)
Kirsten Betke, Claudia Telschow
(WDR Bildarchiv) Kulturzentrum Herne
Per Jaeger (Technische Leitung)
Fotodokumentation
Thomas Kost
Kreuzkirche Herne
Marketing Andreas Held (Küster)
Dennis Faustino Kai Wiemers (Technik)
BILDNACHWEISE

Kunstwerke: Copyright der Fotos:


Seite 4 / Paul Fuhrmann (1893 – 1952): Der Zeitgeist. Titelbild / Jörg Halubek © Marco Borggreve
1927 © bpk / Staatliche Schlösser, Gärten und Kunstsamm- Seite 18 / Anonima Frottolisti © Chiara Dionigi
lungen Mecklenburg-Vorpommern Seite 19 / Anonima Frottolisti © Chiara Dionigi
Seite 12 / Tamara de Lempicka (1898 – 1980): Mädchen in Seite 28 / Ensemble Masques © David Samyn
Grün. 1927 – 1930 © Interfoto / fine art images Seite 29 / Olivier Fortin © Jean-Baptiste Millot
Seite 20 / Diana Ong (*1940): Speaker. 1996 © Bridgeman Seite 35 / Kammerorchester Basel © Matthias Müller
Seite 22 / Marina Argentini (*1960): Lully. 2015 © Scala Seite 36 / Alina Ibragimova © Eva Vermandel;
Archives / Adagp Images, Paris Kammerorchester Basel © Lukasz Rajchert
Seite 30 / Juan Gris (1887 – 1927): Violón y jarro. 1913 Seite 37 / Kristian Bezuidenhout © Marco Borggreve
© mauritius images / Art Heritage / Alamy Seite 46 / Huelgas Ensemble © Luk Van Eeckhout
Seite 38 / Bennett Manuel (*1921): Untitled Seite 47 / Paul Van Nevel © Joana César
© Manuel Bennett / Art Trust / Bridgeman Seite 54 / Florian Götz © Christian Palm;
Seite 40 / Giorgio De Chirico (1888 – 1978): Ritorno al Anita Rosati © Theresa Pewal
castello. 1969 © Interfoto / fine art images Seite 57 / Carine Tinney © Kinga Karpati/Daniel Zarewicz;
Seite 48 / René Magritte (1898 – 1967): Le Psychologue. Arnaud Gluck © Anat Nazarathy
1948 © akg images/ Musées Royaux des Beaux-Arts, Seite 58 / Hans Porten © Anja Behrens;
Brüssel Il Gusto Barocco © Daniele Caminiti
Seite 60 / Fernand Léger (1881 – 1955): Deux Femmes Seite 59 / Jörg Halubek © Marco Borggreve
© Interfoto / Superstock Seite 66 / Ensemble Leones © ConcertoMedia
Seite 68 / August Macke (1887 – 1914): Farbige Komposi- Seite 67 / Marc Lewon © Susanna Drescher
tion I (Hommage à Johann Sebastian Bach). 1912 Seite 73 / Teodoro Baù © Marco Barbaro
© Interfoto / fine art images Seite 74 / Andrea Buccarella © Marco Barbaro
Seite 76 / William Wauer (1866 – 1962): Tanz Seite 75 / Teodore Baù © Daniele Caminiti
© Bridgeman / Christie’s Seite 81 / Freiburger BarockConsort © Valentin-Behringer
Seite 84 / René Magritte (1898 – 1967): La Légende des Seite 82 / ensemble recherche © Marc Doradzillo
siècles. 1950 © mauritius images / Jan Fritz / Alamy Seite 83 / ensemble recherche © lippindustries
Seite 91 / Max Emanuel Cencic © George Oikonomidis;
Nicholas Tamagna © Dario Acosta
Seite 92 / Dennis Orellana © Sergio Rodríguez;
Suzanne Jerosme © Julie Reggiani
Seite 93 / Sonja Runje © Christian Prerauer;
Stefan Sbonnik © George Oikonomidis
Seite 94 / {oh!} Orkiestra © Magdalena Hałas
Seite 95 / Martyna Pastuszka © Magdalena Hałas

Alle Fotos wurden von den beteiligten Künstlern und


Institutionen mit Nutzungsrecht zur Verfügung gestellt.
Alle hier nicht aufgeführten Fotos © bei den abgebildeten
Personen, © Stadt Herne oder © WDR.
VORANKÜNDIGUNG

48. TAGE ALTER MUSIK IN HERNE


14. BIS 17. NOVEMBER 2024
REDUCE – REUSE – RECYCLE

wdr3.de
tage-alter-musik.de

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