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Boarding completed

Wohnwandel lischen Wohnwert“, „ohne daß das Wohnen als Erlebnis Gropius Entwürfe von 1929 Bezug
„bleiben sie dauernd im hotel Anonyme, das weltoffene Wohnen – Die Besucher sollten den „Sieg des nahmen.8 Im Saal 3 zeigte Marcel
wohnen? ich fände das sehr schön. wie in einem Hotel – verlorenging.“3 neuen Baustils“6 aus allen Perspekti- Breuer exemplarisch eingerichtete
für uns nomaden ist das hotel der ein- Im Rückblick konstatierte er: „Das ven erleben können. Eine spektaku- „Appartements eines Wohnhotels“,
zige entsprechende wohnort auf Hotel war als eine Form des läre Rampe aus Stahlfertigteilen, die mit einem Damen-, einem Herren-
diesem globus … aber meine frau ist Wohnens entdeckt … Es lag darin zwischen Saal 1 und Saal 3 aufgebaut zimmer und einem Büroraum.9
(wie alle frauen) dagegen, denn diese ein Bekenntnis zur Großstadt, … war, machte es dem Betrachter mög-
elenden Weiber wollen ja ,mittel- zum Weltbürgertum und damit ein lich, die räumliche Dimension eines Café Deutschland
punkt‘ spielen und im hotel sind sie Bekenntnis zu einem erweiterten „Gesellschaftsraumes“ und Muster- Spektakulär war der erste Saal, der
der konkurrenz anderer ,mittelpunk- Heimatbegriff.“4 Nicht nur Scharoun appartements in einem fiktiven zehn- sich als moderner Gesellschaftsraum
te‘ unterworfen! (ob ich mir wat koo- entwickelte diesen Wohntypus weiter, stöckigen Wohnhochhaus zu erfah- zwischen Sportsbar und Club-
fe) … bekomme ich jetzt von willis der später unter dem Begriff ren. Man konnte sich zwischen Au- Lounge präsentierte. Eine mitten im
frau einen strafenden seitenblick? mit „Boardinghaus“ firmierte, auch an- ßen und Innen, Haus und Umgebung Raum angeordnete Theke mit dreh-
herzlichen grüssen an sie beide.“1 dere Architekten widmeten sich aber auch zwischen Wohnen und Er- baren Hockern und Tanzfläche soll-
Hannes Meyer an Willi Baumeister, möglichen Varianten und das in leben, Arbeiten und Erholen bewe- te die Möglichkeit „ungezwungener
1926. prominenter Position. gen.Allenfalls Glasmembrane, Glas- unterhaltung bieten“. Der Gedanke,
„Immer auf Achse sein“, das ist wände und Vorhänge trennten die dass „durch elastische und unbe-
bereits in den 1920er Jahren Teil der Deutschland „stylisch“ Abteilungen voneinander. schwerte atmosphäre die lebendig-
Lebensrealität vieler Menschen. Eine „deutscher geist in paris“, titelte die Das Thema Kommunikation und keit des geistes“ zu begünstigen sei,
ganze Gesellschaft befand sich da- Zeitschrift die neue linie 1930 in Besinnlichkeit, Gemeinschaft aber wurde mit einem nahtlosen Über-
mals im Aufbruch, Wandel und in einem zweiseitigen Artikel von auch der Rückzug in die Individua- gang zu gymnastischen Geräten,
Bewegung. Neue Bedürfnisse und Marcel Breuer über den deutschen lität, die Verquickung von Leben, Punchball und Sprossenwand ange-
sich verändernde Mentalitäten gene- Beitrag zum „20. Salon des artistes Wohnen, Kultur und Bildung bilde- deutet.10
rierten andere Bild- und Produkt- décorateurs français“, einer jährli- ten sozusagen das Fundament für Wasser, schwimmen, sich bewe-
sprachen und neue bauliche Auffas- chen Leistungsschau des französi- neue räumliche Erfahrungen in die- gen, sich bilden, relaxen, Geschäfte mit Turnplatz für sportliche Betäti- tage chaiselongue. mann und frau le- menleben, zwischen fester und loser Lorem Stuttgart 1988. Das Klinikum
sungen. Das Eigenheim wurde zum schen Verbandes für Raumkunst sem Wohngebäude.7 Das Wohnen im abwickeln, neue Kommunikations- gung möglich. Hier wurden neue ben selbstständig und zusammen, Bindung trifft heutige Bedürfnisse. wird auf acht Seiten vorgestellt lorem,
S. 132-139. Auch Charles Jencks widmet
wachsenden Haus modifiziert,2 der und Inneneinrichtung im Pariser Hochhaus wurde auch in den an- formen nutzen, all das war durch Lösungen für praktische Raum- isoliert und verbunden durch vor- Freie Liebe, Ehen zu dritt, Kamerad-
in seiner Anthologie Architektur heute
Wohnraum der Miet- und Eigen- Grand Palais.5 Der Deutsche Werk- schließenden Räumen mit Skizzen Lese-, Spiel-, Radio- und Grammo- nutzungen, ästhetische Raumvor- platz, bad und küche.“11 schaftsehe, das waren bereits in den
tumswohnung multifunktional und bund sollte die „Séction allemande“ und Modellen vorgeführt, die inter- phonnischen, eine Bibliothek mit stellungen und natürlich neue Mate- Was Breuer uns hier vor Augen 20er Jahren heiß diskutierte The- Lorem Stuttgart 1988. Das Klinikum
variabel, die Möblierung perfekt bespielen. Die konzeptuelle und ge- essanterweise unmittelbar auf Nachrichtenwand, und ein Wohnbad rialien präsentiert. Es ist jedoch kein führt, sind Raum- und Möblierungs- men, die sich in solchen Konzepten wird auf acht Seiten vorgestellt lorem,
ausgeklügelt, stapel- und klappbar, stalterische Leitung des Projekts hat- Raum, den man sich als gebautes lösungen für ein temporäres, ein In- niederschlugen.13 S. 132-139. Auch Charles Jencks widmet
in seiner Anthologie Architektur heute
einfach, elegant und wandlungsfähig. te man in die Hände des gerade aus Muster im Maßstab 1:1 vorzustellen terimswohnen, Lösungen für ein so
Die modernen „Nomaden“ suchten dem Dienst geschiedenen Direktors hat. Die Besucher sollten mit allen genanntes Boardinghouse (engl. Vorbild Amerika?
neue Formen des Wohnens, Misch- des Bauhauses, Walter Gropius, Sinnen Zukunft und Fortschritt, die Pension, Fremdenheim) mit hotel- Und in welche Richtung sich das
formen aus Wohnen und Arbeiten, gelegt. Viel Zeit für Experimente Vision „Deutschland im Aufbruch“ ähnlichem Service.12 Alltägliche entwickeln konnte, wurde 1931 in
Wohnen auf Zeit, als Alternative gab es nicht, Gropius griff auf Be- erleben. häusliche Pflichten wie die wöchent- der Abteilung „Die Wohnung unse-
zum Settlement, als Zwischen-,Tran- währtes zurück. Seine Mitstreiter, liche Reinigung, Einkaufen, Kochen rer Zeit“ auf der Deutschen Bauaus-
sit- und Freiraum für eine mobile Herbert Bayer, Marcel Breuer, Freie Liebe im Wohnhotel sollten Teil zentraler Serviceleistun- stellung in Berlin präsentiert. Hier
Generation. Doch adäquate Rezep- Laszlo Moholy-Nagy waren keine Zukunft Wohnen bedeutete für Mar- gen werden. Breuer wünschte sich nahm der Typus des „Boardinghau-
te waren in den Anfängen der 1920er Unbekannten. Mit allen hatte er cel Breuer im Saal 3 die Loslösung für das zukünftige Wohnen räumli- ses“ schlagartig Gestalt an, wenn
Jahre noch rar. erfolgreich am Bauhaus zusammen- von der Konvention, zumindest vom che Variabilität, unproblematische auch erst als Versuchsanordnung.
Erst Hans Scharoun konnte 1928 gearbeitet; ein Team, ein Ziel, ein klassischen Denken der Familien- Ergänzungen und Funktionsmi- Die deutsche Interpretation des
mit dem Bau seines „Wohn- und Gedanke: Neues Bauen, Neues Woh- wohnung, dem Mutter-Vater-Kind- schungen, die sich mit den Bedürf- Übergangswohnens basierte auf ei-
Ledigenheims“ auf der Breslauer nen, Neues Leben. Deutschland als Kleinfamiliengrundriss. Sein Kon- nissen der Nutzer verändern ließen nem Entwurf der Münchner Archi-
Werkbundsiedlung dem Geist des souveräne, elegante Bühne zur Welt. zept orientierte sich an kinderlosen und das alles auf kleinem Grundriss. tekten Robert Vorhoelzer und Wal-
vorübergehenden Wohnens weiter Insgesamt wurden fünf Räume be- Paaren, nicht zwingend Ehegemein- Das Arbeiten im Büro ist Bestand- ter Schmidt14. Von ihnen stammte
auf die Spur kommen. Dem Ge- spielt, die nicht nur einen Einblick in schaften, an jungen und älteren teil der Entwurfsidee. Breuer hatte auch die Ausstattung der gemein-
schmack von Gruppenschlafsaal und die ganze Bandbreite modernen Menschen im Apartment eines den Arbeitsraum separat vom schaftlichen Räume im Erdgeschoss-
Armut im Heim trat er mit einem deutschen Designs und Kunstge- Wohnhotels. Beiden war ein separa- Wohnraum angedacht, er sollte also bereich und der Appartements im
neuen Typus des Apartmenthauses werbes gaben, sondern ganz be- tes Zimmer zugedacht: „man hat pro Mann wie Frau gleichzeitig zur Ver- ersten Stock, während Lilly Reich
entgegen als Ausgleich zwischen sonders einen neuen Lifestyle, ein kopf einen universal brauchbaren fügung stehen. Seine Ideen von und Josef Albers die Innenräume im
dem „Repräsentativen – mehr neues Lebensgefühl transportierten: raum: man lebt, man liest, man isst, Wohnen und Arbeiten, temporärem zweiten Stock mit insgesamt drei
Äußerlichen – und dem – auch see- Zukunft leben. man schläft darin, das bett ist am Wohnen und zeitweisem Zusam- verschiedenen Boardinghaus-Woh-
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Perfider Populismus

Ganz im Westen der Republik, dort mit dem Baugrund oder die skan- lig für eine öffentlich verbreitete reits die Betonung, dass es sich nicht
wo sich die Grenzen dreier Länder dalöse Pleite des Bauträgers, der Meinung. Rufmord lässt sich nicht um eine Frage der Schönheit han-
allmählich verwischen, liegt auf ge- Neuen Heimat? Eine sehr unzu- nur an Personen, sondern auch an dele, eine ungeheure Verharmlosung
schichtsträchtigem Grund eine Stadt, reichende Erklärung. Es ist nicht Gebäuden verüben. Ein solches der systematischen Vernichtung von
die sich anmutig in das Gewand ih- schwer zu verstehen, dass ein so Image haftet – auch noch nach mehr Menschen darstellt?
rer Historie kleidet. Das Gewand ist konsequentes, kompromisslos mo- als zwanzig Jahren. Das wurde erst Aus verwaltungsrechtlicher Sicht
vielfach geflickt und nicht immer au- dernes und überaus komplexes Ge- kürzlich durch die Lokalpresse sind die Konzentrationslager Bau-
thentisch, aber wen kümmert’s. Es bäude bei einer eher traditionell wieder bestätigt. denkmäler. Das spontane Gefühl
lebt sich beschaulich in dieser Stadt. orientierten Bevölkerung auf Un- Es gibt viele Formen tendenziö- sagt uns, wie unpassend der Begriff
Einmal im Jahr ist die politische Welt verständnis und Vorbehalte stößt. sen Journalismus’. Besonders wir- ist. Eine gemeinsame Bezeichnung
zu Gast und weckt die Erinnerung Aber wo waren die Fachleute, die kungsvoll ist der unterschwellige für Relikte der Frühgeschichte, für
an alte Größe, auch wenn kein Kai- Architekten und die Politiker, die es Appell an Gefühle, die nicht ex- Bauwerke der Hochkulturen,Wohn-
ser gekrönt, sondern nur ein Politi- besser wussten? Sie hätten dem Un- pliziert werden. Man nennt es ge- siedlungen des 19. Jahrhunderts und
ker gekürt wird. Es ist eine Erinne- verständnis mit Information und meinhin Populismus. Anlässlich der für die Zeugnisse der Verbrechen
rung, mehr nicht. Für die geistliche Aufklärung begegnen und der Verfe- neueren Diskussion um die Ein- des Nationalsozialismus führt sich
und die weltliche Macht ist die Stadt stigung von Vorbehalten zu Vorur- tragung des Klinikums in die nord- selbst ad absurdum. Diese Absurdi-
schon seit langem ohne Bedeutung, teilen entgegenwirken können. Und rhein-westfälische Denkmalliste – tät wächst, wenn die Denkmalwür-
sie verfügt über keine nennenswer- es wäre ein Leichtes gewesen, den die Diskussion wird seit mehr als digkeit eines Objekts als Angelegen-
te Wirtschaft und auch die kul- lokalen Stolz auf ein außergewöhn- zehn Jahren geführt – erschien in der heit betrachtet wird, die Fachleute zu die outside constructions des High- einander verzahnten Arbeitsabläufe nikgeschosse, Betonfertigteile von (1)1969 wurde von Weber, Brand und
turellen Eliten tummeln sich ande- liches Bauwerk zu wecken. Merk- Aachener Zeitung ein Artikel, der entscheiden haben. Es sind immer Tech gern verglichen werden, ist das reibungslos entfalten können und in gigantischen Dimensionen, über den Partner der Entwurf für das Klinikum
renorts. Man sollte meinen, die Stadt würdig ist auch, dass die Anerken- auf infame Weise alte Ressentiments gesellschaftlich politische Entschei- übrigens auch nicht der Fall. Das der vor allem der Aufenthalt Tag wie Bezug zur Landschaft und das Farb- vorgelegt. Fertiggestellt werden konnte das
Gebäude erst 1984. Die Bauzeit des Centre
wäre reine Provinz. Doch das ist nung auf nationaler Ebene nicht bediente.2 Die Methode: Nieder- dungen, die sich der fachlichen Be- filigrane Gitternetz an den begehba- Nacht so angenehm wie möglich zu konzept. Die historische Größe des
Pompidou liegt zwischen 1971 und 1977
nicht der Fall. Mit der drittgrößten oder nur sehr zögerlich erfolgte. Für machen durch Lob. Man könnte mit gründungen bedienen. Das wurde ren Balkonen, welches das gesamte gestalten war. Dass Kranke sich Gebäudes liegt jedoch eindeutig
technischen Hochschule Deutsch- ein anderes Highlight der 70er einem Schulterzucken über die un- spätestens in den Häuserkämpfen Gebäude umhüllt, und die Lüftungs- nicht immer wohl fühlen, versteht darin begründet, dass es ein Lehr- (2)„Klinikum als Weltkulturerbe?“, in:
lands, zudem Exzellenz-Uni, partizi- Jahre, das Dach des Münchner appetitlichen Äußerungen eines un- der 70er Jahre deutlich. Umgekehrt rohre sind keine tragenden Teile. sich von selbst. Da bei Planungsbe- stück in perfekter Funktionserfül- Aachener Zeitung, 3.11.07
piert die Stadt von der weltweiten Olympiastadions, gilt das zum Bei- bedeutenden Blatts hinweggehen, würde kein fachliches Argument Die spektakuläre Ästhetik des ginn das Raumprogramm noch nicht lung ist auf Grundlage einer frei und
(3)Lutz-Hennig Meyer, mittlerweile im
Wissenschaftsgemeinde. Diese Kon- spiel nicht. Man ist fast geneigt, eine wenn nicht im Zentrum des Artikels nützen, wenn eine Gesellschaft et- Klinikums sollte nicht über seine ei- feststand, musste nach Aussage der wechselnd codierbaren Struktur, die
Ruhestand. Übrigens ist der als Experte
zentration von Kompetenz hat der Verschwörung der Missgunst zu ver- eine Aussage des Aachener Landes- was vergessen will. Auch der Denk- gentliche Leistung hinwegtäuschen, Architekten „jeder Nutzungsfall … jeden Funktionalismus weit hinter zitierte Aachener Landeskonservator für
Stadt schon einmal Standortvorteile muten, wenn so etwas in Deutsch- konservators stünde. Zitat: „Denk- malschutz des Klinikums war bisher nämlich die Lösung einer Bauaufga- an jeder beliebigen Stelle der Struk- sich lässt. Gern wird von der Pla- den Denkmalschutz des Klinikums nicht
eingebracht und zu einem der bemer- land nicht unmöglich wäre. malschutz ist keine Frage der kein Fall fehlender fachlicher Be- be, die in dieser Form und mit dem tur mitsamt den ihm eigenen Bedin- nungseuphorie der SPD-Ära der unmittelbar zuständig, da das Gebäude
kenswertesten Gebäude der deut- Erst der internationale Ruhm des Schönheit, sonst würde man ja auch gründung, sondern fehlenden politi- gegebenen Schwierigkeitsgrad bis gungen erfüllbar sein“6. Außerdem Jahre 1969–1974 gesprochen, die sol- Landeseigentum ist.
schen Nachkriegsgeschichte geführt. Centre Pompidou, das auch seinen niemals ein KZ unter Denkmal- schen Willens. dahin noch nicht gestellt worden änderten sich während der langen che Großprojekte wie das Klinikum
(4)Der Begriff wurde von Colin Davies
Die Rede ist natürlich von Aachen Architekten Starruhm brachte, ließ schutz stellen.“3 Im internationalen Kontext ran- war. Die Unterbringung der 1967 Bauzeit sowohl die medizintechni- ins Leben gerufen hat. Das ist rich-
für Bauwerke mit ausgeprägt konstruk-
und dem Aachener Klinikum. das Klinikum in einem anderen Sollte mit dieser Aussage um Ver- giert das Klinikum als das einzige neugegründeten medizinischen Fa- schen Anforderungen als auch die tig. Wieso aber das geschwundene tiver Rhetorik aus der Zeit von 1970 bis
Aachen besitzt eine stattliche Licht erscheinen. Die nun widerwil- ständnis für den Denkmalschutz des deutsche Beispiel der High-Tech-Ar- kultät in einem Gebäude, das For- Richtlinien für den Krankenhausbau, Vertrauen in die Planbarkeit der Zu- 1985 eingeführt. Vgl. Colin Davies:
Zahl von Denkmälern wie jede älte- lig gezollte Anerkennung war zu- verschrienen Gebäudes geworben chitektur 4, ein Bauwerk, das sich mü- schung, Lehre und medizinische Pra- so dass Planung und Bau simultan kunft diesen Projekten zum Vorwurf High-Tech Architektur, Stuttgart 1988.
re deutsche Stadt mittlerer Größe. gleich eine Herabwürdigung nach werden? Mit einem populistischen helos neben den architektonischen xis in sich vereint – heute würde man erfolgen mussten. Dieses Ausmaß an gemacht werden kann, ist unersicht- Das Klinikum wird auf acht Seiten vorge-
Zwei Gebäude jedoch – der Dom dem Modus: Original und Abklatsch. Kotau, der alle Vorurteile bestätigt? Giganten der Zeit wie der Hong- von Synergieeffekten sprechen – , Flexibilität ist bis heute einzigartig. lich und in Anbetracht der großarti- stellt, S. 132-139. Auch Charles Jencks
widmet in seiner Anthologie „Architektur
und das Klinikum – können über Tatsächlich liegt der Entwurf des Das hat, wie der Artikel zeigt, wirk- kong Bank oder Lloyd’s of London hätte als herkömmliches Bauwerk Erreicht wurde es durch die strikte gen Planungsleistung einfach nur un-
heute“ dem High-Tech ein ganzes Kapi-
ihre lokale Bedeutung hinaus Gel- Klinikums zeitlich vor dem Centre lich gut geklappt! Wie ist es nur behaupten kann und das Weber, wahrscheinlich eine Länge von mehr Trennung von Primärstruktur, Ge- verschämt. tel, Stuttgart 1988, S. 270 ff. Vgl. außer-
tung beanspruchen. Sie sind einzig- Pompidou.1 Der Vergleich beider möglich, dass in aller Öffentlichkeit Brand und Partner auf Augenhöhe als einem Kilometer beansprucht. bäudetechnik und Innenausbau, die dem: Patrice Goulet: „Universitätsklini-
artig im weltweiten Vergleich. Der Gebäude ist aufschlussreich, zeigt er Parallelen gezogen werden können mit Weltstars wie Sir Norman Foster, Weber und Brand entwickelten eine es erlaubt, das Gebäude den wech- Sabine Kraft, Bruno Schindler kum Aachen“, in: Nordrhein-Westfalen.
Dom gehört zum Weltkulturerbe doch, in welchem Ausmaß die Um- zwischen einem Gebäude, in dem Richard Rogers oder Renzo Piano Megastruktur, die über 24 in vier selnden Anforderungen anzupassen. 60 Jahre Architektur und Ingenieurkunst,
hg. v. M:AI, S. 184 f. sowie Georg Dehio:
und ist der Stolz der Stadt, das weltwahrnehmung beeinflussbar ist. zum Wohle der Menschen geforscht bringt. Dieser Interpretation hat sich Reihen auf einem regelmäßigen Ra- Eine solche Anpassung steht derzeit
Handbuch der deutschen Kunstdenk-
Klinikum dagegen ist bis heute nicht Auf der einen Seite eine Ikone des und gelehrt wird, in dem Kranke be- die Denkmalpflege angeschlossen.5 ster von 1,20 Meter angeordneten an, da das Fallpauschalensystem der mäler, Nordrhein-Westfalen I, Rheinland,
in seiner tatsächlichen Bedeutung High-Tech, als Kunstwerk gefeiert handelt und gepflegt werden, und Das Label High-Tech ist jedoch nur Versorgungstürmen erschlossen und Gesundheitsreform auf eine Reduk- München 2005, S. XXIX und S. 69
gewürdigt worden, nicht in Aachen. und von großer Popularität, auf der den nationalsozialistischen Vernich- teilweise richtig. Das Klinikum wur- durch interne Höfe belichtet wird. tion der Bettenkapazitäten hinaus-
Bereits während seiner Erbauung anderen Seite eine hässliche Raffi- tungslagern, ohne dass eine solche de aus Feuerschutzgründen in Beton Das Gebäude ist wie eine Stadt mit läuft. (5)Godehard Hoffmann: „Das Klinikum
wurde es zum Stiefkind der Stadt, nerie, abgestempelt als blas- Ungeheuerlichkeit einen Sturm der ausgeführt und verzichtet auf die internen Straßen und eigener Infra- Vom Klinikum gingen viele Im- in Aachen, bedeutendstes Zeugnis der
High-Tech-Architektur in Deutschland“,
mit Kritik überhäuft und regelrecht phemische Monstrosität. Die Aache- Entrüstung auslöst? Wie ist es mög- konstruktive Rhetorik eines außen- struktur, in der alles, was für die Ver- pulse für den Krankenhausbau aus
in: Denkmalpflege im Rheinland, 17.
diffamiert.Warum eigentlich? Wegen ner Bürger sind sicherlich nicht lich, dass der Begriff der Schönheit liegenden Tragwerks, in dem die sorgung von 13 000 Menschen erfor- und es gäbe viel zu berichten über Jahrgang Nr. 4, (2000), S.154-161
der vielen Schwierigkeiten, die es zu bornierter als die Bewohner des im Zusammenhang mit den Konzen- Kräfte auch schon mal spazierenge- derlich ist, bereitgestellt wird, in der die Innovationen in der räumlichen Das Klinikum in der Landschaft
überwinden galt, wie die Probleme Quartier Marais, aber genauso anfäl- trationslagern fallen kann, wenn be- führt werden. In der Gotik, mit der sich die verschiedenen teilweise in- Organisation, über begehbare Tech- Foto: Sabine Kraft (6)cit. nach Hoffmann 2000, S. 157

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1964 1965 1966

Architecture Principe
Nr. 1, Februar
Ekistics Paris
Bau Design Quarterly Symbols
April Angelus Novus
Nr. 1 Nr. 63 London
Apostrophiert als das „permanente Mani-

Op. cit. Athen August fest der Gruppe Architecture Principe“, er-

Wien Minneapolis schienen in den letzten neun Monaten des

Nr. 1, September
Zeitschriften waren bereits ein fester Be-
standteil der Kultur der Londoner Architec-
Florenz Jahres 1966 neun kurze Ausgaben, die
1946 gegründet, wurde Design Quarter- sich allesamt mit den theoretischen Schrif-
tural Association, als Grahame Shane,
Neapel ly vom Walker Arts Center in Minneapo-
lis, Minnesota, herausgegeben. Mitte der
Jasper Vaughn und Justin de Syllas sich
Angelus Novus: trimestrale di estetica e
critica wurde 1964 von Massimo Caccia-
ten und architektonischen Projekten seiner
beiden Herausgeber, Claude Parent und
dort Anfang der 1960er Jahre immatriku- ri und Cesare De Michelis aus der Taufe Paul Virilio, befassten. Architecture Princi-
Op. cit. – eine Abkürzung für das lateini- 1960er Jahre begann Design Quarterly,
lierten. Archigram 4 war frisch aus der gehoben. Die erste Nummer kam im No- pe betonte die unumgängliche Anpassung
sche „opus citatum“ – ist der Begriff, den sich von seinem ursprünglichen Schwer-
Druckerpresse gekommen, und Tutor Peter vember 1964 heraus und erschien bei La der architektonischen Kultur an die verän-
man benutzt, um einen Leser auf ein schon punkt auf Kunst, Kunsthandwerk und „gut
Cook klapperte die AA-Studios auf der Su- Nuova Italia in Florenz. Benannt war die derten räumlichen Bedingungen, die der
vorher zitiertes Werk zu verweisen. Um entworfenen“ Objekten abzuwenden, und
che nach Abonnenten ab. 1964 produ- Zeitschrift nach dem Titel der ersten Über- Zweite Weltkrieg in die Wege geleitet hat-
das „opus citatum“ zu finden, muss man brachte fortan auch Beiträge über experi-
zierten Shane, Vaughn und de Syllas, die setzung der Essays von Walter Benjamin te und die durch die Nachkriegsentwick-
die vorausgegangenen Fußnoten durch- mentelle Architektur, Städtebau, neue Tech-
sich als Action Communications Centre ins Italienische. Die Zeitschrift war in erster lungen in der Militär- und Kommunikati-
kämmen, bis man die fragliche Quelle ge- nologien und die Umwelt. Von 1964 bis
(A.C.C.) bezeichneten, eine Reihe von Mit- Linie ein Vehikel für eine Ideologiekritik onstechnologie noch verschärft worden
funden hat. Die Zeitschrift wurde 1964 in 1968 fungierte Peter Seitz als Herausge-
teilungsblättern (siehe 1964/A.C.C.). mittels Untersuchungen der Kultur vom 19. waren. Kurze theoretische Manifeste wie
Neapel gegründet und von der Edizione Il ber der Zeitschrift. Er war maßgeblich ver-
1965 intensivierte das A.C.C. seine Bemü- Jahrhundert bis zur Zwischenkriegszeit in „La Fonction Oblique“ erschienen regel-
Centro publiziert. In Schwarzweiß auf mat- antwortlich für die Berücksichtigung von
hungen und brachte eine anspruchsvolle- Europa, mit besonderer Betonung der mäßig in der Zeitschrift. Darin überden-
tes Papier gedruckt, widmete sie sich in- Themen, die die Beziehung zwischen Tech-
haltlich den visuellen Künsten. Nach den nik, Kunst und architektonischem Entwurf
re Zeitschrift mit dem Titel Symbols heraus,
eine Kollektion von zusammengehefteten
avantgardistischen Kunstbewegungen des Provo ken die beiden Herausgeber die Bedeu-
tung der schrägen Ebene und der schiefen
untersuchten. Mit der Veröffentlichung von frühen 20. Jahrhunderts wie etwa der
spärlich illustrierten ersten paar Ausgaben
begann sie jedoch, auf jegliche Illustratio- „A Clip-On Architecture“, einer Ausgabe,
DIN-A4-Blättern. In der Einleitung zu Sym-
bols hieß es: „Eine Untersuchung und Be-
Künstlergruppe De Stijl, der die gesamte Nr. 4, Amsterdam Achse für die menschliche Orientierung.
auf deren Titelblatt ein Bild von Archig- Ausgabe vom August 1965 gewidmet ist. Sie seien eine Plattform zur Erschaffung ei-
nen zu verzichten. Ihre wesentliche theo- wusstmachung unserer Verwendung von
rams Walking City in New York (Ron Her- Die „De Stijl: estetica e arti“-Nummer ent- Durch das Muster aus roten Ziegelsteinen ner „neuen städtischen Ordnung“, wenn
retische Agenda bestand darin, das Sicht- Zeichen und Sprache könnte vielleicht die
ron, 1964) prangte, markierte das Jahr wickelte sich aus einem 1965 von Massi- auf dem Titelblatt von Provo 4 blitzen Re- nicht sogar zur „völligen Neuerfindung des
bare auf den Bereich des Sprachlichen zu Werte unserer Gesellschaft ans Tageslicht
1965 eine auffällige Akzentverlagerung in mo Cacciari und Francesco Dal Co abge- flexionen des Silberpapiers, auf das es ge- architektonischen Vokabulars.“ Program-
reduzieren, denn Wahrnehmung beruhe bringen, unsere Tradition.“ Auf seinen 107
der Geschichte von Design Quarterly. Her- haltenen Seminar am Istituto Universitario druckt worden war – eine subtile Verbeu- matische Texte wurden regelmäßig kombi-
auf Vorstellung. Dieser theoretische Aspekt Seiten spiegelte sich das Interesse an Zei-
ausgegeben von Peter Seitz und verfasst di Architettura di Venezia (IUAV). Caccia- gung vor den metallisch schimmernden Ti- niert mit theoretischen Diagrammen und
der Zeitschrift wird verstärkt durch die kon- chen, Symbolen und Symbolismus wider
von Reyner Banham, machte diese Ausga- ri und De Michelis entdeckten in De Stijl telblättern der Internationale Situationniste. panoramatischen Zeichnungen der neuen,
tinuierlich angewendeten Methodologien: in einem breiten Spektrum von Artikeln,
be das amerikanische Publikum mit avant- eine Überzeugung, der zufolge die intel- Das Format der zwölf erschienenen Aus- von ihnen anvisierten städtischen Ord-
Strukturalismus, Saussure’sche Linguistik, darunter George Balcombe über „Symbo-
gardistischen Architekturpraktiken in lektuelle und künstlerische Arbeit zwar im gaben war das eines mittig gefalteten DIN- nung. Von Anfang an herrschte ein apo-
Semiotik und Hermeneutik. Die Ausgaben lismus in der modernen Architektur“, Lyrik
Europa bekannt. Zusätzlich zu den verblüf- Rahmen des kapitalistischen Produktions- A4-Blatts. Provo war das gratis verteilte kalyptischer und befreiender Tenor in der
von Op. cit. enthielten regelmäßig wichti- von William Blake und Colin Rowes „Ma-
fenden Bildern der „sich nicht wiederholen- zyklus stattfinde, sich aber dennoch die Organ der Amsterdamer Provo-Bewe- Zeitschrift vor: „Der Zustand der Krise, der
ge Artikel zur Architektur, zum Design und nierismus und moderne Architektur“, ein
den“ Komponenten von Alison und Peter Fähigkeit bewahre, sich selbst zu verän- gung. Aus einem anarchistischen, konsum- derzeit offenkundig allen menschlichen Ak-
zu den visuellen Künsten. In der im Sep- Nachdruck aus der Architectural Review
Smithsons „House of the Future“, Ionel dern: wie Cacciari in dieser Ausgabe kritischen und anti-royalistischen Blickwin- tivitäten zugrunde liegt, die Rückkehr zu ei-
tember 1964 publizierten ersten Nummer (Mai 1950). Zwischen den Artikeln befan-
Schein und René Coulons vorgefertigten schreibt, „mehr [zu tun] als im Nebel zu kel befasste sich die Zeitschrift mit politi- nem Prinzip der Einheit, das jede Klassifi-
von Op. cit. ist der charakteristische inter- den sich Fotografien, begleitet von Zitaten
Motel-Einheiten, Cedric Prices Fun Palace verschwinden, aber notwendigerweise schen Themen, aber auch mit Architektur zierung, jede Grenze aufhebt, die gewal-
disziplinäre Impuls der Zeitschrift bereits von Architekten wie Antonio Sant’Elia, Al-
und Archigrams Plug-In Cities lieferte Ban- grenzenlos und abstrakt zu sein.“ 1967 und Städtebau, darunter Artikel von Con- tige Kontraktion von Werten und
deutlich wahrzunehmen. Die erste Ausga- var Aalto, Hugo Häring und Peter Smith-
hams Text einen theoretischen Rahmen für sollte Cacciari seinen Redakteursposten stant Nieuwenhuis sowie eine ausschließ- Disziplinen signalisiert das Herannahen ei-
be enthält die Artikel: „Die ‚neuen Ikonen‘ son. Im Architectural Association Journal
die Konzeptualisierung einer formal unbe- aufgeben, um 1968 gemeinsam mit Al- lich ihm gewidmete Nummer. Provo wur- nes womöglich beispiellosen Ereignisses.
und die ‚Zivilisation des Konsumismus‘“, (November 1965) sollte Rodney Mace
stimmten Architektur, die sich aus Weg- berto Asor Rosa und Toni Negri die Zeit- de häufig im Rahmen von „provokativen“ Historisch gesehen haben wir bereits zahl-
„Utopische Architektur“, „Die Soziologie Symbols den Vorwurf machen, es hätte
werfkomponenten zusammensetzt. AF schrift Contropiano zu starten. Nach 1968 Aktionen unter die Leute gebracht, zum lose Modifikationen von Gesellschaften er-
der Kunst der Soziologen“, „Erfahrung der „keinen roten Faden“. Dieser Kommentar konzentrierte sich Angelus Novus mehr auf Beispiel, indem man es heimlich in Num- lebt, doch bislang sind wir noch nie bei der
Biennale“, „Technik und zeitgenössische sollte jedoch eine Nachfolgepublikation mit die Diskussionen innerhalb der politischen mern der stockkonservativen Tageszeitung Mutation des Menschen selber zugegen
Lyrik“, „Neue Romane und die bildenden dem Titel Signs of the Times, or Rather Linken, wobei man dieses Thema im All- De Telegraaf steckte oder es von Brücke gewesen.“ CB
Künste“ und „Roberto Panes Gaudí“. AI More Symbols than Signs provozieren, die gemeinen mit den Mitteln der Literaturkri- in die Barkasse der Königin warf, als die-
von Robin Evans und John Frazer heraus- tik anging. 1974 stellte Angelus Novus se eine Bootstour durch Amsterdams
gegeben und 1966 veröffentlicht wurde. sein Erscheinen ein. AI Grachten unternahm. Andere Provo-nahe
IS Publikationen waren Provokaatsie aus Am-
sterdam oder Lynx aus Maastricht und De-
sperado aus Rotterdam. AS

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1969

Le Carré Bleu Form


Nr. 3, September Nr. 10 Arquitectos
Cambridge, GB de México Utopie. Marcatrè
Paris Casabella
März/April Sociologie de l’urbain Nr. 50/55, März-Juli
„Die Protestbewegung hat uns klar ge- Nr. 329, Oktober
macht, dass wir uns offener positionieren Mexiko-Stadt Nr. 2/3 Genua/Mailand
Mailand Bau
müssen, als wir es in der Vergangenheit
getan haben. Eine permanente Architekt- Contrapiano Paris
1963 in Genua von der bekannten GRUP-
urkritik muss in unserer Zeitschrift eine of- Nr. 1/1969 PO 63 aus der Taufe gehoben, erschien
fene Tribüne finden und sich dort mit den
Wien Nr. 1/1969 Die Erfahrung und die Nachwirkungen der
Ereignisse des Mai ’68 dominieren die Marcatrè bis 1969 mit einem von dem
fundamentalen Beziehungen befassen, die
es zwischen den schönen Künsten, den um-
Rom/Venedig zweite Ausgabe von Utopie, ein Doppel- Künstler Magdalo Mussio entwickelten
Grafikdesign. Zu ihren namhaften Redak-
heft, das im Frühjahr 1969 herauskam. Ei-
weltbezogenen Wissenschaften und politi- nige der Texte bedienen sich einer unver- teuren zählten Gillo Dorfles, Eugenio Bat-
Manfredo Tafuris wegweisender Essay „Per
schen, sozialen und wirtschaftlichen Pro- kennbar marxistischen Analyse. Jean Bau- tisti, Vittorio Gregotti, Umberto Eco, Edo-
una critica dell’ideologia architettonica“
blemen gibt ...“ Dieses knappe Statement drillards „Le ludique et le policier“ (Das ardo Sanguineti und Paolo Portoghesi. Die
(Zu einer Kritik der architektonischen Ideo-
auf dem Titelblatt der dritten, 1968 er- Spiel und die Polizei) bietet eine während letzte und entscheidende Ausgabe ist Mar-
logie) erschien erstmals in der Ausgabe
schienenen Ausgabe von Le Carré Bleu der Ereignisse verfasste Interpretation der catrè 50/55 von März-Juli 1969. Diese
1/1969 von Contropiano: Materiali mar-
gibt die Reaktion der Herausgeber auf die Proteste und der Reaktion der Intellektuel- Ausgabe widmet sich hauptsächlich „Uto-
xisti. Dieser überaus einflussreiche Essay
Studenten- und Arbeiterproteste wieder, len, während Henri Lefebvres „De la sci- pia e/o Rivoluzione“ (Utopie und/oder Re-
sollte die Grundlage für Tafuris 1973 er-
die früher im Jahr stattgefunden hatten. ence à la stratégie urbaine“ (Von der ur- volution), einer am 26. und 27. April 1969
schienenes Buch „Progretto e Utopia“ (dt.
1958 gegründet und mit Sitz in Paris und banen Wissenschaft zur urbanen Strate- in Turin von Studenten und Assistenten der
Kapitalismus und Architektur, Berlin 1977)
Helsinki, wurde Le Carré Bleu von einem gie) die produktiven interdisziplinären dortigen Architekturfakultät organisierten
bilden. Ende der 1960er Jahre beschrieb
vielköpfigen Redaktionskollektiv geleitet, Anforderungen umreißt, die die „urbane Ausstellung und „öffentlichen Versamm-
der Kritiker Paolo Portoghesi die Bedeu-
welches eng mit dem internationalen Ar- Totalität“ an das Denken stellt. Die für die lung“. Als ein Beitrag zu der sich in den
tung, die Tafuris Artikel seinerzeit hatte:
chitektennetzwerk von Team 10 liiert war. erste Ausgabe von Utopie charakteristische späten 1960er Jahren vollziehenden pole-
„Manfredo Tafuri ... entwickelt auf über-
In Sachen Inhalt und Vertrieb stützte sich Praxis der Montage verlagert sich in Aus- mischen Neubewertung des Vermächtnis-
zeugende Weise eine exakte Darstellung
die Zeitschrift auf dieses Netzwerk und pu- gabe 2/3 zu einer Analyse von Anzeigen ses der Utopie, in Reaktion auf die zuneh-
der bürgerlichen Architekturideologie, wie
blizierte regelmäßig Projekte und Artikel für Haushaltswaren und zu einer Aneig- mende Kommerzialisierung der Kultur auf
sie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
von Candilis-Josic-Woods, Van der Broek nung von Bildern aus der amerikanischen den Ebenen des Hauses, der Stadt und des
derts besteht. (Tafuris Pessimismus) ist ein
und Bakema, Giancarlo de Carlo und Ali- Underground-Presse, insbesondere von Landes, warf „Utopia e/o Rivoluzione“
guter Ausgangspunkt für die Debatte (über
son und Peter Smithson. Le Carré Bleu hat- Trashman, dem Antihelden aus Spain Rod- eine Reihe theoretischer Fragen auf: Wenn
die Bedeutung der Architektur). ‚Die Da-
te die Form eines Quadrats von einund- riguez’ gleichnamigem Underground-Co- es eine Utopie geben soll, dann welche?
seinsberechtigung des bürgerlichen Intel-
zwanzig Zentimeter Seitenlänge und ent- micstrip (1969). CB Wenn eine Revolution, dann wo und
lektuellen‘, schreibt Tafuri, ‚manifestiert sich
faltete sich in einer ausgedehnten wann? Was ist die Rolle des Proletariers
in einer gesellschaftlichen Mission, die bei
Leporellofalzung. Dieses doppelseitige oder des Intellektuellen in dieser Diskussi-
der Tätigkeit des Intellektuellen unabding-
Pamphlet enthielt häufig die prägnante Un- on? Der erste Teil von Marcatrè 50/55 ent-
bar ist. Zwischen der Avantgarde des Ka-
tersuchung eines einzigen Projekts. Die hält eine Reihe von Artikeln und Reaktio-
pitals und der intellektuellen Avantgarde
Ausgabe Nr. 3 war bemerkenswerterwei- nen zum Thema „utopia e/o rivoluzione“,
besteht eine Art stillschweigende Überein-
se keinem bestimmten Projekt gewidmet, verfasst von der „gruppo u. e/o r.“, die aus
kunft, ihre Verbindung nicht zu diskutier-
sondern den mittlerweile ikonischen Gra- Mitgliedern der Architekturfakultät der Tu-
ten, so als würde der Versuch, diese Dis-
fiken, die während der „Mai-Ereignisse“ riner Universität bestand. Daneben gibt es
kussion zu eröffnen, einen Aufschrei der
von den „atéliers populaires“ produziert Beiträge zum Thema von Ronaldo Giurgo-
Empörung hervorrufen.‘“ AI
worden waren. Diese Studios bestanden la, Paolo Soleri, Archigram, Yona Fried-
aus Studenten, die an den Écoles Nationa- man, Utopie, Archizoom, Noam Chomsky
les des Beaux-Arts et Arts Décoratifs imma- und James Agee. Der zweite Teil enthält
trikuliert waren, Institutionen also, deren Artikel über Malerei und Kitsch-Patchwork,
Schließung und Neuorganisation eines der über Oskar Schlemmer und zwei theoreti-
Ziele der Protestbewegungen des Mai-Auf- sche Essays von Max Bense und Achille
standes gewesen war. CB Bonito Oliva. AI

00 00
1970 1971

Inflatocookbook in
Nr. 2/3, März–Juni Perspecta
Domus Nr. 1, Januar
Transparent Architectural Circus Mailand Nr. 13/14 Street Farmer
Nr. 487, Juni Sausalito, Kalifornien
Nr. 8/9, Association Quarterly Nr. 1 New Haven, Nr. 1
Mailand in wurde 1971 von einer von Pierpaolo

Oktober/November Herbst London Saporito angeführten Gruppe Mailänder Connecticut London


Architekten und Künstler gegründet. Die
Wien London Ende 1958 wurde die British Architectural
zweimonatlich erscheinenden themenzen- „Das Einhorn sah Alice träumerisch an und
trierten Ausgaben befassten sich mit dem, sagte: ‚Sprich, Kind!‘ Da musste Alice nun
Students Association (BASA) gegründet,
Die Geburt der Architectural Association was die Herausgeber als „Evolution von doch unwillkürlich lächeln, und sie sagte:
eine 25 Architekturschulen vertretende na-
Quarterly war teilweise eine Reaktion auf Umweltstrukturen“ und „andauernde, auf ‚Also weißt du, ich dachte auch immer,
tionale Studentenvertretung. Das Ziel der
die überwiegend technisch orientierte Are- die Zerstörung bestehender Machtstruktu- Einhörner seien Fabelwesen! Ich habe
BASA bestand in einer Verbesserung „der
na/Interbuild an der Architectural Asso- ren abzielende Veränderungen“ bezeich- noch nie eins lebendig gesehen.‘ ‚Na, je-
Ausbildungssituation und der sozialen
ciation und teilweise eine Rückkehr zu den neten. Die erste Ausgabe von in (Januar denfalls haben wir uns jetzt gesehen‘, sag-
Lage der Architekturstudenten“. Um die
streng intellektuellen Zeitschriften wie Fo- 1971) war dem Thema Utopie gewidmet te das Einhorn, ‚und wenn du an mich
Disparitäten auszugleichen, wäre ein Fo-
cus und Plan, welche die AA in den und enthielt Essays von Gillo Dorfles („Eine glaubst, glaub ich auch an dich. Einver-
rum für den Gedankenaustausch notwen-
1940er und 1950er Jahren produziert zu verwirklichende Utopie“), Archizoom standen?‘“ Statt eines Editorials leiten die-
dig. So begann die BASA im Architects’
hatte. Dem Gründer und Herausgeber der („Utopie der Qualität, Utopie der Quanti- se Zeilen aus Lewis Carrolls Alice hinter
Journal einen „Studententeil“ zu veröffent-
AAQ, Dennis Sharp, schwebte eine inter- tät“) und Hans Hollein („Pille und Spray“). den Spiegeln die ersten Seiten von Per-
lichen, dessen erste Ausgabe Seiten der
nationale Zeitschrift vor, die akademisch, Binnen zwei Jahren brachte in neun the- specta 13/14 ein, deren Plastikumschlag
von Studenten des Regent Street Polytech
kritisch, themenzentriert und theoretisch matische Ausgaben heraus und baute irisierend schimmert. Unter dem Thema
herausgegebenen Flugschrift Polygon ent-
sein und auf die üblichen Besprechungen während dieser Zeit ein internationales „Das verlorene Paradies“ enthält Nr. 13
hielt. Die BASA sollte auch eine Reihe von
gebauter Werke verzichten sollte. AAQ Netzwerk von Mitwirkenden auf, zu dem Beiträge über vergessene Architekten des
Konferenzen sponsern, darunter die 1966
publizierte frühe Essays von Charles unter anderem Archigram, Jim Burns, frühen 20. Jahrhunderts: u.a. Robert
in Folkestone veranstaltete Tagung IDEA
Jencks, der für die Eröffnungsnummer Street Farmer und Salz der Erde gehörten. Coombs über Norman Bel Geddes und Jo-
(International Dialogue of Experimental
(Winter 1968/1969) „Pop-Non-Pop“ bei- Die mit „Die Zerstörung des Objekts“ über- seph Rykwert über Eileen Grey. Ein weite-
Architecture); bei dieser zweitägigen Ver-
steuerte, und von Robin Evans, dessen Ar- titelte Doppelnummer 2/3 trug maßgeblich res Zitat – diesmal aus Der Zauberer von
anstaltung gab es Vorträge von Cedric Pri-
tikel „Bentham’s Panopticon: An Incident zur Etablierung dieses Netzwerks bei. Pu- Oz – leitet über zu Nr. 14, die unter dem
ce, Buckminster Fuller und Reyner Banham,
in the Social History of Architecture“ bliziert in Deutsch, Französisch, Englisch Titel „Utopie und Antiutopie“ den Utopis-
aber auch von kontinentaleuropäischen
(April/Juli 1971) Michel Foucaults „Über- und Italienisch sowie mitherausgegeben mus in Nordamerika und Europa behan-
Koryphäen wie Hans Hollein, Claude Pa-
wachen und Strafen: Die Geburt des Ge- von den Florentiner Architekturgruppen delt. Jacques Ehrmann (über Claude-Ni-
rent und Frei Otto. Die BASA stellte fest,
fängnisses“ (1975) um vier Jahre voraus- Archizoom und Superstudio, sollte diese colas Ledoux) und Anthony Vidler (über
„dass es eine immer stärkere Neigung zu
ging. Eine der klassischen AAQ-Ausga- Ausgabe die erste einer nicht realisierten Industrialisierung und städtische Utopien
Experimenten, Erfindungen und zu einer
ben war die sich mit Comicstrips Trilogie sein; eigentlich sollten ihr noch in den Werken von Charles Fourier und
generellen Infragestellung von organischen
befassende Nummer vom Herbst 1970, „Die Eliminierung der Stadt“ und „Das Ver- Emile Zola) widmen sich der geschichtli-
und statischen Methoden gibt“; es wäre
deren auffälliges Titelblatt Sharp höchst- schwinden des Werks“ folgen. in 2/3 woll- chen Dimension des Problems. Projekte
„wichtig, dass diese Architekten ... einan-
persönlich entworfen hatte. Hans Dieter te „im Wesentlichen operativ“ sein und lud und Manifeste von Superstudio, Bruce
der kennen lernen und, vor einem Publi-
Zimmermann untersucht in „Comic Strip Schlüsselfiguren der europäischen Avant- Goff, Paolo Soleri, Christo und Emilio Am-
kum aus anderen Architekten und Studen-
as a Popular Art Form“ den Aufstieg die- garde ein, „eine Reihe von Entwurfsexpe- basz stellen zeitgenössische Ansätze vor.
ten, ihre Ideen und die neueste Entwicklung
ses einstmals als „primitiv“ gescholtenen rimenten durchzuführen“, darunter Ettore Zwischen dem Verlust des Paradieses und
ihrer Arbeit diskutieren können.“ Für Ar-
und als „Schundliteratur“ kritisierten Me- Sottsass Jr., Ugo La Pietra, 9999, Heinz der Infragestellung von Utopien legt diese
chitekturstudenten formulierte die von der
diums. Und Thom Jestico erforscht in sei- Frank, Max Peinter, Coop Himmelblau und Perspecta-Ausgabe die Grundlagen für
BASA herausgegebene kurzlebige, ledig-
nem Beitrag „Soon We Were Over a City Haus-Rucker-Co. Das Titelblatt präsentier- eine einflussreiche dritte Perspektive: Peter
lich eine Seite umfassende Flugschrift Cir-
...“ nicht nur die in Comicstrips abgebilde- te Raimund Abrahams Reflexion über die Eisenmans Analyse der Casa Frigerio und
cus eine vergleichbare Vernetzungsidee:
te Architektur, sondern auch die Architek- Natur, die Benutzung und die Zerstörung Casa del Fascio von Giuseppe Terragni
ein auf Telex-Fernschreiber basierendes
tur des Comicstrip-Formats. Die AAQ-Co- von Objekten, in Form einer Serie von und Colin Rowes und Robert Slutzkys Es-
Ausbildungszentrum, das die Architekten-
mics-Ausgabe war nicht einfach nur ein markanten Schwarzweiß-Fotografien ei- say über Transparenz berücksichtigen bei
ausbildung auf neue Kommunikationstech-
Ausdruck der damaligen Begeisterung für nes in zwei Hälften zersägten Stuhls. OK der Suche nach einer autonomen struktu-
nologien ausrichtet, die den zeitgenössi-
Comics, sondern sie entdeckte den weitver- rellen und formalen Grundlage der Archi-
schen experimentellen Entwurfsmethoden
breiteten Trend, sich dieses Mediums zu tektur sowohl den geschichtlichen Kontext
der Architekten der 1960er und 1970er
bedienen, und versuchte, diesem auf den als auch die utopische ProjektionCB
Jahre entsprachen. IS
Grund zu gehen. IS

00 00
Fokus:Bau war die sequentielle Montage von
„Alles ist Architektur“ völlig anders
ver Reihung an, wie sie von so unter-
schiedlichen Architekturhistorikern und
weiteres erschließen. Wenn die kubi-
sche, unregelmäßig durchlöcherte
bestimmen. Vielmehr geht es darum,
jene Aussage zu entziffern, die durch
als die ausgewogenen, tabellarischen Kuratoren wie Siegfried Giedion, Form des Emmentalers auf merkwür- die Kollision der Bilder entsteht, wenn
Raster, die Hollein und Pichler bei Arthur Drexler oder Bruno Zevi prak- dige Weise zeitgenössisch anmutet, man deren nebengeordneten Verbin-
früheren gemeinsamen Arbeiten tiziert worden waren. Die Konstrukti- so spielt die bewusst getroffene Wahl dungen folgt.


UR
verwendet hatten, um assoziative Rei- on dieser visuellen Korrespondenzen des Käses auf den abfällig gemeinten Diese Hinwendung zu einer se-
VOM ABSOLUTEN

KT
hungen bzw. so etwas wie „visuelle ging Hand in Hand mit einem Ver- Begriff „Emmentaler“ an, der damals quentiellen metonymischen13 Montage

ITE
Reime“ zu erzeugen, die Ähnlichkei- such, die Bedeutung von Infrastruk- in Wien umgangsprachlich „schlech- ging Hand in Hand mit einer Interes-
ZU ALLEM

CH
ten oder Korrespondenzen in einem turen der „Kommunikationen“ und te“ Architektur bezeichnete.11 Diese sensverlagerung an der „latenten

AR
Feld von nebeneinandergestellten Bil- „Versorgung“ als Quellen eines mög- übertriebene und vielleicht sogar sich Monumentalität“ von Strukturen der
dern verdeutlichten.4 „Alles ist Archi- lichen, der Nachkriegsstadt angemes- selbst parodierende Nutzung der Fo- Kommunikation und Versorgung hin

T
IS
tektur“ verzichtete auf derlei Raster senen Symbolismus in Anspruch zu tomontage zeigt ein Medium, das an zum Problem der Information selbst.

ES
und führte stattdessen die Methode nehmen. einem Wendepunkt angelangt ist, an „Erwähnt sei auch die Verlagerung

LL
des Querlesens ein, bei dem sich die „Die heutige Stadt“, schrieb Hollein dem sich der Einsatz des Arguments des Gewichtes von Bedeutung zu

„A
Syntax nicht aus dem direkten Neben- in der Eröffnungsnummer von Bau, und die Verwendung der Montage zu Wirkung. Architektur hat einen ‚Ef-

S
einanderstellen erschloss, sondern „ist weniger Mauer und Turm als eine verändern beginnen. Das Innere der fekt‘. So wird auch die Art und Wei-

N
EI
eben eher aus einer sequentiellen Maschine der Kommunikation, Mani- Zeitschrift öffnet sich für diese Verän- se der Inbesitznahme, die Verwen-
LL Abfolge. Während frühere Manifeste festation der Eroberung und Beherr- derung, denn es organisiert sich ganz dung eines Objektes im weitesten Sin-
HO

eine potentielle, in den Infrastrukturen schung des Raumes und der Verbin- und gar um ein sequentielles Kontinu- ne wichtig. Ein Gebäude kann ganz
IN

von Versorgung und Kommunikation dung der ganzen Menschheit. Sie ist um von randlosen Bildern, die vom Information werden, seine Botschaft
E

latent vorhandene Monumentalität dynamisch, nicht statisch. Ihre Sym- Text getrennt sind. In seiner ruhelo- könnte ebenso nur durch die Medien
HM

geltend gemacht hatten, befasste sich bole sind anders, ihr plastischer Aus- sen Bewegung von einer Sache zur der Information (Presse, TV u. dgl.)
le NA

die 27-seitige Sequenz von „Alles ist druck wird bestimmt durch die Ele- anderen erzeugt das Manifest eine erlebt werden.“14„Alles ist Architektur“
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Architektur“ mit den radikalen Implika- mente dieser Kommunikation, durch Sequenz, die nicht mehr um visuelle betont, dass Information eine gestal-
y
Bu SI

tionen von Informationstechnologie Zeichen der räumlichen Ordnung, Ähnlichkeit herum organisiert ist, son- tende Kraft ist, etwas, das berechtig-
g E
ai NB

und immersiven Umgebungen.5 Das durch die dreidimensionalen Manife- dern durch die Wiederholung des terweise als ein Konstruktionsproblem
frühere Schlagwort von einer „absolu- stationen ihrer Versorgung.“8 Und Slogans „Alles ist Architektur“ quer angesehen werden kann, aber auch
Cr IE I

ten Architektur“ verkehrte sich nun in Hollein fuhr fort: „Die ungeheuren über ein Feld von sich verlagernden, als ein neues immersives Mittel zur
D

sein Gegenteil und wurde zum Slogan Bauten der Technik, die notwendig disjunktiven Bezügen, die allein durch Bestimmung der Umwelt, das implizit
„Alle sind Architekten. Alles ist sind, diese Städte zum Funktionieren ihre Nähe verbunden sind.12 Die Auf- mit einer Art architektonischen Ent-
Auf dem Titelblatt der Anfang traut.2 Als Mitglieder der kurz nach Architektur“. zu bringen, haben eine latente Monu- forderung – „Architekten müssen auf- sublimierung verknüpft ist.15 „Alles ist
1965 in Wien erschienenen er- dem Zweiten Weltkrieg erwachsen Die zentrifugale Asymmetrie des mentalität, und die Aufgabe des Ar- hören, nur in Bauwerken zu denken“ Architektur“ interpretiert die Außer-
sten Ausgabe von BAU: Schrift gewordenen Generation hatten diese Rasters auf dem ersten Titelblatt von chitekten ist es, sie zu entdecken und – findet seine Entsprechung nicht nur kraftsetzung der „traditionellen Defi-
für Architektur und Städtebau Redakteure unter einer akuten histo- Bau reihte und paarte massive Bau- hervorzubringen.“9 Von den noch im- in der Weigerung der Montage, Ob- nitionen“ von Architektur nicht als
waren Modelle, Zeichnungen rischen Amnesie gelitten: Wiener werke wie die New Yorker Verraza- mer in Wien stehenden Flaktürmen jekte zu präsentieren, welche gemein- eine Krise, sondern eher als eine Be-
und Fotos von Brücken, Bau- Architekturstudenten der fünfziger no-Narrows Bridge, eine Raketen- aus dem Zweiten Weltkrieg bis zu hin als Gebäude gelten, sondern freiung. „Der Umwelt als Gesamtheit
werken und Pyramiden spiral- Jahre war selbst das Schaffen von abschussbasis in Colorado und die den unterirdischen Raketenabschuss- auch in der Hinwendung zu unterge- gilt unsere Anstrengung und allen
förmig um den Schriftzug Otto Wagner, Adolf Loos oder Josef Pyramiden von Gizeh mit eng be- basen in der amerikanischen Wüste, ordneten formalen Ähnlichkeiten. In- Medien, die sie bestimmen. Dem
WHAAM! in Roy Lichtensteins Hoffmann wenn überhaupt, dann nur schnittenen Zeichnungen, Modellen von fensterlosen präkolumbischen dem Beziehungen, die auf visueller Fernsehen wie dem künstlichen Kli-
gleichnamigem Diptychon von bruchstückhaft bekannt.3 Während und Fotomontagen von Bakema, Hol- Tempeln bis zu einem in eine Land- Ähnlichkeit basieren, unterdrückt ma, den Transportationen wie der
1963 so angeordnet, dass sie der sieben Jahre ihres Erscheinens, lein, Pichler und Peichl, wodurch die schaft gesetzten Flugzeugträger – die werden, wird der Akzent auf die Kleidung, dem Telephon wie der Be-
durch die Kraftlinien des ex- von 1965 bis 1971, reagierte Bau Zeichnungen und Modelle den Ein- Assoziationen, die diese Reihung von Schaffung von Bedeutung durch hausung.“16 Wenn sich die Mittel zur
plodierenden Düsenjägers im zweigleisig auf diese historische Ge- druck eines auf unbestimmbare Wei- Zeichnungen und Modellen hervorru- Nähe gesetzt. Im Falle von „Alles ist Bestimmung der Umwelt – wie es am
Zentrum der Darstellung mit- dächtnislücke: Zum einen grub die se riesigen Maßstabs erweckten. Hol- fen, deuten weniger auf städtische Architektur“ besteht die Provokation deutlichsten bei der Entwicklung auf
einander verbunden wurden. Zeitschrift in Vergessenheit geratene lein und Pichler hatten diese „visuel- Zusammenhänge als auf isolierte in der Inkongruenz zwischen Bild und den Gebieten der Militärstrategie, der
Diese Explosion war mehrdeu- Arbeiten aus und sorgte so für die len Reime“ und das sie unterstützende Bauwerke und vollkommen hermeti- dessen Benennung: Im Verlauf der Raumfahrt und der Kommunikations-
tig: Sie symbolisierte einen Wiederentdeckung der Architektur Raster bereits bei einer früheren ge- sche Umgebungen hin, auf eine au- Montage wird das Wort Architektur technologie zutage tritt – radikal ge-
selbstbewussten Avantgardis- von Rudolf Schindler, Ludwig meinsamen Arbeit verwendet, dem tonome, von einer lebensbedrohen- wiederholt eingefügt, um Verbindun- ändert haben, so stellt die Architek-
mus, war aber auch ein Sinnbild Wittgenstein oder Frederick Kiesler. Katalog für ihre einflussreiche, 1963 den Außenwelt abgeschottete Sphä- gen zu etablieren. Dabei steht Archi- tur ihren Unterschied zum Bauen
für Flüchtigkeit, für einen frag- Zum anderen war die Zeitschrift ein in der Wiener Galerie Sankt Stephan re, so als würde das Vertrauen in tektur nicht synonym für das Bild, son- wieder her, indem sie diese neuen
würdig gewordenen Kontroll- Forum für all diejenigen, die die Fes- präsentierte Ausstellung Architektur.6 Austausch und Kommunikation von dern fungiert eher als ein Begriff, der Mittel der „Umweltbestimmung“ formt
fetischismus. In diesem Sinne seln der zeitgenössischen Architektur Tuschezeichnungen und Fotografien seinem Gegenteil heimgesucht.10 die Beziehungen zwischen Bildern und dabei zu einem Rüstzeug für die
war BAU ein hybrides Gebilde: gänzlich sprengen wollten; die Veröf- von Modellen waren dort mit kurzen, stabilisiert. So wie die Provokation „Erweiterung des menschlichen Berei-
offizielles Organ der Zentral- fentlichung einer Reihe von Manife- prägnanten Bildunterschriften verse- Alles ist Architektur des Manifestes in der Aussage ches“ wird.17
vereinigung der Architekten sten, die eine radikale Erweiterung hen worden – „Haus“, „Unterirdische „Architekten müssen aufhören, nur in Diese Erweiterung zeigt sich in der
Österreichs 1 und gleichzeitig des Architekturbegriffs forderten, ziel- Stadt“, „Sakrale Gebäude“ – ihr Das Titelblatt der im Januar 1968 Bauwerken zu denken“ kulminiert, Wiederholung von – vornehmlich
eine vom antiautoritären Zeit- te in diese Richtung. Maßstab und ihre Identität veränder- erschienenen Doppelnummer von beharrte dessen visuelles Argument weiblichen – Körpern: die riesige lie-
geist beseelte Zeitschrift. Sicherlich am bekanntesten war ten sich im Verhältnis zu einer Reihe Bau, die „Alles ist Architektur“ ent- darauf, dass andere Dinge an die gende Frau in einer zeitgenössischen
Die altehrwürdige, bereits seit Jahr- Hans Holleins 1968 erschienenes Ma- von Fotografien von militärisch-indu- hielt, war durch eine aggressive Stelle von Bauwerken treten und dass Reifenwerbung, die im Begriff ist, ein
zehnten existierende Publikation der nifest „Alles ist Architektur“, das aus striellen Einrichtungen und präkolum- Maßstabsveränderung gekennzeich- die Architektur eher eine verbinden- Auto zu streicheln; die gewaltige
Zentralvereinigung, Der Bau, war zu- einer Seite Text bestand, zu der sich bischen Monumenten.7 Indem sie sich net: Es zeigte eine Fotomontage, bei de als eine symbolische Funktion aus- Skulptur Hon von Niki de Saint Phal-
nehmend in die Kritik geraten, und 27 illustrierte Seiten gesellten, rand- über jede historische oder typologi- der ein qietschgelbes quadratisches üben werde. Dieser neue Organi- le; die nackten Körper des Künstlers
so hatte man sie einer Gruppe neuer los bedruckt mit einem erstaunlichen sche Besonderheit hinwegsetzten, ver- Stück Emmentaler Käse die Skyline sationsmodus verlangt nach einer Fritz (Friedensreich) Hundertwasser
Redakteure – Hans Hollein, Günther Spektrum von Bildern, die die Argu- schärften und eigneten Hollein und von Wien zusammenschrumpfen ließ. anderen Lesart, die sich nicht mehr und seiner Mitstreiterin bei einer
Feuerstein, Walter Pichler, Gustav mentation des Textes verstärkten und Pichler sich auf humorvolle bis pole- Für heutige Betrachter dürfte sich die darauf konzentriert, die in einem Bild „Demonstration gegen die heutige
Peichl und Sokratis Dimitriou – anver- untermauerten. In formaler Hinsicht Lorem des Museum of Modern Art „Italy. The New Domestic Landscape“, 1972 mische Weise jene Art von assoziati- Bedeutung dieses Bildes nicht so ohne enthaltene „wahre“ Bedeutung zu Architektur“; Tom Wesselmans Great
00 00
Fokus:Bau

00 00
Fokus:Archplus senlage der Fachleute“, und wie
diese sich in Bezug auf die politischen
lich erörtert, die mittels „apparativer
Lehrhilfen“ die Lerneffektivität steigern
wurde. Vereinfacht gesagt ging es
darum, ob man die eigene gesell-
Kämpfe der Gewerkschaften posi- sollte. So könnten beispielsweise schaftliche Rolle oder die Möglich-
tionieren sollten, bliebe darum weit- Glühbirnen einer Anzeigetafel am keiten gesellschaftlichen Handelns
gehend unberücksichtigt. Richtpult des Dozenten anzeigen, thematisiert; ob man sich mehr mit
Wie aber kamen die RedakteurIn- welche Studenten auf welchen Plät- der Suche nach der richtigen Haltung
POLIT-KYBERNETIK nen damals überhaupt auf die Idee,
dass solche Probleme in einer Archi-
zen die richtige Antwort eingegeben
haben.6 In den Texten dieser Anfangs-
oder nach den richtigen Verfahren
befassen wollte, ob man eher an die
tekturzeitschrift behandelt werden zeit war noch euphorisch vom Politik oder an die Wissenschaft
sollten? Warum sollten sich Macher- „Raumfahrtzeitalter“ die Rede, und glaubte. Der Unterschied war aber
ARCH+, DIE STUDENTEN UND DIE IG BAU STEINE ERDEN Innen oder auch LeserInnen einer dass vor diesem Hintergrund das zunächst kaum benennbar.
Architekturzeitschrift mit ihrer Klas- „uneffektive Amateurdasein“7 der Das Eingangsstatement zur ersten
ZWISCHEN 1967 UND 1977 senlage und mit Strategien politischer PlanerInnen durch eine wissenschaft- Ausgabe 1968 lautete: „ARCH+ ist
Organisation befassen? Auch in den lich-technische Ausbildung abgelöst keine Fachzeitschrift, sondern eine
1970er Jahren war dies extrem unüb- werden müsse. Problemzeitschrift. Das Problem ist,
lich – wie ein Blick in Bauwelt, Werk, Bereits früh traten unterschiedliche wie Erarbeitung und Einsatz der zur
Bauen + Wohnen, archithese oder Auffassungen von der Rolle der Umweltgestaltung notwendigen Hilfs-
auch Architectural Design belegt. Wissenschaft auf, und es gab diffe- mittel – Forschung und Planung – er-
rierende politische Selbstverständ- folgen sollen.“ Diese Erklärung ließ BU1 Lorem Ipsum is simply dummy text
Studentenzeitschrift für nisse einer aus der Studentenschaft darauf schließen, dass zunächst das of the printing and typesetting industry.
Hochschulprobleme erwachsenden Zeitschrift.8 In Heft 7 Interesse an Entwurfs-, Planungs-, und
BU1 Lorem Ipsum is simply dummy text
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Die an der Architekturfakultät der kritisierte die Redaktion die etablier- Baumethodik und damit an der
ze

of the printing and typesetting industry.


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Universität Stuttgart bereits Ende te Macht- und Rollenverteilung in der wissenschaftstheoretischen Analyse
1966 gegründete4 Zeitschrift ARCH+ Lehre und sprach von der Notwen- von Architektur und Umweltgestal-
o
sk

bezeichnete sich im Untertitel ihrer digkeit der „Selbstorganisation des tung dominierte, was nicht zuletzt von (1)Der Sozialistische Deutsche Studenten-
Je

ersten offiziellen Ausgabe 1968 Studiums“.9 Die Reflexion der eigenen diversen Lehrstühlen der Universität bund (SDS) – gegründet 1946, aufgelöst
1970 – war ein politischer Studenten-
zunächst als „Studienhefte für archi- Studienbedingungen politisierte die Stuttgart gestützt wurde. Jürgen verband und spielte eine bedeutende
tekturbezogene Umweltforschung und Studentenschaft, die auch beeinflusst Joedicke, der 1967 das „Institut für Rolle in der Studentenbewegung der
-planung“. Während der zweite Teil wurde durch die politisch motivierte Grundlagen der modernen Architek- 1960er Jahre.
des Titels ganz treffend ein analy- Schließung der Hochschule für Ge- tur“ gründete, befasste sich intensiv
tisches Verhältnis zur Architektur staltung Ulm im Jahre des ersten mit der Formalisierung des Planungs- (2)Austrittserklärung, S. 3
(3)Austrittserklärung, S. 9 f.
Ach so, „MLH Bau“ steht für sich ihrer Auffassung nach mit der beschrieb, verwies die Bezeichnung Erscheinens der ARCH+.10 Später prozesses. In seiner Antrittsvorlesung
Marxistisch-Leninistische Hoch- „Bezugnahme auf die entwickelte Studienheft auf die intensive Ausein- schlug die technisch-wissenschaftli- definierte er die Rolle der Architektur- (4)Brief der „vorläufigen Redaktion“
schulgruppe Bau. Nikolaus Arbeiterbewegung und ihrem organi- andersetzung mit Fragen der Archi- che Ausrichtung der Ulmer HfG teil- kritik als Teil des Planungsablaufes.11 bestehend aus Bäte, Dietze, Hezel, Koblin,
Kuhnert reicht mir noch ein satorischen Ausdruck in der gewerk- tekturausbildung. Das von Assisten- weise inhaltlich wie auch personell Er forderte, die Planung architektoni- Lammert, Minke, Neusel an die Abteilung
weiteres handgezeichnetes Dia- schaftlichen, sozialistischen und kom- tInnen und Studierenden gegründete in Stuttgart durch. Eine der letzten scher Objekte durch wissenschaftliche für Architektur der Technischen Hoch-
schule Stuttgart vom 2. Dezember 1966.
gramm rüber. Und „KU“ war die munistischen Bewegung in der BRD“ Heft wollte in die damals stattfindende Konferenzen in Ulm war 1966 „The Methoden zu objektivieren. Joedicke „Betreff: Zeitschrift“, Quelle: Archplus-
so genannte Kritische Universität befassen.2 Das wurde aber, schrieben Studienreform intervenieren. So er- Teaching of Design – Design Methods Vortrags- und Publikationsreihe „Ar- Archiv
in Berlin: Springerkampagne, die Austretenden, von ihren Kolleg- schien seit November 1967 zunächst in Architecture“. beitsberichte zur Planungsmethodik“,
Dutschke und so weiter. „SDS“ ist Innen als zu dogmatisch abgetan. die „ARCH+ Informationen“ – ein an- die er ab 1969 herausgab, transpor- (5)Brief von Peter Dietze an die archplus-
klar. 1 Dann geht da ein Pfeil zu Diese fühlten sich eher den archistisches, beidseitig bedrucktes Stuttgart und die Methodik tierte die internationale Diskussion in Redaktion vom 6.5.2007
„B“ und „AC“. Diese Kürzel Bürgerinitiativen verbunden, die sich Din-A4-Flugblatt, das von der Fach- Mit dem Schwerpunkt Architektenaus- den deutschsprachigen Raum und (6)ARCH+ 6 (1969), S. 51
stehen für die ARCH+-Fraktionen damals überall herausbildeten und schaft Architektur verteilt wurde und bildung zeichneten sich bereits in der etablierte die Planungsmethodik in (7)Ebenda, S. 62
aus Berlin und Aachen. Soweit aktionistisch in Sachen Umweltschutz, eine schnelle Kommunikation über Anfangszeit zwei Entwicklungsrich- Forschung und Lehre. Der Mathema- (8)Ebenda, S. 69
alles verständlich. Ziemlich links- Wohnungs- und Stadtteilpolitik enga- Studienfragen ermöglichen sollte. Auf tungen der Zeitschrift ab. Einerseits tiker und Physiker Horst Rittel, der (9)ARCH+ 7 (1969), S. 2
radikal, ziemlich zeitgenössisch – gierten. Den von dieser Redaktions- dem Blatt wurden mitgebrachte Ver- wurde in der Auseinandersetzung mit bereits an der HfG Ulm unterrichtet
(10)Die Proteste der Architekten- und
damals. An der Wand hängen wie mehrheit durchgesetzten Abdruck anstaltungshinweise, Zeitungsaus- praktischen Fragen des Studierens hatte und ab 1963 Architekturprofes- Studentenschaft gegen die in Stuttgart
immer schon gerahmte Arch- unkritischer Artikel aus basisdemo- schnitte, Slogans, Hochschulinterna naheliegenderweise auch das Selbst- sor in Berkeley war, lehrte bereits beschlossene Landespolitik wurde auch
itekten-Handskizzen auf Papier- kratischen Gruppen hielten die Ab- und Polemiken mit Schere und Kleb- verständnis der Profession und damit einige Jahre in Stuttgart, bevor er an der Architekturfakultät in Stuttgart
servietten. Eine sieht schwer nach weichler jedoch für politisch falsch. stoff im grafischen Stil eines Erpresser- die gesellschaftliche Rolle des Archi- 1973 Direktor des „Institut für Grund- registriert. Vgl. „ARCH+ Informationen“-
Aldo Rossi aus. Ich verlasse mit Darin würde „in nahezu klassischer briefs zusammengestellt und kopiert.5 tekten problematisiert. Andererseits lagen der Planung“ wurde. Rittels Flugblätter, Ausgabe 2, 15.11.1967
einem Stapel Kopien in der Tasche Verkehrung die Frage der Aneignung Auch im inzwischen parallel rückte im Kontext der Studienreform wissenschaftstheoretische Forschung (11)Jürgen Joedicke: Arbeitsberichte
das Café Aedes am Savigny-Platz der räumlichen Umwelt zum Spring- erscheinenden, wesentlich seriöser und ihrer Kritik die Aufgabe der Wis- zu den Dilemmata der Planung und zur Planungsmethodik 1. Bewertungs-
in Berlin-Charlottenburg. quell politischer Bewusstseinspro- aufgemachten Heft fanden sich pri- sensvermittlung – der Wissenschaft- dem „bösartigen“ Charakter von probleme in der Bauplanung,
Um sich ein Bild von den damaligen zesse erhoben“ und „die Selbstbe- mär Artikel zur Ausbildung. ARCH+ lichkeit von Architektur überhaupt – Planungsproblemen, die durch die Stuttgart 1969, S. 23
politischen Richtungskämpfen der freiung der Bürger und Architekten in war eine streng gesetzte Bleiwüste, ins Zentrum. Aus dem Anliegen einer Erfahrungen in den USA angeregt
Linken zu machen, die sich in der Selbsthilfe, ästhetischer Selbstver- die statt eines Covers ihr Inhaltsver- objektiven Begründ- und Kritisier- wurde, beeinflusste viele Studierende
Redaktionspolitik der ARCH+ spie- wirklichung und der unvermittelten zeichnis exponierte. Darin wurden barkeit von Architektur entstand die und Kollegen. Und um Max Bense,
gelten, ist die Austrittserklärung der Rückkehr zur kulturellen Eigenart pro- konkrete Vorschläge zur Studien- Forschungsrichtung der Planungs- der damals den Lehrstuhl für Philoso-
Berliner Redaktionsmitglieder Klaus pagiert“.3 Kurz: Die Austretenden be- reform, Berichte über neue Tendenzen und Entwurfsmethodik. In dieser Wi- phie und Wissenschaftstheorie inne-
Brake, Helga Fassbinder und Renate klagten eine fortschreitende Entpoli- in der Lehre und das Berufsbild ganz dersprüchlichkeit der Interessen und hatte, hatte sich in den 1950er Jah-
Petzinger von 1977 sehr aufschluss- tisierung der Zeitschrift, die sich ihrer allgemein angekündigt. Neben einem des Selbstverständnisses war ein ren die offene „Stuttgarter Schule“
reich. ARCH+ als „Organ politisch- Meinung nach aus ökonomischen „Versuch der belegbaren Beurteilung entscheidender Konflikt angelegt, der gebildet. Sie befasste sich in den Be-
theoretischer Diskussion“, das „orien- Gründen auf eine kaufkräftigere von Studentenarbeiten“ mittels Matrix- bis zur erwähnten Austrittserklärung reichen Literatur und bildende Kunst
tierend gegenüber der sozialen Be- Klientel mit bürgerlichen Existenz- bildungen wurde auch eine skurrile zehn Jahre lang mit unterschiedlichen mit Semiotik, Informationsästhetik und
wegung in den Städten wirkt“, sollte vorstellungen zubewegte. Die „Klas- „pädagogische Kybernetik“ ausführ- Schlagseiten in ARCH+ ausgetragen Fragen der Programmierbarkeit. Ihre
00 00
Fokus:Archplus Aktivitäten schufen an der Universität
und im kulturellen Umfeld Stuttgarts
rie und Architekturkritik“ polemisch
und wohlbegründet in „Geheimnisse
nutzerbezogene Kommunikation, sah
allerdings die „Gefahr der Verselbst-
heit einer Generation, die auf der Su-
che war nach belastbaren Theorien
internationalen Diskussionsstand des
Design Methods Movement.
ein Klima der experimentellen For- der Ideologie und des Geschmacks in ständigung des Subsystems zweck- und nach einem politischen Selbstver- Den Doppelbezug von wissen-
schung und der Verknüpfung von der Architektur“ umbenannte.22 Nach rationalen Handelns zu einem tech- ständnis als Planer. schaftlichem und politischem An-
Wissenschaft und Kultur, das interna- der Ermordung Benno Ohnesorgs nokratischen Verwaltungsapparat“.28 Auch der im folgenden Heft ent- spruch im „Wissenschaftlichen So-
tional beachtet wurde. Bense war während der Proteste gegen den Den gut gemeinten Ansätzen demo- haltene Text Rittels deutet in ungleich zialismus“ legte Hans-Jürgen Krahl,
Ende der 1960er Jahre eine Figur Schahbesuch, der Inhaftierung Fritz kratischer Planung warf er vor, eman- milderem Ton auf eine Verschiebung Adorno-Schüler und prominentes
des öffentlichen Lebens, bei dessen Teufels und der Verhängung eines zipatorische Forderungen zu domesti- des methodischen Forschungsinteres- Frankfurter SDS-Mitglied, in seinem
„höchst glamourösen“12 Veranstaltun- Demonstrationsverbotes war Berlin in zieren. Dabei ging er ausführlicher ses hin. Er arbeitete heraus, dass Pla- posthum veröffentlichter Artikel über
gen und Vorlesungen sich neben Aufruhr. Auf der Schlussveranstaltung auf das „Rittelsche Planungsmodell“ nungsentscheidungen prinzipiell nicht „Strategien sozialrevolutionärer Pro-
Studenten, wie die Begründer der entrollten damals StudentInnen vor ein. Er kritisierte dessen inhärente vollständig auf wissenschaftlich be- zesse in den Metropolen“ nachträg-
ARCH+,13 auch die Kunstszene, den Augen des als Redner geladenen Mängel, die es zum „Instrument der gründbare Prämissen zurückführbar lich offen. Darin äußerte er erstmals
Architekten und schwäbische Unter- Sigfried Giedeon Transparente mit Manipulation“ pervertieren ließen. seien, da sich dem Planer die grund- deutliche Kritik: „Während Marx den
nehmer einfanden, Leute, für die der Aufschrift „Alle Häuser sind Eine der wenigen ausführlichen Dar- sätzliche Frage stelle, was „gesollt Wissenschaftlichen Sozialismus in
„links zu sein“ bedeutete, „an die schön, hört auf zu bauen“.23 stellungen des Ansatzes Horst Rittels werden soll“.30 Dem Dilemma für an- Opposition zum utopischen Denken
Mathematik zu glauben, für den tech- Im Einklang mit der planungsme- – eigentlich eine kommentierte dere zu planen sei daher nur durch entwickelte […], hat sich heute das
nischen Fortschritt zu sein“14. thodischen Positionierung der ARCH+ Seminarmitschrift – geriet über- eine weitgehende Nutzerbeteiligung Verhältnis nahezu verkehrt. Es gilt in
In diesem Kontext stand auch der legte Janssen den pseudowissen- raschend zur Grundsatzkritik. Der zu begegnen. „Die Konsequenz ist Opposition zum bestehenden Wissen-
ARCH+-Beitrag von Benses Assistent schaftlichen Charakter von Architektur Text war eine ernsthafte Auseinander- die Demokratisierung des Planungs- schaftsbetrieb die Begriffe konkreter
Siegfried Maser über die Systemati- offen. Eine systematische Erforschung setzung mit objektivierten demokra- prozesses – schon aus methodologi- Utopie zuallererst zu rekonstruieren.“
sierung von Methoden, der mehr der bauspezifischen Probleme war für tischen Planungsstrategien und gleich- schen Gründen.“31 Rittel forderte eine Und das auf der Basis der „prakti-
Formeln als Fließtext enthielt.15 Maser ihn erst denkbar, wenn „Planung als zeitig von einer politischen Haltung Politisierung der Planung durch die schen Erfahrungen des politischen
arbeitete darin das Anliegen der eigengesetzliche Tätigkeit und nicht geprägt, die diese Herangehenswei- Entwicklung von Gegenplänen, Mit- Kampfes“.32
Kybernetik heraus, Regelprozesse für als unvermeidliches Anhängsel […] se prinzipiell verdächtigte. So er- bestimmung, Anwaltsplanung, Selbst-
komplexe Systeme zu entwickeln und gestalterisch willkürlicher Entwerfe- wähnte der Autor verschwörerisch die planung oder offene kommunikative (Revolutionäre) Praxis
verwies auf die Möglichkeiten, ästhe- rei“24 betrieben würde. Auch er argu- „Perfektionierung der Techniken der Verfahren. Der Dreiklang aus wissen- Von dieser praktischen Dimension des
tische Prozesse wissenschaftlich zu- mentierte für eine Verwissenschaft- Verhaltenskontrolle, der genetischen schaftlichem Ansatz, methodisch politischen Kampfes zeugte auch ein
gänglich zu machen. Dieser Einfluss lichung der Bauplanung. Aber sein Steuerung und der Anwendung und begründeter Demokratisierung und im Juli 1970 in ARCH+ publiziertes
Max Benses, der auch eigene kürzere Ton war anders. Er sprach explizit von Wirkung neuer Drogen.“29 In dieser Forderung nach Politisierung ent- Gutachten zur Sanierung Schöne-
Artikel zu Fragen der Semiotik in der Ideologie und Herrschaftsansprüchen Zuspitzung zeigte sich die Unsicher- sprach Ende der 1960er Jahre dem bergs. Es brachte erstmals Grundriss-
räumlichen Gestaltung16 beisteuerte, und thematisierte die Perspektive der zeichnungen in die ARCH+ und be-
schlug sich auch in den spärlichen Betroffenen. gann mit einem politischen Bekennt-
„Abbildungen“ der frühen ARCH+ In einem Bericht über das Studium nis: „Der Planer als intellektueller
nieder. Nachdem in ARCH+ Nr. 2 in Berkeley und die gewaltsamen Lohnarbeiter …“ – „Wie der Fabrik-
drei ganzseitige Fotos von Papierfalt- Auseinandersetzungen um den arbeiter hat auch er die Produktions-
werken mit strengem grafischem People’s Park, fanden bald Hinweise mittel nicht in seinen Händen.“33 Das linke seite: Lorem Ipsum is simply
Muster zu finden waren, startete auf Anwaltsplanung und Partizipa- war ziemlich verkürzt, aber stark und dummy text of the printing and type
1969 eine kurze Reihe „visueller Pro- tion den Weg in die ARCH+.25 In den deutete einen doppelten Umbruch an.
diese seite: Lorem Ipsum is simply
jekte“ aus dem Bense-Umfeld. Darin folgenden Heften wurde das von Paul Die Präsentation eines konkreten dummy text of the printing and type
zeigten Rainer Kallhardt17, Georg Davidoff 1965 dargelegte Konzept architektonischen Projektes reagierte
Nees18 und Hartmut Böhm19 mathema- der „Advocacy Planning“26 aufgegrif- auf die Selbstreflexion der Hand- Lorem Ipsum is simply dummy text
tisch-methodisch konstruierte Grafi- fen und kritisiert.27 Es eignete sich wie lungsmöglichkeiten, während die of the printing and type
(12)Helmut Böttinger (Hg.): „Der VfB (23)Jesko Fezer; Martin Schmitz (Hg.): ken und erläuterten deren Entstehung. die Diskussion um demokratische neue Thematisierung des lohnabhän-
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grüßt den tapferen Vietcong“. Stuttgart in Lucius Burckhard. Wer plant die Optisch passten diese Grafiken gut Planung und Mitbestimmung als gigen Planers das Selbstverständnis of the printing and type
den 60er Jahren, Stuttgart 1989, S. 43 Planung?, Berlin 2004, S. 192
zum Rest der Zeitschrift: nur Texte, Diskursfeld der Politisierung entwerfe- von einer neuen Seite her reflektierte.
(13)Meyer, in: archplus 139/140 (1998), (24)Jörn Janssen: „Verhältnisse zwischen Tabellen und unzählige Diagramme.20 rischer Methoden. Beide Konzepte Vor der Anforderung praktisch-poli-
S. 148 Theorie und Praxis in der Bauplanung“, stellten eigentlich Planungsmodelle tischer Arbeit als Architekt und Planer
in: ARCH+ 3 (1968), S. 57-62 Wissenschaft, Partizipation und dar, die zunächst aus inhärenten Eng- schienen sich diese beiden Grund-
(14)Böttinger 1989, S. 43 Politik pässen und Mängeln der klassischen fragen der ARCH+ nach der gesell-
(15)ARCH+ 2 (1968), S. 21-26 (25)Konrad Stahl: „Studium an der
Bereits in der dritten Ausgabe der Verfahren hergeleitet wurden. Beide schaftlichen Rolle und den daraus
(16)ARCH+ 3 (1968), S. 23 ff. University of California“, in: ARCH+ 7
(17)ARCH+ 6 (1969), S. 67 f. (1969), S. 69 ARCH+, als sich die Methodendiskus- standen aber auch in engem Bezug resultierenden Handlungsmöglich-
(18)ARCH+ 7 (1969), S. 65 sion gerade langsam entfaltete und zur sozialen Wirklichkeit und waren keiten zu klären. Im Kontext der
(19)ARCH+ 8 (1969), S. 57 (26)Paul Davidoff: Advocacy and von den Studienfragen emanzipierte, darauf angelegt, die politischen An- Sanierungspolitik glaubte man die
(20)ARCH+ 2 (1968) Pluralism in Planning zeichnete sich ab, wie später das sprüche der Betroffenen zu repräsen- (Arbeiter-)Bevölkerung unterstützen
zentrale Feld der Auseinander- tieren. In dieser Doppelfunktion bilde- zu können, und den Architekten als
(21)Gert Kähler: „Kurze Aufforderung“, (27)ARCH+ 8 (1969), S. 29 ff.
in: Für Ulrich Conrads von Freunden, (28)ARCH+ 9 (1970), S. 22 setzungen aussehen sollte. Der erste ten sie diskursive Kreuzungspunkte in Lohnarbeiter sah man tendenziell
Braunschweig 1988, S. 92 (29)Ebenda, S. 23 explizit politische Text erschien. Dabei der sich abzeichnenden Kontroverse selbst als Teil dieser Klasse an. Über
(30)ARCH+ 10 (1970), S. 70 handelte es ich um Jörn Janssens Vor- zwischen wissenschaftlicher Theorie diese Konstruktion schien es möglich,
(22)Jasper Cepl: Oswalt Mathias Ungers, (31)Ebenda, S. 71 trag, den er bereits im Dezember und emanzipativer Politik. verschiedene sich entwickelnde Va-
Eine Intellektuelle Biographie, Köln (32)Ebenda, S. 55
1967 auf dem von Oswalt Mathias Exemplarisch für das Nebenein- rianten der politischen Ökonomie
2007, S. 228 (33)Ebenda, S. 31
Ungers veranstalteten Symposium ander von Ideologiekritik, Wissen- nach Marx im Architekturdiskurs zu
„Architekturtheorie“ gehaltenen hat- schaftlichkeit und pragmatischem verankern und Eingriffsfelder in den
te und der von den Studierenden der Interesse an Planungsfragen ist ein zeitgenössischen gesellschaftlichen
Technischen Universität Berlin beju- 1970 erschienener Artikel von Auseinandersetzungen zu bestimmen.
belt wurde,21 als er das Konferenz- Stephan Brandt. Er plädierte für eine Das neue Primat der Praxis verschob
thema „Probleme der Architekturtheo- Demokratisierung der Planung durch den redaktionellen Schwerpunkt hin
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Fokus:archithese

Lorem des Museum of Modern Art „Italy. The New Domestic Landscape“, 1972

Lorem des Museum of Modern Art „Italy. The New Domestic Landscape“, 1972

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Fokus:archithese Moderne einnahmen, und zwar ge-
genüber der ersten wie der zweiten
Ausscheiden von Stanislaus von Moos
im Oktober 1980 zu veröffentlichen
wurden, mit der archithese verbun-
den waren?
Moderne, also der Architektur der begann. Solche Gespräche waren M.S.: Ich kann deine Frage auch um-
60er Jahre. Sie äußerte sich in zwei damals nicht üblich. Ihr Zweck war drehen: Waren sie damit verbunden,
Richtungen: von den einen wurden einerseits, von den Architekten – ge- weil wir auf eine Weise von Archi-
die Formen der Moderne – entgegen wissermaßen von innen – Aufschlüs- tektur sprachen, die ihnen vertraut
ARCHITHESE 1980–1986 deren Sinn – als Zeichen verwendet, se über die Bauten zu erhalten, an- war? Oder vertraut wurde? Ich weiß
von den anderen wurden sie im Ge- dererseits aber, sie zum Sprechen es nicht, aber die Frage führt zu ei-

n
an
genteil wieder auf ihren eigentlichen über das architektonische Denken zu nem weiteren Punkt, der mir wichtig

nm
Sinn zurückgeführt. In einem größe- bringen, das den Bauten zu Grunde war, nämlich die – im weiteren Sinn

ei
ren Beitrag zu diesem Heft, in dem lag. kulturelle – Auseinandersetzung als

St
meine verschiedenen Annäherungen ein Netz zu verstehen, an dem viele

tin
an die Architektur zusammenliefen, N.K.: Mit anderen Worten hat die beteiligt sind. Ich habe es als Aufga-

ar
habe ich versucht, diese Haltung zu archithese in dieser Zeit versucht, auf be von archithese verstanden, dieses

M
theoretisieren. Sein Titel lautete etwas die Architektur einzuwirken, indem Netz wenigstens ein Stück weit er-

d
un
umständlich: „Von ,einfacher‘ und ‚ge- sie einer bestimmten Auseinanderset- kennbar zu machen, beispielsweise

rt
wöhnlicher‘ Architektur“. Das „ugly“ zung half, Form anzunehmen. durch die Gespräche mit Architekten.

ne
von Venturis grundlegendem Text In diesen Zusammenhang gehören

uh
habe ich also durch ein Tesse- M.S.: Es gab, wie gesagt, keinen Plan auch die Hefte über Franz Scheibler,

sK
nowsches „einfach“ ersetzt. dafür. Es gab nur das Bemühen von den einzigen Schweizer Schüler von

au
Architekten und archithese-Machern Heinrich Tessenow, oder über Kay Fis-

ol
ik
N N.K.: Hat das Heft zu Reaktionen – seit Oktober 1980 war Irma Nose- ker, Architekten, welche die Tradition
geführt? Hat sich die angesprochene da die „andere“ Redakteurin – um der „einfachen“ Architektur vertreten.
n
vo

Generation in dieser „einfachen“ und eine Auseinandersetzung, die über Auch sie gehören zum Netz …
„gewöhnlichen“ Architektur wieder das bloße Bauen hinausging, bei-
h
äc

erkannt? Diese Wörter bezeichnen spielsweise zu Fragen, welche die Be- N.K.: Zu deinem Netz.
pr

tatsächlich Eigenschaften, für welche deutung und Stimmung eines Werks M.S.: Es ist klar, dass die Hefte mei-
es

die Schweizer Architektur der 80er betrafen. Aber ich stimme dir bei: ne Vorstellungen von Architektur spie-
sG

Jahre bekannt wurde, bis zur nachträglich sieht das nach einer geln: Sie sind, oder waren damals,
te

„Schweizer Kiste“. Strategie aus, und zwar nach einer, parteiisch. Nicht um die Arbeiten
er
gi

M.S.: Das konnte ich nicht wissen. die aufgegangen ist. einiger „copains“ ins Schaufenster zu
fin

Auch wenn es nachträglich so aus- stellen, nein, aber weil eine solche
n

sieht, als wäre die archithese ein N.K.: Wenn nicht die Möglichkeit, der Zeitschrift nicht anders zu machen ist
Ei

Instrument gewesen, um eine bestim- Architektur eine bestimmte Richtung als durch die Konzentration auf be-
mte architektonische Haltung durch- zu geben, der Grund war, die Zeit- stimmte Thesen. Im Übrigen haben
zusetzen, so war das nicht meine schrift in dieser Weise zu machen, diese Arbeiten später noch manches
Nikolaus Kuhnert: Wie bist du zur dass die Architektur ihre eigene Wirk- Absicht. Ich bin einfach den Fragen was war dann dein Grund? andere, gut beleuchtete Schaufenster
archithese gekommen? lichkeit sei. Das Heft erregte damals nachgegangen, die diese Architektur M.S.: Die Antwort ist zweiteilig. Ei- gefunden und haben uns so – nach-
Martin Steinmann: Im April 1979 hat einiges Aufsehen. Anders als heute mir stellte, und ich bin ihnen recht in- nerseits war es mir wegen meiner träglich – Recht gegeben. Die archi-
mir Stanislaus von Moos nach Cam- gab es nur wenige, die über Archi- tuitiv nachgegangen. In einem ande- Erfahrungen wichtig, dass Architektur these als eine parteiische Zeitschrift
bridge geschrieben – ich war als tektur schrieben, ich meine über die ren Sinn habe ich die Zeitschrift aber eine theoretische Grundlage hatte, zu machen, hat uns 1986 schließlich
„visiting professor“ am MIT –, um Architektur der Gegenwart, und die schon als Instrument verstanden. welche die entwerferischen Entschei- unsere Posten gekostet. Viele im Ver-
mich zu fragen, ob ich als zweiter waren häufig ausgebildete Architek- Meine Ausbildung in den 60er Jah- dungen vor Beliebigkeit bewahrt. Die band, der die Zeitschrift herausgab,
Mann in die Redaktion der Zeitschrift ten, wie ich. So lag es aus mehreren ren fiel in eine theorieferne Zeit; dar- Bauten, die archithese veröffentlichte, fanden den zweiten Teil des Namens
eintreten würde, die sich nach zwei Gründen nahe, dass Stanislaus von um arbeitete ich nach einer ersten sollten auf ihre Grundlage hin unter- nicht notwendig, sie meinten, der er-
Jahren wieder vom „werk“ trennte. Er Moos mich fragte. Anstellung als Architekt viele Jahre sucht werden. Andererseits aber war ste genüge: archi ohne these. Die
war damals an der TU Delft, glaube Im September 1979 habe ich also am Institut für Geschichte und Theo- mir eine theoretische Auseinanderset- Verbindung der beiden Teile aber
ich, und er suchte jemanden, der in begonnen, in dem winzigen Raum rie der Architektur der ETH Zürich. zung verdächtig, die sich nicht um die machte die kleinen und später auch
Zürich die täglichen Geschäfte be- am Grossmünsterplatz in Zürich zu Wirklichkeit der Architektur schert. die großen Hefte oder doch manche
sorgte. Möglicherweise hatte er auch arbeiten, zusammen mit einer Sekre- N.K.: Die Arbeit am Institut betraf Darum sollte der „Gebrauchswert“ dieser Hefte aus: archithese.
schon den Plan, sich nach und nach tärin, die aber bald kündigte, weil ich allerdings die Architektur der Vergan- dieser Auseinandersetzung immer
von der archithese zurückzuziehen. zu vieles selber machte. Das erste genheit – du hast dort über die CIAM wieder an den Bauten überprüft wer-
Heft, das ich verantwortete – das gearbeitet. den, die sich auf sie stützten. Und
N.K.: Warum hat er gerade dich ge- 1/1980 – erwies sich nachträglich M.S.: Ich bin letztlich Architekt, auch zwar nach dem Motto: Wie gut das
fragt? als programmatisch. Sein Titel war wenn ich nicht baue. Und wenn ich Backrezept ist, erweist sich, wenn Graphik von Martin Steinmann auf
M.S.: Ich habe seit dem zweiten Start „Nachkriegsgeneration“ und stellte über die Moderne gearbeitet habe, man den Kuchen isst. einer Postkarte, kommentiert das Ende
der archithese 1972 mit Beiträgen an Werke von Architekten vor, die wie so habe ich es getan, um allgemeine der redaktionellen Tätigkeit bei der
den kleinen Heften mitgearbeitet und auch ich in der Welt der 40er und Fragen der Architektur zu verstehen, N.K.: Deine Art, eine Zeitschrift zu Zeitschrift archithese von Irma Nosseda
und Martin Steinmann
eine oder zwei von ihnen auch ver- 50er Jahre groß oder besser sozia- also Fragen, die sich in der einen machen, hält sich sehr stark an die
antwortet, so zusammen mit Bruno lisiert wurden. oder anderen Weise immer stellen. Arbeit des Architekten. Hängt das Seite xx:
Reichlin das Realismus-Heft. Es war Die archithese kam mir also gelegen, auch damit zusammen, dass Leute Faksimile aus: Das Bild der Architektur,
das zweite Heft zu diesem Thema; N.K.: Das ist allerdings kein Pro- um eine theoretisch begründete Aus- wie Jacques Herzog und Pierre de archithese Ausgabe 2/1982, S. 34/35
das erste hatte Stanislaus von Moos gramm. einandersetzung mit der Architektur Meuron, Peter Zumthor, Roger Diener
Seite xx:
über Las Vegas gemacht, während M.S.: Nein, das Programm bestand der Gegenwart zu fördern. Ein wich- und andere, die in den 80er Jahren Faksimile aus: Architektur in der
unseres sich auf die „autoriflessività“ in der kritischen Haltung, welche tiges Mittel dafür waren die Gesprä- zu den Aushängeschildern der Schweiz, archithese Ausgabe 1/1982,
der Architektur bezog, also darauf, diese Architekten gegenüber der che mit Architekten, die ich nach dem genannten Schweizer Architektur S. 30/31

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Fokus:archithese

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Archipel

Der Morgen war schon voller Geräusche. Belgorod hatte [...] Händlerinnen und magere
Hunde zum Bahnhof geschickt. Die Händlerinnen riefen Limonaden aus. Sie setzten auf den
Durst nach einer Wodkanacht. Die Hunde, in Vorfreude auf einen Happen, hatten schon die
Ohren abgesenkt. Sie saßen bei den Müll-Amphoren, deren gußeiserne Eleganz überall in

Dicht vor den Gleisen zwei Geistesschwache in glücklicher Wahrnehmung des sie umgeben-
den Lebens, der jüngere mit schlaff hängender Hand, der ältere mit staunend geöffnetem
Mund und dem leeren Gaumen eines Neugeborenen. Karpow kannte sie. Sie standen im-

Es schneite. Belgorod zog vorüber. Was es auch an Schönem hätte präsentieren können, es
lag nicht an der Strecke. Die hellen Steinberge der Neubaublöcke waren den Datschen auf
den Leib gerückt, hatten sie der Ländlichkeit beraubt. Die Holzhäuser waren jetzt Bestand-

Die ersten Männer kamen naß gekämmt aus der Toilette. Auch Karpow kehrte schon mit
steilem Wasserscheitel in sein Abteil zurück. Ein geschorener Kaukasier mit bläulich schim-
merndem Kopf rasierte sich im Gang, die Wange von innen mit der Zunge stützend. Er hat-
te einen Spiegel, der durch einen kleinen Saugfuß auf jeder Fläche haftete. Sobald die Schlan-

Er war schon für den Tag gekleidet, die Russen noch im Nachtzeug, ihre Frauen in grauro-
sa Morgenröcken, einige mit wirrem Haar, als habe eine Heugabel es aufgeworfen. Alles,

Es war heiß in den Abteilen. Wer eine Weile auf dem Gang gestanden hatte, den fiel die Hit-
ze an wie ein Betäubungsmittel. Doch wer ihr ganz und gar entfliehen wollte, der mußte auf
die Plattform zu den Rauchern, ein auf seine Art unerquicklicher Aufenthalt in purer, direk-
ter Kälte; geschüttelt, als stünde man auf einem Leiterwagen, ohne Licht in der sich dehnen-
den und wieder faltenden Harmonika zwischen den Waggons, unter den Füßen die schie-

Die Scheiben waren getönt wie bei einer Limousine, doch es war Schmutz. Dörfer flogen
vorbei, das brettergefügte Rußland in seinen traulichen, armseligen und stabilen Varianten,

Spielzeughäuser, schöne Fensterordnungen, geschnitzte Firste, Vordächer über geschichte-


tem Brennholz, eingeknickte Schuppen, Hütten mit Lumpenwülsten um die Türen, aus
Baumstämmen gestapelte Katen, flach wie Flöße, Zäune aus Rutengeflecht, Lattenzäune,

Fern jeder Menschensiedlung ging eine Gestalt im wegelosen Schnee. Sie zog einen Schlit-
ten, auf dem eine Kanne stand. Vielleicht kam sie vom Melken oder war erst unterwegs zu
dieser Kuh. Doch auch im Weiterfahren, die Gestalt war längst nicht mehr im Blick, sah man

Im Vorgeschmack des Frühstücks fuhr man in die Ukraine ein. Man räumte die Klapptische
frei, das immerwährende Picknick auf der Sitzbank konnte seinen Anfang nehmen. Würste
wurden ausgepackt, Brot in dicken Riegeln vorgeschnitten. Die Gurken schaukelten in ih-
rer Lake. Die dünnen Teeglashülsen zitterten. Und bald sah man wieder Datschen eine Stadt
ankündigen; die Geschwindigkeit ließ nach, und schon hielt der Zug Punkt neun in Char-

Die Händler waren flehentlicher als die an russischen Stationen. Für sie kam dieser Zug aus
dem Gelobten Land. [...] Die Aufzählung geriet zum Bittgesang. Ein alter Mann fächelte mit
stocksteifen großen Fischen, ließ sie prüfen und betasten, gab sie aus der Hand und nahm
sie, wenn der Handel nicht zustande kam, wie ein Schicksal wieder an. Die Frauen kämpf-
ten mehr, hatten Inbrunst, notfalls Tränen. Sie raschelten mit kleineren, auf Draht gefädel-
ten Trockenfischen, an denen zwischen Kopf und Schwanz nicht viel zu pflücken war, und
empfahlen sie als Zeitvertreib zum Bier. Andere suggerierten schon den nahen Mittag und

Der Speisewagen war so gut wie immer leer. Die Kellnerin sah aus dem Fenster, als wäre ihr
die weiße Landschaft von neuem der Betrachtung wert. Wie zur Verhöhnung ihres Müßig-
ganges trug sie eine festlich schwarze Glitterbluse. Ihr gegenüber, in düsterer Geduld, saß
der Pächter in einer Tolstoibluse mit Krawatte. Gastronomisch war die Strecke unergiebig.
Das Publikum, zumindest was den Alkohol betraf, war abstinent. Es fuhr zur Kur. Und was

Es roch nach Enten- und Hühnerfleisch und dem fauligen Samt der eingeweckten Pilze,
dazu die angehäuften Gerüche der Gemütlichkeit auf überheiztem, engstem Raum. Man saß
in Schlafanzügen und bequemen Trikotagen beieinander, alle in Pantoffeln, man war in Mos-
kau schon hineingeschlüpft. Es schmeckte, mochte der Hausarzt auch zur Mäßigung gera-
ten haben. Ja, es schien, als wolle man die Warnung vor dem Schwelgen nur noch einmal über-
hören, ein letztes Mal in eine fette Entenhaut die Zähne schlagen, bevor der nächste Tag mit

Man wurde träge und vom Schlingern des Waggons in Schlaf gewiegt. Das speckig körnige
Kunstleder der Sitzbank bot keinen Halt, so daß der Kopf dem Nachbarn an die Schulter
fiel. Die Zweiercoupés waren mit bessergestellten Ehepaaren belegt. Hier verkehrte sich das
Bild des Russen, den seine Frau nur liebt, wenn er sie prügelt, in sein Gegenteil. Die Frau-
en gaben sich schon auf dem Weg zum Sanatorium den Beschwerden ihres Körpers hin und
lagen. Sie hatten Kopfweh und diffuse neuralgische Schmerzen. Der Schnee vor den Fen-
stern war ihnen zu hell, die Gardinen zu dunkel. Sie schickten ihre Männer zu den Eisvor-
raten in der Speisewagenküche. Kaum hatten sie den kalten Beutel auf der Stirn, brauchten
sie Wärme und insgesamt mehr Rücksichtnahme, sofern sie den Kurort noch lebend erreich-
ten. Und während sie lagen, standen die Ehemänner, wachsam wie Polizisten vor dem Kran-

Man gelangte in wärmere Gefilde.Auf die feierlichen Schneelandschaften folgten Äcker mit
kurzer, brauner Borste. Entlaubte Pappeln säumten einen unsichtbaren Fluß; Angler, auf
Baumstümpfen sitzend, tranken sich die Heimat schön. Der Winter hatte die Dörfer noch
nicht im Griff. Man sah Katen, die das blattlose, armdicke Geflecht der Glyzinien fast er-
würgte; verlassene Bienengärten mit den aufgebockten Kästen für die Völker; vor einer
Haustür eine Kuh auf ihrer Mistmatratze. Eine Frau trug ein Joch, an dem zwei Eimer hin-
gen. Man hätte glauben körnen, sie habe dafür nur den Zug aus Moskau abgepaßt, um die-

Auszug aus: Marie-Luise Scherer: Der Akkordeonspieler. Wahre Geschichten aus vier Jahr-
zehnten, Die andere Bibliothek (hrsg. von Hans Magnus Enzensberger), Eichborn Verlag,
das Essen anbelangte, so versorgte man sich an den Bahnstationen der Ukraine.
ge sich bewegte, riß er ihn ab, um ihn zwei Schritte weiter wieder anzudrücken.

kow, wo ein händlerischer Ansturm alle bahnhofseigenen Geräusche schluckte.


MARIE-LUISE SCHERER

Z
AT
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benden Eisenplatten und der Durchblick auf rasenden Schotter.

kenzimmer eines Schwerverbrechers, im Pyjama auf dem Gang.


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kleine Gärten, einzelne, den Schnee überragende Kohlstrünke.

ser bäuerlichen Tätigkeit noch einmal Geltung zu verschaffen.


weder Haus noch Stall, nur unbewohnte Winterlandschaft.
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was dem Erwachen folgte, war unumgänglich familiär. [...]

den nicht mehr allzu fernen Abend mit Bratgeflügel. [...]


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DER AKKORDEONSPIELER
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Rußland zum Bahnhofsmeublement gehört.


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mer an den Moskau-Zügen.

teil der Barackenvorstadt.


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der Diät begann. [...]


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Frankfurt/M. 2004
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JO
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Rem Koolhaas: Frau Scherer, würden Sie sich selbst als Journalistin oder als Ich glaube, diese Toleranz gegenüber Langsamkeit existiert nicht generell. HUO: Haben Sie diese Methode selbst für sich herausgefunden, oder hat- zusammenschieben oder zerlegen. Erlebnisse, Zwischenfälle und markante
Schriftstellerin bezeichnen? Oder glauben Sie, dass es zwischen beiden Be- Man muss das aushalten können, langsam zu sein. Denn Sie spüren wie in ten Sie für Ihre Reportagen Vorbilder, als Sie begonnen haben? Dinge, die Geschehnisse dürfen nicht justiziabel sein, keine Persönlichkeitsrechte
rufen keinen Unterschied gibt? einem Brennspiegel die Erwartung im Haus, die Sie in die Pflicht nimmt, die Sie inspiriert haben? Wir wollen mit unseren Marathons auch ein bisschen verletzen.
Marie-Luise Scherer: Vielleicht kann ich die Frage anders beantworten. Im großzügig gewährten Konditionen an Zeit durch besondere Qualität ver- zu dem beitragen, was Eric Hobsbawm einen notwendigen Protest gegen das
Rückblick auf meine Anstellung beim Spiegel würde ich ambitionierte dienen zu müssen. Sie stehen dadurch unter einem Erwartungsdruck, den Vergessen nennt, und an Pioniere unterschiedlicher Disziplinen erinnern. RK: Sie schreiben über das Wendland?
Reportagen als schwerer bezeichnen. Zurzeit versuche ich mich an einem Sie nervlich bestehen müssen.Außerdem habe ich über Themen geschrieben, Deshalb wäre es aufschlussreich, wer für Sie wichtige Pioniere des Journa- Nein, nicht explizit, da wohne ich nur. Wissen Sie, das Dorf ist gefährlich.
Roman und manchmal meine ich, das sei leichter, weil Sie beim Roman die nicht an Termine gebunden waren, eher „windstille“ Sachen, ohne lismus waren. Mein Dorf, überhaupt die Dörfer werden immer weniger dörflich. Hier woh-
keine Rücksicht auf Zeugen zu nehmen haben. Tagesaktualität und die Anziehungskraft prominenter Protagonisten. Meine Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich habe Vorbilder in der Literatur, nen Leute, die sich beim Bauern beschweren, dass es nach Schweinen riecht.
Geschichten handelten oft von anonymen Helden. Vorbilder für den schnellen Griff, für den harten Satz. Und für das „unge- Das heißt, die wenigsten Bewohner sind Bauern. Es findet eine Umkehrung
Hans Ulrich Obrist: In Interviews haben Sie immer wieder erwähnt, dass Sie zitterte“ Adjektiv: Dass man nur eins hat, und keinen Bindestrich. Was ich statt. Die Dörfer sind ihrer alten Ländlichkeit beraubt. Und sie werden durch
sehr wenige Artikel geschrieben haben, manchmal nur einen oder zwei pro HUO: Wie kam es zur Auswahl Ihrer Reportagen? Wie haben Sie die zu verbinden versuche, ist die Präzision eines Ingenieurs mit der literarischen Renovierungen aus dem Geist der Baumärkte hässlicher. Wohlstand macht
Jahr; und dennoch waren Sie fest angestellt. Dass eine Zeitschrift einem Themen gefunden? Ingo Niermann, der Sie als junger Schriftsteller sehr Aussage. Witz soll nur durch Präzision entstehen. Daher ist Originalität für meistens hässlich.
Autor oder einer Autorin eine lange Recherchenzeit einräumt und dann ein bewundert und ebenfalls am Interview-Marathon teilnimmt, sagte uns, dass mich ein Reizwort. Das Ingenieurhafte interessiert mich, weswegen mich
Mehrfaches an Zeit für das Schreiben, ist ungewöhnlich. Wie war dieses Ihre Geschichte „Der unheimliche Ort Berlin“ über den mysteriösen Tod Hans Joachim Schädlich als Schriftsteller ganz in seinen Bann zieht. HUO: Das ist interessant, da Rem Koolhaas bei unserem letzten Marathon
Anstellungsverhältnis beim Spiegel? einer gewissen Ingrid Rogge in Deutschland zu einer kollektiven Geschich- Ein anderes Beispiel sind die journalistischen Tagebücher von Joseph Roth. in Italien davon sprach, dass es, nachdem die Stadt so lange Gegenstand der
Solche Privilegien haben auch einen Preis: Ich habe weniger verdient. Die te über das Berlin der 1970er und 80er Jahre wurde, und somit viel mehr Auf seinen Reisen durch die Sowjetunion datierte er seine Texte, sodass man Debatte war, jetzt interessanter wäre, wieder über das Land zu sprechen. Von
Freiheit kostet etwas. Ich habe auch zunehmend das Schreiben nach Hause war als eine bloße Reportage. Können Sie uns am Beispiel der Geschichte sehen kann, wie viele Tage zwischen den einzelnen Stücken vergangen daher finde ich es bemerkenswert, dass Sie über das Dorf schreiben.
verlagert. Irgendwann hatte ich kein Bürozimmer mehr in der Redaktion, von Ingrid Rogge erzählen, wie Sie die Themen ausgewählt, wie Sie recher- waren. Das wirkte auf mich bedrohlich. Es war beschämend, wie schnell er Gibt es darüber hinaus Reportagen, oder auch sonstige Projekte von Ihnen,
die ja kurzfristig produzieren muss; ich fühlte mich als Langsamschreiberin chiert haben? schrieb. Heute aus Baku und morgen aus Tiflis. Von Erwin Kisch hörte ich, die nicht realisiert sind? Utopische Projekte, Projekte, die zu groß waren,
deplatziert. So gesehen war ich insgesamt billig. Ingrid Rogge begann mit einer kurzen Zeitungsmeldung, ich glaube, es war er sei langsamer gewesen, als er galt. In meiner Redaktion beim Spiegel gab zensierte Projekte? Welches sind die unfertigen Straßen von Marie-Luise
in der „Welt“, über den Tatbestand, dass dieses Mädchen gefunden wurde. es Leute, die im Gegensatz zu mir eine lange Geschichte in zwei Tagen Scherer?
RK: Haben die Leute beim Spiegel das auch so gesehen? Danach ging ich in das Kreuzberger Milieu, das heißt, ohne offizielle Stellen schrieben. Etwas, was ich nicht einmal manuell schaffen würde, das haben Alles fängt mit einer Anmaßung an. Man hat anfangs den Anspruch, die hohe
Nein. Die halten einen immer auf der Flamme des schlechten Gewissens. wie Bürgermeister oder Stadträte zu fragen. Ich fing an, vor den Häusern auf- die zusätzlich zum Denken geschafft. Idee, und stürzt dann ab. Alles, was man abliefert, ist letzten Endes Kapitu-
Immer. und abzugehen. Dadurch wird man missliebig, man wird beschimpft.An eine lation. Ich hatte einmal den Plan, Berlin zu porträtieren, indem ich stellver-
Mauer wurde ein Graffito gesprüht, mit der Aufforderung: „Die Spiegel- HUO: Bei Ihnen ist immer wieder die Rede vom berühmten ersten Satz. Wie tretend für jedes Quartier, für jeden Stadtteil einen Bewohner porträtiere.
RK: Wie erklären Sie sich das Überleben und die Blüte des Journalismus in Schlampe soll abhauen.“ Im Laufe der Recherche müssen Sie vergessen entsteht dieser erste Satz? Was hat es mit ihm auf sich? Damit habe ich auch angefangen, mit drei, vier Geschichten, von denen eine
Deutschland? Der im Vergleich zu anderen europäischen Ländern un- machen, dass Sie vom Spiegel sind; Sie dürfen die Sattheit des Mediums auf Der erste Satz sollte die Ambition eines jeden sein, der schreibt. Der erste veröffentlicht worden ist. Mehr hatte ich jedoch noch nicht geschafft, als ein
glaublich hohe Standard kann ja nicht nur mit niedrigen Honoraren erklärt keinen Fall repräsentieren. Ich bin sehr lange in diesen Häusern gewesen, Satz sollte ködern. Oder besser: Der erste Satz sollte stimmen. Anruf kam: „Kriegen wir zu Ostern unsere Ku’damm-Geschichte?“ Und ich
werden. es müssen drei Monate gewesen sein. Und drei Monate lang habe ich diesen hörte also heraus, dass ein Berlin-Porträt nur als Ku’damm-Geschichte vor-
Herr Koolhaas, ich bin keine prototypische Journalistin. Ich kann das sagen, aufgebrühten Kaffee in den Etagen getrunken. Ich war fast tot danach, von RK: Fällt er Ihnen am Anfang oder am Ende ein? stellbar war. Das hat mich entsetzt. Man will mehr, als man kann. Das heißt,
denn ich kann nicht einmal mit dem Computer schreiben; und als ich Ihr diesem Nescafé und den starken Zigaretten. Oft habe ich gar keine Fragen, Beim ersten Satz hat man noch Spannkraft. Das Ende ist immer schwerer ich will mehr, als ich kann.
Büro „OMA“ im Internet gesucht habe, landete ich bei einer Website für sondern will nur den Augenschein. Aber Sie müssen, wenn Sie sich irgend- zu schreiben, besonders ein Happy End ist undankbar. Aber auch jedes
„Leih-Oma“ … Ich befinde mich eigentlich schon immer auf einer fernen wo Zutritt verschafft haben, fragen. Sie können nicht einfach sagen, darf ich Kapitel hat wieder einen ersten Satz.
Lichtung dieses Berufes. Und zu der Frage wie der Journalismus überleben mal ein bisschen sitzen. Deshalb müssen Sie Vorwände schaffen. Und dann
kann – ich denke, er wird es einfach. redet man dumm herum. Das ist alles. Ich gehe durch die Straßen, ich höre RK: Können Sie uns etwas über Ihren neuen Roman erzählen oder ist er
nie auf, auch wenn ich meine, nichts mehr zu finden. Das ist eine Arbeit noch ein Geheimnis?
RK: Wegen der größeren Toleranz gegenüber einer gewissen Langsamkeit durch die Poren. Es ist eine Art Absorbieren der Straße, des Ortes durch Er spielt auf dem Dorf. Da ich auf dem Dorf wohne, muss als erstes dem
in Deutschland? die Kleider. Dorf die Erkennbarkeit genommen werden. Das heißt, man muss Dörfer
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Archipel

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Zukunft der Stadt HUO: Wachsmann entwickelte ein fast vollständig automatisiert herstellba-
res Konstruktionssystem für Hallenbauten – das epochemachende „Mobilar
Structure Building System“. Womit genau hat Wachsmann Sie beeindruckt?
In erster Linie waren es seine Arbeiten auf dem Gebiet der Präfabrikation,
aber auch seinen Flugzeug-Hangar für die US Air Force (1951–1955) fand
ich faszinierend. Dieser blieb zwar im Entwurfsstadium und wurde nie rea-
ECKHARD SCHULZE-FIELITZ lisiert, aber ich sah ihn in einer Publikation. Mit dem Zollstock maß ich die
Darstellung aus und stellte eine konstruktive Höhe von 3 m fest. Ich sagte
mir, das passt für ein Geschoss und steckte Zellen hinein. Das Ergebnis war

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die „Raumstadt“.

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HUO: Zellen spielten genau wie Kapseln auch beim japanischen Metabo-

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lismus eine große Rolle. Gab es für Sie einen Bezug zu den Metabolisten,

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hatten Sie eine Verbindung nach Japan, oder lief das mehr über Korrespon-

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denz und Publikationen?

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Begegnungen gab es zur damaligen Zeit keine. Kenzo Tange lernte ich erst

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1962 in Essen kennen, nachdem ich meine Ideen schon längst für mich

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formuliert und ausgestellt hatte. Sein großes Projekt war damals die Tokyo-

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Bay–Überbauung, formal war das allerdings etwas ganz anderes, eine

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Gestaltung eher im Corbusier’schen Sinne. Die anderen japanischen Meta-
bolisten kannte ich nur aus Publikationen und nahm die Literatur, soweit

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diese in Deutschland publiziert war, zur Kenntnis.

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RK: Sie begannen mit einem Verwaltungsbau in Mies’scher Langeweile und
entwickelten dann die Idee der „Raumstadt“?
Ja, ich war praktizierender Architekt, ich nahm an Wettbewerben teil, wo-
bei ich einige Jahre lang versuchte, in diesem Kontext meine strukturellen
Ideen anzuwenden. Auf einmal stellte ich fest, dass ich alle miteinander
verbinden konnte, weil der grundlegende Ansatz ein systematischer war.
Dieses Gesamtgebilde nannte ich „Raumstadt“.

RK: Was kam nach der visionären Raumstadt in den 60er Jahren? Wir
kennen eine ganze Reihe von Leuten unterschiedlicher Richtungen, die in
den 60er Jahren visionär gearbeitet haben, wie Haus-Rucker + Co. in
Österreich, Rudolf Doernach oder Richard J. Dietrich in Deutschland.
Die Raumstadt löste einen Trend hin zu Megastrukturen aus. Ich weiß nicht,
wer alles dazu gehörte, teilweise waren das Freunde von Friedman aus Paris.
Reyner Banham hat später hierzu das Buch „Megastructure: Urban Futures BU It was popularised in the 1960s with the release of Letraset
of the Recent Past“ veröffentlicht. Lorem Ipsum passages, and more recently with desktop publishing
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RK: Und was kam für Sie nach den „Megastructures“? BU It was popularised in the 1960s with the release of Letraset sheets
Die Notwendigkeit Geld zu verdienen, brachte mich dazu praktisch zu Lorem Ipsum passages, and more recently with desktop publishing
arbeiten, vorwiegend im Wohnungsbau. Gleichzeitig erweiterte ich jedoch
Hans Ulrich Obrist: Sie stammen aus Essen, haben in Aachen und Karls- tet, auf der meine Raumstrukturen mit einem Raumstadtmodell, aber auch meine strukturellen Ideen und integrierte diese in Fullers Überlegungen, BU It was popularised in the 1960s with the release of Letraset sheets
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ruhe studiert und schließlich 1955 Ihr eigenes Büro gegründet. Wie kam es diverse Einzelobjekte, Flughäfen und eine Hallenbebauung gezeigt wurden. angefangen mit den packbaren platonischen Körpern Kubus, Tetraeder,
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dazu, dass Sie in den späten 50er Jahren gemeinsam mit Yona Friedman und Ulrich Conrads wollte diese Ausstellung in der Bauwelt publizieren. 1964 Oktaeder. Schraubt man dem Kubus Diagonalen ein, entstehen Tetraeder,
anderen im Zentrum des internationalen Diskurses standen? veröffentlichte er in der Reihe Bauwelt Fundament das Standardwerk „Pro- die für mich das Symbol der Stabilität darstellen, während der Kubus für die
Eckhard Schulze-Fielitz: Als Frühaufsteher machte ich mich 25-jährig mit gramme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts“, für welches Nutzbarkeit steht. Fuller selbst interessierte mich damals nicht so sehr, seine
Ulrich von Altenstadt und Ernst von Rudloff, beide Studienkollegen von mir, ich das Manifest „Raumstadt 1960“ schrieb. Das GEAM-Manifest hingegen Kuppeln waren nicht packbar, sondern isolierte Gebäude. Seine strukturel-
selbständig. In der Folge gewannen wir den großen Wettbewerb für das dürfte in erster Linie von Yona Friedman oder Ron Gruner formuliert len Überlegungen, seine Fullerene und das Buckminsterfulleren fand ich
Verwaltungsgebäude des Landschaftsverbandes Rheinland in Köln (1956– worden sein, ich selbst hatte zwar an einigen Sitzungen dieser Gruppe teil- von der Physik her jedoch hochinteressant.
1959), doch dieser von Mies beeinflusste Kasten langweilte mich sehr bald. genommen, war damals jedoch verhindert. GEAM (Groupe d’étude
Ich begann, mit Strukturen zu arbeiten, und stellte 1959 mein erstes d’architecture mobile) war eine informelle Gruppe die sich zum Ziel gesetzt HUO: Ihre zwei großartigen Bücher über Stadtsysteme sind nicht Bücher
Stadtmodell aus, welches ich allerdings noch nicht „Raumstadt“ zu nennen hatte, die interne Diskussion über die gemeinsamen Ideen der Mitglieder über Architektur im eigentlichen Sinne, sondern viel eher Bücher als archi-
wagte. Der Künstler Daniel Spörri sah das Modell und erwähnte eine Per- zur „Architecture Mobile“ und dem Strukturalismus publik zu machen. tektonisches Medium. Wie sind diese Bücher entstanden? Zwei Kapitel zu
son in Paris, die an ganz ähnlichen Sachen arbeitete wie ich. Bei seinem Stadtsystemen stellen im Grunde eine Erweiterung Ihres Manifests dar.
nächsten Besuch brachte er mir eine Broschüre von Yona Friedman mit, Rem Koolhaas: Sehen Sie in Ihrer damals ebenfalls aufkommenden prak-
woraufhin ich im Herbst 1960 nach Paris fuhr. So kam die Beziehung zu tischen Tätigkeit einen Bruch zu ihren visionären Anfangsarbeiten oder war
Friedman in zustande. diese Erweiterung des Schaffensfeldes Bestandteil einer kontinuierlichen
Entwicklung?
HUO: Die Bedeutung von Manifesten und Künstlergruppen im Sinne einer Als Bruch würde ich das nicht bezeichnen. Ich bin Systematiker von Haus
Bewegung hat heutzutage stark abgenommen. Sie selbst stehen für beides: aus und das Verwaltungsgebäude in Köln war streng systematisch im
Sie schrieben das bekannte Manifest „Raumstadt 1960“ und waren Mitglied Mies’schen Sinne, was mir – wie gesagt – im Nachhinein langweilig und
der „Groupe International d’Architecture Prospective“. Wie funktionierte banal vorkam. Ich wollte herausfinden, welche strukturellen Möglichkeiten
diese Gruppe und wie entstand das Manifest? darüber hinaus existieren, wobei mein Treffen mit Konrad Wachsmann im
1960 wurde in der Galerie van de Loo in Essen eine Ausstellung veranstal- Jahr 1957 eine Initialzündung in diese Richtung bedeutete.
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