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Die Frage nach der Klassifikation der Theorien in der Lehre der Internationalen Be
ziehungen stellt sich, weil eine einheitliche, alle vorhandenen Theorieansätze inte
grierende Großtheorie der internationalen Beziehungen nicht existiert. Vielmehr ist
Theoriebildung durch eine „Pluralität von Theorien über Teilbereiche der internationalen
Beziehungen geprägt“.¹ Steven Smith spricht in diesem Zusammenhang von einem
„growing body of distinctly different theories“.²
Für Chris Brown stellt diese Entwicklung hingegen als ein Zeichen für „The Poverty
of Grand Theory“³ im Bereich der Internationalen Beziehungen dar. Er weist darauf hin,
dass die von Quentin Skinner schon 1985 beobachtete Erscheinung „The Return of Grand
Theory in the Human Sciences“ die Disziplin der Internationalen Beziehungen noch
nicht erreicht hat. Unter Skinners „Grand Theorists“ wie Hans-Georg Gadamer, Jacques
Derrida, Michel Foucault, Thomas Kuhn, John Rawls, Jürgen Habermas, Louis Althusser,
Claude Lévi-Strauss und die Vertreter der „Annales-Schule“⁴, so Brown, befindet sich
kein einziger Theoretiker aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen.
1 Rittberger, Volker: Editorisches Vorwort, in: Ders. (Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen.
Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Opladen 1990, S. 7–13 (S. 12).
2 Smith, Steven: Introduction: Diversity and Disciplinarity in International Theory, in: Dunne, Tim/
Kurki, Milja/Smith, Steve (Hrsg.): International Relations Theories, Oxford 2007, S. 1–12 (S. 10).
3 Brown, Chris: The Poverty of Grand Theory, in: European Journal of International Relations 19:3
(2013), S. 483–497.
4 Brown, ebenda, S. 484.
https://doi.org/10.1515/9783486855081-002
erstrebenswert. Hingegen scheint für Volker Rittberger, Hartwig Hummel und Daniel
Frei ein „Theoriepluralismus“ ertragreicher und befriedigender zu sein.⁵
Gegenwärtig wird die Theorielage durch eine Vielfalt von Theorieansätzen ge
kennzeichnet. Allerdings verfügt dieser „Theoriepluralismus“ noch über keine klare
Struktur, und die Situation ist verwirrend. Offensichtlich durch die Strukturlosigkeit
der Theoriebildung im Bereich der Disziplin der Internationalen Beziehungen beun
ruhigt, bezeichnet Kalevi J. Holsti, einer der führenden Theoretiker des Faches, die
unüberschaubare Fülle von Theorieansätzen der internationalen Beziehungen als
„theoretische Profusion“⁶. Der Begriff „theoretische Konfusion“, der von Reinhard
Meyers entwickelt wurde, um den gegenwärtigen Stand der Theoriebildung in der Lehre
der Internationalen Beziehungen zu beschreiben, geht in dieselbe Richtung.
Wie lässt sich diese „theoretische Konfusion“ oder „theoretische Profusion“ erklä
ren? Grundsätzlich können wir diese Frage aus drei Blickwinkeln beantworten. Vor
allem sind die Gründe hierfür in dem Erkenntnisobjekt der Disziplin der Internationalen
Beziehungen zu suchen. Das internationale System der Gegenwart ist durch eine „Viel
falt von Bezügen, Ausprägungen, Schattierungen und Verästelungen“ gekennzeichnet.
„Der Erkenntnisgegenstand der Lehre wird als derart ausdifferenziert, wenn nicht gar
(an seinen Rändern) zerfranst begriffen, dass er sich gegen die Einvernahme durch eine
einheits-, grund- und sinnstiftende theoretische Perspektive im Sinne der seit alters
angestrebten ‚general theory of international politics‘ sperr[t]“⁷, so Meyers zu dieser
Frage.
Zum anderen sollen die Gründe auch im Bereich des Erkenntnissubjektes, also bei
den Wissenschaftlern selbst als „theory-maker“, gesucht werden. Wie Helga Haftendorn,
eine der führenden Vertreterinnen der Disziplin in der Bundesrepublik Deutschland, zu
Recht angeführt hat, verfolgt jeder Forscher bestimmte Erkenntnisziele, die ihn „bewusst
5 Vgl. hierzu: Meyers, Reinhard: Weltmarkt oder Weltpolitik? Anmerkungen zur gegenwärtigen Befind
lichkeit der bundesrepublikanischen Lehre von den Internationalen Beziehungen, in: Neue Politische
Literatur 31 (1986), S. 187–211; Czempiel, Ernst-Otto: Der Stand der Wissenschaft von den Internatio
nalen Beziehungen und der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: v. Beyme,
Klaus (Hrsg.): Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprobleme einer
Disziplin, PVS–Sonderheft 17, Opladen 1986, S. 250–263; Rittberger, Volker/Hummel, Hartwig: Die
Disziplin „Internationale Beziehungen“ im deutschsprachigen Raum auf der Suche nach ihrer Identität:
Entwicklung und Perspektiven, in: Rittberger, Volker (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen.
Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Opladen 1990, S. 17–47; Frei, Daniel: Einführung:
Wozu Theorien der internationalen Politik? in: Ders. (Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen,
2. überarbeitete und ergänzte Aufl., München 1977, S. 11–25.
6 Holsti, Kalevi J.: The Dividing Discipline. Hegemony and Diversity in International Theory, Winchester,
Mass. 1985, S. 7.
7 Meyers, Reinhard: Metatheoretische und methodische Betrachtungen zur Theorie der internationalen
Beziehungen, in: Rittberger, Volker (Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen. Bestandsauf
nahme und Forschungsperspektiven, Opladen 1990, S. 51.
Wir haben bereits gelernt, dass es sich bei den Methoden um spezifische Verfahren
handelt, die durch Reduktion und Abstraktion komplexer Realitäten theoretische
Aussagen ermöglichen. Da jede Methode über ein eigenes Instrumentarium verfügt, ist
der methodische Zugriff auf den Gegenstand unterschiedlich. Da sich Methoden bei
der Theoriebildung prägend auf das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung
auswirken können, bewirkt die Anwendung von unterschiedlichen Methoden auch
unterschiedliche Theorievarianten. Die „theoretische Konfusion“ und „Profusion“
erschweren einen systematisierten Einstieg ins Gebäude der vorhandenen Theorien der
internationalen Beziehungen und verhindern damit eine effektive Beschäftigung mit
den Fragen der internationalen Beziehungen. Um dieses Problem zu lösen, scheint es
unausweichlich zu sein, die vorhandenen Theorien einer systematischen Klassifikation
zu unterziehen. Die Klassifikation soll dazu dienen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen den einzelnen Theorien herauszuarbeiten und diese dadurch miteinander zu
verbinden bzw. gegeneinander abzugrenzen.
Es gibt verschiedene Vorgehensweisen, auf die wir bei der Bewältigung dieser
Aufgabe zurückgreifen können. In der Tat sind die Wissenschaftler in der Disziplin
der Internationalen Beziehungen seit Jahren bemüht, vernünftige Kategorien zu ent
wickeln, mit deren Hilfe die Theorien systematisiert und beurteilt werden können.
Insgesamt verfügen wir heute über fast 20 Klassifikationen von Theorien der interna
tionalen Beziehungen.⁹ Unter diesen Klassifikationen gilt die von Helga Haftendorn
vorgenommene Einteilung der Theorieansätze in drei Denkschulen, die normative,
die historisch-dialektische und die szientistische, als eine der bekanntesten. Zumin
dest im deutschsprachigen Raum ist diese Klassifikation weit verbreitet. Sie hat ihre
Bekanntheit zum großen Teil der Tatsache zu verdanken, dass ihre Struktur mit den
8 Haftendorn, Helga (Hrsg.): Theorie der Internationalen Politik. Gegenstand und Methoden der
Internationalen Beziehungen, Hamburg 1975, S. 9.
9 Zu einer ausführlichen Auflistung dieser Konzepte vgl. Rittberger/Hummel, a. a. O., S. 23; siehe auch
Yost, David S.: Political philosophy and the theory of international studies, in: International Affairs 70:2
(1994), S. 263–290.
Beziehungen mit dem Ziel der Aufstellung einer allgemeinen Theorie der internationalen
Politik“ zu entwickeln, wurde von Haftendorn als „szientistische Schule“ bezeichnet. In
der „besonderen Betonung der Wissenschaftlichkeit als Selbstzweck“ und in der strengen
Trennung zwischen wissenschaftlichem Erkennen und politischem Handeln, aber auch
in der Ablehnung der Wertgerichtetheit der Theorie, sieht Haftendorn die entscheiden
den Aspekte, die diese Richtung von anderen unterscheidet. Dies „veranlasst uns“, so
Haftendorn, „von szientistischer Theorie zu sprechen“.¹¹
Die „Haftendorn-Klassifikation“ ist zwar vor dem Hintergrund ihrer Übereinstim
mung mit den Ausrichtungen der traditionellen Sozialwissenschaften weit verbreitet
und einflussreich. Sie wurde aber nicht überall positiv aufgenommen. Dort, wo sie als
eine erhebliche Verengung der Theorien der internationalen Beziehungen angesehen
wird, stößt diese Systematik auf starke Einwände. So artikulierte Reinhard Meyers 1986
„sein profundes Unbehagen angesichts der auch heute noch vielfach zu beobachten
den Praxis, die große Breite möglicher Zugangsweisen zum Gegenstand der Lehre von
den Internationalen Beziehungen auf die Dreiheit ‚normative – empirisch-analytische –
dialektische Ansätze‘ reduktionistisch zu verengen“.¹²
Mit Meyers kann in der Tat argumentiert werden, dass die entscheidende Schwäche
der „Haftendorn-Triade“ darin zu sehen ist, dass sie „nicht jene Trennschärfe besitzt, die
zur eindeutigen Verortung eines Paradigmas oder Ansatzes im Gesamtfeld der miteinander
konkurrierenden Paradigmen oder Ansätze vorausgesetzt werden muss“.¹³ Beispielsweise
kann eine historisch-dialektisch verpflichtete Theorie genauso wertgerichtet sein wie
eine normative Theorie, mit der Konsequenz, dass beide derselben Richtung, nämlich
der normativen, zugeordnet werden können. Ebenso wollen die Marxisten bei der
Analyse der „Widersprüche“ genauso empirisch vorgehen wie ein „Szientist“, um
intersubjektiv überprüfbare Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Mit anderen Worten
kann die von Haftendorn präsentierte Dreiheit die Möglichkeit nicht ausschließen,
dass eine Theorie auf derselben Klassifikationsebene in zwei oder drei Richtungen
eingeordnet wird. Es gibt zu viele Überschneidungen, und diese Überschneidungen
machen eine Klassifikation in der Praxis wenig brauchbar.
Dieses Defizit veranlasst uns, nach einem neuen oder alternativen und logischeren Klas
sifikationssystem zu suchen. Um Überschneidungen auf das Minimum zu reduzieren,
ist es entscheidend, ein Kriterium zu finden, mit dessen Hilfe die Theorien eindeutig
voneinander unterschieden und mit ausreichender Trennschärfe in die einzelnen
Richtungen eingeordnet werden können.
Wo lässt sich ein solches idealtypisches Kriterium finden? Haftendorn hat einmal
verzweifelt festgestellt, dass „jede Klassifikation zu kurz greift, um den Variationsreichtum
von Theorien zu erfassen“. Dazu führte sie an: „Jede Einteilung vermag daher nur ein
grobes und daher partiell unangemessenes Raster anzubieten.“ In besonderem Maße, so
Haftendorn weiter, „zeigte die Beschäftigung mit dem methodischen Instrumentarium,
dass die Beschränkung auf nur eine Vorgehensweise zu Engpässen, die Berücksichtigung
alternativer Ansätze jedoch zu einer wesentlichen Bereicherung führen kann.“¹⁴
Aber gerade die gleichzeitige Berücksichtigung mehrerer Ansätze bei der Klassifi
kation der Theorien könnte zu Überschneidungen führen. Der Grund ist eindeutig: Es
wurde dabei ein Kriterium eingesetzt, das keine Ausschließlichkeit besitzt. Beispielswei
se kann das Erkenntnisziel, eine bestimmte Norm für internationale Politik zu setzen,
nicht nur von der „normativen Schule“, sondern auch von anderen Ansätzen verfolgt
werden. Diese „Nicht-Ausschließlichkeit“ ist auch vorhanden, wenn Methoden der
Theoriebildung als Kriterium der Klassifikation herangezogen werden. Denn eine Theo
rie lässt sich mit verschiedenen Methoden bilden, und sie nach Methoden einzuordnen
und zu beurteilen, würde zwangsläufig Unklarheit und Verwirrung herbeiführen.
Im Unterschied zu den Vorgehensweisen „Erkenntnisziel“ und „Methoden“ scheint
eine dritte Kategorie eine stärkere Ausschließlichkeit mitzubringen. Es handelt sich um
die ontologische Grundeinstellung einer Theorie zu der zentralen Frage, ob die Anarchie
des internationalen Systems zu überwinden ist. Diese Kategorie bietet sich insofern als
ein besseres Kriterium an, da eine Theorie zu dieser ontologischen Grundsatzfrage nur
eine Einstellung haben kann. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, die Theorieansätze
ohne Überschneidungen nach ihrer Grundsatzposition zu klassifizieren.
Diese Vorgehensweise ist kein formalistischer Selbstzweck, sondern inhaltlich mit
der Erforschung des Gegenstandes der Disziplin eng verbunden. Ontologisch betrachten
die realistischen, institutionalistischen und die liberalen Schulen die Staatenwelt, die
den Gegenstand der Disziplin der Internationalen Beziehungen ausmacht, als eine
Anarchie. Diese ist aus ihrer Sicht dadurch gekennzeichnet, dass über den Staaten keine
zentrale Instanz steht, die aufgrund eines legitimierten Gewaltmonopols internationale
Normen setzen und die Staaten zur Einhaltung dieser Normen zwingen kann. Aus diesem
Grund steht es den Staaten frei, so die anarchiebejahende Auffassung, ob sie den For
derungen anderer Staaten oder internationaler Organisationen Folge leisten oder nicht.
Diese so postulierte Freiheit der Staaten erinnert uns an das, was Emer de Vattel
einmal prägnant folgendermaßen ausgedrückt hat: Der Staat bleibe gegenüber allen
anderen Menschen, den fremden Staaten, absolut frei und unabhängig, solange er sich
ihnen nicht freiwillig unterordnet. Diese absolute Freiheit sah de Vattel darin begründet,
dass die Nationen aus Menschen bestünden, die von Natur aus frei und unabhängig
seien. Jede Nation müsse im friedlichen Genuss dieser ihr von der Natur verliehenen
Freiheit gelassen werden. Aus dieser unerlässlichen Verpflichtung, welche die Natur
den Nationen auferlege, ergebe sich für jeden Staat das Recht, nicht zu dulden, dass
ihm eines seiner Rechte oder etwas, das ihm rechtmäßig gehöre, genommen werde;
wenn er sich dagegen wehre, handle er nur im Einklang mit all seinen Pflichten, und
darin bestehe das Recht.¹⁵
Diese im Jahre 1758 entstandene Formulierung klingt in Zeiten der Globalisierung
zwar altmodisch, spiegelt aber für diejenigen, die die Beschaffenheit der modernen
Weltpolitik in ihrem anarchischen Zustand sehen, die Kernstruktur des heutigen Staa
tensystems zutreffend wider: Nicht ein herrschaftspolitisch geordnetes System bestimmt
die Beziehungen zwischen den Staaten, sondern die Anarchie, deren Formen, Struktu
ren und Wirkungsgrad jedoch unterschiedlich interpretiert werden. Das berühmte, von
Arnold Wolfers entwickelte „Billard-Ball-Modell“ zur Beschreibung der zwischenstaatli
chen Beziehungen gilt also vom Grundsatz her für viele realistisch, institutionalistisch
oder libral gesinnte Theoretiker nach wie vor für das Staatensystem auch im 21. Jahr
hundert. Diesem Modell zufolge gleichen die Interaktionen zwischen den Staaten,
denen „uneingeschränkte Gewalt über ihr Territorium mitsamt [ihren] Einwohnern und
Ressourcen zugeschrieben“ wird und die sich als eine geschlossene, gänzlich eigenstän
dige Einheit schwer durchdringen lassen, „einem Spiel von Billardbällen, die sich auf
der internationalen Bühne ständig anzögen, abstießen und in Bewegung [halten]“.¹⁶
In diesem ontologisch ausgemachten Naturzustand „kann kein Staat annehmen,
dass sein Fortbestand durch eine übergeordnete Instanz gesichert wird. Staaten müssen
demnach selbst die Bedingungen schaffen, die ihr Überleben gewährleisten können. Sie
sind letztlich auf Selbsthilfe angewiesen.“¹⁷ Dieses „dezentrale anarchische Selbsthilfe
system“ hat sich im Kern der Sache, so der Realist Werner Link, nicht geändert, obwohl
die Zunahme der Regulierungen der zwischenstaatlichen Beziehungen und der Ausbau
verschiedener internationaler Institutionen nicht zu übersehen sind. Auch der so
genannte „OECD-Frieden“ vermochte für viele den Gesamteindruck des anarchischen
Staatensystems grundsätzlich nicht zu verdrängen.¹⁸
In der Tat herrscht bei der Beurteilung der Grundstruktur des internationalen
Systems ein schulenübergreifender Konsens: Alle Denkrichtungen des so genannten
Mainstreams (d. h. die „Realistische Schule“ und die „Liberal-institutionalistische
Schule“) gehen bei der Theoriebildung von der Prämisse aus, dass die gegenwärtige
Staatenwelt sich noch in einem anarchischen Zustand befindet. Nur bei der Frage nach
15 Vgl. de Vattel, Emer: Von der Freiheit der Nationen, in: Frei, Daniel (Hrsg.): Theorien der internatio
nalen Beziehungen, 2. überarbeitete und ergänzte Aufl., München 1977, S. 42–43.
16 Zu dieser Interpretation vgl. Meyers, Reinhard: Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspek
tiven der internationalen Beziehungen, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Grundwissen
Politik, Bonn 1993, S. 229–334 (S. 267).
17 Hellmann, Gunther/Wolf, Reinhard: Systemische Theorien nach dem Ende des Ost–West-Konfliktes,
in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 22:2 (1993), S. 153–167 (S. 156).
18 Zur Grundsatzdebatte über die Gültigkeit des Anarchiekonzeptes vgl. Rittberger, Editorisches
Vorwort, a. a. O., S. 10–11.
der Überwindbarkeit dieser Anarchie sind die Wissenschaftler gespalten. Die Frage nach
der ontologischen Beschaffenheit im Sinne der Abwesenheit einer Weltregierung und
der Veränderungsfähigkeit von Anarchie stellt auch die Scheidungslinie dar, welche
die Schulen des Mainstreams von anderen Schulen trennt. Insgesamt lassen sich vier
Positionen bzw. Einstellungen zur Anarchie in der Staatenwelt erkennen, die sich
eindeutig voneinander unterscheiden.
Eine erste Richtung vertritt die Auffassung, dass die Anarchie des internationalen
Staatensystems nicht oder nur schwer überwindbar sei. Da keine global zentrale Instanz
über den Staaten stehe, bewirke die allgemeine Unsicherheit über das künftige Verhalten
anderer Staaten, dass die Staaten in der internationalen Politik vor allem auf Sicherheit
und Machterhalt abzielen. Da zwischenstaatliche Kooperationen stets mit Risiken für
die nationale Sicherheit verbunden seien, würden die Staaten immer Maßnahmen der
Selbsthilfe favorisieren, um eigene Interessen und Gewinne abzusichern. Aus diesen
Gründen wird in der internationalen Politik mehr Konflikt als Kooperation erwartet.
Eine Perspektive, die auf eine Überwindung der internationalen Anarchie hinweisen
könnte, wird als utopisch abgelehnt. Die Theorien, die sich zu dieser Position bekennen,
bezeichnen wir als „Realistische Schule“.
Die zweite Richtung geht davon aus, dass die Staaten trotz des ausgeprägten
anarchischen Zustandes der Staatenwelt die Fähigkeit besitzen, zu kooperieren, ja
sogar fähig seien, ihr Eigeninteresse zu überwinden und sich in Übereinstimmung mit
universellen Werten zu verhalten. Dabei wird eine Harmonisierbarkeit der Interessen
der einzelnen Staaten postuliert. Diese Sichtweise betrachtet die Anarchie nur als
einen vorläufigen Zustand, der überwindbar sei und institutionalisiert werden könne.
Durch rationale Aufklärung, internationale Kooperation, institutionelle und rechtliche
Regulierungen sowie Homogenisierung der Herrschaftssysteme der Staaten ließe sich
dieses Ziel erreichen. Da diese Sichtweise offensichtlich an die Möglichkeit der Überwin
dung der internationalen Anarchie glaubt, können wir sie „Liberal-Institutionalistische
Schule“ nennen. Im Grunde genommen sind sie alle Herausforderer der pessimistischen
Realisten, auch wenn sie aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen
Theorieakzenten die realistische Schule in Frage stellen.
Bei der dritten Richtung lässt sich eine starke Apathie gegenüber der Frage nach
der Überwindbarkeit der Anarchie feststellen. Ihre Grundeinstellung zur Anarchiefrage
scheint durch Neutralität oder Desinteresse gekennzeichnet zu sein. Desinteressiert,
nicht weil sie den anarchischen Zustand der internationalen Beziehungen nicht zur
Kenntnis nehmen will, sondern weil sie dazu tendiert, die systemische Ebene als
analytischen Bezugspunkt zu ignorieren. Sie betrachtet das staatliche Verhalten als
Verhalten der politischen Entscheidungsträger, die die Staaten vertreten und in de
ren Namen sie handeln. Dementsprechend wird sich bei der Theoriebildung auf die
Analyse und Untersuchung der Ebene des Individuums konzentriert. Im Mittelpunkt
der Theoriebildung stehen Abstraktion und Verallgemeinerung des außenpolitischen
Verhaltens des Individuums. Wir bezeichnen diese Theoriegruppe als „Behavioristische
Schule“.
Die vierte Gruppe von Theorien lehnt die ontologischen und epistemologischen
Annahmen des Mainstreams und der behavioristischen Forschungsprogramme ab.
Anarchie wird nicht als vorgegeben, sondern als sozialkonstruiert betrachtet. Nicht aber
Anarchie, sondern Hierarchie, kennzeichnet nach ihren ontologischen Vorstellungen
die Beschaffenheit der internationalen Beziehungen. Sie lehnen die positivistischen
und rationalistischen Denkkategorien der dominierenden Schulen ab und verstehen
sich als Alternative zu ihnen.
In der Tat handelt es sich bei dieser Denkrichtung um „dissident approaches“, die
der Hauptströmung der Lehre der Internationalen Beziehungen kritisch gegenüber
stehen. Diese „kritischen Theorien“ oder „unorthodoxen Theorien“ wollen nicht nur
den Mainstream intellektuell herausfordern, sondern auch das Theoriegebäude der
internationalen Beziehungen inhaltlich wie epistemologisch rekonstruieren.¹⁹ Daher
sind ihre zentralen Denkkategorien und Ausgangspunkte nicht „Staatensystem“ oder
„Anarchie“, sondern „Klasse“ (Marxismus), „Gender“ (Feminismus), „Historische Dis
kontinuität“ (Postmodernismus), „Hierarchie/Zentrum-Peripherie“ (Strukturalismus)
und „Social Construction“ (Konstruktivismus).
Da diese Theorien die Hauptströmungen in Frage stellen und sich als alternative
Theorien dazu verstehen, können wir sie als „Alternativ-Oppositionelle Schule“ bezeich
nen. Die Klassifikation der Theorien nach ihrer Grundeinstellung zur Anarchie des
internationalen Systems entspricht auch der folgenden Zuordnung der Theorien in die
sem Buch: „Realistische Schule“, „Liberal-Institutionalistische Schule“, „Behavioristische
Schule“ und „Alternativ-Oppositionelle Schule“.
An dieser Stelle ist eine neue Theorie-Klassifikation zu nennen, die kürzlich von Tim
Dunne, Lene Hansen und Colin Wight präsentiert wurde. Es handelt sich dabei um eine
systematische Einteilung der vorhandenden Theorien der Internationalen Beziehungen
in fünf Typen. Dunne, Hansen und Wight sprechen dabei von „explanatory theory“,
„critical theory“, „normative theory“, „constitutive theory“ sowie eine Art von „theory
considered as a ‚lens‘ through which we look at the world.“²⁰
Trotz der Klarheit, mit der die Eigenschaften der einzelnen Theorietypen ausführlich
dargestsellt werden, lässt es sich nicht übersehen, dass die „Fünf-Typen-Klassifika
tion“ von Dunne, Hansen und Whight unter dem gleichen Problem leidet wie die
„Haftendorn-Triade“: Das Fehlen der notwendigen Trennschäfte und eines Klassifi
kationskriteriums, das eine klare Ausschließlichkeit besitzt, um Überschneidungen
zwischen den unterschiedlichen „Theorietypen“ auf das Minimum zu reduzieren.
19 Zu Theorieansprüchen der kritischen und post-positivistischen Schulen vgl. Vasquez, John A.: The
Post-Positivism Debate: Reconstructing Scientific Enquiry and International Relations Theory after
Enlightenment’s Fall, in: Booth, Ken/Smith, Steve (Hrsg.): International Relations Theory Today, Oxford
1997, S. 217–240.
20 Zur ausführlichen Begründung dieser Klassifikation vgl. hierzu: Dunne, Tim/Hansen, Lene/Wight,
Colin: The end of International Relations Theory?, in: European Journal of International Relations 19:3
(2013), S. 405–425 (S. 409ff.)
Zum Schluss soll noch auf die Möglichkeit verwiesen werden, Ergebnisse der Theorie
bildung nach dem Grad der Abstraktion zu klassifizieren. In der wissenschaftlichen
Literatur wird – in dieser Reihenfolge – von Theorie, Ansatz, Konzept und Modell
gesprochen.
Eine Theorie liegt vor, wenn ein Satz von Aussagen einen bestimmten Gegenstand
oder ein bestimmtes Phänomen der internationalen Politik nicht nur beschreiben und
erklären, sondern auch prognostizieren kann. Sie besitzt die höchste Abstraktion unter
den beschriebenen Kategorien.
Von einem Ansatz (approach) wird gesprochen, wenn das Ergebnis der Theoriebil
dung eine „theoretische Orientierung“ bietet. Von einem Ansatz erwartet man zwar
keine Fähigkeit zur Formulierung von Prognosen. Aber er sollte verschiedene Funk
tionen erfüllen: „Die Analyseeinheiten und -ebenen zu bestimmen, auf systematische
Weise Fragen zu formulieren, Kriterien für die Auswahl und Gewichtung der Variablen zu
liefern und erste Annahmen über die Beziehungen zwischen den Variablen im Sinne von
Paradigmata zu liefern“, so Haftendorn.²¹
Konzepte haben einen noch niedrigeren Grad der Abstraktion. Sie weisen zwar
theoretische Konstrukte auf. Ihre Erklärungsfähigkeit ist aber begrenzt. Diese theoreti
schen Konstrukte dienen in erster Linie dazu, „Gemeinsamkeiten getrennt beobachteter
Einzelheiten auf einen gemeinsamen begrifflichen Nenner“²² zu bringen. Da Konzepte
vorrangig Forschungsoperation, d. h. der Operationalisierung von empirischen Fakten
im Forschungsprozess dienen, spricht man häufig von „operationalen Konzepten“.
Dabei werden sie immer nach beobachtbaren oder begrifflich erfassbaren Gegenständen
benannt. Dazu gehören beispielsweise das „Konzept von Staat“, das „Konzept von
Macht“, das „Konzept von Revolution“ und das „Konzept von Frieden“.
Modelle besitzen den niedrigsten Grad der Abstraktion. Meistens beruht ein Modell
auf einer bestimmten Theorie oder auf einem Ansatz. Die Aufgabe von Modellen liegt
darin, ein Untersuchungsobjekt vereinfacht darzustellen und seine Strukturen durch
Aufzeigen der Verbindungslinien zwischen verschiedenen Elementen des Objektes
zu verdeutlichen. Modelle beschreiben oft ein bestimmtes Phänomen punktuell und
blenden den ganzheitlichen Aspekt aus. Mit Hilfe von Modellen kann man aber das
Phänomen theoretisch besser begreifen und die abstrakten Theorieaussagen, die den
Modellen zugrunde liegen, leichter nachvollziehen.
21 Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Theorie, Ansatz, Konzept und Modell beruht auf
den Darstellungen von Haftendorn, a. a. O., S. 18ff. und Behrens, Henning/Noack, Paul: Theorien der
Internationalen Politik, München 1984, S. 22ff.
22 Ebenda.
Weiterführende Literatur
Brown, Chris: The Poverty of Grand Theory, in: European Journal of International Relations 19:3
(2013), S. 483–497.
(Einer der großen Vertreter der Disziplin diagnostiziert deren Theoriezustand.)
Dunne, Tim/Hansen, Lene/Wight, Colin: The end of International Relations Theory?, in: European
Journal of International Relations 19:3 (2013), S. 405–425.
(Weitreichender Einblick und Überblick. Sehr lesenswert, wenn man sich für den Entwicklungs
stand der Disziplin und für ihre Zukunft interessiert.)
Hill, Kim Quaile: In Search of General Theory, in: The Journal of Politics 74:4 (2012), S. 917–931.
(Einer der wichtigsten Beiträge zur Diskussion über den Sinn und Zweck einer Großtheorie.)
Smith, Steven: Introduction: Diversity and Disciplinarity in International Theory, in: Dunne, Tim/
Kurki, Milja/Smith, Steve (Hrsg.): International Relations Theories, Oxford 2007, S. 1–12.
(Guter Überblick über die Vielseitigkeit der Denkrichtungen in der Disziplin der Internationalen
Beziehungen.)