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Karin Leonhard

Das gemalte Zimmer


Zur Interieurmalerei Jan Vermeers

Wilhelm Fink Verlag


PVA
2003.
Umschlagabbildung:
2267 Vermeer, Die Musikstunde (Ausschnitt), um 1662-65, London, Royal Collection

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

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soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

ISBN 3-7705-3876-5
© 2003 Wilhelm Fink Verlag, München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

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INHALT

Einführung 7
Vorhang auf 11
Ruhe 14
Bewegung 21
Korridore, Wärmefelder 27

Z w e i barocke Raummodelle

Leere Räume 33
Der große Behälter 40
Entzweite Räume 40
Geräumte Räume 44
Verbrüderung der Räume 55
Die Dramaturgie der Zentralperspektive 63
Die rezeptive Netzhauttheorie 76
Kurzer Werdegang der barocken Wahrnehmungstheorie 81
Die Leinwandfläche als speculum sine macula 95
Frauen bei Vermeer 105
Trinkende Frauen 105
Empfangende Frauen 109
Lesende und schreibende Frauen 113
Das Gleichnis vom Kästchen 118

Erfüllte Räume 121


Das Innenleben einer Stadt 123
Das Innenleben eines Hauses 136
Das Innenleben eines Zimmers 145
Die Dramaturgie der Multiperspektive 152
Die Musikstunde 154
Die Malkunst 159

Bayerische
Staatsbibliothek
München
6 INHALT

3 Vermeer und die Farbe 171


Auf der Suche nach Berührung 171
Beschreibung oder Nichtbeschreibung? 180
Das gemalte Zimmer 184

Anhang 189
Vermeers .Dresdener Briefleserin' 189
Literaturverzeichnis 195
E I N F Ü H R U N G

Diese Studie wird von Räumen handeln, genauergesagt von den Innenräumen
in der Malerei Jan Vermeers. Dabei läßt die Beschränkung auf eine einzelne
Bildgattung vielleicht vorschnell vergessen, daß wir zugleich ein für die
Kunstgeschichte bedeutungsschweres und folgenreiches Kapitel auf-
geschlagen haben - das Kapitel der Raumgestaltung und seiner Korrelate in
der Optik und Wahrnehmungstheorie der Neuzeit.
Nun kann, wie man so sagt, der Teufel im Detail stecken. Für Vermeer be-
deutet das, daß wir in Anbetracht eines Werkausschnitts oder auch schon eines
einzigen Interieurs Material für ein ganzes Buch vorfinden. Weil dieser Maler
über die Malerei, und als Maler von Räumen über Räume und deren Gestal-
tung nachdachte, genügt das Antippen eines Punktes, um ein überwältigendes
Gefüge aufzufächern. Wir können gar nicht umhin, über ein allgemeines neu-
zeitliches Darstellungsproblem zu sprechen, selbst wenn wir uns auf die
Winkel seiner Kammern konzentrieren. Das ist auch eine Art räumlicher Öff-
nung, der wir gegenüberstehen, und sie gilt es in unsere Überlegungen
einzubeziehen.
Vermeer ist ungeachtet der kargen Einrichtung seiner Räume ein Maler der
Fülle. Eine thematische Eingrenzung trägt weniger dazu bei, sein Werk zu
beschneiden, als es über den eigenen Rahmen strömen zu lassen. Seine Innen-
räume sind so reflektiert gestaltet, daß wir mühelos das Große im Kleinen
aufspüren können, ohne von einem bildlichen Symbolismus sprechen oder den
dargestellten Zimmerwinkel sofort als ein Gleichnis für die ganze Welt auffas-
sen zu müssen. Nur vernetzt sind sie mit ihr, und das auf die vielfältigste und
faszinierendste Weise, die ein Maler zu Wege bringen konnte. Das Faszinie-
rende der Bilder liegt gerade darin, daß sie sich mit eindeutigen Aussagen
zurückhalten und das Vergleichen über das Gleichnis, das Schlüsse-Ziehen
über den Schluß oder das Verständigen über das Verständnis stellen. Auch
wenn wir Vermeer keineswegs die künstlerische Realisierung jener Forderung
nach Vielfalt nachsagen können, wie wir sie vor allem aus der Renaissance
kennen, so bestechen seine Bilder durch inneren Nuancenreichtum. Wir finden
ihn nicht in der Auswahl der Dinge oder der Personen, nicht einmal in den
vordergründigen Handlungen, die uns die Bildtitel liefern, sondern in dem,
was zwischen den Zeilen, zwischen den Vorgaben zu lesen ist. In Vermeers
Innenräumen stoßen wir auf eine atmosphärische Dichte, die selbst im Holland
des 17. Jahrhunderts, als man den ,tonigen Einheitsraum' (Hans Jantzen) in
vielen Werkstätten kunstvoll entwickelte, seinesgleichen suchte. Sie ist Zei-
chen dafür, wie sehr es dem Maler gelungen ist, alle Punkte und Versatzstücke
zu einer Gesamtheit zusammenzuziehen, der wir mit bloßen Analysetechniken
nicht mehr beikommen können.
8 EINFÜHRUNG

Wir müssen versuchen, eine Bildbetrachtung als eine Art synergetisches Zu-
sammenspiel zu verstehen, um mit den Räumen Vermeers umgehen oder die
gesamte Interieurmalerei als etwas definieren zu können, das seinen Ausdruck
aus zweierlei zieht: aus Grenzziehungen auf der einen Seite und bewußten
Näheaktionen auf der anderen. Räume öffnen und schließen sich in diesem
Genre, das sowohl werkimmanente Zusammenhänge wie das Gespräch mit
der Außenwelt sucht. Seit der Neuzeit haben wir es mit Räumen zu tun, die
dem Betrachter autark gegenüberstehen und sich ihm gleichzeitig aufschließen
und zuwenden. Die Gattung der Interieurmalerei wählt sich das zu ihrem ei-
gentlichen Thema.
Weil wir es mit Malerei zu tun haben, die an Zusammenhängen arbeitet,
lesen wir Bilder als Ganzes, nicht in Hälften und Teilstücken. Jantzens Diktum
vom tonigen Einheitsraum fiele hinsichtlich der holländischen Malerei also
nicht nur angesichts der Gesamtstimmung, sondern auch angesichts der Verei-
nigungslust, mit der sie ihre Stimmung auf uns übertragen und ihren Raum mit
dem des Betrachters verknüpfen wollen. Zudem dürfen wir uns gar nicht zu
sehr aus ihnen herausbewegen, um das Wechselspiel einer Bildbetrachtung in
Bewegung zu halten und in unsere Überlegungen einfließen zu lassen. Im
Betrachten begeben wir uns in die Räume hinein und rücken in dem Moment
von ihnen ab, in dem wir sie verstehen wollen. Beides läßt sich nur mit Begrif-
fen beschreiben, die aus einem Bild wie Betrachter berücksichtigenden
Wortschatz geschöpft wurden und vor allem eins im Sinn haben: das Bezugs-
feld zwischen ihnen auszufüllen und niemals den Eindruck aufkommen zu
lassen, als handle es sich um eine leere Klammer, deren zwei Seiten einander
unbewegt gegenüberstehen.
Soviel zum Schwerpunkt dieser Arbeit. Sie beinhaltet ein synergetisches
Konzept, das im Grunde alles, was wir noch im entferntesten eine menschliche
Angelegenheit nennen können, in räumliche Zusammenhänge bringt. Schei-
dungen darin sind nicht zu übersehen, setzen aber durchaus produktive
Prozesse in Gang. Was aber soll man von der Frage halten, die vor Vermeers
Gemälden häufig gestellt wurde: Wie an Vermeer herangehen, lautet sie, weil
angesichts seiner verbarrikadierten Bildräume die Meinung herrscht, der Be-
trachter bliebe dem Bild bis zum Ende seiner Bemühungen ,außen vor'?
Vermeer wäre kein Maler, wenn er wirklich etwas Derartiges im Sinn gehabt
hätte. Es wird einen großen Teil dieser Arbeit ausmachen, dem genauer auf
den Grund zu gehen und Vermeers Rezeptionsgeschichte kennenzulernen, die
ihn eineinhalb Jahrhunderte lang als äußerst verschlossene Künstlerfigur be-
handelte. Den Mythos aufzuschließen - auch das ist eine räumliche Erfahrung,
die an vielen Stellen noch aussteht. Sie geht einher mit den Erfahrungen, die
vor Vermeers Gemälden gemacht wurden. Wir sollten über sie und ihre Rich-
tigkeit nachdenken, um das Bild in Frage zu stellen, das die Kunstgeschichte
vom Maler entworfen hat. Vermeer entpuppt sich nämlich unter genauer Ob-
EINFUHRUNG 9

servation als anteilheischender Maler; ich bin sogar mehrmals versucht gewe
sen zu behaupten, Vermeer habe den Betrachter in seine Bilder verliebt oder
besser mit ihnen ,liebäugeln' machen wollen.
Zum Schluß bleibt der Wunsch, Vermeer als einen Maler erfüllter Räume
zu behandeln, deren Konstruktionen mehr als nur Wirklichkeitsillusionen
freisetzen, und ihn als anteilheischenden Maler zu verstehen, dessen bis heute
ungebändigte Faszinationskraft nur daher rühren kann, uns mit seinen Bildern
fesseln zu wollen, auch wenn sie sich noch so verschlossen zeigen.
10 EINFÜHRUNG

Abb.l: Jan Vermeer. Maler und Modell (Die Malkunsl). um 1673, Wien. Kunsthistorisches Museum
Vorhang auf
Vom Hineingehen in die Räume
„Und nun: stillgehalten. (...) Kunst. Die Welt, ins
reine gemalt."„Mijnheer: dieses Bild ist vollendet,
weil es nicht die Vollendung zeigt. Es zeigt das
Innehalten, das gegen die Vollendung spricht, und
für den Menschen sprechen lemt.(...) Das Bild
zeigt nicht den Künstler, sondern sein Zögern;
den Künstler an der Grenze zu einem Nachbarn,
der anders ist..."

(Adolf Muschg über Vermeers Malkunst, in:


Dreizehn Briefe Mijnheers)

Wie an Vermeer herangehen? Die Frage stellt sich bereits aus einer prakti
schen Sicht der Dinge heraus. In nur drei der sechsundzwanzig Interieurs
scheint der Raum zwischen Maler und Modell passierbar zu sein. In fünf Ge
mälden verstellen Gegenstände den Weg, in acht weiteren formen sich
Blickbarrieren aus, die sich in den restlichen Bildern zu Barrikaden verfesti
gen und den Innenraum von der Außenwelt nahezu vollständig abriegeln. Oft
nimmt die Helligkeit im Vordergrund ab, mit dem Ergebnis, daß die Dinge in
Dämmerung versinken, die Konturen sich auflösen und den Betrachter ganz
und gar im Dunkeln lassen. Aber auch im übertragenen Sinn hat sich Vermeer
wenig zugänglich gezeigt. Sei es, daß die Quellen zu Vermeers Persönlichkeit
und Profession wenig zu berichten haben , oder seine Bildräume den Charak
ter des Verborgenen und Verhüllten nicht ablegen wollen , Vermeer hat sich
gegenüber kunstwissenschaftlichen Interpretationsversuchen und methodolo
gischen Überlegungen als äußerst resistent erwiesen.
Ich will mit einem Zitat Max Friedländers beginnen, der in seiner Studie
Über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen auch die Genremale
rei behandelte und zu Vermeer sagte: „Er gilt nun als ein großer Maler, nicht
obwohl, sondern, weil er kein Genremaler ist." Das wird zu einem Diktum
der nachfolgenden Forschung, in der Vermeer mehr wie ein Stillebenmaler

' Die Aufzählung frei nach: Gowing, Lawrence: Vermeer, London 1970 (1952), S.34
" Mit einer Ausnahme, die J. M. Montias aufgedeckt hat. Von ihr wird in Kapitel 2 die Rede sein. Vgl.
Montias, J. M.: Vermeer and his Milieu. A Web of Social History, Princeton 1989
Vgl. beispielsweise Gowing (1970), S.18: „Pictures, we know, communicate several kinds of Infor
mation. They communicate Information about visible things, about the painter's equipment to deal with
them, and also, by inseperable implication, Information about the nature of the artist himself. Some
painting (...) gives us the illusion that we can construe it with equal facility on every level. Others of
the masters hold iheir secrets more lightly. They knit the consistency of their manner like a suit of mail
about them. However definite and recognizable the weave of paint in the style of Vermeer, inside il
something is hidden and compressed."
4
Friedländer, Max J., Über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag, Oxford,
1947, S.241
12 EINFÜHRUNG

und nicht wie ein Vertreter der Genrekunst behandelt wird. Hören wir Fried-
länders Begründung, die in einigen Punkten sehr problematisch wird: „Sein
Verhältnis zu den Menschen ist weder gemütvolles Mitempfinden, noch Teil-
nahme an Lebenslust, noch Sinn für humoristische Situationen oder Interesse
an seelischen Beziehungen. Er betrachtet das Lebende als Stilleben-Maler. (...)
Der Mensch ist für ihn das Modell, das stillhält, um gemalt zu werden. Einzel-
ne Frauen oder Köpfe einzelner Frauen, manchmal zwei Gestalten, Herrin und
Magd in gleichgültiger Beziehung zueinander. Ansatz zu genrehafter Erzäh-
lung selten. Die Figuren schweigsam und affektlos. Kinder hat Vermeer nicht
gemalt, obwohl er elf im Hause hatte. Wahrscheinlich hielten sie nicht still
genug."5
Vermeer scheint jede Annäherung zu vermeiden, nicht nur zwischen den
Bewohnern seiner Innenräume, die ,schweigsam' sind, gleichgültig' und
,affektlos', sondern ein weiteres Mal zwischen den Innenräumen und dem
Betrachter oder Bildinterpreten. Vermeer erreicht Exklusivität, indem er sich
aus dem Geschehen ,herausnimmt', sich zurückzieht, seine Umwelt vom Lei-
be hält und dabei ,stillstellt'. „Bewegung störte ihn." „Er betrachtete das
Lebende als Stilleben-Maler." Friedländers Kommentare stehen hier nur ex-
emplarisch für eine Summe gleichgerichteter Aussagen, die Vermeer bis heute
durch die Kunstgeschichte begleiten. Mit Recht? Ich würde das bejahen, um es
auf der anderen Seite vehement zu bestreiten, und zwar nicht, um einem
Kompromiß Vorschub zu leisten, sondern als Schlußfolgerung einer langen
Argumentationskette, die die Kunst des Abendlandes, seit sie über sich und
ihre Funktionszusammenhänge nachgedacht hat, zu Wege gebracht hat.
Michael Fried und Wolfgang Kemp haben für eine andere Zeit, die franzö-
sische Kunst nach 1750 „soweit sie den Idealen des bürgerlichen Klassizismus
verpflichtet ist" , eine ähnlich hermetische Kunsthaltung betont, wie sie Ver-
meer zugedacht wurde. „Diese Malerei setzt sehr stark auf die Konzentration
der Darstellung und versucht den Betrachter ins intrikate Beziehungsgeflecht
der innerbildlichen Handlung zu ziehen, ohne an ihn direkt zu appellieren.
Eine ähnliche Praxis empfiehlt sich nach Diderot auch für die Bühne, wo die
Versuchung groß war, das Publikum unmittelbar anzusprechen. ,Bei einer
dramatischen Vorstellung muß man sich ebensowenig um den Zuschauer

s
Ebd., S.241
" Für Friedländer ist es ein Grund, eine Seite später zu resümieren: „Seine Kunst ist objektiv, und verrät
wenig von seiner Persönlichkeit."
Kemp, Wolfgang: Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19.
Jahrhunderts, München 1983, S.10; Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Be-
holder in the Age of Diderot, Berkeley, Los Angeles, London 1980
VORHANG AUF 13

kümmern, als ob ganz und gar keiner da wäre. (...) Man spiele, als ob der
Vorhang nicht aufgezogen wäre.""
Diderot, der hier zuletzt zu Wort kam, fordert als Ideal bürgerlicher Kunstdar-
stellung, die innere Handlung einer Szene von jedem Außenbezug
loszusprechen, damit sie nicht abgelenkt oder zerstreut, formal gesprochen:
damit ihre Kreise nicht gestört werden. Dahinter steht der Autonomieanspruch
der Kunst, ihre Darstellung ganz auf sich selbst zu beschränken und einen
Vorhang vor jenem Fensterausschnitt hinunterzulassen, der bei Alberti und in
der Renaissancekunst eine Schauöffnung für den Betrachter bedeutet hatte.
Daß die Idee, zu spielen „als ob der Vorhang nicht aufgezogen wäre", im
Grunde eine Finte ist, eine äußerst werbewirksame dazu, ist von beiden Auto-
ren jedoch ebenfalls schnell entdeckt worden. „Auch wenn das Bild nicht mit
dem Betrachter rechnet, ist es für den Betrachter da." Daß der Vorhang vor
dem Bild ein unsichtbarer sein muß oder ein zurückgezogener, darin bestand
ohnehin nie ein Zweifel.

In Vermeers Darstellung der Malkunst haben wir einen solchen zurückgezo-


genen Vorhang vor uns. Dadurch wird jener Zeigegestus hervorgehoben, den
Bilder unablässig verkörpern: Sieh mich an. Der Vorhang ist zur Seite ge-
schlagen und gibt den Blick auf einen Innenraum und eine gar nicht so leicht
bestimmbare Szene frei, die man in etwa so beschreiben kann: Ein Bild wird
gemalt; ein Maler widmet seine Aufmerksamkeit einem Modell und einem
Bild. Seine Hand, die auf dem Malstock ruht, setzt zu einem Pinselstrich an,
und weil seine Position - niedriger auf einem Schemel und etwas nach rechts
gerückt - anders ist als unsere, wird sein Bild anders ausfallen als das, das wir
von ihm gewinnen. Dem Modell im hinteren Teil des Raumes und der Lein-
wand vor ihm gilt sein ganzes Interesse, und das beim Wort genommen, denn
es beschäftigt ihn tatsächlich. Das Mädchen muß allerdings still halten, um auf
die Leinwand gemalt zu werden, es muß den Dingen ganz ähnlich werden, die
vor ihm auf dem Tisch liegen. Der Maler, angesichts seiner Aufgabe, kehrt
uns den Rücken zu.
Friedländer schreibt dazu: „Eines der Meisterwerke: der Maler und sein
Modell. Er kehrt uns den Rücken zu, so daß wir nicht ihn kennenlernen, nur
seine Berufstätigkeit." Diese Charakterisierung erschien 1947. Ein gutes Jahr-
zehnt später entbrannte eine heftige Diskussion um die richtige
Herangehensweise an Vermeer, die mit einem Vokabular arbeitete, das wir
hier bereits in nuce vorfinden. Durch seine Zweipoligkeit war es gar nicht
mehr nötig, die Positionen künstlich aufzubauen - sie mußten nur aufgegriffen

8
Ebd., S.10. Das verwendete Zitat darin wiederum von Diderot, Denis: Ästhetische Schriften, Frank-
furt a.M. 1968, Bd.l (De la poesie dramatique 1758), S.284
9
Kemp(1983), S.12
14 EINFÜHRUNG

und auf einen deutlichen Nenner gebracht werden: vita activa und vita con-
templativa.

Z w e i W e g e , das T h e m a anzugehen
Bewegung und Ruhe

Ruhe

Behalten wir beide Begriffe im Gedächtnis. Sie stehen für verschiedene Her-
angehensweisen, mit denen sich Mitte des 20. Jahrhunderts zwei Kunsthistori-
ker den Rang um eine adäquate Vermeer-Näherung streitig machten. 1961
hatte Kurt Badt eine Streitschrift gegen Hans Sedlmayrs Analyse von De
Schilderconst (Die Malkunst/ (1951) vorgelegt, die, mit Vermeers berühm-
tem Gemälde im Mittelpunkt, die Beschreibung der „sinnlich wahrnehmbaren
Seite" eines Kunstwerks als Methode kunstwissenschaftlicher Interpretation
etablieren wollte. Kurt Badts Text über Maler und Modell von Vermeer er-
schien zu einem Zeitpunkt, als in den Kunstwissenschaften wiederholt
Versuche gestartet wurden, sich entgegen des aktuellen Mainstreams von Stil-
fragen und sozialgeschichtlichen Bildinterpretationen auf eine Innenansicht
des Fachs zu konzentrieren, den Aufbau von Wirklichkeit innerhalb der Rah-
mengrenzen des Bildes zu suchen, die Methode dazu in erster Linie wahr-
nehmungstheoretisch auszurichten. Bislang sei, so erklärt das Badt in seiner
Einleitung, die Formanalyse von Kunstwerken lediglich als Subkategorie einer
Stilgeschichte angeführt worden, wobei sie ein recht beengtes Dasein im
Schatten anderer, fremder Ziele geführt und nicht viel zur Selbstbesinnung auf
das Künstlerische im Werk beigetragen habe. Badts Methode zielte dagegen
auf den Autonomieanspruch des Fachs und seiner Gegenstände. In seinen
Interpretationsversuchen wollte er mehr von bildlichen Erfahrungs- als von
Denkmustern ausgehen und an einer vorbegrifflichen Schicht der Bedeutung
festhalten, die sich isolieren und der Struktur nach beschreiben ließ. Im Grun-
de erklärt das die Vehemenz, mit der Badt in Sachen Vermeer und mehr noch
in Sachen einer neuen Interpretationsmethodologie gegen Hans Sedlmayr ins
Feld zog. Dessen Meinung, nach der „das Bild seiner wesentlichen Bedeutung

"' Badt, Kurt: Modell und Maler von Vermeer, Köln 1997 (1961); Sedlmayr, Hans: ,Der Ruhm der
Malkunst': Jan Vermeers De schilderconst, in: Festschrift für Hans Jantzen, Berlin 1951, S.169-177.
Der Text wurde übernommen in Sedlmayrs Buch: Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der
Kunstgeschichte, Mittenwald 1978(1958)
'' Etwa in Anlehnung an Diltheys Strukturenlehre oder Cassirers Philosophie der symbolischen For-
men
VORHANG AUF 15

nach nicht <ist>, was es zu sein scheint" , konnte Badt nicht gefallen. Sedl-
mayr zufolge erfüllte das Sichtbare allenfalls die Funktion, eine Idee auf der
Bildoberfläche erscheinen oder, mit etwas mehr Emphase gesagt, meisterhaft
aufleuchten zu lassen. Badt dagegen wehrte sich gegen eine divinatorische
Auslegung der Bilder, die in Einzelfällen vielleicht zu geistreichen Einfällen
führen könne, sich aber wesentlich häufiger zu gewagten Spekulationen ver-
steige und als wissenschaftliche Methode ganz und gar nicht eigne. Viel mehr
noch störte ihn jedoch - nun stoßen wir auf das erkenntnistheoretische
Problem dahinter - Sedlmayrs Wiederholung eines traditionsreichen Tren-
nungsmodells, das zwischen der Darstellungsebene des Bildes und seiner
Bedeutungsschicht eine harte Zäsur setzte.
Die Inhalt/Form-Dichotomie ist so altbekannt und geistert bereits für so
lange Zeit durch unsere Mentalitätsgeschichte, daß mehr dazu nicht gesagt
werden muß. Wir werden ohnehin bald schon wieder an ihr anecken. Die
Trennung von Geist und Körper jedenfalls sowie der prinzipielle Triumph des
Geistes über den Körper sind es, die der Bildanschauung Kurt Badts am stärk-
sten zuwiderliefen. Vor allem aus diesem Grund verwies sein Text ent-
schieden auf die sinnlichen Qualitäten des Kunstwerks sowie auf die
„Probleme der Strukturen und Strukturbedeutungen bildender Kunst"13 und
verlegte die interpretatorische Leistung des Bildbetrachters auf die Darstel-
lungsebene und die Komposition des Bildfelds - das dann eben doch ist, was
es scheint.

Man mag sagen, daß die Kontroverse innerhalb des Fachs historisch geworden
ist. Für die Forschungslage zu Vermeer bleibt sie bis heute aufschlußreich. Mit
ihr ist ein Zenit erreicht, der für weitere zwanzig Jahre nicht überschritten und
in seiner Spannung folglich niemals wirklich aufgelöst wurde. Christiane Her-
tel hat an anderer Stelle erklärt , warum die heftig geführte Badt-Sedlmayr
Kontroverse um Vermeers Malkunst lange Zeit ohne Widerhall blieb und erst
in den 80er Jahren durch Studien von Mengden, Asemissen und Zaunschirm
eingehender analysiert wurde. Daraus läßt sich folgern, daß es immer noch

" Badt (1997), S.22 über Sedlmayr: „Das dem naiven Beschauer darauf Erscheinende ist bloßer An-
schein, der den wirklichen Gehalt, den Sinn, den Rang des Bildes verbirgt."
13
Ebd., S.12
14
Hertel, Christiane: Vermeer. Reception and Interpretation, Cambridge 1996, S.18: „In the late 1960s
and 1970s this meant a renewal of art-historical interpretation in Marxist, sociocritical terms, partly
under the influence of the Frankfurt School. The German New Art History did not show any significant
interest in Vermeer's art."
Die erwähnten Autoren: Asemissen, Hermann Ulricht: Jan Vermeer. Die Malkunst, Frankfurt 1988;
Mengden, Lida von: Vermeers ,The Schilderconst' in den Interpretationen von Kurt Badt und Hans
Sedlmayr: Probleme der Interpretation, Bern und Frankfurt 1984; Zaunschirm, Thomas: Leitbilder:
Denkmodelle der Kunsthistoriker, oder, Von der Tragik, Bilder beschreiben zu müssen, Klagenfurt
1993
16 EINFÜHRUNG

neu erscheinen muß, über eine Rezeptionsgeschichte zu Vermeer zu verfügen,


daß sie noch gar nicht vollständig ausgearbeitet und vor allem ausgewertet
wurde. Verdächtig ist die Einstimmigkeit, mit der gewisse Eigenschaften
Vermeers hervorgehoben wurden. Sogar bis in die Wortwahl hinein ähneln
sich die Charakterisierungen, die es seit seiner ,Entdeckung' Mitte des 19.
Jahrhunderts gab. Max Friedländers kühles Psychogramm oder Hans Sedl-
mayrs distanzierter Idealismus sind nur zwei Beispiele von vielen. Selbst in
Kurt Badts Argumentationsführung können wir einige bekannte Schleifen
entdecken. Was bedeutet: Unabhängig des Rätselratens, das vor etwa 150
Jahren um seine Person und sein Werk in Gang geraten ist, ja geradezu paral-
lel dazu, hat sich um Vermeers Werk ein fester Kanon gelegt, der uns ein in
den Grundzügen einheitliches Bild des Malers vermittelt - allerdings gehört es
nicht weniger zu jenen Grundzügen, ihn in allem gerne eine ,Sphinx'1 zu
nennen. Selbst die Badt-Sedlmayr Kontroverse schöpfte ihr Vokabular aus ein
und derselben Quelle des 19. Jahrhunderts. Nun, am Ende der bürgerlichen
Ära auch innerhalb der Ästhetik und kunstwissenschaftlichen Methodik, wur-
den sich die Interpreten erstmals selbst verdächtig, in einen Refrain
eingestimmt zu haben.
Hertel hat die deutschsprachige Interpretationsgeschichte Vermeers zu-
sammengefaßt und herausgestellt, daß bei Hans Sedlmayr und Kurt Badt
dieselben Worte fielen - auf beiden Seiten, trotz der scheinbar scharf vonein-
ander getrennten Positionen. Worin sich die Kontrahenten ohne Umschweife
einig waren, ist bezeichnend für die Vermeer-Rezeption im ganzen. Für beide
galt Vermeer als das herausragende Beispiel einer autonomen Kunstdarstel-
lung, wenn sie auch einmal überwiegend metaphysisch, das andere Mal vor
allem metahistorisch begründet wurde. Vermeers Kunst baut keine Außenbe-
züge auf, ihr Aussagewert kreist in ihr selbst, sie ist sich selbst genug. Wir
erinnern uns an Diderots Ideal vom Vorhang, der eine eigene intime Kunsts-
zene schaffen sollte, vor fremden Augen und fremden Einflüssen geschützt.
Vermeer schien einer bürgerlichen Ästhetik, die eine Freiheitsvorstellung
formulierte, mit ähnlichen Innerlichkeitstendenzen Vorschub zu leisten, die
wir für das klassizistische Zeitalter Frankreichs oder noch weit zutreffender
für das deutsche 19. Jahrhundert feststellen konnten. Es reicht also nicht, be-
züglich einer autonomen Ästhetik ins Grübeln zu kommen - den anderen nicht
wirklich zu brauchen, gehört von Anbeginn an ins Inhaltspaket des bürgerli-
chen Individuationsprozesses.

Als ,Sphinx' wurde Vermeer bereits 1866 von Theophile Thore in die Kunstgeschichte eingeführt.
Dementsprechend hatte Thore sich eine zunehmende Individualisierung des Malers gewünscht, wie sie
bislang nur in wenigen Fällen eingetreten ist. Vgl. Thore, Theophile (William Bürger): Van der Meer
de Delft, in: Gazette des Beaux-Arts 21 (1866), S.297-330; 458-70; 542-75; zu dt.: Jan Vermeer van
Delft, übersetzt von Paul Pnna, Leipzig 1906
VORHANG AUF 17

Bei Vermeer kann kaum eine Bildhandlung herausgefiltert werden - als Er-
zähler ist er nicht sonderlich beredt gewesen. Seit langem gilt er als Feinmaler
einer spiegelglatten Oberfläche, als tiefschürfender, wenngleich äußerst poeti-
scher Vertreter eines Genres, dessen geselliges Gründungsthema ihm von
Grund auf abhanden gekommen und in private Zurückgezogenheit umge-
schlagen ist - „es strömte ihm nicht." Und: „It was not in his nature to deal
so directly and decisively with humanity." Aus der Fülle gleichlautender
Aussagen, die in der Literatur zu Vermeer gemacht wurden, fasse ich nur noch
einige zusammen. Wir müssen uns die anfängliche Behauptung, Vermeer sei
im Grunde kein Genre-, sondern ein Stillebenmaler, dazudenken, um den Ka-
non in seinen wichtigsten Bestandteilen kennenzulernen: Vermeers Gemälde
zeigen vollendete Kunst. Er fängt Erscheinungen ein. Er arbeitet langsam und
überlegt. Seine Werke sind in sich abgeschlossene Systeme, hermetisch dicht
gemacht, perfekte Repliken bürgerlicher Selbstbefindlichkeit, zudem, auch was
die Kunst angeht, mit einem stark autoreflexiven Kommentar unterlegt.
Viel Richtiges ist damit gesagt, aber auch Entscheidendes weggelassen
worden. Denn Vermeer hat seine Bilder nicht nur vage gehalten und dem
Zugriff des Betrachters entzogen. Seine Kritiker haben sie systematisch weg-
gerückt und ein zweites Mal verunklärt. Die Ursache hierfür läßt sich in erster
Linie in den Bewertungskriterien des 19. Jahrhunderts finden. Nach ihnen
begann sich die junge deutschsprachige Kunstgeschichte auszurichten. Auch
die holländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts wurde nach ihnen bemes-
sen und in eine Werteskala eingestuft, die voll und ganz dem 19. Jahrhundert
angehörte und im Zeitalter Vermeers sicherlich nur in manchen Teilen akzep-
tiert oder gar verstanden worden wäre. Im übrigen ist es ein ganz bestimmtes
Wort - das Wort der Interesselosigkeit', dem wir schon bei Friedländer be-
gegnet waren - , das uns weiterhilft, den Kanon der Rezeptionsgeschichte
Vermeers in seinen Ursprüngen ins 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen und
ihm ein oder zwei Ziehväter mit auf den Weg zu geben.18
Kant und Hegel sind die entscheidenden Namen. In seinen Ästhetischen
Vorlesungen hatte Hegel sich an verschiedenen Stellen auf die holländische
Genremalerei des 17. Jahrhunderts bezogen und dabei ausschließlich lobend
geäußert. Seine Vorlesungen wurden erstmals 1835 veröffentlicht - etwa drei
Jahrzehnte, bevor man eine Vorliebe zu Vermeer entwickelte und ihn für die
Kunstgeschichte zurückgewann. Als Redner eines bürgerlichen Zeitalters
betonte Hegel in seinen Vorlesungen natürlich vor allem die individualistische

16
Ebd., S.515
17
Gowing(1970), S.28
Kant hatte in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) der äshetischen Anschauung ein .interesseloses
Wohlgefallen' bestätigt. Es ist natürlich kein Zufall, daß seine Autonomie-Ästhetik, von Hegel kritisch
aufgenommen und als .interesseloses Scheinen' weitergeführt, von der marxistischen Kunstphilosophie
(W. Benjamin, Georg Lucacs, u.a.) entscheidend attackiert und überformt wurde.
18 EINFÜHRUNG

Lebensweise des holländischen 17. Jahrhunderts. Dabei definierte er den Indi-


vidualismus in erster Linie als Unabhängigkeit vom Nachbarn, auf einer
politischen, auf einer gesellschaftlichen und auch auf einer künstlerischen
Ebene. Die Kunst des holländischen Barock, so sein Fazit, sei ihrem Inhalt
und ihrer Form nach Ausdruck eines allgemeinen Unabhängigkeitsideals ge-
wesen. Das Wahren der eigenen Grenzen und die Selbsttätigkeit des
einzelnen Subjekts wurden auf diese Weise zu den entscheidenden ästheti-
schen Tugenden. Hegel hatte zuvor Diderot gelesen! Dessen Theorie eines
selbstgenügsamen Kunstraums wurde von Hegel aufgegriffen und der eigenen
Ästhetik beigefügt. Nach Diderot sollte der Darsteller so spielen, als ob der
Vorhang nicht gezogen wäre, und sich um das Publikum nicht weiter küm-
mern. Ein Bild sollte in seine eigene Darstellung vertieft sein, so als existiere
es nur für sich selbst, formal abgeschlossen wie eine Luftblase. Hegel aber
sah, wie Diderot es zuvor bei Chardin ausgemacht hatte, die Forderung nach
Autonomie vor allem von der holländischen Genremalerei eingelöst. Kein
Wunder also, wenn wir in der Nachfolge schon bald auf das unvermeidbare
Diktum der Stille stoßen. Schon an dieser frühen Stelle, schon bei Diderot,
hatten sich die Grenzen zwischen Genremalerei und Stilleben vermischt, denn
die Menschen auf diesen Bildern verhalten sich geradewegs so autark und
unbewußt/selbstbewußt wie solide Gegenstände auf einem Tisch.20

19
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke, Frankfurt a. M. 1986,
Bd. 13, S.222f: „Der Holländer hat sich zum größten Teil den Boden, darauf er wohnt und lebt, selber
gemacht und ist ihn fortdauernd gegen das Anstürmen des Meers zu verleidigen und zu erhallen
tigt; die Bürger der Städte wie die Bauern haben durch Mut, Ausdauer, Tapferkeit die spanische
Herrschaft unter Philipp II., dem Sohne Karls V., dieses mächtigen Königs der Welt abgeworfen und
sich mit der politischen ebenso die religiöse Freiheit in der Religion der Freiheit erkämpft. Diese
Bürgerlichkeit und Unternehmungslust im Kleinen wie im Großen, im eigenen Lande wie ins weite
Meer hinaus, dieser sorgfältige und zugleich reinliche, nette Wohlstand, die Frohheit und Übermütig-
keit in dem Selbstgefiihl. daß sie dies alles ihrer eigenen Tätigkeit verdanken, ist es, was den
allgemeinen Inhalt ihrer Bilder ausmacht."
211
Von dort aus führt ein direkter Weg zu Rilkes Briefen über Cezanne, die kurz nach der Jahrhundert-
wernde entstanden und eine Ästhetik des .sachlichen Sagens' entwickelten. Einen Lehrmeister hatte
Rilke in Cezanne gefunden, dessen Bilder „ohne alle Aussprache, diskreter, tatsächlicher, allein gelas-
sen mit sich selbst"2" waren als alles je zuvor Gesehene: „Man malte: ich liebe dieses hier, statt zu
malen: hier ist es. Wobei denn jeder selbst gut zusehen muß, ob ich es geliebt habe. Das ist durchaus
nicht gezeigt, und manche werden sogar behaupten, da wäre von keiner Liebe die Rede. So ohne
Rückstand ist sie aufgebraucht in der Aktion des Machens. Dieses Aufbrauchen der Liebe in anonymer
Arbeit, woraus so reine Dinge entstehen, ist vielleicht noch keinem so völlig gelungen wie dem Al-
ten,"20 schreibt Rilke über Cezanne und hätte doch auch Vermeer damit meinen können. Hätte er es
tatsächlich getan, vielleicht wäre dann das Mißverständnis, Vermeer wie einen gleichgültigen Maler
behandeln zu können („bei dem von keiner Liebe die Rede sein kann"), gar nicht erst in diesem vollen
Ausmaß zum Zug gekommen.
Es ist ein Mißverständnis, für das im Ansatz schon Hegel gesorgt hatte, als er der holländischen
Genremalerei ihrer autonomen Form wegen eine perfektionierte Scheinhaftigkeit, eben jenes
lose Seheinen attestierte, von dem auch Friedländer sprach. Die Darstellung „des sich in sich
vertiefenden Scheinens""" der Bildfläche sei es vor allem, was die Meisterschaft der holländischen
VORHANG AUF 19

In seiner Ästhetik hatte Hegel der holländischen Genremalerei aufgrund ihrer


vertieften Darstellungskraft eine kunstgeschichtliche Vorrangstellung einge-
räumt. Es fallen Worte, die zur holländischen Genre- und Stillebenmalerei
mittlerweile so häufig angewandt wurden, daß ihre philosophischen Implikate
gar nicht mehr sonderlich ins Auge fallen: Indem die Kunst „den vorüberei-
lenden Schein statarisch macht, (...) wird das Substantielle gleichsam betrogen
um seine Macht über das Zufällige und Flüchtige." „Es ist ein Triumph der
Kunst über die Vergänglichkeit." Solche Worte haben schon zu Hegels Zeit
eine lange Tradition. Das kunsttheoretische Fazit, das daraus gezogen wurde,
kennen wir für Vermeer bereits sehr gut: Bewegung störte ihn. Eher war er ein
Stillebenmaler als ein Künstler von Gesellschaftsbildern. Vor allem aber sind
es die drei Plaketten von der Autonomie, Künstlichkeit und Innerlichkeit hol-
ländischer Malerei, die seiner Interieurmalerei von nun an anhafteten. Noch
Sedlmayr spricht weniger von einem Innenraum als von einem „innerlichen
Raum" Vermeers; eine Formulierung, hinter die Badt in seinem Kommentar
auch sofort ein Fragezeichen setzte.
Und dennoch: Warum steht Friedländer nicht alleine mit seiner Behaup-
tung, für Vermeer sei ein Mensch lediglich ein Modell, das stillhält, um
gemalt zu werden? Warum kann man es Sedlmayr nicht vollständig abschla-
gen, wenn er wiederholt die Stillebenhaftigkeit von Vermeers Werken
hervorhebt, obwohl wir es mit Interieurbildern und Menschendarstellungen zu
tun haben und uns Kurt Badt augenblicklich darauf aufmerksam macht, daß
Stilleben nichts weniger als „nature morte!" bedeutet? Wenn sich auf Badts
Einwand hin ein kurzes Schweigen einstellen sollte, dann nur solange, bis
erkannt worden ist, daß mit seinem Vorwurf an die Kunstwissenschaften, alle
aktiven und lebendigen Momente des Bildes rücksichtslos stillgestellt - kaltge-
stellt - zu haben, letztendlich nicht nur eine bestimmte Methode, sondern der
gesamte Repräsentationsgedanke der neuzeitlichen Kunst angegriffen wurde.

Im 17. Jahrhundert boomte der Einsatz des Spiegelgleichnisses in Optik,


Kunsttheorie, Malerei: Unser Auge, unsere Wahrnehmung glich einem Spie-

Malerei ausmache. In anderen Worten: Sie sei selbstreflexiv, ausschließlich mit sich selbst beschäftigt,
ohne Interesse an Außenbezügen, innerlich. Solche Beschreibungen sind uns schon durch den Kanon
der Vermeer-Interpretationen geläufig geworden, aber jetzt können wir den Umständen ihrer Entste-
hung etwas näherkommen. Zugegeben sei, daß wir die Räume Vermeers tatsächlich deutlich ,in sich
vertieft' vorfinden - dafür sorgen die ruhigen Einzelfiguren auf einer inhaltlichen Ebene ebenso wie
die Bildbarrieren auf einer formalen. Sedlmayr aber hatte die Selbstbesinnung der Figuren und des
Bildfelds eben schon gar nicht mehr als Tätigkeit, Friedländer hatte sie nur als grundsätzliche Gleich-
gültigkeit gegenüber der Umwelt aufgefaßt. Indem man jedoch ein Bild sich selbst genug sein läßt und
es auf diese Weise von sich weglöst, erstarrt seine Handlung oder zieht sich in die Tiefe eines Kunst-
raums zurück, an dem wir - scheinbar - keinen Anteil mehr haben.
21
Ebd., S.227
" Badt (1997), S. 114
20 EINFÜHRUNG

gel. Der Gesichtssinn wurde hauptsächlich als passives Empfangsinstrument


verstanden, das die Außenwelt naturgetreu aufnahm und wiedergab. Aber erst
die idealistischen Theorien des 19. Jahrhunderts führten dieses Gleichnis so
konsequent fort, daß sie den Spiegelungsgedanken weg von der tatsächlichen
Wahrnehmung der Dinge ins körperlose Gebiet der Reflexion und reinen An-
schauung beförderten. Auf diesem Wege ist es vor allem die Betonung des
ästhetischen Selbstzwecks gewesen, die Vermeer neben einigen Meistern der
deutschen Romantik zu einem hochartifiziellen Maler machte, der das Gese-
hene vollendet in Malerei übersetzte, ohne materielle Spuren seiner
Übersetzungsleistung zu hinterlassen und die Illusionsfläche der Leinwand
einzutrüben. Lawrence Gowing spricht ganz folgerichtig von Vermeers „es-
sential idiosyncrasy,"23 Beat Wyss von der „hermetischen Innerlichkeit"24
holländischer Malerei, Norman Bryson allgemeiner von der „Essential Copy
of Western Art," die Natur stillstellen und in Kunst hinübertreten lassen
sollte. „However deceptive Vermeer's intention, the result is at the opposite
pole to naturalistic tactility. For him the play of light upon form not only con-
veys its substance but also subtly denies it. The illusion which he seeks is not
closeness but distance. It is the refinement of trompe l 'oeil, to counterfeit not
only the credibility of visual perception but also its intangible remoteness.
Immediacy, touch, are excluded; his subject is the immutable barrier of
space."26 Und: „Tangibility is not the illusion that he seeks."27 Vermeers täu-
schender Realismus wäre nur für das Auge gedacht und gar nicht als
persönliches Näheerlebnis geplant gewesen. Nicht einmal in Gedanken sollten
wir beim Bilderbetrachten einem naiven Sensualismus verfallen.
In gewisser Weise leuchtet diese Behauptung auch ein. Auf eine Vorrang-
stellung der optischen Wahrnehmung stoßen wir zweifellos in Vermeers
Werken. Aber das war es eben gerade, was das 19. Jahrhundert an Vermeer
entdeckte und im eigenen Interesse weiterdeutete, ja letztlich überbewertete.
„Reizen sollte am Gemälde nicht die vorgestellte Realität, sondern das Er-
scheinen der Dinge als reine Kunstwesen. (...) In diesem Sinne war die
Genremalerei und das Stilleben eine Schule für das theoretische, begierdelose
Schauen. Ihre Bilder zogen den Betrachter zwar in den Bann der alltäglichen
Welt, lehrten ihn aber zugleich den Verzicht. Berühr mich nicht! (....) Die
Malerei ,zerriß die Fäden der Bedürftigkeit, der Anziehung, Neigung oder
Abneigung', sie führten zur Einsicht in den ästhetischen Selbstzweck der Din-
ge."28 Beat Wyss hat hier ein weiteres Mal Hegel zitiert. Der Schnitt, den die

23
Gowing (1970), S.27
24
Wyss (1989), S. 108
:s
Bryson, Norman, Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London 1983
26
Gowing (1970), S.25
27
Ebd.,S.21
28
Wyss (1989), S. 105
VORHANG AUF 21

Ästhetik des 19. Jahrhunderts entlang der Leinwandfläche der Bilder in ihrer
Theorie tat, kappte die Beziehungsfäden zwischen dem Realitätsraum des
Betrachters und dem Bildraum. Nicht, daß sie sich nichts mehr zu sagen ge-
habt hätten - zu sagen oder zu denken gab es von nun an sogar sehr viel -,
aber das Gespräch fand über eine weite Distanz hinweg statt, die nur mehr mit
dem theoretischen, begierdelosen Blick des Ästheten überbrückt werden soll-
te.
Zurück zu jener Kontroverse, bei der sich vor etwa 40 Jahren über Fragen
der Art und Weise des Herangehens, aber nicht über Fragen der eigentlichen
Zielvorstellung die Geister schieden. Kurt Badts Anliegen, die Bedeutungs-
sprache des Anschaulichen kunstwissenschaftlich auszuwerten, verdient dabei
gesondertes Gehör. Hier kam etwas zum Tragen, das innerhalb der deutschen
Vermeer-Rezeption völlig ungewöhnlich war und keine wirkliche Nachfolge
fand. Denn die Werkimmanenz blieb bei Badt nur Theorie, und in der Praxis
wich er durchaus davon ab. Auf diese Weise gelang ihm ein brisanter Gegen-
entwurf zu allen vergangenen und selbst zu vielen späteren Vermeer-
Interpretationen. Vor allem eine Stelle gibt es bei ihm, die bis heute aufregend
neuartig ist und jene Theorie des neuzeitlichen Dualraums aufbauen hilft, von
der schon die Rede war. Darin ist von einem Näheerlebnis die Rede, auch von
Tätigkeitsmustern, von Bewegung und Arbeit und davon, der Sinnlichkeit des
Bildfelds sprichwörtlich zu Leibe zu rücken:

„Während die chinesische Malerei eine Bildform kennt, die


nur verständlich wird, indem der Betrachter sich im Räume
des Bildes mitteninne denkt und ihn von dorther betrachtet,
so daß sein Blick von der Mitte zu den vier Bildrändern
wandert, (...) kennt die europäische Malerei (mit wenigen
Ausnahmen) nur solche Bildorganisationen, die den Be-
trachter dazu hinführen, sie aus der Nähe anzusehen und zu
begreifen. Sie faßt das Erleben eines Bildes als Begegnung
auf, als ein Hinzutreten eines Ankommenden zu dem
genstandX-..)"29

Bewegung

Badts Herangehensweise widersprach der Taktik des ,Entweder-Oder', weil


sie die Instanz der Vermittlung betonte. Sie wollte die Fäden, die man gekürzt

:
'' Badt (1997), S.32 f. Ganz ähnlich argumentierte auch Norman Bryson (The Gaze in the Expanded
Field, in: Foster, Hai (Hrsg.): Vision and Visuality, Seattle 1988, S.87-108), doch sprach er der westli-
chen Malerei das Bewegungsmotiv grundsätzlich ab.
22 EINFÜHRUNG

hatte oder gar für zerrissen hielt, neu verweben. Ich gebe seine Reaktion dar-
auf wieder, Vermeers Malkunst mit Kategorien des Stillebens zu bemessen.
„Zwar läßt sich nicht leugnen," schrieb er, „daß es auch zwischen den Figuren
des Bildes stille zugeht; aber diese Stille hat nichts Stillebenhaftes, noch etwa
gar etwas von einer Kontemplation. Vielmehr sind die beiden in einer wohl-
bekannten Tätigkeit des Malerlebens begriffen, als Modell und Künstler. Es ist
die Stille, die zur konzentrierten Arbeit gehört, einer Arbeit, die der Tätigkeit
des Handwerkers verwandt ist."30 Offensichtlich behagte Badt die passive
Haltung nicht. Er setzte dem statischen Moment etwas Entscheidendes entge-
gen: die Tätigkeit des Produzenten während einer Bildherstellung sowie wie
die anschließende Tätigkeit des Betrachters. In Vermeers Rezeptionsgeschich-
te ist das bislang nicht allzu häufig geschehen. Lawrence Gowing
beispielsweise hatte in seiner einflußreichen Studie Vermeers Malstil „impres-
sionistisch" genannt und einen weiteren Grund aufgedeckt, warum sich seine
Gemälde seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich großer Be-
liebtheit erfreuten. „He was of a naivety beyond belief, all eye and nothing
eise, a deaf-mute painter perhaps, almost an idiot in the lack of any of the
mental furniture that normally clutters the passage between eye and hand, a
Walking retina drilled like a machine. Vermeer's representation is of the kind
which abhors preconception and design and relies entirely on the retina as its
guide, the kind which in contrast of conceptual representation we know as
impressionism."31
In diesen Worten klingt noch immer die alte Legende nach. Befassen wir
uns noch einmal mit Gowings Theorie. Ihr zufolge wäre der Weg zwischen
dem Auge des Malers und der Leinwand des Bildes normalerweise durch eine
Art „mental furniture" belegt. Der Maler würde den Vorrat möglicher Form-
und Farbzusammenhänge, mit denen er ein Stück Welt repräsentieren will,
wie eine Art Mobiliar solange verrücken und verschieben, bis ein sinnvolles
Ganzes - eine Syntax im bildlichen Sinne - daraus entsteht. Man kann sich
darunter sehr wohl die labyrinthischen Gänge eines Arbeitsprozesses vorstel-

'" Badt (1997, mit Auslassungen), S.l 14f


51
Gowing (1970, mit Auslassungen), S.19
,:
Vollkommen paradox mutet dabei der Wunsch an, die Autorenschaft des Meisters meisterhaft ver-
bergen zu können. Bilder sollten dem Betrachter so erscheinen, als würde vor der Leinwand ein
Vorhang weggezogen, der die Dinge dahinter versteckt gehalten hatte, und der Maler wäre lediglich
der Mann, der den Vorhang bedient. In diesem Sinne verstehen sich realistische Gemälde als Ganz-
heitsentwürfe, sie wollen in loto - auf einmal, augenblicklich - gesehen werden. Sie arbeiten daran,
ihre Herkunft zu verschleiern. Vermeers deskriptiver Stil aber ist keineswegs naiv, es wäre sogar
vollkommen mißverständlich, ihm eine Naivität zu unterstellen und davon auszugehen, wir hätten es
bei ihm mit Netzhautbildern zu tun, die vom Pinsel der Natur auf die Leinwand gemalt worden seien.
Die scheinbar schlichte Feststellung wird im Barock zwar geradezu inflationär vertreten. Und im
Impressionismus, wo der Pinsel des Malers als Verlängerung des Auges gilt, wird diese Legende
weiterhin erzählt.
VORHANG AUF 23

len, die für jede Darstellung neu durchlaufen werden müssen und grundsätz
lich bei jedem Künstler und in jedem Bild eine andere Struktur aufweisen. Im
Falle Vermeers dagegen hielt Gowing weiterhin an der Legende des Netz
hautbildes fest. Vermeer habe ohne Konzept gearbeitet. Es gäbe nahezu keine
Vorzeichnung unter den spiegelglatten Lasurschichten zitronengelber und
delfterblauer Farbe. Bei Vermeer versperre eben keine .mental fürniture' den
Verbindungsgang zwischen Auge und Leinwand, so daß das Gesehene ohne
Umweg und Verzögerung auf der Bildfläche - direkt, unmittelbar, wie von
selbst - erscheinen würde.
Künstlerische Repräsentation wäre nur dann gelungen, wenn sie möglichst
direkt vonstatten ginge. Jeder Umweg demontierte ja die Legende vom „ge
treulichen Auge und der ehrlichen Hand" 33 , an der die holländische Malerei
des 17. Jahrhunderts so eindringlich festhielt. Dennoch gilt auch hier wie für
jedes andere Kunstwerk die lakonische Relativierung Kurt Badts: „Kunstwerk
- das heißt gebaut." Vermeers Gemälde haben ihren Realismus nur über
hochgradig artifizielle Beziehungsgefüge erhalten. Wir betreten sie nicht voll
kommen unmittelbar nach dem Motto ,Vorhang auf, selbst wenn sie uns das
nahelegen möchten. Zum einen sind ihre Bildräume über lange Zeit gebaut
und eingerichtet worden. Zum anderen wird sie der Betrachter nicht einfach
kurz betreten. Er will sie durchwandern oder für längere Zeit bewohnen. Wenn
diese Interieurs den wohleingerichteten Kammern in Vermeers Haus am Oude
Langendijck täuschend ähnlich sind, dann nicht nur ihrem äußeren Anschein
nach, sondern auch darin, daß hier wie dort ein ,Mobiliar' zur Verfügung
stand und in bestimmte Relationsmuster gerückt wurde. Der Platzzuweisung
eines Gegenstands im wirklichen Raum folgt ein Farbklecks und ein Pinsel
strich auf der Bildoberfläche. Einem Pentimenti der Leinwand entspricht ein
verschobenes Möbel des Zimmers, ein leicht gehobener oder gesenkter Arm
des Modells, ein geänderter Faltenwurf, ein zur Seite gestellter Stuhl, die Ent
scheidung, einen Krug auf dem Tisch zu plazieren oder ihn doch besser zu
entfernen. Auf dem Bildfeld des Malers wie im Wohnraum seines Hauses
haben wir es tatsächlich gleichermaßen mit einer ständigen Neuformulierung
von Innenarchitektur zu tun.

Vermeers Interieurs sind das Ergebnis eines mühevollen Herstellungspro


zesses und nicht das eines einfachen Kopiervorgangs. Die Erkenntnis ist
natürlich nicht sonderlich neu, nur angesichts der hingezauberten Bilder ver
blaßt sie immer wieder aufs Neue. Die Idee, von einer Kopie oder einem
Netzhautbild zu sprechen, ist zum einen sicherlich auf die Kraft des Malers

13
Siehe das wichtige Kapitel .Mit getreulicher Hand und ehrlichem Auge' in: Alpers, Svetlana: Kunst
als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985 (Chicago 1983), S.147f. Das
Motto selbst stammt aus Robert Hookes ,Micrographia', London 1665
24 EINFÜHRUNG

zurückzufuhren, alle Elemente seines Bildes zu einer überzeugenden Syntax


zu verbinden. Sie läßt die handwerkliche Tätigkeit vergessen, die solch über-
zeugende Äußerungen erst einmal auf die Leinwandfläche beförderte. Würden
wir sie bis zuletzt übersehen, dann hätten wir das Bild an jeder Stelle passiv
werden lassen, so als wäre es nichts weiter als ein Spiegelbild, unter dessen
glatter und harter Oberfläche sich die gegenständliche Welt zusam-
mengezogen und ein eigenes Reich gebildet hat. Das Bildfeld wäre dann nur
eine Illusion mit der Wirklichkeit im Rücken.
Der Vorgang der Trennung oder Teilung in zwei konkurrierende Hälften
gehörte zum Standardprogramm des neuzeitlichen Repräsentationsgedankens.
Sehen wir uns die Teilungen etwas genauer an:

Modell Maler
Bildraum Betrachterraum
Bild Begriff, Wort
Körper Geist
Passivität Aktivität
Oberfläche Tiefe
Wiedergabe Herstellung
Stille, Dauer Bewegung, Zeit

In jedes dieser Paare ist eine Scheidewand eingezogen worden. Demnach wird
es in dieser Studie viel um Trennungen, Absonderungen und Gegenüberstel-
lungen gehen. Aber auch um die Möglichkeiten wechselseitiger
Rückversicherungen, um Fusionen und Verschmelzungstechniken, mit denen
die neuzeitliche Kunst und mit denen Vermeer zu Synthesen gelangen wollte.
Das Genre der Interieurmalerei wird sich als dafür gemacht erweisen. Nir-
gends sonst kann man besser über individuelle Absonderungstendenzen - über
Privationen - nachdenken und ihnen gleichzeitig zwischenmenschliche Intimi-
täten entgegensetzen, wie dort. Das Gegenüber wird ja bewußt zum ,Intimus',
zum engen Vertrauten ernannt, in manchen Fällen vielleicht sogar zwangsver-
traut gemacht. Immer geht es darum, Fremdes in Bekanntes und Fernes in
Nahes zu verwandeln.
Zwei grundsätzlich konträre Herangehensweisen sollten dazu dienen, die-
sem Dilemma entgegenzuarbeiten. Der erste Weg war gewesen, mittels
vollkommener Spiegelung ineinanderzufallen, und das unbedingt und rück-
haltlos. Der zweite Weg anerkennt die Zweiteilung ebenso; man kann da nicht
mehr umhin. Aber man versucht, die Uneinigkeit der Pole energetisch zu nut-
zen. Das bedeutet, sie als Chance zu einer Begegnung zu verstehen, die Kräfte
mobilisieren kann, Bilderzählungen freisetzt, Atmosphären schafft. Das Bild-
feld als Begegnungsstätte - damit hat eine qualitative Neubewertung des
neuzeitlichen Dualraums stattgefunden. Der Künstler ebenso wie der Bildbe-
VORHANG AUF 25

trachter befände sich dann „an der Grenze zu einem Nachbarn, der anders
ist."344 Und die Andersartigkeit
Andersartigl setzt einen produktiven Prozeß in Gang, wie er
nur zwischen getrennten IEinheiten erfolgen kann, die Mittelbarkeit35 beto-
nend, nicht die Alternative.

Siehe Einleitungszitat, Muschg (1984), S.456


Siehe Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, S.16:
„Produktive Beziehungen lassen sich nur zwischen distinkten Einheiten herstellen; so verwundert es
nicht, wenn die Erzählräume der nachmittelalterlichen Zeit die Grundunterscheidung von Innen und
Außen aufbauen und ihre Überwindung zum Gegenstand der Erzählung machen."
26 EINFÜHRUNG

Abb.2: Jan Vermeer. Soldat und lachendes Mädchen, um 1658. New York. The Frick Collection
Korridore, Wärmefelder
Vom Zuführen der Räume
„Es strömte ihm nicht. Er hatte Mühe mit der Or-
ganisation seines Bildraums."

(Adolf Muschg, Dreizehn Briefe Mijnheers)

Theophile Thore, bekanntermaßen ein großer Bewunderer der Kunst Ver-


meers, überlieferte eine Anekdote, in der über den Vorgang einer
Bildbetrachtung berichtet wird. Thore beschreibt zuerst die „wunderbarste
Eigenschaft" des Künstlers, „seine Lichtbehandlung"36, und schließt eine kur-
ze Erzählung daran an: „Bei Vermeer ist das Licht keineswegs künstlich: es ist
genau und normal wie in der Natur, so wie es ein gewissenhafter Physiker sich
nicht besser wünschen könnte. Der an einem Rande des Rahmens eintretende
Strahl durchmißt den Raum bis zum anderen. Das Licht scheint aus der Male-
rei selbst zu kommen, und naive Beschauer könnten sich leicht einbilden, dass
das Tageslicht zwischen Leinwand und Rahmen herausschlüpft. Ja, es hat
sogar jemand, der zu Herrn Double kam, bei dem der Soldat und das lachende
Mädchen auf einer Staffelei ausgestellt war, hinter das Bild geschaut, um
nachzusehen, woher das wunderbare Licht zum offenen Fenster hereinkä-
«37
me.
Ein Betrachter ist von Vermeers Licht, das durch ein leicht geöffnetes Fen-
ster tritt, solchermaßen geblendet, daß er nach der Quelle sucht und hinter das
Bild blickt. Thore korrigiert dieses Rezeptionsverhalten natürlich sofort, aber
nur, indem er die Quelle der Leuchtkraft nicht hinter dem Gemälde, sondern
vorne auf der Leinwandfläche ansiedelt. Sie scheint „aus der Malerei selbst zu
kommen" und „zwischen Leinwand und Rahmen" herauszuschlüpfen. Ich
deute diese Bemerkung weiter und behaupte, daß Thore das Bildfeld selbst zu
einer Quelle erklärte, und noch etwas mehr: daß sich von ihm eine Kraft auf
uns zubewegt, die auf einen starken Absender schließen läßt. Das ist eine
grundlegende Feststellung. Ein Interieurbild stellt demnach nicht nur einen
geöffneten Innenraum dar, der zum Betreten und Hineingehen einlädt. Viel-
mehr können wir die Öffnung auch in die andere Richtung lesen - als
Bewegung auf den Betrachterraum, und damit als Näheaktion von Seiten des
Bildes aus. Kunst handelt nicht allein vom Eintritt in einen Fremdraum, sonst
wäre sie etwas, das in erster Linie benutzt und beherrscht wird, und nicht et-
was, was uns grundsätzlich und nachhaltig berührt. Zwischen altem Bilderkult
und wissenschaftlicher Neuorientierung galt für das 17. Jahrhundert das eine
wie das andere: Die Sendekraft der Bilder wurde damals wesentlich unmittel-
barer wahrgenommen. Gleichzeitig begann man, den menschlichen Blick zu
56
Thore, Theophile (1906), S.58
57
Ebd., S.59
28 EINFÜHRUNG

rationalisieren, ebenso, wie man sich dem magischen Aberglauben annahm


und ihn schrittweise entkräftete. Noch im Barock war es selbstverständlich,
durch Bilder affiziert, ja sogar körperlich infiziert werden zu können. Aber
diese visuelle Faszinationsgeschichte neigte sich ihrem Ende entgegen, oder
besser: Weil sie der neuen Wissenschaftlichkeit nicht mehr Stand halten konn-
te, entging sie ihrem offiziellen Ausklang nur, indem sie sich in die tieferen
Regionen des kollektiven Bewußtseins zurückzog. Beide Wahrnehmungsmo-
delle werden uns über die nächsten Seiten beschäftigen.
Kehren wir zu Vermeers Soldat und lachendem Mädchen und zu Thores
Anekdote zurück. Für Hegel wäre Thores Bildbetrachter allenfalls als naiver
Sensualist durchgegangen, der die illusionistische Wirkung eines Kunstwerks
nicht durchschaute. Er mußte sich um das Bild bewegen, es von allen Seiten
angehen. Doch die Heftigkeit seiner Reaktion ist grundsätzlich zweitrangig
angesichts der Tatsache, daß sich beim Sehen des Bildes eine Dynamik ent-
wickelte, die ganz deutlich von der Faszinationskraft des Kunstwerks und von
der aktiven Teilhabe des Betrachters zeugte. Kein Stilleben, keine nature mor-
te, kein fixiertes Gegenüber, weder hier noch dort! Vielmehr können wir mit
Merleau-Ponty behaupten: „Ich sehe eher dem Bilde gemäß oder mit ihm, als
daß ich es sehe." Das kleine, kursiv gestellte Wörtchen ,mit' ist deshalb so
entscheidend für die Aussage des Satzes, weil es die gängige Zweiteilung des
abendländischen Bildraums anzweifelt: „Es würde mir wahrlich Mühe ma-
chen, zu sagen, wo sich das Bild befindet, das ich betrachte. Denn ich
betrachte es nicht, wie man ein Ding betrachtet, ich fixiere es nicht an seinem
Ort, mein Blick ergeht sich in ihm..."38 Wo denn befindet sich der Betrachter
im Moment seiner Bilderschau, wenn nicht an zwei Orten gleichzeitig? Zur
Folge hätte das noch ein weiteres: Der stillste Betrachter bliebe vor einem Bild
nicht unbewegt. Auch Kurt Badt hatte festgestellt, daß Bewegungslosigkeit
nicht gleichzusetzen ist mit wirklicher Unbewegtheit. Er „steht still, ist es aber
in irgend einem tieferen Sinn nicht. Wer weiß, wohin seine Gedanken gerade
schweifen?" In jedem dieser Fälle ist die Arbeit des Sehens in Gang geraten.
In jedem der Fälle lassen sich die Pole von Bild und Betrachter nicht mehr
voneinander trennen. Die Suche nach dem vermittelnden Zwischenstück hat
begonnen.

Merleau-Ponty, Maurice: Auge und Geist, Hamburg 1984 (Paris 1964), S.18. Zum Motiv des ,Vom-
Bild-Angeblickt-Werdens' vgl. auch die bekannten Passagen bei Sartre (Das Sein und das Nichts.
Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 2000 (Paris 1943)) und Lacan (z.B. das
Sardinenbüchsen-Gleichnis in: The Four Fundamental Concepts of Psycho-analysis, ed. Jacques-Alain
Miller, trans. Alan Sheridan, New York, London 1978, S.95), in neuerer Zeit: Elkins, James: The
Object Stares back. On the Nature of Seeing, New York 1996; Didi-Huberman, Georges: Was ich sehe
blickt mich an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999. Eine zusammenfassende Darstellung
außerdem bei Bryson, Norman (1988), S.87-108, und bei Jay, Martin (Downcast Eyes. The Denigra-
tion of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley, Los Angeles, London 1993)
" Badt (1997), S.114
KORRIDORE, WÄRMEFELDER 29

Es gehört zur Gattungstypik des Interieurbilds, daß es die Berührung von Bild-
und Betrachterraum mit allen Mitteln vertiefen will. Einerseits besitzt es eine
starke Sogkraft, andererseits ist es überströmend und strahlend. Beides be-
wirkt, daß wir, wenn schon nicht wie Thores Protagonist wirklich bewegt, so
doch wenigstens fasziniert davon sind, darauf antworten möchten und dies, je
intensiver wir ein Bild betrachten, dann auch tun. Interieurräume bieten uns
Räume des gegenseitigen Austauschs an. Tausch aber bedeutet, das eine für
das andere zu setzen, ohne sich gleich vollkommen entsprechen und ineinan-
derfallen zu müssen.
Sehen wir uns dazu Vermeers Gemälde Soldat und lachendes Mädchen
noch einmal an. Als Thema möchte ich vorschlagen, von der Hingezogenheit
zweier Anschauenden - zweier, auf Holländisch: beschouwers - zu sprechen.
Aber wir können auch den unschöneren Fachterminus des interfazialen Feldes
zu Hilfe nehmen, um jenes Feld zu benennen, das entsteht, sobald sich eine
Ansicht und eine Gegensicht verschränken. Vermeers Bild zeigt es genau. Ein
Zwischenfeld entwickelt sich heran, wenn sich eine Sicht und eine Gegensicht
berühren und an einer ungenauen Stelle durchmischen. Vermeer setzt hier
übrigens nicht zum letzten Mal ein leeres Stück Wandfläche, wo der Blickaus-
tausch stattfindet und sich zwischen Sender und Empfänger eine deutliche
Nähe aufzubauen beginnt. Dabei sollten wir von einer langsamen Akklimati-
sierung sprechen, das Procedere betonen, die Zuführung der Räume mit einer
zunehmenden Wärmeentwicklung in Verbindung bringen. Denn es geht dar-
um, räumlich voneinander geschiedene Zonen produktiv werden zu lassen,
was das Interieurbild als Gattung ausmacht.
Der letzte Satz läßt sich noch weiterdenken. Zum einen können wir besser
verstehen, warum in Vermeers Oeuvre einige Porträtbilder auftauchen, und
der Gattungswechsel gar nicht einmal besonders auffällt. Vermeers Modelle
haben etwas gemeinsam mit seinen Innenräumen: In jedem dieser Bilder
blickt die Porträtierte den Maler direkt an. Nehmen wir nur das zu Recht so
berühmt gewordene Mädchen mit Perle - welche andere Haltung nehmen wir
ihr gegenüber ein als jene, die innerhalb des Bildes vom Soldat und lachenden
Mädchen die beiden Protagonisten zueinander eingenommen haben? Ver-
meers Porträtierte wenden sich dem Betrachter zu und schaffen jenes
interfaziale Feld, von dem gerade die Rede war als ein ebenso produktives wie
kommunikatives Zwischenfeld räumlich geschiedener, sich wechselseitig
öffnender Einheiten.
In welcher Beziehung steht das Gesagte zum Interieurbild? Mit ihm haben
wir eine deutlich ambivalente Bildstruktur vor uns, die sich das Mischverhält-
nis von Bild und Betrachter zum Thema gemacht hat. Und das Interieurbild als
Gattung wiederum ist ein Paradebeispiel für das Verständnis neuzeitlicher
Bildräume, die zweierlei wollen, und das zur gleichen Zeit: trennen und ver-
einigen.
30 EINFÜHRUNG

Das Aufeinander-Zuführen getrennter Einheiten geschieht alleine durch die


Organisation des Bildraums. Vermeer verwendete hierauf große Mühen. „Es
strömte ihm nicht" - ? Ich bin mir dessen nicht so sicher. Vielmehr wandte er
gegen die Kühle des Schnitts Akklimatisierungstechniken an, entwickelte Ver-
bindungskorridore, startete Näheaktionen - über die Grenzen hinweg. Die
Gattungstypik des Interieurbildes half ihm, die Widersprüche zu koordinieren.
Es waren wiegesagt Widersprüche, die den abendländischen Repräsentations-
gedanken in seiner Gesamtheit betrafen. Die Gattung der Interieurmalerei und
Vermeer selbst formten ihre Bilder genau um diesen Punkt herum aus. Ähn-
lich dem Stilleben sind sie hochgradig selbstreflexiv; eine Kunst, die über
Kunst nachdenkt. Aber schließt sich deswegen der Zirkel? Kreisen diese Bil-
der wirklich nur in sich selbst? Die Selbstversunkenheit seiner Bilder wird
bewundert und beargwöhnt. Sie täuscht uns jedoch darüber hinweg, daß wir
uns weiterhin in einem zweigepolten Feld bewegen. Im Falle der Interieurma-
lerei konkretisiert sich dieses Feld sogar anschaulich zu einem langgestreckten
Korridor, in dem von zwei Seiten ein- und ausgetreten wird, in dem zwei Sei-
ten sich begegnen und austauschen.
In der kurzen Anekdote ist bereits dargestellt worden, daß wir immer von
beiden Seiten ausgehen müssen, wenn wir von einer Bildbetrachtung spre-
chen. Wir arbeiten mit einem polaren Schema, aber, und das ist das Lehrreiche
an Thores Erzählung, die Pole verharren keineswegs an Ort und Stelle - etwa
in dem Sinne, wie man es nach dem Muster der idealistischen Reflexion-
sästhetik glauben möchte.4 Entwickelt sich nicht gerade zwischen dem Soldat
und lachendem Mädchen eine Beziehung heran - welcher Art auch immer? Im
Bildvordergrund, verschattet vom Gegenlicht, hat der Soldat seinen Platz auf
einem Stuhl eingenommen. Sein Mantel und breitkrempiger Hut weisen dar-
auf hin, daß er als Besucher das Haus vor nicht langer Zeit betreten haben

40
Allerdings würden wir vorschnell urteilen, wenn wir sie als eine Ästhetik ganz ohne Bewegung und
Durchmischungszonen verstehen würden - wenngleich diese Komponente von Hegels Dialektik in
seiner Nachfolge lange Zeit nicht wirklich beachtet wurde. Das haben vor allem Wolfgang Kemp zur
Rezeptionsästhetik des 19. Jahrhunderts und Christiane Hertel zur besonderen Rezeptionsgeschichte
Vermeers herausgearbeitet und mit Zitaten belegt. Denn auch Hegel will sich der .Farbenmagie' der
Bilder nicht entziehen, die ihn berührt, bestrickt, involviert. Und so ist das Kunstwerk während seiner
Betrachtung im Werden begriffen, und die Kontrolle der Bildorganisation aufgehoben zugunsten eines
freieren Beziehungsspiels zwischen den Seiten und zugunsten einer persönlichen Entfaltung, einer
beständigen Inspiration. Etwa in Hegels Worten: Eine Bildbetrachtung erfolgt im Modus eines durch-
gängig gehaltenen Zwiegesprächs. Womit sich der Philosoph sehr darum bemüht, seine
Autonomiegedanken in Sachen Kunst und bürgerlicher Individualität in ein dynamisches Verhältnis zu
bringen und Nähebeziehungen ausdrücklich zuzulassen. Wenn von ihm zuvor noch die „absolute
Selbständigkeit" auf allen Seiten betont wurde, dann erfolgt jetzt, im dritten Abschnitt seiner Ästhetik,
der versöhnliche Gestus, auf das notwendige „Aufgeben eines selbständigen Bewußtseins und seines
vereinzelten Fürsichseins" hinzuweisen. Dieses Kapitel ist überschrieben mit: ,Die Liebe', was uns in
unserem Fall weiterhilft, einen Bogen zu Vermeers Liebesbeziehungen zu schlagen, die wir in seinen
Bildern so häufig vorfinden.
KORRIDORE, WÄRMEFELDER 31

muß. Vermeer hat uns dann auch ohne große Umschweife den Grund seines
Besuchs genannt. Indem er ihm in der Figur des lachenden Mädchens einen
vollkommenen Gegenpart geschaffen hat, lichtbeschienen, deutlich dem Haus
zugehörig, leicht ihm zugeneigt, hat er eine magnetische Anziehungskraft
aufgebaut, der sich beide, Soldat wie Mädchen, für diesen Augenblick nicht
entziehen können.
Edward Snows Hinweis beispielsweise, im Blickwechsel der beiden Bild-
figuren ein Diagonalfeld aufzudecken, das all diejenigen Pole zu Paaren zu
verbindet, die einige Seiten zuvor als getrennte Einheiten aufgelistet waren,
erweist sich für eine Annäherung an Vermeer als äußerst wertvoll. Das eine
und das andere; Subjekt/Objekt; männlich/weiblich werden jetzt allenfalls in
die Waagschale gelegt, um einen Balanceakt, ein schwebendes und schwan-
kendes, selten sich stabilisierendes Zwischenfeld aufzubauen und sich beim
Maßnehmen ihrer Kräfte zu erwärmen. Keinesfalls kann die Rede davon sein,
daß sich die Kräfte aufheben würden, wenn sie sich, gleichgültig, wie Fried-
länder sagte, gegenüberständen. Und die Folgerung, Vermeers Kunst sei eine
objektive Kunst, die einmal aus den Autonomiebestrebungen der neuzeitlichen
bürgerlichen Ästhetik erwachsen ist, muß abgeändert werden zugunsten der
Feststellung, daß alles, was wir in Vermeers Bildern sehen und ebenso die Art
und Weise, mit der wir sie sehen, allein mit dem Wortschatz zwischen-
menschlicher Erfahrungen beschrieben werden kann. Für diesen Wortschatz,
den wir für Vermeer erst zurückgewinnen müssen, stellt der Lichtfluß die
bildliche Anschauung dar. Immer schon sind Licht und Luft mediale, grenz-
überschreitende Größen gewesen - für Vermeer können wir das nur einmal
mehr feststellen. Licht und Farbe öffnen den Bildraum, und er wird nur der
Form halber geschlossen werden.

41
Vgl. z.B. Snow, Edward (1994), S.86: „An irreversible diagonal of seif and other, male and female,
subject and object, is opened (as if the light that comes through the window at an apex) to reveal an
exchange ofaspects. This process, and the way it alters our apprehension of the scene, is beautifully
described by Berger: ,We read this intentions in terms of her visible response - the receptive smile and
half-open hand, gestures instinctively subdued yet warming to an attentiveness, sympathy, or delight,
which is more personal than physical. So mirrored, the officer's motives are, at least for the suspended
moment of the painting, purified of their concentional associations.'" (Berger, Harry: Conspicuous
Exclusion in Vermeer: An Essay in Renaissance Pastoral, Yale French Studies, 47 (1972), S.260)
32 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

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ICOTOSTXVS ~%g

Abb.3. Otto v. Guericke, Magdeburger Kugelexperiment. Ferdinand III vorgeführt, Kupferstich 1654
2 | ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Begeben wir uns in das 17. Jahrhundert. Sehen wir uns zwei Raummodelle an,
die miteinander konkurrierten.

a | Leere Räume

1654 hatte Otto von Guericke das berühmte Magdeburger Kugelexperiment


ausgeführt. Zwei hohle Halbkugeln aus Metall wurden an ihren Schnittflächen
angelegt und die eingeschlossene Luft mit einer Pumpe abgezogen - die He-
misphären konnten erst wieder getrennt werden, nachdem Luft in den
Hohlraum gewichen war. Ein solches Verhalten will ich mit der Sogwirkung
eines Interieurbildes Vermeers vergleichen, denn es zeigt die starke Anzie-
hungskraft, die sich zwischen angeschnittenen Raumbehältern aufbaut, wenn
man sie aufeinander zuführt. Auf den ersten Blick scheint der Vergleich nicht
ganz zutreffend, weil Guericke von leergeräumten Kapselhälften ausging, die
aufgrund des Vakuums nicht getrennt werden konnten. Ich aber spreche, was
Vermeer und die Kunst der Interieurmalerei angeht, ganz sicher von erfüllten
Räumen. Die Attraktivität des Interieurbildes, die es auf uns ausübt, kann
nicht durch ein Vakuum-Gesetz erklärt werden - oder doch? Das Kapitel soll
zeigen, daß Guerickes Versuchsanordnung in gewisser Weise der stückweisen
Annäherung eines Betrachters an ein Innenraumbild gleicht.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, über die Gattung des Interieurbil-


des zu sprechen. Man kann einen Innenraum einmal von seiner
architektonischen Raumhülle her aufschlüsseln, die ihn äußerlich definiert,
oder ihn als eingerichteten und angefüllten Raum verstehen, der sich selbst
definiert und uns durch seine atmosphärische Inhaltsdichte besticht. Das neu-
zeitliche und barocke Interieurbild besteht aus beiden Raumsprachen, aus der
fixierten wie der dynamisierten, und es wird sich zeigen, daß sich bis zum
Ende des 17. Jahrhunderts auch noch in der Physik keine eindeutige Begriffs-
bestimmung herauskristallisiert hatte, was die Erklärung des Raumphänomens
betraf.
Dem ersten Modell nach müssen wir den Inhalt abstreifen und uns nach
dem architektonischen Rahmen der Interieurbilder - ihrer Hülle - erkundigen,
während wir im zweiten Fall umgekehrt der Inneneinrichtung eines Hauses
oder Zimmers den Vorrang einräumen. Als platzmachende Maßnahme und
grundsätzlicher Bündnisvorschlag an den Betrachter geht die Phase der per-
spektivischen Raumerrichtung derjenigen der eigentlichen Raumeinrichtung
voraus, weil zuerst eine Grenzziehung vorgenommen werden muß, damit die
Inneneinrichtung eingeleitet werden kann. Zumindest entspricht diese Reihen-
34 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

folge der Logik des Interieurbildes: Erst muß Platz geschaffen werden, bevor
die Handlung ihren Lauf nimmt. Die Örtlichkeiten werden entworfen und
perspektivisch ausgedehnt, während das Bildpersonal verspätet Einzug in das
Bild hält. Im Malprozeß eines Interieurs scheinen die zwei Phasen sowohl
chrono- wie topologisch aufeinanderzufolgen. Bühne vor Handlung, Architek-
tur vor Innenarchitektur ist das Stichwort. Die Reihenfolge ist mit der eines
Hausbaus vergleichbar und erscheint uns nicht zuletzt aus diesem Grund äu-
ßerst plausibel.
Und doch unterliegen wir mit dieser Meinung einem Irrtum: Von der Warte
der Naturwissenschaften aus gesehen haben wir es mit zwei vollkommen ver-
schiedenen Standpunkten zu tun, die Natur des Raumes in ein Schema zu
fassen. Der Gedanke einer begrenzenden Raumhülle entspricht dort nämlich
einem geometrischen, der Gedanke von der Raumerfüllung dagegen einem
kinematischen Modell, oder in anderen Worten: Einmal haben wir es mit ei-
nem Raum der Fixpunkte, das andere Mal mit einem Raum der
Wechselwirkungen zu tun, und diese beiden Arten können im Grunde nicht
miteinander verrechnet werden. Sie stellen uns vielmehr zwei vollkommen
verschiedene Grundlagen zur Definition dessen in Aussicht, was Räume sein
oder wie wir eine räumliche Erscheinung fassen können. Wissenschaftsge-
schichtlich waren im 17. Jahrhundert noch beide Möglichkeiten
gleichermaßen vorhanden, man hatte sich bislang für keine der Varianten
entscheiden können. Sollte eine räumliche Einheit wie ein statischer Raum-
block oder wie ein dynamisches Bezugssystem behandelt werden? Gegen
Ende des Jahrhunderts hatten sich aus solchen Fragen die gegensätzlichen
Modelle eines Container-Raums und eines Lage-Raums herausentwickelt, wie
sie uns vor allem aus dem Schriftverkehr zwischen Newton und Leibniz be-
kannt sind. Doch bereits das gesamte Zeitalter seit Descartes hatte sich in
zahlreichen Debatten und Schriften um eine Klärung bemüht und eine exakte
Raumdefinition gefordert. Tatsächlich können wir sagen, daß das 17. Jahrhun-
dert ein Jahrhundert der Raumgleichnisse gewesen ist. Die Diskussionen
erhitzten sich zunehmend, seit man erkannt hatte, daß die angestrebte Objekti-
vierung in der Raumfrage alle Systeme der Physik und der Philosophie mit
einem neuen Grundbegriff ausstatten und damit wirklich revolutionieren wür-
de. Fallen die beiden naturphilosophischen Kategorien von Ausdehnung und
Materie, wie Descartes noch gemeint hatte, tatsächlich in eins oder wäre nicht
genausogut ein leerer Raum denkbar? Albert Einstein beschrieb die Al-
ternativen im Rückblick folgendermaßen:
„Man kann diese beiden begrifflichen Raum-Auffassungen einander gegen-
überstellen als
a) Raum als „Container" (Behälter) aller körperlichen Objekte
b) Lagerungs-Qualität der Körperwelt."
LEERE RÄUME 35

Im Falle a) erscheint der Raum „als eine gewissermaßen der Körperwelt über-
geordnete Realität", im Falle b) „ist der Raum ohne körperliche Objekte
undenkbar."

Seit etwa Mitte des Jahrhunderts hatte Otto von Guerickes Vakuum-Experi-
ment den Vertretern der ersten These die überzeugenderen Argumente in die
Hand gegeben. Seitdem beschäftigte die Möglichkeit eines entleerten Raumes
das 17. Jahrhundert unablässig, während Descartes sie wenige Jahre zuvor
noch als vollkommen unwahrscheinlich abgetan hatte. Ihm zufolge war eine
räumliche Erstreckung ganz einfach eine res extensa gewesen - ein in Höhe,
Breite und Tiefe ausgedehnter, an jeder Stelle materieller Körper. Allerdings
hatte er den Beweis eines Vakuums nicht mehr miterlebt, so daß sein Autori-
tätsanspruch in diesem Punkt selbst von seiner direktesten Nachfolge in Frage
gestellt werden konnte. Dem gelehrten Publikum war inzwischen ein Leer-
raum vorgestellt worden. Die Konsequenz mußte sein, auch in der Theorie
Leerstellen im Raumgefüge zuzulassen oder sogar noch weiterzugehen und
eine der beiden cartesischen Prämissen ganz zu streichen. Dann reduziert sich
eine räumliche Erstreckung auf die drei Dimensionen von Höhe, Breite und
Tiefe, ohne materielle Eigenschaften aufzuweisen. Man berief sich auf antike
Quellen oder auf die zeitlich näherstehenden Lehren der italienischen Natur-
philosophen des 16. Jahrhunderts, die schon deutlich zum Konzept eines
absoluten Raumes tendierten. Grundsätzlich war es der Versuch, sich endgül-
tig vom aristotelischen Raumbegriff und der gesamten mittelalterlichen
Gedankenwelt loszusagen, einen neuen, sachlich geprägten Horizont in Aus-
sicht zu stellen und gleichzeitig doch auch wieder metaphysisch abzusichern.
Die Bemühungen gipfelten schließlich in Newtons Theorie des Container-
raums, der nichts mehr mit der sinnlichen Welt gemein hatte außer der
Tatsache, daß er ihr die Orientierung verlieh. Der Raum wurde als receptacu-
lum bezeichnet, das heißt als eine Art Aufenthalt aller physikalischen Körper,
ohne selbst noch irgendeine körperliche Eigenschaft aufzuweisen. Im Grunde
stellte man sich vor, daß er sich wie eine große Schale über unsere Lebenswelt
stülpen und sie sich metrisch unterordnen würde. Gott hätte den Menschen,
seinen Körper und seine Handlungen in ihn hineingestellt wie Gegenstände in
ein Zimmer, eine Truhe oder ein Kästchen. Und da man ihn sich unbeweglich
dachte - zudem homogen, ohne qualitative Unterschiede, eine einzige Emp-
fangshalle riesigen Ausmaßes -, bot er die Sicherheit, daß man ihn wieder und
wieder unterteilen konnte und er das Leben trotzdem an jeder Stelle unter
seine Fittiche nahm. Für Newton, seine Zeitgenossen und für viele Generatio-

' Vorwort von Albert Einstein, in: Jammer. Max: Das Problem des Raumes, Darmstadt 1980 (Cam-
bridge 1954), S.XV
- Descartes, Rene: Principia philosophiae, Amsterdam 1644
36 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

nen danach war vielleicht das mittelalterliche Himmelsgewölbe abgebaut


worden. Das Leben auf der Weltkugel blieb jedoch weiterhin ein Innenleben,
ein Interieur.
Newtons Folgerungen schienen überzeugend zu sein, aber bei einer Frak-
tion der Gelehrtenwelt stießen sie auf berechtigten Widerstand. Wurde die
physikalische Disziplin nicht von Anbeginn an unterlaufen, wenn man ihrer
Lehre von der Körperwelt ein Stück spekulativer Metaphysik beimischte? In
diesem Zusammenhang wurde vor allem die öffentliche Kontroverse berühmt,
die sich zur Jahrhundertwende zwischen Leibniz und Newtons Sekretär Sa-
muel Clarke entspann und die beiden oben genannten Alternativangebote in
Gebrauch nahm. Newton verteidigte die Absolutsetzung des Raumbegriffs
hauptsächlich, weil er sie brauchte, um seinem revolutionären Inertialsystem
einen Fixpunkt zu geben, an dem es überhaupt bemessen werden konnte. Ich
fasse die genauere Begriffsbestimmung kurz zusammen, die 1686 gleich zu
Anfang seiner Philosophiae naturalis principia mathematica erschien. Darin
entwarf Newton ein sogenanntes wissenschaftliches Abkehrprogramm vom
Diesseits, dessen Erscheinungen von Zeit, Raum, Ort und Bewegung nur rela-
tive Aussagekraft besitzen würden und für naturwissenschaftliche Zwecke von
Grund auf objektiviert werden müßten. Im weiteren unterschied er grundsätz-
lich zwischen „absoluten und relativen, wahren und scheinbaren,
mathematischen und gewöhnlichen" Raum- und Zeitvorstellungen, von denen
wir inzwischen wissen, daß sie den Alternativen von Container- und Lage-
raum entsprachen, die Einstein vorhin beschrieben hatte. Für Newton aller-
dings stellten sie nicht wirklich Alternativen dar, sondern waren einander
über- bzw. untergeordnet: die eine sichtbar und voller Bewegung, die andere
unsichtbar, statisch und ihr von Anfang an überlegen. Im weiteren nahm New-
tons Begriffsbestimmung eine für unsere Definierungsbelange wichtige
Ausdifferenzierung vor, nämlich im Zuge der begrifflichen Trennung von
absolutem und relativem Raum etwas zu unterscheiden, was ich eine Art Be-
zugsaufnahme oder ein unterschiedlich gefordertes Teilnehmerverhalten
gegenüber der Umwelt nennen möchte. Das Alternativprogramm benannte die
beiden raumphysikalischen Ordnungsprinzipien, die im 17. Jahrhundert denk-
bar waren, um sie sofort in die besagte Reihenfolge zu bringen: „Der absolute
Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren
Gegenstand stets gleich und unbeweglich"; während „der relative Raum (...)
ein Maß oder ein bewegliches Teil des ersten <ist>, welcher von unseren Sin-
nen durch seine Lage gegen andere Körper bezeichnet ist und gewöhnlich für
den unbeweglichen Raum genommen wird."

3
Newton, Isaac: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, in: Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Heino
Borzeszkowski und Renate Wahsner, Berlin 1980, S.94
4
Ebenda
LEERE RÄUME 37

Die beiden Ordnungsprinzipien, die Newton zu Anfang seiner Naturlehre


deutlich auseinanderhielt, lassen sich dann auch ohne große Umschweife auf
die Bildräume neuzeitlicher Malerei übertragen:
Absoluter Raum (Container-Raum)
Jede räumliche Position oder raumgreifende Aktion legt sich fest als der
Bezug eines Körpers zu den Daten eines fixierten Systems. Er positioniert
oder bewegt sich innerhalb einer vorgegebenen Raumlogik. Demnach
wirkt der ,absolute Raum' zwar auf alle körperlichen Objekte ein, die
sich in ihm aufhalten, ohne daß diese jedoch auf ihn eine Rückwirkung
ausüben. Sein Verhaltensmuster zielt auf keine Selbstergänzung; es ge-
biert sich intransitiv, das heißt, es läßt keine persönliche Passivbildung
zu. Deswegen ist ein leerer Raum durchaus denkbar.
Relativer Raum (Lage- oder Ordnungsraum)
Die Lage, Ordnung und vor allem Retroaktivität der Körper untereinander
schafft die Raumlogik samt ihrer Anschaulichkeit. Dieses Modell läßt
sich nur als Bezugssytem mehrerer Körper zueinander verstehen (seine
Formvielfalt ergibt sich aus den verschiedenen Möglichkeiten des
sammenseins dieser Körper). Der ,relative Raum' ist ein System, das
immer neu hergestellt wird; die Körper bewegen sich nicht im Raum,
sondern schaffen und bewegen den Raum. Weil er als autonome Form so
nicht existiert, nennt Leibniz ihn eine ,chose ideale': Hier schwingt dann
mit, daß sich die räumlichen Dimensionen nur subjektbezogen entfalten
und ausrichten - sie verändern sich mit jedem Wechsel des Standorts oder
der Bezugspunkte. Der ,relative Raum' ist ein dynamisch-kontextueller
und auch: ein psychologisch eingefärbter Raum. Nach dieser Theorie
kann es keinen leeren Raum geben.

Damit sind einige Merkmale gesammelt, die für den Anfang genügen, um die
große Raumantithese zu erkennen. Newtons Vorstellung eines absoluten, sich
über jede Erscheinung legenden räumlichen Kontinuums wird im Kampf um
wissenschaftliche Anerkennung den Sieg davontragen und bis zu Ende des 19.
Jahrhunderts die Physik bestimmen. Aber sie rief unter einigen Zeitgenossen
Zweifel hervor - vor allem sein Rivale Leibniz und der holländische Wissen-
schaftler Christiaan Huygens haben die Absolutsetzung des Raumbegriffs
physikalisch als vollkommen unnötig angesehen. Für sie galt: Was sich in
Tiefe, Höhe oder Breite unendlich auszudehnen scheint und uns das Gefühl
vermittelt, sich inmitten einer homogenen Raumsphäre aufzuhalten, entpuppt
sich in der Analyse als ein variables System von Subjektrelationen. Nur die
Beziehungen, die von uns zu einzelnen Körpern aufgenommen werden, lösen
in uns die Vorstellung aus, räumlich eingebettet zu sein.
38 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Containerraum (absoluter Raum)


Lageraum (relativer Raum)
LEERE RÄUME 39

Interessant in dieser Unterscheidung ist das tiefersitzende Problem, dem sich


neben Newton, Leibniz und Christiaan Huygens im Grunde die ganze nach-
cartesische Generation gegenübersah, weil es die Platzverteilung des Barock
auf weiteren Ebenen - ästhetisch, soziologisch, kosmologisch - betraf. Es war
die Frage nach der Notwendigkeit absoluter Fixpunkte, die gleichzeitig die
persönlichere Frage nach dem Ort des menschlichen Subjekts im überdimen-
sionalen Weltraum und nach den Bezügen, die es zu ihm aufbauen kann, zur
Deutung freigab. Newtons Systemgedanke vom absoluten Raum bot seinen
Zeitgenossen eine Subordinationstheorie an, zudem unterlegt mit einer stark
dichotomischen Grundstruktur; ganz anders als Leibniz, dem eine physikali-
sche Relativitätstheorie vollauf genügt hätte, um seinem Satz vom ,spatium
est ordo coexistendi' den endgültigen Beweis zu liefern. Leibniz merkte aber
auch sehr schnell, daß seine Argumentation Gefahr lief, „in recht zweifelhafte
scholastische Begriffe wie Qualität, Form, Substanz zurückzufallen," wenn er
die Beziehungsprobleme der Körper zueinander wissenschaftlich erklären
sollte. In einem Brief an Christiaan Huygens vom 22. Juni 1694 können wir
heraushören, wie überaus vorsichtig er noch immer seinen neuen Raumbegriff
charakterisierte, von der Hoffnung getragen, statt der üblichen geometrischen
Richtlinien schon bald ein dynamisches Prinzip etablieren zu können. Dieses
wollte er ausschließlich den einzelnen Subjekten zuschreiben. Ich „ziehe",
schrieb Leibniz, „daraus die Folgerung, daß es in der Natur noch etwas ande-
res gibt, als die Geometrie darin zur Bestimmtung bringen kann (...), <so> daß
man, abgesehen von der Ausdehnung und ihren verschiedenen Bestimmungen,
die etwas rein Geometrisches sind, noch ein übergeordnetes Prinzip, nämlich
die Kraft anerkennen muß."6 Dabei ergab sich für ihn aber das Problem, das
eigentliche Subjekt der Bewegung erkennen zu können - eben die Fixpunkte
zu definieren! Leibniz hatte diese Frage unbeantwortet gelassen, als er sie in
einem Brief an Christiaan Huygens stellte, während Huygens sie konsequent
zu Ende dachte und Leibniz in einem denkwürdigen Brief 200 Jahre vor Auf-
kommen der modernen Relativitätstheorie die Antwort lieferte: daß er nämlich
an der Existenz fester Punkte im Raumsystem prinzipiell zu zweifeln begon-
nen habe: „Man kann (...) im unendlichen Raum von einem Körper weder
sagen, daß er sich bewegt noch, daß er in Ruhe ist. Also sind Ruhe und Bewe-
gung nur relativ."
Letztendlich betraf die Diskussion nicht nur Raumfragen. Sie bezog sich
genauso auf Fragen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, das wech-
selweise verabsolutiert oder relativiert werden konnte, je nachdem, welchen
Standpunkt man vertrat. Die barocke Unterscheidung entwarf also nicht nur

'Jammer, Max (1980), S. 129


6
Ebd.,S.131f
7
Ebd., S.135-137
40 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

zwei räumliche Bezugssysteme, sondern auch zwei verschiedene Arten, sich


in ihnen visuell zu orientieren. Im ersten Fall lief alles auf einen einzigen
Punkt hinaus - den normierenden Fluchtpunkt der Zentralperspektive. Im
anderen Fall kam es schon deshalb nicht zur Ruhe, weil alle Bewegungs-
abläufe durch unvorhergesehene Brüche und Sprünge ständig ihre Richtung
wechselten.

Der große Behälter

Entzweite Räume

Inwieweit hat die zentralperspektivische Konstruktion die Entwicklung der


Interieurmalerei gefördert oder beeinflußt?
Das Interieurbild entstand Anfang des 15. Jahrhunderts, als ein angeschnit-
tener Innenraum zum eigenständigen Bildthema avancierte. Damals wurden
Versuche unternommen, den Trennungsstrich zwischen den inneren, persönli-
chen und den äußeren Orten einer Lebenssituation schärfer zu ziehen, wobei
sich der einzelne Betrachter genauer abzuzeichnen begann und andererseits
alles fremd wurde, was von außen auf ihn eindrang. Die zentralperspektivi-
sche Raumkonstruktion war sicherlich ein Teil der Versuchsanordnung, die in
Gang gesetzt wurde, um die beweglichen und scheinbar heillos durchmischten
Beziehungsgefüge nach mein und dein auseinanderzuhalten und den Men-
schen seiner Umwelt frontal gegenüberzustellen. Ich nenne die älteren
Beziehungsgefüge an dieser Stelle natürlich nur mit Vorbehalt ,heillos durch-
mischt', weil sich solche Raumvorstellungen an die Erfahrungen hielten, die
ein Mensch seiner Umwelt entgegenbrachte, wenn er sich mitten in ihr befand,
und nach einem vergleichsweise modernen Maßstab bedeutete das, ihm habe
der nötige Abstand für eine richtige Einschätzung seiner Lage gefehlt. Auch
wenn man in den antiken und mittelalterlichen Raumtheorien bereits auf ab-
strakte Gedanken bezüglich der Dreidimensionalität stoßen konnte, so ist es
ihnen doch nicht in den Sinn gekommen, die Erfahrung des eigenen Körpers
in ein neutrales Maßpaket wie das der neuzeitlichen Raummetrik zu packen
und alle Aufenthaltsorte theoretisch gleichrangig zu behandeln.
„In Wahrheit gibt es Wirklichkeiten, in einer Schichtung oder in unter-
schiedlichen Dimensionen, die nicht gegeneinander verrechnet werden
o

können." Der polyvalente Raum jedoch wurde im Laufe der Zeit auf einen
gemeinsamen Nenner gebracht und drastisch eingekürzt. Seine Ausmaße wur-
8
zur Lippe, Rudolf: Neue Betrachtung der Wirklichkeit, Hamburg 1997, S.51
LEERE RÄUME 41

den auf einzelne, ausdehnungslose Punkte eines Koordinatennetzes zusam-


mengeschmolzen. Allgemein spricht man von dieser Entwicklung als der
Topographisierung des Raums. Dabei werden alle Stellen im Beziehungsge-
füge entzerrt, eingeebnet und fixiert. Der Prozeß beginnt ganz ähnlich wie die
Handhabung eines Kameraobjektivs damit, einen Wirklichkeitsausschnitt
anzuvisieren und der auftretenden Unscharfe einzelner Punkte - das Ver-
schwimmen der Ränder, das gegenseitige Überlagern der Konturen - auf
technischem Wege entgegenzuarbeiten. Zuguterletzt ist es möglich, das Bild
an jeder Stelle gestochen scharf zu sehen. Der verschwommene Strahlenkranz
schnurrt auf seinen punktuellen Sender zusammen, und da zwischen ihm und
dem Betrachter auf diese Weise eine eindeutige und feste Beziehung herge-
stellt wurde, läßt es sich auch besser rechnen. Die Topographie der Räume
wurde nach einem ähnlichen Muster scharfgestellt. Auch sie wurde .pünkt-
lich' gemacht, damit man die Aufenthaltsorte verschiedener Körper
auseinanderhalten und ordnen konnte. Raum- und Seheindruck wurden zu
berechenbaren Größen, weil die verschwommenen Grenzen abgeschafft wur-
den. In den homogenisierten und punktualisierten Systemen der Neuzeit
verpufften die Vielwerteräume, sie erschienen den Planspielern der Neuzeit
viel zu konfus, als daß sie dem System noch auf irgendeine Weise dienen
konnten. Außerdem wurde es immer wichtiger festzulegen, von wo aus eine
Bewegung ihren Lauf nahm. Anstatt auf die untrennbaren Wechselwirkungen
zwischen den Teilnehmern einer Handlung hinzuweisen, wurde der Zusam-
menhang in seine aktiven und seine passiven Teile zerlegt. Von wem die
Bewegung ausging und wohin sie sich richtete, das wurde von nun an über
einzelne Punkte im Koordinatennetz ausgehandelt. Zwischen jedem Punkt
befand sich ein mathematisch zwar zu vernachlässigender, gleichzeitig aber
unentbehrlicher Abstand, der die Koordination der Dinge im Raum klären
half, indem er sie voneinander abtrennte.
Von einem Standpunkt aus gesehen, der den Vorgängen stoffliche Qualitä-
ten abgewinnen möchte, ist das ein großer Unterschied. Denn der Glaube an
eine Berührungskausalität zwischen dem Urheber einer Bewegung und dem
Bewegten, wie man ihn in der aristotelischen Physik und im scholastischen
Mittelalter äußerte, wich der Überzeugung, daß man Ursache und Wirkung
eines Vorgangs getrennt zu verstehen habe. Zwischen ihnen war keine mediale
Vermittlung zu erwarten. Stattdessen löste sich die Kraft oder das Verlangen
- zum Beispiel: den Ort eines Gegenstands zu verändern - sofort vom Urheber
und wirkte selbständig weiter. Lediglich mit einem unkörperlichen Übertra-
gungspfeil verwiesen Ursache und Wirkung aufeinander. Und so entwickelte
sich seit etwa dem 13. Jahrhundert eine regelrechte Ökonomie der Kräfte her-
an. Man versuchte, die Übertragungspfeile einzukürzen, und erhoffte sich,
Ursache und Wirkung wie Frage und Antwort konkret aufeinander beziehen
zu können. Das Ziel, Zeit, Raum und Kraft zu koordinieren und in eine gere-
42 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

gelte Abfolge zu bringen, wurde weitervererbt an das 17. Jahrhundert, wo es


zum Maschinendenken hochgezogen wurde und, wie man heute weiß, eine
wissenschaftliche Revolution auf den Plan rief.

Der Erfolg der neuzeitlichen Reproduktionstechniken basierte auf der schritt-


weisen Homogenisierung der Wirklichkeit - dem gemeinsamen Nenner, durch
den die Erscheinungen dividiert werden konnten. Die Ergebnisse jeder Ver-
suchsanordnung sollten berechenbar sein, so daß kalkulierte Reize oder
Informationen bestimmte Bewegungsabläufe hervorriefen. Ich spreche von
Programmierung: Im 17. Jahrhundert hatte sich der Charakter einer Maschi-
nenhalle bekanntlich auch über den menschlichen Körper und seinen
psychischen Haushalt - im Sinne der barocken Affektenlehre - gestülpt. Die
Lehre von den Leidenschaften der Seele, den passions de l 'ame, versprach,
jede menschliche Gefühlsregung wie eine vektoriale Bewegung auf ihren
Ursprung rückverfolgen zu können. Darüberhinaus schien es möglich, ihr
entgegenzuwirken, indem man ihr ein Hindernis in den Weg legte oder sie
sogar umpolte. Der Gedanke, daß Prägungen auch wieder umgepolt werden
können und sich aufheben, so als ob man den Transportpfeil der Kräfte nur in
die entgegengesetzte Richtung zu drehen braucht, folgte wiederum aus der
Überzeugung, wir hätten es bei jeder Art von Vermittlung mit voneinander
losgelösten Seiten oder Teilen zu tun. Als das Gegenteil konfuser Raum- und
Kräftevermischungen entstand die neuzeitliche Koordinationslust oder Freude
an der geregelten Bezugnahme also grundsätzlich durch die Trennung und
Abstandnahme der Teile voneinander.
Das wiederum hatte zur Folge, daß die Zwischenräume ihre potentielle
Fortpflanzungskraft verloren. Sie wurden sogar zu Widerständen erklärt, die
es zu überwinden galt. Das Prinzip der Hemmung und wechselseitigen Isolati-
on, das Prinzip des räumlichen Nebeneinander und der gerasterten Abbildung
gehörte schon sehr früh zum Kodex der abendländischen Repräsentationskunst
und zur Grundausstattung aller technischen Reproduktionsverfahren. In beiden
Fällen war es der Versuch, sich der Wirklichkeit anzunähern, indem man sie
festmacht. Es klingt etwas einfach, diese Feststellung zu treffen, aber sie er-
scheint nur deswegen so selbstverständlich, weil wir uns eine Welt ohne Wort,
Bild und Formel nicht vorstellen können. Dennoch, ebenso wie man jeden
Punkt eines Wirklichkeitsausschnitts mit einer Blende scharfstellt, um ihn
erkennbar zu machen, dienten auch andere Hilfswerkzeuge wie das zentralper-
spektivische Raumraster vor allem dazu, die Orte, in denen wir uns aufhalten
und die Dinge, die uns umgeben, einzufangen und zu fixieren. Das Erstaunli-
che dabei war, daß man die Vorstellung, was Raum sei, durch ein vollkommen
abstraktes Konzept dingfest machen wollte. Erst durch das Verankern und
Vertäuen der einzelnen Punkte im Koordinatennetz konnte man sich ja vor-
stellen, daß ein leerer Raum möglich sei, einer, der unbelebt war und von
LEERE RÄUME 43

alleine existierte. Seitdem veränderte er sich auch nicht mehr mit uns oder mit
den anderen - was sich um uns herum bewegte, war vielleicht die uns umge-
bende Luft, nicht aber der Raum selbst. Indem man der Menschheit einen
stabilen Empfangsbehälter errichtete, wollte man ihr einen wirklichen Platz
für Handlungen, Geschäfte und das tägliche Leben einräumen. Mit ,wirklich'
meinte man aber im gleichen Zug, daß dieser Platz ,objektiv wirklich' sein
müsse: also zu einer Gegenseite und zu einem Gegenstand gemacht. Seitdem
begann man ganz folgerichtig von der Welt als einer Bühne zu sprechen. Mit
der dazugehörenden logischen Pirouette - Leerräumung ist Einräumung -
werden wir uns über die nächsten Seiten beschäftigen. Sie sagt zweierlei: Zum
einen, daß man im Barock einen Raum schon lange nicht mehr sehen mußte,
um ihn zu definieren, ebenso wie man die Sonne nicht mehr sehen mußte, um
die Zeit zu wissen. Eine Art Digitaluhr hatte zu ticken begonnen, die den
Stand der Dinge mit Ziffern und Zahlen statt mit handfesten Zeigern angab.
Zum anderen wurde diese Art von Raum und Zeit aber die wahrhaftere, wirk-
lichere.
Seit der frühen Neuzeit schien es möglich, von einem Raumbehälter zu
sprechen, so als wäre er ein leergefegter Schauplatz für die alltäglichen Ver-
richtungen. Daß er nur ein Raummodell unter vielen war, tat der Überzeugung
keinen Abbruch, einer tatsächlichen Begebenheit auf die Spur gekommen zu
sein. Als Konsequenz entwickelte man gedankliche Einbahnstraßen in die
Zukunft. Wenn man beispielsweise von einem Maler behauptete, daß er die
Raumdarstellung beherrsche, meinte man bald ganz automatisch, daß er die
Regeln der Zentralperspektive korrekt anwandte, während es gerade umge-
kehrt die Idee der Zentralperspektive war, die unsere Raumvorstellung
beherrschte. Und weil Newtons Idee eines autonomen Raum-Containers mehr
als zweihundert Jahre lang - und die Vorgeschichte geht wesentlich weiter
zurück - unsere Weltanschauung prägte, vergessen wir heute noch oft, daß sie
die Antwort auf eine historische Frage war. So wurde aus einer Idee unmerk-
lich eine Wirklichkeit, die vorgab, von Anbeginn an dagewesen zu sein,
während sie eigentlich genauso ein geschichtliches Denkergebnis war wie die
mechanische Uhr und die immer pünktlicher werdende Zeit, wie die absoluti-
stische Schloßarchitektur und der barocke Schloßpark oder wie das
zentralperspektivische Bild bzw. das Interieurbild als Gattung.
Die Isolierung auf der einen und die Unterbringung im großen entleerten
Behälter auf der anderen Seite interessieren uns natürlich vor allem in ihrer
ästhetischen Konsequenz. Sie stellte sich ein, als in der Malerei über Raum-
verhältnisse erzählt wurde und man der veränderten Kommunikationssituation
Rechnung trug. Ein Bild hatte sich von nun an an zwei Parteien zu richten,
zwischen denen es ein fruchtbares Gespräch aushandeln sollte. Das gelang,
indem eine räumliche Bresche geschlagen wurde. Seitdem sehen wir in Bilder
hinein. Und umgekehrt - seitdem haben sich uns Bilder unumwunden zuge-
44 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

wandt. Aber wenn man es sich zum Ziel gemacht hat, auf bestmöglichste Wei-
se zu vermitteln, dann genügte der Schritt nicht, und es mußte ein weiterer
Annäherungsversuch folgen. Das zumindest waren die Gedanken der Plan-
spieler dieser Tage, und sie gründeten sich auf der Erfahrung, am schnellsten
ans Ziel zu kommen, wenn man alle Hindernisse aus dem Weg räumte. Es
ergab sich etwas Seltsames aus diesem Gedanken, nämlich die Vorstellung,
einer Weltentfremdung entgegenzuarbeiten, indem man die Welt gedanklich
noch weiter von sich entfernte.

G e r ä u m t e Räume

Wir kommen dem Magdeburger Kugelexperiment näher. Wenn man sich vor-
stellt, durch welche Kraft die beiden Kugelhälften zusammengehalten wurden,
kommt allenfalls noch dieses Verhalten der Implosion gleich, mit der die
Planspieler der Neuzeit die Kluft überwinden wollten, die das einzelne Leben
von dem trennte, was nicht zu ihm gehörte. Jedenfalls war es erstaunlicher-
weise ausgerechnet die Erfindung einer gähnenden Leere, mit der man ein
Höchstmaß an Intimität aufbauen wollte. Man versuchte, zwischen dem per-
sönlichen Standpunkt und der äußeren Welt zu vermitteln, indem man alle
Zwischenräume leerräumte. Ansätze dazu hatte es immer wieder gegeben, nur
daß das Vorhaben im Barock, wo sich alles zu beschleunigen begann, was der
Entwicklung der menschlichen Selbständigkeit zugute kam, radikaler durch-
gesetzt wurde und erfolgversprechender schien als jemals zuvor.
„Erst Descartes erfand das uns selbstverständlich gewordene Koordinaten-
system. Mit diesem System wird der in dem Euklidischen Modell von den drei
Dimensionen angelegte Charakter unendlicher Geltung endgültig von allen
Begrenzungen im Endlichen befreit. Aus einem Koordinaten-O-Punkt weisen
die Linien, die die drei Dimensionen in das System zu projizieren erlauben,
(...) ins Leere. Leere ist aber ohnehin die einzige Eigenschaft dessen, was auch
in diesem rein gedachten Modell als Raum bezeichnet wird. (...) Dieser Raum
ist der Raum systematischer Gedankenexperimente. Raum selber wird zu einer
Denkfigur." Descartes' Erfindung sollte dazu dienen, geometrische Körper
berechenbar zu machen. Tatsächlich hatte es in der antiken Geometrie nur ein
zweidimensionales Koordinatensystem gegeben. Doch im Grunde war es kei-
ne wirkliche Erfindung, sondern die Rückführung des zentralperspektivischen
Kastenraums in ein Gebiet der Mathematik, mit der Descartes die Disziplin
der analytischen Geometrie begründete. Man könnte glauben, daß er sich von
den fluchtenden Fliesenböden und Perspektivkonstruktionen der Maler inspi-
rieren ließ, die ein dreidimensionales Raumraster benutzten.

9
zur Lippe (1997), S. 171
LEERE RÄUME 45

Die veränderliche Morphologie des Raums in ein stabiles System zu bringen,


hatte den Planspielern der Neuzeit lange Zeit Schwierigkeiten bereitet. Ich
schweife nicht allzuweit von ästhetischen Fragen ab, wenn ich als Beispiel
zwei Textstellen aus einer frühen Abhandlung Descartes' zitiere. Darin wird
von zwei Gestaltungsmustern berichtet, die an die konträren Eigenschaften des
absoluten Container- und relativen Lageraums des späteren 17. Jahrhunderts
erinnern. Solche Alternativen wurden im barocken Zeitalter nicht nur inner-
halb der Naturphilosophie oder Erkenntnistheorie erarbeitet. Man hielt sie
auch für brauchbare Kriterien der Kunstwelt. Zwischen diesen Bereichen gab
es zahlreiche Wechselwirkungen. Descartes beispielsweise versuchte zu An-
fang seiner Discours de la methode die Vorzüge eines neuen Erkenntnismo-
dells hervorzuheben, indem er ein Beispiel aus dem Bereich der Architektur
zu Hilfe nahm. Man „kann beobachten", so Descartes, „daß Bauten, die ein
Architekt allein unternommen und ausgeführt hat, für gewöhnlich schöner und
harmonischer sind als solche, die mehrere versucht haben umzuarbeiten (...).
Ebenso sind jene alten Städte, die - anfänglich nur Burgflecken - erst im Lau-
fe der Zeit zu Großstädten geworden sind, verglichen mit jenen regelmäßigen
Plätzen, die ein Ingenieur nach freiem Entwurf auf einer Ebene absteckt, für
gewöhnlich ganz unproportioniert; zwar findet man oft ihre Häuser - be-
trachtet man jedes für sich - ebenso kunstvoll oder gar kunstvoller als in
anderen Städten, - wenn man jedoch sieht, wie sie nebeneinanderstehen, hier
ein großes, dort ein kleines, und wie sie die Straßen krumm und uneben ma-
chen, so muß man sagen, daß sie eher der Zufall so verteilt hat und nicht die
Absicht vernünftiger Menschen.'''
Descartes übte städtebauliche Kritik, und das eingebunden in den Komplex
seiner Discours, die als Manifest des barocken Rationalismus galten. Dem
diskontinuierlichen Raumgetüge älterer Städte warf er Planlosigkeit vor:
Selbst jetzt seien die regelmäßigen Entwürfe der Italiener noch nicht genügend
weit in den Norden vorgedrungen. Daß man aus früheren Zeiten nur krumme
und unebene Straßen hinterlassen hatte, war ein Vorwurf, den Descartes im
übertragenen Sinn an das gesamte Mittelalter richtete. Er meinte die beschwer-
lichen Anfänge der Wissenschaften ebenso wie das scholastische
Lehrgebäude, die unbeholfen wirkende Raumdarstellung in den Bildern eben-
so wie das ihm täglich vor Augen stehende mittelalterliche Stadtbild. Eine
zufallsbetonte Stadtplanung würde den Gesamtzusammenhang der Verhältnis-
se verunklären, gab er zu bedenken. Als Besucher sehe man sich dazu
gezwungen stehenzubleiben, die Straßen auf- und abzuschauen und eine ver-
änderte Richtung einzuschlagen. Genau dieser Richtungswechsel aber war es,
den Descartes mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Descartes sah aus-

111
Descartes, Rene: Discours de la methode pour bien conduire sa raison, et chercher la verite dans les
sciences (1637), in: Descartes: Philosophische Schriften (1996), S.19f
46 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

schließlich nach vorne, in Richtung Zukunft. Er war der erste wirkliche Fort-
schrittsdenker im Holland des 17. Jahrhunderts. Das erklärt die Vehemenz, mit
der seine Schriften sofort nach ihrem Erscheinen aufgenommen wurden, sei es
mit begeisterten Zurufen seitens einer neuen Intelligenz, oder mit Attacken
seitens der von ihm geschmähten Scholastik und mehr noch der reformierten
Orthodoxen. Und selbst dann konnte sich Descartes nicht dazu entschließen,
seine Thesen, die angeblich allein seinem persönlichen cogito entsprungen
waren, mit anerkannten Autoritäten wie Aristoteles oder Augustinus zu bele-
gen. Descartes scheute diesen Seitenblick aus demselben Grund, aus dem er
gegen das Prinzip der Tradition im Ganzen vorging, weil es die eigene Mei-
nung von der anderer abhängig machte, und das war so, als müßte man sich in
einem Haus zurechtfinden, das man nicht selbst gebaut hatte.
Der Vergleich, auf den wir in Descartes' Sätzen gestoßen waren, reicht also
weit. Er deutet an, daß es besser ist, immer nur der eigenen Nase nachzugehen
und sich von seiner Umgebung nicht beeinflußen zu lassen. Inzwischen haben
wir gelernt, daß den institutionellen Meinungen und Überlieferungen zum
Trotz hier nichts geringeres als eine persönliche Unabhängigkeitserklärung
eingereicht wurde, die einen hohen Preis mit sich führte - den Preis der sozia-
len Desintegration. Jede Form der äußeren Ablenkung wurde von Descartes
sofort mit persönlicher Unschlüssigkeit gleichgesetzt. Äußere Einflüsse verur-
sachten die Leidenschaften im Menschen, sie lenkten sein Schicksal in
ungeahnte Bahnen. Alles in allem drohten sie, seine persönliche Freiheit ein-
zuschränken und ihn zum drehenden, niemals stillstehenden Spielball fremder
Mächte werden zu lassen. Zur Wehr setzen konnte man sich nur durch die
vollkommene Rückbesinnung auf die Stärke des Geistes und des inneren Wil-
lens. Was darauf hinauslief, daß die eigene Selbstbeherrschung zur
Voraussetzung dafür wurde, die Außenwelt besser beherrschen zu können.
Um etwas zu Ende denken zu können, muß man zuerst einmal eine feste Aus-
gangsposition beziehen, hätte Descartes auf die Frage eines Wissenschaftlers
geantwortet, der sich im Laufe seiner Untersuchungen rettungslos verfahren
sah. Angesichts der Tatsache, daß Dinge wie Menschen im Laufe der Zeit ihre
Gestalt oder ihre Eigenschaften verändern, ist es für den Wissenschaftler umso
nötiger, einen festen und distanzierten Beobachtungsposten zu beziehen und
die Vorgänge von dort aus zu verfolgen.

Der Erfolg hat der Methode zuweilen Recht gegeben. Und doch hat sie ebenso
oft und aus eben demselben Erfolg heraus vergessen lassen, daß der Versuch,
die einzelnen Schritte einer Entwicklung festzulegen, als würden sie unmittel-
bar aufeinanderfolgen wie die Zahlen einer numerischen Reihe oder die
Buchstaben des Alphabets, immer dann fehlschlagen muß, wenn mehrere
Einflüsse gleichzeitig in das Geschehen einwirken oder wenn der Standpunkt
des Versuchsleiters im Laufe der Betrachtung verändert wird. Ein Wissen-
LEERE RÄUME 47

Abb.4: Vredeman de Vries, Perspektivische Stadt, aus: Perspectiva, Den Haag, Leiden, 1604/05

Abb.5: Jacques Dubreuil, Zeichenrahmen, aus: Perspective practique, Paris, 1642


48 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLH

schaftler, der den cartesischen Idealen unterliegt, blickt sich in der Welt seiner
Versuchsanordnungen um wie der Besucher des oben genannten Zitats in der
modernisierten Stadt: Die Zusammenhänge erstrecken sich vor seinem Auge
wie gerade Straßenzüge. Descartes' Streben nach Klarheit und Eindeutigkeit
verlangte nach übersichtlich angelegten Grundrissen und Bauplänen, während
er jeden Einzelfall, der sich in die Pläne verirrte, gleichgültig behandelte und
den allgemeineren Ansprüchen bedenkenlos unterordnete. Was ihm gefiel,
war die Möglichkeit, sich unauffällig in einer Menge zu bewegen und von ihr
nicht für eine einzige Minute abgelenkt zu werden. Er wollte ein Beobachter
und kein Teilnehmer sein, und hier haben wir die ganze Definition dessen,
was seitdem wie ein Machtwort in die gegensätzlichsten Bereiche eingegan-
gen ist, nämlich daß in den Wissenschaften wie in den Künsten gleichermaßen
die Emanzipation - für den menschlichen Teil gesprochen - nicht mehr aufzu-
halten war. Auf das Betrachten von Bildern angewandt bedeutete es, den
distanzierten Blick an die Stelle des teilnehmenden treten zu lassen und aus
dem weitläufigen Begriff des Wahrnehmens den engeren des Beobachtens zu
entwickeln. Was ein Betrachter sah, schien mit ihm weniger und weniger zu
tun zu haben, es fand keine eigentliche Rückwirkung mehr statt. Selbst wenn
sich das bunte Treiben einer großen Menschenmenge vor dem cartesischen
Betrachter lärmend und verlockend ausbreitete, wollte er seinen erhöhten Lo-
genplatz nicht verlassen. Natürlich können uns solche Argumente nicht lange
über den Eindruck hinwegtäuschen, daß selbst in der cartesischen Sichtweise
der Dinge die menschlichen Sinne und Leidenschaften niemals aufgehört ha-
ben, eine wichtige Rolle zu spielen, und allgemeiner, daß kein Betrachter
wirklich imstande ist, vor einem Bild, einer Ansicht oder irgendeinem anderen
Gegenüber unbeteiligt zu verharren. Aber sogar in den Bildern stoßen wir auf
Spuren dieses Glaubens, und zwar seit dem Zeitpunkt, an dem sie dem Be-
trachter die Arbeit an der Zusammenstellung einer Wirklichkeit abgenahmen
und durch eine fertige Ansicht ersetzten. Seitdem gab ein Bild vor, eine
Schneise in die räumliche Tiefe der Wirklichkeit hineinzuschlagen, oder ge-
nauer gesagt, es schien ein Stück davon herauszuschneiden und dem
Betrachter als dessen Anteil zuzuspielen. Der neuzeitliche Betrachter wieder-
um war ein Perspektivseher, weil sein Blick nach vorne sehr intensiv wurde,
er aber keine Seitenblicke und Rücksichten mehr kannte. Die auf menschli-
chem Zusammensein begründete Tatsache, die Welt mit vielen anderen zu

'' Im übrigen hat es ihn aus diesem Grund nach Holland gezogen, und ganz besonders nach Amster-
dam. „In dieser großen Stadt," schreibt Descartes 1631 an Guez de Balzac, kann ich mein ganzes
Leben verweilen, „ohne jemals von irgend jemendem bemerkt zu werden. Ich spaziere alle Tage mit
eben so viel Freude und Behagen durch das Gewoge einer großen Menge wie Sie durch Ihre Alleen,
und ich betrachte die Menschen, die ich dort sehe, nicht anders, als ich die Bäume in Ihren Wäldern
oder die Tiere betrachte, die dort vorüberziehen." (Brief vom 5.5.1631 an Guez de Balzac, in: Des-
cartes, Gesamtausgabe in 13 Bänden, Paris 1979, Band 1 (Briefe), S.203)
LEERE RÄUME 49

Abb.6: Abraham Bosse, Der Perspektivseher, aus: Moniere Universelle de Mr. Desargues. pour
pratiquer la perspective, Paris, 1648

teilen, half nämlich nicht sonderlich über die weitere Tatsache hinweg, daß
von nun an jeder einzelne unter ihnen einen eigenen Standpunkt einnahm.
Descartes' Kritik am mittelalterlichen Stadtbild ist deshalb so aufschlußreich,
weil sie genau in diese Richtung argumentierte und Selbständigkeit forderte
statt Abhängigkeit; Distanz und Übersicht statt Teilnahme; Aktion statt Passi
vität; Planmäßigkeit statt Zufall. Das waren in erster Linie Begriffe, die auf
einer sozialpsychologischen Ebene griffen, aber sie konnten problemlos zu
naturwissenschaftlichen oder ästhetischen Kategorien umfunktioniert werden.
50 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

In allen drei Fällen halfen sie eine Annäherungs- bzw. Aneigungsstrategie


auszuformulieren. Deswegen fühlt man sich bei Descartes' Schilderung der
beiden verschiedenen Besucherverhalten in einer mittelalterlichen und in einer
neuzeitlichen Stadt sofort an die Alternative vom umherschweifenden und
vom fixierten Blick zurückerinnert, die eingangs zusammen mit der These
genannt wurde, der neuzeitlichen Malerei sei mehr und mehr eine syntagmati-
sche Bewegung abhandengekommen.

Ein weiteres Textbeispiel aus Descartes' Discours von 1637 macht deutlich,
daß wir hinter seinen Bemühungen, die ruhelose Bewegung für alle Zeiten
abzuwerten, die Propagandierung einer Methode der geraden Linie vermuten
können. Lassen wir ihn etwas ausführlicher von seinem Vorhaben berichten.
Den Vergleich des Wegesuchers, den er hierbei verwendete, sollten wir im
Auge behalten: „Mein (...) Grundsatz war, in meinen Handlungen so fest und
entschlossen zu sein wie möglich und den zweifelhaftesten Ansichten, wenn
ich mich einmal für sie entschieden hätte, nicht weniger beharrlich zu folgen,
als wären sie ganz gewiß," schrieb Descartes und fuhr fort: „Hierin ahmte ich
die Reisenden nach, die, wenn sie sich im Walde verirrt finden, nicht
laufen und sich bald in diese, bald in jene Richtung wenden, noch weniger an
einer Stelle stehen bleiben, sondern so geradewegs wie möglich immer in
selben Richtung marschieren und davon nicht aus unbedeutenden Gründen
abweichen sollten, obschon es vielleicht im Anfang bloß der Zufall gewesen
ist, der ihre Wahl bestimmt hat; denn so werden sie, wenn sie nicht genau
dahin kommen, wohin sie wollten, wenigstens am Ende irgendeine Gegend
erreichen, wo sie sich wahrscheinlich besser befinden als mitten im Wald."
Wenn wir heute erklären sollten, wieso Descartes den Wald ausdrücklich
meiden und die gerade Straße suchen wollte, dann sicherlich durch die Tatsa-
che, daß ein ,Zurück zur Natur' noch nicht erwünscht war, weder im sozialen
und erst gar nicht im naturwissenschaftlichem Bereich. Im 17. Jahrhundert
gingen alle Anstrengungen dahin, die Natur zu beherrschen und nicht, ihr
nachzugeben und eine Art Naturzustand wiederherzustellen. Was man in Des-
cartes' Gleichnis als das Lob zielstrebigen Handelns verstehen kann, meinte
nichts anderes, als jede Zufälligkeit aus dem Denkprozeß auszuschalten und
die Zentralperspektive zum methodischen Grundprinzip zu erheben. Was die
Raumfrage betraf, die damals gerade in ihre erste heiße Phase geriet, so ver-
fuhr Descartes ganz ähnlich. Er wandte einmal mehr seinen
zentralperspektivischen Blick an, der alle Seitenwege und morphologischen
Verwachsungen übersah. Er wollte aus der Raumflora genauso unverblümt
heraustreten wie aus dem eben zitierten Dickicht des Waldes. Im Grunde ging
es Descartes weniger darum, sich innerhalb eines Raums zu bewegen und

12
Descartes (1637), S.41
LEERE RÄUME 51

umzuschauen, als dessen einzige Ursache herauszufinden. Man nennt ein sol-
ches Bestreben heute die Suche nach der Letztbegründung, während es im
Barock, wo sich diese Sonderform philosophischen Disputs zunehmender
Beliebtheit erfreute, unter dem Begriff der Privation bekannt wurde.
on ' bedeutete, aus der gegenwärtigen Welt alles zu entfernen, was nicht
unbedingt zu ihrer Genese und Funktionstüchtigkeit gebraucht wurde. Das
Gedankenexperiment der Privation beschäftigte sich also mit einer theoreti-
schen Weltvernichtung und der Frage, was am Anfang aller Dinge stand.
Descartes löste das Problem für heutige Augen ebenso bezeichnend wie be-
denklich nach dem inzwischen gut bekannten Schema: Er legte seine
unmittelbare Umgebung wie einen Fremdkörper von sich ab und rollte sie in
Richtung Vergangenheit auf. Ich entschloß mich, so Descartes, „diese Welt
hier ganz ihren Streitigkeiten zu überlassen und nur von dem zu reden, was in
einer neuen Welt geschehen würde, wenn Gott jetzt etwa irgendwo im leeren
Raum (...) genug Materie zu ihrer Bildung schüfe, ihre einzelnen Teile (...)
ohne Ordnung bewegte, so daß daraus ein Chaos entstände, (...), und wenn er
danach sich begnügte (...), sie nach den Gesetzen wirken zu lassen, die er ihr
gegeben hat."14
Descartes empfand dieses Vorgehen im übrigen als Befreiung - eine Art ent-
rümpelnder Frühjahrsputz des Weltgebäudes -, und nicht als Verlust in
Sachen Anschaulichkeit oder persönlicher Geborgenheit. Wir sollten uns des-
wegen die doppelte Bedeutung, die man in den Vorgang der Privation
hineinlegen kann, im Gedächtnis behalten, sobald wir uns dem privaten Genre
des Interieurbilds zuwenden. Beraubung oder Befreiung wären die beiden
Alternativen, mit denen wir zu ihm zurückkehren und es in einem ersten Ver-
such qualitativ bemessen könnten.

Der geistige Weitblick Descartes' störte sich an den Zwischenräumen, solange


sie dicht und durchmischt waren. Ein von Begegnungen der verschiedensten
Art erzählender Schauplatz geriet bei ihm schnell in den Verdacht, vom Zufall
regiert zu sein; und eigentlich wollte Descartes auch niemandem begegnen
außer sich selbst. Wir werden gleich sehen, wie es möglich ist, auf sich selbst
zuzugehen, wobei wir uns dann in einer typischen Innenraumschleife bewe-
gen. Descartes fragt sich zuerst, was ihn von seiner eigenen Existenz ablenkt.
Erstaunlicherweise fallen gleich zu Anfang seine Mitmenschen unter diese
Kategorie. Er kann sich leicht von ihnen trennen. „Da sehe ich zufällig vom
Fenster aus Menschen auf der Straße vorübergehen, von denen ich (...) ge-
wohnt bin zu sagen: ich sehe sie, und doch sehe ich nichts als die Hüte und

' Wörtlich: .Beraubung' oder auch .Abwesendmachen'


14
Descartes (1637), S.71
52 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Kleider " Descartes sucht keine Selbstbestätigung durch sie, ebensowe-


nig wie er wiederum ihre Existenz bestätigen würde. „Erkenntnis ist nicht
Sehen, nicht Berühren, nicht Einbilden,"16 resümiert er. Bezeichnend ist an
dieser Stelle, daß Descartes bei seiner Beobachtung in einem Zimmer sitzt und
durch ein Fenster sieht. Er fühlt sich von der Außenwelt wie durch eine Wand
abgeschirmt, die lediglich von einer kleinen Schauöffnung durchbrochen wird.
Jeder Zusammenhang schafft Abhängigkeiten, philosophiert Descartes in sei-
nen Discours und entschließt sich aus dem Grund, autark zu werden und „in
allen Komödien, die sich <in der Welt> abspielen, lieber Zuschauer als
spieler zu sein." Vor dem scharfen Auge Descartes' entkleidet sich das
Welttheater seiner Masken - alles Leben ist vielleicht nichts anderes als Hüte
und Kleider, wie er bemerkt hat. Ich führe das Zitat noch weiter: „unter denen
sich ja Automaten verbergen könnten!" Das ist die vollkommen mechanisti-
sche Einstellung Descartes', hinter jeder Erscheinung nur noch
Wirkmechanismen zu erkennen, wobei die Erscheinungsform selbst ohne
Umschweife zu den Akten gelegt werden kann.:
„Ich werde jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen und alle
meine Sinne ablenken, auch die Bilder körperlicher Dinge sämtlich aus mei-
nem Bewußtsein tilgen oder, da dies wohl kaum möglich ist, sie doch als eitel
und falsch für nichts achten; mit mir allein will ich reden, tiefer in mich hin-
einblicken und so versuchen, mir mein Selbst nach und nach bekannter und
vetrauter zu machen,"18 lautet der berühmte Anfangssatz der Dritten Meditati-
on, die auf die Erkenntnis des Cogito, ergo sum hinausläuft. Nachdem er sich
von allem bedingt Notwendigen befreit und es anschaulich vor die Türe ver-
wiesen hat, findet er sich mit sich allein. Selbst Gott als möglichen Betrüger
hat er zu diesem Zeitpunkt ins Aus plaziert. Ganz gewiß ist zuerst einmal nur
die eigene Existenz als denkendes Wesen. Schon aus dem Grund sind alle
Meditationes bewußt im Eigengespräch, sozusagen privatim abgehalten -
unter Ausschluß der Öffentlichkeit, ganz persönlich, auch: eigenmächtig.

Ich habe mich bei Descartes aufgehalten, weil man dabei einer Entstehungsli-
nie des Interieurbildes auf die Spur kommen kann. Sie deutet auf das
Bedürfnis, ein Regelsystem aufzubauen, das den persönlichen Innenraum
gegen äußere Einflüsse schützt und reguliert. In dem Augenblick, in dem
menschliches Leben sich entschließt, an der Wirklichkeit weniger teilzuhaben
als sie zu bewältigen, hat es sich in eine Art labile Luftblasenexistenz hinein-
manövriert, die sich zunehmend vor dem Zerplatzen und In-das-andere-
Aufgehen fürchtet. Der homo bulla ist insofern ganz richtig das Sinnbild für

" Descartes, Rene: Meditationes (1647), in: Descartes Philosophische Schriften. Hamburg 1996, S.57
16
Ebenda, S.55
17
Descartes (1637), S.47
18
Ebenda, S.61
LEERE RÄUME 53

Abb.7: Barocke Behälter. Von links oben nach rechts unten: Auffang- und Sammelgefäße des
ll.Jh.s: weißer Krug in Vermeers .Musikstunde'; Glaskugel in Vermeers
.Allegorie des Glaubens ': barocke Stadtbefestigung.
54 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

den Menschen der Barockzeit. Er begriff sich als Gefäß mit verletzlicher Hülle
- letztlich lag die Vergänglichkeit des Menschen mehr in der Zerbrechlichkeit
seiner runden und abgeschlossenen Gestalt als in der Kürze des Lebens. Ein
Innenraum wurde abgegrenzt und notfalls gegen Invasionen verteidigt. Wurde
seine Grenze verletzt, dann strömte fremdes Leben in ihn oder umgekehrt
seines in den Außenraum, und das mußte nach barocken Maßstäben unbedingt
kontrolliert werden. Zeitgenossen, die wie Descartes versuchten, sich ihr
„Selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen", hüteten ihr frisch
erobertes Innenraumgefühl mit derselben Sorgfalt, mit der sie ein zerbrechli-
ches Gefäß vor sich getragen und vor Zusammenstößen geschützt hätten. In
Leibniz Monadologie wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts im übrigen ein
sehr hellsichtiges, weil ambivalentes Bild davon gezeichnet: Eine Monade,
was immer sie auch genau sei, eine immaterielle Realität oder schlicht eine
Metapher für die menschliche Seele, lebte zwar in engem Kontakt mit anderen
Wesen, aber sie war in sich geschlossen. Es ist die berühmte Formulierung
von der Daseinsform ohne Fenster zu den anderen. Vorerst möchte ich es das
Membranentum des barocken Menschen nennen, aber es gibt weitere Verglei-
che - der des Gefässes, der Vase, der Seifenblase -, die alle auf eine ähnliche
Aussage abzielten. In der Alltagssprache verglich man die persönliche Indivi-
dualität zudem gerne mit einer von Fremdherrschaft eingeschlossenen
Festung. Das Kriegsvokabular um Invasion und Defensive kam immer häufi-
ger zum Einsatz. Weil uns solche Zusammenhänge noch an anderer Stelle
interessieren sollen, verfolge ich sie im Moment nicht weiter. Sie würden uns
von der Frage wegführen, wo der Rationalismus in den Bildern saß, oder an-
ders: wo man neuerdings glaubte, die Bilder festmachen zu können. Aber im
Grunde drehte sich das Gedankenkarussell immer nur wieder um das Verhält-
nis zweier Parteien, die sich in wechselseitigem Belagerungszustand befanden.
Daß es oftmals mehr um ein Einverleiben und weniger um ein Entgegenkom-
men und Aufnehmen der anderen Seite ging, zeigt nur einmal mehr, daß man
sich bei der Aufteilung der Welt in einem höchst kritischen, weil kategori-
schen Stadium befand. Der Mensch jedenfalls übersah bewußt den Raum, der
dazwischen lag und Möglichkeiten der Annäherung in Potenz innehielt. Weil
man glaubte, auf den anderen ohne zeitliche Verzögerung und ohne Umwege
zugehen zu können, ergaben sich Mißverständnisse: Wie war Nähe möglich,
wenn man sein Gegenüber voll und ganz beherrschen wollte? Von Anfang an
handelte es sich weniger um ein Raum- als um ein Verständigungsproblem.
LEERE RÄUME 55

Verbrüderung der Räume

Sicherlich war es eine entscheidende Veränderung der neuzeitlichen Natur


wissenschaften gegenüber der aristotelischen Physik und der mittelalterlichen
Raumvorstellung, den alten horror vacui zu überwinden. Dies geschah noch
gar nicht einmal so sehr bei Descartes, sondern bei den Perspektivisten einer
seits und Descartes' Nachfolgern andererseits. Otto von Guerickes
Kugelexperiment oder die Vakuumpumpen von Robert Boyle, allesamt Erfin
dungen des 17. Jahrhunderts, gaben das genaue Pendant zu den
perspektivischen Konstruktionen ab. Sie alle zeichneten sich durch das Erstel
len von Räumen aus, in denen Leben nicht mehr möglich war. In Boyles
Vakuumpumpen verloschen die Kerzen und starben Tauben und Katzen aus
Abstraktionsgründen, als Bestätigung dafür, daß eine Welt ohne Atmosphäre
vorstellbar war. Niemals zuvor war es derart möglich gewesen, Denkergebnis
se in Realität zu überführen, niemals zuvor gab es derart viele von Menschen
verwirklichte Wirklichkeiten wie im 17. Jahrhundert. Gleichzeitig besagte der
moderne Tatbestand nichts anderes als „in das Gefängnis seiner selbst, seines
eigenen Denkvermögens" versetzt worden zu sein, das „ihn unerbittlich auf
sich selbst zurückwirft, ihn gleichsam in die Grenzen seiner selbstgeschaffe
nen Systeme sperrt."19 Descartes Verlagerung aller Wirklichkeitsinstanzen in
das Innere des Menschen half vielleicht gegen die Angst, sich im Weltraum zu
verlieren, aber es mußte der Verdacht aufkommen, in dem Augenblick nur
wieder über sich zu reden, in dem man eigentlich über Gott und die Welt re
den wollte. Seitdem ist oft beschrieben worden, wie man dazu verurteilt
wurde, statt ins Freie in einen Spiegel zu blicken und sein eigenes Bild wahr
zunehmen.
Was uns hier auf dem schnellsten Weg zum Interieurbild zurückführt, zu
seiner Disposition, zu seiner Modernität, ist die Innenraumschleife, mit der
jeder Weg zu uns selbst reicht, jeder Mensch auf der Suche nach der Außen
welt sich selbst begegnet und die Entfernungen in erster Linie der Komplexität
unserer Empfindungen und unseres Denkvermögens entsprechen. Diese Form
von Wirklichkeitsaneignung, bei der jede Reise in die Außenwelt eine Intimi
tät behält, die so früher wohl nicht möglich gewesen wäre, gleicht dem
zentralperspektivischen System insofern, als sie infolge eines kleinen und im
Grunde unvermeidlichen Denkfehlers auf sich selbst zurückschlägt und, an
statt fortschrittlich zu sein, die unermüdlichen Zirkelschläge des
Selbstbewußtseins vorantreibt. Man kann das sehr schön nachvollziehen,
wenn man sich das Perspektivblatt von Vredeman de Vries vornimmt und über
die Position des Fluchtpunkts nachdenkt.

" Arendt (1998), S.365f


56 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb.8: Vredemann de Vries, Perspecliva, Den Haag, Leiden, 1604/05

Bekanntlich entspricht sie zugleich dem Augpunkt des Betrachters. Das


macht der unausweichlichen Schlußfolgerung Platz, daß die Konstruktion
eines leeren Raumes ohne diesen Fluchtpunkt nicht nur unmöglich ist, sondern
ihn sogar wie eine Existenzberechtigung benötigt, daß aber diese Existenzbe-
rechtigung von jemandem erteilt wurde, der sogesehen gar nicht ins Konzept
gehörte. Die barocke Erklärung für diese Merkwürdigkeit wäre gewesen, daß
am Ende des großen Raumbehälters die absolute Unendlichkeit stehe, also ein
Gott, der sich den Raum vorab ausdachte. Und doch fiel der Fluchtpunkt mit
dem Augpunkt des menschlichen Beobachters zusammen. Er stellte dessen
eigene Projektion ins Unendliche dar. Descartes wollte den Teppich der Ent-

:
" Für eine Erklärung des zentralperspektivischcn Bildaulbaus siehe Panofsky: „Ich stelle mir - im
Einklang mit jener Fensterdefinition - das Bild als einen planen Durchschnitt durch die sogenannte
. Sehpyramide' vor. die dadurch entsteht, daß ich das Sehzentrum als einen Punkt behandle und diesen
mit den einzelnen charakteristischen Punkten des darzustellenden Raumgebildes verbinde, da nämlich
die relative Lage dieser .Sehstrahlen' für die scheinbare Lage der betreffenden Punkte im Sehbilde
maßgebend ist, so brauche ich mir das ganze System nur im Grundriß und im Aufriß aufzuzeichnen,
um die auf der Schnittfläche erscheinende Figur zu bestimmen: der Grundriß ergibt mir die Breiten-
werte, der Aufriß die Höhenwerte, und ich habe diese Werte nur auf einer dritten Zeichnung
zusammenzuziehen, um die gesuchte perspektivische Projektion zu erhalten. Dann gelten in dem so
erzeugten Bilde - der „ebnen durchsichtigen Abschneydung aller der Streymlinien, die auß dem Aug
fallen auf die Ding, die es sieht" (Dürer) - etwa folgende Gesetze: alle Orthogonalen oder Tiefenlinien
treffen sich in dem sogenannten .Augpunkt', der durch das vom Auge auf die Projektionsebenen
te Lot bestimmt wird. Parallelen, wie sie auch immer gerichtet sein mögen, haben einen gemeinsamen
Fluchtpunkt. Liegen sie in einer Horizontalebene, so liegt dieser Fluchtpunkt stets auf dem sogenann-
ten ,Horizont', d.h. auf der durch den Augenpunkt gelegten Waagerechten; und bilden sie außerdem
mit der Bildebene einen Winkel von 45", so ist die Entfernung zwischen ihrem Fluchtpunkt und dem
.Augenpunkt' gleich der .Distanz', d.h. gleich dem Abstand des Auges von der Bildebene; endlich
vermindern sich gleiche Größen nach hinten zu in einer Progression, so daß - den Ort des Auges als
bekannt vorausgesetzt —jedes Stück aus dem vorangehenden oder nachfolgenden berechenbar ist."
(Panofsky, Die Perspektive als .symbolische Form', in: Erwin Panofsky. Aufsätze zu Grundfragen der
Kunstwissenschaft, hrsg. v. Hariolf Oberer, Egon Verheyen, Berlin 1992, S.99)
LEERE RÄUME 57

stehungsgeschichte in Richtung Vergangenheit aufrollen, und noch heute kön-


nen wir unseren Fuß auf das einladende Dreieck setzen, das wie ein Pfeil in
die Tiefe weist und dessen Spitze sowohl die größtmögliche Entfernung mar-
kiert - den Schnittpunkt aller Orthogonalen im Unendlichen - wie die
größtmögliche Nähe und Identität mit uns selbst.
Mit diesem Gedanken wurde das Interieurbild geboren. Wenn man ihn
weiterführt, kann man sogar behaupten, daß das Interieur deswegen so erfolg-
reich wurde und seine Kraft entwickelte, weil es den Betrachter nicht nur in
den Innenraum hineinholte, sondern geradezu hineinriß, obwohl man sich
gleichzeitig fragen muß, welcher Innenraum damit tatsächlich gemeint war.

Jedenfalls wird eines schnell ersichtlich: Die Gattung der Interieurmalerei


arbeitete mit dem Ziel, den Betrachter so gut und so schnell wie möglich zu
absorbieren. Das gelang ihr in dem Moment, in dem sie die Fensterdefinition
der neuzeitlichen Malerei kompromißlos anwandte. Sie wurde zu einer Gat-
tung, die mit angeschnittenen Raumbehältern umging, aber im Herzen ihres
Entwurfs darauf abzielte, die Schnittstellen so gut wie möglich zu ver-
schließen. Von Anfang an kam sie mit Halbheiten nicht wirklich zurecht,
sondern versuchte, die Hälften zu ergänzen und zu einer Innenraumkugel zu
verdichten. Das Interieurbild ist das Ergebnis eines großangelegten Kupp-
lungsversuchs der Malerei, und solche, die eine Kupplungsszene zum Thema
haben oder aber eine Szene zwischen Mann und Frau, zwischen Hausbewoh-
nern und fremden Besuchern; Bilder, in denen es bauchige Krüge, Vasen,
Gefässe aller Art gibt, in deren Kammer die Weltkarte an der Wand hängt und
das Fenster leicht geöffnet ist; auch solche, in denen eine Figur so sehr ver-
sunken ist, daß sie niemanden sonst um sich wahrnimmt, oder mehr noch die
vermeerschen Darstellungen schwangerer Frauen sind die wahren Interieurs.

Das Ziel der Interieurmalerei, den Betrachter auf möglichst gekonnte Wei-
se zu absorbieren, hieß in die Logik der Zentralperspektive übersetzt, ihn auf
die schnellstmögliche Weise zu absorbieren, Bild- und Betrachterraum also
augenblicklich ineinanderfallen zu lassen. Ich möchte es eine beschleunigte
Intimität nennen, was die Zentralperspektive erreichen wollte, und noch ein-
mal den Verdacht äußern, daß sie, obwohl oder gerade weil sie einen
möglichst intakten Raum beschrieb, im Grunde allen Vorstellungen von Raum
und Zeit entgegenarbeitete. Sie wollte die unendlich große Entfernung zwi-
schen dem Standpunkt des Betrachters und einem Punkt am Horizont sofort
wieder aufheben und dabei so manches, was im Mittelalter darstellungswert
war - das Suchen, Wandern, Reisen, Schweifen - aus der Zielvorgabe verban-
nen.
58 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb. 9: Raumdyade: Magdeburger Kugelexperiment. Kupferstich (Detail), 1654

Abb. 10: Zwillingsbund: Hernando de Sota. Optimum Matrimonium, aus:


Emblemas Moralizadas, Madrid. 1654
LEERE RÄUME 59

Die offizielle Raumkonstruktion der Neuzeit und des Barock ist eine zeit- und
platzsparende Einrichtung, ganz den Maßstäben ökonomischen Denkens und
Handelns angepaßt. Sie ist, wie wir gesehen haben, das Ergebnis von Entbeh-
rungen. Albertis Schnitt durch die Sehpyramide wurde durch denselben
Reduktionsdrang hervorgerufen, der Guericke zweihundert Jahre später dazu
brachte, eine Raumkugel zu zerschneiden und zu entleeren. Beide Male bilde-
te sich ein Sog aus, der die Hälften aneinanderkoppelte. Doch selbst wenn wir
heute imstande sind, im Kunststück, sich über weite Distanzen hinweg im
Spagat zu üben, einen modernen Brachialakt wiederzuerkennen, so ist das Ziel
dahinter damals wie heute die vollkommene Entspannung gewesen. Das Zwi-
schenfeld wurde abgeschaltet, es starb ab. Schlagartig, so die Meinung,
mußten die Hälften aufeinanderzurücken und ineinanderfallen. Dieselbe Regel
schien auf das Verhältnis von Bild- und Betrachterraum zuzutreffen. Im gro-
ßen und ganzen war es vielleicht ein trügerischer und im Grunde sogar
unnötiger Gedanke, der sich allein mit dem Argument entkräften ließ, daß das
zweigepolte Feld der Neuzeit nicht automatisch zu einer Isolierung des Men-
schen führen mußte - vor allem wenn man bedenkt, daß sie ebensogut eine
Aufforderung zum Dialog hätte sein können. Tatsächlich haben Künstler sie in
dieser Bedeutung verstanden. Aber sobald sie das zentralperspektivische Prin-
zip in ihre Werke einführten, haben sie die Begegnung zwischen der Welt und
ihren Kunstwerken oder auch zwischen Betrachter und Bild beschleunigen
und sofortige Nähe entstehen lassen wollen.
Die Erfindung und Anwendung der Zentralperspektive war der Versuch,
die diskontinuierliche Welt anzugehen und Nähe wie Verständigung zu er-
zwingen. Gleichzeitig hatte sich ein Denkfehler eingeschlichen, weil man
übersah, daß Pole niemals zu einer gemeinsamen Identität verschmelzen,
wenn man sie einfach nur übereinanderschiebt. Dann haften sie immer noch
verschiedenen Ebenen an, Schicht auf Schicht, und die Hierarchisierung von
oben und unten oder innen und außen macht Identität unmöglich.

Solche Gedanken kommen zumeist erst nach langer Zeit, wenn man erkennt,
daß eine Erfindung auch Nebenwirkungen enthält. In der Epoche der Perspek-
tivisten überwog die Aussicht auf Erfolg. Aber welcher Erfolg konnte gemeint
sein?
Im Grunde ist er schon genannt worden. Ich meine die Beschleunigung der
Intimität, wie sie gerade für das Interieurbild wichtig wurde. Als die Propa-
gandisten der zentralperspektivischen Bildordnung sich darauf einigten, den
Augpunkt des Betrachters mit dem Fluchtpunkt des Bildes zu verschmelzen,
hatten sie etwas im Sinn, was man die Erschaffung eines Raumzwillings nen-
nen könnte: Die beiden Pole sind gleichsam eineiig geworden durch den
Versuch, sie möglichst eng aufeinander zu beziehen. Auf diese Weise sind
Bild- und Betrachterraum zu einem unzertrennlichen Paar zusammengewach-
60 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

sen. Weil die eine Hälfte den Anspruch auf Unvergänglichkeit erhob, während
die andere weiterhin zur vergänglichen, irdischen Welt gezählt wurde, spreche
ich in Ahnlehnung an die antike Legende vom ungleichen Zwillingspaar von
ihnen als die Dioskuren einer Kunstgeschichte des Illusionismus. An der
Schnittstelle der ästhetischen Grenze neigte sich nun jede Hälfte der anderen
zu. Die zentralperspektivische Raumkonstruktion ermöglichte einen imaginä-
ren Durchgangsverkehr zwischen dem Bereich des Betrachters und dem des
Bildes. Sie bildete eine Form der gegenseitigen Zuwendung und gegenseitigen
Einwohnung aus.
Das Genre der Interieurmalerei entwickelte sich Hand in Hand mit jener
Tendenz des Bildes heran, sich räumlich zu verkapseln und axial nach einer
Schauseite auszurichten. Die bewußte Teilhabe an dieser Tendenz zeugt von
seiner Modernität. Gerade das Interieur formulierte gattungstypisch aus, was
sich allgemein verändert hatte: daß das diskontinuierliche Raumgefüge mittel-
alterlicher Darstellungen zu einem einheitlichen Schauplatz zusammengefaßt
wurde, sich der polyphone Chor mehrteiliger Bildprogramme zu einem Dialog
beruhigte und die Botschaft hauptsächlich auf einem Hauptkanal zum Emp-
fänger weitergereicht wurde. Der Raumschacht des Interieurbildes betonte es
nur noch einmal besonders. Er richtete das Bild nach vorne aus, bis es sich wie
ein Korridor auf uns zustreckte. Die Bildoberfläche weitete sich zum Entree,
zum Fenster, zur Tür. Man glaubt, eintreten zu können. Tatsächlich kommt ja
die Tatsache, daß sich die neuzeitliche Raumflucht wie ein Teppich in die
Tiefe ausrollt, einer Einladung an den Betrachter gleich, sich en filade auf
einen unendlich fernen Herrscher zuzubewegen. Sie erscheint solange betret-
und begehbar, bis sie an einer unendlich klein gewordenden Stelle ins Nicht-
mehr-Darstellbare umschlägt.
Die Perspektivzeichnung der Neuzeit war eine Art gemalte Infinitesimal-
rechnung, deren sehnsüchtiges Verlangen, etwas zu berühren, was
unberührbar ist, und an etwas teilzunehmen, was nicht mehr in unserem Be-
reich liegt, wahrscheinlich das größte Verständigungsproblem
wiederspiegelte, das den modernen Menschen befallen konnte. Jedenfalls
stellte es die schwierige Aufgabe an den Maler, Empfangsräume für den Be-
trachter zu schaffen oder Entwürfe anzubieten, die ihm noch die abstrakteste
und entrückteste Stelle zum Greifen nahe erscheinen ließen. Wo in der mittel-
alterlichen Malerei Unendlichkeit durch Goldfarbe suggeriert wurde, stand
jetzt das entschlackte Integral des zentralperspektivischen Fluchtpunkts. Auf
der anderen Seite können wir die Leserichtung kurzerhand umdrehen: Dann
erstreckt sich der Raum vom Fluchtpunkt aus in Richtung des Betrachters -
ein scheinbar begehbarer, solider Kastenraum, in den man für eine Weile hin-
einschlüpfen kann. Das Interieurbild nahm an einer der erfolgreichsten
Wärmeaktionen der Neuzeit teil, die auf den räumlichen Entfernungsprozeß
mit einem neuen Näheversprechen antworteten. Und obwohl dieser Satz so
LF.F.RK RÄUME 61

einfach erscheint, ist er für das Verständnis der Gattung des Interieurbilds
besonders wichtig. Die Interieurmalerei ist eine Gattung bewußter Nähebil-
dung. Sie steht ein für die Akklimatisierung von Bild- und Betrachterraum.
Hinter allem waltet der Wunsch nach direkter Kommunikation - der direkte
Zugriff der Neuzeit.
Die Zentralperspektive als Klimatechnik? Meine Behauptung ist, daß sich
der perspektivische Bildaufbau äußerst erfolgreich darum bemühte, eine Art
Vakuum samt Sogkraft auszubilden, damit zwei Hälften zusammenfallen und
zu einem einzigen Raum und einem einheitlichen Klima verschmelzen konn-
ten. Betrachter und Bild sollten so nahe zueinandergeführt werden, daß sich
ihre Lebensräume zu überlagern begannen und ihre Grenzen verwischten. Am
Ende stand ein Selbstergänzungsreigen, etwas, was in der neueren Innenraum-
forschung in bewußter Absetzung von den klassischen Trennungsgedanken
die Herausbildung einer einzigen Subjektivität genannt wird. Gerade im Zeit-
alter des Barock können wir beobachten, wie Anziehungskräfte mobilisiert
und Bezüge über die ästhetische Grenze hinweg geknüpft wurden, um die -
nach barocker Ästhetik - allzu lose ineinandergeschlungene Verbindung von
Bild- und Betrachterseite zu straffen und in eine solide Struktur zu bringen. Es
ist ein interessanter Vorgang, der hier seinen Lauf nahm. Niemals zuvor war
derart deutlich geworden, daß der Verständigungsakt zwischen Menschen im
großen und ganzen räumlicher Natur war, während als Pointe die zusätzliche
Erkenntnis heranreifte, eine Maler müsse eine solche Beziehung in Gang set-
zen. Gerade ein Interieurmaler gewährt dem Betrachter Einblick in eine
scheinbar abgeschlossene und private Sache. Dieser wiederum zögert kaum,
über die Schwelle zu treten und sein Gegenüber zu betrachten. Und sofort
beginnen sich zwei Zirkel der Zugehörigkeit übereinanderzulagern und zu
verbinden.
62 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb.ll: Jan Vermeer, Briefschreiberin mit Dienstmagd, um 1670, Dublin, National Gallery of Ireland
LEERE RÄUME 63

Dramaturgie der Zentralperspektive

Briefschreiberin mit Dienstmagd

Interessant wird es, wenn man in die Praxis überwechselt und sich den Vor-
gang anhand einzelner Bilder vor Augen führt. Vermeer kannte die
brückenschlagende Kraft der Zentralperspektive und hat sie in seinen Werken
dementsprechend eingesetzt. Ich habe Vermeers Gemälde Briefschreiberin
und Dienstmagd ausgewählt, das um 1670 entstanden ist.
Vermeers Schilderung einer häuslichen Szene - das Verfassen eines Brie-
fes, der bald aus der Hand gegeben und einer Magd anvertraut wird - soll uns
an dieser Stelle weniger ihres Inhalts, sondern hauptsächlich ihres räumlichen
Aufbaus wegen interessieren. Die kleine Szene spielt im Zimmer eines hollän-
dischen Bürgerhauses. Man vermutet, daß es sich um ein Zimmer in Vermeers
Haus in der Oude Langendijck handelt, dessen untere Etage er mit seiner Frau
und seinen Kindern seit etwa 1660 bewohnte und in dessen oberer Etage er
sein Atelier hatte21. Dann würde das Fenster mit großer Wahrscheinlichkeit
zur Straße schauen und durch seine Lage den Blick der Magd erklären, die in
sich versunken, mit gewendetem Kopf und verschränkten Armen auf den
Moment wartet, in dem sie den Brief entgegennehmen und auf die Straße
treten wird, um ihn an einem anderen Ort wieder abzugeben. Die Geschichte,
die auf diese Weise erzählt wird, hat unseren Blick allerdings abschweifen
lassen: von der Briefschreiberin zur stehenden Magd und weiter zum Fenster,
hinter dem wir - im Bildfeld gar nicht mehr vorhanden- einen Ort vermuten,
an dem die Handlung ihr Ende nimmt. Dabei sind wir nach kürzester Zeit aus
dem Zimmer herausgeschlüpft. Descartes hätte unsere Methode, dieses Inte-
rieur zu untersuchen, insofern getadelt! Der Bildregie nach befinden wir uns
im Wohnraum der Briefschreiberin und verlassen ihn schon nach wenigen
Minuten. Natürlich können wir jederzeit zurückkehren und uns weiter in ihm
aufhalten, aber unser Leseverhalten gleicht stark jenen Reisenden, denen Des-
cartes vorgeworfen hatte, „sich bald in diese, bald in jene Richtung" zu
wenden und, anstatt einer deutlichen Raumlogik gefolgt zu sein, in einem
Wegenetz ohne Anfang und Ende verirrt zu haben. Aus demselben Grund
hatte Descartes vorgeschlagen, sich zielstrebig auf einen einzigen Punkt in der
Ferne zuzubewegen.
Auch das Interieur will die Aufmerksamkeit des Betrachters bündeln und
auf sich lenken, ehe es die Erzählung in Gang setzt und die Zügel dafür lok-
kert. Durch den Einsatz des zentralperspektivischen Fluchtpunkts setzt es ein

:l
Die Heirat zwischen Catharina Thins und Johannes Vermeer fand 1653 statt, aber erst seit 1660 gibt
es urkundliche Hinweise auf ihren Wohnsitz. Nähere Angaben in Kapitel 2, ,Das Innenleben einer
Stadt, Das Innenleben eines Hauses'.
64 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Zeichen im Sinne eines ,Sieh her' bzw. ,Sieh mich an'. In Vermeers Brief-
schreiberin und Dienstmagd nimmt sich die Geste ebenso einladend wie
bestimmt aus. Der Weg wurde dieses Mal gänzlich freigeräumt. Nichts soll
den Betrachter daran hindern, zur tiefen Stelle des Innenraums vorzudringen,
an der die Magd versunken steht. Sie ist mit ihren Gedanken so sehr abwe-
send, daß sie sich der Gegenwart eines Betrachters nicht bewußt wird.
Gleichzeitig fällt auf, daß sie ihm in der Haltung und dem Umstand, ebenfalls
eine Betrachtende zu sein, ruhig, mit ineinanderverschränkten Armen und in
sich gekehrt, auf überraschende Weise ähnelt. Dieselbe Konzentration auf
ihrer wie auf seiner Seite - und dennoch streicht sein Blick nur leicht am
Saum ihres Rocks entlang: Diese beiden Betrachtenden verpassen sich sozu-
sagen. Ihre Blicke gleiten in verschiedene Richtungen auseinander und ihre
Körper wenden sich langsam voneinander ab. Der Maler hat etwas ganz ande-
res im Sinn. Er versucht die Aufmerksamkeit des Betrachters an der Magd
vorbei und weiter zur sitzenden Figur am Tisch zu lenken. Von dort aus führt
er ihn durch das blendende Weiß eines Ärmels hindurch in Richtung Gesicht,
in Richtung Auge der Briefschreiberin. Noch heute können wir den Nadelein-
stich erkennen, mit dem Vermeer während der Konstruktion des Raumes den
Fluchtpunkt markierte, fein säuberlich im von uns aus gesehen linken Auge
der Bildfigur. Und dabei hat er, Hermetik versprechend, wo keine zu erwar-
ten wäre, zwischen ihr und dem Betrachter ein unlösbares Band geschlungen.

Im Falle Vermeers haben sich das Auge des Malers, das des Betrachters und
das der Briefschreiberin übereinandergeschoben. In gewisser Weise deutet das
auf ein Einverständnis zwischen den einzelnen Teilnehmern, weil jeder den
gleichen Standpunkt bezieht und sich dadurch besonders leicht mit den ande-
ren identifizieren kann. In Vermeers Briefschreiberin müßte sich der

Insgesamt wurde der perspektivische Nadeleinstich in dreizehn Gemälden Vermeers festgestellt:


erstmals erscheint er im Soldat und lachenden Mädchen: zum weiteren in der Milchmagd, der Berliner
Darstellung eines Herrn und Dame heim Wein, der Musikstunde, dem Astronom, dem Geographen, der
Malkunst, dem Amsterdamer Liebesbrief, der Dame mit Waage, der Briefschreiberin mit Magd, der
Allegorie des Glaubens, der Stehenden Virginalspielerin und der Sitzenden Virginalspielerin. Zur
genauen Anwendung des perspektivischen Hilfsmittels vgl. die Ausführungen von Wadum, Jörgen:
Vermeer in Perspective, in: Vermeer, Ausstellungskatalog Washington, Den Haag 1996, S.67ff: „Thir-
teen paintings still contain physical evidence of Vermeer's System, by which he inserted a pin, with a
string attached to it, into the grounded canvas at the vanishing point. With this string he could reach
any area of his convas to correct orthogonals, the straight lines that meet in the central vanishing point.
(...) To transfer the orthogonal Iine described by the string, Vermeer would have applied chalk to it.
While holding it taut between the pin in the vanishing point and the fingers of one hand, his free hand
would have drawn the string up a little and let it snap back onto the surface, leaving a line of chalk.
This could then have been traced with a pencil or brush." In einem neueren Aufsatz gibt Wadum
bereits fünfzehn Gemälde mit erkennbarem Einstichsloch an (Wadum, Jörgen: Vermeers zielgerichtete
Beobachtungen, in: Johannes Vermeer. Der Geograph und der Astronom nach 200 Jahren wieder
vereint, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a.M. 1997, S.32)
LEERE RÄUME 65

Abb. 12:
Visuelles Fangnetz aus Perspektivfäden. Rekonstruktion der .geometrischen Spinne' bei Vermeer
66 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

.,,.... _-»»- Mario Bettino: Apiariorum philosophiae


—E—'" - mathematicae, Bologna 1645

Betrachter auf einen Stuhl setzen, um die richtige Augenhöhe einzunehmen.


Das wäre der ihm zugedachte Ort. Im übrigen entspricht er genau der Position,
die der Maler während des Malprozesses innehatte, denn Vermeer arbeitete an
seinen Bildern hauptsächlich im Sitzen. Keine perspektivische Auf- oder Un-
tersicht beherrscht das Bild, sondern die unbedingte Gleichschaltung aller
beteiligten Personen. Letztendlich ergibt sich daraus ein ungewöhnlich strin-
genter Zusammenhang. Maler, Betrachter und die Hauptfigur des Gemäldes
teilen sich nicht nur einen gemeinsamen Augpunkt, sondern sind sich auch in
ihren Tätigkeiten und in ihrer Körperhaltung ähnlich. Alle drei muß man sich
sitzend und in sich versunken vorstellen, den Blick auf eine Fläche gerichtet,
die entweder schon beschrieben wurde oder erst noch beschrieben werden
muß. Vermeer beispielsweise bedeckte die vor ihm liegende Leinwandfläche
mit Farben und Formen, das heißt mit Zeichen bzw. einer Textur. Ähnlich
verhält sich die Dame am Tisch, wenn sie ein Blatt Papier beschreibt. Doch
um welche Nachricht handelt es sich? Die Ikonographie der Zeit läßt einen
Liebesbrief vermuten, aber selbst wenn wir uns bei Vermeer diesbezüglich
niemals ganz sicher sein dürfen, bleibt es bis zuletzt ein Brief, der Bindungen
herstellt oder eine Botschaft enthält, die an einen Empfänger weitergeleitet
wird. Die Magd blickt aus dem Fenster nach draußen: Dorthin wird er wan-
dern. Andererseits hat Vermeer seiner Briefschreiberin mit dem Bildbetrachter
am anderen Ende des Raumes einen konkreten Rezipienten zugespielt.
LEERE RÄUME 67

Den Inhalt ihres Briefes wird er allerdings nicht kennenlernen. Er ist vielleicht
der Rezipient der Bildfläche, aber diese Fläche besitzt eine geheime Stelle, die
niemals vollkommen aufgedeckt und gelesen werden kann. Die Bildstruktur
umkreist eine leere Mitte, die unsere Aufmerksamkeit etwa in dem Maße auf
sich zieht, wie es ein geheimes Versteck tut. Vorhin ist festgestellt worden,
wie sehr die Briefschreiberin mit dem Anblick des Betrachters konfrontiert
wird, wenn sie von ihrem Schreiben aufsieht. Doch Vermeer stellt beide Figu
ren nicht wirklich Auge in Auge gegenüber, sondern läßt ihre Beschäftigungen
parallellaufen. Auf die gleiche Weise, wie die Schreiberin ihre Augen senkt,
versenkt Vermeer die Botschaft im Bild und überläßt es dem Betrachter, sie zu
heben oder nicht. Die Magd blickt zum Fenster, die Schreiberin auf ein Blatt
Papier, der Maler auf die Leinwand und der Betrachter auf das Bild. Überall
finden wir das Thema der Selbstversunkenheit vor, ohne daß einer den ande
ren darin stören wollte.

Soldat und lachendes Mädchen

Claude Troger hat einen kurzen Aufsatz zu Vermeers Anwendung der Per
spektive verfaßt und herausgehoben, welch wesentliche Element seines Stils
die Perspektive darstellt.23 Doch bis heute gibt es wenig Untersuchungen, die
sich eingehend mit der Raumkonstruktion in Vermeers Bildern beschäftigt
haben. Dabei fällt schnell eine Besonderheit bei der Wahl seines Fluchtpunkts
auf, die sich bei ihm immer wieder vorfindet. Vermeer hat sich meist die
strukturell labilste Stelle ausgesucht, um sie mit dem Fluchtpunkt zu belegen.
In seiner Briefschreiberin mit Magd ist dieser gleichzeitig mit dem Augpunkt
der Hauptfigur und dem des Betrachters zusammengefallen. Dennoch kann
man nicht behaupten, sie wären bruchlos übergegangen. Der winzige Um
stand, daß zwar ihre Standorte verschmelzen, nicht aber ihre Blicke, besagt
sehr viel. Man kann erkennen, wie sehr wir es auf einer rezeptionstheoreti
schen Ebene mit Verständigungsversuchen und nicht mit wirklichen
Identifizierungen zu tun haben.
Solche Einsichten sind nicht neu. Denken wir an Vermeers frühes Gemälde
vom Soldat und lachenden Mädchen und an den intensiven Blickkontakt der
beiden Protagonisten. Offensichtlich wohnen wir einem Austausch zwischen
zwei Seiten bei. Doch erst in dem Moment, in dem die Wahl des Fluchtpunkts
berücksichtigt wird, kann das Ausmaß eingeschätzt werden. Der Gesichts
punkt befindet sich erneut auf gleicher Höhe mit dem Bildpersonal.

23
Siehe Troger, Claude: La Perspective chez Vermeer, in: Sciences de l'Art (1965), S.87 und S.96.
Neuere Ausfuhrungen zur technischen Konstruktion bei Wadum, Jörgen (1996).
68 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb. 15: Jan Vermeer. Soldat und lachendes Mädchen, um 1658. New York. The Frick CoUection
LEERE RÄUME 69

Anders als im Beispiel der Briefleserin fällt er jedoch nicht mit dem Auge der
Protagonisten zusammen, sondern sitzt irgendwo im leeren Raum zwischen
Soldat und lachendem Mädchen.24 Es ist allerdings fraglich, ob man ihn einen
leeren Raum nennen darf. Sicherlich ist er nicht sichtbar. Wo wir ihn uns vor-
zustellen haben, sehen wir nur ein leeres Stück Wand. Aber das tut der
Überzeugung wenig Abbruch, daß der Blickwechsel vollkommen in Bewe-
gung geraten ist. Wo sich eine Sicht und eine Gegensicht verschränken,
werden wie in jedem anderen Kommunikationsprozeß Botschaften verschickt,
nur eben sind sie ohne Worte; eine stille Post, wie man es Vermeer auch je-
derzeit bestätigt hat. Im Fall des leeren Zwischenraums spitzt sich die
Situation noch zu, weil durch die Plazierung des Fluchtpunkts eine zweite
kommunikative Schneise in Richtung des Betrachters geschlagen wurde. Und
so durchfluten Botschaften - visuelle Botschaften - auch jene rätselhafte,
zeitlose Zone zwischen Bild- und Betrachterraum, für die wir bis heute so
wenig Worte gefunden haben. In Vemeers Soldat und lachendem Mädchen
wird jeder unnötige Seitenblick ausgeschaltet. Deshalb können wir bereits für
Vermeers frühes Gemälde feststellen, daß es die Aufmerksamkeit des Betrach-
ters bündelt, daß dieser Versuch jedoch bei weitem nicht die unvermeidbare
Konsequenz nachsichzieht, den Blick zu vertäuen und zur Handlungsunfähig-
keit zu verurteilen. Wie zum Trotz bleibt die Stelle ein unsichtbarer Ort voller
ungesagter Sätze; labil, wandlungsfähig, innerlich erregt.
Der Betrachter soll ihn wohl interpretieren. Und genau das tut er, wenn er
sich auf der beweglichen Bahn des Blickaustauschs wiederfindet. Er pendelt
zwischen links und rechts und sucht die Art der Verständigung nachzuvollzie-
hen, die zwischen Soldat und Mädchen entstanden ist und zu einem
strahlenden Wärmefeld heranwächst. Irgendwann schlägt er den Bogen zu
sich zurück. Was wir gemeinhin einen Verständigungsprozeß nennen, ist hier
in vollem Maß herangereift. Beide Pole beanspruchen einander, und zwar
derart, daß ihr Zwischenraum zu pulsieren beginnt, sein Klima sich erwärmt,
seine Grenzen sich dehnen und strecken, sein Innenleben mit Bedeutung ange-
reichert wird. Das Ideal der Neuzeit besteht darin, jede in Raum und Zeit
stattfindende Bewegung anzuhalten. Dennoch geht der Gedanke völlig an der
Tatsache vorbei, daß Kunst nicht mit leeren Klammern oder leeren Räumen
arbeitet, wenn sie nicht sofort wieder vorhätte, diese anzufüllen und in Bewe-
gung zu setzen. Das leere Stück Wandfläche in Vermeers Soldat und
lachendem Mädchen beispielsweise, genauergesagt der unsichtbare Zwischen-
raum vor diesem Wandstück, ist ein äußerst belebter Umschlagplatz, an dem
sich Blicke treffen, tauschen und verständigen. Wir können ihn sogar als ex-
pansiven Raum begreifen, das heißt als einen Raum, der sich dehnt und wölbt,

~l Der zentralperspektivische Nadeleinstich wurde von Vermeer erstmals in Soldat und lachendes
Mädchen angewandt.
70 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

im Gegensatz zum Hohlraum, der uns an das Bild heranzieht. In der Tat lassen
sich die Zusammenhänge zwischen Perspektive und inhaltlicher Dichte eines
Interieurs dahingehend interpretieren, daß Vermeer zur Entfaltung der Phanta-
sie leere Räume benötigte. Sie fungieren als offene Aufnahmebehälter für die
Einbildungskraft des Betrachters. Der Betrachter bildet sich in die geräumte
Stelle hinein. Es ist kein ,Mit-der-Tür-ins-Haus-Fallen' nach Art und Weise
moderner Identitätslogiken, sondern ein prozessualer Einzug, bei dem der
Raum stückweise eingerichtet wird.
Weil Vermeer den Fluchtpunkt seiner zentralperspektivischen Raumkon-
struktion auf labile, gelenkige Bildstellen setzte, wird auch die Blicklinie des
Betrachters beweglich gehalten. Für Vermeer allerdings ist bezeichnend, daß
er trotz der Beweglichkeit seiner Bildstruktur gewagte Seitenblicke vermied.
In Soldat und lachendes Mädchen pendelt der Blick des Betrachters haupt-
sächlich zwischen den beiden Figuren, während Vermeer weitere
Ablenkungen als Störung ansah. Deswegen gilt er als konzentrierter, intensi-
ver Maler. Wenn es so etwas wie eine Handlung bei ihm gibt, dann die eines
ruhigen Dialogs, bei dem zwei Seiten miteinander kommunizieren. Deswegen
ist es bezeichnend für ihn, daß er in seine Kompositionen meist nicht mehr als
ein oder zwei Bildfiguren aufnahm. Nur in wenigen seiner Interieurs treffen
wir auf drei Bewohner, und niemals sind es mehr. Die häufig auftretende Dar-
stellung von Einzelfiguren stellte ihn vielmehr vor das entgegengesetzte
Problem, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf Dauer zu sehr auf einen
Punkt zu konzentrieren und seine Bewegung einfrieren zu lassen. Indem Ver-
meer um diese Stelle eine leichte Unruhe aufkommen ließ - so als wäre sie der
Mittelpunkt eines nervösen, zerbrechlichen Geföges -, fiihrte er Berührungen
mit der ganzen, sie von allen Seiten umschließenden Bildstruktur herbei. Mit
jeder Bewegung wächst die Tätigkeit des Betrachters, vergrößert sich sein
Handlungsspielraum.

Brieflesendes Mädchen a m offenen Fenster

Diesmal befindet sich der Fluchtpunkt genau an der Kante des gemalten Vor-
hangs. Für den Betrachter ist er in bequemer Höhe angebracht. Das Verhältnis
zwischen ihm und dem Mädchen wird durch keine Unter- oder Aufsicht ver-
zerrt. Der Betrachter muß sich auch nicht setzen. Er ist ihr, das fällt vielleicht
als erstes auf, in diesem Fall gleichgestellt.
Außerdem hat Vermeer ihm über den Umschlagplatz des Fluchtpunkts einen
Gegenstand zugespielt, mit dem sich etwas anfangen läßt. Man möchte den
Vorhangstoff bewegen und zur Seite ziehen. Und mehr noch: Die Bildwirk-
lichkeit scheint aus dem Bereich von Farbe und Form hinaus- und in die Welt
der Körper hineinzureichen, wobei sich der rein visuelle Wahrnehmungsakt in
LEERE RÄUME 71

einen handgreiflichen, äußerst zupackenden Vorgang verwandelt. Erneut ist


die Kante des Vorhangs ein instabiler, unruhiger Ort. Seine augenblickliche
Lage kann sich alleine schon durch einen Windstoß oder einen kurzen Ruck
verändern. Nicht umsonst hängt sie an einer Schiene, die dafür gemacht ist,
den Stoff nach links oder rechts gleiten zu lassen und dem Betrachter mit jeder
neuen Position einen veränderten Einblick zu gewähren. Aber entscheidend in
diesem Vorgang ist vor allem die Aktivität eines tastenden Blicks. Jeder wird
sie entwickeln, der den visuellen Angriffspunkt „begriffen" und in die Tat
umgesetzt hat. Die feste Verankerung der Zentralperspektive scheint gelok-
kert, und der Blick des Betrachters kann wie ein losgetäutes Boot über das
Bildfeld driften. Diese Feststellung bedeutet nicht wenig. Sie besagt, daß das
gemeinhin doch für ein fixes System gehaltene Prinzip der Zentralperspektive
von Vermeer konterkariert wurde. Das gesamte Bild ist darauf aufgebaut, daß
Vermeer dem Betrachter den Ball in die Hand spielt. Nun ist es an ihm, das
Gemälde schrittweise und zuweilen sprunghaft in Augenschein zu nehmen.
Sein Sehverhalten hat sich von der Maßregelung der Perspektive befreit. Und
sofort geht eine Steigerung der Sensibilität des Betrachters einher. In diesem
Bild wurde die Verbindung zwischen Auge und Hand, und das heißt zwischen
den visuellen Reizen der Außenwelt und den Reizen, die sie auf unseren Fin-
gerkuppen hinterläßt, vom ersten Moment an gezogen.
Wir nähern uns einem vergleichsweise heiklen Thema, das für Vermeer
niemals ausdiskutiert wurde. Er wird gerne als Künstler geschildert, der für
den distanzierten Betrachter malte. Seine Menschen wollen für sich sein. All
unsere Sehnsüchte und Wünsche konzentrieren sich auf seine Gemälde, weil
sie - ein Vergleich, den schon Proust auf sie anwandte - ihre Schönheit vor
unseren Augen wie tanzende Schmetterlinge ausbreiten, ohne eine konkrete
Berührungsmöglichkeit zu bieten. Dennoch wäre diese Behauptung von Ver-
meer wahrscheinlich gar nicht erst verstanden worden. Vermeer ist sehr darum
bemüht, konkrete Berührungsflächen herzustellen und Bande zum Betrachter
zu schlingen, die nicht allein auf das Auge beschränkt bleiben, sondern den
gesamten Körperhaushalt des Rezipienten in Betracht ziehen. Die Verbin-
dung von Auge und Hand tritt in seinen Bildern als zusätzliches Leitmotiv in
Erscheinung und erweitert die bildnerischen Möglichkeiten zwischenmensch-
licher Kontaktaufnahme erheblich. Natürlich kann man sich fragen, wie es
möglich ist, mit rein visuellen Mitteln haptische Qualitäten zu steigern. Ver-
meer gelingt das auf zweierlei Weise. Zum einen führen viele seiner
Bildfiguren Tätigkeiten aus, bei denen ihr Blick und ihre handwerkliche Be-
schäftigung genauestens aufeinanderabgestimmt sind - der konzentrierte Blick
:
~ Vgl. Schneider, Gisela und Laermann, Klaus: Augen-Blicke, in: Kursbuch 49 (1977), S.51: „Lust ist
das Schauen als Ersatz von Berührungen. Das Abtasten der Wirklichkeit nach begehrten und begehrli-
chen Objekten vollzieht sich wesentlich durch den Blick (...). Es gibt keinen befreiten Blick ohne Lust,
und die ist in allen ihren Formen auf (wie immer sublimierte) Berührung aus."
72 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb. 16: Jan Vermeer, Brieflesendes Mädchen (Ausschnitt), um 1657, Dresden, Gemäldegalerie
LEERE RÄUME 73

Abb. 17: Jan Vermeer. Der Astronom. 1668. Paris. Louvre


74 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb. 18: Jan Vermeer. Dienstmagd mit Milchkrug, um 1658-60. Amsterdam. Rijksmuseum
LEERE RÄUME 75

der Spitzenklöpplerin auf ihr Handwerk beispielsweise und der der Brie-
feschreiberin auf ihren Stift; der feste Griff, mit dem die Dresdener Brie-
feleserin den Brief hält; die Dame mit Perlenhalsband, die sich beim Schleife-
binden im Spiegel betrachtet; der Blickwechsel und das Händespiel des
Soldaten und lachenden Mädchens oder allem voran die Malkunst, wo die
Hand des Malers zum Pinselstrich ansetzt. Einmal bewußt geworden, daß es in
keiner Darstellung Vermeers eine nachlässig plazierte Hand gibt, wird uns
diese Beobachtung niemals wieder loslassen.
In seiner Darstellung des Astronom im Pariser Louvre beispielsweise fällt
der Gesichtspunkt des Betrachters mit dem Handgelenk des Protagonisten
zusammen. Der Astronom will dem Himmelsglobus gerade eine leichte Dre-
hung versetzen, und weil der Betrachterstandpunkt durch diesen Trick in das
Kraftzentrum der Bewegung hineinverlagert wurde, beteiligt sich der Rezi-
pient aktiv an dieser Handlung - obwohl die Himmelskugel natürlich
weiterhin an derselben Stelle verharrt. Der Maler arbeitete über einen langen
Zeitraum an der Konservierung eines Augenblicks, gibt aber dem Betrachter
Mittel zur Hand, die Bilder aus ihrer arretierten Stellung zu lösen. Nehmen wir
Vermeers berühmte Magd mit Milchkrug als letztes Beispiel. Der Fluchtpunkt
liegt knapp über der Hand der Magd, die damit beschäftigt ist, Milch aus ei-
nem Krug in eine Schale zu gießen. Der Betrachter ist an dieser Handlung
jetzt selbst beteiligt. Während des Milchausgießens müßte der Arm der Magd
langsam schräger gehalten werden, und weil das Auge des Betrachters beinahe
im Handgelenk sitzt, wird es die Bewegung imaginär fortsetzen und die Milch
zum Fließen bringen. Ein erneutes Anheben des Blicks zurück zum Flucht-
punkt, und der Fluß ist gestoppt, ein Überfließen verhindert.26 Das aber zeigt,
daß Vermeer den Bannspruch neuzeitlicher Repräsentation („Und nun stillge-
standen!") ein weiteres Mal brach. Vermeer interessierte sich für Bewegungen.
Mehr als wir dachten, verfuhr er nach den Vorstellungen eines Kinetikers.
nicht eines Statikers. Wobei sich seine Bilder Zeit, Raum, Mobilität erhalten.

:
'' Wenn in diesem Bild wirklich die Allegorie der zur Mäßigung aufrufenden Temperantia nachklingt,
dann finden wir sie - weit mehr als im Bildmotiv - auf diesem winzigen Stück Leinwand vor, wo das
Auge des Betrachters nach oben und unten wandern und das Wie und Wann seiner Tätigkeit feinstens
abstimmen kann. Es ist also gar nicht mehr so sehr die Magd, sondern der Betrachter, der dem maßvol-
len Aufruf nachkommt.
76 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Die rezeptive Netzhauttheorie


„Denn alle Körper sind / wie Slröme / in einem stetigen
Ab- und Zuflüsse / allwo ohne Unterlaß gewisse Teile
hineinfließen / gewisse aber heraus treten."

(G. W. Leibniz, Monadologie)

Interieurmaler der Neuzeit arbeiteten mit Eifer daran, räumliche Zellen zu


errichten, in die der Betrachter eindringen konnte. Ein Bild sollte den Betrach-
ter gefangennehmen und von allen Seiten umschließen. Seine Emotionen
sollten angesprochen und aktiviert werden. Dieses Vorhaben berührte ein
Grundproblem des 17. Jahrhunderts, das die vielen Diskurse über eine richtige
Lebensführung bestimmte, mit denen der Büchermarkt geradezu über-
schwemmt wurde. Es wurde eine Trennung gezogen zwischen den
Möglichkeiten, von der Umwelt affiziert zu werden oder im Gegenteil selbst
auf sie einzuwirken, aktiv zu handeln oder etwas lediglich zu empfangen, zu
lenken oder zu leiden. Der Tenor ging dahin, sich unabhängig von jeder Art
von Außeneinfluß zu machen. Descartes ist da nur ein - wenngleich sehr pro-
pagandistisches - Beispiel für viele.
Eines ist damals besonders wichtig geworden. Zum einen war es entschei-
dend festzustellen, auf welcher Seite man sich bei einer Handlung befand. Der
aktive Part wurde bevorzugt. Zum anderen wurde die Frage nach der Beschaf-
fenheit der Botschaft immer ausschlaggebender. Daß diese Frage gestellt
wurde, lag an dem Glauben, eine Einwirkung von außen hinterlasse bleibende
Eindrücke oder fließe in den Körper ein. Sie kam nicht nur einer kurzen Be-
rührung gleich: Die Kräfte wechselten ihren Aufenthaltsort ähnlich einem
abgeschossenen Pfeil, der am anderen Ende stecken blieb oder einer Flüssig-
keit, die von einem Krug in einen anderen geschüttet wurde. Der Mensch glich
einem kostbaren, äußerst zerbrechlichen Gefäß, angefüllt mit etwas, was man
in leichter Abwandlung entweder die menschliche Seele, die Lebensgeister,
die innere Kraft oder Energie nannte.
Von Constantijn Huygens gibt es dazu einen treffenden Vergleich. 1647
hatte er Lukretia van Trello eine Dichtung mit dem Titel Oogentroost21 zu-
kommen lassen, denn Lukretia war auf einem Auge erblindet. Auf die Frage,
warum Gott diesen Schicksalsschlag zugelassen hatte, antwortete Huygens in
einem Gleichnis: Gott, den er übrigens als Pottebacker' bezeichnete, hätte
lediglich ein zur Außenwelt führendes Fenster geschlossen.29 „Gott hat unser
Ziel mit besserem Licht versehen, er schlägt einen anderen Strahl zu inneren

:7
Holl.: Augentrost
28
Holl.: Töpfer
:9
Vgl. Huygens, Constantijn: Ooghen-Troost, Groningen 1984, S.12:
LEERE RÄUME 77

Eerüjckc tryagit.
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Abb. 19: Jacob Cals, Ein falscher Schritt, und das Glas
ist zerbrochen, aus: Alle de Wercken, Amsterdam 1658

Reichtümern..." Seiner Argumentation zufolge war es gar nicht so wichtig,


als Handelnder in Erscheinung zu treten, solange man aufmerksam über seinen
Inhalt wachte. Angesichts der menschlichen Situation in der Welt - inmitten
von ihr, von ihr umgeben zu sein - mahnte das 17. Jahrhundert jetzt deutlich
an, sich der Umgebung gegenüber wachsam zu verhalten. In diesem Zusam-
menhang galt die Warnung natürlich vor allem den Ohren und Augen als
entscheidenden Eintrittsluken des menschlichen Körpers: „Auch vom Haus
hält man überall die Winde durch verriegelte Türen und geschlossene Fenster
ab. Die Ohren und die Augen aber sind es, die man dem Satan überall als ver-

„Maer God, God, Parthenin. die dese lichten stichle


En altoos stoppen magh. God vliegt ons in 'tgesichte:
Ofseght maer, mogelick, Komt, kinderen. te bedd.
Ick treck een' venster toe... "
(„Aber Gott, Gott, Parthenin, der diese Augen machte
und allzeit schließen mag, raubt uns auch unser Sehvermögen;
Oder er sagt möglicherweise nur, Kommt zu Bett, Kinder,
Ich schließe ein Fenster...")
Huygens(1984), S.16f:
,. Maer God heeft onse ziel met beter licht versien,
Daer slaet een' ander' strael naer binnen ob wat rijkers. "
78 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

schlossene Türen entgegensetzen sollte," heißt es im frühbarocken Emblem-


buch des Theodore de Beze. Hier ist es noch die konkrete Gestalt des Satans,
der sich ins Innere einschleichen konnte. In den Zinne-Poppen der Anna Roe-
mers Visscher von 1620 wird das menschliche Innenleben mit einem
durchfensterten Zimmer verglichen, das das helle Tageslicht, nicht aber die
Unwetter des Lebens eintreten läßt. Nach Visscher zeichnete sich ein solcher
Innenraum hauptsächlich durch zwei simultan auftretende Eigenschaften aus:

Abb.20: Theodor de Beze, Haus im Sturm mit Abb.21: Anna Roemers Visscher,
verschlossenen Fenstern und Türen, aus: leones Licht en dicht, aus: Zinne-Poppen,
id est verae imasines, Genf 1580 Amsterdam ca. 1620

Licht en dicht sollte er sein, geöffnet und geschlossen zugleich. „Manches


tugendhafte Herz hält die Stürme der Welt von sich ab, keineswegs aber ver-
schließt es sich dem Licht der Worte Gottes,"32 lautet das beigefügte
Epigramm. Wir sollten auf den Originalton des Wortes sluyten achten, der an
die regulierende Funktion einer Schleuse denken läßt. Bislang war der Mensch
zumeist als Gefäß, Haus oder Zimmer bezeichnet worden. Zu seinem Schutz
mußten möglichst sorgfältige Maßnahmen ergriffen werden. Die Außenein-
flüsse hätten seine innere Ordnung aus dem Gleichgewicht bringen oder sogar
gänzlich zerstören können. Der Gott in Huygens Dichtung hatte für Lukretia

31
Beze, Theodore de (Theodorus Beza): Icones id est verae imagines, Genf 1580:

„Obiectis ventosforibus, clausisquefenestris,


Estque etiam tota mos prohibere domo.
Ast aures, oculique, hae sunt utrinque decebat
Quas Satanae clausas opposuiße fores. "

32
Visscher, Anna Roemers: Zinne-Poppen, Alle verciert met Rijmen, en sommighe met Proze,
Amsterdam ca. 1620:
„ Op menigh deughdigh hert, des werelt buyen stuyten,
Maer 't licht van Gedes woordt, en sluyt het geensins buyten. "
LEERE RÄUME 79

ein Fenster geschlossen; Descartes wollte, ganz wie Beza es oben vorgeschla-
gen hat, die „Augen schließen, seine Ohren verstopfen und alle seine Sinne
ablenken". Und dennoch ist es ein Irrtum anzunehmen, die Argumentation
hätte die vollkommene Verkapselung des menschlichen Innenraums zum Ziel
gehabt. Constantijn Huygens kam zu dem Schluß, daß ein erblindetes Auge
keinen wirklichen Verlust bedeutete, auch nur, indem er erklärend hinzufügte,
sie beide, Lukretia und er, hätten schon lange Gelegenheit gehabt, im Buch

Abb.22: Theodor de Beze, Stadt von Gottes Abb.23: Jan Vermeer, Glaskugel,
Hand an einem Faden gehalten, aus: leones id Allegorie des Glaubens (Detail),
est verae imagines. Genf1580 1671/74, New York. Metropolitan

des Lebens zu lesen. Eine strikte Kontrolle war vonnöten, um die Einflüsse
zu regulieren. Aber das mußte noch lange nicht bedeuten, daß sich sein Be-
wohner von der Außenwelt distanzieren sollte. Die menschliche Hülle sollte
die Funktion einer Festung übernehmen. Genausogut war sie jedoch durchläs-
sig für das, was einzudringen erlaubt und in vielen Fällen sogar erwünscht
war. „Zeichne eine Kugel, die, nur an einem dünnen Faden aufgehängt, von
der hohen Hand des höchsten Gottes gehalten wird. Eine solche Stadt bist du",
erklärte Beza und fügte dem an: „Es gibt nichts Festeres und nichts Bewegli-
cheres."j4 Fest und beweglich heißt es hier, während Visscher gesagt hatte:
Geöffnet und geschlossen zugleich. Die Glaskugel war das geeignete Symbol
für die Vorstellung, jedes menschliche Wesen zeichne sich durch die höchst
ambivalente Eigenschaft aus, selbständig zu sein und von anderen abzuhän-

" Huygens (1984), S.14:


„Nu hebben Ghij en ick de Wereld uijtgelesen... "

M
Beze, Theodore de (1580):
., Finge globum tenui quem libratum undique filo
Sustineat summi numinis alta manus,
Talis es urbs Christi de nomine dicta beato.
Qua nilfirmius es, mobiliusque nihil. "
80 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

gen, Eindrücke zu erhalten und weiterzugeben. Das Licht fiel bei Visscher
durch die Glasscheibe, während sie gleichzeitig eine schützende Begrenzung
markierte, Ruhe und Ungestörtheit versprach, kurz die Privation einleitete, die
für das bürgerliche Zusammenleben ebenso wichtig wurde wie die öffentliche
Begegnung auf den Straßen, dem Marktplatz, in den Kirchen oder Gasthäu-
sern. Die Städte bestanden jetzt aus dichten Konglomeraten einzelner Häuser
und diese wiederum aus Zimmern, in denen Menschen wohnten - Innenraum-
bewohner, die sich zusammenfinden und nach Belieben aus dem Weg gehen
konnten. Das zwischenmenschliche Zusammenleben glich dem gleichzeitigen
Existieren einzelner Körper, die sich in ständig wechselnde Konstellationen
brachten. Man muß sich nur das barocke Symbol der Glaskugel verdoppelt
und vervielfacht vorstellen, um sich ein Bild davon zu machen, was Leibniz in
seiner Monadenlehre wiederholt beschrieb. Die Einzelwesen waren bei ihm
fensterlos, weil sie von einer sensitiven Membran umschlossen waren. Durch
diese Kontaktmöglichkeit befanden sie sich in einem Netz feinster Beziehun-
gen und entwickelten einen sozialen appetit zu anderen Mitwesen.35
Sich hingezogen oder abgestoßen zu fühlen, sich zu öffnen oder zu schlie-
ßen gehört zur Grunddisposition aller psychischen, physischen oder sozialen
Aktivitäten und kann als solche auf die verschiedensten Tätigkeiten und
Wahrnehmungsvorgänge angewandt werden. Doch es war die Pupille des
Auges, die zur wichtigsten Schleuse des Menschen avancierte. Durch sie
drang die Außenwelt in verschiedenen Graden ein, und dann gab es noch die
zusätzliche Möglichkeit, die Augen zu senken, abzuwenden oder ganz zu
schließen. Denn die Wahrung der persönlichen Autonomie geriet sofort ins
Wanken, wenn der Anteil pathischer oder rezeptiver Vorgänge im Leben zu
hoch wurde. Descartes beispielsweise ertrug den Gedanken nicht, dem Men-
schen könnten Leiden oder Leidenschaften aufgezwungen werden. Aus
diesem Grund lehnte er den Gesichtssinn ab. Wenn das Auge ein Empfangs-
organ war, so seine Feststellung, dann mit ihm auch der ganze Mensch. Wäre
seine Wahrnehmung nichts anderes als eine Entgegennahme äußerer Reize
und sein Auge nichts weiter als ein geöffnetes Scheunentor, in das die Au-

Vgl. auch die Passagen in Leibniz' Monadologie:


§. 57. „Daß <Gott> nun alle erschaffenen Dinge nach einem jedweden / und ein jedwedes nach allen
andern eingerichtet und verfasset hat / solches verursachet / daß eine jede einfache Substanz gewisse
Relationen hat / durch welche alle die anderen Substanzen ausgedrucket und abgebildet werden / und
daß sie folglich ein beständiger lebendiger Spiegel des ganzen großen Welt-Gebäudes sei.
§. 58. Und gleichwie eine einzige Stadt / wann sie aus verschiedenen Gegenden angesehen wird / ganz
anders erscheinet / und gleichsam auf perspectivische Art verändert und vervielfältigt wird; so ge-
schiehet es auch / daß durch die unendliche Menge der einfachen Substanzen gleichsam eben so viele
verschiedene Welt-Gebäude zu sein scheinen / welche doch nur so viele perspectivische Abrisse einer
einzigen Welt sind / womach sie von einer jedweden Monade aus verschiedenen Ständen und Gegen-
den betrachtet und abgeschildert wird.
LEERE RÄUME 81

ßenwelt ungehindert eindringen konnte, dann müsste sich sein Besitzer in eine
Verteidigerposition begeben. Dadurch büßte das Auge an Autorität ein. Es
wurde zu einem rezeptiven, zu einem ,weiblichen' Wahrnehmungsorgan.
Descartes mußte es kränken zu wissen, daß es genau diese Entdeckung war,
die Kepler dem barocken Zeitalter zu Anfang des Jahrhunderts mit auf den
Weg gegeben hatte. In jedem Moment, in dem man mit offenen Augen in die
Welt sah, wurde etwas von außen in Empfang genommen.
Ein Exkurs soll zeigen, warum das neuartige Augenmodell in seiner Basis-
strukur Ähnlichkeiten zum gattungstypischen Raumaufbau in der Interieur-
malerei aufwies und beide sofort begannen, einen starken Bezug aufzubauen:
Interieurbild und Betrachterauge glichen sich in ihrer Funktion als
raum. Sie waren Gefäße, die angefüllt werden konnten.

Kurzer Werdegang der barocken Wahrnehmungstheorie

Diese begann unscheinbar in einem kleinen Büchlein von 1583. Wir befinden
uns an der Schwelle zum 17. Jahrhundert. De corpus humani structura et usu
ist ein medizinisches Werk von Felix Platter, einem Mitglied der Baseler Uni-
versität. Es ist deswegen so bemerkenswert, weil es in einem entscheidenden
Punkt, die Beschreibung und Erklärung der Augenphysiologie betreffend,
erstmals von der langen antiken und mittelalterlichen Sehtradition abwich.
Johannes Kepler hat sich nach eigener Auskunft davon anregen lassen.
Man kann schnell sehen, worin die entscheidende Neuformulierung be-
stand, wenn man Platters Abbildung zu Rate zieht, die er seinen
augenanatomischen Studien beigelegt hatte. Bis in das 16. Jahrhundert hinein
war bei Ärzten und Anatomen hauptsächlich Galens36 Beitrag zur Augenphy-
siologie richtungsweisend gewesen, nach dem die Kristallinse im
Augenzentrum für das eigentliche Bildersehen verantwortlich gemacht wurde.
Auf der vorderen Kapselhälfte sammelten sich die Lichtstrahlen der Außen-
welt und bewirkten einen Seheindruck, der die innere Flüssigkeit der Linse
veränderte. Das Auge trug seine Sehfähigkeit also quasi im Herzen: Aber wie
und an welcher Stelle wurde das auf der Linse gebündelte Bild zum Sehnerv
und weiter zum sogenannten Sitz der Lebensgeister getragen, wo es entschlüs-
selt werden konnte? Man war der Ansicht, daß die Netzhaut, die die
Augenrückwand halbkreisförmig bespannte, jede Veränderung des Organs

Gnech.-röm. Arzt, ca. 129 - 199 v. Chr.


82 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb.24: Felix Platter, Physiologie des Auges, aus: De corpus humani et usu, Basel, 1583

wahrnehmen und dem Sehnerv übertragen würde. Empfindungsfähig war


jedoch in erster Linie die Kristallinse selbst; sie benötigte die Netzhaut nur als
Vermittler, um die räumliche Distanz zur Nervenzentrale zu überbrücken.
Natürlich richteten sich auch alle geometrischen Klärungsversuche des Seh-
strahlenvorgangs nach der galenischen Tradition, so daß immer nur der Weg
bis zur Linsenvorderfläche nachvollzogen wurde - die Lichtstrahlen drangen
nach dieser Logik nicht weiter.
An der Wende zum 17. Jahrhundert vollzog sich der Wandel in zwei gro-
ßen Schritten: Bislang hatte man angenommen, daß die Kristallinse mit ihrer
dünnen Kapselhaut direkt mit Retina und Sehnerv verbunden war. Platter aber
zeigte - die anatomischen Studien wurden jetzt immer genauer - den Fehler
auf. Die Kristallflüssigkeit war von Nerven und Netzhaut getrennt und wider
Erwarten mit der Uvea verbunden. Diese Erkenntnis brach die alte Botschaf-
tenkette entzwei, nach der die Linse den Lichtreiz ,fühlen' und ihre
Empfindung mittels einer neuralen Direktverbindung weiterleiten konnte. Das
war wohl auch der Grund dafür, warum sich Felix Platter entschied, mit der
alten Vorstellung zu brechen und ausdrücklich die Netzhaut des Auges zum
Hauptorgan der Gesichtsempfindung zu erklären. Vielleicht hatte man inner-
halb der medizinischen Tradition schon seit längerem geahnt, daß der
netzhautartige Nerv der Augenrückwand empfindungsfähig sein mußte. Re-
naissanceanatomen wie Leonardo da Vinci und Andreas Vesalius hatten
jedenfalls in diese Richtung vorgearbeitet, aber sich noch nicht für eine derart
klare Formulierung entscheiden können, wie Platter sie in seinem kleinen
Buch lieferte: „Das Hauptorgan des Gesichtsinns <ist> nämlich der Sehnerv,
der sich zur hohlen Halbkugel des netzförmigen Nervs ausbreitet, sobald er in
das Auge eingetreten ist." 7

Platter, Felix: De corporis humani structura et usu. Libri III., Basel 1583, S.187
LEERE RÄUME 83

Erstmals wurde die Gesichtsempfindung anatomisch schlüssig der Netzhaut


zugeordnet. Das optische Bild, das von diesem Empfangsorgan wie von einem
halbkreisförmigen Schirm aufgefangen wurde, stimulierte im weiteren den
Hauptsehnerv, der - wir befinden uns jetzt in einer lückenlosen medialen Ket-
te - die Botschaft zum Gehirn weiterleitete.
Dabei wandelte sich die Funktion der Kristallinse vollkommen. Sie diente
jetzt als „perspicullum" oder „Brille", die vor die Netzhaut gesetzt war, um die
durch die Pupillenöffnung eintretenden Lichtstrahlen zu bündeln und auf den
retinalen Schirm zu werfen. Erst kurz vorher waren überhaupt ihr Ort und ihre
Form genauer bekannt geworden. Man hatte auch nicht früher erkannt, daß die
vordere Kapselhälfte der Linse stärker abgeflacht war als die hintere. Solche
Eigenschaften erwiesen sich jedoch als äußerst wichtig, sobald man die Licht-
bahnen berechnen wollte, die - man mußte jetzt völlig umdenken - ganz durch
die Linse hindurchgelenkt wurden und bis zur Rückwand des Auges gelang-
ten. Platters anatomische Studie, die das Sehproblem nur kurz, fast tabellarisch
abgehandelt hatte, berührte solche strahlungsgeometrischen Fragen natürlich
in keinster Weise. Sie löste vielleicht das neurale Kontaktproblem, das dem
Mediziner aufgefallen sein mußte, aber wir finden sie lediglich eingezwängt
zwischen zahlreichen anderen Abbildungen anatomischer Studien. Für ausge-
dehntere Debatten oder mathematische Berechnungen bot das Buch erst gar
keinen Platz.
Genau an diesen Fragen setzte Kepler mit seinen Überlegungen an. 1604
erschien seine erste Abhandlung über das Sehen, Ad Vitellionem paralipome-
na, in dessen Vorwort er berichtete, er habe sich bei dem
augenphysiologischen Teil seiner Schrift hauptsächlich auf Felix Platters Vor-
gabe gestützt.38 Die neuartige glatte Passierbarkeit des Außenreizes durch die
Kristallinse hindurch bis zur lichtempfindlichen Rückwand des Auges hatte
Kepler sichtlich beeindruckt. Ich stelle seine Ergebnisse, die sich aus der ma-
thematischen Wegeberechnung der Lichtstrahlen ergeben mußten, noch
zurück; sie werden uns in einem veränderten Kontext wiederbegegnen. Gesagt
sei, daß Kepler auf sie vor allem stieß, weil er sich die mathematische Beweis-
führung von Platters lakonischer Behauptung zum Ziel gesetzt hatte. Als es
ihm gelang, den Weg der Lichtstrahlen zu berechnen, hatte die Theorie des
Netzhautbildes an Boden gewonnen und verbreitete sich bald schon wie ein
Lauffeuer durch die Lager der Wissenschaften.
Um Keplers Leistung besser einschätzen und sie gegen frühere Wahrneh-
mungsmodelle abgrenzen zu können, müssen wir die verschiedenen Ansätze

So schreibt Kepler: „Wenn man das wahre Werkzeug des Sehens, so wie ich es angebe, mit Platters
Vorstellungen vergleicht, so wird man feststellen, daß dieser außerordentliche Denker der Wahrheit so
nahegekommen ist, wie es einem Mediziner ohne Mathematikkenntnisse gerade noch möglich war."
(in: Straker, Stephen M.: Kepler's Optics: A Study in the Development of Seventeenth-Century Natu-
ral Philosophy. Ph.D.Dissertation, Indiana University 1970, S.457)
84 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

zusammenfassen. Schon in der Antike hatten sich unterschiedliche Sehmodel-


le entwickelt: „Ich sage also, es ist nicht anders möglich, als daß das Auge die
Gegenstände entweder dadurch erfaßt, daß deren Formen zum Sehorgan eilen
und sich dort abbilden, wie mehrere der Alten annehmen (1), oder daß vom
Auge auf die Objekte eine Kraft ausgeht, durch die sie aufgenommen werden
(2), oder daß beide Vorgänge zugleich stattfinden (3), oder die Formen sich in
der Luft abbilden und eindrücken, die Luft sie wiederum im Auge abbildet
und eindrückt und das Auge endlich mit seiner Kraft die mittels des Lichtes
abgedrückten Formen erfaßt (4)," schrieb der frühmittelalterliche Gelehrte
Alkindi über die Optik der griechischen Antike.39
Die Alternativen lassen sich wie folgt aufschlüsseln:
1 Das erste Wahrnehmungsmodell der Atomisten hatte den Sehvorgang
als substantiellen Transport ganzheitlicher „eidola" oder „simulacra" ver-
standen, die sich wie feine Häutchen oder Hüllen von den gesehenen
Gegenständen ablösen und zum passiven Auge bewegen. Dort werden sie
als ganze Form empfangen.
2 Die Sehstrahlentheorie der euklidischen und ptolemäischen Schule,
der noch Alkindi angehörte, beharrte dagegen auf einer (ebenfalls sub-
stantiell gedachten) Sendefähigkeit des Auges. Sein sonnenverwandtes
Sehfeuer begegnet den Dingen der Außenwelt und nimmt sie als Formen
wahr. Jeder Gegenstand, der betrachtet wird, durchschneidet die Strahlen-
pyramide des feurigen Sehflusses, so daß die Stellung des Betrachters
ebenso wie die Lokalisierung der Dinge entscheidenden Einfluß auf die
Wahrnehmung von Schärfe und Unscharfe oder auf die Größe oder Er-
scheinungsweise des gesehenen Gegenstandes haben. Erste
perspektivische Erwägungen und die Geometrisierung des Sehvorgangs
beginnen mit dieser Schule.
3 Piatons Kombinationsmodell von Sende- und Empfangstheorie, das
Alkindi im weiteren kurz erwähnt, läßt den sonnengleichen Feuerstrahl
des Auges auf einzelne stoffliche Teilchen treffen, die von den Gegen-
ständen ausströmen, dabei den Sehstrahl strecken oder stauchen und sich
ihm auf diese Weise formal mitteilen.
4 Als letzte Alternative führt Alkindi Aristoteles Medienlehre an, nach der
ein durchsichtiger Stoff zwischen Betrachter und Gegenstand eine Brücke
schlägt, die durch Farbe und Form der Gegenstandsoberflächen qualitativ
verändert wird. Dieser Zwischenraum, der in Aristoteles Sehtheorie eine
so wichtige Rolle spielt, übermittelt nur reine Bewegungen und Impulse
hin zum Auge. Aristoteles vertritt entschieden die antike Empfangstheo-

Alkindi, Abu Yusuf Ya'qub ibn Ishaq: De aspectibus, Lehrsatz 7, S.9, in: Björnbo, Axel Anthon und
Vogl, Sebastian: Alkindi, Tideus und Pseudo-Euklid. Drei optische Werke. Abhandlungen zur Ge-
schichte der mathematischen Wissenschaften, Bd.26, Teil 3 (1912), S.3-41
LEERE RÄUME 85

rie, ohne - wie zuvor die Atomisten oder Piaton - an einen substantiellen
Transport ganzer simulacra oder auch nur einzelner Körperteilchen zu
glauben. In seinen Traktaten fehlt jedoch die mathematische Beweisfüh-
rung der Empfangstheorie.

Im Abendland des frühen Mittelalters übte Piatons Licht- und Sehtheorie den
größten Einfluß aus, wenngleich Jahrhunderte des Kommentierens eine etwas
wirre Fassung der platonischen Lehre hervorgebracht hatten. Jedoch bereits zu
Beginn des 13. Jahrunderts wurde die platonische Sehtheorie durch eine Fülle
griechischer und arabischer Neuübersetzungen in Frage gestellt und erneut
dem Empfangsmodell der Aristoteliker oder der euklidischen Schule angegli-
chen. Innerhalb kürzester Zeit war man mit einer großen Anzahl von Quellen
vertraut geworden, deren verschiedene Theorien man das folgende Jahrhun-
dert über in Einklang zu bringen versuchte. Aber es war das neuentdeckte
aristotelische System, das den Sieg davontragen und zuguterletzt die Lehre
Piatons von ihrem Vorsitz ablösen sollte. „Bevor noch das 13. Jahrhundert zu
Ende ging, war die aristotelische Naturphilosophie an den Universitäten schon
der Kern des Curriculum in den Artes. Und das literarische Ergebnis davon
war im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert eine riesige Zahl von Kom-
mentaren zu den Werken von Aristoteles, oft in Form von Questiones
abgefaßt. (...) Natürlich verteilen diese Kommentare die Gewichte anders als
die perspektivische Tradition, denn die Aristoteles-Kommentatoren waren
mehr an den physikalischen, ontologischen und psychologischen Inhalten der
aristotelischen Tradition interessiert als an den geometrischen Fragen, die die
Perspektivisten fesselten."
Die Feststellung, die David Lindberg hier trifft, ist deshalb so wichtig, weil
sie uns auf zwei Strömungen hinweist, die das gesamte Mittelalter durchzo-
gen, aber sich zu keinem Zeitpunkt zu einer einheitlichen Theorie
verschmelzen ließen: Das Empfangsmodell von Aristoteles auf der einen Seite,
und das mathematische Interesse der Perspektivisten auf der anderen. Natür-
lich hatte es Versuche gegeben, eine Beziehung zwischen beiden herzustellen
und das Empfangsmodell berechenbar zu machen. Aber erst Johannes Kepler
gelang es, ein schlüssiges geometrisches Modell dafür zu erarbeiten, und seine
Entdeckung wurde das Tor zu einer veränderten Haltung, mit der sich von nun
an das 17. Jahrhundert selbst beim Sehen zusehen konnte. Wir werden uns mit
ihr noch beschäftigen, weil hier der Kernpunkt sitzt, durch den sich die Neue-
rungen in der Optik mit einem Ziel in der Malerei verbinden ließen. Aber

4,1
Lindberg, David: Auge und Licht im Mittelalter, Frankfurt a.M. 1987 (Chicago 1976), S.238. Wäh-
rend es vor allem Albertus Magnus (ca. 1193/1207-1280) war, der die Empfangstheorie von
Aristoteles verteidigte und damit die aristotelische Tradition in der Optik Wiederaufleben ließ, gilt
Roger Bacon als die Schlüsselfigur für die Wiederbelebung der perspektivischen Tradition innerhalb
des Abendlandes.
86 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

zuvor will ich auf Lindbergs Satz zurückkommen, mit dessen Hilfe uns klar
wird, daß die Problematik visueller Wahrnehmung bis zu Beginn des barocken
Zeitalters nicht allein auf geometrischer, sondern auf viel weiterer Ebene dis-
kutiert wurde - verschieden gewichtet nach der Ausrichtung in eine
mathematische, medizinische oder naturphilosophische Schule. In der Praxis
bedeutete das, noch lange nach der Jahrhundertwende auf Relikte der antiken
Qualitätenlehre oder Sendetheorie zu stoßen, die vielschichtige Erklärungsmu-
ster für die Eigenarten visueller Wahrnehmung abgaben. Daß beispielsweise
aus den funkelnden Augen der Katzen und Nachttiere Licht ausströmen wür-
de, stellte bis in das 17. Jahrhundert hinein einen festen Glauben der Gelehrten
dar, den wir sogar noch in Descartes' Dioptrik nachlesen können. Offiziell
aber neigte sich eine visuelle Faszinationsgeschichte ihrem Ende entgegen,
und zwar in dem Augenblick, in dem Keplers Netzhauttheorie ihren Einzug in
die Optik hielt.
Worin bestand ihre Neuheit? Welche Vorzüge bot sie, um in derart kurzer
Zeit derart erfolgreich zu werden? Nachdem Johannes Kepler sie 1604 in die
wissenschaftliche Diskussion eingeführt und Rene Descartes ihr 1637 ein
ausführliches Kapitel gewidmet hatte , stieß sie auf eine enthusiastisch ge-
stimmte Gefolgschaft, die nur darauf wartete, die Gesetze des Netzhautbildes
aufzugreifen und weiterzugeben. Die optische Vorrichtung der camera obscura
gewann sprunghaft an Bekanntheit und Beliebtheit. Innerhalb der Ästhetik
stieg die Verwendung der Spiegelmetaphorik, wenn es darum ging, das Wesen
der Repräsentation in Worte zu fassen. Zudem entwickelt sich das barocke
Zeitalter zur Epoche der projektiven Geometrie. Wo liegen die Zusammen-
hänge? Kehren wir zu Kepler und Descartes zurück.

Als Rene Descartes seine Discours de la methode veröffentlichte, fügte er


ihnen als Anhang ein Kapitel über die neuesten strahlungsgeometrischen Be-
rechnungen auf dem Gebiet der Optik bei. Als Illustration seiner Einführung

41
Ebd., Anm.66 (Kapitel 2): „Sogar im 17. Jahrhundert wurde die Sendetheorie noch diskutiert, vgl.
das ,Supplementum' von Hugo Cavellus zu Duns Scotus' ,Questiones in libros de anima', disp.2,
sect.9, dubium 5: „Quod est Organum visus, et an videat per extramissionem?", in: Duns Scotus: opera
omnia, Bd.2, S.619f
4
~ „So muß man annehmen, daß die vom Auge wahrgenommenen Gegenstände nicht nur durch ihre
eigene Bewegung zum Auge hin, sondern auch durch die von den Augen ausgehende und sich auf sie
richtende Bewegung wahrgenommen werden können. Auch diese ist nichts anderes als das Licht.
Jedoch muß man dazu bemerken, daß sie nur bei solchen Augen existieren, die während der Dunkel-
heit sehen können, wie die der Katzen. Der Mensch dagegen ist für gewöhnlich nur fähig, durch die
Bewegung zu sehen, die von den Gegenständen ausgeht, denn die Erfahrung zeigt uns, daß die Gegen-
stände und nicht unsere Augen leuchtend oder beleuchtet sein müssen, um von uns gesehen zu
werden." (in: Descartes, Rene: Dioptrik, hrsg. v. Gertrud Leisegang, Meisenheim a. G. 1954, S.72)
1604 erschien Keplers Ad Vitellionem paralipomena, quibus astronomiae pars optica traditur; 1611
seine Schrift Dioptrice.
44
In einem der drei Anhänge seiner Discours de la methode (1637)
LEERE RÄUME

Abb.25: Descarles, Augenmodell, aus: La Dioptrique, 1637

diente ihm eine detailgetreue Rekonstruktion des anatomischen Augenauf-


baus, die sich an Johannes Keplers Netzhauttheorie orientierte: „Es wird Zeit,
daß ich beginne, Ihnen die Struktur des Auges zu beschreiben, damit Sie ver-
stehen können, wie die Lichtstrahlen darin eintreten und wie sie sich darin
verteilen, um die Gesichtempfindung hervorzurufen.
Vom Auge
Wenn es möglich wäre, das Auge mitten durchzuschneiden, ohne daß die
Flüssigkeiten, mit denen es gefüllt ist, auslaufen (...), so würde es so aussehen,
wie es die Figur zeigt. Die Schnittebene geht gerade durch die Mitte der Pupil-
le.
ABCB ist eine recht harte und dicke Haut, die wie ein rundes Gefäß alle
ren Teile umschließt. DEF ist eine andere dünne Haut, mit der die erste innen
wie mit einer Tapete ausgeschlagen ist. ZH ist der optische Nerv, der aus einer
großen Anzahl dünner Fäden zusammengesetzt ist, deren Enden sich im gan-
zen Raum GH1 ausbreiten. (...) Der Teil BCB der ersten Haut ist durchsichtig
und etwas stärker gewölbt als BAB. Bei der zweiten Haut ist die innere Ober-
fläche (...) ganz schwarz und dunkel. Die Haut hat in der Mitte ein kleines
rundes Loch FF, das man Pupille nennt. Sie erscheint ganz schwarz in der
Mitte des Auges, wenn man es von außen betrachtet.11

Das aber war nichts anderes als die Definition eines Interieurs: ein Gehäuse,
mit ,Tapete' ausgeschlagen und mit einer Eintrittsluke versehen - der Barock
hatte das Auge zu einem privaten Wohnraum umformuliert. Die Erscheinung
der Außenwelt wurde darin empfangen, sie spiegelte sich auf der Rückwand
eines Zimmers. Der Vergleich leuchtet ein; niemals vorher war der Augenme-
chanismus so anschaulich beschrieben worden. Man muß dazu nur einen Blick

4S
Descartes, Dioptrik, (1954), S.84f
88 ZWEI BAROCKE RAUMMÜDELLE

auf die Kupferstiche werfen, mit denen Felix Platter und Rene Descartes ihre
augenphysiognomischen Studien unterlegt haben. Es sind in beiden Fällen
anatomische Querschnitte - Descartes hat es ja näher erklärt -, aber man ist
sofort versucht, in ihnen die Grundrisse eines einfachen häuslichen Verteiler-
systems zu sehen, das aus einer Pforte mit kleinem Entree, einer Halle und
besagtem Hauptraum besteht.
Doch die Erkenntnis ging tiefer; viel tiefer als die Freude, einem abstrakten
Vorgang ein bildhaftes Gleichnis zur Seite stellen und behaupten zu können,
das Auge gleiche einer Kammer, einer camera obscura. Jeder Sehvorgang
war das Produkt einer räumlichen Beziehung. Wenn wir Außenwelt perzipie-
ren und als getreues Abbild interpretieren, dann aufgrund einer bestimmten
räumlichen Anordnung der Elemente innerhalb dieses Vorgangs. Die Licht-
strahlen benötigten einen gewissen Weg, um sich auszubreiten, dann einen
Durchschlupf, zuletzt einen bergenden Innenraum, in dem das Strahlengebilde
gebündelt und wie eine leuchtende Diaprojektion an die Rückwand geworfen
wurde. Anders als eine Projektion auf eine Wand konnte der Sehvorgang seit-
dem nicht mehr gedacht werden. Das aber kam der Definition der Malerei so
nahe, daß Kepler bei seiner Diskussion des auf dem Kopf stehenden Netz-
hautbildes beinahe wie selbstverständlich den Begriff der pictura verwendete:
„Das Sehen geschieht also durch das Gemälde des gesehenen Gegenstan-
des auf der weißen und hohlen Wand der Netzhaut, und was draußen rechts
liegt, malt sich auf der linken Seite der Wand ab, das links gelegene rechts,
das obere unten, das untere oben ab: (...) so daß, falls es möglich wäre, daß
sich das Gemälde auf der herausgenommenen und ans Licht gebrachten
haut erhalten könnte, nachdem das davor Befindliche fortgenommen wurde,
(...) wenn ein Mensch ein genügend scharfes Gesicht hätte, dieser die Zeich-
nung des Gesichtsfeldes an dem so winzigen Bereiche der Netzhaut erkennen
würde." Das Sehen an sich war Malerei! Keplers berühmter Satz „Ut pictura,
ita visio", bei dem das Bild im Auge mit einem Bild auf der Leinwand vergli-
chen wurde, faßte die Neuerung der barocken Wahrnehmungstheorie nur noch
einmal in wenigen Worten zusammen. Für die Malerei bedeutete es umge-

46
Nicht, daß ähnliche Vergleiche nicht schon früher gezogen worden waren. Bereits im 16. Jahrhun-
dert hatte Leonardo da Vinci ausdrücklich auf die Entsprechung der Funktionsweise eines
menschlichen Auges und einer camera obscura hingewiesen, und auch Giovanni Battista Della Porta41'
machte von diesem Vergleich mehrmals Gebrauch. Aber sie behaupteten noch „an keiner Stelle (...)
ausdrücklich oder stillschweigend, die Netzhaut, also die Rückseite des Auges, sei ein Schirm, auf den
die Bilder wie auf die Rückseite der Camera geworfen würden." (Lindberg (1987), S.290)
47
Kepler, Johannes: Ad Vitellionem paralipomena, quibus astronomiae pars optica traditur, Frankfurt
1604, S.153. Zuvor hatte man das Abbild ja in der Kristallflüssigkeit in der Mitte des Auges angesie-
delt. Vgl. auch Lindberg (1987), S.349: „Dies ist das erste Mal in der Geschichte der Sehtheorie, wo
von einem wirklichen optischen Bild im Auge die Rede ist, einem Bilde, das unabhängig vom Beob-
achter vorhanden ist und das durch das Bündeln aller verfügbaren Strahlen auf einer Oberfläche
zustande kommt."
LEERE RÄUME 89

kehrt: Wenn zuvor in der Renaissance ein perspektivisches Bild von der Welt
enstand, so jetzt im Barock ein optisches. Beide hatten viel miteinander zu tun.
Aber der optische Repräsentationsprozeß wurde erst jetzt, zu Beginn des 17.
Jahrhunderts, vollständig nachvollzogen und verstanden.

Abb.26: Johan van Beverwyck, Die Funktionsweise des


Auges, aus: Wercken der Genees-Konste, Amsterdam, 1667

Die frühere Empfangstheorie hatte darauf bestanden, die Formen der Dinge
zusammenhängend - in einem Stück - zu übermitteln. Nicht so sehr bei Ari-
stoteles, wohl aber sehr deutlich bei seinen Nachfolgern in der Scholastik.
Descartes zog in seiner Dioptrik vor allem gegen diese Vorstellung zu Feld.
Seine Schrift sollte den Leser „von den vielen umherflatternden kleinen Bil-
dern, genannt species intentionales, befreien, die in der Vorstellung so vieler
Philosophen am Werke sind."48 In Gelehrtenkreisen war sie zwar schon seit
längerem in Verruf geraten, nicht aber in den allgemeineren Zirkeln philoso-
phischer Disputation und im Volksglauben, wo man weiterhin annahm, „daß
irgendetwas Materielles von den Gegenständen in unser Auge kommt, um uns
Farbe und Licht sehen zu lassen."4 Es war ihr deswegen schwer beizukom-
men, weil es unvermeidlich schien, einen zusammenhängenden Seheindruck
durch eine zusammenhängende Form oder Quelle erklären zu müssen. Weil
das menschliche Auge einen ganzen Körper wahrnahm, mußte dieser, so die
Schlußfolgerung, auch als ganzer Körper zu uns hinüberwandern. An eine
Mathematisierung des Sehvorgangs war angesichts solcher Vorstellungen
überhaupt nicht zu denken. Es war der Hauptgrund dafür, warum die Tradition
der Perspektivisten, die im Mittelalter zwar deutlich zurückgegangen, aber

Descartes, Dioptrik (1954), S.71


Ebenda
90 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

niemals wirklich versiegt war, sich mit einer Begründung empfangstheoreti-


scher Ideen schwer tun mußte.
Eigentlich hätte dem bereits eine Schrift aus dem 10. Jahrhundert Abhilfe
schaffen können." Sie stammte von dem islamischen Gelehrten Alhazen und
schuf jene mathematische Grundlage, auf der Kepler sehr viel später seine
Netzhauttheorie aufbauen sollte. ' Aber ihr Einfluß im Abendland wurde erst
im 13. Jahrhundert spürbar. Dann nahm sie schnell an Bedeutung zu und wur-
de bis in das 17. Jahrhundert hinein rezipiert. Die wichtigste Erkenntnis in
Alhazens Schrift war das Prinzip der punktweisen Auflösung einer
lungsquelle. Zum einen besagte es, daß sich ein Bild nicht wie ein dünnes
Abziehbildchen vom Gegenstand ablöst und in einer vollkommen zusammen-
hängenden Form zu uns hinüberbewegt - hinüberflattert, hätte Descartes
gesagt -, sondern von jedem Punkt auf der Oberfläche eines Gegenstandes zu
uns ausstrahlt. Zum anderen: daß es von diesen Punkten aus nicht in eine ein-
zige, sondern in unendlich viele Richtungen strahlt.52 Damit hatte Alhazen ein
Problem gelöst und im gleichen Atemzug ein neues geschaffen. Obwohl sich
durch die punktuelle Auflösung ganz neue und äußerst brauchbare Möglich-
keiten zur mathematischen Analyse darboten, verwirrte sich die Lage durch
die Annahme zahlreicher einander überlagernder Lichtstrahlen. Sie liefen
Gefahr, in ein visuelles Chaos abzugleiten. „Das Problem ist der Strahlenüber-
fluß. Denn wenn das Sehen erklärt werden soll, darf jeder Punkt auf der
Oberfläche des Auges (...) nur den Strahl von einem Punkt des Gesichtsfeldes
wahrnehmen. Kurz gesagt ist es notwendig, eine eineindeutige Beziehung
zwischen den Punkten des Gesichtsfeldes und den Punkten im Auge herzustel-
len."53
Wie kann ein in alle Richtungen ausstrahlender Sender mit unserer ganz
persönlichen Sicht der Dinge in Beziehung stehen? Wir sind mit diesen Fragen
in eine heiße Phase der abendländischen Mentalitätsgeschichte getreten, die
sich zunehmend für den Standort eines Rezipienten und sein Verhältnis zur
Umwelt zu interessieren begann. Formal gesprochen stellte sich das Problem,
auf der Senderseite mit einem kreisförmig ausstrahlenden Mittelpunkt zu tun
zu haben, der sich dennoch zielgerichtet auf einen einzelnen Punkt zubewegte.
Wie drangen die Strahlen ins menschliche Auge, ohne sogleich ein heilloses
Durcheinander anzurichten, kurz, wie konnten sie ein genügend klares Konter-

" Alhazen (Ibn al-Haytham) (ca. 965 - 1039): Kitab ab Manazir (De aspectibus). Die lateinische
Fassung war seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verbreitet.
vgl. dazu Lindberg (1987), S.147: „Alhazen hat die mathematischen Möglichkeiten der Empfangs-
theorie entfaltet, also der Theorie, die bis dahin immer nur physikalisch oder physiologisch verteidigt
worden war. <Alhazen> hatte es fertiggebracht, die Sehpyramide der euklidischen und ptolemaeischen
Optik für sich nutzbar zu machen. Er wandelte die Empfangstheorie in eine mathematische Theorie des
Sehens um und holte damit den wichtigsten Vorsprung der Sendetheorie auf."
53
Vgl. Lindberg (1987), S.125
53
Ebd., S. 139
LEERE RÄUME 91

fei der Welt abzeichnen? Um den Eindruck zu erzielen, den wir gewohnter-
maßen als Wirklichkeit empfinden, ist es notwendig, die gesamten
Beziehungen in einen deutlichen Zusammenhang zu bringen. Wie gelangte ein
pünktliches Abbild der Welt in unser Auge?
Die mittelalterlichen Perspektivisten seit Alhazen konnten sich die Zu-
sammenhänge nur erklären, indem sie allein die Mittelachse der
Strahlenkränze gelten ließen, das heißt, jene Strahlen, die senkrecht auf die
(wie man damals noch glaubte) Kristallflüssigkeit des Auges auftrafen. Alle
anderen galten als zu schwach für die Hervorrufung eines Bildes. Die Mittel-
strahlen zusammengenommen bildeten eine Pyramide oder einen Kegel mit
dem Sehfeld als Basis und dem Augmittelpunkt als Spitze. Und weil sie kurz
zuvor von der Kristallflüssigkeit abgefangen wurden, erschien dort das ver-
kleinerte punktuelle Abbild eines Gegenstandes der Außenwelt. Seit Kepler
wissen wir von den beiden entscheidenden Fehlern in der Argumentation.
Zum einen hatte man noch nicht die Netzhaut als Hauptsehorgan erkannt, zum
anderen wollte man dem Strahlenüberfluß beikommen, indem man ihn auf
einzelne Repräsentanten reduzierte. Der Verdienst von Alhazen und den mit-
telalterlichen Perspektivisten lag vor allem darin, die Sehpyramide der
euklidischen Optik zum ersten Mal innerhalb der Empfangstheorie zum Ein-
satz gebracht und auf diese Weise in die Gebiete der Mathematik überführt zu
haben. Aber in dem Augenblick, in dem man herausfand, daß es die Netzhaut
war, die sich zu einem lichtempfindlichen Bildschirm ausbreitete, und die
Kristallflüssigkeit ihr wie eine mandelförmige Linse vorgesetzt war, mußte
der gesamte Komplex neu überdacht werden. Das Licht durchquerte jetzt zu-
erst eine hyperbolische Linse mit all den Bündelungs- und
Streuungseigenschaften, die solchen Linsen zueigen sind. Kepler war der fe-
sten Überzeugung, von nun an keine Lichtstrahlen mehr vernachlässigen zu
dürfen, sollte der Wahrnehmungsvorgang berechnet werden. Er mußte dafür
jedoch die Bündelungseigenschaften von Linsen besser verstehen lernen.
Deswegen erarbeitete sich Kepler in seiner 1604 erschienenen Schrift eine Art
Destinationslehre für ein durch Linsen geleitetes Licht, die innerhalb kürzester
Zeit alle Bemühungen der vorangegangenen Jahrhunderte, die exakten Strah-
lenbahnen festzulegen, bei weitem übertraf. Selbst das Phänomen der
seitenverkehrt und auf dem Kopfstehenden Bilder konnte jetzt erklärt werden.
Im übrigen sah man durch solche Experimente auch die Zusammenhänge
zwischen dem menschlichen Augenaufbau und der Funktionsweise einer Ca-
mera obscura immer enger werden. Das Auge war endgültig zu einem
abgedunkelten Innenraum geworden, wie der Mensch im ganzen oder auch
das Zimmer, in dem er sich gerade befand. Und doch gab es irgendwo eine
Eintrittsluke, durch die eine Berührung mit der Außenwelt hergestellt werden
konnte. Wenn ein Mensch des 17. Jahrhunderts sich beim Sehen zusehen woll-
te, dann, indem er sich als jemanden vorstellte, der in einem Zimmer saß und
92 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

die Außenwelt durch eine kleine Öffnung nach innen eindringen ließ. „Irgend
jemand hat es bereits mit folgendem Vergleich sehr sinnvoll erklärt", schrieb
Descartes und meinte mit ziemlicher Sicherheit Kepler: „Ein Mensch befindet
sich in einem völlig verschlossenen Zimmer, das nur ein einziges Loch besitzt,
vor das eine gläserne Linse gebracht wird. In einem gewissen Abstand davon
spannt man ein weißes Tuch aus, auf dem das Licht, das von den äußeren
Gegenständen ausgeht, die Bilder hervorbringt. Das Loch ist die Pupille, das
Glas entspricht dem Kristallwasser, oder besser allen Teilen des Auges, die
eine Brechung hervorrufen. Die Leinwand stellt die innere Haut dar, die aus
den Enden des optischen Nervs zusammengesetzt ist."

Abb.27: Athanasius Kircher, Zimmer-camera obscura, aus: Ars Iuris et umbrae, Rom 1647

u
Descartes: Dioptrik (1954), S.90. Die Art und Weise, in der Descartes den Funktionszusammenhang
des Auges beschrieb, läßt den heutigen Leser allerdings viel zu schnell vergessen, wie außergewöhn
lich die Beschäftigung mit dieser Materie damals war. Nirgends kann man über die unerschrockene
Vorgehensweise optischer Rekonstruktionsversuche besser nachlesen als bei Descartes, der die Ver
bindung von Auge und Innenraum noch enger, ganz eng ziehen wollte: „Sic können hierüber noch
bessere Gewißheit erlangen", fuhr Descartes an der oben genannten Stelle fort, „wenn Sic sich das
Auge eines eben verstorbenen Menschen oder statt dessen eines Ochsens oder eines anderen großen
Tieres verschaffen. An der Rückseite des Auges schneiden Sie vorsichtig die drei Häute, die es umge
ben, ab, ohne daß das Auge ausläuft, so daß ein großer Teil der Flüssigkeit M unbedeckt ist. Dann
bedecken Sie es bei RST wieder mit irgendeinem weißen Körper, zum Beispiel einem Stück Papier
oder einer Eierschale. Er muß so dünn sein, daß das Tageslicht hindurchscheinen kann. Dieses Auge
setzen Sie dann in ein dafür gemachtes Loch Z eines Fensters. (...) Wenn Sie nun den weißen Körper
RST betrachten, werden Sie nicht ohne Bewunderung und Freude ein Bild sehen, das ganz naturgetreu
die Gegenstände, die sich draußen befinden, perspektivisch wiedergibt. Das Experiment gelingt, wenn
das Auge seine natürliche Gestalt behält, die dem Abstand der Gegenstände angepaßt ist. Denn sobald
Sie das Auge mehr oder weniger stark drücken, wird das Bild sofort weniger scharf sein. Und es ist
bemerkenswert, daß man das Auge ein wenig fester zusammendrücken und seine Gestalt etwas länger
machen darf, wenn die Gegenstände sehr nahe, als wenn sie weiter entfernt sind." Descartes wollte
mit diesem handgreiflichen Test die Abstände und die verschiedenen Brechungsgrade regulieren, die
Einfluß auf das Aussehen des Netzhautbildes nahmen. Die Formen der Linse und die Wegstrecken des
Lichts wurden zu den wichtigsten Faktoren bei den optischen Berechnungen. Man staunte über die
Exaktheit, mit der die Öffnung und Weitung der Pupille, die hyperbolische Gestalt der Linse und der
gesamte Augenaufbau während des Wahrnehmungsprozesses ineinandergriffen.
LEERE RÄUME

Abb.28: Schematische Darstellung der Linsenanordnung in einer camera


obscura, aus: Apiaria Universae Philosophiae Malhemalicae, Bonoma, 1642

Das Operieren mit jeglicher Art von Linsen diente der genauen Berechnung
der Lichtstrahlen, die von einer hellen Außenwelt in einen dunklen Innenraum
geschickt wurden. Ihre Reise wurde von barocken Beobachtern fasziniert ver-
folgt. Wir selbst können sie nachvollziehen, wenn wir Illustrationen zur
zeitgenössischen Optik zur Hand nehmen. Abbildung 28 zeigt die Linsenan-
ordnung einer camera obscura. Dabei sehen wir, wie die angeschliffenen
Gläser die Lichtstrahlen anziehen, sammeln und weiterbefördern. Die sich
ergebenden typischen Rautenformen oder Chiasmen sind Hinweise auf eine
mit graphischen Mitteln erarbeitete Medientheorie, die den Zwischenraum
zwischen Objekt und Abbild oder Objekt und Betrachter durchstrukturierte
und in Sende- und Empfängerstationen unterteilte. Ein empfangendes Element
konnte dabei freilich genausogut Sendequalitäten entwickeln und die Bilder-
botschaft an einen neuen Adressaten weiterverschicken. Sie wurde in einer
Strahlenkette durch den Zwischenraum getragen und dem Zielort übergeben,
ohne an Deutlichkeit verloren zu haben. Nicht ganz zufällig handelt es sich in
unserem Beispiel um die Wiedergabe einer barocken Parklandschaft: Das
strenge Muster macht uns darauf aufmerksam, daß es endlich gelungen war,
dem in keinem Jahrhundert zuvor auch nur annähernd zufriedenstellend gelö-
sten Sehvorgang ein lineares Regelwerk zu unterlegen. Man war auf der Suche
nach der Organisation, nach dem Prinzip, der klaren Linie. Die Gesellschaft
des 17. Jahrhunderts, die sich in diesem Park bewegte, wurde von einem We-
genetz gelenkt und geleitet, das keine Ausflüge jenseits der Markierungen
erlaubte. Überhaupt ist der Grundriß der Parklandschaft an jeder Stelle pro-
spektiert, das heißt: mit Ausblicken durchsetzt worden, die auf ein schönes
und geregeltes Bild abzielten.
l
)4 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Der in feinen photoplastischen Strichen dargestellte Wahrnehmungsvorgang


des Auges ähnelte der Wegeführung einer barocken Gartenanlage. Jede Linse
fungierte als Wegweiser, der die Lichtbahnen lenkte, kreuzen ließ oder aus-
streute - es sind frühe Darstellungen visueller Telekommunikation. Erstmals
konnte man mit dem Finger jene Routen nachfahren, die ein Lichtpunkt von
einem Ausgangsort angefangen bis zu seiner Destination unternahm.55 Aller-
dings beschränkte sich die Entdeckung nicht allein auf optisches Gebiet. Sie
griff in alle Bereiche über, die sich auf irgendeine Weise mit dem Vorgang des
Abbildens beschäftigten. Tatsächlich zeichnete sich die Logik der Repräsenta-
tion seit Beginn der Neuzeit und zunehmend zur Zeit des Barock durch den
Glauben an eine stigmatische Abbildungsfähigkeit aus. Er versicherte den
Menschen des 17. Jahrhunderts, daß es eine einzige richtige Sichtweise und
Übersetzungsmöglichkeit der Wirklichkeit gab. Unabhängig vom geschichtli-
chen Wandel und den persönlichen Belangen konnte auf eine unverrückbare
Wahrheit zurückgegriffen werden, und das ausgerechnet im Bereich der sinn-
lichen Erscheinungen, deren Aussehen sich von Minute zu Minute veränderte.
Die realistische Malerei sehnte diesen Zustand - einen paradiesischen Zu-
stand- herbei. Sie war überzeugt von der Unschuld des Auges. Es genügte
nicht, den Gegenstand auf eine Weise wiederzugeben, daß man ihn vielleicht
benennen, aber niemals mit der Wirklichkeit verwechseln konnte. Sein Abbild
mußte wie ein Spiegelbild auf die Fläche der Leinwand projiziert werden.
Natürlich veränderte die Malerei wie jede menschliche Tätigkeit einen alten
Zustand und brachte einen neuen hervor. Aber im Gegensatz zu den meisten
anderen Handlungen arbeitete sie der Verwandlung entgegen, indem sie das
Vorher und Nachher derart eng zusammenführte, daß beide sich aufs Haar
glichen. In diesem Sinne behielt sich die realistische Malerei konservative
Züge bei. Sie versuchte zu bewahren, was in Veränderung begriffen war. Dem
Konzept des Realismus nach durfte es zwischen den beiden Stationen allen-
falls eine genealogische Verschiebung geben, die mehr zeitlicher als
körperlicher Natur war, obwohl es natürlich Unsinn ist zu glauben, es hätte
dabei nicht eine große, umwälzende Transformation auf ganzem Gebiet statt-
gefunden.
Nehmen wir noch einmal die Abbildung der Linsenkombination einer ca-
mera obscura zur Hand. Der Zeichner hat ausgerechnet einen geplanzten
Baum - Sinnbild der Natur und der Wirklichkeit - durch die Gänge seiner
optischen Verwertungsanlage geschickt. Wenn das Abbild ihm in allen Eigen-
schaften ähnelte, dann aufgrund einer Art Erbfolge: Das Bild eines Baumes
stammte von einem natürlichen Baum ab wie der Sohn vom Vater. Weswegen

Genaugenommen endet der Weg in Abb.28 bereits im Schnitt des ersten Strahlenkegels zwischen G
und F, wo der Buchstabe H das retinale Abbild anzeigen soll. Die zweite Linse der camera obscura
dient nurmehr dazu, das an dieser Stelle seitenverkehrt und auf dem Kopf stehende Bild umzudrehen
und auf eine Sichtfläche zu projizieren.
LEERE RÄUME 95

die Differenzen zwischen ihnen lediglich auf einen Generationenkonflikt


schließen ließen und auf nichts weiter.

Die Leinwandfläche als speculum sine macula

Was haben solche Gedanken mit der Grundstruktur eines Interieurbilds zu


tun? Wenden wir uns Verrmeers Frau mit Waage, der Blauen Briefleserin
oder der Frau mit dem Perlenhalsband zu. Angesichts ihrer Schwangerschaft
sind sie mit dem Thema der künstlerischen Kreativität verbunden. Doch
zuerst wollen wir verstehen, aufweiche Weise man sich im 17. Jahrhundert
den weiblichen Zustand der Schwangerschaft oder die Geburt eines Kindes
erklärte, um zu sehen, inwiefern zwei so unterschiedliche Schöpfungmythen in
Beziehung gesetzt werden konnten.
Die medizinischen Illustrationen dieser Zeit ermöglichen eine Einsicht in
den körperlichen Innenraum einer schwangeren Frau, dem sie die Form einer
aufblühenden und sich Schicht für Schicht entblätternden Knospe gaben. Im
17. Jahrhundert häuften sich die Schriften und Untersuchungen über die Ent-
wicklung des Foetus von der Befruchtung angefangen bis zur Entbindung und
Pflege des Kindes im Wochenbett. Doch es waren vor allem zwei Entdeckun-
gen auf dem Gebiet der Mikrobiologie und der weiblichen Anatomie, die die
althergebrachte Ansicht über das Wesen menschlicher Befruchtung und Evo-
lution bis in die Wurzeln erschütterten. Daß sie beide ausgerechnet in Delft
gemacht wurden, unmittelbar vor bzw. nach Vermeers Tod und nur wenige
Straßen von seinem Wohnhaus entfernt, ist einer der Zufälle, von denen die
Geschichte der menschlichen Entdeckungen häufig genug zu berichten weiß.

Albert Blanken hat das Motiv der Schwangerschaft bei Vermeer in Zweifel gezogen, siehe: Ausstel-
lungskatalog Vermeer (1996): Albert Blanken: Vermeer's Modern Themes and Their Tradition, S.39:
„The above mentioned idea that this „attractive little lady ... before her toilet" is pregnant seems to
have originated no earlier than in Vincent van Gogh's 1888 letter to Emile Bernard, from which the
notion migrated to Philip Hale's Vermeer monograph of 1913, and has since reemerged repeatedly. No
mention of pregnancy occurs in any of the seven extensive descriptions of the Woman in Blue Reading
a Letter wntten before 1809. The belly of the virgin goddess Diana, too, looks thoroughly bulbous to
twentieth-century eyes. (Letter by Van Gogh of ca. 23 July 1888: „Do you know Vermeer, who,
amongst other things, painted a very beautiful, pregnant Dutch lady?") Haie 1913, 282, related this to
the Woman in Blue Reading a Letter. Van Gogh may have seen this painting on his 1885 visit of the
then newly opened Rijksmuseum."
"7 Tatsächlich lassen sich auf diese Weise die Namen der drei Männer in Verbindung bringen, die
gegen Mitte des 17. Jahrhunderts in Delft Berühmtheit erlangten: „De kleine Hollandse stad Delft telde
in het midden van de zeventiende eeuw onder haar burgers een drietal mannen, wier namen voor het
nageslacht nog mit roem zijn omgeven: Johannes Vermeer (1632-1675), de beroemde Schilder, wiens
gezicht op Delft nog het oog verrukt; Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723), de autodidact, die met
zijn door hem zelf vervaardigde microscopen een overstelpende hoeveelheid nieuwe waamemingen
96 ZWEI BAROCKK RAUMMODELLE

Abb 29: Jan Vermeer, Blaue Briefleserin, um 1662-64, Amsterdam. Rijksmuseum

heeft gedaan, en de jong gestorven Reinier de Graaf, die met behulp van nieuwe, expenmentele
methoden aan een volkomen onbegrepen orgaan zijn plaats in de lichaamshuishouding heeft gegeven
en het meer dan twee duizend jaar oude vraagstuk der generatie door eigen onderzoek en inzicht een
beslissende stap nader tot zijn oplossing heeft weten te brengen." (Lindeboom, G.A.: Reinier de Graaf.
Leven en werken, Elmar 1973, S.9)
U . I . R I . R A l Ml!

Abb.30: Giulio Casserius. Der menschliche Fötus, aus


Adrian Spigelius, De Formato Foetu. Frankfurt 1626

Abb.31: Jane Sharp. Compleat Midwife 's Companion. London 1671

Bayerische
Staatsbibliothek
München )
98 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723)

Tatsächlich ist Leeuwenhoeks Name innerhalb der Vermeer-Forschung früh


gefallen: Nach dem plötzlichen Tod des Malers 1675 wurde er mit den finan-
ziellen Angelegenheiten von Vermeers Witwe Catharina betraut, die eine
Bankrotterklärung eingereicht hatte und mit dem Verkauf ihrer Güter rechne-
te. Man hat eine Freundschaft zwischen den Familien, vielleicht sogar eine
gemeinsame Kindheit der beiden Männer vermutet, denn Vermeer und Leeu-
wenhoek waren im gleichen Jahr 1632 geboren und lebten damals nicht
sonderlich weit voneinander entfernt. Doch die Dokumente erteilen uns keine
klare Auskunft. Leeuwenhoeks Berufung zum Kurator war von offizieller
Seite aus erfolgt. Noch weniger unterstützen sie die Behauptung, in Vermeers
Bild eines Astronomen bzw. eines Geographen ein Portrait van Leeuwenhoeks
wiederzufinden. Während man für vollkommen sicher annehmen kann, daß
beide einander gekannt haben, sind wir, den Grad ihrer Bekanntschaft betref-
fend, bis heute auf reine Vermutungen angewiesen. Kurz nachdem seine
Mutter ein zweites Mal geheiratet hatte - sie wurde die Frau des damals schon
recht betagten Stadtmalers Jacob Jansz. Molijn -, verließ Antoni Delft, um in
einer entfernteren Kleinstadt zur Schule zur gehen. Mit etwa sechzehn Jahren
kam er zu einem Amsterdamer Wollhändler in die Lehre und kehrte erst 1654
in seine Heimatstadt zurück. Er heiratete, kaufte ein Haus in der zentral gele-
genen Hippolythusbuurt und eröffnete im untersten Geschoß einen
Textilladen. Von den fünf Kindern überlebte allein seine Tochter Maria, die
ledig blieb und ihrem Vater den Haushalt führte. Sogesehen wäre Leeuwen-
hoeks Leben wohl in absehbaren Bahnen verlaufen, wenn er nicht 1660
unerwarteterweise seinen Textilhandel aufgegeben und sich zum städtischen
Beamten verpflichtetet hätte, dessen hohes Gehalt - 314 Gulden im Jahr mit
steigender Tendenz- seinen Biographen bis heute ein Rätsel aufgibt. Irgend-
wann in den nächsten Jahren muß Leeuwenhoek seine Beschäftigung mit dem
Mikroskopieren aufgenommen haben. Für sie sollte er berühmt werden. Zu-
dem häufte sich die Anzahl seiner öffentlichen Ämter und Posten in dem
Maße, in dem Leeuwenhoeks Ruf als Mikroskopist über die Stadtmauern hin-
weg laut wurde. Bald gingen in seinem Haus nicht nur gekrönte Häupter,
Staatsmänner und reisende Adelige ein und aus, sondern auch Ärzte, interes-
sierte Laien und Naturwissenschaftler wie der Insektenanatom Jan

51
Zu diesem Zweck sollte auch Vermeers Malkunst versteigert werden, was durch eine schnelle Über-
eignung an Catharinas Mutter Maria Thins jedoch rechtzeitig verhindert werden konnte. Aufgrund
dieser Dokumente hat die Vermeer-Forschung feststellen können, daß Vermeer das Gemälde niemals
verkaufte; femer, daß auch Catharina es nach dem Tod ihres Mannes in der Familie behalten wollte.
59
Nach C. Dobell (Antoni van Leeuwenhoek and his ,Little Animals', Amsterdam 1932) etwa die
Könige Karl II. und Georg I. von England, Friedrich I. von Preußen, August von Polen, Karl II. von
Spanien und der russische Zar Peter der Große.
LFF.RF RÄUME 99

Swammerdam, der allseits interessierte Constantijn Huygens oder dessen be-


rühmter Sohn Christiaan, mit dem Leeuwenhoek sich näher befreundete.
Letzterer war es auch, der 1672 ein Empfehlungsschreiben an die Royal So-
ciety in London sandte und die Beobachtungen lobte, die Leeuwenhoek mit
Hilfe seiner selbstgebauten Mikroskope anstellte. Wohlgemerkt war Leeu-
wenhoek auf diesem Gebiet ein reiner Autodidakt, in Sprachen vollkommen
unbewandert, und laut der Briefe, die sich über ihn erhalten haben, in der Ge-
lehrtenwelt ebenso bestaunt wie belächelt. Zu Ende des Jahrhunderts hatte er
sich jedoch den Ruf erworben, auf dem Gebiet der Mikroskopie führend zu
sein, was die Brennschärfe und Vergrößerungsleistung, vor allem aber das
helle, klare Bild seiner Linsen anging, die er besser als jeder andere zu fertigen
wußte und weder verkaufen noch aus der Hand geben mochte.60

Was uns besonders interessieren soll, ist eine Entdeckung, die Leeuwenhoek
1677 zu Protokoll gab: Erstmals wurde ein männliches Spermatozon gesehen
und der Form nach beschrieben. Der junge Leidener Medizinstudent Johan

60
„Aus dem Jahre 1692 stammt die oft zitierte Beurteilung durch Hooke (der es wirklich wissen
mußte): The fate of microscopes ... now reduces almost to a Single votary, which is Mr. Leeuwenhoek,
beside of whom I hear of non that make any other use of that instrument, but for diversion and pas-
time." (nach: Meyer, Klaus Dr.: die Geheimnisse des Antoni van Leeuwenhoek: Arcana Naturae
Detecta, Soest 1993, S.6)
Zu Leeuwenhoeks Weigerung, seine Mikroskope zu verkaufen, und seiner Angst vor einer Plagia-
tierung siehe den zeitgenössischen Bericht des deutschen Bildungsreisenden Zacharias Conrad von
Uffenbach (Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und England, Ulm 1764), der Leeu-
wenhoek 1710 besuchte: „Den 4. September morgens giengen wir zu dem berühmten Observatore
microscopico Leeuwenhoek, von welchem wir (...) gar höflich empfangen wurden. Seine einzige
Tochter, wo er hatte, ein Person bey vierzig Jahren, führte uns erstlich in ein Zimmer, und erzählte uns,
daß ihr Vater seit einigen Jahren viel neues durch seine Microscopia entdeckt hätte, er wollte aber in
seinem Leben nichts mehr von seinen Observationen herausgeben (...). Zuletzt wies uns Herr Leeu-
wenhoek sein Cabinet, in welchem er wohl ein Dutzend lackierter Käsigen, und in diesen wohl
anderthalb hundert obvermeldeter kleinen Futerälgen hatte, in deren jedem zwey solcher Microscopien
von der kleinen Sorte lagen. Als wir uns über diesen Vorrath wunderten, und fragten, ob er denn seine
verkaufte, indem wie gerne etliche haben mochten, sagte er, nein, bei seynem Leben nicht. Er war auch
sehr geheim mit seiner Arbeit, wie er sie machte..." Bislang ist immer wieder vermutet worden, daß
Leeuwenhoek es war, der Vermeer in Kontakt mit Linsen, optischen Geräten oder der camera obscura
brachte, obwohl er sich scheinbar ausschließlich mit der Mikroskopie und deren winzigen, hirsekorn-
großen Linsen befaßte bzw. keine einzige dieser Linse verkaufte oder verschenkte. Zwar stammt der
Bericht aus später Zeit und läßt keine Rückschlüsse auf Leeuwenhoeks Umgang mit Bekannten oder
Freunden zu, doch auch schon 1685 berichtete der Bruder Christaan Huygens, Constantijn, äußerst
verärgert, daß Leeuwenhoek vor dem Landgraf von Hessen „keines seiner Mikroskope zeigen wollte,
außer denen, die er jedermann vorweist. (...) Und als der Landgraf ihn fragte, ob er nicht einige davon
erwerben könnte, antwortete L. mit großem Stolz, daß er noch nie und niemandem eines abgegeben
habe und dergleichen auch nicht beabsichtigte. Wenn er sich solchem Ansinnen fügen wollte, würde er
sich zu jedermanns Diener machen - anders ausgedrückt: zu seinesgleichen. Nachdem er zwei oder
drei seiner Mikroskope vorgezeigt hatte, nahm er sie weg, bevor er ebensoviel andere holte, Das täte
er, sagte er, aus der Befürchtung, es möchte sonst das ein oder andere von den Besuchern .verlegt'
werden..."
100 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Harn hatte ihm die Probe eines Patienten vorbeigebracht, bei der er selbst
schon durch sein Mikroskop kleine Lebewesen erkannt haben wollte. Harn
selbst erklärte sich ihre Anwesenheit als das Ergebnis einer medikamentösen
Behandlung, während Leeuwenhoek das auf keinen Fall glauben wollte - dann
hätten sie praktisch aus dem Nichts entstehen müssen, und das war ein Gedan-
ke, den Leeuwenhoek von Grund auf ablehnte. Vielmehr mußten die liitgen
dierkens, wie er sie von da an nannte, zum festen Bestandteil des männlichen
Samens gehören. Einige Jahre zuvor hatte er sich auf Anfrage der Royal So-
ciety Proben vorgenommen, aber damals hatte er die Lebewesen für winzige
Kügelchen angesehen und in seine Globulartheorie einordnen wollen. 1677/78
werden nun zwei Briefe Leeuwenhoeks nach London geschickt, die die Zeu-
gung, Fortpflanzung und Entwicklung des menschlichen Embryo zum Thema
haben. Auszüge davon erscheinen in der Zeitschrift der Royal Society, den
Philosophical Tramactions. Dem zweiten Brief hatte Leeuwenhoek eine
Zeichnung der Spermatozoen beigelegt und noch wie zur Bestätigung seiner
Angaben hervorgehoben, die Untersuchungen am eigenen Samen vorgenom-
men zu haben, „which he examined several times immediatiely after conjugal
coitus („before six beats of the pulse had intervened").62 Es sind die ersten
Abbildungen männlicher Samenzellen, die wir kennen, obwohl Leeuwenhoek
erst 1683 vollkommen überzeugt davon war, in jeder einzelnen einen Keim für
das menschliche Leben gefunden zu haben. Allerdings ging er dann gleich
soweit zu behaupten, daß die gesamte Gestalt des Foetus darin enthalten sei,
während der weibliche Uterus lediglich eine Art Brutkasten bereithielt, in dem
er geschützt und ernährt wurde und zu voller Größe anwachsen konnte.

Reinier de Graaf (1641-1673)

Im Grunde war Leeuwenhoeks Präformationslehre ein Angriff gegen die


Gruppe neuer Fortpflanzungstheoretiker, die sich um den Delfter Mediziner
Reinier de Graaf gebildet hatte und unter dem Namen der Ovulisten bekannt
wurde. Beide, Leeuwenhoek und De Graaf waren einander in den anatomi-
schen Vorführungen begegnet, die jeden Mittwoch im Delfter Anatomie-

61
Zur genaueren Rekonstruktion sehe Kremer, J.: Antoni van Leeuwenhoek, grondleger van de sper-
matologie, in: Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde 121 (1977), S. 1929-1934, und Lindeboom
(1982), S.129-152
Der holländische Originalbrief ist verloren, aber zwanzig Jahre später wiederholte Leeuwenhoek
einen langen Abschnitt daraus (in einem Brief an Harm von Zoelen vom 17. Dezember 1698; nach
Lindeboom (1982), S.136)
Leeuwenhoek bestand jedoch darauf, daß der Miniaturfoetus für das menschliche Auge und selbst
noch für das Mikroskop unsichtbar blieb, während der Mikroskopist Hartsoeker 1694 in sein Essay de
Dioplrique die Skizze eines in der männlichen Keimzelle eingeschlossenen Homonculus aufnahm
(Abb.33).
LEERE RÄUME 101

Abb.32: Antoni van Leeuwenhoek. Skizze Abb.33: Hartsoekers Skizze eines in der
verschiedener Spermata, aus einem Brief an liehen Keimzelle eingeschlossenen Homonculus.
die Royal Academy. 1678 aus: Essay de Dioptrique. Paris 1694

Abb.34: Reinier de Graaf. Weibliche Sextialorgane und


sender Fötus, aus: De muliebrum organis. Lugd Batavorum, 1672
102 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Theater stattfanden und von beiden regelmäßig besucht wurden. Von Leeu-
wenhoek wird berichtet, daß die Diskussionen auch noch zu Hause fortgesetzt
wurden.64 1672 war De Graafs bahnbrechende Schrift De muliebrum organis
erschienen, die in sorgfältig ausgearbeiteten Stichen Einblick in die weibliche
Anatomie der Geschlechtsorgane gab - einen aufsehenerregenden, in vielerlei
Hinsicht provozierenden Einblick, der sich nur mit dem sezierenden Blick der
Mediziner noch irgendwie rechtfertigen ließ. De Graafs Verdienst lag in der
Beschreibung der weiblichen Eizelle, ihrer Entstehung und Anteilnahme am
menschlichen Befruchtungsvorgang. Zwar ahnte auch er den entscheidenden
Moment der gegenseitigen Zellverschmelzung nicht, sondern nahm an, der
männliche Same scheide eine Art Lebensgeist aus, der das Ei umhüllen und
zum Leben erwecken würde. Dennoch, der Beitrag der Eizelle an der Entwick-
lung des Embryo war für De Graaf nurmehr die logische Konsequenz seiner
anatomischen Entdeckung der Follikel am Eijernest, und über das medizini-
sche Fachgebiet hinaus brachte das die unerwartete, in manchen Augen
äußerst schockierende Schlußfolgerung mit sich, daß die Frau an der Entste-
hung eines Kindes beteiligt sei. Eine solche Vorstellung, die menschliche
Fortpflanzungs- und Vererbungslehre betreffend, hatte es seit mehr als zwei-
tausend Jahren nicht mehr gegeben. „Hippocrates (460-377 B.C.), the father of
Western Medicine, held that in the entire body of male and female a seminal
fluid is formed, which flows through the spinal marrow and the kidneys to the
sexual organs. During copulation the two fluids become mixed and a new
creature originates. In each of the seminal fluids there is a weaker and a
stronger part. The sex of the new being depends on the relation between the
weaker and the stronger parts.65 However, in the seventeenth Century the
views of Aristotle (384-322 B.C.) predominated. Aristotle was greatly inter-
ested in the problem of generation and he wrote a work on it, consisting of
five books (De generatione animalium). (...) In Aristotle's view the female
furnishes the material for the embryo; essentially it is a merely passive matter,
and it is the medium in which the embryo grows. The male passes on the prin-
ciple of life to that matter; it is the form or the soul („psyche"), the generative

De Graaf war es auch, der 1673 ein weiteres Empfehlungsschreiben Leeuwenhoeks an die Royal
Society einreichte: „Ich teile Ihnen zu diesem Zeitpunkt lediglich mit, daß ein sehr erfinderischer Mann
mit Namen Leeuwenhoek ein Mikroskop entwickelt hat, das die von Eustachio Divini und anderen
hergestellten Mikroskope, die wir bisher kennen, bei weitem übertrifft. In seinem Brief, den ich Ihnen
hier schicke, beschreibt er Dinge, die noch von keinem Forscher zuvor so genau beobachtet worden
sind, so daß Sie sich eine Vorstellung von seinen Beobachtungen machen können. Wenn Ihnen diese
Beobachtungen zusagen und wenn Sie die Fertigkeiten dieses sehr fleißigen Mannes beurteilen und
näher kennenlernen wollen, dann schreiben Sie ihm und konfrontieren Sie ihn mit den schwierigsten
Fragen, die Sie beschäftigen." (Brief an Henry Oldenburg vom 28. April 1673, in: Van Berkel, Klaas:
Johannes Vermeer und Antoni van Leeuwenhoek, In: Johannes Vermeer. Der Geograph und der
Astronom nach 200 Jahren wieder vereint, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a. M. 1997, S.24)
Siehe dazu auch: Cole, F.J.: Early Theories on Sexual Generation, Oxford 1930
LEERE RÄUME 103

agent. The female provides the food for the embryo." Die gynäkologischen
Schriften und Stiche hatten bis weit in das 17. Jahrhundert hinein nichts weiter
getan, als die mittelalterliche Metaphorik aufzugreifen. Nach ihr glich die Frau
dem Erdboden, in den der Same fiel. Ihr Körper sollte die Aufgabe überneh-
men, den wachsenden Foetus zu ernähren und zur Welt zu bringen. Noch
Leeuwenhoek war (wie die meisten seiner Zeit) der Meinung gewesen, daß die
Zeugungskraft eine Fähigkeit sei, die allein dem Mann zugesprochen werden
konnte, daß nur die Anlagen des Vaters, niemals die der Mutter weitervererbt
wurden. Seine Begründung stützte sich im übrigen auf ein für das Barockzeit-
alter häufig herbeizitiertes Argument: Die ovulistische Theorie erweise sich
schon deshalb als unmöglich, weil sich jede Form von Leben über Bewegung
äußern müsse, und sei sie noch so gering. Wenn es nach diesem Kriterium
ging, konnte die Lebendigkeit der männlichen Samenzelle durch einen kurzen
Blick durch das Mikroskop bestätigt werden, während sich die weibliche
Keimzelle träge verhielt und keine Tendenz zur Bewegung erkennen ließ.
Die Begriffe, mit der man den weiblichen Organismus charakterisierte,
waren selbst nach Entdeckung der Eizelle und der Vermutung ihrer aktiven
Teilhabe am Schöpfungsprozeß noch immer weit eher dazu geeignet, die emp-
fangende, schützende und ernährende Funktion der Frau zu betonen als alle
anderen Tätigkeiten oder Eigenschaften, die man ihr hätte zuschreiben kön-
nen. Ihr Körper diente als broedruimte (Brutkasten) für den Foetus; die
Gebärmutter war ein Gefäß iyas) oder ein hohler Innenraum (cavitas), zu dem,
wie De Graaf es ganz anschaulich beschreibt, ein loßverck führt, das von einer
tunica verhängt ist. Die Vorgänge von Öffnen und Schließen spielten in dieser
Hinsicht natürlich eine wichtige Rolle, weil es im großen und ganzen um die
Inbesitznahme und Bewohnung eines Innenraums durch ein entstehendes Le-
ben ging. Selbst die Eizelle erhielt ihre perfekte runde Form durch eine
Membran. Darin wurde eine lebenspendende substantia für den Moment der
Befruchtung aufbewahrt.
Sicherlich von noch größerer Bedeutung für die Herausbildung der weibli-
chen Innenraummetaphorik war die Intensität, mit der sich ein Leser des 17.
Jahrhunderts in ein tiefes Gefüge aus Kammern und Höhlen versetzt fühlte,
wenn er die Berichte der Anatomen über die Anordnung der weiblichen Ge-
schlechtsorgane las. De Graaf beispielsweise hatte seine Schrift mit einer
Anzahl wunderbarer Illustrationen versehen. Mit ein wenig Vorstellungskraft
konnte sich der Betrachter von seinem Standort lösen, über die Oberflächen
gleiten, einen Torbogen passieren, Gänge durchlaufen und zuguterletzt das
Innere einer dunklen camera rotunda betreten. Das bedeutete zweifellos eine

66
Lindeboom (1982), S.130f
h
Zu den einzelnen Begriffen siehe auch schon Reinier de Graafs ein Jahr vor seiner Hauptschrift
erschienene Kurzfassung De Partibus Genitalibus mulierium, Lugd. Batavorum 1671, S.209-216
104 ZWF.I BAROCK.H RAUMMODKLLK

neue Wahrnehmungsweise des weiblichen Körpers. Der zumeist männliche


Betrachter wurde mit dem fliegenden, tiefenscharfen Blick eines Kamera-
manns ausgestattet, um das Geheimnis seiner Herkunft zu ergründen. Dieser
Blick - ein im großen und ganzen endoskopischer Blick - ließ erkennen, auf
welche Weise die verborgensten Plätze des menschlichen Innenlebens durch
Gefäße und Gänge miteinander verbunden waren oder sich durch Membranen,
dünne Mäntelchen und ,Vorhänge' verschließen und voneinander absondern
konnten. Aber die Endoskopie dieser Tage machte auch nicht vor den Prozes-
sen halt, die Leben entstehen ließen und Fragen nach der Generierungsabfolge
oder den Verhältnissen zweier Geschlechter aufwarfen.

An dieser Stelle ist etwas nicht mehr zu übersehen. Von der Frage nach der
Stellung und Anteilnahme der Frau im Schöpfungsprozeß des Lebens kommen
wir unversehens auf die ästhetischen Belange der Interieurmalerei zurück.
Denn es gibt ein plausibles Wortspiel, das eintritt, wenn Internisten sich mit
Hilfe einer räumlich orientierten Sprache dem weiblichen Organismus, wenn
Optiker sich mit derselben Sprache der Anatomie des Auges und Maler der
Bildwelt des Interieurs zuwenden.
Kepler beispielsweise hat einige Jahrzehnte vor De Graafs Schrift über die
Sexualorgane der Frau ganz ähnliche Begriffe verwendet, um das menschliche
Auge zu beschreiben - er sprach von einem globus oculi, dessen innere Flüs-
sigkeit von einer tunica membranea geschützt werde. Weiter erklärte er, daß
in ein geschlossenes Zimmer und in das menschliche Auge alles hineinfließe,
was außerhalb von ihm ist oder verrichtet wird, sobald sich nur eine winzige
Möglichkeit zum Eintritt bot.68 Nicht nur, daß Keplers rezeptive Netzhauttheo-
rie das menschliche Auge wie ein vollkommen passives Wahrnehmungsorgan
behandelte, es wurde mit weiblichen Eigenschaften geradezu überhäuft. Sein
Augenmodell glich einem Empfangsraum, der mit einer Membran oder einem
Stoff versehen war, den man zur Seite ziehen konnte, und de Graaf beschrieb
die weiblichen Sexualorgane nahezu analog dazu. Gleichzeitig begannen sich
in der Interieurmalerei jene Darstellungen gelüfteter Vorhänge zu häufen, die
immer schon mit Maria Empfängnis, Schwangerschaft oder der Geburt Christi
konnotiert gewesen waren. Wie lauteten die Zusammenhänge? Die
samkeit lag darin, daß etwas außerhalb der Grenzen in einen Innenraum
vordringen und sich dort in ganzer Gestalt reproduzieren kann bzw. daß es
sich zum Zweck der eigenen Repräsentation einen Träger sucht: einen Träger,
der es vollkommen unverfälscht aufnimmt und wiedergibt.
De Graaf war der erste, der die Kette maskuliner Vererbungslehren und
Generationsabfolgen durchbrach und ein Miteinander von Mann und Frau in
Erwägung zog. Das geschah gerade erst drei Jahre vor Vermeers plötzlich

Kepler (1604), S.161 undS.51


LEERE RÄUME 105

erfolgtem Tod 1675. Die Daten sagen uns, daß wir die Gültigkeit eines alten,
über zweitausend Jahre alten Schöpfungsmythos ausgerechnet für einen Maler
annehmen müssen, der dafür berühmt war, der Frau in der Kunst einen derart
großen Stellenwert einzuräumen wie kaum ein anderer Maler seiner Zeit.
Vermeers Gemälde sind unbestreitbar selbstreflexiver Natur: Er war ein Ma-
ler, der über das Malen nachdachte. In der wiederholten Frage nach der
Beschaffenheit von Kunst wurde die Schwierigkeit ihrer Hervorbringung akut.
Das ist einer der Gründe, warum Vermeer am Thema der Frau festhing, ohne
es zu irgendeinem Zeitpunkt aufgeben oder phasenweise zur Seite schieben zu
wollen. Denn der Maler wandte sich mit seinen Farben an die Leinwand, um
ein Ebenbild zu erzeugen - wenn nicht von ihm selbst und genaugenommen
auch gar nicht mehr von der äußeren Welt, so doch von seiner Vorstellung
oder Sichtweise dieser Welt.

Frauen bei V e r m e e r

Trinkende Frauen

Als Descartes in seiner Dioptrik den Sehvorgang beschreiben und vor allem
das Eindringen der Lichtstrahlen in das Augeninnere anschaulich machen
wollte, zog er folgenden Vergleich zu Hilfe: „Stellen Sie sich eine Kufe zur
Zeit der Weinlese vor, die völlig mit halb zertretenen Trauben angefüllt ist. In
ihrem Boden befinden sich ein oder zwei Löcher A und B, durch die der Most
ausfließen kann. Bedenken Sie, was von fast allen Philosophen bestätigt wird,
daß es nichts Leeres in der Natur gibt. Trotzdem haben sämtliche Körper unse-
rer Umgebung viele Poren, wie es das Experiment zeigt. Diese Poren müssen
mit einer feinen dünnflüssigen Materie angefüllt sein, die sich ohne Lücken
von den Sternen bis zu uns ausbreitet. Dieser feine Stoff kann mit dem Wein
in der Kufe verglichen werden, und die größeren weniger feinen Teile wie die
Luft und andere durchsichtige Körper entsprechen den Trauben, die dazwi-
schen liegen. Sie werden verstehen, daß die Teile des Weines, die sich zum
Beispiel bei C befinden, das Bestreben haben, auf einer Geraden zum Loch A
oder B hinabzufließen, sobald diese geöffnet sind. Die Teile des Weines, die
sich bei E und D befinden, streben zur gleichen Zeit ebenfalls danach, durch
diese beiden Löcher auszufließen, ohne daß eine dieser Bewegungen durch die
andere oder durch den Widerstand der Trauben, die sich in der Kufe befinden,
gestört wird. (...) So streben alle Teilchen der feinen Materie, die mit der Seite
der Sonne in Verbindung stehen, die uns zugekehrt ist, auf einer Geraden nach
unserem Auge, sobald es geöffnet ist. ohne sich gegenseitig zu hindern
und auch ohne durch die großen Teile der durchsichtigen Körper gehindert zu
106 ZWHl BAROCKE RAUMMODELLE

Abb.35: Das Auge mit einer Weinkufe verglichen, aus Descartes' Dioptrik, 1637

werden, die sich dazwischen befinden."69 Was Descartes mit einem Gleichnis
ausdrückte, war natürlich das bekannte optische Empfangsmodell, nur eben
auf den neuesten Stand gebracht: Sobald ein Mensch seine Augen öffnete,
begann das ganze Weltall sich zu bewegen, denn es strebten von allen leuch-
tenden Gegenständen die feinen Teilchen auf die Augen zu und erzeugten in
ihnen die Bilder dieser Gegenstände.70 Tatsächlich fällt das Licht von allen
Seiten in das menschliche Augenpaar ein, welches Descartes so anschaulich
mit zwei Löchern in einer Weinkufe verglichen hatte. Bei näherer Betrachtung
meint man gleichsam noch ein Begleitgeräusch herauszuhören: ein leichtes,
gleichmäßiges Rauschen und Glucksen, durch die Strömung der Lichtstrahlen
verursacht. In gewisser Weise, so legte es Descartes uns nahe, trinken wir das
Licht, jedenfalls nehmen wir es zu uns, wie wir eine hochgradig verdünnte
oder hauchfein zerstiebende Flüssigkeit zu uns nehmen würden. Dabei hat uns
die Sprache, wie um die Zusammenhänge noch besser herauszustreichen,
einige Worte mit auf den Weg gegeben. Sind wir nicht schnell von Bildern
berauscht, von Eindrücken ganz trunken? Stürzt nicht eine wahre Bilderflut
auf uns ein? Und dann erst noch das Auge selbst, klar, feucht und glänzend,
erfüllt von den Geschehnissen der äußeren Welt, überschäumend angesichts
dieser Fülle? Und Vermeer? Seine Bilder, seine Räume? - Geronnene Farbe,
liquide, lichtdurchtränkt.

Descartes, Rene: Dioptrik (1637), S.72


Vgl. Leisegangs Kommentar zu Descartes' Dioptrik (1954), S.28
LEERE RÄUME 107

Abb 36: Trinkende Frau Jan Vermeer. Herr und Dame beim Wein (Detail), 1658/60,
Berlin Sammlung Preußischer Kulturbesitz
108 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Abb.37: Schwangere Frau. Jan Vermeer. sog. Perlenwagerin, um 1662-64.


Washington. National Gallery of Art
LEERE RÄUME 109

Empfangende Frauen

,, Wanneer de vrouwe draeght, soo dient de man te leiten


Dat niemant door het huys misschien en kome setten
Let dat wanschapen is, een wreet ofselsaem beelt,
Dat ons het ooge terght, en soo de sinnen steelt,
AI wat onbolligh staet, ofvreese kann verwecken,
ofmet een snelle schrick ons in de leden trecken,
En dient geenjonge vrou, voor al niet, daerse slaept,
En van de reyne trou de soute vruchten raept.
Wilt oock om dese tijt u niet te seer vergapen
Aen eenigh selsaem dier, als simmen, katten, apen;
En draeght niet in den arm, en leght niet aen den mond
Een vreemden baviaen, of plat-geneusden hont:
T 'is by de vrouwen selfs in geenen deel te mercken,
Hoe dat een vreemt geval kann ofde vrouwen wercken,
Hoe onverwachte schrickt tot aen de vrucht belent,
En hoe een selsaem spoock sich in de moeder prent:
Wanneer een vrouwe draeght, het schijnt dat alle krachte
Sijn besigh aen de vrucht, en op de moeder wachten;
Dies waerde eenigh ding sich in de sinnen vest,
Dat sackt van standen aen en druckt in dat gewest. "'

So hat Jacob Cats über die Schwangerschaft der Frau gedichtet und ausdrück
lich davor gewarnt, sich während dieser Zeit mit irgendwelchen mißgebildeten

71
Cats, Jacob: Houwelijk, in: Alle de Wercken, (1658), Buch 6, S.157:
., Wenn eine Frau schwanger ist, soll der Mann darauf achten.
Daß sich nichts in seinem Haus niederläßt.
Was mißgestaltet ist. ein grausames oder seltsames Bild.
Das unser Auge reizt und auf diese Weise die Sinne ablenkt:
Alles, was unredlich ist oder Furcht erweckt,
Oder uns mit einem heftigen Schrecken in die Gliederfährt.
Tut keiner jungen Frau gut, vor allem nicht, wenn sie schläft
Und die süßen Früchte ehelicher Treue erntet.
Bestaunt in dieser Zeit auch nicht zu sehr
Irgendwelche seltsame Tiere wie Katzen und Affen,
Und tragt nicht im Arm, und haltet nicht an den Mund
Einen fremdartigen Pavian oder plattnasigen Hund
Es ist bei den Frauen in keinsler Weise zu merken.
Wie sich ein fremdartiger Vorfall auf sie auswirken kann.
Und wie ein seltsames Gespenst in die Mutter eindringt.
Wenn eine Frau schwanger ist, scheint es, daß alle Kräfte
Mit der Leibesfrucht beschäftigt sind und die Mutter bedrängen;
Alles, was sich in den Sinnen festsetzt,
Belastet von diesem Moment an ihren Zustand "
110 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Tieren oder Gestalten zu umgeben. Nicht nur, daß sich die Angewohnheit,
Schoßtiere wie kleine Affen oder ,plattnasige Hunde' zu küssen oder nahe am
Mund zu halten, auf die innere Konstitution einer werdenden Mutter verhee
rend auswirken konnte: Schon durch den Anblick der Tiere wurde die
Gestaltbildung des Kindes beeinträchtigt, das den Einflüssen der Außenwelt
ausgesetzt war wie ein weiches Wachstäfelchen der Signatur eines Petschafts
oder ein leeres Blatt Papier den Lettern eines Buchdruckers. Genaugenommen
lief es während seiner Entwicklung in jedem Moment Gefahr, die Formen und
Eigenschaften der Dinge, selbst die Physiognomien und Psychogramme ein
zelner Menschen oder Lebewesen zu übernehmen, die sein Umfeld für einige
Zeit bestimmt hatten. Das konnte natürlich auch positiv umgemünzt werden
im Sinne einer genetischen Manipulation durch das Schöne und Erhabene in
dieser Welt. Weshalb Cats gleich im Anschluß noch zwei Beispiele anführte,
die über einen gewissen produktiven Erfolg zu berichten haben72: Nach der
alten Schrift sollte Jacob, der lange Zeit bei seinem Schwiegervater gedient
hatte, als Lohn aus dessen Herde lediglich die gescheckten Jungtiere bekom
men. Also legte er gestreifte Baumzweige vor die Viehtränken, wo sich die
Tiere paarten, und erhielt dadurch so viele farbige Lämmer, daß er mit ihnen
reich wurde. Eine andere Sage, die Cats gleich darauf anführt, berichtet von
der Geburt eines Kindes, das so schön war, daß böse Zungen nicht recht an die

Cats, Jacob: Huwelijck, in: Alle de wercken (1658), Buch 6, S. 157 (Übersetzung KL)

,. Die Schrift erzählt, daß Jacob vor Labans Herde


Gestreifte Pappeln legte.
Damit sich, genau wenn sich Schaf und Bock paarten.
Die Musterung des Holzes in das Lamm einprägen sollte
Ein weitblickender Mann besichtigte ein Haus
Er achtete auf jedes Stück, das den Frauen gehörte.
Erfand eine schönes Zimmer vor, wo auf einer kleinen Kommode
Ein schönes Kinderbildnis geschmackvoll aufgestellt war.
Erfand ein mit Vorhängen umgebenes Bett,
Ein Lager für das Ehepaar, mochte es scheinen.
Erfragt, wer hier schläft, man sagt es ihm.
Und sofort vermutet der Mann, wie die Sachen stehen
Er spricht zu den Leuten, ich werde das Urteil fällen.
Laßt das jüngste Kind in diese Kammer bringen:
Ihr, die Nachwuchs wollt.
Habt kein mißgestaltetes Tier und kein Ungeheuer im Sinn,
Haltet euch lieber, wenn ihr zeugt.
Ein schönes und intelligentes Kind, ein schönes Menschenbild vor Augen .
(...)
Der kluge Mann weist mit überzeugender Rede daraufhin.
Was durch die Augen in die Sinne eindringen kann.
Und wie ein tiefes Emfpinden, durch unbekannte Macht,
Ein empfangenes Bild in die Leibesfrucht eindrücken kann .."
LEERE RÄUME 111

Vaterschaft des Ehemanns glauben wollten. Aber das Rätsel seiner Herkunft
und Schönheit löste sich, als man im Schlafzimmer der Frau ein Kinderbildnis
stehen sah, das dem Nachwuchs aufs Haar genau glich. Die Ehefrau hatte es
während ihrer Schwangerschaft so oft angesehen und den Anblick derart ver-
innerlicht, daß er Einfluß auf die Entwicklung des Kindes genommen und ein
hübsches Ebenbild - „een geestigh kint, een aerdigh menschenbeelt" - erzeug-
te. Cats schließt die Erzählung eindringlich mit der Mahnung, die Kraft der
Dinge und ihrer Bilder nicht zu unterschätzen. Durch das Auge üben sie kei-
nen geringen Einfluß auf die Entwicklung eines Kindes aus.
Auch Descartes hatte die starke foetale Erregbarkeit durch die Sinneswahr-
nehmung der Mutter hervorgehoben und mit ihr die Entstehung der
Muttermale erklärt, die als Abdruck zurückbleiben, wenn „die Bilder manch-
mal durch die Venen und Arterien einer schwangeren Frau bis in bestimmte
Glieder des Kindes gelangen." Die Pupillenöffnung war eine potentielle
Eintrittsluke für äußere Bilder und Erlebnisse, die sich durch das Auge hin-
durch einen Weg in das menschliche Innenleben bahnen und regelrecht
infizieren konnten. In seiner Recherche de la verite hat Nicolas Malebranche
den genaueren Zusammenhängen ein eigenes, gar nicht so kurzes Kapitel
,Von der Verbindung des Gehirns der Mutter mit dem Gehirn ihres Kindes'
gewidmet. Das 17. Jahrhundert vertrat ausdrücklich die Meinung, daß eine
bildende Kraft am Werk sei, sobald wir nur die Augen aufmachen und der
Außenwelt Eintritt gewähren. Sogesehen war der Mensch ein den Abglanz der
Welt auffangender Spiegel oder das besagte Wachstäfelchen, in dem die Ein-
drücke aufbewahrt wurden. Auch Cats sprach vom heftigen drucken und
prenten der Bilder im Inneren des Menschen, so als würde der Anblick der
Gegenstände um uns herum sofort den persönlichen Haushalt auf den Kopf
stellen und eine Art Möbelrücken oder Neugestaltung der Inneneinrichtung
zur Folge haben. Solche Äußerungen visueller Kraft, zumal sie von den Zeit-
genossen häufig mit Vokabeln aus dem künstlerischen Bereich
zusammengefaßt wurden, interessieren uns vor allem der Schöpfungsthematik
wegen. Wo derart intensiv von formaler Gestaltung die Rede ist wie in den
Berichten über Schwangerschaft und Bildersehen, läßt sich auch ein Körnchen
Wahrheit über die Vorstellungen künstlerischer Kreativität gewinnen.
Doch hören wir uns zuerst die Anekdote, die Malebranche erzählte. Sie ist
in ein Kapitel der Recherche integriert, das ,Von der Einbildungskraft' des
Menschen handelt. Auf das Verständnis bildnerischer Reproduktion kommen
wir gleich im Anschluß zu sprechen. „Ungefähr vor sieben oder acht Jahren

73
Descartes: Dioptrik (1637), S.98: „Ich könnte Ihnen außerdem noch zeigen, wie die Bilder manch-
mal durch die Venen und Arterien einer schwangeren Frau bis in bestimmte Glieder des Kindes
gelangen können, das sie unter dem Herzen trägt. Hier bilden sie die Muttermale, die den Gelehrten so
viel Kopfzerbrechen bereiten."
74
prent = holl.: Kupferstich
112 ZWKI BAROCKE RAUMMODELLE

lebte in dem Hospital Aux incurables zu Paris ein junger Mensch, der von
Jugend auf irre war und dessen Körper an den Orten gerade gebrochen war, an
denen man die Missetäter zu rädern pflegte. In diesem Zustande lebte er an die
zwanzig Jahre; viele Leute sahen ihn, sogar die verstorbene Königin-Mutter
ging zu ihm, berührte seine Arme und Schenkel da, wo sie zerbrochen waren.
Nach den eben vorgetragenen Grundsätzen war die Ursache die, daß die Mut-
ter des Unglücklichen, mit dem sie eben schwanger ging, einen Missetäter
rädern sah. Alle Schläge, welche er bekam, trafen mit nicht wenig Gewalt die
Einbildungskraft der Mutter und durch eine Art von Mitempfindung das feine
Gehirn ihrer Leibesfrucht - die Fibern im Gehirne dieser Frau wurden außer-
ordentlich erschüttert, vielleicht durch den außerordentlichen Lauf der
Lebensgeister beim Anblick einer so fürchterlichen Handlung an einigen Or-
ten gebrochen, sie hatten aber doch Festigkeit genug, um die völlige
Zerstörung ihres Baues abzuhalten. Hingegen die Fibern im Gehirn der Frucht
vermochten einem so wütenden Sturme der Lebensgeister nicht zu widerste-
hen, sie wurden ganz auseinandergerissen, und diese Verwüstung war so groß,
daß darüber ihr Verstand geschwächt und sie folglich ihrer Sinne beraubt das
Tageslicht erblickte."
„Aus diesen Gründen kann man auch z.B. herleiten", ergänzte Malebranche
seine Ausführungen im Anschluß, „warum eine schwangere Frau, wenn sie
Leute sieht, die am Gesicht etwa ein Mal oder sonst ein Wahrzeichen haben,
ein Kind zur Welt bringt, welches ebenso und an demselben Orte gezeichnet
ist. Eben deshalb gibt man ihnen auch mit Recht den Rat, sobald sie etwas
sehen, worüber sie sich entsetzen, oder das ihnen eine ungestüme Leidenschaft
erweckt, sich sogleich an einem verborgenen Teile des Körpers zu reiben,
denn das macht gemeiniglich, daß jene Zeichen sich in die verborgenen Teile
und nicht in das Gesicht eindrücken. (...) Es ist noch nicht ein Jahr, als eine
Frau, die bei der öffentlichen Feier der Kanonisierung des heiligen Pius sein
Bildnis zu scharf ansah und hernach mit einem Kinde niederkam, welches
diesem Heiligen vollkommen glich. Das Alter war aufsein Gesicht geprägt, so
wie es sein konnte, da es noch keinen Bart hatte. Seine Arme waren auf der
Brust kreuzweise übereinandergelegt, seine Augen gen Himmel gewandt, und
da der Heilige in die Höhe sah und seine Stirn kaum konnte erblickt werden,
da man sein Bildnis nach der Kirche trug, so hatte es auch eine außerordent-
lich kleine Stirn. Sogar schien auf den Schultern eine zurückhängende Art von
Mitra zu sein, an dem Orte, wo dergleichen Bischofsmützen mit Edelsteinen
zu sein pflegen, waren runde Flecken, kurz, das Kinde glich völlig dem Bild-
nis, weil die Mutter es zu stark ihrer Einbildung eingedrückt hatte. Ganz Paris
und auch ich selbst haben sich von der Wahrheit dessen überzeugt. Denn man
hat es sehr lange in Spiritus aufbewahrt. Bei dieser Erfahrung ist das sonder-
bar, daß nicht der Anblick eines lebenden und leidenden Menschen die
Lebensgeister, sondern daß ein totes Gemälde so mächtig auf sie wirkte und in
LEERE RÄUME 113

ihren Lebensgeistern so starke Erschütterung erzeugte, vielleicht weil sie es zu


starr und zu lange ansah, oder auch weil das Gelärme und der Tumult bei die-
sem Feste zu heftig war. Nach der ersteren Voraussetzung sah also das Kind
das Gemälde ebenso starr an als die Mutter, nach der letzteren ward sie zu
stark gerührt und kopierte es wenigstens der äußerlichen Stellung nach ab,
denn da ihr Körper völlig ausgebildet und ihr Fleisch hart genug war, den
Lebensgeistern zu widerstehen, so konnte sie es nicht ganz abdrücken, auch
sich demselben nicht vollkommen gleichstellen. Die zarten Fibern im Fleische
des Kindes im Gegenteil nehmen alle möglichen Lagen und Veränderungen
an, und so brachte der geschwinde Lauf der Lebensgeister in seinem Fleisch
alles das hervor, was dasselbe dem Bildnis ähnlich machte, ja die Kopie war
an ihm so treffend als die Nachahmung bei Kindern das Original nur immer
erreichen konnte."

Lesende und schreibende Frauen

Was Malebranche als Grund für die treffende Nachahmung eines äußeren
Eindrucks angab, war eine Art energetischer Verschiebung von einem Gefäß
zu einem anderen. Als würde ein und derselbe Inhalt lediglich von einer Scha-
le in eine andere weitergegeben, von einem Ort zu einem anderen transportiert
werden (wobei die Arterien und Venen die Orte wie Kanäle verbinden), voll-
zog sich der gesamte Nachahmungs- und Reproduktionskomplex des barocken
Zeitalters im Sinne einer solchen direkten Übertragung. Malebranche hatte ja
ganz umsichtig erklärt, wie es im Mutterleib zu einem genauen Abbild der
Außenwelt kommen konnte: Die Schläge einer öffentlichen Mißhandlung
trafen auch die Einbildungskraft der Mutter: „daher werden diese Bewegungen
von der Mutter auf das Kind fortgepflanzt" seine Zeichen drücken sich in
das weiche Fleisch des Kindes und formen es. Man kann gut und gerne be-
haupten, daß sich dieser Vorgang wie die Niederschrift auf einem blanken
Stück Papier dadurch auszeichnete, verschiedene äußere Zeichen oder Merk-
male zu notieren. Das Kind glich einer unberührten tabula rasa, die darauf
wartete, konkretere Form anzunehmen. Es war (um ein letztes Mal mit Male-

73
Malebranche, Nicole: Erforschung der Wahrheit, München 1920, Band 1, Buch 2, S.200-204: Des-
weiteren: „Man hat noch weit mehr Beispiele von der Gewalt der Einbildungskraft bei Müttern (...).
Denn sie gebären nicht nur unförmliche Kinder, sondern sogar an denselben Früchte, die sie zu essen
wünschten; Äpfel, Birnen, Weintrauben usw. Wenn z.B. die Mutter sich eine Birne einbildet und
solche zu essen sich sehnt, so tut es die Leibesfrucht, wenn sie schon lebt, auch in eben dem Grade. Da
nun, sie mag leben oder nicht, der durch das Bild einer gewünschten Frucht hervorgebrachte Lauf der
Lebensgeister sich durch einen so kleinen, zarten und einer Veränderung der Figur sehr empfänglichen
Körper ergießt, so gleichen hernach diese armen Kinder dem, was sie zu heftig wünschten."
7ft
Ebd., S.197
114 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

branche zu sprechen) ein „einer Veränderung der Figur sehr empfänglicher


Körper."

Abb.38: Didaco Saavedra Faxardo, Das menschliche Gehirn


verglichen mit einer leeren Leinwand, aus: Abriß Eines Christ-
lich-Politischen Printzens, 1700 (spanische Erstausgabe 1640)

Jeder visuelle Eindruck hatte einen entsprechenden Ausdruck oder Abdruck


zur Folge. Und war die Oberfläche so wenig vorbelastet oder überblendet
worden wie in den eben diskutierten Fällen, nahm sie die Sendung ohne nen-
nenswerten Verlust entgegen, verzerrte und verfälschte sie sie nicht, dann
rückte sie zur idealen Projektionsfläche für die Wiedergabe äußerer Eindrücke
auf. Deshalb wurde die Jungfrau Maria als wichtigste Überbringerin der gött-
lichen Heilsbotschaft schon seit dem Mittelalter regelmäßig mit einem
speculum sine macula verglichen, während ganz allgemein jedes ungeborene
Kind im Mutterleib einen ungeformten, äußerst empfänglichen Körper besaß.
Wiederum aus demselben Grund hat der Darstellungstypus von Frau und Kind
eine metaphorisch sehr eng gezogene Verwandtschaft zum unbeschriebenen
Blatt, zur unberührten Leinwand, zum blankpolierten Spiegel entwickelt. Wor-
in aber lag die Gemeinsamkeit? - Sie alle verkörperten das ideale
Reproduktionsmedium. Martin Burckhardt hat die genaueren Zusammenhänge
dargelegt: „Jungfrau und Buch - diese ikonographische Paarung, die die Bil-
der des Quattrocento durchzieht (ja, die bis weit in unsere Tage hinein einen
ikonographischen Nachklang hat), erweist sich nun, je genauer man hinschaut,
als sehr viel rätselhafter als jene Oberfläche erkennen läßt, die lediglich den
sakralen Bildsinn verrät. So ist es bemerkenswert, daß das Motiv zu jener Zeit
auf der Bildfläche erscheint, da das Buch mit dem herannahenden Buchdruck
seinerseits der Logik der Reproduktion überantwortet wird, ja, da es den Pro-
totyp eines mechanisch zu vervielfältigenden Gegenstandes darstellt. Dieser
historische Zusammenhang ist auch ein struktureller, denn analysiert man die
Terminologie und die Gedankenfiguren der Reproduktionsmedien, ist un-
schwer zu erkennen, daß man es nicht nur mit einer Form der ,künstlichen
Befruchtung' zu tun hat, sondern daß das Ideal des Reproduktionsmediums in
LEERE RÄUME 115

der ,Wiedergabetreue' des Mediums besteht, oder wenn man so will: in der
Jungfräulichkeit dieses Vorgangs. Folgerichtig ist die Makellosigkeit der Re-
produktion, nämlich daß das Medium einen vollkommenen, unbefleckten
Ausdruck dessen wiedergibt, was hineingelegt worden ist, das Ideal eines
jeglichen Reproduktionsmediums. Die lesende Jungfrau: das ist die Weiße des
Papiers, in die sich der Logos einprägt, und es ist diese ihre Jungfräulichkeit,
die jenen Gott, der ihr entspringt, seinerseits rein von der niederen Menschen-
natur sein läßt. Überspitzt ausgedrückt: das, was im Bildnis der lesenden
Jungfrau sich artikuliert, ist nichts anderes als das Phantasma der technischen
Reproduktion, die Jungfrauenmaschine, perfekte Matrix."77
Denken wir an Vermeers Frau mit Waage oder an die Blaue Briefleserin
zurück: In gewisser Weise sind sie Antworten auf all die Verkündigungsbil-
der, mit denen im 15. Jahrhundert die Gattung der Interieurmalerei zu ihren
Anfängen aufbrach. Sicherlich trifft die Behauptung, wir würden bei der Be-
trachtung eines Interieurbilds von Vermeer in einen Empfangsraum geleitet
werden, sozusagen in einen Raum, der uns seine erhöhte Aufnahmebereit-
schaft suggeriert, bereits auf den besonderen Zustand der Frauen zu - in
ikonographischer Abwandlung des bekannten Motivs der Maria gravida be-
finden sie sich im hoffnungsvollen, wachsenden, raumerfüllenden Zustand der
Gravidität. Aber auch andere Bilder Vermeers erzählen von der Entgegen-
nahme eines Gegenstands oder einer Nachricht. Eine Botschaft wird
niedergeschrieben, ein Brief von einer Frau in Empfang genommen, die Szene
in einen Innenraum verlegt, der Raum auf eine Leinwand gemalt, und das Bild
von einem Betrachter rezipiert. Die Reihe ist nicht wahllos zustandegekom-
men. Sie folgt jener Logik, die das Hervorbringen einer genauen Wiedergabe,
kurz, den Reproduktionsgedanken der Neuzeit zum Ziel hat.
Vermeer hat sich mit den Motiven der lesenden oder schreibenden Frau im
Innenraum sehr intensiv beschäftigt. Daß heißt nichts anderes, als daß er seine
Gemälde mit möglichst vielen rezeptiven Eigenschaften auszustatten versuch-
te, ja daß er sie mit einer Fülle von Elementen versah, die in nur leichten
Abwandlungen dasselbe Grundmotiv des Festhaltens oder Aufbewahrens

7
Burckhardt, Martin: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung,
Frankfurt a.M., New York 1997, S.139
" Eine zusätzliche ikonographische Deutung der Schwangerschaft in Vermeers Blauer Briefleserin
gibt uns Bärbel Hedinger (Karten in Bildern. Studien zur Kunstgeschichte Bd.34, Hildesheim, Zürich,
New York, 1986) Nach Hedinger personifiziert die vor einer Wandkarte stehende Blaue Briefleserin
„das Wachstum und die Zukunft der Provinz Holland in der bürgerlichen Gestalt einer werdenden
Mutter (Hollandia Gravida). (...) Sie kann als ,Allegorie der guten Hoffnung' verstanden werden."
(S.89und87)
Grundsätzliche Parallelen siehe auch bei: Park, Katherine: Impressed Images: Reproducing Wonders,
in: Jones, Caroline A. and Galison, Peter: Picturing Science Producing Art, London, New Yourk 1998,
S. 254-271
116 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

wiederholten. Ob es nun die schwangere Frau war oder das Zimmer, in dem
sie sich aufhielt; ein einzelner Krug, der auf einem Tisch stand oder eine Scha-
le mit Obst; ein gelesener oder geschriebener Brief; eine Schatulle mit
Schmuck oder eine aufgespannte Leinwand wie in der Malkunst: Jedes dieser
Motive sollte das gesamte Fassungsvermögen des Bildraums betonen. Die
Fähigkeit, etwas in sich aufzunehmen und zu bewahren, war auch der Bildflä-
che eigen. Sie konnte für Vermeer die Kapazität eines geräumigen Behälters
annehmen. Die Interieurmalerei erklärte dies zu ihrem herausragendsten
Merkmal. Was heißt: Die Zimmerwände steckten ein Territiorium ab, das wir
gewöhnlich ,Innenraum' nennen, aber eigentlich genausogut ,Vakanz' oder
,Leerstelle' heißen könnte. Nach diesem Verständnis definiert sich ein Innen-
raum als das Innere eines Hohlkörpers; er ist nichts anderes als der Inhalt eines
Behälters: Beinhaltetes, Umfangenes, Eingefaßtes.
Dabei kann sich ein Behälter der Umwelt öffnen oder verschließen. Es ist
erstaunlich, wie ähnlich die Bildmechanismen zu denen ablaufen, die das
menschliche Auge der Welt gegenüber entwickelte. Gaston Bachelard hat
einmal behauptet, daß ,jede große Erinnerung in ein kleines Kästchen einge-
lassen ist", und wir können hinzufügen: daß im Grunde noch der geringste
Augenblick zur vorläufigen Aufbewahrung in ein solches Kästchen gegeben
wurde. Bachelard hat weiterhin gesagt, daß „die Truhe, vor allem aber das
Kästchen, das man in der Hand hat," sich vor allem dadurch auszeichnen, daß
sie Gegenstände sind, „die sich öffnen lassen," daß sie in diesem Moment
samt ihres Inhalts ent-deckt werden können.79 Genauso ergeht es der Wahr-
nehmung der Außenwelt durch das Auge des Malers, der Verwertung dieses
Augenblicks in einem Bild und der Rezeption dieses Bildes - einer erneuten
Wahrnehmung - durch das Auge des Betrachters. Alle drei Behälter oder
Kästchen haben sich erst in dem Moment zu einer Kommunikationskette ver-
bunden, in dem sie auf ihre autonome Daseinsform zugunsten ihrer
Veröffentlichung oder, wie Bachelard es nannte, zugunsten ihrer inhaltlichen
Ent-deckung verzichteten. Aber im Grunde sollte unsere Aufmerksamkeit gar
nicht so sehr auf dem Verlust zu liegen kommen als auf den unbegrenzten
Möglichkeiten, welche ein eben geöffnetes Kästchen ebenso mitsichbringt wie
ein offenes Fenster oder eine aufgeschlossene Tür, wie ein geöffnetes Auge
oder ein geöffneter Bildraum. Es ist das abwechselnde Miteinander ehemals
getrennt lebender Einheiten, das einen solchen Möglichkeitsraum entstehen
läßt. Wenn ein Inhalt in einen Behälter gegeben und verschlossen wird, wenn
eine Botschaft verbrieft und versiegelt oder ein flüchtiger Augenblick einge-
fangen und auf die Fläche der Leinwand gebannt wird, so dient das Ganze
seiner Aufbewahrung und seinem Gedächtnis. Und dennoch gibt es keinen
Zweifel daran, daß dieser Vorgang nur dann einen Sinn macht, wenn der In-

Bachelard, Gaston: Die Poetik des Raumes, Frankfurt a.M. 1997, S. 100
LEERE RÄUME 117

halt herausgezogen und gelesen wird, ebenso wie es notwendig ist, das Siegel
eines Briefs zu erbrechen, um die Nachricht zu Gesicht zu bekommen. Die
Verschlußnahme einer Nachricht muß zur Preisgabe und Weitergabe führen,
anders kann eine Botschaft gar nicht gedacht, anders kann an sie nicht erinnert
werden. Sie muß zur Weitergabe, das heißt zur Wiedergabe führen, und zwar
derart, daß der Inhalt in keinem noch so geringfügigen Bestandteil verloren
geht. Wie eine Nachricht in ein Kuvert eingeschlossen wird, soll auch jede
andere Botschaft den Empfangsort geschützt und vollständig erreichen. Zu
keinem anderen Zweck waren die Behälter gemacht worden.
Für die Kunst bedeutete das, eine möglichst wiedergabegetreue Repräsen
tationsmöglichkeit zu entwickeln. Nur auf diese Weise glaubte man, die
Botschaft über Zeiten und Räume hinweg erhalten zu können. Am besten dazu
eignete sich die Repräsentationsform der Mimesis oder des malerischen Rea
lismus. Wohlgemerkt war es ein Kreis, den es zu schließen galt. Er sollte den
Anfang und das Ende einer Botschaftenkette zusammenfassen und uns im
Glauben bestärken, daß nichts aus dem Inneren herausfließt, wenn man den
Aufbewahrungsort genügend rund und dicht macht. Ein Gemälde, das den
Gesetzen der Mimesis gehorcht, ist immer eine solche Schale, eine solche
Kugel oder ein schützendes Kästchen. Es gibt einen Grundtypus, dem es folgt
und den es in Abwandlungen die gesamte Kunstgeschichte der Neuzeit hin
durch wiederholte. Fassen wir seine Merkmale zusammen:
es empfängt und gibt weiter;
eine Kugel oder ein Kästchen;
ein Hohlraum;
mit einer Öffnung versehen;
mit einem Vorhang, einer Schleuse zu öffnen / zu schließen

(das ideale Reproduktionsmedium der Neuzeit)

Abb. 39 Joannes Sambucus, Interiora vide, aus: Emblemata, Antwerpen, 1566


118 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Das Gleichnis vom K ä s t c h e n

Eine Abbildung zeigt den Grundtypus mit allen entscheidenden Eigenschaften


- den Innenraum mit der verhängten Fensteröffnung, dessen Vorhang zur
Seite gezogen wird, den mit einem Schwert bewaffneten Eindringling, der
nach dem Motto des Interiora vide einen Blick in das Zimmer wirft. Der
Grund, warum wir diesen Merkmalen innerhalb der Malerei häufig begegnen,
ist nicht schwer zu erraten. Einmal bewußt geworden, daß die Darstellung
eines verschlossenen und wiederaufschließbaren Behälters von Beginn an mit
dem Gedanken der inhaltlichen Vervielfältigung spielt, verläßt uns die Vor-
stellung von der Tiefe des Motivs nie mehr wieder. Wir sehen, daß in dem
Moment, in dem sich ein Maler einem Innenraum zuwendet, eine selbstrefle-
xive Komponente Einzug in das Bild hält. Der Produktionsprozeß scheint ganz
einfach vor sich zu gehen. Er beginnt mit der Tätigkeit des Malers, der etwas
in einen Innenraum gibt, und endet beim Betrachter, der den Inhalt entgegen-
nimmt. Auf eine kurze Formel gebracht basiert der offizielle
Repräsentationsgedanke der Neuzeit auf einer formalen Eingabe auf der einen
Seite und einer Wiedergabe oder Herausgabe derselben Gestalt auf der ande-
ren.
Bei Vermeer finden wir den Gedanken in verschiedenen Varianten vor. Ob
es das menschliche Auge und die Vorgänge des Sehens sind, die bei ihm auf
großes Interesse stoßen, der Einsatz der camera obscura, der weibliche Körper,
die Geräumigkeit eines Zimmers oder die aufnahmebereite weiße Leinwand,
sie alle erfüllen die Kriterien des neuzeitlichen Reproduktionsideals. Sie alle
erscheinen als geheimnisvolle Kästchen, in die die Reichtümer und Schätze
der Welt gelegt und verborgen werden, aus deren Tiefen sie aber auch hervor-
quellen und ans Tageslicht treten können. Sie sind wertvoll, des Wertes voll.
Sie dienen dem Schutz, der Aufbewahrung und Hervorbringung von Gütern.
Deswegen ist es kein Zufall, daß an vielen Stellen in Vermeers Gemälden das
Motiv der geöffneten Schmuckschatulle auftaucht. Alle genannten Behälter
sind solche Kästchen im reichen, qualitätvollen Sinne. Und wenn sie auch in
erster Linie dafür gemacht wurden, Eindrücke möglichst vollständig einzufan-
gen und wiederzugeben, so darf man das auf keinen Fall mißverstehen und
glauben, es wäre dabei lediglich um die Sicherung einer quantitativ zu bemes-
senen Datenmenge gegangen. Die eigentliche Aufgabe bestand darin,
Bestände zu sichern und weiterzugeben, indem entsprechende Gegenwerte
(Qualitäten) aufgeboten wurden.
Gleichzeitig verkörpern die Innenräume und Gefäße, die Hüllen, Schalen
und Schatullen Ruheplätze des Lebens. Einem Boten vergleichbar, dem eine
kostbare Fracht anvertraut wird, tragen sie die Nachricht durch eine bewegli-
che Umwelt, um sie an anderer Stelle und zu einem anderen Zeitpunkt sicher
und wohlbehalten zu übergeben. Deswegen hält das Interieurbild einen künst-
LEERE RÄUME 119

liehen Hohlraum bereit, aber im Grunde ist es jedes den Gesetzen der Mimesis
gehorchende Gemälde, dem eine unsichtbare Schutzhülle mit auf den Weg
gegeben wurde. Auf diese Weise beruhigte sich das Bewegungsmotiv in der
Kunst. Eine Handbewegung, ein rascher Blick oder eine Drehung des Körpers
wurde angehalten. Es breiteten sich Stille und Ruhe aus. Die Kontemplation
des Betrachters konnte nur aus der Festigkeit seines Gegenübers erwachsen.
Bachelards Gleichnis vom Kästchen sollte uns darauf aufmerksam machen,
wie sehr menschliche Kreativität mit der Kästchenform, ihren einladenden und
abweisenden, schützenden und preisgebenden Eigenschaften zu tun hat. Wir
kommen mit dieser Feststellung zum Ende des ersten Teils, der sich mit der
Behälterfunktion eines Innenraums beschäftigte. Noch steht die Frage nach
dem Inhalt des Behälters aus. Sie wird uns mehr als alles andere beschäftigen
und ganz neue Begriffe und Kategorien erfordern. Es ist dann weniger wich-
tig, sich mit Größenverhältnissen zu befassen oder von der einheitlichen
Fassung eines Systemraums zu reden, als sich um die einzelnen Erzählinhalte
zu bemühen, die den Innenraum aufbauen wie einzelne Noten ein Musikstück
oder verschiedene Häuser ein städtisches Gesamtbild. Jetzt wird die Frage
nach der Inneneinrichtung wichtiger werden als die nach der architektonischen
Hülle: „In dieser dynamischen Gemeinsamkeit von Mensch und Haus (...) sind
wir weit entfernt von jeder Bezugnahme auf einfache geometrische Formen.
Das erlebte Haus ist keine leblose Schachtel. Der bewohnte Raum transzen-
diert den geometrischen Raum." Daraus folgt der hartnäckigen Zweifel am
oft geäußerten Glauben, wir würden in verkapselte Orte eintauchen, wenn wir
ein Gemälde Vermeers betrachten. In Wirklichkeit haben noch immer die
Beziehungen Vorrang, ebenso wie ein distanziertes Betrachtersubjekt nie sei-
nen Platz vor dem Bild gefunden hat.

Bachelard (1997), S.67


120 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Bi

Abb.40: Figurativer Stadtplan von Delft (Ausschnitt), aus: Willem Blaeu. Niederländischer
Stadtatlas. Amsterdam 1649
b| ERFÜLLTE RÄUME
„Gehe aus dem Kasten."

(Wilhelm Raabe, Slop/kuchen)

Mit der Absage an den Autonomiegedanken beginnt ein neues Kapitel in der
Rezeptionsgeschichte Vermeers. Ansätze dazu hatte es zu verschiedenen Zei-
ten gegeben. Thore brachte die persönliche Anteilnahme des Betrachters am
Bildgeschehen deutlich zum Ausdruck. Von Kurt Badt haben wir eine frühe
Anerkennung des Bewegungsmotivs in der Kunst Vermeers. Andererseits
zeigte sich Badt weniger an einer historischen als an einer werkimmanenten
Interpretationsweise interessiert, insofern er ein Gemälde bereits mit seinen
Rahmengrenzen für beendet hielt und keinen Versuch unternahm, anstelle der
autonomen Daseinsform etwas zu setzen, was man eine Art Relativitätstheorie
in der Kunst nennen könnte. Aber genau das ist es - eine Beziehungssuche
innerhalb des Bildfelds ebenso wie über seine Rahmengrenzen hinaus -, mit
deren Hilfe sich die vielen Zusammenhänge summieren lassen, die Vermeers
Gemälde zu den aufsehenerregendsten und in sich kontroversesten Kunstwer-
ken gemacht haben, welche uns aus barocker Zeit überliefert sind. Nicht
zuletzt verdanken wir diesem Umstand einige wichtige Publikationen. Aber es
sind vor allem zwei Autoren, die sich auf eine Beziehungssuche eingelassen
haben. Durch die Untersuchungen des sozialen Umfelds, die John M. Montias
in den Delfter Archiven angestellt hat, wissen wir über das städtische Gesamt-
bild und die familiären Kontakte Vermeers sehr viel genauer Bescheid, als das
noch vor gut einem Jahrzehnt der Fall gewesen ist. Etwas länger liegt es zu-
rück, daß Edward Snow seine wunderbare Studie über das psychologische
Zusammenspiel von Bildfiguren und Betrachter vorgelegt hat. Obwohl sich
diese beiden Publikationen ihrer Themenwahl nach stark unterscheiden, äh-
neln sie sich im Versuch, den Standpunkt in die zu beschreibenden Räume
hineinzuverlegen, sei es der soziale Raum des barocken Delft oder der künstli-
che Raum eines barocken Gemäldes. Und indem man den Eintritt gewagt und
über die räumlichen Zusammenhänge von innen heraus reflektiert hat, ge-
schieht das Besondere: sich im gleichen Moment aus dem Kasten
herauszubegeben, der ja nur solange ein Kasten bleibt, wie man ihn von außen
betrachtet.
Wenn man, wie Bachelard vorschlug, die geometrische Definition von
Räumlichkeit ebenso vernachlässigt wie den althergebrachten Autonomiege-
danken, und sich darauf konzentriert festzustellen, wie verschieden sich jede
Stelle des räumlichen Gefüges gestaltet, wenn man sie mit den Augen eines
Mitbewohners ansieht, würde folgender Gedanke immer wichtiger werden:
„Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der indifferente Raum
122 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen


ist. Er wird erlebt (...)." Denn „daß Menschen Wesen sind, die an Räumen
teilhaben, von denen die Physik nichts weiß: Durch die Ausarbeitung dieses
Axioms hat sich eine moderne psychologische Topologie entwickelt.""

Abb.41: Vermeer. Ansicht von Delfl. um 1660/61. Den Haag, Mauritshuis

1
Bachelard (1997), S.25
:
Sloterdijk(1998),S.83
ERFÜLLTE RÄUME 123

Das Innenleben einer Stadt

Begeben wir uns vor Vermeers Ansicht von Delft und betrachten sie mit der-
selben Aufmerksamkeit, die der Maler am Schauplatz aufbrachte. Die Ansicht
ist von Südwesten aus aufgenommen worden. Wir sehen einige charakteristi-
sche Gebäude Delfts wie das sogenannte Schiedamer Tor, auf dessen Uhr
unter dem Dachfirst man die Zeit erahnen kann: Es ist etwas nach sieben, die
Stadt liegt im Licht der frühen Morgensonne. Weit außen ragen die spätmittel-
alterlichen Turmspitzen des Rotterdamer Tors in die Wolkenschicht des
Himmels, der sich, das ist viel bewundert worden, in einer mächtigen Glocke
über die Silhouette der Stadt wölbt und ein Gefühl von Weite und atmosphäri-
scher Dichte vermittelt. Durch die wechselnde Wolkendecke läßt das Licht hin
und wieder eine Mauer aufleuchten, während die Fassaden längs der Schie
lange Schatten auf das Wasser werfen. Die Turmspitze der Nieuwe Kerk ist
noch von weitem gut zu sehen, die der Oude Kerk verschwindet beinahe voll-
kommen hinter einem hohen Häuserdach. Daneben erhebt sich der schlanke
Turm einer Brauerei mit dem Namen De Papagaey; hinter der Stadtmauer
ragen die Giebel einiger Häuser der Kethelstraat auf. Auf der rechten Seite
treffen wir erneut auf das Rotterdamer Tor, das aus zwei miteinander verbun-
denen großen Gebäuden besteht, einem reich geschmückten Haupttor gleich
neben der Nieuwe Kerk sowie dem äußeren Tor, mit einer Zugbrücke vor
dessen turmbeflankter Fassade. Weil man auf dem Wasserweg nach Rotter-
dam, Schiedam und Delfshaven gelangen kann, warten auf der anderen Seite
des Kanals einige Delfter Bürger auf das Lostäuen der Boote.
Alles in allem ist der Kolk, wie dieser Teil des Delfter Hafens genannt
wurde, von Vermeer derart genau beschrieben worden, daß sich seine Ansicht
von Delft scheinbar problemlos in die lange Tradition der Städtebildnisse ein-
reihen läßt, die auf die schnelle Wiedererkennbarkeit der topologischen
Verhältnisse einer Stadt zielten. Die Position, die der Maler einnehmen mußte,
um diesen Ausschnitt wiederzugeben, läßt sich noch heute gut bestimmen. Sie
liegt auf der anderen Seite des Kanals, und zwar in einer derart beträchtlichen
Höhe, daß man annimmt, Vermeer habe die Ansicht nur vom ersten Stock
eines auf dem anderen Ufer der Schie befindlichen Hauses festhalten können.
Und doch kann das Kriterium der Wiedergabetreue nicht der einzige Antrieb
gewesen sein, der Vermeer zum Pinsel greifen ließ, denn in einigen Punkten

' Nach P. T. A. Swillens (Johannes Vermeer, painter of Delft 1632-1675, Utrecht 1950) hatte Vermeer
zu diesem Zweck ein kleines Haus bezogen, das auf einem 1649 entstandenen Delfter Stadtplan einge-
zeichnet ist. Ein Blick aus dem Fenster des ersten Stocks hätte die ungefähre Perspektive eröffnet, die
wir in Vermeers Ansicht von Delft vorfinden. Allerdings bieten die späteren Stadtpläne von 1675 und
1678 keinen Hinweis auf die Existenz dieses Hauses.
124 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

wich es deutlich von der Wirklichkeit ab. Der Turm der Nieuwe Kerk wurde
etwas gekürzt, die leicht gebogene Brücke über den Oude Delft Kanal begra-
digt, die Häuser auf der linken Seite des Schiedamer Tors im Vergleich zu
denen auf der rechten Seite angehoben.4 Offensichtlich mußte es für Vermeer
neben der mimetischen noch eine andere wichtige Ordnung gegeben haben.
Vermeer legte größten Wert auf die Beschreibung eines Augenblicks. Seine
Ansicht von Delft spiegelt uns ein in der Morgensonne, unter den ziehenden
Wolken und dem wechselnden Lichteinfall längst vergangenes Delft vor. Es
hält die Stellung, obwohl sich die Stadt seitdem viele Male gewandelt und
neue Bilder oder Ansichten hervorgebracht hat. Demnach ist Vermeers An-
sicht nur eine unter vielen anderen - wenngleich vielleicht die beste aller
möglichen Ansichten. Man müßte Bezas Glaskugel mit der Stadt in der Mitte
einen leichten Schubs geben, um ein ähnliches Bild von dem zu erhalten, was
geschieht, wenn sich ein „geschlossenes Gebiet zu deterritorialisieren" be-
ginnt. „Und gleichwie eine einzige Stadt / wann sie aus verschiedenen
Gegenden angesehen wird / ganz anders erscheinet / und gleichsam auf per-
spectivische Art verändert und vervielfältigt wird; so geschiehet es auch / daß
durch die unendliche Menge der einfachen Substanzen gleichsam eben so
viele verschiedene Welt-Gebäude zu sein scheinen / welche doch nur so viele
perspectivische Abrisse einer einzigen Welt sind / wornach sie von einer jed-
weden Monade aus verschiedenen Ständen und Gegenden betrachtet und
abgeschildert wird"6, schrieb Leibniz in seiner Monadologie. Letztendlich
zielte der Prozeß der Deterritorialisierung auf das Ende der Zentralperspekti-
ve. Wenn sich jeder Mensch zu einem perspektivischen Betrachter erklärte,
konnte sich die Menge nur auf einen flirrenden, unsicher gewordenen Bild-
fundus stützen. Mit Wiederholung des zentralperspektivischen Systems ins
Unendliche ging der gemeinsame Horizont schon wieder verloren. Die Ver-
mehrung eines absolutistischen Systems widersprach der eigenen Logik. Und
wenngleich die vielen Blicke und Ansichen, wie Leibniz sagte, auch nur „viele
perspectivische Abrisse einer einzigen Welt" waren, wurde diese Welt trotz-
dem vom gemeinsamen Mittelpunktsgedanken befreit. Nicht zufällig breiteten
sich seit dem 16. Jahrhundert die Land-, Meeres- und Weltkarten aus und
konkurrierten mit den Kastenräumen der Neuzeit.

4
Für genauere Details siehe die Beschreibung bei Arthur Wheelock. der die Frage nach der Wiederga-
betreue der Ansicht von Delft erstmals ausführlicher behandelte: Wheelock, Arthur K. und C.J.
Kaldenbach: .Vermeer's View ofDelft and his vision of reality, in: Artibus et historiae 6 (1982), S.9-
35, sowie Wheelock, Arthur K.: History, Politics and the Portrait of a City': Vermeer's View of Delft,
in: S. Zimmermann und R.F.E.Weissman (Hrsg.): Urban Life in the Renaissance, Newark 1989, S.165-
184
s
Buci-Glucksmann, Christine: Der kartographische Blick der Kunst, Berlin 1997, S.22
6
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie, frz.-dt. Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996, § 58
ERFÜLLTE RÄUME 125

Es war wiederum Leibniz, der den Unterschied herausarbeitete. „Einerseits der


Blick/z> uns, der Prospekt der Szenographie, in der alles von einem einzigen
Platz (situs) aus betrachtet wird. Andererseits der Blick an sich, der Grundriß
der Ichnographie, in der das im Unendlichen angesiedelte Auge das Ganze
überschaut. Beide Modi der Sichtbarkeit definieren unterschiedliche Dia-
gramme, ,Schaubilder', auf denen das Eine und das Mannigfaltige, das Ganze
und das Detail miteinander in Beziehung treten. Während sich der Prospekt
eines Netzes konvergierender Linien bedient, um die Welt perspektivisch
darzustellen, ist der Grundriß eine horizontale Fläche, eine göttliche Perspek-
tive, deren Parallelen sich im Unendlichen schneiden. Dieser potentielle
Unterschied zwischen Prospekt und Grundriß manifestiert sich in der Ge-
schichte der Kunst." Christine Buci-Glucksmann, die eine Studie über den
kartographischen Blick in der Kunst vorlegte, hat Leibniz' Differenzierung
aufgenommen, um Ambivalenzen in der bildlichen Darstellungsweise aufzu-
zeigen. Der zentralperspektivische Kastenraum arbeitete an der Arretierung
des Augenblicks, die Zeichensprache der Kartographie an der zeitlosen Omni-
vision. Mit Buci-Glucksmann: „Die kartographische Projektion unterschlägt
den Horizont und eliminiert den Blickpunkt des Betrachters. Sie ist in der Tat
ein Blick von nirgendwo. Anders als auf einem Gemälde ist es weder möglich,
durch eine Karte ,hindurch', noch auf ihr einem Fluchtpunkt ,nach'zusehen."8
Und weil das bei ihr gar nicht erst beabsichtigt ist, löst sich das Auge des Be-
trachters vom Standpunkt vor der Leinwand.

Bezas Gleichnis von der Glaskugel mit der Stadt in der Mitte hilft uns verste-
hen, wie schwierig es war und ist, räumliche Zusammenhänge auf einem
flachen Bildträger darzustellen. Im Idealfall sollte das Medium fest und
weglich sein und den Betrachter ebenso distanzieren wie einbetten.
Vermeer mußte sich für eine der Ansichten seiner Heimatstadt entscheiden.
Bei den Malern des 17. Jahrhunderts war es üblich gewesen, Delft von der
Nord- oder der Westseite wiederzugeben, während Vermeer erstmals einen
südlichen Standort auswählte.10 Das hatte einen besonderen Grund: 1654 hatte
das Delfter Pulvermagazin in einer verheerenden Explosion nahezu den ge-
7
Buci-Glucksmann (1997), S.31
" Ebd., S.40
9
Vgl. auch die Unterscheidung zwischen dem wandernden und dem fixierten Blick bei Bryson, Nor-
man: Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London 1983: „The ,Gaze' (...) is victorious over the
Glance, (...). The mode of the image is emphatically aoristic." Eine ähnliche Spannung zwischen
.assertoric' und .aletheic gaze' hatte auch David Michael Levin konstatiert: The Opening of Vision:
Nihilism and the Postmodern Situation. New York 1988. Traditionslinien lassen sich zu Heidegger
(.Sein und Zeit'), Merleau-Ponty und im Grunde bis zu Leibniz oder Huygens zurückverfolgen.
10
Auf dem figurativen Stadtplan von 1649 läßt sich dieser außerhalb der Befestigungsmauern, zwi-
schen den ausgelagerten Gärten der Stadt ansiedeln, ziemlich genau dort, wo der Delfter Kolk und die
Schie zusammentreffen.
126 ZWEI BAROCKE RAUMMODF.LLE

samten nordöstlichen Teil der Stadt in Schutt und Asche gelegt. Die Aufbau-
arbeiten wurden umgehend eingeleitet und 1660, als Vermeer seine Ansicht
malte, waren große Teile fertiggestellt. Dennoch konnte dieses Stadtviertel
nicht mehr mit dem Glanz der unversehrt gebliebenen Bereiche konkurrie-
ren. Bei jener Explosion war auch der junge, hochbegabte Maler Carel
Fabritius ums Leben gekommen, von dem wir eine weitere Ansicht von Delft
kennen. Im weitestem Sinne ist es ein städtisches Interieurbild, das Fabritius
geschaffen hat, wobei seine malerischen Qualitäten sowie die ungewöhnlich
starke perspektivische Verzerrung Grund genug sind, ihm innerhalb der hol-
ländischen Barockmalerei den Rang eines kleinen Ausnahmewerks zu
verleihen. Für die Vermeer-Forschung bietet es den besonderen Reiz, daß es
sich bei jener kanalgesäumten Straße linker Hand um eben die Straße handelt,
in der einige Jahre später Vermeer wohnte.13

Abb.42: Carel Fabritius. Ansicht von Delft. 1652. London. National Gallery

Heute können wir mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß Vermeer auf der ande-
ren Seite des Marktplatzes und der Kirche, in der Voldersgracht, geboren

" Vgl. dazu auch: Chong, Alan: Johannes Vermeer. Gezicht op Delft, Bloemendaal 1992
Vgl. dazu ein Gedicht von Arnold Bon, das 1667 in Dirck van Bleyswijcks Beschryvinge der Stadt
Delft erschien:
„Thus expired this Phoenix <Carel Fabritius> to our loss
In the midst and in the best of his powers,
But happily there rose from his fire
Vermeer, who, masterlike, trod his path."
(Englische Übersetzung nach Blankert (1978), S.147f)
Maarseveen, Michel P. van: Vermeer of Delft. His life and times, Stedijk Museum het Prinsenhof
Amersfoort 1996, S.60: „The picture depicts the exterior of the choir of the Nieuwe Kerk with, to the
left of it, a musical instrument-seller's stall and the water of the Oude Langendijk where Vermeer later
lived. This canal has since been filled in. The town-hall of Delft and the south side of the Markt can be
seen in the background and the houses of the Vrouwenrengt on the right-hand side. The second house
from the right still Stands."
KRFULLTE RÄUME 127

wurde. Seine Eltern waren seit siebzehn Jahren verheiratet, als im Oktober
1632 ihr einziger Sohn auf die Welt kam. Die Voldersgracht liegt in einem
angesehenen Viertel in unmittelbarer Nähe zum Großen Marktplatz, und für
Vermeers Vater hatte es einen sozialen Aufstieg bedeutet, vom sogenannten
Beestenmarkt (Viehmarkt) der Stadt wegzuziehen, wo er seine ganze Kindheit
verbracht hatte. Mittlerweile konnte John M. Montias die Familiengeschichte
von Vermeers Eltern rekonstruieren, die von gesellschaftlichen Ambitionen
auf der einen Seite und lebenslangen finanziellen Schwierigkeiten auf der
anderen gekennzeichnet war, und es ist ihm gelungen, ein derart anschauliches
Bild des Delfter Stadtlebens zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu zeichnen, daß
wir uns seinen detaillierten Schilderungen überlassen dürfen. Reyniers Mutter
Neeltge - Vermeers Großmutter - übernimmt darin die Rolle des resoluten
und in vielerlei Hinsicht erprobten Familienoberhaupts, das dem wachsenden
Schuldenberg durch den Verkauf alter, bei Haushaltsauflösungen erstandener
Kleider oder durch das Stopfen und Füllen von Federbetten und Matratzen
beikommt. Ihre drei Ehen waren allesamt nur von kurzer Dauer. Nach dem
Tod ihres ersten Ehemanns, Reyniers Vater, hatte sie sich mit dem Nachbarn
wiederverheiratet, der am Beestenmarkt eine Gastwirtschaft mit dem Namen
Die drei Hammer führte. Dort gingen vor allem einfache Handwerker und
Bürger ein und aus: Tischler, Schneider, Barbiere, Töpfer, Sattler, Schmiede.
Vermeers Großmutter Neeltge muß in allen umliegenden Häusern gut bekannt
gewesen sein - sie war eine wendige und einfallsreiche Frau, der so schnell
nichts entging, wenn es darum ging, die Einkünfte der Familie aufbessern oder
eine notwendig gewordene Kreditaufnahme hinauszögern zu können. Wirkli-
che Delfter Geschichte machte sie dagegen im Jahr 1620, als sie sich in die
Verhandlungen eines Lotterieveranstalters einschaltete, der die Stadt um die
Erlaubnis einer Veranstaltung gebeten hatte, ihm die Lizenz gegen eine nicht
unbeträchtliche Vermittlungsgebühr durchzusetzen versprach und letztend-
lichdaran scheiterte. Die diesen Fall betreffenden Akten reichen bis ins Jahr
1622, weil Neeltge die vorab gezahlte Summe nicht mehr zurückzahlen woll-
te. Montias hat den starken Zusammenhalt der gesamten Familie
hervorgehoben, durch den der finanzielle Ruin zeitweise abgewendet werden
konnte. Und dieser Zusammenhalt beschränkte sich nicht nur auf die eigenen
Verwandten, sondern bezog seit 1615 auch die Familie von Reyniers Frau
Digna mit ein.
Während der vier Jahre, die Vermeers Vater in Amsterdam bei einem We-
ber in die Lehre gegangen war, hatte er Digna Baltens kennengelernt und
geheiratet. Digna selbst war in Antwerpen geboren, doch mit ihren Eltern in
die holländische Hauptstadt umgezogen. Dort hatte sich der Vater sogleich,
der neuesten Mode folgend, als Immobilienmakler betätigt und mit Aktien der
Ostindischen Handelskompanie zu spekulieren begonnen. Offensichtlich woll-
te er auf schnellem Weg gesellschaftliches Ansehen erlangen, denn er knüpfte
128 ZWEI BAROCKE RAUMMODKLLE

auffallig viele Beziehungen zu höhergestellten Persönlichkeiten, für die er die


verschiedensten Aufträge ausführte. Einer davon sollte ihn und seine Familie
in große Schwierigkeiten bringen.
Kurze Zeit nach der Hochzeit waren Reynier und Digna zur Großmutter
Neeltge in das Haus Die drei Hammer am Beestenmarkt eingezogen. 1620
wurde Johannes' ältere Schwester Gertruy geboren. Für die nächsten Jahre
wissen wir nicht viel, allerdings wütete seit dem Sommer 1624 zwölf ganze
Monate lang die Pest in der Stadt. Obwohl alle engeren Familienangehörigen
Vermeers von der Seuche verschont blieben, sah sich Neeltge durch die stei-
genden Schulden gezwungen, das Gasthaus zu verpachten und weiter östlich
in die Cruysstraet zu ziehen. Kurz nachdem sie 1627 wieder zu ihrer alten
Adresse zurückkehren konnte, starb Neeltge Goris. Das Haus wurde umge-
hend verkauft, um die Schulden zu bezahlen.
Wo Vermeers Eltern sich während dieser letzten Jahre aufhielten, ist bis
heute ungewiß. Sicher ist nur, daß es ihnen spätestens 1631 gelang, ein Haus
in der bereits erwähnten Voldersgracht zu mieten und den gastwirtschaftlichen
Betrieb De vliegende vox (Der fliegende Fuchs) zu übernehmen. Der kleine
Johannes wuchs also in einem Gasthaus auf, dessen aufgeführte fünf Kamine
auf eine ansehnliche Größe schließen lassen, während der Vater neben seiner
Tätigkeit als Wirt weiterhin den Beruf eines Caffa-Webers16 angab, wenn er
Dokumente unterschrieb. 1631 ließ er sich, wahrscheinlich um eine kleine
14
So die kurze Zusammenfassung der Recherche von Montias, in: Van Maarseveen (1996), S.32f: „He
rentcd a Workshop on the road to Scheveningen in The Hague, to forge coins with the help of an ap-
prentice and his son Reynier Baltens. Financial backers of this cnterprise were the businessman Gerrit
de Bury and the ambassador of the Brandenburg Elector, Hendrick Sticke. No sooner were the flrst
counterfcit coins Struck than the authorities were informed. Balthasar fled to Antwerp, while <his son>
and the apprentice were arrested. Reynier was imprisoned in the gatchouse at The Hague."
Während die beiden Auftraggeber Gerrit de Bury und Hendrick Sticke der Münzfälscher« überführt
und ein Jahr später hingerichtet wurden, sammelte Vermeers Großmutter Neeltge Urkunden, die den
untadeligen Lebenswandel von Dignas Bruder bestätigen sollten. Als das nichts half, faßten sie und
Vermeers Vater den Entschluß, den Gefangenen mit List aus der Haft zu befreien: Innerhalb der Ge-
fängnismauern gelang es Dignas Bruder, die Wärterstochter für seine Pläne zu gewinnen, außerhalb
versuchte Vermeers Familie, die Flucht nach Antwerpen mit einer heimlichen Geldsendung abzusi-
chern. Wie sich später herausstellte, hatte Vermeers Vater zur schnellen Geldbeschaffung sogar sein
Bett verkaufen müssen, doch der Plan wurde frühzeitig aufgedeckt und vereitelt. Zuguterletzt kam sein
Schwager durch eine Zeugenaussage frei, die den sofortigen Prozeß der Auftraggeber zur Folge hatte.
15
Damals führte Reynieer Jansz. noch nicht den Namen Vermeer. „In those days common people had
no last names. Both men and women were identified by their fathers' Christian names (...). By the time
Johannes (...) was growing up in the 1630s, most self-respecting burghers of Delft had taken last
names. Reynier Jansz. first calls himself Vos (fox), later Vermeer." (Montias (1989), S.8f) Reyniers
Bruder Anthony, der nach einigen Jahren auf See nach Delft zurückgekehrt war, war der erste, der sich
Vermeer nannte; Reynier selbst übernahm diesen Namen offenbar erst 1640.
16
„Caffa was a fine satin, woven from silk and linen, usually with a tlower pattern." (van Maarseveen
(1996), S.32). Vermeers Vater ging bei einem Amsterdamer Weber in die Lehre. Dort lernte er auch
seine zukünftige Frau Digna Baltens kennen, die er 1615 heiratete.
ERFÜLLT!- RÄUME 129

geerbte Gemäldesammlung veräußern zu dürfen, als Kunsthändler in die


St.Lukas-Gilde einschreiben. Mit dem Verkauf von Gemälden, mit Künstlern
und Kunstsammlern hatte er von nun an immer wieder zu tun. Wir finden ihn
in Kontakt mit den Stillebenmalern Balthasar van der Ast, Peter Steenwijck
und van Fornenburgh, mit Egbert van der Poel und Evert van Aelst, der seinen
Neffen Willem sowie den berühmten Emanuel de Witte zu seinen Schülern
zählte, mit Leonaert Bramer, der einige Gemälde aus Reynier Jansz.s Samm-
lung in Skizzen festhielt, und vielleicht auch mit dem Genremaler Anthony
Palamedes, dessen Schwiegervater er zeitlebens eine größere Summe schulde-
te.17
1641 zogen Vermeers Eltern noch einmal um: Es war ihnen gelungen, das
imposante Gasthaus Mechelen direkt am Großen Markt zu kaufen. Die Kredi-
te, die Vermeers Vater dazu aufnehmen mußte, stellten für die Familie eine
hohe finanzielle Last dar und verhinderten ein sorgloses Leben. Doch es war
das Mechelen, in dem die Bürger der Stadt einkehrten, wenn sie am Markt-
platz ihren Geschäften nachgingen. Hier hielten die Reisenden an und trafen
sich die Einheimischen, wurden neueste Nachrichten ausgetauscht und Kon-
takte geknüpft, Meinungsverschiedenheiten ausgetragen oder Verträge
geschlossen, und als Wirt war Reynier Jansz. der beste Aufstieg gelungen.
Noch heute können wir das dreistöckige Haus mit seinen sechs Kaminen, den
großen Fenstern und der hochgezogenen Fassade auf einem Stich nach Rade-
maker bewundern. Zudem entstand mit dem Mechelen ein neuer
künstlerischer Treffpunkt, der ohne Zweifel Einfluß auf die Entwicklung des
jungen Vermeer nahm. Doch wir wissen bis heute nicht, bei wem er seine
Lehre begann, ob er dazu in Delft blieb oder für einige Jahre in eine andere
Stadt zog. Die von der Gilde vorgeschriebene sechsjährige Lehrzeit mußte
Vermeer irgendwann zwischen 1644-45, als er dreizehn oder vierzehn Jahre
alt war, begonnen haben. Montias berichtet von einem Dokument, das der
gerade erst verheiratete und noch gar nicht in die Gilde aufgenommene junge
Maler 1653 zusammen mit dem berühmten Portraitisten und Genremaler Ge-
rard ter Borch unterzeichnete, der sich damals gerade in Delft aufhielt. Die

1
Montias (1989), S.83: „Whatever his limitations as an art dealer, Reynier Jansz. certainly provided a
favorable artistic background for his gifted son. Reynier had been trained as an artisan, making fine
decorative fabrics that generally required drawing skills. He already owned eleven paintings (...) nine
years before Johannes' birth. Towards the end of Reynier Jansz.'s life, Bramer had drawn copies of
paintings in his collection or business inventory and included them in an album containing works
owned by Delft's most distinguished collectors and dealers. Reynier was acquainted and had business
with many painters and collectors. His inn was no doubt known to artists in and out of town as a gath-
ering place where they could meet collegues or potential clients."
18
Der junge Vermeer wird im Dezember 1653 in die St.Lukas-Gilde eingeschrieben.
„On Tuesday, April 22, two days after the marriage, Johannes was back in Delft visiting the notary
Willem de Langue, the old family friend (...). Gerard ter Borch, the best known painter of elegant
130 ZWHI BAROCKE RAUMMODELLE

Frage nach Vermeers Lehrmeister ist jedoch bis heute unbeantwortet geblie-
ben. Man hat abwechselnd Evert van Aelst genannt, der Vermeers Vater Geld
schuldete und so hervorragende Meister wie Emanuel de Witte zu seinen
Schülern zählte; Leonaert Bramer, der ein guter Freund der Familie war, oder
den Rembrandt-Schüler Carel Fabritius, dessen künstlerische Nachfolge Ver-
meer in gewisser Weise antrat. Möglicherweise lernte der junge Maler aber
auch in Amsterdam oder Utrecht, denn seine frühen Gemälde verraten Ein-
flüsse des in der Hauptstadt arbeitenden Jacob van Loo ebenso wie von der
Gruppe der Utrechter Caravaggisten um Honthorst, Terbrugghen und Babu-
ren. Außerdem war der recht betagte Abraham Bloemaert in Utrecht tätig
- jener Altmeister des Manierismus, mit dem die Familie von Vermeers zu-
künftiger Frau über einige Linien verwandt und freundschaftlich verbunden
19
war.
Von Vermeer erhalten erst wieder ein Lebenszeichen, als er 1653 vor ei-
nem Delfter Notar erschien, um die Heiratspapiere vorbereiten zu lassen.
Seine Braut hieß Catharina Bolnes, kurz Trijntge genannt, sie entstammte
einer wohlhabenen katholischen Bürgersfamilie.20 Der Wunsch der beiden zu
heiraten, wurde von Catharinas Mutter anfangs abgelehnt. Ob die Weigerung
mehr aus religiösen als aus familiären Gründen erfolgte, können wir nicht mit
Gewißheit sagen. Eine Bedingung an Vermeer bestand jedenfalls darin, den
katholischen Glauben anzunehmen. Die Hochzeit fand am 20. April 1653 in
Schipluy, einem kleinen katholischen Dorf südlich von Delft statt. Vermeer
war damals einundzwanzig Jahre alt, Catharina ein Jahr älter.
Es ist anzunehmen, daß das junge Paar für die erste Zeit ihrer Ehe zu Ver-
meers Mutter in das Gasthaus Mechelen zog. Der Vater war ein Jahr vor der
Heirat gestorben und in der Nieuwe Kerk begraben worden, die Schwester
Gertruy hatte einen Rahmenmacher geheiratet und lebte in der Vlamingstraat,
einem östlichen Verlängerungsarm der beliebten und bereits des öfteren er-
society pieces at the time, was there also. The two artists witnessed an ,act of surety' drawn up by
Johan van den Bosch, captain in the Service of the States General and stationed in Den Briel, to enable
Madame Dido van Treslong to collect one thousand guilders (...). Were Johannes Vermeer and Gerard
ter Borch witnesses who happened to be present when the document was drafted, or was either man
connected with Captain van den Bosch or Dido van Treslong? No link can be documented (...)" (Mon-
tias (1989), S.102); siehe auch ebd., S.103: „Was Vermeer Ter Borch's pupil? The only hitch in this
otherwise attractive idea is that Vermeer's early works are totally different from Ter Borch's. It was
only many years later, that the works of the two artists began to converge. (...) The conclusion to all
this speculation is that Vermeer had made friends with Ter Borch, perhaps in Amsterdam or in The
Hague, without ever becoming his pupil."
'''Über die genaue Verbindung siehe Montias (1989), S.110
20
Ebd., S. 107: „If Vermeer had been apprenticed to Abraham Bloemaert, who was painting and proba-
bly had pupils virtually until his death in 1651, or to another Utrecht painter, this would help solve
what is otherwise a puzzling problem." Zwischen Catharinas Familie und dem Utrechter Maler Abra-
ham Bloemaert gab es enge familiäre Beziehungen.
ERFÜLLTE RÄUME 131

wähnten Voldersgracht. Eine feste Adresse Vermeers finden wir allerdings


erst 1660, als er und seine Frau bereits in das Haus von Catharinas Mutter -
Maria Thins - übergewechselt waren. Dieses Haus stand an jenem Oude Lan-
gendijk, den wir in Fabritius Ansicht von Delfl zu Gesicht bekommen haben,
allerdings etwas weiter die Straße hinunter, eine Häuserreihe vom Marktplatz
und dem Mechelen entfernt, südlich der Nieuwe Kerk, Ecke Molenpoort.
Um den Oude Langendijk herum versammelte sich das katholische Leben
Delfts. Hier war der sogenannte Papstwinkel (Papenhoek) der Stadt entstan-
den, wobei das eigentliche Zentrum die kleine Jesuitenkirche darstellte, die
mitsamt einer eigenen Schule direkt an das Haus von Maria Thins angrenzte.
Auf einer Zeichnung von Rademaker stellt sie sich als ein gewöhnliches, für
kirchliche Zwecke lediglich umfunktioniertes Wohnhaus dar. Nach Vermeers
Tod erhielt die Kirche einen Anbau. Ganz rechts außen auf dieser Zeichnung
können wir wahrscheinlich einen Teil von seinem Wohnhaus sehen, das,
zweistöckig und mit hohen Dachfenstern, genügend Raum für eine große Fa-
milie bieten mußte - Vermeer und seine Frau Catharina bekamen im Laufe
ihrer Ehe fünfzehn Kinder, von denen vier nach der Geburt starben. Zudem
wohnte Vermeers Schwiegermutter Maria im Haus, in dem sich auch das Ate-
lier des Malers befand, und das Dienstpersonal mußte auch noch untergebracht
werden.
Wenden wir uns zuletzt einer weiteren Straße zu, die eine wichtige Rolle in
Vermeers Leben spielte: der Voldersgracht, in der seine Eltern einmal ein
Haus gemietet hatten. Wir erinnern uns: Spätestens 1631 hatte Vermeers Vater
Reynier in der Voldersgracht den gastronomischen Betrieb Zum Fliegenden
Fuchs übernommen, und das in einer Straße, die vollgepackt mit offiziellen
Adressen war. Die Delfter Karte von 1649 zeigt am westlichen Ende der Stra-
ße den Fischmarkt und die Fleischhalle an. In der Nähe des anderen Endes
befand sich die Kanzlei des Notars Willem de Langue, den Vermeers Vater
gut gekannt hatte. ' Unmittelbar neben dem Fliegenden Fuchs hatte im unte-
ren Teil seines Hauses ein Stoffhändler seinen Laden eröffnet. Wenige Meter
entfernt gab Comelis Daemen Rietwijck Elementar- und Zeichenunterricht für

:l
„Notary De Langue, who was about the same age as Reynier, was a connoisseur of art, a collector of
paintings, and a friend of most Delft-based artists. More names of painters show up in his records than
in any of the other notaries'. Among others, the notary handled the affairs of the painter Leonaert
Bramer after he came back to Delft in 1628 from his travels in France and Italy, where he had lived
over ten years. Bramer, a versatile artist who painted landscapes and still lifes in addition to the reli-
gious works and other .histories' that were his main speciality, enjoyed a shining reputation in his
home town in his day. (...) De Langue also had dealings with Willem van Vliet and Jacob Delff, who
both painted his portrait, with the landscape artist Moses van Uyttenbroek, a resident of The Hague but
an occasional visitor to his office; with Hans Jordaens who, until his death in 1631, was the most
sought-after painter of religious scenes in Delft; and with Balthasar van der Ast and Evert van Aelst,
who were both excellent painters of flowers and fruit pieces." (Montias (1989), S.62)
132 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Kinder und Jugendliche - das wäre im übrigen eine Möglichkeit gewesen,


Vermeer das Lesen und Schreiben beizubringen oder seine künstlerische Be-
gabung zu entdecken. Neben dieser Schule stand das ehemalige Oude manne
huys, welches den Tuchhändlern als Stoffhalle diente. 1661 wurde es ausge-
baut und mit einer neuen Fassade versehen zum Versammlungsort der
St.Lukas-Gilde umfunktioniert. Es war ein ambitioniertes Projekt, das auf das
Selbstbewußtsein der Gildemitglieder und die Wichtigkeit der Delfter Kunst-
produktion rückschließen läßt, die zur Jahrhundertmitte in vollster Blüte stand.
Von nun an fanden in der Voldersgracht, wo Vermeer geboren worden war
und einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte, die Zusammenkünfte
der Delfter Künstlergilde statt. In diesem Gebäude ging Vermeer häufig ein
und aus. Ein Jahr nach Fertigstellung der Umbauarbeiten wurde er bereits zu
einem der beiden Vorstände gewählt, die die Sektion der Maler innerhalb der
Gilde vertreten sollten. Der Posten, der jeweils für zwei Jahre vergeben wurde,
wurde ihm noch ein weiteres Mal, für die Periode 1671-73, zugesprochen.

Spätestens jetzt ist deutlich geworden, daß Vermeer ein alles andere als be-
schauliches Leben führte. Man hat oft auf die Diskrepanz hingewiesen, die
seine ruhigen, kargen Interieurbilder zu jenen Lebensumständen aufweisen,
die Vermeer in seinem eigenen Haushalt vorfand. Nahezu jedes Jahr wurde
am Oude Langendijk Nachwuchs gemeldet, so daß im Laufe der Zeit elf Kin-
der das Haus bevölkerten; Catharina war fünfzehn Jahre ihres Lebens
schwanger. Vier Todesfälle mußten hingenommen werden, dazu die Beerdi-
gung von Vermeers Eltern, die Umzüge und Verpachtungen sowie, wie wir
heute wissen, die Auseinandersetzungen mit Catharinas tobsüchtigem Bruder
Willem, der bei Besuchen regelmäßig handgreiflich wurde, seine schwangere
Schwester mit einem Stock bedrohte und der Mutter verschiedene Male Ver-
letzungen zuführte. Wieder ist es Montias, der uns diesen Einblick in
Vermeers Haushalt gab und Berichte entdeckte, die darauf hinweisen, daß
Catharina bereits in ihrer Kindheit unter den Gewalttätigkeiten ihres Vaters zu

::
Vgl. Montias (1989), S. 160: „Tanneke Everpoel stated that in 1663 she had been residing at the
house of the petitioner (Maria Thins) and of her son-in-law Johannes Vermeer. Tanneke (...) declared
that on various occasions Willem Bolnes had created a violent commotion in the house - to such an
extent that many people gathered before the door - as he swore at his mother, calling her an old popish
swine, a she-devil, and other such ugly swearwords that, for the sake of decency, must be passed over.
She, Tanneke, also saw that Bolnes had pulled a knife and tried to wound his mother with it. She
declared further that Maria Thins had suffered so much violence from her son that she dared not go out
of her room and was forced to have her food and drink brought there. Also that Bolnes committed
similar violence from time to time against the daughter of Maria Thins, the wife of Johannes Vermeer,
threatening to beat her on diverse occasions with a stick, notwithstanding the fact that she was pregnant
to the last degree. The witness added that this would have happened had she not prevented it, (i.e. that
Tanneke had put an obstacle in the way of his aggression)."
ERFÜLLT!-; RAUMK 133

leiden hatte - ebenso wie später als verheiratete Frau unter denen ihres Bru-
ders. Damals hatte ihre Mutter Maria eine eheliche Trennung erreicht und war
mit ihren Töchtern nach Delft gezogen. Auf die neuen Angriffe ihres erwach-
senen Sohnes reagierte sie mit der Einweisung Willems in eine private
Heilanstalt in der Vlamingstraat.
Alleine den Fakten nach zu urteilen muß das Leben am Oude Langendijk sehr
bewegt gewesen sein. Weiterhin lebte unser Maler inmitten des farbenfrohen
und unruhigen Zentrums von Delft, an einer Stelle, die strategisch gesehen zu
den besten der Stadt gezählt werden konnte. Vor ihm lag der Große Markt
mit Kirche, Rathaus und dem Mechelen, dahinter die wichtige Voldersgracht
und die Vlamingstraat, hinter dem Oude Langendijk dagegen der Beesten-
markt, von dem aus die Familiengeschichte ihren Lauf nahm. Überhaupt ist
auffällig, wie sich alle Adressen um den Marktplatz und einige wenige Stra-
ßenzüge konzentrierten. Tatsächlich arbeiteten Vermeers Eltern darauf hin, in
das Delfter Zentrum vorzudringen, ebenso wie sein Vater zeitlebens ein äu-
ßerst kontaktfreudiger Mann gewesen war, der mehr als jeder andere Delfter
Bürger seine Unterschrift in den Archiven zurückließ, wenn es darum ging, als
Zeuge vor dem Notar zu erscheinen. Hierin unterschied sich sein Sohn: Er
kargte geradezu mit seiner Unterschrift. Es gibt innerhalb seiner Biographie
lange Strecken, auf denen wir auf ein Lebenszeichen von ihm warten.

Abb.43: Figurather Stadiplan von Delft. 1675-78 (Detail)

Aber wir müssen genauso in Betracht ziehen, daß er in ein Netz von Bezie-
hungen eingebunden war. Innerhalb Delfts war Vermeer sozial integriert, ein
vielbeschäftigter Familienvater, der während der ersten Jahre seiner Ehe mög-
134 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

licherweise das Mechelen weiterführte. Wir wissen, daß er bald sehr angese-
hen war, denn er wurde mit dreißig Jahren als einer der jüngsten Maler in den
Vorstand der St.-Lukas-Gilde gewählt. Wie sein Vater Reynier betätigte er
sich gleichzeitig als versierter Kunsthändler von verschiedensten Malschulen
und Genres. Einmal wurde er einer Kunstexpertise wegen nach Den Haag
gerufen, wo er zu Protokoll gab, daß es sich bei den betreffenden Gemälden
um schlecht gemachte Fälschungen handelte. Darüberhinaus war Vermeer
Mitglied der städtischen Zivileinheit, die sich zur Verteidigung der Stadt zu-
sammengefunden hatte.

Bislang hatte nur Maria, die älteste Tochter Vermeers, geheiratet und das Haus
verlassen. Am Oude Langendijk herrschten weiterhin die äußerst beengten
Verhältnisse einer Großfamilie, deren Personenzahl selbst für das 17. Jahr-
hundert ungewöhnlich hoch war. Wahrscheinlich wurde noch im Jahr vor
Vermeers Tod das letzte Kind geboren. Montias berichtet, daß sich Vermeers
Unterschriften in den Archiven zu häufen begannen. Die Suche nach Ein-
kommensmöglichkeiten veranlaßte den Maler zu Gängen in die Nachbarstädte
Gouda und Amsterdam. Allerdings folgte solchen Schritten keine wirkliche
finanzielle Erleichterung, denn die Familie war beim Bäcker verschuldet und
bei einer Händlerin für Haushaltswaren. Schließlich riefen die Sorgen um die
drohende Zahlungsunfähigkeit bei Vermeer einen heftigen Anfall hervor.24 Im
Dezember 1675 starb Johannes Vermeer mit dreiundvierzig Jahren.
Ein Jahr nach Vermeers Tod übernahm Anthoni van Leeuwenhoek das
Amt des Kurators und begann, die Verschuldung der Familie Vermeers zu
begleichen. Er agierte als Repräsentant der Städtischen Kammer von Delft,
vor der sich Catharina mittlerweile als vollkommen insolvent erklären mußte.
Die Schritte, die er einleitete, erhärten allerdings nicht unbedingt die Theorie
vom freundschaftlichen Umgang der beiden Familien. Denn es gehörte zu
Leeuwenhoeks Aufgabe, die Vermögenslage Vermeers auf heimliche Ein-

Van Maarseveen (1996), S.50: „The town was divided into four quarters, each with its own Com-
pany, referred to by the colour of its banner. The Green, Orange, White and Blue companies were
formed with a captain at the head of each, assisted by a lieutenant, an ensign and two or three ser-
geants. A Company consisted of six squads of thirty-two guards. Vermeer was a guard in the Orange
Company. An inventory of 1676 shows that he was equipped with armour, a helmet and a pike. He
went to Gouda on 8'h May 1673 under the leadership of Captain Van Hurk to fight the French troops
who had invaded the Netherlands." Ebd., S.51: „Leonaert Bramer was commissioned to paint mural
decorations in the hall. Bramer was a Sergeant in the same Company as Vermeer. There is a triptych by
Bramer in Stedelijk Museum the Prinsenhof, which was probably the draft design for these murals..."
:4
So der Bericht von Catharina, zitiert in: Montias (1989), S.212: „As a result and owing to the very
great bürden of his children, having no means of his own, he had lapsed into such decay and deca-
dence, which he had so taken to heart that, as if he had fallen into a frenzy, in a day or day and a half
he had gone from being healthy to being dead."
ERFÜLLTE RÄUME 135

künfte zu untersuchen und versteckte Wertgegenstände sicherzustellen. Einige


Hinweise deuten darauf hin, daß solche Vermutungen nicht ohne Grund wa-
ren. Vor allem eine notarielle Beglaubigung, die Catharina und ihre Mutter
Maria Thins zwei Tage vor der Bestandsaufnahme ihres Haushalts in Auftrag
gaben, hat die Forschung aufhorchen lassen, weil sie das Schicksal eines be-
rühmten Gemäldes von Vermeer - die sogenannte Malkunst - betraf.
Catharina setzte schriftlich fest, daß das Gemälde als Teilrückzahlung einiger
bei der Mutter gemachter Schulden in den Besitz von Maria Thins übergehen
sollte. Der Beweggrund war natürlich, Vermeers Malkunst vor den Gläubigern
zu retten, die Ausschau nach Wertsachen hielten und das Gemälde in eine
Auktion geben wollten. Offensichtlich lag Catharina sehr viel an diesem Werk
ihres Mannes. Möglicherweise war es niemals für den Verkauf bestimmt ge-
wesen. Ein Jahr später wird von ihm noch einmal die Rede sein, als Van
Leeuwenhoek eine Auktion von sechsundzwanzig Gemälden plante, die Ver-
meer als Kunsthändler in seinem Besitz hatte. Maria Thins reichte eine
Beschwerde ein, weil die Plakate unter anderem auch den Verkauf von Ver-
meers Malkunst ankündigten, und das Gemälde den Dokumenten nach ihr
gehörte. Möglicherweise war es durch ein Versehen in das Konvolut geraten,
mit dem Leeuwenhoek die Schulden der Familie begleichen wollte. Leider
verlieren sich seine Spuren bereits im selben Augenblick, und wir bleiben über
den weiteren Verbleib des Gemäldes im Unklaren. Erst 1813 tauchte es wieder
auf- vorgestellt als ein Werk des Delfter Malerkollegen Pieter de Hooch.25
Tatsächlich geriet der Name Vermeers zu diesem Zeitpunkt mehr oder
weniger in Vergessenheit. Seine Darstellung des Briefelesenden Mädchens am
geöffneten Fenster beispielsweise ging mit vielfach wechselnden Zuschrei-
bungen in das Dresdener Museum ein: als Rembrandt, als Schule von
Rembrandt, zwischenzeitlich als Vermeer, dann als Govaert Flinck oder Pieter
de Hooch, bis 1862 die Signatur des Malers entdeckt wurde. Es ist die gleiche
Zeit, in der Theophile Thore Interesse an Vermeer bekundete und einen wah-
ren Begeisterungssturm von Künstlern und Kunstkritikern entfachte. Damit
sind wir bereits im späten 19. Jahrhundert angelangt. Wir wollen noch einmal
Vermeer zurückkehren.

:
'Montias(1989), S.230
136 ZWKI BAROCKE RAUMMODIiLLE

Das Innenleben eines Hauses

„Der Mensch früherer Zeiten, Schloßherr wie Städter,


lebte in seinem Haus; seine Stellung im Leben zeigte
sich darin an. speicherte sich dort auf.
(...) Die Tür hat früher als ein Teil für das Ganze das
Haus vertreten. (...) Die vornehmen Leute öffneten oder
verschlossen ihre Türen, und der Bürger konnte mit ih-
nen ins Haus fallen. Er konnte sie auch offen einrennen.
Er konnte zwischen Tür und Angel seine Geschäfte erle-
digen. Konnte vor seiner oder einer fremden Tür kehren.
Er konnte jemand die Tür vor der Nase zuschlagen,
konnte ihm die Tür weisen, ja, er konnte ihn sogar bei
der Tür hinauswerfen: das war eine Fülle Beziehungen
zum Leben, und sie zeigen jene treffliche Mischung von
Realistik und Symbolik, welche die Sprache nur auf-
bringt, wenn uns etwas sehr wichtig ist."

(Robert Musil, Türen und Tore)

Betrachten wir jenes Phänomen genauer, das uns widerfährt, wenn wir eine
Stadt besichtigen und trotz der Kompaktheit der Gebäude und der exakten
Straßenzüge in ein bewegliches Gebilde eintauchen. Zu Recht ist hervorgeho-
ben worden, daß eine Stadt hauptsächlich ein kombinatorisches Raumgebilde
darstellt. Als kollektiver Lebensraum fehlen ihr festumrissene Konturen, als
Gesamtwohnraum negiert sie die Isolationstendenz der einzelnen Bewohner.
Die wechselnde Nutzung der Häuser, Plätze und öffentlichen Einrichtungen,
die tägliche Belebung der Straßen ebenso wie jede andere Form menschlichen
Beisammenseins haben ihre Gesamtstruktur gelenkig gemacht. Sie besitzt
nicht eine Mitte, sondern viele Mitten, keine feste Grenze, sondern offene,
verlegbare Grenzen. Ihre Form mutiert mit jedem Blick- oder Standortwech-
sel. Angesichts dieser Dynamik verflüchtigt sich der immobile Charakter ihrer
Architektur. Sie wird durchpulst, belebt, in Unruhe versetzt. Sie ist in jedem
Moment bereit, Veränderungen aufzunehmen. Es kommt ihr dabei sogar ein
Prinzip abhanden, das auf der einen Seite ausschlaggebend Für die Errichtung
eines Stadtkomplexes gewesen ist: das Prinzip räumlicher Verankerung, durch
das die Menschen und Dinge ihren festen Platz erhalten.
In modernen Augen ist es längst zur Gewohnheit geworden, zwischen Weg
und Ziel zu unterscheiden. Vor allem wenn es darum geht, den Weg als Strek-
ke anzusehen, die überwunden werden muß, tritt die Trennung in den
Vordergrund. Viel weniger wird Bewegung als die Grundvoraussetzung daFür
genommen, das Ziel zu erreichen. Und auch rein ökonomisch betrachtet stellt
sie ein Verlustgeschäft dar - eine Art Reibe- oder Schwebezustand zwischen
zwei Orten, der Energie kostet und Zeit in Anspruch nimmt. Und doch gibt es
keinen Unterschied zwischen einem beweglichen Wegesystem und seinen
ERFÜLLTE RÄUME 137

Zielen, sobald man die Kraft kennt, mit der ein Wegenetz die Orte einer Stadt
zusammenfaßt. Ruhe und Bewegung sind auch Teil der urbanen Struktur, die
sich durch Bewegung ebenso auszeichnet wie durch den Einhalt von Bewe-
gung. Ein Ziel unseres Stadtrundgangs war gewesen, die Häuser und Plätze
kennenzulernen, die für Vermeers Leben von Bedeutung waren. Das Ergebnis
erweist sich jedoch als wenig aussagekräftig, solange der Weg dazwischen
unberücksichtigt bleibt. Erst der Wechsel zwischen Privatsphäre und sozialem
Verbund bringt den eigentlichen Inhalt hervor. Es ist weniger die individuelle
- also ungeteilte - Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen als der soziale
Zusammenhang, wodurch sich Wirklichkeit allenfalls beschreiben läßt.

Ein Haus als abgeschlossene Wohneinheit zu verstehen, dieser Gedanke ent-


stand deshalb erst, als man sich persönlich abschirmen und schützen wollte.
Seit Mitte des 17. Jahrhunderts schlug sich der Gedanke in der Architektur der
Wohnhäuser nieder. Ihre innere Struktur und Nutzung änderte sich: Weil man
von nun an hinter den Fassaden ein inneres Refugium erwartete, teilte man das
Haus in einen privaten Wohnbereich und in einen unbewohnten Bewegungs-
bereich aus Korridoren und Treppen auf. Bewegung und Ruhe wurden
architektonisch getrennte Räumlichkeiten zugewiesen, ja man kann sagen, daß
die Hauptunterscheidung zwischen Weg und Ziel fortan die Architektur des
Hausbaus bestimmte.
Das ist nicht immer so gewesen. Noch für den Hausbesitzer des 17. Jahr-
hunderts war ein Familienleben in Ungestörtheit und Ruhe ein alles andere als
selbstverständlicher Wunsch. „Das Streben nach Privatsphäre, Komfort und
Unabhängigkeit mittels Architektur ist relativ neu,"27 schreibt Robin Evans,
der sich zeitlebens sehr intensiv mit räumlichen Beziehungsmustern beschäf-
tigte. „Wenn ein architektonischer Plan irgend etwas beschreibt, dann ist es
die Art der zwischenmenschlichen Beziehungen, denn die Elemente, deren
Anordnung er fixiert - Wände, Türen, Fenster, Treppen -, dienen zunächst
dazu, den Wohnraum aufzuteilen, um ihn dann wieder punktuell zu verbin-
den." Die Gliederung eines Hauses liest sich wie ein Regieplan für
Bewegungsabläufe. Sie lenkt menschliche Beziehungen in Bahnen. So auch
im frühbürgerlichen 17. Jahrhundert, das einen Wandel in der Raumaufteilung
durchlebte: Für den Grundriß der Wohnhäuser, wie er bis in dieses Jahrhun-
dert hinein üblich war - „praktisch bei der gesamten Hausarchitektur vor
1650- gab es keine qualitative Unterscheidung zwischen dem Weg, der durch
das Haus führte, und den bewohnten Räumen in seinem Inneren." 8 Dann

26
Evans, Robin: Figures, Doors and Passages, in: Architectural Design 4/78, S.267
" Ebenda
28
Ebd., S.277
138 ZWtl BAROCKK RAUMMODKLLE

jedoch hielt ein autonomes Verteilersystem Einzug in das Haus. Man neigte
dazu, den Besucherverkehr und die Bewegungsabläufe des Dienstpersonals
von den Privatgemächern fernzuhalten. Im übrigen gab es für diese Entwick
lung ein einfaches Anzeichen: Die Anzahl der Türen innerhalb eines Raums
wurde reduziert. Zuvor war nahezu jedes Zimmer als Durchgangszimmer
benutzt worden, mit zwei bis vier Verbindungstüren, die in die anliegenden
Räume führten. Nun nahm die Verbundenheit der Räume ab, und die Tren
nung in einzelne Parzellen wurde modern. Zwischen ihnen befanden sich die
Gänge, Korridore und Treppen des Hauses. Mit ihrer Hilfe wurde die gesamte
Wohnfläche versorgt, blieb gleichzeitig jedoch ungestört.
Der private Haushalt der Neuzeit wollte ein reibungsloses menschliches
Beisammensein fördern und individuelle Freiräume schaffen. Es bleibt die
Frage, ob sich die Tendenz für die Grundrisse der holländischen Bürgerhäuser
des 17. Jahrhunderts bestätigen läßt. Spiegelte sich die aufkommende Häus
lichkeit in unabhängigen Wohnräumen wieder?
Bärbel Hedinger hat die wichtigsten Merkmale der holländischen Wohn
hausarchitektur des 17. Jahrhunderts zusammengefaßt. Sie „zeichnet sich in
den ersten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts durch besondere Einfachheit aus,
die noch den mittelalterlichen Wohnformen verwandt ist. In einem sich immer
wiederholenden Kanon teilt sich die Wohnfläche in einen vorderen und einen
hinteren Haustrakt (voorhuis, achterhuis). Die Grundfläche des Vorhauses
teilen sich eine Wohndiele, die unmittelbar von der Straße aus betreten wird,
und ein kleines Seitenzimmer (zijkamer); von hier aus führt eine Treppe in das
obere Stockwerk, in dem die Schlafräume liegen. Das achterhuis wird vom
voorhuis durch eine verglaste Wand getrennt (onderpui). Diese trennt einen
Wohnraum und die sich anschließende Küche mit Ausgang zum Hof vom
vorderen Hausteil."

Voorhuis Achterhuis
Abb44: Typisches Beispiel eines holländischen Wohnhauses des 17. Jh.s.. Aufteilung in
Voor- und Achterhuis, nach Vermeulen, FA. Handboek tot de Geschiedenis der Nederland-
sche Bouwkunst, Den Haag 1941

Hedinger (1986), S.50


ERFÜLLTE RÄUME 139

Betrachten wir dazu den Grundriß: Der Buchstabe A bezeichnet die sogenann-
te Wohndiele, die man sofort durch die Haustüre betrat: Sie ist deswegen
relativ groß, weil hier nicht nur ein- und ausgegangen, sondern vor allem Be-
such empfangen und bewirtet wurde. Die holländische Wohndiele wurde als
öffentlichster' Raum des Hauses ständig frequentiert. Er bildete die Schleuse
zum Inneren und bot Möglichkeit, das Leben auf der Straße zu verfolgen.
Durch die Fenster der Fassade erschien das Zimmer sehr hell, zudem meist
weit und geräumig. Neben ihm befand sich die sogenannte zijkamer (B), die
wegen einem darunterliegenden Kellerraum meist einige Stufen erhöht lag und
einen besonders guten Rückzugsort mit Aussicht auf die Straße gewährte. Im
achterhuis erkennen wir dann den Groote Zael (C) als vornehmstes Zimmer
sowie zusätzliche Wohn- und Wirtschaftsräume.
Für Vermeers Wohnhaus am Oude Langendijk können wir die Anzahl und
Anordnung der Zimmer sogar spezifizieren: Etwa 12 größere und kleinere,
über zwei Stockwerke und den Dachboden verteilte Räume müssen es gewe-
sen sein, die er und seine Familie bewohnten. Montias hat die Inventarliste
wiedergegeben, die nach Vermeers Tod und der Bankrotterklärung seiner Frau
Catharina aufgestellt worden war. Mit ihrer Hilfe wissen wir nicht nur von der
Zimmerzahl des Hauses, sondern können auch die ungefähre Nutzung der
Räume bestimmen und vor allem - ein wirklicher Glücksfall innerhalb der
Vermeer-Forschung - die einzelnen Einrichtungsgegenstände benennen, mit
denen die Zimmer ausgestattet waren. Auf diese Weise ist ein imaginärer
Rundgang durch das Wohnhaus Vermeers möglich.

Wir wissen, daß sich das Haus gleich hinter der Eingangstüre in eine
diele öffnete, in der sich neben einem Gemälde von Fabritius, einem
Früchtestilleben und einem kleinen Seestück auch ein großes Bild mit Marsy-

Heute gilt es als gesichert, daß nahezu )edes der Gemälde Vermeers, das nach 1660 entstand, in einem
der Zimmer am Oude Langendi]k gemalt wurde. Für die Komposition hat Vermeer Möbel und Gegen-
stände zusammengetragen und auf sorgfaltige Weise arrangiert. Die meisten Requisiten und
Einrichtungsgegenstande entstammen also Vermeers eigenem Haushalt. Wir wissen beispielsweise, daß die
gelbe hermelinverbramtc |acke, die seine Bnfeschmbenn in Gelb ebenso trägt wie die Dame mit Dienstmagd und
Bnef, die Hausherrin im Liebesbrief, die Dame mit dem Perlenhalsband, die Lautenspielenn am Fenster oder die
späte Gitarrenspie/enn, keine kompositorische Erfindung ist, sondern Vermeers Frau Catharina gehörte. In
der Inventarliste ist sie neben einer grünen Jacke mit weißer Pelzumrandung erwähnt - beides Kleidungs-
stücke, mit denen Vermeer die Figuren seiner Interieurszenen wirklich ausstattete. Darüberhinaus nennt
die Liste mehrere Stühle, unter denen sich die bekannten Stühle mit I^owenköpfen befunden haben, die auf
so vielen seiner Gemälde zu sehen sind, eine Schatulle mit Einlegearbeit aus Ebenholz, die in der Dame mit
Dienstmagd und Bnef auf einem Tisch steht, ein Kruzifix aus Ebenholz, das mit dem in Vermeers Allegorie des
Glaubens identisch sein könnte, sieben Ellen Wandverkleidung aus vergoldetem Leder, die wahrscheinlich
den Hintergrund für den Liebesbrief und die Allegone des Glaubens abgegeben haben, sowie mehrere Tonkrü-
ge mit Zinndeckel, die Vermeers Innenraumdarstellungen von Anfang an wie ein Leitmotiv begleitet
haben
140 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

as und Apollo befand, das über Vermeers Schwiegermutter ins Haus gekom-
men war. In einer Randbemerkung wird uns mitgeteilt, daß die Rahmen von
vier weiteren Gemälden ziemlich mitgenommen aussahen und vier grüne, im
voorhuis aufgestellte Stühle zum Zeitpunkt der Inventaraufnahme zerschlissen
waren. Zudem gab es in diesem halböffentlichen Wohn- und Eingangsbereich
so nützliche Gegenstände wie einen Spiegel mit Ebenholzumrandung an der
Wand, eine Holztruhe und eine hölzerne Fußbank.
Ein Besucher mußte diese Wohndiele durchqueren, bevor er den großen
Wohnraum (groete zael) des Hauses betreten konnte. Er diente für die Bewir-
tung der Gäste und nahm die zentralste Stelle im Haus ein. In Vermeers Fall
war er mit einem Ausziehtisch aus hellem Holz und grünem Tischtuch, mit
neun spanischen Stühlen aus rotem Leder und grünen Sitzkissen ausgestattet.
Eine altertümliche Ahnengalerie der Familie Thins unterstrich den repräsenta-
tiven Charakter des Raums, eine Darstellung der Heiligen drei Könige und vor
allem ein Bildnis der Muttergottes die religiöse Grundhaltung der Familie. Im
übrigen entsprach die Einrichtung dem gehobenen Bürgertum Hollands, zumal
sie, wie wir heute rückschließen können, bis zu diesem Punkt hauptsächlich
aus dem reichen Haushalt von Vermeers Schwiegermutter Maria Thins
stammte. Gleichzeitig stand wie damals üblich im hinteren Teil des Zimmers
ein Bett mit grünen Seidenvorhängen. Es gehörte Vermeer und seiner Frau.
Und über Vermeer kamen die vielen Kleinigkeiten in den Raum: Die beiden
Portraits der Eltern und ein gezeichnetes Familienwappen waren das Vermeer-
sche Pendant zur Thinsschen Ahnengalerie an der Wand, während den Platz

" 1641 trennte sieh Maria Thins von ihrem Mann Reynier Bolnes, verließ ihre Heimatstadt (iouda und
zog mit den beiden Töehtern nach Delft. Unter den Gütern, die ihr zugesprochen wurden, befanden
sich u.a. folgende (icmäldc:
Die Darstellung eines Mannes, der gehäutet wird (Marsyas und Apollo)
Die Darstellung eines Mannes, dem die Brust gegeben wird (Caritas Romuna oder die Geschich-
te von Cimon und Pero)
Die Darstellung einer Kupplerin, die auf ihre Hand deutet (Bei der Kupplerin von Dirck van
Baburen)
Ein Trompetenspieler
Ein Flötenspieler
Eine Landschaft mit Wahrsager
Homo Bulla
Vgl. Montias (1989), S.122f: Nearly „all the paintings mentioned so far represented typical Utrecht
School subjeets (...). <Some of them> were later transferred to Maria's Home in Delft and were known
to Vermeer. Two of them almost certainly appeared in the background of Vermeer's own paintings. ,A
painting of wherein a procuress points to the hand' was apparently Dirck van Baburen's Procuress, a
Version of which now hangs in Boston's Museum of Fine Arts. It is seen hanging on the wall of The
Concerl and of the Lady Seated at the Virginais. (...) ,A painting of one who sucks the breast', proba-
bly a Roman Charity or The Story of Cimon and Pero appears on the wall of the Music Lesson."
Weitere Angaben zu den Gemälden siehe Blanken, Albert (Ruurs, Rob; van de Watering, Willem):
Vermeer of Delft. Complete Edition of the Paintings, Oxford 1978, S.145
ERFÜLLTE RÄUME 141

über dem Kamin drei kleine Zeichnungen in schwarzen Rahmen zierten. Es


gab zwei tronjes von Fabritius, ein weiteres Gemälde, von dem wir das Motiv
nicht mehr kennen, sowie die ländliche Darstellung einer Scheune und ein
Stilleben mit drei Kürbissen.
Wir sehen, wir haben auf diese Weise eine relativ komplette und auf
schlußreiche Beschreibung des vornehmsten Raums am Oude Langendijk
erhalten. Zudem wissen wir, daß er ebenerdig lag, mit zwei oder drei Fenstern,
die zur Straße zeigten. Tagsüber wurde dort Besuch empfangen und zu Mittag
oder Abend gegessen, nachts diente es Vermeer und seiner Frau Catharina als
Schlafgemach. Wie selbstverständlich spielte sich das gesellige und private
Leben der Familie im selben Zimmer ab, so als wäre seine Funktion von den
Tageszeiten oder von bestimmten Personen abhängig, nicht aber von vorne
herein festgelegt. Wahrscheinlich wurden dort auch die gesamten
Kleidungsstücke der Familie aufbewahrt, denn das Inventar nennt gleich im
Anschluß zu den Möbeln und Gemälden einen Türkischen Mantel mit passen
der Hose, die von Vermeer getragen wurden und mit dem gebauschten
Gewand in der Malkunst identisch sein könnten , eine Rüstung mit Helm und
Pike, die er als Mitglied der Delfter Stadtwehr benötigte, Catharinas gelbe
pelzgesäumte Jacke aus Satinstoff, die grüne Jacke sowie einen aschgrauen
Mantel, einen weiteren schwarzen Türkischen Mantel, zehn Halskrausen
Vermeers und dreizehn Paar Manschettenknöpfe, deren ungewöhnliches Aus
sehen im Bericht gesondert vermerkt wird. Und das bei einem Maler, den man
als besonders introvertiert eingestuft hatte! Angesichts der vielen Kinder im
Haus erstaunt die Anzahl der vorgefundenen Kleidungsstücke dagegen nicht
mehr sonderlich. Da gab es zwölf „gute wie schlechte" Bettlaken, zweiund
zwanzig Kopfkissenbezüge, einundzwanzig Kinderhemden, achtundzwanzig
Mützen oder Käppchen, elf Umlegekragen für Kinder, neun Windeln, sieb
zehn Taschentücher. Nebenbei wurde die Holzschatulle mit Einlegearbeit aus
Ebenholz, von der vorhin schon die Rede war, ebenfalls in diesem Zimmer
aufbewahrt.
Der kleine Raum, der an den Saal angrenzte, diente als Schlafkammer für
die kleineren Kinder. Das Inventar meldete neben einem Kinderbett mit klei
nem Kissen und einem zweiten, größeren Bettgestell auch einen Eichentisch,
eine rote hölzerne Truhe, zwei abgenutzte Gobelinkissen, einen schlechterhal
tenen Spiegel, ein Paar zerschlissene Vorhänge, zwei Kinderstühle mit
Metallbügel und zwei kleine Truhen oder Schatullen. Zudem wurde in der
sogenannten zijkamer Geschirr aufbewahrt, das von dort aus in den großen
Nebenraum getragen werden konnte: elf Krüge mit Zinndeckel, Trinkgläser,
aber auch Eßteller in Muschelform, die wir in größeren Mengen später in der

u
Nach Montias (1989)
142 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Küche vorfinden werden. Offensichtlich erfüllte dieses Zimmer gleichzeitig


die beiden Funktionen von Schlafzimmer und Abstellraum. Das Inventar listet
neben einem Kerzenständer, Schöpflöffel, Mörser und Bottich auch eine Bett-
pfanne auf.
Im Anschluß konzentrierte sich die Bestandsaufnahme auf einen weiteren
Raum in der unteren Etage. Ein Bett mit Kopfkissen, Kissen, Decken, Bett-
überwurf, eine Eichentruhe oder Kommode, ein Kleiderständer, drei Stühle
und einige Sitzkissen, die Maria Thins Eigentum waren, lassen vermuten, daß
er möglicherweise von Vermeers Schwiegermutter als Schlafzimmer genutzt
wurde. Die Bildersammlung in diesem Raum gehörte allerdings Vermeer und
war bunt gemischt: Eine auffallend große Darstellung des gekreuzigten Chri-
stus hing neben einer Darstellung des vera icon, zwei kleinen tronjes von
Hoogstraten und zwei weiteren im sogenannten Türkischen Stil, die man seit-
dem gerne mit Vermeers Bildnis eines Mädchen mit Perle in Verbindung
gebracht hat. In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich eine kleine Seeland-
schaft und ein Gemälde, auf das der Inventarist mit der Bemerkung reagierte,
es stelle ,allen möglichen Weiberkram' (,vrouwentuych') dar. Auch zwei
braune Fußwärmer, wie wir sie aus Vermeers Milchmagd kennen, gehörten
zum Inventar des Zimmers, vor allem jedoch wertvolle sieben Ellen Wandta-
pete aus vergoldetem Leder.
Auch die beiden Küchenräume befanden sich im hinteren Teil des Hauses
und beherbergten gewöhnliche Kochutensilien: Regale mit Kannen und Krü-
gen, kupfernen Pfannen und Kessel, Töpfe, Zinnteller und einundzwanzig
weitere muschelgeformte Eßteller. Dennoch waren auch hier ein Bett und ein
rotgestrichener Tisch, ein Kinderstuhl und sechs alte Stühle untergebracht.
Offensichtlich übernachtete in diesem Zimmer die Magd. Die Treppe hinunter
war eine weitere Bettstatt aufgestellt, und selbst noch diesen Kellerraum
schmückten Bilder. Das Inventar erwähnt die Darstellung einer Dame mit
Perlenhalsband, die mit Vermeers gleichnamigen Gemälde identisch sein
könnte.

Soviel zu den unteren Räumen im Haus am Oude Langendijk, die voll mit
Geschirr, Möbeln und Kleidungsstücken waren. Offensichtlich ging man hier
wesentlich intensiver ein- und aus als in den anderen Räumen, denn so man-
ches Mal wurde der schlechte Zustand der Gegenstände notiert. Alle Betten
waren im unteren Teil des Hauses aufgestellt. Die Kinder spielten hier und auf
der angrenzenden Straße. Unten wurde gekocht und gegessen. Besuch wurde
im groete zael empfangen, und am Fenster konnte man Passanten sehen, die
zum Marktplatz gingen oder mit ihren Einkäufen nach Hause zurückkehrten.
Wie aber hatte es im oberen Stockwerk ausgesehen? Analog zur üblichen
Aufteilung des holländischen Wohnhauses in ein voor- und ein achterhuis gab
es zwei große Räume. Das Inventar beginnt mit dem hinteren der beiden
ERFÜLLTE RÄUME 143

Zimmer und berichtet von sechs Gemälden, die Maria Thins gehörten, aber
ohne nähere Beschreibung bleiben. Ansonsten fällt die Bestandsaufnahme im
Gegensatz zu den unteren Räumen knapper aus: Ein Spiegel habe sich im
Zimmer befunden, dazu zehn bestickte Sitzkissen, zwei Truhen oder Kommo-
den und ein Korbstuhl, in dem Catharina ihre Kinder stillen konnte. Dafür
wissen wir, daß neben einem kleinen tronje die Darstellung eines Cupidos
hing, der Vermeer gehörte und mit ziemlicher Sicherheit mit jenem Cupido
identisch ist, der in einigen seiner Bilder auftaucht. Zudem waren im oberen
Stockwerk fünfundzwanzig Bücher „verschiedener Art" sowie fünf Foliobän-
de Vermeers aufgestellt, von denen wir leider die Titel nicht kennen.
Die Beschreibung des vorderen Zimmers, das zu Straße und Marktplatz
zeigte, verdient noch einmal besondere Aufmerksamkeit. Den Gegenständen
nach zu urteilen hatte Vermeer in diesem Zimmer seinen Arbeitsraum einge-
richtet. Bei der Inventaraufnahme fand man zwei Staffeleien und drei Paletten
vor, außerdem einen Stock mit elfenbeinernem Knauf, zehn Leinwände und
sechs Holztafeln, drei Stapel verschiedenster Kupferstiche und Drucke sowie
„hier und dort einigen Kram, den man nicht einzeln aufzuzählen braucht."33
Darunter fielen sicherlich die Pinsel und Stifte des Malers oder Nadel und
Faden für die Perspektivkonstruktionen der Bilder, Papier und anderes Zei-
chenmaterial oder kleine Behälter zur Aufbewahrung von Farbpigmenten.
Neben einem Ausziehtisch aus Eichenholz „mit einem Blatt darauf wurde
auch ein kleiner Holzschrank mit Schubladen erwähnt, in dem Vermeer seine
Malutensilien wegschließen konnte. Alles in allem machte sein Atelier einen
geräumigen und geordneten Eindruck. Es gab einen zusätzlichen Schreibtisch
und zwei Spanische Stühle - wahrscheinlich jene, die wir von Vermeers
kunst her kennen -, damit war die Inneneinrichtung komplett. Man kann
feststellen, daß sich der Arbeitsraum des Malers mehr als jedes andere Zim-
mer vom Durchgangsverkehr des Hauses abnabelte und an einer privaten
Sphäre baute, wie wir sie ja bereits als zunehmend charakteristisch für die Zeit
nach der Jahrhundertmitte gefunden haben. Vermeer war hier ungestörter als
in den anderen Teilen des Hauses. Kein im Inventar genannter Gegenstand
deutet darauf hin, daß der Raum für etwas anderes genutzt wurde als für die
zeitintensive Planung und Ausführung seiner Gemälde. Während sich sein
Schlafraum einen Stock tiefer an der turbulentesten Stelle des Hauses befand
und tagsüber für Gäste und alle Familienmitglieder geöffnet war, blieb der
obere Teil immer etwas abgelegen und weniger zugänglich als die unteren
Räumlichkeiten, wo sich die Schlafstellen aneinanderreihten und das Haus zu
manchen Zeiten vor Geschäftigkeit wie ein Bienenkorb gesummt haben muß.
Im übrigen erinnert ein Detail an jene besondere Mischung von Familien- und

" Nach Montias (1989), S.341


144 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Künstlerleben, von Stille und Lärm oder Ruhe und Betriebsamkeit, die in
Vermeers Haus am Oude Langendijk geherrscht haben muß: Im Dachboden
stand neben einer ausrangierten geflochtenen Wiege der Steintisch Vermeers,
der zum Zermahlen der Farbpigmente diente.
An dieser Stelle ist der Rundgang durch das Haus Vermeers beendet. Er hat
uns vom Keller bis in den Dachboden geführt und gezeigt, wie unterschiedlich
dicht sich Vermeers Lebensraum gestaltete. Neben Räumen, die betont gesel
lig ausgerichtet waren und verschiedene Funktionen zu verschiedenen Zeiten
erfüllen konnten, gab es Privatisierungsversuche in den oberen Stockwerken,
in denen sich das Atelier des Malers befand.
KRFÜLLTL RÄUME 145

Das Innenleben eines Zimmers

„Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden


sie betont."

(Walter Benjamin)

Abb.45: Vermeer. Der Liebesbrief, um 1669-70. Amsterdam. Rijksmuseum


146 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Wenden wir uns den gemalten Zimmern zu. Nehmen wir Vermeers
brief als Beispiel, wie die Lage eines Raumes innerhalb eines Hauses die
Lesart des Bildfelds bestimmen kann. Gleich zu Anfang fällt das Motiv der
geöffneten Tür auf. Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, die Räumlichkei-
ten einzuordnen. Zum einen wäre ein Standpunkt im voorhuis oder in der
zijkamer denkbar, aus denen ein Blick in den groete zael des Hauses geworfen
wird, oder aber der Betrachter befindet sich in einem der unteren Zimmer und
blickt von dort aus in die innere Küche, die bei Vermeer bekanntlicherweise
tatsächlich mit einer vergoldeten Wandtapete verkleidet war und ein Seestück
zu seinen Dekorationen zählte. Die geringe Tiefe des Zimmers läßt die zweite
Lesart wahrscheinlicher erscheinen.
Jedenfalls ist es ein Blick in das Haus hinein. Obwohl sich der Standort des
Betrachters innerhalb des Hauses befindet, richtet er sich auf einen weiter
zurückliegenden, privat anmutenden Raum. Es scheint, als sei der Betrachter
auf eine Situation gestoßen, die nicht für seine Augen bestimmt ist. Wir müs-
sen sie uns als echte Begebenheit vorstellen, um zu erkennen, daß die im Bild
festgehaltene Szene im wirklichen Leben dazu führt, schnell hin- und auch
wieder ganz schnell wegzusehen, wenn man nicht als Voyeur gelten will. In
Vermeers Liebesbrief'läuft der Betrachter jedoch zu keinem Zeitpunkt Gefahr,
entdeckt zu werden. Weder Magd noch Hausherrin werden ihren Kopf wenden
- das ist das Geheimnis des stillgelegten Augenblicks in der Kunst. Es erklärt
auch, warum die Identität der Dinge des Vordergrunds im Dunkel bleibt. Ver-
meer schattet die Randzone ab, um die Konzentration des Betrachters zu
fördern. Wir müssen uns anstrengen, wenn wir den Stuhl an der rechten Seite
ausmachen wollen, dazu beschriebenes oder bedrucktes Papier und eine helle
Stoffbahn, die über die Lehne geworfen ist.
Vergleichen wir sie mit den Gegenständen in einem ähnlichen Gemälde
von Pieter de Hooch. Es fällt auf, um wieviel leichter uns die Erkennung der
Dinge in diesem Bild gemacht wird. Auf dem Stuhl liegt eine Laute. Darüber
hängen, in schöner Parallele zum Liebespaar im Innenraum, die Jacken einer
Frau und eines Mannes. Der Eingang wird durch Besen und Eimer verstellt,
und selbst der Putzlappen ist deutlich zu sehen. Im übrigen ist Pieter de
Hoochs Paar mit Papagei eines der seltenen Beispiele innerhalb der Vermeer-
Forschung, das auf eine unmittelbare Beziehung zwischen den beiden Malern
hindeutet. Die Rahmenkompositionen gleichen sich im großen und ganzen
derart, daß wir von einer bewußten Bezugnahme ausgehen können. Doch wir
kennen die Beweggründe nicht und auch nicht die möglichen Konsequenzen.
Jedenfalls erscheint in beiden Fällen ein hochgeraffter, die Türöffnung theatra-
lisch enthüllender Vorhang, zu dem ich gleich noch etwas sagen möchte.
Rechts dann der besagte Stuhl, auf dem einige Gegenstände plaziert sind, und
das von beiden Malern aufgegriffene Besenmotiv. Aber während De Hooch
ERFÜLLTK RÄUME 147

Abb. 46: Pieter de Hooch, Paar mit Papagei, ca. 1665. Wallraf-Richartz-Museum, Köln

die Utensilien häuslicher Tätigkeit auf die Seite des Betrachters rückte und
überhaupt ein Stück vom angrenzenden Fliesenboden wiedergab, macht Ver-
meer ein, zwei weitere Schritte vorwärts in Richtung Türöffnung. Er lockt
unseren Blick durch die Bahn der geöffneten Tür ins Innere des Zimmers,
ohne einen anderen Weg anzubieten. Das ist der große Unterschied zur Dar-
stellungsweise De Hoochs. De Hooch öffnete nicht nur einen Fensterflügel,
sondern durchstieß auch noch die Rückwand des Zimmers. Es ist aufschluß-
reich zu sehen, daß an genau derselben Stelle, an der in De Hoochs Interieur
eine Türe auf die Straße führt, Vermeer zwar gleichfalls auf die Rahmenform
der Türe zurückgriff, aber stattdessen einen solide gekachelten Kamin setzte.
Offensichtlich wollte er die Öffnung nach außen verschließen. Wenn wir uns
an die zeittypische Tendenz der reduzierten Türen erinnern, zeigt er damit eine
moderne Lebenshaltung: Statt Öffnung Verschluß; Privatisierung, wo öffentli-
che Aufmerksamkeit herrschte; Selbstbezug statt Dispersion. Das Auge des
Betrachters ist kaum abgelenkt. Es gibt keine Öffnung der Zimmerwände. Es
gibt auch sonst kaum einen Ort, wo der Blick für längere Zeit verweilen kann,
ohne sofort auf das Zentrum der Komposition - den fragenden Blick der
Hausfrau, den Brief in der Hand, den wissenden Blick der Magd - zurückzuei-
len. Vermeer versucht den Betrachter auf diese Weise wirkungsvoll in das
Geschehen einzubeziehen. Bis zu diesem Punkt stimmt unsere Betrachtung
148 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

mit der Feststellung überein, Vermeer sei ein Verfechter von Privatsphäre,
Intimität und autonomer Lebensführung gewesen. Eine Relativierung wird
gleich folgen.
Um auf das Verhältnis zwischen Ortslage und Lesart der Räume zurückzu-
kommen: Bei De Hooch kann das Interieur wesentlich genauer lokalisiert
werden. Die Tür im Hintergrund des Zimmers läßt auf einen Betrachterstand-
ort im unteren Teil des Hauses schließen, der einen Blick in den groete zael
und auf die Straße erlaubt. Auch das ist ein großer Unterschied zu Vermeer.
Sobald wir mit Begriffen eines räumlich gerichteten Sehens argumentieren,
würde das bedeuten, bei De Hooch in ein Interieur ein- und auch wieder
treten zu können. Es entspricht einem vollkommen anderen Raumgefühl, als
in einen Winkel gelenkt zu werden, aus dem es keinen Ausweg gibt. Letzteres
geschieht im Fall der Zimmer Vermeers, die einen Aufenthalt, eine Art Nische
oder ein Nest für die unruhige Blickbewegung des Betrachters bereithalten.
Germain Bazin hat die Tendenz der holländischen Interieurmalerei betont, den
geöffneten Raumwürfel hinter dem Rücken des Betrachters zu verschließen.
Der geschlossene Kastenraum - „la boite close" - sei das Anliegen einer
Künstlergeneration, die sich um die Zusammenhänge - „la miraculeuse co-
hesion du tout" - bekümmert.34 Das ist die Formel des Nests oder der Höhle
und nicht die des luftigen, geöffneten Käfigs, auf die De Hooch hinauswollte.
Bazin sprach vom heimlichen Herbeiwünschen der vierten Wand, mit der die
Interieurmaler seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts die Innenräume umgür-
ten wollten. Eigentlich ist es mehr ein endoskopischer als ein perspektivischer,
durchdringender Blick, den Vermeer favorisierte, denn er wünschte sich einen
langen Aufenthalt des Betrachters. Das geschieht jedoch nur, wenn das Auge
gefangen wird, nicht aber, wenn es den Bildraum durch die Rückwand sofort
wieder verläßt.
Dazu kommt die hypnotisierende Kraft seiner Bilder. Der Begriff ist nicht
aus der Luft gegriffen, weil tatsächlich ein psychologisches Moment hinein-
spielt, das wir von Situationen kennen, in denen zwei Menschen sich ,ohne
mit der Wimper zu zucken' gegenüberstehen und betrachten. Um sie nachzu-
vollziehen, bedarf es der Erinnerung an die wichtige Formulierung Keplers,
der Aufbau des Auges sei wie eine simple Architektur, welche aus einer ge-
schlossenen camera mit kleiner Öffnung bestehe und mit einer tunica
verhängt werde. Diese ist nichts anderes als die sich öffnende und zusammen-
ziehende Iris des Auges. Die damit verbundene Theatralik des Enthüllens und
Zudeckens ergibt sich wie von selbst. Das Auge erscheint dann nicht nur wie
eine kleine Dunkelkammer, sondern wie eine Weltbühne, vor der ein Vorhang

34
Bazin, Germain: La notion d'interieur dans l'art neerlandais, in: Gazette des Beaux-Arts, Bd.39
1952, S.22
ERFÜLLTE RÄUME 149

gelüftet und fallengelassen wird. Und der barocke Mensch verhielt sich nun
auch im übertragenen Sinne wie ein Zuschauer, der Platz nimmt, um innerhalb
seiner eigenen Augen dem wie auf einer Leinwand vorbeiziehenden Schau-
spiel beizuwohnen. Wenn wir aus diesen Sätzen verfrühte Anklänge an die
Cinematographie heraushören, dann nicht ganz zufällig: Die Vorführungskün-
ste der modernen Filmindustrie können sich auf eine Zeit berufen, in der sich
Descartes vor ein Fenster setzte, die Außenwelt in Augenschein nahm und
gleichzeitig dazu einen inneren Monolog abspann.

Das Öffnen und Schließen der Augen, dem Heben und Senken eines Vorhangs
gleich, machte jedenfalls Kunstgeschichte. Der gesamte Wahrnehmungspro-
zeß wurde theatralisiert. Und Vermeer nutzte diese Stimmung, um den
Betrachter in eine konkrete Beziehung zu seinen Innenräumen zu setzen. Der
im Bogen hochgeraffte Vorhang in seinem Liebesbrief gibt den Blick auf ei-
nen Zimmerausschnitt frei, der vor allem deshalb sanft aufleuchtet, weil ihn
eine Szenerie aus Stuhl, Stoffen und lose hingeworfenen Papieren wie eine
dunkle Fassung umringt. Wenn man in diesem Moment an die Tunica-
Metapher denkt und mit der Art vergleicht, in der Vermeer den Vorhang vor
der Türe zur Seite strich, wird klar: Daß wir es wie so oft bei diesem Maler
nicht nur mit einem glänzend in Szene gesetzten Innenraum zu tun haben,
sondern genausogut mit einem offenen, geweiteten Auge. Der Betrachter wird
nicht nur mit einem Interieurs, sondern mit einem aufmerksamen Auge kon-
frontiert. Ähnlich wie der Spiegel in Van Eycks Arnolfini-Hochzeit visiert es
ihn ruhig an. Deswegen fühlen wir uns von Vermeers Liebesbrief beobachtet,
obwohl sich uns weder Magd noch Frau zuwenden. Deswegen auch tritt eine
hypnotische Wirkung zutage. Weil das Bild dem Blick des Betrachters frontal
begegnet, fällt es ihm schwer, es nicht ebenfalls unverwandt anzuschauen. Er
ist fasziniert von der Kraft, mit der das Gemälde Bezug auf ihn nimmt. Er
fühlt sich von ihm bemerkt und in seiner Anwesenheit bestärkt, gerade so, wie
wenn das Bildpersonal ihm einen Blick zuwerfen oder irgendeine Geste der
Erkennung zeigen würde.

° Nehmen wir nur Nicolaes Maes Lauscherin als ein Vergleichsbeispiel. Bei Maes gibt es eine direkte
Adressierung des Betrachters durch die Bildfigur der Magd, die Zeugin einer häuslichen Szene gewor-
den ist und mit vielsagendem Lächeln zur Komplizenschaft einlädt. Ihr ausgestreckter Zeigefinger
scheint zweierlei zu bedeuten: Zum einen weist er in Richtung des Zimmers, in dem eine Gardinenpre-
digt der Hausherrin im Gange ist, gleichzeitig hebt ihn die Magd an die Lippen. Mit Vermeer gemein
hat Maes die ungefähre Aufteilung des Bildraums in eine Vorkammer und einen angrenzenden Wohn-
raum, in den eine Szene belauscht oder erhascht wird. Zudem verwenden beide das Vorhangmotiv, um
auf die wichtigen Vorgänge des Verbergens und Entdeckens hinzuweisen. Bei Maes kann das Zimmer
150 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Der zur Seite gezogene Vorhang im Liebesbrief - das einem Auge gleiche
holländische Interieur - der mit einer Öffnung versehene Hohlraum. Vermeer
hat die Reproduktionsmaschinerie in Gang gesetzt. Die Leinwandfläche wird
zur Gebärmutter oder bessergesagt zum schwangeren Leib. Es geht um die
Eingabe und Wiedergabe gesehener Bilder durch eine Öffnung - weswegen es
bei Vermeer keine weitere geben darf. Das läßt folgende Vermutung zu: daß
es ihm gar nicht so sehr um die Autonomie des Bildes ging, sondern um die
Vorgänge künstlerischer Repräsentation - und diese zielen auf Kommunikati-
on, auf Bindung und Gemeinsamkeit. Wir irren uns, die Einschränkung der
Raumöffnungen als soziales Defizit auszulegen und die Distanz zum Bildge-
schehen überzubewerten. Bei Vermeer ist eine Botschaft verschickt und
empfangen worden. Um das reibungslos vonstatten gehen zu lassen, verbarri-
kadierte er seine Bildräume bis auf eine schmale Schauöffnung. Zum einen
galt Vermeers Interesse den Vorgängen künstlerischer Repräsentation, dem
Prinzip kreativen Gestaltens, Verdoppeins und Festhaltens von Eindrücken.
Zum anderen war Vermeer ein Maler der Zuneigung im ganz wörtlichen Sinn,
auch der Zueignung oder Übereignung. Er wollte uns etwas Wichtiges mittei-
len.
Man darf jedoch nicht annehmen, der geschlossene Kastenraum sei die
einzige Kommunikationsform Vermeers. Sicherlich ist er wichtig zur Ge-
sprächsaufnahme. Aber woraus das Gespräch besteht, darüber gibt erst der
losgelöste wandernde Blick Auskunft. Er begibt sich auf die Suche nach den
Teilnehmern der gemalten Szene. In unserem Beispiel sind sie schnell gefun-
den: Es handelt sich um eine sitzende Dame und eine stehende Magd, die sich
beide intensiv ansehen und über etwas Bescheid wissen, was sich unserer
Kenntnis entzieht. Wir nehmen an, daß es mit dem Brief zu tun hat, den die

Abb.47: Nicolaes de Maes, Die Lauscherin, ca. 1650, Privatbesitz


im Vordergrund allerdings eindeutig als Wirtschaftsraum ausgemacht werden. Durch eine leicht an-
steigende Treppe ist er vom Wohnbereich des Hauses abgetrennt.
ERKÜLLTK RAUMK 151

Frau in der Hand hält. Eine narrative Vielfalt und Spannung gewinnt die
Oberhand. Was könnte der Grund für die aufmerksame Haltung sein, mit der
die Dame in Gelb den Brief in Empfang nimmt? Wir wissen es nicht. Wir
wissen nur, daß unser Auge, um eine Antwort zu bekommen, suchend umher-
schweift und die vielen verstreuten Einzelheiten des Bildes stückweise und
über lange Zeit zusammenträgt. Vielleicht ist die Magd aus einer unsichtbaren
Türe von hinten auf die Frau zugetreten, vielleicht ist sie auch durch dieselbe
Türöffnung gekommen, der wir uns gegenübersehen. Möglicherweise hat sie
den Korb Wäsche auf dem Boden abgestellt, während die musizierende Haus-
herrin aufblickt und ihr Lautenspiel einstellt. Vermeer hat folgenden Moment
festgehalten: Die Briefübergabe ist bereits geschehen; die Frau hält das Ku-
vert, ohne es geöffnet zu haben.
Eine Übergabe ohne Lösung ist auch Vermeers Malerei. An den Betrachter
adressiert sie eine schwer entzifferbare Botschaft. Nur nach und nach setzt
sich der Inhalt aus Bruchstücken, „aus Splittern und Facetten" zusammen.
Ob er der tatsächliche Inhalt ist, auch das bleibt zweifelhaft. Zuweilen scheint
es, als würde etwas den gesamten Bildeindruck stören oder aus dem Gleich-
gewicht bringen. Doch es ist nicht unbedingt die Anwesenheit des Betrachters,
die das Gefühl einer Störung, Verwirrung oder Unsicherheit hervorruft. Es ist
auch nicht unbedingt eine bestimmte, dafür verantwortlich zu machende Ein-
zelheit in den Motiven oder in der Erzählung des Bildes. Vielmehr sind es die
undeutlichen Zonen innerhalb der Bildstruktur, denen wir nur mit größter
Anstrengung beikommen können. Ein Beispiel finden wir auf der linken Seite
des Gemäldes. Dort nimmt ein undefinierbarer brauner Streifen nahezu ein
Drittel der Leinwandfläche ein und läßt sich dennoch schwer identifizieren
- als Landkarte, die unverständlicherweise schräg in den Raum weist, so als
wäre sie an eine Türe befestigt worden. Bei Pieter de Hooch war an derglei-
chen Stelle ein fein ausgearbeitetes Türblatt zu sehen. Das machte sofort Sinn
und ließ sich ohne große Umschweife in den Kontext der Bilderzählung ein-
gliedern. Vermeer präsentiert uns dagegen eine braune, mit dunklen
Pinselstrichen geäderte Farbfläche, die sich wie altes Holz liest, wie lose he-
rabhängende Bänder oder wie die Flecken einer geronnenen Flüssigkeit, und
sich erst in Anlehnung an eine barocke Bildtradition als schemenhafter Umriß
einer Karte zu erkennen gibt. Es ist eine problematische, eine schwierige Stel-
le des Bildes. Sie unterläuft die Erzählhaltung des Malers und verunsichert
den Betrachter: Wie ein Rätsel schwebt sie neben ihm und begleitet den ge-
samten Wahrnehmungsakt. Denken wir an das Gleichnis der weitgeöffneten
Pupille, so erscheint sie dem Betrachter wie etwas, das sich nicht aus den Au-
genwinkeln wischen läßt. Rundum kontrastiert der verschwommene Bildrand

Buci-Glucksmann, Christine: Der kartographische Blick der Kunst, Berlin 1997, S.22
152 ZWEI BAROCKE RAUMMODF.LLE

mit der scharfgestochenen Mitte. Der Fokus wurde nicht auf den Vorraum
eingestellt, sondern konzentriert sich einzig und allein auf das Geschehen
innerhalb des zurückgesetzten Innenraums. Selbst die Gegenstände im Vor-
dergrund sind undeutlich beschrieben. Und das bei einem Maler, der für seine
Präzision berühmt wurde! Bald werden wir sehen, daß die Ungenauigkeiten
nicht unbedingt mit optischer Unscharfe entschuldigt werden können. Die
verschwommenen Randbezirke, wie sie bei einer Kamera oder Linse mit ho-
her Tiefenschärfe auftauchen, machen nur einen geringen Teil des Effekts aus.
Es muß einen zusätzlichen Grund für solche Vorkommnisse geben. Allerdings
begeben wir uns dann in eine malerische Ordnung und in den Komplex bildli-
cher Psychologie hinein.

Die Dramaturgie der Multiperspektive

Norman Bryson hat ein glänzendes Plädoyer für die unterdrückten, unruhigen
Stellen der Bildstruktur gehalten und dabei die Vorrangstellung des fixierten
Darstellungsmodus angegriffen. „Die abendländische Malerei zielt auf die
Ableugnung der deiktischen Referenz, auf das Verschwinden des Körpers als
Produktionsstätte des Bildes; und das gleich zweifach: seitens des Malers und
des Betrachters." Betrachter und Maler wären in gewisser Weise aus dem Bild
ausgeschlossen, ihre Beziehungen zu ihm unkörperlich und passiv, der Zeit-
punkt der Betrachtung nicht vereinbar mit dem dargestellten Zeitpunkt im
Bild. Bryson hat vorgeschlagen, diese Begriffe unter verändertem Blickwinkel
neu zu befragen: „Um ein Gemälde als Zeichen zu verstehen, müssen wir die
Oberfläche vergessen und tiefer blicken: jedoch nicht auf eine ursprüngliche
Wahrnehmung, in deren Glanz sich die Oberfläche sonnt, sondern auf den
Körper, dessen Aktivität - ebenso für den Maler wie für den Betrachter - ein-
zig und alleine aus der Umformung materieller Zeichen besteht." Und: „Das
Sehen wird durch die Bewegung der Augen (...), durch den schweifenden
Blick hervorgerufen. Weil die Zeichen eines Gemäldes nur durch Arbeit auf
der Leinwandfläche erscheinen, ist das Gemälde ein beweglicher Ort (...), ein
Vorgang, der den traditionellen Gewohnheiten entsprechend die Maske der
statischen Form annehmen kann." Das abendländische Gemälde wurde we-

Bryson (1983), S.170f: Western painting is predicted on the disavowal ofdeiclic reference, on the
disappearance of the body as site of the image; and this twice over: for the painter, and for the viewing
subject." (...) „To understand the painting as sign, we have to forget the proscenic surface of the image
and think behind it: not to an original perception in which the surface is luminously bathed, but to the
body whose activity - for the painter as for the viewer - is always and only a transformation of mate-
rial signs."(.) „Viewing is mobility both of the eye and of discourse, in the disseminations of the
glance. Since it is only through labour that the signs of painting appear on canvas, painting is itself a
ERFÜLLTE RÄUMfi 153

der als ganze Form geboren, noch kann es als solche rezipiert werden. Bild-
herstellung und -rezeption sind Arbeiten des Sehens. Sie können sich weder
von ihren körperlichen Verankerungen noch von ihrem sozialen Feld unab-
hängig erklären. Tatsächlich verschleiert der langgezogene und nach vorne
gerichtete Blick eine wesentliche Eigenart des Bildfelds. Wir meinen, wir
sehen ein einzelnes Bild, und haben stattdessen ein präzise aufgebautes Bezie-
hungsgeflecht vor uns, dessen Zusammenspiel sich als unrein erweisen und
die verschiedensten Bedeutungen, Ursachen und Ziele auf kaum rekonstruier-
bare Weise vermischen kann.
Auch der Einsatz der Zentralperspektive muß unter diesen Umständen neu
überdacht werden. Weil die Perspektive lange Zeit als das paradigmatische
Erzeugnis der Neuzeit galt, ist es besonders schwer, den ,unreinen' Anteil an
ihr zu erkennen und sie als eine Erfindung zu verstehen, die wie jede andere
Stelle des Bildes relativiert werden muß. Sicherlich ist der zentralperspektivi-
sche Raumschacht zum Königsweg illusionistischer Malerei geworden, der
mehr als andere Bildmittel dazu beitrug, die Herrschaft des absoluten Raums
zu etablieren. Und dennoch ist er genausogut Teil des in Gang gesetzten, sich
nicht nur innerhalb der Rahmengrenzen, sondern weit über sie hinaus erstrek-
kenden Bezugsystems eines Gemäldes: Die Zentralperspektive dramatisiert
den Handlungsablauf des Bildes, indem sie die Fäden strafft. Unrein ist sie,
weil sie Verbindungen ebenso aufbaut wie abbricht. Spannend, weil sie Bild
und Betrachter aufeinanderzugehen läßt und gleichzeitig fernhält. Ihr ist ein
großartiges dramatisches Potential zu eigen, das in der Neuzeit zur Einführung
in ein Gemälde oder Bühnenstück gebührend oft eingesetzt wurde.
Einerseits glauben wir, der passive, empfangende Blick sei das entspre-
chende Korrelat zur Zentralperspektive. Andererseits erhalten wir den
Eindruck, der zentralperspektivische Blick sei aktiv und mit einem Vorwärts-
drang ausgestattet, der in der ästhetischen Diskussion von Anbeginn an
männlich konnotiert wurde. Männlich und weiblich, sendend und empfangend,
aktiv und passiv, geöffnet und geschlossen zugleich: Die zentralperspektivi-
sche Raumkonstruktion ist ebenso wie das menschliche Auge mit verqueren
Bezügen durchzogen, androgyn ihrer Wesensart nach und von gegenläufiger
Rhythmik. Rosalind Krauss hat von einem „rhythm, or beat, or pulse"
gesprochen - „a kind of throb of on/off on/off on/off - which, in itself, acts
against the stability of visual space."38 Dieser Raum weitet und verengt, dehnt

locus of mobility in the field of signification, a process which may be presented, by the Conventions of
the tradition, under the guise of the static form."
" Krauss, Rosalind: The im/pulse to see, in: Hai Foster (Hrsg.): Vision and Visuality, Seattle 1988,
S.51. Rosalind Krauss hatte sich mit diesen Sätzen auf einige Bilder Duchamps bezogen: „It is clearly
Duchamp's concern here to corporealize the visual, restoring to the eye (...) that eye's condition as
bodily organ, available like any other physical zone to the force of erotieization." (Ebd., S.60)
154 ZWEI BAROCKE RAUMMODHLLE

und staucht sich im Zusammenspiel der beiden Kontrahenten Bild und Auge.
Krauss hat solche Begriffe vor allem für die Kunst der Moderne entwickelt,
doch im Grunde geben sie Auskunft über eine allgemeine, auf optischem We-
ge nur unzureichend erklärbare Eigenschaft menschlicher Wahrnehmung.
Das Auge als körperliches Organ: Wir rücken einem wichtigen Motiv
Vermeers immer näher. Es entspricht einer Bildkomponente, der sich die For-
schung nur vorsichtig genähert hat - der von seinen Bildern ausgehenden
erotischen Anziehungskraft, der Spannung und Irritation seiner Werke. Se-
hen wir uns seine Musikstunde an.

Die Musikstunde

Edward Snow hat dieses Bild wie folgt beschrieben: „The image itself is
charged with a desire that seems intrinsic to representation, one that finds only
partial embodiment in the human moment it pictures. Space itself takes on the
quality of the uncanny in this picture." Die anschließende Beschreibung
Snows hebt die irritierende Wirkung des Gemälde hervor, dessen Raum-
schacht sich als lebhaft durchpulste Zone zwischenmenschlichen Austausches
erweist - „a charged interval not directly bridged." Ohne Zweifel liegt Snows
Stärke darin, Worte für diese mysteriöse Zone und diesen ungeheueren Vor-
gang zu finden. Die aufgetürmten Gegenstände der rechten Bildhälfte drängen
sich uns entgegen, während die linke Seite in die Tiefe des Zimmers zurück-
weicht. Der Teppichüberwurf des Tisches scheint gegen die Oberfläche des
Gemäldes zu stoßen. Der Fliesenboden fordert zum Eintritt auf. Die gegenläu-
fige Bewegung von Öffnen und Schließen, Herausfordern und Zurückweichen
zerstört unsere Hoffnung auf räumliche Integrität. Sie wird zerstört, neu auf-
gebaut und unterwandert. Der gesamte Bildraum zerfällt in zwei
unterschiedliche, den Betrachter wechselhaft provozierende Hälften. „Yet in
the process, (...) life comes to be seen as unapproachably remote: we are made
to sense the tenousness of human presence and to feel the slippage of the mo-
ment that holds it in Suspension."41

Vgl. z.B. Arasse, Daniel: Vermeers Ambition, Dresden 1996, S.164, der „die unerwartetsten Phanta-
sien" kritisiert, denen sich „die modernen Kommentatoren, wenn sie ihre Katalogneutralität
aufgegeben haben und das Gefühl zu vermitteln suchen, das ihnen die Malerei Vermeers einflößt,"
hingeben: „So sieht Lawrence Gowing (...) eine .Angst' vor der Frau, eine .Gefahrenquelle', wenn sie
.nicht mit genügend Abstand untersucht wird'; Jean Paris zufolge gibt die Kupplerin die .tiefgehende
Selbstbefriedigung' des Malers preis; Edward Snow erkennt in der Dienstmagd mit dem Milchkrug
.eindeutig sexuelle Konnotationen'."
40
Snow (1994), S. 101
41
Ebd., S. 106
ERFÜLLTE RÄUME 155

- * w

Abb.48: Vermeer. Die Musikstunde, um 1662-65. London. Royal Collection


156 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Slippage - dieser Vorgang in Vermeers Bild ist eine Entdeckung Snows. Mit
ihm ist ein äußerst kalkulierter Effekt des Gemäldes gemeint. Das seitlich
einfallende Licht wandert langsam die Wände entlang (man achte auf die dop-
pelten Schatten des Virginais) und macht glauben, daß jeder Gegenstand des
Zimmers unaufhaltsam nach rechts abrutscht. Selbst die Horizontalen kippen
langsam in diese Richtung. Wie so oft bei Vermeer verläuft die graue Mar-
moräderung auf dem Fliesenboden wie nasse Farbe. Snow hebt zudem die
Bedeutung des weißen Krugs hervor, der an die äußerste Bildkante gesetzt
wurde und der gleitenden Bewegung Einhalt gebietet. „Note the way it is
played off against the cropped, half-vanished painting just above it: it is like a
brake against any further movement to the left, a resistance declaring, like
Woolfs Mrs Ramsay (or like the desire of Vermeer's own image), ,Life stand
still here!'"
Neben defensiven Strukturen gibt es offensive Wendungen, die das Ge-
schehen in Schwung bringen, und, anders als gewünscht, gibt es zeitliche
Zeichen, die das Geschehen in ein aktuelles Geschehen verwandeln. Vor allem
wird der körperliche Wunsch nach Berührung immer drängender. Snow nennt
es vollkommen richtig einen „circuit of desire" - einen Sehnsuchtsreigen -, in
den sich das Paar der Musikstunde ebenso verstrickt wie Vermeers Soldat und
das lachende Mädchen. Berührt werden soll das Gegenüber, nur ist dieses
nicht immer gewillt, sich berühren zu lassen. Diese Wahrnehmungsform hat
keine Mitte, sie ist dezentriert, sie wirft uns aus der Bahn. Gleichzeitig aber,
und das ist das Seltsame daran, konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit mehr
denn je auf einen einzigen Punkt. Der Bildraum in Vermeers Musikstunde ist
nach demselben Muster angelegt. Die zentralperspektivische Flucht endet
zwar im von uns aus gesehen linken Ärmel der jungen Virginalspielerin, aber
da die Dynamik der vor- und zurückdrängenden Komposition in Gang geraten
ist, läuft auch der Fluchtpunkt Gefahr, seine Festigkeit zu verlieren. Er liegt
auf jener Grenzlinie, die wir zwischen den beiden ungleichen Raumhälften
ausmachen konnten. Im ersten Moment erscheint er uns weit entfernt, dann
zum Greifen nahe. Der Blick wird von ihm angezogen und zurückgestoßen.
Rechts scheint die Szene aus dem Rahmen zu gleiten, links in den Bildraum
zurückzutreten. Das sorgsam inszenierte Gefälle intensiviert den Wahrneh-
mungsprozeß und erotisiert ihn im weitesten Sinne. Und weil dem so ist, weil
der Wunsch nach Berührung und Vermischung in nahezu jedem der Bilder
Vermeers überhandnimmt, fügt sich das Liebesthema wie von selbst ein und
muß nicht mehr derart explizit ausgeführt werden wie in vielen anderen zeit-
gleich entstandenen holländischen Genrebildern.

Wir haben inzwischen gesehen, daß die zentralperspektivische Raumkonstruk-


tion den Rezeptionsvorgang mit seinem Gegenstand zusammenbinden und
ERFÜLLTE RÄUME 157

ordnen sollte. Andererseits wird ihr von allen Seiten entschieden entgegenge-
arbeitet.
Das kann so heftig geschehen, daß dem Betrachter der Musikstunde das
gesamte Gelände unsicher und schwankend erscheint. Ursache dafür ist das
Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten der Innenraumszene, dem jun-
gen Mädchen am Virginal und ihrem musikalischen Begleiter. Dieser ist, so
legt die Bilderzählung nahe, von seinem Stuhl aufgestanden und zum Virginal
getreten. Eine Hand ruht auf der Kante des Instruments, während sich die
andere auf einen Stock oder den Bogen seines Cellos stützt. Er hat sich dem
Mädchen zugewandt und betrachtet es. Das ergibt eine gedrehte Haltung des
Körpers und eine nahezu vollkommene Profildarstellung seines Gesichts. Die
Virginalspielerin aber steht mit dem Rücken zum Betrachter und widmet sich,
wie es scheint, voll und ganz ihrem Spiel. Auf den ersten Blick verhält sich
der Mann am rechten Bildrand wie ein Zuschauer, und das Mädchen wie ein
Gemälde, das sich ansehen läßt. Mehr als jeder Gegenstand des Zimmers er-
scheint sie als ästhetisches Objekt. Sie erscheint als etwas, was betrachtet,
begehrt, aber nicht berührt werden darf. Der schmale Zwischenraum zwischen
ihrem Arm und der leicht auf der Kante des Virginais aufliegenden, leicht
geballten und ebenso leicht zu öffnenden Hand ihres Begleiters ist unüber-
brückbar. Und nicht nur dieser: Die Spitze desselben Ärmels berührt zwar den
Stuhlknauf, der Stuhl ist eng an den Tisch geschoben, der Tisch drängt in den
Vorraum der ästhetischen Grenze. Dennoch scheint Vermeers junge Virgi-
nalspielerin weit von uns entfernt zu sein. Wie weit entfernt, darüber gibt die
schroffe Raumflucht und die intervallartige Fliesenmusterung des Fußbodens
Auskunft. Und es fällt noch etwas auf, etwas ganz Entscheidendes für das
Verständnis der subtilen Manipulationskünste innerhalb der Musikstunde: daß
Vermeer jede Form von Annäherung auf die Spitze trieb und zurückstieß, um
sie zu steigern. Nicht nur, daß der helle linke Ärmel des Mädchens und der
rechte verschattetc sich wie zwei vor- und zurücktreibende Pole verhalten. Die
ungleiche Konstellation steigert das Verlangen, das junge Mädchen an den
Armen zu fassen und umzudrehen. Der Angriffspunkt links ist etwas höher
angesetzt als der auf der rechten Seite. Das hat zur Folge, daß die gewünschte
Bewegung sich in diese Richtung vollzieht, angetrieben durch den provozie-
renden, sehnsüchtig machenden, pulsierenden Bildraum Vermeers.

Thores Betrachter wollte um die Leinwand herumgehen, sie von hinten be-
trachten. Die Zweidimensionalitat des Bildfläche bereitete ihm größte
Schwierigkeiten. Sie versagte ihm den Wunsch nach körperlicher Zuwendung
und verharrte im Modus des ,Auge in Auge'. Doch so sehr die zentralperspek-
tivische Raumkonstruktion glauben machen wollte, es gäbe nur eine einzige
Blickrichtung, so sehr widersetzt sich der entfaltende Bildraum einer determi-
nierenden Lesart. So müssen wir den Blick nur ein wenig heben, um zu sehen,
158 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

daß das Mädchen der Musikstunde den Kopf tatsächlich zur Seite gedreht hat
und dem Mann einen Blick zuwirft. Wir haben uns darin geirrt, daß sie sich
„voll und ganz ihrem Spiel widmet." Wir gehen vollkommen fehl in der An-
nahme, sie würde sich nicht für ihren Begleiter interessieren. In gewisser
Weise sind sie ein Paar, das zusammengehalten wird, deren Zusammenhalt
sich aber desto unsicherer und geheimnisvoller gestaltet, je länger wir das Bild
betrachten. Wendet sich das Mächen am Virginal dem Mann wirklich zu oder
wirft sie nicht eher einen heimlichen Blick in den Spiegel? Ist sich der Mann
an ihrer Seite überhaupt bewußt, angesehen zu werden? Heftet er seinen Blick
auf ihr Gesicht oder sieht er vielmehr daran vorbei ins Leere? Außerdem irri-
tiert die gerade Körperhaltung der Virginalspielerin, die sich nur schwer mit
der Spiegelung vereinbaren läßt. Vermeer hat seine Musikstunde mit einem
komplizierten Netz von Blickbeziehungen ausgestattet - Standorte müssen
gewechselt, Blickwinkel vermehrt, Aspekte koordiniert werden. Auch auf
diese Weise kann Raum entstehen und sich ausbreiten. Man beachte nur das
Spiegelbild an der Rückwand des Interieurs, das nicht nur das Gesicht des
jungen Mädchens, sondern auch einen Teil von Vermeers Staffelei sichtbar
macht. Aber es sind nur noch Bruchstücke, Fragmente der beiden Staffeleibei-
ne und ein hell aufleuchtender Teil der Rückwand, die im Spiegelrahmen
erscheinen und auf den ersten Blick gar nicht richtig auszumachen sind. Wir
erfahren solche Zusammenhänge nicht mehr über ganze Figuren oder Gestal-
ten, sondern über Schnitte, über Splitter und Facetten.

4:
Auch fallt der Betrachterstandpunkt nicht mit dem des Malers zusammen. Die Perspektivkonstrukti-
on des Interieurs beharrt auf einer tief gesetzten Sehachse des Betrachters, die für den Malakt viel zu
umständlich gewesen wäre. „Der Fluchtpunkt befindet sich senkrecht zur Staffelei; der Maler und der
Betrachter sind also in be/ug auf das Bild auf der gleichen senkrechten Achse plaziert. Dieser Flucht-
punkt ist jedoch sehr niedrig; die durch ihn festgelegte Horizontallinic befindet sich auf der Höhe der
unteren Fensterkante. Nähme man an, der Maler säße vor seiner Staffelei, könnte diese Position normal
erscheinen. Genau besehen aber, ist der Fluchtpunkt zu niedrig, um selbst dem Blick des sitzenden
Malers zu entsprechen: Die Höhe des blauen Stuhls, der sich in der Mitte befindet, bestätigt, daß dieser
Blick höher gerichtet wäre als der Fluchtpunkt." (Arasse (1996), S.76fj Ergab sich die Wahl der Hori-
zontallinie möglicherweise ganz zwangsläufig aus der Aufstellung einer camera obscura, die Vermeer
während seiner Bildkonzeption zu Rate zog? Oder ist sie als bewußtes kompositorisches Mittel mit
bestimmten Effekten eingesetzt worden? Die Aufstellung von Maler und Betrachter hat sich um Nuan-
cen verschoben - um Nuancen, die das Bezugsfeld der Darstellung entscheidend erweitern.
In der Musikslunde gibt es mehr als in anderen Interieurdarstellungen Vermeers räumliche Zuge-
winne durch vermehrte oder verschobene Blickachsen. Durch Philip Steadman wissen wir von der
ungefähren Aufstellung der Personen, des Virginais und der einzelnen Gegenstände besser Bescheid
(Steadman, Philip (1995 und 2001)): Weil man anhand der Fluchtpunktkonstruktion auf die Größen-
verhältnisse des Raumes rückschließen kann, war es möglich, das Interieur detailgetreu nachzustellen
und mit Vermeers Musikslunde zu vergleichen. Die Ähnlichkeit zwischen Bild und Rekonstruktion ist
erstaunlich, vor allem, wenn man die Schattenbildung an den Wänden oder an der Rückenfigur der
Virginalspielerin beachtet. Das Interessante aber ist, daß sich sein Raummodell nicht mehr nur von
Vermeers Blickwinkel erfassen läßt, sondern ein beliebiges Umherschweifen innerhalb des Zimmers
ERFÜLLTE RÄUME 159

Die Malkunst (Modell und Maler)

Eine niemals zur Ruhe kommende Welt - diese Behauptung steht in voll-
kommenem Gegensatz zu den stillen Innenräumen Vermeers. In der
Kunstgeschichte gibt es ein zusätzliches Begriffspaar, das auf solche Eigen-
schaften Bezug nimmt. Narrativ erscheint ein Gemälde, wenn es Geschichten
erzählt und raum-zeitliche Bezüge herstellt, deskriptiv, wenn die Handlung
angehalten wird, um das Aussehen der Dinge zu beschreiben. Ersteres bevor-
zugt einen aktivierten, letzteres einen kontemplativen Betrachter. Der Streit
zwischen Vertretern der Beredsamkeit und der Poesie in den Bildern oder der
zwischen Autonomie- und Relativitätsanhängern in der Kunst sind nur zwei
der vielen Varianten des berühmten Oppositionspaares. Vor allem die For-
schung zur altniederländischen und holländischen Malerei des 15. und 17.
Jahrhunderts teilte sich auf diese Weise in zwei Lager; mit Van Eyck und
Vermeer als den herausragendsten Figuren.
Dabei brachte die Diskussion einige hervorragende Bücher, Aufsätze und
Artikel hervor. Angefangen von Svetlana Alpers einschlägigem Werk über
Die Kunst der Beschreibung („Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhun-
derts") bis hin zu Norman Brysons Vision and Painting oder Didi-Hubermans
The Art of Non-Describing zieht sich eine jahrelang andauernde Kontroverse
über die richtige Art, ,an Vermeer heranzugehen.' Alle drei Autoren widmeten
sich eingehend der Malerei Vermeers und gelangten zu vollkommen unter-
schiedlichen Analysen. Svetlana Alpers beispielsweise nannte ihn einen
deskriptiven Maler, der „in einer Art hingebungsvoller Passivität" die undefi-
nierbare Natur der sichtbaren Welt feierte. Bryson hob den langgezogenen,
entkörperlichten Blick des Malers hervor („the bound with the viewer's phy-
sique is broken and the viewing subject is now proposed and assumed as a
notional point, a non-empirical Gaze"). Didi-Huberman wiederum widmete
sich dem anti-dcskriptivcn Farbauftrag in Vermeers Bildern („We arc repeat-
edly made aware of the painful fact that painting, though it has no hidden exits

erlaubt. Es läßt nicht nur die ungefähre Größe und Aufteilung des Zimmers erahnen, sondern auch den
Aufenthaltsort des Malers, der seine Entwürfe wahrscheinlich am anderen Ende des Raumes, in einem
leicht abtrenn- und verdunkelbaren Winkel konzipierte. Das zumindest ist die naheliegende Schlußfol-
gerung aus den sorgfältig durchgeführten Rekonstruktionsversuchen Steadmans. Darüberhinaus hat
sein Vergleich der Innenraumdarstellungen Vermeers in mindestens vier Fällen eine nahezu identische
Position des Malers ergeben: In der Briefeschreiberin, der Stehenden Virginalspielerin, der Musikstun-
de und dem Bostoner Konzert korrespondieren die abgeleiteten Basen der Sehpyramiden mit der
jeweiligen Bildgröße, was darauf schließen läßt, daß alle vier Gemälde im selben Raum und vom
selben Platz aus komponiert wurden. Doch ist es tatsächlich derselbe oder nur ein ähnlicher? Auf diese
Frage liefert auch der genaueste Rekonstruktionsansatz keine Antwort; ein Versuch, den Schauplatz
zwei frühen Gemälden, Vermeers Glas Wein und der Frau mit zwei Kavalieren zuzuordnen, ist schon
weniger überzeugend - und das, obwohl die Daten emeut übereinstimmen.
160 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

and shows everything at once on a single surface, possesses a stränge and


awesome capacity to dissimulate").

Was hier in Kürze erwähnt wurde, hat eine lange innerfachliche Vergangen-
heit und eine noch längere Geschichte innerhalb der abendländischen
Wertediskussion von Bildern und Darstellungen. Allerdings müssen wir eine
wichtige Unterscheidung beachten, auf die der spätere Antagonismus aufbau-
en konnte. Grundsätzlich verschieden fiel die Antwort auf die Frage aus, ob
sich Maler und Betrachter während des Wahrnehmungsvorgangs aktiv oder
passiv verhalten. Damit verknüpfte war die zusätzliche Frage, ob die Fläche
der Leinwand einem Fenster oder eher einem Spiegel gleichen würde. Das
Gegensatzpaar zog sich als roter Faden durch die gesamte Kunstgeschichte der
Neuzeit. Mit seiner Hilfe unterscheiden wir noch heute zwischen einer de-
skriptiven Malerei des Nordens und einer narrativen Kunst des Südens,
obgleich diese Aufteilung letztendlich auch innerhalb eines Gemäldes ange-
wandt werden kann und sich im weiteren als äußerst problematisch erweist.
Ich gebe einen Ausschnitt aus Svetlana Alpers Kunst der Beschreibung
wieder. „Albertis Bild (...) beginnt nicht mit der gesehenen Welt, sondern mit
einem Betrachter, der aktiv nach Gegenständen Ausschau hält - vorzugsweise
menschliche Figuren - , die sich im Raum befinden und deren Erscheinung
eine Funktion ihres Abstandes vom Betrachter ist: ,Wenn wir auf ein Ding
blicken, so sehen wir es als einen Gegenstand, welcher einen Raum ausfüllt.'
(...) Das Bild soll nicht Teil des Sehens sein, sondern eine Konstruktion des
Künstlers, ein malerischer Ausdruck, wie Alberti sagt, des Schnitts durch die
Sehpyramide in einem bestimmten Abstand vom Betrachter: „Als erstes
zeichne ich auf der Fläche, auf welcher ich malen will, ein Rechteck von be-
liebiger Größe, das ich als ein geöffnetes Fenster ansehe, das den Blick auf
den zu malenden Gegenstand freigibt; und ich entscheide, wie groß die Gestal-
ten auf dem Gemälde sein sollen.'" Wichtigstes Ziel der italienischen
Malerei sei die Inszenierung der istoria, einer Darstellung bedeutsamer
menschlicher Handlungen, die auf der Bühne des perspektivischen Kasten-
raums aufgebaut und von der Betrachterseite aus wie durch ein Fenster
wahrgenommen wird.
Ganz anders im Norden: Dort dominiert die „Aufmerksamkeit auf viele
kleine Dinge gegenüber wenigen großen; von Gegenständen reflektiertes Licht
gegenüber Gegenständen, die von Licht und Schatten modelliert sind; Beto-
nung der Oberfläche der Gegenstände, ihrer Farben und Materialität, anstelle
ihrer Lokalisierung in einem klar erfaßbaren Raum; ein rahmenloses gegen-

Alpers (1985), S.104f. Beide verwendete Zitate stammen aus Alberti, Leon Battista: On Painting and
Sculpture, übers, und hrsg. von Cecil Grayson, London 1972, S.67 und S.55
ERFÜLLTE RÄUME 161

Abb 49 Jan Vermeer. Maler und Modell (Die Malkunst), um 1673. Wien. Kunsthistorisches Museum
162 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

über einem eindeutig gerahmten Bild; ein Bild, das keinen eindeutig lokali-
sierten Betrachter hat, gegenüber einem Bild mit einem solchen Betrachter."
Dabei sind beide, Maler wie Betrachter, im besten Sinne des Wortes Rezipien-
ten. Sie nehmen die sichtbare Oberfläche der Welt auf, ohne sie zu verändern
oder zu durchdringen. Für sie ist die Bedeutung des Dargestellten untrennbar
mit der Oberfläche verschmolzen: „Ihre Bezugsfläche war kein Fenster nach
Art des italienischen Modells, sondern eher eine kartenartige Fläche, auf der
die Teile der Welt ausgebreitet lagen."
Ich habe Alpers sehr ausführlich zitiert, weil sich aus dieser Unterschei-
dung alles herleiten läßt, was für die Frage nach der Herangehensweise an
Vermeer wichtig geworden ist. Vermeer wurde von ihr zum bedeutenden Ver-
treter einer Kunst der Beschreibung erhoben. Unter der Überschrift
Kartographie und Malerei in Holland widmete Alpers ihm einen Großteil des
Kapitels. „Vermeers Allegorie der Malerei stellt einen vielversprechenden
Einstieg dar, denn hier haben wir ein Werk, das die Ähnlichkeit zwischen
Bildern und Karten besonders deutlich macht." So beginnt ihre Einleitung,
deren Verlauf ich nur noch zusammenfasse. Nach einer Beschreibung der
Darsteller und Requisiten des Gemäldes wendet sich Alpers der großen Land-
karte an der Rückwand des Zimmers zu. Das Territorium der nördlichen und
südlichen Niederlande wird links und rechts von den topographischen Ansich-
ten aller Provinzen flankiert. Unten erscheint ein erläuternder Text, oben
dagegen eine Schriftleiste, die in großen Lettern von der genauen Beschrei-
bung der Ländereien verkündet. Die Ähnlichkeit von Karte und Bild
hervorzuheben, ist Svetlana Alpers wichtigstes Anliegen: „Die Allegorie der
Malerei steht in der Spätzeit der holländischen Kunst und am Ende von Ver-
meers Karriere. Sie bildet eine Art Zusammenfassung und ein abschließendes
Urteil über das, was vorausgegangen war. Die schwebende und doch intensive
Beziehung zwischen Mann und Frau, die Verbindung verschieden gestalteter
Oberflächen, der häusliche Bereich - das war das Material für Vermeers
Kunst. Aber hier hat das alles Beweischarakter, und das ist nicht nur auf den
historisch überlieferten Titel, sondern auch auf die Förmlichkeit der Darbie-
tung zurückzuführen. Wenn diese Karte wie ein Bild präsentiert wird, mit
welcher Vorstellung von Malerei haben wir es dann zu tun? Vermeer deutet
selbst eine Antwort auf diese Frage an, wenn er das Wort ,Descriptio' so auf-
fällig an den oberen Rand der Karte schreibt, an dem es sich rechts vom
Leuchter, oberhalb der Staffelei entlangzieht. ,Descriptio' war einer der ge-
bräuchlichsten Ausdrücke zur Bezeichnung der Kartenherstellung.
Kartenzeichner oder Verleger nannte man ,Weltbeschreiber', und ihre Karten

Alpers (1985), S.219


Ebd., S.213
ERFÜLLTE RÄUME 163

oder Atlanten galten als Beschreibungen der Welt. Obwohl dieser Ausdruck,
soweit ich weiß, niemals auf ein Bild angewendet wurde, gibt es doch gute
Gründe, das zu tun. Das Ziel der holländischen Maler war es, einen großen
Teil an Wissen und Information über die Welt auf einer Bildfläche zu sam-
meln. In ihren Bildern verwendeten sie auch Worte. Wie die Kartenmaler,
stellten sie zusammengesetzte Bilder her, die nicht aus einem einzigen Blick-
winkel wahrgenommen werden konnten." 6
Karten und Bilder, so Alpers, gleichen sich ihrer Konzeption nach, vor
allem, wenn sie in einer Kultur entstehen, die sich ihr Wissen mehr durch
Bilder als Worte erworben hatte. Letztendlich sei das Bewußtsein einer Epo-
che in diesen aufwendig gemalten Oberflächen gespeichert. Es bedürfe keiner
erläuternden Texte, um den Sinn von Darstellungen zu verstehen. Und indem
sie das behauptete, berührte Alpers eines der Kernprobleme der Kunstwissen-
schaften. Wie nämlich kann die Welt, wie können Erfahrung und Wissen in
Bildern ausgedrückt werden? Indem sie in Symbole und Sinnbilder überführt
werden und sich die wahre Bedeutungsschicht hinter der gemalten Oberfläche
ansammelt? Oder genügt es, die Welt zu beobachten und mittels Pinsel und
Farbe kartographisch genau zu erfassen? Wer Alpers gelesen hat, weiß, wie
leidenschaftlich sie sich für die zweite Antwort einsetzte. Der von ihr geführte
Streit gegen die ikonographische Tradition der Kunstgeschichte ist berühmt
geworden. Und doch wurde er nicht vollständig ausgetragen. Das mag von
einer ungelösten Kernfrage herrühren, die Descartes ebenso beschäftigte wie
die heutigen Geistes- und Naturwissenschaften. Im 17. Jahrhundert hätte man
sich wahrscheinlich auf die rätselhafte Wechselwirkung zwischen Seele und
Körper bezogen, weil man trotz großer Bemühungen die Kontaktstelle zwi-
schen den physischen Außenreizen und dem menschlichen Bewußtsein nicht
finden konnte. Heute stellt sie sich als fundamentales Bindungsproblem dar:
Wie verknüpft man Teilaspekte eines Objektes zu einem Gesamteindruck?
Wie entsteht aus vielen Sinneseindrücken eines Gegenstandes das Bewußtsein
von diesem bzw. die Bedeutung dieses Gegenstandes? Kurz, auf welche Wei-
se entwickelt sich der Sinn sinnlicher Eindrücke?
„Früher dachte man noch, die Antwort sei einfach. Man glaubte, im Gehirn
gebe es an einer bestimmten Stelle eine Art innerer Leinwand, auf der das
Abbild eines Sinneseindruckes entsteht. Und dieses für Neuronen aufbereitete
Bild würde dann von einem inneren Betrachter angeschaut, der mit mentalen
Eigenschaften ausgestattet ist und ,Ich' sagt", erklärt Wolf Singer. „Nur leider
wissen wir inzwischen, daß diese Vorstellung falsch ist. Heute können wir
Hirnaktivitäten messen - und nirgends ist so ein Zentrum für den letztendli-
chen Auswertungsprozeß zu entdecken. Es gibt offensichtlich keinen

Ebd., S.2I9
164 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

einzelnen Ort, wo alle Informationen zusammenlaufen, wo aus den verschie-


denen Sinnessignalen schlüssige Bilder der Welt gefertigt werden, wo
Entscheidungen fallen, wo das Ich ,Ich' sagt. Stattdessen sehen wir uns einem
extrem dezentral organisierten System gegenüber, in dem an vielen Orten
gleichzeitig visuelle (...) Teilergebnisse erarbeitet werden. Und diese koordi-
niert das Gehirn auf geheimnisvolle Weise zu einer zusammenhängenden
Deutung der Welt. Wie es kommt, daß dieses System über sich selbst Proto-
koll fuhrt, so daß es sich seiner selbst bewußt wird, zählt zu den spannendsten
philosophischen Fragen unserer Zeit." Offensichtlich gibt es kein zentralper-
spektivisches Sammelorgan innerhalb unseres Bewußtseins, offensichtlich
kann auf kein festes Repertoire von Bedeutungen und Sinnschichten zurück-
gegriffen werden, offfensichtlich gibt es keine eindeutigen Wort-Bild-
Beziehungen. Wir mögen im Laufe unseres Lebens Erfahrungen gesammelt
und uns im Laufe der jahrtausendealten Zivilisationsgeschichte auf gemein-
same Bedeutungen geeinigt haben, die für sinnliche Erscheinungen die
richtigen Worte finden, sie identifizieren und interpretieren - so als wäre eine
runde rotgelbe Frucht nicht nur ein Apfel, sondern, um die Ikonographen zu
paraphrasieren, ein Symbol für das Ende der Unschuld und den Beginn der
Fruchtbarkeit. Die vermeintliche Objektivität erleichtert das Zusammenleben
und läßt Kommunikation entstehen. Ein Apfel bedeutet ... - wir sind in die
altbekannte Mentalität zurückgefallen, die viel zu schnell mit Ist-Gleich-
Zeichen operiert, statt sich nach dem Entstehungsweg von Identifikationen
und Bedeutungen zu fragen. Was wir heute wissen und nicht mehr vergessen
dürfen, ist die Tatsache, daß „Wahrnehmung immer die Folge eines erwar-
tungsgesteuerten Suchprozesses ist." Das menschliche Gehirn reagiert auf
Erregungsmuster, einfache Merkmale wie Orientierungen, Kontraste, Textu-
ren, und „beginnt ein kombinatorisches Spiel, vergleicht diese Informationen
mit bereits gespeicherten Gedächtnisinhalten. Wenn dort etwas Ähnliches
vorhanden ist, stellt sich plötzlich ein stabiler Zustand ein, der dann nicht nur
zu einer bewußten Wahrnehmung führt (...), sondern auch vom Sprachzentrum
aufgegriffen werden kann und dort unter den vielen möglichen Benennungen
die richtige raussucht."48 Die kulturell erarbeitete und akzeptierte Benennung,
müßte man dem noch hinzufügen.

Was bedeutet das für die Kunstwissenschaften und ihre Diskussion um die
Wechselwirkung von Bild und Bedeutung? Zum einen erfordert es die Erfor-
schung des historischen Umfelds, weil die Bedeutung in Bildern ohne die
Kenntnis raumzeitlicher Vorgänge und die sprachliche Einigung bestimmter

Interview mit Wolf Singer, Max-Planck-Institut, Frankfurt, 2001


Ebenda
ERFÜLLTE RÄUME 165

Gesellschaften und Gruppen nicht herausgefiltert werden kann. Doch soll sie
überhaupt herausgefiltert werden? Svetlana Alpers würde dies verneinen. Sie
verhält sich dem inhaltlichen Exzerptionalismus der Kunstgeschichte gegen-
über äußerst mißtrauisch. Die unbestreitbare Stärke ihres Buches liegt darin,
gewohnte Hierarchien nicht einfach nur anzuzweifeln, sondern auch die ent-
scheidenden Argumente an der Hand zu haben. Die nordische Malerei des 15.
bis 17. Jahrhunderts, so Alpers, verdanke sich einer Sehkultur, bei der Er-
kenntnis bereits auf visuellem Weg - ohne die Suche nach objektiven
Wahrheiten hinter der Oberfläche - entstehen würde. Solche Aussagen muß
man sich tendentiell denken. Grundsätzlich laufen sie darauf hinaus, die in-
haltliche Bedeutung einer Darstellung nicht dominieren zu lassen, obwohl das
Bild ganz sicherlich eine Bedeutung hat. Sie ist in die materiell gearbeitete
Struktur der Oberfläche eingebettet, sie wird während der Bildherstellung und
der Bilderbetrachtung produziert, und zwar an jeder einzelnen Stelle bzw. im
Beziehungsgeflecht des Bildes.
Wie hat man sich das vorzustellen? Ich kehre noch einmal zu Wolf Singer
zurück, der als Wahrnehmungsforscher zu dem Schluß kam, jeder kognitive
Bewußtseinsstrom müsse über wesentlich komplexere Koordinationssysteme
als einfache Reiz-Reaktions-Mechanismen verfügen: „Das mag ein oszillie-
rendes Ensemble sein, das hochsynchron schwingt, oder ein bestimmter
Zustand in einem hochdimensionalen Raum, den ein nicht-lineares System
aufsuchen kann, oder es kann irgendeine andere, komplizierte Beschreibung
von in jedem Fall dynamischen Zuständen sein." Auf die kunstwissenschaft-
liche Frage angewandt heißt das, auf der Suche nach Bedeutungen alle
linearen Bezugssysteme über Bord werfen zu müssen. Der Glaube an zwei
eindeutig aufeinander bezogene Referenzebenen, wie weit er auch geführt
haben mag, unterschätzt das variable Zusammenspiel, die ständige innere
Bewegung, die ganze poetologische Anstrengung, die zu zusammenhängenden
Sinnbezügen, zu Sprache und Sätzen oder gar zu Interpretationen der sichtba-
ren Welt führen kann. Oftmals wissen wir mehr, als wir in einem Moment
sagen können, und zwar allein aufgrund der Zusammenhänge, die sich blitzar-
tig einstellen. Wenn wir Bilder als zusammengesetzte, nicht von einem
einzigen Blickwinkel aus wahrnehmbare Darstellungen verstehen, läßt sich
viel besser begreifen, warum wir unmöglich weiterhin von Abbildern sprechen
können, obwohl gerade das 17. Jahrhundert alles daran setzte, eindeutige Re-
ferenzen zu schaffen. Der Spiegel zum Beispiel war in dieser Zeit ein
wichtiges Demonstrationsmittel, weil das reflektierte Bild Punkt für Punkt auf
eine Ursache - ein Vorbild - Bezug nehmen konnte. Dieses war primär anwe-
send, sein Abbild kam erst hinterher, es war sein Schatten. Genauso aber

Singer (2001), S.158


166 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

dachte man sich das Bild als Schatten seiner Bedeutung, und die Bedeutung
als lichtspendendes Element. Dennoch hat es diese stabilen Systeme trotz aller
Anstrengungen früherer Zeiten niemals gegeben. Der Realismus der Neuzeit
war ein auf Deckungsgleichheit basierendes Konstrukt, das auf einer kulturel-
len Vereinbarung basierte. Was wir durch Alpers Ausführungen gewonnen
haben, ist ein Verständnis für die zeitliche Parallelität der Zentralperspektive
(der Fenstermetapher) und ihrer dezentralen, multikombinatorischen Alterna-
tive (dem Spiegel, der Landkarte) - Newton und Leibniz sozusagen einmal
wirklich als Zeitgenossen begriffen.

Indem wir die beiden Alternativen gegenüberstellen, begehen wir im gleichen


Moment denselben Fehler, Oppositionen zu bilden, anstatt die komplexe
Struktur eines Bildes dynamisch aufzulösen. Darin liegt die Schwierigkeit des
Faches Kunstgeschichte. Die Vertreter der neuzeitlichen Kunsttheorie haben
so lange und so intensiv an einem stabilen Zustand zwischen Vorbild und
Abbild oder Bild und Begriff gearbeitet, daß wir Bewegungsmotive nur mehr
schwer erkennen können. Außerdem haben wir gerade in der holländischen
Kunst allzu lange und bereitwillig die materielle Komponente, den Farbauf-
trag, den Prozeß der Bilderherstellung und selbst das historische Umfeld
vernachlässigt. Wir kennen die Umstände der Enstehung eines Historienge-
mäldes, Portraits, Genrebilds, einer Landschaft oder eines Stillebens viel zu
wenig. Wie wurden sie damals wahrgenommen, welche Zusammenhänge zu
den Vorstellungen und Gebräuchen des 17. Jahrhunderts, zum Handwerk und
den Techniken der Maler, zu den Epen und Theaterdichtungen, der Musikkul-
tur, den Wissenschaften und der Religion kann es gegeben haben? Zu den
Vermessungslehren? Den Kriegsstrategien? Dem Bildungswesen? Die neue-
ren Kenntnisse müssen uns weiter führen, als zwischen einer Sinneskultur der
nördlichen Kunst und einer Textkultur der südlichen zu unterscheiden. Sie
müssen beide innerhalb eines Bildfeldes in Verbindung gebracht werden.
Die weiße Leinwand ist keine tabula rasa oder blankpolierte Spiegelfläche,
kein ideales Medium im Sinne der Schöpfungs- und Reproduktionsmythen,
die sich zu diesem Zeitpunkt bereits überlebten. Das Auge des Malers und das
des Betrachters, sie beide unterliegen jenen erwartungsgesteuerten Suchpro-
zessen nach Bedeutung und Sinn, die aus jeder Wahrnehmung einen gelenkten
Eindruck hervorgehen lassen. Bei aller Passivierung des Sehvorgangs in den
optischen Wissenschaften des 17. Jahrhunderts sind die Tätigkeitsmuster na-
türlich weiterhin vorhanden. Und es führt allzuschnell in die Irre, über die
Sehkultur einer Zeit zu reflektieren und zu dem Schluß zu kommen, sie sei in
hingebungsvoller sinnlicher Passivität versunken, wenn nicht gleichzeitig

Siehe dazu auch Castor (1996)


ERFULLTK RÄUME 167

hinzugefügt wird, daß diese Passivität einem Theoriegebilde der Zeit und
keinesfalls den realen Verhältnissen entsprach. Das ist ein Vorwurf, den man
Svetlana Alpers zu Recht gemacht hat, denn sie zitiert zuweilen aus Passagen,
die auf direktem Weg auf Friedländers Wort vom interesselosen Maler, und
damit auf Hegel und Kant zurückgehen: Vermeer sei „vollkommen interesse-
los, seine Beobachtung der Farbtöne ganz unpersönlich und doch so
eindrucksstark."51 Allerdings, auch Descartes oder Kepler sind Vorreiter ob-
jektivierender Wahrnehmungstheorien, und so behält der Satz seine
Richtigkeit, solange man ihn im Rahmen barocker Sehmodelle verwendet.
Alpers hat dies getan, aber zu wenig deutlich hervorgehoben, daß sich eine
durch genaue Beobachtung und genaues Handwerk gewonnene Darstellung
auch im holländischen 17. Jahrhundert in keinem stabilen Zustand befand. Wir
müssen solche Aussagen mühsam herauslesen, wenn es am Schluß über Ver-
meer heißt, er habe in den späten Gemälden sichtbar vor den Ansprüchen
seiner Zeit kapitulieren müssen: „Die rautenförmigen Pinselstriche, die seine
letzten Werke zusammenstückeln, signalisieren jenen Spalt zwischen der Welt
und dem Bild der Welt, den die holländische Malerei fast perfekt zu schließen
gelernt hatte." 52
Das angestrebte Kräftegleichgewicht ging in dem Moment verloren, in dem
sich eine Seite nicht mehr problemlos über die andere schieben ließ. Sehen wir
uns dazu Vermeers Darstellung der Malkunst an (Abb.49). Links, in den Hin-
tergrund gerückt, steht das junge Modell mit den Utensilien, die sie als
darstellende Muse der Geschichtsschreibung benötigt. Rechts der Maler mit
Staffelei und Leinwand. Im übrigen haben wir jene mit einem Vorhang geöff-
nete Kammer vor uns, die dem geöffneten Betrachterauge entspricht. Doch
sind das alles Parallelen, bei denen der Spalt nicht vollkommen überbrückt
wurde. Den ,throb or beat or pulse' zweigeteilter Räume finden wir auch in
der Malkunst. Ein Stuhl im linken Vordergrund lädt ein, Platz zu nehmen, oder
verbarrikadiert den Bildraum, je nachdem, welcher Lesart wir den Vorzug
geben. Aber er befindet sich in beiden Fällen auf einer labilen Scheidegrenze
zwischen Innen- und Außenraum. In gewisser Weise steht er für die ästheti-
sche Grenze des gesamten Bildfelds, die im Zeitalter progressiver
Wirklichkeitsannäherung darum bemüht ist, Natur und Kunst gegeneinander
auszubalancieren. Eintreten oder Zurückstehen - keine dieser Möglichkeiten
dominiert. Wir können daraus schließen, daß den Malern des 17. Jahrhunderts
und daß Vermeer die prekäre Vermittlungsstellung eines realistischen Gemäl-
des wohl bewußt war.

M
Alpers (1985),S.97. Das Zitat stammt aus Gowings Studie über Vermeer.
' : Ebd., S.368
168 ZWEI BAROCKE RAUMMODELLE

Vermeer als Kinetiker müßte uns viel mehr beschäftigen als die statische Ei-
genschaft seiner Innenräume. Als Norman Bryson der westlichen Kunst das
Bewegungsmotiv absprach, tat er das, um eine traditionelle Denkrichtung der
Kunstgeschichte zu kritisieren. Der Fehler der sogenannten Abbildtheoretiker,
so Bryson, bestand darin, ein Gemälde hauptsächlich als Ergebnis einer opti-
schen Wahrnehmung zu verstehen. Eine unhistorische Betrachtungsweise
faßte die gesamte Entwicklung realistischer Malerei in negativen Schritten
zusammen als eine Kunst, die ihre eigene Materialität und Beweglichkeit in
Schritten abstriff, um der Wirklichkeit nahezukommen. Kunst als Echo von
etwas Dagewesenem versteckte ihren Status als Produktionsstätte, lautet Bry-
sons Schlußfolgerung. Sie verleugnete den Werkprozeß, das soziale Umfeld,
die vielen unruhigen Transportbewegungen zwischen den Elementen des Bild-
feldes und der Außenwelt. Das wiederum führte zu einer Beschreibung von
Bildern, die mit dem eigentlichen Sachverhalt wenig zu tun hatte.
Wenn es eine Kraft in Bildern gibt, dann nur, weil ihre Aufgabe über die
der statischen Repräsentationskunst hinausgeht. Allein durch die Arbeit des
Rezipienten, durch die Umwandlung der Zeichen auf der Oberfläche des Ge-
mäldes, entfaltet sich der Erkenntnisprozeß. Wenn es Kraft in den Bildern
gibt, so weil die Bedeutung im Laufe einer Bilderbetrachtung produziert und
nicht einfach nur abgefragt wird. Bereits das tastende Auge ist daran beteiligt.
Es stellt alles andere als ein passives Empfangsorgan mit neutral vermitteltem
Informationshaushalt dar, sondern verhält sich von Anfang bis Ende wie ein
Teil des menschlichen Körpers samt seiner Psyche.
Erstaunlicherweise zieht Bryson diese Behauptung gerade bei Vermeer
zurück. Er ist der Ansicht, seine Malkunst stehe paradigmatisch für die Ent-
wicklung der abendländischen Kunst, den Blick des Betrachters an einen Ort
zu bannen, die Zeit anzuhalten und stillzustellen. Wir stoßen auch jetzt auf das
altbekannte Diktum der Interesselosigkeit, mit dem Vermeer seit seiner Wie-
derentdeckung ebenso ausgezeichnet wie kritisiert wurde. Brysons Argumente
lauten wie folgt, und sie sind nicht leicht zu widerlegen: Während Alberti und
die italienischen Maler des 15. Jahrhunderts die Position des Betrachters zwar
fixierten, so wenigstens in Einklang zwischen Maler und Betrachter. Beide
teilten sich den gemeinsamen Sehstrahl zwischen Aug- und Fluchtpunkt der
zentralperspektivischen Konstruktion und wurden Teil eines fließenden
Raumkontinuums. Vermeer aber setzte den Maler seiner Malkunst nicht auf
diese vermittelnde Achse, sondern rückte ihn leicht nach rechts. Der Betrach-
ter fühlt sich auf einen Platz vor dem Bildfeld verbannt. Sein Seherlebnis
differiert erheblich von dem des Malers und erschwert die Eingewöhnung in
die dargestellte Situation - kurz, er wird zum registrierenden Beobachter einer

Bryson (1983), S.170f


ERFÜLLTE RÄUME 169

Handlung, die mit seiner persönlichen Situation wenig zu tun hat. Was in die-
sem Zusammenhang kritisiert wird, ist die Absonderung des Gemäldes als
autonomes Gebilde von einem ebenso als selbständig zu geltenden Betrachter.
Vermeers Malkunst erscheint im Licht bürgerlicher Autonomiegedanken von
Anfang bis Ende als beziehungsloses Kunstprodukt, und es ist unschwer zu
sehen, wie mühelos sich die Bildstruktur mit diesem Ansatz aufschlüsseln
läßt: Die in Klausur lebenden Bildfiguren Vermeers, die Draperien, Vorhänge,
Bildbarrieren, der isolierte Betrachterstandort, die Benutzung einer camera
obscura.
Die Argumente können jedoch nur greifen, wenn man sie innerhalb eines
starren Gefüges zu Ende denkt. Sobald man visuelle Energie aus einer sprung-
haften Standortverteilung und weniger aus einem Raumkontinuum schöpft,
lassen sie sich problemlos in ihr Gegenteil verkehren. Es hat wenig Sinn,
Vermeer den verschobenen Betrachterpunkt innerhalb seiner Malkunst vorzu-
werfen, solange man den Zweck dahinter verkennt und annimmt, Vermeer
habe einen distanzierten Blick des Betrachters erreichen wollen. Denken wir
nur an den Stuhl, der an die vordere Kante des Bildraums gerückt wurde. Bry-
son hat ihn nicht genügend beachtet, als er von einem entkörperlichten
Betrachter sprach. Natürlich kann lediglich ein Augenzeuge auf diesem Stuhl
Platz nehmen. Aber daß er dazu aufgefordert wurde, kommt einer einladenden
Geste des Malers gleich, ihm während des Werkprozesses über die Schulter zu
schauen.
Nur weil das neuzeitliche Bild eine fertige Syntax anbietet, bedeutet es
nicht, die syntagmatische Bewegung sei während des Werkprozesses oder
Rezeptionsvorgangs verlorengegangen. Im Idealfall werden beide Hälften
einander ebenbürtig gegenüberstehen - und damit ruhig gegenüberstehen. Der
Fehler liegt darin, die Kunst des langsamen Auspendeins zu übersehen, die
Vermeer mehr als jeder andere seiner Zeitgenossen beherrschte, und anderer-
seits ebensosehr zu vergessen, wie leicht das Gefüge in Bewegung
rückübersetzt werden kann. Dann geschieht etwas für Vermeer sehr Charakte-
ristisches: Anstelle ein sicheres Terrain anzubieten, mit deutlich erkennbaren
Gegenständen, Handlungen und Figuren, verzögerte Vermeer die Identifizie-
rung. Zurück bleibt das ungewisse Gefühl, niemals genau zu wissen, wo wir
uns befinden, wem wir beim Tun zusehen, worin dieses Tun besteht und war-
um es ausgeübt wird, kurz, was denn das Bild überhaupt darstellt.
170 VERMEER UND DIE FARBE

Abb.50: Jan Vermeer, Spitzenklöpplerin (Ausschnitt), um 1669/70. Paris Louvre


3 | V E R M E ER U N D D I E F A R B E
Auf der Suche nach Berührung

Stellen wir uns diese Frage erneut vor Vermeers Malkunst (Abb.49). Was
genau sehen wir? Einen Maler und ein Modell, wobei nicht ganz klar ist, ob
der Maler das Modell ansieht oder sich der vor ihm stehenden Leinwand zu-
wendet. Die gedrehte Kopfhaltung und die Art, wie das einfallende Licht auf
das Haar des Malers fällt, lassen die erste Lesart plausibler erscheinen, aber
bei längerer Betrachtung gewinnt die zweite an Wahrscheinlichkeit und
zwingt uns, die Tätigkeit des Malers zu überdenken. Rastet seine Hand auf
dem Malstock oder setzt sie zu einem Pinselstrich an? Ist er versunken oder
arbeitet er hingebungsvoll an seinem Bild? Beide Deutungen konkurrieren,
und weil wir das Gesicht nicht sehen können, bleibt die Antwort bis ganz zu
Ende offen. Wer ist dieser Maler überhaupt? Daß wir ein Selbstportrait Ver-
meers vor uns haben, legt uns die Provenienz des Gemäldes nahe. Aber selbst
wenn es zu Lebzeiten Vermeers ein Leichtes gewesen wäre, die Figur des
Malers zu identifizieren, so präsentierte Vermeer auch diesem Publikum eine
Rückenfigur, der alle portraithaften Züge fehlen.
Wir stellen fest, daß es Vermeer nicht immer wichtig war, Dinge und Men-
schen so wiederzugeben, daß sie für uns eindeutig oder jederzeit erkennbar
sind. Es ist oft bemerkt worden, wie wenig genau Vermeer die Hand des Ma-
lers in der Malkumt ausformulierte. Es war Gowing, der sie erstmals als
unförmige ,Knolle' beschrieb, so sehr lösen sich ihre Konturen im hellen Ta-
geslicht auf. Ebenso gesättigt, einen phosphorizierenden Glanz um sich
verbreitend, liegt eine Maske auf dem seitlich aufgestellten Tisch. Die ikono-
graphische Tradition hat sie als Maske der Muse Thalia und die Bücher
daneben als Attribute ihrer Schwestern Polymnia und Euterpe gedeutet, wäh-
rend das Modell mit Buch und Fanfare Clio, die Muse der
Geschichtsschreibung, darstellt. Aber es sind schwerfällige Versuche, der
lichtdurchtränkten Oberfläche einen Sinn abzugewinnen. Dasgleiche gilt für
die Figur des Malers. Hören wir dazu Lawrence Gowing: „It is improbable",
schreibt er, „that Vermeer yields, in any simple sense, Information here of the
way in which he worked. It would be unlike him to do so. There is something
in the stolid, ingenuous manner in which this artist sets about his canvas to
suggest that his purpose, as usual, was nearer to dissimulation" Vermeer hält
Information zurück, wo andere Maler akribisch genaue Details abliefern. Ob-
wohl wir dem Maler über die Schulter sehen und einen guten Teil der
Leinwand überblicken, bleibt die Entstehung des Gemäldes unerklärlich. Es
gibt kaum eine Vorzeichnung oder Kontur, sondern nur den begonnenen Lor-

Gowing(1952)
172 VF.RMLER UND D1K FARBK

beerkranz der Ruhmesgöttin Clio. Wir sehen, daß der Maler den Pinsel nur
dazu benutzt, mit weichem Strich Farbfläche neben Farbfläche zu legen.
Auch die Malkunst entstand auf diese Weise. In keinem einzigen Gemälde
Vermeers, auch in diesem nicht, ist unter der Lasurschicht eine Vorzeichnung
zu erkennen. Mit geradezu rätselhafter Sicherheit verdichtet sich eine An-
sammlung heller Beige- und Ockertöne zur Hand des Malers, fließen die Züge
der Maske übergangslos ineinander und gleichen einer bewegten Landschaft,
einer aufgeworfenen Oberfläche, einem menschlichen Gesicht. Überhaupt ist
die Farbe so flüssig aufgetragen, daß sie gerade erst ins Stocken geraten zu
sein scheint. Ich erinnere an den marmorierten Fliesenboden in Vermeers
Musikstunde zurück, der bei längerer Betrachtung ins Schlingern geriet, oder
an die seltsame Türfüllung im Liebesbrief, deren Maserung sich als fleckiges
Liniengeflecht einer Landkarte entpuppte. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele
für den Effekt nasser Farbe. Gowing bemerkte beispielsweise ganz richtig, wie
die bei anderen Malern zum Knistern gebrachte Seide der Gewänder bei Ver-
meer an Härte und Glanz verliert. Die blaue Stoffbahn, in die sich das junge
Modell der Malkunst hüllt, erfüllt uns mit Erinnerungen an weichere Stoffe als
Seide, an samtige Oberflächen, Lack oder den Schmelz von Glasuren. Die
Tücher auf dem Tisch hängen schwer herab, als ob sie durch Wasser gezogen
wurden. Aber es sind nicht nur harmlose Assoziationen, die sich einstellen.
Bereits 1921 bemerkte Jean Louis Vaudoyer „diese Schwere, diese Dichte,
diese Langsamkeit des Materials in den Bildern Vermeers, diese dramatische
Kompaktheit." „Die Farbe und das Material eines Gemäldes erfüllen die sinn-
liche Begierde, die Aussicht auf Genießbarkeit, die uns immer ein wenig
antreibt, wenn wir ein Museum besuchen", kommentierte er zuerst noch ganz
allgemein die unbeschreibliche Wirkung der Farbe in Bildern. Dem folgt eine
der kuriosesten und zugleich interessantesten Passagen, die je über Vermeer
geschrieben wurden. „Diese Köstlichkeit des Materials und der Farbe geht bei
Vermeer nach dem ersten Kosten (wenn man so sagen kann) schnell über die
erste Befriedigung des Feinschmeckers, des Liebhabers einer guten Küche,
hinaus. Selbst wenn die Vermeersche Farbe sorgfältig aus einer glatten und
gewandten Masse geknetet ist, die gewissermaßen ,geköchelt' hat, bleibt sie
trotz dieses leidenschaftlichen Auftragens, dieser geschickten Gewissenhaftig-
keit, dieser emsigen Akribie natürlich. Nachdem sie zunächst an Dinge denken
läßt, die man berührt, wie Emaille oder Jade, Lack oder poliertes Holz, dann
an Dinge, die man durch komplizierte und leckere Rezepte erlangt, wie Sahne,
Brühe oder Likör, bringt sie uns schließlich dazu, an die lebenden Dinge der
Natur zu denken: den Kelch einer Blume, die Hülle einer Frucht, den Leib
eines Fisches, das glänzende Auge bestimmter Tiere und vor allem an die
Quelle des Seins selbst, nämlich an Blut." So konsequent hat seither niemand
mehr versucht, die sinnliche Präsenz der Bilder Vermeers in Worte zu fassen,
und Vaudoyer entschuldigte sich im Anschluß sofort für die scheinbar unpas-
AUF DFR SUCIIi: NACH BKRÜHRUNG 173

senden Vergleiche. „Wenn dies bei dem Genie, das uns hier beschäftigt, ei-
genartig und unerwartet anmutet, so sei gleich angemerkt, daß, wenn uns
Vermeer auch an Blut denken läßt, er doch so gut wie nie rote Farbe verwen-
det. Blut wird hier nicht durch seinen Farbton heraufbeschworen, sondern
durch seine Substanz. Das wäre dann, wenn man so will (...) gelbes, blaues,
ockerfarbenes Blut. Diese Schwere, diese Dichte, diese Langsamkeit des Ma-
terials in den Bildern Vermeers, diese dramatische Kompaktheit (...)
verschaffen uns oft eine Empfindung, die derjenigen ähnelt, die man verspürt,
wenn man die glänzende und wie von fettem Lack bedeckte Oberfläche einer
Wunde sieht oder den Fleck auf den Fliesen einer Küche, erzeugt durch das
tropfende und sich ausbreitende Blut eines darüber hängenden Wilds. Es ver-
steht sich von selbst, daß dieser Vergleich - widerwärtig und unhöflich, drückt
man ihn in Worten aus, wie wir es hier zu tun gezwungen sind (und wofür uns
verziehen sei) - ganz anderer Natur ist, wenn man ihn empfindet."2

Wenn wir den Zeilen Vaudoyers zuerst noch ein wenig irritiert oder ablehnend
gegenüberstanden, so ändert sich dies mit einem Blick auf ein bestimmtes
Gemälde Vermeers. Tatsächlich muß man das Mädchen mit rotem Hut nur
streifen, um die erregende Kraft der Farbe wahrzunehmen und festzustellen, in
welch liquider Form sie uns verabreicht wird. Im übrigen wird es dabei nicht
bleiben, wir werden fasziniert davor stehenbleiben. Die Fasern des flammend-
roten Huts zerstieben am Rand zu Wischern und Tupfen, die sich auf dem
dunklen Untergrund als reine Farbe gebärden. Noch deutlicher zeugen die
glänzenden Lichtflecke auf Nase, Lippen, Augen oder das aufleuchtende Weiß
im Mundraum vom Prinzip der Feuchtigkeit, welches Vermeers Gemälde
leitmotivisch durchzieht. Seine Bilder bergen eine in helles Licht und feuchte
Farbe getränkte, eine gesättigte Welt. Die Nähe, die Vaudoyer zu kulinari-
schen Genüssen zog, ist deshalb nicht falsch oder irreführend, weil sie auf
einem Vergleich basiert, den wir schon bei Descartes kennengelernt haben:
Wir nehmen die Dinge um uns auf, wir trinken Bilder. Jeder Blick erscheint
als sublimierte Berührung oder Einverleibung; es ist die zivile Art und Weise,
sich körperlich auszutauschen. Letztendlich jedoch klingt eine Begierde nach
Berührung an, die jeden kulturellen Rahmen zu sprengen droht. Das macht
Vermeers Gemälde zu mehr als Darstellungen bürgerlicher Häuslichkeit -
eben auch zu Darstellungen ihrer eigenen Subversivität. Selbst die beruhigte-
sten Szenen zwischenmenschlicher Kommunikation, die Übergabe oder das
Lesen eines Briefs, eine Musikstunde, ein Malakt scheinen auf der Oberfläche

" Vaudoyer, Jean Louis: Geheimnisvoller Vermeer. in: L'Opinion, 30.April, 7. Und 14. Mai 1921. Den
zusammenhängenden Text auch in Daniel Arasse (1996), S.195ff, der diesem Artikel erstmals beson-
dere Wichtigkeit beimaß.
174 VERMEER UND DIE FARBE

Abb.51: Jan Vermeer. Mädchen mit rotem Hut, um 1666/67, Washington, National Gallery- of Art
AUF DKR SUCHE NACH BERÜHRUNG 175

Abb.52: Jan Vermeer. Mädchen mit Perle, um 1665. Den Haag. Mauritshuis
176 VERMEER UND DIE FARBE

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Abb.53: Jan Vermeer. Brieflesendes Mädchen (Detail), um 1657. Dresden, Gemäldegalerie


AUF DFR SUCIIF. NACH BF;RÜHRUNG 177

wegzurutschen und jenen haltlosen Moment hervorzurufen, den wir in jedem


Gemälde Vermeers bemerkt haben. Ein Grund dafür ist die Tatsache, daß der
flüssige Farbauftrag den gewohnten illusionistischen Effekten entgegenarbei-
tet. Wenn wir dessen Dichte, Schwere und Materialität ebenso wahrnehmen
wie seine Aufgabe, Gegenstände zu repräsentieren und Raumtiefe zu erzeu-
gen, dann verwirren sich zwei ganz entscheidene Elemente einer
Bilddarstellung. Nähe und Ferne, Fläche und Raum konkurrieren in dem Mo-
ment miteinander, in dem die Farbe nicht nur eine mimetische Funktion
erfüllt, sondern auf der Bildfläche als eine materielle Substanz erscheint. Wie
alles, das sich berühren läßt, drängt sie in den Vordergrund, während ihre
Aufgabe möglicherweise gerade darin besteht, einen Gegenstand in der Ferne
zu markieren.
Kommen wir in diesem Zusammenhang auf Vermeers Darstellung eines
Brieflesenden Mädchens am geöffneten Fenster (Abb.53) zu sprechen. Das
gereizte Verhältnis von Nähe und Ferne war dort besonders ins Auge gesto-
chen. Die raumlogisch tiefste Stelle des Bildes fiel mit der Kante des
Vorhangs zusammen. Dessen in Bronze-, Gold- und Olivtönen schimmernde
Oberfläche verlockte zur Berührung. Tatsächlich ist es die opake Qualität der
Farbe, die, in den frühen Gemälden etwas spröde und rauh aufgetragen, hapti-
sche Qualitäten aufweist. Man glaubt, die Beschaffenheit des Stoffs durch
bloßes Sehen fühlen zu können. Das gesamte Bild wird uns auf diese Weise in
die Hände gespielt. Vaudoyer hat ganz allgemein eine Diskrepanz zwischen
den ruhigen, abwesend erscheinenden Figuren Vermeers und ihrer farbigen
Präsenz festgestellt. „Vermeers Meisterwerke sind seine ,Interieurszenen'",
beginnt er und fährt fort, indem er nach der eigentlichen Aktivität in den Bil-
dern fragt: „Das Wort ,Szene' suggeriert eine Aktion; bis auf wenige
Ausnahmen aber kann man sagen, daß sich in Vermeers Bildern nichts ereig-
net. Und vielleicht liegt einer der Gründe für ihr Prestige in dem Kontrast
zwischen den unbeweglichen, stillen, in ruhigen Innenräumen lebenden Per-
sonen und dieser Leidenschaft, dieser Tyrannei der Farben, die auf ihnen lastet
und von denen sie dominiert, behext, unterdrückt scheinen." Vaudoyer
schließt diese Behauptung mit folgenden Worten: „Ein Gelb und ein Blau
werden in den Rang von Personen erhoben; sie sind bei Vermeer die wahren
Akteure des Dramas. Die Pinsel des Malers (...) lassen sie eine Rolle spielen,
ohne die die Bilder nur mehr eine ,Dame bei ihrer Toilette' oder eine ,lesende
Frau' wären." Wenn wir diese Beschreibung auf Vermeers Brieflesendes
Mädchen am geöffneten Fenster beziehen, können wir seiner Dramaturgie
eine neue Seite abgewinnen. Sehen wir uns nur das Blatt Papier an, das sie in
den Händen hält. Sie berührt weniger einen Brief als ein flüssiges Rinnsal

Ebd., S.202
178 VERMEHR UND DIE FARBK

weißer Farbe, der sich auf dem dunklen Untergrund verdichtet und verengt.
An der breiteren Stelle können wir die unruhig wirbelnden Pinselstriche des
Malers erkennen, während, wo es enger wird, winzige Farbpunkte aufliegen.
Sie wirken so schwer und substantiell, daß einer davon am Ende des Blattes
herabzutropfen droht. Jede Nahaufnahme zeigt, wie ähnlich helle Farbflecken
die Haarlocken des Mädchens beschweren, die Falten des Kleids aufwühlen
oder die Knöchel ihrer Hand hervortreten lassen. Diese Stellen weisen nicht
nur eine unruhige Oberfläche auf, sondern eine provozierende, auf den Be-
trachter zielende Materialität. Die gesamte Wandfläche des Hintergrunds
besteht aus einer ähnlich gekörnten Farbschicht wie der zur Seite gezogene
Vorhang im Vordergrund. Im übrigen zeigen beide ein durch zu große Ober-
flächenspannung hervorgerufenes Krakelee - die Kunst der flächendeckenden
Illusion ist in diesem Fall an ihre technischen Grenzen gestoßen. Es gibt einen
grundlegenden Konflikt zwischen Wirklichkeitsanspruch und farbiger Reprä-
sentation. Was dargestellt werden soll und die Mittel, die dazu verwendet
werden, zwischen diesen beiden Welten öffnet sich ein Spalt, „den die hollän-
dische Malerei fast perfekt zu schließen gelernt hatte", den Vermeer aber
eigentlich niemals wirklich schließen wollte.

Der Farbauftrag ist ein Grund, warum, wie Vaudoyer behauptete, „unsere
Herzen gequält werden", wenn wir Bilder Vermeers betrachten. Genauge-
nommen hatte er diesen Satz hinsichtlich des berühmten Mädchens mit Perle
geschrieben, aber ich glaube, er trifft einen allgemeineren und tiefergehenden
Sachverhalt. Vom jungen Vermeer gibt es eine Darstellung der Diana mit
ihren Gefährtinnen, bei der man annimmt, daß sie während oder allenfalls
kurz nach Beendigung seiner Lehrzeit entstand. Sie gehört zu den wenigen
mythologischen Darstellungen, die wir von ihm kennen. Gezeigt ist nicht die
Badeszene selbst samt ihres Sehverbots für den Betrachter, sondern, eigentüm-
lich genug, eine Szene, in der Diana bereits angekleidet ist. Der Betrachter
darf die Augen heben; das Sehverbot ist gerade erloschen. Dennoch scheint
die Göttin unsere Anwesenheit nicht zu bemerken. Sie ist in Gedanken
versunken und strahlt noch immer, obwohl ihre Gestalt von den warmen Gelb-
tönen und weichen Schatten aufgelöst wird, das kühle Berühr-mich-nicht aus,
das wir bereits mit dem Autonomieanspruch der Kunst in Verbindung ge-
bracht haben.
Nicht erst in der Romantik ist Diana zur Verkörperung der Poesie gewor-
den. Bereits die Frauenfiguren der Diana und ihren Gefährtinnen und des
Brieflesenden Mädchens am geöffneten Fenster (Abb.57) tragen äußerst wehr-
hafte und poetische - dianenhafte - Züge in sich. Sie sind Wesen einer
Kunstwelt, die sich vor dem Betrachter versammelt, als wäre er in ihren Au-
gen nicht vorhanden. Gleichzeitig schimmern die Frauenfiguren bei Vermeer
in den wärmsten Farben und im goldensten Licht, sie werden mit allen Mitteln
AUF DER SUCHE NACH BERÜHRUNG 179

dargeboten. Jedenfalls gelingt es ihnen nicht für lange und nicht wirklich, uns
das Sehen zu verbieten, und im Grunde ist das auch nie das Ziel gewesen.
Vermeer arbeitete mit der geheimnisvollen Anziehungskraft, die verbotene
oder verschlossene Räume auf uns ausüben, doch offensichtlich vor allem
deswegen, um eine Erregung ähnlich der entstehen zu lassen, die Aktaion
angesichts der Göttin empfunden haben muß. Allerdings befreite er solche
Empfindungen vom mythologischen Deckmantel und erhob sie zu ästheti-
schen Kategorien. Daß Sehen eine sublimierte Form der Berührung ist,
darüber herrscht bei Vermeer kein Zweifel mehr. Unsere Augen müssen unse-
re Hände und unseren Körper ersetzen. Aber noch immer ist der Körper
spürbar, auf den Vermeers Malerei zielte und den er über den Weg visueller
Telepathie zu erreichen suchte. Um so erstaunlicher ist es, daß innerhalb
kunsthistorischer Abhandlungen das Kapitel Vermeer und die Farbe nur selten
behandelt wurde. Vermeers Mädchen mit Perle war eines der wenigen Bei-
spiele, bei dem die emotionale Wirkung des Lichtreflexes auf dem
Perlenohrring mit dem materiellen Farbauftrag in Verbindung gebracht wurde.
Aber es gibt unzählige andere Stellen wie das leuchtend blaue, mit Farbspren-
keln versehene Tuch des Mädchens, die flüssige gelbe Stoffbahn, die den
Nacken herabläuft, der kompakte weiße Kragen, bei dem wir noch heute er-
kennen können, wie Vermeer ihn mit wenigen Strichen auftrug, oder die
Glanzlichter auf den weit geöffneten Augen, den Mundwinkeln und Lippen.
Das Bild ist eine Haut oder Oberfläche, ein Ersatz für Berührung, eine Grenze
zwischen zwei Körpern.
Sehen wir uns die scheinbar nassen Fliesen in Vermeers Musikstunde oder
das fleckige Wegenetz einer Landkarte im Liebesbrief (Abb.45) an. Lange
Zeit hat man die Unscharfe solcher Stellen aus den optischen Effekten einer
camera obscura abgeleitet. Die Landkarte auf der linken Seite ist kaum zu
entziffern, weil sie fernab vom Brennpunkt und zudem im Dunkeln hängt. Die
größte Tiefenschärfe findet sich im hinteren Teil des Interieurs, dort, wo sich
die beiden Frauen aufhalten. Noch der kleinste Lichtreflex auf dem Perlenohr-
ring und der Kette ist zu erkennen, und selbst das durchbrochene Gehäuse der
Laute wird minutiös geschildert. Aber der Fluchtpunkt wurde in Wirklichkeit
sehr viel weiter rechts gesetzt, ungefähr dort, wo sich der Stuhl befindet. Sein
Knauf ist scharf umrissen, während die Tücher über der Lehne ohne jeden
Grund verschwimmen. Das bedeutet, daß die Tiefenschärfe der Bilder Ver-
meers nicht kontinuierlich entwickelt wurde. Obwohl man glauben möchte, sie
sei nach optischen Gesetzmäßigkeiten entstanden, stellt man fest, wie die ab-
wechselnd deutlichen und undeutlichen Bildstellen auf unberechenbare Weise
zusammengestellt wurden. Sein Werk durchzieht keine einheitliche optische
Logik. In jedem Gemälde Vermeers gibt es solche Ungereimtheiten. In der
Musikstunde können wir auf den Fliesen im Vordergrund die graue Aderung
des Marmors sehen, die mit flüssiger Farbe und dickem Pinselstrich aufgetra-
180 VERMEER UND DIE FARBE

gen wurde. Weiter zurück im Inneren des Interieurs verschwindet die Marmo-
rierung so plötzlich, als hätten wir es mit einem ganz anderen Material zu tun
oder als wäre dieser Teil des Bodens weiter entfernt. Man muß die Behand-
lung des Fliesenmusters mit der gestochen scharfen Bleivergiasung der
Fenster vergleichen, um zu erkennen, daß Vermeer in beiden Fällen vollkom-
men verschiedene Maßstäbe ansetzte. Einer Homogenisierung des Raums wird
auf diese Weise ganz entschieden entgegengearbeitet, und neben der räumli-
chen oder optischen Logik erscheint eine andere, die zwischen Raum und
Fläche kunstvoll zu jonglieren weiß.

Beschreibung oder Nichtbeschreibung?

Georges Didi-Hubermann startete 1989 einen Versuch, die Theorie einer hol-
ländischen Beschreibungskunst zu widerlegen. Sein Aufsatz über Die Kunst
der Nicht-Beschreibung griff die Detailgenauigkeit der deskriptiven Malerei
an, weil sie glauben machte, daß jedes Gemälde mit exakt abgebildeten Ein-
zelheiten eindeutig interpretiert sei. In einem deskriptiven Bild vermutete der
Betrachter hinter den Formen und Farben eine ganz bestimmte Bedeutung.
Der gesamte Farbauftrag auf der Leinwand erschien wie eine Geheimschrift,
zu der unser Wissen und unsere Erkenntnis - der kognitive Bereich unseres
Alltags - den passenden Schlüssel lieferte. Farbe und Form gerieten zu Chif-
fren, das heißt zu restlos entschlüsselbaren Codes: „The picture is always
considered to be a ciphered text, and the cipher, like a treasure-chest, or a
skeleton hidden in a cupboard, is always there waiting to be found, somehow
hehind the painting, not enclosed within the material density of the paint: it
will be the ,Solution' to the enigma posed by the picture, its ,motive\ or the
,admission' of its secret meaning. In most cases it will be an emblem, a Por-
trait, or some allusion to the ,events' of narrative history; in short, what the
historian will have the duty of making the painted work ,confess' or give up
will be a symbol or a referent. This means acting as though the painted work
had committed a crime, a single crime." Seinen Hinweis auf die Schatztruhe
können wir mittlerweile sehr gut auf die Bilderstruktur der Interieurmalerei
anwenden. Sie steht exemplarisch für den Versuch neuzeitlicher Malerei, eine
feste Hülle auszubilden und zur gleichen Zeit transparent zu bleiben. Aber wir
haben genausogut beobachten können, welch große Schwierigkeiten uns Ver-
meer bereitete, wenn es an die Identifizierung seiner Bildgegenstände ging.
Didi-Huberman hat dazu ein schönes Beispiel ausgesucht. Er hielt Vermeers

4
Ebd., S. 137
BESCHREIBUNG ODER NICHTBESCHREIBUNG? 181

Darstellung einer Spitzenklöpplerin eine Interpretation Paul Claudels mit fol


gender kritischer Passage entgegen:

Abb.54: Vermeer. Die Spitzenklöpplerin, um 1669/70. Paris. Louvre


182 VERMEER UND DIE FARBE

„Man sehe die Spitzenklöpplerin (im Louvre) an ihrem Stickrahmen, die


Schultern, der Kopf, die Hände mit ihrer zwiefachen Fingerwerkstatt, alles
mündet in der Nadelspitze; oder man sehe im Mittelpunkt eines blauen Auges
die Pupille, welche die Zusammenfassung eines ganzen Gesichts, eines We-
sens, einer Art geistiger Koordinate, ein von der Seele ausgeschleuderter Blitz
ist."5 Claudel behauptete, am Ende eine Nadel zu erkennen, obwohl selbst bei
genauester Betrachtung eine solche nicht zu sehen ist. Wir können sie eben-
sowenig ausmachen wie die Pupille des Auges, dessen Lid so stark gesenkt ist,
daß sogar noch Claudels Attribut ,blau' ins Reich der Phantasie gezählt wer-
den muß. Dennoch hielt Claudel an seiner Deutung fest. Für ihn waren Nadel
und Pupille wichtige Fixpunkte einer Darstellung, die trotz ihrer Präzision
seltsam vage und uneindeutig blieb. Die Uneindeutigkeit schleicht sich ein,
weil Vermeers Bilder an vielen Stellen ihre opake Qualität behalten. Sie sind
nicht transparent auf eine Bedeutung hin - denn in vielen Fällen wissen wir
nicht, was sie tatsächlich darstellen. Was beispielsweise meint das braune
Bänderwerk im Vordergrund? Wo liegt es: vor einem Kästchen, einem Buch?
Wir können ein Knäuel sehen, das wahrscheinlich ein Bündel Holzspulen sein
soll, aber sich bei genauerer Betrachtung immer wieder verwirrt. Der Farbauf-
trag gerät in solche Turbulenzen, daß wir mehr damit beschäftigt sind, die
über- und nebeneinanderliegenden Tupfen, Flecken, Striche und Punkte ausei-
nanderzuhalten, als in den räumlichen oder gegenständlichen Kategorien von
Darstellung und Bedeutung zu denken.
Schon Descartes äußerte sich zu diesem Problem. Für ihn war eine korrekte
Zeichnung jeder farbigen Darstellung vorzuziehen. Eine Zeichnung gab die
Form der Dinge an. Der äußere Umriß definierte den Ort und die genauen
Maße, wobei eine dünne Linie den Gegenstand von seinem Umraum abgrenz-
te. Außerdem konnte ein Gegenstand geometrisch-perspektivisch auf eine
plane Fläche übertragen werden, so daß sich ein berechenbares Verhältnis
ergab. Deswegen liebte Descartes den Kupferstich. Nicht nur technische

' Claudel, Paul: Vom Wesen der holländischen Malerei, a. d. Frz. übers, v. Ernst Hardt, Berlin, Frank-
furt a.M. 1954, S.26
Ein Blick zurück auf die Anfänge der Malerei Vermeers verrät, daß die Mehrdeutigkeit von Beginn
an vorhanden war. Der weiße Krug in seinem Schlafenden Mädchen ist deutlich zu erkennen. Auch die
Obstschale, die uns im Briefelesenden Mädchen am geöffneten Fenster wiederbegegnet, ist leicht zu
identifizieren. Was jedoch unter dem dünnen Tuch oder hinter der Falte des Teppichs versteckt wurde,
bleibt bis zuletzt ein Rätsel. Den braunen umrißlosen Schatten ganz vorne links können wir erst nach
längerer Betrachtung als umgekippten Römer entziffern. Das gesamte Arrangement auf dem Tisch
scheint vollkommen willkürlich zustandegekommen zu sein. Auf dem Stuhl liegt ein Kissen, das als
monströser Fleck in den Raum ragt. Im Grunde ist es natürlich ein kalkulierter Effekt, der auf der Seite
des Betrachters Verstörung und Unsicherheit hervorruft. Aber gleichzeitig beginnt die Bildstruktur als
Zwitterwesen aufzubrechen und sich zu bewegen. Zwischen Darstellung und Bedeutung ebenso wie
zwischen Bildraum und Bildoberfläche entsteht ein Spalt oder eine Reibefläche, die Vermeers Kunst
kontrovers macht.
BESCHREIBUNG ODER NICHTBESCHREIBUNG? 183

Gründe machten ihn zum adäquaten Medium seiner Theorien. Ein exakter
Kupferstich gab alle Verhältnisse wieder, ohne sie zu interpretieren oder zu
verfälschen. Für Descartes galt der alte Glaube, daß die Farbe der Zeichnung
erst in einem zweiten Schritt zugefügt werden durfte. Sie illustrierte den abge
bildeten Gegenstand, lieferte aber keinen entscheidenden Beitrag zum
Verständnis des Ganzen. Vielleicht konnte man einen Gegenstand in einer
kolorierten Darstellung leichter erkennen als in einer Strichzeichnung, aber die
Farbe hatte für Descartes keinen unmittelbaren Reiz und störte den Scharf
blick des Denkers. Eine solche Ablenkung konnte schon in dem Augenblick
entstehen, in dem die Farbgebung der optischen Wahrnehmung nicht mehr
entsprach. Es konnte sogar geschehen, daß sich die Farbe wie ein Tyrann über
die Zeichnung legte und ihre Transparenz überdeckte. Descartes wollte durch
sichtige Zeichen und keine opake Schicht, die der Klarsicht den Weg
versperrte. Die Darstellung sollte bei ihm grundsätzlich nach hinten, in einen
ideellen Raum verweisen und niemals nach vorne, in Richtung des Betrach
ters. Das gesamte perspektivische Denken der Neuzeit wollte diese Form von
Durchsichtigkeit ,nach hinten zu'. Es mußte geradezu zu einem Konflikt zwi
schen Farbe und Zeichnung kommen. Entweder, ihre Ziele widersprachen
einander, oder aber die Farbe stellte sich in den Dienst der Zeichnung und
wurde zum bloßen Kolorit umfunktioniert.

Abb 55: Stigmatische Abbildung nach Descartes: Bilder werden mit Spuren
verglichen, die Nadeln im Stoff hinterlassen, aus: Traite de I Homme, Paris 1664

Claudel sprach von einer Feennetzhaut oder einem Silberspiegel, in welche die
Gestalten mit einem „sichereren und spitzeren Stifte gezeichnet sind als dem
184 VERMEER UND DIE FARBE

Holbeins."7 „Vor dem Striche Vermeers wird die Leinwand gewissermaßen


zu einem Geist gewordenen Silberspiegel, zu einer Feennetzhaut. Durch diese
Entstofflichung und dieses Stillestehen der Zeit, welche Wirkungen jeder
Spiegel mit seinem silbrig unterlegten Glase vollbringt, wird das Gefüge der
äußeren Welt für uns bis hinauf in das Paradies der Notwendigkeit erhoben.
(...) Man kann das Ergebnis nur mit den zarten Wundern der camera obscura
vergleichen."8
Man hat Vermeer also in die Kategorie der Zeichner erhoben, obwohl es
nicht einmal eine Vorzeichnung unter der farbigen Lasurschicht seiner Ge-
mälde gibt. Die Hand in der Malkunst ist eine ,Knolle', die Nase der
Spitzenklöpplerin ein ,LichtkeiP, im Gesicht des Mädchens mit Perle können
wir den Übergang zwischen Licht und Schatten an keiner Stelle festmachen.
Dennoch soll Vermeers Pinsel ,spitzer als der Hohlbeins' gewesen sein. Ob-
wohl es sehr oft Schwierigkeiten bereitet, das Dargestellte zu erkennen,
spricht man von Vermeer als einem der exaktesten Maler aller Zeiten.
Doch Vermeer ist ein zu großartiger Kolorist, um mit diesen Worten be-
schrieben zu werden. Bei ihm bricht die Farbe aus dem Konzept der Mimesis
aus. Sie weigert sich, ausführendes Material für etwas zu sein, das seinem
Ursprung nach mit Umriß und Linie zu tun hat.

Das g e m a l t e Z i m m e r

Wenn man durch eine Linse, ein Vergrößerungsglas oder die camera obscura
verschwommene Farbflecken wahrnimmt, ist man sofort versucht, sie zusam-
menzusetzen und als Gegenstände zu erkennen. Es macht einen Großteil
unserer täglichen Anstrengungen aus, die Dinge unserer Umgebung zu identi-
fizieren. Wir dürfen diese Leistung nicht zu gering bewerten. Sie zeigt, daß
wir, wenngleich unbewußt oder vollkommen automatisiert, in jeder Sekunde
Großtaten auf dem Gebiet struktureller Verknüpfungen vollbringen. Doch
über unsere Augen dringt mehr ein als der Widerschein äußerer Gegenstände,
denen wir Namen geben und Orte zuordnen können. Der farbige Raum reflek-
7
Claudel (1954), S.25
* Ebenda. „Sie erwarten schon lange seinen Namen: Vermeer van Delfl Und sofort, ich bin mir dessen
sicher, taucht in Ihrem Geiste (...) jener erregende Zusammenklang eines himmlischen Blaus und eines
durchsichtigen Gelbs auf, die ebenso rein sind wie die Farben Arabiens. Aber ich will Sie hier keines-
wegs mit Farben beschäftigen, trotz ihrer Qualität und der zwischen ihnen herrschenden Abstimmung,
die so kühl und genau ist, daß sie weniger mit dem Pinsel als mit dem Verstände erschaffen zu sein
scheint. Was mich hinreißt, ist das reine, alles Stofflichen entkleidete, entkeimte, gereinigte Licht von
gewissermaßen mathematischer oder engelhafter oder sagen wir einfach, photographischer Aufrichtig-
keit."
DAS GEMALTE ZIMMER 185

tierter Lichtstrahlen bleibt ein schwebendes, formfeindliches Gebilde. Er be-


wegt sich jenseits fester Umrisse wie ein Film, der aus Bruchstücken und
kurzen Einstellungen besteht.
Im übrigen befinden wir uns mit solchen Überlegungen nicht auf postmoder-
nem Gebiet. Descartes, dem wir eine übertriebene Vorliebe für formgenaue
Zeichnungen und Kupferstiche sowie den Glauben an die Passivität der Wahr-
nehmungsvorgänge vorwerfen können, war, was seine Dioptrik betraf, ein
überraschend kontroverser Denker. Sicherlich, er verfolgte eine Geometrisie-
rung des Sehvorgangs, und das ist etwas, was ästhetischen Untersuchungen
niemals sonderlich weitergeholfen hat. Wenn wir bei ihm über die Entstehung
der Bilder im Auge nachlesen, stoßen wir jedoch auf einen interessanten Pas-
sus: „Es schien den Philosophen, daß wir die Gegenstände, die auf unsere
Sinne wirken, durch kleine Bilder, die sich in unserem Kopfe formen, in uns
aufnehmen", schrieb Descartes und bezog sich auf die alte Vorstellung, daß
sich die Dinge in unserem Auge als ganze Formen abbilden. „Statt dessen
müssen wir beachten, daß es noch andere Dinge als Bilder gibt, die unser
Denken anregen können, zum Beispiel die Zeichen und die Worte, die in kei-
ner Weise den Dingen gleichen, die sie bezeichnen. (...) Wir müssen
bedenken, daß es kein Bild gibt, das dem Gegenstand völlig gleicht, den es
darstellt. Sonst würde es keine Unterschiede mehr zwischen dem Gegenstand
und dem Bild geben." Schon Descartes hatte Bilder als Zeichen verstanden,
die ihren Gegenständen nicht mehr ähneln mußten, und auf diese Weise die
Weichen für eine Semiotik der Kunst gestellt. Mit weitreichenden Konsequen-
zen: Er akzeptierte den Spalt zwischen Welt und Bild, wenngleich er eine
möglichst enge Annäherung beider Bereiche befürwortete. Zudem bemerkte er
ganz richtig, daß „das Erkennen der Entfernung eines Gegenstandes ebenso-
wenig wie das Erkennen seiner Lage von irgendeinem Bild ab<hängt>, das
das Objekt aussendet, sondern in erster Linie von der Form des Auges." Daß
ein Gegenstand identifiziert und lokalisiert werden kann, ist nur aufgrund der
physiologischen Verhältnisse des Auges möglich. Die geringste Abweichung
läßt unser Bild verschwommen und undeutlich werden. Die Identifizierung
und Lokalisierung der Gegenstände wiederum stellte für ihn eine durch und
durch intellektuelle Leistung dar, sie „geschieht in unserem Kopf durch einen
Denkprozeß."'0
Scheinbar widersprach sich Descartes hier. Vor noch nicht langer Zeit hatte
er behauptet, das Auge wäre ein passives Organ und gleiche einem Wachstä-
felchen, auf dem ein Siegel eingedrückt werde." Tatsächlich unterschied er

" Descartes: Dioptrik (1637), S.89


'"Ebd., S.103
1
' Ich beziehe mich hier auf Descartes berühmteste Definition des Wahrnehmungsvorgangs: „Man muß
sich also erstens vorstellen, daß alle äußeren Sinne, soweit sie leibliche Organe sind, obgleich wir sie
186 VERMEER UND DIE FARBE

Abb. 56: Landvermessung. Johan Sems und Jan Pietersz. Dou, Practijck des Landmetens. o.O. 1600

jedoch zwischen dem rezeptiven Vorgängen der Wahrnehmung und der akti
ven Bewertung des Empfängers.1 Descartes war sich der Leistung eines
Betrachters durchaus bewußt, in jedem Moment Beziehungen zwischen opti
schen Zeichen herzustellen. Er verglich den visuellen Wahrnehmungsvorgang
mit der Tätigkeit eines Feldmessers, der das Terrain von wechselnden Orten
aus abschritt. Man benötigte Verhältnisse, Proportionen, Beziehungen, um
sich in der Welt zurechtzufinden. Unterschwellig kamen solche Erkenntnisse
selbst von Descartes, der zur gleichen Zeit die absolute Autonomie des Men
schen predigte. Sobald man jedoch verstanden hat, wie sehr sich beide
Haltungen berührten, wird offensichtlich, warum Descartes den zentralper
spektivischen ebenso wie den kartographischen Blick befürworten konnte. Im
Barock ist man sich der Situation vollkommen bewußt gewesen, Raumschalen

den Objekten durch eine Handlung, durch eine Ortsbewegung nämlich, zuwenden, dennoch nur passiv
im eigentlichen Sinne wahrnehmen, in der gleichen Art, wie das Wachs seine Figur vom Siegel emp
fängt. Auch darf man nicht glauben, dies sei nur als Analogie gemeint, sondern man muß sich
vorstellen, daß die äußere Gestalt des empfindenden Körpers wirklich vom Objekt ganz auf dieselbe
Weise verändert wird wie die der Oberfläche des Wachses vom Siegel. Dies muß nicht nur angenom
men werden, wenn wir einen Körper als gestaltet oder Hart oder rauh usw. ertasten, sondern auch,
wenn wir mit dem Tastsinn Wärme oder Kälte oder Ähnliches wahrnehmen; ebenso bei den anderen
Sinnen, nämlich daß das erste Undurchsichtige im Auge auf diese Weise eine Figur empfängt, die ihr
von dem verschieden gefärbten Licht eingedrückt wird, und daß die erste | für das Objekt unpassierbare
Haut der Ohren, der Nase und der Zunge auf eben die Weise eine neue Figur vom Ton, vom Duft und
vom Geschmack annimmt." (Descartes: Discours (1637), S.77)
'" Descartes erweist sich vorausschauend, wenn er die Augenbewegung des Betrachters als Aktivität
einstuft. Auf das zentralperspektivische Prinzip bezogen, würde das bedeuten, daß der Betrachter nur
in dem Augenblick tätig wird und Bilder interpretiert, in dem er sich von der mittleren Sehachse löst
und das Gesehene mit Seitenblicken nach links, rechts, oben und unten zu erfassen versucht.
DAS GKMALTE ZIMMER 187

zu konstruieren und sie im selben Moment zu zerschlagen. Pascal ist dafür


berühmt geworden. Und auch Descartes zerschlägt sie, wenn er von den vielen
Bewegungen spricht, mit denen das Licht den Raum durchläuft, oder auf die
Relativität aller im Raum befindlichen Körper hinweist. Selbst Newton, den
wir als den Erschaffer des absoluten Raumcontainers kennengelernt haben,
mußte ihre Existenz innerhalb unserer alltäglichen Erfahrung uneingeschränkt
zugeben.
In der Kunst war der Raumzwilling die adäquate Lösung. Hier befand man
sich gleichzeitig vor und in einem Raumbehälter. Ein solcher Ort war fest und
beweglich, offen und geschlossen zugleich. Zudem ergaben sich metonymi-
sche Verschachtelungen, die die trennenden Oberflächen porös machten. Ein
Bild beispielsweise wandte sich nicht nur an einen Betrachter, sondern durch-
wanderte auch sein Auge, seine Brust, sein Herz, seinen Körper. Letztendlich
standen alle Gefäße in Verbindung. Auch die Leinwand der Maler wurde zu
einem Kästchen umfunktioniert. Seit die Türen von der größten bis zur klein-
sten Kammer weit geöffnet waren und sich ein Durchgangsverkehr von
gewaltiger Eindrucksstärke entwickelte, waren Seh- und Raumerlebnis un-
trennbar verschränkt. Daraus hat sich eine Geschichte der Kontakte
entwickelt, eine ganze Kunstgeschichte der Kontakte. Man kann bei Van
Eycks Arnolfini Hochzeit anfangen und zu Vermeers Interieurbildern gelan-
gen, um festzustellen, wie häufig in der Malerei die Verbindung von Auge und
Innenraum aufgriffen und verarbeitet wurde. Auf diese Weise sprengte sie das
feste Gehäuse und wandte sich dem Innenleben zu.
ANHANG

Abb.57: Jan Vermeer, Brieflesendes Mädchen, um 1657, Dresden, Gemäldegalerie


189

ANHANG

V e r m e e r s Dresdener Briefleserin

Wir sehen ein weit geöffnetes Fenster und mit ihm einen Ausschnitt gleißend
hellen Tageslichts. Dennoch reicht die Helligkeit kaum in den Bildraum.
Schatten sammeln sich in den Winkeln. Nur die Wand, die das Zimmer nach
hinten begrenzt, fängt etwas Licht auf. Es fällt so flach auf das Wandstück,
daß jeder schwache Grat und jede Unregelmäßigkeit im Putz sichtbar wird.
Doch so wahrheitsgetreu und unbestechlich es diese Bestandsaufnahme be-
treibt, so vernachlässigt es ganze Bereiche, zu denen es nicht vordringt, oder
dramatisiert andere mit starken, wenngleich schwimmenden Hell-Dunkel-
Kontrasten, deren Orte wir kaum nennen können. Ein Teil der Mauer glüht
auf, ein anderer verschwindet im Dunkel. Schatten werden an die Wand ge-
worfen, die schwankend und instabil sind, weil sie mit jeder unscheinbaren
Bewegung der Dinge im Raum ihre Form verändern. Der Maler hat sich aber
für einen Augenblick entschieden und eine Form festgelegt.
Heller und heller reflektiert das Licht an der Wand, bis es an einer Stelle,
die sich leicht rechts und im unteren Drittel des Bildes befindet, seine höchste
Intensität erreicht. Selbst hier ist es wesentlich gebrochener und matter als das
Tageslicht draußen. Es trägt wenig dazu bei, die Dinge im Raum zu zeigen,
sondern beschränkt sich auf einen engen Bereich. Er befindet sich in etwa auf
gleicher Höhe wie der geschwungene Flügel und die helle Fensteröffnung am
äußeren linken Bildrand, so daß zwischen diesen Stationen eine Verbindungs-
linie über einen guten Teil der Leinwandfläche gezogen werden kann.
Räumlich gesehen ziehen wir Verbindungen quer durch den Innenraum und
hinaus ins Freie.
Der Raum wird erweitert und im rechten Winkel umorganisiert, wenn wir
einen ähnlichen Zusammenhang zwischen uns und der goldenen Wandstelle
ausmachen, der wir frontal gegenüberstehen. Sie gruppiert sich um jenen
Augpunkt, den Vermeer dem Betrachter zugedacht hat. Im übrigen gibt es nur
einen einzigen Hinweis auf die zentralperspektivische Erstellung des Bild-
raums: Wir können den Fluchtpunkt mithilfe des Fensterrahmens lokalisieren,
der steil in den Raum flieht, wobei sein Vorstoß in die Tiefe durch den aufge-
schlagenen Flügel umgelenkt und im Winkel abgeflacht wird. Solche
Hinweise genügen, um ihn ebenso weit rechts anzusiedeln wie den goldenen
Lichtfleck an der Wand, nur etwas höher als dessen hellste Stelle, genau auf
der Querachse des Bildes befindlich, und wesentlich konkreter auf den Punkt
gebracht. Innerhalb der Bildstruktur übernimmt er eine ganz bestimmte Funk-
tion: Er bildet die Spitze eines Richtungspfeils, dessen breite Basis exakt am
190 ANHANG

linken Bildrand, gegenständlich gesehen am äußersten Fensterrahmen aufsitzt,


sich von dort aus losstemmt und auf den Fluchtpunkt zueilt. Und obwohl mit
der ganzen Kraft dieser Bewegung die Tiefe des Raumes durchquert werden
soll, befinden wir uns am Ende nicht wirklich tiefer im Bild, sondern seitlich
weit nach rechts gerückt, so als hätten wir den Raum der Länge nach durch-
laufen.

Zwei Leserichtungen können voneinander unterschieden werden: Zum einen


sehen wir in den Raum hinein. Gleichzeitig wird er der Länge nach
wandert. Im Schnittpunkt der Bewegungen steht das junge Mädchen. Sie ist
über der Lektüre eines Briefes versunken, der vom festen Griff der Hände
Knitterstellen aufweist und vor dem dunklen Wandfeld wie eine zackige wei-
ße Linie verläuft. Die Arme nahe an den Körper gezogen, den Oberkörper in
leichter Anspannung etwas nach vorne gebeugt, nimmt sie eine Position genau
auf der Mittelachse der Leinwand ein. Nur minimal verschoben, wenige Zen-
timeter über ihrem Ohr, befindet sich das flächenformale Zentrum des ganzen
Gemäldes. Indem sie aber den Mittelpunkt des Bildes mit ihrem Kopf und die
Mittelachse des Bildes zudem noch mit ihrem Körper überdeckt, ist das Mäd-
chen von allen vier Bildrändern, selbst noch von den vier Bildecken her, mit
imaginären Fäden festgebunden. Ihre Position im Fadenkreuz der Achsen und
Diagonalen scheint unverrückbar zu sein. Das könnte uns auf seine Weise
sagen, daß sich das Mädchen schon einige Zeit an diesem Ort befindet (davon
erzählt uns auch der abgerollte Briefbogen, das zerknitterte Papier), und daß
sie sich nicht sofort von dieser Stelle wegbewegen wird (die Lektüre fesselt
sie ebenso, wie im Fadenkreuz der Achsen zu stehen). Die Linien und Diago-
nalen streben der Bildmitte zu und bilden eine Art zweite Zentralperspektive
aus. Und so bündelt das Mädchen nicht nur die Fäden der Bildfläche, sondern
auch den Blick des Betrachters. Es ist ein zugespitzter Blick. Wie ein Pfeil
steckt er senkrecht auf der Mitte des Feldes auf.
Das Mädchen ist gefesselt. Der Maler bannt sie an diesen Ort. Fast gewalt-
sam ist sie zum Zentrum des Bildes geworden. Das Bild hat sich seinem
Aufbau nach im weiteren danach zu richten. Die Rückwand des Zimmers
beispielsweise ist deswegen so hoch, weil sie, von der zentralen Position des
Mädchens ausgehend, beinahe die gesamte obere Hälfte des Gemäldes ein-
nehmen muß, während sich unten die Dinge stapeln und verwirren. Vermeer
hat das Ungleichgewicht deutlich betont. Wenn wir in Gedanken das Bild in
zwei gleichgroße Hälften - eine untere, eine obere - teilen, wird schnell deut-
lich, wie vergleichsweise leer die obere Hälfte erscheint und wie
ungewöhnlich schwer beschreibbar sie ist, während sich die konkreten Gegen-
stände im unteren Bereich zusammendrängen. Man könnte meinen, daß nach
dem Prinzip einer Waage die unbeschwertere Hälfte in die Höhe gestiegen ist,
während es die andere nach unten gezogen hat. Oder aber, daß sich nach dem
VERMEERS DRESDENER BRIEFLESERIN 191

Prinzip eines geschüttelten Wasserglasses alle Partikel, sobald sie zur Ruhe
gekommen sind, am Boden des Behälters abgesetzt haben.

Einen Absatz haben wir hier sogar faktisch. In den schattigen Vordergrund ist
ein Tisch gerückt, der dem Mädchen wie ein massives Postament ebenso vor-
steht wie unterliegt - bei ersterem sind wir hauptsächlich einer räumlichen
Lesart, bei zweiterem einer Flächenlogik gefolgt. In der Fläche bildet er eine
Basis, auf dem die Gestalt des Mädchens beinahe wie aufmontiert wirkt. Mit
seiner Unterstützung wird sie in den Mittelpunkt des Bildes gestemmt und
prominent gemacht. Raumlogisch betrachtet steht sie hinter dem Tisch, genau-
er gesagt an einem äußerst beengten Ort zwischen Tisch und Wand. Damit sie
ungestört bleibt, hat Vermeer den Tisch wie einen Riegel vorgeschoben. Auf
diese Weise ist das Mädchen ein drittes Mal in die Mitte gerückt worden, in
den Bildmittelgrund vor der Wand, die den räumlichen Abschluß bildet. Zum
einen wird sie von den Rändern mit unsichtbaren Stangen auf Abstand gehal-
ten, zum anderen von der ästhetischen Grenze weggeholt. Sie wird erneut an
den zentralen Ort in der Mitte des Bildes gebunden, wo sie ein isoliertes Da-
sein führt. Und da sie jeder Seite, der linken und rechten, der oberen, unteren
und der vorderen gleichermaßen fernbleibt, also einen kreisförmigen oder
sphärischen Unzugänglichkeitsgürtel um sich geschlungen hat, müssen wir sie
von fern betrachten. Das Mädchen am geöffneten Fenster ist umgeben vom
Wunsch, weder berührt noch auf irgendeine Weise gestört zu werden, und
dieser Wunsch erfüllt den Betrachter mit Sehnsucht nach etwas, was er nie-
mals erreicht, das zu erreichen er sich aber von Anfang an erhofft hatte.
Es ist ihm jedoch schon einmal gelungen, in den Innenraum vorzudringen,
als er das Bild nicht von vorn, sondern von der Fensterseite angegangen war.
Weil der Fensterrahmen am linken Bildrand grundsätzlich zweierlei bedeuten
kann, eine Öffnung, durch die etwas eintritt, und eine Tiefenflucht, die ihn zur
räumlichen Durchwanderung einlädt, hat er die Einladung wahrgenommen.
Der Fensterflügel ist zur Seite geklappt, der Vorhang über den Rahmen ge-
worfen worden, um ihm den Eintritt zu erleichtern.
An einer langen Stange über dem Tisch ist ein zweiter Vorhang zur Seite
gezogen worden. Zwischen beiden Orten kann eine Verbindung gezogen wer-
den: Links im Bild die Eintrittsluke des Fensters mit dem Vorhang über den
Flügel geschlagen, und im rechten Winkel dazu jene Schauöffnung mit gezo-
genem Vorhang, vor der der Betrachter verharrt. Das ist als Parallelentwurf
gemeint, eine doppelte Öffnung des Innenraums, die wechselweise Bezug
nimmt. Beide Male ist der Vorhang zur Seite gezogen, beide Male ist er als
Einladung gemeint. Hier ein Fenster, dort eine Blickfelderöffnung, die wir
noch gar nicht wirklich benennen können, die aber zum Fenster korrespon-
diert. Ein Fenster ist sie dennoch nicht. Ebensowenig läuft der Vorhang an
seiner Stange tatsächlich durch den Innenraum. Vermeer nimmt ins Bild hin-
192 ANHANG

ein, was im Grunde vor das Bild gehört: Ein Vorhang als Schutz vor Licht
wurde vom Bildersammler häufig vor der Leinwand angebracht. Und dieser
Vorhang ist nun innerhalb des Gemäldes zurückgezogen, so daß er auf dem
Bildfeld verharrt, eingeschmolzen in dieselbe Lasurschicht, für deren Schutz
er einmal gedacht war. Seiner eigentlichen Funktion enthoben, hat er die
Funktion übernommen, auf die Sichtbarkeit der Fläche hinzuweisen und für
immer offen zu bleiben. Weil er in Korrespondenz steht zum Vorhang des
Fensters am linken Bildrand, und sich der schmale Fensterausschnitt des lin-
ken Bildrands auf das gesamte Bildfeld bezieht, können wir den Bilderrahmen
nun doch wie einen Fensterrahmen lesen, den grünen Bildvorhang im Vorder-
grund wie einen Fenstervorhang, und das Interieur dahinter wie eine Sicht
durch eine Fensteröffnung, ja eigentlich wie eine Außenansicht, der wir von
einem Innenraum entgegensehen. Es gibt also zwei Öffnungen in diesem Bild,
und sie haben miteinander zu tun. Schlichtweg im 90°-Winkel dreht sich eine
Situation um die eigene Achse, die im übrigen genau die Mittelachse des Bil-
des ist.

Entsprechend der beiden Öffnungen nähern wir uns dem Bild, dem Mädchen.
Einmal führt uns eine direkte Bewegung auf sie zu. Es gibt keinen kürzeren
Weg als den, auf sie pfeilgerade zuzugehen. Doch hält der Blick nicht an,
wenn er am Ziel ist. Es gibt eine Stelle, an der er umschwenkt, die Drehung
des Mädchens mitmacht, sich dem hellen Fenster zuwendet und aus dem Bild
herausgleitet. Aber auch eine zweite Orientierung läßt sich ausmachen, wenn
wir an die Art zurückdenken, mit der wir das Bild zu Anfang betreten haben.
Dann blicken wir zuerst auf den hell erleuchteten Fensterausschnitt am linken
Bildrand, folgen dem Knick des Flügels und gleiten in einer geschickten Be-
wegung um das Mädchen herum zu jenem Fluchtpunkt, der uns vom Maler
zugedacht wurde - und damit auf direktem Wege zurück zu uns selbst. Nahe-
zu eine vollkommene Volte ist auf diese Weise um das Mädchen geschlagen
worden. Wenn aber in der ersten Bewegung ein Zug nach außen angelegt war;
in der zweiten widerrufen wir ihn in der Art eines Selbstbezugs oder einer
Einverleibung. Das geschieht, wenn nicht mit unserem Körper, so doch wie
mit einer hohlen Hand, die, vorbei an dem Fenster und seinem Flügel, entlang
der schimmernden Wand, nach dem Mädchen taucht und sie von hinten um-
greift. Wie in einer Schale wird nach ihr geschöpft, um sie heraus- und
näherzuholen. Was immer ungenau bleibt, die Verbindung unseres Auges und
unserer Hand, hier wird sie deutlich, weil sie einem praktischen Zweck dient.
Wo das Auge zuvor noch hinausgeglitten war, hier greift es zu und holt sich
die Dinge zu sich heran.
Die Handgreiflichkeit des Wahrnehmungsvorgangs läßt sich noch steigern.
Während Sehen und Fassen bislang auf keinen gemeinsamen Punkt gekom-
men sind, fallen sie am Fluchtpunkt des Bildes ineins. Er ist beides: tiefster
VERMEERS DRESDENER BRIEFLESERIN 193

Ort der Raumkonstruktion (die Konvergenz unserer Sehstrahlen im Unendli


chen) und vordergründigste Stelle zugleich (nichts scheint uns zum Greifen
näher als dieser Teil des Bildes). Die Fluchtlinien der Perspektive stranden
genau auf der Kante des Vorhangs. Fast scheint es, als wäre der Vorhang auf
grund dieser Bewegung zur Seite geschoben worden. Dann wäre unser Auge
eine Hand, und der Augpunkt ein Griff, den man verschieben und bewegen
kann. Mit ihm können Räume geöffnet und geschlossen, und Einblicke regu
liert werden. Die engen Falten des Vorhangs zeigen, wie stark er zur Seite
gerafft wurde, um den Blick in den Innenraum freizugeben. Sehen verwandelt
sich dann in einen zupackenden Vorgang.
Es gibt aber auch eine Stelle, die vom Gegenteil berichtet. Sogar flächen
formal bildet sie ein Pendant zum handfesten Augpunkt. Auf der linken Seite
des Mädchens erscheint die Spiegelung ihres Gesichts im Fensterglas. Doch
der flüchtige Reflex ergibt sich nicht aus der Raumsituation. Er wiederholt in
einer einfachen Wende den Repräsentationsgedanken, der das ganze Bild
durchzieht, und der in einer doppelten Aussage gipfelt: Ein Abbild ist ein
sterausschnitt und eine Spiegelung. Es wird dem Betrachter über den Flügel
des Fensters zugefächert, so wie er andererseits auf das Bild zugegangen und
beinahe schon handgreiflich geworden ist, um den Vorhang zu entfernen, um
die Teilung des Raums aufzuheben und sich dem Mädchen zu nähern.
Ich danke Norman Bryson, Wolfgang Kemp, Hubertus Kohle und Philip
Steadman für ihre freundliche Unterstützung. Carel ter Haar sei herzlich für
die Durchsicht der holländischen Übersetzungen gedankt.
195

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