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LORENZ DITTMANN
FARBGESTALTUNG UND FARBTHEORIE
IN DER ABENDLÄNDISCHEN MALEREI
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LORENZ DITTMANN

FARBGESTALTUNG
UND FARBTHEORIE
IN DER
ABENDLÄNDISCHEN MALEREI
EINE EINFÜHRUNG

WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT
DARMSTADT
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Dittmann, Lorenz:
Farbgestaltung und Farbtheorie in der
abendländischen Malerei: e. Einf. /
Lorenz Dittmann. - Darmstadt:
Wiss. Buchges., 1987
ISBN 3-534-02383-8

1 2345

© Bestellnummer 02383-8

Das Werk ist in allen seinenTeilen urheberrechtlich geschützt.


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Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronische Systeme.

© 1987 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt


Satz: Setzerei Gutowski, Weiterstadt
Druck und Einband: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
Printed in Germany
Schrift: LinotypeTimes, 10/11

ISBN 3-534-02383-8
FÜR
MARLEN
CHRISTINA UND CHRISTOPH
INHALT
Vorwort.IX
Grundzüge der Farb- und Lichtgestaltung in der mittelalterlichen
Malerei. 1
Mittelalterliche Buchmalerei.13
Die Entstehung des Helldunkels in der transalpinen Tafelmalerei
des 14. Jahrhunderts.24
Giotto.30
Malerei des Trecento.39
Malerei und Theorie im Quattrocento.47
Die altniederländische Malerei.72
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts.95
Malerei der Dürerzeit.114
Farbe und Helldunkel in der italienischen Malerei des ló.Jahr-
hunderts.135
Zur niederländischen Malerei des 16. Jahrhunderts.189
Helldunkel und Farbe: Die Malerei des 17. Jahrhunderts . . . 195
Zur Farbgestaltung in derMalerei des 18. Jahrhunderts . . . . 250
Farbgestaltung und Farbtheorie in der Malerei des 19. J ahrhunderts 261
A. Zur englischen Malerei des 19. Jahrhunderts.270
B. Französische Malerei des 19. Jahrhunderts.278
C. Zur deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts.325
Farbgestaltung und Farbtheorie in der Malerei des 20. Jahrhunderts 346

Register.417
Personen und Titel.417
Sachen.425
.
VORWORT

Diese Einführung in die Farbgestaltung und Farbtheorie der abend-


ländischen Malerei versucht, erstmals ausgehend von Einzelwerken 1,
eine Geschichte dieser Farbgestaltung nach ihren Grundlinien zu ent-
werfen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Entwicklung seit
dem 14. Jahrhundert, die Farbgestaltung der mittelalterlichen Malerei
kommt nur hinsichtlich einiger ihrer Prinzipien zur Sprache.
Die Geschichte der Farbtheorie ist genauer erforscht als die der künst-
lerischen Farbgestaltung selbst. Sie wird deshalb hier knapper und nur in
solchen Ausschnitten behandelt, die sie in unmittelbarer Verbindung mit
der Malerei zeigen.
Aussagen zur künstlerischen Farbgestaltung sind ausschließlich aus
der Betrachtung derWerke selbst zu gewinnen. Sie bildet die Grundlage
dieser Ausführungen. Die hier vorgelegte Einführung hätte jedoch so
nicht geschrieben werden können, wären dem Verfasser nicht zahlreiche
Notizen von Ernst Strauss zur Verfiigung gestanden, die dieser vor den
Bildern in den großen europäischen Museen formuliert hatte. Frau
Liesel Strauss danke ich herzlich für die Überlassung dieser Notizen. Sie
wurden vom Verfasser gemäß seiner Anschauung überprüft, ergänzt und
mit vielen eigenen Beobachtungen verbunden. Auf diese Weise konnte,
so ist zu hoffen, einer allzu großen Subjektivität der Auffassung entge-
gengewirkt werden.
Auch in der Begriffsbildung schließt diese Einführung an die Unter-
suchungen von Ernst Strauss 2 an, wie in der phänomenologischen
Methode, die sich weitergehender Deutungen enthält.

1 Maria Rzepiñska geht in ihrer Darstellung (>Historia koloru w dziejach


malarstwa europejskiego<, Krakau 1970) nur vereinzelt auf konkrete Werke ein.
Vgl. dazu: Irena M. Neugebauer, Die Farbe in der Kunst, Bemerkungen zu
einem Buch von Maria Rzepiñska. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine
Kunstwissenschaft, Bd.24/2,1979,226-229.
2 Ernst Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen zur Malerei seit
Giotto und andere Studien, hrsg. von Lorenz Dittmann, München, Berlin 1983.
- Strauss unterschied drei Grundmöglichkeiten der Farbgestaltung in der
Malerei (l.c., 24, 25). Für das „koloristische Prinzip“ gilt: „Dominiert im Ge-
samteindruck einer Malerei offensichtlich die Buntkomponente der Farben, so
stehen diese, unabhängig von ihrem Buntheitsgrad, ihrer Anzahl, Ausbreitung
und Lage, über das ganze Bild hin in Kontrasten zusammen, deren Stärkegrad
X Vorwort

Die Literatur zu den einzelnen Themenbereichen wurde soweit wie


möglich einbezogen, zumindest wurde auf sie verwiesen. Wichtige
Passagen wurden zitiert, um dadurch unterschiedliche Facetten kolorit-
geschichtlicher Forschung zur Geltung zu bringen. Die vorliegende
Darstellung kann damit auch als Einftihrung in den Stand der koloritge-
schichtlichen Forschung dienen. Auf eine kritische Erörterung der ein-
zelnen Forschungsbeiträge mußte jedoch zumeist verzichtet werden.
Eine kurze Geschichte der Koloritforschung findet sich im erwähnten
Buche von Ernst Strauss 3.
Bei der Fiille der behandelten Werke war an eine Ausstattung des
Bandes mit Farbabbildungen nicht zu denken. Deshalb wird in Anmer-
kungen verwiesen auf betreffende Farbabbildungen in Bänden tiber
europäische Museen, Monographien, Sammelwerke. Es ist freilich der
Wunsch des Verfassers, die vor den Werken gewonnenen Aussagen zur
Farbgestaltung möchten zu einer vertieften Anschauung der Werke
selber fiihren.

sich nach der Größe der Abstände zwischen den einzelnen Buntheiten bemißt,
die selbst wiederum durch kleinere Stufen von Buntheiten unterteilt oder mitein-
ander verbunden werden ... Das Bildlicht geht in diesem Falle aus derTotalität
der Eigenhelligkeiten sämtlicher Bildfarben hervor.“ - Von einem „luminaristi-
schen Gestaltungsprinzip“ ist zu sprechen, wenn ,,der Bildaspekt vorwiegend
durch Licht (gleichgültig in welchem Spannungsgrad) und Dunkel (gleichgültig
in welchem Dichtegrad) bestimmt“ wird. Hier „bilden die äußeren Pole des
Kolorits nicht zwei nach Qualität oder Helligkeitsgrad extrem verschiedene
Buntwerte, sondern die zum Luminösen erweiterten, gleicherweise im Licht wie
im Dunkel aufgehenden Helligkeitskomponenten der Bildfarben, unter Ein-
schluß der Buntheiten und in Durchdringung mit diesen. Die Verbindung der
Farben geschieht dann nicht so sehr stufenweise, als vielmehr in verschmel-
zenden oder verschwebenden Übergängen. Gegensätze ergeben sich in diesem
Falle nicht durch ein Gefälle zwischen unterschiedlich begrenzbaren Bunt-
heiten, sondern durch die Polarität von Licht und Finsternis. Alle farbigen Bild-
elemente erscheinen in einem transitorischen Zustand und in der gleichen dyna-
mischen Spannung, wie sie auch schon an der einzelnen Farbe bei ihrer Wendung
vom Licht ins Dunkel zu beobachten ist.“ - Das dritte, das „chromatische
Prinzip“, ist insofern eine Synthese der beiden anderen, ,,als es darauf abzielt,
mittels farbiger Kontraste und ausschließlich durch sie, lichthafte Wirkung her-
vorzubringen“. Hierbei werden, in einem „divisionistischen“ Verfahren, die
Buntwerte ,,als subtile Abstufungen, Nuancierungen eines vorgegebenen Farb-
wertes oder als eine Mikrostruktur aus Partikeln und kleinsten Fleckenformen
unterschiedlicher Farbe“ eingesetzt.
3 Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 333-341.
GRUNDZÜGE DER FARB- UND LICHTGESTALTUNG
IN DER MITTELALTERLICHEN MALEREI

In drei epochemachenden Leistungen verwirklicht die europäische


Malerei zwischen dem Ausgang der Antike und dem Aufkommen der
Tafelmalerei als einer führenden Kunstgattung eine je neue Einheit von
Farbe und Licht: in der Ausbildung des frühchristlichen Wand- und Dek-
kenmosaiks seit etwa der Mitte des 5.Jahrhunderts, der annähernd
gleichzeitigen Einführung des Golclgrunds und schließlich der Schöp-
fung des Glasfensters mit dem Beginn der Gotik. 1 2
Jede dieser Errungenschaften hat der Farbe Wirkungsmöglichkeiten
eröffnet, die ihr in aller vorangegangenen Malerei noch gänzlich ver-
schlossen sein mußten und die ihr auch späterhin nicht mehr gegeben
sind.
Der gemeinsame Grund für die Besonderheit der Farbwirkung in den
drei Fällen liegt darin, daß die unmittelbare Einbeziehung des realen,
physischen Lichts 2 zur Grundbedingung des Erscheinens von Farbe ge-
macht wird. Damit entfällt ein Hauptproblem aller nachmittelalter-
lichen Malerei, nämlich die Wiedergabe von Licht durch die Farben. Das
Licht selbst ist real anwesend und läßt die Farben entstehen oder unter-
stützt zumindest durch seine GegenwartTendenzen in der Farbe und den
Farbzuordnungen, die zum Licht führen.
Daß das reale Licht Grundbedingung des Erscheinens von Farbe
wird, ist Folge einer neuen metaphysischen Qualifikation des Lichts:
„Die Lichtspekulation des Mittelalters bedient sich des Lichtbegriffes

1 FA: André Grabar, Carl Nordenfalk, Das frühe Mittelalter vom vierten bis
zum elften Jahrhundert, Genf (Skira), 1957. - Dies., Die romanische Malerei
vom elften bis dreizehnten Jahrhundert, Genf (Skira), 1958. - Jacques Dupont,
Cesare Gnudi, Gotische Malerei, Genf (Skira), 1954. - Joseph Wilpert, Walter
N. Schumacher, Die römischen Mosaiken der kirchlichen Bauten vom IV.-XIII.
Jahrhundert, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1916/1976.
2 Vgl. dazu auch: Dagobert Frey, Der Realitätscharakter des Kunstwerks. In:
Frey, Kunstwissenschaftliche Grundfragen, Prolegomena zu einer Kunstphiloso-
phie, Wien 1946, 107-149, insbes. 111 ff. - Hans Peter L’Orange, Lux Aeterna:
LAdorazione della luce nefi’arte tardo-antica ed alto-medioevale. In: Atti della
Pontificia Accademia Romana di Archeologia, Ser. III, Vol. XLVI, Anno 1973-74,
Vaticano 1975, 191-202. - Patrik Reuterswärd, Windows of Divine Light. In:
KonsthistoriskTidskrift, LI, 1982, 95-102.
2 Mittelalterliche Malerei

nicht nur, um das Erkennen des Geistes zu klären, sondern ebenfalls, um


das Sein näher zu bestimmen, das absolute göttliche Sein wie den Her-
vorgang der endlichen Dinge aus ihm“ 3. Sie hat ihre Voraussetzungen in
der Lichtmetaphysik der Antike, den Lehren von Platon, Philo von
Alexandria, Plotin, Proklus und den Aussagen des Neuen Testaments,
beginnt mit Augustin und Pseudo-Dionysius Areopagita und findet ihren
Höhepunkt in der Hochscholastik bei Robert Grosseteste, Albertus
Magnus, Vincenz von Beauvais, Bonaventura und dem unbekannten
Verfasser des friiher Witelo zugeschriebenen >Liber de intelligentiis< aus
der Mitte des 13. Jahrhunderts. Wolfgang Schöne gab in seinem Buch
>Über das Licht in der Malerei< eine iibersichtliche Zusammenfassung
dieser Entwicklung. 4
Wie verhält sich die Lichtmetaphysik zu den kiinstlerischen Darstel-
lungen? Schöne kam nach Erörterung dieser Frage zu dem Ergebnis: ,,In
seinen höchsten Verwirklichungen (zum Beispiel in der ottonischen
Buchmalerei, im Goldgrund, in den Kathedralfenstern) scheint das Ver-
hältnis des mittelalterlichen Bildlichts als Eigenlicht zum wahren gött-
lichen Licht iiber den Begriff der Analogie in die Richtung einer imAn-
schaulichen evidenten Äquivalenz hinauszugehen, und als Sendelicht
scheint es den geheimnisvollen, dem menschlichen Verstande nicht faß-
baren Vorgang der ,Emanation der göttlichen Kraft‘ anschaulich zu ent-
halten.“ 5
Im gleichen Zeitraum entsteht die Farbensymbolik der mittelalter-
lichen Kunst. 6 Farben der Erfahrungswelt werden dabei zu „Vorstel-
lungsfarben“. Die symbolische Qualifikation bedingt hier unmittelbar
die.Besonderheiten des mittelalterlichen Farbstils, die sich erweisen als:
Begrenztheit der Farbskala, Wahl reiner, abstrakter Farben mit dem
Übergewicht ihres Eigen- und Ausdruckswertes iiber die darstellenden
Funktionen, farbiges „Eigenlicht“, gebildet aus den spezifischen Hellig-

3 Wolfgang Schöne, Über das Licht in der Malerei, Berlin 1954, 58.
4 Schöne, 57-64, nach Clemens Baeumker, Witelo, ein Philosoph und Natur-
forscher des 13. Jahrhunderts, Miinster 1908, 357-514: Exkurs iiber die Licht-
metaphysik oder Lichtontologie des Altertums und Mittelalters. - Dazu die
weitere, bei Schöne angegebene Literatur.
5 Schöne, Über das Licht in der Malerei, 71.
6 Vgl. dazu: Gottfried Haupt, Die Farbensymbolik in der sakralen Kunst des
abendländischen Mittelalters (Ein Beitrag zur mittelalterlichen Form- und Gei-
stesgeschichte) (Diss. Leipzig 1940), Dresden 1941. - Renate Kroos, Friedrich
Kobler, Farbe, liturgisch (kath.). In: Reallexikon zur deutschen Kunstge-
schichte, Bd. VII (73.Lieferung), 1974, Sp. 54—121. - A.Hermann, M.Cagiano
di Azevedo, Farbe. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. VII, 1969,
Sp. 358-447.
Mittelalterliche Malerei 3

keiten und Dunkelheiten dieser Buntfarben in ihren neuartigen Zuord-


nungen und im Verein mit dem schimmernden Licht des Goldes, schließ-
lich die Angabe von Modellierungshelle auf den dargestellten Körpern. 7
Die Einschränkung der Farbskala auf abstrakte, unbewegte Bunt-
werte ist das Ergebnis einer sich über mehrere Jahrhunderte erstrek-
kenden Entwicklung der Farbgestaltung, die ihren Ausgang von der
späten Antike des 4. nachchristlichen Jahrhunderts nimmt und ihre
Höhepunkte in den römischen Malereien und Mosaiken des 6. bis
9. Jahrhunderts und in der ottonischen Buchmalerei findet. Fritz
Haeberlein hat sie nach ihren Hauptphasen dargestellt in seiner Unter-
suchung >Grundzüge einer nachantiken Farbenikonographie< 8. Haeber-
lein wies nach, daß mit dem Ende der Antike und mit der Entstehung der
christlichen Glaubenswelt die Farbigkeit der Mosaiken und der Buch-
malerei in ihrem Bestand und Wesen eine tiefgreifende Wandlung er-
fuhr: Aus dem freien, fälschlich „impressionistisch“ genannten Farben-
reichtum des Späthellenismus werden in einem Auswahlvorgang mehr
und mehr Farben ausgeschieden, die verbleibenden vereinfacht, ihres
illusionistischen Wertes entkleidet und mit neuer Bedeutung begabt. Sie
bilden bestimmte „Farbvokabeln“, die als feste Formeln, als ein
„Kanon“ in die Bildsprache des frühen und hohen Mittelalters über-
nommen werden. Aus den Elementen der „Paradieslandschaften“
bilden sich, um nur ein Beispiel zu nennen, Farbstreifen heraus, die sich
mehr und mehr verabsolutieren und, im Zeitraum vom 8. bis 12. Jahr-
hundert, zu Hintergrundstreifen werden. Auch die farbige Wiedergabe
der Dinge ändert sich, sie werden zu farbigen Zeichen, die mit der Farbe
des dargestellten Gegenstandes nur noch wenig gemein haben: „eine
blühende Blumenwiese ist von blauem Quellwasser begrenzt, mit rot-
golden gefärbten Phönixpalmen abgeschlossen. In deren Zweigen
nisten rot-goldene oder blau-rote Vögel. Der blaue oder goldene
Himmel ist mit rosenrot-blauen Morgenwölkchen bedeckt.“ Diese „Vor-
stellungsfarben“ entstammen einer Erfahrungswelt, ,,die naturbeob-
achtend Morgenröte, Blumenwiese erlebte“ und kehren in der Kunst
des Mittelalters als „blau-rote Wolkenbänder oder ebenso farbige Bild-
rahmungen wieder“ oder stellen, ,,in karolingischer und ottonischer
Malerei der Naturform Wolke entschlüpfend, als Streifengriinde in den
Farben des Regenbogens oder der Morgenröte die Bildfläche“ dar. „Der
Hahn, der den Morgen ankündigt und mit Morgenstimmung verknüpft
bleibt, trägt auf östlichen Gewebedarstellungen ... ein blau-rotes
Gefieder ; der byzantinische Kaiserornat - dargestellt auf ravennatischen

7 Vgl. Schöne, Über das Licht in der Malerei, 27 f.


8 In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. III, 1939, 75-126.
4 Mittelalterliche Malerei

Mosaiken -zeigt in aufgenähten Schmuckmedaillons blaue Vögel in rote


Kreise gesetzt.. ,“ 9

Die Öffnung der mittelalterlichen Farbe in ein Licht, das sie erweckt,
steht in striktem Gegensatz zur Farbe in der antiken Malerei 10. Hier
ist, seit der frühgriechischen Zeit, das Bildlicht weithin ,,mit der Farbe
identisch“ 11. In vielen Werken ist ein weißer Grund Basis der gesamten
Buntfarbigkeit und stärkt sie in ihrer Buntkraft. Finsternis, unfarbige
Dunkelheit fehlt. Dunkel ist immer Farbe, auch beim Schwarz der Bild-
griinde. Schatten sind, wenn sie erscheinen, nie Reflexe von Finsternis,
sondern sind nach der Helle zu orientiert, wirken als durchhellte Halb-
schatten.
So folgt die Farbgestaltung hier dem „koloristischen Prinzip“. In der
archaischen Epoche bestimmen „Intaktheit, Eindeutigkeit, Vitalität“
die in „polaren Bezügen“ stehenden Farben 12. Wohl nach dem Vorbild
Polygnots, des Vaters der attisch-thebanischen Malerschule, entsteht
mit der Beschränkung auf die „Vier Farben“: Schwarz, Weiß, Rot und

9 Haeberlein, Grundzüge einer nachantiken Farbenikonographie, 78. - Zur


Farb- und Lichtgestaltung in der byzantinischen Malerei vgl.: Joh. Jakob Tik-
kanen, Die byzantinische Buchmalerei der ersten nachikonoklastischen Zeit mit
besonderer Rücksicht auf die Farbengebung. In: Festschrift für Julius von
Schlosser zum 60. Geburtstage, Zürich, Leipzig, Wien 1927, 70-81. - Ranuccio
Bianchi Bandinelli, Hellenistic-Byzantine Miniatures of the Iliad (Ilias Ambro-
siana), Olten 1955, 90—94. - Otto Demus, Die Farbe in der byzantinischen
Buchmalerei. In: Palette, 26, Basel 1967, 2-11. - Ernst Diez, Otto Demus,
Byzantine Mosaics in Greece, Hosios Lucas & Daphni, Cambridge, Mass. 1931,
84—91. - John Beckwith, Byzantium: Gold and Light. In:ThomasB.Hess, John
Ashbery (Hrsg.), Light in Art, New York, London 1969, 67-81. - Uwe Max
Rüth, Die Farbgebung in der byzantinischen Wandmalerei der spätpaläologi-
schen Epoche (1341-1453), Diss. Bonn 1976, Bonn 1977.
10 Zur Farbe in der antiken Malerei vgl.: Vincent J. Bruno, Form and Colour
in Greek Painting, London 1977 (mit Bibliographie). - Karl Schefold, The
Choice ofColour in Ancient Art. In: Palette, 13,Basel 1963, 3-19.-Ders., Die
Farbe als Bedeutungsträger in der griechischen Vasenmalerei. In: Palette, 22,
1965, 3-12. - Ingeborg Scheibler, Zum Koloritstil der griechischen Malerei. In:
Pantheon, XXXVI, 1978, 299-307. - Zur antiken Farbenlehre: Thomas Lersch,
Farbenlehre. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. VII (Lfg. 74/
75), 1974, Sp. 158-166 (mit Bibliographie).
11 Elena Walter-Karydi, Prinzipien der archaischen Farbgebung. In: Studien
zur klassischen Archäologie, Festschrift zum 60. Geburtstag von Friedrich
Hiller, hrsg. von Karin Braun und Andreas Furtwängler, Saarbrücken 1986,
23M-1, Zit. 36.
12 Walter-Karydi, Prinzipien der archaischen Farbgebung, 36.
Mittelalterliche Malerei 5

Gelb, ein „gattungsgebundenes Kolorit, das in seiner Zuriickhaltung


und seinem Ernst dem mythisch-heroischen Themenkreis ... als ange-
messen empfunden wurde“ 13. Eine „Vierfarbenlehre“ gilt der Farb-
theorie späterer Jahrhunderte als Muster der Einfachheit in der Farben-
gebung 14.

Kehren wir zur mittelalterlichen Farbgestaltung zuriick. Beim Mosaik


ist für das neue Farb-Licht-Verhältnis auch die Art der Farbzuordnung
von großer Bedeutung. Aus der Sicht der modernen Malerei böte sich als
Grund fiir dieses technisch aufwendige Verfahren die Intensivierung der
Farbwirkungen mittels Aufteilung des farbtragenden Materials an.
Diese Methode, von der Malerei des friihen 19. Jahrhunderts an als ,,Di-
visionismus“ bekannt, soll durch Nebeneinandersetzen farbiger Mikro-
elemente und deren „optische“ (also nicht „pigmentäre“) Mischung zu
einer Steigerung der Farbigkeit fiihren. Auch viele Maler des späteren
19. und 20. Jahrhunderts, Seurat, Signac, Delaunay, auch Klee, sind der
Auffassung, daß die zerlegte, in mehr oder minder regelmäßige Stiicke
aufgespaltene Farbe „reicher“, belebter wirke als die homogen gege-
bene. Was sie jedoch tatsächlich erreichen, ist letztlich die Suggestion
eines noch iiber der Farbwelt der Bildfläche lagernden „Filters“ von
„universalem“ Licht, dem Tageslicht im Falle Seurats und Signacs, dem
Licht als Energieträger bei Delaunay.
In anderer und dennoch auch vergleichbarer Weise ist solcher „Divi-
sionismus“ die Grundlage der mit dem 5.nachchristlichen Jahrhundert
verstärkt einsetzenden Mosaikkunst. Denn auch bei einem Mosaik be-
ruht die farbige Wirkung nicht in erster Hinsicht auf den Farben als sol-
chen - bei aller Differenzierung der Farbstiicke und ihrem hohen Eigen-
wert als rein farbige Größen - sondern vor allem auf dem durch die Art
ihrer Zusammenfügung erzeugten Lichtschleier, mit dem sie Anschluß
an das überirdische Licht suchen. Diese Lichtwirkung aber ergibt sich
nun nicht durch „optische Mischung“ im Auge des Betrachters - und
darin unterscheidet sich das Mosaik vom neoimpressionistischen „Chro-
moluminarismus“ - sondern durch die besondere Lagerung der ein-
zelnen farbigen Kuben. Im Gegensatz zur glatten Oberfläche des Mo-
saikbelags etwa in pompejanischen Fußböden sind nun die einzelnen
Farbkuben, die „tesserae“, in leicht unregelmäßigen Neigungswinkeln

13 Ingeborg Scheibler, Die „Vier Farben“ der griechischen Malerei. In:


Antike Kunst, 17. Jg., 1974, 92-102, Zit.97.
14 Vgl. John Gage, A Locus Classicus of Colour Theory: The Fortunes of
Apelles. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 44, 1981,
1-26.
6 Mittelalterliche Malerei

zur Grundfläche in die tragende Schicht eingesetzt. So bilden sie als


Ganzes wohl eine geschlossene, jedoch keine glatte, sondern eine facet-
tierte, aufgerauhte Fläche. Damit sind sie auf andere Weise dem Licht
geöffnet, reflektieren es, von welcher Richtung es immer kommt. Jedes
Farbstück wirkt als eigener Lichtbrecher. So entsteht eine gleichmäßige
Verstrahlung von Licht und damit der Eindruck, als wären die ,,tes-
serae“, über ihren hohen farbigen Eigenwert hinaus, selbst Quelle des
Lichts. Auch in einer dunklen Umgebung - etwa im sog. Mausoleum der
Galla Placidia in Ravenna oder in der Zeno-Kapelle in S. Prassede in
Rom - scheinen die Mosaiken Licht auszusenden. Die urspriinglichen
Beleuchtungsquellen, Lampen und Kerzen, waren dabei viel milder und
auch beweglicher als die heute üblichen, und die stete Veränderlichkeit
des Lichts forderte auch den Betrachter auf zur Bewegung: “The Early
Christian and Byzantine sources insist on a proliferation of lamps and
candles, and it seems, a good deal of emphasis was placed on nocturnal
offices. But the technique implied, too, that the spectator was not static;
he was constantly moving his eyes about the mosaic surface, which is,
indeed the only way a surface part matt and part highly reflective can
properly be seen. Movement is a feature of both Byzantine and western
‘Ekphrases’ ...” (John Gage 15).
Innerhalb dieses flimmernden, funkelnden Lichts aber entfalten sich
die Farben auch zu reichen koloristischen Wirkungen, spalten sich in
eine Vielzahl von Einzelkomponenten auf, erzeugen optische Mischun-
gen. ,,Im Baptisterium der Orthodoxen zu Ravenna (um 450) ebenso wie
bei der S. Venanzio-Kapelle in der Taufkirche des Laterans in Rom (640
bis 649) findet man hervorragende Beispiele für diqJModellierung von
Gesichtern nach dem Grundsatz der Farbmischupg.“ Rot oder Orange
erscheinen in den am stärksten hervortretenden Teilen, an der Nasen-
spitze, an den Wangen, an der Stirn und am Kinn in kräftiger Konzentra-
tion, Blau oder Griin verdichten sich zu tiefliegenden Schatten. Die op-
tische Mischung läßt plastische Wirkungen entstehen. „Dieses Prinzip
wird aber auch beim Modellieren von Gewändern und Einzelheiten des
Hintergrundes befolgt. Ein blaues Gewand kann außer seinen etwa zehn
verschiedenen blauenTönen auch Schattenpartien, mit anderen Farben
modelliert, aufweisen.“ „Die reinsten Beispiele dieser Art von Farben-
mischung begegnen uns bei kleinen und hoch oben in der Architektur an-
gebrachten Motiven. Besonders aufschlußreich sind die kleinen figür-
lichen Szenen im Hauptschiff von S. Maria Maggiore in Rom (432-440)
und S. Apollinare Nuovo in Ravenna (um 500-526). Die scheinbar ganz

15 John Gage, Colour in History: Relative and Absolute. In: Art History,
Vol.I, No. I, March 1978, 104-130, Zit. 120.
Mittelalterliche Malerei 7

einheitlichen Farbeindrücke, die unser Auge hier empfängt, beruhen in


Wirklichkeit auf den kühnsten koloristischen Tesseraekombinationen.“
,,Im 7. und 8. Jahrhundert vollzieht sich in der Mosaikkunst eine allmäh-
liche Vereinfachung in der Verwendung von Farben. Sie hängt mit der
Entwicklung von der Plastik zum Flächenstil zusammen, die die Kunst in
dieser Zeit durchlief. In den extremen Fällen des linearen Flächenstils,
besonders in Rom um 800, sind die Bildkomponenten als große geschlos-
sene Farbfelder ohne plastische Modellierung angelegt. Damit fiel das
reiche Farbenregister fort, das gerade durch die fein abgestufte Model-
lierung früher im Mosaik Verwendung gefunden hatte.“ Nun heben sich,
etwa in den Mosaiken von Papst Paschalis in Rom (817-824), die Farben
„in den großen reinen Flächen mit unvergleichlicher Klarheit und Stärke
voneinander ab“ 16.

Die Funktion des Goldes und seine eminente Rolle im Farbensystem


der nachantiken Kunst gründet in seiner dreifältigen Wirkung als eine
Metallfarbe: sie erzeugt Licht - in der Erscheinungsform des Glanzes -,
sie ist Farbe und sie ist kostbare Materie 17.
Zunächst in noch sehr bescheidenem Ausmaß erscheint Gold,
gleichsam als lichtentzündendes Mittel, als „Funke“, eingestreut in
einen Verband von Mosaikfarben, denen ansonsten der Bezug auf eine
ihnen übergeordnete Lichtsphäre noch fremd ist, wie etwa bei den Ge-
wölbe-Mosaiken im Umgang von S. Costanza in Rom (um 350). Seine im
höchsten Maße stilbildende Bedeutung erhält es aber erst dann, wenn es
nicht mehr lediglich als „lichteinfangendes“ Mittel in ein Gefiige von
Lokalfarben lokal eingesetzt wird, sondern in flächiger Ausbreitung, zu-
erst in Streifen, sodann als Bildgrund selbst erscheint, zunächst in groß-
formatigen Darstellungen, anschließend auch in der Miniaturmalerei,
erstmals (um 990) im Aachener Evangeliar Ottos III. 18
Der >Entstehung und Bedeutung des Goldgrundes in der spätantiken
Bildkompositiom widmete Josef Bodonyi eine grundlegende Studie. 19
Als die fiir diesen Zusammenhang entscheidenden Werke erkannte er

16 H.P. L’Orange and P. J. Nordhagen, Mosaik, Von der Antike bis zum
Mittelalter, Miinchen 1960, 67, 68. - Zum Farbstil der Mosaiken in S.Maria
Maggiore, Rom, vgl.: Beat Brenk, Die friihchristlichen Mosaiken in S.Maria
Maggiore zu Rom, Wiesbaden 1975, 134—139; Astorri zählte hier „33 verschie-
dene Blautöne, 39 Grüntöne, 40 Gelb-Rottöne, 2 Inkarnate, 45 Grautöne etc.,
im ganzen 190 verschiedene Glasuren“ (S. 134, Anm. 3).
17 Vgl. Schöne, Über das Licht in der Malerei, 24.
18 Vgl. Hans Jantzen, Ottonische Kunst, München 1947, 78.
19 In: Archaeologiai Értesitö, Bd. XLVI, 1932/33, 5-36 (ungar.), (Diss. Wien
1932). Nach dem Manuskript hrsg. v. Ernst Gombrich, München 1987.
Mittelalterliche Malerei

die Mosaiken von S. Maria Maggiore in Rom (432-440). Der Goldgrund


in den Bildhintergründen ist ,,ein schmaler, meist unregelmäßiger
Streifen, der sich in der Mehrzahl der Beispiele zwischen der Vorder-
grundstönung und dem landschaftlichen Hintergrund quer über das Bild
erstreckt“. Er ist damit ,,an die Stelle jener unbestimmten Mittelzone ge-
treten, die für den antiken Künstler zwischen den Raumschichten lag“
und ist „ein Zeichen für die Lichterfülltheit des Raumes“ 20.
Nach Schöne ist der Goldgrund ,,als Spender eines irrealen Licht-
glanzes auf die Phänomene des Raumes und der Fläche hin offen“ 21. Da-
gegen wurde von Ellen J. Beer eingewendet, im Goldgrund gestalte ,,der
Maler vorrangig Materie. Die Zweckbestimmung des Kunstwerks ist im
Mittelalter eine zwar anagogische, das sichtbare Bild erschließt einen
höheren Sinn, aber es besteht doch aus irdischem Stoff, dienstbar der
Funktion, die es zu erfüllen hat. Im Hinblick darauf wählt der Künstler
das Material Gold, das er auch nach Art der Goldschmiede verar-
beitet.“ 22 So wichtig der Hinweis auf den Materiecharakter des Goldes
- und auf die Bedeutung der Materie auch für die Farbgestaltung des
Mittelalters 23 -ist, so steht dieser doch nicht im Widerstreit zum „Raum“-
gehalt des Goldes. Denn im Glanz öffnet sich die Materie des Metalls in den
Raum: „Das Glanzlicht besitzt“, wie David Katz feststellte, „beim Metall-
glanz zuweilen den Charakter einer gewissen den Raum füllenden Dicke.“
Aber „die Metalle erscheinen auch in ihren nicht- oder mattglänzenden
Teilen nicht mit einfachen Oberflächenfarben. Wir nehmen zwar die
Oberfläche von Metallflächen wahr, ihre Farbe scheint aber hinter dieser
Oberfläche zu sitzen; man glaubt ähnlich wie bei der Flächenfarbe in die
Farbe des Metalles hinter seiner Oberfläche eindringen zu können.“ „Das
Besondere des Metallglanzes liegt demnach weniger in dem isolierten Far-
beneindruck der glänzendenTeile, als in der ,Farbgestalt‘, die sie eingehen
mit den nichtglänzendenTeilen des Metalles.“ 24
Das Bildgold der mittelalterlichen Malerei bietet sich in zwei Erschei-
nungsweisen dem Blick dar, aufglänzend und stumpf 25. In der einen

20 Ernst Gombrich, Referat des Buches von Bodonyi. In: Kritische Berichte
zur kunstgeschichtlichen Literatur, 1932/33, 65-76, Zit. 68, 70, 74.
21 Über das Licht in der Malerei, 25.
22 Ellen J. Beer, Marginalien zum Thema Goldgrund. In: Zeitschrift für
Kunstgeschichte, Bd. 46,1983, 271-286, Zit. 273/274.
23 Vgl. Theodor Hetzer, Tizian, Geschichte seiner Farbe, 2. Aufl. Frankfurt
a.M. 1948, 17.
24 David Katz, Der Aufbau der Farbwelt, zweite, völlig umgearbeitete Auf-
lage von: Die Erscheinungswesen der Farben und ihre Beeinflussung durch die
individuelle Erfahrung, Leipzig 1930, 34.
25 Vgl. Schöne, Über das Licht in der Malerei, 23.
Mittelalterliche Malerei 9

zeigt sich sein Lichtcharakter, in der anderen sein Gelb- und sein Mate-
riegehalt. Beide aber einen sich in der von Katz beschriebenen „Farbge-
stalt“, in der sich die Untrennbarkeit von Glanzraura und Materie be-
kundet. Auch die Goldpartien in Mosaiken lassen diese Doppelnatur
zur Geltung kommen. Die flächig-materielle Wirkung wird hier noch da-
durch unterstützt, daß in die ausgebreiteten Bezirke der lichtverstrah-
lenden Goldkuben lichtstumpfe Teile eingesetzt sind, die mit der
flächigen Verankerung den Gelbwert, die Farbwirkung, akzentuieren.
Schon in den Mosaiken von S. Maria Maggiore in Rom wird das Gold in
Griinden und Modellierungen fortgefiihrt in gelben, orangefarbigen
oder weißen Kuben, und das gleiche gilt auch noch fiir spätere Mosaiken.
Im weiteren Verlauf steigert sich der Lichtcharakter des Goldgrundes,
mit einem Höhepunkt im „oszillierenden Aufleuchten“ des Goldes bei
der ottonischen Buchmalerei, danach, im 13. Jahrhundert, kommt da-
gegen der Materiecharakter verstärkt zur Geltung. „Der Unterschied
zur spiegelnden Goldglanzfläche der Gotik ist eklatant: denn während
ottonischer Goldgrund einen zarten Übergang zur Farbe bewirkt,
treffen in der Gotik goldene und farbige Partien schroff aufeinander, ge-
steigert noch durch die ungebrochenen blauen und roten Farbwerte.
Etwa zur gleichen Zeit setzt die Bearbeitung der Goldoberfläche mit
Punze, Stichel oder plastischer Auflage ein.“ 26 Das Gold trennt sich auf
diese Weise immer mehr von der gemalten Farbwelt. Die Diskrepanz er-
scheint am ehesten dann wieder überbrückt, wenn Gold als modellier-
bare Farbe gestaltet und so dem Farborganismus eingegliedert wird, wie
dies zuletzt in der deutschen Malerei der Dürerzeit geschehen ist (so in
Grünewalds „Erasmus-Mauritius“-Tafel der Münchner Alten Pinako-
thek). Gold wird zur Goldfarbe und als solche gleichberechtigt in die
farbige Gesamtanlage hineingenommen, unter Zurückdrängung der
Glanzkomponente, die urspmnglich die entscheidende war.

Die Ausbildung des Wand- und Gewölbemosaiks im fmhen Mittel-


alter und die Schöpfung des Goldgrunds bekunden, daß für die bildneri-
sche Phantasie frühmittelalterlicher Maler die Farbe „ihre letztmögliche
Aussagefähigkeit nicht aus sich selbst, sondern erst in Wechselwirkung
und Durchdringung mit dem realen ,äußeren‘ Licht entfalten konnte“
(Strauss). Erst im Augenblick der Begegnung dieses Lichts mit dem
stofflichen Farbträger (den Glaswürfeln etc. des Mosaiks, den Metall-

26 Beer, Marginalien zum Thema Goldgrund, 277. - Vgl. auch: Wolfgang


Braunfels, Nimbus und Goldgmnd (1950), wiederabgedruckt in: Braunfels,
Nimbus und Goldgrund, Wege zur Kunstgeschichte 1949-1975, Mittenwald
1979, 9-27.
10 Mittelalterliche Malerei

blättchen des Goldbelags) „kommt Farbe durch seine Entzündung an


der Materie zustande“. „Hierbei ist der Ort dieses Ursprungs von ent-
scheidender Bedeutung für die jeweilige Wirkungsweise der Farbe.“
Auftreffend erweckt das Licht beim Mosaik aus der facettierten Ober-
fläche der Kuben eine die Bildwelt entrückende Flimmerwirkung,
gleichfalls auftreffend erweckt es „in dem (materiell gegebenen) Gold
erst dessen Fähigkeit zum Glanze und verleiht zugleich seiner farbigen
Komponente, seinem ,Gelbwert‘, den so schwer bestimmbaren Cha-
rakter einer allseitiggrenzenlos offenenSphäre, eines ,Glanzraums‘...“
Im dritten Fall - und damit kommen wir zum Glasfenster 27, agiert das
Licht nicht von vorne auftreffend, sondern von rückwärts durchdrin-
gend', durchscheinend erweckt es hier ,,die (ebenfalls nur potentiell in
der Materie vorhandenen) Farben und steigert sie gleichzeitig zur
denkbar höchsten Eindringlichkeit ihres Buntwerts. So beherrschend ist
die Kraft seiner Durchdringung, daß ihr gegenüber die Eigenhelligkeit
der einzelnen Farben als solche gegenstandslos wird: die Finsternis-
farben werden oft geradezu in ihr Gegenteil verkehrt.. ,“ 28 «Le ton bleu
d’azur de ces vitraux» (der Glasfenster von Poitiers, Chartres, Le Mans)
«joue véritablement le rôle de la couleur de la lumière; il est presque
équivalent au blanc par son exceptionnelle qualité de transparence ...»
(Louis Grodecki 29).
Mit dem Hinweis auf das reale Licht desTages als Erreger der Farben
in der Glasmalerei ist es jedoch nicht getan. Er genügte der Anschauung
des 19. Jahrhunderts, das ja auch dort, wo es Glasfenster schuf, dem
Tageslicht seine volle Realität beließ und die Glasscheibe als ein durch-
sichtiges Mittel auffaßte, deren Färbung von der Tafelmalerei entlehnt
werden konnte.
Im mittelalterlichen Glasfenster aber macht, mit der Erweckung der
Farbe durch das Licht, auch das Licht selbst eine tiefgreifende Wandlung
durch. Es verliert seinen irdischen Charakter, hört auf, weißesTageslicht

27 Zu Farbe und Licht in der Glasmalerei vgl.: Eva Frodl-Kraft, Die Glas-
malerei, Entwicklung, Technik, Eigenart, Wien und München 1970. - Louis
Grodecki, La couleur dans le vitrail du XII e au XVI e siècle. In: Ignace Meyerson
(Hrsg.), Problèmes de la couleur, Paris 1957, 183-206. - Ellen J. Beer, Die Be-
deutung der Farbe in der gotischen Glasmalerei. In: Palette, 20, 1965, 1-10. -
Florens Deuchler, Gothic Glass. In: Thomas B.Hess, John Ashbery (Hrsg.),
Light in Art, 55-66. - John Gage, Gothic Glass: Two Aspects of a Dionysian
Aesthetic. In: Art History, Vol. 5, No 1, March 1982, 36-58.
28 Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 55.
29 Le vitrail et l’architecture au XII e et au XIII e siècles. In: Gazette des
Beaux-Arts, 36,1949, 5-24, Zit. 12.
Mittelalterliche Malerei 11

zu dieser oder jener bestimmten Stunde zu sein. Der Gedanke an eine


Lichtquelle, an die Sonne, kommt nicht auf, zu Recht sprach Hans Sedl-
mayr von den „selbstleuchtenden Wänden“ der gotischen Kathedrale. 30
Das Glasfensterlicht bedingt allein sich selbst und wird so zum Gleichnis
des Absoluten.
Die Absolutheit des Glasfensterlichts kommt aber erst dann voll zum
Bewußtsein, wenn ihm in der Vorstellung ein absolutes Dunkel entge-
gengesetzt wird. „Tatsächlich wird das Phänomen des Glasfensters erst
dann voll verständlich, wenn man die realen Gegebenheiten des ,äuße-
ren’ Lichts (in Gestalt der Tageshelle) und der ,inneren‘ Finsternis (in
Gestalt des dunklen Innenraums) in ihrer Entgegensetzung gleichsam
als Abstracta nimmt. Dies ist um so leichter möglich, als beim Erlebnis
des Glasfensters der Vorstellung eines absoluten Lichts ,draußen‘ die
des absoluten Dunkels , im Innern 1 entspricht, die sich iiber das Vorhan-
densein eines (wie immer gearteten) Standortlichts a priori hinwegsetzt.
Genau an der Grenze von beiden entstehen die Farben. Um leuchten zu
können, ist das sie durchdringende Licht ebenso Bedingung wie das
Dunkel,vor‘ ihnen. Mit diesem besteht j a auch faktisch eine Verbindung
in Form der völlig dunklen Bleigrenzen und des Schwarzlots.“
(Strauss 31)
An der Grenze zum Dunkel durchdringt im Glasfenster das Licht die
Farben. Das Dunkel begrenzt Licht und Farben, bringt die Farben zu
einem aus ihrem Inneren hervorbrechenden Glühen. In der Helldunkel-
malerei des 14. Jahrhunderts lebt diese Konzeption verwandelt fort.
Der Bedeutung von „Farbendualitäten, Gegenfarben und Grundfar-
ben“ in der Tafel- und Glasmalerei vom 13. bis zur ersten Hälfte des
15. Jahrhunderts widmete Eva Frodl-Kraft eindringliche Unter-
suchungen. 32 In Zweiklängen organisiert sich die Farbkomposition goti-
scher Malwerke. An erster Stelle steht der Grün-Purpur- bzw. Griin-
Rot-Zweiklang, an Häufigkeit folgt der hieratische Rot-Blau-Akkord.
Eine dritte Farbqualität gehört „dem Genus der einen der beiden Zwei-
Klang-Komponenten“ an, ist aber in der Warm-Kalt-Qualität deren
Widerpart: „dem kühlen Purpurviolett ist warmes Mittelrot, dem
warmen Mittelrot ist Purpurviolett zugeteilt“, usf. Ein solches Verfahren

30 Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, 53-55.


31 Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 59, Anm. 33.
32 Eva Frodl-Kraft, Die Farbsprache der gotischen Malerei. Ein Entwurf. In:
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, XXX/XXXI, 1977/78, 89-178. - Dies.,
Farbendualitäten, Gegenfarben, Grundfarben in der gotischen Malerei. In: Von
Farbe und Farben, Albert Knoepfli zum 70. Geburtstag, Zürich 1980, 293-302,
Zit. 293, 295, 298.
12 Mittelalterliche Malerei

setzt voraus, „daß an die Stelle einer Welt, die aus farbigen Gegen-
ständen besteht, an die Stelle der unerschöpflichen Abwandlung der
Farben nach Farbwert, Sättigungsgrad und Helligkeit, die in der Erschei-
nungswelt vom Licht nicht zu trennen ist, ein Begriff der Farben an sich
getreten ist. Rot, Purpur, Grün, Blau, Blauviolett, Smaragdgriin, Zitro-
nengelb usw., aber auch Weiß und Grau usw. existieren fiir den gotischen
Maler als ideale Qualitäten, unabhängig von der Dingwelt; das ge-
schärfte Bewußtsein fiir ihre spezifische ästhetische Wertigkeit - die vom
Betrachter in einen unmittelbaren Gefiihlseindruck umgesetzt wird -
hat zur Herausbildung jener geradezu kanonischen Dualitäten gefiihrt,
die als Primärelemente gotische Bilder aufbauen.“
MITTELALTERLICHE BUCHMALEREI

Innerhalb der Koloritgeschichte mittelalterlicher Malerei sind wir


heute durch die mit ungemeiner Konsequenz und einer neuartigen Syn-
these von kunsthistorischen und naturwissenschaftlichen Methoden
durchgeführten Forschungen von Heinz Roosen-Runge 1 am besten über
die Farbgestaltung in der Buchmalerei informiert. Gehen in der neu-
zeitlichen Koloritgeschichte kunstgeschichtliche und maltechnische
Untersuchungen getrennte Wege, in Roosen-Runges Forschungen sind
sie vereint.
Diese Forschungen lassen alle früheren Ansätze 2 - so wertvolle Be-
obachtungen diese auch enthalten mögen - hinter sich. Allerdings
war es Roosen-Runge noch nicht vergönnt, eine Gesamtdarstellung
der Farbgestaltung in der mittelalterlichen Buchmalerei zu schreiben.
Auf der Grundlage der mit höchster Sorgfalt vollzogenen quellen-
und stilkritischen wie auch maltechnischen Untersuchungen konnten
erst einige allerdings zentrale Bereiche dieses Komplexes erschlossen
werden.
Da der Autor für diese historische Periode keine eigenen Forschungen
vorweisen kann, muß sich die Darstellung hier mit Hinweisen auf die
kunsthistorischen Hauptergebnisse der Roosen-Rungeschen Unter-
suchungen begnügen.
Die schon des öfteren betonte Tatsache, daß in mittelalterlicher
Malerei der Umgang mit der Farbe in weit höherem Maße normativ

1 Vgl. hierzu die Bibliographie Heinz Roosen-Runges in der Festschrift zu


seinem 70. Geburtstag, >Diversarum Artium Studia, Beiträge zu Kunstwissen-
schaft, Kunsttechnologie und ihren Randgebieten<, hrsg. von Helmut Engelhart
und Gerda Kempter, Wiesbaden 1982, 289-291, sowie den Nachruf des Verf. auf
Heinz Roosen-Runge in der Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 49, 1986,
120-124.
2 Z. B. : Johan Jakob Tikkanen, Studien über die Farbengebung in der mittel-
alterlichen Buchmalerei (Societas scientiarum fennica. Commentationes huma-
narum litterarum, Tomus V), Helsingfors 1933. - Hildegard Chorus, Gesetz-
mäßigkeiten der Farbgebung in der ottonischen Buchmalerei, Bonn 1933. -
Gerhard Kleining, Die Klassik in der Farbgebung bei zwei karolingischen Hand-
schriften. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 15, 1952, 69-72. - Max Imdahl,
Die Miniaturen des karolingischen Malers Liuthard, Farbgebung, Malweise,
Komposition. In: Münstersche Forschungen, Heft 9, Münster/Köln 1955,1-40.
14 Mittelalterliche Buchmalerei

bestimmt ist, machten erst die Forschungen Roosen-Runges in ihrer


Prägnanz und Vielschichtigkeit deutlich.
Er untersuchte mehrere mittelalterliche Malereitraktate, vor allem
den in den ältesten Handschriften aus dem friihen 12. Jahrhundert stam-
menden Traktat >De Diversis Artibus< eines Theophilus Presbyter, die
Traktate der >Mappae Clavicula<, deren ausführlichste Kodifizierung aus
dem späten 12. Jahrhundert stammt, sowie denTraktat eines Heraclius
>De Coloribus etArtibus Romanorum<.
Der Vergleich dieser Traktate zeigt viele Übereinstimmungen, aber
auch charakteristische Unterschiede in den malkünstlerischen Re-
zepten.
Die Malanweisungen des Theophilus-Traktats „gelten im allgemeinen
sowohl für Buchmalerei (,in pergameno‘) als auch für Bemalung von
Holzdecken (,in laqueario 1) und fiir Wandmalerei (,in muro‘). Lediglich
Unterschiede im Bindemittel und in der Verwendung der mit den Farben
zu mischenden Weißpigmente bestimmen die jeweilige Anwendbarkeit.
Nur bei wenigen Rezepten wird angegeben, daß sie ausschließlich für
Buchmalerei oder für Wandmalerei passen“ 3. Da aus dem Frühmittel-
alter nur innerhalb von Bilderhandschriften ein großer und einiger-
maßen gleichmäßig erhaltener Bestand auf uns gekommen ist, wurde
nur die Anwendbarkeit der Malrezepte auf Buchmalerei überprüft.
Bei der Sammlung der >Mappae Clavicula< (deren Manuskript im Cor-
ning Museum, Corning, N.Y., aus dem 12. Jahrhundert stammt, ge-
schrieben wohl in der Normandie, aber unmittelbar auf eine englische
Vorlage zurückgehend), dem etwas älteren, vermutlich nordfranzösi-
schen Traktat des Heraclius >De Coloribus et Artibus Romanorum< und
den damit verbundenen und ergänzenden Manuskripten in Madrid,
Leiden, Schlettstadt, Klosterneuburg und Lucca (der ältesten, bis zur
Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert zumckgehenden Sammlung mit dem
Titel >Compositiones ad Tingenda Musiva<) handelt es sich nicht um
Werke eines einzigen Autors, sondern um Kompendien eines großen
Komplexes, „der von der Spätantike bis zum 12. und 13. Jahrhundert
reicht“ 4.

3 Heinz Roosen-Runge, Die Buchmalereirezepte des Theophilus (Quellen-


geschichtliche Untersuchungen zur >Schedula Diversarum Artium< des Theo-
philus). In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. Folge, Bd. III/IV,
1952/53,159-171.
4 Heinz Roosen-Runge, Farbgebung undTechnik fmhmittelalterlicher Buch-
malerei. Studien zu den Traktaten >Mappae Clavicula< und >Heraclius< (Kunst-
wissenschaftliche Studien, Bd. XXXVIII), München-Berlin 1967, Bd. I, 22. -
Roosen-Runge, Farbe, Farbmittel in der abendländischen ma. Buchmalerei. In:
Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. VI, Stuttgart 1974, Sp. 1463 ff.
Mittelalterliche Buchmalerei 15

Wie im Traktat des Theophilus sind auch hier bestimmte Farbzusam-


menstellungen normiert, Verbindungen von Farben zu Farbenklängen in
Rezepten zu Regeln erhoben. Dabei handelt es sich um Angaben von
koloristischen Grundakkorden, von „ Konkordanzen“, die hier stets nur
drei Farben umfassen, die Farbe von Grundschichten und die Farben
von „Auflichtungen“ (Matizaturae) und von „Schattierungen“ (Inci-
siones). Roosen-Runge führte deren zweiundvierzig an. s Solche „Grund-
akkorde“ können vielfach variiert werden.
Gegeniiber den Malvorschriften des Theophilus-Traktats sind die in
der >Mappae Clavicula<->Heraclius<-Sammlung normierten Farben-
klänge „einfacher, wuchtiger und weniger abgestuft“. 6
In den Vorschriften zum Malen von Gewändern werden im The-
ophilus-Traktat „gegenüber denen in der Mappae Clavicula und in dem
Heraclius-Traktat oftmals nicht nur Dreierkombinationen von Farben,
einem Grundton mit helleren und dunkleren Abstufungen der gleichen
Tarbe oder mit anderen modellierenden Farben, gegeben, sondern es
werden solche Modellierungen oft in zwei- oder dreifacher Stufung ent-
wickelt. Dabei werden zuweilen auch etwas durchscheinende Farben an-
gewendet, so daß sich lebendige Wirkungen von An- und Abschwellen in
der Erscheinungsweise der Farben im Wechsel von opaken und wenig
transparenten Farbschichten ergeben, während in den Vorschriften der
Mappae Clavicula und des Heraclius-Traktats eher deckende Farben, zu-
weilen in buntem Wechsel, vorwiegen. In der Farbwahl ist auffällig, daß
unter den Rottönen die ihrer Konsistenz nach eher kompakt und dick-
lich wirkenden Farben des weinroten ,Carmin‘ und orangeroten ,vermi-
culum‘ fehlen, die aus dem tierischen Kermes hergestellt werden und in
den Vorschriften der Mappae Clavicula und des Heraclius-Traktats viel-
fach vorkommen. Statt dessen gibt es beiTheophilus nur noch das eben-
falls in den beiden vorgenannten Traktaten vorkommende halbtranspa-
rente ,folium‘ pflanzlichen Ursprungs, das in dreiTönungen von ,folium
rubeum 1 (rot-braun), ,folium purpureum‘ (purpurfarben) und ,folium
saphireum“ (bläulich) verarbeitet wird. Auch dadurch ist der Charakter
der Farbskala des Theophilus gegenüber dem der beiden anderen
Schriften ein wesentlich anderer.“ 7

- Roosen-Runge, Buchmalerei. In: Reclams Handbuch der künstlerischenTech-


niken, Bd. 1, Farbmittel, Buchmalerei, Tafel- und Leinwandmalerei, Stuttgart
1984, 69ff.
5 Roosen-Runge, Farbgebung undTechnik, 189-191. -Roosen-Runge, Buch-
malerei, 66 ff.
6 Roosen-Runge, Farbgebung undTechnik, 25.
7 Roosen-Runge, Buchmalerei, 70, 71.
16 Mittelalterliche Buchmalerei

Die Modellierung der Farbflächen erfolgt gemäß den letztgenannten


Malvorschriften zwar in den meisten Fällen „durch Unterschiede in
Helligkeit und Dunkelheit der Farbtöne, mit dieser modellierenden
Eigenschaft aber verbindet sich die lebhafteste Wirkung der Farben als
solcher“. „Helligkeits- und Dunkelheitsmodellierung wird mit der Bunt-
wirkung der Farbakkorde verschmolzen, in denen Matizaturae und Inci-
siones nicht heller oder dunkler, sondern nur buntfarbig anders gegen-
über der Grundschicht sind.“ „Buntwert, spezifische Helligkeit und
damit Leuchtkraft, Reinheitsgrad, Sättigung und sodann auch die ver-
schiedene Erscheinungsweise der Farbe als Malstoff werden dabei in
diesen Farbklängen ganz unmittelbar empfunden, und zwar um so inten-
siver, als die Farben in diesen Akkorden nicht isoliert aufgefaßt werden
können, sondern nur mit den beiden anderen zusammen wahrge-
nommen werden.“ Diese wechselseitige Steigerung im Buntwert wie
auch im Eigenleuchten eröffnet den Farben übergegenständliche Wir-
kungen ganz aus ihren eigenen Kräften, wie noch nicht in der Antike. 8
Die Malvorschriften der >Mappae Clavicula< und des Heraclius-Trak-
tats konnte Roosen-Runge in ihrer Anwendung auf Werke englischer
Skriptorien des 10. bis 12. Jahrhunderts beziehen.
Die engsten Übereinstimmungen derTheophilus-Malrezepte ergaben
sich dagegen zu ottonischen, also rund hundert Jahre älteren Handschrif-
ten der Reichenauer Schule, insbesondere zum sog. Evangeliar Ottos III.
(München, Staatsbibliothek, Clm. 4453) und zum Perikopenbuch Hein-
richs II. (München, Staatsbibliothek, Clm.4452) 9. Charakteristisch für
diese Verwandtschaft sind vor allem „die meisten der Purpurgewänder
mit den zarten milchig deckenden Lasuren über den verschiedenen
folium-Grundschichten, ferner die grünen Gewänder mit ihrer Kombi-
nation mannigfach abgetönter kühl-milchiger Grund- und Mittel-
schichten mit warmen, lackartig lasierten Schattenlagen, sowie die tief
leuchtenden sattblauen Gewänder in der Verbindung vor allem von
menesc (,Veilchenfarbe‘) und lazur, oder die milchig-goldfarbenen
Gelbtöne mit orangerotbräunlichen Schatten.
Aber auch die Verteilung der Akzente innerhalb der Farbenskala
ist verwandt. Diese wird bei Theophilus und in den Codices bestimmt
durch den Reichtum der folium- und viride-(Grün-)Töne, die vielfäl-
tiger abgestuft werden als die anderen Farbverbindungen. Ihnen gegen-

8 Vgl. Roosen-Runge, Farbgebung undTechnik, 28, 29.


9 FA u. a.: Evangeliar Ottos III.: Evangelist Lukas, in: Hermann Fillitz, Das
Mittelalter, I, Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 5, Berlin 1969, Taf. XIII. - Peri-
kopenbuch Heinrichs II.: Christus spricht zu den Jüngern, in: Albert Boeckler,
Deutsche Buchmalerei vorgotischer Zeit, Königstein/Taunus 1953, 31.
Mittelalterliche Buchmalerei 17

über bedeuten die sparsamer und minder reich nuancierten dunklen


menesc-lazur-minium-(Feuerrot-), ogra-(Ocker-) und Auripigment-
(helles Gelb-) Verbindungen in weniger zahlreichen Stufen vorgetragene
Gegenfarben, die sich mit den vollklingenden Harmonien der Purpur-
und Grüntöne als dunkle und lichte Gegensätze verspannen.
Ferner besteht auch darin zwischen den (vier) Reichenauer Hand-
schriften und den Schedula-Rezepten ein Zusammenhang, daß die klar-
sten, intensivsten und dichtesten Farben im allgemeinen den Figuren
vorbehalten bleiben, während den Architekturen, der Landschaft und
der Vegetation eher gebrochene, gelegentlich auch stumpfere Klänge
eigentümlich sind.“ 10
Hintergrundfarben erwähntTheophilus nicht. ,,Er gibt nur ganz allge-
meine Anweisungen zum Arbeiten mit Blatt- und Pulvergold.“ Diese
Nichterwähnung mag damit zusammenhängen, daß sich die Hinter-
grundfarben durch Beimischung von cerosa (Weiß) zu den Gewand-
farben ergeben. 11
Zur Veranschaulichung der Besonderheiten der einzelnen Buchma-
lerei-Epochen seien einige Beschreibungen Roosen-Runges zitiert. 12
Die Zartheit und zugleich körperliche Bindung der Farben noch an-
tikisch bestimmter Miniaturen wird abgelöst vom unruhigen Leuchten
irischer, von der Schwere, dem Ernst und Prunk karolingischer Farbge-
bung. Ihr folgen die „unirdische Strenge und Herbheit der Farbenklänge
ottonischer Buchmalerei“ und die farbig-bildhafte Verdichtung der Dar-
stellungen in Handschriften des 12. Jahrhunderts.
Als erstes Beispiel sei eine Miniatur aus der Ilias-Handschrift der
Bibliotheca Ambrosiana, entstanden im friihen 6. Jahrhundert wahr-
scheinlich in Byzanz, erwähnt. Hier 13 ist dargestellt, ,,wie Thetis, die
Mutter Achills, Zeus um Hilfe anfleht und anschließend ein Göttermahl
stattfindet. Die Farben der nebeneinander angeordneten Gestalten

10 Roosen-Runge, Die Buchmalereirezepte desTheophilus, 169.


11 Roosen-Runge, Die Buchmalereirezepte desTheophilus, 171.
12 Nach Roosen-Runges Vortrag an der Berliner RIAS-Funkuniversität am
19.10.81, >Techniken der Farbherstellung mittelalterlicher Buchmalerei und
ihre Anwendung<, gekürzt gedruckt in: Farbe, Material, Zeichen, Symbol (For-
schung und Information, Bd. 33), hrsg. von Ruprecht Kurzrock, Berlin 1983,
114—122, und Roosen-Runges Aufsatz >Die Farbe in der mittelalterlichen Buch-
malereh, in: Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 1, Bremen und Wolfenbüttel
1977,139-165, insbes. 151 ff. Vgl. auch Roosen-Runge, Farbgebung undTechnik,
etwa 33 ff., 60 ff., 74 ff., 85 ff., 96 ff., 106 ff., 111 ff., 134 ff., 139 ff; Roosen-Runge,
Buchmalerei, 104—119.
13 FA: Ilias Ambrosiana Cod. F. 205 P. Inf. Bibliotheca Ambrosianae Medio-
lanensis, (Fontes Ambrosiani... XXVIII) Bern-01ten,Taf. IX.
18 Mittelalterliche Buchmalerei

dieser Miniatur, ein tiefes Carminrot und ein helleres Rosa, Indigoblau,
helles Mennigrot und sanftes Grünspangrün, sind so nebeneinanderge-
setzt, daß alle Figuren farbig in einem Gleichgewicht erscheinen und,
obwohl sie körperhaft mit dunklen Schattenlinien modelliert sind, alle
in der Fläche des Bildes übereinkommen. Das liegt nicht nur daran, daß
sie sich nach Intensität und Ausdehnung gegeneinander auswiegen, son-
dern auch daran, daß sie in etwa gleichmäßiger Dichte relativ fest und in
homogener Oberflächenwirkung aufgetragen sind. In solchen Wir-
kungen der Farbe ist die Miniatur noch ganz ein Zeugnis antiken künst-
lerischen Empfindens, für das die menschliche Gestalt als körperliche
Ausgang aller Gestaltung war und fiir die ein Bild von dort her in Tiefe
und Fläche ausgeglichen aufgebaut wurde.
Dafiir noch ein anderes Beispiel. Im Corpus Christi College in Cam-
bridge, England, wird ein Evangeliarfragment des ersten Erzbischofs
von Canterbury, das Evangeliar des hl. Augustinus, mit einer Darstel-
lung des vor einer triumphbogenartigen Architektur thronenden Evan-
gelisten Lukas 14 aufbewahrt. Die Handschrift stammt wahrscheinlich
vom Ende des 6. Jahrhunderts aus Italien, vielleicht aus Rom. Hier sind
nun gegenüber der früheren Iliasminiatur alle Farben leichter und kör-
perloser. Hellgelbe und braune Töne, Nuancen von Mennigrot, helles
und dunkles Blau und lichtes Purpurfolium treten in hellen Akkorden,
dabei aber wieder ähnlich gleichgewichtig zusammen. Bezeichnender-
weise wird hier statt des schweren, in der älteren Handschrift verwen-
deten Carmins das weniger körperhaft und fast glasartig aufgetragene
Folium verwendet. Gerade dadurch wird zusammen mit den anderen
Farben der Miniatur auch vom Rot her nochmals ein Gleichgewicht aller
Farben inTiefe und Fläche erreicht, das man letzten Endes noch als anti-
kisch empfindet.“
„Ganz anders ist in dem etwa ein Jahrhundert später entstandenen
northumbrischen Evangeliar von Lindisfarne in London 15 verfahren.
Auf fol. 137’ erscheint der Evangelist Lukas. Abgesehen davon, daß hier
der Evangelist isoliert vor einer leeren, dunkelrot gerahmten Grund-
fläche von der Seite gesehen, als große Einzelfigur und nicht wie in dem

14 Evangeliar des hl. Augustinus, Cambridge, Bibliothek des Corpus Christi


College, Cod. 286, fol. 129 v. FA: Kurt Weitzmann: Spätantike und fmhchrist-
liche Buchmalerei. München 1977, 114. Taf. 42. - Francis Wormald: The Minia-
tures in the Gospels of St. Augustine, Cambridge 1954, Taf. II. - J.Hubert,
J. Porcher, W. F. Volbach, Frühzeit des Mittelalters (Universum der Kunst), Mün-
chen 1968. Farbabb. 146.
15 Brit. Mus. Cotton Ms. Nero D IV. - FA: J.Hubert, J.Porcher, W. F. Vol-
bach, Frühzeit des Mittelalters (Universum der Kunst), München 1968, FA. 173.
Mittelalterliche Buchmalerei 19

Blatt in Cambridge in einer architektonischen Umgebung dargestellt ist,


wird auch die Realität, der der Heilige angehört, sofort als eine ganz an-
dere empfunden. Tief leuchtend ist der Heilige auf die Blattseite ge-
bannt. So ergibt sich ein Eindruck, der völlig unantik ist, obwohl der
Typus der Sitzfigur noch ein antiker ist. Die Gestalt ist farbig durch die
Gegensätze des tiefen, etwas transparenteren Blau des Palliums mit
seinen grellroten Falten zu dem sanften, ebenfalls halbdurchschei-
nenden Purpurrosa derTunika mit ihren griinen Faltenstegen bestimmt.
Dieses Blau und dieses Rosa sind wieder mit Folium gemalt. Es sind
jetzt die Foliumnuancen, die später von Theophilus als Folium saphi-
reum und Folium purpureum beschrieben werden. Dazu fiigt der Maler
hier in den Rahmenstreifen noch ein dunkles Folium, das ein wenig zu
dem Folium rubeum, das Theophilus als dritte Foliumnuance nennt,
neigt.“ Im Kontrast zu den opaken, fest wirkenden griinen und grell-
roten Faltenlinien ist ,,das rote und blaue Folium an- und abschwellend
in den halbdurchscheinenden Flächen gemalt, eine Wirkung, die auch in
einer ganz zarten Wölbung der Farbschicht begründet ist, so daß diese
wie gemugelte mittelalterliche Edelsteine aussehen. So heben sie sich
von den Falten wie von festen Stegen halb aus sich leuchtend ab. Ähn-
lich wirkt auch der Grund (Folium mit sehr wenig Bleiweiß) und der
Randstreifen transparent.“ Die Gestalt des Evangelisten hebt sich ,,in
dem verhaltenen Aus-sich-Leuchten ihrer Farben von allem anderen auf
der Seite hervor. Das ist etwas funktionell anderes als die gleichmäßige
Einbindung des Folium-Rot in das flächenhafte farbige Gleichgewicht
auf der Seite der Cambridger Handschrift. Während jene darin noch an-
tiker Gestaltungsweise nahesteht, tritt uns hier eine bereits mittelalter-
liche Akzentuierung der Farben entgegen.
Noch vielfältiger, ja phantastisch wirken die Farben dann in dem im
friihen 9. Jahrhundert entstandenen irischen Book of Kells des Trinity
College in Dublin, gerade auch auf den reinen Schriftseiten. Auf der An-
fangseite des Lukas-Evangeliums mit dem Eingangswort ,Quoniam‘ 16
sind alle Farben in eine eigentiimlich schwebende Ordnung zueinander
gebracht, obwohl ornamental in einer Fläche angeordnet. Dabei kommt
wieder dem Folium, das hier aber in anderer Weise als vorher ange-
wendet wird, ein wichtiger Anteil zu. Das Folium ist nun nicht rein oder
minimal mit Weiß gemischt, wie im Lindisfarne-Evangeliar, aufge-
tragen, sondern es wird in stärkerer Mischung mit Weiß zu einem mil-
chigen Rosa gebrochen. Diese Mischung wird als eine noch immer ein
wenig transparente Oberschicht iiber einen dunkleren lazurblauen

16 Book of Kells, Dublin,Trinity College Library Ms. 58, AI b, fol. 188. -FA:
F. Henry, The Book of Kells, London 1974, 61.
20 Mittelalterliche Buchmaierei

Grund gelegt, so daß das Blau von unten durch das Rosa verhalten und
unruhig hindurchschimmert. Dies ist der Fall in den äußeren Streifen,
die als Band die breite ornamentgefiillte Rahmung fiir das innere Buch-
stabenfeld, in dem das ,Quo‘ steht, und die Eckkreuze rechts umfassen
... In der zwischen Lazur und weißlich Purpurrosa schwebenden, bei
hauchartig wechselndem Auftrag des Foliums sich ständig verändernden
Farbe der Feldumrahmung wird eine Flächenbindung fast aufgehoben
und die Farbe scheint vor dem Grund wie fluoreszierend, nicht mehr auf
einer Oberfläche lokalisierbar, zu schweben. Davon wird auch das
ganze, so umgriffene Feld mit seinen vielen kleinteiligen Füllungen,
dunklen Gründen und grellfarbigen Kleinmustern betroffen. Es sinkt im
Kontrast dazu in seinen Dunkelheiten zurück, aus denen dann um so
schärfer die hellen Auripigmentgelb-Streifen und -Spiralformen und das
grelle Mennigrot der Scheibenränder nach vorn springen. Alles dies
wird geschärft durch das fiir das Auge irritierende Flimmern von ste-
chendem Mennigrot vor dem Lazurgrund auf den Flächen des zentralen
Buchstabenkastens ...“
„Gegenüber solcher Erscheinungsvielfalt der Farben ist die Farbigkeit
festländischer karolingischer Malerei schlicht und gleichwohl prunkvoll
und feierlich. In einem Blatt aus dem um 800 zu datierenden Londoner
Evangeliar der Hofschule Karls d. Großen ist der Evangelist Matthäus in
einer von einem Gebälk gekrönten Nische dargestellt. 17 Er trägt einen
dunkelroten Mantel über einem hellblauen Gewand. Bezeichnend ist
nun, daß dieses Rot hier mit dem dichter als Folium wirkenden, aus
Kermes gewonnenen Carmin gemalt ist, das auch mit Weiß vermengt
deckend wirkt. Die verschiedenen Nuancen dieser Mischung bis in die
mit reinem Carmin gemalten tiefsten Stellen sind kräftig und bestimmt
vorgetragen, auf den höchsten Aufhöhungen bis ins Weißliche model-
liert ... Sie steht darin den anderen Farben der Seite gleich, den leuch-
tend warmen Rottönen und dem Orangeton in Säulen, Architektur und
Vorhängen, dem dunklen Grün des Thronbehangs, dem leuchtenden
Lazurblau der Nische und der großen Graufläche des Grundes, die ähn-
lich in reinen Ausprägungen mit Auflichtungen und Schattierungen
meist Ton in Ton modelliert sind ... Immer aber wird in aller solcher
Modellierung durchgehender Zusammenhang der Flächenwirkung und
gleichmäßige Dichte der farbigen Erscheinung alles Dargestellten be-
wahrt. Zu dem Eindruck einer gewissen materiellen Schwere trägt auch

17 Evangeliar, London, British Library, Harley Ms.2788, fol. 13’. - FA von


foi. 6’, 12, 13’, 109 in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben, Bd. III. -
Karolingische Kunst, hrsg. von W. Braunfels und H. Schnitzler, Düsseldorf 1965,
Taf. V-X.
Mittelalterliche Buchmalerei 21

die Verwendung breiter Goldstreifen in der Quermusterung der Vor-


hänge oder in den Randleisten der Architrave, und vor allem die sehr
breiten äußeren goldenen Rahmen bei, die das ganze Blatt umfas-
sen ...“
Wesentlich andere Eindrücke empfangen wir, wenn wir uns einer otto-
nischen Miniatur zuwenden. „Ein Bild in einem Lectionar des mittleren
11. Jahrhunderts aus der Reichenau in der Würzburger Universitätsbi-
bliothek soll hierfiir herangezogen werden. 18 Man sieht hier den Apostel
Paulus, in durch etwas Bleiweißzusatz gedeckt purpurfoliumfarbener
und hell lazurblauer Gewandung, in einem Gehäuse zwischen zwei indi-
goblauen Pfeilern sitzen, die ein hellblaues Gebälk tragen. Dariiber er-
scheinen drei jugendliche Heilige vor einem unten sattblauen, darüber
milchig purpurfarbenen Himmel. Der Hintergrund zwischen den
Säulen ist golden. Links und rechts der Säulen außen tut sich ein anderer
tief purpurroter Grund auf, der mit etwas transparent wirkendem Fo-
lium gemalt ist. Dazu kommen noch Griinspangriin im Boden und im
Kissen des Apostels sowie verschiedene Töne von gelbem, mit Bleiweiß
gemischtem Ocker und braunem Ocker im Mobiliar. Hier ist eine ganz
andere Ordnung der Farben nach Dichte, Transparenz und Leuchtfähig-
keit als in den beiden antiken Miniaturen verwirklicht. Der Apostel er-
scheint farbig als die intensivste Größe im Bilde, und dies um so mehr,
als er vor dem schimmernden Lichtgrund des Goldes steht. Die Archi-
tektur umgibt ihn wie ein Rahmen. Aber außerhalb öffnet sich dann im
halbtransparenten Rot des Foliums eine unbestimmbare Tiefe. Alles im
Bilde Dargestellte wird dadurch natürlichem Erleben wie entmckt. Wir
schauen in eine Welt des Heiligen, die in verschiedener Intensität licht-
hafter Erscheinung versinnlicht ist.
Im 12. Jahrhundert sind dann die künstlerischen Absichten wiederum
andere. In Hildesheim in St. Godehard befindet sich eine Psalterhand-
schrift, die wahrscheinlich im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts im
Kloster St. Albans bei London entstanden ist, der Albani-Psalter 19. In
ihrem Bilde des Gebets Christi und seiner drei Jünger am Ölberg haben
wir nun eine nicht mehr so ferne Welt vor uns. Wie die Gestalten Christi
und der Jünger mit dem Hügel zusammen, vor dem sie stehen, wie in
18 Vgl. dazu weiterführend: H. Roosen-Runge, Beiträge zur Geschichte und
zur Farbgebung des Lectionars M. p. th. q. 5 der Würzburger Universitätsbiblio-
thek. In: Helmut Maurer (Hrsg.), Die Abtei Reichenau. Neue Beiträge zur Ge-
schichte und Kultur des Inselklosters. Sigmaringen 1974, 389-404. - Dort auch
Farbabbildung der besprochenen Miniatur, fol. 2’, Paulus als Briefschreiber, auf
Taf. 57.
19 Dazu weiterführend: H.Roosen-Runge, Farbgebung und Technik, I,
81-94. Dort auch FA der besprochenen Miniatur auf Taf. V.
22 Mittelalterliche Buchmalerei

einer durchgehenden vorderen Reliefebene gegeniiber einem jetzt sehr


flächig wirkenden Hintergrund erscheinen, macht, daß das Bild viel kon-
kreter wirkt. Der Hintergrund ist aus hohen Feldern von Lazurblau,
Grünspangrün und mildem Foliumrot gebildet, mit einem dunklen
Baum vor dem griinen und roten Streifen, und das blaue und das griine
Feld sind durch einen feinen Weißstreifen voneinander getrennt. Da-
durch sehen diese Farbfelder nicht mehr unbestimmbar tief, sondern
eher wie farbige Intarsien aus. Das teilt sich auch dem zarten Foliumrot
links des Baumes mit. Vor diesem flachen Hintergrund wirken die
Figuren Christi und der Jünger, in denen die Hintergrundfarben
wiederkehren, aber lebhaft mit Bleiweiß modelliert sind, sowie der
braune Hügel mit seinen Erdschatten um so reliefartiger. Diese neue
plastische Bestimmtheit des Bildes, die hier mit den alten überlieferten
Farbmaterialien gewonnen ist, entspricht der neuen künstlerischen Ein-
stellung des 12. Jahrhunderts, die auch die zeitgenössische Skulptur
prägt.“
Das Besondere früh- und hochmittelalterlicher Farbgestaltung ist das
Verhältnis von Tradition und Neuschöpfung. So wird etwa in den Skrip-
torien des 12. Jahrhunderts weitgehend mit dem Kanon der Farbkonkor-
danzen, welche man schon im 11. Jahrhundert benutzt hatte, gearbeitet.
„Die alten Konkordanzen werden jedoch in einem anderen künstleri-
schen Sinne verwendet, die Gewichte erscheinen in der Farbenskala ver-
schoben, und die maltechnische Ausführung ist in vielen Fällen eine an-
dere geworden, um den neuen Vorstellungen zu entsprechen. Dadurch
erscheint schließlich doch die Farbenwelt, die in den Miniaturen zu uns
spricht, vollkommen verändert.“ „Hierin liegt vielleicht das eigentüm-
lichste Merkmal dieser Rezeptensammlung der Konkordanzen. Denn
sie zeigen etwas, das es in der abendländischen Malerei später nie mehr
gegeben hat, daß nämlich die Welt der Farben, die grundsätzlich unend-
lich ist, in bestimmten Grundvorstellungen geordnet werden konnte, die
über so große stilistische Wandlungen hinweg eine Basis abzugeben ver-
mochte.“ 20
Betrachtet man die Mikroaufnahmen der von Roosen-Runge gefer-
tigten Malproben und die Mikroaufnahmen von Farbschichten der
untersuchten Miniaturen 21, dann wird man nicht nur der abstrakten Aus-
drucksmacht, sondern auch der ungemeinen Subtilität und Vielfalt
dieser „Konkordanzen“ und ihrer Variationen gewahr, die einen neuen
Begriff der mittelalterlichen Buchmalerei als Farbenkunst vermitteln, so

20 Roosen-Runge, Farbgebung undTechnik, 80-81.


21 Roosen-Runge, Farbgebung undTechnik, Bd. II, Mikroaufnahmen 1 bis
382.
Mittelalterliche Buchmalerei 23

weit wir von einer Kenntnis ihrer Gesamtgeschichte auch noch entfernt
sein mögen!
Nach dem 12. Jahrhundert stehen wir vor einer veränderten Situation.
„Die alten Vorschriften nach Art der Mappae Clavicula, des Heraclius
und des Theophilus konnten vielfach den neuen kiinstlerischen Vorstel-
lungen der Gotik nicht mehr genügen. Neue Verfahren oder Verände-
rungen der älteren Farbherstellungsrezepte und ihrer Verwendung
werden entwickelt und aufgeschrieben. Auch gehen dieTexte allmählich
vom Lateinischen zu den Nationalsprachen über. “ 22 Aufschlußreich ist
dabei, daß inTexten und Werken „in höherem Maße ein Gefühl für den
Lichtwert der Farbe zum Ausdruck kommt.“ So spricht man im späteren
Mittelalter in Deutschland von „liechten“ Farben und im Kontrast dazu
von Bildstellen, die man „schätwen“ solle. 23
In diesem veränderten Verhältnis von Farbe und Licht gewinnt auch
die Glasmalerei den Rang einer höchsten Kunstgattung. Deren Farbe-
Licht-Konzeption bildet die Voraussetzung der Farbgestaltung in der
transalpinenTafelmalerei des 14. Jahrhunderts.

22 Roosen-Runge, Buchmalerei, 71.


23 Vgl. Roosen-Runge, Die Farbe in der mittelalterlichen Buchmalerei, 142.
-Vgl. auch ders.: Neue Wege zur Erforschung von illuminierten Handschriften
und Drucken der Gutenberg-Zeit. In: Gutenberg-Jahrbuch 1983, 89-104.
DIE ENTSTEHUNG DES HELLDUNKELS
IN DER TRANSALPINEN TAFELMALEREI
DES 14. JAHRHUNDERTS

Die Tafelmalerei des 14. Jahrhunderts, in der die Farbvorstellung des


hohen Mittelalters verwandelt fortlebt, verfügt nicht mehr über das radi-
kale Mittel der Farbentzündung vermöge des durchdringenden Lichts.
Vielmehr wird nun das Licht selbst zu einem Gegenstand der Darstellung
vermittels der auf die undurchdringliche, feste Malfläche aufgetragenen
Farbe. Zugleich erhält sich der lichtdurchklärte Charakter der Farbe.
Technisches Mittel hierzu ist die Erzeugung eines immanenten Farb-
glanzes mit Hilfe von Lasuren, durchsichtigen oder halbdurchsichtigen
Farbschichten, durch die das auftreffende Licht, aus unterschiedlichen
Tiefen, wieder zurückgeworfen wird. Die künstlerischen Mittel aber
sind: die „Verdünnung“, das Erblassen der farbigen Substanz an den
Stellen, die ,,im Licht“ erscheinen sollen. Diese „Durchleuchtung“ kann
bis zum völligen Erlöschen des Buntfarbtons führen, also in Unfarbig-
keit gipfeln.
Die Steigerung der lichthaften Erscheinungsweise der Farbe wird
- und das ist das Entscheidende - aber vor allem ermöglicht durch
eine in der Geschichte der Malerei bis dahin unbekannte Bilddunkel-
heit. Die Helle der aufscheinenden, erglühenden Farbe fordert im
Gemälde die Dunkelheit als ihr Korrelat. Ernst Strauss hat in seiner Ab-
handlung >Zu den Anfängen des HelldunkelsU dieses Wirkungsver-
hältnis dargelegt. Dunkel und Licht bilden nun polare Gegensätze.
Sie konstituieren den Bildraum, aus ihrer Spannung entstehen auch
die Farben. Die Farbe steigt auf zum Licht, versinkt ins Dunkel, ist
Ubergang im Spannungsbogen zwischen beiden, erscheint somit, zum
ersten Mal in der Geschichte der Malerei, als eine Funktion des Hell-
dunkels.
Tafelbilder der böhmischen Malerei des späteren 14. Jahrhunderts
zeigen wohl am reinsten dies Helldunkel in seiner ersten Erscheinungs-
form. Es ist kein Zufall, daß sich Fritz Burger vor dem um 1380/85 ent-
standenen Tafel der >Auferstehung Christu des „Meisters von Wittingau“

1 Erstmals 1959 veröffentlicht, wiederabgedruckt in: Strauss, Koloritge-


schichtliche Untersuchungen, 47-62.
Transalpine Tafelmalerei des 14. Jahrhunderts 25

(Prag, Národní Galerie 2) an „Rembrandtsche Gestaltungsgrundsätze“


erinnert fühlte 3 und Antonin Matëjcek feststellte, der Meister habe
„lange, bevor des Helldunkel künstlerische Notwendigkeit wurde,
dessen Methoden vorweggenommen und angewendet“ 4. In dieser Auf-
erstehungstafel wirken farbig am stärksten das schwerelose, schwarz-
umhüllte Rot des Christusmantels und das ihm gegenüber etwas heller
erscheinende Rot des Grundes; das weiß-rosa durchhauchte Panzer-
hemd des Wächters und der hellgraue Sarkophag folgen. Alles andere ist
dem Dunkel unterworfen. Nur der Goldnimbus, die Goldfahne, die
Knierüstung des Wächters glänzen auf.
Die tiefe Finsternis bleibt nicht auf den Hinter- oder Mittelgrund be-
schränkt, sie herrscht ebenso im Vordergrund; nur nach rechts zu hellt
sie sich unter dem Sarkophag in ein silbrig schimmerndes Grau über oliv-
tonigem Grund auf - wie überhaupt dem Silber als Grau- wie als Licht-
wert hier hohe Bedeutung zukommt: es findet sich in der Rüstung des
Wächters, der Schildspitze, einem Sarkophagring, in Harnischen und
Lanzenspitzen der Wächter hinter dem Sarkophag. Die schwärzliche
Umfiorung des tiefglühenden Rots im Mantel Christi, das unbestimmte
Glimmen der Metallfarben kennzeichnen den Charakter der Helldunkel-
gestaltung auf dieser Stufe der Entwicklung.
Die drei Apostel auf der Riickseite dieserTafel 5, Jacobus minor, Bar-
tholomäus, Philippus, erscheinen dagegen in delikaten Farben auf der
Basis von Finsternis, nämlich in Tiefoliv, tiefem Rotbraun, Blaugrau,
sattem, tiefem Schokoladenbraun, zusammen mit Schwarz, die Archi-
tektur in hellem Purpurton und tiefem Braun, mit Goldgrund als
Abschluß und einer nach rückwärts zu sich verdunkelnden braunen
Bodenzone.
Wie auf dieser Flügelrückseite stehen die Farbformen auf dem Haupt-
altar von St. Petri in Hamburg (1379, Kunsthalle Hamburg) 6 von Meister
Bertram (um 1340-1414/15) als partiell durchleuchtete Silhouetten vor
einem durchgehenden Goldgrund, jedoch kompakter, farbkräftiger.

2 FA: Hanspeter Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter (1350


bis 1500), Genf (Skira) 1968, 34.
3 Fritz Burger, Hermann Schmitt, Ignaz Beth, Die deutsche Malerei vom aus-
gehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, Bd. I (Handbuch der
Kunstwissenschaft), Berlin-Neubabelsberg 1913, 133-135.
4 Antonin Matëjcek und Jaroslav Pesina, Gotische Malerei in Böhmen,Tafel-
malerei 1350-1450, Prag 1955, 29. -FAdort Abb. 88, 93, 96,102,105,109.
5 FA: Matëjcek, Abb. 102.
6 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 31 (>Die Erschaf-
fung derTiere<). - Kindlers Malerei-Lexikon im dtv, Bd. 1, 336-339.
26 Transalpine Tafelmalerei des 14. Jahrhunderts

Die Formdunkelheiten zeigen sich als Widerstände gegen den Gold-


grund. Im Maße er durchdringt, erleuchtet er Figuren und Dinge, im
Maße des Widerstandes ergeben sich schattende und somit „modellie-
rende“ Dunkelheiten an der Form. Solche Modellierung ist, im Gegen-
satz zur formbezogenen italienischen, stets „grundbezogen“, vom
Grund her „gesteuert“. Auch die präzise Randschärfe der Konturen er-
klärt sich aus dieser Grundbezogenheit, denn sie entsteht dadurch, daß
die äußerste Grenze der nach außen gleitenden Dunkelheit gegen den
Glanz des Grundes absticht. Nur beim Engel der >Vertreibung aus dem
Paradies< und der >Verkündigung an Maria< werden selbständige Kon-
turen sichtbar, als breite goldbraune Grenzstreifen - aber darin gleichen
sie den Faltenlinien, den Stegen im Inneren der Form als auf Linien-
breite reduzierten Rundmodellierungsbahnen. Die Abhebung der
Engelsgestalt vom Grunde mittels derartiger „Modellierungskonturen“
läßt das Gewand selbst „goldfarben“ erscheinen, obschon es mit Stern-
punzierung ornamentierter und dadurch „verirdischter“ Goldgrund ist.
(Man vergleiche damit den Engel in Simone Martinis >Verkündigung
Mariä< von 1333 in den Uffizien.)
Die ansonsten herrschende Spaltung in durchdringendes Licht und
Farbigkeit bekundet sich auch im Unterschied des Licht-Weiß, das Blau
durchdringt (etwa in den Mariengestalten) vom stoffdarstellenden Weiß
(z.B. im Schultertuch des Priesters der >Darbringung im TempeU),
einem sonst selten verwendeten, warmen, gelblichen „Baumwollton“.
Das Licht des Goldgrundes wirkt mithin als transluzide Helligkeit
durch die Farben hindurch, diese entstehen in der Auseinandersetzung
des Goldgrundlichtes mit der Dunkelheit, die sich an und zwischen den
Dingen bildet. Alle Formen triiben, verdunkeln sich nach der Bild-
„tiefe“ zu, die Altäre der >Opferung Isaaks< oder der >Darbringung im
TempeU, die Bodenflächen, der Wald in der >Erschaffung der Pflanzen<
usf. Sie stehen damit in einem labilen Raumbezug zum Goldgrund. Der
genannte Wald etwa kann, gewissermaßen als Kulisse, den Goldgrund
iiberschneidend betrachtet werden, oder aber als iiberschnitten vom
Goldgrund, und dannineine größereTiefe fiihrend. -Bei denBildarchi-
tekturen sammelt sich die äußerste Helligkeit oft an den Formkanten,
den Gegenstandsgraten, um dann rapide nach dem „Inneren“ der Flä-
chen hin abzunehmen und in tiefes Dunkel iiberzugehen, das dann
wieder von einer abrupt angrenzenden hellen Fläche geschnitten wird.
Viele Flächen erhalten auf diese Weise etwas „Gleißendes“, „Irisie-
rendes“ und entsprechen damit der „irisierenden“ Gewand- und Inkar-
natmodellierung.
In seinen späteren Werken schreitet Meister Bertram zu größerer Far-
benvielfalt und -aufhellung fort. So erscheinen anstelle von Karmin-
Transalpine Tafelmalerei des 14. Jahrhunderts 27

braun, stark vergrautem dunklem Blau, bläulichem Grau, Braun- und


stumpfen Olivtönen, den Farben des St.-Petri-Altares, in der Darstel-
lung >Christus vor Pilatus< des um 1394 (?) entstandenen Passionsaltars
der Niedersächsischen Landesgalerie Flannover 7 gelblich durchleuch-
tetes Lindgrün in Pilatus und der rechts schließenden Figur, transluzides
Purpurrosa im Gewand Christi, dazu Orange, Braunviolett, Tiirkisblau,
Zinnober, lichter Ocker und etwas bläuliches Mausgrau, insgesamt sich
zusammenschließend zu einem Dreiklang aus warmen und kalten Rot-
tönen und Griin. Mit der Farbenvielfalt und der Aufhellung des Farb-
klangs nimmt aber auch die Raumdunkelheit zu.
Farbe als Funktion des Helldunkels muß also keineswegs eine Ein-
schränkung ihrer spezifischen Farbkraft bedeuten. Meister Bertrams
Passionsaltar macht deutlich, daß Farbanzahl und Farbausgeprägtheit
nicht geringer zu sein brauchen als in einem Blatt der gotischen Buch-
malerei. Aber die charakteristische Lichtkraft der Farben im genannten
Altar wird bestimmt nicht so sehr durch ihre eigene innere Helle denn
durch Helle als Gegenkomponente zur Dunkelheit. Die Dunkelheit
erscheint als tragender Grund, das ist das Neue.
Bei gleichzeitigen Werken, wie etwa bei der in des Wittingauer Mei-
sters Nachfolge stehenden bayerischenTafel des >Gekreuzigten zwischen
Maria und Johannes< aus der Augustinerkirche in Miinchen (um 1390,
München, Bayerisches Nationalmuseum) 8 dringt Finsternis wiederum
in die Farben ein, läßt die Gestalten vor dunklem Olivbraun auf-
scheinen.
Im Laufe des 15. Jahrhunderts nimmt solche Lichtdurchlässigkeit der
Farbe ab, erhält sich am ehesten noch im Inkarnat. Schon die süddeut-
scheTafel des >Gekreuzigten zwischen Maria undJohannes<, dem Mittel-
stück des Pähler Altars aus dem frühen 15. Jahrhundert (München,
Bayerisches Nationalmuseum) 9, weist in seiner dichteren Farbigkeit auf
diese neue Entwicklung.
Helldunkel bildet ein primäres Stilmerkmal auch des „weichen Stils“.
Dieser Begriff kann ohne Vorbehalt auf die Farbe übertragen werden,
wenn man darunter ihre „Lösbarkeit“ in Licht und Dunkel versteht.
Der Goldgrund beginnt im Maße seiner Verflächigung seine entgren-
zende, die Bildwelt allseitig öffnende Funktion mehr und mehr zu ver-
lieren, aber selbst dort, wo eine abstrakte Farbfläche ihn ersetzt, bleibt
der Bildraum „fluktuierend“. Etwas von der Transparenz, die den ein-

7 FA: H.Th. Musper, Altdeutsche Malerei, Köln 1970, 73. - Vgl. auch
Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 32 (>Christus am 01berg<).
8 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 37.
9 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 43.
28 Transalpine Tafelmalerei des 14. Jahrhunderts

zelnen Formen und Farben eignet, scheint sich dem gesamten Bildraum
mitzuteilen, hier wie dort bedingt durch flutendes Dunkel.
Die >Geißelung ChristU vom 1424 begonnenen Thomas-Altar Meister
Franckes in der Hamburger Kunsthalle 10 zeigt eng aneinandergedrängte
Farben: Braunorange, Olivgrün, Englischrot, Ocker, weißlichen Kar-
min, dazu gedämpftes, fast dumpfes Weiß. Jede Farbe wird in ihrem
dinglich motivierten, individuellen Wert belassen, alle zusammen
bilden, im Detailreichtum der Darstellung, eine Fiille zarter Kontraste.
Der Farbdichte kommt zugute, daß sich die Wirkung des Transluziden
auf die kubischen Architekturformen, etwa die zartrosatonigen, lichten
Zinnen des den Geißelungs-Raum oben schließenden Bogens, zuriick-
gezogen hat. Der Richtungsenergie des Formaufbaus entspricht keine
Intensität der farbigen Intervalle. Diese Spannung zwischen Form und
Farbe hebt sich in der mehrfach foliierenden Dunkelheit auf.
Die allenthalben wirksame Farbtriibung dient nicht allein als Model-
lierungsdunkel, sondern erscheint zudem als farbig gewordener Reflex
allgegenwärtiger „Raumtrübe“, aus der sich lichthaltige Teile heraus-
lösen. So werden die Farben transitorisch, nicht allein die „gebro-
chenen“, auch die „gesättigten“, und „gesättigt“ sind sie, weil gleich
weit entfernt vonTriibung wie vom absorbierenden Licht: Buntheit wird
ein Durchgangsstadium. Die Dunkelheit selbst ist (im Vergleich zu den
Wittingauer Tafeln) lockerer geworden und kann eben deshalb einen
„tieferen“ Raum konstituieren.
Kontrastreicher stellt sich die Bildräumlichkeit bei derTafel der >Ge-
burt ChristU desselben Altars dar. Hier hebt die Bodenfläche in einem zu
Umbra sich vertiefenden Sienagelb an, das dem Blau des Marienmantels
und dem Olivgriin des Engelsgewandes als glatte Folie dient. Das Gelb
des Bodens entspricht dem Rot des gestirnten Himmels. In der Bild-
mitte aber öffnet sich der Dunkelraum der Geburtshöhle, der tiefer
wirkt als der abschließende Himmelsgrund.
Bei der >Anbetung der Hl. Drei Könige< vi rahmen Weißtöne die Gestalt
Mariens, die in ihrem Kopftuch dies Weiß aufnimmt. Eine weitere Rah-
mung leistet das Rot im knienden König, im Kissen zu Füßen Mariens,
in Bett und Himmel. Das dunkle Blau des Marienmantels wird vom
zweiten, stehenden König aufgenommen, das Karminrosa ihres Kleides
von Schulterbelag und Kappe des Joseph. Nur das Olivgriin des rechten
Königs bleibt unwiederholt, findet aber, in Kombination mit dem
dunklen Braun seines Untergewandes, im Dunkelbraun der Landschaft

10 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 58.


11 FA: Biaiostocki, Spätmittelalter und beginnende Neuzeit, Propyläen
Kunstgeschichte, Bd.7, Berlin 1972, Taf. XXIX.
Transalpine Tafelmalerei des 14. Jahrhunderts 29

und dem Braungrau des Stalles eine Entsprechung: Solch vielfältige


Farbverflechtung trägt bei zum „Flechtraum“ 12 dieser Bilder.

12 Vgl. Otto Pächt, Meister Francke-Probleme. In: Meister Francke und die
Kunst um 1400, Ausstellung zur Jahrhundert-Feier der Hamburger Kunsthalle,
Hamburg 1969, 22 ff. Zur Farbe in der deutschen Malerei zwischen 1370 und
1430 vgl.: Marie Kempfer, Die Farbigkeit als Kriterium fiir Werkstattbezie-
hungen, dargestellt an zehn Altären aus der Zeit zwischen 1370 und 1430. In:
Giessener Beiträgezur Kunstgeschichte, II, 1973,7-49. -Uta Hengelhaupt, Der
Netzer Altar, Die Zeitqualität der Raumform und der farbigen Gestaltung. In:
H.Engelhart, G.Kempter (Hrsg.), Diversarum Artium Studia, Festschrift fiir
Heinz Roosen-Runge, 105-115.
GIOTTO

Giottos (12677-1337) 1 epochale Leistung als Begriinder des neuzeit-


lichen Bildes bezeugt sich auch in seiner Farbgestaltung.
Als ein erstes Charakteristikum seines Farbstils ist zu nennen das neue
Gleichgewicht der Farbigkeit - nicht nur im Sinne einer bildhaften Aus-
gewogenheit ihrer Komposition, also in der bewußt aufeinander abge-
stimmten Zuordnung von Farben, sondern auch als Ausgleich zwischen
ihrem Symbol-, Eigen- und Darstellungswert: in dem Maß, wie sie an
symbolischer Kraft und Bedeutung abnimmt, gewinnt sie an darstel-
lender im Hinblick auf die Wirklichkeit der Natur, wie auch an Schön-
heitswert - ohne aber daß in all diesen Bereichen schon ein letzter
Schritt getan wäre.
Die „seelisch-inhaltliche Bedeutung“ der Farben bleibt, wieTheodor
Hetzer feststellte, gering. Wenngleich sich auch bei einigen Fresken der
Paduaner Arena-Kapelle, etwa der >Beweinung ChristU 2 mit ihren bläu-
lichen, violetten, rötlich-violetten Tönen, oder der >Gefangennahme
Christu mit ihren Grauwerten durchaus thematisch-ausdruckshafte
Bezüge finden, überwiegt doch „der Eindruck der Schönfarbigkeit“ 3.
Im ganzen ist Giottos Farbskala immer noch eine streng begrenzte
und baut sich auf nur sieben Qualitäten (und deren Mischungen) auf: auf
1 Vgl. dazu: Theodor Hetzer, Tizian, Geschichte seiner Farbe, Frankfurt
a.M. (1935, zitiert nach der 2. Auflage 1948), Kapitel I: Das Mittelalter und
Giotto, 15-24. - Hetzer, Giotto, Grundlegung der neuzeitlichen Kunst, Mitten-
wald, Stuttgart 1981 (SchriftenTheodor Hetzers, Bd. 1, hrsg. von Gertrude Bert-
hold). Darin: Giotto, Seine Stellung in der europäischen Kunst (erstmals Frank-
furt a. M. 1941), Kapitel 8: Die Farbe, 172-195. - Ernst Strauss, Überlegungen
zur Farbe bei Giotto (1972), wiederabgedrucktin: Strauss, Koloritgeschichtliche
Untersuchungen zur Malerei seit Giotto und andere Studien, hrsg. von Lorenz
Dittmann, München, Berlin 1983, 63-79. - Koloritgeschichtliche Schlüssel-
werke der neuzeitlichen Malerei, ebenda, 82-84. FA der Fresken Giottos finden
sich u. a. bei OrdenbergBock von Wülfingen, Giotto, Die Freskenin der Arena-
Kapelle zu Padua, München 1962. -Cesare Gnudi, Giotto, Mailand 1958. -Leo-
netto Tintori e Eve Borsook, La Capella Peruzzi, Turin 1965. - Giovanni Previ-
tali, Giotto e la sua bottega, Mailand 1967. - Jacques Dupont, Cesare Gnudi,
Gotische Malerei, Genf (Skira) 1954, 61-64.
2 FA: Ordenberg Bock von Wülfingen, Giotto, Die Fresken in der Arena-
Kapelle zu Padua, Taf. 34.
3 Hetzer, Giotto, 183.
Giotto 31

Weiß, Schwarz, rote und grüne Erde, Ocker, „terra di Siena“, Blau, ,,a
secco“ aufgetragen. 4 Aber diese Skala stellt doch eine merkliche Erwei-
terung des mittelalterlichen Kanons dar und schließt eine gewisse Indivi-
dualisierung der Farbe nach Maßgabe ihres gegenständlichen Trägers
ein. So sind die Gewänder in einer Weise gegeben, daß sich der Eindruck
„wirklicher“, aber nach farbharmonischen Gründen gewählter Gewand-
farben einstellt. Der Gedanke an einen Symbolgehalt der Farben tritt
hingegen zurück, obschon sich Giotto fast durchweg an den traditio-
nellen Farbenkanon hält. „Giotto kennt keine andere Farbensymbolik
und Farbenikonographie als seine Zeit“ (Gottfried Haupt) 5. Aber diese
traditionellen Farben erhalten durch Brechung und „Umstimmung“
einen neuen Klang und werden überdies um neu eingeführte, aus
Mischungen entstandene Werte bereichert.
Auch nach ihrer Wahl lassen also die Farben Giottos die gleiche Hin-
wendung zur Wirklichkeit der Erscheinungswelt erkennen wie seine per-
spektivischen Mittel, ohne sich jedoch grundsätzlich vom mittelalter-
lichen Farbstil loszusagen. Die Starre, Strenge des hochmittelalterlichen
Farbkanons erscheint durch Giotto aufgebrochen. Es gibt keine Farb-
vokabeln mehr, die Farbe geht einen entscheidenden Schritt über das
„Zeichenhafte“ hinaus, wie auch über die mittelalterliche Materiever-
wobenheit - gerade so weit, um den ersten Kontakt mit der natürlichen
Erscheinungsweise der Dinge zu gewinnen und sich gleichzeitig zur Bild-
wirklichkeit zu konstituieren. Giotto hat, wie Hetzer formulierte, ,,der
Farbe das Magische, unbestimmt Leuchtende, Tiefe, Flutende, Gren-
zenlose, unmittelbar die Sinne Durchdringende genommen, und er hat
damit den Gegensatz zwischen Farbe einerseits, Fläche, Form, Grenze,
Festigkeit, Tektonik andererseits beseitigt“ 6.
Man kann in dieser Lossagung aus der Abstraktion der Farbe, ihrer
beginnenden „Verweltlichung“ und damit zugleich in ihrer, wenn auch
begrenzten, Differenzierung eine Umkehrung des Auslese- und Verhär-
tungsprozesses beim Entstehen der mittelalterlichen Farbgestaltung
erkennen.
Und doch wäre es unrichtig, zu meinen, es bestünde eine Art „rück-
läufiger Bewegung“ und die wiederbeginnende Individualisierung der
Farbe müsse in der freien Farbenvielfalt des Späthellenismus enden, von
der sie ausgegangen war. Denn trotz der unverkennbaren Annäherung

4 Hetzer, Giotto, 185, nach Mitteilungen Robert Oertels.


5 Die Farbensymbolik in der sakralen Kunst des abendländischen Mittel-
alters (Ein Beitrag zur mittelalterlichen Form- und Geistesgeschichte), Dresden
1941, 125.
6 Hetzer, Giotto, 175.
32 Giotto

der Farben Giottos an die äußere Erscheinung der Dinge ist sie weit
davon entfernt, diese (und damit sich selbst) derart optisch zu differen-
zieren, daß sie die Lockerheit innerhalb fester Formbezirke erreicht, wie
sie in der Antike sich zeigt, Obschon durchaus der Form streng ver-
haftet, behält sie etwas alle Formdetails weit Übergreifendes und damit
Bindendes. Das vermag sie vor allem durch ihre Abstimmung auf eine
vor Giotto nicht in dieser Weise dominierende Helligkeit- die immer er-
neut, allein schon durch ihren Gegensatz zur Gedrungenheit und Würde
der Formen - überraschend wirkt. 7
Diese Helligkeit wird durchaus als eine Helligkeit der Farbe selbst
empfunden und dies um so mehr, als ihr - in Außen- wie auch Innen-
raumdarstellungen - durchgehend eine Folie zugrunde liegt, die selbst
durch und durch Farbe bleibt: das stumpfe, eher mittelhelle als tief-
dunkle Blau der Gründe, ein reines Ultramarinblau (das jedoch größten-
teils verdorben ist). Es schließt sich, zwar nicht bruchlos, der Farbigkeit
der unteren Bildhälften an und steigert deren farbige Helle durch Kon-
traste im Farbigen wie als Dunkelheit.
Diese charakteristische Helle des Kolorits Giottos ist aber noch nicht
das übergreifende, „gestaltete“ und gestaltende Licht der späteren
Malerei. Sie bleibt innerhalb der Grenzen jeder Dingform eingeschlos-
sen, kann hier aber durch Zusatz von Weiß zur Farbe so hochgestimmt
werden, daß über ihren noch transzendierenden Charakter kein Zweifel
bleibt und wir annehmen müssen, es seien hier Reste einer Lichtvorstel-
lung wirksam, die mit dem mittelalterlichen Licht noch in Verbindung
steht. Vielfach zeigt sich eine Tendenz zur weißlichen Überhelle hin, die
jedoch nur selten, so etwa beim Grün, zum nahezu völligen Erlöschen
der Farbe führt. Dieser Anschluß der Farbe an eine Überhelle findet sich
auf der Paduaner >Beweinung ChristU im changierenden perlmuttigen
Blau der Klagenden, dem lichten Karmin des Johannes, dem weißlich-
grauen Felsgrat. Gleichzeitig jedoch - und darin liegt eine entschei-
dende Neuerung - sind in den beiden Rückenfiguren Komplexe ge-
geben, deren Licht identisch ist mit ihrer „spezifischen Helligkeit“ und
die die Fläche, in der sie liegen, als Oberfläche kennzeichnen. Diese Wir-
kung ergibt sich nicht etwa deshalb, weil sie stumpfer scheinen, sondern
vor allem, weil sie so gebrochen werden, daß man ihre Brechung nach

7 Vgl. auch: Robert Oertel, Die Fmhzeit der italienischen Malerei, Stuttgart
1953,84: „Neben der dunkleren, dumpferen Pracht der großenMadonnenbilder
von Duccio und Cimabue wirkt Giottos Werk überraschend hell, glasklar, bei-
nahe kühl. Diese Helligkeit mag auf den heutigen Betrachter ernüchternd
wirken - in Wahrheit bedeutet sie den Durchbruch zu einem völlig neuen Sehen,
zu einem neuen Weltgefühl.“
Giotto 33

der tieferen Stufe hin im Sinne einer Modellierung auffaßt, genauer: im


Sinne einer „Flachreliefmodellierung“, worauf zuriickzukommen ist.
Diese Art von Modellierung kann als eine „changierende“ bezeichnet
werden, d. h. „Helligkeit und Schatten verhalten sich in ihrerWirkweise
wie zwei Farben eines changierenden Stoffes“, also in klarer Abstufung.
Einer „changierenden“ Modellierung ist, mit Ernst Strauss, der hier
eine Begriffserklärung Erich von den Berckens 8 übernahm, eine „irisie-
rende“ Modellierungsweise entgegenzusetzen, d. h. eine solche, die mit
gleitenden Übergängen arbeitet. In Giottos Fresken folgen die Darstel-
lung changierender Farben und die „changierende“ Modellierung dem-
selben Prinzip: „Zwischen der farbigen Behandlung der schillernden
Gewandstoffe (helles Lavendelblau zu Purpurbraun im erwähnten
Mantel der Klagenden bei der >Beweinung Christu oder Graugriin/Rost-
rot im Mantel der Randfigur rechts) und der changierenden Art der
Modellierung einer einfarbigen Fläche (Graugriin im Mantel der hok-
kenden Klagefrau) besteht kein Unterschied.“ 9
Gegenüber der dunkleren Farbigkeit der römisch-florentinischen Ma-
lerei eines Torriti oder Cavallini (um 1240 bis gegen 1330) 10 ist also die
Hellfarbigkeit der Fresken Giottos selbst schon ein neues Moment in der
Geschichte der Farbgestaltung. Diese Hellfarbigkeit aber bleibt, wie er-
wähnt, streng an die Gegenstandsformen gebunden -, man könnte von
einer „gebundenen Hellfarbigkeit“ sprechen.
Mit einem gewissen Recht ist von Giotto gesagt worden, er gestalte
mit der Farbe, kaum aber die Farbe selbst. 11 Auch darin ist Giotto noch
dem mittelalterlichen Gebrauch der Farbe verpflichtet. Dennoch geht
auch hierin Giotto einen Schritt weiter. Denn in der Abstufung der far-
bigen Komplexe in farbige Hauptflächen und farbig zuriicktretende
Zonen liegt ja schon der Ansatz einer bewußten Gestaltung der Farbe -
und auch ein Kriterium der Entwicklung der Farbgestaltung Giottos in
der Arena-Kapelle: in der unteren Reihe finden sich mehr Farbnuancen
als in der oberen. 12
Dennoch bleibt solche Abstufung eine begrenzte und nicht in erster
Hinsicht um der Farbe, sondern um der Form willen vollzogene. Sie ge-

8 Erich von den Bercken, Forschungen iiber die Geschichte der Farbe in der
Malerei, in: Forschungen und Fortschritte, 6. Jg., 1930, 262.
9 Strauss', Überlegungen zur Farbe bei Giotto, 72.
10 FA: Pietro Cavallini, Das Jiingste Gericht, Rom S.Cecilia in Trastevere,
um 1295/1300: Otto von Simson, Mittelalter II (Prop. KG. Bd. 6), Berlin 1972,
Taf. XLII. - Enzo Carli, Cesare Gnudi, Roberto Salvini, Pittura Italiana, I,
Romanik und Gotik, Miinchen 1962, 36-39.
11 Haupt, Farbensymbolik, 128.
12 Hetzer, Giotto, 185.
34 Giotto

schieht zuvörderst zur Angabe einer jeweiligen Modellierung, besser ge-


sagt „Profilierung“ der Form, jedoch nicht mit dem Ziel, diese Formen
auch mit dem Bildraum zu verbinden. Sie zeigt die Gegenstandsfarben
in verschiedenen Abstufungen, von einer kaum merklichen Minderung
ihrer Helligkeit bis hin zu einer positiven Verdunkelung der Farben, die
aber eine „mittlere Helligkeit“ so gut wie nie unterschreitet, zudem
quantitativ entschieden zurücktritt. Nirgends jedoch - und eben deshalb
- zeigen sich auch nur entfernte Ansätze von Dunkelheiten, geschweige
einem Finsternismoment. Hierin ist Giottos Kunst von der Malerei des
Nordens am weitesten entfernt.
Zugleich ist Giotto der erste, der die Modellierungshelle der voraufge-
henden Kunst in das Gegenspiel von Licht und Schatten umdeutet. Der
Eigenschatten tritt nun bildwirksam auf. Im „Schatten“ erscheint die je-
weilige Gegenstandsfarbe jetzt nicht mehr als Vollfarbe wie im Mittel-
alter, wo man, wie Heinz Roosen-Runge erkannte, mit „Farbklängen“
arbeitete (auch die Erkenntnisse von Frau Frodl-Kraft stehen noch in
Zusammenhang damit), die ,,Schatten“farbe erscheint nun um ein ge-
ringes neutraler, unartikulierter. Diese Zurückhaltung der „Schatten“-
farbe wirkt aber im Gesamtaspekt des Bildes niemals farbschwächend
oder gar farbfeindlich, und zwar deshalb, weil die ,,Schatten“farben
stets nur einen geringen Teil der gemalten Flächen einnehmen und so
den erwähnten Eindruck ausgebreiteter Helligkeit ermöglichen und
überdies von den dominierenden Hauptfarben immer nur so gering ab-
weichen, daß sie stets noch als eine niedere Stufe von dieser empfunden
werden können.
Giottos epochale Leistung als Begründer der neuzeitlichen Farbge-
staltung in der italienischen Malerei liegt aber nicht darin, daß er eine an-
dere Farbwahl oder andere Farbzusammenstellungen als in der mittelal-
terlichen Malerei vollzog, auch nicht in der neuen Helle der Bildfarbe als
solcher, sondern darin, daß er die Farbe in ein grundsätzlich anderes Ver-
hältnis zum Bild, zur Bildfläche, zum Bildraum brachte, wobei sich dann
auch ihr Bezug zur Linie entsprechend änderte.
Die neue Bildwirksamkeit der Farbe Giottos wurde von Theodor
Hetzer eindringlich beschrieben: Giottos Farbe „verbindet sich aufs
engste mit dem gerahmten Felde, dem Bilde, ob es nun als eigentliches
Bild oder als Ornament, Vierpaß oder gemalte Steinplatte erscheint“ 13.
„Giotto ist es gewesen, der die Farbe als ein aktives Element in die ge-
gliederte Fläche der geschlossenen Bildindividualität einordnete .. .“ 14
und Hetzers Bildanalysen, etwa des >Noli me tangere<-Freskos der Pa-

13 Hetzer, Giotto, 176.


14 Hetzer, Tizian, Geschichte seiner Farbe, 16.
Giotto 35

duaner Arena-Kapelle 15 brachten die neue bildbezogene Verknüpfung


der Farben zu Wort.
Der Bruch mit dem mittelalterlichen Farbstil wird besonders deutlich
beim Vergleich von Giottos >Thronender Madonna< aus Ognissanti in
Florenz (um 1310, Florenz, Uffizien) 16 mit Cimabues >Thronender
Madonna< aus S. Trinità in Florenz (um 1280, Florenz, Uffizien). 17 Auf
beiden Tafeln findet sich Goldgrund, bei Giotto bildet er die Folie, er
„trägt“ die Darstellung, bei Cimabue enthält er sie. Auch das Verhältnis
der Farben zum Gold ist ein anderes. Bei Giotto ist etwas von der „Licht-
heit“ des milden Goldes als „Flelle“ auf die Buntfarben übergegangen,
bei Cimabue wirkt das Braun des Thrones als koloristische Weiterfüh-
rung des glanzlosen Goldes, vermittelt zum dumpferen Blau und zu den
im Licht wie zart vom Goldgrund durchdrungenen, aber aus Dunkel-
heiten auftauchenden Engelsfarben, - mit „mittelbyzantinischer“ Ab-
stufung der gleichen Farben von Weiß zum Dunkel in den Flügeln, wie
bei Cavallini. So scheint bei Cimabue das Gold die Farben „zwischen
sich zu nehmen“, überblendet sie, macht sie alle zu „Dunkelheiten“,
während bei Giotto die Farben umgekehrt den Goldgrund begrenzen.
Sie gewinnen dadurch, anders als die „fluktuierenden“ Farben Cima-
bues, an körperlicher Eigenkraft, sie stufen sich in den Engelsgestalten
klar übereinander, von grauschattiertem Weiß über ein mittelhelles
Griin hin zum gewichtigen Blau des Madonnenmantels. Dergestalt hin-
terfängt das Gold bei Giotto die Darstellung, blendet sie nach vorne.
Ähnliche Unterschiede finden sich in der Liniengestaltung. Beide
Male verläuft die Linie als Umriß auf der Fläche, ist ihr aufgeschrieben.
Achtet man jedoch auf das, was sich innerhalb der von ihr umgrenzten
Farbflächen abspielt, so zeigen sich große Verschiedenheiten. Cimabues
Tafel ist bestimmt von einem durchgehenden dichten Liniennetz, wobei
der Linienzug in seiner Abstraktheit bestehen bleibt. Diese Linien-
struktur dient der Farbe als Gerüst, als „Gehege“. Die Farbe ist darin
eingelassen, wirkt wie eine meist homogene, wenig bewegungsfähige
Schmelzmasse. Die Linie wird als Steg empfunden, der die Farbe
umfaßt, oder als Furche, die die Farbe auseinanderhält.
Bei Giotto erscheinen die Linien weit weniger prägnant, nicht in
ihrem rein linearen Charakter sind sie gegeben, sondern als Trennungs-
grate zwischen Dunkel und Hell, als „Modellierungsgrate“. Ihnen

15 Hetzer, Giotto, 187,188.


16 FA: Hetzer, Giotto, Tafel 41 und 42. - Hubert Schrade, Die romanische
Malerei. Ihre Maiestas, Köln 1963, 228 und 225.
17 FA: Simson, Mittelalter II, Taf. XL. - Carli, Gnudi, Salvini, Pittura Ita-
liana, I, 43.
36 Giotto

eignet weit weniger graphische Kraft, sie ergeben sich eher als Grenz-
werte der modellierten, nach außen gewölbten Formen, - von Formen,
die sich in kontinuierlicher Schichtung von homogenen Flächen zu
Ebenen innerhalb eines „Reliefraum.es“ zusammenschließen. Giottos
Farbe ist die dem „Reliefraum“ gemäße, in dem die einzelnen Farb-
zonen wie Gelenke ineinanderzugreifen beginnen: In den Fresken der
Arena-Kapelle zu Padua erscheinen die Farben als rhythmische Folge
von „Hebungen“ im Licht, vergegenwärtigt durch die Farben, und „Sen-
kungen“ in den Schatten, wobei die Buntwerte dominieren.
Es ist ein Verdienst von Ernst Strauss, den Hildebrandschen Begriff
des „Reliefraumes“ für die Analyse der Farbgestaltung aufgeschlossen
und als konstitutiv für den Bildraum der italienischen Malerei seit
Giotto aufgezeigt zu haben. Damit hat er ein wichtiges Korrektiv zur
Verkürzung der Bildraumproblematik auf die Frage nach der Perspektiv-
konstruktion geliefert - ähnlich wie Kurt Badt, der dem leeren, abso-
luten Raum, sei er perspektivisch konstruiert oder nicht, den konkreten,
durch Körper bestimmten „Ort“ entgegensetzte. 18
Organisiert durch eine rückwärtige Abschlußfläche und eine imagi-
näre zweite, vordere Scheidewand, die wie in aller europäischen
Malerei bis zum Aufkommen des Kubismus - die gesamte Bildfläche, als
deren ,ästhetische Grenze“, von der Außenwelt trennt“, steht der Relief-
raum in einem unlöslichen Bezug zur Bildfläche. „Der Raum zwischen
beiden Flächen gliche, denkt man sich ihn einem architektonischen
Wandsystem eingegliedert, dem einer rechteckigen Nische von geringer
Tiefe. Im Bilde aber läßt er den Gedanken einer bestimmten, bemeß-
baren Erstreckung in dieTiefe nicht aufkommen. Denn hier erscheint er
durchaus nicht ,eng‘ wie eine schmale Bühne (mit der er, in Verkennung
seines spezifisch bildmäßigen Charakters, oft gleichgesetzt wird), viel-
mehr aufs äußerste verdichtet, - so, als ob der universale Raum, den er
vorstellen soll, mit ihm jedesmal ganz in die Bildgrenzen eingegangen
wäre.“ 19
Bildlicht und -schatten folgen dieser Reliefraumstruktur, so daß
Strauss das aus den Eigenhelligkeiten der Farben geschaffene Bildlicht
als „Relieflicht“, die aus dem Modellierungsdunkel sich verselbständi-
genden Schattenzonen als „Reliefschatten“ bezeichnen konnte.

18 Vgl. Kurt Badt, Raumphantasien und Raumillusionen, Wesen der Plastik,


Köln 1963.
19 Strauss, Überlegungen zur Farbe bei Giotto, 65. - Schon Hans Jantzen
hatte Giottos Bildraum als „Reliefraum“ charakterisiert, in: Giotto und der goti-
sche Stil (1939/40), wiederabgedruckt in: Jantzen, über den gotischen Kirchen-
raum und andere Aufsätze, Berlin 1951, 35-40.
Giotto 37

Einen zweiten wichtigen Gesichtspunkt iibernahm Strauss ebenfalls


von Adolf von Hildebrand, den des „Fernbildes“ als Ort, in dem sich ein
„Reliefraum“ konstituiert. Nach dieser Hinsicht zeigen sich Giottos
„Einsetzung der Fernbildfarbe als Norm“, zusammen mit der „Erzeu-
gung des Relieflichts durch die vereinigten Farbhelligkeiten und mit der
erstmaligen Verwertung des Reliefschattens als eines formalen und zu-
gleich koloristischen Mittels“ 20, als die die weitere Entwicklung zumin-
dest der italienischen Malerei begründenden künstlerischen Leistungen
Giottos.
Wichtig ist dieser Gesichtspunkt des „Fernbildes“ - und der ihm korre-
lative des „Nahbildes“ als Ort des niederländischen Bildes - nicht nur als
Deskriptionsmoment des anschaulich Gegebenen und als Hinweis auf
die Herkunft und faktische Plazierung des Bildes-Monumentalmalerei,
Fresko hier, Miniaturmalerei dort-, sondern auch deshalb, weil er über-
haupt die Distanznahme des Betrachters als ein konstitutives Element
des Bildes (jenseits der Frage nach der Perspektivkonstruktion und
dieser vorausliegend) konkret erfaßt.
Und damit erweist sich das Bild prinzipiell als eine „Rationalisierung
der ,mythischen‘ Form“.
Dies ist der geistige Ort des neuzeitlichen Bildes als eines in sich
ruhenden Mikrokosmos, der nun auch alle Farbgestaltung bestimmt:
„Der schauende und im Schauen versunkene Mensch löst den durch eine
religiöse Kraft gebundenen ab.“ „Nun erst ist die Einheit von Mythos
und Logos vom Menschen bewußt gewollt und imTranszendenten künst-
lerisch verwirklicht, indem hier in derTat zweierlei ,Objektives sich ge-
genübersteht, ein Objektives des Objekts und ein Objektives der Sub-'
jektivität selbst 1 (Riezler). 21 Der Menschen tritt als Betrachtender vor
seinem Werk zuriick ...“ (Kaschnitz von Weinberg) 22.
In den um 1320(?) entstandenen Fresken der Peruzzi-Kapelle in S.
Croce in Florenz gewährt Giotto dann den Schatten eine stärkere Teil-
habe am Farbganzen der Bildkompositionen: nun wachsen die Schatten
stellenweise zu eigenen Komplexen zusammen. Sie erschöpfen sich jetzt
nicht mehr ,,in einer modellierenden Funktion, wirken nicht mehr aus-
schließlich als Attribute stereometrischer oder gerundeter Formen wie
noch in den Arenafresken, sondern beginnen, oft unmerklich, in Be-

20 Strauss, Überlegungen zur Farbe bei Giotto, 79.


21 Kurt Riezler, Traktat vom Schönen, Zur Ontologie der Kunst (Philosophi-
sche Abhandlungen Bd. III), Frankfurt a.M. 1935,102.
22 Guido Kaschnitz von Weinberg, Kleine Schriften zur Struktur (Ausge-
wählte Schriften Bd. I), hrsg. von Helga von Heintze, Berlin 1965, 215 (>Über
die Rationalisierung der ,mythischen‘ Form in der klassischen Kunst< 1954).
38 Giotto

reiche einzugreifen, die in der bisherigen Malerei, von schwachen Rand-


trübungen abgesehen, schattenfrei geblieben waren.“ Damit wirken sie
nun „nicht mehr detailbetonend und trennend, sondern formverbin-
dend. Die traditionellen Schattenbahnen verbreiten sich zu Schatten-
lagen, greifen als solche über die Einzelfigur hinaus und fassen sie mit an-
deren Gliedern der Gruppe zusammen“ 23, so daß sie damit zu einem
Mittel der Bildkomposition werden.

23 Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 83, 84 (Giotto: Himmel-


fahrt Johannes d.T., Florenz, S.Croce, Peruzzikapelle), vgl. auch 74—76 (Über-
legungen zur Farbe bei Giotto).
MALEREI DES TRECENTO

Die von Giotto in seinen Fresken der Peruzzi-Kapelle eingefiihrte


Neuerung der Schattengestaltung bleibt von den Trecentisten in der
Nachfolge Giottos 1 jedoch unverstanden. Sie wird von keinem aufge-
griffen. Die Trecentisten setzen an beim farbigen Reliefraum der Arena-
fresken, aber sie ändern das Verhältnis von Grundfläche und gegen-
standsdarstellenden Farbbereichen, indem sie den Grund verdunkeln
und die Farbigkeit der Szenen durchhellen.
Damit ist das Giottosche Gleichgewicht der Farbgestaltung aufge-
geben. An die Stelle des kräftigen Grundblau treten nun Folienfarben,
die sich unbunten Werten nähern, tiefes Purpurrot, dunkles Schiefer-
grau, ja sogar Schwarz. Mit solcher Verfinsterung 2 erhält der Grund
einen weltabgewandten Charakter, sein abstrakter Gehalt steigert sich,
und hierin nähert er sich wiederum dem Goldgrund. Auch zu neuen Aus-
drucksqualitäten kann die entsinnlichte Bildgrundfarbe gefiihrt werden.
Der verfinsterten Grundfarbe kontrastiert das höher gestimmte Ko-
lorit der Figuren, Architekturen und Landschaften. Der Spannungs-
bogen zwischen Dunkel und Hell vergrößert sich mithin im Vergleich
zu Giottos Fresken und zugleich weitet sich der bei Giotto iiberall
gleich kompakte Bildraum. Mit der Aufhellung steigert sich auch die
Farbenvielfalt, der Nuancenreichtum in den farbigen Gegenstandskom-
plexen.
Solche Veränderungen sind die Voraussetzung auch fiir die neuen Be-
leuchtungswirkungen, die von Taddeo Gaddi (nachweisbar in Florenz
seit 1328, gest. 1376) in seinen wohl 1333 gemalten Fresken der Baron-
celli-Kapelle in Santa Croce in Florenz eingefiihrt wurden. Schon Giotto
hatte „den Lichteinfall in seinen Bildern auf die tatsächlichen Lichtver-
hältnisse des realen Raumes abgestimmt; auch bei Cennini, der uns die
Kunstlehre der Giotto-Schule iiberliefert hat, findet sich die Anweisung,
daß der Maler sich fiir die Lichtfiihrung nach den vorhandenen Fenstern

1 Vgl. hierzu: Strauss, Überlegungen zur Farbe bei Giotto, 76-77. -Trecenti-
stische Freskomalerei nach Giotto, in: Koloritgeschichtliche Untersuchungen,
84-85.
2 Vgl. dazu auch Alexandrine Miller, The dark background and the composi-
tion of space inTuscan painting of theTrecento, in: Art in America, Vol. 31, New
York 1943,195-202.
40 Malerei des Trecento

zu richten habe. 3 Taddeo Gaddi hat aber die in der Baroncelli-Kapelle


gegebenen Bedingungen zu einer ganz besonderen, neuartigen Wirkung
ausgenutzt. Er ging davon aus, daß das einzige, nach Süden geöffnete
Fenster auf den anstoßenden Wandflächen ein ausgesprochenes „Gegen-
licht“ hervorruft. Um dieses zu kompensieren, hat er in mehreren Bil-
dern eigene, übernatürliche Lichtquellen eingeführt: den Lichtschein,
der von den Engeln der beiden Verkündigungsszenen ausgeht, oder
auch von dem am Himmel schwebenden Christuskinde, das den Drei
Königen anstelle des Sterns erscheint. In der >Hirtenverkiindigung< 4 5 er-
gießt sich gelbliches Licht, das Dunkel der Nacht erhellend, in mildem
Schimmer über die nach links ansteigende Berglandschaft.. .“ s
Doch ist es beileibe noch keine „naturalistische“ stimmige Beleuch-
tungswirkung, die hier zu finden ist. Schlagschatten fehlen und die Licht-
wirkung wird im wesentlichen dem Gelbton der Glorie und der beleuch-
teten Flächen auf dem Felsen verdankt. 6
Beschränkt sich hier die Farbigkeit auf den Klang von Sienagelb, Weiß
und Silbergrau, so entfalten die Szenen des „Marienlebens“ auf der
linken Kapellenwand ein reiches Farbspiel, das sich in seiner Farbwahl
beträchtlich von derjenigen Giottos unterscheidet. Neben Siena und
Caput mortuum erscheinen hier Nuancen von zartem Graulila, Hell-
grau, Umbra (auch als Schattenton von Weiß), sehr helles Pistaziengriin,
Varianten von Karminrosa, hellem und graulila schattiertem Lachsrosa
und immer wieder Weiß als Zwischenfarbe. Hinzu kommen perlmuttig
changierende Farben: Hellgraublau zu Hellrötlichbraun, Mattgelb zu
Rötlichbraun usf.
Das Ganze der Darstellung steht als ein in sich unterteilter heller
Komplex vor dem tiefschiefergrauen Grund, ohne die mindeste farbige
Verbindung mit diesem (während das Blau der Paduaner Arena-Kapelle
doch in Gewändern wiederaufgenommen wurde). Die Lichtheit der
Gegenstandsfarben gründet in der Vorherrschaft des Weiß und in der

3 Vgl.: Das Buch von der Kunst oderTractat derMalerei des Cennino Cennini
da Colle di Valdelsa, übersetzt von Albert Ilg (Quellenschriften für Kunst-
geschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, hrsg. von
R.Eitelberger V. Edelberg, 1,1871), Neudruck Osnabriick 1970, Cap. 9, 8/9.
4 FA: Millard Meiss, Das große Zeitalter der Freskenmalerei, München,
Wien, Zürich 1971, 54.
5 Robert Oertel, Die Fmhzeit der italienischen Malerei, 114,115.
6 Vgl. Wolfgang Schöne, Über das Licht in der Malerei, Berlin 1954, 128. -
Vgl. aber auch : Alastair Smart, Taddeo Gaddi, Orcagna, and the Eclipses of 1333
and 1339, in: Studies in late Medieval and Renaissance Painting in Honor of
Millard Meiss, ed. by Irving Laving and John Plummer, Vol. 1, New York 1977,
403-414.
Malerei des Trecento 41

Aufhellung der Buntfarben über ihre „spezifische Helligkeit“ hinaus.


Der matte Glanz ihrer Oberflächen wird durch eine vergleichsweise
übergängliche, „irisierende“ Modellierung erreicht, die den weich sich
biegenden Umrißlinien entspricht.
Maso di Banco erzielt aus der Verdunklung des Grundes und der Auf-
hellung der Buntfarben dagegen keine Beleuchtungswirkungen, son-
dern nutzt diese Spannung zu neuen Ausdrucksqualitäten. In seinem um
1340 entstandenen Fresko >Das Wunder des hl. Silvester< 7 in der Capella
Bardi di San Silvestro in Santa Croce, Florenz, stehen meist sehr helle,
weißliche, weinrosa- und ockerfarbene Komplexe in Figuren und Archi-
tekturen gegen einen tiefblaugrauen Grund. Wie er mit seiner Archi-
tektur „die Stimmung einer römischen ,Ruinenlandschaft‘ beschwört“ 8,
so setzt er auch die Dunkelheit und Helligkeit in eine „magische“, an
Wirkungen der „Pittura metafisica“ erinnernde Ausdrucksmacht ein,
dem auch das gänzliche Fehlen von Schlagschatten dient.
Wieder anders verfährt Giovanni da Milano. In seinen 1365 gemalten
Fresken mit Szenen aus dem Marienleben in der Capella Rinuccini von
Santa Croce gelangt er zu einer fast „tonig gebundenen Farbigkeit“ 9.
Ocker-, Rosa-, Rotbraun-, Seegrüntöne sind, vor dunkler Folie, durch
starke Weißaufhellung einander angenähert, etwa bei der >Geburt der
hl. Jungfrau<. 10 Die durch den Farbschwund der Weißauflichtung be-
wirkte Transparenz läßt an die Theoderich-Fresken auf Burg Karlstein
denken.
In einer Gegenströmung zu solcher Farbdifferenzierung steht Andrea
Orcagna, der in seinem 1357 datierten Altarbild der Strozzi-Kapelle in
Santa Maria Novella 11 den Buntwert der Farben „fast wieder bis zu dem
Abstraktionsgrad einer mittelalterlichen Farbvokabel verdichtet“. Be-
stimmend aber bleibt doch die Tendenz, die Farben durch Weißver-
dünnung zu erhellen, zuweilen so, daß sie ,,in einem ,fluoreszierenden‘
Eigenlicht erscheinen, das als Korrelat zum Dunkel des Bildgrundes
empfunden wird“ 12, wie in Andrea da Firenzes um 1366-1368 entstan-

7 FA: Jacques Dupont, Cesare Gnudi, Gotische Malerei, Genf (Skira), 1954,
107. - Enzo Carli, Cesare Gnudi, Roberto Salvini, Pittura Italiana, Bd. 1, Ro-
manik und Gotik, München 1962,145. -Lionello Venturi, La Peinture Italienne,
Les Créateurs de la Renaissance, Genf (Skira), 67.
8 Oertel, Die Friihzeit der italienischen Malerei, 119.
9 Oertel, Friihzeit, 183.
10 FA: Dupont, Gnudi, Gotische Malerei, 119.
11 FA: Umberto Baldini, Santa Maria Novella, Kirche, Kloster und Kreuz-
gänge, Stuttgart 1982, 77.
12 Strauss, Überlegungen zur Farbe bei Giotto, 77.
42 Malerei des Trecento

denen Fresken in der Spanischen Kapelle in Santa Maria Novella, Flo-


renz, mit stellenweise delikatem Kolorit: so sind etwa die Sibyllen und
Propheten unter dem Triumph des hl. Thomas von Aquin, vor porphyr-
farbener Dunkelheit, in silbergelb aufgehelltem Sienagelb, mattgelb
aufscheinendem Pistaziengriin, in Rotocker und silbrigumbrafarben ver-
schattetem Schwanenweiß gegeben. 13
In Spinello Aretinos Fresken mit >Szenen aus dem Leben des hl. Bene-
dikt< in der Sakristei von S. Miniato in Florenz, gemalt um 1387, scheint
die Buntkraft am Verlöschen. Die Buntfarben, Rostrot, Griin, Lachs-
rosa, haben sich auf wenige begrenzte Felder zuriickgezogen, dies hier
allerdings auch inhaltlich bedingt, um der Darstellung vieler weißer
Mönchsgewänder willen. Ihre Helligkeit wird hinterlegt von einer dun-
kelblauen Folie.
Im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts öffnet sich die Farbe durch Be-
reicherung ihrer Skala um eine Vielzahl neuer, heller Nuancen dem ,,wei-
chen Stil“. Als ein Hauptbeispiel dieser Voraussetzung seien genannt die
in den siebziger und achtziger Jahren entstandenen Fresken Altichieros.
Bei seiner 1379 entstandenen >Kreuzigung< in der Capella di San Gia-
como (San Felice) im „Santo“ zu Padua 14 sind „weiche bhihende Farben
mit feinem Gefühl für das Verwandte, fiir den harmonischen Zusam-
menklang zu einem dichten Gewebe verknüpft: ein mildes Gelb,
Orange, Rosa und Lila in reichen Abstufungen, zartes Griin, warmes,
körperhaft wirkendes Weiß“, dazu Blau, das jedoch mit spürbarer Zu-
rückhaltung behandelt ist; etwas einfacher, mit einer größeren Anzahl
„stumpferer, gelbbräunlicher, rauchgrauerTöne“ 15, dann die Fresken im
Oratorio di S. Giorgio in Padua, gemalt um 1385 16.
Die Eigenart der sienesischen Malerei bekundet sich schon an ihrem
ersten Hauptwerk, Duccios (um 1250-1318/19) >Madonna Ruccellau
(1285, Florenz, Uffizien) 17. Um die ruhende Mitte des tiefen Blaus im
Mantel der Gottesmutter wechseln ,,die zarten Farben der Engel in
freiem Spiel. Nur die Tonwerte entsprechen sich über die beiden Bild-
hälften hin, nicht die Farben als solche“, während Cimabue in seiner
>Maestà< (1280-1285) darin nur die strikteste Symmetrie kennt. Zu sol-
cher Freiheit der Farbverteilung kommt die Freiheit in der Wahl der
Farben: „in den Gewändern der Engel steht Blaßblau und Lila neben

13 FA: Umberto Baldini, Santa Maria Novella, 98-105.


14 FA: Carli, Gnudi, Salvini, Pittura Italiana I, 179.
15 Oertel, Friihzeit, 202, 204.
16 FA: Dupont, Gnudi, Gotische Malerei, 122.
17 FA: Florens Deuchler, Duccio, Milano 1984, 33. -Enzo Carli, Duccio di
Buoninsegna, Miinchen 1961,Taf. 2,3. - Schrade, Die romanische Malerei, 227.
Malerei des Trecento 43

zartem Karminrosa und durchsichtigem Meergriin“ 18. Hinzu kommt ein


neues Verhältnis zum Licht.
In der sienesischen Trecento-Malerei zeigt die Farbe der Körperflä-
chen dieTendenz, im transzendierenden Licht aufzugehen und sich da-
durch scheinbar der zum Helldunkel orientierten Vorstellungsweise der
transalpinen Malerei anzunähern. Oftmals erfährt sie eine Aufhellung in
unfarbiges Weiß. Dennoch kommt es nirgends zu einer Farbgestaltung,
die sich in ihrem Wesen mit der des Nordens decken wiirde - auch, und
gerade da nicht, wo der Goldgrund noch den Bildraum konstituiert.
Hier hat es vielmehr den Anschein, als ob - in höchstem Gegensatz
zur transalpinen Malerei - nicht die Erscheinungsweise des Lichts den
Farbcharakter bestimme, sondern umgekehrt das transzendierende
Licht in Farbe umgesetzt würde!
Aufschlußreich hierfür ist die - von Florens Deuchler genau beschrie-
bene - Verwendung des Goldes in Duccios >Maestà< (1308-1311, Siena,
Domopera). 19 Gold ist hier „nicht mehr nur Hintergrund wie noch in
der Generation eines Guido da Siena, sondern es wird zur integrierten
Farbe und somit aus dem Abstrakt-Folienhaften gleichberechtigt neben
und in die Farben gestellt, eingebettet“. Die Farben sind „von Gold-
netzen überzogen, von Gold übersprüht und von Gold durchwirkt“,
wobei in den von Goldmustern durchzogenen Textilien des Thronbe-
hanges, der Mäntel der heiligen Katharina, Agnes und Savinus das Gold
den Wölbungen und Vertiefungen der Falten folgt. Die Vorderseite der
Maestà ist somit „primär eine Goldkomposition“, in der die bunten,
vom Gold unberührten Farbflächen, deren Skala hier im übrigen nur
sechs Farben (und deren Mischungen) umfaßt: Weiß, Blau, Griin, Rot,
Schwarz und Braun - nur einen vergleichsweise geringen Teil ein-
nehmen. Die Angleichung von Gold und den übrigen Pigmenten be-
kundet sich auch darin, daß Gold, ,,mit dem Pinsel, also unter gleichen
handwerklichen Voraussetzungen aufgetragen, in gesättigten und gebro-
chenen (assimilierten) Tonstufen auftritt“. In den Landschaftsszenen
der Passions-(Rück-)seite 20 läßt sich zudem eine „stufenweise Überfüh-
rung des Goldtons in die Landschaftsfarben“ beobachten. 21 Die Hellig-

18 Oertel, Fmhzeit, 46.


19 FA: Deuchler, Duccio, 47. - Carli, Duccio, Taf. 12, 13.
20 FA: Deuchler, Duccio, 59, 82, 85-87, 90, 92-94, 96, 98, 100, 104, 106, 107,
110. - Simson, Mittelalter II,Taf. XLIV. -Carli, Gnudi Salvini, Pittura Italiana
I, 84, 85, 87. - Carli, Duccio,Taf. 32-56.
21 Florens Deuchler, Duccio: Zum Gold als Farbe, m: ' .jn Farbe und Farben,
Albert Knoepfli zum 70. Geburtstag, Zürich 1980, 303-307. - Deuchler, Duccio,
161-167.
44 Malerei des Trecento

keitsunterschiede zwischen den Licht- und Schattenflächen der kantig


behandelten Farbformen sind nämlich weit größer als die zwischen
Lichtflächen und Goldgrund - im Gegensatz zu Giotto, in dessen Fres-
ken die Terrain- oder Architekturbezirke immer in entschiedenem Ge-
gensatz zum Blau der Griinde stehen. So kommt eine Schichtenkonti-
nuität nicht zustande; es wechseln vielmehr frei lichtoffener Grund,
Landschafts- und Architekturzonen mit den farbig unterteilten Grup-
pensilhouetten, wobei es keinen Unterschied macht, ob der „abstrakte“
Umriß eine Gruppe oder eine Einzelfigur umfaßt, da diese selbst wieder
eine Vielzahl von (Gewand-)Details umgreift.
Die häufigste Farbe ist Rot, verbunden in nahen Intervallen, Oran-
gerot in Zusammenstellung mit Karmin und dem Terrakottarot von
Architekturen, oder dumpfem Purpur; auch Orange mit Ocker,
Braunrot mit Karmin. Blau dagegen ist in zwei entschieden kontrastier-
ten Helligkeitsstufen gegeben, als helles Himmelsblau oder tiefes
Enzianblau, Griin stets in lichter Form; hinzu kommen Violett,
Schwarz, Weiß usf. Die Passionsseite weist mithin eine gegeniiber
Giotto beträchtlich erweiterte Farbskala auf; auch dies, wie erwähnt,
ein sienesischer Zug.
Auch in der >Verkündigung an Maria< von Simone Martini (gest. 1344)
(1333, Uffizien, Florenz) beruht der Zauber des Kolorits nicht zum ge-
ringsten darauf, daß Gold und Farbe sich als gleichwertige Größen
durchdringen: so erscheint, wie Robert Oertel formulierte, der Engel als
„Verdichtung des Goldgrundes“ 22. Das Goldmuster seines Gewandes ist
aber in den Faltentälern stumpf graublau verschattet; Goldschraffierung
mit aufgemalten, goldbesprenkelten braunen Schatten findet sich in den
Fliigeln. Teile des Mantels setzen in den Lichtgraten den Goldgrund
fort, kontrastiert mit olivbraunen Schatten. Das ockerfarbene Haar wie
die hellen Partien der Flügel sind im Farbton dem des nicht aufglän-
zenden Goldes angeglichen.
Wenn irgendwo, so kann hier von einer Wiederkehr eines vormittel-
alterlichen Verfahrens gesprochen werden: denn diese Gleichberechti-
gung des Gelbwertes des Goldes mit anderen Farbwerten gab es ja schon
im frühchristlichen Mosaik, etwa in den Mosaiken von S. Maria Mag-
giore in Rom. Ohne Zweifel hängt solche Verstofflichung des unirdi-
schen Lichts durch die materielle Farbe gerade in der sienesischen Ma-
lerei mit dem Nachleben einer starken byzantinischenTradition in dieser
Schule zusammen, die diese Komponente frühchristlicher Farbgestal-
tung bewahrte (vgl. die Mosaiken der Klosterkirche Daphni bei Athen,

22 Oertel, Friihzeit, 137. -FA: Gianfranco Contini, Maria Cristina Gozzoli,


L’opera completa di Simone Martini, Milano 1970, Taf. LII-LIII.
Malerei des Trecento 45

um 1100; oder, kurz vor Simone Martinis Werk, die Mosaiken in der
Kariye Camii in Istanbul, entstanden um 1315-1320).
Die blaue Farbsilhouette des Marienmantels aber leistet dem Gold-
grund als Buntheit Widerstand, ist streng umgrenzte Farbform. Eine
ähnliche Spannung zwischen tiefem Blau und Gold findet sich in der
sienesischen Trecento-Malerei häufiger.
So ist auch das nur wenig ältere Altarwerk Pietro Lorenzettis (um
1280-1348?) mit dem Mittelbild der >Thronenden Maria, umgeben von
vier Engeln und zwei Heiligen, dem hl. Nikolaus und dem Propheten
Elias<, gemalt 1329 (Siena Pinakothek), bestimmt von einer Zweiteilung
von tieferem, gesättigtem Kornblumenblau im Marienmantel und den
übrigen, um Gold geordneten Farben andererseits: Weiß in unterschied-
lichen Tönungen, Flellbraun, Lachsrot, silbriges Grauoliv. Auch hier
kommen die blonden Haare der Engel dem Gold sehr nahe.
Hinzuweisen ist auch auf das „Tiefendunkel“, das sich im Verkündi-
gungsbild Simone Martinis ,,an der Stelle bemerkbar macht, wo der
marmorne Fußboden mit messerscharfer Grenze an den Goldgrund
stößt“ 23, ein Gestaltungsmittel von stilprägender Kraft, gleichermaßen
bedeutsam fiir den Charakter des Bildraumes wie fiir die Neuinterpreta-
tion des Goldgrundes.
Die beiden Seitenfiguren der >Verkiindigung< von Martini wurden von
seinem Schüler Lippo Memmi gemalt. Die rechte Figur, die hl. Marga-
rethe, soll noch kurz nach der Art ihrer Modellierung betrachtet werden.
An ihrer rechten Schulter wird die hellste Stelle durch ein lichtes, aber
festes Grau bezeichnet, das sich als Farbsilhouette gegen den Goldgrund
absetzt. In ihrer bildäußeren Kontur aber triibt sich das Grau, sinkt in
einen dunkleren Schattenton. Diese wenn auch einseitige Farbtriibung,
„Verschattung“, modelliert die Form reliefartig, unter Bewahrung der
Farbsubstanz - in großem Gegensatz zur Durchlichtung in der trans-
alpinen Malerei des 14. Jahrhunderts. Was solche Licht- und Schatten-
gebung wiederum als eine typisch „trecentistische“ erweist, ist ihre
partielle Unabhängigkeit von der plastischen Form, sind die weichen
Übergänge vom Lichten ins Dunkle, ohne Rücksicht auf die plastischen
Anregungen des Konturs oder auf die Erfordernisse einer Binnenmodei-
lierung. Die Paarung solcher freien Komplexe mit anderen, wo die Farb-
teilung der plastischen Form folgt, bleibt charakteristisch für das ge-
samte Trecento und auch noch über die Jahrhundertwende hinaus.
Sie bestimmt auch noch die Form-Farb-Behandlung Masolinos (um
1383-vor 1447), in seinen Fresken und in seinen Tafelbildern und ver-
leiht ihnen ihren „unirdischen“ Charakter.

23 Oertel, Frühzeit, 136.


46 Malerei des Trecento

Masolinos Farbgestaltung ist „weicher Stil“ - ohne Flelldunkel - dies


im Gegensatz zu Werken des „weichen Stils“ in der transalpinen Ma-
lerei. Ein tiefes Blau, wie etwa im Mantel Mariens in der Madonnentafel
der Miinchner Alten Pinakothek 24, entstanden wohl um 1435, kann in
den Flöhen durch Weiß nahezu aufgezehrt werden, bleibt jedoch bis in
die Faltentäler hinein blaue Farbe, wird so in seiner Farbkraft vom Gold-
grund nur wenig iiberstrahlt. Der graugriine Boden verdunkelt sich
sacht zum Goldgrund hin.
Masaccio dagegen greift auf die giottosche Reliefbiihne zuriick und er-
höht deren Tiefenillusion durch konsequente Perspektive, wobei er die
„mittlere Helle“ zu einem Gestaltungsprinzip erhebt.

24 FA: Erich Steingräber, Die Alte Pinakothek Miinchen (Museen der Welt),
Miinchen 1985, 10.
MALEREI UND THEORIE IM QUATTROCENTO

Bei Giotto erschienen die Eigenschatten zunächst nur als Modellie-


rungsmittel und somit isoliert, streng auf die jeweilige Körperform be-
schränkt. Gleichwohl enthält die Abwandlung des Buntwerts der Ge-
genstandsfarben, die die Einführung des Eigenschattens zwangsläufig
mit sich bringt - wenn auch in der Regel durch Farbtmbung -, den Keim
einer koloristischen Entwicklung innerhalb der italienischen Malerei,
die, wie erwähnt, schon im Spätwerk Giottos (>Himmelfahrt Johannes’<,
S. Croce, Florenz) ansetzt, aber erst bei Masaccio ( 1401-1428) 1 voll
aufgeht. Sobald nämlich die Schattenfarben alsTonwerte sich aufeinan-
der beziehen, bilden sie Zonen von Halbhelligkeiten oder Halbschatten,
die beim Simultananblick zu flächigen Gründen zusammenwachsen,
somit die geschlossene Folie eines Reliefraumes optisch unterstützen
und im Falle eines Fehlens der abstrakt-homogenen Folie die Funktion
der Gründe selbst übernehmen. Die Lichtwirkung wird dann ver-
gleichbar dem „mittleren Helligkeitsgrund“ eines Flachreliefs, in dem
nur die „Ränder“ der Höhungen, ihre Profile, ins Licht riicken. Die (ab-
strakte) Folie wird dann als Abschluß „überflüssig“, sie kann sich z. B. in
eine Fernlandschaft „aufklären“, ohne daß dadurch der „geschlossene“
Charakter des Bildraumes verlorenginge; die festen Griinde erscheinen
jetzt in die mittleren Helligkeiten eingegangen und „nach vorne geblen-
det“. Sie sind für die Raumbildung von da an verantwortlich.
Diese Ausweitung der homogenen „Modellierungsschatten“ zu einer
ganze Formkomplexe übergreifenden mittleren Helligkeit, die sich als
ein neuer Grund von der Bildfolie abspaltet und den Reliefschichten
anpaßt, wobei alle „Beleuchtung“ an den Formen als höhere Helligkeits-
stufe dieses Grundes erscheint, stellt eine zweite Phase in der Entwick-
lung der italienischen Farbgestaltung dar.
Masaccios Fresken der Brancacci-Kapelle in S. Maria del Carmine,
Florenz 2 (1427/28?) waren wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes
nur bedingt aussagefähig. Die konstitutiven farbgeschichtlichen Beson-
derheiten lassen sich gleichwohl erkennen: Der sichtbar geschlossene
Wandgrund, noch bestimmend bei Giotto und seiner Nachfolge, entfällt

1 Dazu Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 77-79 (Überlegun-


gen zur Farbe bei Giotto), 85-86 (Masaccio: Madonna des Pisaner Altars).
2 FA: Philip Hendy, Masaccio. Fresken in Florenz. München 1956.
48 Malerei und Theorie im Quattrocento

mit der „Ausweitung“ des Bildraumes nach derTiefe zu. An seine Stelle
tritt der Landschaftsgrund, der nicht mehr Folie im alten Sinne sein
kann. Dafür nimmt der Grund eine andere Erscheinungsform an, er
riickt in die Bildschichten selbst ein, indem er sich in den Halbschatten
festsetzt. Diese, als mittlere Helligkeit von gleicher Reliefhöhe die
Formen verbindend, bilden in ihrer Gesamtheit den neuen Grund,
weisen also über ihre unmittelbare Bestimmung als „Modellierungs-
schatten“ hinaus.
Deutlicher noch wird der Charakter der mittleren Helligkeits-Gründe
an den Fragmenten von Masaccios Pisaner Altar (London, Nat. Gall.,
und Neapel, Pinacoteca Nazionale, 1426), da sie zeigen, wie weitgehend
die Farbe an ihrem Aufkommen beteiligt ist. Die Gegenstandsfarben er-
scheinen in den Licht- und Schattenzonen, stufenweise vertieft, und so
gewählt, daß ihrTonwert auf ein jeweils gleiches Niveau gebracht wird,
während ihr individueller Buntwert immer gewahrt bleibt. In der Neap-
ler >Kreuzigung< 3 bilden die Modellierungsschatten des Gekreuzigten
und von Johannes Teile des gleichen, in sich geschichteten Grundes,
dem auch das Blau und Orange von Maria und Magdalena durch Bre-
chung ihrer Buntwerte eingebildet sind. Die im vollen Bildlicht erschei-
nenden Partien sind diesem Grund aufgeprägt. Der Goldgrund derTafel
vermittelt zwischen den Licht- und Schattenzonen der Figuren.
Die Londoner Madonnentafel 4, das Mittelbild des Pisaner Altars, läßt
exemplarisch die Besonderheiten der Farbgestaltung Masaccios er-
kennen: die Eingliederung des Reliefschattens in das farbige Ensemble,
und zwar so, daß die in ihren Tonwerten einander angeglichenen Schat-
tenbezirke über alle Helligkeiten hinweg miteinander kommunizieren
und so zu Schattengründen zusammentreten, zugleich aber immer auch
als (gedämpfte) Buntfarbenzonen wirken; die Herabstufung aller
Farben, auch derjenigen der Lichtbezirke, auf eine mittlere Helligkeit,
die stufenweise in die mittlere Dunkelheit der Halbschatten führt, wo-
durch eine prägnante Strukturierung der Bildfläche unter Vervielfälti-
gung der Reliefschichten (verglichen mit Giotto), gewonnen wird, wie

3 FA: Lionello Venturi, La Peinture Italienne, Les Créateurs de la Renais-


sance. Genf-Paris 1950, 112. - Ludwig H. Heydenreich, Italienische Renais-
sance, Anfänge und Entfaltung in der Zeit von 1400 bis 1460. München 1972,
Abb.278.
4 FA: Michael Wilson, Die National Gallery London. München 1982, 16. -
Vgl. hierzu auch: Herbert Siebenhüner, Über den Kolorismus der Friihrenais-
sance, vornehmlich dargestellt an dem >trattato della pittura< des L.B. Alberti
und an einem Werke des Piero della Francesca. Diss. Leipzig, Schramberg
1935, 51-56. (Dazu aber Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 79,
Anm. 37.)
Malerei und Theorie im Quattrocento 49

andererseits solche Identifikationen der Buntheit von Gegenstands-


farben mit einem mittleren Lichtwert, oder, gedämpfter, mit einem
Halbschattenwert, auch eine Differenzierung der Farbe selbst bedeutet.
Und es bedarf schließlich „nur einer Trennung einzelner beschatteter
Teilflächen von der ihnen zugehörenden Gegenstandsform - wie etwa im
Rumpf des Kindes oder inTeilen derThronarchitektur zu erkennen ist -,
um eine schlagschattenartige Wirkung und damit den Eindruck eines
intensivierten, beleuchtenden Bildlichts hervorzurufen“ 3.
In der >Schattenheilung< der Brancacci-Kapelle 5 6 durch Petrus, der in
„florentiner“ kühlem Hellgraublau im Kontrast zu warmem, stumpf-
braun-verschattetem Siena gegeben ist, kann sodann die Schlagschatten-
gestaltung zu konkret-thematischer Aussage erhoben werden. Freilich
ist diese hier noch eher zeichenhaft als wirklich Anschauung gewor-
den.
Um eine der Voraussetzungen fiir Fra Angelicos Farbgestaltung zu er-
fassen, sei ein Blick geworfen auf die Malerei Lorenzo Monacos (nach-
gewiesen zwischen 1390 und 1422 in Florenz), einem Repräsentanten
der sog. internationalen Gotik.
Sein um 1415 entstandenes Triptychon der >Marienkrönung< in der
Londoner National Gallery 7 zeigt sehr helle Farbigkeit, bestimmt von
quantitativ vorherrschendem Weiß, hochgestimmtem Blau, lichtem
Zinnober, Sienagelb. Das Lichte, „Schwebende“ der Gewänder wird
durch die durchweg trübbräunliche Karnation noch erhöht.
Die „Schlußstein“-Farbe ist lichtes Blau, im Mantel Christi, sehr ähn-
lich wiederkehrend im stehenden Heiligen des linken Flügels, ebenfalls
mit gelber Innenseite, noch lichter, mit viel Weiß zu Himmelblau aufge-
hellt, in kleineren Quantitäten dann über die ganzeTafel verteilt. Einer
großen, ungeteilten Fläche Blau im Christusmantel sind also verschie-
dene Gelbflächen, klein- und großflächig, und kleinflächiges Blau gegen-
übergestellt.
Die Farben, insbesondere das spezifisch dunkle Blau, werden zum
Licht hinaufgestimmt, das Gold zur Farbe hinabgestimmt. (Anders war
es noch bei Simone Martini und Pietro Lorenzetti, die gerade den Ge-
gensatz von Gold und dunklem Blau gestalteten.) Als dritte Farbe
kommt Weiß hinzu, in dreimal abgewandelter Form: in den flankie-
renden, knienden Aposteln, mit silbrig-bräunlichen Schatten (grau über

5 Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 86.


6 FA: Ph. Hendy, Masaccio, Taf. 19. - Jan Bialostocki: Spätmittelalter und
beginnende Neuzeit. Propyläen-Kunstgeschichte. Bd. 7. Berlin 1972, Taf.
XXXVII.
7 FA des Mittelbildes in: Wilson, National Gallery London, 14.
50 Malerei und Theorie im Quattrocento

gelbem Grund, im Licht nicht „grellweiß“, sondern weich, seidig-wie


iiberhaupt die Farben etwas Seidig-Schimmerndes besitzen), mit hell-
grauvioletten Schatten im Gewand Mariens und, als dritte Ausprägung,
im Boden, dort am materiellsten durch das braune Fliesenmuster wir-
kend; es triibt sich ganz leicht nach der Tiefe zu, ebenso dieThronstufe -
ein Nachklang trecentesker Raumverdunkelung. Insgesamt ein Bild von
starker Lichtbewegung durch die Farben. 8
Solche Dominanz strahlenden Blaus in spättrecentistischer Bunthelle
kehrt wieder in Bildern Fra Angelicos (um 1400-1455). Zugleich schlie-
ßen sie an die Errungenschaften Masaccios an.
Fra Angelicos um 1430/35 entstandene >Krönung Mariä< im Louvre 9
zeigt reines, mittelhelles Ultramarin in großen Figuren wie auch in
kleinen Stücken, iibereinstimmend mit dem Himmelsgrund, iiber das
ganze Bild hin verteilt. Dieses volle Blau aber ist die Farbe von Halb-
schatten - der Schatten wird mithin durch einen lichten Buntwert reprä-
sentiert! In der Gleichsetzung von Schatten und Buntwert, verbunden
mit der Reliefklarheit der Modellierung, folgt Fra Angelico Masaccio,
nur daß bei ihm nichts auf Farbbrechung, nichts auf Verdunkelung und
Farbtriibung (mit Ausnahme der olivfarbenen Gewänder) hinweist.
Eine vornehmlich durch das Blau gesetzte, aber alle Farben iibergrei-
fende mittlere Farbhelligkeit ist der bindende Grund und zugleich, in
Konsequenz des farbigen Reliefraums, die äußerste Farbtiefe der Mo-
dellierung. Der Buntwert wird in diesem Bilde also nur erhöht, nicht
aber unter die Buntheitsschwelle vertieft. Auch die „spezifische Dunkel-
heit“ des Blaus wird nicht genutzt: Griin ist hier dunkler als Blau.
Die enge Farbverkettung, die zarte Abstufung und Lichtoffenheit der
Farben läßt ein Detail erkennen: Das leuchtend rote Gewand der unmit-
telbar rechts vor dem Thronaufbau knienden Magdalena zeigt reinen
Zinnober in den hellen Partien, etwas dunkleren in den Halbschatten. In
einer direkt vom Licht getroffenen Zone am Ärmel und an der Schulter,
die auf ein von oben einfallendes Licht verweist (im Widerspruch zur
übrigen „Beleuchtung“ von links), aber verdünnt sich dies Rot zu einem
weißlichen Rosaton. Solche Farbveränderung bei Auflichtung ist aber
keineswegs konsequent durchgefiihrt: das vom gleichen Licht getroffene
Gelb der Haare Magdalenas verändert in seiner Verdünnung nicht auch
den Farbton. Das Rosa dieses lichten Farbsaums wird nun, und das ist

8 Zu Gentile da Fabrianos Dreikönigs-Altar in den Uffizien von 1423 vgl. Sie-


benhüner, Über den Kolorismus der Friihrenaissance, 45-50.
9 FA: Michel Laclotte, Der Louvre, II, Europäische Malerei außerhalb
Frankreichs. München 1982, 14. - Kindlers Malerei Lexikon im dtv, Bd. 1,
105.
Malerei und Theorie im Quattrocento 51

höchst aufschlußreich für die enge und dennoch freie Farbverflechtung,


Lokalfarbe im Mantel des knienden Heiligen links neben Magdalena.
Die Lichtoffenheit der Farben erklärt auch die Verwendung von Gold
in seinem Gelbwert, in enger Näherung an pigmentäres Gelb: Gelb sind
die aufgelösten Haare und die Büchse Magdalenas, golden der Brokat-
vorhang des Thrones, alle Nimben, viele Gewandsäume und -muste-
rungen.
Auch bei Fra Angelicos >Kreuzabnahme Christu (um 1435/40, Flo-
renz, Museo di S. Marco) 10 sind die Dunkelheiten solche der Lokal-
farben, nicht der Schatten. Tiefe, farblose Schatten, aus denen der Ein-
druck von Dunkelheit oder „Dämmer“ entstünde, gibt es auch hier nicht
- vielmehr ein Ineinandergreifen spezifisch heller und spezifisch dunkler
Farben, ein Kontrastieren bunter Farben: meist mittelstarkes, klares
Blau, verfestigtes Himbeerrot und Rosa, gegen das ein spezifisch dunk-
les Olivgrün in Vegetation und Bäumen als Folie steht. Den Bildein-
druck bestimmt der rhythmische Wechsel stark unterschiedener spezi-
fischer Helligkeiten, kein Licht-Schatten-Gefälle.
Die Farbe wird ausschließlich im Licht mit Weiß versetzt, der Lo-
kalton wird - charakteristisch für Fra Angelico - mit dem beschatteten
identisch, so daß es bisweilen unklar bleibt, ob man eine Gegenstands-
farbe oder eine Farbe im Halblicht vor sich hat. Solch Nichtfest-
gelegtsein ist Ursache des „angelisch“ Schwebenden vieler Farben, die
darin wieder zu fraglos festen, unter keiner Beleuchtungswirkung ste-
henden Gegenstandsfarben in wirksamen, dekorativen Flächenkontra-
sten treten.
Gegenstandsbindung der Farben wird zudem durch die gerade Fra
Angelico eigentümlichen Formüberschneidungen oftmals wiederaufge-
hoben, denn nur indirekt gegenständlich bedingte Zwischenformen
treten, „puzzleartig“, völlig gleichberechtigt neben die farbig-gegen-
ständlich bedingten, z.B. beim Mann mit der Dornenkrone und dem
Landschaftsausschnitt links daneben. Nur das Element einer Relieflicht-
wirkung trennt solche Formverzahnung vom Ineinanderpassen farbiger
Flächen eines ausgeprägten Kolorismus im Sinne von Matisse.
Die dunkel-olivfarbene Bodenfläche ist zugleich farbiger Grund, vor
dem die Buntfarben stehen, leuchtend vor allem das Rot der knienden
Figuren, das in den Lichtflächen den Buntwert transzendiert. Zwischen
Buntfarbigkeit und Folie wirkt als „zweite Folie“ das Inkarnat, ein weiß-

10 FA: Elsa Morante, Umberto Baldini, L’opera completa dell'Angelico


(Classici dell’arte, 38), Mailand 1970, Taf. XII-XIII, Ausschnitte: XIV, XV. -
Kindlers Malerei-Lexikon, Bd. 1,109. -Heydenreich, Italienische Renaissance,
Abb. 294 (Ausschnitt).
52 Malerei und Theorie im Quattrocento

durchsetztes Olivgelb im Licht, griinlich umbrafarben im Schatten,


Haare, Lippen kaum abweichend. Im Inkarnat wie in den Architektur-
farben erhebt Fra Angelico die Neutralwerte zum gleichberechtigten
Partner der Buntfarben.
Daran kann die weitere Entwicklung ansetzen. Grundlage ist dabei,
insbesondere für die florentinische Malerei, das Prinzip der „mittleren
Helligkeit“.
Filippo Lippi (14067-1469) nimmt ausschließlich von Masaccios
Kunst den Ausgangspunkt seiner Farbgestaltung. Von ihr iibernimmt er
die „Ausweitung der großflächigen Modellierungsschatten zu neutralen
Griinden“ wie auch die mittlere Helligkeit. Diese aber deutet er nun
koloristisch um, indem er dem Grau eine neue Bedeutung sowohl als
Brechungston wie als Gegenstandsfarbe zukommen läßt. Es wird nun
ebenbiirtig den Buntheiten, zu denen es in Gleichklang und Kontraste
tritt, ja es wird zur „fundamentalen Beziehungsfarbe“, zur entschei-
denden „Grundfarbe“: „offen in der grisaillehaften Anlage der Fresken,
latent als neutraler, den weitaus größten Teil der Bildfläche einschat-
tender und alle Buntheiten mildernder Wert“ 11.
Lippi konzentriert dabei die Buntfarbigkeit in der Bildmitte, während
er nach den Bildrändern zu bewußt die Farben auf dem „Grauniveau“
zurückhält. Doch bleibt dieses Grau potentiell buntfarbig, es kann sozu-
sagen über eine mehr oder minder hohe Stufe von sich aus zur Buntheit
gelangen - jedoch nicht „gleitend“, nicht helldunkelhaft. Auch in der
leichten Trübung des Inkarnats bekundet sich diese potentielle Buntfar-
bigkeit des Grau.
Die Buntakzentuierung der Bildmitte zeigt exemplarisch der sog.
>Barbadori<-Altar, die um 1437/38 entstandene Tafel mit „Maria und
Kind, umgeben von Engeln und den Heiligen Frediano und Augustinus“
im Louvre. 12 Das gleiche Prinzip liegt auch dem roten Quadrat im Mit-
telgrund der Münchner >Verkündigung an Maria< zugrunde. 13 Das um
1450 gemalte Tondo im Palazzo Pitti, Florenz, weist im Madonnenge-
wand, nahe der Bildmitte, ein Orangerot auf, umspielt von gleichen Rot-
tönen in Mittel- und Hintergrund, die der Tiefenrichtung entgegen-
wirken und die Reliefebene wahren.
Bei Paolo Uccello (1397-1475) wird Grau zum Träger eines verfe-

11 Strauss, KoloritgeschichtlicheUntersuchungen, 86: FraFilippo Lippi: Bar-


badori-Altar, Louvre.
12 FA: Laclotte, Louvre, II, 15.
13 FA: Erich Steingräber, Die Alte Pinakothek München. München 1985,12.
- Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, Taf. 1. Dazu Strauss, l.c.,
100 ff.
Malerei und Theorie im Quattrocento 53

stigten, verdichteten Halblichts, das den Körpern, die sich hart im


Raume stoßen, ihr Maß an räumlicher Freiheit gewährt. In der Pariser
Tafel seiner >Schlacht von San Romano< 14, entstanden um 1450/56, er-
scheinen vor dunkelolivfarbenem, fast schwärzlichem Grund (der die
trecentistische Raumverdunkelung wiederaufnimmt) Stufen gelb-
licheren und bläulicheren, kühlen Graus, dazu Braun in unterschied-
lichen Tönungen und ein tiefes, bläuliches Schwarzbraun im mittleren
Pferd, mit bläulichen Lichtsäumen an seiner linken Kontur! Zu dieser
reichen Abstufung von Grau- und Braunwerten kommt als einzige Bunt-
farbe ein schweres, dunkelglühendes Zinnoberrot, dazu Stücke auf-
gesetzten Goldes in den Pferdegeschirren, die den „magischen“ Klang
verstärken. In der Verwendung des halbneutralen Brauns entfernt
vergleichbar mit Ambrogio Lorenzettis Fresken im Sieneser Palazzo
Pubblico 15, gewinnt dies Braun doch durch die Zusammenstellung mit
dem lichthaltigeren Grau eine neue Bedeutung, als Komponente der
Totalität der unbunten und halbbunten Farben innerhalb eines umfas-
senden, herabgestimmten, fast düsteren Halblichts.
Auch für Andrea del Castagno (14217-1457) spielt Grau eine wichtige,
wenngleich verborgenere Rolle in der Farbgestaltung. In seinem
>Abendmahl<, gemalt um 1450, in Cenacolo di S. Apollonia in Florenz 16,
dient helles Grau als Mittelwert wie als Zumischung zu den Buntfarben
zur gleichmäßigen Ebenenbestimmung, „Nivellierung“ der Reliefhöhe.
Und wieder wird es in einer fiir das florentinische Quattrocento eigen-
tümlichen Weise mit vielfältig differenzierten Brauntönen verbunden.
Der Farbcharakter dieses Freskos sammelt sich nämlich in der Marmo-
rierung der Rückwand; dabei handelt es sich durchweg um gebrochene,
aber dennoch als unabhängige Größen behandelte Farben, um den
Klang von Ockerrot/Braun/Weiß, um Porphyrgrün, um das Changieren
von Weiß über Hellgrau zu Rostrot, von Hellbraun zu schwärzlichem
Braun usf. Der Farbklang wird in den Figuren aufgegriffen, mit Rost-
braun, stumpfem Weinrot, Ockerrot, Oliv, getrübtem Weiß. Zu eigener
Kraft und Aktivität werden hier die Halbneutralfarben aufgerufen, die
zugleich den perspektivisch exakt konstruierten Bildraum zu einem ge-
spannten Farbrelief verdichten.
Die neue Vitalität gebrochener Farben bekundet sich auch bei den
Fresken aus der Villa Carducci in Legnaia, im selben Cenacolo
di S. Apollonia, vornehmlich in den Changeanttönen. Im Mantel der

14 FA: Laclotte, Louvre, II, 17.


15 FA: Enzo Carli, Pietro e Ambrogio Lorenzetti. Mailand 1971,Taf. XIVbis
XXII. - Dupont, Gnudi, Gotische Malerei, 98-103.
16 FA: Kindlers Malerei Lexikon, Bd. 2, 300/301.
54 Malerei und Theorie im Quattrocento

>Cumäischen Sibylle< 17 changiert Pastellblau im Licht heftig zu rotem


Ocker - mit phosphoreszierender Wirkung -, kontrastiert zum Goldgelb
des Saumes, dem stumpfen Graugrün des Gewandes, getrübten Weiß
des Tuches und dem hellen Pistaziengriin des Buchs. Changieren er-
scheint als Energie-Äußerung der Farben selbst.
Im >Lucia-Altar< Domenico Venezianos (um 1400-1461) (entstanden
um 1445, Uffizien, Florenz) 18 wird Grau gleichfalls zumTräger des Bild-
lichts, zur bildwichtigen Gegenstandsfarbe und zum Brechungston von
Buntfarben, bestimmend hier vor allem fiir lichtes Karminrosa und
stumpfes Graugriin - doch wie anders ist nun die farbige Bilderschei-
nung! Es ist ein sehr helles Grau, ein „Lichtgrau“, das hier zum Ver-
mittler von Bildhelle wird. Damit verbindet Domenico Veneziano
Masaccios Scheidung beschatteter Bildteile von Gegenstandsformen
zur Vergegenwärtigung beleuchtenden Bildlichts mit der Bunthelle der
Farben Fra Angelicos und der Reliefmodellierung durch Grauwerte bei
Filippo Lippi zu einer neuen, eigenständigen Synthese. Deren Beson-
derheit liegt vor allem in der „Aufteilung des ganzen Bildfeldes in eine
reinhelle und eine halbhelle Region, in der jedoch sämtliche Farben
ihren vollen Buntwert beibehalten“ und damit in der Übertragung des
„Prinzips der einfachen Schichtenüberlagerung auf den Bereich des
Bildlichts“ 19. So entsteht die Zartheit eines Lichtreliefs, vergleichbar
dem „rilievo schiacciato“ im Sinne Donatellos.
An Domenico Veneziano konnte Piero della Francesca (um 1420 bis
1492) anschließen.
Pieros Farbgestaltung wurde von Ernst Strauss eindringlich charakte-
risiert am Beispiel eines seiner Hauptwerke, dem vor 1466 vollendeten
Zyklus der Chorfresken in S. Francesco in Arezzo. 20 Licht kommt hier zu
neuer Eigenbedeutung, aber es ist, im größten Unterschied zum Frei-
licht des 19. Jahrhunderts, kein atmosphärisches Licht, denn es löst die
Formgrenzen nicht auf, offenbart sich vielmehr „gerade in seiner
strikten Bindung an eine lineare Anlage von höchster Präzision. Die
Bildfläche erscheint wie besetzt mit intarsienartig gefügten Farb-
17 FA: Heydenreich, Italienische Renaissance, Abb. 345.
18 FA: Bialostocki, Spätmittelalter und beginnende Neuzeit. Propyläen-
Kunstgeschichte. Bd. 7. Taf. XXXIX.
19 Strauss, KoloritgeschichtlicheUntersuchungen, 87: DomenicoVeneziano:
Lucia-Altar. - Zum Lucia-Altar vgl. auch Siebenhüner, Über den Kolorismus
der Frührenaissance, 56-62.
20 Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 88-89: Piero della Fran-
cesca: Chorfresken in S. Francesco, Arezzo. - FA: Venturi, Peinture Italienne,
Chréateurs de la Renaissance, 139, 142. - Heydenreich, Italienische Renais-
sance, Abb. 353, 356, 357.
Malerei und Theorie im Quattrocento 55

formen“, wobei die Wirkung enger Verfugung von Farbzonen neben


ihrer messerscharfen Konturierung auf der unterschiedlichen Hellig-
keitsdifferenzierung inner- und außerhalb der gegenstandsdarstellenden
Farbformen beruht: „Piero setzt die Farben so ein, daß die ausgeprägten
Kontraste ihrer Buntheiten immer zugleich auch als Tonkontraste zur
Sprache kommen: die Eigenhelligkeiten und Eigendunkelheiten der ein-
zelnen Qualitäten ergänzen sich in ihrer optischen Wechselwirkung
allein schon zu einem selbstbetonten Bildlicht. Die Reliefierung aber
kommt so zustande, daß innerhalb der hell- und neutralfarbigen Flä-
chenstücke die Tonunterschiede zwischen Licht und modellierenden
Schatten stark nivelliert werden und dadurch oft erheblich geringer er-
scheinen als die Helligkeitsdifferenzen zwischen ihnen und den sie foliie-
renden (bzw. überschneidenden) Farbflächen.“
Unter den Farben kommt wiederum, wie schon bei Domenico Vene-
ziano, einem (oft nach Sandgelb gebrochenen) Lichtgrau eine führende
Rolle zu: oft bis zu alabasterhaftem Weiß erhöht, fungiert es als vielver-
wendete Gegenstandsfarbe, durchsetzt es aber auch als gleichmäßig bre-
chenderTon nahezu sämtliche Buntwerte; vor allem lichtet es die Model-
lierungsschatten der hellfarbigen Flächen, besonders der Inkarnate, auf
und verleiht ihnen jene reflexartige Transparenz, die einer gleichsam
„filtrierten“ Helle eigen sein kann.
Die Bildtiefe erreicht Piero durch eine kontinuierliche Abfolge von
Formenschichten, und zwar gemäß einer „ ,tonalen Staffelung 1, indem er
jeweils die vordersten Bildzonen leicht einschattet (ohne jedoch die Far-
bigkeit merklich einzuschränken), sie aber so durchbricht, daß in
,vollem‘ Bildlicht erst die dahinterliegende Schicht erscheint, die ihrer-
seits wiederum durch tonlich kontrastierende Flächenteile hinterfangen
wird“, einem Prinzip, das auch für neuartige Gegenlichtwirkungen, wie
im >Traum Konstantins<, genutzt werden kann.
So erscheint bei Piero die von Masaccio überkommene Strukturie-
rung der Bildfläche und des Bildraumes durch „farbhaltige, mit den
Lichtflächen alternierende Halbschattenzonen“ am reichsten ausge-
prägt. Sie wird verbunden mit einer Helligkeit des Bildlichts, die an-
schließt an die Bunthelle Fra Angelicos, nun aber, seit Domenico Vene-
ziano, getragen wird von einem „Lichtgrau“ - während bei Filippo Lippi
Grau nur eine mittlere Helligkeitshöhe erreicht und bei Paolo Uccello
Grau eher mit Düsternis als mit Helle sich vereint. Grau wird im Quat-
trocento auch zur Grundfarbe der Ton-Differenzierung, von ihm aus
werden auch dieTonwerte der Buntfarben bestimmt. Und es ist Piero
della Francesco, der solche Tonabstufung zu einem Höhepunkt führt
und aus ihr, mittels des Prinzips der tonalen Staffelung, neue Raum- und
Lichtwirkungen gewinnt.
56 Malerei und Theorie im Quattrocento

Über diesen Stand der Entwicklung geht Piero noch einen Schritt
hinaus, indem er dieTon- und Buntkontraste noch von einem „polaren
Kontrast“ umgreifen läßt, einem Kontrast größtmöglicher Spannweite,
repräsentiert „durch reines Weiß und Surrogate des Schwarz, d. h. durch
die Farbtiefe von zu Schwarz konvergierenden Werten“. 21 Mit dieser
Einführung eines umfassenden Kontrastes aus den Skalenenden Weiß
und Schwarz zielt Piero auch schon auf einen Abschluß koloristischer
Farbgestaltung im Quattrocento, verbleibt aber dennoch ganz in ihr,
indem Weiß und die schwärzlichen Vertiefungen immer licht- oder dun-
kelhaltige Farbe bleiben, nie Helldunkelwerte werden.
Die an Pieros Fresken aufgezeigten Charakteristika der Farbgestal-
tung gelten auch für seineTafelbilder.
Helligkeit eines diffusen, kühlen Lichts bei heller Folie, sehr hellen
Schatten, hellstem Grau als Farbe des Inkarnats und des Baumstamms
bestimmt Pieros >Taufe Christu (entstandenum 1440 oder 1460, National
Gallery London 22. Der polare Kontrast spannt sich auch hier zwischen
dem hellsilbrig verschatteten Weiß (im Engelsgewand) und ins Dunkel-
oliv-Schwärzliche vertieften kleinen Bildkompartimenten. Dazwischen
stehen die Buntfarben, am klarsten repräsentiert durch den Klang von
Karmin und stumpfem Blau im Gewand des linken Engels.
Eine wohl noch strahlendere Helligkeit erfüllt Pieros Spätwerk der
>Anbetung Christu, ebenfalls in der Londoner National Gallery. 23 Vor
heller, leicht sandbräunlicher Bodenfolie heben sich die Figuren und die
vielfältig geformten kleinen olivbraunen Rasenstücke ab, vor licht-
blauem Himmel stehen das Hellgrau und helle Sandbraun des Stalles.
Zwischen dem Weiß des linken Engelsgewandes und demTiefoliv im Ge-
wand Josephs entfaltet sich erneut die Spannweite der Farbwelt. Inner-
halb dieser Pole die herrlichste Harmonisierung unterschiedlicher Blau-
werte! Fünferlei verschiedene Blautöne treten hier auf: der mittlere
Lautenengel erscheint hellblau, changierend zu purpurviolett; der
Engel links daneben grauviolett über rosafarbenem Grund; das Tuch
unter dem Kind wie der Marienmantel, dessenTeil es ist, ultramarinblau
mit grünlichen und schwärzlichen Abwandlungen; das Gewand Mariens
graublau. Ob in diesem Reichtum an Blautönen eine Einwirkung altnie-
derländischer Farbgebung vorliegt, bleibe dahingestellt, insgesamt je-
doch ist PierosTafel von niederländischer Helldunkelmalerei so weit wie
irgend möglich geschieden.

21 Strauss, 1. c., 89.


22 FA: Bialostocki, Spätmittelalter und beginnende Neuzeit. Propyläen-
Kunstgeschichte. Bd. 7. Taf. XLI.
23 FA: Wilson, National Gallery London, 20.
Malerei und Theorie im Quattrocento 57

Herbert Siebenhüner widmete als erster mit seiner bei Theodor


Hetzer gefertigten Dissertation den auf Farbe und Licht bezüglichen
Passagen des Albertischen Malerei-Traktates und ihrem Verhältnis zur
gleichzeitigen und kurz vorangegangenen italienischen Malerei, vor
allem derjenigen Piero della Francescas, eine gründliche Untersu-
chung. 24
Die von Siebenhüner aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis der
Farb- und Lichtgestaltung in der Quattrocentomalerei zur Theorie von
Farbe und Licht bei Alberti wird hier wiederaufgenommen.

Das Neuartige der Farbenlehre Leone Battista Albertis (1404—1472)


zeigt sich im Vergleich zur Auffassung der Farbe bei Cennino Cennini.
Cenninos >Libro dell’arte< 2S wurde um 1390 geschrieben. In ihm
schlägt sich die Werkstatterfahrung der Trecento-Malerei nieder. Cen-
nino 26 schreibt als Künstler-Handwerker und ohne wissenschaftliche Ab-
sicht - obwohl auch er schon von einem „System“ spricht, dem der
Künstler folgen soll. Von seiner Nähe zur Malerei seiner Zeit zeugt etwa
seine Bemerkung, ferne Berge sollten in dunklen Farben wiederge-
geben werden, womit er auf die für dasTrecento höchst charakteristische
Raumverdunklung Bezug nimmt. Die von ihm geforderte Übereinstim-
mung des im Bilde dargestellten Beleuchtungslichts mit dem realen
Lichtgang in einer Kapelle usf. wurde schon erwähnt. Die Farbe steht im
Dienste der Naturnachahmung und auch der bei Cennino zur Sprache
kommende Farbrealismus ist in der Trecento-Malpraxis begriindet: gol-
dene Stoffe sollen durch Gold dargestellt, wollene durch eine besondere
Behandlung der Freskooberfläche in ihrer Textur nachgeahmt werden.
Nichts von dieser engen Werkstattnähe fìndet sich bei Alberti. 27 Zwar
will auch er „als Maler“ sprechen und in derTat zeigt er sich in einigen

24 Herbert Siebenhüner, Über den Kolorismus der Frührenaissance, vor-


nehmlich dargestellt an dem >trattato della pittura< des L.B. Alberti und an
einem Werke des Piero della Francesca. Diss. Leipzig, Schramberg 1935.
25 Franco Brunello und Licisco Magagnato, Cennino Cennini, II Libro dell’
arte, Vicenza 1971. - Dt. Übersetzung: Albert Ilg, Das Buch von der Kunst oder
Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdelsa, Wien 1871 (Quel-
lenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der
Renaissance, I).
26 Dazu weiterführend: Moshe Barasch, Light and Color in the Italian
Renaissance Theory of Art, NewYork 1978, 1-11.
27 Vgl. dazu: Barasch, Light and Color in the Italian RenaissanceTheory of
Art, 11-43. - James S. Ackerman, Alberti’s Light. In: Studies in Late Medieval
and Renaissance Painting in Honor of Millard Meiss. Ed. by Irving Lavin and
John Plummer, Vol. L, New York 1977, 1-27.
58 Malerei und Theorie im Quattrocento

Details mit Malerwerkstätten vertraut, dennoch tritt er mit einem an-


deren Anspruch auf als Cennini. Schon die Dreigliederung seines 1435 in
Florenz in lateinischer Sprache vollendeten Traktats >De pictura< 28 (der
italienischen Fassung von 1436 ist eine Widmung an Brunelleschi voran-
gestellt) geht auf eine Tradition der Rhetorik zuriick, und die ersten
Sätze des ersten Buches beschreiben die neue systematische Absicht:
„Da ich vorhabe, in diesen ganz kurzen Biichern iiber das Wesen der
Malerei zu handeln, so will ich, auf daß meine Rede an Klarheit ge-
winne, zuerst von den Mathematikern jene Sätze entlehnen, welche auf
meinen Gegenstand Bezug haben; sobald diese bekannt, werde ich, so-
weit meine geistige Kraft reicht, das Wesen der Malerei von ihren Grund-
prinzipien aus entwickeln.“ 29
Dieser wissenschaftliche Zugang bestimmt auch Albertis Farbtheorie.
Sie handelt nicht von Farbpigmenten, sondern von Farben als Gegen-
ständen der Optik. Alberti war gewiß vertraut mit den mittelalterlichen
Texten zur Optik und bezieht sich mehrmals auf „den Philosophen“,
d.h. auf Aristoteles, dessen Farbenlehre, wenn auch in unterschied-
lichen Brechungen, durch das ganze Mittelalter hindurch iiberliefert
worden war. 30
In der lateinischen Fassung seines Traktats erwähnt Alberti kurz eine
Farbskala mit Weiß und Schwarz als den Extremen und zwei Paaren zwi-
schen diesen Extremen und einem Mittelwert, ohne sich auf eine Diskus-
sion dieser Anordnung einzulassen. 31 In der italienischen Fassung be-
schränkt er sich auf vier Grundfarben („veri colori“): „Ich sage, durch
die Mischung der Farben entstehen unzählige andere Farben, eigent-
liche Farben aber gibt es nur vier - gleich der Zahl der Elemente - aus
welchen dann mehr und mehr andere Arten von Farben entstehen. Die
Farbe des Feuers wird das Rot sein, die der Luft das Blau, des Wassers

28 Leon Battista Alberti, Della pittura, Edizione critica a cura di Luigi Mallé,
Florenz 1950. - Leon Battista Alberti, On Painting and On Sculpture. The Latin
Texts of De Pictura and De Statua edited with Translations, Introduction and
Notes by Cecil Grayson, London 1972. -Leone Battista Alberti, Kleinere kunst-
theoretische Schriften im Originaltext herausgegeben, übersetzt, erläutert ...
von Hubert Janitschek, Wien 1877 (Quellenschriften fiir Kunstgeschichte und
Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, XI), Nachdruck Osnabriick
1970. Danach wird zitiert.
29 Alberti, 50.
30 Vgl. Samuel Y. Edgerton Jr., Alberti’s ColourTheory: A Medieval Bottle
Without Renaissance Wine. In: Journal of theWarburg and Courtauld Institutes,
XXXII, 1969,109-134.
31 Vgl. Leon Battista Alberti, On Painting, translated with Introduction and
Notes by John R. Spencer, New Haven 1966, 21976, 49 und 104, Anm. 22.
Malerei und Theorie im Quattrocento 59

das Griin und der Erde das Bleigrau oder Aschgrau: ,,Fia colore di fuoco
el rosso, dell aere cilestrino, dell acqua el verde, et la terra bigia et cene-
riccia.“ 32
Eigentümlich an dieser Albertischen Skala der Grundfarben ist das
Fehlen von Gelb, das schon in antiken Farbenskalen, auch der Aristote-
lischen von >De Sensu<, enthalten war. Edgerton vermutete, der Grund
dieser Ausschaltung liege darin, daß Alberti Gelb keinem Element
zuordnen konnte. 33
An die Stelle von Gelb tritt bei Alberti „Blei- oder Aschgrau“. Jonas
Gavel versuchte „bigio“ mit Gelb zu identifizieren, aber in der Mehrzahl
der von Gavel angeführten Vergleichsfälle meint „bigio“ eine Farbe zwi-
schen „biancho“ und „nero“ oder gelblich oder bräunlich getöntes
Grau. Gavel vermißt Gelb, weil er von einer systematischen Trennung
von Bunt- und Neutralfarben bei Alberti ausgeht. 34 Ohne das Problem
lösen zu können, sei doch darauf hingewiesen, daß die Rolle, die Alberti
dem „Grau“ als Grundfarbe zuweist, seiner Bedeutung in der italieni-
schen Quattrocentro-Malerei entspricht und dort, bei Filippo Lippi
etwa, das Phänomen des potentiell buntfarbigen Graus zu finden ist.
Als die entscheidende Neuerung der Albertischen Farbenskala wurde
die Ausschaltung von Weiß und Schwarz erkannt. Damit steht Alberti in
bewußtem Gegensatz zu Aristoteles, dem er in seiner erfahrungsorien-
tierten Grundhaltung sonst sehr nahe kam. 3S Aristoteles hatte die
Grundfarben aufWeiß und Schwarz reduziert, die durch An- bzw. Abwe-
senheit des Lichts entstehen. 36 Aus diesem Grunde sind Weiß und
Schwarz für Alberti gerade keine Farben: ,,1’biancho e ’l nero non sono
veri colori“ 37, sie sind keine Farben, weil sie nur der Darstellung von
Licht und Schatten dienen, weil sich bei der Mischung mit Weiß und
Schwarz keine neuen Farbengattungen, sondern nur hellere und dunk-
lere Farbenarten bilden. 38
Diese Auffassung Albertis „bezeichnet eine vollkommen neue Wen-
dung in der Entwicklungsgeschichte der Farbenlehre“, da die aristote-
lische Farbtheorie „die einzig gültige noch im Quattrocento war“ 39.

32 Alberti, 64, 65.


33 Edgerton, wie Anm. 31, 127.
34 Jonas Gavel, Colour, A study of its Position in the Art Theory of the
Quattro- and Cinquecento, Stockholm 1979, 48-51.
35 Vgl. Erwin Panofsky, Idea, Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren
Kunsttheorie, 2Berlin 1960, 31, 92, Anm. 119 und 123.
36 Vgl. Lersch, Farbenlehre, Sp. 160, 161.
37 Alberti, 67.
38 Alberti, 64/66, 65/67.
39 Siebenhüner, 19.
60 Malerei und Theorie im Quattrocento

Albertis Neubewertung von Weiß und Schwarz griindet in seiner Be-


stimmung des Verhältnisses von Farbe und Licht. Farbe ist eine Funktion
des Lichts, wo kein Licht ist, kann Farbe nicht erscheinen: ,,Es scheint
mir offenbar, daß die Verschiedenheit der Farben vom Lichte her-
kommt, da jede Farbe, ins Dunkel gesetzt, nicht mehr als jene erscheint,
die sie im Flellen ist. Der Schatten macht die Farbe dunkel; vom Lichte
getroffen wird sie hell. ... So haben also die Farben eine innige Ver-
wandtschaft mit dem Lichte; wie groß diese sei, siehst du daraus, daß,
wo Licht mangelt, auch die Farben mangeln, und wo das Licht zurück-
kehrt, auch die Farben wiederkehren.“ 40
Farben sind „receptione di lumi“. „Adunque la pictura si compie di
conscrittione, compositione et ricevere di lumi“; Janitscheks Überset-
zung lautet ambivalent: „Die Malerei zerfällt also in dreiTeile: Umriß,
Komposition und Beleuchtung (resp. Farbengebung).“ 41
In der Abhängigkeit der Farben vom Licht griindet die Erscheinung
von Reflexfarben. Bei einer Veränderung der Richtung teilt sich den
weißen Lichtstrahlen die Farbe der Körper mit, auf die sie auftrafen.
„Die in eine andere Richtung gebrochenen Strahlen führen nun neben
ihrem Lichte eine Farbe, die sie auf der getroffenen Fläche vorfanden,
und nun wiederum auf eine andere Fläche stoßend, teilen sie die eben
übernommene Farbe dieser mit.“ 42 Die Lichtstrahlen (genauer: die Zen-
tralstrahlen innerhalb einer Sehpyramide) „fanno quanto si dice il Ca-
maleone, animale che piglia d’ogni ad sè prossima cosa colore“ 43.
Schließlich kann Farbe noch eine weitere Veränderung erfahren: ,,in
aere circha al orizonte non raro essere vapore bianchiccio et a poco a
poco seguirsi perdendo .. ,“ 44 „Credo ne sia ragione, che carichi, di lume
et di colore trapassano l’aere, quale humido di certa grassezza, stracca i
carichi razzi.“ 45 „Luft also, ein aus weißen Teilchen bestehendes Me-
dium, befindet sich im Raume. Dieser ist gleichsam mit einem Luft-
körper immer angefüllt, dessen Dichte und Dicke gewisse Farbverände-
rungen verursacht, nämlich die einer zunehmenden Schwächung der
Farbe bei wachsender Raumtiefe. An dieser Stelle ist zum ersten Male
das Problem der Luftperspektive der neueren Malerei beriihrt.. .“ 46

40 Alberti, 64.
41 Alberti, 98, 99.
42 Siebenhüner, 21.
43 Alberti, 61.
44 Alberti,65.
45 Alberti,63.
46 Siebenhüner, 22. - Vgl. auch Gavel, Colour, A study of its Position in the
ArtTheory of the Quattro- and Cinquecento, 120,121. -Edgerton interpretierte
das Wort „fusca“ im anschließenden Satz Albertis als „dunkel“: (“dark, black or
Malerei und Theorie im Quattrocento 61

Alberti bringt so Licht in enge Beziehung zu den Farben. Ein zweiter


Bezug setzt Licht in Verbindung mit dem „Relief“. „In beiden Fällen hat
das Licht für Alberti eine ausgesprochen funktionelle Bedeutung. Es ist
bezeichnend - und beleuchtet den Unterschied der Kunsttheorie des
Quattrocento zur theologischen Spekulation des Mittelalters - daß das
Licht, d. h. ohne Bezugnahme auf etwas außer ihm selbst, bei Alberti
überhaupt nicht auftritt. Licht ist immer nur die Bedingung für die Sicht-
barkeit der Farben und die Empfindung. Im Bilde erscheint es nicht als
Licht, sondern wird von diesen beiden Elementen, Farbe und Relief,
völlig aufgesogen.“ 47
Für Alberti ist die körperliche Darstellung von größter Wichtigkeit:
„Ich ... möchte jeden Maler für mittelmäßig halten, der nicht genau
weiß, welche Bedeutung Licht und Schatten für jede Fläche gewinnt.
Ich behaupte, Kenner und Laien werden ein Gesicht loben, das wie ge-
meißelt aus dem Bilde herauszutreten scheint, wogegen ich ein Gesicht
tadeln werde, an dem man keine andere Kunst sieht, als höchstens eine
gute Zeichnung.“ 48
Für eine prägnante reliefmäßige Körperdarstellung sind Körper- und
Schlagschatten unerläßliche Bedingung. Alberti unterscheidet klar zwi-
schen „Körper-“ und „Schlagschatten“. 49 Im übrigen aber empfiehlt er
eine durchgehend farbige Modellierung, die auch in den Lichtern und
Schatten noch die Lokalfarbe mitklingen läßt. 50 Dem entspricht auch

dark brown”: Alberti’s colour theory, 133) „Onde traemmo regola: quanto mag-
giore sara la distantia, tanto la veduta superficia parra più fusca“ (Alberti, 63).
Damit wäre Alberti auf das Niveau der trecentistischen Raumverdunkelung zu-
rückgeholt. Siebenhünerübersetzte: „geschwächt“, Gavel: “indistinct and more
hazy”. Nur diese Auffassung läßt sich mit dem zuvor zitierten Satz Albertis
(Alberti, 65) in Verbindung bringen.
47 Moshe Barasch, Licht und Farbe in der italienischen Kunsttheorie des Cin-
quecento. In: Rinascimento (La Rinascita), 11, Nr. 2, Dezember 1960,207-300,
Zitat auf S. 232.
48 Alberti, 132.
49 Alberti, 66 und 132.
50 Vgl. Gavel, Colour, 108,109. - James S. Ackerman, On Early Renaissance
Color Theory and Practice. In: Studies in Italian Art and Architecture, 15th
through 18th Centuries, ed. by Henry A.Millon (American Academy in Rome).
Cambridge and London 1980,11-25:1. Cennini and Alberti. Ackerman wird aller-
dings der Quattrocento-Farbgestaltung nicht gerecht, wenn er z.B. behauptet:
“... the work of Lorenzo Monaco, Fra Angelico, oftenMantegnaand Piero della
Francesca, and many other early Renaissance Italians seems to be a patchwork
of intense colors, each isolated from its neighbor and involved in a competition
that inevitably is won by those of higher value ...” (18). Einer genaueren Be-
62 Malerei und Theorie im Quattrocento

die von Alberti empfohlene Zuriickhaltung bei der Anbringung von


Glanzlichtern sl, im großen Gegensatz zum Verfahren der niederländi-
schen Malerei. Alberti entspricht hierin also durchaus einem Charakter
der italienischen Quattrocentomalerei und die zuvor geschilderte Licht-
abhängigkeit der Farben hat hierin ihre Grenze.
Wichtig sind schließlich auch Albertis Ausfiihrungen iiber die ver-
schiedenen Lichtquellen. Er bezeichnet genau die Aussendungszentren
der „lumi“, also die Lichtquellen: „Dico de’ lumi alcuno essere dalle
stelle, come dal sole, dalla luna et da quell’ altra bella stella Venere. Altri
lumi sono dai fuochi .. ,“ 52 Lichtquellen sind also die Gestirne und das
Feuer. Diese Erkenntnis war keineswegs selbstverständlich, vergleicht
man Albertis Auffassung mit der nur wenige Jahrzehnte zuvor niederge-
legten Cennino Cenninis, der Licht, der antiken Auffassung gemäß,
noch von der Sonne und vom Auge ausgehen ließ, deshalb von „luce del
sole“ und „luce dell’ occhio“ sprach. „Alberti anerkennt nun nur die
,realen‘ Lichtquellen; diese Abwendung von der Lehre Demokrits ist die
Folge einer anderen Auffassung des Lichtes. Denn er bemerkt, daß nur
das von diesen Lichtquellen ausgehende Licht bestimmte Verände-
rungen an den Gegenständen hervorrufen kann, daß dies aber für das
menschliche Auge nicht zutrifft. Das Auge kann für ihn deshalb nicht
Sitz von Licht sein .. ,“ 53
Erfahrung ist also auch hier an die Stelle bloßer Übernahme von Lehr-
meinungen getreten.
Herbert Siebenhüner sah Piero della Francescas Bild des >Heiligen
Hieronymus mit einem Stifter< (entstanden wohl Anfang der vierziger
Jahre, Venedig, Akademie) bestimmt von einer „Einheit des ganzen
Bildraumes, erzielt... durch die Darstellung des Luftmediums, das sich
neben den Körpern im Raume befindet“ und in der „Auffassung von
Licht und Farbe im allgemeinen und im besonderen“ einen unmittel-
baren Zusammenhang zwischen Pieros Bild und Albertis Traktat. 54

trachtung zeigt sich das sorgfältige Gleichgewicht von Farbintensitäten inner-


halb einer übergeordneten Helligkeit.
51 Vgl. Barasch, Light and Color, 22-25, mit wichtigen Ausführungen zum
Glanzlicht („lustro“) in der Kunsttheorie.
52 Alberti, 67.
53 Siebenhüner, 27.
54 Siebenhüner, 42, 43. - Jedoch ist es, nach Bildung einer auch die Helldun-
kelgestaltung umfassenden Terminologie, nicht mehr möglich, die Farbigkeit
von Masaccios Pisaner Altar als „luminaristisch“ zu bezeichnen, wie Sieben-
hüner (55) dies tut. Der von Siebenhüner für Piero in Anspruch genommene Be-
griff des „Valeurs“ (40) bleibt besser der Malerei des 19. Jahrhunderts vorbe-
Malerei und Theorie im Quattrocento 63

In der Tat kann die so beschriebene Farb-Licht-Auffassung als eine


schöpferische Weiterentwicklung des bei Alberti Angedeuteten ver-
standen werden.
Auf der anderen Seite wurde in der Forschung Albertis Farbauffas-
sung zu Recht mit einem lokalfarbigen Stil in Verbindung gebracht. 55
Der Widerspruch löst sich, wenn man bedenkt, daß Lokalfarbigkeit in
Italien etwas anderes meint als fiir die deutsche Malerei des 15. Jahrhun-
derts. Die Lokalfarben italienischer Quattrocentomalerei sind immer
Elemente einer einheitsstiftenden Helligkeit, und auch nach dieser Hin-
sicht können Albertis ambivalente Aussagen zum Verhältnis von Licht
und Farben gelesen werden.
Vor allem aber bringt Alberti in seiner Hochschätzung von „varietä“ 56
ein Grundprinzip auch der Quattrocento-Farbgestaltung zur Sprache,
ihre Vielfarbigkeit: „Ich wünschte, man sähe in einem Bilde alle Farben-
gattungen und Arten in einer für das Auge wohlgefälligen und ergötz-
lichen Anordnung. Wohlgefallen wird dort entstehen, wenn eine Farbe
von der danebenstehenden sich kräftig abheben wird. Wenn man Diana
malen wollte, wie sie den Chor der Nymphen anführt, so täte man
gut, die eine Nymphe in Grün, die andere in Weiß, die dritte in Rosa,
die vierte in Gelb zu kleiden, und so eine jede in eine andere Farbe,
und zwar derart, daß immer eine helle neben einer der Gattung nach
verschiedenen dunklen Farbe zu stehen käme. Durch solche Neben-
einanderstellung wird die Schönheit der Farben klarer und fesselnder
werden. Man findet eine gewisse Freundschaft zwischen (bestimmten)
Farben, indem solche nebeneinandergesetzt, einander Haltung und

halten. - Kenneth Clark meinte: “Alberti’s conception of colour as a function of


light is first apparent in the backgrounds of Fra Angelico’s later works and in
Domenico Veneziano’s Uffizi altarpiece, which must date from about 1450 ...
Domenico’s great pupil, Piero della Francesca, in his delicate sense of atmos-
phere as in much else, was the realization of Alberti’s hopes and theories. But
even in Piero there is a flat, decorative use of colour and a love of blacks and
whites which Alberti’s severly naturalistic conception of tone would not allow.
And it is clear that his theories were not related to any painting earlier than the
seventeenth century ...” (Leon Battista Alberti on Painting. In: Proceedings of
the British Academy, 1944, XXX, 297).
55 Barasch, Light and Color, 32. - Gavel, Colour, 109. - Auch in Einzelheiten
wie etwa Albertis Warnung vor Anwendung von Gold (Alberti, 139) zeigt sich
seine Übereinstimmung mit der Farbgestaltung seiner Zeit.
56 Vgl. Martin Gosebruch, „Varietà“ bei Alberti und der wissenschaft-
liche Renaissancebegriff. In: Zeitschrift fiir Kunstgeschichte, 20, 1957, 229-
238.
64 Malerei undTheorie im Quattrocento

Anmut geben: ,,Et truovasi certa amicitia de’colori, che l’uno giunto con
l’altro li porgie dignità et gratia.“ 57

Kehren wir zur Malerei zuriick, um einige Positionen der Farbgestal-


tung innerhalb der zweiten Hälfte des Quattrocento zu beschreiben.
Die schon bei Andrea del Castagno angelegte Ausdruckskraft der
Farbe gewinnt im fortschreitenden Jahrhundert an Bedeutung. Fiir sie
soll als Beispiel ein Bild von Cosimo Tura (1431-1495) eintreten. Seine
um 1480 gemalte Pietà im Louvre 58 ruft die Erinnerung an Michael
Pacher wach. Bestimmend wirkt hier ein Griin-Rot-Klang vor dunkler
Folie, wobei auch Griin, in großer Ausbreitung gegeben, im Lichte nicht
gehöht, ins Dunkle zieht. In Caput mortuum erscheint der Madonnen-
mantel: eine komplizierte Farbe besetzt die Bildmitte und kontrastiert
gegen den Zinnober des Johannesgewandes, der nach rechts an die Seite
geriickten Hauptfarbe des Bildes. Eine isolierte, eine Sonderfarbe, ist
dem Inkarnat Christi vorbehalten, ein kalttrockener Elfenbeinton,
silberbräunlich verschattet. Dissonant zu ihm steht der kaltbraun ver-
schattete Goldockerton im Gewand der Klagenden links von Maria. Im
Bodenstreifen alternieren schachbrettartig Schokoladenbraun und
Weißlichgrün. Auch dieses Braun kontrastiert dissonant zum Caput mor-
tuum des Madonnenmantels: vor dunkler Folie entfaltet sich eine bunte
Vielfarbigkeit von expressiver Kraft, ein Gegenpol zur lichten Monu-
mentalität Piero della Francescas.
Wie beiTura ist schon bei Andrea Mantegna (1431-1506), dem über-
ragenden oberitalienischen Meister der zweiten Jahrhunderthälfte, die
Liniensprache zu neuer Ausdrucksmacht erhoben. Den Antagonis-
mus zu schlichten zwischen ausdrucksstarker Linie und einer Farbgestal-
tung, die durchaus nicht mit der Illumination eines graphischen Form-
gerüstes sich begnügt, ist ein Hauptproblem der Bildgestaltung Man-
tegnas.
Mantegna löst dieses Problem in der Weise, „daß er mit der homo-
genen Farbe die vorgegebene Binnenzeichnung innerhalb der Konturen
überzieht (nicht überdeckt), ohne damit den Eigenwert des Linienwerks
im geringsten zu mindern; das graphische Linienbild wird überall als ein
schon für sich bestehendes System gleichzeitig mit der Farbe sichtbar.“ 59

57 Alberti, 136/138, 137/139. Daß Alberti “a coherent theory of colour” ent-


worfen habe, wie Gavel (95) meinte, halte ich für überinterpretiert.
58 FA: Laclotte, Louvre, II, 20. -Eberhard Ruhmer, CosimoTura, Paintings
and Drawings, London 1958, Taf. 57.
59 Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 90: Mantegna: Hochaltar
von S. Zeno, Verona.
Malerei und Theorie im Quattrocento 65

Unter den Farben dient Grau als Medium der Vermittlung, das somit in
einer wieder anderen Funktion erscheint.
So ist Mantegnas >Madonna della Vittoria< von 1496 im Louvre be-
stimmt von einer Vieifalt sehr gebrochener, zu Grau hin orientierter
Farben, die dadurch dem Graphischen der Binnenzeichnung sich annä-
hern. Innerhalb der Fülle grauverfestigter Tönungen fällt das homogene
Korallenrot, exzentrisch, rechts unten im Ärmel der knienden Alten ein-
gesetzt, doppelt ins Gewicht. An mehreren Stellen, in Helm und Lanze
des bärtigen Kriegers rechts, in der herabhängenden Koralle, wieder-
holt sich dieses Rot in kleineren Quantitäten. Als zweiter hellklingender
Buntwert tritt klares Sienagelb in der Turbanschleife derselben
knienden Figur hinzu. Wie oft bei Mantegna bilden Rot und Gelb den
stärksten Buntklang und sind zu einer besonderen Schönheitswirkung
emporgefiihrt. Das Bildzentrum aber ist von gebrochenen Farben be-
setzt: die Madonna erscheint in bräunlichem Karmin und dunklem
bläulich-olivfarbenem, golddurchädertem Mantel, vor der braunen
Folie des Thrones und dem durchbrochenen schwarzgrünen Lauben-
grund.
Im dichtgefügten Reliefraum entfaltet sich die Polyphonie der Linien
und der Farben, in spannungsvollem Bezug intensiver Buntwerte zu sub-
tilen Brechungen und Changeanttönen (etwa den zart von Rosa nach
Graugrün changierenden Farben im Schultertuch der erwähnten Alten),
überfangen auch hier von mittlerer Helle.
In „mittlerer Helligkeit“, der immer erneut variierten Lichtgestaltung
des Quattrocento, die nur entfernten Vergleich mit einer natürlichen
Lichtsituation zuläßt, erscheint auch Mantegnas um 1480 gemalter
hl. Sebastian des Louvre 60, in dünnem, sprödem, abstraktem Grisaille-
ton, ausblühend nach Hellbräunlich im Inkarnat, im Blattwerk nach
Grüngrau, nach Olivgrau in den Gebälkfragmenten, nach Braungrau im
Felsen. Grau, von einem Bläulichgrau gerade überhaucht, ist der
Himmel gegeben. Gerade in solch nahen, um Grau kreisenden Inter-
vallen entfaltet sich eine eigentümliche Gespanntheit, wie auch prä-
gnante Körperlichkeit mittels sehr geringer Helligkeitsdifferenzen ge-
wonnen wird! Exzentrisch auch hier der Buntfarbakzent: kräftiger Zinn-
ober, Weißgelb, ocker verschattet, Blaugrau in den ausschnitthaft als
Brustbilder auftauchenden Figuren unten rechts, in die Farbfigur einer
asymmetrischen Trias gebunden.
Bei Botticelli 61 (ca. 1444/45-1510), um nach Florenz zumckzukehren,

60 FA: Laclotte, Louvre, II, 19.


61 Der Aufsatz von N.Allen Pattillo, Jr.: Botticelli as a Colorist (in: Art
Bulletin, XXXVI, 1954,203-220) enthält sehr genaue Beobachtungen zur Farb-
66 Malerei und Theorie im Quattrocento

wirkt das von Masaccio in seiner Pisaner Madonna ausgebildete Prinzip


gesteigert, aber auch verwandelt fort: Farbe tritt als „vorgegebene
Größe“ auf, in flächiger Ausbreitung und so im Einklang mit dem Relief-
raum. Schatten und Grund werden miteinander identifiziert, auch die
Schatten erscheinen somit flächig, verbinden die Farben mit dem
flächigen Grund.
Eine „mittlere Farbhelligkeit“ grimdet hier nicht so sehr in faktisch
hellen Farben, sondern in einem relativ niedrigen Gefälle von Licht zu
Schatten unter Vermeidung großer Schattentiefen. So entstehen Hellig-
keitsreliefs von großer Zartheit, oft vor dunkler Folie, die ihrerseits von
einer mittelhellen Grundfolie hinterlegt wird.
Als Beispiel sei genannt Botticellis >Friihling<, entstanden um 1478
(Florenz, Uffizien) 62. Vor der dunklen, stumpf graugmnen Folie der
Bäume und des Wiesengrundes, die sich in feingeschnittener Silhouette
abhebt von der gedämpften Helligkeit des blaßblaugrauen Himmels, er-
scheinen Figuren in hellem Sandbräunlich und in kühlen Grautönen;
nur an zwei Stellen klingt Buntfarbe auf, Karmin in zweierlei Abwand-
lung, als wärmere mehr zu Hellrot neigende und fast zu Weiß aufgelich-
tete Variante im Mantel der Venus in der Bildmitte, als bläulichkalter,
mittelheller Purpurton im Gewand Merkurs links. Die Helligkeitsunter-
schiede sind zu feinster Stufung nuanciert, verleihen den Figuren eine
schwebende, fast immaterielle Existenz, kontrastieren sie zugleich, im
gespannt-fragilen Kontur, gegen die Dunkelheit des Waldbodens. Nur
eine Figur, Zephyr ganz rechts, kommt als „blaue Grisaille“ aus dem
Himmelsgrund hervor. Ihr spröder Blaugrauton wird in den durchsichtig
diinnen Schleiern der Nymphe und der Grazien aufgenommen, die so
vom verhaltenen Himmelslicht wie iiberhaucht erscheinen. Es ist ein
kühles, anhebendes Licht, ein Licht des „Frühlings“.
In ähnlicher Weise stuft Botticelli Bunthelligkeiten zu feinster Relief-
schichtung. Das Bild der >Thronenden Maria mit dem Kind und den
beiden Johannes< von 1484 in der Berliner Gemäldegalerie 63 ist be-
stimmt von Englischrot (im Gewand des Täufers und, kräftiger, im
Madonnengewand) von Karmin (im Mantel Johannes d. Evangelisten),

wahl, zum farbigen Aufbau, vor allem auch zum Verhältnis bunter und neutra-
lisierter Farben in ausgewählten Werken Botticellis. Pattillo erkannte als be-
stimmende Klänge die Farbpaare Blau-Orange oder Gelborange, Blau-Rot,
Rot-Griin, die im friihen 16. Jahrhundert durch Violett-Gelb bereichert werden.
62 FA: Biaiostocki,Spätmittelalter und beginnende Neuzeit, Prop.Kg.,Bd.7,
Taf.XLIV.
63 FA: Gemäldegalerie Berlin. Geschichte der Sammlung und ausgewählte
Meisterwerke. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1985, 301.
Malerei und Theorie im Quattrocento 67

von Mattblau (im Marienmantel und Gewand des Evangelisten), vom


Graugelb der thronartigen Steinbank und vom stumpfen, dunklen Grau-
griin der Laubnische, die nochmals sich in verhaltenes Blaugrau lichtet.
Die Buntfarben sind sich im Tonwert angenähert und ganz gering sind
auch die Unterschiede zwischen Licht, Halblicht und Schatten gehalten.
Im Halblicht bewahren die Farben ihren vollen Buntwert, die Verdunke-
lungen in den Faltentälern treten fiir den Gesamteindruck zurtick. Aus
diesen engen Helligkeitsgraden entfalten sich nun subtile rhythmische
Bezüge zwischen Licht-, Halblicht- und Schattenbezirken, und zwar so,
daß sich nun stärker Helligkeits- oder Farbkontraste geltend machen
können. So steht etwa das Graugelb im Halblicht des Thronbankposta-
ments ganz links zum Lichtton im Mantel desTäufers in einem Buntkon-
trast von Gelblich zu Rot, dieser Lichtton zum Halblicht des dunkeloliv-
farbenen Rasens aber in einem Tonkontrast, der knapp unterhalb der
Schwelle eines Farbkontrastes liegt.
Eine andere Möglichkeit der Farbgestaltung läßt Botticellis nach 1490
gemalte >Beweinung ChristU der Münchner Alten Pinakothek 64 er-
kennen. Hier sind starke Buntfarben gegen halbneutrale Bezirke kon-
trastiert: Rot- und Gelbtöne, aufgespalten nach Karmin, Zinnober,
Goldgelb, in den Mänteln der Heiligen stehen gegen dunkles Griin,
Blau und Braunviolett in Gewändern und Mänteln. Trotz solcher Bunt-
kontraste sind auch hier die Farben von einem mittelhellen Licht um-
fangen. Denn innerhalb der Farbbezirke sind Licht, Halblicht und
Schatten nur geringfiigig voneinander abgehoben. Vor allem kommt
„Überbrückungsfarben“ nun eine wichtige Funktion zu, Vermittlungs-
werten zu Bereichen von geschwächtem, „neutralisiertem“ Buntgehalt.
Solche Vermittlungsfarben sind das Hellviolett im Gewand der Magda-
lena links vorne, erzielt durch Lasuren von blauhaltigem Grau über
bräunlicher Untermalung, - auch hellblaue Strähnen sind darin zu er-
kennen; ebenfalls das fahle Gelboliv ihres Mantels. Die Gewandfarbe
des hl. Paulus, rechts neben Hieronymus, ist als Farbe, als dunkles
Griin, nur in Nahsicht zu erkennen, fiir den Bildzusammenhang er-
scheint sie vornehmlich als Briicke zur Dunkelheit des Grundes. Auf
diese Dunkelheit, das flächig ausgebreitete Dunkel der Grabeshöhle,
beziehen sich alle Dunkelzonen des Bildes. Nur der tiefst braunviolette
Mantel Mariens verharrt als tiefste Dunkelstufe in hieratischer Isola-
tion. Die halbneutrale braune Grabfelsenplatte dient gleichermaßen der
Verdichtung des reichgestuften farbigen Reliefraums. Zu ihr vermitteln
die Inkarnate, so der dem Braun angenäherte Olivbronzeton im nackten
Oberkörper des hl. Hieronymus.

64 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 13.


68 Malerei und Theorie im Quattrocento

Die dunklen Zonen stehen nicht in polarem Kontrast zu den hellen,


sondern sind ihnen durch vielfältige Gradation verbunden. Dies unter-
scheidet Botticellis Bild von jeder Helldunkelgestaltung.
In Domenico Ghirlandaios Hochaltarbild von S. Maria Novella in Flo-
renz, >Maria mit dem Kind in der Glorie, mit den Heiligen Dominikus,
Michael und den beiden Johannes< (gegen 1494 entstanden, Miinchen,
Alte Pinakothek) 65, weitet sich der Grund in einen tiefen Landschafts-
ausblick. Das Oliv dieser Landschaft, nur wenig nach mehr gmnlichen
und mehr bräunlichen Nuancen modifiziert, setzt in seiner mittleren
Helligkeit dieTonhöhe auch für die Figurenfarben fest. (Die Inkarnate
sind der Landschaftsfarbe sogar im Farbwert verwandt.) Diese Hellig-
keit eint die starken und gebrochenen Buntwerte der Gewänder, geht als
tragender Grund durch sie hindurch - unter Wahrung ihrer koloristi-
schen Qualitäten, wobei die starken Buntheiten sich zu einer vordersten
Schicht zusammenschließen. Die Helligkeitsdifferenzen sind also ge-
ringer als die Distanzen der Buntheiten und der Sättigungsgrade. So
übernimmt die mittlere Helligkeit der Quattrocentomalerei, hier nicht
mehr konkretisiert in einem Grauton, in diesem Bilde eine neue Funk-
tion, die der farbigen Einung von weitem Landschaftsgrund und der den
Vordergrund besetzenden Figurenkomposition. Auch die Buntfarben
selbst bleiben nicht unbeeinflußt von dieser umfangenden gedämpften
Helle. Ihr ist das Rot der Beinkleider des hl. Michael unterworfen: sie
verwandelt diesen leuchtenden Zinnoberton aus einer Lokal- in eine
Reflexfarbe. Der Vergleich mit der eben besprochenen, annähernd
gleichzeitigen >Beweinung Christu Botticellis macht die Spannweite der
Interpretationsmoglichkeit mittlerer Bildhelle sichtbar: Bei Botticelli
dient sie der Verdichtung des farbigen Reliefraumes, unter weitgehen-
der Bewahrung von Lokalfarben, bei Ghirlandaio ist sie das Licht-
medium räumlicher Weitung.
Wie bei Botticelli sind auch Ghirlandaios Fresken in ihrer Farbigkeit
verschieden von denTafelbildern, gedämpfter und zugleich gesteigert in
ihrem dekorativen Gehalt.
Ghirlandaios zwischen 1486 und 1490 gemalte Fresken der Chor-
kapelle von S. Maria Novella in Florenz 66 zeigen die Farbflächen der
Figuren auf silbriggrauer oder mattweißer Folie und der verhaltene,
„sordinierte“ Klang dieses Grundes teilt sich allen Farben mit, wobei
Rot am meisten von seiner Eigenkraft opfern muß. Die Wirkung eines
Beleuchtungslichts, hervorgerufen durch ausgeprägte Schlagschatten,

65 FA: Steingräber, Alte Pinokothek, 15.


66 FA: Umberto Baldini (Hrsg.), Santa Maria Novella, Kirche, Kloster und
Kreuzgänge, Stuttgart 1982, 171-213.
Malerei und Theorie im Quattrocento 69

geht ein in die übergeordnete mittlere Helligkeit, denn den Schlag-


schatten entsprechen keine vergleichbaren Körperschatten.
In solcher Einung mittels Brechung der Buntheit entstehen dekora-
tive Wirkungen mit charakteristischen Farbkombinationen von Gold-
gelb und Hellblau, Hellblau und Rotbraun, Karmin und trübemTürkis-
grün, Grauviolett und Schokoladenbraun, Rotbraun und Stumpfgrün
usf.
In Filippino Lippis (um 1457-1504) um 1495 gemaltem Bild der >Fiir-
bitte Christi und Mariä< (München, Alte Pinakothek) liegt das höchste
Licht in der Bildtiefe und läßt die Gewandfarben der Figuren im Vorder-
grund wie gegenlichtig erscheinen, ohne daß sie ihren lokalen Buntwert
aufgeben müssen. Dies geht nicht ohne Zwiespältigkeiten ab: So ist das
Blau des Madonnenmantels mit scharfer Grenze, ohne sich zum Kontur
hin gleitend zu verdunkeln, gegen den weißlich trübtürkisfarbenen
Himmel abgesetzt. Auch erscheint es nicht gebrochen, seine spezifische
Helligkeit entspricht vielmehr der Gegenlichtstufe. Ebenso verhält es
sich mit dem Blaugrau der breiten Schattenmassen im „weißen“ Mantel
Christi, der in seinemTonwert mit dem Grün der Hügel übereinkommt.
Das Blaugrau dieser Schatten tritt mit dem ausgebreiteten Blau des Ma-
rienmantels in einen unentschiedenen Kontrast. Ihnen gegenüber wirkt
der obere Teil des Himmels doppelt grünlich, in einer Türkisgrün-
Nuance, die als „Lichtfarbe“ mit der grünen „Dingfarbe“ der Hügel sich
reibt. Aus solchen Spannungen naher Intervalle entfaltet sich die Farbe
zu neuen Ausdruckswirkungen, auch im Inkarnat, das mit seinen grauen
und fahlen Tönen die Darstellung ins Visionäre hebt. Auch Gold wird
hier ins Stimmungshafte transponiert. „Wundervoll verschmilzt es mit
dem Gelb und durchflutet den Himmel, der alle Nuancen von Seegriin
umfaßt und nur manchmal beinah blau wird .. .“ 67
Aber auch zu neuen Schönheitswerten kann sich die Farbe florentini-
scher Malerei gegen Ende des Quattrocento steigern. Vor tiefer ge-
stimmter, ernster, eisengrauer Architekturfolie differenzieren sich in
Lorenzo di Credis (um 1459-1537) Bild von >Maria mit Kind und den
Heiligen Julian und Nikolaus von Myra< (um 1490/92 gemalt, Paris,
Louvre) 68 die Hauptfarben in mehrere, sorgsam gewählte Nuancen. Als
zentrale Farbe füllt ein volles Blau den Marienmantel; etwas nach
kaltem Grau und dadurch mit lilafarbenem Stich erscheint es im Panzer-
rock des hl. Julian links, als weißlich-blauerTon schließlich im Himmel.
Blau ist mithin in drei nahe Stufen aufgespalten. Rot differenziert sich in

67 Helen Sacher, Die Ausdruckskraft der Farbe bei Filippino Lippi. (Zur
Kunstgeschichte des Auslandes, Heft 128) Straßburg 1929, 23.
68 FA: Laclotte, Louvre, II, 23.
70 Malerei und Theorie im Quattrocento

ein Hochrot des Beinkleids des hl. Julian, den Karmin seines Mantels,
das Karminrosa der Tunika des hl. Nikolaus und das Hellrosa seiner
feinen, durchsichtigen Albe, mithin in vier klar unterscheidbare, aber
enge Stufen; Griin erscheint als scharferTon im Mantelfutter Julians und
als warmer, dem Moosgriin naherTon im Mantel des hl. Nikolaus, also in
zwei Varianten. In solch bestimmter Trennung, geeint wiederum durch
das dunkle Grau des Grundes, kann jede einzelne Farbnuance in ihrer
Individualität empfunden werden.
Während der zweiten Jahrhunderthälfte wird auch Braun in seiner ein-
heitsstiftenden Kraft entdeckt. Schon die um 1470 entstandene >Verkün-
digung an Maria< von Piero del Pollajuolo (1441-1496) (Berlin, Gemäl-
degalerie) 69 wirkt als ein System aus Braunstufen, Schokoladenbraun,
Ocker, Olivbraun, Olivgriin bis hin zum Cremeton des Inkarnats. Aus
ihnen wird auch das Braunrot im Mantel Gabriels entlassen, entgegen
steht ihnen nur das feste Hellblau im Marienmantel und das Matthell-
blau des Himmelsausschnitts. Die Braunstufen rhythmisieren Bildtiefe
und Bildfläche und schließen den zentralperspektivisch fliehenden
Innenraum an die Figurenfarben an.
Bei Luca Signorellis (um 1445-1523) >Madonna mit dem Kind< (um
1495, Alte Pinakothek, München) 70 dient Braun der Körpermodellie-
rung und zugleich, zusammen mit Olivgrün, alsTräger „neutralisierter“
Partien, von denen die Hauptfigur gerahmt wird. Nur diese, die Ma-
donna, ist Buntfarbträger, mit bräunlichrotem Mantel, violettgrauem
Obergewand und gelben Ärmeln. Die Inkarnate von Maria und Kind
vollziehen schon den Übergang zu der in ihrem Buntgehalt reduzierten,
neutralisierten Landschaft, in der ein kaltbräunlicher, weißlich aufge-
hellter Umbraton die Gestalt des nackten Jiinglings mit Felsen und
Wegen verbindet. Als mittlerer Wert, als „Achse“ des Gleichgewichts
von Bunt- und neutralisierten Farben fungiert Olivgriin. Das Rasengriin
schließt nahezu tongleich an das Griin der Mantelinnenseite an, wird
dort „enharmonisch verwechselt“, indem es aus der Zone dunklerer
Farbdämpfung zur Lokalfarbigkeit hiniiberwechselt.
Wie bei Filippino Lippi und Botticelli fiihrt auch Signorellis Farb-
gestaltung neuartige Ausdrucksgehalte mit sich, und zwar sind es hier
gerade die Neutraltöne in ihren Helligkeiten und Dunkelheiten, die zu
Stimmungsträgern werden, so etwa die farbentleerte Himmelsfolie oder
das kalte Zinngrau des Bodens in Signorellis >Gekreuzigtem< der Uffi-
zien.
Piero di Cosimo (um 1462-1521) schließlich faßt in seiner >Darstel-

69 FA: Gemäldegalerie Berlin, 297.


70 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 13.
Malerei und Theorie im Quattrocento 71

lung aus der Prometheus-Sage< (um 1510/20, Alte Pinakothek, Miin-


chen) die gesamte untere Bildhälfte einschließlich der Statue in einem
Braungrund zusammen, der auch die Häuser im Mittelgrund ein-
schließt. Aus diesem Grund heben sich nur tieferes Braunorange, tiefes
Tiirkisblau und tiefes Moosgriin, beide entschieden als Dunkelwerte wir-
kend, ab. Der braune Universalgrund zeigt sich am reinsten in der Erd-
bodenzone um den Statuensockel, verdunkelt sich in den Erdschollen,
im Felsen und den gegen den tiirkisfarbenen Himmel silhouettierten
kahlen Bäumen und nuanciert sich zur Gegenstandsfarbe im Rötlich-
braun des Inkarnats und dem Bronze-Oliv des Standbilds. Nur mehr ge-
brochene Farben bestimmen das Bild, die wenigen Buntfarben sind ein-
gehiillt in Dunkelheit. Die Farbgestaltung des Quattrocento ist zu einem
Ende gekommen, ein neuer Anfang, nun auf der Grundlage des Hell-
dunkels, steht bevor.
DIE ALTNIEDERLÄNDISCHE MALEREl

Das bestimmende Gestaltungsmittel der altniederländischen Malerei


ist im spezifischen Helldunkel des transalpinen Tafelbildes des 14. Jahr-
hunderts vorgebildet. Dieser Zusammenhang ist festzuhalten, auch
wenn die Wurzeln der Kunst der van Eycks, als der Begmnder dieser
Epoche, in Ermangelung vermittelnder Denkmäler der Tafelmalerei
wohl nie völlig aufzudecken sind.
Andererseits wurde sehr zu Recht betont, daß zwischen den Gestal-
tungsprinzipien der französischen und francoflämischen Miniaturma-
lerei des späten 14. und friihen 15. Jahrhunderts als wahrscheinlichster
Quelle der Eyckschen Kunst und denen der Eycks ein unüberbrück-
barer Gegensatz herrsche und daß diese älteren Gestaltungsprinzipien
bei den Eycks „von Anbeginn an überwunden“ seien.
Karl von Tolnai, der dies feststellte, führte gleich zu Anfang seines
Aufsatzes >Zur Herkunft des Stiles der van EyckG aus, wie tief sich das
Kolorit der Eycks von der traditionellen, miniaturhaft dekorativen, mit
starken Lokalfarben, mit Enzianblau und Karminrot, Gold und Silber
arbeitenden, höfisch-„märchenhaft“ wirkenden Farbgebung der franzö-
sischen Buchmalerei um 1400 unterscheide. Zu den Eyckschen Farben
bemerkte er, sie wären „in ein zartes sfumato getaucht“ und in der Land-
schaft herrschten „nur tonige Farben“. Alle Bildteile, so heißt es weiter,
wären bei ihnen „grundsätzlich als Wirkungsfaktoren eines der Intention
nach ,natürlichen‘ lichterfüllten räumlichen Ganzen aufgefaßt“.
Abschließend aber formulierte Tolnai, die Bildwelt Jan van Eycks
strahle „in allen ihrenTeilen die göttliche Substanz aus. Alles Lebendige
ist dinghaft geworden und alle Dinge weisen auf den göttlichen Werk-
meister hin: die Welt als Gottesschöpfung. In diesem Weltbild ist die mit-
telalterliche Spannung zwischen Diesseits und Jenseits aufgehoben,
indem Gott selbst sich in der Welt spiegelt.“ 1 2 Diese Formulierung Tol-
nais, die das Wesen der Eyckschen Malerei als solches zu erfassen
suchte, ist gültig auch für dessen Farbgestaltung.
Die diaphane Farbe des Glasfensters, die an der Grenze zwischen in-
nerem Dunkel und äußerem Licht sich entzündet, versinnlicht wie kein

1 In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, N.F. Bd. IX, 1932, 320
bis 338.
2 Tolnai, 1. c., 332.
Die altniederländische Malerei 73

anderes künstlerisches Mittel diese „Spannung zwischen Diesseits und


Jenseits“, die auch dort noch anhält, wo, wie in der Tafelmalerei des
14. Jahrhunderts, die Farbe vor allem als Medium des sie durchschei-
nenden Lichtes wirkt. Sobald jedoch, wie eben in der Kunst van Eycks,
„alles Lebendige dinghaft geworden“ ist und „alle Dinge auf den göttli-
chen Werkmeister hinweisen“, die Malerei, gemäß dem Prinzip „spiri-
tualia sub metaphoris corporalium“, bestimmt ist von einem “disguised
symbolism” (Erwin Panofsky) 3, sobald weiterhin das Gemälde dieTota-
lität der Wirklichkeit in einem neuen, bildmäßig geschlossenen Mikro-
kosmos darstellen soll, entfällt weithin diese Spannung zwischen Sicht-
barkeit und Jenseits: Auf die Farbe angewandt, bedeutet dies aber, daß
sie ihren „medialen“, schwebenden, transparenten Charakter verliert,
in einem - freilich noch zu präzisierenden Sinn - „oberflächenhaft“ wird.
Die Farbe verklärt die Dinge noch immer, aber nicht mehr in der Weise,
daß ihr Inneres durch und durch „erleuchtet“ erscheint, sondern anders,
stiller, indem sie anzeigt, was an ihrer „Außenseite“ mit ihnen geschieht,
wenn sie ans Licht treten - ein Unterschied von größterTragweite, da im
ersteren Fall das „Innere“ der Dinge in Helligkeit aufbricht, im anderen
im Dunkel „dahinter“ beschlossen bleibt.
Es vollzieht sich also mit der Kunst Jan van Eycks die epochale
Wandlung, die die Kunstgeschichtsschreibung von Vasari bis weit ins
20. Jahrhundert als Beginn eines „Realismus“ im Sinne des neuzeit-
lichen Sehens verstanden hat. Diese Bezeichnung besteht zu Recht in
dem Sinne, daß der sichtbare Bestand der Wirklichkeit bildwürdig
geworden ist, mit einer Folgerichtigkeit im Bilde „wiedergegeben“
wurde wie nie zuvor in der Geschichte der Malerei. Er besteht zu Un-
recht, sofern sich der künstlerische Gehalt der Kunst van Eycks und der
gesamten niederländischen Malerei nicht auch nur entfernt in dieser
Wiedergabe erschöpft.
Es gilt, der ikonographischen Forschung folgend, die „Spiegelung
Gottes“ (Tolnai) auch in der Farbgestaltung dieser Malerei zu erkennen.
Das „lichterfüllte räumliche Ganze, als dessen Wirkungsfaktoren alle
Bildteile in den Schöpfungen Jan van Eycks erscheinen“, hat mit der uns
vertrauten Sichtbarkeit nur das Stoffliche dieser „Bildteile“ gemein,
seinem Sinn nach ist es aber noch durchaus weithin von der Lichtvorstel-
lung des Mittelalters her bestimmt, ist „Licht- und Glanzmalerei“ (Sedl-
mayr) 4. Mit anderen Worten: Auch in ihr noch herrscht das Licht in

3 Erwin Panofsky, Early Netherlandish Painting, Its Origins and Character,


Vol. One, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1953, 31964,
131 ff.
4 Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, 492.
74 Die altniederländische Malerei

seiner dingverklärenden Form, durch seine Erscheinungsweise als


Glanz, durch einen Glanz, der unterschiedslos aller Farbigkeit sich mit-
teilt, über die Verschiedenheiten der individuellen Oberflächenbeschaf-
fenheit hinaus, und der schon dadurch die mit der Präzision ihrer Dar-
stellung uns nahegebrachte Dingwelt wieder entriickt.
Für diese „Entrückung“ ist die vieldiskutierte Eycksche Maltechnik
die Voraussetzung. Auch in ihr zeigt sich die Verbundenheit der von
Eycks mit der Tradition. Die Eycksche Maltechnik sei charakterisiert
mit einem zusammenfassenden Referat von Rolf E. Straub: „Das ,Ge-
heimnis 1 van Eycks und seiner Zeitgenossen liegt nicht in der Erfindung
eines neuen Bindemitteltyps, sondern in einem komplizierten, aber
konsequenten Aufbau der Malerei, welcher die Olfarben des damaligen
Typs in optimaler Weise zum Leuchten brachte. Auch in dieser Bezie-
hung konnten die flämischen Meister eine alte Tradition weiterfüh-
ren ...“
,,Am Genter Altar ist die sehr freie und oft skizzenhafte Pinsel-Unter-
zeichnung mit Knochenschwarz in wässerigem Bindemittel ausgeführt.
Die Schatten sind mit spitzem Pinsel schraffierend eingesetzt, aber prak-
tisch nie im Sinne einer Grisaillemalerei laviert. Auf der Unterzeichnung
liegt eine unpigmentierte Ölimprägnierung, welcher lediglich die Funk-
tion der Isolierung des Kreidegrundes gegen eindringendes Malöl zu-
kommt. Die Unterzeichnung ist nirgends als ,Grisaille‘ benutzt, die es
nur noch zu kolorieren gälte, sondern sie dient als allgemeine Anlage der
Komposition. Die Untermalungen sind am Genter Altar mit deckenden
Lokalfarben flächig aufgetragen, denen mit Ausnahme von Zinnober
und Bleizinngelb ..., welche schon allein opak und hell genug sind, Blei-
weiß beigemischt ist. Darüber werden die Schattenpartien mit derselben
Farbe, doch mit geringerer oder auch stärkerer Weißzumischung gelegt.
Bei sämtlichen Farbpartien nimmt der Zusatz von Bleiweiß nach oben
hin ab, bis er in den obersten, teilweise auch schon in der zweitletzten
Schicht ganz unterbleibt. Die oberste Schicht ist gewöhnlich eine Lasur
im reinen, unvermischten Farbton.
Diesem Prinzip der Malerei vom Opaken ins Transparente, vom
Hellen ins Dunkle entspricht auch die Helligkeitswiedergabe der Inkar-
nate. Ein besonderer, plastischer Bleiweißaufbau fehlt; die Modellie-
rung der Form erfolgt eher durch den Auftrag dunkler Lasuren. - Zu-
letzt erfolgte das ,Ausmalen‘, d.h. die letzte zeichnerische Ausführung
der Detailformen.
Optisch gesehen dringen bei dieser Art des Bildaufbaus die Licht-
strahlen durch die transparenten Schlußlasuren hindurch in die Tiefe,
werden dort vom hellen Malgrund und den bleiweißhaltigen Unter-
schichten zurückgeworfen und erleuchten nun die reinen, starken
Die altniederländische Malerei 75

Farben der Bildoberfläche von unten her: es entsteht Tiefenlicht. Die


Farbe leuchtet edelsteinartig von innen heraus.“ 5
Solche Luminosität, Erzielung eines Lichtes von innen heraus, ist aber
nun nicht mehr Ausdruck der inneren Helle einer mehr oder minder
naturfernen Farbe, wie noch im 14. Jahrhundert, sondern Helligkeits-
überschuß der individuellen Farben von als wirklich dargestellten
Dingen ganz von deren Oberfläche geprägt, -über denen noch ein allen
gemeinsamer Glanz schwebt. Aber dieser neue Glanz auf und iiber den
Dingen kann, als ein die Farbe transzendierendes Phänomen, erst
wirksam werden in Entgegensetzung zu einem Dunkel, das gleichfalls
die Farben iibersteigt.
Der fiir alle kommende Malerei entscheidende Schritt der van Eycks
ist, daß nun, im Gefolge der Annäherung von Form- und Raumdarstel-
lung an das Erscheinungsbild, auch das Helldunkel in die Wiedergabe
der Sichtbarkeit einbezogen wird, ohne jedoch dabei im geringsten seine
Bedeutung als oberstes, Farbe und Raum konstituierendes Prinzip ein-
zubüßen.
Das besagt, daß alles, was uns als „Licht“ in diesen Gemälden entge-
gentritt, auch als Licht der Erscheinungswelt gesehen werden, und die
Dunkelheit dieser Bilder auch mit den „Schatten“ in der Erscheinungs-
welt zur Deckung gebracht werden kann.
In diesem Sinne einer vollkommenen Wirklichkeitsillusion ist die
Licht- und Farbgebung der Eyckschen Werke auch in den weitaus mei-
sten Fällen verstanden worden; man hat es mit dem Hinweis auf den
höchstgesteigerten und höchstverfeinerten Illusionismus auch für die
Licht- und Schattenwirkung bewenden lassen.
Ein solches Verständnis klingt noch in der ikonologischen Kunstge-
schichte nach, wenn sie die symbolische Dimension als eine die „realisti-
sche“ überhöhende begreift. So schrieb Erwin Panofsky etwa über Jan
van Eycks Berliner >Madonna in der Kirche< 6: “There is only what looks,
and is meant to look, like the natural light of the sun. But Jan van Eyck
wanted this apparently natural light to operate, as it were, as a super-
natural radiance emanating from God. Therefore it had to come from the
Virgin’s right. And lest anybody believe this to be an accident, it also
comes conspicuously from the North - conspicuously because he chose

5 Rolf E. Straub, Tafel- und Tüchleinmalerei des Mittelalters. In: Reclams


Handbuch der künstlerischenTechniken, Bd. 1, Farbmittel, Buchmalerei,Tafel-
und Leinwandmalerei, Stuttgart 1984, 218, 219, 220. (Mit umfangreicher Biblio-
graphie.)
6 FA: Gemäldegalerie Berlin, 107. - Elisabeth Dhanens, Hubert und Jan van
Eyck, Königstein i.T. 1980, 317.
76 Die altniederländische Malerei

to represent it, a rare occurence even with him, as a sharply-defined


beam that paints the pavement with patches of brightness so that the
position of the sun - standing as high in the firmament as it would at the
fifty-first degree of latitude at full noon - cannot be doubted for a mo-
ment. By this very defiance of the laws of astronomy the apparently
natural light reveals its truly supernatural character.“ 7
Man ist sich aber bei solchen Urteilen nicht bewußt, daß dabei gerade
das entscheidende Wirkungsmittel der Eyckschen Kunst iibersehen
wird, worauf allein ihrTotalitätscharakter beruht und wodurch bis in das
kleinste Detail ihr Anschluß an das Übernatürliche erreicht und sie zu
einer „Spiegelung Gottes“ wird. Denn was in ihr als Licht und Schatten
erscheint, ist, bei aller Wirklichkeitsnähe, nichts anderes und geringeres
als eine neue, spezifische Erscheinungsform des Helldunkels, als sein
Niederschlag auf die dargestellte Dingwelt. Man verkennt das Wesen
der Eyckschen und der gesamten auf ihr basierenden niederländischen
Malerei der Folgezeit, solange man nicht einsieht, daß Licht und Dunkel
in ihr niemals nur imitative Mittel sind (wie späterhin häufig in der
Malerei des 19. Jahrhunderts), sondern Funktionen des Helldunkels als
eines allen anderen Bildmitteln übergeordneten Gestaltungsprinzips.
Erst Ernst Strauss formulierte diese Erkenntnis in aller Klarheit. 8
Betrachten wir zuerst die >Anbetung des Lammes< vom Genter Altar
(1432, Gent, St. Bavo) 9. Die Farben liegen hier nicht flach auf einem
Bildgrund auf, sondern wölben sich aus „Schattenmulden“ empor. Die
Wiese, der Bildgrund bis zum hochgezogenen Horizont, ist zwar griin,
zugleich jedoch halbdunkle Folie, in die auch der dämmrige Brunnen
noch einbezogen ist. Aus ihr leuchten die Figurenfarben auf, eingebettet
in Dunkelnischen, die darstellungsbezogen Schatten meinen, jedoch in
solcher Funktion nicht aufgehen. In unbegrenzbarer, unbenennbarer
Vielheit leuchten sie auf: trotz zartester Annäherung treten im Grunde
so viele Farben auf als Bilddinge erscheinen. Dies gilt etwa auch für die
>Musizierenden EngeU im Obergeschoß der Innenflügel: Jedes Ding,
jede Figur tritt ans Licht, das seiner harrt, und bleibt zugleich der Fin-

7 Panofsky, Early Netherlandish Painting, 148.


8 Vgl. Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 102-107. - Wichtig zur
Farb- und Helldunkelgestaltung in der Malerei des niederländischen 15.Jahr-
hunderts auch: Eberhard von Bodenhausen, Gerard David und seine Schule,
München 1905. - Wolfgang Schöne, Dieric Bouts und seine Schule, Berlin 1938.
- Heinz Roosen-Runge, Die Gestaltung der Farbe bei Quentin Metsys. (Mün-
chener Beiträge zur Kunstgeschichte, Bd. VI, München 1940. - Wenig ergiebig
dagegen: Axel Sjöblom, Die koloristische Entwicklung in der niederländischen
Malerei des XV. und XVI. Jahrhunderts, Berlin 1928.
9 Dhanens, Van Eyck, 73ff., 104.
Die altniederländische Malerei 77

sternis verbunden. Farben sind Ausdruck und Ergebnis eines Span-


nungsbezugs zwischen Finsternis und Licht, entstehen alsTeilungen aus
dem Prozeß von Finsternis zu Licht.
So sind die Farben nicht miteinander „addierbar“ wie in der italieni-
schen Malerei und deshalb ist der Begriff von „Farbkomposition“,
„Farbharmonie“ für diesen Altar - wie fiir die meisten Werke der altnie-
derländischen Malerei - nur bedingt anwendbar.
Die Folie des Genter Altars ist nicht durchgehend dunkel. Im Flim-
melsstreifen der >Anbetung des Lammes< wie bei den >Musizierenden
Engeln< ist sie „hell“, hier aber bestimmt durch einen irisierenden Über-
gang von Weißlich zu Grünblau, und dieser Übergang trägt schon in sich
die Disposition zur wachsenden Triibung. Die Figuren der Engel selbst
bleiben von der „Helle“ des Grundes unbeeinflußt, tragen um sich
wieder Mulden von Dunkelheit.
Fiir das Prinzip der van Eyckschen Helldunkelgestaltung sind die
Figuren von >Adam< und >Eva< in besonderer Weise aufschlußreich. Sie
erscheinen als Akte im Licht innerhalb eng umfassender Rundnischen.
Die mild-hellbräunlichen Inkarnatfarben gleiten zwischen Lichthöhe
und einer Finsternis, die durch keinen bloßen Entzug von Licht moti-
viert werden kann. Dem „abgehobenen“ Glanz eines über den Farben,
über den Körpern schwebenden, entbundenen Lichts (in dem kein Weiß
sich findet!) entspricht das Versinken, das Eintauchen der Farben in
schwärzliche Trübe - dem über Naturphänomene hinausgehenden
Glanz antwortet die gleichfalls über die empirischen Verhältnisse hinaus
gesteigerte Finsternis der Folie. Von diesen beiden „Polen“ aus wird
„Schatten“bildung erst möglich. Die tiefe Dunkelheit des Schlagschat-
tens etwa der Arme Adams geht weit über den Schattengrad der Wirk-
lichkeit hinaus und schließt das Schattendunkel an die Dunkelheit des
Grundes an, auch dies ohne Vorbild in der „Wirklichkeit“, wo eben der
Bezug zu einer Grund-Dunkelheit fehlt. Andererseits haben die Schat-
tenzonen auch am Lichte teil: so führt zwischen Eigen- und Schlag-
schatten, d.h. der Dunkelheit der Nische, vielfach ein heller Reflex-
streifen entlang der Konturen. Haare und Bart sind Verdichtungen von
Dunkelheit, auch die Blätter, mit denen Adam seine Scham bedeckt,
sprechen als grüne Dunkelheit, nicht als griine Lokalfarbe.
>Adam< und >Eva< vermitteln zwischen den Zwickelgrisaillen und der
Farbwelt der >Musizierenden EngeL, der sie in ihrer „Naturfarbe“ schon
zugehören. Sie zeigen am offensten die Nischen hinterfangender Dun-
kelheit, die jedoch für alle Farbformen wirksam ist.
In einer anderen Vermittlung zwischen Grisaille 10 und Buntfarbigkeit

10 Zur Grisaillemalerei vgl.: Paul Philippot, Les grisailles et les «degrés de


78 Die altniederländische Malerei

ist die >Verkündigung< der Außenflügel gegeben, in einem Mittel-


zustand, wie er für die italienische Malerei unmöglich wäre. Keine
Monochromie, wie in Grisaillen, tritt hier auf, sondern „erwachende
Farbigkeit“: Cremeweiß in den Mänteln von Maria und Engel und im
Handtuch, Griin flankierend, nahe am linken und rechten Bildrand, in
Engelsfliigeln und im Tuch von Marias Gebetpult, je verbunden mit
zarten Rötlichtönen. Das Weiß und die „Schatten“ der Mäntel schreiten
den ganzen Kreis von Licht und Finsternis ab und erscheinen so als
Manifestationen eines „figiirlich gebundenen“ Helldunkels, herausge-
hoben aus dem Dämmer des Raumes. Fliesenboden, Wände, Balken-
decke, Balustrade sind in lehmfarbenem „Raumton“ einander ange-
glichen.
Beim >Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini<, datiert 1434 (London,
National Gallery) 11, erreicht die Helldunkelgestaltung des Genter Al-
tars einen höheren Grad von Komplexität. Lichtquelle scheint das Fen-
ster zu sein - aber eine zweite Lichtquelle von links vorne wäre anzu-
nehmen, wie an Beleuchtung und Verschattung der Schuhe, aber auch
am Schlagschatten der Frau sichtbar wird. Diese Lichtquellen aber
drängen sich nicht auf, denn entscheidend ist Licht qua Licht. Dies Licht
ist leuchtender und heller als das einfallende Licht. Das Aufleuchten
und der Glanz sind das Entscheidende, und entsprechend die sich vertie-
fende Dunkelheit: ein von zwei Lichtquellen gespeister Raum könnte
empirisch nie so „dämmrig“ sein.
Die Pole Hell und Dunkel bestimmen die Bilderscheinung. Sie haben
sich angenähert, im ganzen Raum wie auch in jedem einzelnen Gegen-
stand. Sie sind konstitutiv auch fiir die Farbengebung. Auf van Eycks
Gemälden erscheinen wohl ausgesprochene, sofort in den Blick fal-
lende Eigenfarben, die sich aber nie in bloßer Gegenstandsbezeichnung
erschöpfen. Vielmehr bezeichnen sie die Stellen, wo die Beschaffenheit
der Materie dem Licht die reichste Gelegenheit gibt, Farbe zu ent-
zünden. Überboten aber werden alle diese Farben durch einen zusätzli-
chen Glanz, der sich auch solchen Werten mitteilt, die nicht durch hohen
Buntheitsgrad sprechen, wie etwa das übergänglich sich nach oben ver-
schattende Grau der Wände oder der Bräunlichton des Fußbodens. Der
Glanz (kein „Harmonisierungsprinzip“) wirkt als das einigende Mo-

réalité» de l’image dans la peinture flamande des XV e et XVI e siècles. In: Bul-
letin des Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, 15,1966, fasc. 4, 225-242.
- Denis Coekelberghs, Les grisailles et le trompe-l’œil dans l’œuvre de Van Eyck
et de Van der Weyden. In: Mélanges d’Archéologie et d’Histoire de l’Art offerts
au Professeur Jacques Lavalleye, Louvain 1970, 21-34.
11 FA: Dhanens, VanEyck, 194u.ff. -Wilson, National Gallery London, 34.
Die altniederländische Malerei 79

ment zwischen den Farben. Er tut dies zusammen mit der reziproken
Finsternis, die zentral als Schwerpunkt wirkt und darin die Struktur des
Bildraumes mitbestimmt.
So besteht die farbgeschichtliche Leistung Jan van Eycks darin, daß er
das erste Stadium des Fielldunkels, wie es sich in der transalpinen Ma-
lerei des 14. Jahrhunderts herausgebildet hatte, „überwand“, „aufhob“
- nicht indem er es ausschloß, sondern im Gegenteil, indem er es total in
seine Wirklichkeitsdarstellung eingehen ließ, ja zur Basis dieser Wirk-
lichkeitsdarstellung machte. Was an ihr im Licht erscheint, wird zum
Glanz erhöht und verklärt, was immer sie an Schatten sichtbar macht, ist
nicht „privazione di lumi“ (um Albertis Terminologie aufzunehmen),
sondern gehört dem Tiefenwert der Finsternis zu, einem positiven Dun-
kelheitswert also.
Diese Polarität tritt an jedem dargestellten Ding bis hinab zum un-
scheinbarsten in Erscheinung: das Prinzip des Ganzen wiederholt, wi-
derspiegelt sich in jedem einzelnen. Auch die Farben griinden in dieser
Polarität. Das galt freilich auch schon für die Farbe der Malerei des
14. Jahrhunderts, bei Jan van Eyck aber kompliziert sich dieses Ver-
hältnis dadurch, daß seine Farbigkeit ja eine wirklichkeitsbezogene ge-
worden ist und - scheinbar - ihr Gesetz von dem „natürlichen“ Aus-
sehen der Dinge, den Besonderheiten ihrer Oberflächen empfängt.
Kehren wir zum >Hochzeitsbild des Giovanni ArnolfinU zuriick. Flier
versammeln sich die vollen Buntwerte in der Gewandung der Frau und
in ihrer Umgebung; ein gesättigtes, im Schattendunkel der Falten je-
doch fast erlöschendes Grün in ihrem Mantel, ein Rot von gleichem
Farbton in Bettdecke und Baldachin, etwas nach einem Schokoladenton
gebrochen inTuch und Kissen der rückwärtigen Bank, Lapislazuliblau in
den Ärmeln und in dem kleinen Stück Rock, das unter dem Mantel
sichtbar ist; dazu seidig schillerndes Weiß mit perlmuttrigen Schatten in
der Haube, gelblicheres Weiß in Pelzwerk und Mantelsäumen. Gelb
klingt nur indirekt an im Messington des Leuchters und im Lichtfaktor
des Inkarnats.
Diesem Farbkomplex rechts steht gegenüber Giovanni Arnolfini
links, der ganz in seine helldunkle Umgebung eingelassen ist. Seine Ge-
genstandsfarbe, das sehr tiefe Braunviolett seines Mantels und Pelz-
werks läßt zunächst nur die Dunkelheit wahrnehmen, nicht die Farbe.
Arnolfini ist dem beieuchtenden Licht abgewandt, und diese Licht-
abwendung bekundet sich in seiner Farbigkeit und Dunkelheit - jedoch
auch hier weit über alles „natürliche Maß“ hinaus. Antlitz und Hände
erscheinen wieder im beleuchtenden Licht.
Auch bei der Gestalt des Arnolfini könnte man fortfahren in der Un-
terscheidung der tiefvioletten Ärmel, dem pelzbraunen Besatz, der kad-
80 Die altniederländische Malerei

miumbraunen Mantelaußenseite, dem „schwarzen“ Hut - und hätte


doch nur Teile in der Hand, weil alle diese Farben dem Dunkel unterge-
ordnet sind. In ihnen sammelt sich das gleiche Dunkel wie an der linken
Wand und der oberen Zone der Rückwand.
In den Farben der Braut und ihrer Umgebung aber sammelt sich das
Licht; genauer: das Weiß der Haube ist stärkste Verdichtung des Lichts
wie das Schwarz des Arnolfini-Hutes „Verdichtung“ der Dunkelheit.
Beide Werte stehen sich nicht als Neutralfarben innerhalb einer
Schwarz-Weiß-Skala gegenüber, sondern als Repräsentanten der Licht-
Finsternis-Polarität; und die Hauptbuntfarben Griin und Rot erschei-
nen als mittlere Helligkeitswerte zwischen diesen Polen.
Farben sind hier „Taten und Leiden“ des Lichts und der Dunkelheit.
Darin gründet es, daß die Farbgebung dieses Bildes nicht als bloßer Ge-
gensatz von unfarbig links zu farbig rechts sich verhält, beide Bildhälften
vielmehr als völlig gleichwertig, das Bild selbst als ein in sich geschlos-
sener Kosmos empfunden wird.
Und in jedem Bezirk des Bildes vollzieht sich, in je andererWeise, ein
solcher Übergang der Farben zwischen Dunkelheit und Licht, ihr Sich-
Verschließen in der zentrierenden Dunkelheit, ihr Sich-Öffnen und Aus-
einanderfalten im Licht. In vollkommener Weise schließt dies Bild die
Totalität von Licht und Finsternis in sich, unbedürftig aller äußeren Ge-
gebenheiten. Die Stille, Selbstversunkenheit und Selbsttranszendenz
von Dunkelheit und Licht, ihr Austausch und Wechselbezug ist das Me-
dium der in sich versunkenen und gleichwohl mit dem Ort ihrer Existenz
einigen Gestalt.
So begründet Jan van Eyck die zweite prinzipielle Möglichkeit des
neuzeitlichen Bildes und alle weitere Entfaltung der europäischen Farb-
gestaltung seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts lebt aus dieser ,,dop-
pelten Wurzel“ des neuzeitlichen Bildes bei Giotto und bei Jan van
Eyck.
In Jan van Eycks >Madonna des Kanonikus Georg van der Paele<, ent-
standen zwischen 1434 und 1436 (Briigge, Stedelijk Museum) 12 haben
die Gestalten an körperlicher Präsenz gewonnen, zugleich konzen-
trieren sie die Buntfarben entschiedener auf sich. „Benennbare“ Farben
sind hier das ausgebreitete Rot des Marienmantels, klares, scharfes Blau
im Chormantel des hl. Donatianus links und im Madonnengewand,
Griin, schon in geringerer Quantität, imThronbaldachin, dazuWeiß im
Chorhemd des Kanonikus, in der Fahne des hl. Georg, grau verschattet,
und in der Windel. DerTeppich sammelt nochmals alle Farben in sich,
sie zu einem Klang von Griin und Rot vereinend. Gelb erscheint nur als

12 FA: Dhanens, Van Eyck, 213 u. ff.


Die altniederländische Malerei 81

indirekte Farbe, als Lichtreflexe auf der glänzenden Oberfläche der


Georgsrüstung (die nur aus solchen aus dem Tiefendunkel aufblitzen-
den Reflexen zu bestehen scheint), sowie, wärmer, in den Goldbrokat-
mustern der Bischofsgewandung.
Die Körperformen durchmessen aus der Dunkelheit den Raum. „Ins
Licht treten“ bedeutet für sie „farbig werden“. Wenn, selten genug,
Schlagschatten erscheinen, so eignet ihnen meist Foliencharakter. Folie
für den Marienkopf etwa ist nicht eigentlich der grüne Baldachin, son-
dern die Schattenhöhle, die er, auch als Träger des Schlagschattens, er-
zeugt. Flelldunkel-Hinterfangung wird spürbar besonders in der Zone
um das Haupt des hl. Georg: Metallfarbe und Inneres seines Helms,
Haar und Schatten fließen zu einem Finsternisgrund zusammen, und es
fällt schwer, dessen Grenze gegen eine tieferliegende Schicht zu be-
stimmen.
Das Bronzebraun der Architektur hinterlegt die Figurenfarben. Die
Farben der Architektur, der Thronlehnen, der Bodenfliesen vereinen
sich zu einem „neutralisierten“ Gesamtton, der wie eine „Fassung“ die
edelsteinhaft leuchtenden Buntfarben Rot, Blau und Griin, aber auch
das Weiß umschließt und sich erst bei Nachsicht in die Vielzahl der Ge-
genstandsfarben entfaltet. An solche Verhüllung der wie durch ein glän-
zendes, grünlich gefärbtes Glas gesehenen Dingfarbigkeit schließt das
Raumdunkel an, in das Eigen- und Schlagschatten aufgenommen sind.
Und über allem schwebt der stille Glanz des Lichts. Farbe bestimmt
sich mithin nach dem Maß des Heraustretens der Dinge ans Licht.
Machtvoll strebt sie zum Licht und bleibt gleichwohl im Dunkel verwur-
zelt.
Die etwa gleichzeitige >Lucca-Madonna< (Frankfurt a.M., Städel-
sches Kunstinstitut) 13 verdichtet Licht und Dunkel in äußerster, aller
Empirie zurücklassender Zusammendrängung. Nahe dem oberen Bild-
rand hat sich die Dunkeltiefe weit geöffnet, höhlenhaft, der Baldachin
versinkt in ihr, glüht nur noch schwach heraus. Das hellste Licht ruht auf
den Inkarnaten Mariens und des Kindes, ist mithin thematisch ge-
bunden, gedämpfteres Licht schwebt über der Fensterzone und der ,,be-
leuchteten“ Wandnische rechts. Eine Fassung aus Dunkelheit legt sich
um die Gestalt Mariens und das Rot (!) ihres Mantels, das zwischen
Licht und Dunkel ein schwebendes Gleichgewicht hält. Die Dunkel-
Fassung entriickt die Darstellung, die gleichwohl alle Bilddinge in un-
überbietbarer Nahsicht zeigt. Entschiedener noch als bei der >Madonna
des Kanonikus van der Paele< sind die das geistige Zentrum umfassenden
Gegenstandsfarben in einem um Olivbraun kreisenden, „neutrali-

13 FA: Dhanens, Van Eyck, 233.


82 Die altniederländische Malerei

sierten“ Gesamtton vereinheitlicht. Auf die dennoch wirksame Farben-


vielfalt sei mit Worten Heinz Roosen-Runges hingewiesen: „Indem das
Licht über die Oberfläche der Dinge hingleitet, gerät die Farbe
gleichsam in Bewegung und verändert sich in unendlich feinen Abstu-
fungen und Brechungen, nicht nur nach Helligkeits- und Dunkelheits-
graden, sondern auch qualitativ. So zeigt sich im Gewande der Maria
eine Vielfalt verschiedenartiger Abstufungen des Rot vom milden Gelb-
rot über feuriges Purpur und sattes Karmin bis zum dunklen Bräun-
lichrot. Durch diese mannigfachen Abtönungen wirkt die Farbe zu
großer Kraft gesteigert, und gleichzeitig wird durch diese Differenzie-
rung der Wirkung der Farbe in sich im Lichte eine Charakterisierung der
stofflichen Struktur der Oberfläche der Dinge gewonnen. Indem sich die
gegenständlich gebundenen Farben im Licht ständig verändern, je-
desmal jedoch in einer anderen Weise, empfindet man das Dingliche,
mit dem sie verbunden sind, ganz verschieden. Rauhe und glatte Stoffe,
Metall, die Schmuckteile des Gewandes, die Wirkung des Inkarnates
und alle die anderen verschiedenen Dinge im Raum werden so in ihrer
verschiedenen gegenständlichen Materialerscheinung durch ganz ver-
schiedene Wirkung ihrer farbigen Oberfläche im Lichte wiedergegeben,
so daß sich mit einer lebendigen Hell- und Dunkelwirkung der Farbe ein
Reiz kostbarer Stofflichkeit alles Gegenständlichen verbindet.. .“ 14
Alle Gemälde des niederländischen 15. Jahrhunderts stellen die
Farben, in der Nachfolge van Eycks, ein in die Polarität von Licht und
Dunkel; unterschiedliche Möglichkeiten ergeben sich aus den Graden
der Entfaltung von Buntwerten innerhalb dieses Spannungsbogens,
dem gemeinsamen oder unterschiedlichen Niveau der Buntfarben auf
der Helldunkelskala, dem Verhältnis von Bunt- und Neutralfarben im
übergreifenden Zusammenhang von Licht und Finsternis, der Differen-
zierung von Nuancen im neutralen und halbneutralen Farbbereich.
Rogier van der Weyden (um 1400-1464) übernimmt von Robert
Campin (um 1375-1444) die Präzision, ja Schärfe des Graphischen.
Dessen Malerei ist weithin noch bestimmt von einer „unfarbigen“ Kon-
zeption. So läßt Campin in seiner vor 1430 gemalten >Maria mit dem
Kind vor einem Ofenschirm< (National Gallery London) 15 Buntfarbig-
keit nur bis zu einem tintigen Blaugrau in den Schatten des weißen
Madonnenmantels, unsinnlich-trockenem Karmin in Kissen, dumpfem
Gelbgrün im Tuch über der Bank aufkommen. Die übrigen Bildpartien
erscheinen „neutralisiert“, wobei aber der Neutral-Charakter mehr der

14 Heinz Roosen-Runge, Die Gestaltung der Farbe bei Quentin Metsys.


(Münchener Beiträge zur Kunstgeschichte, Bd. VI) München 1940, 13, 14.
15 FA: Wilson, National Gallery, 32.
Die altniederländische Malerei 83

graphischen Durchorganisation als den in ihrer Eigenwertigkeit erfah-


renen Neutralfarben entstammt.
Im großen Gegensatz zur dumpfen Farbigkeit bei Campin bringt Ro-
gier van der Weyden die Buntfarben aus dem Dunkel zum Leuchten,
noch weit iiber Jan van Eyck hinaus. Anders als dieser setzt er Farb- und
Helldunkelwerte in ein genau balanciertes Gleichgewicht. Diese Akzen-
tuierung des Buntwertes innerhalb der Helldunkelgestaltung bedingt
auch eine schärfere Trennung von Bunt- und Neutralbezirken.
An zwei Werken sei Rogiers Farbgebung erörtert. In seinem um 1450
gemalten Middelburger Altar (Bladelin-Altar) (Gemäldegalerie Ber-
lin 16) erscheint der Himmel in sehr gedecktem Graublau, das erst ver-
hältnismäßig tief in ein ganz schwach gelblich getöntes Weiß irisiert. (Bei
der Bildlesung mit dem Himmel zu beginnen, ist in niederländischer Ma-
lerei möglich, da dessen Dunkel mitunter die gesamte Bildsphäre zu
überwölben scheint, also nicht „Hintergrund“ bleibt. 17) Es folgt die
schattenlose Dämmerhelle der Stadt, dann, als Übergang, das gebro-
chene Hellgrün des hügeligen Terrains, schließlich die mächtige Folie
des Stalls: ein Olivbraun in vielen Abstufungen von hell nach dunkel,
dunkel gegen denHimmelsilhouettiert. HelleristdasTerrainvorne, die
Säule, die Bodenzone, das Fallgitter, alles dem Oliv unterworfen, der
eigentlichen Grundfarbe für die Figuren. Diese heben sich als Bunt-
werte deutlich davon ab; Joseph in bräunlichem Karmin, rosaweißlich
im Licht gehöht; der frontale betende Engel in Zitrongelb zu bräunli-
chem Karmin changierend; Maria mit einem Mantel in Ultramarin, das
die geringste Affinität zum Grundbraun aufweist; ihr weißes Gewand ist
eisblau schattiert, Bladelin in einem „leuchtenden“ Schwarz, der kon-
zentriertesten Tieffarbe, die demTiefenton der Landschaft am nächsten
steht.
Dies Schwarz wirkt als gesammelte Dunkelheit, nicht als schwarze
Figurensilhouette - alles Reden von „Bildmustern“ in der niederländi-
schen Malerei hat hieran ihre Grenze 18 -, das Weiß des Mariengewandes
als „ungreifbare“ Gegenfarbe dazu, durch das Eisblau der „Schatten“
verschmolzen dem Ultramarin des von den Schultern herabhängenden

16 FA: Gemäldegalerie Berlin, 120/121.


17 Vgl. auch Otto Pächt: „Das Sehen altniederländischer Bilder ... wird man
sich ... sehr erleichtern ..., wenn man das Bild von oben nach unten zu lesen
versucht, oder vielmehr genauer von der rückwärtigen Abschlußwand oder
-kulisse“ aus. (Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15.Jahrhun-
derts (1933), wiederabgedruckt in: Otto Pächt, Methodisches zur kunsthistori-
schen Praxis, München 1977, hier S. 26.)
18 Vgl. Pächt, Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei des 15. Jahrhun-
derts, passim.
84 Die altniederländische Malerei

Mantelstücks, das als Tonwert zwischen Dunkelfolie und weißem Ge-


wand vermittelt. Der große Mantelbausch rechts, unverändert in der
Tonhöhe, steht hingegen wieder als verbindender Buntwert auf Weiß
und schlägt als solcher die Brücke zwischen diesem und dem Schwarz
des Bladingewandes. Dafiir ist sein Zusammenhang mit der unmittelbar
anschließenden mittelhellolivbraunen Erdbodenfolie gering, er bildet
eine farbige Silhouette zu diesem.
Solcher Wechsel von Helldunkel- und Buntwert innerhalb ein- und
derselben Qualität - unter Dominanz des ersteren - ist charakteristisch
fiir Rogiers Farbgestaltung.
Daß Blau auch als Buntwert geschätzt wurde, erhellt aus seiner Ver-
wendung in den Flilgeln, und zwar links (>Augustus und die Sibylle<) in
unmittelbarer Zusammenstellung mit weichbräunlich schattiertem Gelb
und mit dem roten Ocker der Beinlinge dieser Begleitfigur eineTrias bil-
dend; dies Blau aber ist heller als das der Mitteltafel. DerTon der Mittel-
tafel kehrt dagegen wieder in den Ärmeln der Sibylle, zusammengestellt
mit dem Grün ihres Mantels, und in der Marienerscheinung am Himmel
- so auch die Differenzierung der Blauwerte bekundend. Im rechten
Flügel wird er aufgenommen im Mantel des mittleren Königs, hier auf
engstem Raume zusammengefaßt mit dem Rot und Gelb seines Brokat-
gewandes zu einerTrias. Nicht zufällig findet sich gerade bei Rogier mit
seiner Gestaltung der Buntwerte der Farben auch die in der gleichzei-
tigen niederländischen Malerei sonst sehr seltene Farbfigur derTrias.
Rogier van der Weydens gegen 1455 entstandener Dreikönigsaltar
(Columba-Altar) (München, Alte Pinakothek) 19 intensiviert die Tren-
nung von Bunt- und Neutralzonen und läßt darin eine gegenüber Jan van
Eyck andersartige unterschiedliche Verdichtung und Weitung des far-
bigen und Helldunkelraumes erkennen.
Den Vordergrund besetzen lichtstrahlende Figurenfarben, tiefes, leuch-
tendes Ultramarin, Hochrot, dazu eine nahe, etwas kühlere Variante, röt-
lich schattiertes Gelb, von Goldbrokat durchzogener Karmin, tiefes Griin
in kleiner Quantität, Weiß, Schwarzviolett usf., wieder in eine Vielzahl von
dunklen, hellen, farbigen Nachbartönen sich entfaltend.
Dann erfolgt - im Mittelgrund - plötzliches Erlöschen der Buntfarbig-
keit. An deren Stelle treten, trotz gewahrter Lokalfarbigkeit, die un-
bunten, die Helldunkel-Prinzipien der Farbe auf Kosten ihrer Bunt-
werte. Die Neutralfarben werden durch die dargestellten Gegenstände
nahegelegt: das Braun und Grau des Steins, des Daches, der Stroh-

19 FA: Steingräber, Alte Pinakothek München, 38 (Mittelbild). Martin Da-


vies, Rogier van der Weyden, München 1972, Farbtafel nach S. 88 (rechter Flügel
mit der >Darbringung imTempeh).
Die altniederländische Malerei 85

matten darauf, von Ochs und Esel - trotzdem ist die Annäherung dieser
Qualitäten wichtiger als ihre farbige Differenzierung; und in der
braunen Steinfarbe wird schon eine Verwandlung des motivisch Gege-
benen vollzogen.
Der Hintergrund ist wieder heller und farbiger, kleinflächig sind die
Buntfarben in der Stadt verteilt, ohne Raumverschattung. Das klare
Hellgmn der Wiese steht gegen die Dunkelheit der Stallwand. Ein tief-
blauer, zu einem Weißlichton irisierender Himmel bildet das zugleich
farbige und dunkle Gegengewicht zur Farbigkeit des Vordergrundes.
Der Helligkeits- und Dunkelheitsanteil ist in allenTafeln ungefähr der
gleiche, die ausgebreitetste schwebende Helligkeit findet sich jedoch im
rechten Flügel, der >Darbringung im TempeU. Im Gesamtaspekt aber
macht sich kaum ein Unterschied zwischen „Innen“ und „Außen“ be-
merkbar, bedingt durch die Entsprechung der Hell- und Dunkelpartien.
Die Entfärbung der Buntqualität in der Dunkelheit bewirkt Versinn-
lichung einer Raumsphäre. Das bildnerische Mittel hierfür ist die Neu-
tralisierung bestimmter Bildpartien, in erster Linie solcher, die nicht die
Hauptträger der Darsteliung bilden.
Mit solcher stärkeren Trennung der Helldunkel- und Farbzonen wird
bei Rogier van der Weyden auch die Wiederaufnahme des Goldgrundes
möglich, ein für die niederländische Malerei des 15. Jahrhunderts sonst
seltenes Phänomen. Als Beispiel sei auf Rogiers >Madonna mit vier Hei-
ligen< des Frankfurter Städel (der sog. >Medici-Madonna< 20, um 1450 ge-
malt) hingewiesen: vor dem Goldgrund, von ihm strikt getrennt durch
das Weiß des Zeltes und der Engel, setzt die Helldunkelgestaltung ein.
Dunkel vertieft sich das Innere des Zeltes, von Dunkelheit erfiillt sind
hier auch die Figurenfarben, schon infolge der spezifischen Dunkelheit
der gewähltenTöne: Oliv, Grauviolett, Karmin, Braun, tiefes Blau, sehr
tiefes Grauviolett. Da sie in ihrem Lichtwert mit der Lichtkraft des
Goldgrundes nicht konkurrieren können, stellen sich die Farben hier auf
die Seite der Dunkelheit.
Dieric Bouts (um 1415-1475), Repräsentant einer „nordniederländi-
schen“ Malerei, führt das Helldunkel zu neuen atmosphärischen Wir-
kungen, nuanciert den Bereich der Neutralfarben, schafft neue Bezüge
zwischen diesen und den Buntfarben, setzt die Buntwerte gemäß ihren
spezifischen Helligkeiten und Dunkelheiten in die Helldunkelkomposi-
tion ein, - all dies im Unterschied zu Rogier van der Weyden.
Dieric Bouts’ in den fiinfziger Jahren des 15. Jahrhunderts gemalte
>Gefangennahme Christu in der Münchner Alten Pinakothek 21 zeigt

20 FA: Davies, Rogier van der Weyden, Farbtafel nach S. 104.


21 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 40.
86 Die altniederländische Malerei

eine große Anzahl von Buntfarben - als Hauptwerte Mennigrot, schar-


fes Neapelgelb, mittleres Grün und dunkles Blau, mithin Farben in Wah-
rung ihrer spezifischen Helligkeit - gruppiert um das farbige, ins Violette
weisende Grau im Christusgewand.
Es sprechen aber nicht allein die Lokalfarben, sie wachsen vielmehr
aus einem „atmosphärischen“ Dunkel in die Helle des Bildes erst hinein:
ein Beispiel hierfür ist das noch dämmrige Grün der Hügel und dessen
Verstärkung und Verdichtung zu lichthaltiger Buntheit in den - unter
sich wiederum verschiedenen - Griinwerten von Judas und dem
Schergen.
Träger der höchsten Helligkeit sind das Gelb des Malchus und das
Mennigrot Petri, Träger der tiefsten Dunkelheit das Petrusgewand;
dessen Blau ist nicht in erster Linie Lokalfarbe, sondern Sammelfarbe
für das Dunkel, welches das ganze Bild durchwirkt.
Mit der Zusammenordnung von dunklem Blau, mittlerem Rot und
strahlendem Gelb in der Figurengruppe vorne links erscheint die Trias
als „primus inter pares“ der Farbgruppierung und gleichzeitig, anders als
bei Rogier, als farbiger Ausdruck der Licht-Dunkel-Spannung, die das
ganze Bild durchzieht.
In Bouts’ >Auferstehung Christu derselben Sammlung ist der Bild-
grund bestimmt durch die Nähe seiner Helldunkelnuancen. Deren
Kontinuität wird, bei durchgehender farbiger Zuriickhaltung, nie unter-
brochen. So ist das Sandgrau des Bodens dem Mattgrün der Rasenfläche
benachbart, dariiber schließt das bleiche, kühle Blaugrau der Hinter-
grundslandschaft an, gefolgt von der hellen Dämmerungszone über dem
Horizont und dem tiefen Dunkelblau des abschließenden Himmelsstrei-
fens. Dies Himmelsdunkel ist nicht in erster Hinsicht Dunkelblau - wie
das Wams des liegenden Wächters vorn, obschon auch hier die Schwelle
zum Dunkel hin überschritten wird -, vielmehr ist es dem Dunkel des
Sarkophag-Innern verwandt.
Über diesem zart differenzierten Grund liegen die ausgeprägten Bunt-
farben, gewechselt aber haben damit nur die Träger der Helldunkel-
Nuancen, deren Buntheit entschiedener sich kundgibt, nicht die Nuan-
cen an sich. Diese behalten, trotz gesteigerter Buntheit, ihre Kraft,
Figuren und Bildgrund vermöge der Helligkeitskomposition zu binden.
Wie immer in der niederländischen Malerei finden sich auch hier
Stellen größter Verdichtung der Dunkelheiten als Gegenpol zur Konzen-
tration des Lichts. In diesem Bilde liegen die Pole im weißen, bläulich
verschatteten Gewand des Engels und dem schwärzlichen Inneren des
Sarkophags, in dem das potentiell überall wirksame Dunkel aufbricht.
Die „atmosphärische“ Bindung des Engelsgewandes läßt die farbsym-
bolische Bedeutung zurücktreten zugunsten einer mehr der empirischen
Die altniederländische Malerei 87

Erscheinung angenäherten Phänomenalität. Die Spannung zwischen


Bildgegenstand und Symbol hat sich mithin vermindert.
Die Differenzierung im Farbigen wird begleitet von einer Schließung
der Formsilhouetten. 22 Die Beziehung beider Momente kann aus einer
Beobachtung Pächts zur Gestaltungsweise Bouts abgeleitet werden,
wonach ,,an die Stelle des figuralen Musters ... die Kontinuität des
Grundes, und das heißt des Ambientes, des Freiraums“ tritt. 23
In Dieric Bouts’ Hauptwerk, dem Abendmahlsaltar von 1464—67 in St.
Peter, Löwen, nehmen die Buntfarben wiederum eine Zwischenstellung
zwischen dem im Weiß des Tischtuchs verdichteten Licht und der Dun-
kelheit ein. Besonders deutlich wird hier aber die Unterscheidung der
Buntfarben nach ihrem spezifischen Helligkeitsgehalt fiir den Ort auf
diesem Spannungsbogen zwischen Licht und Dunkel. Denn nur bei den
in rhythmischer Verteilung von sattem Zinnober und bräunlichem
Karmin auch auf den Flügeln am häufigsten wiederkehrenden Rot-
tönen kann eigentlich von einer genauen ,,Zwischen“-Stellung gespro-
chen werden. Alle anderen Farben, so ausgeprägten Buntwert sie bei
Nahsicht auch entfalten mögen, konvergieren zum Dunkel hin und ver-
schmelzen, wo immer möglich, mit der sie foliierenden Raumdunkelheit
- so vor allem das ungewöhnlich tiefe Blau, aber auch das sehr tiefe Oliv-
grirn und das Braunviolett. Aus dem so entstehenden Dunkelkomplex
leuchtet das Inkarnat, stärker aber noch leuchtet das Weiß des Tisch-
tuchs, während die Lichtintensität des Inkarnats etwa dem Helligkeits-
wert der grauen Architektur gleichkommt; das heißt: auch den neutralen
Werten ist der ihnen zukommende Ort im Helldunkelkosmos bewahrt,
in dem die hellen Farben zum Licht, die dunklen zur Dunkelheit
„deuten“ - die freilich noch dominiert.
Eine wieder andere Zuordnung von Bunt- und Helldunkelwerten
findet sich bei Aelbert van Ouwater (um 1415 bis um 1475). In seiner um
1450/60 entstandenen >Auferweckung des Lazarus< (Gemäldegalerie
Berlin) 24 beruhen die Helldunkelwerte auch vornehmlich auf kaltem
und warmem Braun, Lehmbraun und hellem Beigegrau, jedoch sind alle
diese Werte noch deutlich auf Gegenstände bezogen, schließen sich
nicht ohne weiteres zu einer neutralen Dunkelfolie zusammen, wie im
Bladelin-Altar Rogier van der Weydens. So ist die große, braune Wand-

22 Vgl. dazu: JohannesTaubert, Beobachtungen zum schöpferischen Arbeits-


prozeß bei einigen altniederländischen Malern. In: Nederlands Kunsthistorisch
Jaarboek 1975, Deel 26 (1976): Scientific examination of early Netherlandish
Painting. Applications in art history, 41-71, bes. 55 ff.
23 Pächt, Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei, 42.
24 FA: Gemäldegalerie Berlin, 149.
88 Die altniederländische Malerei

fläche der Chorschranke wohl tiefe Folie für Petrus und die Figuren-
gruppen links und rechts, aber keine „neutralisierte“, sondern eine als
wirklich „hölzern“ dargestellte Wand ist zu erkennen. Eine zweite ausge-
breitete Braunfläche bildet das Gewölbe-Innere, von kälterem, olivtoni-
gem Braun, gleichfalls nach rechts sich minimal erhellend; dazwischen
das Beigegrau und Grau der Chorschlußwand, mit dem lichten Flim-
melsblau hinter den Butzenscheiben.
Trotz solch äußerster farbiger Differenzierung der Braun- und Grau-
werte - oder gerade deshalb - überwiegt das luminaristische Element.
Raumwirkung entsteht durch Entgegensetzung der Dunkelkomponente
im Braun zur Hellkomponente im Beigegrau, nicht durch den Kontrast
der beiden Farben als solcher - im Grunde ist dies bereits das Prinzip der
niederländischen Architekturmalerei des 17. Jahrhunderts.
Der Boden erscheint lehmfarben, mit kaltbraunen Quadrat-Fliesen,
rotbrauner Grabplatte: es wird hier zuviel Lokalfarbigkeit beibehalten,
um als „neutralisierte Partie“ wirken zu können. Die bei Rogier farbig
zusammengefaßten Bildstellen werden vom holländischen Maler in
ihrer farbigen Eigenart belassen.
Gebrochen dagegen erscheinen andererseits die Buntwerte der Figu-
rengewänder, in einer kaum erfaßbaren Vielfalt: Petrus in der Mitte zeigt
den unauffälligsten Ton, ein stumpfes, im Licht gelbliches Olivgriin,
Christus daneben ein farbiges, etwas bläuliches, in den Schatten zu Rot-
bräunlich neigendes Grau. DieserTon wiederholt sich nicht, bildet aber
einen minimalen Kontrast zum tiefen Graublau im Obergewand der
Frau ganz links, mit dem es sich „reiben“ würde, stünden nicht Weiß und
Grün dazwischen.
Rot ist neben Weiß die häufigste Farbe, aufgespalten in viele Nuan-
cen, und hierin über Bouts hinausgehend. In größter Fläche, als „flüs-
siger“, zwischen hellbräunlich gebrochenem und stumpf bläulichem
Lachsrot stehender Wert erscheint es in der Knienden vorne links, in
kleinen Flächen kräftigen Rots im Brokatgewand der Frau ganz links,
und, in kleinster Fläche, im Mann vor der Säule, als Orangezinnober
im sich wegwendenden Alten, als Lachsrot in dcr Kopfbedeckung der
Rückenfigur rechts vorne.
Damit sind aber nur die wichtigsten Farben benannt.
Mit dieser Mannigfaltigkeit von Tönen gleicht Aelbert van Ouwater
Bunt- und Neutralwerte einander an, bindet sie zugleich an die Bildgegen-
stände und läßt Raum in vorher ungekannter Weise aus ihnen entstehen.
Hugo van der Goes’ (1440/45-1482) >Anbetung der Könige< (Mont-
forte-Altar, entstanden um 1470, Gemäldegalerie Berlin) 25 ist erfüllt

25 FA: Gemäldegalerei Berlin, 140/141.


Die altniederländische Malerei 89

von „leuchtendem“ Dunkel. Eine dem Dunkel verschriebene Helle ist


das umgreifende Element, in dem die einzelnen Buntwerte, bei aller
Ausbreitung und Intensität, erst existieren. Sitz des mächtigsten leuch-
tenden Dunkels ist der rechte Bildteil hinter dem knienden König; im
linken bricht es nochmals hervor zwischen Josef und Maria, getragen
vom sonoren Griinblau des Marienmantels, sodann zwischen Maria und
dem König, wo das Purpurbräunlich ihres Gewandes, das Blau des rtick-
wärtigen Mantelstücks und das Rubinrot des Königsmantels zu einem
gemeinsamen Dunkelherd verschmelzen, in ihm sich durchdringen,
ohne ihre Intensität aufzugeben: in einer Entfernung, in der auch graphi-
sche Details erkennbar werden, treten die Buntfarben auseinander.
Träger des dunklen Bezirkes rechts ist die tiefe, wie blauschwarzer
Lack wirkende Dunkelheit im Mantel des halbknienden Königs, Pelz,
Bart, Haare, Handrücken iiberflutend, auch einenTeil des Kopfes und
den Rubinton desTurbans, halb den Diener, ganz den stehenden König
entlang seiner Vorderseite, die foliierende Mauer. Aus dem Dunkel
lösen sich zum Licht Purpurbraun und Mittelblau und Grau im Ärmel
des Pagen; erst im Mantel des Mohrenkönigs, nahe dem rechten Bild-
grund kommt wieder höhere Helligkeit auf; verglichen mit dem tiefen
Dunkelbezirk wirken dessen tiefes Samtrot und Goldbraun mittelhell.
Hell und Dunkel durchdringen sich in den Buntfarben, vor allem den
fünferlei Rottönen, den bräunlichen Purpurrosa (bei Joseph), dem im
Schatten zu tiefstem schwärzlichem Karmin fiihrenden Braunkarminton
(beim knienden König), dem Braunrot (imTurban des rückwärtigen Kö-
nigs), dem Braunpurpur (beim Mohrenkönig). Diese unterschiedlichen
Rotwerte sind auch aufs genaueste nach ihrem Helligkeitsgehalt diffe-
renziert. Die spezifische Leuchtfähigkeit der Buntfarbe ist beim mitt-
leren Rot des knienden Königs am größten, der Helligkeitswert höher
im weniger gesättigten bräunlichen Lachston Josephs ; am stärksten vom
Dunkel absorbiert derTurban des hinteren Königs: Helligkeit vermin-
dert sich mithin innerhalb verwandter Farbwerte nach der Bildtiefe zu.
Ausgleich von Helligkeitsgehalt und Leuchtfähigkeit,Transzendieren
der Buntkomponente zu einem der Pole, innigste Verbindung von Hell-
dunkel und Farbe, ja Helldunkel als Vollzug in den Farben: das sind
Wesenseigentümlichkeiten dieses Bildes, eines Hauptwerks niederländi-
scher Helldunkelgestaltung überhaupt. Anders als bei Rogier van der
Weyden sind hier die Farben ganz in das Helldunkel hineingenommen,
anders als bei Jan van Eyck erscheint hier kein abgehobenes Licht, so
daß erst hier der Ausdruck Helldunkel wirklich angemessen ist.
Die Synthese von Farbe und Helldunkel konstituiert den Ort der
Figuren: so scheint der kniende König in seinem schweren und zugleich
schwebenden Rot zu ruhen; und alle Unklarheit der Raumkonstitution
90 Die altniederländische Malerei

ist aufgehoben in den sonoren Klang dieser machtvollen Existenzen,


deren Gelassenheit und Demut anschaulich nicht zum wenigsten in
dem sie umfangenden, leuchtfähigen, farberzeugenden Dunkel sich
griindet. 26
Hugo van der Goes’ um 1480 gemalte >Anbetung der Hirten< derselben
Sammlung 27 zeigt alle Farben gebrochen und in eine Vielzahl benach-
barterTöne auseinandergelegt.
Rot erscheint in großer Ausbreitung und auffallend nahen Inter-
vallen, als Karmin (Karminweißlich im Licht) im Mantel Josefs, als
Braunorange in seinem Gewand, als bräunlicher Zinnober im Mantel
des rechten Propheten (der linke ist in rosenfarbigem, bläulichem
Karmin gehalten), kontrastiert zum Blau des Marienmantels. Blau tritt
ferner auf als helles kaltes Schattenblau (im Gewand des „weißen“
Engels links), etwas zu Grau gebrochen im knienden Engel rechts neben
der Krippe, als Grauviolett im Engel neben dem erstgenannten, sodann
als purpurvioletter, im Lichte hellgrauvioletter Ton beim hereinstiir-
zenden Hirten, schließlich als dunkles Graublau im Himmel, unmit-
telbar an das Grün der Vorhänge anschließend; griin, zu Oliv gebrochen,
ist auch der Hirt im „Knielauf“ - wie insgesamt der Blau-Griin-Rot-
Klang dominiert. Von einer Trias keine Spur, da Gelb nirgendwo rein
vertreten ist.
Beim völlig durchbrokatierten Gewand des rechten Propheten kann,
auch das ist neu, ein eindeutiger Farbwert nicht mehr aufkommen, vor
allem auch im Kontrast zur anschließenden Mantelfläche - in angemes-
sener Entfernung zeigt sich ein zwischen Grau, Braun, auch Gold lie-
gender, in seiner Buntheit unbestimmter Ton, der dennoch fest, dicht
wirkt - eben als „Brokat“ und darin den ausgeprägten Buntwerten die
Waage hält. (Eine Erinnerung an Crivelli stellt sich ein.)
Die schon hier spürbare expressive Qualifikation der Farben steigert
sich noch im >Tod Mariens< (entstanden zwischen 1478 und 1482,
Briigge, Stedelijk Museum). 28

26 Zur Aufhebung (d.h. Überwindung bei Bewahrung) der Raumspan-


nungen trägt die Helldunkel- und Farbgestaltung entscheidender bei als alle
„Raum/Flächen-Dialektik“, die Günther Fiensch betonte (>Form und Gegen-
stand, Studien zur niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts<, Köln-Graz
1961). Die sorgfältigen Analysen dieser Untersuchung wären durch Einbezie-
hung der (dort ausgesparten) Helldunkel- und Farbgestaltung zu ergänzen bzw.
zu korrigieren.
27 FA: Gemäldegalerie Berlin, 146/147.
28 FA: Biaiostocki, Spätmittelalter und beginnende Neuzeit, Prop. KG.,
Bd. 7, Taf. IX.
Die altniederländische Malerei 91

Blau, Moosgrün, Karminrosa, Rot, totes Grau, Weiß sind die Haupt-
farben der Figuren. An die Stelle von Farbtmbung tritt hier die Auszeh-
rung, Weißbrechung vor allem von Blau und Karmin.
Das Schmerzhafte, „Pathologische“ findet Ausdruck in den nahen In-
tervallen von Kobaltblau im Gewand Mariä und dem kalten Blaugrau in
der Bettdecke. In der oberen Bildhälfte herrscht das kalte Schiefergrau
der Folie, abgesetzt mit hellblauem Rand vom schwefelgelben Schein
der Glorie, in der dann noch Hellblau und Karmin, in der Gewandung
Christi, gegeben sind. Reines Gelb fehlt im ganzen Bild.
Die Neutralisierung des Vordergrunds hält ihn in Distanz, während
die Buntfarben nach vorne drängen.
Viel stärker als die rückwärtigen Figuren werden die beiden vorderen
Apostel von links her aufgehellt. Christi Glorie sendet kein Licht aus,
Christus selbst erscheint wiederum von links beleuchtet. Solch mehrfach
gespaltene Lichtquelle dient ebenso der Ausdruckssteigerung wie die
Spaltung des farbigen Bildraums.
Wie im fiorentinischen Quattrocento, bei Botticelli und Filippino
Lippi, findet so auch die niederländische Malerei im fortgeschrittenen
15. Jahrhundert den Weg zu einer Anspannung der farbigen Ausdrucks-
werte.
Mit der Ausweitung und Vertiefung der Landschaft erhalten bei
Geertgen tot SintJans (1460/65 bis vor 1495) auch die gebrochenen, halb-
neutralen Farben einen größeren Anteil, eine neue Funktion im Bild-
ganzen. Sie verdichten die tiefenräumliche Erstreckung in schwebende
Farbflächenkompartimente und bestimmen in einem weiteren Umfang
als je zuvor das „Niveau“ der Buntfarben. Von Ouwater konnte er die
Angleichung von Bunt- und Neutralfarben übernehmen, doch er bildet
daraus neue Beziehungen, erzielt andere Näherungen an die sichtbare
Wirklichkeit.
In seiner Darstellung der >Geschichte der Reliquien des hl. Johannes
des Täufers< (entstanden um 1485, Wien, Kunsthistorisches Museum) 29
sind die Felsen, die Architektur und die Wege in Sandbraun und Sand-
gelb, durchschossen vom Rötlichcreme der Sarkophage, die Zonen der
Vegetation in einen einheitlichen Olivton zusammengefaßt. Atmosphä-
rische Raumwirkungen treten zurück zugunsten eines lockeren Gleich-
gewichts von Hellflächen. Das Maß der Helligkeit aber wird bestimmt
von der Weiße des Horizontlichts, von ihm aus entfalten sich subtile
Senkungen ins Dunklere. Jede, selbst die zarteste Farbe erscheint ja
„dunkler“ gegen dieses Weiß. Das Weiß der Oberflächen, in den Ge-

29 FA: Wolfgang Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, II, Die Gemäl-


degalerie, München 1984, 54.
92 Die altniederländische Malerei

wandteilen, hat dagegen mit diesem Lichtweiß, diesem atmosphäri-


schen Weiß nichts zu tun, scheint vielmehr in einer eigenen Schicht vor
den Hellflächen zu schweben. Aus einem atmosphärischen (wie aus dem
formbestimmten) Raumzusammenhang herausgelöst sind auch die Dun-
kelheiten der Johannitergruppen. Die der Auffindung der Gebeine des
Heiligen beiwohnenden Männer entfalten ihre Dunkelheit in eine Viel-
zahl unterschiedlicher Dunkeltöne, tiefes kaltes Stahlblau, Mausgrau,
Blaugrau über rötlichem Purpur, bläuliches Schwarz und zweierlei Scho-
koladenbraun. Diese Dunkelheiten und die Helligkeiten der Antlitze
steigern sich wechselseitig im Simultankontrast.
Die von Alois Riegl als Wesenszug des Holländischen akzentuierte
„Aufmerksamkeit“ 30 bekundet und bewährt sich in solchem Achten auf
die feinsten Differenzierungen im Dunkeln wie im Hellen und fordern
auch dem Betrachter dies Maß an Aufmerksamkeit ab. -Auch die Bunt-
werte sind in besonderer Weise dem Licht zugewandt, im Karmin wie im
hellen Blau der Figurengruppe um Kaiser Julian sammelt sich das ,,Be-
leuchtungslicht“.
Das bräunliche Olivgrün der Wiesenmatten und des fernen Waldes
zieht auch bei Geertgens >Johannes der Täufer in der Einöde< (Gemälde-
galerie Berlin) 31 die Erstreckung der Landschaft zusammen und um-
geben dicht den Heiligen, dessen tiefes Braunviolett und mildes, grau-
gebrochenes Blau die tiefe Versunkenheit des Heiligen unmittelbar
veranschaulichen.
In seiner >Geburt Christu (gegen 1485, London, National Gallery)
läßt Geertgen aus der tiefen Dunkelheit des Grundes die Lichtflächen
Mariens, der Engel und des göttlichen Kindes aufleuchten. Lichtquelle
scheint das Kind zu sein, aber bei genauerem Zusehen erweist es sich als
„oben beleuchtet, unten beschattet. Das heißt aber: die eigentliche
Lichtquelle bleibt als solche unsichtbar, wobei jedoch deutlich wird, daß
sie sich gleichsam am Kind entzündet hat.“ 32 Alles sichtbare, und das
heißt bildwirksame Licht wird der Helldunkelgestaltung verdankt, hier
dem bis in äußerste Pole ausgespannten Kontrast von Dunkelheit und
Licht.
Eine entgegengesetzte Möglichkeit zu Geertgens Weitung der Licht-
Dunkel-Pole im eben genannten Bilde läßt sich für das ausgehende Jahr-
hundert an Werken Hans Memlings (um 1430 oder später - 1494) er-
kennen: Minderung der Helldunkelspannung, gleichmäßige Trübung
der halbneutralen Farben, weitgetriebene Annäherung der Bunt- und

30 Alois Riegl, Das holländische Gruppenporträt, Wien 1931,13.


31 FA: Gemäldegalerie Berlin, 155.
32 FA: Schöne, Über das Licht in der Malerei, 126.
Die altniederländische Malerei 93

Neutralfarben in einem mittleren Helligkeitsbereich, bei Wahrung der


Buntfarbindividualitäten.
>Die Sieben Freuden Mariä< von 1480 (Miinchen, Alte Pinakothek) 33
verteilen kleinfigurige Szenen über ein weites Landschaftspanorama, das
sich aus Olivbraun, Sandbraun, Olivgrün, gedecktem Blaugrau, Rot-
braun, in engen Intervallen koordiniert, bildet. Als kostbare, harmonische
Klänge sind die Figurenfarben eingesetzt, mit dominierenden und rhyth-
misch verteilten Akzenten im mittleren Rot, umgeben von gedämpftem
Weiß, mittlerem Blau, Grün und Gelb in kleineren Quantitäten.
Hieronymus Bosch (um 1450-1516) gewinnt aus der Neuinterpreta-
tion voreyckscher Gestaltungsmittel die Möglichkeiten neuartiger Welt-
darstellungen. Er nimmt das im 14. Jahrhundert entwickelte Prinzip
transparenter Farbformen wieder auf. Der Veränderung der durch ge-
kurvte Linien gewölbten Form entspricht keine solche der Farbe. Sie
füllt flächig die Form: als Beispiel diene etwa der rote Mantel des Krie-
gers auf Boschs um 1480 entstandener >Kreuztragung Christu im Wiener
Kunsthistorischen Museum 34. Solche Abhebung von Farbhomogenität
und Konturveränderung - in manchem Grünewaldschen Bildern ver-
gleichbar - nimmt den Farben die Substanzwirkung von Oberflächen,
läßt die Formen als ausschneidbare Farbsilhouetten erscheinen, die vor
den „Gründen“ schweben. Diese bilden keinen „atmosphärischen“
Helldunkelraum, vielmehr Helldunkelsphären um jede Figur, ähnlich
wie schon bei van Eyck. Aber in größtem Gegensatz zu diesem stoßen
hier keine körperlichen Formen zum Licht hervor, sondern messerscharf
begrenzte Farbformen sind von Dunkel hinterlegt, diese aber meist wie-
derum von helleren Gründen gebrochener Farbigkeit, so daß nun in
solch kontinuierlicher, irisierender Veränderung von Hell- zu Dunkel-
grund die figuralen Farbformen wie transparent erscheinen, durchhellt
vom helleren Grund, jedoch stumpf, ohne allen Glanz. Ein Vergleich
zum älteren Holbein drängt sich auf, der ja auch auf die trecentistische
Farbentwirklichung durch Transparenz zurückgriff. Wie nun aber Bosch
durch die Mannigfaltigkeit der Formgebilde eine Fülle von Wirklich-
keitsgehalten zur Darstellung bringen kann, so erzielt er durch plötz-
lichen Umbruch der zarten Farbgriinde weite, in fernste Tiefen sich er-
streckende Fernlandschaften und ebenso aus den gebrochenen Tönen
einen neuen Umfang farbiger Darstellungswerte.
Gerard Davids (um 1450/60-1523) Münchner >Anbetung der Könige<
(entstanden um 1490/95) 35, der Kopie nach einem um 1480 gemalten,

33 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 42, 43.


34 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, II, Gemäldegalerie, 55.
35 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 44.
94 Die altniederländische Malerei

verschollenen Werk des Hugo van der Goes 36, zeigt auf andere Weise
Veränderungen und Verfeinerungen der Farbgestaltung im ausgehenden
Jahrhundert.
Verglichen mit Hugo van der Goes sind die Buntwerte „stiller“, heller
und stärker gebrochen, heller auch die ausgebreiteten „neutralisierten
Zonen“. Diese Helligkeit erscheint motiviert durch einen höheren Grad
an Beleuchtungswirkung, einen Lichteinfall von links, ablesbar an aus-
geprägteren Schlagschatten.
Im Vordergrund sind Buntfarben im Licht von Verschattung abge-
hoben, im davon scharf gebannten Mittelgrund wird Buntfarbigkeit ge-
opfert und der Helldunkelkontrast mit einem Ruck verringert, so daß
dieser Mittelgrund mit seinem Platz und dem Gefolge der Könige darauf
einheitlich beleuchtet, wie durch dunstiges Sonnenlicht gesehen wirkt.
Sehr charakteristisch für die neue Sensibilität Helligkeitsphänomenen
gegenüber steht die hellrote Mütze des Mannes hinter dem Torbogen,
also noch der Vordergrundsgruppe des Gefolges angehörend, als Farbe
gegen die Helligkeit des Mittelgrundes; der Himmel ist wieder etwas
dunkler gehalten, auch dies trägt zur Erhellung der Mittelzone bei.
Stallruine und Fußboden bilden einen sandbräunlichen mittelhellen
Komplex, der die Farben des Strohdachs, von Mauer, Ochs und Esel,
auch des Stützbalkens rechts einander annähert. Das gelbe Strohbün-
del, der weißgelbliche Mantel Josephs heben sich davor in kleinen,
durch gemeinsame Schattentmbungen geeinten Intervallen ab, in
großen die kostbaren Farbtöne des Stahlblaus im Marienmantel und des
leicht davon abweichenden Grauvioletts des Josephsgewandes; vermit-
telnd wirkt sein Karminrosa im Mantel.
Über das „Gesetz der kleinsten Intervalle“ schrieb Eberhard von Boden-
hausen in seinem Buch „Gerard David und seine Schule“, das eine der er-
sten genauen Untersuchungen zur Koloritgeschichte enthält: „Zu beson-
derer und selbständiger Einheitsbedeutung aber entwickelt sich dieses
Prinzip in der Kunst Davids; es ist auf diesem Wege zu einer Wirkung kolori-
stischer Einheit und Kraft gelangt, die in der ganzen Epoche allein steht,
und die seinem Streben nach Weiterführung und Ausgestaltung der überlie-
ferten Kunstmöglichkeiten ein glänzendes Zeugnis ausstellt. Die Abstu-
fung der Farbe in sich hatte im Rahmen der holländischenTradition zu einer
besonderen Behandlung derblaugrauen, grauvioletten, reinviolettenTöne
geführt.. ,“ 37,zu derauchDavideinenwichtigenBeitragleistete,inWerken
wie etwa der im Frankfurter Städel aufbewahrten > Verkiindigung an Maria<.
36 Vgl. dazu: Karl Arndt, Gerard Davids >Anbetung der Könige< nach Hugo
van der Goes. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Dritte Folge,
Bd.XII, 1961, 153-175, bes. 169.
37 E. von Bodenhausen, Gerard David und seine Schule, München 1905, 64.
DEUTSCHE MALEREI DES 15. JAHRHUNDERTS

Neben der italienischen Relieffarbigkeit und der niederländischen


Helldunkelmalerei hat sich im 15. Jahrhundert noch eine dritte Art der
Farbgestaltung herausgebildet, die zwar nicht wie die beiden anderen,
für die ganze Folgezeit der europäischen Malerei bis heute richtung-
gebend werden sollte, die gleichwohl kunstgeschichtlich und kiinstle-
risch von großer Bedeutung ist. Die Ausbildung dieser dritten Art der
Farbgestaltung ist eine Leistung der deutschen Malerei. 1 Sie fiihrt am
ungebrochensten die mittelalterliche Farbgestaltung in die neuzeitliche
iiber, entwickelt sie teilweise an den Errungenschaften der westlichen
und der italienischen Malerei und schafft damit die Grundlagen der
Malerei der Diirerzeit.
Die kunstgeschichtliche Situation der deutschen Malerei ist schon da-
durch von der niederländischen und der italienischen verschieden, daß
ihr die fiihrenden Persönlichkeiten gefehlt haben, die - mit Masaccio
und Jan van Eyck vergleichbar - bereits im ersten Drittel des 15. Jahr-
hunderts die entscheidenden Lösungen fiir die neuen kiinstlerischen
Darstellungsaufgaben gefunden hatten.
In Deutschland geht die Farbgestaltung des späteren 14. Jahrhunderts
ohne Bruch in die des 15. Jahrhunderts iiber und erhält sich dort bis um
die Jahrhundertmitte.
Der Bamberger Altar (aus der Franziskanerkirche in Bamberg, Baye-
risches Nationalmuseum, Miinchen), 1429, also genau zwischen den
epochalen Leistungen der Brancacci-Kapelle und dem Genter Altar ent-
standen, ist formal wie farbig noch durchaus ein Werk des „weichen
Stils“. Entscheidend ist der Gegensatz von Goldgrund, als nahezu ein-

1 Dazu: Ernst Strauss, Untersuchungen zum Kolorit in der spätgotischen


deutschen Malerei, ca. 1460 bis ca. 1510, an Beispielen der schwäbischen, fränki-
schen und bayerischen Schule (1928). Wiederabgedruckt in: Strauss, Koloritge-
schichtliche Untersuchungen, 255-314. - Hildegard Dannenberg, Die farbige
Behandlung des Tafelbildes in der altdeutschen Malerei von etwa 1340-1460
unter besonderer Berücksichtigung des Mittelrheins. Diss. Frankfurt a. M.,
1926, Karcag 1926; das erste Kapital ist der „Farbenkomposition“ gewidmet. -
Peter Leo, Die Farbe in der westfälischen Malerei im Wandel vom Mittelalter zur
Neuzeit. (Ungedr.) Diss. Münster 1948. - Wolfgang Pilz, Das Triptychon als
Kompositions- und Erzählform in der deutschenTafelmalerei von den Anfängen
bis zur Dürerzeit, München 1970.
96 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

zigem Träger der Helligkeit, und Finsternis. die aufscheinenden Hellig-


keiten in den Figuren können nicht gegen ihn an. Der Gegensatz macht
sich bis in die Farbwahl hinein bemerkbar. Die geringe Energie der
Farben, gegen die Finsternis anzugehen, fiihrt zu einer durchgehenden
Trübung der Farben selbst und zu einer allgemeinen Neigung zu tiefem
Braun, Oliv, gedämpftem Blau. Die Schatten sind wie eine Steigerung
der im Farbton selbst enthaltenen Trübung und umgekehrt: jeder
Farbton hat etwas von derTmbung seiner Schatten angenommen. Die
Farbskala ist also tiefgestimmt; die Farben wirken dumpf, dem Licht
nicht aufgeschlossen und auch vom Licht nicht aktiviert, sondern als
seine Verhüllung: nur mit Mühe dringt es aus dem Forminnern hervor.
Die Farben sind Dunkelsilhouetten vor dem Goldgrund (als größte
Energie und zugleich am körperlichsten kommt das Orange im Longinus
zur Geltung).
Diese Unentschiedenheit zwischen Farbkraft und Dunkelverhüllung
bestimmt auch die Phy siognomie der Einzelf arben, etwa die Vorliebe für
Karmin und Grünblau und für unbunte Zwischenqualitäten. Gelb findet
sich nur selten.
Bei der >Thronenden Maria mit dem Kind< (Berlin, Gemäldegalerie)
des Meisters der Darmstädter Passion (tätig um die Mitte des 15.Jahr-
hunderts) fallen großflächige, stellenweise von Trübungen „über-
hauchte“ Partien ins Auge. Trotz Berührung mit der niederländischen
Malerei kommt eine Helldunkelwirkung jedoch nicht zustande. Die
Form- und Farbkomplexe bleiben getrennt, jeder Bildgegenstand endet
definitiv mit seiner Farbe. Die Hauptkontraste entfalten sich zwischen
weichem Purpurbraun (Caput mortuum) und hellem scharfem Griin (im
Marienmantel), tiefem Englischrot, gedecktem Hellblau, Moosgmn (in
Thronbaldachin und Wand), Grau (! im Kleid des Kindes), festem Weiß
mit silbrigen Schatten (im Kopftuch Mariä und der Lilie); hinzu
kommen die Beziehungen zum kalten grünstichigen Olivbraun inThron
undThronstufe.
Trotz ihrer ausgebreiteten Buntheit erscheinen die Farben immer
noch nicht „standfest“, bedingt durch eine schemenhafte Triibung mit-
tels Durchdringung mit einem nicht in den Buntwert integrierten Weiß 2
und einer entsprechenden Schattentrübung, die aber, anders als im Nie-
derländischen, nicht in einer umfassenden Tiefendunkelheit verankert
ist.
So erscheinen auch hier die Farben noch unter der Schwelle ausge-
prägter Buntkontraste (die erst von Witz durchbrochen wird).

2 Vgl. dazu Hildegard Dannenberg, Die farbige Behandlung des Tafelbildes


in der altdeutschen Malerei, 114.
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 97

Gelangen damit die Farben nicht zur vollen Buntkraft, so bleibt ihnen
auch die Intensität des Leuchtens verwehrt. Bei der Innenseite dieses
Flügels, mit der >Anbetung der Könige< (ebenfalls Berlin, Gemälde-
galerie), herrscht der (nicht ornamentierte) Goldgrund als Lichtfläche.
Die Farben erheben sich zu keiner irgendwie vergleichbaren Lichthöhe,
sie bleiben unterschwellig-dumpf, legen sich aber in aller Gedämpftheit
zu klar unterscheidbaren Buntwerten auseinander, die aber sämtlich
eigenartig körperlos, schwebend, entrückt wirken.
Auch die Farbigkeit bei Stephan Lochner (um 1410-1451) ist noch
durchaus den Prinzipien des späten 14. Jahrhunderts verbunden.
Auf dem Flügel des um 1440/45 entstandenen Weltgerichtsaltars mit
den hll. Antonius der Eremit, Cornelius und Maria Magdalena (Alte
Pinakothek München) entwickelt er die Figuren aus dem (ursprünglich
bläulichen) Raumdunkel, das jedoch nicht auf den rückwärtigenTeil be-
schränkt bleibt, sondern überall im Bilde sich geltend macht, auch im er-
hellten Vordergrund: so kniet die Stifterfigur in ihrer eigenen Dunkel-
sphäre, wendet sich einer Schattentiefe zu, die sich raumlogisch mit der
Helligkeit der Bodenfläche nicht verbinden läßt. Erst tiefer im Bilde
trübt sich auch diese Helligkeit zum Dunkel des Grundes.
Diese umfangende, raumkonstituierende, lockere Dunkelheit (wie
„flach“ wirkt demgegenüber der „Flechtraum“ Meister Franckes) läßt
Licht wie als „Selbsterhellung“ des Raumdunkels erscheinen. Indem es
wird, nimmt das Licht Farbe an - während Dunkelheit nicht zur Farbe
gelangt. In solcher Lichtwerdung aus der Dunkelheit gewinnen die
Farben eine eigene Leuchtkraft, im Unterschied etwa zur Farberschei-
nung beim Meister der Darmstädter Passion. Was Lochners Farben aber
von den niederländischen unterscheidet, ist ihre Lockerheit, fastTrans-
parenz, die sich nie zur Oberflächenschließung verdichtet, bedingt auch
durch die Besonderheit der Lochnerschen Modellierung, bei der Licht
stellenweise der plastischen Form entgegen wirkt, Lichtgrate gerade an
den Konturen von Körperformen sich bilden, diese so in Lichtsilhouet-
ten verwandelnd. Dennoch sucht Lochner auch Anschluß an die sicht-
bare Wirklichkeit: Schlagschatten fallen nach der Bildtiefe zu und lassen
Licht partiell als Beleuchtungslicht erscheinen. Zwei Lichtqualitäten be-
gegnen sich: ein als Beleuchtung motivierter Lichteinfall von vorne und
der aus dem Inneren der Gestalten dringende Lichtschein.
In Lochners um 1440 gemaltem Altar der Kölner Stadtpatrone, dem
>Dreikönigsaltar< (Kölner Dom) 3 hinterfängt Goldgrund die Darstel-

3 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 96,97. -Detailauf-


nahmen in: Otto H. Förster, Stefan Lochner, Ein Maler zu Köln, Frankfurt
a.M., 1938, Taf. I-IV.
98 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

lung - wie auch auf anderen seiner Tafeln. Was zunächst spricht, sind Sil-
houetten im Glanzraum des Goldgrundes, als zweites die am Gegen-
ständlichen haftenden Helligkeiten. Ein „Silhouettendunkel“ erfüllt die
ganze rückwärtige Figurenreihe, auch die Fahnen (in denen sich vor dem
Goldgrund Bräunlichrot und mittelhelles Blau zur Helligkeit durch-
dringen), dringt von dort nach unten: auch der dumpfolivbraune Boden
erscheint noch „überdunkelt“, und so auch die Gewänder der Könige:
das tiefe, bräunliche, goldgemusterte Karmin des linken, das mildhelle,
zu gelblichen Mustern fast changierend wechselnde Grün des rechten,
zusammengestellt mit einem etwas bläulicheren Karminton. Dies Grün
leitet über zur Dunkelheits„mulde“ der Bildmitte, aus der sich das Blau
der Madonnengewandung erhebt. Grün und Rot, der farbige Haupt-
klang des Mittelbildes, sind auch die ausgeprägtesten Buntwerte des
linken Flügels und kehren wieder, um ein helleres Blau vermehrt, im
rechten Flügel. Zwischen ihnen aber blühen im figural gebundenen
Dunkel kostbarste und vielfältig variierte, „fluktuierende“ Helligkeits-
und Farbnuancen auf.
Die letzte Stufe Fochnerscher Farbgestaltung wird faßbar in seiner
1447 datierten >Darbringung im TempeU (Darmstadt, Hessisches Fan-
desmuseum) 4. Charakteristisch bleibt auch hier der Schwebezustand
der Farben, zurückgenommen aber ist nun die Bilddunkelheit. Die
Farben gipfeln im hellen lichten Blau - das von ferne noch an das lichte
Blau des französischen Wilton Diptychons von etwa 1400 (in der Na-
tional Gallery, London) 5 erinnern kann, aber reicher sich differenziert
nach Farbton, -intensität und -helligkeit -, sonst finden sich nur ,,er-
leuchtete“, hochgestimmte Farben. Die schwebende „Farbscheibe“ des
Mantelbauschs Mariens läßt nochmals das, freilich aus dem Dunkel glü-
hende, Schweben des Christusmantels in der sechzig Jahre älterenTafel
des Meisters von Wittingau anklingen. Der nun vergegenständlichte
Goldgrund dringt noch durch das braune Priestergewand.
Lochners Tafel von 1447 repräsentiert beispielhaft das Ende des ,,wei-
chen Stils“, als letzte Möglichkeit malerischer Darstellung auf der in sich
noch nicht geschlossenen, zur Fläche als Substrat vollkommen verdich-
teten Bildebene.
Als dann, im Gefolge der epochalen italienischen und niederländi-
schen Neuerungen der Raum- und Gegenstandsdarstellung, etwa zu Be-
ginn des zweiten Drittels des 15. Jahrhunderts, langsam auch in der deut-
schen Malerei die Fläche sich zu konsolidieren beginnt, ergibt sich eine
neue und eigentümliche Situation.

4 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 99. (Detail)


5 FA: Wilson, National Gallery London, 31.
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 99

Denn nun verwandelt sich der Bildraum des 14. Jahrhunderts nicht in
einen mit dem projizierten „Illusionsraum“ kompatiblen Bildraum wie
in der italienischen und niederländischen Malerei, sondern in einen mit
der neuzeitlichen Seherfahrung nur schwer vereinbaren. „Die Deut-
schen haben sich nie das neue Ideal der vollkommenen malerischen Illu-
sion ganz zu eigen machen können.“ „Es fehlt (hier) jene lückenlose
Geschlossenheit und Kontinuität des Anschauungszusammenhangs, auf
deren deskriptiver Treue die Überzeugungskraft westlicher Illusion be-
ruht (das auffallendste Symptom: vielfache Beibehaltung des Gold-
grundes trotz ganz naturalistischer Landschaftsdarstellung!).“
Otto Pächt, der diese Feststellungen traf, beschrieb den in der deut-
schen Malerei wirksamen Vorstellungsmodus als „suggestive Illusion“,
bei der es darauf ankommt, daß der Betrachter sich in die spezifische
Dynamik des Bildgeschehens „hineinversetzt“. „Wir sollen nicht nur zu-
schauen, sondern uns auch in die Lage der Mitspieler einer Szene ver-
setzen können, mit ihren Augen sehen lernen. Ein deutsches Bild ist
immer zugleich von zwei Standpunkten erschaut und verlangt daher von
uns, um richtig gesehen und verstanden zu werden, ein ständiges Hin-
überwechseln von der einen in die andere Position. Die optische Sensa-
tion ist nur einTeil des künstlerischen Erlebnisses, dariiber hinaus sollen
wir uns in den dargestellten Zustand oder das wiedergegebene Ge-
schehen selbst noch hineinversetzen, uns in sie einfühlen können.“ „Da-
vorstehen und Drinnensein, Schauen und Innehaben, die Vereinigung
dieser Haltungen bleibt der stete Anspruch, den die deutschen Maler an
sich und an die Betrachter ihrer Werke stellen.“ 6
Die Mittel dazu werden mit einer Raumkonstitution geschaffen, die
durch die Intensität der Tiefenlinien den Betrachter in die Bildwelt hin-
einzieht. Es fehlt somit das reine Gegenüber von Bildwelt und Be-
trachter, das für das niederländische „Nahbild“ wie für das italienische
„Fernbild“ so charakteristisch ist. Die Bildwelt des deutschen Werkes
öffnet sich nicht dem Auge, sondern das Auge öffnet die Bildwelt, schafft
sich eine Bahn, der es, dank der Eigeninitiative des Bildgeriists, auch
folgen muß, um von innen aus die Darstellung erst miterleben zu können.
Einer derartigen Bildwelt gehört die Lokalfarbe 7 zu. Auch sie ist als
6 Otto Pächt, Die historische Aufgabe Michael Pachers (zuerst in: Kunstwis-
senschaftliche Forschungen, I, Berlin 1931, 95-132). Zur deutschen Bildauffas-
sung der Spätgotik und Renaissance (zuerst in: Wiener kunstwissenschaftliche
Blätter, Alte und Neue Kunst, 1. Jg., 1952, 2. Heft, 70-78). Beide Aufsätze wie-
derabgedruckt in: Otto Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis.
Zitate hier auf den S. 67, 70, 72,117/118,119.
7 Zur Lokalfarbe vgl. auch Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen,
insbes. 261 ff.
100 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

ein extrem innerbildliches Darstellungsmittel zu verstehen, das nicht


von dem nur distanziert hinblickenden Auge aufgenommen, sondern,
als die „wahre Farbe“ des Gegenstandes, aus sich selbst, von Bilde, vom
Gegenstande her, begriffen werden muß.
Diese teilweise In-eins-Setzung von Anblick und Farbe geht weit iiber
ihre Erfassung im Nahbild hinaus. Das Besondere der deutschen Bild-
auffassung in Spätgotik und Renaissance ist, in Pächts prägnanter For-
mulierung, daß die deutschen Maler ,,den Blick an das Modell herange-
führt haben, mit ihm es abtasten und den so gewonnenen imaginären
Abguß dann als Bild auf die Malfläche bannen“ 8: auch der Lokalfarbe
haftet etwas „Abgeformtes“ an.
Solche IJnterschiede der Bildauffassung bestimmen auch den Cha-
rakter der Farbe in der deutschen, italienischen und niederländischen
Malerei des 15. Jahrhunderts.
In Deutschland hat sie, als Lokalfarbe, etwas von der Fassung einer
Skulptur, eines Reliefs, ist der plastischen Form verhaftet. Mit einer
„Fernbildfarbe“ hat sie nichts zu tun.
Gerade als Element einer reliefhaften Fernbildstruktur wirkt sie in
Italien: statisch, der Fläche wesensverwandt, diese bisweilen gelenk-
artig gliedernd; dann aber nicht selten auch dinghaft-fest, opak. Sie
kann einer vereinfachenden Abstraktion nahestehen. 9
In den Niederlanden schließlich erscheint sie transparent auf Licht
und Dunkel hin, oft durchsichtig bis auf den Grund, quellend, als Me-
dium einer Licht- und Glanzmalerei, ätherisch auch als Oberflächen-
farbe, und immer dynamisch, d.h. als wirkende Kraft im Helldunkel.
Sie macht die Reaktion der Dingoberflächen in Licht und Raum of-
fenbar und erhält daraus unbegrenzbare Wirkungsmöglichkeiten und
ein Höchstmaß an Differenzierung. In Erleuchtung wie in Dunkelheit
erscheint sie „grenzenlos“ (Ph.O. Runge) 10 und ist aus all diesen Be-
stimmungselementen einer Abstraktion nicht zugänglich.
Die von einer „innerbildlichen“, „suggestiven“ Perspektive getragene
Bildgestaltung beginnt mit Konrad Witz (kurz vor 1410-1445/46). Bei
ihm ist der Raum nicht vor den Dingen oder Figuren da, sondern diese
erschaffen ihn erst. So ist im Basler >Christophorusbild< des Konrad Witz

8 Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, 107.


9 Nach solchen Verschiedenheiten bestimmen sich auch die Untersehiede zwi-
schen italienischer Farbensymmetrie und deutschem Farbenwechsel: vgl. Anna
L. Plehn, Farbensymmetrie und Farbenwechsel, Prinzipien deutscher und italie-
nischer Farbenverteilung, Straßburg 1911 (Studien zur deutschen Kunstge-
schichte, 143. Heft).
10 Philipp Otto Runge, Hinterlassene Schriften, hrsg. von dessen ältestem
Bruder, Hamburg 1840 und 1841. Nachdruck Göttingen 1965, Bd. I, 94. y. 8. HEIDELBERG
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 101

„nicht einfach ein Landschaftsprospekt gegeben ..., die Situation ist zu-
gleich noch vom Standort des durchs Wasser watenden und unter der
Last immer tiefer einsinkenden Riesen erlebt und gestaltet: Wir tasten
uns mit den Wellenkreisen, die von dem Riesen als Zentrum ausgehen,
nach allen Seiten in die Weite des Raums hinein.“ Witz faßt auch den
„leeren Raum, das Vakuum, wenn auch nicht als etwas Greifbares, so
doch als etwas aktiv zu Formendes“ 11.
Vor allem aber sprengt er die „Kontinuität des Anschauungszusam-
menhangs“ durch scharfe Entgegensetzung von oberflächennahen Figu-
renfarben und Goldgrund.
In der Tafel mit >Esther vor Ahasver< vom Fleilsspiegelalter (ent-
standen um 1435, Basel, Öffentliche Kunstsammlung) 12 geht die bildbe-
stimmende Wirkung noch immer vom Glanz des Goldgrundes aus - ob-
gleich dieser zu einem auf der Querstange aufgehängten Brokatvorhang
sich vergegenständlicht hat. Aber das Licht auf den Figuren und Kissen
vor ihm ist nicht mehr sein Licht. Dieses Licht, ein „irdisches Licht“,
wird vielmehr erzeugt von der Eigenhelle der Gegenstandsfarben, dem
Karmin des Ahasver, zu Rosa erhöht in den „beleuchteten“ Partien,
dem Lindgrün der Esther, das auch in den Lichtbezirken ausgeprägten
Buntwert zeigt. In ihren „Schatten“lagen aber schlägt die Farbe, auch im
Kontrast zum Glanz der goldenen Folie, in eine Silhouettendunkelheit
um, die fast den Eindruck erweckt, als läge hier eine Dunkel-„Enklave“
im Eyckschen Sinne vor - wo doch ein Dunkelheitszentrum wie in der
niederländischen Malerei gerade fehlt: die Bodenfläche vertieft sich
zwar zur Dunkelheit, in der alle Buntheit erlischt, die Goldfolie aber
macht eine Vereinheitlichung des Dunkels unmöglich.
Joachim undAnna an der Goldenen Pforte<, dieTafel eines um 1440/
1445 entstandenen Marienaltars (Basel, Öffentliche Kunstsammlung) 13
steigert noch die Kontrastik der doppelten Lichtquelle. Die Ornamentik
des Goldgrundes tritt zurück, so eignet ihm ein höherer Grad von Ab-
straktheit. Ihm steht entgegen ein scharfer Lichteinfall von rechts vorne,
der prägnante Schlagschatten zeichnet vor allem vom Torbalken und
- wie bei der Außenseite des Genter Altars - rechts vorne von einem
realen Rahmenstück. Diesem Licht öffnen sich die neutralen Farben,
das helle Grau und Braun der Architektur, bereitwilliger als die bunten,
die auf die Gewänder sich konzentrieren: grelles, scharfes Griin, dunkel-
seegriin mit Blauspuren in den Schatten, gelblich in den Lichtern, im
Gewand der Anna, bräunliches Rot im Mantel Joachims mit weißlichen

11 Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, 109, 119.


12 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 82.
13 FA: Joseph Gantner, Konrad Witz, Wien 1942, Taf. 40.
102 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

Lichthöhungen und stumpfbraun-schwärzlichen Schatten. Von einer


„unveränderlichen Lokalfarbe“ kann also nicht die Rede sein, dennoch
erhält Farbe hier den Charakter einer innerbildlichen, von sich aus wir-
kenden Kraft, ersteht sie doch im Schnittpunkt zweier selbst als dynami-
sche Mächte gegeneinander strahlender Lichtquellen, zwischen Gold-
grund und Beleuchtungslicht - in deren Schnittpunkt, aber nicht als
deren Ergebnis!
Das Komplexe der Lichtkomposition wird weiter dadurch gesteigert,
daß die Dunkelheiten sich nicht in Modellierungs- oder Schlagschatten
erschöpfen, sondern stellenweise zu Dunkelzonen sich verdichten, im
Innern des Portal-Vorraums oder links vom Antlitz Joachims, die auf
eine iibergreifende Finsternis verweisen, welche sich aber nirgends bild-
bestimmend sammelt.
In diesem Kampfspiel unterschiedlicher Licht- und Dunkelqualitäten
konkretisieren sich gleichwohl erstaunlich genaue Materieschilde-
rungen; in einem farbig nahen Feld ist das Braungrau der Steinquader
vom Graubraun der hölzernen Türangel, vom Olivbraun des Sockel-
profils wie vom Rotsandstein-Ton der niedrigen Steinumfriedung hinter
dem schmalen Wasserlauf sorgfältig unterschieden.
Aber es ist auch diese harte Materie, die fiir Witzens plastischen Sinn
exemplarisch wird. „Alle Materien gravitieren ihm zumAnorganischen,
Starren, Glatten, Schweren, Dichten, Haltbaren. Seine stoffliche Illu-
sion triumphiert nicht in der Epidermis, in Augen, Mündern und
Haaren, im lebendig Beweglichen und Feuchten, im Sprossenden und
Welkenden, sondern in den Dauerstoffen des Metallischen, Steinernen
und Hölzernen“ (Emil Maurer) 14. Die Farben sind Oberflächen dieser
so verstandenen Materien.
Zum selben Altar gehörte die Tafel mit den hll. Magdalena und Katha-
rina (aufbewahrt im Straßburger Frauenhaus-Museum) 15. Hier nun, wo
Goldgrund fehlt, wird der neue Sinn für die Vergegenwärtigung von
Licht- und Schattenphänomenen in all seiner Beobachtungsschärfe
sichtbar. Auch hier erscheinen die Schlagschatten quasi körperlich, ma-
chen aber vor den Figuren halt, sind, obwohl keinerlei Buntwert enthal-
tend, doch nicht „Ableger“ eines allgemeinen Raumdunkels, markieren
vielmehr die Abstände der Figuren von der fliehenden Bodenfläche.
Rippenbögen werfen dreifache Schlagschatten auf weiße Wände, in den

14 Emil Maurer, Konrad Witz und die niederländische Malerei (zuerst er-
schienen in der Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte,
Bd.18, 1958, 158-166), wiederabgedruckt in: Maurer, 15 Aufsätze zur Ge-
schichte der Malerei, Basel-Boston-Stuttgart 1982, 45-63, Zitat hier auf S. 53.
15 FA: Gantner, KonradWitz,Taf. 45.
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 103

Schattenzonen erheben sich wiederum Reflexlichtkonturen, am auffal-


lendsten links im Antlitz Katharinens, im Gewand der Magdalena, in
zwei der drei gebündelten Säulen usf.
Die Farben heben sich aus diesem zarten Spiel der Lichter und der
(auch richtungsverschiedenen!) Schlagschatten ab als „Blöcke“ von
scharfem Griin, safrangelb im Licht bei der hl. Magdalena und von
Krapprot, weißlich im Licht, tiefkrapp im Schatten bei der hl. Katha-
rina.
Dieser mächtigen Wirkung der Einzelfarben entspricht insgesamt die
Farbwahl bei Konrad Witz. Witz bevorzugt, wie Flerwarth Röttgen fest-
stellte, „eine begrenzte Skala von Farbstufen, indem er zugunsten der
Grundfarben“ (das heißt der Witzschen Ffauptfarben Rot, Blau, Griin)
die sekundären Farben entweder überhaupt ausscheidet oder aber (z. B.
Blaugriin) nicht zu bestimmender Wirkung kommen läßt. Die Bevorzu-
gung erklärt auch die geringe Bedeutung der kleinen Intervalle sowie
der kleineren unter den mittleren. Das Bild ist entweder aus nur zwei
Farben in einmaliger oder mehrmaliger Verwendung konzipiert (Rot -
Griin; ... Rot - Blau ...), oder aber es ist zwei Farben eine dritte hinzu-
gefiigt, die entweder nur Begleitfarbe oder aber qualitativ oder quanti-
tativ gleichberechtigte Farbe ist.“ Der Aufbau derTafeln bildet sich ,,aus
Einzelfarbe, Zweifarben- und Dreifarbenbeziehung und Gruppenver-
spannung“ 16.
Die Reduktion der Farbanzahl, die Klarheit der Farbklänge gehören
zu den wichtigen Neuerungen der Witzschen Farbgestaltung und dienen
unmittelbar der Monumentalität seiner Bildwirkung.
Daß aber der „harte Stil“ der „realistischen“ deutschen Malerei im
zweiten Jahrhundertdrittel nicht mit Reduktion der Farbanzahl und
Monumentalisierung der Einzelfarben notwendig verkniipft ist, lehrt
ein Blick auf die Farbengebung Huns Maltschers (um 1400-1467).
Auf den 1437 datierten Flügeln des Wurzacher Altars (Berlin, Gemäl-
degalerie) 17 erscheinen meist gebrochene Farben, die durch die großen
Formen und die energischen Linien zu deutlicherer Buntheit verfestigt
werden, als ihnen ihrem eigenenTon nach möglich wäre. Die Brechung
der Farben nähert sie einander an und engt damit das Zueinander der
schweren Körper weiter ein. Im Kontrast von Vollfarben aber können,
aufgrund unterschiedlicher spezifischer Flelligkeiten, Deformationen
entstehen, gegenständliche Zusammenhänge sich lösen. So riickt etwa
das gesättigte Grünblau im Mantel des knienden Jüngers links vorne auf

16 Herwarth Rottgen, Konrad Witz, Analyse und Geschichte seiner Farben-


gebung. (Ungedr.) Diss. Marburg 1958,112,113.
17 FA: Gemäldegalerie Berlin, 62, 63.
104 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

der Tafel des >Marientodes< als isolierter Buntfarbblock ab vom bräun-


lichen Karmin des Oberkörpers, bildet eine eigene Farbfigur unab-
hängig von gegenstandsdarstellenden Bezügen. Die anschließende
große Fläche Grün im Mantel des zweiten Apostels weist neben Falten-
mulden noch eine der Methode des 14. Jahrhunderts entsprechende
„walzenförmige“ Verschattung auf und läßt so den Körper als eine auto-
nom sich dehnende, organischen Gesetzen nicht unterworfene Masse er-
scheinen. Die häufigste Farbe ist ein gedecktes Rot in verschiedenen
Varianten, ein dichter, körperlicher, auf den Betrachter eindringender,
ihn bedrängenderTon. Nicht aus andächtiger Beobachtung, sondern aus
leidenschaftlicher Anteilnahme, ja Versetzung in die Schwellkraft von
Körpern erwächst der „Realismus“ dieser Bilder.
Der „Meister der Pollinger Tafeln“, der um 1440/50 für die Augustiner-
chorherren-Stiftskirche in Polling bei Weilheim tätig war, dagegen arbei-
tete mit stärksten Buntfarbkontrasten. Die 1444 datierte >Verkündigung
an Maria< (Alte Pinakothek, München) 18 scheidet die Farbkomplexe
streng voneinander: das Rot, ein reiner, ungebrochener, gewissermaßen
„abstrakter“ Zinnober im Fußboden (dazu, im gleichenTon, streng loka-
lisiert, in Schild- und Gurtbogenstreifen des Gewölbes, im Buchein-
band, in der Schrift des Spruchbandes); das Blau, ein schönes Hellblau,
zu knittrigen Falten modelliert, im Mantel Mariens, etwas nach Grau ge-
brochen im Gewölbe, ein Gelb vor allem im Holzwerk, dünnes, trans-
parentes Schwefelgelb in den Nimben; dazu kommt das Hellgrau der
Rückwand, das in den Lichtflächen zuWeiß sich aufhellt, wie auch in den
Butzenscheibenfenstern.
Das Bildlicht ist hier weithin Ergebnis der Farben, zarte Schlag-
schatten aber überhöhen stellenweise die spezifische Helligkeit. So er-
hält die hellgraue Wand einen Anflug auftretenden Lichts im Umkreis
der Schlagschatten der von rechts beleuchteten Gegenstände auf dem
Bord, auf Leuchter, Schreibzeug, Schachtel. Von links beleuchtet
werden dagegen Waschgeschirr und Bank im Nebenraum (nicht aber das
Kissen auf derBank). Der inkonsistenten, dingbestimmten, dynamisch-
suggestiven Perspektive entspricht ein ganz vom Gegenständlichen aus
entwickeltes Licht, das aber nur an Nebendingen seine Wirkung tun
darf: die Figuren werfen keine Schatten. In solcher Schwebe zwischen
Farbkraft und überschießendem Beleuchtungslicht öffnet sich der Bild-
raum dem Betrachter, ermöglicht ihm die Ambivalenz von Davorstehen
und Drinnensein.
Die Spannungen, die einem solcherart „lokalfarbigen“ Kolorit inne-
wohnen, treten deutlicher noch seit den sechziger Jahren des Jahrhun-

18 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 111.


Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 105

derts zutage, als mit der niederländischen Rezeption die deutsche Ma-
lerei sich bewußt an die westliche Bildform anlehnt.
Diese Lokalfarbe der spätgotischen deutschen Malerei zeigt einen
Exzeß an Buntfarbigkeit, nicht nur weil das Gegenständliche (die far-
bige Oberfläche der Dinge als solche) mit besonderer Eindringlichkeit
zu Wort kommen soll, sondern weil die noch nicht (wie in der niederlän-
dischen Malerei) im Helldunkel aufgehende Farbe und auch nicht die in
ihrem struktiven Wert (wie in der italienischen Malerei) erkannte, verab-
solutierte Farbe des Mittelalters hier in eine schon nicht mehr mittel-
alterliche Bildvorstellung hiniibergenommen, den Dingen „aufge-
zwungen“ wird. Dies bedingt eine gewaltsame Einschränkung ihres im
hohen Mittelalter noch rein erhaltenen Eigenwerts. In ihrer immer noch
intakten Reinheit bezieht sie sich letzen Endes nur „notgedrungen“ auf
die Dinge als ihre Träger. In Wahrheit löst sie diese noch inrmer aus aller
umweltlichen Bezogenheit heraus. Da aber die Form schon viel eher auf
das „Bedingte“ der Erscheinungen Bezug nimmt als die Farbe, und zu-
gleich Farbe zu ihrer vollen Veranschaulichung „braucht“, zieht sie die
Farbe gleichsam zu sich heran, lenkt sie von ihrer Tendenz zum Abso-
luten hin ab. So entsteht eine Spannung in der Farbenerscheinung
selbst, die nicht wenig zu ihrer hohen Eindringlichkeit beiträgt.
Die gleiche Spannung teilt sich auch dem Gesamtbild eines spätgoti-
schen Gemäldes mit: die höchstgesteigerte Farbe haftet fest an den
Dingen - ihr „Haften“ wird auch durch die „Armatur“ der Linienzeich-
nung verstärkt - andererseits zielt ihre „Intention“ auf möglichst deut-
liche Herausstellung ihres Eigenwerts: sie drängt auf die Ebene der
reinen Farbigkeit hin, auf einen Farbplan für sich, der, kraft der Inten-
sität der einzelnen Farbglieder (aus welchen er sich zusammensetzt),
von der Darstellung unabhängig, vorne im Bilde zu liegen scheint, es wie
ein Schild nach außen abschirmend, undurchdringlich, starr, in sich ver-
kapselt.
Raum- und Flächenkomposition der spätgotischen deutschen Malerei
werden dadurch vom lokalfarbigen Kolorit wesentlich mitbestimmt.
Ernst Strauss stellte in seinen koloritgeschichtlichen Untersuchungen
dieses Zeitraumes dazu fest: „Die farbige Flächenkomposition der spät-
gotischen Malerei ist in der Weise konzipiert, daß sie grundsätzlich zu
dem rahmenden Gefüge im Gegensatz steht, sei es durch eine übermä-
ßige Betonung der Farben auch am Bildrande, sei es durch neutrale oder
unbestimmte Randfarben (grau, gold), die Bildgrenzen negiert. Inner-
halb der Bildflächen herrscht gemäß der Figuren eine Ungleichmäßig-
keit im Verhältnis der farbigen zu den unfarbigen Komplexen, die ihrer-
seits wieder in keinem notwendigen Verhältnis zu den Proportionen des
gegebenen Bildfeldes stehen.“
106 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

Was hier „via negationis“ beschrieben ist, das gerade ist Ermögli-
chung der in der „suggestiven Illusion“ griindenden deutschen Bildvor-
stellung. Ihr dient auch die Farbenskala der spätgotischen Malerei.
Dazu wiederum Strauss: „Bei der Beschränkung auf die Wiedergabe des
Elementaren der Farberscheinung ist es klar, daß auch die Zahl der iiber-
haupt zur Darstellung gelangenden Farben, verglichen mit dem differen-
zierten Reichtum der Skala in späterer Malerei, begrenzt erscheint. Da
aber in irgendeiner Weise alle Grundfarben zur Sprache kommen, so
miissen diese selbst unter sich im wesentlichen große Kontraste bilden:
die Skala der Farbe ist eine weite.
Durch die Zusammenstellung der Farben in vorherrschend großen
Intervallen besitzt auch der einzelne Farbenkomplex, ebenso wie die
einzelne Farbe, eine besondere Auffälligkeit innerhalb der farbigen Ge-
samtstruktur, da mit der Differenz zweier oder mehrerer Farben die
Selbständigkeit der einzelnen sich steigert. Der Eigenwert der Einzel-
farbe bleibt auch in der Paarung schon durch die Betonung der Kontur in
hohem Maße gewahrt.
Das Prinzip der Isolierung und Festlegung auf eine bestimmte Bild-
stelle, welches schon fiir die einzelne Farbe gilt, herrscht in ganz gleicher
Weise auch bei dem einzelnen Farbkontrast. Dieser erscheint nur inner-
halb des durch seine Grenzen vorgeschriebenen Gebietes wirksam und
soll nicht dadurch, daß die ergänzende Farbe erst in mehr oder minder
entfernten Teilen des Bildfeldes zu ihm in Beziehung gebracht wird, die
farbige Bildstruktur vereinheitlichen ...“
Als Folge für die farbige Raumstruktur ergibt sich: „Wenn die Begren-
zungen dieses Raumes keine abschließende Kraft besitzen, wenn die Ge-
gensätze der Farbe noch mit einer solchen Eindringlichkeit zur Wirkung
kommen, daß jedes einzelne Intervall das seinem Kontrastgrade ent-
sprechende räumliche Verhältnis für sich allein schafft, ohne sich um die
gesamte Raumwirkung zu kümmern, wenn nur einzelne Schichten des
Raumes eine Tiefenvorstellung erwecken, dann kann von einer Raum-
kontinuität im lokalfarbigen Stil nicht die Rede sein“. 19
„Raumkontinuität“, sei es im Sinne des reliefmäßig italienischen oder
des nahsichtig-helldunklen niederländischen Bildraumes, darf gerade
dort nicht entstehen, wo die Intention auf eine „Vereinigung von
Schauen und Innehaben“ geht.
Exemplarisch läßt Hans Pleydenwurjfs (um 1420-1472) >Auferstehung

19 Ernst Strauss, Untersuchungen zum Kolorit in der spätgotischen deut-


schen Malerei, in: Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 255-314, Zitate auf
den S. 284, 288, 302. - Ferner: Konrad Escher, Farbenprobleme der oberdeut-
schen Malerei in: Schweizerland, 7, Zürich 1921, 394-402.
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 107

ChristU vom 1465 vollendeten Hofer Altar (München, Alte Pinako-


thek) 20 die Prinzipien lokalfarbiger Gestaltung des dritten Jahrhundert-
viertels erkennen (die kompositionelle Nähe zu Dieric Bouts’ „Auferste-
hung Christi“ macht die Unterschiede zum niederländischen Helldunkel
desto aufschlußreicher). Die Farben repräsentieren das Licht, die Eigen-
helle des Rots „vertritt“ „Beleuchtungslicht“ auf dem Mantel Christi.
Die Farben unterordnen sich nicht der durch die Formgebung ange-
zeigten Lage der Dinge im Bildraum, sondern agieren allein kraft der
ihrem jeweiligen Buntwert eigenen Intensität, so Raumspannungen ab-
rupt wechselnder Intensität bildend. Der Eigenwert des „Farbmusters“
ist so ausgeprägt, daß es aus einer gewissen Entfernung wie vom Grund
abgelöst, vor diesem schwebend, erscheinen kann, die Weißzonen vor
dem olivbraunen Grund, aber auch die gelben Spitzflächen vor dem spe-
zifisch dunkleren Blau im Mantel des rechten Wächters. Nur stellen-
weise vermindern Schlagschatten das Maß der Aufspaltung von „Farb-
muster“ und Farbgrund.
Auch beim „Meister des Marienlebens“ (tätig in Köln ca. 1460-1480/
1490) herrscht noch die Lokalfarbe, unbeschadet einer wachsenden An-
näherung an die Wirklichkeit in Details. Zugleich erscheint bei ihm
nochmals das gotische Prinzip der „übergreifenden Form“ 21 als Prinzip,
möglichst viele Dingformen von einem in der Bildfläche verlaufenden
Gesamtkontur umschließen zu lassen - allerdings in der Weise, daß
dessen Verlauf keine Rückschlüsse auf die von ihm eingefaßten Binnen-
formen zuläßt.
Diese primäre Umfassungsform dividiert sich in kleinereTeileinheiten,
diese in noch kleinere. Betrachten wir die beiden Figurengruppen links
und rechts desTempels bei >Mariä Tempelgang< (entstanden um 1460/65,
München, Alte Pinakothek) 22. Jede Gruppe enthält ein Höchstmaß an
Figuren, jede Figur wirkt wiederum als „Überform“, schließt Kopf und
Gewandteile zusammen, jedes Gewand stellt sich als Ensemble von
Falten dar. Die Gestaltung scheint sich von außen ins Innere der über-
griffenen Form zu vollziehen, die Einzelformen aber „verengen“ sich
nicht trichterförmig, vielmehr sucht sich jede unabhängig von ihrem
Stellenwert als Binnenform möglichst mit gleicher Energie wie die
übrigen zu behaupten. Die Farbe stützt den Eigensinn der Einzel-
formen, indem sie, ohne Rücksicht auf ihren Stellenwert, als Lokalfarbe
hervortritt und aufgrund ihres Eigenwerts eine eigene Ordnung bildet,
welche die „dividierte“, nach innen unterteilte, „abstrakte“ Überform

20 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 111.


21 Vgl. Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, 55ff.
22 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 112.
108 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

iiberlagert und mit ihr in Spannung gerät. Nicht selten eignet der „inner-
sten“ Form die höchste Farbintensität, wie hier das Gelb der Mantel-
innenseite in der Mitte der rechten Gruppe. Solche Spannungsbeztige
sind nur eine andere Ausprägung der dynamischen Struktur des spät-
gotischen deutschen Bildes.
Nicht eigentlich „Abstände“ bilden sich zwischen den Figuren, son-
dern Gruppenunterteilungen. In einem ähnlich irrealen Verhältnis
stehen die Gruppen zum Goldgrund, steht derTempel zum Goldgrund.
Durchbrochen wird so die „Kontinuität des Anschauungszusammen-
hanges“ (Pächt), im stärksten Gegensatz zur niederländischen Malerei,
die doch auch hier als Vorbild diente.
Gesteigert ist nun auch der Konflikt zwischen Glanz- und Ober-
flächenfarbe. Denn nicht mehr in Lochnerschen Lichtschein sind hier
die Farben gegeben, sondern als feste, eben als Lokalfarben. Weniger
der Goldton, der sich, je nach Standort des Betrachters, dem Gelb, bis-
weilen auch einem Grünlichton annähern kann, trennt den Goldgrund
von den Figurenfarben, als die farbige Erscheinungsweise. Seiner
Glanzwirkung setzen sie ihre Bunt- und darin einbeschlossene Licht-
kraft entgegen.
Auf unterschiedliche Weise suchten die spätgotischen Maler im voran-
schreitenden 15. Jahrhundert die Spannungen und Widerspriiche der
Lokalfarbigkeit zu mildern, ohne doch ihrer das Bild als Kräftefeld be-
greifenden Kunstauffassung untreu zu werden.
Der „Meister des Bartholomäus-Altares“ (tätig in Köln im letzten
Viertel des 15. und im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts) verwandelt
in dem Altarwerk, nach dem er benannt wurde (Miinchen, Alte Pinako-
thek) 23, den Goldgrund in einen kostbaren Brokatstoff, zieht ihn etwas
nach unten, so daß nun über ihm, in zart blaugrauen Tönen vor weiß-
bläulichem Himmel, eine Fernlandschaft erscheinen kann. Die Figuren
vor ihm, in subtil gebrochenenTönen, mit vielem kiihlem Blau, bleiben
in ihrer die Aufgabe der Modellierung iiberschreitenden Dunkelzone
einbeschlossen, werfen aber bräunliche Schatten auf das Gold des bro-
katierten, gleichwohl abstrakten, nicht etwa als Vorhang ausgespannten
Goldgrundes. Wurde den Farben auf derTafel des „Meisters des Marien-
lebens“ mit dem Goldgrund die Bezugsfläche entzogen - wie den Flucht-
linien des Tempelinneren der Horizont - so schafft der „Meister des Bar-
tholomäus-Altars“ ein komplexeres Gefiige: das Licht, das die Figuren
beleuchtet, scheint auch in die Fernlandschaft zu wirken. Aber noch
steht aus sich strahlendes Gold dazwischen.

23 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 112. - Landolt, Die deutsche Malerei,


Das Spätmittelalter, 132.
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 109

Der „Meister der Ursula-Legende“ (tätig in Köln um 1500) dagegen


reduziert in der >Vision der hl. Ursula< (Köln, Wallraf-Richartz-Mu-
seum) 24 die Skala auf gebrochenes Karmin, Olivbraun und warmes, wei-
ches, „phosphoreszierendes“ Weiß. In solcher Verengung gleichen sich
alle Farben, die der Figuren und des Innenraumes, einander an, noch
stärker jedoch in den Dunkelzonen. Ein „unechtes“ Helldunkel entsteht
so, ein Helldunkel ohne den Gegenpol leuchtender Farben, farbtran-
szendierenden Lichts. Nur zu mildem Scheinen erheben sich die Farben,
darin nicht unähnlich der Farbe-Licht-Relation beim älteren Holbein
oder bei Carpaccio.
In Oberdeutschland gelangt Martin Schongauer (um 1450-1491) zur
„Kontinuität des Anschauungszusammenhanges“ auf der Basis seiner
Erfahrungen niederländischer Malerei wie mit Hilfe seiner ungemein
differenzierten Liniensprache. Die innerhalb der deutschen Malerei
dem niederländischen Helldunkel nächste Gestaltungsweise geht dabei
zusammen mit Raumverdichtung und Lichtdämpfung der Farben.
Bei Schongauers um 1480 gemalter >Geburt ChristL (Gemäldegalerie
Berlin) 25 sind das Kirschrot in Gewand und Mantel Josefs wie in der
unter dem Kind ausgebreiteten Decke und das Stahlblau in Gewand und
Mantel Mariens die einzigen „benennbaren“ Buntwerte. Sie kehren, ge-
dämpft und in kleinen Quantitäten, bei den zwei knienden Hirten rechts
wieder, jedoch ganz unauffällig, da eingebunden in einen Komplex von
gelblichen und olivfarbenen Brauntönen. Diese sind Gegenstands-
farben für Strohhut, Kutte, Inkarnat, schließen sich aber gleichzeitig zu
Dunkelsilhouetten gegen den weißlichen, zu Blaugrau irisierenden
Himmel zusammen, wie auch das graue, stellenweise zart bräunliche
Balkengerüst und das Strohdach der Hütte. Im braunen Gemäuer, bei
Ochs und Esel bildet diese „neutralisierte“, ebenfalls der Begegnung mit
niederländischer Malerei sich verdankende Zone die Folie für die
Figurenfarben. Zwischen den Bilddingen entstehen Bereiche dichter
Dunkelheit, die räumliches Ausschwingen nicht zulassen, wie auch die
Schattenzonen und entsprechend die Lichtbezirke der Gewänder gewis-
sermaßen „lokalfarbig“ fest und dicht erscheinen, den Gegenständen
zugehörig, nicht einem frei das Bild durchziehenden Raumlicht und
Raumdunkel. Solche Verdichtung von Raum, Dunkel und Bildlicht ist
Ermöglichung der besonderen Schongauerschen, nach innen gewand-
ten, geistigen Intensität.
Für Michael Pacher (um 1435-1498) dagegen wurde der Vorstellungs-
modus der „suggestiven Perspektive“ nochm.ils zum Grundprinzip der

24 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 136.


25 FA: Gemäldegalerie Berlin, 51.
110 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

Gestaltung. Seine Idee des Plastischen überträgt er auch auf die Farbge-
staltung seiner Gemälde. Pachers Altar in St. Wolfgang vermittelt den
Eindruck, „als ob die Figuren nicht als plastische Massen in den Hohl-
raum des Schreins hineingestellt, sondern aus einer den Schrein erfül-
lenden Gesamtmasse durch Herausschneiden besonderer Substanzver-
dichtungen an bestimmten Stellen und dementsprechendes Freilassen
von Leerräumen in den angrenzenden Partien gewonnen worden seien.
Als hätte eine ungleiche Massenverteilung stattgefunden, in deren Ver-
lauf substanzielle Kraftströme sich zu körperlichen Wesen verfestigt
hätten, und die Zonen tiefschattenden Freiraums, die wir vor allem über
den Gestalten und an ihren Rändern sehen, die wären die klaffenden
Risse, in denen dieser Prozeß das Kontinuum des Schreingewebes
durchbrochen hätte“ (Otto Pächt) 26.
In Pachers um 1480 gemaltem Kirchenväteraltar (München, Alte Pina-
kothek) 27 „gipfelt dieTiroler Idee des Altars als Schaubühne“ (Pächt) 28,
freilich nun als gemaltes „Scheingebäude“. Nicht mehr die Lokalfarbe
als etwas „Abgeformtes“ herrscht hier, sondern die einem „Beleuch-
tungslicht“ unterworfene Farbe, wobei aber dies Beleuchtungslicht
selbst etwas vom Charakter des Lokalfarbigen übernimmt. Es arbeitet
entschieden den plastischen Gehalt heraus, wird darin aber selbst ,,pla-
stisch“, zeichnet scharf begrenzte Lichtkomplexe und Schatten, die zu
eigenwertigen Formgebilden werden. Der scharfkantigen Marmorie-
rung im Sockel des mittleren Pfeilers entspricht unmittelbar die Schat-
tenform darüber. Alles Verdämmernde, seinen Grenzen nach unbe-
stimmbar im Raume Flutende fehlt. Überall dominiert Facettierung,
partielle Flächenschichtung.
Das trocken-stumpfe, nicht ausstrahlende Licht, die transparenten
Schatten lassen eine Erinnerung an Mantegna aufkommen. Von ihm
unterscheidet sich Pacher durch das splittrige Gefüge der Halbschatten-
flächen. Die Schichtung aus flächigen Farb- und Schattenzonen hebt die
scharfen Formverkürzungen (des Löwen etwa) in sich auf.
Die Flügelszene mit dem >111. Sigisbertus, dem ein Engel mit dem
Herzen des hl. Augustinus erscheinU 29 macht sichtbar, wie die komplex-
hafte Verschränkung der Bilddinge untereinander, von „Bildmuster“
und Bildgrund, auch die Farbengebung ergreift. Alle Farben sind gebro-

26 Pächt, Die historische Aufgabe Michael Pachers, in: Pächt, Methodisches


zur kunstgeschichtlichen Praxis, 103.
27 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 143 (Mittel-
stück). - Steingräber, Alte Pinakothek, 113 (Mittelstück).
28 Pächt, Michael Pacher, 88.
29 FA: Landolt, Die deutsche Malerei, Das Spätmittelalter, 142.
Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 111

chen - mit Ausnahme derjenigen der Engelsfltigel mit intensivem Gelb


und Griin, dazwischen Purpur und Schwarzblau, pfeilartig das Bild
durchquerend. Das Graublau im Chormantel des inbriinstig betenden
Heiligen leitet iiber zum Marmorgrau der Altarstufen wie zum Grau des
Grundes, der Wand des Kirchenraumes. Das nur im Lichte diinn-farb-
haltige Braunrot des Engelsgewandes bindet sich mit den graubraunen
Schattenlagen in den Grund zuriick. Nirgends aber werden Formgrenzen
verunklärt, vielmehr stehen die Farb-Licht-Dunkelstufen im Sinne einer
dynamischen, aber immer mit scharfen Grenzen arbeitenden Entwick-
lung zueinander. Der Kraftausdruck von Farbe und Farbe geht dabei
ineinander iiber: so pflanzt sich das erwähnte Graublau der Priesterge-
wandung in den Marmorstufen fort, und gleichermaßen iibernimmt die
Kurvatur der Marmorierung den Bogen des Mantelkonturs, wie von
einem Zentrum sich ausbreitender Wellenkreise. Unruhvoll drängende
Zwischenfarben wie das Rotviolett des Altarbaldachins oder das Gelb-
griin der Altarmensa, auf die der griine (!) Schlagschatten des Heiligen
fällt, lassen schon im Farbton Farbe als Bewegungsmacht erfahren. Das
spätgotische Prinzip des „wechselseitigen Sich-Bedingens“ der Bild-
elemente 30 dringt hier in die Konstitution der Bildfarben selbst ein.
Holbein der Ältere (um 1460/65—1524) 31 schließlich bindet die spät-
gotische Viel- und Lokalfarbigkeit durch ein Bilddunkel: dies ist ein
neues Element innerhalb der deutschen Farbgestaltung, ein Element
vor größter historischer Wirkkraft, weil dadurch die deutsche Malerei
Anschluß findet an die Entwicklung der niederländischen Malerei und in
Analogie tritt zum Stand der italienischen Malerei um 1500.
Alle Fliigeltafeln des 1502 geschaffenen Kaisheimer Altars (München,
Alte Pinakothek) hinterlegt eine tief schwarzblaue durchgehende Him-
melsfolie. In diesem Dunkel finden die von den Einzeldingen moti-
vierten Lokalbuntheiten ihren Ausgleich, verschmelzen Buntfarbmu-
ster und Buntgrund, wird räumliche Kontinuität geschaffen. Holbein
kommt also - im Gegensatz zur niederländischen Malerei, der er sich an-
nähert — von den Buntheiten, die er als solche bewahrt, zu ihrer Ver-
schmelzung, läßt nicht die Farben, wie im Niederländischen, im Span-
nungsbogen von Licht zu Dunkel erst entstehen.
Nur partiell bilden sich Helldunkelzonen aus. Hingewiesen sei etwa,
um nur ein Beispiel zu nennen, auf die beiden Frauen der linken Gruppe
des >Tempelganges Mariä<. Hier versinkt Griin in die gleichen Schatten-

30 Pächt, Michael Pacher, 95.


31 Vgl. dazu auch: Bernhard Rupprecht, Farbe, Licht und Dunkel bei Hans
Holbein d.Ä., in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Würt-
temberg, Bd. 7, 1970, 57-76.
112 Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts

mulden wie das Stahlblau rechts davon; nur bei Nahsicht zeigt sich, daß
die Farbqualitäten doch noch geschieden sind. Ähnliche Helldunkel-
„herde“ finden sich im Faltenwurf des Marienmantels, vor allem in Ver-
bindung ihres tief-stahlblauen Rocks mit den Treppenstufen, auf wel-
chen sie steht: hier „gleitet“ die Farbe in ein farbloses „lockeres“ Dunkel
und versinkt darin, ebenso wie das Gelboliv der Stufen. -Die abschlie-
ßende tiefgraublaue Himmelsfolie aber erscheint wiederum flach, bildet
einen planen Abschluß, nicht etwa, wie man von den raumschaffenden
Dunkelherden aus erwarten könnte, einen locker-atmosphärischen.
Holbein behält die spätgotische Vielfarbigkeit durchaus bei, ja er be-
reichert sie noch durch die Erfindung neuer Farbwerte. Zu den Haupt-
farben Blau, als Lokalfarbe wie als Changeant-Schattenfarbe zu Weiß,
Grün, Purpurkarmin, klares, leuchtendes Zinnoberrot kommen zahl-
reiche Differenzierungen: mindestens fünferlei Weißtöne erscheinen in
der >Beschneidung<. Es zeigt sich Holbeins Liebe zu Changeantfarben:
so changieren etwa Olivgrün zu Coelinblau in der Mönchskutte des >Ma-
rientodes<, mattes Graurosa zu Graugmn in der >Darbringung< usf. Ein
besonderer „Farbgeschmack“ bekundet sich hier. Er betätigt sich so-
wohl in der Vielfarbigkeit der Inkarnate wie in der Farbenphantastik der
Baulichkeiten, in denen oft eine ganz „unwirkliche“ Farbe erscheint,
etwa ein stumpfes, leicht lila- oder rosahaltiges Grau oder ein Oliv-
braun, bisweilen auch ein Graugmn oder sattes Olivgmn, zusammen
mit Braunrot. Solch „unwirklichen“ Färbungen fallen um so mehr auf,
als Holbein zugleich sehr wohl in der Lage ist, imitierend reale Stein-
farbe zu malen. Der Farbreichtum wird durch phantastische Architektur-
farben noch gesteigert, während in niederländischer Malerei diese Be-
reiche in der Regel zu „neutralisierten“ Zonen zusammengeschlossen
werden, die als „Fassungen“ der Gewandfarben dienen.
Holbeins Verbindung von Farbenreichtum und Dunkel ist grundver-
schieden von der Verdunklung, die mit der italienischen Renaissance die
Farbgestaltung bestimmt, denn diese geht zusammen mit einer Reduk-
tion der Farbanzahl.
Das lockere Verhältnis von Farbigkeit und Dunkel bedingt auch die
besondere „Labilität“ seiner Farbraumstruktur. Die Buntheiten dringen
gleichmäßig nach vorne, werden mittelalterlich nach vorne geblendet,
die Helligkeiten aber beziehen sich auf das Bildinnere und dessen Dun-
kelheit. Der farbräumliche Aufbau wird also nicht mehr allein von den
Buntwerten bestritten - wie wiedemm bei Dürer.
In Holbeins d.A. Sebastiansaltar von 1516 (München, Alte Pinako-
thek) 32 vereinfacht sich sodann der farbige Raumaufbau. Ausgeprägtere

32 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 117.


Deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts 113

Raumschatten finden sich, in der linken Figurengruppe, zugleich die


Neutralisierung bestimmter Bildstellen, so etwa im vereinheitlichend
braunen Ton der Bodenfiäche, in den Köcher, Vegetation und Steine ein-
bezogen sind. Hinter dem Armbrustspanner gehen neutralisierte Partie
und farbengebärendes Raumdunkel ineinander iiber. Das Mittelgrund-
terrain ist in fast monochromem Braun gehalten. So entspricht der ältere
Holbein auf seine Weise der renaissancemäßigen Vereinfachung der
Bildfarbigkeit.
MALEREI DER DURERZEIT

Von der Eigenart der spätgotischen Lokalfarbigkeit aus wird auch die
Problematik der Farbe Diirers (1471-1528) erst verständlich. 1 Man wird
ihr nicht völlig gerecht, wenn man sie nur daraufhin betrachtet, was er
durch sie Neues gebracht hat. Dann wird das Urteil immer schwankend,
wenn nicht negativ ausfallen. Denn ein primäres Gestaltungsmittel ist
fiir Diirer die Farbe nicht, trotz seiner gerade von der neueren For-
schung erkannten besonderen Errungenschaften im Bereich der Farbge-
staltung.
Sieht man sie jedoch unter dem Gesichtspunkt, was er mit ihr zu iiber-
winden sucht, wie er sie seiner kiinstlerischen Vision unterzuordnen ver-
steht, dann wird ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung, die sich
keineswegs allein auf die Malerei seiner Zeit beschränkt, offenbar.
Die epochale Leistung Dürers, nämlich die Überfiihrung der deut-
schen Bildvorstellung der Spätgotik in eine unmittelbar dingbezogene
Darstellung der objektiven Welt auf einer höchsten Ebene formaler Prä-
gung, innerhalb welcher er dann auch zu einer eigenen Bildeinheit und
„Bildhoheit“ findet 2, liegt in seinem graphischen Werk am offensten zu-
tage. Denn sein im höchsten Maße dingliches Gestalten schließt auch die
Farbe ein. 3
Bei seinem Bemiihen, auch die Farbe seiner plastisch-nahsichtig
orientierten künstlerischen Vision zu unterwerfen, müssen zwangsläufig
seine spezifisch graphischen Darstellungsmittel mit dem Wesen der
Lokalfarbe in Konflikt geraten, da jede Detailangabe ihrer Homoge-
nität, jede plastisch-modellierende Behandlung ihrer flächigen Erschei-
nung entgegenarbeitet. Gegen beides kann sie sich nur durch entschie-
dene Wahrung ihres Buntwertes behaupten. So liegt das Problem der
Lokalfarbe, wie es fiir Diirer besteht, darin, auszumessen, wie weit es
gelingt, „das Allgemeine, Elementare der Farbenerscheinung“ zu zer-
1 Vgl. auch: Otto Eberhard Martin, Die Farbe bei Diirer. (Ungedruckte)
Diss. Leipzig 1941.
2 Siehe: Theodor Hetzer, Die Bildkunst Diirers, SchriftenTheodor Hetzers,
Bd. 2, hrsg. von Gertrude Berthold, Mittenwald, Stuttgart 1982. Darin, 15-195:
Diirers Bildhoheit (1939).
3 Vgl. Hans Jantzen, Diirer der Maler, Bern 1952. Walter Jiirgen Hofmann,
Über Diirers Farbe, Niirnberg 1971, Kapitel „Farbe und Gegenstand“, 7ff.,
„Mimesis und Farbe“, 19 ff., „Farbige Dinge“, 36 ff.
Malerei der Dürerzeit 115

stören (Goethe) 4, um sie, entsprechend seinen übrigen Gestaltungsmit-


teln, zu „verdinglichen“.
Solche konflikthafte Synthese von Buntwert und Dingbezogenheit ist
jedoch nur die eine, wenngleich zentrale Problemstellung der Dürer-
schen Farbgestaltung. Denn diese ist in hohem Maße thematisch orien-
tiert und bildet sich unterschiedlich aus als Farbigkeit der Bilder für
Kirchen oder für das Kaisertum, der Porträts und schließlich der Aqua-
relle. 5
In Porträts ist Dürer zu subtiler, zurückhaltender Farbgebung fähig.
Zum >Selbstbildnis< von 1500 (München, Alte Pinakothek) 6 bemerkte
Kurt Pfötsch: „Was sich im Selbstbildnis von 1493 in der beschränkten
Farbwahl gebrochener Mischtöne andeutet, was im Selbstbildnis von
1498 in der Schwarz-Weiß-Grau-Abstufung und wenigen, durch diesen
Neutralitätskomplex gesteigerten Farbtönen weitergeführt worden
war“, erhält nun „die konsequenteste und am meisten malerische Lö-
sung: die formende Farbabstufung innerhalb eines Gesamttons ...
Dürer wählt den ganzheitlich-geschlossenen Klang nur warmer Farben,
wählt die Skala von lichtem Ocker-Goldocker-Siena-Caput bis zur tiefen
Umbra. Den aktivsten und farbreinsten Akzent setzt er in der Unter-
lippe: Krapplack mit einer Spur von Ocker. Die plastische Modellierung
übernimmt die Beimischung von griiner Erde. Innerhalb des warmen
Gesamtkolorits überspielt er in differenzierten, sich nie wiederholenden
Farbvarianten das Grundthema. Jede lauteDisonanzist vermieden .. ,“ 7
Die thematische Bindung der Farbgestaltung bei Dürer ist ein Aspekt
seiner strikt gegenstandsbezogenen Farbigkeit wie auch, als Einsetzung
unterschiedlicher Farbmodi, Ausdruck einer neuen Bewußtheit der Far-
bengebung.
Doch sind die Grenzen fließend. Gerade im Porträt findet sich ein
Werk, in dem Farbe zu höchster Ausdrucksmacht gelangt, das >Bildnis
des Oswolt Krel< (München, Alte Pinakothek, datiert 1499) 8. Im Unter-
schied zu Bildnissen Michael Wolgemuts, bei denen der abstraktfarbige
Grund mit den Figurenfarben harmoniert, im stärksten Gegensatz zu

4 Goethe, Farbenlehre, DidaktischerTeil, Kolorit der Gegenstände, 877.


5 Vgl. Kristina Hermann-Fiore, Dürers Landschaftsaquarelle, Ihre kunstge-
schichtliche Stellung und Eigenart als farbige Landschaftsbilder. (Kieler Kunst-
historische Studien, Bd. 1) Bern, Frankfurt a.M. 1972, 84, 85.
6 FA: Peter Striedter u. a., Dürer, Königstein im Taunus, 1981, 29.
7 Kurt Pfötsch, Die Farbe beim jungen Dürer, Diss. Braunschweig 1973,
19/20. Problematisch erscheint mir die von Pfötsch proklamierte unmittelbare
Beziehung der Farbgebung Dürers zur niederländischen Malerei (vgl. Pfötsch,
32-44 U.Ö.).
8 FA: Striedter, Dürer, 235.
116 Malerei der Diirerzeit

aller niederländischen Malerei steht hier eine ebenfalls detailliert gege-


bene und farbig eingeschränkte Figur vor einem Grund, der indessen
nicht als ungegenständlicher präsentiert wird, sondern als ausge-
spannter roter Vorhang. Das Rot aber bemächtigt sich dieser Fläche, als
ob sie abstrakte Folie wäre, unter Verlust stofflicher Deutlichkeit - die in
der Figur so nachdriicklich zur Geltung kommt -, dafiir aber unter unge-
hemmter Entladung seines Buntwerts, der als unmittelbares Korrelat
zum Charakter des Dargestellten, wie er sich vornehmlich im Blick
äußert, empfunden wird.
Hier steigert Diirer die Farbe zu höchster Ausdruckswirkung, wie
iiberhaupt der Ausdrucksdimension fiir seine Farbgebung bisweilen eine
hohe Bedeutung zukommt und dann sorgfältig thematisch differenziert
wird: anders ist der „fahle“, verquälte Farbausdruck beim >Selbstmord
der Lucretia< von 1518 (Miinchen, Alte Pinakothek) 9, anders der zum
Normativen, „Sittlichen“ emporgefiihrte Farbausdruck der >Vier Apo-
stel<.
Der im „Elementaren“ der Farberscheinung oder in bestimmten Farb-
relationen wie kleinen Intervallen beruhende Ausdruckswert verhält
sich nicht konfliktlos zu den dingbezeichnenden Farbfunktionen, und so
ist dieser Spannungsbezug nur einer im Kontrastsystem der Diirerschen
Farbgestaltung.
Konflikte zeigen sich auch bei vielfarbigen Darstellungen. Diirers >Be-
weinung ChristL, wohl 1500 entstanden (Miinchen, Alte Pinakothek) 10,
wäre ohne weiteres als Holzschnitt denkbar, jedoch nicht als einfach
kolorierter. Denn die Farbe hat hier einer detaillierten Zeichnung zu
folgen, wird deshalb stellenweise iiber Gebiihr zuriickhaltend behan-
delt, stellt andererseits in den Figuren ihren Buntwert unmittelbar
heraus. Die „Unruh im Gemäl“, die Diirer iiberwinden wollte, bleibt
auch hier bestehen, verursacht durch das Fehlen einer Bezugszone:
weder in klarer Flächenschichtung noch durch eine gemeinsame Dun-
kelheit werden die Farben gebunden, dicht drängen sich vielmehr anein-
ander Gelb, Zinnoberrot, Kautschukrot, Hellblau, und zwischen ihnen
erscheinen stellenweise triibe Komplexe in Schatten und Inkarnat
Christi.
Auch die schwarze homogene Folie, wie sie etwa auf den Fliigeln des
Paumgartner Altars (wohl 1502-1504, Miinchen, Alte Pinakothek) 11 er-
scheint, ist nicht imstande, als Bezugsfläche zu wirken: die „Schatten-
zonen“ der Figuren und ihrer Attribute können nicht auf sie bezogen

9 FA: Striedter, Diirer, 193.


10 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 116. -Striedter, Diirer, 224.
11 FA: Striedter, Diirer, 306.
Malerei der Dürerzeit 117

werden; die Schatten der Fahnen z.B., in umbrastichigem Grau, sind


nicht aus dem Schwarz des Grundes entwickelt; tiefere Schatten, wie
etwa am Drachenrumpf des Georgsfltigels, sind Verdunkelungen der
Lokalfarbe, von denen keine Brücke zum Folienschwarz führt - all dies
im Gegensatz zur niederländischen Malerei.
In einer Graphik aber gestaltet Dürer sehr wohl die Einheit einer Be-
zugsfläche - und von Dürers Graphik sind auch wichtige koloristische
Wirkungen ausgegangen, etwa auf Lucas van Leyden oder Baldung
Grien.
Unter anderem Aspekt aber zeigen sich auch wieder Gemeinsam-
keiten von Gemälden und Graphik hinsichtlich der Farbigkeit, nämlich
im Blick auf Dürers Pinselstrichlagen. Dazu stellte Pfötsch zutreffend,
wenn auch zu allgemein im Anspruch, fest: „Wenn die Pinselstrichlagen
farbig sind, wenn sie in ihrer Farbabstufung und Intensitätsveränderung,
in ihrer formenden Kraft, in ihrem Über- und Ineinandersetzen bild-
wirksam werden als Farbganzheit, dann ist diese eben das Gegenteil von
zeichnerisch. Untersucht man daraufhin z.B. die Stiche, dann ist die
Schwarz-Weiß-Grau-Abstufung nichts anderes als die übersetzte Farb-
wertskala eines Gemäldes. Nicht sein farbiges Werk ist graphisch - eben-
sogut könnte man behaupten, seine Graphik sei Malereiersatz!“ 12
Überhaupt muß man sich hüten, Dürers Verhältnis zur Farbe zu ein-
schichtig zu sehen. Die Spannweite seiner Möglichkeiten wird faßbar in
der Gegenüberstellung der Florentiner „Anbetung der Könige“ und der
Berliner „Zeisig-Madonna“.
In der >Anbetung der Könige< von 1504 (Florenz, Uffizien) 13 „klingen
zuerst die Farben“, und zwar in der „Harmonie von Blau - Rot- Griin -
Gold“. „Im Gesamtakkord erhält jeder Farbton eine ganz bestimmte
Stimmlage. Das Blau der Maria hat einen anderen Wert als das Blau des
Mohren; das Rot des Königsmantels einen anderen als das Rot des Moh-
renbeinkleides oder des roten Armels der Halbfigur mit der Tasche oder
das der Reiter im Hintergrund. Blau ist nicht gleich Blau, bleibt jedoch
stets reiner Farbton und erfährt innerhalb seines Tones die körperfor-
mende Abstufung ohne Einbuße seiner Farbreinheit.“ 14
Sind somit in der Florentiner „Anbetung der Könige“ klare Farbgrup-
pierung - unter Einschluß von Gold und Grau - und harmonische Farb-
variation bildwirksam, so kehren schon in der >Madonna mitdem Zeisig<
von 1506 (Berlin, Gemäldegalerie) 15 wieder Konflikte in die farbige

12 Pfötsch, Die Farbe beim jungen Dürer, 77.


13 FA: Striedter, Dürer, 297.
14 Pfötsch, Die Farbe beim jungen Dürer, 127.
15 FA: Gemäldegalerie Berlin, 65. - Striedter, Dürer, 321.
118 Malerei der Dürerzeit

Bilderscheinung ein, Konflikte zwischen Schichtenkontinuität und in-


tensiv plastischer Modellierung, zwischen Gegenstandsgebundenheit
und Eigenwert der Buntfarben. Dem flachen roten Vorhang steht ent-
gegen die überplastische Modellierung des gesättigt-hartblauen Madon-
nenmantels. Das dem Lichtton dieses Mantels entsprechende Blau des
Himmels und der Ferne wirkt infolge der strengen Gegenstandsbindung
dennoch nicht vereinheitlichend, sondern trennend, zersplittert. Die
Abweichungen vom Blau, wie das Graublau in der Schleife des Johan-
nesknaben rechts vorne und im Schatten der Windel sind eher gegen die
Hauptfarbe gerichtet, denn als Abarten des Blau zu verstehen. In
kleinen Intervallen ist auch das Rot aufgespalten: im Vorhang erscheint
warmes Braunrot, im Kleid Mariä Lachsrot, im Kissen bräunliches
Karmin, reiner Zinnober im Gürtel Mariens, im Gewand des Johannes-
knaben helles bräunliches Lachsrot. Zudem wechseln sprunghaft ab-
strakte, höchstgesättigte und dünne, schwachgesättigte Farbzonen.
Solche Spannungsvielfalt gründet in Dürers Willen, eine Synthese un-
terschiedlicher Möglichkeiten der Farbgestaltung gewissermaßen zu ,,er-
zwingen“. In ähnlicherWeise zielt er in seiner >Betenden Maria< von 1518
(Berlin, Gemäldegalerie) 16 auf eine Totalfarbigkeit ab, versucht eine
Vereinigung aller Farbmöglichkeiten in einem Bilde, der Lokalfarbe und
der Fernbildfarbe (im Rot und Griin der Folie, im Gelb und Blau des
Madonnenmantels) wie der gleitenden Nahbildfarbe (im Inkarnat), von
gefestigtem und gleitendem Licht, von Buntheit und Luminosität - all
dies unter Hervorkehrung des Schönheitswertes der Farbe.
An eine solch höchst unterschiedliche „Übersetzung“ der Farbe hat
der deutsche Manierismus, etwa in mancher Hinsicht Jörg Ratgeb, ange-
knüpft.
Zu einer großen, klaren Komposition vereinigen sich dagegen die
Farben wiederum in Dürers >Allerheiligenbild< von 1511 (Wien, Kunst-
historisches Museum) 17 in Klängen von Rot und Gold, Griin und Rot,
Blau und Rot, Griin und Blau, wobei symmetrischer Aufbau und rhyth-
mische Entfaltung einander in einzigartiger Weise durchdringen. 18 Alles
Licht geht von den Farben aus. Die Modellierungshelligkeiten und -dun-
kelheiten sind ganz aus den Buntwerten selbst gewonnen.

16 FA: Striedter, Dürer, 311.


17 FA: Prohaska: Kunsthistorisches Museum Wien, II, Die Gemäldegalerie,
98. - Striedter, Dürer, 313, 315. - Walter Jürgen Hofmann, Über Dürers Farbe,
Taf. 2.
18 Vgl. dazu Verf., Über das Verhältnis von Zeitstruktur und Farbgestaltung
in Werken der Malerei. In: Festschrift Wolfgang Braunfels, hrsg. von Friedrich
Piel und JörgTraeger, Tübingen 1977, 96-98.
Malerei der Dürerzeit 119

Dürers Aufzeichnungen „Von farben“ für seine geplante, nicht ausge-


arbeitete Farbenlehre befassen sich fast ausschließlich mit dem Problem
der Farbmodellierung („Item so du erhabn willt mollen, so es daz gesicht
betrigen söll, mustw der farben gar woll bericht sein .. .“) 19. Seine For-
derung, die er in diesem spätestens 1512/13 geschriebenenText aufstellt,
den Buntwert im Licht und Schatten zu bewahren, hat er im „Allerheili-
genbild“ eingelöst: „Du must jnn sollicher gestalt mollen ein rott ding,
daz es vberall rott sey, des geleichen mit allen farben, vnd doch erhaben
schein. Awch mit dem schettigen des geleichen halten, daz man nit
sprech, ein schon rott sey mit schwartz beschissen. Des halb hab acht,
daz dw ein jetliche farb schettigst mit einer farb, dy sych dortzw ferge-
leich. Als jch setz ein gelle farb. Soll sy jn jrer art beleiben, so mustu
sy mit einer gelben farb schettigen, die dunckeler sey weder die hawbt
farb ist...“
Für andere Gemälde Dürers aber gelten diese Sätze nicht. Ein Haupt-
beispiel dafür sind die >Vier AposteU vor 1526 (München, Alte Pinako-
thek) 20, in denen das starke Zinnoberrot des Johannesmantels mit
Schwarz verschattet ist, unter dem das Rot stellenweise noch durch-
glüht. In diesem Bild machen sich auch Ansätze zum Helldunkel be-
merkbar. Die schwarze Folie beginnt zu Schwarz verdichteter Dunkelheit
zu werden, von der die Köpfe, die des Markus und Paulus insbesondere,
umgeben sind. Nur in Nahsicht zeigen sich auch hier noch Grenzen von
der Dunkelfolie zu den Haaren. Wo immer den Formgrenzen keine
ebenso bestimmten Farbgrenzen mehr entsprechen, ist ein Schritt zum
Helldunkel getan. Hinzu kommt die schwer im Farbwert bestimmbare,
vom Gelblichweißen ins Grünlichblau und Schwarzgrau sich vertiefende
Qualität im Mantel des Paulus. Zugleich beleuchtet und aus sich strah-
lend antwortet dieser farbige Helldunkelwert der roten Farbe des Johan-
nes - und gerade in diesem weiten Spannungspol zwischen Farbe und
Helldunkel, die Dürer in diesen beiden Flügeln zueinanderführt,
gründet die Macht und Monumentalität ihrer Farberscheinung.
Von einer wieder anderen Seite zeigt sich schließlich Dürers Farbge-
staltung in seinen Aquarellen 21. Diese sind vor allem „durch einen
Lichtton geprägt, welcher die einzelnen Farbwerte aufeinander ein-
stimmt. Diese farbliche Einheit der Aquarelle beruht auf der Grundlage
des Durchsichtigen und des Weißen. Das Kolorit enthält wenige, aber

19 Vgl. Rupprich (Hrsg.), Dürer, Schriftlicher Nachlaß, Bd. II, Berlin 1966,
393.
20 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 115. - Striedter, Dürer, 327-329.
21 FA: Striedter, Dürer, 102, 103, 106, 107, 206, 207, 210, 211, 214, 215, 217,
331.
120 Malerei der Dürerzeit

aufs reichste modulierte Farben, welche der Landschaft als ein zartes
Gewand verliehen sind. Ein silbriges Blau-Grün dominiert.“ „Die
Farben bilden die Formen, sie wirken unabhängig von irgendeinem
Liniengerüst“, mit dieser knappen Feststellung brachte Fierrmann-
Fiore 22 die zukunftsweisende Kühnheit dieser Möglichkeit der Dürer-
schen Farbe ins Wort.
Der „Verdinglichung“ der Farbe durch Dürer steht gegenüber ihre
Enthebung ins Leuchten bei Grünewald (Mathis Gothardt Neithardt,
um 1475/80-1528), das zugleich Medium einer bis dahin unbekannten
Ausdruckssteigerung der Farben ist. 23 Griinewalds ungemein komplexe
Farbgestaltung stellt sich dar als eine schöpferische Synthese epochal
verschiedener Möglichkeiten zur Einheit eines unverwechselbar eige-
nen Farbstils. Wollte Dürer die Lokalfarbe überwinden im Bemühen um
eine dem Italienischen nahe Bildklarheit, so greift Griinewald weiter zu-
rück, indem er mit der Erfüllung spätgotischer Gestaltungsprinzipien
mittelalterliche Farblichtwirkungen wiederaufleben läßt und beides in
die Ganzheit eines renaissancemäßig sich schließenden Bildgeschehens
bringt.
Auf die deutsche Malerei der Spätgotik bezieht sich Gmnewald,
indem er die „suggestive Perspektive“, das Zusammenzwingen von ,,Da-
vorstehen und Drinnensein“ in die Dynamik des Farbraumes überträgt,
aus ihr die Besonderheit der deutschen Bildvorstellung entfaltet. Bei
Grünewald sind die Farben zu einer Intensität raumhafter Dynamik ent-
bunden wie nie zuvor und wie auch bei keinem seiner Zeitgenossen. Ihre
Beweglichkeit gründet in ihrer Erscheinung als Flächenfarben, die sich
vom gegenständlichen Träger lösen und ihren eigenen Raumort be-
setzen können, wie auch in der Gmnewald eigenen - und ihn auch von
Dürer unterscheidenden - Beschränkung der Farbanzahl. „Während in
den vielfarbigen Bildern des deutschen 15. Jahrhundert jedes einzelne
Intervall sein räumliches Verhältnis für sich allein schafft, können bei
Grünewald die wenigen Farben in ihren Raumstößen sich steigern an-
statt sich zu stören oder aufzuheben. Dies räumliche Zusammenwirken
aller Farben entspricht der Vereinheitlichung der innerbildlichen Per-
spektive. Die Blickbahnen sind gegenüber dem vielfältig Ausstrah-
lenden des 15. Jahrhunderts verdichtet und zusammengefaßt.“ Die ,,of-
fenen“ Bilder Grünewalds können sich um den Betrachter farbig
22 Dürers Landschaftsaquarelle, 66.
23 Vgl. Verf., Die Farbebei Grünewald. Diss. München 1955. Zit. 103,43,45,
48, 105. - FA: z.B. in: Griinewald, Das Werk des Mathis Gothardt Neithardt,
Einleitung und Katalog von Michael Meier, Zürich 1957. - Georg Scheja, der
Isenheimer Altar des Matthias Grünewald (Matthis Gothart Nithart), Köln
1969.
Malerei der Dürerzeit 121

schließen, ihn ganz in sie versetzen - auch dies eine wichtige Kompo-
nente der Expressivität Gmnewaldscher Farben.
Die flächenfarbige Erscheinungsweise ermöglicht die in Griinewalds
Gemälden des öfteren thematisierte Verwandlung der Materien - am
eindrucksvollsten in der >Auferstehung Christu des Isenheimer Altars.
Da die Farbe selbst an Körpern schon lichthaft-locker erscheint, sie aus
Farbmaterie bestehen läßt, ist ihr der Übergang ins Licht der Glorie
miihelos gegeben.
Auch das polyphone Überlagern von Form und Farbe wird durch die
Flächenfarbe begünstigt, wie auch durch die „seismographische“ Füh-
rung der Konturen, die ihrem eigenen Rhythmus zu folgen scheinen und
in modellierender Funktion sich nicht erschöpfen.
Vor allem aber ermöglicht die Flächenfarbe das Farbleuchten.
„Leuchten ist Intensitätssteigerung der Flächenfarben.“ Die Farben
leuchten vor Dunkelgrund. Dunkelfoliierung ist durchgehendes Kenn-
zeichen der Gmnewaldschen Farben. Aber nicht in einer einfachen, ein-
maligen Gegenüberstellung werden die Farben durch foliierendes
Dunkel ins Licht entbunden, vielmehr sind die Farben je neu „durch
Dunkelsäume, die aus schwärzlichen Konturen oder aus Streifen des
Dunkelgrundes beziehungsweise einer dunkleren foliierenden Farbe
entstehen, voneinander getrennt, jede Farbe so eigens wieder von
Dunklem hinterlegt“.
In dieses Dunkel aber sind die Farben nicht eingebettet, vielmehr
scheinen sie davor zu schweben; deshalb findet sich in Gmnewalds Bil-
dern wohl die „Einheit des Leuchtendfarbigen, aber nicht die Einheit
des Helldunkels“, wenn auch zum Helldunkel die nächste Verwandt-
schaft besteht, „die engste, die überhaupt zwischen einer in erster Linie
aus Farbkontrasten und einer primär aus Helldunkelkontrasten schaf-
fenden Farbgestaltung bestehen kann“. Hinzu kommen die Wirkungen
des Beleuchtungslichts, so daß aus den Lichtqualitäten der Farben,
ihrem Leuchten, ihrem Beleuchtetwerden, ihrem Lichtaussenden, eine
höchst komplexe Lichteinheit der Gemälde Gmnewalds ersteht.
Und hierin bekundet sich auch das Ineinandergreifen mittelalterlicher
und neuzeitlicher Farblichtverhältnisse bei Gmnewald. Denn das
Leuchten der Farben war im 15. Jahrhundert (außer in Ansätzen beim
älteren Holbein) nicht vorbereitet. „Im Leuchten und der dafür nötigen
flächenfarbigen Erscheinungsweise taucht vielmehr bei Gmnewald
noch einmal die eigentlich mittelalterliche Farbe auf.“ Diese mittelalter-
lich aus sich selbst leuchtende Farbe aber verbindet Gmnewald nun mit
Beleuchtungs- und Schattenwirkungen, die ihn ganz auf der Höhe der
Gestaltungsmöglichkeiten des fmhen 16. Jahrhunderts und ihrer Erfas-
sung optischer Phänomene der Wirklichkeit zeigen.
122 Malerei der Dürerzeit

Als Zeitgenosse der Renaissance stellt sich Grünewald auch hinsicht-


lich der Farbenwahl und der Farbkomposition dar. Er beschränkt die
Skala auf wenige Buntwerte, unter denen Rot dominiert und auch zu
reichster Variation gebracht wird, gefolgt von Gelb, dem Gold im
Farbton wie in der Verwendung als Gegenstandsfarbe nahekommt, und
Blau, wobei die Farben durchweg in ihrer spezifischen Flelligkeit er-
scheinen. Weiß tritt zu diesen Buntfarben hinzu, der Klang von Rot und
Weiß bestimmt u. a. Gmnewalds Isenheimer >Kreuzigung< wie sein Frei-
burger >Maria-Schnee-Bild<. Die Grundfarben schließen sich zur Trias
zusammen, ein wichtiger, allgemein fiir die Klarheit und Monumenta-
lität renaissancehafter Farbkomposition bezeichnender Zug. Allerdings
gestaltet Grünewald durch Sättigungs- und Intensitätskontraste wie
durch Versetzungen innerhalb der Farbproportionen dieTrias und auch
die Komplementärkontraste in seiner eigenen, die farbigen Ausdrucks-
werte steigernden Weise, als gespannte, „offene“, auch labile Farbbe-
züge.
Schon Grünewalds friihe, um 1504 gemalte >Verspottung Christu
(München, Alte Pinakothek) 24 läßt diese labilen Farbbezüge erkennen.
Hier „sind die Figuren Christi und der auf ihn einschlagenden Schergen
zu einer Gruppe zusammengefaßt, verklammert vor allem durch das
kalte Weiß in den Hemden der beiden Schläger und das Tuch um Christi
Haupt. Die Bezüge zwischen den Gliedern dieser Gruppe sind jedoch
labil. Wird das Grüngelb in der Jacke des Peinigers vorne rechts nach
seinem Gelbton hin erfaßt, dann kann es sich mit dem Rot seiner Hose
und dem Graublau des Passionsmantels Christi zu einer Trias verbinden
(wobei aber nur das Rot in seinem Charakter als Primärfarbe erscheint).
Diese Einheit aber hat keinen Bestand. Das graufahle, kraftlose Blau
Christi vermag den Blick nicht auf sich zu versammeln. Er gleitet weg
zum vorderen Schergen, die Farbe seiner Jacke kann umschlagen in
einen gelben, scharfen Griinton, und dieser zusammen mit dem Rot der
Hose einen etwas zu hoch gegriffenen und darum dissonanten Komple-
mentärkontrast bilden. Ihm antwortet der gleichfalls zum Dissonanten
auseinandergespannte Komplementärkontrast aus Zitrongelb und
triibem Violett in der Figur des anderen Kriegsknechtes. Vom Gelb der
Mütze kann der Blick wandern zum weißlicheren Gelbton des Tromm-
lers am linken Bildrand, und dessen Gegengewicht ist das Wachsgrau in
der entsprechenden Figur am rechten Bildrand, offenbar der des Be-
fehlshabers. Ihm wendet sich begütigend ein Mitleidiger zu, in dem sich
Stufen der Grundfarben, nämlich das dunkle Blau seines Mantels, das
milde Karmin des Schulterstreifens und des Kragens und das gedämpfte

24 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 118.


Malerei der Dürerzeit 123

Goldgelb seiner Miitze zu einer dunklen Variation der Primärfarben-


Trias vereinen. Das Gesicht dieses an der Passion Anteilnehmenden
zeigt deutliche Ähnlichkeit mit dem Antlitz Christi, so daß es als Ele-
ment des Bildschlusses zumckverweisen kann auf die Hauptfigur der
Darstellung, Christus selbst.“ 25
Wie wohl kein zweites Mal in der Geschichte der figiirlich-darstel-
lenden Malerei wird so von Griinewald Farbe als ein Element ausdrucks-
hafter Bewegung gestaltet.
Erwin Panofsky faßte die Möglichkeiten perspektivischer Darstellung
in folgende Formulierung: „Durch die eigentümliche Übertragung der
kiinstlerischen Gegenständlichkeit in das Gebiet des Phänomenalen ver-
schließt die perspektivische Anschauung der religiösen Kunst die Re-
gion des Magischen, innerhalb derer das Kunstwerk selber das Wunder
wirkt, und die Region des Dogmatisch-Symbolischen, innerhalb derer
es das Wunder bezeugt oder voraussagt, - sie erschließt ihr aber als etwas
ganz Neues die Region des Visionären, innerhalb derer das Wunder zu
einem unmittelbaren Erlebnis des Beschauers wird, indem die iiber-
natiirlichen Geschehnisse gleichsam in dessen eigenen, scheinbar natiir-
lichen Sehraum einbrechen und ihn gerade dadurch ihrer Übernatürlich-
keit recht eigentlich ,,inne“werden lassen .. ,“ 26
Wie kein anderer hat Grünewald dies Visionäre durch Farben sichtbar
gemacht.
Vom höchsten Interesse neben Dürer und Grünewald ist Lucas Cra-
nach d.Ä. (1472-1553) 27. Seine Bedeutung als Kolorist liegt darin, daß
er die Lokalfarbigkeit des 15. Jahrhunderts nicht zu überwinden sucht,
sondern bewußt beibehält und sie dem neuzeitlichen Schönheitsideal
von Farbe angleicht, eher durch Intensivierung als durch Brechung der
Buntwerte einer neuen „Synthese“ zuliebe, wie dies etwa bei Burgkmair
oder Schaffner geschieht. Er ist der reinste Bewahrer der „gotischen“
Farbtradition unter den großen deutschen Malern des frühen ló.Jahr-
hunderts. Die Buntkraft seiner Lokalfarben steht ihrer Erscheinung
nach den Glasfensterfarben noch immer näher als der „schönen“ Farbe
der italienischen Hochrenaissance, das Schwarz als Schattierungsfarbe
des Rot hat Schwarzlotcharakter, ist nicht die Dunkelheit der Nieder-
25 Verf.: Überlegungen und Beobachtungen zur Zeitgestalt des Gemäldes.
In: Neue Hefte für Philosophie, Anschauung als ästhetische Kategorie, 18/19,
hrsg. von Rüdiger Bubner u.a., Göttingen 1980,143/145.
26 Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolischeForm“ (1924/25), zitiert
aus: Panofsky, Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, zusammenge-
stellt und herausgegeben von Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 1964,
126.
27 FAz.B. in: Werner Schade, Die Malerfamilie Cranach, Dresden 1974.
124 Malerei der Dürerzeit

länder oder Florentiner, die Buntfarbe Rot strahlt Farblicht aus ohne
Weißzusatz (vergleichbar dem Johannesmantel in Dürers „Vier
Aposteln“). Freilich fehlt diesen Farben das Leuchtende der Griine-
waldschen.
An der >Karlsruher Madonna< (gemalt um 1535) ist deutlich zu sehen,
wie das Rot noch eigens durch die Modellierung mittels „Schwarz“ sich
von den anderen Farben abhebt, die wesentlich geringere Intervalle zwi-
schen den Licht- und Schattenpartien zeigen. Die Dyas Licht-Schatten-
farbe bildet kein durchgehend rhythmisches Motiv wie in Italien, die
„Gefälle“ innerhalb der farbigen Formen sind grundsätzlich weit ge-
ringer als die Intervalle zwischen den einzelnen Buntfarben. Es ergeben
sich immer eindringliche Farbfigurationen.
Dieses Phänomen muß zusammenhängen mit einem tieferen kom-
positionellen Grund: Die Farbe fiillt hier eine Form aus, die nicht
selbständig „handelt“ in dem Sinne, daß sie Dahinterliegendes iiber-
schneidet und damit jeweils energisch Abstand bildet (wie im italieni-
schen Reliefraum) - vielmehr wird die Form hineingenommen in ein sie
umfangendes iibergeordnetes Ganzes. Das Prinzip der „umschlossenen
Form“ herrscht, nicht das der iiberschnittenen und iiberschneidenden.
Die Organisation der Formen geschieht von außen nach innen, jede Ge-
genstandsform wirkt eingeschrieben in stufenweiser Abnahme des Grö-
ßenmaßstabs, ruht wie eine „Perle in der Muschel“.
In einer Madonna Cranachs wie der erwähnten Karlsruher bilden die
Formen eine Sequenz von Silhouetten. Die Mutter-Kind-Gruppe ist hin-
terfangen von der Folie des Apfelbaums, der, zusammen mit dem Ge-
biisch, die Haare birgt. Die Haare wiederum umfangen den oberenTeil
des Gewandes und des Mantels, das Kind ist völlig in den Gewandkom-
plex eingetragen, die Hände der Mutter sind wiederum dem Körper des
Kindes eingeschrieben - in einer ununterbrochenen Folge von „Einlage-
rungen“ kleinerer Formen in größere, sie völlig umfassende. Alle
Energie entfaltet sich im Umriß der Formen, aber diese selbst bleiben
immer geborgen im „Schoß“ einer größeren Form, greifen nicht iiber
diese hinaus, um sie zu iiberschneiden, sind bedingt in ihrer Bewegungs-
freiheit - im Gegensatz zur italienischen Malerei. Man kann bei Cranach
eher von einer „Verflechtung“ der Formen als von ihrer Überlagerung
sprechen. Die Illusion der Plastizität wird nicht so sehr durch Schattie-
rung erzielt (trotz schwacher Randtriibungen im Inkarnat) als durch den
Duktus der Konturen, der in seiner Kurvierung auf die geschwellte Bin-
nenform verweist, die er jeweils begrenzt - eine Art „linearer“ Modellie-
rung, wie sie im Prinzip seit Beginn des 16. Jahrhunderts in Italien (bei
Raffael oder Pontormo), in den Niederlanden (bei Lucas van Leyden)
und vor allem von Diirer gehandhabt wird.
Malerei der Dürerzeit 125

In diesem Sinne kann man die Farben Cranachs „flächig“ nennen.


Dennoch bestehen große Unterschiede zu der scheibenhaften, extrem
flächigen Verwendung der Farben wie etwa in den Certosa-Fresken Pon-
tormos, schon insofern, als bei Cranach die Flächigkeit der Farbe keine
durchgehende ist, sondern in Verbindung mit plastischer modellierten
erscheint. Sogar die „trecentistische“, flächig-membranhafte Modellie-
rung kann vorkommen (wie etwa in der griinen Mantelinnenseite der
Karlsruher >Maria mit dem Apfelbaum<).
Anders aber stellt sich die „farbfigurative“ Gestaltung in den groß-
formatigen, monumental wirkenden Gemälden dar, anders in den
miniaturhaft kleinen. In Cranachs >Kreuzigung< von 1503 (Miinchen,
Alte Pinakothek) 28 sind Maria und Johannes zu einer Farbfigur zusam-
mengeschlossen, durch den vereinheitlichenden Kontur ebenso wie
durch dieTrias aus mittlerem Rot, sattem Gelb und tiefem, fast schwärz-
lichem, etwas griinstichigem Blau. In den Armen greifen Rot und Gelb
ineinander. Von dieser Farbfigur nahe der Bildmitte heben sich Vorder-
und Mittelgrund durch Näherung an einen braunen Grundton als ,,neu-
tralisierte Partien“ ab, beginnend mit der Bodenwelle am unteren Bild-
rand, die den „Ton angibt“,iiberWasserundKastell biszumFelsen. Erst
das Gebirge in der Ferne erscheint wieder blauweiß, leitet iiber zum
blauen, weißlich aufgehellten Himmel. Das Braun verdichtet sich zur
Gegenstandsfarbe in den Kreuzesstämmen und wendet sich in den In-
karnaten Christi und der Schächer ins Belichtete. Selbst das bräunlich-
weiße, in den Schatten siena-bräunliche Lendentuch Christi gehört noch
dieser „neutralisierten“ Region an, kontrastiert aber gleichzeitig als
Gelbwert zum klaren Blau des Himmels. Und darin zeigt sich nun ein
wichtiger Unterschied zu den neutralen Bezirken niederländischer Ge-
mälde: bei Cranach geht ein Drängen, eine unruhige Bewegung durch
die Farben, die neutralen scheinen sich in den Buntfarben zu entladen,
ein Drängen, das den züngelnden Konturen in den Gewändern wie in
den Wolkenformationen analog ist.
Auch in Cranachs >Kardinal Albrecht von Brandenburg vor dem Ge-
kreuzigten< (um 1520/30, München, Alte Pinakothek) 29 ist das gesät-
tigte, feurige Scharlachrot des Kardinalsmantels als Farbform bildkon-
stitutiv. Keineswegs füllt es eine fiir sich konzipierte zeichnerische Form
nur aus, vielmehr „entspricht“ die Konturführung wie auch die „Umflo-
rung“ mit schwärzlichen Schattenzonen in eigcntiimlieber Weise dem
Gehalt dieses Rots und seiner thematischen Bindung, im zugleich
Prunkvollen und in sich Versunkenen, wie andererseits die einfache

28 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 121.


29 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 120.
126 Malerei der Dürerzeit

Form des Hügels seinem mittelhellen Olivgrün und das tiefe, stellenweise
sich aufhellende Bleigrau der Wolken ihrer schweren Breitung. Beson-
ders aufschlußreich ist die Aufspaltung des Weiß in vier aufeinander nicht
beziehbare Varianten, die ganz dem gegenständlichen Ausdruck dienen:
wulstförmig, baumwollartig das Weiß in der Mantelinnenseite des Kardi-
nals, kalt, blaugrau schattiert im Schamtuch Christi, perlmuttartig, mit
zartgrünlichem Schimmer und einigen mattrosa Streifen, erscheint das
Weiß des Himmels über dem Horizont, ganz homogen, entschieden
gegen den bleischwarzen Grund kontrastiert und schattenlos, das Weiß
der Inschrifttafel. Wo also im Dienste der monumentalen Bilderschei-
nung nur wenige Farbformen gegeben sind, gestaltet sie Cranach in freier
Koordination anstelle silhouettierenden Übergreifens.
Dem Prinzip der umschlossenen Farbform ist ja selbst ein besonderer
Ausdruckswert eigen, der des Bergenden, vor allem Bedrohlichen
Schützenden.
So erscheint er aufs reichste ausgeprägt in der >Ruhe auf der Flucht
nach Ägypten< von 1504 (Berlin, Gemäldegalerie) 30. Wie mehrfach rah-
mende Fassungen legen sich schwärzlich-grüne Streifen um den kost-
baren Kern der Heiligen Familie und in diesem selbst wiederholt sich das
Umfangen eines Inneren durch die Führung der Falten im Marienge-
wand. Hier versinkt das schöne Rot in schwärzliche Dunkelheit, das sich
linienhaft verdichtet und darin mit den Konturen und Folienstreifen zu-
sammenklingt. Weil sich das Dunkel nicht räumlich entfalten kann, die
Farben andererseits nicht in einen unfarbigen Glanz ausstrahlen, gehört
auch Cranachs Farbgestaltung noch dem „Kolorismus“ an, von dem aus
sie den Weg zum Bilddunkel und Bildlicht sucht.
In Fortführung dieser Gestaltung kommen sich bei Lucas Cranach
d. J. (1515-1586) die Farbe der fernbildhaft-flach modellierten, silhouet-
tenartigen Karnation und die spätgotische Lokalfarbigkeit - bei seinem
>Bildnis einer Dame< (von etwa 1565, München, Alte Pinakothek) reines
Schwarz in Mantel und Mütze, weißlich aufgehelltes Korallenrot im Ge-
wand - entgegen; auch der dunklere Grauton des Schlagschattens auf
dem stumpf-lavendelgrauen Grund wirkt als Silhouette. Das extrem
flache „Relief“ begünstigt dabei die homogene Erscheinungsweise des
Inkarnats, das sich bei >Venus undAmor< (um 1565, München, Alte Pina-
kothek) messerscharf vom reinen, durchgehenden Schwarz des Grundes
trennt.
In der Dürerschule wird der lokalfarbige Stil auf unterschiedliche
Weise in einen „lichtfarbigen“ 31 transponiert.

30 FA: Gemäldegalerie Berlin, 81.


31 Der Begriff „lichtfarbig“ wird hier im Sinne der Aufhellung der Lokal-
Malerei der Dürerzeit 127

Hans Baldung Grien (1484/85-1545) läßt in seinem Frühwerk, dem


D reik ö n igsallar vo n 1507 (Gemäldegalerie Berlin) 32 die Figuren in einer
Farbentotalität erscheinen: zu Blau, leuchtendem Rot, hellem Gelb,
Gold kommen, für den Gesamteindruck sehr wichtig, gesättigtes Grün
und Weiß, beide Werte im Streifenwechsel auch vereint beim Umhang
des Mohrenkönigs. Weiß ist hier aber noch ausschließlich gegenstands-
gebunden verwendet, ebenso wie in der Berliner >Kreuzigung< von 1512,
im Mantel Mariens und in den Schneebergen - und auch hier tritt Grün
hinzu, zentral, in tiefer Sättigung, beim Mantel Magdalenas.
Als völlig gleichberechtigter Partner erscheint Weiß sodann in Bal-
dungs um 1516/17 gemalter >Beweinung Christu der Berliner Gemälde-
galerie 33, warm, da über gelblicher Untermalung, jedoch völlig buntton-
frei, mit perlgrauen Schatten, im Bahrtuch Christi und im Kopftuch
Mariens, weiterhin in den auffallend hellen Inkarnattönen von Christus
und Maria, die zu den Gelbwerten überleiten. Flächig, mit messer-
scharfen Kurven, heben sich die Inkarnate von den angrenzenden Farb-
flächen ab, von zarten Schatten wie überhaucht. Insgesamt wird das Bild
bestimmt von einer neuen Helligkeit der Buntfarben vor der gedeckt
lichtblauen Folie des Himmels und der tief olivgmnen Vegetation. Eine
fmhmanieristische Stufe der Farbgestaltung kann darin gesehen
werden, zu vergleichen mit Lucas van Leyden oder der etwas später,
um 1525, anzusetzenden Phase in der Entwicklung der Farbengebung
Pontormos.
Eine generelle Helle charakterisierte auch Baldungs >Schmerzens-
mann, von Maria und Engeln beweint<, entstanden 1513, im Freiburger
Augustinermuseum. Sie basiert auf dem Vanillegelb des Himmels-
grundes, durchzogen vom Hellgelblichgrau der Wolken. In kleinem In-
tervall dazu stehen das triibe, fahl-schmutzige Graugelblich im Inkarnat
Christi, modelliert durch triib umbrabraune, mit grauen Reflexen verse-
hene Schatten, und der zwischen Rosabräunlich und Zartrötlich lie-
gende Ton im Inkarnat der Putten. Als dunklerer Buntwert antwortet
dieser Hellfarbigkeit nur das graugebrochene, milde Blau Mariens. Viel-
leicht darf in der Aufhellung der Skala auch eine Einwirkung der Hellig-
keit Dürerscher Graphik gesehen werden.
farben zur Gewinnung erhöhter Licht- und Beleuchtungswirkungen verstanden,
nicht im Sinne der frühen, von ihm selbst später revidierten Definition von Ernst
Strauss, wonach „lichtfarbiges Kolorit“ die Bildfarbe ,,als Wirkung des verein-
heitlichenden, außerhalb der Bildwelt gedachten Lichtes“ meint (Strauss, Kolo-
ritgeschichtliche Untersuchungen, 307, vgl. auch 263).
32 FA: Gemäldegalerie Berlin, 73.
33 FA: Gert von der Osten, Hans Baldung Grien, Gemälde und Dokumente,
Berlin 1983, Farbtafel 4.
128 Malerei der Dürerzeit

Helligkeit der Farben und Akzentuierung durch Weiß gehören mithin


zu den Besonderheiten der Baldungschen Farbgestaltung. Auch beim
Hochaltar-Bild des Freiburger Miinsters (1512/16) herrscht in der Ge-
samtansicht entschieden lokales Weiß vor, unterstützt durch helles
Zitrongelb und das sehr helle, nur minimal abgeschattete Inkarnat in der
Mitteltafel. Die nächstwichtige Farbe ist kräftiges Rot, das hier weit
engere Verbindung aufnimmt zum Weiß als zu denTriasfarben. Rot, die
intensivste Buntfarbe, und Weiß, die Farbe höchster Helligkeit, klingen
hier zu einem vollen Akkord zusammen, ähnlich wie im Isenheimer
Kreuzigungsbild Grünewalds.
In späteren Bildern läßt Baldung schließlich lichtstrahlende Weiß-
lich- und Weißgrau-Partien mit sehr dunklen Bezirken kontrastieren.
Bei der 1520 gemalten >Geburt Christu der Münchner Alten Pinako-
thek 34 wird dieTrias aus Ocker (im Ochs), Karmin (im Josefsgewand)
und Dunkelblau (bei Maria) von dem sehr tief genommenen Schat-
tenton der Architektur fast wie von einer den Farben übergeordneten
Dunkelheit umfangen. Hier geht Gestaltung aus der Farbe bis an die
Grenze des Helldunkels. Was sie von diesem trennt, ist allein die flächige
Bindung von Licht und Dunkel, deren fehlende räumliche Befreiung.
Gerade sie aber bewirkt, den Lichterscheinungen bei Grünewald nicht
unähnlich, das Zeichenhaft-Überwirkliche der Glorien und des Him-
mels.
Der Abstraktionsgrund ist ein höherer bei Baldung, verglichen selbst
mit Pontormo oder Bronzino. In ihrem eigenen Lichte strahlen die Ge-
stalten von >Pyramus und Thisbe<, um 1530 (Gemäldegalerie Berlin) 35:
vor blauschwarzem und eisengrauem Grund das Weiß im Überrock der
Thisbe, ihr helles Inkarnat, das gesättigte, hellbraunschattierte Gelb
von Pyramus’ Hose, noch intensiver als das Weiß, da beim Gelb das ,,in-
nere Licht“ den Buntwert durchdringen muß, das Weiß es schlicht ent-
läßt. Dunkelfarben schließen sich zur Trias zusammen, das tiefe Samt-
braunrot im Mantel des Pyramus, das dunkelglühende, braunschwarz
verschattete Rot in Thisbes Kleid mit dem Graublau in Wams und Hut
von Pyramus und dem strahlenden Gelb seiner Hose. Wiederum erwei-
tert Weiß die Trias, durchkreuzt das Licht der Farben deren triadische
Verbindung.
Eine wichtige Rolle spielt Weiß auch in Bildern von Hans Suess von
Kulmbach (um 1480-1522). In seiner >Anbetung der Könige< von 1511 in
der Berliner Gemäldegalerie 36 dämpft er die Grundfarben: zu verhal-

34 FA: Steingräber, Alte Pinakothek München, 119.


35 FA: Gemäldegalerie Berlin, 77.
36 FA: Gemäldegalerie Berlin, 71.
Malerei der Diirerzeit 129

tenem Englischrot beim knienden König, Hellrot, bräunlich schattiert


bei Joseph, Safrangelb mit bernsteinfarbenen Schatten beim Diener
rechts, zu Stumpfblau bei Maria, Griin, gelblich aufgelichtet bei der
linken Randfigur, Oliv beim mittleren König. Weiß strahlt hervor, blau-
grau schattiert - jedoch ohne die Holbeinsche Ambivalenz von Gewand-
und Schattenfarbe - im Mantel des Negerkönigs. Noch stärker sind die
restlichen Farbbezirke gebrochen, zu Rosa, Hellbraun, Silbergrau, zu
Changeantfarben wie Helltürkis und Hellkarmin, und so auch einander
angenähert, die Architektur zu einem sehr gedämpften Umbraton ver-
einigt, mit einem Ausschlag zu Malachitgrün in der Säule. In solcher
Farbannäherung bleibt jedoch gegenständliche Trennung vollauf ge-
wahrt - im Unterschied zu einer Helldunkelgestaltung. Auch deutet die
Farbbrechung auf keine spezielle Beleuchtungssituation, und auf Farb-
perspektive nur durch Zusammenfiihrung der Farbwerte im Mittel-
grund, vor der blaß flaschengrünen Landschaft und dem lavendelgrauen
Himmel, nicht aber durch Triibung mittels einesUuftmediums. Farbbre-
chung ermöglicht neue Helligkeitswirkung: zu vergleichen wären Werke
Lucas van Leydens. \
Das „Lichte“ der Farberscheinung kommt nocn mehr zur Geltung in
Hans von Kulmbachs >Bildnis des Markgrafen Casimir von Branden-
burg<, ebenfalls von 1511 (München, Alte Pinakothek) 37. Ein „blondes“
Inkarnat, mit einer auf ein Minimum eingeschränkten Modellierung,
ein gelber Mantel mit einigen braunroten Zierelementen vor einem
homogen-schwarzen, von keiner Beleuchtung bemhrten Grund!
Barthel Beham (1502-1540) fiihrt in seiner >Geschichte der hl. Helena<
von 1530 (München, Alte Pinakothek) ebenfalls die spätgotische Vielfar-
bigkeit fort, eint jedoch die an sich auseinanderstrebenden Buntheiten
durch mannigfache Brechungen unter offensichtlicher Vorliebe fiir
Glieder der Gelb-Familie (neben Gelb Bernsteinbraun, kupfriges ge-
branntes Siena usf.). Tiefes Oliv des Lagers der aus dem Tode Erwa-
chenden bekräftigt sie in ihrem Schönheitswert. WarmeTöne herrschen
also vor. In sie betten sich dieTriasfarben ein: Kirschrot, sehr helles und
sehr dunkles Grünblau - im Verein mit den Gelbwerten und einem par-
tiellen braunen Gesamtton. Eine betont „ästhetische“ Auffassung der
Farben wird spürbar, die sich auch der Farbphantastik der Architektur
bemächtigt, in der das Unwirklich-Prächtige der Formen dem Unwirk-
lich-Schönen der Farben entspricht.
Hans Burgkmair (1473-1531) dagegen baut seine Bilder so sehr aus
tiefolivgrünen, braunen und blauen Farben auf, daß die davor liegenden
Farben um des Kontrastes willen lichthaft werden, nicht „leuchten“ wie

37 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 119.


130 Malerei der Dürerzeit

bei Grünewald - dazu fehlt ihnen die flächenfarbige Erscheinungs-


weise -, wohl aber aufstrahlen, „schillern“, so etwa das auch für Burgk-
mair bildwichtigeWeiß, und, wohl noch charakteristischerfür ihn, Gold.
In seinen Augsburger Basilikenbildern (1501-1504) erscheint, in Um-
kehrung des Gold-Dunkelheitsverhältnisses, Gold als Lokalfarbe vor
schwarzer Folie, schattiert durch schwärzliche Strichelung, zusammen-
gestellt mit Kastanienbraun, Moosgrün, gelblichgrauem Weiß (>Basilica
San Pietro<, 1501); hochglänzendes, „überschärftes“ Weiß im Kontrast
zu wenigen, braunen, olivgrünen Tonen und dunkelblauem Flimmel,
der also nicht „Ort“ des Lichtes ist, mithin keine „natürliche“ Lichtwir-
kung ermöglicht (>Basilica San Giovanni in Laterano<, 1502); Gold,
Gelb, Dunkelbraun, olivschattiertes Weiß sind ästhetisch vereinheitlicht
(>Basilica Santa Croce<, 1504).
In starker Farbvereinheitlichung, als „Olivaille“, kontrastiert zu
Gold, erscheint auch das Fragment von >Christus am Ölberg< von 1505
(Kunsthalle Hamburg). Die Dunkelkomponente dominiert sowohl in
den neutralen und halbneutralen (Grau, Oliv, Braun) wie in den bunten
Farben (im Laubgriin) und setzt sich dem Gold entgegen. Im Mantel
Christi vertieft sich noch die Dunkelheit, zu tiefstem Blaugriin sich
senkend.
„Magisches“ Licht strahlt auch Burgkmairs Kreuzigungsaltar von 1519
(München, Alte Pinakothek) aus. Das Weiß im Mantel Magdalenas ist
Lichtquelle und Lichtfänger zugleich. Die Helligkeit des Lichtes ließe
einen Schlagschatten des Kreuzes erwarten, der jedoch fehlt!
Im Münchner Johannesaltar von 1518 38 ist farbiger Höhepunkt das in
den Mitteltönen rubinhaft aufglühende, im Licht matt-hellbräunliche
oder rosafarbene, im Dunkel fast zu samtigem, schwärzlichem Purpur
vertiefte Rot des Johannesgewandes, in kleinem Intervall abgehoben
von dem im Licht scharf rosaweißen, im Dunkel schwarzkarminfar-
benen Mantel. Auch Burgkmair bedient sich also hier - wie für die
Johannesfigur des Kreuzigungsaltares - der mächtigen Farbe Rot, dem
farbigen Zentrum so vieler Bilder der deutschen Malerei der Dürerzeit.
Gelb, satt-tiefes Olivgrim und tiefes Gmnblau begleiten es in diesem
Werk.
Die Licht- und Farbbewegung konzentriert sich dabei in den Figuren,
sosehr auch in der Formengebung allgemeine, alle Bilddinge erfas-
sender Bewegtheit herrscht.
Am Pol entschiedener Farbvereinheitlichung dagegen steht Burgk-
mairs >Geschichte der Esther< (1528, München, Alte Pinakothek) 39: wie

38 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 116 (Mittelbild).


39 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 117.
Malerei der Dürerzeit 131

durch ein farbiges Glas gesehen erscheint das ganze Bild. Alle Farben
scheinen teilzuhaben an einem Ton, der im Gemälde als solcher nicht
auftritt, sondern nur durch olivgriinliche Brechungen sich bemerkbar
macht, den „weißen“ Marmor grünbräunlich färbt, den Himmel griin-
bläulich. Braun und Tiefolivgrün sind aberTräger von Dunkelheit und
aus ihnen flackern, gewittrig, „bengalisch“, gelbbraune, elfenbeintonige
Lichter auf: Farbdunkelheiten und Farblichter, die im Grunde Rem-
brandt näherstehen als Carpaccio - wenn auch die venezianische Ma-
lerei zum Vorbild dieserTafel wurde.
In Harmonisierung durch Braun und Gold gestaltet auch Martin
Schaffner (um 1478/79 - zwischen 1546/49) farbig die Flügel des Wetten-
hausener Hochaltars (1523/24, München, Alte Pinakothek). Die Lokal-
farben finden ihren gemeinsamen Nenner in Braunflächen, die ,,aus-
schlagen“ nach rotem Ocker, Karminbraun, ockrigem, in den Schatten-
bezirken schwärzlich umflortem Gold, begleitet von Cremeweiß,
Neapelgelb, gebrochenem Blau und Olivgrün. Nur Weiß tritt als isolie-
rende Farbe auf, obzwar gleichfalls durch warm-zarte Schattierungen ge-
brochen; alle anderen Buntwerte nähern sich, unter Wahrung der Form-
grenzen, einander an. Es sind dies, wie bei Burgkmair, Symptome einer
Harmonisierung im venezianischen Sinne. Sie wirkt sich auch auf die
Raumbildung aus: die ausgebreiteten Flächen gebrochener Buntheiten
kompensieren die perspektivischenTiefenzüge, wirken deren Stoßkraft
entgegen. Doch klingt auch hier die spezifisch deutsche Raumauffas-
sung noch nach, die vorderste Raumschicht besetzen die Weißbereiche,
alle anderen Farben liegen hinter ihnen; ein eigener Farbraum wird so
konstituiert.
Holbein d. J. (1497-1543) sucht, ausgehend von der AugsburgerTradi-
tion der Farbgestaltung, allen renaissancemäßigen Funktionen der
Farbe gerecht zu werden. In den Flügeln des Oberried-Altars (1521/22,
Universitätskapelle des Münsters in Freiburg i.Br.) erscheinen nächt-
liche Darstellungen, aber in einer gewissermaßen „idealen“, nicht einer
atmosphärisch-raumhaften Dunkelheit, mit gestirnhaft hervorbre-
chendem Licht. Die Neutralfarben kommen als Individualitäten zur
Geltung, getrennt nach Braun und Grau, wobei die Flächen von hellem
Schiefergrau in unbestimmbaren Intervallen zu den anderen hellfar-
bigen Architekturteilen, zu Olivbraun, Braungrau, Kaffeebraun stehen.
Sorgsam sind die Farbbezirke voneinander abgegrenzt, auch mittels
dunkler Konturlinien; so können die braunen Dunkelfarben die Bunt-
heiten nicht aus sich entlassen, eine räumliche Freiheit des Helldunkels
wird nicht gewonnen.
Der >Leichnam Christi im Grabe< von 1522 (Basel, Offentliche Kunst-
sammlung) kann als Musterbeispiel nahsichtiger Durchmodellierung
132 Malerei der Dürerzeit

des Inkarnats gelten. Auf keine Weise ist hier die Farbe als Fläche aufzu-
fassen, nirgends kann der Blick auf ihr zur Ruhe kommen: hellgelblich
im Licht, gleitet sie, oft nahezu unmerklich, in dunklere Nuancen von
Bräunlich und Grau über, ständig „irisierend“. Ähnlich, wenn auch
nicht ganz bis zu diesem Grade, verhält sich das teilweise transparente
Weiß des Schamtuchs und das Grauweiß des Bahrtuchs. Hingegen bleibt
die gelblich gebrochene, dem Oliv nahestehende grüne Folie verhältnis-
mäßig flächig und unstofflich - ohne die eingemeißelte Signatur und Jah-
reszahl würde man schwerlich das Material Stein vermuten.
Noch entschiedener differieren die farbigen Erscheinungsweisen in
der >Madonna des Basler Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hasen<, der
sog. >Darmstädter Madonna< (1526,1528/30, Darmstadt, Schloß) 40. Der
farbige Eindruck wird bestimmt durch tiefes, grünliches Stahlblau (im
Madonnengewand), etwas bläuliches Rot (in ihrer Schleife), Zinnober-
rot (in der Beinbekleidung des Sohnes), ferner-in großer Ausbreitung-
durch Nuancen von Schwarz und Weiß in den Gewändern und braun-
schattiertem Gold in der Krone und den Ärmeln Mariens. Charakteri-
stisch ist die Zusammenstellung größerer Farbflächen in nahen, oft dis-
sonanten Intervallen, etwa von Grünblau, Graugrün, Eisengrau, Dun-
kelgrau, Schwarz, von kaltgrau und rötlichgrau schattiertem Weiß, von
Alabasterbraun, Gold, Blondbraun zu rot irisierendem Inkarnatston,
usf. Zu dieser unbestimmten Unruhe der farbigen Intervalle kommt die
Spannung, die aus Holbeins Versuch resultiert, stofflich-nahsichtige und
großflächige Erscheinungsweise der Farbe zu synthetisieren. Stellen-
weise herrscht ziselierende Nahsicht, wie in den „kleinmeisterlich“ gra-
phisch behandelten Löckchen der Kinder oder den emailartig irisie-
renden Inkarnaten. Flächig-homogen erscheint dagegen der graublaue,
abstrakte Grund. In seinem Vollkommenheitsstreben will Holbein
nichts „opfern“, auch nicht die innere Geschlossenheit der Lokalfarben.
Andererseits wirkt die graue Jacke des Bürgermeisters als abschlie-
ßende Dunkelfolie, in die die Schatten der Buntfarbe davor einfließen
können und deren Kontur zur Mariengestalt gänzlich in die Dunkelheit
des Madonnenmantels aufgeht. Doch bleibt dies Helldunkel auf ein-
zelne Bildstellen beschränkt, wird nicht von bildbestimmendem Raum-
dunkel aufgefangen.
Auch beim >Bildnis des Kaufmanns Georg Gisze< (1532, Gemälde-
galerie Berlin) 41 sind die Farben in unterschiedlicher Erscheinungsweise
gegeben: das Schwarz in Mantel und Mütze homogen, von aller Licht-
einwirkung frei, im höchsten Gegensatz dazu das lichtoffene, ins Weiß-

40 FA: Kindlers Malerei-Lexikon im dtv, Bd. 6, 192.


41 FA: Gemäldegalerie Berlin, 103.
Malerei der Dürerzeit 133

lichrosa ausbrechende, einen Seidenstoff genau bezeichnende Kar-


minrot. Ähnlich stillebenhaft-oberflächenbestimmt sind die Farben der
Gegenstände aus Metall, Glas, Leder, Papier usf. Das stumpfe Olivgriin
der Wand dagegen steht zwischen Gegenstandsfarbe und Abstraktion.
Auf sie fällt der Schlagschatten der Figur, grau, aber doch den Griinge-
halt der Wand nicht unterdriickend, und in eigenartiger Loslösung von
der figuralenForm, als bloße ovale Scheibe. „Nahsicht“, aber ohneHell-
dunkel, bestimmt die Farbgebung des jiingeren Holbein, durchsetzt hier
von flächigen Bereichen im Schwarz und Griin, die sich diesem Prinzip
nicht fiigen. In solchen verhaltenen Spannungen scheinen Bilddinge und
Figur wie in angespannter Aufmerksamkeit, Erwartung zu verharren.
Albrecht Altdorfer (um 1480-1538) fiihrt - innerhalb der Malerei der
Diirerzeit - die Farbgebung am weitesten der Helldunkelgestaltung ent-
gegen. Nur nach dieser Hinsicht sei Altdorfers Malerei hier betrachtet. 42
Grauviolett, Blaugrau, Türkisgraublau, Hellgrau und Weißlich sind die
Raumfarben der >Geburt Mariae< (um 1520, Alte Pinakothek Miin-
chen) 43. Kühle, weißliche Helle strahlt von den Fensterlaibungen und
von Gewölbeflächen aus. Dunkelheit aber verdichtet sich in den Pfeilern
des Mittelgrundes und in der Vordergrundbiihne. Es ist, als habe sich
Glasfensterlicht entspannt, als wäre dessen „absolutes“ Licht und „abso-
lutes“ Dunkel in einem raumhaften Zusammenhang vereint. Dunkles
Grün, dunkles Rot, dunkles Braun lösen sich aus der Dunkelheit des
Vordergrundes, in Baldachin, den Gewändern der Amme und Josefs,
dem Mobiliar. Graublau, Violett, Griinblau in Architektur und Fenstern
wirken demgegeniiber als mittlere Helligkeiten. Triadische Farbgruppie-
rungen klingen an im Weißblau und Zitrongelb Mariens und dem tiefen
Purpur ihrer Begleiterin, verbunden mit Grau und tiefem Laubgriin
iiber Gelbrosa, auch im braunschwarzverschatteten Weinrot, Blau und
Ockerbraun Josefs. Aber diese Farbfiguren gehen ein in die Mannigfal-
tigkeit der Farben: die Farbtotalität repräsentiert der Engelsreigen, je
anders erscheinen die Rot-, Braun-, Weißabstufungen. Die Farben
werden in neuem Sinne Bewegungsträger. Nicht öffnen sie sich auf eine
Helldunkelpolarität jenseits der Farbe, in ihnen selbst vollzieht sich
die Spannung zwischen Finsternis und strahlendem Licht und dynami-
siert sie.

42 Zur Farbgestaltung von Altdorfers Sebastiansaltar in St. Florian vgl. : Hans


Jantzen, Albrecht Altdorfers Passionsaltar aus St. Florian. In: Das Werk des
Künstlers, 1. Jg., 1939/40, 42-59. - Günter Brucher, Farbe und Licht in Albrecht
Altdorfers Sebastiansaltar in St. Florian. In: Kunsthistorisches Jahrbuch Graz,
13,1978, 3-139. Auch als selbständige Publikation, Graz 1978, erschienen.
43 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 122.
134 Malerei der Dürerzeit

Auch in der >Donaulandschaft mit Schloß Wörth bei Regensburg<


(wohl kurz nach 1520, Alte Pinakothek München) 44 ist Griin Dunkel-
farbe. Heller, farbsatter breitet sich das Blau des Himmels aus. Anders
als in niederländischen Bildern des 15. Jahrhunderts verdunkelt es sich
nicht nach oben zu, auch hierin die andere Autonomie der Farbe bei Alt-
dorfer bekundend. Die Farben spannen sich zu ihren eigenen Licht- und
Dunkelgrenzen aus. Dem milden gelben Lichtschein über dem Horizont
steht entgegen der tiefe Olivgriin- und Olivbraunton der Landschaft, die
mit den hochragenden Bäumen einen inneren Dunkelrahmen bildet.
Ein anderes Licht als das scheinende des Horizonts wirkt sich hier aus:
ein punkthaft, linienhaft in der Blättervielfalt gefaßtes, nur von einem
Farbton, einem Hellgriinton, getragen, also nicht alsFarbe geteilt, nicht
„chromoluminaristisch“ behandelt. Noch entschiedener ist die >Alexan-
derschlachU (1529, München, Alte Pinakothek) 45 vom Zweiklang aus
dunklem, griinlichem Blau und dunklem Olivgriin bestimmt. Auch hier
verdichten sich die Farben nach vorne zu in Dunkelheit, deutlich vor
allem in den Wolken zu erkennen. Auch der Berg in der Bildmitte wächst
aus dem Dunkel in eine mittlere Helligkeit. Nun aber wird das Olivgrün
der Landschaft durchsetzt von Farben der Figuren, von dunklem, aus
Dunkelheit aufsteigendem Blau, von Gelb und Rot in verschiedenen
Abwandlungen. Da und dort vereinen sich diese Farben zu triadischen
Gruppen. Insgesamt aber ist es eine der niederländischen Helldunkel-
malerei vergleichbare Farbenvielfalt, die sich dem monumentalen
Akkord der Landschaftsfarben einordnet - wie sich „niederländische“
Nahsichtigkeit in einzigartiger Weise mit kosmischer Weite verbindet.
Das kühle Gelb des Himmels, das Braunorange der sonnendurch-
strahlten Wolke sammeln das Licht, und in unzähligen weißen Licht-
linien ist es über die Figuren ausgestreut. Linearität und Farbe einen sich
in der nur Altdorfer gegebenen Gestaltungsmöglichkeit.

44 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 122.


45 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 123. - Kurt Martin, Die Alexander-
schlacht von Albrecht Altdorfer, München 1969.
FARBE UND HELLDUNKEL
IN DER ITALIENISCHEN MALEREI
DES 16. JAHRHUNDERTS

Zu den Grundzügen der Farbgestaltung in der italienischen Hoch-


renaissance gehört die Verringerung der Farbenanzahl gegenüber dem
vielteiligen Kolorismus des Quattrocento, der bestimmt war durch suk-
zessive Kontraste starker und gebrochener Buntfarben und Neütral-
werte. An seine Stelle tritt jetzt eine Konzentration auf wenige beherr-
schende Bildfarben und eine neue Bedeutung von Simultankontrasten,
der auch ein nun vermehrt auftretender Dunkelgrund dient. Die Bunt-
farben selbst werden dunkler, auch die neutralen Töne setzen tiefer an.
Im Gefolge dieser Konzentration vollzieht sich, nach tastenden An-
fängen im Quattrocento, die Herausbildung der Primärfarbentrias als
Grundlage der koloristischen Ordnung bei Raffael, Andrea del Sarto,
Correggio undTizian.
Die Einzelfarben gewinnen, der Monumentalisierung der Form ent-
sprechend, eine neue Amplitude.
Die wichtigste Neuerung ist die Einführung des Helldunkels. Der
Malerei des Quattrocento war es fremd. In die reliefhafte italienische
Bildstruktur kann es sich nur eingliedern durch Umdeutung der
Schatten in Medien der Raumkonstitution. Den Raumdunkelschichten
kontrastiert nun ein Bildlicht, das nicht mehr identisch ist mit den Eigen-
helligkeiten der Farben, sondern als Widerschein einer höheren Kraft
auf den Formen sich kundgibt. Anders als in der niederländischen Ma-
lerei behaupten sich die Farben dabei zumeist als vorgegebene, nicht
vom Helldunkel erst erzeugte.
Die Einführung des Helldunkels ist die persönliche, anfänglich verein-
zelt bleibende Leistung Leonardos. Andrea del Sarto und Corregio
fiihren diese Helldunkelgestaltung auf ihre Weise fort.
Perugino entwickelt eine eigene umbrische Luminosität im Verein mit
der erstmals von ihm voll zur Anwendung gebrachten Qlfarbentechnik,
die im Verlauf des 15. Jahrhunderts von niederländischen Malern zuerst
an den Höfen von Neapel und Urbino eingefiihrt worden war. An Peru-
gino schließt Raffael an.
Michelangelo übernimmt die florentinisch-koloristische Tradition,
Pontormo, Rosso, auch Bronzino entfalten aus ihr je neue Möglich-
keiten.
136 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Leonardo da Vincis (1452-1519) in vielen Aufzeichnungen fiir seinen


>Trattato della Pittura< niedergelegte Theorie von Licht, Schatten, Hell-
dunkel und Farben 1, in der Empirie, Wissenschaft und Naturmythologie
sich durchdringen, bildet ein Zentrum kunsthistorischer Erforschung
der italienischen Renaissancemalerei. 2 Hier kann ihr Reichtum nur mit
wenigen Bemerkungen angedeutet werden.
Wolfgang Schöne faßte die für das „Beleuchtungslicht“ entschei-
denden Stellen zusammen: „Nehmen wir als Beispiel eine auf einem
Tische liegende Kugel, die von einer Kerze seitlich beleuchtet wird.
Leonardo bezeichnet die Lichtquelle der Kerze als ,luce‘ (das ursäch-
liche Leuchtlicht) und das Licht der beleuchteten Kugelseite als ,lume‘
(appliziertes Licht, Körperlicht). (Doch wird diese begriffliche Unter-
scheidung nicht immer streng durchgefiihrt.) Die entsprechende Unter-
scheidung trifft er beim Schatten: den Schatten, der an der beschatteten
Kugelseite haftet, nennt er ,primitiven Schatten“ (ombra primitiva, Kör-
perschatten), den anderen Schatten, der von diesem aus die Luft fiillt
und auf denTisch schlägt, den ,abgeleiteten Schatten 1 (ombra derivativa,
Schlagschatten). Ferner bestimmt er das Verhältnis von Licht und
Schatten zur Finsternis und die Bildaufgabe von Licht und Schatten in
folgenden Sätzen: ,Finsternis ist Entziehung des Leuchtlichts (luce),
und Leuchtlicht ist Entziehung der Finsternis. Schatten ist Vermischung
von Finsternis mit Leuchtlichtd ,Der Schatten ist Verminderung des
Lichtes. 1 ,Beleuchtet-Sein heißt Teilhaben am Leuchtlicht. 1 ,Der Schat-
ten gehört seiner Natur nach der Finsternis an, das (applizierte) Licht
(lume) ist von der Natur des Leuchtlichts (luce). Der eine (ombra) ver-
1 Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, Nach dem Codex Vaticanus
Urbinas 1270, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Heinrich Ludwig
(Eitelbergers Quellenschriften für Kunstgeschichte, Bd. XV-XVII), Wien 1882,
Bd. I—II (Text), Bd. III (Kommentar). - Eine Zusammenfassung der Ausfüh-
rungen Leonardos zu Licht, Schatten, Helldunkel und Farbe findet sich bei Axel
Sjöblom, Die koloristische Entwicklung in der niederländischen Malerei des
XV. und XVI. Jahrhunderts, Berlin 1928, 86-125.
2 Vgl. Moshe Barasch, Light and Color in the Italian Renaissance Theory of
Art, New York 1978, 44-89 (mit Bibliographie). -Barasch, Licht und Farbe in
der italienischen Kunsttheorie des Cinquecento, in: Rinascimento (La Rinas-
cità), 11. Jg. Nr. 2, 1960, 207-300, zu Leonardo: 238-246. - Jonas Gavel, Colour,
A Study of its Position in the Art of the Quattro- and Cinquecento, Stockholm
1979. - James S. Ackerman, On early Renaissance ColorTheory and Practice.
In: Henry A. Millon (Ed.), Studies in Italian Art and Architecture 15th through
18th Centuries, Cambridge, London 1980, bes. 25-38. - Zum Fortleben der
Theorie Leonardos vgl.: Janis Callen Bell, Color and Theory in Seicento Art:
Zaccolini’s >Prospettiva del Colore< and the Heritage of Leonardo, Ph.D.
Thesis, Brown University 1983.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 137

birgt, das andere (lume) zeigt .Damit hat Leonardo ,,die in der
Kunstwelt des Beleuchtungslichts maßgeblichen Begriffe fiir Licht und
Schatten ... eindeutig bestimmt.“ 3
Die damit festgestellte Dualität von Licht und Finsternis, Beleuch-
tung und Schatten wird in einer Ftille von Überlegungen, Beobach-
tungen, Anwendungen entfaltet. Einige wenige davon seien erwähnt. 4
Leonardo betont die „Geistigkeit“ des Lichts: „Der Schatten leitet sich
her von zwei einander unähnlichen Dingen, das eine von diesen ist kör-
perlich, das andere geistig (spirituale). Das Körperliche ist der dunkle,
Schatten tragende und verursachende Körper, das Geistige ist das mitge-
teilte Licht.“ (547) Dies Geistige aber ist keine Idee, ist nichtsTranszen-
dentes, sondern Kraft. - Leonardo unterscheidet mehrere Arten des
Lichts: „Die Lichter, welche die undurchsichtigen Körper beleuchten,
sind von viererlei Sorte, nämlich: allseitig, wie das der Luft innerhalb un-
seres Gesichtskreises, und einseitig, wie das Licht der Sonne oder eines
Fensters, einer Türe oder sonstigen begrenzten Öffnung. Die dritte
Sorte ist das reflektierte Licht, und die vierte dasjenige, welches durch
durchscheinende Dinge hindurchgeht, wie Leinwand, Papier oder der-
gleichen, die aber nicht vollkommen durchsichtig sind, wie Glas und Kri-
stall, denn diese tun die gleiche Wirkung, als wäre gar nichts zwischen
den dunklen Körper und das ihn beleuchtende Licht eingeschoben.“
(663) - Noch vielfältiger sind Leonardos Differenzierungen der Schat-
tenphänomene: der Schatten kann einfach oder zusammengesetzt, d. h.
durch eines oder mehrere Lichter verursacht sein (vgl. 557). Der Schlag-
schatten nimmt an Stärke in dem Grade ab, wie er sich von dem ,,pri-
mitiven Schatten” entfernt (553 d). Steht der „primitive Schatten“ gegen
einen beleuchteten Gegenstand, so wird er hell, denn auf diese Weise
wird der Schatten mit reflektiertem Licht beleuchtet (572). Die Quan-
tität des „primitiven Schattens“ ist von der Größe und dem Abstand der
Lichtquelle abhängig (726). Ebenso ist die Form der Schlagschatten vom
Abstand zwischen Körper und Lichtquelle und deren Größe abhängig
(vgl. 574, 589,725,725a etc.), wie auch seineForm darauf beruht, unter
welchem Winkel der Schlagschatten die Fläche trifft, auf welche er fällt
(600). Wie die Oberfläche eines Körpers durch Reflex von der Beleuch-
tung und Farbe eines nahestehenden Körpers beeinflußt wird (vgl.
694 f.), so gibt es keinen Schatten, der nicht durch irgendeinen Reflex
verstärkt oder geschwächt wird (vgl. 579). Beobachtungen über den

3 Schöne, Über das Licht in der Malerei, 83, 84 (mit Quellenangaben: Leo-
nardo, Buch von der Malerei, ed. Ludwig, Sätze 545, 570, 665, 550, 664, 549).
4 Die Ziffern beziehen sich auf die Abschnitt-Nummern in: Leonardo, Buch
von der Malerei, ed. Ludwig.
138 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Einfluß des Hintergrundes und des Umgebungsfeldes auf die Erschei-


nung der Schattendunkelheiten und der Lichter, iiber Schatten- und
Lichtverhältnisse bei Bäumen sind zu finden und vieles andere mehr.
Auch zu Glanzlichtern sind zahlreiche Beobachtungen niedergelegt.
Glanz ist Spiegelung des beleuchtenden Lichtes (664). Glanz ist ab-
hängig vom Verhältnis des Betrachters zum Gegenstand: „Die Glanz-
lichter ändern so oft ihre Stelle, als das Auge oder das Licht die seinige
wechselt“ (vgl. 676, 779). Glanzlichter entstehen nur auf einer glatten,
nicht rauhen Oberfläche (vgl. 777). „Das Glanzlicht wird in sehr viel
höherem Grade der Farbe des den glänzenden Körper beleuchtenden
Lichts teilhaftig, als der Farbe des Körpers selbst.“ (Anders ist dies bei
Gold, Silber und dergleichen Körpern.) „Der Glanz, der in der Tiefe
dichter Transparentkörper entsteht, zeigt die Schönheit der betref-
fenden Farbe in ihrem allerhöchsten Grade. So sieht man es in derTiefe
des blaßroten Rubins, in gefärbten Gläsern und ähnlichen Dingen ...“
(779) und so fort.
Wichtig auch fiir Leonardos Farbgestaltung sind seine Beobachtungen
über die Veränderung der Farben im Schatten. Weiß büßt in seinem
Schatten seine eigentliche Farbe ein. „Schwarz hingegen verstärkt sich
im Schatten in seiner Farbe und verliert diese an seiner beleuchteten
Seite, und zwar um so mehr, je leuchtkräftiger das beleuchtende Licht
ist. Grün und Blau werden farbig stärker in den Halbschatten, Rot und
Gelb gewinnen an ihren Lichtstellen höhere Farbe, und das gleiche tut
Weiß. Die Mischfarben richten sich nach der Natur der Farben, aus
denen ihre Mischung zusammengesetzt ist“ (692). Damit ist die „spezi-
fische Helligkeit“ der Farben angesprochen.
Eine Farbenlehre 5 ist bei Leonardo nur in Ansätzen vorhanden. Im-
merhin dürfte er der erste gewesen sein, der eine Farbenskala aufstellte.
Leonardo führt sechs „einfache Farben“ (colori semplici) an: „Die erste
davon ist das Weiß, obwohl die Philosophen weder Weiß noch Schwarz
unter die Zahl der Farben aufnehmen, da das eine die Ursache der
Farben ist, das andere deren Entziehung. Da indes der Maler nicht ohne
diese beiden fertig werden kann, so werden wir sie zur Zahl der übrigen
hierher setzen und sagen, das Weiß sei in dieser Ordnung unter den ein-
fachen die erste, Gelb die zweite, Griin die dritte, Blau die vierte, Rot
die fünfte und Schwarz die sechste“ (254). (Kurz danach aber schränkt
Leonardo ein, Blau und Grün seien keine „einfachen Farben für sich“,
und an anderer Stelle nennt er acht „colori semplici“.) „Willst du in aller
Bündigkeit die Abarten aller zusammengesetzten Farben sehen, so
nimm farbige Gläser und sieh durch dieselben alle Farben der Gegend

5 Vgl. dazu: Lersch, Farbenlehre, Sp. 186-189.


Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 139

an, die hinter ihnen zum Vorschein kommen; dann wirst du sämtliche
Farben der Dinge hinter den Gläsern mit den Farben besagter Gläser in
Mischung sehen und wirst gewahr werden, welche Farbe sich durch
solche Mischung verbessert, welche verdirbt.“ So gewinnen z.B. Gelb
und Grün hinter gelbem Glas, während Blau, Schwarz und Weiß die
Gelb-Mischung nicht vertragen (254). Fiir die Zusammenstellung har-
monischer Farbkombinationen rät Leonardo: „Willst du bewirken, daß
die Nachbarschaft einer Farbe der anderen anstoßenden Farbe Anmut
verleiht, so bediene dich der Regel, die man die Sonnenstrahlen bei der
Fiigung des Bogens am Himmel... bilden sieht“ (190). „Farben, die gut
zusammenstimmen“, sind: „Griin zu Rot oder zu Purpur oder Blaßvio-
lett, und Gelb zu Blau“ (253). Die Veränderungen der Farben sind fiir
Leonardo ein wichtiges Feld von Beobachtungen. Da sich die Farbe mit
wachsender Entfernung verändert und sich im Luftmedium schließlich
ganz verliert (136, auch 193-195,198-200, 226, 228 u. ö.), rät er, nur die
Gegenstände des Vordergrundes in ihrer Eigenfarbe (suo colore) zu be-
lassen, die iibrigen jedoch mit zunehmender Entfernung immer blauer
wiederzugeben (262, auch 243).
Andere Beobachtungen beziehen sich auf Reflexfarben. „Wenn du
eine weißgekleidete Frau siehst, inmitten einer offenen Gegend, so wird
an ihrer von der Sonne gesehenen Seite ihre Farbe so hell sein, daß die-
selbe zum Teil dem Anblick lästig fällt, wie die Sonne. Und die Seite von
der Frau, die von der Luft gesehen wird, welche durch die in sie verwo-
benen und eingedrungenen Sonnenstrahlen leuchtend ward, wird ins
Blaue fallen, da die Luft an sich blau ist, und die Seite von dieser Luft ge-
sehen wird. Ist auf der nahen Erdfläche Wiesengrund, und die Frau
befindet sich zwischen dieser sonnenbeschienenen Wiese und der Sonne
selbst, so wirst du die Faltenstellen, die von der Wiese gesehen werden
können, sich durch Reflexstrahlen in die Farbe der Wiese umfärben
sehen. Und so unterzieht sich dies Weiß der Umwandlung in alle Farben
der leuchtenden und nicht leuchtenden nahe gegeniiber befindlichen
Gegenstände“ (785). Hier kann man geradezu an ein Bild Claude Mo-
nets denken!
„Eine Malerei wird für die Beschauer nur dadurch wunderbar, daß sie
das, was nichts ist, wie erhaben und von der Wand losgelöst aussehen
läßt; die Farben bringen aber einzig den Meistern Ehre, die sie berei-
teten; denn durch sie wird keine andere Bewunderung hervorgebracht
als die ihrer Schönheit, und diese ist nicht Verdienst des Malers, sondern
dessen, der dieFarbengemacht hat“ (123). Dem „rilievo“ dient dasHell-
dunkel vor allem. So ist ,,das Helldunkel im Verein mit den Verkiir-
zungen ... die höchste Ehre der Wissenschaft der Malerei“ (671).
Für die besondere Formulierung des Helldunkels bei Leonardo ist
140 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

wichtig, was er das „mezzo“ nannte: „Zwischen Hell und Dunkel, d. h.


zwischen Licht und Schatten, befindet sich etwas mitten inne, das man
weder hell noch dunkel nennen kann, sondern das im gleichem Maße
des Hellen und Dunklen teilhaftig wird. Manchmal steht es gleichweit
vom Hellen und Dunklen ab, und manchmal ist es näher beim einen als
beim andern“ (672). Im Verein mit der Betonung der Übergänglichkeit
der Schatten wird hier auch die Bedeutung des leonardesken „Sfumato“
angesprochen.
Bemerkenswert schließlich sind Leonardos Empfehlungen fiir das
Malen in gedämpftem Licht: „Hast du einen Hof, den du nach Belieben
mit einem Leinenzelt decken kannst, so ist das gutes Licht.“ „Gegen
Abend habe in den Straßen auf die Gesichter der Männer und Frauen
acht, (oder) wenn es schlechtWetter ist, wiegroße Anmut undWeichheit
man an ihnen sieht. So wirst du Maler dir also einen Hofraum halten,
dessen Wände schwarz angestrichen sind und auf dessen Mauerhöhen
sich ein wenig Dachvorsprung befindet ... Und wenn du ihn nicht mit
einem Zelttuch deckst, so sei es gegen Abend, oder wenn es bewölkt
oder neblig ist, daß du ein Porträtwerk machst. Und dieses ist vollkom-
menes Licht“ (138).
So verführerisch ist es, diese Lichtsituation fiir die >Mona Lisa< (um
1503/06, Paris, Louvre) 6 in Anspruch zu nehmen 7, solch naturalistische
Reduktion wird der iiberwirklichen Helldunkel-Entriickung dieses
Bildes nicht gerecht.
Die genaueste Analyse von Farbe und Helldunkel bei Leonardo unter
dem Aspekt von Leonardos eigenen Aufzeichnungen verdanken wir
John Shearman 8.
Als die entscheidende Errungenschaft Leonardos bezeichnete Shear-
man seinen Bruch mit dem mittelalterlichen System der absoluten Farbe
durch Einfiihrung einer “tonal unity of colours”. Das System der abso-
luten Farbe lebt im Quattrocento in der Weise der Farbmodellierung
fort: “It was still normal for artists like Ghirlandaio to create form by
modulations of tone that were in fact the product of variations in the in-
tensity, or saturation, of pigment. For example, a blue robe will be
modelled from the fullest intensity of lapis in the shadows through dilu-
tion in the half-tones to a paler value of the same pigment in the high-

6 FA: Laclotte, Louvre, II, 27.


7 Vgl.: Z. Zaremba Filipczak, New Light on Mona Lisa: Leonardo’s Optical
Knowledge and His Choice of Lighting. In: The Art Bulletin, Vol. LIX, Nr. 1,
March 1977, 518-523.
8 John Shearman, Leonardo’s Colour and Chiaroscuro. In: Zeitschrift für
Kunstgeschichte, Bd. 25, 1962, 13-47.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 141

lights. This technique will occasionally be varied by the device of colour-


change, which is the use of different pigments, say yellow and red, for the
extremes of the scale.” Leonardo ersetzte diese Art der Farbmodellie-
rung durch eine Modellierung aus dem Helldunkelgehalt der Farben:
“His principle was to transfer the function of creating form from colour
to pure tone, in other words monochrome ... It has two primary charac-
teristics. Its formal contribution is absolute consistency of plasticity
irrespective of the colour of the parts, which arises from the carefully
matched tonal scale and expecially from the constant deep level of tone
in shadow. By these means a polychrome figure presents a homogeneous
swelling form and one that is unified, in its substantial presence, with its
neighbours and with its setting; only at this point does painting, except of
course grisaille painting, begin to rival illusionistically the properties of
sculpture. The second contribution of tonal unity concerns light. When
all forms of whatever colour are seen to respond to light in the same way,
and to describe rationally its revelation of their presence, then in turn the
impression of painted light as something actively present in the space is
unified and greatly intensified. The rationalization of the painted light
was, for Leonardo, a goal as important as plastic consistency.” Die Über-
tragung der Modellierungsfunktion von der Farbe auf das Helldunkel
eröffnet der Farbe neue Ausdrucksmöglichkeiten: “When colour is libe-
rated from its function of creating form it can be deployed with greater
fiexibility. In the >Last Suppen and the London >Madonna ofthe Rocks<
colour surges in crescendo to climaxes at the expressive centres, and
these chromatic emphases are independent of the formal construction.”
Schließlich reduziert die Helldunkelmodellierung die lineare Präzision:
“Not only is there no break of tone at the junction of colour-planes, but
in many cases, where the junction is lost in shadow, the break will even be
invisible chromatically. This factor, together with Leonardo’s other cha-
racteristic technical invention, sfumato modelling, replaces the precise
and finite hardness of Quattrocento painting by softness of surface and
elusive imprecision.” 9
Aber auch diese sorgfältige Studie kann das Helldunkel in Leonardos
Gemälden nicht ausloten. Denn so gewiß einige Beobachtungen Leo-
nardos weit iiber das hinausgreifen, was er kimstlerisch realisierte, und
schon an impressionistische Malerei denken lassen - so gewiß erfassen
Leonardos eigene Aufzeichnungen den Charakter seines Helldunkels
nicht zureichend. Es erschöpft sich nicht in seiner plastischen Funktion
und in der „Rationalisierung“ des Bildlichts.

9 John Shearman, Andrea del Sarto; Vol. I, Oxford 1965, 132, 133, eine Zu-
sammenfassung seines Aufsatzes von 1962.
142 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Aus tiefstem Bronzeton heben sich bei der >Felsgrottenmadonna<


(wohl 1483, Paris, Louvre) 10die Gestalten. Er ist Raumton undzugleich
Schattenfarbe der Körper; so schlägt sich seine Finsternis an ihnen
nieder. Je tiefer die Schatten, desto phantasmagorischer leuchtet das
Licht auf, weit entfernt, nur der plastischen Konsistenz zu dienen - im
Gegenteil: gestirnhaft scheint das Licht in den Inkarnaten auf, Licht-
fokussen gleich; Lichtblitze zwischen den Felsen antworten ihnen. Die
Buntfarben, das Rot und Griin des Engels (seine Fliigel sind noch ganz
vom Dunkel des Waldbodens gefangen), das Gelb und Blau des Madon-
nenmantels stehen am Ort des Umschlags der Finsternis in das Licht,
höhlenhaftes Dunkel hält sie noch in sich gebunden. Im Blau scheint Fin-
sternis Farbe zu werden, aber auch in den anderen Farben öffnet sich das
Reich des Dunkels gerade erst dem Licht.
Die >Hl. Anna SelbdritU (um 1508/10, Paris, Louvre) 11 mildert die
Helldunkelspannung. Bildbestimmend wirkt hier das olivtonige Dunkel
der Vegetation, das sich im Braun verdichtet, in zartem Kontrast zur ge-
deckt graublauen Helle der Ferne und zum mattleuchtenden Hellbraun
des Inkarnats. Das Ferneblau konzentriert sich im Mantel Mariens 12;
blaßheller Lichtschimmer liegt über ihrem Knie. Buntheit ist „modus“
der Dunkelheit und des Lichts, die beide ihrer aber nicht notwendig be-
diirfen. Sie beweisen ihre Wirkkraft, indem sie Buntheit hervorrufen
und ihr das Wesentliche sogleich wieder entziehen. Nur an der Wendung
zum Dunkel hin verdichtet sich das Karminbraun im Ärmelbausch des
Mariengewandes zu einem Purpurbraun, schwebend in seinem Farbton,
und unbestimmt bleibt, ob die Helle Auflichtung meint oder durchschei-
nendes Inkarnat. (Gleiches gilt für den bläulicholivfarbenen, hellbräun-
lich aufgehellten Ärmel des Mariengewandes.) Das „Sfumato“, der
hauchartige Ubergang zwischen hellen und dunklen Bereichen - dem je-
doch stellenweise präzise, silhouettierende Kontouren, die eine Relief-
schichtung konstituieren, entgegnen - und die Verschmelzung von
Schattentiefen und Grunddunkel bestimmen den Charakter des leonar-
desken Helldunkels. Im Gegensatz zu Correggio läßt dies Helldunkel
keine farbigen Induktionswirkungen aufkommen. Es dient nicht der
Farbwelt, sondern bleibt ihr übergeordnet. Noch dient es der plastischen
Modellierung der Einzelkörper. Vielmehr läßt es eine rhythmisierende
„Modellierung“ der gesamten Bildfläche erstehen, die mit der Form-
modellierung zusammengehen kann, aber nicht muß - und ist in solcher
Universalität Medium eines kosmischen Zusammenhangs.
10 FA: Laclotte, Louvre, II, 29.
11 FA: Laclotte, Louvre, II, 28.
12 Zur Bedeutung des Blau bei Leonardo vgl.: Joseph Gantner, Die Farben
im Werke Leonardos. In: Palette, Heft32, Basel 1969, hierbes. S.33.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 143

Leonardo begann, wie aus mehreren unvollendeten Werken seiner


Hand ablesbar ist, „zunächst auf dem gelblich getönten Gipsgrund ...
mit einer linearen Vorzeichnung der Umrisse und legte dann eine in der
Regel sehr weitgehende braune Untertuschung mit dem Pinsel (vermut-
lich mit verdünnter Ölfarbe) an, wobei durch eine weitgehende Angabe
der Schattenregionen schließlich eine mehr oder weniger violettstichige
Vorskizzierung (abbozzo) den hellen Malgrund bedeckte, der nur noch
an den für die Lichthöhungen vorgesehenen Stellen in Erscheinung trat.
Eine Folge dieser oft extrem ausfiihrlichen Vorskizzierung sind im Voll-
endungsstadium die schwärzlichen Schattenpartien. Diese in erster
Linie auf starke Kontraste abzielende Hell-Dunkel-Malerei wirkte sich
häufig nachteilig auf das Kolorit aus. Leonardo malte im Gegensatz zu
Raphael vom Dunklen ins Helle. - Obwohl Leonardo dem Sfumato ab-
soluten Vorrang gab, so tat er dies jedoch nicht unter Verzicht auf das
strenge Gerüst der Florentiner Zeichenkunst, wie aus den präzise festge-
legten Umrissen seiner unvollendeten Werke hervorgeht.“ Er ,,ver-
suchte mehr als andere Kiinstler seiner Zeit, die Ausfiihrung bestimmter
Partien eines Gemäldes in einem kontinuierlichen Vorgang zu gestalten,
was mit den bislang erprobten maltechnischen Praktiken häufig nicht
vereinbar war.“ 13 Maltechnische Konstanten in Leonardos Schaffen
konnten bislang aber noch nicht erkannt werden.

Pietro Perugino 14 (1445-1523) begriindet eine umbrische Lumino-


sität. Bei seiner um 1490/94 gemalten >Vision des heiligen Bernhard<
(Alte Pinakothek Miinchen) 15 ist die Dunkelheit, die sich vor allem in
der Gewölbezone einnistet, eine tiefere als sonst im Quattrocento. Dies
Dunkel ist Raumtriibe, Raumfarbe, und als solche „lockerer“ als die
Dunkelheiten, wie sie gelegentlich in Quattrocento-Bildern, an Gewän-
dern oder Schatten etwa, erscheinen. Der raumhaften Dunkelheit, in die
der Blick eindringen kann, antwortet Glanz, ein Lichtglanz, der die spe-
zifischen Helligkeiten der Buntfarben transzendiert. Anders aber als in
der niederländischen Malerei ist Glanz hier nicht gekoppelt mit nahsich-
tiger stofflicher Oberflächendifferenzierung, sondern mit fernbildhafter
Großflächigkeit der Farben. Der Glanz sammelt sich im hellcreme-
farbigen „Weiß“ der Kutte Bernhards und in den Inkarnaten. In den
Köpfen wenden sich die Haare nach der Dunkelheit, die Gesichter, auf-

13 Hubertus von Sonnenburg, Raphael in der Alten Pinakothek, München


1983, 57, 58.
14 FA: Carlo Castellaneta, Ettore Camesasca, L’opera completa del Perugino
(Classici dell’Arte, 30), Mailand 1969.
15 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 14.
144 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

leuchtend, dem Lichte zu. Ein schweifender, schwärmender, über das


Begrenzte hinausdringender Blick geht mit dem Leuchten des Anlitzes
zusammen - so in einer neuen Weise das Thema einer Vision veranschau-
lichend. (Dies Phänomen läßt sich verfolgen bis zum „verklärten“ Blick
in der Malerei des 18. Jahrhunderts. Der Ernüchterung und Blickfixie-
rung um 1800 korreliert die Verfestigung des Bildgrundes, die Anglei-
chung von Bildlicht und Bilddunkel in der Malerei dieses Zeitraums.)
Wie die Raumtrübe der Gewölbe ist auf dem Bild Peruginos auch das
weiche, tiefe Blau im Marienmantel dunkel-bedingt, von Dunkelheit
verhangen der karminrote Mantel des Apostels Bartholomäus rechts.
Dabei sind die Farben selbst nicht gebrochen, die neue Gelöstheit der
Farben ist vielmehr bestimmt von einer luminaristischen Grundkonzep-
tion. Sie ermöglicht, wie auf andere Weise schon in der niederländischen
Malerei des 15. Jahrhunderts, die Harmonisierung an sich „unstim-
miger“ Farben, des Braunkarmins im Mariengewand mit dem Gold-
braun des Ärmels (ihrer Mantelinnenseite), von Flaschengrün und Oliv-
griin der Landschaft mit dem Braunton des Pultes. Die Farben tendieren
dazu, im Schatten ihre Individualität aufzugeben, das eint sie, über-
brückt auch den Gegensatz von Bunt- und Neutralfarben.
Raffael 16 (1483-1520) schließt an Peruginos Helldunkel-Farbigkeit
an. 17 Die >Krönung Mariä< von 1502/03 (Rom, Pinakothek der Vatikani-
schen Museen) 18 ist ein gutes Beispiel für seinen Ausgleich von Buntfar-
bigkeit und Helldunkel. Einen großen Bereich der unteren Zone nimmt
der Sarkophag in hellem gelblichem und dunklem Grau und die oliv-
tonige Bodenfläche ein. Um den Sarkophag gruppieren sich die Figuren
mit ihren Buntwerten, unter denen bräunlich gebrochener und gelb-
licher Karmin, aufgezehrt in den Lichtflächen, gesättigtes Grün und
(schlecht erhaltenes) Blau dominieren. Gegenüber Perugino hat die
Tiefe der dunkelerfüllten Faltenschluchten abgenommen, die Figuren so
in ihrer flächigen Wirkung festigend.
In anderer Weise bringt die >MadonnaAnsidei< von 1505 (London, Na-
tional Gallery) 19 eine Mittelstellung zwischen „Kolorismus“ und „Lumi-
narismus“ zur Geltung. Ein sehr heller Grund, mit einem vor allem
neben dem hellen Blau des Himmels ins Violette spielenden Grau der

16 Vgl. auch: Sergio Ortolani, Valori coloristici in Raffaello. In: Emporium,


Anno XLVIII, Vol. XCVI, Oktober 1942, 427-434. FA: Bruno Santi, Raffael,
Königstein i.Ts. 1977.
17 Vgl. auch: Hubertus von Sonnenburg, Raphaelinder AltenPinakothek,58.
18 FA: Fabrizio Mancinelli u. a., Vatikanische Museen, Pinakothek, Florenz
1981, 34.
19 FA: Wilson, National Gallery London, 49.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 145

Architektur und etwas nach Gelbgrau gebrochenem Rosa in den Boden-


fliesen, hinterlegt die Figuren und akzentuiert sie als Silhouettenwerte.
Auch hier, wie schon bei Perugino, gehen Farben, die sich als solche nur
schwer vertrügen, in der höheren Einheit von Licht und Dunkel Verbin-
dungen ein, der Gelblichton derThronstufen mit dem Rosa des Bodens,
das Karminrot im Mantel des Täufers und das kupfrige Braun der Man-
telinnenseite des hl. Nikolaus.
Bekundet sich in der >Heiligen Familie aus dem Hause CanigianU (um
1507, Alte Pinakothek München) 20 bei den Figuren dieTotalität der Bunt-
farben: Karminrot, Blau, Grün, bräunliches Gelb, erweitert um Stahl-
blaugrau-wobei sie sich auch hier luminaristisch dem Grund verbinden:
der mattleuchtende Schädel Josephs steht vor der mittelhellen Himmels-
fläche, sein schattendunkles Gewand vor dem mild leuchtenden Hori-
zont- so konzentriert die >Madonna TempU (um 1507/08, ebenfalls Alte
Pinakothek) 21 die Farbigkeit auf dieTrias der Grundfarben, wobei aller-
dings Ocker reines Gelb ersetzt. Die Farben öffnen sich der Dunkelheit
und dem Licht: Blau hellt sich in der Himmelsfolie zu Weißlich auf, wird
im Mantel Mariens tiefblau, versinkt in schwärzliche Schatten. Das Kar-
minrosa des Mariengewandes, über Weiß lasiert im Licht, verdunkelt
sich zu tiefem, nach Schwärzlich weisendem Karmin. Das Inkarnat, ein
heller mattleuchtender Bräunlichton, kaum unterschieden vom Gelb-
lich der Haare, wird in seiner Lichtkraft gesteigert durch die tiefe Dun-
kelheit zwischen Mutter und Kind. Inkarnatschatten entstehen durch
zarte, hauchartige Trübung nach Braun und Grau, so daß eine „ange-
schattete“ Fläche als Silhouette gegen die Himmelsfolie steht: das Köpf-
chen des Christuskindes in leiser Verschattung vor dem lichten Himmel,
dessen lichterfiillte Weite in sich sammelnd. Ohne Glanzlichter bleiben
die Augen, mit einem dunklen, nach innen fiihrenden Blick. Die Dun-
kelheiten der Gewänder sind mehr als Modellierungsschatten, sie ver-
binden sich zu einer umfassenden flächigen Dunkelsphäre. Sie läßt die
Farben leuchten - ohne Gewalt, ohne ihrer Schönheit und Wiirde zu
nahe zu treten.
Hubert von Sonnenburg hat die Maltechnik Raffaels dieser Entwick-
lungsphase genau beschrieben. 22 Einige auf die Bedeutung des Inkar-
nats bezüglichen Sätze seien wiedergegeben: Während Perugino erst seit
etwa 1495 die Oltechnik umfassend zur Anwendung brachte, macht Raf-
fael von Anfang an vollen Gebrauch von ihr: ,,Er modelliert mehr mit

20 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 16.


21 FA: ebendort, 17.
22 Hubertus von Sonnenburg, Raphael in der Alten Pinakothek, 53, 54,
56, 59.
146 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

der Farbe und steigert dadurch die Körperhaftigkeit der dargestellten


Form. Er hat auch Freude an einer freien Strukturierung der Farb-
schichten durch die hinterlassenen Spuren des Pinsels und vermeidet da-
durch - insbesondere bei kleinformatigen Gemälden-jegliche miniatur-
hafte Glätte ... Schon früh macht sich dieTendenz bemerkbar, auch den
Fleischpartien durch etwas kräftigeren Farbauftrag mehr Körperhaftig-
keit zu geben ... doch bleibt die dünnschichtige Technik zunächst vor-
herrschend. Jedenfalls sind beide Möglichkeiten noch gegen Ende der
Florentiner Zeit vertreten: das solidere Inkarnat mit der für die größere
Schichtendicke charakteristischen feinen Craquelébildung (>Madonna
im Griinem, 1506, >LaBelle Jardinière<, 1507) und die dünneren Fleisch-
partien ohne mit bloßem Auge wahrnehmbare Sprungbildung (>Heilige
Familie aus dem Hause Canigiani<).“ „Raffaels Inkarnate sind in dieser
Entwicklungsstufe von strahlender Helligkeit ... Obwohl in die Schat-
ten der Figurengruppe eingebunden, behalten die Aktfiguren der
Kinder auf Grund ihrer besonders hellen Fleischfarben ihre volle Eigen-
ständigkeit und beherrschen somit durch ihre Strahlkraft (innerhalb des
Flächenmusters) zusammen mit dem Inkarnat der Maria die Komposi-
tion ...“ „Raffaels Inkarnatfarben sind ein Gradmesser dafiir, wie sehr
er bestrebt ist, den Primat der Farbe über die Hell-Dunkel-Malerei zu
bewahren.“ Auch darin unterscheidet sich Raffaels Farbgestaltung
grundsätzlich von derjenigen Leonardos.
Auch die >Belle Jardinière< von 1507 (Louvre) 23 versammelt die Ge-
wandfarben zur primären Trias, wiederum unter Vermeidung eines aus-
geprägten Gelbwertes. Die zarten grauen Schatten sind, anders als bei
Leonardo, dem das Bild, insbesondere in der Gestalt der Kinderkörper,
verpflichtet ist, keine Reflexe eines vertieften Raumdunkels. Die hell-
dunklen Farbformen lassen eine einfache, geklärte Reliefschichtung ent-
stehen. Eine nahezu monochromeTönung in Umbra, Gelblich und Oliv
faßt den Vordergrund - der Zeichnung entgegenwirkend - zur Dunkel-
folie für die Reliefmodellierung der Kinderkörper wie als Dunkelkon-
trast zur Helligkeit der oberen Bildhälfte zusammen. Im olivgelblich
aufgehellten Armel der Madonna wird der Grundton zur Lokalfarbe,
definiert die gegenständliche Oberfläche. Ihren Buntgehalt steigert die
Nachbarschaft des zinnoberroten, mit schwärzlichem (nicht braunem!)
Karmin verschatteten Mieders wie des stumpfblauen Mantels.
Die besondere Art gegenständlicher Bindung der Farbe in Raffaels
Tafelbildern, wie sie etwa der venezianischen Malerei ganz ferne liegt,
läßt die >Madonna di Foligno< (1511/12, Rom, Vatikan) 24 erkennen. Vor

23 FA: Laclotte, Louvre, II, 31.


24 FA: Mancinelli, Vatikanische Museen, Pinakothek, 35.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 147

der Folie des oliv- und blaugriinen Landschafts- und hellgrauen, nach
oben hin hellblaugrauen Wolkengrundes stehen die Figurenfarben, in
einer offenen, Neutral- und Buntwerte nicht gänzlich ausponderie-
renden Komposition. Keine gemeinsame Dunkelheit verbindet sie. Zur
Gegenstandsfarbe tendieren das Braun im Fell desTäufers, das Grau in
der Kutte Franz von Assisis, aber auch die zweierlei Rot- und Blautöne:
Karmin im Madonnengewand, schwärzlich verhüllter Zinnober in der
Robe des Papstes, mittleres, nach Grau gebrochenes Blau im Madon-
nenmantel, neutraltintiges Pflaumenblau beim hl. Hieronymus ganz
rechts.
In einem kurzen „klassischen“ Moment führt Raffael koloristische
und luminaristische Werte der Farben zum reinen Ausgleich. Von ihrer
Buntheit verlagert sich die Farbe hin zu ihrem Helldunkelgehalt - und
erhöht dabei zugleich ihre Schönheitswirkung. Bei der um 1513/14 ent-
standenen >Madonna della Tenda< der Münchner Alten Pinakothek 25
vereinigen sich glühendes Karminrot, verhangenes Blau, ins Dunkel ver-
sinkendes Samtgrün und davor aufleuchtendes Goldgelb mit den Inkar-
nattönen zu einem vollen, harmonischen Klang. Aus dem Dunkel hebt
sich die Farbe ins Helle und bewahrt doch, ja steigert ihre farbige Indivi-
dualität. Wie hier repräsentiert Raffael auch bei der >Madonna della
Sedia< (um 1513/14, Florenz, Pal. Pitti) dieTotalität der Farben durch das
Zusammenspiel von Rot, Griin, Goldgelb und verhaltenem Blau.
In anderer Weise bekundet das >Bildnis von Baldassare Castiglione<
(um 1514/15, Louvre) 26 Raffaels nun errungene Meisterschaft der Farb-
gestaltung: die Abstufung von Grautönen zwischen dem Weiß des Hemd-
ausschnitts und dem Schwarz in Mantel und Mütze bestimmt die Bild-
wirkung. Der zarte, stellenweise von Rot überhauchte Bräunlichton des
Inkarnats durchdringt sich mit dem Grau zum warmen, bräunlichen
Grau des Grundes. In den kurzen hellgrauen Horizontalstreifen der
Lichthöhungen im Pelzwerk zeigt sich der offene Pinselstrich. Farbe
wird ganz Ausdruck dieser kultivierten Persönlichkeit und eben damit
Äußerung ihrer eigenen Subtilität und Kostbarkeit.
Raffaels spätestes, unvollendet hinterlassenes Gemälde, die >Trans-
figuration ChristU (1518/20, Rom, Vatikan) 27 steigert dagegen die Kon-
traste der Helldunkel- und Farbgestaltung. „Den beiden dargestellten
Geschehnissen entsprechend wird das Bildlicht als verklärendes Phä-
nomen wie als ,auftretende Gewalt' sichtbar, somit in ganz verschie-
denen Seinsweisen, die auch in der farblichen Behandlung zutage

25 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 17.


26 FA: Laclotte, Louvre, II, 32.
27 FA: Mancinelli, Vatikanische Museen, Pinakothek, 37.
148 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

treten. Das spezifisch Luminöse des ,Aufscheinens‘, ,Leuchtens‘, Glän-


zens ergibt sich aber erst durch die Zuordnung der hochgesteigerten Hel-
ligkeiten zu dem optischen Dunkel, das in der oberen Bildregion aus
grau getrübtem Blau (Himmelsfläche , Gewandschatten), in der unteren
(Bergkuppe, Erdboden) aus dem in Richtung auf Schwarz vertieften
Olivton hervorgeht. Die bildkonstituierende Bedeutung der beiden Ele-
mente und ihrer wechselseitigen komplementären Beziehung wird noch
dadurch erhöht, daß sie beide als Gründe dienen. Doch während der
Lichtgrund der kiihl-hellgelben Wolken-Aureole gegen die drei im
Lichte fast ebenso hellen Gewänder der schwebenden Gestalten zu
stehen kommt und deren Farbigkeit zu einem zart getrübten Weiß subli-
miert, hinterfängt der Dunkelgrund der unteren Bildhälfte das gesamte
Gefiige der belichteten Formen, zu welchen er stark kontrastiert, um so
mehr, als er auf weite Strecken hin mit deren Eigenschatten ver-
schmilzt.“ Eine sehr starke Kontrastspannung besteht ebenso „zwischen
dem Dunkel des Grundes und den Buntfarben, also zwischen zwei
Medien von verschiedener optischer Beschaffenheit, die nicht rein inein-
ander aufgehen: im Gegensatz zu der unzweideutigen Wirkung des grun-
dierenden Dunkels bleibt bei den Gegenstandsfarben unentschieden,
ob ihre Eindringlichkeit auf der stark betonten Buntheit beruht oder auf
ihrer (durch die dunkle Foliierung gleichsam vorgeblendeten) Eigen-
helle“ (Strauss). 28 Eine Richtung der manieristischen Malerei wird
hieran anknüpfen.
Im Kolorit seiner Fresken 29 bleibt Raffael in der florentinischenTradi-
tion und führt diese zu vordem unbekannter Harmonie der Farben, be-
gründet auf Universalität der Farbgebung.
Emil Waldmann wies in seiner Studie über die „Farbenkomposition in
Raffaels Stanzenfresken“ 30 darauf hin, daß Lodovico Dolce, ein Vene-
zianer und Vertrauter Tizians, in seiner erstmals 1557 veröffentlichten
Schrift >LAretino, Dialogo della Pittura< von Raffael sagte, er „habe im
Kolorit alle übertroffen, die vor ihm malten, und das Kolorit in Raffaels
Fresken überträfe selbst das der größten Ölmaler“, und er bestätigte
diese hohe Einschätzung in seinen Darlegungen zur Raffaelischen Far-
benkomposition. Deren Besonderheit besteht einmal im „Wohlver-
halten der Farbvaleurs untereinander, als vorwiegend sinnlichen Ele-

28 Ernst Strauss, Raffael: Transfiguration. In: Strauss, Koloritgeschichtliche


Untersuchungen, 93.
29 FA: Deoclecio Redig de Campos, Raphaels Fresken in den Stanzen, Stutt-
gart 1984.
30 In: Zeitschrift für bildende Kunst, N.F., 25. Jg., 1914, 20-24, 76-80. Zit.
20, 21, 76/77.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 149

ment“, zum anderen „als baumeisterlicher logischer Faktor“, in der


„Art der Gesamtfarbenkomposition, welche die Aufgabe hat, die Kom-
position in Fläche und Raum und die Organisation der Massen zu unter-
stützen und fühlbar zu machen.“ Unter „Valeur“ verstand Waldmann
dabei die Einstimmung der Farben in einen „Gesamtton“, in eine Skala
vergleichsweise heller Farbwerte. Bei der >Disputà< der Stanza della
Segnatura (1508-1511) erscheint der Klang von Gelb und Fiellblau von
bildbestimmender Wirkung. Im Bildgrund mit Goldgelb im Empyreum
und hellem Blau als Himmelsfarbe kommt er ebenso zur Geltung wie in
Angelpunkten der Figuralkomposition. In dieses Grundintervall sind
die Stimmen der anderen Farben eingelassen, Weiß, gebrochenes Rot
und Griin vor allem. Gelb und Blau bleiben dabei auf Braun und Grau
latent bezogen, dies unterscheidet die Raffaelische Gelb-Blau-Paarung
vom venezianischen Gelb-Blau-Klang oder dem des 18. Jahrhunderts.
Auch im >Parnaß< bilden Gelb und Blau den Generalbaß der Farbkom-
position, die >Schule von Athen< dagegen entfaltet sich in vielgliedriger
Farbigkeit. Die travertingraue Folie der Architektur wird unterbrochen
vom stumpfen Graublau des Himmels, das als Hellblau wiederkehrt an
rhythmisch wichtigen Stellen der Figuralkomposition, zentral im Mantel
des Aristoteles verbunden mit Olivgriin in seinem Gewand sowie Grau-
violett und Karmin bei Plato. In vielfältiger Weise strahlen die Farben
der Hauptgruppe in die Figurenwelt aus; so dominieren etwa in der
linken Vordergrundgruppe die grauvioletten und braunroten Töne, in
der rechten die grünen. Gelb dient als „tektonische“ Farbe, akzentuiert
Beginn, Gelenkstellen und Schluß der Figurenkomposition. Vereinzelt
schließen sich Farben zu Triaden zusammen, so in der Gestalt des Ste-
henden mit Buch in der Gruppe vorne links, mit Goldgelb, Rotbraun
und Lavendelblau, öfter aber bilden sich Farbdyaden von Gelb und
Weiß oder Weiß und Griin. Damit sind jedoch nur wenige Momente
dieser sich in höchster Freiheit und spielerischer Leichtigkeit entfal-
tenden Farbenfülle angesprochen. Alle Buntfarben nähern sich durch
zarte Graubrechung dem schimmernden Grau der Architektur, in ihren
Lichtpartien den Hellflächen des Grundes, in ihren Mitteltönen den
Halbschatten der Architektur. So erscheinen die Figuren meist wie im
Halblicht stehend, und darin lebt die mittlere Helligkeit der Quattro-
cento-Malerei verwandelt fort.
In der Stanza dell’Eliodoro (1512-1514) steigert Raffael die Helldun-
kelkontraste, „in der >Befreiung Petri< fiihrt er Nachtbeleuchtung und
zweierlei kimstliches Licht ein, in dem Tempel, aus dem Heliodor ver-
trieben wird, herrscht eine Art von dämmrigem Halbdunkel, helle
Gruppen wechseln mit dunklen ab, und in der scharfen Beleuchtung der
>Messe von Bolsena< findet er eine Reihe von Anlässen zur Trennung
150 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

heller und dunkler Partien“. In der >Vertreibung Heliodors< klingt noch-


mals die Dyade von Blau und Gelb auf, auch erweitert um Grau, Grau-
rosa und Grüntöne, in jähem Wechsel farbiger und buntfarbenindiffe-
renter Partien. Die >Messe von Bolsena< 31 schließlich zeigt Raffaels
Kolorismus bereichert um subtile Abstufung von Rottönen: In der Figu-
rengruppe rechts sind unterschiedliche Rotwerte sensibel aufeinander
abgestimmt: von hellem Salmrot bis zu tiefem Schokoladenbraunrot,
mit zweierlei Tomatenrot, bräunlichem Lila und samtigem Rotbraun.
Mit hellem Resedagrün und dem hellbräunlichen Rosaton der sitzenden
Rückenfigur links erklingt ein „prämanieristischer“ Akkord.
An Raffael schließen Giulio Romano und Giorgio Vasari an. 32
Fra Bartolommeo (1472-1517) repräsentiert die Florentiner Hoch-
renaissance nach dem Weggang Leonardos. Er verbindet plastisches
Helldunkel mit Schönfarbigkeit. Die >Vision des hl. Bernhard< (1504—07,
Florenz, Accademia) erinnert, neben der Beeinflussung durch Leo-
nardo, noch an Perugino. Das Dunkel sammelt sich vorn, in der Bronze-
tiefe des Bodens und des Pultes, in der Schattentiefe der Männergruppe
rechts, die in schwarzer Silhouettierung gegen den zartblauen Himmel
stehen und gegen das warme, „wollige“ Weiß Bernhards kontrastieren.
Buntfarbig-hell entsteigt die linke Gruppe dem Bodendunkel, angeführt
vom heftigen Blau Mariens, das aber wieder in schwärzliche Tiefe sinkt,
bei den Engeln in vielfarbigem Wechsel: braunrot, weiß, erbsgrün,
tomatenrot, blaugrün, braun, violett. Die Dunkelheiten entwickeln sich
im Innern der umgrenzten Formen, dringen noch nicht nach außen. In
der >Mystischen Vermählung der hl. Katharina< (1511, Louvre) 33 er-
scheinen tiefe, klangvolle Farben: Gelb mit übergänglich sich vertie-
fenden braunen Schatten, kombiniert mit Blau, helles, zu Rosa und
Purpur changierendes Zitrongelb, zusammengestellt mit Griin und
Cremerot bei den zwei Randfiguren, also mit hohem Bildwert. Sie
rahmen Maria in purpurkarminfarbenem Gewand und ins Dunkle fiih-
rendem blauem Mantel. Ein flaschengriiner Vorhang schließt die Kom-
position nach oben ab. Die Farbtotalität entfaltet sich vor graubrauner,
langsam ins Dunkle gewölbter Nische. Farbe und Farbdunkelheit halten
noch das allmählich sich weitende Raumdunkel in Grenzen. Dagegen
wachsen beim >Salvator mundi< von 1516 (Florenz, Palazzo Pitti) die

31 Vgl. dazu: D. Redig de Campos, Cromatismo veneziano di Raffaello nella


>Messa di Bolsena<. In: Venezia e l’Europa, Atti delXVIII Congresso internazio-
nale di storia dell’arte, Venedig 1956, 259-262.
32 Vgl. aber auch: Kathleen Weil Garris Posner, Leonardo and Central Italian
Art: 1515-1550, New York 1974.
33 FA: Laclotte, Louvre, II, 30.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 151

Buntfarben aus der Dunkelheit hervor (weiches, braunverschattetes


Rot, Blaugrau, Braunkarmin, Moosgriin). Die Bilderscheinung steht
nun unter dem Aspekt der Dunkelheit, die Komposition gipfelt im Weiß
des Christusmantels. Die Tonhöhe der warmgrauen Architekturwand
steht zwischen der Helligkeit des Weiß und der Dunkelheit der Schatten
und des die Gestalten umgebenden Raummediums. Luminarismus ist
an die Stelle koloristischer Gestaltung getreten.

Michelangelo 34 (1475-1564) fiihrt in seiner Farbgestaltung die Floren-


tiner Tradition'ins 16. Jahrhundert hinüber: Buntfarbigkeit in mittlerer
Helle, entschiedener Reliefschichtung und Konturenbestimmtheit. Das
Übernommene aber bildet er tiefgreifend um. Bei seinem einzigen ge-
sicherten Tafelgemälde, der >Madonna Doni< (um 1504, Florenz,
Uffizien) ist ,,die reine Scheidung einer farbig stark in sich kontrastierten
Figurengruppe von neutralerem Grunde ein Merkmal spätquattrocenti-
scher Koloristik überhaupt, die nahe Verwandtschaft einzelner Haupt-
farben - besonders des Gelb, Karminrosa und Grün - mit der Tafel-
malerei Ghirlandajos steht außer Frage“. „Alle Buntfarben (einschließ-
lich des zu einer eigenen Farbgröße erhobenen Grau) sind rings um die
helle Kernform des Mariengewandes angeordnet, ... aber die Hervor-
hebung der Mitte ist gleichsam eine negative: sie wird nicht durch eine
akzentuierende, ,tragfähige‘ Farbe markiert, sondern durch ein breit
aufgelichtetes, auch in den Schatten noch helles Karminrosa. Die ,leich-
teste“ Buntqualität des Bildes wird von dichteren und schwereren Farb-
werten umfaßt ... Dieser Verschiebung der natürlichen Gewichtsver-
hältnisse der Farben entspricht eine Umwertung, eine Umkehrung der
ihnen in gesättigtem Zustande jeweils eigenen Helligkeiten: die ihrer
Natur nach dunklen Qualitäten (Karmin, Blau) werden als helle, oder
offensichtlich vom Licht betroffene ausgelegt, das spezifisch helle Gelb
hingegen erscheint vertieft und in seinen Schatten noch durch Orange
und Braun beschwert.“ (In solcher Umkehrung liegen „Keime der
manieristischen Koloristik“.) „Nur das Grün wahrt seinen äußersten
Sättigungsgrad, ohne jedoch die Anziehungskraft eines Hochrot zu be-
sitzen, das bezeichnenderweise in der Skala fehlt.“ Der hellbronze-
farbene, dumpfe Inkarnatton bildet mit verschiedenen Gelbwerten ein
unstimmiges Intervall, unentschiedene Kontraste zu den übrigen Bunt-
heiten, ist ihnen verbunden in der Art der Formmodellierung, insofern

34 FA: The CompleteWork of Michelangelo, Vol. I, London 1966. -ZurFarbe


bei Michelangelo vgl. auch: Domenico Purificato, Valori coloristici nell’opera
pittorica di Michelangelo. In: Michelangelo Buonarroti, pittore, letterato, scul-
tore, architetto, Cortona 1978, 116-120.
152 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Michelangelo konsequent ,,das Prinzip der ,changierenden‘ Brechung


der Gewandflächen (d. h. der entschiedenenTrennung der dem Licht zu-
gewandten, oft noch weiß überhöhten Dingfarbe von der tiefer gestuften
Schattenfarbe) auf das Inkarnat“ überträgt, das „somit vollen Anteil an
der hochreliefmäßigen Plastizität der Formen und als Oberfläche einen
mattschimmernden, politurartigen Glanz“ erhält. Gleichzeitig aber ist
die Inkarnatfarbe ein Mittel koloristischer Vereinheitlichung, sie über-
greift das komplexe Gefüge der unbekleideten Körperteile, nivelliert
deren Plastizität, verklammert die auf den Inkarnatton abgestimmte
Farbigkeit des Mittelgrundes mit der Hauptgruppe, nähert sich so der
Erscheinung eines „monochromen Grundes“ (Strauss). 35
Die im Gang befindliche Restaurierung der Sixtinischen Decke im
Vatikan (1508-1512) wird eine neue Bewertung der michelangelesken
Farbgestaltung ermöglichen. Hingewiesen sei hier nur auf die Hellig-
keitssituation des Deckenfreskos. Das gebrochene Weiß seines architek-
tonischen Scheingeriists, das als tragender Grund fungiert, scheint her-
vorgegangen ,,aus dem silbrigenTon des reflektierten Raumlichts in der
Deckenzone“. „Sämtlichen Farben des Freskos teilt es sich mit; auch die
durch neutrale Braunstufungen reich modifizierten Inkarnatfarben er-
scheinen von ihm durchstimmt und dadurch noch stärker einer Marmor-
und Steinfarbe verwandt als der natürlichen Körperfarbe.“ Auf der
Basis des grundierenden Lichtgraus und über den Zwischenstufen der
Inkarnatfarben bilden die Buntfarben meist die obersten Schichten
eines konsequent dem reliefräumlichen Prinzip folgenden koloristi-
schen Aufbaus. Die Dreiheit der sekundären Farben, mit vielfältig ge-
brochenem Grauviolett als führender Farbe, steigt zum Ordnungs-
prinzip der Farbkomposition auf. 36
Im >JUngsten GerichU (1536-41, Rom, Vatikan) dient Michelangelo
die Scheidung der Freskofarben „in die ,natürlichen‘ (= Erd)-farben
(Ocker, Terra di Siena, Umbra, Terra Verde) und die ,künstlichen‘ (Ul-
tramarin, Weiß) primär als Basis eines prinzipiell zweifarbigen Aufbaus“
(Strauss), in den Fresken der Vatikanischen Capella Paolina verdichtet
sich die fahle, in engen Intervallen stufende Farbigkeit an einzelnen
Bildstellen zur sekundären und primären Trias. Vor bleichgraublauem
Himmel und wie ausgedörrtem hellgraugrünen Landschaftsgrund
stehen bei der >Bekehrung des Saulus< (1542-45) fahles Graulila und
Grünspangrün, in der Figur des Saulus erweitert um Kupferbraun zum

35 Strauss, Michelangelo: Madonna Doni. In: Strauss, Koloritgeschichtliche


Untersuchungen, 91, 92.
36 Vgl. hierzu: Strauss, Michelangelo: Sixtinische Decke. In: Strauss, Kolorit-
geschichtliche Untersuchungen, 92, 93.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 153

Verweis auf die sekundäre Trias. In der Figurengruppe rechts vereinen


sich trockenhelles Kobalt, triibes Ockergelb und Rotocker zu einer Drei-
heit verhangener Primärfarben. Die Landschaft der >Kreuzigung Petru
(1546-50) weitet sich zum bleichblauen Band der Berge unter weißlich-
blauem, gegen den Horizont hin blaßorangefarben aufhellendem
Himmel. Im Zentrum umkreisen den Gekreuzigten fahles, ins Weißgrau
gebrochenes Blau, an das Grünspangrün anschließt, Goldoliv und Oran-
gebraun. In nahen Intervallen zum Grund und zum trocken-rinden-
haften graubraunen Inkarnat bewegen sich auch Graublau, Kupfer-
braun, Grauviolett, helles Grau und Messinggelb, unruhig verstreut auf
die übrigen Figuren.
Andrea del Sarto (1486-1530) wurde von Jacob Burckhardt als „wohl
der größte Kolorist, welchen das Land südlich vom Apennin im 16. Jahr-
hundert hervorgebracht hat“ 37, bezeichnet. John Shearman 38 präzi-
sierte dieses erstaunliche Urteil dahingehend, daß bei Andrea del Sarto
„expression of beauty through colour“ in seinem Spätwerk zu unge-
wöhnlicher Bedeutung aufsteigt, daß er der einzige Künstler ist, der die
neuen ästhetischen Ideale von „maniera, grazia, sprezzatura“ in den
Farben zum Ausdruck bringt. Leonardos Helldunkeleinheit (“tonal
unity”) ist für ihn die Ausgangsbasis, er modifiziert sie nach zwei Hin-
sichten: er gibt den Farben stärkere Buntkraft zurück und nähert die
Helldunkeleinheit einem „natürlichen“ Eindruck. Die Fresken im Chio-
stro dello Scalzo, Florenz (1515, 1523) ermöglichen reiche Anwendung
des Helldunkels nun in der Fresko-Technik, das diesem Gestaltungs-
mittel nicht eigentlich entgegenkommt. Auch Sartos neue Differenzie-
rung der Farben in Nuancen wird hier sichtbar. Ein weiterer Schritt wird
getan mit der Thematisierung der Unbeständigkeit von Farben, der “in-
stability of colour”, durch Verfeinerung changierender Farbwirkungen,
beim Engelsgewand der >San Gallo-Verkündigung< (von ca. 1512, Flo-
renz, Pal. Pitti), dessen Obergewand von Grauviolett zu Hellrosa, mit
vielen zarten Veränderungen, changiert, oder der mittleren Frauenge-
stalt der >Geburt Mariens< im Chiostricino von SS. Annunziata, Florenz
(1513/14). Sarto folgt hier Fra Bartolommeo, wie auch in der neuen In-
tensivierung der Buntkraft bei gleichzeitigenTafelbildern. Wichtige Bei-
spiele hierfür sind die Darstellungen der >Heiligen Familie< in München
(um 1514/15) und Paris (um 1515/16). Hier 39 ist dieTrias aus Kobaltblau,

37 Jacob Burckhardt, Der Cicerone (1855), zitiert nach Burckhardt, Gesam-


melteWerke, Bd.X, Darmstadt 1959, 250.
38 John Shearman, Andrea del Sarto, Vol.I, Oxford 1965, Kapitel VIII,
Colour, 131-148.
vr FA: Laclotte, Louvre, II, 34.
154 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Karmin und Zitrongelb auf die Figur Mariens, in Mantel, Kleid und
Ärmel, mithin im linken unteren Bildviertel, konzentriert. In den üb-
rigen Bildteilen herrscht Helldunkel, getragen von Grau- und Blaunu-
ancen, perlmuttigem, blautonigem Grau im Gewand der Elisabeth, in
ihrem Kopftuch zu Weiß sich erhebend, hellem Lila in der Fell-Innen-
seite des Johannesknaben, grünstichigem Blau im Engelsflügel. Aus
dem Grund, einem dem Schwarz sich nähernden Braun, leuchtet geister-
haft der hell graubräunliche Inkarnatton auf. Oszillierendes Licht
herrscht. Gleichwohl aber wechseln Buntfarben, Grau und Weiß in
„changierenden“, das heißt kubisch geschliffenen Brechungen - auch
dies ein wesentlicher Lfnterschied zu Leonardos Gestaltung.
Das Hauptwerk seiner mittleren Zeit, die >Madonna delle Arpie<
(1517, Florenz, Uffizien) 40, zeigt Helldunkel und Farbe in vollkommener
Gleichwertigkeit, „ohne daß die beiden Elemente im Gesamteindruck
sich voneinander scheiden ließen, wie dies noch bei Raffael oder Fra
Bartolommeo - etwa im Falle einer idealisierenden Hervorkehrung der
Gegenstandsfarbe noch vorstellbar wäre. Gewiß: die Vorrangstellung
der Triade (in den Gewandfarben Mariens) ist offenkundig und wird
noch unterstützt durch ihre Position auf der mittleren Senkrechten; die
große rote Fläche des Mantels bei Johannes hat die gleiche seitlich ab-
schließende Funktion wie in anderen hochklassischen Kompositionen.
Gleichwohl erscheinen diese Farbkomplexe den farbschwächeren Par-
tien nicht eigentlich als in sich ruhende Größen entgegengestellt, son-
dern, vergleichsweise unfest, offen nach ihnen hin ausgerichtet oder im
Zustand der Durchdringung mit ihnen. Umgekehrt besteht bei den lumi-
naristisch-unbunten Elementen die Tendenz, sich überall den Zugang
zur Farbigkeit offenzuhalten. Schon die Goldtonigkeit der foliierenden
Wandnische läßt eine solche Hinwendung verspüren. Das schimmernde,
reich modifizierte Olivbraun der Architekturteile bildet nicht allein die
Grundfarbe des Gemäldes - wieviel trägt seine Verwendung als Stein-
farbe anstelle eines ,naturalistischen‘ Graus zum Eindruck der Entmckt-
heit der Darstellung bei! -, sondern es konstituiert zugleich den gemein-
samen Schattenton ganz verschiedenfarbiger Komplexe. Auf solche
Weise erhält etwa das leicht opalisierende Grau der Mönchskutte wie
das ihm gegenübergestellte Kirschrot des Johannesmantels die gleiche
Valenz. Es entsteht der Eindruck, als ob diese Gegenstandsfarben
potentiell schon im Dunkelton ihrer Verschattungen enthalten seien, um
im Bildlicht sich zu individuellen Buntheiten voll auszugestalten. Dieser
Übergang vollzieht sich jedoch nicht plötzlich und nicht nur an den Wen-
dungen der Form der Tiefe zu, sondern wird noch in der entfalteten

40 FA: Kindlers Malerei Lexikon im dtv, Bd. 11, 73.


Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 155

Buntheit selbst wahrgenommen: es ist, als ob der Buntwert durch einen


,Anstoß‘ aus dem Dunkel in eine leise bebende Bewegung versetzt
würde, die erst da zum Stillstand kommt, wo die jeweilige Farbhelligkeit
sich mit äußerster Schärfe vom tiefen Dunkel abhebt. An solchen Be-
grenzungsstellen scheint oft selbst der Umriß noch von der gleichen
vibrierenden Bewegung erfaßt; zwischen ihm und den ,weichen‘ Über-
gangszonen blüht die Farbe im Bildlicht auf und läßt doch gleichzeitig in
ihrer überflorten, zuweilen ans Schummrige grenzenden Wirkungsweise
ihre Rückbildung an das Dunkel verspüren. Die Einführung dieser in-
nerlich erregten, für jede Induktionswirkung besonders anfälligen Farbe
bedeutet ein Novum in der Geschichte der neueren Koloristik. Sarto ist
der erste Maler des 16. Jahrhunderts, der von der Modulationsfähigkeit
der Farbe bewußt Gebrauch macht“ (Strauss). 41
Im >Abendmahl< von San Salvi, Florenz, und der >Madonna delSacco<
von 1525 (Chiostro de’ morti, SS. Annunziata, Florenz) erreicht Sarto
seine koloristische Meisterschaft als Freskant. Reflexfarben durch-
dringen das aufgelichtete Helldunkel, bei Gemälden wie der >Pietà< von
etwa 1525 (Palazzo Pitti) erfüllt Farbharmonie in neuer Weise das ganze
Bild: “Harmonie and beauty are universal effects; there are now no solo-
passages”. Weitere Hauptwerke farbiger Gestaltung, von John Shear-
man genau beschrieben, sind die >Madonna della Scala< (um 1522, Ma-
drid, Prado), die >Gambassi Madonna< im Palazzo Pitti (1525/26), die
>Hl. Agnes< des Polyptychons im Pisaner Dom (1527/28), die >Quattro
Santi< der Uffizien (1528). Späte Werke, die >Opferung Isaaks< in
Dresden 42 (wohl 1529), die >Caritas< derNational Gallery in Washington
(Kress Collection, vermutlich gleichfalls 1529 entstanden), lassen eine
neue Härte der Farbe und edelsteinhaften Glanz erkennen, der verlo-
rene >Heilige Sebastian< weist, von den Kopien aus geurteilt, auf die
Farbgebung des Florentiner Manierismus voraus.
Jacopo Pontormo 43 (1494—1557) „arbeitet sich aus der tiefen Verfan-
genheit der Farbe im Helldunkel, wie sie sein Lehrer Andrea del Sarto
kennt, Zug um Zug heraus“ (Emil Maurer). 44 Die >Heimsuchung< im
Vorhof der SS. Annunziata in Florenz (1514-16) ist noch eingehüllt in
weiches Helldunkellicht, das den Farben einen seidigen, matten Licht-
41 Strauss, Andrea del Sarto: Madonna delle Arpie. In: Strauss, Kolorit-
geschichtliche Untersuchungen, 94, 95.
42 FA: Kindlers Malerei Lexikon im dtv, Bd. 11, 78.
43 FA: Kurt W. Förster, Pontormo, München 1966. -Luciano Berti, L’opera
completa del Pontormo (Classici dell’Arte, 66), Mailand 1973.
44 Emil Maurer, Zum Kolorit von Pontormos >Desposizione< (1980), wieder-
abgedruckt in: Maurer, 15 Aufsätze zur Geschichte der Malerei, Basel etc. 1982,
109-122, Zitat Anmerkung 28, S. 120.
156 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

schimmer verleiht. In den Hauptfiguren sammeln sich die Farben zu


Triaden, Hellblau, zuWeißlich aufgehellt, mitFraiserotund Goldgelbzu
einer delikaten Version der primären Dreiheit in der Gewandung Ma-
riens, kupfriges Gelb, Hellgriin, Hellviolett in der Figur der Elisabeth,
vermehrt um Weiß. Gewählte Nuancen tauchen auch in den anderen Ge-
stalten auf, Pfirsichgelb, Hellgraulila, Ocker, zu stumpfem Violettbraun
changierend, Rottöne in mannigfachen Modifikationen, „schwebend“
zwischen Kastanienbraun und Grauviolett. >Joseph in Ägypten< (um
1515, National Gallery London) 45 zeigt die Buntkraft angewachsen, Rot
und Blau sind in mehreren nahen Intervallen durch das Bild gefiihrt und
suchen Anschluß an Braun und matt leuchtendes Grau. Die unterschied-
lichen Töne erscheinen jedoch stets als eigenwertige Farben, nicht als
Übergänge zum Dunklen oder Hellen. Selbst als Halbschatten und
Reflexfarben bleiben sie selbständige Buntwerte. In seinen reifen Bil-
dern führt Pontormo dies Phänomen zu ungeahnten Wirkungen. Die
>Grabtragung< in S. Felicità zu Florenz 46 (1525/26-28), ein Schliisselwerk
seiner Farbgestaltung, schließt in der „Umfassung einer farbig nicht be-
tonten Mitte durch stark kontrastierende Buntheiten“ an Michelangelos
Doni-Tondo an. In der eigenwilligen Interpretation dieser Buntheiten
geht Pontormo aber weit iiber Michelangelo hinaus. Er „zeigt wohl alle
Hauptfarben je ein- oder zweimal an formal wichtigen Stellen in voller
Sättigung und Reinheit, viel häufiger aber in weiter Entfernung von
ihrem Normalzustand, unter Umgehung von Zwischenstufen. Dies trifft
vor allem auf das Blau zu, das als ein ausgesprochen hellerWert, nach ge-
decktem Tiirkisblau und Grau hin gebrochen, den weitaus größtenTeil
der Bildfläche beansprucht. Das Gelb erscheint nur im unteren Bild-
drittel dicht und ungetriibt, sonst ausschließlich in extrem hoher ,Stimm-
lage‘ und ,versetzt‘ zu unreineren Nuancen. Wohl am aufschlußreichsten
aber ist die Verwendungs- und Erscheinungsweise des Rot: Gleichgiiltig
ob es als reines Hochrot gegeben ist oder, in äußerster Verdiinnung, als
ein überhelles Rosa (wie besonders in der unteren Bildhälfte) - beide
Male wirkt es nicht so sehr als Attribut einer Gegenstandsfarbe wie als
eine Lichtqualität, jedoch unabhängig von äußerer Beleuchtung. An
dem doch im Halblicht ,gedachten‘ Uberwurf der linken Randfigur gliiht
es in hoher Intensität auf, im Gewande der Riickenfigur vor Maria er-
scheint es wie ein leuchtender, zu reiner Buntheit gesteigerter Reflex.
Gleiches gilt von fast allen Buntfarben in ihrer aquarellhaften Transpa-
renz. Ihre ,schwebende‘ Helle ist... eine von innen her motivierte. Das

45 FA: Wilson, National Gallery London, 54.


46 FA auch in: Von Farbe und Farben, Festschrift Knoepfli, 317. - Maurer,
15 Aufsätze, 111.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 157

sie sublimierende Licht greift selbst die Substanz der Gegenstands-


formen an, oft bis zu einem so hohen Grade, daß die Oberflächenqua-
lität des Farbträgers sich der Bestimmbarkeit entzieht (im Oberkörper
des den Leichnam stützenden Jünglings vorne erscheint der materielle
Unterschied zwischen Inkarnat und Bekleidung nahezu aufgehoben).
Wo immer aber ,auftretendes‘ Licht gezeigt wird, wirkt es als Wider-
schein oder mondscheinartig bleich, als eine farbverzehrende eher denn
als eine farbsteigernde Kraft, der jedoch nirgends im Bilde ein Dunkel
polar entgegensteht“ (Strauss). 47 In der „Übermacht des Lichtes“ wie
im „spektralartigen Kolorit“ ist hier „eine Erscheinung höherer Natur
vermittelt - nicht das Abbild einer Leichentragung, das durch Elektion
und Purifikation idealisiert wäre, sondern, der manieristischen ,idea‘-
Lehre entsprechend, der Abglanz einer göttlichen Vorstellung, der, ge-
rade in seiner Allfarbigkeit und Helle, die Universalität und die hohe
Objektivität eines Urbildes behauptet“ (Emil Maurer 48).
In Bildern wie >Christus und die Jiinger in Emmaus< von 1525 (Flo-
renz, Uffizien) 49 zieht dann doch Dunkelfarbe in den Bildgrund ein.
Aber die Buntfarben verlieren sich nicht in diesem Dunkel, bleiben
scharf von ihm getrennt. Auch in ihnen spaltet sich Halblicht in intensive
Buntfarbigkeit, wird Lichtwirkung erzielt durch Stärke der Farbkon-
traste: leuchtendes Kirschrot gegen stumpfes Weiß, sattes Gelb, zu
hellem Rot changierend, gegen gedämpftes Graugrün in den Gewän-
dern der beiden Jünger, mit dem mittelhellen, im Halbschatten schwärz-
lichen Blau im Mantel Christi die Totalität der Farben repräsentierend.
Aber im Braun der Inkarnate, im Fußboden und den Stuhlbeinen lebt
das tiefe Graubraun der Folie, ins Hellere erhoben, weiter. Vor farb-
dunklem Grunde stehen auch der jugendliche >Alessandro de’Medici<
(1525/26, Lucca, Pinacoteca), das Karminrosa seines Mantels wie vom
Lichte aufgezehrt, und >Cosimo I. de’MedicU (1537/38, New York, Slg.
Stillmann), im leuchtenden Rot und aufscheinenden Gelb seiner Ge-
wandung.
Auch II Rosso 50 (1495-1540) geht aus von Fra Bartolommeo und An-
drea del Sarto. Schon im Altar von S. Maria Nuova, der >Madonna mit
vier Heiligen< von 1518 (Florenz, Uffizien) läßt er diese Vorbilder durch
Steigerung farbiger Ausdruckskraft hinter sich. Rosenkarmin mit

47 Strauss, Pontormo: Kreuzabnahme. In: Strauss, Koloritgeschichtliche


Untersuchungen, 95, 96.
48 Maurer, Zum Kolorit von Pontormos >Desposizione<, 119.
49 FA: Luciano Berti, Die Uffizien, Firenze 1971, 94.
50 Vgl. dazu auch: Linda Kay Caron, The Use of Color by Painters in Rome
from 1524 to 1527, Ph. D. Thesis, Bryn Mawr College 1981.
158 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

scharfen Facetten von Licht- und Halblichtflächen im Mantel des Täu-


fers fiihrt iiber eine Dunkelmulde zum Graublaugriin und Blaurosa der
Madonna und Griingrau des hl. Hieronymus rechts. Vor heller, griinlich-
grauer Folie beginnen die Farben zu phosphoreszieren, von innen
heraus zu gliihen. Farbig wird auch das Inkarnat, perlmuttig, in den
Putten orangerot und rosa aufleuchtend kontrastiert zu duftigen bläu-
lichgrauen, graugriinen und olivtonigen Schatten. Die >Kreuzabnahme<
von 1521 im Museum von Volterra zeigt Rosso auf der Höhe seiner Mei-
sterschaft. “The figures seem to have no substance; they exist only by the
response of their geometry of surface to the light. The light makes par-
adox: by it our perception of the picture becomes an intense optical ex-
perience, but the experience is not of a visual reality but of an appari-
tion” (Freedberg). 51 Vor graublauer, zum Nachtdunkel sinkender Folie
wird die Farberscheinung bestimmt von schneidenden Dissonanzen
naher Intervalle. Gelb, die dominierende Farbe, ist abgestuft in Siena-
goldgelb mit bernsteinfarbenen Schatten (die links Herausblickende),
warmes Cremegelb, hellolivbraun im Halbschatten (im Johannes-
mantel), mildes, warmes Hellgelb (im linken Träger), Umbra und
Zitron. Die Skala von Rot setzt ein bei einem zum blühenden Karmin
neigenden Ton (Magdalenengewand), Braunrot (im Gewand von Ma-
rias rechter Begleiterin), kühleren Nuancen von leuchtendem Karmin
(in den Gewändern des Mannes auf der Leiter und über dem Kreuz-
balken) und fiihrt zu einem zwischen Rostrot und Orange stehenden
Wert, der zwischen Gelb und Braun vermittelt (im Mantel des deu-
tenden Mannes auf der Leiter). Der Graublauton der Folie wird aufge-
nommen und um merkliche Stufen zur Schattenbildung vertieft im Ge-
wand des Mannes auf der Leiter, der Christus sfiitzt. Griin, zu Lauch-
griin gebrochen, nimmt im Mariengewand eine wichtige Stelle ein, und
so fort: Zwischenfarben steigen zur Bedeutung von Hauptfarben auf.
Von der ausfiihrlichen Beschreibung des Bildes durch Harry Mänz, die
die expressiven Werte thematisiert, sei nur der Anfang wiedergegeben:
„Der Christuskörper leuchtet wie eine tropische Pflanze in flüssigem
Oliv, das Schamtuch wie eine Blüte zart lilaweiß mit graublauen
Schatten. Haar und Bart sind rötlich braun. Seine Linke greift in hellem
Blaugrün wie ein Haken in das dunkelblaugrüne Gewand desTrägers ...
Griin und Braun werden so gesättigt und in so sorgfältiger Lasur durch-
leuchtet, als handle es sich um tropisch üppige, von Säften durchblutete
und vom Licht durchstrahlte exotische Pflanzen. Diese Metamorphose
bedeutet als nafiirlicher Vorgang entstellende Verwesung, aber es ist

51 S. J. Freedberg, Painting in Italy, 1500 to 1600, The Pelican History of Art,


Harmondsworth 1971, 128.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 159

eigenartig, daß die Autonomie der Farbe anderé, scheinbar lebensstarke


Erscheinungen assoziiert... Das bedrohend Unheimliche und Erschiit-
ternde am Werke aber ist die Doppelsinnigkeit, ... die iiberall glutvolle
Kraft hervorzubringen scheint, die aber im Ganzen des geistigen Ge-
bildes ... als entstellend gewertet wird .. ,“ 52
Im >Sposalizio< von 1523 (Florenz, S.Lorenzo) stehen dagegen vor
entschieden dunkler, tief kaffeebrauner Folie, eine dunkle Mitte rah-
mend, Maria und Joseph im gleichen, jedoch in der Licht-Farb-Diffe-
renz verschieden behandelten kiihlen Hellblau, kontrastiert zu Gold-
ockergelb. Delikate Farben sammeln sich in den Randflguren, links
Braun, Helloliv, Mattrosa, Helltiirkisgrau, Orange, durchbrochen von
heftigem Gelbakzent, rechts Rosa, Blond, dunkles Grau. Aufgehellte
Buntheiten werden zu Trägern aktiven Lichts, vor dunkler Folie und in
den Farbtönen sich nähernden Halbschatten. Daß kurz danach mit dem
Bild >Moses verteidigt die Töchter Jethros< (1523/24, Florenz, Uffizien) 53
ein Werk von kiihler, harter, Dunkelheit weithin meidender Farbigkeit
entsteht, bezeugt Rossos unruhige Suche nach immer neuen Gestal-
tungsmöglichkeiten.
Agnolo Bronzinos (1503-1572) Farbgestaltung sei mit einem kurzen
Zitat von Mänz angedeutet. Die Mehrzahl seiner Bildnisse zeigt „fiir
den ganzen Manierismus giiltige Farbmerkmale: Verdunkelung, Schwär-
zung, Triibung und Entkräftung der Farbe, schwarzen oder graugriinen,
olivfarbenen oder graubraunen Hintergrund, fahl leichenhaftes oder un-
gesundes Inkarnat in Grauocker, Olivocker, Mattrosa und Mattlila mit
bleiernen, toten braunen oder lilafarbenen, auch graugriinen Schatten.
Ein starker Gegensatz zu den schwärzlich dunklen Haaren und Augen,
die seltsam unmalerisch, metallisch gestrichelt sind mit unangenehmen
messinggelben, auch griinlichen Lichtern, dazu eine Gewandung in farb-
losen Braun- und Grautönen. Eine fanatische Auflehnung gegen Farbe,
weil Farbe Leben bedeutet.“ So wirken sich ,,an der Gestalt dem Bilde
immanente Farb- und Formwerte aus, die einem absoluten Reiche ange-
hörig die Welt des Natiirlichen drohend durchbrechen. Wie die Form-
kraft starker Geometrie die Körper spannt ..., so geht eine iibernatiir-
lich drohende, gleichmäßige Energie durch die Farbhaut und verdichtet
und lichtet sie im allmählichen starren Verlauf .. ,“ 54

52 Harry Mänz: Die Farbgebung in der italienischen Malerei des Protobarock


und Manierismus (Diss. Miinchen 1933), Berlin 1934, 78.
53 FA: Kindlers Malerei Lexikon im dtv, Bd. 10, 340.
54 Mänz, Die Farbgebung in der italienischen Malerei des Protobarock und
Manierismus, 92, 93.
160 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Correggio 55 (um 1489/94-1534) erhebt, wie vor ihm Leonardo, das


Helldunkel zum bestimmenden Gestaltungsmittel. Das leonardeske
Helldunkel macht er einer Lichtmalerei des Inkarnats dienstbar, auch
hat er als erster die „durch das Licht erzeugte Bewegung“, „Licht als Be-
wegungsfaktor“ eingeführt. 56 Nicht nur Licht-, sondern Lichtg/anzwir-
kung herrscht im Kuppelfresko von S. Giovanni Evangelista in Parma
(1520-21), in einer Konstellation sich gegenseitig übersteigernder, in
farbtonfreiem Lichtweiß gipfelnder Farbhelligkeiten. Christus schwebt
vor der goldgelb-weiß erstrahlenden Putten-Aura, die sich kaum vom
silbrigen Weißgelb des Himmels abhebt. Sein weich kastanienbraun ver-
schattetes Gewand gipfelt in reinem, kreidigem Weiß. Überall sind
Glanzlichter als „rauhreifartiges“ Weiß aufgesetzt. Der extremen Licht-
helligkeit steht keine entsprechend tiefe Dunkelheit gegenüber.
Beim >Traum der Antiope< (um 1524/25, Louvre) 57 erstrahlen die
Körper, farbig fest und homogen behandelt, in schimmerndem Licht.
Unscharf sind die Konturen, gleich hell mit den Lichtflächen; die
schwärzlichgrün-olivtonigen, also nicht rein durch Vertiefung von Gelb
erzielten Schatten verschmelzen mit dem Dunkelgrund. Konturlos geht
die Inkarnatfarbe Antiopes in die des fellumwickelten Köchers über
- wie nie bei Leonardo. Die Farbgebung des Bildes griindet im Gelb-
Blau-Kontrast, wobei Blau fast nur „suggeriert“ wirkt - hier weist Cor-
regio voraus auf das 18. Jahrhundert -, Gelb als Lichtfarbe über Braun
zum Olivton des Grundes übergeführt wird.
Aber Correggio kennt auch die Vereinfachung des farbigen Aufbaus
zur Trias der Grundfarben. So erscheint bei der >Mystischen Vermählung
der hl. Katharina< (um 1526/27, Louvre) 58 die Trias großflächig, aus
bräunlichem Karmin, Schwarzblau und Goldgelb, im Verein mit leuch-
tenden, die Buntqualitäten überstrahlenden Inkarnatflächen. Die Licht-
flächen bleiben homogen, aber da ihre Grenzen verfließen, scheinen auch
die Farben vibrierend in sich bewegt. Das Verschmelzen der Grenzen wird
Medium „schmelzender“ Empfindung.
In den späteren Bildern treten die Buntfarben zuriick. Hellstgelbliches
Inkarnat bricht bei Io (>Jupiter und Io<, um 1530, Kunsthistorisches
Museum Wien) 59 aus in weißes Licht, gleitet in kalt silbrigbräunliche

55 FA: Alberto Bevilacqua, A. C. Quintavalle, L’opera completa del Cor-


reggio (Classici dell’Arte, 41), Mailand 1970.
56 Vgl. Erich V. d. Bercken, Die Malerei der Friih- und Hochrenaissance,
Handbuch der Kunstwissenschaft, Wildpark Potsdam 1927, 250.
57 FA: Laclotte, Louvre, II, 33.
58 FA: Laclotte, Louvre, II, 34.
59 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 29.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 161

Schatten. Zu diesem seidigen Lichtglanz steht das schneeige, kalt zinn-


grau verschattete Weiß des Tuchs in einem unbestimmten Intervall
(schon bei Correggio kündigt sich das vonTurner mit aller Entschieden-
heit wiederaufgenommene Problem der Gelb-Weiß-Zusammenstellung
an). Koloristisch unbestimmbar bleiben auch die Intervalle des kalten
Schattengrau zum wärmeren, wattigen Grau der Wolke, der Inkarnat-
farbe zum kalten Bronzebraun der Erde - nur luminaristisch klingen sie
auf. Auch im Bild >Leda mitdem Schwarn (um 1531/32, Gemäldegalerie
Berlin) 60 sind Buntfarben nur in kleiner Quantität gegeben, als ge-
dämpftes Blau und bräunliches Orange in den Gewändern der Diene-
rinnen, als graugrim gebrochenes Blau in Bergen und Himmel. Kaltes
Braun, griinstichiges Bronzeoliv, silbriges Umbra, kaltes Grau breiten
sich in der Landschaft aus, betten in sich die silbrig-gelben Inkarnate,
das wärmere Weiß des Schwans. Die Farben leben in einem weichen
Helldunkel, mit lockerer, wie von Licht durchstrahlter Dunkelheit und
schwebenden, unfesten, gleichwohl homogenen Schatten. Seidiger
Glanz, Lichtschimmer überhöht die Farben - in solcher Zartheit erst
wieder, wenn überhaupt, von Werken des 18. Jahrhunderts erreicht.
Parmigianino (1503-1540) schließt an Correggio an, kontrastiert aber
luminaristische und koloristische Effekte und verhärtet den Lichtglanz
zu politurhafter Festigkeit. Die >Maria mit Kind und den hll. Johannes
d. T. und Hieronymus< (1527, London, National Gallery) 61 ist bestimmt
vom Widerstreit luminaristischer und rein farbiger Bezirke. Der Kar-
minton des Mariengewandes verliert fast gänzlich seinen Farbwert im
gleißenden Licht, weißlich strahlt das Inkarnat des Christusknaben auf,
gleitet in farblose Schatten, weiße Glanzlichter überhöhen das Inkarnat
des Täufers. Beim Hieronymus aber wirken das Rot des Mantels, das
Braun seiner Haut in ihrer Flächigkeit eher als Farben - in solcher Unter-
scheidung wohl auch Unterschiede der Realitätsgrade veranschauli-
chend. Bei der >Madonna del collo lungo< (1535-40, Florenz, Uffizien)
wird Farbe durch Rillung und Zerklüftung der Farbträger, durch Einwir-
kung harten, kalten Lichts auf glatte Oberflächen in ständiger Unruhe
gehalten. Maria erscheint in einem mit weißen Lichtgraten aufschim-
mernden, trübgrau-erdfarben verschatteten Gewand. Buntfarbigkeit
wird vom weißen Lichte aufgezehrt, versinkt im farbfeindlichen
Dunkel.
Etwas von der Zartheit Correggios geht ein in die Kunst Federico
Baroccis (1535-1612). Fließendes Licht bewegt dieFarben, ohne daß ihr
Buntwert dabei geopfert wird. Helle, lichte, aquarellhafte Farbigkeit be-

60 FA: Gemäldegalerie Berlin, 337.


61 FA: Wilson, National Gallery London, 54.
162 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

stimmt die >Rast aufder Flucht nach Ägyptem (>Kirschenmadonna<) von


1573 (Rom, Vatikanische Pinakothek) 62. Nur locker scheint die Farbe
den Dingen anzugehören, wie angehaucht wirkt das Inkarnat. Auf das
helle Grau des Vordergrundes folgen unvermittelt die Buntfarben, das
helle Blau des Marienmantels, das helle, verblasen bräunlich-karmin-
farben verschattete Rosa ihres Gewandes mit der hellgelben Innenseite,
dahinter Ocker und Lachsrot in der Gewandung des hl. Joseph. Pastell-
haft-leicht ist die Farberscheinung auch bei der >Fll. Familie mit dem
Johannesknaben< der Londoner National Gallery 63 (um 1577), wenn
auch in der Buntkraft etwas intensiviert. Vor großenteils tiefolivfarbener
Folie breiten sich die Triasfarben aus, Rot spaltet sich in Lachsrot und
Karminrosa, Gelb in sattes Goldgelb, mit Weißlicholiv wechselndes
Tmbgelb und griinliches Schwefelgelb. Nur Blau ist im Marienmantel
entschieden lokalisiert. Das Hauptinteresse zieht jedoch das Inkarnat
auf sich, in seinem perlmuttigen Schillern blaßrötlicher, gelblicher und
hellgrauer Töne, wobei die letzteren bald bläulich, bald griinlich indu-
ziert wirken. Das Inkarnat erscheint dennoch großflächig, im Gegensatz
zu Rubens, bei dem die Farbwechsel mehr der Modellierung dienen.
Dies Sfumato der Inkarnate ist eine Besonderheit der Farbgestaltung
Baroccis, wie auch die gleichsam unter flimmerndem Licht erfolgende
Aufhebung der Konturen: die Grenzen verfließen bei Wahrung der Form
(gut zu beobachten auch bei der >Madonna del Popolo<, 1579, Florenz,
Uffizien 64). Bei der >Beschneidung ChristU von 1590 (Paris, Louvre) 65
setzt eine Farbbewegung in großem Bogen ein mit dem zartflächigen
Lachsrot des Hirtenmantels, führt über das helle Bläulichgrau des Prie-
stergewandes zu einer ausgebreiteten Fläche von Zitrongelb bei der
Riickenfigur als konstrastierender Hauptfarbe zu Rot, endet im Rubin-
rot und matten Blau der Mariengewandung und in dem einem tiefen
Goldgelb nahenTon bei Joseph am rechten Bildrand: Varianten derTrias
spannen sich iiber die Bildfläche, verdichten sich rechts, teilen das Bild-
feld souverän in eine dunkle obere Bildhälfte, vor deren Braun rosahell-
graue Farbschemen schwebender Engel schillern, und eine hellere vio-
lettbraune untere.

„Betritt man in einer der großen europäischen Galerien die veneziani-


schen Säle, so wird man unmittelbar von einem ganz eigenen Wohlgefiihl
durchströmt. Man sieht sich von einer milden, weichen und vollen Far-

62 FA: Vatikanische Museen, Pinakothek, 46.


63 FA: Wilson, National Gallery London, 59.
64 FA: Kindlers Malerei Lexikon im dtv, Bd. 1, 209.
65 FA: Laclotte, Louvre, II, 42.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 163

bigkeit umgeben, die ebensosehr durch die beglückende Schönheit des


einzelnen Tones wie durch die Harmonie großer und einfacher, sozu-
sagen natürlicher und normaler Kontraste uns anspricht. In gleichmä-
ßigem Spiel breitet sich die Farbe über die Fläche aus, wie in einemTep-
pich sind die Töne ineinander gebettet, bis an die Bildränder ist alles
Dargestellte als Farbe betont. Abwandlungen und häufige Wiederho-
lungen verbinden oben und unten, links und rechts. Die Fläche bildet
mehr eine zusammenhängende als eine gegliederte Einheit. Die far-
bigen Konfigurationen und Akzente sind in eine durchaus farbige Umge-
bung gebunden, jede Grenze ist zugleich Übergang, jede Farbe geneigt,
sich nicht nur auf bestimmte andere, sondern auf das Ganze der farbigen
Fläche zu beziehen. Die venezianische Urbegabung sieht die Farbe
offen und ausgebreitet, liebt nicht den Gegensatz von Konzentration
und Ausdehnung, nicht das Isolierende und Hervorhebende. ... Auch
Licht und Schatten sehen die Venezianer als Farbflächen (daher Cé-
zannes Vorliebe fiir diese Maler), und daraus ergibt sich im 15. Jahrhun-
dert ein Konflikt, der gegen Ende zugunsten der Farbe entschieden ist;
das einfallende Licht auf Carpaccios Abschied der Gesandten (Ursula-
zyklus) verbindet sich als unmodellierte aprikosenfarbene Fläche mit
den angrenzenden Flächen der roten Gewänder. Diese Abneigung gegen
Isolierung der Farbe, gegen Verselbständigung von Licht und Schatten er-
klärt später die geringe Bedeutung Venedigs im Zeitalter Caravaggios.
... Wenn man venezianische Bilder mit anderen koloristischen Meister-
werken vergleicht, so haben sie ... Eines vor allen voraus: das Unwill-
kürliche und Unabsichtliche der farbigen Erscheinung. Die Farbe wird
dem Venezianer nie zu einer besonderen Aufgabe, zu einem für sich be-
stehenden, an sich ruhmeswürdigen Verdienst. Sie behandeln sie weder
geistreich noch raffiniert, noch betont geschmackvoll.“ „Für sie ist die
Farbe Lebenselement, selbstverständlicher Ausdruck des Daseins.“ Mit
diesen Worten charakterisierte Theodor Hetzer das Wesen veneziani-
scher Farbgestaltung. 66
Erich von den Bercken akzentuierte in seinen Untersuchungen vor
allem die „Gleichmäßigkeit der Bilderscheinung“, die „Flächendekora-
tion“ in der venezianischen Malerei. 67 ,,In den Mosaiken von S.Marco
besitzen wir die ersten wunderbaren Zeugnisse dieser Flächendekora-
tion. Die Maler desTrecento: Lorenzo Veneziano, Catarino Veneziano,
... nehmen den Stil auf, und im Quattrocento sind es hauptsächlich die

66 Theodor Hetzer; Tizian, Geschichte seiner Farbe, (1935), 2. Aufl. Frank-


furta.M. 1948,36,37,38,39.
67 Erich V. d. Bercken, Untersuchungen zur Geschichte der Farbgebung in
der venezianischen Malerei (Diss. Freiburg i. Br.), Parchim 1914.
164 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Stadtvenezianer, alle die Maler, die von fremder Kunst wenig beeinflußt
waren, die in ähnlichem Geiste ihre Bilder geschaffen haben: Jacobello
del Fiore noch ganz am Anfang des 15. Jahrhunderts, später Jacopo
Bellini, in dessen Madonnenbildern man den Einfluß der Mosaiken am
allerunmittelbarsten spürt, Fra Antonio da Negraponte, der den kräftig-
bunten Stil der Mosaiken ins Zarte iibersetzte, Crivelli, der in der Auf-
lösung des Bildes in gleichmäßig kleine Farbstiickchen bis nahe ans
Bizarre geht, schließlich Gentile Bellini, der durch seine Reise nach
Byzanz die Verbindung mit der dekorativen Kunst des Orients wachge-
halten hat. - Nur diejenigen Maler, die von der plastisch-isolierenden
Ausdruckskunst von Florenz, die iiberhaupt von fremder Kunst stärker
beeinflußt waren: Bartolommeo Vivarini, in den Bildern seiner späteren
Zeit, und Alvise Vivarini entfernen sich ein wenig-auch diese nicht allzu
sehr - von dem streng gebundenen Stil, wie ihn die altvenezianische Tra-
dition vorschrieb. - Mantegnas Einfluß war bei den Künstlern derTerra
ferma hauptsächlich maßgebend, und dort wo er nicht, wie in den
Werken des Crivelli oder des Gentile Bellini eine Vereinigung mit dem
Stil der Mosaiken einging - bei dem in Padua aufwachsenden Giovanni
Bellini - da schienen gelegentlich die venezianischen Traditionen zer-
springen zu wollen. Indes nur scheinbar; im Grunde blieb auch hier das
Prinzip einer Ebenmäßigkeit der Bilderscheinung, einer ruhigen gleich-
mäßigen Ausbreitung der Formen und Farben im wesentlichen durchaus
gewahrt, wenn auch die Teilung der Fläche nicht in jener kleinen, dem
Mosaik verwandten Art durchgeführt war, wie sie gleichzeitig mit Gio-
vanni Bellini in Venedig vor allem Carpaccio weiter ausgebildet hat.“ 68
Zwei Grundrichtungen lassen sich auch in der venezianischen Malerei
des 16. Jahrhunderts unterscheiden, die eine führt von Carpaccio zuTin-
toretto und Veronese, die andere von Bellini zu Tizian.
Vittore Carpaccios 69 (1460/65-1525/26) Malerei ist von Helldunkel
noch frei. Ein mildes, gelblich-warmes Licht erfüllt seine Bilder, ge-
tragen von gelblichen, roten, bräunlichen und olivtonigen Farbwerten.
Im Zyklus der >Ursulalegende< (1490-1496/98, Venedig, Accademia)
schlägt nicht nur die Struktur, sondern auch die warm-gelblichgraue
Farbe der Leinwand durch. Die lichtsammelnde Farbe ist nicht Weiß,
sondern ein leicht grau verhüllter Elfenbeinton, wie er am reinsten in
den Marmorinkrustationen zur Geltung kommt. Durch Neigung zu
Orange gewinnt er starke Leuchtkraft, durch Abkühlung ein olivartiges

68 Erich v. d. Bercken, August L. Mayer, Jacopo Tintoretto, Erster Band,


München 1923,116/117.
69 FA: Manlio Cancogni, Guido Perocco, L’opera completa di Vittore Car-
paccio (Classici dell’Arte, 13), Mailand 1967.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 165

Aussehen, das in sattem Olivgrün kulminiert. Weiß und helles, meist


grünliches Blau sind hier farbige Außenseiter. Insgesamt aber liegt das
Farbniveau tief. Flalbdunkelheit entsteht als Summe gedämpfter und ge-
senkter Farben, es entrückt die zahllosen Details in die Ferne, verhüllt
sie aber nicht, beläßt sie alle in gleichmäßiger Sichtbarkeit. Das Inkarnat
bleibt völlig in sie einbezogen, wird nie Lichtträger wie bei Bellini. Die
Bildgmnde vereinfachen sich im Zyklus von San Giorgio degli Schiavoni
(1502-1507, Venedig, Scuola degli Schiavoni) zu meist warmgelblichen
Folien (in Freiszenen mit blautonigen Himmeln), vor denen Zinnober,
Karmin, Ocker, Goldgelb, Braunorange, Graubraun, helles und tieferes
Graublau, Grauoliv und gedämpftes, immer als Gegenstandsfarbe gege-
benes Weiß stehen. Nun wird auch prägnanter die Farbigkeit der
Schatten sichtbar. Bei der >Vision des hl. Augustinus< erscheint inten-
sives Grün gerade im Schatten der Bodenfläche des Podiums, schattig
aber wirkt diese Zone nur im Kontrast zur Leuchtkraft der vom vollen
Licht getroffenen Flächen. Während bei einem Altarbild wie der >Dar-
bringung im TempeU von 1510 (Venedig, Accademia) im Halblicht auch
kräftigere Buntfarben gegeben sind, Karmin, Moosgmn, Orange, gelb-
liches Karminrosa, Biau - auch in Kombinationen, die ansatzweise
schon zur Farbe Veroneses führen -, entwickeln epische Darstellungen
die Variation verwandterTöne. In der >Predigt des hl. Stephanus in Jeru-
salem< (1514?, Paris, Louvre) 70 spaltet sich, bei intensivierter Körper-
haftigkeit und vertieftem Bildraum, Ocker als lichttragende Farbe in
eine Vielzahl von Brauntönen, die sich - vor allem in den Gewändern -
stufen von pastelligem Zitron über Bernsteinfarbe und Rotocker zu
Braunrot, Rot und Braun, im Erdboden und Hügel zu Oliv.
Den künstlerischen Weg Giovanni Bellinis 71 (um 1430-1516) charakte-
risierte Theodor Hetzer durch einen Vergleich der fmhen, zwischen 1460
und 1470 entstandenen >Pietà< der Mailänder Brera mit der >Madonna
mit Kind< von 1510 desselben Museums. Die Gegenüberstellung läßt er-
kennen, „daß Giovanni nicht von dem intuitiven venezianischen Bildge-
fühl ausgegangen ist wie Giambano oder der ihm gleichaltrige Lazzaro
Bastiani. Er gehört vielmehr zu den Venezianern ..., die erst in späteren
Jahren zum Venezianischen zurückfanden. Während jenes späte Bild
uns allererst als ein farbiges Ganzes anspricht, so daß die Figur und jedes
einzelne Ding in dieTotalität der Farbe eingebettet ist und sich den allge-
meinen Richtungen der Fläche unterordnet, sehen wir auf der Pietà zu-
erst die Gruppe und in der Gruppe die Figuren in ihrer körperlichen Iso-

70 FA: Laclotte, Louvre, II, 24.


71 FA: Renato Ghiotto,Terisio Pignatti, L’opera completa di Giovanni Bellini
(Classici dell’Arte, 28), Mailand 1969.
166 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

lierung ... Ähnliches gilt von der Farbe. Giovanni gibt den Figuren
reine, starkeTöne, durch die sie sich scharf von der Blässe des Flimmels,
von den neutralerenTönen der Landschaft abheben. Es fehlt die Wieder-
aufnahme der einzelnen starken Farbe in kleinen Farbpartikelchen, wo-
durch es auch dem Quattrocento in Venedig möglich war, die Flaupt-
farben untereinander und zur Landschaft in Beziehung zu setzen. Es ist,
als ob Giovanni sich sträubte, die Eindringlichkeit der einzelnen Figur,
die er auf ihre monumentale Geschlossenheit gründet, abzuschwächen,
und wirklich sind das matte Blau des Johannes, das mildernste Rot der
Maria, die griinliche Leichenfarbe Christi in der ,Pieta‘ wohl jedem Be-
sucher der Brera unvergeßlich. Wie in allem, so ist Giovanni auch in
seiner Farbe vom Erlebnis des Vorganges ausgegangen, und gerade
hierin liegt sein großes und unvergängliches Verdienst fiir die veneziani-
sche Malerei. Auch seine Farbe ist beseelt, befreit von dem kunstge-
werblichen Prunk der älteren Zeit. Solch zarte und durchgeistigte Nu-
ancen, solche edle Töne hatte man bis dahin in Venedig nicht gesehen.
Seinem ganzen Temperament nach gibt Giovanni keine jubelnde und
glänzende, keine sinnlich kräftige und heitere Farbe, und namentlich in
den frühen Bildern ist die Farbe eher düster und bleich, zeugt von der Er-
griffenheit, die ihn übermannt. Er gehört nicht zu den Malern, die wie
Mantegna, Tizian, Rubens das Rot nicht missen können; bis in die reife
Zeit hinein ist Blau seine Lieblingsfarbe, und in der Zusammenstellung
mit Blau, mit der Dominante des Blau, gewinnen auch Gelb und Griin
und Weiß eine ganz andere Bedeutung, als sie bei Mantegna undTizian
erlangen, die aus Rot und Gelb einen goldenen Fruchtsegen über uns
ausschütten.“ 72
Die friihen Bilder Giovanni Bellinis sind noch bestimmt von der ver-
haltenen mittleren Helligkeit, die der italienischen Quattrocentomalerei
insgesamt eigen ist. Erst um 1490 endet diese quattrocentistische „Bunt-
helle“ in einer Neuorientierung, die der leonardesken in manchem ver-
gleichbar, von dieser jedoch nicht beeinflußt ist. Bei der >Madonna mit
Kind zwischen den hll. Katharina und Magdalena< (Venedig, Acca-
demia) leuchten vor dunkler, schwärzlicher Folie die rötlichgelben In-
karnatfarben auf. Zwischen Dunkelgrund und leuchtendem Inkarnat
vermitteln die Buntfarben, Rot und Blau, diese selbst der dunklenTiefe
zugewandt. Auch vor mittelheller Folie konzentriert sich das Licht nun
im Inkarnat, so bei der >Madonna mit Kind zwischen den hll. Paulus und
Georg< (1490-1500, Venedig, Accademia) in den Gestalten Mariens und

72 Theodor Hetzer, Venezianische Malerei von ihren Anfängen bis zum Tode
Tintorettos, Schriften Theodor Hetzers, hrsg. von Gertrude Berthold, Bd. 8,
Stuttgart 1985, 232, 233.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 167

des Kindes, und im Weiß des Kopftuches. Die Farben sind ganz tief ge-
halten: verhülltes Rotbraun, Blau, Oliv und Schwarz bestimmen den
Bildeindruck.
Mit Giovanni Bellini beginnt ein spezifisch venezianischer Lumina-
rismus. Licht und das ihm gleichwertige Dunkel machen sich als neue
optische Qualitäten bemerkbar und verbinden sich aufs engste mit den
koloristischen. Die Lichtintensität sammelt sich im Inkarnat, das in
bisher unbekannter Weise zum Leuchten gebracht wird.
Das Licht organisiert nun aber auch den Bildaufbau im ganzen. Von
rechts fällt das Licht ein bei der >Sacra Conversazione aus S. Giobbe<
(um 1487, Venedig, Accademia), Maria wendet sich ihm zu, der
Rhythmus der Figurenkomposition wird im verborgenen von diesem
Licht bestimmt. Das Licht begegnet den dargestellten heiligen Gestalten
- und auch dem Betrachter, dessen Blick dem Weg des Lichtes nicht un-
mittelbar folgen kann: gerade die dunkelste, schließende Figur des hl.
Franziskus links nimmt auf ihn Bezug. (Umgekehrt blickt im Triptychon
der Frarikirche von 1488, bei Lichteinfall von links und ihm entspre-
chender Wendung von Maria und Kind nach links, der rechts schlie-
ßende hl. Benedikt aus dem Bilde.) Noch bei Antonello da Messinas
(um 1430-1479) >Madonna mit den hll. Nikolaus von Bari, Anastasia (?),
Ursula und Dominikus< (1475/76, Kunsthistorisches Museum Wien) 73
scheinen die Gestalten nichts vom Licht zu wissen. Der Lichteinfall im
Bilde Bellinis aber wird - wie vorbereitend schon bei Antonello - ge-
tragen vom Leuchten des Inkarnats; im Inkarnat des hl. Sebastian,
rechts, sammelt sich die Kraft des Lichts und nimmt nach links hin ab,
anschwellend einzig bei Maria und dem Kinde. Dem figuralen Licht-
schwerpunkt rechts antwortet das links sich verdichtende Raumlicht der
goldmosaizierten Apsiskuppel. Licht und Dunkel sind farbig durch-
stimmt. Aus dem bräunlichen Dunkelton der Nische heben sich be-
hutsam, die Formgrenzen zart überspielend, zu warmgelbfarbener Licht-
helle die Inkarnate, begleitet von warmweißen Gegenstandsflächen. In
der vertikalen Bildachse konzentrieren sich die Buntfarben, dunkles
Blau im Marienmantel, Olivgelb, Weißgraublau und Mattgelb in der
Engelsgruppe. Das englischrote Buch des hl. Dominikus kann Gelb und
Blau zur Trias ergänzen, die sich jedoch noch nicht zur Farbfigur
schließt.
Zu größeren Komplexen faßt Bellini Licht und Dunkel bei der >Sacra
Conversazione< in S. Zaccaria, Venedig (1505) zusammen, läßt sie freier
den tieferen und weiteren Bildraum erfüllen. Das Licht löst sich nun von
seiner Bindung an die Inkarnate, schlägt sich nieder an den struktiven

73 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 12.


168 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Elementen der Bildarchitektur, bleibt damit, im Gegensatz zum Bild-


licht Carpaccios, immer formgebunden. Von links fällt hier das Licht ins
Bild, die Buntfarben heben sich aus dem Dunkel ihm entgegen. Dunkel
vor dunkel stehen die Heiligen links, in tiefem Rostbraun, zart bläu-
lichem perlmuttigem Grau, dunklem Moosgriin. Das gebrochene Blau
des Marienmantels, das tiefe Rubinrot ihres Gewandes suchen das
Licht, entschiedener steigt das Gelb des Engelsmantels zum Lichte auf.
Nach der Zäsur von golddurchwirktem Taubengrau im Gewand der hl.
Lucia schließt der Bildbau im kraftvoll-milden Rot des hl. Hieronymus.
(„Giovanni Bellini hat sich zum Rot gefunden ..., zu einem Rot, nicht
schmetternd und jubilierend, sondern in stiller Sättigung vibrierend. “ 74)
Die Trias der ins Licht gebetteten Grundfarben ist locker gefiigt, verteilt
auf Maria, den Engel und den hl. Hieronymus, trägt gleichwohl nun ent-
scheidend zur Bildtektonik bei. Haare und Inkarnatschatten durchzieht
das Olivbraun des Nischengrundes, die Inkarnate selbst sind dessen ins
Leuchten erhobener Ton: Farbe, Licht und Dunkel stehen in schwe-
bendem Gleichgewicht.
Giovanni Bellinis späteste Werke verändern sacht die Pole dieser
Balance. Die >Junge Frau mit dem SpiegeU von 1515 im Wiener Kunst-
historischen Museum 75 hebt sich, in elfenbeinfarbigem Inkarnat und
bleich-karminrotemTuch, ab von einem ungewöhnlich farbigen Grund:
vom reinen Blau in Himmel und Bergkette, getrennt durch Gelb im
Himmelsstreifen, und vom dunklen Griin der halbabstrakten Riick-
wand. Im >Bacchanale< (um 1514, Washington, Nat. Gallery) aber ge-
langt Bellinis farbiges Helldunkel zur letzten Verwirklichung. Tizian, der
das Bild vollendete, konnte hier ankniipfen. Er vertiefte die Dunkelheit
der olivbraunen und dunkelgriinen Griinde. Hell, heiter klingen davor
Bellinis Weiß und Blau, durch Braun und braungebrochene Rot- und
Grüntöne dem Grund vermittelt.
Giorgione 76 (1477/78-1510) ,,ist der erste Meister, der Lionardos Ent-
deckung verstanden und aufgenommen hat, verwertet und weiterge-
bildet, in Form und Geist. Vasari hat dies als einen bestimmenden Zug in
Giorgiones Kunst hervorgehoben: daß er von Lionardo das Chiaro-
scuro übernahm und entwickelte. Ein wesentlicher, auch geschichtlich
höchst bedeutsamer Unterschied zwischen Lionardo und Giorgione
liegt aber darin, daß der Venezianer den Wert der Farbe nicht dem Hell-
dunkel opfert, sondern ihr allen Reichtum und alle Feinheit bewahrt.

74 Hetzer, Venezianische Malerei, 246.


75 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 13.
76 FA: Virgilio Lilli, Pietro Zampetti, L’operacompleta di Giorgione (Classici
delPArte, 16), Mailand 1968.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 169

Darauf beruht der Ruhm venezianischer Malerei in den folgenden


Zeiten“ (Ludwig Justi) 77.
Im Vergleich mit Leonardo wird Giorgiones historischer Rang ange-
sprochen, sein Helldunkel hat aber Wurzeln in der venezianischen Ma-
lerei selbst, bei Giovanni Bellini. In der Neubeziehung von Farbgrund
und Schattenwelt auf Bellinis >Pala di S. Giobbe< und >Pala di S. Zac-
caria< liegt die Briicke zum farbigen Helldunkel von Giorgiones >Pala di
Castelfranco< (1504/05, Castelfranco Veneto, San Liberale). Hier stei-
gert sich auch die Farbigkeit: hatte Bellini den Dunkelgrund seiner
>Sacra Conversazione< von S. Zaccaria in halbneutralem Braun ge-
halten, so erhebt nun Giorgione eine Primärfarbe, Rot, zur Farbe des
Dunkelgrundes, die als eine mittlere Zone die beiden Heiligen hinter-
legt. So kann auch ein neuer Lichtrhythmus sich entfalten: vom Licht
vorne iiber die mittlere Dunkelheit zur lichterfiillten Ferne. Schon das
kiihle Grau der beiden Heiligen, die Riistung des hl. Liberale, die Kutte
des hl. Franziskus, verdichten die Dunkelheit und leiten iiber zum far-
bigen Dunkel ihrer Folie; auch Schlagschatten führen zum Dämmerlicht
der mittleren Raumzone. Die Buntfarben sammeln sich in der verti-
kalen Bildachse, Karmin und bläuliches Griin bei Maria, vermehrt um
Weiß, Griin in den Teppichen, von weinroten und goldgelben Streifen
oder dunkelblauen und goldgelben Ornamenten durchmustert. Eine
neue Gesamtbewegung durchzieht die Farben: die Vielzahl der Grau-
töne drängt zum Griin des Teppichs, das Rot zum Marienmantel. Ein
atmendes, zart in sich bewegtes Helldunkelmedium eint die Figuren,
weitet sich im Himmel, der von hellem Bläulich ins Gelblichrosafarbene
iibergeht.
Die neue Einheit und Differenzierung im Farbigen zeigt sich beim Ver-
gleich von Giorgiones um 1505/06 entstandenen >Bildnis eines jungen
Mannes< der Berliner Gemäldegalerie 78 mit Antonello da Messinas zwei
>Bildnissen junger Männer< desselben Museums. In leuchtendem In-
karnat stehen bei Antonello die Köpfe vor glänzendem Schwarz oder
tiefem Blau. Als eigener Farbwert prägt sich das helle Braun der Brii-
stung aus. Bei Giorgiones Bildnis ist der Grund ein trockenes, eher
kaltes, nach rechts hin fast unmerklich sich aufhellendes Dunkelgrau,
77 Ludwig Justi, Giorgione, Berlin 1926, Erster Band, 24; vgl. auch zweiter
Band, 387ff. Zur Farbe bei Giorgione auch: George Martin Richter, Giorgio da
Castelfranco, called Giorgione, Chicago 1937, 119-124 (Giorgione’s colours),
124-127 (Giorgione’s technique). - Cesare Brandi, II principio formale di Gior-
gione; Decio Gioseffi, Giorgione e la pittura tonale. Beides in: Giorgione, Atti
del Convegno Internazionale di studi per il 5° centenario della nascità, 1978,
Castelfranco Veneto 1979, 77-81, 91-98.
78 FA: Gemäldegalerie Berlin, 331 (Giorgione), 329 (Antonello da Messina).
170 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

um ein geringes heller als die tiefbraune Haarmasse davor. Die Farbtöne
nehmen engere Verbindung zueinander auf. Die Briistung ist in einem
zumckhaltenderen Grau gegeben - aber der eine ausgebreitete Buntton
hebt sich als kostbarer, unwiederholbarer Farbwert heraus: das bläu-
liche, über braunrötliche Untermalung gelegte, in den Helligkeiten nach
Salmrosa modulierte Grauviolett der Jacke, in der Buntheit noch gestei-
gert durch den kleinen weißen Hemdzwickel. Die Helligkeit des Ant-
litzes erscheint fliichtiger, von geringerem Gelb- und Braungehalt als bei
Antonello, das optische Braun der Schatten neigt sich dem Grunde zu.
Das zart gedämpfte Weiß der Augen, das Braunrot der Lippen gehen als
Farben im Gesamtton des Gesichts auf, das Braungrau der Pupillen ist
schon Dunkelheit, wie der Grund. Die Nähe und Festigkeit der Antonel-
loschen Bildnisse wird abgelöst von Unfaßbarkeit und Ferne.
Der >Sturm< (Venedig, Accademia) bekundet den Durchbruch zum
Helldunkel. Licht und Dunkel trennen sich von den Gegenstands-
formen, Gegenständliches versinkt im Dunkel. Aber das Helldunkel ist
farbig durchstimmt. In Weiß verdichtet sich das Licht, im Hemd des
Jünglings, imTuch der Frau, im Blitz; die Rottöne in der männlichen Ge-
stalt schlagen die Briicke zum Dunkel, auf tiefemTiirkis und tiefem Oliv
griindet die farbige Dunkelheit. Ludwig Justi beschrieb die Vielfalt far-
biger Modulationen: „Immer neue Ketten leisester Abstufungen ent-
deckt man in diesem Gewebe, ob man schräg durch das Bild die griinli-
chen, die violetten, die bräunlichen Töne verfolgt, oder gleichlaufend
mit dem Rahmen. Man kann die verschiedenen Farbenfolgen einzeln be-
trachten, ihrem Weg und ihrer Abstufung durch das ganze Bild nach-
gehen, wie man in einer Partitur verschiedene Linien verfolgen kann;
aber sie laufen nicht jede fiir sich, sondern alle immer in Beziehung zu-
einander, sich ausweichend, sich begegnend, sich steigernd, zusam-
menklingend zum köstlichsten Wohlklang .. .“ 79 Im raumhaften Hell-
dunkel leuchten die Farben auf, versinken inTiefen, an allen Orten zart
bewegt, doch nie ins unfarbige Licht, in farbfremde Dunkelheit ge-
trieben.
„Giorgione hat nicht erst gezeichnet und dann koloriert, wie dies z. B.
noch durchwegs Giovanni Bellini getan hat, sondern er hat von Anfang
an zu Pinsel und Farbe gegriffen. ... Er begann mit dem Himmel, der in
Horizonthöhe weißlich ..., am oberen Bildrand aber hellblau ist, und
setzte darüber die Wolken in Grau und Lila.“ So beschrieb Ludwig Bal-
dass den Anfang des Malvorgangs von Giorgiones >Drei Philosophen<
(um 1508, Kunsthistorisches Museum Wien) 80 und weiter: „Dann malte

79 Justi, Giorgione, 129.


80 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 12.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 171

er die tiefblauen Berge und die hellgrüne Hiigellandschaft mit den


grauen Gebäuden. Erst nach Vollendung von Himmel und Fernland-
schaft setzte Giorgione mit bräunlichen Tönen das zarte Laubwerk des
Bäumchens im Mittelgrund und der vom Felsen aus iibergreifenden
Zweige auf. ... Ganz am Schluß erst wurde mit orangegelber Farbe die
untergehende Sonne und die von ihr verursachte Färbung des Firma-
ments am Horizont in die fertige Landschaft eingesetzt. .. .Landschaft
und Figuren bilden auch koloristisch eine Einheit. Dem Braun der
Felsen entspricht das ins Braune spielende Ocker im Mantel des Greises;
das Blau des Himmels und das Lila der Wolken werden von der blauen
Einfassung der Kapuze des Greises und der lila Kappe und dem lila
Kragen der mittleren Figur ... wiederaufgenommen. Das Griin der
Mittelgrundslandschaft kehrt ... in tieferer und satterer Tönung, im
Mantel des Jimglings wie beiderseits im Buschwerk wieder. Die Gold-
stickerei am Hemdkragen des sitzenden Jiinglings ist nicht mit Muschel-
gold aufgetragen, wie dies der Übung des friihen Cinquecento entspro-
chen hätte, sondern mit gelber Farbe gemalt. Dieses gemalte Gold
klingt an das Orangegelb des Sonnenuntergangs an, den Giorgione noch
zum Schluß in seine sehr differenzierte und abgewogene Farbskala auf-
genommen hat. Das einzige Rot im Bilde ist das Zinnober im Kleid der
mittleren Figur.“ 81 Diese koloristische Einheit aber hat Giorgione auf
das entschiedenste kontrastiert in Buntfarbigkeit und Dunkel. Zum er-
stenmal steht ein ausgedehnter Dunkelkomplex dem auf eine Bildstelle
beschränkten Bezirk von Buntfarben gegentiber. - Die neue Einfachheit
der >Schlummernden Venus< in Dresden weist voraus auf Tizians Kunst.
Im Gegensatz zu Giorgione entwickelt Tizian 82 (1488/90-1576), wie
Theodor Hetzer 83 formulierte, „sein Kolorit nicht in leichter Überein-

81 Ludwig Baldass, Zu Giorgiones >Drei Philosophen<. In: Jahrbuch der


Kunsthistorischen Sammlungen inWien, Bd. 50(N.F. Bd. XIV), 1953,121-130,
Zit. 125 u. 126.
82 FA: Angelo Walther, Tizian, Leipzig 1978. Francesco Valcanover, L’opera
completa diTiziano (Classici dell’Arte, 32), Mailand 1969.
83 Hetzer, Tizian, Geschichte seiner Farbe, 66, 68 , 70, 72, 73 , 74, 79 , 80,
82, 90, 96/97, 102, 104, 107, 113, 119, 120, 125, 133/134, 137, 144, 155, 172/173.
(Hetzers Buch wurde besprochen von Hans Jantzen in: Deutsche Literatur-
zeitung, 1937, Heft 42, 17. Oktober, Sp. 1655-1658). - Zur Farbe bei Tizian vgl.
auch: Oskar Wulff, Tizians Kolorit in seiner Entfaltung und Nachwirkung. In:
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, XXXI, 1937,
117-142, 225-243; ders., Farbe, Licht und Schatten in Tizians Bildgestaltung.
Die Lehren der Mostra diTiziano von 1935. In: Jahrbuch der preußischen Kunst-
sammlungen, 62,1941,108-144,171-200. -David Rosand,Titian’sLight asForm
and Symbol. In:The Art Bulletin, Vol. LVII, March 1975, 58-64. -FrancescoVal-
172 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

stimmung mit der farbigen Fülle der erscheinenden Welt. Vielmehr ge-
staltet er das Einzelne, den Menschen, den Gegenstand, als ein durch
die Farbe bestimmtes Wesen ...“ Er gestaltet das Einzelne mit neuer
Kraft von Einzelfarben. So herrscht in der >Sacra Conversazione des hl.
Markus< (um 1511, Venedig, Sta. Maria della Salute) „ein sehr ungebän-
digtes Gegeneinander schwerer ausgedehnter und energiegeladener
Farben, von denen jede eigentlich allein zu gelten beansprucht, und die
nur durch strenge Ordnung zusammengefaßt werden können... Zu dem
Zinnober des hl. Cosmas, zu Goldgelb und Graublau des hl. Damian
tritt das Karmin und Ultramarin des hl. Markus, das silbrige Blau des
wolkigen Himmels, das Braungrau der Säulen und das rotgestreifte
Grün des über dem Thronsockel hängenden Teppichs, das Rot, Gelb
und Graublau der Fliesen, schließlich der leuchtende Akt des heiligen
Sebastian und die dunkle bräunliche Gestalt des heiligen Rochus. Also
eine Fülle selbständiger Farben!“ Tizians Farbe „ist struktiv wie die
Natur. Sie ist nicht auf den Malgrund aufgetragen, sondern mit ihm ver-
wachsen; sie bedeckt nicht, wie bei den schnell malenden Meistern der
späteren Zeit eine Oberfläche, sie dringt aus derTiefe uns entgegen. ...
Vasari erzählt uns,Tizian habe seine Bilder nicht nach mittelitalienischer
Weise durch Kartons, auf denen schon jede Einzelheit festgelegt war,
vorbereitet, sondern sie nach flüchtiger Skizze gleich auf der Leinwand
entstehen lassen. Ja, man muß wohl schon sagen, aus der Leinwand.
Denn wir wissen weiter, daß Tizian langsam malte. Er pflegte lange vor
dem Bilde zu sitzen und es zu mustern; er stellte das Begonnene weg,
holte es nach einiger Zeit wieder hervor, beseitigte das schon Daste-
hende, fing wieder von vorn an. Im unmittelbaren Kontakt mit der Stoff-
lichkeit des Grundes und der Farbe also, aus den Möglichkeiten der
Materie formte sich dem Meister die Vision des Bildes.“ Die als Materie
und in neuer Mächtigkeit erfahrenen Farben läßt Tizian in einem leb-
haften Gegeneinander zur Einheit finden. ,,Es ist ein GrundzugTizians,
daß das Harmonische ihm nicht gegeben ist, sondern immer erst von ihm

canover, II Classicismo cromatico diTiziano; Pietro Zampetti, Qualche conside-


razione sul colore diTiziano. Beides in: Rodolfo Pallucchini (Hrsg.),Tiziano eil
Manierismo europeo, Florenz 1978, 43-69, 91-97. - Verf., Bemerkungen zu
Tizians >Dornenkrönung Christi< in der Münchner Alten Pinakothek. Farbge-
staltung als „Rationalisierung ,mythischer‘ Form“. In: Diversarum Artium
Studia, Festschrift für Heinz Roosen-Runge, Wiesbaden 1982, 127-145. - John
Steer,Titian and Venetian Color. In: Jane Martineau, Charles Hope (Hrsg.),The
Genius of Venice 1500-1600, London 1983, 41M3. - Norbert Knopp, Tizian und
die Mosaikkunst. In: Schondmck, Widerdruck, Schriften-Fest fiir Michael
Meier, München 1985, 18-27.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 173

herbeigeführt werden muß, daß er das Ergebnis eines Kampfes ist und
daher besonders eindringlich ... So bilden Tizians Gemälde die dich-
teste, an Energien und Spannungen stärkste farbige Einheit, die wir
kennen.“ In der „höchsten Spannung“, der von Rot und Blau, ver-
dichtet sich die Spannungseinheit ’Tizianischer Bilder, sie ist deren
Grundakkord.
Hetzer gliederte Tizians Entwicklung in sechs Perioden auf. „Die sie-
ben Jahrzehnte seines Schaffens bilden ein Ganzes, dessen Zusammen-
hang durch Gegensätze und Spannungen auf das entschiedenste geglie-
dert wird. ... Die erste Periode reicht von den zeitlich unbestimmten
Anfängen bis 1516, bis zum Auftrag der Assunta; es sind die Jahre der
Unausgeglichenheit, der noch nicht geklärten und entwickelten Form.
Die zweite Periode beginnt mit der Assunta und endet mit dem Petrus
Martyr, also gegen 1530. Diese Zeit des Ehrgeizes, des großen und
raschen Aufstiegs, begriindet Tizians Stellung in der Geschichte der
Kunst und seinen Ruhm ... Die folgenden vier Perioden fallen mit den
Jahrzehnten nahezu zusammen.“ Der Grundcharakter dieser Perioden
ändert sich in rhythmischem Wechsel, „die erste, dritte und fünfte und
die zweite, vierte und sechste Periode sind einander ähnlich“. Die
Grundtendenz, die sich in der ersten, dritten und fünften Periode
kundtut, zielt auf Schönfarbigkeit, Sinnlichkeit, Bindung an die Ma-
terie, die andere auf aktive Bewegung und Monumentalität.
Die erste Periode war schon mit der >Sacra Conversazione des hl.
Markus< angesprochen. Als zweites Beispiel sei hingewiesen auf das
Bild der >Himmlischen und irdischen Liebe< (um 1515, Rom, Galleria
Borghese). In diesemWerk verliert sich Giorgiones Einfluß, es offenbart
zum ersten Male die „eigentümliche Bildschönheit, j a BildprachtTizians“,
die „Vereinigung des Natürlichen mit einem kunstvollen und straffen
ornamentalen Gefüge“. Ihr entspricht eine großformige farbige Hell-
dunkelkomposition. Lichtträger ist, im Kontrast zum weithin dunklen,
tief olivgriinen Landschaftsgrund, nicht der graublaue Himmel mit
seinen graugelben Wolken, sondern das fast ockergelbliche Inkarnat der
beiden Frauen und das warmweiße Gewand der linken, dessen silber-
graue Schatten zum etwas helleren Grau des Sarkophags überleiten. Die
Buntfarben, von denen sich zunächst nur braungebrochenes Rot und
Karmin zu erkennen geben, sind bereits Träger von Dunkelheit, Rot
riickt also auf die Seite des Dunkels (bezeichnenderweise hellt es sich
nicht zu Weiß auf), das Gelb des Inkarnats ist dem Lichtzugewandt. Die
Farbkontraste zum tiefen Olivgriin, zum satten Braun und gedämpften
Graublau der Landschaft entfalten sich in diesem Bereich mittlerer
Dunkelheit.
Die farbige Komposition der zweiten Periode beruht auf „prä-
174 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

gnantem Kontrast, Wiederholung und Angleichung“, wobei ,,der An-


gleichung die Aufgabe zufällt, die starken Farben der Figuren in die Um-
gebungsfarben zu betten, die Intervalle der Intensität zu verringern, be-
tonter Kontrast und betonte Wiederholung das eigentliche Geschehen
und die daraus sich ergebende Komposition zu veranschaulichen“
haben. Die >Assunta< (1516-18, Santa Maria Gloriosa dei Frari, Vene-
dig) „ist das erste große Werk, dessen Farbigkeit durch die Polarität von
Blau und Rot systematisiert wird“, und darin exemplarisch fiir alle
Bilder Tizians bis 1530. Diese Spannung des Urkontrastes von Ultra-
marin und Karmin steht in enger Beziehung zur „Gegensätzlichkeit der
sich kreuzenden, die Komposition beherrschenden Bilddiagonalen und
ebenso zu der Spannung und zu dem Gegeneinander der Figurenbewe-
gung.“ Bei der >Assunta< schwebt Maria in Karmin und tiefem Blau
vor goldgelbem Himmel, Blau wirdTräger von konturbestimmter Dun-
kelheit. Zweierlei Rot, metallisches Karmin und warmes Zinnober,
stehen einander in den Aposteln gegeniiber, zu intensivem Farblicht ge-
steigert durch eine sie trennende Dunkelschlucht aus (eingeschlagenem)
Braun und tiefem Moosgrün, dazu Oiiv und Gelblichweiß in der Figu-
rengruppe. Ergänzt hier das Goldgelb des geöffneten Himmels die
Farben Mariens zur Trias der Primärfarben, so gewinnt in >Bacchus und
Ariadne< (1522/23, London, National Gallery) 84 die Farbe des Grundes,
Blau, noch höhere Bildbedeutung. Vor ihm steigt das Karmin des Bac-
chus-Mantels auf, in dessen schimmernden Weißhöhungen das Licht
sich sammelt. Alle anderen Farben sind zurTieftonigkeit herabgestimmt
(die Inkarnate der Haupthguren ausgenommen), basierend auf
warmem, tiefem Braun und tiefem Olivgrün der Landschaft. Das Braun
der Inkarnate, selbst das Goldorange der Zymbalschlagenden, sind aus
diesem dunklen Braun entlassen. Ariadnes Gewandung verdichtet den
Blau-Rot-Kontrast im Figuralen. Die >Pesaro-Madonna< (1519-26, Ve-
nedig, S. Maria dei Frari) eint die Hauptfiguren durch die Trias der
Grundfarben, klares, tiefbraun verschattetes Hellgelb und Graublau bei
Petrus, Karmin und Kobaltblau bei Maria, ergänzt um warmes und käl-
teres Weiß in Buch und Kopftuch. Zweierlei braungebrochene Rottöne
in Fahne und kniendem Stifter, Braungrau, Blaugrau, Schwarzoliv in Ar-
chitektur, Himmel, Figuren bilden im wesentlichen den Rahmen um sie.
Im Gegenlicht steht eine Säule, die andere trägt Wolkenschatten. Räum-
lich geweitetes Helldunkel umfängt nun sacht die Figuren und ihre
Farben. So verliert sich ,,das silhouettenhaft Ausgeschnittene und
gleichsam ineinander Verzahnte der Farben“ in gelösteren Bezügen.
In der dritten Periode erfolgt eine „entschiedene Abwendung von der

84 FA: Wilson, National Gallery London, 56.


Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 175

Idealität der zweiten“, zugleich tritt „auch in der Farbe an Stelle der Zu-
sammenfassung aller Bilder zu einer Gruppe ein ruhiges Nebeneinander
individueller Bildlösungen“. „Jetzt hat jedes Bild seine Farben, seine
Zusammenstellungen, seine Dominanten. Tizian kommt zur farbigen
Bildindividualität. Deren Geschlossenheit wird durch drei wichtige
Momente gesteigert, die als etwas Neues im Schaffen Tizians er-
scheinen: durch die Gruppierung abgewandelter und verwandter
Farben, durch die Relativität des Inkarnats, schließlich durch den Über-
gang von der Gegenstandsfarbe zur Bildfarbe.“ So ist es etwas „grund-
sätzlich Neues im koloristischen Denken Tizians, wenn er auf >Mariä
Tempelgang< (1534-38, Venedig, Accademia) an das Gelb und Weiß der
heiligen Anna das Gelb und Blau ihrer linken Nachbarin und den von
rötlich-bläulich changierenden Schatten durchzogenen gelben Mantel
Joachims stoßen läßt. An einer der wichtigsten Stellen des Bildes er-
halten wir einen Komplex nahe verwandter Farben, der als solcher im
ganzen den ausgedehnten Flächen des Himmels und der Architektur
entgegengesetzt wird. So dominieren die beiden Farben Blau und Gelb,
die zu wählen durch die blaugoldene Decke des Raumes Tizian nahe-
gelegt war ... Zugleich aber wird in dieser Zusammenfassung der Ange-
hörigen zur Farbgruppe das bedeutende Einzeldasein der kleinen Maria
dem Betrachter eindringlich; auch Maria hat die Hauptfarben -himmel-
blaues Gewand, lichtgelbe Aureole -, aber sie besitzt individuell und
rein, was sonst nur als Vielheit und mannigfach bedingt vorkommt. In
der Hauptfigur des Bildes erscheint das farbige Hauptthema am konzen-
triertesten und stärksten; überall sonst ist es umspielt von einer Fülle ge-
brochener Töne, rötlichen, bräunlichen, gräulichen, grünlichen und in
das Ganze des Bildes verwebt ..Diese gebrochenen Töne gehören
dem farbigen Helldunkel an, im Halblicht stehen weiteTeile der Archi-
tektur, im Silbergelb und Weiß sammelt sich das Licht. Rottöne ergänzen
den Gelb-Blau-Akkord zu verhülltenTriaden.
Während der auf Nuance und Differenzierung abzielenden dritten
Periode entstehen aber auch Werke von höchster Einfachheit der far-
bigen Gestaltung, so etwa die >Venus von Urbino< (1538, Florenz, Uffi-
zien). Alle Buntfarben sind hier insTiefe gestimmt. Das dunkelglühende
Rot des Lagers ist schwärzlich verhangen, aus der Dunkelheit hebt sich
der tiefgrüne Vorhang, Braunvariationen sind die Farben des Zimmers,
akzentuiert durch das Rot der Dienerin. Warmes Weiß ist Lichtfläche,
bettet in sich das Inkarnat. „Tizian lockert die natürlichen und gegebenen
Einheiten, um desto sicherer die Einheit des Bildes zu gewinnen ..
In Bildern der vierten Periode sehen wir sodann „die gesamte Bild-
fläche einheitlich mit unbestimmten und nahe verwandten Farben sich
erfüllen, mit Farben, die wesentlich durch wolkige Himmel, bräunliche
176 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Felswände, Mauern, Stufen, Panzer und Inkarnate gebildet werden. In


dieser Einheitlichkeit aber treten die wenigen entschiedenen Farben als
sehr wichtige Akzente auf.“
Ein Beispiel hierfür ist das >Ecce Homo< von 1543 im Wiener Kunst-
historischen Museum 85, bei dem das Olivgrau des Grundes alle Braun-,
Grün-, auch Weißlichtöne des Bildes aus sich entläßt, kontrastiert zu Rot
und Blau als Pfeilern der Komposition. „Ganz neue Farben kommen
jetzt auf Tizians Palette, Farben, wie man sie bis dahin in Venedig noch
nicht gesehen hatte, Stahlgrau, Olivgriin und Olivbraun, Taubengrau,
schwärzliches Sammetrot. Es ist immerhin möglich, daßTizian, der da-
mals in Mantua und Rom gewesen war, nicht nur durch den römischen
,disegno‘ beeinflußt wurde, sondern auch durch die Farben, besonders
der Raffaelschule. Das aufgehellte Weinrot Isaaks und das Graublau des
Engels auf dem Deckenbild der >Opferung Isaaks< (1542-44) in der
Sakristei von S.Maria della Salute, Venedig, legen diese Vermutung
nahe.“ Die Farben des Inkarnats gewinnen neue Bedeutung, die
Empfindung für die „leibliche Bedingtheit der Farbe“ nimmt zu, vor
allem aber kommt eine neue Machtdifferenzierung der Farben zur Gel-
tung: „WieTizian in dieser Periode zum dynamisch bestimmten großen
Figurenthema kommt und dadurch seinen Konzeptionen den mächtigen
Charakter, das überzeugend Endgültige aufzwingt, so faßt er auch in der
Farbe zusammen, hebt er die Mehrzahl gleichstarker und gleichberech-
tigter Farben auf, unterscheidet er herrschende und beherrschte Farben
... Aus einigen wenigen, gar nicht ausgedehnten, aber von innerer Fülle
überquellenden und sicher verteilten Positionen wird das mächtig be-
wegte Farbwesen großer Flächen - beim Wiener >Ecce Homo<, der >Dor-
nenkmnung ChristU (1542-44, Louvre) 86, dem >Reiterbildnis Karls V
nach der Schlacht von Miihlberg< (1548, Madrid, Prado) - gebändigt und
geordnet.“ Auch steigert sich nun die Macht des Helldunkels.
Um 1550 setzt Tizians Altersstil ein. Im Gegensatz zur voraufge-
henden Periode sind die fünfziger Jahre, die fünfte Periode, erneut der
Schönheitswirkung zugewandt, wie insgesamt, so auch in der Farbigkeit.
Erst seit 1550 kann, in einem genauen Sinne, vom „Gestalten aus der
Farbe“ bei Tizian gesprochen werden. „Man sieht die Farbe in ihrer
Stofflichkeit, man sieht, wie aus dem Ineinander der Farben auf der
Leinwand das Bild geworden ist. Man hat den ganzen Entstehungs-
prozeß der Bilder vor sich, die Grundierung, die Untermalung, die
späteren Schichten, und es mehren sich jetzt die Fälle, wo man zweifeln
kann, ob ein Bild unvollendet geblieben ist, oder ob es im SinneTizians

85 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 18.


86 FA: Laclotte, Louvre, II, 38.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 177

fertig war. Man sieht jeden Pinselstrich, jeden Daumendrucker, jeder


Fleck ist von dem benachbarten farbig verschieden, in jedem können
mehrere Farben sich vereinigen. Das alte Prinzip der Farbwiederholung
und der aufeinander bezogenen Kontraste erfiillt sich nun in jedem
Partikel der Bildoberfläche. Das ganze Bild schimmert und flimmert in
farbigem Spiel; die stark aufgetragenen Farben und das vonTizian jetzt
bevorzugte rauhe Korn der Leinwand lassen das Bild in unzähligen
Lichtern und Reflexen erstrahlen ... Es tritt sogar etwas wie eine Zer-
legung des Bildes in Farbatome ein; jedes Stückchen Farbe besteht für
sich und ist allen anderen gleichberechtigt.“ Farbiger Chromatismus
bereichert nun das farbige Helldunkel Tizians. In ihm gleichen sich
Körper und Raum, dichte und lockere Materie, Farbe, Licht und
Dunkel einander an.
In der sechsten Periode (1560-1576) herrschen wiederum religiöse
Darstellungen vor; und das im Religiösen wurzelnde Monumentale
kommt auch in der Farbe zum Ausdruck und macht den Unterschied ge-
genüber dem Kolorit der fünften Periode aus. „Die Farbe wird ernst und
feierlich, ohne an Kraft und Schönheit zu verlieren. Wohl aber gibt
Tizian das kostbar Schmuckhafte der frühen und das besonders Wohl-
lautende der späten fünfziger Jahre auf. Wir haben wieder tiefe und ein-
fache Farben, Karmin, Zinnober, Ultramarin, Griin, Gelb. Das betont
geschmackvolle Gruppieren verwandter Farben, z.B. der mannigfal-
tigen roten und rosaTöne bei >Venus und Adonis< (1553, Prado), findet
sich gar nicht mehr, eher ist es wieder auf entschiedene Kontraste abge-
sehen oder auf Steigerung.“ Auf der >Verkündigung< in S. Salvatore, Ve-
nedig (um 1564) ist Maria in „einfachen“ Farben gegeben, in glühendem
Bordeaux-Karmin und tiefem Schwarzblau, die sich mit dem Goldton
des Gewandes Gabriels (er scheint alle Farben schon in sich zu ent-
halten) zu einer vergeistigten Trias zusammenfinden. Aber die Farben
tauchen nur langsam aus dem Dunkel auf, das ein nach innen gewandtes
Glorienlicht durchdringt. Dies Licht selbst ist tief gestimmt, glüht auf
aus rauchbraunem Dunkel, bleibt ihm verbunden in Gold- und Gelb-
tönen. Lichtatome breiten sich in Dunkelbezirken aus, Dunkelatome im
Licht, Licht und Dunkel werden Medien einer Geistmaterie, aus ihrer
Begegnung bilden sich Formen und Farben.
Sebastiano del Piombo (um 1485-1547) führt venezianische Farb-
gebung zu römischer Monumentalität und Pathetik. Das >Bildnis einer
jungen Römerin< (um 1534, Gemäldegalerie Berlin) 87lebt, insbesondere
in der abendlichen Landschaft, noch von venezianischer Farbharmonie,
neu aber ist das kühle Licht. Weiß in Ärmel und Haube und Stellen des

87 Gemäldegalerie Berlin, 333.


178 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Inkarnats halten allein dem tiefen Samtrot des Mantels, dem Schwarz-
braun der Haare, dem schweren Dunkel der Wand die Waage. Zarte
Dunkelheit iiberflutet Wangen und Hals. Zwischen den Polen vermitteln
das Grau des Pelzes und der Rosaton des Gewandes. Mächtig steigert
die >Auferweckung des Lazarus< (1517/19, National Gallery London) 88
die Spannung zwischen Dunkelheit und kiihlem farbigem Licht. Glas-
fensterhaft heben sich die Farben aus der Dunkelheit des Grundes und
den dunklen bräunlichen Inkarnaten. Buntfarbige Intensität aber sam-
melt sich fast durchweg in den Halbschatten, so beim rosa aufgehellten
Karmin und beim Kobaltblau Christi, mit dem Gelb des Knienden davor
eine triadische Gruppe bildend, so bei den aufleuchtenden Griinak-
zenten und bei Orange. Ein Schulbeispiel vertiefter Buntfarbigkeit ist
auch die >Heimsuchung Mariä< von 1521 im Louvre 89, mit sattem Lapis-
lazuli, kräftigem Griin und Karmin, alle im Halbschatten, beim Marien-
gewand. Grau ist das Gewand Elisabeths, bindet sich mit dem Gelb ihres
Mantels zu ungewöhnlichem Klang und bestimmt die Farbhöhe: ihm
entspricht das Rot und Grün der Halbschatten; nur das Weiß des Schleier-
tuchs Mariä hebt sich dariiber. Klare Stufung bewahrt auch den von
Dunkelherden umgebenen Farben Schönheit und Ruhe.
Lorenzo Lotto 90 (um 1480-1556) erweckt in den Farben, in ihren
kiihnen, kiihlen Kombinationen und ihren Helldunkelrelationen neu-
artige Ausdruckswirkungen. Nur drei Werke seines umfangreichen, im
Schnittpunkt vielfältiger kiinstlerischer Ausstrahlungen stehenden
Schaffens seien erwähnt. Höchst ungewöhnlich ist, wie beim >Bildnis
eines jungen Mannes< (um 1508, Wien, Kunsthistorisches Museum) 91 die
Biiste vor schimmerndem, silbergrau-durchsichtig verschattetem Da-
mastweiß des Vorhangs steht, mit homogenem Schwarz der Miitze und
tiefstem, von schwarzen Falten durchzogenem Dunkelgrau des Ge-
wandes, - messerschaf konturiert! Im dunkelgrauen Folienstreifen
rechts glimmt eine Ampel. Der tiefgriine Vorhang der >Mystischen Ver-
mählung der hl. Katharina< (1505/08, Alte Pinakothek Miinchen) 92
schafft eine Folie von Dunkelheit, gegen die der lichthaltige Elfen-
beinton des Marienantlitzes heftig kontrastiert, die den Kopf Josephs
aber langsam aus sich entläßt und das Graublau und Grauviolett seines
Gewandes in sich schmilzt. Licht und Dunkel konstituieren neben den

88 FA: Wilson, National Gallery London, 53.


89 FA: Laclotte, Louvre, II, 38.
90 FA: Rodolfo Palucchini, Giordana Mariana Canova, L’opera completa del
Lotto (Classici dell’Arte, 79), Mailand 1975.
91 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 14.
92 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 18.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 179

Farben, unabhängig von ihnen, den Bildaufbau; das Licht, auf einer
Höhe gehalten, läßt eigene Flächenmuster entstehen, das Dunkel aber
reicht in unterschiedliche Tiefen und iiberflutet stellenweise die Farb-
grenzen. Der weiße Lichtglanz des karminroten Mariengewandes steht
in unbestimmter Relation zum gegenständlichen Weiß des Katharinen-
gewandes und des Kopftuchs Mariä: Farbe und Licht beanspruchen
gleiche Wirksamkeit, unentschieden bleibt ihr Verhältnis. Die Subtilität
der Farbdifferenzierung Lottos zeigt >Christi Abschied von seiner
Mutter< (1521, Gemäldegalerie Berlin) 93: vor olivgraugrimem, zu
fahlem Braun nach vorn und in die Tiefe sich erhellendem Helldunkel-
grund erscheinen Komplexe schwach gesättigter Buntfarben in nahen
Intervallen von Blau und Rot, sowie Gelb und Grau bei Petrus links. Die
Mäntel Christi und Mariens sind im gleichen milden, graugebrochenen
Blau gehalten, zu schwärzlichem, düsterem Graublau wird dieser Ton
im Mantel der hl. Anna abgebogen, zu Grauviolett bei den knienden
Stiftern vorne rechts: farbige Expression entsteht aus schmerzhaft
nahen Intervallen. Mit weichen Konturen, hauchhaft, lichtet sich das In-
karnat Christi und Johannes’ aus dem Braun des Grundes, noch Christi
Hände stehen wie unter dem Widerschein dieses Grundbrauns. 94
Jacopo Tintoretto 95 (1518-1594), der wie kein zweiter Venezianer die
Farbe dem Raum erschließt 96, steht andererseits doch in engerer Verbin-
dung mit der venezianischen Flächendekoration als Tizian. „Deko-
rativ“, so Erich von den Bercken 97, ist seine Farbgestaltung, unabhän-
giger von Bildinhalt und Form als bei anderen Malern seiner Zeit: „Von
ferne, ohne überhaupt den Gegenstand zu erkennen, üben Tintorettos
Werke - vor allem diejenigen seiner reifen Zeit - einen farbigen Zauber
wie Teppiche oder Mosaiken aus, einen Zauber, der in gewissem Sinne
von Linienkomposition und Inhalt ganz unabhängig ist.“ „Die Farbe ist
wie ein Schleier über die Zeichnung geworfen“ - kann eben deshalb
ihren eigenen Gesetzen folgen, wie die Zeichnung den ihrigen. Ihr ge-
meinsamer Nenner ist die „prinzipielle Gleichmäßigkeit der Verteilung
der Bildelemente. Dadurch, daß die Bildteile gegeneinander immer in
eigentümlicher Weise ausbalanciert waren, daß die Bildfläche im wesent-
lichen gleichmäßig aufgeteilt war, daß kein einzelnes Glied, kein Bildteil
93 FA: Gemäldegalerie Berlin, 335.
94 Zur Farbe bei Moretto da Brescia (um 1498-1554), der an Lotto und die
Venezianer anknüpft, vgl.: György Gombosi, Moretto da Brescia, Basel 1943.
95 FA: Carlo Bernari, Pierluigi de Vecchi, L’opera completa del Tintoretto
(Classici dell’Arte, 36), Mailand 1970.
96 Vgl. Hetzer, Tizian, 198/199.
97 Erich V. d. Bercken, August L. Mayer, JacopoTintoretto, Kapitel IV, Farbe
und Lichteinwirkung, 109-160, Zit. 111,112, 114,116, 121, 122, 125,147, 150.
180 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

durch abweichende Behandlung einen übermäßigen, alles andere über-


wiegenden Akzent erhielten, wurde ein Auseinanderfallen des Bildes,
eine Diskrepanz von Bildinhalt und Zeichnung einerseits und Farben-
verteilung andererseits vermieden.“ „Flächenmodellierung“ und ,,far-
bige Kontinuität der Raumschichten“ sind wichtige Elemente dieser
Flächendekoration. „Flächenmodellierung“ meint, daß die Farbe nicht
„allmählich allen Veränderungen der Form folgt“, sondern Modellie-
rung durch „Zusammenstellung von Flächenfarben“ entsteht, in klarer
Trennung von Licht- und Schattenflächen. „Farbige Raumkontinuität“
erwächst aus einer den Figuren gleichwertigen Farbgestaltung der Fiin-
tergründe: „Während in den Bildern des Andrea del Sarto die Figuren
farbig vor einen neutralen Grund gesetzt sind, hat bei Tintoretto der
Flintergrund farbig die gleiche Bedeutung wie die Figuren, es besteht
eine ganz andere farbige Kontinuität der Raumschichten. In einem
Bilde aus Tintorettos späterer Zeit wie der >Auferstehung Christi mit den
drei Avogadoru im Dogenpalast erscheint der Flintergrund, der Himmel
fast noch gesättigter und intensiver als die Figuren, die dadurch in die
Farbe der Luft wie eingebettet erscheinen.“
So gewinnt Farbe bei Tintoretto den Charakter der „Flächenfarbe“
und kann als solche frei ihre Wirkungen entfalten, insbesondere die kom-
plementärer Induktion: „In zahlreichen Bildern Tintorettos der Scuola
di S. Rocco ist ein außerordentlich eindrucksvoller Kontrast von Pur-
purrot und Blau gegeben, jeder Besucher der Scuola, der von Tinto-
rettos Kolorit überhaupt einen Eindruck empfangen hat, behält dieses
Blau und das eigentümliche Purpurrot in Erinnerung. Versucht man nun
den roten Ton aus der Nähe zu analysieren, etwa mit einer Farbentafel
genau festzustellen und mit roten Farben in den Bildern anderer italieni-
scher Maler zu vergleichen, so findet man mit Überraschung einen kei-
neswegs intensiven, sondern durchaus gebrochenen, matten Ton: so
sehr ist es die Induktionswirkung der danebenstehenden grünen und
blauen Farben, im Verein mit der verschleierten Haltung, den gebro-
chenen Tönen des ganzen übrigen Bildes, die das Rot so intensiv er-
scheinen läßt.“ Gerade Verschleierung der Töne begünstigt ja solche
Kontrastphänomene, bei gesättigten Farben kommt eine Induktionswir-
kung viel seltener zustande.
Wie immer ist die Farberscheinung abhängig von der Maltechnik 98:
„Tintoretto malt auf sehr derber Leinwand, und die Rauhigkeit der Wir-

98 Zur Maltechnik Tintorettos vgl.: J.Plasters und L.Lazzarini, Preliminary


Observations on theTechnique and Materials of Tintoretto. In: Proceedings of
the Lisbon Conference of the International Institute for the Conservation of Hi-
storic and Artistic Works, 1972, London 1974, 153-180.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 181

kung ist bei ihm denn auch eine viel größere als bei den Malern vom An-
fang des 16. Jahrhunderts, sie erscheint aufs höchste gesteigert dort, wo
die Farbschicht ganz dünn ist, wie in den Bildern der Scuola di S. Rocco,
in denen oft eine einzige oder ganz wenige Farbschichten auf dünner
Grundierung aufgetragen sind. Fmhwerke zeigen oft noch eine sehr
feine Leinwand verwendet.“ Tintoretto malte verhältnismäßig trocken
und benutzte wohl vorwiegend Borstenpinsel. Den farbigen Aufbau be-
schrieb v. d. Bercken folgendermaßen: „auf einer braunen Grundierung
erfolgt zunächst die farbige Vorbereitung in den unteren Schichten durch
Töne, die mitunter ein wenig neutraler, indes nirgends vollkommen ton-
frei sind, eine leuchtende Farbwirkung wäre durch eine nur Grau in
Grau ausgeführte Untermalung viel weniger leicht zu erzielen gewesen.
Die Farbtöne werden durch Übermalung immer mehr gesteigert, und
die oberste Schicht gibt den kräftigsten Ton. Der Farbkörper wurde
durch die Untermalung, der Farbton hauptsächlich durch die Uberma-
lung gegeben.“
Die Entwicklung der Farbgestaltung Tintorettos sei durch Bemer-
kungen zu einigen Hauptwerken wenigstens angedeutet.
Beim >Wunder des hl. Markus< von 1548 (Venedig, Accademia) ar-
beitet Tintoretto mit „Lichtschichten“, um Reliefflächigkeit räumlich zu
erweitern. Zwischen dem Weiß der auf hohen Sockel gestellten Säule,
die das Bild links vorn eröffnet, und dem Weiß der Gartenarchitektur
entfaltet sich die Farbenvielfalt der Figuren. Das im Bildgrund sich aus-
breitende Griinblau des Himmels ist Bestandteil auch der Trias als Ord-
nung der farbigen Mannigfaltigkeit. Im kalten Blau des vorne Knienden
wird es wiederholt, kontrastiert zu feurigem Goldocker im Gewand der
vom Rücken gesehenen Mutter daneben und im flatternden Mantel des
sich vom Himmel stürzenden Heiligen. Das Karminrosa in seinem Ge-
wand wie in des rechts vorne hockenden Soldaten Panzer ergänzt zur
Dreiheit abgewandelter Grundfarben.
>Susanna im Bade< (um 1555/57, Kunsthistorisches Museum Wien) 99
vertieft die Helldunkelspannung. Aus dem Halblicht und den von
stumpfem, tiefem Oliv und Braungrau getragenen Dunkelheiten heben
sich nur der gelblichweiße, von flächigen Haibschatten durchzogene
Körper Susannas und das gesättigte Orange im Mantel des Alten heraus.
Ein gelbgrauer Himmel bildet die farbige Folie.
In den Bildern der Scuola di San Rocco zieht Tintoretto alle Register
seiner Lichtkomposition. Vorzugsweise die licht-tragenden Flächen-
stücke dienen der Bildorganisation, oft unterTrennung von ihren gegen-
ständlichen Trägern. Die >Kreuztragung< in der Sala dell’Albergo (1566/

99 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 21.


182 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

1567) zeigt reinweiße Schlaglichter auf den blauen, grünen und grauen
Gewandstücken der unteren Kreuzträgergruppe, rosa Schlaglichter im
braunroten Mantel der linken Figur. Auch die Farben werden, vor
braunem und tiefgrünem Dunkelgrund, über ihre „spezifische Hellig-
keit“ hinaus hochgeblendet. Licht wird zum Bewegungsfaktor, zieht den
Blick nach oben, zum Hellgrund hinter der Christusgruppe. Die >Drei
Grazien mit Merkur< im Anticollegio des Palazzo Ducale (um 1576) sind
von anderer Farbstimmung erfüllt als die kurz darauf folgenden Werke
der Sala Grande der Scuola di San Rocco: bei aller „dekorativen“
Grundhaltung dient auch Tintorettos Farbe den Bildgehalten. Verhal-
tenes rötliches Braun, zu weißem Lichtton changierend, klingt hier zu-
sammen mit tiefem, in rosa Lichtstegen aufgehelltem Moosgmn und
Mittelblau mit gelblichen Lichthöhungen in denTüchern. Das weißgelb-
liche, olivtonig verschattete Inkarnat leuchtet vor dem mittelhellen Blau
des Himmels und der fernen Berge. Es sind die gleichen Farben, die im
Tuch der vordersten Grazie changieren! Kein „quellendes“ Licht breitet
sich aus in Tintorettos Bildern (wie in Werken der florentinischen oder
römischen Malerei), auch kein glühendes Tiefenlicht (wie beiTizian),
sondern ein trocken flächiges, das in dieser Flächenbindung den Farben
nahesteht.
Die >Mannalese< (1592-94, San Giorgio Maggiore, Venedig) läßt die
Farbwahl der Spätzeit erkennen. Olivgelb, Graugelb treten vermehrt
auf, fahles Karminrosa löst den Karminton früherer Jahre ab. In stän-
digem Wechsel zu dunkleren oder helleren Gmnden heben sich die
Figurenfarben ab. Blau hält sich, rhythmisch verteilt, durch alleTiefen-
schichten im gleichenTon durch, bei einzelnen Figurengruppen mit triib-
purpur-verschattetem Karminrosa und Oliv zur verhüllten Trias erwei-
tert, bei anderen nur mit Rosatönen zusammenklingend. Geisterhaft
leuchten Lichtflächen auf, in kaltem Hellbraun fluoreszierend auf den
Inkarnaten.
In eigener Weise gestaltet Paolo Veronese 100 (1528-1588) farbiges
Helldunkel als mittlere Helligkeit unter voller Wahrung koloristischer
Werte. 101 Aus der Fülle seiner neuen Farbgruppierungen seien einige
Beispiele erwähnt. Die friihen Deckenbilder der Sala del Consiglio dei
Dieci im Dogenpalast von Venedig (1553/54) sind bestimmt vom Klang

100 FA: Guido Piovene, Remigio Marini, L’opera completa del Veronese
(Classici dell’Arte, 20), Mailand 1968.
101 Zur Farbe bei Veronese vgl. : Eva Tea, II Cromatismo di Paolo Veronese.
In: L’Arte, XXII, 1920, 59-75. - Joy AllenThornton, Renaissance ColorTheory
and some Paintings by Veronese, PH.D. University of Pittsburgh 1979, Univer-
sity Microfilms Int. 1980.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 183

aus Gelb und Blau. Die Himmelsfolie des Bildes >Juno schüttet ihre
Schätze über Venetia aus< ist geteilt in Gelb und homogenes, lichtes Blau.
Das blaue Gewand der Juno ist eingebettet in das helle Gelb des Him-
mels und das bräunlich gebrochene ihres Mantels. Wieder anders sind
der Goldton des Gefäßes, das Flachsblond ihrer Haare, der Gelblichton
ihres Inkarnats. Geteilt ist auch der Grund beim Hochaltar von S. Seba-
stiano in Venedig (wohi 1559), der Kirche, die Veronese auch mit Decken-
und Chorbildern ausgeschmiickt hat. Eine Wolkenzone, die Maria mit
ihren Engeln trägt, läßt die Hauptfigur der unteren Zone, den hl. Seba-
stian, und stellenweise auch die anderen Figuren in Halbschatten zurxick-
treten. Mattes Goldgelb oben bindet sich mit dem verhaltenen Lachs-
braun des Gewandes und dem gebrochenen Blau des Mantels Mariens
zurTrias. Graublau und Bräunlich sind die Farben des von weiß aufglit-
zernden Wolken durchzogenen „irdischen“ Himmels. Vor ihm akzentu-
iert sich Buntfarbigkeit im Klang von Stahlblau und Orange beim
knienden hl. Petrus, zarter, als Goldgelb und Braunorange, im Gewand
der hl. Katharina links, im Buntrelief aber kaum die Inkarnatfarben
iiberbietend. Die Farben scheinen wie erweckt vom gefilterten Licht,
das von oben dringt. Zwischen Licht und Schattendunkel steht Seba-
stians Inkarnat, steht das Grau der Franziskuskutte, das auch zur Folie
vermittelt. Die Schattenzonen aber vereinen sich zu einem mittleren
Grund, Helldunkel konkretisiert sich bei Veronese als Abfolge von Folien
unterschiedlicher Helligkeiten und Dunkelheiten, geordnet um einen
Bezirk von Halblicht und Halbdunkel. - Wie im erwähnten Deckenbild
kommt auch beim >Martyrium der Heiligen Markus und Marcilianus<
(1565) auf der linken Chorwand von S. Sebastiano den Gelbwerten eine
konstruktive Rolle zu. Vor einem Himmelsgrund in herbem, olivhal-
tigem Umbra und einer Architekturzone in graustichigem Weiß - die
einen mittleren Hellgrund bildet - dominieren in den Figuren Gelb-,
Orange-, Rot- und Karmintöne, wobei die Rotvariationen gewisser-
maßen auf die Seite von Gelb gezogen werden. Die dunkleren Gelbtöne
differenzieren sich in Goldbraun, Goldorange, Orange. In Fraise und
Lachsrosa beginnt der Rotbereich. Die hellen Gelbtöne teilen sich in
kaltes Silbergelb, Messinggelb und Goldgelb, je anders auch durch die
Schattentöne erscheinend. Veronese liebt changierende Farben; hier
finden sich von Graublau zu Mattrosa, von hellem Lachsrosa zu Helloliv
changierende, von Hellgriin nach Silbergelb aufgehellte, auch farbig ge-
streifte Gewänder. Eine schier unerschöpfliche Vielfalt zarterTöne steht
Veronese zur Verfügung, die er aber immer gestuft, nie in fließenden
Übergängen zur Geltung bringt. „Changieren“ ist Prinzip seiner Farb-
modulation wie seiner Farbmodellierung. Für Cézanne war eben des-
halb Veronese ein bewundertes Vorbild.
184 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Gelbwerte können aus brauner Folie entwickelt werden. Bei der >Sal-
bung Davids< (um 1555/60, Kunsthistorisches Museum Wien) 102 bildet
homogenes, nur von Weiß durchzogenes Blau die Abschlußfolie, davor
steht ein tief olivbrauner, gegenständlich kaum qualifizierbarer Grund,
der die „Brunaille“ der Figurenfarben aus sich entläßt, auch noch die
Geib- und Orangebraunflächen der Mäntel, und bis zum Gebälkstück
und zur Ziege des Vordergrundes reicht. Einzig leicht wäßriges Rot und
gebrochenes Blau in der Bildmitte heben sich davon ab.
Für die großen Gastmähler Veroneses ist farbige Zusammenfassung
von besonderer Bedeutung. Bei der >Hochzeit von Kana< (1562/63) im
Louvre 103 neutralisiert sich das Blau des Himmelsgrundes zum warmen
Grau und Weiß der Architekturanlage. In den linken Säulenfronten ge-
winnt das Weißgrau, über Elfenbeinweiß zu Salmrötlich, zunehmend an
Wärme, die rechten verstärken die Dunkelheit. Diese Griinde enthalten
potentiell die Figurenfarben, die sich als rhythmisierte Vielfarbigkeit
davor entfalten. Gelb wird aufgespalten in Zitron, Ocker, Gelb- und
Rotorange, vertieft zu Braun, und findet über Purpurbraun Anschluß an
Rot. Der Vielfalt dieserTöne antworten ein im Qualitätsgrad so gut wie
nicht, im Helligkeitsgrad nur geringfügig modifiziertes mittelhelles,
grauhaltiges Ultramarinblau und ein kaltes Griin. Die fast unüberschau-
bare farbige Fülle sammelt sich im Rot und Blau der Gewandung
Christi, die mit den Gelb- und Rottönen der beiden Musiker unter ihm,
ergänzt um Silberweiß, die Trias bilden. Die Figurenfarben stehen im
Halblicht - für William Turner war Veroneses >Hochzeit von Kana< das
Modell einer Verwendung gesättigter Farben als Schattentöne. 104
Anders als Tintoretto gliedert Veronese die Farben häufig in frei-
symmetrische Gruppen. 105 Selbst bei diagonal entwickelter Figuralkom-
position wägen sich Farbgruppen aus, so bei der >Erweckung des Jiing-
lings zu Nain< (um 1565/70, Kunsthistorisches Museum) 106 eine Gruppe
der Frauen links in Blau, Bleichkarmin, Orangebraun, Weiß, Grün und
die Gruppe um Christus in Blau, zu Weiß aufgehelltem Bleichkarmin,
Ocker, Hellrot, Olivgrün. Es wiederholen sich also nicht gleicheTöne,
sondern ähnliche werden in freiem Gleichgewicht ausbalanciert.
Veronese begnügt sich nicht immer mit gebrochenen, milden Farben.
So glühen bei der (im Erhaltungszustand freilich problematischen) >An-

102 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 22.


103 FA: Laclotte, Louvre, II, 41.
104 Vgl. John Gage, Colour inTurner, Poetry andTruth, London 1969, 90und
207.
i°5 Ygi E.v. d. Bercken, A.L. Mayer, Tintoretto, 131.
106 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 22.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 185

betung der Könige< (um 1578, Vicenza, S.Corona) die Gewänder der
Könige vor tief tiirkisblauer Himmelsfolie und braungrauer Architektur
zu höchster Prachtentfaltung auf, zu brennendem Scharlachrot im
Mantel des stehenden, die Bildmitte bezeichnenden Königs, zu Gold-
gelb im Brokatmantel des knienden Königs daneben. Mit dem leicht
graugebrochenen Blau des Marienmantels bilden sie die Farbfigur der
Trias, in anderen Gelb- und Rottönen werden sie variiert. Nicht immer
verzichtet Veronese auch auf vertiefte Ausdruckswirkungen der Farbe.
Beim >Kruziftxus mit Maria und Johannes< (vor 1581) in S.Lazzaro dei
Mendicanti in Venedig foliiert die Figuren ein tief schiefergrauer
Himmel mit dunklen, silbergrauen, stellenweise von weißem Licht ge-
troffenen Wolken. Maria, in schwarzblauem Mantel, steht mit dem
dunklen, in den Schatten fast zu Violett sinkenden, in den Lichtgraten
metallisch karminrosa aufgliihenden Bordeauxrot ihres Gewandes in
schneidendem Kontrast zum Orangezinnober des Johannesmantels.
Fahlgraugelb, Kaltgrau in den Schatten ist Christi Inkarnat. Nur im
Goldgelb der Himmelsöffnung mildert sich die farbige Spannung.
Daneben entstehen Werke höchster farbiger Subtilität. Beim >Raub
der Europa< (um 1576/80, Venedig, Dogenpalast) entfaltet Veronese den
Blau-Gelb-Rosa-Akkord vor dunklem Oliv und tiirkisfarbenem Grund
zu zartester, auf Boucher vorausweisender Wirkung. Das nächtliche
Tiirkisblau des Himmels fiihrt in diesem Klang, die anderenTöne diffe-
renzieren sich in silbriges Schwefelgelb, Ocker, Lachsrosa, Fleischrosa
und Zinnober (in ganz geringer Quantität). Im Gemälde >Susanna und
die beiden Alten< (wohl friihe 80er Jahre, Paris, Louvre) ist der Grund
potentielle Farbe, enthält als festes, kiihles, mit Grau vermischtes
Umbra nahezu alle Farben der Bildgegenstände, indirekt - via Braun -
sogar die am weitesten abweichende Farbe, das matte, bräunliche
Karmin im Mantel des vom Riicken gesehenen Alten. Die Farbigkeit be-
schränkt sich im wesentlichen auf die Braunachse; es erscheinen Bronze-
braun in Brunnenfigur und Becken, Orangebraun im Mantel Susannas,
ein kiihlerer orangebrauner Ton beim mittleren Alten, leuchtendes
warmes Hellbraun im Inkarnat der Frau, ein Bronzeton in dessen
Schatten, Bronzeoliv am unteren Bildrand. Delacroix kommt in seinem
Tagebuch mehrmals auf dieses Bild zu sprechen, es ist ihm ein Beispiel
fiir die Einfachheit von Licht- und Schattenflächen. Unter dem 24. Sep-
tember 1850 vermerkt er: «Je remarquais dans la Susanne, de Paul Vér-
onèse, combien l’ombre et la lumière sont simples chez lui-même sur les
premiers plans ... La poitrine de la Susanne semble d’un seul ton, et elle
est en pleine lumière; ses contours sont également très prononcés: nou-
veau moyen d’être clair à distance ...» Unter dem 3.November 1850
heißt es: «Paul Véronèse met à plat la demi-teinte de clair et celle de
186 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

l’ombre ...»Die„demi-teinte“wirddaskoloristischeGrundmaterialfiir
Delacroix. Hier kann er an Veronese anknüpfen.

Eine allem Regelwerk skeptisch gegenüberstehende, Kunst eher als


Äußerung eines künstlerischen Autors begreifende Malereitheorie be-
gleitet die venezianische Malerei des sechzehnten Jahrhunderts. 107 In
ihr vollzieht sich auch ein „Umschwung in der Bewertung des Verhält-
nisses von ,disegno‘ und ,colore‘“. Der Venezianer Paolo Pino erörtert
in seinem >Dialogo di Pittura< von 1548 ,,das Problem der Farbe im Zu-
sammenhang einerTheorie derMalerei, die aus ,disegno‘, ,invenzione‘
und ,colorire‘ besteht; ,colorire‘ umfaßt ,discernere la proprietà delli
colori et intendar ben le composizioni loro‘, ,prontezza e sicurtà di
mano‘ und ,lume, ultima parte et anima del colorire“.“ 108 Die enge Ver-
bindung von Farbe und Licht ist charakteristisch für die venezianische
Theorie. 109
Lodovico Dolce (1509-1568) schließt an Pino an. Sein >Dialogo della
Pittura, intitulato L’Aretino< (Venedig 1557) stellt eine Antwort auf
Vasaris >Vite< dar und rühmt den „divin Tiziano“. Farbe dient der Ver-
lebendigung der Darstellung: „Vermag der Künstler Tönungen und
Weichheit des Fleisches und die Eigenart aller anderen Dinge richtig
wiederzugeben, dann erscheinen seine Bilder so lebendig, daß ihnen nur
noch der Atem fehlt.“ Hierfiir, wie fiir die Einigung der Farben im
„Halblicht“ 110 und die Schaffung des Bildraums ist der Kontrast von
Licht und Schatten von großer Bedeutung, ,,che si dà un mezzo, che
unisce l’un contrario con l’altro e fa parere le figure tonde, e più e meno,
secondo il bisogna, distanti...“ „Für Dolce ist die Farbe nicht mehr das
Akzidenz, stets in Gefahr, die im ,disegno‘ verkörperte Idee des Werkes
zu verunklären, sondern das, was letzte Vollendung erst bewirkt.“ 111
- Die Entgegensetzung von „Zeichnung“ und „Farbe“ (- ein letztlich
unfruchtbarer Streit, weil er auf zu engen Begriffen der beiden Gestal-
tungsmittel beruht -) wird wiederaufgenommen in der Frontstellung

107 Vgl. dazu weiterfiihrend: Barasch, Light and Color in the Italian Renais-
sanceTheory of Art, 90-134. -Lersch, Farbenlehre, Sp. 193,194. - Charles Park-
hurst, Camillo Leonardi and the Green-Blue Shift in Sixteenth-Century Paint-
ing. In: Intuition und Kunstwissenschaft, Festschrift Hanns Swarzenski, Berlin
1973, 419^125. - Jonas Gavel, Colour, AStudy of its Position in the ArtTheory of
the Quattro- & Cinquecento, passim. - David Rosand, Painting in Cinquecento
Venice: Titian, Veronese, Tintoretto, New Haven, London 1982, 15-26.
108 Lersch, Farbenlehre, Sp. 193.
109 Vgl. Barasch, Light and Color, 100 ff.
110 Vgl. Barasch, Light and Color, 102-111.
111 Lersch, Farbenlehre, Sp. 193,194.
Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts 187

von „Poussinisten“ gegen „Rubenisten“, von Ingres und Delacroix im


19. Jahrhundert. 112

Im Unterschied zur venezianischen Farb- und Lichttheorie steht die


lombardische in keiner bedeutenden künstlerischen Tradition mehr. Sie
wird allein von Giovanni Paolo Lomazzo (1538-1600) getragen. Licht
und Farbe erfahren in seinem ; Trallato dell’Arte della Pittura, Scultura ed
Architectura< (Mailand 1584) und in seiner >Idea del Tempio della Pittura<
(Mailand 1590) eingehende Erörterungen. 113 Dabei bringt Lomazzo die
lichtmetaphysischen Auffassungen fmherer Jahrhunderte nun in die
Kunsttheorie ein. Er schöpft aus Aristoteles und Dionysius,Thomas und
Ficino. „Allerdings wird dieser neue geistige Reichtum mit einem Ver-
lust der eigenen, unmittelbaren Anschauung erkauft.“ (Barasch) Er
unterscheidet, nach einer hierarchischen Ordnung, Licht als Bild Gottes
von „lume dell’ inteletto agente“, das den Menschen die göttlichen
Dinge verstehen läßt, und schließlich, in der physischen Welt, von Licht
als „Qualität, die von der Sonne und dem Feuer ausgeht und die Farben
sichtbar macht“. Wichtig ist dabei Lomazzos Verschränkung von Aus-
sagen der spekulativenTheologie und der empirischen Kunsttheorie. So
gelten Lomazzo etwa als „corpi luminosi“ nicht nur die natürlichen
Lichtquellen wie Sonne und Feuer, sondern auch „übersinnliche Er-
scheinungen, Dio Padre, Christus, das Empyreum“. Diese beiden Arten
von Lichtquellen waren bisher getrennt, in verschiedenen Traditionen
erörtert worden, nun werden sie in ein System gebracht. - Hier sei nur
noch ein wichtiger Zug der Lichttheorie Lomazzos erwähnt, seine Unter-
scheidung verschiedener „Lichtstile“ in der Malerei: Im Kapitel XIV
der >Idea del Tempio della Pittura< spricht Lomazzo „über die ,diversa
maniera d’alluminare‘ jener Künstler, die die sieben Regenten der Ma-
lerei sind. Jede dieser Arten der Beleuchtung hat eine spezifische emo-
tionelle Bedeutung. Michelangelo gab seinen Figuren ein lume terrible;
Polidoros Beleuchtung ist acuta, fiera e marziale; Leonardos Licht ist so
ausgewogen, daß es göttlich genannt werden kann; Raffael gab seinen

112 Vgl. S. J. Freedberg, Disegno versus colore in Venetian painting of the


Cinquecento. In: Florence and Venice: Comparisons and Relations, Vol. II: Cin-
quecento, Cambridge, Mass. 1982, 309-322. - Maurice George Poirier, Studies
on the Concepts of Disegno, Invenzione and Colore in sixteenth and seven-
teenth Century Italian Art andTheory, Ph.D., New York University 1976.
113 Vgl. Hierzu: Moshe Barasch, Licht und Farbe in der italienischen Kunst-
theorie (1960), bes. 246-300. Zit. 248, 250, 256, 257, 265, 272, 279. - Barasch,
Light and Color in the Italian Renaissance Theory of Art, 135-209. - Lersch,
Farbenlehre, Sp. 195-198, Zit. Sp. 196/197. -Gavel, Colour, passim.
188 Italienische Malerei des 16. Jahrhunderts

Werken ein lume leggiadro, amoroso e dolce, das die Grazie dieses
Künstlers offenbart; Mantegnas Licht ist pronto e minuto, aber harmo-
nisch gemildert; Tizians terrible ed acuto lume zeigt seine Größe und
Gaudenzio gab ,un lume large e regolato' ... Hier, in diesem Kapitel,
finden wir eine Lichttheorie, die weit über alles hinausgeht, was die
Kunsttheorie der Renaissance in dieser Beziehung sagte.“ (Barasch) -
Auch der Farbe läßt Lomazzo hohe Wertschätzung zukommen: sie ver-
leiht der Malerei Vollendung: „Onde il colorir si può dir la radice della
Pittura e quello che gli dà la perfezione. “ Ein charakteristisches Element
der Farbtheorie Lomazzos ist die Betonung der „Objektivität“ der
Farbe, die eine Trennung von Licht und Farbe zur Voraussetzung hat.
Wichtig ist ihm die Lokalfarbe der Gegenstände: „Beleuchtete und ver-
schattete Teile einer dargestellten Figur haben zwar verschiedene Licht-
intensität, sie haben aber dieselbe Farbe.“ So kann Farbe zum Mittel der
Erkenntnis des Dargestellten werden; die Körperfarbe einer Figur zeigt
ihr Temperament, „der Choleriker hat eine andere Körperfarbe als der
Sanguiniker, der Phlegmatiker eine andere als der Melancholiker“, die
Farben zeigen aber auch die Leidenschaften, die „Passionen der Seele“.
Traditionen der vor allem auch in der Astrologie überliefertenTempera-
menten-, Planeten- und Elementenlehre werden hier mit einer neuen
psychologischen Deutung verknüpft. Die Farbe als objektiver Ausdruck
des Gegenstands bedarf der subjektiven Dimension, des Erlebens des
Betrachters. Damit gelangt Lomazzo zu einer vertieften Erfassung des
farbigen Ausdruckswertes. Aber nicht schon als Einzelfarbe gewinnt sie
diese Wirkung im Kunstwerk, erst innerhalb eines Systems von Freund-
schaften und Feindschaften von Farben. „Die richtige Disposition einer
Farbe versichert ihre volle Sichtbarkeit, die falsche macht sie ästhetisch
abwesend“, und Lomazzo ist wohl der erste, der ,,das Zustandekommen
harmonischer Farbkombinationen auf ein einheitliches Prinzip zumckzu-
führen sucht: einander freundlich sind diejenigen Farben, die in der Skala
benachbart sind“. (Lersch) Diese Auffassung erklärt auch Lomazzos
Vorliebe für Changeantfarben. - Darin und in der Akzentuierung der
farbigen Ausdruckswirkung reflektiert Lomazzos Farbtheorie Besonder-
heiten manieristischer Farbgestaltung.
ZUR NIEDERLANDISCHEN MALEREI
DES 16. JAHRHUNDERTS

Die Farbgestaltung der niederländischen Malerei ist zu Beginn des


16. Jahrhunderts zweigeteilt. Eine Strömung entwickelt die Helldunkel-
malerei des vorangegangenen Jahrhunderts fort, die andere, vielfälti-
gere, bestimmt sich aus immer erneuten Begegnungen mit der italieni-
schen Malerei.
Joachim Patinier (um 1480-1524) gehört der ersten Richtung an. Seine
>Ruhe aufder Flucht nach Ägypten< (um 1520, Gemäldegalerie Berlin) 1
lebt aus zarten Helldunkelspannungen. Gleichwohl hat sich das Schwer-
gewicht etwas nach der koloristischen Seite hin verschoben. Im Himmel
erscheint nun fast reines, festes Weiß, kontrastiert zum tiefen Flaschen-
blaugrün, der Einheitsfarbe des Mittelgrundes, an die sich nach vorne
hin dunkles, schwärzliches Oliv anschließt. Das Licht sammelt sich im
klaren Weiß des Marienkopftuchs, dem gedämpfteren von Sack und
Windel und im heilen Weinrot des Marienmantels. Ist in der altnieder-
ländischen Malerei das über „weißem“ Horizont sich vertiefende Him-
melsblau zugleich Ansatz einer die Bildsphäre überwölbenden Dunkel-
heit, so ordnet sich nun der Bildraum neu nach Flächenschichten,
sichtbar auch in der klaren Farbtrennung der Raumzonen.
Auch Quentin Massys (1466-1530) steht in derTradition der altnieder-
ländischen Malerei, fiihrt aber die Farbgestaltung einer neuen Verfeine-
rung zu. So sind etwa bei der >Heiligen Sippe< des Annenaltars (1507/09,
Briissel, Musées Royaux des Beaux-Arts) ,,die Grundfarben nicht nur
in einer Ausprägung gegeben, sondern in mehrere gebrochene Abtö-
nungen auseinandergelegt, die eben dadurch, wie sie als Abwandlungen
eines Grundtones erscheinen, in ihrer Besonderheit als Brechungstöne
gesteigert empfunden werden. Reine Farbtöne wirken neben ihnen
um so empfindlicher.“ Zu diesen Farben, ,,die, wenn sie auch ver-
ändert wirken, doch die Grundfarben des 15. Jahrhunderts noch nach-
klingen lassen, treten andere, bisher unbekannte, wie Orange, warmes
Laubgrün, stumpfes schwärzliches Violett und ähnliche Töne, deren
Kreis noch erweitert wird durch die vielfach auftretenden Changeant-
farben, wie Hellgriin-Weinrot oder Lachsrosa-Hellblau ...“ Heinz
Roosen-Runge hat die Eigenart und Wandlungen der Farbgestaltung bei

1 Gemäldegalerie Berlin, 167.


190 Niederländische Malerei des 16. Jahrhunderts

Quentin Massys mit ungemeiner Sorgfalt und Einfühlungskraft be-


schrieben. 2
War die altniederländische Malerei zu Anfang des Jahrhunderts, bei
Memling etwa, bestimmt vom freien Gleichgewicht zwischen Hell-
dunkel, Buntfarbigkeit und „neutralisierten Partien“ (vor allem der
Landschaftsgründe und Inkarnate), so steigert sich in manchen nach
1500 entstandenen Werken die Spannung zwischen Buntwerten und
farbverzehrendem Dunkel. Joos van Cleves (nachweisbar in Antwerpen
von 1511-1540) Altartafel mit dem >Tod Mariä< (wohl 1515, München,
Alte Pinakothek) repräsentiert diese Phase der Entwicklung. Hier steht
intensive Farbigkeit gegen farblose Dunkelheit und „neutralisierte“,
unter Lichtwirkung befindliche Partien, unvermittelt, in plötzlichem
Gefälle.
Eine andere Veränderung des Helldunkels betrifft die Konzentration
des Lichtes auf das inhaltliche Zentrum, im Verein mit neuer Sammlung
der Farbwirkung. Das Inkarnat der >Danaë< (1527, Alte Pinakothek
München) 3 von Jan Gossaert (um 1478-1532) steht im vollen „Beleuch-
tungslicht“ und leuchtet darin auf. Gossaert war der erste Italienfahrer,
doch von der italienischen Farbgestaltung übernimmt er unmittelbar
noch nichts. Die Einung der Farben vollzieht sich noch immer in Licht
und Dunkelheit, nicht in der Fläche. Nahsichtige Gestaltung ist auf die
Spitze getrieben, die Dinge erscheinen im Nahsicht-Glanz, kontrastiert
zur Finsternis.
Dagegen bekundet sich ein mittelbarer Renaissance-Einfluß in einer
neuen Bewußtheit der Farbe als künstlerisches Gestaltungsmittel, einer
neuen Erfassung ihres Schönheitswertes - wie zuvor schon bei Massys,
so auch bei Bernart von Orley (um 1488-1541). Seine noch vom Vorbild
Rogier van der Weydens gespeiste >Beweinung Christu (um 1512/15,
Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts) 4 verbindet unterschiedliche
Tendenzen: die archaisierende Nachahmung der Flimmerwirkung eines
Goldgrundes (wobei aber nur stellenweise wirkliches Gold, sonst Braun
und braune Strichelung verwendet wird), nahsichtiges Helldunkel und
entbundenes Licht, das huschende, rosagelbliche und kupfrige, im
Schatten violett gestimmteTöne des Inkarnats erzeugt, - mit Farben, die
in italienischem Sinne als feste Größen wirken wollen, bräunliches
Karmin, Stahlblau, dunkles, sattes Moosgrün und Weiß.
Bei Lucas van Leyden (1494-1533) geht diese neue Farbbewußtheit

2 Heinz Roosen-Runge, Die Gestaltung der Farbe bei Quentin Metsys,


München 1940, Zit. 44, 45.
3 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 46.
4 FA: Kindlers Malerei-Lexikon im dtv, Bd. 9, 333.
Miederländische Malerei des 16. Jahrhunderts 191

zusammen mit partieller Einführung einer Reliefstruktur, insbesondere


im Verhältnis von Licht- und Schattenzonen, und genereller Aufhellung.
So ist das Triptychon des Jüngsten Gerichts< (1526/27, Leiden, Stedelijk
Museum) 5 bestimmt von höchster Lichtheit des Gesamtaspekts. Die
Mitteltafel ist, bis etwa zur Kopfhöhe der Vordergrundfiguren, nur in
hellen Farben gehalten, angefangen beim Zitrongelb des Empyräums
mit ganz lichten, rosa-grauen Gloriolerändern, das Gottvater in Hell-
karmin umschließt, zur matthellblaugrauen Zone mit den lebhaft bunt-
dunklen Farben der Apostel und den hellgrauen Wolken, schließlich
zum zart-türkisfarbenen Erdball. Auch die Verdunkelung zum unteren
Rand erfolgt über eine intensiv-bunte Zone. Scharf schneiden die licht-
blonden Inkarnathelligkeiten in die farbdunklen Gründe, ein neuartiges
Kontrastverhältnis zwischen hellstblonden Buntheiten und primärer
Buntfarbe, etwa dem Grün derWiese, entsteht. Auch die Inkarnate sind
im Prinzip „changierend“, d.h. mit klarer Trennung von Licht- und
Schattenflächen, modelliert, wobei auch die Halbschatten sehr hell
gehalten sind. (Die Binnengliederung ist nur durch die vom Grund
bläulich durchschimmernde Zeichnung gegeben.)
Noch entschiedener organisiert Jan van Scorel (1495-1562) die Bilder
gemäß der italienischen Farbreliefstruktur und faßt die Raumschichten
farbig zusammen. Matthelles Bordeauxrot und Grün und Graugrün des
Gewandes vereinen sich bei der >Hl. Maria Magdalena< (um 1528,
Amsterdam, Rijksmuseum) 6 mit dem hellen Bronzeton des Salbgefäßes
zu einer Vordergrundzone, der auch die dunkelbraune Baumsilhouette
noch angehört; über einen engen Mittelgrund hinweg schließt der kühl-
grünliche und weißliche Hintergrund an.
Maerten van Heemskerck (1498-1574) geht noch weiter in der Verein-
fachung des farbigen Bildaufbaus. Sein >Bildnis einer Frau< (um 1530,
Amsterdam, Rijksmuseum) 7 ist beherrscht vom leuchtenden Braun der
Rückwand, das, etwas rötlicher, in den Ärmeln wiederkehrt, zum
Halbton modifiziert im Spinnrocken, verbunden mit Schwarz und Samt-
grau in Kragen und Mieder, tiefem Oliv im Rock, Weiß in Haube und
Wolle, gegenständlich differenziert, und ein wenig Venezianischrot.
Neutrale und halbneutrale Farben werden zu vollgültigen Bildwerten er-
hoben, überstrahlt von der Lichtwirkung des Inkarnats. Breitflächige
Farbbehandlung vereint sich mit nahbildhaftem Glanz.
In anderer Weise läßt sich beim >Steuereinnehmer mit seiner Frau< von

5 FA: Enciclopedia Universale dellArte, Bd. VIII, Venedig, Rom 1958,


Abb.274.
6 FA: Meijer, Rijksmuseum Amsterdam, 40.
7 FA: Meijer, Rijksmuseum Amsterdam, 41.
192 Niederländische Malerei des 16. Jahrhunderts

1538 (Alte Pinakothek München) 8 von Marinus van Reymerswaele (um


1490-1567) Farbannäherung beobachten. Das intensivierte Bildlicht
nähert die Rot- und Braunwerte einander an, Karmin und Rosenholz-
braun, Ledergelb, Hellbraun, Inkarnatfarbe, bei gleichzeitiger toniger
Vereinheitlichung des Grundes und Scheidung von Schatten- (bzw.
Licht-)form und Gegenstandsform: an die Stelle kräftiger Buntfarb-
kontraste tritt Bereicherung durch eigenwertige Schattenformen.
Jan Sanders van Hemessen (um 1504 - vor 1567) gewinnt aus Farb-
annäherung expressive Wirkungen. Bei seiner >Verspottung Christu von
1544 (Alte Pinakothek München) 9 sammelt sich das Licht auf Christi
Leib, dessen „michelangeleske“ Modellierung mit Weißhöhungen lumi-
naristisch interpretiert wird. Christus umkreisen Rottöne in nahen Inter-
vallen, schillerndes Kirschrot, sattes Zinnoberrot, Braunorange, Braun-
karmin und Braun als „Quersumme“ aller Inkarnattöne, durchsetzt von
weißen Glanzlichtern. Die minimalen Rückungen des Farbwertes sind
Medium quälender Dissonanzen.
Ein Problem in der Auseinandersetzung der niederländischen Malerei
mit der italienischen ist die Rezeption derTrias. Die Vielfarbigkeit des
Helldunkelbildes wurde abgelöst von der Annäherung der Farbtöne im
intensivierten Beleuchtungslicht. Van Hemessens Spätwerk, das auch
am Endpunkt des niederländischen Romanismus steht, sein Bild >Isaak
segnet Jakob< (Alte Pinakothek München) verbindet Rebecca mit der
Decke Isaaks in den Farben derTrias. Diese kommt zustande nicht als
eigenwertige, dem Helldunkel eingeprägte Farbfigur, sondern als Destil-
lation, als Fixierung der im Helldunkel fließend bewegten Bunttöne,
weshalb nicht ein Blau, nicht ein eindeutiges Rot, sondern die reine
Farbqualität umspielendeTöne erscheinen: Stahlblau, Graublau, Grün-
blau. Die Tendenz geht also auf eine „Tektonisierung“ der Farbe, - unter
„Dehnung“ der nahsichtigen, mikrokosmischen Helldunkelfarbe - ein
widersprüchlicher, dissonanzenreicher Prozeß.
Zwischen 1550 und 1560 findet auch die niederländische Malerei zu
einer farbigen Reliefstruktur, in ganz unterschiedlicher Ausprägung bei
Aertsen und Bruegel, unter entschiedener Reduktion zumindest einer
Schicht auf nahe Farbintervalle um Braun und dessen Brechungen.
Pieter Aertsen (um 1508/09-1575) nähert in seinem >Vanitas-Stilleben,
im Hintergrund Christus bei Maria und Martha< (1552, Kunsthistorisches
Museum Wien) 10 alle Buntwerte dem Braun, das als Grundton zugleich
Dunkelheit ist, die sich in der Reliefschicht der Wand verdichtet. Den

8 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 47.


9 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 46.
10 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 76.
Niederländische Malerei des 16. Jahrhunderts 193

ausgedehnten Braunkomplexen stehen allein kleine Flächen hellen Tür-


kisblaus im Fensterausschnitt und in der Wand des angrenzenden Raums
gegenüber. 11
Vittorio Imbrianis Theorie des Farbenflecks 12, wonach „die bloße
nackte ,macchia‘, ohne irgendeine nähere gegenständliche Bestim-
mung, schon imstande ist, den Betrachter innerlich zu bewegen“, sah
Hans Sedlmayr verwirklicht in den Gemälden aus Pieter Bruegels d. Ä.
(1525/30-1569) frühcr - und mittlerer Schaffensperiode: „Um den
,Farbenfleck‘ wiederherzustellen, von dem das vollendete Bild ausge-
gangen ist, braucht man bei ihnen - so scheint es - nicht erst künstlich
von der gegenständlichen Bedeutung abzusehen, indem man sich
gleichsam seelenblind stellt. ... Ohne jede Aktivität unsererseits, im
ruhigen passiven Anschauen beginnen bei längerem Hinsehen (bei man-
chen Betrachtern auch sofort) die menschlichen Figuren der typischen
Bruegel-Bilder sich zu dekomponieren, inTeile zu zerlegen und damit
auch ihre Bedeutung und ihren gewohnten Sinn einzubüßen. Wenn
dieser Vorgang seinen Höhepunkt erreicht, sieht man statt der Figuren
eine Menge flacher bunter Flecken von fast geschlossener Kontur und
einheitlicher Färbung, die unverbunden und ungeordnet neben- und
übereinander in einer vordersten Schicht des Bildes zu liegen scheinen.
Es sind gleichsam die Atome des Bildes .. .“ 13 Wolfgang Mössner analy-
sierte die damit angedeutete Farbstruktur genauer etwa am Beispiel des
>Streits zwischen Fasching und Fasten< von 1559 im Wiener Kunsthistori-
schen Museum 14, wies aber darauf hin, daß „bei aller Freiheit, aller
eigenwertigen Abstraktheit, aller eigenwilligen Energie-Komprimie-
rung des einzelnen Farbflecks“ dieser „gerade durch seinen Kraftüber-
schuß“ das Wesen der mit ihm verbundenen Figur vermittle. 15 In seinen
späteren Bildern gelangt Bruegel zu einer neuen farbigen Einheit, in der
sich die Erhabenheit und Ruhe des Naturkreislaufs bekundet. So zeigt
sich beim Bild >Die Fleimkehr der Herde (Herbst)< (1565, Kunsthistori-

11 Vgl. dazu auch: Andreas Prater, Christus in der Vorratskammer, Ein ,em-
blematisches“ Bild Pieter Aertsens in Wien. In: Festschrift für Wilhelm Messerer
zum 60. Geburtstag, Köln 1980, 219-230.
12 Vittorio Imbriani, La Quinta Promotrice, Neapel 1868; vgl. Benedetto
Croce, Kleine Schriften zur Ästhetik, II, ausgewählt und übertragen von Julius
von Schlosser, Tübingen 1929, 249-258: Eine Theorie des Farbenflecks (1905).
13 Hans Sedlmayr, Die „Macchia“ Brueghels, (1934). In: Sedlmayr, Epochen
und Werke, Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Erster Band, Wien-
München 1959, 274-319, Zit. 275, 276/277.
14 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 60.
15 Wolfgang Mössner, Studien zur Farbe bei Pieter Brueghel d.Ä., Diss.
Würzburg 1975, 58.
194 Niederländische Malerei des 16. Jahrhunderts

sches Museum Wien) 16 „in den Farben selbst schon der Herbst“,
schwingt im jeweiligen Farbton „ein Stimmungsgehalt mit, der ganz
unmittelbar dem, was in der Natur vorgeht, entspricht“. Gaben sich in
den frühen Bildern die Farben mehr durch die „ Art ihrer verschiedenen
Positionen in Raum und Fläche, durch ihren harten, gegeneinander-
stehenden Auftrag und ihre Isolation als aufgrund der Art ihrer Farbig-
keit an sich als expressiv und aggressiv, als flüchtig und labil zu ver-
stehen, so wecken jetzt die zarten Braunnuancen aus sich selbst heraus,
nur mit Hilfe ihrer Farbigkeit und ihrer Verwandtschaft zu stets wieder
auftauchenden, ihnen ähnlichen Farbwerten gewisse im Wesen der
Farbe gründende Empfindungen, wie die von modriger Erde und säuer-
lich riechendem Laub. Zugleich aber entstehen bei der Betrachtung des
Bildes Assoziationen an einen Herbststrauß, dessen Blätter sich noch
einmal in allen dem Herbstlaub eigenen Farbnuancen zu einem letzten
melancholischen Aufleuchten vereint haben.“ Schon aber zieht der
Winter mit unwetterschweren Wolken herauf. „Die kalten, blei-
schwarzen bis tintenblauen Wolkenbänke lassen dabei im Kontrast die
schwache, sich über die Landschaft hintastende Wärme eines Spät-
herbsttages deutlich werden, gehen aber gleichzeitig zu den Farben auf
der Erde, die sich im wesentlichen auf den Leitwert eines goldenen
Brauntones bringen lassen, eine lockere komplementäre Beziehung ein.
In der sich auch durch diesen harmonischen Ausgleich einstellenden
Ruhe ist die spannungsgeladene ,Zwiespältigkeit‘ der früheren Bilder
aufgegangen.“ 17

16 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 63.


17 Mössner, Studien zur Farbe bei Pieter Bruehel d. Ä., 100/101.
HELLDUNKEL UND FARBE:
DIE MALEREI DES 17. JAHRHUNDERTS

Im 17. Jahrhundert kommt die Helldunkelgestaltung zu voller Ausprä-


gung, je anders in der italienischen, holländischen, vlämischen, spani-
schen und französischen Malerei. 1 Gleichzeitig kulminiert die Buntfar-
bigkeit in der Trias der Grundfarben. 2 Braun, Grau und Oliv steigen als
Medien des Helldunkels zu neuer Bedeutung auf.

Caravaggio 3 (1573-1610) vertieft das Helldunkel zum „Tenebroso“,


verdichtet Dunkelheit zur Finsternis, zu substantiellem Schwarz oder
Braunschwarz, dem das Licht engegensteht und das Weiß als Dingfarbe.
In dieser Spannung zwischen Schwarz und festem Lichtweiß sucht Rot
die Mitte zu halten. In manchen Bildern, wie etwa beim >Hl. Hiero-
nymus< der Galleria Borghese in Rom, kann es die ganze Buntfarbskala
vertreten, in anderen tritt es mit Gelb, in wechselnder Proportionie-
rung, zusammen. (Später wird Rembrandt einen Rot-Gelb-Klang wie-
deraufnehmen, freilich diese Farben, anders als Caravaggio, aus ihrer
„irdischen“ Bedingtheit fiihren.) Blau tritt entschieden zuriick, es findet
keinen Ort in solcher Verfestigung des Dunkels, Griin und seine Ablei-
tungen dagegen gewinnen an Bedeutung. Eine eigene Farblogik bildet
sich aus: Schwarz und Rot ergeben Braun, Schwarz und Gelb Oliv,
beide, Braun und Oliv, fiihren wieder zum „tenebrosen“ Schwarz.
Im Unterschied zum niederländischen Helldunkel, das in lichtge-
tränkten Farben seinen Höhepunkt finden kann, kuliminiert das Hell-
dunkel Caravaggios und seiner italienischen Nachfolger in gesättigten
Farben; im Unterschied zur transitorischen Durchdringung von Licht
und Dunkel in der niederländischen Malerei, bei Rubens und Rem-
brandt, erscheint das caravaggeske Helldunkel als Scheidung von Licht

1 Zum Begriff des Helldunkels vgl.: René Verbraeken, Clair-Obscur,


- histoire d’un mot, Nogent-le-Roi 1979.
2 Vgl. auch: Charles Parkhurst, Red -Yellow - Blue, A ColorTriad in Seven-
teenth-century Painting. In: The Baltimore Museum of Art Annual, 4, 1972,
33-39, 108-110.
3 FA: Roberto Longhi, Caravaggio, Dresden 1968. - Zu Caravaggio vgl.:
Fritz Baumgart, Caravaggio, Kunst und Wirklichkeit, Berlin 1955,53-59 („Hell-
dunkel“), 60-64 („Farben“). -Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen,
96, 97 (Caravaggio: Die Berufung des hl. Matthäus).
196 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

und Finsternis, an den Körpern als entschiedene Trennung von Licht-


und Schattenbezirken, wobei Schwarz und seine Varianten zugleich Mo-
dellierungs- und Grundfarben sind: der Grund kann so in allen Zonen
des Bildes aufbrechen, die Relieftiefe des italienischen Bildraums wird
zur Dunkelheit, die das Bild auch nach vorne wiederum schließt.
Caravaggios Licht wird selbst aktiv, „ist ein gebtmdeltes, handelndes
Zeigelicht, dessen wesentliche Aufgabe darin besteht, uns die Bildwelt
als ,Bild der Welt‘ zu zeigen und den Bildvorgang ins ,richtige Licht' zu
rücken.“ Ja, „das Licht bringt Leben - deshalb ist es stets mit dem höch-
sten Lebenden: Christus oder den Heiligen, und deshalb steht es gegen
den Toten, ihn mit Leben bescheinend“ (Wolfgang Schöne 4). Zu sol-
cher Entschiedenheit prägt sich Caravaggios Licht und Helldunkel erst
in seinen reifen Werken aus. „Heftiges Helldunkel fiihrt Caravaggio erst
fiir dramatische Historien ein, in der >OpferungIsaaks< (Uffizien), in der
>Enthauptung des Holofernes< (Rom, Sammlung Coppi) und, Epoche
machend, in den Bildern der Contarelli-Kapelle in Rom. Im Friihwerk
sind es zwei Affektstücke, die eine erste Schärfung des Lichtgangs for-
dern: der >von einer Eidechse gebissene Knabe< (um 1593/94, Privat-
sammlung) und der >Medusenkopf< (um 1593/95, Florenz, Uffizien).
Der >Bacchusknabe< aber (um 1592/93, Uffizien), Paradigma des Friih-
stils, bietet sich in beinah schattenloser Helle und Gegenwart dar, zum
Greifen nah, modell- und doch maskenhaft, mit Epidermis prahlend,
fast von vorne ausgeleuchtet und vor neutralem Grund stillgelegt ...“
(Emil Maurer) 5
Sanft ist das Licht auch in der >Ruhe aufder Flucht nach Ägypten< (um
1592/94, Galleria Doria, Rom), vielteilig noch die Farbigkeit. Dabei ist
keine der Grundfarben rein vertreten, selbst das Rot im Kleid Mariens
ist zu einem schwärzlich verhüllten, im Lichte aufleuchtenden Venezia-
nischrot abgewandelt, streng gegenständlich gebunden und sich nir-
gends wiederholend. Gleiches gilt von den anderen Buntfarben, dem
Violettbraun im Gewand, dem dunkel-stumpfen Ledergelb im Mantel
Josephs, dem dunklen grimblauen Marienmantel, dem Taubengrau der
Engelsflügel. Der Grund teilt sich in tiefes Braunoliv beim Esel links und
lichte Farben rechts, morgendämmriges Blaugrau im Himmelsgrund,

4 Über das Licht in der Malerei, 137/138,142. -Dazu auch: Thomas Sommer,
Licht und Finsternis, Studien zu Caravaggio und Shakespeare. In: Shakespeare-
Jahrbuch, Bd. 95,1959,193-215.
5 Emil Maurer, Zu Caravaggios Helldunkel. In: Festschrift Hans R. Hahn-
loser zum 60. Geburtstag, Basel 1961, 393-396, Zit. 393. -Dazu auch: KasparH.
Spinner, Helldunkel und Zeitlichkeit, Caravaggio, Ribera, Zurbaran, G. de la
Tour, Rembrandt. In: ZeitschriftfiirKunstgeschichte, 34,1971,169-183.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 197

helles Olivbraun in Bäumen und Wiese, kaltes Grau im Weiher. Das


Licht sammelt sich im Inkarnat, im warm-gelblichen des Engels, dem
leicht rötlicheren bei Maria und dem Kind. Zu den vergleichsweise tief
genommenen und so einander nahegeführten Buntfarben - die sich
nicht zur Trias zusammenschließen - steht dies Licht in verhaltener Span-
nung; vermittelnd wirkt das silbergrau verschattete Weiß im Tuch des
Engels, während Schwarz noch nicht zur Geltung kommt, die Farben
noch nicht in seinem Dunkel versinken.
Bei der >Wahrsagerin< (um 1594/95, Paris, Louvre) hat sich die Farb-
skala auf Schwarz, grauverschattetes Weiß, Ocker, dunkles Braunrot
und tiefes Graugrün in den Figuren konzentriert (eine antike Farben-
skala lebt hier wieder auf), vor hellem, olivtonigem Grund, den Schat-
tenstreifen in Grauoliv durchziehen. - In tiefes Braunoliv, erhellt nur
von einem lehmgrauen Lichtdreieck in der rechten oberen Bildecke, ver-
dunkelt sich sodann der Grund in der >Reuigen Magdalena< (um 1595,
Rom, Galleria D oria). Lehmgrau ist auch das Kleid der Magdalena, und
die Salbflaschen und Ketten am Boden sind in der farbigen Zweiheit von
Bernsteinbraun und Lehmgrau gehalten, die sich in den Bodenplatten
vermischt. Als einzige Buntfarbe erscheint ein Korallenrot in Magdale-
nens Schleife, ohne Bezug zum leicht rosatonigen Inkarnat wie zum
Braun des Mantels: Caravaggio wahrt hier strengste Reduktion und Iso-
lierung von Buntfarbigkeit. Die silbergraue, helle Halbschattierung der
weißen Ärmel ist eingeschlossen in präzise Konturen, wie auch die
ganze Figur noch von eigenwertigem Umriß umfangen scheint. Erst der
reife Caravaggio zerstört die Geschlossenheit der Figur zugunsten ge-
genstandsunabhängiger Lichtformen.
>Amor als Sieger< (1602, Gemäldegalerie Berlin) 6 ist entwickelt aus
den Kontrasten einer extrem tiefen und extrem hellen Form von Braun,
und zwar so, daß die Farbe noch spürbar bleibt im tiefen Torfbraun des
Raumgrundes wie im hellen Ledergelblich-Ton des Inkarnats - dessen
verhaltenes Leuchten die schwarzbräunlichen, stellenweise kohligen
Schatten steigern - wie auch das stumpfe Lederbraun der Musikinstru-
mente aus dem Braun des Grundes sich herleitet, der Olivton des Win-
keleisens und des Zirkels aus dem Oliv des Bodens. Nur im matten Griin
des Lorbeerzweigs und im schwärzlichen Blau der Himmelskugel
melden sich leise Buntheiten, an unauffälligen Bildstellen. Das Weiß des
Tuches schließlich binden tief umbraschwärzliche Schatten in das
Dunkel des Grundes. In allem ist das Bild ein Exempel für die Öko-
nomie der caravaggesken Farbengebung.
In den Bildern der Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi zu Rom

6 FA: Gemäldegalerie Berlin, 355.


198 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

steigert Caravaggio das Helldunkel zur Formauflösung: „Als Objekt ist


das schöne Gewächs des Körpers wohl da, aber man findet es zerstiickt
in Tag- und Nachtseiten und zerspellt in Splitterformen neuer Art. Die
scharfen Schattengrenzen rufen an der Gestalt eigentümliche Figuren
hervor - ein Beziehungsnetz schaffend, das, etwa in der Matthäus-
Marter, bis zur Vexierung des körperlichen Tatbestandes fiihren kann,
im Dienste eines andern Zusammenhangs, ... um einer größeren, dra-
matischen Figuration willen. Das Ereignislicht fällt als eine außer-
menschliche Macht in die Menschengruppe ein; es meint nicht diese
selbst, sondern was über sie kommt.“ 7 Aber die Farben konsolidieren
die Figuren. In der >Berufung des hl. Matthäus< (um 1599-1600) ordnen
sich die aufleuchtenden oder verdunkelten Farben in dreiTriaden, einer
mittleren, im Jüngling mit der Straußenfeder, gebildet aus Ocker und
Rotbraun im Wams, dunklem Blau in seinem Barett, einer rechten in der
Gruppe von Christus und Apostel, mit Schwarzblau und Ocker beim Be-
gleiter Christi, Bordeauxrot im Gewand des weisenden Armes Christi, -
und einer linken, mit tiefem Rubinrot, mittelhellem, gebrochenem Blau
und Ocker beim sitzenden, auf das Geld starrenden Zöllner, je auf einen
kleinen Umkreis versammelt und dennoch von großer bildorganisie-
render Kraft.
Die >Kreuzigung PetrU in der Cappella Cerasi von S. Maria del Popolo
zu Rom (1601) spannt die Farben zwischen den Polen einer tiefst torf-
braunen Folie und dem Weiß der Tücher wie dem hell-ledergelblichen,
braunschwarz verschatteten Inkarnat, die ganze Figurengruppe umfas-
send, aus, als Trias von zähem Ledergelb in der prallen Hose des kau-
ernden Schergen, gedecktem Englischrot im Mantel am linken Bildrand
und Hellgraublau im Gewandstück der rechten unteren Bildecke. Er-
weitert wird diese Farbfigur um den hellgriinlichen Olivton und das ge-
dämpfte Schwarzgrim in der Gewandung des seilziehenden Schergen
zur Totalität der Buntfarben, die jedoch alle als gebrochene Werte er-
scheinen.
Die Vielfalt der Farbengebung Caravaggios wird sichtbar beim Ver-
gleich mit der >Madonna mit Kind und der hl. Anna< (Madonna del
Serpe) der Galleria Borghese, Rom (1605/06), bei der, vor größtenteils
schwarzem Grund, im Gesamteindruck farbig nur das Zinnoberrot des
Marienmantels und das im Licht gelbliche, in drei Helligkeitsstufen ab-
gewandelte Hellbraun ihres Ärmels, als Klang zweier warmer Farben,
zur Wirkung kommen. Ihr Gegengewicht ist allein ein kaltes Silbergrau
im Mantel der hl. Anna. Das tiefe Schwarzgrim im Rock Mariens, das
Olivbraun im Annengewand versinken in die Dunkelheit des Grundes.

7 Maurer, Zu Caravaggios Helldunkel, 394, 395.


Die Malerei des 17- Jahrhunderts 199

Caravaggio läßt, und dies ist entscheidend fiir den Ernst und die Konzen-
tration seiner Farbgebung, auch bei schärfstem „Lichteinfall“ die
Farben nicht vom Licht aufzehren, sondern bewahrt die bestimmenden
Buntwerte in ihrer Sättigung und Festigkeit -, wie auch sein Flelldunkel
die Linie nicht ausschließt: so trennt hier eine deutliche braune Kontur-
linie etwa den Oberarm des Christusknaben vom roten Rock der Mutter.
Annäherung von (schwärzlich verschattetem) Rot und einem (hier
graurötlichen) Ockerton, also zweier warmer Farben, zeigt sich auch in
der >Grablegung Christi< der Vatikanischen Museen (1602/03), begleitet
von dunklem Blau und sehr dunklem, kaum von der tiefschwarzbraunen
Folie unterscheidbarem Griin. Ähnlich beschränkt sich beim >Ma-
rientod< des Louvre 8 (1605/06) fiir die Gesamtauffassung die Farbigkeit
auf Braunrot, in Draperie und Mariengewand, und Ocker, im Mantel
des vom Licht getroffenen Apostels, ins Kupfrige gefiihrt beim Kleid der
Weinenden, zu einem Goldbraun vertieft und zum Braun des Grundes
und des Bodens vermittelnd im Mantel des Apostels links. Auch hier tau-
chen die anderen Farben, tiefes Schwarzblau, tiefes Schwarzgriin, leicht
violettstichiges Grau, im Bilddunkel unter. Nur Weiß hebt sich heraus,
rauh und stofflich, mit griinlichgrauen Schatten im Ärmel der Kla-
genden und im Kissen, so daß auch hier die antike Skala von „Schwarz“,
Weiß, Rot und „Gelb“ machtvoll sich zur Geltung bringt.
In der >Rosenkranzmadonna< des Wiener Kunsthistorischen Mu-
seums 9 (1606/07) lebt noch einmal, zwischen dem tief olivhaltigen
Schwarz des Grundes, das sich in den Kutten modifiziert, und der Licht-
helle des Weiß und der Inkarnate, die Fiille zart gebrochener Buntwerte
auf. Sie stehen unter der Vorherrschaft des machtvollen Rots im Vor-
hang: ein mattes, leicht nach Grau gebrochenes Kupferrot, tiefes Moos-
griin, graugedecktes Blau und Griinblau, zweierlei Gelb, ein matt griin-
liches, durch schwärzliche Verschattung olivtonig erscheinendes und ein
reineres Zitrongelb.
Caravaggios letzte Werke in Sizilien und Neapel steigern die Helldun-
kelspannung und drängen Buntfarbigkeit zuriick. Die bildbestim-
menden Erdfarben bleiben in der Dunkelfarbe des Grundes verankert.
„Mit den ganz auf das Dingliche und Stoffliche der Gegenstände ge-
richteten Werten seiner Farbskala schuf Caravaggio die Grundlagen fiir
neue Ausdrucksmöglichkeiten der europäischen Malerei.“ „Auf Ver-
wirklichung, Vergegenwärtigung und Konkretisierung zielte alles: die
Verdichtung und Verdinglichung der natiirlichen Gegenstände in ihrem
materiellen-körperlichen Sein, die Zusammenfassung und Lenkung des

8 FA: Laclotte, Louvre, II, 97.


9 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 32.
200 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

allgemeinen Lichtes und vereinzelter natiirlicher Lichtbeobachtungen


zu einer fast körperhaft und greifbar wirkenden Verdichtung des Lichts
schlechthin, die Konzentration der Darstellungswerte einer bestimmten
Farbskala auf ihre Stofflichkeit bis zur Verschmelzung mit Gegen-
ständen und Licht.“ 10

Die Umformung des Bildlichts Caravaggios durch seine kleinen und


großen Nachfolger faßte Wolfgang Schöne unter drei Aspekte: „Das bei
Caravaggio motivisch ,indifferente‘ Leuchtlicht wird fast stets in ein
,konkretes‘ umgedeutet: in kiinstliches Licht (Fackel, Kerze), sakrales
Licht (sichtbare oder unsichtbare Himmelsglorie, selbstleuchtendes
Christkind) oder natiirliches Licht (durch Fenster oderTur einfallendes
stark gebiindeltes Tageslicht).“ - Das Leuchtlicht dient nun ,,uns Be-
trachtern und den Bildgestalten gleichmäßig“, es erleichtert „also auch
den Bildgestalten das Handeln. Christi Seitenwunde steht jetzt (wie
etwa bei Wouter Pieter Crabeth II, >Der ungläubige Thomas< im Amster-
damer Rijksmuseum) in hellem Licht: nicht nur wir, sondern auch
Thomas können sie miihelos sehen.“ Nun wissen auch die Bildgestalten
von diesem Licht. Damit geht einher „eine entschiedene Minderung des
Dualismus von Licht und Finsternis im absoluten Sinne.“ - Schließlich
fiihrt die „Formung des Leuchtlichts zur Faßlichkeit bei den Kiinstlern
der Caravaggio-Schule im engeren Sinne, also bei denen, die seine ge-
biindelte Lichtfiihrung mehr oder weniger wörtlich iibernehmen, mit ge-
wisser Notwendigkeit zu einer aufdringlichen Kiinstlichkeit des Bild-
lichteindrucks, die nun wirklich Begriffe wie Scheinwerferlicht und so
weiter herausfordert, obwohl es sich jetzt ja um eindeutig benennbare
Lichtquellen handelt. Ich brauche nur an Honthorst zu erinnern, aber
auch bedeutendere Maler wie Ribera und Zurbaran sind selten ganz von
solcher Kiinstlichkeit frei; ihr zu steuern bedurfte es schon der Kraft
eines Velázquez, Rubens, Rembrandt. Sie wird naturgemäß in den Bil-
dern mit kiinstlichem Leuchtlicht am wenigsten spiirbar, und so diirfte es
kein Zufall sein, daß die bedeutendste Bildlichtleistung der engeren
Caravaggio-Schule auf diesem Gebiete liegt, am schönsten vertreten
durch die Bilder des Georges de laTour.“ 11

Diesen Veränderungen des Bildlichts entsprechen solche der Farb-


gestaltung. An die Stelle des schweren Ernstes der Farben Caravaggios,
der „distanzierenden Gewalt ihres Pathos“ tritt nun wieder Schönfarbig-

10 Baumgart, Caravaggio, 63, 64.


11 Schöne, Über das Licht in der Malerei, 144, 145. - Vgl. auch Henri Pau-
wels, La luce artificiale nei Caravaggeschi. In: Emporium, 120, 154, 153-155.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 201

keit und gelöster Gefühlswert. „Die Tonigkeit der ,tenebrosi‘ bedeutet


im allgemeinen eine Rückkehr zur schönen Farbe, indem sie aus einer
ganz anderen Wärme des Helldunkelzusammenhangs gestaltet ist. Eine
viel kräftigere, akzentuiertere, den Affektwert der Farbe an sich offener
betonende Benützung der Farbe liegt ihrer Art zu gestalten zugrunde.
Hier leuchten wieder die Farben aus dem Dunkel oder wirken bei heller
Folie als ,schön‘.“ 12
In eindrucksvoller Weise zeigen Bilder Orazio Gentileschis (1563-1639)
diesen Übergang zur schönen, gewählten Farbigkeit. „Gentileschis be-
sondere Eigentümlichkeit ist die kristallklar durchsichtige Fassung seiner
Bildgedanken“ (Hermann Voss 13), ein Erbteil seiner toskanischen Her-
kunft. Dies gilt auch für seine Farbgebung. Im Bild >Martha tadelt ihre
Schwester Maria Magdalena< (?) (um 1620, Alte Pinakothek München) 14
sind bestimmende Farbwerte mattes Beige, in den Schatten ins Sand-
braungraue spielend, sanftes Blau, Hellviolett, mit ockerfarbenen Licht-
höhungen: es bildet sich also eine subtil gebrochene Trias. Hinzu kom-
men silbriggrau verschattetes Weiß und tiefes Olivgrim. Die Farben stehen
vor olivgrauer Folie. in zweifachen Kontrastbeziehungen sind sie gegen-
einander ausgewogen, als Farb- wie als luminaristische Werte. Jede Schat-
tenfarbe enthält noch etwas vom Buntwert der Lokalqualität und ist gleich-
zeitig eine Stufe der Grauskala. Aufschlußreich ist auch die farbige Va-
riation einer figural nahezu identischen Komposition, bei der >Ruhe auf
der Flucht nach Ägyptem. Beide Male handelt es sich um die ungewöhn-
liche Verbindung gebrochener Triasfarben mit sensibel abgestuften Grau-
tönen, weißlichem, gelblichem, bläulichem, olivtonigem Grau. Auf der
Wiener Fassung (1625/28) 15 bilden dieTriasfarben mattes Kupferrot (im Jo-
sephsgewand), Braunocker (Josephs Manteltuch), mittleres Hellblau (die
Decke, auf der Maria lagert) ; die Louvre-Fassung (um 1628) 16 zeigt Gold-
ocker (in Josephs Manteltuch), Purpurviolett (im Gewand Mariä) und
Hellblau (wiederum ihr Tuch). Auch die Folien wechseln: eine oliv-
schwarze Wand, von schrägem Lichteinfall erhellt, in Wien, eine tief-
braune Mauer, die sich in einen Landschaftsausblick öffnet, in Paris.
Damit läßt sich vergleichen Carlo Saracenis (1580/85-1620) Spätwerk
>Die Vision des hl. Franziskus< (Alte Pinakothek München) 17. Auch hier

12 Ludwig Münz, Rezension von: Arthur von Schneider, Caravaggio und die
Niederländer, Marburg/Lahn 1933. In: Kritische Berichte zur kunstgeschicht-
lichen Literatur, VI, 1937, 60-68, Zit. 65/66.
13 Hermann Voss, Die Malerei des Barock in Rom, Berlin o. J. (1924), 458.
14 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 27.
15 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 31.
16 FA: Laclotte, Louvre, II, 98.
17 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 26.
202 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

findet sich eine Komposition von neutralen und bunten Farben, doch
nun in einer Gegeniiberstellung lokalfarbiger und neutralisierter Be-
zirke. Die Buntfarben werden von der Figur des Engels getragen: mittel-
helles Blau, Mattbräunlichrot, helles Braun, das den Gelbwert derTrias
vertreten kann, dazu kaltes Grau, festes Weiß undTaubenblaugrau. Das
übrige, die Folie, der Heilige und sein Begleiter, die Gegenstände des
Vordergrundes, sind Varianten von Braun und Grau. Diese Grundtöne
des Helldunkels verdichten sich in unterschiedlichem Maße zu Gegen-
standsfarben, jedoch so, daß der Lokalton nicht überwiegt, die Gemein-
samkeit der Helldunkeltöne als Farben immer spürbar bleibt.
Andere Nachfolger Caravaggios übernehmen in stärkerem Maße
dessen Helldunkelspannung, so Orazio Borgianni (1578-1616) in seiner
>Heiligen Familie< (Rom, Gall. Nazionale, Palazzo Barberini) 18. Hier
läßt sich beobachten, wie bei Caravagios Nachfolgern die Licht-Form-
Phantasie schwindet: nicht mehr konstituieren sich die Lichtflächen zu
eigenen, gegenstandsunabhängigen Formen. Es schwindet die Konzen-
tration des Lichtes und entsprechend die der Farben, die nun in anderer
Vielteiligkeit erscheinen, zusammen mit demonstrativ vorgetragener
Trias.
Ins offen Ausdruckshafte wandelt Guercino (Gian Francesco Bar-
bieri, 1591-1666) Caravaggios Helldunkel. Alle Farben sind eingebettet
in die Licht-Tenebroso-Dualität, Schatten sind Modifikationen des tene-
brosen Grundes, bisweilen erscheinen auch Farben wie umflort von
Dunkelheit. In dieser Spannung vereinfacht sich auch die Buntfarbord-
nung. Aber die Farben erweisen sich, in ihrer sonoren Schönheit, gleich-
wohl als an sich bestehend, werden vom Licht nicht erst erweckt. So be-
wahren sie ihre eigene Ruhe. Die >Auferweckung des Lazarus< (1619,
Paris, Louvre) 19 zeigt vor dunkelolivbraunem Grund eine tief gestimmte
Trias aus schwärzlichem Stahlblau, zu Violett neigendem Bordeauxrot
und Ledergelb in der Gewandung Christi und der Kauernden neben
ihm. Gefiltertes, mondscheinartiges Licht erhellt die Szene, bezeugt sie
als ein Wunder.
Annibale Carracci (1560-1609) greift weiter zurück. Correggio, Ba-
rocci, die venezianische und die römische Renaissancemalerei gehen in
seine künstlerische Bildung ein. Charles Dempsey widmete diesenTradi-
tionen, die hier nicht einmal angedeutet werden können, eine sorg-
fältige Studie. 20 Carraccis >Beweinung Christu (um 1604, London, Na-

18 FA: Kindlers Malerei-Lexikon im dtv, Bd. 2, 67.


19 FA: Laclotte, Louvre, II, 101.
20 Charles Dempsey, Annibale Carracci and the Beginnings of Baroque Style,
Glückstadt 1977.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 203

tional Gallery) 21 nimmt in der Figuren- und Gruppenbildung Correggio


zum Vorbild. Aber an die Stelle der zart-lichtoffenen Farben Correggios
sind kraftvolle, intensive Buntwerte getreten, strahlendes Ultramarin,
Goldgelb, sattes Kupferrot, die gerade im Licht Farbsättigung gewinnen
und einen vollklingenden triadischen Akkord bilden, begleitet von Ab-
stufungen des Blau nach Blaugrau, um Griin, Lederbraun, ein anderes
Rot bereichert. Die Farben leuchten vor tief torfbraunem Grund, ent-
bunden zu neuer Schönheit und Ausdrucksfülle.
Guido Reni 22 (1575-1642) schließt in manchem an die Carracci an,
übernimmt auch Errungenschaften Caravaggios. Günther Heinz unter-
schied drei Phasen in der Helldunkelgestaltung Renis: ,,Am Anfang
steht die Übernahme und Modifikation des caravaggesken Helldunkels
in seinen ersten römischen Jahren ... Es folgt das fragmentierende Hell-
dunkel, die Phase, in der das Bildkonzept nicht ausschließlich von der
Vorstellung der die Komposition bildenden Körper, sondern ... von
dem Helldunkeleffekt bestimmt wird, dem sich die Einzelkörper unter-
ordnen; also ein Ansteigen der Bedeutung des Kunstmittels als solchem,
das von einer dienenden zu einer bestimmenden Funktion fortschreitet.
Als Folge dieses Bedeutungswandels ist in den nächsten Jahren die Be-
freiung des Helldunkels aus der inhaltlichen Bindung in der Ausbildung
der auf der Helldunkelfleckenwirkung aufbauenden dekorativen Phase
festzustellen. ... Allerdings bleibt in diesen drei Phasen das Helldunkel
beschränkt auf die ... die Komposition bildenden körperhaften Ob-
jekte, während es nicht dariiber hinaus als Mittel der Darstellung des die
Gestalten aufnehmenden Raumes oder der denselben erfüllenden
Atmosphäre Verwendung findet.“ 23 Bewußtheit um das Kunstmittel als
solches und dekorative Wirkung kennzeichnen auch Renis Farbgestal-
tung. So arbeitet Reni bewußt mit Nuancen von Grau: >Samson als
Sieger< (1611, Bologna, Pinacoteca Nazionale) ist bestimmt von einer
Vielzahl solcher Nuancen. Aus Grünlichblaugrau, Mattviolettgrau,
tiefem Schiefergraublau, Schwarzgmn, kaltem Erzgrau des Grundes
wachsen Grauviolett, Zinngrau, silberflimmerndes kaltes Griingraublau
in den Figuren. Dagegen stehen nur der auch im Licht beibehaltene
Goldocker im Lendentuch Simsons und sein warmgelbliches Inkarnat.
Noch Giuseppe Maria Crespi (1665-1747) nimmt diesen Klang von Gold-

21 FA: Wilson, National Gallery London, 89.


22 FA: Cesare Carboli, Edi Baccheschi, L’opera completa di Guido Reni
(Classici dell’Arte, 48), Mailand 1971.
23 Günther Heinz, Studien über die Anwendung des Helldunkels in den
Werken Guido Renis. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien,
Bd. 51 (N.F. Bd. XV), 1955,189-213, Zit. 212.
204 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

ocker und Violettgrau auf. Tiefes Kadmiumrot, helles Sienagelb, mattes


Blau, zur Trias vereinigt, sind bei >Nessus und Dejanira< (1621, Paris,
Louvre) 24 als koloristisches Zentrum ins Gleichgewicht gebracht mit
dem luminaristischen Zentrum der warmbraunen und elfenbeintonigen,
vor dem Türkis, Griingrau und Blauschwarz des Grundes aufleuch-
tenden Inkarnate - auch dies mit neuer dekorativerWirkung. Solch Aus-
balancieren von Farb- und Helldunkelkomplexen wird in der Malerei
des 18. Jahrhunderts weitergefiihrt. 25

Die niederländische Caravaggio-Nachfolge schafft unterschiedliche


Synthesen des caravaggesken „Tenebroso“ mit der niederländischen
Helldunkelkonzeption, die sich wiederum auch in deren anderer Raum-
konstitution zeigt. „Fiir den Holländer Baburen wie fiir die ganzen
Utrechter Caravaggisten geht es, mag die Beniitzung von caravaggesken
Typen noch so augenscheinlich sein, bei der Beniitzung von Hell und
Dunkel und Farbe zunächst um ein anderes Ziel als das, dem Caravaggio
selbst durch seine Gestaltung isolierter Körper und des Affektraumes
zustrebt. Fiir die Utrechter ist die Gestaltung des Raumes als einer iiber-
geordneten Erscheinung, dem die einzelnen Figuren eingeordnet sind,
von entscheidender Wichtigkeit.“ 26
In Gerrit van Honthorsts (1590-1656) >Fröhlicher GesellschafU (1622,
Alte Pinakothek Miinchen) 27 erscheinen vor schwärzlich-olivfarbener
Folie in der linken Gruppe die Triasfarben mit dominierendem Blau, an
Brust und Oberarm des Jiinglingsgewandes ein intensives Hellblau als
„Beleuchtungswirkung“ der Kerze, zusammengestellt mit Sienagelb im
Gewand der Alten und bräunlichgebrochenem Rot in der Mädchen-
bluse. Aber das Blau fällt rasch ins Dunkle, vertieft sich in den Beinklei-
dern ins Schwarze, Finstere. Anders als bei Caravaggio und den Italie-
nern iiberhaupt ist Farbe hier Produkt der Helldunkelspannung. Auch
die rechte Gruppe ist der Helldunkelräumlichkeit unterworfen: das in-
tensive Zinnoberrot des Stehenden „erbleicht“ im Mieder der daneben
Sitzenden, wird aufgenommen in den Raumgrund. Der Überschnei-
dung naher Körper kontrastiert rasche farbige Entriickung in dieTiefe.
Am nächsten kommt der italienischen Farbgestaltung in breitflächiger

24 FA: Laclotte, Louvre, II, 102.


25 Zur Farbe in der italienischen Barockmalerei vgl. auch Edoardo Arslan,
II concetto di „luminismo“ e la pittura veneta barocca, Milano 1946. - Maurice
Poirier, Pietro da Cortona e il dibattito disegno-colore. In: Prospettiva, 16,1979,
23-30.
26 Münz, Rezension von Schneider, Caravaggio und die Niederländer, 66.
27 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 52.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 205

Behandlung Hendrick ter Brugghen (1588-1629) - er aber entfernt sich


zugleich am weitesten unter den niederländischen Caravaggisten von
Caravaggio. In der >Anbetung der Könige< (1619, Rijksmuseum Am-
sterdam) 28 ist die gesamte Figurengruppe gegen die helle, blaßblau-
graue Himmelsfolie silhouettiert - schon dies ist ein italienischer Bildge-
danke. Aber die Farben selbst, zusammengefaßt in Modifikationen ge-
dämpften Rots, kommen als Halbschattenwerte zur Geltung, vereinen
sich zu einem Komplex mittlerer Dunkelheit, wie dies italienischer Bild-
gestaltung ferne läge. Vor mittelhellen Griinden entfaltet ter Brugghen
eine Fülle subtiler, kostbarer Farbtöne. Wie durch hellgraues Flor ge-
sehen erscheint das Kolorit des Bildes >Jakob beschuldigt Laban, ihm
Lea anstelle Rahels zur Frau gegeben zu haben< (?) (1628, Köln, Wallraf-
Richartz-Museum). Aus den in verschiedenartigen Grautönen modi-
fizierten Grimden erheben sich ungewöhnliche Buntfarbklänge: ein
heller Lachston, Graulila mit ockeroliv changierendem Saum, rauhes
Umbragrau, Hell-Lila, hellsilbriges Pastellblau, changierend zu tiefem,
weichem Olivbraun -, in gleichermaßen koloristischer wie luminaristi-
scher Verfeinerung. Im >Duo< von 1628 (Louvre) 29 werden die Farben
selbst hell, werden Rosenrot, hellstes Pastellblau, Senfgelb, in zartheller
Trias gegen lichte Halbschatten und hellen bräunlichgrauen Grund ge-
stellt, kontrastiert nur zum Schwarz in Lautenhals und Barett. Die Zart-
heit spätmanieristischer Farbgebung lebt wieder auf.

Eine der friihesten kunsthistorischen Studien zur Farbgestaltung in


der Malerei widmete sich der holländischen Malerei des siebzehnten
Jahrhunderts, Hans Jantzens Schrift >Farbenwahl und Farbengebung in
der holländischen Malerei des XVII. Jahrhunderts< von 1912. Hier unter-
schied Jantzen einen „koordinierenden Farbenstil“ der ersten Jahr-
zehnte des 17. Jahrhunderts von einem „komponierenden“ nach der
Jahrhundertmitte: ,,Zu Beginn des Jahrhunderts finden sich vielfach in
bloßer Koordination aufgereihte Farben wie Braunorange. Braunvio-
lett, schmutzig Griin, Braungrau, Blaugrau, Rotbraun, Grauviolett,
ferner Zusammenstellungen, in denen Orange, Violett und Grün auf-
fallen. ... Dieser koordinierende Farbenstil mit seiner Bevorzugung ter-
tiärer Farbenmischungen wird begleitet von einer farbenfeindlichen
Richtung, der Tonmalerei, die einen gleichmäßig graugrünen, grauen,
gelbgrauen, graubraunen und später goldbraunen Ton wählt. Während
die Gesamthaltung der Farben im koordinierenden Farbenstil eine Nei-
gung zur kalten Seite des Farbenkreises zeigt oder ganz neutral bleibt,

28 Meijer, Rijksmuseum Amsterdam, 74.


29 FA: Laclotte, Louvre, II, 69.
206 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

stimmt die Tonmalerei ihre Bilder zunächst auf einen kühlen, später mit
den immer mehr aufgenommenen Braunmischungen auf einen warmen
Ton, der die Grundlage für die folgende Periode der Farbe gibt.“ Den
„komponierenden Farbenstil“ charakterisierte Jantzen als „Flelldunkel-
malerei“: „Die Helldunkelmalerei strebt - mit Riicksicht auf die Farbe
gesprochen - dahin, einenTeil der Bildfläche gleichsam zu neutralisieren
und nur einen kleinen Teil der Fläche für eine speziüsch farbenkräftige
Wirkung offen zu lassen. Bei geeigneter Motivwahl und Beleuchtung
konnte ein Teil des Raumausschnitts mit vielerlei neutralen Tönen ver-
hiillt werden (Interieur) und durch die Lichtfiihrung eine bestimmte Far-
benkombination hervorgeholt werden. Die verschiedenartigsten Lö-
sungen der Aufgabe: mit Hilfe des Helldunkels die Bedingungen der
Raumdarstellung und der Farbenkomposition in Einklang zu bringen,
fiihren zu einem komponierenden Farbenstil, dessen Bliitezeit nach der
Jahrhundertmitte einsetzt. - Allgemein charakteristische Merkmale fiir
diese Periode sind: die Wahl primärer Qualitäten für die entscheidende
Bildwirkung; die Farben bekommen ihren Zusammenhalt nicht mehr
durch gegenständliche Zusammengehörigkeit der Farbenträger, son-
dern sie werden nach den ihnen immanenten Gesetzen komponiert, zu
Paaren und Triaden zusammengestellt, ihre Anzahl beschränkt. Wäh-
rend vorher Vielfarbigkeit herrschte, herrscht jetzt Starkfarbigkeit. Die
Farben werden in der Regel mitten in der Bildfläche zusammengehalten
und heben sich aus einer rings umgebenden Menge von neutralen, im
Helldunkel gebundenen, Tönen heraus. Die Farbe geht genauer als
vorher auf die Stoffbedingungen ein, aber nur soweit, als diese Bedin-
gungen das Elementare der Farbenerscheinung nicht beeinträchtigen.
Es findet also gleichsam ein Ausgleich zwischen den Forderungen nach
Stofflichkeit und den Forderungen nach elementarer Farbenwirkung
statt. - Innerhalb dieser Periode des komponierenden Farbenstils kulmi-
niert die Farbenkunst holländischer Malerei ... Diese Phase wird cha-
rakterisiert durch dieWahl der primärenTrias Rot, Gelb, Blau in größter
Dichtigkeit und Sättigung der Qualitäten bei strengster kompositio-
neller Gebundenheit, wobei die positiven warmen Farben eine entschie-
dene Führung erhalten. Die zeitliche Ausdehnung dieser Phase läßt sich
ungefähr auf die Jahre 1654-1663 festsetzen. - Noch innerhalb dieser
Periode des komponierenden primärfarbigen Stils tritt ein verhältnis-
mäßig schneller Umschlag in der Farbenwahl ein. Auf die Verbindungen
Rot-Gelb-Blau, Rot-Gelb, Rot-Griin mit positiver warmer Stimmung
folgen die Kombinationen Blau-Gelb, Blau-Rot mit entschieden kalter
Farbenstimmung. Die Bemühungen der Farbe um die Stoffschilderung,
,wie man alle Farben mischen, brechen und von ihrer crudezza reduciren
möge, bis daß in den Gemählen alles der Natur ähnlich kommen 1 (San-
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 207

drart), steigern sich und fiihren zu einem neuen Farbenstil in der Ent-
wicklung holländischer Malerei.“ 30
In der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts kulminiert sowohl
das Helldunkel wie die Farbkomposition nach der primären Trias.
Dieser Zusammenhang wurde von Jantzen klar erkannt. Allerdings ist
sein Begriff des Helldunkels zu erweitern: auch die „tonige“, auch die
farbkoordinierende Malerei der Friihzeit des 17. Jahrhunderts sind Aus-
prägungen einer Helldunkelmalerei.
Landschaftsdarstellungen Jan van Goyens (1596-1656), Salomon van
Ruysdaels (1600/1603-1670) oder Aelbert Cuyps (1620-1691) lassen er-
kennen, daß es fiir die Helldunkelwirkung keiner tiefen Dunkelheit be-
darf. Nicht der Grad des Dunkels ist entscheidend, sondern sein Span-
nungsverhältnis zum Licht, Solche Helldunkelspannung kann gerade
durch Monochromie gesteigert werden, die optische Erfassung wird
dabei von der Kategorie der Buntheit nicht abgelenkt. Insofern er-
scheint die „monochrome“ Phase der holländischen Landschaftsmalerei
als eine notwcndige Voraussetzung fiir die Vertiefung des Helldunkels
und die Entfaltung von Buntfarben nach der Jahrhundertmitte.
Bei van Goyens >Landschaft mit Motiven aus Leiden< von 1643 (Alte
Pinakothek Miinchen) ist die Monochromie auf warmes Bernsteingelb
abgestellt, das im Schatten des Vordergrundes sich verdichtet, im
warmen Sienagelb der Wolke feinstverdiinnt auftritt - so die Landschaft
in gelbliches Halblicht mit neapelgelblichen Lichthöhungen tauchend.
Ganz feines, minimal hellblau getöntes Hellgrau auf gelblichem Holz-
grund ergibt die Himmelsfarbe. In dunklem Braun ist die Figurengruppe
gegen den beleuchteten Weg silhouettiert, in den Halbschatten irisiert
Ocker in Bernsteinbraun.
Salomon van Ruysdaels um 1630/35 entstandene >Flußlandschaft mit
Fähre< (Alte Pinakothek) 31 dagegen stellt Grünspangrün in Bäumen
und Büschen gegen kaltes Schiefergrau in Wasser und Wolke, das heller
und bläulich überhaucht im Himmel wiederkehrt. Ein Olivton teilt sich
als gemeinsame Dunkelsphäre den Schatten und den Spiegelungen im
Wasser mit.

30 Hans Jantzen, Farbenwahl und Farbengebung in der holländischen Ma-


lerei des XVII. Jahrhunderts, Parchim 1912, 3, 4, 6-8. -Dazu auch: Hans Kauff-
mann, Die Farbenkunst des Aert van der Neer. In: Festschrift für Adolph Gold-
schmidt zum 60. Geburtstag, Leipzig 1923, 106-110. - Eugène Fromentin, Les
maîtres d’autrefois, Belgique-Hollande, Paris 1876. - Die alten Meister, Bel-
gien-Holland, ins Deutsche übertragen von Eberhard von Bodenhausen, Berlin
1903.
31 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 57.
208 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

In Aelbert Cuyps um 1640 gemalter >Flachlandschaft< (Alte Pinako-


thek) schließlich finden sich eine deutlichere Trennung in einen perl-
grauen, von rötlichgrauem Dunstvorhang verschleierten Himmel und
die warmtonige Bodenzone, in der das satte Braun der Erdhiigel vorne
den goldgelb erhellten Zwickel der Ebene überschneidet. Auch sind hier
die Dingfarben nicht durchweg dem Gesamtton geopfert wie bei van
Goyen; der Baumgruppe, der Kleidung der beiden Männer ist vielmehr
ein weniges ihrer Lokalfarbe mitgegeben.
Die Wahl des alles verwandelnden Gesamttons selbst ist in diesen
„monochromen“ Bildern durch das Helldunkel bestimmt: Gelb als die
spezifisch hellste Buntfarbe wird Stellvertreter des Lichts, Braun, tiefes
Oliv und Grau repräsentieren das Dunkel.
Wichtig ist, den Unterschied monochromer Helldunkelbilder zur
Valeurmalerei des 19. Jahrhunderts festzuhalten. Er zeigt sich vor allem
auch an der Vielfalt der farbigen Erscheinungsweisen in der Helldunkel-
malerei. Töne in Olivgriin, Braun, Grau, Gelblich und Pastellblau be-
stimmen Salomon van Ruysdaels um 1660 gemaltes Bild >Der Wartturm
an der Landstraße< (Alte Pinakothek). Grau ist das Turmdach, grau sind
die Wolken. Beide Töne entfernen sich weiter voneinander als in der
Valeurmalerei des 19. Jahrhunderts. Obschon im Farbauftrag nicht sehr
verschieden, wirkt das Grau des Dachs als Oberflächenfarbe, das der
Wolken als lockere Flächenfarbe. Das Braun desTurms dagegen ist nicht
so sehr lehmfarbene Oberflächenfarbe des Steins als ein der braunen
Raumfarbe angenäherter Ton, befindet sich im Schwebezustand zwi-
schen dieser und der Gegenstandsfarbe. Das Orangebraun des Daches
daneben wiederum ist keine Nuance dieses Brauns, sondern der lokale
Ziegelton des Dachs, der von innen her gegen den Raumton sich durch-
zusetzen sucht. Es erscheinen also nebeneinander Oberfiächen-, Flä-
chen- und Raumfarben, jedoch unter der Dominanz des raumerfül-
lenden Olivgmns, dessen Abwandlungen das Bild beherrschen. Die ins
Dunkel getauchte Raumfarbe, die flächen- und oberflächenfarbigen Be-
zirken Raum gewährt, ist Medium des Helldunkels, -, die gedeckte, in
engen Tonstufen aufeinander abgestimmte Oberflächen- und Gegen-
standsfarbe das Gestaltungsmittel der Valeurmalerei.
Auch in den Landschaften vertieft sich nach der Jahrhundertmitte die
Helldunkelspannung. Jacob van Ruisdaels (1628/29-1682) vermutlich in
den siebziger Jahren entstandenes Bild >Eichen an einem Gießbach<
(Alte Pinakothek) 32 zeigt ausgedehnte Zonen schwerer Dunkelheiten,
die sich erst dem nahen Blick in Farben auseinanderlegen, in tiefes
Moosgriin, Oliv und Braun. Auch das Lavendelblau des Himmels er-

32 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 67.


Die Malerei des 17. Jahrhunderts 209

scheint leicht umflort, wie durch die Helldunkelkontrastik herabge-


stimmt, induziert vom dunklen Grau der Wolken.
In der Stillebenmalerei exemplifizieren Werke von Pieter Claesz
(1597/98-1660) und Willem Kalf (1619-1693) den Wandel der Helldun-
kelgestaltung. Bei Pieter Claesz’ >Stilleben mit Römer und Silberschale<
(um 1635, Gemäldegalerie Berlin) beruht die Farbigkeit ganz auf Oliv
und Grau; gegenständlich faßbar sind die beiden Werte aber nur in we-
nigen Partien, das Oliv im Römer (mit dem farblich nicht abweichenden
Wein), der „tonangebenden“ Olive, beim Tischtuch schon mit ge-
ringerer Gegenstandsbindung, das Grau in den Zinntellern und im
Messer. Der nach rechts hin sich deutlich zu Grau verdichtende Grund
ist eine lichte Mischung der beiden Töne. Sonst aber ist alles getan, um
Farbe nur alsTräger von Glanz, Spiegelung, Reflexen undTmbungen er-
scheinen zu lassen, in denen alle farbigen Oberflächen sich lösen. Auf
den Buckeln der liegenden Silberschale greifen - infolge pastoser Be-
handlung - faktisch spiegelnde Lichtspitzen ein.
In Willem Kalfs >Stilleben mit chinesischer Porzellandose< (1662, Ge-
mäldegalerie Berlin) 33 dagegen schließen sich kräftige Buntfarben, das
Zitrongelb der Zitrone, das Orangegelb der Orange, mit dem Blau in
der Glasur der Porzellandose zurTrias zusammen, wobei Orange an die
Stelle von Rot getreten ist und die Farbe in den intensiven Buntheiten
körnige Substanz gewonnen hat. Alles andere ist in tiefes Dunkel zu-
rückgenommen, aus dem nur weißliche und gelbliche Glanzlichter auf-
blitzen und das Rot, Blau und Braun in den Mustem der Decke sich nur
wenig erheben. Finsternis ist mithin gegen Buntfarbigkeit kontrastiert,
Finsternis aktiviert die Buntfarben zu einer ihre „spezifische Helligkeit“
noch übertreffenden Leuchtkraft, die im Zitrongelb gipfelt.
Bei der Porträtdarstellung vertritt Frans Hals 34 (1581/85-1666) die
Möglichkeit entschiedener Reduktion von Buntfarbigkeit. Der >Fröh-
liche Zecher< (1628/30, Amsterdam, Rijksmuseum) 35 lebt farbig aus dem
Grundklang von Braun und Grau. Im Schwarz des Huts konzentriert
sich die Dunkelheit. Auch bei der >Male Babbe< (um 1629/30, Gemälde-
galerie Berlin) 36 sind künstlerisch nicht eine weiße Haube, eine weiße
Halskrause, ein schwarzes Kleid gegeben - sondern ein mit Weiß, halb-
bunten und unbunten Werten interpretierter Gegensatz von domi-

33 FA: Gemäldegalerie Berlin, 263.


34 Zur Farbgestaltung bei Frans Hals vgl. : Max Raphael, Die Farbe Schwarz,
Mit einem Nachwort von Bernd Growe hrsg. von Klaus Binder, Frankfurt a. M.,
Paris 1984.
35 FA: Meijer, Rijksmuseum Amsterdam, 79.
36 FA: Gemäldegalerie Berlin, 215.
210 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

nierender, geometrisch „verorteter“ Helligkeit und Dunkel. Die (bei


Rembrandt iiberwiegenden) Gelb-Rot-Werte sind in diese Spannung
hineingenommen. Das Antlitz ist mit breiten Pinselstrichen aus rotem
und gelbem Ocker und Graubraun modelliert. Mit dem Bläulichgrau des
Kruges zusammen lassen die Rot- und Gelbtöne des Gesichts einen ganz
verhaltenen triadischen Akkord erklingen. In den Schwärzen der
Augenhöhlen und der Faltentiefen aber bricht die schwarzbraune Dun-
kelheit des Grundes auf. Äußerste Ökonomie der Farbwahl (in den
Gruppenporträts auch mit ausgeprägten Triaden oder Klängen von
Weiß, Ocker, Ockerrot, Oliv und Schwarz) verbindet sich bei Frans Hals
mit einer besonderen Formung des Lichts in virtuoser Faktur, einem
„facettierten“ Licht, in dem sich die ausstrahlende Kraft der Bewegung
bändigt und die Bildfläche strukturiert.
Wechsel der farbigen Erscheinungsweisen läßt sich auch in der Figu-
renmalerei am deutlichsten bei fast monochromen Bildern verfolgen.
Als aufschlußreiches Beispiel bietet sich hierfür die um 1660 entstan-
dene >Wirtsstube< von Michael Sweerts (1624-1664), aufbewahrt in der
Münchner Alten Pinakothek, an. Schwarz erscheint hier als Raumfarbe
und, im Ton kaum verändert, als Dingfarbe von Jacke und Hut des
sitzenden Trinkers. Für die Vermittlung von Raum- und Oberflächen-
farben kommt den Schatten besondere Bedeutung zu, die durch drei-
fachen Lichteinfall, von oben, von hinten und von links vermannigfacht
erscheinen. Die Vielfalt des Lichteinfalls aber kann die Helldunkelsitua-
tion bestenfalls nachträglich motivieren, begründen kann sie sie nicht,
wirkt doch auch in diesem Bilde Licht als Kraft der Konzentration, ver-
sammelt hier aber nicht in Buntfarben, sondern im aufgehellten Grau
des Stehenden nahe der Bildmitte. Das Torfbraunschwarz des Kamin-
Inneren und das reine Weiß der aufgesetzten Glanzlichter am Zinnkrug
bilden die Pole der Helldunkelspannung. In sie ist alles Gegenständliche
eingelassen. So kontrastiert der zart hellrötliche, zu Silbergrau irisie-
rende Fleischton im Profil des Trinkers entschieden zum erwähnten
Schwarz seines Huts und seiner J acke. Von diesem leicht braunviolett ge-
tönten Schwarz führt eine minimale Rückung zum Umbraschwarz der
Jacke des Rauchers gegenüber, ein nächster enger Schritt zum helleren,
wiederum mehr nach Braun nuancierten Ton seiner Hose. Eine weitere
Stufe der Umbra-Aufhellung repräsentiert die Gegenlichtfarbe des
Mannes imTürausschnitt, wiederum heller sind Fußboden und Bank. So
entfaltet sich auf engster Skala aus dem raumhaften Schwarz des
Grundes eine Fülle von Braungrautönen und mit ihr die Vielfalt farbiger
Oberflächen - wie zur Demonstration, welch zarte Differenzierungen
dem Eindruck dinglicher Glaubwürdigkeit genügen!
Offener spricht die Buntfarbe in den Bildern Gerard ter Borchs (1617
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 211

bis 1681), aber auch bei ihm bleiben sie verankert in der meist dunklen
Raumfarbe der Folie, erscheinen wie deren in Oberflächenfarbe uber-
setzte Nuancen und wie auf einen gemeinsamen Helligkeitsnenner ge-
bracht, Gelb und Blau etwa dem Helligkeitsgrad eines mittleren Grau
angenähert.
Zu voller Kraft schließlich erblühen die Buntfarben in den Gemälden
von Pieter de Hooch 37 (1629-1684) oder Gabriel Metsu (1629-1667), oft
zurTrias der Grundfarben sich vereinend. In Pieter de Hoochs Bild >Die
Mutter< (um 1659/60, Berlin, Gemäldegalerie) 38 scheint das Dunkel
zwar durch weitgehende Dämpfung, ja Negation der Bildfarben erzielt,
das Licht hingegen ist an Gelbwerte gebunden, verdichtet sich im hellen,
mit Weiß untermischten Brillantgelb des Türrahmens und der Lichttafel
auf der Wand des rückwärtigen Zimmers, im Neapelgelb des Glanzlichts
auf der Bettpfanne, dunkler schon, als Sienaton, in Türverschlag und
Fensterkreuz. In mittlere Helligkeit führen der zitternde Rosa-Grün-
grau-Ton der Rückwand und das Braun der Bettwand hinter der Mutter.
Der genaueren Betrachtung zeigt sich dann auch die „Gravitation“ der
Dunkelwerte zu Brechungen von Oliv (in der Bettkammer mit ihrem
Vorhang), zu tiefem Blaugrün und Blaugraugrün (im Rock der Mutter,
in Fliesenboden und Wänden des vorderen Raumes). Angelpunkt ist,
wie formal, so auch farbig, der hängende Mantel in der vertikalen Mit-
telachse des Bildes. Sein Rot ist farbige Mitte zwischen gelblich ge-
töntem Licht und potentiell farbiger Dunkelheit, nachklingend im roten
Mieder der Mutter und im gedeckten Orange der Decke in der Wiege:
die Trias der Grundfarben konzentrierend (wobei Blau durch den ur-
sprünglich wohl intensiveren Bläulichton im Rock der Mutter vertreten
ist), die sich einbettet in das Helldunkelkontinuum.
In anderef Weise sind primäre Trias und Helldunkel ineinander ge-
führt bei Metsus um 1650/55 entstandenem >Fest des Bohnenkönigs< der
Alten Pinakothek 39, nämlich so, daß hier die Trias auf die Figur der
Mutter sich konzentriert: ockergelb ist ihre Bluse, zinnoberrot ihr
Mieder, in gedecktem Blau ist ihr Rock gegeben. Aufs eindringlichste
setzt sie sich ,,den mannigfaltigen tiefen braun- und goldbraunen Werten
des Bildraums“ entgegen, jedoch wiederum „nicht als schroffer Kon-
trast, vielmehr als äußerste Verdichtung der zunächst noch völlig im
Braun dieses sie eindämmernden braunen Raumdunkels stehenden,
sachte sich aus ihm lösenden und erst ganz allmählich in der Richtung

37 Vgl. dazu: Jantzen, Farbenwahl und Farbengebung in der holländischen


Malerei des XVII. Jahrhunderts, 9-34.
38 FA: Gemäldegalerie Berlin, 241.
39 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 62.
212 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

auf die Trias hin sich verdichtenden Buntheiten. (Auch das Weiß des
Tischtuches, dem die wichtigste Rolle der Vermittlung zwischen den
beiden Farbkomplexen zukommt, läßt in seinen Schattenfarben diese
allmähliche Loslösung aus der Sphäre des Raum-Brauns erkennen.)“ 40
Jan Vermeer van Delft (1632-1675) führt die Farben, im strahlenden
Licht seiner Helldunkelräume, empor zu vordem unbekannter Klarheit.
Nur wenige seiner reifen Werke können hier näher betrachtet werden.
Das Bild >Die Küchenmagd< (um 1658/60, Amsterdam, Rijksmuseum) 41
zeigt die Figur aureolenhaft umgeben vom weißen, nach rechts hin
randlos abschließenden Grund. Auf diesem lichtverklärten Weiß der
Wand steht das hellere Stoffweiß ihrer Haube, kontrastiert gegen die
lichtolivgrauen, im Halblicht fluktuierenden Schatten. Mit diesem Weiß
verbinden sich das Gelb der Jacke und das klare Dunkelblau der Schürze
zum farbigen Hauptklang des Bildes. Das Gelb ist dem Weiß in Lichtge-
halt und Kraft der Emanation verwandt - auch deshalb, weil das In-
karnat dunkler als das Gelb gehalten ist. Hinzu kommen zweierlei Griin-
töne, das im Licht gelbliche, in den Schatten mattgraue Grün der Ärmel
und ein mattgraues Blaugriin der Tischdecke; neben ihm das fahle, in
den Schatten schwärzlich verhüllte Braunrot im Rock der Magd. Eine
tiefste, alle Farben in sich aufnehmende Dunkelheit vermeidet Vermeer;
auch darin zeigt sich die Sonderart seines Helldunkels. Noch im ,,ver-
schatteten“ Vordergrund sind das stumpfe Blaugriin derTischdecke, das
Rot des Rocks, das Blau des Tuchs klar voneinander zu unterscheiden,
wie auch an der schattenverhangenen Fensterwand die Gegenstands-
fafben von Fensterrahmen, Korb und blinkendem Messinggefäß deut-
lich sich trennen. Aber alle Farben wirken wie „glasiert“, gehen nicht auf
in der Dingschilderung, sondern enthalten ein Moment des Glanzes.
Der Farbbewahrung im Dunkel entspricht die Farbigkeit des Lichtes auf
den Körpern. 42 In Lichtperlen sammelt es sich - und zwar nur in den
Lichtern und Halblichtern: der „pointillistische“ Farbauftrag ist mithin,
anders als im Neoimpressionismus, nicht zum Prinzip erhoben -, hell-
gelb auf Gelb, hellblau auf Blau, hellgrau auf Grau.
Weiter in den Helldunkelraum verströmt die Farbe im Bild >Das Glas

40 Ernst Strauss, Über zwei grundlegende koloristische Gestaltungsmittel der


neueren Malerei. In: Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 119.
41 FA: Emile Meijer, Die Kunstschätze im Rijksmuseum Amsterdam (Mu-
seen der Welt), München 1985, 95.
42 Vom „coloristic chiaroscuro“ Vermeers spricht Hubert von Sonnenburg
und betont die Bedeutung von Ultramarinblau hir den farbigen Aufbau seiner
Bilder. („Technical Comments“. In: The Metropolitan Museum of Art Bulletin,
Vol. XXXI, Nr.4, Summer 1973, o. S.)
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 213

Wein< (um 1660/61, Gemäldegalerie Berlin) 43. Es sind die vielfältig ge-
brochenen Werte der primären Trias. Rot erscheint als Fraiserot und
Lachsrot im Kleid der Dame, zieht sich als Braunrot durch die Tisch-
decke. Blau setzt an als getriibter (verdorbener?) Ton im Samtkissen des
Stuhles vorn, verdunkelt sich im beschatteten Kissen auf der Fenster-
wand, fiihrt iiber das Schieferblaugrau des Stuhls zur Zimmerwand mit
ihrem bläulichen Unterton. An das Majolikablau im Vorhang des Eck-
fensters schließt das entschieden kalte Grau der linken, größtenteils be-
schatteten Zimmerwand an. Solcher Fiille von Blaunuancen antwortet
vielfältig differenziertes Gelb, wird dabei mehr „suggeriert“ denn als
Eigenfarbe faßbar. Nur im Fensterglasbild tritt es als Lokalfarbe auf,
wird zum Lichtschein auf der Bank, zum hellen Braun im beleuchteten
FTolzwerk des Stuhls, verdunkelt sich zum triiben Braunorange, alternie-
rend mit sehr gedämpftem Grün, in den Bodenfliesen, und nähert sich
als dieser Ton dem Braunrot der Rotvariation. - Das triibe gelbliche
Sandgrau im Umhang des Kavaliers, der iiberraschendste Farbwert des
Bildes, ist zugleich als Variante von Gelb wie von Grau aufzufassen. In
diesem ambivalenten Ton versammelt sich eine Spannung, die mit den
Modifikationen der raumhaft zerteilten Trias verborgen das ganze Bild
durchzieht.
Entschiedener prägt Vermeer die Helldunkelpolarität aus im Bild
der >Jungen Dame mit Perlenhalsband< (um 1660/65, Gemäldegalerie
Berlin) 44. Hier steht der großen Dunkelmasse in der unteren Bildhälfte,
gebildet aus der schwärzlichgraublauen, gerafften Tischdecke, dem
schwärzlichen Majolikagefäß, dem olivfarbenenTisch, dem dunkeloliv-
braunen Stuhl, mithin von Gegenständen des nahen Vordergrundes
- diesen eben dadurch entriickend - die strahlende Helligkeit oben ent-
gegen, die im „Weiß“ der Wand kuliminiert und sich verdichtet in den
beiden Gelbtönen, dem Satinzitrongelb in der Jacke der Dame und dem
schwereren Safrangelb des Vorhangs. Teilung des Gelb ist ein schon im
Friihwerk der >Diana mit ihrem Gefolge< (Den Haag, Mauritshuis) 45
wirksames Prinzip der Vermeerschen Farbgestaltung und dient der
rhythmisierenden Inkorporation des Lichts in die Farbe. Zwischen den
beiden Gelbbezirken entfaltet sich die Bewegung des Lichts, das nach
rechts hin fast unmerklich zu einem lichten, silbrigen Grau abnimmt,
wie auch die Dunkelheit in dieser Bewegung sich vermindert, hin zu

43 FA: Gemäldegalerie Berlin, 243.


44 FA: Gemäldegalerie Berlin, 245.
45 Vgl. dazu: Walter Jürgen Hofmann, Vermeers Dianabild. In: Von Farbe
und Farben, Albert Knoepfli zum 70. Geburtstag, Zürich 1980, 323-328. Dort
auch FA.
214 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

einem Olivton, der als Schatten die Figur mit der Dunkelheit verbindet.
Aufgehellt bestimmt dieser Olivton auch noch ihr Inkarnat: ganz im Ge-
gensatz zu einer naturalistischen Wiedergabe von „einfallendem Licht“
gehört das Inkarnat noch der Dunkelsphäre an, ist nur ihr weitest vorge-
schobener, der Helligkeit nächster Posten!
Nicht die genau wiedergegebenen beobachtbaren Lichtgänge als
solche, so subtil deren Wirkung auf farbige Oberflächen auch dargestellt
sind, begriinden den Rang der Farbgestaltung Vermeers, sondern deren
Aufnahme in eine überwirkliche Helldunkelpolarität.
Die ganze Spannweite der Gestaltungsmöglichkeiten von Helldunkel
in der holländischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts wird
sichtbar, kommt man von den farbklaren, lichten, kühlen Bildern Ver-
meers zu Werken Rembrandts.
In der Kunst Rembrandts 46 (1606-1669) gewinnt das Helldunkel eine
neue Dimension. Carl Neumann, dessen monumentales Rembrandt-
werk auch viele Beobachtungen zu Rembrandts Helldunkel- und Farb-
gestaltung enthält, versuchte, das Wesen dieses Helldunkels folgender-
maßen zu charakterisieren: „Rembrandts Kunst wendet sich von dem
Surrogat einer Wirklichkeit ab, die nur Individuen kennt ... sie glaubt
nicht mehr an die Unbedingtheit körperlicher Existenz und an die
Selbstverständlichkeit des Lichts, das dieser Körperwelt angehört ...
Dem physikalischen und materiellen Licht der Erscheinungswelt setzt er
sein Licht ... als metaphysisches Prinzip entgegen. Sein Licht ist eine
irrationale, göttliche Macht, welches mit dem Dunkel ringt, das alle
Wesen bedeckt, ... sein Helldunkel der mystische Prozeß der Fleisch-
werdung und Materialisierung dieses Lichts. ... Nicht die Individuation,
die Körper und Figuren, die äußere Scheinwelt, die dasThema der italie-
nischen Kunst ist, sucht er wiederzugeben, sondern, was er von dem
Nichtsinnlichen, dem wirklich Wirklichen ahnt, welches nicht in tausend
und abertausend Egoismen parzelliert, sondern ein Allverpflichtetes
und Allabhängiges ist... “ 47
Diesem durch natürliche Beleuchtungswirkungen „motivierten“,
einer reichen Ausdrucksskala fähigen, im Unterschied zu italienischen

46 FA: B.Haak, Rembrandt, sein Leben, seinWerk, seine Zeit, Köln 1969.
47 Carl Neumann, Rembrandt, Bd.l, vierte Auflage, München 1924, 192,
193. - Vgl. auch: Hans Sedlmayr: „Helldunkel, Rembrandtbraun, zerschmel-
zende Linie und Ahnung und Mitgefühl sind also gewissermaßen dasselbe, nur
von verschiedenen Seiten her gesehen, und dieses selbe ist das Allverbindende
...“ (>Zugange zu Rembrandt<. In: Sedlmayr, Epochen undWerke, Gesammelte
Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 2, Wien-München 1960, 95.) - Wolfgang
Schöne, Über das Licht in der Malerei, 156-160.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 215

oder spanischen Helldunkelbildern niemals „ornamental“ umgrenzten,


nicht in Licht- und Dunkel„figuren“ faßbaren Helldunkel sind die
Farben 48 in unterschiedlicher Weise subordiniert. Einige dieser Möglich-
keiten seien kurz benannt.
>Simson und Delila< (1628, Berlin, Gemäldegalerie) gipfelt im höch-
sten Licht eines ungetriibten Messinggelbs im Gewande Simsons. Alle
anderen Gelbtöne des Bildes, der etwas rötliche Ocker der Schwert-
scheide, die Ockertöne des Bodens, das Ockeroliv in der Schulter des
Philisters, lassen sich nur durch ihr spezifisches Leuchtvermögen, nicht
als Farben, mit diesem Messinggelb verbinden. Nicht Farbstufen, son-
dern Stufen des Leuchtens, kontrastiert gegen olivfarbenes Dunkel, be-
stimmen das Bild. - Als zweiter Farbwert erscheint ein Bräunlich-Vio-
lettgrau im Gewand der Delila, durchsetzt von Flaschengriinblau im
Bortenmuster: ein ferner Nachhall des manieristischen Blau-Gelb-Kon-
trastes ist zu vernehmen, in gebrochenen, extrem lichtoffenen, fluktu-
ierenden Tonen.
Eine andere Farbfiguration klingt nach in der >Darstellung Christi im
TempeU (1631, Den Haag, Mauritshuis) 49, die Trias, aber ins Hohe ge-
stimmt, als bleiches Weinrot im Gewand der Prophetin Hannah, als hell-
stes Blau bei Maria, als nur mehr ahnbares, in Lichtfunken versprii-
hendes, sogleich in tiefgraue Raumschatten versinkendes Gelb im
Mantel Simeons.
Rembrandt wahrt die „spezifische Helligkeit“ der Buntfarben nicht.
Fiir ihn ist, zumindest in seiner friihen und mittleren Periode, Rot eher
eine Farbe an der Dunkelheit, Blau eher eine Farbe am Licht. So be-
kundet sich in der wohl 1633 gemalten >Kreuzabnahme Christu der
Miinchner Alten Pinakothek 50 im fahlgelben Blau des Mannes auf der
Leiter die Kraft eines Lichts, die es vermag, das Blau aus seiner Dunkel-
heit zu sich emporzuziehen. Es erhebt sich aus einem Finstergrunde,

48 S. auch: John Kruse, Die Farben Rembrandts, Stockholm 1913. -Zur Mal-
technik Rembrandts vgl.: Hubert von Sonnenburg, Maltechnische Gesichts-
punkte zur Rembrandtforschung. In: Maltechnik/Restauro, 82, 1976, 9-24. -
Hermann Kühn, Untersuchungen zu den Pigmenten und Malgründen Rem-
brandts, durchgeführt an den Gemälden der Staatlichen Kunstsammlungen
Kassel, ebenda, 25-33. - Ders., Untersuchungen zu den Pigmenten und Mal-
gründen Rembrandts, durchgeführt an den Gemälden der Staatlichen Kunst-
sammlungen Dresden. In: Maltechnik/Restauro, 83, 1977, 223-233. - Hubert
von Sonnenburg, Rembrandts >Segen Jakobs<. In: Maltechnik/Restauro, 84,
1978, 217-241.
49 FA: Horst Gerson, Rembrandt, Gemälde, Das Gesamtwerk, Wiesbaden
o.J. (1968), 17.
50 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 55.
216 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

scheint auf, wie das Weiß des Leichentuches daneben, gewinnt so einen
Charakter des „Unirdischen“ - ganz anders als bei Rubens.
Anders auch als bei Rubens kulminiert das Rembrandtsche Hell-
dunkel nicht in den Farben, geht das im Dunkel verborgene Licht nicht
in das Licht der Farben ein, wohl aber verleiht es ihnen einen ihnen
selbst fremden Lichtschein. So ist bei der >Heiligen Familie< (gemalt um
1633, Alte Pinakothek München) 51 der Lichtschein des Inkarnats so
stark, daß alle Details der Modellierung in ihm aufgehen. Auch das
bleiche Karminrot des Marienmantels leuchtet in mattem Schein, alle
Oberflächendifferenzierung tilgend. Aber die Homogenität dieser
Farbe ist nicht die des Fernbildes, sind doch angrenzende Partien, etwa
das Fell, das das Kind umhüllt, wieder ganz nahsichtig dargestellt. Der
Überhöhung des Lichts zum „Schein“ auf den Dingen entspricht die Wei-
tung des Dunkels ins Abgrundhafte: um Joseph öffnen sich dunkle
Raumhöhlen, in die kein Licht mehr dringt und Gegenstände nur noch
zu ahnen sind.
Tritt bei der >Heiligen Familie< im Karminbraun und Blaugrau der
Gruppe von Mutter und Kind noch ein Hauch von Bunt- und Lokalfar-
bigkeit auf, in der >Blendung Simons< von 1636 (Städelsches Kunstin-
stitut Frankfurt a. M.) 52 nochmals die Trias, nun ihre Buntkraft versprii-
hend, gänzlich dem dramatischen Licht-Finsternis-Kontrast dienstbar
gemacht, als hellstes, fahles Eisblau gegen blasses Zitron- und Graugelb
und im Gegenlicht aufleuchtendes Rostrot gestellt und von tiefer, grau-
olivfarbener Dunkelheit umrahmt, so ist die >Opferung Isaaks< des-
selben Jahres (Alte Pinakothek München) 53 allein bestimmt vom Hell-
dunkelkontrast, der sich als Helligkeitsgegensatz vonTönen der Braun-
und Grauskala konkretisiert. Im Inkarnat wird Braun ins Licht gehoben,
bis hin zur Strahlkraft von Weiß im Engelsgewand, kontrastiert gegen
tiefstes Grau und Raumschwarz.
Das Licht der >Blendung Simsons<, das aus derTiefe gegen einen Fin-
sternisvordergrund andringt, sammelt sich hier noch in einem Fokus -,
die wohl kühnste Helldunkelkomposition, die >Nachtwache< (1642,
Rijksmuseum Amsterdam) 54 konzentriert es in zwei Zentren. Dem ,,Ne-
benzentrum des Lichtes“ in diesem Bild widmete Neumann ein ganzes
Kapitel seines Buches: „Die Art, wie Rembrandt dieses Nebenzentrum
des Lichtes schuf und zur Wirkung brachte, gehört zu den merkwürdig-

51 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 56.


52 FA: Städelsches Kunstinstitut, Verzeichnis der Gemälde, Frankfurt a.M.
1971, Taf. 45.
53 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 56.
54 FA: Meijer, Rijksmuseum Amsterdam, 84.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 217

sten und lehrreichsten Beweisen genauer künstlerischer Überlegung,


mit der er ans Werk ging. Er ließ das Licht aus der tiefen Nische hervor-
brechen, die links von dem dunkelgekleideten Hauptmann durch diesen
selbst und links gegeniiber die Gestalt eines sein Gewehr ladenden
Schützen, nach rückwärts durch den Fähnrich gebildet wird. Den Fähn-
rich hob er um ein paar Stufen in die Höhe und hatte nun vor dessen
Beinen und am Fuß der Stufen einigen Platz für seinen Lichtherd frei.
Wie aber diese Lichtmasse in Gestalt und Form bringen? Mitten in der
Bewegung des Schützenabmarsches war nur etwas Lebendiges möglich.
... So mochte der Künstler auf die Erfindung eines Kindes verfallen, so
wenig übrigens die Anwesenheit eines Kindes in diesem Aufbruch und
Tumult motiviert war .. .“ 5S
In den vierziger Jahren lösen der „Goldton und die Braunmalerei“
(Carl Neumann) die vorangegangene, auf kühle Farben gestimmte
Phase ab. Nun herrscht eine warme Tonigkeit, die fiir die Rembrandt-
Nachfolge von der größten Bedeutung werden soll.
Erst in den fiinfziger Jahren vollzieht sich Rembrandts Wandlung zur
Farbe, zu einer aus dem Dunklen, dem Inneren nach vorne drängenden
Farbe, die, insbesondere als Rot, zum Ausdruck seelischer Tiefe wird.
Bei der >Judenbraut< (>Isaak und Rebekka<, ca. 1666, Amsterdam,
Rijksmuseum) 56 umwogt die Figuren das olivhaltige, von Schwarzbraun
durchschossene Braun des Grundes. Aus ihm erhebt sich das Goldoliv
des Männergewandes und das Gold seines Ärmels. Die Farboberfläche
ändert sich hier entscheidender als der Farbton, Farbe wird zur schmel-
zenden Masse, flüssig, unfaßbar im Rubinrot des Rocks der Braut; im
Mieder beruhigt es sich zu Goldorange, das gehalten wird vom hellen
Grau in Miederstreifen und Schulterbesatz. Gold, Rot und Oliv sind
auch die Komponenten des Inkarnats, aber schon die olivbraunen
Reflexe gehören dem Dunkelgrund an, wie auch in die Inkarnatschatten
das Dunkel des Grundes einfließt. Das „Werden“ der Farbe, ihr Aufstieg
aus der Dunkelheit zum Buntwert, ist nicht nur optische Verdichtung,
sondern zugleich haptische Verdickung 57, Versinterung. Die pastose
Farbe fängt das reale Licht und übersteigt darin sich selbst. Farbe wird,
aus Dunkelheit wachsend, Materie, und transzendiert diese wieder in
das Licht.
„Es ist, als ob das Licht“, so formulierte Georg Simmel 58, ,,in sich
55 Carl Neumann, Rembrandt, Bd. 1, 324, 325.
56 FA: Meijer, Rijksmuseum Amsterdam, 102; Gerson, Rembrandt, Ge-
mälde, 135 (Detail).
57 Vgl. dazu auch: Neumann, Rembrandt, Bd. 2, 600-603, 607, 608.
58 Georg Simmel, Rembrandt, ein kunstphilosophischer Versuch, 2.Aufl.
Leipzig 1919, 176.
218 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

selbst lebendig wäre, als ob Kampf und Frieden, Gegensatz und Ver-
wandtschaft, Leidenschaft und Sanftmut dieses Kräftespiel von Licht
und Dunkelheit unmittelbar triigen, nicht als ein Dahinter-Stehendes,
das sich in diesem Spiel erst ausdrirckte, sondern wie wir in der Statik
und Dynamik unserer einzelnen Vorstellungen und Affekte einen
tieferen Rhythmus des seelischen Lebens iiberhaupt wahrzunehmen
meinen ..

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Trias der primären Bunt-
farben auch in höherem Maße Gegenstand der Farbtheorie.
Anselm Boethius de Boodt (um 1550 bis um 1632) 59, vlämischer Flof-
arzt in Prag, behandelt in Buch I, Kapitel 15 seines Werkes >Gemma-
rum et lapidum historia<, Hanau 1609, die Farbigkeit der Edelsteine
und deren Mischungen. „Nicht durch Mischung herstellbare Grund-
farben sind Weiß, Schwarz, Blau, Gelb und Rot. Die Verbindung von
Weiß und Schwarz, die dem Licht bzw. dem Schatten ähnlich sind, ergibt
Aschfarben, während Blau und Gelb Griin erzeugen, aus Rot und Blau
Violett entsteht, aus Rot und Gelb Orange (aureus) bzw. Erdfarbe.
Durch verschiedene Anteile der einzelnen Farben lassen sich ,infiniti
alii‘ gewinnen. Die Reduktion der Grundfarben auf drei diirfte im An-
schluß an die 1502 erschienene Schrift des Camillo Leonardo erfolgt
sein; neu hingegen ist die Aufnahme des Blau in dieseTrias“ 60, anstelle
des bei Leonardo erscheinenden Grüns. So gelangt die „naturwissen-
schaftliche“ Untersuchung zu einer einfachen, wie,selbstverständlich
anmutenden Farbenordnung.
Im gleichen Jahr erscheint in Paris von Louis Savot >Nova seu verius
Nova-antiqua de causis colorum sententia< 61, die ebenfalls die Gelb-Rot-
Blau-Theorie vertritt, einige Jahre später, im Rahmen eines Lehrbuchs
der Optik, die wichtige Farbenlehre von François d’Aguilon (Franciscus
Aguilonius, 1566-1617), Professor fiirTheologie am Jesuiten-Kolleg in
Antwerpen (>Opticorum libri sex ...<, Antwerpen 1613). Sie faßt die
Farben in derselben einfachen Ordnung zusammen und veranschaulicht
sie zum erstenmal in einem Farbdiagramm: „Quinque sunt simplicium
colorum species, ac tres compositae“: „Zwischen den als Helligkeit
und Dunkelheit bestimmten ,colores extremi“ ,albus‘ und ,niger‘ stehen
als ,colores medii‘: ,flavus‘, ,rubeus‘, ,caeruleus‘. Aus der paarweisen

59 Vgl. Charles Parkhurst, A ColorTheory from Prague: Anselm de Boodt,


1609. In: Allen Memorial Art Museum Bulletin, 29, 1971, 3-10.
60 Nach Lersch, Farbenlehre, Sp. 200.
61 Vgl. Charles Parkhurst, Louis Savot’s „Nova-antiqua“ ColorTheory, 1609.
In: Album amicorum J. G. van Gelder, Den Haag 1973, 242-247.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 219

Mischung dieser drei ergeben sich ,aureus‘, ,purpureus‘ und ,viridis‘; vor
Mischung aller drei ,colores simplices 1 wird ausdriicklich gewarnt: zu-
sammen erzeugen sie einen schmutzig grauenTon. Die Mischung kann
auf dreifache Weise zustandekommen: durch Verbindung der physika-
lischen Farbstoffe (,compositio realis‘), durch Übereinanderlegen meh-
rerer Farbschichten (,compositio intentionalis“) oder durch Verteilen
kleinster Farbflecken, die konvergierend vom Auge als Mischung wahr-
genommen werden (,compositio notionalis 1). Je nach dem beige-
mischten Anteil von Weiß und Schwarz weisen die Farben verschiedene
Intensitätsgrade auf.“ 62
DAguilons Farbenlehre, die maltechnische Erfahrungen in sich auf-
genommen hat, überliefert vermutlich die Kerngedanken von Rubens’
nicht erhaltener Farbenlehre. In der klarenTrennung und Bezugnahme
einer Trias von bunten „colores semplices“ und einer Trias von „colores
compositae“, im Auftreten der erwähnten drei Mischungsarten konnten
Übereinstimmungen der Farbenlehre von Aguilonius und gleichzeitigen
Bildern von Rubens, insbesondere seiner >Verkiindigung an Maria< im
Kunsthistorischen Museum Wien (um 1609) und >Juno und Argus< im
Kölner Wallraf-Richartz-Museum (1610/11) festgestellt werden. 63
Solche Übereinstimmungen bekunden den neuen „systematischen“
Charakter der Rubensschen Farbgestaltung, doch reicht diese insgesamt
über das in der Theorie des Aguilonius Fixierte weit hinaus.
Peter Paul Rubens (1577-1640) nimmt auch in seiner Farb- und Hell-
dunkelgestaltung 64 eine ganz eigene Stellung ein. Sein Helldunkel ist

62 Nach Lersch, Farbenlehre, Sp. 201. - Dort ist auch das Farbdiagramm ab-
gebildet.
63 Vgl. Charles Parkhurst, Aguilonius’ Optics and Rubens’ Color. In: Neder-
lands Kunsthistorisch Jaarboek, 12, 1961, 35-49. - Michael Jaffé, Rubens and
Optics: Some fresh Evidence. In: Journal of the Warburg and Cortauld Insti-
tutes, Vol. XXXIV, 1971, 362-366. - Dazu auch: Julius S. Held, Rubens and
Aguilonius: NewPoints of Contact. In: The Art Bulletin, Vol. LXI, March 1979,
257-264.
64 Vgl. dazu: Willy Schmitt-Lieb, Die Farbe als Einheit bei Rubens (Die
Münchner Bilder), Diss. Erlangen 1948. -Eberhard von Zawadzky, Helldunkel
und Farbe bei Rubens, Diss. München 1965. - Hans Sedlmayr, Bemerkungen
zur Inkarnatfarbe bei Rubens, wiederabgedruckt in: Sedlmayr, Epochen und
Werke, Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. III, Mittenwald 1982,
165-178. - Emil Maurer, Der Fleischmaler: ach oder oh? Notizen zur Haut-
malerei bei Rubens, wiederabgedruckt in: Maurer, 15 Aufsätze zur Geschichte
der Malerei, Basel etc. 1982, 143-150. - Verf., Versuch über die Farbe bei
Rubens. In: Rubens, Kunstgeschichtliche Beiträge, hrsg. von Erich Hubala,
Konstanz 1979, 37-72. - Verf., Helldunkel und Konfiguration bei Rubens. In:
220 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

ohne letzte Dunkeltiefe, erscheint oft hinterlichtet und ist in einem


neuen Sinne „komponiert“, orientiert auf die Figurenwelt und diese zu-
gleich raumhaft iibergreifend, gegliedert in einander durchdringende
Sphären. Die Farben gehen nicht gänzlich in der Helldunkelspannung
auf, sondern entfalten sich nach ihrem eigenen Gesetz, einer dynami-
schen Einheit aus der Grundfarben-Trias und der Dyade von Grau und
Ocker. Wie kein anderer Maler läßt Rubens dieTrias aus der Farbenzwei-
heit von Grau und Ocker erst entstehen, die sie in nuce schon enthält.
Farbgenese wird so, wie nirgendwo sonst, zum kimstlerischen Thema.
Als zwei Spannungsfelder durchkreuzen sich hier der Farbenkosmos
und die Helldunkeleinheit, denn Grau und Braun sind bei Rubens
zugleich koloristische und luminaristische Werte, Medien eines „Halb-
dunkels“, einer mittleren Helligkeit. Die Buntfarben andererseits tran-
szendieren, auch wenn sie zu höchster Sättigung und Intensität sich ver-
dichten, zugleich ins metafarbene Licht des Glanzes und iiberwinden
damit ihre Bindung an das Körperliche-, der sie in anderer Weise so viel
verdanken, denn nur durch ihre Zuordnung zur großfigurigen Komposi-
tion können sie machtvolle Ausbreitung erlangen, sich sammeln aus der
Zerstreuung ins Helldunkel der niederländischen Malerei des 16-Jahr-
hunderts. Die Begegnung mit der italienischen Malerei, anfänglich ins-
besondere mit der Kunst Caravaggios, war hierzu die Voraussetzung.
Aber noch nach anderer Hinsicht bezieht Rubens die Farben auf den
menschlichen Leib, durch den besonderen Rang, den das Inkarnat in
seiner Malerei einnimmt. Wie bei keinem anderen Maler, auch bei Bar-
rocci nicht, dessen Inkarnatbehandlung als Vorstufe fiirdie Rubenssche
gelten kann, wird bei ihm das Inkarnat gleichberechtigter Pártner der in
Gewandstücken und Draperien sich konzentrierenden Buntfarben. Das
geschieht, indem es in vergeistigter, „unirdischer“ Form, als Rosa-, Hell-
blau- und Gelblichtöne, dieTrias der Grundfarben in sich aufnimmt und
sie glanzstiftendem Weiß zugesellt, so die „natürliche“ Tönung von
innen heraus verwandelnd. Zugleich aber vermittelt das Inkarnat zur
Dyas von Ocker und Grau, insbesondere in den bläulichen und grauen
Schatten, so daß die Inkarnatfarben - wie das verschiebbare Gewicht
auf einem Waagebalken - die Relation der bunten zu den unbunten
Farben regulieren: im Licht nach der Seite der Buntfarben hin strahlend,
im Halbschatten zu den neutralen Bezirken überleitend, solcheTeilung
aber wiederum durchkreuzend, gehört doch Blau selbst der Grundfar-
bentrias an, steigert sich im Gelb der Ockerton des Grundes.

Intuition und Darstellung, Festschrift Erich Hubala, hrsg. von Frank Büttner
und Christian Lenz, München 1985, 105-116. FA: Roger Avermaete, Rubens
und seine Zeit, Genf 1977.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 221

Nur einige Möglichkeiten der Rubensschen Farbgestaltung können


hier vorgestellt werden. In der >Kreuzabnahme<, der Mitteltafel desTri-
ptychons der Antwerpener Kathedrale 65 (1611-1614), ist Rot, das kiihle
Hochrot des Johannesgewandes, die dominierende Buntfarbe. Mit dem
strahlenden Weiß des Lakens, in dem das Licht des Bildes sich sammelt,
beherrscht es die Figurenfarben vor dem dunklen Grund. Das aufstrah-
lende Weiß bettet die Gestalt Christi in sich, die Farben bilden Rahmen
um sie, einen inneren dieTrias der Grundfarben, zu der das Rot des Jo-
hannes mit dem tiefen, im Dunkel fast versinkenden Blau der Maria
(und Josephs von Arimathia) und das bräunliche Goldgelb und dunkle
Karminrot des Nikodemus zusammentreten; zu einem weiter ge-
spannten Rahmen verbinden sich die Farben der sekundärenTrias, das
Dunkelgrün und Grauviolett in den Gewändern der beiden Helfer am
Querbalken des Kreuzes, Violett und Orange, edles Griin in den Klei-
dern der beiden knienden Frauen, Maria Kleophas und Maria Magda-
lena. Zu klarer Bild- und eigenwertiger Ordnung sind hier die Farben zu-
einandergefiigt, die aber erst im Lichte zu sich selbst kommen, in den
Schatten der umfassenden Dunkelheit angehören.
Dynamischer, gespannter erscheint die Trias in der >Großen Bewei-
nung Christu des Wiener Kunsthistorischen Museums (1614/15) gebildet
aus flutendem, höchstgesättigtem, leuchtendem Zinnoberrot im Johan-
nesgewand links, graugebrochenem mittelhellem Blau im Marien-
mantel und dem weichen Elfenbeingelb des Christusinkarnats, das
hauchartig dünn, mit feinsten Grauflecken über der borstig hinge-
wischten Goldocker-Umbra-Untermalung sitzt. Es „vertritt“ das Gelb
der Urfarbentrias und verbindet gleichzeitig die Figurengruppe mit dem
Grund, ist dessen leuchtende Erscheinungsform. Ihm eignet eine stär-
kere Kraft des Leuchtens als selbst dem Weiß des Grabtuchs, ist Weiß
doch mit Licht identisch, während das Licht dem Inkarnat „entquillt“
und dieses so in seiner Intensität steigert.
Entschieden dominiert Rot auch im Bild >Christus und die reuigen
Sünder< der Münchner Alten Pinakothek 66 (um 1618). Zum kraftvoll-
milden Rot des Christusmantels streben das Goldgelb der Magdalenen-
haare und das graugebrochene Grau des Petrus. Das Weißlichgelb des
Magdalenengewandes wächst aus dem Ockerton des Grundes auf, das
Inkarnat Christi aber sammelt alle Farben des Bildes in sich: dieser
lichte, „pantochrome“ Fleischton nimmt in sich auf nicht nur die allfar-
bigen, weißgelblich und orangerosa getönten Inkarnate der Magdalena

65 FA: Martin Warnke, Peter Paul Rubens, Leben und Werk, Köln 1977,
Taf.2.
66 FA: Warnke, Rubens, Taf. 3.
222 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

und des Guten Schächers, nicht nur das rötliche Dunkelbraun des Fel-
sens hinter ihm, sondern auch noch das von schwefelgelben und orange-
bräunlichen Lichtstreifen durchzogene Graublau des Himmelsgrundes -
und, diese Allfarbigkeit bestätigend, strahlt auch noch Christi Nimbus
gelblich und bläulich auf.
Andere Bilder, wie etwa die >Anbetung der Könige< im Prado (1609
und 1628/29), die >Vier Weltteile< im Wiener Kunsthistorischen Mu-
seum 67 (um 1615) oder der >Bauerntanz< im Prado (1639/40) akzentu-
ieren den Rot-Blau-Akkord.
Neben Werken, die in einer oder zwei Buntfarben kulminieren, stehen
andere, in denen die Dyas Grau und Braun, als koloristische wie lumina-
ristische Werte entwickelt, und die Trias der Primärfarben einander ganz
durchdringen. So schlägt in der >Amazonenschlacht< (Alte Pinakothek
München, um 1615) 68 die „doppelte Wurzel“ von Grau und Braun in un-
terschiedlicher Stärke zur Buntfarbigkeit hin aus, ist Buntheit zuriickge-
bunden in den Grau/Ocker-Grund: Blau ist „erwachtes“ Grau, Gelb und
Rot sind „erwärmter“ Ocker. Die Farben des Grundes vertiefen sich hier
zur Dimension des Naturhaften, Elementaren. Aus dem Graublau des
Himmels stiirmen die Griechen hervor, mit ihm stehen sie im Bunde, die
Amazonen aber stiirzen zuriick in die Dunkelheit der Erdzone, in das
Braun des Bodens, das Olivgriin und Olivbraun des Wassers. Im blau-
grauen, zart iilagetönten Pferd des griechischen Protagonisten verleib-
licht sich die Farbe des Himmels. Bei den Reitern aber entfaltet sich, in
kleinen Farben ausgestreut, die Totalität der Buntfarben, bis hin zum
Rot, das den Amazonen vorbehalten wird, Leidenschaft, Blut und Un-
tergang symbolisierend. Aber es bindet sich mit dem Bläulichgrau und
Ocker des Griechenreiters in der Mittelgruppe zur verhaltenen Primär-
triade: die Farbordnung überfängt die Kampfesfronten, bezeugt die Ver-
bundenheit der Feinde, den schicksalhaften Zusammenhang von Leben
undTod.
Am offensten bekundet sich die fiir Rubens’ reife und späte Malerei
charakteristische Genese der Buntfarben aus der als Helligkeitswerte
wie als Farben wirkenden Zweiheit von Grau und Braun in seinen Ol-
skizzen. Eine der Skizzen zum Medici-Zyklus in der Miinchner Alten
Pinakothek (1622ff.), die Ölskizze zum >Empfang der neuvermählten
Königin im Hafen von Marseille< 69 sei näher betrachtet: Hier weitet sich

67 FA: Prohaska, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, 66.


68 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 79.
69 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 80. - Riidiger an der Heiden, Die
Skizzen zum Medici-Zyklus von Peter Paul Rubens in der Alten Pinakothek,
Miinchen 1984, 26.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 223

das Grau des Grundes zur Bläue des Himmels, der Ockerton verdichtet
sich zum Schiffskörper und zum Gold seiner Ornamente. Das Himmels-
blau sammelt sich im blauen Mantel der Francia, keimhaft zart taucht
kühles Lachsrosa über dem Grau des Stegs und dem Braun des Schiffs-
daches auf. Die Farben der primären Trias rahmen die in Weiß erstrah-
lende Gestalt der Königin, in ihrem linken Begleiter klingt der Violett-
Grün-Akkord an, der mit den Orangetönen des Schiffes zur sekundären
Trias sich schließt. Aus Grau und Braun entfalten sich so alle Bunt-
farben, aus Grau, Blau, Violett und Blaugriin, aus Braun Gelb und
Orange, Rot aber aus Grau uncL Braun.
In seinem letzten Schaffensjahrzehnt verfügt Rubens mit souveräner
Freiheit über unterschiedliche Möglichkeiten der Farbgestaltung. Die
sekundäre Trias kann zum bestimmenden Farbklang aufsteigen. Im
Münchner Bildnis der >Helene Fourment mit ihrem erstgeborenen Sohn
Frans< 70 (um 1635) wachsen das Orange und Orangebraun des löwen-
füßigen Stuhles aus dem Ocker des Grundes. Der Rock der Frau wölbt
sich aus grautoniger Dunkelheit und wandelt sich ins Rotviolette, aus
braunem Grunde entsteht das warme Laubgriin ihrer Jacke. Im Dunkel
hinter dem Rücken der Mutter aber hebt der Graugrund an, umspielt ihr
helles panchromatisches Inkarnat, das, zusammen mit dem schim-
mernden Weiß des Tuches, Licht verdichtet, und weitet sich zum Blau
des Himmels. Der Landschaftsausblick klingt aus im hellgestimmten
Akkord der Primärfarben, lichtem Blau, Gelb und Rosa.
Die Berliner >Heilige Cäcilie< (um 1639/40) bindet im dunkelleuch-
tenden, von Dunkelheit durchwirkten und von Dunkelzonen umge-
benen Griin ihrer Jacke alle Farben des Bildes, den aus Graurosa zu
Orange- und Goldgelb aufsteigenden, schwebenden Ton ihres Rockes,
den zarten Violett-Ton im hellrosabraunen, grau verschatteten und in
Dunkelheiten gebetteten Inkarnat des Putto unten links (mit Orange
eine Trias der Mischfarben leise anklingen lassend), das dunkle Toma-
tenrot des Vorhangs, die Braun- und Grautöne des Spinetts, der Archi-
tektur und des Himmels.
In anderer Weise wird farbige Dunkelheit bildbestimmender Wert
beim Münchner Bildnis der >Helene Fourment im Hochzeitsgewande< 71
(um 1630/31), als bläuliches Schwarz ihrer Robe im Kontrast zu ihrem
Kleid, das auf grauem Grund ockergelbe Ornamente trägt. Mit diesem
Schwarz gewinnt der asymmetrische kühne Bildaufbau, der Diago-
nalzug des schrägen Sitzens, seine Festigkeit. Das allfarbige Inkarnat
konkretisiert sich im Antlitz zur zartklingenden Trias der Grundfarben,

70 FA: Gemäldegalerie Berlin, 201.


71 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 83.
224 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

aus dem Rot der Lippen, dem Schwarzblau der Augen und dem Blond
der Haare. Dies Blond dient auch der Rahmentrias aus Himmelsblau
und kraftvoll akzentuierendem Zinnoberrot des Stuhlmckens zur Er-
gänztmg. Dunkelheit, Licht (im Weiß des Ärmels) und Buntfarben
halten sich in schwebendem Gleichgewicht, die Buntfarben sind an die
Peripherie verwiesen, die Figur ruht in der Einfachheit und im Glanz
von Schwarz, Grau und Ocker.
An einem Stich nach Rubens’ Landschaft >Heimkehr von der Ernte<
(Palazzo Pitti, Florenz) 72 erörterte Goethe in einem Gespräch mit
Eckermann am 18. April 1827 die Lichtfiihrung dieser Darstellung und
stellte einen doppelten Lichteinfall fest: „Das ist es, wodurch Rubens
sich groß erweiset und an den Tag legt, daß er mit freiem Geiste über der
Natur steht und sie seinen höheren Zwecken gemäß traktiert. Das dop-
pelte Licht ist allerdings gewaltsam, und Sie können immerhin sagen, es
sei gegen die Natur. - Allein, wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zu-
gleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des
Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst
der natürlichen Notwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern
ihre eigenen Gesetze hat.“ 73 Es sind die Gesetze des Rubensschen Hell-
dunkelkosmos.
Rubens’ Bildaufbau und Technik hat Hubert von Sonnenburg eine
grundlegende Studie gewidmet. Wichtig für unseren Zusammenhang
sind insbesondere seine Ausführungen über die „streifige Imprimitur“
und die „optischen Farbwirkungen“ bei Rubens 74: „Bekanntlich er-
scheint Rauch vor einem dunklen Hintergrund bläulich kühl, gegen
einen hellen warmtonig bzw. bräunlich. Durch eine zunehmend ver-
schleierte Atmosphäre gesehen nimmt die Sonne eine orange bis rote
Färbung an, während dunkle Hügel blau erscheinen, ähnlich wie rote
Adern, die durch das dunkle Medium der Haut gesehen werden. Ver-
wandte Erscheinungen ergeben sich im Bereiche der Ölmalerei, da die
Farbschichten in der Regel überwiegend transparent sind. Im dünnen
Auftrag über dunkler Unterlage erscheinen sie kühl, über heller Grun-
dierung entsprechend warmtonig.“ Rubens bediente sich dieser opti-
schen Wirkungen und versuchte, der in dieser Maltechnik liegenden
72 FA: Die Landschaften von Peter Paul Rubens. Mit einleitendem Text von
Jacob Burckhardt, Wien 1940, Taf. 22.
73 Zitiert nach: Goethe - Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche,
Zürich, Artemis-Verlag, Bd. 24, 1948, 623.
74 Hubert von Sonnenburg, Frank Preußer, Rubens, gesammelte Aufsätze
zur Technik, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Abteilung für
Restaurierung und naturwissenschaftliche Untersuchungen (Doerner-Institut),
Mitteilungen 3/1979, 2. Aufl. 1980, 38.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 225

Gefahr der Veränderung „durch einen wohldurchdachten, farbig aufein-


ander abgestimmten einfachen Schichtenaufbau“ bestmöglich zu be-
gegnen. „Bei Rubens’ weiß grundierten Holztafelgemälden erfiillt die
streifige graue Imprimitur (zusammen mit der transparenten Braun-
untertuschung) eine wichtige Funktion, indem sie beispielsweise unter
den diinn aufgetragenen Inkarnatfarben verhalten in Erscheinung tritt
und bläulich-graue Mitteltöne erzeugt. Bei den graugrundierten Lein-
wandgemälden kommen ähnliche optische Farbwirkungen zustande“,
all dies um einer „neuen Verlebendigung“ der Figurenwelt und alles Dar-
gestellten willen.
Anthonis van Dyck (1599-1641) steigert - im Vergleich zu Rubens -
die Helldunkelkontraste, mindert dagegen die Farbkontraste und die
farbige Differenzierung. Tiefgestimmt ist sein Kolorit, nur langsam
lösen sich Buntwerte aus der Dunkelheit des Grundes. Blau bleibt der
Grunddunkelheit am stärksten verhaftet, dieTrias, auch bei van Dyck
nicht selten bildbestimmende Farbfigur, ist wie von Dunkel umflort. Aus
dem Dunkel leuchtet das Inkarnat auf. Beim >Heiligen Sebastian< (Alte
Pinakothek Miinchen), entstanden kurz vor 1621, antwortet nur das
kräftige Rot der Fahne dem aufscheinenden, „verklärten“ Inkarnat des
Heiligen. In Lichtglanz bricht auch Christi Inkarnat auf der >Beweinung
Christu 75 von 1634 (Alte Pinakothek) aus. Eine wie von Schatten ver-
hiillte Trias aus tiefem Stahlblau im Madonnenmantel, kupfrigem Rot
und Altgoldgelb in den Gewändern der Engel ordnet sich ihm zu. Zwi-
schen Gegenstandsfarbe und reinem Dunkelwert steht das tollkirschen-
farbige, im Glanz zu seidigem Grauviolett fluktuierende Schwarz im
Mantel des rechten Engels. Auch in Porträts, etwa beim Miinchner
zwischen 1627 und 1632 entstandenen >Männerbildnis<, erscheint das
Schwarz der Gewandung nicht so sehr als eine im Raum befindliche Ge-
genstandsfarbe, denn als eine verdichtete Raumfarbe, in die der Blick
versinkt, das Weiß der Halskrause und des Inkarnats dagegen als kon-
zentriertes Licht, das einen Strahlraum um sich schafft. Fluten ins
Dunkel und ins Licht erfiillt die Bilder van Dycks. Im >Porträt Karls I.
von England auf der Jagd< (1635/38, Paris, Louvre) 76 gipfelt die Farbig-
keit vor bronzebraunem Landschaftsgrund und bleigrauer Himmelsfolie
im Englischrot, matten Goldocker und Satinweiß der Königsgewan-

75 Vgl. dazu auch H. Rainer Schmid, Lux incorporata, Zur ontologischen Be-
gründung einer Systematik des farbigen Aufbaus in der Malerei, Diss. Miinchen
(1971), Hildesheim etc. 1975, 73ff.
76 FA: Laclotte, Louvre, II, 63. -Vgl. auch: Horst Vey, Anton van Dijck iiber
Maltechnik. In: Bulletin des Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique 9,
1960,193-201.
226 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

dung. Braunorange und Schokoladenbraun beim Diener fiihren zur


Dunkelheit, der das Pferd schon ganz angehört. Alle Farben sind ge-
borgen im Schoße des Helldunkels.

Von der venezianischen Malerei und Caravaggio nimmt die spanische


Malerei des 17. Jahrhundert ihren Ausgang.
Greco (Domenikos Theotokopoulos, 1541-1614) bietet das seltene
Beispiel einer Verbindung viel- und buntfarbiger mit buntfarbfreier
Malerei auf der Grundlage eines nur ihm eigentiimlichen Helldunkels.
Nach einer venezianischen, vor allem von Tintoretto bestimmten
Friihzeit bildet Greco in Spanien seinen in unterschiedlichen Phasen sich
entfaltenden Farbstil aus. Halldor Soehner widmete Grecos spanischer
Stilentwicklung und Farbgestaltung eine eindringliche Untersuchung 77,
die hier auszugsweise referiert wird. In seiner spanischen Friihzeit, im
1576-1580 anzusetzenden „Stil von Sto. Domingo“ (diese Stilbezeich-
nungen sind aus den Orten von Hauptwerken gewonnen) tritt Greco als
Vorläufer Caravaggios auf. „Seine Nachtstiicke, die >Anbetung der
Hirten< und die >Auferstehung< aus Sto. Domingo el Antiguo in Toledo
sind durch ein hartes Kontrastlicht gekennzeichnet. Gleißende Licht-
höhen werden mit schwarzen Schattentiefen kombiniert.“ Aber das
Dunkel greift, anders als bei Caravaggio, nicht in die Körper ein, die sich
vielmehr scharf gegen den Grund silhouettieren, nur mit dem Eisengrau
ihrer Halbschatten seinem Grau und Bräunlichgrau verbunden sind.
„Für die Farbgestaltung der Friihzeit ist die Weite der Palette charakteri-
stisch: die Vielfalt der Farben bestimmt den Bildeindruck.“ In großen
Kompositionen werden die Farben Rot, Gelb, Griin und Blau in leuch-
tenden und intensiven Qualitäten großflächig gesetzt - wobei Rot domi-
niert -, begleitet von Tonabwandlungen und Zwischenfarben geringer

77 Halldor Soehner, Greco in Spanien, Teil I: Grecos Stilentwicklung in Spa-


nien. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Dritte Folge, Bd. VIII, 1957,
123—194; Teil II: Atelier und Nachfolge Grecos. In: Münchner Jahrbuch der bil-
denden Kunst, Bd. IX/X, 1958/59, 147-174; Teil III: Katalog der Gemälde
Grecos, seines Ateliers und seiner Nachfolge in spanischem Besitz, ebenda,
175-242, enthält genaue Aufzählungen der Farben in Grecos spanischen Bil-
dern. - Dazu auch: Hubert von Sonnenburg, Zur Maltechnik Grecos, ebenda,
243-255. - H. V. Sonnenburg, F. Preußer, E1 Grecos >Entkleidung Christi< in der
Alten Pinakothek München. In: Maltechnik/Restauro, 82, 1976, 142-156. -Zu
Farbe und Licht bei Greco vgl. auch: José López-Rey, E1 Greco’s baroque light
and form. In: Gazette des Beaux-Arts, Vol. XXIV, 1943, 73-88. - Andreas
Prater, Zur Bildform Grecos. In: Alte und moderne Kunst, 23. Jg., 1978, 1-11.
FA: DavidDavies, E1 Greco, Oxford, NewYork 1976; JonathanBrownu.a., E1
Greco undToledo, dt. Berlin 1983.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 227

Intensität, Lavendelblau, Malventöne, Amethystviolett, Rosenquarz-


farbe, Silberrosa, Fliederfarbe, Silbergrau usw. Im kalten Grauklang
und in der Bevorzugung eigenartiger Blau- und Violettöne wie auch
Changeant-Farben ist Grecos Kolorit während dieser friihen spanischen
Phase dem florentinisch-römischen Manierismus verbunden. Die
Technik des Sto.-Domingo-Stils aber „fußt auf der venezianischen Mal-
weise, insbesondere auf Tizian“, in der Verwendung einer lichtbräun-
lichen Imprimitur, der sorgsam vormodellierenden Grauuntermalung,
dem fließend von kaum leinwanddeckendem zu starkem Impasto iiber-
wechselnden Auftrag; anders aber als bei Tizian tritt bei Greco das Lein-
wandgitter nur wenig hervor. Auch das plastisch hochschichtende Im-
pasto Grecos trennt ihn vonTizian.
Das Hauptwerk der folgenden Periode (1580-85) ist das >Martyrium
des hl. Mauritius<, 1580-82, im Escorial, Nuevos Museos. Nun hellen
sich die Bilder insofern auf, als an die Stelle der schweren, schwarzen
Eigenschatten der Inkarnate leichte, graue Transparentschatten treten.
Gleichzeitig dringt Tiefenlicht in die Gestalten ein, so daß sie, bedingt
durch eine ausgeprägte Lasurmalerei, „wie Glasflüsse“ zu leuchten be-
ginnen. Auch das himmlische silberweiße Bündellicht hat die Aufgabe,
die Malerei zu „klären“ und zu „erleuchten“. Neu geordnet wird auch
die Farbenskala: eine strenge Auswahl mit intensivem, reinem Lapis-
blau als Führungsfarbe, die sich in gebrochenen Blauwerten wiederholt,
bestimmt den Bildeindruck; die vielen „Zwischentöne“ und Changeant-
Farben verschwinden. Aber die reinen Buntfarbkompositionen treten
insgesamt zuriick. Die meisten Bilder dieser Periode, so vor allem die
>Franziskus<-Darstellungen, erklingen im kühlen Akkord von Blau-
Grau-Braun vor fester Dunkelfolie.
Die >Bestattung des Grafen Orgaz<, 1586-88, Toledo, Santo Tomé,
steht im Mittelpunkt der anschließenden Phase (1586-90). Hier hüllt das
himmlische Licht nur den hochblickenden Priester, der als einziger des
Wunders gewahr wird, in blendende Helle: geistige Erleuchtung zeigt
sich in der Beleuchtungswirkung. (Die Fackeln dagegen treten als Licht-
spender nicht in Erscheinung.) Das hochgespannte, überstarke Licht
teilt die Körper in gegeneinandergestellte Hell- und Dunkelpartien,
facettiert sie in scharfkantig, eckig aufeinanderstoßende Flächen. Greco
bereichert nun wiederum seine Farbskala. In den erneut überwiegenden
Buntkompositionen wird meist Gelb, in den verschiedensten Ausprä-
gungen von Zitron über Altgold bis Ocker, als Führungsfarbe entwik-
kelt, oft aber auch eingegliedert in einen Zweifarbkontrast, so den von
Gelb und Rot, oder, in der >Bestattung des Grafen Orgaz<, in Kontraste
von Gelb und Schwarz im unteren Teil, Gelb und Griin im mittleren,
Gelb und Blau im oberen Bildteil, einem kalten und hell leuchtenden
228 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

Eisblau, der wichtigsten Neuerung in der Farbskala der Orgaz-Periode.


Charakteristisch für sie ist außerdem der „Aufbau einer bunthaltigen
Grauskala“, die „Einführung von Blaugrau, Gmngrau, Rotgrau, Braun-
grau usw., die als zarte, schwachgesättigte, transparente und gebrochene
Töne die Bildwelt durchziehen“. Das Orgaz-Bild zeigt erstmals Grecos
Meisterschaft der Stoffdarstellung durch die Farbe, deren Steigerung im
Kontrast wie Differenzierung in Tonwerte. ,,Er malt jetzt grobe und
feine, durchsichtige und dichte Stoffe, Gold- und Silberbrokat, malt tau-
schierte Rüstungen, die sich mit den Meisterleistungen venezianischer
Stoffmalerei, vor allem Veroneses, vergleichen lassen.“ Auch wendet
sich Greco wieder ,,der Leinwandtechnik venezianischer Tradition zu,
für die der rauhe, lockere Oberflächencharakter typisch ist“. Über
dünnem Kreidegrund liegen die rotbraune Abdeckung mit Bolus, dar-
über die Grauuntermalung - so dünn, daß sich das Leinwandgitter stel-
lenweise durchprägt - und die Farben, die im Licht deckend aufgetragen
werden, während in den Schatten die Untermalung stehenbleibt oder
nur lasierend übergangen wird, so deren Durchlichtung bewirkend.
Mit dem Altarwerk fiir die Pfarrkirche in Talavera la Vieja, 1591-92,
kehrt die Differenzierung in Halb- und Tiefschatten verfeinert wieder;
sie verlieren das Feste und klar Begrenzte, beginnen zu schweben,
bringen die Formen zum Vibrieren. Dem Charakter des Visionären dient
auch der düstere Ernst, die Schwere und Dunkelheit der Farben.
„Dunkle und kühle Farben beherrschen den Bildeindruck: schweres
Blau, bräunlich-düsteres Karmin, hartes Grasgrün“ (so in der „Kreuzi-
gung“ von etwa 1595 im Prado), vor Schwarz- und Schwarzbraungrund.
Rot-Grün tritt als harter Komplementärkontrast auf, auch erweitert
zum Klang von Rot-Gmn-Blau. Der Farbaufbau und -auftrag wird zur
„feinsten Differenzierung der venezianischen Technik“ fortgeführt.
„Nach der Düsternis der Talaverazeit erscheint die Aragónperiode
(1596-1601) wie ein neuer Frühling.“ Ihr Hauptwerk ist das Retabel der
Kirche des Colegio de Doña Maria deAragòn, Madrid, von 1596-1600,
zerstreut in verschiedene Sammlungen. Sie ist die „schönfarbige Pe-
riode“ Grecos. „Alle dunklen und düsteren Töne verschwinden. Die
Neutralfarben treten zumck, um einer leuchtenden Buntskala Platz zu
geben“, in der die Vorherrschaft einer Einzelfarbe der harmonischen
Zusammenordnung der Buntfarben weicht. Griin steigt zu neuer Bedeu-
tung im farbigen Bildgefüge auf, die Skalen von Rot, Blau und Gelb
werden erweitert. In ihren Eigenwerten kommen die Farben nun neu
zur Geltung. Häufig ruhen die Bilder in der Farbtotalität der vier Haupt-
farben und gipfeln in der harmonischen Trias der Primärwerte. Die
Technik dieser Periode „stellt eine neue Synthese zwischen der venezia-
nischen rauhen und porösen Leinwandtechnik und dem Impastorelief
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 229

der Frühzeit dar“, Pastosmalerei wird mit feinster Lasurmalerei ver-


bunden.
Die Gemälde der Kirche des Hospitals de la Caridad in Illescas von
1603/05 geben der folgenden Phase ihren Namen. Es dominieren erneut
schwere und ernste Farben. Die Neutralfarben nehmen an Ausdehnung
zu, „Schwarz, Grün und Weiß werden bildfiihrend entwickelt“, unter den
Buntfarben kommt wiederum Rot die erste Stelle zu. Die Farben werden
im Licht, das Licht durch Farben verwandelt, genauer: eigene Licht- und
Schattenfarben finden Verwendung, „Farbeigenhelligkeit wird so erst-
mals zum Träger der Hell- und Dunkelqualitäten“ bei Greco, was eine
bisher nicht gekannte Leuchtkraft seiner Bilder bewirkt. „Trotz starker
Beleuchtungswirkungen strahlen die Farben wie aus sich selbst.“ Eine
neue Vielteiligkeit des Farbauftrags bestimmt die Technik dieser Phase,
ein mannigfaltiges Durchgliedern mit einzelnen Pinselstrichen, das „sich
im Zentrum der Bilder bis zum reinen Fleckauftrag und strichelnder
Übersäung steigert“. Es stellt den eigenhändigen „Schlußakt“ des Mal-
verfahrens über der von Gehilfen gefertigten Untermalung dar. (In der
Illescaszeit beginnt die Arbeit eines ausgedehnten Atelierbetriebs.)
In seinem Spätstil (1608-1614) zerlegt Greco das Bildlicht in kleintei-
lige, flammenförmige, unruhig züngelnde Flächen. In diesem „Flamm-
lichtstil“ wird Beleuchtetes zugleich Leuchtendes, gleichzeitig, wie bei
der >Himmelfahrt Mariä< (im Museo San Vicente, Toledo) die größte
Leuchtfläche zur Lichtquelle für die übrigen Figuren, zum Lichtsender.
Der Dunkelcharakter der Bilder weicht einer leuchtenden Farbvielfalt.
Schwarz und Grau verschwinden, helle lichte Farben treten bestimmend
hervor: „reines Weiß und leuchtendes Gelb fehlen kaum auf einem
Bilde. Das Weinrot wird vielfältig, von erlesenem Alt- über Silberrosa
bis zu glühendem Granatsteinrot, abgewandelt. Tomatenrot, im Licht
verwendet, steigert die Glühkraft des Karmin.“ Schöne Blaus, volltö-
niges Bergblau, himmlisches Silberblau, viele Grüntöne, von inten-
sivem Grasgrün bis Goldgrün und Blaugmn treten hinzu, Violett wird als
Gesamtton, besonders bei den Inkarnaten, wichtig. In jedem Bild ent-
rollt Greco nun den gesamten Farbenkreis, gegliedert in die Kontraste
von Rot und Grün, Gelb und Blau, Rot und Blau, Rot und Weiß und
schließlich, nach Prozessen der Umbildung, gebunden in die Trias der
Grundfarben. Für dieTechnik der Spätzeit ist charakteristisch eine skiz-
zenhafte Gesamterscheinung, basierend auf bewußter Auflösung der
Fläche in einzelne Pinselstriche zur Erzeugung einer besonderen Flim-
merwirkunj, ,,in der das Bild die Lebendigkeit einer Primamalerei ge-
winnt“. Auch solche Skizzenhaftigkeit dient der Erscheinung des Flak-
kernden, Flammenden, der „Feuervisionen“, in der die späten Bilder
Grecos ihr Eigenstes gewinnen.
230 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

Im Werk José de Riberas (1591-1652), dem Schüler Ribaltas und Be-


wunderer Caravaggios, ist der Gegensatz von Finsternis und Licht stets
von bildbestimmender Wirkung. Gegen wandartige Finsternis setzen
sich leuchtende Inkarnatflächen ab, durch ihre Schatten der Dunkelheit
verbunden, oft auch farbig in ihrem hellbräunlichen Ton auf den tief-
braunen Grund bezogen. Doch sind Finsternis und Grund keineswegs
identisch. Beim >Martyrium des hl. Philippus< von 1639 (Prado) 78 liegen
die Dunkelkomplexe alle vorn, Dunkel eint die Gruppe der das Marter-
holz aufziehenden Schergen, die wie silhouettiert gegen die helle Him-
melsfläche stehen. Das Licht aber sammelt sich in der Figur des Heiligen.
Die kraftvollen Helldunkelkontraste werden gebunden von wenigen
Buntfarben, dem stumpfen mittelhellen Blau des Himmels und dem ge-
brochenen Sienarot im Gewand des sich bückenden Schergen rechts,
davon getrennt durch das cremige Weiß der hohen Wolke. Auch bei der
um 1640 gemalten >Hl. Magdalena< (Prado) 79 zieht sich die Farbe der
Felswand, ein tiefes Sepiagrau, nach vorne, umgreift die Felsblöcke, das
Salbgefäß, ja sogar Haare, Pupillen und Inkarnatschatten der Heiligen.
Selbst in der Helligkeit ihres Inkarnats ist noch die Farbe der Dunkelheit
zu spüren (in seiner Lichthaftigkeit übertrifft es den wolkenüberzo-
genen Himmelsausschnitt). Erst die mächtige Fläche des ausgébreiteten
weinroten Mantels tritt zu dem Helldunkelkomplex in Gegensatz, in ge-
ringerem Maße das heute nur noch in den Lichtstegen erkennbare, ur-
sprünglich sicher farbstärkere Graublau ihres Armels. Der Klang von
Rot und Blau vollendet so wiederum die Helldunkelspannung.
Auch Diego Velázquez’ 80 (1599-1660) >Anbetung der Könige< (1619,
Madrid, Prado) ist, in der Nachfolge Caravaggios 81, bestimmt von stärk-
sten Helldunkelkontrasten. Vor einem tiefbronzefarbenen festen Grund
werden in scharfem Schlaglicht herausgehoben: Weiß, grauverschattet
im Tuch, das das Kind umhüllt, aufzuckend in der Halskrause des

78 FA: F. J. Sanchez Cantòn, Der Prado, München-Zürich 1959 (Knaurs


Galerien der Welt), 200/201.
79 FA: Katalog >Von Greco bis Goya<, Vier Jahrhunderte Spanische Malerei,
Haus der Kunst München, Künstlerhaus Wien 1982, 58.
80 FA: Velázquez, mit einer Einführung von José Ortega y Gasset, Zürich
1953 (Manesse-Bücher der Kunst). - José Gudiol, Velázquez, Barcelona 1973. -
Zur Maltechnik Velázquez’ vgl.: Hubert von Sonnenburg, The technique and
conservation of Juan de Pareja by Velazquez. In: The Metropolitan Museum of
Art Bulletin, Vol XXIX, June 1971, 476-478. - Ders., Zur Maltechnik Murillos.
In: Maltechnik/Restauro, 88, 1982, 20-29. - Ferner: Aureliano de Beruete y
Moret, La paleta de Velázquez, Madrid 1922.
81 Vgl. dazu: Halldor Soehner, Velázquez und Italien. In: Zeitschrift für
Kunstgeschichte, 18, 1955,1-39.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 231

Mohrenkönigs, etwas gedeckter, bräunlicher im Kopftuch Mariens; der


bräunlichweiße Lichtstreifen hinter dem Berge wirkt nur als schmale
Unterbrechung des Hintergrunddunkels. Damit sind die Pole benannt,
innerhalb derer die Farben sich entfalten. Dem Weiß folgen als Hellig-
keitswerte das helle, klare Ledergelb im Tuch um die Füße des Kindes,
grau-oliv-grünlich schattiert, und das zart bräunliche, in den Halb-
schatten gedeckt purpurfarbene, im Licht stumpf rosafarbene Karmin
des Mariengewandes. Ihr Mantel, in leicht griinstichigem Dunkelblau,
wendet sich zur Dunkelheit; Ledergelb, Karmin und Dunkelblau
schließen sich in der Gestalt Mariens zu einer Variation der primären
Trias zusammen. Eine zweite, ebenso verhalteneTrias antwortet ihr und
bindet farbig zwei der Könige. Mit braunen Schatten schließt das braun-
gebrochene Rot im Mantel des Mohrenkönigs an die Dunkelheit an, der
Ockerton im Mantel des knienden Königs und das helle, gedeckte Grau-
blau seines Gewandes verlängern die Reihe der lichtzugewandten
Farben. Ihre Tiefschatten aber vermählen sich mit der umfassenden
Dunkelheit. Das nach vorne lang herabfallende, am Boden sich stau-
ende Mantelstiick stellt farbig die Verbindung her zum Bronzedunkel
des Grundes. Wie Reflexe diese Bronzedunkels wirken die tiefen
Schatten der Inkarnate, die sich abrupt von den lichtgetroffenen Partien
scheiden. So überbrücken die Farben die Spannung zwischen strah-
lendem Licht und tiefer Dunkelheit.
Bei den um 1629 entstandenen >Trinkern< (Prado) wird das umfas-
sende Dunkel, zu dem die braunenTiefschatten sich vereinen, nochmals
hinterlegt von einem nur leicht in sich bewegten Blaugrau mittlerer Hel-
ligkeit im Himmelsgrund. So sammelt sich das Dunkel in den Figuren.
Von ihm aus stufen sich die Farben empor, über Braun und Ledergelb
zum gelblichen Inkarnat des Bacchus, das ins Licht ausstrahlt, und zum
Weiß seines Tuchs. Das tiefe Braun des Schattengrunds kehrt wieder im
sehr dunklen Tabakbraun der Gestalt des Kauernden vorne links - im
Dunkel schließt sich das Bild nach vorne ab! Von der Braunreihe weicht
einzig das gedeckte Purpurrosa des Bacchus-Mantels ab: es repräsen-
tiert den klarsten Wert einer verhaltenenTrias, mit Ledergelb und tiefem
Schwarzblau in der Figur des Knienden, die sie einbetten in Dunkelheit
und in die Skala des Braun.
In anderer Weise teilt sich der Grund bei der >Schmiede des Vulkan<
(1630, Prado): der Grundton des Grau wird angeschlagen im Himmels-
ausschnitt links, vertieft sich in Haaren und Lendenschürzen der Zyklo-
pen. Der andere, sepiabraune, entfaltet sich in der Werkstattwand,
umgreift monochrom den Vordergrund mit den Geräten, die auf dem
Boden liegen und stehen, vergegenständlicht sich im olivtonigen Len-
denschurz des Zyklopen nahe der Bildmitte. Nur eine großflächige Farbe
232 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

entzieht sich dieser „Parallelsteigerung“ von Grau und Braun, das Gold-
ockerbraun im Mantel Apolls - und auch hier wird die abweichende
Farbe Mitte einer wie „umgestimmten“ Trias aus dem Orangerot des
gliihenden Eisens und dem Schiefergraublau im Schurz Vulkans.
Teilung des Grundes geht bei den >Hilanderas< (gemalt um 1644/48,
Prado) einher mit einer erneuten Vertiefung der Helldunkelspannung:
darin bekundet sich der Wandel der Velázquezschen Farbgestaltung in
seiner späteren Zeit. Olivstichiges Grau ist Einheitston des schatten-
dunklen aufgehenden Mauerwerks, schließt auch dasWollbiindel neben
der Tür in sich, setzt sich fort im Schatten des Kreuzgewölbes und im
Rundfenster des rückwärtigen Raums, erhebt sich ins Licht in dessen
weißgrauem Verputz. Von Braun werden umfaßt die Bodenfläche und
alles, was auf ihr liegt, aber auch Spinnrad und Leiter. Grau und Braun
stufen sich, iiber eine Folge kleiner Intervalle, ins Buntfarbige, zu Blau
und Rot. Vom Perlgrau des Gobelins fiihrt der Weg iiber dasTaubenblau
im Kleid der vom Riicken gesehenen Dame zum griinstichigen, ge-
deckten Graublau im Rock der rechten Spinnerin. Die Rotreihe teilt
sich in eine größere Anzahl von Gliedern: vom Lachsrosa im Mantelum-
schlag der riickwärtigen Mittelfigur geht es zum Schultertuch der eben
erwähnten Rückenfigur und zum braunorangefarbenen Rock der Kau-
ernden in der Bildmitte - ein Weg aus dem Licht in das Dunkel. Tiefes
Tomatenrot fiillt den Vorhang am linken Bildrand, das Lederbraun in
der Schürze des Mädchens daneben erinnert noch an seine Herkunft.
Diesem Komplex antwortet rechts der Klang von bleichem Karmin im
Tuch auf dem Hocker und das schöne Braun in der Weste des Mädchens
vor dem Dunkel der Türöffnung. Raumdunkelheit verdichtet sich zu
einem dem Grund verwandten Schwarz in der Alten am Spinnrad,
Raumhelle zum pastosen Weiß in der Bluse der rechten Arbeiterin. In
geschlossenem Kreislauf entlassen helldunkles Grau und Braun die
Buntfarbenbrechungen von Blau und Rot und fiihren diese mit figural
gebundenem Weiß und Schwarz wieder ins Helldunkel zurück. (Die
späteren Ergänzungen des Bildes erweitern diesen Kreislauf nur.)
Einbindung der gedämpften primären Trias in ein nach Grau und
Braun sich entfaltendes Helldunkel ist ein farbiges Gestaltungsprinzip
von Velázquez (auch in der >Übergabe von Breda<, von 1634/35, ist es zu
finden, bei den >Hilanderas< klingt es an in den Gestalten des Hell-
raumes), „Paraphrasierung“ des Grau-Braun-Paares ein anderes. Zahl-
reich sind hierfiir die Beispiele, um nur einige Werke des Prado zu
nennen: >Aesop< (zwischen 1639/42), >Sibylle< (1631/32), das >Reiter-
bildnis des Conde-Duque de Olivares< (um 1634/35, mit anklingender
Trias), >Philipp IV. im Jagdkostüm< (1632/33), >Prinz Baltasar Carlos
als Jäger< (1635/36), >Francisco II. d’Este, Herzog von Modena< (1638,
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 233

Pinacoteca Modena, erweitert um Purpurgraubraun). Immer sind Grau


und Braun zugleich Helldunkel- und Tonwerte, verdichten sie sich zu
Farbtonstufen innerhalb einer luminaristischen Malerei. 82
Eine weitere Möglichkeit der Velázquezschen Farbgestaltung, verfei-
nert durch Juan Bautista del Mazo (um 1612-1667), repräsentiert das
diesem Künstler zugeschriebene 83 Porträt der >Infantin Margarita< (ge-
malt 1664/65, ebenfalls im Prado), die Kombination von Rot und Grau.
Rot stuft sich vom dunklen Karmin im Tiefschatten des Vorhangs zu
einem bräunlich gedeckten Karmin in seinem unteren Bausch, das stel-
lenweise, mit dem Hellbräunlich in Musterung und Lichtstegen, einen
Orangeton annimmt, zum reinen Korallenrot der Haube, des Brust-
schmucks und der Handschleifen, schließlich zum hellen Lachsrosa im
Kleid der Infantin. Hier wird es kühl und nähert sich darin dem Grau.
Dieses setzt ein in tiefen Graustreifen im Grunde und führt über das
Silbergrau des Kleides zum Weiß des Seidentuchs. Das schimmernde
Blond der Haare gibt die einzige abweichende Note, darin das zarte
Inkarnat des Gesichts akzentuierend.
Die >Meniñas< schließlich (1656, Prado) sind fast nur in Grauvarianten
gestaltet. Licht wie Dunkel erscheinen gedämpft, wie gefiltert, „sordi-
niert“, gleichwohl bleibt die Spannung ihrer Polarität gewahrt. Die
höchste Helligkeit konzentriert sich im Weiß der Wand des rückwärtigen
Raums. Der Lichtpol ist gespalten, die nächsthöhere, gehaltlich aber
entscheidende Helligkeit versammelt sich im Kleid der Infantin, ihrem
Gelblichgrau, und von hier aus nimmt die Helligkeit schnell ab, über das
kühlere Grau des knienden Hoffräuleins und das bräunliche und Silber-
grau der Stehenden. Die Grau- und Schwarztöne der Nonne und ihres
Begleiters lösen sich schon in das Helldunkel des Raums, wie auch das
Selbstbildnis in das raumhaltige Helldunkel versinkt. Stärker als die an-
deren Töne zweigt das Samtgraublau der Zwergin rechts aus der Grau-
skala ab; eine Nebengruppe bildet sich auch farbig mit dem grauhaltigen
rotbraunen Gewand des Jungen und dem graubraunen Hund rechts (ihr
entspricht links das Braun der Leinwand). Ansonsten - und nach dieser
Hinsicht kann das Bild auch als eine freilich höchst ungleichgewichtige
Komposition aus Grau und Rot verstanden werden - bilden die einzigen
Akzente das Englischrot im Kännchen, das Salmrot in den Schleifen der

82 ,,E1 principio colorista observado sistemáticamente por Velázquez radica


en la distinción de la gama de colores cálidos y frios“, stellte Emilio Orozco Diaz
fest (>La función compositiva del color en la pintura de Velázquez<. In: Revista
de ideas estéticas, XIX, 75, 1961, 177-197, Zit. 182) und untersuchte insbeson-
dere deren Bedeutung für den farbigen Bildraum.
83 Vgl.: José López-Rey, Velázquez’ Work and World, London 1968, 134.
234 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

kleinen Prinzessin und, schwächer, in denen ihrer Begleiterin, sowie das


helle Salmrosa des Fußbodens. So entfaltet sich das Helldunkel dieses
Bildes als Brechung und farbige Beugung von allseitig sich ausbrei-
tendem Grau. Unscharfe Konturen, summarisch gegebene Formen ent-
rticken die Figuren in dies zart vibrierende Helldunkel. Still, stilleben-
haft und in unüberbrückbarem Abstand stehen sie vor dem Betrachter.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Velâzquez als „Impressio-
nist“ verstanden. So schrieb R.A.M. Stevenson (1847-1900), die Far-
beneinheit seiner letzten Bilder habe Velàzquez gewonnen durch „sein
großzügiges und großzügig nachschaffendes Sehen vor den natürlichen
Werten der Farbe, wie sie gegenseitig aufeinander wirken, und wie sie
sich unter dem Einfluß der Atmosphäre und mehr noch unter dem Rich-
tungs-Winkel des einfallenden Lichtes zueinander verhalten. Diese Art
der Naturbetrachtung hat ihn dazu geführt, nicht allein die Helligkeits-
differenzen, sondern auch die Farbendifferenzen zu studieren .. ,“ 84 Die
genauere Kenntnis der Freilichtmalerei des 19. Jahrhunderts läßt auch
ihren Unterschied zum überwirklichen Helldunkel Velázquezscher
Bilder deutlicher hervortreten.
In Francisco Zurbaráns (1598-1664) Malerei 85 spricht sich der spani-
sche Helldunkelstil mit äußerster Strenge aus. Die um 1629 gemalte
>Aufbahrung des Leichnams des hl. Bonaventura< im Louvre 86 kontra-
stiert Weiß in der Gestalt des Heiligen, in den Halbschatten silbergrau-
braun überhaucht, hart gegen das Schwarz der Folie, das in den Tief-
schatten der Trauernden wesensverwandt wiederkehrt. In diese
Schatten schlagen die grauen Lichtflächen der Mönchskutten plötzlich
um; die Grautöne spalten sich in nah benachbarte Varianten, neigen
bald zu Sandgelb, bald zu Malvenviolett, bald zu einem schwer bestimm-
baren Lehmton. Wie ausgeschnitten lieg auf dem Weiß der Kutte des
Heiligen das Hochrot seines Kardinalshuts. Das rotgemusterte Gold-
braun des Bahrtuchs mit pastosen weißen Lichttropfen auf den licht-
gelben Stegen bringt seinen eigenen Charakter in das Gefüge aus weite-
sten Helldunkel- und weiten wie engsten Farbintervallen ein.
Düster ist die Gesamterscheinung beim Bildnis des >Don Alonso Ver-
dugo de Albornozi (entstanden um 1635, Gemäldegalerie Berlin) 87.

84 R. A. M. Stevenson, Velázquez, übersetzt und eingeleitet von Eberhard


Freiherr von Bodenhausen, München 1904, 105.
85 Vgl. auch: Julián Gállego, E1 color en Zurbarán. In: Goya, revista de arte,
64—65, 1965, 296-305. - FA: Mina Gregori, Tiziana Frati, L’opera completa di
Zurbarán (Classici dell’Arte, 69), Mailand 1973.
86 FA: Laclotte, Louvre, II, 89.
87 FA: Gemäldegalerie Berlin, 371.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 235

Auch hier kontrastiert das Weiß in Strümpfen und, kälter, als Glanzlicht
auf dem Panzer entschieden zum Braunschwarz der Folie. Im Bannkreis
des Schwarzen steht das Olivbraun der Bodenfläche, mit schwacher
Grenze vom Dunkelgrund sich absetzend, zu diisterem Braun aufgehellt
in den Hosen. Selbst das graugelbliche Inkarnat erscheint noch wie von
Schwarz umflort und daher leicht olivstichig. Inkarnatschatten und
Haare fiihren nahezu iibergangslos in das Grundschwarz, wirken wie
Reflexe des Dunkelraums. Einzig das Rot der Schärpe hält sich in der
Mitte zwischen Schwarz und Weiß, Dunkel und Licht.
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre lichtet sich Zurbaráns Pa-
lette auf. Im Miinchner Bild der >Grablegung der hl. Katharina vonAlex-
andrien auf dem Berg Sinau, gemalt um 1636/37, stehen „neben den
warmen Farben von Rot und Olivgriin aggressives Gelb und schrille
Blautöne. Von großer Schönheit und Raffinesse ist das Nebeneinander
des lichtgrauen, leicht ins Violett gebrochenen Grabtuches und des
rosa Gewandes der Heiligen, eine Farbenzusammenstellung, die Zur-
baràn sehr geliebt hat.“ Über den Gestalten öffnet sich der Himmel in
lichtes Gelb. Der Maler strebt hier nicht mehr „nach einem den Gesamt-
eindruck des Bildes vereinheitlichendem tenebroso“, sondern stellt
klare Farben nebeneinander, ,,die auch dissonante Kontraste nicht
scheuen“. 88
Auch die Malerei von Bartolomé Esteban Murillo (1618-1682) orien-
tiert sich um den Klang aus Grau und Braun und die bisweilen darin ein-
gebundene Trias der Grundfarben, mit einer besonderen Betonung der
Oberflächendarstellung. Hubert von Sonnenburg hat den maltechni-
schen Aufbau der Münchner Murillo-Gemälde genau beschrieben. 89
Bei den zwischen 1645 und 1650 entstandenen >Melonen- und Trauben-
essern< 90 handelt es sich „um eine ziemlich fette Olmalerei auf rot-
braunem Grunde, die auch ohne Firnisiiberzug einen leichten Glanz
hat. Mit Ausnahme des dunklen Hintergrundes sind die pastosen Farb-
schichten reich strukturiert, wobei die Inkarnate, Stoffe und Friichte

88 Erich Steingräber, >Die Grablegung der heiligen Katharina auf dem Berg
Sinai< von Francisco Zurbarán. Eine Neuerwerbung fiir die Alte Pinakothek in
Miinchen. In: Intuition und Darstellung, Erich Hubalazum 24. März 1985, hrsg.
von Frank Biittner und Christian Lenz, Miinchen 1985, 129-136, Zit. 135. FA
ebendort, 130, und bei Steingräber, Alte Pinakothek, 93.
89 Hubert von Sonnenburg, Zur Maltechnik Murillos, 1, Bayerische Staatsge-
mäldesammlungen Miinchen, Abteilung fiir Restaurierung und naturwissen-
schaftliche Untersuchungen (Doerner-Institut), Mitteilungen 4/1980, o.S. -
Auch in: Maltechnik/Restauro, 86,1980,159ff. -Teil 2 in: Maltechnik/Restauro,
88,1982,15-34.
90 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 92.
236 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

individuell behandelt sind (gemäß ihrer unterschiedlichen Oberflächen-


erscheinung)“, - eine charakteristische Eigenart Murillos. „Auch inner-
halb der Inkarnatteile wechselt die Pinselstruktur ständig von unter-
schiedlich rauher, z.T. gestupfter bis ganz glatter Farboberfläche, im
steten Bemühen um eine überzeugende Wiedergabe des Abtastbaren
der verschiedenen Stofflichkeiten. Immer wieder werden die individu-
ellen Oberflächenbeschaffenheiten geschildert, so die glatte gespannte
Haut über der Kniescheibe, die rauhe Fußsohle, an der der Staub haftet,
die griffige und flexible Schale der Melone im Kontrast zum schwammig-
faserigen Fleisch der Frucht. ... Die überzeugende Vergegenwärtigung
der Figuren kommt hauptsächlich dadurch zustande, daß bei den Inkar-
naten die Ficht- und Schattenzonen nahezu gleich dick gemalt sind.
Außerdem geben die warmtonig leuchtenden Inkarnatschatten den Kör-
pern eine besondere Solidität.“ Der rotbraune Malgrund ist ,,im Hinter-
grund und in den Schatten der Gewänder, in den Schlagschatten der
Figuren zu erahnen, da er in diesen Bereichen nur sehr dünn mit
dunklen Malschichten überdeckt ist.“ In der Halbschattenpartie des
Hemdes im Schulterbereich des am Boden sitzenden Knaben liegt „über
der fast weißen Untermalung eine mehr oder weniger deckende Schicht
von blau- bis rosastichigen Grautönen. Das Hemd ist stellenweise auf
bereits ausgeführte Inkarnatpartien gemalt, eine Technik, die für die
naive Direktheit dieser auf taktilen Reiz abzielenden naturalistischen
Malweise charakteristisch ist. Durch den dunklen, neutralhaltigen Hin-
tergrund, die unbunten Bekleidungsstücke und die im Kellerboden des
Vordergrundes vorherrschenden grauvioletten Farben kommen die
gelblichbraunen Inkarnate voll zur Wirkung. Die einzig lebhaften far-
bigen Akzente sind das warme Gelb und lichte Grün der Melone“, das
maltechnisch „durch hauchdünnes Überstreichen einer gelben Unter-
malungsschicht mit Azurit“ zustande kommt.
Der „Vaporosostil“ der Zeit um 1670, in der Alten Pinakothek ver-
treten durch die >Pastetenesser< und die >Würfelspieler<, läßt das Bildlicht
weicher erscheinen, bedingt durch „zunehmende Anwendung von trans-
parentem und halbtransparentem Farbauftrag über den pastosen Un-
termalungsschichten“. Die Schatten des gebauschten, weißen Hemd-
ärmels beim Pastetenesser „wurden zunächst ganz dünn mit rötlich-
brauner Fasur auf das pastose Weiß skizziert, in den Schattentiefen mit
Schwarzbraun verstärkt und in einem abschließenden Arbeitsgang mit
halbdeckendem Grau flüchtig übergangen“. Auch die >Wiirfelspieler< 91
sind ein Beispiel für die Bedeutung der Dyade Grau-Braun in der spani-
schen Malerei. Ersteres gipfelt im Weiß der Hemden, letzteres in den

91 FA: von Sonnenburg, o. S.


Die Malerei des 17. Jahrhunderts 237

kalten und warmen, grünlichen und rötlichen Gelbtönen der Früchte,


wie auch im weich vibrierenden Cremeton der Inkarnate. Der farbige
Zweiklang erhebt sich zu einem Zweiklang des Lichts. Ganz zart, wie als
fernes Echo, klingt aber auch dieTrias an, in den Gelbtönen der Früchte
links, im Graugriinblau der Hose des linken, im Maronrot des Tuches
beim rechten Würfelspieler.
In seinem Spätstil wird Murillo farbiger. Die >Kleine Obsthändlerin<,
die in der Alten Pinakothek diese Phase repräsentiert, ist auf einen
„Malgrund von weitaus größerer Leuchtkraft als bisher beobachtet“ ge-
malt. „Sein lebhafter beige-rosa Farbton ist besonders in einigen dünn
gemalten Hintergrund- und Schattenpartien wahrnehmbar, was seine
Bedeutung für das vorwiegend warmtonige Gesamtkolorit unter-
streicht.“ Der Farbauftrag wird pastoser, die Lasurtechnik tritt zuriick.
Auch hier herrscht im Gesamteindruck die Zweiheit von Grau und
Braun, die Trias kann nun aber deutlicher zur Geltung kommen, in der
Zuordnung von stumpfem Ockergelb im Brusttuch, getriibtem Lachs-
rosa im gerafften Überrock und schwärzlichem Grünblau im Rock des
Mädchens. Die neue Klarheit der Farbordnung entspricht der einfachen
Pyramidalkomposition der Figuren.

Französische Farbgestaltung 92 betont den Schönheitswert, oft auch


die dekorative Wirkung der Farben. Die Ruhe ihrer meist flächig-relief-
mäßigen Ausbreitung, die Dichte der Farbmaterie kommen dieser Er-
scheinung zugute. Das Blau, auch der Blau-Rot-Akkord gewinnen in
der französischen Farbskala des 17. Jahrhunderts erhöhte Bedeutung. 93
Blau wird dabei oft Lichtträger bei voller Wahrung des Buntwerts, also
nicht als aufgehellte, sondern als hellklare, metallisch-feste Farbe.
Jean Valentin de Boulogne (1594-1632) kommt von Caravaggio her.
Bei seinem Spätwerk >Erminia bei den Hirten< (um 1630, Alte Pinako-
thek, München) 94 sind alle Helligkeiten gleichermaßen in einen dichten,
tief braunschwarzen Grund eingelassen. der sich allein zum dunklen
Blaugrau des Wolkenhimmels öffnet. An Buntfarben sind nur Rot und
Blau, als klarer, lichter Wert, vertreten; ein Gelblichton erscheint nur in

92 FA: Albert Chätelet, Jacques Thuillier, Französische Malerei, Von Fou-


quet bis zu Poussin, Genf (Skira) 1963. - Von Le Nain bis zu Fragonard, Genf
(Skira) 1964.
93 Vgl. : Etienne Souriau, Y a-t-il une palette française? In : Art de France, No.
II, 1962, 23-42. - Dazu auch: Hans Sedlmayr, Vermutungen und Fragen zur
Bestimmung der altfranzösischen Kunst. In: Sedlmayr, Epochen und Werke,
Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, II, Wien, München 1960, 322-341.
94 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 97.
238 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

den Inkarnaten sowie als Schimmer auf Haaren und Riistung der Er-
minia. Das kiihle Grau in Haube und Gewand der Alten am linken Bild-
rand kann sich, auch in seinem Kontrast zu Umbra, zu eigener Schönheit
entfalten. Wie das Blau gehört es zu den charakteristischen Farbwerten
der französischen Palette.
Georges de La Tour (1593-1652) aber meidet Blau. Seine Farbskala ist
die einer „palette nocturne“ 95, angemessen der tiefen, von kiinstlichen
Lichtquellen erhellten Dunkelheit seiner Bilder. Warmes, gedecktes
Rot, Braun, festes, pastoses Weiß in brauner bis schwarzbrauner
Schatten- und Dunkelwelt bestimmen die farbige Erscheinung seiner
Bilder (vgl.: >Der hl. Joseph als Zimmermann<, um 1640 (?), >Die hl.
Magdalena meditierend vor einem Totenkopf<, um 1640/45, beide im
Louvre 96). La Tour gestaltet die Farben in gleichmäßiger Festigkeit,
bindet sie und alle Licht- und Schattenbezirke der Fläche ein, fiihrt so,
mehr als andere Helldunkelmaler, Licht und Dunkel zu farbig-homo-
gener Erscheinungsweise als einer Voraussetzung der eigentiimlichen
Zeitentriicktheit seiner Darstellungen.
Die Briider Le Nain vereinfachen die Bildfarbe fast bis zur Mono-
chromie. In ihr wird das Zuständlich-Stille, Monumentale ihrer Bildge-
halte farbige Gestalt. Die >Bauernmahlzeit< (1642, Paris, Louvre) von
Louis Le Nain (um 1600-1648) ist in der Grundfarbe eines leicht oliv-
stichigen Umbratons gehalten, der sich bald zu Graugelblich aufhellt,
bald zu einem braunschwärzlichen Violett vertieft. Der grauockrig er-
hellte Ton wird weiter stufenweise erhöht zu warmem, gelblich um-
flortem Weiß oder zu kälterem Weiß im Tischtuch, der hellsten Stelle im
Bild. Wie sich die Weißakzente rückbinden zur Grundfarbe, so auch alle
Schatten, die sich noch in ihren dunkelsten Lagen als Vertiefungen von
Umbra zu erkennen geben. Im Schatten des herabfallenden Tischtuchs
herrscht die silbergraue Komponente der Grundfarbe vor, im Inkarnat
erwärmt sich die Gelbkomponente. An den Wangen treten vereinzelt
auch leichte Rötlichhöhungen auf, als erster Anflug von Rot, der ein-
zigen Buntfarbe des Bildes, die ausgeprägter an anderen Stellen sich
zeigt, als warmes, ockriges Rot im Kleid der Magd, alsBraunrot imWein
des mittleren Bauern, als Kupferton in der Mütze des Knaben. - Zar-
teste Differenzierung von Brauntönen als stilles Leben in gelassener
Ruhe, Öffnung einer «Umbraille» zu milden Buntfarben bekundet sich
auch in der >Bauernfamilie< (um 1640/45, Louvre) 97 von Louis oder An-
toine Le Nain. Zum Rotakzent im Weinglas der Alten tritt hier als zweite

95 Souriau, op. cit., 30.


96 FA: Cuzin, Louvre, I, 32.
97 FA: Cuzin, Louvre, I, 43.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 239

Buntqualität das schöne, gedeckte, griinliche Graublau im Rock des


Mädchens hinzu, verhalten vorbereitet im Kleid der Alten, das sich nur
wenig vom Umbra-Ton ihrer Schürze entfernt.
Nicolas Poussin (1594-1665) gestaltet gemäß einer „kontrastierenden
Farbmethodik, welche jedem Ding seine eigene Farbe unverletzt, unbe-
fleckt, möglichst unausgeblichen und ungeschwärzt zuteilt“, so formu-
lierte Kurt Badt, dessen Untersuchung der Poussinschen Farbengebung
im folgenden nach ihren Hauptergebnissen referiert wird. 98 Poussins
Gemälde nehmen innerhalb der Malerei des 17. Jahrhunderts insofern
eine Sonderstellung ein, als sie die Erscheinung des Helldunkels ent-
scheidend verändern: in ihnen sind „Hell-Dunkel-Werte und Farbak-
zente nicht auseinandergezogen, sondern eng zusammengehalten“.
„Vom Ursprung her ist jedes Poussinbild allerdings hell-dunkeltonig ent-
worfen“, grundgelegt in der „Licht-Schattenfarbigkeit“ der Zeich-
nungen. Deren als hell und dunkel rhythmisierte Lasierungen und
Schraffuren, die ohne eigenwertige Konturen auskommen, bereiten die
Farbenverteilung der Bilder vor. Und zwar stimmt Poussin in der Regel
,,die Helligkeiten seiner Zeichnungen zu leuchtenden Farbigkeiten um,
ihre Dunkelheiten entweder zu Schatten oder zu ,Grimden‘; die ge-
stuften Schatten der Zeichnungen verwandelt er in Lokalfarben, das
sind Eigenfarben bestimmter Objekte, wie diese, sonst unbeeinflußt, im
diffusen Lichte erscheinen“, oder er läßt sie als Halbschatten bestehen.
Den Bildgründen kommt bei dieser Umsetzung ins Gemälde besondere
Bedeutung zu. Sie schaffen einen „Zusammenhang durchgehender far-
biger Grundlegungen, grau, braun, braungrün, rötlich“, und wirken zu-
gleich als Medium mittlerer Helligkeit oder mittlerer Dunkelheit - tiefstes

98 Kurt Badt, Die Kunst des Nicolas Poussin, Köln 1969, KapitelIV: „Von der
Zeichnung zum Bilde“, 263-291, und Kapitel V: „Poussins Farbverwendung,
chronologisch betrachtet“, 293-379. Zitate auf den S. 263, 264, 265, 266, 268,
269, 279, 286, 303-305, 313, 314, 327, 373. FA der meisten besprochenen Bilder
imTafelband des Badtschen Poussin-Werkes. - Zur Farbe bei Poussin vgl. auch:
Otto Grautoff, Nicolas Poussin, Sein Werk und sein Leben, Erster Band: Ge-
schichte des Lebens und des Werkes, Miinchen, Leipzig 1914, 306-310, 410-418
(Exkurs: Poussins Maltechnik). - Oskar Bätschmann, Farbengenese und Pri-
märfarbentrias in Nicolas Poussins >Die Heilung der Blindem. In: Von Farbe und
Farben, Albert Knoepfli zum 70. Geburtstag, Zürich 1980, 329-336. - Oskar
Bätschmann, Dialektik der Malerei von Nicolas Poussin, Zürich, München
1982, Kap. III: Licht und Farbe, 39-52. Zur Maltechnik Poussins: Madeleine
Hours, Nicolas Poussin: Étude radiographique au Laboratoire du Musée du
Louvre. - S. Delbourgo, J. Petit, Application de l’analyse microscopique et chi-
mique á quelques tableaux de Poussin. Beides in: Bulletin du Laboratoire du
Musée du Louvre, Paris, novembre 1960, 3-39, 41-54.
240 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

Dunkel ist Poussins Kunst ja fremd. Ihre Homogenität, wie auch die
klare Scheidung und Stufung von Licht-, Halbschatten- und Schattenbe-
zirken bei den Figuren gewährleisten die Wirkung flächiger Geschlossen-
heit Poussinscher Gemälde, die fiir sie konstitutiv ist. In diese Griinde
trägt Poussin ,,an figural wichtigen Stellen klar abgehobene, intensive
und leuchtende Lokalfarben ein, Farben-figuren, im wahren Sinne des
Wortes, einzelne genau bestimmte, wenn auch nicht umrissene, sondern
farbig-flächig zusammengehaltene ,Figuren‘, und zwar außer den Inkar-
naten, die gelblich, rosa, grünlich, bläulich oder dunkler bräunlich vor-
kommen, die drei Primärfarben Gelb, Blau und Rot als Gewänder
(eventuell in mehreren Nuancen). Griin ist entweder sehr dunkel ge-
nommen, Teil des Gesamtbildtones oder Ergänzungsfarbe zu Rot, ohne
aber auch da die Brillanz der anderen Grundfarben zu erreichen.“
„Poussin hat nun die drei Primärfarben und alle iibrigen Lokalfarben
wie kaum ein zweiter Maler (des siebzehnten Jahrhunderts) rein er-
halten, weder im Weißlichen verblassen noch im Schwarzen untergehen
lassen. ... Jede der Urfarben Blau, Gelb, Rot ist auf der Palette der
Maler als kalter oder als warmer Ton vorhanden, Rot als Krapplack und
Zinnober, Gelb als Zitron oder Ocker, Blau als Kobalt und Ultramarin.
Durch verschiedene Mischungen entwickelte Poussin fiir jede der Pri-
märfarben eine drei- oder vierfache Stufung, die den Grundcharakter
nicht angriff. Sie verwandte er zur plastischen Modellierung von Ge-
stalten und Objekten. Daneben erfand er sich valeurgleiche hellere und
dunklere Abwandlungen der drei Urfarben wie Rosa, Hellblau, Hell-
gelb und Weinrot, Schwärzlichblau, Dunkelocker. Mit großer Kunst
stimmte er sie jeweils auf die gleichen Intensitätsgrade der Wirkung, zu
Faktoren, die das Gleichgewicht eines Bildes herstellten, nicht störten.“
Das Inkarnat kann aufgefaßt werden als ein „Kompositum aus verschie-
denen Primärfarben: Gelblich im Mittelton, Rosa im Reflex, Hellgriin
in den Schatten, das sich zu verschiedenen Gesamtfärbungen wie Hellig-
keitsgraden zu verbinden vermag. Diese leicht getönte Farbenzusam-
menstellung wirkt aber immer als lokalfarbige Einheit und bleibt als
solche fiir sich bestehen ... Zu Blau, Gelb, Rot und dem Inkarnat trat
bei Poussin Weiß als fünfte, in beträchtlicher Ausdehnung verwandte
Lokalfarbe hinzu, dem er oft leicht griinliche Schatten gegeben hat,
ohne seinen Farbcharakter zu alterieren.“
So sind Poussins Farben „nicht mächtig, energisch und geistvoll, son-
dern sachlich, beharrend und sinnlich-sittlich“. Nicht das strömend be-
wegte Leben stellt sich in ihnen dar - wie ihnen auch die Offenlegung
ihrer eigenen Genesis fremd ist -, „sondern das vor aller Veränderung
bestehende und feststehende Sein“.
„Für den Zeitraum vom November 1630 bis April 1631 sind zwei in
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 241

jeder Hinsicht gegensätzliche Bilder Poussins durch Urkunden gesi-


chert. Sie zeigen, wie verschieden er in derselben Phase seines Schaffens
auch bei der farblichen Gestaltung vorging ..Das erste Bild ist >Der
Tanz der Primavera< (Gemäldegalerie Dresden), ein hellgrundiges, mit
dem Hellblau und Hellgelb der Himmelssphäre tiber dem Bräunlich-
grün der Erde lichte Inkarnate und klare Gewandfarben foliierendes
Werk. Primavera, die zentrale Figur, trägt ein griines Gewand, um das
sich in den Figurengruppen links und rechts Primärfarbentriaden
ordnen. So ist eine „helle Form-Farben-Komposition entstanden, deren
Gesamtcharakter durch die sie überwölbende Wolkenformation sehr gut
als ,blond‘ bezeichnet wurde“. Das andere Bild, die >Pest zu Azdod<
(Paris, Louvre), bietet einen ganz anderen Eindruck: Die Gestalten
stehen hier vor einem düsteren Architektur-Hintergrund, der links griin-
lich, rechts bräunlich getönt ist. „Statt des Inkarnats tritt hier bestim-
mend die Leichenfarbe auf: ein grünlich gebrochenes Grau verschie-
dener Helligkeitsgrade, in der toten Mutter des Vordergrundes und dem
links von ihr liegenden, vom Kopf her gesehenen Kinde. Die Tote trägt
ein rosa Gewand.“ In nahen Intervallen erscheint der sich über sie Beu-
gende: „Gelb gegen Ockerrot; dieser Gegensatz ist im Gewand wie im
Inkarnat verwendet. Sein Kopftuch aber, die farbige Mitte des Vorder-
grundes, hat ein nach Bläulich gewendetes Weiß, das im Schatten viel
Schwarz enthält. Wesentlich daran die zwiefache Farbigkeit: Blau und
Weiß. Beide Farben werden an anderen Stellen des Bildes wiederholt.“
Das Weiß im Hemd der toten Mutter, das Blau im Mantel des sich weg-
wendenden Mannes links sind graugebrochen. Durch Grau oder Bräun-
lich gebrochen erscheinen auch die meisten anderen Farben.
Dieser Gegensatz führt zum Darstellungsprinzip des „Modusdas
Poussin in seinem Brief vom 24. November 1647 an Paul Fréart de Chan-
telou darlegte. Hier heißt es unter anderem: «Cette parolle Mode
signifie proprement la raison ou la mesure et forme de laquelle nous nous
seruons à faire quelque chose. ... Etans les Modes des ansiens une com-
position de plusiers choses mises ensemble de leur variété naiscoit une
certaine différense de Mode ...»" Poussin unterscheidet, einer älteren
Tradition folgend, den dorischen, den phrygischen, lydischen, den hypo-
lydischen und den ionischen Modus. Die Modi, in der Auffassung Badts
„Bildtonarten“ 100, lassen sich auch in der Farbengebung aufweisen. So

99 Zitiert nach Badt, Poussin, 306. - Vgl. dazu auch: Wilhelm Messerer, Die
„Modi“ im Werk von Poussin. In: Festschrift Luitpold Dussler, München 1972,
335-356.
100 Eine andere Interpretation findet sich bei Bätschmann, Dialektik der Ma-
lerei von Nicolas Poussin, 49: „Das Farbensystem ist der Widerpart und die Auf-
242 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

handelt es sich, nach der Vermutung Badts, beim Bild der >Inspiration
des Dichters< (1630/32, Paris, Louvre) um den „hypolydischen“ Modus,
„göttlich-heiter und doch gehalten“, mit „silbrigem“ Gelb und ge-
decktem Weiß bei der Muse, Rot im Tuch Apollos, tiefem Blau und
Goldocker beim Dichter, dessen Farbklang, jenseits der halbhellen Mit-
telzone, der Himmel wiederaufnimmt. Der >Bacchantische Tanz vor
einer Pansherme< (um 1637, National Gallery London) 101 erscheint im
„ionischen“ Modus: er ,,ist farbig von gesteigerter Heiterkeit, indem die
meisten Inkarnate betont rosafarben gegeben sind: so bei dem nackten
Mann, bei den Kindern, bei der gelagerten Frau. Dagegen ist die Urfar-
bentrias gesetzt, auf die Gewänder verteilt: die Frau mit derTraube licht-
blau, der bärtige Mann gelb, das Mädchen hinter ihm und halb von ihm
verdeckt erdbeerrosa. Das Mädchen mit der Kanne ist blau und weiß,
die am Boden Liegende hellgelb.“ Im „dorischen“ Modus dagegen ist
der >Schulmeister von FaleriU (1637, Louvre) gehalten; den diister-fahlen
Gesamteindruck bewirken hier das kalte Himbeerrot in derToga des Ca-
millus, das sehr dunkle Blau beim Offizier neben ihm, stark kontrastie-
rend zum Gelb beim sich zur Erde biickenden Knaben. Die Grundfar-
bentrias wird durch eingeschobenes Griin gestört.
Die diachrone Entfaltung umspannt die Differenzierung in „Modi“.
Das Friihwerk sei vertreten durch die >Beweinung ChristU der
Miinchner Alten Pinakothek (gemalt um 1626/30) 102. Vor einem Farb-
reliefgrund in Gelbgraubraun, dessen Komponenten Umbra und Grau
sich zart differenzieren, und unterhalb der schwach violettstichig grauen
Himmelsfläche heben sich wenige Buntfarben in Gewändern ab: Kad-
miumrot im Mariengewand, ihm sehr nahe kommend Zinnoberrot im
herabhängenden Tuch und, am stärksten gegen den Farbgrund kontra-
stierend, leuchtendes mittelhelles Blau im Marienmantel. Als Briicken-
farbe zwischen Grund- und Gewandfarben fungiert der Goldocker im
Gewand Josephs von Arimathia, schon eine in sich geschlossene Farb-
form und sich mit Rot und Blau zurTrias zusammenfindend, in der diese
beiden Farben jedoch entschieden dominieren. Eine weitere Verdich-
tung, mit Rückung nach Kupferrötlich, vollzieht sich im Mantel des Jo-
hannes. Indem er die Richtung der braunen Grundfarbe sachte verläßt,
schafft er auf subtilste Weise die Basis fiir den hellen, grautiirkisfarbenen
Ton im Johannesgewand. Die Lichthöhe bildet, genau in der Mittel-
achse des Gemäldes, die Farbe Weiß im Bahrtuch Christi und den Är-

hebung des farbig bestimmten Modus.“ Sie impliziert jedoch die schwer einlös-
bare Voraussetzung eines „affektneutralen“ Farbensystems bei Poussin.
101 FA: Wilson, National Gallery London, 93.
102 FA auch: Steingräber, Alte Pinakothek, 98.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 243

meln der Magdalena. In diesen Ärmeln konzentriert sich der Kontrast


von Licht und farbiger Dunkelheit. Alle anderen Farben mildern ihn
und können so als ungeteilte Farbfelder wirken; zugleich versetzt das
strahlende Weiß sie in mittlere Helligkeit.
Beim >Triumph derFlora< (1630/32, Louvre) bestimmt mittlere Hellig-
keit das ganze Bild. Nur die mit großer künstlerischer Ökonomie einge-
setzten Lichtbezirke, mit ihrem Gipfel im Cremeweiß der Flora und in
den Wolken, heben sich heraus, vom homogenen Halblichtbereich
flächig abgesetzt. Ein Braunton übergreift Grund und Figuren und wan-
delt sich nach den verschiedenen Gegenständen sachte ab. Nirgendwo
verschwimmen die Formgrenzen, manche Figuren sind sogar durchge-
hend konturiert: so verbindet sich Formklarheit mit zarter Abstufung
von Brauntönen (einer „Entwicklung in Braun“), in die verhaltene
Buntwerte eingesetzt sind: Graublau, vertieftes Zinnoberrot, Gold-
ocker und Graugmn. Fern, am goldockergrauen Horizont, strahlt Farb-
licht auf. Ihm antwortet das nahe Weiß der Flora.
Trennung und Näherung der Grund- und Figurenfarben, Aufhellung
und Vertiefung des (immer auch als Farbe wirkenden) Grundes sind zwei
Kriterien in der Entwicklung der Poussinschen Farbgestaltung. Die > Taufe
ChristU (1646, Duke of Sutherland, z.Z. National Gallery of Scotland,
Edinburgh) zeigt eine tief genommene Skala aus dem herrschenden
dunklen, braunen Grund entwickelt. Licht konzentriert sich im Weiß der
Gewänder, noch leuchtender und einen entschiedenen Akzent bildend
aber im gesättigten starken Rot des Mantels, den die rechts stehende Figur
trägt. Blau und heller Ocker, im Gewand des Mannes daneben, ergänzen
zur Trias, treten aber, in sorgfältiger Dosierung und unterschiedlicher
Weise, näher zum Grund heran. (Noch tiefer ist der Grund in anderen Bil-
dern dieser zweiten Folge der >Siebe?i Sakramente< genommen.)
Ein extremes Beispiel kontrastierender Farbengebung ist das >Urteil
Salomos< (1649, Louvre) mit schärfster, schneidender Trennung von
Hochrot und Weiß in der Figur Salomos vom grau- und ockerfarbenen
Grund und psychologischer Differenzierung der Farbigkeit in den
beiden Frauen der Hauptszene: die wahre Mutter erscheint in leuch-
tendem Blau und klarem Gelb, die falsche in dunklem Rostrot und ver-
dunkeltem Griin.
In der Folge der >Vier Jahreszeiten< (1660-1664, Louvre), „vier Ge-
sängen eines Epos: freudig, kraftvoll, milde, düster-streng“, ist dagegen
die farbige Einheit nicht mehr durch Harmonisierung scheinbar unlös-
barer Gegensätze, sondern im wesentlichen „durch Differenzierung
schon verwandterTöne, oft durch Wiederholung der gleichen, über zarte
Trennungen hinweg, erreicht“. Sie stehen am Abschluß des Poussin-
schen Schaffens.
244 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

Zu welch subtiler Festlichkeit die Farbe bei repräsentativen Bildern sich


entfalten kann, mag >Der Kanzler Séguier beim Einzug Ludwigs XIV.
in Paris< (gemalt um 1655/57, Louvre) 103 von Charles Le Brun (1619 bis
1690) exemplifizieren: vor der regengrauen Folie des Himmels er-
scheinen in rhythmischer Abfolge seidig helles, schimmerndes Graublau
bei den Dienern und Gelb in drei machtvollen Abstufungen, als Oliv-
gold im Mantel des Kanzlers, weißliches Hellblond in Pferdemähne und
-kopf, als dunkles Goldgelb in der Satteldecke. Der Akkord von Grau-
blau und voll klingenden Gelbtönen dient der feierlichen Wiirde des
Darstellungsthemas.
Über die Landschaften Claude Lorrains (1600-1682) schrieb Goethe
während seiner Italienischen Reise: „Über der Erde schwebt ein Duft
des Tages fiber, den man nur aus Gemälden und Zeichnungen des
Claude kennt, das Phänomen in der Natur aber nicht leicht so schön
sieht als hier“ (am 19. Februar 1787 in Rom) und: „Mit keinen Worten ist
die dunstige Klarheit auszudrücken, die um die Küsten schwebte, als wir
am schönsten Nachmittage gegen Palermo anfuhren. Die Reinheit der
Conture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen derTöne,
die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat, der hat
es auf sein ganzes Leben. Nun versteh’ ich erst die Claude Lorrain ...“
(am 3. April 1787) 104. Die südliche Landschaft wird in Claudes Bildern
ins „Ideal“ erhoben. - Claude Lorrains Helldunkel ist ein anderes als das
der Niederländer, es enthält mehr an Farbigkeit: Blauschwarz, Blau-
grün, Graugrün in den Dunkelheiten, umflorte Gelbtöne im Licht. Oft
erscheint die Sonne selbst als Lichtquelle im Bilde und motiviert das
Helldunkel, aber ihr Licht bleibt mild, verhangen; nie blendet es. Es ist
ein Licht der Ferne, von Dunkelheiten nach den Seiten und dem Vorder-
grund zu gerahmt. So schließt das Bild sich im vollkommenen Gleichge-
wicht von Hell und Dunkel. In zarten Stufen sind die Dunkelheiten von-
einander geschieden, jeweils zu flächiger Ruhe gebreitet. Dunkelheiten
und Licht erscheinen als Flächenfarben, die sich zu Raumfarben öffnen,
jedoch - im Unterschied zum niederländischen Helldunkel - den Bezug
zur Fläche und ihrer zarten Reliefstufung nie verlieren. In diesen Stufen
von Dunkel und Hell entfalten sich gebrochene Farbtöne in vielfältiger
Differenzierung: kühles Grün, Grünblau, Grau, Braun, Ocker, über-
spannt vom seidigen, lichten Blau des Himmels, das zum Horizonte hin
oft gelblichen und rosagelblichen Lichtstreifen oder -schleiern Raum ge-

103 FA: Cuzin, Louvre, I, 49.


104 Zitiert nach: Christian Lenz, Claude Lorrain im Urteil Goethes. In: Im
Licht von Claude Lorrain, Landschaftsmalerei aus drei Jahrhunderten, Ausstel-
lung Haus der Kunst München, München 1983, 49-53, Zit. 49.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 245

währt. - Ein Friihwerk wie die >Landschaft mit dem hl. Onofrius< (um
1635, Madrid, Prado) 105 ist noch erfiillt von barockem Pathos. Tiefe
bräunliche Dunkelheit der Bäume steht gegen den orangerosa-bräun-
lichen Himmel, der nur nach oben in ein dunkeliiberflortes Himmels-
blau sich weitet. Die späte >Landschaft mit Jakob und Laban< (1676,
London, Dulwich Picture Gallery) 106 dagegen ist ganz in diinnen,
kiihlen Farben gehalten. Kiihl graugriine Silhouetten heben sich in mitt-
lerer Dunkelheit vom grautonig-hellen Blau des Himmels und der Ferne
ab. Die Dunkelheit ist leicht, wie transparent, geworden.

Die französische Kunsttheorie erörtert das Farbproblem im Rahmen


der Konferenzen der Pariser Akademie. Ziel der 1648 gegriindeten,
1664 durch Colbert mit neuen Satzungen und ausreichenden Finanzmit-
teln versehenen Pariser Kunstakademie ist es, eine „reine Lehre“ der
Kunst aufzustellen und dieser die Herrschaft zu sichern, indem man sie
in Regeln festlegt und in lehrbare Form bringt. 107 Es geniigt also nicht,
zu debattieren, man muß zu festen Ergebnissen gelangen: Charles Le
Brun, der die akademischeTheorie mit aller Härte vertritt, bestimmt die
Aufgabe dahin, „daß es nötig sei, die Friichte der Konferenzen zu sam-
meln und aus dieser Arbeit die Stoffe zu ziehen, die als Vorschriften zum
Unterricht der Jugend festgelegt werden könnten“. Danach verfährt
man auch, und als das Schlußergebnis faßt der Sekretär der Akademie,
Henri Testelin, die «sentiments des plus habiles peintres sur la pratique
de la peinture et sculpture» in Tabellen («tables de préceptes») zu-
sammen, die er 1680 veröffentlicht. SechsTabellen sind es, die «le trait»,
«Fexpression», «les proportions», «le clair et l’obscur», «l’ordonnance»
und «la couleur» behandeln und die damit einen vollständigen Kate-
chismus der akademischen Lehre, auf die knappsten Formeln gebracht,
darstellen. Es ist nun gerade die Frage des Kolorismus, der Streit zwi-
schen Zeichnung und Farbe, worin sich die Opposition gegen die Dog-
matik der akademischen Theorie formuliert.

105 FA: Im Licht von Claude Lorrain, 71.


106 FA: Im Licht von Claude Lorrain, 92.
107 Im folgenden referiere ich Hauptgesichtspunkte aus den zusammenfas-
senden Darstellungen von Albert Dresdner, Die Entstehung der Kunstkritik im
Zusammenhang der Geschichte des europäischen Kunstlebens (1915), 2. Aufl.
München 1968, 90-96, und Ellen Heuck, Die Farbe in der französischen Kunst-
theorie des 17. Jahrhunderts, Diss. Freiburg i. Br., Straßburg 1929, bes. 29/30. -
Vgl. dazu: Lersch, Farbenlehre, Sp. 204—210. - Max Imdahl, Die Rolle der Farbe
in der neueren französischen Malerei, Abstraktion und Konkretion. In: Wolf-
gang Iser (Hrsg.), Poetik undHermeneutik, Bd. 2, München 1966,195-225, bes.
199-202, 204-209.
246 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

Die Akademie bekennt sich natürlich zu dem Grundsatz, daß die


Zeichnung als das ausschlaggebende Moment in der Malerei anzusehen
sei. 1667 wird die Frage nach dem Verhältnis von Zeichnung und Farbe
in ihren Konferenzen wiederholt besprochen. Als in der Diskussion, die
sich an Nicolas Mignards Vortrag iiber ein Madonnenbild Raffaels an-
schließt, ein Mitglied der Akademie sich erlaubt, gegen das Bild in kolo-
ristischer Hinsicht einenTadel auszusprechen und demgegeniiberTizians
Leistungen hervorzuheben, wird er durch die Entscheidung der Aka-
demie dahin zurechtgewiesen, daß, wenn man Gemälde nach der
wahren und natiirlichen Darstellung der Gegenstände zu beurteilen
habe, Tizians Arbeiten mit denen Raffaels nicht in Vergleich zu stellen
seien, da Tizian dem Glanze der Farbe zuliebe die Wahrheit preisge-
geben habe. Nicht lange darauf, bei einer Erörterung von Veroneses
„Pilgern von Emmaus“, werden erneut die „Lizenzen“ betont, die sich
die Maler Norditaliens erlaubt hätten, indem sie, um die Augen zu be-
zaubern, die anderen Erfordernisse der Malerei vernachlässigt hätten.
In dieser Situation erscheint 1668 von Roger de Piles 108 (1635-1709),
einem „Amateur“ mit unabhängigem Urteil, eine französische Überset-
zung des schon in den vierziger Jahren entstandenen Lehrgedichts >De
arte graphica< von Charles Alphonse Dufresnoy, begleitet von eigenen
Erläuterungen. Darin erweist sich de Piles in den Hauptpunkten als kor-
rekter Anhänger der akademischen Doktrin, macht jedoch hinsichtlich
mancher Einzelheiten maßvolle Vorbehalte und nimmt zu der Frage des
Kolorismus entschieden Stellung, indem er die Wirkungen von Licht
und Schatten, ihre Berechnung und Abstimmung fiir das spezifische
Kunstmittel der Malerei erklärt, während sie alle anderen Elemente mit
anderen Kiinsten oder Wissenschaften gemein habe. Fiir die Zeichnung
etwa brauche man Anatomie, aber das «tout-ensemble» der Malerei ge-
höre ihr ganz allein an. Die Zeichnung besitzt nach ihm auch insofern
keine selbständige Existenz in der Malerei, als sie der Farbe bedarf, um
in Erscheinung zu treten. Als Meister des Kolorismus gilt vor allem
Tizian, daneben werden Veronese undTintoretto, aber auch Rubens und
van Dyck hervorgehoben.
Auf diese Ketzerei antwortet die Akademie in ihrer Sitzung vom 6.
oder 12. Juni 1671, und zwar durch Philippe de Champaigne, der die Be-
deutung des Kolorits zwar anerkennt, aber zugleich erklärt, es mehr als
die Hauptsache (das heißt: die Zeichnung) zu studieren, es zum allei-
nigen Studium zu machen, hieße sich selbst betrügen, hieße, einen

i°8 Ygi BernardTeyssèdre, Roger de Piles et les débats sur le coloris au siécle
de Louis XIV (La Bibliothèque des Arts, 13), Paris 1965. -Thomas Puttfarken,
Roger de Piles’Theory of Art, New Haven, London 1985, bes. 64—75.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 247

schönen Körper wählen, sich durch seinen Glanz blenden lassen, und
nicht weiter sich mit dem Mühe machen, was diese schöne Erscheinung
beleben müsse. War diese Antwort noch maßvoll, so wird die Sachlage
mit einem Male dadurch verschärft, daß ein Mitglied der Akademie
selbst de Piles’ Partei ergreift. Es ist der jüngere Blanchard, der in der
Sitzung vom 7. November desselben Jahres mit seinem >Discours sur le
mérite de la couleur< lebhaft fiir die Farbe eintritt und die zugespitzte
Definition aufstellt, die Zeichnung gebe nur die vernünftige Möglich-
keit, die vollendete Farbe dagegen immer die Wahrheit.
Le Brun, der wegen Krankheit diesen Sitzungen der Akademie hat
fernbleiben müssen, formuliert in seiner Entgegnung am 2. und 9.Ja-
nuar 1672, den >Sentiments sur le discours du Mérite de la couleur par M.
Blanchard<, nochmals den offiziellen Standpunkt der Akademie in aller
Schärfe. Die Zeichnung ist von ungleich höherem Wert als die Farbe,
kann sie doch ohne die Farbe, nicht aber diese ohne die Zeichnung be-
stehen. Den Begriff der Zeichnung löst Le Brun im Anschluß an Fede-
rigo Zuccaros in seiner >Idea de scultori, pittori e architettu von 1607
durchgeführten Unterscheidung von „disegno interno“ und „disegno
esterno“ auf in das Begriffspaar des «dessin intellectuel ou théorique»
und des «dessin pratique». «Le dessin pratique» ist nur von zwei Bedin-
gungen abhängig, von der Phantasie des Künstlers, die im «dessin intel-
lectuel» sich konkretisiert, und von der Geschicklichkeit der Hand.
Diese „praktische Zeichnung“ stellt Le Brun der Farbe gegenüber. Ihr
fallen alle wichtigen Aufgaben in der Malerei zu. Die Zeichnung verge-
genwärtigt die Form und die Proportionen und ahmt alle sichtbaren
Dinge, selbst die geheimsten Regungen der Seele, nach. «Le dessin
imite toutes les choses réelles au lieu que la couleur ne représente que ce
qui est accidentel.» Die Farbigkeit der Objekte ist nur eine Zufallser-
scheinung; sie verändert sich je nach der Lichtquelle: Grün verwandelt
sich in Blau, Gelb erscheint weiß, wenn sie mit Kerzenlicht beleuchtet
werden. Weiterhin ist fiir Le Brun das Kolorit minderwertig wegen
seiner Abhängigkeit vom Material der Farben. Und er versteigt sich bis
zur Behauptung, ohne die Zeichnung stünden die Maler im Range nicht
über den Farbenreibern.
Gegen diesen Machtspruch setzt Roger de Piles im folgenden Jahr,
1673, die entschiedenen Thesen seines >Dialogue sur le coloris<. Er hält
nicht nur seine Ansichten über das Verhältnis von Form und Farbe auf-
recht, erklärt daher, bei allerVerehrung fiir Raffael,Tizian ihm als Maler
für überlegen, sondern greift nun die Akademie selbst an, indem er fest-
stellt, daß Poussins Bemühungen um die Farbe fehlgeschlagen seien.
Poussin, dem die Akademie Mustergültigkeit zuerkannte, angreifen,
heißt, den Akademismus selbst angreifen. (Daß Poussins Kunst weit
248 Die Malerei des 17. Jahrhunderts

davon entfernt ist, im Akademismus aufzugehen, daß seine Farbgestal-


tung von de Piles gmndlich verkannt wurde, steht auf einem anderen
Blatt.) De Piles stellt Poussin Rubens entgegen; der ganze zweite Teil
des >Dialogue< ist ein Preislied auf die Meisterschaft von Rubens, die
Kampfstellung „Rubenisten contra Poussinisten“ hat sich formiert.
Roger de Piles’ Farbtheorie sei in ihren Hauptgesichtspunkten an-
hand seines zusammenfassenden Spätwerks >Cours de Peinturepar Prin-
cipes<, Paris 1708 109, kurz erläutert. De Piles trennt die «couleur natu-
relle» von der «couleur artificielle» und behält der letzteren den Begriff
«coloris» vor. Er erinnert daran, daß die angeblich akzidentielle Farbe
die Erscheinungsdimension des Seienden begriindet und von da aus
auch für die kiinstlerische Darstellung grundwesentlich wird: «La Cou-
leur est ce qui rend les objets sensibles à la vûe. Et le Coloris est une des
parties essentielles de la Peinture, par laquelle le Peintre sait imiter les
apparences des couleurs de tous les objets naturels, & distribuer aux ob-
jets artificiels la couleur qui leur est la plus avantageuse pour tromper la
vûe ...» Die «couleur artificielle» soll die «couleur des objets naturels»
nachahmen, erschöpft sich jedoch keineswegs in solcher Nachahmung-
umfaßt doch «coloris» als Teil der Malerei «la conoissance des couleurs
particulieres, la simpathie & l’antipathie qui se trouvent entr’ elles, la
manière de les employer, & l’intelligence du clair-obscur.» Damit vollzog
schon de Piles die Trennung von „Darstellungs-“ und „Eigenwert“ der
Farbe, die die kunstgeschichtliche Forschung zu Anfang unseres Jahr-
hunderts wiederholte.
Eine vergleichbare Unterscheidung führt de Piles für das «Clair-
obscur» durch: «Cette partie de la Peinture contient deux choses, l’inci-
dence des lumieres & des ombres particulieres, & l’intelligence des
lumieres & des ombres generales, que l’on appelle ordinairement le
Clair-obscur: & quoique selon la force des mots, ces deux choses n’en
paroissent qu’une seule; elles sont neanmoins fort differentes selon les
idées qu’on s’est accoutumé d’y attacher.» Das eigentliche, spezifische
«Clair-obscur» meint«l’Art de distribuer avantageusement les lumieres
et les ombres qui doivent se trouver dans unTableau, tant pour le repos
& pour la satisfaction des yeux, que pour l’effet du tout-ensemble.» Wäh-
rend der Künstler bei der Veranschaulichung des Lichteinfalls den Ge-
setzen perspektivischer Schattenkonstruktion folgen muß, bleibt die Ge-
staltung des eigentlichen «Clair-obscur» ganz seiner Einbildungskraft
überlassen: «L’incidence de la lumiere se démontre par des lignes que
l’on suppose tirées de la source de la même lumiere sur un corps qu’elle

109 Roger de Piles, Cours de Peinture par Principes (Paris 1708), Genf 1969
(Slatkine Reprints), 303, 361-363.
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 249

éclaire. Elle force & nécessite le peintre a lui obéir: au lieu que le clair-
obscur dépend absolument de l’imagination du Peintre.» So ließe sich
auch von einem „Darstellungs-“ und „Eigenwert“ des «clair-obscur»
sprechen.
Schon in seinem >Dialogue sur le coloris< von 1673 hat de Piles die
Zeichnung mit dem Körper, die Farbe aber mit der Seele des Menschen
in Analogie gesetzt: «... il n’y a point d’homme si l’âme n’est jointe au
corps; aussi n’y a-t-il point de Peinture si le Coloris n’est joint au Des-
sein.» 110
Mit solcher Interpretation der Farbe als „Seele der Malerei“ wird de
Piles zum Propheten der Farbgestaltung in der Malerei des 18. Jahr-
hunderts.

110 Roger de Piles, L’Art de Peinture de C. A. Du Fresnoy, Traduit en Fran-


çais, enrichi de remarques, augmenté d’un Dialogue sur le Coloris (Paris 1673),
Genf 1973 (Minkoff Reprint), 31, 32.
ZUR FARBGESTALTUNG
IN DER MALEREI DES 18. JAHRHUNDERTS

Im 18. Jahrhundert klärt sich das Helldunkel zur Helligkeit auf, in der
sich Dunkelinseln bilden, die Buntfarben werden zu Übergangsstufen
dieses Helldunkels. 1 Die feinere Stufung der Farben ist j edoch noch etwas
anderes als die Valeurdifferenzierungim 19. Jahrhundert. Immer noch blei-
ben die Tonwerte Momente eines nun allerdings farbig durchgestimmten
Helldunkels. Damit verändert sich auch das Verhältnis zwischen Bunt- und
Neutralfarben, sie treten gleichberechtigt nebeneinander auf, können zur
Kontinuität oder auch zur Parallelentwicklung gebracht werden. Hand in
Hand mit der Neubestimmung des Bezugs von Helldunkel und Farben
geht eine neue Bindung beider an die Bildgegenstände einher und die Mög-
lichkeit zur expressiven Wirkung bei Farbe und Helldunkel.
Die Buntfarbskala selbst hellt sich auf. Die Trias der Grundfarben
bleibt vielfach noch bildbestimmende Farbordnung, etwa bei Boucher,
Tiepolo oder Maulbertsch ; Grixn aber steigt nun in vielen Werken zur be-
herrschenden Farbe auf, in den Gründen oder als Grundfarbe selbst.
Das neue Gleichgewicht zwischen Helldunkel und Farbe betrifft aber
vor allem Weiß, Schwarz und Grau. Licht verdichtet sich zu Weiß, Dun-
kelheit zu Schwarz, Halblicht zu Grau. Die Neutralwerte gehen, in
einem langen Prozeß der Verwandlung, der erst im 19. Jahrhundert
seinen Abschluß findet, in den Status der Farben über.

Die Situation der Farbgestaltung in der französischen Malerei um


1700 sei anhand zweier Werke beleuchtet.

1 Zur Farbgestaltung in der Malerei des 18. Jahrhunderts vgl. : Hetzer, Tizian,
Geschichte seiner Farbe, 254—260. - Hermann Bauer, Rokokomalerei, Sechs
Studien, Mittenwald 1980, 113-122 (Über Licht und Farbe im Rokoko). -Verf.,
Aspekte der Farbgestaltung in der französischen und deutschen Malerei des
18. Jahrhunderts, in: G. Sauder, J. Schlobach (Hrsg.), Aufklärungen, Frankreich
und Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Heidelberg 1985, 127-143. Zu den
Paletten: F. Schmid, The Painter’s Implements in Eighteenth-century Art, in:
The Berlington Magazine, July 1966, 519-521. ZurFarbenlehre: Lersch, Farben-
lehre, Sp. 210-231. - Ders., Von der Entomologie zur Kunsttheorie, Ignaz Schif-
fermüllers >Versuch eines Farbensystems< (1771), Miszellen zur Problemge-
schichte der Farbenlehre, in: De Arte et Libris, Festschrift Erasmus 1934—1984,
Amsterdam 1984, 301-316.
Die Malerei des 18. Jahrhunderts 251

François Desportes (1661-1743) wählt in seinem >Selbstbildnis als


Jäger< von 1699 (Paris, Louvre) 2 die Mantelfarbe, ein gelbliches, leicht
olivstichiges Umbra, so, daß sie in ihrerTriibung alsTon der Boden- und
Grundfarbe verwandt erscheint. Zugleich steht sie in koloristischem
Kontrast zum gedeckten Samtblau der Weste, das etwas offener im
Himmel wiederkehrt. Klar ausgeprägte Buntfarben, Rot, klares Griin,
klares Gelb fehlen völlig - um so mehr können das warme, leuchtende
Rötlichockergelb des Inkarnats und die Brauntöne von Hund und Hase
nun auch als Farben wirken, überhöht von der weißen Helligkeit in Hals-
tuch und Hundefell.
In Nicolas de Largillières (1656-1746) >Familienporträt< um (1710 (?),
Paris, Louvre) 3 ponderiert ein großer Bezirk von Mausgrau (im Jackett
des Malers) die Trias aus tiefem Fraiserot, hellem Pastellblau und mit
schillerndem Seidengrau verbundenen Olivgelb (in den Gewändern von
Frau undTochter) aus. Neutral- und Buntfarben sind ins Gleichgewicht
gebracht.
Die Inkarnate leuchten, auch das ist neu in der französischen Malerei.
Es läßt sich gleichfalls beobachten bei Joseph Viviens (1657-1734)
Bildnis von >Erzbischof Fénelon von Cambrai< (wohl 1713, Alte Pinako-
thek, München), wo demlockeren, atmosphärischen Schwärzlichbraun-
oliv des Grundes die Helligkeit des bleichen, gelblichen Inkarnats entge-
gensteht, zugleich aber in einem gelbgriinen Schimmer dieses Grundes
wie vorbereitet erscheint. (Im französischen 17. Jahrhundert mit seinen
dunkleren und festeren Gründen ist von solcher Vorbereitung noch
nichts zu finden.) Grau stuft sich von den mattsilbergrauen Haaren zum
grauen Bäffchen, hier durchdrungen von silbrigem, leicht schillerndem
Blau, und zum dichteren, graudurchsetzten, silbrigblauen Gewand.
Dieses Silberblau bindet sich mit gedämpften Rot- und Ockertönen zu
einer ganz verhaltenen Trias. Auch hier stehen Neutral- und Buntwerte
in neuer Kontinuität.
Jean-Antoine Watteau 4 (1684—1721) führt die Farben zu vordem unbe-
kannter Zartheit des Ausdrucks. Bei ihm ist, wie Roger de Piles pro-
phezeit hatte, die Farbe zur „Seele“ der Malerei geworden. Bisweilen
erscheint Watteaus Farbwelt wie entwickelt aus Bildgriinden von
Rubens-Gemälden, unter duftiges Helldunkel gestellt, aus dem sich
neuartige, delikate Farben entfalten, unter vielfältigen Changeantwir-

2 FA: Cuzin, Louvre, I, 57.


3 FA: Cuzin, Louvre, I, 57.
4 FA: Giovanni Macchia, E. C. Montagni, L’opera completa di Watteau (Clas-
sici dellArte, 21), Mailand 1968. - Donald Posner, Antoine Watteau, Berlin
1984.
252 Die Malerei des 18. Jahrhunderts

kungen von seidigen Gewändern und Lichtlinien, die über die Farben
rieseln. Diese Lichtlinien sind zugleich graphische Spur, wie die Farben
Medium seelischer Gehalte. Kaum ist ein Farbton aus dem Dunkel ge-
boren, verliert er sich schon wieder in den Höhungen oder dem Weiß der
Faltengrate. So schwingt die farbige Erscheinung Watteauscher Bilder
zwischen hauchartig gegebenen Griinden und chromatisch kristalli-
sierter Farbstruktur in den Gewändern.
Die >Einschiffung nach Kythera< (1717, Paris, Louvre) 5 läßt ein Prinzip
minimaler Entfernung der Buntfarben von den Farben des Grundes er-
kennen. Wiesen und Baumschlag enthalten Olivgriin und Olivbraun in
vielen Mischungen, in den Figuren steigen sie zu ausgeprägteren Farben
auf, jede Nuance scheint zeugungsfähig. Selbst Karmin, in dem Buntfar-
bigkeit gipfelt, ist iiber blasses Weinrot noch locker dem Farbgrund ver-
bunden. Gleichmäßig getrennte, stille Farbregungen zur Buntheit hin er-
fiillen so das Bild, lassen keine Zielstrebigkeit aufkommen: das Reich
der Imagination ist hier, das Gegenwärtige aber entriickt. - Der >Gilles<
(um 1718/20?, Paris, Louvre) 6 wird bestimmt vom silbrig verschatteten
seidigen Weiß des Gewandes vor dem blaßgraublauen Himmel. Das
Weiß ist mehr als Gegenstandsfarbe, ist farbiges Hauptmotiv und Bild-
zentrum. Langsam erst entfaltet sich das Weiß der Jacke aus den sil-
bergrau-bräunlichen Halbschatten der Hose. Obwohl die Farbe in festem
Auftrag gegeben ist (die Hosenfalten lassen die Faktur deutlich er-
kennen), wirkt die Gestalt gewichtslos, weil ihre Konturen leise zum
graublauen Himmel hin sich öffnen und die Schatten des Weiß die
grauen, sandbraunen, olivgriinen Tone der Vegetation und des Bodens
wie in Mischungen in sich aufnehmen. Ein neuer Farbwert Watteaus ist
das locker behandelte trübe Flaschengrün der Bäume. Als kräftiger
Buntwert erscheint nur das einem Braunorange nahestehende Altrosa
- dem manieristischen, um 1600 verwendeten Rotton vergleichbar - im
rechten Kavalier, aufgehellter in Gilles’ Schuhschleifen. Weiß aber diffe-
renziert sich in das ganz zart rosa getönte, von graugriinen Streifen
durchzogene Weiß im Halstuch der Dame und in das aufgetupfte
Schaumweiß des Kavaliers, den beiden Figuren, die zu Gilles iiber-
leiten. Weiß und Zartfarbigkeit und Halbdunkel in den Griinden ent-
riicken die Darstellung. - Beim >Ladenschild des Kunsthändlers Ger-
sainU (1720, Schloß Charlottenburg, Berlin) schwingen die Farben leise
um einen aus Lehmbraun, Olivgrau und mattem Goldgelb gebildeten
Grundton, aus dem sich sachte das helle Grauviolett im Mantel der
linken Dame, das silbrige Weiß im weiten Rock der rechten heben, in

5 FA: Cuzin, Louvre, I, 59.


6 FA: Cuzin, Louvre, I, 60.
Die Malerei des 18. Jahrhunderts 253

den Kavalieren wie gehauchtes Braun undTaubengrau. Schimmerndes


Weiß ist Höhepunkt der zarten Farbbewegung, des feinsten Farbreliefs.
In sich bebende Farbklänge entstehen, Clavichord-Akkorden ver-
gleichbar.
Jean-Baptiste Siméon Chardins (1699-1779) Farbgestaltung sei nur an
zwei Werken angedeutet. Im friihen >Kiichenstilleben mit Rochen< von
etwa 1726 (Paris, Louvre) 7 erscheinen die Farben als Verdichtung von
Graden der Dunkelheit und der Helligkeit. Licht ist Weiß, in den Dichte-
graden abgestuft vomTuch iiber das Fell der Katze zur perlmuttig schim-
mernden Reflexfarbe im geöffneten Rochen und zu Glanz- und Reflex-
lichtern der Austern, des Topfinnern und des Kruges. Der im Weiß
gipfelnden Helligkeit entspricht ein wandlungsfähiges triibes Olivbraun,
die Farbe eines Niederschlags von Raumtriibe an den Oberflächen der
Dinge, die stellenweise Gegenstandsfarbigkeit suggeriert. Am meisten
Farbe gewinnt das fahle, bräunliche Rosa und Rot im Fleisch des Ro-
chens, nahe der senkrechten Bildachse. Helldunkel und Farbe sind in
ein schwebendes Gleichgewicht gebracht. In späteren Bildern verfestigt
sich die Farbmaterie. Die >Rübenputzerin< (um 1740, Alte Pinakothek,
Miinchen) 8 zeigt festes, borkiges, von silbrig-bräunlichen Schatten
durchschnittenes Weiß in Haube und Schiirze, ebenso dicht behandeltes
Braunzinnoberrot im Rock. Zur grauen Folie vermitteln Ableitungen
des Rots, Kupfertöne in Kiirbis und Pfanne, Kastanienbraun in der
Jacke der Magd. Die Farben gewinnen an Gegenstandsbezug: das graue
Beil trennt sich auch als Lokalfarbe vom grauen Holzblock. - Chardin ist
nun „Klassiker der ,belle matière 1“ 9 und in solcher Betonung der Farbe
als Materie ein Vorbild fiir die Farbgestaltung im 19. und 20. Jahrhun-
dert.
Fiir Frangois Boucher (1703-1770) ist triadische Farbgestaltung von
besonderer Bedeutung. Seine dekorative >Rast am Brunnen< (um 1730/
1735, Alte Pinakothek, München) 10 faßt die Gruppe von Mann, Frau
und Kind in die Dreiheit der Primärfarben, mittelhelles Blau, mildes
Rot und gedämpftes Ockergelb, umgeben von kiihlen, diinnen Land-
schaftsfarben und akzentuiert vom kalten Silberweiß des Esels und der
Ziege. Beim Bild > Vulkan übergibt Venus die Waffen für Äneas<, einem
Karton fiir die >Manufacture des Gobelins< (1757, Paris, Louvre) 11, ant-
worten dem Zinnober im Mantel des Vulkan das Coelinblau und Zitron-

7 FA: Georges Wildenstein, Chardin, Ziirich 1963, Taf. 4.


8 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 102.
9 Vojtëch Volavka, Die Handschrift des Malers, Prag 1953, 150.
10 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 103.
11 FA: Cuzin, Louvre, I, 66.
254 Die Malerei des 18. Jahrhunderts

gelb seines Helms. Im Pastellblau des Himmels weitet sich das Blau zur
Helligkeit, zum lichten Bildzentrum des Inkarnats der Venus. Im
>Bildnis der Marquise de Pompadour< von 1756 (Alte Pinakothek, Miin-
chen) 12 umspannt dieTrias das gesamte Bild. Die Gelbkomponente wird
getragen vom olivockrigen Vorhang, die Blaukomponente vom tiirkis-
farbenen Gewand, Rot spaltet sich in helles, bläuliches Karminrosa in
Schleifen und Rosenmuster und in das warme Rosenholzbraun des
Tischchens, nähert sich einem ausgeprägten Rot nur in der Siegellack-
stange dort und im Englischrot des Folianten unter demTisch. Die Riick-
wand mit dem großen Spiegel ist eine graugelbe Helldunkelzone. In
engste Nähe sind gebrochene Triasfarben und farbig durchstimmtes
Helldunkel gebracht. Mattschimmerndes Inkarnat bindet das ge-
dämpfte Weiß ein.

Auch im 18. Jahrhundert bleibt die italienische Malerei meist bei einer
großflächigen, reliefmäßigen Farbbehandlung. Noch einmal steigt Ve-
nedig in der Malerei zu europäischer Bedeutung auf.
Giovanni Battista Piazetta (1683-1754) bestreitet die Farbgebung
seiner >Himmelfahrt Mariä< (1735, Paris, Louvre) 13 mit großflächig aus-
gebreitetem Cremeweiß, heftig iiberschnitten von tiefem Schwarz- oder
Schokoladenbraun, vor einem nahezu homogenen Graublau der Folie.
Weiß vertritt die Helligkeit, das warme Schwarz die Dunkelheit. Der
gelbliche Leinwandton, der in den tieferen Schattenlagen durch ver-
wandte aufgemalte Farben wiederaufgenommen wird, dient als Schat-
tenfarbe. Sie, die beigefarbenen Wolken, der graublaue Himmelsgrund
vermitteln zwischen Licht und Dunkel. Das Helle aber dominiert: wie
nie zuvor in der venezianischen Malerei steigt Weiß zur bildbeherr-
schenden Rolle auf. Nur sparsam sind Buntfarben eingesetzt: Himbeer-
rot in der Schleife des untersten der aufschwebenden Engel, gedecktes
Blau im Tuch des anderen, dazu ein fraisefarbener Ton im Gewand des
mittleren Apostels hinter dem Sarkophag, zartes Grauviolett, hauch-
artiges, kühl-helles Blaugriin, letzteres in den ausgebreiteten Armen des
weißen Apostels rechts, dessen dunkelverschattetes Haupt eine eigene
Helldunkeleinheit bildet - in kleinen Herden wirkt nun der Helldunkel-
eindruck am stärksten, im Bildganzen spricht das „ekstatische“ Weiß
und die dagegen kontrastierende farbige Dunkelheit.
Giovanni Battista Tiepolo 14 (1696-1770) stellt mit dem Reichtum

12 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 105.


13 FA: Laclotte, Louvre, II, 107.
14 FA: Guido Piovene, Anna Pallucchini, L’Opera complete di Giambattista
Tiepolo (Classici dell’Arte, 25), Mailand 1968.
Die Malerei des 18. Jahrhunderts 255

seiner Farben den Höhepunkt der Farbgestaltung im venezianischen


18. Jahrhundert dar. Helle, lichte Farben, die Grundfarben Rot, Gelb,
Blau, Schwarz und Weiß und eine sehr große Anzahl gebrochener Töne
stehen ihm gleichermaßen zur Verfiigung. ,,In sehr unerwarteter und
doch harmonischer Weise“ stellt er Farben nebeneinander, „etwa Kirsch-
rot, Himmelblau, changierendes Rosa und Braun, oder Chromoxyd-
grün, Weiß und Schwarz. Sicherlich hat es ihm im ganzen 18. Jahrhun-
dert keiner - auch Watteau nicht - hierin gleichgetan; daher auch von
dieser Seite sich die Kühnheit, Großartigkeit und die souveräne Note
seiner Kunst ergibt.“ (Theodor Hetzer) 15
Das Fresko der >Erscheinung des Engels vor Sarah< im Erzbischöf-
lichen Palast von Udine (1726-28) zeigt helle Farben vor lichtem Grund,
die Trias aus Hellviolett und tintigem Biau, rotem Ocker und Caput mor-
tuum, lichtem Ocker und Goldocker (die Grundfarben also jeweils
gespalten) mit Weiß als Gegenstandsfarbe vor hellblauem Himmel mit
rosagrauen Wolken. Nur wenig unterscheiden sich die Farben in ihrem
Helligkeitsgehalt, eine Schicht mittlerer Helligkeit bildet die graubräun-
liche Bretterwand mit dem graugrünen Stamm davor. FürTiepolo höchst
charakteristisch ist die Stufung von Helligkeiten beim Engelsflügel: von
Reflexhelligkeit erleuchtet stehen die hellumbragetönten Federn vor
der ausgebreiteten Himmelshelle, die sich in die helle Buntfarbe des
Himmels und das rosa durchstimmte Hellgrau der Wolken teilt; in
reinemWeiß aber strahlt der Flügelrand, erfaßt vom Bildlicht, auf. -Die
Gemälde gewähren dem Dunkel größeren Raum. Beim >Martyrium der
hl.Agathe< (um 1750, Gemäldegalerie Berlin) 16 breiten sich vor stein-
grauem und graubraunem Grund mit hoher Intervalle gestufte und ver-
teilte Triasfarben aus, Hellblaugrau und jeweils geteiltes Gelb und Rot,
Gelb gespalten in lichtes Silbergelb und tiefes, feuriges Gelb, Rot in
Ockerrot, Lachsrosa und glühendes Englischrot. Von diesem tiefen Rot
(in der Mütze des Henkers) führt der Weg zum tiefen Braun des Schat-
tendunkels, wie vom Rosa zum hellen Braun: Dunkelheit und Licht sind
nun erfüllt von Farben. Cremegelb ist Lichtfarbe auch bei der >Anbetung
der Könige< (1753, München, Alte Pinakothek) 17, sammelt sich in der
Gestalt des knienden Königs, dem seidigen Goldgelb seines Mantels, in
dessen Strahlbereich auch Inkarnat und Bart stehen. Zugleich ist diese
Lichtfarbe auch Mitte derTriasfarben, mit Himbeerrot und hellem Blau
15 Theodor Hetzer, Die FreskenTiepofos in der Würzburger Residenz, Frank-
furt a.M. 1943 , 45. - Zu Tiepolo vgl. auch: Hans W. Hegemann, Giovanni
Battista Tiepolo, Berlin 1940, 86-92 („Tiepolo in der Lichtentwicklung der
Malerei“).
16 FA: Gemäldegalerie Berlin, 381.
17 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 30.
256 Die Malerei des 18. Jahrhunderts

in der Mariengewandung. Auch das stumpfe Zinnoberrot des Mohren-


königs wirkt noch alsTriasfarbe, ist in seinen Schatten aber gleichzeitig
Repoussoirdunkelheit, wie entsprechend rechts das Braun des knienden
Dieners. Ocker, Grau, Olivbraun sind die Farben des Helldunkels; in
der Himmelsfarbe steigert der Gelbton den Blaugehalt der bläulich-
grauen Bezirke durch Induktion: nun wird ein Gelb-Graukontrast atmo-
sphärisch interpretiert.
Ein chromatischer Luminarismus dagegen findet sich im Zyklus mit
>Szenen aus dem Leben des Tobias< (Chiesa dell’ Angelo Raffaele, Ve-
nedig) 18 von Francesco Guardi (1712-1793). Im Unterschied zur Chro-
matik des Neoimpressionismus dient hier der geteilte Farbauftrag nicht
der Erzeugung weißen Tageslichts im Bilde, sondern einem farbig inter-
pretierten, expressiv gesteigerten Helldunkellicht. Das Licht sprengt
die Farben auseinander, das Dunkel faßt sie zusammen, wirkt so als
übergreifende Kraft; das höchste Licht aber liegt in pastosen, schnell
geführten Strichlagen aus reinem Weiß über den Formen. Grautöne,
Graugrün, Türkis, Seegrün dominieren nun die farbige Erscheinung.
- Guardis Bild >Der Canal Grande bei San Geremia< (um 1760, Mün-
chen, Alte Pinakothek) 19 faßt die venezianische Vedute in eine zugleich
einfache und differenzierte Farbigkeit. Der Grundkontrast ist Blau,
lichtes und festes Coelinblau, im Himmel, zu Gelb, mit zartem Salmrot
und Braungrau alternierend, in den Häusern. Das Himmelsblau wird
stellenweise atmosphärisch verhüllt durch dunstiges Graurötlich (dem
durchscheinenden Leinwandton) oder trockenes, frisches Hellgrau. Ver-
dichtet erscheint dieses Blau in kleinster Quantität beim graublauen
Tuch, das über einem Balkon hängt; Rot ist auf winzige Akzente in den
Gondolieren beschränkt. Mit Umbra, der Farbe der Dunkelheit, vereint
aber bildet das Blau den tiefen, grünblauen Grundton des Wassers, der
sich in einzelne hellere Spiegelungen differenziert. Wasser ist hier Me-
dium des Bilddunkels, der Umbraton seiner Mischung wird in Häusern
zur Gegenstandsfarbe und führt schließlich auch zu den lichttragenden
Gelblichtönen hinauf. Helldunkel ist mithin nicht mehr, wie im 17. Jahr-
hundert, polare Spannung zwischen Licht und Finsternis, sondern Gra-
dation innerhalb einer farbig durchstimmten Skala, die gleichermaßen
Farben der Atmosphäre wie der Dinge aus sich entläßt.

Im Unterschied zur Flächenbindung der Farben in italienischen Bil-


dern zielt die Farbgestaltung in der deutschen Malerei des 18. Jahrhun-

18 FA: Decio Gioseffi, Die venezianische Malerei des 18. Jahrhunderts,


Bergamo 1959, 84—86.
19 FA: Steingräber, Alte Pinakothek, 33.
Die Malerei des 18. Jahrhunderts 257

derts auf raumhafte Weitung, darin einer anderen Rauminterpretation


durch architekturbezogene Monumentalmalerei Geltung verschaffend.
Die Andeutungen hierzu müssen sich auf Bemerkungen zu zwei 01-
skizzen beschränken, die auch das Fortwirken von Rubens und Rem-
brandt in der deutschen Malerei des 18. Jahrhunderts ansprechen.
Johann Evangelist Holzer (1709-1740) erneuert Charakteristika der
Rubensschen Farbgestaltung, indem er in seiner 1738 gemalten Ölskizze
für das (zerstörte) Flauptkuppelfresko der Benediktinerklosterkirche
Münsterschwarzach, den >Triumph des Benediktinerordens< darstellend
(Städtische Kunstsammlungen Augsburg, Deutsche Barockgalerie), 20
Grautöne in herrlicher Vielfalt differenziert und sie in unterschiedliche
Buntfarbtöne changieren läßt, um die Mitte herum ins Gelbliche, ins
Rosa bei der Wolke, die von Christus mit dem Kreuz bekrönt wird. Flier
klingt auch, in den Gewändern Christi, Gottvaters und Mariens, triadi-
sche Farbbindung auf. Die Architektur variiert zwischen Violett- und
Blaugrau, in Gelbgrau sind die Gewölbezwickel gehalten, die Wolken-
zonen entfalten in sich rhythmische Gruppierungen von Hellblau, Find-
griin, Rosa, wobei die changierenden Wolkenfarben zumeist die Farben
der Gewänder vorbereiten. Den stärksten Buntfarbakzent bildet das
Himbeerrot des Kardinals und seines Teppichs, und hierin darf ein
Nachhall der Rubensschen Rotsteigerung über grauem Grund gesehen
werden. Aber bei Holzer öffnen sich, anders als bei Rubens, immer
neue, immer fernere Farbräume in kreisender Bewegung. Mit dieser Art
farbiger Raumgestaltung greift Holzer über Rubens zurück auf eine Tra-
dition der deutschen Malerei. In der Veranschaulichung einer lichthaft-
farbigen Unermeßlichkeit des Himmelsraumes ruft er die Erinnerung
wach an Adam Elsheimers >Glorie< 21 seines wohl zwischen 1602 und 1605
entstandenen Kreuzaltars im Frankfurter Städel, die den Blick in immer
tiefere, von zartfarbigen Figuren erfüllte Weißlich- und Graubläulich-
Regionen führt.
Franz Anton Maulbertsch 22 (1727-1796) eignet sich Rembrandts Hell-
dunkel verwandelt an, aber er macht es, anders als Rembrandt, selbst
zum Ausdrucksträger und steigert die darin einbeschlossenen Farben
in ihrer expressiven Wirkung. Seine Ölskizze >Die Überbringung der

20 FA: Bruno Bushart, Deutsche Malerei des Rokoko, Königstein i.T. 1967,
30 (Ausschnitt).
21 FA: Christian Lenz, Adam Elsheimer, Die Gemälde im Städel, Frankfurt
a.M. 1977, 55.
22 Zur Farbe bei Maulbertsch vgl. auch: Ivo Krsek, Das Fresko von Franz
Anton Maulbertsch im Lehenssaal der Kremsier Residenz - Zur Frage seines
Kolorits, in: Alte und moderne Kunst, 11,1966, Heft 87, 16-26.
258 Die Malerei des 18. Jahrhunderts

Königskrone an den hl. Stephan< (um 1754, Augsburg, Deutsche


Barockgalerie) 23 ist erfüllt von olivbräunlichen und bläulichen Dunkel-
heiten, in denen sich orangebräunliche Helle öffnet. Kreisend bricht
kühles Licht in dieses dunkle Helldunkel ein, kurvig bläuliche Helligkeit
aufreißend und an Wolke, Tuch und Engelsinkarnat erst seinen Cha-
rakter als Beleuchtungslicht gewinnend. Der hl. Stephan vereint mit
Hochrot, tiefem Dunkelblau und Altgold die Trias der Grundfarben.
Kein Dichte-Unterschied besteht zwischen Dunkelheit und Figur, die
Trias bleibt der Dunkelheit vermählt. Umfangen von Dunkelheit strebt
der Heilige einem zweifachen sakralen Licht entgegen: dem dunklen,
orangetonigen Farblicht, das von der Krone ausstrahlt, und einem von
oben einbrechenden, kalten, beleuchtenden Licht.
Die „Verklärung“ der Farbe in spätbarocker Malerei wird zu ihrer
„Aufklärung“ seit dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts. Die dünnen
Farben stehen nun isoliert neben einem „idealischen“ Helldunkel. Ein
Schlüsselwerk hierfür ist das Deckengemälde des >Parnaß< in der Villa
Albani zu Rom (1760/61) von Anton Raphael Mengs (1728-1779). 24

Die englische Malerei 25 läßt seit der Jahrhundertmitte beispielhaft die


Aufhellung der Farbskala, die „Anhebung“ des Helldunkels erkennen.
Thomas Gainsborough (1727-1788) riickt in seinem Doppelbildnis
>Mr. und Mrs. Andrews< (um 1748/49, London, National Gallery) 26 den
Blau-Gelb-Kontrast zum Blau-Gelbgriin-Akkord, zum Klang von hell-
stem Seidenblau im Kleid der Frau zu Gelbgriin und Korngelb in Wiese
und Getreidefeld. Silbergrau und Schwarz in der Gewandung des
Mannes ergänzen die Buntfarben, die nahezu den gesamten Vorder-
grund hell erscheinen lassen. Das Bildnis von >Mary, Countess Howe<
(um 1763/64, London, Kenwood House) 27 wirkt wie ein farbig ,,um-
instrumentiertes“ Werk van Dycks, im Klang von Karminrosa und trans-
parent-seidig verschattetem, hauchdünnem Silberweiß des Kleides vor
bewegtem Helldunkelgrund, in dem regengraues Gewölk zum zartesten
Gelb-Blau-Kontrast des Himmels sich auflichtet. Im Spätwerk >Der

23 FA: Hermann Bauer, Rokokomalerei, Sechs Studien, Mittenwald 1980,


114.
24 Vgl. hierzu: Birgit Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre in der
deutschen Malerei um 1800, München 1982 (Kunstwissenschaftliche Studien,
Bd. 55), bes. 59-66.
25 FA: Jean-Jacques Mayoux, Die englische Malerei von Hogarth bis zu den
Präraffaeliten, Genf (Skira) 1972.
26 FA: Wilson, National Gallery London, 120.
27 FA: Katalog Gainsborough 1727-1788, Paris, Grand Palais, 1981, 72.
Die Malerei des 18. Jahrhunderts 259

Morgenspaziergang< (>Mr. und Mrs. William Halletx, 1785/86, London,


National Gallery) 28 reduziert sich die Farbigkeit fast gänzlich auf
Schwarz-, Weiß-, Braun- und Griinbrechungen. Flaschengriin wirdTie-
fenfarbe. Die Helligkeiten gipfeln im differenziert verschatteten Weiß
der Gegenstandsfarben (von Seidenkleid, Hutschleife, Hund, Strumpf
des Mannes), die Dunkelheiten im Schwarz des Anzuges. Helldunkel
bindet sich gegenständlich. Im Regengrau des Himmels und dem Oliv-
braun der Erde und der Sträucher klingt als Spätwirkung Rubensscher
Farbigkeit ein fernes Echo der Dyade von Grau und Ocker nach, die sich
aufklärt in den neapelgelb beleuchteten Wolken vor blaß lavendel-
farbenem Himmel.

Die Entwicklung der Farbgestaltung in der Malerei Francisco de


Goyas (1746-1828) wurde von Jutta Held 29 genau analysiert. Goya geht
von Tiepolo aus. ,,Um 1795 schafft Goya seinen elegant pointierenden
Stil, der die Endphase seiner Rokokomalerei bildet. Die Vielfalt der
Buntfarben wird reduziert, ihre Streuung im Bild und die farbigen Kon-
traste werden eingeschränkt, dafür einzelne, intensive Farbwerte um so
mehr gesteigert. Der Bereich der neutraleren Farben wird noch ver-
mehrt, sie werden heller und in ihrer Farbigkeit ausgeglichener, meist
nur auf einen Farbton gestimmt.“ Auch die Flächenkomposition ist nun
„durch die einzelne, akzentuierende Farbe bestimmt, die jetzt hervor-
tritt, nicht mehr in der früheren Weise als Farbgruppe oder Trias ge-
bunden bleibt.“ Die >Marquesa de la Solana< (um 1793, Paris, Louvre) 30
steht in Schwarz, Weiß und Grau vor einem bleichschwarzgrauen und
-grünlichen Grund, der fest und trotzdem noch räumlich, wie „zuge-
regnet“, wirkt und in seiner Leere die Einsamkeit der Gestalt steigert.
Buntfarbakzente sind nur das Altrosa der Haarschleife, ein gleichsam
„ausgeblichener“ Velázquez-Ton, und das bleiche Cremegelb des ge-
schlossenen Fächers. Die Farben sind nun Helldunkelwerte, das
schwärzliche Olivbraun der Haare steht in einem koloristisch unbe-
stimmten Verhältnis zum samtenen Blauschwarz des Rocks, wie dies bei
Manet nicht mehr möglich wäre.
Um 1800 werden die Farben Goyas „insgesamt dunkler und
schwerer“, wobei sich die fiihrenden Werte im Gleichgewicht halten,
also nicht mehr akzenthaft eingesetzt sind. Ganz neue Farbklänge ent-
stehen. Im Bildnis der Schauspielerin >La Tirana< (um 1798, Madrid,

28 FA: Wilson, National Gallery London, 118.


29 Jutta Held, Farbe und Licht in Goyas Malerei, Berlin 1964, Zitate auf den
S. 60, 79, 98,128,129,142.
30 FA: Laclotte, Louvre, II, 94.
260 Die Malerei des 18. Jahrhunderts

Academia de San Fernando) 31 ist bläuliches Schiefergrau als Grund ge-


setzt gegen das bräunliche Salmrosa der großen Schärpe mit ihren gold-
ockerfarbenen Tressen und das gedämpfte Weiß des Rocks unter dem
Schleier. Konturlos wird die Hand vom Halbdunkel umhiillt, auchTeile
des rosa-sandfarbenen Bodens bleiben in halber Dunkelheit. Als im
Licht pastose Malerei macht sich die Farbe freier von den Gegenstands-
formen als zuvor.
In der Periode von 1803 bis 1809 beginnt eine neue Farbigkeit die
Bilder zu bestimmen. „Grau, als stumpfer, opaker Farbwert wird zu
einer selbständigen Farbe“, statt wie früher „durch Mischung mit den
Buntfarben verbunden zu sein“. Im anschließenden Zeitraum von 1810
bis 1823 wird dann ,,die Farbigkeit des 18. Jahrhunderts gleichsam aus-
einandergelegt. Die Buntfarben werden (weitgehend) von den Neutral-
farben getrennt und innerhalb der Neutralfarben sondern sich Hell und
Dunkel voneinander ab. Es gibt jetzt also drei nahezu gleichwertige
Farbkomponenten, aus denen das Bild gestaltet wird, Hell, Dunkel und
die Buntfarben.“ Die helle Zone wird sodann in eine „Abfolge vonTon-
werten differenziert, die sich zwischen Grau- und Brauntönen hält.
Diese Tonskala emanzipiert sich bis zu einem gewissen Grade von der
übergeordneten Hell-Dunkel-Teilung und überbrückt sie, indem sie
selbst nach hellen und dunklen Werten abgestuft ist.“ Auch die Schatten
tendieren dahin, Farbe zu werden, wie das Licht nun von den Farben auf-
genommen wird: „Die Buntfarben vertreten, indem sie sich von den Neu-
tralfarben trennen, ... in den späteren Bildern die hellsten Lichtwerte.“
In der letzten Periode, von 1823 bis 1828, verstärkt sich noch dieseTen-
denz: „Die vereinzelt gegeneinander gesetzten Farbwerte werden alle zu
gleich intensiver Farbigkeit gesteigert, so daß der qualitative Unter-
schied zwischen Buntfarben und Neutralfarben, primären und sekun-
dären Farben hinfällig wird. Sämtliche Farbwerte im Bild haben gleiche
Erscheinungsweisen. Hell und Dunkel werden zu Weiß und Schwarz und
werden gegenständlich eingeschränkt. So auch die tonigen Werte, die
damit ihren allgemeinen Farbcharakter, der noch an die Lichtfarben des
18. Jahrhunderts erinnerte, verlieren.“ Damit sind Grundlagen für die
Farbgestaltung des 19. Jahrhunderts geschaffen, wenngleich in Goyas
Malerei selbst „die Helldunkel-Polarität als oberstes bildbestimmendes
Prinzip gewahrt“ bleibt (Strauss) 32.

31 FA: Wilhelm Messerer, Francisco Goya, Form und Gehalt seiner Kunst,
Freren 1983, 127.
32 Ernst Strauss, Rezension von Jutta Held, Farbe und Licht in Goyas Ma-
lerei, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 28. Bd. 1965,272-274, Zitat auf S. 274.
FARBGESTALTUNG UND FARBTHEORIE
IN DER MALEREI DES 19. JAHRHUNDERTS

Der grundlegende Vorgang innerhalb der Farbgestaltung der Malerei


des 19. Jahrhunderts 1 ist die Verwandlung des Helldunkels. In unter-
schiedlichen Phasen und je wechselnden Erscheinungsformen tritt nun
an die Stelle einer „luminaristischen“, im Spannungsbogen zwischen un-
farbigem Dunkel und unfarbigem Licht sich entfaltende Farbe eine
solche, die als Farbe Helldunkel- und, zunehmend, rein koloristische
Wirkungen zur Geltung bringt. Eine „helldunkel- getragene Farbigkeit“
wird abgelöst von einem „farbgetragenen Helldunkel“. In den Werken
von Delacroix, Courbet, Leibl, Hans von Marées und anderen finden
sich unterschiedliche Ausprägungen des Verwandlungsvorganges.
Diese Verwandlung des Helldunkels ist Folge einer neuen kiinstleri-
schen Vision von Wirklichkeit. An die Stelle des den Naturgegeben-
heiten enthobenen Helldunkellichts tritt nun das Freilicht und die mehr
als im Helldunkel-Kosmos als Ausschnitt erfahrene Natur. (1817 er-
scheint in London ein Buch von Henry J. Richter mit dem bezeich-
nenden Titel: >Daylight. A recent Discovery in the Art of Painting .. .< 2)
Jedoch sind Begriffe wie „Realismus“ und „Naturalismus“ wenig ge-
eignet, die Ergebnisse dieser neuen kimstlerischen Vision angemessen
zu bezeichnen. Sonnenlicht kann nicht „wiedergegeben“ werden, der
Künstler kann nur versuchen, es zu „repräsentieren“, wie Cézanne es
formuliert: „Die Natur habe ich kopieren wollen, es gelang mir nicht.
Aber ich war zufrieden, als ich entdeckt hatte, daß die Sonne z. B. sich
nicht darstellen ließ, sondern daß man sie repräsentieren mußte durch
etwas anderes, ... durch die Farbe.“ 3 Solche „Repräsentation“, solche
Umsetzung in Farbe, von der Cézanne hier spricht, muß auf seine Weise
jeder Künstler vollziehen, muß auf je neue Art eine „Entsprechung“
1 Vgl. Verf., Prinzipien der Farbgestaltung in der Malerei des 19.Jahrhun-
derts im Hinblick auf die künstlerischenTechniken. In: Heinz Althöfer (Hrsg.),
Das 19. Jahrhundert und die Restaurierung, München 1987, 76-87.
2 Vgl. dazu: Johannes Dobai, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der
Romantik in England, Bern 1974-1977, Bd. III, 1790-1840,1143.
3 Zitiert nach Paul Cézanne, Über die Kunst, Gespräche mit Gasquet und
Briefe, hrsg. von Walter Hess, Hamburg 1957, 75. (Vgl.: Conversations avec
Cézanne, Edition critique présentée par P. M. Doran, Paris 1978, Collection
Macula, 93.)
262 Malerei des 19. Jahrhunderts

durch Farben erfinden - was ist hier „Realismus“, „Naturalismus“?


Diese Begriffe stellen auch nicht in Rechnung, daß nun, im 19. Jahrhun-
dert, gerade eine vertiefte Refiexion auf die BiMwirksamkeit der Farbe
einsetzt; es ist darauf zuriickzukommen.
Die „Repräsentation “ des Lichtes durch Farben kann auf sehr verschie-
dene Weisen geschehen, einige davon seien schon eingangs stichwort-
artig benannt:
Für Delacroix ist es das Licht bei bedecktem Himmel («temps gris»),
das die Farbe in ihrem Buntwert bewahrt, sie von starken Aufhellungen
und Verschattungen freihält.
«Valeur», die „Quantität an hell und dunkel, die in einem Ton ent-
halten ist“, ist das farbige Grundmaterial bei Corot. Diese Definition
stammt von Eugène Fromentin, der in seinem erstmals 1876 erschie-
nenen Buch >Les maitres d’autrefois, Belgique-Hollande< weiter dazu
ausführte: Ein Farbton ist „unter dem doppelten Gesichtswinkel der
Farbe und der Valeur zu betrachten, so daß es beispielsweise nicht nur
gilt, in einem Violett die Quantität von Rot und Blau abzuschätzen, ...
sondern auch der Quantität an Helligkeit oder an Kraft Rechnung zu
tragen, die die Farbe mehr dem Helligkeits- oder dem Dunkelheitswerte
nähert.“ 4
Eine weitere Möglichkeit der „Repräsentation“ des Lichtes durch
Farben bietet die „chromatische“ Farbgestaltung. Hier wird, wie schon
bei der Mosaikmalerei erläutert, durch Farbteilung, Zerlegung derFarb-
flächen in einzelne punkt- und strichförmige Elemente sowohl eine
Steigerung der Farbintensität, wie die Konstitution eines in sich be-
wegten Farblichtes, wie schließlich, durch die Anwendung des gleichen
Bildmittels über Formen und Grund hinweg - unabhängig von den Bild-
gegenständen -, eine neue farbige Einheit gewonnen. Constables Tei-
lung des Grüns seiner Wiesenzonen übernimmt Delacroix für die Bild-
farbigkeit insgesamt: «Constable dit que la supériorité du vert de ses
prairies tient à ce qu’il est composé d’une multitude de verts différents.
Ce qui donne le défaut d’intensité et de vie à la verdure du commun des
paysagistes, c’est qu’ils la font ordinairement d’une teinte uniforme. -
Ce qu’il dit ici du vert des prairies, peut s’appliquer à tous les autres
tons», lautet die wichtige Notiz Delacroix’ vom 23. September (1846). 5

4 Zitiert nach: Eugène Fromentin, Die alten Meister, Belgien-Holland. Ins


Deutsche übertragen von Eberhard von Bodenhausen, 2. AufL, Berlin 1907,
185. - Fromentin erfaßte dabei aber auch noch nicht den Unterschied zwischen
der Helldunkelmalerei und der Valeurmalerei des 19. Jahrhunderts: Vgl. dazu
Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 53, Anm. 16.
5 Journal de Eugène Delacroix, tome troisième, 1857-1863, Nouvelle édition
Malerei des 19. Jahrhunderts 263

Auch Cézanne schließt sich dieser Methode der Farbteilung an; radikale
Konsequenzen zieht daraus der Neo-Impressionismus. In seiner Schrift
>D’Eugène Delacroix au néo-impressionnisme< von 1899 arbeitet Paul
Signac diese Traditionslinie heraus.
Van Gogh schließlich versucht, durch strahlende Farben selbst das
Sonnenlicht zu repräsentieren.
Der Verwandlung der „luminaristischen“ Malerei in eine valeurgetra-
gene, eine „chromatische“ oder eine „koloristische“ entspricht eine Ver-
änderung der Farbkomposition. Das zentrale Phänomen dieses Wandels
ist das Schwinden der Grundfarben-Trias als bestimmender Farbfigur
der Bildkomposition. Die auf eine Mitte bezogene Gestaltung friiherer
Jahrhunderte, in der die Helldunkelpolarität im Dreiklang der Grund-
farben sich zentrierte, wird nun abgelöst von einer die hierarchischen
Momente zurückdrängenden Farbauffassung und -verwendung.
Nun erst werden die farbigen Relationen in ihrer ganzen Fülle und
Differenziertheit auch experimentell und theoretisch erfaßbar.
Nach dieser Hinsicht kommt der Farbenlehre des Chemikers Michel
Eugène Chevreul (1786-1889) exemplarische Bedeutung zu. 1839 er-
scheint sein Werk >De la loi du contraste simultané des couleurs et de l’as-
sortiment des objets colorés .. .<, dessen Ausgangspunkt in derBeobach-
tung liegt, „daß zwei nebeneinander liegende Flächen, die entweder
unterschiedlich stark mit derselben Farbe oder gleich stark mit verschie-
denen Farben bedeckt sind, bei simultaner Betrachtung verändert wahr-
genommen werdeji. Die Modifikation betrifft im ersten Fall die Intensi-
tät der Farben, im zweiten deren ,optische Komposition'.“ «Or comme
ces modifications font paraître les zones, regardeées en même temps,
plus différentes qu’elles ne sont réellement, je leur donne le nom de con-
traste simultané des couleurs; et j’appelle contraste de la ton la modifica-
tion qui porte sur l’intensité de la couleur, et contraste de couleur celle
qui porte sur la composition optique de chaque couleur juxtaposée.
Vöici la manière bien simple de contraster le double phénomène de con-
traste simultané des couleurs.» 6
Der „Simultankontrast“ steht also im Mittelpunkt der Chevreulschen

publiée d’après le manuscript original avec une introduction et des notes par
André Joubin, Edition revue et augmentée, Paris 1950, Supplément au Journal,
451/452.
6 Michel Eugène Chevreul, De la loi du contraste simultané des couleurs et de
l’assortiment des objets colorés considéré d’après cette loi dans ses rapports avec
la peinture..., Paris 1839, zit. nach 2. Ausg. Paris 1889 (Nachdruck Paris 1969),
mit Einführung von Henri Chevreul, 5. - Zitiert nach: Lersch, Farbenlehre,
Sp. 249, 250.
264 Malerei des 19. Jahrhunderts

Farbenlehre. Diese ja nicht selbstverständliche Akzentuierung bezieht


sich auf quantitativ vergleichsweise kleine farbige Elemente, also auf
das „chromatische“ Prinzip der Farbgestaltung und es bekundet sich
darin zum anderen eine neue Zeitauffassung bildkünstlerischer Wir-
kung.
Wegen ihres beispielhaften Charakters sei Chevreuls Farbenlehre
schon an dieser Stelle nach ihren Grundzügen referiert: Der zweiteTeil
behandelt die praktische Anwendung der Grundregel des Simultankon-
trastes. Flier „definiert Chevreul zunächst einige Grundbegriffe: Farb-
töne (tons de la couleur) nennt er die verschiedenen Veränderungen, die
eine Farbe in ihrem höchsten Intensitätsgrad in Richtung auf Weiß (das
denTon abschwächt) bzw. in Richtung auf Schwarz (das ihn verstärkt) er-
fahren kann. Die Gesamtheit aller derart abgestuften Töne bezeichnet
Chevreul als «gamme», während er unter «nuances» ausschließlich jene
Veränderung versteht, die sich durch Hinzufiigen einer kleinen Menge
einer anderen Farbe ergeben.“ 7
Die genannten Variablen veranschaulicht Chevreul ,,am Modell eines
72teiligen Farbenkreises“. An dessen Peripherie liegen „außer den drei
Primärfarben die drei primären Mischungen Orange, Griin, Violett
sowie sechs weitere sekundäre Mischungen.“ Die so begrenzten Sek-
toren werden nochmals in vier oder sechs Zonen gegliedert. „Jeder
Radius ist nach Art einer Leiter (gamme) in zwanzig Abschnitte unter-
teilt, die die verschiedenen Helligkeitsstufen der Farbe angeben.“ 8 Im
Mittelpunkt des Kreises liegt Weiß.
„Der Farbenkreis bildet die Grundlage einer sehr differenzierten Har-
monielehre. Chevreul unterscheidet zwei Prinzipien der Harmonie:

7 Chevreul, De la loi..., 66f; zitiert nach Lersch, Farbenlehre, Sp. 250. -Die
Beziehung des Begriffs „Ton“ auf den Gehalt an Hell und Dunkel einer Farbe ist
nicht unproblematisch. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß nicht selten die
Buntfarben als „getönte Qualitäten“ bezeichnet werden, „Ton“ also gerade den
Gehalt an Buntfarbigkeit meint (vgl. etwa David Katz, Der Aufbau der Farb-
welt, Leipzig 1930; Karl Bühler, die Erscheinungsweisen der Farben, Juni 1922;
Wilhelm Ostwald, Die Farbenfibel, Leipzig 1920). Verf. hatte deshalb in seiner
Dissertation die Begriffe entgegengesetzt definiert, Ton als den durch „leichte
Abwandlung gegen eine andere Buntfarbe oder durch Brechung mit Grau oder
Braun von der vollfarbigen, gesättigten Erscheinung unterschiedenen Buntfarb-
welt“, Nuance als „Abwandlung nach Helligkeit und Dunkelheit in gleitenden
Übergängen“ bestimmt (Die Farbe bei Griinewald, 140, Anm. 9). In vorlie-
gender Arbeit meint „Ton“ den Gehalt an Helligkeit oder Dunkelheit,
„Farbton“ den Buntfarbgehalt, „Nuance“ eine (gleitende) Abwandlung nach
beiden Richtungen.
8 Lersch, Farbenlehre, Sp. 250. Abb. 10.
Malerei des 19. Jahrhunderts 265

1. Harmonie d’analogues» und 2.«Harmonie de contrastes». Erstere


umfaßt a) die Harmonie der Farbenleiter (harmonie de gamme), die sich
einstellt, wenn gleichzeitig zwei mehr oder weniger benachbarte Töne
derselben Farbenleiter - also nach ihrem Helligkeitswert unterschie-
dene - gesehen werden; b) die Harmonie der Nuancen, die dann ge-
geben ist, wennTöne gleicher oder nahezu gleicher Höhe, die nebenein-
ander liegenden Farbenleitern angehören - also nach ihrem Buntgehalt
sich unterscheiden - simultan gesehen werden; c) «L’harmonie d’une
lumière colorée dominante», hervorgerufen durch gleichzeitige Wahr-
nehmung verschiedener, nach dem Kontrastgesetz zusammengestellter
Farben, wobei jedoch eine dominiert «comme cela résulterait de la
vision de ses couleurs au travers d’un verre légèrement colorée».
Die Kontrastharmonie zerfällt in a) eine solche der Farbenleiter
(wenn gleichzeitig zwei weit auseinander liegende Töne derselben Leiter
gesehen werden); b) eine solche der Nuancen (bei simultaner Wahrneh-
mung verschieden heller Töne einander benachbarter Farben) ; c) eine
solche der Farben, «produite par la vue simultanée de couleurs apparte-
nant à des gammes très éloignées, assorties suivant la loi du contraste. La
différence de hauteur des tons juxtaposés peut augmenter encore le con-
traste des couleurs». 9
Diese sorgfältig durchgearbeitete, systematische Farbharmonielehre
steht am Anfang einer Reihe von Künstlern aufgestellter farbharmoni-
scher Entwürfe, von den Neoimpressionisten zu Sérusier und Adolf
Hölzel u. a. reichend, die eine der Grundrichtungen farbtheoretischen
Denkens im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet. 10 - Chevreul war auch
Direktor der Färberei der Gobelin-Manufaktur in Paris, und seine Far-
benlehre in erster Linie fiir diesen kunstgewerblichen Gebrauch be-
stimmt. Wird sie zum Vorbild auch fiir die Malerei genommen, so ergibt
sich nicht selten die Gefahr einer dekorativen Verengung des Kunst-
werks. fhr zu begegnen, ist eine Reflexion auf die farbigen Ausdrucks-
werte vonnöten. Diese stellt eine andere Tradition der Farbtheorie des
genannten Zeitraumes dar, die jedoch verständlicherweise kaum zu ent-
sprechend systematischer Vollständigkeit durchgebildet ist.
Die mit der Zuriicknahme der Helldunkel-Konzeption erfolgende
Neuorientierung der Farben läßt neue Farbskalen entstehen oder die
Erinnerung an alte wiederaufleben.
Schon in einer Reihe kunsttheoretischer Traktate (von Comte de
Caylus, >Anmerkungen über einige Kapitel des 35. Buches des Plinius<,

9 Chevreul, De la loi..., 85; zitiert nach: Lersch, Farbenlehre, Sp. 250, 251.
10 Vgl. Walter Hess, Das Problem der Farbe in den Selbstzeugnissen der
Maler von Cézanne bis Mondrian (1953), Neuauflage Mittenwald 1981. 147ff.
266 Malerei des 19. Jahrhunderts

vom 17.11.1752; M. de la Nauze, >Abhandlungen von der Art, mit der


Plinius von der Malerei gehandelt hat<, vom 20.3.1753, Aloys Hirt,
>Über die Malerei der Alten<, 4. Abhandlung, vom 18.11.1802) aus der
2. Hälfte des 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert wurde an die an-
tike Vielfarbenlehre erinnert: „Mit nur vier Farben (Weiß, Gelb
[Ocker], Rot, Schwarz) hätten die Griechen Wahrheit undVollkommen-
heit erreicht; er,st die Neueren schätzten die Malerei höher als den Geist
und wollten deshalb mehr Farben.“ 11
Die Schwierigkeit, die sich aus dem Fehlen von Blau, einem Grund-
bestandteil der neuzeitlichen Grundfarben-Trias ergab, suchten die
Autoren etwa durch die Annahme zu begegnen, die Griechen hätten es
aus Schwarz (Atramentum) durch Aufhellung gewonnen. 12
Jacques-Louis David greift entschieden auf diese antike Vierfarben-
skala zurück 13 und noch Delacroix kommt mit ihr im Atelier Guérins in
Berührung als der «palette d’école» aus «Ocre jaune, ocre rouge, noir et
blanc». 14
Andererseits zeigt sich in der Vielfalt der „Paletten“ auch eine neue In-
dividualisierung der Farbgestaltung. Nur an einem Beispiel sei dies kurz
angedeutet. Delacroix verwendet verschiedene Paletten. Seine «Palette
van Dyck» setzt sich zusammen aus fiinf Spektralfarben: Laque rouge,
vermillon, jaune de Naples, vertTizian ou vert émeraude und outremer,
drei Erdfarben: ocre jaune, terre de Sienne naturelle und brun van
Dyck, und dazu noir du Liège und blanc. Diese zehn Farben werden rein
und in Mischungen mit Weiß auf die Palette aufgetragen, so daß die
Skala 19 Farben umfaßt. Bei der Palette, die Delacroix für die «Galérie
d Apollon» im Louvre verwendet, ersetzt er das noir du Liège durch zwei
Arten von Schwarz: noir du pèche und noir d’lvoire, an die Stelle von
outremer treten Mischungen aus mehreren Komponenten: bleu de
Prusse und laque Rouge usf., so daß sich diese Palette auf 28 Grund-
farben und ebenso viele Mischfarben erweitert. Bei der «Palette de
L’Hôtel de Ville» fiir den Salon de la Paix reduziert Delacroix die Anzahl
seiner Farben geringfiigig, hellt diese gleichzeitig etwas auf, läßt den
Rot-Grün-Kontrast deutlicher zum Ausdruck kommen; eine weitere

11 Birgit Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre in der deutschen


Malerei um 1800, München-Berlin 1982, 49 und 50ff.
12 Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre, 49.
13 Vgl. dazu Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre, 71 ff. - Georg
Friedrich Kempter, Dokumente zur französischen Malerei in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, Diss. München 1968, 42f.
14 Kempter, Dokumente, 38. - Vgl. auch: Faber Birren, History of Color in
Painting. With new Principles of Color expression, New York 1965, 55 ff.
Malerei des 19. Jahrhunderts 267

Aufhellung zeigt die Palette für die «Chapelle des Anges» in Saint-Sul-
pice in Paris. Insgesamt läßt sich beobachten, daß Delacroix seine
Farben immer mehr denjenigen des Spektrums annähert und den Anteil
der Erdfarben - im Verhältnis zu David oder Goya (der vier Arten von
Schwarz und fast nur Erdfarben verwendete) - beschränkt. Verglichen
mit den Paletten der Impressionisten ist dieser Anteil jedoch immer
noch beträchtlich. 15 So läßt schon, was ja auch selbstverständlich ist, die
Abfolge der „Paletten“ die Grundrichtung der koloristischen Entwick-
lung erkennen.
Charakteristisch unterscheiden sich die Paletten von Ingres, Géri-
cault, Corot, Devéria, Daumier, Millet, Rousseau usf. 16
Nun wird durch Künstleräußerungen auch deutlich, daß ihnen die Pa-
lette mehr als ein Medium der „Wiedergabe“, daß sie selbst Quelle der
Inspiration ist: «Ma palette fraîchement arrangée et brillante du con-
traste des couleurs suffit pour allumer mon enthousiasme» notiert Dela-
croix unter dem 21. Juli 1850 in seinTagebuch 17 und ebenso ist es fiirVan
Gogh eine Maxime, ,,von den Farben der Palette auszugehen“. 18
Auch in der Geschichte der Einzelfarben nimmt das 19. Jahrhundert
eine eigene Stellung ein, die gleichfalls mit der Verwandlung der Hell-
dunkelmalerei in eine von den Farben als solchen bestimmte in Zusam-
menhang steht und deshalb die Pole der Helldunkelspannung und deren
Übersetzung in Weiß und Schwarz betrifft. Nun können sich auch Weiß
und Schwarz als Farben, nicht mehr in erster Hinsicht nur als Repräsen-
tanten von Licht und Dunkelheit, zur Geltung bringen. Für Turner ge-
winnt Weiß eine neue Bedeutung in der farbigen Komposition, mit Goya
und Manet steigt Schwarz als „autonome“, nicht mehr einem Helldunkel-
kosmos eingegliederte Farbe zu bildbestimmender Wirkung auf. 19 Auch
in den Buntfarben tritt die Hell-, bzw. Dunkelkomponente zunehmend in
den Hintergrund, sie können so in neuem Sinne als koloristische Werte in
die Erscheinung treten, wie etwa das Blau bei Cézanne. 20 Grün wird als
Farbe mit der Freilichtmalerei aufgewertet.

15 Nach Kempter, Dokumente, 39-42, unter Bezug auf Emile Bernard, Les pa-
lettes d’Eugêne Delacroix et sa recherche de l’absolu du coloris (in: Mercure de
France, 1. Février 1910) und René Piot, Les palettes de Delacroix, Paris 1931.
16 Vgl. Kempter, Dokumente, 43-48.
17 Journal de Eugène Delacroix, tome premier, 1822-1852, 392.
18 Vgl. Hess, Problem derFarbe, 37.
19 Vgi. hierzu: Jutta Held: Farbe und Licht in Goyas Malerei, Berlin 1964,
passim. - Max Raphael, Die Farbe Schwarz. Mit einem Nachwort von Bernd
Growe hrsg. von Klaus Binder, Frankfurt a. M., Paris 1984. -Zur Vermeidung von
Weiß und Schwarz vgl. Kempter, Dokumente, 49-51.
20 Dazu Kurt Badt, Die Kunst Cézannes, München 1956, bes. 43ff.
268 Malerei des 19. Jahrhunderts

Wie schon am Beispiel der Chevreulschen Farbenlehre angedeutet,


werden erst im 19. Jahrhundert die Gesetzlichkeiten der Farbe in ihrer
Vielfalt erkannt. Sehr Wichtiges hierzu tragen die Künstlertheorien bei,
und dem entspricht die künstlerische Gestaltung der Farbe.
Die Unterschiede zwischen kalten und warmen Farben werden nun
einer systematischeren Überlegung und Gestaltung zugeführt; mit der
vertieften Erfahrung des Simultankontrastes ist die Entdeckung der far-
bigen Induktionswirkung durch Chevreul verbunden. In einem Ge-
spräch mit Charles Blanc formuliert er: «Mettre une couleur sur une
toile, ce n’est pas seulement teindre de cette couleur tout ce qu’a touché
le pinceau, c’est encore colorer de la complémentaire l’éspace environ-
nant; ainsi un cercle rouge est entouré d’une légère auréole verte, qui va
s’affaiblissant à mesure qu’elle s’éloigne; un cercle orangé est entouré
d’une auréole bleue; un cercle jaune est entouré d’une auréole violette
... et réciproquement.» 21
Der Begriff „Komplementärfarbe“, den Chevreul hier verwendet,
wurde von Jean Henri Hassenfratz (1755-1827) geprägt. Entscheidend
fiir die Bestimmung dieses Begriffes ist die im Januar 1801 im Institut
Français gehaltene Doppelvorle&ung >Sur les ombres colorés< und die
(leider verlorene) Vorlesung vom April 1805 >Sur les couleurs complé-
mentaires<. Die Vorlesung von 1801 wird im Juli 1802 veröffentlicht.
Hier heißt es im zweiten Teil: «Nous appelons couleurs complémen-
taires, celles qu’il faudrait former, avec une ou deux des trois couleurs
cités (den von Newton bekannten Grundfarben), pour produire du
blanc artificiel avec une couleur donnée.» Hassenfratz beschreibt auch
die erforderlichen Mischungen: «Pour obtenir du blanc artificiel avec du
rouge, il faudrait y mélanger du jaune et du bleu. Le jaune et le bleu font
vert: donc la couleur verte est complémentaire de la rouge, et récipro-
quement. La couleur complémentaire de l’orange, formé de jaune et de
rouge, est le bleu, la couleur complémentaire du jaune est le violet». 22
Ein wichtiges Farbgesetz ist damit formuliert.
Nicht zuletzt bekundet sich die vertiefte Reflexion auf die der Farbe
als Pigment eigenen Möglichkeiten in einer neuen Vielfalt künstlerischer
Techniken - die andererseits bedingt ist durch die schwindende Bedeu-
tung von Werkstatt-Traditionen -, und dies wiederum hat die Zunahme
maltechnischer Fehler zu verantworten.

21 Charles Blanc, Grammaire des arts du dessin, architecture, sculpture, pein-


ture. (Paris 1867) Nouvelle édition, Paris, o. J. (1880), 563.
22 Zitiert nach: Rupprecht Matthei, Complementare Farben, Zur Geschichte
und Kritik eines Begriffes. In: Neue Hefte zur Morphologie, 4. Heft, Weimar
1962, 69-99. Zitate auf S. 76 und 76/77. - Kempter, Dokumente, 117,118.
Malerei des 19. Jahrhunderts 269

Dem lasierenden Farbauftrag Ingres’ steht der pastose Delacroix’ ge-


genüber. Chassériau läßt sich bei der Wahl lasierender oder opaker Mal-
weise von der Beobachtung der Wirklichkeit leiten. Lasierende und
opake Malweise können auch der Darstellung von Licht und Schatten
dienen, wobei, wie in der David-Schule oder bei Vigée-Lebrun - aber
auch schon im 17. Jahrhundert - die Schatten lasierend, die Lichter opak
gemalt werden. Der Unterscheidung lasierenden und opaken Farbauf-
trags entspricht weithin jene zwischen unsichtbarem und sichtbarem Pin-
selstrich, und so legt Ingres den größten Wert auf das Verbergen des Pin-
selstriches: «Ce qu’on appelle <la touche> est un abus d’exécution .. ,» 23
Es ist aber die sichtbare Pinselfiihrung, die im 19. Jahrhundert in einer
Fiille von Erscheinungsformen zur Geltung kommt. Jacques-Louis
David verwendet in neuer kiinstlerischer Absicht fiir seine Hintergriinde
das «Frottis», wobei „dunkle, transparente Farbe diinn, locker und unre-
gelmäßig auf tendenziell heller Grundierung verteilt“ wird 24; Théodore
Chassériau beschreibt seinen Farbauftrag «par facettes»; Thomas Cou-
ture empfiehlt ein «tortillement», d.h. ,,den Pinsel gleichzeitig in zwei
oder höchstens drei Farben einzutauchen, die sich erst während des Auf-
tragens und stets unvollständig vermischen“; Delacroix 25 entwickelt
eine Reihe unterschiedlicher Techniken des farbzerlegenden Auftrages,
so die «hachures», bei denen die Farbe in kurzen, pastosen, nicht unter-
einander vermischten Serien von Strichen aufgetragen wird, deren Rich-
tung innerhalb der Serien sich jedoch nicht ändert, und als deren Weiter-
entwicklung die «flochetage», bei der sich die Farbstriche nach allen
Richtungen durchkreuzen; Courbet arbeitet mit dem Palettenmesser 26
usf. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts faßt Max Liebermann als Quint-
essenz zusammen: es gibt „keine Technik per se, sondern so vieleTech-
niken, wie es Künstler gibt. Und ohne eigene Technik kann es keine
eigene Kunst geben .. .“ 27
Schon Jantzen entfaltete aus seiner Unterscheidung zwischen „Eigen-

23 Kempter, Dokumente, 66-71, 79, 80. Zu Ingres: René Longa, Ingres in-
connu, Paris (o. J.), 15.
24 Matthias Bleyl, Das klassizistische Porträt. Gestaltungsanalyse am Bei-
spiel J.-L. Davids. Frankfurt a.M.-Bern 1982, 57ff. Zitat auf S. 62.
25 Vgl. auch Delacroix’ für seinen geplanten >Dictionnaire des Beaux Arts<
formulierten Artikel >Touche< (Journal de Eugène Delacroix, III, 17-20, vom
13. Januar 1857. Auch bei: Christine Sieber-Meier, Untersuchungen zum >Œuvre
littéraire< von Eugène Delacroix, Diss. Basel, Winterthur 1963,107-108.)
26 Nach Kempter, Dokumente, 90, 91, 92, 102, 107.
27 Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei (1904-1916). Zitiert nach:
Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei, Schriften und Reden, hrsg. und
eingeleitet von Günter Busch, Frankfurt a. M. 1978, 60.
270 Malerei des 19. Jahrhunderts

wert“ und „Darstellungswert“ der Farbe auch eine farbgeschichtliche


Perspektive: „Die Entwicklung der Prinzipien in der Farbengebung ist
bedingt gemäß der Absicht, Raumdarstellung durch immer neue Erobe-
rung von Darstellungswerten der Farbe zu vereinen mit intensiven
Eigenwerten der Farbe. Diese Entwicklung hat sich bis zum Schlusse des
19. Jahrhunderts vollzogen, deren Ziel bezeichnet werden kann mit der
Forderung: alle Darstellungswerte zu intensiven Eigenwerten zu erheben
und zu harmonisieren .. ,“ 28
So stellt sich die Koloritgeschichte des 19. Jahrhunderts dar als ,,Be-
freiung der Bildfarbe“ 29 - aber dies ist nicht allein ein Problem des
Gestaltungsmittels, sondern es bekundet sich darin, daß die Farbe „das
Seiende in seiner Phänomenalität, seinem reinen Aussehen bestätigt
und für uns offenhält“. 30

A. ZUR ENGLISCHEN MaLEREI DES 19. JAHRHUNDERTS

Vor der Darstellung der französischen Entwicklung sei die Position


der englischen Malerei um 1800 und in der ersten Jahrhunderthälfte
kurz beschrieben.
Bei Blake und Füssli spielt die Farbe keine oder eine nur höchst unter-
geordnete Rolle. Fiir William Blakes (1757-1827) Farbauffassung ist
seine Charakterisierung des Rubensschen Kolorits bezeichnend. In
seinen um 1808 entstandenen >Marginalien zu den ,Diskursen‘ von Rey-
nolds< schreibt Blake: “To my Eye Rubens’ Colouring is most Contem-
tible. His Shadows are of Filthy Brown somewhat of the Colour of Excre-
ment; these are fill’d with tints and masses of yellow and red. His Lights
are all the Colours of the Rainbow, laid on indiscriminately and broken
one into another. Altogether his Colouring is Contrary to the Coloufing
of the Real Art and Science ...” In einem Brief an seinen Förderer
Thomas Butts vom 22. November 1802 räumt Blake ein, er habe mög-
licherweise die Kategorien des Chiaroscuro und des Kolorits nicht ver-

28 Jantzen, Über Prinzipien der Farbengebung in der Malerei. In: Jantzen,


Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Berlin 1951, 66/67.
29 Strauss, Zur Wesensbestimmung der Bildfarbe (Vortrag 1969). In: Strauss,
Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 12. Und: Max Imdahl, Die Rolle der
Farbe in der neueren französischen Malerei. Abstraktion und Konkretion. In:
Poetik und Hermeneutik, II, Immanente Ästhetik und Ästhetische Reflexion,
München 1966, 225.
30 Verf., Zum Sinn der Farbgestaltung im 19. Jahrhundert. In: Beiträge zum
Problem des Stilpluralismus, hrsg. von Werner Hager und Norbert Knopp, Mün-
chen 1977, 112.
Englische Malerei 271

standen, dies aber in einem ungemein selbstbewußten historischen Ver-


gleich: “I have now given two years to the intense study of those parts of
the art which relate to light and shade and colour, and I am Covinc’d that
either my understanding is incapable of comprehending the beauties of
Colouring, or the Pictures which I painted for you are Equal in Every
Part of the Sort, and superior in One, to any thing that has been done
since the age of Rafael.” 31
Johann Heinrich Füssli (Henry Fuseli, 1741-1825) gibt in seinen >Lec-
tures on Painting, delivered at the Royal Academy< (1801-1823) der klas-
sizistischen Verurteilung der Farbe ungeschmälert Ausdruck. In Lecture
VIII (nach 1810) führt er aus, „die Farbe müsse dem Inhalt und der
Zeichnung noch mehr als das Helldunkel untergeordnet werden; sie sei
ein Hilfsmittel zur klaren Bezeichnung der Eigenschaft der Objekte und
bestehe nie für sich selbst“. Dennoch kann sie Ideen veranschaulichen:
“To colour, when its bland purity tinges the faces of innocence and sprou-
ting life, or its magic charm traces in inperceptible transitions the forms
of beauty ... To colour, the florid attendant of form, the minister of the
passions, the herald of energy and character, what eye, not tinged by
disease or deserted by Nature, refuses homage?”
„Farben sollten nach Fuseli nur sparsam - wie von den großen Grie-
chen, die nur vier Farben verwendeten - gebraucht werden, und er lobt
auch, im Einklang mit der eigenen Kunst, farbige Monochromie.“ 32
In Lecture VI (seit 1812 gehalten) bespricht Füssli das „chiaroscuro“.
Er versteht darunter „sowohl das Helldunkel des einzelnen Gegen-
standes wie auch das Helldunkel der ganzen Bildordnung“, fordert von
ihm “unity” und “truth“, ordnet es dem Thema und der Komposition
unter. Das Helldunkel der Kunst unterscheidet sich von dem der Natur:
“Nature sheds or withholds her rays indiscriminately ... it is the business
of art to arrange by fixing a centre and distributing the rays according to
the more or less important claims of the subject. ” “As long as it regulates
itself by strict observance of that principle, it matters not whether its
principal mass radiate from the middle, wind in undulating shapes, dart
in decided beams from the extremities; emanate from one source, or
borrow additional effect from subordinate ones .. .” 33
Auch Füsslis Kunst lebt noch aus einem, freilich verfestigten, Hell-
dunkel.

31 Zitiert nach: Johannes Dobai, Die Kunstliteratur des Klassizismus und der
Romantik in England. Bd. III, 1790-1840, Bern 1977, 907/908 und 916, Anm.
160.
32 Dobai, Kunstliteratur, III, 962. Dazu auch weiter S. 963, 964.
33 Nach Dobai, Kunstliteratur, III, 958/959.
272 Malerei des 19. Jahrhunderts

Erst Turner und Constable bringen die Farbgestaltung auf neue, zu-
kunftsweisende Bahnen.
William Turner (1775-1851) läßt in neuer Weise Bildraum, Bildlicht
und alle Bildgegenstände aus der Bildfarbe allein entstehen. Einem
linearen Formaufbau kommt keine Bedeutung mehr zu. „Die Formbil-
dung erfolgt vielmehr durch - wie auch immer geartete - Begegnungen
miteinander konstrastierender vielfarbiger Flächen und Flecken, die
sich trotz geringer Prägnanz ihrer Gestalt und trotz der denkbar ver-
schiedenen Grade ihrer Ausbreitung und Kohärenz im Gesamtaspekt
doch immer noch als ,Teileinheiten‘ eines größeren Ganzen auffassen
lassen.“ 34 Die stellenweise Auflösung in Farbflecken läßt an die Wirk-
samkeit des „chromatischen“ Prinzips denken, andererseits erfolgen die
Übergänge meist gleitend, so daß hierin auch eine Eigenschaft der „lu-
minaristisch“ gespannten Farbe sich erhält. In Turners Kunst zeigt sich
so die Möglichkeit einer „luminaristischen“ Chromatik, während der
Weg der französischen Farbgestaltung zu einer „koloristischen“ Inter-
pretation des Chromatismus fiihrt, zu einer Chromatik, die auch den
Buntwert jedes einzelnen Farbflecks zur Geltung kommen läßt. Die dem
Luminarismus entstammende Übergänglichkeit der Farben bewirkt ihre
vor allem von Ruskin gerühmte „magische“ Qualität, ihre „suggestive
Kraft, die ständige Veränderung ihres Aggregatzustandes”.
Die Zusammenfassung in große Komplexe hinwiederum erlaubt es,
daß bei Turner auch die grundlegenden „Farbfiguren“ der neuzeitlichen
Malerei aufbewahrt sind, der für das 18. Jahrhundert charakteristische
Klang von Gelb und Blau, das Farbpaar Grau und Braun (das bisweilen
als „neutrale“ Variante des ersten erscheint - und umgekehrt), ja sogar
die Primärfarbentrias aus Rot, Gelb und Blau. “Red, blue and yellow”
war der lakonische KommentarTurners, als er sein Bild >Lichtund Farbe
(Goethes Theorie) -Am Morgen nach der Sintflut - Moses schreibt das
Buch Genesis< entstanden etwa 1843, London, Tate Gallery) 35 vor
Ruskin enthüllte. 36
Aber gerade hier - wie auch an der Verwendung des Grau-Braun-
Klanges - zeigt sich das Neuartige der Farbgestaltung Turners. Beim
Bild >Schatten und Dunkelheit - Am Abend der SintfluU (etwa 1843,

34 Ernst Strauss, William Turner und die Landschaft seiner Zeit (1976). In:
Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 123-133. Auch die weitere Darstellung
folgt im wesentlichen den Ausführungen von Strauss. Zitate auf den S. 127,128,
129,131.
35 FA: Katalog William Turner und die Landschaft seiner Zeit, Hamburger
Kunsthalle, 1976, Taf. XIX.
36 Vgl. John Ruskin, Diaries. (1908), I, 273.
Englische Malerei 273

London, Tate Gallery) 37 konstituiert das Grau-Braun-Paar die Dunkel-


heit, beim >Morgen nach der SintfluU die Farbtrias: „Die Vermischung
des Blau, Rot und Gelb ergibt eine Farbtiefe, die spontan als Gegenpol
zum weißen Licht des Grundes empfunden wird, ohne jedoch ,schwarz‘
zu wirken. Das Besondere in der Erscheinungsweise dieses Dunkels
liegt darin, daß es bald als ein farbloses triibes Medium, bald als Er-
gebnis der pigmentären Mischung aus den drei Primärfarben aufgefaßt
werden kann. Das Helldunkel der traditionellen Malerei weist diese Am-
bivalenz nicht auf, da es ausschließlich durch die polare Spannung zwi-
schen unfarbigem Licht und unfarbigem Dunkel gebildet wird.“ Exem-
plarisch zeigt sich hierin die ÜbergangsstellungTurners.
Auch die Helldunkelpolarität besteht in Turners Malerei weiter, aber
sie wird verwandelt, farbig interpretiert durch die Verwendung der
Farben nach ihren spezifischen Helligkeiten, wobei das Dunkel auf we-
nige Bildstellen konzentriert wird; ausdrucksmäßig verändert es sich
durch eine neuartige „Dramatisierung“.
Das Erscheidende aber ist Turners „Verdichtung der Lichthelle zu
Weiß“. Sie läßt sich erkennen im Vergleich zu Bildern von Claude Lor-
rain, einem bewunderten Vorbild Turners. Auch bei Claude erscheint
häufig die Sonne selbst als Lichtquelle. Turner radikalisierte solche
Lichtwirkungen, indem er den Strahlungsbereich der Sonne „noch weit
iiber die Himmelregion ausdehnte, insbesondere aber durch ein kolori-
stisches Mittel, indem er sie, ihre Spiegelungen und Reflexe durch reines
Weiß wiedergab, das er selbst expressis verbis als ‘substitute of light’ be-
zeichnete. Durch diese Rangerhöhung erlangte das Weiß als Farbele-
ment eine formative Bedeutung, wie sie ihm in der Geschichte der
Malerei, von der römischen Antike abgesehen, noch nie zugekommen
war.“
Diese neue Bedeutung des Weiß bedingt auch eine neue Farbordnung
insgesamt. Denn das unbunte Weiß ist im Kosmos der Farben vom Be-
reich der Buntwerte durch einen „Sprung“, radikal, geschieden, „wäh-
rend diese selbst innerhalb ihres Kreises durch Intervall-Schritte unter-
einander erreichbar bleiben. Turners Lösung dieses Problems erfolgt so,
daß er in das (die Buntfarbe ja immer nur annehmende, nie aber aus sich
selbst hervorbringende) Weiß die ihm nach ihrem spezifischen Hellig-
keitsgrad nächststehenden Werte, Gelb und Grau, in zunehmender Ver-
dünnung einfließen und schließlich restlos in ihm aufgehen läßt. In dem
Maße wie, umgekehrt gesehen, die aus dem Weiß sich befreienden Bunt-
werte sich verdichten, erscheint die ursprüngliche Diskrepanz zwischen
den beiden Farbkategorien überwunden, ein kontinuierlicher Übergang

37 FA: William Turner und die Landschaft seiner Zeit, Taf. XVIII.
274 Malerei des 19. Jahrhunderts

hergestellt.“ (Als Beispiel hierfiir sei Turners Aquarell >Studie eines


Sonnenunterganges<, entstanden um 1833, London, British Museum, 38
genannt.)
So kann in der Weiß-Gelb-Verbindung eine „Keimzelle der Koloristik
Turners“ erkannt werden und, daraus entwickelt, eine „warme“ Farb-
reihe, „über Ocker-, Orange-, Rot- und Braunstufen bis zu den tiefen
Erdfarben“ und eine entsprechende, aber „kürzere“ Farbreihe, ,,die, be-
ginnend bei dem aus dem Weiß hervorgehenden hellen Grau, über Bre-
chungen und ,Verfärbungen‘ durch Blau- und Grünwerte zu reinem
Blau führt“. Auch eine solche klare Scheidung in eine „warme“ und
„kalte“ Skala ist neu.
Weiß herrscht in den Spätwerken vor. Und dennoch bleibt die Farbin-
terpretation des Lichtes ambivalent. Farbe verlangt, um unangefochten
als koloristischer Wert wirken zu können, die flächige Ausbreitung.
Eine Ruhe der Flächenbindung ist den Farben bei Turner aber zumeist
verwehrt. Auf die ständige Übergänglichkeit, innere Anspannung ihrer
Erscheinung wurde schon hingewiesen - eine Grundmöglichkeit der
Turnerschen Raumbildung ist eine spiralige, eine „Wirbelstruktur“, ein
“overall-vortex”, angemessen einer Lichtausbreitung, aber nicht einer
farbigen Erscheinungsweise. So dominiert bei Turner auch im Weiß,
trotz pigmentärer Verdichtung, die Lichthelle, und als sein zukunftswei-
sendes Verdienst kann ein entscheidender Schritt zur „Verselbständi-
gung des Bildlichts“ gesehen werden, ,,die erst in der Malerei des
20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht“, jedoch zu einem wesent-
lich späteren Zeitpunkt als die Verselbständigung der Bildfarbe. Die von
Turner eingeleitete Lösung der Farbe von der Bildfläche wird erst von
der „informellen“ Malerei weitergeführt.
Aus unterschiedlichen Anlässen hat sich Turner auch theoretisch mit
Problemen der Farbe befaßt: so enthalten zwei Skizzenbücher von 1802
außer Kopien nach Raffael, Tizian, Rubens, Poussin auch Kommentare
zur Farbgestaltung dieser Künstler, zahlreiche Vorlesungen aus dem
Zeitraum von 1810 bis 1827 behandeln u.a. Erscheinungsweise und
Wahrnehmung der Farbe. 39
John Gage stellte in seinem Buch >Colour inTurner: poetry and truth<
(London 1969) Turners Gedanken zur Farbe im historischen Kontext
ausführlich dar. Auf diese Untersuchung muß hier verwiesen werden.
(Auch Turners nicht immer leicht zu entschlüsselnden Aufzeichnungen
sind dort abgedruckt.)

38 FA: William Turner und die Landschaft seiner Zeit, Taf. V.


39 Vgl. Lersch, Farbenlehre, Sp. 247, 248. - Zur Farbenlehre Turners vgl.
auch Dobai, Kunstliteratur III, 1031-1038.
Englische Malerei 275

In hier erörtertem Zusammenhang seien nur die zwischen 1818 und


1827 entstandenen Farbdiagramme Turners 40 kurz angesprochen. In
ihnen ordnet Turner die Farben nach Helligkeit und Temperatur, teilt
den Farbenkreis in eine warme und eine kalte Zone auf, stellt kalten Pri-
märfarben warme Mischfarben und umgekehrt warmen Primärfarben
kalte Mischfarben gegenüber. Komplementärkontraste spielen keine
Rolle. Solche Einteilung der Farben nach ihrer Temperatur findet eine
Entsprechung in Turners Farbgestaltung in „warmen“ und „kalten“
Farben, wie auch der Gesichtspunkt der (freilich nicht ganz konse-
quenten) Ordnung nach der Helligkeit die Licht- und Dunkelkonstitu-
tion durch die Turnerschen Farben widerspiegeln kann.
Die neue Bedeutung des Weiß kommt in den Farbdiagrammen zwar
nicht zum Ausdruck, doch ist bemerkenswert, daß „sowohl in den Far-
benkreisen wie in den eingeschriebenen Farbdreiecken das Gelb ... den
Gipfelpunkt markiert“ 41, im Gegensatz zu Goethes oder auch Dela-
croix’ Farbendreieck, wo Rot die Spitze einnimmt. Die wichtige Rolle
des Gelbs für Turners Farbgebung macht sich so auch im Diagramm
geltend.
Aufschlußreich für Turners Helldunkelvision ist schließlich, daß er
dem Dunkel einen positiven Wert zuerkennt. Hier unterscheidet sich
Turner auch von Goethe. Zu Goethes neoplatonischer Relation von
Auge und Sonne bemerkt er: “If the eye be sunny it could not know
Darkness” und Goethes Charakterisierung des Dunkels als bloßer Ab-
wesenheit des Lichts kommentiert Turner mit den Worten: “nothing
about shadow or Shade as Shade and Shadow Pictorially or optically” 42.
Hier drängt die konstitutive Rolle des Bilddunkels in der neuzeitlichen
Malerei zum Bewußtsein.
John Constables (1776-1837) Farbgestaltung 43 steht im engsten Zu-
sammenhang mit einer neuen Naturauffassung und einer neuen Bewer-
tung der Skizze.
Mit seinen Skizzen bringt Constable, wie Kurt Badt feststellte, ,,ein

40 Abgebildet in: John Gage, Color in Turner, Poetry and Truth, London
1969, 115. - Lersch, Farbenlehre, Sp. 247, 248. Vgl. auch: Gerald E. Finley, Two
Turner Studies, A ‘New Route’ in 1822, Turner’s Colour and Optics; Turner’s Illu-
strations to Napoleon. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes,
Vol. 36,1973, 385-396.
41 Strauss, William Turner, 129.
42 Nach Gage, Colour inTurner, 178.
43 FA z.B. in: John Sunderland, Constable, Oxford 1971, 21981. - Basil
Taylor, Constable, Paintings, Drawings and Watercolours, London 1973, 21975. -
Graham Reynolds, The later Paintings and Drawings of John Constable, New
Haven and London 1984.
276 Malerei des 19. Jahrhunderts

neues Genus von Gemälden hervor, welches für die Malerei des neun-
zehnten Jahrhunderts charakteristisch geworden ist, Bildentwürfe, die
vor der Natur entstanden sind ... Durch sie wurde der friiher allgemein
anerkannte Begriff der BM-Vollendung außer Kraft gesetzt und ein
neuer, rein eindrucksmäßiger, subjektiver eingeführt... Diese kleinen
Bilder sind eigentlich Skizzen, weil sie, obwohl nach der Natur gear-
beitet, in ihrem Wesen Gebilde der malerischen Phantasie sind, Improvi-
sationen von zu Bildern zusammengefaßter studierter Natur wie die frei
erfundenen, komponierten Skizzen der älteren Meister. Jede solche
Skizze stellt eine Komposition vor, welche der Natur entnommen, auf
einer Auswahl und auf einer Verbindung natürlicher Erscheinungen be-
ruht, die sich von einem bestimmten Platze aus den Augen des Malers
darboten.“ 44
Gleichzeitig bekundet sich in den Skizzen ein neuer Individualismus
der Anschauung und der Gestaltung. Sie lassen die künstlerischen Ab-
sichten am reinsten erkennen, das künstlerische Verfahren liegt hier
offen vor Augen.
Die Natur stellt sich Constable als ein immerwährendes Geschehen
dar, als Ausdruck eines vom Menschen unabhängigen Lebens. „Der
Wechsel von Tageszeiten und Wetter, die geologischen Formationen des
Erdbodens interessierten ihn mehr als der Zustand der Ruhe und der
Stille in der Natur, in dem der Mensch seine eigenen Gefühle wie in
einem Spiegel betrachten und darüber reflektieren kann.“ (Julius Gustav
Böhler) 45 Aber es ist das „bescheidene Leben in der Natur“, das ihn fas-
zinierte, nicht das Heroische, Pathetische, sondern das Naheliegende,
Unscheinbare 46, in dem gleichwohl ein größeres Gesetz sich ausspricht.
Um 1810 werden Constables Skizzen farbiger, gleichzeitig der Farb-
vortrag ungestümer. Die Farbe wird nun in sich geteilt und unvertrieben
auf den Grund gesetzt, der dabei an vielen Stellen durchscheint und die
Geschlossenheit der Bildwirkung gewährleistet. DieTeilung der Farbe
und die Offenheit des Auftrages steigern den farbigen Eigenwert. Farbe
konstituiert den Gegenstand mit, steht nicht in seinem Dienste.
Zur selben Zeit treten Details der Landschaftsschilderung auf, die
44 Kurt Badt, Wolkenbilder und Wolkengedichte der Romantik, Berlin 1960,
60.
45 Julius Gustav Böhler, Constable und Rubens. Ein Beitrag zu den Grund-
lagen der Kunst des 19. Jahrhunderts. Diss. München 1955, 182. Auch die fol-
genden Ausführungen folgen in manchem der sehr genauen Untersuchung Böh-
lers. Zitate auf den S. 184, 186. Vgl. auch: Paul D. Schweitzer, John Constable,
Rainbow Science, and English ColorTheory. In: The Art Bulletin, Vol. LXIV,
Nr. 1, March 1982, 424-445.
46 Vgl. Badt, Wolkenbilder und Wolkengedichte der Romantik, 85ff.
Englische Malerei 277

Constable mit Rubens verbinden, die pastose Sonnenscheibe, der Re-


genbogen, Gewitterhimmel, so daß angenommen werden darf, Consta-
bles farbige Darstellung der Natur habe sich in wesentlichen Ziigen an
Rubens orientiert. 47 Freilich bleibt Constable in seiner Grundauffas-
sung Rubens’ dramatischer Natursicht fern. Und auch in der Art der
Farbe-Helldunkel-Relation ist Constable von Rubens prinzipiell ge-
trennt. Aufschlußreich ist etwa das Detail, daß manche Skizzen Consta-
bles ,,der Vorschrift von Rubens: ,pastos in den Lichtern, transparent in
den Schatten‘, direkt widersprechen“. Diese sind im allgemeinen
dunkel, auch die Schatten sind pastos gemalt, so daß sich solche Werke
als Produkte der Entdeckung von Farbe als Materie darstellen, wobei
nun auch die Dunkelheiten zur farbigen Substanz werden.
Auch Constables Begriff des Helldunkels läßt eine fiir das 19. Jahrhun-
dert charakteristische Formulierung erkennen. „Constable gibt zwei De-
finitionen des Helldunkels: es ist ‘the moral feeling of landscape’, und es
ist ‘the power which creates space’. “ Mit der ersten Definition beschreibt
Constable den Weg zu einer emotional differenzierenden Interpretation
des Helldunkels, wie sie auf andere Weise auch bei Delacroix zu finden
ist. Die zweite Bestimmung erhält ihre charakteristische Note, wenn
man eine weitere Erläuterung Constables hinzunimmt. „Chiaroscuro“,
so Constable, “is by no means confined to dark pictures ... It may be
defined as that power which creates space; we find it everywhere, and at
all times in nature; opposition, union, light, shade, reflection and refrac-
tion, all contribute to it. By this power, the moment we come into a
room, we see that the chairs are not standing on the table, but a glance
shows us the relative distance of all the objects from the eye though the
darkest or the lightest may be the farthest off.. ,” 48 Bezeichnend ist hier
der Vergleich des Helldunkels mit Gegebenheiten der empirischen Wahr-
nehmung, der fiir das universale Helldunkel der neuzeitlichen Malerei
keine Geltung hat (und auch für Constables Kunst nur eine einge-
schränkte).
Solche Näherung des Helldunkels an die empirische Wirklichkeit geht
zusammen mit einer Interpretation der Farbe als „Schatten“. In der
Farbtheorie ist sie hier zu fassen bei Constables Freund George Field (ca.
1777-1854), einem „von philosophischen Neigungen erfüllten Farbenfa-
brikanten“. 49 Dessen „oft reichlich esoterischen“ Werke über Farben-

47 Vgl. Böhler, passim.


48 C. R. Leslie, Memoirs of the Life of John Constable, Composed Chiefly of
his Letters. Ed. by Jonathan Mayne, London 1951, 316f., zitiert nach Böhler,
Constable and Rubens, 124.
49 Vgl. dazuDobai, Kunstliteratur, III, 1185-1189.-AufdenSeiten 1212-1214
278 Malerei des 19. Jahrhunderts

philosophie (>Chromatics; or, An Essay on the Analogy and Harmony of


Colors<, London 1817. >Chromatography; or, ATreatise on Colours and
Pigments, and of their Powers in Painting<, London 1835) waren ,,den
meisten Kiinstlern und sicher auch Constable bekannt, der offenbar
Lield bei der Entwicklung seiner Ansichten in langen Gesprächen behilf-
lich war ..Field schreibt: “Colour, and what in painting is called trans-
parency, belong principally to shade; and the judgement of great autho-
rities by which they have been attached to light as its properties merely”
(- hier denkt Field besonders an Newton -), “has led to error in an art to
which colour is preeminently appropriate; hence the painter has consi-
dered colour in his practice as belonging to light only, and hence many
have employed a uniform shade tint, regarding shadows only as dark-
ness, blackness, or the mere absence of light, when in truth shadows are
infinitely varied by colour .. ,” s0
Wie Goethe begreift Field Farben als etwas „Schattiges“ und wie
Goethe wendet er sich damit auch gegen Newton. 51
Constables Näherung des Helldunkels an die empirische Wirklichkeit
aber läßt sich verstehen als Umdeutung des universalen Helldunkels in
ein meteorologisches Phänomen, des Helldunkel-Lichtes in das durch
Wolken veränderbareTageslicht. Das Dunkel beginnt, sich gegenständ-
lich zu „qualifizieren“, vor allem im Griin: aus tiefem Griin heben sich
Griinzonen in entschieden gegenstandsbezeichnender Funktion ab.
Nicht selten erscheinen Dunkelkomplexe übersät von weißen Licht-
punkten - undenkbar in der friiheren Malerei. Das Licht hebt an, vom
Dunkel Besitz zu ergreifen.

B. Französische Malerei des 19. Jahrhunderts

Exemplarisch stehen die großen Figural-Kompositionen Jacques-


Louis Davids (1748-1825) fiir die Besonderheiten klassizistischer Farben-
gebung. Sein 1784 gemalter >Schwur der Horatier< (Louvre) 52istbestimmt
von gedecktem, graubraunverschattetem Ziegelrot im Mantel des Hora-
tius und im Obergewand des vordersten Sohnes, kontrastiert zu
warmem, etwas umbrastichigem Weiß, in dessen Mantel, vor allem aber

dieses Bandes findet sich eine Bibliographie zu englischen Farbtheorien von


etwa 1790 bis 1850.
50 C. R. Leslie, Memoirs of the Life of John Constable, 317, Anm., zitiert
nach Böhler, 125.
51 Vgl. auch: Gage, Colour in Turner, 182-185.
52 FA: Cuzin, Louvre, I, 88.
Französische Malerei 279

zu großen, abgestuften Bezirken von Grau (wie schon in Davids >Paris


und Helena<) im Gewand des Vaters, blaustichiger im Panzerhemd des
vordersten Sohnes, wieder anders in den Säulen, im aufgehenden Mau-
erwerk, gelblicher im Fußboden zwischen den hellbräunlichen Ziegeln.
Rot und Weiß und reich variierte Grautöne, dazu Ocker geben den be-
herrschenden Farbklang ab - mithin eine offenkundige Anknüpfung an
die antike Vierfarbenskala. Das dunstige Grau der Folie ist dabei auch
schon „verhangene“ Gegenstandsfarbe, also doppelt motiviert: es läßt
sich noch auf das Helldunkel zurückbeziehen, ist aber andererseits
schon entschieden gegenständlich gemeint. Mit einer Helldunkelkom-
position unvereinbar ist auch das scharfe, von oben links einfallende
„Atelier“-Licht, das präzise Schlagschatten zeichnet und den Boden
bühnenartig bis zur vordersten Rampe erhellt. (Eine Helldunkelkompo-
sition ist häufig nach vorne durch Dunkelheit geschlossen.)
Von der alten Farbordnung, der Gipfelung in derTrias, ist nichts mehr
zu spüren, es sei denn, man erfahre sie, wie als Echo, verblichen und ge-
trübt, in der Gruppe der trauernden Frauen rechts, in ihrer Zusammen-
stellung von Senfgelb, Braunrosa und Graublau (als „verfremdetem“
Karmin und Blau), verbunden mit farbpotentiellem Grau und Weiß.
Noch deutlicher bekundet Davids Bild >Brutus werden die Leichen
seiner Söhne gebrachu von 1789 (Louvre), daß die Farben nicht mehr aus
dem Helldunkel entstehen, sondern eine eigene Domäne neben ihm
bilden. Der Beginn der Buntfarbzone ist entschieden gegenständlich
fixiert, beim gelben Stuhl imTon des Kirschbaumholzes. Zwischen ihm
und dem schönen blauen Gewand der Trauernden rechts spielt sich das
ganze buntfarbige Geschehen ab. Es erscheinen: ein ausgeprägtes,
leicht graustichiges Korallenrot in derTischdecke, ein gedämpft grauto-
niges Blau bei derTrauernden, in kleiner Quantität wiederholt im Haar-
band des linken Töchterchens und, in Ausdifferenzierung der Gelb-
Familie, neben dem Kirschholzgelb der Möbel „buttriges“ Goldgelb im
Gewand der anderen Tochter und ein bräunlicher Kupferton in demje-
nigen der Mutter, der sich im Kissen fortsetzt, dazu Weiß als schwerer,
glatter Seidenton mit perlmuttigem Übergang bei denTöchtern - mithin
eine bis zur Auflösung geweitete Trias. Der triadischen Ordnung wirkt
auch die strikte dingliche Bindung entgegen: in neuer Weise empfindet
man die Farben mehr den Gegenständen zugehörig denn als Kompo-
nenten einer Farbkomposition. Das Gelb ist Gegenstandsfarbe des
Stuhles aus Kirschbaumholz - und damit erscheint dieser Ton von der
Hauptgruppe derTrias wie abgebrochen, isoliert, nicht als Derivat ihrer
Gelbwerte. Der akzentuierte „Darstellungswert“ verhindert die Entfal-
tung des „Eigenwerts“.
In der linken Bildhälfte macht sich vor allem die steigende Bedeutung
280 Malerei des 19. Jahrhunderts

von Grau in seiner Doppelfunktion als Helldunkel- und Gegenstands-


farbe bemerkbar: Brutus’ kalt-grauer Mantel gehört optisch noch halb
dem Helldunkel zu, das mausgraue Bahrtuch hingegen ist schon ganz
Gegenstandsfarbe und so auch das Beige-Weiß und Matthellblau in den
Gewändern der Bahrenträger daneben; das rechts folgende Braun der
Riickenfigur aber ist wieder Helldunkelfarbe.
Davids >Sabinerinnen< (1799, Louvre) 53 stellen die konsequente Neu-
anwendung der antiken Vierfarbenskala dar. Der Figuralkomposition
entspricht die zweimalige Abfolge von Saturnrot, Ockergelb und silb-
rigem Weiß, verbunden mit Inkarnattönen, die Leuchtkraft wie im
18. Jahrhundert nicht mehr erreichen, das Ganze vor hellgrauem Fond,
der jedoch keine Beziehung mehr aufnimmt zu den braunen Modellie-
rungsschatten: die Helldunkeleinheit ist in der Figurenkomposition
kraftlos geworden (und in eins damit der „Poussinsche“ Reliefzusam-
menhang) ; wie als Reminiszenz an das 18. Jahrhundert klingt sie nach im
Hintergrund mit dem duftig grauen Himmel und dem bräunlich-blonden
Kastell.
In das schwindende Helldunkel aber bricht weißes, blendendesTages-
licht ein, das lange Schatten wirft-ein Atelierlicht, ein „Oberlicht“, ein-
fallend durch ein hochgelegenes Atelierfenster. (Der >Leonidas< von
1814 steigert noch diese Art von Beleuchtungswirkung.)
Seine Porträts aber gestaltet David in einem anderen „modus“. Das
1790 entstandene Bildnis der >Marquise de Sorey de Thélusson< (Mün-
chen, Neue Pinakothek) 54 ist bestimmt vom Klang aus Rot, Gelb und zu
Grau und Creme führendem Weiß vor einer nahezu homogenen, leise
fluktuierenden Folie duftigen Graus, das in Entfernung schwach gelb-
lich und violett schimmert. Das seidig-kühle Weiß des Kleids und der de-
likate Cremeton des Schals lassen sich auf die graugelbliche Puderfarbe
der Perücke beziehen und ähnlich klingt auch das herausleuchtende Rot-
orange der Schärpe mit dem Silbriggelb des Schals noch zu einem dem
18. Jahrhundert angehörenden Akkord zusammen. Gegenständlich,
„sachlich“ dagegen isolieren sich das Weinrot und Holzgelb des Sessels
und weisen auf das frühe 19. Jahrhundert voraus.
Das Porträt der >Madame Trudaine< (um 1792?, Louvre) 55 zeigt David
auf dem Höhepunkt seiner malerischen Möglichkeiten: vor einem toma-
tenroten, durch das «Frottis» verlebendigten Grund stehen das dunkle,
ebenso flüssig aufgetragene Grau des Gewandes, das Hellblau der

53 FA: Cuzin, Louvre, I, 89.


54 FA: Erich Steingräber, Die Neue Pinakothek München, München 1981,
29.
55 FA: Cuzin, Louvre, I, 90.
Französische Malerei 281

Schleife, das Weiß des Schultertuches. Ein innerer Zusammenhang von


dünner, den Pinselstrich offenlegender Malweise und Ausblühen far-
bigen Eigenwerts macht sich hier kund.
Auch >Madame Recamier< (1800, Louvre) 56 lebt malerisch vom
dünnen, flüssigen Farbauftrag, in den Farbwerten aber nun zusammen-
gezogen auf graustichiges Umbra und Ocker im Bildgrund, das sich über
den Inkarnatton zum Weiß des Gewandes öffnet. Dem hellen farbigen
Ocker kontrastiert in Kissen und Stoffbezug des Sofas zartestes Blau-
grau - in einer vorweggenommenen „kubistischen“ Farbwahl!
Pierre-Narcisse Guérin (1770-1833) leitet aus Davidschen Gestal-
tungselementen nur äußerliche Effekte ab. In seiner >Rückkehr des
Marcus Sextus< (1799, Louvre) 57 fällt von links oben theatralisches
Scheinwerferlicht ein und läßt die Flauptfigur in einem Halbdunkel ver-
sinken, das jede eigenwertige Farbwirkung vernichtet, gerade nur ein
gebrochenes, „verstaubtes“ Braun und trübes Grün in der Kleidung des
Sextus aufkommen läßt, begleitet von einer Reihe von - im Gegensatz
zu David aber schlecht harmonisierten - Grautönen.
Bei Jean-Antoine Gros (1771-1836) verstärkt sich, wie bei seinem
Lehrer David, die gegenständliche Bindung der Farben. Zu seinem >Rei-
terporträt MuraU (Louvre) ist die Trias gegenständlich vorgegeben, im
Neapelgelb, Zinnober und Indigoblau der Uniform, das nicht mehr mit
dem glatten, schwärzlichen, leicht violetten Himmel und der violett-
grauen Landschaft zusammenstimmt. Seine Rubens-Rezeption muß
sich so in engen Grenzen halten.
Für JeanAuguste Dominique Ingres (1780-1867) ist die Zeichnung, le
dessin, die Basis der Kunst: «Le dessin est la probité de l’art». Mit der
Zeichnung ist fast alles für die künstlerische Gestaltung geleistet: «Des-
siner ne veut pas dire simplement reproduire des contours, le dessin ne
consiste pas simplement dans le trait: le dessin c’est encore l’expression,
la forme intérieure, le plan, le modelé. Voyez ce qui reste après cela! Le
dessin comprend les trois quarts et demi de ce qui constitue la pein-
ture.» 58
Gleichwohl läßt auch er, insbesondere in seinem Frühwerk, die Farbe
zu eigenwertigen Wirkungen sich entfalten, die auf ihreWeise den kolo-
ritgeschichtlichen Prozeß widerspiegeln. So tritt in seiner >Baigneuse
Valpinçon< von 1808 (Louvre) an die Stelle einer Helldunkelbewegung
die sorgfältige Abstufung neutraler oder zart getrübter Werte. Vom dun-

56 FA: Cuzin, Louvre, I, 90.


57 FA: Cuzin, Louvre, I, 98.
58 Henri Delaborde, Ingres, Sa vie, ses traveaux, sa doctrine, Paris 1870,123,
zitiert nach Kempter, Dokumente, 25.
282 Malerei des 19. Jahrhunderts

kelgraugrünen, nach unten zu Rötlichbraun changierenden Vorhang


links fiihrt die Stufung zum „abstrakten“, völlig bunttonfreien Grau im
Schatten des weißen Tuches der Riickwand, von da zum Bett, wird
wieder etwas dunkler im Gewandstiick am Ellenbogen und endet im
hellsten Weiß des Turbans, in das die mattkarminfarbene Musterung,
und damit die einzige ausgeprägte Buntfarbe des Biides, eingewirkt ist.
In der >Odaliske< von 1814 (Louvre) 59 spricht die Buntfarbe kräftiger
mit. Es ist ein festes, etwas grautoniges, „französisches“ Blau in Vor-
hang, Kissen, Sofa vordunkelgrauerFolie, zusammengestellt mitsattem
Ocker, Weiß und etwas Graubraun, vor allem aber mit dem Gelblichrosa
der Karnation. Weiße Glanzlichter fehlen, so kommt es zur flächigen Zu-
sammenschließung größerer Partien, die mit den detaillierten, auch
durch Muster gegliederten Bildstellen (etwa in Turban, Pfauenfeder,
Armschmuck) rhythmisch alternieren. Der „arabeskenhaften“ Bildglie-
derung dient mithin auch die Farbe. Erneut kommt so die „Lokalfarbe“
zur Geltung - Ingres entdeckt die Malerei des Quattrocento für sich neu.
Und in solcher Lösung der Farbe aus atmosphärischen Bezügen konnte
Ingres’ Farbigkeit auch Maler der klassischen Moderne beeindrucken. 60
Die >Apotheose Homers< (1827, Louvre) 61 aber macht die Grenzen
der Ingresschen Farbgestaltung sichtbar. Es handelt sich hier um die Stei-
gerung einer schon bis ins letzte linear festgelegten Komposition durch
„geschmackvolle“, nebeneinander aufgereihte Buntfarben, die so den
Gegenständen wie „auferlegt“ erscheinen, und ohne eigene Relationen
untereinander oder zum Grund entwickeln zu können, einzig durch das
Beleuchtungslicht aufeinander bezogen werden.
In Théodore Gericaults (1791-1824) Frühwerk des >Jägeroffiziers< von
1812 (Paris, Louvre) wird die Umdeutung des Helldunkels (und damit
des Bildgrundes) vor allem in der Bodenpartie faßbar: Olivbraun, Oliv-
grün, Ocker, kühles, silbriges Grünspangrün machen sich als Farbwerte
geltend. Deren Wirkung als Farben begünstigt der breite Auftrag, der sie
stellenweise zu krustigen Zonen verdichtet. Auf diesen Grund sind die
Pferdebeine abgestimmt, von hier aus entwickelt sich die Farbe zu Ge-
genstandsbezeichnung. Eine letzte Gegenstandstreue wird nicht er-
strebt, die Farbkomposition kann im Rot und Blau der Uniform gipfeln
- ein traditioneller Zug.
59 FA: Cuzin, Louvre, 1,106.
60 «Un tableau d’Ingres est une symphonie parfaitement homogène où le
sujet ne joue qu’un rôle de second plan ... Delacroix ... optait pour l’atmo-
sphère colorée, les jeux de lumière, alors que ... Ingres tenait pour le ton local,
la couleur partie intégrante et constitutive de la forme ...» (Ozenfant et Jean-
neret, La peinture moderne, Paris o. J. [um 1927], 76.)
61 FA: Cuzin, Louvre, I, 107.
Französische Malerei 283

Die hier erwachende Farbigkeit wird in Gericaults Hauptwerk, dem


>Floß der Medusa< (1819, Paris, Louvre) wieder zurückgenommen, eine
Tonigkeit in Braun wiederum von modellierendem Helldunkel über-
fangen.

Wie bei keinem anderen Maler des 19. Jahrhunderts durchdringen sich
bei Eugène Delacroix (1798-1863) künstlerische Verwirklichung und
Nachdenken über Probleme der Farbgestaltung. Seine Tagebücher sind
erfüllt von farbtheoretischen Reflexionen und Notizen über Beobach-
tungen farbiger Phänomene. Schon erwähnt wurde die Bedeutung, die
Delacroix dem Prinzip der Farbteilung zumißt, das sich in unterschied-
lichen Verfahren des farbigen Auftrags entfaltet und mit einer Bevorzu-
gung des sichtbaren Pinselstrichs verbindet.
Es sind dies für Delacroix aber keine Fragen bloß der künstlerischen
Technik. Eine Notiz vom 18. Juli 1850 in Delacroix’ Tagebuch lautet: «Je
me suis dit cent fois que la peinture, c’est-à-dire la peinture matérielle,
n’était que le prétexte, que le pont entre l’ésprit du peintre et celui du
spectateur. La froide exactitude n’est pas l’art ...» Die Malerei als
Brücke vom Geist des Malers zu dem des Betrachters überträgt dessen
Leidenschaft und Vernunft. Einige Seiten später, unter dem 21. Juli
1850, schließen sich folgende Überlegungen zum Zusammenhang von
Erfahrung und Kühnheit an: «L’expérience est indispensable pour ap-
prendre tout ce qu’on peut faire avec son instrument, mais surtout pour
éviter ce qui ne doit pas être tenté ... L’expérience seule peut donner,
même au plus grand talent, cette confiance d’avoir fait tout ce qui pou-
vait être fait... Et pourtant il faut être très hardi! Sans hardiesse, et une
hardiesse extrême, il n’y a pas de beautés.. ,» 62 Zu Erfahrung und Kühn-
heit, Leidenschaft kommt als drittes Vernunft, «raison». Delacroix er-
strebt für seine Kunst eine Synthese von Leidenschaft, Leben, Phantasie
und Vernunft 63, von «la vie et la raison», «l’imagination et la raison»:
«c’est la réunion de ces deux facultés, l’imagination et la raison, qui fait
les hommes exeptionnels» (lO.Februar 1850); ein höchstes Beispiel sol-
cher Vereinigung ist ihm Tizian: «Les qualités du peintre sont portées
chez lui au plus haut point: ce qu’il fait est fait; les yeux regardent et sont
animés du feu de la vie. La vie et la raison sont partout.» (4. Oktober
1854) 64

62 Journal de Eugène Delacroix, tome premier 1822-1852, Nouvelle édition


... par André Joubin, Paris 1950, 391, 393, 394.
63 Vgl. Kurt Badt, Gedanken über Leidenschaft und Vernunft (la vie et la
raison) in den Künsten. In: Badt, Eugène Delacroix, Werke und Ideale. Drei Ab-
handlungen, Köln 1965, 75-103.
64 Journal de Eugène Delacroix, II, 1853-1856, 282.
284 Malerei des 19. Jahrhunderts

Erfahrung, Leidenschaft und Vernunft sind die Parameter auch fiir


Delacroix’ Farbgestaltung und sein Nachdenken iiber die Farbe.
Farbtheoretische Systematisierung bekundet sich in einer Schema-
zeichnung auf einem Blatt seines im ersten Flalbjahr 1832 während
seiner Marokko-Reise benutzten Skizzenbuches. Hier setzt er die
Grundfarben an die Ecken eines Dreiecks ein, links unten Gelb, rechts
unten Blau, oben Rot, dazwischen kommen die Sekundärfarben zu
liegen - offenbar ohne Kenntnis der ähnlichen, aber innerhalb eines
Farbenkreises veranschaulichten Goetheschen Farbordnung. Der
Zeichnung ist folgenderText beigefügt: «Des trois couleurs primitives se
forment les trois binaires. Si vous ajoutez le ton primitif qui lui est op-
posé vous 1’anihilez, c’est-à-dire vous en produisez la demi-teinte nécés-
saire. - Ainsi, ajouter du noir, n’est pas ajouter de la demi-teinte, c’est
salir le ton, dont la demi-teinte véritable se trouve dans le ton opposé. -
Nous avons vu des ombres vertes dans le rouge: la tête des deux petits
poissons. Celui qui était jaune avait des ombres violettes, celui qui était
plus sanguin et plus rouge, des ombres vertes.» 65 Delacroix verbindet in
diesemText die Beobachtung komplementärfarbiger Schatten mit einer
Aufstellung der Farbenordnung nach Primär-, Binär-(Misch-) und Kom-
plementär-(Gegen)farben, ihre Relationen klar veranschaulichend, in
vollkommener Durchdringung von Beobachtung und Systematik.
Komplementärfarben haben fiir Delacroix sowohl hinsichtlich der far-
bigen Mikro- wie auch der Makrostruktur seiner Bilder Bedeutung. (Ein
Hauptbeispiel fiire die bildbestimmende Wirkung des Rot-Griin-Kon-
trastes ist die >Tigerjagd< von 1854 im Louvre.)
In der Beischrift zum Farbenschema - wie in einer Reihe weiterer Auf-
zeichnungen - spricht Delacroix von komplementärfarbigen Schatten.
Später unterscheidet er Kontrastbeziehungen zwischen Licht und
Schatten, Mittelfarbe und Reflex. In einer auch fiir den Begriff «plein
air» wichtigen Aufzeichnung vom 7. September 1856 heißt es: „Ich sehe
von meinem Fenster einen Parkettleger, der bis zum Gürtel nackt, in
dem offenen Gang (galérie) arbeitet. Ich bemerke, indem ich seine
Farbe mit der äußeren Mauer vergleiche, wie starkfarbig die Mittelfar-
ben (demi-teintes) seines Fleisches im Vergleich zu den leblosen Massen
sind. Ich habe dasselbe vorgestern auf der Place Saint-Sulpice beob-
achtet, wo ein Junge in der Sonne auf eine Statue des Brunnens ge-
stiegen war: mattes Orange in den hellen Partien, die lebhaftesten Vio-
letts als Übergang zum Schatten und goldene (das ist orangefarbene)
Reflexe in den Schatten, die der Sonne entgegenstanden. Das Orange

65 Zitiert nach Kempter, Dokumente, 121. Dort auch das Farbschema Dela-
croix’. Dieses auch wiedergegeben bei Lersch, Farbenlehre, Sp. 252.
Französische Malerei 285

und das Violett herrschten abwechselnd vor und mischten sich. Der gol-
dene Ton enthielt Grün. Das Fleisch hat seine wahre Farbe nur in der
freien Luft («en plein air») und besonders in der Sonne. Wenn ein
Mensch seinen Kopf an das Fenster hält, ist er ein ganz anderer als im In-
nern des Zimmers; daher die Dummheit der Atelierstudien, die sich be-
streben, diese falsche Farbe wiederzugeben.“ 66
Nach einem Bericht Andrieus wählte Delacroix in seiner Reifezeit für
Licht, Lokalton, Halbschatten, Schatten und Reflex stets kontrastie-
rende Farben: «<I1 faisait toujours contraster sa lumière et son ombre, sa
demi-teinte et son reflet. Exemple: ombre violette, clair jaune, ton local
rouge, demi-teinte bleu-gris, se guidant sur le ton local placé entre la
demi-teinte et le clair, ton local qui, s’il n’était juste, désaccorderait tout
le reste>.» 67
Diese Teilung und Kontrastierung der Farben ist die Grundlage ihrer
„Verkettung“ («enchainement»).
Der Reichtum Delacroixscher Farbgestaltung 68 besteht in der Zusam-
menfassung zweier unterschiedlicher Kontrastbeziehungen, der in der
„Kleinstruktur“ durch Farbteilung entstehenden Beziehungen und der
Farbgegensätze der „teintes uniformes“.
Die >Dante-Barke< (1822, Paris, Louvre) wird noch entscheidend be-
stimmt von den großen Farbgegensätzen: einem aufleuchtenden, grün-
lichen Graublau und tiefem, warmen Rot bei Dante, Braun im Mantel
Vergils. Das tiefe Blau des Phlegiasmantels geht schon in das Dunkel
über, das als tiefes Blaugrau rechts, tiefes Graubraun, zu Orangebraun
sich auflichtend, links den Grund erfüllt. Ein dichtes, schwärzliches
Flaschengrün im Wasser vorn umfaßt eng die nackten Leiber der Ver-
dammten, läßt sie nicht mehr, wie in der „klassischen“ Helldunkel-
malerei, aus einerTiefe erst entstehen. Farbige Mikrostruktur findet sich
erst in den Wassertropfen auf diesen Leibern. Angeregt von Rubens sind
sie in den Farben des Prismas gemalt.
Beim >Massacre de Chios< (1824, Paris, Louvre) lösen sich aus dem
flutenden Helldunkel der Figurengruppe nur zwei Buntwerte heraus,
ein gedecktes, graustichiges, in den Schatten reflexhaft aufgelichtetes
Hellblau im Gewand der jungen Frau links, ein Orangebraun, kupfriges
Rehbraun, dunkel-gefleckt - schon ein Farbton eigener Delacroixscher
Erfindung - im Gewand der Alten rechts.

66 Badt, Eugène Delacroix, Werke und Ideale, 66 - Journal de Eugène Dela-


croix, II, 465/466.
67 Zitiert nach Kempter, Dokumente, 127.
68 FA: z.B. in: RenéHuyghe, Delacroix, dt. München 1967. -Cuzin,Louvre,
I, 111-113.
286 Malerei des 19. Jahrhunderts

Diese Farben aber stehen durch eine Vielzahl von Vermittlungen mit
den Dunkelheiten in Beziehung, die Farbe sucht sich die Dunkelheit zu
erobern - was ihr hier jedoch erst an einigen Bildstellen gelingt. Farbig-
keit entzündet sich hier noch an den Figuren, der Flimmelsgrund bleibt
stumpf, im trüben Sandgelb der blassen föhnigen Wolken und im Blau-
grau.
Das Mittel der Farbvereinheitlichung wird die von Constable über-
nommene, von Delacroix zum Prinzip erhobene, d.h. auf alle Farben
des Bildes übertragene und damit neuformulierte Farbteilung: „Solange
die Unterteilungen nur innerhalb einer Grundfarbe erfolgen, ergeben
sich vorwiegend nur Helligkeitsgegensätze zwischen den einzelnen
Stufen (wie im Falle des ,Wiesengriins‘ bei Constable); sobald jedoch
diese Stufen von der Grundfarbe abweichen und auch entferntere Werte
an ihre Stelle treten, entsteht ein System von Kontrasten aus den Bunt-
werten selbst, das schließlich den gesamten Farbbereich umspannen
kann.“ 69 Diese „chromatischen“ Farbkontraste legen „gleichsam das In-
nere der Farbe bloß“, die Kontraste der „teintes uniformes“ dagegen be-
stimmen die Bildwirkung im großen. „Beide Kontrastprinzipien sind
stets gleichzeitig in Delacroix’ Malerei wirksam, nur ihr jeweiliger An-
teil an der Bilderscheinung ändert sich - oft sogar in Werken innerhalb
einer und der gleichen Schaffensperiode.“
Die von Delacroix vollzogene „Verallgemeinerung des Constable-
schen Verfahrens“ ermöglicht neue Wirkungen der optischen Mischung
der Farbstufungen im betrachtenden Auge. „Durch Delacroix wird sie
- wohl zum ersten Mal in der Geschichte der neueren Malerei - mit vollem
Bewußtsein als künstlerisches Mittel anerkannt und in die Bildwirkung
einbezogen. Seine Neuerung betrifft einmal den Buntwert der Farbe, inso-
fern als die Brechungen eines und des gleichen Tones dessen Intensivie-
rung bewirken und die Paarung verschiedenf arbiger Partikel einen dritten,
neuen Farbwert erzeugen konnte. Sie betrafen aber auch - der vielleicht
noch bedeutungsvollere Schritt - die Erscheinungsweise der Farbe als
Mittlerin des Bildlichts und Bilddunkels. Nicht so sehr in ihrer Differenzie-
rung lag das Entscheidende als darin, daß die optische Mischung der
farbigen Partikel Lichtwirkungen suggerieren konnte, die mit den bisher

69 Strauss, Zur Frage des Helldunkels bei Delacroix, 140. Auch diefolgenden
Darlegungen weithin nach dieser Studie. Zitate auf den Seiten 141,142/143,143,
144, 145. - Zur Farbgebung Delacroix’ vgl. auch die genauen Darlegungen von
Lee Johnson, Delacroix, London 1963. -Vgl. auch: Alexander Battes, Die Farbe
bei Delacroix, (ungedruckte) Diss., Frankfurt a. M. 1942. -René Huyghe, Dela-
croix, London 1963, München 1967, 390-398 u. passim. - Jack J. Spector, The
Murals of Eugène Delacroix at Saint-Sulpice, New York 1967, 143-153.
Französische Malerei 287

lichen malerischen Mitteln nicht erzielbar waren.“ Das Zusammen-


wirken von Buntqualitäten läßt so Bildlicht entstehen, „jene spezifische
vibrierende Helle, die wie ein feinster ätherischer Stoff sich über die aus
geteilten Farben gebildeten Komplexe zu breiten scheint, ihnen etwas
von der Wirkung reflektierten Lichts mitteilt und schließlich auch auf das
Aussehen der Bilddunkelheiten zurückwirkt“.
Erst langsam setzt sich dieses Verfahren gegen die überkommenen
malerischen Gestaltungsweisen durch, „systematisch“, im Sinne einer
methodischen Anwendung, nicht vor der um 1850 beginnenden Spät-
phase seines Schaffens.
Werke der frühen Zeit werden noch von, allerdings neu organisierten,
Buntfarbkomplexen bestimmt. Im Bild >Der 28. Juli 1830 - Die Freiheit
führtdas Volk< (1830, Paris, Louvre) reißen Rot und das etwas gedeckte
Blau der Fahne den Blick nach oben. Sie wiederholen sich, stärker ge-
brochen und in umgekehrter Quantität, im Aufblickenden zu Füßen der
Liberté. Die senkrechte Verbindung dieser Farbpaare stellt das matte,
helle Ledergelb im Gewand der „Freiheit“ her, dunkel-schmutzig-grau
verschattet. So bildet noch einmal eine Variation der Grundfarbentrias
die farbige Grundfigur eines Bildes, allerdings dynamisch gespannt und
im Dienste farbiger Expression.
Den Bildgrund füllen tiefes Schwarzbraun und Schwarzblau. Aber
auch das Dunkel will nun Form und Farbe werden. Die Dinge setzen sich
von ihm ab. Nicht mehr läßt Dunkelheit Buntfarben werden, entstehen,
wie im ursprünglichen Helldunkel.
Noch die erste Fassung der >Frauen vonAlgier< (1834, Paris, Louvre)
zeigt, daß Delacroix vom Dunkel her zur Eigengesetzlichkeit der Farbe
kommt. 70 In den Helldunkelkontrast sind Farbakkorde von Rot und
Blau (bei der Negerin) Restbestände derTrias aus Lachsrot, Indigo und
Strohgelb in Gewand und Kissen der links Lagernden eingelassen. Ver-
bleibende Dunkelheiten erscheinen, aus einer Nähe gesehen, die den
Gesamtanblick des Bildes erschwert, farbig durchgestaltet. Je nach der
Distanz machen sich verschiedene Bildwirkungen geltend. Dem ent-
spricht, daß „die durch optische Mischung hervorgerufenen feinen
Grauwerte oder durch zerlegte Farben erzielten intensiven Lichtpartien
als überraschende ,Stellen‘ innerhalb einer traditionellen Malerei“ auf-
treten.
Erstmals im >Einzug der Kreuzfahrer in KonstantinopeU (1840, Paris,
Louvre) wird „in einem großformatigen Gemälde Delacroix’ die Farbtei-
lung nicht allein in den Lichtregionen erkennbar, sondern ebenso in den

70 Wobei allerdings der Erhaltungszustand des Bildes in Rechnung zu stellen


ist. Vgl. hierzu Kempter, Dokumente, 74/75.
288 Malerei des 19. Jahrhunderts

vom Licht abgewandten Partien ... Das Dunkel ist nun nicht mehr total
geschieden vom Licht, sondern hat Fiihlung mit ihm genommen, er-
scheint verschieden stark durchhellt.“ Und umgekehrt: sobald die
«demi-teinte reflétée» als Farbe spricht, zieht sie den Lichtton sozusagen
zu sich herunter, entriickt ihn dem direkten Licht, durchfiltert ihn. Kein
Ausbrechen ins Licht kann so erfolgen, sondern ein gesammeltes, aus-
drucksmächtiges Gliihen entsteht. Gleichzeitig steigt der Bildgrund zum
Ausdrucksmedium auf. Das fahle, olivstichige Weißlich-Gelb des
Grundes mit seinem Charakter des „Schreckensbleichen“ und Gewitt-
rigen scheint noch in den Flelligkeiten des Vordergrundes nachzuzittern.
Im Spätwerk wird sodann die demi-teinte „für Delacroix zum Grund-
material seiner farbigen Konzeption“. Die wichtigen Eintragungen De-
lacroix’ in sein Tagebuch hierzu lauten: «II faut ébaucher le tableau
comme serait le sujet par un temps couvert, sans soleil, sans ombres tran-
chées. II n’y a radicalement ni clairs ni ombres. II y a une masse colorée
par chaque objet, reflétée différement de tous côtés ...» (5.Mai 1852) 71
«Plus je réfléchis sur la couleur, plus je découvre combien cette demi-
teinte reflétée est le principe qui doit dominer, parce que c’est effective-
ment ce qui donne le vrai ton, le ton qui constitue la valeur, qui compte
dans l’objet et le fait exister. La lumière, à laquelle, dans les écoles, on
nous apprend à attacher une importance égale et qu’on pose sur la toile
en même temps que la demi-teinte et que l’ombre, n’est qu’un véritable
accident: toute la couleur vraie est là: j’entends celle qui donne le senti-
ment de l’épaisseur et celui de la différence radicale qui doit distinguer
un objet d’un autre.» (29. April 1854) 72
In den Wandbildern der Chapelle des Saints-A nges in Saint-Sulpice,
Paris (1856-1861) verwirklicht Delacroix diese seine in der «demi-teinte
reflétée» gründende Konzeption farbiger Gestaltung am reinsten.
Hier erfüllt sich, was Delacroix unter «liasion» der Farben versteht.
Für seinen >Dictionnaire des Beaux-Arts> notiert er unter dem 25. Ja-
nuar 1857 in seinTagebuch: «Liaison. Quand nous jetons les yeux sur les
objets qui nous entourent, que ce soit un paysage ou un intérieur, nous
remarquons entre les objets qui s’offrent à nos regards une sorte de
liaison produite par l’atmosphère qui les enveloppe et par les reflets de
toutes sortes qui font en quelque sorte participer chaque objet à une
sorte d’harmonie générale. C’est une sorte de charme dont il semble que
la peinture ne peut se passer .. ,» 73

71 Journal de Eugène Delacroix, I, 468.


72 Journal de Eugène Delacroix, II, 176/177.
73 Journal de Eugène Delacroix, III, 41. - Sieber-Meier, Untersuchungen
zum >Œuvre littéraire< von Eugène Delacroix, 93, 94.
Französische Malerei 289

Die «liaison» der Farben läßt eine neue Art von «harmonie générale»
erstehen, Harmonien, in denen die Bildgehalte farbig zum Klingen ge-
bracht werden. Daß Delacroix in neuerWeise die Farbklänge auf die Be-
sonderheit der Bildgehalte abstimmt, diesen Wesenszug der Delacroix-
schen Farbgestaltung hat schon Charles Blanc beschrieben: «Veronèse
et Rubens sont toujours préoccupés de donner une féte au regard, de lui
jouer une sérénade, même lorsque le drame représenté voudrait des har-
monies sombres, austères, froides ou stridentes. Que Jésus-Christ soit
assis aux noces de Cana, ou qu’il marche au Calvaire, ou qu’il apparaisse
aux disciples d’Emmaüs, Veronèse ne change point ou ne change guère
le caractère moral de ces couleurs ... Plus poète, plus pénétré de son
sujet, plus ému de son emotion, Eugène Delacroix ne manque jamais de
monter sa lyre au ton de sa pensée, et de faire que le premier aspect de
son tableau soit la prélude de sa mélodie, grave ou légère, mélancolique
ou triomphante, douce ou tragique. Du plus loin, avant de rien dis-
cerner, les spectateurs pressent les coups qui frapperont son âme. Quelle
désolation dans le ciel crépusculaire de >Christ au tombeau<! Quelle tri-
stesse amère et âpre dans le tableau d’>Hamlet devant le fossoyerd ... et
quelle haute fanfare dans le coloris de la >Justice deTrajan<.. .» 74
Von „Lyra“, von „Melodie“, von „Fanfaren“ spricht Charles Blanc
hier - und umschreibt damit, daß bei Delacroix an die Stelle der huma-
nistischen Korrelation „ut pictura poesis“ die Formel „ut pictura mu-
sica“ getreten ist. 75

Mit wenigen Bemerkungen sei die >Schule von Barbizom charakteri-


siert.
Im Bild >Brücke und Mühle bei Mantes< 76, gemalt 1860/65 (München,
Neue Pinakothek) von Jean-Baptiste-Camille Corot (1796-1875), er-
scheint ein Gesamtton als Ergebnis einer Verminderung aller Lokal-
farbenunterschiede, als der gemeinsame Anteil der Farben an dem vom
Himmelston ausgehenden Grau. Dieses bestimmt die „Valeur“, die
„Quantität an hell und dunkel, die in einemTon enthalten ist“. Der Bre-
chungsgrad beim Rot der Dächer ist ähnlich dem des Blau beim Rock
der Frau und dem des Gelb des Weges. Dies Nebeneinander von Hellig-
keitsstufen, durch Farbwerte verschiedener Qualität ausgedrückt, ent-

74 Charles Blanc, Grammaire des arts du dessin, architecture, sculpture, pein-


ture, 572.
75 Vgl. hierzu: George P. Mras, Ut Pictura Musica: A Study of Delacroix’
Paragone. In: The Art Bulletin, Vol. XLV, März 1963, 266-271. - Kempter,
Dokumente, 170-173.
76 FA: Erich Steingräber, Neue Pinakothek, 93.
290 Malerei des 19. Jahrhunderts

hüllt im Keim die fmhimpressionistische Flecktechnik. Die mit der


Valeurabstimmung gegebene Milderung der Helligkeitsgegensätze be-
wirkt den Eindruck verschleierten oder sinkendenTageslichts.
Auch bei den >Ährenleserinnen< (1857, Paris, Louvre) 77 von Jean-
François Millet (1814—1875) herrscht eine gedämpfte Helligkeit mit
bräunlichem und grauviolettem Unterton. Der Himmel erscheint zart
violettstichig, wie als Mischung der beiden deutlichsten Buntfarben des
Bildes, der stark zurückgedämmten Graublau- und Kupferrottöne in
den Kopftüchern der sich bückenden Bäuerinnen. Im weißen Ärmel der
mittleren sammelt sich das Licht, das wie „gefiltert“ wirkt. Die unge-
mein zurückgenommenen Farben (die im Widerspruch zu den monu-
mentalen Formen zu stehen scheinen) folgen sich in minimalen
Schritten, rötlicheTöne in der mittleren Figur: um Kupferrötlich, Bräun-
lich, Hellkarmin kreisend, delikate Nuancen farbigen Graus in der Ste-
henden rechts: Silbriges Hellblaugrau, Taubengrau, Blaugrau und
Türkisgrau. Die Farbschranken sind so niedrig gehalten, daß sie Induk-
tionswirkungen sehr erleichtern, die unbestimmten Farbtöne als „Reso-
nanzen“ erscheinen lassen: so gewinnt der schwer bestimmbare, schwe-
bende Bräunlichton des Feldes im Mittelgrund gegen die Graustufung
der Rückenfigur einen zarten Rosaviolett-Ton, der im leicht sich verdun-
kelnden Vordergrund wieder verklingt.
Dies System schwebender Resonanzfarben findet im Impressionismus
keine Nachfolge, es rechnet auch nicht mit der Methode der Farbtei-
lung.

Auf wieder andere Weise vollzieht Gustave Courbet (1819-1877) die


Verwandlung der Dunkelheit zur Farbe. In der Regel entfaltet sich die
Farbigkeit seiner Bilder auf dunklem Grunde. Auch beginnt Courbet
mit den dunkelsten Stellen im Bilde. «II poursuit l’harmonie en mar-
chant par degrés de l’ombre la plus forte à la lumière la plus vive, et il
appelle sa dernière touche: >Ma dominante<. Suivez, dit-il, cette compa-
raison: >Nous sommes enveloppés par le crépuscule du matin, avant les
premières lueurs de l’aube: les objets sont á peine perceptibles dans
l’éspace; le soleil se lève: les formes se dessinent sensiblement; le soleil
monte: elles s’illuminent par degrés et s’accusent enfin en toute pléni-
tude. Eh bien, je procède dans mes tableaux, comme le soleil agit dans la
nature>.» 78 Auch zu Max Claudet bemerkt Courbet: «Cela vous étonne
que ma toile soit noire! ... La nature sans soleil est noire et obscure; je

77 FA: Cuzin, Louvre, I, 119.


78 Théophile Silvestre, Histoire des artistes vivants, Paris 1855, 270. Zitiert
nach Kempter, Dokumente, 216.
Französische Malerei 291

fait comme la lumière, j’éclaire les points saillants, et le tableau est


fait.» 79
Eine solcherart „naturhafte“ Erklärung der Dunkelheit des Bild-
grundes und der darauf erscheinenden Helligkeiten wäre für das neu-
zeitliche Helldunkel unangebracht und ist gleichfalls als eine Weise der
Umdeutung des Helldunkels in Farbe und eine der „Realität“ näherge-
brachte Dunkelsituation zu verstehen.
Mit dieser Umsetzung in Farbe geht auch bei Courbet einher die
Akzentuierung der Farbmaterie, des Pigments. Häufig arbeitet er mit
dem Palettenmesser. Claudet beschreibt sein Verfahren folgender-
maßen: «II prenait avec son couteau, dans une boîte où étaient des
verres remplis de couleur, du blanc, du jaune, du rouge et du bleu. II en
faisait un mélange sur sa palette, puis, avec son couteau, il l’étendait sur
la toile et la râclait d’un coup ferme et sür. Faites donc, nous disait-il, avec
un pinceau des rochers comme cela, que le temps et la pluie ont rouillés
par des grandes veines de haut en bas! ... Et toujours son couteau cou-
rait sur la toile. Après deux heures le tableau était terminé et on y sentait
la main du maïtre et son souffle puissant.» 80 (Aufschlußreich ist auch
hier die „naturalistische“ Erläuterung des künstlerischen Verfahrens.)
Courbet legt eine gleichmäßig dichte Farbschicht über alle Bildzonen:
«II empâte également toutes les parties de ses compositions: les premiers
plans, les horizons, les ombres, les lumières. Ce n’est que par la qualité
du ton et par la précision du modelé qu’il fait avancer ou reculer les ob-
jets dans la perspective, au lieu d’employer les frottis et les glacis moyens
<factices et impuissants>.» 81
Die differenzierte Anwendung lasierenden und opaken Farbauftrags
ist für Courbet ein „künstliches und ohnmächtiges Mittel“. Es leuchtet
aber ein, daß mit seinem Verfahren die räumliche Weite und Spannkraft
der Helldunkelgestaltung nicht mehr zu erreichen war.
In Courbets >Begräbnis zu Ornans< (1849/50, Paris, Louvre) 82 er-
blühen auf der schwarzen Folie, an der auch die Figuren in hohem Maße
beteiligt sind, helle Werte, Weiß-, Grau, Rot-, Bläulichtöne. Der Grund
ist „Schwärze“ eher denn „Dunkelheit“, das Weiß nicht eigentlich „Ge-
genpol“ zum (weitaus dominierenden) Schwarz, sondern Valeur der

79 Max Claudet, Souvenirs, Gustave Courbet, Paris 1878, 10. Zitiert nach
Kempter, Dokumente, 217.
80 Claudet, Souvenirs, Gustave Courbet, 10. Zitiert nach Kempter, Doku-
mente, 107.
81 Théophile Silvestre, Histoire des artistes vivants, 270/271, zitiert nach
Kempter, Dokumente, 72.
82 FA: Cuzin, Louvre, 1,120/121.
292 Malerei des 19. Jahrhunderts

Tonskala von Weiß nach Schwarz. Es ist meist ein warmbräunlicher, also
erdfarbstichiger Ton, dem ein weißliches, kühles Grau antwortet. Eine
tiefere Stufe nimmt der warm braungraueTon des Himmels ein, auch die
Buntfarben, ein warmes, zwischen Saturnrot und Orange liegendes Rot
und ein gedecktes Tiirkisblau, sind Elemente dieser Tonskala, ebenso
die Inkarnate. Die Buntfarben sind also, anders als in der Helldunkel-
malerei, keine Steigerungsmomente, sondern erscheinen, tonig ge-
dämpft, von schwarzen und weißen Tongraden wie umklammert. In
ihrer Intensität zuriickgenommen, sind sie in ihrer Materialität um so
stärker akzentuiert. Sie wirken schwer, erdig gebunden, je eigens
flächenhaltig in sich geschlossen. Nicht mehr entquellen oder versinken
sie in einem raumhaltigen Dunkelgrund, sondern binden sich mit dem
Schwarzgrund zu einer dichten, in sich gestuften Bildmaterie: dies ist ein
neuer, zukunftsweisender Zug der Courbetschen Farbgestaltung.
Doch ist die darin sich bekundende Transposition des Helldunkels
nicht in allen Gemälden Courbets gleichmäßig durchgeführt. Ernst
Strauss hatte bei Delacroix’ Gemälde >Clorinde befreit Olindo und
Sofronia vom Scheiterhaufen< (gemalt 1854/56, München, Neue Pinako-
thek) auf eine Ambivalenz der Farblichtwirkung hingewiesen: die un-
tere Bildhälfte wird durch ein tiefes, „schwelendes“ Dunkel bestimmt,
im Hintergrund aber glüht ein schon von Freilichterfahrungen geprägtes
Dämmerlicht auf. 83 Innerhalb der Courbetschen Möglichkeiten zeigt
>Das Atelier des Malers< von 1855 (Paris, Louvre) 84 eine vergleichbare,
für das mittlere 19. Jahrhundert charakteristische Ambivalenz: die linke
Bildhälfte mit ihrer wie als Durchblick zwischen imaginären Pfeilern er-
scheinenden Landschaft ist in einem noch traditionellen Helldunkel ge-
halten, die rechte Bildhälfte dagegen wie von einem „Kellerlicht“ er-
füllt. In der Festigkeit der tiefgestimmten Farben, gegen die auch hier
einzelne helleTöne, das Weißlichrosa des auf dem Boden liegenden Ge-
wandes, das Bläulichgrau der Liebenden in der rechten Figurengruppe,
stehen, binden sich die Differenzen der Lichtwirkung.
Courbets zwischen 1854 und 1860 gemalter >Steinbruch von Optevoz<
(München, Neue Pinakothek) 85 kann seine Formulierung der farbmate-
riellen Valeurgestaltung veranschaulichen: eine herabgestimmte und zu-
gleich verengte, um Grau als Zentrum liegende Skala bestimmt die Bild-
farbigkeit: graugrün sind die Wiesenmatten, grau das Wehr und die
Felsen, jedoch schon ganz zerteilt, mit kurzen, über eine dunklere,

83 Strauss,ZurFragedesHelldunkelsbeiDelacroix, 148. FA: ebendort,Farb-


tafel 5. - Steingräber, Neue Pinakothek, 58.
84 FA: Cuzin, Louvre, 1,121.
85 FA: Steingräber, Neue Pinakothek 96.
Französische Malerei 293

braune Farbschicht borkig gelegten, stellenweise in Farbspritzern aufge-


tupften Strichen. Beim Wasser lassen knappe, trockne, mit dem steilen
Pinsel aufgetragene Flecken in Grau, Braun und Weiß über einer fast
schwarzen Folie die Illusion „glitzernden“ Sonnenlichts entstehen, zu-
gleich aber betonen sie den Eigenwert von Farbe und Faktur, jedoch ist
diese, charakteristisch für Courbet, nicht zum Prinzip erhoben - so er-
scheinen die Schatten viel glatter und summarischer, als fast schwärz-
liche Dunkelheit. Breiter und flüssiger ist auch das Wiesengrün über die
dunkelbraune Folie gewischt. Erst Cézanne wird Materialität der Farbe
mit durchgehender Farbteilung wieder verbinden.
Im Spätwerk Courbets aber vertieft sich nochmals die Dunkelheit. So
stehen im >Apfelstilleben< von 1871 (München, Neue Pinakothek) 86 die
dumpf-roten Äpfel in engem Intervall vor dem schwarzgrünen Baum-
hintergrund. Die entschieden plastisch durchgebildeten Körper aber
sind nicht in Dunkelheitswerte umgesetzt, sind also nicht, wie in der nie-
derländischen Helldunkelmalerei des 17. Jahrhunderts, „neutralisierte
Partien“, sondern versuchen, bis in die Tiefe hinein ihre individuelle
Farbe beizubehalten. Aber im Helligkeitsgipfel überstrahlt das Licht
noch die Farbe: der hellolivgelbe Apfel links trägt ein weißgelbes Glanz-
licht als hellste Stelle des ganzen Bildes. In Cézannes Bildern treten der-
artige Glanzlichter nicht mehr auf.

Edouard Manet (1832-1883) führt in eine neue Welt von Hell- und
Klarfarbigkeit. Seine Bilder sind „in besonderem Maß farbig individuell
geprägt“, wie Gisela Hopp in ihrer sorgfältigen Studie >Edouard Manet,
Farbe und Bildgestalt< 87 feststellte. Die Individualität der Farberschei-
nung bedingt, daß „grundsätzlich jedes Farbverhältnis möglich“ ist. Das
schließt nicht aus, daß Bilder ähnlicher Entstehungszeit auch ähnliche
Farben zeigen, so Bilder der siebziger Jahre wie >Argentueil< (1874,
Tournai, Musée des Beaux Arts) oder >Nana< (1877, Kunsthalle Ham-
burg) ein helles, „impressionistisches“ Blau, abgewandelt zum Nacht-
blau in der >Bar aux Folies Bergère< (1881/82, London, Courtauld Insti-
tute Galleries). 88 Manet gestaltet Komplementärkontraste in vielfältigen
Variationen, auch mehrere Kontrastpaare können in einem Bilde auf-

86 FA: Steingräber, Neue Pinakothek 97.


87 Berlin 1968 (Beiträge zur Kunstgeschichte, hrsg. von Günter Bandmann,
Erich Hubala, Wolfgang Schöne, Bd. 1), Zitate auf den S. 116, 121, 132, 137. -
Dort auch Farbabbildungen der erwähnten Werke; Farbabbildungen auch im
Katalog: Manet 1832-1883, Paris, Grand Palais/New York, 1983.
88 Hans Jantzen, Edouard Manets >Bar aux Folies-Bergère<. In: Jantzen,
Über den gotischen Kirchenraum 73-78.
294 Malerei des 19. Jahrhunderts

treten, Rot-Griin, Blau-Gelb, immer aber sind es die jeweiligen Ab-


wandlungen durch die konkreten Bildgehalte, die diese Farbkombina-
tionen bestimmen. Häufig finden auch ungewöhnliche, „besondersnahe
oder übermäßige Intervalle um ihrer erregenden Wirkung willen Ver-
wendung“; bezeichnend hierfür ist etwa „das nahe Verhältnis zwischen
dem Laubgrün der Pflanzen und dem fast blauen Griin der Bank, in wel-
ches das Ultramarin des Blumentopfes von links her noch verschärfend
eingreift“, beim Bild >Der Wintergarten< von 1879 (Berlin, National-
galerie).
Hinzu kommen - wohl der Graphik entnommene - Kontraste von
Hell und Dunkel; es erscheint kein Helldunkel mehr, sondern Gegen-
sätze von zu Dunkelheit vertieften Farben zu solchen, die in Helligkeit
aufgehen. Scharf kontrastieren in der >Olympia< (1863, Paris, Musée
d’Orsay) die Bezirke von leicht bläulichem Weiß in den Linnen, von
Graugelb im Tuch, das schimmernde Inkarnat der Nackten, das lichte
Rosa der Negerin, gegen das schwere, dunkle Grün des Grundes. In
späteren Bildern mildern sich diese Kontraste, schon im Münchner
>Frühstück imAtelier< (1868) bewegen sich Hell und Dunkel „innerhalb
einer zwischen Schwarz und Weiß vibrierenden Grauskala, deren Töne
als Farben mit anderen Farben durchsetzt und verbunden werden.
Schwarz und Gelb treten in der Gestalt des Jungen als Farbpartner zu-
sammen, bilden sozusagen einen farbigen Stamm, der die bunten und
unbunten Verzweigungen des Bildes zusammenzieht.“
Darin bekundet sich der Weg der Manetschen Farbgestaltung insge-
samt, von einer „bezirkhaften“ Unterscheidung von Farbzonen - so
etwa bei der Gliederung in Figurengruppe, Stilleben und griinen Land-
schaftsfond beim >Frühstück im Freien< (1863, Paris, Musée d’Orsay) zu
immer dichterer Verflechtung von kleiner werdenden Farbflächen und
Farbstrichen, zu einem reichen Farbgewebe, in dem alle Bildgegen-
stände, Körper und Raum, Flächenpartien und atmosphärisches Me-
dium, zu einer unauflösbaren, vielgliedrigen Einheit zusammenklingen.
Aber all dies ist keine autonome Einheit allein des Farbigen, dem der
Gegenstand, das Bildthema nur als Vorwand diente. Eine genauere Be-
trachtung der Bilder Manets lehrt, wie subtil die Bildgegenstände aus
den Farben entstehen, wie genau die Farbklänge dem Bildgehalt ent-
sprechen, ja diesen mitkonstituieren.
Wie für Delacroix und Courbet ist auch für Manet die Farbe in ihrer
materiellen Struktur bedeutsam. Manet differenziert sie ebenso mannig-
faltig dem Auftrag nach wie im Farbton, dergestalt, daß die Farbe die
Form mitzuerschaffen scheint. Schon nach der Art des Strichgefüges
lassen sich Manets Werke chronologisch ordnen, von den „flächigen“
Zusammenfassungen der fmheren sechziger Jahre zur Verfeinerung in
Französische Malerei 295

den siebziger, wobei der Farbstrich das formale Maß des Bildgewebes
abgibt - ein Element, das Manet in die nächste Nähe zur impressionisti-
schen Gestaltung bringt - schließlich zur erneuten Großformigkeit der
Spätwerke der frühen achtziger Jahre. Nie aber gewinnt der Farbstrich
Autonomie, Eigenleben über alle Bildgegenstände hinweg wie bei
Claude Monet. Stets bewahrt er eine mehrseitige Funktion, als Kund-
gabe subjektiver Verve, als Gegenstandskonstitution und alsTräger der
Bildeinheit.
In solchem Schweben zwischen Gegenstandsbindung und übergegen-
ständlicher Freiheit, Raumweite und Flächendichte, Lichtöffnung und
Farbmaterie gründet die eigentümliche Verwandlung, Entrückung der
Bildwelt ins Ungreifbare. Aus der in ihrer Unkörperlichkeit erwach-
senden Distanzierung der Figuren und der „unmeßbaren Distanz“ der
parallel geschichteten Farbflächen „bildet sich ein Raum der traumhaft
subjektiven Maßstäbe“. Die Farben werden zum „Empfindungsgehalt“
entbunden. Sie wirken nicht unmittelbar expressiv und gefühlsgeladen,
veranschaulichen keine Gefühle, keine Leidenschaften. Sie dienen der
Intensivierung einer empfindungsgesättigten Vorstellung, nicht der Ex-
pression. Selbst das scharfe Giftgrün des >Balkon< (1868/69, Paris,
Musée d’Orsay) „ist nicht Ausdruck eines aktiven Gefühls. Gemeinsam
mit den anderen Gestaltungsmitteln lenkt es nur kraft eines ,sinnlich-
sittlichen 1 Gehalts auf eine entsprechende Daseinsempfindung bzw. Vor-
stellung hin, die passiv erlebt wird.“
Hans Jantzen hatte diese Passivität der Manetschen Figuren, die von
ihnen aus die Bildwelt erfüllt, als „Pause ihres Daseins“ beschrieben. In
den Dienst dieses dem empirischen Zeitfluß enthobenen, gleichwohl
tausendfältig gebrochenen, unfaßbar gewordenen Daseins stellt Manet
auch die Farben seiner Bilder.
Die Farbe als Medium unfaßbar gewordenen Daseins, dies eröffnet
ihr, in der Nachfolge Manets, Gestaltungsmöglichkeiten auch für die
symbolistische Malerei. Voraussetzung hierfür ist ihre Verflächigung. So
läßt etwa OcLilon Redon (1840-1916) „den traumhaften Charakter seiner
Blumenstilleben durch flächige Erscheinungsweise lebendig werden“.
Jeder der unzähligen Farbtöne wird nun „flächig schwebend wiederge-
geben und durch zart-immateriellen Auftrag in seiner irrealisierenden
Qualität gesteigert“ 89. Damit ist freilich die Daseinsintensität, die
Manet den Dingen durch charakterisierenden Farbstrich verleiht, auf-
gegeben.

Claude Monets (1840-1926) Bilder gelten als Inbegriff impressionisti-

89 Gisela Hopp. Edouard Manet, 152.


296 Malerei des 19. Jahrhunderts

scher Malerei. 90 Ihm ist es, wie Théodore Duret in seiner 1878 veröffent-
lichten Broschiire >Les peintres impressionnistes< schrieb, zum ersten
Mal gelungen, „flüchtige Impressionen festzuhalten“, Impressionen, die
„seine Vorläufer vernachlässigten, oder von denen sie angenommen
hatten, es sei unmöglich, sie mit dem Pinsel wiederzugeben. Die tausend
Nuancen, die das Wasser des Meeres und der Flüsse annimmt, das Spiel
des Lichtes in den Wolken, das vibrierende Kolorit der Blumen und die
durchsichtigen Reflexe des Laubes unter den Strahlen einer brennenden
Sonne wurden von ihm in ihrer ganzen Wahrheit erfaßt. Indem er die
Landschaft nicht nur in ihrem unveränderlichen und dauernden Zu-
stand, sondern auch unter den flüchtigen Aspekten, die ihr die Zufälle
der Atmosphäre verleihen, malt, vermittelt Monet von der erblickten
Szene eine erstaunlich lebendige und packende Vorstellung. Seine
Bilder vermitteln sehr reale Impressionen. Man kann sagen, daß seine
Schneemotive einem kalt machen und seine Sonnenbilder einen wär-
men.“ 91
Der zeitgenössische Kritiker verstand also die Bilder Monets als Dar-
stellung eines Natur-Ausschnittes und unter dem Aspekt eines speziellen
Realitätscharakters dieses Naturausschnittes. Zweifellos ist damit auch
Wesentliches dieser Kunst erfaßt. Und dennoch begnügt sie sich nicht
damit.
Daß sich die Farbengebung impressionistischer Gemälde nicht in der
Wiedergabe von Naturausschnitten erschöpft, wird einem heutigen Be-
trachter auf den ersten Blick hin deutlich. Zu offenkundig ist die Har-
monie der Farbenklänge, als daß dieser immanente Bezug der Farben
noch mit den Naturgegebenheiten verwechselt werden könnte.
Die Einheit impressionistischer Werke ruht im Sonnenlicht, darge-
stellt als Lichthelligkeit, die alles Erscheinende umfaßt uhd durchdringt.
Die Einheit dieser Lichthelligkeit herrscht auch für die empirische Wahr-
nehmung, nur wird sie in der Alltagserfahrung zumeist als solche gar
nicht erfaßt, sondern als Selbstverständliches, als das Medium alles
Sichtbaren hingenommen.
Um die Lichthelligkeit selbst durch die Farben zu präsentieren,
müssen die Dinge, die Gegenstände, für die sie sonst bloß Medium ist, in
ihrer Bestimmtheit, in ihrer Identität geopfert werden: dies ist der
Grund für das dem Impressionismus wesentliche Farbfleckgefüge.

90 Zur impressionistischen Maltechnik und Farbgebung vgl. Anthea Callen,


Les peintres impressionnistes et leur technique, Paris 1983.
91 Zitiert (mit einigen Veränderungen) nach: Hans Graber, Camille Pissaro,
Alfred Sisley, Claude Monet, nach eigenen und fremden Zeugnissen, Basel
1943, 218/219.
Französische Malerei 297

Für die Farbskala bedeutet diese Darstellungsaufgabe die Ausschal-


tung aller erdigen und getrübten Werte und die Konzentration auf die
den Regenbogenfarben nahestehenden Qualitäten. Diese Farben
werden im „geteilten“ Auftrag neben- und übereinandergesetzt, wobei
Monet diese Pinselstriche jedoch nach Länge, Breite, Form, Richtung,
Dichtegrad und Schärfe der Grenze noch entschieden differieren läßt.
Ebenso wechselt bei ihm beständig der Reinheitsgrad der Farben, die
bald rein, bald durch die Faktur verwischt oder mit vermindertem Bunt-
gehalt in Erscheinung treten. Monets Malweise ist primär geleitet vom
Instinkt für das Farbige und mitbestimmt vom spontanen optischen Ein-
druck wie von der Freiheit der Malgeste. Von einem festen, kontrollier-
baren System, das die Eindrücke fixiert, ist sie weit entfernt. Dennoch
ist Monets Schaffen alles andere als unreflektiert.
Vergleichbar nur mit Cézannes Verzweiflung an seiner Fähigkeit zur
«réalisation» sind Monets Selbstzweifel an seinen Werken und seinem
Schaffen. Zahlreich sind in Monets Briefen Ausbrüche seines Ungenü-
gens. So schreibt er am 21. Juli 1890 an Gustave Geffroy, es sei „zum
Rasend- und Verrücktwerden, wenn man das Wetter, die Atmosphäre,
das Ambiente wiederzugeben sucht.. .“ 92. Am 28. März 1893, wiederum
an Geffroy: „Ach, ich kann nur wiederholen: je älter ich werde, desto
mehr Mühe macht es mir, das wiederzugeben, was ich fühle. Und ich
sage mir: der, welcher sagt, er habe ein Bild vollendet, hat einen schreck-
lichen Dünkel. Vollenden, das will sagen: vollständig, vollkommen
(machen), und ich arbeite mit Macht, ohne vorwärts zu kommen, ich
suche, taste, ohne viel zu erreichen, doch so, daß ich davon müde bin.“ 93
Wie wenig entspricht diese Selbsteinschätzung doch einem dem Stilbe-
griff „Impressionismus“ zugehörig erscheinenden Begriff eines me-
dialen Künstlers, der den Natureindrücken passiv ergeben ist. In unsäg-
licher Anspannung sucht Monet zu vereinen, was unvereinbar schien:
Das Flüchtige, Schwebende der Naturimpressionen innerhalb eines auf
Momentaneität, auf Vergänglichkeit hin orientierten Weltaspekts - mit
dem Sich-Fühlen, Sich-Finden des Subjekts in dieser flüchtigen Welt
(bei Monet heißt es ja meist, er wolle darstellen, was erfühlt, nicht etwa
das, was er siehi) - und schließlich die Verwandlung von Welt- und Selbst-
darstellung in das vollendete Bild und seine Gesetzlichkeit.
In neuer Weise öffnet sich die Malerei bei Claude Monet dem Elemen-
taren - dem Elementaren des Lichts, der Atmosphäre, des Wassers, des
vegetabilischen Lebens.
Nicht zufällig rühmte Gaston Bachelard, der in seinen Schriften die

92 Zitiert nach Graber, Pissarro, Sisley, Monet, 283.


93 Zitiert nach Graber, Pissarro, Sisley, Monet, 291.
298 Malerei des 19. Jahrhunderts

Macht der Elemente wieder zum Bewußtsein brachte 94, die Kunst Mo-
nets. In seinem Essay >Les Nymphéas ou les surprises d’une aube d’éte<
heißt. es: «Tant de jeunesse retrouvée, une si fidèle soumission au
rhythme du jour et de la nuit, une telle ponctualité à dire l’instinct d’au-
rore, voilà ce qui fait du nymphéa la fleur même de l’impressionnisme.
Le nymphéa est un instant du monde. II est un matin des yeux. II est la
fleur surprenante d’une aube d’été .. .» 9S
Es ist diese Wendung zum Elementaren, die den Weg erschließt auch
zur Entdeckung der Elementarität der Farbe selbst.
In einem beriihmt gewordenen Text berichtet Kandinsky iiber seine
Begegnung mit Monets >Heuhaufen< in einer Moskauer Ausstellung von
1896: „Vorher kannte ich nur die realistische Kunst, eigentlich aus-
schließlich die Russen, blieb oft lange vor der Hand des Franz Liszt auf
dem Porträt von Repin stehen u. dgl. Und plötzlich zum ersten Mal sah
ich ein Bild. Daß das ein Heuhaufen war, belehrte mich der Katalog. Er-
kennen konnte ich ihn nicht. Dieses Nichterkennen war mir peinlich. Ich
fand auch, daß der Maler kein Recht hat, so undeutlich zu malen. Ich
empfand dumpf, daß der Gegenstand in diesem Bild fehlt. Und merkte
mit Erstaunen und Verwirrung, daß das Bild nicht nur packt, sondern
sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt und immer ganz uner-
wartet bis zur letzten Einzelheit vor den Augen schwebt. Das alles war
mir unklar, und ich konnte die einfachen Konsequenzen nicht ziehen.
Was mir aber vollkommen klar war - das war die ungeahnte, friiher mir
verborgene Kraft der Palette, die über alle meine Träume hinausging.
Die Malerei bekam eine märchenhafte Kraft und Pracht. Unbewußt war
aber auch der Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes dis-
kreditiert.. ,“ 96
Michel Hoog skizzierte im Katalog der Pariser Monet-Ausstellung
von 1980 die enorme Bedeutung dieses Künstlers für die Malerei des
20. Jahrhunderts. Sie reicht von der Nachfolge bei Pierre Bonnard bis
zur Bewunderung durch Kasimir Malewitsch, der auf Monets Bilder der
>Kathedrale von Rouen< ähnlich reagierte wie Kandinsky. 97

94 Vgl. Gaston Bachelard, La Psychoanalyse du Feu, Paris 1938 21949. -


L’Eau et les Rêves, Paris 1942, 21947. -L’Air et les Songes, Paris 1943. -LaTerre
et les Réveries de la Volonté. Paris 1948. - La Terre et les Réveries du Repos,
Paris 1948.
95 In: Hommage á Claude Monet (1840-1926). Ausstellungskatalog Grand
Palais, Paris, 8.février-5.mai 1980, 29-31. Zit. 29.
96 Wassily Kandinsky, Rückblick (1913). Zitiert nach der Ausgabe, eingeleitet
von Ludwig Grote, Baden-Baden 1955,15.
97 Michael Hoog, Note sur la postérité de Monet. In: Hommage à Claude
Monet, Paris 1980, 347-354.
Französische Malerei 299

Paul Cézanne (1839-1906) erhebt die Farbe zum „bildkonstitu-


ierenden Element schlechthin“. „Durch diese entscheidende Rangerhö-
hung änderte er von Grund auf ihr Verhältnis zu den anderen bildneri-
schen Mitteln: sie erscheinen in seiner Malerei nicht mehr gleichwertig
mit der Farbe, sondern als deren Funktionen oder bedingt durch sie.“
(Strauss) 98 Damit werden erstmalig in der Geschichte der Malerei die
der Farbe eigenen Gestaltungsmöglichkeiten ausgeschöpft - indirekt
aber zeichnen sich damit aber auch Grenzen dieser Möglichkeiten ab.
Cézannes Malerei akzentuiert ja nicht die Buntkraft und die expressive
Qualität der Farben. Wenn in der nachfolgenden Malerei diese Dimen-
sionen der Farbe in das Zentrum des Schaffens gestellt werden, besagt
das zugleich, daß dies auf Kosten anderer Gestaltungsmittel gehen muß.
Erst die neue Forschung erkannte auch die Bedeutung des Theoreti-
kers Cézanne, der die wesentlichen Problemstellungen seiner Malerei
auch selbst formulierte. Seine Gedanken wurden in der Publikation
„Conversations avec Cézanne“ durch P. M. Doran vorbildlich präsen-
tiert und nach ihrem Quellenwert kommentiert. 99
Den höchsten Rang an Authentizität können - neben den Briefen Cé-
zannes - die von Léo Larguier 1901/02 publizierten Maximen Cézannes
und die von Emile Bernard 1904 veröffentlichten >Opinions< Cézannes
in Anspruch nehmen. Hier finden sich zentrale Aussagen Cézannes ver-
einigt. 100
Licht und Schatten sind Farbstufen: «La lumière et l’ombre sont un
rapport de couleurs, les deux accidents principaux diffèrent non par leur
intensité générale mais par leur sonorité propre.» (16) «L’ombre est une
couleur comme la lumière, mais elle est moins brillante; lumière et
ombre ne sont qu’un rapport de deux tons.» (36) Die Umsetzung von
Licht und Schatten in Farbstufen gründet in Cézannes Überzeugung,
daß das Licht der Sonne nicht zu „reproduzieren“ ist, sondern nur „re-

98 Ernst Strauss, Nachbetrachtungen zur Pariser Cézanne-Retrospektive


1978 (1980). In: Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 163-183, Zit.
170. Dieser Aufsatz ist auch grundlegend für die Bewertung der Quellen zu Cé-
zannes Äußerungen. - Zu Cézannes Farbgestaltung vgl. auch: Theodore Reff,
Painting and Theory in the Final Decade ; Lawrence Gowing, The Logic of Orga-
nized Sensations; Liliane Brion-Guerry, The Elusive Goal. In: Cézanne, The
Late Work, ed. by William Rubin, New York 1977.
99 Conversations avec Cézanne. Emile Bernard, Jules Borély, Maurice
Denis, Joachim Gasquet, Gustave Geffroy, Francis Jourdain, Léo Larguier, Karl
Ernst Osthaus, R. P. Rivière et J. F. Schnerb, Ambroise Vollard. Edition critique
présentée par P. M. Doran. Collection Macula. Paris 1978. - Die folgenden
Cézanne-Zitate beziehen sich auf diese Publikation.
100 Conversations avec Cézanne, 14—17, 36-37.
300 Malerei des 19. Jahrhunderts

präsentiert“ werden kann, wie Maurice Denis überlieferte: «La nature,


disait Cézanne, j’ai voulu lacopier, jen’arrivaipas. Mais j’ai étécontent
de moi lorsque j’ai découvert que le soleil, par exemple, ne se pouvait
pas reproduire, mais qu’il fallait le représenter par autre chose ... par de
la couleur.» (173)
Farbe einerseits, Lichthelligkeit und Schattendunkelheit andererseits
stehen für die Wahrnehmung der Wirklichkeit in einem tiefen, rational
nicht auflösbaren Gegensatz. 101 Cézanne, der wie kein Maler zuvor alle
farbigen Elemente seiner Bildwelt den auf die Naturwirklichkeit be-
zogen «sensations colorées» abgewann - «peindre c’est enregistrer ses
sensations colorées» (36) -, mußte diesen empirischen Zwiespalt von
Farbe zu Lichthelligkeit/Schattendunkel als eine tiefe Irritation erfahren
haben und in seiner Malerei eine Ordnung dieser «sensations» wieder-
herstellen: «retablir ce que donnent les confusions de sensations» (94).
Die Umsetzung von Lichthelligkeit und Schattendunkel in Farbstufen
betrifft auch die unbunten Farben Schwarz und Weiß. Schwarz und Weiß
sind, anders als einerseits bei Monet, andererseits bei Turner etwa, für
Cézannes reifen Farbstil keine den Buntfarben gleichgeordneten Werte
mehr. In seinen Frühwerken der 1860er Jahre (so in der >Schwarzen Uhr<
von 1869/70, Priv. Slg.) 102, erscheinen sie noch als „vorgegebene, eigen-
ständige Farbqualitäten“, später aber werden sie weithin durch Bunt-
farbstufen ersetzt (wobei Weiß in eine neue, noch zu beschreibende Bild-
bedeutung einrückt). «Je veux faire avec de la couleur le noir et le blanc»
formuliert Cézanne gemäß einer Aufzeichnung von Maurice Denis (94):
Schwarz wird so zu einem Mischungsprodükt aus sehr dunklen Buntqua-
litäten. Hierin war van Gogh in seinehWerken der Nuener Periode vor-
ausgegangen. 103 Ein „farbgeschichtliches Novum hingegen ist Cézannes
Wiedergabe des Weiß ..., in der Weise, daß er unterschiedliche hell-
bunte Flecken sich durchschießen oder verflechten und sich optisch zu
einem mattschimmernden, mitunter perlmuttigen Weiß ergänzen läßt.“
Ein Beispiel hierfür ist die Hemdbrust im 1899 gemalten >Porträt
Ambroise Vollard< (Musée du Petit Palais, Paris) 104. Wenn hier den-
noch „der Eindruck einer weißen, nicht der einer vielfarbigen Fläche
vorherrscht, so liegt dies daran, daß diese hellmalachitgriinen, ocker-
101 Vgl. Strauss, 170.
i°2 pa: Maurice Raynal, Cézanne, Genf etc. (Skira) 1954,33. -Meyer Scha-
piro, Paul Cézanne, dt. Köln 1956, 6. Aufl. 1977, 37.
103 Schon Delacroix schreibt in seinem Tagebuch, unter dem 21. November
1854: «Eviter le noir; produire les tons obscurs par des tons francs et transpa-
rents: ou laque, ou cobalt, ou laque jaune, ou terre des Sienne naturelle ou brû-
lée ...» (Journal de Eugène Delacroix, tome deuxiéme, 303).
104 FA: Cézanne, Lesdernières années (1895-1906), Ausst.-Kat. Paris 1978,71.
Französische Malerei 301

gelben, blaugrauen, graurötlichenTöne, in simultaner Sicht, als Reprä-


sentanten zarter Reflexe und Schatten erscheinen, wie sie sich durch die
schwache «convexité» des dargestellten Gegenstands ergeben ...“ 10S.
Die Untrennbarkeit von Farbe, Licht- und Körperrepräsentation wird
so schon an einem Detail erfahrbar.
Mit der Umsetzung von Licht und Schatten in Farbe wird somit auch
die Körpermodellierung in Farbstufung transformiert, „Modulation“
tritt an die Stelle von „Modellierung“: «On ne devrait pas dire modeler,
on devrait dire moduler. » (36) Körpermodellierung wird zur Stufung von
Farbflecken, die sich zu eigenwertigen, nach Kontrasten und Analogien
organisierten Folgen ordnen. Schon Maurice Denis beschrieb diese
Neuerung der Cézanneschen Farbgestaltung: «Le volume trouve donc
chez Cézanne son expression dans une gamme de teintes, dans une série
de taches: ces taches se succédent par contrastes ou analogies selon que
la forme s’interrompt ou se continue. C’était ce qu’il lui plaisait d’ap-
peler moduler plutöt que modeler» (177).
„Modulation“ ist ein Begriff auch der Musiktheorie. Die aus derWahr-
nehmung der Natur in ein eigenwertiges System von Farbstufen und
Farbstufenfolgen transformierten Farbwerte bringen Cézannes Werke in
die Nähe zur Musik. Schon für Delacroix war, wie erwähnt, an die Stelle
der humanistischen Relation „ut pictura poesis“ die Analogie „ut pictura
musica“ getreten, schon Delacroix hatte, in einer Notiz seines Tagebu-
ches vom 8. Februar 1850, davon gesprochen, eine „Tonart“ im Bilde an-
zuschlagen: «Ce serait une bonne chose, en commençant à établier la
gamme d’un tableau, d’y établir un objet clair dont le ton et la valeur se-
raient exactement pris sur nature .. ,» 106
Cézanne kann darüber hinausgehen, da erst bei ihm-über Delacroix’
Farblichteinheit der «demi-teinte refletée» hinaus - Licht und Schatten,
wie erwähnt, Stufen in Farbfolgen geworden sind. Cézannes Bildstruk-
turen, so schrieb Kurt Badt, „sind effektiv musikalisch, sie sind Musik
der Farben“ 107.
Hand in Hand mit der Verwandlung von „Modellierung“ in „Modula-
tion“ geht die Umsetzung der Linien als Körperbegrenzungen in Farb-
säume. Die kategorialen Unterschiede von Linie und Farbe werden auf-
gehoben: «La forme et le contour des objets nous sont donnés par les
oppositions et les contrastes qui résultent de leurs colorations particu-
lières. Le dessin pur est une abstraction. Le dessin et la couleur ne sont
point distincts, tout dans la nature étant coloré.» (16) Farbe, Zeichnung,

105 Strauss, 171.


106 Journal de Eugène Delacroix, I, 338.
107 Kurt Badt, Die Kunst Cézannes, München 1956, 28.
302 Malerei des 19. Jahrhunderts

Modellierung müssen in eins gefaßt, zu einer einzigen, von der Farbe ge-
tragenen künstlerischen Wirkung gebracht werden: «Le dessin et la cou-
leur ne sont point distincts; ou fur et à mesure que l’on peint on dessine;
plus la couleur s’harmonise, plus le dessin se précise. Quand la couleur
est à sa richesse, la forme est à sa plénitude. Les contrastes et les rapports
de tons voilà le secret du dessin et du modelé» (36).
Alle „Darstellungswerte“ sind bei Cézanne in farbige „Eigenwerte“
umgesetzt: Modellierung, Kontur, Licht und Schatten sind Bestandteile
farbiger „Harmonie“. Die ungemeine Schwierigkeit dieser Synthese
macht Cézannes unablässige Bemühung um die «justesse du ton», die
sich in seiner gespannten und gleichzeitig zögernden Arbeitsweise doku-
mentiert, begreiflich: «La justesse du ton donne à la fois la lumière et le
modelé de l’objet. Plus la couleur s’harmonise, plus le dessin va se pré-
cisant» (16).
Die „Harmonie“, von der Cézanne spricht, ist vornehmlich eine
solche farbiger «rapports» und Kontraste, ja Cézanne definiert sogar:
«on peut donc dire que peindre c’est contraster» (16). Kontrastiert
werden immer genau voneinander unterschiedene Farbstufen: auch
Cézannes Methode der Farbgestaltung ist die „chromatische“ der Farb-
teilung - wie die Delacroix’, seines bewunderten Vorbildes. Wie dieser
läßt auch er ein zweifaches Kontrastgefiige im Bild zusammenwirken,
zwischen den Gegenstandsformen und Bildraumgliederungen und inner-
halb solcher übergreifender Formen, wobei aber beide mit Hilfe der «ta-
ches colorées» zustande kommen, die sich als das bildkonstituierende
Mittel erweisen 108. Warme und kalte Farbfolgen können einander kon-
trastiert werden, die Richtung des Pinselstrichs gibt eine weitere Dimen-
sion von Kontrast und Vereinheitlichung ab.
Mit Licht, Schatten, Körperlichkeit wird auch der Bildraum Produkt
der Farbe. Hier ist eine Eigentümlichkeit bemerkenswert, Cézannes Be-
tonung der «sphéricité». Sie läßt sich schon seinem bekannten Aus-
spruch entnehmen, der ja keineswegs eine stereometrische Strukturie-
rung allgemein behauptet: «Tout dans la nature se modèle selon la
sphère, le cône et le cylindre. II faut s’apprendre à peindre sur ces figures
simples, on pourra ensuite faire tout ce qu’on voudra» (36). Er steht in
Zusammenhang mit Cézannes Feststellung, alle Körper, auch die gerad-
flächig begrenzten, wirkten konvex: «Les corps vus dans l’espace sont
tous convexes» (16), und seinem Hinweis auf den «point culminant», der
sich immer dem Auge am nächsten befindet (43). Rivière und Schnerb
beziehen diese Krümmur.g aller Oberflächen auf die Wirkung konzen-
trierten Sehens, wonach ,,das Auge, je nach der Lage der von ihm

108 Vgl. Strauss, 172.


Französische Malerei 303

fixierten Punkte auf der Oberfläche des Objekts und je nach der Länge
der Sehstrahlen und der Größe ihres Einfallswinkels, Lichteindrücke
von unterschiedlicher Stärke, die in der Regel nach der Peripherie des
Sehfelds hin an Eindringlichkeit abnehmen“, empfangen. 109 - Gewiß ist
das „konzentrierte Sehen“ eine Voraussetzung der «sphericité» der
Körper in Cézannes Bildern, andererseits geht nur solche «sphericité»
zusammen mit seiner Forderung nach kontinuierlicher „Modulation“
von Farbstufen: auch hier wirken Naturwahrnehmung und künstleri-
sches Verfahren untrennbar ineinander.
Schließlich ist auch der Bildraum Ergebnis der Farbmodulation. Cé-
zanne gebraucht den Begriff „Raum“ sehr selten, meist konkretisiert er
ihn zu «atmosphère» und verbindet ihn mit den Phänomenen des «enve-
lopper»: «L’atmosphère forme le fond immuable sur l’écran duquel vien-
nent se décomposer toutes les oppositions de couleurs, tous les accidents
de lumière. Elle constitue l’enveloppe du tableau en contribuant à sa
synthèse et à son harmonie générale» (16). LFnd in einem Brief an Emile
Bernard schreibt Cézanne 1905: »La lumiére par le reflet général c’est
l’enveloppe» (46). Cézanne mißt dem farbigen Reflex also fundamen-
tale Bedeutung zu, er bildet für ihn ein die Form umhüllendes Medium,
indem Körper und Raum einander sich angleichen und mittels der Farb-
reihen ineinander übergeführt werden, ohne ihre Unterschiede preiszu-
geben. Auch darin erweist sich Cézanne als Fortsetzer einer Delacroix-
schen Methode, die «demi-teinte refletée» wird ihm zum umhüllenden
Medium. (Auch Cézanne bevorzugt im übrigen «temps gris clair»: vgl.
«Conversations avec Cézanne», 7.)
Weit über Delacroix hinaus wird für Cézanne die Natur zum bewun-
derten Vorbild, ihrer «diversité infinie» (103) gilt es nachzueifern. De-
mütiges Studium der Natur ist für Cézanne Voraussetzung des künstleri-
schen Schaffens. «Le peintre doit se consacrer entièrement à l’étude de
la nature, et tâcher de produire des tableaux, qui soient un enseigne-
ment», heißt es in einem Brief an Bernard vom 26. Mai 1904, und einige
Zeilen weiter: «On n’est si trop scrupuleux, ni trop sincère, ni trop
soumis à la nature; mais on est plus ou moins maïtre de son modèle, et
surtout de ses moyens d’expression. Pénétrer ce qu’on a devant soi, et
persévérer à s’exprimer le plus logiquement possible ...» (28). Das Stu-
dium der Natur muß sich verbinden mit einer «optique personelle» und
der genauesten, methodischen Erforschung und Anwendung der künst-
lerischen Mittel. Vor, aus dem konkreten Naturmotiv soll die «vision de
l’univers» (35) entfaltet werden: diese fast unlösbare Aufgabe, der sich
Cézanne jedoch immer erneut stellte, macht es verständlich, weshalb er

109 Strauss, 173.


304 Malerei des 19. Jahrhunderts

bisweilen an der „Realisation“ fast verzweifeln wollte und nur ganz


langsam voranzukommen glaubte: «Je procède très-lentement. La
nature s’offrant à moi très-complexe, et les progrès à faire sont incessants
...», so Cézanne im Brief an Bernard vom 12. Mai 1904 (28).
Der Komplexitât, der unendlichen Vielfalt der Natur entspricht Cé-
zanne mit einer Bildkomposition, die, aufbauend auf „Schatten-
bahnen“, von mehreren Zentren her gleichmäßig die Farbmodulationen
zu Bildkörpern entwickelt, also aus einem Umfassenden das Einzelne
erst entstehen läßt. Eine „Wasserfarbentechnik“ dient dieser Gestal-
tungsweise am besten. ,,Im Aquarell kommt der Geist Cézannes am rein-
sten zum Ausdruck, und zwar durch dieTechnik selbst, wie der Kiinstler
sie ausbildet. Seine durchsichtigen Wasserfarbentöne, die das Licht des
weißen Grundes durch ihre eigenen Dunkelheiten reflektieren lassen,
bringen am vollkommensten jene schwebenden und schwingenden Har-
monien und jene klare Kontinuität in der Modulation hervor, die Cé-
zanne in allen seinen Bildern erstrebt“ (Badt). 110
Dem Weiß als Eigenfarbe der Gründe wie als Repräsentant höchster
Lichthelligkeit kommt so in den späten Aquarellen Cézannes zentrale
Bedeutung zu. Es wirkt als der «fond immuable», der die vielfältig sich
durchdringenden, einander iiberblendenden, dabei immer in ihrer
Struktur aus Einzelelementen klar sichtbaren, transparenten Farb-
schichten weit iibergreift.
Die Überblendung, Durchdringung immaterieller, transparenter Flä-
chenfarben konstituiert den Bildraum, der zum Fundament aller kubisti-
schen Gestaltung wurde. „Die Beziehungen dieser Farben objektivieren
zugleich die Raumbeziehungen. Die einzelne farbige Zone wird durch
die benachbarte sofort im Sinne eines Vor oder Zurück räumlich be-
stimmt und umgekehrt. Die räumliche Wirkung, die dadurch suggeriert
wird, ist also eine Funktion der Farbbeziehungen. “ Diese Feststellungen
Gustav Vriesens zu Robert Delaunays „Fensterbildern“ konnten von
Ernst Strauss schon auf Cézannes späte Aquarelle bezogen werden 111 -
und zwar finden beide Richtungen des frühen Kubismus, die „unfar-
bige“, auf Grau, Braun, Blautöne gestimmte Georges Braques und
Picassos, wie die in „Spektralfarben“ gestaltende Kunst Delaunays in
Cézannes Spätwerk ihren Ursprung, die erstere mehr in den Aquarellen
und den sie bestimmenden Verdichtungen blauer Zonen, die zweite eher
in unvollendeten, auch Gelb- und Orangetöne offenlegenden Gemälden
(wie etwa der >Route tournante< von 1900/1906, Priv. Slg. 112).

110 Die Kunst Cézannes, 25.


111 Strauss, 176.
112 FA: Cézanne, The Late Work, Taf. 80.
Französische Malerei 305

Insgesamt aber verfolgt Cézanne mit seinen späten Gemälden künst-


lerische Ziele, die die Maler des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr
teilten. Die späten Landschaftsgemälde Cézannes aus der >Mont Ste.
Victoire<- und >Château Noir<-Serïe erscheinen in einer „Tieffarbigkeit“,
deren Dunkel „nichts Trübes oder Dämmriges, auch nichts Schatten-
haftes“ besitzt. Farben, „die durch ihre Vermischung mit Schwarz keine
qualitative Veränderung ihrer Buntheit erleiden, also Blau, Violett und
Grün“, verdichten sich zu tiefen Schatten, denen eigens herausgeho-
bene Lichtbezirke der warmen Farben Rot, Orange und Gelb (ein-
schließlich der Ockerfarben) entgegenstehen, so eine vollkommene
Umwandlung des neuzeitlichen Helldunkels in eine „rein koloristische
Erscheinungsform“ 113 bewirkend. Wie kein zweiter Maler des 19. Jahr-
hunderts nimmt Cézanne so auch den universalen, kosmischen Cha-
rakter des neuzeitlichen Helldunkels in seine Kunst auf.
Es ist eine sich in ihrem Sein erhaltende Welt 114, die Cézanne aus den
konkreten Naturmotiven künstlerische Gestalt werden läßt.

George Seurats (1859-1891) Kunst bietet das seltene Bild einer gerad-
linigen und einheitlichen Entwicklung, getragen von der strengen Folge-
richtigkeit einer konsequent angewandten Methode. Diese Methode ist
die der systematisch vollzogenen Farbteilung.
Um so wichtiger ist es, darauf hinzuwèisen, daß die eine solche Me-
thode begründende künstlerische Vision von Harmonie und Unverän-
derlichkeit zuerst in Seurats Zeichnungen ihren bildnerischen Ausdruck
findet. Bereits 1881 erfolgt, nachAnfängen mit umrißbetonenden Zeich-
nungen, in Blättern wie dem >Schnitter< 115 der Durchbruch zu einem
neuen, eigenständigen graphischen Stil; einem Stil, der sich in den fol-
genden Jahren wohl verfeinert, aber nicht mehr grundsätzlich ändert. 116
Das von Seurat erfundene Verfahren ist dieses: Auf Bögen körnigen
Papiers arbeitete er mit einer sehr fetthaltigen Kreide (Conté), die ein
samtiges Schwarz ergibt. Im Kontrast zu diesem gewinnt das Weiß des
Papiers, wo es unberührt gelassen wird, eine schneeige, fast immateriell
leuchtende Helligkeit. Das Schwarz selbst ist aller Abstufungen fähig
113 Strauss, 182,183.
114 Vgl. Badt, Die Kunst Cézannes, passim. Zum Lichtbezug der Bilddinge
bei Cèzanne vgl. Verf., Zur Kunst Cézannes. In: Festschrift Kurt Badt zum sieb-
zigsten Geburtstage, hrsg. von Martin Gosebruch, Berlin 1961, bes. 201-212.
115 Abb.: Robert L. Herbert, Seurat’s Drawings, London 1962, 37.
116 Vgl. hierzu Herbert, Seurat’s Drawings 39ff. - Katalog Georges Seurat,
Zeichnungen, Kunsthalle Bielefeld 30. Oktober-25. Dezember 1983, Staatliche
Kunsthalle Baden-Baden 15. Januar-ll.März 1984. Mit Beiträgen von Bernd
Growe und Erich Franz.
306 Malerei des 19. Jahrhunderts

nach dem Grad der Dichte, mit dem es den weißen Papiergrund deckt;
selbst in seinen tiefsten Tiefen jedoch wirkt es niemals schwer und un-
durchsichtig, da der körnige Grund es nicht ganz annimmt, sondern sich,
rasterartig, in unzähligen feinsten Lichtpunkten durchsetzt.
Zustande kommt so ein „chromatisches“ Helldunkel als eine mögliche
„farbige“ Interpretation der Helldunkelgestaltung. Diese „chromatische“
Erscheinungsweise verändert das ursprüngliche, das „luminaristische“
Helldunkel grundlegend. Sammeln sich beim „luminaristischen“ Hell-
dunkel Licht und Dunkelheit in miteinander kontrastierenden Bild-
bereichen, so sind Seurats Zeichnungen bestimmt von einer Allgegen-
wart des Lichtes und des Dunkels, die den statischen Charakter dieses
Helldunkels begriindet, in unmittelbarer Entsprechung zur Wirkung
eines auf der Stelle schwingenden Lichtmediums seiner „chromo-lumi-
naristischen“ Gemälde. Insofern die Entgegensetzung von Schwarz und
Weiß alle Buntfarben übergreift, können die ,,chromatisch“-helldunklen
Zeichnungen als „universale“, auch „abstrakte“ Lösungen der in den
Gemälden verwirklichten, je konkreten und individuellen Gestaltungen
der Seuratschen kiinstlerischen Vision verstanden werden. 117
In der Tat iiberträgt Seurat die Erfindung seiner Zeichnungen bald auf
die farbige Erscheinung seiner Gemälde.
Zum ersten Mal läßt sich der ganze Weg von der Zeichnung iiber die
gemalte Studie zum endgiiltigen, repräsentativen Bild in > Une Baignade,
Asnières< (1883-1884, gegen 1887 iiberarbeitet, London, National Gal-
lery) 118 verfolgen. Dieser Weg bleibt t-ypisch fiir die Entstehungsweise
aller Hauptwerke Seurats und ist bereitsTeil seiner Methode.
Schon im jedesmaligen Ziel Seurats, ein großes, repräsentatives Bild zu
schaffen, liegt ein tiefer Gegensatz zum Impressionismus. Die Wieder-
gabe eines verwandelten, in reine Phänomenalität erhobenen Naturaus-
schnitts kann für ihn nicht Existenzgrundlage des Gemäldes sein. Seine
Vision fordert eine verpflichtende, endgültige Lösung, die Widerspiege-
lung eines Universalen in einem völlig durchkomponierten Ganzen.
Seurats Ausgangspunkt freilich ist, zumal in den ersten beiden Haupt-
werken, der >Baignade< und der >Grande Jatte<, so, wie ihn auch ein im-
pressionistischer Maler als Motiv hätte wählen können. Auch ihm liefert
eine impressionistische Freilichtszene das konkrete Motiv, das in einer
Anzahl (fünfzehn erhaltenen) Ölskizzen dargestellt wird. Im ausge-

117 Vgl. hierzu weiterführend: Verf., Seurats Ort in der Geschichte des Hell-
dunkels. Wird erscheinen in der Festschrift zum 75. Geburtstag von Hans Erich
Kubach.
118 FA: Jacque de Laprade, Seurat, Paris 1951. - Louis Hautecœur, Georges
Seurat, München 1974.
Französische Malerei 307

führten Bild werden die Grundrichtungen akzentuiert und alle Kon-


turen als Farbsäume gestrafft; die Proportionierung der gesamten Bild-
fläche nach dem „Goldenen Schnitt“ legt die größte Ordnung fest. Im
Einklang damit erfährt auch die Farbe eine bewußte Gestaltung 119, je-
doch in engem Kontakt mit den Angaben der Studien. Dabei verliert das
Bildlicht seinen naturnahen, vibrierenden Charakter, wirkt „ab-
strakter“, übersetzt in eine allgemeine Helle, ja, bei keinem anderen
Maler läßt sich wie bei Seurat von einer „weißen“ Eigenfärbung des
Lichts sprechen. Verschiedene künstlerische Mittel wirken hierfür
zusammen: Effektiv helle Farben herrschen vor: lichtes Grün, helles
Türkisblau, ausgebreitetes Weiß, helles Grau. Sie vereinigen sich zum
ungewöhnlichen Farbklang von Weiß-Grün-Blau, vermehrt um einige
andersfarbige, nach Rotorange und Ocker weisende und dunklereTöne.
Grün und Blau, eine Farbe von mittlerer und spezifischer Dunkelheit
sind dabei entschieden ins Helle hinaufgestimmt.
Die Körperschatten sind hell. Während früher die Schatten, auch
dort, wo sie farbig gegeben wurden, in der Regel zugleich als dunkler er-
schienen, werden sie jetzt der ihnen benachbarten Helligkeitsstufe ange-
nähert, so das Violettgrau dem Gelblichton des Inkarnats. Die Haupt-
kontraste liegen nicht mehr zwischen Licht und Schatten der jeweiligen
Gegenstandsfarben, sondern werden von diesen selbst gebildet. Die
dunkleren Schlagschatten aber erhalten prägnante Eigenformen, die
sich mit Gegenstandsformen vergleichen lassen, und werden so nicht
mehr als „Folge“ einfallenden Lichts empfunden.
Alle farbtragenden Flächen sind in präzisen Grenzen voneinander ge-
trennt und erscheinen trotz des Farbauftrags in der Distanz, in der sie als
Bildelemente zur Wirkung kommen können, homogen. Im Farbauftrag
klingt die „improvisierende“ balayé-Technik der Skizzen noch nach, die
aber doch schon in ein reflektiertes, ruhiges Über- und Nebeneinander
trockener, getrennter Farbpartikel transponiert wird.
Als Weiterentwicklung der grundlegenden Kompositionsgedanken
der >Baignade< nimmt Seurat unmittelbar nach deren Vollendung sein
zweites Hauptwerk in Angriff, >Un dimanche après-midi à l’ïle de la
Grande Jatte< (1884/86, Art Institute of Chicago). Auch motivisch dem
ersten Bild verbunden, entsteht es wie dieses aus einer Vielzahl von Vor-
studien (in diesem Falle sogar 32 Skizzen und 23 Conté-Zeichnungen),
wobei aber das in langsamer Atelier-Arbeit geschaffene Werk bis ins ein-
zelne schon vorkonzipiert erscheint.

119 Vgl. hierzu weiterführend: William Innes Homer, Seurat and the Science
of Painting, Cambridge, Mass. 1964. - Paul Signac, D’Eugéne Delacroix au néo-
impressionnisme, Paris 1899; ed. Françoise Cachin, Paris 1964.
308 Malerei des 19. Jahrhunderts

In der Farbgestaltung wird jetzt erst das Prinzip des „Divisionismus“,


des „Chromo-Luminarismus“ systematisch durchgefiihrt. Das Licht-
thema ist im übrigen nahezu eine „Umkehrung“ desjenigen der >Bai-
gnade<. War dort das weiße Sonnenlicht das Bildthema, so in der
>Grande Jatte< das Sonnenlicht in Wechselwirkung mit den Schatten,
denen große formale Bedeutung zukommt. Die Schatten erscheinen so-
wohl als Kontraste wie in ihrer Teilhabe am Licht - und diese Teilhabe
wird erst mit Hilfe der Farbteilung anschauliche Gestalt. Erneut erweist
sich die grundlegende Bedeutung der Conté-Zeichnungen, bei denen
die Schwärzen von winzigen Lichtpunkten durchzogen sind.
Die Folgerichtigkeit des divisionistischen Systems wird an einigen
Details sichtbar. Ein Stück beschatteter Rasenfläche läßt ein Farben-
gemenge erkennen aus Grün, quantitativ überwiegend, dem «valeur
locale» des Grases, Orange als kaum faßbare, reflektierte Lichtfarbe,
Purpur als Komplementärfarbe des Grüns, Blau als Komplementär-
farbe der angrenzenden gelben Lichtfläche; diese selbst besteht nur aus
zwei Elementen, Gelb (Orange) und Griin; der Hund z.B. aus den
beiden Elementen Schwarz im Schatten und Purpur als Komplementär-
farbe zu Griin.
Das ungemein schwierige und miihevolle Verfahren solcher Farbtei-
lung war schon bei den Zeitgenossen Seurats lebhafter Kritik ausgesetzt.
Diese Einwände, auch die ernstesten, wie die von Pissarro oder van Gogh,
richten sich immer nur gegen die technische Prozedur als solche, iiber-
sehen aber, daß diese nur die Folge von Seurats umfassender Methode
zur Schaffung eines neuen Bildlichts sind, die zugleich ein System far-
biger Kontraste konstituiert. Kontraste aber sind fiir Seurat das Grund-
prinzip seiner Harmonietheorie, die in einem Brief an den befreundeten
Novellisten Maurice Beauburg vom 28. August 1890 erhalten ist. 120
Die wenigen Sätze lauten (in der Zusammenfassung fiir seinen ersten
Biographen Jules Christophe) 121: „Kunst ist Harmonie. Harmonie wie-
derum ist Entsprechung der Gegensätze («analogie des contrairés») und
Entsprechung des Ähnlichen («analogie des semblables») im Ton, in den
Farben und in der Linie. Ton, das heißt Hell und Dunkel, Farbe, das
heißt Rot und seine Ergänzung das Griin, das Orange und seine Ergän-
zung das Blau, das Gelb und seine Ergänzung das Violett. Linie, das ist
die Richtung im Verhältnis zur Waagerechten. Alle diese Harmonien
scheiden sich in solche der Ruhe, der Heiterkeit und derTrauer, Heiter-
keit entsteht im Ton bei Vorherrschaft des Hellen, in der Farbe bei Vor-
herrschaft des Warmen, in der Linie bei Bewegung, die iiber die Hori-

120 Vgl. Henri Dorra, John Rewald, Seurat, Paris 1959, LXXII, XCIX.
121 Vgl. Hess, Problem der Farbe, 22.
Französische Malerei 309

zontale aufsteigt. Ruhe stellt sich ein im Ton bei Gleichgewicht des
Dunklen und des Hellen, in der Farbe bei Gleichgewicht des Warmen
und des Kalten, in der Linie bei Ausrichtung auf die Horizontale. Der
Ton stimmt sich auf Trauer bei Vorherrschaft der Dunkelheit, die Farbe
bei jener der Kälte, die Linie bei absteigender Bewegung.“ In Seurats
Kunst kulminiert so eine Harmonietheorie der Farbe als Medium eines
alles übergreifenden harmonischen Zusammenhangs.
Neben die Farbe als Gestaltungswert bei Cézanne, als Element bildne-
rischer Harmonie bei Seurat tritt die Farbe als Ausdruckswert - bei van
Gogh, Gauguin oder Munch.

Das Problem der Farbe als dem malerischen Ausdrucksmittel


schlechthin hat Vincent van Gogh 122 (1853-1890) unentwegt beschäftigt,
von den ersten Anfängen an, als ihn sein Vetter Mauve, Ende 1881, in
ihre „Geheimnisse“ einführt. Er gelangt durch fortgesetztes Nach-
denken über sie beim Arbeiten nach der Natur, in seinem Verlangen,
über das instinktive Schaffen hinauszukommen, zu Grundlinien einer
Farbenlehre, die er in ausführlichen Briefen an seinen BruderTheo nie-
derlegt. In vielen Punkten berühren sich seine Ideen mit der Farbtheorie
Delacroix’, die er seit 1882 kennt durch die Lektüre einer Delacroix-Bio-
graphie vonThéophile Silvestre und vor allem durch das Buch von Dela-
croix’ Freund Charles Blanc, >Les artistes de mon temps< (Paris 1876),
das die Ergebnisse vieler Gespräche seines Verfassers mit Delacroix
über die Farbe enthält. (Die zahlreichen und wichtigen Bemerkungen
Delacroix’ über die Farbe in dessen Tagebuch konnte er jedoch noch
nicht kennen, da dieses erst nach seinemTod veröffentlicht wurde. Auch
die grundlegenden Arbeiten Chevreuls waren van Goghnicht bekannt.)
Auch van Gogh ist also auf dem Weg über seine eigene Arbeit, nicht
auf spekulative Weise zu Erkenntniss'en gekommen, die sich ihm zu
einer persönlichen Farbenlehre verdichteten. In den kurz aufeinander-
folgenden Stadien dieser durchaus konsequenten Entwicklung erschlie-
ßen sich ihm dabei auch immer andere Aspekte der Farbe.
Von der Zeichenkunst aus führt der Weg zum malerischen Frühwerk.
Für van Gogh besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen diesen
beiden Medien: „Was man so Black & White nennt, ist eigentlich malen
mit Schwarz“, heißt es im Brief vom 31.Dezember 1882 (Brief Nr.
256) 123. Mit dem „Malen in Schwarz“ ist aber niçht nur die Schwärze der

122 Ygj dazu: Mark Buchmann, Die Farbe bei Vincent van Gogh. Diss.
Zürich 1948. - Kurt Badt, Die Farbenlehre van Goghs. Köln 1961.
123 Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe. In der Neuübersetzung von Eva
Schumann herausgegeben von Fritz Erpel. Zürich 1965, Band 2, 170.
310 Malerei des 19. Jahrhunderts

Linien gemeint, vielmehr erzeugt das Schwarz seiner Zeichnungen, wie


auch die so oft dem Schwarz sich nähernde tiefgestimmte Farbigkeit
seiner gemalten Studien der holländischen Periode ein Dunkel, das die
Gesamtwirkung bestimmt und weit iiber alle schattenbezeichnenden
Funktionen hinausreicht. Es steht dem Finsteren näher als dem Schatten
und wird, im polaren Gegensatz zu den Helligkeiten, als Fortwirkung
des Helldunkel-Prinzips empfunden. Van Gogh fühlt sich der „Schule
von Barbizon“ und insbesondere François Millet und seiner Interpreta-
tion des Dunkels als Ausdrucksträger des Schicksalhaften, Schwer-
miitigen verbunden.
So kann das Bild der >Kartoffelesser< (April/Mai 1885, Amsterdam,
Stedelijk Museum Vincent van Gogh) 124 als Bekenntnis zur Helldunkel-
gestaltung verstanden werden - und dennoch handelt es sich auch hier
um eine neue Deutung des Helldunkels aus den Palettenfarben
heraus. 12S
Schon am 31. Juli 1882 hat van Gogh an seinen BruderTheo geschrie-
ben (Nr.221) 126: „Absolutes Schwarz kommt (in der Natur) eigentlich
nicht vor. Es ist jedoch, ebenso wie Weiß, in fast allen Farben enthalten
und bildet die unendlichen, in Ton und Stärke verschiedenen Varia-
tionen von Grau. So daß man also in der Natur eigentlich nichts anderes
sieht als die Töne oder Stärken. - Grundfarben gibt es nur drei - rot,
gelb, blau, „zusammengesetzte“ sind orange, griin, violett. - Daraus
entstehen durch Beimischung von Schwarz und etwas Weiß die unend-
lichen Variationen von Grau: ro/grau, ge/hgrau, blaugum, grwngrau,
orangegrau, violettgrau. Zu sagen, wie viele verschiedene Griingrau exi-
stieren, ist unmöglich, das variiert ins Unendliche. - Aber die ganze
Chemie der Farben ist nicht verwickelter als diese paar einfachen Grund-
regeln. Das richtig zu begreifen, ist mehr wert als siebzig verschiedene
Farbtuben - weil man nämlich mit den drei Hauptfarben und Weiß und
Schwarz mehr als siebzigTöne und Stärken machen kann.“
In den >Kartoffelessern< sind Weiß und Schwarz aus Mischungen von
Buntfarben entstanden. Das Bild, schreibt der Künstler (Nr.405), ,,ist
freilich sehr dunkel, und im Weiß zum Beispiel ist fast kein Weiß ver-
wendet, sondern einfach die neutrale Farbe, die entsteht, wenn man
Rot, Blau und Gelb mischt, zum Beispiel Zinnober, Pariser Blau und
Neapelgelb. - Diese Farbe ist also an sich ein ziemlich dunkles Grau,
wirkt aber weiß auf dem Bilde ...“

124 FAz.B.: Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 3, Abb. 134, vor 177.
125 Ygj hierzu: Carlo Derkert, Theory and Practice in van Goghs Dutch
Painting. In: KonsthistoriskTidskrift, XV, Stockholm 1946, 97-120.
126 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 2, 68.
Französische Malerei 311

Solche Einsicht in die Relativität der Farbe findet van Gogh in der
Farbe der „Schule von Barbizon“ wie auch bei Veronese gestaltet: ..
wenn man von Millet, Daubigny, Corot verlangen würde, eine Schnee-
landschaft zu malen, ohne Weiß zu verwenden, so würden sie es tun, und
der Schnee würde auf ihrem Bild weiß erscheinen.“ Millet „und andere
Tonisten“ verfahren also so, „wie Delacroix von Paul Veronese sagt, daß
er weiße, blonde, nackte Frauen mit einer Farbe malt, die an sich sehr
viel von Straßenschmutz hat“ 127.
Der hier von van Gogh verwendete Begriff „Tonist“ verweist auf seine
Unterscheidung zwischen „Farbe“ und „Ton“, deren Verhältnis im Zen-
trum seiner frühen Überlegungen steht.
Tm Brief (Nr. 428) vom November 1885 stellt er vier Skalen auf, die
erste „von gelb bis violett“, die zweite „von rot bis grün“, die dritte „von
blau bis orange“, und als „Summe“ eine vierte, „die der neutralenTöne,
die von rot + blau + gelb“, also die „von weiß bis schwarz“, wobei wie-
derum Weiß als „die extremste Mischung des nach Möglichkeit hellsten
Rot, Blau, Gelb“, Schwarz als „die extremste Mischung vom dunkelsten
Rot, Blau und Gelb“ aufgefaßt wird. Die Skalen sind mithin nach den
Komplementärfarben geordnet. Der Brief schließt mit dem Ffinweis,
die Dinge, „die sich auf Komplementärfarben, auf contraste simultané
und auf die gegenseitige Aufhebung komplementärer Farben beziehen,
diese Frage ist die erste und wichtigste .. ,“ 128. Die eben erwähnte Auf-
stellung nimmt also die komplementäre Spannung der Farben und deren
Aufhebung im Ton zusammen.
Grau soll durch Mischung von Komplementärfarben (oder den drei
Grundfarben) entstehen und bewirkt die „Harmonie“, die Farben selbst
bewirken die „Kontraste“. Wenn die Komplementärfarben nicht zu glei-
chen Teilen gemischt werden, ein Teil also dominiert, erscheint dieser
Teil als gebrochener. Aber die durch ihre Gegenfarbe gebrochene Farbe
hat die merkwürdige Eigenschaft, daß ihr Buntgehalt in komplemen-
tärer Umgehung gesteigert wird. Der Komplementärkontrast kann also
sowohl vernichten wie auch erzeugen. Das hat van Gogh als Problem nie
mehr losgelassen.
Van Gogh stellt im erwähnten Brief noch andere Farbkontraste zu-
sammen, er spricht von der wechselseitigen Wirkung zweier gleichar-
tiger Farhen, „z. B. eines Karmin auf ein Zinnober, eines Rosalila auf ein
Blaulila“, von „Hellblau gegen dasselbe Dunkelblau“, „Rosa gegen ein
Braunrot“, aber der Kontrast der Komplementärfarben und ihr Ein-
ander-Vernichten bleibt für ihn das wichtigste.

127 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 3, 259, 260, 261.


128 yan Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 3, 318, 319.
312 Malerei des 19. Jahrhunderts

Die Komplementärkontraste haben fiir ihn eine weit iiber das Kiinst-
lerische hinausreichende Bedeutung, sie sind ihm eine Form der Tota-
lität, sind Naturgesetze. Schon im Sommer 1884 beschäftigt ihn der
Gedanke, die Jahreszeiten in ihren Stimmungen durch Komplementär-
kontraste auszudriicken: „Der Friihling ist zartes, griines junges Korn
und rosa Apfelbliiten. Der Herbst ist der Kontrast des gelben Laubes
gegen violette Töne. Der Winter ist der Schnee mit den schwarzen Sil-
houetten. Wenn nun der Sommer der Gegensatz von blauen Tönen
gegen ein Element von Orange im Goldbronzeton des Korns ist, könnte
man so in jedem der Kontraste der Komplementärfarben (Rot und
Griin, Blau und Orange, Gelb und Violett, Weiß und Schwarz) ein Bild
malen, das die Stimmung der Jahreszeiten gut ausdriicken wiirde.“
(Nr. 372) 129
Aber erst in seiner letzten Schaffenszeit schöpft van Gogh die in den
Komplementärfarben beschlossenen Möglichkeiten aus.
Während seiner Pariser Zeit (vom Februar 1886 bis Ende Februar
1888) empfängt van Gogh, gefördert durch Pissarro, entscheidende Im-
pulse in der Auseinandersetzung mit der impressionistischen und neoim-
pressionistischen Malerei. Ihr verdankt er als bedeutsame Neuerungen:
die Aufhellung der Farbskala unter radikalem Bruch mit der dunklen
Farbigkeit der holländischen Periode und einem Neuaufbau der Palette
und zweitens die Lockerung der Pinselstrichfaktur und ihren Aufbau zu
einem „graphischen“ Gefüge.
In der Farbaufhellung wird ihm die koloristische, nicht die „chromo-
luminaristische“ Seite der impressionistischen Technik wichtig. Wo er
bewegtes, „spielendes“ Licht darzustellen versucht, ergeben sich ihm
aus der Kraft der Farben wie aus der Spannung und Festigkeit der graphi-
schen Form Schwierigkeiten.
In der Pariser Zeit setzt van Goghs Korrespondenz mit seinem Bruder
Theo aus (nur drei Briefe anTheo aus diesem Zeitraum existieren). So
sind wir über des Künstlers Ideen zur Farbe für diese beiden Jahre kaum
unterrichtet.
Seine schnelle künstlerische Entwicklung machen die Bilder sichtbar.
Die >Ansichtvon Paris< von 1886 (Amsterdam, Van-Gogh-Museum) ent-
faltet sich zur Mannigfaltigkeit unzähliger farbiger Grautöne, >Paris,
vom Montmartre aus gesehen< (gemalt Juli/August 1887, ebendort) zeigt
schon den offenen Pinselstrich van Goghs, aber noch wie regellos in
mehrere Richtungen orientiert. Die Wege des Vordergrundes laufen in
schneller Tiefenflucht auseinander, der Hintergrund trennt sich als
flächige Schichtung davon ab, bildet mit seinem Graublau auch farbig

129 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 3, 183.


Französische Malerei 313

eine eigene Zone, unterschieden vom Gewirk aus Grün, Oliv, Rotbraun
in den Gärten davor. In den >Schrebergärten am Montmartre< (1887,
ebendort) 130 erfaßt die reißende Perspektive den ganzen Bildraum. Die
Farbstriche werden zu Kraftlinien, wie aus einer geöffneten Schleuse
stürzen sie in die Tiefe. Der Horizont erscheint in leichter Kurvung,
weitet das Naturmotiv auf die Krümmung der Erdoberfläche. Zu neuer
Ganzheit schließen sich auch die Farben zusammen, zum Kontrast aus
Blau und Gelb, bereichert um Grün, in das stellenweise rote Striche ein-
gestreut sind.
Van Goghs Schaffenszeit in der Provence - die ersten vierzehn Mo-
nate in Arles, das Jahr in St. Remy und, nach seiner Rückkehr in den
Norden, die beiden letzten Lebensmonate in Auvers-sur-Oise - gilt als
seine eigentliche, große Epoche, auch für seine Farbgestaltung. Sie
nimmt auch in der Fülle der Selbstäußerungen, vor allem in den Briefen
anTheo, die zentrale Stellung ein, im Gegensatz zur Zeichnung, die wie-
derum eine neben den Gemälden gleichberechtigte Rolle spielt, aber in
den Briefen so gut wie keine Erwähnung findet.
Diese letzte Schaffenszeit bringt van Goghs Durchbruch zur reinen
Farbigkeit, ein entscheidendes Ereignis nicht nur in des Künstlers Ent-
wicklung, sondern für die neuere Malereigeschichte überhaupt. Die mit
der Farbteilung gegebene, über die Farben hinausreichende vibrierende
Lichtwirkung wird nun abgelöst durch eine Lichtkraft, die in der Farbe
selber ruht, ihrem Buntwert als solchem, dem „spezifischen Farblicht“ in
der Terminologie Wolfgang Schönes. Deshalb muß die Farbe nun mög-
lichst ungeteilt bleiben und eingegrenzt oder zumindest eingrenzbar
wirken. Wenn van Gogh in einem knappen Satz die Quintessenz seiner
letzten bildkünstlerischen Absichten folgendermaßen zusammenfaßt:
„Was ich wollte“, schreibt er im November 1888 an Emile Bernard,
„waren Farben wie auf Glasfenstern und eine Zeichnung in festen
Linien“, so sind damit diese beiden Wesenszüge beschrieben.
Der Durchbruch zur reinen Farbe geht also zusammen mit einer Ver-
einfachung der Farben, denn dies bewirkt die Abwendung von der poin-
tillistischen Technik. Diese Vereinfachung bedeutet aber keine Reduzie-
rung der Farbenskala. Im Gegenteil, van Gogh hat sich zwar über Wahl
und Anwendung seiner Farben nie mehr so genau geäußert wie in seiner
holländischen Periode, aber aus den Materialbestellungen, die bis zu-
letzt gelegentlich in den Briefen enthalten sind, geht hervor, daß seine
Palette sich erweitert hat, viel mehr Farben aufweist als etwa in seiner
Antwerpener Zeit, vor allem dreierlei Gelb, dreierlei Grün, zweierlei
Karmin, neben Blau und Zinnober, dazu sehr viel Weiß.

130 FA: Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 3, Abb. 166, vor 353.
314 Malerei des 19. Jahrhunderts

Der Wesenskern dieses Durchbruchs zur reinen Farbe aber liegt in der
Steigerung des Ausdruckswertes der Farbe. Schon in Holland war van
Gogh aufgegangen, daß Farbe „durch sich selbst etwas ausdrücke“, daß
ihr, unabhängig von aller Dingbezeichnung, allein aufgrund ihres Bunt-
gehalts, eine bestimmte emotionale, gefühlsauslösende Wirkung inne-
wohne. fn einer Dunkelmalerei wie der seiner holländischen Periode
mußte aber dieser Aspekt der Farbe wirkungslos bleiben, weil der „erre-
gende Buntwert“ noch einer übergreifenden Tonigkeit geopfert wurde.
Jetzt wird umgekehrt die Alternative Valeur oder Buntfarbe - die aber
schon seit den ersten Monaten in Paris eigentlich nicht mehr existierte -
endgültig zugunsten der reinen Farben entschieden: „Es ist nicht mög-
lich, die Valeurs zu geben und die Farben ... Man kann nicht zur glei-
chen Zeit am Pol und am Áquator sein. Man muß sich entscheiden; das
hoffe ich auch richtig zu tun, und zwar für die Farbe“, schreibt van Gogh
im Fmhjahr 1888 (Nr. 474) m. Mit „Farbe“ meint van Gogh dabei zu-
nächst den Buntgehalt, der jeder gesättigten Farbe innewohnt, nicht ein-
zelne Farben, obschon bestimmte Grundfarben, vor allem das Gelb,
aber auch das helle Smaragdgrün, eine besondere Faszinationskraft für
ihn besitzen.
Aber letztlich ist es auch bei diesen bevorzugten Farben nicht ihr cha-
rakteristischer Ausdruckswert als solcher oder zum mindesten nicht allein,
der die Bildkonzeption van Goghs bestimmt, sondern der Ausdruckswert,
der in den Kombinationen der Farben liegt. Eine frühe Erkenntnis in
dieser Richtung ist der schon erwähnte Hinweis, die Stimmung der Jah-
reszeiten ließe sich allein durch Anwendung entsprechender Komple-
mentärfarben ausdriicken. Jetzt, imVollbesitz seiner Mittel, vertieft sich
ihm diese Erkenntnis und erweitert sich auf das gesamte Leben, auf
jedes seelische Geschehen und er sucht sie in seiner Malerei zu ver-
sinnlichen: „Die Liebe zweier Liebenden auszudmcken durch eine Ver-
mählung zweier Komplementärfarben, durch ihre Mischung und ihre
Entgegensetzungen, durch das geheimnisvolle Vibrieren einander ange-
näherter Töne. Das Geistige einer Stirn auszudmcken durch das
Leuchten eines hellenTones auf einem dunklen Hintergrund ... Die Lei-
denschaft eines Menschen durch einen leuchtenden Sonnenuntergang.
Das ist gewiß keine realistische Augentäuscherei, aber ist es nicht etwas
wirklich Vorhandenes? ...“ (Nr. 531, September 1888) 132
Was van Gogh offensichtlich sucht, ist - nach seinen eigenen Worten -
eine „suggestive Farbe“ als das Ausdrucksmittel seiner Malerei schlecht-
hin. Die Natur aber, nach wie vor fiir ihn der einzig denkbare Ausgangs-

131 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, 25.


132 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4,139/140.
Französische Malerei 315

punkt des Schaffens, bietet diese nur in Ausnahmefällen, etwa bei


Blumen. Der Maler kann also zu ihr nicht durch Beobachtung allein ge-
langen, sondern nur durch die Verdichtung seiner Ausdrucksmittel,
indem er von den Farben der Palette ausgeht. Dieser Steigerungsvorgang
wird von van Gogh in mehreren berühmten Briefstellen geschildert;
eine davon sei zitiert: „Diesmal ist es ganz einfach mein Schlafzimmer,
hier muß es nur die Farbe machen; indem ich durch Vereinfachung den
Dingen einen größeren Stil gebe, soll einem der Gedanke an Ruhe oder
ganz allgemein an Schlaf kommen. Kurz, der Anblick des Bildes soll den
Kopf oder richtiger die Phantasie beruhigen. - Die Wände sind blaßvio-
lett. Der Fußboden hat rote Ziegel. Das Holz des Bettes und die Stühle
sind frisches Buttergelb, das Laken und die Kopfkissen sind sehr helles
Zitronengrün. - Die Bettdecke scharlachrot. Das Fenster grün. - Der
Waschtisch orange, das Waschbecken blau. -DieTürenlila. -Und das ist
alles - sonst ist nichts in diesem Zimmer mit den geschlossenen Fenster-
läden. - Die feste Derbheit der Möbel muß nun noch die unerschütter-
liche Ruhe ausdrücken. - An der Wand Bildnisse und ein Spiegel und ein
paar Kleider. - Der Rahmen - da kein Weiß auf dem Bild ist - soll weiß
sein. - Damit räche ich mich für die erzwungene Ruhe, die ich halten
mußte. - ... Du siehst wie einfach die Konzeption ist. Schatten und
Schlagschatten sind weggelassen, und die Farben sind flach und einfach
aufgetragen wie bei Japandrucken. - Das wird ein Gegensatz zum Bei-
spiel zur >Postkutsche vonTarascon< und zu dem >Nachtcafé< werden ...“
(554, Herbst 1888) 133
Jeder Satz dieser Beschreibung ist wichtig. Sie zeigt die hohe Bewußt-
heit des van Goghschen Schaffens, ist aufschlußreich aber auch in dem,
worüber sie schweigt. Schon die Zeichnung trägt ja entscheidend zum
Bildeindruck 134 bei, in der Konstruktion des Bildraumes in übersteiger-
ter Perspektive, bei der die Perspektivlinien von allen Seiten konvergie-
ren, und in den Fußbodenfliesen fast ausschließlich die Tiefenschrägen
gezeigt werden. Die Möbel, die als Gegenstandsformen „unerschütter-
liche Ruhe ausdrücken“ sollen, wirken in der künstlerischen Wieder-
gabe als Elemente der Unruhe.
Auch die Farbgestaltung steht in der Spannung zwischen „Ruhe“ und
„erzwungener Ruhe“. Alle Gegenstandsfarben sind gleichmäßig gestei-
gert, aber es handelt sich nicht um eine Rechnung einfach imitierender
Gegenstandsfarben, sondern um eine über das Gegenständliche hinaus-
reichende farbige Ordnung: dieTrias ist so verteilt, daß die Intensität der

133 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, 198/199.


134 FA der Fassung vom Oktober 1888, Stedelijk Museum Vincent van Gogh,
Amsterdam, z.B. in: Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, Abb. 199, nach 192.
316 Malerei des 19. Jahrhunderts

Buntheit in umgekehrtem Verhältnis steht zur Ausbreitung der Farbflä-


chen: das Rot der Bettdecke ist im kleinsten Bezirk versammelt, dem
Blau kommt große Ausbreitung zu. Aber es bildet sich keineswegs ein
reiner Dreiklang, vielmehr erscheinen Gelb, Rot und Blau in mehreren,
eng benachbarten Werten, jede Grundfarbe ist mithin von nahen Inter-
vallen, die als Dissonanzen wirken, umgeben, von „Störfaktoren“, die
die Ruhe als eine „erzwungene“ sichtbar machen.
Im Siiden Frankreichs fiihlt sich van Gogh in Japan (vgl. Brief 500),
und japanische Farbholzschnitte sind ihm Vorbild in der flächigen Aus-
breitung der Farbe wie in der strengen Trennung von Zeichnung und
Farbgebung. Die Passage iiber Japandrucke in der erwähnten Beschrei-
bung nimmt darauf Bezug.
Wichtig ist schließlich, daß van Gogh das >Schlafzimmer< zusammen
sieht mit der >Postkutsche von Tarascon< und dem >Nachtcafé<. Damit
kommt ein wichtiges Prinzip des reifen Stils van Goghs zur Sprache, die
Zusammenfassung mehrerer Bilder zu einer Gesamt-Dekoration. So
heißt es etwa in dem Brief an Emile Bernard aus der ersten Augusthälfte
1888: „Ich denke daran, mein Atelier mit einem halben Dutzend Bildern
von ,Sonnenblumen‘ auszuschmücken - ein Wandschmuck, auf dem die
unvermischten und die gebrochenen Chromgelbs auf verschiedenen
Hintergriinden leuchten sollen, blau vom blassesten Veroneser Griin bis
zum Königsblau, gerahmt in schmale, rot-orange gestrichene Leisten. -
Eine Wirkung wie von gotischen Kirchenfenstern.“ 135 Ist hier nur vom
Gelb-Blau-Kontrast die Rede, so greift van Gogh im Brief an seinen
BruderTheo vom 25.Mai 1889 noch weiter aus: „Weißt Du, wenn Du
(die Bilder) so anordnest, daß die >Berceuse< in die Mitte kommt und die
beiden Sonnenblumenbilder rechts und links davon, so bilden sie gewis-
sermaßen ein Tripty chon. - D ann kommen die gelben und orangen Töne
durch die Nachbarschaft der beiden Flügelbilder leuchtender heraus.“
(Nr. 592) 136
Badt bemerkte zu diesen „Bilderserien in ,symphonischem Farbzu-
sammenhang“ 1: ,,Es ist erstaunlich, wie sehr bei van Gogh die Farbe
über die Zeichnung das Übergewicht gewonnen hatte. An die formalen
Beziehungen der Bilder zueinander oder die in ihnen enthaltenen for-
malen Unvereinbarkeiten dachte er gar nicht.. .“ 137 Dies entspricht der
geringen Aufmerksamkeit, die van Gogh auch sonst Problemen der
zeichnerischen Anlage - im Vergleich mit solchen der Farbgestaltung -
zukommen ließ.

135 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 5, 279.


136 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, 280.
137 Badt, Die Farbenlehre van Goghs, 85.
Französische Malerei 317

Die Schnelligkeit des Malens ist ein wesentliches Moment der expres-
siven Bildwirkung. Immer wieder kommt van Gogh in seinen Briefen
darauf zu sprechen: „Es ist doch die Erregung, die Ehrlichkeit des Natur-
empfindens, die uns die Hand führt, ...“ Man muß „das Eisen
schmieden, solange es heiß ist, und die geschmiedeten Barren beiseite
legen“ (Brief 504, Juni 1888) und er erklärt Theo diese Schnelligkeit:
„Du mußt wissen, daß ich dauernd verwickelte Berechnungen anstelle,
aus denen sich in rascher Folge Bilder ergeben, die zwar rasch gemalt
werden, aber lange Zeit vorher ausgeklügelt worden sind.“ (Brief
507) 138
Sie steigert sich noch in den spätesten Werken und dringt auch in die
Farbe ein. In Bildern wie >Die Sternennacht< vom Juni 1889 (New York,
Museum of Modern Art) 139 malt van Gogh das Ausbrechen der Farbe
ins Licht - als Buntfarbenform, als feurig kreisende Körper.
Nun wird die in Bewegung geratene Pinsellinie, der Kurvenzug, die
„linea serpentinata“, zum Zeichen höchster Erregung und Ergriffen-
heit. In den Bildern von 1889 und 1890 treten Individualformen zurück
zugunsten ihrer Vereinfachung in Kurvenzügen. In ihnen „herrscht eine
einzige gemeinsame Schicksalsgeschlagenheit, welche alle Dinge wie
ein gefährlicher Strom erfaßt, sie bis insTiefste erschüttert und den Be-
stand ihrer natürlichen Formen bedroht“ 140.
In den Dienst der Darstellung von Schicksalsgebundenheit und
Schicksalsmacht, wechselnd in der Auffassung von Schicksal, stellt van
Gogh die Farben.

Paul Gauguins Leben (1848-1903) ist im Grunde eine Folge von


Reisen, Reisen, die ihn um die halbe Erde führen, 1887 nach Marti-
nique, 1891-1893 nachTahiti, 1895 wiederum nachTahiti, von wo er sich
1901 auf eine Insel der Marquesas-Gruppe zurückzieht; Reisen, jeweils
begonnen mit phantastischen Hoffnungen und äußerlich endend im
Scheitern. Sein Drang, die geträumte Bildwelt in tropischen und, wie er
meinte, primitiven und paradiesischen Ländern verwirklicht zu sehen,
entspringt seiner tief romantischen, abenteuerlichen, wie von einem
Dämon besessenen und schicksalhaft getriebenen Natur.
Sie bestimmt auch den Charakter seiner Farbestaltung 141, die wie ein
„magischer Akkord“ 142, ein „Narkotikum“ wirken soll.

138 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, 80 und 88.


139 FA: Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, Abb. 215, nach 272.
140 Badt, Die Farbenlehre van Goghs, 132 und folgende Seiten.
141 FA: Charles Estienne, Gauguin, Genf (Skira) 1953.
142 Zitate nach Hess, Problem der Farbe, 52, 53, 54, 57, 186, Anm. 40.
318 Malerei des 19. Jahrhunderts

Bei den nur im Motiv impressionistischen friihen Bildern wie etwa der
>Seine mit Pont D’Jena< von 1875 (Paris, Musée d’Orsay) ist, verglichen
mit Werken Monets oder Sisleys um 1875, die Präzision der Form nicht
geopfert; schon hier erscheint der Himmel als ein farbiger, grauvioletter
Grund. In Werken wie der >Landschaft bei Rouen< von 1884 (Priv. Besitz
Basel) macht sich Pissarros Einfluß bemerkbar (auch Gauguin wurde
von Pissarro entscheidend gefördert), die schimmernde Lichtwirkung
aber steht im Konflikt mit der Festigkeit der Form. 1886 flndet Gauguin
seinen Weg der „Überwindung“ des Impressionismus. Als Beispiel diene
das Bild >Bretonische Bäuerinnem (München, Neue Pinakothek) 143 mit
seiner konsequenten Verflächigung aller Bildmotive und der entspre-
chenden Betonung der Konturen als Flächenbegrenzungen. Eine ge-
wisse Diskrepanz der farbigen Mittel ist nicht zu übersehen: die Flächen
von Weiß in Hauben und Kragen der Frauen, von Rot und hellem Blau in
ihren Rücken dienen als ornamentale Lichtträger, die übrigen Partien
der Figuren liegen im Halbschatten, vor lichtgriinem Grund. Alle
Farben sind dabei streng gegenständlich gebunden.
1888 hat der abstrakte Gehalt weiter zugenommen. In >LesAlyscamp<
(Paris, Musée d’Orsay) findet sich, obwohl das Naturmotiv eine perspek-
tivische Anlage nahelegen würde, eine entschiedene Absage an linear-
perspektivische Mittel: die Ränder der Böschung erscheinen eher als
steigende und fallende denn als einwärtsführende Linien. Es bilden sich
in freien Kurven begrenzte farbige Flächenformen heraus, die orna-
mental wiederholt werden. Die Farbwahl zeigt nun schon in voller Aus-
prägung Gauguinsche Besonderheit, milde Werte, viele aus dem Sekun-
därfarbbereich: zu Gelb treten Grün, Orange, Violett und Grau.
Ein Ganzes, das sich unterteilt, schwebt Gauguins künstlerischer
Vision vor, zu verwirklichen nur vom Ganzen der Bildfläche aus, von der
Interpretation alles Dinglichen in einer übergeordneten Einheit, nicht
vom Einzelnen, Dinglichen her. Die Gegenstandsform, auch wenn sie
immer als solche noch erkennbar bleiben muß, geht auf in einer höheren
Bildeinheit. Die „Figur“ muß sich einem „Dekor“ einfügen, der jedoch,
nach Gauguins Willen, nicht lediglich ein kalligraphisches System bilden
darf, sondern dem Bildausdruck zu seiner höchsten Intensität verhelfen
soll.
Das künstlerische Mittel hierzu ist, wie etwa das Bild >Vision nach der
PredigL von 1888 (Edinburgh, National Gallery of Scotland) zeigt, die
gleichzeitige Vereinfachung der Linien, Formen und Farben.
Diese gleichzeitige Vereinfachung der Bildfaktoren wird seit 1888 das
künstlerische Problem für Gauguin wie für den kleinen Kreis jüngerer

143 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 130.


Französische Malerei 319

Maler um ihn, unter denen dem jungen Maler Emile Bernard (1868 bis
1941) eine besondere Stellung zukommt. Aus langen Debatten zwischen
diesen Malern aus Pont-Aven hat sich zur Bezeichnung dieses Verfah-
rens der Vereinfachung der Begriff der „Synthese“ als Kennwort ihres
künstlerischen Programmes und schließlich der Name „Synthetismus“
für den Stil dieser sogenannten „Schule von Pont-Aven“ herausgebildet.
Der emgrenzenden Funktion der Linie, die in der älteren Kunst domi-
nierte, d. h. der auf das Innere der Gegenstandsfiguren bezogenen, wird
nun die ausgrenzende, auf den Bildgrund orientierte Funktion der Linie
ebenbürtig. Die ist, mit der Betonung der Konturlinie überhaupt, das
Prinzip des sog. „Cloisonnismus“. Voraussetzung hierfür ist weitestge-
hende Ausschaltung der Modellierung, was die „Synthetisten“ unter
„Vereinfachung der Form“ verstanden wissen wollten. In diesen präzise
umgrenzten und entschieden verflächigten Bezirken kann sich nun die
Farbe ruhig ausbreiten und voll zur Geltung bringen. Auch sie erfährt
eine äußerste Vereinfachung, in dem sie auf ihre wesentlichste Eigen-
schaft, die Buntheit, reduziert wird. Für Gauguin charakteristisch ist,
daß diese farbige Vereinfachung auch den Bildgrund einbezieht. Im er-
wähnten Bild erscheint der Grund rot, in einer Farbe ohne Gegenstands-
bedeutung, „abstrakt“! Noch in van Goghs gleichzeitigen Bildern wirkt
das Blau eines Bildgrundes gegenstandsbezogen.
Im übrigen aber trifft sich Gauguin mit van Gogh in dieser Verein-
fachung der Farbe auf den Buntwert. Was ihn von diesem unterscheidet,
ist die Anwendung eines allgemeinen Prinzips der gesteigerten Farbe.
So wendet sich Gauguin entschieden gegen van Goghs Glauben an die
Wirksamkeit komplementärer Kontraste und meint, van Gogh „gelange
mit all dem Gelb auf Violett, mit all dieser Arbeit der Komplementär-
farben, nur zu unvollständigen und monotonen Harmonien; der Ton
des Horns fehlte“ (>Avant et Après<). Maurice Denis berichtet in sei-
nen >Théories<: „Gauguin schärfte seinem Anhänger Séguin ein, nie-
mals Komplementärfarben nebeneinanderzusetzen. Als dieser es doch
wieder tat, zog er einen Revolver aus derTasche und legte ihn auf den
Tisch ..
Gauguin stellt der Gestaltung farbiger Kontraste seine Auffassung far-
biger Harmonie entgegen: „Wer sagt Euch, daß man den Kontrast der
Farben suchen muß? ... Suchet die Harmonie und nicht den Gegensatz
(l’opposition), den Zusammenklang und nicht das Aufeinanderprallen
(le heurt) der Farben“, heißt es in einem in das Buch >Avant et Après<
aufgenommenen Traktat >Du livre des métiers de Vehbi-Zunbul-Zadi<,
in dem Gauguin „einen Künstler aus barbarischen Zeiten, welcher Vor-
schriften erteilt“, sprechen läßt.
Es ist Gauguins Schaffen aus einer Gesamtidee, aus einem Ganzen,
320 Malerei des 19. Jahrhunderts

das ihn, im Thematischen, zu Motiven der christlichen Religion und,


später ausschließlich, zu solchen mythisch-magischer Vorstellungswel-
ten führt, im Bildnerischen aber zu einem Gestalten aus dem Ganzen
der Bildfläche, die sich im „suggestiven Dekor“ der Linien unterteilt.
Dem „Ganzen“ eines Bildgehalts hat auch die „suggestive Farbe“ als
„Äquivalent“ zu dienen, ihm soll die Harmonie der Farbe entsprechen.
Hier macht sich gleichfalls die Vorstellung eines sich unterteilenden
Ganzen geltend. Gauguin nennt seine Harmonie ,,die Orchestrierung
eines reinen Tones mittels aller Ableitungen dieses Tones“. ,,In seinen
>Notizen über Harmonie< hat Gauguin einen Versuch unternommen - es
ist sein einziger -, gewisse Gesetzmäßigkeiten der Farbe begrifflich zu
fassen, in Analogie zur Musik“, in Aufzeichnungen, die wahrscheinlich
zwischen 1888 und 1890 entstanden sind. Hier spricht Gauguin von „Ein-
heiten der Farben“: „Nehmt so viele Einheiten, wie es Farben im Regen-
bogen gibt, tut die hinzu, die von den zusammengesetzten Farben ge-
bildet werden ... Ihr kommt zu einer recht beträchtlichen Anzahl von
Einheiten.“ Die „Einheiten“ und damit die Analogie zur Musik be-
stehen also „nicht im Zusammenhang kontrastierender Farbqualitäten,
sondern verschiedener Stufen der gleichen Farbe oder im Zusammen-
klang ähnlicher Farben“, näherhin nicht so sehr im Zusammenklang von
„Helligkeitsstufen der gleichen Farbe“, sondern in dem von „Stufen zwi-
schen vollen und gebrochenen Farben und dem im Farbenkreis benach-
barter Farben. So bildet nach Séguin (>Erinnerungen an Gauguun) z. B.
auch Violett mit Grünblau eine Harmonie, nicht aber mit Gelb. Für das
Zusammenwirken verschiedener ,Einheiten‘ sucht Gauguin keine Ent-
sprechungen in der Musik und wendet auch den Begriff ,Harmonie‘
nicht darauf an. Solche Farben bringen sich nur gegenseitig zum ,Vibrie-
ren‘ und steigern sich in der Intensität.“ So schreibt Gauguin: “Rot
neben Grün: zwei vibrierendeTöne. Neben das Rot noch Gelb gesetzt:
bereichert und steigert die Intensität des Griin. Statt Gelb Blau: drei
vibrierende Töne. Statt Blau Violett: bildet mit dem Rot gegenüber
Griin eine Einheit. - Die Kombinationen sind unbegrenzt.“ 144
Die Farbgestaltung Gauguins entspricht weithin diesen Angaben. Sie
bleibt im wesentlichen in seinen Hauptwerken der neunziger Jahre un-
verändert. Auch der „magische“ Akkord hält sie zusammen. „Ich
träume von gewaltsamen Harmonien inmitten natürlicherWohlgerüche,
die mich berauschen ... Altes, Erhabenes, Religiöses ... das verschlei-
erte Bild des unergründbaren Rätsels ...“ schreibt Gauguin an Fon-
tainas; seine Bilder kreisen um diesenTraum.

144 Hess, Problem der Farbe, 53. - Vgl. auch Hans Graber, Paul Gauguin
nach eigenen und fremden Zeugnissen, 2. Aufl. Basel 1946, 460.
Französische Malerei 321

Sein Bild >Manao Tupapau< (1893, Priv. Slg. New York) hat Gauguin in
zwei Briefen und in den >Notes ésparses< beschrieben. Die nicht völlig
übereinstimmendenTexte faßte Walter Hess zusammen: „Gauguin geht
aus vom Sujet, dem liegenden Akt eines Kanakenmädchens, das er zu
malen beginnt ,ohne eine andere Absicht, als einen Akt zu machen 1,
wobei aber ein gewisser Ausdruck des Erschreckens an dem Mädchen
ihn fesselt und er zugleich ,an den kanakischen Geist und Charakter
denktk Das führt ihn zu einer Farbengebung, ,die düster, traurig und er-
schreckend ist, die einen trifft wie Totengeläute“: düstres Violett und
düstres Blau, dazu Chromgelb I und Chromgelb II (die Farbenangaben
stimmen in den Texten nicht genau überein). In dem Linnenzeug ge-
winnt das Gelb einen eigentümlichen Charakter, es suggeriert künst-
liches Licht in der Nacht und ersetzt dadurch ,einen Lampeneffekt, der
zu banal wäre‘ (die Kanaken lassen stets die ganze Nacht eine Lampe
brennen). Gleichzeitig bildet dieses Gelb ,einen Übergang vom Orange-
gelb zum Grün, Vervollständigung des musikalischen Akkords ... Der
dekorative Sinn führt mich dazu, den Hintergrund mit Blumen zu be-
säen.‘ Diese bekommen Farben wie Phosphoreszenzen in der Nacht,
denn nun verdichtet sich ,der literarischeTeil‘: Nächtliches Phosphores-
zieren bedeutet für die Eingeborenen, daß der Geist von Toten anwe-
send ist. Das Erschrecken des Mädchens ist jetzt auch inhaltlich erklärt.
,Der musikalischeTeil: Horizontale ondulierende Linien, Akkorde von
Orange und Gelb, Blau und Violett und deren Derivaten, erhellt durch
grünliche Funken', wird Äquivalent des ,literarischenTeiles: Der Geist
eines Lebenden verbunden mit dem Geist einesToten. 1“ 145
Dieser Text zeigt exemplarisch die Durchdringung „dekorativer“,
„suggestiver“ und „literarischer“ Aspekte in Gauguins Farbgestaltung.
„Seien Sie überzeugt, daß die farbige Malerei in eine musikalische
Phase eintritt“, diese Prophezeiung Gauguins 146 entspricht jener van
Goghs, der in einem Brief vom 5.Mai 1888 an seinen Bruder ge-
schrieben hatte (Nr. 482): Der „Maler der Zukunft ist ein Kolorist, wie
es noch keinen gegeben hat“ 147 oder, im August 1888 (Nr. 528): „Die
Malerei, wie sie j etzt ist, verspricht subtiler zu werden - mehr Musik und
weniger Skulptur - kurz, sie verspricht die Farbe .. ,“ 148
Die Malerei des 20. Jahrhunderts löste diese Prophezeiung ein.
Im Unterschied zu van Gogh sind von Edvard Munch 149 (1863-1944)
145 Hess, Problem derFarbe, 56/57; vgl. auch Graber, Gauguin, 214/215,220.
146 Hess, Problem der Farbe, 54; Graber, Gauguin, 483.
147 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, 40.
148 Van Gogh, Sämtliche Briefe, Bd. 4, 133.
149 FA: Ragna Stang, Edvard Munch - der Mensch und der Künstler, König-
stein i.Ts. 1979.
322 Malerei des 19. Jahrhunderts

nur ganz wenige Aussagen zur Farbe iiberliefert. Sie lassen erkennen,
daß für die Entstehung seiner Bilder Farbeindrücke entscheidend
waren. So wird etwa beim berühmten Bild >Der Schreu Rot assoziativ
mit Blut verknüpft 150; das Bildmotiv eines Billardzimmers verbindet
sich ihm sogleich mit dem Simultankontrast, durch den die grünen Ti-
sche die Personen rot gekleidet erscheinen lassen. Zu den >Mädchen auf
der Brücke< heißt es in Munchs Notizbuch aus dem Jahre 1892: „Der
Sommer kam - mit seinen leuchtenden Farben - leuchtendes Grün
gegen leuchtendes Blau - leuchtendes Gelb gegen leuchtendes Rot.
Schnell versammelten sich die in hellen Farben gekleideten Damen der
Stadt zu großen Gruppen - sie sprechen miteinander und scherzen - wie
große Blumen - ein Strauß ... junger Mädchen füllte die Straße - wie
große rote und weiße und gelbe Blumen.“ 151
Barbara Schütz widmete der Farbgestaltung Edvard Munchs eine
genaue Untersuchung. 152 Einige Ergebnisse daraus seien hier referiert.
Auch Munch arbeitete mit einer beschränkten Skala von Buntfarben,
den drei Primärfarben und den drei Sekundärfarben. Grundsätzlich un-
terscheidet er zwischen einer warmen und aktiven Farbskala, bei der Rot
und Gelb dominieren (>Professor Jacobsen<, 1909; die Werke befinden
sich, wenn nicht anders vermerkt in Oslo, Kommunens Kunstsamlinger),
und einer kühlen und passiven, in der Blau und Grün maßgebend sind
(>Die Stimme< 1893). Für viele Bilder gilt, daß der Intensitätsgrad der
aktiven Farben in reziprokem Verhältnis steht zu ihrer Ausdehnung
(>Selbstbildnis mit Weinflasche>, 1906). Rot als der buntkräftigsten Farbe
kommt dabei eine vorrangige Stellung zu. Zu diesen Buntfarben tritt
Weiß. Als Dunkelheit erscheint dagegen meist schwarz verhangenes
Blau und Griin. Diese Farbwahl bleibt in den Jahren des reifen Schaf-
fens konstant. Braun dagegen wird nur in Frühwerken und Werken der
neunziger Jahre verwendet.
Diese hier nur in den allgemeinen Kategorien benannten Farben
schließen sich zu Klängen zusammen. In sehr vielen Bildern bestimmt
der Rot-Grün-Kontrast die Farbkomposition, wobei die Farbwerte in
der Regel sich nicht komplementär entsprechen, sondern gegenein-
150 Vgl. Stang, Edvard Munch, 90.
151 Vgl. Mary Wilson, Edvard Munch: A Study of his Form-Language. Phil.
Diss., Northwestern University 1973, 15 und 93.
152 Barbara Schütz, Farbe und Licht bei Edvard Munch, Diss. Universität des
Saarlandes, Saarbrücken 1986. Auch die obigen Angaben sind dieser Arbeit ent-
nommen. - Zur Beurteilung der Munchschen Farbe in der Literatur vgl. Hen-
ning Bock, Farbe als Ausdruck: Zur Deutung von Bildern Edvard Munchs. In:
Edvard Munch. Probleme -Forschungen-Thesen, hrsg. von Henning Bock und
Günter Busch, München 1973, 69-76.
Französische Malerei 323

ander versetzt sind. So antwortet oft ein tiefes Blaugrün einem glü-
henden Zinnoberrot (>Selbstbildnis mitWeinflasche<, 1906).
Gelb-Blau und Rot-Blau folgen unter den Buntfarbklängen, unter
den Bunt-Neutralfarbkontrasten aber Rot-Weiß. Wichtige Farbakkorde
ergeben sich aus der Gliederung der Farbwelt in eine warme und kühle
Zone, als Rot-Orange-Gelb und Blau-Grün-Violett.
Doch ist mit solcher Farbaufzählung nicht sehr viel gesagt. Erst in Ver-
bindung mit der Erscheinungsweise der Farbe wird das Spezifische der
Munchschen Gestaltung faßbar. Es ist dies die flächenfarbige Erschei-
nungsweise, jedoch mit der Besonderheit, daß sie stofflich fühlbar ge-
macht wird. Sie wird zur Farbplatte von wechselnder Festigkeit und
Dichte, die sich in ihrem Aggregatzustand ständig wandeln und so auch
raumhaltig wirken kann.
Diese Erscheinungsweise ermöglicht ein „Farbleuchten“. Ein Aus-
spruch Munchs lautet: „Der Tod ist pechschwarz, doch Farben sind
Licht. Maler sein heißt mit Lichtstrahlen arbeiten.“ Munch identifiziert
mithin Farben mit Licht. Aber es ist die Farbe als Farbe, die das Licht
entsendet. Leuchten ist Intensitätssteigerung der Flächenfarben - und
auch bei Munch bedarf dies Leuchten der Dunkelfelder. Darin besteht
der große Unterschied zur van Goghschen Farbigkeit, daß Munch die
Buntfarben einspannt zwischen Weiß und eine farbige Dunkelheit. Die
Dunkelheit liegt vorne, bildet Rahmen oder vordere Abschlüsse (>Eifer-
suchU, 1895, Bergen, Slg. R.Meyers, >Roter wilderWein<, 1898).
Alle Bilder Munchs sind hellgrundig, weißlich-gelb oder ganz weiß
grundiert. Die Farben werden von diesem „Lichtgrund“ durchschienen
und so über ihr bloßes Farblicht hinausgehoben. Liegen die Farben
nicht einschichtig über dem Grund, so bilden sie einander überflorende
Farblagen, die einen Raum unmeßbarerTiefe entstehen lassen.
Mit dem Bild >Das kranke Kind<, gemalt 1885/86 (Nat. Gal. Oslo), er-
zielt Munch seinen künstlerischen Durchbruch. Munch berichtet, daß
ihm das Bild vor der Ausführung visionär vor Augen stand : „Als ich zum
ersten Mal das kranke Kind sah - das bleiche Gesicht mit dem kräftigen
roten Haar gegen das weiße Kissen - bekam ich einen Eindruck, der
während der Arbeit verschwand. Ich malte ein gutes, aber ein anderes
Bild. Im Laufe eines Jahres zeichnete ich das Bild viele Male, veränderte
es mehrmals, kratzte es weg und versuchte immer wieder, den ersten
Eindruck zu erzielen, die durchsichtige, bleiche Haut, den bebenden
Mund, die zitternden Hände.“ 153 Auch hier ist dieser erste Eindruck ein
farbiger. Im Bild wird das Zinnoberrot der Haare kontrastiert zu Grün-
werten und eingebunden in eine Vielfalt blau- und gründurchwirkter

153 Stang, Munch, 60. Zitiert nach Schütz, 12/13.


324 Malerei des 19. Jahrhunderts

Grautöne, die sich im Kissen ins Weiß erheben, das aus dem Bilde
herausleuchtet.
An Darstellungen der Karl Johans Gate läßt sich Munchs schnelle
Entwicklung um 1890 verfolgen: in rotbräunlichem, in sich differen-
ziertem Ton, kontrastiert gegen das kräftige Rot eines Sonnenschirms
ganz vorne, gehalten im Bild >Militärmusik auf Karl Johans Gate< von
1889 (Kunsthaus Zürich), in sandbräunlichem Ton, aufgelöst in Farb-
punkte beim >Frühling auf der Karl Johans Gate<, gemalt 1891, nach
Munchs Rezeption des Neoimpressionismus (Bergen), schließlich
bleichgelbe Häuserwände kontrastiert gegen das Grau der Straße, das
dünne Blau des Himmels und vor allem die bräunliche Dunkelheit der
nahen, vom Bildrand iiberschnittenen Menschengruppe beim >Abend
aufder Karl Johans Gate< von 1893/94 (Bergen).
In Stufen oder fließenden Übergängen von Gelbtönen, Braun, Rot-
braun, Braunrot, kontrastiert gegen leuchtendes Weiß und schwärzliche
oder schwarzbraune Dunkelheit finden die psychophysischen Dramen
der >Pubertät< und von >Der Tag danach< (beide 1894 gemalt, Nat. Gal.
Oslo) ihren drängenden und zugleich verheimlichenden Ausdruck.
>Rot und Weiß< (um 1894) und >Tanz des Lebens< (1899-1900, Nat.
Gal. Oslo) können als Beispiele fiir die bildbestimmende Wirkung des
Rot-Weiß-Akkordes genannt werden, beide Male ergänzt durch Griin
und tieffarbige Dunkelheit.
Der vom Rot dominierte Rot-Griin-Kontrast, der fahlbleiche Ton im
Antlitz des Mannes, gerahmt von der Dunkelheit seiner Gewandung
bilden das farbige Medium des Ausdrucks ausbrechender Leidenschaft
bei >Eifersucht< (1895, Bergen) und >Roter wilderWein< (1898).
In den Bildern um 1900 erscheinen die Farben zwar im vielfach zer-
teilten, dennoch zu homogenen Massen sich zusammenschließenden
Auftrag. Das Bild >Marats Tod< von 1907 ist dagegen ein extremes Bei-
spiel eines „wüsten“, harte horizontale und vertikale Farbstriche schroff
durchkreuzenden Auftrags. Später, etwa beim >Mann im Kohlacker< von
1916 (Oslo, Nat. Gal.) bildet sich ein dekoratives Gefiige, nun werden in
freien Kurven begrenzte Farbzonen puzzleartig zueinander gelegt.
Munchs Farbgestaltung schlägt die Briicke vom 19. ins 20.Jahrhun-
dert. Indem sie Farbe als „Innenfarbe“, als „Substanzfarbe“ 154 wirken
läßt, erschließt sie ihr neue Ausdrucksmöglichkeiten. Die Maler des
norddeutschen Expressionismus folgen Munch auf diesem Weg.

154 Vgl. Christel Denecke, Die Farbe im Expressionismus, Düsseldorf 1954,


32; Schütz, 259-262.
Deutsche Malerei 325

C. ZUR DEUTSCHEN MaLEREI DES 19. JaHRHUNDERTS

Um 1800 erscheinen in Deutschland grundlegende Abhandlungen zur


Farbtheorie. 155 Goethes Farbenlehre 156 reicht weit über die künstleri-
sche Verwendung der Farbe hinaus, diese aber war für Goethe der
Anlaß, sich theoretisch mit der Farbe zu befassen. Allerorten begegnete
ihm Unsicherheit in Fragen der Farbgebung. „Mehrere Gemälde waren
in meiner Gegenwart erfunden, komponiert, dieTeile, der Stellung und
Form nach, sorgfältig durchstudiert worden, und über all dieses konnten
mir die Künstler, konnte ich mir und ihnen Rechenschaft, ja sogar
manchmal Rat erteilen. Kam es aber an die Färbung, so schien alles dem
Zufall überlassen zu sein, dem Zufall, der durch einen gewissen Ge-
schmack, einem Geschmack, der durch Gewohnheit, eine Gewohnheit,
die durch Vorurteil, ein Vorurteil, das durch Eigenheiten des Künstlers,
des Kenners, des Liebhabers bestimmt wurde“, heißt es am Schluß des
historischen Teils der >Materialien zur Geschichte der Farbenlehre< im
Hauptwerk >Zur Farbenlehre< von 1810, betitelt >Konfession des Verfas-
sers<, und weiter: „Bei den Lebendigen war keinTrost, ebensowenig bei
den Abgeschiedenen, keiner in den Lehrbüchern, keiner in den Kunst-
werken.“ „... ich konnte nur bemerken, daß die lebenden Künstlerbloß
aus schwankenden Überlieferungen und einem gewissen Impuls han-
delten, daß Helldunkel, Kolorit, Harmonie der Farben immer in einem
wunderlichen Kreise sich durcheinander drehten. Keins entwickelte sich
aus dem andern, keins griff notwendig ein in das andere ...“ Es ist der
höhere systematische Anspruch, den Goethe in den Farbauffassungen
seiner Gegenwart und Vergangenheit - die er sehr genau kannte, hatte
er doch als erster eine Geschichte der Farbenlehre entworfen - nicht be-
friedigt fand. So wird er zu einer prinzipiellen Untersuchung der Farben-
welt geführt: „Ich hatte nämlich zuletzt eingesehen, daß man den
Farben, als physischen Erscheinungen, erst von der Seite der Natur
beikommen mußte, wenn man in Absicht auf Kunst etwas über sie
gewinnen wolle.“ 157

155 Yg[ Birgjt Rehfus-Dechêne, Farbengebung und Farbenlehre in der deut-


schen Malerei um 1800, München 1982.
156 Vgl. dazu: Lersch, Farbenlehre, Sp. 233-240. - J.Heinrich Schmidt, Zur
Farbenlehre Goethes. In: Zeitschrift f. Kunstgeschichte, I, 1932, 109-124. -
Rike Frey, Die ästhetische Funktion der Farbe in Goethes Farbenlehre, Diss.
Marburg 1943. - Goethes Farbenlehre, ausgewählt und erläutert von Rupprecht
Matthaei, Ravensburg 1971.
157 Zitate nach: Goethe, Farbenlehre, Vollständige Ausgabe der theoreti-
schen Schriften, Tübingen 1953, 501/502, 503.
326 Malerei des 19. Jahrhunderts

Im Vorwort des Hauptwerks stehen die berühmten Sätze: „Die


Farben sindTaten des Lichts,Taten und Leiden. In diesem Sinne können
wir von denselben Aufschltisse iiber das Licht erwarten.“ Aber die
Farben sind nicht im Licht „enthalten“ - gegen diese Newtonsche These
richtet sich Goethes entschiedener Widerspruch: Licht ist ihm „das ein-
fachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, das wir kennen. Es ist nicht
zusammengesetzt.“ 158 Zur Erzeugung der Farbe werden „Licht und Fin-
sternis, Helles und Dunkles oder, wenn man sich einer allgemeinen
Formel bedienen will, Licht und Nichtlicht gefordert“ 159. Deshalb sind
die Farben „durchaus als Halblichter, als Halbschatten anzusehen.“ 160
Hinzu kommt die von Goethe als „Urphänomen“ angesprochene
„Trübe“: „Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der an-
deren die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide,
und aus diesen Gegensätzen, mit Hilfe gedachter Vermittlung, entwik-
keln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber als-
bald, durch einen Wechselbezug, unmittelbar, auf ein Gemeinsames
wieder zurück.“ (175) 161 In solchen Aussagen wird der neuzeitlichen
Helldunkelmalerei ein theoretisches Fundament bereitet, erweist sich
Goethe als geistiger Erbe dieser Tradition. Nimmt die Malerei des 19.
und 20. Jahrhunderts Licht und Dunkel und „Trübe“ immer mehr in die
Farben selbst zurück, so ist damit auch eine Aussage über deren ontolo-
gischen Status festgestellt.
Die Genesis der Farben bestimmt auch die Gliederung der Farbwelt:
„Entstehen der Farbe und sich entscheiden ist eins. Wenn das Licht mit
einer allgemeinen Gleichgültigkeit sich und die Gegenstände darstellt
und uns einer bedeutungslosen Gegenwart gewiß macht, so zeigt sich die
Farbe jederzeit spezifisch, charakteristisch, bedeutend.“(695) ,,Im allge-
meinen betrachtet entscheidet sie sich nach zwei Seiten. Sie stellt einen
Gegensatz der, den wir Polarität nennen und durch ein + und — recht
gut bezeichnen können.“ (696) „Die Farben von der Plusseite sind Gelb,
Rotgelb (Orange), Gelbrot (Mennig, Zinnober). Sie stimmen regsam,
lebhaft, strebend.“ (764) Die Gliederung der Farbwelt geht unmittel-
bar in die „sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe“ ein, dem Kapitel der
Goetheschen Farbenlehre, dem in der Farbtheorie der Malerei wie in
der Farbgestaltung selbst die stärkste Wirkung beschieden war. Wie eng
Natur und Kunst gerade in der Farbe geeint sind, macht der Einleitungs-

158 Farbenlehre, 15.


159 Farbenlehre, 177.
160 Farbenlehre, 178.
161 Die Ziffern bezeichnen die Paragraphen-Nummern des ersten, didakti-
schen Teils in Goethes >Farbenlehre< von 1810.
Deutsche Malerei 327

paragraph dieser Abteilung deutlich: ,,Da die Farbe in der Reihe der ur-
anfänglichen Naturerscheinungen einen so hohen Platz behauptet,
indem sie den ihr angewiesenen einfachen Kreis mit entschiedener Man-
nigfaltigkeit ausfiillt, so werden wir uns nicht wundern, wenn wir er-
fahren, daß sie auf den Sinn des Auges, dem sie vorziiglich zugeeignet ist
und durch dessen Vermittlung, auf das Gemiit, in ihren allgemeinsten
elementaren Erscheinungen, ohne Bezug auf Beschaffenheit oder Form
eines Materials, an dessen Oberfläche wir sie gewahr werden, einzeln
eine spezifische, in Zusammenstellung eine teils harmonische, teils cha-
rakteristische, oft auch unharmonische, immer aber eine entschiedene
und bedeutende Wirkung hervorbringe, die sich unmittelbar an das Sitt-
liche anschließt. Deshalb denn Farbe, als ein Element der Kunst be-
trachtet, zu den höchsten ästhetischen Zwecken mitwirkend genutzt
werden kann.“ (758) Nur die Grundlinien dieser umfassenden Studie
über die farbigen Ausdruckswerte können hier referiert werden : Gelb ist
„die nächste Farbe am Licht. Sie entsteht durch die gelindeste Mäßigung
desselben, es sei durch triibe Mittel oder durch schwache Zuriickwer-
fung von weißen Flächen“ (765), „fiihrt in ihrer höchsten Reinheit
immer die Natur des Hellen mit sich und besitzt eine heitere, muntere,
sanft reizende Eigenschaft“ (766), ist aber „äußerst empfmdlich und
macht eine sehr unangenehme Wirkung, wenn sie beschmutzt oder eini-
germaßen ins Minus gezogen wird“. (770) ,,Da sich keine Farbe als still-
stehend betrachten läßt, so kann man das Gelbe sehr leicht durch Ver-
dichtung und Verdunklung ins Rötliche steigern und erheben. Die Farbe
wächst an Energie und erscheint im Rotgelben mächtiger und herrli-
cher.“ (772) Im Gelbrot steigert sich der Farbeindruck „bis zum uner-
träglich Gewaltsamen“ (774): „Man darf eine vollkommen gelbrote
Fläche starr ansehen, so scheint sich die Farbe wirklich ins Organ zu
bohren.“ (776) - „Die Farben von der Minusseite sind Blau, Rotblau
und Blaurot. Sie stimmen zu einer unruhigen, weichen und sehnenden
Empfindung.“ (777) ,,So wie das Gelb immer ein Licht mit sich fiihrt, so
kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich führe.“ (778)
„Diese Farbe macht fiir das Auge eine sonderbare und fast unaussprech-
liche Wirkung ... Es ist etwas Widerstrebendes von Reiz und Ruhe im
Anblick.“ (779) Blau scheint „vor uns zurückzuweichen“ (780), wir
sehen „das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es
uns nach sich zieht“. (781) Blau steigert sich ins Rotblau. ,,So wie die
Steigerung selbst unaufhaltsam ist, so wünscht man auch mit dieser
Farbe immer fortzugehen, nicht aber, wie beim Rotgelben, immer tätig
vorwärts zu schreiten, sondern einen Punkt zu finden, wo man ausruhen
könnte.“ (788) Im Blaurot nimmt jene Unruhe noch zu. - Rot aber ist
das Ziel der strebenden Steigerung vom Gelben und vom Blauen aus
328 Malerei des 19. Jahrhunderts

und „in der Vereinigung der gesteigerten Pole“ findet eine „Beruhi-
gung“, eine „ideale Befriedigung“ statt. (794) Die Wirkung von Rot ,,ist
so einzig wie ihre Natur. Sie gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und
Wiirde, als von Huld und Anmut. Jenes leistet sie in ihrem dunklen ver-
dichteten, dieses in ihrem hellen verdünnten Zustande.“ (769) Eine
„reale Befriedigung“ findet das Auge dagegen im Griin. Das Auge und
das Gemiit ruht „auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen. Man
will nicht weiter und man kann nicht weiter“. (802) - Die als dynamische
Qualitäten erfaßten Farben und ihre Beziige zum Auge lassen die far-
bigen Relationen entstehen, als „Totalität und Harmonie“: „Wenn das
Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich inTätigkeit gesetzt, und es ist
seiner Natur gemäß auf der Stelle eine andre, so unbewußt als not-
wendig, hervorzubringen, welche mit der gegebenen die Totalität des
ganzen Farbenkreises enthält. Eine einzelne Farbe erregt in dem Auge,
durch eine spezifische Empfindung, das Streben nach Allgemeinheit.“
(805) Der Farbenkreis (- als erster hatte Newton die Farben in einem
Kreise angeordnet 162 -) ist also für Goethe Ort der Farbentotalität wie
Orientierungsstelle farbiger Harmonien. Wird die „Farbentotalität von
außen dem Auge als Objekt gebracht, so ist sie ihm erfreulich, weil ihm
die Summe seiner eigenen Tätigkeit als Realität entgegenkommt. Es sei
also zuerst von diesen harmonischen Zusammenstellungen die Rede.“
(808) „Um sich davon auf das leichteste zu unterrichten, denke man sich
in dem von uns angegebenen Farbenkreise einen beweglichen Diameter
und fiihre denselben im ganzen Kreise herum, so werden die beiden
Enden nach und nach die sich fordernden Farben bezeichnen, welche
sich denn freilich zuletzt auf drei einfache Gegensätze zurückführen
lassen.“ (809) „Gelb fordert Rotblau, Blau fordert Rotgelb, Purpur for-
dert Grün und umgekehrt.“ (810) Die physiologisch bedingten Farbkon-
trastpaare sind für Goethe unmittelbar die harmonischen: „So einfach
also diese eigentlich harmonischen Gegensätze sind, welche uns in dem
engen Kreise gegeben werden, so wichtig ist der Wink, daß uns die Natur
durch Totalität zur Freiheit heraufzuheben angelegt ist und daß wir
diesmal eine Naturerscheinung zum ästhetischen Gebrauch unmittelbar
überliefert erhalten.“ (813)
Hier bekundet sich erneut die Verankerung von Kunst in der Natur -
gerade durch die Farbe, ist Farbe doch „die gesetzmäßige Natur in bezug
auf den Sinn des Auges“ 163. Goethe erfaßt den ontischen Rang der
Farbe, wenn er feststellt, daß in ihr, zusammen mit Hell und Dunkel,
überhaupt die sichtbare Wirklichkeit sich uns zeigt: „Wir sagten: die

162 Vgl. Lersch, Farbenlehre, Sp. 211.


163 Farbenlehre, 176.
Deutsche Malerei 329

ganze Natur offenbare sich durch die Farbe dem Sinne des Auges. Nun-
mehr behaupten wir, wenn es auch einigermaßen sonderbar klingen
mag, daß das Auge keine Form sehe, indem Hell, Dunkel und Farbe zu-
sammen allein dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegen-
stand, die Teile des Gegenstandes voneinander, ftirs Auge unter-
scheidet. Und so erbauen wir aus diesen dreien die sichtbare Welt und
machen dadurch zugleich die Malerei möglich, welche auf derTafel eine
weit vollkommener sichtbare Welt, als die wirkliche sein kann, hervorzu-
bringen vermag.“ Malerei kann deshalb eine „weit vollkommener sicht-
bare Welt“ hervorbringen, weil sie den Bezug des Auges zum Licht mit-
thematisiert. „Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus
gleichgiiltigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ
hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte
ftirs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.“ 164 Kunst
entfaltet sich gerade im Weltbezug des Menschen: „Wir wissen von
keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als
die ein Abdruck dieses Bezuges ist.“ 165
Werner Heisenberg stellte fest, „daß der Kampf Goethes gegen die
physikalische Farbenlehre auf einer erweiterten Front auch heute noch
ausgetragen werden muß. Wenn Helmholtz von Goethe sagt: ,daß seine
Farbenlehre als der Versuch betrachtet werden muß, die unmittelbare
Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die Angriffe der Wissenschaft
zu retten 1, so stellt sich uns heute diese Aufgabe dringender als je, denn
die ganze Welt wird verwandelt durch die ungeheure Erweiterung un-
serer naturwissenschaftlichen Kenntnisse und durch den Reichtum der
technischen Möglichkeiten, der uns wie jeder Reichtum teils als
Geschenk, teils als Fluch gegeben ist .. .“ 166 Von einer Lösung des in

164 Zur Farbenlehre, 175.


165 Goethe, Maximen und Reflexionen, 725.
166 Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der moder-
nen Physik. In: Werner Heisenberg, Wandlungen in den Grundlagen der Natur-
wissenschaft, 7. Aufl. Leipzig, Stuttgart, Ziirich 1947, 54-70, Zit. 64/65. -Dazu
auch: Hans Lipps, Goethes Farbenlehre. In: Lipps, Die Wirklichkeit des Men-
schen, Frankfurt a.M. 1954, 108-124. - Carl Friedrich von Weizsäcker, Geleit-
wort zu: Eckhart Heimendahl, Licht und Farbe, Ordnung und Funktion der
Farbwelt, Berlin 1961, VII-X. - Schmuel Sambursky, Licht und Farbe in den phy-
sikalischen Wissenschaften und in Goethes Lehre. In: Die Welt der Farben,
Eranos Jahrbuch 1972, hrsg. von Adolf Portmann und Rudolf Ritsema, Leiden
1974, 177-216. - Die Aufsätze von Heinrich O. Proskauer, Viktor Gorgé, Viktor
Gutmann und Gerhard Resch im Abschnitt „Goethe versus Newton“, in: Kunst
und Wissenschaft, hrsg. von Paul Feyerabend and Christian Thomas, Zürich
1984.
330 Malerei des 19. Jahrhunderts

der Goetheschen Farbenlehre angesprochenen Problems menschlichen


Naturbezugs sind wir noch weit entfernt.

Ebenfalls 1810 bringt Philipp Otto Runge (1777-1810) seine >Farben-


Kugel oder Construction des Verhältnisses aller Mischungen der Farben
zueinander und ihrer vollständigen Affinität; mit angehängtem Versuch
einerAbleitung der Harmonie in den Zusammenstellungen der FarbenA 67
heraus, ein Resümee seiner acht Jahre währenden theoretischen Bemü-
hungen um die Farben, in denen sich „naturwissenschaftlich-mathemati-
sche Erkenntnisse, mystisch-magische Kombinationen und symbolische
Deutungen“ 168 durchdringen. Heinz Matile widmete der Farbenlehre
Runges eine alle Aspekte umfassende Untersuchung, die sie auch in die
Geschichte der Künstlerfarbenlehre einstellt und ihr Weiterwirken ins
20. Jahrhundert aufzeigt. 169 In unserem Zusammenhang können nur die
Hauptgesichtspunkte herausgehoben werden.
Schon in einem Brief vom 7.11.1802 wird Runges besonderer Zugang
zur Welt der Farben deutlich. Hier heißt es: „Die Blumen, Bäume und
Gestalten werden uns dann aufgehen, und wir haben eine Schritt näher
zur Farbe gethan! Die Farbe ist die lezte Kunst und die uns noch immer
mystisch ist und bleiben muss, die wir auf eine wunderlich ahnende
Weise wieder nur in den Blumen verstehen. - Es liegt in ihnen das ganze
Symbol der Dreyeinigkeit zum Grunde: Licht oder weiss, und Fin-
sternis, oder schwarz, sind keine Farben, das Licht ist das Gute, und die
Finsternis ist das Böse (ich beziehe mich wieder auf die Schöpfung); das
Licht können wir nicht begreifen, und die Finsternis sollen wir nicht be-
greifen, da ist den Menschen die Offenbarung gegeben und die Farben
sind in die Welt gekommen, das ist: blau und roth und gelb. Das Licht ist
die Sonne, die wir nicht ansehen können, aber wenn sie sich zur Erde,
oder zum Menschen neigt, wird der Himmel roth. Blau hält uns in einer

167 Philipp Otto Runge, Hinterlassene Schriften, hrsg. von dessen ältestem
Bruder, Erster und zweiter Theil, Hamburg 1840/1841, Nachdruck Göttingen
1965. - Faksimile-Ausgabe der >Farbenkugel<, Mittenwald 1977, mit einem
Nachwort von Heinz Matile.
168 Vgl. Hubert Schrade, Ph. Otto Runge und C.D. Friedrich. In: Willy An-
dreas und Wilhelm von Scholz (Hrsg.), Die großen Deutschen, Bd. 3, Berlin
1936,125. -Lersch, Farbenlehre, Sp. 240-244.
169 Heinz Matile, Die Farbenlehre Philipp Otto Runges, Ein Beitrag zur
Geschichte der Künstlerfarbenlehre, Zweite, verbesserte und vermehrte Auf-
lage, München, Mittenwald 1979 (= Kunstwissenschaftliche Studientexte,
hrsg. von Friedrich Piel, Bd. V). - Zit. hier 130, 151, 153, 154, 155, 161, 167,
168/169.
Deutsche Malerei 331

gewissen Ehrfurcht, das ist der Vater, und roth ist ordentlich der Mittler
zwischen Erde und Himmel; wenn beyde verschwinden, so kommt in
der Nacht das Feuer, das ist das Gelbe und der Tröster, der uns gesandt
wird - auch der Mond ist nur gelb.“ Im Unterschied zu Goethes in der
Naturerkenntnis begründeten Farbenlehre äußert sich hier eine hoch-
spekulative Auffassung, die auch in der, von Schriften Jakob Böhmes be-
einflußten, scharfen Wertdifferenzierung von Licht und Finsternis mit
dem „universalen“ Helldunkel der neuzeitlichen Malerei bricht. - Da-
neben ist es Runge in seiner Farbenlehre ,,ein zentrales Anliegen, die
Farben iibersichtlich zu ordnen und den Kiinstlern ein Hilfsmittel in die
Hand zu geben, mit dem sie sich ,im Zusammenhang des Ganzen aller
Farben 1 zurechtfinden konnten. Einen ersten solchen Ordnungsversuch
finden wir in dem Fragment >Die Elemente der Farben; oder auf wieviel
Theile sich alle Farben und Schattirungen etwa reducieren lassen, und wie
sich die Elemente zu einander verhalten<“ von 1806. Hier sucht Runge,
„die Zahl der aus den ,Elementen‘ Weiß, Schwarz, Rot, Gelb und Blau
hervorgehenden Mischfarben bzw. Nuancen auf 3405 zu bestimmen. “ 170
Seine Bemiihungen um eine anschauliche „figiirliche Vorstellung“
fiihren Runge sodann zur Konstruktion eines Farbenkreises und der Far-
benkugel. Im Brief an Goethe schreibt Runge am 3.Juli 1806: „Drey
Farben, Gelb, Roth und Blau, giebt es bekanntlich nur. Wenn wir diese
in ihrer ganzen Kraft annehmen und stellen sie uns als in einem Cirkel
begränzt, vor, so bilden sich aus diesen drey Uebergänge, Orange, Vio-
lett und Griin (ich heisse alles Orange, was zwischen Gelb und Roth
fällt, oder was von Gelb aus sich nach dem Rothen, oder umgekehrt, hin-
neigt) und diese sind in ihrer mittleren Stellung am brillantesten und die
reinen Mischungen der Farben.“ Erst anderthalb Jahre später, in einem
Brief an Goethe vom 21.November 1807, schildert Runge eine dreidi-
mensionale Farbenordnung, die auch das Verhältnis der Buntfarben zu
Schwarz und Weiß berücksichtigt: „Das Verhältnis der drey Farben zu
Schwarz und Weiss liesse sich sehr gut durch einen Globus darstellen,
nämlich so: den Aequator teile ich in sechs Teile, nämlich in der Abtei-
lung der drey Farben im Triangel, durchschnitten von dem Triangel der
drey reinen dazwischen liegenden Mischungen. Der Nordpol sei weiss,
der Südpol schwarz ... Der Aequator ist die brillante Eigenschaft der
Farbe; diese verliert sich nach Norden in allen Mischungen ins Weisse
und nach Süden ins Schwarze. Durchschneide ich diese Kugel von dem
Nordpol nach dem Südpol, so vermischt sich im Mittagspunkt dieser
Linie Weiss und Schwarz in Grau; durchschneide ich sie durch den
Aequator, so vermischen sich im Mittelpunkt die Farben in dasselbe

170 Lersch, Farbenlehre, Sp. 240.


332 Malerei des 19. Jahrhunderts

Grau.“ Die als Manuskript im Winter 1808/1809 vollendete, im Januar


1810 in Hamburg publizierte >Farben-Kugel< arbeitet diesen Entwurf
aus. Runge schreibt iiber diese Farbenordnung zusammenfassend:
„Man wird sich nun eben so wenig irgend eine Nuance, welche, durch
Vermischung, aus den fünf Elementen hervorgegangen wäre, denken
können, welche nicht in diesem Verhältnis berührt oder enthalten wäre,
als man sich eine andere richtige und vollständige Figur für das Ganze
dieses Verhältnisses wird vorstellen können. Und da jede Nuance zu-
gleich in ihr richtiges Verhältnis, zu allen reinen Elementen wie zu allen
Mischungen gestellt ist, so ist diese Kugel als eine Generaltabelle zu be-
trachten, wodurch derjenige, welcher zu seinem Geschäfte verschie-
dener Tabellen bedürfte, sich immer wieder in den Zusammenhang des
Ganzen aller Farben zurechtfinden könnte. Wie es denn jetzt dem Auf-
merksamen einieuchten muss, dass sich auf einer ebenen Fläche keine
Figur zu einer vollständigen Tabelle aller Mischungen finden könne;
indem sich das Verhältnis nur cubisch nachweisen lässt.“ „Runges Far-
benkugel steht am Ende einer Entwicklung, die von der Farbenreihe
über die zweidimensionalen Farbenkreise zur räumlichen Darstellung
der Farbenordnung in Form einer Pyramide (bei Johann Heinrich Lam-
bert, 1772) geführt hatte.“ 171
Aber auch diese Farbenkugel kann die Farben nur als „undurchsich-
tige“ zusammenfassen. Immer wieder kommt Runge aber - und als er-
ster - darauf zu sprechen, daß „die Farbe überhaupt ihrer Natur nach“ in
„doppelter Art“, nämlich „durchsichtig und undurchsichtig“, vor-
komme. So heißt es etwa: „Eine dunkle durchsichtige Materie, die wie
ein unendlich grosser Raum alles Licht in sich verschlingt, und nicht wie
ein undurchsichtiges Schwarz die Strahlen an der Oberfläche zurück-
hält, wird das Schwarze an Dunkelheit übertreffen, ebensowohl wie ein
durchfallender Lichtstrom die Kraft und Gewalt des Weissen sowohl,
wie jeder undurchsichtigen Farbe, hinter sich zurückläßt.“ Bei den
durchsichtigen Farben ergibt die Summe „nicht eine zwischen den Polen
Licht und Finsternis oder Hell und Dunkel in der Mittel liegende Helle,
sondern eine dem Dunkelpol entsprechende, durchsichtige Dunkelheit,
oder, wenn sie vom Licht durchdrungen wird, eine dem hellen Pol ent-
sprechende Klarheit: Mittelpunkt und Pole fallen in eins zusammen. “ So
löst die Farbkugel sich auf. Mit Runges Unterscheidung der undurch-
sichtigen und durchsichtigen Farben, mit seiner Erkenntnis, daß sie
„sich auf zwei Wegen dem Licht- bzw. Dunkelpol nähern können: nicht
nur, indem sie ansich ,heller‘ oder ,dunkler‘ werden, sondern auch iiber
sich hinaus ,lichter‘ und ,tiefer‘, spricht Runge das wichtige Problem der

171 Lersch, Farbenlehre, Sp. 242.


Deutsche Malerei 333

„Erscheinungsweisen der Farben“ an, das erst im 20. Jahrhundert,


namentlich von David Katz, wiederaufgenommen wird. 172
Nur partiell decken sich Runges farbtheoretische Erkenntnisse mit
der in seinen Gemälden realisierten Farbgestaltung. 173 Runge iiber-
nimmt das Helldunkel, das auch fiir seine Farbenlehre, insbesondere in
der Betonung der „durchsichtigen Farben“,von großer Bedeutung ist,
transformiert es jedoch in entscheidender Hinsicht. Noch im späteren
18. Jahrhundert stehen Ficht und Dunkel als Pole einander gegeniiber,
Runge hebt diese Polarität auf, er malt den Zwischenzustand, den Über-
gang zwischen Dunkel und Licht. So bevorzugt er die Dämmerung,
seine Farben sind „Dämmerfarben“, sind darin in ihrer Buntkraft
geschwächt, nicht so sehr aus Mangel an farbiger Substanz denn aus
Mangel an Beständigkeit: in dieser Übergänglichkeit können sie nir-
gends verweilen, nirgends zur Ruhe kommen. So kommen die kleinen
Intervalle neu zur Geltung und die Fiille von Nuancen, die er ja auch
theoretisch zu fassen suchte. Die >Ruhe aufder FluchU (1805, Kunsthalle
Hamburg) ist nicht mehr erfiillt von der Einheit einer Helldunkelspan-
nung, vielmehr steht tiefes „Dämmerungsdunkel“ im Vordergrund
gegen die Morgenhelle des Himmels, wobei die iiberhelle Lichtquelle
verdeckt wird von der skurrilen Dunkelsilhouette des Esels mit seinem
Sattel. Die Farben, gegenlichtig in der Dämmerung, erheben sich in
ihrem Buntwert nur bis zu einem matten Kupferton im Mariengewand
und einem ähnlichen Rot im Feuer. Sonst herrschen Zwischentöne, wie
auch bei den >Eltern des Künstlers< (1806, Kunsthalle Hamburg), in
denen Buntheit nur bis zum Graurosa des Kinderkleidchens aufsteigt,
oder den >Hülsenbeckschen Kindern< (1806/06, Kunsthalle Hamburg),
das als beherrschende Buntfarbe die „Zwischenfarbe“ Grün zeigt.
(Grün bestimmt den Bildeindruck auch beim >Bildnis Pauline im grünen
Kleid< von 1804.) Stärkere Buntkraft findet sich nur selten, etwa bei den
>Kindern des Künstlers, Otto Sigismund und Maria Dorothea< (1808/09,
Hamburger Kunsthalle), mit den Paaren von Sienagelb und Karmin,
Lauchgriin und Graublau. Insgesamt hat nicht nur das Helldunkel an
bindender Kraft verloren, auch die Buntkraft der Farben ist ge-
schwunden, wie auch die Bedeutung der Trias als bildbestimmender
Farbfigur. Eine Vielzahl neuer Farbklänge wird nun möglich, beim
>Bildnis Pauline< (1810, Kunsthalle Hamburg) etwa die Zusammenstel-

172 Vgl. Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 23, Anm. 24, und


54, Anm. 18.
173 Vgl. dazu auch: JörgTraeger, Philipp Otto Runge und sein Werk, Mono-
graphie und kritischer Katalog, München 1975. Dort auch FA. - Matile, Die
Farbenlehre Philipp Otto Runges, 192-205.
334 Malerei des 19. Jahrhunderts

lung von perlmuttigem Braunrosa zu Gelbweiß im Schultertuch und


schwärzlichem, aber silbergelblich aufleuchtendem Griin im Gewand.
Auch hier handelt es sich gleichsam um zu Lokalfarben erhobene Däm-
merfarben, die der Berührung durch das Licht, der Begegnung mit ihm
bedürfen, ohne doch in der Dunkelheit verankert zu sein. Charakteri-
stisch ist auch die Umwertung von Inkarnat und Gewandfarben im
>Bildnis der Schwiegermutter Marie Frédérique Bassenge< (1809, Kunst-
halle Hamburg): eine grauviolette Dämmerfarbe bestimmt den Um-
hang, der koloristische Höhepunkt findet sich nun im rötlichen, von
weißen Glanzlichtern besetzten Inkarnat.
Runge verhilft der durchsichtigen Farbe zum Durchbruch, läßt sie im
Licht sich „überklären“ - auf Kosten des Dunkels, wie der festen Farb-
materie, die gleichzeitig in Frankreich und bei Goya neue Bedeutungge-
winnt. - Wichtiger als ein „unsichtbares“ Licht hinter dem Mittelbild 174
(die Lichtcharaktere sind zu verschieden, als daß sie sich auf ein gemein-
sames „transzendierendes“ Licht beziehen ließen) ist beim >Kleinen
Morgen< (1808, Kunsthalle Hamburg) die unterschiedliche Interpreta-
tion des Helldunkels in Mittelbild und Rahmenszene. In den Rahmen-
streifen erscheint, zusammen mit den Grund- und Mischfarben, noch-
mals die Dunkelheit selbst, im Innenbild hat diese sich auf Rahmenleiste
und Zwickelornament zuriickgenommen. Hier vollzieht sich die Apo-
theose der „durchsichtigen Farbe“, die sich in ein Licht öffnet, dem
keine Dunkelheit mehr Gegenpol ist.

Rudolf Zeitler unterschied in der Malerei des 19. Jahrhunderts Werke


„dualistischer“ und „monistischer“ Struktur. 175 Auch für die Farbgestal-
tung läßt sich diese Unterscheidung hinsichtlich des Verhältnisses von
Vorder- und Hintergrund, auch von Erd- und Himmelszone anwenden.
Als Beispiele „dualistischer“ Struktur seien erwähnt Werke von C.D.
Friedrich, J. A. Koch, Blechen, Rottmann und Ludwig Richter.
In vielen Bilden Caspar David Friedrichs (1774-1840) ist der Raum in
zwei Schichten geteilt; der „Vordergrund ist in der Tiefe begrenzt und
mit plastischen Werten ausgestattet, die dem Auge Halt geben ...“, im
Hintergrund entspricht dem „Inkommensurablen und Irrationalen“ der
Formgebung „oft das Gegenständliche: Nebel, blendende Lichterschei-
nungen, Höhlen oder Abgründe“. 176 Hier kann sich Flächenfarbe ent-

174 So die Interpretation Schönes, in: Über das Licht in der Malerei, 217,218.
175 Rudolf Zeitler, Die Kunst des 19. Jahrhunderts (Propyläen Kunstge-
schichte, Bd. 11), Berlin 1966, 35ff., 56ff.
176 Helmut Börsch-Supan, Die Bildgestaltung bei Caspar David Friedrich,
Diss. Berlin 1958, München 1960, 17f. - Vgl. auch: Verf., Zum Sinn der Farb-
Deutsche Malerei 335

falten, oft, jedoch nicht durchgehend, motivisch bedingt. In ihrem


„frontal-parallelen Charakter“, der Lockerheit ihres Gefiiges, ihrer
räumlichen Unbestimmtheit 177 trägt sie bei zur Entwirklichung des Dar-
gestellten. Mit der Entgegensetzung von „Flächendunkel“ und „Flä-
chenhelle“ wird Helldunkel nun zum Stimmungsträger; Sehnsuchts-
volles, Schwermütiges findet darin seinen Ausdruck.
Auch die Farben kommen als Ausdruckswerte neu zur Geltung. In
Friedrichs >Riesengebirgslandschaft mit aufsteigendem NebeU (um 1820/
1821, München, Neue Pinakothek) 178 wird Buntheit reduziert auf einen
kalten Olivton im Vordergrund, scharf abgehoben vom violett getönten
hellen Grau der Nebelschwaden. Zur Ferne hin verbleichen die Farben
in zartestes Rosa, Himmelsblau und Zitrongelb, der Vordergrund ver-
sinkt in schwelende Dunkelheit. In dieser Beschränkung aber werden
neue Farbstimmungen entbunden, immer aber in deutlichem Gegen-
standsbezug: das Rosa ist Friihlicht, das fahle Olivgriin ist (auch) Farbe
der Wiese.
Friedrich reduziert die Bildfarben auf wenige Werte, die, einzeln wie
in ihrer Paarung, die Ausdrucksqualitäten ihrer kaum mehr helldunkel-
bezogenen Buntheiten erklingen lassen. Das >Eismeer< (1823/24, Kunst-
halle Hamburg) 179 ist bestimmt von der kältest-möglichen Paraphrase
der Blau-Gelb-(01iv-)Grau-Paarung. Das Blau, ein dichtes, weißgebro-
chenes Lavendelblau, nimmt die Himmelsfläche ein und wird durch
Weißmischung in der Eiszone des Hintergrundes noch kälter. Ihm ist im
Vordergrund ein meist über umbra-olivfarbene Untermalung gelegtes
Grau, durchsetzt mit blau- oder hellgraugebrochenem Weiß, entgegen-
gestellt. Die Untermalung dringt zu fahler, wie graubereifter Ocker-
Umbra-Mischung vor, stellenweise auch zu Graugrün, und, in der
spitzen, stehenden Eisscholle rechts, über bleiches Olivgelb zu Neapel-
gelb in der Spitze. Zu diesem Hauptakkord aus fahlem Lavendelblau
und trüben Olivgrau-, Grau-, Umbra-, Bleichgelb-Tönen, mit Weiß und
Violettweiß kommen kleine Intervalle von hohem Stimmungswert, vor
allem in den Eisschollen des Mittelgrunds, mit hellem, kaltem Türkis,
kontrastiert zu Lavendelblau und Umbraoliv.

gestaltung im 19. Jahrhundert. In: Werner Hager, Norbert Knopp, Beiträge zum
Problem des Stilpluralismus, München 1977, 92-118, insbes. 105-106. -Ferner:
Monika Goedl-Roth, Wilhelm von Kobell, Druckgraphik, München 1974, 83 bis
88: Das Helldunkel im niederländischen Ölbild und Kobells Nachstiche.
177 Vgl. David Katz, Der Aufbau der Farbwelt, Leipzig 1930, 9ff.
178 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 41.
179 FA: Caspar David Friedrich 1774-1840, Ausstellungskatalog Hamburger
Kunsthalle 1974, München 1974, Taf. XII.
336 Malerei des 19. Jahrhunderts

Josef Anton Kochs (1768-1839) >Heroische Landschaft mit Regen-


bogen< (1804 bis 1815, Neue Pinakothek, Miinchen) 180 zeigt alle Land-
schaftsfarben zu tiefem Olivbraun herabgestimmt oder diesemTon ange-
nähert, wie in den rauchfarbigen Wolken. Nur im dünnen Blau des
Himmels und in den Triasfarben der kleinfigurigen Gruppe, die keinen
farbigen Schwerpunkt mehr bilden kann, melden sich Buntwerte zu
Wort. Aber diese letztlich noch von der Helldunkelvision bestimmte
Bilderscheinung steht im Konflikt zur detaillierend-zeichnerischen
Formbehandlung, die Farben und Dunkelheiten erstarren läßt.
Karl Blechen (1798-1840) beschränkt in seinem >Blick auf AssisU
(1829, Neue Pinakothek, München) 181 die Farbigkeit auf das Blau des
Himmels, das Lehmgelb in Architektur und Felsen, höher gestimmt im
hell-trüben Neapelgelb des Blattwerk-Repoussoirs variiert, und das
Grau und Oliv der Schattenpartien. Diese Farbeinheit aber wird - und
das ist ein neuer, „realistischer“ Zug - um gegenständlicher Belange
willen mit dem Weiß des Hauses in der rechten oberen Bildecke wieder
in Frage gestellt. Der Himmelsweite kontrastiert die abgründige Dun-
kelheit, die in das Erdinnere führt.
Damit ist das Helldunkelkontinuum zerrissen, wie auch in Carl Rott-
manns (1797-1850) Bild >Sikyon mit Korinth< (1836/38, Neue Pinako-
thek, München) 182: auch hier kontrastiert das weite, nach rechts gegen
das Sonnenlicht hin weißlich sich verdünnende Blau des Firmaments
schroff gegen die in tiefe Dunkelheit versinkende rotbraune Erdzone.
Ludwig Richters (1803-1884) Frühwerk >Der Watzmann< (1824, Neue
Pinakothek, München) 183 ist auf seine Weise bestimmt von der Entgegen-
setzung der Erd- und Himmelssphäre. Die in Braun und Olivgrün gehaltene
Waldzone ist nahsichtig-zeichnerisch behandelt, was einer freien Entfal-
tung der Farbe nicht entgegenkommt. Glatt jedoch erstreckt sich das Blau
des Himmels; in solcher Abstraktheit bewahrt die Farbe einen höheren
Grad an „Idealität“. Der Helldunkelkosmos ist auch hier aufgegeben.
Friedrich Overbeck (1789-1869) sucht den Anschluß an die Kunst des
frühen Raffael und an Quattrocentomalerei. Im Unterschied dazu aber
bleibt bei ihm das Verhältnis von bunten und „neutralisierten“ Partien,
von Farben der Figuren und des Grundes unbestimmt. Stehen bei Raf-
faels >Heiliger Familie aus dem Hause CanigianU Schatten und Folien-
dunkel in engster Beziehung zueinander, so gehen sie in Overbecks
>Maria und Elisabeth mit dem Jesus- und Johannesknaben< (1825, Neue

180 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 30.


181 Steingräber, Neue Pinakothek, 51.
182 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 54.
183 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 66.
Deutsche Malerei 337

Pinakothek, Miinchen) nicht mehr zusammen. Zugleich wird das matte


Licht der Ferne in „Morgendämmerung“ umgedeutet, Strahlen der auf-
gehenden Sonne beleuchten die Ruine des Mittelgrunds, ein Stück be-
sonnter Natur, wenngleich in idealisierendem Licht erscheinend, wird
der romantischen Komposition eingefügt. Auch die Buntfarben sind nun
„idealisierte“ Gegenstandsfarben. Selbst dort, wo farbige Totalität er-
strebt wird, der Vierklang von Rot, Griin, Blau und olivstichigem Gelb,
wie in >ltalia und Germania< (1828, Neue Pinakothek, München) 184
schließen sich die Farben nicht mehr nach ihren Eigenwerten zu-
sammen, allzu groß sind nun die Unterschiede der farbigen Materien:
dichtes Grün steht über verblasenem Rot, dieses neben dunkelver-
hülltem tiefen Indigo, ohne daß ein übergeordnetes Helldunkel solche
Verschiedenheiten rechtfertigte. Die Dunkelheiten sind weithin zu
Schatten geworden.
Die Biedermeier-Malerei steigert den Gegenstandsbezug der Farben.
Auch hier müssen wenige Bemerkungen genügen.
Ferdinand Georg Waldmiiller (1793-1865) orientiert seine Farbenge-
bung fast ausschließlich auf das Gegenständliche. Auch sein Bildlicht ist
„naturalistisch“, ein Freilicht, das zufällige Schatten wirft, dabei aber die
Formen unangetastet läßt und auch den Farbgehalt über alle natürlichen
Lichtgegebenheiten hinaus bewahrt. Bei der >Abendlandschaft mit Zie-
genherde< (1847, Neue Pinakothek, München) wird ein türkisfarbiger,
nach unten zu Gelb über Orange irisierender Himmel durch graue Wol-
kenbänke getrennt von einer Wiese in blaustichigem Griin, die vom
Weichbraun der Erdschatten durchsetzt ist. Im silbrig-weißen Bach spie-
gelt sich das winzige weiße Stüek der untergehenden Sonne. Die Ziegen
in kaltem Weiß, Grau und hellem Braun werfen lange, starke Schlag-
schatten. Glanzwirkung soll hier durch Malerei entstehen. Mit einer
bloßen Nachahmung des farbig Gegebenen begnügt sich Waldmüller
mithin nicht.
Moritz von Schwind (1804—1871) dagegen versucht, durch gleichmä-
ßige Herabstimmung der Buntfarben der faktischen farbigen Wirklich-
keit zu entsprechen. Sein Bild >Der Besuch< (um 1855, Neue Pinako-
thek, München) 185 läßt die Triasfarben erbleichen zu fahlem Blond und
Indigoblau in den Gewändern der Damen, schwachem Kastanienbraun
im Sofabezug, und gleicht sie dem matten Graugrün derTapete und dem
kalten Holzbraun des Mobiliars an. Von einer eigenwertigen Farbord-
nung ist - im entschiedenen Gegensatz zur holländischen Interieur-
malerei des 17. Jahrhunderts — kaum mehr etwas zu erkennen.

184 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 37.


185 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 72.
338 Malerei des 19. Jahrhunderts

Zu Modifikationen der Valeur-Malerei fiihren Menzel, Leibl, Schuch


mitunter die Farbgestaltung.
Adolph von Menzel 186 (1815-1905) vermeidet in Werken wie > Wohn-
zimmer mit Menzels Schwester< (1847, Neue Pinakothek, Mimchen) 187
alle Buntfarben. Die farbige Erscheinung bestreiten hier nur diinnge-
wischtes Sandgrau an Decke und Wand, Braun, von hellem Umbra (in
den Tiirfhigeln) iiber Schokoladenbraun (im Kleid der Schwester) zu
dunklem Umbra (im Schatten und im Gemälde des Wohnzimmers) abge-
wandelt, Grauviolett im Kleid der Nähenden, Salmrosa, in Lichtre-
flexen an derTiir und im Inkarnat des Mädchens, Bräunlichrosa im Fuß-
boden. Akzente in pastosem Weiß setzen die Lampe mit ihrem Schein,
der Brusteinsatz des Mädchenkleides, die Kerzenflamme. In schumm-
rigem Schwarz sind die Haare der Schwester gehalten. Auf diese der
Grau-Braun-Abstufung eingegliederten Werte verdichtet sich nun die
ehemalige Helldunkelpolarität. Doch unterscheidet Menzel auch im
Farbauftrag die Lichtpartien von den halbhellen und den Schattenbe-
zirken, indem er die vom Licht getroffenen Bereiche pastos malt, die an-
deren dünnflüssig. Die von der Kerze verursachten Lichtflecken und
-reflexe veranschaulichen in ihrer Bewegtheit das Flackern dieses
Lichts, stiller ruht der Schein der Lampe.
Menzels Werk ist überhaupt reich an buntfarbigen und valeurhaften
Interpretationen unterschiedlicher Lichtwirkungen, des Freilichts
(z. B. : >Prozession in Hofgastein<, 1880, Neue Pinakothek, München) 188
des Sonnenlichts, das in ein Zimmer fällt (>Das Balkonzimmer<, 1845,
Nationalgalerie, Berlin, Stiftung Preuß. Kulturbesitz), des künstlichen
Lichts in Interieurs, wie im >Wohnzimmer<, auch der Darstellung beson-
derer Lichteffekte, wie scharf von unten auf Körper fallenden Lichts
{>Atelierwand<, 1872, Hamburger Kunsthalle) 189 und so fort. Hier
werden Beleuchtungslicht und Schattendunkel auch zu Ausdrucksträ-
gern. In großen historischen Kompositionen wie >Friedrich der Große in
Lissa: Bon soir, Messieurs!< (1858, Hamburger Kunsthalle) 190 erzielt
Menzel durch flackerndes Licht, tiefe Dunkelheiten, aufglühende Rot-
akzente dramatische Effekte.
Wilhelm Leibl (1844—1900) entwickelt seine Valeurmalerei oft auf der
Grundlage der Grauskala und ihrer Farbbrechungen. Im Bild >Der
186 FA: Werner Hofmann (Hrsg.), Menzel - der Beobachter, Ausstell.-Kat.
Hamburger Kunsthalle 1982, München 1982.
187 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 99.
188 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 106.
189 FA: Katalog Hamburger Kunsthalle, München 1985, 76.
190 FA: Katalog Hamburger Kunsthalle, 75. - Kindlers Malerei-Lexikon im
dtv, Bd. 9, 99.
Deutsche Malerei 339

Maler Ernst Sattler mit Dogge< (1870, Neue Pinakothek, Miinchen) 191
sind alle Gegenstandsfarben zurückgestimmt auf Grau-, Graubraun-,
Grauviolett-, Graurot-Werte unter dem Einfluß eines von rechts oben
einfallendenTageslichts, das sich im pastosen Weiß der Zeitungen kon-
zentriert. Alle Helldunkel-Polarität ist geschwunden, die Töne sind
Glieder einer Skala. Im Maße aber, wie Dunkelheit Farbe wird, nimmt
die Buntfarbe an Leuchtkraft ab, triibt sich in ihrer materiellen Festig-
keit, die der gleichmäßig-pastose Farbauftrag bewirkt. Aufschlußreich
fiir den Unterschied dieser Valeurgestaltung zur Helldunkelmalerei ist
auch Leibls nach Rubens gemalte >Schäferszene< (1870, Neue Pinako-
thek, Miinchen). Mit der Umsetzung der lasierend aufgebrachten Hell-
dunkelfarben in opake Farben verliert der Bildraum seineTiefe, kommt
die flutende Bewegung des Helldunkels zu den Buntfarben zum Stehen,
werden die Rubensschen Reflexschatten zu tonig abgestuften Eigen-
schatten und damit zu, wenn auch noch „beschattet“ wirkenden,
Farben. Die Gestaltung verhält kurz vor der - in Frankreich schon voll-
zogenen - Umwertung aller Schatten in Farben, in Buntfarbenkompo-
nenten.
Valeurmalerei bringt die Gegenstandsfarben auf einen gemeinsamen
Nenner. Leibls eigenster Weg ist der zuriick zu den Lokalfarben in seinen
späteren Bildern, und ihnen entsprechend zu einer Holbeinschen Detail-
lierung der Oberflächen. Klar trennen sich wieder Rot, Rosa, Gelblich
von den Farben der Braun- und Grauskala im Bild >In der Bauernstube<
von 1890 (Neue Pinakothek, Mimchen). 192 Daneben aber entstehen
Werke, wie >Bauernjägers Einkehr< (1893, Köln, Wallraf-Richartz-Mu-
seum), 193 bei denen sich die Dunkelheit in einer dem Helldunkel ver-
wandten Weise vertieft. Zwar bleibt auch hier das Licht Freilicht,
Dunkel aber ist nicht dessen bloßer Entzug als Schatten, sondern ge-
winnt eine eigene Dimension von Stille, Beständigkeit, Verinnerli-
chung.
Leibls Technik der „Primamalerei“ ist Medium dieser Verdichtung
von Farbe und Dunkel. „Hier bestand das Gesetz, unansehnliche oder
mißlungene Teile durch Abkratzen oder Abwaschen bis auf den Grund
zu entfernen und neu auszuführen, auf keinen Fall aber iibermalend zu
korrigieren.“ Auch in ihr zeigt sich die „Ehrlichkeit“ der Leiblschen
Malerei. 194

191 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 103.


192 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 104.
193 FA: Michael Petzet (Hrsg.), Wilhelm Leibl und sein Kreis, Ausst.-Kat.
Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Miinchen 1974,Taf. VII.
194 Vgl.: Eberhard Ruhmer, Die Kunsttheorie des Leibl-Kreises. In: Wilhelm
340 Malerei des 19. Jahrhunderts

Karl Schuch (1846-1903) geht ebenfalls von den Gegenstandsfarben


aus. Sein >■Stilleben mitÄpfeln, Weinglas und Zinnkrug< (um 1876, Neue
Pinakothek, München) 195 nimmt die im Atelier beobachtete, vom Halb-
dunkel des Innenraums überwältigte Gegenstandsfarbe zur Grundlage
der Gestaltung. Das Weiß des Tischtuchs ist ganz zuriickgenommen, ge-
gliedert in Abtönungen über dem tiefdunkelbraunen Grund durch
breiten, strähnigen, kantig modellierenden Pinselstrich. Einzelne
Stellen, wie etwa die Falten unter dem hellsten gelben Apfel wirken fast
cézannisch - aber Schuch läßt nicht wie Cézanne Weiß aus Vielfarbigkeit
entstehen, sondern interpretiert die beobachteten Gegenstandsfarben.
Deshalb kennt er auch keinen Farbdivisionismus. Und so behalten die
Farben bei ihm ihren Schattencharakter, alle sind dunkler als Licht. Die
höchste Farbhelligkeit konzentriert sich im reinen Weiß der Glanzlichter
des Kruges, das Weiß des Tischtuchs erscheint dagegen sehr getriibt.
Aber den Glanzlichtern fehlt das Blendende reflektierten Lichts, sind
doch auch sie, wie alle anderen Gegenstandsoberflächen, in der gleich-
mäßig festen Malmaterie aufgehoben und mit den Schattenbezirken zu
gleicher Konsistenz vereint. Tiefgestimmte Farben konstituieren Dun-
kelheit - nicht entstehen, wie in der Helldunkelmalerei, Buntfarben aus
unifarbiger Finsternis, noch öffnen sich, wie im Impressionismus, die
Farben zum Licht. 196

Ganz andere Möglichkeiten farbiger Bildkomposition verwirklichen


Böcklin und Marées.
Arnold Böcklins 197 (1827-1901) Farbgestaltung steht unter dem Zwie-
spalt imitativer und dekorativer Farbfunktionen. Auch für ihn ist die Ge-
genstandsfarbe Ausgangsbasis, die er dekorativ zu überhöhen sucht.
Dabei kommt es zu Unstimmigkeiten im Verhältnis von Buntfarben und
gebrochenen Werten. So hebt sich bei der > Villa am Meer< (2. Fassung,
1865, München, Schack-Galerie) 198 aus dem Graubraun und Graugriin

LeiblundseinKreis, 30,35. -Dazu: EberhardRuhmer, Der Leibl-Kreisund die


Reine Malerei, Rosenheim 1984, 58-64.
195 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, 102.
196 Zum Werk Schuchs vgl. auch: Carl Schuch 1846-1903, hrsg. von Gottfried
Boehm, Roland Dorn und Franz A. Morat, Ausstellungs-Kat. Städtische Kunst-
halle Mannheim, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1986.
197 Zur Farbe bei Böcklin vgl.: Heinz Althöfer, A. Böcklin, Maltechniker und
Kolorist. In: Arnold Böcklin 1827-1901, Ausstellung Kunstmuseum Düsseldorf
1974,19-24. -Hanspeter Rebsamen, Farbe im Sinnbild, Arnold Böcklins >Heim-
kehr< 1887. In: Von Farbe und Farben, Festschrift Knoepfli, 359-368.
198 FA: Christoph Heilmann, Schack-Galerie München, München 1983, 81.
Deutsche Malerei 341

von Fels, Mauerwerk und Bäumen eine sehr kleine Stelle Orange in der
Säulenvorhalle ab. Auch bleibt die Farbe häufig trüb, kann im Halblicht
sich nicht zu Eigenwerten entfalten. Beim erwähnten Bild steht die Villa
mit ihren Bäumen im Gegenlicht gegen einen hohen, gleichwohl trüben
Himmel. Auch beim >Spiel der Wellen< (1883, Neue Pinakothek, Mün-
chen) 199 wirkt das Meer eher als unfarbige Dunkelheit denn als Zone
dunkler Farbigkeit. Die Dunkelheit liegt dabei ganz vorne, kann keinen
Grund bilden, in dem die Farben verankert sind. Auch gehen die Inkar-
nate der Nereiden undTritonen keine Verbindung ein mit den in Dunkel-
heit versinkenden Blautönen des Wassers.
Hans von Marées’ 200 (1837-1887) Gemälde sind erfüllt von einem
Dunkel, das sie innerhalb der Malerei des späteren 19. Jahrhunderts un-
vergleichlich macht. Marées stellt sich mit diesem Dunkel in entschie-
denen Gegensatz zur impressionistischen Farblichtmalerei, unterzieht
das Helldunkel der neuzeitlichen Malerei jedoch einer tiefgreifenden
Verwandlung. Das Dunkel erscheint in seinen Bildern materiell ver-
dichtet, schwer, zugleich von unergründlicherTiefe. Nirgends steht es in
Opposition zu einem Lichtpol, vielmehr ist es den Farben inkorporiert,
ist Bestandteil einer die Gemälde Marées’ bestimmenden Tieffarbigkeit,
die sich stellenweise aber zur Lichthöhe erhebt. Farben sind licht- und
dunkelhaltig, Licht und Dunkel sind farbig. Karl von Pidoll überlieferte
uns Aussagen Hans von Marées’ über Farbe, Licht und Dunkel: „Farbe
ist Licht. Wo Farbe ist, ist also Licht, ein Farbiges niemals finster, son-
dern nur eine Abstufung zur Dunkelheit, ein Ton. Töne bringen in der
malerischen Darstellung die plastische Form, die Illusion des Raumes
zustande. In der Natur ist alles farbig. Auch die tiefsten Schatten sind
coloriert. Also ist überall Licht. Demnach muß die Darstellung ihre ab-
soluten Dunkelheiten für kleinste, zeichnerisch verwendete Portionen
sparen. Jede satte Farbe hat schattigen Charakter. Also ist das offene
Licht der Natur immer Helldunkel ... Im Helldunkel ist Gelb höchstes
Licht und Grün allemaldunkel.. ,“ 201 Farbeist „Licht“, hat andererseits
„schattigen Charakter“, die Schatten sind farbig: Marées war sich seiner
farbigen Interpretation des Helldunkels bewußt.

199 pa: steingräber, Neue Pinakothek, 125.


200 Zur Farbgestaltung bei Hans von Marées vgl. Verf., Zur Klassizität der
Farbgestaltung bei Hans von Marées. In: Festschrift Erik Forssman (im Druck).
- Verf., Die Farbe bei Hans von Marées. In: Hans von Marées, Ausstellungs-
katalog Neue Pinakothek München 1987.
201 Karl von Pidoll, Aus der Werkstatt eines Künstlers, Erinnerungen an den
Maler Hans von Marées aus den Jahren 1880-81 und 1884—85 (1890), Nachdruck
Luxemburg 1908, 56.
342 Malerei des 19. Jahrhunderts

Aus dem alles begründenden farbigen Dunkel scheinen die Formen,


die Figuren zumal, erst zu entstehen. In einem Brief-Fragment an
Konrad Fiedler vom 20.Dezember schreibt Marées: „Der Grund, daß
selbst so künstlerische Menschen wie Böcklin, doch so wenig befriedi-
gend in ihren Leistungen sind, liegt wohl vorzüglich darin, daß fast alle
Modernen, oder alle, von der Erscheinung ausgehen, eine Untugend
- denn das ist es - die allerdings die Folge des Epigonenthums ist. Das
natürliche und naturähnliche Entstehen eines Menschenwerkes wird da-
durch unmöglich gemacht, die Nebensachen werden zu Hauptsachen
und umgekehrt. Die Erscheinung muß, scheint mir, das letzte Resultat
der künstlerischen Arbeit sein und bedingt werden durch die Gegen-
stände, die dargestellt werden. Ich bin überzeugt, daß alle wahrhaft be-
friedigenden Kunstwerke wie der Mensch aus dem Foetus entstanden
sind; erst mit dem letzten Strich war die Erscheinung da. Ich glaube fast,
in allen Kunstsachen ist es jetzt so; man will irgendeine Wirkung auf das
Publikum machen, statt wirklich darzustellen.“ 202 Mit diesen Worten be-
gründet Marées nicht nur den technischen Aufbau seiner Gemälde, das
vom Maltechnischen aus so problematische Übereinanderiegen vieler
Farbschichten, sondern vor allem das In-die-Erscheinung-Treten der
lichttragenden Formen aus einem übergreifenden Dunkel, das Farben
wie Edelsteine in sich birgt und damit selbst potentiell Licht ist.
Beim Bild >Pferdeführer und Nymphe< (1882/83, Neue Pinakothek,
München) 203 sammelt sich die Dunkelheit im violettonigen, von gesät-
tigtem Braun durchzogenen Grauschwarz des Pferdes, einer kaum faß-
baren, tief klingenden Farbe. Sie hebt sich ab vom weißlich überlagerten
Lehmbraun der Wolkenstreifen, vom mächtigen Blau des Himmels und
der fernen Berge, sowie dem aus derTiefe leuchtenden Türkisgrün des
Hügels. Grauolivbraune Schatten binden das Inkarnat des Mannes an
sein Pferd, hellbraune, über halbdunklen Brauntönen schwebende
Lichtlinien modellieren den muskulösen Leib. Farbteilung wird zum
Ausdruck von Lebenskraft. Im aufstehenden Fuß und der haltenden
Hand vereinen sich die Farbschichten in kräftigem Braunorange. In ent-
schiedenem Gegensatz hierzu erscheint die Nymphe in kaltem Inkarnat,
gelblich weiß aufgehellt über grünlichen Mitteltönen und olivgmnem
und braunem Schattengrund. Hier dienen die Farblichtstreifen nicht der
Körpermodellierung, sondern sie entrücken die Frau in ein kühl aufglei-
ßendes Licht, entziehen sie dem Zusammenhang der irdischen männ-

202 Julius Meier-Graefe, Hans von Marées, Sein Leben und sein Werk,
Dritter Band: Briefe und Dokumente, München und Leipzig 1910,132.
203 FA: Steingräber, Neue Pinakothek, Umschlag. - Uta Gerlach-Laxner,
Hans von Marées, Katalog seiner Gemälde, München 1980, Taf. XVI.
Deutsche Malerei 343

lichen Gestalten. Alle Farben sind Halblichter oder Halbschatten. In


den Inkarnaten gipfelt Licht als Farbe, Farbe als Licht, aber auch Griin
und Blau, die Dunkelfarben, wirken als potentielle Lichtzellen, erwa-
chen zum Licht, je länger der Blick sich in sie vertieft.
„Die nackte menschliche Figur“, sagt Marées 204, „steht in Ansehung
ihres Colorites gegen beinahe alle anderen Naturerscheinungen zurück,
am meisten gegen den strahlenden Glanz der Luft, aber auch gegen die
satten Tbne der Vegetation und des Erdbodens, ja schließlich gegen jede
Blume. In der wirklichen Erscheinung ist aber der Mensch für diesen
Nachteil durch ein anderes entschädigt: er bewegt sich und zeigt bei den
Bewegungen das feine Spiel seiner Organisation. Weil wir nun in der
Darstellung die Bewegungen, welche wir den Figuren geben, so ein-
richten müssen, daß das Verharren in denselben natürlich aussehe, so
dürfen wir kein Mittel versäumen, den Figuren zum Scheine jenes Le-
bens zu verhelfen, das sie in der Wirklichkeit auszeichnet. Wir werden
also auch die ganze Kraft des formbestimmenden und belebenden Colo-
riteseinsetzen, umihnendas gebührendeUebergewicht zugeben...“ In
seinen Bildern verwirklicht Marées diese künstlerische Absicht. Wie
kein zweiter Maler läßt er die Inkarnate aus tieffarbigen Griinden auf-
leuchten.

„Die sogenannten deutschen Impressionisten neigen ... dazu, das


Licht dem Körperhaften unterzuordnen ... Liebermann, Corinth, Sle-
vogt, Uhde und andere meiden den immer dünner werdenden Aggregat-
zustand der französischen Lichtmalerei.“ Anstelle „der trockenen, flim-
mernden Sonnigkeit“ in den späten Landschaftsdarstellungen Monets
betonen die Bilder des „deutschen Impressionismus“ die materielle
Dichte des Sinnlichen, Farbe soll selbst „Materie sein“. 205
Max Liebermanns 206 (1847-1935) Bild >Schweinemarkt in Haarlem<
(1886, Städtische Kunsthalle Mannheim) 207 scheint aus einer einheit-
lichen grautonigen Farbmaterie zu bestehen, die spröde, krustig, zu-
gleich durch einen ständig sich wandelnden Pinselstrich in sich bewegt,

204 Karl von Pidoll, Aus der Werkstatt eines Künstlers, 57/58.
205 Siegfried Wichmann, Realismus und Impressionismus in Deutschland,
Bemerkungen zur Freilichtmalerei des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts,
Stuttgart 1964, 8.
206 Zur Farbe bei Liebermann vgl. Rudolf Kuhn, Die Farbenfolge in Bild-
kompositionen des jungen Liebermann. In: Alte und moderne Kunst, 27. Jg.
Heft 193,1982,1-6. - Matthias Bunge, Studien zur Farbe bei Max Liebermann,
Diss. Saarbriicken 1987.
207 FA: Katalog Max Liebermann in seiner Zeit. Nationalgalerie Berlin,
Bayerische Staatsgemäldesammlungen München 1979/1980, 267.
344 Malerei des 19. Jahrhunderts

die ganze Bildoberfläche bedeckt. Dieser Pinselstrich steht in wech-


selnder Nähe und Ferne zur Gegenstandsdarstellung, läßt aus seinen
Lockerungen und Verdichtungen, Geraden und Kurvenzügen Dingli-
ches entstehen, ohne in solcher Funktion aufzugehen. Der freie, partiell
gegenstandserzeugende Pinselstrich löst Liebermanns These ein, „daß
gerade die naturalistische Malerei der Phantasietätigkeit am meisten be-
darf“ und die Phantasie „in jedem Striche sichtbar“ sein muß. 208 Sie be-
stimmt auf ihre Weise auch die Farbgestaltung. Der durchgehende
Grauton mag noch „gemeinsamer Nenner“ aller Gegenstandsfarben im
Halblicht sein, aber seine Rhythmisierung zu Graurosa, Violett, Braun,
Grün, Ocker in Bäumen und Figuren, seine Akzentuierung durch ein
stumpfhelles Blau in Jacken und Schürzen, einen Weißlichton in den
Lichtflecken ist ganz Ergebnis der künstlerischen Phantasie. Valeur-
malerei in mittlerer Helligkeit, die noch Wirkungen eines Beleuchtungs-
lichtes zur Geltung kommen läßt, ist mit ihren farbigen Akzenten auf
dem Weg zum Kolorismus. In seiner dichten Materialität wie in der
Strenge der Formkomposition und der Spröde seiner Farbgebung wird
das Bild Ausdruck der Festigkeit und Redlichkeit seines Urhebers. Nicht
das unmittelbar sichtbare Bildmotiv, sondern „die Persönlichkeit des
Künstlers“ ist „Inhalt der Kunst“. 209
Dunkel kehrt wieder in Werken von Lovis Corinth 210 (1858-1925),
Dunkel, aber nicht Licht - und somit auch kein Helldunkel. Dunkel ist
Corinths 1908 gemaltes Bild >Der Neue See im Berliner Tiergarten< (Städ-
tische Kunsthalle Mannheim) 211, und dieses ins Unfarbige sinkende
Dunkel wirkt als Äußerung dinglicher Schwere, als In-die-Erscheinung-
Treten eines Inneren der Materie. Voraussetzung dafür ist die Schwere
und Dichte des Pigments und damit die „Naß-in-naß-Malerei“ 212, das
Vermeiden von Lasuren. In dieses Dunkel dringt nur Halblicht ein,
naturalistisch motiviert durch den bedeckten Himmel und ein dichtes
Blätterdach. Die Farben, Rot, Grauweiß, dunkles Blau in den Fahnen,
dunkles Braun, Griin und Stahlblau in der Landschaft bleiben ganz
dieser Düsternis eingebunden.
Corinth nennt als die beiden ersten von vier „Kardinalpunkten“ der
„Quintessenz der Malerei“: „die Raumteilung (das künstlerische Hin-
208 Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei, Schriften und Reden,
hrsg. und eingeleitet von Günter Busch, 50, 47.
209 Liebermann, Die Phantasie in der Malerei, 45.
210 Zur Farbe bei Corinth vgl. auch: Anton Gugg, Die Farbe bei Lovis Co-
rinth, Diss. Salzburg 1980.
211 FA: ZdenekFelix (Hrsg.),Lovis Corinth 1858-1925, Köln 1985, Abb. 66.
212 Das Erlernen der Malerei, Ein Handbuch von Lovis Corinth, 3.Aufl.
Berlin 1920, 188.
Deutsche Malerei 345

einpassen des Motivs auf die gegebene Tafel)“ und das „Augenblinzeln
(Verfolgen der Licht- und Schattenformen)“, begriindet mithin die
kiinstlerische Raumbildung und das Bildlicht rein naturalistisch. Den-
noch zitiert Corinth wenige Zeilen später zustimmend: .. die Kunst
hat es nicht wie die Wissenschaft bloß mit der Vernunft zu tun, sondern
mit dem innersten Wesen des Menschen .. ,“ 213 In solcher Spannung
steht auch das Bild Corinths: es stellt nicht nur den „Neuen See“ im Ber-
liner Tiergarten bei Dämmerlicht dar, sondern in eins damit die
Schwere, die leidenschaftliche Intensität und Nervosität, den Abgrund
im Künstler selbst.

213 Das Erlernen der Malerei, 199.


FARBGESTALTUNG UND FARBTHEORIE
IN DER MALEREI DES 20. JAHRHUNDERTS

Die Malerei des 20. Jahrhunderts verleiht der Farbe eine vordem un-
bekannte Selbständigkeit. 1 Als „konstruktive“ Farbe übernimmt sie seit
Delaunay auch die Aufgaben aller übrigen Bildmittel. In der ,,ab-
strakten“ und „konkreten“ Malerei befreit sie sich von jeder Art von
Gegenstandsdarstellung, ja, ein Weg zur abstrakten Malerei führt, bei
Kandinsky, über den von aller Gegenstandsschilderung entbundenen
Farbklang. In einer zweiten Phase dieser Absolutsetzung der Farbe er-
fährt sie mit der amerikanischen Farbfeldmalerei als entgrenzter Farb-
grund eine neue Mächtigkeit und Autonomie auch im Verhältnis zu den
anderen Bildmitteln. Gleichzeitig löst sich mit der auf Buntfarbigkeit
verzichtenden Malerei von „Zero“ und verwandten Richtungen im Weiß
auch das Bildlicht von aller Funktionalität, nicht nur im Hinblick auf
Bildgegenstände, sondern auch gegenüber der Bildfarbe selbst. Bis zu
dieser Phase, bis zur Zeit um 1960 führt die Darstellung.
Nicht in ihrem gesamten Umfang kann die Malerei bis 1960 hier be-
handelt werden, nur in einer Auswahl hinsichtlich der Bedeutung, die
der Farbe in der künstlerischen Arbeit zukommt. So wird hier von Max
Beckmann nicht gesprochen, auch nicht von den Surrealisten, wenn-
gleich jedem dieser Künstler auch seine besondere Farbgestaltung eigen
ist und das Bildlicht in der „Pittura metafisica“ und im Surrealismus eine
neue Dimension des Ausdrucks gewinnt. 2
Wie im Kapitel zur Malerei des 19. Jahrhunderts werden auch hier
Farbgestaltung und Farbenlehre nach ihrem Zusammenhang im
Schaffen der einzelnen Künstler erörtert.

Henri Matisse 3 (1869-1954) gestaltet die Farben in exemplarischer

1 Vgl. auch: Pierre Francastel, La couleur dans la peinture comptemporaine.


In: Problèmes de la couleur (Exposés et discussions du Colloque du Centre des
Recherches de Psychologie comparative tenu à Paris ... réunis et présentés par
Ignace Meyerson) Paris 1957, 255-276.
2 Vgl. Nicholas Calas and Elena Calas, In the Light of Dreams. In: Light in
Art, ed. by Thomas B. Hess and John Ashbery, New York 1969, 1-20.
3 Vgl. dazu: Nicholas Watkins, AHistory andAnalysisoftheUseof Colourin
the Work of Matisse. M. phil. Thesis. London, Courtauld Institute 1979. -Verf.,
Malerei des 20. Jahrhunderts 347

Weise als „koloristische“ Werte, d.h. in flächiger Ausbreitung intensiver


Buntfarben, die in ihrer Gesamtheit das Bildlicht konstituieren, wobei
die Farben jedoch immer noch in Gegenstandsrelationen stehen.
Zu Matisses frühesten Werken gehören Bilder wie >La Liseuse< von
1895, das in der Nachfolge holländischer Interieurmalerei steht: Hell-
dunkel ist übersetzt in eine Vielfalt von Brauntönen, die sich zumTräger
eines milden, gedämpften Halblichts erheben, an anderen Bildstellen
aber noch in Dunkelheit versinken. 1897 malt Matisse in der Bretagne,
auf Belle-île, Paraphrasen auf Monets Felsküsten-Ansichten und
schließt sich, >La Desserte< stehe hierfür als Beispiel, dem intimen Spät-
impressionismus Edouard Vuillards an, der impressionistische Lichtfar-
bigkeit stellenweise zurücknimmt in Valeurabstufung.
Tieffarbigkeit bestimmt noch die Modellstudie von 1900, etwa
>L’homme nu: ,le serf; Academie bleue; Bevilaqua<, deren tiefe blaue
und grüne Töne des Grundes noch an Gustave Moreaus, Matisses
Lehrer, Rat erinnern: «la couleur doit être pensée, rêvée, imaginée».
Violette Schatten im Kontrast zu gelblichen und grüngelblichen Licht-
zonen in Bildern wie >Au bord de la route-Luxembourg< von 1901 oder
>Le jardin du Luxembourg< von 1901/02 bezeugen die Überwindung
aller Dunkelmalerei.
Mit dem Anschluß an den Neo-Impressionismus vollzieht Matisse den
Schritt zur nächsten Entwicklungsphase der franzôsischen Malerei, und
nicht zufâllig zu einer harmonietheoretisch orientierten Farbgestaltung.
Matisse studiert Paul Signacs Abhandlung von 1899 ,,De Delacroix au
néo-impressionnisme“. Als Hauptwerk der neoimpressionistischen Re-
zeption entsteht 1904/05 das Bild >Luxe, calme et volupté< (Paris, Musée
National dArt Moderne), das imTitel Bezug nimmt auf die wiederkeh-
rende Strophe in Baudelaires Gedicht „LTnvitation au voyage“: ,,Là
tout n’est qu’ordre et beauté, luxe, calme et volupté“, und das die neoim-
pressionistische Darstellungsmethode aus der Verklârung eines Wirk-
lichkeitsthemas zu der einem idealen, elysâischen Land angemessenen
Farberscheinung befähigt. „Aufzubrechen in die Ferne“ fordert der Ein-

Anmerkungen zur Farbe bei Matisse. In: Henri Matisse. Das Goldene Zeitalter.
Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld 1981, 49-64. - Verf., Arabeske und Farbe als
Gestaltungselemente bei Matisse. In: Florilegium Artis. Beitrâge zu Kunstwis-
senschaft und Denkmalpflege. Festschrift für Wolfgang Götz anläßlich seines
60. Geburtstages. Hrsg. von Michael Berens, Claudia Maas und Franz Ronig,
Saarbrücken 1984, 28-34. -FA: Jacques Lassaigne, Matisse. Genf (Skira) 1959.
- Isabelle Monod-Fontaine, Matisse. Collection du Musée National d’Art Mo-
derne, Centre Georges Pompidou, Paris 1979. - Henri Matisse, Ausstellungs-
katalog Kunsthaus Zürich - Stâdtische Kunsthalle Düsseldorf 1982/83.
348 Malerei des 20. Jahrhunderts

gangsvers der Baudelaireschen „Einladung zur Reise“, aufzubrechen,


um ein irdisches Paradies zu finden! Verglichen mit Signacs Werken,
denen er sich anschließt, läßt Matisse die Farbpunktfelder freier an- und
abschwellen.
Fiir Matisse bedeutet die Rezeption des Neoimpressionismus nur eine
kurze Phase des Durchgangs. Wie die viel impulsivere StucLie zu >Luxe,
calme et volupté< von 1904 (New York) zeigt, mußte er sich wohl miihsam
in die „pointillistische“ Zucht nehmen, schon die 1905 gemalte >Pasto-
rale< (Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris) entzieht sich wiederum
dieser Disziplin.
Mit der neoimpressionistischen Zerstiickelung der Form, des Um-
risses, seiner „hüpfenden Oberfläche“, seinem „Vibrato“, seiner bloßen
„Netzhautempfindung“ kann sich Matisse nicht lange zufriedengeben,
er sucht nach Einfachheit, Ruhe, Ausdruck: «J’ai essayé de remplacer le
,vibrato‘ par un accord plus expressif, plus direct, un accord dont la sim-
plicité et la sincérité m’auraient procuré des surfaces plus tranquilles.»
Der Fauvismus, so Matisse weiter, erschiitterte dieTyrannei des Divi-
sionismus. Aus ihr gelte es aufzubrechen in die Wildnis, um sich ein-
fachere Mittel zu schaffen («pour se faire des moyens plus simples qui
n’étouffent pas l’esprit»). Dann stößt man auf Gauguin et Van Gogh und
findet bei ihnen: Aufbau aus Farbflächen, Steigerung der Farbwirkung,
Bildlicht aus dem Zusammenklang starker Farben: «construction par
surfaces colorées. Recherche d’intensité dans la couleur, la matière étant
indifférente. Réaction contre la diffusion du ton local dans la lumière.
La lumière n’est pas supprimée, mais elle se trouve exprimée par un ac-
cord des surfaces colorées intensément.» 4
Im „Fauvismus“ kommt das Moment der Farbsteigerung zu einem er-
sten Höhepunkt. So ist das Bildnis der >Madame Matisse à la raie verte<
(Kopenhagen, Statens Museum for Kunst) aus kraftvollen Rot-Grün-
Kontrasten gebaut, der kühne grüne Strich über Stirnmitte und Nasen-
rücken bildet die farbige Mittelachse des Porträts.
Gauguin ist, wie Matisse selbst erwähnt, ihm Vorbild in der Vereinfa-
chung zu Farbflächen. Sein >Uferweg< von 1907 (Kunstmuseum Basel)

4 Entretien avec Tériade. Zitiert nach: Henri Matisse, Écrits et propos sur
l’art. Texte, notes et index établis par Dominique Fourcade. Nouv. èd. Paris
1972, 93-96. - Die meisten dieser Texte dt. in: Henri Matisse, Farbe und
Gleichnis, Gesammelte Schriften, hrsg. von Peter Schifferli, übertragen von
Sonja Marjasch, Zürich 1955, zitiert nach der Ausgabe Frankfurt a.M., Ham-
burg 1960 (Fischer-Bücherei), hier 43/44. Zur Farbtheorie von Matisse vgl.
Walter Hess, Das Problem der Farbe ..., 70-74. - Klaus Schrenk, Genauigkeit
ist nicht Wahrheit. Ausführungen zur Farbtheorie von Henri Matisse. In: Henri
Matisse, Ausst. Katalog Zürich-Düsseldorf 1982/83, 20-25.
Malerei des 20. Jahrhunderts 349

übernimmt von Landschaften Gauguins wie >Les Alyscamps< den


flächenhaften Bildaufbau; auch der Farbklang aus gedämpften Blau-,
Grün-, Violett- und Gelblichtönen ist vergleichbar. Freilich geht Matisse
in der flächenhaften Vereinfachung noch über Gauguin hinaus, und sein
Farbakkord klingt klarer, ist auf Dur gestimmt, verglichen mit Gauguins
verhangenem.
Aber noch steht die Vereinfachung auch der Zeichnung bevor. Sie
wird geleistet in den beiden Fassungen von >Le Luxe<, die erste, vom
Winter 1907 (Paris, Musée National dArt Moderne), noch mit an- und
abschwellenden Farbflächen, die zweite, von 1908 (Kopenhagen, Sta-
tens Museum for Kunst), mit nahezu homogenen Farbzonen in Gelb-
ocker, mildem Rotbraun und Grün, hellem Blau, Violett und Weiß. Hier
hat Matisse erreicht, was er in den >Notes d’un peintre< die „Verdichtung
der Empfindung“ nennt: «Je veux arriver à cet état de condensation des
sensations qui fait le tableau ...»
Nun ist auch der „Ausdruck“ gefunden, um den es Matisse vor allem
zu tun ist, und der in der gesamten künstlerischen Disposition des Bildes
enthalten ist, wobei er mit „Dekoration“ identisch wird: «L’expression
... est dans toute la disposition de mon tableau: la place qu’occupent les
corps, les vides qui sont autour d’eux, les proportions, tout cela y a sa
part. La composition est l’art d’arranger de manière décorative les divers
éléments dont le peintre dispose pour exprimer ses sentiments.» 5
Diese Passage aus den >Notes d’un peintre< zeigt die Vielschichtigkeit
des Begriffs «expression» bei Matisse: Der Gegenstandsausdruck geht
in die Ausdrucksdimension des ganzen Bildes (dessen «disposition»)
ein, diese ist zugleich das Medium der «sentiments» des Künstlers.
Solche Komplexität kommt auch der «expression» der Farbe zu, die aber
nun gerade deshalb zur letzten Vereinfachung gefiihrt wird.
Ihren Höhepunkt findet diese Vereinfachung und Verwesentlichung
der Farbe in den beiden großen, 2,60 x 3,90 messenden Tableaux >La
Danse< und >La Musique<, die Stschoukine 1910 zum Schmuck desTrep-
penhauses seines Moskauer Palastes bestellte (heute Leningrad, Ere-
mitage). Schon 1909 entwickelt Matisse Ideen zu großen architekturbe-
zogenen Dekorationen in einem Treppenhaus, erwähnt fiir das erste
Stockwerk einen „tanzenden Reigen der Musen auf dem Gipfel des Hü-
gels“, für das zweite, wenn der Besucher aufgenommen ist in den „Geist
und das Schweigen des Hauses“, eine „musizierende Gesellschaft mit
andächtigen Zuhörern“ .. , 6

5 Matisse, Notes d’un peintre. Zitiert nach: Écrits et propos sur l’art, 42-45;
Farbe und Gleichnis, 13.
6 Vgl. Écrits et propos sur l’art, 62/63; Farbe und Gleichnis, 39.
350 Malerei des 20. Jahrhunderts

„Mein Bild >La Musique<“, so Matisse in seinem Gespräch mitTériade


1929, „wurde mit einem schönen Blau für den Himmel, dem blauesten
Blau (wobei ich die Fläche bis zur Sättigung färbte, das heißt bis zu dem
Punkt, wo das Blau, die Idee des absolut Blauen, ganz in Erscheinung
trat)“ («le plus bleu des bleus [la surface était colorée à saturation, c’est-
à-dire jusqu’au point où le bleu, l’idée du bleu absolu, apparaissait
entièrement»], „dem Grün der Bäume und dem zuckenden Zinnober
der Körper gemacht..«J’avais, avecces trois couleurs, mon accordlu-
mineux, et aussi la pureté dans la teinte. Signe particulier, la couleur
était proportionnée à la forme. La forme se modifiait selon les réactions
des voisinages colorés. Car l’expression vient de la surface colorée que le
spectateur saisit dans son entier.» 7
Dieses Blau übertrifft in seiner Intensität alle Farben der neuzeitli-
chen Malerei. Eine vergleichbare Stärke von Blau findet sich nur in friih-
christlichen und fmhmittelalterlichen Mosaiken und Wandmalereien,
zuletzt in den Griinden der Fresken Giottos in der Arena-Kapelle zu
Padua, auf die übrigens Matisse an einer Stelle seiner >Notes d’un pein-
ture< verweist.
In anderen Bildern dieses Jahres und in späteren Werken, wie etwa
dem >Stilleben mit Geranien< von 1910 (München, Neue Pinakothek),
dem >Interieur aux aubergines< (Grenoble), der >Famille de l’artiste< (Le-
ningrad, Eremitage) beide von 1911, vergrößert sich, mit der Zunahme
der «Arabesque», auch die Anzahl der Farben wieder.
Damit stellt sich verschärft das für Matisse zentrale Problem des
Gleichgewichts der Farben. Dazu schreibt Matisse in den >Notes d’un
peintrec „Wenn ich auf einer weißen Leinwand Empfindungen von
Blau, Griin, Rot verstreue, so verliert in dem Maße, als ich Pinselstriche
hinzusetze, jeder von denen, die ich zuvor hingesetzt habe, an Bedeu-
tung. Ich habe ein Interieur zu malen, ich habe einen Schrank vor mir; er
gibt mir eine sehr lebhafte Rotempfindung und ich setze ein Rot hin, das
mich befriedigt. Es stellt sich eine Beziehung her zwischen diesem Rot
und dem Weiß der Leinwand. Ich mag nun noch daneben ein Griin
setzen oder den Fußboden durch ein Gelb wiedergeben - und es werden
wieder zwischen dem Griin oder Gelb und dem Weiß der Leinwand Be-
ziehungen herrschen, die mich befriedigen. Aber diese verschiedenen
Farbtöne vermindern gegenseitig ihre Wirkung. Es ist also notwendig,
daß diese verschiedenen Zeichen, die ich brauche, in solcher Weise sich
einander nicht zerstören. Um dies zu erreichen, muß ich Ordnung in
meine Ideen bringen: die Beziehungen zwischen denTönen wird sich in
der Weise herstellen, daß sie die Töne unterstützt, statt sie zu unter-

7 Écrits et propos sur l’art, 96; Farbe und Gleichnis, 44.


Malerei des 20. Jahrhunderts 351

driicken. Eine neue Farbkombination wird der ersten folgen und die Ge-
samtheit meiner Vorstellungen wiedergeben. Ich bin genötigt, umzu-
setzen, und aus diesem Grund meint man, daß mein Bild vollständig ver-
ändert ist, wenn nach einer Reihe von Veränderungen das Rot darin als
Dominante das Grün ersetzt hat. Es ist mir nicht möglich, die Natur skla-
visch abzubilden; ich bin gezwungen, sie zu interpretieren, und dem
Geist des Bildes unterzuordnen. Wenn alle meine Beziehungen der Far-
bentöne gefunden sind, so muß sich daraus ein lebendiger Akkord von
Farben ergeben, eine Harmonie analog der einer musikalischen Kompo-
sition .. ,“ 8
Jede Farbe soll im Akkord ihre Selbständigkeit, ihre „valeur“ be-
halten, auch wenn die ganze „combinaison de couleurs“ dariiber sich
wandelt. Ein Beispiel für die hier beschriebene Veränderung der far-
bigen Dominante ist das Bild >Le Desserte - Harmonie rouge<, in der
Eremitage zu Leningrad, das Matisse 1908 zunächst auf der Grundlage
eines dominanten Blaus malt und im „Salon dAutomne“ ausstellt, we-
nige Monate später aber überarbeitet und als >Harmonie rouge< in die
Sammlung Stschoukine zuriickgibt. 9
Bei der Wahl, Verteilung und Veränderung der Farben folgt Matisse al-
lein seinen Empfindungen, seinem „Instinkt“: «La tendance dominante
de la couleur doit être de servir le mieux possible l’expression. Je pose
mes tons sans parti pris. Si au premier abord, et peut-être sans que j’en
aie eu conscience, un ton m’a séduit ou arrêté, je m’apercevrai le plus
souvent, une fois mon tableau fini, que j’ai respecté ce ton, alors que j’ai
progressivement modifié et transformé tous les autres. Le côté expressif
des couleurs s’impose à moi de façon purement instinctive ...»
Matisse lehnt eine wissenschaftliche Farbtheorie ab und distanziert
sich dabei ausdrücklich von Signac, bezweifelt auch die prinzipielle Gül-
tigkeit der Komplementärfarbentheorie: «Le choix de mes couleurs ne
repose sur aucune théorie scientifique: il est basé sur l’observation, sur le
sentiment, sur l’expérience de ma sensibilité ... En réalité, j’estime que
la théorie même des complémentaires n’est pas absolue.» „Wenn man
die Bilder der Maler studiert, deren Kenntnis der Farbenverwendung
auf Instinkt und Gefühl, auf ständiger Analogie ihrer Empfindungen be-
ruht, so könnte man in gewissen Punkten die Gesetze der Farbe präzi-
sieren und die Grenzen der Farbentheorie, so wie sie jetzt angenommen
wird, erweitern.“ 10

8 Écrits et propos sur 1’art, 46/47; Farbe und Gleichnis, 20, 21.
9 Vgl. Jean Guichard-Meili, Henri Matisse, Sein Werk und seine Welt, dt.
Köln 1968, 55, 60. - Lawrence Gowing, Matisse, London 1979, 108.
10 Écrits et propos sur l’art, 48/49; Farbe und Gleichnis, 22, 23.
352 Malerei des 20. Jahrhunderts

Matisses Skepsis gegen alle Farbtheorie findet sich gesteigert bei den
„fauvistischen“ Malern wieder, bei Maurice de Vlaminck, Georges
Rouault, André Derain. 11 Bei Matisse erlaubt sie die größte Freiheit im
Umgang mit der Farbe.
Neben die Bilder, bei denen mehrere Farben in einem freien Gleichge-
wicht sich stützen (für die zwanziger Jahre seien genannt die >Odaliske<
von 1921 und die >Figure décorative sur fond ornamentaU von 1925/26,
beide Musée d’Art Moderne, Paris) treten von einer einzigen Grund-
farbe bestimmte. So erfüllt bei >L’atelier rouge< (1911, New York, Mu-
seum of Modern Art) das Rot als gleichmäßig dichtes Medium den
Raum, faßt - dies ist ein neues Gestaltungsphänomen - in einem Farbton
Wände, Fußboden und alle Dinge zusammen: Tische, Stuhl, Uhr, Kom-
mode, Sockel. Nur die Kunstwerke, die Bilder, Statuetten, Dosen,
Teller, wie auch die Vase und die Zweige darin, dürfen ihre Eigenfarbe
behalten. Die Linie zieht sich auf die bloße Aussparung von Konturen
zuriick.
Auch diese mit Farbdominanten arbeitende Gestaltungsweise führt
Matisse bis in sein Spätwerk fort, Beispiele sind das >Grand intérieur
rouge< von 1948 im Pariser Musée National d’Art Moderne oder das >ln-
térieur rouge< von 1947 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düs-
seldorf, hier allerdings mit kräftigen Akzenten von Blau und Gelb.
Zu den Buntfarben tritt gleichberechtigt Schwarz, so schon beim
Porte-fenêtre à Collioure< von 1914 (Privatbesitz) mit seiner mächtigen
breiten Schwarzbahn, bei >La Peintre dans son atelier< von 1917 (Paris,
Musée National d’Art Moderne), ebenfalls in mittlerer vertikaler Zone,
oder bei der >Liseuse surfond noir< von 1939 desselben Museums, hier
gleichsam den inneren Raum der ins Lesen Versunkenen konstituierend.
Uber das Schwarz schreibt Matisse 1946: «Le noir est une couleur.
L’emploi du noir comme couleur au même titre qu les autres couleurs:
jaune, bleu ou rouge, n’est pas chose nouvelle» -und Matisse erinnert an
orientalische Kunst, an japanische Holzschnitte - und an Manet. In
seine Nachfolge stellt er sich ein. In einem anderen Zusammenhang be-
merkt Matisse, er habe begonnen, «d’utiliser le noir pur comme une cou-
leur de lumière et non comme une couleur d’obscurité» 12. Schwarz kann
ihm Lichtfarbe sein, weil er dieser Farbe die gleiche „Ausbreitungs-
kraft“ gewährt wie allen anderen Farben - und auch seinen Linien.
Für Matisse ist Farbe Substanz. In seinen «Papiers découpés» ist sie
ihm Materie, die er wie ein Bildhauer bearbeiten kann: «Découper à vif
dans la couleur me rappelle la taille directe des sculpteurs», schreibt

11 Vgl. dazu Hess, Problem der Farbe, 74—77.


12 Écrits et propos sur l’art, 202, 203 und 117, Anm. 73.
Malerei des 20. Jahrhunderts 353

Matisse in >Jazz<, 1947. 13 Seine großen Papiers collés-Kompositionen


>Polynésie, le ciel< und >Polynésie, la mer< (1946, Paris, Musée National
d’Art Moderne) indentifizieren Farbe als Substanz mit dem Blau von
Himmel und Meer.

Bei Matisse wie bei den deutschen Expressionisten steht der Aus-
druckswert der Farbe im Mittelpunkt künstlerischer Gestaltung. Doch
bedeutet „Ausdruck“, „expression“ hier jeweils etwas anderes.
Matisse schreibt 1908, in den >Notes d’un peintrec „Was ich vor allem
zu erreichen suche, ist der Ausdruck ... Der Ausdruck steckt fiir mich
nicht etwa in der Leidenschaft, die auf einem Gesicht losbricht, oder die
sich durch eine heftige Bewegung kundgibt. Er ist vielmehr in der
ganzen Anordnung meines Bildes: der Raum, den die Körper ein-
nehmen, die leeren Partien um sie, die Proportionen: dies alles hat
seinenTeil daran .. .“ 14
Für Ernst Ludwig Kirchner 15 (1880-1938) als dem ersten Repräsen-
tanten der Dresdner Künstlergemeinschaft „Brücke“ 16 ist eine solch ge-
lassene Auffassung von „Ausdruck“ nicht möglich. In einer unter
seinem Pseudonym „Louis de Marsalle“ 1921 veröffentlichten Bespre-
chung >Über die Schweizer Arbeiten von E. L. Kirchner< heißt es: ,,Da
diese Bilder mit Blut und Nerven geschaffen sind und nicht mit dem kalt
wägenden Verstande, sprechen sie unmittelbar und suggestiv. Sie ma-
chen den Eindruck, als habe der Künstler viele Gestaltungen eines Er-
lebnisses übereinander geschichtet. Bei aller Ruhe ist ein heißes, leiden-
schaftliches Ringen um die Dinge fiihlbar .. ,“ 17 Der Selbstausdruck,
das Erlebnis des Künstlers stehen hier im Vordergrund.
In den Spätsommer 1908 fallen die ersten nachweisbaren Begeg-
nungen Kirchners mit Werken der französischen „Fauves“ auf Ausstel-
lungen in Berlin und Dresden. Sein >Mädchenakt auf blühender Wiese<

13 Écrits et propos sur l’art, 237; Farbe und Gleichnis, 96.


14 Matisse, Farbe und Gleichnis, 13.
15 FA: Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Ausst.-Kat. Nationalgalerie
Berlin, Haus der Kunst München etc. 1979/1980. - Darin: Dieter Honisch, Die
Farbe bei Kirchner, 26-30.
16 FA von Werken der „Brücke“-Maler z. B. in: Lothar-Günther Buchheim,
Die Künstlergemeinschaft Briicke, Feldafing 1956. - Künstler der Briicke,
Heckel, Kirchner, Mueller, Pechstein, Schmidt-Rottluff, Gemälde, Aquarelle,
Zeichnungen, Druckgraphik 1909-1930. Ausst.-Katalog Moderne Galerie des
Saarland-Museums Saarbriicken 1980. - Darin auch: Verf., Gestaltungsprinzi-
pien der ,,Briicke“-Maler; Bildkommentare.
17 Zitiert nach: Lothar Grisebach, E.L. Kirchners DavoserTagebuch, Eine
Darstellung des Malers und eine Sammlung seiner Schriften, Köln 1968,196.
354 Malerei des 20. Jahrhunderts

(Slg. Buchheim) entstammt diesem Jahre. Er ist Bildern von Henri Ma-
tisse aus dem Jahre 1907 nahe, so dessem >BlauenAkt< (Baltimore, Mu-
seum of Art). Die strengere Formenfügung, der kiihnere Farbenklang
finden sich im Werk Matisses. Aus entschiedenen Richtungskontrasten,
häufig konturiert mit prägnanten Kurvenbögen, formt sich der Leib des
Mädchens hier, das kiihlhelle Inkarnat modelliert mit blauen Schatten
und eingebettet in einen blauen, gegenständlich kaum faßbaren Grund,
den wiederum eine Griinzone - Wandbehang oder Wiese? - hinterlegt.
Formal wie farbig - mit Griin - und inkarnatdarstellenden Orangegelb-
lich-Tönen bleibt Kirchner hier - und dies gilt fiir sein ganzes Schaffen -
enger dem zufälligen Erscheinungsbild verbunden.
Ein homogener Farbgrund findet sich häufig bei Matisse - es wurde
schon darauf hingewiesen -, bisweilen auch bei Kirchner. Aufschlußreich
ist die andersartige räumliche Interpretation eines solchen Farbgrundes.
In Matisses Stilleben >Fleurs et Céramique< von 1912 im Frankfurter
Städel bezeichnet das Blau verschiedene Raumzonen: eine horizontal
verlaufende Zone, etwa die einer Tischfläche, auf der der Blumentopf
steht, möglicherweise eine seitlich links begrenzende und eine vertikal
aufgerichtete Wandzone rechts. Das Blau aber faßt diese verschiedenen
Raumgegebenheiten in eine schwebende Flächeneinheit zusammen.
Auch in Kirchners Bild >Frau vor dem SpiegeU von 1913 (1920 gering-
fügig überarbeitet; Paris, Musée National d’Art Moderne) möchte sich
das zugleich milde und sonore Blau der Wand, des Toilette-Tisches und
des Spiegels in eine Fläche sammeln - ist doch flächige Ausbreitung einer
homogenen Farbe natürlich. Dies gelingt dem Blau hier aber nicht, allzu
heftig stößt der Toilette-Tisch nach vorne, kippt der Spiegel zur Seite.
Mit dunklen Schattenzonen greift diese Raumbewegung auch in die
Homogenität des Blaus ein. So wird die verzogene Körperperspektive
zu einem die Ausdruckswerte der Farben bisweilen noch übertönenden
expressiven Bildmittel.
Auch Kirchners 1913 gemaltes Bild >Erich Heckel und Otto Mueller
beim Schach< (Briicke-Museum, Berlin) ist noch vom Widerspruch zwi-
schen Raum- und Farbgestaltung bestimmt. Alle Farben, mit Ausnahme
des Zitrongelbs der Lampe in der Mittelachse, erscheinen als gebrochene
Werte. Rotbraun und graugetöntes Blau bilden den tragenden Farbak-
kord, der lichtere Rosa-Ton des Aktes, die Gelblichtöne imTeppich ent-
falten sich als Variationen von Rotbraun, wie das gmnliche Dunkelgrau
der Raumecke rechts oben sich noch als Abwandlung des Graublaus ver-
stehen läßt. Die einfache Farbordnung derTrias der Primärfarben ist das
Richtmaß dieses engen Akkordes von Rotbraun und Graublau, disso-
nant ergänzt durch das kühle, helle Gelb. Wie aber verhält sich dieser
insgesamt ruhige Farbklang zur wilddynamischen Formanlage, zur hoch-
Malerei des 20. Jahrhunderts 355

expressiven Raumstruktur, die den Fußboden steil nach unten kippt,


denTisch und vor allem das Schachbrett in jäher Draufsicht wiedergibt?
Die Draufsicht auf das Schachbrett ermöglicht eine Identifikation des
Betrachters mit der vorderen, der Rtickenfigur. Hier greift Kirchner auf
die in der „deutschen Raumstruktur der Spätgotik und Renaissance“ an-
gelegten Möglichkeiten zurück, auf eine „innerbildliche Perspektive“,
die die Dinge nicht nur so darstellt, wie sie einem vor dem Bild ste-
henden Betrachter sich zeigen, sondern zugleich so, wie ein im Bilde
selbst Befindlicher sie sehen kann.
Es veranschaulicht die Raumstruktur aber vor allem die Nervosität,
die innere Unruhe Kirchners und dient so als Gefäß des „Selbstaus-
druckes“ des Künstlers im Bild. Der thematische Ausdruck, das Stille
und Konzentrierte des Schachspiels, aber kommt angemessener in der
dichten Farbigkeit des Bildes zur Sprache. So verbleibt das Bild, um Aus-
druck des Künstlers und des dargestellten Themas sein zu können, hier
in einer Zweistimmigkeit von Farb- und Raumstruktur. Geeint aber sind
räumlicher Selbstausdruck und farbig-thematische Expression in der zu-
gleich dichten und dynamischen Rhythmik des Pinselstrichs.
Erst bei den Darstellungen des Berliner Straßenlebens kommen
Selbst- und Gegenstands-(thematischer)Ausdruck und gleichzeitig
Raum- und Farbgestaltung zur Deckung.
Dunkle, schmale, hochaufragende und winklig konturierte Gestal-
ten vor hellen, kalten Farbzonen, die als nach unten stürzende Raum-
bahnen erscheinen, bestimmen die >BerlinerStraßenszene< (1913, Staats-
galerie Stuttgart), die >Fünf Frauen auf der Straße< (1913, Museum
Ludwig, Köln) oder >Die Straße< (1913, Museum of Modern Art, New
York).
Farben werden hier zum Ausdrucksträger durch Anspannung ihrer
„spezifischen Intensitäten“, die im jeweiligen Bunt- und Helligkeitsge-
halt gründen. Zu hoher Intensität gesteigert erscheinen hier vor allem
Grün- und Gelbgrün-, aber auch kühle Rosatöne im Kontrast zu
dunklen, gleichsam zusammengeschnürten Figurenfarben. Diese inten-
siven Farben sind aber zugleich die Farben des Bildraums und so mit-
bestimmt von dessen auch durch die lineare Organisation bedingten
Gestalt. Farb-, Raum- und Linienstruktur sind voneinander untrennbar
geworden.
Immer entschiedener prägt sich dieser stürzende Bildraum aus, und in
gleichem Maße steigert sich die Intensität und Leere der raumbestim-
menden Farben. In Kirchners monumentalem Bild >Potsdamer Platz<
von 1914 (Privatbesitz) ragen und schwimmen die Bürgersteige wie In-
seln und Ufer im reißenden, leeren, aggressiven Grün der Straße.
Diesem Sog in die Tiefe unterwirft sich selbst die Rhythmik der Pinsel-
356 Malerei des 20. Jahrhunderts

strichkomplexe: nahe dem linken Bildrand ziehen die Farbstriche wie in


einem reißenden Strom nach unten.
Dagegen schließen sich in den Werken der mit dem Jahr 1917 anhe-
benden Schweizer Periode Kirchners die Farben der Bildgegenstände
und des Bildraumes zu gobelinhafter Dichte zusammen. Erwähnt sei
aus diesem Zeitraum nur das Bild >Tannen im Gebirge< von 1919 (Mo-
derne Galerie des Saarland-Museums, Saarbrücken), das erfiillt ist
vom schwermiitigen Klang der Farben Griin und Rotviolett. Griin wird
durch verschiedene „Stimmungen“ hindurchgefiihrt: vom irdischen
Wiesengriin verwandelt es sich zum entriickten Blaugriin nahe der
Bildmitte. An diese Farbe können sich Lila-Töne angliedern, die in der
Modifikation zu Rosa die Rotwerte an sich binden. So erscheinen
alle Farben in undurchbrechbarer Verkettung aneinandergefiigt. Raum-
distanzen und Körperformen sind in der dichten Farbmaterie geeint.
Die Wirkung teppichhafter Geschlossenheit dient hier der Veranschau-
lichung unauflösbarer Verflechtung, des in sich gebundenen Kreislaufs
der Natur.
In seinem Tagebuch formuliert Kirchner 1925 eine eigene Beschrei-
bung seiner farbigen Komposition: Die in der Schweiz entstandenen
Arbeiten „haben eine neue Technik. Mit der Sensibilität der Composi-
tion der letzten Berliner Arbeiten verbindet sich die ganz reine Farbe der
Frühzeit. Die Accorde bauen sich auf den nebeneinander liegenden
Farben des Farbkreises auf, nicht den Complementärfarben. - Kirchner
führt damit eine Erkenntnis weiter, die er schon in Dresden und beson-
ders in Berlin fand. Wie er in der Form die Verschiebung der Propor-
tionen als wertvolles Steigerungsmittel immer bewußter anwendet, so in
der Farbe die Erkenntnis, daß ein Bild farbiger wirkt, wenn man dem
Auge die Ergänzung der Complementärfarbe überläßt, anstatt sie, wie
die Neoimpressionisten, hinzumalen und dadurch das Bild zu neutra-
lisieren. Diese Erkenntnis führt ihn zum Umwerfen der ganzen alten Far-
bentheorie über die optischen und sinnlichen Werte der Farben, und er
findet, daß der Accord, nicht die Einzelfarbe alle die Eigenschaften der
Farbtheorie trägt. Für ihn ist nicht mehr Blau kalt, Rot warm, es gibt für
ihn ebensogut ein warmes Blau und kaltes Rot, je nachdem der Farb-
accord, der dies Rot oder Blau umhüllt, gestimmt ist.“ 18
Neben der Hervorhebung im Farbkreis benachbarter Farben und der
Relativität der Farbwirkungen ist hier besonders der Versuch einer Ein-
beziehung des Betrachters in das Wirkungsgeflecht der Bildfarben auf-
schlußreich.

18 Grisebach, Kirchners Davoser Tagebuch, 86. - Vgl. dazu auch Hess, Pro-
blem der Farbe, 114/115.
Malerei des 20. Jahrhunderts 357

Auch Erich Heckel 19 (1883-1970) setzt ein mit der Rezeption eines ex-
pressiv, van goghisch auflodernden Neoimpressionismus, in Werken wie
der >Ziegelei< von 1907 und mit Bildern, die den tiefen Eindruck be-
zeugen, den die Malerei Edvard Munchs ausübte. Im >Dorftanz< von
1908 werden, vergleichbar Munchschen Bildern, Tiefenzüge aufge-
fangen in nahezu homogen sich ausbreitenden Farbflächen, diese be-
grenzt durch schwingende Körper- und Raumkurven, zugleich in ihrer
Buntkraft gesteigert.
Deutlicher kommt Fleckels Eigenart schon in Werken von 1909 zur
Geltung, etwa im Aquarell >Am Tiber< (Brücke-Museum, Berlin), das
jedoch auch noch aus den Möglichkeiten eines vereinfachten Neoim-
pressionismus lebt.
Im Gemälde >Häuser am Schonergrund bei Dresden< aus demselben
Jahr (Moderne Galerie des Saarland-Museums Saarbriicken) aber ist
alle impressionistische Leichtigkeit ausgeschieden. Die Grundfarben
Gelb, Rot und Blau verbinden sich mit Grün, das in großer Ausbreitung
gegeben ist. In schneller Bewegung umfährt der Zaun des Vordergrunds
ein Wiesenrechteck und trennt vom Betrachter zwei Häuser und eine
Baumgruppe im Mittelgrund. Das linke Haus, hell aufstrahlend in
seinem Gelb, läßt die Körperform noch mitschwingen, das mittlere
bleibt in seiner Farbform homogen, seine ockerbraunen Mauern, sein
ziegelrotes Dach sind von körperlicher Bindung befreit. Eigene farb-
räumliche Möglichkeiten eröffnen sich damit - wie auch im Dunkelgriin
der Baumreihe und dem in eine unmeßbare Farbtiefe weisenden Blau
des Himmels.
Die laute Kühnheit des >Schlafenden Pechstein< (1910, Slg. Buchheim)
wird 1913 von milderen Farbklängen abgelöst. Der >Ziegelbäcker< dieses
Jahres (Briicke-Museum, Berlin) ist farbig aus dem Kontrast von Ocker-
gelb und Blau aufgebaut. Griin als mögliche Mischung dieser Farben ist
der Grenze ihrer Bereiche vorbehalten. Der Arbeiter ist ganz in seinTun
vertieft und farbig der Landschaft zugeordnet, die, lehmfarben, als Ort
seiner Arbeit charakterisiert ist. Farbiger Ausdruck steht hier ganz im
Dienste des Thematischen. (Innerhalb der Künstlergruppe „Brücke“
war Heckel am meisten zur Hingabe an die Bildgehalte fähig.)
Der >Gläserne Tag<, ebenfalls 1913 entstanden (München, Staats-
galerie Moderne Kunst) aber öffnet nun einen Raum unmeßbarer Weite,
einen Raum, der in seiner kristallhaften Fügung Verweisung ins Unbe-
grenzbare mit stereometrischer Form verbinden kann, weil er - wie der
Kristall - lichthafte Strahlung mit strenger Körperform vereint. Unver-
kennbar ist die Aufnahme kubistischer Gestaltungsmöglichkeiten: in

19 FA: Paul Vogt, Erich Heckel, Recklinghausen 1965.


358 Malerei des 20. Jahrhunderts

zarten Facetten öffnen sich die geometrischen Formen zueinander und


zum Bildgrund. Aber die „kubistische“ Formensprache dient hier der
Veranschaulichung eines Naturraumes: Himmel und Erde verhalten sich
zueinander fast wie Spiegelbilder, scheinen aus derselben Lichtstoff-Ma-
terie zu bestehen. Staunend verharrt der Mensch vor dieser Enthüllung
kosmischer Einheit.
In dieser Art räumlich-farbiger Gestaltung findet Heckel für mehrere
Jahre die ihm gemäße Ausdrucksweise. Dramatisch gesteigert leuchten
beim >Friihling in Flandern< von 1915 (Hagen, Karl-Ernst-Osthaus-Mu-
seum) kristallinische Wolken über einem von heftigen Tiefenzügen der
Straße und des Kanals durchfurchten Weiteraum 20 der Landschaft auf.
Und auch Karl Schmidt-Rottluff (1884—1976) beginnt mit der Auf-
nahme eines expressiv gesteigerten Neoimpressionismus. Wieviel leuch-
tender und funkelnder abersinddie Farben seiner frühen Aquarelle, ver-
glichen mit denen seiner „Brücke“-Freunde! Intensiver als alle anderen
erfaßt er mit den Buntqualitäten der Farben auch deren Lichthaftigkeit
und Dunkelheit und wie kein anderer der Expressionisten begründet er
die Ausdrucksqualität des Raumes in dessen Dunkel- und Lichterfüllt-
heit.
Frei vor dem raumhaften Weiß des Papiergrundes schweben die
Farben im Aquarell >Vareler Hafen< v on 1909 (Brücke-Museum, Berlin),
zugleich aber verdichtet und gehalten von schwarzen Schattenzonen.
Ein Eingangsakkord aus Blau und Gelb, begleitet von Rot, also dieTrias
der Grundfarben bildend, legt sich, eingebettet in Blau, nach rechts hin
in Rotbrauntöne, in den Zweiklang von Blau und Gelb, und, mit der
Modulation von Blau nach Blaugrün, in den komplementären Bezug
von Grün und Rot auseinander. In größter Freiheit und Lebendigkeit
entfaltet sich eine strenge Komposition der Farben! Dariiber schwebt in
freien, rhythmisch gliedernden Bögen und Winkeln die Stimme der
Schwarzkonturen, das Wiegende der Wellen in der horizontalen Bild-
mitte verdichtend.
Beim Bild >Vorfrühling< von 1911 (Dortmund, Museum am Ostwall)
sind die kräftigen, warmen Farben, das intensive Gelb, das leuchtende
Rot, heftig gegen die tiefblauen und schwärzlichen Dunkelheiten ge-
stellt. Diese sind zugleich Schlagschatten und Teile eines absoluten
schwarzen Raumes. Als Schlagschatten, in langen Bahnen von den
Baumstämmen über die Straße gezogen, verweisen sie auf eine tiefste-

20 Vgl. hierzu Verf., Gestaltungsprinzipien der „Brücke“-Maler, in: Künstler


der Brücke, 41, unter Hinweis auf Hermann Schmitz, Der leibliche Raum, Sy-
stem der Philosophie, Dritter Band, Der Raum, ErsterTeil, Bonn 1967, 47-54,
131-218.
Malerei des 20. Jahrhunderts 359

hende Sonne. In diesem sich neigenden Licht aber strahlen die Farben,
in der Macht ihrer Buntheit, ihr eigenes Licht aus, wie sich auch die
Schattenzüge zum autonomen Dunkelraum vertiefen. Das Thema des
„Vorfrühlings“ wird nicht als Schilderung der natürlichen Licht- und
Farbsituation dargestellt - dazu wären die Farben zu gesättigt, die far-
bigen Licht- und Dunkelkontraste zu groß -, sondern verborgener,
durch die Rhythmik des Bildes: Vier Bäume, stellenweise hinterlegt von
zartem Grün - einzig hier kommt etwas vom Charakter eines „Vorfrüh-
lings “ farbig zur Anschauung - führen von links in dieTiefe und zur Bild-
mitte und neigen sich langsam und stetig der mittleren Bildachse zu. Zö-
gernd und in ihren Richtungsbahnen gebrochen nehmen die rechten
Bäume diese Bewegung im Gegensinne auf. Der der Bildmitte benach-
barte Baum scheint sie in der Schattenbahn zum vorderen linken Baum
zuriickzusenden - und so entsteht ein Kreisen, eine Differenzierung in
Anhebung, Verzögerung und zügiger kraftvoller Steigerung, die als
rhythmische Gestalt des wieder ansteigenden Jahreskreislaufs ver-
standen werden mag.
In der >Urwaldlandschaft< von 1919 (Moderne Galerie Saarbriicken)
lassen die Bäume Zwischenräume frei, die den Farbraum in seiner Abso-
lutheit zur Geltung bringen. Wie in Flammen aufloderndes Grün, über
Hellgrün zu Gelbgrün geführt, bestimmt die linke Zwischenraum-Ar-
kade, Grüngelb, wie ein Pfeil nach unten stoßend, Orangebraun und
Hellgrün die rechte. In diesen Farbräumen verliert sich der Blick, er
findet kein Ziel mehr. Auch in den Baumgruppen ist alles getan, die
räumliche und körperliche Eindeutigkeit aufzulösen. Die Sonne, mit
braunroten Zacken um einen kaltweißen, kaltblau umrandeten Kreis
zeichenhaft vergegenwärtigt, kann keine Wärme, kein Leben spenden.
Das Brennende, Schwüle ist Charakter der Farben selbst. Ausweglosig-
keit und optische Verstörung erscheinen hier als Inbegriff einer „Ur-
waldlandschaft“.
Bei Schmidt-Rottluff sei auch an die Licht-Dunkel-Mächtigkeit der
„Brücke“-Holzschnitte erinnert. In den entschiedenen Gegensätzen der
weißen und der schwarzen Holzschnittpartien verbildlicht sich der ele-
mentare Gegensatz des Lichtes und des Dunkels: das Weiß bricht licht-
haft aus, das Schwarz läßt den Blick versinken, hüllt ihn ein. Es hat An-
teil an den Wesenszügen eines „schwarzen Raumes“, der den Menschen
erfüllen, ihn durchdringen kann. 21

21 Vgl. hierzu: Eugène Minkowski, Le temps vécu, Études phénoménologi-


ques et psychopathologiques, Paris 1933. - Alexander Gosztony, Der Raum, Ge-
schichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Freiburg, Mün-
chen 1976, Bd. 2, 951-954.
360 Malerei des 20. Jahrhunderts

Im Holzschnitt >Villa mit Turm< von 1911 sind Himmel und Erdzone
gleichermaßen lichterfüllt und behaupten sich gegen eine umgrenzende
Schwärze. - Auf seinem Holzschnitt >Die Sonne< von 1914 ist die Licht-
spenderin, von den Frauen feierlich begrüßt, lichthaft und dunkel, weiß
und schwarz zugleich.
Christus in >Petri Fischzug< von 1918 ist nicht der Lichtbringer, son-
dern eingehüllt in seine eigene Dunkelheit wie in sein eigenes Licht. Mit
einer weißen und einer schwarzen Pupille blicken Christi Augen im
>Gang nach Emmaus< aus derselben ,,Kristus“-Folge.
Auch beim >Kopf< von 1919 strahlt ein schwarzes Auge weißes Licht
aus; glimmend zwischen Weiß und Schwarz, zwischen Ausstrahlung und
Zurückwendung zu sich selbst, verharrt dagegen der Blick des >Heiligen
Franziskus< im Holzschnitt desselben Jahres.
Schon ein Bild wie das 1910/11 entstandene große Leimfarben-Ge-
mälde >Das Urteil des Paris< (Nationalgalerie Berlin) zeigt alle Besonder-
heiten der Kunst Otto Muellers (1874-1930): In gedämpfter Helle, mit
den zarten Farben atmosphärischer Ferne, ganz lichten Brauntönen
in den Inkarnaten, hellem, grautonigem Grün in der Wiese mit bläu-
lichem Schimmer bei den rückwärtigen Hügelkuppen und weißgrauem
Himmel, erscheinen große Figuren in einer Landschaft. Trotz solcher
farbigen Ferne ragen die Figuren nah und schlank vor uns auf, nicht ein-
ander zugewandt, sondern nur mit sich selbst, mit ihrer eigenen Leiblich-
keit befaßt. Die überfigürliche Bildeinheit griindet in der Farbe. Eine
einheitliche, zugleich körperhafte und lockere Farbmaterie, die Erschei-
nungsweise der von Otto Mueller erfundenen Leimfarbe, läßt Men-
schen, Erd- und Himmelszone aus sich erstehen.
Auch die Landschaften werden in eine unbestimmbare Ferne versetzt.
Auf dem in farbigen Kreiden und Aquarell um 1915 geschaffenen Blatt
>Häuser mit Ofen und Schwein< (Bmcke-Museum, Berlin) schweben die
Häuser über graubläulich-braunem Farbnebel, gehalten nur von balken-
artigen Blaukonturen, die die Darstellung rhythmisieren: dem in breiten
Stücken gefügten Formenaufstieg links antwortet rechts der zarte Aus-
klang. Nur leise aber umspielt diese Bildbewegung das leere, offene
Weiß der Häuser.
Gefestigter erscheint der Bildbau im Gemälde >Russisches Haus< von
1921 (Moderne Galerie, Saarbrücken). Nun ist ein Dämmerungsraum
Ort der Darstellung. Vor Schwarzgrau schwebt, von Schwarzgrau durch-
setzt, Olivgrünlich, das einen Rosaton des Grundes durchscheinen läßt.
In Schwarzgrau ist auch das Innere des Hauses gehalten, daraus sche-
menhaft ausgespart die Figuren. Magisch dagegen strahlt ein Zitrongelb
in den Sonnenblumen auf, wiederholt im Sonnensymbol des Giebels
über dem Dach der Haustüre. Hier bricht ein geheimes Leuchten aus,
Malerei des 20. Jahrhunderts 361

das hinter den dunklen Farbschleiern glimmt. - Die der Kunst Otto
Muellers eigene Entwicklung wird so vornehmlich von der Farbe gelei-
stet.
Beim Bild >Zigeuner mit Sonnenblume< von 1927 (Moderne Galerie
Saarbriicken) ist alles Dargestellte wie aus Farbschleiern gewebt. Vom
grünbläulichen kühlen Weißlichton der Bodenzone, in den der Blick ver-
sinkt, erscheint die blaßrosa Figur des stehenden Zigeuners wiederum
wie ausgespart, dank des hier aufgelockerten Farbauftrags. Wie ausge-
spart aus dem Boden kann aber auch das Pferd in seiner lilagrauen Däm-
merungsfarbe wirken. Der materielle Malgrund ist weißlich getönt, noch
tiefer scheinen die Graublauzonen und ganz ferne die grün- und grau-
bräunlichen Inkarnate der Menschen zu liegen. Ganz nach vorne stößt
das kalte Gelb in den Sonnenblumen und in Bluse und Kopftuch der
Zigeunerin. In solcher Freiheit farbräumlichen Schwingens wird die
Festigkeit eines Ortes aufgelöst. Der Blick taucht ein in die räumliche
Rhythmik farbiger, leuchtender, wolken- oder nebelartiger Schwaden,
und nur schwer löst sich der Betrachter aus ihrer Bezauberung.
Auch von Emil Nolde (1867-1956) gibt es keine „Farbenlehre“, doch
enthalten seine autobiographischen Bücher, besonders der erste und
zweite Band: >Das eigene Leben< und >Jahre der Kämpfe< wichtige
Äußerungen zu Noldes Auffassung von Künstlertum und Farbgestal-
tung 22:
„Das Künstlersein ist ein triebhaftes Ringen mit Gott und der Natur,
es ist ein Kampf in Lust und Leidenschaft mit der Materie, mit den Men-
schen und mit seiner selbst, daß er sich nicht verliere oder verbrenne,
denn tiefst in ihm brodelt es wie die Glut inmitten unserer Erde“ 23,
dieses Bekenntnis zum „Kampf in Lust und Leidenschaft“ wird ergänzt
durch Noldes Hochschätzung des „passiven Künstlertums“: „Das pas-
sive Künstlertum ist dem Maler unendlich schwer erreichbar. Es ist der
Moment, wo im Dunklen der Funken zu glühen beginnt - zum lo-
dernden Feuer sich entwickelt, wenn alle Vörbedingungen glücklich
sind. Sind sie es nicht, erlöscht allerTraum und Zauber“ lautet eine Auf-
zeichnung Noldes vom 25.8.42. 24
Diesem so begriffenen Künstlertum entspricht eine das Naturhafte ak-
zentuierende Erfahrung und Gestaltung des Farbigen: „Zuweilen auch
malte ich in frierenden Abendstunden und sah es gern, wenn auf dem

22 Vgl. dazu: Hess, Problem der Farbe, 112-114.


23 Emil Nolde, Jahre der Kämpfe, 1902-1914. 2. erw. Aufl., Flensburg o. J.
(1957), Vorwort. Neuauflage: Emil Nolde, Mein Leben, Köln 1976.
24 Zitiert nach: WernerHaftmann, Emil Nolde, Ungemalte Bilder, Aquarelle
und „Worte am Rande“, Köln 1963, neben Farbtafel 16.
362 Malerei des 20. Jahrhunderts

Papier die gefrorenen Farben in kristallenen Sternen und Strahlungen


sich setzten. Ich liebte solche Mitarbeit der Natur; ja, die ganze Natur-
verbundenheit: Maler, Wirklichkeit und Bild“, so beschreibt Nolde sein
Aquarellieren in Jena, und später heißt es, ins Allgemeine gewendet:
„Ich wollte im Malen auch immer gern, daß die Farben durch mich als
Maler auf der Leinwand sich so folgerichtig auswirkten, wie die Natur
selbst ihre Gebilde schafft, wie Erz und Kristallisierungen sich bilden,
wie Moos und Algen wachsen, wie unter den Strahlen der Sonne die
Blume sich entfaltet und blühen muß. - Ich wollte auch nicht malen, was
ich wollte, nur was ich malen mußte. - Der Künstler, welcher alles kann,
was er will, der ist kein wirklicher Künstler; der ist es, der nur kann, was
er nicht lassen kann. - Das Material, die Farben, waren mir wie Freund-
schaft oder Liebe, das beides sich ausleben will, in allerschönster Form.
- Die Skala der Farben und eine leere Leinwand waren mir wie ein
Kampf gegeneinander, und nur, wenn ein Bild ganz gelungen war, waren
Leinen, Farben und ich selbst glücklich, - so schien es mir. - Leinen will
nicht beschmutzt werden, und Bilder wollen immer gut gemalt sein, nur
der Maler ist oft hinderlich ... - Je schneller mir ein Bild entstehen
konnte, um so besser war es. Oft erst mehrere Anläufe gaben mir ein Re-
sultat ... - Den Pinselstrich im Bild - die Handschrift - sah ich gern.
Ganz nahe gesehen, wollte ich an Struktur und Reiz der Farben gleiche
sinnliche Freude erleben wie in einiger Entfernung am Bild. - Farben
werden vom Maler getötet oder auch lebend gelassen, zu höherem Sein
gesteigert.. .“ 2S
Naturverbundenheit, Spontaneität des Malens, Achten auf das eigene
Leben, die eigene Natur der Farben sind in diesen Sätzen wie program-
matisch zusammengefaßt.
Auch die Ausdrucksdimension der Farbe kann sich Erlebnissen in der
Naturwirklichkeit verdanken. So heißt es aus der Alsener Zeit über in
Fallen gefangene oder vom Wiesel angefallene Hasen: „Die Not- und
Angstschreie dieser Tiere folgten dem Ohr des Malers, und friih schon
verdichteten sie sich zu Farben, in gellendes Gelb die Schreie, in dunkel-
violetten Ton das Heulen der Eulen. - Grausam ist das Naturleben der
Tiere.“ 26
Ausdruck kann aber auch Geistig-Seelisches meinen, wie es in Noldes
religiösen Bildern sich bekundet: „Das Pfingstbild war aufgezeichnet.
Fünf der Fischer-Apostel waren gemalt, in ekstatischer, übersinnlicher
Empfängnis des Heiligen Geistes ... In solchen Empfindungen malte ich
meine religiösen Bilder. Aber auch wie Hell und Dunkel, wie das Kalt

25 Nolde, Jahre der Kämpfe, 90 und 96/97.


26 Nolde, Jahre der Kämpfe, 41.
Malerei des 20. Jahrhunderts 363

und Warm der Farben den Kiinstler bewegten, bewegten ihn neben der
Darstellung der seelisch-religiösen Menschencharaktere, schwere in-
nere, religiöse Grübeleien, die so verzweifelnd sein können, fast zum Irr-
sinn führend .. .“ 27
Immer aber sind diese Ausdrucksdimensionen nur aus dem eigenen
Charakter, der eigenen „Seele“ der Farben zu entfalten: „Gelb kann
Glück malen und auch Schmerz. Es gibt Feuerrot, Blutrot und Ro-
senrot. Es gibt Silberblau, Himmelblau und Gewitterblau. Jede Farbe
birgt in sich ihre Seele, mich beglückend oder abstoßend und anregend. “
(>Worte am Rande<, 30.12.42) 28
Nicht zufällig ist es ein Aquarell, mit dem Nolde 1894 schon seinem
reifen Stil nahekommt. Nolde schreibt dazu: „Ein bescheidenes kleines
Aquarell mit schwül zwischen Wolken aufgehender Sonne hatte ich
hingemalt. Es stand lange auf meinem Schreibtisch, ich habe es wohl
tausendemal angeschaut. Es schien mir richtunggebend, weil es mich
so freute. Aber kein weiteres Bild dieser Art wollte mir wieder gelin-
gen .. ,“ 29
In derTat muß Nolde noch einen weiten Weg zurücklegen. Über Stu-
dien in toniger Gebundenheit („experimentierend hatte ich Bilder im
grauesten Grau gemalt, wo Himmel und Wasser ineinander zusammen-
gehen .. ,“ 30) kommt er zu einem frischen Impressionismus (>Friihling
im Zimmer<, 1904, Nolde-Stiftung Seebüll) und über Farbverdichtungen
wie in >Anna Wieds Garten“ von 1907 (Privatslg.) zu den farbstrahlenden
Werken der Jahre ab 1910 (z.B. >Christus und die Kinder<, 1910, New
York, Museum of Modern Art, >Das Leben Christu, 1911/12, Seebüll,
das Triptychon >Maria Ägyptiaca<, 1912, Kunsthalle Hamburg), die be-
stimmt sind durch intensivstes Gelb, Orange, Zinnoberrot gegen Griin,
Blau und Rosa gestellt, einige in Weiß gipfelnd.
Christel Denecke faßte als Quintessenz der Noldeschen Farbgestal-
tung zusammen: „Nolde faßt ... die Blumen nicht, wie Marc die Tiere,
als Persönlichkeiten mit verschiedenen Charakterzügen auf. Sondern er
sieht ihr Wesen durch eine einzige Eigenschaft bestimmt, die sich ihm
durch die natürliche Blütenfarbe mitteilt. Diese eine, durch die Blüten-
farbe gegebene Lebenskraft hat viele Möglichkeiten der Entfaltung im
Blühen. Die verschiedenen Stadien, das immer wieder neue und anders-
artige Verhältnis der Blüte zur Umgebung, gibt Nolde in seinen Bildern.

27 Nolde, Jahre der Kämpfe, 105,106.


28 Haftmann, Emil Nolde, Ungemalte Bilder, neben Farbtafel 18.
29 Nolde, Das eigene Leben, Die Zeit der Jugend, 1867-1902. Zweite, erw.
Auflage, Flensburg 1949, 141. Dort auch FA.
30 Nolde, Jahre der Kämpfe, 36.
364 Malerei des 20. Jahrhunderts

Bei den Menschen zeigt er im Grunde dasselbe, ihr Dasein in immer


neuen Situationen. Im Inkarnat ist jedoch (in der empirischen Wirklich-
keit) keine klare Farbe gegeben, die über die Grundhaltung des jewei-
ligen Menschen zum Leben eindeutig etwas aussagte, denn es ist nur ein
blasser, gemischter Farbeindruck, der bei allen Menschen sehr ähnlich
auftritt. Nolde steigert deshalb die möglichen Inkarnattöne der Natur,
die etwa eine Skala von Grünlichblaß und Rosa bis zum Sonnenbraun
bilden, in der ihm notwendig erscheinenden Richtung zu so großer Farb-
reinheit und Leuchtkraft, daß sie expressiv wirksam werden können.
Der Unterschied der schließlich entstandenen Farbe zum natürlichen
Vorbild ist im Endergebnis oft sehr groß, und deshalb wirken seine
Menschenbilder zuweilen unnatürlicher als seine Blumen. In der Auffas-
sung der Substanz der Blumen und der Menschen ist aber bei Nolde kein
grundsätzlicher Unterschied. Ein Unterschied liegt lediglich in der Inter-
pretationsart ... Bei der Blume sieht man (in ihrem Verhalten) immer
nur eine unbewußte Lebensäußerung, bei einem Menschen ... eine be-
wußte ... Tat ... Substanzeigenschaften, wie Wärme oder Reinheit,
haben deshalb, sobald wir sie benennen, bei Blumen und bei Menschen
einen verschiedenen Klang, einmal bleiben sie im Bereich des vege-
tativen Lebens, das andere Mal sind sie Charaktereigenschaften .. .“ 31
Diese Beschreibung benennt die Naturverbundenheit der Noldeschen
Farbgestaltung, die Einbindung auch des Menschen in den Zusammen-
hang des naturhaft Seienden. Noldes Aquarelltechnik mit ihrerTendenz
zu amorphen Verschleifungen steigert die Eindringlichkeit dieses Zu-
sammenhangs. In Bildern wie >Blumen und Wolken< (1938, Kunstmu-
seum Hannover mit Sammlung Sprengel) greift sie auch auf die Ölma-
lerei über.

Die Rolle der Farbe in der kubistischen Malerei 32 ist nicht zu ver-
stehen ohne die durch den Kubismus vollzogene Neudefinition des Bild-
raums.
Sie wird von den beiden Begründern des Kubismus, Pablo Picasso
(1881-1973) und Geotges Braque (1882-1963) auf verschiedenen Wegen
erreicht.

31 Christel Denecke, Die Farbe im Expressionismus, Düsseldorf o. J. (1954),


66/67. - Vgl. auch: Rike Wankmüller, Zur Farbe im Werk von Emil Nolde. In:
Das Kunstwerk, XII, 1958, Heft 5/6, 27-30.
32 Vgl. dazu auch: Michel Hoog, Le Cubisme et la couleur, in: Le Cubisme,
Paris 1973, 41—44. - Franz Mosele, Die kubistische Bildsprache von Georges
Braque, Pablo Picasso und Juan Gris unter besonderer Beriicksichtigung der
Entwicklung der Farbe. Diss. Zürich 1973. - FA etwa in: Douglas Cooper, The
Cubist Epoch, London, Los Angeles, New York 1970.
Malerei des 20. Jahrhunderts 365

Im vorkubistischen Werk Picassos 33 steht die Farbe vor allem im


Dienste des Ausdrucks. Schon einzelne Titel von unter dem Eindruck
von Degas und Toulouse-Lautrec entstandenen Bildern wie >Dame in
Blau< (Fmhjahr 1901, Madrid, Museo Nacional de Arte Moderno) oder
>Das blaue Zimmer< (Herbst 1901, Washington, The Phillips Collection)
lassen diese beherrschende Wirkung der Farbe anklingen. Die beiden
folgenden Perioden Picassos sind nach Farben zu kennzeichnen! In der
„Blauen Periode“ (1901-1904) erscheinen die Gestalten, in Gruppen wie
bei >La Vie< (Friihling-Sommer 1903, The Cleveland Museum of Art)
oder als Einzelfiguren, wie >Celestina< (Sommer 1903, Privatslg.) einge-
hiillt in triibes, graugriingebrochenes Blau, das den Darstellungen den
Ausdruck des Schwermiitigen, Kalten, ja Hoffnungslosen verleiht. Die
monochrome Farbe erfiillt den Grund (aber nicht homogen, wie bei
Matisse, sondern von drängender Unruhe bewegt), kann auch auf die
Figuren überfließen, die gleichwohl durch prägnante, bisweilen zeichne-
risch feste, in langfließenden Linien verdichtete Konturen von ihm ge-
schieden bleiben.
In der „Rosa Periode“ (Ende 1904 - Sommer 1906) hellt sich die
Palette auf, vor rosa-, bläulich- und ockerbraunen Griinden erscheinen
gleich- oder ähnlichfarbige Gestalten (>Bügelnde Frau<, Friihjahr 1904,
NewYork, S.R. Guggenheim-Museum; >Pferdeführender Junge<, Früh-
jahr 1906, New York, Museum of Modern Art) oder Figuren in anders-
farbigen Werten, etwa gebrochenen Blautönen (>Frau mitFächer<, Ende
1905, Washington, National Gallery of Art). Nicht nur in Aquarellen und
Gouachen (z.B. >Die Familie des Harlekim, Friihjahr 1905, Privatslg.)
erhält die Farbe nunTransparenz und Leichtigkeit, wobei diese Leichtig-
keit in besonderer Weise dem zentralen Thema, dem „Zirkus“, ent-
spricht.
Sie wirkt aber auch noch nach in der erneuten Reduktion der Farbig-
keit, nun auf vielfältig abgestufte Brauntöne, und ihrer Konzentration
auf nackte Frauengestalten, deren Schwere farbig verwandelnd (>Zwei
Akte<, Herbst 1906, Schweizer Privatsammlung, hier hinterlegt von
grautoniger Dunkelheit; >ZweiAkte<, Ende 1906, New York, Museum of
Modern Art).
Georges Braque 34 dagegen nimmt 1905 die fauvistische Farbkraft in
sein Werk auf, zerteilt 1906, in >LEstaque<-Landschaften, die Flächen
in Farbstriche eines expressiv-dekorativen Neoimpressionismus und

33 FA: Katalog Pablo Picasso, A Retrospective, ed. by William Rubin, The


Museum of Modern Art, New York 1980.
34 FA: Lara Vinca Masini, Georges Braque, Florenz 1969 (I Maestri del Nove-
cento).
366 Malerei des 20. Jahrhunderts

schließt diese 1907 zu Farbbahnen einer rhythmisch-konstruktiven Flä-


chengliederung zusammen (>Le Ciotat<, Galerie Beyeler, Basel).
Picassos >Demoiselles d’Avignon< von 1907 (New York, Museum of
Modern Art) stehen am Beginn eines revolutionären Neuansatzes. Sie
zeigen, daß Picassos kimstlerische Vision bestimmt ist von einer plasti-
schen Vorstellungsweise, einer Konzeption des Skulpturalen, die jedoch
entschieden abweicht von dem traditionellen, in der griechisch-römi-
schen Skulptur ideal repräsentierten Begriff von plastischer Gestaltung.
Schon um 1907 gewinnt Picasso die Form nicht mehr durch „rundmodel-
lierende“ Bearbeitung von Oberflächen einer plastischen Substanz, son-
dern primär durch Eintiefungen, Einschnitte in diese und Bloßlegung
ihres Innern, ohne das Körperhafte preiszugeben. Dieses Verfahren
sieht Picasso angewandt in der iberischen und am reinsten verwirklicht
in der afrikanischen Skulptur, die ihn so in seiner künstlerischen Form-
vorstellung bestätigt. Bei der Übertragung dieses Verfahrens auf die
Bildfläche in den >Demoiselles dAvignon< übergreift es die Einzelge-
stalten und bestimmt nun sämtliche Formen, unabhängig von ihrer
gegenständlichen Bedeutung. So erscheint nun die Bildfläche wie aufge-
splittert, zerteilt in Facetten von ungleicher Flächengröße und damit ent-
steht ein neuer, mit der herkömmlichen Vorstellung von Tiefenausdeh-
nung nicht mehr vereinbarer Bildraum.
Für Braque dagegen steht nicht eine skulpturale Konzeption im Zen-
trum seiner Gestaltung, sondern das Verhältnis von Körperraum und
Freiraum im Bild. Braque selbst äußert, daß die Darstellung des Raums
ihn immer am meisten gefesselt habe und daß überhaupt die «recherche
de Fespace» das Hauptanliegen der kubistischen Malerei, vor allem in
ihren Anfängen, gewesen sei. Seine >L’&ia^ne<-Landschaften von 1908
sind bestimmt vom Verschwinden des Himmels als traditionellem
„Grund“ von Landschaftsdarstellungen, dem Verwachsen von «Repous-
soir»-Elementen wie Bäumen, mit dem, was nun nicht mehr dahinter
- sondern darinnen - liegt, der entsprechenden Verwandlung von Wür-
felformen in Facetten und einer damit einhergehenden Mehrdeutigkeit
von Richtungslinien. Mit dieser Neuformulierung des Bildraums ver-
bindet sich eine Einschränkung der Farben, meist auf helles, getrübtes
Lehmbraun, helles Smaragdgriin, helles, bisweilen lilatoniges Grau,
1909 (>La Roche-Guyon<, Eindhoven) auch weiter eingeschränkt auf
Griin- und Gelbwerte.
Picassos >Horta de £Lra<-Landschaften von 1909 beschränken sich,
damit vergleichbar, auf Oeker, lichtes Malachitgrün und einigeTöne von
rötlichem Gelb (z. B. >Das Wasser-Reservoir<, Paris, Privatbes., >Fabrik
in Horta de Ebro<, Leningrad, Eremitage).
Im Herbst 1909 entdecken Picasso und Braque, daß sie, von verschie-
Malerei des 20. Jahrhunderts 367

denen Ausgangspunkten her, zu überraschend ähnlichen Ergebnissen


gekommen sind. Dies ist der Beginn einer engen Zusammenarbeit der
beiden Künstler, die mit der Einberufung Braques zum Militärdienst
gleich zu Anfang des Ersten Weltkriegs endet. Das innerhalb dieses Zeit-
raumes geschaffene Werk der beiden Maler, zusammen mit dem etwas
später einsetzenden Œuvre von Juan Gris bildet den Kernbestand der
kubistischen Malerei.
Die „Passage“ ist das Mittel der Verwirklichung des kubistischen Bild-
raums. Hervorgegangen aus der Kunst Cézannes, und zwar besonders
seinen Zeichnungen und Aquarellen, wo sie die Stellen bezeichnet, an
der „Form“ und „Grund“ sich berühren, und bisweilen als „Schatten“
dort mißzuverstehen, wird sie von den Kubisten zu Formmotiven um-
geprägt: Entlang einer (meistens geraden, aber auch in kurzen Bogen
gekurvten) Linie, öfter noch zwischen den Schenkeln eines die Form-
richtung angebenden Winkels verdunkelt sich die Farbe, es entsteht die
Wirkung nicht so sehr einer modellierten, also erhabenen, denn einer
sich vertiefenden, unterschnittenen, dem Blick Einlaß in ein Inneres ge-
währenden Fläche. Passagen sind also ins Flächeninnere führende Dun-
kelzonen. Bildraumkonstitution und ,,Helldunkel“erscheinung sind
auch hier unauflöslich miteinander verknüpft: die künstlerische Wir-
kung ist die einer „schimmernden“ Oberfläche, die Durchdringung und
Hinterschneidung von Flächenschichten erzeugt einen ausgesprochenen
Helldunkel-Effekt, allerdings aus den Möglichkeiten der neutralen oder
gebrochenen Farben selbst, aus kaltem und warmem Grau, Umbra und
gebrauntem Siena. (Picasso: >Frau mit Birnen<, Sommer 1909, Pri-
vatslg., noch mit Malachitgrün im „Grund“; >Mädchen mit Mandoline<,
Anfang 1910, New York, Museum of Modern Art; >Porträt Ambroise
Vollard<, Friihjahr 1910, Puschkin-Museum, Moskau; >Porträt Kahn-
weiler<, Herbst 1910, Art Institute, Chicago; >Der Akkordeonspieler<,
Sommer 1910, NewYork, Guggenheim-Museum. -Braque: >Violine und
Palette<, 1909/10, New York, Guggenheim-Museum; >Violine und Krug<,
1910, Basel, Kunstmuseum; >Mann mit Gitarre<, 1911, New York, Mu-
seum of ModernArt; >Der Portugiese<, 1911, Basel, Kunstmuseum.)
In ihrer Gesamtheit vereinen sich die Passagen-Dunkelheiten zu
einem übergreifenden Bilddunkel, ebenso wie die Helligkeiten zu einem
seidigen, schimmernden Licht, einem „Eigenlicht“ besonderer Art,
einem „innenräumlichen“ Licht (nach Klees Terminologie), das wohl
gefaßt wird durch das rigorose System der Winkelschenkel, gleichwohl
darüber hinausdringt, als „Schein“ über die Düsternis der Passagen-
Dunkelheiten. Lineare und luminaristische Mittel, nicht eigentlich kolo-
ristische, kommen hier also zur Anwendung.
„Die Erforschung des Raumes“ lockte ihn sehr, berichtet Braque.
368 Malerei des 20. Jahrhunderts

„Die Farbe spielte keine große Rolle. Von der Farbe interessierte uns nur
das Licht. Licht und Raum sind zwei Dinge, die sich eng bemhren, und
wir fiihrten sie zusammen .. .“ 3S
Aber es ist andererseits der alte Farbklang von Grau und Braun, der
sich hier wiederum zur Geltung bringt, freilich in einer eigentümlich
schwebenden Erscheinungsweise. Da der kubistische Raum die Bild-
dinge nicht mehr umgibt, sondern außerhalb und innerhalb von ihnen
existiert, werden auch Begriffe wie „Außenseite“ und „Oberfläche“ von
Formen hinfällig und damit verwandelt sich auch die „Oberflächen-
farbe“ in eine „freie Farbe“ eigener Art, in der Bildraum und Bilddinge
miteinander kommunizieren - anders als im „klassischen“ Flelldunkel,
das sich in der Regel zwischen materieschildernden und raumhaft gewei-
teten Farben entfaltet.
Bei diesen schwebenden Licht- und Dunkelwirkungen aber bleibt es
nicht. Schon 1912 beginnen sich bei Picasso (vgl. etwa >Das ModelU,
Herbst 1912, New York, Slg. Walker) deutlich plane Lichtflächen inner-
halb des Helldunkels herauszubilden. Eine Struktur fest begrenzbarer,
wenn auch nicht durchgehend begrenzter Flächenstücke wird sichtbar,
eine Struktur aus «plans superposés», wobei der Begriff «superposé»
allerdings das Phänomen nicht erschöpft, denn die Pläne überlagern sich
nicht nur, sondern durchdringen sich auch und entziehen sich so einer
rationalen Erfassung.
Zugrunde liegt hier offensichtlich wiederum ein „skulpturaler“ Be-
griff von Fläche, und so ist es kein Zufall, daß gleichzeitig Picassos
Stilleben in Holzreliefs und als Konstruktionen in Pappe und bemaltem
Blech entstehen, in denen die Dimensionen Volumen und Raum ver-
tauschbar erscheinen, Außen- und Innenraum gleichzeitig sichtbar ge-
macht werden.
In der Malerei hält sich dies System als Organisationsform über 1914
hinaus. (Vgl. Picasso: >Mann mit Pfeife<, Sommer 1915, Chicago, Art In-
stitute; >Harlekin<, Ende 1915, NewYork, Museum of Modern Art, usf.)
Als Sonderform der «plans superposés» ist das «papier collé» zu ver-
stehen. Die Materialwirkung der aufgeklebten imitierenden Papiere
und Stoffe steuert assoziative Werte bei, die Randschärfe der ausge-
schnittenen Papiere übertrifft an Präzision die gemalten Linien und stei-
gert so die Bestimmtheit der Formkomposition.
Schließlich tritt mit der dadurch gewonnenen Flächigkeit die Bunt-
farbe wieder in ihre Rechte ein. Innerhalb der Gemälde mit «plans su-

35 Georges Braque, Mein Weg, 1954. In: Braque, Vom Geheimnis in der
Kunst, Gesammelte Schriften und von Dora Vallier aufgezeichnete Erinnerungen
und Gespräche, dt. von Sonja Bütler und Jean-Claude Berger, Zürich 1958, 17.
Malerei des 20. Jahrhunderts 369

perposés» ist Picassos >Gitarre< vom Herbst 1912, mit Graurosa- und
Malachitgrün-Zonen, ein frühes Beispiel, als «papier collé» sei Picassos
>Gitarre, Notenblatt und Weinglas<, ebenfalls vom Herbst 1912 (San An-
tonio, Texas), mit seinem blauen Grund, der stellenweise auch der Be-
grenzung des Gitarrenkörpers dient, genannt.
Braques erste «Papier-collé»-Komposition >Fruchtschale und Glas<
(Privatslg.) stammt vom September 1912, die Übertragung der aufge-
klebten holzimitierenden Papierstreifen in das Gemälde >Fruchtschale
und Spielkarten< (Frühjahr 1913, Paris, Musée National d’Art Moderne)
bedingt die gemalte Musterung der entsprechenden Farbzonen, damit
auch die Materialität der Farbe betonend.
Braque berichtet: „Die Farbe kam erst später. Der Raum mußte zu-
erst geschaffen werden ... Was den Lokalton anbetrifft: friiher zeichnete
man einen Gegenstand und damit hatte er auch bereits seine Farbe,
nicht wahr? Aber jetzt merkten wir plötzlich, daß die Farbe unabhängig
von der Form wirkt.. ,“ 36
Daraus wird deutlich, daß diese „Neugeburt“ der Buntfarbe keine
Weiterführung der fauvistischen Farbigkeit darstellt. Die Farbe ist viel-
mehr nun verabsolutiert, als „Farbform“ losgelöst von gegenstandser-
läuternder Funktion, die sie bei Matisse ja durchaus noch innehat. So
vollzieht sich ein wichtiger Schritt zur „Befreiung“ der Bildfarbe. Erst
jetzt wird sie als „konstruktives“ Element verstanden - innerhalb einer
noch immer gegenstandsthematisierenden Malerei.
Picasso aber führt sodann, in den vielfältigen Verwandlungen seiner
Kunst, die Farbe erneut gegenstandsbezeichnenden und expressen Wir-
kungen zu, Braque erkundet insbesondere die in der Materialität der
Farbe liegenden Möglichkeiten: „Ich habe mich von jeher viel mit dem
Stoff beschäftigt... ; in derTechnik liegt ebensoviel Empfindsamkeit wie
im übrigen Bild ... Ich nütze alle Unterschiede des Materials aus, und so
erhält die Farbe einen viel tieferen Sinn. Ich spiele auf den Unter-
schieden, und dadurch erreiche ich große Abwechslung. Mit einem
Lack, also etwas Durchsichtigem, und Gelberde, etwas Undurchsich-
tigem, kann man genausogut wie mit der Farbe einen Zusammenhang
herstellen, das heißt eine Begegnung der Gegensätze herbeiführen ..
So wird Farbe für Braque ein wichtiges Medium der „Metamorphose“,
dem zentralen Thema seiner späten Kunst: „Gegenstände sind fiir mich
nicht vorhanden, außer wenn zwischen ihnen und zwischen mir selbst
eine Übereinstimmung besteht ,..“ 37 Diese Übereinstimmung, diese
Harmonie wird sichtbar in den Verwandlungen der Dinge ineinander.

36 Braque, Vom Geheimnis in der Kunst, 19.


37 Braque, Vom Geheimnis in der Kunst, 30, 31, 65, 66.
370 Malerei des 20. Jahrhunderts

Im Gegensatz zu Picasso und Braque hinterließ Juan Gris (1887 bis


1927), der in gewisser Hinsicht als der „Vollender des Kubismus“ zu be-
trachten ist, neben seinem kiinstlerischen Lebenswerk eine kleine An-
zahl konzentrierter kunsttheoretischer Selbstäußerungen. Daraus seien
einige für seine Konzeption charakteristischen Stellen zitiert. 38
In den >Notizen iiber meine Malereu stellt Gris 1923 fest, daß die Ar-
beitsmethode in der Malerei der Vergangenheit ,,bis auf wenige Aus-
nahmen immer induktiv gewesen ist. Man gab das wieder, was einer be-
stimmten Realität angehörte, man machte aus einem Gegenstand ein
Bild.“ Gris fährt sodann fort: „Mein Verfahren ist gerade umgekehrt. Es
ist deduktiv. Nicht das Bild X gelangt zur Übereinstimmung mit meinem
Gegenstand, sondern der Gegenstand X gelangt zur Übereinstimmung
mit meinem Bild. Ich nenne mein Verfahren deduktiv, weil die bildneri-
schen Beziehungen zwischen den farbigen Formen mir bestimmte Bezie-
hungen zwischen Elementen einer vorgestellten Wirklichkeit sugge-
rieren. Die bildnerische Mathematik führt mich zur darstellenden
Physik. Die Qualität oder die Dimension einer Form oder einer Farbe
suggerieren mir die Bezeichnung oder die Eigenschaft eines Gegen-
standes ... Man kann also sagen, daß ein vor mir gemalter Gegenstand
nur eine Modifikation schon vorher bestehender bildnerischer Bezie-
hungen ist. Ich weiß bis zur Vollendung des Bildes nicht, welcher Art
diese Modifikation ist, die ihm seine äußere Form gibt.“
In seinem 1924 in der Sorbonne gehaltenen Vortrag > Über die Möglich-
keiten der MalereU führt Gris u. a. näher aus, was er mit «technique pic-
turale», der „Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Formen und
den Farben, die sie enthalten, und (der) zwischen den farbigen Formen
untereinander“ versteht und wie deren Elemente sich zueinander ver-
halten: „Jede Form in einem Gemälde hat drei Funktionen zu erfüllen:
Sie muß entsprechen: dem Element, das sie darstellen soll, der Farbe,
die in ihr enthalten ist, und den anderen Formen, die mit ihr gemeinsam
dieTotalität des Gemäldes ausmachen. Die erste Beobachtung, die sich
bei der Betrachtung flächiger Formen aufdrängt, ist offenbar die, daß sie
zwei primäre Eigenschaften besitzen: Ausdehnung und Formcharakter.
Um es deutlicher auszudriicken: eine ausgesprochene Form, ein voll-
kommener Kreis zum Beispiel, wird stets - abgesehen von seiner Aus-
dehnung - den Charakter des Kreises behalten. Ein gleichschenkliges
Dreieck wird als solches sich immer gleichbleiben, ungeachtet seiner
Dimensionen ...
Eine Farbe hat genau ebenso zwei primäre Eigenschaften: ihre Qua-

38 Zitiert nach: Katalog Juan Gris, Kunsthalle Baden-Baden 20.7. bis


29.9.1974, 43, 44, 47, 48, 49, 51.
Malerei des 20. Jahrhunderts 371

lität und ihre Intensität, das heißt, ob sie rot, griin oder blau ist, und in
welchem Grade sie es ist. Ein Blau bleibt ein Blau, gleichwohl ob es blaß
oder tiefer ist. Man unterscheidet die Farbe und ihrenTon. Dabei läßt
sich von vornherein eine ursprüngliche Analogie einerseits zwischen
dem Charakter einer Form und der in ihr enthaltenen Farbe wie anderer-
seits zwischen ihrer Ausdehnung und ihrem Farbton beobachten.“
Die damit angesprochenen Relationen zwischen Form und Farbe er-
läutert Gris - vielleicht in Kenntnis der Kandinskyschen Aufstellungen 39
- folgendermaßen: „Die Ausdehnung kann durch einen Farbton ersetzt
werden. Eine sehr starke Abweichung in den Farbtönen ändert den Cha-
rakter der Farbe. Nur kleinere Farbtonverschiedenheiten können ohne
Aufhebung des Farbcharakters den Ausdehnungsunterschied zwischen
zwei Formen ersetzen, wenn dieser Unterschied mäßig ist.
Ich kann mich noch so sehr anstrengen, das Viereck A sehr leuchtend
als Farbton zu gestalten, es wird niemals so groß erscheinen wie das Vier-
eck B, wenn der Ausdehnungsunterschied zwischen ihnen zu groß ist.
Dagegen wird das Viereck C größer erscheinen als das Viereck D, wenn
C leuchtender ist und beide gleich große Ausdehnung besitzen.
Eine andere Analogie, die sich hier unmittelbar anreihen läßt, ist die,
daß es einerseits leuchtendere oder expansivere und andererseits düste-
rere und konzentriertere Farben gibt. So sind auch bestimmte Formen
expansiver als andere. Geradlinige Formen sind konzentrierter als
krummlinige, die wiederum expansiver sind. Man kann sich keine ex-
pansivere Form als den Kreis und keine konzentriertere als das Dreieck
denken. Diese beiden Formen würden dem leuchtendsten und dem tief-
stenTon der Palette entsprechen.“
In einer „dritten Analogie“ unterscheidet Gris wärmere und kältere
Farben und ihnen entsprechend „mehr oder weniger kalte wie mehr
oder weniger warme Formen“. „Die Formen, welche sich geometri-
schen Figuren nähern, sind kälter als diejenigen, die sich von ihnen ent-
fernen. Launenhafte und komplizierte Formen sind ohne Frage
wärmer.“
Die „vierte Analogie“ unterscheidet und verbindet Farben und
Formen nach ihrer Dichte und ihrem Gewicht: “Die Erdfarben sind im
allgemeinen dichter und schwerer als andere Farben. Es gibt auch
Formen, die eine sehr stark markierte Schwergewichtsachse haben, und
andere Formen, bei denen diese nur sehr schwach markiert ist. Die sym-
metrischen Formen haben hinsichtlich ihrer Schwergewichtsachse mehr
Gewicht als die asymmetrischen und komplizierten Formen.“
„Eine fünfte Analogie wäre der mehr oder weniger hervortretende

39 Vgl. Mosele, Die kubistische Bildsprache, 229, 230.


372 Malerei des 20. Jahrhunderts

Unterschied zwischen zwei Farben, der vielleicht dem Unterschied


zweier untereinander verschiedener Formen gleichwertig ist.“
Diese Elemente und ihre Beziehungen geben für Gris die „Basis einer
Bildarchitektur“ ab, und zwargemäß Gris’ „deduktiver Methode“: „nur
aus dieser Architektur kann das Sujet, das heißt eine Anordnung durch
diese Komposition ins Leben gerufener Wirklichkeitselemente er-
folgen.“ Auch die Farbe muß sowohl den Erfordernissen der Bildarchi-
tektur genügen wie Verweise auf Wirklichkeitsbestandteile geben.
Innerhalb einer meist aus gleichschenkligen und spitzwinkligen, weit
außerhalb des Bildfeldes zusammenlaufenden Dreiecken konstruierten
Organisationsform und eines in das „Flächeninnere“ führenden Bild-
raumes wird Farbe vornehmlich als formales, tektonisches Element ver-
standen. Dies bedingt die „besondere Konsistenz der Bildfarbe: um
,Baumaterial‘ zu werden, erhielt sie durch Gris (seit 1913) eine beson-
dere, bis zur Härte steigerungsfähige Festigkeit, sie wird selbst zu einer
,geprägten Form‘, die einmal in sein System fertig eingesetzt, sich nicht
weiter differenzieren lassen konnte“. In solcher Festigkeit ist sie unab-
hängig von allen Lichtwirkungen, die noch bei der fauvistischen und
auch der Matisseschen Farbe mitklingen. ,,Gris‘ Farbe hingegen ist fast
von Anfang an eine wahrhaft abstrakte, sie scheint sich in ihrer unbeug-
samen Haltung jeder Bindung zu widersetzen.“ 40
Aus dieser Abstraktheit heraus sucht sie den Weg zur „Lokalfarbe“,
aber so, daß sie der empirisch möglichen gegenüber ihre Freiheit wahrt,
vielmehr aus einer vom Künstler „jeweils bestimmten, grundsätzlich ein-
geschränkten Skala unmittelbar überzeugende Äquivalente für Gegen-
standsfarben“ bildet. Auch aus der stellenweisen Trennung von organi-
sierendem Liniensystem und Gegenstandsform kann die Lokalfarbe
Gewinn ziehen. Es genügt, wenn die Farbe zu einemTeil mit dem gegen-
standsbezeichnenden Träger zusammenfällt; dann „wird für das Auge
ein Anreiz geschaffen, die Ergänzung selbst zu vollziehen, und gleich-
zeitig vermag die Farbe dank ihrer partiellen Unabhängigkeit vom Ge-
genstand noch stärker in ihrem Eigenwert hervorzutreten.“ (Vgl. >Die
Geige< 1916, Kunstmuseum Basel.)
Hinsichtlich des Bildraumes kommt der Grisschen Farbe eine „regula-
tive Bedeutung“ zu, indem sie eine „lückenlose ,optische Ebene‘
schafft, in welcher alle Formen unabhängig von ihrer Lage im Raume
sich berühren können“. Vor allem aber erstellt Gris mit Hilfe der „abso-

40 Ernst Strauss, Über Juan Gris’ >Technique Picturale< (1966), In: Strauss,
Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 185-205, insbes. 197-205. -FAvon Bil-
dern Gris’ z. B. im Katalog der Juan Gris-Ausstellung Dortmund, Museum am
Ostwall 1965 und im Katalog der Gris-Ausstellung Baden-Baden 1974.
Malerei des 20. Jahrhunderts 373

luten Farbe“ eine „zweite Ordnung“, „die er der zuerst geschaffenen ma-
thematisch-linearen integriert und doch gleichzeitig zu einem eigenen,
für sich auffaßbaren System ausbildet“, wobei fiir die Beziehungen des
formalen und des farbigen Systems die von Gris selbst formulierten
Regeln, „Analogien“, Anwendung finden können.
Für die Farbigkeit als eigenem, fiir sich auffaßbarem System ist cha-
rakteristisch, daß jedes Werk seinen „unverwechselbaren Klang“ hat,
„der auf einer Konstellation weniger, aber eigenwillig gewählter und ein-
deutig vorgetragener Farben beruht“, wobei jedoch die „klassische“
Triade der Grundfarben ausgespart bleibt. Zwar meidet Gris die Grund-
farben keineswegs - so auffallend auch seine Zuriickhaltung dem reinen
Rot gegenüber bleibt -, „aber wo er sie anwendet, pflegt er sie aus
ihrer ,Normallage‘ zu versetzen, ihre Buntheit zu schärfen, gleichsam
anzuspannen. Vor allem kombiniert er sie mit anderen, ungewöhnlichen
Buntwerten, die er zum Rang von Hauptfarben erhebt; als bezeich-
nendes Beispiel hierfür können Stilleben wie die >Blaue Gitarre< oder
>Les trois cartes< (1913, Kunstmuseum Bern) dienen, wo außer den unge-
brochenen Grundfarben namentlich scharfes Griin, Violett und Salmrot
den Farbeindruck bestimmen. Hierdurch ergibt sich eine der traditio-
nellen französischen Malerei durchaus fremde farbige Harmonik.“
Schwarz und Weiß werden von Gris zu neuer Bedeutung erhoben. Er
ordnet sie den Buntfarben „als qualitativ wie quantitativ völlig gleich-
berechtigte abstrakte Werte bei und macht sie zu ,Eckpfeilern‘ seiner
Skala. Ihre Verbindung erfolgt unmittelbar durch Stufen der warmen
wie (vorzugsweise) der kalten Graureihe, mittelbar durch Stufen aus
Buntfarben.“ (Ein Beispiel: >Frau mit Mandoline nach CoroL, 1916,
Kunstmuseum Basel.) Als „dritte Komponente“ neben den Buntfarben
und Schwarz und Weiß erscheinen die „Grau- und Erdfarbenwerte“, die,
wie erwähnt, von Picasso und Braque zwischen 1910 und 1912 ent-
schieden bevorzugt wurden, nun aber „verfestigt und unter ausdrück-
licher Hervorkehrung ihres Farbgehalts“ erscheinen: „anstelle des silb-
rigen, reich nuancierten Grau des Fmhkubismus tritt das fiir Gris so
charakteristische schwere kalte Eisengrau, anstelle der lichten oder ge-
trübten Erdtöne das artikulierte Braun in seiner warmen Ausprägung
(mit Helligkeitsstufen über Ocker nach Elfenbein hin) wie in seiner
kalten (nach Oliv und Olivgelb hin). Die Grau-Braun-Kombination
bleibt dann, auch bei Hinzutreten ausgesprochener Buntwerte (vor
allem des Griin in seinen kalten Mischformen) typisch fiir die Farbhal-
tung vieler Werke auch der späteren Jahre.“ (Zum Beispiel >Der Mann
aus der Touraine<, 1918, Musée National d’Art Moderne, Paris.)
Weiß und Schwarz kommt bei Gris aber nicht nur als Farben eine we-
sentliche Rolle zu, eine Schlüsselstellung nehmen sie als Repräsen-
374 Malerei des 20. Jahrhunderts

tanten des Lichtes ein. Mitihrer Hilfe gelingt es Gris, „Licht und Dunkel
selbst zu Formen“ zu verfestigen: „das reine Weiß wird ihm zur abso-
luten Farbform des Lichts, das reine Schwarz zur Farbform des Schat-
tens, des Dunkels überhaupt. Aber erst beide Farben zusammen ver-
mögen die von Gris beabsichtigte, absolute Lichtwirkung zu erzielen:
unmittelbar aufeinander bezogen, in gemeinsamer Aktion, übertreffen
sie an Energie der Wirkung jedes spezifische Farblicht.“ (Eindringliche
Beispiele besonders aus dem Jahre 1920: >Le sac de café<, Kunstmuseum
Basel; >Guitarre, pipe et feuilles de musique<, Eindhoven, Van-Abbe-
Museum.) Mit solcher Ausprägung des Weiß-Schwarz-Paares hat Gris
für die Darstellung des Hell-Dunkel-Kontrastes eine „Farbform (um
nicht zu sagen: Farbformel)“ gefunden.
Fernand Léger 41 (1881-1955) gestaltet auch die Farbe gemäß dem
seine ganze Kunst bestimmenden Kontrastprinzip. Bei der >Dame in
Blau< (1912, Basel, Kunstmuseum) ist die Farbe zwar vom gemeinten
Gegenstand gelöst, gehört aber als Buntheit ostentativ den scharf de-
finierten, gegeneinander kontrastierten, von Geraden und Kurven be-
grenzten Flächenstücken an, die sie scheibenhaft-plan ausfiillt. Diesen
Flächenstücken sind andere, von Linienwerk unterteilte, als „dahinter“-
liegend wirkende entgegengestellt, in denen sich die Farbigkeit auf ge-
brochene und monochrome Werte beschränkt.
Im Farbigen lassen sich dreierlei Kontraste unterscheiden, solche zwi-
schen Schwarz und Weiß, wobei einem reinen Schwarz ein teils dichtes,
alabasterhaftes, teils locker-flockiges Weiß (wie bei den Wolken in den
Stadtlandschaften) entgegengestellt ist; Kontraste zwischen Bunt und
Unbunt, schließlich solche zwischen den Buntfarben selbst, vor allem
zwischen Blau und Rot. Hinzu kommen kleinere Einsprengsel von
Turkis und Gelb.
Mit der zunehmenden Vergegenständlichung in den späteren Werken
trennen sich die den abstrakten Bezirken zugeordneten Buntfarben von
den auf die zylindrischen und kegelförmigen Dingzeichen konzen-
trierten getönten Grauwerten. Schwarz und Weiß aber bilden eine Ab-
straktes und Gegenstandsbezogenes übergreifende Organisation, wobei
Weiß stellenweise als zur Abstraktion transponiertes „Glanzlicht“
wirken kann. Das Harte, Metallische, Technische der Kunst Fernand
Légers findet darin sein farbiges Äquivalent.

Die Futuristen verwenden die kubistische Formensprache im Sinne


ihrer geistig-künstlerischen Konzeption: sie verstehen die Welt als eine

41 FA: Katalog Kunstmuseum Basel, 150 Gemälde 12.-20. Jahrhundert,


Basel 1964, 239.
Malerei des 20. Jahrhunderts 375

alles umfassende und durchdringende Tätigkeit innerer Kräfte, als un-


aufhörliches Gegeneinanderwirken stärkster Energien und gleich-
starker Widerstände, als Leben in dramatischer Bewegung im Sinne
einer rapiden Versetzung von Ort zu Ort, von Zustand zu Zustand.
Dieser extremen Dynamik hat sich auch die Farbe unterzuordnen, neo-
impressionistisch zerteilt in Farbpunkte und -striche, in der Dichte
ständig wechselnd, oder in Strahlen als Kraftbündel zusammengefaßt,
immer aber der Formkomposition untertan. (Vgl. etwa Umberto Boc-
cioni, >Dynamik eines weiblichen Kopfes<, 1914, Mailand, Galleria
d’Arte Moderna; Carlo Carrà, >Der rote Reiter<, 1913, Priv.-Slg. Mai-
land 42.)
Fiir Robert Delaunay (1885-1941) hat „Bewegung“ eine andere Be-
deutung. «Mouvement des couleurs» meint keineswegs Gegensatz zur
Ruhe, sondern vielmehr eine durch simultane Farbkontraste hervorge-
rufene Bewegtheit als Äquivalent des in sich selbst ruhenden, aus sich
selbst wirkenden Lichts, nicht «mouvement» im Sinne schneller Fortbe-
wegung unter Überwindung äußerer Widerstände, sondern «mobilité»
als innere Lebendigkeit.
Robert Delaunays Artikel >La Lumière<, geschrieben im Sommer
1912 fiir die Zeitschrift >Der Sturmn, faßt seine kimstlerische Weltauffas-
sung zusammen: «LTmpressionnisme, c’est la naissance de la Lumière en
peinture. - La Lumière nous vient par la sensibilité. - Sans la sensibilité
visuelle aucune lumière, aucun mouvement. La lumière dans la Nature
crée le mouvement des couleurs. Le mouvement est donné par les rap-
ports des mesures impaires, des contrastes des couleurs entre-elles qui
constitute la Réalité. - Cette réalité est donnée de la Profondeur (nous
voyons jusqu’aux étoiles), et devient alors la Simultanéité rythmique. -
La simultanéité dans la lumière, c’est I’harmonie, le rythme des couleurs
qui crée la Vision des Hommes. - La vision humaine est donnée de la plus
grande Réalité puisqu’elle nous vient directement de la contemplation
de l’Univers. - L’oeil est notre sens le plus élevé, celui qui communique
le plus étroitement avec notre cerveau, la conscience. L’idée du mouve-
ment vital du monde et son mouvement est simultanéité. — Notre compré-
hension est corrélative à notre perception. - Cherchons à voir. - La per-
ception auditive ne suffit pas pour notre connaissance de l’Univers, elle
n’a pas de profondeur. - Son mouvement est successif, c’est une sorte de
mécanisme, sa loi est le temps des horloges mécaniques qui, comme elle,
n’a aucune relation avec notre perception du mouvement visuel dans

42 FA: Umbro Apollonio, Der Futurismus, Manifeste und Dokumente einer


künstlerischen Revolution 1909-1918, Köln 1972, Taf. 1 und 3. - Dort auch
einige Aussagen zur Farbe.
376 Malerei des 20. Jahrhunderts

I’Univers. - C’est la parité des choses de la géometrie. - Sa qualité le rap-


proche de l’Objet conçu géométriquement. - L’Objet n’est pas doué de
vie, de mouvement. - Quant il est simulacre du mouvement, il devient
successif, dynamique. - Sa plus grande limite est d’un ordre pratique.
Véhicules. - Le chemin de fer est I’image de ce successif qui se rapproche
des parallèles: la parité du Rail. - Ainsi de l’Architecture, la Sculpture. -
Le plus grand objet le laTerre est assujetti à ces mêmes lois. - II devient
simulacre de la hauteur: La Tour Eiffel - de la largeur: Les Villes - lon-
gueur: Rails. - LArt dans la Nature es rythmique et a horreur de la con-
trainte. Si l’Art s’apparente à I’Objet, il devient descriptif divisionniste,
littéraire. - II se rabaisse vers des moyens d’expression imparfaits, il se
condamme de lui-même, il est sa propre négation, il ne se dégage pas de
L’Art d’imitation. — Si de même il représente les relations visuelles d’un
objet ou des objets entre-eux sans que la lumière joue le rôle d’ordonnance
de la représentation, - il est conventionnel, il n’arrive pas à la pureté pla-
stique, c’est une infirmité, il est la négation de la vie, la sublimité de I’art
de lapeinture. - Pour que l’Art atteigne la limite de sublimité, il faut qu’il
se rapproche de notre vision harmonique: la clarté. La clarté sera cou-
leur, proportion; ces proportions sont composées de diverses mesures si-
multanées dans une action. Cette action doit être l’harmonie représenta-
tive, le mouvement synchrome (simultanéité) de la lumière, qui est la
seule réalité. - Cette action synchromique sera donc le Sujet qui est l’har-
monie représentative.“ 43
Paul Klees freie Übersetzung lautet: ,,Im Verlauf des Impressionismus
wurde in der Malerei das Licht entdeckt, das aus derTiefe der Empfin-
dung erfaßte Licht als Farben-Organismus aus komplementären
Werten, aus zum Paar sich ergänzenden Maßen, aus Kontrasten auf
mehreren Seiten zugleich. Man gelangte so über das zufällige Nahelie-
gende hinaus zu einer universalen Wirklichkeit von größter Tiefenwir-
kung (nous voyons jusqu’aux étoiles). Das Auge vermittelt nun als unser
bevorzugter Sinn zwischen dem Gehirn und der durch das Gleichzeitig-
keitsverhältnis von Teilung und Vereinigung charakterisierten Vitalität
der Welt. Dabei müssen sich Auffassungskraft und Wahrnehmung ver-
einigen. Man muß sehen wollen. - Mit dem Gehörsinn allein wären wir
zu keinem so vollkommenen und universalen Wissen vorgedrungen, und
ohne die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Gesichtssinnes wären wir bei
einer Successiv-Bewegung stehengeblieben, sozusagen beim Takt der

43 Zitiert nach: Robert Delaunay, Du Cubisme à 1’Art Abstrait, Documents


inédits publiés par Pierre Francastel et suivis d’un catalogue de l’œuvre de
R.Delaunay par Guy Habasque, Paris 1957, 146/147. - Abgedruckt auch in:
GustavVriesen, Max Imdahl, RobertDelaunay-Licht und Farbe, Köln 1967,8.
Malerei des 20. Jahrhunderts 377

Uhr. Bei der Parität des Gegenstandes wären wir verblieben, beim proji-
zierten Gegenstand ohne Tiefe. - In diesem Gegenstand lebt eine sehr
beengte Bewegung, eine simple Folge von Stärkegraden. Im besten Fall
kann man, bildlich gesprochen, zu einer Reihe aneinandergehängter
Wagen gelangen. - Architektur und Plastik miissen sich damit be-
gnügen. - Auch die gewaltigsten Gegenstände der Erde kommen iiber
diesen Mangel nicht hinweg, und wäre es auch der Eiffelturm oder der
Schienenstrang als Sinnbilder größter Höhe und Länge, wären es die
Weltstädte als Sinnbilder größter Flächenausdehnung. - Solange die
Kunst vom Gegenstand nicht loskommt, bleibt sie Beschreibung, Lite-
ratur, erniedrigt sie sich in der Verwendung mangelhafter Ausdrucks-
mittel, verdammt sie sich zur Sklaverei der Imitation. Und dies gilt auch
dann, wenn sie die Lichterscheinung eines Gegenstandes oder die Licht-
verhältnisse bei mehreren Gegenständen betont, ohne daß das Licht
sich dabei zur darstellerischen Selbständigkeit erhebt. - Die Natur ist
von einer in ihrer Vielfältigkeit nicht zu beengenden Rhythmik durch-
drungen. Die Kunst ahme ihr hierin nach, um sich zu gleicher Erhaben-
heit zu klären, sich zu Gesichten vielfachen Zusammenklangs zu er-
heben, eines Zusammenklangs von Farben, die sich teilen und in glei-
cher Aktion wieder zum Ganzen zusammenschließen.
Diese synchronische Aktion ist als eigentlicher und einziger Vorwurf
(sujet) der Malerei zu betrachten.“ 44
In den gleichzeitigen >Fensterbildern< verwirklicht Delaunay diese
seine kiinstlerische Vision erstmals in voller Reinheit. (Die folgende Be-
schreibung bezieht sich auf das in der Hamburger Kunsthalle befmdliche
Werk, andere Exemplare dieser Thematik befinden sich u. a. in der
Städtischen Galerie im Lenbachhaus, Miinchen, der Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen Diisseldorf, im Pariser Musée National dArt Mo-
derne.) Gegenständliches ist auf ein Minimum reduziert, auf die wie in
einer farbigen Luftspiegelung erscheinende Form des Eiffelturms und
zwei Fenster unter ihr. In Schrägen und Bögen gefaßte, von einer hori-
zontal-vertikalen Ordnung durchdrungene Farbwellen pflanzen sich
iiber den Bildrahmen hinweg fort. Die Wirkung eines von aller Naturhel-
ligkeit verschiedenen und diese doch einbegreifenden Lichts wird er-
reicht - nicht etwa durch vorzugsweise helle oder mit Weiß versetzte
44 In: Der Sturm, Wochenschrift fiir Kultur und Kiinste, 3, Nr. 144/145,
Januar 1913, 255-256. Zitiert nach: Robert Delaunay, Zur Malerei der reinen
Farbe, Schriften von 1912 bis 1940, hrsg. und iibersetzt von Hajo Diichting, Miin-
chen 1983, 127. Der Band enthält deutsche Übersetzungen der in: Robert
Delaunay, Du Cubisme à l’Art Abstrait, Paris 1957, enthaltenen Schriften Delau-
nays. - Klees Übersetzung abgedruckt auch in: Paul Klee, Schriften, Rezen-
sionen und Aufsätze, hrsg. von Christian Geelhaar, Köln 1976,116-117.
378 Malerei des 20. Jahrhunderts

Buntfarben - sondern durch Farbbeziehungen, welche als Totalität


gleichzeitig in die Erscheinung zu treten suchen. Die Punkte der neoim-
pressionistischen Farbzerlegung - auch bei Delaunay handelt es sich ja
noch um „Chromoluminarismus“, um „chromatische“ Farbgestaltung-
haben sich zu transparenten oder halbopaken Plänen erweitert, die sich
in verschiedenen Graden überfangen, durchdringen, überfloren - und
dies in zweifacher Weise: schon von jedem einzelnen Buntwert wird das
Auge angeregt, verschieden tief in ihn einzudringen, er erscheint
gleichsam wie von sich selbst durchleuchtet, noch die dunklen Farben
wirken lichthaltig. Zudem ermöglichen sie dem Blick, durch sie hin-
durch auf andere, tiefer liegende Farbpläne zu dringen. So schaffen sie
einen reinen, einzig aus den Wechselbeziehungen und Durchdringungen
der verschiedenen Buntqualitäten beruhenden Farbraum, eine «Profon-
deur» jenseits aller Vergleichbarkeit mit empirischen Räumen.
Im wesentlichen sind es Griin, Gelb, Orange, Blau und Purpurviolett,
die in rhythmischer Verteilung die farbige Grundstruktur bilden, wobei
aber nicht nur die großen und komplementären Intervalle die Bildwir-
kung bestimmen, sondern ebenso die kleinen, die geringen Abstufungen
einer und derselben Farbqualität auf gedrängtem Raum. Eine allseitige
Farbverflechtung und -durchdringung ist die Folge.
Dabei löst sich die intendierte „Simultaneität“ in „Wellen“ unter-
schiedlicher Länge auf. Eine schnelle Bewegung durchläuft die Folge
von gebrochenem Weiß über verschiedene, minimal differierende Gelb-
töne zum Gipfel des Orange, eine langsamere Vibration bindet dies
Orange an die komplementären Blauzonen um den Turm, und die an-
schließenden Komplementärspannungen von Grün und Purpurviolett.
Die Dunkelheit dieses Violetts wird sogleich wieder zur Dimension einer
«profondeur», in der auch «durée» anschauliche Gestalt gewinnen
kann.
So verwandelt diese «action synchronique (synchrome)» die Bild-
fläche in ein Spannungsfeld aus reinen Farbkontrasten und läßt damit
eine Art von Bildlicht entstehen, ein Licht, ,,das wie eine farbige Apo-
theose des ,weißen‘ Naturlichts“ - das noch in neoimpressionistischen
Bildern erscheint - anmutet. Dies Licht tritt auf ,,als unmittelbare Wir-
kung der Farben und ihrer Bewegtheit, nicht als deren Ursache, da es
nicht eines körperlichen Substrats bedarf, um an diesem die Farbe erst
hervorrufen zu können. Daß Goethes Bezeichnung der Farben als
,Taten und Leiden des Lichts‘ für die Malerei in einem umgekehrten
Sinne gilt, läßt sich an Werken Delaunays so anschaulich erfahren wie an
nur wenigen anderen.“ (Strauss) 45 Allerdings haben es andere Farbstile

45 Ernst Strauss, Robert Delaunay: Fenster zur Stadt (1912. Hamburg, Kunst-
Malerei des 20. Jahrhunderts 379

der abendländischen Malerei sehr wohl vermocht, auch die enthobene


Ruhe, das übergreifende Sein des Lichts durch Farben zu vergegenwär-
tigen. Hineingezogen in die Dynamik der Farben verändert sich auch
der Charakter des Lichts.
Von impressionistischen und neoimpressionistischen Anfängen findet
Delaunay den Weg zur Auseinandersetzung mit dem friihen Kubismus.
Im Rautenmuster des >Selbstporträts< von 1909 (Priv. Slg.) sind Figur
und Grund einander angeglichen, farbig bestimmt von Kontrasten ge-
dämpfter Grün- und Blaugrüntöne zu Rot und Rotviolett. In den Bil-
dern der >Saint-Séverin<-Serie (sieben Fassungen, vier aus dem Jahre
1909, zwei weitere von 1909/10 und 1910, eine andere 1915 überarbeitet)
macht sich erstmals der extrem optische Zugang Delaunays zur Wirklich-
keit bemerkbar. „Ich habe nie eine gerade Linie gesehen“, so Delaunay
im Rückblick. „Sie sehen so aus, als ob sie gerade wären, aber sie sind
nie gerade. Ich habe mich genug anschnauzen lassen, als ich jung war,
weil ich die Häuser schief malte, so wie ich sie sah.“ 46 Diese optische Er-
fahrung liegt der formalen Gestalt der >Saint-Séverin<-Bilder zugrunde.
Farbig bewegen sie sich noch im Bereich der Blau-Blaugrün-Violett-
Skala, kontrastiert gegen Gelblich-Werte. In den >Eiffelturm<-Bildern
von 1909 bis 1910/11 steigert sich die Farbigkeit. In kräftigem Rot steigt
der Turm auf. Lichtzonen dringen auf ihn ein, Licht und Farbe sind
hier noch als Kampfspiel empfunden. In derletzten Fassung der „Stadt“-
Thematik, dem >Fenster zur Stadt Nr. 4<, von 1910/11 (Solomon R.
Guggenheim Museum, New York) scheint die Bildordnung aus den Licht-
reflexen auf der Scheibe gewonnen, eine „schachbrettartige Farbgitte-
rung“, die den Eindruck einer „zartfarbenen, transparenten Schwe-
bung“ erzeugt. Damit ist die Voraussetzung für die >Fenster<-Bilder
gewonnen. Von ihnen aus führt der Weg zu neuer Gegenstandsnähe
einerseits, wie in den verschiedenen Fassungen der >Mannschaft von
Cardiff< (eine Serie, die sich von 1912/13 bis 1924 erstreckt), zu den kos-
mischen Themen der >Sonne<- und >Mond<-Bilder von 1912 und 1913
und schließlich zur gänzlich ungegenständlichen >Simultanscheibe< ande-
rerseits. „EinesTages, um das Jahr 1913“, so Delaunay, „gelangte ich an
das eigentliche Kernproblem der Malerei. Ich gelangte an die eigent-
licheTechnik der Farbe ... Damals habe ich das Experiment des Disque
simultané, der Simultanscheibe, gemacht. -Dieser primitive Disque war

halle). In: Strauss, Koloritgeschichtliche Untersuchungen, 97, 98. Zit. 98. -Vgl.
auch: Johannes Langner, Zu den Fenster-Bildern von Robert Delaunay. In: Jahr-
buch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 7,1962, 67-82.
46 Zitate aus Gustave Vriesen, Max Imdahl, Robert Delaunay - Licht und
Farbe, 26, 34, 60. - Dort auch FA.
380 Malerei des 20. Jahrhunderts

eine bemalte Leinwand, auf der die einander entgegengesetzten Farben


keine andere Bedeutung hatten als die, die sichtbar war; es waren tat-
sächlich kontrastierende, kreisförmig gesetzte Farben ... Aber was fiir
Farben? Rot- und Blautöne im Zentrum, einander gegeniibergestellt -
Rot und Blau ergeben ultrarapide Schwingungen, die dem bloßen Auge
physisch wahrnehmbar sind. Dieses Experiment nannte ich einmal den
,Faustschlag‘. Rundherum, immer in zirkulären Formen, setzte ich an-
dere Kontraste, die immer einander gegeniiberstanden, immer gleich-
zeitig in bezug auf das Ganze des Bildes, das heißt zu derTotalität der
Farben ... Das Experiment war schlagend. Keine Fruchtschalen mehr,
keine Eiffeltürme, keine Straßen, keinerlei Außenansicht; aber man
hielt mich fiir verriickt, meine Freunde sahen mich scheel an. Ich hatte
gut rufen: ,Ich hab’s gefunden! Es kreist! 1 - Sie wandten sich von mir ab
... - Das ist das kosmische, sichtbare, wahrhaft reale Gebilde!“ 47
Max Imdahl beschrieb das Bild >Kreisformen: Sonne Nr. 1 < von 1912/
1913 (Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen a.Rh.) als „System aus
Kreisgebilden, von denen das farbig intensivste in Ganzheit erscheint,
während drei weitere, farbig schwächere, jenes Ganze sowohl tangieren
als auch, indem sie nämlich von den Bildrändern überschnitten werden,
für die Vorstellung über das Bildfeld hinausreichen. Beides, die Grada-
tion der Farbintensitäten wie auch die potentielle Erstreckung der
Kreise über das Bildfeld hinaus, ist Ausdruck einer Strahlung von einem
Energiezentrum her ...“ Zwei an das mittlere Gelb herausreichende
Bögen in Schwarz und dunklem Violett sind „Elemente einer Propel-
lerform und gemeinsam mit den weiteren, das Gelb umspielenden
Schwüngen und Gegenschwüngen Ausdruckswerte rotierender Bewe-
gung. - Die gewollten Farbwirkungen des Bildes betreffen Sensationen
des Lichtes, der Simultaneität und zugleich der Unpaarigkeit... oder -
zusammengefaßt - eine organische Farbempfindungsgestalt, welche
selbst das Auge sozusagen weit öffnet und insofern als Simultanerschei-
nung erfahren werden kann, als sie die Sukzessivität des Sehens nicht be-
wußt macht... Und zwar partizipieren die in verschiedenen Intensitäten
auftretenden Farben sowohl an disharmonischen als auch an harmoni-
schen Farbkontrasten ... Das Auge kann zugleich sehen, wie ein Rot zu
einem einerseits benachbarten Grün harmonisch und komplementär,
dagegen zu einem andererseits benachbarten Blau bei größerer Erre-
gung des Auges disharmonisch und nichtkomplementär sich verhält,
wobei dieses Blau zugleich ein ganz anderswo befindliches Orange aber-
mals komplementär und harmonisch ergänzt, so daß also die angespro-

47 Vgl. dazu auch: Hans Joachim Albrecht, Farbe als Sprache, Robert De-
launay - Josef Albers - Richard Paul Lohse, Köln 1974, bes. 26-36. FA dort 97.
Malerei des 20. Jahrhunderts 381

chene Farbengruppe sowohl spannende als auch entspannende Sensa-


tionen in sich enthält.. ,“ 48
So gönnen Delaunays >Sonnen<- und Simultan-Kreisscheibenbilder
„dem Sehorgan keine Besinnung, drängen es statt dessen in die Rolle
eines Mitakteurs“ 49 - wirken damit freilich auf den Betrachter vornehm-
lich in der Dimension des Physiologischen, ergreifen ihn im Bereich op-
tischer Vitalität.
Klee übersetzt Delaunays Aufsatz über das Licht für den >Sturm< und
nimmt wichtige Elemente dieser Farbauffassung in seine Malerei auf;
doch näher steht Delaunay August Macke 50 (1887-1914).
Mackes Idee des Zusammenhanges von Kunst, Natur, Leben und
Farbe sei durch einige Selbstäußerungen des Künstlers verdeutlicht. In
einem Brief vom 27. Juli 1905 an seine künftige Frau schreibt er: „Demje-
nigen, was am rätselhaftesten ist, bringt der Mensch die größte Liebe
entgegen. Warum lieben wir die Sterne, warum das Geflüster der
Bäume. Warum das glühende Rot der Rosen, warum das Blau des Flim-
mels und den Glanz der Schneeberge ... Das Fühlen ... des Herzens,
das Ahnen von etwas Rätselhaftem, das Staunen vor der Natur, das ist
schön und des Menschen würdig .. ,“ 51 Am 7. März 1910 schreibt er an
HansThuar: „... Ich bin jetzt furchtbar am Arbeiten. Das heißt, bei mir
ist Arbeiten ein Durchfreuen der Natur, der Sonnenglut und der Bäume,
Sträucher, Menschen, Tiere, Blumen undTöpfe, Tische, Stühle, Berge,
Wasser beschienenen Werdens... “ Die Farben sind ihm hierfür das wich-
tigste Gestaltungsmittel. Schon am 14. Juli 1907 heißt es in einem Brief
an seine künftige Frau: „Meine ganze Seligkeit such ich jetzt fast nur in
reinen Farben. Vorige Woche habe ich auf einem Brett versucht, Farben
zusammenzusetzen, ohne an irgendwelche Gegenstände, wie Menschen
oder Bäume zu denken, ähnlich wie bei der Stickerei. Was die Musik so
rätselhaft schön macht, wirkt auch in der Malerei bezaubernd. Nur ge-
hörte eine unmenschliche Kraft dazu, die Farben in ein System zu
bringen wie die Noten. In den Farben gibt es geradeso Kontrapunkt,
Violon-, Baßschlüssel, moll, dur wie in der Musik. Ein unendlich feines
Gefühl kann sie ordnen, ohne all dies zu kennen ...“

48 Vriesen, Imdahl, Robert Delaunay, 82, 83.


49 Peter Anselm Riedl, Vom Orphismus zur Optical Art, Über die Aktivie-
rung des Sehens durch die Farbe. In: Die Welt der Farben, Eranos-Jahrbuch 41,
1972, hrsg. von Adolf Portmann und Rudoif Ritsema, Leiden 1974, 397-427, Zit.
412.
50 Vgl. hierzu: Delaunay und Deutschland, hrsg. von Peter-Klaus Schuster,
Köln 1985 (Ausst.-Katalog Staatsgalerie moderner Kunst, München 1985/86).
51 Zitate, wenn nicht anders vermerkt, nach: Gustav Vriesen, August Macke,
Stuttgart 1953, 30, 37, 58, 127, 128, 175-177. - Dort auch FA.
382 Malerei des 20. Jahrhunderts

Die hier angedeuteten Ansätze zu einer Farbtheorie finden eine ge-


wisse Vertiefung im Briefwechsel mit Franz Marc. fn einem nach dem
9.12.1910 zu datierenden Brief an Marc heißt es: „Ich beschäftige mich
jetzt wieder sehr viel mitTheorie, habe mir einen Farbringfabriziert. Ich
halte es fiir sehr wichtig, allen Malgesetzen auf den Grund zu gehen, be-
sonders die modernsten mit den ältesten zu verkniipfen, um naiv mit der
Kunst sich ausdriicken zu können. Schreibe mir mal was iiber folgende
Sachen, die ich sammle und in denen ich Dich bitte, auch was Neues zu
suchen und mir mitzuteilen ... : - 3 Farben Blau Gelb Rot - Auf Anfrage
spielte mir unsere Freundin Job die drei entsprechenden Klänge auf dem
Klavier, die nach ihrer Behauptung dieselbe große Rolle in der Musik
spielen: Also Blau Gelb Rot. Parallelerscheinung Traurig heiter brutal (in
Tönen, auch in Farben).
Alle Linien (bzw. Melodie) bestimmen die Folge der Farben (bzw.
Klänge). Aufsteigende, absteigende Melodien, die sich in derErfiillung
wie Schwestern in die Arme sinken. Dabei kann das absteigende schon
inTeilen im aufsteigenden enthalten sein und umgekehrt. Der durch die
Linien (Melodien) geffihrte Farbkomplex ist die Frage auf die Antwort
des Gegenkomplexes. (Signac ist doch ein sehr frei schaffender Farben-
musiker.) - Dabei spielt hell und dunkel sehr oft die Rolle der Melodie-
fiihrung, ebenso gelb und violett, orange, blau, griin und rot. -Deshalb
auch die Sehnsucht nach reinen Klängen ohne Grau und Mischmasch. -
Die Grenzen von Gelb, Rot, Blau verschmelzen zu Orange, Violett,
Grün, wobei das Hellerwerden dem Höhersteigen der Klaviertöne ent-
spricht, wobei die Masse der Oktaven des Klaviers ... der Zahl der kon-
zentrischen Kreise entspricht.. ,“ 52
Spricht hier Macke noch von „Folgen der Farbe“, von „Melodienfiih-
rung“ durch hell und dunkel, so gewinnt in anderen Aufzeichnungen
Mackes der Delaunaysche Gedanke der „Gleichzeitigkeit“ an Bedeu-
tung: „Die Lebendigkeit einer gemalten Fläche entsteht durch die Bewe-
gung, die im Beschauer erregt wird, durch den gleichzeitigen Klang von
Rot, Blau, Längen, Kurven usw. ... Das Leben auf den Moment zusam-
mendrängen, desgleichen Raum. Wir nehmen das Licht sehr schnell auf.
Die einzelnen Teile eines Bildes gehen sehr schnell in uns ein ... Das
Spezielle am Bilde ist eben das Gleichzeitige und das Nacheinander.
Jedes Nacheinander im Bild heißt soviel wie: das Auge irrt umher ..
Immer sind es Vorstellungen von „Leben“, „Leben als Ganzes“, des
„gleichzeitig Lebendigen“, aber auch von „Rhythmus“, die nun in der
Kunst ihre Verwirklichung finden sollen: „Die Kunst nimmt immer das

52 Zitiert nach: August Macke - Franz Marc, Briefwechsel. Hrsg. von Wolf-
gang Macke, Köln 1964, 25-27. - Vriesen, Macke, 83.
Malerei des 20. Jahrhunderts 383

Leben als Ganzes, umschleiert es, um es auszudriicken ... Rhythmus ist


das Leben, das aus uns hinauswächst in Formen, die wir schaffen.“ 53
Da „Rhythmus“ und „Gleichzeitigkeit“ (im strengen Sinne) jedoch
miteinander unvereinbar sind, muß der letztere Begriff modifiziert
werden. Dies geht auch aus Mackes Brief an Bernhard Köhler vom
30. März 1913 hervor. Hier heißt es: ,,Es ist mir in letzter Zeit besonders
klar geworden, daß im Bilde nicht der Raum (die Fläche) allein wirkt,
sondern daß Fläche und Zeit untrennbar sind. Das spielt beim Be-
trachten des Bildes eine große Rolle. Die Sache ist sofort klar, wenn das
Bild so groß wird und in einem langen schmalen Gang hängt. Man muß
dann langsam vorbeigehen ... Die Lebendigkeit ist eine große Span-
nung, sei es nun im Leben selber, der Sturz von Freud zu Leid, sei es das
langsame, stetig sich bewegende Aufbrechen eines Friihlingstages mit all
seiner langsam sich entfaltenden Kraft, sei es die Wut, die in einem
starken Menschen ,erwacht‘ .. ,“ 54
1913 hat August Macke zu seinem eigensten Stil gefunden. Ein Haupt-
werk dieses Jahres sei in einer Beschreibung von Gustav Vriesen verge-
genwärtigt: „Ein warmes herbstliches Nachmittagslicht läßt die Farben
der >Dame in grüner Jacke< (Köln, Museum Ludwig) aufleuchten, als
seien sie von innen her angeziindet. Fast symmetrisch, in ganz leichter
Verschiebung nach links ist die Komposition aufgebaut: je ein Figuren-
paar zur Linken und Rechten der durch den Vordergrund hindurchwan-
delnden Gestalt der Dame, - alle überfangen durch das zwischen Grün
und Gelb changierende Laub der Bäume, das Durchblicke auf das Blau
des Himmels freigibt. Niemand blickt aus dem Bild heraus. Ein scharfes,
aber sparsam verwandtes Zinnoberrot sammelt sich auf dem Hut und
über den nur angedeuteten Gesichtern und läßt das tiefe Blau des Sees
noch tiefer erscheinen. Die Farbmaterie hat die Wirkung äußerster Kost-
barkeit; in der Kleidung der rechten Dame gewinnt sie fast perlmuttene
Konsistenz. Die Farben stehen teils in scharfem, komplementärem Kon-
trast zueinander, teils sind sie, in höchster Sättigung und Reinheit, in

53 Zitiert nach: Vriesen, Macke, 175-177.


54 Vgl. auch Mackes Brief an Ernst Griesebach vom 20. März 1913: „... Das
Auge springt von einem Blau in Rot, in Grün (auch nur Formveränderung) in
eine schwarze Linie, stößt auf eine plötzlich auftauchende weiße Schärfe, folgt
ihr, verschwimmt in einem zarten hellen Fleck, aus dem sich kleine rote Flecken
lösen, die kleinen roten Flecken verändern sich in griine und auf einmal kreuzt
der Blick wieder das Blau, Rot, Griin, diesmal durch andere Formen abgelenkt,
wieder einen neuen Kreislauf beginnend. Ganze Partien erscheinen warm,
Orange, Zinnober, andere kalt, schwarz, blau, weiß, grau. In einem Mo-
ment kann man das unmöglich wahrnehmen. Die Zeit ist untrennbar von der
Fläche ...“ (Vriesen, Macke, 261).
384 Malerei des 20. Jahrhunderts

eine Umgebung verwandter, gebrochener Töne eingebettet, - mit der


Wirkung eines sich von außen her sammelnden Aufleuchtens. Kopf und
Schultern der Dame stehen in einem von Laub und den Paaren im Mit-
telgrund ausgesparten Feld, dessen zweierlei Blau - Himmel und See -
das Fernste unmittelbar mit der Hauptfigur im Vordergrund verkmipft. -
Man kann dieses Bild - es ist eines der schönsten, die Macke gemalt
hat - fast als ein Symbol der ganzen Mackeschen Kunst nehmen. Ein an
Hans Thuar gerichteter Brief vom 12.Februar 1914 zeigt aber, daß auch
bei Bildern dieses Ranges Mackes Bewußtsein vorwiegend auf der hand-
werklichen und formalen Seite des Malens lag. ,Hans‘, schreibt er, ,was
ich an Neuem in der Malerei gefunden habe, ist folgendes. Es gibt Farb-
zusammenklänge, meinethalben ein gewisses Rot und Griin, die beim
Ansehen sich bewegen, flimmern. Wenn Du nun einen Baum vor einer
Landschaft siehst, so kannst Du entweder den Baum ansehen, oder die
Landschaft, beides geht nicht wegen der Stereoskopwirkung. Wenn Du
nun etwas Räumliches malst, so ist der farbige Klang, der flimmert,
räumliche Farbwirkung, und wenn Du eine Landschaft malst, und das
griine Laub flimmert ein wenig mit dem durchscheinenden blauen
Himmel, so kommt das daher, weil das Griin auch in der Natur auf einer
anderen Ebene liegt als der Himmel. Diese raumbildenden Energien
der Farbe zu finden, statt sich mit einem toten Helldunkel zufrieden zu
geben, das ist unser schönstes Ziel.‘“ ss
Zum Stofflichkeitsgehalt der Mackeschen Farbe bemerkte Christel
Denecke am Beispiel des >Sonnigen Wegs< von 1913, daß sie „sowohl als
Licht- und Schattenfarbe wie als Stoffarbe die gleiche Intensität im Bild“
gewinnt, der Stoff jedoch ,,in verschiedener Dichte vorkommt, fest in
den Menschengestalten, nachgiebig im Baum und locker verfließend im
Laub. Dies löst sich zuweilen völlig in das durchschimmernde Licht auf
bzw. verdichtet sich aus dem hellen Gelblicht zu Blattgriin. Da es keinen
materiellen Stoff gibt, der so wandlungsfähig ist, daß er in Licht über-
gehen könnte, muß der Stoff hier etwas Unmaterielles haben. Macke
hat in seinem Bild gleichsam eine Zwischenstufe zwischen reiner Ma-
tc rie und reiner Substanz inne. Alle Farben sind mit dem Licht verwandt
... Die substanzielle Natur des Lichtes zeigt sich in seiner Reinheit und
seinem Ungetriibtsein durch Materiestruktur .. ,“ 56
So erscheinen in Mackes Bildern Farben als Farben, Farben als Licht

55 Vriesen, Macke, 132. - FA ebendort 89. Vgl. auch Max Imdahl, Die Farbe
als Licht bei August Macke. In: August Macke, Gedenkausstellung zum 70. Ge-
burtstag, Münster 1957,17-29.
56 Denecke, Die Farbe im Expressionismus, 69. -FA ebendort 115 und bei
Vriesen, Macke, 119.
Malerei des 20. Jahrhunderts 385

und Farben als immaterieller Stoff. Auch in ihrer Einung erweist sich
Macke als einer der wichtigsten Koloristen der deutschen Kunst im
20. Jahrhundert, als ein ganz aus dem Wesen der Farbe heraus schaf-
fender Kiinstler.
In seinen >Tunis<-Aquarellen 57 vom April 1914 erreicht Macke eine
letzte Synthese von eigenwertiger Farbkomposition und farbiger Natur-
wirklichkeit.

Am ausfiihrlichsten hat sich Franz Marc 58 (1880-1916) zur Farb-


theorie in seiner Antwort auf den erwähnten Brief August Mackes geäu-
ßert. Er schreibt ihm unter dem 12.12.1910: „Deine Farbscheibe ist mir
ganz bekannt;... ich mag sie nicht recht. Die Farben sind mir darauf zu
erschöpft, wie ein Plakat für Farbenhändler ... Du kennst meine Nei-
gung, mir die Dinge immer im Kopf vorzustellen und aus diesen Vorstel-
lungen heraus zu arbeiten. Ich werde Dir nun meine Theorie von Blau,
Gelb und Rot auseinandersetzen ... - Blau ist das männliche Prinzip,
herb und geistig. - Gelb das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich.
- Rot die Materie, brutal und schwer und stets die Farbe, die von den an-
deren beiden bekämpft und überwunden werden muß!
Mischst Du z.B. das ernste, geistige Blau mit Rot, dann steigerst Du
das Blau bis zur unerträglichen Trauer, und das versöhnende Gelb, die
Komplementärfarbe zu Violett, wird unerläßlich. - (Das Weib als Trö-
sterin, nicht als Liebende!) - Mischst Du Rot und Gelb zu Orange, so
gibst Du dem passiven und weiblichen Gelb eine ,megärenhafte‘, sinn-
liche Gewalt, daß das kühle, geistige Blau wiederum unerläßlich wird,
der Mann, und zwar stellt sich das Blau sofort und automatisch neben
Orange, die Farben lieben sich. Blau und Orange, ein durchaus fest-
licher Klang. - Mischst Du nun aber Blau und Gelb zu Griin, so weckst
Du Rot, die Materie, die ,Erde‘, zum Leben, aber hier fiihle ich als
Maler immer einen Unterschied: Mit Griin bringst Du das ewig mate-
rielle, brutale Rot nie ganz zur Ruhe, wie bei den vorigen Farbklängen
... Dem Griin miissen stets noch einmal Blau (der Himmel) und Gelb
(die Sonne) zu Hilfe kommen, um die Materie zum Schweigen zu
bringen. - Und dann noch etwas:... Blau und Gelb sind wiederum nicht
gleichweit von Rot entfernt. Ich werde trotz aller Spektralanalysen den
Malerglauben nicht los, daß Gelb (das Weib!) der Erde Rot näher steht
als Blau, das männliche Prinzip. Die Ubereinstimmung mit der uralten

57 Vgl.: Die Tunisreise, Klee, Macke, Moillet, hrsg. von Ernst-Gerhard


Giise, Stuttgart 1982; Die Tunisreise, Aquarelle und Zeichnungen von August
Macke. Köln 1958.
58 FA: Klaus Lankheit, FranzMarc, SeinLeben und seine Kunst, Köln 1976.
386 Malerei des 20. Jahrhunderts

physiologischen Theorie iiber das ,Weib‘ klingt hier etwas komisch, aber
sie stiitzt in meiner Phantasie die Bezeichnungen, die ich fiir mich den
Farben gebe .. ,“ 59
An diesen Ausführungen ist die „symbolisch“ definierende, keinen
Spielraum belassende Auffassung der Farben aufschlußreich - an die
sich Marc gliicklicherweise selbst nicht streng gehalten hat. Nicht als
sinnlich-optische Phänomene gelten Marc die Farben, sondern als
Träger ins Prinzipielle reichender Bedeutungen. Von Farbenlehren,
auch derjenigen Chevreuls, hält Marc nicht viel: „Meine paar abergläu-
bischen Begriffe iiber Farben dienen mir jedenfalls besser als alle diese
Theorien“, schreibt er am 14.2.1911 an Macke. 60 Marcs Begriffe zielen
letztlich auf „Entsinnlichung“ der Farbe: „Der uralte Glaube an die
Farbe wird durch die Entsinnlichung und Überwindung des Stoffes an
ekstatischer Glut und Innigkeit zunehmen wie einst der Gottesglaube
durch die Verneinung der Götzenbilder. - Die Farbe wird vom Stoff-
lichen erlöst ein immanentes Leben führen nach unserem Willen“, lautet
der vierundfünfzigste der >100 Aphorismen. Das Zweite Gesicht< von
Anfang 1915. 61
Ihre Konkretisierung aber gewinnen solche Vorstellungen innerhalb
der Marcschen Naturauffassung. Von zentraler Bedeutung hierfür ist
sein Text „Über das Tier in der Kunst“: „Meine Ziele liegen nicht in der
Linie besonderer Tiermalerei. Ich suche einen guten, reinen und lichten
Stil, in dem wenigstens einTeil dessen, was mir moderne Maler zu sagen
haben werden, restlos aufgehen kann. Und das wäre vielleicht ein
Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge, ein pantheisti-
sches Sichhineinfühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der
Natur, in den B äumen, in den Tieren, in der Luft suche das zum ,Bilde‘
zu machen, mit neuen Bewegungen und mit Farben, die unseres alten
Staffeleibildes spotten ... Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur ,Anima-
lisierung der Kunst“, wie ich es nenen möchte, als dasTierbild. Darum
greife ich danach ... Bei einem van Gogh oder einem Signac ist alles ani-
malisch geworden, die Luft, selbst der Kahn, der auf dem Wasser ruht,
und vor allem die Malerei selbst .,.“ 62 (Man vergleiche hierzu etwa
Marcs >Reh im Klostergarten< von 1912 in der Städtischen Galerie Mün-
chen oder seinen >Mandrill< von 1913 in der Staatsgalerie moderner
Kunst, München.)
Dieses künstlerische Ziel verwirklicht Marc durch Verwandlung der

59 August Macke - Franz Marc, Briefwechsel, 28, 29.


60 August Macke -Franz Marc, Briefwechsel, 47.
61 Klaus Lankheit, Franz Marc, Schriften, Köln 1978, 200, 201.
62 Marc, Schriften, 98.
Malerei des 20. Jahrhunderts 387

Farbe in eine „Substanzfarbe“, eine „Wesensfarbe“. 63 Auch er geht von


Materieschilderung im lichterfiillten Raume aus. Auf die vor 1910 ent-
standene >Fichte< (Köln, Museum Ludwig) folgen Bilder fauvistischer
Farbsteigerung wie >Akt mit Katze< von 1910 (München, Städtische Ga-
lerie). „Allmählich hören dann die Bildmittel, Farben und Formen auf,
die Materie zu beschreiben. Licht und Schatten, Oberflächenstruk-
turen, Einzelheiten organischer Linienverläufe und der Nuancen-
reichtum der natiirlichen Farberscheinung werden aufgegeben. Die Na-
turhinweise werden monumentalisiert, vereinfacht und betont.“ Die
Bildmittel meinen nicht mehr das Äußere der Dinge, sondern das Innen,
die Substanz, „unmaterielleWesenszüge“ des Gegenstandes werden ver-
gegenwärtigt, „die expressive Funktion tritt an die Stelle der beschrei-
benden“. 64 „Expression“ meint hier Enthüllung des Bildgehaltes. Die
Farben „gehören den Dingen zu, und zwar als Zeichen für das Geistige,
das Ernste, die Trauer, fiir das Sanfte oder das Fleitere, als Symbole fiir
einen nicht dem Sehen, sondern der Einfiihlung geöffneten Weltzusam-
menhang, der sich, wie Marc glaubte, allein den Tieren erschließt. So
nehmen dieTiere und die Naturdinge, in denen sie leben, die Farben an,
durch die sie sich selbst und ihr Weltgefiihl enthüllen.“ 65
Ein immer dichteres Netz von Linien, die einander durchdringen, be-
grenzt die facettenartig entmaterialisierten Farbzonen. Kubistisches
Liniensystem ist zum Mittel einer „inneren Konstruktion“ (Marc) 66 ge-
worden. (Vgl. >Im Regen<, 1912, München, Städtische Galerie; >Tier-
schicksale<, 1913, Basel, Kunstmuseum; >Rehe im Walde II<, 1914, Karls-
ruhe, Staatliche Kunsthalle.)
Im Bild >Tirol< von 1913/14 (München, Staatsgalerie moderner Kunst)
öffnet sich die Farbwelt, in Klängen von dunklem und hellem Blau und
Gelb, Rot, Violett, schwarzen Verdichtungen und weißlichen Auflocke-
rungen weiter gespannten Zusammenhängen, nun auch Farblicht in
neuer Weise thematisierend, in den >Kämpfenden Formen< von 1914
(ebenda) löst sich die Farbe von aller gegenständlichen Bindung. Zün-
gelndes, loderndes Rot, von wehenden Gelbstreifen umsäumt, bricht
aus gegen in sich versinkendes Schwarz. „Meine ausschwärmende Sehn-
sucht sah ein anderes Bild, das tiefe Bild: Die Formen schwangen sich in
tausend Wänden zurück in dieTiefe. Die Farben schlugen an dieWände,

63 Vgl. Lankheit, Franz Marc, 59.


64 Denecke, Farbe im Expressionismus, 45.
65 Imdahl, Die Farbe als Licht bei August Macke. In: August Macke, Kat.
Münster 1957, 26.
66 Franz Marc, Die konstruktiven Ideen der neueren Malerei. In: Marc,
Schriften, 108.
388 Malerei des 20. Jahrhunderts

tasteten sich an ihnen entlang und entschwanden in der allerletztenTiefe


... Unsre Seelen zogen den Farben nach in die letzteTiefe“, lautet Marcs
Aphorismus 74 .. , 67

Wassily Kandinsky 68 (1866-1944) beginnt seinen 1913 veröffentlichten


>Rückblick< mit den Sätzen: „Die ersten Farben, die einen starken Ein-
druck auf mich gemacht haben, waren hell saftig grün, weiß, karminrot,
schwarz und ockergelb. Diese Erinnerungen gehen bis ins dritte Lebens-
jahr zurück. Diese Farben habe ich an verschiedenen Gegenständen ge-
sehen, die, nicht mehr so klar wie die Farben selbst, heute vor meinen
Augen stehen .. ,“ 69 Schon diese Sätze weisen auf die zentrale Bedeu-
tung der Farben in Kandinskys Leben und Schaffen hin.
Über seine frühen, in München gemalten Landschaftsstudien schreibt
Kandinsky: „Im Studienmalen ließ ich mich gehen. Ich dachte wenig an
Häuser und Bäume, strich mit der Spachtel farbige Streifen und Flecken
auf die Leinwand und ließ sie so stark singen, wie ich nur konnte. In mir
klang die Moskauer Vorabendstunde, vor meinen Augen war die kräf-
tige, farbensatte, in den Schatten tief donnernde Skala der Münchner
Lichtatmosphäre. Nachher, besonders zu Hause, immer eine tiefe Ent-
täuschung. Meine Farben schienen mir schwach, flach, die ganze Studie
- eine erfolglose Anstrengung, die Kraft der Natur zu fangen. Wie son-
derbar war es mir, zu hören, daß ich die Farben der Natur übertreibe,
daß diese Übertreibung meine Bilder unverständlich macht und daß die
einzige Rettung für mich ,Farben brecherf zu lernen wäre ...“
In der farbigen Steigerung der Natureindriicke lassen sich Kandinskys
zwischen 1901 und 1906 gemalte Landschaftsstudien unmittelbar mit
Landschaften von Matisse aus den Jahren 1901 und 1902 vergleichen.
Unabhängig voneinander wird hier die Befreiung der Bildfarbe zu einer
vordem unbekannten Intensität des Buntwerts aus der Transposition
von Naturmotiven gewonnen. Vergleichbar zur Matisseschen Entwick-
lung ist auch eine zunehmende Auflockerung des Farbauftrags bisweilen
bis zur neoimpressionistischen Aufteilung in Farbflecke und kurze Farb-
striche. Die Gegenüberstellung der Studie >Die Isar bei Großhesselohe<
von 1901 und >Strandkorbe in Holland< von 1904 (beide München, Städ-

67 Marc, Schriften, 207.


68 FA: Will Grohmann, Wassily Kandinsky, Leben und Werk, Köln 1958; -
Rosel Gollek, Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München, Katalog der Samm-
lung in der Städtischen Galerie, München 1974; - Wassily Kandinsky 1866-1944,
Katalog Haus der Kunst München 1976/1977; - Hans Konrad Roethel, Kan-
dinsky, München-Zürich 1982.
69 Zitiert nach: Wassily Kandinsky, Rückblick, mit einer Einleitung von
Ludwig Grote, Baden-Baden 1955, 9,17,18/19, 21, 25.
Malerei des 20. Jahrhunderts 389

tische Galerie im Lenbachhaus) kann diesen Weg verdeutlichen. Den


Schritt zu einer systematischen Rezeption des Neoimpressionismus, wie
1904 Matisse, vollzieht Kandinsky jedoch nicht - im Gegenteil - die
Werke der Murnauer Periode sind bestimmt von zunehmender formaler
Verdichtung der Farben, wobei die Farbformen anfänglich noch eher der
im Naturmotiv angelegten Zufälligkeit folgen (>Friedhof und Pfarrhaus
in KocheU, 1909), dann sich straffen und nach der Horizontalen und Ver-
tikalen sich ausrichten (>Grüngasse in Murnau<, 1909). Kontraste von in-
tensivem Gelb und Orange gegen strahlendes Blau, dunklem und
hellem Griin gegen verhaltenen Purpurton sind das Medium dieser far-
bigen Verklärung der Naturwirklichkeit. Mit wachsender Ferne vom Na-
turmotiv steigert sich die Dynamik der Bildformen und des Bildraumes.
Berge und Bäume werden zu Dreiecken vereinfacht, Straßen ziehen in
schneller Perspektive in die Tiefe und werden gleichzeitig Momente der
Flächengliederung. Der Doppelklang von Orange/Gelb gegen Blau und
Purpur/Hochrot gegen dunkles Griin wird bereichert durch mildes, zart-
gebrochenes Weiß (>Naturstudie aus Murnau I<, 1909, >Naturstudie aus
Murnau III<, 1909, alle Städtische Galerie Miinchen).
Die Erfahrung und Gestaltung der Farbe als Ausdruck einer inneren
Wirklichkeit geht daneben einher. „Rembrandt hat mich tief erschiittert.
Die große Teilung des Hell-Dunkel, die Verschmelzung der Sekundär-
töne in die großenTeile, das Zusammenschmelzen dieserTöne in diese
Teile, die als ein Riesendoppelklang auf jede Entfernung wirkten und
mich sofort an die Trompeten Wagners erinnerten, offenbarte mir ganz
neue Möglichkeiten, iibermenschliche Kräfte der Farbe an sich und ganz
besonders die Steigerung der Kraft durch Zusammenstellungen, d.h.
Gegensätze. Ich sah, daß jede große Fläche an sich nichts Märchen-
haftes enthielt, daß jede dieser Flächen ihre Abstammung von der Pa-
lette sofort bloßlegte, daß aber diese Fläche durch die ihr entgegenge-
setzte andere Fläche tatsächlich eine märchenhafte Kraft gewann ...“
Bilder wie >Das bunte Leben< oder >Reitendes Paar< (beide 1907, beide
Städtische Galerie Miinchen) sind erfiillt von tiefem, griinlich oder vio-
lett getöntem Dunkel, von dem sich eine Vielzahl kleinflächiger heller
Buntwerte abhebt.
In der russischen Ausgabe der >Riickblicke< verbindet Kandinsky das
„Bunte Leben“ mit der „Komposition 2“ als Ausdruck einer „Fieber-
vision“ 70 - von hier aus geht der Weg zu Kandinskys gegenstandslosen
Bildern.
„Was soll den fehlenden Gegenstand ersetzen?“ fragt sich Kandinsky
im >Riickblick<. „Die Gefahr einer Ornamentik stand klar vor mir, die

70 Vgl. Hans Konrad Roethel, Kandinsky, 66.


390 Malerei des 20. Jahrhunderts

tote Scheinexistenz der stilistischen Formen konnte mich nur ab-


schrecken.“
Die Erfahrung der seelischen Dimension der Farben gibt die Lösung.
Kandinsky wurden, wie er schreibt, die „Empfindungen von Farben auf
der Palette (und auch in den Tuben, die seelisch machtvollen, aber be-
scheiden aussehenden Menschen gleichen, welche plötzlich im Notfalle
ihre bis dahin verborgenen Kräfte entblößen und aktiv machen) zu seeli-
schen Erlebnissen. Diese Erlebnisse wurden weiter zum Ausgangspunkt
der Ideen, die sich vor zehn bis zwölf Jahren [so Kandinsky 1913] schon
bewußt zu sammeln anfingen und die zum Buch ,Über das Geistige in
der Kunst' ffihrten. Dieses Buch hat sich mehr von selbst geschrieben,
als ich es geschrieben hätte. Ich schrieb einzelne Erlebnisse, die, wie ich
später bemerkte, in einem organischen Zusammenhang miteinander
standen. ...“
Kandinsky geht also induktiv vor, läßt eine Theorie aus einzelnen Er-
fahrungen zusammenwachsen, entwirft nicht ein System, dem sich die
Einzelerscheinungen zu beugen hätten.
Im Ende 1911 erschienenen, 1912 datierten Buch >Überdas Geistigein
der KunsU unterscheidet Kandinsky „Impressionen“ als „direkter Ein-
druck von der ,äußeren Natur 1, welcher in einer zeichnerisch-maleri-
schen Form zum Ausdruck kommt“, von „Improvisationen“ als „haupt-
sächlich unbewußte, größtenteils plötzlich entstandene Ausdrücke der
Vorgänge inneren Charakters, also Eindrücke von der ,inneren Natur“‘
und schließlich „Kompositionen“ als „auf ähnliche Art (aber ganz beson-
ders langsam) sich in mir bildende Ausdrücke, welche lange und beinahe
pedantisch nach den ersten Entwürfen von mir geprüft und ausgear-
beitet werden ... Hier spielt die Vernunft, das Bewußte, das Absicht-
liche, das Zweckmäßige eine überwiegende Rolle. Nur wird dabei nicht
der Berechnung, sondern stets dem Gefühl recht gegeben .. .“ 71
Die Farbgebung folgt dieser Einteilung. In den „Impressionen“, also
den freien Naturstudien, bleibt sie enger dem Naturvorbild verhaftet.
>lmpression III (Konzert)< von 1911 (ebenfalls Städtische Galerie Mün-
chen) läßt eine mächtige Woge Gelb gegen Schwarz anbranden und sich
nach links zu Orange und Rot verdichten. Von hier aus ist der Schritt
nicht weit zu den „Improvisationen“.
Die >Studie zu Improvisation 2 (Trauermarsch) < von 1909 ist erfülltvon
Klängen aus dunklem Blau und Grün und gedämpftem Braunrot. Die
Farbformen trennen sich noch klar vom Grunde. In der >Improvisation 6
(Afrikanisches)< aus demselben Jahr verschränken sich Farbformen und

71 Zitiert nach: Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 6. Auflage, mit
einer Einführung von Max Bill, Bern-Bümpliz 1959,142.
Malerei des 20. Jahrhunderts 391

Farbgrund enger, die Farben gewinnen an Intensität, strahlendes Weiß


tritt hinzu.Bei der >Improvisation 19< von 1911 schließlich hat sich die
Farbe des Grundes autonom erklärt. Ein in sich differenziertes, wogen-
des Blau breitet sich aus, drängt die anderen Buntwerte Rot, Gelb,
Grün, dazu Weiß an den linken Bildrand, um selbst durch einen von
oben eindringenden Klang aus ähnlichen Farben bedrängtzu werden. In
der Bewegtheit dieser farbigen Erscheinung richten sich schwarzkon-
turierte Figuren auf. Farbzonen und Figurenbegrenzung haben sich von-
einander gelöst. >Improvisation 26 (Ruder)< von 1912 (wie alle vorhin er-
wähnten in der Städtischen Galerie München), um nur diese wenigen
Beispiele zu erwähnen, zeigt den Bildgrund in einen schwebenden Farb-
raum verwandelt, einen Farbraum, der sich wie in Delaunays Werken
dieses Jahres allein aus den Raumbezügen der Farben konstituiert, je-
doch, anders als bei Delaunay, ohne durch diese Farbbewegung zugleich
Lichtwirkungen erzeugen zu wollen. Lichtkonstitution durch Bunt-
farben spielt bei Kandinsky eine sekundäre Rolle. Lichtwirkung bleibt
vielmehr dem farbig getönten Weiß vorbehalten.
Damit verbindet sich ein anderer Unterschied. Der Farbraum Kan-
dinskyscher Bilder ist nicht durch die kubistische Bildraumverwand-
lung hindurchgegangen. Die Farbe wird nicht „eingeengt“ durch ein fiir
sich entworfenes Formsystem, innerhalb dessen sie dann eine neue
„konstruktive“ Rolle spielen kann, sondern sie scheint ihre Form selbst
aus sich zu entlassen und dementsprechend auch ihren Raum selbst zu
bestimmen.
In seinem Buch >Über das Geistige in der Kunst< kommt Kandinsky
kurz auf diese Dichotomie zu sprechen. Er schreibt: „Picasso scheut vor
keinem Mittel zuriick, und wenn ihn die Farbe im Problem der rein
zeichnerischen Form stört, so wirft er sie über Bord und malt ein Bild mit
Braun und Weiß. Diese Probleme sind auch seine Hauptkraft. Matisse -
Farbe. Picasso - Form. Zwei große Weisungen auf ein großes Ziel.“ 72
Dieses Buch Kandinskys enthält die ausfiihrlichsten Untersuchungen
zum Problem der eigenwertigen Bildfarbe innerhalb der Künstler-
theorie zur Farbe, die Grundlage aller weiteren farbtheoretischen Be-
mühungen, in der Erfassung der „sinnlich-sittlichen“ Wirkungen der
Farbe vergleichbar nur mit Goethes Farbenlehre.
Kandinsky wird dabei geleitet von einer ausgeprägten synästhetischen
Erfahrung. Im Kapitel „Wirkung der Farbe“ stellt Kandinsky fest, daß
Sehen „mit allen anderen Sinnen in Zusammenhang“ steht: „Manche
Farben können unglatt, stechend aussehen, wogegen andere wieder als
etwas Glattes, Samtartiges empfunden werden, so daß man sie gern

72 Über das Geistige in der Kunst, 52.


392 Malerei des 20. Jahrhunderts

streicheln möchte. (Ultramarinblau dunkel, Chromoxydgriin, Krapp-


lack.) Selbst der Unterschied zwischen Kalt und Warm des Farbentones
beruht auf dieser Empfindung. Es gibt ebenso Farben, die weich er-
scheinen (Krapplack) oder andere, die stets als harte vorkommen (Ko-
baltgrün, grünblau Oxyd), so daß die frisch aus derTube ausgepreßte
Farbe für trocken gehalten werden kann. - Der Ausdruck ,duftende
Farbe‘ ist allgemein gebräuchlich. - Endlich ist das Flören der Farben
so präzis, daß man vielleicht keinen Menschen findet, welcher den
Eindruck von Grellgelb auf den Baßtasten des Klaviers wiederzu-
geben suchen oder Krapplack dunkel als eine Sopranstimme bezeichnen
würde ... “
Der Abschnitt schließt mit den Sätzen: „Die Farbe ist die Taste. Das
Auge ist der Flammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. - Der
Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die
menschliche Seele in Vibration bringt. - So ist es klar, daß die Farbenhar-
monie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der mensch-
lichen Seele ruhen muß. - Diese Basis soll als Prinzip der inneren Not-
wendigkeit bezeichnet werden.“ 73
Das folgende Kapitel widmet sich der „Formen- und Farbensprache“.
Hier entfaltet Kandinsky seine Farbphänomenologie. Er betrachtet
dabei die „isolierte Farbe“ 74 und unterscheidet „Wärme und Kälte“
sowie „Helligkeit oder Dunkelheit“ des farbigenTones, aus denen „vier
Hauptklänge jeder Farbe“ entstehen: „entweder ist sie I. warm und
dabei 1. hell oder 2. dunkel, oder sie ist II. kalt und 1. hell oder 2.
dunkel.“ (Es ist aufschlußreich, daß für Kandinsky die Warm-Kalt-Pola-
rität die erste Kategorie bildet, die Hell-Dunkel-Spannung an zweiter
Stelle steht.) „Die Wärme oder die Kälte der Farbe ist eine Neigung ganz
im allgemeinen zu Gelb oder zu Blau. Dies ist eine Unterscheidung, die
sozusagen auf derselben Fläche geschieht, wobei die Farbe ihren Grund-
klang behält, aber dieser Grundklang wird mehr materiell oder mehr un-
materiell. Es ist eine horizontale Bewegung, wobei das Warme sich auf
dieser horizontalen Fläche zum Zuschauer bewegt, zu ihm strebt, das
Kalte - sich vom Zuschauer entfernt...“
Mit der Polarität von Gelb und Blau, in denen sich der „erste große Ge-
gensatz“ von Warm und Kalt darstellt, setzt Kandinskys Farbenlehre ein,
mit dem Kontrast von Gelb und Blau: Kandinskys Farbtheorie baut

73 Über das Geistige in der Kunst, 62/63, 64. - Zur Farbenlehre Kandinskys
auch: Paul Overy, Kandinsky, Die Sprache des Auges, Köln 1970, 84—105. -
Sixten Ringbom, The Sounding Cosmos, A Study in the Spiritualism of Kan-
dinsky and the Genesis of Abstract Painting, Âbo 1970, 78-108.
74 Über das Geistige in der Kunst, 87-105, 109, 110.
Malerei des 20. Jahrhunderts 393

nicht auf den Komplementärkontrasten auf - auch hierin ist dieser far-
bige Kosmos eher vergleichbar dem Matisseschen als der Farbigkeit
Delaunays. Vom Blau-Gelb-Klang werden auch wichtige Bilder Kan-
dinskys aus diesem Zeitraum bestimmt, so die schon erwähnte >Impro-
visation 26<, die >Komposition IV< von 1911 (Kunstsammlung Nord-
rhein-Westfalen, Düsseldorf), die >lmprovisation Sintflut< von 1913, die
>lmprovisation Klamm< von 1914 (beide Städtische Galerie München),
um nur einige Beispiele zu nennen.
„Der zweite große Gegensatz“, fährt Kandinsky fort, „ist der Unter-
schied zwischen Weiß und Schwarz, also derFarben, die das andere Paar
der vier Hauptklänge erzeugen: die Neigung der Farbe zu Hell oder zu
Dunkel. Diese letzten beiden haben auch dieselbe Bewegung zum und
vom Zuschauer, aber nicht in dynamischer, sondern statischer - er-
starrter Form ...“
„Die zweite Bewegung von Gelb und Blau, die zum ersten großen Ge-
gensatz beiträgt, ist ihre ex- und konzentrische Bewegung. Wenn man
zwei Kreise macht von gleicher Größe und einen mit Gelb füllt und den
anderen mit Blau, so merkt man schon bei kurzer Konzentrierung auf
diese Kreise, daß das Gelb ausstrahlt, eine Bewegung aus dem Zentrum
bekommt und sich beinahe sichtbar dem Menschen nähert. Das Blau
aber eine konzentrische Bewegung entwickelt (wie eine Schnecke, die
sich in ihr Häuschen verkriecht), und vom Menschen sich entfernt. Vom
ersten Kreis wird das Auge gestochen, während es in dem zweiten ver-
sinkt.“
Werke der Bauhauszeit, wie etwa die >Komposition VIII< von 1923
(Solomon R. Guggenheim Museum, New York) zeigen exemplarisch
diese unterschiedlichen Wirkungen gelber und blauer Kreise.
Bei Erhöhung des Gelb zu helleren Tönen „klingt es, wie eine immer
lauter geblasene scharfe Trompete oder ein in die Höhe gebrachter
Fanfarenton. Gelb ist die typisch irdische Farbe ...“ Andererseits ist
,,die Neigung des Blau zur Vertiefung ... so groß, daß es gerade in
tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je
tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unend-
liche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Über-
sinnlichem ... Blau ist die typisch himmlische Farbe ... Musikalisch dar-
gestellt ist helles Blau einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello,
immer tiefer gehend den wunderbaren Klängen der Baßgeige; in tiefer,
feierlicher Form ist der Klang des Blau dem der tiefen Orgel ver-
gleichbar ..."
Aus dieser Gegenüberstellung von Gelb und Blau entwickelt Kan-
dinsky die Charaktere des Grün: „Ideales Gleichgewicht in der Mi-
schung dieser zwei in allem diametral verschiedenen Farben bildet das
394 Malerei des 20. Jahrhunderts

Grün. Die horizontalen Bewegungen vernichten sich gegenseitig. Die


Bewegungen aus und ins Zentrum vernichten sich ebenso. Es entsteht
Ruhe ... Absolutes Griin ist die ruhigste Farbe, die es gibt: sie bewegt
sich nach nirgend hin und hat keinen Beiklang der Freude, Trauer, Lei-
denschaft, sie verlangt nichts, ruft nirgend hin ...“
Anschließend behandelt Kandinsky Weiß und Schwarz: Weiß ist ,,wie
ein Symbol einer Welt, wo alle Farben, als materielle Eigenschaften und
Substanzen, verschwunden sind. Diese Welt ist so hoch über uns, daß wir
keinen Klang von dort hören können. Es kommt ein großes Schweigen
von dort, welches, materiell dargestellt, wie eine unübersteigliche, un-
zerstörbare, ins Unendliche gehende kalte Mauer uns vorkommt. Des-
wegen wirkt auch das Weiß auf unsere Psyche als ein großes Schweigen,
welches für uns absolut ist... Es ist ein Schweigen, welches nicht tot ist,
sondern voll Möglichkeiten ... Es ist ein Nichts ... welches vor dem An-
fang, vor der Geburt ist ...“ (Man vergleiche hierzu etwa: >Pastorale<,
Solomon R. Guggenheim Museum, New York, und >Lyrisches<, Mus.
Boymans van Beuningen, Rotterdam, beide von 1911.)
„Und wie ein Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach dem
Erlöschen der Sonne, wie ein ewiges Schweigen ohne Zukunftund Hoff-
nung klingt innerlich das Schwarz ... Das Schwarz ist etwas Erlosche-
nes, wie ein ausgebrannter Scheiterhaufen, etwas Unbewegliches, wie
eine Leiche ... Es ist wie das Schweigen des Körpers nach dem Tode,
dem Abschluß des Lebens. Das ist äußerlich die klangloseste Farbe, auf
welcher deswegen jede andere Farbe, auch die am schwächsten klin-
gende, stärkerund präziser klingt...“ (AlsBeispielseigenannt: >Impro-
visation SintfluU, 1913, Städtische Galerie München). Und vornehmlich
nach dieser Hinsicht, zur Steigerung des Klanges anderer Farben, ver-
wendet Kandinsky das Schwarz. In seiner „fmsteren“ Charakterisierung
des Schwarz steht Kandinsky im Gegensatz zu Matisse.
Von da aus führt der Weg zu Grau: „Das Gleichgewicht dieser beiden
Farben, welches durch mechanische Mischung entsteht, bildet Grau ...
Grau ist klanglos und unbeweglich“, im Gegensatz zum Grün von einer
„Unbeweglichkeit, die trostlos ist ... Beim Aufhellen kommt eine Art
Luft, Möglichkeit des Atmens in die Farbe, die ein gewisses Element von
versteckter Hoffnung enthält. Ein ähnliches Grau entsteht durch opti-
sche Mischung von Gmn und Rot: es entsteht aus geistiger Mischung der
selbstzufriedenen Passivität und eines starken aktiven Glühens in sich“,
des Rots.
Wie Grau in Kandinskys Bildern nur selten auftritt, so spielt es in
seiner Farbenlehre nur die Funktion eines Überganges - zu Rot; Rot
wird also nicht unmittelbar Grün entgegenstellt!
Rot ist eine „grenzenlose, charakteristisch warme, ... sehr lebendige,
Malerei des 20. Jahrhunderts 395

lebhafte, unruhige Farbe ... von beinahe zielbewußter immenser Kraft


... Es ist in diesem Brausen und Glühen, hauptsächlich in sich und sehr
wenig nach außen, eine sozusagen männliche Reife.“ „Diese Farbe zeigt
die Möglichkeit, den Grundton ziemlich zu behalten und dabei charakte-
ristisch warm oder kalt auszusehen.“ ,,Im mittleren Zustande, wie Zinn-
ober“ ist Rot „wie eine gleichmäßig glühende Leidenschaft, eine in sich
sichere Kraft ..Im kalten Rot (wie Krapplack) dagegen wächst der
„Eindruck des tieferen Glühens“, das schwindende Aktive läßt noch
eine „Ahnung, ein Erwarten eines neuen energischen Aufglühens“ zu.
(Für die Charaktere des Rot sei verwiesen auf >Schwarze Linien<, 1913,
Solomon R. Guggenheim Museum, New York.)
Als letzte Buntfarben folgen Orange und Violett: „Das warme Rot,
durch verwandtes Gelb erhöht, bildet Orange“, und dieses den „Anfang
der Bewegung des Ausstrahlens, des Zerfließens in die Umgebung.“
Orange entsteht durch das „Näherziehen des Rot zum Menschen“,
durch „das Zurückziehen des Rot durch Blau“ dagegen das Violett.
Eigenartigerweise sind Orange und Violett für Kandinsky Komplemen-
tärfarben. Offenbar sind es die Ahnlichkeiten im Farbcharakter, die sie
miteinander verbinden: diese Farben, ,,die aus einem Summieren von
Rot mit Gelb oder Blau entstehen, sind von einem wenig stabilen
Gleichgewicht ... Man bekommt das Gefühl eines Seiltänzers, welcher
aufpassen und nach beiden Seiten fortwährend balancieren muß ..-
Für Kandinsky sind diese Farben nur von sekundärer Bedeutung.
„Wie ein großer Kreis, wie eine sich in den Schwanz beißende
Schlange (das Symbol der Unendlichkeit und Ewigkeit) stehen vor uns
die sechs Farben, die in Paaren drei große Gegensätze bilden. Und
rechts und links die zwei großen Möglichkeiten des Schweigens; das des
Todes und das der Geburt.“ Das kosmische Bild, die letzten Polaritäten
schließen die Farbenordnung in sich.
Nie aber leben Kandinskys Bilder aus den Farben allein, immer
stehen sie in Zusammenhang und Widerspruch zu den zeichnerisch
fixierten Formen: „Gegensätze und Widersprüche - das ist unsere Flar-
monie. Auf dieser Harmonie fußende Komposition ist eine Zusammen-
stellung farbiger und zeichnerischer Formen, die als solche selbständig
existieren, von der inneren Notwendigkeit herausgeholt werden und im
dadurch entstandenen gemeinsamen Leben ein Ganzes bilden, welches
Bild heißt.“
Anfarbigen Zuordnungen unterscheidet Kandinsky: ,,,Erlaubte‘, ,un-
erlaubte 1 Zusammenstellungen, der Zusammenstoß der verschiedenen
Farben, das Übertönen einer durch die andere, vieler durch eine, das
Herausklingen einer aus der anderen, das Präzisieren des farbigen
Fleckes, das Auflösen ein- und vielseitiger, das Zurückhalten des
396 Malerei des 20. Jahrhunderts

fließenden Farbenfleckes durch zeichnerische Grenze, das Überspru-


deln des Fleckes über diese Grenze, das Ineinanderfließen, das scharfe
Abtrennen usw. eröffnen eine sich in unerreichbare Fernen verlierende
Reihe der reinmalerischen (= farbigen) Möglichkeiten.“
In einer Vielzahl von Abwandlungen verwirklicht Kandinsky diese un-
terschiedlichen Möglichkeiten. In der >Studie zu Komposition II< von
1910 (Solomon R. Guggenheim Museum, New York) sind die mit
dunklen Konturen begrenzten, in sich durch Farbstriche aktivierten
Farbflächen puzzleartig ineinandergesteckt, bei der >Komposition IV<
(1911, Diisseldorf) haben sich die Buntfarben innerhalb eines dominie-
renden Weißgrundes weithin auf Zonen nahe den Formrändern zurück-
gezogen, im >Bild mit weißem Rand< 75 von 1913 (Guggenheim Museum)
wie in der >Komposition VI< desselben Jahres (Eremitage, Leningrad)
schwingen weißlich durchlichtete Farbzonen im beherrschenden Blau-
Grim-Akkord zu einem wogenden Farbraum zusammen. Diese Farbver-
dichtung von 1913 wird in einigen Werken des folgenden Jahres von einer
erneuten Zweistimmigkeit von Farbe und linearer Form abgelöst. Die
>Große Studie zu einem Wandbildfür Campbell (Sommer)< (1914, Städti-
sche Galerie München) durchziehen strömende Farblinien, transpa-
rente Formteile überlagernd, die >Fuge< von 1914 (Guggenheim Mu-
seum) entfaltet komplexe, rhythmisch-„musikalische“ Bezüge zwischen
kleinteiligen Farbformen.
Mit der Entwicklung einer geometrisierenden Formensprache wäh-
rend Kandinskys Bauhaus-Zeit (1922-1932) vereinfachen und systemati-
sieren sich auch die Farbbezüge und die Relationen von Farbe und
Form. Kandinskys 1926 als Band 9 der >Bauhaus-Bücher< erschienene
Untersuchung >Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der male-
rischen Elemente< behandelt die Farben nur im Hinblick auf ihr Ver-
hältnis, ihre mögliche Analogie zu Formelementen. So sieht Kandinsky
im Raumbezug von Linien und Farben einen gemeinsamen Nenner 76:
„Die azentralen freien Geraden sind die ersten Geraden, die eine spe-
zielle Fähigkeit haben - eine Fähigkeit, die sie in eine gewisse Parallele
mit den ,bunten‘ Farben bringt, und die sie von Schwarz und Weiß unter-
scheidet. Speziell Gelb und Blau tragen in sich verschiedene Span-
nungen - die Spannungen des Vor- und Zuriicktretens. Die rein-schema-
tischen Geraden (Horizontale, Vertikale, Diagonale und besonders die
erste und zweite) entwickeln ihre Spannungen auf der Fläche und zeigen

75 Vgl. hierzu Kandinsky, Das Bild mit weißem Rand. In: Kandinsky, Rück-
blick, 41-43.
76 Zitiert nach: Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, 7. Auflage, mit einer
Einführung von Max Bill, Bern-Bümpliz 1973, 63-67, 76-80.
Malerei des 20. Jahrhunderts 397

keine Neigung, sich von der Fläche zu entfernen. An den freien Ge-
raden, und besonders an den azentralen, bemerken wir ein lockeres Ver-
hältnis zur Fläche: sie sind weniger mit der Fläche verschmolzen und
scheinen sie manchmal zu durchstechen ...“ Diese Bemerkungen Kan-
dinskys sind aufschlußreich, weil sie zeigen, daß er nicht Analogien fer-
tiger Elemente untersucht, sondern von deren Eigenschaften innerhalb
eines größeren Zusammenhanges, insbesondere des Raumbezuges, aus-
geht. „Jedenfalls“, fährt Kandinsky fort, ,,ist in den Spannungen der
azentralen freien Geraden und in den ,bunten‘ Farben eine gewisse Ver-
wandschaft vorhanden. Die natürlichen Zusammenhänge der ,zeichne-
rischen 1 und der ,malerischen‘ Elemente, die wir heute bis zu gewissen
Grenzen erkennen können, sind fiir die kiinftige Kompositionslehre von
einer unermeßlichen Wichtigkeit. Nur auf diesem Wege können plan-
mäßige, exakte Experimente in der Konstruktion gemacht werden ...
Wenn die schematischen Geraden - in der ersten Linie die Horizontale
und die Vertikale - auf ihre farbigen Eigenschaften gepriift werden, so
drängt sich logischerweise ein Vergleich mit Schwarz und Weiß auf.
Ebenso wie diese beiden Farben ... schweigende Farben sind, so sind
auch die beiden Geraden schweigende Linien. Hier und da ist der Klang
auf das Minimum reduziert: Schweigen oder eher kaum hörbares Flü-
stern und Ruhe ..
Es folgen Sätze, in denen Kandinsky indirekt sich auf Mondrian be-
zieht und auch die Situation der Malerei der sechziger Jahre vorwegzu-
nehmen scheint: „Der ,moderne‘ Mensch sucht innere Ruhe, weil er von
außen betäubt wird, und glaubt, diese Ruhe im inneren Schweigen zu
finden, woraus in unserem Falle die exklusive Neigung zur Horizontal-
vertikalen entstanden ist. Die weitere logische Konsequenz wäre die ex-
klusive Neigung zu Schwarzweiß, wozu die Malerei schon einige Male
Anlauf nahm. Aber die exklusive Verbindung der Horizontalvertikalen
mit Schwarzweiß steht noch bevor ...“ „Innere Parallelen“ bestehen
zwischen Horizontale und Schwarz, Vertikale und Weiß, Diagonale und
„Rot (oder Grau, oder Griin)“, freier Gerade und „Gelb und Blau“, in
weiterer Entwicklung zwischen rechtem Winkel, somit Quadrat, und
Rot, spitzem Winkel, also Dreieck, und Gelb, stumpfem Winkel, d.h.
Kreis, und Blau.
Kandinskys künstlerisches Vokabular aber begnügt sich keineswegs
mit diesen schematischen Zuordnungen. So ist etwa im Bild >Gelb-Rot
- Blau< von 1925 (Paris, Priv. Slg.) Gelb einem Hochrechteck, Rot einer
rechts kurvig begrenzten Form zugeordnet, nur Blau erscheint in seiner
„natürlichen“ Form, dem Kreis.
Auch die Relationen der Farbformen zu den Farbgmnden wechseln.
Vor dunklem Grunde schweben Kreise in Schwarz, Blau, Griin und
398 Malerei des 20. Jahrhunderts

hellen, gebrochenen Tönen (>Einige Kreise<, 1926, Guggenheim Mu-


seum), ein heller kiihlgelber Grund bestimmt >Herrschendes Violett<,
1934 (Galerie Maeght, Paris), leuchtendes Blau hinterlegt kleinfor-
matig-vielfarbige ,,Mikroben“-Formen (>Himmelblau<, 1940, Musée
National d’Art Moderne, Paris). Eine eigene Reihe bilden die in gebro-
chenen Tönen gehaltenen Bilder, wie >Entwicklung in Braun<, 1933
(ebenfalls im Musée National dArt Moderne), bis zu Kandinskys letz-
tem Bild, >Gemäßigter Aufschwung< von 1944 (Paris, Priv. Slg.) be-
stimmt von klarerTeilung in Farbformen und Farbgrund.

In der Erforschung der Gesetzlichkeiten und Wirkungsweisen der


bildkünstlerischen Gestaltungsmittel, vor allem der Linie, aber auch des
Helldunkels und der Farbe, ist Paul Klee 77 (1879-1940) weiter gegangen
als alle Künstler des 20. Jahrhunderts - geschweige friiherer -, allerdings
sind seine Aussagen hierzu verstreut in den Bänden seines pädagogi-
schen Nachlasses.
Klee hat sich stets Rechenschaft gegeben über die Verfahren und
Ziele seines künstlerischen Tuns und die Möglichkeiten bildnerischer
Gestaltung mit methodischer Strenge und analytischer Klarheit ausge-
messen.
Die frühesten Notizen zur Farbe beziehen sich auf frei gesetzte Farb-
flecken. Eine Eintragung (827) in Klees Tagebuch von 1908 lautet:
„l.Anlage von Farbflecken zu Komplexen, frei aus der Empfindung
heraus, als unverwischbare, wesentliche Hauptsache. 2. Dieses ,Nichts‘
gegenständlich lesen (die Marmortische im Restaurant meines Onkels),
figürlich machen und durch Licht- und Schattengestaltung verdeut-
lichen. Vorausgegangen war ein gegebener Grundton, der nun da und
dort auf der ganzen Fläche restiert. Das Bild ist fertig.“ 78 Mit den
>Schwarzaquarellen<, die Klee von 1908 bis 1910 beschäftigten, ist die
Eintragung 840 von 1908 zu verbinden: „Außer der konstruktiven Bild-
gestaltung studierte ich die Tonalitäten der Natur durch Summieren von
Lage auf Lage verdünnter schwarzer Aquarellfarbe. Jede Lage muß gut
eintrocknen. Auf diese Weise entsteht eine mathematische Hell-Dunkel-
Proportion ...“ Auf die „mathematische Hell-Dunkel-Proportion“ folgt
die Erfassung des Lichtes als Form: „Die Lichtform. Damit meine ich

77 FA: Will Grohmann, Paul Klee, Stuttgart 1954; - Christian Geelhaar, Paul
Klee und das Bauhaus, Köln 1972; - Paul Klee, Das Fmhwerk 1883-1922,
Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München 1979/80; - Paul Klee,
Das Werk der Jahre 1919-1933, Ausst.-Kat. Kunsthalle Köln 1979.
78 Paul Klee, Tagebücher 1898-1918, hrsg. und eingeleitet von Felix Klee,
Köln 1979; Zit. 237/238, 242, 254, 255, 307/308.
Malerei des 20. Jahrhunderts 399

die Umrechnung der Helldunkel-Ausdehnung nach dem Gesetz der


Breitung belichteter Flecken gegenüber mathematisch gleich großen
dunkeln Flecken ... Die Willenseinstellung dabei ist die: die Form durch
die Lichtdehnungen nicht zerfließen lassen, sondern diese Bewegungen
zuletzt wieder einfangen, konturieren und fest miteinander verfügen.“
(1910/874) Als dritter Schritt erfolgt die Umsetzung in die Farbe: „Über-
tragung des Schattenbildes, des Helldunkel-Zeitmeßverfahrens in die
Farbigkeit, so daß jeder Stufe (die Stufenzahl ist auf das letztmögliche zu
reduzieren), daß jeder Tonwertstufe je eine Farbe entspricht, also nicht
die eine Farbe durch Weiß hellen oder durch Schwarz dunkeln, sondern
immer nur eine Farbe für eine Stufe. Für die nächste Stufe die nächste
Farbe. Ocker, Englischrot, Caput mortuum, dunkel Krapp usw. - P. S.:
Rational: das Schattenbild; Irrational: das Farbbild. Vielleicht läßt sich’s
nicht zur Einstimmigkeit verschmelzen, aber wenigstens versuchen soll
man’s! ...“ (Juni 1910/879).
Von der „rationalen“ Helldunkelstufung nimmt Klee seinen Ausgang,
von ihr aus sucht er den Weg zur „irrationalen“ Farbe. Die Übertragung
erfolgt auf der Basis der „spezifischen Helligkeiten“ der Farbtöne, ihr
Buntwert wird noch nicht in Rechnung gestellt.
Auf der im April 1914 mit August Macke und Louis Moillet durchge-
führten Studienreise nach Tunesien 79 eröffnet sich Klee die Farbe als
Farbe. Am 16.4. notiert er (926o): „... Die Farbe hat mich. Ich brauche
nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiß das. Das ist
der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.“
Es ist vor allem die Lichthaftigkeit der Farbe, die Klee nun entdeckt.
Ein noch vor der Tunis-Reise zu Beginn des Jahres 1914 entstandenes
Aquarell wie >Stadt mit den drei Kuppeln< (Basel, Sammlung Im Ober-
steg) ist bestimmt von dichten Violett-, Blau-, Rotbezirken und ge-
dämpften Gelb- und Grünlichklängen. Dann aber werden die Farben
licht, transparent, die Helligkeit des Papiergrundes durchstrahlt sie (um
nur ein Beispiel zu nennen: >Hammamet (Blick in die Gärten)<, 1914,
Priv. Bes.). In nach der Reise geschaffenen Aquarellen wie >Motiv aus
HammameU, 1914 (Basel, Kunstmuseum), steigert sich, mit zuneh-
mender Abstraktion, noch das Farblicht: in einem strahlenden Gelbbe-
zirk kulminiert die Farbigkeit des Blattes. Von hier aus erschließt sich
Klee der Weg zur gegenstandslosen Farbkomposition (>Abstract, farbige

79 Vgl. dazu: Regula Suter-Raeber, Paul Klee: Der Durchbruch zur Farbe und
zum abstrakten Bild. In: Paul Klee, Das Frühwerk 1883-1922, 131-165. - Zur
Farbgebung Klees vgl. auch: Rike Wankmüller, Zur Farbe bei Paul Klee. In: Stu-
dium Generale, 13. Jg., 1960, Heft 7, 427M35; Max Huggler, La couleur chez
Paul Klee. In: Palette, No. 25, Basel 1967, 13-22.
400 Malerei des 20. Jahrhunderts

Kreise durch Farbbänder verbunden<, 1914, Aquarell, Kunstmuseum


Bern).
Aber Klee verfolgt nie nur eine künstlerische Möglichkeit. So entsteht
Ende 1914 der farbig gedämpfte, gebrochene, Rot-, Grün-, Violett- und
Dunkelbraun-Töne aus einem bräunlichen Grund entlassende >Teppich
der Erinnerung<, 1914 (Kunstmuseum Bern), in dem die dichte, künst-
lich verschmutzte Farbmaterie eine Tiefe der Zeit, des Alters, der Ver-
gangenheit - und unausschöpfbarer Zukunft (>ab ovcx, 1917, Kunst-
museum Bern) eröffnet - Assoziationselemente des Psychischen, des
Traumhaften, die Klee in den folgenden Jahren vielfältig verzweigend
und verdichtend in seine Werke einbringt.
Als Motto der Kleeschen Gestaltungslehre kann sein Satz stehen:
„Ingres soll die Ruhe geordnet haben; ich möchte über das Pathos hinaus
die Bewegung ordnen. “ Dieser Grundidee folgt auch Klees Konzept der
Farb- und Fielldunkelgestaltung. Ihr theoretischer Aspekt ist uns er-
halten in den Aufzeichnungen seiner zwischen 1920 und 1925 am Bau-
haus in Weimar und Dessau entwickelten Grund- und Formlehre. 80
Seine Gestaltungslehre stellt Klee unter einen kosmischen Horizont.
Sie setzt ein mit dem Gegensatz von Kosmos und Chaos und ordnet dem
Chaos den „Graupunkt“ zu: „Grau ist dieser Punkt, weil er weder weiß
noch schwarz ist oder weil er sowohl weiß als schwarz ist. Grau ist er, weil
er weder oben noch unten oder weil er sowohl oben als unten ist. Grau
ist er, weil er weder heiß noch kalt ist, grau ist er als undimensionaler
Punkt, als Punkt zwischen den Dimensionen.“ (I, S.3) Schon hier wird
die zentrale Bedeutung erkennbar, die dem Grau in Klees Farbenwelt
zukommt.
Sodann ist zu unterscheiden zwischen „Grau im Chaos“ und „Grau im
Kosmos“ und hier wiederum zwischen „natürlicher“ und „künstlicher
Ordnung“. Dabei kommt Klee sogleich zu prinzipiellen Unterschei-
dungen: in der natürlichen Ordnung herrscht das „naturhafte, ungeglie-
derte Crescendo oder Diminuendo“, das „natürliche Ineinander-
strömen der Helldunkel-Tonalitäten, ein Vibrato zwischen Hell und
Dunkel“. Für die „künstliche Ordnung“ gilt: „Um präziser zu werden,

80 Paul Klee, Das bildnerische Denken, Schriften zur Form- und Gestaltungs-
lehre, hrsg. und bearbeitet von Jürg Spiller, Basel-Stuttgart 1956. (Zitiert: I.) -
Paul Klee, Unendliche Naturgeschichte, Prinzipielle Ordnung der bildnerischen
Mittel, verbunden mit Naturstudium, und konstruktive Kompositionswege,
Form- und Gestaltungslehre, Bd. II, hrsg. und bearbeitet von Jürg Spiller,
Basel-Stuttgart 1970. (Zitiert: II.) - Paul Klee, Pädagogisches Skizzenbuch,
Bauhausbuch 2, Frankfurt a. M. 1925; Neue Bauhausbücher, hrsg. von Hans M.
Wingler, Mainz-Berlin 1965.
Malerei des 20. Jahrhunderts 401

muß man ärmer werden.“ Eine „analytische Gliederung zur Meßbarkeit


von Hell und Dunkel“, eine Gliederung ,,auf Grund einer Skala mit
meßbaren Mischungsverhältnissen“ ist zu schaffen. (I, 8)
Als zweite Aufgabe der „künstlichen Ordnung“ sieht Klee die Erhe-
bung des Dunkels, des Schwarz zum gleichberechtigten Partner des
Lichts, des Weiß. „In der Natur hat Weiß sicher an Urspriinglichkeit der
Aktivität den Vorrang zu beanspruchen. Das Weißgegebene ist das Licht
an sich.“ „Die Kraft des Lichtes ist in der Natur äußerst offensiv. Sie
verschont nichts und vermag da und dort durch ein Zuviel Störungen
hervorzurufen.“ Die „künstliche Ordnung“ aber hat „gegensätzlichen
Ausgleich“ zu schaffen: „Was für die Natur gelten mag, die superiore
Aktivität vom weißen Pole her, darf uns nicht zu einer einseitigen An-
schauung verleiten.“ „Wir haben unumgänglich die Aufgabe eines leben-
digen Ausgleichs zwischen beiden Polen. “ Für die „künstliche Ordnung“
gilt, daß „Weiß an sich nichts ist, sondern nur in seiner Auswirkung mit
Gegensätzen zur Kraft wird. So arbeiten wir denn nicht mit heller
Energie gegen gegebenes Dunkel, sondern auch mit schwarzer Energie
gegen gegebenes Hell.“ „Jede lebenskräftige Auseinandersetzung auf
dem helldunklen Gebiet ist in irgendeiner Weise an die beiden gegen-
sätzlichen Pole Schwarz und Weiß gebunden. Sie geben dem Spiel der
Kräfte der schwarz-weißen Stufenleiter die Spannung.“ (I, 10, 423, II,
303,304). Die künstliche Ordnung fordert mithin Bewegung und Gegen-
bewegung auf den Helldunkel-Skalen.
In seinem 1924 gehaltenen Jenaer Vortrag >Übersicht und Orien-
tierung auf dem Gebiet der bildnerischen Mittel und ihre räumliche
Ordnung<, erstmals 1945 unter demTitel >Über die moderne Kunst< ver-
öffentlicht, unterscheidet Klee Linie, Helldunkel und Farbe als „Dimen-
sionen des Bildes“: „Die Farbe ist erstens Qualität. Zweitens ist sie
Gewicht, denn sie hat nicht nur einen Farbwert, sondern auch einen
Helligkeitswert. Drittens ist sie auch noch Maß, denn sie hat außer den
vorigen Werten noch ihre Grenzen, ihren Umfang, ihre Ausdehnung, ihr
Meßbares. - Das Helldunkel ist erstens Gewicht, und in seiner Ausdeh-
nung bzw. Begrenzung ist es zweitens Maß. - Die Linie aber ist nur
Maß.“ (I, 87)
Zeigt sich schon in dieser Einteilung die Farbe als das umfassendste
Gebiet, so spricht sich in Klees Ausführungen über die >Ordnung auf
dem Gebiet der Farben< vom 28. November 1922 (I, 467-511) eine noch
höhere Auffassung der Farbwelt aus. Höchste Erscheinung ,,im Sinne
farbiger Reinheit“ ist in der Natur „das Phänomen des Regenbogens“.
Aber er läßt die Farben nur in linearer und damit endlicher Darstellung er-
scheinen. Dies ist sein Mangel. „Die reinen Farben sind eine jenseitige
Angelegenheit. Das vermittelnde atmosphärische Reich ist so gütig, sie
402 Malerei des 20. Jahrhunderts

uns zu vermitteln, aber nicht in ihrer jenseitigen Form, die unendlicher


Natur sein muß, sondern in einer Zwischenform. “ Nur im Kreis kann die
„Unendlichkeit (Endlosigkeit)“ der Spektralfarben anschauliche Ge-
stalt gewinnen. Die „Farbenkreisfläche“ läßt sich in drei Farbpaare und
drei sie verbindende Durchmesser gliedern. Die „echten Farbpaare“
sind die komplementären, die drei Durchmesser verbinden Rot mit
Grün, Gelb mit Violett, Blau mit Orange. Diese Ordnung entspricht
auch der Runges (auf den Klee zustimmend verweist und mit dem er
auch hinsichtlich der Fielldunkel-Konzeption der Farben überein-
stimmt), anders aber als Runge faßt Klee das graue Zentrum auf als ,,ab-
nehmendes Entgegenkommen von Rot und Grün“, um sich ,,als Rot-
Grün oder Grau die Waage zu halten.“ Gleiches gilt für die anderen
Farbpaare. Von der „Drehung des Diameters um den festen Graupunkt“
gelangt Klee zu den peripheralen Farbbeziehungen, auch hier als Bewe-
gung und Gegenbewegung erfaßt. Aber mit Komplementärfarben kann
sich eine farbige Komposition nicht begnügen. „Unechte Farbpaare“
kommen hinzu, etwa das Paar Griin und Orange, das nicht mehr mit
einem Durchmesser zu verbinden ist, sondern nur mit einem Segment,
und deren Mischung kein reines, sondern ein „gelbbelastetes“ Grau er-
gibt. Wie Klee in der Durchmesser-Relation die Abnahme der Komple-
mentärfarbe ins Grau, ihr Werden aus dem Grau akzentuiert, so auch in
der „peripheralen Farbbewegung“, der „Bewegung, die dem Kreisum-
fang entlang führt“, das Anwachsen und Abnehmen der Primärfarben
aus und in die Sekundärfarben. So unterscheidet er den „Rotgipfel-
punkt“ vom „warmen Rotende“ und vom „kühlen Rotende“ und weist
dem Blau wie dem Gelb und dem Rot eine Reichweite von je zwei Drit-
teln des Kreisumfangs zu. „Das letzte Drittel aber bleibt jeweils frei:
„blaufrei, gelbfrei oder rotfrei“ - d. h. orange, violett und griin. Dies ist
die „Kette“, der „Kanon der Totalität“, der drei ineinandergreifenden
Zweidrittelkreisbögen vonGelb, RotundBlau: „Jede Farbe beginnt aus
ihrem Nichts, das ist der Nachbargipfel, erst ganz leise und steigert sich
zu ihrem Gipfel, um von da an wieder langsam in ihr Nichts zu ver-
klingen, das ist der andere Nachbargipfel.“ Bewegung, Anwachsen, Ab-
nehmen bestimmt die Ordnung der Farbwelt. - Noch aber fehlen
Schwarz und Weiß.
In der Flächendarstellung bindet der „Elementarstern oderTotalitäts-
stern der farbigen Ebene“ diese Farben den Buntfarben ein. Ein regel-
mäßiges Fünfeck mit einer weißen, schwarzen, roten, gelben und blauen
„Basis“ gliedert sich in einander durchdringende, überlagernde, unre-
gelmäßige Vierecke, die die drei Eckpunkte von je zwei Seiten mit dem
Mittelpunkt der gegenüberliegenden Seite verbinden. Aus den verschie-
denen Mischungen gewinnt Klee nicht nur die Sekundärfarben, sondern
Malerei des 20. Jahrhunderts 403

auch einige durchWeiß aufgehellte, durch Schwarz verdunkelte bzw. ge-


brochene Qualitäten und mehrere Braunstufen. 81
Die vollständige Ordnung aber kann nur in der Farbenkugel darge-
stellt werden: „Die letzte Kraft bringt eine räumliche Synthese ..." mit
Weiß und Schwarz als Polen und den „drei Farbbewegungen“, der „peri-
pheralen“ längs des Spektralkreises, der „diametralen“ durch den
grauen Mittelpunkt zur Komplementärfarbe und der „polaren“ nach
Weiß oder Schwarz.
Mit der Analyse der bildnerischen Gestaltungsmittel kann sich der
Künstler nicht begnügen. Im Kunstwerk müssen sie dem „Ausdruck“,
dem „Inhalt“ dienen. Der Jenaer Vortrag, publiziert unter dem Titel
„Über die moderne Kunst“, deutet einige dieser Möglichkeiten an: ,,Ge-
wisse Maßverhältnisse der Linien, die Zusammenstellung gewisserTöne
aus der Helldunkel-Skala, gewisse farbige Zusammenklänge bringen je-
weils ganz bestimmte und ganz besondere Arten des Ausdrucks mit sich
... Gegensätzliche Fälle des Ausdruckes auf dem Gebiet des Helldun-
kels sind: weitgespannte Verwendung sämtlicherTöne von Schwarz und
Weiß, was Kraft besagt und volles Ein- und Ausatmen - oder begrenzte
Verwendung der oberen hellen Skalenhälfte oder der unteren tiefen und
dunklen Hälfte - oder der mittlerenTeile derselben um Grau herum, was
Schwäche durch zuviel oder zuwenig Licht besagt - oder zaghaftes
Dämmern um die Mitte herum. Das sind wieder große Inhaltskontraste.
Und was für Möglichkeiten der inhaltlichen Variierung bieten erst die
farbigen Zusammenstellungen! - Farbe als Helldunkel, z. B. : Rot in Rot,
das heißt die ganze Skala vom Rotmangel bis zum Rotüberfluß, weitge-
spannt oder diese Skala begrenzt. [Vgl. etwa: >Rosengarten<, 1920,
Basel, Galerie Beyeler] - Dann dasselbe in Gelb (etwas ganz anderes),
dasselbe in Blau, was für Gegensätze! - Oder: Farbe diametral, das sind
Gänge von Rot zu Grün, von Gelb zu Violett, von Blau zu Orange:
Stückwelten des Inhaltes. - Oder Farbgänge in der Richtung von Kreis-
segmenten, nicht die graue Mitte treffend, sondern in wärmeren oder
kühlerem Grau sich begegnend: Welch feine Nuancen zu den vori-
gen Kontrasten! [Vgl.: >Kristall-Stufung<, 1921, Kunstmuseum Basel] -
Oder: Farbgänge in der Richtung der Peripherie des Kreises, von Gelb
über Orange zu Rot, oder von Rot über Violett zu Bläu oder weitge-
spannt über den ganzen Umfang: Was fiir Stufungen vom kleinsten
Schritt bis zum reichblühenden farbigen Vielklang! Welche Perspektiven
nach der inhaltlichen Dimension! - Oder endlich gar Gänge durch die
Totalität der Farbordnung mit Einschluß des diametralen Grau und zu-

81 Farbige Rekonstruktion des Kleeschen „Elementarsterns“ bei Johannes


Pawlik, Theorie der Farbe, Köln 21971, Taf. 1.
404 Malerei des 20. Jahrhunderts

letzt noch verbunden mit der Skala von Schwarz nach Weiß! [Als Bei-
spiel: >Der Vollmond<, 1910, Priv. Bes.] ... Und jede Gestaltung, jede
Kombination wird ihren besonderen konstruktiven Ausdruck haben,
jede Gestalt ihr Gesicht, ihre Physiognomie ...“ (I, 90/91)
Die Kombinationen ergeben sich aus der Verbindung „reiner Hell-
dunkel-Malerei“, der „farbig belasteten Helldunkel-Malerei“, der
„farbig-komplementären“, der „bunten“ und der „totalfarbigen Ma-
lerei“ (I, 95) mit der Vielfalt der linearen Differenzierungen und den
unterschiedlichen Ausformungen innerhalb der „statischen und dyna-
mischen Teile der bildnerischen Mechanik“. (I, 92) Nur einige wenige
der vielen Gestaltungswege seien hier benannt:
Die Farbe tritt in Beziehung mit den „strukturalen Rhythmen“, deren
einfachste horizontale und vertikale Linien sind. Ihre Durchkreuzung er-
gibt das „Schachbrett“ mit seiner „Gewichtsstruktur nach zwei Dimen-
sionen“. In sie eingegliedert, ihnen kontrastiert können „individuelle
Rhythmen“ werden (vgl. I, 217, 237 ff.; II, 43 ff., 143 ff., 231 ff., 368 ff.).
Die einfache Gliederung in Horizontalstreifen ermöglicht die Bewe-
gungund Gegenbewegung (1,11; II, 309ff., 356ff.) von Helldunkel-und
Farbskalen (>Eros<, 1923, >Nordseebild<, Aquarell, 1923, Kunstmuseum
Bern) oder bei proportionaler Verschmälerung der Streifen eine ihr ent-
sprechende Verdichtung und Verdunkelung der Farbe (>Monument an
der Grenze des Fruchtlandes<, Aquarell, 1929, Priv. Slg. Luzern, >Flaupt-
und Nebenwege<, 1929, Köln, Museum Ludwig). Das „Schachbrett“ in
seinen vielfältigen Variationen, auch in „irregulärer Projektion auf eine
nicht-ebene Fläche“, ist ein von Klee sehr häufig verwendetes Gliede-
rungsmittel. 82 Es ermöglicht Farb- und Helldunkelstufungen in einfa-
chem oder komplexem Wechsel, Auftauchen der Farbe aus dem Dunkel,
Steigerungen, bei nur fragmenthafter Durchführung transparente Über-
lagerungen usf. (>Alter Klang<, 1925, Kunstmuseum Basel; >Farbtafel
(auf maiorem Grau)<, 1930, Kunstmuseum Bern; >Haus, außen und
innen<, 1930, Pasadena, Calif.) In alledem trägt auch die Farbe ihrTeil
bei zur „zeitlichen Funktion des Bildwerks“ (vgl. I, 369 ff., II, 126 ff.)
Aber auch als bloßer, in sich differenzierter Farbgrund fiir eine frei oder
doch nur an einigen Stellen mit ihm sich beriihrenden rhythmischen
Liniengestalt kann die Farbe auftreten (>Zerstörter Olymp<, 1926, Feder-
zeichnung, Priv. Slg. Luzern; >Lote zur Welle<, 1928, London, Marlbo-
rough Fine Art).
Mit dem Beginn der dreißiger Jahre ändert sich die Lichtdimension

82 Vgl. hierzu: Eva-MariaTriska, Die Quadratbilder Paul Klees -ein Beispiel


für das Verhältnis seiner Theorie zu seinem Werk. In: Paul Klee, Das Werk der
Jahre 1919-1933, 45-78.
Malerei des 20. Jahrhunderts 405

der Kleeschen Bilder. An die Stelle des fluktuierenden Wechsels von


Helligkeiten und Dunkelheiten wie noch in >Polyphon gefaßtes Weiß<
(1930, Aquarell, Kunstmuseum Bern) tritt der „Divisionismus“ von Bil-
dern wie >Das Licht und Etliches< (1931, Miinchen, Staatsgalerie mo-
derner Kunst) oder >Ad Parnassum< (1932, Bern, Kunstmuseum). Hier
erscheinen die vielfarbigen Parzellen „gleichsam in dauernd wech-
selndem Aggregatzustand“; der farbige Punkt erweist sich als das ideale
Mittel, „in seiner Summierung die Farbigkeit der Flächen zu steigern
und sie gleichzeitig durchlichtet erscheinen zu lassen, vor allem aber die
Überblendung der farbigen Komplexe und deren fortwährende Durch-
dringung zu suggerieren“ 83. Aber damit ist die Dunkelheit nicht fiir
immer aus dem Werk Klees verbannt. Bei seinen späten „Zeichenbil-
dern“ manifestiert sich vielmehr „in dem undurchdringlichen, apotro-
päischen Schwarz der Balkenzeichen das ,Unheimliche‘ des Dunkelpols
bedrohlicher als irgend sonst in Klees Werk“. 84 (Vgl. >Tod und Feuer<,
1940, Kunstmuseum Bern). In Klees letztem Tafelbild, dem >Stilleben<
(Slg. Felix Klee, Bern), schweben die farbigen Bildgegenstände, iso-
liert, sich auswägend, vor dem dichten, verschlossenen Schwarz des
Grundes.

Nur kurz sei die Farbtheorie Adolf Hölzels 85 (1853-1934) erwähnt,


eine Farbharmonielehre, die auf Chevreuls Theorie der Simultankon-
traste, vor allem aber auf Goethes Lehre der „sich fordernden“, komple-
mentären Farben, die sich zuTotalität und Harmonie ergänzen, gründet.
Wie bei Goethes Ordnung steht in Hölzels einfachstem sechsteiligen
Farbkreis „Purpur“ über (Ultramarin-)Blau und Gelb. Der Primär-Drei-
klang ist ihm „durverwandt“, der Sekundärfarbenklang weicher, “moll-
verwandt“. Durch Mischung je zweier Sekundärfarben zu gleichen
Teilen kann ein neuer Kreis entstehen, indem man diese „Tertiärfarben“
an die Stelle der Primärfarben setzt. Diese Tertiärfarben nennt Hölzel
(im Anschluß an Chevreul, der damit aber farbige Grautöne bezeichnet)

83 Strauss, Paul Klee: >Das Licht und Etliches<. In: Strauss, Koloritgeschicht-
liche Untersuchungen, 219-226. Zit. 223.
84 Strauss, Zur Helldunkellehre Klees, in: Strauss, Koloritgeschichtliche
Untersuchungen, 227-239, Zit. 237.
85 Zu Hölzels Farbenlehre vgl.: Walter Hess, Zu Hölzels Lehre. In: Der Pe-
likan, Zeitschrift der Pelikan-Werke Günther Wagner Hannover, Heft 65, April
1963, 18-34, Zit. 23/24,26,27. -Hess, Problem der Farbe, 96-105. -Katalogder
Hölzel-Gedächtnisausstellung, Stuttgart und München o.J. (1953), mit Auf-
zeichnungen aus dem Nachlaß. - Nina Gumpert Parris, Adolf Hoelzel’s struc-
tural and color theory and ist relationship to the development of the basic course
at the Bauhaus. Ph. D. diss. University of Pennsylvania, 1979.
406 Malerei des 20. Jahrhunderts

„Citrin“ (aus Orange und Grün), „Olive“ (aus Grün und Blauviolett)
und „Russet“ (aus Blauviolett und Orange).
„Aus dem sechsteiligen Elementarkreis lassen sich nun mehrteilige
Kreise entwickeln durch Einfiigung von Zwischenstufen. Der nahelie-
gendste logische Weg der Weiterentwicklung scheint zu sein, daß man zwi-
schen je zwei Farben diejenige Farbe einfiigt, die sich durch Mischung
der beiden zu gleichen Teilen ergibt. Diesen rationalen Weg beschreitet
Itten; es ergibt sich bei ihm der zwölfteilige Kreis: Rot - Rotorange -
Orange - Gelborange - Gelb - Gelbgriin - Griin - Blaugriin - Blau -
Blauviolett - Violett - Rotviolett (zur besseren Vergleichbarkeit mit
Hölzel entgegen dem Uhrzeigersinn gelesen). Hölzels zwölfteiliger Kreis
zeigt dagegen Stufen, die nicht gleichmäßig zwischen die Farben des sechs-
teiligen Kreises eingeschoben sind“; vielmehr gliedern sich bei ihm die
Strecken von Purpur bis Gelb in drei Stufen (Karmin, Hochrot, Orange),
von Gelb bis Ultramarin-Blau in vier (Gelbgrün, Grün, Blaugriin, Cyan-
Blau), von Ultramarin-Blau bis Purpur in zwei Stufen (Blauviolett und
Rotviolett), der Griinbereich erscheint bei ihm also ausgedehnter. In
Analogie zur Musik nennt Hölzel seinen achtteiligen Kreis - der gegen-
iiber dem sechsteiligen um „Hochrot“ und „Cyan-Blau“ erweitert ist -
„diatonisch“, den beschriebenen zwölfteiligen „chromatisch“.
Eine Besonderheit der Hölzelschen acht- und zwölfteiligen Kreise ist
die axiale Stellung der beiden Hauptkomplementärkontraste Purpur -
Griin in der vertikalen, Ultramarinblau - Orange in der horizontalen
Achse. Hölzel erwartet von dieser Anordnung, die sich auf Goethes Auf-
fassung von Purpur als Steigerungsfarbe bezieht, eine Festigung des
Farbaufbaus auch in der Bildkomposition.
Fiir die vielfältigen Farbkombinationen in Drei- und Kontradrei-
klänge, die die verschiedenen Farbkreise ermöglichen, sei auf die Dar-
stellung von Walter Hess verwiesen.
Hölzel unterscheidet an Kontrastkategorien: „Kontrast der Farben
an und fiir sich“, „Hell-Dunkel-Kontrast“, „Kalt-Warm-Kontrast“,
„Komplementär-Kontrast“, „Simultankontrast“, „Intensitätskontrast“,
„Quantitätskontrast“ und „Kontrast von Farbe zu Nichtfarbe“.
Johannes Itten (1888-1967) folgt auch hierin Hölzel, den „Intensitäts-
kontrast“, das Verhältnis reiner zu getrübten, gebrochenen Farben
nennt er aber, weniger zutreffend, „Qualitätskontrast“. 86
„Aus diesen Kategorien und ihren Wechselwirkungen ergibt sich eine
Fülle weiterer Gesichtspunkte für Gesetzlichkeiten von Kontrast und
Ausgleich, d. h. für das Problem der Harmonie.“ „Ich meine“, so formu-

86 Vgl. Johannes Itten, Kunst der Farbe, Subjektives Erleben und objektives
Erkennen als Wege der Kunst, Ravensburg 1961 u.ö.
Malerei des 20. Jahrhunderts 407

liert Hölzel selbst, „es müsse, wie es in der Musik einen Kontrapunkt
und eine Harmonielehre gibt, auch in der Malerei eine bestimmte Lehre
über künstlerische Kontraste jeder Art und deren notwendigen harmo-
nischen Ausgleich angestrebt werden ... Als Richtlinien für das Farben-
spiel im Bild kann dienen: in einer gewissen Ordnung über ein vielfach
Schwankendes, Vibrierendes zu einem sicheren Abschluß, zur Einheit
zu gelangen.“
Hölzels Bilder zeigen Möglichkeiten und Grenzen dieser im Har-
monie-Gedanken zentrierten Farbordnung und Farbgestaltung.
In entschiedenem Gegensatz zu den auf eine Ordnung, ja Systemati-
sierung der Farbwelt abzielenden Bemühungen steht die von Josef
Albers (1888-1976) vertretene Farbauffassung. In der Einleitung seines
erstmals 1963 erschienenen, aus seiner Lehrtätigkeit in Yale erwach-
senen Buches >Interaction ofColor< heißt es: ,,In visuellerWahrnehmung
wird eine Farbe beinahe niemals als das gesehen, was sie wirklich ist. Da-
durch wird die Farbe zum relativsten Mittel der Kunst. — Um Farbe mit
Erfolg anzuwenden, muß man erkennen, daß Farbe fortwährend täuscht
... Anstatt Gesetze und Regeln von Farbtheorien mechanisch anzu-
wenden, beginnen wir damit, einzelne, ganz bestimmte Farbeffekte zu
erzeugen, indem man z.B. zwei ganz verschiedene Farben gleich oder
nahezu gleich aussehend macht. - Solches Studium zielt darauf ab, ein
sensitives Auge für Farbe zu entwickeln - und zwar experimentell, durch
‘trial and error’ (Versuchen und Irren), d.h. so lange zu probieren,
bis der bestimmte Effekt überzeugend erscheint. - Im besonderen
heißt das: Farbe agieren sehen, wie auch Farbbezogenheiten empfin-
den. .. ,“ 87
Als Ort für die Entfaltung solcher „Farbeffekte“ verwendet Albers
seit 1949 ein Quadrat, das in vier ineinandergestellte Quadrate geglie-
dert ist, wobei das innerste zur Gänze erscheint, die restlichen als
Rahmen, und zwar seitlich um je eine, in vertikaler Richtung um jeweils
eine halbe Einheit nach unten bzw. um eineinhalb Einheiten von oben
verschoben, so daß eine nach abwärts gerichtete Tendenz entsteht, die
auch perspektivisch gelesen werden kann. In diese Quadrate und Qua-
dratrahmen stellt Albers unterschiedliche Farbtöne in den mannigfaltig-
sten Kombinationen ein, die wechselnd transparent oder opak, vor- oder
zurücktretend wirken können. 88 „Farbe in dauernder innerer Bewe-

87 Josef Albers, Interaction of Color, Grundlegung einer Didaktik des Se-


hens, Starnberg 1972 (mit FA.) und Köln 1970 (nurTextteil; Zit. hier 15.).
88 Vgl. dazu H. J. Albrecht, Farbe als Sprache, 60-113. -Eugen Gomringer,
Josef Albers, Sein Werk alsBeitrag zur visuellen Gestaltung im 20. Jahrhundert,
Starnberg 21971,139-141.
408 Malerei des 20. Jahrhunderts

gung“, „Atem und Pulsieren in der Farbe“, die „Relativität der Farbe“
ist das Thema Albers’ - aber es ist die Farbe als reines, bloß optisches
Phänomen, die damit zum alleinigen Gestaltungsziel erhoben wird.

Im Konzept des „Suprematismus“ von Kasimir Malewitsch 89 (1878 bis


1935) sind Farben und Formen Träger von Erregungszuständen. „Die
suprematistische Kunst“, formuliert Malewitsch 90 in seinem Manuskript
>Suprematismus als Gegenstandslosigkeit< von 1922, „offenbart in allem
die Erregung und den kosmischen Zusammenhang aller Erregungserschei-
nungen. Die Geburt von Körpern in der Faktur der Bewegung. Das ist der
KernihresWesens...“ „DasWeltalloderderKosmoserscheintmiralseine
unendliche Zahl von Kraftfeldern, die sich um ihre Erregungszentren
drehen. Alle sich dabei bildenden Ringe stellen aber keine abgesonderten
Systeme dar, sondern bleiben in gegenseitiger Wechselbeziehung. Auf
diese Weise stellt sich mir das Weltall als eine unaufhörliche Bewegung von
Ringen dar, die aus ihrem Mittelpunkt entstehen, sich unaufhörlich auf-
füllen und gegenseitig beeinflussen ...“ Diese Bewegung bestimmt alle
Erscheinungen der Natur und der Kultur - und damit auch die Welt der
Farben. „Jedes Material und jede Kraft hat ihre eigene Farbe, und nur die
farbige Ausstrahlung verändert ihre Intensität in den verschiedenen
Ringen. Je mehr sich diese Ausstrahlung dem Erregungszentrum nähert,
um so mehr wird sie von Schwarz oder Weiß absorbiert, wobei ich
Schwarz und Weiß als die beiden äußersten Grenzen der Bewegungszu-
stände, als höchste Kultur betrachte. - In unserer Gesellschaftsordnung
hat die Intensität der Erscheinungen noch nicht den weißen Zustand er-
reicht. Erreicht wurde dieser Zustand bisher nur in der Kunst, und zwar
im Suprematismus, im schwarzen und weißen Quadrat. Die Dynamik der
Bewegung hat hier in ihrem Erregungszentrum die äußerste Grenze er-
reicht, an der sie sich zerstäuben muß, um dann innerhalb ihres Systems
als reales neues weißes Bewußtsein von einem Ring in den anderen über-
zugehen. - Daraus ersehe ich, daß die Kultur der Bewegungen aller Er-
scheinungen von der härtesten Dichte und dem größten Gewicht über die
verschiedenen Ringe oder Zonen immer mehr an Dichte und Gewicht
verliert und einem Zustand zustrebt, den ich als den weißen Begriff des
Suprematismus bezeichne. Auch alle Farben, die zwischen Schwarz und
Weiß liegen, gehen durch die gleichen Ringe oder Zonen und geben den
Formen der Gegenstände die entsprechende Färbung ...“

89 FA: Troels Andersen, Malevich, Stedelijk Museum Amsterdam 1970. -


Dort auch Schemata zu Malewitschs Farbauffassung.
90 Zitiert nach: Kasimir Malewitsch, Suprematismus - Die gegenstandslose
Welt. Übertragen von Hans von Riesen, Köln 1962, 207, 210, 211, 216, 217.
Malerei des 20. Jahrhunderts 409

Farben 91 sind hier also durchaus nicht Gegenstand einer Ästhetik, sie
- wie auch die Formen - offenbaren vielmehr eine kosmische Dynamik.
Im Unterschied zur Naturwirklichkeit bilden im Kunstwerk (des Supre-
matismus) Form und Farbe eine untrennbare Einheit. Die geometrische
Form ist dabei unwesentlich - sie ist auch nie exakt, sondern dynamisch
verzogen, gespannt, befindet sich im Übergang von der einen zur an-
deren Form: “Das erste Grundelement ist das Quadrat. Durch Drehen
des Quadrats entsteht das zweite Grundelement, der Kreis. DurchTei-
lung des Quadrats entstehen zwei Rechtecke, aus denen sich das dritte
Grundelement, das Kreuz, formt. Aus der Verlängerung des Quadrats
bildet sich der Balken, ein typisches Gebilde des Suprematismus.“ 92
Buntfarben sind nur Übergang zwischen Schwarz und Weiß. Im Weiß
findet der Suprematismus seine Erfüllung. Der „neue Künstler“, der
„die Natur als einen Kosmos der Erregung“ sieht, sieht auch eine „weiße
Natur“ voraus, eine „weiße Natur“, die „eine Ausweitung der Grenzen
unserer Erregung“ sein wird.
Schon in seinen gegenständlichen Bildern, etwa dem >Holzfäller<
(1912, Amsterdam, Stedelijk Museum) wird Farbe, irisierend von Weiß
zu Schwarz, Schwarz zu Weiß, zu Gelb, Gelb zu Rot, zu Grün, als In-
dikator einer Energieumwandlung eher denn als Prinzip von Model-
lierung verwendet. In den „kubofuturistischen“ Bildern (>Kopf einer
Bauersfrau<, 1912, ebenfalls Amsterdam) steigert sich, mit der metalli-
schen Schärfung der Form, auch der Charakter der Farbe als Energie-
potential. Die seit 1915 zur vollen Prägnanz ausgeformten „Supremati-
stischen Kompositionen“ (wichtige Beispiele im Stedelijk Museum
Amsterdam) zeigen dann die ganze Eigenart Malewitschscher Farb-
gebung: schwebend vor der Unermeßlichkeit weißer Gründe geome-
trisch gespannte Formen in Schwarz, Rot, Gelb, auch Griin und Blau
und Sekundär- und Tertiärfarben, wobei Form und Farbenenergie ein-
ander wechselseitig bedingen, ohne daß dieser Zusammenhang rational
formulierbaren Regeln folgt.
Im >Suprematistischen Bild< von 1917/18 löst sich ein gelbes, perspekti-
visch verzogenes Viereck in die räumliche Unfaßbarkeit des weißen
Grundes, in Werken der zwanziger Jahre mit einfachen Kreuzbalken-
Zuordnungen verwandelt sich auch das energetisch-Erregungshafte der
91 Vgl. auch: Malévitch,Tentativepour définir la relation entre la couleur et la
forme en peinture, (1928/30). In: Malévitch, Écrits, présentés par Andrei B.
Nakov, Paris 1975, 413-432. - Zur Farbe bei Malewitsch auch: Margot Aschen-
brenner, Farben und Formen im Werk von Kasimir Malewitsch, in: Quadrum, 4,
1957, 99-110.
92 Miroslav Lamac, Kasimir Malevitsch, in: Malewitsch-Mondrian, Kon-
struktion als Konzept, Ludwigshafen/Rh. (1978), 28.
410 Malerei des 20. Jahrhunderts

farbigen Formen in eine Dimension nach innen gewandter Spannung


und Kraft.

fn einem ungleich gelasseneren Atem entfaltet sich die Malerei und


darin die Farbgebung bei Piet Mondrian 93 (1872-1944). Tonige Land-
schaften von 1900 bis 1905 weiten sich in lichtes Blau und Blaugriin,
akzentuiert durch Orangerot (>Die rote Wolke<, 1907, alle erwähnten
Werke, wenn nicht anders vermerkt, im Gemeentemuseum Den Haag),
neoimpressionistisch geteilt in bläuliche, gelbliche und rosafarbene
Farbflecken (>Diine //<, 1909) oder vereinfacht zu hellen und mittel-
hellen Blauzonen, die gelbumrandete Weißlichzonen freilassen (>Diine
V<, 1910). AnThemen wie dem >Leuchtturm von Westkapelle< oder dem
>Kirchturm von Domburg< läßt sich derselbe Weg verfolgen, von toniger
Abstimmung iiber flirrende Farbpartikel zur Vereinfachung in aus sich
leuchtende Farbzonen. Andere Bildmotive fiihren den Bildgegenstand
bis zur Verwandlung in die kubistische Facettierung: >Der rote Baum<
(1908) ist eingebettet in blauen Grund, >Dergraue Baum< (1912) vereint
Gegenstand und Grund in diesem Ton, im >Bliihenden Apfelbaum<,
ebenfalls von 1912, teilt sich ein grautoniger „Grund“ in zart bläuliche,
griinliche, violett-tonige, nach der Mitte zu ockerfarbene, in Passagen
sich öffnende Farblanzetten. Das dichte Facettengefiige kubistischer
Bilder lockert Mondrian in das Schweben kleiner, lichtgrauer und licht-
brauner Tonparzellen (>Komposition Nr.3<, 1912/13, >Ovale Komposi-
tion (Bäume)<, 1913, Amsterdam Stedelijk Museum). Helles Blau,
Ocker und Rosa nisten sich zwischen die Grauzonen der durch eine Viel-
falt vertikaler, horizontaler und leicht schräger Unterteilungen rhyth-
misch bewegten >Komposition in Oval< (1913/14), verdämmern an den
Bändern in das Grau. Die Buntfarbigkeit kann sich, wie in der >Kompo-
sition 6< von 1914, auf zarteste Rosa- und Ockertöne, schwebend in
Grau, zuriickziehen, verdichtet sich dann wieder, etwa in der >Komposi-
tion 1916< (Guggenheim-Museum, N.Y.). Wie von weit her kommen
Rechtecke aus zartem, grautonigem Blau, Rosa und Ocker in weiß-
grauem Grund zueinander (>Komposition 3 mit Farbflächen<, 1917), ver-
einen sich, im Buntgehalt gesteigert, zu einem geschlossenen, vom
oberen und den seitlichen Bildrändern jedoch iiberschnittenen Hori-
zontal-Vertikal-System (>Komposition, Farbflächen mit grauen Kon-
turen<, 1918, Ziirich, Slg. Max Bill) und, noch dichter und farbiger, in der
>Komposition Damebrett, dunkle Farben<, 1919.

93 FA: Hans L. C. Jaffé, Piet Mondrian, Köln 1971.-Zur Farbebei Mondrian


vgl. : Gérard Sondag, Couleur/noncouleur dans la peinture de Mondrian. In: Cri-
tica d’arte, XLI, 145, 1976, 47-56.
Malerei des 20. Jahrhunderts 411

Im Zentrum der Mondrianschen Kunsttheorie 94, die auch seine Aus-


sagen zur Farbe einbegreift, steht der Begriff der „gleichgewichtigen Be-
ziehung“ zur Darstellung des „Universalen“, des Unveränderlichen im
Verhältnis zum Veränderlichen. Ihr dient die „Komposition von recht-
winkligen Flächen von Farbe und Nicht-Farbe, die die umgrenzte Form-
darstellung ersetzen. Dies Universalausdrucksmittel ermöglicht den ex-
akten Ausdruck der großen ewigen Gesetzmäßigkeit, im Verhältnis zu
der die Objekte und alles Sein nur ihre undeutlichen Verkörperungen
sind. ,Die neue Gestaltung 1 drückt diese Gesetzmäßigkeit, dieses ,Un-
veränderliche' aus durch das Verhältnis von Stand, d. h. das Rechtwink-
lige. Sie bedient sich dazu insofern des ,Veränderlichen‘, als das Ver-
hältnis der Dimensionen (Maß), das Verhältnis der Farben und das Ver-
hältnis von Farbe ... zu Nicht-Farbe ... - In der Komposition driickt sich
das Unveränderliche (das Geistige) aus durch die gerade Linie und die
Flächen in Nichtfarbe (schwarz, weiß, grau), während dasVeränderliche
(das Natürliche) Ausdruck findet in den Farbflächen und im Rhythmus.“
Nicht um das Universale als solches also geht es, sondern um das Uni-
versale in seinem Verhältnis zum „Veränderlichen“, um die „Äquivalenz
des Einen und des Anderen“: „Der Rhythmus ist das Eine, die unverän-
derliche Beziehung ist das Andere, die veränderliche Beziehung der
Maße ist das Eine, die unveränderliche Positionsbeziehung ist das An-
dere. Innerhalb der Ausdrucksmittel ist die Farbe das Eine, die flächige
rechtwinklige Darstellung das Andere .. ,“ 9S Die Farbe steht somit auf
der Seite des „Veränderlichen“, des Rhythmus - gleichwohl sind die
Farben strikt reduziert auf die Trias der Grundfarben Gelb, Rot und
Blau - die damit in der Malerei des 20. Jahrhunderts zu neuer Bedeutung
aufsteigt.
Formen und Farben sollen sich nicht für sich selbst, sondern vor allem
in ihren Verhältnissen zur Geltung bringen. „Die farbigen Flächen
drücken sowohl durch ihre Lage und Größe als durch die Stärke ihrer
Farben bildnerisch nur Verhältnisse und nicht Formen aus.“ - „Die neue
Gestaltung“ hat sich „von jeder ,Form‘bildung befreit“, sie driickt sich
aus „durch die reine Farbe, flächenhaft auf der Fläche ...“
Damit die Farbe von jeder Formbildung befreit und dennoch ,,be-
stimmt“ sein kann, „muß sie 1. flach sein, 2. muß sie rein, primär sein,
3. muß sie tatsächlich bedingt, aber keineswegs begrenzt sein. Deshalb

94 Zitate nach: Piet Mondrian, Neue Gestaltung, Neoplastizismus, Nieuwe


Beelding, Nachdruck des Bauhausbuchs 5, 1925, in den >Neuen Bauhaus-
büchern<, hrsg. von Hans M. Wingler, Mainz-Berlin 1974, 11, 24, 30/31, 32, 49.
95 Piet Mondrian, Natürliche und abstrakte Realität (1919/20). Dt. in: Michel
Seuphor, Piet Mondrian, Leben und Werk, Köln 1957, 318/319.
412 Malerei des 20. Jahrhunderts

wird sie im Rechteck angewandt. Eine Kurve wiirde sie begrenzen und
würde ihr nicht gestatten, ein gleichgewichtiges Verhältnis von Stand
und Lagezu entwickeln ...“ So dient die rechtwinklige Komposition der
Ermöglichung der farbigen Wechselbeziehung, der Nicht-Begrenzung
aber dient das häufig in Mondrians Bildern auftretende Phänomen, daß
die schwarzen Horizontal- und Vertikalstreifen nicht an die Bildränder
stoßen und in ihrer Breite meist beträchtlich differieren, so dem Ein-
druck einer Gitterstruktur entgegenwirkend.
In freiester Weise - ohne Eingrenzung durch eine vorgegebene Quan-
titätsentsprechung, wonach, wie bei Hölzel oder Itten etwa eine be-
stimmte Menge Blau nur durch eine entsprechend geringere Menge Gelb
harmonisch auszuwägen sei - entfaltet jedes Bild Mondrians seit der Fin-
dung seines eigensten Stils je neu die Äquivalenz farbiger Beziehungen,
zwischen Gelb/Rot/Blau und Schwarz/Weiß, zwischen Blau und Gelb,
Rot und Blau oder Rot allein oder Blau allein zu Schwarz/Weiß, auch re-
duziert zu Gelb und Weiß oder Schwarz und Weiß. Weiß, das lichte, weite
Weiß ist dabei immer die Farbe des Grundes, der doch in seiner Wirkung
als „Grund“ relativiert wird zum Partner des farbigen „Beziehungs-
spiels“. Als Beispiele seien genannt: >Komposition mitRot, Blau und
Gelbgriim 1920 (Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen), >Komposi-
tion mit Rot, Gelb, Blau und Schwarz< 1921 (Gemeentemuseum Den
Haag, schon mit entschiedener Größendifferenzierung der farbigen
Rechtecke, >Komposition mit Blau und Gelb<, 1932 (Philadelphia Mus.
of Art), >Komposition mitRotund Blau<, 1936 (Priv. Slg., Indianapolis),
>Komposition (mitRotundSchwarz)<, 1929 (Priv. Slg.,Basel), >Vertikale
Komposition mit Blau und Weiß<, 1936 (Kunstslg. NRW, Diisseldorf),
>Komposition mitgelben Linien (Raute)<, 1933 (Gemeentemuseum Den
Haag), >Komposition II, mit schwarzen Linien<, 1930 (Stedelijk van Ab-
bemuseum, Eindhoven). In Mondrians spätesten Bildern vervielfältigen
und verschnellern sich die farbigen Relationen, bis hin zu einem wieder
als Farbteilung wirkenden lichthaften Flirren (>Broadway Boogie-
Woogie<, 1942/43 (Museum of Modern Art, N.Y.), >Victory Boogie-
Woogie<, 1943/44 (Priv. Slg. Meriaen/Conn.).

Barnett Newmans (1905-1970) Kunst griindet in der Forderung nach


Selbsterfahrung: “The self, terrible and constant, is for me the subject
matter of painting.” 96 “The subject matter” ist fiir ihn von zentraler Be-
deutung, sie ist ihm die Eröffnung einer metaphysischen Erfahrung (die
er der amerikanischen Malerei vorbehält, im Gegensatz zur euro-

96 Zitiert nach: Harold Rosenberg, Barnett Newman, New York, 1978, 21,
246. Dort auch FA.
Malerei des 20. Jahrhunderts 413

päischen Malerei, die, noch in ihren strengsten Abstraktionen, der Basis


der „sinnlichen Natur“ verbunden bliebe). Diese metaphysische Erfah-
rung bedarf einer physischen Situierung: “One thing that I am involved
in about painting is that the painting should give a man a sense of place,
that he knows that he’s there, so he’s aware of himself. In that sense he re-
relates to me when I made the painting because in that sense I was there ...
That the on-looker in front of my painting knows that he’s there and to me
the sense of place has not only a mystery, but is that sense of metaphysical
fact.... I hope that my painting has the impact of giving someone, as it did
me, the feeling of his own totality, of his own seperateness, of his own
individuality ...“ Der Ort, der dem Betrachter zugewiesen ist, ist der
nahe vor den großformatigen Leinwänden (>Vir heroicus sublimis< 1950/
1951, NewYork, Mus. of Modern Art: 2,42 x 5,41 m). DerBetrachterist
umgeben von, ausgesetzt den riesigen Flächen monochromer Farbe, die
an unterschiedlichen Stellen durchzogen oder seitlich begrenzt sind von
andersfarbigen Streifen und Zonen.
Farbe ist für Newman Medium der Entgrenzung, Transzendenz über
alle mit Form gesetzte Grenzhaftigkeit hinaus. 97 Farbe bedarf hierzu
ihrer höchsten Intensität. In der Dreiheit der Grundfarben dominiert
Rot, als Inbegriff aller Buntfarbigkeit. (>Who‘s afraid of Red, Yellowand
Blue, I<, 1966, II, 1967, Priv. Slg., N. Y. ; III, 1966-67, Stedelijk Museum,
Amsterdam; in der Fassung IV dieser Thematik, 1969-70, Priv. Slg.,
N. Y., hält es sich gegen eine gleiche Fläche lichthaften Gelbs.) Viele
Bilder Newmans sind bestimmt von intensivem Rot (Be I, 1949, Priv.
Slg. N.Y., Vir heroicus sublimis<, 1950/51, >Anna’s lighu, 1968, Priv. Slg.
N.Y.). In ihrer Entgrenzung wird Farbe Träger eines ungespaltenen
Lichts (gebrochenes Weiß erscheint in >The Name II<, 1950, Priv. Slg.
N. Y, >Shining Forth (To George)<, 1961, Paris, Musée Nat. d’Art Mo-
derne, >Shimmer BrighU, 1968, Priv. Slg., N. Y). Tiefes, schwärzliches
Blau und Schwarz sind Medien nächtlicher Dunkelheit (>Primordial
LighU, 1954, Priv. Slg., N.Y., Midnight Blue<, 1970, Mus. Ludwig,
Köln). Schwarz, auch farbig gebrochen, gelbliches und kühles Weiß sind
die Ausdrucksträger der >Stations of the Cross< (1958-1966, Priv. Slg.
N.Y.).
„Wir bekräftigen“, so Newman, „wieder unser natürliches mensch-
liches Verlangen nach dem Erhabenen und das Verlangen nach der Mög-
lichkeit, uns auf die absoluten Emotionen zu beziehen.“ 98 Die Farbe
Newmans dient dem „Erhabenen“ und der „absoluten Emotion“.

97 Vgl. auch: Max Imdahl, Barnett Newman, Who’s afraid of red, yellow and
blue III, Stuttgart 1971.
98 Zit. nach: Imdahl, Newman, 30.
414 Malerei des 20. Jahrhunderts

Auch fiir Ad Reinhardt (1919-1967) wird Farbe zum Träger anderer


als nur optischer Werte. Nach Phasen, die kubistische und expressive
Gestaltungsmöglichkeiten erproben, gelangt er zu Werken, in denen
sich sein „Flauptinteresse“, die „expressive und strukturelle Bedeutung
des Farbraumes in der Malerei“, wie Reinhardt 1947 formuliert", ver-
wirklicht. Die „Farbziegelbilder“ von 1949 und 1950 verdichten und ver-
einfachen sichzuFolgen vonWerken, betitelt: >Abstract Painting, Blue<,
>Abstract Painting, Red<, >Abstract Painting, White<, nahezu mono-
chromen Bildern, in denen wenig voneinander differierende Blau- oder
Rot- oder Weißtöne zu symmetrisch strukturierten Rechtecken gefiigt
sind. Auf sie folgen Bilder, in denen, gemäß den >Zwölf Regeln für eine
neue Akademie< von 1957 verzichtet werden soll auf Struktur, Pinsel-
arbeit, Skizze, Formen, Muster, Farben, Licht, Raum, Zeit, Maßstab,
Bewegung, Objekt und Subjekt. 1962 erklärt Reinhardt: „Das einzige,
was in der Kunst noch getan werden kann, ist Wiederholung: der gleich
großen Leinwand, des gleichen Schemas, der Monochromie, der einen
linearen Aufteilung in jeder Richtung, der einen Symmetrie, der einen
Struktur, des einen formalen Entwurfs, der einen freihändigen Pinsel-
arbeit, des einen Rhythmus - bis zu einer Auflösung und Unsichtbarkeit,
zu einer durchgehenden Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit ... Alles
bis zur Nicht-mehr-Reduzierbarkeit, Nichtreproduzierbarkeit, Nicht-
wahrnehmbarkeit. “
Die seit 1960 entstehenden >Abstract Paintings, Black< sind für Rein-
hardt „die letzten Bilder, die man malen kann“: Schwarze Felder, meist
in kreuzförmiger Durchdringung, bis zur Nichtunterscheidbarkeit ein-
ander angeglichen, mit dünnem, transparentem Farbauftrag in unmeß-
bare Tiefe führend.

Die Darstellung sei hier abgebrochen. 100 Mit den monochromen Bil-
dern der zweiten Jahrhunderthälfte gewinnt Farbe einen neuen Status
ihrer Autonomie. 101 Aber auch das Bildlicht kann nun höchster Gestal-

99 Zitate nach: Lucy R. Lippard, Ad Reinhardt, Stuttgart 1984, 89, 140/141,


154, 160. Dort auch FA. - Vgl. auch: Margit Rowell, Ad Reinhardt and Color,
Kat. Guggenheim Museum, New York 1980.
100 Zur Farbe in Gemälden des 20. Jahrhunderts vgl. auch: Max Imdahl,
Ernst Wilhelm Nay, Akkord in Rot und Blau, 1958, Stuttgart 1962 (Werkmono-
graphien zur bildenden Kunst, 80). -Angelica Burger, Die Stilleben des Giorgio
Morandi, Eine koloritgeschichtliche Untersuchung, Hildesheim-Zürich-New
York 1984.
101 Vgl. dazu: Eugen Gomringer, VomTachismus zur „komplexen Farbe“. In:
Werk, Jg. 50, 1963, 289-294. - Udo Kultermann, Die Sprache des Schweigens,
Über das Symbolmilieu der Farbe Weiß. In: Quadrum, 20, 1966, 7-30. - Paul
Malerei des 20. Jahrhunderts 415

tungswert werden. So heißt es etwa bei Otto Piene: „Das Licht ist die
erste Bedingung aller Sichtbarkeit. Das Licht ist die Sphäre der Farbe.
Das Licht ist das Lebenselement des Menschen und des Bildes. Jede
Farbe gewinnt ihre Qualität durch den Anteil an Licht, der ihr be-
schieden ist. Das Licht macht die Kraft und den Zauber des Bildes,
seinen Reichtum, seine Beredtheit, seine Sinnlichkeit, seine Schönheit
aus.“ Die Malerei „wird strahlende Fiille gewinnen, ihr Leuchten wird
den Menschen treffen. Die Reinheit des Lichts wird sie befähigen, reine
Empfindungen zu wecken .. .“ 102
Farbe ist nicht alles, Farbe ist nur eines der Gestaltungsmittel. In der
Malerei des 20. Jahrhunderts aber befähigt gerade sie zur Entdeckung
neuer Wirklichkeiten wie zur Selbstvergewisserung des Subjekts in der
Anschauung. 103

Wember, Von der Ein-Stimmung der Farbe bis zur Einfarbigkeit, Gedanken zur
Monochromie der 50er und 60er Jahre. In: Pantheon, XXXII. Jg., 1974, 162
bis 164.
102 Über die Reinheit des Lichts, in: Zero 2, zitiert nach: Zero 1, 2, 3, Köln
und The Massachusetts Institute of Technology, 1972, 44, 45.
103 Dazu: Bernd Growe, Gotthard Graubner, Die Bildlichkeit der Farbe,
Neue Malereien (1982-1984), Bochum 1984. -Verf., Gerhard Hoehmes Projekt
>L’Etna<: Farbe als Erscheinung mythischer Wirklichkeit. In: GerhardHoehme,
L’Etna - Mythos und Wirklichkeit, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Mann-
heim, Sprengel-Museum Hannover 1985,1986. -Die Gegenwart der Farbe, mit
Texten von Erich Franz und Bernd Growe, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld
1986. - Matthias Bleyl, Essentielle Malerei in Deutschland, Zirndorf 1987.
REGISTER

Die mit Bindestrich zusammengefaßten Zahlen markieren im Personen- und


Titelregister die Hauptabschnitte des genanntenThemas.
A = Anmerkung

Personen und Titel

Ackerman, James 57 A27. 61 A50. Barasch, Moshe 51. 61. 62. 63. 136
136 A2 A2.186 A107.187
Aertsen, Pieter 192.193 Light and Color in the Italian Ren-
Albers,Josef 407^108 aissance Theory ofArt 57 A26
lnteraction of Color 407 A 87 Licht und Farbe in der italienischen
Alberti, Leone Battista 48 A4. 57-64 Kunsttheorie des Cinquecento
Dellapittura 58A28 61 A47
Albrecht, Hans Joachim 380A47. 407 Barocci, Federico 161-162. 202. 220
A88 Bartolommeo, Fra 150-151. 153. 154.
Altdorfer, Albrecht 133-134 157
Althöfer, Heinz 340 A197 Baudelaire, Charles 347. 348
Altichiero 42 Bauer, Hermann 250 A1
Andrea da Firenze 41 Baumgart, Fritz 195 A3. 200
Angelico, Fra 50. 51. 52. 54. 55 Battes, Alexander 286 A69
Antonello da Messina 167.169.170 Beckwith, John 4A9
Aguilon, François d’ 218 Beer, Ellen J. 8. 8 A22. 9. 10 A27
Aristoteles 58. 59. 187 Beham, Barthel 129
Arndt, Karl 94A36 Bell, Janis Callen 136 A2
Arslan, Edoardo 204 A 25 Bellini, Gentile 164
Aschenbrenner, Margot 409 A 91 Bellini, Giovanni 164.165-168. 169
Bercken, Erich von den 33. 33 A8.
Bachelard, Gaston 297. 298 160A56.163-164.179.180.181.184
Badt, Kurt 36. 36 A18. 239-242. 239 Untersuchungen zur Geschichte der
A98. 275. 276 A44. 283 A63. 285 Farbgebung in der venezianischen
A66. 301. 304. 305 A114. 316. 317 Malerei 163 A 67
Die Kunst Cézannes 267 A 20 Jacopo Tintoretto 164 A 68
Die Farbenlehre van Goghs 309 Bernard, Emile 267 A15. 299. 303.
A122 304. 313. 316. 319
Batschmann, Oskar 239 A98. 241 Bianchi Bandinelli, Ranuccio 4A9
A100 Birren,Faber 266 A14
Baldass, Ludwig 171 A81 Blake, William 270-271
Baldung, gen. Grien, Hans 117. 127- Blanc, Charles 268.268 A21.289. 309
128 Blechen, Karl 334. 336
418 Register

Bleyl, Matthias 269 A24. 415 A103 Carpaccio, Vittore 109. 131. 163. 164—
Boccioni, Umberto 375 165. 168
Bodenhausen, Eberhard von 94 Carrà, Carlo 375
Gerard David 76 A8 Carracci, Annibale 202.203
Bodonyi, Josef 7 Castagno, Andrea del 53. 64
Entstehung und Bedeutung des Cavallini 33. 35
Goldgrundes 7 A19 Caylus, Comte de 265
Böcklin, Arnold 340-341.342 Cennini, Cennino 39. 40 A3. 57. 58.
Böhler, Julius Gustav 276 A45. 277 62.
Boehm, Gottfried 340 A196 Libro dell’Arte 57 A25
Bohrne, Jakob 331 Cézanne, Paul 163.183. 261. 262. 263.
Börsch-Supan, Helmut 334 A176 293. 297. 299-305. 309. 367
Boodt, Anselm Boethius de 218 Champaigne, Philippe de 246
Borch, Gerard ter 210. 211 Chardin, Jean-Baptiste Siméon 253
Borgianni, Orazio 202 Chassériau, Théodore 269
Bosch, Hieronymus 93 Chevreul, Michel Eugène 263-265.
Botticelli, Sandro 65-68. 70. 91 268. 309. 386. 405
Boucher, François 185. 253-254 De la loi du contraste simultané des
Bouts, Dieric 85-87. 107 couleurs 263 A 6
Brandi, Cesare 169 A77 Chorus, Hildegard 13 A2
Braque, Georges 304. 364. 365. 366. Cimabue 32 A 7. 35. 42
367. 368. 369. 370 Claesz, Pieter 209
Vom Geheimnis in der Kunst 368 Clark, Kenneth 63A54
A35 Cleve, Joos van 190
Braunfels, Wolfgang 9A26 Coekelberghs, Denis 78A10
Brenk, Beat 7A16 Constable, John 262. 272. 275-278.
Brion-Guerry, Liliane 299 A 98 286
Bronzino, Agnolo 128. 135. 159 Corinth, Lovis 344—345
Brucher, Giinter 133 A 42 Corot, Camille 262. 267. 289-290.311
Bruegel, Pieter d.Ä. 193.194 Correggio 135.142.160-161.202.203
Brugghen, Hendrick ter 205 Courbet, Gustave 261. 269. 290-293.
Bruno, Vincent J. 4A10 294
Buchmann, Mark 309 A122 Couture,Thomas 269
Bühler, Karl 264 A7 Cranach d.Ä., Lucas 123-126
Bunge, Matthias 343A206 Cranach d. J., Lucas 126
Burckhardt, Jacob 153 A37 Crespi, Giuseppe Maria
Burger, Angelica 414 A100 203
Burger, Fritz 24. 25 A3 Crivelli, Carlo 90. 164
Burgkmair, Hans 123. 129-131 Cuyp, Aelbert 207. 208

Cagiano di Azevedo, M. 2 A6 Dannenberg, Hildegard 95A1. 96A2


Calas, Nicholas und Elena 346 A2 Daubigny, Charles-François 311
Campin, Robert 82. 83 Daumier, Honoré 267
Caravaggio, Michelangelo da 163. David, Gerard 93
195-200. 202. 220. 226. 230. 237 David, Jaques-Louis 266. 267. 269.
Caron, Linda Kay 157 A 50 278-281
Personen und Titel 419

Delacroix, Eugène 185. 186. 187. 261. Field, George 277. 278
262. 266. 267. 269.275.282 A60. Fiensch, Giinther 90
283-289. 292. 294. 301. 302. 303. Filipczak, Z. Zaremba 140 A7
309. 311. 347 Finley, Gerald E. 275 A40
Journal de Eugène Delacroix 262 Francastel, Pierre 346 A1
A5 Freedberg, S.J. 158 A51. 187 A112
Delaunay, Robert 5. 304. 346. 375- Frey, Dagobert 1A2
381. 391. 393 Frey, Rike 325 A156
La Lumière 375-376. 376 A43. 377 Friedrich, Caspar David 334-335
A44 Frodl-Kraft, Eva 10 A27. 11. 34
Dempsey, Charles 202 A 20 Die Farbsprache der gotischen Ma-
Demus, Otto 4 A9 lerei 11A32
Denecke, Christel 363-364. 364 A 31. Fromentin, Eugéne 262
384. 387 A64 Les maîtres d’autrefois 207 A 30
Die Farbe im Expressionismus 324 Füssli, Johann Heinrich 270. 271
A154
Denis, Maurice 300. 301. 319 Gaddi, Taddeo 39.40
Derkert, Carlo 310 A125 Gage, John 5 A14. 6.10 A27. 274. 275
Desportes, François 251 A40. 278 A 51
Deuchler, Florens 10A27. 43. 43 A21 Colour in History 6 A15
Dittmann, Lorenz IX A2. 13 Al. 118 Colour in Turner 184 A104
A18. 120 A23. 123 A25. 172 A83. Gainsborough, Thomas 258-259
219 A64. 250 Al. 261 Al. 264 A7. Gállego, Julián 234 A85
270 A30. 305 A114. 306 A117. 334 Gantner, Joseph 142 A12
A176. 341 A200. 346 A3. 353 A16. Gauguin, Paul 309. 317-321. 348. 349
415 A103 Gavel, Jonas 59. 60. 61. 63. 64. 136
Dobai, Johannes 261 A2. 271 A31- A2. 186 A107. 187 A113
33. 274 A 39. 277 A49 Colour 59A34
Dolce, Lodovico 148. 186 Geertgen tot Sint Jans 91. 92
Domenico Veneziano 54. 55 Gentile da Fabriano 50 A 8
Dresdner, Albert 245-247. 245 A107 Gentileschi, Orazio 201
Duccio 32 A 7. 42. 43 Gericault,Théodore 267.282-283
Dürer, Albrecht 112. 114-120. 124 Ghirlandaio, Domenico 68. 69. 140
Von Farben 119 Giorgione 168-171. 173
Dufresnoy, Charles Alphonse Gioseffi, Decio 169 A77
246 Giotto 30-38.39. 47. 350
Duret,Théodore 296 Giovanni di Milano 41
Dyck, Anthonis van 225-226. 246. Giulio Romano 150
258 Goedl-Roth, Monika 335 A176
Goes, Hugo van der 88-91. 94
Edgerton, Samuel Y. 58 A 30. 59. Goethe 115. 224. 244. 272. 275. 278.
60 284. 325-330. 331. 391. 405. 406
Elsheimer, Adam 257 Farbenlehre 325 A157
Escher, Konrad 106 A19 Gogh, Vincent van 263. 267. 300.
Eyck, Jan van 72-82. 83. 84. 89. 93. 308. 309-317. 319. 321. 348. 357.
95. 101 386
420 Register

Gombosi, György 179 A94 Hermann,A. 2A6


Gombrich, Ernst 8A20 Hermann-Fiore, Kristina 115 A 5.120
Gomringer, Eugen 407 A88. 414 Hess,Thomas B.
A101 LightinArt 4A9
Gosebruch, Martin 63A56 Hess, Walter 267 A18. 317 A142. 320
Gossaert, Jan 190 A144. 321. 348 A4. 352 All. 356
Gosztony, Alexander 359 A21 A18. 361A22. 405 A85. 406
Gowing, Lawrence 299 A98. 351 A9 Das Problem der Farbe 265 A10
Goya, Francisco de 259-260. 267 Hetzer, Theodor 30. 31. 33 A12. 34.
Goyen, Jan van 207. 208 35. 57. 114 A2. 162-163. 165-166.
Graubner, Gotthard 415 A103 168.171.172.173.174.175.176.177.
Grautoff, Otto 239 A 98 179. 250 Al. 255
Greco 226-229 Giotto, Grundlegung der neuzeit-
Gris, Juan 367. 370-374 lichen Kunst 30 A1
Notizen iiber meine Malerei 370 Tizian, Geschichte seiner Farbe 8
tJber die Möglichkeiten der Malerei A23
370-372 Venezianische Malerei 166 A 72
Grodecki, Louis 10 Heuck, Ellen 245 A107
Growe, Bernd 415 A103 Hildebrand, Adolf von 36. 37
Griinewald 9. 93. 120-123. 128 Hirt, Aloys 266
Guardi, Francesco 256 Hoehme, Gerhard 415 A103
Guercino 202 Hölzel, Adolf 265. 405^107. 412
Guérin, Pierre Narcisse 266. 281 Hofmann, Walter Jiirgen 114 A3. 214
Gugg,Anton 344A210 A45
Holbein d.A., Hans 93. 109. 111-113.
Haeberlein, Fritz 3. 4 A9 121. 129
Grundziige einer nachantiken Far- Holbein d. J., Hans 131-133
benikonographie 3 A 8 Holzer, Johann Evangelist
Hals, Frans 209. 210 257
Hassenfratz, Jean Henri 268 Homer, William Innes 307 A119
Haupt, Gottfried 31. 33 All Honisch, Dieter 353 A15
Die Farbensymbolik in der sakralen Honthorst, Gerrit van 200. 204
Kunst des abendländischen Mit- Hooch, Pieter de 211
telalters 2A6 Hoog, Michel 364 A32
Heckel, Erich 357-358 Hopp, Gisela 293
Heemskerck, Marten van 191 Manet, Farbe und Bildgestalt 293
Heimendahl, Eckhart 329 A166 A87. 295 A 89
Heinz, Giinther 203 Huggler, Max 399 A 79
Heisenberg, Werner 329 Huyghe, René 286 A69
Held, Julius 219 A 63
Held, Jutta 259. 267 A19 Imbriani, Vittorio 193
Farbe und Licht in Goyas Malerei Imdahl, Max 13 A2. 245 A107. 270
259 A 29 A29. 376 A43. 379 A46. 380. 381.
Hemessen, Jan Sanders van 192 384 A 55. 387. 413 A 97. 414 A100
Hengelhaupt, Uta 29A12 Ingres, Jean Auguste Dominique 187.
Heraclius 14—16. 23 267. 269. 281-282. 400
Personen und Titel 421

Itten, Johannes 406. 412 Kulmbach, Hans Suess von 128-129


Kunst der Farbe 406 A 86 Kultermann, Udo 414 A101

Jaffé, Michael 219 A63 Lamac, Miroslav 409 A 92


Jantzen, Hans 7 A18. 36 A19. 114 Lambert, Johann Heinrich 332
A3. 133 A42. 205. 206. 207. 211 Langner, Johannes 379 A 45
A37. 269.270. 293 A88. 295 Largillières, Nicolas de
Farbenwahl und Farbengebung in 251
der holländischen Malerei des 17. Larguier, Léo 299
Jahrhunderts 207 A30 LaTour, Georges de 200. 238
Über Prinzipien der Farbengebung Le Brun, Charles 244. 245. 247
in der Malerei 270 A 28 Léger, Fernand 374
Johnson, Lee 286 A69 Leibl, Wilhelm 261.338-339
Justi, Ludwig 168. 169 A77. 170 LeNain 238-239
Lenz, Christian 244 A104
Kalf, Willem 209 Leo, Peter 95 A1
Kandinsky, Wassily 298. 298 A96. Leonardo, Camillo 218
346. 371. 388-398 Leonardo da Vinci 135. 136-143. 146.
Über das Geistige in der Kunst 390 150. 153. 154. 160. 168. 169. 187
A71 Trattato della Pittura 136 A1. 136-
Kaschnitz von Weinberg, Guido 140
37 Lersch, Thomas 59. 138. 186 A107.
Katz, David 8. 264 A7. 333 187 A113. 218. 219. 245 A107. 250
Der Aufbau der Farbwelt 8 A24 Al. 263 A 6. 274 A39. 275 A40. 325
Kauffmann, Hans 207 A30 A156. 328 A162. 330 A168. 331
Kempfer, Marie 29 A12 A170. 332 A171
Kempter, Georg Friedrich 266 A13. Farbenlehre 4A10
14. 267 A15. 16. 19. 269 A23. 26. Leyden, Lucas van 117. 124. 127. 129.
281 A58. 284 A65. 285 A67. 287 190. 191.
A70. 289 A75. 290 A78. 291 A79- Liebermann, Max 269. 269 A27. 343-
81 344. 344 A 208
Kirchner, Ernst Ludwig 353-356 Lippi, Filippino 69. 70
Klee, Paul 5. 376. 381. 398-405 Lippi, Filippo 52. 54. 55. 59. 91
Tagebiicher 398 A 78 Lipps, Hans 329 A166
Das bildnerische Denken 400 A80 Lochner, Stephan 97. 98. 108
Unendliche Naturgeschichte 400 Lomazzo, Giovanni Paolo
A80 187
Kleining, Gerhard 13 A2 López-Rey, José 226 A 77
Knopp, Norbert 172 A83 L’Orange, Hans Peter 1A2. 7A16
Kobler, Friedrich 2 A 6 Lorenzetti, Ambrogio
Koch, Josef Anton 334. 336 53
Kroos, Renate 2A6 Lorenzetti, Pietro 45.49
Krsek, Ivo 257 A22 Lorenzo di Credi 69
Kruse, John 215 A48 Lorenzo Monaco 49
Kühn, Hermann 215 A48 Lorrain, Claude Gellée 244-245.273
Kuhn,Rudolf 343A206 Lotto, Lorenzo 178-179
422 Register

Macke,August 381-385.399 Mengs, Anton Raphael 258


Mänz, Harry 158. 159 Menzel, Adolph von 338
Farbgebung in der italienischen Messerer, Wilhelm 241 A 99
Malerei des Protobarock und Metsu, Gabriel 211
Manierismus 159 A 5 Michelangelo 135. 151-153. 156. 187
Malewitsch, Kasimir 298. 408-410 Mignard, Nicolas 246
Manet, Edouard 259. 267. 293-295. Millet, Jean-François 267. 290. 310.
352 311
Mantegna, Andrea 64. 65. 110. 164. Millner, Alexandrine 39 A 2
166. 188 Minkowski, Eugène 359 A21
Marc, Franz 363. 382. 385-388 Mössner, Wolfgang 193 A15. 194
Marées, Hans von 261. 341-343 Mondrian, Piet 397. 410-412
Matëjcek, Antonin 25. 25 A4 Monet, Claude 139. 295-298. 300.
Martin, Otto Eberhard 114 A1 318. 347
Martini, Simone 26. 44. 45. 49 Morandi, Giorgio 414 A100
Masaccio 46. 47. 48. 50. 52. 54. 55. 66. Moreau, Gustave 347
94 Mosele, Franz 364 A 32. 371A39
Maso di Banco 41 Mras, George P. 289 A75
Masolino 45. 46 Mueller, Otto 360-361
Massys, Quentin 189. 190 Miinz, Ludwig 201. 204
Matile, Heinz 330 Multscher, Hans 103
Farbenlehre Philipp Otto Runges Munch, Edvard 309. 321-324. 357
330A169 Murillo, Bartholomé Esteban 235-
Matisse, Henri 51. 346-353. 354. 365. 237
369. 372. 388. 389. 391. 393. 394
Farbe und Gleichnis 348 A4 Nauze, M. de la 266
Matthei, Rupprecht 268 A22. 325 Nay, Ernst Wilhelm 414 A100
A156 Neumann, Carl 214. 214 A47. 216.
Maulbertsch, Franz Anton 257-258 217
Maurer, Emil 102. 155 A44. 157. 196. Newman, Barnett 412-413
198. 219 A64 Newton, Isaac 278. 326. 328. 329
Mazo, Juan Bautista del 233 A166
Meister Nolde, Emil 361-364
Meister des Bartholomäus-Altars Nordhagen, P. J. 7 A16
108
Meister Bertram 25. 26. 27 Oertel, Robert 31 A4. 32 A7. 40. 41.
Meister der Darmstädter Passion 42. 43. 44
96. 97 Orcagna, Andrea 41
Meister Francke 28. 29. 97 Orley, Bernaert van
Meister des Marienlebens 107. 108 190
Meister der Pollinger Tafeln 104 Ortolani, Sergio 144 A16
Meister der Ursula-Legende 109 Ostwald, Wilhelm 264 A7
Meister von Wittingau 24. 25. 27. Ouwater, Aelbert van 87-88. 91
28. 98 Overbeck, Friedrich 336-337
Memling, Hans 92. 93. 190 Overy, Paul 392 A 73
Memmi, Lippo 45 Ozenfant, Amédée 282 A60
Personen und Titel 423

Pacher, Michael 64. 109-111 Raffael 124. 135. 143. 144-150. 154.
Pächt, Otto 29 A12. 83 A17. 87. 99. 187. 246. 247. 274. 336
100. 101. 108. 110. 111 Raphael, Max 209 A34. 267 A19
Panofsky, Erwin 59 A35. 73. 75. 76. Ratgeb, Jörg 118
123 Rebsamen, Hanspeter 340 A197
Parkhurst, Charles 186 A107. 195 A2. Redig de Campos, Deoclecio 150
218 A59. A61. 219 A63 A31
Parmigianino 161 Redon, Odilon 295
Parris, Nina Gumpert 405 A 85 Reff, Theodore 299 A 98
Patinier, Joachim Rehfus-Dechêne, Birgit 266 A11-13.
189 325A155
Pattillo, Allen 65A61 Farbengebung und Farbenlehre in
Pawlik, Johannes 403 A81 der deutschen Malerei um 1800
Perugino, Pietro 135. 143-144. 145. 258 A 24
150 Reinhardt, Ad 414
Pfötsch, Kurt 115. 117 Rembrandt 25. 131. 195. 200. 210.
Philoppot, Paul 77 A10 214-218. 257. 389
Piazetta, Giovanni Battista 254 Reni, Guido 203
Picasso, Pablo 304. 364. 365. 366. Reuterswärd, Patrick 1A2
367. 368. 369. 370. 391 Reymerswaele, Marinus van 192
Pidoll, Karl von 341. 341 A201. 343 Ribera, José de 200. 230
A204 Richter, George Martin 169 A 77
Piene, Otto 415 Richter, Henry J. 261
Piero di Cosimo 70. 71 Richter, Ludwig 334. 336
Piero della Francesca 48 A4. 54. 55. Riedl, Peter Anselm 381 A49
56. 57. 62. 64 Riegl,Alois 92
Piles, Roger de 246-249. 251 Riezler, Kurt 37
Cours de Peinture par Principes Ringbom, Sixten 392 A 73
248 A109 Röttgen, Herwarth 103
Pilz, Wolfgang 95 A1 Roosen-Runge, Heinz 13-23. 34. 76
Pino, Paolo 186 A8. 82. 189. 190
Pissarro, Camille 308. 312. 318 Farbgebung und Technik friihmittel-
Plehn.AnnaL. 100 A9 alterlicher Buchmalerei 14 A 4
Pleydenwurff, Hans 106. 107 Die Gestaltung der Farbe bei Quen-
Poirier, Maurice George 187 A112. tin Metsys 82 A14
204 A28 Rosand, David 171 A83. 186 A107
Pollajuolo, Piero del Rosso, Fiorentino 135. 157-159
70 Rottmann, Carl 334. 336
Pontormo, Jacopo 124. 125. 127. 128. Rousseau, Theodore 267
135. 155-157 Rowell, Margit 414 A99
Posner, Kathleen Weill 150 A 32 Rubens, Peter Paul 162. 166. 195.
Poussin, Nicolas 239-243 . 247. 274. 200. 216. 219-225. 246. 248. 251.
280 257.259.270.274. 277.285.289.339
Prater, Andreas 193 A11. 226 A77 Riith, Uwe 4 A9
Purificato, Domenico 151 A34 Ruhmer, Eberhard 339 A194
Puttfarken,Thomas 246 A108 Ruisdael, Jacob van 208
424 Register

Runge, Philipp Otto 100. 330-334. Simmel, Georg 217 A58. 218
402 Sisley, Alfred 318
Farben-Kugel 330 A167 Sjöblom,Axel 136 A1
Rupprecht, Bernhard 111 A31 Soehner, Halldor 226-229. 226 A77.
Ruskin, John 272 230 A 80
Ruysdael, Salomon van 207. 208 Smart, Alastair 40 A 6
Rzepiñska, Maria IX A1 Sommer, Thomas 196 A 4
Sondag, Gérard 410 A93
Sacher, Helen 69A67 Sonnenburg, Hubert von 143 A13.
Sambursky, Schmuel 329 A166 144. 145. 146. 212 A42. 215 A48.
Saraceni, Carlo 201. 202 224. 225. 226 A77. 230 A80. 235-
Sarto, Andrea del 135. 153-155. 157. 237
180 Souriau, Etienne 237 A93
Savot, Louis 218 Spector, Jack J. 286 A 69
Schaffner, Martin 123. 131 Spinello Aretino 42
Schefold, Karl 4A10 Spinner, Kaspar H. 196 A 5
Scheibler, Ingeborg 4 A10. 5 A13 Steer, John 172 A83
Schmid, H. Rainer 225 A75 Steingräber, Erich 235
Schmidt, J. Heinrich 325 A156 Stevenson, R. A. M. 234
Schmidt-Rottluff, Karl 358-360 Straub, RolfE. 74.75
Schmitt-Lieb, Willi 219 A64 Strauss, Ernst IX. X. 9. 10. 11. 24. 30
Schmitz, Hermann 358 A20 A1. 33. 36. 38 A23. 39 A1. 41A12.
Schöne, Wolfgang 2. 7 A18. 8. 40A6. 47 Al. 48 A4. 49. 52. 54. 56. 64. 76.
92. 136. 137. 196. 200. 214. 313. 334 95 Al. 99 A7. 105. 106. 127 A31.
A174 148. 152. 154. 155. 156.157.195 A3.
Über das Licht in der Malerei 2A3 211. 212. 260. 262 A 4. 270A29.272
Schongauer, Martin 109 A 34. 272-274. 286 A69. 292.
Schrenk, Klaus 348 A4 299 A98. 300-305. 333 A172. 372.
Schuch, Karl 340 372 A 40. 373 . 374. 378. 405 A83.
Schiitz, Barbara 322. 323 A153 A84
Schweitzer, Paul D. 276 A 45 Koloritgeschichtliche Untersuchun-
Schwind, Moritz von 337 gen zur Malerei seit Giotto IX
Scorel, Jan van 191 A2
Sebastiano del Piombo 177-178 Suter-Raeber, Regula 399 A 79
Sedlmayr, Hans 11. 73. 107. 193. 214 Sweerts, Michael 210
A47. 219 A64. 237 A93
Seurat, Georges 5. 305-309 Taubert, Johannes 87A22
Shearman, John 140-141. 140 A8. 141 Tea, Eva 182 A101
A9. 153. 155 Testelin, Henri 245
Siebenhiiner, Herbert 50 A8. 54A19. Teyssèdre, Bernard 246 A108
57. 60. 61. 62 Theophilus Presbyter 14—17. 19. 23
Über den Kolorismus der Friih- Thornton, Joy Allen 182 A101
renaissance 48 A 4 Tiepolo, Giovanni Battista 254—256.
Signac, Paul 5. 263. 307 A119. 347. 259
348. 351. 382. 386 Tikkanen, Joh. Jakob 4 A9. 13 A2
Signorelli, Luca 70 Tintoretto 164. 179-182. 226. 246
Sachen 425

Tizian 135. 148. 164. 166. 171-177. Vriesen, Gustav 304. 379 A46. 381
186. 188. 227. 246. 247. 274. 283 A51. 383-384
Tolnai, Karl von 72 Vuillard, Edouard 347
Torriti, Jacopo 33
Triska, Eva-Maria 404 A82 Waldmann, Emil 148. 149
Tura, Cosimo 64 Waldmiiller, Ferdinand Georg 337
Turner, William 161. 184. 267. 272- Walter-Karydi, Elena 4 A11. 4 A12
275. 300 Wankmüller, Rike 364 A31. 399 A79
Watkins, Nicholas 346 A3
Uccello, Paolo 52. 53. 55 Watteau, Antoine 251-253
Weizsäcker, Carl Friedrich von 329
Valcanover, Francesco 171A83 A166
Valentin de Boulogne, Jean Wember, Paul 415 A101
237-238 Weyden, Rogier van der 82-85. 86.
Vasari, Giorgio 150. 168. 172. 186 87. 89. 190
Velázquez, Diego de Silvay 200.230- Wichmann, Siegfried 343 A205
234. 259 Witz, Konrad 96. 100-103
Verbraeken, René 195 A1 Wolgemut, Michael 115
Vermeer van Delft, Jan 212-214 Wulff, Oskar 171A 83
Veronese, Paolo 164. 165. 182-186.
228. 246. 289. 311 Zampetti, Pietro 171 A83
Vey, Horst 225 A76 Zawadzky, Eberhard von 219 A 64
Vivien, Joseph 251 Zeitler, Rudolf 334
Volavka, Vojtëch 253 A9 Zuccaro, Federigo 247
Voss, Hermann 201 Zurbáran, Francisco 200. 234—235

Sachen

Absolute Farbe 105. 140. 346. 350. Beleuchtungswirkung 39. 40. 47. 50.
359. 369. 372 51. 54. 57. 121. 214. 227. 229. 280
Abstrakte Farbe 2. 133. 372 Bild 30. 34. 37. 80. 99. 108. 114. 276.
Äquivalente, Äquivalenz 2. 320. 321. 382. 395
372. 411. 412 Bilddunkel 24. 111. 126. 256. 275.
Antike Malerei 4-5. 4 A10.16.18. 32. 287
199. 266. 273 Bildfarbe 175.262
Ausdruckswert 2. 22. 41. 64. 70. 90. Bildgrund 4. 7. 32. 39. 41. 47. 48. 51.
115. 116. 120.121. 122. 178. 188.192. 66. 68. 71. 86. 97. 117. 126. 128. 129.
201. 257. 265. 287. 299. 309. 314. 321. 144. 152. 157. 165. 168. 172. 180.
324. 327. 335. 338. 349. 351. 353. 355. 196. 198. 199. 217. 239. 243. 251.
357. 358.362.365.369.389.403 252. 287. 288. 319. 346. 352. 354.
366. 367. 409. 413
BefreiungderBildfarbe 270. 369.388 Bildhelligkeit 54. 55. 63
Beleuchtungslicht 49. 68. 92. 97. 102. Bildlicht X A2. 2. 5. 6. 7-9. 24. 26.
104. 107. 110. 136. 137. 190. 192. 54. 55. 104. 126. 272. 274. 287. 308.
200. 224. 258. 282. 338 348. 414. 415
426 Register

Bildraum 47. 48. 99. 104. 106. 112. Eigenlicht 2. 367


120. 167. 180. 204 . 206 . 272. 274. Eigenschatten 34. 47. 61
277. 302. 303. 315. 323. 355. 358. Eigenwert der Farbe 2. 30. 105. 106.
364. 366. 372 107. 118. 248. 269. 270. 276. 279.
Buchmalerei 2. 3. 7. 9.13-23. 72 302. 337. 372
Buntfarben 3. 52. 55. 59. 67. 82. 83. Elementarfarbe 206. 298
105. 144. 153. 171. 190. 191. 209. Erdfarben 31. 266. 267. 371
220. 250. 260. 273. 314. 347. 368. Erscheinungsweisen der Farben 8.
369. 401 15. 16. 108. 132 . 273. 274. 323 . 333.
Buntheit X A2. 28. 49. 55. 111. 148. 360
159. 207. 335
Buntqualität, Buntwert 10. 16. 24. 36. Farbakkord, Farbklang 11. 15-18. 22.
47. 48. 50. 52. 54. 65. 67. 84. 107. 27. 31. 34. 40. 53. 56. 64. 65. 66. 68.
114.201.272.286. 299. 314. 319. 355 103. 115. 122. 149. 173. 205. 206.
Byzantinische Malerei 3. 4 A9. 6. 17. 222. 237. 272. 280. 289. 294. 296.
35. 44 322. 323. 333. 346. 349. 350. 351.
354. 356. 373. 403. 405
Changeantfarben, Changieren 33.53. Farben
54. 65. 112. 153. 182. 183. 188. 189. Blau 3. 4. 6. 7A16. 9. 10.11.16. 18.
227. 251. 257 19. 20. 21. 22. 27. 28. 31. 32. 35.
„Changierende“ Modellierung 33. 46. 49. 50. 56. 58. 69. 79. 80. 83.
191 90. 98.103.104.112.116.117.118.
Chromatisches Prinzip, chromatisch 122. 125. 132. 134. 138. 139. 142.
X A2. 177. 256. 262. 263. 264. 272. 145. 149. 150. 153. 156. 160. 162.
286. 302. 306. 378 166. 168. 172. 173. 174. 175. 177.
Chromo-Luminarismus 5. 308. 312. 180. 182. 183. 192. 198. 203. 206.
378 211. 212. 213. 215. 218. 222. 225.
226. 227. 228. 237. 240. 241. 255.
Darstellungswerte der Farben 30. 258. 266. 267. 272. 274. 282. 284.
248. 270. 279. 302 287. 293. 304. 305. 307. 308. 310.
Demi-teinte 185. 186. 284. 285. 288 311. 313. 316. 321. 322. 323. 327.
Demi-teinte reflétée 288.301.303 328. 330. 335. 336. 343. 350. 351.
Divisionismus X A2. 5. 405 354. 356. 357. 358. 363. 365. 371.
Dunkel, Dunkelheit X A2. 4. 11. 24. 374. 378. 380-385. 389. 391. 392.
25. 26. 27. 28. 34. 35. 39. 51. 57. 71. 393. 397. 402. 403. 405. 406. 409.
75. 79. 80. 83. 86. 89. 90. 98. 102. 411. 412-414
109. 112.126.128.134.151.157.161. Braun 18.25.27.28.35.53.69.70.71.
167.169.171. 173. 208.216. 225.231. 83. 88. 96. 113.125. 130. 131. 142.
250. 258. 260. 267. 275. 278. 292. 154. 161. 164. 165. 174. 185. 191.
323. 324. 329. 333. 334. 335. 336. 192. 194. 195. 197. 198. 202. 208.
339. 341. 342. 359. 374. 405. 413 211. 212. 216. 217. 223. 227. 231.
Dunkelgrund 81. 111. 121. 132. 135. 232. 235. 238. 243. 272. 304. 324.
160. 166. 169. 210. 225. 290 338. 365. 366. 367. 391. 398. 402.
403
Eigenhelligkeit der Farben X A2. 55. Gelb 5. 9. 10. 12. 16. 17. 18. 20. 28.
101. 135. 148. 151 40. 59. 65. 67. 69. 83. 104. 116.
Sachen 427

118. 122. 125. 129. 130. 134. 138. Ocker 17. 21. 27. 28. 31. 70. 165.
139. 142. 145. 149. 150. 154. 156. 173. 197. 198. 207. 220. 224. 225.
160-162. 164. 166. 168. 172. 173. 259. 279. 307. 366
175. 177. 182. 183. 195. 198. 199. Oliv 25. 27. 28. 68. 70. 83.109.112.
203. 206-208. 211-213. 215. 218. 130. 131. 134. 142. 164. 170. 173.
226. 227. 229. 240. 243. 255. 256. 176. 195. 197. 208. 209. 217. 252.
258. 266. 272-275. 279. 284. 304. 256. 335. 373
305. 310. 311. 313. 314. 316. 318. Orange 6. 9. 20. 28. 164. 183. 189.
321-323. 327. 328. 331. 335. 350. 218. 221. 223. 258. 264. 284. 304.
357. 358. 360. 363. 366. 378. 380. 305. 307. 308. 310. 311. 316. 318.
382. 383. 385. 387. 389. 391. 392. 321. 323. 327. 331. 363. 378. 380.
393. 396. 397. 399. 402. 403. 405. 382. 385. 389. 395. 402. 403. 406
406. 409. 411^113 Purpur 11. 12. 15. 16-19. 21. 27. 39.
Gold 3. 4 A9. 7-10. 17. 21. 25. 35. 139. 180. 308. 328. 389. 405. 406
43. 49. 69. 108. 117. 118. 122. 130. Rot 3. 4. 6. 7 A16. 9. 11. 12. 15. 17.
131. 138. 217 18. 20. 25. 28. 31. 58. 64. 65. 67.
Grau 7 A16. 12. 20. 25. 27. 30. 32. 69. 79. 80. 81. 82. 87. 89. 90. 103.
39. 40. 52-56. 58. 59. 65. 70. 88. 104. 117-119. 122. 124. 125. 128.
96. 104. 111. 112. 115. 122. 130. 130. 138. 139. 142. 150. 154. 161.
131. 144. 147. 149. 151. 154. 161. 162. 164. 166. 168. 169. 170. 173.
169. 176. 195. 197. 201. 202. 203. 174. 183. 192. 195. 197-199. 203.
207-210. 216. 220. 223. 224. 227. 206. 211. 213. 215. 217. 218. 222.
228. 231. 232. 233. 235. 250. 251. 226. 228. 229. 233. 234. 237. 240.
256. 257. 259. 272-274. 279. 280. 255. 257. 266. 272. 278. 279. 284.
292. 294. 304. 310. 311. 312. 318. 287. 305. 310. 311. 322. 323. 324.
332. 335. 338. 344. 363. 366. 367. 327. 328. 331. 338. 350. 351. 352.
373. 394. 397. 400. 402. 403. 410. 356-358 . 363 . 374 . 380 . 381. 382.
411 384. 385. 387. 394. 397. 402. 403.
Griin 6. 7 A16. 11. 12. 16-18. 20- 406. 409. 411-414
22. 27. 28. 31. 32. 40. 58. 59. 64. Schwarz 4. 25. 31. 39. 56. 58. 59.
69 . 70. 79. 80. 90. 98. 101. 103. 60. 83. 115. 117. 126. 132. 138.
111. 112. 117. 118. 122. 127. 134. 139. 147. 178. 195. 197. 199. 209.
138. 142. 144. 145. 165. 166. 168. 210. 218. 223-225. 229. 234. 250.
169. 172. 177. 189. 190. 195. 206. 254. 255. 259. 266. 267. 290-292
207. 212. 218. 221. 223. 226. 228. 300. 305. 306. 308. 309. 310. 311.
229. 250. 262. 264. 267. 278. 295. 323. 331. 352. 358. 359. 360. 373.
305. 307. 308. 310. 311. 313. 314. 374. 380. 387. 393. 394. 396. 397.
318. 322-324. 328. 331. 333. 343. 401. 402. 404. 405. 408. 411—414
350. 351. 355-357. 359. 363. 373. Silber 25. 138
378. 380. 382-385. 389. 391. 393. Violett 122. 170. 189. 215. 218. 221.
394. 402. 403. 406. 409 223. 255. 264. 284. 305. 310. 311.
Karmin 15. 18. 28. 32. 69. 83. 98. 318. 321. 323. 327. 328. 331. 356.
101. 109. 112. 118. 144. 145. 154. 373. 378. 382. 385. 395. 402. 403.
172. 173. 177. 229. 252. 311. 313. 406
395 Weiß 4. 9. 10. 12. 17. 26. 28. 31. 32.
Lila 40. 154. 356 35. 40. 49. 56. 58. 59. 60. 79. 83.
428 Register

Farben (Forts.) Gegenstandsfarbe 34. 47-49. 51. 54.


96. 109. 112. 115. 119. 122. 126- 82. 100. 105. 109. 115. 133. 147. 188.
128. 130-132. 138. 139. 143. 152. 208. 210. 279. 337. 340
160. 161. 168. 173. 175. 178. 189. Gesamtton 131. 149. 170. 252. 289
195. 197. 199. 209. 210. 212. 218. Gestaltungswert der Farbe 299
223. 225. 229. 234. 240. 241. 250. Glanz 7-9. 10. 26. 73-75. 77. 78. 100.
252-256. 259. 264. 266. 267. 273. 101. 108. 138. 143. 152. 155. 160.
274. 278. 279. 280. 291. 292. 300. 161.190.191. 209.212.220.225.337
304-307. 310. 311. 313. 322-324. Glanzlicht 8. 62. 138. 161. 209. 293.
331. 346. 350. 358. 359. 360. 363. 334. 374
373. 374. 391. 393. 394. 396. 397. Glanzraum 8-10. 98
401. 402. 404. 408. 409. 411-414 Glasmalerei 1. 2.10-12. 10 A27. 72
Zinnoberrot 27. 53. 64. 104. 112. Goldgrund 1. 2. 7-9. 25-27. 35 . 39.
116. 118. 172. 198. 221. 256. 311. 43-46. 48. 85. 95-99. 101. 102. 108.
313. 323. 350. 363. 383. 395 190
Farbendualitäten 11-12 Grau-Braun-Kombination 216. 222.
Farbenmischung, Mischfarben 6. 31. 223. 232. 235. 236. 237. 272. 273.
139. 264. 275. 284. 406 338. 368. 373
Farbige Induktion 142. 155. 162. 180. Grisaille 77. 78
268. 290 Grundfarben 11. 58. 59. 103. 138.
Farblicht X Al. 104. 107. 118. 121. 189. 240. 263. 264. 275. 284. 311.
124. 128. 263. 286. 313. 323. 347. 373
348. 350. 358. 374. 399
Farbmodus 115. 142. 241. 242. 280 Halbdunkel 165. 183. 220. 252
Farbskala 2. 3. 15. 16. 22. 30. 42-44. Halblicht, Halbhelligkeit 47. 53. 67.
58. 59. 96. 106. 115. 122. 138. 188. 149. 156. 157. 165. 175. 183. 184.
199. 227. 250. 256. 258. 265 . 266. 186. 250. 326
274. 279. 292. 297. 312. 322. 403. Halbschatten 4. 47-50. 55. 138. 149.
404 156. 159. 178. 191. 285. 326
Farbteilung 5. 177. 229. 256. 262. 263. Harmonie der Farben 63. 64. 139.
276. 283. 285-287. 290. 292. 296. 144. 148. 155. 177. 188. 264. 265.
302. 305. 307. 313. 388. 412 289. 302. 308. 309. 311. 319. 320.
Farbtotalität 133. 145. 147. 150. 157. 328. 330. 347. 351. 405^107
198. 222. 228. 328. 380. 402. 405 Helldunkel 11. 24ff. 27. 43. 56. 68. 71.
Farbvokabel 3. 31. 41 72. 76. 78. 82-84. 89. 100. 107. 109.
Fauvismus 348. 352. 353. 365. 369. 111. 119. 121. 128. 133-135. 139.
372. 387 140-143. 150. 153. 154. 160. 161.
Fernbildfarbe 37. 100. 143 168. 170. 174. 182. 189. 190. 192.
Finsternis 4. 10. 11. 25. 27. 34. 77. 79. 195. 203. 204. 206. 207. 213. 214.
96. 102. 136.137.195.196. 200. 209. 220. 225. 226. 239. 244. 250. 253.
310. 330 261. 267. 271. 273. 277-279. 287.
Flächenfarbe 8. 120. 121. 180. 208. 291. 293. 305. 306. 310. 326. 331.
244. 323. 334. 335. 368 333. 339. 344. 367. 398. 400. 401.
Freilicht, Naturlicht, Sonnenlicht, Ta- 403
geslicht 5. 10. 234. 256. 261. 263. Hellfarbigkeit 33. 127. 128. 160. 161.
280.290. 292. 296.308.336-339.378 191. 255. 293
Sachen 429

Helligkeit 4. 24. 26. 32-34. 39. 48. 56. Lichtstil 187


129. 151. 160. 254. 255. 260. 296. Lichtsymbolik 1-2
307. 329. 360 Lokalfarbe 7. 51. 61. 63. 68. 70. 72. 99.
Helligkeit und Dunkelheit der Farben 100. 102. 104. 105. 107-110. 114.
XA2. 16. 82. 89. 262 123. 126. 132. 188. 239. 240. 282.
285. 372
Inkarnat, Inkarnatfarbe, Karnation 7 Luftperspektive 60. 139
A16. 26. 27. 51. 52. 56. 64. 68. 69. Luminarismus, luminaristisch X A2.
70. 112. 126. 127. 132. 145. 146. 152. 88. 144. 145. 147. 151. 154. 161. 167.
160.162.166.167.173.175.197.214. 192. 201. 220. 222. 233. 256. 261.
220. 221. 223. 225. 236. 240. 251. 263. 272. 306. 367
254. 334. 343. 364 Luminosität, luminös X A2. 75. 135.
Intervalle 28. 44. 65. 69. 91. 94. 106. 143. 148
116.124.131.132.151.158.179. 234.
273. 293. 294. 316. 333 Maltechnik 5. 6. 9. 13. 22. 24. 26. 43.
57. 74. 143. 145. 146. 170. 171. 180.
Kolorismus, koloristisch IX A2. 4. 224. 225. 227. 228. 235-237. 268. 269.
51. 56. 126. 144. 147. 161. 167. 204. 291. 296 A90. 297. 338. 339. 362
220. 222. 261. 263. 267. 272. 305. „Mappae Clavicula“ 14-16. 23
312. 347 Metallfarbe 7-9. 25
Komplementärfarben, -kontraste 122. Mikrostruktur, -elemente X A2. 5.
180. 194. 228. 266. 268. 284. 293. 284. 285
311. 312. 314. 319. 322. 328. 351. Mittlere Helligkeit 34. 46-48. 50. 52.
356. 358. 378. 383. 402. 405. 406 65-68. 149. 166. 182. 220. 239. 243.
Kontraste der Farben X A2. 28. 32. 255. 344
55. 56. 67. 104. 106. 121. 122. 135. Modellierungsschatten 47. 48.55.102
147. 151. 157. 158. 174. 235. 265. 268. Modulation der Farbe 155. 301
285. 302. 308. 311. 319. 406 Mosaik 1. 3. 4 A9. 5-7. 9. 10. 44. 45.
Kubismus 357. 358. 364. 366-374. 164. 262. 350
379. 387. 391. 410. 414
Nahbildfarbe 81. 100. 106. 114. 132.
Lasur 227-229. 269 133. 134. 190. 192
Licht XA2. 4 A9. 10. 24. 32. 34. 39. Neoimpressionismus, neoimpressioni-
56. 59. 60. 61. 73. 75. 101. 110. 137. stisch 5. 212. 256. 263. 265. 312.
140.157.160.164.167.186.187.196. 324. 347. 348. 356-358. 365. 375.
200. 210. 214. 224. 234. 244. 250. 378. 379. 388. 389. 410
258. 262. 267. 299. 300. 307. 326. Neutrale Farben, unbunte Farben 52.
329 . 330. 334. 341. 359. 374. 375- 53. 59. 67. 70. 82-84. 125. 131. 144.
377. 378. 379. 413. 415 191. 220. 226. 229. 250. 260
Lichtfarbe 10. 126. 255. 260. 285. 296. „Neutralisierter“ Gesamtton, -Bezirk
352 81. 82. 85. 94. 109. 112. 113. 125.
Licht/Finsternis (Dunkel) X A2. 1. 190. 202. 206. 220. 293. 336
11. 77. 80. 82.216.230. 256. 326. 332 Nuancen, Nuancierung X A2. 33. 39.
Lichtquelle 6. 11. 40. 62. 78. 101. 102. 69. 82. 86. 88. 98.153.156.166.175.
136. 137. 187. 200. 229. 238. 244. 203. 210. 213. 252. 264. 290. 331.
247. 273 332. 333
430 Register

Oberflächenfarbe 8. 100. 102. 105. Spezifisches Farblicht 313


108. 208. 211. 368 Standortlicht 11. 57
Oberflächenstruktur 82. 235. 236 Substanzfarbe 324. 352. 353. 387
Optische Mischung 5. 6. 286. 287 Symbolwert, -gehalt derFarben, Farb-
symbolik 2. 2A6. 3. 30. 31
Passage 367. 410
Pointillismus 313. 348 Temps gris 262. 303
Potentielle Farbigkeit 52. 59. 86. 184. Tiefenlicht 75. 227
185 Ton, Tonwert, Tonalität, Farbton 47.
48. 55. 67. 70. 140. 153. 168. 189.
Raumdunkel, Raumverdunkelung 24. 243. 250. 260. 264. 302. 308. 311.
39.45.50.53. 57. 61A46. 81. 87.97 320. 344. 371
Raumfarbe 208. 210. 211. 225. 244 Toniges Kolorit, Tonmalerei 41. 201.
Raumschatten 102. 109. 132. 135. 205. 206. 233. 292. 311. 314. 339.
143. 150. 232 363. 398. 410
Reflexfarbe, farbiger Reflex 60. 68. Trias, Triaden der Grundfarben 65.
139. 155. 156. 231. 253. 284. 285. 84. 86. 122. 123. 125. 128. 129. 133.
301. 303 135. 145. 146. 149. 152-154. 156.
Reflexlicht 81. 103. 137.152. 209. 253. 160.162.167.168.174.181.183-185.
255. 273 192. 195. 198. 201-204. 206. 209.
Reliefhelligkeit, Relieflicht 36. 37. 51 210. 211-213. 215. 216. 218. 220-
Reliefschatten 36. 37. 48 223. 225. 228. 229. 231. 232. 235.
237. 241. 242. 250. 251. 253 . 257.
Schatten 4. 6. 33. 34. 37. 38. 48. 51. 258. 263. 272. 273. 279. 287. 315.
55. 56. 59. 60. 66. 75. 77. 96. 110. 336. 337. 354. 358. 411
136. 138. 140. 210. 227. 228 . 277. Trias der Sekundärfarben 152. 153.
284. 285. 299. 300. 305. 307. 315. 221. 223
337-339 Trübung,Trübe 28. 47. 50. 77. 96. 144.
Schlagschatten 40. 49. 61. 68. 69. 97. 209. 253. 326
101-104.107.111.130.136. 279. 315.
337 Valeur 62 A54. 149. 208. 262. 263.
Sendelicht 2 289. 290-292. 314. 338. 339. 344.
Simultankontrast 263. 268. 322. 375. 347
378. 379. 380. 405. 406 Veri colori 58. 59
Spezifische Helligkeit der Bildfarben „Vier Farben“ 4. 5. 5 A13. 266. 271.
2/3. 16. 32. 50. 51. 85.122.138. 209. 279. 280
215.229.273.275.355.399 Vorstellungsfarben 2. 3
I
Die Malerei des 17. Jahrhunderts 231

Mohrenkönigs, etwas gedeckter, bräunlicher im Kopftuch Mariens; der


bräunlichweiße Lichtstreifen hinter dem Berge wirkt nur als schmale
Unterbrechung des Hintergrunddunkels. Damit sind die Pole benannt,
innerhalb derer die Farben sich entfalten. Dem Weiß folgen als Hellig-
keitswerte das helle, klare Ledergelb im Tuch um die Füße des Kindes,
grau-oliv-grünlich schattiert, und das zart bräunliche, in den Halb-
schatten gedeckt purpurfarbene, im Licht stumpf rosafarbene Karmin
des Mariengewandes. Ihr Mantel, in leicht griinstichigem Dunkelblau,
wendet sich zur Dunkelheit; Ledergelb, Karmin und Dunkelblau
schließen sich in der Gestalt Mariens zu einer Variation der primären
Trias zusammen. Eine zweite, ebenso verhalteneTrias antwortet ihr und
bindet farbig zwei der Könige. Mit braunen Schatten schließt das braun-
Mohrenkönigs an die Dunkelheit an, der
den Königs und das helle, gedeckte Grau-
tigern die Reihe der lichtzugewandten
;r vermählen sich mit der umfassenden
ang herabfallende, am Boden sich stau-
die Verbindung her zum Bronzedunkel
iese Bronzedunkels wirken die tiefen
abrupt von den lichtgetroffenen Partien
Farben die Spannung zwischen strah-
lheit.
en >Trinkern< (Prado) wird das umfas-
enTiefschatten sich vereinen, nochmals
in sich bewegten Blaugrau mittlerer Hel-
mmelt sich das Dunkel in den Figuren.
ben empor, iiber Braun und Ledergelb
cchus, das ins Licht ausstrahlt, und zum
aun des Schattengrunds kehrt wieder im
estalt des Kauernden vorne links - im
% ch vorne ab! Von der Braunreihe weicht
des Bacchus-Mantels ab: es repräsen-
haltenenTrias, mit Ledergelb und tiefem
lienden, die sie einbetten in Dunkelheit

r Grund bei der >Schmiede des Vulkan<


fs Grau wird angeschlagen im Himmels-
Haaren und Lendenschiirzen der Zyklo-
, entfaltet sich in der Werkstattwand,
ergrund mit den Geräten, die auf dem
îgenstândlicht sich im olivtonigen Len-
r Bildmitte. Nur eine großflächige Farbe

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