Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
-
h
- - andelnd denkend gestaltend
DER BEGINN
LA RINASCITA
DIE BARTHOLOMÄUSNACHT
LE GRAND SIÈCLE
GESUNDER MENSCHENVERSTAND
UND RÜCKKEHR ZUR NATUR
„Sie können doch nicht leugnen, daß Fräulein Vermillon hübsch ist.
Sie hat so reizend frische Farben.” „Ja, besonders wenn sie frisch ange-
strichen ist.” „O pfui! Ich möchte schwören, daß ihre Farben natürlich
sind. Man kann ja sehen, wie sie kommen und gehen.” „Gewiß kann man
das sehen. Sie gehen am Abend und kommen am Morgen. Und wenn
sie einmal ausbleiben, so kann sie ihr Mädchen um sie schicken.” „Aber
eines steht fest: ihre Schwester ist - oder war - sehr schön.” „Wer?
Frau Evergreen? Mein Gott, sie ist heute sechsundfünfzig Jahre.” „Nein,
da tun Sie ihr ganz gewiß unrecht: zweiundfünfzig oder dreiundfünfzig
ist das Höchste; und ich finde, sie sieht nicht älter aus.” „Ach, nach
ihrem Aussehen kann man nicht urteilen, denn man bekommt ja niemals
ihr Gesicht zu sehen.” „Nun, wenn Frau Evergreen auch einige Mittel-
chen anwendet, um die Schäden der Zeit zu verdecken, so muß man ihr
doch lassen, daß sie es sehr geschickt macht, jedenfalls besser als die
Witwe Ochre, die eine sehr unbegabte Malerin ist.” „Nein, nein, Sie
sind zu streng gegen die Witwe Ochre, denn, sehen Sie, es liegt nicht
daran, daß sie schlecht malt, sondern wenn sie ihren Kopf fertig hat, so
fügt sie ihn so ungeschickt an den Hals, daß sie aussieht wie gewisse alte
Statuen, bei denen der Kenner sofort bemerkt: der Kopf ist modern,
aber der Rumpf ist antik.” „Sie sind zu boshaft, Mylady. Ich glaube,
echter Witz ist der Gutmütigkeit näher verwandt, als Sie anzunehmen
scheinen.” „Gewiß, ich glaube sogar: sie sind so nahe verwandt, daß sie
nie eine Ehe schließen können.”
` `
Wie ist reine Sinnlichkeit Anschau- Erschei-
Mathematik ungen nungen
möglich?
Wie ist reine Verstand reine Begriffe Erfahr- Empi-
Naturwissenschaft Ver- ung rische
möglich? nunft Reali-
tät
Wie ist Metap- Vernunft Ideen ...Wis-
hysik möglich? i. e. S. senschaft
Nichts Modernes ist mit etwas Antikem vergleichbar; mit Göttern soll
sich nicht messen irgendein Mensch. (Wilhelm von Humboldt) -
Der Griechen Weisheit ist gar viehisch. (Luther)
Griechenland ward die Wiege der Menschlichkeit, der Völkerliebe.
(Herder) — Humanität ist etwas so sehr Ungriechisches, daß die Sprache
nicht einmal ein Wort dafür hat. (Wilamowitz)
Griechheit, was war sie? Verstand und Maß und Klarheit! (Schiller)
- In den Griechen „schöne Seelen”, „goldene Mitten” und andere Voll-
kommenheiten auszuwittern, vor dieser niaiserie allemande war ich durch
den Psychologen behütet, den ich in mir trug. (Nietzsche)
An Seel' und Leib gesund sind durchaus nur die Griechen. Dagegen
unsre Welt ein großes Haus der Siechen. (Rückert) - Die ganze Kultur
der Griechen war rings von Hysterie beschlichen und umstellt. Die Grie-
chen sind toll gewesen. (Bahr)
Die Stiftung der Wissenschaft wird für immer der Ruhm der Griechen
bleiben. (Lotze) - Ihrem Geist fehlt die geduldige Besonnenheit, um von
besonderen, fest umschriebenen Tatsachen zu allgemeinen Wahrheiten den
einzig sicheren Pfad emporzusteigen. (Dubois-Reymond)
Die Alten lebten für das Diesseits, den Griechen ist die irdische Wirk-
samkeit alles. (Curtius) - Seltsames Gerede: die Griechen mit ihren
Gedanken nur aufs Diesseits gerichtet! Im Gegenteil: wohl kein Volk,
das an das Jenseits so viel, so bang gedacht hätte! (Rohde)
Ihre Geistesveranlagung führte die Griechen dazu, das Leben als einen
Lustwandel aufzufassen. (Taine) - Man hat es vor allem zu tun mit
einem Volk, welches in höchstem Grade seine Leiden empfinden und der-
selben bewußt werden mußte. (Burckhardt)
Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte,
vorzüglich sich selbst. (Friedrich Schlegel)
EMPIRE
DAS LUFTGESCHÄFT
I M P E R I A L I S M U S U N D I M P R E S S I O N I SM U S
Die Wende der achtziger Jahre macht eine ziemlich scharfe Zäsur.
1888 ist das „Dreikaiserjahr”: am 9. März stirbt, fast einundneun-
zigjährig, Wilhelm der Erste, am 15. Juni, nach neunundneunzig-
tägiger Regierung, Friedrich der Dritte, und es beginnt die wil-
helminische Ära, deren politische Grundzüge schon in den aller-
ersten Jahren deutlich hervortreten. 1889 wird vom Reichstag die
erste Flottenverstärkung bewilligt; in demselben Jahr beginnt das
französische Kapital die russische Industrie in großem Maßstab
zu finanzieren, nachdem schon im Dezember des vorhergegange-
nen Jahres die erste russische Staatsanleihe von einer halben Milli-
arde Franken aufgenommen worden war, der alsbald weitere fol-
gen. Am 20. März 1890 erfolgt der Rücktritt Bismarcks; der
russische Rückversicherungsvertrag wird von dem neuen Reichs-
kanzler Caprivi, als „zu kompliziert”, nicht erneuert; dasselbe
Jahr bringt das Ende des Sozialistengesetzes, dessen Verlängerung
vom Reichstag abgelehnt wird, und bei den Neuwahlen einen
Sieg der Linken. Im Frühjahr 1888 hält Georg Brandes an der
Kopenhagener Universität Vorträge „über den deutschen Philo-
sophen Friedrich Nietzsche”, die zum erstenmal die europäische
Aufmerksamkeit auf dessen Werke lenken; im Januar 1889 erleidet
Nietzsche seinen geistigen Zusammenbruch, fast gleichzeitig be-
ginnt er in seinem Vaterland gelesen zu werden, ein Jahr später be-
sitzt er die „exzessive Berühmtheit”, die er in einem seiner letzten
Briefe seinem Verleger prophezeit hatte. Um dieselbe Zeit dringen
Tolstoi und Ibsen erobernd nach Deutschland, England, Frank-
reich. In der Saison 1889 auf 1890 wird die Berliner „Freie Bühne”
eröffnet und die gleichnamige Zeitschrift gegründet, womit sich
der Sieg der naturalistischen Bewegung entscheidet; ihm parallel
läuft der Durchbruch des verismo in Italien. 1889 erscheinen:
Strindbergs „Vater”, Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang”, Suder-
manns „Ehre”, Liliencrons „Gedichte”, Richard Straußens erste
große Symphonie „Don Juan”, Bergsons erste Studie, die schon
sein ganzes philosophisches Programm enthält; 1890 treten Ham-
suns, Wedekinds, Maeterlincks, Mascagnis bedeutsame Erstlings-
werke ans Licht: „Hunger”, „Frühlings Erwachen”, „Princesse
Maleine”, „Cavalleria rusticana”; Leibl, Liebermann, Uhde, bisher
unbeachtet, beginnen allgemeinen Verdruß zu erregen.
Es ist überaus symptomatisch, daß der Held des stärksten Dra-
mas dieser Epoche, Oswald Alving, der geistigen Auflösung ver-
fällt, und daß der Philosoph, der Maler und der Musiker, die das
Zeitalter am eindringlichsten und repräsentativsten verkörperten:
Nietzsche, van Gogh und Hugo Wolf dieselbe Katastrophe erlit-
ten. In diesen vier großen Lebensschicksalen, welthistorischen
Symbolen höchsten Ranges, erklärt der Geist der Zeit, sich tragisch
gegen sich selber wendend, seinen Bankerott.
Dabei schien, bloß von außen betrachtet, das Zeitalter von
höchster Vitalität erfüllt. Doch war dieser robuste Drang zur
Realität in Wahrheit eine Krankheitserscheinung: als einseitige
und hypertrophische Ausbildung einer Eigenschaft auf Kosten
aller anderen und unbewußter Versuch, eine unheilbare Halt-
losigkeit, Lebensunfähigkeit und innere Leere durch krampfhafte
äußere Aktivität, einen fast manischen Bewegungsdrang zu kom-
pensieren. Diesen paradoxen Zusammenhang zwischen Verfall
und scheinbar kraftvoller Betätigung des Lebenswillens hat
Nietzsche in seiner Philosophie vorbildlich zur Darstellung ge-
bracht: die Geburt des Willens zur Macht als dem Geiste der
Décadence. Im „Ecce homo” sagt er: „Abgerechnet nämlich, daß
ich ein Décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz.” Der Gegen-
satz ist der Übermensch. Aber, und dies ist der tiefste Sinn der
Nietzschischen Philosophie (den er selber sehr wohl kannte, nur
zumeist nicht verstehen wollte): der Übermensch ist der Déca-
dent noch einmal! So schwebt sein Gedankengedicht als ein erha-
benes Paradigma über dem sterbenden Jahrhundert: als die tiefste
Kritik des europäischen Nihilismus und als dessen höchste Inkar-
nation: denn einen extremeren Nihilismus als die restlose und aus-
schließliche Bejahung des Lebens gibt es nicht, weil das nackte
„Leben”, wie Nietzsche selber unzähligemale hervorgehoben
hat, nichts ist als die völlige Abwesenheit jeglicher Art von Sinn.
Im letzten Akt der Neuzeit, die mit dem Immoralismus der Re-
naissance anhebt und im Immoralismus Zarathustras untergeht,
war Deutschland der führende Agonist. Beginnen wir mit der
Betrachtung der oberflächlichsten Lebensäußerungen, des Rinden-
und Bastgewebes des Zeitkörpers sozusagen, so bemerken wir
Deutschland an der Spitze fast der gesamten Großfabrikation,
tonangebend im Geschützbau, im Schiffsbau, in der optischen,
diemischen und elektrotechnischen Industrie. Sehr im Gegensatz
zum alten Deutschland: in Berlin regieren nicht mehr Fichte und
Hegel, sondern Siemens & Halske und statt der Brüder Humboldt
die Brüder Bleichröder, in Jena gelangt als Nachfolger Schillers
Zeiß zu Weltruf, in Nürnberg werden Dürers Werke von
Schuckerts Werken abgelöst, Frankfurt am Main muß vor Höchst
am Main weichen und an die Stelle der Farbenlehre tritt die
Farben-AG.
Eine der wesentlichsten Veränderungen im äußeren Gestus des
Zeitalters ist das Heraufkommen eines neuen Tempos: eilfertige
Kleinbahnen, Großomnibusse, Tramways, anfangs mit Pferden
líder Dampf, bald auch elektrisch betrieben, beherrschen das Stadt-
bild; Blitzzüge, von Jahr zu Jahr verbesserte Telephone, täglich
wachsende Telegraphenanlagen besorgen den Fernverkehr. Dieses
ebenso komplizierte wie zentralisierte Kommunikationssystem
verleiht dem Menschen nicht bloß eine erhöhte Beschleunigung,
sondern auch Allgegenwart: seine Stimme, seine Schrift, sein Leib
durchmißt jede Entfernung, sein Stenogramm, seine Kamera
fixiert jeden kürzesten Eindruck. Er ist überall und infolgedessen
nirgends, umspannt die ganze Wirklichkeit, aber in Form von
totem Wirklichkeitsersatz. Ein erschütterndes Symbol dieses
Seelenzustandes ist der Untergang der „Titanic”, des größten
Luxusschiffes der Welt, das bei seiner ersten Ausfahrt den Schnel-
ligkeitsrekord schlägt, aber um den Preis des Todes. Ins Humor-
hafte gewendet erscheint dasselbe Motiv in Jules Vernes „Reise um
die Erde”; Phileas Fogg, dessen Leben sich bisher mit mathemati-
scher Gleichmäßigkeit zwischen Club und Home abgespielt hat,
rast um den Planeten, um zu beweisen, daß dies mit ebenso mathe-
matischer Zuverlässigkeit in genau achtzig Tagen möglich ist:
seine Romantik besteht in Eisenbahnstörungen, versäumten
Schiffsanschlüssen und deren geistesgegenwärtiger Überwindung.
Und noch ehe das Jahrhundert Abschied nimmt, erzeugt es die
zwei größten Veränderer der äußeren Realität, die die neueren
Zeiten erblickt haben: das Automobil und den Kinematographen.
Das Weltbild sowohl der theoretischen wie der praktischen
Physik erfuhr eine entscheidende Umorientierung durch zwei Ent-
deckungen, an denen wiederum Deutschland in hervorragendem
Maße beteiligt war: sie sind bezeichnet durch die Zauberworte
Röntgenstrahlen und drahtlose Telegraphie. Wir erinnern uns, daß
bereits im siebzehnten Jahrhundert Huygens in seiner Undulations-
theorie behauptet hatte, das Licht werde durch die Schwingungen
eines besonderen elastischen Stoffes, des Äthers, fortgepflanzt, aber
gegen die Autorität Newtons nicht durchdringen konnte, dessen
Emissionstheorie das Licht als eine feine von den leuchtenden Kör-
pern ausgeschleuderte Materie ansah. Hundert Jahre später griff Eu-
ler, der größte Mathematiker seiner Zeit, auf Huygens zurück, in-
dem er betonte, daß bei Lichtphänomenen niemals ein Materialver-
lust zu konstatieren sei, vielmehr diese ganz ebenso wie der Schall
durch Schwingungen zustande kämen, nur daß hier der Äther die
Rolle der Luft spiele. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
führte Thomas Young auch die Farben auf bloße Unterschiede in
der Anzahl der Schwingungen zurück, die während derselben Zeit-
einheit unser Auge treffen. Je nach der Schnelligkeit, mit der die
Ätherbewegung auf unsere Netzhaut einwirkt, haben wir in abstei-
gender Ordnung die Empfindungen des Violett, Blau, Grün, Gelb,
Orange, Rot. 1835 wies Ampère nach, daß auch die Wärmeempfin-
dung in ihrer Entstehungsweise von der Lichtempfindung nicht
verschieden ist. Licht und Wärme sind dieselbe Naturerscheinung:
wirft ein Körper die Lichtstrahlen zurück, so nennen wir ihn leuch-
tend; läßt er sie permeiren, so nennen wir ihn durchsichtig; werfen
sie von ihm weder reflektiert noch hindurchgelassen, sondern
absorbiert, so nennen wir ihn warm. Zehn Jahre später stellte
Faraday fest, daß auch die Elektrizität mit Licht und Wärme we-
sensgleich ist: alle drei sind Bewegungen desselben Mediums.
Hierauf baute 1873 Maxwell seine elektromagnetische Lichttheo-
rie. Nach ihr ist Elektrizität nichts anderes als Erzeugung von Trans-
versalwellen im Äther, die von sehr verschiedener Länge sein
können, aber stets dieselbe Geschwindigkeit besitzen wie das Licht,
nämlich dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde. Die Rich-
tigkeit dieser Theorie wurde von dem genialen frühverstorbenen
Physiker Heinrich Hertz experimentell bewiesen; mit Hilfe eines
sehr sinnreich konstruierten Apparates, des „Hertzschen Oszilla-
tors”. Er berichtete hierüber in einem Vortrag, den er 1889 vor der
Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Heidelberg
hielt; „meine Behauptung”, erklärte er, „sagt geradezu aus: das Licht
ist eine elektrische Erscheinung, das Licht an sich, alles Licht, das
Licht der Sonne, das der Kerze, das eines Glühwurms. Nehmt aus
der Welt die Elektrizität, und das Licht verschwindet; nehmt aus
der Welt den lichttragenden Äther und die elektrischen und ma-
gnetischen Kräfte können nicht mehr den Raum überschreiten ...
Wir sehen nicht mehr in den Leitern Ströme fließen, Elektrizitäten
sich ansammeln; wir sehen nur noch die Wellen in der Luft, wie
sie sich kreuzen, sich vereinigen, sich stärken und schwächen . ..
Wir erblicken Elektrizität an tausend Orten, wo wir bisher von
ihrem Vorhandensein keine sichere Kunde hatten. In jeder Flamme,
in jedem leuchtenden Atome sehen wir einen elektrischen Prozeß.
Auch wenn ein Körper nicht leuchtet, solange er nur noch Wärme
ausstrahlt, ist er der Sitz elektrischer Erregungen.” Nach Stahls
„Wärmestoff” und Newtons „Lichtstoff “ wurde nun also auch die
Elektrizität des Rangs eines Stoffes entkleidet, dafür aber zu einer
Kraft von allmächtiger Ubiquität erhoben. Elektromagnetische
Wellen, die eine Länge von vier bis siebeneinhalb Zehntausend-
steln eines Millimeters besitzen, wirken auf unser Auge als Licht;
von da an bis zu etwa fünfzig Tausendsteln eines Millimeters emp-
finden wir sie als Wärme; erreichen sie eine Länge von einigen
Zentimetern bis zu vielen Metern, so äußern sie sich als Elektrizi-
tät. Elektrische Wellen sind Lichtwellen von sehr großer Schwin-
gungsdauer; beide sind Zustandsänderungen desselben Äthers.
Eine unmittelbare Folge der Hertzschen Arbeiten war die Erfin-
dung des Kohärers durch Branly, 1890, der äußerst empfindlich
auf elektrische Wellen reagiert. Hieran knüpften sich die Ver-
suche Marconis, dem 1896 durch Errichtung von Antennen die
Konstruktion des ersten praktisch brauchbaren Apparats für
drahtlose Telegraphie gelang.
In demselben Jahr entdeckte Becquerel die nach ihm benannten
Strahlen, nachdem ihm wenige Monate früher Röntgen mit der
Auffindung der X-Strahlen vorangegangen war. Auch die
Becquerelstrahlen sind elektrische Phänomene wie die Licht-
strahlen; sie unterscheiden sich aber von diesen dadurch, daß sie
weder reflektiert noch gebrochen, dagegen durch elektrische und
magnetische Kräfte abgelenkt werden; und vor allem besitzen sie
die geheimnisvolle Gabe, daß sie, obgleich selbst unsichtbar, un-
durchsichtige Stoffe zu durchleuchten vermögen. 1898 entdeckten
Pierre und Marie Curie in der Pechblende zwei neue Elemente:
dem einen gab Frau Curie, eine gebürtige Polin, den chauvinisti-
schen Namen Polonium; das andere wurde von ihrem Gatten
sehr zutreffend Radium getauft. Seine Haupteigenschaft ist näm-
lich die Radioaktivität, die Fähigkeit, dauernd Becquerelstrahlen
auszusenden. Hierauf machte William Ramsay die noch merk-
würdigere Entdeckung, daß das Radium durch Atomzerfall be-
ständig ein Gas, die sogenannte Emanation erzeugt, die sich, nach
mehreren komplizierten Zwischenprozessen, schließlich in Helium
verwandelt, ein Edelgas, dessen Existenz bereits 1868 auf spektral-
analytischem Wege in der Sonnenatmosphäre nachgewiesen wor-
den war, auf Erden aber bis dahin nicht festgestellt werden
konnte. Wird die „Emanation” mit Wasser in Berührung gehal-
ten, so bildet sich ein anderes gasförmiges Element, das Neon,
bringt man sie mit Kupfer- oder Silbersalzen zusammen, so ent-
steht ein drittes, das Argon. Das Radium ist also ein Element, das
sich fortwährend in andere Elemente verwandelt. Ferner haben die
Radiumsalze (das reine Metall ließ sich noch nicht isolieren) die
Eigenschaft, daß sie die Luft, durch die sie ihre Strahlen senden,
elektrizitätsleitend machen, „ionisieren”, und daß sie alle Körper,
die sich in ihrer Nähe befinden, vorübergehend radioaktiv machen,
mit „induzierter Radioaktivität” ausstatten. Man suchte dies auf
dem Boden der sogenannten Elektronentheorie zu erklären, die eine
Art Rückkehr zur Annahme eines „Elektrizitätsstoffs” bedeutet, in-
dem sie als letzte Bausteine Elektronen voraussetzt, negativ oder
positiv geladene elektrische Einheiten, die vieltausendmal kleiner
sind als die kleinsten Atome. Die induzierte Radioaktivität würde
dann darauf zurückzuführen sein, daß alle Atome aus Elektronen
bestehen, die aber im Falle des Radiums labile Systeme bilden,
daher aus dem Atomverband auszutreten und sich gradlinig, als
sogenannte Korpuskularstrahlen, fortzubewegen vermögen. Im
allgemeinen denkt man sich ein Atom wie ein Sonnensystem ge-
baut, worin um einen positiv geladenen Zentralkörper die negati-
ven Elektronen als Planeten kreisen, nach denselben Gesetzen, die
Kepler für die Bewegung der Gestirne aufgestellt hat. Nun ist aber
die Elektronentheorie, die in ihren Grundlagen auf Helmholtz
zurückgeht, mit der Hertzschen Wellentheorie offenbar ganz un-
vereinbar. Infolgedessen versuchte der holländische Physiker Lo-
rentz 1892 aus beiden eine Synthese zu bilden, indem er annahm,
daß alle elektrischen Vorgänge, die sich innerhalb der Körper
tollziehen, auf der Basis der atomistischen Stofftheorie, also durch
die Annahme von Elektronen zu erklären seien, dagegen alle elek-
trischen Fernwirkungen durch Schwingungen, also nur unter
Zuhilfenahme des Äthers. Dieser Ausgleich ist allgemein akzeptiert
worden; ich muß ihn jedoch zu meinem Bedauern ablehnen, da
er, an die Abgrenzung nach Einflußsphären erinnernd, wie sie
in der Kolonialpolitik üblich ist, eine reine Verlegenheitslösung,
ja eine unbewußte Bankerotterklärung der gesamten theoretischen
Physik bedeutet, die mit einer plumpen und einseitigen Welt-
formel in eine Sackgasse geraten ist, dies aber, vor sich selber nicht
Wahrhaben will. Materialistisch läßt sich die Materie eben nicht
erklären: dies verkannt zu haben, war der Grundirrtum der ganzen
modernen Naturwissenschaft. Auch in der Lichttheorie hat man
neuerdings, um die Elektronen um jeden Preis zu retten, zu einer
Mischhypothese gegriffen, die sich als eine verkappte Rückkehr
zu Newton darstellt, indem man annimmt, daß das Atom durch
Übergang der Elektronen von einer höheren zu einer niedrigeren
Energiestufe elektromagnetische Wellen aussendet, die sich als
Lichtstrahlen kundgeben. Alle diese Theorien sind nichts als geist-
reiche Spielereien, deren Lebensdauer zu dem Ewigkeitsgehalt, mit
dem sie sich zu brüsten pflegen, in lächerlichem Kontrast steht.
Berufen sie sich darauf, daß sie „experimentell bewiesen” seien,
so ist ihnen zu erwidern, daß sich alles experimentell beweisen
läßt: dies hängt nur von der Geschicklichkeit und Glaubensbereit-
schaft des Experimentators ab. Auch das „Phlogiston” ist experi-
mentell bewiesen worden, und obgleich es ein offenkundiges Hirn-
gespinst war, hat dies doch keineswegs verhindert, daß Lavoisier,
Haller und andere große Gelehrte mit seiner Hilfe die aufschluß-
reichsten chemischen Entdeckungen und die wohltätigsten medi-
zinischen Kuren vollbracht haben. Auf Grund des ptolemäischen
Systems wurden die Sonnen- und Mondfinsternisse ebenso exakt
vorausgesagt wie heutzutage; was zugleich der experimentelle
Beweis für seine Richtigkeit war. Theorien sind Überzeugungen;
und Überzeugungen werden dadurch bewiesen, daß man sie hat.
Physikalische und chemische Allgemeinbegriffe, die man für die
richtigen hält, stecken immer schon im Ansatz der Anfangsglei-
chung, von der man ausgeht; kein Wunder, daß sie am Schluß
der Operation wieder herausfallen. Was Wundt, natürlich vom
„wissenschaftlich orientierten” Standpunkt, einmal gegen die spi-
ritistischen Experimente Zöllners vorbrachte, läßt sich auf alle
Experimente anwenden, auch auf die seinigen: „Wer an Zauberei
glaubt, macht über sie Experimente, und wer nicht an sie glaubt,
macht in der Regel keine. Da aber der Mensch bekanntlich eine
große Neigung hat, was er glaubt, bestätigt zu finden, und zu die-
sem Zwecke sogar einen großen Scharfsinn anwendet, um sich
selbst zu täuschen, so beweist mir das Gelingen solcher Experimente
zunächst nur, daß die, die sie machen, auch an sie glauben.”
Gerade die staunenswerten Entdeckungen der Radiologie hätten
dem Naturforscher das Ignorabimus eindringlich ins Bewußtsein
rufen müssen, denn durch sie wurden drei seiner Fundamentalvor-
stellungen depossediert, indem deren Definitionen sich vollkom-
men auflösten. Einer der grundlegenden Begriffe war in der Che-
mie bis dahin das Element, dessen Kardinaleigenschaft in seiner
Unverwandelbarkeit besteht, in der Physik das Atom, dessen ent-
scheidendes Merkmal die Unteilbarkeit ist, in der Optik der opake
oder dunkle Körper, dessen Wesen darauf beruht, daß er die Licht-
strahlen verschluckt. Alle diese Definitionen sind nunmehr unhalt-
bar, ja fast zum Unsinn geworden.
Man hat hieran aber noch weitergehende Folgerungen geknüpft.
Wenn bei dem Vorgang der Radioaktivität sich vom Atomkern
Elektronen abspalten, so besteht die Hoffnung, daß dies auch künst-
lich bewirkt werden kann. In der Tat gelangen Rutherford (dieser
Name hatte schon einmal in der Geschichte der Naturwissenschaf-
ten Epoche gemacht, da sich an ihn die Entdeckung des Stickstoffs
knüpft) im Jahre 1911 solche „Atomzertrümmerungen”, wenn
auch nur in sehr geringem Ausmaße und unter besonders günsti-
gen Bedingungen. Immerhin besteht die theoretische Möglichkeit,
daß man eines Tages, auf diesem Wege fortschreitend, imstande
sein wird, die ungeheueren, aber für gewöhnlich gebundenen
Energiemengen, deren Sitz das Atom bildet, freizumachen und zu
verwerten. Es ist berechnet worden, daß durch die Dissoziation
eines einzigen Pfennigstücks etwa dreizehneinhalb Milliarden
Pferdekräfte aktiv werden würden. Die Entbindung der „intra-
atomischen” Energie würde selbstverständlich eine vollkommene
Umwälzung aller irdischen Verhältnisse zur Folge haben. Hinge-
gen können nur sehr naive Personen glauben, daß dies auch die
Lösung der sozialen Frage bedeuten würde. Da der „Normal-
mensch”, der freilich gar nicht der normale ist, aber unser Wirt-
schaftsleben beherrscht, als gedankenloser Schurke geboren wird
und stirbt, so ist zu vermuten, daß derartige Errungenschaften der
Technik, ganz ebenso wie die bisherigen, nur zu neuen Formen
der allgemeinen Habsucht und Ungerechtigkeit führen würden.
Man stelle sich vor, daß vor zweihundert Jahren jemand prophe-
zeit hätte, in welchem Maße es der Menschheit gelingen würde,
die magnetische Energie, die elektrische Energie, die Sonnenener-
gie, die in der schwarzen Kohle, und die Wasserenergie, die in der
„weißen Kohle” aufgespeichert ist, nutzbar zu machen: welche
ganz selbstverständlichen Schlüsse auf paradiesische soziale Zu-
stände hätten die Philanthropen daraus gezogen! Statt dessen ist
alles viel schlimmer geworden, und Europa zerfällt in kapitalisti-
sche Staaten, in denen die meisten Bettler sind, und in Sowjetstaa-
ten, in denen alle Bettler sind. Nein: durch die „Aktivierung des
Atoms” würden bloß die Oberen noch gieriger, die Unteren noch
ärmer, also beide noch hungriger werden und die Kriege noch be-
stialischer; zur Lösung der sozialen Frage bedarf es einer morali-
schen Emanation, Strahlenerzeugung und Atomzertrümmerung.
Im Sinne einer solchen haben zu Ausgang des Jahrhunderts die
„Fabier” sehr vorurteilslos und wohltätig gewirkt, weshalb sie eine
besondere Erwähnung verdienen. Die Fabian Society, gegründet
1883, der Sidney und Beatrice Webb, Wells, Shaw, die später so
berühmte Theosophin Annie Besant und viele andere edle und be-
gabte Menschen angehörten, entwickelte in ihren Fabian Tracts,
Essays, News, die über die ganze Welt verbreitet waren, kein be-
stimmtes Credo. Ihr Motto lautete: „Den richtigen Moment mußt
du abwarten, wie Fabius es geduldig tat, als er gegen Hannibal
kämpfte, obgleich mancher sein Zögern tadelte. Aber wenn die
Zeit kommt, mußt du kräftig zuschlagen wie Fabius, oder dein
Warten wird ganz vergeblich gewesen sein.” Unter Sozialismus
verstand sie ganz allgemein „einen Plan, allen gleiche Rechte und
gleiche Möglichkeiten zu sichern”. Der Sozialismus wird sich ge-
räuschlos und ohne daß es seinen Opfern zum Bewußtsein kommt,
verwirklichen: „wir stehen”, sagt Sidney Webb, „bereits mitten
im Sozialismus; unsere Gesetzgeber sind schon alle, ohne es zu
wissen, Sozialisten und die Wirtschaftsgeschichte des neunzehnten
Jahrhunderts ist eine fast ununterbrochene Kette des Fortschritts
im Sozialismus.” Einen verwandten Standpunkt vertrat in
Deutschland eine große wissenschaftliche Schule, die sich zur „hi-
storischen” Nationalökonomie bekannte, im Gegensatz zur dog-
matischen oder klassischen, deren Begründer Adam Smith und
Vollender John Stuart Mill war. Diese hatte behauptet, daß es im
Wirtschaftsleben eine Reihe „natürlicher Gesetze” gebe, da die
elementaren Bedürfnisse des Menschen stets dieselben seien: das
Wesen dieses in allen Ländern und Zeiten gleichen „homo oecono-
micus” gelte es zu ergründen und in bestimmten volkswirtschaft-
lichen Axiomen zu fixieren. Die wichtigsten: das Bevölkerungs-
gesetz, das Lohngesetz, das Gesetz der freien Konkurrenz, das Ge-
setz des Angebots und der Nachfrage haben wir bereits kennen-
gelernt. Hierüber entbrannte ein Gelehrtenstreit: die „deduktive”
Schule, geführt von Professor Menger, bezeichnete als den
Hauptinhalt der Wirtschaftswissenschaft „das Generelle, das
Typische, die typischen Relationen”; die historische Schule,
an ihrer Spitze Professor Schmoller, erklärte die klassischen
Gesetze für „abstrakte Nebelbilder, denen jede Realität mangelt”
und die Nationalökonomie für eine rein induktive Wissenschaft,
die es ausschließlich mit dem konkreten Leben der Vergangenheit
und Gegenwart und dessen Deskription zu tun habe. Der Zusam-
menhang dieser ideenfeindlichen, wirklichkeitsfreudigen Richtung,
die um die Wende der achtziger Jahre allmächtig wurde, mit der
gleichzeitigen naturalistischen Bewegung in der Kunst ist unver-
kennbar. An die Stelle des bisherigen Absolutismus, erklärten die
Anhänger der historischen Schule, müsse der theoretische und
praktische Relativismus treten; die Gesetze der Nationalökono-
mie seien überhaupt gar keine Gesetze wie etwa die physikalischen
und chemischen, denn diese gälten überall und immer, jene nur
unter ganz bestimmten, wandelbaren geschichtlichen Bedingun-
gen. Sie hatten hierin insofern recht, als die Volkswirtschaft in der
Tat immer nur das Produkt des jeweils gegebenen historischen
Zustandes ist und ihre Lebensgesetze daher ebensowenig Ewig-
keitscharakter besitzen wie dieser, übersahen jedoch, daß dies das
Schicksal aller menschlichen Betätigungssphären und der aus ihnen
gezogenen Wissenschaften und daher die Aufstellung von theore-
tischen Gesetzen hier ebenso berechtigt und ebenso unberechtigt
ist wie auf anderen Gebieten. Auch die Sprachgesetze, die Natur-
gesetze, ja sogar die mathematischen Gesetze sind bloße Deduk-
tionen aus den bisherigen Beobachtungen und verändern sich so-
fort, wenn widersprechende hinzutreten; ja es ist nicht einmal eine
neue Empirie nötig, um sie aufzuheben, sondern hierzu genügt
eine einfache Verschiebung des allgemeinen Weltgefühls, dessen
bloße Funktion sie sind. Wissenschaften sind nichts als Stenogram-
me unserer Vorurteile.
Die Vertreter der historischen Richtung entwickelten aber auch
eine sehr bemerkenswerte praktische Wirksamkeit. Sie lehrten,
der Staat sei „das Organ der moralischen Solidarität” und habe
daher nicht das Recht, der Not eines Teils der Bevölkerung gleich-
gültig gegenüberzustehen: die Zentralgewalt sei verpflichtet, die
wirtschaftlichen Beziehungen auf allgemein befriedigende Weise
zu regeln. Die Aufrechterhaltung des Privateigentums sei jedoch
zur Steigerung der Produktion unerläßlich, da nur sie die indivi-
duelle Initiative der Wirtschaftssubjekte in Spannung erhalte. Der
Propaganda der Staatssozialisten, wie sie sich nannten, sind eine
Reihe von Gesetzen und Kontrollmaßnahmen zum Schutz der
Arbeiter zu verdanken; von den Gegnern im liberalen Lager er-
hielten sie den Spottnamen „Kathedersozialisten”, weil sich unter
ihnen viele Professoren befanden, Bismarck aber erklärte, er sei
selber Kathedersozialist. In Frankreich vertraten die „Interventio-
nisten” ähnliche Prinzipien.
Auch die Versuche, den gelehrten Unterricht zu reformieren,
ergaben sich unmittelbar aus den naturalistischen Tendenzen der
Zeit. Die Angriffe, die sich in Deutschland Ende der achtziger Jahre
gegen das humanistische Gymnasium richteten, kamen hauptsäch-
lich aus zwei Lagern: von den industriell interessierten Kreisen der
höheren Bourgeoisie und von der militaristisch orientierten preu-
ßischen Hofpartei. Die ersteren erhoben die jedermann bekannten
Einwände von der praktischen Nutzlosigkeit der toten Sprachen
und plädierten für die Verdrängung der klassischen Bildung durch
eine sogenannte „realistische”, das heißt: für Annäherung an die
Gewerbeschulen; die letztere wies darauf hin, daß die vorwie-
gende Beschäftigung mit dem Altertum dem Patriotismus nach-
teilig sei, und forderte einen Unterricht auf „nationaler” Grund-
lage, also etwa im Rahmen der Kadettenschulen. Andrerseits
läßt sich nicht leugnen, daß der Gymnasialunterricht in der Tat
noch einen fast mittelalterlichen Charakter trug und in seiner for-
malistischen Verknöcherung noch sehr deutlich seine Herkunft von
den Klosterschulen verriet; eine wirklich harmonische Bildung,
die alle Gebiete des Menschlichen gleichmäßig umfaßt und allein
ein Recht darauf gehabt hätte, klassisch zu heißen, vermittelte er
nicht. 1890 fanden die „Dezemberkonferenzen” statt, Zusammen-
künfte von Schulmännern, in denen nach langen Debatten einige
Erleichterungen durchgesetzt wurden: Entfall der Reifeprüfung
aus Geschichte bei genügenden Klassenleistungen, aus Geographie
überhaupt; Verminderung der Unterrichtsstunden in den alten
Sprachen; Auflassung des lateinischen Aufsatzes und des Gebrauchs
der lateinischen Sprache beim mündlichen Examen. Damit war
niemand zufriedengestellt: die Anhänger des Alten weinten um
den lateinischen Aufsatz (obgleich dieser niemals etwas anderes
gewesen war als eine Komödie des freien Sprachgebrauchs, denn
er bestand in bloßer mechanischer Permutation einer Handvoll
ciceronianischer Phrasen) und um die lateinische Unterrichtsspra-
che (obgleich diese eine vollkommene Posse war, denn was konnte
es Närrischeres geben als einen röllchengeschmückten bebrillten
Kleinbürger, der sich gegen seine Mitmenschen der Redeweise eines
römischen Quinten bediente); die Radikalen aber wollten über-
haupt kein Latein und Griechisch. Diese Menschen gingen von
der naiven Ansicht aus, daß der Wert einer Sprache sich lediglich
nach ihrer Verwendbarkeit als Verständigungsmittel bemesse. Sie
vergaßen dabei, daß jede, auch die „tote” Sprache der Niederschlag
einer einmaligen menschlichen Seelenform ist, und im Falle der
beiden klassischen Sprachen einer sehr hohen, in welche man auf
anderem als philologischem Wege nicht eindringen kann. Indes
ließe sich dies vielleicht noch verschmerzen; aber man kann ohne
Latein und Griechisch nicht bloß das Altertum, sondern auch die
gesamte Kultur der Neuzeit nicht verstehen, die mit Dantes Gött-
licher Komödie, der höchsten „Summa” der lateinischen Schola-
stik, anhebt und in Goethes Faust, der Tragödie des „Erzhumani-
sten”, ausklingt: alles, was dazwischen liegt, ist „Renaissance”,
Wiedererweckung der Antike. Kein Philosoph, kein Dichter von
europäischem Range ist ohne die Kenntnis der Alten zu begreifen,
unsere gesamte abendländische Wissenschaft ist von ihren ersten
bis zu ihren jüngsten Tagen von antiken Quellen gespeist, und auch
die „realistischen” Disziplinen: die Medizin, die Physik, die Tech-
nik sind bis in ihre alltäglichste Terminologie hinein extrem klassi-
zistisch. Ja sogar die eigene Muttersprache kann man nur auf dem
Wege über die toten Sprachen beherrschen: man wird ohne die
Schule des Lateinischen nie ein vollkommen, präzises, klares und
flüssiges Deutsch und ohne Bekanntschaft mit dem Griechischen
nie ein philosophisches Deutsch schreiben lernen; und in der Tat
hat es keinen klassischen deutschen Stilisten gegeben, der der klassi-
schen Sprachen unkundig gewesen wäre, wie denn auch deren frü-
her viel allgemeinere Verbreitung im Mittelstand die Ursache ist,
warum man bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in
Briefen, Tagebüchern und allen anderen schriftlichen Äußerungen
so selten auf elendes Deutsch trifft, während dieses seither, durch
die Zeitungen mächtig gefördert, im Privatverkehr beinahe zur
Regel geworden ist. Was das Gymnasium- wert ist, beweist sich
weniger an denen, die es besucht, als an denen, die es nicht be-
sucht haben.
Die Dezemberkonferenzen waren von Kaiser Wilhelm einbe-
rufen worden, der überhaupt für die äußeren Tendenzen des Zeit-
alters, freilich nur für die äußeren, stets einen leuchtenden Kristal-
lisationskern gebildet hat. Es kann belacht, beklagt, verflucht, aber
von niemandem geleugnet werden, daß der Name dieses Herr-
schers dreißig Jahre lang für Millionen ein feuriges Fanal, eine
schmetternde Fanfare, eine berauschende Parole gewesen ist. Seit
Fridericus hatte man es auf deutschem Boden nicht mehr erlebt,
daß ein ganzes Zeitalter Stempel und Etikett eines Fürsten trug.
Wenn das Wort „tragisch” nicht bloß in der Kunst, sondern
auch im Leben irgendeinen anwendbaren Sinn haben soll, so muß
man das Schicksal Kaiser Wilhelms ein tragisches nennen, ja ein
shakespearisches, das nur noch keinen Shakespeare gefunden hat.
Die Tragik, die von jedem Thron magisch ausstrahlt, war auch die
seine: die dämonische Versuchung des Menschen, sich höher zu
achten als die anderen Sterblichen, weil er durch äußere Umstände
höher gestellt wurde, der gefährliche Glaube des von der Krone
Gezeichneten, mit irdischen Seelen und Schicksalen frei schalten
zu dürfen, weil er scheinbar die Macht dazu bekommen hat,
während doch kein einziges geschaffenes Wesen das Recht besitzt,
eine andere Kreatur auch nur einen Atemzug lang von ihrem eige-
nen gottgewiesenen Weg abzubiegen. „Wer soll Kaiser sein? Der
Bescheidenste”: diese schlichte und schlagende Formel, die der
„Rembrandtdeutsche” verkündet, war in Kaiser Wilhelm leider
nicht Fleisch geworden. Aber ist diese Verirrung nicht sehr mensch-
lich? Sind wir alle ihr nicht ebenso verfallen, jeder in seiner Sphäre?
Und bloß deshalb weniger schuldig, weil unser Machtkreis ein
kleinerer, die Gelegenheit zur Versündigung an fremdem Wollen
weit geringer ist?
Überhebung und Sturz, Glanz und Verblendung, der mystische
Reiz des trügerischen Gottesgnadentums: von Ödipus bis Jarl Skule
ein ewiger Stoff für den Dichter. Richard der Zweite, Richard
der Dritte, Heinrich der Vierte, Heinrich der Sechste: alle Königs-
dramen kreisen um diesen Punkt. Im ersten Akt seines historischen
Trauerspiels hatte Kaiser Wilhelm bereits den Keim gelegt zu allem,
was an verhängnisvollen Verwicklungen später folgen sollte: da-
mals, als er im Übermut der Neugekrönten den weisen Seher von
sich stieß, der jahrzehntelang das Herz und Hirn, das klare Auge
seines Landes gewesen war; und von da an wandelte er wie unter
einem geheimen Fluch, Fehler auf Fehler häufend, in allem schei-
ternd, auch edle Absichten zum bösen Ende führend. Er versuchte
sich dem deutschen Arbeiter zu nähern, wie kein Hohenzoller vor
ihm, und mußte sehen, daß er sich dem Proletariat verhaßter machte
als irgendeiner seiner Vorgänger; er setzte die deutsche Zukunft
auf das Wasser, und das Wasser wurde das Grab der deutschen
Zukunft; er hob den deutschen Wohlstand, und dieser Wohlstand
wurde das Gift der deutschen Seele; er wollte ein Weltreich schaf-
fen und was er erreichte, war der Weltkrieg.
Sein ganzer Fehler bestand im Grunde nur darin, daß er sich auf
einem Posten der menschlichen Gesellschaft befand, dem er nicht
völlig gewachsen war. Dieser Posten war der höchste, den Deutsch-
land zu vergeben hatte, und Wilhelm der Zweite war eben leider
nicht der höchste Mann, den Deutschland zu vergeben hatte: ein
Fall, der, wie man weiß, sich auf Thronen ziemlich häufig ereignet.
Er war also, da nicht die vollkommenste moralische und geistige
Kraft ihn zum Herrscher legitimierte, wie fast alle seine Kollegen
darauf angewiesen, daß entweder der ererbte Glaube der Menschen
an seine göttliche Bestimmung oder aber daß das Glück ihn legiti-
mieren werde. Aber dieser Glaube fand gerade in seinem Zeitalter
immer weniger Erben; und er hatte auch kein Glück. Besiegte
Führer kommen vors Kriegsgericht, siegreiche aufs Postament. So-
wohl Friedrich der Große wie Bismarck waren für den Fall eines
österreichischen Sieges zum Selbstmord entschlossen; Bazaine war
bis zum Jahre 1870 der Abgott Frankreichs und von da an ein
infamer Landesverräter; Clemenceau, während des ganzen Krieges
von seinen Landsleuten der „Tiger” genannt, wäre im Falle einer
Niederlage zweifellos in Stücke gerissen worden; Tirpitzens Bart
hätte nach einem Siegfrieden das deutsche Volk in Marmor, Stea-
rin, Erz, Schokolade an allen Straßenecken begrüßt; auch wäre es
schwer gewesen, einen Pfeifenkopf oder Bierfilz aufzutreiben, den
nicht das Bildnis Ludendorffs geschmückt hätte.
Ja man darf sogar sagen, daß Wilhelm der Zweite in gewissem
Sinne tatsächlich die Aufgabe eines Königs vollkommen erfüllt
hat, indem er fast immer der Ausdruck der erdrückenden Mehr-
heit seiner Untertanen gewesen ist, der Verfechter und Vollstrecker
ihrer Ideen, der Repräsentant ihres Weltbildes. Die meisten Deut-
schen der wilhelminischen Ära waren nichts anderes als Taschen-
ausgaben, verkleinerte Kopien, Miniaturdrucke Kaiser Wilhelms.
Dies ist der Punkt, allerdings der einzige, worin er sich mit
Napoleon berührte; und dies hat sogar das Ausland sehr deutlich
empfunden. Er hieß schlechtweg „le Kaiser”, „the Kaiser”, wie
man Napoleon in ganz Europa „l'empereur” nannte.
Während die „Modernen” ihn unablässig als rückläufig, amu-
sisch, zeitfeindlich bekämpften, übersahen sie, daß er in seiner gan-
zen seelischen Struktur sehr deutlich die Züge seiner Epoche trug,
denn er war ganz zweifellos ein „homme du fin de siècle”, näm-
lich Impressionist und Décadent. Seine vielgerügte Fahrigkeit,
Impulsivität, Unberechenbarkeit war nichts als Impressionismus,
denn auf eine ganz allgemeine psychologische Formel gebracht,
ist dieser nichts als Ideenübervölkerung, eine Invasionierung durch
Mengen neuer Vorstellungsmassen, für die noch keine ordnenden
Dominanten gefunden sind. Und was die Dekadenz anlangt, so
ist nach Nietzsche ihr Wesen „die Übertreibung, die Dispropor-
tion, die Nicht-Harmonie ... wenn der Erschöpfte mit der Ge-
bärde der höchsten Aktivität und Energie auftrat, dann verwech-
selte man ihn mit dem Reichen ... die interessantesten Menschen
gehören hierher, die Chamäleons... ihre Zustände hegen neben-
einander. Sie wechseln, sie werden nicht.” Eine gewisse neuroti-
sche Grundlage war möglicherweise auch dadurch gegeben, daß
der Kaiser das Produkt einer mehrfachen Rassenkreuzung war: als
Sohn einer Britin, die ihrerseits wieder eine Halbdeutsche war.
Aber während Viktoria zeitlebens eine Stockengländerin geblieben
ist, hatte er von ihr weder die Zähigkeit noch die Skrupellosigkeit
überkommen, der die englische Politik so viele Siege verdankt.
Shaw machte über ihn, mitten im Kriege, die ebenso vorurteils-
lose wie witzige Bemerkung: „Der Kaiser ist ein naiver Vorstadt-
snob, was ganz natürlich ist, denn er ist ja der Sohn einer Englän-
derin.” Auch von der fast philiströsen Besonnenheit seines Vaters und
der geräuschlosen Noblesse seines Großvaters hatte er nichts ge-
erbt; hingegen von einigen seiner Vorfahren, und gerade den be-
deutendsten: Friedrich Wilhelm dem Vierten, dem Großen Kur-
fürsten, Friedrich dem Großen einen gewissen Mangel an Fein-
gefühl. Es wurde am Schlusse des dritten Buches erzählt, daß auch
Napoleon vorgeworfen wurde, sein ärgster Feind sei der gute Ge-
schmack. Als unbefugter Kunstkritiker scheint auch Alexander der
Große wilhelminische Züge aufgewiesen zu haben; wenigstens
würde eine Anekdote darauf hindeuten, die berichtet, daß eine
Marmorstatue des Bukephalos, die ein berühmter griechischer
Künstler angefertigt hatte, vom König bekrittelt, vom Modell
selber aber mit freudigem Wiehern begrüßt wurde, worauf der
Bildhauer gesagt haben soll: „dieses Roß versteht mehr von der
Kunst als du.” Von Friedrich dem Großen wurde behauptet, seine
Taktlosigkeiten hätten die Koalition des Siebenjährigen Krieges
zustande gebracht. Auch Luther war zweifellos keine sehr zart-
fühlende Persönlichkeit. Aber für das Genie ist es nicht recht wohl
möglich, durch Takt zu exzellieren. Sein Wesen besteht ja eben
darin, alle „vor den Kopf zu stoßen”, rücksichtslos seiner Mission
zu leben und sich gründlich unbeliebt zu machen. Überhaupt muß
jeder geniale Mensch schon dadurch den guten Geschmack ver-
letzen, daß er ununterbrochen und ungefragt die Wahrheit redet
und mit Vorhebe Dinge erörtert, über die die Menschen niemals
zu sprechen pflegen, wie wenn sie einen geheimen Kontrakt ge-
schlossen hätten, sie ein für allemal nicht zu berühren. Die Genies
Hamlet und Tasso benehmen sich fortwährend taktlos, zum Unter-
schied von ihren Gegenspielern Polonius und Antonio. Wehe also
dem taktvollen Menschheitsführer! Er hat mit der Wirklichkeit
nichts zu schaffen. Er wird die Menschheit zu gar nichts führen.
Nun wird man vielleicht sagen können, daß Wilhelm der
Zweite eine lebhafte geistige Aktivität und Anpassungsgabe, ein
originelles und kräftiges Talent vorstellte, aber Genialität wird
man ihm keinesfalls zusprechen können. Denn diese besteht in der
Verbindung einer eigentümlichen Nüchternheit, die in den Din-
gen über den Dingen steht, mit höchster Kühnheit, die, Konven-
tionen mißachtend, ja nicht einmal bemerkend, den Tatbeständen
vorauseilt; und diese beiden Eigenschaften fehlten ihm vollkom-
men. Infolgedessen waren die zahlreichen Ärgernisse, die er erregte,
bloß Ärgernisse, zur aufreizenden Verzerrung vergrößert im Hohl-
spiegel seiner Machtposition.
Der „Zickzackkurs” seiner Politik, wurzelnd in einer seelischen
Labilität, die überraschend von Depressionen zu manischem Be-
wegungsdrang hinüberwechselte und ebenso plötzlich wieder in
Tatlosigkeit verfiel, wirkte an so überbelichtetem Platze fast wie
folie circulaire. Das Zentralmotiv in der Seele des Kaisers war der
infantile Wunsch, von aller Welt geliebt zu werden, immer im
Mittelpunkt zu stehen: er wollte, wie Bismarck sagte, alle Tage
Geburtstag haben. Hieraus rekrutierte sich seine Unfähigkeit, Haß
und Angriff zu ertragen: eine neurotische Überempfindlichkeit
für Eitelkeitskränkungen und eine ebenso neurotische Neigung zu
episodischen Reaktionen, pseudoenergischen Gegenhieben: etwa
dem, was Alfred Adler den „männlichen Protest” genannt hat.
Infantil war auch seine Freude an Aufzügen, Festivitäten, Verklei-
dungen (er wechselte bisweilen ein halbes dutzendmal im Tage das
Kostüm und erschien im „Fliegenden Holländer” in Admirals-
uniform; der Berliner Witz erwartete, daß er sie auch bei der Er-
öffnung des Aquariums anlegen werde). Auch seine Reden, nicht
selten durch glänzende Formulierungen packend, zeigten diese
Freude an gleißendem Ausstattungswesen, opernhaftem Requisi-
tenflitter: schimmernde Wehr, Fehdehandschuh, gepanzerte Faust,
geschliffenes Schwert, Nibelungentreue, König Etzel (wobei ihm
die Metapher bisweilen durchging, wie es das letzte Beispiel zeigt:
das Hunnengleichnis ist während des Weltkrieges von der En-
tentepropaganda sehr erfolgreich exploitiert worden). All dies
hatte etwas Rührendes; und wäre völlig harmlos gebheben, wenn
Wilhelm der Zweite ein bloßer Bürger, etwa Leiter einer Großbank
oder eines Theaterkonzerns, und eben nicht Kaiser gewesen wäre.
Trotz allem ist die deutsche Nation geradezu verpflichtet, diesem
Herrscher eine gewisse Pietät zu bewahren; und zwar aus Pietät
gegen sich selbst. Denn ein Kulturvolk wird allem Ehrfurcht ent-
gegenbringen, das einmal Macht über sein Leben besessen hat,
wird seine früheren Leitsterne auch dann noch bejahen, wenn es
eines Tages erkennt, daß sie Wandelsterne waren, denn irgendwie
waren sie ja doch ein Stück seines Himmels; es wird in einem sol-
chen Falle den Edelmut besitzen, zu sagen: ich habe geirrt, und der
weithin sichtbare Exponent meines Irrtums war nicht schlechter,
nicht törichter, nicht gottloser als ich, nur exponierter.
Einer der wenigen, die durch den glänzenden Vorhang der
Gegenwart in die graue Zukunft zu blicken vermochten, war Bis-
marck, der in seinen „Erinnerungen” prophezeite, die Krisen wür-
den um so gefährlicher sein, je später sie einträten, und in jener ge-
deckten Tonart seiner letzten Jahre, die durch ihre scheinbare Lei-
denschaftslosigkeit doppelt vernichtend wirkt, hinzufügte: „Pie
Befreiung von aller Verantwortlichkeit hatte bei meiner Ansicht
über den Kaiser und seine Ziele viel Verführerisches für mich.”
Die Auflösung der Firma Bismarck und Sohn, wie man sie zum
Verdruß des jungen Monarchen nannte, nahm ihren Ursprung in
einer Meinungsverschiedenheit über die Arbeitergesetzgebung.
Bismarck hielt ein direktes staatliches Eingreifen zugunsten der
Sonntagsruhe für inopportun, es sei denn, daß man den Arbeiter
für sechs Tage ebenso hoch entlohne wie bisher für sieben; andern-
falls entziehe man ihm eine Erwerbsmöglichkeit: dies sei nicht
Arbeiterschutz, sondern Arbeiter zwang, der Zwang, weniger
zu arbeiten; eine Aussicht, den Verdienstentgang auf die Unter-
nehmer abzubürden, bestehe aber nur, wenn die anderen großen
Industriestaaten gleichmäßig verführen. Der Kaiser beharrte auf
seinem Standpunkt („Ideal Seiner Majestät schien damals popu-
lärer Absolutismus zu sein”), und Bismarck beschloß, aus dem Ge-
biet jener Kontroverse auszuscheiden, dem Handelsministerium,
in dessen Ressort die Arbeiterfrage gehörte. Weitere Uneinig-
keiten, besonders über die Kompetenzen des Ministerpräsidenten
und das Verhältnis zu Rußland, legten ihm den Gedanken des
völligen Rücktritts nahe, doch ehe er Herüber mit sich zu einer
Entscheidung gelangt war, erhielt er durch den Chef des Militär-
kabinetts General von Hahnke die brüske Aufforderung, seinen
Abschied einzureichen. Der Kaiser spendete ihm aus diesem Anlaß
den Herzogtitel und sein lebensgroßes Porträt, worauf er von dem
Meister der delikaten Ironie die Antwort erhielt: „Ich fühle mich
hochbeglückt durch die Verleihung des Bildnisses, welches für
mich und die Meinigen ein ehrenvolles Andenken bleiben wird...
Eure Majestät wage ich aber alleruntertänigst zu bitten, mir die
Führung meines bisherigen Namens und Titels auch ferner in Gna-
den gestatten zu wollen.” Bei Bismarcks Abreise waren auf dem
Bahnhof militärische Ehrenbezeigungen angeordnet, die er ein
Leichenbegängnis erster Klasse nannte. Sein Nachfolger Caprivi
holte von ihm nicht die geringsten Informationen ein, wozu er im
dritten Bande der „Erinnerungen” bemerkt: „Es ist mir nie vor-
gekommen, daß eine Pachtübergabe nicht eine gewisse Verständi-
gung zwischen dem abziehenden und dem anziehenden Pächter
erfordert hätte. In der Regierung des Deutschen Reiches mit allen
ihren komplizierten Verhältnissen ist ein analoges Bedürfnis aber
nicht hervorgetreten.” Als er zwei Jahre später zur Hochzeit seines
Sohnes nach Wien reiste, erteilte ihm Kaiser Franz Joseph auf seine
Anfrage, ob er in Audienz erscheinen dürfe, eine zustimmende
Antwort; die deutsche Regierung erhob aber Einspruch. Bismarck
fühlte sich hierdurch so beleidigt, daß er einen Augenblick daran
dachte, Caprivi zu fordern. Als zu seinem achtzigsten Geburtstag
der Reichstagspräsident den Vorschlag machte, ihm den offiziellen
Glückwunsch auszusprechen, hatte die Majorität des Hauses die
Schamlosigkeit, ihre Zustimmung zu verweigern; der Kaiser
sprach Bismarck hierüber telegraphisch die „tiefste Entrüstung”
aus. Dieser aber schrieb an eine Freundin: „All diesen Leuten
gegenüber habe ich nur das Gefühl des Götz von Berlichingen am
Fenster, auch den Kaiser nehme ich nicht aus.” Es ist das Endgefühl,
das auch den großen Friedrich zu Grabe geleitete.
Wenige Monate nach Bismarcks Abgang wurde der „Sansibar-
vertrag” abgeschlossen, worin die deutsche Regierung von der
englischen Helgoland erwarb und dafür Witu, Uganda und die
Anrechte auf Sansibar, einen der wichtigsten ostafrikanischen
Handelsplätze, abtrat. Daß dies für Deutschland ein sehr unvorteil-
hafter Handel war, ist von zwei allerersten Kapazitäten in afrika-
nischen Dingen, einer deutschen und einer englischen, ausgespro-
chen worden: Peters bemerkte, das Reich habe zwei Königreiche
gegen eine Badewanne eingetauscht, und Stanley sagte, es habe
für eine neue Hose einen alten Hosenknopf bekommen. Ihnen
schloß sich Bismarck an, der die Preisgabe eines so ausgedehnten
Gebietes mißbilligte und im Besitz Helgolands nur die Nötigung
erblickte, aus ihm ein Gibraltar zu machen: bisher sei es für den Fall
einer französischen Blockade der deutschen Küsten durch die eng-
lische Flagge gedeckt gewesen; eine Auffassung, die natürlich mit
einer französisch-englischen Entente noch nicht rechnet, zugleich
aber zeigt, daß Bismarck durchaus nicht ohne Verständnis für die
Interessen des kolonialen Imperialismus war, wie immer wieder
axiomatisch behauptet worden ist.
Der Imperialismus ist, wie alle großen politischen Neuorientie-
rungen, eine englische Erfindung. „Empire and extension” lautete
die zauberkräftige Devise der achtziger und neunziger Jahre. Ihr
Sänger war Rudyard Kipling, ihr Inseratenchef der Zeitungsfürst
William Northcliffe. Damals tauchte zum erstenmal vor der briti-
schen Phantasie der Gedanke eines Ungeheuern transafrikanischen
Reichs empor, der erst durch den Weltkrieg seine Verwirklichung
gefunden hat. Die Marschroute lautete Kap-Kairo. Die erste
Etappe bildete die Besitzergreifung der Nilmündungen. Um die
Wende der achtziger Jahre legte Cecil Rhodes, einer der gewal-
tigsten Konquistadoren der ausgehenden Neuzeit, Beschlag auf
Rhodesia und andere riesige Landstriche im Süden des Erdteils.
Zwischen 1896 und 1898 eroberte Kitchener, eine Art moderner
Cortez, den anglo-ägyptischen Sudan, auf zusammenlegbaren
Dampfschiffen, Feldeisenbahnen, improvisierten Heerstraßen
ebenso behutsam wie energisch vordringend. Dies führte 1898
zum Faschodakonflikt. Der Hauptmann Marchand, der den Eng-
ländern zuvorkommen wollte, hißte bei Faschoda am oberen Nil
die französische Flagge. Kitchener forderte die Räumung des
Platzes. Als Marchand sich weigerte, erschien ein britisches Ge-
schwader vor Tunis. Eine kriegerische Auseinandersetzung zwi-
schen den beiden größten Koloniahnächten schien unmittelbar
bevorzustehen. Aber Frankreich war zur See nicht gerüstet und
wich zurück.
An der Südspitze Afrikas besaß England bereits das Kapland, das
es während der napoleonischen Kriege an sich gebracht hatte;
nördlich davon aber bestanden noch große holländische Freistaa-
ten, in deren Gebiet Gold- und Diamantfelder lagen. Die Bewoh-
ner der „Burenrepubliken” waren richtige Bauern mit allen
Tugenden und Mängeln ihres Standes, dabei strenggläubige Kal-
vinisten von der ganzen Tapferkeit und Härte ihrer Konfession.
Der Krieg, der 1899 ausbrach, setzte zur allgemeinen Überraschung
Europas mit großen Siegen der Buren ein; diese aber waren zu
schwerfällig und ungeschult, um sie in vernichtender Offensive
auszunützen; gleichwohl hielten sie sich in zähem Kleinkrieg zwei-
einhalb Jahre gegen die Übermacht. Im Frieden von Pretoria ver-
loren sie zwar ihre Unabhängigkeit, erhielten aber eine allgemeine
Amnestie, zinsfreie Vorschüsse für den Wiederaufbau ihrer Ge-
höfte, Bürgschaften für die Erhaltung der holländischen Sprache
und Zusicherung der Autonomie, die 1906 in Kraft trat; 1910
wurde ganz Südafrika Bundesstaat mit eigenem Parlament. Eng-
land herrschte nun im Norden und im Süden. Dazwischen aber
lag als Keil Deutsch-Ostafrika.
Auch Italien hatte versucht, sich am Ostrand Afrikas einzunisten,
indem es die Kolonien Eritrea (am Roten Meer) und Somalia
gründete. Zwischen diesen lag Abessinien, dessen Besitz erst dem
Länderkomplex eine ernsthafte wirtschaftliche und politische Be-
deutung verliehen hätte. 1889 proklamierten die Italiener ihr
Protektorat über dieses Reich, aber 1896 wurden sie vom abessi-
nischen Kaiser bei Adua entscheidend geschlagen, was den Sturz
Crispís zur Folge hatte.
Bisher hatte es als selbstverständliches Axiom gegolten, daß nur
die europäischen Mächte ein Recht auf Kolonien hätten. Im spa-
nisch-amerikanischen Krieg, der 1898 ausgefochten wurde, melde-
ten sich aber auch die Vereinigten Staaten als imperialistische
Macht. Seine Ursache war die Insel Kuba, die „Perle der Antillen”,
deren reiche Zucker-, Kaffee- und Tabakplantagen die Union zu
besitzen wünschte. Der Kampf endete mit einer vollständigen Nie-
derlage Spaniens, das, mit elenden Geschützen und vorsintflutlichen
Fahrzeugen ausgerüstet, dem Gegner zu sehr billigen Seesiegen
verhalf, aber auch, was man nicht erwartet hätte, zu Lande ver-
sagte. Die Vereinigten Staaten „befreiten” nicht bloß Kuba und
Portorico, sondern annektierten auch, gegen den Willen der Ein-
geborenen, die asiatischen Philippinen, was eine offenkundige
Durchbrechung des Monroeprinzips war, denn dieses kann selbst-
verständlich nur so ausgelegt werden, daß Amerika sich, wie es
keine Einmischung außeramerikanischer Mächte duldet, auch sei-
nerseits jedes Eingriffs in fremde Erdteile enthält. Es war, wenn
man sich den Mittelmeerschauplatz zum planetarischen erweitert
denkt, eine ähnliche welthistorische Entscheidung, wie sie im
Jahr 264 vor Christus die Regierung der „Vereinigten Staaten
Mittelitaliens” traf, als sie sich entschloß, auf Sizilien hinüberzu-
greifen. Ob die weitere Entwicklung so weit analog verlaufen
wird, daß sie mit einer nordamerikanischen Weltherrschaft endet,
ist nicht abzusehen; lange und große Auseinandersetzungen von
der Art der Punischen Kriege werden aber kaum zu vermeiden
sein.
Denn schon war am Horizont ein neues Karthago erschienen.
Der Eintritt Japans in die Weltpolitik ist eines der wichtigsten
äußeren Ereignisse der neuesten Zeit. Bis zum Jahr 1868 war Japan
ein mittelalterlicher Feudalstaat, dessen Bevölkerung sich fast aus-
schließlich der Agrarwirtschaft und der Hausmanufaktur widmete,
beherrscht von einer hierarchisch gegliederten Aristokratie: an der
Spitze standen die Shogune oder Kronfeldherren, deren Gewalt
etwa der der Hausmeier der Merowingerzeit entsprach, diesen zu-
nächst die Daimyos oder Territorialherren, gestützt auf die Kaste
der Erbkrieger oder Samurai; der Tenno oder Mikado war, als
bloßes religiöses Oberhaupt, ohne Einfluß auf die Regierung. In
jenem Jahr nahm sich der junge Kaiser Mutsuhito die politische
Macht zurück, die der Tenno schon tausend Jahre früher vor der
Herrschaft der Shogune besessen hatte, und verwandelte das Staats-
wesen zunächst in einen zentralisierenden Absolutismus mit organi-
sierter Bürokratie und stehendem Heer, wie er sich in Europa im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ausgebildet hatte. 1889
erließ er eine Konstitution. Binnen weniger Jahrzehnte wird der
Läufer vom Telegraphen, die Sänfte vom Expreßzug, die Barke
vom Großdampfer abgelöst, das Münzwesen, die Rechtspflege, der
Kalender europäisiert, der Impfzwang, der Schulzwang, die Ge-
werbefreiheit, die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die Industrie
und die Armee nach deutschem Muster vollkommen modernisiert.
Japan hat innerhalb eines Menschenalters die Entwicklung vom
fränkischen Lehensstaat über den bourbonischen Polizeistaat und
die friderizianische Aufklärung zum demokratischen Imperialis-
mus Chamberlains und Roosevelts und vom Sichelschwert zum
Maschinengewehr, vom Analphabetismus zur Setzmaschine zu-
rückgelegt: ein „Schnellsiederkurs”, der ebensosehr Bewunderung
wie Bedenken erregt. Es liegt in dieser grenzenlosen Aufnahms-
bereitschaft und Anpassungsfähigkeit etwas Feminines, und es regt
sich der Verdacht, daß die japanischen Musterleistungen vielleicht
ebensoviel wert sind wie die ebenfalls fast immer vorzüglichen
Prüfungsergebnisse der Gymnasiastinnen und Doktorandinnen.
Bis dahin hatte Japan mit ebenso gewandter Kopierkunst die chine-
sische Kultur abgeschrieben.
Das japanische Volk, mit zahlreicher Nachkommenschaft, aber
nicht allzu reicher Bodenproduktion gesegnet, blickte mit be-
greiflicher Begehrlichkeit nach den Eisen- und Kohlenschätzen
der Mandschurei, den Reis- und Baumwollfeldern Koreas. Der
unvermeidliche Zusammenstoß mit China erfolgte 1894. Er be-
gann mit der Besetzung Koreas, das zwar dem Namen nach ein
unabhängiger Pufferstaat war, von jeher aber in die chinesische
Einflußsphäre gehört hatte. Die Chinesen entsandten ein Heer und
eine Flotte, wurden aber, da sie an moderner Ausrüstung und Aus-
bildung mit den Japanern nicht entfernt wetteifern konnten, voll-
ständig besiegt und mußten im Frieden von Shimonoseki nicht
bloß Korea preisgeben, sondern auch die große Insel Formosa und
Port Arthur mit der Halbinsel Liaotung, den Schlüssel zum Gelben
Meer, abtreten und außerdem eine hohe Kriegsentschädigung zah-
len. Nun aber begann sich Europa einzumischen. Die Kabinette
von Paris, Berlin und Petersburg erhoben gemeinsam Einspruch
and erzwangen die Rückgabe Port Arthurs. Auch die koreanische
Frage blieb ungelöst. Hingegen erreichte Rußland von China die
Erlaubnis zum Bau und militärischen Schutz einer Eisenbahn durch
die Mandschurei und die „Verpachtung” Port Arthurs und der
Halbinsel Liaotung, während in ähnlicher Form das gegenüber-
liegende Weihaiwei an England, Kuangtschouwan an Frankreich
und Kiautschou an Deutschland fiel. So war nicht nur Japan um
die wertvollsten Früchte seines Sieges gebracht worden, sondern
auch China hatte durch seine Beschützer größere Verluste erlitten
als durch den Feind. Die Hauptlast des ostasiatischen Hasses hatte
aber Deutschland zu tragen, da der Kaiser in höchst ungeschickter
Weise sich bei diesem gemeinsamen Piratenstück in den Vorder-
grund drängte und deplacierte Phrasen vom Schutz vor der gelben
Gefahr und der Wahrung der heiligsten Güter einmischte. Bis-
marck hielt mit seiner Kritik nicht zurück.
Die Volkswut gegen die „weißen Teufel” kam im Aufstand des
„Faustbunds” zum Ausbruch, einer über ganz China verbreiteten
Geheimorganisation fanatischer Nationalisten, die, weil sie sich für
den bevorstehenden Kampf gegen die Fremden durch Leibes-
übungen zu stählen suchten, von diesen spottweise die Boxer ge-
nannt wurden. Die Episode ging rasch vorüber, wiederum von
pathetischen Drohreden des deutschen Kaisers begleitet, deren
Akzent zum Anlaß in keinem Verhältnis stand. Sehr im Gegensatz
zu dieser von Indianerromantik beeinflußten Politik stand die
kluge und kühle Haltung Englands, das, aus den Gegebenheiten
die praktischen Konsequenzen ziehend, zu einer Allianz mit Japan
schritt. Es war dies das erste formelle Bündnis Englands seit dem
Krimkrieg. 1902 garantierten die beiden Mächte einander den
ostasiatischen Besitzstand; für den Fall, daß der Schutz dieser Inter-
essen zu einem Krieg mit einem dritten Staat führen sollte, ver-
sprachen sie einander wohlwollende Neutralität, für den Fall eines
Angriffs durch zwei Gegner Hilfeleistung. Dieser Vertrag war
ganz offenkundig gegen Rußland, im weiteren aber auch gegen
Frankreich gerichtet, das allein unter jener „zweiten Macht” ver-
standen werden konnte.
Eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Rußland und
Japan konnte in der Tat nur mehr eine Frage der Zeit sein, seit die
Petersburger Regierung einen japanischen Ausgleichsvorschlag,
wonach Korea den Japanern, die Mandschurei den Russen zufallen
sollte, brüsk zurückgewiesen hatte; eine sehr törichte Handlungs-
weise und nur durch unbelehrbaren moskowitischen Hochmut er-
klärbar, denn der unangefochtene Besitz der Mandschurei wäre
für Rußland ein unschätzbarer Gewinn gewesen, während Korea
von rein seestrategischer Bedeutung war, als Bindeglied zwischen
den beiden östlichen Haupthäfen Port Arthur und Wladiwostock.
Die Verhältnisse drängten zur Eile, denn nur solange die transsibi-
rische Bahn, die Moskau mit Wladiwostock verband, noch ein-
gleisig war, hatten die Japaner einige Aussicht, nicht gegen eine
erdrückende Übermacht kämpfen zu müssen. Sie richteten daher
im Januar 1904 an Rußland das unannehmbare Ultimatum, die
Mandschurei zu räumen und die japanische Vorherrschaft in
Korea anzuerkennen. Eine besondere Kriegserklärung erfolgte von
keiner der beiden Seiten.
Der russisch-japanische Krieg hatte wenig Ähnlichkeit mit den
bisherigen, am ehesten noch mit dem Sezessionskrieg. Seine unter-
scheidenden Hauptmerkmale waren die lange Dauer der
Schlachten und die Eingrabungstaktik, von der in bescheidenem
Umfange bereits die Buren Gebrauch gemacht hatten: die Japaner
bedienten sich auch schon beim Angriff des Spatens, unter dem
Schutz überlegener Artillerie. Neu war auch die Verwendung des
Maschinen-
gewehrs, das Vorrücken in Nachtmärschen, das bisher nur in be-
sonders dringenden Fällen stattgefunden hatte, und die Minentech-
nik beim Festungskrieg, die, seit der Türkenzeit außer Gebrauch,
nun in moderner Form wieder auflebte: ohne sie wäre Port
Arthur nicht zu bezwingen gewesen. Der japanische Sieg ist auf
die Unfähigkeit des russischen Generalstabs zurückzuführen, ferner
auf die Tatsache, daß Rußland nicht ernstlich glaubte, der Gegner
werde sich in einen so gefährlichen Kampfwagen, und daher un-
genügend vorbereitet war, vor allem aber auf die heroische Begei-
sterung, mit welcher die Japaner in diesen Krieg gingen, von dem
ihre ganze Zukunft abhing. Die Ethik des „Bushido”, des „Ritter-
wegs”, eigentlich der Ehrenkodex der alten Feudalen, dessen Haupt-
gebot lautete: „lieber schön sterben als unwürdig leben”, war tief
ins Volk gedrungen. Für Rußland hingegen war es kein National-
krieg, der Muschik wußte überhaupt nicht, worum es sich handelte.
Die strategische Hauptaufgabe der Japaner bestand darin, auf
Liaotung und Korea genügend Truppen zu landen, Port Arthur
einzuschließen und die Russen am Entsatz zu verhindern. Zur Si-
cherung der Transporte überfiel der Admirai Togo die im Hafen
von Port Arthur versammelte russische Flotte und brachte ihr
schwere Verluste bei; den Rest zwang er durch Streuminen zur
Untätigkeit. Nachdem die erste japanische Armee unter General
Kuroki ausgeschifft war, drängte sie die Russen über den Yalu, den
Grenzfluß zwischen Korea und der Mandschurei. Diese verstärkten
sich in befestigter Stellung bei Liaoyang, wurden aber von drei
konzentrisch vereinigten Armeen des Marschalls Oyama in zehn-
tägigem Kampf geschlagen. Ein Versuch der Russen, zum Angriff
überzugehen, führte zur Schlacht am Tshaflusse, die unentschieden
blieb. Inzwischen hatte der vom Zaren befohlene Durchbruch der
Flotte mit dem Verlust der ausgelaufenen Schiffe geendet, die teils
auf neutralem Gebiet desarmiert wurden, teils den Japanern in die
Hände fielen. Am 1. Januar 1905 fiel Port Arthur, wodurch die
Belagerungsarmee des Generals Nogi frei wurde; aber auch die
Russen hatten Zuzüge über Sibirien erhalten. Ende Februar kam
es zur vierzehntägigen Entscheidungsschlacht bei Mukden, in der
noch mehr Truppen gegeneinander rangen als bei Königgrätz. Sie
endete mit dem Rückzug der Russen, die von Nogi überflügelt
wurden. Für diese bestand nun die einzige strategische Möglich-
keit in der Absendung ihrer Ostseeflotte, durch deren Eingreifen
sie hoffen durften, die Japaner am Transport weiterer Truppen
und der Verproviantierung der bereits gelandeten zu verhindern,
um sie dann mit der erdrückenden Übermacht der sich stetig auf-
füllenden mandschurischen Heere zu zermalmen. Das Baltische
Geschwader hatte jedoch den Ungeheuern Weg von Libau bis
Ostasien zurückzulegen: ein Teil der Schiffe nahm die Route über
das Mittelmeer durch den Suezkanal, das Gros segelte sogar um
das Kap der Guten Hoffnung; bei Madagaskar vereinigten sie sich.
Als sie ankamen, waren sie vollkommen kampfunfähig und erlitten
eine furchtbare Niederlage: von den achtunddreißig Schiffen wur-
den fünfunddreißig versenkt, erobert oder entwaffnet. Die in-
zwischen ausgebrochene russische Revolution gefährdete auch den
Nachschub zu Lande.
Indessen befand sich auch Japan am Ende seiner Kräfte: seine
wirtschaftlichen und militärischen Mittel waren nahezu erschöpft,
die ältesten Jahrgänge bereits eingestellt, Kriegskredite kaum mehr
aufzubringen. Infolgedessen nahmen beide Parteien die Vermitt-
lung des Präsidenten Roosevelt an. Im Frieden von Portsmouth
zahlte Rußland keine Kriegsentschädigung, zedierte den Japanern
Liaotung und die südliche Hälfte der Insel Sachalin und erkannte
ihr Protektorat über Korea an; in der Mandschurei trat China
wieder in seine alten Rechte ein, von der Eisenbahn kam der
nördliche Teil unter russische, der südliche unter japanische Ver-
waltung. Dies waren im Verhältnis zu den Ungeheuern Opfern
nur magere Erfolge. Außerordentlich war jedoch der moralische
Gewinn, den das japanische Reich aus dem Kriege davontrug: es
zählte von nun an als achte Großmacht, was seine äußere Doku-
mentierung in der Errichtung von Botschaften fand, und galt als
unbestrittene Vormacht Ostasiens. England erneuerte das Bündnis
unter noch günstigeren Bedingungen, indem die beiden Partner
nunmehr gegen jeden nicht herausgeforderten Angriff auch einer
einzelnen Macht einander bewaffnete Hilfe zusicherten. Hierdurch
erhielt Japan freie Hand in Korea: 1910 wurde der Kaiser zur Ab-
dankung gezwungen und das Land in aller Form annektiert. Der
Vertrag schützte aber auch umgekehrt England vor jedem russi-
schen Angriff in Indien. Hätte Deutschland nach dem chinesisch--
japanischen Krieg eine einigermaßen geschicktere Haltung ein-
genommen, so hätte es leicht an die Stelle Englands treten und eine
ähnliche Rückendeckung erlangen können, denn bis dahin hatten
bei den Japanern begeisterte Sympathien für das deutsche Volk ge-
herrscht, das ihr militärischer und wissenschaftlicher Lehrmeister
gewesen war. Einen Zweifrontenkrieg gegen Deutschland und
Japan hätte Rußland, einen Angriff auf Deutschland hätten die
Westmächte allein niemals wagen können; womit die ganze
Entente von Osten her aufgerollt worden wäre.
Das russisch-französische Militärabkommen vom Jahr 1891, in
dem der Zweibund zum erstenmal greifbare Gestalt gewann, war
damals noch fast ebensosehr gegen England gerichtet, das der
gefährlichste Nebenbuhler Rußlands in China und Vorderasien,
Frankreichs in Afrika war: besonders die letztere Rivalität führte
fast alljährlich zu ernsten Reibungen. Sie wurden jedoch, unmittel-
bar nach dem Faschodakonflikt, durch den Sudanvertrag vom
Jahr 1899 beseitigt, worin das westliche Nordafrika für französi-
sche, das östliche für englische Interessensphäre erklärt wurde.
Hierdurch nervös gemacht, meldete Rom neuerlich seinen An-
spruch auf Tripolis an, dessen Anerkennung es auch im darauf-
folgenden Jahre von Frankreich, für den Fall einer „Tunisierung”
Marokkos, erreichte; was den Wert des Dreibunds für Italien, das
ihn hauptsächlich im Hinblick auf seine afrikanischen Ambitionen
geschlossen hatte, sehr herabsetzen mußte. Alsbald folgte denn
auch, im Jahr 1902, ein Rückversicherungsvertrag Italiens mit
Frankreich nach deutsch-russischem Muster, in dem der Republik
strikte Neutralität zugesichert wurde, aber nicht bloß für den Fall,
daß sie angegriffen werden sollte, sondern auch „wenn sie durch
Herausforderung zum Schutz ihrer Ehre und Sicherheit zur
Kriegserklärung gezwungen würde”: also auf jeden Fall; womit
der Dreibund nahezu illusorisch gemacht war.
Eine Gelegenheit zu vorteilhafter Umgruppierung und Spren-
gung der französisch-russischen Umklammerung ließ sich Deutsch-
land während des Burenkrieges entgehen. Als Präsident Krüger
hilfesuchend Europa bereiste, wurde er bei seiner Landung in
Marseille bejubelt und in Paris aufs ehrenvollste aufgenommen;
auch in Moskau und Petersburg kam es zu großen antienglischen
Kundgebungen. Infolge dieser Volksstimmungen erwogen Frank-
reich und Rußland den Gedanken, einen gemeinsamen Druck der
Kontinentalmächte auf England auszuüben, und versuchten, sich
zu diesem Zweck mit der deutschen Regierung ins Einvernehmen
zu setzen. Diese lehnte aber ab und bewahrte dadurch England vor
einer katastrophalen diplomatischen Niederlage. Läßt sich jedoch
hier immerhin noch fragen, inwieweit die freundschaftliche Ge-
sinnung, was wenigstens Frankreich anlangt, aufrichtig war oder
doch, wie lange sie es geblieben wäre, so muß das Verhalten gegen-
über den völlig ehrlich und ernst gemeinten Angeboten, die von
Seiten Englands erfolgten, schlechterdings unbegreiflich erscheinen.
Gegen Ende des Jahrhunderts begann nämlich England die Politik
der splendid isolation zu verlassen und einen „Kontinentaldegen”
gegen Rußland zu suchen. Hierfür empfahl sich an erster Stelle
Deutschland. 1895 bot Salisbury: Eintritt Englands in den Drei-
bund und Teilung der Türkei, wobei Deutschland die Gebiete
Anatoliens, einstige Stätten blühendster Kultur und riesige Auf-
nahmsbecken für Bevölkerungsüberschüsse, zugefallen wären.
1898 und 1899 wiederholte England den Bündnisantrag, unter
Hinzufügung der atlantischen Küste von Marokko. 1901 trat es
noch einmal an Deutschland heran, diesmal in der allervorteilhaf-
testen Form, indem es schon mit großer Wahrscheinlichkeit den
Eintritt Japans in die Koalition in Aussicht stellen konnte. Ein
englisch-deutsch-japanischer Block hätte die Diktatur über den
Planeten bedeutet und Deutschland eine ähnliche Vormacht im
Dreibund verschafft, wie sie Preußen im Norddeutschen Bund be-
sessen hatte. Aber alle vier Angebote wurden abgelehnt. Chamber-
lain sagte: „Ich habe ganz den Mut verloren. Mit den Leuten in
Berlin will ich nichts mehr zu tun haben. Wenn sie so kurzsichtig
sind, nicht zu bemerken, daß eine ganz neue Weltkonstellation
von ihnen abhängt, so ist ihnen einfach nicht zu helfen.” Es kann
keinem Zweifel unterliegen, daß Bismarck mit beiden Händen
zugegriffen hätte: er suchte stets verzweifelt nach tragfähigen
Koalitionen. Zur Zeit seiner Kanzlerschaft stand ihm nur Rußland
zur Verfügung, das für eine enge Allianz zu präponderant und
präpotent war, während Österreich und Italien umgekehrt keinen
genügend starken Druck auf die Waagschale des europäischen
Gleichgewichts auszuüben vermochten. England aber wollte da-
mals noch keine Bündnisse. Die Bedenken der deutschen Regie-
rung entsprangen schwachsichtigem Dilettantismus und über-
spitztem Bürokratismus. Daß die Anträge Englands durchaus
seriös zu nehmen waren, geht schon ganz einfach aus der Tatsache
hervor, daß eine solche Gruppierung ihm mindestens ebenso große
Vorteile geboten hätte wie Deutschland: es bestand zwar schon
um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts die Handelsrivalität,
die später zur Einkreisung geführt hat, aber diese wäre von Groß-
britannien gern und leicht ertragen worden als Kaufpreis für die
fast völlige Ausschaltung des viel gefährlicheren und expansiveren
russischen Imperialismus und die Lahmlegung Frankreichs in
Afrika und Indochina. Als Bundesgenosse war ein zaristisches
Rußland (und nur mit einem solchen konnte man damals rechnen)
weit kostspieliger als Deutschland, auch für den Fall eines sieg-
reichen Krieges, denn es hätte dann keinesfalls auf Gesamtpolen
und Konstantinopel verzichtet, wodurch es zur erdrückenden
europäischen Vormacht und einer dauernden Bedrohung Ägyp-
tens geworden wäre. In Deutschland aber hätte man einsehen
müssen, daß für keine Macht der Welt die Möglichkeit besteht,
gleichzeitig gegen England und Rußland zu reüssieren, was ver-
kannt zu haben der größte, ja vielleicht einzige politische Fehler
Napoleons gewesen war. Prinzipiell ist Rußland überhaupt un-
besieglich. Nach Clausewitz besteht der Zweck des Krieges darin,
„den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren
Widerstand unfähig zu machen”; hierzu genüge es nicht, daß die
Streitkraft vernichtet werde, sondern das Land müsse erobert wer-
den, „denn aus dem Lande könnte sich eine neue Streitkraft bilden”.
Daß dies bei einem Mammutreich, für das der riesige europäische
Abschnitt nur ein Glacis bedeutet, undurchführbar ist, bedarf
keiner Erörterung. Rußland ist seit seinem Eintritt in die Welt-
politik fast immer entscheidend geschlagen worden (die Schlacht
bei Pultawa ist der einzige größere Sieg in seiner neueren Ge-
schichte) und hat dabei seine Grenzen ununterbrochen erweitert;
es war nur durch innere Kräfte niederzuringen. Auch im japani-
schen Kriege war es ja nur durch den Ausbruch der Revolution
zum Friedensschluß genötigt worden. England hinwiederum wäre
nur durch den festen Zusammenschluß aller kontinentalen Groß-
mächte zu besiegen gewesen, eine Konstellation, die es immer ge-
fürchtet und immer vereitelt hat, indem es stets umgekehrt eine
europäische Koalition gegen die jeweils stärkste Kontinental-
macht zustande brachte. Inzwischen aber hatte sich die Situation
von einer europäischen zur planetarischen erweitert, und hier bot
zweifellos ein Bündnis mit Deutschland und Japan die festesten
Garantien gegen ein Hinausgreifen der beiden Landkolosse Ruß-
land und Nordamerika in die Weltmeere. Aber auch vom völker-
psychologischen Standpunkt gewährte eine Allianz mit dem durch
Rasse, Weltanschauung, Zivilisationsform nahe verwandten
Deutschland mehr Aussicht auf Bestand als die Liaison mit der
autokratischen und reaktionären, im Falle einer Revolution völlig
unberechenbaren und auf jeden Fall kulturell und ethisch artfrem-
den Ostmacht. Die dauernde Brücke hätte Holland gebildet, das
schon mehrfach eine Zollunion mit Deutschland erwogen hatte.
An die Niederkämpfung einer „germanischen” Front, die von
den Shetlandinseln über die Rhein- und Maasmündungen bis
Basel gegangen wäre, hätte Frankreich niemals auch nur denken
können; und der Eintritt der Niederlande in den deutschen Reichs-
verband hätte auf Jahrhunderte die Kolonialfrage gelöst. Es wäre,
um es mit einem Worte zu bezeichnen, das Europa Carlyles
gewesen. Durch ein deutsch-englisches Bündnis wäre aber auch
die italienische Frage definitiv gelöst worden. Es war niemals ein
Geheimnis, daß Italien infolge seiner exponierten Seelage nur an
der Seite Englands kämpfen konnte, unter gewissen Umständen
sogar kämpfen mußte. Eine Drehung der Irredentafront von Osten
nach Westen hätte Italien nur Vorteile gebracht: eine antifran-
zösische Liga hatte Tunis und Algier, Nizza und Korsika zu bieten,
Besitzungen, die an Wert Triest und Trient bedeutend überragt
hätten, und eine vernünftige österreichische Regierung hätte übri-
gens auch auf Welschtirol verzichten können, das auf die Dauer
ja doch nicht zu halten war, wenn ihr dafür entsprechende Kom-
pensationen auf der Balkanhalbinsel zugefallen wären. Auf jeden
Fall wäre dann der von Bismarck gewünschte italienische Tromm-
ler auf den Alpen am Platze gewesen, und der Schlieffenplan wäre
nicht gescheitert. Dieser war ganz darauf gestellt, daß der rechte
deutsche Umfassungsflügel unüberwindlich stark war. Zwei
Momente vereitelten dies: die Gefühlsstrategie Kaiser Wilhelms,
¡der zwei Armeekorps herausnahm und nach dem gefährdeten
Ostpreußen schickte, wo sie nach dem Sieg von Tannenberg ein-
trafen, also gar nicht mehr nötig waren, und die unbedingte Neu-
tralität Italiens, die es Joffre ermöglichte, die Beobachtungskorps
vom Süden abzuziehen und zu einer überraschenden Gegenum-
fassung zu verwenden, wodurch das „Marnewunder” zustande
kam. Hätten nun auch noch die britischen Hilfstruppen an der
Westfront gefehlt, so wäre ein Riesensedan vollkommen unver-
meidlich gewesen. Überhaupt rechnete der Schlieffenplan immer
mit der Neutralität Englands; diese zu sichern, wäre eben Sache
einer von langer Hand vorbereiteten Bündnisdiplomatie gewesen.
Der Geburtstag der Tripelentente ist der 8. April 1904, der das
französisch-englische Abkommen brachte: darin wurde die Ver-
ständigung über Afrika in bindender Form erneuert und Frank-
reich die „tunification” oder, wie man sich noch euphemistischer
ausdrückte, „pénétration pacifique” Marokkos zugestanden, Deutsch-
land als quantité négligeable behandelt, was ein Jahr später zur
ersten Marokkokrise führte: Kaiser Wilhelm landete ostentativ in
Tanger; auf der Algeciraskonferenz wurde ein Arrangement ge-
troffen, das niemand befriedigte. Der Petersburger Vertrag vom
Jahr 1907, worin Nordpersien als russische, Ostpersien mit Afgha-
nistan als englische Einflußsphäre erklärt wurde, bereinigte die
Differenzen zwischen England und Rußland in ähnlicher Weise
wie die englisch-französischen: das „herzliche Einvernehmen” war
komplett. Bei einer Zusammenkunft, die im darauffolgenden
Jahre zwischen Eduard dem Siebenten und Nikolaus dem Zweiten
stattfand, wurden noch viel weitergehende weltpolitische Dispo-
sitionen getroffen: es wurde akkordiert, daß Rußland Konstanti-
nopel und die Meerengen, England freie Hand in Ägypten, Ara-
bien, Mesopotamien, Persien erhalten solle, also: Rußland im
Mittelmeer herrschend, England vom Nil bis Indien, im Besitz
der Landbrücke Kairo-Kalkutta, die in den großartigen Plänen
des britischen Imperialismus als östliches Pendant zur Südlinie
Kairo-Kapstadt gedacht war; ganz offenbar war in der Kombina-
tion Rußland an die Stelle Deutschlands getreten. Im nächsten
Jahr trafen sich der Zar und der König von Italien in Racconigi,
wo dieser in die Öffnung der Dardanellen, jener in die Besetzung
Tripolitaniens willigte; ganz offenbar bröckelte Italien ab, das
nunmehr mit allen drei Ententemächten in freundschaftlichen Be-
ziehungen stand: mit Frankreich durch den Neutralitätsvertrag
von 1902, mit England laut ausdrücklichem Vorbehalt im Drei-
bundvertrag. 1911 kam es zur zweiten Marokkokrise: Frankreich
nahm einen Aufstand gegen den Sultan zum Vorwand, um in Fez
einzurücken. Wiederum erschien ein deutsches Schiff, das Ka-
nonenboot „Panther”, drohend vor der Küste. Es scheint, daß
England damals zum Kriege entschlossen war: der englische
General French inspizierte die nordfranzösischen Befestigungen,
die englische Flotte wurde auf Kriegsfuß gesetzt, die englische
Großfinanz inszenierte einen Run auf die deutschen Banken, die
Landung von 150000 Mann britischer Truppen in Belgien ist zu-
mindest erwogen worden. Da aber Rußland, das soeben erst mit
Deutschland ein Abkommen über Persien getroffen hatte, sich
reserviert verhielt, kam noch einmal ein Ausgleich zustande:
Deutschland erhielt als Kompensation eine ansehnliche, aber sump-
fige Partie des französischen Kongo zur Abrundung seiner Ka-
merunkolonie. Sowohl die deutschen wie die französischen Natio-
nalisten waren enttäuscht: diese, weil sie fanden, daß dadurch der
Besitz in Mittelafrika zerschnitten sei, der ein französisches Brasi-
lien hätte werden können, jene, weil sie auf Westmarokko oder
zumindest den ganzen französischen Kongo gehofft hatten.
Eine Art Generalprobe der Einkreisung, die nur noch nicht voll-
kommen funktionierte, war die Annexionskrise vom Jahr 1908.
Das jungtürkische „Komitee für Einheit und Fortschritt” hatte
von Sultan Abd ul Hamid die Verfassung erzwungen. Der neue
nationalistische Kurs bewirkte eine straffere Auffassung des Ver-
hältnisses zu Bulgarien, das nominell noch Tributärstaat war, und
zum „Okkupationsgebiet”: man plante, für Bosnien und die Her-
zegowina Wahlen ins türkische Parlament ausschreiben zu lassen.
Die Folge war, daß Österreich-Ungarn, ohne sich vorher mit den
Signatarmächten ins Einvernehmen gesetzt zu haben, die Annexion
der beiden Länder aussprach und an demselben Tage Bulgarien als
unabhängiges Königreich proklamiert wurde. Die Türken ant-
worteten mit dem Boykott der österreichischen Waren und
Schiffe; Serbien verlangte als Kompensation eine „Luftröhre” ans
Adriatische Meer; auch in Italien herrschte große Erregung und
österreichische Truppen erschienen im Trentino; die Tschechen
veranstalteten Sympathiedemonstrationen, die Kaiser Franz Joseph
nötigten, am Tage seines sechzigjährigen Regierungsjubiläums
den Ausnahmezustand über Prag zu verhängen. Aber Deutschland
trat energisch hinter Österreich, und da sich Frankreich in der
Rüstung nicht weit genug, Rußland durch den japanischen Krieg
noch zu geschwächt fühlte, mußte Serbien zurückweichen, indem
es in einer offiziellen Erklärung die Annexion anerkannte und sich
verpflichtete, „die Haltung des Protestes und Widerstandes auf-
zugeben”. Andrerseits verzichtete Österreich auf sein Besatzungs-
recht im Sandschak Novibasar und erstattete ihn an die Pforte, die
außerdem eine Geldabfindung erhielt, zurück, womit es nicht nur
die Tür nach Saloniki preisgab, sondern auch den Riegel löste,
der Serbien und Montenegro im Fall eines gemeinsamen Angriffs
auf die Türkei getrennt hätte. Der Regisseur des Coups, Minister
des Äußern Graf Ährental, erwarb sich den Titel eines „österrei-
chischen Bismarck”, und in Petersburg hieß es von jetzt an: der
Weg nach Konstantinopel geht über Berlin. Indes ist weder am
Zarenhof noch in Rom und Paris, Wien und Berlin eine
einheitliche und zielbewußte Politik gemacht worden, sondern nur
in London. Die Neuzeit, die mit der Grundsteinlegung der
englischen Seeherrschaft anhebt, schließt mit deren Vollendung.
Durch den Weltkrieg erlangte der britische Imperialismus alles,
was er sich erträumt hatte: den Länderblock Kap-Kairo-
Kalkutta, die Abschaltung Rußlands von Vorderasien, Deutsch-
lands vom Welthandel. Der Geist Bacons und Cromwells, die
wahre Seele der Neuzeit, triumphierte über die Erde, wobei
ihm nur ein einziger Rechenfehler unterlief: daß im Augenblicke
seines höchsten Sieges die Neuzeit zu Ende war.
Dieses Weltbild erreichte seine konsequenteste Formulierung um
die Wende des neunzehnten Jahrhunderts im Pragmatismus. Er
nahm seinen Ausgang von Oxford; sein Hauptvertreter ist der
Amerikaner William James, der außer dem 1905 erschienenen
Werk „Pragmatism” und religionsphilosophischen Schriften auch
eine ausgezeichnete empirische Psychologie verfaßt hat, die beste,
die sich überhaupt schreiben läßt. Nach der Auffassung des Prag-
matismus ist auch unser theoretisches Denken nur eine praktische
Betätigung, eine Form des Tuns und Lassens. Das Kennzeichen
der Wahrheit ist ihre Nützlichkeit. „Objektive” Wahrheit ist die
Summe dessen, was von der menschlichen Gemeinschaft als nütz-
lich erkannt worden ist. „Die reichere Einsicht unserer modernen
Zeit”, sagt James, „hat erkannt, daß unsere inneren Fähigkeiten an
die Welt, in der wir weilen, von vornherein angepaßt sind; in dem
Sinne, daß sie unsere Sicherheit und Wohlfahrt in ihrer Mitte
schützen ... Wichtige Dinge erfüllen uns mit Interesse, gefährliche
mit Furcht, giftige mit Ekel und notwendige mit Begierde. Kurz:
Geist und Welt haben sich gegenseitig entwickelt und passen des-
halb zueinander . . . Die verschiedenen Arten, wie wir empfinden
und denken, sind so geworden, wie wir sie kennen, wegen ihres
Nutzens für die Gestaltung der Außenwelt.” Diese Konzeption
ist extrem darwinistisch, puritanisch und merkantilistisch; zudem
enthält sie auch ein wenig vom cant, dessen Wesen ja darin besteht,
das Opportune für das Legitime zu halten. Der Prüfstein für die
Richtigkeit unserer Gedanken ist ihr Erfolg: dies ist die Philoso-
phie des Kaufmanns; und ihr Erfolg bei der Majorität: dies ist die
Logik der Demokratie; und dieser Erfolg ist prädestiniert: dies ist
die Dogmatik des Calvinismus. Kurz, eine Sache ist wahr, weil sie
zu mir paßt: dies ist die Metaphysik des Engländers.
Wenn man will, ist dies der höchste Realismus; aber man kann
es auch im Sinne eines extremen Idealismus deuten. Dies ist von
deutscher Seite geschehen. Für Nietzsche ist „Erkenntnis” nichts
als eine Form des Willens zur Macht, „Wahrheit”: was leben-
fördernd wirkt oder erscheint; „wir stoßen nie auf Tatsachen”.
Und Vaihingers Philosophie des „Als ob”, von der bereits im
zweiten Buche gehandelt wurde, erklärt das Denken für ein bloßes
„Instrument der Selbsterhaltung” zum Orientieren in der Wirk-
lichkeit, ohne daß es deren Abbild wäre; auch die Vorstellung der
dreidimensionalen Ausdehnung ist „ein von der Psyche einge-
schobenes fiktives Hilfsgebilde, um das Chaos der Empfindungen
zu ordnen”. Erst recht gilt dies von allen religiösen, metaphysi-
schen, ethischen, ästhetischen Vorstellungen. Man kann dasselbe
auch optimistischer ausdrücken und sagen: das gesamte mensch-
liche Leben setzt sich aus Idealen zusammen. Diese sind nicht
wirklich, verleihen aber dem Dasein erst seine Weihe. Unser
Leben ist Schein, aber sinnvoller Schein oder, mit einem anderen
Wort, Spiel. Dies heißt die ganze Welt, auch sich selbst und sein
eigenes Tun und Leiden, unter der Optik des Künstlers sehen, und
genau dies war die Weltanschauung Schillers. So betrachtet, er-
scheint Nietzsches Agnostizismus nur als der erhabene Gegen-
gipfel des deutschen Klassizismus.
Noch viel weiter als Vaihinger, der immerhin einräumte, daß
der Erfolg unseres praktischen Handelns auf eine gewisse Über-
einstimmung zwischen der gedachten und der wirklichen Welt
hinweise, ging Ernst Mach, der eigentlich Physiker war und es aus-
drücklich abgelehnt hat, für einen Philosophen gelten zu wollen,
als solcher aber gleichwohl eine tiefe Wirkung geübt hat. Schon in
seiner Geschichte der Mechanik, die der Dühringschen an Klar-
heit, Gründlichkeit und Stoffreichtum ebenbürtig ist, erwies er
sich, und hierin im stärksten Gegensatz zu dieser, als eine Art Frei-
denker vom andern Ende her, indem er nämlich die Toleranz,
die der Liberale irreligiösen Ansichten entgegenzubringen pflegt,
umgekehrt gegen Meinungen walten ließ, die von der Aufklä-
rungsdogmatik verdammt werden: ein Mangel an Zelotismus, der
sich unter den Priestern der Wissenschaft höchst selten findet.
Seine Aufsatzreihe über „die Analyse der Empfindungen und das
Verhältnis des Physischen zum Psychischen” erschien 1885 in
erster und erst 1900 in zweiter Auflage, der aber dann während
der nächsten zwei Jahre drei weitere folgten. Der geistige Stamm-
baum Machs weist nach England: auf Locke, der die gesamte Er-
fahrung für einen Komplex von Elementarvorstellungen, ideas,
und auf Hume, der den Begriff der Substanz aus der gewohn-
heitsmäßigen Zusammenfassung derselben Merkmale und das Ich
für ein bloßes Bündel von Vorstellungen erklärt hatte. „Meine
sämtlichen physischen Befunde”, sagt Mach, „kann ich in derzeit
nicht weiter zerlegbare Elemente auflösen: Farben, Töne,
Drucke, Wärmen, Düfte, Räume, Zeiten usw.” Also auch die
kantischen „reinen Anschauungsformen”, Raum und Zeit, sind
für ihn nichts als Empfindungen, denn sie haben, sobald sie in
unserer Erfahrung auftreten, immer schon einen bestimmten Ort,
eine bestimmte Ausdehnung, eine bestimmte Dauer, setzen sich
also einfach aus Elementareindrücken des Gesichts und Getasts
zusammen. Räumlich und zeitlich verknüpfte Komplexe von
Farben, Tönen, Drucken werden als Körper bezeichnet und er-
halten besondere Namen; absolut beständig sind aber solche Kom-
plexe keineswegs. Als relativ beständig zeigt sich ferner der Kom-
plex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich
bezeichnet wird. Die Abgrenzung des Ichs stellt sich instinktiv
her, wird geläufig und befestigt sich vielleicht sogar durch Ver-
erbung. Infolge ihrer hohen praktischen Bedeutung für das
Individuum und die Gattung treten die Zusammenfassungen „Ich”
und „Körper” mit elementarer Gewalt auf. Alle Körper sind nur
Gedankensymbole für Komplexe von „Elementen”. Vor diesem
Standpunkt besteht kein Gegensatz zwischen Welt und Ich, Ding
und Empfindung, Physik und Psychologie. Eine Farbe ist ein
physikalisches Objekt, wenn wir auf ihre Abhängigkeit von der
Lichtquelle achten, ein psychologisches Objekt, wenn wir auf
ihre Abhängigkeit von der Netzhaut achten. Der Stoff ist in beiden
Fällen derselbe, nur die Untersuchungsrichtung verschieden. Es
gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, zwischen
Drinnen und Draußen, zwischen innerer Empfindung und äuße-
rem Ding; es gibt nur einerlei Elemente, die, je nach der Be-
trachtung, drinnen oder draußen sind. Die Elemente der mate-
riellen Welt heißen in der psychischen Welt Empfindungen;
Aufgabe der Wissenschaft ist die Erforschung des Zusammenhanges,
der gegenseitigen Abhängigkeit aller dieser Elemente. Mach
spricht hier nicht als Philosoph, sondern als Physiker: „ich wün-
sche”, sagt er in einer Fußnote, „in der Physik einen Standpunkt
einzunehmen, den man nicht sofort verlassen muß, wenn man in
das Gebiet einer andern Wissenschaft hinüberblickt, da schließlich
doch alle ein Ganzes bilden sollen. Die heutige Molekularphysik
entspricht dieser Forderung entschieden nicht.” In durchaus fol-
gerichtiger Entwicklung dieser Auffassung ersetzt Mach den Ur-
sachenbegriff durch den mathematischen Funktionsbegriff:
Kausalität ist die funktionelle Abhängigkeit, in der die Elemente
zueinander stehen. Der Funktionsbegriff hat gegenüber dem star-
ren Ursachenbegriff den Vorteil, daß er sich jeder neuen Tatsache
anzupassen vermag; worin überhaupt nach Mach das Ziel aller
Naturwissenschaft besteht. Sie ist Anpassung der Gedanken an die
Tatsachen oder Beobachtung und Anpassung der Gedanken
aneinander oder Theorie. Beide sind nicht scharf zu trennen,
denn jede Beobachtung ist in gewissem Grade schon Theorie und
jede Theorie fußt auf Beobachtung; „die große scheinbare Kluft
zwischen Experiment und Deduktion besteht in Wirklichkeit
nicht”. Das Resultat dieser unaufhörlich erweiternden und berich-
tigenden Arbeit sind die Naturgesetze, die aber, wie Mach in sei-
nem letzten Werk „Erkenntnis und Irrtum” betont und an vielen
Beispielen erläutert, nur durch Vereinfachung, Schematisierung,
Idealisierung der Tatsachen entstehen.
Philosophiegeschichtlich eingereiht, ist Machs Weltbild die
schärfste, durch nichts mehr zu überbietende Zuspitzung des No-
minalismus, des durchlaufenden Themas der Neuzeit. Dieser
hatte gelehrt, unser Seelenleben bestehe nur aus Einzelvorstellun-
gen, die aber als bloße „Zeichen” keinerlei Ähnlichkeit mit den
Dingen zu haben brauchen; es sei, wie die englischen Empiristen
in Fortführung dieser Doktrin erklärten, ein bloßes Spiel ein- und
austretender, sich verbindender und trennender Sensationen: un-
ser Gehirn, sagt Locke sehr anschaulich, ist nichts als ein Audienz-
zimmer; in ähnlicher Weise behaupteten Condillac und die fran-
zösischen Enzyklopädisten, alle psychischen Tätigkeiten seien um-
geformte Empfindungen. Nun zieht Mach den Schlußstrich, in-
dem er erklärt: es gibt nicht nur keine Begriffe, keine Substanzen,
keine apriorischen Anschauungsformen, sondern überhaupt kei-
ne Objekte, auch keine „den Empfindungen unähnliche”, denn
die Objekte sind nichts weiter als die Empfindungen selbst. Zu-
gleich aber ist Mach der klassische Philosoph des Impressionis-
mus, indem er keine andere psychische Realität anerkennt als die
„Elemente”, die isolierten Einzeleindrücke, die sozusagen das
ABC unserer Erfahrungswelt bilden, als deren letzte und einzige
Tatsachen. Es gibt nun offenbar zwei Möglichkeiten: man kann
als gewissenhafter „Realist” bei den Elementen stehenbleiben, in-
dem man sich begnügt, sie bloß zu registrieren; und man kann zu
buchstabieren versuchen, aber mit dem vollen Bewußtsein, damit
eine unverantwortliche Phantasietätigkeit auszuüben, denn gege-
ben sind dem Buchstabierenden als Material nicht mehr die
realen Empfindungen a, b, c . . ., sondern bloß deren ideelle Erin-
nerungsbilder Į, ȕ, Ȗ . . ., die er zu „Komplexen” (Körpern, Ich-
gefühlen, Gedanken, Stimmungen und allen übrigen höheren Pro-
dukten des Seelenlebens) zusammenfaßt. Genau dies nun sind die
zwei polaren Möglichkeiten des Impressionismus, von denen wir
im vorigen Kapitel gesprochen haben. Man könnte meinen, daß
nur die erstere Form dem Impressionismus wesentlich sei, die letz-
tere hingegen ihm mit aller Kunst gemeinsam; indes besteht auch
hier ein großer Unterschied, indem der Impressionismus sich bei
seinen Synthesen stets voll bewußt bleibt, daß die Einzelempfin-
dung sein einziges Baumaterial bildet und daß das Gebäude Fik-
tion ist.
Die Betonung der „Welt als Fiktion” ist das Gemeinsame aller
noch so heterogenen philosophischen Richtungen des ausgehenden
Jahrhunderts. In Frankreich hat der hervorragende Mathematiker
Henri Poincaré den Standpunkt des Pragmatismus sogar für die
scheinbar sicherste und allgemeingültigste Wissenschaft, die Geo-
metrie, vertreten. In seinem Buch „La valeur de la science” sagt er:
„Wir kennen im Raume gradlinige Dreiecke, deren Winkelsum-
me gleich zwei Rechten ist. Aber wir kennen auch krummlinige
Dreiecke, deren Winkelsumme kleiner als zwei Rechte ist. Den
Seiten jener den Namen Gerade geben, heißt: die euklidische Geo-
metrie annehmen; den Seiten dieser den Namen Gerade geben,
heißt: die nichteuklidische Geometrie annehmen ... Augenschein-
lich wollen wir, wenn wir sagen, daß die euklidische Gerade eine
wirkliche Gerade sei, die nichteuklidische aber nicht, damit nur
ausdrücken, daß die erstere Anschauung einem wichtigeren Gegen-
stande entspricht als die letztere ... Wenn die euklidische Gerade
wichtiger ist als die nichteuklidische, so bedeutet das hauptsächlich,
daß sie von gewissen wichtigen natürlichen Gegenständen wenig
abweicht, von denen die nichteuklidische Gerade stark abweicht.”
Das System der Mathematik ist eine Konvention: „es ist weder
wahr noch falsch, es ist bequem.”
Weitaus der einflußreichste französische Philosoph seit Comte
war jedoch Henri Bergson, für die Vorkriegszeit in seiner natio-
nalen Wirkung auf Literatur, Kunst, Lebensanschauung fast Des-
cartes vergleichbar. Er setzt die Metaphysik in betonten Gegensatz
zur Wissenschaft. Die angestammte Tätigkeit der positiven Wis-
senschaft ist die Analyse. Das Verfahren der Analyse besteht darin,
daß sie ihren Gegenstand auf schon bekannte Elemente zurück-
führt, das heißt also: sie versucht ein Ding durch etwas auszudrük-
ken, das nicht dieses Ding selbst ist. Jede Analyse ist also eine Über-
setzung, eine Entwicklung in Symbolen. Das Instrument der Meta-
physik ist die Intuition. „Intuition ist jene Art von intellektueller
Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes
versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unaus-
drückbarem besitzt. ... Wenn es ein Mittel gibt, eine Realität
absolut zu erfassen, anstatt sie relativ zu erkennen, sich in sie hinein
zu stellen, statt Standpunkte zu ihr einzunehmen, sie ohne jede
Übersetzung und symbolische Darstellung zu ergreifen, so ist dies
die Metaphysik selbst. Die Metaphysik ist demnach die Wissen-
schaft, die ohne Symbole auskommen will.” Es gibt also
einen außergedanklichen Weg, die Wirklichkeit zu rekonstruieren,
den Weg des unmittelbaren Erlebens. In der Intuition erlebt sich
die Seele als ein Wesen, das nicht durch körperliche Vorgänge be-
dingt ist. Von diesen ist sie in ihren Empfindungen abhängig;
aber schon die Erinnerung, in der die Empfindung reproduziert
wird, ist ein rein geistiger Prozeß. Die Seele ist nicht im Raum
und in der Zeit, die nur auf die Materie Bezug haben. Raum und
Zeit lassen sich quantitativ messen, die Lebensäußerungen der
Seele nicht; im Raum herrscht das Nebeneinander, in der Zeit das
Nacheinander, in der Seele das Ineinander. Die Seele ist das Reich
der Freiheit. Es gibt keine Dinge, es gibt keine Zustände, es gibt
nur „actions”.
Die Zentrahnacht erblickt diese dynamische Philosophie in der
„Lebensschwungkraft”, dem élan vital, der, in einem dauernden
schöpferischen Rausch begriffen, stetige Versuche anstellt, um durch
den Geist die Materie zu besiegen. Im Menschen hat er sich zum
Denken aufgerafft, das dieser aber mit dem Verlust seines Instinkts
bezahlen mußte: „Alles geht vor sich, als ob ein Wesen nach Ver-
wirklichung getrachtet und sie nur dadurch erreicht hätte, daß es
einen Teil seiner Natur unterwegs aufgab. Diese Verluste sind es,
die in der übrigen Tierheit, ja auch in der Pflanzenwelt aufbe-
wahrt sind.” Der Instinkt ist nicht etwa eine niedrigere Form des
Verstandes, sondern eine von ihm generell verschiedene Fähigkeit.
Sein Erkenntnismittel ist die „Sympathie”, die „Fernwitterung”;
im Menschen, insbesondere im Künstler, äußert er sich als Intui-
tion. Für gewöhnlich sorgt der Verstand aus praktischen Gründen
dafür, daß aus der dunkeln Tiefe des Instinkts nur das ins Bewußt-
sein tritt, was der Selbsterhaltung dient: der Verstand ist der „Ge-
fängniswärter” der Seele. Nur ein am Existenzkampf Uninteres-
sierter, ein Träumer, ein „Zerstreuter” erfaßt die Wirklichkeit
ganz, ohne Abzüge, ohne Entstellungen. Leben heißt: von den
Dingen nur den nützlichen Eindruck aufnehmen und durch geeig-
nete Reaktionen darauf antworten. „Zwischen uns und die Natur,
ach, was sage ich: zwischen uns und unser eigenes Bewußtsein legt
sich ein Schleier, der für den gewöhnlichen Menschen dicht ist,
leicht aber und fast durchsichtig für den Künstler und Dichter.
Welche Fee hat diesen Schleier gewoben? War's eine gute; oder
war's eine böse?” Auch an Bergson zeigt sich, daß der Pragma-
tismus die Möglichkeiten zu einer radikalen Künstlerphilosophie
in sich birgt.
Im äußersten Gegensatz zu Bergsons Irrationalismus befand
sich die „Marburger Schule”, deren Glieder sich, mit geringer Be-
rechtigung, Neukantianer nannten; aber auch zu Mach stehen sie
in Antithese. Hatte dieser gelehrt, es gebe nur Empfindungen, so
behaupteten sie, es gebe nur Begriffe; diese seien die einzigen Rea-
litäten. Gleichwohl wird sie niemand mit den mittelalterlichen
„Realisten” verwechseln, deren Glaube an die Universalien in le-
bensvoller Frömmigkeit wurzelte, während der ihre aus seichtem
Verstandeshochmut floß. Ihr Haupt war Hermann Cohen. In
seiner „Logik der reinen Erkenntnis”, „Ethik des reinen Willens”,
„Ästhetik des reinen Gefühls”, Gebrauchsanweisungen zur dialek-
tischen Falschspielerei, deren Gaunersprache nur engeren Metier-
genossen zugänglich ist, wird Kant auf eine höchst sterile Manier
beim Wort genommen, überspitzt und überkantet. Ganz willkür-
lich wird ein Stück aus dem System der Vernunftkritik herausge-
brochen und zur Universalphilosophie erhoben, die scholastische
Kategorienlehre, gerade die entbehrlichste und anfechtbarste Par-
pe. In Wirklichkeit waren die Neukantianer in ihrem Panlogismus
späte Schüler Hegels, ohne dessen schöpferische Architektonik und
weltumspannende Geistesfülle.
Eine Art Professorenphilosophie, aber von sympathischerer und
fruchtbarerer Art, war auch die umfassende Lebensarbeit Wilhelm
Wundts. Nach seiner eigenen Definition ist die Philosophie „die
allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften
vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslo-
sen System zu vereinigen hat”. Danach wäre also der Philosoph
pur eine Art Sammler und Registrator, Klärer und Zusammenfas-
ser, ein Kopf, der über alles scheinbar Ungereimte ehrlich und
genau nachdenkt, Alternativen klug und sauber entscheidet, Beob-
achtungen an Beobachtungen reiht, Tatsachen verknüpft, vorsich-
tige Schlüsse zieht und schließlich einen faßlichen Handkatalog,
eine übersichtliche Landkarte des intellektuellen Zustandes ent-
wirft, in dem wir uns gerade befinden. Das ist eine recht bescheide-
ne Mission; und diese hat Wundt denn auch redlich erfüllt. In sei-
hen vielen dicken Büchern ist in der Tat das gesamte geistige In-
ventar der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts protokolliert,
das ganze wissenschaftliche Leben zweier Menschenalter wie in
einer musterhaften Käfersammlung sorgsam präpariert, lückenlos
aufgespießt, kundig geordnet und mit instruktiven Etiketten ver-
sehen. Die Welt verlangte damals von einem Philosophen ja wirk-
lich nichts anderes, als daß er eine Art Cicerone und Mentor sei,
der sie, ausführlich kommentierend, durch die bis an die Decken
gefüllten Vorratsspeicher ihrer Bildung spazieren führe, damit sie
dort in aller Behaglichkeit überblicken könne, wie aufgeklärt und
fortgeschritten, zu welcher Schärfe der Methoden, Feinheit der
Unterscheidungen, Breite und Solidarität des Gesamtwissens sie
emporgestiegen sei.
Etwas Philiströses war denn auch dem ganzen Schaffen Wundts
deutlich aufgeprägt. Dieser Wesenszug offenbarte sich zunächst in
der schüchternen Behutsamkeit, mit der er jedem allzu raschen und
kühnen Gedanken sorgfältig auswich, in der (für den deutschen
Bürger so charakteristischen) Angst vor „Widersprüchen”: nur
um Gottes Willen nichts Paradoxes !, in der prinzipiellen Bevorzu-
gung des goldenen Mittelweges, auf dem ja tatsächlich die meisten
praktischen Wahrheiten, aber fast niemals die genialen Entdeckun-
gen liegen: nur ja keine Extreme! Und diese schöne bürgerliche
Fähigkeit, in allen Angelegenheiten die vernünftige, gerechte Mitte
zu erblicken, hat ihn in der Tat in den meisten philosophischen
Streitfragen, die seine Zeit bewegten, ein besonnenes und unbe-
stochenes Verdikt fällen lassen. Er vermittelte in der Erkenntnis-
theorie zwischen Idealismus und Realismus, in der Ethik zwischen
Apriorismus und Empirismus, in der Naturphilosophie zwischen
Atomistik und Energetik, in der Biologie zwischen Mechanismus
und Vitalismus, in der Soziologie zwischen Individualismus und
Kollektivismus, als ein bon juge, der alle verurteilt, aber zugleich
allen Bewährungsfrist gibt. Eine gewisse Pedanterie lag auch in
seiner ganzen Vortragsweise, doch hat gerade sie ihn befähigt, sei-
ner Zeit die komplettesten und seriösesten Lehrbücher zu schen-
ken, die sie sich wünschen konnte. Und schließlich und vor allem
manifestierte sich jener spießbürgerliche Geist in der rückhaltlosen
Prostration vor der Welt der Tatsachen, die man mit Hebeln und
Schrauben peinlich verhören, durch Reagenzgläser entlarven, in
vergleichende Tabellen einfangen und mit einem Koordinaten-
netz festhalten kann. Diese Anbetung der Realität geht durch
Wundts ganzes Denken, und sie wird dadurch nicht desavouiert,
daß er auf die breite physikalische, physiologische und ethnologi-
sche Basis, die er seinem System gegeben hat, ein sehr luftiges und
leeres Stockwerk von halb kantischem, halb leibnizischem Idealis-
mus setzte, das den unabweislichen Eindruck eines recht entbehr-
lichen Luxusbaues macht und offenbar nicht für “Wohnzwecke,
sondern nur für gelegentliche feierliche Repräsentation gedacht
ist. Man darf aber nicht vergessen, daß dieser realistischen Geistes-
richtung Wundts auch der Ausbau zweier großer neuer Diszipli-
nen zu verdanken ist: der physiologischen Psychologie und der
Völkerpsychologie, deren um vieles aufschlußreichere heutige
Kenntnis in erster Linie seiner scharfsinnigen Ausdauer und treuen
Hingabe zu verdanken ist. Seine wichtigste Entdeckung auf diesen
beiden Gebieten ist die Erkenntnis, daß im Seelenleben nicht das
Gesetz der rein mathematischen Summation herrscht: jeder Kom-
plex, der aus einfachen Vorstellungen oder einfachen Gefühlen
kitsteht, ist nicht bloß quantitativ, sondern auch qualitativ etwas
Neues, die Volksseele mehr und etwas anderes als der Inbegriff
einer bestimmten Anzahl von Individualseelen. Ein anderer origi-
neller Gedanke Wundts war das „Gesetz von der Heterogonie der
Zwecke”. Er verstand darunter „die allgemeine Erfahrung, daß in
dem gesamten Umfange freier menschlicher Willenshandlungen
die Betätigungen des Willens immer in der Weise erfolgen, daß
die Effekte der Handlungen mehr oder weniger weit über die ur-
sprünglichen Willensmotive hinausreichen und daß hierdurch für
künftige Handlungen neue Motive entstehen, die abermals neue
Effekte hervorbringen”. In der Sprache gewöhnlicher Sterblicher
ausgedrückt, würde dies etwa soviel bedeuten wie: du glaubst zu
leben und du wirst gelebt; du bereitest dich mit deinem Hirn,
deinen Nerven, deiner Gestaltungskraft auf ein bestimmtes Erleb-
nis vor, in dem dir Ziel und Sinn des Daseins zu liegen scheint;
aber unversehens kommt die Wirklichkeit in ihrer Selbstherrlich-
keit und verrückt dir das Konzept: die Ereignisse haben sachte und
unmerklich, während du sie erlebtest, ja gerade dadurch, daß du
sie erlebtest, eine Achsendrehung gemacht und eine ganz neue,
ganz verschiedene Pointe bekommen. Dieses Gesetz wird vermut-
lich einmal auf Wundt selbst Anwendung finden, ja vielleicht ist
dies bereits geschehen. Während nämlich seine Zeitgenossen in
ihm einen großen Wettermacher erblickten, war er wahrschein-
lich von der Vorsehung nur dazu bestimmt, ein Barometer zu sein,
an dem man einfach ablesen kann, welcher Luftdruck geherrscht
hat, als es in Funktion stand.
Ins Gebiet der Philosophie müssen auch zwei mehr essayistisch
angelegte Werke gerechnet werden, die ein starkes und berechtig-
tes Aufsehen erregten, „Geschlecht und Charakter” und „Rem-
brandt als Erzieher”, jenes 1903, dieses 1890 erschienen, ohne den
Namen des Verfassers Julius Langbehn und noch in demselben
Jahre vierzigmal aufgelegt. In seiner temperamentvollen Orientie-
rung an durchlaufenden Kontrastbegriffen wie Zivilisation und
Kultur, Literatur und Kunst, Demokratie und Volksstaat, Bour-
geois und Bürger, Stimmrecht und Freiheit, Politik und Musik erin-
nert es an Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen”,
die aber noch farbiger, persönlicher und differenzierter sind; und
ebenso wie diese ist es ausgesprochen zeitpolemisch: „Schiller
überschrieb sein erstes Werk: in tyrannos; wollte jemand heute ein
allgemeines Wort an die Deutschen richten, so müßte er es über-
schreiben: in barbaros. Sie sind nicht Barbaren der Roheit, son-
dern Barbaren der Bildung.” Das klingt deutlich an den „Bildungs-
philister” der ersten Unzeitgemäßen an, wie der Titel an die dritte
Unzeitgemäße und gleich einer der ersten Sätze des Buches: „die
gesamte Bildung der Gegenwart ist eine alexandrinische, histori-
sche, rückwärtsgewandte” an die zweite Unzeitgemäße: der Pro-
fessor, heißt es, sei die deutsche Nationalkrankheit, die derzeitige
Jugenderziehung eine Art von bethlehemitischem Kindermord;
in einer Zeit, die sogar „denkende Dienstmädchen” verlange,
müßte man auch das Recht haben, denkende Gelehrte zu verlan-
gen; die deutsche Universität sollte von Rechts wegen „Speziali-
tät” heißen, denn sie enthalte nur Spezialitäten. „Der Spezialist hat
seine Seele hingegeben; ja man darf sagen, daß der Teufel ein Spe-
zialist ist; wie Gott sicher ein Universalist ist.” Der Idealismus des
vorigen Jahrhunderts habe die Welt aus der Vogelperspektive ge-
sehen, der Spezialismus des jetzigen Jahrhunderts sehe sie aus der
Froschperspektive, das nächste werde sie hoffentlich aus der mensch-
lichen Perspektive ansehen. Bei der Kritik Wagners wird man
wiederum an Nietzsche erinnert: „Seine Gefühle sind ekstatisch
oder sie zerschmelzen; auf ebener mäßiger Höhe, da wo das eigent-
lich Gesunde wohnt, halten sie sich nicht; sie sind raffiniert. Shake-
speare ist Kaiser, Wagner ist empereur.” (Doch handelt es sich bei
allen diesen Urteilen nicht um eine direkte Beeinflussung durch
Nietzsche, sondern bloß um eine interessante geistige Duplizität.)
Rembrandt eignet sich zum deutschen Führer gerade durch sein
gemischtes Wesen: „Hell und Dunkel, Skepsis und Mystik, Poli-
tik und Kunst, Adel und Volk sind eins ... weil sie uneins sind.
Aus der Zweiheit gebiert sich die Einheit; das ist der glorreiche
Lauf der Welt.”
Als „Geschlecht und Charakter” erschien, war Otto Weininger
dreiundzwanzig Jahre alt; ein halbes Jahr später erschoß er sich im
Sterbehaus Beethovens. Die Grundthese, von der seine Untersu-
chung ausgeht, ist die Annahme zweier polarer Seelenformen, des
Mannes und des Weibes, die er M und W nennt; sie stellen ideale
Grenzfälle dar, die in der Wirklichkeit immer nur vermischt und
in unzähligen Abstufungen auftreten. Das Gesetz der sexuellen
Attraktion beruht darauf, daß immer ein ganzer Mann und ein
ganzes Weib zusammenzukommen trachten, also zum Beispiel
¾ M + ¼ W mit ¾ W + ¼ M; woraus folgt, daß auch das kon-
träre Geschlechtsgefühl nur einen Spezialfall des Naturgesetzes dar-
stellt. W geht im Geschlechtsleben, in der Sphäre der Begattung
und Fortpflanzung vollkommen auf, während M nicht ausschließ-
lich sexuell ist. Ferner ist die Sexualität bei M streng lokalisiert, bei
W über den ganzen Körper diffus ausgebreitet. Die Tatsache, daß
die Sexualität beim Manne nicht alles ausmacht, ermöglicht ihm
ihre psychologische Abhebung und ihr Bewußtwerden. Es zeigen
sich bei W zwei angeborene entgegengesetzte Veranlagungen, die
sich auf die verschiedenen Frauen in verschiedenem Verhältnis
verteilen: die absolute Mutter und die absolute Dirne; zwischen
beiden liegt die Wirklichkeit. Die absolute Dirne interessiert nur
der Mann, die absolute Mutter nur das Kind. Allem W eigentüm-
lich ist die organische Verlogenheit und, was damit zusammen-
hängt, die Seelenlosigkeit: „es ist ganz unrichtig, wenn man sagt,
daß die Weiber lügen, das würde voraussetzen, daß sie auch manch-
mal die Wahrheit sagen”; „Undine ist die platonische Idee des
Weibes”. Die Frau ist keine Monade. Sie ist nie einsam, sie kennt
nicht die Liebe zur Einsamkeit und nicht die Furcht vor ihr, sie
lebt stets, auch wenn sie allein ist, in einem Zustand der Ver-
schmolzenheit mit allen Menschen, die sie kennt: alle Monaden
aber haben Grenzen. Vielleicht hat der Mann bei der Menschwer-
dung durch einen metaphysischen außerzeitlichen Akt die Seele
für sich behalten. Dieses sein Unrecht büßt er nun in den Leiden
der Liebe, in der er der Frau eine Seele schenken will, weil er sich
des Raubes wegen vor ihr schuldig fühlt. Die Aussichtslosigkeit
dieses Versuches erklärt, warum es glückliche Liebe nicht gibt.
Der einzige Ausweg besteht in der Verneinung und Überwindung
der Weiblichkeit, das heißt: der Sexualität. Das Weib wird nur so
lange leben, bis der Mann seine Schuld gänzlich getilgt, bis er die
eigene Sexualität wirklich überwunden hat. „Darum kann es auch
nicht sittliche Pflicht sein, für die Fortdauer der Gattung zu sorgen,
wie man das so oft behaupten hört. Es ist diese Ausrede von einer
außerordentlich unverfrorenen Verlogenheit; diese hegt so offen zu-
tage, daß ich fürchte, mich durch die Frage lächerlich zu machen, ob
schon je ein Mensch den Koitus mit dem Gedanken vollzogen hat, er
müsse der großen Gefahr vorbeugen, daß die Menschheit zugrunde
gehe; oder ob jemals einer an die eigene Berechtigung geglaubt
hat, dem Keuschen vorzuwerfen, daß er unmoralisch handle.”
Weiningers Werk, eine jener großen Konfessionen, in denen
sich ein frühreifer solitärer Geist restlos ausspricht und zugleich
ausgibt, als kühne und konsequente Konzeption eines eigenwilligen
Weltbilds viel mehr als eine neue und tiefer schürfende Psycholo-
gie der Geschlechter, läßt keinen reinen Eindruck zurück. Denn
in ihm vermischen sich auf eine unheimliche Weise kantisches
Ethos, ibsensche Höhenluft, schopenhauerischer Erlösungsdrang,
nietzschische Seelenkunde mit moralistischem Hochmut, intellek-
tualistischem Nihilismus und einer unterirdischen Faszination
durch das Böse, zu deren Abwehr dieser tragische Denker sein
ganzes Gebäude aufgerichtet hat, ja sogar, wie Äußerungen aus
seinen letzten Tagen vermuten lassen, aus dem Leben geschieden
ist. In „Geschlecht und Charakter” dämmert bereits die Selbster-
kenntnis des Menschen der Neuzeit, indem dessen Dialektik, ihr
Gift gegen sich selbst kehrend, in den Skorpionsstich flüchtet.
Der dämonische Plastiker dieser höllischen Innenschau, die vom
Weibe bloß ihren Ausgang nimmt, war August Strindberg, den
die expressionistische Dichtergeneration in ähnlicher Weise zu
ihrem Schutzheiligen erhob wie die naturalistische Ibsen: Ibsen,
hieß es, stellt Rechenexempel auf, Strindberg ballt Visionen, Ibsen
ist ein trockener Doktrinär, Strindberg ein blutvoller Bekenner,
kurz: der „Magus aus dem Norden” war depossediert und als
Apotheker entlarvt. Ein Landsmann Strindbergs hat den Gegen-
satz folgendermaßen formuliert: „Ibsen ist lauter simplifizierter
Zusammenhang, Strindberg lauter blühendes Chaos.”
Selbst wenn man dies nun zugeben wollte, so wäre zunächst
noch gar nicht ausgemacht, ob denn gerade das Chaotische das
Wesen des schöpferischen Menschen sei und nicht vielleicht im
Gegenteil seine Hauptkraft in der planvollen Besonnenheit, der
kunstvollen Bändigung und Zusammenfassung, Ordnung und
Harmonisierung des seelischen Rohstoffs, kurz in der Klärung des
inneren Chaos bestehe. Sonst gäbe es nämlich zwischen einer hyste-
rischen Frau und einem Künstler keinen wesentlichen Unterschied;
denn „blühendes Chaos” findet sich auch bei dieser, hingegen
„Zusammenhang”, und zwar höchst simplifizierter, gerade bei
einigen künstlerisch recht bedeutenden Personen, zum Beispiel:
Sophokles, Bach, Plato, Calderon, Goethe. Aber dies ist eine Streit-
frage für sich, und es handelt sich im Falle Strindbergs noch um
etwas ganz anderes.
Es gibt gewiß viele poetische Werke, bei denen man den Ein-
druck hat: so sieht die Welt ja gar nicht aus! Das beweist jedoch
noch gar nichts gegen diese Werke, sondern es kommt auf den
Nachsatz an, den man dann gewöhnlich noch unwillkürlich dazu-
denkt. Man kann im Geiste hinzufügen: aber so könnte die Welt
aussehen. Die Fähigkeit, diesen Eindruck zu erwecken, nennen wir
Dichtkunst. Man kann sich aber auch sagen: so müßte die Welt
aussehen, wenn es richtig zuginge. Diese Wirkung erzielen nur
die ganz großen Kunstwerke. Und nun gibt es noch eine dritte
Gruppe, bei der wir die Empfindung haben: so dürfte die Welt
ja gar nicht aussehen! Zu dieser Gruppe gehören die Schöpfungen
Strindbergs, und deshalb muß man sie pathologisch nennen. Es ist
natürlich nicht die Aufgabe des Dichters, die Wirklichkeit nach-
zuzeichnen. Sondern er hat einen ganz anderen Beruf: er hat ein
Ideal aufzuzeichnen, nach dem sich die vorhandene Wirklichkeit
richten soll. Nun ist ja jede Veränderung der Wirklichkeit ein
Idealisieren, auch die Karikatur, denn sie vereinfacht, verkürzt,
konzentriert die Realitäten ins Lächerliche. Und man kann die
Welt ins Lebensfeindliche oder ins Verkehrte idealisieren, und das
hat Strindberg getan. Also: daß die Welt nicht so ist, wie Strind-
berg sie darstellt, bildet noch keinen Einwand gegen seine Dich-
tungen, sondern dieser besteht darin, daß seine poetische Welt
keine wünschbare Welt ist. Auch die Welt Hebbels ist kaum
eine wünschbare, denn es ist durchaus nicht erstrebenswert, daß
die Menschheit aus bösartigen Hegelianern bestehe. Aus einem
ähnlichen Grund müssen auch Wedekinds Dramen pathologisch
genannt werden, denn wenn es im Leben so zuginge wie in diesen
Stücken, so müßte man glauben, die Welt sei ein einziger großer
Phallus. Auch dies ist ein Ideal, aber ich glaube: es ist ein falsches.
Lastende, lähmende, tiefbeklemmende Seelenverfinsterung ist
die Atmosphäre, in der Strindbergs Wesen hausen, Haß, blutroter,
weißglühender Haß ist das Feuer, von dem die Bewegungen seiner
Dramen gespeist werden. Haß tropft von den Wänden der Zim-
mer, schwirrt in Millionen Bazillen durch die Luft, dampft erstik-
kend aus der Erde herauf. Und was die Furchtbarkeit des Eindrucks
noch erhöht: man hat niemals das Gefühl grausamer Willkür, son-
dern spürt mit der größten Bestimmtheit: diese Menschen müssen
so sein, wie sie sind, müssen sich gegenseitig unnützes Leid zufügen,
bis sie zerfleischt zusammenbrechen.
Es sind im Grunde einige wenige Motive, die Strindberg fast
manisch immer wiederkehren läßt. Zum Beispiel: jemand trinkt
in der Küche die gute Bouillon weg und gibt dem anderen den
kraftlosen Aufguß; jemand nimmt in der Speisekammer den Rahm
von der Milch; jemand kauft die Schuldscheine eines anderen auf
und bedrängt ihn; jemand stiehlt die Gedanken eines anderen und
gibt sie für seine aus; jemand weiß von einem anderen heimliche
Untaten und gewinnt so Macht über sein Leben. Nun wäre ja auch
las noch kein berechtigter Einwand gegen Strindbergs Dichtun-
gen. Es widerspricht durchaus nicht der Natur des Genies, gewisse
Leitgedanken unaufhörlich zu wiederholen, ja im Gegenteil, darin
besteht sogar sehr oft sein Wesen. Auch wird niemand ernstlich
behaupten dürfen, daß die Kunst bloß erquicken soll. Im Gegenteil:
sie soll beunruhigen, alarmieren und aufrütteln, sie hat die Mission,
das schlechte Gewissen ihres Zeitalters zu sein. Aber sie soll zu-
gleich die Welt durch ihre Betrachtung schöner, liebenswerter
und gottähnlicher machen. Der Blick, den sie auf die Dinge wirft,
soll diese bereichern und verjüngen. Aber Strindbergs Blick ist
ein böser Blick. Er verhäßlicht und entzaubert die Welt und ver-
lästert sie im eigentlichen Sinne des Wortes, indem er sie mit La-
stern bevölkert, die erst er ans Licht beschworen hat, die vielleicht
ohne ihn ewig geschlummert hätten. In mehreren seiner Dramen
kommen Personen vor, die die Rolle des Vampirs spielen: sie
nähren sich von Geist und Blut ihrer Mitmenschen. Aber Strind-
berg ist selbst ein solcher Vampir: er saugt den Menschen, die so
unvorsichtig sind, sich von seinen Dichtungen anlocken zu lassen,
das Blut aus Herz und Hirn, Adern und Knochen, raubt ihnen
Lebenssaft und Lebensluft, macht sie völlig anämisch. Er ist ein
Seelenfresser, und das ist wahrscheinlich etwas viel Gefährlicheres
als ein Menschenfresser.
Der Sündenfall der Menschheit ins Sexuelle, Kampf und Höllen-
fahrt der Geschlechter: dies ist das dunkle Thema aller grandiosen
Haßsymphonien, die Strindberg aus sich herausgeschleudert hat,
in jenem flammenden wetterträchtigen Furioso und berückenden
gedrängten Stakkato, das ihm in der Weltliteratur niemand vor-
gemacht und niemand nachgemacht hat. In diesen infernalisch
unbarmherzigen Duellen und Messerkämpfen ist die Frau stets der
grausame Teufel, der Mann das unschuldige Opfer. Aber ist dies
Stach richtig gesehen? Wenn wahr ist, was Strindberg in künstle-
rische Gestalt und Weininger in ein philosophisches System ge-
bracht hat: daß nämlich die Frau vom Manne geschaffen ist, daß
sie im Grunde nichts anderes ist als eine Art Schattenwurf und
Projektion seines Geistes, dann ist ja gerade der Mann der Satan
in Person. Aber es ist offensichtlich, daß die ganze Betrachtungsart
Strindbergs eine rein mythologische ist. Die Frau als Teufel,
die Frau als Hexe: diese Idee gehört in dieselbe Rubrik wie die
Ansicht, daß der Himmel ein blaues Kuppelgewebe sei, in das
Sterne gestickt sind. Indes, wie gesagt: es ist das beneidenswerte
Vorrecht des Dichters, das Leben in einfachere und eindringlichere
Formen umzustilisieren; aber warum dann nicht Heber aus der
Frau eine Fee und einen Engel machen? Novalis liebte die drei-
zehnjährige Sophie von Kühn. „Historische Forschungen” haben
ergeben, daß sie nur ein unbedeutender kleiner Backfisch gewesen
ist. Sollen wir daraus schließen, daß Novalis sich in ihr geirrt hat,
daß er in ihr mehr sah, als sie war, daß er der Düpierte gewesen
ist? Nein, wir werden sagen müssen: eine Frau, die Novalis liebte,
kann kein unbedeutender Backfisch gewesen sein, kann niemals
etwas anderes gewesen sein als ein wundervolles poetisches Ge-
dicht. Sieh in der Frau ein nichtiges, niedriges, boshaftes Geschöpf,
so wird sie genau das sein, nicht mehr; sieh in ihr ein mysteriöses
höheres Wesen, eine zarte Zaubergestalt und himmlische Gnaden-
spenderin, den „Stern deines Daseins”, so wird sie dir dieser Stern
sein. Was wir in die Dinge „hineintragen”, das geben sie uns ge-
treulich zurück: ein sehr einfaches Naturgesetz.
Und nun kommt noch hinzu, daß Strindbergs stahlharter Haß,
der auf seinen Höhepunkten die Gewalt und Farbenpracht eines
Naturereignisses hat, in den Alterswerken zu schwächlicher Ge-
hässigkeit zusammenschrumpft. Dieser Abendhaß brüllt nicht
mehr heroisch, sondern keift senil, ist stumpf geworden und will
nicht mehr recht schneiden. Er hat keine Zähne mehr oder richti-
ger gesagt: nur noch ein falsches Gebiß.
Sollen wir also nach alledem sagen: es wäre besser gewesen,
Strindberg hätte gar nicht gedichtet? Nun, wir werden uns hüten,
das zu sagen. Denn Naturen vom Schlage Strindbergs sind für die
Evolution der Menschheit ebenso wichtig wie die großen Bejaher.
Die Welt braucht beide. Wir brauchen harmonische Geister,
die die Welt stützen und das Leben als lebenswert und berechtigt
erscheinen lassen; aber wir bedürfen ebensosehr jener anderen: der
dämonischen Geister, die die Welt erschüttern und das Leben als
fragwürdig und unberechtigt erscheinen lassen. Die Menschheit
ist eine Waage, auf der Glauben und Zweifel sich immer von
neuem ausgleichen müssen.
Wenn man gesagt hat, Ibsen sei der Messias der modernen Be-
wegung gewesen, so könnte man Strindberg ihren Prometheus
nennen. Ihm war die schmerzlichere und undankbarere Aufgabe
zugefallen. Er gehörte zu den Märtyrern der Geschichte, zu
jenen, die nie ans Ziel kommen. Und so könnte man über sein
Leben und Schaffen als Motto die Worte setzen, die sein großer
Gegenspieler den König Hakon über der Leiche Jarl Skules spre-
chen läßt: „Er war Gottes Stiefkind auf Erden. Das war das Rätsel
an ihm.”
Kurz vor dem Zusammenbruch Nietzsches, dessen geistige Ver-
wandtschaft mit Strindberg früh bemerkt worden ist, traten die
beiden Denker auch in persönliche Berührung. Die (noch heute
wenig bekannte) Korrespondenz vermittelte der Generalagent der
europäischen Literatur, Georg Brandes. Ende 1888 schrieb Strind-
berg an Nietzsche: „Geehrter Herr, ohne Zweifel haben Sie der
Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt. . . Ich schließe
alle Briefe an meine Freunde: Lest Nietzsche ! Das ist mein Carthago
est delenda! Jedenfalls wird Ihre Größe von dem Augenblick an,
da Sie bekannt und verstanden werden, auch schon erniedrigt, und
der süße Pöbel fängt an, Sie zu duzen wie einen der seinen. Es ist
besser, daß Sie die vornehme Zurückgezogenheit bewahren und
uns andere, zehntausend Höhere, eine geheime Pilgerfahrt nach
Ihrem Heiligtum machen lassen, um dort nach Herzenslust zu
schöpfen. Lassen sie uns die esoterische Lehre behüten, um sie rein
und unverletzt zu erhalten.” Nietzsche schrieb an Peter Gast: „Es
war der erste Brief mit welthistorischem Akzent, der mich erreich-
te.” Die letzten Nachrichten Nietzsches an Strindberg tragen be-
reits die Narben geistiger Umnachtung: er teilt mit, er habe einen
Fürstentag nach Rom zusammenbefohlen, um den jungen Kaiser
füsilieren zu lassen, und unterzeichnet sich „Nietzsche Cäsar” und
„der Gekreuzigte”. Das Allersonderbarste aber ist, daß die Ant-
wort Strindbergs ebenso wahnsinnig war. Sie beginnt mit den
Worten: „Carissime Doctor! ĬȑȜȦ, șȑȜȦ µĮȞȒȞĮȚ! Litteras tuas non
sine perturbatione accepi et tibi gratias ago; (Teuerster Doktor!
Ich will, ich will rasend sein! Ihren Brief habe ich nicht ohne
Erschütterung empfangen und danke Ihnen dafür)” und ist
signiert mit: „Strindberg, Deus optimus, maximus”. Man hat den
Eindruck, daß der Dichter den dunkeln Schrei des zerstörten
Propheten wie einen befreundeten Gruß aus der Unterwelt
empfand.
Im Gange der neueren europäischen Kultur steht die Gestalt
Nietzsches als der formidable Schatten eines herkulischen Petar-
deurs und Petroleurs. Er war ein Sprengmittel, ein wissenschaftli-
ches, in dem sich elementare Naturkräfte mit siegreicher Technik
zu rasanter Wirkung vereinten. Der Tunnel öffnet sich, vom gigan-
tischen Bohrwerk bezwungen, und neue Fernsichten, neue Ver-
kehrswege liegen nun frei. Ein solcher „Zerstörer” war Nietzsche.
Dies aber macht ihn zu einer der tragischsten Figuren der gesam-
ten Weltliteratur. Er war ein tollkühner Avantageur, der Vollbrin-
ger eines gewaltigen Vorstoßes in fremdes Gebiet, der vorausge-
eilt ist, zu weit voraus; seine Mission war die schwierigste und ge-
fährlichste: die „Aufklärung”, und sein Schicksal das fast unent-
rinnbare des Kundschafters: zu fallen, ohne den Sieg zu schauen.
Nietzsche ist an seiner Philosophie zugrunde gegangen; aber dies
ist kein Einwand gegen sie, sondern im Gegenteil ihr höchster Be-
weis.
Es ließe sich vielleicht auch so ausdrücken: wenn Nietzsche ge-
sagt hat, Schumann sei nur ein deutsches Ereignis gewesen, Beet-
hoven aber ein europäisches, so könnte man von ihm selber sagen:
er war ein tellurisches Ereignis, nicht bloß sein Volk, nicht
bloß den Erdteil, sondern die Erde erschütternd und durch ein lang-
andauerndes Beben beunruhigend. Er läßt sich auch mit einem
Ertrinkenden vergleichen. Er sucht Tiefen auf, die ihn verschlin-
gen, und mit dem Bewußtsein, daß sie ihn verschlingen werden.
Er ist eine Warnung: hier ist's tief! Aus jedem seiner Worte spricht
die ergreifende Mahnung: folget mir nicht nach! Er hat sich zum
Opfer dargebracht, als die ungeheuerste Sühnegabe im Moloch
des europäischen Nihilismus und Positivismus. Mit Recht bezeich-
nete er eines seiner Hauptwerke als „Vorspiel einer Philosophie”;
gleichwohl, oder vielmehr gerade deshalb, kann man sein Oeuvre
aber auch ein Finale nennen.
Nietzsches Nachfolge ist das traurigste Kapitel seiner Geschich-
te. „Starke Wasser”, sagte er selbst bereits in einer seiner frühesten
Schriften, „reißen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke
Geister viel dumme und verworrene Köpfe.” Man hat seine Bücher
als Gifte bezeichnet. Das sind sie auch in der Tat. Man muß daher
finen großen Bruchteil der Menschheit von ihnen fernzuhalten
suchen: die Unmündigen und die Geisteskranken, die geschwäch-
ten Tonikumsucher und die überreizten Sensationslüsternen, die
Selbstmörder und die Giftmischer; und unschädlich werden sie
sich nur erweisen für die ganz Feigen und die ganz Unbeteiligten,
die Immunen und die Ärzte.
Nietzsches Gesamtproduktion läßt sich zwanglos in drei Peri-
oden gliedern: die erste, 1869 bis 1876, steht im Zeichen der Antike,
Wagners und Schopenhauers und umfaßt die Geburt der Tragödie,
die vier unzeitgemäßen Betrachtungen und einige bedeutende
nachgelassene Schriften wie die Basler Antrittsrede über Homer,
die Vorträge über die „Zukunft unserer Bildungsanstalten” und
das Fragment „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen”; die zweite, 1876 bis 1881, in mehreren großen Aphorismen-
bänden repräsentiert, ist ausgesprochen positivistisch und rationali-
stisch: der erste Band von „Menschliches, Allzumenschliches”, der
sie eröffnet, war Voltaire, „einem der größten Befreier des Geistes”,
gewidmet und trug als Motto einen Satz aus Cartesius: „Eine Zeit-
lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die
Menschen in diesem Leben überlassen . . . genug, daß für meinen
Teil mir nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem
Vorhaben bliebe, daß heißt: wenn ich die ganze Frist meines Le-
bens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden” (in der
Neuausgabe vom Jahre 1886 waren charakteristischerweise sowohl
Widmung wie Motto weggelassen). Der wichtigste Abschnitt ist
die „Umwertungszeit”, 1881 bis Ende 1888, die mit der „Fröhli-
chen Wissenschaft” einsetzt und mit dem schwindelerregend frucht-
baren Jahr 1888 schließt, in dem die „Götzendämmerung”, der
„Fall Wagner”, „Ecce homo”, die „Dionysos-Dithyramben” ent-
standen und von dem unvollendeten Monumentalwerk „Der
Wille zur Macht” das erste Buch ausgearbeitet, der Rest eingehend
skizziert wurde; im Mittelpunkt dieser Periode steht, zeitlich und
inhaltlich, der Zarathustra. Es ist höchst merkwürdig, daß das
letzte Manuskript, an dem Kant arbeitete, ebenso betitelt war, es
heißt:„Zoroaster oder die Philosophie im Ganzen ihres Inbegriffs
unter einem Prinzip zusammengefaßt.” Kant soll geäußert haben,
dieses Werk werde sein wichtigstes sein; dasselbe fand bekanntlich
auch Nietzsche vom „Zarathustra”. Die Ähnlichkeit erstreckt sich
auch darauf, daß beide unvollendet geblieben sind, denn der
nietzschische Zarathustra ist ebenfalls ein Torso, und zwar nicht
bloß in dem äußerlichen Sinn, daß er keinen Abschluß hat, sondern
der ganzen Konzeption nach. Man braucht ihn bloß neben die bei-
den einzigen Werke der Weltliteratur zu halten, die mit ihm ver-
glichen werden können, den Faust und die Göttliche Komödie,
um dies sogleich zu erkennen. Nietzsche schrieb 1883 an Gast:
„Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser Zarathustra? Ich
glaube beinahe, unter die Symphonien.” Aber es genügt, an Beet-
hoven zu denken, um einzusehen, daß diese Symphonie nicht
durchinstrumentiert worden ist.
Es wurde im ersten Buche darauf hingewiesen, daß Luther in
seiner Biographie Häckels „Biogenetisches Grundgesetz” verkör-
pert habe, indem er den ganzen Entwicklungsgang des Mittelalters
in seinem eigenen Lebenslauf rekapitulierte. Dasselbe gilt von
Nietzsche im Hinblick auf die Neuzeit. Er nimmt, als Sproß eines
pastoralen Milieus, seinen Ausgang vom deutschen Protestantis-
mus. Er empfängt seine Jugendbildung auf dem Gymnasium
Schulpforta, dem Sitz der edelsten humanistischen Traditionen.
Er studiert in Bonn und Leipzig unter berühmten Lehrern Theo-
logie und alte Philologie und lehrt in Basel, der Stadt des Erasmus,
als jüngster Kollege Jacob Burckhardts. Der Oberlauf seines Le-
bensstromes fließt durch die Geisteswelt der Reformation und der
Aufklärung, des Pietismus und des Klassizismus. Darauf folgt eine
ausgesprochen romantische Epoche und dieser eine ausgesprochen
naturwissenschaftliche, schließlich eine agnostizistische und ganz
zuletzt deutet sich eine mystische an. Kurz, er hat alle Phasen der
Neuzeit von Wittenberg bis zum Weltkrieg durchlaufen. Er war
Lutheraner, Cartesianer, Wagnerianer, Comtist, Darwinist, Prag-
matist, vorübergehend sogar Nietzscheaner. Auf seine Stellung in
der Geschichte der Philosophie geprüft, müßte er zweifellos als
Schopenhauerianer angesprochen werden; sein „System” läßt sich
auf die Formel bringen: die Welt als Wille zur Macht.
Vor der Erinnerung der Nachwelt wird er wohl immer in seiner
letzten und stärksten Metamorphose stehenbleiben: der düstern
und magisch umglänzten Gestalt des einsamen Wanderers, der
durch die blaue Eiswelt der Berghöhen irrt, bisweilen zu Tal
steigend, aber auch im Gewühl der bunten Städte immer allein
und fremd; Prophetenworte formend, die ihm aus einem unter-
irdischen Brunnen zuströmen; schließlich sogar sich selber fremd,
in fassungslosem Staunen erschauernd vor dem überreichen Wun-
der seines Schaffens und eines Tages aus dem eigenen Schatzhause
auswandernd: wohin?
Die ganze Borniertheit des Zeitalters hat sich in der Ahnungs-
losigkeit bekundet, mit der es vor dem Phänomen dieser Kata-
strophe stand: es wollte sie allen Ernstes medizinisch erklären!
Im Rückblick offenbart sich deutlich, daß dieser Ausgang in die-
sem Leben vorgeprägt war, dessen Tempo stets das Prestissimo
war und in den letzten Jahren ins Furioso übersprang. Wir er-
kennen dies freilich erst hinterher, was eine sehr billige Weisheit
ist (den gelehrten Ignoranten trotzdem immer noch zu „riskant”);
Nietzsche aber hat es vorausgesehen. Bereits 1881 schrieb er an
Gast: „ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen kön-
nen!” In der Tat ist eine Produktivität, wie sie das Jahr 1888 auf-
wies, einer Steigerung, ja auch nur einer Fortsetzung nicht mehr
fähig: das Manometer, wir sagten es schon einmal, stand auf hun-
dert. Aber dies gilt nicht bloß in dem mehr äußerlichen, exten-
siven Sinne; es waren auch innere Gegenkräfte im Spiel. Die Ent-
wicklung Nietzsches war offenbar bei einer Krise angelangt; die
Kurbel völlig herumzudrehen und nach einer so unermeßlich
reichen Lebensarbeit gewissermaßen einen neuen geistigen Äon zu
beginnen, war eine Aufgabe, die die Kraft auch des stärksten irdi-
schen Geistes überstieg.
Die geheimnisvolle Verrechnung, die zwischen dem Genius und
der Welt vor sich geht, ist bei Nietzsche, im Gegensatz zu Wagner,
noch nicht zu einem vorläufigen Abschluß gelangt. Klar umrissen
ist bis jetzt erst seine artistische Bedeutung, die zu der Wagners
insofern ein Pendant bildet, als er für die deutsche Prosa eine ähn-
liche Rolle gespielt hat wie dieser für die Sprache der Musik. Jeder
nach Nietzsche geborene Schriftsteller (und dies bezieht sich sogar
fast auch auf das Ausland) steht ganz unentrinnbar unter dessen
Einfluß, wofern er überhaupt auf diesen Titel Anspruch erheben
will. Thomas Mann, selber einer der begnadetsten Erben und reif-
sten Schüler dieser Prosa, hat dies in seinen „Betrachtungen eines
Unpolitischen” eindringlich bekannt. Seit diese noch weit über
Lessing hinausschießende Feder- und Stoßkraft der Satzbildungs-
strategie, dieser betäubende und befeuernde Rhythmus eines in sol-
cher Ariosität deutsch noch niemals vernommenen Tonfalles, diese
verschwenderisch reiche und doch niemals lastende Fülle von
schwebenden, opalisierenden, hintergründigen Wortgeburten,
diese Reinheit und Buntheit einer mit tausend Pinseln haarscharf
schattierenden Ausdruckskunst erklang, besitzt die deutsche Spra-
che ein neues Tempo, ja mehrere neue Tempi und zahllose neue
Valeurs. Wie sich das Meer am Schiffskiel unaufhörlich anders
koloriert, bald orange oder fleischrosa, bald purpurrot oder glas-
blau und dann wieder milchweiß, giftgrün, schwefelgelb oder
lackschwarz: so wechselt diese Prosa ruhelos unheimlich ihre
Farbe; aber stets glaubt man, sie könne in diesem Augenblick, die-
ser Situation, diesem Konnex unmöglich anders getönt sein.
Da Stil an sich schon Psychologie ist, so erflossen ganz von selber
aus Nietzsches Sprachmeisterschaft seine völlig neuen psychologi-
schen Methoden, die ungeheure Fortschritte bedeuteten, ganz un-
abhängig von ihren mehr zufälligen und oft forcierten Resultaten.
Er sagt selber einmal: „Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Me-
thoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebnis der Forschung als
irgendein sonstiges Resultat.” Man weiß in der Philosophie erst
seit Nietzsche, was komplexe Psychologie ist: er hat das Stereoskop
Flauberts, das Mikroskop der Goncourts, das Tiefseelot Dostojew-
skis auf das Gebiet des reinen Denkens angewendet, wo sie noch
viel schwieriger zu handhaben sind als im Roman. Bisher hatte
man eine solche Abgründlichkeit der Menschenkenntnis und eine
solche Spannweite der Weltschau nur an religiösen Genien er-
blickt; und wenn man nach Nietzsches Verwandtschaft fragt, so
darf man sie nicht, indem man sich höchst äußerlich am Inhalt
orientiert, im Bezirk der Freigeisterei, etwa eines Stirner, suchen,
sondern im Familienkreis eines Augustinus oder Pascal. Sein Posi-
tivismus war nichts als das Zeitkostüm, dem sich bekanntlich nie-
mand entziehen kann, und außerdem ein Reaktionsphänomen, der
Versuch einer Selbstheilung von der Romantik; er spielte in der
Ökonomie seines Lebens dieselbe Rolle wie der Klassizismus bei
Goethe. Alle Philosophie ist notwendig „Krankheit”, insofern sie
überhaupt nur in einem Dekadenztypus möglich ist; alle hohen
Gedankenschöpfungen: der Buddhismus, der Taoismus der Plato-
nismus, die Gnosis, von den neueren Systemen gar nicht zu reden,
haben eine späte Welt zur Voraussetzung. Nietzsche war der ein-
zige Dekadent seines Zeitalters, der diesen Zusammenhang mit
voller Klarheit durchschaute und aus diesem Gegensatz heraus seine
Philosophie entwickelte, was diese aber bloß zu einem anderen
Symptom der Dekadenz macht. Sein Voluntarismus, den er dem
Nihilismus entgegensetzte, ist dasselbe Krankheitsphänomen mit
umgekehrtem Vorzeichen: die Hyperbulie, die eine bloße Va-
riante der Abulie bildet. Es scheint aber, daß er selbst dies gewußt
hat, und es scheint sogar, daß sich in ihm bereits unterirdisch eine
mystische Lösung des Konflikts vorbereitete: zumal einige nach-
gelassene Entwürfe zu den unausgeführten Teilen des Zarathustra
und dem vierten Buch des „Willens zur Macht” weisen darauf hin.
Nietzsche fühlte sich mit vollem Recht als der Gegenspieler
seines Zeitalters: man könnte ihn in dieser Hinsicht mit Savonarola
vergleichen, an den er vor allem durch die fanatische Unbedingt-
heit seines Wahrheitswillens und die grausame Askese der Selbst-
zerfleischung erinnert; aber ebensosehr war er auch der stärkste
Ausdruck jener Gründerzeit: in seiner Vergötterung des Lebens
und seinem anthropozentrischen Sophismus. Die Sophistik, deren
Weltbild in dem Satz beschlossen ist: „der Mensch ist das Maß
aller Dinge”, ist nämlich keine griechische Spezialität, sondern die
unausweichliche Philosophie aller geistreichen Niedergangszeiten.
Es gibt auch eine indische und eine arabische Sophistik; die Spät-
scholastik, mit der wir uns im ersten Buche beschäftigt haben,
trägt deutliche sophistische Züge; die gesamte Philosophie des
Rokokos war sophistisch orientiert. Nietzsches „Lebensphiloso-
phie”, unnietzschisch flach, eine schale Tautologie: das Leben will
das Leben, zu der es wahrhaftig keines dämonischen Alleszermal-
mers bedurft hätte, läßt sich nur begreifen aus der Konterimitation
des Theologen in ihm.
Und dies führt uns zu dem wahren Kern seiner Wesenheit. Es
kann, wie wir bereits angedeutet haben, gar keinem Zweifel
unterliegen, daß er in die Geschichte des Christentums gehört: als
eine Art „gewendeter” Christ, als Antichrist malgré lui und zu-
gleich als Christ malgré lui, als die letzte und seiner Zeit einzig
mögliche Form des Christen. Sein Antichristentum ist nichts als
eine Metamorphose des Christentums, eine „allotrope Modifika-
tion”, wie die Mineralogen sich auszudrücken pflegen: es verhält
sich zu diesem wie die düster glühende Kohle zum Diamanten,
äußerlich unverwechselbar verschieden, in Wirklichkeit von ganz
demselben Stoff. Sein Vater, seine beiden Großväter und ein Ur-
großvater waren Pastoren. Die Karten, die er nach seinem Zu-
sammenbruch nach allen Windrichtungen aussandte, führen zu-
meist die Unterschrift: „der Gekreuzigte”, seltener „Dionysos”.
Dies war überhaupt das Grundproblem seines Lebens gewesen:
Dionysos oder der Gekreuzigte! Hierin ein Neuheidentum zu
erblicken, wie dies platte und vorlaute Nietzschepfaffen jahrzehnte-
lang verkündet haben, war ein abgrundtiefes Mißverständnis und
nur in Deutschland möglich, das zu allen Zeiten die größten Philo-
sophen und die dümmsten Philosophenschulen besessen hat. Die
Alternative zwischen Kreuz und Hellas überhaupt nur zu stellen,
war völlig unheidnisch. Denn der echte Heide ist kein Antichrist;
er erblickt Christus überhaupt nicht. Deshalb ist das Judentum
unter allen europäischen Bekenntnissen das einzige legitim heid-
nische (was sehr natürlich ist, denn es ist die einzige antike Reli-
gion). Von den anderen außerchristlichen Sekten, wie den Mo-
nisten, den Sozialisten, den Freimaurern, den Illuminaten, gilt dies
nicht: sie alle haben eine unterirdische Beziehung zum Christen-
tum. Daß aber gerade in der Umnachtung (die man ebensogut als
den Einbruch der höchsten Erleuchtung ansehen kann, freilich
nicht mehr auf einer rein empirischen Ebene) die Gestalt des Erlö-
sers bis zur Identität die Seele Nietzsches zu erfüllen begann,
zeigt, daß auch am Lebensende dieses größten Apostaten die Worte
stehen: du hast gesiegt, Galiläer!
Auch diese Zusammenhänge hat Nietzsche selber erkannt. Im
„Ecce homo” heißt es: „Ich habe eine erschreckliche Angst davor,
daß man mich eines Tages heilig spricht. Ich will kein Heiliger
sein, lieber noch ein Hanswurst. Vielleicht bin ich ein Hanswurst.”
Hier empfindet er sich deutlich als die erhabene Trinität aus dem
Narren, dem Ketzer und dem Heiligen, die das Wesen aller religiö-
sen Genies bildet. Sie erscheint bereits in der Gestalt des Sokrates
verkörpert, der als ein Narr gelebt hat, als Ketzer verurteilt wurde
und wie ein Heiliger gestorben ist. Seiner äußeren Form nach un-
terscheidet sich Nietzsches Erdenwallen in nichts von einer Heili-
genlegende. Vom niederen Volke verehrt, von seinen Freunden
mißbraucht oder mißverstanden, in der Bedürfnislosigkeit und
Weltflucht eines Eremiten dahinlebend, niemals ein Weib berüh-
rend, von steten körperlichen Leiden und seelischen Anfechtungen
geplagt, Tag und Nacht mit seinem Gott ringend, unermüdlich
das Heil seiner Brüder suchend, geht er den Weg des Martyriums
bis zur Selbstvernichtung. Niemand bemerkte den Heiligenschein
über seinem Haupt; aber auch das gehört zum echten Heiligen.
Der Weltgeist liebt es, sich in den sonderbarsten Verkleidungen zu
offenbaren: einmal in einem Bettler wie dem heiligen Franziskus,
einmal in einem Prinzen wie Buddha, in einem Bauernmädchen
wie Jeanne d'Arc, einem Schuster wie Jakob Böhme, einem Komö-
dianten wie Shakespeare, warum nicht auch einmal in einem sanf-
ten deutschen Professor?
Nietzsche sagt in der „Morgenröte”: „Diese ernsten, tüchtigen,
rechtlichen, tief empfindenden Menschen, welche jetzt noch von
Herzen Christen sind: sie sind es sich schuldig, einmal auf längere
Zeit versuchsweise ohne Christentum zu leben, sie sind es ihrem
Glauben schuldig.” Seine Abkehr von der Religion war nur eine
der Formen seiner Askese; er verbot sie sich, wie die Romantik,
wie Wagner, wie Schopenhauer, wie alle seine Heiligtümer. Und
in der Tat war dieses Ausbiegen vor dem Glauben unbedingt nötig
zum neuen Glauben, einer der unerläßlichen Umwege in der
menschlichen Heilsgeschichte: das Christentum war zu billig ge-
worden, wie am Ende des Mittelalters der Papismus. Hier hegt der
wahre Sinn des nietzschischen Bildersturms, ja vielleicht der Sinn
des ganzen Intermezzos der Neuzeit.
Paul de Lagarde, einer der wenigen Christen, die im neunzehnten
Jahrhundert gelebt haben, sagt in seinen „Deutschen Schriften”:
„Im Evangelium hebt man die Menschen, weil man in tiefster Be-
scheidenheit mehr ist als sie: im Liberalismus, weil man denselben
geringen Wert hat wie sie. Im Evangelium stammt die Menschen-
hebe von oben, aus der Freude und der Demut: im Liberalismus
von unten, aus der Furcht und dem Schuldbewußtsein ... Jesus
heißt uns unsere Feinde lieben, um Kinder unseres himmlischen
Vaters zu sein, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lasse.
Es kommt ihm mithin nicht auf die Menschenliebe an sich, sondern
auf das Streben nach Gottähnlichkeit, nach Vollkommenheit an.”
Aus diesen und ähnlichen Aussprüchen Lagardes, die vor Nietzsche
niedergeschrieben wurden (der seinerseits von Lagarde nicht be-
einflußt worden ist), erkennt man, daß der Übermensch im
Grunde eine christliche Konzeption ist; wie der Immoralismus
eine Steigerung der vulgären Ethik. „Wenn man das Temperament
hat”, sagt Nietzsche im Nachlaß, „so wählt man instinktiv die ge-
fährlichen Dinge, zum Beispiel die Abenteuer der Immoralität,
wenn man tugendhaft ist.” Der Immoralismus ist nichts als Hyper-
trophie der Tugend. Selbstverständlich kann nur ein Mensch der
höchsten und tiefsten, stärksten und zartesten Sittlichkeit die Moral
überwinden. Der Immoralismus rechnet mit Menschen, die durch
die ganze Schule und Entwicklung der Moral bereits hindurch-
gegangen sind, aber nicht mit Menschen, die noch nicht einmal
moralisch sind, das heißt: mit Nietzscheanern.
Kurz: Nietzsche war die letzte große Glaubensstimme des
Westens, wie Dostojewski die letzte aus dem Osten war; und wenn
wir diesen als den letzten großen Byzantiner und Luther als den
letzten großen Mönch bezeichnet haben, so könnte man Nietzsche
den letzten Kirchenvater nennen. Und zugleich ist er eine der aus-
geprägtesten Nationalgestalten, die das Schrifttum seines Vater-
landes hervorgebracht hat. Er selbst glaubte bekanntlich, das
deutsche Volk zu hassen, indem er es mit dem deutschen Publikum
verwechselte. Die drei Potenzen, die er mit Vorliebe gegen das
Deutschtum ausspielte, waren das Renaissanceitalienische, die An-
tike und das Französische. Aber seine eigene Vitalität ist eine ganz
andere als die des Cinquecento, seine Diesseitigkeit weit verschie-
den von den hellenischen, sein Kunstwille nichts weniger als die
l'art pour l'art-Konfession der Franzosen. Er ist die stärkste und
feinste Spitze des idealistischen, sentimentalischen deutschen Ethos;
ähnlich wie Goethe, der auch glaubte, Realist, Artist und Klassiker
zu sein, und zeitlebens ein großer deutscher Sucher gebheben ist.
An der Wiege der Völker Europas schenkte Gott dem Engländer
das Talent zum Erfolg, dem Franzosen die Gabe der Form, dem
Deutschen aber die Sehnsucht. Einer ihrer vorbildlichen Meister
war Friedrich Nietzsche, der ebenbürtige Geistesbruder Rembrandts
und Beethovens. Aber in seinen letzten Schriften verwirrte sich dieser
edle und kräftige Geist. Er wurde, so kann man wenigstens allent-
halben vernehmen, von Größenwahn erfaßt. Er hielt sich nämlich
für Friedrich Nietzsche.
Diese letzten Schriften stellen zugleich den Versuch dar, den Im-
pressionismus, in dem Nietzsche das Kernwesen der Dekadenz
erkannt hatte, zu überwinden: sowohl als Weltbild wie als Form.
Es ereignete sich aber die Paradoxie, daß gerade Nietzsche den
Impressionismus für Europa endgültig legitimierte und für
Deutschland überhaupt erst heraufführte. In den neunziger Jahren
verfällt alles dem Impressionismus, sogar die Gebiete, die ihm
ihrer innersten Natur und Bestimmung nach völlig zu widerstre-
ben scheinen: er bemächtigte sich in Rodin der Plastik, in Debussy
der Musik, in Kaiser Wilhelm der Politik, in Alfred Kerr der Kri-
tik. Mit diesem Panimpressionismus steht auch eine Steigerung
des Naturgefühls im Zusammenhang, die den Rousseauismus des
achtzehnten Jahrhunderts auf einer höheren Spiralebene wieder-
holt. „Die Gärten unserer Voreltern”, sagt Maeterlinck in einem
Aufsatz über „alte Blumen”, „waren noch fast öde. Der Mensch
verstand noch nicht, um sich zu schauen und das Leben der Natur
mitzugenießen.” Dies ist sehr begreiflich: die Menschen konnten
die Natur noch nicht schauen, weil sie selbst dazu gehörten. Im
letzten Kapitel von „Plisch und Plum” erscheint ein Mister na-
mens Pief, der ununterbrochen durch sein Fernglas blickt und diese
seltsame Handlungsweise mit folgendem Monolog begründet:
„Warum soll ich nicht im Gehen, spricht er, in die Ferne sehen?
Schön ist es auch anderswo und hier bin ich sowieso.” Eines der
vielen tiefen Philosopheme Buschs: das Schöne ist immer das
„Anderswo”, das Hier lockt niemals, weil wir da eben „sowieso”
sind. Daher kann lyrische Naturbegeisterung immer nur von städti-
schen Kulturen ausgehen. Der erste „Vorgarten” entstand gleichzei-
tig mit den Städten der anbrechenden Neuzeit, der „englische Park”
mit dem Aufstieg Londons zur Großstadt und der Alpensport mit
der Geburt der modernen Weltstädte. Eine ganz analoge Entwick-
lung nahm die Landschaftsmalerei. Ihre Blütezeit beginnt mit den
Stadtkulturen Italiens und Hollands und kulminiert mit dem Em-
portauchen der Riesenstädte im second empire, im viktoriani-
schen und im wilhelminischen Zeitalter. Das Mittelalter kannte
bloß Gemüsegärten, empfand vor Bergen und Schluchten nur
Angst oder Abscheu und hat nie das Bedürfnis gehabt, sie abzubil-
den, zu erforschen oder zu besingen.
Inzwischen war jedoch, und zwar zunächst in der Malerei, der
Impressionismus in sein zweites Stadium getreten: er wird
phänomenalistisch. Es wurde bereits im vorigen Kapitel ausgeführt,
daß neben der realistischen auch diese Möglichkeit der Weltinter-
pretation in ihm angelegt ist. Zunächst erschienen die „Neoimpres-
sionisten”, die, weil sie, an Monets Kommata anknüpfend, eine
radikale Tüpfeltechnik beobachteten, „Pointillisten” oder auch,
weil sie das Gesichtsbild in seine letzten Elemente zerlegten, „Di-
visionisten” genannt wurden. Mit einem Wort: sie malten Mach.
Außerdem verwendeten sie bloß einfache Farben. Sie gingen da-
bei offenbar von der Erwägung aus, daß das Phänomen der Misch-
töne erst durch einen psychophysiologischen Vorgang zustande
kommt, während in der Wirklichkeit nur die reinen Spektral-
farben nebeneinander vorkommen, und versuchten nun, diese so
auf die Leinwand zu setzen, daß das Auge gezwungen ist, sie in der
geforderten Weise zu kombinieren. Sie verlegten also den Misch-
prozeß von der Palette in die Netzhaut. Damit erreicht die Ratio-
nalisierung und Verwissenschaftlichung der Kunst ihren Höhe-
punkt: wie bei Zola der Dichter sich zum Sozialstatistiker, Lokal-
reporter, Gerichtspsychiater, Vererbungsbiologen macht, so wird
hier der Maler zum Spektralanalytiker, Chemiker und Experimen-
talpsychologen. Ein pointillistisches Gemälde macht erst aus ent-
sprechender Entfernung den richtigen Eindruck, was ebenfalls dem
Vorgang in der Wirklichkeit entspricht. Dies ist scheinbar der
Gipfel des Impressionismus, tatsächlich aber bereits dessen Auf-
lösung; denn tritt man weit genug zurück, so erscheint die Kon-
tur. Ja noch mehr: das Glasmosaik. Und so verhielt es sich denn
auch in der Tat bei dem einzigen bedeutenden Pointillisten, Gio-
vanni Segantini, den Österreich für sich reklamierte, weil sein Ge-
burtsort, das südtirolische Grenzstädtchen Arco, damals noch nicht
zu Italien gehörte, der aber nach Abstammung, Wohnsitz und
Bildungsgang und selbst in seinem Stoffkreis ganz Romane war,
da er fast alle seine Motive dem Hochgebirge der ladinischen
Schweiz entnahm. Er hat die Strichelmanier zur höchsten Meister-
schaft gebracht, indem er die Pinselpunkte wie Mörtel aneinander-
setzte und seine Höhenvisionen auf prachtvolle Weise in eine
dicke Schneedecke, fette Pflanzendecke und fast tastbar dichte
Luftdecke hüllte.
Wenn der Pointillismus den Beschauer zwingen will, die Kom-
position des Bildes selbsttätig vorzunehmen, so verlangt er von ihm
einen Akt der Abstraktion. Und von da bedarf es nur eines Schrit-
tes, um auch den Schöpfungsprozeß des Kunstwerks wieder zur
Abstraktion zu machen. Diesen Schritt von der Analyse zur Syn-
these tat van Gogh. Er „formuliert”, manchmal sogar zu schroff,
indem er gleichsam nur die Grammatik der vitalen Funktionen
eines Menschen- oder Tierkörpers und das wahrere (weil aus allen
verflossenen Impressionen zusammengeschaute) Traum- und Erin-
nerungsbild einer Landschaft gibt. Seine Gemälde, in denen Greco,
Goya und Daumier, die unheimlichsten Maler des neueren Europa,
zu schreckhafter Wiedergeburt auferstanden sind, wirken wie ge-
spenstische Albdrucke, zermahnende Karikaturen, peinigende Ver-
zeichnungen, diabolische Versuchungen; bisweilen denkt man mit
Schauder, so müßten Klopfgeister malen.
Man hat für diese phänomenalistische und synthetische Phase des
Impressionismus später das überflüssige und verwirrende Neuwort
„Expressionismus” geprägt. Aber wenn van Gogh Expressionist
ist, so ist Cézanne bereits Nachexpressionist. Er ist das Modell des
Claude Lantier in Zolas „Oeuvre”, des revolutionären Künstlers,
der radikal mit der ganzen Vergangenheit bricht. Dazu gehörte
für ihn auch schon der Impressionismus. Er malt bereits wieder die
Vision, die platonische Idee, aber als einer, -der durch den ganzen
Impressionismus hindurchgegangen ist, ihn hinter sich, unter sich
erblickt. Er malt niemals Impressionen, also Abbilder von Einzel-
gegenständen, sondern immer den Gegenstand an sich, die Summe
aller Krüge, Orangen, Bäume der Welt. Man sollte glauben, daß
dann nur ein Abstraktum übrigbleibt; es entsteht aber ein höchstes
Konkretum. Er ist also sozusagen ein malender „Realist”, aber
nicht im sensualistischen Sinne der Neuzeit, sondern im mittel-
alterlichen des „universalia sunt realia”. Er malt aber auch die Farbe
an sich, wie sie, nicht als Bildkomponente, sondern als eine Idee
der Schöpfung, losgelöst vom Dienst der Form, ein selbstherrliches
Eigenleben führt.
Van Gogh war Holländer; und es ist überhaupt bemerkenswert,
daß die stärksten künstlerischen Anregungen jenes Zeitraums in
kleinen Ländern ihr Quellgebiet hatten: in Norwegen, Schweden,
Dänemark, Belgien, Irland. Es ist das kein Novum in der Kultur-
geschichte: große geistige Erneuerungen sind, worauf schon im
ersten Buch hingewiesen wurde, fast immer von Zwergstaaten
ausgegangen. Nach unseren heutigen Begriffen war das perikleische
Athen und das medizeische Florenz eine mittlere Kreisstadt, das
Wittenberg Luthers und das Weimar Goethes ein größeres Land-
nest. Es handelt sich hier um das, was wir bei einer anderen Ge-
legenheit die „schöpferische Peripherie” genannt haben. Kulturell
genommen, fällt auch das Rußland Tolstois und Dostojewskis un-
ter den Begriff der Peripherie und des Kleinstaates: denn es war
nichts als eine riesenhaft ausgedehnte Bauernsiedlung mit einigen
künstlich inokulierten Stadtgebilden.
Gegenüber den neuen Phänomenen hat die zünftige Kritik in
einer besonders grotesken Weise versagt. So schilderte zum Bei-
spiel, um ein Exempel für hundert zu geben, der Literarhistoriker
Hans Sittenberger die Situation um 1890 folgendermaßen:
„Bourget mit seinem psychologischen Spintisieren gab den Ein-
schlag. Dazu gesellte sich der Einfluß des schwachköpfigen Mysti-
kers Maeterlinck.... Hie und da findet man auch Anklänge an die
blutarme, lächerlich aufgedunsene Wissenschaftlichkeit Strindberg-
scher Schöpfungen ... Von Ibsen lernten sie das Vollpfropfen des
Dialogs mit Gedanken und Anspielungen ohne Rücksicht auf die
jeweilige Situation, die aufdringliche, ganz veraltete Selbstcharak-
teristik der Personen ... Ihr Dialog gemahnt, wie derjenige ihres
Meisters, an die primitiven Narrenspiele vor Hans Sachs, allwo die
Personen mit großer Höflichkeit sich selber vorstellen: ich bin der
und der, und so und so ist meine Art.” Wollte man einen Preis für
Anticharakteristiken ausschreiben, so müßte man ohne Zweifel
jenen krönen, der von Maeterlinck aussagte, daß er schwach-
köpfig, von Strindberg, daß er blutlos, und von Ibsen, daß seine
Technik nicht einmal hanssachsisch, sondern vorhanssachsisch sei.
1893 erschien Max Nordaus vielgelesenes Buch „Entartung”, eine
mehrere hundert Seiten lange ununterbrochene Anpöbelung aller
führenden modernen Künstler, in der, um wiederum nur ein Bei-
spiel anzuführen, Ibsen als „bösartiger Faselhans”, „Modernitäts-
marktschreier” und „Thesenschwindler” bezeichnet wird und die
Schlußnote erhält: „Die einzige Einheit, die ich in Ibsen entdecken
kann, ist die seiner Verdrehtheit. Worin er sich wirklich immer
gleich geblieben ist, das ist seine vollständige Unfähigkeit, einen
einzigen Gedanken deutlich zu denken, ein einziges der Schlag-
worte, die er seinen Stücken hie und da aufpinselt, zu begreifen,
aus einem einzigen Vordersatz die richtige Folgerung zu ziehen.”
Durch derartige Blamagen nervös gemacht, hat die literarhistori-
sche Kritik sich neuerdings der umgekehrten Taktik in die Arme
geworfen, indem sie jeden modischen Schund, der eine halbe Sai-
son lang berühmt ist, gewissenhaft registriert und ängstlich zerglie-
dert, ein Vorgehen, das, nicht weniger albern und ahnungslos als
das frühere, an den Clown erinnert, der mit ernsthaftem Eifer die
Kunststücke des Jongleurs wiederholt.
Die geistigen Ahnen Ibsens sind in dessen eigenem Lande zu
suchen: in dem Norweger Holberg und den Dänen Andersen und
Kierkegaard. Holberg ist oft mit Molière verglichen worden, den
er an philosophischer Kultur und Eleganz der Form nicht entfernt
erreicht, aber an Saftigkeit der Satire und Schärfe der Federzeich-
nung noch übertraf. Die Erinnerung an den scheinbar harmlosen
Andersen mag im ersten Moment überraschen, aber nur solange
man vergißt, daß dieser Jugendautor einer der tiefsten Menschen-
durchleuchter und stärksten gestaltenden Ironiker der Welt-
literatur gewesen ist. Zu Kierkegaard verhält sich Ibsen etwa wie
Wagner zu Schopenhauer, Hebbel zu Hegel, Shaw zu Carlyle,
Schiller zu Kant: er hat von ihm einen Teil seines Ideenrüstzeugs
bezogen, wobei er bisweilen von dem schönen Vorrecht der
Künstler Gebrauch machte, die Philosophen mißzuverstehen. Von
großer, man möchte sagen: verkehrstechnischer Bedeutung war
für die damalige Dichtergeneration auch der Däne Brandes, der,
eine Art literarischer Kingmaker, mit starker Witterung für die
treibenden Kräfte der Zeit dem gebildeten Europa die reiche
Literatur seiner Heimat erschloß und umgekehrt den Strom der
europäischen Bildung nach Skandinavien leitete, freilich bei allem
Geschmack und Anpassungsvermögen immer nur die oberen
Schichten der Künstlerpersönlichkeiten berührend, indem er sich
nie über das Niveau des feingeistigen Literaturessays erhob, das
die Wunder der Tiefsee in gepflegten Bassins zur Schau stellt. Im
übrigen läßt sich die norwegische Literatur von der dänischen
ebensowenig trennen wie die holländische Malerei von der belgi-
schen. Norwegen gehört ganz zum dänischen Kulturkreis, dem
es vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts bis zum Wiener
Kongreß auch politisch eingegliedert war. Mehrere Jahrhunderte
hindurch war im ganzen Lande die Sprache der Kirche, des Ge-
setzes und der Gebildeten das Dänische, und erst im neunzehnten
Jahrhundert begannen Wiederbelebungsversuche durch Aufnahme
von Elementen der norwegischen Volkssprache in die dänische
Schriftsprache. Ibsen und Björnson schrieben ein norwegisch tin-
giertes Dänisch.
In den „Kronprätendenten” sagt der Skalde Jatgejr: „Kein Lied
wird bei hellem Taglicht geboren.” Von dieser Art waren die
Lieder des Skalden Ibsen: geboren im Lande der Mitternachts-
sonne, seltsam klar und düster, beschattet vom Gestern, erhellt
vom Morgen, in doppelsinniges Zwielicht getaucht, dämmerig
zwischen den Zeiten webend. So steht die Gestalt Ibsens vor
dem staunenden Gedächtnis der Nachwelt: als die finstere Flamme
des Nordens, der geheimnisvolle Sänger aus Thule.
Will man Ibsen katalogisieren, so muß man ihn zweifellos in die
Familie der Klassiker einreihen. Unter einem Klassiker ist nicht ein
Dichter zu verstehen, der in bestimmten Formen schafft, zum Bei-
spiel in Versfüßen, oder bestimmte Stoffe bevorzugt, zum Beispiel
tragische oder antike; sondern jeder Dichter, dessen Werke nicht
bloß Produkte der Vitalität, des Erlebens und Erleidens, son-
dern auch der Rationalität, der planvollen Berechnung und
edeln Besonnenheit sind, jeder Dichter, in dem Leidenschaft sich
zur Wissenschaft geläutert hat, ist ein Klassiker. Solche klassische
Werke sind alle uns bekannten griechischen Trauerspiele: Schöp-
fungen des gereiftesten Kunstverstandes, sorgsam in allen Teilen
durchkomponiert und abgewogen wie ein alter Tempel oder
Altarschrein, vermöge der reichsten und sichersten Kenntnis des
Handwerks, des Materials, der Gesetze und Proportionen; solche
Werke sind die Dramen Goethes und Schillers, Corneilles und
Racines, in denen alles sich gegenseitig hebt, verdeutlicht, be-
schattet und beleuchtet, bis für jede Einzelheit eine vollendete
Bühnenperspektive entsteht, und die Dialoge Lessings und Mo-
lières mit ihrer leichten und lichten, gegliederten und geschlossenen
Architektur. Der letzte Klassiker dieser Art war Henrik Ibsen; der
vollendetste, weil er der komplizierteste war. Von ihm gilt in noch
höherem Maße, was Goethe von Shakespeare gesagt hat: „Seine
Menschen sind wie Uhren mit Zifferblatt und Gehäuse von
Kristall; sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunde an;
und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das
sie treibt.” Ja; Ibsen sah durch die Menschen hindurch, als ob sie
transparent wären, erkannte das verborgene Gerüst, das unsere
Welt trägt, das stille Herz, das in ihr unermüdlich schlägt; sein
Auge sandte geheimnisvolle X-Strahlen durch das dunkle Erden-
geschehen.
Ibsen bezeichnet den Zenith des bürgerlichen Realismus: seine
Psychologie und Technik entspricht der Theaterform, die, gleich-
zeitig mit der Bourgeoisie zur Herrschaft gelangt, durch den völlig
verdunkelten Zuschauerraum, die scharf isolierte, grell beleuch-
tete Bühne, den Plafond, das „praktikable” Möbel und drei ge-
schlossene Wände gekennzeichnet ist. Im dritten Buche wurde
der technische Unterschied zwischen Goethe und Schiller dahin
charakterisiert, daß dieser bühnenpsychologisch mit nur drei
Wänden und gemalten Türen, jener aber mit der vollen Wirk-
lichkeit, nämlich vier Wänden und richtigen Türen operiert hat,
wodurch aber, infolge einer Überdimensionalität, die Bühnenwir-
kung nicht gesteigert, sondern beeinträchtigt wurde. Genauer
müßten wir jetzt noch, indem wir Ibsen auf seine dramatische
Kapazität prüfen, dessen Unterschied von Schiller dahin präzisieren,
daß beide eminente Theatraliker waren, aber Schiller der Thea-
traliker der Soffitte, der Kulisse und der ausgeschnittenen Tür,
Ibsen der Bühnenmeister der festen Decke, der „gebauten” Wand
und der massiven Tür, die aber doch eine gestellte Phantasietür ist.
Es ist, mit einem Wort, der höchste erreichbare Theaterrealis-
mus.
Diesem unverbrüchlichen und oft sogar ungewollten Realismus
gegenüber wirken alle Diskussionen rationalistischer Psychologen
höchst deplaciert, sowohl die skeptischen, die mißtrauisch unter-
suchen, ob auch „alles stimmt”, wie die bejahenden, die begeistert
besondere „Feinheiten” konstatieren. Beide Standpunkte beruhen
auf einer völligen Verkennung des poetischen Schöpfungsakts.
Von den Produkten der Kunst gilt ganz ebenso wie von denen der
Natur der aristotelische Satz, daß das Ganze früher da ist als die
Teile. Der Grieche war, wie wir im dritten Buche erörtert haben,
aufs tiefste davon überzeugt, daß die „Idee”, die „Form”, der „Be-
griff” (diese drei Vorstellungen bedeuteten für ihn auf geheimnis-
volle Weise dasselbe) das Primäre sei, die „Wirklichkeit”, die
„Materie”, das „Einzelne” nur die Folge davon. Nicht anders ver-
hält es sich beim Künstler: das Erste, Ursprüngliche und Zeugende
ist die „Gestalt”, aus ihr fließen mit unfehlbarer, von ihm unab-
hängiger Notwendigkeit alle „Züge” und „Handlungen”; sie ist
ein Organismus und entwickelt sich daher nicht nach einer mecha-
nischen Kausalität, die von außen lenkbar wäre, sondern nach der
„vitalen”, die ihr Gesetz in sich selbst trägt. Infolgedessen muß
alles „stimmen” und alles in gleich hohem Maße; und infolgedes-
sen ist alle psychologische Kritik an Kunstwerken nicht etwa
„respektlos”, sondern sinnlos, als ein Ausfluß völliger Ignoranz in
ästhetischen Dingen. Nicht weniger banausisch aber ist das be-
wundernde Hinweisen auf „geniale Einzelheiten”, weil in einer
echten Dichtung alle Einzelheiten genial sind und keine genialer
als die andere. Alle sind genial, weil alle natürlich sind. Alle sind
natürlich, weil alle göttlich sind. Lobende oder einschränkende
Urteile sind hier ebenso albern wie die ergötzlichen Schöpfungs-
kritiken der Barockdichter, die den Tieren und Pflanzen Zensuren
erteilten, zum Beispiel der Raupe wegen ihrer widrigen Erschei-
nung ernste Mißbilligung aussprachen, hingegen ihrer Metamor-
phose zum hübschen Schmetterling rückhaltlose Anerkennung
zollten.
Es gibt im Leben jedes Menschen zwei Zustände, in denen er ein
vollendeter Dichter ist: Traum und Kindheit. Kinder haben nie-
mals schiefe, verengte, leblose Bilder vom Dasein; das glauben
bloß die Erwachsenen. Im Traum ist jedermann ein Shakespeare.
Leider verlieren die meisten Menschen im wachen und erwachse-
nen Stadium diese ihnen offenbar angeborene und völlig organische
Gestaltungskraft und werden schrecklich talentlos, indem ihr Ver-
stand, dieser feige und impotente Besserwisser, sich überall ein-
mischt. Nur der Künstler, das ewig träumende Kind, bewahrt
sich diese Gabe. Und daher ist eine „verzeichnete Dichtung” eine
ebensolche Unmöglichkeit wie ein „falscher Traum”. Hingegen
sind, ganz wie bei den Erscheinungen des Lebens, Sympathie- und
Antipathieurteile ohne weiteres zulässig. Auch liier können uns die
Kinder als Lehrer der Ästhetik dienen. Sie hassen den Wolf und
die Spinne: in der Natur, in Menschengestalt und in der Dichtung.
Und ebenso ist es durchaus denkbar, daß gewisse Dichtungen als
„böse” empfunden werden, indem deren Welt von uns verneint
wird, womit aber keineswegs ausgedrückt werden soll, daß sie
unrichtig sei. Eine Welt kann niemals unrichtig sein.
Gegen diese Theorie, daß alle Figuren und Vorgänge eines
Dramas (um zunächst nur bei dieser Kunstform zu bleiben) gleich
vollkommen seien, spricht jedoch dreierlei: daß es tatsächlich
völlig mißlungene Theaterstücke gibt, daß auch die geglückten
von sehr verschiedenem Wert sind und daß selbst die höchsten
unter ihnen Nieten enthalten. Diese Einwände beantworten sich
jedoch auf sehr einfache Weise. Die „mißlungenen” Theaterstücke
sind nämlich überhaupt keine Dichtungen, sondern von diesen
ebenso generell verschieden wie eine Gliederpuppe von einem
Menschen. Es gibt sehr rohe Puppen und sehr kunstvolle; gemein-
sam ist ihnen allen aber, daß sie mechanische Produkte sind. Wo-
durch erkennt man nun, daß sie es sind? Durch das „Gefühl”,
dasselbe Gefühl, das uns noch nie eine Auslagenfigur mit einem
Ladenbesucher, ein Panorama mit einer Landschaft hat verwech-
seln lassen und das untrüglich in jedem Menschen lebt; bloß in den
sogenannten „Theaterfachleuten” sehr oft nicht: diese haben näm-
lich durch das fortwährende Leben im Panoptikum die normale
Unterscheidungsfähigkeit eingebüßt. Dies führt uns zu der Er-
klärung der „Nieten”. Sie stammen nämlich ausnahmslos nicht
vom Dichter, sondern von den „Verbesserern”: den Intendanten,
Dramaturgen, Regisseuren, Schauspielern, die angeblich den
„Notwendigkeiten des Theaters” Rechnung tragen, in Wahrheit
den Bedürfnissen ihrer eigenen Kunstfeindlichkeit und eines fikti-
ven, von ihnen für dumm gehaltenen Publikums. Durch die Jahr-
hunderte klingt die Klage der Verleger, Zeitungsherausgeber,
Konzertagenten, Bühnenleiter: man dürfe dem Publikum nun
einmal nichts Neues, nichts Tiefes, nichts Ernstes vorsetzen, sein
Geschmack sei immer nur auf platte Unterhaltung, auf Kitsch und
Konvention gerichtet. Das ist aber ganz einfach eine Umkehrung
Jes wahren Sachverhalts: die rückständigen, ordinären und ober-
flächlichen Elemente sind die Fachleute. Das Publikum ist nichts
als ein aufgesperrtes Riesenmaul, das alles in sich hineinschlingt,
was man ihm vorsetzt. Daß es aber lieber Gutes verschlingt als
Schlechtes, steht außer allem Zweifel. Das erweist sich sofort ganz
unzweideutig, wenn man den Blick auf größere Zeiträume aus-
dehnt. Woher kommt es, daß von all den Moderomanen und Thea-
terschlagern, die seinerzeit so gierig konsumiert wurden, heute nur
noch ein paar Seminaristen etwas zu erzählen wissen? Warum leben
die erfolgreichen Gassenhauer und Schmachtfetzen zwar in aller
Munde, aber immer nur eine Saison lang? Und umgekehrt: gibt
es eine einzige Zelebrität, die mehr als hundert Jahre alt ist und
nicht verdiente, eine Zelebrität zu sein? Sind Homer und Dante
denn nicht wirklich die größten Epiker, Plato und Kant die größ-
ten Philosophen? Und wenn man eine Theaterstatistik der letzten
hundert Jahre aufstellen wollte, so würde sich als meistgespielter
Dramatiker ganz bestimmt Shakespeare herausstellen. Wer hat also
diesen Männern den ihnen gebührenden Platz mit so untrüglich
sicherem Urteil angewiesen? Etwa die Literaturprofessoren? Die
nehmen ein Genie doch erst ernst, wenn es schon der letzte Post-
beamte verdaut hat. Niemand anders als das Publikum trifft diese
kunstsinnigen und verständnisvollen Entscheidungen; man muß
ihm nur ein wenig Zeit lassen. Wird ihm von der niedrigen Ge-
sinnung der sogenannten kompetenten Faktoren minderwertige
Nahrung geboten, so akzeptiert es auch diese, aber nur weil es
keine bessere bekommt; und früher oder später wird es von seinem
Instinkt, trotz allen Hemmungen, die ihm die leitenden Kreise be-
reiten, doch an die richtige Quelle geführt werden. Es gibt Pro-
tisten, die sich zu „Zellvereinen” oder „Zellkolonien” zusammen-
tun: diese Tierchen besitzen dann zwei Seelen, nämlich eine Indi-
vidualseele und eine sogenannte Zönobialseele, die sich als Ge-
meingefühl des ganzen Zellenstocks äußert; ähnlich ergeht es
dem Menschen als Publikum: zu seiner Individualseele bekommt
er eine zweite hinzu: die Publikumsseele, in der der weise Wille
der Gattung regiert. Und wenn Chamfort die Frage gestellt hat:
wieviel Dummköpfe müssen denn zusammenkommen, damit ein
Publikum entsteht?, so ließe sie sich vielleicht dahin beantworten,
daß man natürlich nur von Fall zu Fall entscheiden kann, wie viele
es sein müssen, daß aber jedesmal, wenn genug von ihnen bei-
sammen sind, etwas entsteht, das viel gescheiter ist als sie.
Was nun noch die unbezweifelbare Hierarchie der dramatischen
Dichtungen anlangt, so bedeutet auch sie keine Widerlegung der
Ansicht, daß ihnen allen unanfechtbarer Wirklichkeitswert zu-
komme; denn eine Rangordnung gibt es ja auch in der Wirklich-
keit und unter den lebenden Menschen. Wodurch bestimmt sich
nun deren verschiedener Wert? Ich glaube: eben durch ihren Ge-
halt an Realität. Wenn wir zum Beispiel Bismarck mit Bethmann-
Hollweg oder Goethe mit Gottsched vergleichen, so müßten wir,
wenn wir den Unterschied auf die kürzeste Formel bringen woll-
ten, ganz einfach sagen, daß Goethe und Bismarck die realeren
Persönlichkeiten waren. Deshalb hat Nietzsche Napoleon das ens
realissimum genannt. Ganz ähnlich ergeht es uns im täglichen Le-
ben. Gewisse Menschen erscheinen uns massiver, beglaubigter,
lebender als andere, weil sie einen größeren Bruchteil der Welt
spiegeln, sozusagen einen stärkeren Tonnengehalt besitzen. Aber
„psychologisch richtig” sind alle.
Für die Tatsache, daß es einem echten Dichter gar nicht mög-
lich ist, eine Figur zu verzeichnen, auch wenn er den besten Willen
dazu hat, möchte ich nur ein einziges Beispiel anführen. Alfred
Loth in „Vor Sonnenaufgang” ist zweifellos als eine Art Sprach-
rohr des Dichters gedacht, als der Held des Stücks, der recht be-
halten soll, mit dem sich Hauptmann geradezu identifiziert. In
Wirklichkeit ist er aber ein dürrer und engherziger Prinzipienreiter,
der durchaus nicht Anspruch auf unsere ungeteilte Sympathie hat.
Im zweiten Akt sagt er zu Helene Krause über „Werther”, das sei
ein dummes Buch, ein Buch für Schwächlinge. Als Helene ihn
fragt, ob er ihr etwas Besseres empfehlen könne, erwiderte er: „Le
... lesen Sie ... noa!... kennen Sie den Kampf um Rom von
Dahn? Es malt die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie sie
einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich.” Und als ihn Helene
daraufhin fragt, ob Zola und Ibsen große Dichter seien, antwortet
er: „Es sind gar keine Dichter, sondern notwendige Übel, Frau-
lein. Ich bin ehrlich durstig und verlange von der Dichtkunst einen
klaren, erfrischenden Trunk. Ich bin nicht krank. Was Zola und
Ibsen bieten, ist Medizin.” Hier spricht plötzlich nicht mehr die
Seele des Dichters, sondern ein aufgeblasener grobdrähtiger Schul-
meister. Daß der „Kampf um Rom” dem „Werther” vorzuziehen
sei, kann niemals Hauptmanns Ansicht gewesen sein. Was war ge-
schehen? Die Figur hatte sich einfach selbständig gemacht,.
Vergleicht man aber nun parallele Gestalten Hauptmanns und
Ibsens, so bemerkt man, daß die letzteren mehr Realitätsgehalt be-
sitzen; sie verhalten sich zu jenen wie Rundplastiken zu Reliefs.
Gregers Werle und Relling stehen genau so in der „Wildente” wie
Loth und Doktor Schimmelpfennig in „Vor Sonnenaufgang”.
Aber Schimmelpfennig ist nur ein Profil und eine Diagnose: wir
erfahren von ihm bloß, daß er ein skeptischer Landarzt ist und daß
die Familie Helenens an Trunksucht leidet. In Relling hingegen ist
ein ganzes widerspruchsvolles Menschenschicksal gestaltet und
zugleich eine ganze Lebensphilosophie, die denselben Titel führen
könnte wie vier der nachgelassenen Abhandlungen Nietzsches:
„Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne”. Und in
Gregers Werle vollzieht sich die ganze Leidensgeschichte des
tragikomischen Menschheitsapostels, der, umgekehrt wie Me-
phisto, stets das Gute will und stets das Böse schafft. Oder man ver-
gleiche die Behandlung des Vererbungsproblems in „Vor Son-
nenaufgang” und den „Gespenstern”: dort ist es die Angelegen-
heit eines ärztlichen Pareres und eines monistischen Dogmas, hier
der Kreuzungspunkt aller moralischen und sozialen Fragen der
Gegenwart; dort wird es auf die denkbar primitivste Weise, hier
überhaupt nicht gelöst. Das ist das Verhältnis des Einmaleins zur
Wahrscheinlichkeitsrechnung des Infinitesimalkalküls.
Dies ist überhaupt das Unvergänglichste an Ibsens Dramatik,
worin er nur bisweilen von Shakespeare erreicht wird: daß es ihm
gelingt, die Vieldeutigkeit und Abgründigkeit des Lebens zu wie-
derholen. Man hat von seinen Menschen den Eindruck, daß sie
eigentlich nur bei ihm zu Besuch sind. Sie kommen von irgendwo
draußen, gehen eine Zeitlang im Stück herum und begeben sich
dann wieder nach draußen. Sie waren auf der Welt, ehe das Stück
anfing, und leben weiter, wenn das Stück aus ist. Auch hat man
die Möglichkeit, die Bekanntschaft mit ihnen durch öfteres Bei-
sammensein intimer zu gestalten, ganz wie das bei wirklichen Men-
schen der Fall ist. Ganz auskennen wird man sie aber niemals. So
sind zum Beispiel zwei so sachliche und gründliche Kenner Ibsens
wie Paul Schienther und Roman Woerner über die Abstammung
der Hedwig Ekdal ganz verschiedener Ansicht; jener hält es für
ausgemacht, daß sie die Tochter des alten Werle, dieser, daß
Hjalmar ihr Vater ist. Die erstere Auffassung, die sich auf die Ver-
mutung stützt, daß die Augenkrankheit Werks auf Hedwig ver-
erbt sei, ist die allgemein verbreitete; für die letztere läßt sich ihr
Zeichentalent anführen und die Tatsache, daß auch die Mutter
Hjalmars augenleidend war; nach der allerneuesten Psychologie
müßte man auch darauf hinweisen, daß Hedwig in Hjalmar ver-
liebt ist, also offenbar einen „Vaterkomplex” hat; aber man kann
auch ebensogut annehmen, daß sie sich in Hjalmar einen „Vater-
ersatz” geschaffen hat. Derlei Kontroversen wären aber ganz nach
dem Geschmack des Dichters; denn er will ja gar keine Klarheit,
sondern das Leben. Als er einmal gefragt wurde, ob Engstrand
das Asyl angezündet habe, erwiderte er: „Zuzutrauen wär's dem
Kerl schon!”
Es ist sogar dem Realismus Ibsens einmal das Unerhörte gelun-
gen, glaubwürdig ein obskures Genie zu schildern. Gewöhnlich
sind Tragödien, die sich um ein Manuskript drehen, der Gefahr der
Lächerlichkeit ausgesetzt; und überhaupt sind Schriftsteller als
dramatische Helden meist undankbare Aufgaben. Für Goethes
Tasso ist es, wie schon einmal hervorgehoben wurde, ganz unwe-
sentlich, daß er das „Befreite Jerusalem” geschrieben hat, und Lau-
bes Schiller müssen wir die „Räuber” einfach kreditieren. In
„Hedda Gabler” aber sind wir aufs tiefste überzeugt, daß wirklich
ein unersetzlicher literarischer Wert verbrannt wird, während wir,
um wiederum Hauptmann zum Vergleich heranzuziehen, bei der
Arbeit Johannes Vockeradts durchaus nicht an eine überragende
Leistung glauben. Ibsen hat aber etwas noch Größeres und Unbe-
greiflicheres geschaffen: die platonische Idee des Durchschnitts-
menschen in Hjalmar Ekdal.
, Die Natur, in gewisser Hinsicht äußerst verschwenderisch, ist
doch wiederum in anderer Hinsicht ungemein sparsam. Sie streut
Tausende von Formen aus, gelangt zu den bizarrsten Bildungen,
kann sich gar nicht genug tun in immer neuen Abwandlungen, so
daß es bisweilen scheint, als herrsche in ihr derselbe unersättliche
Spieltrieb, der den Künstler zu einem so ruhelosen Wesen macht;
aber sieht man näher zu, so erkennt man, daß sie bei alledem immer
nur einige wenige einfache Gedanken verwirklicht. So geht zum
Beispiel durch die fast unübersehbare Fülle von Gestalten, die wir
unter dem Namen der Säugetiere zusammenfassen, ein einziges
sehr leicht übersehbares Bildungsgesetz, sie sind alle nach demselben
einförmigen Bauplan geschaffen: immer wird der Hals aus sieben
Wirbeln gebildet, ob es sich um einen Maulwurf oder eine Giraffe
handelt, immer besteht das Herz aus zwei Kammern und zwei Vor-
kammern, beim Elefanten wie beim Eichhörnchen. Und ganz
ebenso ist die Natur beim Menschen verfahren. Denn obwohl es
nicht zwei menschliche Seelen gibt, die einander völlig gleichen,
so kehren doch in dem ungeheuern und vielfach gestuften Geister-
reich dieselben Typen immer wieder. Es gibt im Grunde nur drei:
den Idealisten, den Realisten und den Skeptiker.
Die drei größten Dichter der germanischen Rasse haben diese
drei Kristallisationsformen der menschlichen Seele in drei leuch-
tenden Gestalten verkörpert. Shakespeare schuf die Figur des
Skeptikers in Hamlet, Goethe die Figur des Idealisten in Faust und
Ibsen die Figur des Realisten in Hjalmar. Hamlet ist ein Aristokrat
der elisabethinischen Renaissance, jene merkwürdige Kreuzung aus
Bigotterie und Freidenkertum, die damals emporkam: er glaubt
zwar noch an Gespenster, aber er hat auch schon Montaigne ge-
lesen. Indes ist er doch auch unendlich viel mehr; er ist einfach der
Mensch, der zu viel weiß, um noch handeln zu können, sagen wir
rund heraus: der Kulturmensch. Er könnte auch heute auf der
Straße spazieren gehen: in Paris, in Berlin, in London und im Gar-
ten des Epikur und in den amerikanischen Wäldern Thoreaus und
zu jeder Zeit, die reif genug ist, um Menschen hervorzubringen,
die der Welt des Irrsinns und Verbrechens, in der sie leben, müde
und überlegen ins Auge blicken. Hebbel hat die Fausttragödie das
vollkommenste Gemälde des Mittelalters genannt, was zweifellos
richtig ist; aber sie ist auch das vollkommenste Gemälde des acht-
zehnten Jahrhunderts und das vollkommenste Gemälde des neun-
zehnten. Faust ist Abälardus und Thomas Aquinas, aber auch Fichte
und Nietzsche, sagen wir kurz: das Genie. Und sein Gegenspieler
Hjalmar besitzt die überhaupt vollkommenste Ubiquität, die sich
denken läßt. Er ist der Mensch, der mit der gegebenen Wirklich-
keit kreuzzufrieden ist, nie verlegen um eine schmackhafte Aus-
legung peinlicher Sachen, Virtuose im Vorbeisehen an strapaziösen
Verantwortungen und stets darauf bedacht, sich das Leben mit
billiger Poesie zu verhängen wie mit einer Art lichtdämpfender
Glasmalerei, mit einem Wort: der Philister. Können wir uns den-
ken, daß er in irgendeiner Sphäre der menschlichen Kultur nicht
bestanden, ja daß er nicht zu allen Zeiten den Grundstock der
Menschheit gebildet hat? Er ist die fleischgewordene Gewöhn-
lichkeit, aber der Dichter zeigt seine Unvergänglichkeit.
Dies sind die drei Typen der Menschheit. Oder vielmehr: es sind
die drei Seelen, die in jedem Menschen wohnen, ihn aufbauen und
sich in ewigem Kampf und Gleichgewicht befinden. Wer hätte
nicht schon gesagt: „Aber wozu eigentlich? Wir sind ein Narren-
haus. Warum sich hineinmischen? Alles das hat ja gar keinen Sinn.”
In diesem Augenblick war er Hamlet. Wer hätte nicht schon ge-
sagt: „Alles ganz schön. Aber jetzt möchte ich ein Butterbrot und
eine Flasche Bier.” In diesem Augenblick war es Hjalmar. Und
wer hätte nicht trotzdem immer wieder empfunden: „Einerlei.
Wir müssen weiter, hinauf! Dazu sind wir auf der Welt.” In die-
sem Augenblick war er Faust. Was ist nun der wahre Sinn des
Lebens: die reife Skepsis, das ewige Streben oder das Butterbrot?
Der Dichter antwortet: „Wir sind Menschen. Wir müssen zwei-
feln. Wir müssen streben. Wir müssen Bier trinken.”
Nichts hat, merkwürdigerweise, die Norweger so erbittert wie
die Tatsache, daß der größte Gestalter des scheidenden Jahrhun-
derts ein Norweger war: schon sein Debüt auf dem Theater erregte
die heimische Entrüstung, die sich von Drama zu Drama steigerte;
der „Bund der Jugend” konnte bei der Uraufführung in Christiania
kaum zu Ende gespielt werden; die Haltung, die die „kompakte
Majorität” gegen die „Gespenster” einnahm, gab Ibsen die Idee
zum „Volksfeind”. Der Dichter verließ das undankbare Vaterland
und wurde in Rom und München Kosmopolit. Aber nun ereig-
nete sich etwas, das man die Rache Norwegens nennen könnte.
Alle modernen Dramen Ibsens spielen nämlich in Norwegen,
nicht bloß äußerlich, was ganz gleichgültig wäre, sondern auch
innerlich: das Nora-, das Alving-, das Stockmann-, das Hedda-
problem ist nur in dieser Europaferne und Halbinselenge, diesen
verhängten Himmelsgegenden und verlegten Meerbuchten, die-
ser verschnörkelten Duodez- und Winkelwelt möglich. Nicht als
ob diese Konflikte: Weib und Ehe, Individuum und Masse, Genie
und Welt nicht allgemein menschliche wären, aber sie würden
sich in Paris in anderer Färbung und Perspektivik, unter anderen
Atmosphärilien abspielen. Und daher ist paradoxerweise Sardou
bei aller Oberflächlichkeit seiner Menschenbelichtung, Billigkeit
seiner Philosophie, Brutalität seiner Lösungen, Rückständigkeit
seiner Mechanik der europäischere Dramatiker.
Es ist sehr oft auf gewisse Zusammenhänge zwischen Ibsen und
der französischen Sittenkomödie hingewiesen worden. Daran ist
so viel wahr, daß Ibsen in der Tat deren Technik, als die für die
bürgerliche Guckkastenbühne gegebene, unentbehrliche und ein-
zig mögliche, übernommen und aufs höchste vergeistigt hat. Alle
stehenden Figuren des Pariser Gesellschaftsdramas kommen, durch
meisterhafte Charaktermasken gehoben, bei ihm wieder zum Vor-
schein: der Räsonneur (Lundestad, Relling, Brack, Mortensgard),
der falsche Biedermann (Stensgaard, Bernick, Peter Stockmann,
Werle), der confident (Doktor Herdal, Foldal), der edle déraciné
(Brendel, Lövborg), die mangeuse d'homme (Hedda, Rita), die ge-
läuterte Gefallene (Rebekka), die incomprise (Ellida, Nora), die in-
génue (Hilde Wangel). Ferner gibt es bei ihm auch die Technik der
Entlarvung: im „Bund der Jugend” und in den „Stützen der Ge-
sellschaft” noch ganz deutlich, in „Puppenheim”, „Volksfeind”,
den „Gespenstern” und der „Wildente” verdeckter. Ja sogar die
von den Franzosen erfundene „Technik der Metapher” hat er ak-
zeptiert, wobei man aber am deutlichsten sehen kann, um wie
viele Stufen er sich über seine Vorbilder erhoben hat. Diese besteht
darin, daß irgendein Gleichnis, Bild oder Aperçu in das Zentrum
der Handlung und zumeist auch in den Titel gesetzt wird. Das
klassische Beispiel hierfür ist „Demi-monde”. Dort sagt der Rä-
sonneur plötzlich: „Lieben Sie Pfirsiche? Also: Sie gehen zu einem
Obsthändler und verlangen seine beste Sorte. Er wird Ihnen einen
Korb mit wundervollen Früchten bringen, die durch Blätter ge-
trennt sind, damit sie einander nicht durch die Berührung ver-
derben: sie kosten, sagen wir, zwanzig Sous das Stück. Sie blicken
um sich und bemerken bestimmt in der Nähe einen zweiten Korb
mit Pfirsichen, die, von den anderen kaum zu unterscheiden,
bloß enger aneinandergepreßt sind. Sie erkundigen sich nach dem
Preis: fünfzehn Sous. Sie fragen natürlich, warum diese Pfirsiche,
ebenso schön, ebenso groß, ebenso reif, ebenso appetitreizend,
weniger kosten als die anderen? Darauf wird Ihnen der Verkäufer
einen ganz kleinen schwarzen Fleck zeigen, der der Grund des
niedrigeren Preises ist. Sehen Sie, mein Lieber: Sie befinden sich
hier in dem Korb der Pfirsiche zu fünfzehn Sous. Die Frauen, die
Sie umgeben, haben alle einen kleinen Fehler in ihrer Vergangen-
heit, einen kleinen Fleck auf ihrem Namen; sie drängen sich anein-
ander, damit man es so wenig wie möglich bemerke, und obgleich
sie dieselbe Herkunft, dasselbe Exterieur, dieselben Manieren und
Vorurteile besitzen wie die große Gesellschaft, befinden sie sich
doch nicht mehr darin und bilden das, was man die Halbwelt nennt,
die weder Aristokratie noch Bourgeoisie ist, sondern wie eine
schwimmende Insel im Ozean von Paris treibt.” Nach Dumasscher
Technik müßte Relling etwa sagen: „Haben Sie schon einmal eine
Wildente beobachtet? Nun denken Sie sich: sie wird angeschos-
sen. Eine Zeitlang wird sie vom blauen Himmel träumen, vom
tiefen Teich und vom dichten Schilf, in dem sie sich tummelte.
Aber allmählich wird sie die Freiheit vergessen und zufrieden und
fett ihren dumpfen Stall in der Dachkammer für die Welt halten.
Eh bien, mon cher: wir befinden uns in einem Wildentenstall.”
Ist der Parallelismus zwischen der französischen und der Ibsen-
schen Technik nur unter sehr beträchtlichen Vorbehalten gültig,
so ist die ebenfalls sehr häufig angestellte Vergleichung mit der
antiken Dramenführung völlig deplaciert. Denn während die
griechische Tragödie bloß zu einem längst bekannten Resultat auf
kunstvolle Weise einen neuen Weg entwickelt, wird bei Ibsen
dieser Weg selbst erst entschleiert; dort handelt es sich um die ori-
ginelle Ableitung einer eingelebten Kultwahrheit, hier um die
unantik spannende Auflösung eines Rebus. Beide Formen sind
„analytisch”, aber so verschieden wie geometrische und chemische
Analyse, indem dort eine gegebene rationelle Gleichung bloß an-
schaulich nachkonstruiert, hier ein unartikulierter Tatbestand erst
beobachtet und ergründet wird; dort erfährt man die Motivation,
hier die Konstitution. Die Entwicklung ist im „Ödipus” ein dia-
lektischer, in den „Gespenstern” ein experimenteller Prozeß; es
besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen hesiodischer und
darwinischer Kosmogonie, zwischen der Idee bei Plato, die der
zeugende Urgrund, und der Idee bei Kant, die das gesuchte End-
ziel ist.
Um das wahre Vorbild Ibsens zu finden, braucht man weder
nach Paris noch nach Athen zu gehen: es ist die isländische und
norwegische Saga seiner Heimat, die Ballade. Mit ihr hat er alle
Züge gemeinsam, die für seine innere Grundform entscheidend
sind: das schwüle Drängen auf die Katastrophe, die von Anfang
an so gewiß ist, daß, wie man freilich erst später erkennt, das Dra-
ma mit ihr anhebt; den immer wieder, immer drohender auftau-
chenden Refrain; die schlagende Konzentration; das doppelte
Dunkel der Änigmatik und Tragik; die latente Romantik. Wer
vermöchte heute noch daran zu zweifeln, daß die Geschichte von
Ellida und dem fremden Mann, von der kleinen Hilde und dem
großen Solneß eine Romanze ist, daß die weißen Rosse von Ros-
mersholm und die Rattenmamsell aus der Polterkammer stammen
und daß die „Gespenster” ein wirkliches Gespensterstück sind?
Es sind, was sie nur um so großartiger und unbegreiflicher macht,
Nixen im Waschkleid, Nachtmahre im Bratenrock, Legenden im
elektrischen Licht.
Ganz unvergleichlich ist hierbei die Durchdringung von Reali-
tät und Symbolität. Wir haben darauf hingewiesen, daß selbst ein
so penetranter Naturalist wie Zola ganz wider Willen und gleich-
sam unter der Hand zu großen Personifikationen gelangte. Doch
sind diese bei ihm mechanische Produkte der Summierung, unge-
heure Kollektivwesen, daher bloß rationale „Wahrzeichen” oder
bestenfalls kalte Allegorien. Bei Ibsen aber haben sie die volle Irra-
tionalität, Doppelbodigkeit und Unheimlichkeit des Zaubermär-
chens. Sie werden, in einer aufsteigenden Reihe, immer geheim-
nisvoller und dabei, merkwürdigerweise, konkreter. Man braucht
sie bloß zu nennen: die lecke „Indian girl” in den „Stützen”; das
„Puppenheim”; des Kammerherrn Alving brennendes Asyl; die
verseuchte Badeanstalt im „Volksfeind”; der Dachboden in der
„Wildente”; Rosmersholm; das Meer in der „Meerfrau”; der
Turm in „Baumeister Solneß”: lauter phantastische, alltägliche,
irreale, greifbare Schreckgebilde.
Wie bei Nietzsche lassen sich auch bei Ibsen ziemlich deutlich
drei Perioden unterscheiden: die erste, 1863 bis 1873, umfaßt im
wesentlichen die großen Historien und Versdichtungen, die zwei-
te, die bis 1890 reicht, die revolutionären Gesellschaftsdramen, die
letzte die mystischen Dichtungen. Von 1877 bis 1899 hat Ibsen mit
großer Regelmäßigkeit alle zwei Jahre ein neues Stück erscheinen
lassen, das immer in irgendeiner Weise die Fortsetzung eines vor-
hergehenden war. Aber alle haben im Grunde dasselbe Thema,
das er in einem Brief an Brandes in die Worte zusammengefaßt
hat: „Überhaupt gibt es Zeiten, wo die ganze Weltgeschichte mir
wie ein einziger großer Schiffbruch erscheint - es gilt, sein Selbst
zu retten.” Der Ton, der durch alle späteren Werke weiterklingt,
ist schon in seinem ersten Drama „Catilina” angeschlagen, dessen
Held als der Typus des nihilistischen Gesellschaftsfeinds gilt, eigent-
lich aber, zumindest in der Auffassung Ibsens, ein revolutionärer
Neuschöpfer sein wollte. In Ibsen, dem grübelnden Kämpfer aus
Nordland, ist wieder einmal der protestantische Geist des Protestes
Fleisch geworden, der Geist Luthers und Huttens, Miltons und
Carlyles; und der Geist der kantischen Höhenmoral, wie sie in
Brand und Rosmer lebt. „Ich empfing die Gabe des Leids”, sagt
Jatgejr, „und da ward ich Skalde. Es mag andere geben, die den
Glauben oder die Freude brauchen — oder den Zweifel. Aber dann
muß der Zweifler stark und gesund sein.” Dieser unbändige, le-
bensstarke Zweifel, der furchtlos mit allem ringt, auch mit sich
selbst, war Ibsens Kraftborn; aus ihm schöpfte er seine dunkeln
Lieder, die die Welt erleuchteten. Die bösen Geister aber, gegen
die er auszog, waren die „Ideale”, auf denen sich das satte Zeitalter
zur Ruhe gesetzt hatte. Mit unermüdlichem Hohn wies er auf ihre
Fadenscheinigkeit, ihre Leere, ihre Verlogenheit und auf die Not-
wendigkeit neuer Sternbilder. Aber mit diesen neuen Idealen ist
er nie recht zustande gekommen. Daher konnte auch Hermann
Türck in seinem gar nicht schlechten Buch „Der geniale Mensch”
ihn als Typus des Anarchisten und „Misosophen” hinstellen, frei-
lich ohne zu bedenken, daß gerade sein ungeheures moralisches
Verantwortungsgefühl ihm das Verneinen näher legte als das Auf-
bauen. Doktor Allmers, der Held von „Klein Eyolf “, arbeitet an
einem Buch über die menschliche Verantwortung, das nie fertig
wird. An diesem Buch hat auch Ibsen sein Leben lang geschrieben;
aber es ist nie komplett erschienen. Seine letzten Geheimnisse hat
dieser große Zauberer ins Grab genommen. Aus Scham, wie der
Skalde Jatgejr; aus Stolz, wie Ulrik Brendel, der von sich sagt:
„Meine bedeutsamsten Werke, die kennt weder Mann noch Weib.
Kein Mensch - außer mir. Weil sie nicht geschrieben sind. Und
warum sollte ich auch meine eigenen Ideale profanieren, wenn
ich sie in Reinheit und für mich allein genießen konnte?”; vielleicht
auch ein bißchen aus Schadenfreude. Vor allem aber, weil er ein
großer Dichter war. Denn die tiefsten Dichtungen sind nur mit
dem Herzen aufgezeichnet und haben eine Scheu davor, zu Buch-
staben zu gefrieren. Seine letzte geoffenbarte Weisheit verkündet
der Held seiner letzten Dichtung: „Wenn wir Toten erwachen,
dann sehen wir, daß wir nicht gelebt haben.” Dieses Werk nannte
er selbst einen Epilog, und es erschien, wiederum ein Vorgang von
hoher Symbolik, genau am Schluß des Jahrhunderts, in den letzten
Dezembertagen des Jahres 1899.
Eine Art Epilog enthält aber auch schon die Schlußszene seines
vorletzten Dramas. Seltsam gemahnt Borkmans Tod an das Ende
Tolstois. In beiden erwacht, kurz vor ihrem Verlöschen, ein ge-
heimnisvoller Wandertrieb: sie verlassen das schützende Dach
ihres Hauses und irren hinaus in die unwirtliche Ferne. Es ist eine
Art Flucht aus der Realität.
„(Die Landschaft, mit Abhängen und Höhenzügen, verändert sich
fortwährend langsam und nimmt einen immer wilderen Charakter an.)
Ella Rentheims Stimme: Aber warum brauchen wir denn so hoch
zu steigen? Borkmans Stimme: Wir müssen den gewundenen Pfad
hinauf. (Sie sind bei einer hochgelegenen Lichtung im Walde angelangt.)
Ella: Auf der Bank da saßen wir oft zuvor. Borkman: Es war ein
Traumland, in das wir damals hinausblickten. Ella: Das Traumland
unseres Lebens war es. Und jetzt ist das Land mit Schnee bedeckt. Und
der alte Baum ist abgestorben. Borkman: Siehst du den Rauch, der
von den großen Dampfschiffen aufsteigt, draußen auf dem Wasser?
Ella: Nein. Borkman: Ich sehe ihn. Sie kommen und sie gehen. Sie
knüpfen Bündnisse über die ganze Erde. Und dort unten am Fluß -
hörst du? Die Fabriken sind im Gang. Meine Fabriken! Die Räder wir-
beln und die Walzen blitzen - immer im Kreis, immer im Kreis! Siehst
du die Bergketten dort - in der Ferne? Die eine hinter der andern. Sie
erheben sich. Sie türmen sich. Dort ist mein tiefes, endloses, unerschöpf-
liches Reich! Ella: Ach, John, es haucht einen aber so eisig an von dem
Reiche her! Borkman: Der Hauch wirkt auf mich wie Lebensluft. Der
Hauch weht mir entgegen wie ein Gruß von untertänigen Geistern.
Ich liebe euch, ihr lebenheischenden Werte - mit all euerm glänzenden
Gefolge von Macht und Herrlichkeit! Ich liebe, liebe, liebe euch! (Schreit
auf und greift sich an die Brust.) Ah! Ella: Was war das, John! Bork-
man: Es war eine Eishand, die mich ums Herz packte. Nein, keine
Eishand. Eine Erzhand war es. Frau Borkman (kommt zwischen den
Bäumen zum Vorschein): Schläft er? Ella: Einen tiefen und langen Schlaf,
glaube ich. Frau Borkman: Ella! (gedämpft) Geschah es - freiwillig?
Ella: Nein. Frau Borkman: Also nicht durch eigene Hand? Ella:
Nein. Es war eine eisige Erzhand, die ihn ums Herz packte. Es war die
Kälte, die ihn tötete. Frau Borkman: Die Kälte - die hatte ihn schon
längst getötet. Ella: Ja, -und uns zwei in Schatten verwandelt. Frau
Borkman: Da hast du Recht. Und so können wir zwei einander die
Hände reichen, Ella. Wir Zwillingsschwestern - über ihn hinüber, den
wir beide geliebt haben. Ella: Wir zwei Schatten - über ihn, den Toten.
(Frau Borkman, die hinter der Bank, und Ella, die davor steht, reichen
einander die Hände.)”
Die neue Form, die die Symbolisten schufen, war das poème en
prose, „l'huile essentielle de l'art”, wie es Huysmans nannte, „das
Meer der Prosa, zusammengedrängt in einen Tropfen Poesie”.
Dieser hatte bereits 1884 den klassischen Roman der Décadence in
„À rebours” geliefert: die Erzählung, eigentlich bloß ein fortlau-
fender autoanalytischer Monolog des Helden, hat zum ausschließ-
lichen Objekt das Extra- und Kontrareguläre in jederlei Sinn: das
Disharmonische, Morbide, Amoralische, Asoziale, Perverse, bis
zum Irrsinn und Verbrechen; auch in der Sprache und Komposi-
tion, die amorph, asyndetisch, psychopathisch ist. In dem Herzog
Jean Florissac des Esseintes ist ein Archetyp geschaffen wie im
esprit romanesque. Es ist René nach achtzig Jahren.
Einen ganz anderen Charakter hat der belgische Symbolismus.
Sein erstes Werk war ein erschütterndes kleines Drama „Les Flai-
reurs” von Charles van Leberghe, das das Herannahen des Todes
schildert. Es hat ganz offenbar als Vorbild für Maeterlincks „L'In-
truse” gedient, dessen erste Dichtung „Princesse Maleine” Octave
Mirbeau 1890 im „Figaro” mit den Worten ankündigte, sie sei
„die weitaus genialste, weitaus absonderlichste und weitaus naivste
Schöpfung dieser Zeit, vergleichbar, ja überlegen dem Schönsten,
was im Shakespeare zu finden ist, ein anbetungswürdiges reines
ewiges Meisterwerk, wie es die edelsten Künstler in den Stunden
der Begeisterung sich bisweilen erträumt haben”. Und das war
nicht zu viel gesagt.
Maeterlincks Gestalten schweben in einem imaginären Raum,
oder vielmehr in gar keinem Raum, da sie nicht körperlich, son-
dern als gleitende Schatten gesehen sind. Man wäre infolgedessen
versucht, ihn in die Gruppe der „zweidimensionalen Dichter” ein-
zureihen, von denen an anderer Stelle gesprochen wurde, wenn
er sich nicht von ihnen durch etwas sehr Wesentliches unterschie-
de, das seine Theaterkunst zu einem Unikum in der Weltliteratur
macht. Während es sich nämlich bei jenen um einen Defekt, sozu-
sagen um einen organischen Fehler ihrer dramatischen Konstitu-
tion handelte, vermeidet Maeterlinck ganz bewußt und mit voller
künstlerischer Absicht die dritte Dimension und erreicht damit
etwas ganz Seltsames und Unerhörtes: es gelingt ihm, die vierte
Dimension auf die Bühne zu bringen.
Das große Publikum besitzt, worauf schon bei Shaw hingewiesen
wurde, eine sehr ausgeprägte Neigung, jede neue geistige Erschei-
nung sofort zu etikettieren, mit einem einmaligen handlichen Spitz-
namen zu versehen, und glaubt, damit der strapaziösen und ver-
antwortungsvollen Verpflichtung, sich jenes neue Phänomen nun
auch wirklich seelisch einzuverleiben, ein für allemal enthoben zu
sein. Dieser ebenso eingewurzelte wie verderbliche Hang der Men-
ge, den man vielleicht den „Willen zur Chiffre” nennen könnte,
hat auch an Maeterlinck seine verflachende und irreführende Wir-
kung erprobt: man griff ein Wort auf, das er selbst einmal zu Huret
über sich gesprochen hatte, und nannte ihn fortan „un Shakespeare
pour marionettes”. Also: ein Dichter, der sich zwar der Fülle, Bunt-
heit und Bewegtheit des Lebens nicht gänzlich verschließt, sie aber
künstlich auf die Primitivität eines steifen und mechanischen Glie-
derpuppentheaters hinunterstilisiert. Dieser Generalnenner, den
Maeterlinck nun schon länger ab ein Menschenalter mit sich her-
umträgt, ist jedoch nicht nur einseitig wie alle Schlagworte, son-
dern beruhte überhaupt von vornherein auf einem groben Miß-
verständnis. Denn es verhielt sich keineswegs so, daß der Dichter
sich aus irgendeiner artistischen Laune entschlossen hatte, die kind-
liche und veraltete Form des Puppentheaters wieder zum Leben
zu erwecken, was bestenfalls eine liebenswürdige und geistreiche
Spielerei gewesen wäre, sondern er hatte erkannt, daß das Leben
ein Puppendrama und die Marionette das tiefste und erschütternd-
ste Symbol unserer Existenz ist. Treten wir nämlich nur ein wenig
zurück, so bemerken wir, daß der Glaube, wir selbst seien die Ur-
heber unserer körperlichen und seelischen Gesten, auf einer opti-
schen Täuschung beruht: eine erhabene geheime Kraft, die unser
ganzes Dasein in allen seinen großen und kleinen Bewegungen
lenkt, wir könnten sie den unsichtbaren Dichter unseres Lebens
nennen, wirkt sich auf dieser unserer Erdenbühne aus, und unter
einem solchen Aspekt beginnt sich alles sogleich viel unpathetischer
und unpersönlicher zu vollziehen. Blickt man von einem hohen
Berge auf die Städte und Felder, die ziehenden Herden, die Bäume
im Winde, die fahrenden, reitenden, rennenden Menschen in ihrer
lautlosen Geschäftigkeit, so wird man allemal sogleich den befrem-
denden Eindruck des Mechanischen haben; und ganz ebenso er-
geht es uns, wenn wir zum Leben eine genügende seelische Di-
stanz nehmen. Aber, so könnte man nun wohl einwenden, hat
Maeterlinck durch diese Art, unser Schicksal zu sehen, die Seele
nicht gleichsam aus der Welt exkommuniziert und uns damit
vielleicht reicher an Erkenntnis, aber unvergleichlich ärmer an Vi-
talität gemacht? Dann wäre er, selbst wenn sich die Wahrheit auf
seiner Seite befände, kein Wohltäter der Menschheit. Aber so ver-
hält es sich keineswegs: weit entfernt davon, die Seele von ihrem
Thron zu stoßen, hat er sie erst eigentlich entdeckt und in ihre
wirklichen souveränen Rechte eingesetzt. Denn anstatt uns wie
bisher auf die ohnmächtigen Flügelschläge unserer Einzelseelen zu
verlassen, vermögen wir nunmehr die Weltseele in ihrem maje-
stätischen zeitlosen Wirken zu erkennen; und auf Kosten jener klein-
lichen, unsicheren und von Anfang an verdächtigen Empfindung,
die wir Selbstgefühl nennen, haben wir das Allgefühl gewonnen,
das uns nie enttäuschen wird, denn es ist größer als wir, nie ver-
wirren wird, denn es ist die mit sich selbst einige Klarheit, nie ver-
leugnen wird, denn es hat uns geboren, und nie verlassen wird, denn
es wird uns überleben und mit der Unsterblichkeit verknüpfen.
Wer sind wir? Wozu sind wir? Steuern wir auf etwas Gewisses?
Ruhen wir auf etwas Gewissem? Ist überhaupt irgend etwas gewiß?
Diese und ähnliche bedrückende Fragen klagen und jammern aus
den kleinen Dramen Maeterlincks, wiederholen sich immer wie-
der, in unzähligen Variationen, aber immer gleich geheimnisvoll,
gleich schreckhaft, gleich antwortlos. Nur eine große Ahnung
läßt diese dahindämmernden Seelen in schmerzvollen Schauern
erbeben: es wird etwas Entsetzliches geschehen, etwas Grauen-
volles, Unsagbares, Unfaßbares, ein Unglück, das nie wieder gut-
zumachen sein wird. Gegen dieses Unglück kann man nicht an-
kämpfen. Es kommt immer, es ist unbesieglich. Sich wehren, um
sich schlagen, sich wappnen, vorausberechnen nützt nichts. Das
Leben kommt und nimmt uns mit. Der Angst vor dem Leben, die
jede Kreatur quälend durchdringt, hat Maeterlinck eine eindring-
lichere, erschütterndere Gestalt gegeben, als es je bisher ein Dich-
ter vermocht hat. Es gibt bei seinen Wesen überhaupt nur zwei
Verhaltungsweisen zum Leben: entweder stets erstaunt sein oder nie-
mals erstaunt sein. Zur ersten Gruppe gehören die Frauen, die Mäd-
chen, die Kinder, alle mit dem Gefühl lebenden Geschöpfe. Sie befin-
den sich gegenüber allen Bewegungen des Daseins, den ungeheuer-
sten wie den geringfügigsten, ja der einfachen Tatsache des Lebens
selbst in einer immerwährenden maßlosen Verwunderung. Sie
haben zu empfindliche Organe für die Brutalität, die Sinnlosigkeit,
die Perversität der animalischen Existenz. Weil sie immer vor
etwas fliehen, einem Verhängnis entgegendenken, entgegenzittern
müssen, gelangen sie zu keiner Handlung. Sie kommen nie zum
Leben, aus Furcht, ihm bei seiner ersten Berührung zu erliegen.
Sie haben es mit allen seinen Schrecken schon im Instinkt, in der
Phantasie, in den Nerven, in der Divination antizipiert, und so
wandeln sie dahin gleich hilflosen Materialisationen eines mäch-
tigen Geisterbeschwörers: als Unterpfänder einer höheren Exi-
stenz, die aber bloß zu erscheinen vermögen und nicht imstande
sind, sich mit dieser Welt in fruchtbaren Verkehr zu setzen. Sie
können nicht verstehen, sie wollen nicht verstehen, weil sie das
Unfaßbare des Irdischen erkannt haben. „Man muß ...”, „man
müßte ...”: das sind die äußersten Vibrationen, die die heranna-
hende Gewalt des Schicksals in diesen merkwürdig hellen und
dumpfen Triebwesen auszulösen vermag. Überall lauern die Här-
ten, die unvermittelten Übergänge, die Komplikationen, denen
keines von ihnen gewachsen ist. Die andere Gruppe dagegen, die
niemals Erstaunten, die Weisen, die Greise, die alten Ammen und
Mütter, die Heiligen, Könige und Bettler, wissen wiederum zu
viel; und da sie, gleich den Engeln der Kabbala mit tausend Augen
bedeckt, alles sehen, alle vielfältigen Verknotungen und Verschrän-
kungen des Schicksals, gelangen auch sie zu keiner Tat; vor lauter
Beziehungen haben sie keine einzige feste mehr.
Im ersten Buche wurde gesagt, die Bilder, die die flämischen
Ahnen Maeterlincks im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert
geschaffen haben, seien gemalte Mystik gewesen. Von ihm könnte
man sagen, er habe jene Gemälde dramatisiert. Seine Menschen,
auch wenn er sie in unsere Tage versetzt, wirken wie Gestalten aus
einer grauen Vergangenheit oder wie Geschöpfe der Zukunft, nie-
mals wie Wesen der Gegenwart. Er wirft ein magisches Licht über
sie, dessen Erzeugung offenbar sein Geheimnis ist, und plötzlich
sind sie aller sinnlich deutbaren Körperlichkeit, aller profanen Rea-
lität entkleidet. Anatole France hat einmal über Vüliers de l'Isle-
Adam gesagt: „Er ging durch die Welt wie ein Schlafwandler:
von dem, was wir alle sehen, sah er nichts, aber was unseren Augen
verschlossen ist, sah er.” So verhält es sich auch mit den Figuren
Maeterlincks. Das wirkliche Leben, das tägliche, gewöhnliche,
praktische des Augenscheins und der normalen Sinne sehen sie
nicht, ihm gegenüber sind sie verschüchtert und ohnmächtig, rat-
los und stumm wie Kinder und fast wie Schwachsinnige; aber
während sie so in der groben Realität blind herumtappen, öffnet
sich einem geheimnisvollen inneren Sinn, den nur sie besitzen, eine
andere Welt, ebenso real wie diese, ja viel realer, die Welt der Ah-
nungen und Träume, der Fernwirkungen und Fernwitterungen,
in der alle Geister und Seelen sich als ein ungeteiltes Ganzes, eine
Einheit und Harmonie fühlen und in der es daher keine Mißgriffe,
keine Unsicherheiten, keine Kämpfe gibt. Auch sie sind „flaireurs”,
Flaireurs des Unfaßbaren und Unsichtbaren, in dem das wahre
Geheimnis unseres Wesens beschlossen liegt.
Aber wir sagen Geheimnis und wollen, wie dies zu allen Zeiten
der Fall war, damit nichts endgültig Unlösbares und Unentziffer-
bares bezeichnen, sondern nur etwas, dem wir sein letztes Wort
noch nicht abgerungen haben, etwas Werdendes, Entstehendes,
das im Begriff ist, sich uns zu offenbaren. Es zögert noch; oder viel-
leicht sind wir es, die zögern? Es handelt sich, mit einem Wort,
um alle jene Energien und Manifestationen, die wir die „okkulten”
nennen. Es sind zweifellos Naturkräfte wie alle anderen, ebenso
gesetzmäßig und unergründlich, ebenso wohltätig und gefährlich,
aber uns heute eben noch „verborgen”. Maeterlinck ist der erste
Dramatiker des okkulten, des telepathischen, des „Seelen”-Sinnes.
In seinen Vorlesungen über Psychoanalyse sagt Sigmund Freud,
die Eigenliebe des Menschen habe bisher drei große Kränkungen
von der Wissenschaft erdulden müssen: die erste, als er durch Ko-
pernikus erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Welt-
alls sei, die zweite, als Darwin ihn auf die Abstammung aus dem
Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur ver-
wies, und die dritte und empfindlichste, als die heutige psycholo-
gische Forschung dem Ich zeigte, daß es nicht einmal Herr im eige-
nen Hause sei, sondern auf die kärglichen Nachrichten dessen an-
gewiesen bleibe, was unbewußt im Seelenleben vorgehe. Dies ist
in der Tat auch die Erkenntnis, die im Herzen der Dramen Maeter-
lincks lebt: „dies sagt man und jenes sagt man, aber die Seele geht
ihren eigenen Weg.” Aber Freud, dessen Ingenium die bloße Er-
forschung des Irdischen gewählt hat, ohne dem Göttlichen einen
Blick zu schenken, übersieht oder verschweigt den Ungeheuern
moralischen Zuwachs, der uns durch ebendiese Erkenntnis ge-
worden ist: daß nämlich das, was die Psychoanalyse mit einem
kalten, abweisenden und fast verächtlichen Wort Unterbewußt-
sein nennt, nichts ist als das Bewußtsein eines uns unendlich
überlegenen und daher unverständlichen Geistes und daß wir noch
niemals so groß waren wie jetzt, wo wir nach dem Fall der letzten
Bollwerke unseres selbstherrlichen Ich uns in inniger und unzer-
störbarer Kryptogamie mit dem Weltgeist erkannt haben.
Alle Mittel, durch die bisher der Dramatiker seinen stärksten
Ausdruck und seine fesselndste Wirkung erzielt hat: Deutlichkeit
und Schärfe, Wucht und Schlagkraft, Reichtum an Handlungen
und Geschehnissen, lebhaft vorwärtsdrängende Entwicklung, in-
dividuelle und bunte Charakteristik, alle diese Mittel sind Maeter-
linck fremd: seine Gestalten wandeln unter dem Nebelschleier
eines tiefen Mysteriums und ihre Schicksale sind nichts weniger
als eindeutig, ja überhaupt kaum zu deuten; kein Charakter wächst
aus der dramatisch fruchtbaren Sphäre des Willens hervor, nie-
mand will, niemand handelt, auch äußerlich geschieht wenig von
Belang. Es sind lauter schmale Figuren von einer ungemein spar-
samen Zeichnung, die wie Irre oder Berauschte eigensinnig immer
dieselben Sätze wiederholen, dabei ganz homogen charakterisiert:
alle haben für dieselbe Empfindung denselben Ausdruck und für
denselben Eindruck dieselbe Empfindung. Hier sind Schattenspiele
in einem mehr als äußerlichen Sinn; denn was der Dichter zeigt,
sind nur die Schatten, die von ungeborenen, nie zu gebärenden
Taten in der Seele des Menschen vorausgeworfen werden. Ibsen
beschwört die Schatten der Vergangenheit, Maeterlinck macht es
umgekehrt; und eigentlich ist es dasselbe. Beide lassen nur ein
Reales gelten: die Seele; Vergangenheit und Zukunft sind bloße
Projektionsphänomene, Spiegelungen des Ewigen, das immer da
ist. Dies ist entweder keine Handlung oder die tiefste Handlung,
entweder ganz undramatisch oder höchste Spannung wie im Krei-
sen der Atome eines scheinbar ruhenden Körpers oder im Gleich-
gewicht der einförmig dahinwandelnden Gestirne: ein Theater
ohne Theatralik, ein Theater des Schweigens, des Aufhorchens und
der Passivität, die die Weltharmonie in sich einströmen läßt. Die
„Spannung” dieser Dramen ist nicht die brutal materielle, wie wir
sie gewöhnt sind, sondern die latente und darum viel aufregendere,
wie sie in einer geladenen galvanischen Batterie besteht. Maeter-
linck hat sich hierüber selber in einer wunderschönen Betrachtung
geäußert: „Blüht unsere Seele nur in Gewitternächten auf?... Es
liegt mir nahe zu glauben, daß ein Greis, der im Lehnstuhl sitzt und
beim schlichten Lampenschein verharrt, der, ohne sie zu begrei-
fen, alle die ewigen Gesetze belauscht, die rings um sein Haus wal-
ten ... in Wahrheit ein tieferes, menschlicheres und allgemeineres
Leben lebt als der Liebhaber, der seine Geliebte erdrosselt, der Füh-
rer, der einen Sieg erringt.”
Shakespeare könnte heute kein einziges seiner Stücke mehr
schreiben. Er müßte sich sagen, daß Othello die Desdemona nicht
töten wird, wenn er nicht gerade betrunken ist, sondern daß er
etwas anderes tun oder reden wird, irgend etwas scheinbar Unbe-
deutendes und Nebensächliches, etwas, das sich schwer vorausbe-
rechnen läßt, das aber vielleicht tiefer treffen wird als sein Dolch.
Bei einem Othello der Shakespearezeit lag die Gleichung klar und
deutlich vor Augen: er wird sie töten. Was sollte er denn sonst
tun, wenn er nicht gerade betrunken ist? Die Menschen waren
eben damals viel übersichtlicher, einfacher, schematischer. Ein ge-
nialer und kenntnisreicher Seelenforscher konnte mit ihnen ebenso
Astronomie treiben wie Galilei mit seinen Sternen. Man mußte nur
die Gesetze der Epizyklen kennen, die sie beschreiben würden. Und
Shakespeare selbst hat bereits im „Hamlet” wie in einem Gleich-
nis das Schicksal der dramatischen Kunst gezeichnet. Sie geht um-
her, gequält und verfolgt von nächtlichen Gesichten, angetrieben
zu weitausladenden geräuschvollen Handlungen, zu Mord und
Totschlag, Kampf und Tat, und indem sie den Sinn und Wert aller
dieser Lebensäußerungen prüft, erkennt sie: sie haben keine innere
Existenzberechtigung, sind nichts als Konzessionen, dem Milieu
gemacht, worin wir leben, nämlich dem großen Irrenhaus von
Unweisheit und Ungute, das man Menschheit nennt. Und wie
Hamlet in solchen Reflexionen sich selbst zersetzt und lebensun-
fähig macht, gelangt im langsamen Prozeß der Selbstbespiegelung
die dramatische Kunst zu ihrer Selbstauflösung.
Ich sehe hierbei ab von dem lärmenden Zwischenspiel einer
Theaterkunst, die sich futuristisch nennt, obgleich sie ganz und gar
der Vergangenheit angehört und nur ein letzter Krampf und ver-
zweifelter Versuch ist, künstlerischen Ausdruck mit Mitteln zu fin-
den, die historisch geworden sind. Es kommt aber nicht auf Akti-
vismus an, auf Sichbemühen und Velleitäten, sondern auf Stillehal-
ten, damit das Neue in uns wirken kann. Dieses Neue ist die Seele.
Die Seele war natürlich immer da, wie ja auch Mund und Kehle
schon längst da waren, ehe der Mensch sie zur Rede gebrauchte;
aber erst heute schickt sie sich an zu sprechen. Maeterlinck ist nicht,
wie fast alle seine Zeitgenossen, ein Ende, sondern ein erster An-
fang, von dem ein neues, unreifes und noch völlig im Unsicheren
tastendes Menschentum seinen Ausgang nimmt. Er ist keine Mün-
dung, sondern eine Quelle. Es gibt keinen lebenden Denker, in
dem jene eigenartige coincidentia oppositorum aus höchstem
Zweifel und höchster Gewißheit, die immer die Introduktion eines
neuen Abschnittes der Geistesgeschichte bildet, einen so intensiv
konzentrierten, so innerlich erlebten und so ergreifend dramati-
schen Ausdruck gefunden hat wie in Maeterlinck.
Über die künstlerischen Emanationen, die in der Zeit zwischen
der Jahrhundertwende und dem Weltkrieg hervorgetreten sind,
kann im Rahmen unserer Darstellung nichts gesagt werden. In der
Einleitung dieses Werks wurde dargelegt, daß dessen Methode
eine prinzipiell unwissenschaftliche sei. Es handelt sich hier natür-
lich nur um eine ideale Forderung; sie überall restlos zu erfüllen,
dürfte die bescheidenen Kräfte eines einzelnen übersteigen, und
nicht selten wird der gute Wille an die Stelle der Tat getreten sein.
Diesen aber wird keine objektive Beurteilung dem Verfasser ab-
erkennen dürfen; und zudem tröstet ihn die Hoffnung, daß sein
gesunder Instinkt ihn auch dort zu pseudowissenschaftlichen Re-
sultaten geleitet habe, wo er sie gar nicht beabsichtigt hatte. Diese
Betrachtungsart ist aber auf die Kunst nach 1900 unanwendbar,
weil auf diesem Gebiete (welches Zugeständnis jedoch nicht als
ungehörige captatio benevolentiae aufgefaßt werden möge) die
Fachgelehrten mindestens ebenso große Dilettanten sind wie der
Verfasser; seine Untersuchungen wären daher von vornherein von
der Gefahr der Überflüssigkeit bedroht gewesen. Unwissenschaft-
lich kann offenbar nur behandelt werden, was schon Objekt der
Wissenschaft geworden ist.
Indes mögen diese Erwägungen vielleicht aus einer gewissen
Übergewissenhaftigkeit fließen. Es gibt aber noch einen zweiten,
viel entscheidenderen Grund für die Ausschaltung dieser Phäno-
mene, der ebenfalls in unserer besonderen Methode zu suchen ist. Die
Maßstäbe der Kulturgeschichte sind nämlich keineswegs dieselben
wie die der Ästhetik. Diese wertet die Kunstwerke und ihre Schöp-
fer nach ihrer absoluten Bedeutung, jene betrachtet sie auf ihren
physiognomischen Charakter: den Stärkegrad, in dem sie, mit
Hamlet zu sprechen, dem Jahrhundert und Körper der Zeit den
Abdruck seiner Gestalt zeigten. Unter diesem Aspekt kann es vor-
kommen, daß Werke von Ewigkeitsgehalt nur eine flüchtige Er-
wähnung erfahren und solche, die unvergleichlich tiefer stehen,
ausführlich gewürdigt werden, ja, daß manche, die in einer Ge-
schichte der bildenden Kunst, der Literatur oder der Musik unter
keiner Bedingung fehlen dürften, überhaupt unbeachtet bleiben.
So sind wir zum Beispiel, um nur einige wenige Namen anzufüh-
ren, der Ansicht, daß Dichter wie Ponsard, Maler wie Thoma,
Philosophen wie Lotze, Komponisten wie Saint-Saëns keine erheb-
liche kulturhistorische Bedeutung besitzen.
Die letzten zehn bis fünfzehn Jahre der Neuzeit haben aber merk-
würdigerweise fast nur solche „zeitlose” Erscheinungen hervor-
gebracht. Sie alle haben kein kontrollierbares Verhältnis zu ihrer
Epoche, sind nicht deren Diagramm. Könnte Thomas Mann nicht
ein Zeitgenosse Wilhelm Meisters gewesen sein, Heinrich Mann
ein Contemporain Stendhals, Max Reinhardt ein Theaterzauberer
der Hochbarocke, Hans Pfitzner ein altdeutscher Meister der
Dürerzeit? Stefan George ist von Gundolf sogar als eine antike
Erscheinung angesprochen worden. Man könnte sagen: Um die
geheime Zeitverbundenheit zu fühlen, fehle uns die historische
Distanz. Aber wir fühlen sie merkwürdigerweise sehr deutlich bei
der jüngeren Generation, die nach dem Kriege zu Wort kam: ihre
Produkte, obgleich an Wert viel tiefer stehend, sind unverwech-
selbarer Ausdruck einer bestimmten historischen Situation, können
unmöglich in eine andere versetzt werden. Das gilt sogar von der
Schauspielerei. Die Alfreskokunst eines Bassermann und Werner
Krauß, die Aquarellkunst eines Waldau und Gülstorff (die alle
noch aus der Vorkriegszeit stammen) wäre in jeder Etappe der
neueren Theatergeschichte denkbar gewesen; hingegen gab und
gibt es Schauspieler, die mit ebensolcher Bestimmtheit für den
Expressionismus reklamiert werden können wie etwa die Duse
oder die Yvette Guilbert für den Impressionismus.
Goethe verwendet in seiner Geschichte der Farbenlehre einige-
mal den Begriff der „Lücke”. Eine solche Lücke war die Zeit vor
1914. Die Neuzeit rollt ab; dem Weltkrieg zu. Dieser wäre viel-
leicht unter allen Umständen gekommen, vielleicht; aber daß er so
unausweichlich, so bald und so kam, war das Werk der europäi-
schen Diplomatie.
Die Schurkerei, sagt der Pessimist, ist leider der menschlichen
Rasse ziemlich eingefleischt, was sich nur zu oft gerade in den für
uns typischen (sowohl privaten wie öffentlichen) Handlungen
zeigt. Nein, sagt der Optimist, die Schurkerei ist der bedauerliche
Ausnahmefall, sonst hätte sie nicht allemal das (sowohl private wie
öffentliche) Gewissen gegen sich; gibt es zum Beispiel irgendeinen
offiziell anerkannten oder gar staatlich betriebenen Beruf, dessen
Inhalt die Schurkerei wäre? Gewiß, erwidert der Pessimist, gibt es
einen solchen: die Diplomatie.
Eine ganze Klasse von Menschen, zumeist jener fetten trüben
Oberschicht von Nichtstuern, Weiberjägern und Hasardspielern
angehörig, die man die Creme nennt, wird von der Regierung
in besondere Schulen geschickt, mit Revenuen ausgestattet, mit
Ehrenzeichen und Titeln belohnt, ausdrücklich und eingestande-
nermaßen dafür, daß sie ihr ganzes Leben mit Intrigieren, Spionie-
ren, Betrügen und Bestechen hinbringt: staatlich anerkannte und
besoldete Gauner und Taugenichtse also; Drohnen mit Gift-
stachel also. Sie sind die Meister der Lüge, die Handlanger der
Hölle, die schlimmste Spielart von Schurken, nämlich Schurken
mit gutem Gewissen, denn sie lügen ja „fürs Vaterland”. In der
Renaissance taten sie einander Gift in die Schokolade, ebenfalls
fürs Vaterland; was heute unseren humanen Abscheu erregt. Aber
der Unterschied ist sehr klein: sie vergiften noch immer, nur mit
feineren, böseren Giften.
Mit Lügen läßt sich nie etwas dauernd Wertvolles erzielen. Eine
Lüge ist nichts, ist allemal nur die Negation irgendeiner Wirk-
lichkeit; wie sollte es möglich sein, auf einem Nichts und einer
Verneinung irgend etwas von einiger Festigkeit zu errichten? Jede
Lüge ist eine grenzenlose Stupidität: der sinnlose Versuch, einen
Zweck mit prinzipiell untauglichen Mitteln zu erreichen. Und da-
her kommt es wohl hauptsächlich, daß geistig minderwertige
Personen sich mit besonderer Vorliebe zur diplomatischen Karriere
drängen. Ein Leben fortwährender Spiegelfechterei, Geheimnis-
krämerei, krummer, unreiner und zweideutiger Beziehungen zu
allen Menschen und Dingen kann man auf die Dauer nur aushal-
ten, wenn man ein hoffnungslos gescheiter Dummkopf ist.
Daß das Lügen ein unentbehrliches Instrument des diplomati-
schen Geschäfts sei, ist eine Lüge der Diplomaten. Wir haben sei-
nerzeit erörtert, daß die siegreiche Grundkraft sowohl Friedrichs
des Großen wie Bismarcks ihre tiefe Wahrhaftigkeit war. Die
Größe Julius Cäsars bestand darin, daß er inmitten eines trüben
Chaos eine kristallklare Seele war. Auch Napoleons Kardinal-
begabung war die Fähigkeit, den Realitäten ins Herz zu blicken, zu
ihnen in einer geraden Beziehung zu stehen. Solange er der Sohn
der Tatsachen blieb, war er der freudig begrüßte Kaiser von
Europa; als er anfing, die Welt zu belügen, begann sein Stern zu
sinken.
Die Diplomaten haben natürlich den Krieg nicht erfunden. Aber
sie sind seine stärksten Helfer und Verlängerer. Ohne sie würden
die Kriege nicht aufhören, aber sie würden vielleicht seltener und
bestimmt edler, aufrichtiger und mit mehr Widerstreben geführt
werden; und vielleicht, indem sie so ihre bisherige Stellung in der
Ökonomie unseres Denkens und Empfindens immer mehr ver-
lören, würden sie dann doch aufhören.
Am 29. September 1911, dem Tage der Kriegserklärung Italiens
an die Türkei, beobachtete man am Himmel Nordafrikas einen
Kometen im Sternbilde des Löwen, der von Tag zu Tag heller
strahlte, und alsbald ihm gegenüber einen zweiten Haarstern, der
wie ein Schwert nordwärts zu weisen schien.
Unruhen und blutige Kämpfe in Armenien, Arabien, Albanien
hatten Italien ermutigt, im Jubeljahr der Einigung sich endlich in
Libyen festzusetzen. Dies wiederum bestärkte die Balkanstaaten
in dem Entschluß, den Kampf um die europäische Türkei aufzu-
nehmen. Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro
schlossen zu diesem Zweck im Frühjahr 1912 ein Vierbündnis, das
in mehrere gesonderte Verträge zerfiel. Der bulgarisch-griechische
Vertrag kehrte sich lediglich gegen die Türkei und enthielt keine
näheren Bestimmungen über die Aufteilung Mazedoniens. Der
bulgarisch-serbische Vertrag sprach Serbien Altserbien und den
Sandschak zu, Bulgarien etwa fünf Sechstel von Mazedonien, über
den Rest sollte der Zar Schiedsrichter sein; allerdings hatte sich
Bulgarien dann noch mit Griechenland auseinanderzusetzen.
Außerdem war aber diese Allianz auch ausdrücklich gegen Rumä-
nien und Österreich gerichtet: Artikel 2 bestimmte: wenn die
Rumänen Bulgarien angriffen, sei Serbien verpflichtet, ihnen un-
verzüglich den Krieg zu erklären, Artikel 3: wenn Österreich-
Ungarn Serbien angreife, sei dafür Bulgarien verpflichtet, den
Krieg zu erklären. Als eine Note, worin Bulgarien, Serbien und
Griechenland für die christlichen Völkerschaften des Balkans
Autonomie verlangten, von der Pforte ablehnend beantwortet
wurde, erklärten sie am 17. Oktober den Krieg (Montenegro tat
es schon neun Tage früher, was, da der Kampf längst beschlossen
war, eine einfache Baissespekulation des Königs Nikita war, die
ihm und seinen Pariser Bankiers Millionen eintrug). Um Luft zu
bekommen, sah sich der Sultan genötigt, am 18. Oktober mit
Italien den Frieden von Lausanne zu schließen, worin er Tripolis
und die Cyrenaika in der Form abtrat, daß er ihnen „kraft seiner
Herrscherrechte” volle Autonomie gewährte.
Die türkische Armee befand sich in einem desolaten Zustand.
Sie war zwar mit Kruppkanonen ausgerüstet, die den englischen
und französischen Geschützen der Gegner mindestens ebenbürtig
waren, verfügte aber über fast gar keine Munition. Tausende von
Rekruten wurden so unausgebildet ins Feuer geschickt, daß sie
nicht einmal wußten, wie ein Gewehr zu handhaben sei; seit der
jungtürkischen Revolution waren auch die Christen in den Heeres-
dienst eingestellt, die sich aber als höchst unzuverlässig erwiesen.
Ein Train existierte überhaupt nicht. Da ein großer Teil der Trup-
pen erst aus Asien herangezogen werden mußte, ging die Mobili-
sierung viel zu langsam vonstatten. Auch die Führung versagte
vollständig. Ende Oktober siegten an demselben Tage die Bulga-
ren bei Kirk-Kiliss, die Serben bei Kumanowo, kurz darauf die
Bulgaren abermals in der fünftägigen Schlacht von Lüle-Burgas.
Die Türkei schien vernichtet; Ferdinand von Bulgarien hoffte be-
reits in Konstantinopel einziehen und sich dort als oströmischer
Kaiser Symeon krönen zu können. Aber die Tschadaltschalinie,
welche die Halbinsel, auf der die Hauptstadt liegt, vollständig von
Meer zu Meer absperrt, hatte schon Moltke, als er in der zweiten
Hälfte der dreißiger Jahre militärischer Beirat des Sultans war, für
unüberwindlich erklärt; und hier kam in der Tat der Stoß zum
Stehen. Die stürmenden Truppen verbluteten sich, ganze Regi-
menter wurden aufgerieben.
Die Großmächte, die alle an der Balkanfrage intim beteiligt
waren, hatten von Anfang an unter steten Friedensbeteuerungen
eine drohende Haltung eingenommen. Schon vor Ausbruch des
Krieges unternahm Rußland eine demonstrative „Probemobilisie-
rung”, die gegen Österreich-Ungarn und die Türkei gerichtet war,
an deren Überlegenheit man damals noch allgemein glaubte. So-
dann wurde von den Mächten die „Statusquo”-Formel ausgege-
ben: „sollte der Krieg ausbrechen, so würden die Mächte keine
aus dem Konflikt sich ergebende Veränderung im territorialen
Besitzstande der europäischen Türkei zulassen.” Österreich-
Ungarn stellte das Programm auf: „Freie Entwicklung Albaniens:
ein Begehren Serbiens nach einer Gebietserweiterung bis an die
Adria müsse a limine zurückgewiesen werden; Befriedigung be-
rechtigter Wünsche Rumäniens; Sicherstellung wichtiger wirt-
schaftlicher Interessen Österreich-Ungarns am Balkan, insbeson-
dere betreffs der Bahnverbindung mit dem Ägäischen Meere.”
Diese Forderungen fanden die, zweifellos unaufrichtige, Zustim-
mung Italiens, das niemals sein prinzipielles Desinteressement an
Albanien erklären konnte, nur damit Österreich den Weg nach
Saloniki freibekomme. In Österreich gab es eine einflußreiche
Partei, geführt von Conrad von Hötzendorf, die die Ansicht ver-
trat, man müsse zuerst mit Italien abrechnen; dieser hatte schon
während der Annexionskrise zum Losschlagen gegen den Bundes-
genossen geraten und wiederholte jetzt seine Forderung. Ein sol-
cher Krieg hätte aller menschlichen Voraussicht nach mit der
Niederlage der Italiener geendet, falls man es mit ihnen allein zu
tun gehabt hätte; diese Voraussetzung war aber vollkommen in-
fantil: die Kriegserklärung an Italien hätte sogleich den Weltkrieg
zur Folge gehabt, nur mit dem Unterschied, daß die Zentral-
mächte 1908 auch noch die Türkei, 1912 den gesamten Balkanbund
und beidemale schon am Anfang des Krieges Italien gegen sich ge-
habt hätten, was die Südfront schlechterdings unhaltbar gemacht,
die französische Front in katastrophaler Weise verstärkt hätte.
Nach den Niederlagen suchte die Türkei um Frieden nach, über
den von den Botschaftern der Großmächte in London verhandelt
wurde. Die Siegerstaaten wollten nicht bloß ihre Eroberungen be-
halten, sondern beanspruchten noch außerdem die drei belagerten
Festungen Adrianopel, Skutari und Janina. Diese Bedingungen
wurden von der Pforte abgelehnt. In dem neuentbrannten Kampfe
fiel zuerst Janina, dann Adrianopel, zuletzt Skutari, das aber von
gemischten Truppen der Großmächte für Albanien besetzt wurde.
Im Mai 1913 kam es dann zum Londoner Frieden, der der Pforte
von ihrem europäischen Besitze nur Konstantinopel mit einem
schmalen Landstreifen, der Linie Enos-Midia vom Ägäischen bis
zum Schwarzen Meer, übrig ließ.
Inzwischen waren aber unter den Verbündeten Streitigkeiten
ausgebrochen. Serbien begehrte Revision des Vertrages, indem es
sich darauf berief, daß es das ihm zugedachte Nordalbanien mit
dem Hafen Durazzo infolge des österreichischen Einspruchs nicht
erhalten habe, Bulgarien dagegen Thrazien, mit dem es gar nicht
gerechnet hatte; Griechenland verlangte Saloniki und beträchtliche
Teile Südmazedoniens. Auch Rumänien meldete einige ursprüng-
lich recht bescheidene Forderungen an, die vom bulgarischen
Ministerpräsidenten Danew in einer an Schwachsinn grenzenden
Verblendung rundweg abgelehnt wurden. So kam es im Sommer
1913 zum zweiten Balkankrieg, in dem Bulgarien einem konzen-
trischen Angriff des gesamten Balkans (denn auch die Türken
griffen neuerlich zu den Waffen) hoffnungslos preisgegeben war.
Überlegene serbische und griechische Truppenmassen bedrohten
die Bulgaren mit Umfassung, so daß sie zurückweichen mußten;
rumänische Armeekorps übersetzten die Donau und marschierten,
ohne Widerstand zu finden, auf Sofia; Adrianopel mußte aus Man-
gel an Verteidigungskräften vor den Türken geräumt werden. Im
Frieden von Bukarest kam der größte Teil des nördlichen Maze-
donien an Serbien, des südlichen Mazedonien an Griechenland, die
kornreiche bulgarische Dobrudscha mit der strategisch wichtigen
Festung Silistria an Rumänien; im Frieden von Konstantinopel be-
hielt die Türkei Adrianopel und das östliche Thrazien bis zur Ma-
ritza. Während Griechenland, Serbien und Montenegro aus dem
Kriege fast verdoppelt hervorgingen und Rumänien durch einen
bloßen Demonstrationsmarsch seine Südgrenze aufs vorteilhafteste
arrondiert hatte, mußte sich Bulgarien, das die größten Waffen-
leistungen vollbracht hatte, mit Westthrazien und einem kleinen
Stück Mazedoniens in der Rhodope begnügen.
Durch die Balkankrisen hatten sich die Gegensätze zwischen
den Zentralmächten und der Entente aufs äußerste verschärft. Neu
war die Spannung zwischen Rußland und Deutschland: während
von Bismarck eine aggressive Balkanpolitik Österreichs nie unter-
stützt worden war, hatte sich die deutsche Regierung in der albani-
schen Frage mit Österreich vollständig identifiziert; zudem wurde
Rußland, das Armenien zu seiner vitalen Interessensphäre rechnete,
durch die Schlagworte „Berlin-Bagdad”, „Elbe-Euphrat”,
„Nordsee-Persischer Golf” nervös gemacht. Die deutschen Pläne
in Vorderasien störten natürlich auch das englische Konzept des
„trockenen Wegs nach Indien”. Daß nach der Haltung Österreichs
die Allianz mit Italien bloß noch auf dem Papier bestand, konnten
nur Diplomaten bezweifeln. Im Winter 1912 auf 1913 befanden
sich die beiden Bundesgenossen im Zustand dauernder gegenseiti-
ger Kriegsbereitschaft: in Italien wurden Venedig und Verona mit
modernen Panzerwerken ausgebaut, die Grenzen gegen Österreich
befestigt, durch ganz Venetien Aufmarschbahnen angelegt; die
österreichischen Truppenansammlungen gegen Montenegro und
Serbien waren ebensosehr gegen Italien gerichtet. Außerdem war
es der Tölpelhaftigkeit der österreichischen Diplomatie gelungen,
sich den letzten Freund am Balkan, Rumänien, zu entfremden.
Ihre sinnlose Forderung nach Revision des Bukarester Friedens-
vertrags erregte die größte Erbitterung, Demonstrationszüge
strömten durch die Hauptstadt mit dem Rufe „Nieder mit dem
perfiden Österreich!”
Am 28. Juni, dem griechischen Sankt Veitstag, erlitten 1389 die
Serben die furchtbare Niederlage auf dem Amselfeld, unterzeich-
nete 1919 Deutschland den Friedensvertrag von Versailles und
wurde 1914 der österreichische Thronfolger das Opfer eines Revol-
verattentats. Der Mord war von österreichischen Untertanen auf
österreichischem Boden begangen worden, die Tat daher eine
interne Angelegenheit der Monarchie. Der „Vorwärts” faßte einen
Tag darauf den Sinn des Ereignisses in die Worte zusammen:
„Franz Ferdinand fällt als Opfer eines falschen überlebten Systems,
dessen sichtbarer Träger er war ... die Schüsse, die den Thron-
folger niedergestreckt haben, sie trafen auch den Glauben an die
Fortexistenz dieses alten, veralteten Staates . .. Das grause Ereignis
von Serajewo bedeutet auch für uns eine ernste Mahnung. Allzu-
sehr hat eine stümperhafte Politik die Geschicke unseres Volkes
mit denen Österreichs verknüpft.” Sektionsrat von Wiesner, zum
Studium der Akten an den Tatort entsendet, telegraphierte nach
vierzehn Tagen: „Mitwisserschaft serbischer Regierung an der
Leitung des Attentats oder dessen Vorbereitung und Beistellung
der Waffen ist durch nichts erwiesen... Es bestehen vielmehr An-
haltspunkte, dies als ausgeschlossen anzusehen.” Am 7. Juli be-
schloß der Ministerrat, an Serbien „so weitgehende Forderungen
zu stellen, daß sie eine Ablehnung voraussehen lassen und nur die
radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens übriglassen”;
nur Tisza verweigerte seine Zustimmung. Das Ultimatum, über-
reicht am 23. Juli 6 Uhr nachmittags, war dementsprechend abge-
faßt; schon dadurch, daß es mit zweimal vierundzwanzig Stunden
befristet war und nur ein einfaches Ja oder Nein zuließ, machte es
weitere Verhandlungen und ein diplomatisches Eingreifen der
übrigen Großmächte unmöglich. Die „Times” schrieben: „Alle,
denen der allgemeine Friede am Herzen liegt, müssen ernstlich
hoffen, daß Österreich-Ungarn in der Note an Serbien nicht sein
letztes Wort gesprochen hat. Wenn dies doch der Fall ist, dann
stehen wir am Rande des Krieges”; „Daily Mail” sagte: „Wenn
Österreich Rußlands Forderung auf Verlängerung der Frist ab-
lehnt, würde der Konflikt nicht lokalisiert bleiben, sondern die
Tripelentente würde dem Dreibund gegenüberstehen.” Sir Grey,
der zweifellos den Krieg nicht wollte, erklärte, er habe eine Note
wie die österreichische noch nicht erlebt; Shaw, gewiß weder
Kriegshetzer noch Ententechauvinist, schrieb: „Das Ultimatum
an Serbien war ein wahnwitziger Einfall; ein schlimmeres Ver-
brechen als der Mord, der es verursachte.” Die serbische Regierung
nahm alle Forderungen des Ultimatums mit nur unerheblichen
Abschwächungen an, bis auf das Begehren, daß der Untersuchung
über ein vorhandenes Komplott Organe der k. u. k. Regierung
beizuziehen seien, da dies gegen die Souveränität, die Verfassung
und die Strafprozeßordnung verstoße. Hierzu bemerkte die
österreichisch-ungarische Regierung in ihrem offiziellen Kom-
mentar: „Es ist uns nicht beigefallen, k. u. k. Organe an dem ser-
bischen Gerichtsverfahren teilnehmen zu lassen: sie sollten nur an
den polizeilichen Vorerhebungen mitwirken, welche das Material
für die Untersuchung herbeizuschaffen und sicherzustellen hatten.”
Ähnliche aufsässige und plumpe Haarspaltereien enthalten auch die
Bemerkungen zu den übrigen Punkten. Die serbische Antwort
schließt mit den Worten: „Die königlich serbische Regierung
glaubt, daß es im gemeinsamen Interesse hegt, die Lösung dieser
Angelegenheit nicht zu überstürzen und ist daher, falls sich die
k. u. k. Regierung durch diese Antwort nicht für befriedigt erach-
ten sollte, wie immer bereit, eine friedliche Lösung anzunehmen,
sei es durch Übertragung der Entscheidung dieser Frage an das
Internationale Gericht im Haag, sei es durch Überlassung der
Entscheidung an die Großmächte.” Hierzu verstummt der öster-
reichische Kommentar. Kaiser Wilhelm schrieb unter die serbische
Antwort: „Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß achtund-
vierzig Stunden ! Das ist mehr, als man erwarten konnte ! Ein gro-
ßer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegs-
grund fort.” Es liegt nicht der geringste Anlaß vor, die Erklärung
Bethmann-Hollwegs, die deutsche Regierung habe die österrei-
chischen Forderungen erst nachträglich kennengelernt, inZweifel zu
ziehen: es kann dieser bloß der Vorwurf gemacht werden, daß sie
Österreich in der serbischen Frage carte blanche gegeben hat. Im
übrigen können nur verbohrte Parteigegner den prinzipiellen
Friedenswillen sowohl des Kaisers wie des Kanzlers in Frage stellen.
Daß man in Frankreich keineswegs kriegslustig war, kann eben-
falls als erwiesen gelten: man wollte nicht etwa den Krieg über-
haupt nicht; aber nicht in diesem Zeitpunkt. Dort war die Dienst-
zeit von zwei Jahren auf drei erhöht worden. Da aber die 1890
Geborenen und 1911 Eingestellten sich nach der Erfüllung ihrer
zweijährigen Dienstpflicht im Herbst 1913 weigerten, noch ein
Jahr länger bei der Fahne zu bleiben, so beschloß man, sie zu ent-
lassen und dafür zwei Rekrutenjahrgänge: die 1892 und 1893 Ge-
borenen gleichzeitig einzustellen; um dies gesetzlich zu rechtferti-
gen, mußte der Beginn der Dienstpflicht um ein Jahr zurückver-
legt werden. Hieraus ergab sich, daß man für 1915 mit vier Jahr-
gängen im stehenden Heer rechnen konnte, nämlich den 1892,
1893, 1894 und 1895 Geborenen, und ebenso für 1916 mit den
zwischen 1893 und 1896 Geborenen: diese beiden Jahre waren
daher die günstigsten für den Kriegsbeginn. Dazu kam noch, daß
man mit dem Plan umging, Eingeborene aus Marokko, Tunis und
Algier in weitaus größerem Maße als bisher in der europäischen
Armee zu verwenden und sie in Afrika durch Negertruppen zu
ersetzen; auch dies ließ das nächste oder übernächste Jahr für einen
Krieg aussichtsreicher erscheinen. Auch in Russisch-Polen war der
vollständige Ausbau des strategischen Eisenbahnnetzes, an dem mit
Hilfe der französischen Milliarden emsig gearbeitet wurde, erst
für etwa 1916 zu gewärtigen; indes war am Zarenhof die Kriegs-
partei immer sehr mächtig und eine aggressive Politik schon durch
die stete Revolutionsangst der führenden Kreise indiziert, die von
einer Explosion der panslawistischen Instinkte eine Ablenkung von
den inneren Konflikten erhoffen durften. Und in der Tat kann von
einem frivol planmäßigen Hintreiben auf den Bruch nur bei Öster-
reich und Rußland geredet werden. Am kompliziertesten lag der
Fall bei England. Dieses war viel zu geschäftsklug, um nicht zu
wissen, daß ein paneuropäischer Krieg für sämtliche Beteiligten
eine schwere wirtschaftliche Schädigung bedeuten müsse: die seit
einem halben Menschenalter betriebene Einkreisung hatte daher
nur den Zweck, Deutschland in eine so ungünstige politische Situa-
tion zu bringen, daß es an Widerstand gar nicht denken könne.
Kam es aber dennoch zum Krieg, so mußte England, das immer die
Gabe der richtigen Prognose besessen hat, mit einem Sieg der
Zentralmächte rechnen, wenn diese nur Frankreich und Rußland
zu Gegnern hatten. Es war also schlechterdings gezwungen ein-
zugreifen. Dazu kam noch, daß Italien nicht nur gegen den öster-
reichischen, sondern auch gegen den französischen Nachbar eine
begehrliche Haltung einnahm und in seiner Neutralität nur als
zuverlässig erachtet werden konnte, wenn England sich zur Entente
bekannte. Der einzige Vorwurf, der sich gegen die englische Re-
gierung erheben läßt, besteht darin, daß sie ihren Standpunkt
Deutschland gegenüber nicht energisch und unzweideutig präzi-
siert hat; denn dieses hätte, ihn kennend, den Krieg niemals ge-
wagt: „ wir wissen bestimmt”, sagte Wilson im März 1919, „daß
Deutschland sich niemals in dieses Unternehmen eingelassen hätte,
wenn es einen Augenblick lang gedacht hätte, Großbritannien
werde mit Frankreich und Rußland gehen.” Im November 1912
hatten Sir Grey und der französische Botschafter in London, Paul
Cambon, Briefe gewechselt, die die Entente zur Militär- und
Marinekonvention erweiterten. Diese in der Form privaten, tat-
sächlich bindenden Abmachungen sind im März 1913 zur Kennt-
nis der deutschen Regierung gelangt, die sie aber nicht ernst nahm,
bis zu einem gewissen Grade mit Recht, da die britische Regie-
rung sich selbst nicht völlig klar darüber war, wie weit sie sich
damit engagiert hatte. Und es läßt sich die Möglichkeit nicht
gänzlich von der Hand weisen, daß England doch noch zumindest
gezögert hätte, wenn nicht durch die belgische Angelegenheit der
Fall ungeheuer vereinfacht worden wäre. Auch hier kann von
einer Schuld Deutschlands im höheren Sinne nicht gesprochen
werden. Es befand sich in einer Zwangslage. Der Krieg war nur
nach dem Schlieffenplan zu gewinnen, der mit der raschen Nieder-
werfung des schneller als Rußland mobilisierenden Frankreich
rechnete, die ihrerseits wieder angesichts der äußerst schwierig zu
überwindenden Sperrforts der französischen Ostgrenze nur auf
dem Weg über Belgien denkbar war; dieses, sagt Professor Rudolf
Kjellén, der ausgezeichnete Erforscher der Beziehungen zwischen
Staat und Raum, „sitzt wie ein ganz natürlicher dahingehöriger
Hut auf dem Kopfe Frankreichs; hier im Nordosten befindet sich
die empfindliche Stelle des Reiches”. Diese Diversion war also eine
strategische Notwendigkeit, völkerrechtlich aber keineswegs zu
rechtfertigen, und Versuche, dies zu tun, können nur das Unrecht
vergrößern, weshalb es sehr befremden muß, daß in einem angeb-
lich wissenschaftlichen Werk wie Helmolts Weltgeschichte ein
sonst so redlicher und gediegener Historiker wie Gottlob Egelhaaf
noch nach dem Weltkrieg nicht vor der Bemerkung zurückscheut
(deren Widerlegung sich wohl erübrigt), Deutschland sei nicht zur
Einhaltung des belgischen Neutralitätsvertrags verpflichtet gewe-
sen, denn es habe 1831 noch nicht existiert. Daß die Zentralmächte
den Krieg begonnen haben, nicht bloß formell durch ihre Kriegs-
erklärungen, sondern auch tatsächlich durch das von Österreich
ausgesonnene, von Deutschland nicht desavouierte unannehmbare
Ultimatum, kann von keinem Vollsinnigen geleugnet werden.
Damit ist aber über die Kriegsschuld noch gar nichts ausgesagt,
denn die Weltgeschichte ist reich an Beispielen für Angriffskriege,
die in Wirklichkeit aufgezwungene Verteidigungskriege waren:
man denke bloß an den Siebenjährigen Krieg, in dem übrigens
das „neutrale” Sachsen haargenau dieselbe Rolle gespielt hat wie
im Weltkrieg Belgien. Aber da Friedrich der Große sich in diesem
Kampfe behauptete, hat die Erfolganbeterin Klio, die Schopen-
hauer ja nicht ohne Grund eine Hure genannt hat, ihn bekränzt.
Daß Deutschland so bedingungslos hinter Österreich trat, floß auch
aus einer an historischen Bilderbogenreminiszenzen orientierten
Nibelungenromantik, der man die politische Billigung, aber nicht
das menschliche Mitgefühl versagen kann; wie denn überhaupt
das Problem jenes Weltbrandes, der großen Dämmerung eines
ganzen Zeitalters, nicht mit den Mitteln einer kasuistisch-völker-
juristischen, sondern nur auf der höheren Ebene einer mythologi-
schen Betrachtung gelöst werden kann. Die Lage des deutschen
Volkes gemahnte in der Tat an das dunkle Schicksal der Nibelun-
gen, die, rings von Feinden umstellt, in tiefster Bedrängnis zu
scheinbaren Friedensbrechern werden.
Das endgültige Resümee über den Fall hat Lloyd George nach
dem Krieg gezogen, als er sagte: „Je mehr von den Memoiren und
Büchern man liest, die in den verschiedenen Ländern über den
Kriegsausbruch geschrieben worden sind, desto deutlicher erkennt
man, daß keiner von den führenden Männern den Krieg wirklich
gewollt hat. Sie glitten sozusagen hinein oder vielmehr: sie tau-
melten und stolperten hinein, aus Torheit!”
Und nun fällt eine schwarze Wolke über Europa; und wenn sie
sich wieder teilt, wird der Mensch der Neuzeit dahingegangen
sein: weggeweht in die Nacht des Gewesenen, in die Tiefe der
Ewigkeit; eine dunkle Sage, ein dumpfes Gerücht, eine bleiche
Erinnerung. Eine der zahllosen Spielarten des menschlichen Ge-
schlechts hat ihr Ziel erreicht und ist unsterblich: zum Bilde ge-
worden.
EPILOG
York von Wartenburg, Hans 1006 Young, Arthur 849 Young, Edward
628 Young, Thomas 913, 1352
Zacconi, Ermete 1458 Zeiß, Carl 1351 Zeller, Edward 1233 Zelter,
Karl Friedrich 887, 892 Zesen, Philipp von 434 Zeuxis 803 Ziegler,
Klara 1307 Ziegler, Leopold 1178 Zimmermann, Alfred 1052
Zinzendorf, Nik. Ludw. 302, 597 Zöllner, Joh. Karl Friedr. 1356 Zola,
Emile 178, 496, 954, 1218,
1336, 1340, 1413, 1414, 1422,
1429, 1452
Zorilla, Don Manuel Ruiz 475 Zumsteeg, Joh. Rudolf 743 Zurbaran,
Francisco de 477 Zwingli, Ulrich 284, 294
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?
ERSTES BUCH
ERSTES KAPITEL
DER BEGINN
Der Wille zur Schachtel 59 - Das Recht auf Periodisierung 60 - Die Konzeption
des neuen Menschen 62 - Die „Übergangszeit" 63 - Beginn des Exkurses über
den Wert der Krankheit 65 - Am gesündesten ist die Amöbe 66 - Alles Werdende
ist dekadent 66 - Höherer Wert der minderwertigen Organe 68 - Gesundheit
ist eine Stoffwechselerkrankung 69 - Die lernäische Hydra 70 - Achill aus der
Ferse 72 - Das Überleben des Unpassendsten 74 - Es gibt kein gesundes
Genie 76 - Es gibt kein krankes Genie 78 - Die Dreiteilung der Menschheit 79 -
Die Flucht in die Produktion 80
ZWEITES KAPITEL
DI E SE EL E DES MI TTE LA LTERS
Die „Romantik" des Mittelalters 83 - Das Leben als Abenteuer 84 - Psychose
der Geschlechtsreife 85 - Der heilige Hund 86 - Kein Verhältnis zum Geld 87 -
Universalia sunt realia 88 - Die Weltkathedrale 90 - Die Physik des Glaubens
91 - Alles ist 92 - Der Szenenwechsel 93
DRITTES KAPITEL
DIE INKUBATIONSZEIT
VIERTES KAPITEL
LA RINASCITA
Die beiden Pole 173 - Kultur ist Reichtum an Problemen 174 - Der italienische
Mikrokosmos 175 - Die „lateinische Formation" 177 - Die Wiedergeburt zur
Gottähnlichkeit 178 - Der Abschied vom Mittelalter 180 - Chronologie der
Renaissance 181 -Der Vorsprung Italiens 182-Blüte des Frühkapitalismus 183 -
Die Renaissancestadt 185 - Der Komfort 186 - Künstlerischer Tafelgenuß 186 -
Die Welt der Profile 188 - Geburt der Revolverpresse 189 - Der göttliche
Aretino 191 - La grande Putana 193 - L'uomo universale 193 - Das Renais-
ancepublikum 195 - Die „Zerrissenheit" Italiens 197 - Die „Rückkehr zur
Antike" 200 - Petrarca 201 - Die Scheinrenaissance 202 - Das Cinquecento 205 -Der
Stilisierungswille 207 - Ein sophistisches Zeitalter 208 - Die Humanisten 210 -
Der „literarische" Charakter der Renaissance 211 - Der Schnitt durch die Kultur
213 - Prädominanz der bildenden Kunst 214 - Michelangelo 216 -Lionardo
217 - Raffael 219 - Raffaels Nachruhm 219 - Der „Götterliebling" 221 - Der
Grundirrtum des Klassizismus 222 - Machiavell 225 - Der „Immora-lismus"
226 - Die „Schuld" der Renaissance 228 - Schönheit oder Güte 229 -Der
zweite Sündenfall 230
FÜNFTES KAPITEL
Die Weltgeschichte ist ein dramatisches Problem 231 - Das Drama der Neuzeit
232 - Der neue Blick 233 - Die Kurve von 1500 bis 1900 234 - Die mystische
Erfahrungswelt der „Primitiven" 236 - Prälogisch oder überlogisch? 237 - Das
rationalistische Intermezzo 239 - Die drei Schwarzkünste 240 - Paracelsus 242 -
Menschenmaterial und verschiebbare Letter 244 - Kopernikus 246 - Überwin-
dung des „Cap Non" 247 - Columbus 249 - Die Reise um die Erde in elf hundert
Tagen 251 - Das Verbrechen der Conquista 252 - Die mexikanische Spätkultur
253 — Christliche Elemente in der aztekischen Religion 255 - Der weiße Gott
256 - Peru 258 - Die Rachegeschenke Amerikas 259 - Faust 261 - Sieg des
Menschen über Gott 263 - Vom theozentrischen zum geozentrischen Weltbild
264 - Der Augustinermönch 264
SECHSTES KAPITEL
Gott und die Völker 266 - Die vier Komponenten der Reformation 268 - Die
Nachtigall von Wittenberg 270 - Reformatoren vor der Reformation 270 - Der
Spatenstich 273 - Das Doppelantlitz Luthers 275 - Der letzte Mönch 276 -
Die große Krisis 278 - Jehovah indelebilis 280 - Luthers Damaskus 281 - Luthers
heroische Zeit 282 - Die schöpferische Peripherie 283 - Luthers Papst 284 -
Triumph des Gutenbergmenschen über den gotischen Menschen 285 - Luther
als Sprachschöpfer 287 - Luther und die Künste 288 - Luther und der Bauern-
krieg 290 - Luthers Erschlaffen 292 - Luther und die Transsubstantiation 293 -
Luther und die Satisfaktionslehre 295 - Paulus 295 - Der jüdischste Apostel 298 -
Augustinus 299 - Wahrer Sinn der christlichen Rechtfertigung 301 - Der Cal-
vinismus 302 - Die Radikalen 305 - Sebastian Franck 307 - Geburt der Kabinetts-
politik 309 - Psychologie der Habsburger 311 - Das Geheimnis Karls des Fünf-
ten 313 - Sieg der Theologie über die Religion 315 - Das Monstrum der Schöp-
fung 317 - Der Grobianismus 318 - François Rabelais 320 - Unverminderter
Plebejismus 321 - Das klassische Zeitalter der Völlerei 322 - Der Landsknecht-
stil 324 - Hegemonie des Kunsthandwerks 326 - Der Hexenhammer 329 -
Hexenwahn und Psychoanalyse 331 - Säkularisation der Menschheit 333 - Die
antievangelischen Evangelischen 335 -Jesus und die „soziale Frage" 336 - Gott
und die Seele 339 - Das heilige Nichtstun 340
SIEBENTES KAPITEL
DIE BARTHOLOMÄUSNACHT
Die Erdhölle 342 - Der Gegenstoß 344 - Das Tridentinum 345 - Paneuropäische
Intoleranz 346 - Der Anglikanismus 348 - Das Naturrecht 349 - Die Armee
Jesu 351 - Die Ubiquität des Jesuitismus 353 - Philipp der Zweite 356 - Der
Welteskorial 357 - Die spanische Kolonialpolitik 360 - Der Abfall der Nieder-
lande 361 - Zusammenbruch des philippischen Systems 363 - Don Juan und
Don Quixote 364 - Weltherrschaft des spanischen Stils 366 - Französischer
Klassizismus und Spielopernaturalismus 368 - Der Skeptiker aus Lebensbejahung
369 - Der Montaignemensch 371 -Jakob Böhme 372 - Giordano Bruno 372 -
Francis Bacon 375 - Der Aufstieg Englands 376 - Der elisabethinische Mensch
378 - Die Flegeljahre des Kapitalismus 380 - Die exakten Wissenschaften 381 -
Die Welt des Fernrohrs 383 - Bacon als Charakter 386 - Bacon als Philosoph
388 - Bacon vor Bacon 391 - Bacons Antiphilosophie 393 - Bacons Ruhm 396 -
Der heimliche König 399 - Die Seele Shakespeares 400 - Das Theater Shake-
speares 402 - Die Welt als Traum 404 - Die Agonie der Renaissance 405 - Das
zweite Trauma 406 - Die neue Frage 407
ZWEITES BUCH
ERSTES KAPITEL
Das Sinnlose 411 - Das Unkraut 412 - Die „Helden" 415 - Wallenstein 416 -
Gustav Adolf 418 - Übertreibende Beurteilungen 420 - Wirtschaftliche
Deroute422 - Die „konstituierte Anarchie" 423 - Das Ende des Mittelalters 424
- Die Vorbarocke 425 - Die Staatsraison 425 - Germanische und romanische
Kultur 427 - Das „alamodischeWesen" 428 - Der Trompeter von Säckingen 431
- Tabak und Kartoffel 432 - Die Poeterey 433 - Comenius 436 - Die
Naturwissenschaft 437 - Die Vorherrschaft Hollands 438 - Das niederländische
Bilderbuch 442 - Die Mythologie des Alltags 444 - Rembrandt 445 - Rubens
446 - King Charles 447 - Cromwell 449 - Die Puritaner 451 - Die Quäker 452
- Milton 453 - Hobbes 454 - Spinoza 455 - Die] „Ethik" 457 - Die Gleichung
aus zwei Nullen 459 - Die Welt ohne Zwecke 460 - Die Logik der folie
raisonnante 461 - Das luftleere System 462 - Der künstliche Irrationalismus 464
- Das Welttheater 466 - Exaltation, Extravaganz, Aenigmatik, latente Erotik
467 - Die natürliche Unnatürlichkeit 469 - Die Hegemonie der Oper 470 - el
siglo de oro 473 - Die Königinnen ohne Beine 476 - Gracian 476 - El Greco 477
- Die drei Therapien gegen den Rationalismus 478 - Die Welt als Fiktion 480 -
Pascals Lebenslegende 483 - Pascals Seelenanatomie 485 -Der Überwinder 487-
Der wahre Sonnenkönig 487
ZWEITES KAPITEL
LE GRAND SIÈCLE
Richelieu 489 - Das Hotel Rambouillet 491 - Mazarin 492 - Das cartesianische
Zeitalter 493 - Das magische Koordinatenkreuz 494 - Der deduktive Mensch
495 - Die Sonne der Raison 497 - Die Seele ohne Brüder 499 - Übergang der
Vorbarocke in die Vollbarocke 501 - Der König als Mittelpunkt des irdischen
Koordinatensystems 503 - Innere Verwaltung Ludwigs des Vierzehnten 504 -
Das Theater von Versailles 508 - Äußere Politik Ludwigs des Vierzehnten 510 -
Der Colbertismus 513 - Dramatische Kristallographie 516 - Der Hofnarr des
Zeitgeists 517 - Malerei und Dekoration 519 - Lully 521 - La Rochefoucauld
522 - Die Allonge 524 - Der Kaffee 527 - Die Post 529 - Die Zeitung 530 -
Bayle 530 - Das Mikroskop 532 - Newton 533 - Karl der Zweite 535 - Die
„glorious revolution" 536 - London 539 - Locke 540 - Thomasius 542 - Der
Große Kurfürst 544 - Der Prinz Eugen 544 - Christine von Schweden 545 - Peter
der Große 546 - Die russische Psychose 548 - Cartesianische und berninische Ba-
rocke 549 - Die Weltfiktionen 550 - Das Ideal der Fettleibigkeit 551 - Das iso-
lierte Individuum 552 - Die Marionette als platonische Idee 553 - Der Infinite-
simalmensch 555 - Leibniz 556 - Die Welt als Uhr 560 - Der Maskenzug 561
DRITTES KAPITEL
DIE AGONIE DER BAROCKE
Watteau 563 - La petite maison 565 - Pastell und Porzellan 567 - Chinoiserie
568 - Le siède des petitesses 568 - Der Esprit 570 - Die Liebe als Liebhaber-
theater 571 - Der Cicisbeo 573 - Erotische Décadence 574 - Das Häßlichkeits-
pflästerchen 576 - Die tragische Maske des Rokokos 577 - Spiegelleidenschaft
579 - Theatrokratie 581 - Die Régence 582 - Der Lawsche Krach 584 - Louis
Quinze 586 - Die noblesse de la robe 587 - Das Konzert der Mächte 588 - Der
Duodezabsolutismus 590 - Pleiß-Athen 592 - Klopstock 594 - Christian Wolff
595 - Der Pietismus 597 - Der bel canto 598 - Bach und Händel; Friedrich der
Große 600 - Der König 601 - Der Vater 601 - Der Antimonarchist 603 - Der
Philosoph 604 - Das Genie 605 - Der Held aus Neugierde 608 - Der tragische
Ironiker 609 - Der Politiker 610 - Der Administrator 613 - Der Stratege 614 -
Phlogiston, Irritabilität und Urnebel 618 - Unsittliche Pflanzen 620 - Erwa-
chender Natursinn 621 - Bibel und Hauptbuch 623 - The comfort 624 - Franklin
und Robinson 625 - Familienroman und comédie larmoyante 625 - Die Wo-
chenschriften 627 - Hogarth 627 - Die Dichter des Spleen 628 - Die freethin-
kers 628 - Hume 630 - Berkeley 631 - Montesquieu und Vauvenargues 632 -Der
Generalrepräsentant des Jahrhunderts 634 - Der Märtyrer des Lebens 635 -
Voltaires Charakter 637 - Voltaires Werk 640 - Voltaire als Dichter 641 - Vol-
taire als Historiker 643 - Voltaire als Philosoph 644 - Le jardin 646
DRITTES BUCH
ERSTES KAPITEL
GESUNDER MENSCHENVERSTAND
UND RÜCKKEHR ZUR NATUR
ZWEITES KAPITEL
Der Herr in der Extrapost 786 - Das Genie unter den Völkern 787 - Augustei-
sche, karolingische und ottonische Resnaisance 788 - DieRenaissancen der Neuzeit
790 - Das falsche Klassenpensum 791 - Der „klassische" Grieche 794 - Der
„romantische" Grieche 795 - Der Sokratismus 797 - Der Gipsgrieche 799 -
Die griechische Plastik 801 - Die griechische Malerei 802 - Der Alexandrinis-
mus 803 - Heraufkunft des Berufsmenschen und des kosmopolitischen Unter-
tans 804 - Hellenistische Großstadtkultur 806 - Hellenistische l'art pour l'art-
Kunst und Fachwissenschaft 807 - Hellenistischer Nihilismus 809 - Die griechi-
sche Musikalität 810 - Die griechische Sprache 813 - Die griechische Erotik 814
- Die griechische Amoralität 817 - Die Staatsnarren 819 - Die griechische Reli-
giosität 822 - Der griechische Pessimismus 826 - Der griechische Idealismus
827 - Das Volk der Mitte 830 - Der letzte Humanist 833 - Die Ästhetik der Ho-
mosexualität 835 - Mengs 836 - Die Gräkomanie 838 - „Rien" 839
DRITTES KAPITEL
EMPIRE
Die Fanale 841 - Die Revolution 843 - Die Nation der Extreme 845 - Das Aus-
lösungsschema 847 - Demokratie und Freiheit 851 - Die Zauberlaterne 854 -
Die tragische Operette 857 - Geschichte der Französischen Revolution 859 -
Mirabeau 864 - Die Kellerratte, der edle Brigant und der Oberlehrer 866 - Die
Herrschaft der Vernunft und der Tugend 867 - Die Assignaten 870 - Der Zeit-
reisende 871 - Die Kurve der Revolution 872 - „Monsieur Giller" 873 - Das
schlafende Deutschland 874 - Haben die Klassiker gelebt? 875 - Die beiden
Gipsköpfe 877 - Panoramic ability 878 - Der Theatrarch 878 - Das Pathos der
faulen Äpfel 881 - Das Genie der Kolportage 882 - Der Bund der Dioskuren 886 -
Die Antipoden 889 - Statiker und Dynamiker 893 - Natur und Geschichte 894 -
Diktierer und Diktator 895 - Psychologie der romantischen Schule 897 - Die
romantische Ironie 900 - Die „Doppellieben" 902 - Die unromantische Ro-
mantik 902 - Novalis 905 - Schleiermacher 907 - Fichte 907 - Schelling 910 -
Fortschritte der Naturwissenschaft 912 - Das klassische Kostüm 914 - Alfieri,
David, Talma und Thorwaldsen 917 - Goya 919 - Beethoven 919 - Der Malt-
husianismus 921 - Die Kontinentalsperre 923 - Das Napoleondrama 924 - Na-
poleon und das Schicksal 927 - Napoleon und die Strategie 928 - Der Mann der
Realitäten 930 - Der Regisseur Europas 933 - Der antiideologische Ideologe 934
VIERTES BUCH
ERSTES KAPITEL D I E
Der innerste Höllenkreis 939 - Die unwirkliche Gegenwart 940 - Poetische, hi-
storische, journalistische Wahrheit 941 - Der Geisterstrom 942 - „Kritische"
Geschichtschreibung 944 - Geschichte wird erfunden 947 - Die Rangerhöhung
der Geschichte 949 - Was ist Romantik? 952 - Das „Organische" 954 - Die
kranke Gans 956 - Der Kongreß 957 - Talleyrand 958 - Die neue Landkarte 959
- Die Heilige Allianz 961 - Die Front nach innen 963 - Der Napoleonmythus
966 - Die Altteutschen 968 - Befreiung Südamerikas und Griechenlands 970 -
Die österreichische Infektion 972 - Die „modernen Ideen" 974 - Der Mephisto
der Romantik 976 - Romantische Wissenschaft 977 - Der „dichtende Volks-
geist" 979 - Der Zauberstab der Analogie 982 - Geburt der romantischen Dich-
tung 984 - Grillparzer und Raimund 988 - Kleist 990 - Farbenlehre und ver-
gleichende Sinnesphysiologie 992 - Elektrische und chemische Entdeckungen
995 - Homöopathie 998 - Rossini, Weber und Schubert 999 - Biedermeier
1003 - Die Nazarener 1006 - Guéricault, Saint-Simon und Stendhal 1008 - Der
Titelheld des Zeitalters 1011 - Der Byronismus 1013 - Das Selbstbewußtsein des
Zeitalters 1014 - Die dialektische Methode 1017 - Hegels Geschichtsphilosophie
1020 - Amortisation Hegels durch Hegel 1022
ZWEITES KAPITEL
Die Welt im Gaslicht 1023 - Lokomotive Nummer eins 1027 - Die Schnellpresse
1030 - Die Lithographie 1032 - Daumier 1033 - Der neue Gott 1033 -Balzac
1037 - Das Julikönigtum 1041 - Belgien, Polen und Hambach 1043 -Der
Romantiker auf dem Thron 1045 - Manchester 1048 - Die soziale Frage 1051 -
Friedrich List 1053 - Der Held als Denker 1055 - Der Geisterseher 1059 -Nur ein
Lord 1060 - Carlyles Glaube 1063 - David Friedrich Strauß 1067 -Katholische
Theologie 1071 - Kierkegaard und Stirner 1072 - Ludwig Feuerbach 1075 -
Neptun, Aktualismus, Stereoskop und Galvanoplastik 1076 - Das
Energiegesetz 1079 - Guano, Hydrotherapie, Morsetaster und Daguerrotyp
1080 - Ranke 1082 - Die französische Romantik 1084 - Hugo, Dumas, Scribe,
Sue 1086 - Delacroix 1088 - Politische Musik 1089 - Mendelssohn und Schu-
mann 1091 - Das junge Deutschland 1092 - Der „Zeitgeist" 1093 - Gutzkow
1096 - Laube und Heine 1098 - Politische Malerei 1101 - Georg Büchner 1102
- Nestroy 1103 - Andersen 1107 - Der blaue Vogel 1110
DRITTES KAPITEL
DAS LUFTGESCHÄFT
ERSTES KAPITEL
DER SCHWARZE FREITAG
Wer macht die Realität? 1269 - Das Zeitalter Bismarcks 1270 - Der fran-
zösische Aufmarsch 1271 - Die deutschen Kriegshandlungen 1274 - Die Neutralen
1278 - Der Friede 1280 - Die Kommune 1281 - Das Sozialistengesetz 1282 -
Der Kulturkampf 1283 - Der Berliner Kongreß 1285 - Krieg in Sicht 1288 -
Zweibund, Dreibund und Rückversicherungsvertrag 1290 - Der Geist des
Deutschen Reichs 1293 - Dühring 1297 - Der Stil der Stillosigkeit 1300-Das
Makartbukett 1301 - Die „deutsche Renaissance" 1303 - Der Eiffelturm 1304
- Das Kostüm 1305 - Die Meininger 1307 - Das „Gesamtkunstwerk" 1309-Das
höchste Theater 1312 - Die Kurve Wagners 1315 - Die „Fledermaus" 1318
- Die Literatur 1319 - Wilhelm Busch 1322 - Fernsprecher, Glühlampe und
Fahrrad 1326 - Die Stereochemie 1329. - Die Marskanäle 1329 - Die Vorim
pressionisten 1330. - Was ist Impressionismus? 1333 - Der „Ouvrier" 1336 -
Der Farbe gewordene Antichrist 1337 - Die Goncourts 1338 - Zola 1339 -
Tolstoi und Dostojewski 1341 - Der letzte Byzantiner 1341 - Die Rechtferti
gung des Bösen 1343 - Der Entschleierer 1343 - Der Haß des Künstlere 1346
Ŷ , Ŷ
ZWEITES KAPITEL
VOM TEUFEL GEHOLT
Die Zäsur 1349 - Wille zur Macht als Décadence 1350 - Hegel und Halske 1351
- Das neue Tempo 1351 - Die elektromagnetische Lichttheorie 1352 - Die
Radioaktivität 1354 - Die Atomzertrümmerung 1357 - Fabier und Katheder
sozialisten 1358 - Die Gymnasialreform 1360 - Der Kaiser Wilhelm 1362 - Bis
marcks Entlassung 1367 - Kap-Kairo 1369 - Nordamerika 1371 - Ostasien 1371
- Russisch-japanischer Krieg 1374 - Nachbismarckische Weltpolitik 1377 -
Tripelentente 1381 - Annexionskrise 1382 - Der Pragmatismus 1384 - Mach
1385 - Bergson 1389 - Wundt 1391 - „Rembrandt als Erzieher" 1394 - „Ge
schlecht und Charakter" 1395 - Strindberg 1397 - Die Petarde 1401 - Der
Wanderer 1403 -Nietzsches Psychologie 1406 - Nietzsches Christentum 1407 -
Der letzte Kirchenvater 1410 - Das zweite Stadium des Impressionismus 1411 -
Der Sänger aus Thule 1416 - Der letzte Klassiker 1417 - Zenith des bürgerlichen
Theaters 1418 - Kleine Dramaturgie 1418 - Ibsens Kosmos 1423 - Die Rache
Norwegens 1426 - Ibsens Kunstform 1427 - Das Testament der Neuzeit 1430 -
Die literarische Revolution 1434 - Die „Freie Bühne" 1437 - Der Naturalismus
1440 - Hauptmann 1443 - Sudermann 1444 - Fontane 1447 - Wedekind 1448 -
Maupassant 1451 - Die Sezession 1453 - Böcklin 1454 - Schnitzler und Alten-
berg 1455 - Der Verismo 1458 - Dorian Gray 1459 - Shaws Ironie 1460 - Amor
vacui 1465 - Die Symbolisten 1468 - Das Theater der vierten Dimension 1470
- Das telepathische Drama 1473 - Die Lücke 1477 - Was ist Diplomatie? 1479 -
Die Balkankriege 1480 - Serajewo 1485 - Die Wolke 1490
EPILOG
STURZ DER WIRKLICHKEIT
Die neue Inkubationsperiode 1493 - Das Weltall als Molekül 1493 - Das Mole-
kül als Weltall 1494- Die Zeit ist eine Funktion 1495 -Masse ist Energie 1496-
Es gibt keine Gleichzeitigkeit 1496 - Der Schuß in den Weltraum 1498 - Herauf -
kunft des Wassermanns 1500 - Untergang der Historie 1501 - Untergang der
Logik 1502 - Dada 1504 - Die Katastrophe des Dramas 1506 - Selbstmord der
Kunst 1507 - Der Surréalisme 1510 - Der Turmbau zu Babel 1512 - Die beiden
Hydren 1513 - Die fünf Möglichkeiten 1516 - Die Metapsychologie 1516 - Der
Sklavenaufstand der Amoral 1518 - Der Orpheus aus der Unterwelt 1518 - Die
Dogmen der Psychoanalyse 1520 - Das verdrängte Ding an sich 1521 - Das
Licht von der anderen Seite 1523
Z E I T TA F E L
1524
NAMENREGISTER
1538
Das Buch
Der Autor
Egon Friedell (bis 1916 Friedmann) wurde am 21. Januar 1878 in Wien
geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik; 1904 Promotion
mit einer Arbeit über >Novalis als Philosoph<. Kabarettist, Schauspieler,
Theaterkritiker, Feuilletonist, Schriftsteller. 1908 erschien seine erste
literarische Arbeit, >Der Petroleumkönig<, ein Lustspiel, dem noch
eine Reihe weiterer folgte; zahlreiche Einakter schrieb er zusammen
mit Alfred Polgar. Künstlerischer Leiter des literarischen »Cabaret
Fledermaus«; Freund Peter Altenbergs; seit 1913 Schauspieler bei
Max Reinhardt. 1923 Uraufführung seiner >Judastragödie< am
Burgtheater. Berühmt machte ihn die hier vorgelegte
>Kulturgeschichte der Neuzeit<, die von 1927-1931 erschien. Von
einer geplanten Kulturgeschichte des Altertums< wurde 1937 die
Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients< veröffentlicht und
– im besetzten Norwegen – 1940 die Kulturgeschichte
Griechenlands<. Sie blieb unvollendet, da sich Friedell am 16. März
1938, kurz nach dem Einmarsch Hitlers in Wien, das Leben
genommen hatte.
© C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München
1927 (Einleitung, Erstes Buch);
1928 (Zweites und Drittes Buch);
1931 (Viertes und Fünftes Buch, Epilog)