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Claudia Gärtner · Jan-Hendrik Herbst Hrsg.

Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik
Diskurse zwischen Theologie,
Pädagogik und Politischer Bildung
Kritisch-emanzipatorische
­Religionspädagogik
Claudia Gärtner · Jan-Hendrik Herbst
(Hrsg.)

Kritisch-
emanzipatorische
Religionspädagogik
Diskurse zwischen Theologie,
Pädagogik und Politischer Bildung
Hrsg.
Claudia Gärtner Jan-Hendrik Herbst
Dortmund, Deutschland Dortmund, Deutschland

ISBN 978-3-658-28758-0 ISBN 978-3-658-28759-7 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7

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Geleitwort

Die vorliegende Publikation hat sich zum Ziel gesetzt, Potenziale, Perspek-
tiven und Probleme einer kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik
interdisziplinär zu vermessen. Von unterschiedlichen Standorten und aus
jeweils anderen Perspektiven werden Möglichkeiten und Grenzen einer re-
ligionspädagogischen Bezugnahme auf ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ um-
rissen und die politische Dimension religiöser Bildung reflektiert. Wesent-
liche Beiträge hierzu wurden auf der Tagung „Zurück in die Zukunft? Kri-
tik und Emanzipation in politischer und religiöser Bildung“ debattiert, die
Anfang 2019 in der Katholischen Akademie Schwerte mit zahlreichen
Teilnehmer*innen aus der Religionspädagogik, der Politikdidaktik, der Pä-
dagogik und der Theologie durchgeführt wurde. Die intensiven Diskussio-
nen sind in diesen Sammelband ebenso eingeflossen wie zahlreiche weitere
Beiträge, die diese Debatten ergänzen und erweitern.

Die interdisziplinäre Ausrichtung der Tagung war für alle Beteiligten eine
besondere Herausforderung, weil es darum ging, über die fachinternen
Sprachspiele hinweg konstruktive Kommunikation zu ermöglichen. Als
erstes möchten wir uns bei allen Teilnehmer*innen dafür bedanken, dass
dies gelungen ist. Es erforderte Geduld, gegenseitiges Zuhören, gemeinsa-
mes Nachdenken und die Anstrengung des Begriffs.

Besonders danken möchten wir allen Referent*innen, die durch ihre Bei-
träge die Tagung bereichert und ermöglicht haben: Carsten Bünger, Domi-
nik Gautier, Andreas Hellgermann, Simone Horstmann, Judith Könemann,
Jürgen Kroth, Bettina Lösch, Norbert Mette, Viera Pirker und Lukas Ri-
cken. Herzlichen Dank!

Für organisatorische Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchfüh-


rung der Tagung möchten wir herzlich Simone Mach (Kommende Dort-
mund) danken. Ebenfalls bedanken wir uns für das genaue Korrekturlesen
VI Geleitwort

des Sammelbandes bei Henrike Herdramm (TU Dortmund), Lukas Ricken


(Universität Tübingen) und ganz besonders bei Madeline Stratmann (TU
Dortmund).

Wir freuen uns sehr darüber, dass ein gemeinsames Ringen um die Leitbe-
griffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ in politischer und religiöser Bildung un-
ter der Frage „Zurück in die Zukunft?“ so ernsthaft und produktiv möglich
war, und hoffen, dass der auf dieser Tagung basierende, aber um wichtige
Beiträge erweiterte Sammelband eine Grundlage für zukünftige Debatten
und Diskussionen darstellt.

Claudia Gärtner, Jan-Hendrik Herbst und Robert Kläsener


im Sommer 2019
Inhalt

Geleitwort ................................................................................................. V
Einleitung: Zurück in die Zukunft? ........................................................... 1
Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

TEIL I – HISTORISCHE SELBSTVERGEWISSERUNG 21

Die religionspädagogische Reformdekade um 1968:


Retrospektionen und Rekonstruktionen .................................................. 23
Hinführung I

Problemorientierter Religionsunterricht:
Vernachlässigtes Potential für eine politisch sensible
Religionspädagogik in postdemokratischen Zeiten? ............................... 33
Bernhard Grümme

Grundbegriffe, unabgegoltene Potenziale und Perspektiven


des problemorientierten Ansatzes für gegenwärtige
kritische politische Religionspädagogik.................................................. 55
Thorsten Knauth

Blick in den Rückspiegel I:


Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 ....... 83
Gespräch mit Zeitzeug*innen

Blick in den Rückspiegel II:


Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 ....... 101
Gespräch mit Zeitzeugen
VIII Inhalt

TEIL II – RELIGIONSPÄDAGOGISCHE REFLEXIONEN 125

Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und Perspektiven:


Kritik und Emanzipation in der Religionspädagogik ............................ 127
Hinführung II

Emanzipation –
religionspädagogische Leitidee oder überholtes Ideal?......................... 139
Andrea Lehner-Hartmann

Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik –


Herausforderungen, Potenziale, Perspektiven ....................................... 163
Norbert Mette

(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation –


Zum Problem religiös-legitimierter Gewalt
an nicht-menschlichen Tieren ............................................................... 181
Simone Horstmann – in Response auf Norbert Mette

Politische Religionspädagogik –
ein kritisch-emanzipatorischer Ansatz .................................................. 195
Judith Könemann

Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt ...... 215


Viera Pirker – in Response auf Judith Könemann
Inhalt IX

TEIL III – POLITISCH-THEOLOGISCHE REFLEXIONEN 233

Totgesagte leben länger?


Neuere Entwicklungen und Kontroversen
der Politischen Theologie ...................................................................... 235
Hinführung III

Solidarische Subjektwerdung –
Ein theologischer Kommentar zur Frankfurter Erklärung
für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung .......................... 243
Ulrich Engel

Mystik als Widerstand –


Das Emanzipationspotenzial von Dorothee Sölles politisch-
mystischer Theologie unter den Bedingungen „entgrenzter“ Arbeit .... 273
Ansgar Kreutzer

Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie ...................... 291


Jürgen Kroth

Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie:


Fridays for Future, die Politische Theologie und die Schule ................ 313
Andreas Hellgermann – in Response auf Jürgen Kroth
X Inhalt

TEIL IV – KRITISCH-PÄDAGOGISCHE REFLEXIONEN 331

Trivialisierung von Kritik?


Kritische Pädagogik und kritische politische Bildung im Blickfeld ..... 333
Hinführung IV

Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation:
Kritische Bildungstheorie weiter erzählen ............................................ 341
Carsten Bünger

Heydorn lesen?
Zur religionspädagogischen Rezeption kritischer Bildungstheorie ....... 361
Lukas Ricken – in Response auf Carsten Bünger

Wie politisch darf und sollte Bildung sein?


Die aktuelle Debatte um ‚politische Neutralität‘
aus Sicht einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung ........... 383
Bettina Lösch

Irritierbarkeit.
Eine theologische Überlegung
zur kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik............................. 403
Dominik Gautier – in Response auf Bettina Lösch
Inhalt XI

TEIL V – EXEMPLARISCHE PRAXISFELDER 421

Von den ungleichen Geschwistern ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ –


Konkretisierungen anhand kirchlich-religiöser Praxisfelder ................. 423
Hinführung V

Kritisch-emanzipatorische Bildung
auf Tagen religiöser Orientierung?........................................................ 429
Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

Kritisch-emanzipatorischer Religionsunterricht –
Grundlegende Überlegungen
am Beispiel des Themas ‚Christliche Tierethik‘ ................................... 447
Markus Bürger und Sebastian Jendt

Kritische politische Bildung


in der (kirchlichen) Begabtenförderung?
Reflexion und Diskussion
am Beispiel von Ferienakademien im Cusanuswerk ............................. 465
Clara Debour

Kritisch-religiöse Bildung in der religionspädagogischen


Ausbildung angehender Seelsorger*innen im Bistum Trier ................. 483
Klaus-Gerd Eich

Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht ........ 499


Claudia Gärtner

Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret –


Didaktische Reflexionen
anhand biblischen, ethischen und performativen Lernens .................... 519
Jan-Hendrik Herbst
XII Inhalt

Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung


in der Christlichen Arbeiterjugend:
Reflexionen am Beispiel der Methode „Sehen, Urteilen, Handeln“ ..... 537
Christoph Holbein-Munske

Religionssensible politische Bildung für Jugendliche –


Ein Bericht aus der Bildungspraxis ....................................................... 557
Andrea Keller und Robert Kläsener

Compassion-Projekte in der religiösen Bildung


als Anstoß für kritische politische Bildung? ......................................... 573
Alexander Wohnig

Kritisch-emanzipatorische Bildung
in der kirchlichen Arbeit mit weltwärts-Freiwilligen ............................ 591
Judith Wüllhorst

TEIL VI – ABSCHLUSS UND AUSBLICK 611

Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Rückblick und Zusammenfassung ........................................................ 613
Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Offene Fragen und programmatischer Ausblick ................................... 633
Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Einleitung: Zurück in die Zukunft?

Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

„Etwas Neues zu schreiben heißt immer auch, einen Bezug zu großen, inspirie-
renden Autoren zu entwickeln. Sie vererben uns eine Art zu lesen, sie haben eine
Arbeit der Aufklärung und Erklärung geleistet und […] ihre Gesten haben eine
autorisierende Wirkung auf uns.“1

Zurück in die Zukunft?2 Diese Frage ist der Titel einer Film-Trilogie von
Robert Zemeckis, in der es um Zeitreisen geht. Die Science-Fiction-Erzäh-
lung zeigt auf, wie eng Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinan-
der verwoben sind. Die Hauptpersonen der Trilogie reisen in frühere Zeiten
und versuchen dort Korrekturen vorzunehmen, um die Jetztzeit vor Gefah-
ren zu bewahren. Vergangenheit und Gegenwart beeinflussen sich dabei
wechselseitig in einer komplexen Gemengelage.

Auch in der Religionspädagogik beeinflusst die Vergangenheit und ihre


Deutung die Gegenwart. Der Bezug zur Vergangenheit, ihre Aufarbeitung
und das Herausarbeiten ihrer Bedeutung für aktuelle Forschungsprojekte
stellt eine relevante wissenschaftliche Tätigkeit dar. Dabei lässt sich ein
komplexes Verhältnis zur Zeit feststellen, vor allem wenn es um den Bezug
auf „1968“ als Chiffre für eine gesamtgesellschaftliche Reformphase geht.3

1 ERIBON, Didier: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, Berlin: Suhrkamp
2017, 61.
2 Recherchen haben ergeben, dass der Rekurs auf die Frage „Zurück in die Zukunft?“
häufiger im Zusammenhang mit den rezipierten Bezugswissenschaften gegeben ist.
Beispielhaft dafür steht Rodrigo DUARTE mit seinem Artikel „Zurück in die Zukunft.
Die kritische Theorie der Kulturindustrie und die ‚Globalisierung‘“ (in: DERS.: Deplat-
zierungen, Wiesbaden: Springer VS 22017, 39–50). Zudem fand auch ein Studientag zu
Jürgen Moltmann mit dem Titel „Zurück in die Zukunft“ in der Evangelischen Akade-
mie in Lutherstadt Wittenberg im Januar 2019 statt.
3 Wenn 1968 als einfache Jahreszahl verwendet wird, werden keine Anführungszeichen
gesetzt. Handelt es sich um die Chiffre bzw. das Symbol wird die Schreibweise „1968“
bevorzugt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_1
2 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ sind dabei unmittelbar mit dieser
Chiffre verbunden.

1 Gibt es eine neue Aktualität von ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘?

Im Mai 2018 fand in Berlin, 50 Jahre nach 1968, der internationale Kon-
gress „Emanzipation“ statt. Renommierte Wissenschaftler*innen aus der
ganzen Welt, z. B. Didier Eribon, Chantal Mouffe oder Wendy Brown, dis-
kutierten darüber, wie ‚Kritik‘ und Emanzipation‘ heute gedacht werden
können. Es kamen geschätzt fast 1000, vor allem junge Menschen, in das
Haus der Kulturen der Welt, um bei bestem Wetter im stickigen Hörsaal
die erste Plenarveranstaltung „Was ist Emanzipation?“ mitzuerleben. Die
lebendige Atmosphäre wurde in der Berichterstattung als „Festivalatmos-
phäre“4 beschrieben.

Der Anschluss an „1968“ erweist sich dabei auch für religiöse Bildung als
plausibel: ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ waren für mindestens eine Dekade
die zentralen Leitbegriffe in der Religionspädagogik. In den späten 1960er
und frühen 1970er Jahren waren sie Dreh- und Angelpunkt in den Debatten
verschiedener Disziplinen (z. B. Sozialwissenschaften, Pädagogik, Theo-
logie und Politikdidaktik). Um sie herum wurden zentrale Theoreme grup-
piert. Es waren unter anderem die großen Koryphäen dieser Zeit, die sich
ihnen widmeten: Karl Ernst Nipkow, Gert Otto, Hubertus Halbfas, Peter
Biehl, Hans-Peter Kaufmann, Dietrich Zilleßen, Folkert Rickers, Siegfried

4 MALOWITZ, Karsten / KLENK, Moritz: Berliner Splitter I. Bericht vom ersten Tag der
Konferenz „Emanzipation“ (2018), in: https://soziopolis.de/vernetzen/veranstaltungs-
berichte/artikel/berliner-splitter-i-freitag/ [abgerufen am 31.01.2019]. Über den Kon-
gress wurde in überregionalen Medien ausführlich berichtet, beispielsweise in der Süd-
deutschen Zeitung, dem Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Eine
Dokumentation der Pressestimmen findet sich auf der Seite „Kritische Theorie in Ber-
lin“ online unter criticaltheoryinberlin.de/emancipation/#documentation [abgerufen am
23.10.2019].
Einleitung 3

Vierzig oder Dieter Stoodt. Dabei bezogen sie sich auch auf die kritische
Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik5 und die Politische Theologie.6

Doch seit Mitte der 1970er Jahre lässt sich in der Fachwissenschaft eine
Abwendung von dieser Terminologie beobachten.7 Man kann ein Bündel
an Gründen für die Heftigkeit dieser Abwendung identifizieren, wobei es
sowohl interne (z. B. konzeptionelle Schwierigkeiten der Begriffe), als
auch äußere Faktoren (z. B. eine gesamtgesellschaftliche Tendenzwende)
wahrzunehmen gilt. Auch wenn die beiden Begriffe in den genannten Wis-
senschaften, auch der Religionspädagogik, immer mal wieder an einzelnen

5 Namentlich zu nennen wären hier beispielsweise Herwig Blankertz, Hans-Jochen


Gamm, Wolfgang Klafki, Klaus Mollenhauer, Heinz-Joachim Heydorn oder auch The-
odor W. Adornos pädagogische Schriften. Auch die politikdidaktische Rezeption gilt
es dabei wahrzunehmen. Es waren Kurt Gerhard Fischer, Hermann Giesecke, Wolfgang
Hilligen oder Rolf Schmiederer sowie Oskar Negt, die ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ für
die politische Bildung fruchtbar machten.
6 Besonders hervorzuheben sind hier Johann B. Metz, Dorothee Sölle oder Jürgen Molt-
mann, die die Begriffe theologisch ausgedeutet haben. Entgegen kam dabei der theolo-
gischen Rezeption ein religiöser Horizont, der den Begriffen ‚Kritik‘ und ‚Emanzipa-
tion‘ eingeschrieben war. Dies stellt Axel Honneth pointiert fest. „Die schlechten, kor-
rumpierten Zustände, als die die sozialen Verhältnisse der Gegenwart im Sinne eines
säkular verstandenen Sündenfalls gedeutet werden können, sollen durch eine Emanzi-
pation überwunden werden, in der die Menschheit sich als eine Vereinigung assoziierter
Produzenten von der Gewalt der Materie befreit“ (HONNETH, Axel: Sublimierungen des
Marxschen Erbes – Eine Richtigstellung aus gegebenem Anlass, in: Blätter für deutsche
und internationale Politik 6 (2009), 55).
7 Vgl. OFFELE, Wolfgang (Hg.): Emanzipation und Religionspädagogik, Zürich / Einsie-
deln / Köln: Benziger 1972. BIEHL, Peter / KAUFMANN, Hans-Peter (Hg.): Zum Verhält-
nis von Emanzipation und Tradition. Elemente einer religionspädagogischen Theorie,
Frankfurt am Main: Diesterweg 1975. ZILLEßEN, Dietrich: Emanzipation und Religion,
Frankfurt am Main: Diesterweg 1982. Vgl. SCHRÖDER, Bernd: Eruditio – Unterricht –
Erziehung – Emanzipation – Bildung. Wechselnde Leitbegriffe in der Geschichte der
Religionspädagogik, in: DOMSGEN, Michael (Hg.): Religionspädagogik in systemischer
Perspektive. Chancen und Grenzen, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009, 47–71,
60. Vgl. METTE, Norbert: 1968 und die katholische Religionspädagogik. Ansätze, Wir-
kungen, unabgegoltene Potentiale, in: RICKERS, Folkert / SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968
und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 311–
322, 317.
4 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Stellen auftauchten, überrascht vor diesem Hintergrund erst einmal ein Er-
eignis wie der Kongress in Berlin.

2 Erster Versuch einer Bedeutungsbestimmung von ‚Kritik‘ und


‚Emanzipation‘

An dieser Stelle können keine ausführlichen Begriffsreflexionen stehen,


auch weil die unterschiedlichen Beiträge des Sammelbandes konstellativ
einen Zugang zu ihnen ermöglichen sollen. Dennoch gilt es bereits zu Be-
ginn des Bandes einen ersten Versuch der Bedeutungsbestimmung vorzu-
nehmen, um eine Verständnisgrundlage zu schaffen. ‚Kritik‘ und ‚Eman-
zipation‘ lassen sich dabei als unmittelbar aufeinander bezogene Begriffe
auffassen, die ein komplexes semantisches Feld eröffnen, in dem auch ‚Po-
litik‘, ‚Herrschaft‘, ‚Macht‘, ‚Ideologie‘, ‚Gesellschaft‘, ‚Freiheit‘ oder
‚Demokratisierung‘ angesiedelt werden können. Ihre Bedeutung lässt sich,
in einer ersten Annäherung, im Rückgriff auf die Frankfurter Erklärung
kritisch-emanzipatorischer Politischer Bildung erklären, deren Anspruch
weder auf schulische Bildung, noch auf das Fach ‚Politik‘ beschränkt ist.
Die sechs Grundsätze der Frankfurter Erklärung (FFE 1–6) stellen einen
roten Faden durch den Sammelband dar: Sie werden an unterschiedlichen
Stellen wieder aufgegriffen und hinsichtlich ihrer religionspädagogischen
Relevanz reflektiert.8

‚Kritik‘ meint im emphatischen Sinne nicht einfach ‚Krittelei‘ oder ‚Me-


ckern‘, sondern die grundlegende Problematisierung allgemeiner (zumeist

8 Vgl. Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung


(FFE), in: Journal für politische Bildung 4 (2015), 94–96. Vgl. dazu den Beitrag von
Bettina LÖSCH in diesem Band. Im Sammelband geht es jedoch nicht um eine ungebro-
chene Rezeption der Erklärung, weil die Eigenlogik religiöser Bildung gewahrt bleiben
sollte. Vgl. GÄRTNER, Claudia: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründun-
gen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule (Religionspädagogik in pluraler
Gesellschaft, Bd. 19), Paderborn: Schöningh 2015, 221.
Einleitung 5

sozialer) Zusammenhänge auf der Basis tiefgreifender wissenschaftlicher


Analyse. ‚Kritik‘ impliziert also, wie es das griechische Verb ‚krino‘ aus-
drückt, sowohl ‚unterscheiden‘ (Analyse) als auch ‚entscheiden‘ (normativ
fundierte Positionierung). Die etymologische Nähe zum Begriff der ‚Krise‘
ist nicht zufällig, denn gerade Zeiten der Krise evozieren grundlegende
Kritik (FFE 1).9 Im Moment der Krise geht es eben auch um Konflikte und
Dissens sowie um alternative Perspektiven, die im Horizont kritischer
Analysen in den Blick geraten (FFE 2).

‚Kritik‘ lässt sich als ‚bestimmte Negation‘ auffassen, insofern der zu kri-
tisierende Gegenstand durch Analyse umrissen und als problematisch ab-
gelehnt wird. Typische Gegenstände emphatisch verstandener, also auf
größere Zusammenhänge bezogener Kritik sind gesellschaftliche Macht-
und Herrschaftsverhältnisse, soziale Ungleichheit und -gerechtigkeit, Ein-
und Ausschlüsse, soziale Pathologien (z. B. Entfremdung, Verdinglichung
oder Anomien), sowie Ideologien (z. B. Rassismus, Sexismus, neoliberale
Subjektivierung) (FFE 3). Dabei geht es darum, in einer kritischen Zeitdi-
agnose aktuelle Krisenphänomene und ihre Zusammenhänge begrifflich zu
fassen. ‚Kritik‘ setzt voraus, dass ihr Gegenstand sich begründet als falsch
aufweisen lässt und zugleich verändert werden kann. Gleichzeitig ist die
Einsicht gewachsen, dass es keinen Standpunkt außerhalb der kritisierten
Zusammenhänge gibt, sodass Kritik reflexiv zu denken und die eigene Ver-
strickung offenzulegen ist (FFE 4).

An dieser Stelle setzt der Begriff der Emanzipation an, der auf der ‚praxis-
optimistischen‘ Annahme aufbaut, dass positive Veränderungen möglich
sind (FFE 5 und FFE 6). Emanzipation gibt dabei die Blickrichtung der

9 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Ideologiekritik und Religionsunterricht. Zum unabgegolte-


nen Potenzial des ideologiekritischen Arguments für den konfessionellen Religionsun-
terricht, in: RpB 79 (2018), 86–97, 92.
6 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Veränderung an, die durch Begriffe wie ‚Demokratisierung‘, ‚Selbst- und


Mitbestimmung‘, ‚Fortschritt‘, ‚Mündigkeit‘ oder ‚Befreiung‘ bezeichnet
wird. Diese insinuieren, dass es um eine spezifische Veränderung sozialer
Verhältnisse geht, nämlich um ihre Verbesserung im Sinne der zugrunde
gelegten Kritik. Damit handelt es sich bei ‚Emanzipation‘ um einen theo-
retisch-analytischen Begriff, der normativ imprägniert und dem ein Praxis-
bezug inhärent ist. Emanzipation wurde so auch verstanden als Förderung
„politische[r] Gleichberechtigung“, als „Befreiung von Individuen aus der
Abhängigkeit von überflüssiger Herrschaft“ und als „Aufhebung von Ent-
fremdung“10. Vor dem Hintergrund eines solchen Panoramas ergibt sich
offensichtlich: „Bildung ist keineswegs per se [kritisch und] emanzipato-
risch“11.

Die beschriebene Begriffsbestimmung zeigt den unmittelbaren Zusam-


menhang von ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘. Beides ließe sich als jeweils
eine Seite der gleichen Medaille bezeichnen, wobei ‚Kritik‘ diese Medaille
negativ und ‚Emanzipation‘ sie positiv bestimmt. Dabei lassen sich in Be-
zug auf Religionspädagogik zwei idealtypische Ebenen voneinander unter-
scheiden. Zum einen gilt es auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene zu
klären, was ein kritisch-emanzipatorisches Erkenntnisinteresse ausmacht
und wie dieses theoretisch gerechtfertigt werden kann. Dabei geht es auch
darum, die jeweilige Wissenschaft und ihre (anti-) emanzipatorischen Im-
plikationen kritisch zu analysieren. Zweitens ist eine bildungstheoretische
Ebene zu betrachten, in der es um die wissenschaftliche Analyse von Bil-
dungsprozessen geht, die auf ihre emanzipatorischen Potenziale geprüft

10 Zitiert nach HENKENBORG, Peter: Politische Bildung auf wissenschaftlicher Grundlage


– die didaktische Wende und die Rezeption der Sozialwissenschaften in den 1960er und
1970er Jahren, in: SANDER, Wolfgang / STEINBACH, Peter (Hg.): Politische Bildung in
Deutschland. Profile, Personen, Institutionen, Bonn: bpb 2014, 64–79, 69.
11 MENDE, Janne / MÜLLER, Stefan: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Emanzipation in der poli-
tischen Bildung. Theorien – Konzepte – Möglichkeiten, Schwalbach am Taunus: Wo-
chenschau 2009, 5–17, 5.
Einleitung 7

werden. Dabei sollten selbstverständlich auch problematische Konsequen-


zen emanzipatorischer Pädagogik kritisch untersucht werden.

An dieser Stelle können die Begriffe weder in ihrer historischen Tiefen-


schärfe bestimmt, noch näher problematisiert werden.12 Vielmehr soll nun
reflektiert werden, inwiefern die Grundfrage ‚Zurück in die Zukunft?‘ in
der Religionspädagogik kritisch-emanzipatorisch gedeutet werden kann.
Die Frage klingt erst einmal nach nostalgisch-verklärender Erinnerung. Po-
lemisch ließe sie sich mit dem Programm ‚Make Critical Theory Great
Again‘ reformulieren. Ein solcher Vergangenheitsbezug ist natürlich nicht
gemeint. Doch wie lässt sich die Grundfrage selbst alternativ verstehen?
Was macht einen kritisch-emanzipatorischen Modus des Vergangenheits-
bezugs aus?

3 Was ist kein kritisch-emanzipatorischer Modus des


Vergangenheitsbezugs?

Leichter als eine positive Bestimmung vorzunehmen, ist es festzustellen,


welcher Vergangenheitsbezug nicht kritisch-emanzipatorisch ist. Eine
simple Verklärung der Vergangenheit ist offensichtlich unkritisch. Aller-
dings ist auch deren Gegenteil, die modische Abwertung vergangener
Denkzusammenhänge, ebenso wenig kritisch-emanzipatorisch. Dieser
zweite Fall ist an dieser Stelle besonders relevant. So finden sich in der
Religionspädagogik zum Teil pauschale Diskreditierungen dessen, was als
‚Zeitgeist von 1968‘ bezeichnet wird. Suggeriert wird, dass im Rückgriff
auf ein kritisch-emanzipatorisches Bildungsverständnis ein ‚Rückfall in
die Vergangenheit‘ drohe und Wissenschaft nicht auf der Höhe der Zeit

12 Zu nennen wäre hier z. B. die postkoloniale Kritik am Fortschrittsverständnis, das im


Emanzipationsbegriff aufscheint, der mögliche Bedeutungsverlust (religiöser) Traditi-
onen oder die Gefahr der Überwältigung in Bildungsprozessen.
8 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

betrieben werden könne.13 Bei einem solchen Vergangenheitsbezug um-


gibt die religionspädagogische Reformdekade um 1968 automatisch die
„Aura eines Anachronismus“14. Diese Aura ist auch verbunden mit den Be-
griffen ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘.15

Hinter einer solchen Perspektive stehen zwei nicht explizierte Grundan-


nahmen. Zum einen wird eine gewisse Kontinuität von Vergangenheit und
Gegenwart vorausgesetzt: Beide müssen miteinander vergleichbar sein.
Zum anderen wird die Vorstellung vertreten, dass wissenschaftliche Ent-
wicklungen über kurze und mittelfristige Zeiträume als Fortschritts- und
Lernprozess aufzufassen sind. Denn ansonsten wäre es auch denkbar, dass
ein vergangener Ansatz zwar problematisch war, aber derzeit möglicher-
weise weniger Probleme umfasst als gegenwärtige Herangehensweisen.
Die Verbindung von Kontinuitäts- und Fortschrittsannahme lässt sich als
evolutive Perspektive bezeichnen, die in der Religionspädagogik möglich-
erweise einen hegemonialen Status besitzt. Vielfältige Darstellungen der
Fachgeschichte lesen sich als Fortschrittserzählung. Ein solcher Prozess

13 Der Religionspädagoge Thomas Klie artikuliert beispielsweise in einer biographisch


gefärbten Darstellung des Politik- und Religionsunterrichts um 1968 diese Befürchtung
(vgl. KLIE, Thomas: Von der Entrüstung zum Offenen Kunstwerk. Nachrufe, in: ZPT
57 (2005), 369–375, 369).
14 KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekon-
struktion (= Arbeiten zur Religionspädagogik 23), Göttingen: Vandenhoeck & Rup-
recht 2003, 14.
15 Thomas Klie steht hier exemplarisch für eine Perspektive, die sich auch an anderen
Stellen in der Religionspädagogik (vgl. z. B. DRESSLER, Bernhard: 1968 und die Reli-
gionspädagogik. Ein sehr persönlicher Rückblick, in: Theo-Web 12/2 (2013), 206–218)
oder der Politikdidaktik (vgl. SANDER, Wolfgang: Pädagogischer Sinn und (fach) poli-
tische Fragen mit Blick auf den Beutelsbacher Konsens, in: WIDMAIER, Benedikt /
ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politi-
schen Bildung, Bonn: bpb 2016, 294–302) finden lässt. Ein politikdidaktisches Beispiel
stellt Wolfgang Sanders Behauptung dar, dass die Kritische Politische Bildung „eine
wie aus der Zeit gefallenen Retro-Debatte über Fragen und mit Theoriekonzepten
[führt], die das Fach vor 40 Jahren beschäftigt haben“ (SANDER 2016, 301).
Einleitung 9

des Fortschritts wird zwar nicht als gänzlich linear beschrieben, doch letzt-
lich offenbart sich ein Professionalisierungsnarrativ, das die beiden ge-
nannten Aspekte umfasst.16 Die fachwissenschaftliche Gegenwart hat sich
aus der Vergangenheit entfaltet, diese integriert, in einem Hegelschen Sinn
umfassend aufgehoben. Gerade in Bezug auf die in diesem Sammelband
verhandelten Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ zeigen sich diese An-
nahmen deutlich.

Eine evolutive Perspektive besitzt eine intuitive Plausibilität und eine ge-
wisse Berechtigung. Sicherlich lassen sich fachwissenschaftliche Lerner-
folge benennen. Und natürlich gilt es relevante Kontextveränderungen zu
beachten, wenn die Vergangenheit zurate gezogen wird. Auch Theorien
sind schließlich immer kontextuell verortet. Eine Theorie, die im heutigen
Kontext entwickelt wurde, hat bezüglich ihrer Kontextpassung einen na-
türlichen Vorsprung vor älteren Entwürfen. Im Rahmen einer evolutiven
Perspektive ist man jedoch dazu geneigt, diesen natürlichen Vorsprung zu
einem prinzipiellen Vorrang zu hypostasieren. Damit werden vergangene
Ansätze historisiert und ihre systematischen Gehalte für gegenwärtige
Wissenschaft verkannt.

Eine solche Bezugnahme ist jedoch weder kritisch, noch emanzipatorisch,


da sie dazu neigt, den Status Quo zu bevorzugen. Die Vergangenheit wird
von der Gegenwart gelesen und beurteilt. Sie dient vorrangig als Legitima-
tionsressource, zum Beispiel werden die religionspädagogischen Ansätze
der Reformdekade um 1968 dahingehend positiv beurteilt, dass sie eine
Subjekt- und Lebensweltorientierung bewirkt haben. Eine solche passt ge-

16 Vgl. etwa die Darstellungen zur Konzeptionsgeschichte im religionspädagogischen


Kompendium, besonders bei STURM, Wilhelm: Religionspädagogische Konzeptionen
des 20. Jahrhunderts, in: ADAM, Gottfried / LACHMANN, Rainer: Religionspädagogi-
sches Kompendium. Ein Leitfaden für Lehramtsstudenten, Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 51997, 37–86.
10 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

genwärtig eben gut zu den fachdidaktischen Entwicklungen, beispielswei-


se der Kompetenzorientierung. Dass in der Vergangenheit jedoch auch
Ressourcen bereitliegen, eine solche Ausrichtung zu kritisieren, gerät so
aus dem Blick. Dabei ließen sich doch gerade im kritischen Schein der Ge-
schichte Plausibilitäten der Gegenwart entzaubern.

4 Was ist ein kritisch-emanzipatorischer Modus des


Vergangenheitsbezugs?

Es hat sich herausgestellt, dass ein kritisch-emanzipatorischer Vergangen-


heitsbezug weder eine nostalgische Erinnerung, noch ein pauschales Ab-
kanzeln des Vergangenen meinen kann. Aus einer Kritik dieser beiden Be-
zugsformen lässt sich nun eine Perspektive dafür entwickeln, was denn ei-
nen kritisch-emanzipatorischen Modus des Vergangenheitsbezugs aus-
zeichnen könnte.

In seinem Text „Religionspädagogik und Politik – Ein Einwurf“ (2013)


problematisiert der Religionspädagoge Klaus Petzold († 2015) die evolu-
tive Perspektive. Gerade diametral zu ihr konstatiert er: „Wir waren schon
mal weiter!“17 Petzold selbst war theoretisch und praktisch an den Ent-
wicklungen des Problemorientierten Religionsunterrichts der religionspä-
dagogischen Reformdekade um 1968 beteiligt, beispielsweise über seine
Arbeit am Religionspädagogischen Institut Loccum. Er hebt hervor, dass
damals die „Basis“ für das gelegt wurde, „was heute – nach fast einem
halben Jahrhundert! – propagiert wird, als wäre es ganz neu.“18 Insofern ist
es nachvollziehbar, dass er neuere Überlegungen als „Déjà-vu“19 bezeich-

17 PETZOLD, Klaus: Religionspädagogik und Politik – Ein Einwurf, in: ZPT 65 (2013),
372–383, 373. Der Kristallisationspunkt seiner Feststellung ist Thomas Schlags Ent-
wurf, evangelische Religionspädagogik im Horizont des Politischen zu denken.
18 EBD.
19 EBD., 372.
Einleitung 11

net. Dementgegen fordert er „einen fairen Dialog […] zwischen den Ge-
nerationen“20, ohne dass – auf der Basis von möglicherweise ungeprüften
„Pauschalurteile[n]“21 – die damaligen Entwürfe einfach historisiert wer-
den.

Seine These, dass die Religionspädagogik schon einmal weiter war, deutet
einen Bruch mit der evolutiven Perspektive an. Dabei geht es ihm darum,
der Vergangenheit nicht einen prinzipiellen, sondern einen partiellen Vor-
rang einzuräumen, nämlich „in einzelnen konkreten Bereichen“22, die es
zu identifizieren gilt.23 Beispielsweise nennt er die Bedeutung der (politi-
schen) Theologie für die Religionspädagogik, die bereits in der religions-
pädagogischen Reformdekade diskutiert wurde.24 In einer solchen Per-
spektive entdeckt Petzold Vorzüge: Die „zukunftsweisenden Vorarbeiten
einer früheren Generation und ihre Pionierversuche“25 könnten systema-
tisch gewürdigt werden. „Niemand müsste sich unter den Anspruch stellen
(lassen), ‚das Rad völlig neu zu erfinden‘ – oder gar nur so zu tun, als ob.“26
Andererseits könnten die „weniger zukunftsträchtigen Ergebnisse, Positi-
onen und Fehlentwicklungen“27 gleichermaßen identifiziert werden, wo-
durch „die Chance wachsen [könnte], selber aus früheren Fehlern zu lernen
und sie nicht unbedingt zu wiederholen.“28 Die Fehler könnten differen-
ziert wahrgenommen und nicht pauschal zugeschrieben werden. Die Frage
‚Zurück in die Zukunft?‘ markiert dementsprechend einen Zeitbezug, der
über die evolutive Perspektive hinausgeht. Sie insinuiert, dass Ungleich-

20 EBD., 382.
21 EBD., 373.
22 EBD.
23 Vgl. EBD., 378–379.
24 Vgl. EBD., 379.
25 EBD., 382.
26 EBD.
27 EBD.
28 EBD.
12 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

zeitigkeiten auch produktiv sein können, in Jahrzehnten von Forschungs-


geschichte auch Erkenntnisverlust stattfindet und die Erinnerung an die
fehlende Einlösung gegebener Versprechen gefährlich sein kann.

Ein solcher Zeitbezug lässt sich als kritisch bezeichnen, wenn man das Kri-
tikverständnis des Politikdidaktikers Gerd Steffens anlegt, der beinahe pro-
phetisch formuliert, dass Kritik „die Gegenwart für die Zukunft öffnet, in-
dem sie die in ihr angelegten – verlorenen, vergessenen, verschütteten oder
erst zu erkennenden – Möglichkeiten hervortreibt“29. Unter diesen Voraus-
setzungen kann ein Blick in die Vergangenheit neue Erkenntnisse hervor-
bringen, Sichtweisen verschieben und die Aura des Anachronismus hinter
sich lassen.

Insofern der kritische Vergangenheitsbezug auf zukünftige Befreiungspro-


zesse zielt und damit über bloße Nostalgie hinausreicht, lässt er sich auch
als emanzipatorisch begreifen. In Bezug auf Didier Eribons Werk „Rück-
kehr nach Reims“ (2016) reflektiert der Frankfurter Sozialphilosoph Chris-
toph Menke über den Begriff der ‚Rückkehr‘. Seine Überlegungen präzi-
sieren, was das Programm dieses Sammelbandes, eine zukunftsorientierte
Rückkehr in die Vergangenheit, bedeuten kann. Menke unterscheidet mit
Søren Kierkegaard zwei Typen der Rückkehr, „repetition proper and re-
membrance.“30 Unter der ersten versteht er eine lebendige Vergegenwärti-

29 STEFFENS, Gerd: Bildungspotenziale der Kritik – Eine notwendige Erinnerung, in: WID-
MAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische Bil-
dung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 256–264, 258. Eine ähnliche For-
mulierung findet sich auch bei Theodor W. Adorno: „‚Alle Verdinglichung ist ein Ver-
gessen‘ und Kritik heißt eigentlich so viel wie Erinnerung, nämlich in den Phänomenen
mobilisieren, wodurch sie das wurden, was sie geworden sind, und dadurch der Mög-
lichkeit innewerden, dass sie auch ein Anderes hätten werden und dadurch ein Anderes
sein können“ (ADORNO, Theodor W.: Einleitung in die Soziologie (1968), Frankfurt am
Main: Suhrkamp 32012, 250).
30 MENKE, Christoph: Response to Didier Eribon (2016), in: https://didiereribon.blogspot.
de/2016/11/christoph-menke-response-to-didier.html [abgerufen am 31.01.2019].
Einleitung 13

gung, unter der zweiten dagegen eine nostalgische Erinnerung. Über beide
Formen konstatiert Menke in Anlehnung an Kierkegaard:
„‚Repetition and remembrance are the same process, only in opposite directions;
for that what we remember is past [or bygone], it is repeated backwards; while
true repetition is remembering forwards [or directed onwards].‘ […] Remem-
brance makes us melancholic about what we have forever lost or, in this case,
what we have missed in the past […]; remembrance makes us loose the present.
Repetition on the other hand, which is directed forward or onward, makes us
happy because repetition is […] ‚liberation‘“.31

Menke konstatiert, dass es eine Form der Rückkehr geben müsse, die neue
Möglichkeitsperspektiven eröffnet, die befreiend und emanzipatorisch ist.
Er beschreibt sie als fundamental wichtig „for any critical form of thinking
and politics”32. Nur wenn man zwischen einem rückwärts- und einem vor-
wärtsgewandten Modus des Vergangenheitsbezugs unterscheiden könne,
nur dann sei kritisch-emanzipatorische Theoriebildung und Praxis mög-
lich. In diesem Sinn ist die Frage ‚Zurück in die Zukunft?‘ also selbst kri-
tisch-emanzipatorisch: „To return is not resignation, melancholia or, even
worse, nostalgia. To return rather means to take up the struggle for libera-
tion at its own, inner blind spot, to continue and radicalize it.”33

5 Drei Konsequenzen aus einem kritisch-emanzipatorischen


Vergangenheitsbezug

Vor dem Hintergrund der dargelegten Überlegungen sollte deutlich gewor-


den sein, dass es in diesem Sammelband nicht um eine bestimmte Form
„bilanzierender Selbstvergewisserung“34 geht. Vielmehr ist es ein Ziel, „in
der Nachzeichnung von Intentionen und Diskussionen ‚vergessene Zusam-
menhänge‘ [K. Mollenhauer] ans Licht [zu] bringen“35 und „im Vergange-

31 EBD.
32 EBD.
33 EBD.
34 KNAUTH 2003 [Anm. 14], 11.
35 EBD., 12.
14 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

nen den Funken der Hoffnung anzufachen“36. Auch wenn die theoretischen
Entwürfe von damals sperrig wirken und womöglich den gegenwärtigen
Plausibilitäten zuwiderlaufen, erhebt die Auseinandersetzung mit ihnen
möglicherweise „immer neu den Verdacht, daß die ‚Plausibilitätsstruktu-
ren einer Gesellschaft’ durchaus ‚Verblendungszusammenhänge’ sein
können.“37 Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen lassen
sich drei mögliche Formen einer produktiven Bezugnahme auf die Vergan-
genheit unterscheiden.

1. Die Vergangenheit dient als Gradmesser und Garant für die Qualität
zukünftiger Diskussionen. Die theoretischen Probleme vergangener
Ansätze ließen sich analysieren, um die gemachten Fehler exakter be-
nennen zu können. Für die Zukunft könnte ein solches Vorgehen die
Qualität von Debatten garantieren, da auch ein Maßstab dafür existier-
te, hinter welches Einsichtsniveau nicht zurückgefallen werden dürfe.
2. Die Vergangenheit dient als Seismograph und Inspirationsquelle für
zukünftige Inhalte und Arbeitsformen. Vergangene Ansätze können Er-
kenntnisse enthalten, die verloren gegangen sind. Demnach lässt sich
die Gegenwart auch mit vergangenen Ideen ergänzen und erweitern.
3. Die Vergangenheit dient als distanzierender Blick auf die Gegenwart,
der scheinbare Selbstverständlichkeiten relativiert und ein kritisches
Korrektiv gegenüber problematischen Entwicklungen darstellt. Die
Auseinandersetzung mit den vergangenen Ansätzen ermöglicht einen
neuen Blick auf die Gegenwart, die aufgrund ihrer Unmittelbarkeit
möglicherweise eine gefährlich intuitive Plausibilität aufweist. Ver-

36 BENJAMIN, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: DERS.: Illuminationen. Ausge-
wählte Schriften 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 251–261, 253.
37 METZ, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer prakti-
schen Fundamentaltheologie, Mainz: Grünewald 1984, 147.
Einleitung 15

gangene Ansätze ermöglichen es, diese ein stückweit zu distanzieren


und dadurch mögliche Fehlentwicklungen zu antizipieren.

Bei allen Formen eines solchen produktiven Vergangenheitsbezugs han-


delt es sich in gewisser Weise um eine Wiederaneignung. Die Frage ‚Zu-
rück in die Zukunft?‘ kann so einen appellativen Charakter gewinnen. Die
Vergangenheit muss befragt werden, um die Gegenwart zukunftsorientiert
gestalten zu können. Sie hält Beurteilungsmaßstäbe bereit, die einen Mehr-
wert besitzen.

Insofern lässt sich dieser Sammelband auch als eine erneute Prüfung der
Flaschenpost verstehen, um eine bekannte Metapher der frühen Kritischen
Theorie aufzugreifen. Diese Metapher findet implizit in der Religionspä-
dagogik Verwendung, wenn z. B. Folkert Rickers konzediert:
„Die gesellschaftskritische Sichtweise der Religionspädagogik […] hat sich im
Fach nicht durchgesetzt. Aber sie ist – das ist ihr eigentlicher Wert – unter be-
stimmten historischen Bedingungen bewusst gemacht worden, kann von Religi-
onspädagogen jederzeit individuell angeeignet und zur Analyse herangezogen
werden.“38

6 Gibt es jetzt eine neue religionspädagogische Aktualität der


Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘?

Es wurde angedeutet, dass in unterschiedlichen Fachdisziplinen erneut auf


die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ rekurriert wird. Besonders deut-
lich wird dies bei der Politischen Bildung, in der sich ein starkes Interesse
an den beiden konzeptionellen Zentralbegriffen feststellen lässt. Exempla-
risch dafür steht das „Handbuch für kritische politische Bildung“ (2010).

38 RICKERS, Folkert: Am Anfang war der Text – Erinnerungen an die Anfänge des prob-
lemorientierten Religionsunterrichts. Ein kritischer Rückblick für die Zukunft, in: DERS.
/ SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Van-
denhoeck & Ruprecht 2010, 337–351, 350.
16 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Der Demokratiepädagoge Gerhard Himmelmann hält in Bezug auf dieses


fest, dass sich die dahinter stehende Autor*innengruppe „[m]it einem Pau-
kenschlag“ zu Wort meldete und „auf die Neubegründung einer kritisch-
emanzipatorischen politischen Bildung abzielte“ 39. Auch die darauf fol-
genden, teils sehr intensiv ausgetragenen Debatten verweisen auf die
bleibende Bedeutung dieser Terminologie.40 In diesem Sammelband soll
eruiert werden, inwiefern diese Entwicklungen auch für die Religionspä-
dagogik von Relevanz sind und wie politische und religiöse Bildung von
einem wechselseitigen Bezug profitieren können.

Im Folgenden werden die sechs großen Hauptteile des Bandes allgemein


vorgestellt. Eine spezifischere Präsentation der Aufsätze und ihre Einord-
nung in derzeitige Debatten erfolgt jeweils zu Beginn der Teile in Form
einer Hinführung. Dieses Vorgehen wurde auch deshalb ausgewählt, um
die teils breiten Debatten und differenzierten Ansätze für fachfremde Le-
ser*innen zu strukturieren. Die argumentative Prägnanz des Bandes soll
zudem durch sog. Responses gesteigert werden: In fünf Aufsätzen wird di-
rekt auf einen jeweiligen Grundlagenbeitrag repliziert. Dabei geht es da-
rum, die Überlegungen religionspädagogisch zu konkretisieren, theolo-
gisch weiterzudenken oder eine kritische Kontroverse anzustoßen.

Der erste Schritt stellt eine historische Selbstvergewisserung dar. In unter-


schiedlichen Beiträgen wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung

39 HIMMELMANN, Gerhard: Variationen politischer Bildung – aktuelle Entwicklungen in


der fachdidaktischen Diskussion, in: BEUTEL, Wolfgang / FAUSER, Peter (Hg.): Demo-
kratie erfahren. Analysen, Berichte und Anstöße aus dem Wettbewerb „Förderpro-
gramm demokratisch Handeln“, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 197–
210, 203.
40 Vgl. z. B. Vgl. GÖRTLER, Michael / LOTZ, Mathias / PARTETZKE, Marc u. a. (Hg.): Kriti-
sche politische Bildung: Standpunkte und Perspektiven, Schwalbach am Taunus: Wo-
chenschau 2017. WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kri-
tische Politische Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013.
Einleitung 17

‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ in der religionspädagogischen Reformdekade


um 1968 gespielt haben. Dabei wird auf das unabgegoltene Potenzial und
die historischen Altlasten der damaligen Ansätze reflektiert, wobei ersteres
im Fokus der Aufsätze steht. In diesem Teil soll geklärt werden, welche
Probleme und Perspektiven eine kritisch-emanzipatorische Ausrichtung
religiöser Bildung vor dem Horizont der religionspädagogischen Fachge-
schichte besitzt.

Als zweites werden religionspädagogische Grundlagenreflexionen ange-


führt, die – ausgehend von den geschichtlichen Hintergründen – die Frage
thematisieren, inwiefern ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ in der Lage sind, die
vielschichtige und heterogene Debatte um eine ‚neue politische Religions-
pädagogik‘ begrifflich zu orientieren. Es geht folglich darum, den Bogen
zu Diskussionen zu spannen, die derzeit in der Religionspädagogik geführt
werden. Dies betrifft besonders die Fragen nach einer politischen Dimen-
sion religiöser Bildung, einem öffentlichen und gerechtigkeitsorientierten
Anspruch der Religionspädagogik sowie einer ideologiekritischen Aus-
richtung ihrer Wissenschaftstheorie.

Im dritten und vierten Teil werden die beiden zentralen Bezugsdisziplinen


des Problemorientierten Religionsunterrichts konsultiert: Die kritische Er-
ziehungswissenschaft bzw. Pädagogik und die Politische Theologie. Auch
dort finden sich vielfältige Entwicklungen, die als ein Ringen um die Frage
„Zurück in die Zukunft?“ gedeutet werden können. Dabei lassen sich auch
Analogien zur religionspädagogischen Situation feststellen: Immer geht es
beispielsweise um die Frage, wie Kontextveränderungen und theoretische
Erneuerungen produktiv einbezogen werden können, ohne aus der jeweili-
gen Denktradition auszusteigen. Ein Ziel der Beiträge ist es, diese Ent-
wicklungen in den Bezugsdisziplinen darzustellen und ihre Potenziale für
die Religionspädagogik auszuloten.
18 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Im fünften Block werden die grundlagentheoretischen Überlegungen auf


konkrete Praxisfelder bezogen. Die exemplarische Auswahl ermöglicht es,
an vereinzelten Stellen Tiefenbohrungen vorzunehmen und das Potenzial,
aber auch die Probleme der erarbeiteten Reflexionskategorien zu überprü-
fen. Relevant ist es dabei, dass Beispiele religiöser Bildung sowohl aus
dem formalen als auch nonformalen Bereich angeführt werden.41 Die Viel-
falt der Praxisfelder – Schule, Ausbildung, Verbände und kirchliche Ein-
richtungen – muss exemplarisch bleiben. Gerade an der Stelle von Praxis-
reflexionen, so muss konstatiert werden, besteht weiterhin ein Desiderat.

Abgeschlossen wird der Band mit einem ausführlichen Resümee und ei-
nem Ausblick. In diesen wird versucht, die derzeitigen Entwürfe, ihre Ver-
netzungen und Verästelungen, angemessen darzustellen. Hier werden die
verschiedenen Argumentationsfäden erneut aufgegriffen und zu einem ge-
meinsamen Impuls für aktuelle (religionspädagogische) Diskurse zusam-
mengebunden. Damit soll auch die Problematik bearbeitet werden, dass –
wie es Folkert Rickers seit Jahrzehnten postuliert hat – die vielfältigen An-
sätze und Beiträge zu einer politischen Religionspädagogik „in jeder Be-
ziehung singulär“42 geblieben sind. Hinführungen, Resümee, Responses
und Verweise im Band zielen darauf, eine zerfaserte Debatte zu orientieren
und ihre Gravitationszentren herauszuarbeiten.

Die sechs Teile des Sammelbandes bieten eine erste Hinführung dazu, wie
religiöse Bildung kritisch-emanzipatorisch gedacht werden könnte. Der
Anspruch ist es, die vielfältigen Perspektiven der derzeitigen Debatten dar-

41 Während in der religionspädagogischen Reformdekade um 1968 die außerschulische


Bildung durchaus vernachlässigt wurde, lassen sich derzeit eher Probleme feststellen,
schulische Bildung kritisch-emanzipatorisch zu denken.
42 RICKERS, Folkert: Religion, in: SANDER, Wolfgang (Hg.): Politische Bildung in den Fä-
chern der Schule. Beiträge zur politischen Bildung als Unterrichtsprinzip, Stuttgart:
J. B. Metzler 1985, 96–115, 97. Vgl. DERS.: Politische Bildung im Religionsunterricht
und der Kapitalismus, in: Keryks 9 (2010), 145–172, 160.
Einleitung 19

zustellen und gemeinsame Grundannahmen, Spannungsfelder und Kontro-


versen sichtbar zu machen. Die unterschiedlichen Zugänge bieten erst im
Wechselspiel eine Möglichkeit, um die komplexen Begriffe ‚Kritik‘ und
‚Emanzipation‘ religionspädagogisch annähernd zu erschließen. Die doku-
mentierten Überlegungen sind dabei als Aufschlag und Auftakt zu verste-
hen, da vielfältige Standpunkte bisher nicht integriert werden konnten und
eine Menge Denkarbeit aussteht.
TEIL I –
HISTORISCHE SELBSTVERGEWISSERUNG
Die religionspädagogische Reformdekade um 1968:
Retrospektionen und Rekonstruktionen

Jan-Hendrik Herbst

‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ lassen sich historisch gesehen als zentrale re-
ligionspädagogische Konzepte verstehen. Für ihre spezifische Verbindung
und politische Imprägnierung besitzt die religionspädagogische Reformde-
kade um 1968 eine besondere Bedeutung.1 Diese kann als besonders inten-
sive Phase der Auseinandersetzung bezeichnet werden, in der gerade der
sogenannte Problemorientierte Ansatz Entwürfe eines kritisch-emanzipa-
torischen Religionsunterrichts umfasste.2 Und gerade „in postdemokrati-
schen Zeiten“3 wird erneut auf den Problemorientierten Religionsunter-
richt und dessen unabgegoltene Potenziale geschaut.4 In diesem ersten Teil
einer religionspädagogischen Auseinandersetzung mit ‚Kritik‘ und ‚Eman-
zipation‘ geht es um einen historischen Rückblick, um Retrospektionen
und Rekonstruktionen.

Die religionspädagogische Reformdekade um 1968 wird gemeinhin als


eine Phase von Innovation und Kontroverse angesehen, die noch auf aktu-
elle religionspädagogische Entwicklungen Auswirkungen besitzt. Auch
wenn es unterschiedliche Periodisierungen gibt, wird häufig der Zeitraum

1 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekon-


struktion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. RICKERS, Folkert / SCHRÖDER,
Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener The-
ologie 2010.
2 Vgl. die Überblickstabelle auf der letzten Seite des Werks von VIERZIG, Siegfried: Ide-
ologiekritik und Religionsunterricht, Zürich / Einsiedeln / Köln: Benziger 1975.
3 Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band.
4 Vgl. z. B. KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religions-
unterricht und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte und
Aktualität, in: ZPT 70 (2018), 128–141.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_2
24 Hinführung I

von 1965 bis 1975 angegeben. Als ihr Ausgangspunkt wird zumeist der
Vortrag „Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen?“5
von Hans-Bernhard Kaufmann betrachtet, der ein wichtiger Vertreter des
Problemorientierten Ansatzes war. Die Abgrenzung gegenüber einem bi-
belorientierten Unterricht (Evangelische Unterweisung oder katholische
Materialkerygmatik) war dabei ein entscheidender Grundimpuls. Wie der
Name dieses religionspädagogischen Programms bereits verrät, ging es da-
bei um eine Orientierung an lebensweltbezogenen Problemen, die auch
eine Nähe zu den Schüler*innen und ihren Anliegen ermöglichen sollte.
Diese Hinwendung zur Welt implizierte auch eine neue Auseinanderset-
zung mit Politik und Gesellschaft. Daher verwundert es nicht, wenn attes-
tiert wird, dass der Problemorientierten Konzeption „in besonderer Weise
das Politische […] eingeschrieben“6 ist.

Alle Bezugnahmen auf die religionspädagogische Reformdekade integrie-


ren kontextuelle Veränderungen und theoretische Neuerungen, sie legen
die Problemorientierte Konzeption „unter den gegenwärtigen gesellschaft-
lichen Bedingungen“7 neu aus. Dabei unterscheiden die Positionen sich da-
rin, ob diesen auch „als eigenständige Konzeption von Religionspädagogik
weiterhin Gültigkeit“8 attestiert wird. Problematisiert wird die „ungebühr-
liche Politisierung des Religionsunterrichts“9, seine internen Schwierigkei-
ten, Einseitigkeiten und Aporien. Dies lässt sich, wie Bernhard Grümme es
in diesem Band zeigt, am Emanzipationsbegriff veranschaulichen: Grüm-

5 KAUFMANN, Hans-Bernhard: Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts


stehen?, in: RICKERS, Folkert / DRESSLER, Bernhard: Thematisch-problemorientierter
Religionsunterricht. Aufbruch – Bewährung in der Praxis – Impulse, Neukirchen-
Vluyn: Neukirchener Verlagshaus 2003, 145–151.
6 KÖNEMANN, Judith: Art. Politische Religionspädagogik, in: WiReLex 2016 [abgerufen
am 27.03.2019].
7 KNAUTH 2018 [Anm. 4], 137.
8 EBD.
9 Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band.
Retrospektionen und Rekonstruktionen 25

me reflektiert, welche religionspädagogischen Konsequenzen die „Ein-


sprüche“ besitzen, die „insbesondere aus den Reihen poststrukturalisti-
scher Hermeneutiken geltend gemacht werden.“ 10 Dementgegen vertritt
Thorsten Knauth pointiert die Grundthese, dass die problemorientierte
Konzeption „nicht an ihren inneren konzeptionellen Schwächen und Apo-
rien scheiterte, sondern daran, dass ihr Anliegen, ihre Stoßrichtung einer
gesellschaftskritischen Konzeption nicht mehr gewünscht war.“11 Schließ-
lich könne eine „Vollgestalt“12 des Problemorientierten Ansatzes rekon-
struiert werden, die sich systematisch und reflexiv fortschreiben lässt. Da-
zu gilt es die gesellschaftlichen Kontextveränderungen und theoretischen
Weiterentwicklungen seit „1968“ adäquat aufzugreifen und daraus ablei-
tend an der „kategorialen Architektur“13 von Problemorientierung Umfor-
matierungen vorzunehmen.

In der religionspädagogischen Forschungsgemeinschaft ist diese Behaup-


tung jedoch umstritten. Thomas Schlag konzediert beispielsweise, dass die
„These von der mehr oder weniger bewussten politisch konservativen Un-
terwanderung und Ausschaltung gesellschaftskritischer Ansätze in der Re-
ligionspädagogik ab Mitte der 1970er Jahre so jedenfalls kaum zu halten
ist.“14 Für die heutige Religionspädagogik spielt der Problemorientierte
Religionsunterricht damit noch immer eine wichtige, jedoch ambivalente
Rolle.15 Ein Grundkonsens, zumindest im Rahmen dieses Sammelbandes,

10 EBD.
11 KNAUTH 2003 [Anm. 1], 309. Vgl. EBD., 123. Nach Knauth kann von einer innertheo-
logischen und gesamtgesellschaftlichen „Tendenzwende“ (EBD., 290) gesprochen wer-
den.
12 Beitrag von Thorsten KNAUTH in diesem Band.
13 EBD.
14 SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Religionspädago-
gik in politischer Perspektive, Freiburg / Basel / Wien: Herder 2010, 372.
15 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Konturen einer ‚neuen politischen Religionspädagogik‘?
Begriffstheoretische Betrachtungen einer zerfaserten Debatte, in: ÖRF 27/1 (2019), 28–
41.
26 Hinführung I

stellt die Position dar, dass die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ nicht
aufgegeben werden dürfen, weil sie ein wichtiges Problembewusstsein be-
wahren.

Als Annäherung an dieses Problembewusstsein wird ein dezidierter Blick


in die Vergangenheit gewagt. Die Frage ‚Zurück in die Zukunft?‘ soll näm-
lich auch an diejenigen gestellt werden, die bereits in der Vergangenheit
daran mitgewirkt haben, dass ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ religionspäda-
gogische Leit- und Strukturbegriffe wurden. Einige wichtige Akteur*in-
nen, die diesbezüglich religionspädagogische Impulse setzten, konnten für
ein Gespräch gewonnen werden, das einen Blick in den Rückspiegel bieten
kann. Einerseits wird gefragt, was eigentlich ‚zurück‘ meint. Es werden
noch einmal alte Fragen und Themen aufgeworfen und aus der Perspektive
involvierter Zeitzeug*innen besprochen. Andererseits wird man beim
Blick in den Rückspiegel, durch die Perspektive der Zeitzeug*innen, auch
selbst wahrgenommen. Es geht also nicht nur darum, wie man heute ange-
messen auf damals schauen, sondern auch, wie man sich heute adäquat den
Ansprüchen von damals stellen kann. Eine solche doppelte Hermeneutik
impliziert die Möglichkeit, damals von heute, aber auch heute von damals
zu kritisieren, schließlich – so konstatiert Hubertus Halbfas süffisant – wa-
ren die Religionspädagog*innen früher „ja nicht dümmer als die heute
Agierenden.“16

Am Gespräch beteiligt sind die evangelischen Religionspädagog*innen


Jürgen Heumann, Wolfgang Klein, Margot Rickers, Fulbert Steffensky
und Siegfried Vierzig sowie die katholischen Theolog*innen Hubertus As-
sig, Otto Betz, Kuno Füssel, Hubertus Halbfas, Norbert Mette, Rudi Ott,
Norbert Scholl und Hermann Steinkamp. Im Sammelband ist nur eine ge-
kürzte Version der Gespräche abgedruckt, in der auch nicht alle Interviews

16 Interview von Hubertus HALBFAS in diesem Band.


Retrospektionen und Rekonstruktionen 27

enthalten sind. Die Langversion kann auf der Verlagsseite zu diesem Buch
als Zusatzmaterial frei heruntergeladen werden. Gerade zur Auswahl und
Darstellungsweise der interviewten Personen seien vier (selbst-) kritische
Anmerkungen ergänzt.

1. Konfessionelle Trennung: Hinsichtlich der Darstellungsweise stellt


sich die Frage, wieso eine konfessionsspezifische Perspektive einge-
nommen wurde. Die rein analytische Differenzierung lohnt sich aus
zwei Gründen, aus geschichtswissenschaftlicher Redlichkeit und aus
systematischem Fortführungsinteresse. Erstens lassen sich so klarer
unterschiedliche Entwicklungen identifizieren, die es damals gab. Es
war gerade die evangelische Religionspädagogik, die problemorien-
tiert ausgerichtet war.17 Diese Differenzen und Ungleichzeitigkeiten
verdeutlichen, dass sich erst mit der religionspädagogischen Reform-
dekade langsam eine interkonfessionelle Ausrichtung der Religionspä-
dagogik abzeichnete. Zweitens lassen sich auf diese Weise bestimmte
Einseitigkeiten wechselseitig korrigieren. Während beispielsweise auf
evangelischer Seite historisches Bewusstsein und Gesellschaftsbezug
stärker ausgeprägt waren, können auf katholischer Seite ein sozial si-
tuierter Freiheitsbegriff sowie ein positiver Traditionsbezug geltend
gemacht werden. Insofern lassen sich die Unterschiede, im Sinne einer
„Ökumene der Profile“18, als gemeinsame Lernmöglichkeit begreifen.

17 Vgl. z. B. im Vergleich KNAUTH, Thorsten: 1968 und die evangelische Religionspäda-


gogik: Ansätze, Wirkungen, unabgegoltene Potenziale, in: RICKERS / SCHRÖDER 2010
[Anm. 1], 297–310 und METTE, Norbert: 1968 und die katholische Religionspädagogik:
Ansätze, Wirkungen, unabgegoltene Potenziale, in: RICKERS / SCHRÖDER 2010 [Anm.
1], 311–324. Johannes Heger konzediert beispielsweise, dass „die Aufnahme der ideo-
logiekritischen Perspektive in die kath. Religionspädagogik zunächst weniger intensiv
und flächendeckend erfolgte“ (HEGER, Johannes: Wissenschaftstheorie als Perspekti-
venfrage?! Eine kritische Diskussion wissenschaftstheoretischer Ansätze der Religions-
pädagogik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 138).
18 ENGLERT, Rudolf: Gibt es eine katholische / evangelische Religionspädagogik oder sind
wir ökumenisch?, in: Theo-Web 13/2 (2014), 21–26, 21.
28 Hinführung I

Dementgegen geht es mit einer solchen Differenzierung nicht darum,


„neue Versuche einer Akzentuierung von Konfessionalität“ 19 zu be-
feuern. Zudem muss konstatiert werden, dass gerade auch zwischen
den interviewten Personen Bezüge bestehen, die konfessionsübergrei-
fende Brückenschläge verdeutlichen. Zum Beispiel haben Hubertus
Halbfas und Siegfried Vierzig zusammengearbeitet, u. a. bei der Her-
ausgeberschaft der „Informationen zum Religionsunterricht“. Und
Kuno Füssel hat zusammen mit Fulbert Steffensky und Dorothee Sölle
eine Kritik am postmodernen Denken veröffentlicht.20
2. Einseitige Perspektive: Die beteiligten Personen haben sich in der Ver-
gangenheit (mehr oder weniger) intensiv mit der Thematik beschäftigt.
Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die befragten Personen
grundsätzlich mit den Begriffen ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ sympa-
thisieren. Auch wenn dadurch einige Stimmen, die derzeit weniger Ge-
hör finden, noch einmal im religionspädagogischen Diskurs einen Re-
sonanzraum erhalten, sollte diese einseitige Perspektive bedacht wer-
den. Sie stellt nicht nur keinen Konsens in der religionspädagogischen
scientific community dar, sie ist tendenziell eine Außenseiterposition.
3. Androzentrische Geschichtsschreibung: Grundlegend thematisiert
werden muss die starke Ungleichheit hinsichtlich des Geschlechterver-
hältnisses, die auch für diesen Sammelband zu problematisieren ist. So
gilt auch und gerade für den Problemorientierten Religionsunterricht,
dass dessen Historiographie dazu tendiert, „die in der Wissenschafts-
geschichte fast vergessenen Frauen“21 unsichtbar zu machen. Auch
wenn konstatiert werden kann, dass in der Reformdekade um 1968 ins-
gesamt sehr wenige Frauen in der wissenschaftlichen Religionspäda-

19 EBD.
20 Vgl. FÜSSEL, Kuno / SÖLLE, Dorothee / STEFFENSKY, Fulbert: Die Sowohl-als-auch-
Falle. Eine theologische Kritik des Postmodernismus, Luzern: Edition Exodus 1993.
21 MEYER-BLANCK, Michael: Kleine Geschichte der evangelischen Religionspädagogik:
Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Gütersloh: Chr. Kaiser 2003, 179.
Retrospektionen und Rekonstruktionen 29

gogik tätig waren,22 stellt diese Situation auch in Bezug auf die Inter-
views ein Problem dar: Nur eine Frau, Margot Rickers, kommt in die-
sen zu Wort. Dies besitzt zudem den faden Beigeschmack, dass sie
manchen auch nur als Frau vom Religionspädagogen Folkert Rickers
bekannt ist. Um die bisherige „androzentrische […] Geschichtsschrei-
bung der Religionspädagogik“23 nicht zu verschärfen, soll auf einige
namhafte Religionspädagoginnen hingewiesen werden, die zum Prob-
lemorientierten Religionsunterricht, zu ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘,
interessante Beiträge verfasst haben. Dadurch soll zumindest eine re-
duzierte Form der „‚Sichtbarmachung‘ der Frauen“24 ermöglicht wer-
den. Zum einen sind Gritta Ulrich und Christine Reents, die Professo-
rin für Praktische Theologie in Wuppertal war, zu nennen, die Beiträge
zum Problemorientierten Religionsunterricht25 und kritischer Bil-
dung26 verfasst und sich zugleich mit der Geschlechterfrage in der re-
ligionspädagogischen Forschung beschäftigt haben. Dann gilt es Hele-

22
Vgl. dazu exemplarisch Thomas Schlags umfassende Analyse der Zeitschrift „Der
evangelische Erzieher“ bzw. ZPT. Im Zeitraum von „1968“ haben dort insgesamt „nur
neun Frauen“ (SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Re-
ligionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg / Basel / Wien: Herder 2010, 85,
Fn. 271) Aufsätze veröffentlicht, unter anderem D. Sölle.
23 PITHAN, Annebelle: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Religionspädagoginnen des 20. Jahr-
hunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 9–19, 12.
24 EBD., 13.
25 Vgl. ULRICH, Gritta: Die Bewährung des thematisch-problemorientierten Religionsun-
terrichts in der Praxis der Grundschule und der Sekundarstufe 1, in: RICKERS, Folkert /
DRESSLER, Bernhard (Hg.): Thematisch-problemorientierter Religionsunterricht. Auf-
bruch – Bewährung in der Praxis – Impulse, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlags-
haus 2003, 39–52. Ulrich war Assistentin bei Liselotte Corbach. Vgl. PITHAN, Anne-
belle: Liselotte Corbach. Einstehen für die eigene Überzeugung, in: DIES. 1997 [Anm.
23], 135–159, 156.
26 REENTS, Christine: Erziehung zum kritisch-produktiven Denken im Religionsunterricht
der Grund- und Orientierungsstufe. Theoretische Grundlegung, Gütersloh: Gerd Mohn
1974. REENTS, Christine: Erziehung zum kritischen Denken im Religionsunterricht 3.
bis 6. Schuljahr, Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg / Patmos 1973. Reents und
Ulrich haben auch beide in dem angeführten Sammelband zu „Religionspädagoginnen
im 20. Jahrhundert“ publiziert. Reents selbst war u. a. Privatdozentin in Oldenburg.
30 Hinführung I

ne Ramsauer zu erwähnen, die eine der ersten Professorinnen für Re-


ligionspädagogik war und einen enormen Einfluss auf die „Oldenbur-
ger Schule“ um Rickers und Vierzig besaß.27 Ebenso kann Marie Veit,
eine ehemalige Lehrerin von D. Sölle, genannt werden. Veit war Pro-
fessorin für Religionsdidaktik von 1972 bis 1989 in Gießen. Inspiriert
durch die bekennende Kirche gründete sie das ‚Politische Nachtgebet‘
und ‚Christen für den Sozialismus‘ mit.28
4. Lokale Schwerpunktsetzungen: Die interviewten Personen sind größ-
tenteils mit zwei Orten verbunden und lassen sich daher (möglicher-
weise) einer „Oldenburger Schule“29 bzw. einer „Münsteraner Schu-
le“30 zuordnen. Der Vorteil dieser lokalen Schwerpunktsetzungen liegt
darin, bestimmte Grundlinien, Fragen und theoretische Perspektiven
tiefgreifender zu durchdringen. Zugleich impliziert dies, wie auch die
Punkte 2 und 3, eine fehlende Breite. Beispielsweise fehlen wichtige
Personen bzw. Schulen, zum Beispiel Gert Otto und seine Schüler wie
Henning Luther, Hans-Joachim Dörger oder Jürgen Lott.31 Ebenso wä-
ren Dietrich Zilleßen und sein Schüler Bernd Beuscher zu nennen.32

27 Vgl. REENTS, Christine: Helene Ramsauer. Mit Herz und Seele Lehrerin in Schule und
Hochschule, in: PITHAN 1997 [Anm. 23], 100–116. SCHIRMER, Helmut: Religionspäda-
gogik an der Reformuniversität Oldenburg. Entwicklung und Profil der Fachdidaktik
Religion, in: DERS. (Hg.): Religionspädagogik im Widerstreit: Ein Oldenburger Quel-
len- und Studienbuch, Bern: Peter Lang 2011, 9–33, 11.
28 Von Interesse ist auch, dass gerade Frauen wie Veit oder Reents kritisch gegenüber
einem Religionsunterricht waren, der die biblische Tradition nicht ausreichend berück-
sichtigt (vgl. zu Veit z. B. den Artikel von Else Grell, in: PITHAN 1997 [Anm. 23], 307–
309; vgl. zu Christine Reents: Knauth 2003 [Anm. 1], 277).
29 Interview von Jürgen HEUMANN in diesem Band.
30 Interview von Norbert METTE in diesem Band.
31 Vgl. OTTO, Gert / DÖRGER, Hans-Joachim / LOTT, Jürgen: Neues Handbuch des Reli-
gionsunterrichts, Hamburg: Furche 1972. LUTHER, Henning: Kritik als pädagogische
Kategorie untersucht an H. J. Gamm: Kritische Schule und H. Stock: Religionsunter-
richt in der kritischen Schule, in: Praktische Theologie 8 (1973), 3–16.
32 Vgl. ZILLEßEN, Dietrich (Hg.): Religionsunterricht und Gesellschaft. Plädoyer für die
Freiheit, Düsseldorf: Patmos 1970. DERS.: Emanzipation und Religion. Elemente einer
Theorie und Praxis der Religionspädagogik, Frankfurt am Main: Diesterweg 1982.
Retrospektionen und Rekonstruktionen 31

Darüber hinaus hätte auch eine Auseinandersetzung mit den religions-


pädagogischen Ansätzen von Dieter Stoodt, Peter Biehl, Karl Ernst
Nipkow und Hans-Bernhard Kaufmann weiterführend sein können.

DERS.: Emanzipatorischer Religionsunterricht? Eine Bilanz, in: RpB 3 (1979), 37–75.


Zilleßens Beiträge eignen sich hervorragend, um einen ersten, äußerst differenzierten
Überblick über die Debatte um eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik zu
erhalten. Gerade im letztgenannten Aufsatz bilanziert Zilleßen auf eine prägnante Wei-
se die verschiedenen Ansätze (vgl. EBD., 47–56) und die artikulierte Kritik an ihnen
(vgl. EBD., 56–65). Dabei tritt er selbst mit einer pointierten Position auf, die versucht
zwischen den Ansätzen und ihren Problemen zu vermitteln (vgl. EBD., 65–75). Sein
Fazit lautet noch 1979: „Ich meine aber, daß in diesem Beitrag neue Möglichkeiten und
Chancen für einen emanzipatorischen RU aufgezeigt wurden, der sich weder in dem
pädagogischen Dilemma deterministischer Sozialisationstheorien verliert noch sich von
dem naiven Ruf beirren läßt: ‚Zurück zu den Realitäten‘ und ‚Zurück zu dem wirklichen
Menschen‘ im Sinne derer, die die ‚Tendenzwende‘ proklamieren“ (EBD., 74). So wen-
det er sich entschieden gegen eine oberflächliche Diskreditierung der Begriffe ‚Kritik‘
und ‚Emanzipation‘: Problematisch sei es beispielsweise, wenn die Position von Rein-
hard Dross „pauschal als marxistisch“ (EBD., 55, Fn. 46) abgewertet werde. Sein Schü-
ler Bernd Beuscher hat diesen Ansatz auf seine Weise weitergedacht: BEUSCHER,
Bernd: Wie man ein Kind lieben soll. Perspektiven einer ideologiekritischen Religions-
pädagogik, in: International Journal of Practical Theology 4 (2000), 42–61. DERS.: Art.
Ideologie, Ideologiekritik, in: Lexikon der Religionspädagogik II (2001), 855–859.
Problemorientierter Religionsunterricht:
Vernachlässigtes Potential für eine politisch sensible
Religionspädagogik in postdemokratischen Zeiten?

Bernhard Grümme

Abstract: Wer das Konzept der Problemorientierung in der Religionspädagogik


gegenwärtig revitalisieren möchte der hat es schwer. Von den einen wurde es be-
reits in seiner Blütezeit am Ende der 1968er Jahre als ungebührliche Politisierung
des Religionsunterrichts verabschiedet, von den anderen dagegen als Praxis ge-
würdigt, nun auch religionspädagogisch im Rahmen der Aufbrüche des II. Vati-
kanums die „Zeichen der Zeit“ ernst zu nehmen. Unter spätmodernen Bedingun-
gen dagegen ist schon die leidenschaftliche Insistenz auf Geltung und normativen
Wahrheitsansprüchen hoch legitimationsbedürftig. Vor diesem Hintergrund
nimmt der vorliegende Beitrag den Problemorientierten Religionsunterricht als
Ort, wo sich die Heterogenitätsfähigkeit und damit die Gegenwartsfähigkeit der
Religionspädagogik entscheidet.

„Will politische Bildung mehr sein als nur eine Bestätigung und Verteidigung
bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse […], so muß ihr Ziel sein, zur Demo-
kratisierung der Gesellschaft und zur Emanzipation der Menschen beizutragen.
Demokratisierung bedeutet insbesondere den Abbau überflüssiger und daher ir-
rationaler Herrschaft von Menschen über Menschen […]. Erziehung zur Demo-
kratie bedeutet demnach Stärkung des Widerstandes gegen Ausbeutung und Herr-
schaft im Zusammenhang einer nicht demokratisch kontrollierten Reproduktion
der Gesellschaft.1

Was Rolf Schmiederer hier als politikdidaktische Maxime postuliert, darf


sicher als die Maxime einer auf Ideologiekritik, Emanzipation, engagierte
politische Praxis und Demokratisierung ausgerichteten Politikdidaktik be-
trachtet werden. Schmiederer gewinnt damit emblematische Bedeutung für

1 SCHMIEDERER, Rolf: Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und
Didaktik des Politischen Unterrichts (= Theorie und Geschichte der politischen Bil-
dung), Frankfurt am Main: Evangelische Verlagsanstalt 1971, 37–38.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_3
34 Bernhard Grümme

eine Politikdidaktik im Kontext der von politischer Leidenschaft für ge-


sellschaftliche, politische und kulturelle Veränderungsprozesse aufgeheiz-
ten Debatten der 1968 Jahre.2

Unter deren Eindruck wie zugleich unter dem zunehmend entfalteten Be-
wusstsein gesellschaftlich-politischer Kontextualisierung entfaltet sich
ebenfalls in der Religionspädagogik eine vergleichbare Ausrichtung an
Emanzipation und Ideologiekritik. Das Evangelium soll eingespielt wer-
den in das gesellschaftliche Ringen um Befreiung und Mündigkeit. Und so
formuliert in einer signifikanten Parallelität der Aufbruchsstimmung der
für diesen Teil religionspädagogischer Debatten signifikante Folkert Ri-
ckers, „dass die Aufgabe der Religionspädagogik primär eine politische
sein müsse. Sie ist nicht ihre einzige. Aber in der politischen Intention kul-
miniert die gesamte Arbeit der Religionspädagogik in Hochschule und
Schule“. Diese finde ihr Ziel „als eine politisch intendierte Religionspäda-
gogik“. In dieser sollen die Schüler „unter besonderer Berücksichtigung
des religiösen Bereichs (religiöse Traditionen, deren Wirkungsgeschichte
und deren Aktualisierung in religiösen Institutionen und im gesellschaft-
lich-politischen Leben) befähigt werden zu einem begründeten politischen
Bewusstsein und Engagement für emanzipatorische, gesellschaftsverän-
dernde Praxis. Auf dieser Basis vermag der einzelne seine Identität zu fin-
den, die auch als politische eine dezidiert religiöse sein kann“.3

2 Vgl. GÖRTLER, Michael / LOTZ, Mathias / PARTETZKE, Marc u. a. (Hg.): Kritische politi-
sche Bildung: Standpunkte und Perspektiven, Schwalbach am Taunus: Wochenschau
2017; NASSEHI, Armin: Gab es 1968? Eine Spurensuche, Hamburg: kursbuch.edition
2018.
3 Vgl. RICKERS, Folkert: Die politische Aufgabe der Religionspädagogik, in: DERS. (Hg.):
Religionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsentwürfe im Überscheidungs-
feld, Stuttgart: Calwer 1973, 9–32; Vgl. RICKERS, Folkert / SCHRÖDER, Bernd (Hg.):
1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Vandenhoek & Ruprecht 2010;
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 35

Solche Sätze lassen aufhorchen. Werden nicht in diesem Text aus dem Jahr
1973 die Bibel und die christliche Tradition nicht mehr als sie selbst wahr-
genommen und in den Lernprozess eingebracht, sondern von vornherein
der politischen Praxis dienstbar gemacht? Die Glaubenstradition als Stein-
bruch der Identitätsbildung, die selbst vor allem politisch intendiert ist?
Das hier artikulierte Politikverständnis wird streng normativ als eine eman-
zipatorische, auf gesellschaftliche Transformation ausgerichtete Praxis ge-
fasst. Der Glaube scheint einer so qualifizierten politischen Bewusstseins-
bildung untergeordnet, einer Identität, die zunächst eben politisch definiert
und erst dann auch entschieden religiös sein kann. Die Eigenlogik des Re-
ligiösen gegenüber Politik, Ethik und Vernunft scheint hier jedenfalls in
bedrohlicher Intensität relativiert.

Hoch prominent wird diese spannungsvolle Thematik bis in die aktuellen


Kontroversen um Ansatz, Logik und Gestalt einer den Herausforderungen
der Spätmoderne angemessenen religionspädagogischen Bildungstheorie
hinein von Bernhard Dressler formuliert, der in exemplarischer Weise un-
ter Rekurs auf Schleiermacher die Religion als eine „eigene Provinz im
Gemüt“ profiliert und dies durch eine systemtheoretisch zugespitzte Logik
differenter Weltzugänge grundiert.4 Es gebe Dimensionen von Religion
kulturhermeneutischer, phänomenologischer, religionsästhetischer oder
auch liturgischer Art, die durch eine „nur soziale und politische“ Herme-
neutik nicht einzulösen seien. Schule dürfe die Gegenstände des Lebens

KÄBISCH, David: Religionspädagogische Resonanzen in Ost und West: 1968 in trans-


nationaler Perspektive, in: ZPT 70 (2018), 167–179.
4 Vgl. DRESSLER, Bernhard: Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig: Evange-
lische Verlagsanstalt 2006, 185–188; Kritisch: SCHWEITZER, Friedrich, Religiöse Bil-
dung ohne Ethik. Zur ethischen Dimension des Religionsunterrichts, in: JRP 31 (2015),
13–23.
36 Bernhard Grümme

nur in „ästhetisch-reflexiver Gebrochenheit“ thematisieren.5 Dementspre-


chend wäre zu fragen, ob es nicht sein könnte, dass in dem emanzipatori-
schen Aufklärungsprogramm die
„darin virulente und durchaus verständliche Sorge um Mündigkeit, Kritikfähig-
keit und nicht-autoritäre Charakterfixierung eher ins Leere lief, weil Kindern und
Jugendlichen die Ideologiekritik der gesellschaftlichen Verhältnisse abverlangt
wurde, bevor ihnen Sinn und Legitimitätsansprüche der bestehenden Welt begeg-
neten? Es gibt in Deutschland gerade in Erziehungsinstitutionen die Neigung,
eine Art Entlarvungshaltung gegenüber der Welt einzunehmen, die die Kritik der
bestehenden Verhältnisse vor das Verstehen der Welt setzt.“6

Während es in der politischen Bildung um Fragen gehe, die alle in den


Raum öffentlicher Erörterung gehören und deren Erörterung selber noch
einmal einen wesentlichen Teil der Politik ausmache, sind religiöse Fragen
als letzte Fragen, die auch immer mit einer existentiellen Praxis zusam-
menhängen, einem prozeduralen Entscheidungsprozess enthoben. Deshalb
sei es „die Unterscheidung zwischen Politik und Religion und zwischen
politischer und religiöser Bildung“, die die „politische Bedeutung religiö-
ser Bildung sichtbar macht“.7

Die Brisanz dieser ebenso grundlegenden wie radikalen Abrechnung mit


einer politischen Dimension religiöser Bildung liegt nicht zuletzt darin,
dass mit ihr längst die historische Perspektive verlassen und das Feld ge-
genwärtiger Auseinandersetzung um eine ungebührliche Politisierung re-
ligiöser Bildung betreten wurde. Es ist vor allem der Problemorientierte
Unterricht, der als historisches Phänomen zum Ausgangspunkt wie Refe-

5 DRESSLER, Bernhard: Rez. zu KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunter-


richt. Eine kritische Rekonstruktion, in: Theologische Literaturzeitung 12 (2004),
1369–1373, 1372–1373.
6 DRESSLER, Bernhard: Religion und Bildung in den Differenzen des Lebens, in: ZPT 59
(2007), 269–286, 277–278.
7 DRESSLER, Bernhard: Welchen Beitrag zur Demokratie ist von religiöser Bildung zu
erwarten, in: DERS.: Blickwechsel. Religionspädagogische Entwürfe, Leipzig: Evange-
lische Verlagsanstalt 2008, 57–77, 77.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 37

renzpunkt von religionspädagogischen Selbstverortungs- und Selbstlegiti-


mationsdiskursen in der Gegenwart wird.8 So gewinnt die Problemorien-
tierung eine geradezu emblematische Bedeutung für das Ringen um eine
angemessene Kontextualisierung religiöser Lernprozesse zwischen den je-
weils unangemessenen Polen einer bloßen, letztlich affirmativen Wert-
neutralität und einer hypermoralisch aufgeladenen Politisierung.

Vergleichbare Diskussionen über eine ungebührliche Politisierung von


schulischen Bildungsprozessen aber vollziehen sich derzeit ebenfalls in der
Politikdidaktik. Und damit gewinnt diese Auseinandersetzung nochmals
sowohl an Dynamik wie an aktueller Brisanz.

In der Politikdidaktik profiliert sich mitten im Konflikt zwischen den Kon-


zepten der Politischen Bildung der Demokratiepädagogik derzeit mit
wachsender Intensität das Konzept der Kritischen Politischen Bildung, das
in den Spuren der Kritischen Theorie eine starke Normierung vornimmt.9
Politikdidaktik zielt demnach auf Ideologiekritik, auf Emanzipation, Mün-
digkeit und kritische Selbstaufklärung der Macht- und Gesellschaftsstruk-
turen, denen sie selber verhaftet bleibt, der Mechanismen von Rassismus,
von ungerechten Geschlechterverhältnissen und der Ausbeutung von Na-
tur.
„Sie zielt auf Demokratisierung und den Abbau von Unterdrückung, sozialer Un-
gleichheit und auf die Überwindung sozialer Ausgrenzung. Sie fordert die Aus-
weitung gesellschaftlicher und demokratischer Teilhabe und begreift gesell-
schaftliche Verhältnisse als von Menschen gemacht und somit als politisch ver-
änderbar. Kritische Gesellschaftsanalyse eröffnet in ihren Analysen Alternativen

8 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religionsunter-


richt und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte und Ak-
tualität, in: ZPT 70 (2018), 128–141.
9 Vgl. WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politi-
sche Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013; GÖRTLER, Michael / LOTZ,
Mathias / PARTETZKE, Marc u. a. (Hg.): Kritische politische Bildung: Standpunkte und
Perspektiven, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2017.
38 Bernhard Grümme

und Perspektiven, wie eine zukünftige Gesellschaft gestaltet sein kann. Eine kri-
tische politische Bildungspraxis will darauf aufbauend ermöglichen, dass die
Subjekte die Macht- und Herrschaftsverhältnisse begreifen, in die sie eingebun-
den sind. Sie sollen Handlungsmöglichkeiten entwickeln können, diese Verhält-
nisse zu gestalten und verändern. Dafür ist es notwendig, dass sich die politische
Bildung kritisch und kontrovers mit den aktuellen Verhältnissen auseinander-
setzt.“10

Dieses strikt auf Emanzipation verpflichtende Konzept ist nun allerdings


insbesondere von Seiten der Politischen Bildung einer grundstürzenden
Dekonstruktion unterzogen worden. Hier läge nicht nur ein Verstoß gegen
den Beutelsbacher Konsens vor, dessen Postulat der Kontroversität des
Unterrichts wie der Pluralität der ihm zugrundeliegenden Bezugstheorien
unterschlagen würde. Hier sei eine geradezu bekenntnishaft weltanschau-
lich aufgeladene, hoch parteipolitisch instrumentalisierte Inanspruch-
nahme des Kritikbegriffs am Werke, die nicht nur übersehe, dass jede po-
litische Bildung per se bereits kritisch zu nennen sei, sondern die vor allem
die Eigenlogik der pädagogischen Praxis unterlaufe, die „sich von der Lo-
gik politischen Handelns unterscheidet“.11

Unversehens sind wir hiermit in unseren Überlegungen an einem Punkt


angelangt, wo sich gegenwärtige und historische Debatten um eine unge-
bührliche Politisierung von Religionspädagogik bzw. Politikdidaktik über-
lagern. Vor dem Hintergrund der engen hermeneutischen, begrifflichen
wie gegenständlichen Verbindung zur Politikdidaktik die es verlangt wie
ermöglicht, beide Diskussionen aufeinander zu beziehen,12 rückt damit er-

10 LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas: Einleitung; in: DERS.: Kritische politische Bildung.
Ein Handbuch (= Politik und Bildung), Bonn: Wochenschau 2011, 7–11, 8.
11 SANDER, Wolfgang: „Kritische politische Bildung“ – eine Dekonstruktion; in: WID-
MAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische Bil-
dung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 240–248, 247.
12 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grund-
satzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des RU, Stuttgart:
Kohlhammer 2009; GRÜMME, Bernhard / SANDER, Wolfgang, Von der „Vergegnung“
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 39

neut aus der Perspektive der Religionspädagogik das Konzept der Prob-
lemorientierung in den Fokus. Ihm kommt insofern emblematische Bedeu-
tung zu, als dass sich in der Positionierung zu ihm das Profil, die Logik
und die Kraft religiöser Bildung im Gegenwartskontext manifestiert. Er
gerät zum Kristallisationspunkt und – insofern der gegenwärtige Kontext
als der einer durchgreifenden Heterogenität der Lebenswelten begriffen
wird – zum Bewährungsort heterogenitätsfähiger Religionspädagogik.13

Um diese These zu verstehen und zu begründen, gilt es, in vier Schritten


zu argumentieren: nach 1. einer Darlegung von Ansatz und Ziel des Prob-
lemorientierten RU und 2. der kritischen Diskussion seines Gegenwartspo-
tentials sollen 3. im Lichte einer kritischen Erörterung des Emanzipations-
begriffs schließlich 4. das Profil einer politisch dimensionierten Religions-
pädagogik gekennzeichnet werden, die den Herausforderungen des hetero-
genen Gegenwartskontextes entspricht.

1 Versprechen auf Befreiung: Problemorientierter


Religionsunterricht
„Als Gesamtkonzeption beinhaltet der problemorientierte Religionsunterricht
zentrale Elemente einer politisch dimensionierten und interdisziplinär arbeiten-
den kritischen Theorie religiöser Lernprozesse. Zugleich ist er konstitutiv auf Pra-
xis bezogen und an den kontextuell unterschiedlichen lebensweltlichen Praxen
der Subjekte orientiert.“14

Wohl kaum eine andere Konzeption der Religionspädagogik sieht sich da-
mit selber einem kritisch-theoretischen Aufbruch in die Moderne ver-
pflichtet, um Anschlussfähigkeit an die Prozesse der Modernisierung und
der Emanzipation zu gewinnen, wie das zwischen 1965–1975 entwickelte

(Martin Buber) zum Dialog? Das Verhältnis von Religionsdidaktik und Politikdidaktik,
in: Theo-Web 7/1 (2008), 143–157.
13 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und
konkrete Bausteine, Freiburg im Breisgau: Herder 2017.
14 KNAUTH 2018 [Anm. 8], 137.
40 Bernhard Grümme

Konzept des Problemorientierten Religionsunterrichts. Mit seinem Ansatz,


den RU dezidiert und selbstreflexiv in seinem politisch-sozialen Bedin-
gungsgefüge zu verorten, unterscheidet er sich bereits im Ansatz von der
Materialkerygmatik der Evangelischen Unterweisung wie des Hermeneu-
tischen Religionsunterrichts. Hans Bernhard Kaufmann und Horst Gloy,
Protagonisten des Problemorientierten RU, die die Mittelpunktstellung der
Bibel im RU problematisierten, charakterisieren rückblickend dessen An-
liegen folgendermaßen: Es ging in der Problemorientierung weder um ganz
andere Themen als im bisherigen RU, noch um die Alternative zwischen
Themen und biblischen Texten.
„[V]ielmehr [ging es] um einen veränderten Zugang zur komplexeren Lebens-
wirklichkeit auf der Schnittfläche zwischen anthropologischen und theologi-
schen, existentiellen und biblischen, sozialen, ethischen und politischen Frage-
stellungen: Themen werden nicht aus einer kirchlichen bzw. theologischen Tra-
dition entdeckt und bearbeitet; sie gewinnen ihre Tiefendimension, indem sie mit
biblischer Tradition und anderen religiösen Aussagen verschränkt werden. So
können Optionen für eine verantwortliche Mitarbeit an einem Zusammenleben
entstehen, das Verheißungen auf ein ‚Mehr’ an Menschlichkeit, Gerechtigkeit
und Frieden in sich trägt.“15

Auf diese Weise hat sich der RU in die im Horizont emanzipatorischer


Erneuerung hoch dynamisierten gesellschaftlichen wie kulturellen Moder-
nisierungsprozesse seiner Zeit gestellt, indem er selber theologische, erzie-
hungswissenschaftliche, politische, gesellschaftliche und bildungspoliti-
sche Aspekte des tiefgreifenden Wandlungsprozesses zusammenhält und
bis in curriculare Aufbrüche erhebliche Impulse bis in die Gegenwart frei-
setzt.16 Ausgangspunkt religiösen Lernens ist nicht wie in kerygmatischen
Konzepten der Verkündigungsauftrag der Kirche, dem der RU untergeord-
net wird. Auch stehen nicht die Prozesse des aneignenden Verstehens
christlicher Tradition im Zentrum. Religiöses Lernen wird vielmehr einge-

15 GLOY, Horst / KAUFMANN, Hans Bernhard: Vorwort, in: KNAUTH, Thorsten (Hg.): Prob-
lemorientierter Religionsunterricht (= ARP 23), Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht
Verlag 2003, 7–9, 7–8; Vgl. KNAUTH 2018 [Anm. 8], 219–220.
16 Vgl. KNAUTH 2003 [Anm. 15.], 88–90.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 41

ordnet in die Orientierungsbedürfnisse und Selbstfindungsprozesse der


Menschen in Geschichte und Gesellschaft. Der Rückgang auf lebenswelt-
liche Erfahrungen gewinnt integralen Charakter. Insgesamt kann der Be-
griff ‚problemorientierter Religionsunterricht’ somit verstanden werden
als eine
„Sammelbezeichnung für eine Reihe von religionspädagogischen Begründungs-
ansätzen, die beanspruchen, religiöse Lernprozesse mit Bezug auf Lebenssituati-
onen von Schülern und gesellschaftliche Probleme bzw. Herausforderungen zu
initiieren. Es sind also theoretische, curriculare und unterrichtspraktische Neuent-
würfe gemeint, die versuchten, das bis dahin im Religionsunterricht dominante
bibelorientierte, hermeneutische Paradigma abzulösen, um den Religionsunter-
richt auf Gegenwartsprobleme und Schülerbedürfnisse zu öffnen, ihn stärker
schulpädagogisch zu verankern und mit Bezug auf neue Diskussionen in Theolo-
gie und Sozialwissenschaften zu begründen.“17

Als Fazit seiner profunden wie differenzierten Auseinandersetzung mit


dem Problemorientierten RU kommt Thorsten Knauth zu einer klaren Be-
wertung. In diesem Ansatz lag die „religionspädagogische Gesamtkonzep-
tion eines gesellschaftsbezogenen und theologisch fundierten Religionsun-
terrichts“ vor,
„der sowohl über ein klares fachspezifisches Profil verfügte als auch eine sehr
produktive Anschlussfähigkeit für fächerverbindendes Arbeiten. Am Ende der
Reformära fand man ein reifes Konzept vor: Die didaktische Erneuerung im be-
grifflichen Rahmen einer kulturellen Modernisierung hatte stattgefunden.“18

Bis heute sei der Problemorientierte RU in seinem konzeptionellen An-


spruch gerade in den derzeitigen Entpolitisierungstendenzen in der Religi-
onspädagogik deshalb „bleibend notwendig“.19 Demgegenüber legt
Knauth in einer luziden Unterscheidung drei Mechanismen frei, durch die
dessen bleibende Gültigkeit in eben diesem religionspädagogischen Ge-
genwartsdiskurs relativiert würde: die Diffundierungsthese, nach der die
modernisierenden Gehalte des Problemorientierten Religionsunterrichts in

17 EBD., 13.
18 EBD., 316.
19 KNAUTH 2018 [Anm. 8], 128.
42 Bernhard Grümme

anderen Konzeptionen aufgehoben seien; die Verfallsthese, die wegen ei-


nes angeblichen Traditions- und Sprachverlusts der Heranwachsenden zu-
recht auf das Ende des Problemorientierten RU rekurriere und schließlich
der Strukturthese, die den Problemorientierten RU wohl für didaktisch re-
levant, aber angesichts der Komplexität des Religionsunterrichts als Kon-
zeption für überfordert und deshalb zurecht für verabschiedet halte.20 Frei-
lich weiß auch Knauth angesichts der historisch tradierten wie aktuellen
Kritiken um die Notwendigkeit, den Problemorientierten RU unter den ge-
genwärtigen kontextuellen Bedingungen neu in seinem konzeptionellen
Anspruch auszuweisen. Doch entspricht er damit dem Niveau dieser Kri-
tiken?

2 Emanzipationsversprechen als eine ungebührliche


Politisierung? Zur Aporetik des Problemorientierten
Religionsunterrichts

Ein bereits zeitgenössisch, aber bis in die Gegenwart diskutierter Gesichts-


punkt stellt das Gewicht der Tradition dar. An dieser Frage entzündet sich
die Frage nach dem Rang einer politischen Dimension bis in die derzeiti-
gen religionspädagogischen Debatten. Tradition wird im Problemorientier-
ten RU mit den Mitteln einer politischen Hermeneutik reformuliert.
Gleichwohl gab es eingestandenermaßen „in manchen Ansätzen problem-
orientierter Religionspädagogik“ Positionen,21 die Tradition letztlich zu ei-
nem Steinbruch für gesellschaftliche Problemlösungen herabwürdigten
und in der Durchführung ihres Anliegens, „in den ‚Stoff des Lebens’ die
Texte der Traditionen hineinzuweben, mitunter auf halbem Wege stecken
geblieben“ sind.22 So sehr der problemorientierte Religionsunterricht wie

20 EBD., 137.
21 KNAUTH 2003 [Anm. 15.], 151; vgl. NIPKOW, Karl Ernst: Problemorientierter Religi-
onsunterricht, in: LexRp 2001, 1559–1565.
22 KNAUTH 2003 [Anm. 15.], 328; Vgl. EBD., 150–152.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 43

ein Befreiungsschlag aus jenen Verkrustungen und Heteronomien der


überwiegend vermittlungsorientierten Konzepte wirkte, so galt der prob-
lemorientierte Ansatz wegen seiner Tendenz, die biblische Botschaft in ih-
rem unverrechenbaren Eigenwert und uneinholbaren Anspruchs zu banali-
sieren, letztlich als konzeptionell aporetisch und wurde durch den auf Tra-
dition wie Lebenswelt in kritisch-produktiver Wechselseitigkeit setzenden
Ansatz der Korrelationsdidaktik ersetzt.23

Doch die Gefahren, die in einer solchen Entkoppelung von Tradition und
Emanzipation, von Hermeneutik und Ideologiekritik liegen, sind kritisch
analysiert, im weitesten Sinne historisiert und doch zugleich als kritisches
Korrektiv in den Gegenwartsdiskurs eingespielt. Die Frage allerdings wird
dann umso dringlicher, ob Knauth als der maßgebliche Vertreter dieser
Konzeption der Komplexität der eingangs skizzierten Herausforderungen
in seiner Analyse wie in seiner produktiven Weiterentwicklung des Kon-
zepts tatsächlich entspricht. Kann sein fortgeschriebenes Konzept deren
Einsprüche angemessen parieren? Gewiss bleibt es unverzichtbares Erbe
des Problemorientierten Religionsunterrichts, dass sich darin der Religi-
onsunterricht seiner politischen Implikationen selbstreflexiv vergewis-
serte, seine Inhalte immer auch in politischen Kategorien durchbuchsta-
bierte und damit versuchte, die kritisch-befreiende Kraft des christlichen
Glaubens im Kampf um das Subjektseinkönnen und die Autonomie aller
vor Gott zur Geltung zu bringen. Ein solcher RU durchbrach damit die
zeitlose Existentialisierung, Spiritualisierung und Individualisierung seiner

23 Stellvertretend aus evangelischer Sicht: STURM, Wilhelm: Religionspädagogische Kon-


zeptionen des 20. Jahrhunderts, in: ROTHGANGEL, Martin / ADAM, Gottfried / LACH-
MANN, Rainer (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium. Ein Leitfaden für Lehr-
amtsstudenten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 37–86; und aus katholischer
Perspektive vgl. HILGER, Georg u. a.: Konzeptionelle Entwicklungslinien der Religi-
onsdidaktik; in: HILGER, Georg / LEIMGRUBER, Stefan / ZIEBERTZ, Hans-Georg (Hg.):
Religionsdidaktik. in Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München: Kösel-
Verlag 2001, 42–66; GRÜMME, 2009 [Anm. 12], 70–72; 196–199.
44 Bernhard Grümme

Begriffe und sensibilisierte für deren politische Relevanz. Wenn im RU


von Armut die Rede ist, dann darf dies nicht mehr von vornherein spiritu-
alisiert werden oder in die individuelle Existenz hineinverlagert werden.
Es sind immer auch ökonomische, gesellschaftliche, psychologische Fak-
toren, strukturelle Machtzusammenhänge und Unterdrückungs- und Aus-
beutungsmechanismen analytisch zu bestimmen.

Doch stellt ein solcher Problemorientierter RU nach wie vor den gelunge-
nen „Testfall für die Verbindung von politischem und religiösem Lernen
in einem gesellschaftsbezogenen Ansatz von Religionsunterricht“ dar?24
Knauth selber will dies im gegenwärtigen Diskurs unter Rekurs auf Han-
nah Arendt und im Zusammenhang mit aktuellen politiktheoretischen
Überlegungen durch eine Ausweitung des Politikbegriffs auf das Feld des
Politischen aufzeigen.25 Von ihrem Gegenstand her kann diese Konzeption
des Problemorientierten RU
„durch hermeneutisch-theologische Rückbesinnung auf Alltag und religiöse Tra-
dition eine eigene Logik und Agenda des Politischen entwickeln. Auf dieser
Agenda stehen – bleibend und dringlich – die ineinander verschränkten Fragen
von Gerechtigkeit und Anerkennung in der kulturellen, sozialen, aber auch zu-
nehmend ökologischen Dimension der Thematik. Im Blick auf diese großen
Schlüsselthemen wird eine problemorientierte Religionspädagogik nicht umhin
kommen, in der Tradition kritischer Theorie den globalen Modus einer kapitalis-
tischen Vergesellschaftung in seinen verdinglichenden, entfremdenden und ex-
kludierenden Auswirkungen auf Menschen und Verhältnisse verstehen, themati-
sieren und kritisieren zu müssen.“26

Stehen wir aber damit nicht erneut am Anfang unserer Überlegungen? Ge-
nau jene Problemkonstellation einer ungebührlichen Politisierung und un-
dialektischen Ausrichtung am Emanzipationsgedanken scheint selbst in
dieser weiterentwickelten Version erneut fortgeschrieben zu sein. Die Ein-

24 KNAUTH 2003 [Anm. 15.], 15.


25 Vgl. BEDORF, Thomas / RÖTTGERS, Kurt (Hg.): Das Politische und die Politik, Berlin:
Suhrkamp 2010.
26 KNAUTH 2018 [Anm. 8], 140–141.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 45

sprüche, wie sie in der Politikdidaktik wie in der Religionspädagogik er-


hoben wurden und wie sie derzeit insbesondere aus den Reihen poststruk-
turalistischer Hermeneutiken geltend gemacht werden,27 bleiben auf signi-
fikante Weise unberücksichtigt. Unvermittelt wird hier religiöses Lernen
und religiöse Bildung in den Horizont von Emanzipation, Autonomie und
Befreiung gesetzt und aus diesem Horizont heraus entworfen. Knauth gibt
sich der damit verbundenen Problematik offensichtlich nicht in der erfor-
derlichen Tiefe davon Rechenschaft und lässt dies nicht in selbstreflexiver
Weise grundlagentheoretisch zum Prinzip seiner Religionspädagogik wer-
den.

Damit aber stellt sich diese prekäre und hochkomplexe Frage nach Politi-
sierung und der Legitimität einer an Maximen wie der Emanzipation in
normativer Weise ausgerichteten Religionspädagogik mit aller Schärfe er-
neut – nun aber über den engen Kontext der Problemorientierung hinaus.
Religionspädagogisch ist dies deshalb brisant, weil eine solche normative
Ausrichtung einerseits zum inhaltlichen Profil einer Religionspädagogik
gehören müsste, die ja mit der Reich-Gottes-Botschaft auf eine ganz be-
stimmte Option von Befreiung und befreiter Freiheit rekurriert. Und ande-
rerseits müsste sie gerade diese kritische Selbstreflexivität aufbringen, um
sich aus dem Geiste der Ideologiekritik vor eigenen Instrumentalisierungen
zu schützen.28

3 Ambivalenzen des Emanzipationsbegriffs

Wenn so der Blick geweitet wird auf die hoch brisante Frage der Legitimi-
tät einer an Emanzipation und einer an Befreiung aus dem Geiste des Evan-

27 Vgl. GRÜMME, 2017 [Anm. 13], 100–170.


28 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Ideologiekritik und Religionsunterricht. Zum unabgegolte-
nen Potenzial des ideologiekritischen Arguments für den konfessionellen Religionsun-
terricht, in: RpB 79 (2018), 86–97.
46 Bernhard Grümme

geliums ausgerichteten Religionspädagogik, kann dies angesichts des nun


wiederholt geäußerten Verdachts einer ungebührlichen Positionierung und
Instrumentalisierung nur in kritisch-selbstreflexiver Weise geschehen. Zu
lange hat man sich religionspädagogisch einem ungebrochenen Emanzipa-
tionsvertrauen verschrieben, das heute nicht nur höchst ungleichzeitig,
sondern auch naiv erscheint. Zu komplex inzwischen die Herausforderun-
gen, zu ausdifferenziert die Kontexte, zu stark das Misstrauen gegenüber
einem ungebrochenen Perfektibilitätsversprechen, das manche Aufbrüche
selber hat ideologisch und zugleich selbstwidersprüchlich werden ließ,
weil sie geradezu kontraintentional auf Assimilation als auf Kritik und Be-
freiung hinausliefen.29 Drei Begründungslinien der Kritik kristallisieren
sich heraus: Didaktisch wird dabei oft die Eigenlogik religionspädagogi-
scher Prozesse unterschätzt. Zwischen der Freisetzung aus undurchschau-
ten Abhängigkeiten und der Befähigung zur Selbstbestimmung bleibt ein
pädagogisch erheblicher Unterschied.30 Religionspädagogisch würde dies
bedeuten, die Fixierung auf Emanzipation aufzulösen und durch einen kri-
tischen Rekurs auf Tradition korrelativ zu ergänzen. Tradition und Eman-
zipation stehen in einem wechselseitigen Begründungs- und Orientie-
rungszusammenhang, der theologisch durch den gnadenhaft radikalisierten
Akt der Befreiung noch verschärft wird.

Erkenntnistheoretisch arbeitet der Emanzipationsbegriff mit einem norma-


tiv anvisierten Ziel wahren und geglückten Menschseins und vollendeter
Befreiung. Dies ist deshalb nicht unproblematisch, weil dies mit einem
Universalismus einhergeht, der alles Partikulare vereinheitlichend über-

29 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2019
[abgerufen am 13.09.2019]. In starker Überarbeitung sind auch einzelne Partien im Fol-
genden übernommen.
30 Vgl. BENNER, Dietrich: Studien zur Theorie der Erziehungswissenschaft, Weinheim /
München: Beltz Juventa 1994, 59–77; RUHLOFF, Jörg, Emanzipation, in: BENNER, Diet-
rich / OELKERS, Jürgen (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim / Ba-
sel: Beltz 2010, 279–287, 285.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 47

geht und die Geschichte der Emanzipation aus Entfremdung undialektisch


als ungebrochene Fortschrittsgeschichte auf das imaginierte Ziel der reali-
sierten Emanzipation zu betrachten droht.31 Ein solcher idealistisch-meta-
physischer Emanzipationsbegriff, der insinuiert, er wüsste bereits um das
Ziel von Emanzipation, droht seine Ziele zu konterkarieren, indem sie ein
„Ideal des Humanen“ zeichnen, „auf das hin die Menschen dann zugerich-
tet werden oder sich selber zurichten sollen“.32 Genau darin artikuliert sich
das Vertrauen „ungebrochener Verfügungsrationalität“,33 wenn sie sich un-
beeindruckt von der Heterogenität der Kontexte und der Unbedingtheit des
Anderen auf Emanzipation ausrichtet. Sie wird selbstwidersprüchlich, weil
sie sich als eine an Emanzipation und Autonomie der Subjekte ausgerich-
tete Vernunft versteht, faktisch aber zu deren idealistischer Überformung
beiträgt.

Für eine poststrukturalistische Diskursanalyse ist der Emanzipationsge-


danke von einem „geradezu naiv anmutenden Glauben an eine überhisto-
rische und unabhängig von den jeweils gegebenen Machtverhältnissen
existierende Rationalität getragen“.34 Dadurch sei der Autonomiegedanke
bereits hegemonial so sehr unterwandert, dass die angezielte Subjektwer-
dung und Mündigkeit der Subjekte faktisch auf die Reproduktion des ge-
sellschaftlich, ökonomisch und kulturell dominanten unternehmerischen
Selbst hinauslaufe. Autonomie und Kritik sind so gesehen als „avancier-
teste Form der Macht zu deuten“.35 Bildung droht im Banne der Subjekti-

31 RUHLOFF, 2010 [Anm. 30], 287; vgl. JAEGGI, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines
sozialphilosophischen Problems, Berlin: Suhrkamp 2016.
32 BRÖCKLING, Ulrich: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin:
Suhrkamp 2017, 38.
33 ZILLEßEN, Dietrich: Emanzipation, in: LexRp 2001, 394–401, 395.
34 RIBOLITS, Erich: Das Ende der Emanzipation, in: CHRISTOF, Eveline / RIBOLITS, Erich
(Hg.): Bildung und Emanzipation, Innsbruck: Studienverlag 2013, 23–39, 24.
35 MASSCHELEIN, Jan: Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft wei-
terdenken, in: BENNER, Dietrich / BORRELLI, Michele / HEYTING, Frieda (Hg.): Kritik
48 Bernhard Grümme

vierungsprozesse affirmativ zu werden und die Freiheit der Subjekte zu


konterkarieren.36 Emanzipatorische Pädagogik bindet sich damit an das
herrschende System.
„Unter dem Fokus, das gegeben Gesellschaftssystem überwinden zu wollen,
ergäbe die Forderung, dass Bildung vernünftige Subjekte hervorbringen soll,
nämlich nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es eine vom gesellschaft-
lichen Status quo unabhängige Rationalität gebe, dem Menschen zugänglich sei
und mittels der er sich der Logik des Systems kritisch gegenüberstellen könne.“37

Religionspädagogisch wäre damit eigentlich „das Ende der Emanzipation“


einzuläuten.38 Doch bleibt andrerseits der Stachel ihrer konstitutiven the-
matischen wie normativen Ausrichtung an der Reich-Gottes-Botschaft, die
eben in einer durchaus spannungsvollen Vermittlung von Erlösung und Be-
freiung gegen Emanzipation schlechthin nicht zu denken ist.39

4 Produktive Aneignung und Perspektiven

So bleibt die Suche nach Möglichkeiten einer kritischen Wiedergewinnung


des Emanzipationsbegriffs unter den gegenwärtigen kontextuellen Bedin-
gungen gegenwärtiger Heterogenität. Zugleich wäre der Versuch einer
Konturierung einer Religionspädagogik erforderlich,40 die dem Erbe der
Problemorientierung treu bleibend es dennoch in kritischer Brechung wei-

in der Pädagogik. Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungswissen-


schaft, Weinheim / Basel / Berlin: Beltz 2003, 124–141, 130.
36 Vgl. RICKEN, Norbert: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bil-
dung, Wiesbaden: Springer VS 2006; BÜRGER, Carsten: Bildung und Emanzipation?
Perspektiven nach dem Ende ihres selbstverständlichen Zusammenhangs, in: CHRISTOF,
Eveline / RIBOLITS, Erich (Hg.): Bildung und Emanzipation, Innsbruck: Studienverlag
2013, 7–22.
37 RIBOLITS, Erich 2013 [Anm. 34], 29–30.
38 EBD., 23.
39 Vgl. als immer noch beeindruckender Klassiker: KESSLER, Hans: Erlösung als Befrei-
ung, Düsseldorf: Patmos 1972.
40 Vgl. zum Hintergrund des Heterogenitätsbegriffs: GRÜMME, 2017 [Anm. 13].
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 49

terschreibt, um damit die empirisch nicht unberechtigten Warnungen vor


einer Politisierung und Ideologisierung der Bildung parieren können.

Nach unseren bisherigen Überlegungen bleibt das Anliegen des Emanzi-


pationsbegriffs für die Religionspädagogik elementar. Bezogen auf deren
Ausrichtung auf Befreiung, auf Mündigkeit und Autonomie, bemüht um
deren politische Dimensionierung, bleibt der Emanzipationsbegriff unver-
zichtbar insbesondere für ein ambitioniertes wie normatives Verständnis
religiöser Bildung. Er erlaubt es, eine „Ethik der intersubjektiven Kreati-
vität“ als den normativen Kern von Bildungsprozessen auszuweisen und
als innovative, kreativ-transformatorische wie kritische Praxis zu bestim-
men, die als freiheitsstiftende Praxis auch die gesellschaftlichen wie insti-
tutionellen Ausgestaltungen von Bildung wie die gesellschaftlich-ge-
schichtlichen Bedingungen der solidarischen Existenz der Subjekte anvi-
siert.41 Ihr geht es in ihrer Orientierung an der Wahrnehmungs-, Hand-
lungs- und Urteilsfähigkeit des Subjekts im Verhältnis zu sich selber, zum
anderen und zur sozialen Wirklichkeit keineswegs um eine auf sich selber
bezogene Identitätsbildung der Subjekte. Es geht nicht primär um ein –
negatives – Freiwerden „von“, sondern um ein – positives – Freiwerden
„für“ andere. Es geht um Identitätsfindung in sozialer Verantwortung, um
Subjektwerdung in universaler Solidarität, es geht also um eine Wendung
„zur prosozial wirksam werdenden und die Freiheit des Menschen erst frei-
legenden Hinordnung auf den Anderen: als Freilegung der Bestimmung
des Menschen, die das Selbst aufbricht auf den Anderen hin“.42 Insofern
teilt die Religionspädagogik das Votum in den Sozial- und Erziehungswis-

41 PEUKERT, Helmut: Die Frage nach der Allgemeinbildung als Frage nach dem Verhältnis
von Bildung und Vernunft, in: PLEINES, Jürgen-Eckhard (Hg.): Das Problem des Allge-
meinen in der Bildungstheorie, Würzburg: Königshausen & Neumann 1987, 82.
42 Vgl. NIPKOW, Karl Ernst: Zur Bildungspolitik der evangelischen Kirche. Eine histo-
risch-systematische Studie, in: BIEHL, Peter / NIPKOW, Karl Ernst (Hg.): Bildung und
Bildungspolitik in theologischer Perspektive, Münster: LIT 2003, 153–251, 246–249.
50 Bernhard Grümme

senschaften, den Emanzipationsbegriff als normative Orientierung gesell-


schaftlicher, kultureller wie politscher und religiöser Prozesse kritisch wie
produktiv einzubringen, allerdings unter der Voraussetzung seiner selbst-
reflexiv-kritischen Wiedergewinnung unter spätmodernen-nachmetaphy-
sischen Bedingungen.43

Angesichts dessen sowie unter dem Eindruck der oben genannten kriti-
schen Vorbehalte sieht sich eine heterogenitätsfähige Religionspädagogik
gezwungen, einerseits sich den Emanzipationsgedanken neu anzueignen.
Dazu muss er nachmetaphysisch reformuliert werden, muss sie sich ihrer
Kontextualität und ihres kontextuellen Gebrauchs des Emanzipationsbe-
griffs selbstkritisch bewusst werden und dabei seine diskursiven Konstruk-
tionsmechanismen selbstreflexiv-kritisch bedenken. Der Beitrag einer al-
teritätstheoretischen Begründung liegt freilich darin, dass dieser Emanzi-
pationsbegriff durch den Alteritätsgedanken und den Gottesgedanken vor
seiner eigenen Verabsolutierung geschützt wird. Er lässt sich in einer he-
terogenitätsfähigen, nachmetaphysischen Vernunft so konturieren, dass er
sich dieser Kontextualität wie seiner diskursiven Konstruktionsmechanis-
men selbstreflexiv-kritisch bewusst wird und die relative Eigenlogik päda-
gogischer Prozesse zugleich wahren und dennoch orientieren kann.44

Vor diesem Hintergrund zeichnen sich dann bildungstheoretisch angelegte


Konturen einer Religionspädagogik ab, die das Erbe der Problemorientie-
rung kritisch weiterschreibt. Der hier vorausgesetzte Bildungsbegriff
braucht unter den Bedingungen von Heterogenität eine integrale Signatur.

43 Vgl. JAEGGI, Rahel / CELIKATES, Robin: Sozialphilosophie. Eine Einführung, München:


C. H. Beck 2017, 102–115; GRECO, Sara Alfia / LANGE, Dirk: Emanzipation. Zum Kon-
zept der Mündigkeit in der politischen Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau
2017; vgl. MESSERSCHMIDT, Astrid: Zwischen Emanzipation und Steuerung – Bildung
in vereinnahmenden Verhältnissen, in: CHRISTOF, Eveline / RIBOLITS, Erich (Hg.): Bil-
dung und Emanzipation, Innsbruck: Studienverlag 2013, 68–76, 69.
44 Vgl. GRÜMME, 2017 [Anm. 13], 150–171.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 51

‚Integrativ’ bedeutet, dass hier die ästhetisch-kulturhermeneutische, kog-


nitiv-reflexive wie strukturell-politische Dimension religiöser Bildung in
nicht-hierarchischer Weise kritisch wie produktiv, spannungsvoll und dy-
namisch aufeinander bezogen werden. Immer sind die je anderen Dimen-
sionen in diesem Modell einer korrelativen Verhältnisbestimmung dieser
unterschiedlichen Dimensionen mitzudenken. Damit wird einerseits der
Eigenständigkeit verschiedener Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeits-
zugänge Rechnung getragen, wie es der funktionalen Differenzierung der
Moderne entspricht. Politik ist eben doch etwas Anderes als Religion und
darf nicht aus ihr abgeleitet werden.45 Dies war ja eines der zentralen Ar-
gumente, die oben gegenüber einer Politisierung der Bildung eingewandt
wurden. Andererseits wird dadurch markiert, dass wir es mit dieser Eigen-
ständigkeit lediglich mit einer relativen Eigenständigkeit zu tun haben, die
eine strikt separierende Zuschreibung der Dimensionen unterläuft. Die
Wechselwirkung sozialer, kultureller, identitätslogischer wie politischer
Faktoren wird auf diese Weise kategorial berücksichtigt. Vor allem aber
hat Religion durchaus auch im öffentlichen Diskurs und eben nicht nur im
Privaten ihren Platz.46 Der Religion sind „erhellende sinnstiftende kogni-
tive und ethisch orientierende, soziale und ästhetische Seiten eigen. Sie
sind daher auch religiöser Bildung gleichursprünglich inhärent. Die ethi-
sche, soziale und politische Seite religionspädagogisch grundsätzlich fest-
zuhalten, entspricht insbesondere den Sachstrukturen unserer biblisch-
christlichen Gesamtüberlieferung“.47 Eine ethische, eine sozial-politisch
orientierte, eine reflexive und eine ästhetisch orientierte Dimension religi-
öser Bildung müssen also integrativ zusammengehen. Ein solcher Bil-
dungsbegriff spricht demnach von Dimensionen, nicht jedoch von einer

45 Vgl. GRÜMME, 2009 [Anm. 12], 148–156.


46 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ‚public
turn‘ in der Religionspädagogik, Bielefeld: transcript-Verlag 2018, 171–212.
47 NIPKOW 2003 [Anm. 42], 246.
52 Bernhard Grümme

politischen Religionspädagogik, bei der ein Gefälle zu ihrer Politisierung


nicht begrifflich trennscharf genug zu vermeiden ist.48

Vor diesem nur kurz skizzierten bildungstheoretischen Hintergrund kann


sich eine solche Religionspädagogik den hermeneutischen Zirkel von Se-
hen – Urteilen – Handeln voraussetzen und in zentraler Weise auf die Im-
pulse der Reich-Gottes-Botschaft rekurrieren, indem sie diese als Perspek-
tiven von Befreiung, als Option für die Exkludierten, Armen und Anderen
einbringt. Es könnte deutlich werden, inwieweit damit in materialer wie in
formaler Hinsicht der Emanzipationsbegriff integraler Bestandteil der Re-
ligionspädagogik wird: material, insofern religiöse Lernprozesse die eman-
zipatorische Pointe der biblischen Botschaft markieren und zum Lernge-
genstand des RU werden lassen; formal, indem diese Lernprozesse selber
freisetzenden Charakter haben müssen in einer als „Sprachschule der Frei-
heit“ (Ernst Lange) begriffenen religiösen Bildung, um nicht die eigenen
Ziele zu konterkarieren. Indem diese Option artikuliert wird in einer alteri-
tätstheoretisch grundierten Bildungstheorie im heterogenen Kontext, kann
sie sich in die Debatten um eine Öffentliche wie Politische Religionspäda-
gogik einschalten und Impulse für Kritik, Demokratisierung, Emanzipa-
tion und Partizipation aus der biblischen Tradition in den diversen Öffent-
lichkeiten von Politik, Gesellschaft, Medien, Schule und Unterricht zur
Geltung bringen – ohne freilich den Einseitigkeiten des Problemorientier-
ten RU zu unterliegen.49

48 Vgl. KÖNEMANN, Judith: Plädoyer für eine politische Religionspädagogik, in: RpB 78
(2018), 15–23, 16.
49 Vgl. GRÜMME, 2018 [Anm. 48], 203–212.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 53

Autorenangaben: Bernhard Grümme, Prof. Dr. theol. habil, Lehrstuhlinhaber für


Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der
Ruhr-Universität Bochum; Forschungsschwerpunkte: Heterogenitätsforschung;
Öffentliche Religionspädagogik, Religionspädagogische Grundlagenforschung.
Grundbegriffe, unabgegoltene Potenziale und
Perspektiven des problemorientierten Ansatzes für
gegenwärtige kritische politische Religionspädagogik

Thorsten Knauth

Abstract: In diesem Beitrag wird das Projekt einer systematischen und reflexiven
Weiterentwicklung von problemorientierter Religionspädagogik fortgesetzt. Um
das Potenzial problemorientierter Ansätze zur Geltung zu bringen, werden in einer
theoriebezogenen Reflexion der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik seit der
Reformdekade (1965–1975) Folgen für die analytische Erfassung gegenwärtiger
Problemlagen skizziert. Dies führt für eine Theorie problemorientierter Religions-
pädagogik zu einer Neujustierung des Verständnisses von Grundbegriffen (Politik,
Emanzipation und Religion). Problemorientierter Religionsunterricht wird als eine
eigensinnige Sphäre sozialer Freiheit im Kontext kritischer Bildungswissenschaft
verstanden, der sich in die Auseinandersetzung um gelingende Lebensformen ein-
mischt.

1 Einleitung

Auch Kritiker bescheinigen den problemorientierten Ansätzen, die zwi-


schen 1965 und 1975 entwickelt wurden, dass sie zu einer einschneidenden
Veränderung im Selbstverständnis von Religionspädagogik geführt ha-
ben.1 Breite Zustimmung erfährt die durch eine kritische Rekonstruktion
des problemorientierten Religionsunterrichts2 gewonnene Einsicht, dass
problemorientierte Konzepte die Religionspädagogik in die fachdidakti-
sche Moderne geführt hätten. Vermittlungsdidaktische, unterweisende und
auf binnenkirchliche Bezugsrahmen gespannte Ansätze wurden durch an-

1 Vgl. den Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band.


2 KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekon-
struktion, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2003.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_4
56 Thorsten Knauth

eignungsorientierte Lernformen und mehrdimensionale Modelle der Pla-


nung und Gestaltung von Unterricht abgelöst. Religiöse Tradition(en) und
Lebenswelten, Individuum und Gesellschaft, Anthropologie und Theolo-
gie wurden korrelativ aufeinander bezogen, um auf den Überschneidungs-
flächen dieser Perspektiven Schlüsselthemen, Reibungspunkte und Kont-
roversen in der Gesellschaft didaktisch durchzubuchstabieren und in dia-
logisch verstandene Lernprozesse interdisziplinären Zuschnittes einzu-
spielen. Problemorientierten Ansätzen war es darum zu tun, individuelle
Positionierungen und religionsbezogene Urteilsfähigkeit im Blick auf zen-
trale soziale, ethische und politische Konfliktfelder zu ermöglichen. Mün-
digkeit und aufgeklärte kritische Urteilsfähigkeit beschrieben die Zielhori-
zonte vieler Ansätze und Unterrichtsmodelle. In dieser Ausrichtung von
religiösem Lernen auf gesellschaftsbezogene und politische Kontexte, auf
theologische und politische Urteilsfähigkeit, wie auch auf Handlungsori-
entierung kann der problemorientierte Aufbruch der Religionspädagogik
als eine ‚soziale Erfindung‘ bezeichnet werden, deren Wirkung sich bis in
gegenwärtige religionspädagogische Ansätze zeigt.

Scheint über die nachhaltige Wirkung der problemorientierten Phase auf


Folgekonzeptionen der Religionspädagogik weithin Einigkeit zu bestehen,
bleibt aber umstritten, ob der problemorientierte Ansatz über seine histori-
sche Bedeutung hinaus auch eine gegenwärtig ernst zu nehmende eigen-
ständige religionspädagogische Konzeption sein kann. Während Vertreter
des problemorientierten Ansatzes ihn als nach wie vor gültige Variante ei-
nes politisch dimensionierten religiösen Lernens betrachten und – wie auch
der Verfasser dieses Beitrages – ihn in seinen unabgegoltenen Potenzialen
und seiner bleibenden Bedeutung für gegenwärtige Religionspädagogik re-
flektieren,3 wird diese Gegenwartsbedeutung von Kritikern bezweifelt. Es

3 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunterricht: Potenziale und Per-


spektiven. Ein Blick zurück nach vorn!, in: ZENTRUM FÜR RELIGIONSPÄDAGOGISCHE
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 57

werden grundlegende Einwände formuliert, die sich auf das Verständnis


von Religion bzw. religiöser Tradition, die politische Dimensionierung
und den verwendeten Kritikbegriff sowie die Inanspruchnahme des Eman-
zipationsbegriffes beziehen. Danach sei im problemorientierten Ansatz die
Eigenlogik des Religiösen relativiert, Tradition und Emanzipation würden
voneinander entkoppelt und biblische Tradition werde vorrangig für die
Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme instrumentalisiert. Den Ansatz
kennzeichne eine hypermoralische, bekenntnishaft aufgeladene bzw. nor-
mativ nicht ausgewiesene Politisierung und eine politisch einseitige Ver-
wendung des Kritikbegriffes. Dies zeige sich auch im Blick auf die Ver-
wendung des Emanzipationsbegriffes, der mit einer im Grunde naiven
Vorstellung geglückten Menschseins bzw. gelingenden Lebens arbeite, die
wegen ihrer Universalität gleichsam blind über partikulare Entwürfe hin-
weggehe. In seiner Betonung von Autonomie und Emanzipation binde sich
der problemorientierte Ansatz aber nur an das herrschende System, für das
Autonomie lediglich eine der avanciertesten Formen von Macht darstelle.4

Diese Einwände sind überwiegend nicht neu und wurden – wie zum Bei-
spiel die Kritik an der Instrumentalisierung von Religion und die einseitige
Orientierung am Emanzipationsbegriff – bereits inmitten des „Streits um
den problemorientierten Religionsunterricht“ Anfang der siebziger Jahre
vorgebracht.5 Gleichwohl müssen sie für Versuche einer reflexiven Neuan-

BILDUNGSFORSCHUNG (Hg.): Gedenkschrift zu Ehren von Prof. Dr. Dr. Klaus Petzold,
Jena 2017, 25–41; DERS.: Heilige Texte und die politische Dimension des Religionsun-
terrichts, in: HELLER, THOMAS (Hg.): Religion und Bildung – interdisziplinär. Fest-
schrift für Michael Wermke zum 60. Geburtstag, Leipzig: EVA 2018, 479–490.
4 Vgl. auch den Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band, der grundsätzliche Ein-
wände zusammenfasst, sowie Thomas Schlags Vortrag „Religiöse Bildung und Politik
– eine Felderöffnung aus evangelischer Perspektive“ während der GWR-Jahrestagung
2019 („Politische Dimensionen religiöser Bildung“), erscheint in Theo-Web 18/2
(2019).
5 Vgl. den als Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden zu verstehenden Band von
KAUFMANN, Hans Bernhard (Hg.): Streit um den problemorientierten Religionsunter-
58 Thorsten Knauth

eignung des problemorientierten Ansatzes berücksichtigt werden. Auch


veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen und neue theoretische
Diskurskonstellationen sind zu bedenken. In den 50 Jahren seit 1968 hat
sich die Welt gleich mehrfach entscheidend gedreht. In den gesellschaftli-
chen, wissenschaftsbezogenen, schulischen und unterrichtlichen Verände-
rungen reflektieren sich auch kollektive Erfahrungen im Umgang mit (re-
ligions-) pädagogischen Ansätzen, leitenden normativen Horizonten, den
„Wachträumen einer besseren Gesellschaft“ (Ernst Bloch) – enttäuschte
Hoffnungen angesichts gescheiterter sozialer und gesellschaftliche Uto-
pien eingeschlossen. Diese soziale Lerngeschichte gilt es zu beachten und
zu reflektieren. Auch problemorientierte Konzepte können nicht einfach
wiederholend aktiviert werden, soll problemorientierter Religionsunter-
richt nicht – in Anspielung an ein bekanntes Diktum von Karl Marx – seine
Reinszenierung als Farce erleben müssen. Die Aufgabe besteht vielmehr
darin, die seinerzeit leitenden Begriffe und den kategorialen Rahmen prob-
lemorientierten Religionsunterrichts unter neuen gesellschaftlichen Bedin-
gungen und unter Einbezug kritischer Einwände zu reflektieren, um blei-
bende Gehalte des Ansatzes freizulegen.

Ich habe verschiedentlich darauf hingewiesen, dass durch eine systemati-


sche Rekonstruktion von Ansätzen problemorientierten Religionsunter-
richts die Vollgestalt eines Ansatzes freigelegt und dessen Potenzial auch
unter gegenwärtigen Bedingungen fruchtbar gemacht werden kann.6 Die
Rede von der Vollgestalt bezog sich dabei auf eine kategoriale Ebene von
leitenden Grundbegriffen, auf die didaktische Ebene einer bestimmten

richt in Schule und Kirche, Frankfurt am Main / Berlin / München: Diesterweg 1973;
vgl. zu einem zusammenfassenden Überblick der kritischen Stellungnahmen KNAUTH
2003 [Anm. 2], 270–276.
6 Vgl. zuletzt KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religi-
onsunterricht und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte
und Aktualität, in: ZPT 70 (2018), 128–141.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 59

Weise, religiöses Lernen in eine Vermittlungs- und Aneignungsbewegung


zwischen Individuum, Gesellschaft und Tradition zu stellen, und auf die
wissenschaftstheoretische Ebene, auf der der problemorientierte Ansatz als
neuer interdisziplinärer religionspädagogischer Theorietyp einer dialekti-
schen Vermittlung von Theorie und Praxis gelten kann.7

Dieses Projekt einer systematischen und reflexiven Fortschreibung des


problemorientierten Ansatzes möchte ich im vorliegenden Beitrag fortset-
zen. Mir kommt es dabei darauf an, problemorientierten Religionsunter-
richt im Sinne Bourdieus nicht nur als opus operatum, sondern auch als
modus operandi des gesellschaftlichen Kontextes zu begreifen.8 Der
grundbegriffliche Ansatz von Problemorientierung soll so konstruiert wer-
den, dass er sich auf der analytischen Höhe gegenwärtiger gesellschaftli-
cher Problemlagen befindet.

Um dies zu erreichen, halte ich zwei aufeinander bezogene Schritte für


notwendig. Ich werde zunächst mit einer theoriebezogenen Skizze der ge-
sellschaftlichen Entwicklungsdynamik seit der Reformdekade (1965 –
1975) Veränderungen des Vergesellschaftungsmodus mit seinen Folgen
für die analytische Erfassung gegenwärtiger Problemlagen skizzieren. Dies
führt im Blick auf eine Theorie problemorientierter Religionspädagogik zu
einer Neujustierung seiner kategorialen Architektur. In einem zweiten
Schritt werde ich dann vorstellen, welche grundbegrifflichen Neujustierun-
gen in einem aktuell relevanten problemorientierten Ansatz vorzunehmen
sind, um das Potenzial problemorientierter Ansätze der Reformdekade zur
Geltung bringen zu können.

7 Vgl. dazu ausführlich: KNAUTH 2003 [Anm. 2], 317–330.


8 Vgl. BOURDIEU, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils-
kraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, 297–298.
60 Thorsten Knauth

2 Gesellschaftliche Kontexte problemorientierten


Religionsunterrichts

2.1 Die Erfindung des Politischen: Freiheitsgewinne und moralische


Fortschritte im Kontext kapitalistischer Modernisierung

In der gesellschaftlichen Reformdekade zwischen 1965 und 1975 fand eine


begriffliche Erweiterung wie auch sphären- und raumbezogene Ausdeh-
nung des Politischen statt. Politik war nicht mehr auf die Institutionen par-
lamentarischer Demokratie bezogen, sondern wurde über diese Sphäre hin-
aus auf Phänomene und Bereiche bezogen, die das Leben von Menschen
bestimmen. Politisch wurde der Alltag, das private Leben der Leute, ihre
Weise und ihre Möglichkeit zu arbeiten, sich zu erholen, zu kaufen, zu
konsumieren, zu lieben, Kultur zu rezipieren, zu feiern, sich zu vergemein-
schaften. Diese alltäglichen Lebensäußerungen standen auf dem Prüfstand,
will heißen: wurden der Reflexion im Blick auf Einschränkungen oder Er-
weiterungen von individueller und sozialer Freiheit unterworfen. Das so-
ziale und politische Projekt der „politischen Generation“9, die in den
1960er Jahren auf die Straßen ging und gegen Krieg, Repression und sozi-
ale Ausbeutung, für soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit der Dritten
Welt demonstrierte, sich in Basisgruppen, Wohngemeinschaften und Ge-
genorganisationen zusammenfand, kann im Ganzen als ein emanzipatives
Projekt kultureller Modernisierung10 bezeichnet werden. Der in den gesell-
schaftlich etablierten Lebensformen ansetzende und auf ihre Veränderung
zielende Protest wollte auch auf die sozialen Strukturen übergreifen. Auf

9 Vgl. Knauth 2003 [Anm. 2], 62–68. Vgl. dazu FEND, Helmut: Sozialgeschichte des
Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten
Jahrhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.
10 Vgl. KNAUTH, Thorsten: 1968 und die evangelische Religionspädagogik: Ansätze, Wir-
kungen, unabgegoltene Potenziale, in: RICKERS, Folkert / SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968
und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2010, 297–
310, 298.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 61

der Ebene von Lebensstilen und Lebensformen führte er zu einer Auswei-


tung von Freiheitsspielräumen: im gesellschaftlichen Raum wurden die
Fenster geöffnet und der Muff der restaurativ verfassten Adenauer-Ära
durch die Frischluft von demokratischer Partizipation, Bürgerrechten, so-
zialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität ausgetauscht.

Im Zeitraum zwischen 1965 und 1975, in dem sich in den „entwickelten


Ländern des Westens“ ein „staatlich regulierter Kapitalismus“ mit wohl-
fahrtsstaatlichen Arrangements herausbilden konnte, „zeichneten sich in
allen Kernzonen der normativen Integration kapitalistischer Gesellschaften
moralische Fortschritte ab, die weit über das hinausgingen, was bislang
vereinbar mit den Bestandsbedingungen des Kapitalismus gehalten
wurde.“11 Die von Axel Honneth angesprochenen „moralischen Fortschrit-
te“ in den Dimensionen persönlicher Leitvorstellungen (Individualismus
und Autonomie), rechtlicher Regulierungsformen (egalitäre Gerechtig-
keitsidee) und der Statuszuweisung durch Leistung und nicht durch ererbte
Privilegien, konnten erreicht werden, weil in der Phase sozialer Reformen
die widersprüchlichen Momente des Modernisierungsprozesses durch
Kompromisse zusammengehalten wurden, die sich nicht zuletzt auch im
Bildungs- und Wissenschaftssystem bemerkbar machten. In dieser Phase
schien es, als könne eine emanzipatorische, an Selbstbestimmung, Gerech-
tigkeit und egalitärer Demokratie orientierte Variante den Konzepten einer
an Effizienzkriterien verwertungslogisch sich vollziehenden Modernisie-
rung die Legitimationsgrundlage entziehen.

Besonders das Feld von Bildung schien dafür geeignet zu sein, einer soli-
darischeren und gerechteren Vergesellschaftungsform den Weg zu bahnen.

11 HONNETH, Axel: Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung. Ein Untersuchungs-


programm (gemeinsam mit Martin Hartmann), in: DERS.: Das Ich im Wir. Studien zur
Anerkennungstheorie, Berlin: Suhrkamp 2010, 223.
62 Thorsten Knauth

Diese Hoffnung konnte deshalb nicht als naiv und idealistisch abgetan wer-
den, weil die in den Dimensionen von Subjekt, Recht, sozialem Status und
kultureller Anerkennung erreichten Freiheitsfortschritte einen inhärenten
„Geltungsüberhang“ aufwiesen, der „mehr an legitimierbaren Ansprüchen
und Verpflichtungen enthält, als in der Faktizität der gesellschaftlichen
Wirklichkeit jeweils realisiert ist“12 und daher ein transformatorisches Po-
tenzial besitzt. Mit den Fortschritten sind, anders gesagt, normative Stan-
dards im Blick auf die Entfaltung der Persönlichkeit, der Gleichheits- und
Gerechtigkeitsidee sowie auf soziale Wertschätzung und die Anerkennung
einer Vielfalt von Lebensformen gesetzt, durch die Verletzungen z. B. in
Form von Einschränkungen individueller Rechte und Freiheiten, Unge-
rechtigkeit, materielle Deprivation und kulturelle Missachtung als nichtle-
gitimierbare Formen von Diskriminierung aufgezeigt und zurückgewiesen
werden können. In diesen Sphären individueller, sozialer, kultureller und
rechtlicher Anerkennung werden die Subjekte insofern in die Lage ver-
setzt, Verletzungen normativer Standards „als ungerechtfertigte Benach-
teiligungen oder Exklusionen“13 zu erfahren und zu artikulieren. Der Gel-
tungsüberhang dieser Gerechtigkeitsnormen setzt somit eine Dynamik in
Gang, die gegebene Sozialverhältnisse in Richtung auf eine Universalisier-
barkeit der Normen übersteigen kann.

Dies war auch seinerzeit noch die analytisch begründete Hoffnung von Jür-
gen Habermas (1973), der in den genannten kulturellen Modernisierungen
die Entwicklung zu einer universalistischen Moral erkannte, die aus dem
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit resultierende Ungleichheiten
und Ungerechtigkeiten offenzulegen und zu transformieren in der Lage
sein müsste. Bereits 1969 bescheinigte Habermas der Protestbewegung,
den Unterschied zwischen technischen und praktisch-ethischen Fragen der

12 EBD., 224.
13 EBD., 225.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 63

gesellschaftlichen Modernisierung zu Bewusstsein gebracht zu haben und


einen Diskurs über Fragen nach der Gestaltung des Lebens einzufordern;
der Bewegung sei es gelungen, die Grenzen sichtbar gemacht zu haben, die
in der Öffentlichkeit im Hinblick auf Fragen der Lebensgestaltung galten:
„Die öffentlich zugelassenen Definitionen erstrecken sich [nämlich,
Th. K.] darauf, was wir zum Leben brauchen (Einkommen, freie Zeit und
Sicherheit), aber nicht darauf: wie wir leben möchten, wenn wir im Hin-
blick auf erreichbare Potentiale herausfinden, wie wir leben könnten.“14

2.2 Gesellschaftlicher Kontext der Gegenwart: Paradoxien


kapitalistischer Vergesellschaftung

Vier Dekaden später lässt sich feststellen, dass die gesellschaftlichen


Kämpfe um Anerkennung sich auf vielfältige Weise entlang der Differenz-
dimensionen Geschlecht, Religion, Kultur aber auch Behinderung aufge-
fächert haben und in Form sozialer Bewegungen Sichtbarkeit, Legitimität
und Rechte geltend machen konnten. Über diese Pluralisierung kulturbe-
zogener Geltungsansprüche hinaus darf jedoch nicht vernachlässigt wer-
den, dass die horizontale Diversifizierung anzuerkennender Lebensformen
in ihrer Verschränkung mit Formen sozialer Stratifizierung zu betrachten
ist.15 Zugleich können die Ansprüche von Gruppen auf Anerkennung nicht
als isoliert voneinander auftretende kulturelle Einheiten verstanden wer-
den, sondern sind als einander überlappende Konstellationen individueller
und kollektiver Subjektivierungsformen in sich überlagernden und kreu-
zenden Identitätspolitiken aufzufassen. Die gesellschaftlichen Schlüssel-
probleme sind demnach als zweiwertige Probleme von sozialer Struktur

14 Vgl. HABERMAS, Jürgen: Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt am Main:


Suhrkamp 1969, 30.
15 Vgl. BENHABIB, Seyla: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von
Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1992; FRASER, Nancy: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustri-
ellen Sozialstaats, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
64 Thorsten Knauth

und (pluraler) Kultur in ihrer komplexen Intersektionalität16 zu analysie-


ren. Dass Gerechtigkeit und Anerkennung damit zu zwei Leitbegriffen
avancieren, in denen sich gesellschaftliche Herausforderungen bündeln
lassen, ist ein Aspekt der aktuellen Situationsbeschreibung.17 Armuts- und
Gerechtigkeitsprobleme sowie Fragen der Anerkennung kultureller Identi-
täten müssen zudem als Folgen einer tiefgreifenden Veränderung im Ge-
sellschaftsgefüge verstanden werden, die sich einer Umstellung von einem
wohlfahrtsstaatlich organisierten auf einen neoliberal verfassten Kapitalis-
mus verdankt.18 Die „neoliberale Revolution“19 lässt sich beschreiben als
eine Ausdehnung und Differenzierung von ökonomisch induzierten Orien-
tierungen und Verwertungslogiken auf bislang verwertungsfreiere Berei-
che der Gesellschaft (wie z. B. Gesundheit, Bildung, Verkehr, Freizeit). Im
gleichen Zuge verschärfte sich die Tendenz zu einer Entkoppelung der
Märkte von sozialen Schutzschirmen und Sicherungssystemen. Im Sog
verwertungslogischer Aneignung von Lebenswelten und Lebensformen
durch ökonomisches, profitorientiertes Handeln steigerten sich ebenfalls
die instrumentellen und nutzenorientierten Zugriffe auf die Subjekte. Die
sich dadurch verfestigende Differenz zwischen Inklusion und Exklusion
produzierte Gewinner und Verlierer20 und verschärfte Spaltungen in der
vertikalen bzw. strukturellen wie aber auch in der horizontalen bzw. kultu-
rellen Dimension der Gesellschaft. Das Scheitern an den Ansprüchen eines
deregulierten Kapitalismus jedoch wurde individualisiert und den Subjek-

16 Vgl. WINKER, Gabriele / DEGELE, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Un-
gleichheit, Bielefeld: Transcript 2009.
17 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Gerechtigkeit und Anerkennung als Schlüsselbegriffe in einer
Religionspädagogik der Vielfalt, in: HEINRICH-SCHAFFRICK, Pia / SCHAFFRICK,
Matthias (Hg.): Theologie der Teilhabe. Gemeinschaft, Beziehung, Begegnung (FS
Rolf Heinrich), Münster: LIT 2016, 49–72.
18 Vgl. auch SENNETT, Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berliner Ta-
schenbuch 2007.
19 HONNETH 2010 [Anm. 11], 228.
20 BAUMAN, Zygmunt: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn: BpB
2005.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 65

ten angelastet, wenn sie den Anforderungen von Flexibilität, Kreativität,


Mobilität, Optimierung und Effizienz nicht gerecht werden konnten. Die
neoliberale Revolution schuf mit dem „unternehmerischen Selbst“ „als
neue Zivilreligion“21 eine neue entsolidarisierte Subjektivierungsform, de-
ren treibender Handlungsfaktor nicht zuletzt die Angst vor dem eigenen
Scheitern ist.

Es ist in dieser knapp geschilderten Situationsdiagnose – so hoffe ich –


erkennbar geworden, welche durchschlagende Wirkung die neoliberalen
Umstellungen in der ökonomischen Sphäre auf Subjekte, ihre Beziehungen
und Lebensformen haben. Die Veränderung des wohlfahrtsstaatlich ge-
drosselten zu einem deregulierten und global agierenden Kapitalismus
kann jedoch im Blick auf ihre Folgekosten im Bereich des moralischen
Fortschritts nicht einfach so interpretiert werden, als werde der erzielte
Fortschritt bei Rechten und individuellen Freiheitsspielräumen nun auf ei-
nen vorreformerischen Stand zurückgedreht. Vielmehr müssen die indivi-
duellen und sozialen Folgekosten verwertungs- und konsumlogischer To-
talisierungsbestrebungen im Rahmen einer paradoxen bzw. antinomischen
Deutungsfigur interpretiert werden, die davon ausgeht, dass der in Formen
sozialen Protestes erkämpfte Fortschritt gleichsam durch Eingemeindung
oder Integration in kapitalistische Verwertungsmuster in sein Gegenteil
verkehrt wird.22 Axel Honneth verdeutlicht diese ‚Paradoxie kapitalisti-
scher Modernisierung‘ am Beispiel der durch die 1968er Bewegung er-
reichten Ausdehnung von individuellen Freiheitsspielräumen im Blick auf
authentische Selbstdarstellung und autonome Selbstbestimmung des Han-
delns. Aus den Ansprüchen der Individuen auf Autonomie werden durch
Institutionalisierung Forderungen, die den Individuen von außen, zum Bei-

21 BRÖCKLING, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungs-


form, Berlin: Suhrkamp 2007, 152.
22 Vgl. HONNETH 2010 [Anm. 11], 233.
66 Thorsten Knauth

spiel in der Arbeitswelt, aber auch in den Bildungsinstitutionen, entgegen-


treten. Die ehemals individuellen Ansprüche werden damit zu neuen For-
men des Zwangs, weil sie die Individuen zu Anpassungsleistungen nötigen
und Druck erzeugen, diesen Anforderungen zu entsprechen, um im Wett-
streit um Ressourcen mitspielen zu können. Der neue flexible und auf Fle-
xibilität der Subjekte setzende Kapitalismus arbeitet mit der Bereitschaft,
eigene Kompetenzen und emotionale Ressourcen im Dienste individuali-
sierter Projekte eigenverantwortlich einzusetzen. Er setzt keine Zwangs-
mittel ein, sondern funktioniert aufgrund vermeintlich selbstbestimmter
Motivationsleistungen. Seine paradoxe Logik besteht darin, dass kreative
Ressourcen, die Individuen zur Freiheitssteigerung nutzen können sollten,
vereinnahmt werden, um sie als Produktivkräfte nutzen- und profitorien-
tierten Handelns einzusetzen.

Die systematischen Verzerrungen individuellen und sozialen Handelns


durch Ausweitung und Totalisierung verwertungsorientierter Logiken ge-
fährden nun auch lebensweltliche Bereiche, in denen soziales Handeln und
ein interesseloses Füreinander den Primat haben und sich die „Beteiligten
um der gemeinsamen Ermöglichung ihrer jeweiligen Selbstverwirklichung
willen wechselseitig ergänzen und daher der eine für den anderen eine Be-
dingung von Freiheit darstellen sollte.“23 Wie bereits beschrieben, stellen
die in solchen anerkennenden und freiheitsermöglichenden Interaktionen
wirksamen normativen Orientierungen eine wichtige Ressource einer auf
wechselseitiger Freiheit beruhenden gemeinsamen Lebensform dar. Ein
Einsickern verwertungslogischer Prinzipien in die Sphären solidarischen
Handelns droht daher moralische Fortschritte zu blockieren und die Res-
sourcen erodieren zu lassen, von denen der soziale Zusammenhalt einer
Gesellschaft lebt. Systematisch kann der Eingriff in die Bedingungen eines

23 HONNETH, Axel: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin: Suhr-
kamp 2015, 132.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 67

freien Verhaltens der Subjekte zu sich selbst und zu anderen auch mit Hilfe
des Entfremdungsbegriffes analysiert werden.24 Subjekte werden ihrer
Möglichkeit enteignet, sich in Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung
intersubjektiv reflektiert selbst zu bestimmen. Die Verzerrung von freien
Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung lässt sich im Sinne des Ent-
fremdungsbegriffes als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“25 und somit
als eine Störung der Weltaneignung deuten, die den Erfahrungsprozess
blockiert und Beziehungen zu verdinglichen droht.

Entfremdung ist damit eine Form des Verlustes von Freiheit, weil Subjekte
sich nicht mehr frei zu sich selbst und zu anderen verhalten können, son-
dern einander im Modus von Versachlichung und Entpersönlichung begeg-
nen. Entfremdung, Freiheitsverlust und Verdinglichung können daher als
Phänomene des Sozialen im Kontext neoliberaler Entschränkungen ver-
wertungsorientierten Handelns betrachtet werden. Sie sind in die Lebens-
formen eingelassen und blockieren einen an gemeinsamer Selbstverwirk-
lichung orientierten sozialen Erfahrungsprozess.26

3 Neujustierungen von Grundbegriffen problemorientierter


Religionspädagogik

Vor dem Hintergrund der skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungsdy-


namik seit Mitte der 1960er Jahre wird erkennbar, dass die Ansätze prob-
lemorientierten Religionsunterrichts Ausdruck der gesellschaftlichen Re-
formdekade waren, zugleich aber im Bildungsbereich dazu beitrugen, dass
Heranwachsende die Domäne religiöser und ethischer Bildung im Kontext
sozialer und gesellschaftlicher Themen unter Orientierung an Mündigkeit

24 Vgl. JAEGGI, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Prob-


lems. Mit einem neuen Nachwort, Berlin: Suhrkamp 2016.
25 EBD., 20.
26 Vgl. den Beitrag von Ansgar KREUTZER in diesem Band.
68 Thorsten Knauth

und Emanzipation bearbeiten konnten. So gesehen war auch der problem-


orientierte Religionsunterricht eine „eigensinnige Sphäre“27, in der die
„Idee sozialer Freiheit“28 im Medium eines gesellschaftsbezogenen religi-
ösen Lernens befördert werden sollte. Freilich ist zu berücksichtigen, dass
die leitenden Grundbegriffe problemorientierter Ansätze unter den Bedin-
gungen eines globalen neoliberalen Kapitalismus in reflexiver Brechung
fortgeschrieben werden sollten.

3.1 Politikverständnis

Im Blick auf den kategorialen Rahmen einer problemorientierten Religi-


onspädagogik lässt sich im Anschluss an die Rekonstruktion gesellschaft-
licher Entwicklungen ein Verständnis des Politischen sichern, das Politik
basal an die Gestaltung von Wirklichkeit und die Angelegenheiten des All-
tags bindet.

Das Neue an der gesellschaftlichen Konstellation Ende der 1960er Jahre


war – wie bereits oben skizziert –, dass das Politische in verschiedene so-
ziale Sphären und Institutionen einwandern konnte, die zuvor autoritär be-
setzt waren. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik bildete sich
durch gesellschaftliche Praxis ein Politikbegriff heraus, der unter dem Po-
litischen jenen Bereich versteht, in dem es um Fragen der Gestaltung von
Lebensverhältnissen im Rahmen eines weiten und demokratisch gefassten
Begriffs von gesellschaftlicher Öffentlichkeit geht: wie unterschiedliche
Interessen koordiniert werden und mit welchen Verfahren diese Auseinan-
dersetzung angesichts divergierender Vorstellungen friedlich organisiert
wird, konnte nun als eine genuin politische Angelegenheit betrachtet wer-
den. Bei den politischen „Angelegenheiten“ geht es – mit Hannah Arendt29

27 HONNETH 2015 [Anm. 23], 133.


28 EBD.
29 ARENDT, Hannah: Vita Activa. Vom tätigen Leben, München: Piper, 32005, 63.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 69

– um die gemeinsame Welt, also um alle Dinge, die zum Zusammenleben


von Menschen gehören. In diesem Verständnis beginnt Politik bereits in
den kleinsten sozialen Verhältnissen, im Mikrosozialen – und daraus folgt,
dass sich Politik und das Politische nicht aus dem Alltag heraushalten lässt
und sich in Fragen des Lebensstils und der Lebensform zeigt, mithin in der
Frage kulminiert, wie man lebt, leben will und leben soll!

Die Frage nach dem Politischen lässt sich weiterhin begrifflich entlang der
von Axel Honneth angesprochenen Sphären der Anerkennung differenzie-
ren. Politische Themen berühren Fragen der Möglichkeit, sich in gesell-
schaftlichen Räumen als Individuum erfahren und zeigen zu können; sie
betreffen die Einschränkung oder Anerkennung individueller Freiheits-
rechte; sie beziehen sich auf die Möglichkeit, in materieller Hinsicht am
sozialen und kulturellen Leben teilhaben zu können; und sie berühren
schließlich auch die Frage, ob Menschen frei sind zu lieben, wen und wie
sie wollen. Diese strukturelle Erweiterung und Differenzierung des Politi-
schen ist in den Ansätzen jener Jahre angelegt, gleichwohl aber nicht voll
entfaltet. Denn Ende der 1960er Jahre formierten sich erst anfanghaft die
sozialen Bewegungen, die die Idee sozialer Freiheit und Anerkennung in
den Dimensionen von Geschlecht (Frauen-, Lesben- und Schwulenbewe-
gung), Behinderung (sog. Krüppelbewegung) oder kultureller bzw. religi-
öser Diversifizierung (Anti-rassistische, diskriminierungskritische Bewe-
gung) propagierten und vorantrieben. Die Idee der sozialen Freiheit, die
das gesellschaftliche Reformprojekt verfolgte, faltete sich zunächst noch
undifferenziert in der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aus.30 An die-
ser Entwicklung haben auch die Ansätze des problemorientierten Religi-
onsunterrichts Anteil, die überwiegend im thematischen Spektrum sozialer
Gerechtigkeit blieben und sich an einem Leitbild von Mündigkeit und
Emanzipation orientierten, in das sich die diversifizierten Diskurse über

30 Vgl. HONNETH 2015 [Anm. 23].


70 Thorsten Knauth

Formen von Benachteiligung und Unterdrückung noch nicht hatten ein-


schreiben können.

Das Politische ist damit auch konstitutiv an einen mehrperspektivischen,


partizipatorischen Dialog verwiesen, der prinzipiell von allen geführt wer-
den kann, die von den ‚Angelegenheiten‘ betroffen sind. In dieser dialogi-
schen Form kann der Raum des Politischen als eine ‚eigensinnige Sphäre‘
verstanden werden, in der durch eine an Egalität und Anerkennung orien-
tierte Interaktion die Idee sozialer Freiheit promoviert wird.

3.2 Emanzipation: Verwirklichung der Idee von sozialer Freiheit

Der Emanzipationsbegriff wäre falsch verstanden, wollte man ihn als ide-
alistische Zielgröße religionspädagogischen Ansätzen einfach vorschrei-
ben, um religiöse Lernprozesse auf Emanzipation auszurichten. In diesem
Fall träfe der Instrumentalisierungsvorwurf tatsächlich zu und würde zu-
sätzlich das konterkarieren, was angestrebt wird, nämlich die Befreiung
aus verdinglichender Abhängigkeit und Herrschaft zur Möglichkeit, in
freier Selbstbestimmung über die eigenen Geschicke verfügen zu können.
Dieser begriffliche Kern des Emanzipationskonzeptes kann nicht in prä-
skriptiver normativer Setzung sein Potenzial entfalten, sondern nur, indem
deutlich wird, wie sich die Idee von Befreiung aus materialen Prozessen
von Interaktion und Auseinandersetzung mit Wirklichkeit (Weltaneig-
nung) prozesshaft herausschält. Der Emanzipationsbegriff ist ein an ent-
sprechende soziale Praktiken gebundener Bewegungsbegriff, der sich auch
im Prozess der Entfaltung, Herausarbeitung und Verwirklichung von sozi-
aler Freiheit (in verschiedenen Dimensionen und sozialen Sphären) mit Er-
fahrungen anreichert. Emanzipation ist daher als ein Anreicherungsbegriff
zu verstehen und nimmt durch seine Bezogenheit auf unterschiedliche so-
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 71

ziale und kulturelle Kontexte verschiedene Verwirklichungsformen bzw.


soziale Gestalten an.31

Die eng mit dem Emanzipationsbegriff verbundene ‚Idee sozialer Freiheit‘


kann als ein weiterer Grundbegriff einer gesellschaftsbezogenen und poli-
tisch dimensionierten Religionspädagogik benannt werden. Hervorzuhe-
ben ist dabei, dass auch diese Kategorie sich nicht einer normativen Set-
zung verdankt, sondern Resultat eines gesellschaftlichen Prozesses ist, in
dem die aus freier Interaktion sich differenzierenden normativen Orientie-
rungen einen Geltungsüberhang produzieren und auf andere gesellschaft-
liche Bereiche übergreifen. Als Idee eines zwanglosen Füreinander ent-
stammt sie zwar Strukturen und Verhältnissen freier Intersubjektivität,
greift aber darüber hinaus in die Sphäre des demokratischen Handelns und
der demokratischen Willensbildung und beansprucht „Bedingungen eines
zwanglosen Füreinander“32 auch für Wirtschaft und Familie. Soziale Frei-
heit kulminiert in der Idee einer Gesellschaft, in der individuelle Freiheit
nicht auf Kosten, sondern mit Hilfe von Solidarität gedeiht.33 Im vorange-
gangenen Abschnitt habe ich zum einen darauf hingewiesen, wie sich im
Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung zentrale Dimensionen sozialer
Freiheit weiter ausdifferenzieren, pluralisieren und verschiedene soziale
und kulturelle Gestalten angenommen haben. Zum anderen wurde deut-
lich, welchen Antinomien und Paradoxien soziale Freiheit im Zuge kapi-
talistischer Verwertungslogik ausgesetzt ist. Soziale Freiheit muss daher
als unaufgebbare Idee gesellschaftlichen Fortschritts immer auch in ihren
widersprüchlichen und antinomischen Formen erfasst und aus dem span-

31 Die Formulierung ‚Anreicherungsbegriff‘ verwende ich in Anlehnung an einen Gedan-


ken Rahel Jaeggis, dass Begriffe sich durch ihren performativen Gebrauch in sozialer
Wirklichkeit in ihrem Bedeutungsgehalt anreichern (Vgl. JAEGGI, Rahel: Kritik von Le-
bensformen, Berlin: Suhrkamp 2014.) Sie haben gleichsam eine soziale (und kontext-
bezogene) Erfahrungsgeschichte.
32 EBD., 140.
33 EBD., 166.
72 Thorsten Knauth

nungsvollen Gegenüber zu sozialen Pathologien von Entfremdung und


Verdinglichung34 (im Sinne einer Erstarrung und Verobjektivierung sozia-
ler Prozesse) verstanden werden.

3.3 Kritik der Lebensformen

Zum politischen Kontext des problemorientierten Religionsunterrichts ge-


hörte die Kritik vorherrschender Lebensformen, die als Keimzelle bzw. als
Reproduktionsbereich einer autoritär und patriarchal strukturierten Gesell-
schaft analysiert wurden. Lebensformen können mit Rahel Jaeggi als Zu-
sammenhänge sozialer Praktiken definiert werden.35 Sie sind in Kontexten
situiert, die selber wieder einen kulturellen, sozialen und historischen Hin-
tergrund sowie eine materielle Basis haben. Die ‚politische Generation‘
während der Reformdekade kritisierte mit der Kleinfamilie, der bürgerli-
chen Leistungsideologie und den Lebensentwürfen eines angepassten und
entpolitisierten Konsumbürgers Lebensformen, die den vorherrschenden
Modus kapitalistischer Vergesellschaftung unterstützten. Zugleich wurde
nach Gegenentwürfen gesucht, die Arbeit und Leben versöhnen sollten, auf
Solidarität und Gemeinsinn setzten und Hierarchien des Zusammenlebens
abbauen wollten. Zur Dialektik der Lebensformkritik gehört, dass auch in

34 In seiner Studie zum Verdinglichungsbegriff reformuliert Axel Honneth (HONNETH,


Axel: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Um Kommentare von
Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear erweiterte Ausgabe, Frankfurt am
Main / Berlin: Suhrkamp 2015) Verdinglichung als „Anerkennungsvergessenheit“
(EBD., 61): „In dem Maße, in dem wir in unseren Erkenntnisvollzügen das Gespür dafür
verlieren, dass sie sich der Einnahme einer anerkennenden Haltung verdanken, entwi-
ckeln wir die Tendenz, andere Menschen bloß wie empfindungslose Objekte wahrzu-
nehmen.“ (EBD., 68). Ergänzend dazu fasst Rahel Jaeggi – in der begrifflichen Spur des
von Georg Lukacz ausgearbeiteten Konzepts – Verdinglichung als einen Vorgang, in
dem etwas (sozial) Gemachtes als etwas Gegebenes erlebt wird, das nicht mehr durch
eigenes Handeln veränderbar ist. So erscheinen die Resultate des eigenen Handelns als
fremde Macht, die sich dem Handelnden entgegenstellt (vgl. JAEGGI 2016 [Anm. 24],
38).
35 Vgl. JAEGGI 2016 [Anm. 24], 94–135.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 73

diese Gegenentwürfe die Strukturen einsickerten, die überwunden werden


sollten oder aber die konzeptionellen Gehalte und motivationalen Ressour-
cen alternativer Lebensformen alsbald in die kapitalistische Verwertungs-
logik eingemeindet wurden. Dennoch kann die Frage nach der Möglichkeit
einer „Kritik von Lebensformen“36 zum Kernbereich des Ansatzes einer
politisch dimensionierten problemorientierten Religionspädagogik gezählt
werden. Denn auch die Idee sozialer Freiheit kann sich nur in Lebensfor-
men verwirklichen. Anders als noch während der 1960er Jahre, in denen
die Gesellschaft vergleichsweise kulturell homogen verfasst war, fächert
sich die spätmoderne plurale Gesellschaft in vielfältige Lebensentwürfe
und Formen kollektiven kulturellen Handelns auf. So sehr die Anerken-
nung einer Vielfalt von kulturellen Identitäten einerseits als Realisierung
der Norm kultureller Freiheit betrachtet werden muss, so sehr ist anderer-
seits dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Lebensformen an sich prob-
lematisch werden können, wenn ihre bisherigen Problemlösungen den Pro-
zess freier intersubjektiver Selbstverwirklichung blockieren. Gegenwärtig
wird in Form der ‚Fridays for Future‘-Proteste am Thema der Klimage-
rechtigkeit sogar die Erfahrungs- und Lernblockade der Lebensformen
westlicher Gesellschaften als ganze thematisiert.

Zum kategorialen Rahmen eines zeitgemäßen Ansatzes von problemorien-


tierter Religionspädagogik gehört demnach die Aufgabe, das Verhältnis
zwischen Anerkennung und Kritik von Lebensformen zu bestimmen. Da-
bei ist allerdings auch zu klären, wie eine solche Lebensformkritik über-
haupt angesetzt werden kann, wenn dem Verständnis von Kritik nicht an-
gelastet werden soll, dass seine Maßstäbe von außen an die Lebensform
herangetragen werden und die Kritik damit dem Vorwurf ausgesetzt ist,
entweder missachtend oder usurpierend zu agieren. Diese berechtigte An-
forderung an den Kritikbegriff bedeutet, dass eine Kritik der Lebensform

36 So der Titel eines Werks von Rahel JAEGGI 2016 [Anm. 24].
74 Thorsten Knauth

immanent in den sozialen Praxen der Lebensform selbst anzusetzen hätte


und zu zeigen wäre, wie die in der Lebensform inkorporierten normativen
Orientierungen und Ansprüche den aktuellen Praktiken der Lebensform
widersprechen.

Kritik ist somit intern auf die Krise einer Lebensform bezogen und arbeitet
an den widersprüchlichen Momenten der Lebensformen jene Aspekte her-
aus, die auf eine Transformation der sozialen Praktiken drängen. Lebens-
formen kommen in die Krise, wenn die ihr eigenen Praktiken nicht mehr
ausreichen, die ihnen gestellten immanenten oder aber auch externen Prob-
leme zu lösen. Lebensformen sind dann „unbewohnbar“ geworden, wie
Rahel Jaeggi in einer eingängigen Metapher formuliert37: ihre Fähigkeit,
Probleme der Lebensgestaltung zu bearbeiten, gerät ins Stocken, und es
entsteht gewissermaßen ein Problem mit den Problemen, das nach einer
neuen Beschreibung der unbestimmt gewordenen Situation und einer Lö-
sung der Handlungs- und Erfahrungsblockade drängt. Rahel Jaeggi zeigt
nun in Anlehnung an Überlegungen von John Dewey, wie die prozesshafte
Verschränkung von Problembeschreibung und Lösungsfindung einen
Lern- und Erfahrungsprozess in Gang setzt, in dessen Verlauf Problemlö-
sung durch eine Reorganisation und Vertiefung von Erfahrungen ermög-
licht wird: „Gelungene Lernprozesse sind solche, die Erfahrungsmöglich-
keiten erweitern und vertiefen (...)“.38

Der beschriebene Zusammenhang zwischen Lebensform, Krise und Prob-


lembewältigung als Lern- und Erfahrungsprozess ist für den Kontext prob-
lemorientierter Religionspädagogik sehr aufschlussreich. Er erlaubt, ein
Verständnis von Problemorientierung zu entwickeln, das auf Lebensfor-
men und ihre Krisen bezogen werden kann. Das überwölbende Kriterium

37 Vgl. EBD., 195.


38 EBD., 405.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 75

des Gelingens (und der Kritik) von Lebensformen entnimmt problemori-


entierte Religionspädagogik der Idee einer intersubjektiv reflektierten so-
zialen Freiheit, auf die hin alle gesellschaftlichen Formen sozialer Praxis
bezogen sind. Dieser Maßstab von Kritik ist den Lebensformen nicht äu-
ßerlich, sondern kann in ihren normativen Orientierungen selbst angetrof-
fen werden: „Eine Lebensform […] darf dann als gelungen gelten, wenn
sie Resultat von Vorgängen kollektiver Selbstbestimmung ist.“39 Problem-
orientierte Religionspädagogik modelliert im Rahmen von lebensformori-
entierten religionsbezogenen Lernprozessen Probleme daher als Phäno-
mene einer widersprüchlich gewordenen Praxis von Lebensgestaltung in
ihrer mehrperspektivischen Widersprüchlichkeit und Kontroversität. Im
Blick auf die als Modell konstruierten ‚echten‘ Probleme initiiert sie Lern-
und Erfahrungsprozesse, in denen Kontroversität und Widersprüchlichkeit
abgebildet sind, um tragfähige Lösungen für eine Veränderung von Le-
bensformen finden zu können.

3.4 Religion als Befreiungspraxis und „Anti-Tradition“.


Das Religionsverständnis problemorientierter Religionspädagogik

Meine Erörterung ist nun an einem Punkt angelangt, an dem zu klären ist,
welche Rolle Religion in der bislang entwickelten Architektur von Grund-
begriffen einer problemorientierten Religionspädagogik übernimmt. Dazu
möchte ich den inneren Zusammenhang der bislang vorgestellten Grund-
begriffe kurz erläutern: Ich habe gezeigt, dass problemorientierte Religi-
onspädagogik ein weites Verständnis des Politischen zu Grunde legt, durch
das Politik in den sozialen Alltags-Praktiken von Menschen identifiziert
werden kann und als Angelegenheit einer partizipativ von unten entwickel-
ten dialogischen Praxis konzeptualisiert wird. Der solchermaßen gewon-
nene Begriff des Politischen als dialogische Praxis ist Bestandteil und zu-

39 EBD., 446.
76 Thorsten Knauth

gleich normativer Bezugspunkt einer Idee sozialer Freiheit, in der – in-


tersubjektiv reformuliert – der Gedanke von Emanzipation als Befreiung
aus Abhängigkeit und Herrschaft aufgehoben ist.40 Soziale Freiheit dient
nun auch als Maßstab einer Kritik von Lebensformen. Sie erlaubt, syste-
matische Verzerrungen intersubjektiver Praxis als Blockaden eines Ermög-
lichungsprozesses von sozialer Freiheit zu identifizieren und die Probleme
von Lebensformen im Blick auf jeweils mögliche Formen kollektiver und
dialogisch strukturierter Selbstbestimmung zu analysieren. Problemorien-
tierte Religionspädagogik versucht dann, für die von ihr gestalteten Lern-
prozesse einen Raum zu schaffen, der als ‚eigensinnige Sphäre‘ (Honneth)
die Idee von sozialer Freiheit in einer dialogischen religionsbezogenen und
auf Probleme von Lebensformen orientierten Praxis modellhaft vorweg-
nimmt und durch einen solchermaßen gestalteten Lern- und Erfahrungs-
prozess anreichert.

In dieses Ensemble gilt es nun, die Rolle und Bedeutung von Religion und
religiöser Tradition einzutragen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang
noch einmal daran, dass dem problemorientierten Ansatz vorgeworfen
wird, er instrumentalisiere Religion für politische Praxis und berücksich-
tige zu wenig die Eigenlogik des Religiösen und den Eigenwert religiöser
Tradition. Vor dem Hintergrund dieses Einwandes möchte ich nun die Ei-
genlogik von Religion gerade so bestimmen, dass ein bestimmtes Ver-
ständnis des Politischen als freiheitsermöglichende Praxis für Religion
konstitutiv ist.41

40 Vgl. auch KNAUTH, Thorsten: Religionsunterricht, Befreiungspädagogik und Befrei-


ungstheologie. Ein Blick zurück nach vorne, in: STOSCH, Klaus von / TATARI, Muna
(Hg.): Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum,
Paderborn: Schöningh 2012, 203–220.
41 Vgl. zum Folgenden auch: KNAUTH, Thorsten: Dialog von Anfang an. Die Bedeutung
des bildungstheoretischen Ansatzes von Helmut Peukert für eine dialogische Religions-
pädagogik, in: Abeldt, Sönke u. a. (Hg): „...was es bedeutet, ein verletzbarer Mensch zu
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 77

Denn mit dem Hinweis auf die Eigenlogik von Religion kann ja nicht ge-
meint sein, dass Religion jenseits der Praxis von Subjekten und abgelöst
von sozialen, kulturellen und historischen Kontexten in einem transzen-
denten Sonderraum stattfindet und soziale und politische Strukturen der
Existenz lediglich eine Kulisse für theologische Analysen bilden. Religion
als eine eigenständige Dimension zu verstehen, kann somit nicht zu einem
„Ausstieg aus der Sozialisation in einen Bereich transzendierender eigent-
licher Existenz“42 verstanden werden, sondern muss im Gegenteil tiefer in
das Verstehen der sozialisatorischen, gesellschaftlichen Bedingungen so-
zialen und politischen Existierens hineinführen. Diese Intuition lag bereits
Ansätzen eines ideologiekritischen Religionsunterrichts zu Grunde, die zu
Recht auf einen fundamentalen Widerspruch zwischen den behaupteten
Geltungsansprüchen von Religion und der faktisch realisierten gesell-
schaftlichen Praxis hinwiesen. Religion, die Grundlage einer befreienden
Praxis sein will und über ihre Gottesrede Freiheit behauptet, droht selbst-
widersprüchlich zu werden, wenn sie durch ihre eigene Praxis nicht zur
gesellschaftlichen Realisierung von Freiheit beiträgt. Theologie, die religi-
öse Praxis reflektiert, ist damit konstitutiv auf ihre Interdependenz mit ei-
ner kritischen Theorie der Gesellschaft angewiesen. Sie „bliebe abstrakt,
wenn sie nicht für die gesellschaftliche Unterdrückung von Freiheit und
die Zerstörung möglicher Identität von Subjekten aufmerksam wäre.“43

In den Blick kommt damit Religion als ein handlungs- und orientierungs-
leitender Deutungszusammenhang, der als Bestandteil von sozialer Praxis
in den Lebenswelten und Lebensformen auch an den Ambivalenzen und

sein.“ Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Sozialwissenschaft und


Praktischer Philosophie (FS H. Peukert), Mainz: Matthias-Grünewald 2000, 321–336.
42 PEUKERT, Helmut: Einleitung des Herausgebers, in: DERS. (Hg.): Diskussion zur Politi-
schen Theologie, München: Kaiser 1969, VIII–XIV.
43 PEUKERT, Helmut: Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theolo-
gie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Düsseldorf: Patmos
1976, 353.
78 Thorsten Knauth

Widersprüchen der Lebensformen partizipiert: Wenn Lebensformen auf-


grund eines Problemüberhangs in die Krise kommen, dann zeigt sich auch
Religion, sofern sie als Element in den sozialen Praktiken dieser Lebens-
form inkorporiert ist, in ihrer widersprüchlichen Gestalt. Sie partizipiert an
den Erfahrungsblockaden, die eine Veränderung sozialer Praktiken verhin-
dern, indem sie zum Beispiel über spirituelle Kompensationsleistungen
und Praktiken der Kontingenzbewältigung mit den Widersprüchen und
Krisen zu versöhnen versucht. Sie besitzt aber auch das Potential, gege-
bene Praxis durch innovatives Handeln und Deuten zu überschreiten, wenn
sie zur Ressource für eine intersubjektive Praxis wird, in der die eigene
Selbstbestimmung im Lichte der Selbstbestimmung eines anderen reflek-
tiert wird. In dieser Spur einer anerkennungstheoretischen Konzeptualisie-
rung von Religion wird die Frage der Vermittlung und Aneignung von re-
ligiösen Traditionen mit einer hermeneutischen Perspektive ausgestattet,
die den Eigenwert von religiösen Traditionen in der Frage nach den histo-
rischen Bedingungen und sozialen, gesellschaftlichen Voraussetzungen
unversehrter Intersubjektivität zur Geltung bringt. Tradition wird in den
Spuren von „Anti-Tradition“44 freigelegt, also als eine Praxis verstanden,
die in den Konflikten um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gewalt und
Gewaltlosigkeit, Herrschaft und Unterdrückung, Krieg und Frieden an ei-
ner solidarischen und freiheitsermöglichenden Praxis mit anderen festhält
und in dieser Praxis die Hoffnung geltend macht, dass Gewalt, Ungerech-
tigkeit, Herrschaft und Erbarmungslosigkeit nicht das letzte Wort haben.
Helmut Peukert stellt diese radikal an der Anerkennung der anderen orien-
tierte Praxis paradigmatisch am Leben und Kreuzestod Jesu dar, macht
aber gleichermaßen deutlich, dass es allen Hochreligionen im Kern um die
Frage geht,

44 PEUKERT, Helmut: Tradition und Transformation. Zu einer religionspädagogischen


Theorie der Überlieferung, in: RpB 19 (1987), 16–34.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 79

„wie der Zirkel von Haß und Vernichtung in einer Praxis universaler Solidarität
aller endlichen Wesen durchbrochen werden könne, die Frage nach Wahrheit und
wahnhaft verzerrter Wahrnehmung von Wirklichkeit, die Frage nach einer zure-
chenbaren und doch jedem Zugriff sich entziehenden Identität des Subjekts und
schließlich die dunkelste Frage der Religionsgeschichte, die nach dem Verhältnis
von unbedingter Freiheits- und Befreiungserfahrung in Religion und der Gewalt
von Menschen über Menschen.“45

Die hier konstatierte Strukturparallelität in den religiösen Menschheitstra-


ditionen schafft hermeneutische Grundlagen für einen interreligiösen Dia-
log, in dem Religionen sich in der Erinnerung an das Erbe einer befreien-
den Praxis, die an der Etablierung kommunikativer, solidarischer Verhält-
nisse orientiert ist, einig wissen können. Dank verstärkter Bemühungen um
interreligiösen Dialog und neuerer Ansätze einer pluralistischen Religions-
theologie, einer interreligiösen und dialogischen Theologie, ist in den letz-
ten Jahren die Kenntnis und das Bewusstsein davon gestiegen, dass alle
großen Religionen mit den ihnen eigenen Ausdrucksmitteln Leid, Gewalt,
Armut und Ungerechtigkeit anklagen und Wege zur Befreiung aus diesen
Verhältnissen anbieten.46 Wenn religiöse Traditionen als ‚Anti-Traditio-
nen‘ zu herrschenden sozialen Praxen von Gewalt, Ungerechtigkeit und
Machtsteigerung rekonstruiert werden, können sie auch für den Wider-
stand gegen Angriffe auf das Leben in Anspruch genommen werden: ihre
sozialen Praxen formieren sich dann zum Beispiel zu Gegenentwürfen von

45 PEUKERT, Helmut: Praxis universaler Solidarität. Grenzprobleme im Verhältnis von Er-


ziehungswissenschaft, in: SCHILLEBEECKX, Edward (Hg.): Mystik und Politik. Theolo-
gie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft, Mainz: Matthias-Grünewald 1988,
172–185, 173–174.
46 KNITTER, Paul F.: Toward a Liberation Theology of Religions, in: HICK, John / DERS.
(Hg.): The Myth of Christian Uniqueness: Toward a Pluralistic Theology of Religions,
Maryknoll: Orbis 1987, 178–200; AMIRPUR, Katajun / KNAUTH, Thorsten/ ROLOFF,
Carola/ WEIßE, Wolfram: Perspektiven dialogischer Theologie. Offenheit in den Reli-
gionen und eine Hermeneutik des interreligiösen Dialogs, Münster / New York: Wax-
mann 2016; SCHMIDT-LEUKEL, Perry: Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus
zur interreligiösen Theologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019; BERNHARD,
Reinhold: Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen, Zürich:
Theologischer Verlag Zürich 2019.
80 Thorsten Knauth

herrschenden Lebensformen und können modellhaft in den „Pluralismus


der Auseinandersetzung um die richtige Lösung des Problems der gelin-
genden Lebensform“47 eingespielt werden. Dass dies allerdings nicht zu
einem liberalen Verzicht bzw. der Einklammerung einer Kritik an Lebens-
formen führt, ergibt sich aus der Notwendigkeit, Lebensformen zu kritisie-
ren, wenn sie „nicht in der Lage sind, die sich ihnen stellenden Probleme
zu lösen oder die Krisenerfahrungen, denen sie ausgesetzt sind, als Erfah-
rungen wahrzunehmen und sich ihnen entsprechend zu transformieren.“48
Seinen kritischen Stachel erhält der hier entwickelte Ansatz aus der Tatsa-
che, dass das angestrebte experimentierende Problemlösungshandeln an
die Form demokratischer und dialogischer Selbstbestimmungsprozesse –
und damit an die Idee sozialer Freiheit – gebunden bleibt. Die religionspä-
dagogische Diskussion über Vermittlung und Aneignung religiöser Tradi-
tionen müsste dann in der hermeneutischen Perspektive einer re- und neu-
konstruierenden Anknüpfung an das religiöse Erbe einer gewaltlosen
Überschreitung von Verhältnissen der Ungerechtigkeit und Missachtung
geführt werden.49 Diese Anknüpfung kann freilich nur dann widerspruchs-
frei bleiben, wenn sie selbst wieder Lern- und Erfahrungsprozesse einer
innovatorischen und kommunikativen Praxis ermöglicht.

4 Grundlagen, Perspektiven und Potenziale einer


problemorientierten Religionspädagogik

Dass für Religionspädagogik und Religionsunterricht die Bezogenheit auf


das Politische konstitutiv ist, ist weder subjektive Behauptung noch nor-
mative Setzung, sondern ergibt sich aus der Eigenlogik des Religiösen und

47 JAEGGI 2016 [Anm. 24], 451.


48 EBD., 447.
49 Vgl. auch: KNAUTH, Thorsten: Was gehen uns die anderen an? Überlegungen zum
ethisch-interreligiösen Lernen, in: ENGLERT, Rudolf u. a. (Hg.): JRP 31, Neukirchen-
Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft 2015; KNAUTH 2016 [Anm. 17], 49–72.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 81

der daraus resultierenden religionsbezogenen Praxis. Religion hat in ihrem


innersten Kern, in ihrem zentralen „Grundbescheid“50 mit einer vorausset-
zungslos gegebenen Freiheit zu tun, so dass von Menschen verantwortete
und antwortende Praxis ebenfalls nur zentral die Ermöglichung von Frei-
heit sein kann, will sie nicht zu ihren eigenen Voraussetzungen in Wider-
spruch geraten. Diese freiheitsermöglichende Praxis aber materialisiert
sich nur in historischen, kulturellen und sozial formierten Kontexten. Sie
findet in Lebensformen statt, die ein je bestimmtes Niveau der Realisierung
von sozialer Freiheit darstellen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ei-
nes global agierenden Kapitalismus sind diese Lebensformen auch von
systemisch induzierten Handlungslogiken und ihren normativen Erwartun-
gen bedroht. Diese können die Form eines freiheitsermöglichenden Han-
delns verzerren und führen als soziale Pathologien51 von Entfremdung,
Verdinglichung, Konsumismus und unkontrollierten Verbrauchens sowie
ökonomischer Disparitäten zu Krisen, die den Bestand normativer Res-
sourcen eines an Gleichheit, Gerechtigkeit und Anerkennung orientierten
solidarischen Zusammenlebens erodieren lassen.

So angebracht es ist, die Rolle von Religionspädagogik nicht überzubewer-


ten, so notwendig erscheint es aber auch, dass sie sich ihres Selbstverständ-
nisses als einer kritisch auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen bezo-
genen Bildungswissenschaft vergewissert und Beiträge zur Analyse, Kritik
und Ermöglichung von religiösen Lernprozessen leistet, die auf die Idee
von sozialer Freiheit bezogen sind und die Rolle von Religion als Dimen-
sion einer solchen freiheitsermöglichenden Praxis bestimmen. Religions-

50 BERG, Horst: Grundriß der Bibeldidaktik: Konzepte, Modelle, Methoden, München:


Kösel 1993.
51 Vgl. u. a. HONNETH, Axel: Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiag-
nose, Frankfurt am Main: Fischer 1994; FREYENHAGEN, Fabian: Critical Theory and
Social Pathology, in: GORDON, Peter E. / HAMMER, Espen / HONNETH, Axel (Hg.): The
Routledge Companion to the Frankfurt School, New York: Routledge 2019.
82 Thorsten Knauth

unterricht wäre dann als eine „eigensinnige Sphäre“ einzurichten, in der je


besondere Formen der sozialen Freiheit zur Verwirklichung gelangen kön-
nen. Dies verweist religionspädagogisches Handeln auf eine religionsbe-
zogene dialogische Praxis, in der die faktisch existierende Vielfalt von Le-
bensformen gezeigt und anerkannt sowie gleichzeitig eine Auseinanderset-
zung über das Problem gelingender Lebensformen möglich wird.

Autorenangaben: Knauth, Thorsten, Dr., Professor für Evangelische Theolo-


gie/Religionspädagogik und Leiter der Arbeitsstelle interreligiöses Lernen (AiL)
am Institut für Evangelische Theologie der Universität Duisburg-Essen, Schwer-
punkte: Interreligiöses Lernen und Dialogansätze, qualitative empirische For-
schung, inklusive Religionspädagogik der Vielfalt, Geschichte und Aktualität
problemorientierter Ansätze, Gender und religiöse Bildung.
Blick in den Rückspiegel I:
Die evangelische Religionspädagogik der
Reformdekade um 19681
Jan-Hendrik Herbst
Herbst: Lieber Herr Heumann, liebe Frau Rickers, lieber Herr Steffensky,
lieber Herr Vierzig! Ich freue mich sehr, dass wir Sie für ein Gespräch mit
uns gewinnen konnten. Gemeinsam möchten wir einen Blick von heute
zurück wagen und aus der Geschichte Probleme, Potenziale und Perspek-
tiven gegenwärtiger Religionspädagogik herausarbeiten. Uns interessieren
also Ihre vergangenen Erfahrungen ebenso wie gegenwärtige Einschätzun-
gen. Beginnen wir, zum Anlass passend, mit einer Frage zur Tagung „Zu-
rück in die Zukunft?“. Was denken Sie darüber, dass es im März 2019 eine
Tagung über ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ in der Religionspädagogik geben
soll? Lohnt sich Ihres Erachtens ein Blick zurück in die Vergangenheit aus
systematischem Interesse?
Heumann: Eine solche Tagung scheint mir längst überfällig. Besonders
deshalb, weil Religion in weiten Teilen der Öffentlichkeit als anti-emanzi-
patorisch und damit auch als unkritisch und gestrig gesehen wird und die
Religionslehrerausbildung darauf reagieren muss. […] Das Erfordernis
von Ideologiekritik im RU zielt aber auch auf Gegenkritik, d. h., auf die
Hebung des kritischen Potentials des Christentums bzw. anderer Religio-
nen, z. B. hinsichtlich der Ökonomisierung von Gesellschaft und Kultur.
Dass der RU und im Hintergrund die Religionspädagogik deutlich zur

1 Bei diesem Interview handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Die Langversion kann
auf der Verlagsseite zu diesem Buch als Zusatzmaterial frei heruntergeladen werden.
Die Interviews wurden einzeln mit den Personen geführt und an dieser Stelle zusam-
mengetragen.

Zusatzmaterial online
Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/
978-3-658-28759-7_5) enthalten.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_5
84 Gespräch mit Zeitzeug*innen

Kritikfähigkeit erziehen muss, scheint mir deshalb unabdingbar; wohlge-


merkt, durch Einübung in eine außer- wie gleichermaßen in eine binnen-
religiöse Kritikfähigkeit gegenüber allem, was sich als religiös darstellt.

Vierzig: Seit 1991 bin ich emeritiert und seitdem habe mich auch nicht
mehr fachwissenschaftlich mit Religionspädagogik befasst, aber auch mit
95 Jahren habe ich noch eine dezidierte Meinung dazu. Ein problemorien-
tierter Unterricht ist der einzig denkbare vertretbare Religionsunterricht
für mich. Wobei ich unter „problemorientiert“ jede Form eines an Lebens-
fragen orientierten Unterrichts verstehe, wie er heute auch vielfach prak-
tiziert wird. Wir brauchen auch heute einen offenen Religionsunterricht,
dessen Thema das Leben und der nicht eingegrenzt auf biblisch-religiöse
Inhalte ist. Aus diesem Grunde befürworte ich die Initiative der Tagung
über Kritik und Emanzipation sehr. Kritik und Emanzipation sind nicht
zeitbedingte Eigenschaften, sondern Grundformen menschlicher Existenz,
die heute wichtiger sind denn je. Der gegenwärtige Zustand der Gesell-
schaft zeigt dieses überdeutlich. […]

Steffensky: Ich kann mir keine religiöse oder andere Bildung vorstellen,
die nicht zu mehr Verstand (Kritik) und Freiheit (Emanzipation) führt. Es
ist aber zu bedenken: es gibt Aufgaben, die die Zeiten uns stellen. In meiner
theologischen Jugend hatten wir gegen autoritäre Systeme in Kirche, Ge-
sellschaft etc. zu kämpfen, die uns Denken und Lachen, Vernunft und Frei-
heit verboten. So mussten wir gegen unsere Traditionen kämpfen. Das al-
lerdings ist nicht mehr die Hauptfront und Frage. Wir haben damals ge-
fragt: Von wem und von was müssen wir uns trennen? Die Frage von heute
ist fast umgekehrt. Mit wem können wir uns verbünden? Was tröstet uns in
der unwirtlichen Gesellschaft? Von welchen Broten unserer Tradition kön-
nen wir uns ernähren? Welcher Autorität kann man trauen? Es gibt ein
Problem der Theologen und Theologinnen: Dass sie gelegentlich an Fron-
ten kämpfen, an denen die Feinde schon lange abgehauen sind. Sie kämp-
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 85

fen immer noch gegen Autoritäten (gilt besonders für Katholiken), die ihre
Autorität schon lange verloren haben.

Herbst: Derzeit gibt es nur noch wenige Religionspädagog*innen, die den


Problemorientierten Religionsunterricht als gesamte Konzeption bewahren
möchten.2 Viele Religionspädagog*innen vertreten die Meinung, dass dies
an den Aporien und ungelösten Problemen liegt, die mit ihm und der Re-
formdekade um 1968 verbunden sind. Aus welchen Gründen ist der Prob-
lemorientierte Religionsunterricht als Konzeption Ihres Erachtens in den
Hintergrund religionspädagogischer Debatten getreten? Welche äußeren
Ursachen und/oder welche inneren Aporien machen Sie dafür verantwort-
lich? Und welche der festgestellten Probleme halten Sie aus der heutigen
Perspektive für besonders relevant?

Heumann: Der Kollege Knauth ist mit seinem Festhalten am Problemori-


entierten RU zu unterstützen. Folgende Faktoren haben m. E. zu einer Ero-
sion der Problemorientierung geführt: Erstens hat eine seinerzeit durch-
aus berechtigte Neigung vieler Lehrer, im RU gesellschaftliche oder indi-
viduelle Problemlagen (Streit, Armut, Gewalt) zu behandeln, oft dazu ge-
führt, dass der Zusammenhang dieser Inhalte mit Christentum/Religion für
Schüler nur schwer erkennbar war. […] Zweitens mahnten die Kirchen die
Rückkehr zu spezifisch biblisch-kirchlichen Inhalten an, und zwar mög-
lichst nur mit bedingter gesellschaftspolitischer Problematisierung. […]
Drittens verkannten die Kirchen damit bis heute den pädagogischen Effekt
des Konzepts, nämlich Schüler begründet und verantwortlich eine eigene
Position im Feld Religion entwickeln zu lassen, im Für und Wider zu Be-
kenntnis oder Lehramt. […] Viertens leitet die Kirchen bis heute ein grund-

2 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religionsunter-


richt und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte und Ak-
tualität, in: ZPT 70 (2018), 128–141.
86 Gespräch mit Zeitzeug*innen

sätzliches Missverständnis in ihrer Vorstellung von „öffentlicher religiö-


ser Bildung“. Bildung in der Schule kann und darf nicht nur affirmativ
sein. Sie muss sich immer auch kritisch mit den jeweiligen Inhalten ausei-
nandersetzen, ohne freilich religiöse Inhalte zu diskreditieren bzw. Schü-
lern den Weg zu versperren, sich Glaubensinhalten zu öffnen. […]

Vierzig: Der Grund dafür, dass seit den 1980er Jahren in der Religions-
pädagogik eine Stille herrscht, die die vorherige Aufbruchsstimmung ab-
rupt beendete, war das Desinteresse und Missfallen der Kirchen, katho-
lisch wie evangelisch, an einer grundsätzlichen Neuformulierung des schu-
lischen Religionsunterrichts. Dass dieser Entwurf von kirchlicher Seite un-
beachtet geblieben ist, hat meines Erachtens den Grund, dass die Kirche
ihr Verkündigungsmonopol bedroht sah. […]

Steffensky: RU wie Religion kann nie nur problemorientiert sein. Religion


hat es auch mit dem absichtslosen Lob Gottes zu tun; mit der unverzweck-
baren Schönheit des Glaubens. Religion kann nicht nur Mittel sein, etwas
zu erreichen oder zu lösen. Das hat der problemorientierte RU wohl zu
wenig bedacht. Aber das Probleme erkennen und bearbeiten ein Grundan-
liegen allen Lernens sind, ist klar.

Herbst: Um eine genannte Problematik ganz konkret anzusprechen, Herr


Steffensky: Würden Sie beispielsweise sagen, dass die damaligen Versu-
che Religionspädagogik und Theologie zu betreiben von einem „All-
machtswahn“ und dem mangelnden „Gefühl für unsere eigene Endlich-
keit“3 geleitet sind?

3 Steffensky zitiert nach DRESSLER, Bernhard: 1968 und die Religionspädagogik. Ein
sehr persönlicher Rückblick, in: Theo-Web 12/2 (2013), 206–218, 210.
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 87

Steffensky: Vor „Allmachtswahn“ sind ganz sicher die bewahrt, die die
Hände in der Tasche lassen und sich ihrem faulen Gottvertrauen hingeben.
Wer aber anfängt zu sehen, Zusammenhänge zu erkennen, sie zu benennen
und an Zuständen zu arbeiten, der stellt sofort den Zusammenhang des Un-
heils fest. Wenn wir z. B. im Nachtgebet über die Zustände in den Gefäng-
nissen gearbeitet haben, kamen wir alsbald darauf, was Schulsysteme da-
mit zu tun haben; was autoritäre Erziehungsstile und verbaute Städte damit
zu tun haben; was das Rachebedürfnis einer Gesellschaft mit dem Zustand
der Gefängnisse zu tun hat. Wenn man ein Leiden anpackt, stößt man auf
ein Bündel von Leiden. Und die Hauptfrage im PN: was lassen wir liegen,
weil wir nicht alles tun können? Aber wer ein Herz hat, dem fällt es schwer,
etwas liegen zu lassen. Es sieht vielleicht nach außen wie Größenwahn aus,
alles anpacken zu wollen. Aber es ist auch ein Schmerz, nicht alles anpa-
cken zu können. Das sollen die bedenken, die den Linken Größenwahn vor-
werfen. Faulpelze geraten nicht in die Gefahr des Größenwahnes.

Herbst: Herr Vierzig und Frau Rickers, wie sehr wurden ihre damaligen
Unterrichtskonzepte durch „1968“ beeinflusst? Wie stark waren Schü-
ler*innen- und Studierendenproteste, die beispielsweise eine Ausrichtung
an Religionskritik forderten, Anlass für die Konzeption einer ideologiekri-
tischen Religionspädagogik?4

Vierzig: Fragt man nach den damaligen Gründen für den Aufbruch zur
Veränderung des Religionsunterrichts, liegen sie nicht in der Theologie,
sondern in den gesellschaftspolitischen Verhältnissen der Zeit. So wurde
die Gründung des PTI in Kassel ausgelöst durch einen dramatischen Rück-
gang der Teilnahme von Gymnasialschülern am Religionsunterricht. Die-

4 Vgl. z. B. WITZSCHE, Erich: Kritischer Religionsunterricht in der dialogischen Schule.


Zur Neuregelung des Religionsunterrichts in der öffentlichen Schule. Mit Dokumenten,
Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1971, 9–11.
88 Gespräch mit Zeitzeug*innen

ser war eine Folge der 1968er-Bewegung an den Universitäten, wie auch
die Neuordnung der Didaktik im Deutschunterricht unter dem hessischen
Kultusminister von Friedeburg (Klafki-Kommission) im Zusammenhang
mit der neu entstandenen Curriculumtheorie. Wir griffen im PTI die lern-
zielorientierte Didaktik auf, um den Religionsunterricht neu zu konzipie-
ren. Damit hatten wir einen bundesweiten Erfolg.

Rickers: Zeitgeschichtliche Ereignisse, die für mich eine prägende Rolle


spielten, waren der Vietnamkrieg, der Studentenaufbruch, die Gastarbei-
terproblematik, das Bekanntwerden des Welthungers, der totale Zusam-
menbruch des RU durch Abmeldung (!). […] Der „Geist von 1968“ hatte
sich für mich schon früh abgezeichnet: Schon 1964 habe ich gesehen, dass
grundlegende Veränderungen eingeleitet werden müssen. Daraus zog ich
für mich Konsequenzen. Mit den Studentenunruhen wurden alle Fächer
hinterfragt und damit versucht, Unterricht von den tatsächlichen Bedürf-
nissen der Schüler her neu zu überdenken. Darauf reagierten wir: Der von
uns mit entwickelte RU entstand in der Praxis zusammen mit den Schülern,
Lehrern, Studenten und vor allem mit den religionspädagogischen kirchli-
chen Instituten, nicht in den Hochschulen, Universitäten oder gar Kultus-
ministerien und hatte Erfolg. […]

Herbst: Herr Steffensky, kommen wir zu Ihrer Praxis: Sie haben mit D.
Sölle zusammen das politische Nachtgebet entwickelt. Was lässt sich reli-
gionspädagogisch davon lernen? Stellt es eine Blaupause dar, um politi-
sche und liturgische Bildung im Religionsunterricht oder in der Katechese
miteinander zu verbinden?

Steffensky: Leichter fiele es mir, über die Fehler des Nachtgebets zu spre-
chen (wie Fehler immer leichter zu nennen sind). Aber es gibt einen Lern-
erfolg, der wohl auch für den RU oder die Katechese gilt. Das Glück und
das Unglück der Menschen zu nennen, über ihre Gründe zu reden und Ver-
änderungen zu bedenken, kann nicht mehr vernachlässigt werden. Es ge-
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 89

hört ins Zentrum des christlichen Bedenkens und es ist nicht nur eine se-
kundäre moralische Angelegenheit. Dies muss nicht immer geschehen,
aber es ist ein ständig zu beachtender Gottesdienst. Dass das PN – dieses
natürlich nicht allein – dazu beigetragen hat, zeigt schon die Geläufigkeit
des Namens Politisches Nachtgebet. Zu handeln wie das PN, nämlich die
politischen Sünden einer Gesellschaft namhaft zu machen, gehört sowohl
zur politischen wie auch zur katechetischen Bildung, wo das Evangelium
ernst genommen wird.

Herbst: Herr Heumann, Sie haben 1991 noch einmal einen Markstein ge-
setzt, als Sie „Siegfried Vierzig zu Ehren“ den Sammelband „Freiheit und
Kritik“ herausgegeben haben, der mit dem Untertitel „Beiträge zu einer
ideologiekritischen Religionspädagogik“5 versehen ist. Gab es zu diesem
Zeitpunkt noch die Tradition einer kritisch-emanzipatorischen Religions-
pädagogik oder zumindest eine Diskussion darüber? Mit welchen Vorbe-
halten waren Sie damals konfrontiert?

Heumann: Einen eigenständigen ideologiekritischen RU als Konzept hat


es in der Unterrichtspraxis flächendeckend nie gegeben. […] Bis auf we-
nige Ausnahmen, z. B. Jürgen Lott in Bremen, nahmen einige wenige Kol-
legen regional abgewandelt die Impulse Vierzigs auf. Aber wer genau hin-
sah, konnte solche Impulse in diversen Unterrichtsmaterialien sehr wohl
wahrnehmen. […] Man kann nicht nur davon reden, dass es Vorbehalte
gegen Vierzigs Überlegungen gab; eigentlich wurde hier etwas ignorant
beiseitegeschoben, was aber auch eine Variante des Vorbehalts ist.

Herbst: In einem Sammelband über die Religionspädagogik in Oldenburg


wird deutlich, dass mit Folkert und Margot Rickers, Siegfried Vierzig und

5 Vgl. HEUMANN, Jürgen (Hg.): Freiheit und Kritik. Siegfried Vierzig zu Ehren, Olden-
burg 1991.
90 Gespräch mit Zeitzeug*innen

Ihnen einige Protagonist*innen des evangelischen Problemorientierten Re-


ligionsunterrichts in Oldenburg verwurzelt waren.6 Inwiefern lässt sich
diesbezüglich Ihres Erachtens von einer „Oldenburger Schule“ sprechen?

Heumann: Man wird nicht im klassisch akademischen Sinne von einer


Schule reden können. Um so etwas ausbilden zu können, hätte es eine fa-
kultätsmäßige Ausstattung des religionspädagogischen Lehrstuhls benö-
tigt, die entsprechend viele Nachfolger hätte produzieren können. […]
Man kann aber sicher sagen, dass sich in Oldenburg nach dem Krieg eine
gesellschaftskritische und später auch kirchen- und religionskritische Hal-
tung in der Religionspädagogik herausgebildet hat. […]

Herbst: Zugleich gibt es aufgrund der gegenwärtigen gesellschaftspoliti-


schen „Großwetterlage“7 ein erneutes Interesse am Problemorientierten
Religionsunterricht. Was kann heute von den religionspädagogischen An-
sätzen der Reformdekade um 1968 gelernt werden? Welche Potenziale und
Perspektiven sehen Sie gegenwärtig für einen kritisch-emanzipatorischen
Religionsunterricht?

6 Vgl. SCHIRMER, Helmut (Hg.): Religionspädagogik im Widerstreit: Ein Oldenburger


Quellen- und Studienbuch, Bern: Peter Lang 2011. Dort wird beispielsweise von einer
„Oldenburger Tradition“ (SCHIRMER, Helmut: Vorwort, in: EBD. 5–6, 5) gesprochen.
Diese wird folgendermaßen charakterisiert: „Insgesamt sind mit der Oldenburger Fach-
didaktik freiheitliche, partizipatorische, gesellschaftskritische und systemüberwin-
dende Intentionen verbunden“ (SCHIRMER, Helmut: Religionspädagogik an der Refor-
muniversität Oldenburg. Entwicklung und Profil der Fachdidaktik Religion, in: EBD.,
9–33, 33). Dieses politische Profil zeigte sich „wie ein roter Faden in allen Veranstal-
tungen […], freilich nicht ohne Widerspruch, sowohl unter den Studenten als auch bei
den Dozenten.“ (VIERZIG, Siegfried: Religionspädagogik in Oldenburg, in: EBD., 227–
237, 232) Zu dieser Traditionen werden u. a. Jürgen Heumann, Siegfried Vierzig, Fol-
kert und Margot Rickers gezählt, wobei die letzteren beiden als wissenschaftliche As-
sistent*innen bei Vierzig am Lehrstuhl gearbeitet haben, den Jürgen Heumann dann
übernahm.
7 KOERRENZ, Ralf / SIMOJOKI, Henrik: Editorial, in: ZPT 70 (2018), 125–127, 125.
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 91

Heumann: Für die öffentliche religiöse Bildung, die der RU an der Schule
zu leisten hat, bleibt der Blick auf seine Verflochtenheit mit Existenz und
Lebenswelt essentiell. Deshalb sind die Kategorien „Problem und Proble-
matisierung“ so wichtig: Nicht Problematisierung um ihrer selbst willen,
sondern weil Religion, Gesellschaft und Kultur in ihren Brüchen, Unge-
reimtheiten, Verletzungen so von Schülern erkannt werden müssen, dass
diese in der Lage sind, nach eigenen begründeten Antworten zu suchen.
Wer z. B. von Jesus, Gott, Allah redet, muss sich immer der Ambivalenz,
die solchen Symbolworten innewohnen, bewusst sein; bewusst sein hin-
sichtlich von Verstehenswandlungen innerhalb der Traditionen solcher
Worte bzw. hinsichtlich ihrer gegenwärtigen Inanspruchnahme (ob von
Kirchen, Kultur, Gesellschaft, Staat oder anderen Religionen/Weltan-
schauungen). Gerade Gottesbildern darf eben nicht ohne kritische Befra-
gung gefolgt werden. Die Kategorien ‚Problem‘ und ‚Ideologiekritik‘ bie-
ten den hermeneutischen Schlüssel, um dieses Ziel zu erreichen.

Vierzig: Heute stehen wir in einer gesellschaftspolitischen Situation der


Verunsicherung und des Wiederaufkommens alter antidemokratischer
Tendenzen, in der der schulische Religionsunterricht ein Ort sein müsste,
Antworten darauf zu entwickeln. Mein Rat wäre, die Schüler zu immuni-
sieren, solchen Tendenzen zu folgen. Das Ziel, durch den Religionsunter-
richt die Emanzipation zu stärken, gilt heute mehr denn je. Statt einer ge-
nauen Analyse, ob man heute wieder eine entsprechende Reform des Reli-
gionsunterrichts braucht, möchte ich mit zwei Erlebnissen auf der 2009
stattgefundenen Tagung „1968 und die Religionspädagogik“ antworten.
Erstens saß die ganze Riege der heutigen, jüngeren Religionspädagogen
bei der Schlussdiskussion zum Thema still und offenbar uninteressiert im
Raum, während die „Alten“ munter, wenn auch mit Kontroversen, disku-
tierten. Das zweite Erlebnis betraf mich persönlich, als Karl Ernst Nipkow
erklärte, dass er sich zu wenig mit meinem in meiner Dissertation vertre-
tenen Ansatz beschäftigt hätte!
92 Gespräch mit Zeitzeug*innen

Herbst: Die Anfragen an den Problemorientierten Religionsunterricht sind


teilweise ziemlich fundamental (z. B. Verlust der Fachlichkeit, politische
Instrumentalisierung, Emanzipation als Überwältigung). Sie wurden be-
reits früh auch von ehemaligen Protagonisten wie von Hubertus Halbfas
geäußert.8 Welche Anfragen davon halten Sie für gerechtfertigt und wa-
rum?

Heumann: Den Vorwurf des „Verlusts der Fachlichkeit“ halte ich teil-
weise für gerechtfertigt (s. oben). Halbfas‘ Einwand war an der Stelle be-
rechtigt, dass im RU konsensuale, für ein Verstehen europäischer Religion
und Geschichte unabdingbare Inhalte oft zu kurz kamen. Wenn seinerzeit
nicht sofort ideologische Grabenkämpfe ausgebrochen wären, hätte man
Inhaltlichkeit und Problemorientierung gut vermitteln können. Es handelte
sich hier ja nicht um unvereinbare Gegensätze. Im Grunde haben die Leh-
rer in den Schulen beide Aspekte im Laufe der Jahre auch selbst ausgegli-
chen. Hilfreich war hier sicher auch das von Halbfas mitentwickelte Kon-
zept einer Symboldidaktik., die in ihrer evangelischen Variante bei Peter
Biehl und mir selbst deutlich ideologiekritische Aspekte aufnahm. Der Vor-
wurf politischer Instrumentalisierung ist m. E. Unsinn. Problemorientie-
rung und Ideologiekritik selbst Instrumentalisierung vorzuwerfen, ist
kirchlicher Polemik geschuldet und zeigt mangelnde Sensibilität gegen-
über einer pädagogisch begründeten religiösen Bildung. […]

Herbst: Lieber Herr Heumann, Sie waren noch bis 2011 Direktor des In-
stituts für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität
Oldenburg. Damit haben Sie neuere Entwicklungen in der Religionspäda-
gogik noch als Professor mitbekommen. Daher noch einige Fragen an Sie,
die die aktuelleren Entwicklungen in der Religionspädagogik betreffen. In-

8 Vgl. HALBFAS, Hubertus: Das dritte Auge. Religionsdidaktische Anstöße, Düsseldorf:


Patmos 1982.
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 93

wiefern lässt sich Kompetenzorientierung mit ihren Schwerpunktsetzun-


gen (z. B. Orientierung an den Lernsubjekten und ihrer Lebenswelt, Ent-
wicklung von kritischem Urteilsvermögen, Forcierung kooperativer Ar-
beitsmethoden) mit den Anliegen des Problemorientierten Religionsunter-
richt verbinden? Und welche Ressourcen gibt es, diese Entwicklungen
auch ideologiekritisch in den Blick zu nehmen?

Heumann: Ich habe den Konzepten der Standardisierung und Kompeten-


zorientierung immer skeptisch gegenübergestanden. Die mit beiden Stich-
worten einhergehenden Ansprüche, in jedem Unterrichtsfach Nachweise
der Fähigkeiten und Fertigkeiten, also bestimmte Qualifikationen von
Schülern zu erwarten, gehörte zu den Selbstverständlichkeiten von Schule,
wenn sie inhalts- und altersstufengemäß erfolgen. Wichtiger schien mir für
den RU immer die Begründung der Inhalte, die es in der öffentlichen
Schule zu vermitteln galt und gilt, weshalb ich auch am Begriff einer „re-
ligiösen Grundbildung“ festgehalten habe. Wer setzt die Inhalte, wie kor-
respondieren sie mit gegenwärtigen Lebenshaltungen, welche didakti-
schen und methodischen Möglichkeiten werden den Inhalten genauso ge-
recht wie den Lebenshaltungen und -erfahrungen der Schüler usw.? […]

Herbst: Der Nachfolger von Ihnen und Prof. Vierzig, Prof. Willems, kon-
statiert, dass ein religionskritischer Religionsunterricht gegenwärtig nicht
mehr so funktionieren kann wie noch 1968, weil es „mögliche Zusammen-
hänge zwischen Religionskritik einerseits und kulturalistischen (antimus-
limischen) Rassismen andererseits“9 gebe. Stimmen Sie dieser These zu?
Und wenn ja, welche Konsequenzen folgen daraus für einen (religions-
) kritischen Religionsunterricht?

9 WILLEMS, Joachim: Religion als Problem. Die religionskritische Aufgabe im interwelt-


anschaulichen Religionsunterricht, in: ZPT 70 (2018), 142–152, 152.
94 Gespräch mit Zeitzeug*innen

Heumann: Nein, ich stimme diesem Argument in keiner Weise zu, weil es
unterstellt, dass es der Religionskritik per se darum geht, Religionen zu
diskreditieren, gar mit rassistischen Attitüden. Religions- und Ideologie-
kritik geht es nicht darum religiöse oder kulturelle Phänomene zu diskre-
ditieren, sondern die jeweiligen Wahrheitsansprüche in Frage zu stellen
und sich Herrschaftsansprüchen oder Definitionsgewalten eben nicht aus-
zuliefern. Die öffentliche Schule und gerade die religiöse Bildung haben
seit der Aufklärung einen schwierigen Prozess vollzogen. Gäbe es zu einem
kritisch aufgeklärten RU denn heute eine Alternative?

Herbst: Aus heutiger Perspektive erscheint der Problemorientierte Reli-


gionsunterricht häufig als monolithischer Block. Dabei gab es kontroverse
Debatten. Wie schätzen Sie dies ein?

Heumann: Es ist sicherlich zu bedenken, dass der problemorientierte RU


kein monolithisches Gebilde war und ist, sondern immer auch mit vielfäl-
tigen Stichworten verbunden wurde und wird: Existentielle und ästhetische
Erfahrung und Bildung (diese in ihrer Bezogenheit aufeinander verstehen
lernen), Kirchen-, Religions-, Gesellschaftskritik sowie religiöse Sprach-
bildung (letztere hinsichtlich sprachlicher Kompetenz zu Mythen, Symbo-
len bzw. vergleichbaren Sprachformen). Als Konzepte (mit den ihnen eige-
nen Methoden) halte ich noch immer Problemorientierung, Ideologiekritik
und religiöse Sprachlehre (Symboldidaktik, Entmythologisierung) und die
mit ihnen erprobten Unterrichtsmethoden für hilfreich. Dass hier aber
auch neue digitale und medial-ästhetische Vermittlungsformen eine Rolle
spielen, ist für mich selbstverständlich. Allerdings müssen auch sie sich
einer kritischen Revision unterziehen und nicht zum didaktisch-methodi-
schen Selbstzweck werden. […]

Rickers: Die Bezeichnung „Problemorientierter Religionsunterricht“ kam


auch in einer süddeutschen Fassung ins Gespräch. Soweit ich mich erin-
nere, spielte die politisch-gesellschaftskritische Ausrichtung dort keine so
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 95

wesentliche Rolle, vielmehr ging man von möglichen Schülerfragen aus,


um diese dann „bibelgerecht“ zu beantworten. Die norddeutsche Variante
hatte zwar (Kaufmann) die Mittelpunktstellung der Bibel im RU aufgege-
ben, jedoch niemals biblische, kirchengeschichtliche und gegenwartsbezo-
gene religiöse Fragen außer Acht gelassen. Insofern wurde unter dem Be-
griff „problemorientiert“ schon damals von den jeweiligen „Konzepto-
ren“ und ihren Kritikern her Unterschiedliches verstanden. Die fundamen-
talen Anfragen kamen – wie schon erwähnt – vom Schreibtisch, nicht aus
der Praxis, insbesondere auch ohne wirkliche Kenntnis der Praxis […].

Herbst: Frau Rickers: Auch innerhalb der Problemorientierten Konzep-


tion gab es tiefgreifenden Debatten, z. B. zwischen Ihrem Mann Folkert
Rickers und Siegfried Vierzig.10 Wie schätzen Sie diese Debatten ein, lässt
sich vor dem Hintergrund dieser Kontroversen überhaupt noch von dersel-
ben Konzeption sprechen?

Rickers: Kontroverse Debatten waren m. E. nicht so grundlegend, wie sie


heute aus schriftlichen Disputen herausgelesen werden. Nehmen wir das
Beispiel Vierzig/Rickers. Siegfried Vierzig kam als Pfarrer in die Leiter-
stelle des PTI Kassel, ein früheres Gemeindemitglied, Horst Heinemann,
hatte eine Studienleiterstelle inne und brachte das aus Amerika stammende
Lernzielkonzept (Robinsohn) mit. Daraus entstand in einer der ersten Aus-
gaben der hauseigenen Zeitschrift ein Gesamt-Curriculum für den RU,
graphisch / farbig über zwei Seiten verteilt; links biblische Themen, rechts

10 So kritisierte Rickers Vierzigs Religionsbegriff aufgrund seiner „subjektivistischen


Engführung“ (RICKERS, Folkert (Hg.): Religionsunterricht und politische Bildung. Un-
terrichtsentwürfe im Überschneidungsfeld (= Religionspädagogische Praxis 15), Stutt-
gart: Calwer 1973, 15). Wegen des weiten und allgemeinen Religionsverständnis ver-
liere religiöse Bildung damit ihr „Spezifikum“ (EBD.). Vierzig hielt Rickers im Gegen-
zug entgegen, dass dieser eine „rein ‚äußerliche […]‘ Politisierung des Religionsunter-
richts“ (VIERZIG, Siegfried: Ideologiekritik und Religionsunterricht, Zürich / Einsiedeln
/ Köln: Benziger 1975, 158) betreibe.
96 Gespräch mit Zeitzeug*innen

sozialethische Themen. Damit war der Lernzielorientierte RU aus der


Taufe gehoben. Tillichs sehr weiter Begriff von Religion stellte die Basis
dar. Das kritisierte F. Rickers, woraufhin Vierzig mit dem Begriff einer
rein äußerlichen Politisierung des Problemorientierten RU konterte. Tat-
sächlich nahmen wir gerne die Frage der Operationalisierung von Lern-
zielen auf, und Siegfried Vierzig sah sich nur wenige Jahre später genötigt,
als Lehrstuhlinhaber an der Uni Oldenburg sein Konzept um Ideologiekri-
tik zu erweitern. Ähnlich lief es mit alternativen Ansätzen: Man lernte von-
einander (therapeutischer, thematischer etc. RU), grenzte sich – wenn nö-
tig – auch voneinander ab. […]

Herbst: ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ werden in der Religionspädagogik


mit dem Problemorientierten Religionsunterricht und der Reformdekade
verbunden. Wie sollten Religionspädagog*innen heute arbeiten, damit sie
sich legitimer Weise auf diese beiden Kategorien beziehen können? Und
welchen Kriterien müsste religiöse Bildung entsprechen, um als kritisch-
emanzipatorisch betitelt zu werden?

Heumann: Gegenwärtiger RU muss von existentiellen und gesellschaftli-


chen Erfahrungen heutiger Kinder und Jugendlicher ausgehen. In kultu-
rellen Großereignissen, Events, Fußball, Popkultur, Internet usw., aber
auch eben in Binnenlebensbereichen (Leistung, Freundschaft usw.) spie-
geln sich oft positive wie negative Existenzerfahrungen von Kindern und
Jugendlichen. Solche Erfahrungen ernst zu nehmen und kritisch zu beglei-
ten, muss Anliegen von RU sein. Damit verbunden werden müssen aktuelle
gesellschaftliche und kulturelle Problemlagen, die im RU behandelt wer-
den; Stichworte in Auswahl: Umwelt, künstliche Intelligenz, Kommunika-
tion (Internet), Neue Medien usw. Wenn man ein Kriterium für das Ge-
nannte benennen will, so lässt sich das so formulieren: Erstens ist RU im-
mer auch kritisch-begleitender gesellschafts- und kulturpolitischer Unter-
richt. Das gilt allerdings vice versa. Religion und Religionen lassen sich
nicht ohne ihre gesellschafts- und kulturpolitische Eingebundenheit the-
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 97

matisieren, wenn sie nicht zur Ideologie werden sollen. Zweitens müssen
die Wertaussagen und Traditionen der großen Religionen in ihrem Selbst-
verständnis nahegebracht und doch auch in der Ambivalenz ihrer Inhalte,
Traditionen und Institutionen beispielhaft reflektiert werden.

Herbst: Welche gegenwärtigen Herausforderungen sehen Sie für eine kri-


tisch-emanzipatorische Religionspädagogik und für kritisch-emanzipatori-
sche religiöse Bildung?

Heumann: Allgemein und utopisch gesprochen besteht die Herausforde-


rung aus zweierlei: Erstens geht es um die Erhaltung der Diskursfähigkeit,
d. h. ein Unterrichtsinhalt, sei er biblisch, koranisch, buddhistisch oder be-
stimmten religiösen Phänomenen entnommen, muss sich dem Gespräch
und dem Diskurs aussetzen. Eine solche Kritik speist sich aus der Perspek-
tive jeweils anderer Religionen (religiöser Institutionen), aus der Perspek-
tive herrschafts- und gesellschaftspolitischer sowie ästhetisch-medialer
und historisch-philosophisch gegenläufiger Argumentationen. Zweitens
muss der RU pädagogisch und bildungspolitisch begründet werden. Die
ihn bisher tragenden Institutionen (ob evangelische, katholische Kirche,
islamische Verbände oder Institutionen anderer Religionen) sollten sich
für solche Begründungen öffnen und nicht auf juristischen Besitzständen
bestehen. In einer öffentlichen religiösen Bildung sollten religiöse Institu-
tionen ein Mitspracherecht erhalten, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Auf jeden Fall müssten Pädagogik und Erziehungswissenschaften gegen-
über institutionellen Entscheidungsträgern eigene Entscheidungsrechte
über die Inhalte zugestanden werden.
98 Gespräch mit Zeitzeug*innen

Informationen zu den interviewten Personen

Jürgen Heumann (* 1948) war Professor für Evangelische Theologie und


Religionspädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und
hatte den Lehrstuhl als Siegfried Vierzigs Nachfolger bis 2011 inne. Gear-
beitet hat er unter anderem zu einer kritischen Symboldidaktik und zum
bekenntnisunabhängigen Religionsunterricht. Wichtige Beiträge zu einer
kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik liegen im Sammelband
„Freiheit und Kritik“ (1991) sowie im WiReLex-Artikel „Kritik“ (2015)
vor. Zudem besitzt er Expertise hinsichtlich der religionspädagogischen
Reformdekade um 1968.

Margot Rickers (* 1938) arbeitete als Lehrerin und Dozentin u. a. an der


Universität Oldenburg. Zusammen mit ihrem Mann, dem Theologen, Kir-
chenhistoriker und Religionspädagogen Folkert Rickers, entwarf und er-
probte sie Problemorientierte Unterrichtsmodelle, z. B. „Vergeltung und
Vergebung“ (1972) oder „Revolution und Christentum“ (1977). Zudem
stellte sie konzeptionelle Überlegungen zur Ausrichtung der Religionspä-
dagogik an, u. a. formulierte sie programmatische Thesen zur Ausbildung
von Religionslehrer*innen und zum Problemorientierten Ansatz,11 den sie
in Theorie und Praxis weiterentwickelte zum Interreligiösen und Interkul-
turellen Unterricht.12

11 Vgl. RICKERS, Folkert / RICKERS, Margot: Religionspädagogische Ausbildung an der


Hochschule, Loccumer Religionspädagogische Studien und Entwürfe XI, Loccum
1972, 104–108. RICKERS, Folkert / RICKERS, Margot: Thesen zum problemorientierten
Religionsunterricht, Loccumer Religionspädagogische Studien und Entwürfe XI, Loc-
cum 1972, 29–30.
12 Vgl. RICKERS, Margot: Jesus Christus in den Weltreligionen. Über den Umgang mit der
Thematik in einer städtischen evangelischen Grundschule, in: SCHIRMER, Helmut (Hg.):
Religionspädagogik im Widerstreit. Ein Oldenburger Quellen- und Studienbuch,
Frankfurt am Main: Peter Lang 2011 (Religion in der Öffentlichkeit 12), 139–157.
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 99

Fulbert Steffensky (* 1933) war von 1972 bis 1975 Professor für Erzie-
hungswissenschaften an der FH Köln und von 1975 bis 1998 Professor für
Religionspädagogik an der Universität Hamburg. In vielen Texten und vor
allem mit dem Politischen Nachtgebet, das er gemeinsam mit seiner Frau
Dorothee Sölle gegründet hat, hob er die politische Dimension des Glau-
bens hervor. Die ambivalente Funktion von Religion, ihre ideologische und
emanzipatorische Seite, hat er mit Blick auf den Religionsunterricht bei-
spielsweise im Werk „Gott und Mensch – Herr und Knecht? Autoritäre
Religion und menschliche Befreiung im Religionsbuch“ (1973) untersucht.

Siegfried Vierzig (* 1923) war von 1974 bis 1991 Professor für Evangeli-
sche Theologie und Religionspädagogik an der Carl von Ossietzky Uni-
versität Oldenburg. Er hat mit seiner Dissertation „Ideologiekritik und Re-
ligionsunterricht“ (1975) intensiv Ansätze aus der Kritischen Gesell-
schaftstheorie und der Politischen Theologie rezipiert und eine politische
Konzeption von Religionsunterricht vorgelegt. Seine theoretischen Vor-
stellungen hat er in vielfältigen Unterrichtsvorschlägen konkretisiert, unter
anderem im Band „Religion und Ideologie“ (1977), den er mit Elga Sorge
herausgegeben hat.
Blick in den Rückspiegel II:
Die katholische Religionspädagogik der
Reformdekade um 19681
Jan-Hendrik Herbst
Herbst: Lieber Herr Assig, lieber Herr Betz, lieber Herr Füssel, lieber Herr
Halbfas, lieber Herr Mette, lieber Herr Steinkamp! Ich freue mich sehr,
dass wir Sie für ein Gespräch mit uns gewinnen konnten. Gemeinsam
möchten wir einen Blick von heute zurück wagen und aus der Geschichte
Probleme, Potenziale und Perspektiven gegenwärtiger Religionspädagogik
herausarbeiten. Uns interessieren also Ihre vergangenen Erfahrungen
ebenso wie gegenwärtige Einschätzungen. Beginnen wir, zum Anlass pas-
send, mit einer Frage zur Tagung „Zurück in die Zukunft?“. Was denken
Sie darüber, dass es im März 2019 eine Tagung über ‚Kritik‘ und ‚Eman-
zipation‘ in der Religionspädagogik geben soll? Lohnt sich Ihres Erachtens
ein Blick zurück in die Vergangenheit aus systematischem Interesse?
Mette: (Ideologie-) Kritik und Emanzipation waren seit Anfang der 1970er
Jahre des vergangenen Jahrhunderts für gut zwei Jahrzehnte zu Leitbe-
griffen der Religionspädagogik geworden. Allerdings gilt das stärker für
die evangelische als für die katholische Religionspädagogik. […] Beson-
ders stark avancierte der Emanzipationsbegriff in der kirchlichen Jugend-
arbeit […] zum Leitbegriff […]. Beeinflusst wurde diese Ausrichtung der
Religionspädagogik stark durch die damalige Diskussion in der Pädagogik
bzw. Erziehungswissenschaft […]. Im Hintergrund stand dabei die Kri-

1 Bei diesem Interview handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Die Langversion kann
auf der Verlagsseite zu diesem Buch als Zusatzmaterial frei heruntergeladen werden.
Die Interviews wurden einzeln mit den Personen geführt und an dieser Stelle zusam-
mengetragen.

Zusatzmaterial online
Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/
978-3-658-28759-7_6) enthalten.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_6
102 Gespräch mit Zeitzeugen

tische Theorie der Frankfurter Schule, insbesondere deren in Forschungs-


projekten gewonnenen Erkenntnisse über den Einfluss gesellschaftlicher
Gegebenheiten auf die Erziehung und Sozialisation. Weiterhin wurden Er-
kenntnisse sowohl aus der soziologischen Sozialisationstheorie als auch
der psychologischen bzw. psychoanalytischen Entwicklungstheorie stark
rezipiert. Das wirkte sich bis in die Begrifflichkeit in der Pädagogik hinein
aus. Verfolgt man seitdem die religionspädagogische Diskussion, so ist seit
Mitte der 1980er Jahre so gut wie keine Rede mehr von Emanzipation;
wenn, dann wird lieber von „Mündigkeit“ gesprochen. Auch der Kritikbe-
griff wird zurückhaltender verwendet. Verschiedene Faktoren sind dafür
namhaft zu machen; Der inzwischen weiter gediehene Ausfall an religiöser
Erziehung ließ eine Kritik an deren früheren Fehlformen überflüssig wer-
den und ließ vielmehr suchen, wo es für die Vermittlung von Religion bzw.
Glaube an die heranwachsende Generation überhaupt noch positive An-
knüpfungspunkte gibt. So erklärt sich etwa die starke Rezeption von Ästhe-
tik in der Religionspädagogik. Insgesamt konzentrierte sie sich stärker auf
das Subjekt und seine Bildung. Deren Gesellschaftsbezug geriet ins Hin-
tertreffen. So sehr im Zuge dieser Entwicklung die Religionspädagogik
durchaus wichtige Perspektiven hinzugewonnen hat, so hat sie sich damit
auch erhebliche „blinde Flecken“ eingehandelt. Diese Entwicklung diffe-
renziert nachzuarbeiten, halte ich nicht zuletzt mit Blick auf die Zukunft
der Religionspädagogik für aufschlussreich. Deswegen ist es zu begrüßen,
dass diese Tagung einen Beitrag dazu leisten möchte.

Halbfas: Sie können mich auch fragen, ob sich ein Blick zurück in die Ge-
schichte lohnt. Wer wären wir denn, wenn uns unsere eigene Geschichte
nicht als Frage und Aufgabe bewusst bliebe? Das gilt allgemein und
grundsätzlich. Es gilt auch für die Geschichte des Religionsunterrichts. Als
ein „emanzipatorischer Religionsunterricht“ diskutiert wurde, waren die
daran Beteiligten ja nicht dümmer als die heute Agierenden. Die damals
Kreativsten waren von der Gedankenwelt der 1968er Generation betrof-
fen, und ihnen standen genug Traditionalisten gegenüber, die über jede
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 103

Bibelauslegung erschreckten, die eine historisch-kritische Exegese einbe-


zog. Aber natürlich ist der Nenner ‚Emanzipation‘ zu schmal für die
Summe der Aufgaben, die sich mit einem Religionsunterricht verbinden,
der nicht nur Schüler bilden, sondern die Kirche insgesamt weiterbringen
soll. So habe ich mich selbst verstanden und darum auch mit den kirchli-
chen Amtsträgern strittige Dispute darüber ausgetragen, wie Bibel und
Glaube im Religionsunterricht zur Sprache kommen müssen. Solcherart
Emanzipation vermisse ich heute.

Steinkamp: Ich möchte auf die Frage, ob sich ein Blick „Zurück in die
Zukunft?“ für die Religionspädagogik lohnt, mit einer Erinnerung antwor-
ten. ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ wurden in und seit den 1968er Jahren
nicht nur neue Schlagworte, sie transportierten auch politische Program-
matiken – bis in viele Jugendverbände hinein. Unter den sich wandelnden
Konzepten und Etiketten errang das der „emanzipatorischen Jugendar-
beit“ schon bald einen prominenten Rang. Von der Religionspädagogik
eher zögerlich rezipiert, wurde dieses Konzept zunächst in einem „Seiten-
tal“ hoffähig, der sogenannten außerschulischen Pädagogik, z. B. der
kirchlichen Jugendarbeit. Ein die 1970er Jahre prägendes kirchliches Er-
eignis spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: die Gemein-
same Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschlands, die
„Würzburger Synode“. […] Im letzten Jahr hat meine Münsteraner Fakul-
tät eine Tagung zur Erinnerung an die Würzburger Synode veranstaltet.
Die hat sich schon deshalb gelohnt, weil sie einen markanten kirchlichen
Lernprozess rekonstruiert hat. U. a. wurde daran erinnert, dass die Frak-
tion der Bischöfe in der Synode das „Jugendpapier“ scharf kritisiert hatte,
weil es „neomarxistisches Vokabular“ enthielt.

Füssel: Zunächst gestatte ich mir ein Wortspiel. Hätte man nicht auch
„Vorwärts in die Vergangenheit“ als Leitlinie formulieren können? Es
dürfte ja klar sein, dass wir unseren aktuellen Standort nur zureichend be-
stimmen können, wenn wir uns darüber vergewissern, woher wir kommen,
104 Gespräch mit Zeitzeugen

welche Ziele wir haben, wer wir sind und was wir können. […] Die zent-
ralen Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ haben ihre Geschichte. Diese
kann hier nur erwähnt, aber nicht gewürdigt werden. Unterstrichen wer-
den soll jedoch: Sie sind untrennbar damit verbunden, was seit der Aufklä-
rung die Konzeption einer umfassend verstandenen Bildung ausmacht. Ge-
rade in Zeiten wie diesen, wo die für Bildung zuständigen Institutionen
dazu tendieren, Bildung auf Ausbildung zu einem für das Kapital und seine
Vermehrung nützlichen, „eindimensionalen Menschen“ (Herbert Mar-
cuse) oder, wie es schon 1968 Karl Rahner in bestechender Voraussicht
formulierte, „zu einem findigen Tastendrücker“, verkommen zu lassen,
müssen wir alles daran setzen, in Theologie und Geisteswissenschaften ge-
gen das Auslöschen eines umfassenden Bildungsverständnisses und seines
befreienden Potenzials anzutreten.

Herbst: Derzeit gibt es nur noch wenige Religionspädagog*innen, die den


Problemorientierten Religionsunterricht als gesamte Konzeption bewahren
möchten.2 Aus welchen Gründen ist der Problemorientierte Religionsun-
terricht als Konzeption Ihres Erachtens in den Hintergrund religionspäda-
gogischer Debatten getreten? Welche äußeren Ursachen und/oder welche
inneren Aporien machen Sie dafür verantwortlich?

Mette: Ich greife nur einen Punkt heraus, der für mich ein besonderes An-
liegen ist: Die christliche Religionspädagogik muss aufweisen können,
dass sie bei der Betonung der politischen Dimension ihres Denkens und
Tuns bei ihrer ureigenen Sache ist, dass es sich also um eine Verkürzung
des christlichen Glaubens handelt, wenn bei seiner Vermittlung um diese
Dimension nicht zur Geltung gebracht würde. Um das an einem einschlä-

2 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religionsunter-


richt und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte und Ak-
tualität, in: ZPT 70 (2018), 128–141.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 105

gigen Beispiel zu zeigen: Mit dem Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer von
Himmel und Erde ist es nicht zu vereinbaren, wenn mit dieser Schöpfung
menschlicherseits Raubbau betrieben wird. In diesem Sinne ist klar zu ma-
chen, dass es sich bei dem Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Nach-
haltigkeit (Bewahrung der Schöpfung) – um die großen Herausforderun-
gen der Gegenwart schlagwortartig zu benennen – nicht um sozialethische
Konsequenzen des Glaubens handelt, sondern dass das ein konstitutives
Moment des Glaubens darstellt, ebenso wie seine spirituell-mystische Seite
[…].

Herbst: Wie schätzen Sie das ein, Herr Halbfas? Sie haben unter anderem
in Ihrem Werk „Das dritte Auge“ (1982) analysiert, dass auch innere Apo-
rien des Problemorientierten Ansatzes für die religionspädagogische Ab-
wendung von ihm verantwortlich sind. Welche dieser Aporien halten Sie
aus der heutigen Perspektive für besonders relevant, welche würden Sie
ggf. relativieren?

Halbfas: Dies sind Fragen, die für mich ihre Aktualität verloren haben,
weil sie in größere Zusammenhänge überführt wurden. Ich habe ange-
sichts der damals herrschenden Standards die Funktionalisierung der
Lerninhalte kritisiert, den Niedergang der hermeneutischen Kultur, die
Verringerung des Sachwissens, die Missachtung der allgemeinen Schul-
kultur, die Egalisierung des didaktischen Denkens und vor allem den Aus-
fall der Fähigkeit, mit metaphorischer und symbolischer Sprache umgehen
zu können. Das alles halte ich weiterhin für relevant. […]

Herbst: Ein ideologiekritisch-emanzipatorischer Religionsunterricht, da-


rauf haben Sie Herr Mette ja besonders hingewiesen, wurde gerade auf
evangelischer Seite konzipiert. Welche Entwürfe auf katholischer Seite
gingen in die gleiche Richtung?
106 Gespräch mit Zeitzeugen

Mette: Im Vergleich zur evangelischen Religionspädagogik lässt sich die


Entwicklung des katholischen Pendants als verspätet charakterisieren. Bis
1968 gab in ihr die sog. Materialkerygmatik den Ton an […]. Mit seiner
1968 erschienen (und bischöflich verurteilten) „Fundamentalkatechetik“
brachte Hubertus Halbfas die im evangelischen Raum schon seit längerem
auf der Tagesordnung stehende hermeneutisch fundierte Didaktik in die
katholische Religionspädagogik ein. […] Das wirkte sich nachhaltig auf
den Religionsunterricht aus und führte dazu, dass ihm schließlich im Sy-
nodenbeschluss von 1974 ein zukunftsweisendes Profil gegeben wurde. Die
Korrelationsdidaktik war (und ist) bemüht, im Zusammenspiel von Le-
benserfahrungen heute und den Gehalten der Tradition den Schüler*innen
den christlichen Glauben als für ihr Leben relevant zu erschließen. […]
Allerdings kann ich mich nicht erinnern, dass auf katholischer Seite die
Debatte um den problemorientierten Religionsunterricht – jedenfalls unter
diesem Label – so intensiv geführt wurde wie in der evangelischen Religi-
onspädagogik. Was das politische Bewusstsein der damaligen katholi-
schen Religionspädagogik und ihre entsprechende Ausrichtung angeht, so
war dieses im Ganzen gesehen alles andere als ausgeprägt.

Herbst: Andererseits gibt es auf katholischer Seite Personen wie Theodor


Filthaut, Adolf Exeler, Heinrich Missalla, Hubertus Assig oder Hansjürgen
von Mallinckrodt. Sie haben Ansätze einer politisch reflektierten Religi-
onspädagogik entworfen und auch Begriffe wie Emanzipation und Ideolo-
giekritik verwendet. Zudem darf z. B. der Einfluss von Johann B. Metz auf
die Religionspädagogik m. E. nicht unterschätzt werden. Bei den genann-
ten Personen fällt auf, dass sie alle in Münster gelebt, dort studiert oder
gelehrt haben. Lässt sich möglicherweise gar von einer „Münsteraner
Schule“ einer politischen Religionspädagogik auf katholischer Seite spre-
chen? Wie schätzen Sie diese Sachverhalte ein?

Mette: Eine frühe Ausnahme auf katholischer Seite bildete in der Tat der
Münsteraner Pastoraltheologe Theodor Filthaut (1907–1967), der schon
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 107

1965 einen Band zur „Politische(n) Erziehung aus dem Glauben“ heraus-
gegeben hat.3 […] Filthaut bedauerte, dass sich der Religionsunterricht
politisch enthaltsam gebe, und forderte, dass er von seiner Sache her einen
Beitrag dazu leiste, die Schüler*innen zur verantwortlichen Gestaltung des
demokratischen Staates anzuhalten. Ausdrücklich inspiriert von der poli-
tischen Theologie Johann Baptist Metz‘ haben Hubertus Assig und
Hansjürgen von Mallinckrodt 1972 einen Sammelband zur „Politische(n)
Katechese“ herausgegeben.4 In demselben Jahr veröffentlichte Wolfgang
Offele einen Band mit eigenen Beiträgen zum Thema „Emanzipation und
Religionsunterricht“.5 Aber diesen beiden Büchern ging es genauso wie
dem von Theodor Filthaut: Sie spielten in der weiteren religionspädagogi-
schen Diskussion keine Rolle. Etwas anders erging es dem Wirken des
Münsteraner Pastoraltheologen und Religionspädagogen Adolf Exeler
(1926–1983), der sich bei einer Begegnung mit der Befreiungspastoral und
-katechese in Lateinamerika der politisch-befreienden Dimension des
christlichen Glaubens bewusst geworden war und sich seitdem mit aller
Kraft dafür einsetzte, dieses in Theorie und Praxis des Religionsunterrichts
und der kirchlichen Bildungsarbeit auch hierzulande zu berücksichtigen.
Teilweise wurde das auch zum Thema der von ihm betreuten Dissertatio-
nen. In diesem Sinne ließe sich womöglich von einer „Münsteraner
Schule“ sprechen; allerdings wäre dies eine Fremd- und keine Selbstbe-
zeichnung.

Natürlich muss auch die Theologie von Johann Baptist Metz in diesem Zu-
sammenhang genannt werden. Zwar hat Metz sich nicht direkt mit den

3 Vgl. FILTHAUT, Theodor (Hg.): Politische Erziehung aus dem Glauben (= Grünewald-
Reihe), Mainz: Matthias-Grünewald 1965.
4 Vgl. ASSIG, Hubertus / MALLINCKRODT, Hansjürgen von: Politische Katechese. Theo-
logische und didaktische Skizzen (= Pfeiffer-Werkbücher 112), München: Pfeiffer
1972.
5 Vgl. OFFELE, Wolfgang (Hg.): Emanzipation und Religionspädagogik, Zürich / Einsie-
deln / Köln: Benziger 1972.
108 Gespräch mit Zeitzeugen

Themen Erziehung und Bildung beschäftigt. Aber seine gesamte Theologie


kann durchaus als ein Bildungsprojekt gewürdigt werden. Von ihr gingen
und gehen Impulse in die verschiedensten Bereiche aus. So hat er etwa mit
seiner Grundlegung des Compassion-Begriffs großen Einfluss auf das
gleichnamige Schulprojekt sozial-diakonischen Lernens genommen. […]
Eine gediegene Verbindung zwischen Politischer Theologie und Kritischer
Pädagogik vor dem Hintergrund der Kritischen Theorie ist Helmut Peukert
zu verdanken. […] Als die politische Theologie auf die Schule und den Re-
ligionsunterricht hin weiterdenkend muss nicht zuletzt der AK Religions-
lehrerInnen im Institut für Theologie und Politik (Münster) erwähnt wer-
den. Inhaltlich-konzeptionell engagiert er sich für einen messianisch-wi-
derständigen Religionsunterricht, der sich dafür einsetzt, dass die Schü-
ler*innen nicht vollends dem Zugriff des neoliberalen Denkens und Tuns
auf ihre Köpfe und Herzen erliegen.6 In diesem Zusammenhang erweist
sich die Pädagogik von Paulo Freire auch für eine (nicht nur religiöse)
Bildungsarbeit hierzulande als höchst aktuell und inspirierend.

Herbst: Herr Füssel, wie schätzen Sie diesen Sachverhalt ein: Gab es auf
Seiten der katholischen Religionspädagogik etwas, das man „Münsteraner
Schule“ nennen könnte? Gab es zum Beispiel im Kreis um T. Filthaut und
A. Exeler ein ähnlich stark ausgeprägtes politisches Bewusstsein wie im
Kreis von Karl Rahner, Johann B. Metz, Helmut Peukert und Ihnen? Wie
stark schätzen Sie insgesamt den Einfluss der Politischen Theologie auf die
Religionspädagogik ein?

Füssel: Die Nomenklatur der Frage aufgreifend, kann ich mir einen Ver-
weis auf meine in der großen Festschrift zum 90. Geb. von J. B. Metz, die

6 Vgl. ARBEITSKREIS RELIGIONSLEHRERINNEN IM ITP (Hg.): Religionsunterricht unter


freiem Himmel. Anstöße zur Kritik des neoliberalen Götzendienstes in der Schule,
Münster: Edition ITP-Kompass 2018.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 109

beim LIT-Verlag7 erschienen ist, veröffentlichte polemische Kritik an der


Etikettierung der von J. B. Metz begründeten politischen Theologie als
„Neue politischer Theologie“ nicht verkneifen, obwohl sogar mein Lehrer
und Freund J. B. Metz sich diese Bezeichnung aufdrängen ließ. […] Ob wir
von einer Schulbildung reden dürfen, glaube ich nicht. Dazu ist die politi-
sche Theologie auch nicht angetreten, denn sie ist in ihrem Wesen eine
immer neu durch zu buchstabierende Quelle dialektischer Inspiration. Wie
man diese Quelle gerade auch heute nutzen kann, zeigt vor allem die Arbeit
des „Instituts für Theologie und Politik“ (ITP) in Münster. Der erkennbare
Einfluss der politischen Theologie auf die Religionspädagogik war in den
Jahren seit ihrem Auftreten wohl eher bescheiden und auf die Initiativen
von Einzelkämpfern beschränkt, zu denen ich mich mit meiner in den
1990er Jahren geäußerten Kritik an einer neoliberal imprägnierten Bil-
dungsauffassung und am Konstruktivismus rechnen darf.8 […] Was die
große Linie: Filthaut, Exeler, Mette und auf seine eigene Weise Steinkamp
angeht, so wird sie bei mir von vielen positiven Impressionen und Konno-
tationen begleitet. Diese kann ich aber hier nicht in ein adäquates diffe-
renziertes Urteil übersetzen. […] Wichtig ist in der politischen Theologie
von Anfang an der Primat der Praxis, was im Zuge ihrer Entfaltung immer
deutlicher wurde. Dass es um die Praxis der Nachfolge geht, aus der her-
aus erst die Wahrheitsfähigkeit theologischen Denkens und theologischer
Begriffe und Theorien entspringen, steht dabei außer Frage. Praxis ist in
der politischen Theologie nie die nachträgliche Anwendung des richtig Er-
kannten, sondern dessen Ausgangspunkt und Verifikationsbasis. Ein RU,
der dies ernst nimmt, steht nicht nur vor didaktischen Problemen, sondern

7 Vgl. JANßEN, Hans-Gerd / PRINZ, Julia D. E. / RAINER, Michael J.: Theologie in gefähr-
deter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz
zum 90. Geburtstag (= Religion – Geschichte – Gesellschaft), Münster: LIT 2018.
8 Vgl. Füssels Beitrag in LANGENOHL, Bertil / GROßE RÜSCHKAMP, Christian (Hg.): Wozu
Theologie? Anstiftungen aus der praktischen Fundamentaltheologie von Tiemo Rainer
Peters, Münster: LIT 2005.
110 Gespräch mit Zeitzeugen

es wird ihm der Ausweis seiner Glaubwürdigkeit abverlangt. Zwischen po-


litischer Theologie und Religionspädagogik bleibt daher eine beständige
Spannung, die es nach wie vor zum Nutzen der Lehrenden und Lernenden
aufrecht zu erhalten gilt.

Herbst: Herr Mette, Sie haben ja auch in Münster studiert und waren As-
sistent von Adolf Exeler. Johann B. Metz und weitere der genannten Per-
sonen kennen Sie persönlich. Zudem haben Sie sich in Ihren Arbeiten mit
Themen wie Frieden, Gerechtigkeit und Befreiung beschäftigt. Inwiefern
wurden Sie und Ihre religionspädagogische Denkweise durch die Politi-
sche Theologie und die Theologie der Befreiung geprägt? Wie wurden Sie
durch den „Geist von 1968“ beeinflusst? Welche Impulse waren für Sie
besonders wichtig, welche Probleme sehen Sie aus heutiger Perspektive
jedoch auch? Was kann die heutige Religionspädagogik von den damali-
gen Impulsen noch lernen?

Mette: Die Universität Münster, an der ich seit 1968 studiert habe, zählte
sicherlich nicht zu den Zentren der damaligen Studentenbewegung. Aber
auch hier zeitigte sie mehr oder weniger beachtliche Auswirkungen, wie
z. B. ständige Sit-ins, Sprengung von Lehrveranstaltungen, Institutsbeset-
zungen, Demonstrationen gegen hochschulpolitische Maßnahmen oder die
Notstandsgesetzgebung u. Ä. m. Aufgeschlossene Professoren ließen sich
auf Druck von studentischer Seite auf eine Änderung der Gestaltung ihrer
Lehrveranstaltungen ein. Berufungsverfahren blieben nicht länger Ange-
legenheit des Professorenkollegiums, sondern wurden von den Studieren-
den und dem Mittelbau kritisch-konstruktiv begleitet. Es herrschte so etwas
wie eine Aufbruchsstimmung: Wir verändern die Welt und – besonders für
die Theologiestudierenden – die Kirche. Das Pastoralkonzil der katholi-
schen Kirche in den Niederlanden und der deutsche Katholikentag in Es-
sen 1968 markierten dies in besonderer Weise. Die Nichtrezeption der En-
zyklika „Humanae Vitae“ von Papst Paul VI trug das Ihre dazu bei.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 111

Mit der auf katholischer Seite von Johann Baptist Metz inaugurierten
(neuen) Politischen Theologie hielt dieses Zeitgefühl, kritisch reflektiert,
Einzug auch in die Theologie und in die Kirche. Theologen und Theologin-
nen begannen, sich mit Resolutionen zu Entwicklungen in der Kirche öf-
fentlich Gehör zu verschaffen. Kritische Priestergruppen bildeten sich. Die
Hochschulgemeinden, unter ihnen auch die in Münster, wurden zu Foren
einer kritischen Kirche. Die Katholisch-Theologische Fakultät der Univer-
sität Münster wurde aufgrund ihres exzellenten Lehrkörpers, besonders
durch Karl Rahner und Johann Baptist Metz repräsentiert, zu einem An-
ziehungsort für Studierende aus aller Welt, die kamen, um hier zu promo-
vieren. Dadurch wurde die Fakultät zu einem Ort des interkulturellen Ge-
sprächs. Mit den Studierenden aus Lateinamerika wurde die Theologie der
Befreiung nach Münster gebracht. […] Es war die Politische Theologie,
die sich als praktische Fundamentaltheologie verstand, im Verbund mit
der Befreiungstheologie mit ihrer Betonung des Primats der Orthopraxie,
die mein Interesse an der Praktischen Theologie weckte und für mich lei-
tend für deren Verständnis wurde. Das drückt sich in für mich zentral ge-
wordenen Begriffen dieser theologischen Disziplin aus: Subjektwerdung,
Identität, Gerechtigkeit, Freiheit und Befreiung, universale Solidarität,
Option für die Armen und Exkludierten, Versöhnung und Frieden etc. Für
viele meiner Generation bedeutete das Theologiestudium […] einen Pro-
zess der persönlichen Aufklärung und Befreiung aus einer gewissen Enge
der eigenen Sozialisation. Nicht zufällig erkannten sich viele in Tilmann
Mosers „Gottesvergiftung“ selbstkritisch wieder und die Auseinanderset-
zung damit ermöglichte es ihnen, ihnen vermittelte be- oder unterdrü-
ckende zwanghafte Gottesvorstellungen u. Ä. m. hinter sich zu lassen. Von
solchen psychischen Belastungen ist die später herangewachsene und jetzt
heranwachsende Generation von Ausnahmen abgesehen frei. Aber nicht
zu unterschätzen ist, welche anderen Götter ihnen in ihrer Sozialisation
eingeimpft wurden und werden. ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ sind weiterhin
höchst aktuell.
112 Gespräch mit Zeitzeugen

Herbst: Herr Assig, Sie haben eins der genannten Werke herausgebracht.
Wie ist der Sammelband „Politische Katechese“ eigentlich zustande ge-
kommen? Und welche Bedeutung hatte dabei die „Politische Theologie“
von Johann B. Metz?

Assig: Bei der Entstehung des Werks muss eine Bündelung von Vorausset-
zungen beachtet werden: Besonders hervorzuheben ist dabei das ‚Dokto-
randen-Kolloquium‘ von Johann B. Metz. Zudem müssen das Zweite Vati-
kanische Konzil und die von Religionslehrern organisierte ‚Gruppe 69‘
genannt werden. Zunächst kannten sich drei Textautoren persönlich aus
dem Doktoranden-Kreis von Johann B. Metz: Dr. H. von Mallinckrodt, Dr.
L. Rütti und ich. Metz hatte in Münster einen großen Kreis von Doktoran-
den um sich geschart. Das sogenannte ‚Doktoranden-Kolloquium‘ tagte
regelmäßig und zählte im Jahr 1969 34 Teilnehmer. Darunter waren Hol-
länder, Belgier, Franzosen, Amerikaner und Spanier. In den Sitzungen des
Doktoranden-Kolloquiums stellten die Teilnehmer in der Regel Perspekti-
ven ihrer Dissertation vor. Prof. Metz brachte allerdings auch eigene The-
men ein, zum Beispiel Überlegungen zu einer theologischen Ästhetik oder
zur Theologie der Befreiung in Südamerika. Prof. Metz gönnte sich und
seinen Doktoranden gelegentlich Arbeitssitzungen in einer vornehmlichen
Villa, gelegen zwischen Ochtrup und Wettringen. Dieses ‚Haus Rothen-
berge‘ gehörte ursprünglich einem betuchten Bankier und erfreute uns
durch sein gediegenes Ambiente. Mallinckrodt, Rütti und mir ging es in
ersten Gesprächen nicht nur darum, die Theoreme der Neuen Politischen
Theologie auf den Religionsunterricht zu beziehen. Besonders umtrieb uns
auch die Überlegung, ob nicht die Impulse des Zweiten Vatikanischen Kon-
zils – insbesondere der Pastoralkonstitution ‚Die Kirche in der Welt von
heute‘ – nicht deutliche Auswirkungen haben müssten auf den traditionel-
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 113

len Religionsunterricht. Gerade die Religionslehrer in der „Gruppe 69“9


konnten nicht länger darüber hinwegsehen, dass viele junge Christen sich
meist nur partiell mit Christentum und Kirchen identifizierten. Uns alle
vereinte ein großes Unbehagen am üblichen RU und es beflügelte uns das
von Papst Johannes XXIII. geprägte Leitmotiv des ‚Aggiornamento‘, als
der ‚Verheutigung‘ oder Modernisierung traditioneller christlicher Vor-
stellungen. […]

Herbst: Der Titel „Politische Katechese“ ist heute nicht unmittelbar nach-
vollziehbar. Wie war der Titel gemeint?

Assig: Der Titel müsste heute mit „Politische Religionspädagogik“ über-


setzt werden, weil es uns um eine politische Reflexion und Orientierung
religiöser Bildung ging, vorwiegend des Religionsunterrichts. In Analogie
zur (neuen) „Politischen Theologie“ von Johann B. Metz sollte das Politi-
sche als Grunddimension des Glaubens und der Bildungsprozesse begrif-
fen werden. Politische Überlegungen betrafen damit Ziele, Inhalte und Me-
thoden des Unterrichts. Es ging uns also letztlich darum, fundamentalthe-
ologische Ansätze von J. B. Metz religionspädagogisch, das heißt auch auf-
klärungsorientiert und kritisch, weiterzudenken.

Herbst: Herr Betz, Sie haben den Sammelband „Politische Katechese“ als
Reihenherausgeber mitangeregt. Was hat Sie dazu motiviert? Und können
Sie etwas über die Wirkung des Bandes sagen?

9 Die „Gruppe 69“ war ein informeller Kreis von Religionslehrer*innen im Bistum Mün-
ster, „die in Auseinandersetzung mit den praktischen Erfahrungen und neueren Theo-
rien des RU die Konzeption eines RU aus der Perspektive des Selbstverständnisses der
Schulen heute vertreten.“ (Auszug aus den unveröffentlichten Arbeitsthesen der Grup-
pe).
114 Gespräch mit Zeitzeugen

Betz: Durch Johannes XXIII. und seine Forderung nach einem Aggiorna-
mento wurden wir daran erinnert, dass wir noch gar nicht im Heute ange-
kommen waren, wir waren in der Sprache und im Denken, in der Theologie
und der Pädagogik im Gestern stecken geblieben und hatten einen unge-
heuren Nachholbedarf. Wir hatten noch die Nazizeit erlebt und waren po-
litisch sensibilisiert. Selbstverständlich war uns ein ökumenisches Denken
vertraut und die evangelischen Publikationen haben uns genauso interes-
siert wie die katholischen. Walter Dirks und Eugen Kogon hatten wir schon
im Studium kennengelernt, die Frankfurter Hefte waren eine Weile ‚unser
täglich Brot‘. Mit Walter Dirks und seiner Frau stand ich auch im steten –
aber seltenen – Kontakt. Und später waren wir froh, dass Baptist Metz
unser Vordenker und Stichwortgeber geworden ist. Schon vor den ‚Acht-
undsechzigern‘ hatten wir für alles ‚Linke‘ ein besonderes Ohr. „Politi-
sche Katechese“ erschien 1972, welche Wirkung sie in Deutschland oder
Spanien entfaltet hat, weiß ich allerdings nicht.

Herbst: Herr Assig, welche zeitgeschichtlichen Ereignisse haben Sie denn


besonders bewegt und Einfluss auf Ihre Theoriearbeit und Praxis gehabt?

Assig: Zwei Erlebnisse in meinem RU habe ich bis heute in guter Erinne-
rung. In einem Kurs hatte ich, dem Curriculum entsprechend, eine Einfüh-
rung in das Markus-Evangelium angeboten. Nach einigen Unterrichtsstun-
den meldete sich ein Schüler und machte einen Vorschlag, den er offen-
sichtlich mit den Kursteilnehmern abgestimmt hatte: Statt der Beschäfti-
gung (!) mit dem Neuen Testament hielte es der Kurs für dringend nötig,
einen ‚Spiegel‘-Artikel zu diskutieren und sich mit den ‚Finanzen des Va-
tikans‘ kritisch auseinanderzusetzen. Ähnlich erging es mir mit dem Ver-
such, den Katechismus zum Thema zu machen. Tenor des Kurses: Die dort
gestellten Fragen und Antworten würden als lebensfremd und indoktrinie-
rend empfunden. Meine rettende Idee, die Schüler/innen mit dem ‚Hollän-
dischen Katechismus‘ und dem ‚Katechismus des Don Mazzi‘ zu konfron-
tieren, machte sie neugierig und fand allgemeine Zustimmung. Seit diesen
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 115

Erfahrungen gehörten die Selbstfindung der Schüler/innen, die Anleitung


zur Mündigkeit und Mitmenschlichkeit sowie die Herausarbeitung der hu-
manisierenden Kraft des Christentums zu meinen religionspädagogischen
Leitideen: Christlicher Glaube als Sinnentwurf für humane Existenz.

Herbst: Auch Sie, Herr Füssel, haben in der Zeit um 1968 als Religions-
lehrer gearbeitet – zusammen mit Herrn Assig am Overbergkolleg. Wie
stark wurden ihre Vorstellungen damals (und heute) durch „1968“ beein-
flusst? Welche Auswirkungen lassen sich Ihrer Meinung nach für den ge-
samten Religionsunterricht feststellen? Wie stark waren Schüler*innen-
und Studierendenproteste, die beispielsweise eine Ausrichtung an Religi-
onskritik forderten, Anlass für die Konzeption einer ideologiekritischen
Religionspädagogik?10

Füssel: […] Es ist mir unmöglich, hier eine Kommentierung der Entwick-
lung der Religionspädagogik und ihrer verschiedenen Strömungen und
Ausprägungen von 1968 bis heute vorzunehmen. […] Daher beschränke
ich mich auf einige doch sehr persönliche und daher subjektive Bemerkun-
gen. Keine Stellungnahme, ob eher parteiisch oder distanziert, wird be-
streiten können, dass die weltweiten Revolten von Schüler/innen und Stu-
dierenden im Sommer 1968 den Bildungssektor insgesamt, sowohl durch
Zuspitzung als auch durch Ablehnung nachhaltig geprägt haben. Vor al-
lem die Forderung der schonungslosen Aufdeckung der Rolle von Erzie-
hung, Schule, Wissenschaft und Kirche in der Zeit des deutschen Faschis-
mus und der nahezu totalen Verdrängung, Vertuschung oder Verharmlo-
sung der Kooperationen und Verstrickungen von Verantwortlichen und
Mitläufern mit dem Faschismus, diesem Geflecht des Bösen, das die Mär-

10 Vgl. z. B. WITZSCHE, Erich: Kritischer Religionsunterricht in der dialogischen Schule.


Zur Neuregelung des Religionsunterrichts in der öffentlichen Schule. Mit Dokumenten,
Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1971, 9–11.
116 Gespräch mit Zeitzeugen

tyrer des Faschismus sehr wohl durchschaut hatten und von uns daher be-
ständig den Herrschenden vor Augen gehalten wurde, musste zu einer ra-
dikalen Bildungsreform das Fanal setzen, das aber keineswegs zur Etab-
lierung von ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘, sondern zu extremen Spannungen
und Auseinandersetzungen führte. Man denke nur an die Auseinanderset-
zungen um die sogen. „Hessischen Rahmenrichtlinien“ und die reaktio-
näre Rolle des sogen. „Marburger Bundes Freiheit der Wissenschaft“. An
den bald folgenden Demonstrationen gegen die „Notstandsgesetze“, die
dann später in die Demonstrationen der Friedensbewegung mündeten, be-
teiligten sich nach meiner eigenen Erfahrung und Beteiligung auch viele
Schüler/innen, die an vielen Orten durch einen mutigen RU, der sich auf
die messianischen Ursprünge des Christentums zurück besann und ein kla-
res antimilitaristisches und antifaschistisches Profil entwickelte, unter-
stützt und geistig verproviantiert wurden, was von den kirchlichen und
staatlichen Behörden meist missbilligt und mit der Androhung von Strafen
bekämpft wurde. Ich habe damals nebenamtlich in verschiedenen Schulen
in Münster Physik unterrichtet, kenne mich also ein wenig aus, besitze aber
keine flächendeckenden empirischen Untersuchungen zur Absicherung der
von mir hier mitgeteilten Wahrnehmung der Situation. […] Was die Ent-
faltung einer ideologiekritischen Konzeption von Religionspädagogik an-
belangt, beschränke ich mich darauf, auf den Ansatz von Siegfried Vierzig
zu verweisen. […]

Herbst: Sie, Herr Steinkamp, haben sich u. a. in Ihrer Dissertation (1972)


mit Gruppendynamik beschäftigt.11 Sie haben mit den Leitkategorien „De-
mokratisierung“ und „Ideologiekritik“ die religionspädagogische Bedeu-
tung von Kleingruppenforschung herausgearbeitet. Welche Rolle spielten

11 STEINKAMP, Herrmann: Gruppendynamik und Demokratisierung. Ideologiekritische


und sozialethische Studien zur empirischen und angewandten Kleingruppenforschung,
Mainz 21986.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 117

für Sie diese Leitkategorien? Wie stark wurden Sie bei Ihrem Forschungs-
thema von der Sensibilität für das Soziale geleitet, die ‚1968‘ möglicher-
weise sehr stark ausgeprägt war?

Steinkamp: Ende der 1960er-Jahre begann ich zeitgleich meine Tätigkeit


als Assistent am „Institut für Christliche Sozialwissenschaft“ der Univer-
sität Würzburg, sowie – damals noch als Dozent an der Münsteraner Aka-
demie für Jugendfragen – eine Ausbildung in „Gruppendynamik“. Die
noch junge Praxis der Gruppendynamik in Deutschland war zu jener Zeit
u. a. deutlich von der 1968er Bewegung beeinflusst: Wir verstanden „poli-
tische Aufklärung“ als wichtiges Lernziel gruppendynamischer Lernver-
fahren. Über Selbsterfahrung erkundeten wir Phänomene wie Autorität,
Macht, Statusgefälle, Entstehung sozialer Normen u. ä. gleichsam am ei-
genen Leibe. Eine damals viel diskutierte Studie des Amerikaners Philipp
Slater entfaltete die These von der Gruppe als „Mikrokosmos“, in dem sich
alle relevanten mikro-sozialen und gesellschaftlichen Phänomen abbilden
bzw. abbilden lassen.12 […]

Dass Schulklassen und andere Subsysteme der Schule immer auch als so-
ziale Systeme wahrgenommen wurden, auch hinsichtlich dessen, was sich
dort außer „Unterricht“ sonst noch ereignet, hat in den letzten Jahren im-
mer wieder (einmal) das Interesse von Lehrer*innen und Erziehungswis-
senschaftler*innen auf sich gezogen. Typische Phänomen und Rollen wie
Streber, Außenseiter, Cliquen u. ä. sind auch von Religionslehrer*innen oft
thematisiert worden, sei es, um sie transparent zu machen, ihren Einfluss
auf das soziale Klima zu reflektieren, oder auch im Blick auf theologisch
relevante Themen wie „Gemeinschaft/Gemeinde“, Versöhnung, Gerech-
tigkeit. Diese Überlegungen lagen auch meiner Mitarbeit bei Lehrer*in-

12 Vgl. SLATER, Philip E.: Mikrokosmos. Eine Studie über Gruppendynamik, Frankfurt
am Main: S. Fischer 1978.
118 Gespräch mit Zeitzeugen

nen-Fortbildungen zugrunde. Was wir in den frühen Jahren der ange-


wandten Gruppendynamik als „Abbildung“ gesellschaftlicher Phänomene
(Machtkämpfte, Status-Gefälle, Außenseiter, Mitbestimmung) im „Mikro-
kosmos der Kleingruppe“ ausdrücklich als politische Bildung verstanden,
könnte man – so meine Lieblingsidee von der „Schulklasse als sozialem
System“ – dort analog versuchen; als gelegentliche „Unterbrechung“ des
themenorientierten Lernens oder als gelegentliche „Metakommunikation“
über die alltägliche Phänomene (Sozialverhalten einzelner Schüler*innen,
Macht von Cliquen, Außenseiter*innen, u. ä.) – natürlich nur, falls die
Lehrpersonen sich dies zutrauen. Ob wir die Veränderung des Schulklimas
und der Unterrichtspraxis durch die Handy- und I-Phone-Eremiten (reli-
gions-) pädagogisch schon realistisch im Blick bzw. hinreichend begriffen
haben, wird sich bald zeigen. Worauf in diesem Zusammenhang ‚Kritik‘
zielen sollte/müsste, wird noch zu erörtern sein.

Herbst: Zugleich gibt es aufgrund der gegenwärtigen gesellschaftspoliti-


schen „Großwetterlage“13 ein erneutes Interesse am Problemorientierten
Religionsunterricht. Was kann heute von den religionspädagogischen An-
sätzen der Reformdekade um 1968 gelernt werden? Welche Potenziale und
Perspektiven sehen Sie gegenwärtig für einen kritisch-emanzipatorischen
Religionsunterricht?

Mette: Ich kann es mir als Antwort auf diese letzte Frage einfach machen,
indem ich mich einem von mir voll und ganz geteilten Votum von Thomas
Schlag und Jasmine Suhner anschließe: „Trotz staatlicher und zivilgesell-
schaftlicher Bemühungen um Werte wie Freiheit und individuelle Autono-
mie ist die gegenwärtige Gesellschaft geprägt von Kräften, die Abhängig-
keiten schaffen: von Leistungsdruck, Konsumzwang, usw. Religionsbezo-
gene Bildung hat die Möglichkeit und die Aufgabe, den Blick für solche

13 KOERRENZ, Ralf / SIMOJOKI, Henrik: Editorial, in: ZPT 70 (2018), 125–127, 125.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 119

‚Unfreiheiten‘ zu öffnen, gegebenenfalls Widersprüchlichkeiten aufzuzei-


gen und zu erörtern. Die Didaktik des religionsbezogenen Unterrichts hat
nach Möglichkeiten zu fragen, die den Heranwachsenden dabei unterstüt-
zen, sich nicht-reflektierter Prägungen bewusst zu werden, solche Einfluss-
sphären zu benennen und sich ggf. von diesen zu distanzieren. In diesem
Sinne bedeutet öffentliche religionsbezogene Bildung auch, dass sie dort
produktiv interveniert, wo die Unterhaltungs-, Informations- und Konsum-
gesellschaft Unfreiheiten der unterschiedlichsten Art produziert. Ein inter-
religiös ausgerichteter religionsbezogener Unterricht sucht dafür in ver-
schiedenen Religionen nach möglichen Orientierungen.“ […]

Halbfas: […] Die Religionspädagogik hat, wenn sie einen neuen Schwer-
punkt fokussiert, das bis dahin dominierende Thema nie ausreichend be-
arbeitet, geschweige denn der Lehrerschaft vermittelt. Durchweg bleiben
nur halbwegs beackerte Aufgabenfelder zurück. Die nächste Phase verliert
aus den Augen, was zuvor wichtig war. In den letzten Jahren ging es allein
um „Kompetenzorientierung“. Aber wer kann weiterhin mit Bibeltexten
umgehen, wie es der hermeneutische Religionsunterricht anstrebte? Wer
versteht den „problemorientierten“ Religionsunterricht noch, wie Peter
Biehl ihn lehrte? Welches Metaphern- und Symbolverständnis bestimmt
den Umgang mit religiösen Traditionen? Was heißt Religionsunterricht als
Sprachunterricht im Blick auf Mythos, Sage, Legende, Gleichnis, Dogma?
Dies alles liegt hinter uns und bleibt dennoch als unverzichtbare Aufgabe
vor uns. Welche Religionsdidaktiker halten dies heute noch zusammen?
[…]

Herbst: Herr Steinkamp, Sie haben mit Ihren Forschungen zur Gouverne-
mentalitätstheorie und Pastoralmacht (M. Foucault) ein höchst aktuelles
Thema aufgegriffen, das jedoch einige Fragen mit sich bringt – gerade im
Hinblick auf die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘. Welche Auswir-
kungen hat eine solche Gesellschaftsanalyse für den Religionsunterricht?
120 Gespräch mit Zeitzeugen

Steinkamp: Die gleichzeitige, gleichsam phrasenhafte Thematisierung von


‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ scheint mir problematischer als die wechseln-
den Bedeutungsnuancen beider Begriffe wahrzunehmen. „Kritik der herr-
schenden Verhältnisse“ übten die frühen und späten 1968er wie ein Man-
tra. Sie meinten damit vor allem die „Interessen der Herrschenden“: die
kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsform ebenso wie Bürokratien
in Staat, Hochschulen, Kirchen. Über lange Zeit richtete sich ein Aspekt
dieser Kritik auf deren Anonymität. Neuerdings lassen sich heute antide-
mokratische Tendenzen, Rückfälle in autokratische Verhältnisse und poli-
tische Barbarei beim Namen nennen: Trump, Erdogan, Assad, Bolsonaro
oder Maduro. Deren alltägliche Gegenwart in den Medien droht eine an-
dere, schleichende Anonymisierung zu übertünchen: was die (geniale)
Wortschöpfung Michel Foucaults als Gouvernementalität kennzeichnet,
zielt auf einen geradezu teuflischen großen Zusammenhang: einerseits die
weltweite „große Koalition“ von Ökonomie und Politik („Gouverne-
ment“) und andererseits eine zu ihr konstitutiv gehörende „Mentalität“
der von ihren Folgen betroffenen Massen. […] Die vom weltweiten Gou-
vernement gezielt erzeugte Mentalität dient der Stabilisierung des großen
Systems: auf „allen Kanälen“ wird den Menschen suggeriert, es sei alter-
nativlos, schreibe konsequent die bisherige Entwicklung der Moderne fort.
Das gilt insbesondere für eine ihrer Konkretisierungen: die „Dezentrali-
sierung ins Extrem“. Damit ist gemeint, dass jede*r zu einem „unterneh-
merischen Selbst“ (Bröckling) wird. […] Dies hat spezifische Folgen für
den Religionsunterricht. Seine Subjekte, ob Lehrer*innen und Schüler*in-
nen, sind von dem großen Zusammenhang gleichermaßen betroffen. […]
Von M. Foucault könnten wir dazu zweierlei lernen: Seine Definition von
‚Kritik‘: die Entschlossenheit, „sich so nicht regieren zu lassen“. […] Und
seine Empfehlung: „Bildet Banden“. […].
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 121

Informationen zu den interviewten Personen

Hubertus Assig (* 1939) hat unter anderem mit Hansjürgen von Mallinck-
rodt und Ludwig Rütti das Werk „Politische Katechese“ (1972) herausge-
bracht, das durch die neue Politische Theologie von Johann B. Metz ge-
prägt ist und derzeit erneut wahrgenommen wird.14 Assig, Mallinckrodt
und Rütti waren gemeinsam im Metzschen Doktorandenkolloquium und
haben – dadurch inspiriert – an unterschiedlichen Stellen systematisch dar-
über reflektiert, welche Konsequenzen aus einer religionspädagogischen
Rezeption der Theologie von J. B. Metz resultieren.15 Assig selbst war stark
an pädagogischer und politischer Praxis orientiert.16 Besonders bekannt ge-
worden sind seine Textsammlungen für den Religionsunterricht „Glück
und Heil“ (1972) sowie „Politische Ethik“ (1972), die er zusammen mit
Werner Trutwin herausgegeben hat.

Otto Betz (* 1927) war als Religionslehrer und Assistent von Theoderich
Kampmann in München tätig. Danach war er Professor für allgemeine Er-
ziehungswissenschaft und katholische Religionspädagogik an der Univer-

14 Vgl. KÖNEMANN, Judith: Art. Politische Religionspädagogik, in: WiReLex 2016 [abge-
rufen am 15.05.2019]. Von größerem Interesse zeugt auch, dass das Werk ins Spanische
übersetzt wurde.
15 Vgl. ASSIG, Hubertus: Emanzipatorische Sensibilität gegen pathologische Religion. Ein
religionspädagogischer Beitrag zur Theorie und Didaktik einer christlichen Glück-
sethik, Dortmund: Pädagogische Hochschulschriften 1974. In dieser Arbeit, seiner Dis-
sertation, hat sich Assig unter anderem ausführlich mit dem Emanzipationsbegriff be-
schäftigt. Vgl. EBD., 50–80; 360–370.
16 Nachdem Hubertus Assig Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der damaligen PH Dort-
mund an der Professur für Theologie und ihre Didaktik bei Hansjürgen von Mallinck-
rodt war, arbeitete er als Lehrer und Schulleiter in Lengerich am heutigen Hannah-
Arendt-Gymnasium. Neben der Schulpraxis hat er sich auch früh (kirchen-) politisch
engagiert, unter anderem in der sogenannten „Gruppe 69“, in der im Austausch mit
Oberstudienräten, Religionsfachleiter*innen und -lehrer*innen neue Visionen des Re-
ligionsunterrichts entworfen wurden, die unter anderem in den „Thesen zum Religions-
unterricht“ verschriftlicht sind.
122 Gespräch mit Zeitzeugen

sität Hamburg (1964–1985). Er hat Publikationen zu unterschiedlichen


Themen herausgegeben und auch einen Beitrag dazu geleistet, Religions-
pädagogik politisch zu konturieren. Hervorzuheben sind hier „Die Escha-
tologie in der Glaubensunterweisung“ (1965), „Das Wagnis mit der Welt“
(1965), „Der politische Jesus“ (1968) oder „Aufbruch von links“ (1969).

Kuno Füssel (* 1941) ist Theologe und Lehrer, u. a. für das Fach katholi-
sche Religionslehre. Er hat bei Johann B. Metz und Karl Rahner promo-
viert und war bei Metz sowie bei Herbert Vorgrimler Assistent. Bekannt
geworden ist er u. a. für seine materialistische Bibellektüre und seine theo-
logische Wissenschaftstheorie. Für den (Mathematik- und) Religionsunter-
richt hat er konkrete Unterrichtsentwürfe vorlegt.17 Dabei engagiert er sich
auch für den konfessionellen Religionsunterricht gegenüber einem säkula-
ristisch-atheistischen Milieu, z. B. im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Stif-
tung.18 Darüber hinaus gilt Füssel als jemand, der besonders gut über die
Jahre um 1968 und ihre Auswirkungen für die Theologie Auskunft zu ge-
ben weiß.19

Hubertus Halbfas (* 1932) war von 1967 bis 1987 Professor für Religions-
pädagogik an der PH Reutlingen. Mit seinem Werk „Fundamentalkateche-
tik“ (1968), das unter anderem in Englisch, Spanisch und Italienisch über-
setzt wurde, ist er über den deutschsprachigen Raum bekannt geworden.

17 Vgl. FÜSSEL, Kuno / SEGBERS, Franz: So lernen die Völker des Erdkreises Gerechtig-
keit, Luzern: Edition Exodus 1995.
18 Vgl. FÜSSEL, Kuno: Warum der Religionsunterricht unverzichtbar bleibt – ein zorniges
Plädoyer, in: AK RELIGIONSLEHRERINNEN IM ITP (Hg.): Religionsunterricht unter
freiem Himmel. Anstöße zur Kritik des neoliberalen Götzendienstes in der Schule,
Münster: Edition ITP-Kompass 2018, 27–29. Seine Arbeit mit dem ‚Arbeitskreis Reli-
gionslehrerInnen‘, der am Institut für Theologie und Politik (ITP) in Münster angesie-
delt ist, kann besonders hervorgehoben werden.
19 Vgl. FÜSSEL, Kuno / RAMMINGER, Michael: Zwischen Medellín und Paris. 1968 und
die Theologie, Münster: Edition ITP-Kompass 2009.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 123

Mit „Aufklärung und Widerstand“ (1971) hat er nicht nur ein dezidiert ide-
ologiekritisch-emanzipatorisches Werk vorgelegt, sondern auch praktische
Unterrichtsvorschläge entworfen, die enthaltene Überlegungen konkreti-
sieren.20 Besonders spannend erscheint es dabei, dass er mit „Das dritte
Auge“ (1982) den Problemorientierten Religionsunterricht fundamental
kritisiert hat. Durch aktuelle Beiträge beteiligt er sich bis heute an religi-
onspädagogischen Debatten. Seine Veröffentlichungen in den letzten 20
Jahren befassen sich vor allem mit theologischen Inhalten und kritisieren
die Abstinenz der aktuellen Religionspädagogik gegenüber einem Glau-
ben, mit dem immer weniger Menschen etwas anfangen können.

Norbert Mette (* 1946) ist ein Praktischer Theologe und Religionspäda-


goge, der von 1984 bis 2002 Professor in Paderborn war. Von 2002 bis
2011 arbeitete er als Professor an der TU Dortmund. Mette, denkt – inspi-
riert von der Theologie der Befreiung und der Politischen Theologie – re-
ligiöse Bildung politisch. Dies belegen seine Forschungen zu Franziskus
(2017) oder zum Topos ‚Bildung und Gerechtigkeit‘ (2013), die Heraus-
geberschaften von bedeutenden Schriften von Helmut Peukert (2015) oder
Paulo Freire (2007 und 2008) und der Grundduktus renommierter Grund-
lagenwerke (z. B. LexRP) oder Lexikonartikeln (z. B. im WiReLex).

Hermann Steinkamp (* 1938) war von 1975 bis 2004 Professor u. a. für
Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Er ist für seine Forschung zur ideologiekritischen Analyse von Kleingrup-
pen und zu Foucaults Begriff der Pastoralmacht bekannt.21 Zudem zeigt er

20 Vgl. HALBFAS, Hubertus: Das Menschenhaus. Ein Lesebuch für den Religionsunter-
richt, Düsseldorf: Patmos 1972. HALBFAS, Hubertus: Lehrerhandbuch Religion. Infor-
mationen und Materialien zur Unterrichtsvorbereitung, Düsseldorf: Patmos 1974.
21 STEINKAMP, Hermann: Gruppendynamik und Demokratisierung. Ideologiekritische und
sozialethische Studien zur empirischen und angewandten Kleingruppenforschung,
München: Kaiser 1973. DREIER, Wilhelm / STEINKAMP, Hermann: Wirkmacht des So-
zialen. Mit einem Erfahrungsbericht über die Fortbildung in sozialer Gruppenarbeit,
124 Gespräch mit Zeitzeugen

sich, ebenso wie Mette, als Vertreter der Politischen Theologie. Beispiels-
weise hat er mit Tiemo R. Peters und Thomas Pröpper den bekannten Sam-
melband „Erinnern und Erkennen“ (1993) herausgegeben. Steinkamp und
Mette haben viel zusammengearbeitet, u. a. zur Rezeption der Befreiungs-
theologie und zum wissenschaftstheoretischen Status der Sozialwissen-
schaften für die Praktische Theologie.22

Münster: Regensberg 1969. Vgl. z. B. STEINKAMP, Hermann: Lange Schatten der Pas-
toralmacht, Münster: LIT 2015.
22 Vgl. z. B. METTE, Norbert / STEINKAMP, Hermann: Sozialwissenschaften und Praktische
Theologie (= Leitfaden Theologie 11), Düsseldorf: Patmos 1983.
TEIL II –
RELIGIONSPÄDAGOGISCHE REFLEXIONEN
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und
Perspektiven: Kritik und Emanzipation in der
Religionspädagogik

Claudia Gärtner

In den historischen Selbstvergewisserungen wurden die unabgegoltenen


Potenziale und historischen Altlasten des Problemorientierten Religions-
unterrichts herausgearbeitet und zugleich wichtige, teils in Vergessenheit
geratene Forschungsstränge ausgemacht, an denen gegenwärtige religions-
pädagogische Beiträge anknüpfen können. Nach diesem Blick zurück wird
im folgenden Teil der Blick in die Zukunft gewagt, mit der Vergangenheit
im Rücken und auf dem Boden der Gegenwart. Die folgenden Beiträge
knüpfen alle explizit an die historischen Stränge an und beziehen diese in
eine gegenwartssensible Konzeptionierung von ‚Kritik‘ und ‚Emanzipa-
tion‘ in der Religionspädagogik mit ein. Einleitend sollen nun aktuelle re-
ligionspädagogische Problemkonstellationen skizziert werden, die zu Ver-
schiebungen und Transformationen der historischen Debatten führen (kön-
nen). Die Einleitung verfolgt damit eine doppelte Zielsetzung: Erstens sol-
len die folgenden Beiträge in gegenwärtigen religionspädagogischen Dis-
kursen kontextualisiert werden und zweitens sollen hierdurch Herausfor-
derungen und Anforderungen formuliert werden, denen sich eine historisch
bewusste, kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik in der Gegenwart
stellen muss. Dabei werden zum einen Veränderungen der historischen
Problemkonstellationen deutlich und zum anderen zeichnet sich ab, dass
eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik durchaus für Irritatio-
nen und Kontroversen im religionspädagogischen Feld sorgen kann.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_7
128 Hinführung II

1 Lebensweltorientierung und Subjektwerdung

Kaum ein religionspädagogischer turn hat die Religionspädagogik in den


letzten 50 Jahren so sehr geprägt wie die Wende von einer inhaltlich-stoff-
lichen Verkündigung (z. B. im Format der materialkerygmatischen Ver-
kündigung) hin zur Orientierung an den Subjekten, an ihren (Glaubens-)
Fragen und ihrer Lebenswelt. Der Problemorientierte Religionsunterricht
konnte überhaupt erst im Horizont von Korrelation und Lebensweltorien-
tierung konzeptionalisiert werden. Und zugleich kann er als eine der pro-
filiertesten Konzeptionen einer lebenswelt- und subjektorientierten Religi-
onspädagogik seit den 1970er Jahren betrachtet werden. Dass diese Aus-
richtung deutliche Kritik nach sich zog, ist in den vorangegangenen Bei-
trägen hinreichend erörtert worden. Zwar wurde auch die Korrelationsdi-
daktik immer wieder debattiert,1 die grundsätzliche korrelative Ausrich-
tung an Lebenswelt und Subjekten wird aber auch in aktuellen religions-
pädagogischen Debatten unterstrichen.2 Jenseits der religionspädagogi-
schen Diskurse ist jedoch eine Anfrage aus systematisch-theologischer
Perspektive aufschlussreich, die vor einigen Jahren Thomas Ruster formu-
liert hat. Die Lebenswelt – so Rusters Argumentation – sei von dem alle
Wirklichkeit bestimmenden Kapitalismus derart geprägt, dass der Lebens-
weltorientierung „in einer christlichen Religionspädagogik nicht mehr zu

1 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Die Korrelationsdidaktik am Ausgang ihrer Epoche. Plädoyer


für einen ehrenhaften Abgang, in HILGER, Georg / REILLY, George (Hg.): Religionsun-
terricht im Abseits?, München: Kösel 1993, 97–110; DERS.: Korrelation(sdidaktik). Bi-
lanz und Perspektiven, RpB 38 (1996), 3–18; DERS.: Performativer Religionsunterricht
– eine Zwischenbilanz, in: ZPT 60 (2008), 3–16. DERS. / HENNEKE, Elisabeth / KÄM-
MERLING, Markus: Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele, Analysen,
Konsequenzen, München: Kösel 2014.
2 Vgl. PEMSEL-MAIER, Sabine / SCHAMBECK, Mirjam (Hg.): Keine Angst vor Inhalten!
Systematisch-theologische Themen religionsdidaktisch erschließen, Freiburg im Breis-
gau: Herder 2015.
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und Perspektiven 129

trauen“3 sei. Denn theologisch könne hierin die Alterität Gottes nicht ein-
geholt werden. Vielmehr trüge eine so ausgerichtete Didaktik dazu bei,
dass „das Bekannte noch einmal in religiösen oder ethischen Kategorien
wiederholt“4 wird. Rusters Kritik ist damals stark problematisiert worden.5
Vor allem seine alleinige Fokussierung auf den Kapitalismus und die von
ihm eingebrachten religionspädagogischen Alternativen konnten nicht
überzeugen. Dennoch hat Ruster einen Fragehorizont eröffnet, der sich die
Religionspädagogik heute stellen muss. Wie kann diese subjektorientiert
an eine Lebenswelt anknüpfen, wenn die Lebenswelt einer Subjektwer-
dung zuwiderzulaufen droht?

Kritisch-emanzipatorische Pädagogik debattiert in dieser Perspektive die


Aporien des Emanzipationsbegriffs (BÜNGER, GRÜMME, HORSTMANN).
Besonders kritisch wird in Anschlag gebracht, dass der Autonomiegedanke
bereits hegemonial so sehr unterwandert sei, dass die angezielte Subjekt-
werdung und Mündigkeit der Subjekte faktisch auf die Reproduktion des
gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell dominanten „unternehmeri-
schen Selbst“ (Ulrich Bröckling) hinauslaufe.6 Die Subjekte hätten durch
internalisierte, sublime Mechanismen die Sozialkontrolle verinnerlicht und
würden sich daher unter den gegebenen Normen selbst optimieren.

3 RUSTER, Thomas: Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von
Christentum und Religion, Freiburg im Breisgau: Herder 2000, 200.
4 DERS.: „Den ‚Schicksalsmächten‘ widerstehen“, in: engagement. Zeitschrift für Erzie-
hung und Schule 1 (2001), 3–11, 8.
5 Vgl. MEURER, Thomas: Bibelkunde statt Religionsunterricht? Zu Thomas Rusters Kon-
zept einer „Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis“, in: rhs 44 (2001),
248–255; HALBFAS, Hubertus: Thomas Rusters ‚fällige Neubegründung des Religions-
unterrichts‘. Eine kritische Antwort, in: rhs 44 (2001), 41–53.
6 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2019
[abgerufen am 16.09.2019].
130 Hinführung II

Vor dem Hintergrund der interdisziplinären Debatten um selbstinternali-


sierte Sozialkontrolle und Selbstoptimierung gilt es sowohl einen kriti-
schen Emanzipationsbegriff als auch die Lebensweltorientierung in der
Religionspädagogik neu zu diskutieren. Inwiefern gelingt es ihr, zur Sub-
jektwerdung und Mündigkeit der Lernenden beizutragen? Verdeckt die
derzeit dominierende didaktische Orientierung an der Lebenswelt eventu-
ell die theologisch und religionspädagogisch in Anschlag zu bringende Al-
terität Gottes und die unter dem eschatologischen Vorbehalt stehende Bot-
schaft vom Reich Gottes? Verliert religiöse Bildung hierdurch eventuell
ihre ideologiekritische Schärfe?

In dieser Hinsicht muss eine kritisch-emanzipatorische Religionspädago-


gik das Verhältnis zu Subjekt- und Lebensweltorientierung, zu den struk-
turellen Bedingungen von Lernen, Leben und Bildung, reflektieren, wie
dies der Beitrag von Viera Pirker herausstellt. Entsprechend betont Judith
Könemann in ihrem Beitrag, dass Emanzipation nicht ohne die strukturel-
len politisch-gesellschaftlichen Bedingungen gedacht werden kann, in de-
nen sich Bildung vollzieht. Simone Horstmann geht in ihrem Beitrag noch
einen Schritt weiter, wenn sie grundlegend eine anthropozentrische Eng-
führung kritisch-emanzipatorischer Religionspädagogik hinterfragt, die
Emanzipation als Befreiung vom Animalischen, von der natürlichen Trieb-
haftigkeit des Menschen versteht. Hier werden exemplarisch die Heraus-
forderungen und Aporien von Emanzipation deutlich, nämlich dass die
Forderung nach Emanzipation zu ihrem Gegenteil führen kann: z. B. zu ei-
ner Anthropozentrik mit entsprechenden Exklusionsmechanismen oder zu
neuen Formen der (anonymen) Herrschaft („unternehmerisches Selbst“).

2 Kompetenzorientierung

Kann die Korrelationsdidaktik und Lebensweltorientierung als entschei-


dende Wende in der Religionspädagogik seit den 1970er Jahren betrachtet
werden, so lässt sich die von außen an das Fach herangetragene Kompe-
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und Perspektiven 131

tenzorientierung als einschneidende Neuorientierung der 2000er Jahre be-


zeichnen. Zugleich ist diese eng mit Lebensweltorientierung und Korrela-
tionsdidaktik verbunden. Denn Kompetenzorientierung zielt gerade da-
rauf, dass Subjekte kompetent handelnd an Gesellschaft, Kultur, Religion
und Arbeitswelt teilhaben können. Doch zielen die zu erwerbenden Kom-
petenzen darauf, in bestehenden z. B. religiösen oder gesellschaftlichen
Systemen zu funktionieren und zu deren Reproduktion beizutragen? Er-
zieht ein kompetenzorientiertes Schulsystem zum „unternehmerischen
Selbst“, das selbstoptimierend an seinem Kompetenzerwerb arbeitet, um
in den herrschenden Systemen zu bestehen?7 Oder befähigen Kompeten-
zen und Bildungsstandards zu Emanzipation und Kritik? 8 Tragen sie dazu
bei, die herrschenden Systeme und Logiken kritisch-emanzipatorisch zu
hinterfragen und zu verändern? Dies forderte bereits in den 1970er Jahren
die Würzburger Synode,
„weil die Schule dem jungen Menschen zur Selbstwerdung verhelfen soll […],
weil die Schule sich nicht zufrieden geben kann mit der Anpassung des Schülers
an die verwaltete Welt und weil der Religionsunterricht auf die Relativierung un-
berechtigter Absolutheitsansprüche angelegt ist, auf Proteste gegen Unstimmig-
keiten und auf verändernde Taten.“9

Auch wenn oder gerade weil die Debatten um eine kompetenzorientierte


Religionspädagogik nach anfänglich starken Auseinandersetzungen deut-
lich ruhiger geworden sind, ist diese vor dem entfalteten historischen Hin-
tergrund der religionspädagogischen Reformdekade und im Horizont einer
kritisch-emanzipatorischen Pädagogik neu zu debattieren. Hans Mendl
sieht daher, auch in Bezug auf den zitierten Synodenbeschluss zum Reli-
gionsunterricht, die

7 So die Kritik im Beitrag von Andreas HELLGERMANN in diesem Band. Vgl. auch REU-
TER, Ingo: Michel Foucaults Impuls für eine religionspädagogische Kritik schulischer
Bildungsökonomisierung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014.
8 So lehnen sich die Beiträge von Klaus-Gerd EICH und Markus BÜRGER / Sebastian
JENDT in diesem Band an den kritischen Kompetenzbegriff von Oskar Negt an.
9 Würzburger Synode Art. 2.3.4.
132 Hinführung II

„Wächteraufgabe […] auf einer systemischen Ebene beispielsweise auf die kriti-
sche Begleitung der Entfaltung von Bildungsstandards und Kompetenzorientie-
rung, auf Fragen der Leistungsmessung und der zeitlichen Ausgestaltung von
Schule sowie auf das Einfordern von Projekten, mit denen die Zweckrationalität
von Schule zumindest ergänzt wird.“10

Eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik muss daher ihr Ver-


hältnis zu Kompetenzorientierung und Bildungsstandards klären und fra-
gen, inwiefern sie hierin ihr ideologiekritisches Potenzial einspeisen kann.

3 Traditionsorientierung und religiöses Gefühl

In den Debatten um den Problemorientierten Religionsunterricht wurde


immer wieder dessen (vermeintliche) Traditionsvergessenheit kritisiert.
Diese Kritik ist auch in der Gegenwart nicht verstummt, allerdings trifft sie
auf eine veränderte religiöse Landschaft. Die Frage nach Traditionsorien-
tierung muss somit gegenwärtig kontextuell neu gestellt werden. Vielleicht
sind sie heute sogar noch virulenter, da ein weitgehender Traditionsab-
bruch zu konstatieren ist und Tradition für die eigene Religiosität heute
oftmals gänzlich irrelevant erscheint. Angesichts der Erosion von Tradition
konstatiert Englert massive Verschiebungen in der Architektur des Religi-
ösen, die nicht allein durch Traditionsbewusstsein stabilisiert werden
könnten. Denn neben der Tradition verlören auch eine kognitive Durch-
dringung und die Orientierung an dogmatischer Lehre an Relevanz. Reli-
gion würde vielmehr auf der Gefühlsebene gesucht und gelebt. Nach Eng-
lert entspräche daher auch die starke Rationalitätsorientierung der Religi-
onspädagogik nicht mehr den gegenwärtigen religiösen Bedarfen der Men-
schen. Er fordert somit die Religionspädagogik auf, verstärkt „die Pflege
dieser Traditionen, und zwar eben in Formen, die nicht nur den Verstand,

10 MENDL, Hans: Weltverantwortung. Politisch und global lernen im Religionsunterricht,


in: ÖRF 27/1 (2019), 57–72, 67.
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und Perspektiven 133

sondern auch das ‚Herz‘ ansprechen“11 in den Blick zu nehmen. Inwiefern


eine stärker gefühlsbezogene Religionspädagogik tragfähig ist und zu-
gleich ihre ideologiekritischen, emanzipatorischen Anliegen nicht verliert,
kann hier nicht weiter diskutiert werden.12 Exemplarisch wird jedoch deut-
lich, dass die historischen Anfragen nach dem Stellenwert von Tradition
für eine aktuelle kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik weiterhin
virulent sind, ohne dass die historischen Antwortversuche hier ausreichend
erscheinen. Andrea Lehner-Hartmann setzt sich in ihrem Beitrag entspre-
chend mit aktuellen Vorbehalten gegen einen kritisch-emanzipatorischen
Religionsunterricht auseinander, wonach heute ein
„traditionserschließender oder sogar werbender Religionsunterricht das Gebot
der Stunde [sei], der sich indes dadurch von früheren Modellen dieser Spezies
unterscheidet, dass er nach Durchlaufen jener Phasen der Kritik zurückgewonnen
wurde, also gewissermaßen eine ‚zweite Naivität‘ (Paul Ricoeur) der Tradition
gegenüber entwickelt.“13

4 Konfessionelle bzw. konfessorische Positionalität religiöser


Bildung

Religiöse Bildung in Schule zielt darauf, aus einer religiösen Binnenlogik


heraus urteils- und handlungsfähig zu sein und eine begründete Positionie-
rung in Hinblick auf Religionen zu erlangen. An anderen Lernorten zielt
diese darüber hinaus auf die Einführung und Vertiefung in den Glauben

11 ENGLERT, Rudolf: Was wird aus Religion. Beobachtungen, Analysen und Fallgeschich-
ten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern: Grünewald 2018, 161. Im Origi-
nal teils kursiv.
12 Die Frage nach Gefühl und Emotion wird derzeit auch in der politischen Bildung de-
battiert. Vgl. HÖLZEL, Tina / JUGEL, David: „Da kannst du Freunde verlieren!“ Politi-
sche Bildung, Emotionen und Bindung – Zur Aufklärung eines fachdidaktischen Irr-
tums, in: BESAND, Anja / OVERWIEN, Bernd / ZORN, Peter (Hg.): Politische Bildung mit
Gefühl, Bonn: bpb 2019, 246–266.
13 SCHRÖDER, Bernd: „1968“ und die Religionspädagogik – aus der Sicht eines Nach-
68ers, in: RICKERS, Folkert / SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädago-
gik, Neukirchen-Vluyn: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 351–377, 375.
134 Hinführung II

einer Religionsgemeinschaft. Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung


ist somit nicht nur in Hinblick auf Traditionen näher zu bestimmen, son-
dern auch in Hinblick auf Konfessionalität, auf Positionalität bezüglich ge-
nuin religiöser Wahrheitsansprüchen. In den historischen Debatten sind da-
bei insbesondere zwei Problemkonstellationen virulent: Zum einen wurde
mit Hubertus Halbfas die Frage aufgeworfen, ob Religionsunterricht an der
Religionswissenschaft als Leitdisziplin ausgerichtet werden solle, wohin-
gegen konfessionelle Bildung in den Gemeinden geschehe.14 Diese Debat-
ten sind auch in der Gegenwart nicht verstummt. Zum anderen entzündete
sich in den Debatten der 1968er vehemente Kritik insbesondere an der Se-
xualmoral der Katholischen Kirche, die der sexuellen Selbstbestimmung
der Subjekte widersprach. Derzeit sind es insbesondere kirchliche Positio-
nen zu Gender und demokratischer Mitbestimmung, die Anlass von Kritik
und Emanzipationsbestrebungen sind, wie besonders im Beitrag von Pirker
deutlich wird. Wie kann eine kritisch-emanzipatorische Religionspädago-
gik hierauf reagieren und trotzdem ihren konfessionellen Anspruch nicht
verlieren? Ist überhaupt eine kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung
möglich, die zugleich auf ein absolutes Wahrheits- und Wertefundament
einer Religionsgemeinschaft bezogen ist? Und umgekehrt: Auch eine kri-
tisch-politische Bildung gründet auf einem Werte- und Normenfundament,
das im Widerstreit sowohl zu den Einstellungen der lernenden Subjekte als
auch der religiösen Binnenlogiken stehen kann, wie dies exemplarisch am
Demokratieverständnis deutlich wird. Eine kritisch-emanzipatorische Re-
ligionspädagogik muss somit konzeptionell klären, inwiefern es bei der
Einnahme eines eigenen Standpunkts und bei eventuellen Konsequenzen
für den eigenen Lebensstil darum geht, „den Lernenden die Freiheit der
eigenen Entscheidung [zu] belassen – auch wenn das von einem verant-

14 Vgl. HALBFAS, Hubertus: Religionspädagogik und Katechetik. Ein Beitrag zur wissen-
schaftstheoretischen Klärung, in: KatBl 97 (1972), 331–343.
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und Perspektiven 135

wortungsethischen Standort mancher Lehrender aus häufig schwerfällt!“15


Dies stellt hohe Anforderungen an eine selbstkritische und -reflexive Posi-
tionalität von Lehrpersonen. Denn auch diese bleibt nicht „vor Anfragen
an ideologische Verstrickungen verschont.“16

5 Religiöser Eigen-Wert einer kritisch-emanzipatorischen


Religionspädagogik

Angesichts der aufgezeigten offenen Fragestellungen, stellt sich einer kri-


tisch-emanzipatorischen Religionspädagogik die grundlegende Frage nach
ihrem spezifischen religiösen Eigen-Wert.17 In den Debatten der Reform-
dekade lag dieser in enger Anlehnung an der Politischen Theologie in der
befreienden Botschaft des Evangeliums, in der ideologiekritischen Kraft
der Reich Gottes Botschaft und einer christlichen „Mystik der offenen Au-
gen“18. Ist diese Grundausrichtung der politischen Theologie noch heute in
der Lage, einen substantiellen, religionsspezifischen Beitrag in Bildungs-
prozesse einzuspeisen? Oder wirkt die Religionspädagogik am Projekt ei-
ner kritisch-politischen Bildung mit, ohne hierbei eigene Akzente zu set-
zen, die nicht auch in anderen Bildungsbereichen erworben werden könn-
ten? Lehner-Hartmann schlägt vor, sich am Gott der Bibel zu orientieren,
der sich „sowohl als deus revelatus als auch als deus absconditus erweist,
den zu suchen es sich lohnt, der aber nicht als eindeutig Fassbarer zu haben
ist.“19 Inwiefern aus der Offenbarung und Alterität Gottes konzeptionell

15 MENDL 2019 [Anm. 10], 71.


16 MENNE, Andreas / HERBST, Jan-Hendrik: Ideologiekritik im Religionsunterricht? Wie-
derbelebungsversuch eines religionsdidaktischen Lernprinzips, in: ÖRF 27/1 (2019),
89–105, 98.
17 Vgl. GÄRTNER, Claudia: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und
Grundlagen religiöser Bildung in der Schule, Paderborn: Schöningh 2015; GRÜMME /
SCHLAG 2019 [Anm. 6].
18 METZ, Johann Baptist: Mystik der offenen Augen, hg. v. Johann REIKERSTORFER, Frei-
burg im Breisgau: Herder 2011.
19 Beitrag von Andrea LEHNER-HARTMANN in diesem Band.
136 Hinführung II

eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik entworfen werden


kann, die Parteilichkeit und Optionalität einbringt und zugleich vor einer
Verabsolutierung des Gottesgedankens schützt (GRÜMME), wird auch an-
hand der folgenden Beiträge zu reflektieren sein. Entsprechend fragt Viera
Pirker: „Für mich besteht eine Grundfrage darin, welche Ausrichtung reli-
giös motiviertes politisches Handeln in der Gegenwart beinhaltet, und wo-
rauf hin Religionspädagogik begleiten kann.“20

6 Religiös-politischer Fundamentalismus und Populismus

Eben solche Verabsolutierungen finden sich gegenwärtig besonders in fun-


damentalistisch und populistisch geprägten Interpretationen der Weltreli-
gionen. Diese sind für eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik
eine Herausforderung, insofern sie oftmals in einem dezidiert gesell-
schafts- und religionskritischen Gewand einherkommen: vom hinduistisch
gefärbten Nationalismus in Indien, über evangelikal geprägtem Populis-
mus in Brasilien und den USA, bis hin zur Instrumentalisierung des christ-
lichen Abendlands von der Neuen Rechten in Deutschland – Religion ist
eine gewichtige Größe in politischem Fundamentalismus und Populismus.
Pirker fragt entsprechend, wie auf diese extremistischen Formen des Poli-
tischen in religiöser Bildung reagieren werden kann. Auf konzeptioneller
Ebene betont Lehner-Hartmann in ihrem Beitrag, dass in einer kritisch-
emanzipatorischen Religionspädagogik Kritik immer untrennbar mit
Emanzipation verbunden sei. „Sie stellt das Werkzeug dar, um Unfreiheit
analysieren und erkennen zu können, wovon es sich zu emanzipieren gilt.
Gleichzeitig bleibt sie ein wesentliches Element bei der Verwirklichung
von Emanzipationsbestrebungen.“21 Wie dieses Werkzeug näher hin aus-
gestattet sein muss, um die gegenwärtig wirkmächtigen populistischen und

20 Beitrag von Viera PIRKER in diesem Band.


21 Beitrag von Andrea LEHNER-HARTMANN in diesem Band.
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und Perspektiven 137

fundamentalistischen Instrumentalisierungen von Religion freizulegen,


gilt es weiter zu konkretisieren.

7 Compassion und Exposure

Die politische Theologie von Johann B. Metz hat nicht nur religionspäda-
gogische Reformdokumente wie den Synodenbeschluss zum Religionsun-
terricht auf der Würzburger Synode geprägt, sondern Metz war auch „der
mächtige Impulsgeber für eine theologische Fundierung des Compassion-
Projekts“22, in denen Schüler*innen Erfahrung mit Menschen sammeln
sollen, die von Leid und Hilfsbedürftigkeit, von sozialer Benachteiligung
und Ausgrenzung betroffen sind. Diese Erfahrungen sollen Triebfedern für
soziales und politisches Lernen werden. In ähnlicher Weise betrachtet
Norbert Mette in seinem Beitrag „Exposure“ als einen unverzichtbaren Be-
standteil religionspädagogischer Lehre und Forschung. Lernende sollten so
„mit einer Wirklichkeit in Kontakt kommen, die ihnen bislang nicht bekannt war
und aus der sie lernen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. So wichtig es für eine
Bildungsarbeit, die sich als emanzipatorisch versteht, auch ist, sie theoretisch zu
fundieren und bis in die didaktische Umsetzung hinein auszuarbeiten, so kann
das, was mit Emanzipation gemeint ist, letztlich nur in der Praxis gelernt wer-
den.“23

Hieran schließt der Beitrag von Simone Horstmann an und schlägt Expo-
sure-Erfahrungen auf Schlachthöfen, Tiertransporten, Versuchslaboren
und Tierfabriken vor, um die anthropologische Engführung einer kritisch-
emanzipatorischen Religionspädagogik zu sprengen. Eine so ausgerichtete
kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik steht somit in der religions-
pädagogischen Tradition von Compassion und Diakonischem Lernen, hat

22 KULD, Lothar: Art. Compassion, in: WiReLex 2016 [abgerufen am 16.09.2019]; vgl.
auch METZ, Johann Baptist / KULD, Lothar / WEISBROD, Adolf (Hg.): Compassion.
Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, Freiburg im Breisgau:
Herder 2000.
23 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
138 Hinführung II

sich jedoch auch mit dem Beutelsbacher Konsens und politikdidaktischen


Theorieofferten wie der kritischen politischen Bildung auseinanderzuset-
zen, wie es im III. Hauptteil noch näher zu entfalten ist. Inwiefern können
Exposure-Erfahrungen Schüler*innen überwältigen? Lassen Erfahrungen
von Leid und Ausgrenzung eine kontroverse und mehrperspektivische
Auseinandersetzung über Veränderungen unheilvoller Strukturen zu oder
individualisieren und moralisieren sie wahrgenommene Schicksale?
Emanzipation –
religionspädagogische Leitidee oder überholtes Ideal?

Andrea Lehner-Hartmann

Abstract: Welche Aktualität kommt dem emanzipatorischen Konzept innerhalb


der Religionspädagogik noch zu? Der Beitrag versucht die historischen Linien von
Kritik und Emanzipation aufzuspüren und das kritische, emanzipatorische Poten-
zial des Evangeliums positiv für die Religionspädagogik zu heben. So setzt er den
aktuellen Forderungen nach ‚Selbstoptimierung‘ eine Relecture des Emanzipati-
onskonzeptes entgegen, um neu entstehende Machtzwänge identifizieren zu kön-
nen und konturiert Kritik und Emanzipation als ständig neu zu entwerfendes Un-
terfangen, das als dynamisches Dauerprojekt nie abgeschlossen ist.

Wenn heute von Emanzipation die Rede ist, tauchen dazu reflexartig As-
soziationen zu Frauenemanzipation auf; erst in einem zweiten Schritt
kommt die Vielfalt anderer Emanzipationsbewegungen und -bestrebungen
in den Blick. In der Einschätzung des Projektes zeigen sich sehr unter-
schiedliche Sichtweisen: während die einen meinen, Emanzipation sei be-
reits formal erreicht und somit überholt, mahnen die anderen deren noch
ausstehende reale Einholung an, was sich an der Frauenemanzipation gut
zeigen lässt. Darüber hinaus zeigen sich in der Konnotierung des Begriffes
‚Emanzipation‘ starke Gegensätze. „Während er den einen zur positiven
Bezeichnung der Befreiung aus Fremdbestimmung dient, wird er von den
anderen zur höhnischen Etikettierung von Utopisten verwandt und als
bloße Leerformel ohne empirische, praktische Bedeutung hingestellt.“1

1 LEE, Koon-Ho: Heinrich Heine und die Frauenemanzipation, Stuttgart: Metzler 2005,
8–9.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_8
140 Andrea Lehner-Hartmann

Diese entgegenlaufenden Formen der Wahrnehmung und Verwendung


verweisen auf offene Fragen und Kritikpunkte, die es zu diskutieren gilt.
Dieser Auseinandersetzung hat sich auch die Religionspädagogik zu stel-
len. Zu fragen ist: Wer soll sich warum emanzipieren bzw. emanzipiert
werden? Welches Ziel wird damit verfolgt? Wer darf dieses bestimmen?
Wie lassen sich idealistische, fortschrittsoptimistische, manipulative Im-
plikationen aufdecken? Zu beachten sind die darin implizierten Fragen
nach der Sichtweise des Menschen, dem jeweiligen Rationalitäts- sowie
Freiheitsverständnis; für die Religionspädagogik selbst gilt es darüber hin-
aus das Verhältnis von Emanzipation, Tradition und kontextuellen Bezug
zu beachten.2

Mit SCHLAG / GRÜMME kann darauf verwiesen werden, dass der Emanzi-
pationsbegriff in Auseinandersetzung mit seiner Kritik neu gewonnen wer-
den muss. Dies nicht zuletzt deswegen, damit er nicht bestehende (Unter-
drückungs-) Verhältnisse und Wirkmechanismen reproduziert und sich
selbst karikiert, indem er indoktrinären Kräften in die Hände spielt.3

1 Kontextuelle Verortung

Wird heute von Emanzipation gesprochen, geschieht dies mit mehr oder
weniger expliziter Bezugnahme auf die Entwicklungen der 1960er- /
1970er-Jahre. Diese Zeit gibt auch für die religionspädagogischen Debat-
ten den Fokus ab.

2 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2017
[abgerufen am 17.06.2019].
3 Vgl. EBD.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 141

‚1968‘4 als wichtige Chiffre für breite Emanzipationsbestrebungen nährt


sich aus der marxistisch begründeten Idee der Gesellschaftsveränderung
durch Emanzipation. Ausschlaggebend dafür waren Fragen nach dem Um-
gang mit den Ereignissen des 2.Weltkriegs, die Prozesse gegen Kriegsver-
brecher, der Vietnamkrieg und die global-politischen revolutionären Ent-
wicklungen, die sich von China bis Lateinamerika abzeichneten. Befreien
wollte man sich von dem Uraltballast, dem „Muff von 1000 Jahren“5, der
in den autoritären Strukturen des Staates, gesellschaftlichen Institutionen
und in Religion und Kirche(n) gesehen wurde. Man wandte sich gegen eine
rigide Sexualmoral, gegen jegliche (klerikale) Autoritäten, kritisierte vor-
herrschende Konventionen und Verhaltensweisen, wollte die einge-
schränkten Bildungs- und Berufschancen, die stark von jeweiligen sozialen
Zugehörigkeiten bestimmt waren, nicht hinnehmen und entwickelte alter-
native Formen des Zusammenlebens. Das Ziel bestand in einer Demokra-
tisierung aller Lebensbereiche und wurde somit nicht mehr auf staatliche
Mitbestimmung eingegrenzt, sondern auf andere gesellschaftliche Berei-
che ausgedehnt.6 Angestrebt wurde eine radikale Gesellschaftsverände-
rung, die in bestimmten Segmenten zur Erreichung ihrer Ziele auch Gewalt
als legitimes Mittel zur Durchsetzung ansah.7

Die katholische Kirche – die noch dazu im Kreuzfeuer der Kritik stand –
konnte diesen Entwicklungen nichts Positives abgewinnen. Dies begründet

4 ‚1968‘ markiert dabei weniger ein Datum als eine Generationslagerung, die bestimmte
Praktiken und Erfahrungen charakterisieren. (vgl. NASSEHI, Armin: Gab es 1968? Eine
Spurensuche, Hamburg: kursbuch.edition 2018, 37).
5 FÜLBERTH, Georg: Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren, in: PÄTZOLD, Kurt / WEIS-
SBECKER, Manfred (Hg.): Schlagwörter und Schlachtrufe: aus zwei Jahrhunderten deut-
scher Geschichte, Leipzig: Militzke 2002, 88–91.
6 Ausführlicher: HUFER, Klaus-Peter: „Emanzipation“ – gesellschaftliche Veränderung
durch Erziehung? Revolution in der Erziehungswissenschaft, in: RICKERS, Folkert /
SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Neu-
kirchener Theologie 2010, 41–55.
7 Vgl. NASSEHI 2018 [Anm. 4], 79.
142 Andrea Lehner-Hartmann

sich einerseits aus ihrer antikommunistischen Haltung und andererseits aus


der Beharrung auf der (männlichen) Amtsautorität, auf der hierarchischen
Verfasstheit von Kirche und der starken Fokussierung auf (Sexual)Moral.
Aber auch innerhalb der Kirchenmauern regten sich bereits ab dem Beginn
des 20. Jahrhunderts durch die Erneuerungsbewegungen emanzipative
Strömungen, die dann im II. Vatikanischen Konzil in der Öffnung zur
Welt, einem neuen Kirchenverständnis und einer neuen Sichtweise im Um-
gang mit anderen Religionen ihren Niederschlag fanden. Diese reichten
aber nicht aus, um weltverändernde Impulse im Sinne einer Weiterent-
wicklung neuer kirchlicher Strukturen, eines neuen Amtsverständnisses,
eines enthierarchisierten Verständnisses von Laien und Amtsträgern und
einer Neuinterpretation des Evangeliums in den aufbrechenden Emanzipa-
tionskontext hinein auf breiter Basis anzustoßen.8 In bestimmten Segmen-
ten, wie den feministischen Bewegungen und Theologien, den ‚Dritte
Welt‘-Bewegungen und Befreiungstheologien, insbesondere jenen in La-
teinamerika, oder neueren politischen Theologien fand durchaus eine Sen-
sibilisierung für Macht- und Unterdrückungsverhältnisse statt, die auch
selbstkritisch innerhalb der Kirchenmauern thematisiert wurden. Trotz die-
ser Aufbrüche charakterisiert die nachkonziliare Zeit, dass angezeigte not-
wendige Veränderungsbemühungen aufgrund restaurativer Kräfte vielfach

8 Vielmehr wird bis heute um eine adäquate Interpretation der Texte des II. Vatikani-
schen Konzils gestritten. Vgl. dazu: HÜNERMANN, Peter: ... in mundo huius temporis ...
Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils im kulturellen Transformationspro-
zess der Gegenwart: Das Textkorpus des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ein konsti-
tutioneller Text des Glaubens, in: TÜCK, Jan-Heiner (Hg.): Erinnerung an die Zukunft:
das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg im Breisgau: Herder 22013, 40–62; SCHELKS-
HORN, Hans: Das Zweite Vatikanische Konzil als kirchlicher Diskurs über die Moderne.
Ein philosophischer Beitrag zur Frage nach der Hermeneutik des Konzils, in: TÜCK
22013 [Anm. 8], 63–93; TÜCK, Jan-Heiner: Die Verbindlichkeit des Konzils. Die Her-

meneutik der Reform als Interpretationsschlüssel, in: TÜCK 22013 [Anm. 8], 94–113;
EBD.: Postkonziliare Interpretationskonflikte. Nachtrag zur Debatte um die Verbind-
lichkeit des Konzils, in: TÜCK 22013 [Anm. 8], 114–126.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 143

ausblieben und nonkonforme Denker*innen9 mit unhinterfragter Amtsau-


torität gemaßregelt wurden. Damit wurde letztendlich die außerkirchliche
Kritik an Fremdbestimmung, Repressionen und autoritären Strukturen be-
stätigt. Die kritischen Anfragen, die seither außer- wie innerkirchlich und
-theologisch immer wieder eingebracht wurden, waren dennoch nicht zum
Verstummen zu bringen. Durch die jüngsten Aufdeckungen unterschiedli-
cher Gewaltvorkommen aufgrund von Machtmissbrauch erhalten die kri-
tischen Stimmen ein neues Gewicht, steht dabei doch nichts Geringeres als
der Verlust der Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.10

2 Emanzipierender (problemorientierter) Religionsunterricht: der


Versuch einer zeitgemäßen Antwort?

In der Schule stellte sich für den Religionsunterricht der 1970er-Jahre die
Lage durchaus brisant dar. Die Beliebtheitswerte waren katastrophal, die
kirchenkritischen Einwürfe konnten nicht länger ignoriert werden und die
bisherigen Konzepte taugten nicht mehr. Eine Neuorientierung erschien
mehr als notwendig. Die Diskussionen in der Religionspädagogik, die
letztendlich auch in der Konzeptionierung eines problemorientierten Reli-
gionsunterrichts mündeten, erfuhren aus den unterschiedlichen Bezugs-

9 In der Religionspädagogik traf es insbesondere Hubert HALBFAS, der in seiner Funda-


mentalkatechetik (vgl. HALBFAS, Hubertus: Fundamentalkatechetik. Sprache und Er-
fahrung im Religionsunterricht, Düsseldorf: Patmos Verlag 1968) dem kerygmatischen
Religionsunterricht den hermeneutisch orientierten gegenüberstellt und damit innerhalb
der katholischen Religionspädagogik eine große kontroversielle Debatte entfachte, die
zwar große Auswirkungen auf die Gestaltung des Religionsunterrichts zeigte, für HALB-
FAS aber im Entzug der Lehrerlaubnis endete. (vgl. METTE, Norbert: 1968 und die ka-
tholische Religionspädagogik, in: RICKERS / SCHRÖDER 2010 [Anm. 6], 311–322, 318–
319).
10 Vgl. aktuell dazu exemplarisch: STRIET, Magnus / WERDEN, Rita (Hg.): Unheilige The-
ologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester (=
Katholizismus im Umbruch, Bd. 9), Freiburg / Basel / Wien: Herder 2019; WAGNER,
Doris: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg Basel Wien: Herder
2019.
144 Andrea Lehner-Hartmann

kontexten neue Impulse: aus unterschiedlichen Sozialbewegungen, in de-


nen sich auch Kirchenmitglieder engagierten, wie z. B. der Frauen-, der
Friedens- und der Ökologiebewegung, aber auch dem solidarischen Ein-
satz für die Menschen in den Ländern des Globalen Südens. Nachdem ihr
Ziel in der Verwirklichung eines neuen, gerechteren Gesellschaftsmodells
bestand, wurden Fragen der Lebens- und Weltgestaltung ins Zentrum ge-
holt. Aus der Beschäftigung mit den bereits erwähnten kontextuellen The-
ologien, die sich in dieser Zeit etablierten, lernte man die Bibel neu zu deu-
ten, indem man sie sowohl in ihrem Entstehungskontext als auch in ihrer
Bedeutung für den heutigen Kontext zu lesen begann. Die politischen Im-
plikationen der Heilsbotschaft wurden damit als Anfragen an die bestehen-
den Herrschaftsverhältnisse eingebracht. Damit zeichnete sich eine An-
schlussfähigkeit an die gesellschaftlichen Entwicklungen ab.

Für den religionspädagogischen Diskurs war neben dem kirchlich-theolo-


gischen Kontext auch der pädagogische relevant, mit dem sich große Hoff-
nungen auf gesellschaftliche Veränderungen verbanden. Die Erfahrungen
von Unterdrückung, Fremdbestimmung und Ungerechtigkeiten, denen das
Individuum in seinen sozialen Kontexten auf unterschiedliche Weise aus-
gesetzt war, sollten durch eine Demokratisierung des Schulsystems besei-
tigt werden: einerseits durch eine neue Qualität in der Beziehung der Lehr-
personen zu den Schüler*innen ohne autoritäres Gehabe, durch neue Be-
urteilungsformen, durch eine partizipative Gestaltung des Schullebens etc.;
andererseits durch einen sozialen Ausgleich, um den geringen Anteil an
Arbeiter*innen-Kindern unter den Abiturient*innen und Student*innen zu
beseitigen.11

11 Vgl. HUFER, Klaus-Peter: Emanzipation: Gesellschaftliche Veränderung durch Erzie-


hung und politische Bildung – ein Rückblick auf eine nach wie vor aktuelle Leitidee,
in: LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas (Hg.): Kritische politische Bildung. Ein Hand-
buch, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010, 13–24, 16–17.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 145

Großen Einfluss übte dabei die kritische (Bildungs)Theorie12 aus, die die
Debatten zur Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu mündigen Bür-
ger*innen aufgreift und zunächst deren nicht eingeholte Versprechen kri-
tisiert. Angemahnt wird, dass Bildung selbst nicht von der Geschichte ge-
sellschaftlicher Herrschaft zu trennen ist und sowohl das Potenzial zur Ver-
änderung als auch zur Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse hat.13
Dieser dialektische Charakter ging in den 1970er-Jahren in der Euphorie
des Glaubens an eine lineare Einholbarkeit gesellschaftsverändernder
Maßnahmen im Emanzipationsdiskurs oftmals unter. 14 Vor dem Hinter-

12 Exemplarisch: ADORNO, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gesprä-
che mit Hellmut Becker 1959–1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp 262017; HENTIG,
Hartmut von: Systemzwang und Selbstbestimmung: über die Bedingungen der Gesamt-
schule in der Industriegesellschaft, Stuttgart: Klett, 1968; HEYDORN, Heinz-Joachim:
Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Frankfurt am Main: Europäische
Verl.-Anst. 1970; MOLLENHAUER, Klaus: Erziehung und Emanzipation: Polemische
Skizzen, Weinheim u. a.: Juventa, 71977.
‚Kritische Theorie‘ wurde in Abgrenzung von ‚traditioneller Theorie‘ konzipiert, der es
nicht um ein aufgeschichtetes Wissen ging, sondern um unverkürzte Rationalität, um
individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft und um das Glück aller
Individuen und damit verbunden die Ablehnung aller totalitären und autoritären Regime
sowie ausbeuterischer und repressiver Strukturen. (vgl. WEIß, Edgar: Grundlagen Kri-
tischer Theorie, in: LÖSCH / THIMMEL 22011 [Anm. 11], 77–88, 78).
13 PONGRATZ, Ludwig A. / BÜNGER, Carsten: Bildung, in: FAULSTICH-WIELAND, Han-
nelore / FAULSTICH, Peter (Hg.): Erziehungswissenschaft: ein Grundkurs, Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch 2008, 110–129, 123–124.
14 Pädagogischer Optimismus und die durchaus auch resignative Sichtweise der kritischen
Theorie Adornos standen in einer gewissen Spannung zueinander. (vgl. BEHRENDT,
Rainer: Die sozialen Voraussetzungen und der soziologische Kern der kritischen poli-
tischen Bildung, in: WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute
Kritische Politische Bildung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 35–43,
35). Bemerkenswert ist ebenfalls, dass in vielen Analysen kaum beachtet wurde, dass
die 1968er Bewegung de facto von einer bürgerlich beheimateten Studenten*innen-Be-
wegung dominiert war, die an den sogenannten Protestaktionen und Befreiungsbewe-
gungen anders teilnehmen und davon profitieren konnte – beispielsweise im Hinterfra-
gen professoraler Positionen und im Agieren gegen hierarchische Strukturen – als Al-
tersgenoss*innen, die aufgrund ihrer bereits beruflichen Verpflichtungen oder durch
ihre soziale Ausgangslage stärker fremdbestimmt waren. Ebenso wurde unterschätzt,
dass die Erleichterung des Zugangs zu schulischer Bildung, z. B. durch den Ausbau des
146 Andrea Lehner-Hartmann

grund der Erfahrungen des Dritten Reiches sieht ADORNO „die einzige
wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit darin […], dass die Erziehung
eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“15 Um Wider-
spruch oder Widerstand leisten zu können, bedarf es zunächst der kriti-
schen Beleuchtung der jeweiligen Lebensumstände und -verhältnisse, die
Ungerechtigkeiten und Freiheitseinschränkungen erkennbar machen. Dies
setzt die Entwicklung von Kritikfähigkeit voraus.

Kritik ist somit untrennbar mit Emanzipation verbunden. Sie stellt das
Werkzeug dar, um Unfreiheit analysieren und erkennen zu können, wovon
es sich zu emanzipieren gilt. Gleichzeitig bleibt sie ein wesentliches Ele-
ment bei der Verwirklichung von Emanzipationsbestrebungen. Die Ent-
wicklung von Kritikfähigkeit war und ist eine pädagogische Aufgabe,
durch die erst möglich wird, dass Individuen Unrechtsverhältnisse, Unter-
drückung und Unfreiheit erkennen können. Sie hat dabei das Risiko zu wa-
gen, dass sich Widerspruch und Widerstand auch gegen jene richtet, die
dazu erziehen wollen.

Unter religionspädagogischer Perspektive stellt(e) sich die Frage, wie sie


einerseits dem im Raum stehenden Vorwurf begegnen kann, dass Religion
(gemeint war in erster Linie die katholische Kirche) mit ihrer repressiven
Sexualmoral, festgelegten Offenbarungswahrheiten und kirchlich-autoritä-
ren Strukturen jeglichen Emanzipationsbestrebungen entgegenstehe und
wie sie andererseits das emanzipatorische Potenzial des Evangeliums frei-
legen kann. Im Hinblick auf den Religionsunterricht – aber auch auf die

öffentlichen Schulwesens, noch keine automatische soziale Durchmischung in den hö-


heren Schulen nach sich zog, sondern neben den finanziellen auch milieubedingte so-
ziale Ressourcen, wie (bürgerlich geprägte) Sprache, (nicht) vorhandene häusliche
Lernmöglichkeiten, Zugang zu kulturellen Veranstaltungen, (De) Motivation durch so-
ziales Umfeld, (Nicht) Anerkennung geistiger Tätigkeiten, Minder/Höherbewertung
handwerklicher Tätigkeiten etc. erhebliche Auswirkungen zeigten.
15 ADORNO 262017 [Anm. 12], 145.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 147

Jugendarbeit16 – zeigte sich, dass eine ausschließliche Orientierung an Ka-


techismus und Bibel nicht mehr ausreichte.17 Zielperspektive war weniger
die christlich-kirchliche Sozialisation, als die Ausbildung einer kritischen
Urteils- und Kommunikationsfähigkeit am Lernort Schule. „Damit einher
ging das Bestreben, den Glauben aus seiner Reduktion auf die Privatheit
und Innerlichkeit herauszuholen und ihn kritisch-politisch zu reformulie-
ren.“18 Der Fokus religiöser Lern- und Bildungsprozesse war auf die Le-
benswelt der Schüler*innen und die gesellschaftliche Realität gerichtet.19
Dieser Orientierungsfokus hat in der religionspädagogischen Literatur bis
heute Geltung, wenngleich die ideologiekritische Aufmerksamkeit für ge-
sellschaftliche Bedingungen in den letzten Jahrzehnten merklich ver-
blasste. Anzumerken ist, dass die Auseinandersetzungen mit den gesell-
schaftlichen Veränderungen innerhalb der Religionspädagogik nicht von
allen in gleicher Weise geteilt und vollzogen wurden.20

3 Oder doch nicht?

So betont Bernd SCHRÖDER, dass Kritik als Grundhaltung gegenüber Kir-


che und Religion gesellschaftlich ohnehin sehr präsent ist und für ihn daher
nicht mehr ein ideologie- und religionskritischer, sondern (erneut)
„ein traditionserschließender oder sogar werbender Religionsunterricht das Gebot
der Stunde [ist], der sich indes dadurch von früheren Modellen dieser Spezies
unterscheidet, dass er nach Durchlaufen jener Phasen der Kritik zurückgewonnen

16 Vgl. den Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.


17 Das neu entwickelte Konzept eines Problemorientierten Religionsunterrichts stellte Re-
ligionslehrer*innen vor große Herausforderungen, weil sie auf keine Modelle zurück-
greifen konnten und somit gezwungen waren, sich Materialien selber zu erarbeiten.
(vgl. LANGER, Wolfgang: Aus dem Glauben leben lernen Stichwort: Vermittlung, in:
LACHMANN, Rainer / RUPP, Hartmut F. (Hg.): Lebensweg und religiöse Erziehung. Re-
ligionspädagogik als Autobiographie; Bd. 2, Weinheim: Deutscher Studien Verlag
2000, 137–252, 244).
18 METTE 2010 [Anm. 9], 317.
19 HEGER, Johannes: Art. Ideologiekritik, in: WiReLex 2018 [abgerufen am 03.06.2019].
20 Vgl. ausführlicher: RICKERS / SCHRÖDER 2010 [Anm. 6].
148 Andrea Lehner-Hartmann

wurde, also gewissermaßen eine ‚zweite Naivität‘ (Paul Ricoeur) der Tradition
gegenüber entwickelt.“21

Diese Aussage, formuliert aus Sorge um den Verlust von Tradition, ist als
solche zu würdigen. Mit Blick auf gegenwärtige Entwicklungen wird be-
tont, dass es vorrangig um das Finden von Gewissheiten, um das Gestalten
der eigenen Lebensführung, das Gewinnen von Verbindlichkeiten und Tra-
dition geht. „Ging es der damaligen Religionspädagogik um kritische Ver-
unsicherung, so geht es heute um Gestalt suchende Vergewisserung.“22
Diese schemenhafte Gegenüberstellung von Tradition und Ideologiekritik
(als Kernelement von Emanzipation), kritischer Verunsicherung und Ver-
gewisserungssuche als ein scheinbar unvereinbares Gegenüber gilt es aber
zu hinterfragen. SCHRÖDERS Überlegungen verweisen auf die Notwendig-
keit zu klären, welche Bedeutung Emanzipation und Kritik im Kontext re-
ligiöser Bildung zukommen.

4 Emanzipation und Kritik: religionspädagogisch neu


entdeckt?

Die größte Kritik am Emanzipationsdiskurs (der 1970er-Jahre) richtet sich


gegen die fast uneingeschränkt angenommenen Verfügungs- und Selbst-
verfügungsmöglichkeiten des Menschen.23 Die damit verbundenen idealis-
tischen Annahmen von Emanzipation und ihre Ziele waren von einem
Fortschrittsoptimismus geprägt, der in der Realität nicht einholbar war und
ist. Emanzipation widerspricht sich selbst, wenn sie das Subjekt an seiner
idealistischen Ausformung scheitern lässt und Gefahr läuft, Menschen auf
ein bestimmtes idealistisches Verständnis und Ziel hin zu manipulieren.
Insbesondere in pädagogischen Kontexten mit dem ihnen inhärenten Gene-

21 SCHRÖDER, Bernd: „1968“ und die Religionspädagogik – aus der Sicht eines Nach-
68ers, in: RICKERS / SCHRÖDER 2010 [Anm. 6], 351–377, 375.
22 SCHRÖDER 2010 [Anm. 21], 377.
23 ZILLEßEN, Dietrich: Art. Emanzipation, in: Lexikon der Religionspädagogik Bd. 1
(2001), 394–401, 394.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 149

rationen- und Autoritätsgefälle kann Emanzipation in Indoktrination kip-


pen, wenn beispielsweise im Religionsunterricht die Autorität biblischer
und/oder theologischer Aussagen zur Untermauerung von Idealbildern be-
nutzt und somit ein bestimmtes Bild von Emanzipation als gottgewollt vor-
gestellt wird ohne dieses im Horizont eigener Erfahrungen oder aus der
Perspektive Mitbetroffener kritisch hinterfragen zu lassen. Im Kontext von
Theologie ist der Emanzipationsbegriff mit dem Traditionsbegriff in einem
wechselseitigen Begründungs- und Orientierungszusammenhang zu sehen.
„[Z]u diesem Fundierungszusammenhang gehört zugleich, rechtfertigungs- und
gnadentheologisch gesprochen, die vorlaufende Rückgründung auf Gottes erlö-
sende und befreiende Freiheit, die erst Emanzipation durch eine befreite Freiheit
in Geschichte und Gesellschaft theologisch verantwortbar sein lässt.“24

Gleichzeitig ist aber mit dem Erkennen der erlösenden und befreienden
Freiheit verbunden, dass eine Kritik, die von der christlichen Sache aus-
geht, auch auf die materiellen Bedingungen und Verflechtungen im sozia-
len und ökonomischen Bereich der Gesellschaft abzielen muss, um nicht
idealistisch abzuheben.25

Das jeweilige Emanzipationsverständnis steht in engem Zusammenhang


mit dem jeweiligen Vernunftverständnis. Ein metaphysisch ausgerichtetes
Vernunftverständnis stützt ein bereits angesprochenes idealistisches
Emanzipationsverständnis, das von einer Verfügungsrationalität ausgeht,
die als überhistorisch und unabhängig von Machtverhältnissen gedacht
wird.26 Hier gilt es, die Grenzen der Vernunft zu reflektieren und die hete-

24 GRÜMME / SCHLAG 2017 [Anm. 2].


25 LUTHER, Henning: Kritik als pädagogische Kategorie untersucht an H. J. Gamm: Kriti-
sche Schule und H. Stock: Religionsunterricht in der kritischen Schule, in: Praktische
Theologie 8 (1973), 3–16, 15.
26 Vgl. ausführlicher RIBOLITS, Erich: Das Ende der Emanzipation, in: CHRISTOF, Eveline
/ RIBOLITS, Erich (Hg.): Bildung und Emanzipation (= Schulheft, Bd. 152, Jg. 38), In-
nsbruck: Studien-Verl. 2013, 23–39, 25–26: Er konstatiert mit Verweis auf Lyotard,
dass Emanzipation mittlerweile nicht als Alternative zur Realität verstanden wird, son-
150 Andrea Lehner-Hartmann

rogenen Kontexte mit den darin wirksamen Machtverhältnissen wahrzu-


nehmen.27 Emanzipative Bestrebungen können selbst nochmals unter-
schiedliche Auswirkungen im Machtgefüge zeigen.28 Der damit verbunde-
nen Gefahr, dass der Emanzipationsbegriff zur Reproduktion bestehender
Verhältnisse und Wirkmechanismen beiträgt, ist nach GRÜMME und
SCHLAG nur in Auseinandersetzung mit seiner Kritik zu begegnen, die in
einer nachmetaphysischen Reformulierung, der Bewusstheit seiner Kon-
textualität und der kritischen Selbstreflexion seiner diskursiven Konstruk-
tionsmechanismen gesehen wird.29 Parallel, weil untrennbar verbunden, ist
der Kritikbegriff auf seine ihm eingeschriebenen Perspektiven, Ausklam-
merungen, Machtverstrickungen etc. zu befragen. Nach Judith BUTLER ist
im Anschluss an FOUCAULT „Kritik die Bewegung, in welcher das Subjekt

dern „letztendlich sogar zu einer besonders avancierten Form der Zementierung gege-
bener Herrschaftsbedingungen geworden [ist]“ (EBD., 26).
27 Dies charakterisiert auch die Zielrichtung der Kritischen Theorie. „Kritische Theorie
will nicht die Welt nach veränderten Prinzipien einrichten […] sondern die Ideologie
überwinden, dass sie nach Prinzipien einzurichten sei.“ (BRAUNSTEIN, Dirk: Zum Ma-
terialismus der Kritischen Theorie. Bemerkungen über ‚ein paar Thesen‘ Adornos, in:
JACOBSEN, Marc / LEHMANN, Dirk / RÖHRBEIN, Florian (Hg.): Kritische Theorie und
Emanzipation, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, 17–37, 26.
28 Emanzipation als Forderung war historisch gesehen nicht immer mit einer uneinge-
schränkten Gleichstellung verbunden. Sichtbar wird wie dies an der Emanzipation der
Juden oder der Frauen im 19. Jahrhundert. Der männliche, christliche Bürger blieb der
unhinterfragte Bezugspunkt. Mit Ribolits lässt sich denn auch sagen: „Emanzipation
gesellschaftlich Benachteiligter hat […] kaum je etwas anderes bedeutet, als die dem
bürgerlich-kapitalistischen System eingeschriebene Logik – jene Rationalität, die in
den durch Eigentum, Waren und Staat bestimmten Prämissen vorgegeben sei – endgül-
tig zur vollen Geltung bringen zu wollen. Der in unterschiedlichsten Varianten geführte
Kampf um politische Emanzipation war ein Kampf um Emanzipation innerhalb der
Bedingungen des gegebenen politisch-ökonomischen Status quo, kaum je einer um
Emanzipation von diesen“ (RIBOLITS 2013 [Anm. 26], 28–29).
29 GRÜMME / SCHLAG 2017 [Anm. 2].
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 151

sich das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu
befragen und die Macht auf diese Wahrheitsdiskurse hin.“30

Dem sind sowohl die religiöse(n) Tradition(en) als auch gesellschaftlichen


Entwicklungen zu unterziehen. Dabei geht es nicht um Kritik ihrer selbst
willen. Das Ziel besteht darin, wenigstens annähernd durchschauen zu ler-
nen, wo Manipulationen, Abhängigkeiten und Unfreiheiten lauern und ein
Bewusstsein für die Begrenztheit der jeweiligen Wahrnehmungsperspekti-
ven von Welt und Mensch zu entwickeln. In einer Zeit, in der geschlossene
religiöse Gruppierungen zunehmen bzw. der Wandel von Majoritäts- hin
zu Minoritätskonstellationen in der konfessionellen/religiösen Zusammen-
setzung von Institutionen und Gesellschaften Tendenzen zu identitärer
Selbstvergewisserung und Abschottung zeigen und rechtsextreme Ideolo-
gien wachsenden Zuspruch erfahren,31 ist eine Institutionen- wie eine Ide-
ologiekritik aktuell notwendiger denn je. Insbesondere der Blick auf jene,
die ausgeschlossen werden oder sich nicht lautstark artikulieren können,
erfordert dies.

5 Biblische Tradition und Emanzipation – zwei Seiten einer


Medaille?

Kinder und Jugendliche sind unbestreitbar verunsichernden Herausforde-


rungen ausgesetzt: Religiöse Traditionen haben hierbei etwas anzubieten.

30 FOUCAULT, Michel: Was ist Kritik? (übersetzt von Walter Seitter), Berlin: Merve 1992,
15, zitiert in: BUTLER, Judith: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/2 (2002), 249–265, 258.
31 Vgl. SCHELKSHORN, Hans: Allianzen zwischen Christentum und neorechten Parteien in
Europa: Vortrag zur 19. Severin-Akademie am 10. Jänner 2017 (Schriftenreihe des Fo-
rum St. Severin für Christliche Spiritualität, Bildung und Kunst, Bd. 47), Linz: Katho-
lischer Akademikerverband der Diözese Linz 2017; DERS.: Wider die Instrumentalisie-
rung des Christentums. Zur Unvereinbarkeit von neorechter Ideologie und christlicher
Moral, in: LESCH, Walter (Hg.): Christentum und Populismus: klare Fronten?, Freiburg:
Herder 2017, 26–37.
152 Andrea Lehner-Hartmann

Aufgabe der Religionspädagogik ist es, nicht nur werbend und traditions-
erschließend zu arbeiten, indem sie religionsdidaktisch vorsortiert und ent-
scheidet, welche Themen Relevanz beanspruchen, sondern, die Tradition
einem Relevanzcheck angesichts der individuellen, sozialen und politi-
schen Herausforderungen auszusetzen und die Adressat*innen – in Schule,
aber auch in außerschulischen Kontexten und der Erwachsenenbildung –
zu befähigen, dies vornehmen zu können.32 Die Sinnangebote aus der Tra-
dition sind also der kritischen Aneignung und Transformation der jungen
Menschen auszusetzen. Diese Form der Kritik darf die Religionspädagogik
den jungen Menschen nicht abnehmen, sondern sie muss sie dazu ermun-
tern. Die jungen Menschen werden sich in einer religiösen Tradition nur
verantwortungsbewusst verorten können, wenn sie durch ihr verunsichern-
des Fragen dazu beitragen dürfen, die Lebendigkeit von Traditionen auf-
recht zu erhalten. Und sie werden darin nur einen Platz für sich entdecken
können, wenn sie in ihren (An)Fragen, ihren Ausdrucksweisen, ihrer se-
lektiven Auswahl an Bewahrenswertem und ihrer Suche nach Antworten
ernst genommen werden. In einer Welt der subtilen und nicht immer leicht
zu durchschauenden Verführungen, in denen unterschiedliche Menschen-
und Gottesbilder angeboten werden, ist es notwendig, eine Haltung zur Un-
terscheidung der Geister zu entwickeln. Diese gilt es auch auf die biblische
und kirchliche Tradition anzulegen.

Insofern können Gewissheiten, die in dieser Auseinandersetzung gewon-


nen werden, niemals bedeuten, selbstgefällig auf Suchende und Zweifeln-

32 HERBST und MENNE zeigen in ihrem Beitrag in ÖRF 27/1 (2019) anhand des Framing-
Konzepts auf, wie eine Wahrnehmungsschulung erfolgen kann, die Schüler*innen un-
terschiedliche Perspektiven von Weltwahrnehmung erkennen lässt ohne dabei einer he-
gemonialen Vereinnahmung durch die Lehrperson vorschnell zu erliegen. Sie stellen
damit im Kontext einer politischen Religionspädagogik Ideologiekritik als religionsdi-
daktisches Lernprinzip vor (vgl. HERBST, Jan-Hendrik / MENNE, Andreas: Ideologiekri-
tik im Religionsunterricht? Wiederbelebungsversuch eines religionsdidaktischen Lern-
prinzips, in: ÖRF 27/1 (2019), 89–105).
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 153

de herabzublicken und „sich gegen die Welt [zu] immunisieren“33. Aus ei-
nem christlichen Gottesverständnis heraus gilt es zweierlei stark zu ma-
chen: gegen ein vereinnahmendes Gottesverständnis ist darauf zu verwei-
sen, dass Gott sich sowohl als deus revelatus als auch als deus absconditus
erweist, den zu suchen es sich lohnt, der aber nicht als eindeutig Fassbarer
zu haben ist. Und gegenüber den ausgrenzenden Tendenzen gilt es die bib-
lische Sichtweise Gottes einzubringen, der sich der Ausgeschlossenen und
Marginalisierten bevorzugt annimmt und der sich von ihnen in ihren erleb-
ten Ungerechtigkeiten anfragen lässt. Und dies wird nicht zuletzt an der
Autorität Jesu deutlich, dessen Gotteserfahrungen sehr oft einer Bewäh-
rungsprobe ausgesetzt werden und im Kreuzestod seine stärkste Heraus-
forderung erfahren. Diese Erfahrungen werden durch das Ereignis der Auf-
erstehung nicht bedeutungslos, sondern höchstens in eine Hoffnung trans-
formiert, die sinnlosem Leid nicht das letzte Wort gibt. Entgegen einer
Ausblendung der Erfahrung von Leid und Sinnlosigkeit warnt METZ denn
auch: „Wer […] die theologische Rede von der Auferstehung des Christen
so hört, dass in ihr der Schrei des Gekreuzigten unhörbar geworden ist, der
hört nicht Theologie, sondern Mythologie, nicht das Evangelium, sondern
einen Siegermythos.“34 Verkaufen wir den jungen Menschen – in bester
Absicht natürlich – einen „Siegermythos“, dann bleiben ihre Sinnlosig-
keitserfahrungen im Hintergrund. Liest man den Tod Jesu aber „als eine
bleibende Mahnung gegen sinnloses Leid und als bleibende Mahnung zur

33 ZILLEßEN, Dietrich: Raumbeschreitungen. Wie Didaktik der Religion bei Sinnen ist, in:
KLIE, Thomas / LEONHARD, Silke (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer Perfor-
mativen Religionspädagogik, Leipzig: EVA 2003, 67–91, 77.
34 METZ, Johann Baptist: Theodizee-empfindliche Gottesrede, in: METZ, Johann Baptist
(Hg.): „Landschaft aus Schreien“. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz: Matthias-
Grünewald 1995, 81–102, 84.
154 Andrea Lehner-Hartmann

Veränderung von Unrechtsverhältnissen“35, ruft dies Kritik und die Frage


nach Emanzipation auf.36

Mit Blick auf die bliblische Botschaft sind in einem ersten Schritt die Un-
sicherheiten, Verunsicherungen, Infragestellungen, Krisen etc. von Kin-
dern und Jugendlichen zu identifizieren, in einem zweiten Schritt ist zu
überlegen, wie die Adressat*innen sicher bzw. sichernd im Umgang damit
begleitet werden können. Tragfähige Beziehungen werden dazu ausschlag-
gebender sein als normativ vorgegebene Lebensmodelle und Sichtweisen,
die keine Garantie für die Lebensrelevanz der jeweiligen Adressat*innen
abgeben können. Die herausfordernde Beziehungsarbeit besteht darin,
Kinder und Jugendliche zu ihren – auch verunsichernden – existenziellen
Fragen zu führen, damit sie sich trauen, sich diesen zu stellen und von
möglichen Ängsten, Nöten oder Demütigungserfahrungen nicht paralysie-
ren zu lassen. Dies bedeutet auch, sie darin zu bestärken, dass gewonnene

35
LEHNER-HARTMANN, Andrea: Wider das Schweigen und Vergessen. Gewalt in der Fa-
milie, Innsbruck: Tyrolia 2002, 225.
36 Siegfried VIERZIG problematisiert in den 1970er-Jahren das Vorherrschen eines inner-
lichen Befreiungsdenkens im NT, das neuplatonistisch der Befreiung des Bewusstseins
den Vorzug vor einer gesellschaftlich-politischen Befreiung gibt, wodurch es zu einer
Trennung zwischen innerer und äußerer Emanzipation, Glaubensfreiheit und politischer
Freiheit gekommen ist. „Diese idealistischen Eierschalen wird das Christentum heute
überwinden müssen. Seine Aufgabe ist, die Emanzipation des Bewusstseins durch die
Verkündigung der Freiheit vom Gesetz zu betreiben und in gleicher Weise für die po-
litische Emanzipation einzutreten.“ (VIERZIG, Siegfried: Christentum und Emanzipa-
tion, in: OFFELE, Wolfgang (Hg.): Emanzipation und Religionspädagogik (= Unterwei-
sen und Verkünden 20), Zürich: Benzinger 1972, 39–47, 42–43.) Die Gefahr, die VIER-
ZIG in der Fokussierung auf die innere Freiheit ausmacht, ist, dass dadurch die Gefahr
nicht gebannt ist, dass im Handeln dennoch ein System der Unfreiheit installiert wird –
wie dies in der Bindung des Menschen an amtshierarchische Entscheidungen der Fall
war. Eine Kollaboration der Amtshierarchie mit den Mächtigen dieser Welt zeigte eine
große Wirkweise auf die Wahrnehmung des Evangeliums; stand doch irgendwann nicht
mehr der Gekreuzigte, sondern der Weltenherrscher im Fokus. (EBD., 43) Komplemen-
tär dazu wurde ein Marienbild geformt, das nicht den Sturz der Mächtigen vom Thron
verkündet, sondern Frauen ein Vorbild als reine, demütige Magd abgeben sollte. Wer
sich diesen autoritären Vorgaben nicht beugt, wird gemaßregelt oder gar verfolgt.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 155

Einsichten und Überzeugungen nicht zu besitzen sind, sondern in Ausei-


nandersetzung mit der Welt immer wieder neu gewonnen, sowie Gott bzw.
die Spuren Gottes in dieser Welt immer wieder neu entdeckt werden müs-
sen. In diesem Sinne wird ein Traditionsbezug seine bewahrenden – in Ab-
grenzung zu konservierenden – Kräfte entfalten können, bei dem die Ad-
ressat*innen verändernde Beteiligte sind. Die biblische Botschaft mit ihrer
unverrückbaren Parteinahme für die Schwachen und Ausgestoßenen bleibt
dabei eine nicht zu hintergehbare Autorität für religionspädagogisches
Handeln, die den Einzelnen nicht nur in seiner unverhandelbaren Würde
anerkennt, sondern ihn in sozialer und politischer Verantwortung verankert
und darin ihr emanzipatorisches Potenzial hat.37

Selbst erlebte oder beobachtete Ungerechtigkeit kann dabei das Bedürfnis


wecken, für sich und/oder andere etwas verändern zu wollen, sich von ein-
engenden Zuschreibungen, Verhältnissen, Bedingungen befreien zu sollen
und zu wollen und in der biblischen Botschaft eine Ermutigung dazu zu
sehen. Die biblische Botschaft kann somit als politische gelesen werden,
weil sie dazu führt, die Welt neu und anders zu sehen. Das bringt zunächst
Unruhe in das gewohnte Leben, weil damit auch Fragen der Neuverteilung
von Macht und Herrschaft einhergehen.

Emanzipatorische Bildungsbemühungen zielen darauf ab, Menschen zu er-


mächtigen, Dinge und Zusammenhänge, die bisher unhinterfragt blieben,
neu zu entdecken und sich aus den damit verbundenen Zwängen und Best-
immungen zu befreien.38 Im Hinblick auf Schule und Unterricht kann da-

37 Emanzipationsbestrebungen werden oft als Gefährdung von Traditionen im Sinne von


Gewohnheiten, Bräuchen etc. angesehen. Dies verunsichert, gefährdet bequeme Routi-
nen und könnte zu Änderungen nötigen. Emanzipationsbestrebungen richten sich aber
nicht gegen Traditionen per se, sondern gegen die in ihnen eingeschriebenen Ungerech-
tigkeiten oder Herrschaftspraktiken. Und dann sind sie es wert, verändert zu werden.
38 Emanzipationsbestrebungen richten sich nicht automatisch gegen Traditionen; sie de-
cken aber auf, wo Traditionen die freie Entfaltung des Menschen beeinträchtigen oder
156 Andrea Lehner-Hartmann

raus folgen, dass emanzipatorisches Bildungsbemühen nicht immer mit ei-


nem angenehmen Unterrichtsklima oder leichteren Unterrichtsbedingun-
gen kompatibel ist. Eingespielte Routinen, Selbstverständlichkeiten und
Vertrautes zu verlieren, aufgeben zu müssen, verunsichert. Widerstand und
Abwehr sowie die Sehnsucht nach Harmonie können die Reaktionen
sein.39 Ein evangeliumsorientierter Unterricht hat der Versuchung des Ab-
gleitens in reine Wohlfühlrhetorik und -atmosphäre zu widerstehen, um
sein inhaltliches Spezifikum einspielen zu können, das GRÜMME darin
sieht, „den ‚Sinn für das, was fehlt und ‚anders sein könnte’‘ in der Schule
offen [zu halten]“. Der Religionsunterricht
„wirkt sich auch normativ in dessen formaler Anlage als Sprachschule der Frei-
heit und einem Bildungsverständnis aus, das keinen verloren gibt. Dies wirkt sich
im unterrichtlichen Umgang miteinander aus, nimmt ideologiekritisch institutio-
nelle Zwänge und überbordende Leistungserwartungen in der Schule in den Blick
und liefert über den Unterricht hinaus einen Beitrag dazu, die Schule als Lebens-
haus für alle bewohnbar zu machen. Gleichwohl weiß dieser Religionsunterricht
um die ‚Begrenztheit des schulischen Wirkungsraumes und die Bedeutung nicht-
schulischer Bildungsinstitutionen‘ aufgrund der strukturellen Eigenarten und
zeitlichen Begrenztheit schulischen Lernens.“40

6 Selbstoptimierung statt Emanzipation?

Den institutionellen Blick mit Bezugnahme auf wirksame Zwänge zu


schärfen scheint angesichts der Anforderungen an das moderne Subjekt
notwendiger denn je. So kleiden sich die modernen Zwänge des autonomen
Subjekts in die Forderung nach Selbstoptimierung, die das optische Er-

behindern. Die größte Religionskritik entspringt somit der Beschäftigung mit religiöser
Tradition innerhalb einer Religionsgemeinschaft und weniger der Kritik von außen.
39 LEHNER-HARTMANN, Andrea: Dem Widerständigen Raum geben. (Religiöses) Lernen
jenseits gesellschaftlicher Einpassung, in: KROBATH, Thomas / LEHNER-HARTMANN,
Andrea / POLAK, Regina (Hg.): Anerkennung in religiösen Bildungsprozessen: Inter-
disziplinäre Perspektiven, Göttingen: V&R Unipress 2013, 165–176.
40 GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht im public turn: Ein politisch dimensionierter
Religionsunterricht auf der Suche nach einem angemessenen Öffentlichkeitsbegriff, in:
ÖRF 27/1 (2019), 10–27, 21–22.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 157

scheinungsbild, insbesondere in den social media, genauso umfasst wie


den beruflichen Erfolg. Der Einzelne wird zum „Unternehmer seiner
selbst“41 und die Autonomie der Subjekte konstituiert sich als erwartete
und soziale Selbstdisziplinierung.42 Es mutet irritierend an, dass das in
Emanzipationsprozessen befreite Subjekt Zwängen unterworfen wird, die
es sich selbst auferlegt. Während die Analysen FOUCAULTS zutage brin-
gen, dass das neuzeitliche Subjekt den Anforderungen einer Disziplinarge-
sellschaft genügen muss, an das von außen normierende Erwartungen und
Sanktionen herangetragen und die in erster Linie über den Körper ausge-
tragen werden43, ist das neoliberale Leistungssubjekt einer subtileren Form
der Machteinwirkung ausgesetzt, die über die Psyche ausgetragen wird.
Das Individuum selbst wirkt auf sich ein und zwar dermaßen, „dass es den
Herrschaftszusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit inter-
pretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Ausbeutung
fallen hier in eins.“44 Nach HAN ist darin das Paradox erkennbar, dass das
Ich sich als immer wieder neu entwerfendes Projekt, das sich von äußeren
Zwängen befreit sieht, nun inneren Zwängen in Form von Leistungs- und
Optimierungszwang unterwirft – und dies unter den Vorzeichen von Frei-
heit.45 „Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das diszi-

41 FOUCAULT, Michel: Geschichte der Gouvernementalität 2: Die Geburt der Biopolitik:


Vorlesung am Collège de France, 1978–1979 (herausgegeben von Michel Sennelart,
übersetzt von Jürgen Schröder), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 314.
42 Vgl. BÜNGER, Carsten: Bildung und Emanzipation? Perspektiven nach dem Ende ihres
selbstverständlichen Zusammenhangs, in: CHRISTOF / RIBOLITS 2013 [Anm. 25], 7–22,
13.
43 Vgl. ausführlich das Kapitel zu ‚Disziplin‘ bei FOUCAULT, Michel: Überwachen und
Strafen: die Geburt des Gefängnisses (übersetzt von Walter Seitter), Frankfurt am Main:
Suhrkamp 162016, 173–294.
44 HAN, Byung-Chul: Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken,
Frankfurt am Main.: Fischer 22016, 42.
45 Nach ihm besteht die heutige Krise der Freiheit darin, „dass wir es mit einer Macht-
technik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert oder unterdrückt, sondern sie aus-
beutet. […] Sie smarte Macht mit freiheitlichem, freundlichem Aussehen, die anregt
158 Andrea Lehner-Hartmann

plinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine
Grenze. Das Kann hat dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der
vom Können ausgeht.“46 Darin besteht die besonders subtile Form des Ne-
oliberalismus, die Freiheit selbst auszubeuten.

Die Verinnerlichung der Formen der Selbstoptimierung macht es für den


Einzelnen schwierig, diese Form der Unterdrückung überhaupt erkennen
zu können. Als besonders wirksam erweist sich dabei der subtile Zugriff
auf die Person über den Bereich der Emotionen, um ihre Handlungen auf
präreflexiver Ebene zu beeinflussen und erfolgreich steuern zu können47 –
durchaus mit fatalen Folgen.
„Das neoliberale Regime verwandelt die Fremdausbeutung in die Selbstausbeu-
tung, von der alle ‚Klassen‘ betroffen sind. […] Und aufgrund der Vereinzelung
des sich selbst ausbeutenden Leistungssubjekts formiert sich kein politisches Wir,
das zu einem gemeinsamen Handeln fähig wäre.“48

Die Verwiesenheit auf sich selbst lässt den Gedanken nach Befreiung so-
wie Emanzipationsbestrebungen kaum aufkommen. Scheitern bleibt eben-
falls in der eigenen Verantwortung und ist als ungenügende Anstrengung
oder schwacher Wille zu interpretieren. Gesellschaftliche Bedingungen
bleiben ausgeblendet. Nach HAN besteht darin die besondere Intelligenz
des neoliberalen Regimes. Eine Solidarisierung der Ausgebeuteten wird
damit verunmöglicht. In Folge richtet sich die Aggression vielmehr gegen
sich selbst. „Diese Autoaggressivität macht den Ausgebeuteten nicht zum
Revolutionär, sondern zum Depressiven.“49 Als solcher ist er ein willfäh-
riger Zeitgenosse, der gut manipulierbar ist. Die neueren politischen Ent-
wicklungen insbesondere in bisher demokratisch organisierten Staaten le-

und verführt, ist wirksamer als jene Macht, die anordnet, androht und verordnet.“ (EBD.,
27).
46 EBD., 10.
47 EBD., 64–67.
48 EBD., 15.
49 EBD., 16.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 159

gen ein beunruhigendes Zeugnis davon ab. Der Bürger wird in politischen
Dingen zu einem Konsumenten ohne wirkliches Interesse an der aktiven
Gestaltung der Gemeinschaft. „Er reagiert nur passiv auf die Politik, in-
dem er nörgelt, sich beschwert […]“.50 Dieser Logik folgen auch Politik
und Politiker*innen, die zu Lieferanten werden, die ihre Wähler*innen zu-
friedenstellen müssen.51 Partizipation erfolgt nur mehr in Form von Be-
schwerde und Reklamation in der von HAN so benannten „Zuschauerde-
mokratie“52. Digitalisierung scheint diese Haltung auf allen Ebenen zu ver-
stärken. Neben jenen, die es sich mehr oder weniger gut darin eingerichtet
bzw. resigniert haben, gibt es immer wieder auch kritische Stimmen, die
sich damit nicht zufriedengeben wollen und die sich insbesondere in der
jungen Generation artikulieren.

7 Krisen, Krisen, nichts als Krisen?

Aktuell finden sich Jugendliche in einer Welt vor, in der Selbstinszenie-


rung und -optimierung Leitbegriffe abgeben und die Verantwortung ihnen
selbst auferlegen. Daneben sehen sie sich – obwohl sie in den westlichen
Staaten am wirtschaftlichen Erfolg partizipieren – einer ständigen Krisen-
rhetorik ausgesetzt, die ihre Lebensperspektiven massiv einzuschränken
scheint: Bankenkrise, Wirtschaftskrise, Umweltkrise, Flüchtlingskrise,
Klimakrise, Bildungskrise bis hin zur Identitätskrise, die ihnen selbst – in
Anklängen durchaus auch als Vorwurf – attestiert wird. Krisen gab es zwar
in den vorangegangenen Jahrzehnten auch, aber durch den vorherrschen-
den Fortschrittsoptimismus erschienen diese durch geeignete Maßnahmen
in den Griff zu kriegen sein. Technik- und Fortschrittsgläubigkeit verhin-

50 EBD., 21.
51 Das Einfordern von Transparenz in der Politik stellt nach HAN keine politische Forde-
rung dar, weil nicht die Transparenz für politische Entscheidungsprozesse gefordert
wird, sondern das Ziel vielmehr darin besteht, Politiker*innen zu entblößen, zu demas-
kieren und zu skandalisieren.
52 EBD., 21.
160 Andrea Lehner-Hartmann

derten aber gleichzeitig, dass notwendige Maßnahmen tatsächlich ergriffen


wurden. So verhallten auch die Analysen und Handlungsvorschläge eines
Club of Rome ungehört.53

Heute werden junge Menschen damit konfrontiert, dass die Wachstums-


spirale ihr Ende erreicht hat und der in Katastrophenrhetorik gekleidete
Krisendiskurs zeichnet für ihre Zukunft ein Bild von Verzicht und Verlust.
Jene, die in bildungsaffinen und existenziell gut abgesicherten Verhältnis-
sen aufwachsen, mag dies wenig(er) erschüttern. Manche widersetzen sich
auch bewusst der linearen Fortschrittsgläubigkeit; Karriere, Status treten
zugunsten von geregelten Arbeitszeiten, Freizeit und Genuss in den Hin-
tergrund. Freundschaften, sinnvolle Tätigkeiten in der Freizeit sind wich-
tiger als der nächste Karrieresprung54, der Überstunden, Mobilität und Fle-
xibilität in der Arbeit und im Privatleben abverlangt. Damit verweigern
sich diese jungen Menschen den Zentralkonzepten eines neoliberalen Cre-
dos, was ihre Elterngeneration durchaus irritieren kann. Jugendliche, die in
prekären Verhältnissen aufwachsen, blicken aber oft sehr pessimistisch in
die Zukunft.55 Sie haben die nicht unbegründete Angst, keinen geeigneten
Arbeitsplatz zu finden und somit die Basis für ein Leben mit Partner*in
und Familie, die ihnen Orientierung und Sicherheit geben könnte, zu ver-
lieren. Krisenrhetorik gepaart mit Existenzängsten lähmt die Motivation
und die Möglichkeit zur Gesellschaftsgestaltung und somit die Entwick-
lung der jungen Menschen. Gepaart mit dem neoliberalen Credo der

53 Vgl. MEADOWS, Dennis L.: Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome
zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Dt. Verl.-Anst. 1972.
54 Vgl. CALMBACH, Marc u. a.: Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugend-
lichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden: Springer VS 2016,
463: Anzumerken dazu ist, dass dies insbesondere in der Gruppe der experimentalisti-
schen Hedonisten (EBD., 119–122) erfolgt, die ein animierendes soziales Umfeld auf-
weisen und selten von existenziellen Sorgen wie die Prekären geplagt werden.
55 EBD., 462.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 161

Selbstoptimierung bleibt nach unrealistischen Erwartungen und Sehnsüch-


ten oftmals nur Selbstzweifel bis hin zu Selbstaufgabe.56

Eine politische Wende im Krisendiskurs lässt sich aktuell an der ‚Fridays


for Future‘-Bewegung beobachten. In der Person Greta THUNBERGS macht
sich ein neuer Umgang mit Krisen fest. Bereits mit 15 Jahren hielt sie den
Mächtigen dieser Welt einen Spiegel vors Gesicht und spielte ihnen die
Verantwortung für die Krise zurück. So lässt sich in der ‚Fridays for Fu-
ture‘-Bewegung das Erstarken einer emanzipierenden Haltung gegenüber
lähmenden Wirkungen und den verursachenden Generationen ausmachen.
Und dies nicht in erster Linie in einem generationalen Abgrenzungsverhal-
ten, sondern in einem offenen Zugehen auf die Klimakrise, gelebter Ver-
haltensänderung bei gleichzeitigem In-die-Verantwortungnahme der vo-
rangegangenen Generationen. Nicht das Zuschreiben von Schuld und so-
mit die Vergehen in der Vergangenheit stehen im Zentrum – auch wenn sie
unverhohlen benannt werden –, sondern die klare Aufforderung für längst
fällige konkrete Handlungen. Ob es sich hier um ein neues, tragfähiges ge-
nerationenübergreifendes Narrativ handelt, wird die Zukunft zeigen. Ein
starkes, international umspannendes Zeichen junger Menschen ist es je-
denfalls. Noch lässt sich nicht abschätzen, ob das Engagement gegen den
Klimawandel eine Alternative sein kann zu vorherrschenden negativen
Narrativen, die sich beispielsweise gegen Geflüchtete, Migrant*innen,
Muslime etc. richten und somit eine willkommene Projektionsfläche für
eigenes Scheitern oder verwirkte Lebenschancen abgeben. Abhängen wird
es davon, ob es gelingt, auch jene aus prekären Verhältnissen mitzunehmen

56 Wie Dörthe VIEREGGE aufzeigt, könnte Religion(szugehörigkeit) für Jugendliche in


prekären Verhältnissen einen Ort bieten, an dem sie Statuszugewinn erfahren – voraus-
gesetzt, dass sie einen Platz der Zugehörigkeit erhalten und sich nicht als fremd erfah-
ren. (vgl. VIEREGGE, Dörthe: Religiosität in der Lebenswelt sozial benachteiligter Ju-
gendlicher: eine empirische Studie (Religious diversity and education in Europe; Bd.
26), Münster [u.a]: Waxmann 2013).
162 Andrea Lehner-Hartmann

und die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Krisen und Un-


terdrückungsverhältnissen einsichtig zu machen, um damit den Zwängen
der Selbstoptimierung politische Alternativen entgegenzusetzen. Damit
wäre dem Emanzipationsgedanken eine neue Zielrichtung gegeben.

Aufgabe der Religionspädagogik wird es sein, diese Entwicklungen nicht


nur zu beobachten, sondern die jungen Menschen durch ihre Hoffnungen
und den zu erwartenden Frust aktiv zu begleiten und ihnen Kritik und
Emanzipation nicht als Instrumente oder Visionen für eine endgültig zu
erreichende Weltverbesserung anzubieten, sondern als ständig neu zu kon-
zipierendes Unterfangen vor Augen zu stellen, das Schwachstellen, Unge-
rechtigkeiten, Lebensbedrohungen offen legt und Befreiung als dynami-
sches Dauerprojekt vorstellt.

Autorinnenangaben: Dr.in Andrea Lehner-Hartmann, Professorin für Religionspä-


dagogik und Katechetik am Institut für Praktische Theologie und am Zentrum für
Lehrer*innenbildung der Universtität Wien. Sie ist derzeit stellvertretende Leite-
rin des Zentrums für Lehrer*innenbildung sowie des Instituts für Praktische The-
ologie.
Emanzipation (und Kritik) in der
Religionspädagogik – Herausforderungen, Potenziale,
Perspektiven

Norbert Mette

Abstract: ‚Emanzipation‘ und ‚Kritik‘ avancierten am Ende der 1960er- und am


Anfang der 1970er-Jahre zu zentralen Begriffen der Religionspädagogik. Die Kri-
tik zielte auf eine religiöse Sozialisation und Erziehung, die die Betroffenen in
Abhängigkeit von unbefragten tradierten Normen und Autoritäten gefangen hielt.
Sich davon zu befreien und mündig zu werden, wurde als Ziel religionspädagogi-
scher Theorie und Praxis ausgegeben. Im Beitrag wird anhand von religionspäda-
gogischen Handbüchern und Lexika der Frage nachgegangen, wie sich von damals
bis heute das Verständnis insbesondere von ‚Emanzipation‘ verändert hat. Die
bleibende Herausforderung der Rede von ‚Emanzipation‘ und ‚Kritik‘ für die Re-
ligionspädagogik wird abschließend thesenartig umrissen.

1 Zeitgeschichtliche Einführung

Im Beitrag „Religionsunterricht“ von Gert Otto in dem von ihm 1970 her-
ausgegebenen „Praktisch-theologischen Handbuch“ heißt es mit Blick auf
die neu sich stellenden Herausforderungen für dieses Fach, dass das Reli-
gionsverständnis aus seiner individualistischen Engführung befreit und im
Zusammenhang mit Sozialisation und Emanzipation reflektiert werden
müsse. „Logischerweise“, so hat er hinzugefügt, „impliziert die religiöse
Fragestellung dann im Ansatz Religionskritik.“1 Bündig findet sich in die-
sem Hinweis der Zusammenhang von Emanzipation und Kritik ausge-
drückt. „Emanzipation“ war in der damaligen Zeit des tiefgreifenden kul-
turellen Umbruchs zu einem der Leitbegriffe geworden. Zu emanzipieren

1 OTTO, Gert: Religionsunterricht, in: DERS. (Hg.): Praktisch-theologisches Handbuch,


Hamburg: Furche 1970, 404–424, 417.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_9
164 Norbert Mette

galt es sich von der Elterngeneration, die beschuldigt wurde, ihre Mittäter-
schaft bzw. ihr Mitläufertum an dem diktatorischen Nazi-Regime und sei-
nen Gräueltaten nicht aufgearbeitet zu haben, von den überkommenen
Werten und Normen, gerade im Sexualbereich, von dem Untertanengeist,
zu dem der Staat und die gesellschaftlichen Institutionen einschließlich
Schulen und Universitäten anhielten. Man fühlte sich solidarisch mit den
unterdrückten Völkern in aller Welt und ihrem Kampf um Befreiung aus
der Kolonialherrschaft. Etwas später schloss sich dem der Kampf der
Frauen um ihre Emanzipation aus der Vorherrschaft und Unterdrückung
der Männer an. Verbunden war das mit einer durch intensive Aufklärungs-
arbeit fundierte Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und den sie le-
gitimierenden Ideologien. Ein Feld, das davon betroffen war, war die Re-
ligion, in Deutschland vor allem in ihrer institutionalisierten Gestalt der
beiden Großkirchen. Sie galten als der Ausbund von Repression schlecht-
hin. Mit Tillmann Mosers Selbstanalyse in seinem Buch „Gottesvergif-
tung“2 konnten sich viele identifizieren, weil sie eine ähnliche religiöse So-
zialisation hinter sich hatten. Zudem hatte auf katholischer Seite Papst Paul
VI 1968 mit dem „Pillenverbot“ restriktiv in die sexuelle Selbstbestim-
mung der Menschen eingegriffen, was einen erheblichen Autoritätsverlust
des päpstlichen Lehramts bei der Mehrheit seines Kirchenvolkes einläu-
tete. Theologie und Kirche konnten, wollten sie überhaupt noch Gehör fin-
den, nicht so weitermachen wie bisher.

Besonders stark bekam die Religionspädagogik die damalige Stimmungs-


lage zu spüren. Mit Flugblättern wurde zur Abmeldung vom Religionsun-
terricht aufgefordert, weil gerade dieses Schulfach zur Unmündigkeit er-
ziehen würde. Allerdings fielen die Reaktionen der einzelnen Vertreter –
inklusive der damals wenigen Vertreterinnen – dieses Faches höchst unter-
schiedlich aus. Im Anschluss an die neuere bewusst emanzipatorisch aus-

2 Vgl. MOSER, Tilmann: Gottesvergiftung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.


Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 165

gerichtete Strömung in der Pädagogik und die gesellschafts- und kirchen-


kritisch sich verstehende Politische Theologie schwappte in einigen Ansät-
zen der Ruf nach Emanzipation und Kritik auch in die Religionspädagogik
über. Stellvertretend für die Vertreter eines religionspädagogischen Eman-
zipationskonzepts seien Siegfried Vierzig und sein Kreis am Pädagogisch-
Theologischen Institut (PTI) in Kassel angeführt.3 Der Religionspädagogik
wies er als „Kritischer Theorie“ zwei Aufgaben zu. Negativ solle sie zur
„Aufdeckung von Herrschaftsverhältnissen, die Freiheit und Gerechtigkeit
unmöglich machen“, und positiv zum „Entwurf neuer Möglichkeiten,
neuer Gesellschaftsmodelle“ beitragen. Die Zielsetzung des schulischen
Religionsunterrichts sah er darin, „den Schüler zu kompetenter Teilnahme
an kritischer Kommunikation über die Sinn- und Normvergewisserung der
Gesellschaft“ zu befähigen. Als didaktische Unterrichtsgrundsätze galten
Herrschaftsfreiheit, Partnerschaftlichkeit sowie Aktivierung der Schüler
und Schülerinnen zur Selbstbestimmung und offene Lernzielplanung.

2 Ein Blick in religionspädagogische Handbücher und Lexika

Wie es mit dem Diskurs über Emanzipation in der Religionspädagogik


weiterging, möchte ich mithilfe der Durchsicht einschlägiger Handbücher
und Lexika des Faches verfolgen.4

3 Vgl. zum Folgenden die zusammenfassende Darstellung von Wilhelm Sturm in seinem
Beitrag „Religionspädagogische Konzeptionen“, in: ADAM, Gottfried / LACHMANN,
Rainer (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen: Vandenhoeck & Rup-
recht 51997, 37–86, 59–60. Die Zitate sind dem Buch „Ideologiekritik und Religions-
unterricht“ von Siegfried Vierzig (Zürich u. a. 1975) entnommen.
4 Ein ähnliches Vorgehen legt sich für den verwandten Begriff „Kritik“ bzw. „Ideologie-
kritik“/“Religionskritik“ nahe. Vgl. GROSCH, Hans: Religion – Glaube –Ideologie, in:
ZILLEßEN, Dietrich (Hg.): Religionspädagogisches Werkbuch, Frankfurt am Main:
Diesterweg 1972, 115–120; POST, Werner: Ideologie – Ideologiekritik, in: EBD., 121–
126; ZIRKER, Hans: Religionskritik – Zweifel, in: BÖCKER, Werner / HEIMBROCK, Hans-
Georg / KERKHOFF, Engelbert (Hg.): Handbuch Religiöser Erziehung. Band 2, Düssel-
166 Norbert Mette

Als Einstieg seien die 1975 erschienen ersten beiden Bände des dreibändi-
gen religionspädagogischen Grundlagenwerks des evangelischen Tübinger
Religionspädagogen Karl-Ernst Nipkow herangezogen.5 Im Sachregister
der beiden Bände taucht auch das Stichwort „Emanzipation“ mit jeweils
mehreren Verweisen auf. Nipkows Anliegen ist es, das Emanzipationsver-
ständnis gegen einen Gebrauch, der es ohne Gehalt, als leere Freiheit auf-
fasst, inhaltlich zu konturieren, also zu erkunden, was damit als menschli-
che Lebensform positiv gemeint ist.6 Er wendet sich einerseits gegen eine
bürgerlich-liberale Auslegungstradition, die einseitig auf die Freiheit des
liberalen, emanzipierten Bürgers setzt, und andererseits gegen die staats-
sozialistische Auslegung, die umgekehrt das Individuum einer kollektivis-
tischen Konstruktion von Gesellschaft unterordnet.7 Gegenüber beiden
anthropologischen Verkürzungen des menschlichen Lebenszusammen-
hangs entfaltet er ein kommunikatives Verständnis von Freiheit, für das er
sich auf die aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven gewon-
nene Einsicht von der vorgängigen Verbundenheit von Individuum und so-
zialer Beziehung beruft.8 Im weiteren Fortgang bringt er das noch einmal
in Verbindung mit einem insbesondere an Martin Luther gewonnen theo-
logischen Verständnis von Freiheit, wobei er allerdings auch die ambiva-
lente Rolle der Kirchen gegenüber dem neuzeitlichen Aufklärungs- und

dorf: Schwann 1987, 530–541; BEUSCHER, Bernd: Ideologie, Ideologiekritik, in: LexRP
I (2001), 855–859; ZIRKER, Hans: Religion, Religionskritik, in: LexRP I (2001), 1672–
1678; LÄMMERMANN, Gottfried: Religion – Religionskritik, in: BITTER, Gottfried u. a.
(Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München: Kösel 2001,
84–88; ENGLERT, Rudolf: Ideologiekritik, in: PORZELT, Burkard / SCHIMMEL, Alexan-
der (Hg.): Strukturbegriffe der Religionspädagogik, Bad Heilbronn: Julius Klinkhardt
2015, 126–131; HEGER, Johannes: Art. Ideologiekritik, in: WiReLex 2018 [abgerufen
am 21.10.2019]; HEUMANN, Jürgen: Kritik, in: EBD.
5 Vgl. NIPKOW, Karl Ernst: Grundfragen der Religionspädagogik. Band 1 und 2, Güters-
loh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985. Band 3 ist 1982 erschienen.
6 Vgl. EBD., Band 2, 148.
7 Vgl. EBD., Band 1, 108–110.
8 Vgl. EBD., Band 1, 111–127.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 167

Freiheitsprozess nicht ausblendet.9 Bleibend wichtig ist die Forderung von


Nipkow, eine Theorie der religiösen Erziehung und Bildung mit einer dif-
ferenzierten Gesellschaftsanalyse zu verbinden.

Für das 1987 erschienene zweibändige „Handbuch religiöser Erziehung“


hat der Dortmunder evangelische Theologe Hans Grewel den Beitrag
„Emanzipation“ verfasst.10 Er geht darin von dem aktuellen Gebrauch die-
ses Begriffs vor allem im Rahmen der Kritischen Theorie und dem damit
verfolgten Anliegen sowie seiner Herkunft aus der altrömischen Rechtsge-
schichte aus, die in der Definition mündet: „Emanzipation ist die Befreiung
von Menschen aus Abhängigkeitsverhältnissen, seien sie politischer, welt-
anschaulicher, religiöser, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder rechtli-
cher Natur.“11 Wie der Ruf nach Emanzipation in die Religionspädagogik
bzw. -didaktik eingedrungen ist, beschreibt Grewel wie folgt:
„In der Religionsdidaktik ist die Proklamation von Emanzipation als Gesamtlern-
ziel von Erziehung und Unterricht seitens der Erziehungswissenschaft […] mit
einer Phase des Umbruchs und der Neuorientierung zusammengetroffen. Darin
ging es einmal um das Bestreben, die einseitige Orientierung vor allem des schu-
lischen Religionsunterrichts an kirchlichen und bibeltheologischen Vorgaben
aufzusprengen und den Schüler nicht nur als Abnehmer unterrichtlicher Bemü-
hungen, sondern als selbständigen und selbsttätigen Partner an der Planung und
Durchführung von Unterricht zu beteiligen. Der Primat der zu lernenden Inhalte
wurde gebrochen zugunsten der Besinnung auf die Lernvoraussetzungen, -be-
dürfnisse und -chancen der jeweils in einer Lerngruppe zusammengeschlossenen
Menschen. Zum anderen hat die weltweite Begegnung mit Menschen anderen
Glaubens […] die bisher fraglose Ineinssetzung von religiöser Erziehung mit
christlicher Erziehung aufgebrochen und in der Folge […] Religions- oder Ideo-
logiekritik nicht nur als kritische Infragestellung des anderen, sondern auch des
eigenen Glaubens ins Blickfeld gerückt: Christentumskritik als Aufgabe der reli-
giösen Erziehung von Christen […]. Und schließlich drängte die Frage nach poli-

9 Vgl. dazu die Belegstellen in EBD., Band 2.


10 Vgl. GREWE, Hans: Emanzipation, in: BÖCKER / HEIMBROCK 1987 [Anm. 4], 140–150.
11 EBD., 141.
168 Norbert Mette

tischen Konkretionen der christlichen Freiheitsbotschaft immer stärker in den


Vordergrund.“12

Im weiteren Gang seiner Überlegungen geht Grewel zwei Fragerichtungen


nach: (1) Lässt sich angesichts der Tatsache, dass das Christentum in seiner
Geschichte häufig genug antiemanzipatorisch gewirkt hat, in seiner grund-
legenden Botschaft ein Impuls auf Befreiung hin ausmachen? (2) Deckt
das Lernziel Emanzipation die grundlegenden christlichen Hoffnungen
und Gewissheiten ab? Eine Entgegensetzung von Emanzipation und christ-
licher Freiheit kommt für Grewel nicht in Frage. Allerdings hält er einen
nur durch formale Qualifikationen umschrieben Begriff von Emanzipation
für unzureichend. Es bedürfe „präzise formulierter Richtungsziele, die nur
aus einem Gesamtverständnis von Leben und Menschen zu gewinnen“13
seien. „Es kommt darauf an“, so schreibt er, und das sei beispielsweise aus
der Bibel zu lernen,
„die Abstraktheit emanzipatorischer Programme mit den Erfordernissen einer ge-
gebenen Situation, also mit einem Realitätssinn zu verbinden, der sich durch den
je begegnenden Menschen das Maß seines Handelns geben läßt. Emanzipatori-
sche Erziehung zielt auf einen Zugewinn an Humanität unter den Bedingungen
von Familie, Nachbarschaft, Gemeinde etc.“14

In diesem Sinne habe sich die christliche Religionsdidaktik mit aus ande-
ren Quellen sich speisenden ähnlich gesinnten Gesprächspartnern zu ver-
bünden. In den nächsten Abschnitten warnt Grewel davor, auf dem Weg
der Emanzipation Mittel einzusetzen, die andere wiederum zu Opfern wer-
den lässt, und vor der Versuchung von Erziehern, Menschen übergriffig
nach ihren Vorstellungen formen zu wollen. Als „Bedingungen und Ziel-
faktoren religiösen Lernens unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation“15
führt er an:

12 EBD., 141–142.
13 EBD., 144.
14 EBD.
15 EBD., 147.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 169

• Bildung zu einer größtmöglichen Weite des Wahrnehmungshorizonts,


• Anregung zur Phantasie und Empathie,
• Entwicklung und Erprobung eigener religiöser Sprache, die u. a. auch
dem Leid zum Ausdruck verhilft,
• Erlernen von Kritik als Fähigkeit des Transzendierens, des Verglei-
chens und Überprüfens,
• Befähigung zur Toleranz gegenüber und zum konstruktiven Dialog mit
anderen Menschen und ihren Auffassungen und ihrem Tun,
• Eröffnung von Erfahrungsräumen, angefangen in der Lerngruppe, in
denen wenigstens ansatzweise praktiziert wird, von dem im Glauben
die Rede ist: Vergebung, Liebe, Befreiung, Toleranz, Vertrauen etc.
Abschließend hält Grewel zum Verhältnis von Emanzipation und Überlie-
ferung fest, dass einerseits die Tradition eine Ressource für Emanzipation
ist, aber dass andererseits die Tradition sich immer neu vor der kritischen
Nachfrage und Erprobung der jeweils heranwachsenden Generation zu be-
währen hat – positiv oder negativ. „In dieser Hinsicht“, mit diesem Satz
endet der Beitrag, „sind die Älteren mit den Jüngeren in einer Erzählge-
meinschaft zusammengeschlossen, die Wege weist, aber Freiheit läßt und
so Emanzipation, d. h. Menschwerdung des Menschen, fordert.“16

Zum Lexikon der Religionspädagogik aus dem Jahr 2001 hat der evange-
lische Religionspädagoge an der Universität zu Köln, Dietrich Zilleßen,
den Artikel „Emanzipation“ beigesteuert.17 Die Eingangssätze lauten:
„Religionspädagogik zielt wie alle pädagogischen Bemühungen darauf, Lebens-
chancen zu verbessern und im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Leben humaner
(freier, gerechter etc.) zu gestalten sowie zum sinnvollen Umgang mit Begren-
zungen/Grenzen zu bewegen. Für diese Humanisierung als gesellschaftskri-

16 EBD., 149.
17 Vgl. ZILLEßEN, Dietrich: Emanzipation, in: LexRP I (2001), 394–401.
170 Norbert Mette

tisches/politisches Projekt hat sich vom Ende der 60er bis zur Mitte der 80er Jahre
des 20. Jahrhunderts die ‚emanzipatorische Religionspädagogik’‘ eingesetzt.“18

In diesem von Zilleßen als „klassisch“ bezeichneten Emanzipationskon-


zept lassen sich nach ihm zwei Richtungen unterscheiden: Die eine akzen-
tuiert ein sozialpolitisch-kapitalismuskritisches Verständnis von Emanzi-
pation, die andere hebt auf reflexive und selbstreflexive Mündigkeit ab. So
sehr sie in ihren Gesellschaftsentwürfen differieren, so beinhalten sie doch
nach Zilleßen eine gleichförmige Struktur, die er in ihrem Begriffs- und
Wertidealismus und in ihrem Fortschrittskonzept erblickt. Bei aller Wür-
digung dieser Konzepte führen sie mit ihrer idealistischen Subjektorientie-
rung und Ontologisierung von Politik und Religion in Aporien: Wer könne
die idealistischen Visionen und Utopien einlösen, die auf die emanzipato-
rische religionspädagogische Praxis projiziert wurden?19 Das war wohl ein
Motiv dafür, dass seit Mitte der 1980er Jahre des vergangenen Jahrhun-
derts Emanzipation kein Thema mehr in der religionspädagogischen Dis-
kussion ist. Ergänzend kommt nach Zilleßen hinzu, dass sich die ökono-
mischen und kulturellen Rahmenbedingungen – zusammengefasst unter
dem mehrdeutigen Begriff „Postmoderne“ – grundlegend verändert haben
und gegenüber hehren politischen Zielsetzungen haben skeptisch werden
lassen. Zilleßen nimmt das nicht zum Anlass, das Reden über Emanzipa-
tion endgültig aus der Religionspädagogik zu verabschieden. Allerdings
hält er Revisionen der überkommenen Emanzipationsdebatte für erforder-
lich, und zwar ausgehend von einem semiotischen Konzept des Politischen
und der Politik. Das eröffne die Möglichkeit, „die Emanzipationsdebatte
wieder anzustoßen jenseits aller idealistisch-moralischen und idealistisch-
religiösen Visionen idealer Kommunikation und endgültigen Versöh-
nungszustands“20. Ohne die sowieso schon sehr gedrängten Ausführungen
von Zilleßen hier nochmals zusammenfassend wiedergeben zu können, sei

18 EBD., 394 (Die Abkürzungen in diesem Zitat und in den folgenden sind aufgelöst).
19 Vgl. EBD., 395.
20 EBD., 398.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 171

ausführlich seine Konklusion für eine revidierte „emanzipatorische Religi-


onspädagogik“ zitiert:
„Humanität (Freiheit, Gerechtigkeit etc.) für alle ist ein religiöses Versprechen,
auf das sich Religionspädagogik gründet. Das darf keineswegs bedeuten, dass
sich Religionspädagogik bedenkenlos unbedingt einer inhaltlichen Definition von
Humanität anschliesst. Gewiss bedarf es der konkreten Option, dieses oder jenes
Handeln im Sinne des Projektes Humanität zu werten. Aber weil in menschlichen
Begriffen/Ideen nicht die Humanität präsent ist, sondern unsere Erfahrungen und
Ideale, ist der Realitätsmangel unaufhebbar. Religionspädagogik achtet ihre eige-
nen Grenzen, wenn sie (gemäss Ex 20,4.5) ihre Zeichen und Bilder nicht mit der
Realität verwechselt. Emanzipatorisch ist die Fraglichkeit aller menschlichen Be-
griffe und Zeichen, weil sie realistisch ist. Fraglichkeit macht sensibel für die
Symptome der Norm und der Ordnung, d. h. für Störungen und Abweichungen.
Im Einüben des Fragens hält die Religionspädagogik sich für ein Anderes offen,
das unverfügbar ist. Zugleich geht es religionspädagogisch um Lernprozesse, das
Unentscheidbare (widerrufbar) zu entscheiden und Jugendlichen den Mut zu ver-
mitteln, sich bedingt festzulegen. Das ist besonders wichtig, wenn der Markt (die
Ökonomie) die Alltags-Entscheidungen gar nicht mehr zur Disposition stellt.
Verfahren zur Beteiligung an komplizierten/komplexen Entscheidungen kenn-
zeichnen emanzipatorischen Unterricht. Insofern steht Elementarisierung in der
Gefahr, Lernende zu manipulieren, wenn sie die politische Entscheidungsproble-
matik nicht zum Gegenstand von Lernen macht, sondern im Vorfeld ausschaltet.
Keine (riskante) Entscheidung im Unterricht entgeht der (politischen) Auseinan-
dersetzung und kommt ohne sie zustande. Keine religiöse, politische oder mora-
lische Tradition ersetzt diese Auseinandersetzung, weil das Verständnis von Tra-
dition bestimmte Wertungen der Tradition schon einschliesst. Aber jüdisch-
christliche (und auch andere religiöse) Traditionen sind der Religionspädagogik
Hilfe, Rahmen, Beispielsammlung für das messianische Versprechen der Eman-
zipation. Da es keine unschuldige Didaktik gibt, die prinzipiell auf Wahrheit oder
Realität orientiert ist, ist die Rechtfertigung dieses Mangels (Fehlers, Unvollkom-
menen) unumgänglich: Rechtfertigung der Gottlosen. Das ermöglicht die Gelas-
senheit, in allen Projekten und Strategien dem unverfügbar Passierenden Raum
zu lassen und den Leidenschaften für das Eigene mit ein wenig Ironie zu begeg-
nen. Demokratisierung des Lernens ist in diesem Sinne zugleich Fremdenach-
tung: Formulierung eines Unterrichtsstils, eines didaktischen Stils, der von wirk-
licher Hierarchisierung (selbst bei lehrerzentriertem Verfahren) Abstand nimmt.
Emanzipatorische Didaktik ist experimentelle (politische) Didaktik.“21

21 EBD., 400.
172 Norbert Mette

Schließlich soll noch in diesen Abschnitt der Beitrag „Emanzipation“ ein-


bezogen werden, den der Bochumer katholische Religionspädagoge Bern-
hard Grümme und der Züricher evangelische Religionspädagoge Thomas
Schlag im Februar dieses Jahres für das wissenschaftliche religionspäda-
gogische Lexikon im Internet verfasst haben.22 Auch sie konstatieren, dass
der Emanzipationsbegriff im Unterschied zu den 1960er bis 1980er Jahren
im vergangenen Jahrhundert heute in der Religionspädagogik kaum noch
verwendet wird. Aber auch sie plädieren dafür, dass er – wie gegenwärtig
in anderen Wissenschaften – wiederentdeckt und an seinem unausge-
schöpften Potential festgehalten wird, „allerdings unter der Voraussetzung
seiner selbstreflexiv-kritischen Wiedergewinnung unter spätmodernen-
nachmetaphysischen Bedingungen“. Mit dieser Zielrichtung nehmen sie
zuvor „eine kritische Relektüre seiner Begriffsgeschichte und seiner Ver-
wendung im interdisziplinären Diskurs“ vor. Auch das kann hier nicht im
Einzelnen nachgezeichnet werden. Summarisch führen sie als wesentliche
Elemente der damaligen emanzipatorischen Religionspädagogik bzw. -di-
daktik an:
• eine Neubestimmung der Lernziele unter Abkehr einer Fixierung auf
Inhalte,
• Umstellung von einer Vermittlungs- auf eine Aneignungsdidaktik,
• Veränderung des Lernbegriffs in Richtung an einer Orientierung an
den Lebenswelten und Erfahrungen der Heranwachsenden,
• Bewusstsein für die gesellschaftliche und politische Verwurzelung re-
ligiöser Bildung,
• die Umstellung von Glaube auf Religion als zentralem Gegenstand des
Religionsunterrichts.

22 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2019
[abgerufen am 21.10.2019].
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 173

Kritische Rückfragen an diese Religionspädagogik ergeben sich für die


Verfasser mit Blick auf drei Problembereiche:
• Die Eigenlogik der Didaktik sei nicht hinreichend bedacht worden. So
würden die Grenzen zwischen Pädagogik und Politik zu sehr ver-
wischt. Zentrale theologische Inhalte seien an die Seite gerückt wor-
den, was auch damit zusammenhänge, dass die religionspädagogisch-
bildungstheoretische Grundierung, die nach Motiven und Zielen frage,
fehle. Die Fixierung auf Emanzipation müsse durch einen kritischen
Rekurs auf Tradition korrelativ ergänzt werden.
• Ähnlich wie Dietrich Zilleßen kritisieren Grümme und Schlag hin-
sichtlich des erkenntnistheoretischen Status des Emanzipationsbegriffs
seine idealistische-metaphysische Überhöhung. Damit würde – was
nicht zuletzt pädagogisch ein Irrweg sei – die Gegenwart zugunsten
einer vermeintlich real möglichen Zukunft entwertet, würden Illusio-
nen genährt und würde das Bewusstsein verblendet.
• Schließlich sei der Emanzipationsdiskurs in sich selbst widersprüch-
lich, weil er auf eine ungebrochene Verfügungsrationalität setze und
zu wenig eine Einsicht in die Grenzen der Vernunft, bedingt u. a. durch
hegemoniale Strukturen, zeitige.
Angesichts der universal geworden „Prozesse von Macht, von Subjektivie-
rung von Selbststeuerung im Dienste fortwährender Optimierung des
Selbst“, die Gedanken der Emanzipation gar nicht mehr aufkommen lie-
ßen, angesichts der Aussetzung der Subjekte einer subtilen Fremdbestim-
mung durch hegemoniale Überformungen, die die den Maximen jeglicher
Pädagogik, so auch der Religionspädagogik entgegenliefen, plädieren die
Verfasser, wie bereits vermerkt, für eine kritische Wiedergewinnung des
Emanzipationsbegriffs auch in der Religionspädagogik unter der Bedin-
gung, dass er nachmetaphysisch reformuliert, selbstkritisch seiner Kontex-
tualität bewusst und kritisch seine diskursiven Konstruktionsmechanismen
bedenken würde. Sie schreiben mit Verweis auf Helmut Peukert:
174 Norbert Mette

„Die (sc. Grenzfragen zur Theologie hin aufwerfen lassende, NM) Ethik der in-
tersubjektiven Kreativität als dem normativen Kern von Bildungsprozessen wäre
von dort her als eine innovative, kreativ-transformatorische wie kritische Praxis
zu bestimmen, die als freiheitsstiftende Praxis auch die gesellschaftlichen wie in-
stitutionellen Ausgestaltungen von Bildung wie die gesellschaftlich-geschichtli-
chen Bedingungen der solidarischen Existenz der Subjekte anvisiert […]. Ihr geht
es in ihrer Orientierung an Wahrnehmungs- Handlungs- und Urteilsfähigkeit des
Subjekts im Verhältnis zu sich selber, zum anderen und zur sozialen Wirklichkeit
nicht letztlich um eine auf sich selbst bezogene Menschwerdung des Menschen –
übrigens nicht zuletzt auch unter besonderer Berücksichtigung der Genderper-
spektive […] (sc. und einer vorrangigen Option für die und mit den Armen, NM).
Es geht nicht primär um ein Freiwerden von, sondern ein Freiwerden für andere
(sc. und mit ihnen; NM).“

3 Emanzipatorische kirchliche Jugendarbeit

Richtete sich bislang das Augenmerk auf den schulischen Religionsunter-


richt, so muss ergänzend ein kirchliches Handlungsfeld erwähnt werden,
in dem der Emanzipationsbegriff in den 1970er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts zu einem Programmwort avancierte: die Jugendarbeit. Beein-
flusst durch die erwähnten soziokulturellen Umbrüche in Gefolge von
„1968“ wuchs beispielsweise in den Jugendverbänden das Bewusstsein für
die gesellschaftliche und politische Dimension ihrer Arbeit. Sie begannen,
ihre sozial-integrative Funktion, die sie in Gesellschaft und Kirche spiel-
ten, in Frage zu stellen, und ihre Aufgabe darin zu sehen, als Lobby für die
Rechte der Heranwachsenden in der Gesellschaft, deren Zukunft sie sind,
einzutreten und die Verbandsarbeit konsequent von ihnen her – ihren Be-
dürfnissen und Interessen – und mit ihnen (durch Selbstbestimmung) zu
gestalten. Die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen wurde als ein Ex-
perimentierfeld für bessere Lebensformen verstanden. „Selbstverwirkli-
chung“ wurde dabei zu einem zentralen Schlagwort. Das „Bildungskon-
zept kirchlicher Jugendarbeit“ des Bundes der Deutschen Katholischen Ju-
gend (BDKJ) aus dem Jahr 1971 ist durch und durch emanzipatorisch ori-
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 175

entiert.23 In abgeschwächter Version fand das noch Eingang in den Be-


schluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik zu den
„Zielen und Aufgaben kirchlicher Jugendarbeit“ von 1975.24 Ähnliche Ent-
wicklungen vollzogen sich in der evangelischen Kirche.25 Begleitet wurde
diese Entwicklung von der damals in Gang gekommenen konzeptionellen
Ausarbeitung einer Theorie der Jugendarbeit.26 Protagonist für eine Theo-
rie kirchlicher Jugendarbeit war Hubertus Halbfas.27 In einem Beitrag von
1971 sprach er sich klar für eine emanzipatorische Ausrichtung der kirch-
lichen Jugendarbeit aus. Er formulierte dazu vier Thesen, die hier wörtlich
wiedergegeben seien28:
(1) „Kirchliche Jugendarbeit betreibt Aufklärung und Emanzipation innerhalb der
Kirche.“
(2) „Weil kirchliche Jugendarbeit anleitet, Gesellschaft und Kirche, Erziehung
und Seelsorge kritisch zu sehen, kann sie sich nicht mit pädagogischer Betreuung
begnügen, sondern muß die Jugend zu gesellschaftspolitischer und kirchenpoliti-
scher Aktivität führen.“
(3) „Die Institutionen der kirchlichen Jugendarbeit sind keine Organe des kirch-
lichen Amtes. Kirchliche Jugendarbeit konstituiert sich beim gegenwärtigen

23 Dokumentiert in: SCHMID, Franz (Hg.): Grundlagentexte zur katholischen Jugendarbeit,


Freiburg im Breisgau: Herder 1986, 302–307.
24 Dokumentiert in: BERTSCH, Ludwig u. a. (Hg.): Gemeinsame Synode der Bistümer in
der Bundesrepublik Deutschland. Gesamtausgabe I, Freiburg im Breisgau: Herder
1976, 123–153.
25 Vgl. AFFOLDERBACH, Martin: Kirchliche Jugendarbeit im Wandel, München / Mainz:
Christian Kaiser / Matthias Grünewald 1977, bes. 231–237.
26 Vgl. zuerst MÜLLER, C. Wolfgang / KENTLER, Helmut / MOLLENHAUER, Klaus / GIES-
ECKE, Hermann: Was ist Jugendarbeit?, München: Juventa 1964; zur kirchlichen Ju-
gendarbeit vgl. BÄUMLER, Christof: Konzeption und Theorie kirchlicher Jugendarbeit,
in: AFFOLDERBACH, Martin / STEINKAMP, Hermann (Hg.): Kirchliche Jugendarbeit in
Grundbegriffen, Düsseldorf / München: Patmos-Christian Kaiser 1985, 228–243;
TZSCHEETZSCH, Werner: Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, in: LexRP I (2001), 921–
926.
27 Vgl. HALBFAS, Hubertus: Handbuch der Jugendseelsorge und Jugendführung, Düssel-
dorf: Haus Altenberg 1960; DERS.: Jugend und Kirche. Eine Diagnose, Düsseldorf: Pat-
mos 1965.
28 HALBFAS, Hubertus: Die kirchliche Jugendarbeit, in: DERS.: Aufklärung und Wider-
stand, Stuttgart / Düsseldorf: Calwer / Patmos 1971, 271–287, 273–275.
176 Norbert Mette

Zustand von Kirche und Gesellschaft als Opposition in der Kirche, solange die
Amtskirche strukturell und faktisch der Mündigkeit der jungen Menschen und
damit der kirchlichen Zukunft hindernd im Wege steht.“
(4) „Weil Selbstfindung und Mündigkeit an die Fundamentaldemokratisierung
der Gesamtgesellschaft – einschließlich der Kirchen – gebunden sind, und weil
die Zukunft der Kirche nicht minder von der gesellschaftspolitischen Reife der
Christen abhängt, muß die kirchliche Jugendarbeit primär durch Aktionen die
‚Demokratisierung’ der Kirchenstrukturen fördern.“

Als Grundbegriff kirchlicher Jugendarbeit ist das Stichwort „Emanzipa-


tion“ in das entsprechende, von Martin Affolderbach und Hermann Stein-
kamp herausgegebene Handbuch von 1985 aufgenommen worden.29 Klaus
Mollenhauer nimmt darin bei aller grundsätzlichen Zustimmung eine Rei-
he von Korrekturen an einer allzu emphatisch vertretenen Emanzipations-
idee vor. Der Schlussabsatz seines Beitrags lautet:
„Ein Mißverständnis ist es auf jeden Fall, zu meinen, die unter dem Namen
‚Emanzipation’ zusammengefaßten Bestrebungen seien schon eine begründete
Antwort auf die Fragen nach dem ‚guten Leben’. Sie sind ein Teil dieser Fragen.
‚Emanzipation’ ist ein gesellschaftliches Regulativ, das vor naivem Traditiona-
lismus oder selbstgerechtem Konservativismus bewahren kann. Die Begründung
für normativ gerechtfertigtes und künftig sinnvolles Leben garantiert dieses Re-
gulativ nicht.“30

Wenn schon ein Blick über den schulischen Religionsunterricht hinausge-


worfen wird, so seien wenigstens summarisch weitere kirchliche Hand-
lungsfelder erwähnt, in denen – wenn auch nicht unbedingt unter dieser
Bezeichnung – emanzipatorische Bildungsarbeit betrieben wird: die Frau-
enarbeit, die sich als Praxisfeld der feministischen Theologie versteht; die
auf soziale Gerechtigkeit hin ausgerichtete Bildungsarbeit der Katholi-
schen Arbeitsnehmer-Bewegung (KAB) mitsamt ihren Kampagnen; die
das Selbstbewusstsein der älteren Menschen fördernde Geragogik; die
Eine-Welt-Arbeit, für die die kirchlichen Werke Brot für die Welt und Mi-

29 Vgl. MOLLENHAUER, Klaus: Emanzipation, in: AFFOLDERBACH, Martin / STEINKAMP,


Hermann (Hg.): Kirchliche Jugendarbeit in Grundbegriffen. Stichworte zu einer öku-
menischen Bilanz. Düsseldorf / München: Patmos / Chr. Kaiser 1985, 37–46.
30 EBD., 46.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 177

sereor hervorragende Materialien für die Bildungsarbeit bereitstellen; neu-


erlich die Solidaritätsarbeit mit den Menschen auf Flucht und Migration
und weitere Gruppierungen im Rahmen der sozialen Bewegungen. Alle-
samt handelt es sich um Bereiche, die nicht im Blickfeld des religionspä-
dagogischen Mainstreams liegen.

4 „Hausaufgaben“

Wenn sie auch notwendigerweise unvollständig bleiben musste, so hat die


Durchsicht durch die Emanzipationsdebatte innerhalb der Religionspäda-
gogik – die konfessionsübergreifend geführt worden ist (!) – ergeben, dass
sie keineswegs mit ihrem Ausklingen in den 1980er Jahren des vergange-
nen Jahrhunderts sich erledigt hat, sondern dass sie Potentiale aufweist, die
es verdienen, wieder aufgegriffen und weitergeführt zu werden. Dabei stel-
len sich m. E. für die Religionspädagogik schwerpunktmäßig drei Aufga-
ben, die abschließend kurz umrissen seien:

(1) Die jeweils zu aktualisierende Kontextualisierung. Den Ausgangspunkt


für die Emanzipationsdebatte auch in der Religionspädagogik bildet ein
bestimmter Kairos, für den die Chiffre „1968“ steht. Dieser lässt sich nicht
wiederholen. Aber von dem damalig erwachten kritischen Bewusstsein für
die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen wir leben und die unser Han-
deln beeinflussen, lässt sich lernen: Wie für die Pädagogik insgesamt ge-
hört auch für die Religionspädagogik und die Theologie eine analytisch
fundierte Vergewisserung des historischen Augenblicks und der ihn prä-
genden gesellschaftlichen Trends zu einem unverzichtbaren Bestandteil ih-
res wissenschaftlichen Unternehmens. Insbesondere von der Sozialisati-
onstheorie sind Aufschlüsse darüber zu gewinnen, durch welche Faktoren
das Aufwachsen der nächsten Generation hauptsächlich bestimmt wird und
welche Auswirkungen diese für die Subjektwerdung bzw. Identitätsfin-
dung zeitigen. Religionskritisch sind darunter die Einflüsse aufzuklären,
die gewissermaßen die traditionelle religiöse Sozialisation abgelöst haben.
178 Norbert Mette

Der in der deutschen Religionspädagogik kaum rezipierte englische Reli-


gionspädagoge John M. Hull erblickt sie in der alle Lebensbereiche in Be-
schlag nehmenden Geldkultur.31 Für den brasilianischen Pädagogen Paulo
Freire ist es der Neoliberalismus, der ein Autonom-Werden nicht nur der
Heranwachsenden, sondern auch der Erwachsenen verhindert.32 Der in sei-
ner Tradition stehende brasilianische Aktivist und Theoretiker der „edu-
caçāo popular“ Frei Betto ergänzt das mit einem Blick auf die Rolle der
neuen sozialen Medien.33 Ein Bildungskonzept, das sich nicht von herr-
schenden gesellschaftlichen Interessen in Beschlag nehmen lässt, sondern
die Mündigkeit der Menschen zu ihrem Maßstab nimmt34, bleibt ohne sol-
che geerdete Aufklärungsarbeit in der Luft hängen.

(2) Die theologische Fundierung. „Befreiung“ und „Freiheit“ sind zentrale,


biblisch fundierte theologische Begriffe. Die Frage ist, in welchem Ver-
hältnis sie zum Emanzipationsdiskurs stehen. Mit seiner bloßen Verdop-
pelung machen sich die Theologie und mit ihr die Religionspädagogik
überflüssig. Einen eindrucksvollen vorbildlichen Beitrag, wie die Theolo-
gie sich kritisch-konstruktiv in diesen Diskurs einklinken kann, hat Johann
Baptist Metz unter dem Titel „Erlösung und Emanzipation“ geliefert, in
dem er gegenüber einer Überschätzung der Freiheitsgeschichte die Lei-
densgeschichte in den Blick rückt.35 Von einem Zusammenlesen der Frei-

31 Vgl. METTE, Norbert: Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der ‚Geldkultur“,
in: KROBATH, Thomas / LEHNER-HARTMANN, Andrea / POLAK, Regina (Hg.): Anerken-
nung in religiösen Bildungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven, Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 277–287 (dort die Verweise auf die Schriften von John
M. Hull).
32 Vgl. FREIRE, Paulo: Pädagogik der Autonomie, Münster: Waxmann 2008.
33 Vgl. BETTO, Frei: Por uma educaçāo critica e partticipativa, Rio de Janeiro: Anfiteatro
2018.
34 Vgl. METTE, Norbert: Mündigkeit, in: PORZELT / SCHIMMEL 2015 [Anm. 4], 49–54.
35 Vgl. METZ, Johann Baptist: Erlösung und Emanzipation, in: DERS.: Glaube in Ge-
schichte und Gesellschaft, Mainz: Matthias Grünewald 1977, 104–119.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 179

heitstheologie mit der Theologie der Befreiung könnte auch die Religions-
pädagogik viel für ihre Grundlegung profitieren.36

(3) Exposure. „To expose“ heißt „sich aussetzen“. Exposure bezeichnet


gemeinsam mit Dialog ein Bildungsprogramm im Rahmen der sog. Ent-
wicklungszusammenarbeit. Besonders Meinungsbildner*innen in Politik,
Wirtschaft und den Medien sind eingeladen, nach entsprechender Vorbe-
reitung, sich in eine für sie völlig fremde Situation, nämlich zu Menschen,
die in Armut leben, zu begeben und mit ihnen eine Zeit lang zusammenzu-
leben und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, um so mit einer Wirklich-
keit in Kontakt zu kommen, die ihnen bislang nicht bekannt war und aus
der sie lernen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. So wichtig es für eine
Bildungsarbeit, die sich als emanzipatorisch versteht, auch ist, sie theore-
tisch zu fundieren und bis in die didaktische Umsetzung hinein auszuar-
beiten, so kann das, was mit Emanzipation gemeint ist, letztlich nur in der
Praxis gelernt werden. Solche Exposure-Erfahrungen in für die Beteiligten
unbekannten Geländen zu machen – vorrangig dort, wo Menschen nah
und/oder fern benachteiligt, unterdrückt und exkludiert werden und wo sie
sich in gemeinsamen Engagements dagegen zur Wehr setzen –, sollte da-
rum zu einem unverzichtbaren Bestandteil in der religionspädagogischen
Lehre und Forschung werden. Ohne eine tätige Solidarität mit Menschen
und Bewegungen, die sich im Sinne des konziliaren Prozesses37 und der
Enzyklika „Laudato si‘“ von Papst Franziskus für die Schaffung einer „an-

36 Anhaltspunkte dafür gibt der Artikel „Freiheit“ im WiReLex 2016 von Paul Platzbecker
(besonders im dritten Abschnitt). Allerdings sind sie deduktiv aus der dogmatischen
Lehrtradition gewonnen und bleiben entsprechend allgemein. Nicht zuletzt mit Blick
auf ihre Bedeutung für die Gegenwart wären sie aufschlussreicher, wenn nicht nur die
jeweilige theologieimmanente Logik der im Verlauf der Geschichte eingenommenen
Positionen und erfolgten Kontroversen dargestellt würde, sondern diese auch vor ihrem
jeweiligen (sozial-) geschichtlichen Hintergrund ausgelegt würden.
37 Vgl. überblicksartig METTE, Norbert: Konziliarer Prozeß, in: LexRP I (2001), 1093–
1098.
180 Norbert Mette

deren Welt“ einsetzen, und ohne eine entsprechende Parteilichkeit zu be-


kunden, bleibt eine noch so elaborierte Rede von Emanzipation hohl und
leer. Im Übrigen drängt sich gerade auf diesem Feld ein Zusammengehen
über die Religions- und Weltanschauungsgrenzen hinweg auf.

Ich schließe mit einem Zitat aus einem kirchlichen Dokument, nämlich aus
dem Schlussdokument der Bischofssynode zum Thema „De iustitia in
mundo“ aus dem Jahre 1970, das ich schon mehrfach benutzt habe, weil es
m. E. klar ein Desiderat benennt, das noch längst nicht überwunden ist:
„Die heute noch vorwiegende Art der Erziehung begünstigt einen engstirnigen
Individualismus. Ein Großteil der Menschen versinkt geradezu in maßloser Über-
schätzung des Besitzes. Schule und Massenmedien stehen nun einmal im Bann
des etablierten ‚Systems‘ und können daher nur einen Menschen formen, wie die-
ses ‚System‘ ihn braucht, einen Menschen nach dessen Bild, keinen neuen Men-
schen, sondern nur eine Reproduktion des herkömmlichen Typ […]. Die Erzie-
hung muß dringen auf eine ganz und gar menschliche Lebensweise in Gerechtig-
keit, Liebe und Einfachheit. Sie muss auch die Fähigkeit wecken zu kritischem
Nachdenken über unsere Gesellschaft und über die in ihr geltenden Werte sowie
die Bereitschaft, diesen Werten abzusagen, wenn sie nicht mehr dazu beitragen,
allen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen […]. Das ist dann wenigstens schon
einmal ein Anfang zum Umbau der Welt.“38
Autorenangaben: Prof. i.R. Dr.Dr.h.c. Norbert Mette, Prof. für Praktische Theolo-
gie und Religionspädagogik von 1984 bis 2002 an der Universität Paderborn, von
2002 bis 2011 an der Universität Dortmund; seitdem im Ruhestand.

38 De justitia in mundo. Römische Bischofssynode 1971, in: BUNDESVERBAND DER KA-


THOLISCHEN ARBEITNEHMER-BEWEGUNG (KAB) Deutschlands (Hg.): Texte zur katho-
lischen Soziallehre, Kevelaer: Butzon & Bercker 31976, 525–547, 509 (Ziffern 51 und
52).
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation –
Zum Problem religiös-legitimierter Gewalt an
nicht-menschlichen Tieren

Simone Horstmann – in Response auf Norbert Mette

„Erziehung zur Freiheit erschöpft sich für gewisse liberale Erzieher darin, die
Schüler von der Wandtafel zu befreien und ihnen stattdessen Diaprojektoren zu
verschaffen.“ (Paulo Freire)
„Falls Ihnen etwas, das ich heute sage, ganz unzumutbar erscheint, so bitte ich
Sie, dies der Ernsthaftigkeit meines Ansinnens zuzuschreiben.“ (Gayatri C.
Spivak)

Abstract: Der Beitrag setzt bei der Beobachtung an, dass die religionspädagogi-
sche Debatte um den Emanzipationsbegriff immer schon von der impliziten
Vorannahme bestimmt war, dass Befreiung und Emanzipation allein dem Men-
schen zukämen. Diese anthropozentrische Engführung ist jedoch prekär: Sind
nicht alle drei großen, monotheistischen Religionen nach wie vor von einem wei-
testgehend kritiklos geteilten und theologisch höchst bedenklichen Konsens zur
strukturellen Gewalt an (nicht-menschlichen) Tieren getragen?

1 Kontextualisierung

Befreiung impliziert Religionskritik – logischerweise. So zitiert Norbert


Mette bereits zu Beginn Gert Otto, und betont, dass diese Verknüpfung
insbesondere deswegen gelte, weil Religion historisch auch als Ausbund
von Repression schlechthin aufgefasst werden konnte und womöglich auch
noch heute so erfahren werden kann. Dass Norbert Mette zur weiteren Ana-
lyse der religionspädagogischen Kontur des Befreiungs- bzw. Emanzipati-
onsbegriffs Handbücher und Lexika des Faches untersucht, nehme ich zum
Anlass, die spezifische Form dieser Wissensbestände zu allererst näher in
den Blick zu nehmen, beanspruchen beide doch, gesicherte und fixierte,
verdichtete und komprimierte Formeln für einen ansonsten sehr weitläufi-
gen Diskursrahmen anzubieten. Es ist ein in der Tat überraschender und

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_10
182 Simone Horstmann

interessanter Zugang zur Bedeutung von „Emanzipation“, wenn diese über


ihre immer schon filtrierten Abbilder in Handbüchern und Lexika als den
womöglich hoheitlichsten, etabliertesten und zugleich auch maximal reg-
lementierten Darreichungsformen von akademisch-legitimiertem Wissen
erschlossen wird.1

Ich lese Norbert Mettes analytisches Vorgehen daher vor allem auch vor
dem Hintergrund des dadurch ermöglichten Gewinns. Dieser besteht m. E.
darin, die dezidiert herrschaftskritischen Dimensionen von Emanzipation
und Kritik besonders dadurch sichtbar machen zu können, dass sie sich hier
im Gewand ihres vermeintlichen formalen Gegenteils, nämlich selbst als
Diskurswissen zeigen – und dies besonders deutlich, wie ich meine. Denn
wer die referierten Ansätze bei allen inhaltlichen Divergenzen übereinan-
der projiziert, um ihren gemeinsamen Nenner hervortreten zu lassen, wird
diesem gemeinsamen Konsens, als dem Kernsubstrat eines akademisch-
goutierten und insofern bereits immer schon gezähmten Emanzipations-
und Kritikverständnisses sehr bald ansichtig. Ich nenne nur einige, hier de-
kontextualisierte Formeln aus den von Norbert Mette diskutierten Ansät-
zen, um dieses unterstellte Kernsubstrat der Sache nach zu verdeutlichen:
„Emanzipation ist die Befreiung von Menschen aus Abhängigkeitsverhält-
nissen“; „Emanzipatorische Erziehung zielt auf einen Zugewinn an Huma-
nität unter den Bedingungen von Familie, Nachbarschaft und Gemeinde“
(Grewel); sie habe ferner das Ziel, „Lebenschancen zu verbessern und im
Rahmen ihrer Möglichkeiten das Leben humaner (freier, gerechter etc.) zu
gestalten“; die „emanzipatorische Religionspädagogik“ trete für die „Hu-
manisierung als gesellschaftskritische[m]/politische[m] Projekt ein“; „Hu-

1 Schließlich sind, wie es die Herausgeber der deutschsprachigen Schriftensammlung


Paulo Freires ausdrücken, „nicht nur die Qualität der Erkenntnisse selbst, sondern auch
die Formen ihrer Gewinnung im Prozess der Bildung […] in fundamentaler Weise für
eine befreiende Praxis relevant.“ (SCHREINER, Peter u. a.: Einführung, in: DIES. (Hg.):
Paulo Freire. Unterdrückung und Befreiung, Münster: Waxmann 2007, 15–25, 21).
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 183

manität […] für alle ist ein religiöses Versprechen, auf das sich Religions-
pädagogik gründet“ (Zilleßen); einer emanzipatorischen Religionspädago-
gik ginge es um die „Menschwerdung des Menschen“ (Grümme/Schlag).2
Es geht einer kritischen und emanzipatorischen Religionspädagogik dem-
nach, so verstehe ich diese verkürzte Synopse, um den von allen weitest-
gehend kritiklos geteilten gemeinsamen Nenner – den Menschen.

Norbert Mette diskutiert diese anthropozentrischen Diagnosen dabei ins-


besondere im Kontext der Frage, warum die heuristische und analytische
Kraft des Begriffs „Emanzipation“ von den Diskussionen seit etwa der
Mitte der 1980er Jahre kaum noch in Anspruch genommen wird, warum
der Begriff bei allem politischem und wissenschaftlichem Glanz, den er
verheißt, doch offenbar auch höchst suspekt und irritierend auf eine ganze
akademische Disziplin wirkt oder zumindest gewirkt hat.3 Die performati-

2 Ich verweise hier auf die Quellennachweise im Artikel von N. Mette. Entsprechende
Referenzen finden sich auch über diese Aufzählung hinaus, so etwa bei Peter Biehl und
Hans-Bernhard Kaufmann: Emanzipation meint beiden Autoren zufolge „immer Auf-
hebung menschlicher Fremdbestimmung“. (BIEHL, Peter / KAUFMANN, Hans-Bernhard:
Zum Verhältnis von Emanzipation und Tradition in der Religionspädagogik. Einlei-
tende Thesen, in: DIES. (Hg.): Zum Verhältnis von Emanzipation und Tradition. Ele-
mente einer religionspädagogischen Theorie, Frankfurt am Main: Diesterweg 1975, 9–
16, 10).
3 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, welche Hoffnungen ursprüng-
lich in die analytische und praktische Kraft insbesondere des Emanzipationsbegriffs
gesetzt wurde, wie N. Mette anmerkt: „Wenn man nun fragt, ob und inwiefern sich für
den ganzen Zusammenhang unmittelbarere Auswirkungen der sog. 1968er-Bewegung
auf den Raum der katholischen Kirche angeben lassen, so kann man das vor allem an
einem Begriff festmachen, der damals gewissermaßen ein epochales Lebensgefühl zum
Ausdruck brachte: Emanzipation. Dieses Programmwort, in dem die Tradition der Auf-
klärung mit ihrer Zielsetzung der Mündigkeit aller Menschen und die Tradition des
Marxismus mit seinem Streben nach Überwindung aller Ausbeutungs- und Unterdrü-
ckungsverhältnisse sich miteinander verbanden, fand damals, wenngleich mit einer ge-
wissen zeitlichen Verzögerung, auch in christlichen Gruppen und Bewegungen große
Resonanz, nicht zuletzt weil sie in ihm eine oft verdrängte Traditionslinie ihres eigenen
Glaubens wiederentdeckten.“ (METTE, Norbert: 1968 und die katholische Religionspä-
dagogik. Ansätze, Wirkungen, unabgegoltene Potentiale, in: RICKERS, Folkert / SCHRÖ-
184 Simone Horstmann

ve Wirkung, die die Rede von der Emanzipation in der Religionspädagogik


und der gesamten Theologie entfaltet hat und die augenscheinlich im re-
gelrechten Verzicht auf diese Begrifflichkeit4 bzw. in der Bildung eines
semantischen Ersatzes besteht, ist m. E. noch nicht erschöpfend ausgewer-
tet. Der hauptsächlich für die 1980er Jahre festgestellte regelrechte Ausfall
der Emanzipations- und Kritik-Bezogenheit der Religionspädagogik5 koin-
zidiert allerdings, wenn man dies historisch verallgemeinernd so feststellen
darf, wohl nicht vollkommen grundlos mit dem (erneuten) Aufkommen der
sog. Umwelt- und Ökobewegungen etwa zur gleichen Zeit.6 Die durchaus
existentiellen Erschütterungserfahrungen, die diese Bewegungen zu be-
und verarbeiten suchen, gleichen in vielerlei Hinsicht denen der Theologie
und insbes. der Religionspädagogik. Ihnen allen stellte sich die Frage, wie
Emanzipation, Freiheit und Befreiung jenseits von jener folgenschweren
Fixierung auf den Menschen zu denken und zu praktizieren sind, deren
handfeste Konsequenzen wir auch aktuell und wohl für die kommenden
Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte mit dem gerade eintretenden Szenario der

DER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen: Neukirchener Verlag
2010, 311–324, 316–317).
4 Dietrich Zilleßen etwa bemerkt zu diesem Umschwung: „Nachdem Emanzipation im
Diskurs der Religionspädagogik eine große Rolle spielte, mehren sich die Rufe nach
dem Bewährten und Autorität. Es kommt dabei zu einer „‘Vergangenheitsbewältigung‘,
die sich darin äußert, dass Emanzipation bzw. jede emanzipatorische Konzeption ins-
gesamt und pauschal kritisiert und der „Emanzipations-Pädagogik“ gegenüber gar
verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet werden.“ (ZILLEßEN, Dietrich: Emanzipa-
tion und Religion. Elemente einer Theorie und Praxis der Religionspädagogik, Frank-
furt am Main: Diesterweg 1982, 20).
5 Ähnlich auch die Diagnose von Henning Luther, der bemerkt, dass die pädagogische
Tradition Bildung vorrangig als nacherlebte Einfügung entworfen hat, als Einpassung
und Eingliederung in die Tradition; auch in der Religionspädagogik tritt demnach der
Aspekt der Emanzipation und der Kritik zugunsten einer aneignenden Hermeneutik zu-
rück. (Vgl. LUTHER, Henning: Kritik als pädagogische Kategorie. Untersucht an H. J.
Gamm: Kritische Schule und H. Stock: Religionsunterricht in der kritischen Schule, in:
Praktische Theologie 8 (1973), 3–16, 5–6).
6 Vgl. RADKAU, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München: C. H.
Beck 2011, bes. Kap. III.
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 185

‚ökologischen Katastrophe‘ verbinden. Mein Eindruck ist, dass diese Frage


die Religionspädagogik bislang weitestgehend unterschwellig und sublim
irritiert hat und ihre Explikation daher möglicherweise auch einen explana-
torischen Baustein zur Deutung jener Emanzipations-Abstinenz darstellt,
die Norbert Mette zuvor konstatiert hat. Womöglich verhält es sich mit
dieser religionspädagogischen Rezeption der Emanzipationsansätze somit
ganz ähnlich, wie es Adorno einmal für die aus seiner Sicht überkommene
Philosophie festgehalten hat: „Philosophie, die einmal überholt scheint, er-
hält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt
ward.“7 Wenn sich Ähnliches auch für die religionspädagogische Auf-
nahme des Emanzipationsbegriffes sagen ließe, dann deutet der historisch
zu beobachtende Vorbehalt in der Verwendung des Emanzipationskon-
zepts andererseits wohl auch auf ein noch uneingelöstes, verheißungsvol-
les Versprechen hin, dann wäre die zeitweise hintangestellte Tradition ei-
nes spezifisch christlichen Emanzipationsverständnisses womöglich Teil
einer Tradition, der J. B. Metz zu Recht das Potenzial einer „gefährli-
chen“8, weil noch immer verheißungsvollen, vielleicht auch prophetischen
und insofern gerade nicht legitimierenden, sondern den status quo delegi-
timierenden Erinnerung zugestanden hat. Im Folgenden will ich einige Ge-
danken zu dieser noch uneingeholten Dimension eines religiösen Emanzi-
pationsverständnisses skizzieren; ich nehme dabei auf das von Norbert
Mette entwickelte Schema Bezug: Um welche „Hausaufgaben“ geht es, die
die Theologie zur Neujustierung ihres Emanzipationsverständnisses zu er-
ledigen hätte?

7 ADORNO, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000 [1966],
13.
8 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz: Grünewald, 51992,
95.
186 Simone Horstmann

2 Die jeweils zu aktualisierende Kontextualisierung

Norbert Mette schlägt als ersten Schritt eine aktualisierende Kontextuali-


sierung vor. Was könnten aus heutiger Sicht die anstehenden und notwen-
digen Kontexte sein, in die hinein sich ein Verständnis von Emanzipation
zu artikulieren hätte? Meine zuvor bereits angedeutete These setzt bei der
Beobachtung an, dass die anthropozentrische Verengung in den genannten
Ansätzen zu einer intuitiven Selbstdistanzierung der Religionspädagogik
von diesen definitorischen Angängen geführt hat, deren tiefere Gründe in-
nerhalb der gesamten Theologie allerdings weitestgehend unreflektiert ge-
blieben sind. Erklärt sich die wahrgenommene Skepsis gegenüber dem,
was bislang unter dem Begriff der Emanzipation verstanden wurde, viel-
leicht gar nicht so sehr aus den komplementären ordo-theologischen und
politisch-konservativen Restaurationsbestrebungen, als vielmehr aus dem
empfundenen, aber bislang weitestgehend unartikulierten Ungenügen an
den avisierten Subjekten, die bislang einzig in menschlicher Form die
Bühne der Emanzipation erklommen haben – das heißt mit anderen Worten
an der uneingelösten, weil allein auf den Menschen hin angelegten Univer-
salität der Emanzipationsbestrebungen?

Wenn man der Fährte des Emanzipationsbegriffs folgt, wird man zumin-
dest nicht gänzlich den Eindruck vermeiden können, dass dieser Begriff
die hier kritisierte Anthropozentrik immer schon insofern selbst mitprodu-
ziert hat, als das „Animalische“ bzw. das „Natürliche“ nicht selten zu jenen
Gegenkonzepten zu taugen schienen, von denen es sich zu emanzipieren
galt.9 Emanzipation, so Hermann Giesecke, „ist die Formel für den Ver-

9 Gayatri Ch. Spivak hat ihre postkoloniale Perspektive nicht zuletzt durch semiotische
Ansätze plausibilisiert, in denen sie die kulturelle Produktion des Imperialismus kriti-
siert, die sie als „Weltenmachen“ (Worlding) bezeichnet. Ihr zufolge hat die epistemi-
sche Gewalt des Imperialismus dazu geführt, dass die insbesondere die sog. „Dritte
Welt“ in ein Zeichen verwandelt worden ist, dessen Produktion dermaßen ausgeblendet
oder kaschiert wurde, dass die westliche Überlegenheit und Dominanz demgegenüber
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 187

such, eine aufgeklärte Existenz in einer noch nicht aufgeklärten Geschichte


zu führen.“10 Das Natur-Kultur-Schema klingt hier in einer unverkennbar
kämpferischen Gegenüberstellung an; und wer dezidiert theologisch von
Emanzipation spricht, braucht notwendigerweise die Theorieposition einer
‚natura pura‘, einer ‚reinen Natur‘ also, die von der Tradition seit je her in
den Tieren und mit ihnen in allem ‚Animalischen‘ verortet wurde. Auch
der Philosoph Hans-Herbert Kögler referiert das klassische Emanzipati-
onsverständnis in genau diesem Sinne: Ein Subjekt entwirft sich als freies
Subjekt gerade dadurch, dass es die eigene Triebnatur autonom zu kontrol-
lieren lernt. Autonomie besteht geradezu darin, sich nicht von animali-
schen Instinkten, Trieben oder Bedürfnissen bestimmen zu lassen.11 Und
selbst Paulo Freire, dessen Nähe zur Befreiungstheologie anderes vermu-
ten ließe, definiert „Befreiung“ vor der Kontrastfolie der „Domestizierung“
– einem Begriff also, der vornehmlich bei Tieren Anwendung findet und
dann paradoxerweise gerade deren Inklusion in die Sphäre des Humanen
bedeutet: „Pädagogik kann nicht neutral sein, als sie immer in einem Han-
deln besteht, das entweder der Domestizierung des Menschen oder ihrer
Befreiung dient.“12 Unfreiwillig und beinahe dialektisch rückt seine Be-
schreibung der unterdrückten Landarbeiter dabei in die Nähe zur (unter-

quasi naturalisiert und glaubhaft gemacht werden konnten. Auch die abgrenzende Rede
vom Tier bzw. vom Animalischen in dieser Worlding-Tradition gesehen werden, wenn
etwa, wie Derrida kritisiert, bereits in einem semantischen Rundumschlag vom „Tier“
gesprochen wird. (Vgl. SPIVAK, Gayatri Ch.: Three Women’s Texts and a Critique of
Imperialism, in: Critical Inquiry 12/1 (1985), 243–261, 247. Vgl. ebenfalls DERRIDA,
Jacques: Das Tier, das ich also bin, Wien: Passagen Verlag 2010).
10 GIESECKE, Hermann: Emanzipation, Tradition und praktisches Bewusstsein, in: BIEL,
Peter / KAUFMANN, Hans-Bernhard, (Hg.): Zum Verhältnis von Emanzipation und Tra-
dition. Elemente einer religionspädagogischen Theorie, Frankfurt am Main: Diesterweg
1975, 76–79, 77.
11 KÖGLER, Hans-Herbert: Autonomie und Überschreitung. Bruchstücke einer Theorie der
hermeneutischen Agency, in: DERS. / PECHRIGGL, Alice / WINTER, Rainer (Hg.): Enigma
Agency. Macht – Widerstand – Reflexivität, Münster: transcript 2019, 81–112, 88.
12 FREIRE, Paulo: Politische Alphabetisierung, in: SCHREINER, Peter u. a. (Hg): Paulo Frei-
re. Unterdrückung und Befreiung, Münster: Waxmann 2007, 27–43, 34.
188 Simone Horstmann

stellten) Erfahrungswirklichkeit vieler (sog. Nutz-) Tiere. Ließe sich nicht


zu weiten Teilen auch von ihnen behaupten, was Freire den Menschen zu-
schreibt: „Sie haben keine dialogische Erfahrung, keine Erfahrung der Be-
teiligung, sie sind größtenteils ihrer selbst unsicher, haben kein Recht, ihr
Wort zu sagen und nur die Pflicht, zu hören und zu gehorchen.“13

Befreiung impliziert Religionskritik – logischerweise. Aus heutiger Sicht


wird man daher in der Tat Zweifel gegenüber den emanzipatorischen Be-
strebungen einer Religion anbringen müssen, die sich der Befreiung des
Menschen verschreibt und dabei die – was wäre eine treffendere Umschrei-
bung? – Versklavung und Vernichtung nicht-menschlicher Lebewesen zu-
mindest billigend in Kauf nimmt, wenn nicht sogar aktiv befördert. Bei
allen theologischen Differenzen eint die drei großen monotheistischen Re-
ligionen ein erstaunlich einvernehmlicher und bis heute nahezu ungebro-
chener Konsens über die strukturelle Gewalt an Tieren. Tiere können daher
auch als wohl geeignetster Indikator für das menschliche Machtstreben so-
wie vice versa für die Ernsthaftigkeit eines universalen Emanzipationsan-
spruchs aufgefasst werden. Bis heute entlädt sich an ihnen eine oftmals
grenzenlose menschliche Vernichtungswut und -freude. Mögen die Be-

13 EBD., 58. Im Hinblick auf die Tiere wiederholt Freire viele klassische und altbekannte
Stereotype (das Tier sei reine Natur, reiner Instinkt usf.). Implizit kommt bei ihm jedoch
auch ein weitläufigerer Blick auf die nicht-menschliche Natur zur Sprache: „Die Frei-
heit und die Angst, das Leben zu verlieren, verbinden sich in einem tieferen, für das
Leben unerlässlichen Kern der Kommunikation. In diesem Sinne erscheint es mir als
ein bedauerlicher Widerspruch, progressiv und revolutionär daherzureden und zu-
gleich eine das Leben verleugnende Praxis zu betreiben. Eine umweltfeindliche Praxis
für die Luft, das Wasser, das Land, eine Praxis, die die Wälder zerstört. Die Bäume
zerstört, die Tiere und die Vögel bedroht.“ (FREIRE, Paulo: Cartas pedagogicas. Erster
Brief, in: SCHREINER, Peter u. a. (Hg): Paulo Freire. Unterdrückung und Befreiung,
Münster: Waxmann 2007, 97–115, 114. Zur Kritik an Freires Tiervergessenheit vgl.
SPANNRING, Reingard: Bildungswissenschaft. Auf dem Weg zu einer posthumanisti-
schen Pädagogik?, in: DERS. u. a. (Hg.): Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-
Animal-Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Münster: transcript 2015, 29–
52, bes. 37–39.)
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 189

schwörungen der friedvoll-emanzipatorischen Absichten der Religionen


noch so überzeugend und aufrichtig gemeint sein, so sehr werden an diesen
Motiven oder zumindest an der Umsetzbarkeit dieser Motive all jene Zwei-
fel hegen, die die Diskrepanz dieser zwischenmenschlichen Friedensbe-
kundungen gegenüber der religiös legitimierten Gewalt an den Tieren
wahrnehmen. Wie soll es, um ein Diktum des russischen Schriftstellers
Leo Tolstoi aufzunehmen, wirklichen Frieden geben, wenn es doch zu-
gleich immer noch eine an den Tieren gelernte – womöglich sogar: trai-
nierte – Form der Gewalt gibt – wird es nicht immer Schlachtfelder geben,
solange es Schlachthöfe, oder sogar „Schlachtfeste“ gibt? Lernen Men-
schen und insbesondere schon Kinder nicht immer auch an den Tieren mit-
unter schrecklichste Formen von Gewalt kennen, die später dann als
Selbstverständlichkeiten erscheinen? In der Tat scheint es plausible Grün-
de für Melanie Joys Einschätzung des sog. Karnismus als einer Ideologie
zu geben: Sie besteht in der Annahme, dass die (artspezifische) Nutzung
von Tieren als unhinterfragbare Normalitätsfolie insbes. der modernen Ge-
sellschaften fungiert.14

Die Hypothek, mit der nun speziell das Christentum die Tiere belastet hat,
ist anders als im Judentum und im Islam keine rituelle Form des schockie-
rend sichtbaren (uns insofern, wie man zumindest eingestehen muss: auch
sehr ‚ehrlichen‘ und unverholenen) Tötens, sondern in gewisser Hinsicht
das spiegelbildliche Gegenteil. Tiere werden im christlichen Abendland bis
heute nicht rituell, sondern möglichst apathisch getötet, vermeintlich
schmerzfrei und stets in dem Versuch, diesem Sterben und Töten den
Nimbus vollkommener Normalität und Selbstverständlichkeit zu verlei-
hen.15 Die Rede von der Emanzipation, von der Befreiung aus Leid und

14 Vgl. JOY, Melanie: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Kar-
nismus – eine Einführung, Münster: Compassion media 2013.
15 Vielleicht liegt gerade in dieser Tatsache die fundamentalste, weil nihilistische Gewalt
des Christentums an den Tieren: In einer monströsen Bemächtigungsaktion hat die
190 Simone Horstmann

Tod, kann von hier her der utopisch anmutende Hoffnungsschimmer auf
ein Ende dieser Selbstverständlichkeit sein, mit der Christ/inn/en den Tod
anderer Wesen bis heute weitestgehend irritationsfrei bejahen. Emanzipa-
tion verhandelt demnach auch jene Hoffnung, dass die wirkliche Friedens-
botschaft des Evangeliums sich gegenüber den Selbstverständlichkeiten
dieser Welt als das noch Selbstverständlichere wird ausweisen können.16
Und gerade deswegen muss Emanzipation notwendig mit Utopie einher-
gehen, wie schon Paulo Freire bemerkt: Denn „die, die herrschen, die, die
nicht lieben, die, die ausbeuten, können eben deswegen nicht utopisch sein,
weil sie keine Zukunft haben. Worin besteht die Zukunft des Unterdrü-
ckers? Nur in der Verlängerung der Gegenwart.“17

3 Die theologische Fundierung

Der zweite von Norbert Mette vorgeschlagene Schritt, die theologische


Fundierung, wird sich wohl zunächst in beiderlei Richtungen befragen las-
sen müssen: Was war die theologische Fundierung für eine derartige Anth-
ropozentrik, und (wie) lässt sie sich theologisch zugleich überwinden? Da
Norbert Mette bereits einen Verweis in Richtung eines positiv-konstrukti-
ven Beitrags der Theologie angesprochen hat, konzentriere ich mich an
dieser Stelle auf einen dekonstruierenden Beitrag. Worin also dürfte das

christliche Theologie ihre historische Wirkmächtigkeit auch dahingehend missbraucht,


die Deutungshoheit nicht nur über das Leben, sondern selbst noch über den Tod das
und Sterben der Tiere an sich zu reißen. Vgl. dazu ausführlicher: HORSTMANN, Simone:
Der Gott der Tiere. Über Tierleid, -angst und -schmerz, in: DIES. / RUSTER, Thomas /
TAXACHER, Gregor: Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere, Regensburg: Pustet
2018, 183–203.
16 „Der christliche Glaube erinnert in diesem Sinne an Gott als das gegenüber allem
Selbstverständlichen immer noch Selbstverständlichere. Der christliche Glaube redet
so von Gott, dass er das Selbstverständliche steigern lehrt.“ JÜNGEL, Eberhard Entspre-
chungen: Gott-Wahrheit-Mensch: Theologische Erörterungen II, 3. Aufl., Tübingen:
Mohr Siebeck 2002 [1980], 196.
17 FREIRE, Paulo: Zeugnis der Befreiung, in: SCHREINER, Peter u. a. (Hg): Paulo Freire.
Unterdrückung und Befreiung, Münster: Waxmann 2007, 44–46, 45.
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 191

zentrale theologische Hindernis auf dem Weg zu einer wahrhaft emanzi-


patorischen Wirklichkeitsauffassung liegen? Die Antworten auf diese Fra-
ge sind mannigfaltig – zumeist wird die christliche Anthropozentrik auf die
biblische Formel der Gottesebenbildlichkeit bzw. des sog. Herrschaftsauf-
trags zurückgeführt, sie reichen bis hin zur fragwürdigen Übersetzung des
Inkarnationsbegriffs als Menschwerdung und den weiteren damit verbun-
denen christologischen Problemen. M. E. sind die (zurecht diagnostizier-
ten) Auslegungskrisen dieser Topoi dabei Symptome einer wesentlich um-
fassenderen theologischen Problematik, die ich hier mit dem Begriff einer
nach wie vor notwendigen Theismus-Kritik belegen möchte18, d. h. jenem
überwiegend philosophisch rekonstruierten Gottesbild, wie es insbes. in
der Scholastik entworfen und bis heute auch teilweise noch im Religions-
unterricht entfaltet wird. Insbesondere das theistische Gottesprädikat der
Allmacht dürfte dabei wirkmächtige Konsequenzen gezeitigt haben, und
man wird zumindest nach einer theologischen Mitschuld fragen müssen,
sobald man zur Kenntnis nimmt, wie sehr die Rolle des Menschen, seine
Gottesebenbildlichkeit, nur allzu oft auf den Fixpunkt des theistischen Got-
tesbildes hin ausgelegt wurde.19 Wer also verstehen will, warum Menschen
in der Lage sind, derartiges Grauen unter ihresgleichen wie auch unter den
Tieren zu bewirken, der/die wird sich mit einem theologischen Verständnis
von Allmacht auseinandersetzen und fragen müssen, in welches Verhältnis
göttliche und menschliche Macht gestellt wurden. Die klassisch-theistische
Antwort verweist darauf, dass Gottes Allmacht eine Souveränitäts-, mithin

18 Ebenso diskussionswürdig sind m. E. aber auch die noch nicht zu Ende gedachten Eng-
führungen zwischen Emanzipation und der soteriologischen Kernkategorie der Erlö-
sung, sowie auch die christologischen Anthropozentrismen.
19 Eine Theologie, die die Allmacht Gottes allerdings in mechanistischen Kausalmustern
entwirft, und Gottes Macht zu den geschöpflichen Mächten in notwendige Konkurrenz
setzt, „wirkt mit am Mythos des Menschen als jenem Gott der Tiere, der seine eigene
Macht in einem beständigen Kampf gegen die Tiere durchzusetzen hat – so wie Gott
sich als Gott der Menschen gegen deren Machtbestrebungen durchsetzt.“ (HORSTMANN
2018 [Anm. 15], 195–196.
192 Simone Horstmann

also eine Machtfrage verhandelt: Als höchstes und vollkommenes Sein


(summum ens) schafft Gott alles niedere Sein, das von ihm abhängig
bleibt. Alles geht auf ihn zurück, Gott ist als Schöpfer kausal auf die
Schöpfung bezogen, die dann als seine quasi-kausale Wirkung verstanden
wird. Gott und Welten stehen hier in einem mechanistischen Konkurrenz-
Paradigma: Eine Kraft setzt sich gegen andere Kräfte durch. Der Schrecken
und das Leid, das der Mensch verbreitet, entspringen einer (wenn auch si-
cher nicht immer explizit als solcher reflektierten) schöpfungstheologi-
schen Grundentscheidung: Wer glaubt, seine Macht nur so ausüben zu kön-
nen, dass er andere Wesen notwendig klein hält und im Extremfall töten
muss, ist weit entfernt von jenem alternativen Verständnis einer Macht, die
in der Ermächtigung anderer einen Gewinn für sich selbst erblicken kann.
Ist es nicht wesentlich plausibler, Gottes Allmacht jenseits des mechani-
schen Kräfte-Paradigmas so zu verstehen, dass Gott das Geschaffene nicht
macht- und kraftlos, regelrecht er-schöpft zurücklässt, sondern andere
durch seine Allmacht ermächtigt? Seine Macht ist wirklich kreativ, nicht
nur auf Seiten der Ursache zu verorten, sondern auch auf der Seite der Wir-
kung zu finden, ohne darin einen Widerspruch erleben zu müssen. Insofern
wäre die stärkere Einbeziehung panentheistischer Perspektiven ein mögli-
cher Beitrag zur Überwindung eines spezifisch theologisch-legitimierten
Gewaltpotenzials der Religion(en).

4 „Exposure“

Die vorherigen Anmerkungen lassen bereits erahnen, welcher Exposure-


Erfahrung – damit sind wir beim dritten von Norbert Mette vorgeschlage-
nem Schritt – sich eine emanzipatorische Theologie bzw. Religionspäda-
gogik aussetzen sollte. Auch theologische Theorien müssen „reisen“, wie
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 193

es Edward W. Said mit dem Konzept der „Travelling Theories“20 formu-


liert hat. Im Prozess des Reisens geschieht, so darf man hoffen, etwas mit
den bloßen Theorien‘, weil sie sich neu bewähren müssen und neue Prä-
senz erlangen können. Bereits der griechische Begriff ‚theoreia‘ bezeich-
net, so deutet der Historiker James Clifford dessen Etymologie, nicht nur
die Anschauung, sondern die durch einen Ortswechsel bedingte (Neu-) An-
schauung; streng genommen kann es demnach keine Theorie ohne einen
vollzogenen Ortswechsel geben.21 Emanzipation beginnt daher, so fasst es
auch der französische Philosoph Jacques Rancière gewissermaßen in einer
Überblendung des klassischen religionspädagogischen Dreischritts auf, so-
bald „man versteht, dass Sehen auch eine Handlung ist, die diese Vertei-
lung der Positionen bestätigt oder verändert.“22 Es kann demnach kein un-
schuldiges Sehen geben, das nicht zugleich schon den Reflex eines – re-
produzierenden oder verändernden – Handelns trüge. Eine Reise wert wä-
ren insofern gerade jene exotischen Orte, die im Alltag meistens vermieden
werden. Schlachthöfe, Tiertransporte, Versuchslabore, Tierfabriken, Zoos
usf. zeigen einen ungeschönten Blick auf das Leben und Sterben aller We-
sen, denen der Luxus einer zugeschriebenen Emanzipationsfähigkeit bzw.
-bedürftigkeit bislang verwehrt geblieben ist, und dies (fast) immer auch
im Namen der Theologie. Aus eben diesem Grund – um es ein letztes Mal
zu sagen – impliziert Befreiung Religionskritik, gerade auch im Namen der
jeweiligen Religion selbst – logischerweise.

20 SAID, Edward W.: The World, the Text and the Critic, Cambridge: Univ. Press 1983,
226–247.
21 CLIFFORD, James: Notes on Travel and Theory, in: DERS. / DHARESHWAR, Vivek (Hg.):
Travelling Theories, Travelling Theorists 5 (1989), 177–188.
22 RANCIÈRE, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen Verlag 2010, 23.
194 Simone Horstmann

Autorinnenangaben: Simone Horstmann, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeite-


rin am Lehrstuhl für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theolo-
gie der TU Dortmund; Forschungsschwerpunkte: Theologische Ethik, Tiertheolo-
gie und -ethik, Didaktik der Systematischen Theologie.
Politische Religionspädagogik –
ein kritisch-emanzipatorischer Ansatz

Judith Könemann

Abstract: Der vorliegende Artikel untersucht, ob und wie der in der Pädagogik
wieder aufkommende kritisch-emanzipatorische Ansatz für eine Religionspädago-
gik fruchtbar gemacht werden kann. Dazu wird ein Ansatz von Religionspädago-
gik, der diese als politische versteht, grundgelegt. Ausgehend von begrifflichen
Bestimmungen der Begriffe Emanzipation und Mündigkeit und den semantischen
Bedeutungsverschiebungen, die die Begriffe in ihrer Geschichte erfuhren, werden
die Anschlussmöglichkeiten für die Religionspädagogik aufgezeigt, die in drei As-
pekten liegen: der selbstreflexiven Wendung des Begriffs Emanzipation, der en-
gen Verbindung und Aufeinanderbezogenheit der Begriffe Emanzipation und
Mündigkeit und in der den Begriffen inne liegenden prozessualen Dynamik.

Um den kritisch-emanzipatorischen Ansatz in der Erziehungswissenschaft


und der politischen Bildung ist es in den vergangenen Jahren, ja Jahrzehn-
ten, still geworden. Gleiches gilt für die Religionspädagogik: auch hier lie-
gen die Zeiten intensiverer Auseinandersetzungen um einen kritisch-eman-
zipatorischen Ansatz im Kontext religiöser Bildung deutlich in der Ver-
gangenheit. Umso erfreulicher ist es, wenn dieser Band, die in der Religi-
onspädagogik wieder aufgekommene Debatte um Bildungsgerechtigkeit
und eine politische Religionspädagogik1 aufgreift und auf die Frage nach

1 Vgl. dazu KÖNEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und Gerechtigkeit. Wa-
rum religiöse Bildung politisch sein muss, Ostfildern: Grünewald 2013 (Bildung und
Pastoral, Bd. 1); GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik, Bestandsauf-
nahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Re-
ligionsunterrichts, Stuttgart: Kohlhammer 2009.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_11
196 Judith Könemann

einem kritisch-emanzipatorischen Ansatz in der Religionspädagogik aus-


weitet.

In diesem Beitrag soll der kritisch-emanzipatorische Ansatz in den Kontext


einer politischen Religionspädagogik eingeordnet werden und nach seinem
Potential für die Religionspädagogik gefragt werden. Dazu werden zu-
nächst das Anliegen einer politischen Religionspädagogik, ihre Genese
und das zugrundeliegende Politikverständnis skizziert, um davon ausge-
hend die Anschlussmöglichkeiten von Emanzipation und Religionspäda-
gogik auszuloten und Möglichkeitsräume zu erschließen, wie ein Rekur-
rieren auf das Anliegen einer kritisch-emanzipativen Pädagogik möglich
ist.

1 Anliegen und Genese einer politischen Religionspädagogik

Innerhalb der Religionspädagogik gehörte das Politische zu keinem Zeit-


punkt wirklich zum Mainstream in der Religionspädagogik, allerdings gab
es zeitgleich mit den Debatten in den Erziehungswissenschaften in den
1960/70er Jahren eine lebendige Diskussion um die Selbstbeschreibung
der Religionspädagogik als einer politischen.2 Historisch verortet war diese
Debatte in den vorgängigen Auseinandersetzungen der 1950er Jahre inner-
halb der katholischen Kirche um die Anerkennung der noch jungen Staats-
form der Demokratie. Es ist das Verdienst Theodor Filthauts, die politische
Erziehung und die Erziehung zur Demokratie als wesentliche Aufgabe re-
ligiöser Erziehung zu betrachten und auf den engen Zusammenhang von
religiöser Bildung und politischen Fragestellungen hinzuweisen:

2 Vgl. FILTHAUT, Theodor: Politische Erziehung aus dem Glauben, Mainz: Grünewald
1965; RICKERS, Folkert: Religionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsent-
würfe im Überschneidungsfeld, Stuttgart: Calwer 1973.
Politische Religionspädagogik 197

„Der Glaube wird selbst um seine volle Realisierungskraft gebracht, wenn man
seinen Bezug zur politischen Wirklichkeit negiert. Dieser Teil ist heute ein we-
sentlicher Teil des Weltverständnisses und des Weltverhältnisses des Christen
überhaupt.“3

Der christliche Glaube – so Filthaut – gerate nicht nur ins Hintertreffen,


sondern verfehle sein ureigenes Selbstverständnis, wenn nicht aus ihm her-
aus ein Beitrag dazu geleistet würde, Christen und Christinnen zur verant-
wortlichen Beteiligung an der Gestaltung des demokratischen Staates an-
zuhalten. Auf das Engste war für Filthaut eine solche politische Erziehung
aus dem Glauben heraus mit einem öffentlichen Eintreten für Gerechtig-
keit, Frieden und Solidarität verbunden, welches dann in den 1990er Jahren
im konziliaren Prozess für die Bewahrung der Schöpfung wieder aufge-
griffen wurde. Das Anliegen einer politischen religiösen Bildung mit ge-
sellschaftlicher Verantwortung fand seit Beginn der 1960er Jahre mehr
noch in der kirchlichen Jugendarbeit Niederschlag als im schulischen Re-
ligionsunterricht.

In den 1970/80er Jahren rücken neben der grundlegend politischen Aus-


richtung religiöser Bildung, insbesondere des Religionsunterrichts, wie bei
Filthaut die Erziehung und Bildung zur Mündigkeit und das Anliegen einer
politischen Selbstvergewisserung der Religionspädagogik, sowie die Not-
wendigkeit der Reflexion auf die eigenen Bedingungsgefüge und Verwo-
benheiten der Religionspädagogik in die gesellschaftlichen Bedingungen
und Veränderungsprozesse in den Mittelpunkt.4 In besonderer Weise ist
das Politische dem Konzept des problemorientierten Unterrichts einge-
schrieben, der – gegen jede Individualisierung und Privatisierung von Re-
ligion – davon ausging, dass eine religiöse Bildung nie unabhängig von der

3 FILTHAUt 1965 [Anm. 2], 3.


4 Vgl. RICKERS, Folkert: Die politische Aufgabe der Religionspädagogik, in: DERS. (Hg.):
Religionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsentwürfe im Überschneidungs-
feld, Stuttgart: Calwer 1973, 9–32.
198 Judith Könemann

Auseinandersetzung mit individuellen und insbesondere gesellschaftlichen


Fragestellungen erfolgen kann.5 So besteht sein Verdienst darin, für gesell-
schaftliche und globale Themen sensibilisiert und diese zum genuinen Be-
standteil religiöser Bildung gemacht zu haben. Verbunden wird die Dis-
kussion um eine politische Bildung im Kontext der religiösen Bildung in
dieser Zeit dann auch mit Fragen der Friedenserziehung sowie der Bildung
zu Gerechtigkeit und Solidarität.6

Spätestens in den 1980er Jahren allerdings verebbte die Diskussion in der


Religionspädagogik zeitgleich zum Abebben in den Erziehungswissen-
schaften und der Politikdidaktik. Mit der Konzentration auf die Kompen-
sation schwindender religiöser Sozialisation und dem dadurch gesehenen
Bedarf nach stärkerer Glaubensvermittlung und klar gefasster religiöser
Identität rückten eher ästhetisch und performativ geprägte religionsdidak-
tische Konzepte in den Vordergrund. Wenn eine politische Dimension in
Lehr- und Bildungsplänen und religionsdidaktischen Konzepten auftaucht,
dann eher in der Fokussierung auf individuell ausgerichtetes ethisches
Handeln.

Das Politische der Religionspädagogik rückte erst in jüngerer Zeit vor al-
lem im Kontext der Auseinandersetzungen um Bildungsgerechtigkeit in
den Vordergrund und führte entweder zu einem Verständnis von Religi-
onspädagogik, der das Politische als eine Dimension neben anderen einge-
schrieben ist, oder zu einer politischen Religionspädagogik, die das Poli-

5 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekon-


struktion, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2003.
6 Vgl. MISSALLA, Heinz: Art. Politische Bildung, Friedenserziehung, in: Handbuch reli-
gionspädagogischer Grundbegriffe, München: Kösel 1986, 313–317; RICKERS, Folkert:
Art. Politische (Erziehung, Sozialisation) Bildung, Politisches Lernen, in: RICKERS,
Folkert / METTE, Norbert (Hg.): Lexikon der Religionspädagogik Bd. 2, Neukirchen-
Vluyn: Neukirchener 2001, 1528–1534.
Politische Religionspädagogik 199

tische als konstitutiven Bestandteil ihrer selbst betrachtet, wie der hier ver-
tretene Ansatz.7

2 Das Politische und das Politikverständnis

Politische Religionspädagogik schließt in einem ersten Zugang an das Ver-


ständnis des Politischen, wie es von Hannah Arendt als umfassender Welt-
bezug des Menschen verstanden wird, an.8 Bereits in dem ursprünglichen
Gedanken der „polis“ ist die Idee, dass Politik im Sinne eines Politischen
alle angeht, grundgelegt. Hannah Arendt unterscheidet nicht zwischen den
Begriffen Politik und dem Politischen, sondern verwendet beide synonym.
Insbesondere aber ist Politik für Arendt immer etwas Relationales: „Politik
handelt von dem Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen
(Hervorh. im Original) […]. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Men-
schen, […] [sie] entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug“9.
Damit ist die Frage nach dem Wesen des Politischen vor allem, wenn auch
nicht nur, eine Frage nach dem Sozialen und der politischen Dimension
dieses Sozialen. Hier kann an die Klärung Bernhard Sutors angeschlossen
werden, dass nicht alles Soziale als politisch zu bezeichnen ist, aber dasje-
nige, welches das Miteinander der Menschen und die Regeln dieses Mitei-
nanders betrifft.10 Das Politische zielt so auf ein soziales Handeln, wenn
auch nicht auf jedes soziale Handeln, aber so doch auf eines, das auf Ent-
scheidungen und Steuerungsmechanismen ausgerichtet ist, die allgemein
verbindlich sind und das Zusammenleben von Menschen regeln.

7 GRÜMME 2009 [Anm. 1]; KÖNEMANN, Judith: Art. Politische Religionspädagogik, in:
WiReLex 2016 [abgerufen am 20.06.2019].
8 ARENDT, Hannah: Was ist Politik, hg. von Ursula Ludz, München: Piper 42010 (2003 /
1993).
9 EBD., 9; 11.
10 Vgl. SUTOR, Bernhard: Politische Bildung als Praxis. Grundzüge eines didaktischen
Konzepts, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 1992, 8.
200 Judith Könemann

Diesem Politikverständnis folgen auch die Veränderungen, die in der Po-


litikwissenschaft unter dem Begriff der „Governance Debatte“ gefasst wer-
den und das Politikverständnis dahingehend weiten, dass es sich nicht aus-
schließlich auf staatlich-institutionelles Handeln erstreckt.11 Damit sind die
Prozesse angesprochen, die heute in der Regel mit dem Konzept der Zivil-
gesellschaft beschrieben werden. Die Zivilgesellschaft wird als der orga-
nisierte Raum verstanden, der aus nicht-staatlichen und nicht-ökonomi-
schen Organisationen und Bewegungen besteht, die zwischen der Pri-
vatsphäre des Einzelnen und der Öffentlichkeit des demokratischen politi-
schen Systems vermitteln und so zum Raum der politischen Auseinander-
setzung wird. Die Kirchen werden nun als Teil dieser zivilgesellschaftli-
chen Öffentlichkeit verstanden, insofern sie zwischen der Sphäre des Ein-
zelnen und der Öffentlichkeit als intermediäre Organisation vermitteln und
ihre Ideen und normativen Vorstellungen wie z B. Vorstellungen von Ge-
meinwohl, Gerechtigkeit, Solidarität und gutem Leben in die Sphäre zivil-
gesellschaftlicher Öffentlichkeit einbringen.12

3 Zum Ansatz einer Politischen Religionspädagogik

Ausgehend von diesen Vorklärungen versteht der Ansatz einer politischen


Religionspädagogik nun – analog zur Politischen Theologie – das Politi-
sche als Ausgangs- und Reflexionshorizont ihrer selbst und dementspre-
chend als ein durchgängiges Handlungs- und Reflexionsprinzip. In diesem
Sinne geht sie davon aus, dass Religionspädagogik immer im Horizont des

11 Vgl. BENZ, Arthur / DOSE, Nicolai (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regel-
systemen. Eine Einführung, 2., aktualisierte und veränderte Auflage, Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
12 Vgl. KÖNEMANN, Judith / FRANTZ, Christiane / MEUTH, Anna-Maria / SCHULTE, Max:
Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik,
Paderborn: Schöningh 2015 (Gesellschaft – Ethik – Religion, Bd. 4), ferner KÖNE-
MANN, Judith: Weder „Staat“ noch „Privat“. Zur Rolle der Kirchen in zivilgesellschaft-
licher Öffentlichkeit, in: Orientierung 70 (2006), 202–207.
Politische Religionspädagogik 201

Politischen betrieben wird. Das eröffnet die Perspektive einer Wahrneh-


mung des Politischen in allen Themenbereichen auch dort, wo es lediglich
implizit bzw. eher indirekt oder gar unfreiwillig durch seine herausdefi-
nierte Abwesenheit vorhanden ist. Dadurch ist es auch möglich, den dis-
ziplininternen Reflexionsprozessen und blinden Flecken hinsichtlich der
politischen Relevanz religionspädagogischer Konzepte auf die Spur zu
kommen. Letzteres bedeutet nicht eine Politisierung der Religionspädago-
gik und der von ihr verantworteten und initiierten Bildungsprozesse, son-
dern kann im Sinne einer Einschreibung der politischen Signatur christli-
chen Glaubens verstanden werden, aus der heraus die Religionspädagogik
ihre Gegenstände und Themen, so etwa die Konzeptionierung, Initiierung
und Durchführung religiöser Bildungsprozesse, immer schon gestaltet und
reflektiert.

In Übereinstimmung mit einer Religionspädagogik, die das Politische als


eine Dimension neben anderen Dimensionen betrachtet und stärker von ei-
nem integrativen Modell13 ausgeht, wird hier die These vertreten, dass äs-
thetische, erfahrungsorientierte, performative, biographische Dimensionen
notwendige und unabdingbar nähere Bestimmungen einer politischen Re-
ligionspädagogik sind, da sie erst unter Einbezug dieser Dimensionen eine
genuin politische Religionspädagogik sein kann. Im Unterschied dazu wird
hier jedoch davon ausgegangen, dass das Politische nicht eine Dimension
neben anderen ist, sondern diesen Dimensionen als grundlegendes Refle-
xions- und Handlungsprinzip vorausliegt.14

Darüber hinaus ist zwischen der Religionspädagogik als wissenschaftli-


cher Disziplin, deren Gegenstand die Reflexion religiöser Bildungsprozes-

13 GRÜMME, Bernhard: Art. Politik, Religionsunterricht, in: WiReLex 2015 [abgerufen am


21.06.2019].
14 Vgl. auch KÖNEMANN 2016 [Anm. 8].
202 Judith Könemann

se ist, und den von ihr initiierten und verantworteten Bildungsprozessen an


den verschiedenen Lernorten selbst zu differenzieren. So bezieht sich die
Rede von einer politischen Religionspädagogik a) auf die Reflexion ihrer
eigenen wissenschaftstheoretischen Verortung und b) auf die Reflexion ih-
res Gegenstandes, also die religiösen Bildungsprozesse selbst und deren
theologisch-konzeptionelle Fundierung. Davon unterschieden ist die poli-
tische Dimension außerschulischer wie schulischer religiöser Bildungspro-
zesse neben den sie tragenden religionsdidaktischen Ansätzen, in denen
das Politische sowohl durchgängiges Prinzip als auch expliziter Gegen-
stand der Auseinandersetzung sein kann.

Das einer politischen Religionspädagogik zugrundeliegende Bildungsver-


ständnis zeichnet sich durch eine strikte Subjektorientierung aus. Insofern
es Bildung in einer ersten Bestimmung um das ‚Werden zu sich‘, um die
Entfaltung der eigenen Subjektivität geht, geht es ihr zu allererst um den
Menschen, um seine Existenz, um sein Leben-können und um die Mög-
lichkeit eines gelingenden Lebens. Letztlich geht es um das Heil des Men-
schen und damit – anders formuliert – auch um seine Subjektwerdung. So
zielt religiöse Bildung auch auf Mündigkeit, auf Partizipation, auf Verant-
wortungsübernahme als für gelingendes Leben wichtige Momente. Diese
Subjektwerdung des Menschen bzw. seine Mündigkeit ist nun in Bildungs-
prozessen jedoch insofern einem pädagogischen Paradox unterworfen, als
sie gerade und vor allem bei jungen Menschen nicht schon vorausgesetzt
werden kann, weil ihre Entwicklung ja Gegenstand des Bildungsprozesses
ist, sie gleichwohl aber in jedem Bildungsprozess so zu antizipieren ist,
dass unter höchst asymmetrischen Bedingungen ein Verhältnis vollständi-
ger Gleichheit angezielt und hergestellt werden soll.15

15 Vgl. PEUKERT, Helmut: Was ist eine Praktische Wissenschaft? in: FUCHS, Ottmar (Hg.):
Theologie und Handeln. Beiträge zur Fundierung der Praktischen Theologie als Hand-
Politische Religionspädagogik 203

4 Politische Religionspädagogik im Horizont eines


kritisch-emanzipativen Paradigmas

Betrachtet man die Ziele religiöser Bildung in den diversen schulischen


Lehrplänen oder aber Zielformulierungen außerschulischer Bildung, so
taucht ‚Emanzipation‘ nicht wörtlich auf, aber Mündigkeit, Selbstbestim-
mung, Demokratiefähigkeit und Verantwortungsübernahme gehören
selbstverständlich zum Kanon der Ziele religiöser Bildung. Mit Blick auf
die Religionspädagogik ist allerdings zu konstatieren, dass eine inhaltliche
Auseinandersetzung mit diesen zentralen Begriffen wie Emanzipation,
Mündigkeit und Autonomie oder Selbstbestimmung und eine Auslotung,
was sie in welcher Weise zu einer religiösen Bildung beitragen, die sich
als politisch fundiert versteht, noch aussteht, genauso wie eine genaue Ver-
hältnisbestimmung der Begriffe untereinander noch nicht geleistet ist.

Im Folgenden werden, nicht zuletzt im Anschluss an die wieder aufgekom-


menen gegenwärtigen Debatten um das emanzipatorische Paradigma, ei-
nige Überlegungen dazu angestellt, wie ein erneuter Anschluss an den To-
pos der Emanzipation möglich ist. Zuvor gilt es allerdings die Vorbehalte
und Kritiken gegenüber dem Emanzipationsansatz zu skizzieren, da sie
deutlich machen, dass hierbei nicht unmittelbar an die Konzepte der 1970er
Jahre angeschlossen werden kann.

Markus Rieger-Ladich sieht in seinen Beiträgen zur Mündigkeit vor allem


zwei Gründe, warum dem emanzipatorischen Paradigma eine insgesamt
nur kurze Blütezeit beschert war.16 Er nennt zum einen die Binarität der

lungstheorie, Düsseldorf: Patmos 1984, 64–79, 70; ferner METTE, Norbert: Religions-
pädagogik, Düsseldorf: Patmos 1994, 109–110.
16 RIEGER-LADICH, Markus: Pathosformel Mündigkeit. Beobachtungen zur Form erzie-
hungswissenschaftlicher Reflexion, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päda-
gogik 78 (2002), Heft 2, 153–183.
204 Judith Könemann

Begrifflichkeiten, wie wir sie heute verwenden, und verdeutlicht dies am


Beispiel des Begriffs Mündigkeit, den wir heute fast ausschließlich binär
als Mündigkeit im Unterschied zur Unmündigkeit kennen. Diese Binaritä-
ten verhinderten – so Rieger-Ladich – vor allem, Mündigkeit, aber auch
Emanzipation als Prozess- und Entwicklungsbegriffe zu verstehen, etwas,
das ihnen in ihrer Historie durchaus und lange zu eigen war. Der Verlust
der Prozesshaftigkeit hängt mit der semantischen Verschiebung der Be-
griffe seit der Aufklärung zusammen, in der sowohl die Begriffe Mündig-
keit wie Emanzipation über den Raum des Individuellen auf die gesell-
schaftliche Makroebene ausgedehnt wurden. Rieger-Ladich zeigt dies am
Programm Hans-Joachim Heydorns, der das Erreichen der individuellen
Mündigkeit an das Erreichen eines kollektiven Bewusstseinswandels ge-
bunden hat.17 Denn wenn das Erreichen des kollektiven Zustandes der ei-
gentliche Zielpunkt ist, also die Mündigkeit bzw. Emanzipation der Ge-
sellschaft, dann ist alles vor Erreichen dieses Zustandes Unmündigkeit o-
der nicht-emanzipiert. Der andere Grund liegt in einer völligen Überfrach-
tung des Erziehungs- und Bildungssystems, und zwar im Blick darauf, was
dieses alles leisten könne und solle, so z. B., wenn das Erziehungssystem
in besonderer Weise mitverantwortlich für die Lösung globaler Probleme
sei.18

Auf ganz andere Weise haben poststrukturalistische Entwürfe, vor allem


die Studien zur Macht von Michel Foucault, in jüngerer Zeit von Judith
Butler und die seit dem Ende der 1980er Jahre entwickelten Postcolonial
Studies darauf aufmerksam gemacht, dass – salopp formuliert – der Feind
nicht nur außen, sondern auch innen sitzt. Die Fremdbestimmung, von der
der Mensch sich zu befreien sucht, kommt eben nicht nur von außen auf
ihn zu, vielmehr hat er die disziplinierenden Machtmechanismen selbst in-

17 Vgl. EBD., 167.


18 Vgl. EBD., 165–168.
Politische Religionspädagogik 205

ternalisiert. Dass und wie diese Prozesse selbstinternalisierter Sozialkon-


trolle und die mit ihnen verschränkten Machtdiskurse eben gerade Effekte
historischer Diskurse sind, hat Michel Foucault ja gerade in seinen Studien
luzide und bahnbrechend herausgearbeitet.19 Die Erkenntnis über den Zu-
sammenhang von Täter*innen und Opfer und ihre wechselseitigen interna-
lisierte Verschränkung verdanken wir den Postcolonial Studies20, aber be-
reits Paulo Freire beschrieb zu Beginn der 1970er Jahre eindrücklich, wie
sehr die Unterdrückten an ihrer eigenen Unterdrückung mitarbeiten und
ihre eigene Herabsetzung sogar selbst rechtfertigen.21

Mit diesem ‚Entdeckungszusammenhang‘ des verschränkten Außen und


Innen der Machtdiskurse durch den Poststrukturalismus und die Postcolo-
nial Studies stellen sich auch die alten Fragen der kritischen Theorie wieder
neu: „Wann sind Wünsche eigentlich wirklich die eigenen Wünsche und
wie kann man sie von Zwängen unterscheiden?“22 Damit ist die anthropo-
logische Grundfrage verbunden, ob die Beteiligten selbst in der Lage sind,
ihre Verhältnisse zu kritisieren, wenn sie es nur wollen. Es ist also auch
eine Frage des Menschenbildes und die Frage nach dem Status des Sub-
jekts. Betrachtet man die gegenwärtigen Diskurse, so scheint der gemein-
same Nenner in den Analysen darin zu liegen, gegenüber einer pädagogi-
schen Machbarkeit zurückhaltender zu sein. Nichts anderes haben uns die
Kognitionswissenschaften und alle Erkenntnisse der Neurowissenschaften

19 Vgl. FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.
20 Vgl. SAID, Edward: Orientalism, London: Routledge & Keagan 1978; SPIVAK, Gayatri
Chakravorty. Can the subaltern speak?, Basingstoke: McMillan 1988.
21 Vgl. FREIRE, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Rein-
bek bei Hamburg: Rowohlt, 1973; DERS.: Erziehung als Praxis der Freiheit. Beispiele
zur Pädagogik der Unterdrückten, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1974.
22 SONDEREGGER, Ruth: Wie diszipliniert ist (Ideologie-) Kritik? Zwischen Philosophie,
Soziologie und Kunst, in: JAEGGI, Rahel / WESCHE, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frank-
furt am Main: Suhrkamp 42016, 55–80, 72.
206 Judith Könemann

darüber, wie Subjekte lernen, und wie wenig Einfluss wir letztlich auf die
individuellen Aneignungsprozesse des Subjekts haben, gelehrt.23

Dass es eines emanzipativen oder emanzipatorischen Ansatzes dennoch


bedarf und dieser mit dem politischen auf das Engste verbunden ist, soll
im Folgenden aufgezeigt werden. Reinhart Koselleck macht in seiner Be-
griffsbestimmung von Emanzipation auf eine semantische Bedeutungsver-
schiebung aufmerksam, die ich als besonders anschlussfähig für die hier
erörterte Fragestellung halte.24 Es geht um die Ausweitung der Bedeutung
und um die reflexive Wendung und Verwendung des Begriffs Emanzipa-
tion. Ursprünglich bezeichnet der Begriff im römischen Recht den aus-
schließlich legalen Rechtsakt, mit dem der ‚pater familias‘ den Sohn aus
der väterlichen Gewalt entließ, was sich weder an Bürger-, Handels- noch
Heiratsrechten festmachte, sondern ausschließlich vermögensrechtlich be-
stimmt war. Nur durch das Recht über Eigentum wurde der Sohn – Frauen
sowieso nicht – ‚sui iuris‘.25 Eine erste semantische Verschiebung erhält
der Begriff dadurch, dass ihm über die Naturrechtslehren ein Prozessele-
ment eingeschrieben wird: Emanzipation stelle sich im Sinne der Rechts-
fähigkeit durch das von Natur aus erreichbare Mündigkeitsalters von selbst
ein.26 Mit der Aufnahme des Verbs ‚emancipare‘ in den Volkssprachen in
Deutschland im 17. Jh. – andernorts auch deutlich früher – taucht nun erst-
malig ein reflexiver Gebrauch auf, der „ausgehend vom gewohnheitsrecht-

23 Vgl. CASPARY, Ralf (Hg.): Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik (=
Herder-Spektrum, Bd. 5763), Freiburg im Breisgau: Herder 2006, 54–69; ROTH, Ger-
hard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philoso-
phischen Konsequenzen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994; DERS.: Das Gehirn
nimmt die Welt nicht so wahr, wie sie ist, in: ECKOLDT, Matthias: Kann das Gehirn das
Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis,
Heidelberg: Carl-Auer-Verlag 2013.
24 Vgl. KOSELLECK, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik
der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 32016, 182–202.
25 Vgl. EBD., 185.
26 Vgl. EBD.,185.
Politische Religionspädagogik 207

lichen Sinn der Mündigwerdung, endlich eine Selbstermächtigung indi-


zierte, die von der Rechtssprache gerade ausgeschlossen war.“27 Mit dieser
semantischen Verschiebung in enger Verbindung mit der Ausweitung des
Begriffs über den rechtlichen Bereich auf menschliche Beziehungen allge-
mein setzt ein tiefgreifender Mentalitätswandel ein. Erstens gelangt in die-
ser selbstreflexiven Stoßrichtung das Subjekt zu neuer Bedeutung für den
Prozess der Emanzipation und zweitens dehnt sich der Begriff über das
Individuelle auf eine Emanzipation von Gruppen, Institutionen und Völ-
kern aus.28

Emanzipation beinhaltet nun spätestens seit der Aufklärung zugleich ein


statisches Moment im Sinne des Rechtsakts der Freisetzung und ein pro-
zessuales Moment im Sinne der Befreiung von Abhängigkeiten als Pro-
zess.29 An dieser Stelle verschränkt sich der Begriff mit dem der Mündig-
keit. Auch dieser Begriff geht zunächst ursprünglich auf einen Rechtsakt
zurück und beschreibt im Mittelalter ganz ähnlich wie beim Emanzipati-
onsbegriff das Heraustreten des Sohnes aus der väterlichen Abhängigkeit,
der ‚Munt‘ und die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben.
Ist dies geschehen, gilt der Sohn als mündig.30 Zugleich wird ‚mündig wer-
den‘ auch insofern als Prozess beschrieben, als die Rechtsfähigkeit mit ei-
nem bestimmten Alter erreicht wird. Kant versteht den Begriff der Mün-
digkeit in seinem berühmten Essay: „Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung?“31 als Entwicklungs- und Prozessbegriff, da er den Prozess
der natürlichen Reifung mit einem diese Reifung übersteigenden Prozess,
der als Emanzipation beschrieben wird, verbindet. „Die Aufklärung als Sti-

27 EBD., 186.
28 Vgl. EBD., 186–187.
29 Vgl. EBD., 188.
30 Vgl. Rieger-Ladich 2002 [Anm. 17], 157.
31 Vgl. KANT, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Was ist Auf-
klärung?, in: Gesammelte Werke Bd. VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998 [5. überprüfter Nachdruck von 1964], 53–61.
208 Judith Könemann

mulans und als Vollzug der Mündigwerdung erstreckt sich damit auf eine
Zeit, die den einmaligen Rechtsakt einer Emanzipation übersteigt.“32

Diese ansatzhaften semantischen Klärungen machen zweierlei deutlich:


Zum einen, dass Mündigkeit vielleicht mehr noch als der Emanzipations-
begriff als Entwicklungs- und Prozessbegriff verstanden werden kann und
zum anderen, wie eng die beiden Begriffe zusammenhängen, ja fast inei-
nander verschränkt sind.
„Die Mündigkeit, die sich von Natur aus mit jeder nachrückenden Generation
aufs neue (sic!) einstellt, sie wurde zur geschichtlichen Zukunftsperspektive einer
sich politisch selbst beherrschenden Menschheit. Teils Wirklichkeit, teils Ziel,
wurde damit ein prozessuales Geschehen umschrieben, für das sich bald danach
der Ausdruck Emanzipation durchsetzte.“33

Religionspädagogisch lässt sich nun an diese drei Aspekte anschließen: an


die selbstreflexive Wendung des Begriffs Emanzipation, an die enge Ver-
bindung von Emanzipation und Mündigkeit und an die prozessuale Dyna-
mik.

Nimmt man das selbstreflexive Moment der Emanzipation im Kontext ei-


ner politischen Religionspädagogik zum Ausgangspunkt, wird deutlich,
dass Emanzipationsprozesse, die auf das Subjekt zielen, nicht von außen
initiiert werden können. Überspitzt gesagt: Wir können nicht jemand an-
deren emanzipieren, mit Ausnahme des Verbleibs bei der ursprünglich aus-
schließlichen legalen Bedeutung des Rechtsakts. Das bedeutet: emanzipie-
ren – nimmt man die selbstreflexive Wendung ernst – kann das Subjekt nur
sich selbst. Damit trägt man auch den Erkenntnissen der Kognitionswis-
senschaften und allen Forschungen über die selbstorganisierten Aneig-
nungsprozesse des Subjekts Rechnung. Gleiches gilt für Mündigkeit oder
ein ‚mündig werden‘, um es prozessual zu formulieren. Dieser Prozess

32 KOSELLECK 2016 [Anm. 25], 188.


33 EBD.
Politische Religionspädagogik 209

kann nur vom Subjekt selbst geleistet werden. Nun ist aber auch das Ziel
der ‚Mündigkeit‘ als Zustand nicht statisch und immer gegeben, sondern
beinhaltet ein dynamisches Moment. Man kann seine Mündigkeit auch
wieder verlieren, z. B. durch einen Rechtsakt, in dem jemand entmündigt
wird, oder durch Krankheit, die eben genau das verhindert, was Mündig-
keit meint, nämlich ein unabhängiges Nutzen der eigenen Verstandesmög-
lichkeiten und der darauf basierenden Urteilsfähigkeit.

Kommt dem Emanzipationsbegriff nun das selbstreflexive Moment des


‚ich emanzipiere mich von etwas‘ zu, so beinhaltet der Mündigkeitsbegriff
mit dem Anklang an den Reifungsprozess wie bei Kant auch ein passives
Moment, denn Reifung geschieht in der Regel ohne das aktive Zutun des-
oder derjenigen, der oder die reift. Es braucht jedoch eine gedeihliche Um-
gebung, die den Prozess der Reifung ermöglicht und unterstützt. Beide Be-
griffe, Emanzipation wie Mündigkeit, tragen aber auch Spuren des ur-
sprünglichen Rechtsaktes in sich. Die Bezogenheit aufeinander und die
Verschränkung der Begriffe Emanzipation und Mündigkeit miteinander
kann nun so verstanden werden: Beschreibt Mündigkeit den Prozess der
Entwicklung im Sinne der Reifung (auf einen hoffentlich zu erreichenden
Zustand hin), so ist dieser begleitet von Akten der selbstreflexiven Eman-
zipation, in denen sich das Subjekt in diesem Prozess des ‚Mündig-Wer-
dens‘ immer wieder von etwas emanzipiert. Gleichzeitig sind beide Pro-
zesse reziprok aufeinander bezogen und bedingen sich wechselseitig.

Es ist nun die Aufgabe von Lern- und Bildungsprozessen, das Subjekt in
diesem Prozess seines ‚Mündig-Werdens‘ und ‚sich Emanzipierens‘ zu be-
gleiten und formale wie inhaltliche Bedingungen zur Verfügung zu stellen,
die diesen Prozess befördern. Jedem Subjekt eignet anthropologisch das
Potential zur Mündigkeit und zum sich Emanzipieren, auch wenn dieses
Potential im konkreten Lebenszusammenhang noch nicht entwickelt oder
entfaltet ist, wodurch auch immer beschädigt wurde oder aber vom Subjekt
selbst verweigert wird. Im pädagogischen Prozess gilt es nun, dieses Poten-
210 Judith Könemann

tial so zu antizipieren, dass unter den Bedingungen von individueller und


struktureller Ungleichheit Gegenseitigkeit und Reziprozität hergestellt
wird und zum Grundprinzip des pädagogischen Prozesses wird. Es geht
darum, wie Helmut Peukert formuliert hat,
„ob eine praktische Theologie […] sich bei der theoretischen Bestimmung christ-
licher und kirchlicher Praxis an Modelle technisch-strategischen Handelns an-
schließt oder an Modelle eines intersubjektiven Handelns, in dem der Handlungs-
partner schon immer als gleichberechtigter, autonomer, selbst urteilsfähiger Part-
ner anerkannt wird, gerade wenn er in der Position des Schwachen ist, als ein
Partner, der dem Handelnden begründet widersprechen und ihn überfragen kann,
so dass beide erst aus dem Miteinander-Handeln eine gemeinsame Handlungsori-
entierung finden und ihre Identität gewinnen können.“34

Es gilt also unter Bedingungen äußerster Ungleichheit ein Verhältnis voll-


ständiger Gegenseitigkeit zu ermöglichen.35 So kann das geschehen, was
Henning Luther mit dem Wachsen des Subjekts „zur Höhe seiner selbst“36
bezeichnet hat.

Nimmt man diese normative Bestimmung des pädagogischen Prozesses als


Ausgangspunkt pädagogischen Handelns und nimmt man die wechselsei-
tige Bezogenheit von Mündigkeit und Emanzipation aufeinander ernst, vor
allem das selbstreflexive im Unterschied zum aktiven Moment der Eman-
zipation, so ist damit auch ein Schutz gegenüber jedweden heteronomen
und hegemonialen Überformungen des Subjekts gewährleistet. Denn in der
Anerkenntnis, dass dieser Prozess nicht ‚gemacht‘, sondern nur begleitet
werden, im schlimmsten Falle gebremst oder verhindert werden kann, liegt
die Anerkenntnis der ‚Nicht-Machbarkeit‘ dieses Prozesses und darin liegt
auch ein Schutz, wenn auch keine Garantie vor Missbrauch.

34 Vgl. PEUKERT 1984 [Anm. 16], 77–78.


35 Vgl. EBD., 64–79, 70.
36 LUTHER, Henning: Religion, Subjekt, Erziehung. Grundbegriffe der Erwachsenenbil-
dung am Beispiel der Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls, München: Kaiser
1984, 60.
Politische Religionspädagogik 211

Nun könnte das hier Gesagte im Sinne einer individualistischen Verkür-


zung missverstanden werden, und zwar in einer doppelten Hinsicht. Zum
einen kann gefragt werden, inwiefern das strukturelle Moment und die äu-
ßeren Bedingungen, auf die die Rede von der Emanzipation immer auch
zielt, zu wenig Berücksichtigung finden, und zum anderen, eng damit zu-
sammenhängend, ob das Bildungssystem mit dieser Konzentration auf das
Individuum als System, das auch Strukturen setzt und abbildet, nicht zu
sehr entlastet wird.

Zum ersten: Damit solches nicht geschieht, bedarf es insbesondere des äu-
ßeren, außerhalb des Subjekts liegenden, eben nicht selbstreflexiven Mo-
ments der Emanzipation. Denn, für das Schaffen von Bedingungen, die
dem Lern- und Bildungsprozess des Subjekts förderlich sind, und die das
Werden von Mündigkeit und Emanzipation ermöglichen, bedarf es zwin-
gend einer Emanzipation, die eben nicht selbstreflexiv, sondern auf das
Kollektiv und das System, in diesem Falle auf das Bildungssystem bezogen
ist und emanzipative, d. h. befreiende äußere Akte inhaltlicher, strukturel-
ler oder auch politischer Natur setzt. Solche Handlungen oder Akte sind
notwendig, um den selbstreflexiv bezogenen Prozess der Emanzipation
beim Subjekt zu unterstützen, zu erleichtern und zu befördern. Diese Hand-
lungen jedoch kann nicht das Subjekt aus sich selbst heraus leisten, dazu
bedarf es zwingend der vom jeweiligen System oder Institution getragenen
emanzipatorischen Akte.

Zum Zweiten: Das hier formulierte streng beim Individuum ansetzende


Konzept schließt weiterreichende kollektive gesellschaftliche Veränderun-
gen, die durch einen emanzipatorischen Ansatz befördert werden sollen,
nicht aus. Allerdings erfolgen solche Veränderungen nicht über das Sys-
tem, sondern immer nur über die einzelnen Individuen, die Veränderungen
anstreben, und die für deren Realisierung arbeiten. Die Aufgabe des Bil-
dungssystems ist es, Individuen so zu bilden und entsprechende Bedingun-
gen zur Verfügung zu stellen, dass Heranwachsende fähig werden, sich als
212 Judith Könemann

aktive Bürger und Bürgerinnen handelnd in die Zivilgesellschaft einzu-


bringen und dort politische Prozesse zu gestalten. Einem emanzipatori-
schen Ansatz kommt immer beides zu, das selbstreflexive Moment der je
eigenen Entwicklung der Mündigkeit, nicht zuletzt mittels eigener eman-
zipativer Akte, und das strukturelle Moment, in dem die Entwicklung des
Subjekts durch äußere emanzipatorische Akte begleitet wird, die ihrerseits
geeignet sind, den individuellen Prozess des Subjekts zu unterstützen.

Eine zentrale Frage der Kritischen Theorie und auch der 1970er Jahre war
die Frage danach, ob und inwieweit die Individuen eigentlich in der Lage
sind, ihre ‚eigenen‘ ‚wahren‘ Bedürfnisse zu entdecken oder nicht, und ob
sie in der Lage sind, die eigenen Verhältnisse zu kritisieren. Es wird immer
wieder Situationen geben, in denen Individuen das eigene Eingebunden-
sein und Mitwirken an unterdrückenden Strukturen nicht wahrnehmen,
weil sie kognitiv und affektiv nicht in der Lage sind, oder weil ihnen ein-
fach das nötige Wollen dazu fehlt. In solchen Fällen wird auch ein aus-
schließlich von außen herangetragener emanzipatorischer Prozess nicht
möglich sein, denn schon dieser wäre bereits eine Übermächtigung des An-
deren. Letztlich ist pädagogisch nur mit dem zu arbeiten, was in der eman-
zipatorischen Pädagogik von Paulo Freire ‚Bewusstseinsbildung‘ heißt
und die Arbeit an den so genannten generativen Themen bedeutet.37 Ge-
meint ist der Prozess, Menschen darin zu begleiten, ihre generativen The-
men, d. h. Themen, die sie existentiell beschäftigen, zu entdecken, mit den
Menschen an diesen zu arbeiten und dabei hegemoniale Verstrickungen
aufzudecken sowie Empowermentprozesse zu initiieren. 38 Schon in den
1950er Jahren machte die Aktionsforschung, die zurzeit unter dem Stich-

37 Vgl. FREIRE 1973 [Anm. 22].


38 Vgl. EBD.; sowie die Arbeiten im Kontext von interkultureller Pädagogik und auch Mig-
rationspädagogik, z. B.: MECHERIL, Paul (Hg.): Handbuch Migrationspädagogik, Wein-
heim: Beltz 2016; HERRIGER, Norbert: Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Ein-
führung, Stuttgart: Kohlhammer 52014.
Politische Religionspädagogik 213

wort der partizipativen Forschung ein Come-back erlebt, deutlich, dass


Menschen nur dann veränderungsbereit sind, wenn sie ein wirkliches Ver-
stehen für das zu Verändernde entwickeln, wenn sie also aktiv an der Ver-
änderungsarbeit ihrer selbst beteiligt werden.39 Jedwede Vorgabe eines ge-
nerativen Themas von außen jedoch wäre nur eine Fortsetzung der hege-
monialen Struktur und der Überfremdung mit fatalen Folgen. Die Folgen
bestimmter vorgegebener Auffassungen von ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Be-
dürfnissen lassen sich an den totalitären Systemen des 20. Jh. ablesen. Ins-
gesamt ist – im Unterschied zu den 1970er Jahren – nicht zuletzt aufgrund
der vielfältigen Erkenntnisse der Neurowissenschaften inzwischen Er-
nüchterung und vielleicht auch eine größere Bescheidenheit eingekehrt, die
davor schützt, die eigenen Machbarkeitsphantasien zu überschätzen. Mün-
digkeit und Emanzipation als eng zusammenhängende individuelle Ent-
wicklungsprozesse bedürfen der sorgfältig begleiteten, aber das Subjekt
nicht überfremdenden Erziehungs- und Bildungsprozesse, unter denen sich
die selbsttätigen Aneignungsprozesse des Subjekts entfalten können.

Autorinnenangaben: Könemann, Judith, Prof. Dr. theol., M.A., Professorin für


Religionspädagogik, Bildungs- und Genderforschung an der Katholisch-Theolo-
gischen Fakultät der WWU Münster.

39 Vgl. z. B. LEWIN, Kurt: Aktionsforschung und Minderheitenprobleme, in: LEWIN, Kurt


(Hg.): Die Lösung sozialer Konflikte, Bad-Neuheim: Christian-Verlag 1948, 278–298;
heute: UNGER, Hella von: Partizipative Forschung, Einführung in die Forschungspraxis,
Wiesbaden: Springer VS 2013; WÖHRER, Veronika / ARZTMANN, Doris / WINTERSTEL-
LER, Teresa u. a.: Partizipative Aktionsforschung mit Kindern und Jugendlichen, Wies-
baden: Springer VS 2017.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse –
medial gespiegelt

Viera Pirker – in Response auf Judith Könemann

Abstract: Angeregt durch den Beitrag von Judith Könemann im vorliegenden


Band erfolgen hier konzentrierende Beobachtungen zu subjektorientierten Bil-
dungsprozessen der gegenwärtigen politischen und religiösen Landschaft, die in
unterschiedlichen medialen Spiegeln geschärft werden. Mit dieser Konkretisie-
rung geht das Risiko der Annahme einher, dass die Subjektorientierung die Reli-
gionspädagogik daran hindert, auf strukturelle Bedingungen und Erfordernisse für
eine kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung, die sich im Horizont des Politi-
schen versteht, hinzuwirken.

1 Schöpfungsverantwortung: Strukturell und Individuell

Meine Überlegungen beginnen im Kino: Im Herbst 2017 hatte der Film


FIRST REFORMED von Regisseur Paul Schrader seine Weltpremiere bei den
Festspielen von Venedig.1 Die Handlung ist rasch erzählt: Ein an sich
selbst und seiner Aufgabe zunehmend verzweifelnder Pastor einer kleinen
calvinistischen US-Gemeinde (Ethan Hawke in der Hauptrolle) begegnet
als Seelsorger einem radikalen Umweltaktivisten. Obgleich alle Erfolg-
saussichten außerhalb der Reichweite seines eigenen Handelns liegen, ar-
gumentiert und handelt der Aktivist zutiefst kritisch-politisch, indem er die
persönliche Verantwortung für eine gemeinschaftliche Angelegenheit ra-
dikal ernstnimmt. Doch er verfällt in Zukunftsangst und zunehmend auch
in aggressive Depression – denn er will unter keinen Umständen ein Kind
in die am Horizont aufscheinende ökologische Hölle setzen, doch seine
Partnerin ist im 5. Monat schwanger. In einem großen Gespräch bemüht

1 Vgl. die Kritik von EVERSCHOR, Franz: First Reformed, in: https://www.filmdienst.de/
film/details/561767/first-reformed#kritik [abgerufen am 24.04.2019].

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_12
216 Viera Pirker

sich der Pastor, den Aktivisten spirituell individualistisch zu beschwichti-


gen, zu trösten und ihm Halt mit der Perspektive auf eine stabile familiäre
Lebensstruktur zu geben. Der Pastor selbst setzt die Zukunft und das Leben
über alles, nicht zuletzt, weil er eine eigene Schuld nicht hinreichend ver-
arbeiten kann. Als Militärpastor hat er seinem einzigen Sohn den Kriegs-
dienst aufgedrängt, den dieser nicht überlebt hat. Als Seelsorger scheitert
er erneut auf ganzer Linie, als der Umweltaktivist sich selbst tötet, und
mehr noch, er verliert über das Gespräch mit dem jungen Mann selbst sei-
nen eigenen, ohnehin schon labil gewordenen Glauben. Der Pastor sinkt
zunehmend in Verzweiflung und macht sich mehr und mehr die radikale
Haltung und die kontrollierte Aggressivität des Umweltaktivisten zu eigen.
Er sucht nach einer eigenen Positionierung, auch im Kontext der Ge-
meinde, die ihrerseits kompromittiert ist in den lokalen politischen Gege-
benheiten, und er findet keine Antwort und keinen Ausweg, bis ihm die
Frau des Aktivisten ihre Hand und ihren Halt anbietet, wo doch eigentlich
sie sich an ihn lehnen will.

Regisseur Paul Schrader ist in der theologischen und religionswissen-


schaftlichen Filmwelt durch seine 1972 veröffentlichte Entwicklung und
Analyse des „transcendental style in Film“ bekannt geworden, Überlegun-
gen, die er 2018 auf das Kino der Gegenwart hin erweitert hat.2 Er wendet
in seinem Film FIRST REFORMED ausdrücklich Techniken des slow cinema

2 SCHRADER, Paul: Transcendental Style in Film: Ozu, Bresson, Dreyer. With a New In-
troduction: Rethinking transcendental style, San Diego: University of California Press
2018. Transcendental Style bedeutet die Abkehr des Art-House-Films von narrativen
hin zu ästhetischen Strukturen, weg vom Storytelling und hin zur Erschaffung einer
transzendentalen Film-Realität, die aus sich heraus eine spirituelle Ästhetik erzeugt.
SCHRADER (EBD., 3) beschreibt dies beispielsweise durch verspätete und nicht mit der
Handlung akkordierende Schnitte, feststehende Kamera, den Verzicht auf Einsatz von
Musik, lückenhafte Erzählweise und Überhöhungen des Alltäglichen. Solche filmi-
schen Mittel erzeugen bei den Zuschauer*innen ein Gefühl des Unwohlseins, welches
sie für sich selbst beantworten und ergänzen müssen.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 217

an, so in langen, vorwiegend statischen Kameraeinstellungen, einer höchst


reduzierten Ausstattung und in sparsamen Dialogen.3 Schrader erzählt sei-
nen Film sehr zurückhaltend, ohne die Zuschauer*innen durch filmische
Mittel zu überwältigen, doch gerade darin zeigen sich die politischen und
religiösen Dimensionen von Klimakrise und Zukunftsangst größer, apoka-
lyptischer und ernsthafter, als dass sie sich ohne Weiteres in einen christ-
lichen Deutehorizont, in eine Botschaft oder einen Auftrag, einordnen lie-
ßen. Und zugleich platziert Schrader die scheinbar einzig mögliche Ant-
wort innerhalb des anthropologischen Deuterahmens eines normalen Le-
bens, zu dem die strukturelle Überforderung, die begrenzten kleinen
Schritte, und das Weiterleben wider alle Verzweiflung, ein ‚Leben gegen
den Tod‘ gehören. In dem filmtheologischen Meisterwerk thematisiert
Paul Schrader das Schuldigwerden innerhalb von Strukturen, die schuld-
haft sind, ebenso wie die Notwendigkeit, Verantwortung für die gemein-
schaftlichen Dimensionen des Lebens zu übernehmen. FIRST REFORMED
liest und sieht sich wie ein Drama der Entscheidung zwischen Liebe und
Gerechtigkeit4, und kann so für die Suche nach Zukunftsperspektiven einer
kritisch-emanzipatorisch ansetzenden Theologie und Religionspädagogik
zum Anstoß werden, die sich einerseits zugleich konkret und global, ge-
schichtlich und gegenwärtig, ethisch und solidarisch verankert weiß, und
andererseits ihren Platz im Leben von Einzelnen, im individuell-biographi-
schen, sozialen und psychischen Erfahrungsraum von Menschen hat. Denn
sie ist an das Subjekt und seinen Erfahrungsraum gekettet, und sie kann
auf keinen anderen Fundus zurückgreifen, als auf den, der in der christli-
chen Überlieferung mitgegeben wird.

3 Zu den Techniken des Slow Cinema vgl. SCHRADER 2018 [Anm. 2], 11–18.
4 Vgl. GRUBER, Franz: Ist die politische Theologie am Ende?, in: Quart 4 (2006), 7–9, 8.
218 Viera Pirker

2 Der kritisch-emanzipatorische Ansatz einer politischen


Religionspädagogik

In nüchterner Klärung der Sachlage hat Judith Könemann die Frage nach
dem kritisch-emanzipatorischen Ansatz in einer politischen Religionspä-
dagogik aufgenommen und von Begriffsgeschichten und Fachgeschichte
her die Argumentation für das Politische in einer entschieden subjektori-
entierten Religionspädagogik konturiert.5 Dies hat sie in vier Teilen unter-
nommen: Zunächst (1) Anliegen und Genese einer politischen Religions-
pädagogik mit der Grundfrage, ob der Religionspädagogik ein politisches
Bewusstsein inhärent sei, gerade auch angesichts der vorzufindenden Kon-
zentration auf ästhetische und performative Paradigmen. Dann (2) Das Po-
litische und das Politikverständnis, mit der Klärung, dass ‚politisch‘ das
„Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen“ (Hannah Arendt)
meine, also eine Weitung auf das soziale Handeln, sowohl in staatlich-in-
stitutioneller als auch in zivilgesellschaftlicher Reichweite, wobei letztere
auch der Ort der Kirchen ist. Sie schließt Überlegungen (3) zum Ansatz
einer Politischen Religionspädagogik an, indem sie das Politische als
durchgängiges Handlungs- und Reflexionsprinzip der Religionspädagogik
platziert – grundlegend, und allen anderen Dimensionen (ästhetisch, erfah-
rungsorientiert, performativ, biographisch) vorauslaufend. Das Bildungs-
verständnis charakterisiert sie darin als „strikt subjektorientiert“6 – mit dem
„Werden zu sich“, der Entfaltung eigener Subjektivität „geht es ihr zu al-
lererst um den Menschen, um seine Existenz, um sein Leben-Können und
um die Möglichkeit eines gelingenden Lebens.“7 Theologisch gesprochen
geht es um das Heil des Menschen – und Subjektwerdung wird im reli-

5 Dieser Text ist als Response auf den Beitrag von Judith KÖNEMANN entstanden, orien-
tiert sich stark an diesem, und öffnet von dort her einige praktische und kontextuelle
Perspektiven für die Religionspädagogik, durchaus auch in ungesichertem Feld. Bezüge
auf den Text werden nicht mit Seitenzahlen ausgewiesen.
6 Vgl. den Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.
7 EBD.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 219

gionspädagogischen Kontext zwar nicht mit Emanzipation bezeichnet,


doch sie steht für eine religiöse Bildung in Verbindung mit gelingendem
Leben, Verantwortungsübernahme, Mündigkeit und Partizipation, Demo-
kratiefähigkeit sowie Selbstbestimmung. Solche Begriffe werden religi-
onspädagogisch beispielsweise als Zielformulierungen gern und viel be-
müht, sind aber, wie Könemann kritisiert, zugleich inhaltlich und in ihrem
Verhältnis zueinander erstaunlich unterbestimmt.8 Auf dieser Grundlegung
konturiert sie ausführlich eine (4) Politische Religionspädagogik im Hori-
zont eines kritisch-emanzipativen Paradigmas, mit der Grundfrage, wie in
das wissenschaftliche Fach und die auf das Fach zurückgehenden prakti-
schen Konsequenzen in der Strukturierung von Lehr-Lernprozessen ein
solches emanzipatives Paradigma einzuschreiben ist.

Im ersten Überblick teile ich viele der treffenden Beobachtungen, die Ju-
dith Könemann vorgebracht hat. Fachgeschichtlich geht mir die Frage
nach, wieso es so wenig impact der Politischen Theologie auf die Religi-
onspädagogik gegeben hat. Auf der Ebene von Vermittlungsinhalten und
Lerngegenständen haben ihre Anliegen durchaus Eingang gefunden, und
Religionspädagogik könnte auf dieser Ebene kritisch-emanzipatorisch ver-
standen werden, wie es Norbert Mette in seinem Überblick9 auch themati-
siert hat: Interreligiöse Begegnung, Eine-Welt-Arbeit, Christentumskritik
als Aufgabe der religiösen Erziehung, die Entwicklung von Charismen und
Talenten der Individuen, all dies sind – immer unter dem pädagogischen
und eschatologischen Vorbehalt der Nicht-Erreichbarkeit – wiederkeh-
rende Anliegen einer kritisch-emanzipatorischen, an Politischer Theologie

8 EBD. Früh schon hat Ulrike Greiner das Festhalten der Praktischen Theologie am „Ideal
eines ‚aufgeklärten mündigen‘ Subjekts und an dessen Selbstbewußtsein und Autono-
mie“ kritisiert, vgl. GREINER, Ulrike: Der Spur des Anderen folgen? Religionspädago-
gik zwischen Theologie und Humanwissenschaften (= Beiträge zur mimetischen The-
orie 11), Münster: LIT 2000, 306.
9 Vgl. den Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
220 Viera Pirker

geschulten Religionspädagogik. Doch Judith Könemann hat den Zugriff


auf der Ebene der Lerngegenstände grundsätzlich in Frage gestellt und dif-
ferenziert. Ihr zufolge muss es der Religionspädagogik vorrangig um eine
Analyse ihrer wissenschaftstheoretischen Verortung und daher um den ihr
eigenen Gegenstand, der „Reflexion religiöser Bildungsprozesse“ selbst
gehen, welche für sich zu diskutieren sind, abgegrenzt von praxisgebunde-
nen und religionsdidaktisch zu strukturierenden Inhaltsebenen und Lernor-
ten, in denen politische Dimensionen – wie beschrieben – durchaus vor-
kommen können.10 Daher werden sich auch die weiteren Überlegungen in
diesem Beitrag auf die Reflexion von „religiösen Bildungsprozessen“ als
grundsätzlichen Gegenstand der Religionspädagogik konzentrieren.

3 Politische Dimension religiöser Bildungsprozesse

Worin also liegt die politische Dimension von religiösen Bildungsprozes-


sen selbst? In ihnen liegt eine unglaubliche Macht für die Gestaltung des
Zusammenlebens von Verschiedenen, um in der Arendt‘schen Diktion zu
bleiben. Daher sind sie in ihrem Reichtum und ihrer Gefährdung gleicher-
maßen zu bedenken. Auf einer konkreten Ebene: Religiöse Bildungspro-
zesse können zu Selbstermächtigung führen, wie wir in der Forschung zur
Mitgliedschaft in Pfingstkirchen und damit verbundener Verbesserung in-
dividueller Lebenslagen erfahren haben,11 und wie sie in der Beobachtung
von Effektzusammenhängen von Spiritualität/Religiosität auf Gesundheit
zumindest vermutet wird.12 Sie führen aber auch zu religiös konturierter
Konservativität im Politischen, wie derzeit in Ungarn, Polen und den USA
zu sehen ist; prolife ist hier ein religiöser und politischer Kampfbegriff ge-

10 Vgl. den Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.


11 Vgl. RIESEBRODT, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der
„Kampf der Kulturen“, München: Beck 2000.
12 Vgl. BUCHER, Anton A.: Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Weinheim: Beltz –
PVU 2007, 100–136.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 221

worden. Die Frage nach dem guten Zusammenleben wird von unterschied-
lichen Menschen gegenwärtig unterschiedlicher beantwortet, als es ein
„kritisch-emanzipatives Paradigma“ erhoffen ließe, das auf Entwicklung
durch Wachstum und Bildung setzt – die Subjekte sind ‚widerständig‘ und
verweigern sich mitunter auch aktiv ihren Möglichkeiten, wie sich in An-
lehnung an die soziologische Identitätsanalyse von Jean-Claude Kaufmann
zeigen lässt.13 Es ist eine Parallele zwischen dem Emanzipationsbegriff in
der Religionspädagogik und der Entwicklung des Identitätsbegriffs wahr-
zunehmen, die hier erläutert werden soll. Eine pädagogische Identitätsbe-
gleitung kann gar nicht anders, als eine Richtung, ein ‚Wohin‘ anzunehmen
und dieses auch emanzipatorisch zu formulieren. Sie füllt diese Richtung
mit einem subjektorientierten Bildungsverständnis, das zu mehr Freiheit,
Autonomie, Partizipation und Handlungsfähigkeit führt – Begriffe, die Kö-
nemann als ‚unbestimmt‘ kritisiert hat. Im Rahmen bedauerlicher politi-
scher Umbrüche in Europa sich manifestierende Gegenbewegungen zu ei-
nem kritisch-emanzipatorischen Bildungsideal können nicht ignoriert wer-
den. Vielmehr zeigen sie Grenzen einer pädagogischen Zielorientierung
auf.

Ein idealistischer, auf Entwicklung bezogener Identitätsbegriff, den die Pä-


dagogik auf Grundlage von Erikson und Mead emanzipatorisch durchfor-
muliert hatte, hat sich angesichts von Jugendlichen und Erwachsenen, die
bewusste oder unbewusste, aktive oder erzwungene Entscheidungen gegen
die pädagogisch untermauerte Potentialität der Identitätsentwicklung tref-
fen, als unzureichend erwiesen. Wenn Menschen wegen Religion ster-

13 Vgl. KAUFMANN, Jean-Claude: Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität, Kon-
stanz 2005; PIRKER, Viera: Wer hat, dem wird gegeben? Zur bildungspolitischen Prob-
lematik der Ressourcen(un)gerechtigkeit in einer identitätsbildenden Religionspädago-
gik, in: KÖNEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und Gerechtigkeit?! Wa-
rum religiöse Bildung politisch sein muss (= Bildung und Pastoral 2), Ostfildern: Grü-
newald 2013, 67–83, 73–77.
222 Viera Pirker

ben14, dann geschieht das in Konglomeraten, in denen religiöse Bildung –


vielleicht besser bezeichnet als religiöse Selbstbildung, Unbildung oder
Fehlbildung – massive politische Konsequenzen zeitigt. Wie die Pädago-
gik sich in einem Ausweichmanöver in die Differenzpädagogik verloren
hatte und gegenwärtig mit identitätspolitischen Strömungen zu kämpfen
hat, die unter dem Deckmantel des ‚Identitären‘ Ideen des Populismus und
des Totalitarismus salonfähig machen, haben Religionspädagogik und
Theologie auf solche – zugegeben extremen – politischen Dimensionen
von Religion nur sehr spärliche Antworten in der Fachgemeinschaft gefun-
den, obwohl diese auch und gerade in der medialen Repräsentation von
Religion gesellschaftlich hoch brisant diskutiert werden. Im bewussten und
unbewussten Ausschlagen von Möglichkeiten, in bewusster und unbe-
wusster Gegenpositionierung zu Freiheit und Autonomie, begegnet eine
andere, für kritisch-emanzipatorischen Ideale von Grund auf unverständli-
che und zutiefst widerständige15 Subjektwerdung.

Im öffentlichen Diskurs liegt eine immense Diskrepanz zwischen populis-


tischen Positionen, die lautstark eine strikte Trennung von Staat und Kirche
nach dem Modell des Laizismus fordern und Religionen in die Privatheit
abdrängen wollen, auch indem sie ausdrücklich gegen den schulischen Re-
ligionsunterricht Stimmung machen, und einer individualisierten, offen
nach außen getragenen Entscheidungsreligiosität, die sich inzwischen zur

14 Beispielsweise in den Fängen der Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘, beispiels-


weise bei Angriffen auf Gotteshäuser: Allein im Frühjahr 2019 wurden Muslime in
Moscheen in Christchurch, Christen in Kirchen in Sri Lanka und Burkina Faso, Juden
in einer Synagoge in Poway angegriffen und viele tödlich verletzt.
15 Vgl. weiterführend LEHNER-HARTMANN, Andrea: Dem Widerständigen Raum geben.
(Religiöses) Lernen jenseits gesellschaftlicher Einpassung, in: KROBATH, Thomas /
LEHNER-HARTMANN, Andrea / POLAK, Regina (Hg.): Anerkennung in religiösen Bil-
dungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven (= Wiener Forum für Theologie und
Religionswissenschaft 8), Göttingen: VR 2013, 165–176.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 223

religiösen Normalität in säkularen Gesellschaften entwickelt.16 Auch in


den großen christlichen Kirchen in Deutschland, Österreich und der
Schweiz haben sich konfessorisch-positionale Ansätze unter Jugendlichen
und jungen Erwachsenen entwickelt, die sich mit dem Begriffspaar ‚kri-
tisch-emanzipatorisch‘ nur schwer überein bringen lassen. Wer heute ent-
schieden christlich ist, so hat es den Anschein, trifft diese Option nicht un-
bedingt unter der Maßgabe der größeren Freiheit und Aufgeklärtheit. Die
im Frühjahr 2019 entflammte Debatte um den von der EKD finanzierten
Youtube-Kanal „Jana glaubt“, in dem die aktiv freikirchlich bekennende
Jana Highholder als offizielle social media-Botschafterin des evangeli-
schen Christseins agiert17, aber auch die sich ausbreitenden Aktivitäten der
„GiViCi“ (Global Video Church) gehören dazu, ebenso wie das durch
Social Media und charismatische Praktiken bekannt gewordene, sich dem
katholischen Spektrum zuordnende Gebetshaus Augsburg rund um Johan-
nes Hartl, dessen Ausrichtung inzwischen deutliche theologische Kritik18
hervorgerufen hat.

Mit Könemann eine politische Religionspädagogik als Ausgangspunkt und


Denkhorizont aller Religionspädagogik in der Gegenwart zu konzipieren,
quasi als ihr Alpha und Omega, erscheint attraktiv und vor dem Hinter-
grund der skizzierten Merkmale religiöser Formationen der Gegenwart un-
mittelbar einleuchtend: Denn darin könnte eine Positionierung in der Welt,
eine Gegenwarts-Anbindung, und auch eine strukturelle Gestaltungsper-
spektive stecken, die anderen Ansätzen vorauslaufen muss. Tatsächlich
aber droht eine solche politische Religionspädagogik gefährlich in die Fer-

16 Vgl. CHARIM, Isolde: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verän-
dert, Wien: Zsolnay 2018, 57–79.
17 Vgl. LEITLEIN, Hannes u. a.: Jana Highholder: Ist sie die Antwort?, in: Die Zeit. Christ
und Welt 14 (2019).
18 Vgl. NOTHELLE-WILDFEUER, Ursula / STRIET, Magnus (Hg.): Einfach nur Jesus? Eine
Kritik am „Mission Manifest“, Freiburg, Basel, Wien: Herder 2018.
224 Viera Pirker

ne zu rücken, wenn nicht gar in den luftleeren Raum. Denn inwiefern klärt
und positioniert eine politische Brille die Religionspädagogik konkret, in
ihrem kritisch-emanzipatorischen Handeln in Theorie, Forschung und Pra-
xis? Was macht, wie agiert, wozu begleitet eine politische Religionspäda-
gogik auf den beschriebenen Feldern?

Ich erlebe und verstehe das Christentum als eine von Grund auf eminent
politische Religion, in der sich Menschen entschieden zu den bestehenden
Verhältnissen ins Verhältnis setzen, mit diesen arbeiten und Zivilgesell-
schaft mitgestalten, keineswegs der Welt enthoben: ein „way of life“, wie
Edmund Arens sagte, kein „world view“19. Das bedeutet: Es kann über-
haupt kein christliches Leben geben, das nicht „politisch“ im Sinne von
„Gemeinschaft gestaltend“ ist. Communio ist sein Grundvollzug, mehr
noch als eine individuell und innerlich gelebte Pietas. Diese Communio
reicht von Christus her weit hinaus in die Welt, in die Gesellschaft der im-
mer sich wandelnden Gegenwart. Von den biblischen Wurzeln her betrach-
tet, eröffnen alttestamentliche Prophetie und Verheißung, ebenso wie die
neutestamentliche Predigt Jesu vom Reich-Gottes alternative Gesell-
schaftsmodelle in ihrer jeweiligen Zeit, und weiten den Blick auf ein ande-
res, mögliches und zu hoffendes Miteinander.20 Das Christentum hat sich
dabei in seiner machtförmigen Geschichte selten umstürzlerisch zu herr-
schenden politischen Gegebenheiten verhalten, wohl aber in einer steten
Praxis der individuellen Umkehr und einer steten Ermöglichung des ande-
ren Lebens, einer steten Offenheit: du kannst anders sein und anders leben,
dein einzelnes Leben zählt, als Beispiel und Möglichkeit, für dich und für
andere. Vielleicht ist genau dies eminent christlich, sich nicht opponent
gegen herrschende Realitäten zu wenden, sondern diese mit Methoden der

19 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Was wird aus Religion? Beobachtungen, Analysen und Fallge-
schichten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern: Grünewald 2018, 289.
20 Vgl. den Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 225

Rekonstruktion und Dekonstruktion anzufragen und tiefer zu ergründen,


und zugleich eine Hoffnung, die in eine Wahrheit gegründet ist, mit einzu-
bringen. Dass dies nicht gelingen muss, zeigt der eingangs beschriebene
Film FIRST REFORMED allzu deutlich. Dass dies gelingen kann, ist dennoch
eine wiederkehrende Erfahrung von Christinnen und Christen, die gestal-
tend in ihre Gegenwart eingreifen – und denen es darin nicht ums Gelingen
allein geht, sondern um eine immer wieder neue, veränderte und verän-
dernde Praxis.

4 Poststruktural und Postkolonial: Machtdiskurse und


Kontextbedingungen

In ihrer Entfaltung des kritisch-emanzipatorischen Paradigmas hat Judith


Könemann die Zusammenhänge einer politischen Religionspädagogik mit
dem poststrukturalistischen Blick und postkolonialen Perspektiven eröff-
net. Diese machen sichtbar, dass wir „die disziplinierenden Machtmecha-
nismen selbst internalisiert“21 haben – dass also gerade in Machtdiskursen
eine Verschränkung des Außen und Innen besteht.

Ein postkolonial geschärfter emanzipatorischer Ansatz ermöglicht und er-


fordert einen positionalen und persönlichen Blick, aber auch einen Blick
der différance. Emanzipatorisch ist nicht gleichbedeutend mit feministisch,
und doch ist die feministische Theologie eigens zu nennen als ein wesent-
licher Schritt, emanzipatorisch Theologie zu treiben, sich damit aber auch
der Erfahrung von Machtausübung und Silencing auszusetzen. Wissen-
schaftler*innen und Praktiker*innen der Theologie und der Religionspä-
dagogik stehen heute auf den Schultern von Riesinnen, die eine Vielzahl

21 Vgl. den Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.


226 Viera Pirker

theologischer Kämpfe ausgefochten haben, an welche die Erfahrungen


meiner eigenen wissenschaftlichen Kohorte wohl kaum heranreicht.

Derzeit sehen wir der römisch-katholischen Kirche beim Implodieren zu


angesichts des strukturellen Versagens am sexuellen und geistlichen Miss-
brauch Schutzbefohlener, insbesondere aber auch angesichts einer ausblei-
benden theologischen Antwort auf die Gewalt, die im Raum der Kirche
geschehen ist und weiter geschieht. Die Politische Theologie spricht auch
von den ‚Opfern der Geschichte‘, wenn sie die eigene Positionierung für
die Marginalisierten, die Ärmsten, die Ausgegrenzten, die Am-Rand-Ste-
henden der globalen Gesellschaft adressiert. Opfer der Kirche sind heute
mitten unter uns und doch seltsam unsichtbar. Ihre Perspektive als genera-
tiv für Theologie (und Ekklesiologie) zu verstehen, ist ein Gebot der
Stunde. Eine sich politisch verstehende Theologie kann nicht die klare Ka-
pitalismuskritik in der Enzyklika „Laudato si‘“22 affirmieren und zugleich
ausklammern, dass die kurialen Hierarchien kaum klare Worte angesichts
über Jahrzehnte strukturell verschleierter Gewalt im eigenen Haus finden.
Eine der römisch-katholischen Kirche inhärente Problemlage wirkt derma-
ßen fremd und schambesetzt, dass sie in den Handlungsbereich des „Bö-
sen“ und damit nach außen, außerhalb des eigenen Verantwortungsbe-
reichs gelagert wird. Gregor Hoff hat bei der Vollversammlung der Deut-
schen Bischofskonferenz im Frühjahr 2019 mit Michel Foucault im Hin-
tergrund die kirchliche Sakralmacht differenziert beschrieben, die sich in
der Macht-Ohnmacht-Konstellation zwischen einem Vertrauen auf die be-
freiende Macht des Glaubens und der bleibenden Angewiesenheit auf den

22 Papst FRANZISKUS: Enzyklika LAUDATO SI über die Sorge für das gemeinsame Haus.
Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Verlautbarungen des Apos-
tolischen Stuhls 202), Bonn 2015.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 227

sakramentalen Zugang zu der schöpferische Lebensmacht „Gott“ er-


streckt.23

Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, der den Vatikan in den letz-
ten Jahren bei der Einführung von Maßnahmen für den Kinderschutz be-
gleitet hat, verdeutlicht aus seinen Erfahrungen heraus unmissverständlich,
dass die kirchlichen Strukturen jetzt dringend Veränderung von innen be-
nötigen, die von außen nicht angestoßen werden können. Insbesondere
mahnt er eine ausbleibende theologische Antwort im Rahmen kirchlicher
Praxis an:
„Es gab keine theologische Haltung zum sexuellen Missbrauch, sie wussten nicht,
was sie beten sollten. […] Missbrauch ist etwas, mit dem die Kirche eigentlich
nichts zu tun hat, er hat nichts mit ihren ureigenen Glaubensgründen zu tun. Ein
innerer Kompass fehlte, der nicht von außen eingekauft werden kann, sondern
aus geistlichem Diskurs entstehen muss.“24

Auch dies kann als ein politischer Auftrag an Theologie und Religionspä-
dagogik verstanden werden, das institutionelle, kirchliche, religiöse Zu-
sammenleben im Glauben mit und neu zu gestalten, einen geistlichen Dis-
kurs zu führen – doch wie angesichts des von tiefen Gräben durchzogenen
Zueinanders von kirchlichen und theologischen Realitäten tragfähige Brü-
cken gebaut werden können, bleibt offen. Auffällig ist, dass eine sichtbare
Einmischung von Religionspädagogik und Praktischer Theologie in dieses
Dunkelfeld kirchlich geschützten Handelns bisher kaum zu verzeichnen
ist, obwohl gerade diese Fachbereiche wissenschaftlich als Anwälte von
Kindern und Jugendlichen in der Kirche agieren müssten.25 Die fachlichen

23 Vgl. HOFF, Gregor: Sakralisierung der Macht. Theologische Reflexionen zum katholi-
schen Missbrauch-Komplex, Lingen 2019.
24 FEGERT, Jörg: Empathie statt Klerikalismus. Chancen und Grenzen externer Unterstüt-
zung bei der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch, in: Stimmen der Zeit
144/3 (2019), 189–204.
25 Für den Fachverband DKV liegt ein deutlicher Appell vor mit KUTHE, Jens: Der Miss-
brauchsskandal und seine Folgen – ein Statement, in: unterwegs 1 (2019), 3–7.
228 Viera Pirker

Expertisen sind längst vorhanden.26 Doch versteht sich Religionspädago-


gik umfänglich als politische Lobby für Kinderrechte? Spricht Religions-
pädagogik nur für das Recht auf religiöse Bildung, oder sorgt sie sich auch
um das Recht auf gewaltfreie religiöse Bildung?

5 Individuelle und strukturelle Erfordernisse

Wo ist also ein Verbindungsglied zwischen einem individualistischen An-


satz kritisch-emanzipatorischer religiöser Bildung und den strukturellen
Erfordernissen? Judith Könemann hat die Gefahr einer sich hier öffnenden
Leerstelle natürlich gesehen. Individuelle Entwicklung in einer emanzipa-
torischen Bewegung kann nur in einem System geschehen, das daraufhin
auch offen ist. Und genau hier stellen sich mehrere weiterführende Fragen:
Wie kommt denn wirklich Bewegung in eine Struktur? Wie werden Struk-
turen emanzipatorisch und ermöglichend? Wie wird das, was als richtig
erkannt wird, in Strukturen hinein übersetzt? Wer tritt in diesen Strukturen
als Akteurin und als Akteur auf? Wer agiert politisch und religiös mei-
nungsbildend, wer beteiligt sich an der Entwicklung von institutionellen
Praktiken, und welche Rolle spielen in diesem Kontext Medien und digi-
tale Plattformen? Hier kommt Kritik ins Spiel – Carsten Bünger hatte sie
mit Heydorn als „ein praktisches Verhältnis zu den sozialen Lebensver-
hältnissen“27 konturiert, gerade auch angesichts einer ungeheuren vorge-
fundenen gesellschaftlichen Bewusstlosigkeit.28

26 Vgl. exemplarisch LEHNER-HARTMANN, Andrea: Einmischen oder wegschauen? Ge-


waltvorkommen in Familien als extreme Herausforderung an pastorales und religions-
pädagogisches Handeln, in: Theo-Web 2/2 (2003), 61–73; KERSTNER, Erika / HASL-
BECK, Barbara / BUSCHMANN, Annette: Damit der Boden wieder trägt. Seelsorge nach
sexuellem Missbrauch, Ostfildern: Schwabenverlag 2016.
27 Vgl. den Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band.
28 Vgl. BÜNGER, mit Verweis auf HEYDORN, Heinz-Joachim: Elemente einer Friedenser-
ziehung, 1969/2004, Bd. 2, 245–246.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 229

Die Religionspädagogik ist eingespannt zwischen zwei ausgeprägten, oft


trägen und stark geformten und formierenden Systemen – Schule und Kir-
che. Wie entfaltet sie darin ihr kritisches Potenzial? Wie wirkt Religions-
pädagogik also mit hinein in schulische Strukturen, die kritisch-emanzipa-
torische Bildung befördern und begleiten? Ist Religionsunterricht sensibel
für Ungerechtigkeitserfahrungen, denen Schülerinnen und Schüler im
Kontext von Schule ausgesetzt sind – exemplarisch steht dafür der von Ali
Can ins Leben gerufene Hashtag #metwo, mit dem bikulturelle Deutsche
alltägliche Diskriminierungserfahrungen und Rassismus beschreiben –, die
sie vielfach durch Lehrkräfte in der eigenen Schulzeit erlebt haben.29 Das
anhaltende Abwandern von Kindern aus bildungsorientierten Elternhäu-
sern aus dem öffentlichen Schulsystem hinein in Privatschulen stellt die
öffentliche Schule insgesamt auf die Probe. Gerade die Position kirchlicher
Privatschulen rückt beide Systeme auf eigenwillige Weise enger zusam-
men.

Die Konzentration der wissenschaftlichen Religionspädagogik als Fachdi-


daktik auf schulischen Religionsunterricht und auf dessen empirische Be-
obachtung erfolgt aus vielen Gründen30, und die Entfernung der Hauptli-
nien des Fachdiskurses vom kirchlich-katechetischen Ort religiöser Bil-
dung ist nicht ohne die Umgebungsrealitäten zu verstehen. Zugleich ereig-
nen sich Kernbereiche religiöser Bildung an ‚unordentlichen‘ Orten der
Bildung – in informellen und nonformalen Lernkontexten, jenseits von
Schule. Wird diese wesentliche Dimension religiöser Bildungsprozesse in

29 Vgl. GERRITZEN, Nana / TISCHEWSKI, Oda: Gleiche Leistung, schlechtere Noten. Ras-
sismus in der Schule 2019 (= SWR2.Wissen), in: https://www.swr.de/-/id=23268850/
property=download/nid=660374/s1b4du/swr2-wissen-20190330.pdf [abgerufen am
30.03.2019].
30 Kritische Positionierung bei ENGLERT 2018 [Anm. 16], 38; 239–308.
230 Viera Pirker

der wissenschaftlichen Religionspädagogik hinreichend und zielorientie-


rend begleitet?

Ist die Religionspädagogik als Fach und als Praxis gegenwärtig in der
Lage, an den skizzierten kirchen- und gesellschaftspolitischen Hotspots
strukturell emanzipatorische Konzepte zu entwickeln? Im schulischen
Kontext kann sie sich an die Seite der Schwachen stellen, an die Seite de-
rer, die individuell und anders sind und im Leistungssystem nicht voll lan-
den können. Religionslehrer*innen können sich im Rahmen von Schulent-
wicklung aktiv für eine Entwicklung des sozialen Miteinanders ausspre-
chen und in diesem Kontext auch wesentliche Arbeit leisten.31 Doch wie
geht eine religionspädagogische Begleitung zu Kritik und Emanzipation in
einer Kirche, die gegenwärtig kaum erkennbar selbstkritisch oder emanzi-
patorisch auf die befreiende Kraft des Evangeliums zu setzen scheint? In-
nerhalb des römisch-katholischen Kontexts, auf den die katholische Reli-
gionspädagogik konfessionell verwiesen und angewiesen ist, gestaltet sich
Emanzipation im Sinne einer strukturellen Entwicklung politisch träge und
ist kaum wahrzunehmen. Individuell und spirituell hingegen ist sie vielfach
kondensiert und in Begriffen der Unterscheidung, Berufung, Begleitung,
inneren Reife, religiösem Wachstum im Glauben zu verorten. Die Diskre-
panz zwischen den in europäischen Ländern selbstverständlichen und vom
EuGH vertretenen Grundrechten (z. B. Diskriminierungsverbot; Gleichbe-
handlung) und kirchlicher Praxis ist in einer demokratischen Gesellschaft
deutlich zu spüren. Die Verhältnisbestimmungen von Religionsgemein-
schaften und säkularer Gesellschaft sind insgesamt stark angefragt – die

31 STRUTZENBERGER-REITER, Edda: Religion in der Schulentwicklung. Eine empirische


Studie (= Praktische Theologie Heute 135), Stuttgart: Kohlhammer 2016; LEHNER-
HARTMANN, Andrea / PIRKER, Viera: Die Bedeutung von Religion in der Arbeit mit
geflüchteten SchülerInnen, in: ÖRF 26/1 (2018), 46–60.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 231

römisch-katholische Kirche steht in dieser Herausforderung keineswegs al-


leine da.

Auf symbolischer und emotionaler Ebene finden sich religiöse Dimensio-


nen nach wie vor gesellschaftlich verankert, wie sie in den Reaktionen auf
den Brand von Notre Dame am 15.04.2019 sichtbar wurden. Die algorith-
misch gebildeten trending topics im Kurznachrichtendienst Twitter filtern
exponentiell wachsende Themen heraus. Am 16.04.2019 vormittags laute-
ten die top twelve einvernehmlich und unpolitisch: Kirche – Gebäude –
Frankreich – Kathedrale – #NotreDameFire – Gesellschaft – Gefühl – Sor-
gen – Rolle – Kraft – Team – Jesus – Kritik. Doch solche religiösen Be-
deutungsschimmer scheinen nur momenthaft auf und entwickeln keine ge-
sellschaftsverändernde Konsequenz. Vielmehr können religionspolitische
Entscheidungen längst auch ohne Rückhalt der Kirchen getroffen werden,
wie die schnelle Abwicklung des Religionsunterrichts in Luxemburg ge-
zeigt hat.

Für die Religionspädagogik als Fach schwingt in einer strikten Orientie-


rung am Subjekt der einzelnen Lernenden auch ein willkommener Ausweg
mit: Da die Strukturen zu entwickeln sind, hat sie sich auf die Einzelnen
zurückgezogen. Zugleich kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass
individuell emanzipierte Personen gegenwärtig politisch und religiös auch
antiemanzipatorisch sprechen und handeln. Für mich besteht eine Grund-
frage darin, welche Ausrichtung religiös motiviertes politisches Handeln
in der Gegenwart beinhaltet, und worauf hin Religionspädagogik begleiten
kann. In einer Erprobung ihrer Reichweite in der Gestaltung von zivilge-
sellschaftlichen, aber auch von kirchlichen Prozessen sehe ich eminent po-
litische Fragen religiöser Bildungsverantwortung.
232 Viera Pirker

6 Schöpfung – immer freitags?

Die Frage nach Schöpfungsverantwortung wird inzwischen umfänglich sä-


kular-politisch positioniert: Mit einem Schulstreik für das Klima, der sich
zu der globalen Bewegung #fridaysforfuture entwickelt hat, hat sich ein
Individuum, Greta Thunberg entschieden, oder aber: sie konnte nicht an-
ders, als ihr Leben politisch zu widmen und sich gegen die Klimakrise zu
stellen.32 Ein politisches Thema, das zugleich ein zutiefst theologisches
und religionspädagogisches Thema birgt. Die Frage nach der Schöpfung,
nach dem Wirken des Menschen in der Welt ist wohl die zentrale Frage
der Gegenwart, wenn es eine Zukunft geben soll. Als Heiner Koch, der
Bischof von Berlin am 13.04.2019 Greta Thunberg und die #fridaysforfu-
ture in ihrem Neuaufbruch mit der Jesusbewegung verglichen hat, fand er
sich einem veritablen Shitstorm von zwei Seiten, von Christ*innen und von
Klimagegner*innen, ausgesetzt. Auch Paul Schrader hat in FIRST REFOR-
MED auf die aktuelle Grundfrage keine strukturelle Antwort gefunden,
nicht zuletzt, weil er sich geweigert hat, den moralischen Zeigefinder ge-
gen seine Protagonisten und gegen sein Publikum zu heben, sondern lieber
das Relevante im Leben in den individuellen Zusammenhalt von zwei
Menschen verortet. Mit dem gesellschaftlichen Verweigern einer struktu-
rellen Antwort wird in dieser Frage derzeit viel, vielleicht zu viel riskiert.

Autorinnenangaben: Dr. theol. Viera Pirker, Universitätsassistentin (post-doc) am


Institut für Praktische Theologie der Universität Wien, Fachbereich Religionspä-
dagogik und Katechetik.

32 THUNBERG, Greta / THUNBERG, Svante / ERNMANN, Malena / ERNMANN, Beata: Szenen


aus dem Herzen: Unser Leben für das Klima, Frankfurt am Main: Fischer 2019.
TEIL III –
POLITISCH-THEOLOGISCHE REFLEXIONEN
Totgesagte leben länger? Neuere Entwicklungen und
Kontroversen der Politischen Theologie

Jan-Hendrik Herbst

Die Politische Theologie stellte bereits in der religionspädagogischen Re-


formdekade um 1968 einen zentralen Bezugspunkt dar, um grundlagenthe-
oretischen Reflexionen theologisch anzureichern.1 In der Politischen The-
ologie wurden genuin theologische Debatten über ‚Kritik‘ und ‚Emanzipa-
tion‘ geführt.2 Aus diesem Grund ist es von Relevanz für eine kritisch-
emanzipatorische Religionspädagogik die neueren Entwicklungen im Rah-
men der politischen Theologie wahrzunehmen, aufzugreifen und hinsicht-
lich ihres religionspädagogischen Potenzials zu untersuchen. Dies soll im
Folgenden auch dadurch gelingen, dass der grobe Stand (katholischer) Po-
litischer Theologie, wie er sich in der Gegenwart finden lässt, zur Einord-
nung skizziert wird. Ein wichtiges Anliegen ist es dabei, zumindest exemp-
larisch die Breite der aktuellen Debatten abzubilden.

1 Vgl. z. B. BIEHL, Peter: Zur Funktion der Theologie in einem themenorientierten Reli-
gionsunterricht, in: KAUFMANN, Hans-Bernhard (Hg.): Streit um den problemorientier-
ten Religionsunterricht in Schule und Kirche, Frankfurt am Main: Diesterweg 1973,
64–79. BUß, Hinrich: Politische Theologie und Religionspädagogik, in: EBD., 49–63.
VIERZIG, Siegfried: Politische Theologie I + II, in: Informationen zum Religionsunter-
richt 6 (1974), H. 2, 32–38; H. 3, 32–34. KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Reli-
gionsunterricht. Eine kritische Rekonstruktion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2003, 103–125. Für die folgenden Überlegungen vgl. auch HERBST, Jan-Hendrik: The-
ologie in gefährdeter Zeit? Deutungsstreit um die Politische Theologie, in: fein-
schwarz.net (2018). Die Perspektive ist hier primär auf die deutschsprachige katholi-
sche Theologie beschränkt, da die Komplexität der Debatten ansonsten zu unübersicht-
lich ist. Allerdings wird auch auf Dorothee Sölle rekurriert (ENGEL, KREUTZER). Wich-
tige Perspektiven geraten durch diesen Fokus jedoch aus dem Blick, z. B. die Frage nach
einer Verhältnisbestimmung von Politischer Theologie und Public Theology.
2 Dies führt Norbert METTE in seinem Beitrag in diesem Band unter dem Stichwort
„Hausaufgabe 2“ näher aus.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_13
236 Hinführung III

Derzeit ist eine neue Aufmerksamkeit für die Anliegen der Politischen
Theologie unverkennbar.3 Viele Veranstaltungen und Veröffentlichungen
verpflichten sich momentan einer historisch orientierten Erinnerung an die
Politische Theologie. Ihr prominentester Vertreter, Johann B. Metz, ist
kürzlich 90 geworden. Es erscheint eine Gesamtausgabe seiner Schriften
und zu seinem Geburtstag ist ein umfassender Sammelband erschienen.4
Gleichzeitig lassen sich einige Vorhaben finden, die sich einer program-
matischen Aktualisierung widmen und dabei Kontextveränderungen wie
Verschiebungen im theoretischen Koordinatensystem aufnehmen. Drei
umfassende Monographien und ein programmatischer Sammelband kön-
nen dabei besonders hervorgehoben werden; mit diesen haben die vier Au-
toren, die für den Sammelband gewonnen werden konnten, die aktuelle
Diskussion vorangebracht: Es geht um Ulrich Engels „Politische Theolo-
gie nach der Postmoderne“ (2016), Ansgar Kreutzers „Politische Theolo-
gie für heute“ (2017), Michael Rammingers und Philipp Geitzhaus‘ „Gott
in Zeit – Zur Kritik der postpolitischen Theologie“ (2018), in dem Andreas
Hellgermann einen Grundlagenbeitrag veröffentlicht hat, sowie Jürgen
Kroths „Dein Reich komme: Studien zu einer politischen Theologie sakra-
mentaler Theorie und Praxis“ (2018).

Allerdings unterscheiden sich diese Werke ebenso wie die vorliegenden


Beiträge dahingehend, dass sie das Programm der Aktualisierung unter-
schiedlich ausbuchstabieren und beurteilen. Uneinigkeit besteht, ob es da-
rum geht, die älteren Entwürfe „zu sichern“ und wie es gelingen kann sie

3 Auch in den Politikwissenschaften lässt sich eine neue Aufmerksamkeit für Politische
Theologie beobachten (vgl. HIDALGO, Oliver: Politische Theologie. Beiträge zum un-
trennbaren Zusammenhang zwischen Religion und Politik, Wiesbaden: Springer VS
2018).
4 Vgl. JANßEN, Hans-Gerd / PRINZ, Julia D. E. / RAINER, Michael J. (Hg.): Theologie in
gefährdeter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist
Metz zum 90.Geburtstag, Münster: LIT 2018. Auch ein Kolloquium fand zu diesem
Anlass im Münsteraner Franz-Hitze-Haus statt.
Neuere Entwicklungen und Kontroversen der Politischen Theologie 237

„zugleich immer wieder zu aktualisieren“5. Ulrich Engel justiert den theo-


retischen Rahmen neu, zum Beispiel durch die Rezeption der Foucault-
schen Machttheorie. Ansgar Kreutzer aktualisiert hauptsächlich die Zeitdi-
agnose, er nimmt die Entwicklung von der Industriegesellschaft zu neuen
Formen entgrenzter Arbeit auf. Dafür greift er auf Konzepte wie den ‚Ar-
beitskraftunternehmer‘ oder das ‚Unternehmerische Selbst‘ zurück, um
neue Subjektivierungsweisen angemessen verstehen zu können.6 Darüber
hinaus verweist er auch auf die mögliche Produktivität einer politisch-the-
ologischen Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu. Jürgen Kroth bezieht
sich hauptsächlich auf den Ansatz von Johann B. Metz, er bemüht eine
(scheinbar) ungebrochene Rezeption im Theorierahmen der (frühen) Kri-
tischen Theorie. Seine Programmatik wirkt dabei teilweise kuratorisch, so
formuliert er skeptisch, dass „[d]ie vermeintlich konsequente Weiterent-
wicklung der politischen Theologie […] die konsequente Auflösung der
politischen Theologie zur Folge“7 habe. Andreas Hellgermann erneuert
ebenfalls das Theoriegerüst, in dem er sich beispielsweise auf den Politik-
begriff von Jacques Rancìere bezieht. Diese Beobachtungen deuten auf
drei Problemkomplexe hin, die mindestens implizit in den Beiträgen the-
matisiert werden.

Erstens wird in diesen versucht, einen Umgang damit zu finden, dass mit
Politischer Theologie heute ein Schein von Anachronismus verbunden ist.
Schließlich wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts eher die Frage gestellt:

5 Beitrag von Jürgen KROTH in diesem Band.


6 Vgl. darüber hinaus KREUTZER, Ansgar: Gnade für das „unternehmerische Selbst“. Eine
theologische Kritik der überzogenen Leistungsgesellschaft, in: Stimmen der Zeit 232
(2014), 547–557. GEITZHAUS, Philipp / LIS, Julia: Ambivalente Subjekte – Befreiungs-
theologie und Nachfolgepraxis im Neoliberalismus, in: GMAINER-PRANZL, Franz /
LASSAK, Sandra / WEILER, Birgit (Hg.): Theologie der Befreiung heute. Herausforde-
rungen – Transformationen – Impulse. Salzburger Theologische Studien 57, Innsbruck:
Tyrolia 2017, 155–174.
7 Beitrag von Jürgen KROTH in diesem Band.
238 Hinführung III

„Ist die politische Theologie am Ende?“8 Denn es schien so, dass „[d]ie
große Stunde der politischen Theologie […] die späten 1960er Jahre und
das darauf folgende Jahrzehnt“9 waren. Die neueren Entwürfe, die in den
folgenden Beiträgen ihren Widerhall finden, müssen sich mit unterschied-
lichen Kontexttransformationen auseinandersetzen, die sowohl theoreti-
scher als auch gesellschaftlicher Art sind. Politische Theologie wird bei-
spielsweise nach der Postmoderne betrieben, also nach einer „Krise der
metaphysischen Philosophie“, dem Ausrufen einer „Skepsis gegenüber
den Metaerzählungen“10 und dem „Cultural Turn“11. Als ein Grund für den
Bedeutungsverlust der Politischen Theologie werden – vor dem Hinter-
grund dieser Transformationen – Probleme in ihrer Theoriearchitektur aus-
gemacht. Ulrich Engel oder Ansgar Kreutzer distanzieren sich beispiels-
weise stärker von vergangen Entwürfen, sie bemühen eine „(Neu-) Kontu-
rierungen politisch sensibler Theologie“12 und damit ihre kritische Revi-
sion. Kreutzer setzt sich beispielsweise intensiv mit dem unabgegoltenen
Potenzial, aber auch den „Schwachstellen Metzscher Theologie“ auseinan-
der, „die sich sowohl auf ihren konkreten Gesellschaftsbezug als auch auf
Teile ihrer Theorieanlage beziehen“13. Während sie die Frage „Zurück in
die Zukunft?“ also eher verhalten bejahen, findet sich beispielsweise bei
Hellgermann und Kroth eine deutlich affirmativere Bezugnahme auf Jo-
hann B. Metz, beide verorten sich in seiner Tradition einer Politischen The-
ologie aus Münster. Sie trauen Metz‘ Theologie immer noch zu, eine ‚ge-
fährliche Erinnerung‘ zu bewahren und mit ihm produktive Ungleichzei-

8 GRUBER, Franz: Ist die Politische Theologie am Ende? in: Quart Online 4 (2006), 7.
9 EBD.
10 Lyotard nach ENGEL, Ulrich: Politische Theologie nach der Postmoderne. Geisterge-
spräche mit Derrida & Co., Osterfildern: Matthias Grünewald 2016, 11.
11 KREUTZER, Ansgar: Politische Theologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen
eines theologischen Programms, Freiburg im Breisgau: Herder 2017, 95. Auch für En-
gel ist der Kulturbegriff bedeutsam (vgl. ENGEL 2016 [Anm. 11], 12).
12 KREUTZER 2017 [Anm. 12], 31.
13 EBD., 20.
Neuere Entwicklungen und Kontroversen der Politischen Theologie 239

tigkeiten artikulieren zu können. Damit provozieren sie die – auch an an-


dere Aktualisierungsversuche gerichtete – Frage, ob die derzeitige Rezep-
tion der Politischen Theologie nicht durch eine einseitige Hermeneutik ge-
prägt ist: Herrscht in jüngerer Zeit nicht die Tendenz, dass sich die dama-
ligen Ausführungen immer vor den Plausibilitäten der Gegenwart zu be-
weisen haben, während umgekehrt gegenwärtige Ansätze sich nicht am ge-
gebenen Niveau der Politischen Theologie messen müssen? An dem Vor-
gehen, „einen Neuansatz, eine Retractio, ein Update“14 zu entwerfen, wird
kritisiert, dass die Politische Theologie „ihres kritischen Stachels be-
raubt“15 werde und den Status Quo theologisch sanktioniere. Was damit
gemeint sein könnte, wird deutlich, wenn man die praktischen Konsequen-
zen der Beiträge miteinander vergleicht. Während einerseits Formen zivi-
len Ungehorsams gutgeheißen werden (HELLGERMANN), um gegen prob-
lematische Gesellschaftsverhältnisse zu protestieren, wird andererseits für
„Formen des Staunens oder der Freude“16 als Widerstandspraxis plädiert.
Allerdings ergeben sich daraus mögliche Anschlussfragen: Erinnern diese
Abgrenzungsbemühungen nicht auch „an die Selbstgefälligkeit des radika-
leren Gestus“17, wie sie in der gesamtgesellschaftlichen Reformdekade um
1968 kultiviert wurde? Und wirkt die polemische Abgrenzung von jünge-
rer Theoriebildung, die als kulturtheoretischer ‚Postmodernismus‘ be-
zeichnet wird, nicht wie ein akademisches Rückzugsgefecht, auch wenn
dieses inhaltlich einen berechtigten Kern besitzen mag?18 Besteht in der
Gegenwart jedoch nicht eher die Gefahr, machtanalytisch auf mindestens
einem Auge blind zu sein, wenn nicht auch für „symbolische Herrschafts-

14 Beitrag von Jürgen KROTH in diesem Band.


15 EBD.
16 Beitrag von Ansgar KREUTZER in diesem Band.
17 DRESSLER, Bernhard: 1968 und die Religionspädagogik. Ein sehr persönlicher Rück-
blick, in: Theo-Web 12/2 (2013), 206–218, 206.
18 Vgl. z. B. HARVEY, David: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Ori-
gins of Cultural Change, Oxford / Malden, Massachusetts: Blackwell 1990.
240 Hinführung III

formen“19 ein Sensorium ausgebildet wird, die gerade kulturtheoretisch


und poststrukturalistisch zu untersuchen wären?

Zweitens wird, damit verbunden, die Problematik sichtbar, mit welchen


Kriterien sich ein adäquater Theorierahmen Politischer Theologie plausi-
bilisieren ließe. Häufig wird eine Passung vorausgesetzt, ohne ausführliche
Argumente heranzuziehen. Nur negativ wird, in der kritischen Absetzung
von der Systemtheorie, konstatiert, dass diese nicht als entsprechende Be-
zugstheorie infrage komme, weil theologische Kerngehalte, wie beispiels-
weise die Hoffnung auf die Rettung der unschuldigen Opfer der Ge-
schichte, mit ihr nicht gedacht werden könnten (KROTH). Problematisiert
wird gerade, dass sogar nur „Fragmente, Versatzstücke, Amalgame der
Luhmann’schen Systemtheorie“20 unreflektiert in die Debatte zur Politi-
schen Theologie aufgenommen werden (HELLGERMANN).21 Zu bedenken
ist darüber hinaus, dass es sich um eine fraglos bedeutsame, aber eben auch
partikulare Deutungstradition des Christentums handelt, in der „der Gott
der prophetischen Kritik, der apokalyptischen Aufdeckung der Unrechts-
verhältnisse, der Jesusbewegung und ihrem Kampf um die messianische

19 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.


20 HELLGERMANN, Andreas: Welt unterbrechen „Werdet nicht gleichgestaltet dieser
Welt.“ (Röm 12,2), in: GEITZHAUS, Philipp / RAMMINGER, Michael (Hg.): Gott in Zeit.
Zur Kritik der postpolitischen Theologie, Münster: ITP-Kompass 2018, 67–118, 67.
21 Dies ist religionspädagogisch von besonderem Interesse, da systemtheoretische Über-
legungen gerade in der evangelischen Religionspädagogik relevant sind. Allerdings
werden dort auch ihre Grenzen attestiert, beispielsweise im Bezug auf Jürgen Habermas
Begriff der ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ (vgl. z. B. DRESSLER, Bernhard: Religi-
onsunterricht. Bildungstheoretische Grundlegung, Leipzig: Evangelische Verlagsan-
stalt 2018, 10). Eine tiefergehende Reflexion der Chancen und Grenzen einer system-
theoretischen Perspektivierung von Religionspädagogik findet sich bei HELLER, Tho-
mas: „Denn wo Dein Schatz ist, da ist auch Dein Herz“ (Mt 6,21). Eine religionsdidak-
tische Auseinandersetzung mit dem Geld unter Nutzung wirtschaftswissenschaftlicher,
historischer, soziologischer, psychologischer, exegetischer und systematisch-theologi-
scher Einsichten und Zugänge, Leipzig: EVA 2020 (i. E.).
Neuere Entwicklungen und Kontroversen der Politischen Theologie 241

Praxis unter den Bedingungen der römischen Okkupation“22 im Zentrum


steht.

Der dritte Problemkomplex betrifft die Frage, wie der Terminus ‚Zeichen
der Zeit‘ adäquat theologisch zu verstehen ist. Dass aktuelle Geschehnisse
in den folgenden Beiträgen einer Politischen Theologie eine wichtige Rolle
spielen, steht außer Frage: Reagiert wird auf den „autoritären Nationalra-
dikalismus“23 (ENGEL), auf die globale Erderwärmung (HELLGERMANN)
und den Wandel der Arbeitswelt (KREUTZER). Doch wie (stark) darf oder
muss eine ‚Theologie in Geschichte und Gesellschaft‘ von aktueller Ge-
sellschaftspolitik abstrahieren, wenn sie als Politische Theologie immer
nur indirekt und kritisch politisch sein kann? Und darüber hinaus ist unge-
klärt, welche Krisen, Phänomene und Praxisbereiche für Politische Theo-
logie loci theologici darstellen. Offen ist hier einerseits die Bedeutung der
theologischen Perspektive, die in den Beiträgen hauptsächlich über den be-
grifflichen Zugang präsent ist, in ‚Mystik‘ (KREUTZER), ‚Hoffnung‘ (EN-
GEL) oder ‚Unterbrechung‘ (HELLGERMANN). Andererseits ist ebenfalls
ungeklärt, nach welcher Kriteriologie die Auswahl der Krisen und Praxis-
orte begründet werden kann. Dass religiöse Bildung für Politische Theolo-
gie ein wichtiges Praxisfeld darstellt, wird zumindest festgestellt (ENGEL,
HELLGERMANN).24

Der kurze Blick auf derzeitige Debatten um die Politische Theologie zeigt,
dass es einen Deutungsstreit darüber gibt, wie diese theologische Denk-
form heute zu betreiben ist. Wie ungebrochen darf und sollte man an die
Entwürfe der 1960er und 1970er Jahre anschließen, wie stark gilt es sich

22 Beitrag von Jürgen KROTH in diesem Band.


23 Vgl. HEITMEYER, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I,
Frankfurt am Main: Suhkamp 2018, 231.
24 Vgl. z. B. auch HELLGERMANN, Andreas: Die neue politische Theologie und der Religi-
onsunterricht, in: Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen 4 (2013), 4–6.
242 Hinführung III

von ihnen zu distanzieren? Die intensive Kontroverse verdeckt jedoch


Konvergenzen, die sich gerade hinsichtlich der theoretischen Bezugs-
punkte entdecken lassen. So sehen alle hier vertretenen Wissenschaftler die
Politische Theologie als einen kritisch-emanzipatorischen Ansatz, in des-
sen Zentrum die solidarische Subjektwerdung aller steht. Und neben einer
Orientierung an kritischer Gesellschaftstheorie Frankfurter Provenienz
wird von vielen Vertreter*innen der Politischen Theologie die französisch-
sprachige Soziologie, Sozialphilosophie und Politische Theorie konsul-
tiert. Es ist zu hoffen, dass sich aus den Beiträgen – auch in diesem Sam-
melband – eine Debatte um Trennendes und Gemeinsames entspannt, die
hilft, das Anliegen politischer Theologie auf der Höhe der Zeit auszubuch-
stabieren, ohne die bereits gelegte Messlatte zu unterschreiten. Erste Argu-
mente, kontroverse Positionen, aber auch gemeinsame Ausgangspunkte
liegen auf dem Tisch.
Solidarische Subjektwerdung –
Ein theologischer Kommentar
zur Frankfurter Erklärung für eine
kritisch-emanzipatorische Politische Bildung

Ulrich Engel

Abstract: Die 2015 veröffentlichte Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-eman-


zipatorische Politische Bildung zielt auf gesellschaftliche Demokratisierung und
grundlegend verbesserte Teilhabechancen. Ulrich Engel greift vier Schlüsselbe-
griffe des Manifests – Krisen, Kontroversität, Machtkritik und Ermutigung – auf
und zeigt im Dialog mit D. Eribon, H. Detering, M. Foucault und J. B. Metz, wie
eine Politische Theologie, die als kritische Instanz sowohl Leidens- als auch Be-
freiungserinnerungen tradiert, neoliberale Selbstbezüglichkeiten aufdeckt und auf
diese Weise neue Hoffnungspotentiale erschließen sowie politische Spielräume
für solidarische Subjektwerdungsprozesse eröffnen kann.

2015 veröffentlichten 19 Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen aus


dem Bereich der Politischen Bildung die sog. Frankfurter Erklärung.1 Un-
ter der doppelten Hermeneutik von Kritik und Emanzipation zielt das Ma-
nifest auf eine Demokratisierung, nicht allein des Bildungssektors, sondern
aller gesellschaftlichen Bereiche. Den Unterzeichner*innen der Erklärung
geht es vor allem um grundlegend verbesserte Teilhabe- und Beteiligungs-
chancen. Nur auf diese Weise, so die Überzeugung der Erstunterzeich-
ner*innen, können soziale Ungleichheitsverhältnisse nachhaltig umgestal-
tet werden. In sechs Punkten formuliert die Erklärung Maximen und Stan-
dards einer kritisch-emanzipatorischen Politischen Bildung.

1 Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung (2015),


in: https://akg-online.org/sites/default/files/frankfurter_erklaerung.pdf [abgerufen am

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_14
244 Ulrich Engel

Die beiden in der Frankfurter Erklärung in Anschlag gebrachten Schlüs-


selbegriffe, ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘, sind auch der Theologie nicht
fremd – zumindest nicht der sog. neuen Politischen Theologie, wie sie von
dem Münsteraner Fundamentaltheologen Johann Baptist Metz in der zwei-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Anders als bei Carl
Schmitt ist Politische Theologie für Metz gerade „nicht der Versuch, die
Kirche für eine ganz bestimmte konkrete Politik neu aufzuladen, sondern
zunächst einmal der Versuch, dies zu verhindern“2. Dementsprechend
muss sich Kirche vor allem als kritische Instanz verstehen. Als solche hat
sie sich zu „bewähren als die öffentliche Zeugin und Tradentin einer ge-
fährlichen Erinnerung der Freiheit in den Systemen unserer Gesellschaft,
die sich emanzipatorisch nennt“3. Zu fragen ist vor dem Hintergrund des
hier mit Metz skizzierten Kirchenverständnisses nach den konkreten Sub-
jekten einer solchen kritisch-emanzipatorischen Politischen Theologie.

Im Sinne der an dieser Stelle nur angedeuteten „Familienähnlichkeiten“4


zwischen einer kritisch-emanzipatorischen Politischen Bildung und einer
kritisch-emanzipatorischen Politischen Theologie versuche ich mit mei-
nem Text eine politisch-theologische Kommentierung und Weiterschrei-
bung der Frankfurter Erklärung.

15.09.2019]. Im Folgenden werden Zitate aus der Erklärung mit der Sigle ‚FFE‘ und
mit Angabe der Nr. nachgewiesen.
2 METZ, Johann Baptist: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 1967–1997,
Mainz: Grünewald 1997, 65.
3 EBD., 66.
4 WITTGENSTEIN, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 31982, 57 (I, 67): „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als
durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die ver-
schiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs,
Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.“
Solidarische Subjektwerdung 245

Ich rekurriere zu diesem Zweck anfangs eines jeden Kapitels auf die im
Frankfurter Manifest formulierten Grundsätze und entwickle an diese an-
schließend meine theologischen Überlegungen entlang von vier zentralen
Stichworten der Erklärung: Krisen, Kontroversität, Machtkritik und Ermu-
tigung. Im Dialog mit Didier Eribon, Heinrich Detering, Michel Foucault
und Johann Baptist Metz suche ich zu zeigen, wie eine Politische Theolo-
gie, die als kritische Instanz sowohl Leidens- als auch Befreiungserinne-
rungen tradiert, neoliberale Selbstbezüglichkeiten aufdeckt und auf diese
Weise neue Hoffnungspotentiale erschließen sowie politische Spielräume
für solidarische Subjektwerdungsprozesse eröffnen kann.5

1 Krisen. Oder: Entfremdung im Neoliberalismus.


Reflexionen mit Didier Eribon

Die erste These der Frankfurter Erklärung diagnostiziert die aktuell viru-
lenten Probleme von Kapitalismus, Ökologie, Demokratie und Reproduk-
tion hinsichtlich ihres tiefgreifenden Veränderungspotentials für alle Ge-
genwarts- und Zukunftsfragen. „Eine an der Demokratisierung gesell-
schaftlicher Verhältnisse interessierte Politische Bildung stellt sich den
Umbrüchen und vielfältigen Krisen unserer Zeit.“6 Zu diesem Zweck gilt
es die vielgestaltigen Entfremdungs- wie Befreiungserfahrungen zu thema-

5 Zum Thema ‚solidarische Subjektwerdung‘ vgl. in religionspädagogischer Hinsicht


auch SENFT, Josef: Subjektwerden in Solidarität. Sozialethische Rücksichtnahmen im
Religionsunterricht fördern (= Theologie und Praxis 31), Münster: LIT 2006, sowie in
theologischer Perspektive STROBEL, Katja: Zwischen Selbstbestimmung und Solidari-
tät. Arbeit und Geschlechterverhältnisse im Neoliberalismus aus feminstisch-befrei-
ungstheologischer Sicht (= Edition ITP-Kompass 13), Münster: ITP 2012.
6 FFE 1. Gleichwohl ein Dauerkrisenmodus nicht hinreicht, um Veränderungen herbei-
zuführen, ist ein kritisches Denken der Krise unabdingbar. Schließlich gibt es – bei-
spielsweise entgegen der Kritik des Religionspädagogen Stefan Altmeyer – auch ein
öffnendes Krisendenken. Vgl. ALTMEYER, Stefan: Abschied von der Krise. Für einen
neuen religionspädagogischen Blick auf die Gegenwart, in: RpB 77 (2017), 91–101,
98–99.
246 Ulrich Engel

tisieren und sie im Kontext eines allumfassenden neoliberalen Systems zu


deuten.

Theologisch relevant ist der erste Abschnitt, weil er im Sinne einer Gesell-
schaftsanalyse die „Zeichen der Zeit“7 einer kritischen Betrachtung unter-
zieht. Erst auf der Basis dieser Untersuchung kann nach Maßgabe der Pas-
toralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils
(1962–1965) eine theologische Interpretation eben dieser gesellschaftli-
chen Situation „im Licht des Evangeliums“ (GS 4) erfolgen.

Für meinen Kommentar8 zum ersten Grundsatz greife ich auf Didier Eri-
bon und seinen autobiografisch geprägten Roman „Retour à Reims“9 zu-
rück. In diesem Werk befasst sich Eribon mit seiner Herkunft aus dem
französischen Proletariat. Nach langen Jahren der Abwesenheit kehrt er in
seine Heimatstadt Reims zurück. Um diese Reise überhaupt antreten zu
können, musste erst sein Vater gestorben sein. Am Ziel begegnet er seiner
Mutter, mit der er Fotos aus seiner Kindheit und Jugend anschaut. Im Laufe
des Gesprächs, das frühere Ausgrenzungen sowie seine persönliche Eman-
zipationsgeschichte erinnert, fragt Eribon (sich) immer wieder, ob man
dem sozialen Erbe der Familie wirklich entkommen kann.

7 ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt die-
ser Zeit ‚Gaudium et spes‘, Nr. 4, zit. nach: HÜNERMANN, Peter / HILBERATH, Bernd
Jochen (Hg.): Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil.
Lateinisch – deutsch. Bd. 1: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Kon-
stitutionen, Dekrete, Erläuterungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Freiburg im
Breisgau: Herder 2004, 592–749. Im Folgenden werden Zitate aus der Pastoralkonsti-
tution im laufenden Text mit der Sigle ‚GS‘ und mit Angabe der Nr. nachgewiesen.
8 Zum Folgenden greife ich zurück auf ENGEL, Ulrich: Contra la idea de un cristianismo
identitario, in: Iglesia Viva no 278 (Abril–Junio 2019), 43–62.
9 ERIBON, Didier: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn,
Berlin: Suhrkamp 2016 (Original: Paris 2009).
Solidarische Subjektwerdung 247

Er thematisiert dies im Blick auf seine Existenz als schwuler Mann (was
ich hier nicht weiter ausführe10) wie auch im Blick auf seine soziale Her-
kunft: „Ich schämte mich dafür, dass ich mich meiner Mutter schämte […],
für das, was sie war, was meine Eltern waren, für den Ort, an dem sie leb-
ten, für ihre Art zu sprechen […]“11. Solcherart fortwirkende Abhängigkei-
ten wahrzunehmen und zu reflektieren, ist Voraussetzung jedweder kri-
tisch-emanzipatorischen Bildungsarbeit.

Für Eribon stehen seine persönlichen Erfahrungen von Entfremdung und


Befreiung immer auch für das Politische. In einer an Michel Foucault an-
gelehnten Diktion formuliert er mit Blick auf die alten Fotos, die er mit
seiner Mutter zusammen betrachtet:
„Das Private und Intime, wie es aus diesen alten Bildern spricht, schreibt uns
wieder in unsere ursprüngliche gesellschaftliche Kategorie ein, in Orte der Klas-
senzugehörigkeit, in eine Topografie, die unsere scheinbar persönlichsten Erfah-
rungen und Beziehungen innerhalb einer kollektiven Geschichte und Geografie
verortet, ganz so, als hinge jede individuelle Genealogie von einer sozialen Ar-
chäologie oder Topologie ab, die ein jeder als eine seiner tiefsten Wahrheiten,
vielleicht als die bewussteste überhaupt, in sich trägt.“12

Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs zwischen Privatem und Po-


litischen treiben Didier Eribon weitere wesentliche Fragen um: Warum
wirft sich heute die arbeitende Klasse, die einstmals fast geschlossen links
wählte, mehr und mehr in die Arme der Rechten? Wer zwingt sie dazu?
Warum hat sich seine Mutter, die wie die ganze Familie immer die Parti
communiste français gewählt hat und dem kommunistischen Gewerk-
schaftsbund, der Confédération générale du travail verbunden war, dem
rechtsradikalen Front National13 Marine Le Pens und deren ausländer-

10 Vgl. dazu ausführlicher ENGEL, Ulrich: Lebenskunst als Widerstandspraxis. Zu Didier


Eribons ‚Rückkehr nach Reims‘, in: Wort und Antwort 59 (2018), 32–37.
11 ERIBON 2016 [Anm. 9], 70.
12 EBD., 17.
13 Seit Sommer 2018: Rassemblement National.
248 Ulrich Engel

feindlichen Agitation zugewandt? Eines von Eribons Analyseergebnissen


lautet so: „Mit der Entscheidung für linke Parteien wählte man gewisser-
maßen gegen seinen unmittelbaren rassistischen Reflex an. […] Außerhalb
des engsten Familienkreises fühlte man sich verpflichtet, rassistische Äu-
ßerungen zurückzunehmen.“14 Und weiter: „Der von den ‚französischen‘
populären Klassen geteilte ‚Gemeinschaftssinn‘ wandelte sich von Grund
auf. Die Eigenschaft, Franzose zu sein, wurde zu seinem zentralen Element
und löste als solches das Arbeitersein oder Linkssein ab.“15

Die von Eribon markierte soziale Ordnung der ehemals links und inzwi-
schen rechtsextrem wählenden französischen Arbeiterklasse wie auch die
Ordnung des homophoben Umfelds sowie die damit einhergehende Infer-
iorisierung von Arbeiter*innen, Arbeitslosen, LGBTIQ-Menschen und an-
deren ausgegrenzten Subjekten – derzeit sind dies vor allem Flüchtende16
– markiert das politischen Feld nicht allein in Frankreich, sondern in ganz
Europa.

Diese Situation ist näherhin als neoliberal zu charakterisieren. Unter Neo-


liberalismus verstehe ich mit der Münsteraner Theologin Julia Lis „ein Ra-
tionalisierungsprinzip“17, welches das gesamte gesellschaftliche Gesche-
hen grundlegend strukturiert. Damit bezieht sich der Neoliberalismus nicht

14 ERIBON 2016 [Anm. 9], 135.


15 EBD., 137.
16 Zur theologischen Deutung s. u. a. ENGEL, Ulrich: Forced to Flee as a Search for a Good
Life. Philosophical-theological Reflections to a Global Policy of Justice, in: EGGEN-
SPERGER, Thomas / VAN STICHEL, Ellen / KALSKY, Manuela / ENGEL, Ulrich (Eds.):
Fullness of Life and Justice for All. Dominican Perspectives (Dominican Series), Ade-
laide: ATF Press 2020 [i.V.]; DERS.: Nicht-Orte. Über Flüchtlingslager, Mobilitätspoli-
tiken und eine Leerstelle im Gefüge der Macht, in: Concilium (D) 43 (2007), 235–244.
17 LIS, Julia: Solidarische Subjektwerdung in Zeiten neoliberaler Subjektproduktion. Zur
Kritik des Subjektbegriffs in der postpolitischen Theologie, in: GEITZHAUS, Philipp /
RAMMINGER, Michael (Hg.): Gott in Zeit. Zur Kritik postpolitischer Theologie (= Edi-
tion ITP-Kompass 28), Münster: ITP 2018, 119–154, 121.
Solidarische Subjektwerdung 249

bloß auf ökonomische Prozesse, sondern analysiert das Gesamt des


„menschlichen Verhaltens und der inneren Rationalitäten dieses Verhal-
tens“18. Genau dies macht Eribons Retour à Reims deutlich. Neoliberale
Praktiken regeln – so Michel Foucault – „die globale Ausübung der politi-
schen Macht anhand von Prinzipien einer Marktwirtschaft“19. Insofern der
Neoliberalismus also die Marktgesetzlichkeiten verallgemeinert und damit
auf alle gesellschaftlichen Bereiche zielt, funktioniert er als ein „Prinzip
der Deutung sozialer Beziehungen und individueller Verhaltensweisen“20.
Er betrifft alles Denken, Fühlen und Handeln.

Theologisch ist die skizzierte Entwicklung von Bedeutung, da die christli-


che Reich-Gottes-Rede in besonderer Weise das Moment der Solidarität
betont. Hier setzt befreiend-theologisches Handeln an: in der Kritik einer
neoliberalen Marktlogik, deren repressiver Charakter das Individuum von
innen her zerstört, und in der Arbeit an alternativen Praxen universaler So-
lidarität. Politischen und religiösen Bildungsprozessen mit emanzipatori-
schem Anspruch ist es zur Aufgabe gestellt, sowohl im gesellschaftlichen
als auch im privaten Feld Kritikfähigkeit auszubilden und auf diese Weise
Bedingungen und Strukturen von Entfremdung zu entlarven. In diesem
Sinne ist auch die Kapitalismuskritik von Papst Franziskus zu verstehen,
der mit seinem „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Dis-
parität der Einkommen“21, in der ein Großteil der Menschen zu bloßen
Konsumgütern degradiert werden, deutlich Position bezogen hat. Dass
auch diese Positionierung nicht unstrittig ist, sondern gerade aufgrund der

18 FOUCAULT, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte de Gouvernementalität II.


Vorlesung am Collège de France 1978–1979. Aus dem Französischen von Jürgen
Schröder, Berlin: Suhrkamp 62018, 310.
19 EBD., 187.
20 EBD., 336.
21 Vgl. PAPST FRANZISKUS: Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium über die Verkün-
digung des Evangeliums in der Welt von heute, hrsg. von der Deutschen Bischofskon-
ferenz (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194), Bonn: DBK 2013, Nr. 53.
250 Ulrich Engel

deutlich erkennbaren Option für die Armen und Ausgeschlossenen heftig


kritisiert wurde, verwundert nicht.

2 Kontroversität. Oder: Der semantische Kampf um das


Abendland. Reflexionen mit Heinrich Detering

Der zweite Grundsatz der Frankfurter Erklärung definiert „Politische Bil-


dung in einer Demokratie“22 einerseits als das Sichtbarmachen von Dissen-
sen sowie andererseits als den Streit „um Alternativen“23. Unterschiedliche
Meinungen und soziale Gegensätze, Interessenskonflikte und Machtver-
hältnisse – allesamt Charakteristika demokratischer Gemeinwesen – gilt es
wahrzunehmen und auf ihre Bedingungen und Wirkungen hin zu analysie-
ren.

Religiöse Fragen stehen dabei nicht außerhalb dieser Zusammenhänge.


Exemplarisch zeigen möchte ich dies im Blick auf den semantischen
Kampf der Neuen Rechten um die Rede vom ‚christlichen Abendland‘. In
der deutschen Öffentlichkeit sind es vor allem Anhänger der Bewegung
Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida),
die im Namen einer so genannten „christlich-jüdisch geprägten Abend-
landkultur“24 für die Entsolidarisierung der Gesellschaft agitieren. Aber
auch die Partei Alternative für Deutschland (AfD) beschwört in der Prä-
ambel ihres 2016 beschlossenen Grundsatzprogramms (genannt: „Pro-

22 FFE 2.
23 FFE 2.
24 PEGIDA: Positionspapier, Dezember 2014, Pkt. 13, in: http://www.menschen-in-dres-
den.de/wp-content/uploads/2014/12/pegida-positionspapier.pdf [abgerufen am 15.09.
2019].
Solidarische Subjektwerdung 251

gramm für Deutschland“25) die „abendländische christliche Kultur“26, um


von dort aus die zweifelhafte These abzuleiten, dass „[d]er Islam […] nicht
zu Deutschland gehört“27. Deutlich wird schon hier, dass AfD & Co. v. a.
„ein ausgrenzendes ‚Abendlandverständnis‘“28 vertreten. Ebenfalls schon
2016 hat der Publik-Forum-Redakteur Thomas Seiterich darauf aufmerk-
sam gemacht, dass es bei der Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten
immer auch um einen Kampf um die sprachliche Deutungshoheit geht.
Dies gilt auch für christlich konnotierte Begrifflichkeiten. Seiterich schrieb
damals:
„Ein semantischer Kampf ist entbrannt. Führende Akteure der rechtspopulisti-
schen AfD kapern die Begriffe Christlich und Christentum. Sie deuten die frisch
eroberten Worte nach ihrer rechten Ideologie um. Also machen die selbsternann-
ten Abendlandverteidiger aus dem internationalistischen, antirassistischen Chris-
tentum der Nächstenliebe eine Art anti-islamische, weiße Stammesreligion.“29

Ein solches neurechtes Stammesdenken hat mit dem Gott Abrahams und
dem Gott Jesu Christi nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Im Gegen-
teil: Wo AfD und Pegida „das Zusammenleben an die ausgrenzende Iden-
tität einer Einheit binden, die alles andere nicht nötig hat und bekämpft,
besteht […] die heilsame Wahrheit des Christentums darin, gerade ‚nicht

25 ALTERNATIVE FÜR DEUTSCHLAND: Grundsatzprogramm, beschlossen auf dem Bundes-


parteitag in Stuttgart am 30.4./1.5.2016, 1, in: https://www.afd.de/wp-content/uploads/
sites/111/2017/01/2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf [abgerufen
am 15.09.2019].
26 EBD., 6 (Präambel).
27 EBD., 49 (Nr. 7.6.1).
28 BEDNARZ, Liane: Die Angst-Prediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen
unterwandern, München: Droemer 2018, 160 [Hervorhebung: U. E.]. Zur Geschichte
des Abendland-Begriffs und des ihn begleitenden Mythos vgl. WEIß, Volker: Die auto-
ritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart: Klett-
Cotta 22017, bes. 155–186.
29 SEITERICH, Thomas: Neuer Kampf um das Christliche [28.4.2016], in: https://www.ka-
tholisch.de/aktuelles/standpunkt/neuer-kampf-um-das-christliche [abgerufen am 15.09.
2019].
252 Ulrich Engel

ohne‘ die jeweils Anderen leben und glauben zu können.“30 In diesem


Sinne formuliert der Tübinger Pastoraltheologe Michael Schüßler korrekt:
„Das Christentum ist keine identitäre Religion!“31 Eben, weil sie ‚nicht
ohne‘ die anderen kann.32 Denn so wie „der Gottesname in Israel für die
Erfahrung der eigenen Fremdheit in Ägypten und den Schutz der ‚Fremd-
linge‘ anderer ethnischer Herkunft (Ex 22,20; 23,9)“33 stand, so wird im
neutestamentlich überlieferten „Gleichnis vom Samariter (Lk 10,30–35)
exemplarisch sichtbar, dass das Geschenk christlicher Gemeinschaft die
Bande ethnischer Zugehörigkeit durchbricht.“34

Ein solches Christentum, das sich seiner jüdischen Wurzel bewusst ist, be-
darf weder Mauern noch Stacheldraht, um die eigene Identität vor anderen
Völkern zu schützen. Papst Franziskus, der sich 2017 in einem Interview
mit der spanischen Zeitung El País35 in diesem Sinne äußerte, grenzt sich

30 SCHÜßLER, Michael: Nicht ohne die Anderen! Widerständiges zur identitären Umfor-
mung des Christentums, in: Lebendige Seelsorge 69 (2018), 392–399, 398.
31 EBD., 397.
32 Der hier leitende Gedanke des ‚nicht ohne‘ geht auf Michel de Certeau SJ zurück. Cer-
teaus zentrale, auf Martin Heideggers fundamentalontologische Formel vom ‚Nicht
ohne‘ des Seins rückbezogene „Kategorie nicht ohne spielt auf tausenderlei Weise ins
Funktionieren der christlichen Erfahrung hinein. So ist in der Organisation der Ge-
meinde niemand Christ ohne den anderen, und keine Gemeinde kann sich christlich
nennen, ohne dazu autorisiert zu sein durch einen notwendigen Bezug zum Anderen der
Geschichte und zu (gleichzeitig bestehenden oder künftigen) anderen Gruppen. Ge-
nauso ist Jesus in den Evangelien nicht ohne den Vater (der in ihm spricht) und nicht
ohne die Jünger (die andere und noch größere Werke als die seinen vollbringen wer-
den).“ DE CERTEAU, Michel: GlaubensSchwachheit, hrsg. von Luce Giard. Aus dem
Französischen von Michael Lauble (= ReligionsKulturen 2), Stuttgart: Kohlhammer
2009, 155–187, 177.
33 PITTL, Sebastian: Die politische Theologie der Neuen Rechten, in: Lebendige Seelsorge
69 (2018), 404–409, 408.
34 EBD., 409.
35 PAPA FRANCISCO: ‚El peligro en tiempos de crisis es buscar un salvador que nos
devuelva la identidad y nos defienda con muros‘, in: El País v. 22.1.2017 = https://el-
pais.com/internacional/2017/01/21/actualidad/1485022162_846725.html [abgerufen
am 15.09.2019].
Solidarische Subjektwerdung 253

gegen jedwede – wie er es nennt – „verquere Identität“36 ab, die auf cha-
rismatische Führerpersönlichkeiten und Ausgrenzung setzt. In diesem Zu-
sammenhang zog Franziskus in seinem Interview eine Parallele zur Situa-
tion 1933 in Deutschland, das sich damals in einer Krise befunden und sei-
ne Identität gesucht habe – und Hitler gewählt hat.

Einer der umkämpften oder bereits gekaperten Begriffe ist das schon er-
wähnte ‚christliche Abendland‘. Der Zusammenhang zwischen einem
Abendland-Begriff, der ausgrenzt, und einer menschenunwürdigen Politik
als Folge des ersten, hat viel mit dem ‚Wir‘ zu tun, das Vertreter*innen der
Neuen Rechten permanent beschwören. Auf der Herbstvollversammlung
2018 des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat der Göttinger Li-
teraturwissenschaftler Heinrich Detering einen aufschlussreichen Vortrag
zur Rhetorik der Neuen Rechten gehalten, insbesondere zur Rhetorik füh-
render Köpfe der Partei AfD.

Detering suchte in seinem Vortrag Antworten auf die Frage, „wer oder was
das ‚wir‘ ist, das in den Äußerungen der AfD wiederkehrend als ‚unser
Volk‘, ‚unser Vaterland‘, ‚unsere Kultur‘ erscheint“37 – und eben: ‚unser
christliches Abendland‘! In luzider Klarheit zeigt Detering auf, wie der
Thüringer AfD-Vorsitzende (‚Sprecher‘) Bernd Höcke Einwanderer, sog.

36 EBD. („una identidad distorsionada“).


37 DETERING, Heinrich: Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten – ‚Wer ist wir?‘ [Im-
pulsvortrag vor der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken
am 23./24. November 2018], in: https://www.zdk.de/veroeffentlichungen/reden-und-
beitraege/detail/Impulsvortrag-Zur-Rhetorik-der-parlamentarischen-Rechten-Wer-ist-
wir-Prof-Dr-Heinrich-Detering--413s/ [abgerufen am 15.09.2019].
254 Ulrich Engel

„Altparteien“38, Gewerkschaften und „Angstkirchen“39 – letztlich alle Ver-


teidiger*innen westlicher Demokratien – als Feinde und Verräter des Vol-
kes ausmacht. Das eigentliche ‚Volk‘ ist nach Höcke niemand anderes als
die Partei; das gesuchte ‚Wir‘ ist identisch mit der AfD. Das ‚Wir‘, das
AfD, Pegida und ähnlich Gesinnte meinen, markiert ein un- oder antide-
mokratisches ‚Wir‘, das sich exklusiv versteht und somit ausgrenzend
wirkt. Das in Anschlag gebrachte ‚Wir‘ von AfD und anderen Akteuren
der Neuen Rechten in Europa ist eben kein solidarisches ‚Wir‘. Demokra-
tisches Wir-Sagen bedeutet dagegen „immer mit im Blick zu behalten, was
dies für diejenigen bedeutet, die damit nicht gemeint sind.“40 Detering fasst
seine Analyse wie folgt zusammen: „Die Partei repräsentiert das wahre
Volk, ihre Gegner sind – es ist dieselbe Gedankenfigur wie bei Donald
Trump – die Feinde des Volkes. Volk und Partei sind eins, und sie sind es,
wenn sie dem Weg ihres Führers folgen.“41

Aus dem autoritativ-ausgrenzenden Volks-, Kultur- und Abendlandver-


ständnis, wie es Pegida- und AfD-Aktivisten vertreten, erwächst eine Po-
litik, die alles Andere und alle Anderen verachtet. Papst Franziskus hat
diesen Zusammenhang in Evangelii Gaudium auf den Punkt gebracht:
„Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt,
an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unter-

38 HÖCKE, Björn: [Vollständiges Transkript der Rede vom 17.1.2017 im Ballhaus Watzke,
Dresden, im Rahmen der Veranstaltungsreihe ‚Dresdner Gespräche‘, organisiert vom
Jugendverband der Alternative für Deutschland, Junge Alternative]. Quelle: Compact
TV, in: https://www.youtube.com/watch?v=sti51-c8abaw, 57:02–1:45:40 (~ 47 Minu-
ten), in: https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand
-eines-total-besiegten-volkes/19273518-all.html [abgerufen am 15.09.2019].
39 EBD.
40 MANEMANN, Jürgen: Pegida ist eine anti-politische Bewegung!, in: https://philosophie-
indebate.de/2052/indebate-pegida-ist-eine-anti-politische-bewegung/ [abgerufen am
15.09.2019]; Manemann rekurriert im zweiten Satz des Zitats auf Heidenreich, Felix:
Was ist und wie entsteht demokratische Identität?, in: WENDEL, Saskia (Hg.): Was ist
und wie entsteht demokratische Identität?, Göttingen 2014, 15–31.
41 DETERING 2018 [Anm. 37].
Solidarische Subjektwerdung 255

schicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen.
Die Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘.“42

Militant betreiben AfD und Pegida ihren fremdenfeindlichen Kampf für


eine Rettung des christlichen Abendlandes. Dennoch dürfte Karlheinz
Ruhstorfer, katholischer Fundamentaltheologe an der Universität Freiburg
im Breisgau, richtig liegen mit seiner Einschätzung, dass die Rechtspopu-
listen und Wutbürger letzten Endes weder von einer „umfassenden Liebe
zur abendländischen Kultur“43 noch von „der Liebe zum Christentum“44
getrieben sind. Stattdessen propagieren sie eine Art identitäres Christen-
tum, das
1. das Christentum als spirituelle Quelle der Nation begreift (z. B. Ungarn
als ‚christliche Nation‘ oder das deutsche Volk als „Entwurf Gottes“
[so der Verleger Götz Kubitschek im März 2016 in der 3sat-Sendung
Kulturzeit]45),
2. das christliche Ethos, speziell das der Feindesliebe, nur innerhalb der
eigenen ethnischen Gemeinschaft als gültig anerkennt46, und
3. den Kirchen eine naive und selbstzerstörerische Überdehnung christli-
cher Barmherzigkeit vorwirft (dieser Vorwurf richtet sich nicht zuletzt
gegen Papst Franziskus und sein Eintreten für die Rechte von Mig-
rant*innen).

42 PAPST FRANZISKUS 2013 [Anm. 21], Nr. 53.


43 RUHSTORFER, Karlheinz: Die Alternative zur Alternative. Warum Pegida, AfD und Co.
das Abendland nicht lieben, in: Herder Korrespondenz 70,4 (2016), 13–16, 13.
44 EBD., 13.
45 Vgl. dazu BEDNARZ 2018 [Anm. 28], 40–42.
46 Zum historischen Hintergrund dieses Arguments bei Carl Schmitt s. SCHMITT, Carl: Der
Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin:
Duncker & Humblot 72002 (5. Nachdruck der Ausgabe v. 1963), 28–37; zur entspre-
chenden Kritik an Schmitt s. ENGELHARDT, Paulus: Wo bleibt die Freundschaft? Zur
Freund-Feind-Kontroverse Carl Schmitt – Franziskus Stratmann OP, in: Wort und Ant-
wort 45 (2004), 75–78.
256 Ulrich Engel

Spiegelbildlich bezeugen die drei hier resümierten Vorwürfe, wie sich eine
kritische kirchlich-theologische Positionierung in die aktuellen politischen
Kontroversen und Kämpfe hineingibt. Für religiöse Bildungsprozesse er-
geben sich in Absetzung der skizzierten pseudochristlichen identitären
Muster drei Kriterien der Arbeit: Universalität (vs. Nationalismus), Alteri-
tätsoffenheit (vs. ethnische Verengung) und Nächstenliebe (vs. Unbarm-
herzigkeit). Für solch einen pädagogischen Ansatz bedarf es zudem im
Sinne Deterings einer immer wieder neuen Sensibilisierung im Blick auf
ausgrenzende Sprachpraktiken.

3 Machtkritik. Oder: Kreative Selbstverhältnisse im Kontext der


Pastoralmacht. Reflexionen mit Michel Foucault

Im dritten Grundsatz der Frankfurter Erklärung heißt es: „Selbstbestimm-


tes Denken und Handeln wird durch Abhängigkeiten und sich überlagernde
soziale Ungleichheiten beschränkt. Diese Macht- und Herrschaftsverhält-
nisse gilt es, wahrzunehmen und zu analysieren.“47 Das gelte auch für die
Politische Bildung selbst, die gleichfalls immer in soziale Herrschaftsdis-
kurse verwoben ist.48 Ausgehend von diesen Erkenntnissen kommt einer
kritisch-emanzipatorischen politischen Bildungsarbeit die Aufgabe zu,
Phänomene und Gründe von öffentlichem „Fremd- und Selbstausschluss
ungleich positionierter Gruppen und Akteur*innen“49 zu rekonstruieren
und damit das Thema ‚Macht‘ auf die Tagesordnung zu setzen.

Auch eine theologisch motivierte Auseinandersetzung mit den in der


Frankfurter Erklärung angesprochenen Machtfragen führt fast unweiger-

47 FFE 3.
48 Vgl. FFE 4: „Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen, Lernverhältnisse sind
nicht herrschaftsfrei, Politische Bildung legt diese Einbindung offen.“
49 FFE 3.
Solidarische Subjektwerdung 257

lich zu Michel Foucault.50 Als „Analytiker der Macht“51 richtete er seinen


Blick vor allem auf die (Geschichte der) Herrschaftsverhältnisse und -dis-
kurse. Dabei analysierte er die gesellschaftlichen Machtkonstellationen als
pluriforme, polyzentrische und netzwerkartig-relationale Gebilde. „Macht
ist […] ein bestimmter Typ von Beziehungen zwischen Individuen.“52
Dementsprechend interessierte sich Foucault vor allem für das technische
Funktionieren der Machtverhältnisse.

Seinen Zeitgenossen im Feld der Politischen Theorie warf Foucault vor,


Macht wie ehedem weiter in Gestalt einer einzelnen Figur, etwa einer herr-
schenden Klasse, zu verstehen: „Macht ist keine Substanz.“53 Anders da-
gegen funktioniert Foucaults „Mikrophysik der Macht“54, welche die Wir-
kungen von Macht nicht „vektoral“55 vom Zentrum zur Peripherie be-
stimmt, sondern sie „in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt“56 am
Werk sieht. In der Konsequenz davon bleibt die Mitte der Macht in spätmo-

50 Zu Person und Werk im Überblick vgl. ERIBON Didier: Michel Foucault. Eine Biogra-
phie. Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 32008; KAMMLER, Clemens / PARR, Rolf / SCHNEIDER, Ulrich Johannes (Hg.):
Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008. Zu den folgenden
Ausführungen vgl. auch ENGEL, Ulrich: Michel Foucault. ‚Überwachen und Strafen‘,
in: Wort und Antwort 54 (2013), 136–138.
51 HETZEL, Andreas: Michel Foucault: Überwachen und Strafen (1975), Der Wille zum
Wissen (1976), in: GRAMM, Gerhard / HETZEL, Andreas / LILIENTHAL, Matthias: Inter-
pretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stuttgart: Reclam 2001, 195–224, 197.
52 FOUCAULT, Michel: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft. Aus
dem Englischen von Claus-Diether Rath, in: VOGL, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Po-
sitionen einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main.: Suhrkamp 1994, 65–
93, 91.
53 EBD., 91.
54 DERS.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen
von Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 182012, 38.
55 HETZEL 2001 [Anm. 51], 199.
56 EBD., 199.
258 Ulrich Engel

dernen Gesellschaften unbesetzt. Sie ist offen, weil ihr jedweder legitimie-
rende Grund – Vernunft, Natur oder Gott – abhandengekommen ist.

Theologisch anschlussfähig ist dieser Gedanke, insofern einer negativen


Politischen Theologie die Aufgabe zufällt, die angezeigte Leerstelle inmit-
ten der Gesellschaft offen zu halten. Die ungarisch-stämmige Philosophin
Agnes Heller hat diesen genuin theologischen Auftrag der Stellvertretung
und Anwaltschaft im Bild des leeren messianischen Stuhls gefasst:
„Die Politik kann diesen unbesetzten Stuhl nicht gebrauchen, aber solange man
den Stuhl belässt, wo er ist, genau dort im Zentrum des Raumes, wo er in seiner
warnenden, vielleicht sogar pathetischen Leere fixiert bleibt, müssen die politi-
schen Handlungsträger sein Dasein immer noch in Rechnung stellen. Zumindest
steht es ihnen frei, sein Dasein in Rechnung zu stellen. Alles Übrige ist Pragma-
tismus.“57

Trotz der bei Foucault und Heller markierten leeren Mitte bleibt die Macht
wirkmächtig, insofern sie Wirklichkeit produziert und auf diese Weise
Subjekte hinsichtlich ihrer Identität und ihres Selbstverhältnisses konstitu-
iert: „Das Individuum ist also nicht das Gegenüber der Macht; es ist, wie
ich glaube, eine seiner engsten Wirkungen. Das Individuum ist eine Wir-
kung der Macht und gleichzeitig – oder genau insofern es eine ihrer Wir-
kungen ist – ihr verbindendes Element.“58 Damit ist impliziert, dass ein
Widerstand gegen Machtkonstellationen niemals außerhalb des Feldes der
Macht gedacht und praktiziert werden kann.

Von zentraler Bedeutung ist der Begriff der Pastoralmacht, die Foucault
als ein spezifisches Erbe des kirchlich institutionalisierten Christentums

57 HELLER, Agnes: Politik nach dem Tode Gottes, in: HUBER, Jörg / MÜLLER, Alois Martin
(Hg.): Instanzen / Perspektiven / Imaginationen (= Interventionen 4), Basel / Frankfurt
am Main: 1995, 75–94, 94.
58 FOUCAULT, Michel: Recht der Souveränität / Mechanismus der Disziplin. Aus dem Ita-
lienischen von Elke Wehr, in: DERS.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen
und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, 75–95, 83.
Solidarische Subjektwerdung 259

definiert. Als ἐκκλησία „vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige In-
dividuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt seien, anderen zu dienen,
und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder
Erzieher usw., sondern als Pastoren.“59 Ziel des Pastors ist, das individuelle
Heil anderer über Zeit und Raum hinweg zu sichern. Dazu setzt er seine
spezifische Macht vierfach ein:
1. Der Pastor befiehlt und muss zugleich in selbstloser Weise „bereit sein,
sich für das Leben und Heil der Herde zu opfern“60;
2. er ist zwar für die Gemeinde als Ganze da, sorgt sich aber vor allem
um jedes einzelne Individuum;
3. … und das lebenslang;
4. er muss zum Zwecke seiner spezifischen Machtausübung wissen, was
die Menschen bewegt und sucht deshalb ihre Seelen zu erforschen und
ihr Gewissen zu steuern.
Ich fasse die Analyse Foucaults zusammen und identifiziere vier Kennzei-
chen der Pastoralmacht. Zudem markiere ich vier biblisch- bzw. systema-
tisch-theologische Verknüpfungen. Die Gestalt der christlich-ekklesialen
Pastoralmacht ist demnach:
• uneigennützig (vgl. Joh 10,11b: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für
die Schafe.“),
• personzentriert (vgl. Mt 18,12f.: „Wenn jemand hundert Schafe hat
und eines von ihnen sich verirrt, lässt er dann nicht die neunundneun-
zig auf den Bergen zurück und sucht das verirrte?“),
• treu (vgl. im Lied vom Guten Hirten Ps 23,6a: „Lauter Güte und Huld
werden mir folgen mein Leben lang“),

59 FOUCAULT, Michel: Das Subjekt und die Macht, in: DREYFUS, Hubert L. / RABINOW,
Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem
Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault. Aus dem Amerikanischen
von Claus Rath und Ulrich Raulff, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, 241–261, 248.
60 EBD., 248.
260 Ulrich Engel

• und mit einer kontrollierten Produktion von Wahrheit verbunden (vgl.


das Sakrament der Beichte mit Gewissenserforschung und Bekennt-
nis61).
Nur am Rande sei vermerkt, dass Foucault die hochmittelalterliche Fort-
schreibung der ursprünglich frühchristlichen Idee der Pastoralmacht vor
allem in den „neu entstehenden Orden – Dominikaner und Franziskaner“62
– in der zu jener Zeit erblühenden Stadtkultur lokalisiert. Denn diese „gin-
gen im wesentlichen auf pastorale Arbeit unter den Gläubigen aus.“63

Inzwischen hat die kirchlich institutionalisierte Pastoralmacht viel von ih-


rer Vitalität eingebüßt bzw. ist durch massenhafte missbräuchliche Über-
griffe gar zur Gänze blamiert und erledigt. Entscheidend für Foucault ist
aber, dass sich die Pastoralmacht neuzeitlich – parallel zu ihrem Ver-
schwinden im ekklesialen Feld – im Feld des Politischen reetabliert und
fortschreibt. „In gewisser Hinsicht kann man den modernen Staat als […]
eine neue Form der Pastoralmacht ansehen.“64 Denn es geht hinsichtlich
des anvisierten Ziels – so Foucaults Analyse –
„nicht mehr darum, die Leute zur Erlösung in der anderen Welt zu führen, sondern
ihnen das Heil in dieser Welt zu sichern. Und in diesem Kontext nimmt das Wort
Heil mehrere Bedeutungen an: es meint Gesundheit, Wohlergehen (das heißt: aus-
reichende Mittel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen Unfälle.“65

An die Stelle der Kirche sind neue Institutionen getreten: der Staat und die
Polizei (wobei Foucault letztere als eine „Regierungstechnologie“66 der
ersteren begreift). Beide Akteure der modernen Pastoralmacht resp. die in

61 Vgl. zum Hintergrund ENGEL, Ulrich: ‚Du aber, geh in deine Kammer, wenn du be-
test...‘ (Mt 6,6). Gebet und Bußbekenntnis im Zwielicht zwischen Öffentlichem und
Privatem, in: Wort und Antwort 43 (2002), 41–43.
62 FOUCAULT 1994 [Anm. 52], 85.
63 EBD., 80.
64 FOUCAULT 1987 [Anm. 59], 249.
65 EBD., 249.
66 FOUCAULT 1994 [Anm. 52], 85.
Solidarische Subjektwerdung 261

ihnen repräsentierten Machtrelationen verbinden sich mit je spezifischen


Rationalitätstypen: der „Staatsräson“67 und der „Polizeitheorie“68. Beide
zielen im Sinne eines biopolitischen Zugriffs auf das Leben der Menschen
– und zwar in quantitativer Gestalt auf die Bevölkerung in toto wie auch in
qualitativer Hinsicht auf das einzelne Individuum. „Individualisierung wie
Totalisierung sind ihre unvermeidlichen Wirkungen“69, insofern es der mo-
dernen Regierungskunst und mit ihr der sie verwaltungstechnisch unter-
stützenden „Policeywissenschaft“70 (so die in Deutschland ursprüngliche
offizielle Bezeichnung für das, was heute als Verwaltungswissenschaft be-
zeichnet wird) darum geht, „die konstitutiven Elemente des Lebens der In-
dividuen dergestalt zu entwickeln, daß deren Entwicklung auch die der
staatlichen Stärke fördert.“71

Moderne Pastoralmacht, verstanden als „Lenkung von Menschen durch


Menschen“72, repräsentiert spezifische Machtbeziehungen. Die 1784 von
Kant aufgeworfene Frage „Was ist Aufklärung?“73 begreift Foucault als
analytische Frage nach der (Kantischen, Foucaultschen, unserer) Gegen-
wart und ihren je spezifischen Machtkonstellationen. Statt der Suche nach
dem „Ich“74, wie sie Descartes in seinen Meditationes de prima philoso-

67 EBD., 81.
68 EBD., 81.
69 EBD., 93.
70 EBD., 89.
71 EBD., 90.
72 EBD., 92.
73 KANT, Immanuel: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleiner Schriften, hrsg. von Horst-
D. Brandt. Mit einer Einführung von Ernst Cassirer (= Philosophische Bibliothek 512),
Hamburg: Meiner 1999, 20–22.
74 Vgl. DESCARTES, René: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die
Grundlagen der Philosophie. Lateinisch – deutsch. Auf Grund der Ausgabe von Artur
Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe, durchgesehen von Hans Günter Zekl (= Philoso-
phische Bibliothek 250a), Hamburg: Meiner 31992, 45 (II, 3): „Und so komme ich […]
schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, sooft ich ihn
ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“
262 Ulrich Engel

phia betrieb, interessiert Foucault vor allem die Kritik der Welt, wie er sie
bei Nietzsche durchgeführt sah. „Das zentrale philosophische Problem ist
wohl das der Gegenwart und dessen, was wir in eben diesem Moment sind.
Wobei das Ziel heute weniger darin besteht, zu entdecken, als vielmehr
abzuweisen, was wir sind.“75 Wenn, wie oben ausgeführt, Individualisie-
rung und Totalisierung die unumgänglichen Konsequenzen der neuzeitli-
chen (Pastoral-) Machtbeziehungen sind, dann besteht die wesentliche
Aufgabe darin, neue Weisen und Gestalten von Subjektivität hervorzubrin-
gen. Diese Arbeit begreift Foucault als eine kritisch-überschreitende Praxis
der „Erzeugung des Menschen durch den Menschen“76, die darin besteht,
„daß die Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört haben,
sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu ver-
schieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie unterschiedlicher
Subjektivitäten zu konstituieren. Diese Serie von Subjektivitäten wird nie-
mals zu einem Ende kommen“77. Hier wird im Sinne des o.g. vierten Kenn-
zeichens der Pastoralmacht Wahrheit produziert – so vorläufig und prekär
sie immer auch sein mag – und durch diese ein „Raum von Möglichkei-
ten“78 eröffnet.

Theologisch anschlussfähig ist dieser Gedanke insofern, als dass die einst
von den Kirchen zur Anwendung gebrachte „Disziplinierungskategorie“79
der religiösen Biographiemacht, die das kirchlich-pastorale Leben in Gän-

75 FOUCAULT 1987 [Anm. 59], 250.


76 DERS.: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori. Aus dem
Französischen von Horst Brühmann. Mit einem Vorwort von Wilhelm Schmid und ei-
ner Bibliographie von Andrea Hemminger, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, 84. –
Der hier von mir mitgedachte Übergang von einer Partikularität zu ihrer Überschreitung
rekurriert auf DE CERTEAU 2009 [Anm. 32], 181–187.
77 FOUCAULT 1976 [Anm. 77], 85.
78 DE CERTEAU 2009 [Anm. 32], 176.
79 BUCHER, Rainer: Das Ende der Überschaubarkeit. Perspektiven einer zukünftigen So-
zialgestalt von Kirche, in: Herder Korrespondenz. Spezial 1/2011, 6–10, 6.
Solidarische Subjektwerdung 263

ze strukturierte, durch das Erzeugen immer neuer, nie definitiver Subjekti-


vitäten fortgesetzt unterlaufen wird. Der Gute Hirte mag immer noch oder
gar neuerlich als hermeneutischer Schlüssel zu unserer Gegenwart dienen,
jedoch nicht mehr in einer Gestalt, die die Herde autoritär einfriedet.80 Das
gilt auch für religionspädagogische Lehr- und Lernprozesse, verlaufen
diese heute doch längst nicht mehr nach vorgefertigten Schemata. Auch
vermitteln sie keine doktrinären Deposita nach dem Motto ‚Friss oder
stirb!‘. Vielmehr orientiert sich religiöse Bildung „an den Biographien der
Personen und den Kontexten der Zeit“81.

Wenn Pastoralmacht anderes hervorbringt als paternalistische Unterwer-


fung, wenn sie bereit ist, sich im Sinne des o.g. zweiten Kriteriums für das
Leben anderer zu opfern, dann kommt sie um das Risiko des Scheiterns
nicht herum. In der christlichen Tradition steht für diese sich selbstlos de-
zentrierende Technologie der (Pastoral-) Macht das Zeichen des Kreuzes.82
Hier „wird Gott allein im Modus einer Ohnmacht benannt, die sich der
Rache an den Tätern verweigert, die Aufmerksamkeit auf die Opfer lenkt
und dem Tod nicht das letzte Wort belässt.“83

80 Vgl. dazu die luzide Untersuchung von HÖLZL, Michael: Theorie vom guten Hirten.
Eine kurze Geschichte pastoralen Herrschaftswissens (= Theologie: Forschung und
Wissenschaft 59), Berlin: LIT 2017. Weiterhin s. STEINKAMP, Hermann: Die sanfte
Macht der Hirten. Die Bedeutung Michel Foucaults für die Praktische Theologie,
Mainz: Grünewald 1999; DERS.: Lange Schatten der Pastoralmacht. Theologisch-kriti-
sche Rückfragen (= Diakonik 13), Münster: LIT 2015. Vgl. ebenfalls das Interview von
Hermann STEINKAMP in diesem Band.
81 ALTMEYER 2017 [Anm. 6], 100.
82 Vgl. dazu BAUER, Christian: Versuch einer Klärung der Begriffe angesichts von Ohn-
macht und Gnadenlosigkeit heute, in: BUCHER, Rainer / KROCKAUER, Rainer (Hg.):
Macht und Gnade. Untersuchungen zu einem konstitutiven Spannungsfeld der Pastoral,
Münster: LIT 2005, 45–60 (Werkstatt Theologie. Praxisorientierte Studien und Dis-
kurse 4).
83 SANDER, Hans-Joachim: Gott im Zeichen der Macht – ein Diskurs über die Moderne
hinaus. Theologie nach Foucault, in: BAUER, Christian / HÖLZL, Michael (Hg.): Gottes
264 Ulrich Engel

4 Ermutigung. Oder: Zukunftsoffene solidarische


Subjektwerdungsprozesse. Reflexionen mit Johann Baptist Metz

Der fünfte Grundsatz der ‚Frankfurter Erklärung‘ vertritt die These, dass
Politische Bildung „eine ermutigende Lernumgebung“84 schafft, in der die
„konkreten Lebensbedingungen“85 mitsamt all ihren kognitiven und leib-
lich-emotionalen Aspekten in ihr Recht gesetzt werden. Ziel einer solchen
kritisch-emanzipatorischen Bildung ist die solidarische Subjektwerdung
einer/eines jeden und damit die individuell und kollektiv verantwortete
Veränderung von Gesellschaft insgesamt.86

Politisch wie theologisch relevant sind in diesem Zusammenhang die Be-


dingungen, unter denen solcherart Subjektwerdungsprozesse vonstattenge-
hen können. Denn die Subjekte, die die Unterzeichner*innen der Frank-
furter Erklärung im Blick haben, sind nicht einfach da, sondern werden
durch konkrete gesellschaftliche Voraussetzungen reproduziert.87 Dieser
Bedingungszusammenhang hat zur Folge, dass jedwede Konstitution von
Subjektivitäten von der neoliberal strukturierten Gesamtgesellschaftsfor-
mation beeinflusst wird. Wenn allerdings das Subjekt im Gefolge der vor-
herrschenden neoliberalen Marktlogik nur als Unternehmer seiner selbst
und deshalb primär in einem Konkurrenzverhältnis zu anderen Einzelun-
ternehmer*innen gedacht wird, produzieren Subjektwerdungsprozesse zu-
nehmend nur noch hoch individualisierte Subjekte. Vor diesem Hinter-
grund stellt sich die Frage, ob – und falls ja: wie angesichts der überall
wirksamen Hegemonie des Neoliberalismus und seiner marktaffinen Sub-

und des Menschen Tod? Die Theologie vor der Herausforderung Michel Foucaults,
Mainz: Grünewald 2003, 105–125, 117.
84 FFE 5.
85 FFE 5.
86 Vgl. FFE 6: „Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft individuell und kol-
lektiv handelnd zu verändern.“
87 Vgl. LIS 2018 [Anm. 17], 125.
Solidarische Subjektwerdung 265

jektproduktionslogiken Bildungsprozesse mit dem Ziel solidarischer Sub-


jektwerdung überhaupt möglich bleiben.

Theologisch ist die zuletzt gestellte Frage relevant, weil die Theologie ge-
nau dieses solidarische Moment in den Mittelpunkt ihres Subjektbegriffs
stellt. Um dies zu zeigen, folge ich der sog. neuen Politischen Theologie
von Johann Baptist Metz und seinem 2017 verstorbenen Mitstreiter Tiemo
R. Peters OP.88 Ich lese dazu frühe Texte von Metz.89

1966 veröffentlichte Johann Baptist Metz in der Reihe Dokumente der


Paulus-Gesellschaft einen Artikel zur „Verantwortung der Hoffnung“90;
dieser Text wiederum geht auf einen Vortrag zurück, den er im selben Jahr
bei der Tagung der Internationalen Paulus-Gesellschaft auf der Insel Her-
renchiemsee gehalten hatte. Die Paulusgesellschaft war 1955 von Erich

88 Zu Person und Werk des international leider wenig bekannten Theologen s. ENGEL,
Ulrich: ‚Contemplata aliis tradere‘. Zur politischen Theologie von Tiemo R. Peters OP
(1938–2017) – eine Recherche in dominikanischer Perspektive, in: PETERS, Tiemo R. /
NEUHAUS, Peter: Glauben ohne Geländer. Ein Gespräch am Rande des Lebens. Mit ei-
nem Geleitwort und einer theologischen Recherche von Ulrich Engel sowie einem Ge-
spräch zwischen Tiemo R. Peters und Karl Meyer, hrsg. von Thomas Eggensperger und
Ulrich Engel (= Dominikanische Quellen und Zeugnisse 21), Leipzig: Benno 2019, 96–
111; BRANTSCHEN, Johannes B. / ENGEL, Ulrich / MIČKOVIC, Ján B.: Arbeit an den
Grundlagen der neuen Politischen Theologie. Tiemo Rainer Peters, in: PETERS, Tiemo
Rainer / SENNER, Walter: Bewahren und Bewähren. Historische und politische Theolo-
gie nach Thomas von Aquin, hrsg. von Thomas Eggensperger, Ostfildern: Grünewald
2015, 129–143.
89 Im Folgenden greife ich auf einen Vortrag zurück, den ich auf Einladung des For-
schungsinstituts für Philosophie Hannover am 9.1.2019 in der Ev.-luth. Marktkirche
Hannover gehalten habe. Vgl. weiterhin ENGEL, Ulrich: Politische Theologie – politi-
sche Spiritualität. Standortbestimmung in Zeiten von Pegida, AfD und politischem
Anti-Monotheismus, in: MÖLLENBECK, Thomas / SCHULTE, Ludger (Hg.): Spiritualität.
Auf der Suche nach ihrem Ort in der Theologie, Münster: Aschendorff 2017, 187–199.
90 METZ, Johann Baptist: Verantwortung der Hoffnung, in: KELLNER, Erich, im Auftrag
des Präsidiums der PAULUS-GESELLSCHAFT (Hg.): Christliche Humanität und marxisti-
scher Humanismus (= Dokumente der Paulus-Gesellschaft 17), München: Paulus-Ge-
sellschaft 1966, 92–107.
266 Ulrich Engel

Kellner gegründet worden, um den Dialog zwischen (christlichen) Theo-


logen und Marxisten bzw. (Natur-) Wissenschaftlern (damals waren das
noch fast ausnahmslos Männer) zu fördern.

Der Text Verantwortung der Hoffnung ist nicht nur deshalb interessant,
weil Metz dort zum ersten Mal explizit – wenn auch eher „nebenbei“91 –
von einer „politischen Theologie“92 spricht. Im vorliegenden Zusammen-
hang ist mir vor allen Dingen wichtig, wie Metz seinem Hoffnungsbegriff
einen Zeitindex einschreibt und ihn auf diese Weise theologisch qualifi-
ziert.93 1966 charakterisiert Metz die christliche Hoffnung noch als escha-
tologisch; später wird er stattdessen die Begriffsfelder um die Vokabeln
apokalyptisch94 und messianisch95 herum bevorzugen. Auf jeden Fall gilt:
In der Konsequenz ihres eschatologisch-apokalyptisch-messianischen
Charakters ist die christliche Hoffnung weder „rein passive Erwartung“96

91
PETERS, Tiemo Rainer: Johann Baptist Metz. Theologie des vermißten Gottes (= Theo-
logische Profile), Mainz: Grünewald 1998, 41.
92 METZ 1966 [Anm. 90], 105. Vgl. dazu KLEDEN, Paulus Budi: Christologie in Fragmen-
ten. Die Rede von Jesus Christus im Spannungsfeld von Hoffnungs- und Leidensge-
schichte bei Johann Baptist Metz (= Religion – Geschichte – Gesellschaft 20), Münster:
LIT 2001, 35–36.
93 Mit Dorothee Sölle verstehe ich christliche Hoffnung nicht zuerst als „eine Leistung
[…] und auch nicht [als] eine Über-Ich-Forderung, der dann das Ich so gerade irgend-
wie nachhinkt, sondern zuallererst [als] ein Geschenk, ein Geschenk Gottes, des Gottes,
der in uns sein will und in uns handeln will und in uns und mit uns sein kann.“ (SÖLLE,
Dorothee: in: Worauf dürfen wir hoffen? Ein Gespräch zwischen Paulus Engelhardt,
Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky, hrsg. von Thomas Eggensperger und Ulrich
Engel, Mainz: Grünewald 2002, 47 [Einfügungen in eckigen Klammern: U. E.]).
94 Vgl. z. B. METZ, Johann Baptist: Kampf um die verlorene Zeit. Thesen zur Apokalyptik,
in: Evangelische Kommentare 11 (1978), 39–41.
95 Vgl. bspw. DERS.: Aufstand der Hoffnung. Das Synodendokument ‚Unsere Hoffnung‘
als Aufruf zur messianischen Erneuerung der Kirche. Referat auf dem Katholikentag
1982 in Düsseldorf, in: ZENTRALKOMITEE DER DEUTSCHEN KATHOLIKEN (Hg.): Kehrt
um und glaubt – erneuert die Welt. 87. Deutscher Katholikentag. Dokumentation (=
Deutscher Katholikentag 87.1), Paderborn: Bonifatius 1982, 389–399.
96 DERS. 1966 [Anm. 90], 103.
Solidarische Subjektwerdung 267

noch bloß „Projektion unserer eigenen Möglichkeiten“97. Vielmehr ist die


biblisch überlieferte Offenbarung zuerst einmal ein „Verheißungswort“98,
das etwas Neues, Kommendes ansagt und damit Altes, Tradiertes in Frage
stellt bzw. aufkündigt; aus dieser Verheißung wächst den Glaubenden kon-
krete Verantwortung für die Gestaltung von Geschichte und Gesellschaft
zu: „Im biblischen Verständnis erscheint Welt als eine auf die Verheißung
Gottes hin entstehende Geschichtswelt, für deren Prozess die Hoffenden in
Verantwortung stehen.“99 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass
Geschichte bei Metz mehr meint als „Herkunft“100 und „Immer-schon“101.
Vielmehr gilt: Erst im Blick auf den „Gott vor uns“102, der sich als Kom-
mender in diese Welt hinein (ge-) offenbart (hat), kann Geschichte in ihrer
Offenheit auf Noch-nie-Gewesenes, auf wirklich Neues hin erkannt wer-
den.103 Denn genau diese auf Unerwartetes offene „Zukunft ist das Konsti-
tutiv der Geschichte als Geschichte.“104

Allerdings reicht es nicht hin, sich der Geschichte „rein betrachtend-vor-


stellend“105 zu nähern. Die Hoffnungs-Theologie bedarf notwendig und
immer auch der praktischen Mobilisierung. Denn der Glaube an das schon
angebrochene Reich wirkt katalysatorisch und mobilisierend auf die Zu-
kunft Gottes.106 Und weil es in dieser von Gott verheißenen Zukunft stets

97 EBD., 99.
98 EBD., 98.
99 EBD., 99.
100 EBD., 96.
101 EBD.
102 EBD., 99. Vgl. dazu auch DERS.: Gott vor uns. Statt eines theologischen Arguments, in:
UNSELD, Siegfried (Hg.): Ernst Bloch zu Ehren. Beiträge zu seinem Werk, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1965, 227–241.
103 Vgl. METZ 1966 [Anm. 90], 97.
104 EBD., 96.
105 EBD., 97.
106 Vgl. EBD., 99; Metz bezieht sich dort (allerdings mit erheblich verderbter Zitation) auf
PANNENBERG, Wolfhart: Der Gott der Hoffnung, in: UNSELD 1965 [Anm. 102], 210–
225, 212.
268 Ulrich Engel

um „das Heil des Bundes, des Volkes, ‚der Vielen‘“107 geht, zielt auch die
christliche Hoffnungspraxis nicht allein auf das individuelle Heil des je
einzelnen Subjekts, sondern immer auch auf die „interpersonale und sozi-
ale Existenz“108. Anders formuliert: Die jüdisch-christliche Hoffnung auf
Subjektwerdung hat nicht allein und auch nicht zuerst auf das Heil des ein-
zelnen Individuums im Blick, sondern zielt per definitionem auf Subjekte,
die in solidarische Handlungszusammenhänge eingebunden sind. Deshalb
qualifiziert Metz seine eschatologisch gewendete109 Hoffnungstheologie
als politische Theologie: „Die Theologie der Welt ist […] vor allem poli-
tische Theologie. Die schöpferisch-militante Hoffnung, von der sie geleitet
ist, bezieht sich nämlich wesentlich auf die Welt als Gesellschaft und auf
die weltverändernden Kräfte in ihr.“110

Weil eine solche Hoffnung, die alles auf die in Gott kommende Zukunft
setzt, auch um ihre eigenen Gefährdungen der „Selbstentfremdung“111 und
der „Schuld“112 (und zwar in individueller und struktureller Hinsicht) weiß,
versucht sie „solchen Erfahrungen standzuhalten und gerade in ihnen die
schmerzliche Weite und Tiefe ihrer spes contra spem zu realisieren.“113 In
diesem Hoffen wider alle Hoffnung wird die christliche Existenz alteritäts-

107 METZ 1966 [Anm. 90], 104.


108 EBD., 104.
109 Vgl. EBD., 100, wo Metz in kritischer Distanzierung zu Karl Rahner formuliert: „Der
Versuch, die ganze Theologie als Anthropologie zu lesen und zu verstehen, ist eine
wichtige Errungenschaft gegenwärtiger theologischer Arbeit. Doch diese ‚anthropolo-
gisch gewendete‘ Theologie bleibt so lange in Gefahr, welt- und geschichtslos zu wer-
den, als sie nicht ursprünglicher als Eschatologie verstanden wird. Nur im eschatologi-
schen Horizont der Hoffnung erscheint nämlich Welt als Geschichte. […] Die ‚anthro-
pologische Wende‘ der Theologie gründet in der ‚eschatologischen Wende‘. Denn erst
im eschatologischen Horizont zeigt sich die Welt als eine entstehende Wirklichkeit,
deren Prozeß der Freiheit des Menschen aufgegeben ist.“
110 EBD., 104.
111 EBD., 105.
112 EBD., 105.
113 EBD., 106.
Solidarische Subjektwerdung 269

praktisch, d. h. sie solidarisiert sich mit den Anderen – biblisch gesprochen:


mit den Fernsten und Nächsten (vgl. Lev 19; Dtn 10; Mt 5.12 u.ö.). Im
Sinne der jesuanischen Solidarität zielt christliche Hoffnung auf das Heil
und die Zukunft des und der Fremden: „in der selbstvergessenen Entäuße-
rung der Liebe für die […] ‚Geringsten‘, im selbstlosen Einstehen für deren
Hoffnung.“114 Politische Hoffnung ist – mit Bonhoeffer gesprochen – „Da-
sein-für-andere“115 und in diesem Sinne praktische Jesus-Nachfolge.116

Der Blick auf einen zweiten Text – Armut im Geiste117 (1961) – mag den
dargelegten Zusammenhang weiter vertiefen. Politisch ist die dort thema-
tisierte Armut im Geiste, weil sie nicht „verhältnislos“118 ist – was meint:
sie lässt sich nicht jenseits der Sphäre des Gesellschaftlichen realisieren.
Politisch ist sie auch, weil sie in und aus Spannungen lebt: „zwischen
Christentum und Kultur, Kirche und Welt, Glaube und Politik“119.

In Armut im Geiste begründet Metz die genannten politisch-spirituellen


Spannungsbögen aus der Inkarnationstheologie – hier begegnet eine Denk-
figur, die tief in der Theologie der Bettelorden verwurzelt ist.120 In seiner

114 EBD., 106.


115 BONHOEFFER, Dietrich: Entwurf einer Arbeit, in: DERS.: Widerstand und Ergebung.
Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Neuausgabe, hrsg. von Eberhard Bethge,
München: Chr. Kaiser 21977, 413–416, 414.
116 Vgl. METZ 1966 [Anm. 90], 107.
117 DERS.: Armut im Geiste, in: DERS.: Armut im Geiste / Passion und Passionen, Münster:
Aschendorff 2007, 11–62 [Erstveröffentlichung: METZ, Johannes (sic!) B.: Armut im
Geiste. Vom Geist der Menschwerdung Gottes und der Mensch-Werdung des Men-
schen, in: Geist und Leben 34 (1961), 419–435].
118 PETERS, Tiemo Rainer: Politische Spiritualität. Zehn streitbare Thesen, in: Wort und
Antwort 30 (1989), 100–102, 100.
119 EBD., 100.
120 Zur franziskanischen Inkarnationstheologie s. DETTLOFF, Werner: Die christozentrische
Konzeption des Johannes Duns Scotus als Ansatz für eine Theologie der Welt, in: Wis-
senschaft und Weisheit 48 (1985), 182–196; zur dominikanischen Lesart s. ENGEL, Ul-
rich: ‚Predicatore del Verbo fatto Carne‘. Zur Theologie der Inkarnation im Dominika-
270 Ulrich Engel

κένωσις (Entäußerung) in Welt und Geschichte hinein (vgl. Phil 2,7), und
in der „radikalen Menschwerdung“121 in seinem Sohn hinterließ Gott im
Kreuz – so Metz – „das Sakrament der Armut im Geiste, das Sakrament
wahren kompromißlosen Menschentums in einer […] schuldigen Welt“122.
Im Sinne dieser Formulierung – ‚Sakrament wahren kompromißlosen
Menschentums‘ – folgt aus dem „Geist der Menschwerdung Gottes“123 der
„Geist der Menschwerdung des Menschen“124. Anders formuliert: Aus
dem Theologumenon der Inkarnation ergibt sich die Forderung nach einer
Subjektwerdung aller. In einem solchen Geist der Menschwerdung des
Menschen zu leben bedeutet, zwischen Geist und Geistern, Gott und Göt-
tern, dem Zeit-Geist und dem Geist der Wahrheit (Joh 14,17) zu unter-
scheiden.125 Kritisches Denken bedarf solcher Unterscheidung.

In einem späteren Text konkretisiert Metz den skizzierten Zusammenhang,


wenn er im Blick auf die Christen von einem „Geist der Mitleidenschaft“126
spricht, der selbst wiederum aus einer tiefen „Gottesleidenschaft“127 gebo-
ren ist. Erstes Kennzeichen dieser christlichen Mitleidenschaft ist ihm die
„elementare Empfindlichkeit für fremdes Leid“128. Die inkarnationstheo-
logisch begründete Subjektwerdung des Menschen ist also näherhin als
eine primär auf das Fremde und die Anderen hin ausgerichtete Subjektivi-
tät zu qualifizieren. Nach Metz formuliert sich in dieser passiosensiblen

nerorden, in: DERS.: Gott der Menschen. Wegmarken dominikanischer Theologie, Ost-
fildern: Grünewald 2010, 89–98.
121 METZ 2007 [Anm. 117], 24.
122 EBD., 24.
123 EBD., 18.
124 EBD., 27.
125 Vgl. die Thesen VI und VIII bei PETERS 1989 [Anm. 118], 101–102.
126 METZ, Johann Baptist: Passion und Passionen, in: DERS. 2007 [Anm. 117], 63–78, 69.
127 EBD., 69.
128 EBD., 68. Vgl. weiterführend MICKOVIC, Ján Branislav: Den Widerspruch denken. Das
Leidensverständnis in den Theologien von Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz (=
Freiburger theologische Studien 179), Freiburg im Breisgau: Herder 2014.
Solidarische Subjektwerdung 271

und alteritätsoffenen Mitleidenschaft nicht weniger aus als „das Weltpro-


gramm des Christentums für das Zeitalter der sog. Globalisierung“129.

Damit bezieht sich Metz auf eine Einsicht der Väter des Zweiten Vatika-
nischen Konzils, die in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes program-
matisch formulierten: Der auferstandene Christus weckt „durch die Kraft
seines Geistes“ (GS 38) in den Menschen eine engagierte „Hoffnung“ (GS
38), mittels der „die Menschheitsfamilie sich bemüht, ihr eigenes Leben
menschlicher zu machen und die ganze Erde diesem Ziel zu unterwerfen.“
(GS 38). Politische Theologie hat diesem Ziel zuzuarbeiten, weil von der
gesellschaftlichen Umsetzung dieser passiosensiblen und alteritätsoffenen
Mitleidenschaft die Möglichkeit einer menschenwürdigen Politik über-
haupt abhängt!130 Denn die Tugend der Mitleidenschaft ist notwendige Be-
dingung der Möglichkeit von Demokratie.

Gerade das Erinnern anderen und fremden Leidens, so die Hoffnung der
neuen Politischen Theologie, bricht „möglicherweise unbeherrschbar ge-
wordene Verhältnisse zwischen Ethnien, Kulturen und Religionen auf. Es
sprengt den Teufelskreis der egoistischen Selbstbezüglichkeit und eröffnet
[neue] politische Spielräume, die letztlich der Versöhnung und Zukunfts-
gestaltung dienen.“131 In dieser Vision kommen Kritik und Emanzipation
in Politischer Bildung und Politischer Theologie überein. Denn (religiöse)
Bildung, die an dem hier nur knapp skizzierten Programm arbeitet, könnte
Hoffnungspotentiale neu erschließen und politische Spielräume für solida-
rische Subjektwerdungsprozesse eröffnen. Sowohl auf Seiten der Pädago-
gik als auch auf Seiten der Theologie bedarf es dazu Praxen, die Krisen
wahrnehmen, Kontroversen nicht scheuen, Machtkonstellationen hinter-

129 METZ 2007 [Anm. 117], 69.


130 Vgl. PETERS 1989 [Anm. 118], 100.
131 PETERS, Tiemo Rainer: Weisheit in der Politischen Theologie. Drei Beispiele, in: Wort
und Antwort 36 (1995), 180–184, 184.
272 Ulrich Engel

fragen und Menschen ermutigen. So kann inmitten der und alternativ zu


den globalen neoliberalen Deformationen gesellschaftlich wie individuell
etwas Neues entstehen. Wo Bildungsprozesse an einem Mehr konkreter
Solidarität und einem Mehr an demokratischer Partizipation arbeiten, ver-
wirklicht sich anfanghaft etwas von dem, was theologisch ‚Reich Gottes‘
genannt wird.

Autorenangaben: Prof. Dr. theol. habil. Ulrich Engel OP (* 1961 in Düsseldorf),


1984 Eintritt in den Dominikanerorden, Direktor des Institut M.-Dominique
Chenu Berlin, Professor für Philosophisch-theologische Grenzfragen an der Phi-
losophisch-Theologischen Hochschule Münster, Schriftleiter der Zeitschrift ‚Wort
und Antwort‘. Veröffentlichung u. a.: Politische Theologie „nach“ der Postmo-
derne. Geistergespräche mit Derrida & Co., Ostfildern: Grünewald 32017 (ausge-
zeichnet mit dem ‚Book Prize 2017‘ der European Society for Catholic Theology).
Mystik als Widerstand –
Das Emanzipationspotenzial
von Dorothee Sölles politisch-mystischer Theologie
unter den Bedingungen „entgrenzter“ Arbeit

Ansgar Kreutzer

Abstract: Dorothee Sölles politische Theologie der Arbeit eignet sich hervorra-
gend als Beispiel einer kritisch-emanzipatorischen Theologie, das der Aktualisie-
rung lohnt. Der Artikel reinterpretiert Sölles Kritik an entfremdeter Arbeit vor dem
Hintergrund neuer Arbeitsformen, in deren Zentrum das Leitbild des „Arbeits-
kraftunternehmers“ steht. Gerade angesichts einer zunehmend entgrenzten, das
heißt auf problematische Weise Zugriff auf das ganze Leben gewinnenden Ar-
beitswelt, kann Sölles originelle Kopplung von Mystik und Politik ein dazu oppo-
sitionelles und damit humanisierendes Potenzial entfalten.

1 Kritisch und emanzipativ. Dorothee Sölles politisch-mystische


Theologie

Das politisch, befreiungstheologisch und ökofeministisch angelegte Werk


der großen evangelischen Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) schließt,
wie in obigen Attributen verdichtet, gleich an mehrere der großen Eman-
zipationsprojekte der jüngeren Gesellschaftsgeschichte an. Im Sinne der
Gesamtthematik dieses Bandes, in dem es um „Kritik und Emanzipation in
politischer und religiöser Bildung“ geht, lässt sich Sölles theologisches
Anliegen tatsächlich treffend mit den Attributen „kritisch“ und „emanzi-
pativ“ kennzeichnen:

„Kritisch“, denn: Zu Beginn ihrer zuerst 1971 publizierten „Politischen


Theologie“ macht sie deutlich, wie der darin erfolgte Aufweis einer not-
wendig politischen Dimension von christlichem Glauben und christlicher
Theologie aus dem Geist der kritischen Aufklärung erwächst, indem sich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_15
274 Ansgar Kreutzer

die von der Aufklärung angestoßene kritische Reflexion auch noch auf sich
selbst beziehen muss, und somit auf ihre eigenen gesellschaftlich-politi-
schen Umstände und den damit mitgegebenen Interessenlagen:
„Wenn wir davon ausgehen, dass Aufklärung als der Prozess dieses Ausgehens
[aus der ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ (Kant), A. K.] unteilbar ist, das
heißt, dass sich bestimmte kritische Fähigkeiten des Menschen die Gegenstände
ihrer Anwendung nicht vorschreiben lassen, dann entstammt das politisch aufge-
klärte Bewusstsein demselben kritischen, rationalen Geist, dem auch theologische
Aufklärung sich verdankt.“1

„Emanzipativ“, denn: Sölle hat ihre Theologie, auch in Abgrenzung zu ih-


rer ersten Selbstkennzeichnung als „politischer Theologie“, zunehmend als
Befreiungstheologie, in diesem Sinne als Theologie im Dienst gesellschaft-
licher Emanzipation verstanden.2

Inzwischen zählt Sölles originärer Entwurf einer politischen, kritisch-


emanzipativen Theologie, wie Überblicken und Anthologien zur zeitge-
nössischen Theologie zu entnehmen ist, zu den wirkmächtigen Ansätzen
der akademischen Theologie im 20. Jahrhundert.3 In ihren von 2006–2010

1 SÖLLE, Dorothee: Politische Theologie, in: DIES.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Stuttgart:
Kreuz 2006, 35–115, 39.
2 Vgl. den biographischen Hinweis, der sich in der Einführung von Ursula Baltz-Otto zu
den Gesammelten Werken Sölles findet: „Ich erinnere mich genau an den Tag, als ich
den Ausdruck ‚Theologie der Befreiung‘ zum ersten Mal hörte. Es fiel mir wie Schup-
pen von den Augen; alles was mich am Terminus ‚Politische Theologie‘ gestört hatte
[v. a. seine Verwendung im autoritär-antidemokratischen Denken des Juristen Carl Sch-
mitt, A. K.], was mich unbefriedigt ließ, war mit einem Mal abgefallen. Die teologia de
liberacíon ist eines der großen Geschenke, die wir in der Ersten Welt von der Dritten
Welt erhalten.“ (Dorothee Sölle, zit. n. BALTZ-OTTO, Ursula: „Ich soll mich nicht ge-
wöhnen“. Eine Einführung in Dorothee Sölles Denken, in: SÖLLE 2006 [Anm. 1], 9–
33, 23–24) Die Befreiungstheologie hat sie u. a. als theologisches Paradigma herausge-
arbeitet und für ihre eigene Theologie fruchtbar gemacht in ihrer Einführung in die
Theologie: SÖLLE, Dorothee: Gott denken. Einführung in die Theologie, in: DIES.: Ge-
sammelte Werke, Bd. 9, Stuttgart: Kreuz 2009, 7–238.
3 Vgl. etwa BOSCHKI, Reinhold / REHBERGER, Claudia: Dorothee Sölle. Religiöse Poesie
und befreiende Theologie, in: BARWASSER, Carsten u. a.: Theologien der Gegenwart,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, 221–235; SAUER, Hanjo: Wie
Mystik als Widerstand 275

erschienenen Gesammelten Werken spiegeln sich die zwei zentralen,


durchaus kontradiktorischen inhaltlichen Pole ihrer Theologie wider:
„glänzend formulierte Texte zur Politischen Theologie und eine Theologie
der Mystik, die beide im Horizont von Aufklärung und moderner Gesell-
schaft stehen“4.

Charakterisiert wird Sölle aber nicht nur als politisch-mystische Klassike-


rin akademischer Theologie, sondern auch als „Grenzgängerin“. Davon
zeugen Konjunktionen („theologische Arbeiterin und Schriftstellerin“) und
Komposita („Theo-Poetin“), die zur Kennzeichnung ihres Theologiestils
herangezogen werden.5 Ihre Gesammelten Werke enthalten neben akade-
mischen Texten auch „Gedichte, Predigten, Bibelarbeiten und eine Reihe
von Gesprächsaufzeichnungen“6. Der promovierten und habilitierten Lite-
raturwissenschaftlerin war gerade die Form ihrer Theologie zentral. Die
Mitherausgeberin von Sölles Werken, Ursula Baltz-Otto, beschreibt Form
gar als „Schlüssel zur Theologie Sölles“7.

Schließlich ist der engste Zusammenhang von Biografie und Theologie


entscheidend, um Sölles theologisches Werk zu kennzeichnen. Zu Sölles

von Gott reden? Ansätze der Theologie im 20. Jahrhundert (= Linzer Philosophisch-
Theologische Beiträge 26), Frankfurt am Main: Peter Lang 2013, 477–497. Zur Bio-
graphie Sölles vgl. WIND, Renate: Dorothee Sölle – Rebellin und Mystikerin. Die Bio-
graphie, Stuttgart: Kreuz 22009. Zu Rezeptionen Sölles: KULHMANN, Helga: Eher eine
Kunst als eine Wissenschaft. Resonanzen der Theologie Dorothee Sölles, Stuttgart:
Kreuz 2007.
4 HARTLIEB, Elisabeth: Mystik nach dem „Tod Gottes“. Zum Vermächtnis der Politi-
schen Theologie Dorothee Sölles, in: Herder-Korrespondenz 65/6 (2011), 299–303,
300 (Hervorh. A. K.) mit Bezug zum Grundduktus der Gesammelten Werke Sölles.
5 Vgl. EBD., 300 Solche Konjunktionen finden sich leitmotivartig in den Charakteristiken
des Werkes von Sölle. So enthält beispielsweise der Artikel BOSCHKI / REHBERGER 2006
[Anm. 3] die programmatischen Überschriften „Biographie und Theologie“ und „Ge-
dichte und Gebete“.
6 HARTLIEB 2011 [Anm. 4], 300.
7 BALTZ-OTTO 2006 [Anm. 2], 17.
276 Ansgar Kreutzer

diskursiver Theologie, zu ihrer gesellschaftskritischen Theopoesie gehört


untrennbar ihr politisches Engagement. Sölle „verkörpert […] durch ihr
politisches Handeln, was sie theologisch erörtert“8.

Diese drei Merkmale von Sölles Theologie, diskursive Argumentation,


kulturell-ästhetisch empfindsame Poesie und politischer Einsatz durch-
dringen auch ihren genuinen Ansatz einer Theologie der Arbeit, um den es
im Folgenden in exemplarischer Weise gehen soll. Denn Sölle hat – insbe-
sondere mit ihrer theologisch motivierten und begründeten Kritik an ent-
fremdeten Arbeitsbedingungen – eine sozialkritisch und emanzipativ aus-
gerichtete theologische Reflexion der Arbeit unter den Bedingungen der
industriell geprägten Arbeitsgesellschaft vorgenommen, die der Erinne-
rung und der Aktualisierung lohnt.9 In einem ersten Schritt wird daher Söl-
les sozialkritische Theologie der Arbeit – insbesondere unter der Perspek-
tive der darin enthaltenen Entfremdungskritik – kurz rekonstruiert. Im
Sinne der Aktualisierung von Sölles kritischer Theologie der Arbeit (und
der Arbeitsgesellschaft insgesamt) soll zweitens eine zentrale Umorientie-
rung in der aktuellen Arbeitsorganisation, die sogenannte Entgrenzung von

8 HARTLIEB 2011 [Anm. 4], 302.


9 SÖLLE, Dorothee: Lieben und arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung, Stuttgart: Kreuz
1985 (Neuaufl. Hamburg: Hoffmann und Campe 1999). Wie dem Titel zu entnehmen
stellt Sölles Buch ihren Ansatz der Schöpfungstheologie dar, den sie mit den anthropo-
logischen Grundtätigkeiten des Liebens und des Arbeitens entfaltet. Der Text ist wieder
aufgenommen in: SÖLLE, Dorothee: Gesammelte Werke, Bd. 5, Stuttgart: Kreuz 2007,
7–223. Vgl. zu Sölles Theologie der Arbeit (und deren möglichen sozialethischen Ak-
tualisierungen) auch: SAILER-PFISTER, Sonja: Theologie der Arbeit vor neuen Heraus-
forderungen. Sozialethische Untersuchungen im Anschluß an Marie-Dominique Chenu
und Dorothee Sölle (= Ethik im theologischen Diskurs 12), Berlin – Münster: LIT 2006
sowie DIES.: Theologie der Arbeit angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft? Der
Ansatz von Dorothee Sölle, in: KREUTZER, Ansgar / BOHMEYER, Axel (Hg.): „Arbeit ist
das halbe Leben“. Zum Verhältnis von Arbeit und Lebenswelt (= Frankfurter Arbeits-
papiere zur gesellschaftsethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung 27), Frank-
furt am Main: Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschafts-
ethik 2001, 96–110.
Mystik als Widerstand 277

Arbeit, die auch als „organisatorische Revolution“ apostrophiert wird, nä-


her beleuchtet werden. Unter diesen neuen arbeitsorganisatorischen Bedin-
gungen ist der Anspruch nicht entfremdeter, selbstbestimmter Arbeit neu
zu denken und zu realisieren. Schließlich werden die bleibenden Inspirati-
onen von Sölles Theologie der Arbeit, gerade angesichts der heutigen Form
entgrenzter Erwerbsarbeit, herauszustellen sein, die insbesondere in Sölles
enger und origineller Verbindung von Mystik und Politik zu finden sind.

2 Politische Theologie der Arbeit nach Sölle: Einspruch gegen


Entfremdung

Im Zentrum von Sölles Theologie der Arbeit steht ihre Kritik an Entfrem-
dung. Sie ordnet diese ein in die klassische, etwa von Georg Wilhelm
Friedrich Hegel und Karl Marx profilierte philosophische Kritik an Ent-
fremdung als
„eine[r] historisch-gesellschaftliche[n] Gesamtsituation, in der die Beziehungen
zwischen Menschen als Verhältnisse zwischen Sachen, Dingen, erscheinen und
in der die durch die materielle und geistige Tätigkeit der Menschen hervorge-
brachten Produkte, gesellschaftlichen Verhältnisse, Institutionen und Ideologien
den Menschen als fremde beherrschende Mächte gegenübertreten“10.

In dieser Definition von Entfremdung sind die beiden zentralen Kritik-


punkte an Arbeitsverhältnissen, welche die Menschen zu ihrem Schaden
von sich selbst entfremden, zum Ausdruck gebracht: Interpersonale Ver-
hältnisse degenerieren zu reinen Zweckbeziehungen, zu anonymen, ding-
lichen Relationen („Verhältnissen zwischen Sachen, Dingen“); und die
Kräfte, die der Mensch sich in seiner Arbeit eigentlich zunutze machen

10 Philosophisches Wörterbuch zit. n. SÖLLE 2007 [Anm. 9], 79. Das sozialphilosophisch
unterfütterte Konzept der Entfremdung scheint in der Gegenwart zur Identifizierung
und Kritik sozialer Problemlagen eine Renaissance zu erleben. Vgl. etwa den Entwurf:
JAEGGI, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems,
Berlin: Suhrkamp 2016 und den Überblick: HENNING, Christoph: Theorien der Ent-
fremdung. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2015; zur klassischen Entfremdungsthe-
orie bei Hegel und Marx vgl. EBD., 78–133.
278 Ansgar Kreutzer

will, also die Produkte, die er herstellt, die Bedingungen, unter denen er
arbeitet, die institutionellen Formen, in die Arbeit organisatorisch einge-
bunden ist, sowie die ideellen Vorstellungen von Arbeit, gewinnen eine
eigenständige Macht über die Arbeiter*innen, treten ihnen als „fremde be-
herrschende Mächte“ gegenüber. In diesem Sinne unterscheidet Sölle drei
Entfremdungsphänomene: Inhumane Arbeit entfremdet den Menschen zu-
nächst vom Produkt seiner Arbeit. Als kleines „Rädchen im Getriebe“ kann
er seinen Anteil am Arbeitsergebnis nicht mehr erkennen, geht seiner
Selbstwirksamkeit verlustig. Zudem haben die entfremdet Arbeitenden
keinen Zugriff auf die Produktionsbedingungen. Ihnen fehlen etwa die au-
tonome Gestaltung oder die Zeitsouveränität der Tätigkeit. Schließlich un-
tergräbt die massenhaft organisierte Arbeit der Industriegesellschaft mit
ihren utilitaristischen und konkurrenzbesetzten Sozialbeziehungen die So-
lidarität der Arbeiter*innen untereinander. Sölle fasst diese inhumanen
Wirkungen entfremdeter Arbeit zusammen:
„Der Arbeiter ist von seinem Produkt, das anderen gehört, entfremdet: er ist ent-
fremdet von seinen Produktivkräften, die von anderen beherrscht werden, und er
ist entfremdet von den Mitmenschen, weil der Arbeitsprozess in der kapitalisti-
schen Gesellschaft die Menschen gegeneinander ausspielt.“11

Dabei ist Entfremdung ein gesellschaftliches Produkt, kein naturgegebenes


Schicksal: „Die Selbstentfremdung der Menschen ist eine historisch ge-
wordene Realität, nicht aber Wesensmerkmal der menschlichen Natur“12.
Arbeit an sich muss keineswegs entfremdend sein. Im Gegenteil, sie ist im
Ideal „Praxis der Selbstverwirklichung“13.

In diese Gegenüberstellung von scharf zu kritisierender entfremdeter (rea-


ler) und der Selbstverwirklichung dienender (idealer) Arbeit trägt Sölle
nun ihre spezifische Theologie der Arbeit ein, die sie in den Rahmen der

11 SÖLLE 2007 [Anm. 9], 82.


12 EBD., 78.
13 EBD., 99.
Mystik als Widerstand 279

Schöpfungstheologie stellt. Leitend ist ihr die Vorstellung der sich im


menschlichen Handeln fortsetzenden Schöpfung als „Mit-Schöpfung“
(„cocreatio“),14 die in herausragender Weise in der Arbeit ihren Ausdruck
findet:
„Die theologische Bedeutung unseres Geschöpfseins ist, dass wir Gottes Mit-
schöpfer sind, die in Arbeit und Liebe ihre Ebenbildlichkeit realisieren. Als Mit-
Schöpfer arbeiten wir an einer gerechteren Welt, und in diesem Sinn ist alle
menschliche Arbeit auf das Reich Gottes bezogen.“15

Wird Arbeit – im Ideal – derart anthropologisch („Praxis der Selbstver-


wirklichung“) wie theologisch („Mit-Schöpfung“) aufgeladen, folgt daraus
im Umkehrschluss eine scharfe theologisch motivierte Kritik an entfrem-
deter Arbeit: „Eine Konsequenz daraus ist, dass wir die Zerstörung der
Gottesebenbildlichkeit, die sich in entfremdeter Arbeit ausdrückt, beseiti-
gen müssen.“16

Entsprechend ihrer bereits skizzierten Form kritisch-emanzipativer Theo-


logie, die nicht nur diskursiv, sondern expressiv und ästhetisch ansetzt, un-
terlegt Sölle diese schöpfungstheologische Kritik an Entfremdung mit bil-
dender Kunst, mit dem Holzschnitt „Tretmühle“ von Walter Habdank. In
der Tretmühle wird für Sölle „anschaulich, wie die menschlichen Produkte
und Institutionen ‚den Menschen als fremde, sie beherrschende Mächte ge-
genübertreten‘“17:
„Die Körperhaltung der Gestalt in der Tretmühle ist gekrümmt, eine schmerz-
hafte, unnatürliche Haltung. Sie hat keinen Raum, sich zu recken; sie kann sich
nicht aufrichten. […] Hier kommt klar zum Ausdruck, was entfremdete Arbeit

14 EBD., 57.
15 EBD., 86.
16 EBD.
17 EBD., 79.
280 Ansgar Kreutzer

dem Menschen antut: Sie hält uns gefangen in etwas, was kleiner ist, als wir sind
und sein können.“18

Abb. 1: Walter Habdank: Tretmühle (Holzschnitt)

Schließlich flicht Sölle auch das (eigene) politische Engagement in ihre


Schöpfungstheologie der Arbeit ein. So berichtet sie, wie häufig in ihren
Publikationen, von einer konkreten politischen Aktion: einem an die Ge-
werkschaften gerichteten, offenbar erfolglosen Streikaufruf, der die inter-
nationale Solidarität der Arbeiter*innen und zugleich den internationalen
Protest gegen den Vietnamkrieg zum Ausdruck bringen sollte: „Wir wand-
ten uns an einige Gewerkschafter mit dem Ziel, deutsche Arbeiter zu einem
[…] Streik zu organisieren, aber ohne Erfolg.“19

18 EBD., 81. Abb. 1: Bild aus: SÖLLE 1985 [Anm. 9], 77. Gerade weil Sölles politische
Theologie zugleich ästhetisch ausgerichtet ist, ist es schade, dass der Abdruck des Holz-
schnitts Tretmühle von Walter Habdank, der sich in der Erstausgabe von „Lieben und
arbeiten“ (EBD., 77) findet, bei der Neuherausgabe von „Lieben und arbeiten“ in den
Gesammelten Werken, Bd. 5 nicht aufgenommen wurde.
19 SÖLLE 2007 [Anm. 9], 83.
Mystik als Widerstand 281

Sölles Theologie der Arbeit ist charakteristisch für ihre kritische und eman-
zipative Theologie insgesamt: Sie korreliert konkrete Beobachtungen aus
der Arbeitswelt, die unter Rückgriff auf das sozialphilosophische Theorem
der Entfremdung diagnostiziert und kritisiert werden, mit ihrer theologi-
schen Interpretation von Schöpfung als „Mitschöpfung“. Sie durchsetzt
diese diskursiv-korrelative Theologie mit Formen der Kunst wie dem
Holzschnitt „Tretmühle“ von Walter Habdank. Und sie erdet Diskurs und
Kunst durch Bezug auf konkretes gesellschaftspolitisches und sozialkriti-
sches Engagement. Können Inhalt und Form dieser Theologie der Arbeit
heute noch, im Zeitalter des flexiblen und digitalen Kapitalismus, ein kri-
tisches und emanzipatives Potenzial entfalten?

3 Entgrenzung statt Entfremdung?


Die „organisatorische Revolution“ der Arbeit

Dorothee Sölle hat ihre Schöpfungstheologie der Arbeit im Kontext der


Industriegesellschaft in den 1980er-Jahren geschrieben. Sie macht ihre the-
ologisch motivierte Entfremdungskritik am klassischen industriesoziologi-
schen Modell des „Verkaufs von Arbeitskraft“ fest: „Ohne Verankerung
im Ziel der Arbeit, die von einer ganzheitlichen Person getragen wird, fin-
den sich die Menschen damit ab, nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen.“20
Tatsächlich aber sprechen die Arbeitssoziolog*innen unserer Tage in Ab-
grenzung zu klassischen industriegesellschaftlichen Modellen von einer
„organisatorischen Revolution“ (D. Sauer), die idealtypisch einer anderen
Logik als dem Verkauf von Arbeitskraft folgt.21 An die Stelle des „verbe-
ruflichten Arbeitnehmers“, der seine Arbeitskraft gegen Lohn dem Betrieb
zur Nutzung überlässt, tritt mehr und mehr der „Arbeitskraftunterneh-

20 EBD., 90.
21 Vgl. SAUER, Dieter: „Organisatorische Revolution.“ Umbrüche in der Arbeitswelt –
Ursachen, Auswirkungen und arbeitspolitische Antworten, Hamburg: VSA 2013.
282 Ansgar Kreutzer

mer“.22 Damit obliegt es nicht mehr unmittelbar der betrieblichen Arbeits-


organisation, das Arbeitspotenzial der Arbeitnehmer*innen in Arbeitsleis-
tung zu überführen. Vielmehr sind die „Unternehmer ihrer Arbeitskraft“
selbst dafür verantwortlich, ihre eigene Arbeitskraft möglichst effizient zu
nutzen. Betriebliche Fremdorganisation, Fremdsteuerung und Fremdkon-
trolle, etwa in Form von eingeteilter Akkordarbeit, von zeitüberwachenden
Stechuhren und von rigiden Leistungskontrollen, werden ersetzt durch
Selbstorganisation, Selbststeuerung und Selbstkontrolle der Arbeitneh-
mer*innen durch die Arbeitnehmer*innen. „‚Macht was ihr wollt, aber seid
profitabel‘, so lautet die zugespitzte Parole der arbeitsorganisatorischen
Revolution.“23

Mit der Verbreitung des Arbeitskraftunternehmers als neuem Typus von


Arbeitskraft sind weitreichende Konsequenzen für die Selbstwahrneh-
mung der Arbeitnehmer*innen verbunden. Die Arbeitssoziologen und
Wortschöpfer des „Arbeitskraftunternehmers“, Gerd G. Voß und Hans J.
Pongratz, sprechen von Selbst-Rationalisierung, der „bewußte[n] Durch-
organisation von Alltag und Lebensverlauf“ und von Selbst-Ökonomisie-
rung, der „aktiv zweckgerichtete[n] ‚Produktion‘ und ‚Vermarktung‘ der

22 Der inzwischen breit rezipierte Begriff des Arbeitskraftunternehmers wurde von den
Arbeitssoziologen G. Günter Voß und Hans J. Pongratz eingeführt. Vgl. den program-
matischen Artikel: DIES.: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware
Arbeitskraft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50/1 (1998),
131–158, und: DIES.: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten
Arbeitsformen, Berlin: edition sigma 2003. Eine theologische Auseinandersetzung mit
diesen Arbeitsformen und ihren anthropologischen Implikationen, auch aus gnadenthe-
ologischer Sicht, versuche ich in: KREUTZER, ANSGAR: Gnade und (Arbeits-) Gesell-
schaft. Zeitgenössische Gnadentheologie im sozialen Kontext, in: Theologie und
Glaube 92/2 (2017), 246–259.
23 SAUER 2013 [Anm. 21], 22. Vgl. analytisch und kritisch zu diesen Formen selbstorga-
nisierter Arbeit und ihren ambivalenten „Freiheitsräumen“ die Publikation mit dem be-
zeichnenden Titel: GLIßMANN, Wilfried / PETERS, Klaus: Mehr Druck durch mehr Frei-
heit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen, Hamburg: VSA
2001.
Mystik als Widerstand 283

eigenen Fähigkeiten und Leistungen“24. Die Folge der „organisatorischen


Revolution“ ist damit eine weitgehende Entgrenzung von Erwerbsarbeit
zulasten der vor den Leistungsanforderungen der Arbeit geschützten Le-
benswelt. Denn, wenn durch Selbstrationalisierung und Selbstökonomisie-
rung das ganze Leben und die ganze Persönlichkeit mit ihren unterschied-
lichsten, ins Private hineinreichenden Facetten in den Verwertungszusam-
menhang der Erwerbsarbeit einrücken, drohen Leben und Identität als
Ganze der Logik von Nutzbarkeit und Effizienz zu unterliegen.25 Pong-
ratz/Voß bringen den Paradigmenwechsel in der Arbeitsorganisation auf
eine, wie sie es nennen, „neue Devise: nicht mehr ‚Dienst ist Dienst und
Schnaps ist Schnaps‘ [als Sinnbild eines vom Zugriff der Arbeit abge-
grenzten Lebens, A. K.], sondern ‚Wir brauchen Sie voll und ganz und zu
jeder Zeit – und dazu müssen sie Ihr Leben im Griff haben!‘“26 Es verwun-
dert nicht, dass diese auf das ganze Individuum zugreifende Arbeitsformen
pathologische Konsequenzen zeitigen können:
„Die Arbeitnehmer heute sind flexibel, mobil und ständig erreichbar. Sie arbeiten
hochmotiviert, projektbezogen, übernehmen mehr Verantwortung für ihr Unter-
nehmen als sie müssten – und brechen eines Tages zusammen.“27

24 VOß / PONGRATZ 2003 [Anm. 22], 24.


25 In diesem Sinne, dass Erwerbsarbeit die ganze Persönlichkeit zu durchdringen droht
(wie umgekehrt, Merkmale der ganzen Persönlichkeit in den Verwertungszusammen-
hang der Erwerbsarbeit überführt werden), sprechen Arbeitssoziolog*innen von der
„Subjektivierung“ der Erwerbsarbeit. Vgl. etwa den einschlägigen Sammelband: MO-
DASCHL, Manfred / VOß, G. Günter: Subjektivierung von Arbeit, München – Mering:
Hampp 22003. Zu einer kritischen Sicht auf Subjektivierungsprozesse vom theologisch-
anthropologischen Schlüsselbegriff der „Subjektwerdung“ aus der Neuen Politischen
Theologie Johann Baptist Metz‘ her vgl.: KREUTZER, Ansgar: Subjektivierung versus
Subjektwerdung. Johann Baptist Metz‘ korrektive Impulse für die zeitgenössische Ar-
beitsgesellschaft, in: JANßEN, Hans-Gerd / PRINZ, Julia D. E. / RAINER, Michael J. (Hg.):
Theologie in gefährdeter Zeit, Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Jo-
hann Baptist Metz zum 90. Geburtstag, Berlin: LIT 2018, 252–255.
26 VOß / PONGRATZ 2003 [Anm. 22], 25.
27 So der Fehlzeitenreport der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK), zit. n. SAUER 2013
[Anm. 21], 48. Vgl. zu den pathologischen Folgen der entgrenzten Arbeits- und „heiß-
gelaufenen“ Wettbewerbsgesellschaft die erhellenden soziologischen Analysen zum
284 Ansgar Kreutzer

Die neue selbstorganisierte Arbeit scheint kaum mehr etwas mit den von
Sölle kritisierten Entfremdungserfahrungen der Industriegesellschaft zu
tun haben: Arbeitnehmer*innen sind in ihrer Arbeitsorganisation selbstbe-
stimmt, verfügen – Handy und Laptop sei Dank – über weitgehende Zeit-
und Ortsouveränität. Dennoch erfüllt das Umschlagen von Fremd- in
Selbststeuerung, von Fremd- in Selbstausbeutung den klassischen Tatbe-
stand der Entfremdung, wenn auch in subtilerer Form: Der „Umstand, dass
Menschen bis zum Umfallen für andere arbeiten und dabei glauben, sie
wären ‚selbstmotiviert‘“ ist „Ausdruck einer Entfremdung von den eigenen
Belastungsgrenzen (und damit von der eigenen Leiblichkeit und Frei-
heit)“28. Hatte Sölle als ikonographischen Ausdruck der Entfremdung in
der Industriegesellschaft die Tretmühle gewählt, so gilt dieser neuen Form
der Selbst-Entfremdung unter dem Leitbild der Arbeitskraftunternehmer
das Hamsterrad als Sinnbild.29 Der Unterschied von Tretmühle und Hams-
terrad als Symbole jeweils anderer Formen von Entfremdung ist bezeich-
nend: Sieht sich der Mensch in der Tretmühle anonymen Mächten ausge-

vielschichtigen Burnout-Syndrom in: NECKEL, Sighard / WAGNER, Greta (Hg.): Leis-


tung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Frankfurt am Main
22014.
28 HENNING 2015 [Anm. 10], 180. Der Philosoph Henning interpretiert Burnout in diesem
Sinne nicht als Folge von zu viel Authentizität, sozusagen zu viel „Selbst“ in der Er-
werbsarbeit, sondern als Entfremdungsphänomen: „Dass Menschen heute mehr von
sich selbst in die Arbeit hineinstecken müssen, ohne dass sie mehr herausbekommen
würden, dass sie sich in der Folge Misserfolge selbst zuschreiben sollen und gesell-
schaftlich nicht mehr aufgefangen werden […], all das ist keine Entscheidung der Sub-
jekte mehr, es ist der Zwang, der über ihre Köpfe hinausgewachsen ist. Und das meint
die Diagnose der Entfremdung seit jeher.“ (EBD., 182) Vgl. dazu auch: KARGER, Ho-
ward J.: Burnout as Alienation, in: Social Service Review 55/2 (1981), 270–283.
29 Wenn in Internet-Suchmaschinen nach „Hamsterrad“ recherchiert wird (eigentlich ja
ein Produkt aus dem Kleintierbereich), kommen zahlreiche Treffer zu Texten und Bil-
dern, die – mit dieser Metapher – auf Selbstüberforderung und -ausbeutung in der Er-
werbsarbeit abzielen, was die Popularität solcher Wahrnehmungen in heutigen Lebens-
und Arbeitswelten unterstreicht. Vgl. zur soziologischen Analyse der Metapher (im
Kontext des Themenkomplexes Burnout): BRÖCKLING, Ulrich: Der Mensch als Hams-
terrad. Konturen einer Zeitkrankheit, in: NECKEL / WAGNER 2015 [Anm. 27], 179–200.
Mystik als Widerstand 285

liefert, die ihn zur fremdbestimmten Arbeit antreiben, so hält der Arbeits-
kraftunternehmer sein ihn überforderndes Hamsterrad stetig selbst am Lau-
fen – und kann ihm doch und gerade deswegen nicht entkommen:
„Und da habe ich das gemacht, was früher die Vorgesetzten gemacht haben. Ich
habe mich dazu gebracht, immer effektiver zu arbeiten. Ich habe mich selber unter
Druck gesetzt. Das ist natürlich die optimale Form, ist doch klar. Kein Vorgesetz-
ter kann mich so unter Druck setzen wie ich mich selber, das ist doch klar. Weiß
ich doch auch. Aber Sie kommen ja nicht raus aus diesem Prozess.“30

4 Mystik als Widerstand angesichts entgrenzter Arbeit

Dorothee Sölles Theologie der Arbeit, die aus der Hochzeit der Industrie-
gesellschaft stammt, kennt die spezifischen Selbstausbeutungs- und Selbst-
entfremdungsmechanismen der Arbeitskraftunternehmer noch nicht. Den-
noch hat sie in ihrem Werk sehr dezidiert ein Jenseits zur um sich greifen-
den Selbst-Vernutzung beschrieben: die mystische Erfahrung. In ihrem als
Hauptwerk apostrophierten Buch „Mystik und Widerstand“31 umkreist
Sölle mit vielen Quellen aus Philosophie, Religionsgeschichte und christ-
licher Theologie den Kern der mystischen Erfahrung und bestimmt als eine
„Basisformel“32 – mit dem mittelalterlichen Theologen und Mystiker
Meister Eckhart – das „ohne Warum“, das „sunder warumbe“: „Sein [Mei-

30 Das Zitat entstammt einem Interview aus dem Bereich Sachbearbeitung und wird von
SAUER 2013 [Anm. 21], 34 aufgeführt.
31 SÖLLE, Dorothee: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München: Piper
42001. Das Buch ist ebenso wie Sölles unvollendetes letztes Werk, „Mystik des Todes“,

aufgenommen in: SÖLLE, DOROTHEE: Gesammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart: Kreuz 2007.
BOSCHKI / REHBERGER 2006 [Anm. 3] sprechen von Mystik und Widerstand als von
„Dorothee Sölles spätem Hauptwerk“ (EBD., 221). Die erste Überschrift des Beitrags
lautet zugespitzt: „Mystik als Widerstand“, ein Titel, den Hanjo Sauer für seine Dar-
stellung der Theologie Sölles insgesamt übernimmt (SAUER 2013 [Anm. 3]). Das damit
betonte Widerstandspotenzial (zugleich Kritik- und Emanzipationspotenzial), das in der
mystischen Tradition (in Sölles Interpretation) per se steckt, lässt sich, so die Inspiration
dieses Beitrags, insbesondere unter den Bedingungen einer entgrenzten, auf die (Ver-)
Nutzung der Person als Ganzes abzielenden Erwerbsarbeit entfalten.
32 Vgl. SÖLLE 2001 [Anm. 31], 74.
286 Ansgar Kreutzer

ster Eckharts, A. K.] Begriff des ‚sunder warumbe‘ ist für mich ein unver-
zichtbarer Ausdruck des mystischen Daseins.“33 Wieder greift Sölle zur
Erläuterung ihres mystisch-theologischen Grundgedankens zur Ästhetik
und entfaltet den Eckhart’schen Impuls mit einem Gedicht des Romanti-
kers Angelus Silesius: „Die Ros ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“34 In ihrem grund-
sätzlich politisch-theologischen Zugriff auch auf mystische Traditionen
versteht Sölle diese Basisformel der Mystik ebenfals als Kritik an einer
dominierenden Zweckrationalität, wie sie nicht zuletzt für die entgrenzte
Arbeitsgesellschaft typisch ist.
„Was bedeutet dieses ‚ohne Warum‘, in dem wir leben sollen und in dem das
Leben selber lebt? Es ist die Abwesenheit von allem Zweck, aller Berechnung,
allem quid pro quo, allem Etwas für etwas Anderes, aller Herrschaft, die sich das
Leben zu Dienste macht. Wo immer wir zerrissen sind zwischen Sein und Han-
deln, Empfinden und Tun, da leben wir nicht ‚sunder warumbe‘, sondern berech-
nen Aufwand und Erfolg, kalkulieren Wahrscheinlichkeit und Nutzen und folgen
unbegriffenen Ängsten.“35

Sölle wendet die Mystik, die sie nicht als das Andere, sondern auch als
Ausdruck politischen Widerstands versteht, bewusst zeitkritisch:
„Ich sage das mit Blick auf die in der hochtechnologischen Welt massiv wach-
sende Zweckrationalität, die jedes grundlose Dasein verbietet: Wir essen be-
stimmte Speisen, um abzunehmen, gehen zum Tanzunterricht, um beweglich zu
bleiben, beten, um die Erfüllung bestimmter Wünsche von Gott zu erhalten. Die
Rose blüht keineswegs ‚ohn Warum‘ oder ‚weil sie blühet‘, sondern sie ist in

33 EBD., 87. Vgl. als instruktive Einführung in die christliche Mystik: WENDEL, Saskia:
Christliche Mystik. Eine Einführung, Kevelaer: topos plus 22011. Wendel rekurriert im
Unterkapitel „Die Einheit von vita activa und vita contemplativa“ auf Sölle (EBD., 107–
108).
34 Zit. n. SÖLLE, Dorothee: Die Ros ist ohn Warum. Eine mystische Annäherung an die
Frage nach dem Sinn des Lebens, in: DIES.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart: Kreuz
2006, 223–230, 228. Hier nimmt Sölle auch Bezug auf das „sunder warumbe“ Meister
Eckharts. Zum Eckhart’schen Motiv des „sunder warumbe“ bei Sölle vgl. auch SAUER
2013 [Anm. 3], 488–489.
35 SÖLLE 2001 [Anm. 31], 87.
Mystik als Widerstand 287

unserer Lebenswelt des Marktes eine Ware zum Verkauf wie alle anderen Gegen-
stände auch.“36

Blendet man von hier aus zurück auf die Folgen entgrenzter Arbeit im Zei-
chen der Arbeitskraftunternehmer, zeigt sich, dass die mystische Grund-
haltung, die sich in vielen Kulturformen und Religionen aufspüren lässt,
ein heilsames oppositionelles, emanzipatorisches Potenzial besitzt gegen
die pathologischen Folgen von Selbstrationalisierung und -ökonomisie-
rung: Gehört es zur Selbstrationalisierung, die ganze Lebensführung unter
das Diktat effektiver Nutzung von Fertigkeiten zu stellen, so bevorzugt die
mystische Haltung des „sunder warumbe“ in sich selbstzweckliche Tätig-
keiten, die Sölle z. B. in Formen des Staunens oder der Freude identifiziert:
„das Erstaunen; die intensive unbegründbare Freude sind solche oft be-
schriebenen Dimensionen der [mystischen, A. K.] Grunderfahrung“37.

Eine breit angelegte, wie Sölle sagt, „demokratisierte“38 Kultur der Mystik
könnte auch die Einseitigkeiten der Selbstökonomisierung, die Unterwer-
fung der Subjekte unter Effektivitätskategorien, korrigieren. In ihren sozu-
sagen subjekttheoretischen Reflexionen aus dem Geist der Mystik zu „Ich
und Ichlosigkeit“, in denen sie für ein Von-sich-lassen-Können plädiert,
formuliert Sölle eine zur Selbstökonomisierung unserer Tage kontrastive
Kritik reinen Erfolgsdenkens: „Das Ich loslassen heißt unter anderem, den
Zwang zum Erfolg hinter sich lassen.“39 Dieses von sich lassen können,
dieses im Bild der arbeitssoziologischen Diagnose „Aussteigen aus dem

36 EBD., 87.
37 EBD., 39.
38 Vgl. etwa EBD., 28: „Ich versuche hier, die mystische Erfahrung zu demokratisieren,
das heißt, sie nicht als eine elitäre Angelegenheit weniger Auserwählter zu verstehen
[…].“
39 EBD., 288.
288 Ansgar Kreutzer

Hamsterrad“ ist in Sölles Augen letztlich der entscheidende Freiheitsge-


winn, ein „Frei[]werden von den Zwängen des Erfolg-haben-Müssens“40.

Auch in ihrer Theologie der Mystik, die sich als zeitgenössisch-kritische


und emanzipatorische Theologie der Arbeit gegen heutige Formen von
Selbst-Entfremdung aktualisieren lässt, zeigt Sölle die ihr eigene Affinität
zur Ästhetik. Ausdrücklich verweist sie in „Mystik und Widerstand“ auf
den inneren Zusammenhang von Mystik, der Haltung des „ohne Warum“
und der Ästhetik, des nicht zweckorientierten Genießens der Welt wie sie
ist, das in Freude und Lob seinen Ausdruck findet:
„Es gibt eine tiefe, noch wenig reflektierte Beziehung zwischen Mystik und Äs-
thetik, zwischen der Gottes-Freude und der Schönheit. Das hörbare Kennzeichen
dieser Beziehung ist das, was die Tradition mit einem altmodischen Wort ‚loben‘
nennt. Das Loben ist der ästhetische Akt, in dem etwas wahrgenommen, gesehen
und sichtbar gemacht, gepriesen, gefeiert und besungen wird.“41

Schließlich mündet auch ihre mystisch-theologische Kritik an überborden-


der Zweckrationalität und Selbstinstrumentalisierung in gesellschaftskriti-
sches Engagement. Als Subjekte widerständiger Sozialkritik identifiziert
sie engagierte, wohl als zivilgesellschaftlich zu bezeichnende Gruppen in-
nerhalb und außerhalb der Kirche:
„Die Hoffnungsträger […] sind Gruppen, die auf Freiwilligkeit, Kritikfähigkeit
und eigene Initiative setzen. Diese Nichtregierungsorganisationen, zu denen ich
auch die lebendigen Teile der christlichen Kirche rechne, sind politisch gespro-
chen Trägerinnen von Widerstand.“42

40 EBD., 290.
41 EBD., 235.
42 EBD., 245. Die derzeit zwischen gewerkschaftlichen und kirchlichen Gruppen ge-
schmiedete „Allianz für den freien Sonntag“ stellt ein Beispiel solch zivilgesellschaft-
lichen Engagements gegen die Pathologien einer grenzenlosen Arbeitsgesellschaft dar.
Vgl. etwa Allianz für den freien Sonntag, Petition: Der Sonntag muss frei bleiben. Ar-
gumente für einen konsequenten Sonntagsschutz, o. J. (z. B.: www.kirche-und-arbeits-
welt.de/Downloads/Broschu%cc%88re_Sonntagspetition_Netz.pdf [abgerufen am 01.
02.2019]).
Mystik als Widerstand 289

5 Schluss: Zur Aktualität von Sölles politisch ausgerichteter


Theologie (der Arbeit)

Dorothee Sölle hat als einzige unter den Gründervätern und -müttern der
politischen Theologie eine konkrete Theologie der Arbeit vorgelegt. Ge-
rade ihre politisch-theologisch durchwirkte Auseinandersetzung mit den in
sich pluralen, religiösen wie auch nicht religiösen Traditionen der Mystik
enthält wichtige Inspirationen, um den heutigen Pathologien der entgrenz-
ten Arbeitsgesellschaft – mit ihrem Leitbild des sich potenziell selbst über-
fordernden und entfremdenden Arbeitskraftunternehmers – entgegenzutre-
ten, enthält wichtige Anstöße, um für eine humanisierende Lebens- und
Handlungslogik des „ohne warum“ einzutreten, die in selbstzwecklicher
Reflexion, Kontemplation, Kunst, Gebet oder Spiel ihren Ausdruck finden
kann. Angesichts des sich ausbreitenden Zwangs zu einer rein zweckratio-
nalen Lebensführung, der mit entgrenzter Erwerbsarbeit verbunden ist,
kann die von Sölle herausgearbeitete antiinstrumentalistische Grundhal-
tung der Mystik einen geradezu subversiven Charakter gewinnen, er-
scheint, um Sölles Formulierung aktualisierend zuzuspitzen, Mystik als
Widerstand.43

Aktualität besitzt aber nicht nur der inhaltliche Zugriff Sölles auf eine Kul-
tur der Mystik, als Widerstandspotenzial gegen die Pathologien entgrenz-
ter Arbeit, sondern ebenso ihre spezifische Form politischer Theologie, die
sie in ihrer Theologie der Arbeit zur Anwendung bringt. Ihre originelle
methodische Verbindung von diskursiv-korrelativer Theologie mit expres-
siver Ästhetik und mit politischem Engagement verdiente es, stilprägend

43 Sölle selbst formuliert (in ähnlicher Form, freilich nicht in dem hier evozierten spezifi-
schen Zusammenhang, sondern allgemein): „Mystik ist Widerstand.“ (So die Über-
schrift zum III. Teil von „Mystik und Widerstand“: SÖLLE 2001 [Anm. 31], 239).
290 Ansgar Kreutzer

zu wirken für Gegenwart und Zukunft einer politischen, gesellschaftskri-


tisch und emanzipatorisch ausgerichteten Theologie.44

Autorenangaben: Prof. Dr. Ansgar Kreutzer, Professor für Systematische Theolo-


gie am Institut für Katholische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen.

44 Unter diesem Aspekt scheint mir die theologische Rezeption des französischen Sozio-
logen Pierre Bourdieu (1930–2002) für das Projekt einer gesellschaftskritisch und
emanzipatorisch ausgerichteten, politischen Theologie aussichtsreich, da dieser die so-
zialethisch-politisch relevanten Mechanismen von Macht und sozialer Exklusion mit
kulturellen und ästhetischen Dimensionen verbunden hat (paradigmatisch etwa in sei-
nem Hauptwerk: BOURDIEU, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftli-
chen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 91997). Zudem hat sich Bourdieu
ebenso als Wissenschaftler wie als öffentlicher und politisch engagierter Intellektueller
verstanden (vgl. zu Werk und Person Bourdieus etwa die Einführung: SCHWINGEL,
Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, Hamburg: Junius 72011). Zu theologischen
Rezeptionen Bourdieus vgl. KREUTZER, Ansgar / SANDER, Hans-Joachim (Hg.): Reli-
gion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie (= Quaes-
tiones disputatae 295), Freiburg im Breisgau: Herder 2018. Versuche einer von Bour-
dieu inspirierten aktualisierten und konkretisierten politisch ausgerichteten Theologie
habe ich unternommen in: KREUTZER, Ansgar: Politische Theologie für heute. Aktuali-
sierungen und Konkretionen eines theologischen Programms, Freiburg im Breisgau:
Herder 2017.
Vergangenheit und Aktualität der
politischen Theologie

Jürgen Kroth

Abstract: Um politische Theologie wird seit einiger Zeit wieder gerungen. Die
vermeintlich konsequente Weiterentwicklung der politischen Theologie – so die
These des Beitrags – hat die konsequente Auflösung der politischen Theologie zur
Folge. Angesichts dessen bleibt es fundamental, den Ansatz von Johann Baptist
Metz zu sichern und zugleich immer wieder zu aktualisieren. Es gilt auch, sich der
gesellschaftstheoretischen Diskursarchive zu versichern, die gleichfalls ihr pro-
duktives Potential noch längst nicht verloren haben. Dabei wird aber auch deut-
lich, dass sich Theologie, will sie wirklich Rede von Gott sein, nicht von den rea-
len Lebensbedingungen der Menschen dispensieren kann. Denn wo es um Gott
geht, geht es immer auch um den Menschen, um Gesellschaft und Politik.

Vorbemerkungen

Ein wichtiger Text in „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ von Johann


Baptist Metz trägt den Titel „Zukunft aus dem Gedächtnis des Leidens“.
Schaut man sich die aktuelle Diskussion um die politische Theologie an –
und unter politische Theologie wird hier immer die von Johann Baptist
Metz in die Diskussion eingebrachte und die an ihn anschließenden theo-
logischen Beiträge verstanden –, dann könnte man fast glauben, dieser Ti-
tel sei programmatisch für den aktuellen Zustand der politischen Theolo-
gie, nur stehe nicht mehr das Leiden der Menschen im Mittelpunkt, son-
dern das Leiden an der vermeintlich überkommenen politischen Theologie.
Dass dies so einfach nicht ist, wird noch zu zeigen sein.

Es kann dabei nicht darum gehen, politische Theologie zu rekonstruieren.


Das wäre auch nicht zu leisten. Zum einen, weil es sich dabei nicht um ein
System handelt, das bündig sich darstellen ließe. Zum anderen, weil die

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_16
292 Jürgen Kroth

Bandbreite der politisch-theologischen Interventionen viel zu groß ist. Hier


kann es also nur darum gehen, einen kleinen, aber vielleicht auch exemp-
larischen Einblick in die politische Theologie zu geben. Es sollen in einem
ersten Schritt nur einige Eckpfeiler benannt, in einem weiteren die aktuelle
Diskussionslage wenigstens kurz angesprochen werden, um dann einen
Ausblick zu wagen, wo heute politisch-theologisches Denken umso not-
wendiger erscheint.

1 Eckpfeiler politischer Theologie

Nur zur Einordnung seien hier einige Anmerkungen gemacht. Ein theolo-
gisches Denken in Konstellationen ist gerade der politischen Theologie ei-
gen, weil sie weniger in der Entfaltung einer theologischen Prinzipienlehre
besteht, sondern vor immer neuen Herausforderungen sich erhellend, er-
gründend, erklärend und ermutigend zu bewähren hat. Dabei geschieht das
natürlich nicht in einem luftleeren theologischen Raum, sondern in kriti-
scher Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskursarchiven1. Man
könnte sagen, dass politische Theologie immer kognitiv fremdbestimmt
ist: zum einen von der Wirklichkeit, über die sie natürlich nicht verfügen
kann, sondern die ihr vorgegeben ist; zum anderen aber durch andere Wis-
senschaften, mit denen diese theologische Denkform immer in einem sehr
anregenden und konstruktiven Dialog sich befindet.

Es ist vielleicht die Besonderheit der Metzschen politischen Theologie,


dass sie sich unterschiedlichen Basisanforderungen theologischen Den-
kens verpflichtet weiß:
• sie ist tief verankert in biblischen Traditionen;

1 In der pastoraltheologischen Diskussion wird darunter das Ensemble unterschiedlicher


Traditionslinien, Theorieangebote und Wissenschaften verstanden, mit denen die The-
ologie in einem kritisch-produktiven Diskurs sich befindet. Es handelt sich dabei so-
wohl um loci theologici proprii, wie um loci theologici alieni.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 293

• sie ist problemsensibel hinsichtlich der denkerischen Herausforde-


rungen der Zeit, also im ständigen Gespräch mit anderen Wissen-
schaften;
• sie artikuliert sich deutlich als kirchlich verantwortete Theologie;
• sie verortet sich in konkreten Problemlagen konkreter Menschen
in konkreten Situationen;
• sie beginnt die Anforderungen des Primats der Praxis auch theolo-
gisch zu beerben;
• sie weiß um die gesellschaftlich-politische Verantwortung der
Theologie;
• sie weiß auch um die Unmöglichkeit der politischen Neutralität
und Naivität und entfaltet sich daher als dezidiert politische Theo-
logie;
• sie stellt sich den geschichtlichen Katastrophen – allen voran jener
der systematischen und industriell durchgeführten Vernichtung
der Jüdinnen und Juden im deutschen Faschismus – und hält ange-
sichts dieser die Gottesfrage offen;
• sie weitet den theologischen Horizont, von einer eurozentrischen
Sichtweise hin zur Welttheologie im weiteren Sinne;
• sie artikuliert sich als Theologie der Hoffnung, die aber keinem
bloßen Optimismus unterliegt;
• insgesamt trägt sie damit den Prozessen der Aufklärung Rechnung,
Geschichte konkret zu fassen, die Rede vom Menschen nicht mehr
als anthropologischen Allgemeinplatz zu verstehen, sondern von
konkreten Menschen in bestimmten Bedingungen mit spezifischen
Handlungsanforderungen auszugehen;
• sie weiß daher auch um die Problematik einer gesellschaftlichen
Neutralität, die in der theologischen Diskussion sich etabliert hat
und setzt dem eine bewusste Parteilichkeit gegenüber;
• sie bricht mit den metaphysischen Abstraktionen und stellt sich
selbst unter Prozesse der europäischen Aufklärung mit ihrem Pri-
294 Jürgen Kroth

mat der praktischen Vernunft, der Ideologie- und Religionskritik.


Politische Theologie ist insofern nachidealistisch, dass die Theologie nicht
mehr von einem begrifflich unangreifbaren System ausgeht, sondern sich
in die Kontingenzen der Welt hinein zu verantworten versucht. Sie stellt
sich selbst unter einen Bewahrheitungsvorbehalt. Jede Beanspruchung von
Wahrheit unterliegt einer zentralen Frage: „Wer treibt – wann und wo – für
wen und in welcher Absicht Theologie?“2 Die Frage mag banal erscheinen
und ist es doch so gar nicht. Wann je gab sich Theologie genau darüber
Rechenschaft? Selbstverständlich ist das nicht ein Alleinstellungsmerkmal
der politischen Theologie. Für jede Theologie der Befreiung, so auch für
feministische Theologien, gilt das in gleichem Maße. Hier unterscheiden
sich traditionelle und kritische Theologie.

Politische Theologie führt von vornherein ein intensives Gespräch mit an-
deren Wissenschaften, das von dem Gedanken geleitet ist, von den anderen
zu lernen selbst dort, wo man glaubt, ihnen intensiv widersprechen zu müs-
sen. Das betrifft nun nicht mehr nur die Philosophie als primäre Bezugs-
wissenschaft, sondern auch bis dahin in der Theologie eher schwach rezi-
pierte Diskurse mit der Ökonomie, der Soziologie, der kritischen Ge-
schichtswissenschaft, dem Marxismus, der Ideologiekritik, der Sprachthe-
orie, den Naturwissenschaften, bis hin zu den neueren Ansätzen der Neu-
rowissenschaften uvm.

Für die Theologie sind all diese Diskurse wichtig. Sie sind freilich geprägt
von einer starken Optionalität, die wiederum fundiert ist in biblischen Tra-
ditionen, die sich in der Geschichte der Kirche immer wieder – manchmal
auch gegen starke Widersacher – durchgehalten hat. An sie anzuschließen
und damit den Fragen nach gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen,

2 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen
Fundamentaltheologie, Mainz: Grünewald 51992, 10.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 295

ökonomischen Verarmungsstrategien, medialen Unsichtbarmachungen,


kurz: den Fragen nach den Opfern der Geschichte sich zu stellen, ist die
Grundanforderung politischer Theologie.

Dabei aber kann und darf sie nicht bei den gesellschaftlichen Auswirkun-
gen und Phänomenen stehen bleiben, sondern hat nach den geschichtlich-
gesellschaftlichen Verhältnissen selbst zu fragen, die diese produzieren –
also nach dem geschichtlichen Stand der Produktionsverhältnisse. Hier
scheiden sich die Geister zwischen den Anliegen einer politischen Theolo-
gie der Befreiung und deren Revisionen in Richtung einer spät- oder post-
modernen Einbettung in den Status quo, zu denen ich jetzt komme.

2 Rezeption und Gegenrezeption

Nachdem politisch-theologische Positionen über Jahrzehnte die theologi-


schen Diskussionen nachhaltig bereicherten, ist es seit einigen Jahren im
universitären Diskurs etwas ruhig um diesen theologischen Ansatz gewor-
den. Dies kann als Krise der politischen Theologie verstanden werden. So
diagnostizieren etwa der Innsbrucker Dogmatiker Hans-Joachim Sander,
der Tübinger Pastoraltheologe Michael Schüßler und der Gießener Syste-
matische Theologe Ansgar Kreutzer, politische Theologie habe ihr Recht
gehabt, heute allerdings brauche es ein Update, eine Neuformatierung o. ä.

Möglicherweise spiegelt sich auch eine Krise ganz anderer Art wider. Ist
die Flut an theologischen Kompendien, die in den letzten 20 Jahren den
theologischen Büchermarkt ‚bereicherten‘, ein möglicherweise letzter
Versuch, die Dinge der Theologie noch einmal in großen Systematiken
darzustellen? Wann immer es eng um die Theologie wurde, gab es genau
solche Versuche. Wenn diese Beobachtung stimmt, dann ist nicht alleine
die politische Theologie in der Krise, sondern die Theologie insgesamt.
Die Frage ist dann, welche Theologie auf die Herausforderungen der Zeit
am ehesten zu reagieren vermag. Hier wäre vielleicht mit der Zustimmung
296 Jürgen Kroth

von Kreutzer, Schüßler und Sander zu rechnen. Allerdings würden sie so-
fort einwenden, dass es die politische Theologie in Anlehnung an Johann
Baptist Metz nicht mehr ist. Sie habe ihre inspirierende Kraft verloren, sei
„fragwürdig geworden“3, es fehle ihr an Konkretheit4, ihr philosophisches
und gesellschaftstheoretisches Rüstzeug genüge den Anforderungen der
Zeit nicht mehr5, sie verbleibe im Rahmenparadigma der Moderne und sei
deshalb für postmodernistische Situationen nicht mehr anschlussfähig6,
uvm. Schauen wir uns das noch einen Moment etwas genauer an.

2.1 Zum gesellschaftstheoretischen Rüstzeug

Wer auch immer zurzeit auf politische Theologie sich bezieht, macht dies
nicht ohne affirmative Hintergedanken. Jeder möchte die Metzsche politi-
sche Theologie beerben oder weiterführen. Allerdings sei diese nicht mehr
in der Lage, eine wirkliche Inspirationskraft für Theologie und Kirche zu
entfalten.7 Es brauche einen Neuansatz, eine Retractio, ein Update, vor al-
lem aber brauche es neue gesellschaftstheoretische Vermittlungen. Dabei
richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Vermittlung von politischer The-
ologie mit Kritischer Theorie.

3 SANDER, Hans-Joachim: Symptom ‚Gotteskrise‘. Die Zeitsignatur der Theologie, in:


ZkTh 121 (1999), 45–61, 47.
4 Vgl. SCHÜßLER, Michael: „Updates“ für die Politische Theologie? Fundamentalpasto-
rale Dekonstruktionen einer diskursiven Ruine, in: BUCHER, Rainer / KROCKAUER, Rai-
ner (Hg.): Pastoral und Politik. Erkundungen eines unausweichlichen Auftrags, Müns-
ter: LIT 2006, 22–38.
5 Vgl. KREUTZER, Ansgar: Politische Theologie für heute. Aktualisierungen und Konkre-
tionen eines theologischen Programms, Freiburg im Breisgau: Herder 2017, 20.
6 Vgl. SCHÜßLER, Michael: Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und
Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft. Praktische Theologie heute Bd. 134, Stuttgart
2013, 75.
7 Vgl. FILIPOVIĆ, Alexander / LINDNER, Konstantin / SCHMITT, Hanspeter (Hg.): Theolo-
gie in Politik und Gesellschaft, Berlin / Münster: LIT 2006, Klappentext.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 297

Diese Vermittlung ist in der Tat stark, auch wenn der textbasierte Nach-
weis einer engen Verbundenheit bei Metz selbst gar nicht so leicht zu füh-
ren ist. Es bleibt aber richtig: Zentrale Positionen der Metzschen politi-
schen Theologie verdanken sich der intensiven, nie aber einfach nur affir-
mativen Auseinandersetzung mit Adorno, Horkheimer, Benjamin, Mar-
cuse, Habermas und dem etwas anders gelagerten Denken von Bloch. Ei-
nige wenige Stichworte mögen hier genügen, um den Beleg zu führen:
• Die anamnetische Verfasstheit der Vernunft wird in Auseinander-
setzung vor allem mit Adorno und Benjamin, in je spezieller Form
mit Horkheimer und Marcuse entfaltet;
• die Sensibilität für die Leidenden entspringt natürlich zentral bib-
lischen Traditionen, aber eben auch vor allem dem Gespräch mit
Adornos Negativer Dialektik;
• auch die Wiedergewinnung des apokalyptischen Impulses ent-
springt biblischen Traditionen, aber vertieft durch einen geschärf-
ten Blick in die Wirklichkeit als perennierender Katastrophe vor
allem im Gespräch mit Benjamin und Adorno;
• die frühe eschatologische Perspektive in der politischen Theologie
verdankt sich der Diskussion mit Ernst Bloch;
• der Synodentext ‚Unsere Hoffnung‘ klingt an vielen Stellen wie
eine theologische Rezeption der Negativen Dialektik;
• die Kritik der Fortschrittsideologie gewinnt Metz auf der Basis des
Benjaminschen und Adornoschen Denkens.
Das alles wäre umfassender darzustellen. Hier mögen indes diese kurzen
Hinweise genügen.

Es wird etwa bei Kreutzer die Kritische Theorie zwar rekonstruiert, zu-
gleich aber auch transformiert und damit ihres kritischen Stachels beraubt,
indem er die gesellschaftskritischen Intentionen in kulturtheoretische ver-
ändert. Kreutzer knüpft semantisch an die Überlegungen von Adorno und
Horkheimer an, entkernt sie aber gleichsam. Dort, wo Adorno und Hork-
298 Jürgen Kroth

heimer auf der Basis einer marxistisch grundgelegten Kritik der bestehen-
den Verhältnisse und deren ideologischen Verschleierungspotentiale ihre
originellen Beiträge zur Kulturindustrie vorlegen, reduziert Kreutzer dies,
indem er rein kulturtheoretisch, aber nicht -kritisch argumentiert. Damit
aber verliert auch sein Anliegen einer Reformulierung der politischen The-
ologie zugleich den Blick auf die makrostrukturellen Bedingungsfaktoren,
auf den gesellschaftlichen Praxisfeldern der Ökonomie, der Politik und der
Ideologie und gerät damit in die Fänge bürgerlicher Wissenschaft, die es
doch zu überwinden galt.

Statt die vor allem ökonomisch geprägten Zerstörungsstrategien der kapi-


talistischen Makrostruktur für die Menschen, die Papst Franziskus mit dem
Stichwort einer ‚Wirtschaft, die tötet‘, belegte, in den Blick zu nehmen,
orientiert sich Kreutzer an den Symptomen dieser Entwicklung und sucht
nach Kompensationsstrategien im Falschen. Das treibt manch skurrile Blü-
ten. So schreibt er dem Weihnachtsfest, das in der Tat in vielfacher Hin-
sicht als Widerstandsgeschichte gelesen werden muss, ein Widerstandspo-
tential ganz anderer Art zu, denn das „ritualisierte Schenken dient offenbar
überwiegend der Beziehungspflege, ist Ausdruck von Empathie für Mit-
menschen und echtem Interesse am Anderen in seiner je eigenen Individu-
alität“8. Bedenkt man den ideengeschichtlichen Hintergrund von Individu-
alität wie er sich in der scholastischen Definition ‚indivisum in se, divisum
ab omne alio‘ niederschlägt, dann wiederspricht dies deutlich der weih-
nachtlichen Hoffnungsszenerie mit ihrem Lobgesang: „Ehre sei Gott in der
Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lk
2,14)

Gerade nicht das ungeteilte, von allen anderen geschiedene, Individuum ist
die Grundperspektive der Weihnachtstradition im Besonderen und der bi-

8 KREUTZER, Ansgar: Politische Theologie für heute [Anm. 6], 114.


Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 299

blischen im Allgemeinen, sondern der in Gesellschaft verankerte und ver-


einte Mensch. Insofern hat Helmut Peukert recht, wenn er von der „Men-
schwerdung des Menschen im Horizont der einen Menschheit“9 spricht.

Es mag sein, dass das Weihnachtsbeispiel ein wenig zu einfach wirkt. Aber
vielleicht ist es auch symptomatisch für das Anliegen von Kreutzer und
seinen Weggefährten. Ernst Bloch vermerkte:
„Zu einem Kind, das im Stalle geboren, wird gebetet. Näher, niedriger, heimlicher
kann kein Blick in die Höhe umgebrochen werden. Zugleich ist der Stall wahr,
eine so geringe Herkunft des Stifters wird nicht erfunden. Sage macht keine
Elendsmalerei und sicher keine, die sich durch ein ganzes Leben fortsetzt. Der
Stall, der Zimmermannssohn, der Schwärmer unter kleinen Leuten, der Galgen
am Ende, das ist aus geschichtlichem Stoff, nicht aus dem goldenen, den die Sage
liebt.“10

Das Eintauchen in die Geschichte, das öffentlich verantwortete Eingreifen


in sie, ist der Preis der Orthodoxie, so ließe sich in Anlehnung an den Sy-
nodenbeschluss ‚Unsere Hoffnung‘ sagen. Eine politisch sensible Theolo-
gie, wie Kreutzer sie postuliert, unterläuft dies unkritisch.

2.2 Marginalien zu Theologie und Praxis

Dass Theologie auf Praxis sich zu beziehen hat, hat sich zwar innerhalb
der praktischen Theologie breit durchgesetzt; im allgemeinen Verständnis
von Theologie ist das noch nicht durchgängig anerkannt. Insofern war der
Versuch einer praktischen Fundamentaltheologie von Anfang an ambitio-
niert und durchaus auch nicht Ausdruck des theologischen Mainstreams.
Die Frage allerdings war und ist immer: auf welche Praxis denn? Ist es der
Bezug auf den Selbstvollzugs der Kirche? Ist es das Handeln der Kirche in

9 PEUKERT, Helmut: Über die Zukunft von Bildung, in: Frankfurter Hefte. FH-extra 6, 39
(1984), 129–137, 131.
10 Vgl. BLOCH, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973,
1483.
300 Jürgen Kroth

der Welt? Ist es die Praxis der von der christlichen Tradition inspirierten,
inzwischen aber kirchlich dezentrierten Menschen? Sind es Handlungs-
vollzüge, die Karl Rahner als anonymes Christentum beschrieben hat?
Sind es gesellschaftspolitische und gesellschaftskritische Perspektiven, die
sich überhaupt nicht mehr christlichen Traditionen verpflichtet sehen, aber
dennoch in großer inhaltlicher Nähe dazu verstanden werden können? Pra-
xis, das ist leicht zu erkennen, ist ein plurale tantum.

Über Kant hinausgehend hat Metz mit seinem Postulat einer praktischen
Fundamentaltheologie nicht mehr nur das sittliche Handeln des Einzelnen
im Blick. Es geht auch darum, „eine Praxis beschreiben und anrufen zu
können, in der Christen die gesellschaftlichen (historischen, psychologi-
schen) Bedingungszusammenhänge durchstoßen – kurzum die Praxis des
Glaubens in der mystisch-politischen Nachfolge“11. Damit wird ein Fun-
dament gelegt, das allerdings in der heutigen Diskussion abermals unter-
laufen wird. Wie sehr Schüßler den Ansatz politischer Theologie missver-
steht wird deutlich, wenn er Metz referiert. Zunächst zitiert er völlig tref-
fend: „Sie (die Theologie; J.K.) pocht auf die intelligible Kraft der Praxis
selbst.“12 Er fährt aber dann fort: „Was passiert nun aber, wenn sich die
Bedingungen der Glaubenspraxis in Geschichte und Gesellschaft grundle-
gend verändern?“13 Doch bei Metz geht es gerade nicht um die Glaubens-
praxis, es sei denn, diese würde als gesellschaftskritische Praxis des Glau-
bens verstanden. Dieses Verständnis würde Schüßler sicherlich umgehend
zurückweisen.

11 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 90.
12 EBD., 63.
13 SCHÜßLER, Michael: Praktische Wende der Politischen Theologie? Von der schöpferi-
schen Kraft des Evangeliums im Risiko der Ereignisse, in: KLINGEN, Henning / ZEIL-
LINGER, Peter / HÖLZL, Michael: Extra ecclesiam ... Zur Institution und Kritik von Kir-
che. Jahrbuch Politische Theologie 6/7, Münster 2013, 286–307, 286.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 301

Schüßler hält Metz hingegen scheinkritisch vor: „Statt besserwisserischer,


theologischer Fundamentalkritik bleibt man wohl weit mehr in der Spur
Jesu, wenn man sich in die Zeit hinein verausgabt, ohne das Geländer es-
chatologischer Sicherheiten und den doppelten Boden ewig richtiger Prin-
zipien.“14 Was aber, so ließe sich wohl fragen, soll denn ein Geländer es-
chatologischer Sicherheit sein? Eschatologie ist geradezu jene theologi-
sche Hoffnungslehre, die überhaupt keine Sicherheiten kennt. Ist nicht ge-
rade die politische Theologie extrem kritisch gegenüber allen ewigen
Wahrheiten?15 Müssten hier nicht andere Theologien viel eher in den Fo-
kus der Kritik gestellt werden? Wäre der Jesus, der eben mit Ernst Bloch
erinnert wurde, wirklich am Kreuz ermordet worden – immerhin einem
Folterinstrument der römischen Besatzungsmacht zur Bestrafung politi-
scher Aufrührer –, wenn er sich „in die Zeit“ verausgabt hätte?

Gewiss: Unter postmodernistischen16 Bedingungen mag es nicht mehr


ganz so einfach sein, das Ganze zu denken. Darf oder muss man sich aber
deswegen sofort der postmodernistischen Mentalität unterwerfen und alle
diskreditieren, die Gott nicht einfach in kleine Münze wechseln wollen, die
sogar so unbescheiden sind, mehr als das Ganze zu denken, wie Tiemo

14 EBD., 304–305.
15 Vgl. METZ, Johann B.: Glauben in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 63.
16 Postmodernismus steht hier für die noch nicht hinreichend gelöste Frage, ob es sich
tatsächlich um einen Epochenwandel handelt, also einer wirklichen Ablösung der Mo-
derne, oder ob es sich um eine ideologische Ausblendung der Risikofaktoren der Mo-
derne, genauer gesagt: der kapitalistischen Gestalt der Moderne handelt, in der dann die
Fragen nach den Opfern der Geschichte nicht mehr zu fragen ist, weil dies ja wiederum
ein Einheitsmoment darstellen würde, das ja gerade von postmodernistischen Protago-
nisten aufgelöst wurde. Gerade gegen diese Tendenz hat politische Theologie – wenigs-
tens in der Folge von Johann B. Metz – immer darauf insistiert, der Auflösung der Gro-
ßen Erzählung allein deshalb schon widerstehen zu müssen, weil ohne sie die Rettung
der Verlorenen kaum noch hinreichend gedacht und ihre Rettung i. S. von Helmut Peu-
kert praktisch behauptet werden kann. Ob und inwiefern es einen postmodernen Mar-
xismus geben kann, ist hier nicht zu diskutieren.
302 Jürgen Kroth

Rainer Peters17 meinte, und darüber hinaus auch noch das Ganze verändern
wollen. Angesichts des Zustands dieser Welt sind, so glaube ich, nicht die-
jenigen begründungspflichtig, die ihn verändern wollen, sondern jene, die
es als „systemtheoretische Lektion“ ansehen „auf das Pathos der Totalver-
änderung [zu] verzichten“18.

2.3 Zum Politikverständnis

Das führt uns zu einem weiteren Unterscheidungsmerkmal. Politische The-


ologie ist nicht dadurch politisch, weil es ihr um Politik, sondern um Gott
geht. Sie „soll sich einmischen, dort, wo ihre Sache – Gott und der Mensch
– wirklich bedroht ist“19. Sie erkennt, dass Gott selbst schon eine politische
Dimension hat. Aber er affirmiert nicht einfach die Bedürfnisse der Men-
schen, erst recht nicht die des Bürgertums. „Gott kann gar nicht gedacht
werden, ohne daß dieser Gedanke die unmittelbaren Interessen dessen irri-
tiert und verletzt, der ihn zu denken sucht.“20 Schließlich ist es Gott, der
das Elend seines Volkes gesehen, seine Schreie gehört hat und der die Be-
freiung aus einer Sklavenhaltergesellschaft in Gang setzt. Es ist der Gott
der prophetischen Kritik, der apokalyptischen Aufdeckung der Unrechts-
verhältnisse, der Jesusbewegung und ihrem Kampf um die messianische
Praxis unter den Bedingungen der römischen Okkupation uvm.

Dieser Gott ist der Maßstab, das Bestehende als insuffizient zu qualifizie-
ren. Es ist das Reich Gottes, vor dessen Hintergrund das Antireich in aller

17 Vgl. PETERS, Tiemo Rainer: Mehr als das Ganze. Nachdenken über Gott an den Gren-
zen der Moderne, Ostfildern: Grünewald 22016.
18 SCHÜßLER, Michael, „Updates“ [Anm. 4], 35.
19 PETERS, Tiemo Rainer: Auftakt: Wozu treiben wir Theologie?, in: JANßEN, Hans-Gerd
/ PRINZ, Julia D. E. / RAINER, Michael J. (Hg.): Theologie in gefährdeter Zeit. Stich-
worte von nahen und fernen Weggefährten für Johann B. Metz zum 90. Geburtstag,
Münster: LIT 2018, 10–11, 10.
20 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 63.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 303

Schärfe sichtbar wird. Es ist Gott, in dessen Nachfolge wir gerufen sind.
Allerdings nicht in reiner Glaubenspraxis, sondern in der Praxis des Rei-
ches Gottes. „Die Praxis der Nachfolge gehört konstitutiv in die Christolo-
gie [...]. Für jede Christologie gilt, daß Christus immer so gedacht werden
muß, daß er nie nur gedacht ist.“21 Aber umgekehrt gilt auch, dass Gott
oder Christus erst in der Praxis der Nachfolge erkannt werden kann. „Nur
ihm nachfolgend wissen Christen, auf wen sie sich eingelassen haben und
wer sie rettet.“22 Es zeigt sich hier also ein theologisches Politikverständ-
nis. Wenn es um Gott und den Menschen geht und wenn es dabei immer
auch um die Verhältnisse geht, in denen Menschen leben und unter denen
sie leiden, dann kann es keinen Bereich geben, der nicht davon umfangen
ist. Geht es um Gott, geht es um Politik.

Ganz anders etwa bei Kreutzer und Schüßler. Bei ihnen ist der Hauptbe-
zugspunkt die Systemtheorie von Niklas Luhmann und mit ihm um die
Differenzierung in verschiedene gesellschaftliche Subsysteme. „Sie (die
Politik; J.K.) hat keinen exklusiven Ort mehr in der Gesellschaft. Als ein
gesellschaftliches Funktionssystem ist sie denselben Kontingenzen, Rela-
tivierungsprozessen und Ohnmachtserfahrungen ausgesetzt wie die Reli-
gion. [...] Gewinner dieser Entwicklung ist die zunehmend brutale Dyna-
mik wirtschaftlicher Prozesse.“23

Das Problem besteht nun darin, sich in diese vermeintliche Situation ein-
und mit ihr abzufinden. Systemtheoretisch mag hier tatsächlich kein Aus-
weg möglich sein. Wer aber befindet eigentlich über die Theologie? Die
Systemtheorie? Wenn es mit Gott um das Ganze der Wirklichkeit geht,
wenn es um die Hoffnung auf die Möglichkeit der Rettung der Lebenden

21 EBD., 64.
22 EBD.
23 SCHÜßLER, Michael: „Updates“ [Anm. 4], 23–24.
304 Jürgen Kroth

wie der Toten geht, und wenn der Referenzrahmen der Systemtheorie ge-
rade dies gar nicht mehr denken lässt; braucht es dann nicht vielleicht einen
anderen Referenzrahmen?

Sowohl bei Schüßler wie auch bei Kreutzer scheint eine hohe Bereitschaft
vorzuliegen, sich den bestehenden Verhältnissen zu beugen. Dabei ist der
Versuch, unter den Bedingungen der Postmoderne und der damit verbun-
denen Auflösung der großen Erzählungen immer noch Theologie zu trei-
ben durchaus ehrenwert. Nur scheint mir der Preis dafür zu hoch.

3 Zur Aktualität politischer Theologie

Was ist der Maßstab der Aktualität von politischer Theologie? Ist es die
Anzahl an Beiträgen in theologischen Fachpublikationen? Sind es Sympo-
sien? Ist es die Wahrnehmung ihrer Position in der Öffentlichkeit? Ist es
die Aufnahme ihrer Überlegungen in die kirchlichen Binnendiskussionen
oder gar Strukturdebatten? Natürlich können das Indikatoren sein, aber ob
damit wirklich Aktualität indiziert ist, wäre dann eher eine Frage nach ihrer
Relevanz. Hier wird ein anderes Aktualitätsverständnis zugrunde gelegt.
Es geht nämlich um die Frage, ob und inwiefern Theologie im Allgemei-
nen und politische Theologie im Besonderen in der Lage ist, aktuelle Ten-
denzen der Gesellschaft nicht nur wahrzunehmen, sondern das Rüstzeug
für eine Beurteilung dieser Tendenzen besitzt und Handlungsperspektiven
angeben kann, in diese gesellschaftlichen Entwicklungen einzugreifen – in
welcher Form auch immer.

Die Praktische Theologie – interessanterweise hat sich dies in den anderen


theologischen Sektionen nicht gleichermaßen durchgesetzt – folgt dem
spätestens seit mater et magistra grundgelegten methodischen Dreischritt,
der hier allerdings um einen vierten Schritt erweitert wird, der in eine Ge-
sellschaftsformationsanalyse eingebunden und mit den Traditionen der
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 305

Kirche ebenso verankert wie auf die Gestaltung einer Zukunft verpflichtet
ist, in der Leben in Fülle für alle möglich ist.

Es reicht offenkundig nicht aus, die richtigen Wahrnehmungen und Ur-


teilsstrukturen zu besitzen. Richtige Erkenntnis führt eben nicht zwangs-
läufig zu adäquater Praxis. Der Satz des Lukasevangeliums in Lk 23,34
wäre hier vielleicht so zu aktualisieren: Herr, vergib ihnen, denn sie tun
nicht, was sie wissen. Es bedarf also eines weiteren Schrittes, der hier mit
‚wollen‘ bezeichnet wird. Menschen sind offenkundig nur dann mit ihrem
Handeln identisch, wenn sie auch wirklich wollen, was sie tun sollen. Wie
aber gelingt diese Integration? Am ehesten durch die emotionale Veranke-
rung einer Herausforderung im Subjekt.

Schon Ernst Bloch ahnte, dass hier eine tiefe Schwierigkeit besteht. Ob-
gleich er von der Hoffnung als einem Prinzip ausging, schien es dennoch
nötig, das Hoffen zu lernen. Er beginnt daher das Vorwort zum Prinzip
Hoffnung mit gewichtigen Fragen und Problemlagen:
„Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was
erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen
nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so
ist er Furcht. [...] Es kommt wieder darauf an, das Hoffen zu lernen.“24

Entscheidendes Merkmal dabei ist die methodisch geleitete Wiederholung


des Vierschritts auf unterschiedlichen Ebenen: Sowohl die pastoral Er-
mächtigten müssen ihren eigenen Standort gründlich analysieren, ihre
Wahrnehmung präzisieren, die Situation erhellen und einer kritischen Be-
urteilung unterziehen, um dann Handlungsperspektiven zu entwickeln, wie
dies aber auch die beteiligten Subjekte eines pastoralen Handelns tun müs-
sen.

24 BLOCH, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 1.
306 Jürgen Kroth

Bei allen ist dabei die gründliche Wahrnehmung der gesellschaftlichen


Praxisfelder Ökonomie, Politik und Ideologie/Kultur notwendig.25

Nun ließe sich möglicherweise einwenden, das sei ja bei Metz so nicht zu
finden. Das ist richtig, weil Metz sich immer davor scheute, zu eindeutig
auf unmittelbar marxistische Protagonist*innen zurückzugreifen. Aber es
folgt konsequent dem Denkansatz der politischen Theologie bei Metz
selbst, weil Metz trotz dieser Vorbehalte ein deutliches Gespür für die vor
allem ökonomische Überdetermination aller gesellschaftlicher Verhält-
nisse hatte.

Politische Theologie hat darüber hinaus von Anbeginn an sich den Zeichen
der Zeit gestellt. Der Vorwurf von Hans-Joachim Sander, Metz befasse
sich nicht mit den Zeichen der Zeit, sondern mit ihrer geistigen Signatur26,
geht daher grundlegend fehl. Auch sein Urteil, das Konzil verstehe die Zei-
chen der Zeit sozial und politisch, Metz hingegen publizistisch27, ist nicht
triftig. Politische Theologie distanziert sich gerade nicht von dieser Welt28,
sondern versucht ihre inneren Tendenzen zu beschreiben, zu bewerten und
zu verändern. Das soll an einem gesellschaftlichen Problem verdeutlicht
werden.

Als Johann Baptist Metz 1977 in Glaube in Geschichte und Gesellschaft


Solidarität – neben Erinnerung und Erzählung – als Kategorien einer prak-
tischen Fundamentaltheologie als politischer Theologie des Subjekts in die
Diskussion einbrachte, konturierte er diese von Anbeginn mit zwei Aspek-
ten: dem Subjektwerden vor Gott einerseits und „in der Gestalt der Erin-

25 Vgl. ALTHUSSER, Louis: Für Marx, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974; DERS. / BALI-
BAR, Etienne: Das Kapital lesen, Hamburg: Rowohlt 1972.
26 Vgl. SANDER, Hans Joachim: Symptom ‚Gotteskrise‘ [Anm. 3], 53.
27 Vgl. EBD.
28 Vgl. EBD.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 307

nerungssolidarität mit den Toten und Besiegten“29 andererseits. Ebenso


klar stellte Metz heraus, wie sehr Christinnen und Christen in dieser Soli-
darität sich nicht davon dispensieren können, dem „Leid der Unterdrü-
ckung und des Unrechts – des noch nicht oder nicht mehr Subjektseinkön-
nens“30, sich praktisch entgegenzustellen.

Hellsichtig markierte Metz damit eine Entwicklung, die sich schon seit den
1990er Jahren abzeichnete, die nun aber mit Papst Franziskus eine Öffent-
lichkeit erhalten hat, die viele aufgeschreckt und irritiert hat. Papst Fran-
ziskus sprach in Evangelii gaudium von einer neuen, erschreckenden Ten-
denz: „Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und
der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: (...) Die Ausgeschlossenen
sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘“. (EG 53) Viele warfen
dem Papst anschließend ökonomische Unkenntnis ebenso vor wie ideolo-
gische Einseitigkeit. Aber stimmt das?

Schon 1990 verwies der Ökonom und Theologe Franz Josef Hinkelam-
mert31 darauf, dass unter den Bedingungen monetaristischer Ökonomie im-
mer mehr Menschen aus den Marktmechanismen ausgeschlossen seien, in-
sofern ihre Arbeitskraft nicht mehr nachgefragt werde und sie auch selbst
infolge ihrer Armut nicht mehr Güter und Dienstleistungen nachfragen
könnten. Sie seien damit vom ökonomischen Austauschprozess ausge-
schlossen. Sie würden daher auch nicht mehr ausgebeutet, da Ausbeutung
immer voraussetzt, am Marktgeschehen zu partizipieren. Wer aber dies
nicht mehr kann, wird auch nicht mehr ausgebeutet. Es entsteht damit das
abscheuliche Privileg, ausgebeutet zu werden. Verschärfend findet aber

29 METZ, Johann B.: Glauben in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 220.
30 EBD.
31 Vgl. HINKELAMMERT, Franz Josef: Solidarität als Parteinahme gegen Unterdrückung
und Ausbeutung, in: ChristInnen für den Sozialismus (Hg.): Geschichte – Theorie –
Praxisberichte, Fünfte, neu bearbeitete Auflage, Münster 1992, 80–88.
308 Jürgen Kroth

auch eine Umformatierung des Subjektbegriffs in der monetaristischen


Ökonomietheorie statt: Wer über keine Marktpartizipation verfügt, ist im
Sinne der monetaristischen Ideologie32, die weltweit an entscheidenden
Stellen Platz gegriffen hat, kein Subjekt. Sein Tod ist daher nicht der Tod
eines Menschen, sondern eines Lebewesens33, wie eines jeden anderen or-
ganischen Lebewesens, das im Sog der Evolution untergeht. Diese Form
der Entsubjektivierung ist in der Tat neu in der Geschichte, in der der
Mensch aufgrund eines ökonomischen Merkmals zum bloßen Exemplar
herabgestuft wird. Für die Praxis der Kirche stellt sich damit ein ganz neues
Problem: Wie übt man Solidarität mit Menschen, denen der Status des
Menschseins aberkannt wurde? Wie kann das Menschenrecht eingeklagt
werden im Horizont eines Denkens, das den Menschen auf ökonomische
Prinzipien reduziert? Was bedeutet die Option für die Opfer, wenn es sich

32 Dies reflektiert einen grundlegenden Wandel im ökonomischen Diskurs vor allem ver-
treten durch den sog. Monetarismus von Friedrich-August Hayek und Milton Friedman.
In „Kapitalismus und Freiheit“ unterwirft Friedman alle menschlichen Beziehungen
den Markbeziehungen. Auch alle Güter jenseits der Produktionsprozesse werden der
Marklogik unterworfen. Es darf seiner Logik folgend keine Beziehungen geben, die
nicht auf irgendeine Art auch Marktbeziehungen sind. Hayek, auf dessen grundlegen-
den Arbeiten ja auch die Überlegungen von Friedman basieren, hat dies dann auch re-
lativ deutlich formuliert. Für eine Welt, so schreibt er in der Wirtschaftswoche vom 6.
März 1981, „die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung
(...) unlösbar. Wenn wir garantieren, daß jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal
geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu
erfüllen. Gegen die Überbevölkerung gibt es nur eine Bremse, nämlich daß sich nur die
Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.“ Und in einem
Interview El Mercurio vom 19. April 1981 heißt es: „Eine freie Gesellschaft braucht
auch eine bestimmte Moral, die sich letztlich auf die Erhaltung des Lebens beschränkt:
nicht auf die Erhaltung allen Lebens, denn es könnte notwendig werden, das eine oder
andere individuelle Leben zu opfern zugunsten der Rettung einer größeren Anzahl an-
deren Lebens. Die einzig gültigen moralischen Maßstäbe für die Kalkulation des Le-
bens können daher nur sein: das Privateigentum und der Vertrag.“
33 Vgl. die gründlichen Analysen von HINKELAMMERT, Franz Josef: Die ideologischen
Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus, Fribourg / Münster 1985; DERS.:
Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen
der modernen Gesellschaftstheorie, Luzern / Mainz: Grünewald 1994.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 309

dabei um eine überflüssig gewordene Masse von Lebewesen handelt, die


keinen Tauschwert mehr besitzt? Wie geht man damit um, dass immer we-
niger die Menschen eines Landes wichtig sind, dass sie nicht einmal mehr
zur Ausbeutung gebraucht werden, dass Ausbeutung beinahe schon zu ei-
nem Privileg wird, dass nicht mehr Menschen, sondern nur noch die Roh-
stoffe oder die Müllhalden für die ökonomischen Verwertungszusammen-
hänge relevant sind, wie es auch Papst Franziskus aufgegriffen hat (vgl.
EG 53)? Hier bekommt die alte Metzsche Frage nach der Subjektwerdung
eine dramatische Aktualisierung.

Mit dieser Entwicklung erfährt die politisch theologische Kategorie der


Solidarität eine neue Dramatik: Theologie und Kirche können sich nun-
mehr – nicht erst seit den deutlichen Hinweisen des Papstes – von der Kri-
tik an den ökonomischen Prozessen unserer Zeit nicht mehr dispensieren.
Auch die in der theologischen Arbeitsteilung beliebte Variante, Gesell-
schaftskritik alleine in der Sozialethik zu verorten, ist nicht mehr triftig.
Mit der Veränderung des Subjektbegriffs ist die Theologie als Ganze ge-
fordert. Dabei ist auch eine weitere beliebte Vorgehensweise obsolet: Die
Kritik an den gesellschaftlichen Makrostrukturen darf nicht alleine diskur-
siv geschehen. Die systematische Ausschließung von Menschen und die
Negation ihres Subjektsanspruchs drängen Theologie und Kirche zu einer
praktischen Solidarität mit der Perspektive, für das Subjektseinkönnen al-
ler einzustehen und alle Strukturen, die dies verhindern, bestimmt zu ne-
gieren.

Johann Baptist Metz wies mit Recht darauf hin, dass die bloße Solidarität
unter Gleichen den Anspruch wahrer Solidarität verfehle und der Tausch-
logik folge. Aber auch anspruchsvollere Konzepte werden mit dem Ver-
dacht belegt, dass Solidarität letztlich von der „transzendentale(n) Simula-
310 Jürgen Kroth

tion der Gleichrangigkeit der Partner“34 geprägt sei. Dies betreffe sogar die
auf reziproken Anerkennungsverhältnissen basierenden Ansätze von Ha-
bermas und Apel.

Dagegen führt eine praktische Fundamentaltheologie „eine von den Kate-


gorien der gefährlichen Erinnerung und Erzählung begleitete christliche
Solidarität ins Spiel“, in der vor allem die Leidensgeschichten der Men-
schen, aller Menschen – auch und vor allem jener, die vom herrschenden
System ausgeschlossen sind – zum Maßstab wahrer Solidarität entfaltet
werden. Diese bringt sie in gesellschaftliche Diskurse ebenso ein wie sie
auch das Handeln in Richtung universaler Solidarität inspiriert.

Es war immer die Stärke politischer Theologie, korrektivisch einzugreifen.


Mit dem Solidaritätsbegriff aber eröffnet sich unter veränderten Bedingun-
gen die Notwendigkeit, Gesellschaftskritik mit Handlungsperspektiven zu
verknüpfen und dies als eigenständige theologische Arbeit zu begründen.
Solidarität als grundlegende Kategorie einer politischen Theologie des
Subjekts hat also überhaupt nicht ausgedient.

Die Zukunft der politischen Theologie ist kein Selbstzweck. Es ist nicht
entscheidend, ob eine bestimmte theologische Denkform eine Zukunft hat
oder nicht. Was es aber braucht, ist ein theologisches Denken, das in der
Lage ist, auf die zentralen Herausforderungen in Geschichte und Gesell-
schaft zu reagieren. Die politische Theologie war und ist eine solche theo-
logische Denkform. Sie will kein System sein, aber systematisch in die be-
stehenden Systeme eingreifen, sie will korrektivisch an der bestimmten
Negation des herrschenden Unrechts mitarbeiten. Es braucht dazu eine ge-
naue Wahrnehmung dessen, was ist. Es braucht Erinnerung, die Maßstäbe
zur Beurteilung bereitstellt. Es braucht die praktische Antizipation einer

34 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 223.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 311

universalen Hoffnung, die nicht verwechselt werden darf mit Zuversicht.


Es braucht die Orientierung am Gott der Befreiung im Widerstand gegen
die Götzen der Unterdrückung.

Autorenangaben: Prof. Dr. Jürgen Kroth, nach Promotion bei J. B. Metz und Ha-
bilitation in Pastoraltheologie Honorarprofessor für Religionspädagogik und Ka-
techetik an der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar, Privatdozent
für Pastoraltheologie an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität
Regensburg und Religionslehrer an der Ludwig-Erhard-Schule Neuwied.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie:
Fridays for Future, die Politische Theologie
und die Schule

Andreas Hellgermann – in Response auf Jürgen Kroth

Abstract: Die Diskussion um die Politische Theologie ist wieder lebendiger ge-
worden. Damit verbunden wird schnell die häufig gehörte Kritik, Politische Theo-
logie sei zu wenig konkret, empirisch nicht gesättigt und deshalb wenig aktuell.
Dem will der Text widersprechen und zwar durch eine Bezugnahme auf ‚Fridays
for Future‘. Allein daraus ergibt sich schnell eine Verbindung zur Schule oder zu-
mindest zu Fragen der Bildung. Ein bedeutsamer Begriff in diesem Zusammen-
hang ist ‚Unterbrechung‘. Dieser kann zur Schlüsselkategorie einer Religionspä-
dagogik werden, die ihre zentrale Aufgabe nicht darin sieht, den gesellschaftlichen
Status quo aufrechtzuerhalten.

Zunächst eine Vorbemerkung: In der Rezeption der Politischen Theologie


gibt es immer wieder einen Punkt, auf den von verschiedenen Autor*innen
hingewiesen wird: ihre fehlende Aktualität. Ich mache eine offensichtlich
entgegengesetzte Erfahrung und wundere mich darüber, wie aktuell die
Politische Theologie ist, interessanterweise gerade auch für die Religions-
pädagogik und den Religionsunterricht. Die Kategorien und die Beobach-
tungen von Johann Baptist Metz sind immer noch erstaunlich gut geeignet,
um zu verstehen, was im Religionsunterricht in der Schule geschieht.1 Der
Vorwurf und meine Zurückweisung dieses Vorwurfs markieren zugleich
den Punkt, der Metz als Kritik bis heute vorgehalten wird: dass seine Theo-

1 Politische Theologie, das ist nicht nur die Theologie von Johann Baptist Metz, sondern
auch die seiner Schüler*innen (vor allem Timo R. Peters, Helmut Peukert und Kuno
Füssel) und in neuester Zeit des Instituts für Theologie und Politik in Münster (vgl.
dazu das Interview mit Norbert METTE in diese Band). In dem vorliegenden kurzen
Text ist vor allem Metz der Bezugspunkt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_17
314 Andreas Hellgermann

logie nicht empirisch gesättigt daherkommt. Was will damit gesagt wer-
den? Hat die Theologie die Aufgabe, die Welt abzuzählen? Und hat die
Religionspädagogik die Aufgabe, unseren Unterricht abzuzählen, zu evalu-
ieren, wie das auf Neudeutsch heißt? Das Problem ist doch nicht, dass wir
alles richtig zählen. Gerade im Religionsunterricht muss es darum gehen,
den Schleier des Zählens zu durchschauen und herunterzureißen, damit wir
besser sehen können, was los ist. Und dazu trägt Politische Theologie mehr
denn je bei. Ihre Aktualisierung geschieht genau in dem Moment, in dem
sie das tut: sehen und verstehen, was los ist. Davon ist Politische Theologie
durchtränkt – noch immer, aber eben nicht auf die Weise, wie manche Kri-
tiker*innen der Politischen Theologie das gerne hätten.2

Zwei weitere Vorbemerkungen: Erstens ist die Politische Theologie keine


Theologie, die man auf das Politische hin anwendete und die dadurch poli-
tisch würde. Und zweitens akzeptiert die Politische Theologie nicht die
Luhmannsche Grundannahme der Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft
in verschiedene Funktionsbereiche.3

In den gegenwärtigen Diskussionen um Politische Theologie gibt es diese


beiden Annahmen, die auf unterschiedliche Weise an die Oberfläche gera-
ten. Warum ist das so wichtig, wenn wir uns mit religionspädagogischen

2 So zum Beispiel Ansgar Kreutzer: „So hat sich wiederholt eine fehlende Konkretheit
der Politischen Theologie gezeigt.” Oder: „Methodisch ist der Vorgehensweise von
Metz eine gewisse Empirieferne zu konstatieren.” (KREUTZER, Ansgar: Politische The-
ologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen eines theologischen Programms,
Freiburg: Herder 2017, 56 bzw. 57).
3 Diese beiden Punkte sind insofern relevant, als es momentan (post-) politische Theolo-
gien gibt, die das Politische einer Theologie in ihrer Anwendung ausmachen und durch
den Rückgriff auf die Systemtheorie geprägt sind. Genauer hierzu: GEITZHAUS, Philipp
/ RAMMINGER, Michael (Hg.): Gott in Zeit. Zur Kritik der postpolitischen Theologie,
Münster: ITP-Kompass 2018. Darin zur Auseinandersetzung mit der Systemtheorie aus
einer Perspektive der Politischen Theologie: HELLGERMANN, Andreas: Welt unterbre-
chen. „Werdet nicht gleichgestalt dieser Welt.“ (Röm 12,2), 67–118.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 315

Fragestellungen auseinandersetzen? Die aus den beiden Vorannahmen


resultierenden Missverständnisse finden sich auch später im Unterricht
wieder und wechseln sich dort ab. Ganz aktuell will ich versuchen, das am
Beispiel der sich zuspitzenden Klimakatastrophe deutlich werden zu las-
sen.4

Eine übliche Weise, mit dem Problem im Religionsunterricht umzugehen,


ist, den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben zu verstehen, was denn
da beim ‚Klimawandel‘5 passiert. Dazu gehört naturwissenschaftliches und
ökonomisches Wissen. Im Religionsunterricht wird das selbstverständlich
ergänzt durch Schöpfungstheologie und die daraus resultierende Verant-
wortung. Und dann ist die Enzyklika Laudato si‘ auch noch sehr brauchbar.
Wenn das erledigt ist, kommt die Frage: Was können wir denn jetzt
machen? In dieser Frage steckt die entscheidende Falle und die neoliberale
Schule schlägt erbarmungslos zu. Hier nun sollen Konkretionen stattfinden
und hier könnte sich entscheiden, ob eine Politische Theologie brauchbar
ist. Die Schüler*innen wenden also das an, was sie vorher gelernt haben.

4 Dieser Text ist aktuell. Er ist im Juli 2019 abgeschlossen worden, also mitten in den
Auseinandersetzungen um die sich noch weiter zuspitzende Klimakatastrophe. Ein letz-
ter Durchgang durch den Text findet in dem Moment statt, in dem Brände ungeahnten
Ausmaßes in der Arktis auftreten, Klimaforscher annehmen, dass Rückkopplungsef-
fekte (Auftauen des Permafrostbodens und damit verbundenes Austreten von Methan-
gas in die Erdatmosphäre) wohl viel schneller auftreten werden, als bislang angenom-
men. Die Frage in dieser Situation ist auch, ob die Fridays-for-Future-Schüler*innen so
wie die ganze Klimagerechtigkeitsbewegung auf dem Moment der Unterbrechung be-
harren oder sich durch das Ausarbeiten pragmatisch-realistischer Forderungen und die
Rücknahme des Moments des zivilen Ungehorsams durch Schulstreik und Baggerbe-
setzungen von den Vertreter*innen des Status quo vereinnahmen lassen werden. Dar-
über hinaus ist diese Aktualität auch ein Beleg sowohl für die Notwendigkeit als auch
die Brauchbarkeit Politischer Theologie, für die ein systemtheoretisches Update weder
politisch noch theologisch weiterführend ist.
5 Der Begriff Klimawandel ist angesichts der real stattfindenden Katastrophe ein Euphe-
mismus, insofern die Anführungszeichen. In den offiziellen Verlautbarungen zum Bei-
spiel der Bundesregierung ist es der übliche Begriff.
316 Andreas Hellgermann

Damit wird zugleich in andere Bereiche der funktionalen Ausdifferen-


zierung gewechselt: Ökonomie und Technik. Dadurch aber werden die Lo-
giken dieser Bereiche übernommen. Produkte müssen nachhaltiger werden
und Windkraft und Sonnenenergie sind die Mittel der Wahl, auch Elektro-
autos und CO2-Zertifikate, die die Marktlogik zementieren, anstatt diese
Logik selbst infrage zu stellen. Zugleich wird die Moral, für die ja die Reli-
gion zuständig ist, in Beschlag genommen. Jeder Einzelne kann etwas tun
und wir alle müssen als Einzelne Verantwortung übernehmen. Das Bil-
dungsziel ist erreicht und Schule hat ihre Aufgabe erfüllt, die grundlegende
Funktionalität des Ganzen nicht in Frage zu stellen. Dieser Unterricht ist
obendrein nah an den Schüler*innen. Er könnte evaluiert werden und führ-
te bestenfalls noch zu einer Aktion in der Schule, nennen wir sie: Wir kon-
trollieren unseren ökologischen Fußabdruck und reduzieren die CO2-
Emissionen unserer Schule eine Woche lang durch fairen Handel! Zum
Schluss gibt es hierfür auch noch einen Wettbewerb und eine Plakette der
Landesregierung, überreicht durch den Ministerpräsidenten A. Laschet.

Ich habe dieses Szenario polemisch dargestellt und glaube doch auch, dass
es besser ist das zu tun, als nichts zu tun. Vielleicht kommen in diesem
Zusammenhang durchaus kritische Diskussionen auf. Aber zugleich wird
an diesem Beispiel deutlich, warum das mit einer Politischen Theologie
nicht zu machen ist. Weder lässt sie sich in einen ausdifferenzierten Bereich
der Religion abschieben, noch ist sie in der dargestellten Weise anwendbar.
Vielmehr steht sie für einen Bruch mit genau dem, was hier geschildert ist.
Und sie steht für diesen Bruch, so meine These – in emanzipatorischer Ab-
sicht.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 317

Allerdings muss noch deutlich gemacht werden, warum die ‚neoliberale


Schule‘, wie ich sie genannt habe, ‚zuschlägt‘.6 Dies sei ganz kurz durch
zwei Punkte benannt. Erstens werden die Probleme individualisiert, also
dem Handeln des Einzelnen zugeschoben. Seine Aufgabe ist es, und so sind
alle neuen Bildungspläne ausgerichtet, Kompetenzen zu erwerben, um in
konkreten Handlungssituationen Lösungen zu finden und sie dann anzu-
wenden. Und zweitens verhindert diese Vorgehensweise, den Gesamtzu-
sammenhang zu verstehen: dass wir es mit einem ökonomischen System
zu tun haben, dessen Logik Handlungsweisen vorgibt und zugleich schult
– auch in der Schule –, die selbstverständlich darauf ausgerichtet sind, das
System zu erhalten. Spätestens hier wird deutlich, warum das zu lernen
gerade nicht emanzipatorisch sein kann und worin ein erster emanzipato-
rischer Beitrag der Politischen Theologie besteht.

Übrigens kommt der ‚Klimawandel‘ als eine pädagogische Herausforde-


rung in den neuesten Lehrplänen nicht bzw. kaum vor. Allein das ist ein
Hinweis auf den Zustand von Bildung, wenn eine der größten zivilisato-
rischen Herausforderungen, die Abwendung oder zumindest Verminde-
rung einer globalen Katastrophe, keine pädagogische Herausforderung
darstellt. Dass einer solchen Bildung kein emanzipatorisches Potential zu-
getraut werden kann, lässt sich an dieser Stelle zunächst nur negativ be-
stimmen.

Worin bestünde nun der positive Gehalt der Politischen Theologie? Vor ein
paar Jahren hatte ich Johann Baptist Metz noch einmal zu einer Fortbildung
für Religionslehrer*innen im Bistum Münster eingeladen und die erste Fra-
ge war die Frage danach, was denn das Politische der Politischen Theologie
ausmache, was ihr Spezifisches sei? Seine Antwort war einfach und klar

6 Ausführlich hierzu: HELLGERMANN, Andreas: kompetent. flexibel. angepasst. Zur Kri-


tik neoliberaler Bildung, Münster: Edition ITP-Kompass 2018.
318 Andreas Hellgermann

und räumte mit einem entscheidenden Missverständnis auf. Es gebe gar


keine unpolitische Theologie, Theologie sei schon immer politisch gewe-
sen und sei es auch heute noch. Die neue Politische Theologie habe dies
eben nur benannt und theologisch zur Sprache gebracht. Der erste Schritt
bestünde also genau darin, diesen Punkt nicht misszuverstehen.

Ganz offensichtlich entkommen wir dem Politischen nicht, auch nicht im


Religionsunterricht. So, wie die Theologie immer politisch ist, sind es auch
Bildungsprozesse, und im Religionsunterricht kommen beide Ebenen zu-
sammen. Der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire hat das fol-
gendermaßen thematisiert.
„Viele Leute haben Angst vor dem Moment, Lehrer als Politiker anzuerkennen.
Sie sehen den Scheinfrieden einer neutralen Erziehung und Bildung ihrer Kinder
dahin schwimmen. In diesem Zusammenhang frug mich vor einigen Jahren ein
amerikanischer Journalist, wie ich mich selbst bezeichnen würde. Ich sagte, ich
fühle mich als Wanderprediger des Offensichtlichen. […] Ich erklärte ihm, daß
ich in der Welt umherreise, um die Dinge zu sagen, die offensichtlich sind wie
z. B., daß Erziehung und Bildung nicht neutral sind. Ich entdeckte auch bei mei-
nen Fahrten durch die Welt, daß wir das Offensichtliche aufbrechen und den Kern
zeigen müssen. Dann stellen wir fest, daß das Offensichtliche gar nicht so offen-
sichtlich ist, wie wir anfangs annahmen. Ich erkenne, daß für viele Leute […] es
nicht offensichtlich ist, daß Erziehung und Bildung politisch sind. Es schockt
sie.“7

Es ist kein Zufall, dass hier Freire ins Spiel gebracht wird. In Verbindung
mit der Politischen Theologie sollte er einer der wichtigsten Gesprächs-
partner sein, Emanzipation religionspädagogisch zu buchstabieren. Mit
Metz zusammen verweist er auf die Bedeutung des Begriffs des Poli-
tischen. Je nachdem wie dieser Begriff ausformuliert wird, wird er zu ei-
nem notwendigen Begriff emanzipatorischer Bildung. In aller Kürze ließe
sich Folgendes sagen: Es gibt Vieles, was wir in unserem Alltag Politik
nennen. Das eigentlich Politische zielt in seinem Kern auf etwas anderes.

7 FREIRE, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte zu befreiender Bil-
dungsarbeit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, 115.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 319

Es ist die Behauptung einer allgemeinen Gültigkeit dessen, was ausge-


schlossen wird, was nicht zur Sprache kommt. Politik, so der Philosoph
Slavoj Žižek (in Anlehnung an den Althusser-Schüler Rancière8), ereignet
sich zum Beispiel dort, wo eine Gruppe, die ausgeschlossen ist, also keinen
Anteil am Ganzen hat, diesen Anteil nicht nur für sich als das ihr zustehen-
de Recht einfordert, sondern für die Allgemeinheit, die die Gruppe in dieser
historischen Situation repräsentiert.
„Sie, die Ausgeschlossenen, jene ohne festen Platz im Gesellschaftsgebäude, prä-
sentieren sich selbst als die Repräsentanten, die Vertreter des Ganzen der Gesell-
schaft, der wahren Allgemeinheit (‚Wir – das ‚Nichts‘, das für die Ordnung nicht
zählt – sind das Volk, wir sind alle, die sich gegen diejenigen stellen, die nur ihre
besonderen, privilegierten Interessen vertreten.‘) Der politische Konflikt bezeich-
net, kurz gesagt, die Spannung zwischen dem strukturierten Gesellschaftskörper,
in dem jeder Teil seinen festen Platz hat, und dem ‚Teil ohne An-Teil‘, der diese
Ordnung [ … ] ins Wanken bringt.“9

Es gibt diejenigen, die ohne Anteil sind, und die emanzipatorischen Pro-
zesse, die in der Geschichte stattgefunden haben und stattfinden werden,
finden hier ihren Bezugspunkt. Der Kampf um den Anteil der Anteillosen,
der stattfindet und Brüche in der sinnlich wahrnehmbaren polizeilichen
Ordnung erzeugt, ist ein politischer. Er behauptet die Gleichheit, die sein
normativer Kern ist und die denen, die auf die unterschiedlichsten
historischen Weisen ohne Anteil sind, vorenthalten wird. Der Begriff der
Polizei ist an dieser Stelle irritierend und schließt an Rancière an. Er geht
über die real sichtbare Polizei hinaus und meint das gesamte gesellschaft-
liche Ordnungs-, Verteilungs- und Legitimierungssystem, das im Allge-
meinen mit dem Begriff Politik bezeichnet wird. In diesem Sinne ist die
real sichtbare Polizei ein Teil dieses Systems. Am aktuellen Beispiel des
Braunkohletagebaus, kann man das Zusammenspiel der sichtbaren Polizei

8 Vgl. RANCIÈRE, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am


Main: Suhrkamp 2002.
9 ŽIŽEK, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, 255–256.
320 Andreas Hellgermann

mit dem gesamten System gut erkennen.10 Die sinnlich wahrnehmbare


Ordnung sind die Verträge, die Eigentumsordnung, der Anspruch auf
daraus entstehende Gewinne um den Preis der Verschärfung der
Klimakatastrophe in Verbindung mit der Durchsetzung dieser Ordnung
durch das Innenministerium und die Polizeikräfte vor Ort. Der Bruch ent-
steht durch die Inanspruchnahme einer Legitimität, die durch die Ordnung
nicht mehr gedeckt ist und sich zum Beispiel real dadurch zeigt, dass nicht
nur die Bäume im Wald besetzt bleiben, sondern Sonntag für Sonntag im
Herbst 2018 immer mehr Aktivist*innen und bis zu dem Zeitpunkt wenig
aktivistische Bürger*innen gegen die Anordnungen der Polizei einfach in
den Hambacher Forst gegangen sind.

Wodurch ein solcher Kampf zu einem politischen im Sinne Rancières wird,


zeigt sich also auch im Kampf um das Klima. Wenn Bürger*inneninitiati-
ven rund um den Hambacher Forst für den Erhalt des Waldes und ihrer
Dörfer kämpfen, so ist das mehr als legitim. Politisch in dem eben beschrie-
benen Sinne wird dieser Kampf in dem Moment, in dem das partikulare
Interesse überschritten und zu einem allgemeinen wird, wenn also die For-
derung nach dem Erhalt des Waldes zu einer wird, die für alle Gültigkeit
hat: System change not climate change – so lautet die Forderung derjeni-
gen, die dort im letzten Herbst viel erreicht haben.11 Der partikulare Einsatz

10 Vgl. RANCIÈRE 2002 [ANM. 7], 39–41.


11 Mit dieser Forderung finden sie sich auch religionspädagogisch in guter Gesellschaft.
Hat nicht gerade Papst Franziskus das auf unterschiedliche Weise sehr deutlich artiku-
liert: „Wenn das Kapital sich in einen Götzen verwandelt und die Optionen der Men-
schen bestimmt, wenn die Geldgier das ganze sozio-ökonomische System bevormun-
det, zerrüttet es die Gesellschaft, verwirft es den Menschen, macht ihn zum Sklaven,
zerstört die Brüderlichkeit unter den Menschen, bringt Völker gegeneinander auf und
gefährdet – wie wir sehen – dieses unser gemeinsames Haus, die Schwester und Mutter
Erde. Erkennen wir, dass dieses System die Logik des Gewinns um jeden Preis durch-
gesetzt hat, ohne an die soziale Ausschließung oder die Zerstörung der Natur zu den-
ken? Wenn es so ist, dann beharre ich darauf – sagen wir es unerschrocken: wir wollen
eine Veränderung, eine wirkliche Veränderung, eine Veränderung der Strukturen. Die-
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 321

für den Erhalt des Waldes berücksichtigt nicht die Interessen derjenigen,
die in Kolumbien oder Mali vom Klimawandel betroffen sind, die
Forderung eines grundlegenden Wandels sehr wohl.

Dies zeigt sich auch auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler, die im
Moment streiken. Die Auseinandersetzung kreist nicht um die Frage, ob es
denn gut ist, dass junge Menschen sich für das Klima einsetzen. Selbst-
verständlich sollen sie das tun, aber in ihrer Freizeit, in ihrem Privatleben
außerhalb der Schule. Ihnen wird gedroht oder es wird versucht, sie freund-
lich zu vereinnahmen, um genau diesen Punkt zu vermeiden, an dem die
Funktionalität des Gegebenen angekratzt wird. Aber die Schüler*innen tun
das einzig Richtige: Sie stellen einen Bezug zum Allgemeinen her und
sagen nicht nur: Wir sind jung und möchten eine Zukunft haben. Der Bezug
zum Allgemeinen wird vermittelt über die Frage nach der Aufgabe von
Bildung in Zeiten des ‚Klimawandels‘. In diesen Auseinandersetzungen ist
das der entscheidende Punkt, der an der gegebenen Ordnung rührt. Fridays
for Future kann genau da zu einem emanzipatorischen Akt werden, wo die
Schülerinnen und Schüler erkennen, dass sie mit ihren Aktionen den vor-
gegebenen Rahmen von Bildung – die Reproduktion der gegebenen Ver-
hältnisse – verlassen, dies jedoch nicht nur um ihrer eigenen Interessen
willen tun, aber genau dadurch auch selbst zu anderen, freieren und solida-
rischeren Subjekten werden.

Seitdem die Rolle von Kompetenzen für Bildungsprozesse in den Vorder-


grund gerückt ist – also seit ca. 20 Jahren – ist die Kompetenz an die Be-
wältigung von Situationen gekoppelt. Mit dieser Vorstellung von Bildung
ist ihr emanzipatorischer Anspruch, den es nach 1968 durchaus gegeben

ses System ist nicht mehr hinzunehmen.“ (Ansprache an die Verantwortlichen von So-
zialen Bewegungen aus aller Welt – Rom 28.10.2014).
322 Andreas Hellgermann

hat, ad acta gelegt worden. Eine Situation im Sinne Freires beinhaltet im-
mer beides: die Begrenzung und die Möglichkeit zu ihrer Überwindung.
„In Grenzsituationen ist die Existenz von Menschen mitgesetzt, denen diese Si-
tuation direkt oder indirekt dient, und von solchen, deren Existenzrecht durch sie
bestritten wird und die man an die Leine gelegt hat. Begreifen letztere eines Tages
diese Situation als Grenze zwischen Sein und Menschlicher-Sein und nicht mehr
als Grenze zwischen Sein und Nichts, dann beginnen sie ihre zunehmend kriti-
schen Aktionen darauf abzustellen, die unerprobte Möglichkeit, die mit diesem
Begreifen verbunden ist, in die Tat umzusetzen.“12

Der Begriff der Bewältigung, wie ihn die neuesten Lehrplänen verstehen,
fordert immer ein Handeln, das die Vorgaben der Situation zur Norm des
Handelns macht, insofern die Begrenzung durch die Situation nicht verlas-
sen wird. Dies zeigt sich vor allem darin, dass die Situation als Anforde-
rungssituation charakterisiert wird. So notwendig es sein mag, durch Bil-
dung auch zu lernen, wie man mit den Schwierigkeiten und Herausforde-
rungen des Lebens klarkommt, so sehr ist diese Vorstellung, wenn sie denn
zum vorrangigen Bildungsziel wird, nichts anderes als die Kapitulation des
Individuums vor den Gegebenheiten und damit auch ein emanzipatorischer
Rückschritt. Denn emanzipatorische Bildung muss die Auseinander-
setzung mit den Gegebenheiten zur eigentlichen Herausforderung
machen.13 Für die Religionspädagogik wird Politische Theologie genau an
dieser Stelle unverzichtbar. Sie fordert uns auf, die Bedeutung der Katego-

12 FREIRE, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt 41981, 85.
13 Natürlich werden auch dafür Fähigkeiten gebraucht, die durchaus „Kompetenzen“ ge-
nannt werden können. Sie unterscheiden sich jedoch von dem Kompetenzbegriff nach
Weinert, wie er seit fast 20 Jahren in der Kompetenz- und Handlungsorientierung zur
neuen Norm einer auf Ausbildung reduzierten Bildung geworden ist. Diese Kompeten-
zen können mit Kuno Füssel benannt werden als „die Fähigkeit unermüdlich zu fragen,
Gut und Böse zu unterscheiden, zu trauern und die Fähigkeit zum Mitleid. In ihnen
spiegelt sich der befreiungstheologische Dreischritt von Sehen, Urteilen und Handeln
wider, der in seiner Klarheit und Einfachheit grundlegend sein kann für eine Kompe-
tenzorientierung, die zu einer umfassenden, subjektkonstituierenden und gesellschafts-
verändernden humanen Bildung führen könnte.“ (HELLGERMANN 2018 [ANM. 5], 165–
166).
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 323

rie Unterbrechung für die Bildung zu denken: „Kürzeste Definition von


Religion: Unterbrechung.“14 Und sie tut dies auf dem Hintergrund einer
Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Religion in der bürgerlichen Ge-
sellschaft, die Metz sowohl polemisch als auch treffend die „liberale
Schwundstufe der Religion“15 nennt. Sie ist – kurz gesagt – die Religion
des Bürgers als eine
„für den Hausgebrauch des Besitzbürgers zurechtgemachte Religion; eine Ge-
fühls- und Innerlichkeitsreligion. Von ihr geht keine Gefahr, kein Widerstand,
keine Protestation gegen die in der bürgerlichen Tausch- und Erfolgsgesellschaft
geltenden Definitionen von Wirklichkeit, Sinn, Wahrheit etc. aus. Sie überhöht
noch das, was ohne sie sowieso schon gilt.“16

Sie ist diejenige, die in dem ihr zugewiesenen ausdifferenzierten Bereich


ihre Aufgabe hat und die daraus zu ziehenden Schlüsse zivilgesellschaft-
lich zur Sprache bringt. Mit einem Religionsverständnis, durch das Unter-
brechung zu einer zentralen Kategorie wird, ist das nicht zu machen. Dabei
richtet sich Unterbrechung in einem ersten Schritt gewissermaßen nach in-
nen, indem sie deutlich macht, dass es einen abgeschlossenen Binnenbe-
reich nicht gibt. Deutlich wird dies in dem Satz des Synodenpapiers Unsere
Hoffnung: „Das Reich Gottes ist nicht indifferent gegenüber den Welt-
handelspreisen!“17 Diese Verschränkung zweier für ein bürgerliches Reli-
gionsverständnis – das in der Regel auch das Religionsverständnis unserer
Schüler*innen ist – weit auseinanderliegender Bereiche ist zunächst nach
innen verstörend: Was bedeutet das? Wie soll man damit umgehen? Gibt
es nicht eine von den Welthandelspreisen getrennte religiöse Praxis? Die
Antwort auf diese Verschränkung ist der Stein, den die Bauleute verworfen
haben. Sie kann nicht evaluierbar gegeben werden, aber sie liegt notwendig

14 METZ, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer prakti-
schen Fundamentaltheologie, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 31980, 150.
15 METZ 1980 [Anm. 13], 42.
16 EBD. 41.
17 HOMEYER, Josef (Hg.): Unsere Hoffnung. Ein Beschluß der Gemeinsamen Synode der
Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: 1975, 29.
324 Andreas Hellgermann

in der Eröffnung eines Raumes oder Feldes jenseits der Verlängerung des
Gegebenen. Um dem nahe zu kommen, ist der Begriff der Transzendenz
angemessen. Religionslehrer*innen sollten wissen, dass Emanzipation und
Transzendenz korrespondierende Begriffe sein können. Sie machen aber
die Erfahrung, dass ihren Schüler*innen diese Transzendenzerfahrung
bzw. -möglichkeit oftmals verschlossen ist. Diese muss sich – das wusste
schon Dietrich Bonhoeffer – nicht an den Grenzen des Lebens, sondern in
dessen Mitte zeigen.

Unterbrechung wird somit zu einer Kategorie, die uns in der Fortsetzung


des Gegebenen gerade nicht den Garanten zur Lösung des (jeweiligen)
Problems erkennen lässt. Das ist religionspädagogisch notwendig und
zugleich anspruchsvoll, vor allem weil die Frage: „Was können wir jetzt
tun?“ nicht mehr mit der Entscheidung für dieses oder jenes, für die
Fortsetzung des Gegebenen oder die Loslösung von den Gegebenheiten
durch den Weg nach innen, Metz nennt dies die „Gefühls- und
Innerlichkeitsreligion“, zusammenfällt. Beiden Möglichkeiten ist die
Nicht-Emanzipation eingeschrieben, der Lösungsversuch mit den Gege-
benheiten, weil er lediglich den Status quo aufrechterhält und die vermeint-
liche Befreiung nach innen, weil sie der Versuch der Individualisierung
eines nicht zu individualisierenden Problems ist. Beide Vorschläge finden
sich wieder im Alltag des Religionsunterrichtes. Unterbrechung ist eine
dem entgegenstehende Kategorie, eine Aufforderung, die zumindest ein-
mal den Freiraum schafft, zu anderem Denken und damit anderer Erkennt-
nis, aber auch zu einer anderen Praxis anzustiften. So ist Unterbrechung
die vermittelnde Kategorie, die es unmöglich macht, über das Reich Gottes
zu sprechen und die Welthandelspreise außer Acht zu lassen. Emanzipa-
torisch ist dies zunächst einmal, insofern sich das sich bildende Subjekt
von den gegebenen Subjektivierungen entkoppelt. Das geschieht dadurch,
dass nicht allein die Handlungsmöglichkeiten innerhalb einer Situation
erschlossen werden, sondern dass die Situation selbst infrage steht. An der
Klimagerechtigkeitsbewegung, in deren Kontext sich auch Fridays for Fu-
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 325

ture bewegt, wird das deutlich. Ihre grundlegende Forderung nach einem
Systemchange steht in diametralem Gegensatz zu einer Position ohne ‚Un-
terbrechung‘, für die politisch aktuell die Grünen stehen. Der Systemtheo-
retiker Armin Nassehi, der auch öffentlich für diese Position wirbt, formu-
liert es folgendermaßen: „Wir müssen die Probleme mit den Bordmitteln
der Gesellschaft lösen, denn andere haben wir nicht.“18 Die scheinbare
Plausibilität löst sich sehr schnell auf, wenn man sich vor Augen führt, dass
gesellschaftliche Veränderungs- und Emanzipationsprozesse ihre Dynamik
immer durch Unterbrechungen gewannen, die von progressiven sozialen
Bewegungen getragen wurden (Frauenbewegung, Ökologiebewegung,
Anti-Apartheidsbewegung). Im aktuellen Beispiel sind es gerade die
‚Bordmittel‘ (Marktlogik, Wachstumszwang, Kapitalverwertung), die die
Katastrophe produziert haben und nun das probate Mittel zu ihrer Bekämp-
fung sein sollen. Die zweite Variante, der Weg nach innen, korrespondiert
im Moment vor allem mit einem resignativen Zug und der vermeintlichen
Erkenntnis, dass es für ein Aufhalten der Katastrophe zu spät sei.

Auf höchst beeindruckende Weise macht Pierre Bourdieu deutlich, welche


Sprengkraft demgegenüber damit verbunden ist, Zusammenhänge zu ver-
stehen:
„Die Mechanismen, die das Leben leidvoll und oft unerträglich machen, zu Be-
wußtsein zu bringen, heißt noch keineswegs, sie auszuschalten. Widersprüche
sichtbar zu machen, bedeutet nicht, sie zu lösen. Aber bei aller Skepsis hinsicht-
lich der gesellschaftlichen Wirksamkeit soziologischer Botschaften kann man
ihnen dennoch nicht jegliche Wirkung absprechen, eröffnen sie doch jenen, die
leiden, einen Weg, ihr Leiden auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen und
sich solcherart vom Gefühl eigenen Verschuldens zu befreien. Und bringen sie
doch die kollektiv verdunkelte gesellschaftliche Bedingtheit des Elends in all sei-
nen auch noch so intimen und noch so geheimen Formen zu Bewußtsein.
Was die Sozialwelt hervorgebracht hat, kann die Sozialwelt mit einem solchen

18 Armin Nassehi im Interview mit der taz am 15.06.2019, in: https://taz.de/Soziologe-


ueber-Klimawandel/!5600327/ [abgerufen am 20.07.2019].
326 Andreas Hellgermann

Wissen gerüstet auch wieder abschaffen. Eines jedenfalls ist sicher: nichts ist we-
niger unschuldig, als den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen.“19

Die emanzipatorische Sprengkraft, die darin besteht, die Rahmenbedin-


gungen des Gegebenen zu verstehen, kann für eine emanzipatorische Bil-
dung nicht hoch genug eingeschätzt werden, greift sie doch in einem we-
sentlichen Punkt die bürgerliche Gesellschaft und ihren prototypischen
Vertreter, den Bürger an. Dazu gäbe es viel zu sagen. Hier sei nur auf das
Problem von Individualisierung und Schuld hingewiesen, das von einer
dem entsprechenden individualisierenden Form von Bildung begleitet
wird. Zumindest eröffnet Bildung die Möglichkeit, sich davon zu befreien
und genauso handlungsfähig zu werden. Für unser Beispiel ‚Klimawandel‘
bedeutet es zu erkennen, dass die individuelle Zuschreibung: „Am Großen
und Ganzen können wir nichts machen, aber wir müssen unsere Verant-
wortung im Kleinen wahrnehmen!“ zurückgewiesen werden kann und ein
Handeln entsteht, das sehr wohl das große Ganze zum Bezugspunkt macht.
Für die bürgerliche Religion und die bürgerliche Gesellschaft ist das die
Grenze, die nicht überschritten werden darf. „Getragen weiß sich das Bür-
gertum von einem neuen, alle sozialen Beziehungen stützenden und re-
gelnden Prinzip: dem des Tausches.“20 Und den „Spielregeln des Tausches
wird er (der Bürger) schließlich alles unterordnen […].“21 Auch die neuen
postmodernen Formen der Subjektivierung und Ent-Emanzipierung sind
vom Grundprinzip des Tausches durchdrungen und damit der Dominanz
des Marktes unterworfen.22 Jetzt wird klar, warum Unterrichtsreihen zum

19 BOURDIEU, Pierre u. a.: Das Elend der Welt, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 1997,
429.
20 METZ 1980 [Anm. 13], 32.
21 EBD., 34.
22 Diese Tauschlogik zeigt sich in der Bewertung einer Person durch die Likes bei Face-
book, die Clicks für ein Youtube-Filmchen, aber auch den Boom von Partnervermitt-
lungsbörsen im Internet. Vgl. hierzu: HELLGERMANN, Andreas: Selbstermächtigung o-
der Unterwerfung. Selbstdesign in den Zeiten des Neoliberalismus, in: GEGGERLE, Lio-
ba / LAHAYE, Dominik / TIEDEMANN, Maike: ich und mein wir. Wer oder was gestaltet
meine Identität? Forum für Entwerfen e. V. 2018, 20–41.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 327

Klimawandel auf Handlungsalternativen hinauslaufen sollen, die den


Markt als unantastbares Ordnungsprinzip nicht infrage stellen dürfen.23
Religionspädagogische Ansätze aus einer Perspektive Politischer Theolo-
gie kommen um diese Infragestellungen nicht herum.

Zum Schluss: Das emanzipatorische Potential der Politischen Theologie


hindert uns daran, die bürgerliche Form von religiöser Selbstfindung und
Selbstverwirklichung als einen Beitrag zur Herausbildung eines emanzi-
pierten Menschen anzusehen. Vielmehr gibt es der Unterbrechung eine
Richtung, eine Orientierung: Unterbrechung als memoria passionis, befrei-
tes Leben als solidarisches Leben. Diesem hohen Anspruch kann nicht aus-
gewichen werden. Metz verwendet hier den Begriff ‚Compassion‘. „Wo
diese Compassion gelingt, beginnt das, was neutestamentlich das ‚Sterben
des Ich‘ heißt, es beginnt die Selbstrelativierung unserer vorgefassten
Wünsche und Interessen – in der Bereitschaft, sich von fremdem Leid ‚un-
terbrechen‘ zu lassen.“24 Spätestens an dieser Stelle müssen Lehrer*innen
ihre gewohnte Rolle aufgeben. Paulo Freire hat uns gezeigt, wie das
möglich ist. Lehrer*innen können Unterbrechung nicht mit dem erhobenen
Zeigefinger vermitteln, als das moralisch Gebotene, was die Religion
erfordert. Als Lehrer*innen springen sie aus ihrer Rolle heraus und werden
zu Schüler*innen ihrer Schüler*innen. Diese Form der Unterbrechung be-

23 Vgl. Rahmenvorgabe Verbraucherbildung in Schule in der Primarstufe und Sekundar-


stufe I in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2017. In der in diesem Lehrplan vorgestell-
ten Logik ist der Markt sakrosankt, insofern er nicht allein das Medium zur Bedürfnis-
befriedigung, sondern auch zur Realisierung ethischer Entscheidungen ist: „Konsumen-
tinnen und Konsumenten sind nicht nur als Markteilnehmerinnen und Marktteilnehmer
zu betrachten, die Informationen über Produkte und Dienstleistungen hinsichtlich ihrer
Eignung als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung brauchen. Denn Konsumentinnen und
Konsumenten nehmen auch die anderen Stationen der Wertschöpfungskette in den
Blick und wollen damit Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Konsumentschei-
dungen übernehmen.“ (Seite 7).
24 METZ, Johann Baptist: Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralis-
tischer Gesellschaft, Freiburg: Herder 2006, 166.
328 Andreas Hellgermann

deutet zunächst nichts anderes, als dass sie selbst zu lernen haben. Freire
hat dafür einen Doppelbegriff erfunden: Lehrer*innen werden zu ‚Lehrer-
Schülern‘ und Schüler*innen werden zu ‚Schüler-Lehrern‘. Die Lehrer*in-
nen beginnen im Religionsunterricht auf die Probleme und die Not ihrer
Schüler*innen zu hören, eine Voraussetzung dafür, das Leiden derjenigen
gemeinsam zur Sprache zu bringen, die im Unterricht nicht da sind. Be-
züglich des ‚Klimawandels‘ verbietet sich die Aufforderung an die Schüler,
fleißig beim fairen Ökowelthandel mitzumachen. Stattdessen wäre eine Art
bildungspolitisches Schuldbekenntnis notwendig: „Wir haben es versaut
und ihr werdet die Leidtragenden sein.“25 Dieses Schuldbekenntnis ist die
Voraussetzung dafür, sich mit den Schüler*innen gemeinsam auf den Weg
zu machen, um die notwendigen grundlegenden Veränderungen in den
Blick zu bekommen. Denn wir Lehrer*innen wissen tatsächlich nicht den
Weg, der zu gehen ist. Dieses Schuldbekenntnis aber bietet zugleich einen
Punkt für Schüler*innen, sich als gleich im Verhältnis zu ihren
Lehrer*innen zu erfahren. Das könnte der Ausgangspunkt von Emanzi-
pation sein: die Gleichheit zu behaupten und anzuerkennen. 26 An diesem

25 Allerdings darf die Klimakatastrophe nicht auf einen Generationenkonflikt zurückge-


führt werden. Es geht schlicht um die ökonomischen Rahmenbedingungen eines globa-
len Kapitalismus, der notwendig und immer die Verwertung von Kapital um jeden Preis
durchzusetzen als Zielvorstellung hat. Das Generationenproblem zeigt sich lediglich an
der Stelle, an der dieser Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausprägung nach 1989
global durchgesetzt wurde und die Generation der heute 40–70jährigen einer nun fast
global werdenden bürgerlichen Mittelschicht wenig, allzu wenig entgegengesetzt und
mehrheitlich den Versprechungen der ersten globalen Konferenz von Rio naiv vertraut
hat. Interessant jedoch, dass nun die Kinder der bürgerlich-linksliberalen Mittelschicht
der kapitalistischen Metropolen als Fridays for Future auf die Straße gehen.
26 Vgl. hierzu die Überlegungen von Rancière, der den Versuch unternimmt, die Bedeu-
tung von Gleichheit und Emanzipation für den Bildungsprozess zu denken: „Was ein
Emanzipierter wesentlich kann, ist, ein Emanzipierender zu sein: nicht den Schlüssel
zum Wissen geben, sondern das Bewusstsein davon, was eine Intelligenz kann, wenn
sie sich allen anderen gleich und jede andere als ihr gleich betrachtet. Die Emanzipation
ist das Bewusstsein von dieser Gleichheit, dieser Gegenseitigkeit, die einzig der Intel-
ligenz erlaubt, sich durch Verifizierung zu aktualisieren.” (RANCIÉRE, Jacques: Der un-
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 329

Punkt wird es auch möglich, diejenigen zu sehen, deren Lebensgrundlagen


tatsächlich schon jetzt von der längst eingetretenen Katastrophe zerstört
werden und für die die Unterbrechung, der Bruch mit den gegebenen Rah-
menbedingungen, die einzig realistische Chance auf ein besseres Leben ist.
Compassion kann genau das sehen, ist also doch empirisch gesättigt. In ihr
verbinden sich notwendige ökologische Forderungen angesichts der Ka-
tastrophe mit der Behauptung einer grundlegenden Gleichheit und somit
der Möglichkeit von Emanzipation.

Die Politische Theologie macht es notwendig, die gegenwärtigen Formen


von Bildung und ihre Lösungsvorschläge aus dieser emanzipatorischen
Perspektive zu sehen und zu kritisieren. Sie entlarvt sie als Formen der
bürgerlichen Gesellschaft und im Religionsunterricht als Formen bürger-
licher Religion, die Unterbrechung erfordern, als Versuche, den Status quo
aufrecht zu erhalten. Dadurch wird Unterbrechung zu einer religionspäda-
gogischen Kategorie in emanzipatorischer Absicht.

Über Greta Thunberg als Medienspektakel mag man denken, was man will.
Wenn sie sagt: „Ich will, dass ihr in Panik geratet“ oder „Ich will, dass ihr
handelt, als wenn euer Haus brennt“, formuliert sie Sätze der Unter-
brechung. Die Versuche, Fridays for Future freundlich zu vereinnahmen,
sind ein Hinweis darauf, dass Greta Thunberg einen Punkt trifft, und sie
offenbaren genau die Strategie, die der gegenwärtigen Form von Bildung
zu Grunde liegt: dass es so weitergehen möge. Religionspädagogik, die das
emanzipatorische Potential der Politischen Theologie ausschöpfen möchte,
muss sich diesen Versuchen widersetzen: in der Schule und auch auf der
Straße, im Klassenraum und im Hambacher Forst, in der eindeutigen Zu-
rückweisung rechter Parolen und einem klaren Entgegentreten, egal an

wissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien: Pas-
sagen Verlag 22009, 53).
330 Andreas Hellgermann

welchem Ort, auch außerhalb der Schule und in entschiedener Form. Dass
sie dabei auch politisch wird, sollte sie nicht erschrecken. Denn: Wir Leh-
rer*innen sind Politiker*innen und Künstler*innen!27

Autorenangaben: Andreas Hellgermann (1960), Dr. theol., arbeitet als Lehrer an


einem Berufskolleg in Münster und engagiert sich im Arbeitskreis Religionsleh-
rer*innen im Institut für Theologie und Politik Münster. Seine Arbeitsschwer-
punkte sind Befreiungspädagogik, Paulo Freire, Neoliberalismus und Politische
Theologie.

27 Das verstehbar zu machen, war ein Grundanliegen der befreienden Pädagogik Freires.
Vgl. FREIRE, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte zu befreiender
Bildungsarbeit, Hamburg: Rowohlt 1986.
TEIL IV –
KRITISCH-PÄDAGOGISCHE REFLEXIONEN
Trivialisierung von Kritik? Kritische Pädagogik und
kritische politische Bildung im Blickfeld

Jan-Hendrik Herbst

Die Kritische Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik1 stellt für eine kri-


tisch-emanzipatorische Religionspädagogik einen zentralen Bezugspunkt
dar.2 Die religionspädagogische Rezeption kritischer Bildungstheorie lässt
sich an Heinz Joachim Heydorn und Rolf Schmiederer exemplifizieren.
Beispielhaft kann dies an Folkert Rickers verdeutlicht werden, der beide
ausgiebig in seinen religionspädagogischen Ansatz aufgenommen hat. Mit
Heydorns Bildungstheorie hat er versucht, eschatologisches Lernen neu zu
denken (RICKEN).3 Und Rolf Schmiederer verdankt er die Ausarbeitung
einer kritisch-emanzipatorischen und politischen Religionspädagogik,4 der
jedoch heute eine einseitige Politisierung religiöser Bildung vorgeworfen

1 Es gibt terminologische Unterschiede zwischen einer Kritischen Erziehungswissen-


schaft bzw. Pädagogik, die aufgrund des geringen Umfangs hier nicht näher themati-
siert werden können (vgl. BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz / RÜHLE, Manuel:
Einleitung, in: DIES.: Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim / Basel: Beltz 2018,
11–23, 12–13; 15). Der Einfachheit halber wird im Folgenden von Kritischer Pädagogik
gesprochen.
2 Vgl. z. B. VIERZIG, Siegfried: Ideologiekritik und Religionsunterricht, Einsiedeln: Ben-
ziger 1975, 95–105. KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunterricht. Eine
kritische Rekonstruktion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 126–152.
3 Vgl. RICKERS, Folkert: Eschatologie und Religionspädagogik. Bildungstheoretische
Aspekte, in: ENGLERT, Rudolf (Hg.): Was letztlich zählt – Eschatologie. JRP 26 (2010),
153–167. Zur Aktualität von Heydorn vgl. NOVKOVIC, Dominik / STEDEROTH, Dirk /
THOLE, Werner (Hg.): Die Befähigung des Menschen zum Menschen. Zu Heinz-Joa-
chim Heydorns kritischer Bildungstheorie, Wiesbaden: Springer VS 2019.
4 Vgl. RICKERS, Folkert: Die politische Aufgabe der Religionspädagogik, in: DERS. (Hg.):
Religionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsentwürfe im Überscheidungs-
feld, Stuttgart: Calwer 1973, 9–32, 16–18; 24–32.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_18
334 Hinführung IV

wird.5 Beide, Heydorn und Schmiederer, werden heute in der Pädagogik


und der Politikdidaktik wiederentdeckt und gerade Heydorn wird bzw.
wurde auch in der Religionspädagogik rezipiert, zum Beispiel im Kontext
vom Bildungsbegriff (RICKEN). Es ist von hoher Relevanz für eine kri-
tisch-emanzipatorische Religionspädagogik, diese neueren Entwicklungen
wahrzunehmen, aufzugreifen und hinsichtlich ihres religionspädagogi-
schen Potenzials zu untersuchen. Dies soll im Folgenden auch dadurch ge-
lingen, dass die Beiträge kontextualisiert werden und der Stand der Fach-
richtung, wie er sich in der Gegenwart finden lässt, zur Einordnung skiz-
ziert wird. Ein wichtiges Anliegen ist es dabei, zumindest exemplarisch die
Breite der derzeitigen Debatten abzubilden.

Die Bezüge zu Heydorn und Schmiederer stellen in der Bildungstheorie


eine Bewegung dar, die sich durchaus als Rückkehr in die Zukunft begrei-
fen lässt. Carsten Bünger und Bettina Lösch, Autor*innen im folgenden
Teil des Sammelbandes, haben dabei jeweils mindestens eine Publikation
herausgebracht, die diese Bewegung charakterisiert. Einerseits kann der
Sammelband „Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungsthe-
orie“ (2009) genannt werden, der u. a. von Bünger publiziert wurde;6 an-
dererseits das Handbuch „Kritische politische Bildung“ (2010), das von
Bettina Lösch mitherausgegeben wurde. Rolf Schmiederer lässt sich ggf.
als spiritus rector dieser Strömung begreifen.7 Bünger und Lösch sind zu-

5 Vgl. z. B. GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme –


Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des RU, Stutt-
gart: Kohlhammer 2009, 11–15.
6 In Bezug auf diesen Sammelband stellt der Religionspädagoge Thomas Schlag fest,
dass „die Religionsdidaktik von einer gesellschaftskritischen Pädagogik nach wie vor
erheblich lernen“ kann (SCHLAG, Thomas: Demokratie, in WiReLex 2016 [abgerufen
am 22.03.2019]).
7 Es wird beispielsweise konstatiert, dass es sich um einen programmatischen Entwurf
„im Geiste Schmiederers“ (MAY, Michael / SCHATTSCHNEIDER, Jessica: ‚Klassische‘
didaktische Theorien zur politischen Bildung, in: SANDER, Wolfgang (Hg.): Handbuch
politische Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 42014, 37) handelt.
Kritische Pädagogik und kritische politische Bildung im Blickfeld 335

dem im neuaufgelegten „Handbuch Kritische Pädagogik“ (2018) mit je-


weils einem Grundlagenaufsatz vertreten.8 Dieses Handbuch ist nicht nur
ein paradigmatischer Ausdruck dieser Bewegung, es zeigt auch auf, wie
viele Forscher*innen sich derzeit mit dieser Thematik beschäftigen. Aus-
gangspunkt des Handbuchs ist dabei eine Problemdiagnose, die den „ge-
genwärtigen Zustand der Erziehungs- und Bildungswissenschaft“9 betrifft
und „als Verlust ihrer wissenschaftlichen Kritikfähigkeit gegenüber der
Gesellschaft und damit zugleich als Verlust ihrer gesellschaftspolitischen
Verantwortung“10 bezeichnet wird. Dabei findet sich auch ein expliziter
Bezug auf die Reformdekade um 1968, wobei damalige Kernmotive wie
„emanzipative[s] Erkenntnisinteresse“ und die Notwendigkeit einer „um-
fassende[n] Gesellschaftsanalyse“11 affirmativ aufgegriffen werden. In po-
sitiver Bezugnahme wird festgehalten:
„Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Ansätze […] kristallisierte sich ein gemein-
sames zentrales Moment heraus, welches die Ausweisung der jeweiligen Pädago-
gik-Verständnisse als kritisch rechtfertigt: die herrschafts- und ideologiekritische
Perspektive auf Erziehungs- und Bildungsprozesse. […] Das Erkenntnisinteresse
Kritischer Pädagogik richtete sich demzufolge auf die Gestaltung und Verände-
rung der Bildungs- und Erziehungspraxis in Richtung einer Realisierung von
mehr Mündigkeit und Autonomie der Menschen“12

Einer kritischen Pädagogik geht es diesen Grundannahmen zufolge um


eine Intervention in bestehende Bildungspraxis, deren Verstrickung in so-
ziale Macht- und Herrschaftsverhältnisse gesellschaftstheoretisch zu ana-
lysieren ist. Ein Beispiel dafür stellt der Rückgriff auf das theoretische
Konzept des ‚Othering‘ dar, wie es beispielsweise Stuart Hall entwickelt

8 Vgl. BÜNGER, Carsten: Bildungsphilosophie, in: BERNHARD u. a. 2018 [Anm. 1], 229–
244. LÖSCH, Bettina / EIS, Andreas: Politische Bildung, in: BERNHARD u. a. 2018 [Anm.
1], 502–517.
9 BERNHARD u. a. 2018 [Anm. 1], 11.
10 EBD., 11.
11 EBD., 15.
12 EBD., 15–16.
336 Hinführung IV

hat (GAUTIER).13 Dabei geht es auch darum, wie der Bezug auf Intersekti-
onalitätstheorien oder der Begriff der „multiplen Krise“14 verdeutlicht, die
Zusammenhänge dieser Herrschaftsverhältnisse zu begreifen. Ausgehend
von einer solchen kritischen Analyse sollen durch Pädagogik und politi-
sche Bildung existierende Herrschaftsverhältnisse im Sinne eines emanzi-
patorischen Erkenntnisinteresses gemindert werden. Kritische Pädagogik
impliziert so eine politische Positionalität und Parteilichkeit, die eine ge-
sellschaftspolitische Verantwortung beinhaltet. Eine solche engagierte
Grundhaltung findet sich beispielsweise in der Orientierung an den Men-
schenrechten im kritischen Gegenüber zum autoritären Populismus. Dabei
lässt sich die Forderung nach einer (scheinbaren) ‚Neutralität‘ aus einer
politikdidaktischen (LÖSCH) und einer theologischen Perspektive (GAU-
TIER) zurückweisen. Selbstreflexion und Transparenz seien dagegen ent-
scheidend für eine Parteilichkeit, die nicht überwältigend ist (LÖSCH).
Rhetorisch wird gefragt:
„Bedeutet demokratischer Pluralismus wirklich, antidemokratischen Positionen
mehr Raum in der öffentlichen Debatte zu gewähren, während gleichzeitig – unter
der Maßgabe von Neutralität – nichts gegen diese eingewendet werden soll?“15

Die Bewegung, zu den ‚Quellen‘ kritischer Pädagogik zurückzukehren, be-


sitzt heute jedoch keine Selbstverständlichkeit. Die vielfältigen Anfragen
an ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ – zum Beispiel systemtheoretischer, kon-
struktivistischer, poststrukturalistischer oder phänomenologischer Art –
sind äußerst präsent, sie haben das Vorhaben einer kritischen Pädagogik
diversifiziert. Dies zeigt sich beispielhaft am Sammelband „Kritik in der
Pädagogik – Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungs-

13 Vgl. darüber hinaus z. B. GAUTIER, Dominik: Was tun, um den weißen Christus loswer-
den? Rassismuskritisches Lernen mit dem jungen Dietrich Bonhoeffer, in: Evangeli-
sche Akademie zu Berlin u. a. (Hg.): Vor Gott sind alle Menschen gleich. Beiträge zu
einer rassismuskritischen Religionspädagogik und Theologie, Berlin: BAG K+R 2016,
25–29.
14 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
15 EBD.
Kritische Pädagogik und kritische politische Bildung im Blickfeld 337

wissenschaft“ (2003), der von Dietrich Benner herausgegeben wurde.16


Jan Masschelein versucht darin, Kritische Pädagogik im Anschluss an Mi-
chel Foucault weiterzudenken und warnt vor der Gefahr, Kritik zu triviali-
sieren. Denn „Kritik und Autonomie [sind] in ‚unserer‘ Zivilisation inzwi-
schen zu Allgemeinplätzen geworden […], die von jedem und allen in An-
spruch genommen werden.“17 Mit poststrukturalistischen Bezügen geht es
um ein „Neureflektieren der ‚Verstrickung‘“18, in die kritisch-emanzipato-
rische Ansätze selbst geraten können. Ohne diese Reflexion besteht die
Gefahr der eigenen Herrschaftsförmigkeit und der Reproduktion sozialer
Ausschlüsse. Kritische Pädagogik hätte Masschelein zufolge zu zeigen,
„wie die Begriffe Autonomie, kritische Bildung, Emanzipation usw. in Kompli-
zenschaft mit der Geburt des modernen Subjekts und des ‚Regierens durch Indi-
vidualisieren‘ stehen, die Foucault als eine machtstrategische Operation von
gleichzeitiger Individualisierung und Totalisierung beschrieben hat“19

Es gehe darum, „Kritik aufs neue zu denken in einer Zeit, in der die Sub-
version der Ordnung ein wesentlicher Teil ihrer Optimierung geworden
ist.“20 Diese Überlegungen gehen soweit, dass gar von einer „‚neue[n]‘ kri-
tische[n] Erziehungswissenschaft“21 bzw. Pädagogik gesprochen wird. Zu-
gleich wird der solidarische Anschluss an die frühe Kritische Theorie ge-
sucht, es wird auf motivische Ähnlichkeiten zu Foucaults Analysen hinge-
wiesen.22

16 Ein ähnlicher Band wurde mit einer internationalen Perspektive etwas früher herausge-
geben (vgl. SÜNKER, Heinz / KRÜGER, Heinz-Hermann (Hg.): Kritische Erziehungswis-
senschaft am Neubeginn?! Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999).
17 MASSCHELEIN, Jan: Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft wei-
terdenken, in: BENNER, Dietrich (Hg.): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kri-
tische in Erziehung und Erziehungswissenschaft, Weinheim: Beltz 2003, 124–141, 125.
18 EBD., 131.
19 EBD., 137.
20 EBD., 139.
21 EBD., 138.
22 Vgl. EBD., 139.
338 Hinführung IV

Damit findet auch in der Kritischen Pädagogik eine Reaktion auf neuere
theoretische Entwicklungen statt. Dies äußert sich in einer Partikularisie-
rung und Pluralisierung der Bemühungen, kritisch-emanzipatorische Bil-
dung zu denken. Nicht zufällig finden sich heute Ansätze dafür gerade in
der Auseinandersetzung mit einzelnen Denker*innen wie Foucault23, Ju-
dith Butler24, Pierre Bourdieu25 oder Jacques Rancìere26. Die Aufnahme
und Auseinandersetzung mit dieser Neubestimmung finden ihren Nieder-
schlag in den Beiträgen dieses Bandes. Poststrukturalistische und postko-
loniale Perspektiven werden integriert (BÜNGER, GAUTIER) und die „Am-
bivalenzen“27 kritischer Theorien reflektiert.28 So wird darüber nachge-
dacht, wie kritische Bildungstheorie heute betrieben werden kann, ohne
das Ganze zu denken (BÜNGER).29 Und selbstkritisch wird gefragt, „inwie-
fern Theologie und Religionspädagogik selbst in die Produktion von Ras-
sismus involviert sind“30. Ein Ergebnis der folgenden Überlegungen lässt
sich womöglich bereits jetzt folgendermaßen festhalten: „Das Gespräch
zwischen Theologie, Religionspädagogik und dem Ansatz kritisch-eman-
zipatorischer politischer Bildung sollte […] vertieft werden“31. Dabei las-
sen sich ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ offensichtlich nicht als material be-

23 RICKEN, Norbert / RIEGER-LADICH, Markus (Hg.): Michel Foucault: Pädagogische Lek-


türen, Wiesbaden: Springer VS 2004.
24 RICKEN, Norbert / BALZER, Nicole (Hg.): Judith Butler: Pädagogische Lektüren, Wies-
baden: Springer VS 2012.
25 RIEGER-LADICH, Markus / GRABAU, Christian (Hg.): Pierre Bourdieu: Pädagogische
Lektüren, Wiesbaden: Springer VS 2016.
26 MAYER, Ralf / SCHÄFER, Alfred / WITTIG, Steffen (Hg.): Jacques Rancière: Pädagogi-
sche Lektüren, Wiesbaden: Springer VS 2019.
27 Beitrag von Dominik GAUTIER in diesem Band.
28 Vgl. auch GAUTIER 2016 [Anm. 13].
29 Vgl. darüber hinaus BÜNGER, Carsten: Bedingungen des Unbedingten? Notizen zu einer
Theoriegeschichte der Kontextualisierung von Bildungsprozessen, in: DERS. / SANDERS,
Olaf / SCHENK, Sabrina (Hg.): Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus, Ham-
burg: Argument 2018, 16–24.
30 Beitrag von Dominik GAUTIER in diesem Band.
31 EBD.
Kritische Pädagogik und kritische politische Bildung im Blickfeld 339

stimmte Programm-, sondern nur als Problembegriffe begreifen: „An der


Stelle eines Wissens darüber, was zu tun oder zu können ist, zeigt sich kri-
tisch-emanzipatorische Bildung heute entlang des Unvermögens, an die
Erzählungen menschheitlicher Emanzipation bruchlos anzuknüpfen.“32

32 Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band.


Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der
Emanzipation: Kritische Bildungstheorie
weiter erzählen

Carsten Bünger

Abstract: Der Beitrag geht aus einer bildungsphilosophischen Perspektive der


Frage nach, wie das Verhältnis von Emanzipation und Geschichte gedacht werden
kann. Dabei wird das mit ‚Bildung‘ verbundene Freiheitsmotiv entlang der Kriti-
schen Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns skizziert. Mit dieser lässt sich
verdeutlichen, dass Emanzipation keine Orientierung darstellt, der man sich im
Sinne einer pädagogischen Programmatik zuordnen kann. An der Stelle eines Wis-
sens darüber, was zu tun oder zu können ist, konfrontiert eine kritisch-emanzipa-
torische Bildung heute vielmehr mit dem Unvermögen, an die Erzählungen
menschheitlicher Emanzipation bruchlos anzuknüpfen.

Quereinstieg: Feuer – Erzählung – Ungenügen

Obwohl der nachfolgende Beitrag der Systematischen Erziehungswissen-


schaft und Bildungsphilosophie zuzuordnen ist, möchte ich mit einer kur-
zen Erzählung einsteigen, deren Analyse wohl eher in den Zuständigkeits-
bereich der Theologie fallen würde. Es geht mir jedoch nicht um eine the-
ologisch angemessene Auslegung oder eine entsprechende Einordnung.
Vielmehr soll der gewählte Einstieg einen Resonanzraum eröffnen, in dem
Fragen zur Aktualität und Neufassung kritisch-emanzipatorischer Bil-
dungstheorie zum Gegenstand gemacht werden können, ohne auf akade-
misch eingespielte, aber letztlich abstrakte Gegenüberstellungen von (auf-
klärerischer) Moderne und (irrationaler) Postmoderne zurückzugreifen.
Jedes Mal wenn Rabbi Israel Baalschemtow sah, wie sich gegen das jüdische
Volk ein Unheil zusammenzog, pflegte er eine bestimmte Stelle im Wald aufzusu-
chen; dort entfachte er ein Feuer, sprach ein Gebet, und das Wunder geschah:
Das Unheil zog sich zurück.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_19
342 Carsten Bünger

Als einige Zeit später sein Schüler, der Maggid von Mesritsch aus den gleichen
Gründen den Himmel um Hilfe anflehen sollte, begab er sich zu derselben Stelle
im Wald und sagte: „Herr der Welt, leih mir dein Ohr. Ich weiß nicht, wie es
zugeht, das Feuer zu entfachen, aber noch kann ich das Gebet aufsagen.“ Und
das Wunder geschah.
Wieder einige Zeit später ging Rabbi Mosche Löb von Sasow in den Wald, um
sein Volk zu retten, und sagte: „Ich weiß nicht, wie es zugeht, das Feuer zu ent-
fachen, ich kenne auch nicht das Gebet, aber ich kann die Stelle bestimmen, und
das sollte genügen.“ Und auch das genügte, und das Wunder geschah.
Schließlich kam die Reihe an Rabbi Israel von Rizin, die Bedrohung abzuwenden.
In seinem Lehnstuhl sitzend, nahm er seinen Kopf zwischen die Hände und sprach
zu Gott: „Ich bin nicht fähig, das Feuer zu entzünden, noch kenne ich das Gebet,
ich kann auch nicht die Stelle im Wald wiederfinden. Alles, was ich zu tun vermag,
ist, diese Geschichte zu erzählen.“ Wird es genügen? Es genügte.
Alles aber, was wir heute wissen, ist, dass wir nicht einmal mehr die Geschichte
erzählen können, und das einzige, was wir noch zu tun vermögen, ist, von diesem
Unvermögen zu erzählen... Genügt selbst das noch?

Mit Ausnahme des letzten Absatzes handelt es sich um eine Erzählung aus
der jüdischen Mystik, genauer: um eine der zahlreichen Legenden und re-
ligiösen Anekdoten der osteuropäischen Chassidim. Sie wird unterschied-
lich erzählt und findet sich z. B. in einer Variante in den Sammlungen Mar-
tin Bubers1 und einer etwas anderen Version bei Gershom Sholem2, der auf
eine frühe Niederschrift von 1906 verweist. Für die religiöse Bewegung
der Chassidim sind solche Erzählungen nach Buber nicht nur als Erinne-
rung an gemeinsame Herkünfte und Weisheiten relevant, durch die der Zu-
sammenhang einer jüdischen Verbundenheit in der Diaspora tradiert wird.
Vielmehr wird laut Buber die mündliche Überlieferung selbst zu einem
Medium, in der Beziehungen zum Mystischen ebenso thematisiert wie zu
stiften gesucht werden. Buber schreibt: „[D]as Erzählen hat die Weihe ei-

1 Vgl. BUBER, Martin: Die Erzählungen der Chassidim, in: Werkausgabe Bd. 18.1, Gü-
tersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015 [1949], 122–750, 503.
2 SHOLEM, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main:
Metzner 1957, 384.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 343

ner heiligen Handlung“.3 In der hier zitierten Erzählung sieht Scholem da-
her nicht nur eine Geschichte unter vielen, sondern die Beschreibung der
„Situation, in der wir uns heute der jüdischen Mystik gegenüber befin-
den.“4 Diese Situation charakterisiert Scholem als das Ergebnis einer ‚Ver-
wandlung‘: „Eine Verwandlung, die so tief ist, dass vom Mysterium
schließlich nur noch Geschichte übrigbleibt.“5 Dies bedeute gerade nicht
deren unwiederbringliche Vergangenheit, sondern beinhalte die Möglich-
keit einer Vergegenwärtigung, so dass „das geheime Leben“ der Geschich-
ten „heute oder morgen bei dir oder bei mir wieder zum Vorschein kom-
men kann.“ Scholem fügt hinzu: „Solches Erzählen hat etwas vom Vollzug
eines religiösen Rituals an sich.“6

Der letzte Absatz der oben zitierten Erzählung gehört – wie gesagt – nicht
zu den chassidischen Varianten; er wurde offenbar erst später hinzugefügt,
wobei die Quelle dieses ergänzenden Abschnitts nicht auffindbar ist.
Durch diesen Zusatz, der gleichzeitig wie eine konsequente Fortführung
des Narrativs wie auch als skeptischer Kommentar erscheint, wird die bis
dahin bestimmende Zuversicht möglicher Anknüpfung und Vergegenwär-
tigung ins Ungewisse verschoben. Wir können nicht einmal mehr die Ge-
schichte erzählen – nur darum lässt sich wissen; was wir noch zu tun ver-
mögen, scheint darauf reduziert, von diesem Unvermögen zu erzählen. Was

3 BUBER 2015 [Anm. 1], 52. Buber nennt die chassidische Form der Erzählung „Le-
gende“: Sie steht für eine Beziehung zur Welt, in der sich die Scheidung zwischen
Menschlichem und Göttlichen vollzogen hat, „nun aber von Sphäre zu Sphäre ein Ver-
kehr, eine Zwiesprache, eine Wechselwirkung geschieht – von dieser erzählt sie.“ Bu-
ber 2015 [Anm. 1], 51. Sofern sie nicht nur von dieser erzählt, sondern selbst eine solche
Beziehung ist, ließe sich von einem performativen Zusammenhang von Überlieferung
und Überliefertem sprechen.
4 SCHOLEM 1957 [Anm. 2], 384.
5 EBD., 384.
6 EBD., 383.
344 Carsten Bünger

aber kann es bedeuten, dass wir die Geschichte nicht mehr erzählen kön-
nen? Und: Wie erzählt man davon?

Agamben, der ebenfalls auf die chassidische Erzählung Bezug nimmt7, be-
schreibt den ‚paradoxen‘ Zusammenhang von Feuer und Erzählung als
„unmögliche Aufgabe“: Der Sinn der Erzählung sei es, die Wirkung des
Feuers zu erzeugen. Dies wiederum vermag sie nur, wenn und indem sie
deren Verlust bezeugt; einen Verlust, für den die Anwesenheit der Erzäh-
lung selbst stehe.8 Insofern ließe sich argumentieren, dass es sich bei sol-
chem Erzählen – im Sinne eines religiösen Rituals – ohnehin nicht um et-
was handelt, was man können kann: Man hat es immer schon mit anvisier-
ten Wirkungen zu tun, die sich der subjektiven Verfügung entziehen.

Unabhängig von dieser grundsätzlichen Grenze der Verfügung und Be-


grenzung des (Erzählen-) Könnens beschreibt die zitierte Erzählung – ge-
rade dann, wenn man den letzten Absatz als Weiterführung hinzunimmt –
eine Entfernung von der Gewissheit, dass sich das Unheil abwehren und
die Krise zum Guten wenden lässt. In diesem Lichte ließe sich das Narrativ
so verstehen, dass das Wissen um das richtige Handeln – um das, was es
zu können und zu tun gilt – eine zunehmende Verunsicherung erfährt: eine
Verunsicherung, die noch das Sprechen und die Verständigung über das
Handeln in der Krise betrifft. Vor diesem Hintergrund lese ich die zitierte
Erzählung nicht wie Agamben als eine „Allegorie auf die Literatur“9, son-
dern als Allegorie auf die Probleme des ‚Geschichte-Machens‘ – nennt
man es nun Emanzipation, Revolution oder Bildung – sofern es darauf
zielt, ein Unheil abzuwenden.

7 Vgl. AGAMBEN, Giorgio: Die Erzählung und das Feuer, Frankfurt am Main: Fischer
2017, 7–16.
8 Vgl. EBD., 13.
9 EBD., 8.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 345

Bildung in der Krise

Die in der Erzählung konturierte Ungewissheit betrifft in unterschiedlichen


Hinsichten auch den Einsatzpunkt der Bildungstheorie. Auf den ersten
Blick ließe sich die Erzählung als eine Verfallsgeschichte lesen, die gerade
auch als Bildungsverfall zu verstehen wäre: Statt von Generation zu Gene-
ration Wissen und Fähigkeiten zu überliefern und jeweils etwas hinzuzu-
lernen, wird immer weniger gewusst und immer weniger gekonnt. Aus Kri-
sen wird nicht gelernt und Fortschritt generiert, sondern zunehmend ver-
lernt, wie man Krisen überhaupt begegnen kann. Gegenüber einem solchen
Lamento des Bildungsverfalls, das zumeist von einem funktionalen Bil-
dungsverständnis im Sinne von spezifischen Kompetenzen und Qualifika-
tionen getragen ist, setzt die bildungstheoretische Perspektive jedoch an-
ders an.

Das Bildungsdenken, dessen spezifische Problemstellungen bis in die grie-


chische Antike im 5. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgt werden können10,
gewinnt im späten 18. Jahrhundert die spezifische Form, die bis heute in
expliziten und impliziten Bezugnahmen nachwirkt. Dass sich überhaupt
die Frage nach Bildung im Sinne menschlicher Gestaltung und reflektierter
Lebensführung stellt, setzt voraus, dass soziale Verbindlichkeiten und
Überlieferungszusammenhänge, die mit der Autorität der Tradition vorge-
ben könnten, was man zu tun und wie man zu leben habe, in eine Krise
geraten sind. Abstrakt könnte man sagen, dass der Begriff der Bildung auf
ein unbestimmtes Werden fokussiert: Weil und nur insofern nicht schon
feststeht, was der Mensch als Mensch ist oder zu sein hat, zu tun oder zu

10 Vgl. RUHLOFF, Jörg: Bildung und Bildungsgerede, in: Vierteljahrsschrift für wissen-
schaftliche Pädagogik, 82/3 (2006), 287–299.
346 Carsten Bünger

lassen hat, öffnet sich der Möglichkeitsraum der Bildung im Horizont viel-
fältiger Bestimmungen und Auseinandersetzungen.11

Eben hieran zeigt sich eine immanente Beziehung von Bildung und Eman-
zipation12: Das mit dem neuhumanistischen Bildungsbegriff verbundene
Freiheitsmotiv verweist auf eine Überschreitung jeder sozialisatorischen
Anpassung an gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen. Als ‚Selbst-
Bildung‘ – entlang einer „freien Wechselwirkung von Ich und Welt“
(Humboldt) konzipiert – markiert der Begriff der Bildung eine Differenz
gegenüber jeder Form der Bevormundung – einschließlich den aufklä-
rungspädagogischen Konzeptionen der Philanthropen. In begriffsge-
schichtlicher Perspektive hält Reinhart Koselleck fest, „daß der Begriff der
Bildung per definitionem einer primär sozialen, gar standes- oder klassen-
spezifischen Bestimmung widerspricht. Bildung als Selbstbildung und als
kommunikative Lebensführung ist sozial offen und in alle Schichten hinein
anschlußfähig.“13 Gerade darin steckt die Radikalität des Bildungsmotivs,
Unbestimmtheit als unbedingte und gleiche Freiheit jedes Einzelnen zu
denken – und denkbar werden zu lassen. Auffallend ist jedoch, dass dem
neuhumanistischen Verständnis von Bildung damit etwas Ortloses – Uto-
pisches – eignet: Schließlich entsprach die als Bildung der Individualität
entworfene Unabhängigkeit kaum den historisch realen Lebens- und Er-
fahrungswelten. Vielmehr dient der bildungsphilosophisch-idealistische

11 Vgl. SCHÄFER, Alfred: Das Versprechen der Bildung, Paderborn: Schöningh 2011;
BÜNGER, Carsten: Bildungsphilosophie, in: BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz /
RÜHLE, Manuel (Hg.): Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim: Beltz / Juventa
2018, 229–244.
12 Vgl. BÜNGER, Carsten: Bildung und Emanzipation? Perspektiven nach dem Ende ihres
selbstverständlichen Zusammenhangs, in: CHRISTOF, Eveline / RIBOLITS, Erich (Hg.):
Bildung und Emanzipation (Schulheft Nr. 152/4), Innsbruck: StudienVerlag 2013, 7–
22.
13 KOSELLECK, Reinhart: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur
der Bildung, in: DERS. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungs-
güter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, 11–46, 28.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 347

Entwurf dazu, die Möglichkeit eines alternativen Aufwachsens jenseits der


Zwänge gesellschaftlicher Vorgaben und angepasster, zweckförmiger
Selbst- und Weltverhältnisse vorstellbar zu machen – und als Bezugspunkt
zur Begründung liberaler Neuausrichtungen des Staates und staatlicher
Bildungsinstitutionen zu etablieren.14

Nun haben nicht erst die moderne- und humanismuskritischen Reflexionen


der letzten Jahrzehnte auf die Kehrseiten dieser ‚übersozialen‘ Justierun-
gen von Bildung aufmerksam gemacht. So ist unter anderem auf die sich
hinter dem vermeintlichen Universalismus und dem Singular des Men-
schen verbergenden, aber umso wirksameren Partikularismen und ge-
schlechtsspezifischen wie kolonial-rassistischen Aufteilungen des
Menschlichen aufmerksam gemacht worden.15 Die Reflexion auf die ge-
sellschaftlichen Effekte des zunächst außergesellschaftlich angesetzten
Anspruchs von Bildung ist daher der erste entscheidende Schritt, um Bil-
dung im Kontext sozialer Ungleichheits- und Differenzlinien thematisieren
zu können. In entsprechender Schärfe schreibt beispielsweise schon Klaus
Mollenhauer in seinen 1968 erschienen Polemischen Skizzen:
„Worauf sollen wir die Allgemeinbildung beziehen? Auf den Menschen als sol-
chen, vielleicht in seiner ‚Menschlichkeit‘ oder ‚Mitmenschlichkeit‘? Auf einen
abstrakten Begriff von Humanität? […] Solche Ausdrücke sind Leerformeln und
für konkretes Argumentieren längst unbrauchbar geworden. Aber gerade deshalb
eignen sie sich gut dazu, Interessen dienstbar zu werden, die am Bestehenden
nichts ändern wollen […].“16

14 Vgl. HUMBOLDT, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit
des Staates zu bestimmen, in: DERS.: Werke in fünf Bänden, Bd. I: Schriften zur Anth-
ropologie und Geschichte, Darmstadt: WBG [1792] 1980, 56–233.
15 Vgl. exemplarisch: MESSERSCHMIDT, Astrid: Weltbilder und Selbstbilder. Bildungspro-
zesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt am
Main: Brandes & Apsel 2009.
16 MOLLENHAUER, Klaus: Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen, München:
Juventa 1968, 112.
348 Carsten Bünger

Das Unvermögen, die Geschichte von Ansätzen der Emanzipation so zu


erzählen, als ließe sich bruchlos an sie anknüpfen, hat sicher viele
Gründe.17 Vor jeder theoretischen Anfrage an den Begriff der Emanzipa-
tion kann konstatiert werden, dass gegenwärtige Emanzipationsvorstellun-
gen von einer starken Individualisierung des zu befreienden Subjekts ge-
tragen sind. An die Stelle kollektiver Befreiungsentwürfe, die sich mitunter
als Generationenprojekte allmählicher Verbesserung verstanden haben,
und dadurch ein enges Band zwischen politischen und pädagogischen Per-
spektiven geknüpft haben – wie dies insbesondere für die Aufklärung prä-
gend war18 –, ist der Bezugspunkt individueller Autonomie und Selbstver-
wirklichung gerückt. Die Kehrseiten dieser Entwicklung, die durch die an-
tiautoritäre Herrschaftskritik der 1960er Jahre erneut dynamisiert wurde,
sind vielfach diskutiert worden. So zeigen die Erfahrungen mit den Eman-
zipationsbewegungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts, dass die Kritik am
fordistischen Kapitalismus in dessen neoliberale Modernisierung verwi-
ckelt ist. Analysen, die ausgehend von Michel Foucault und anderen die
Regierungsweisen des „neuen Geist des Kapitalismus“19 fokussieren, ma-
chen deutlich, dass Empowerment nicht bloß als emanzipatorischer Wider-
stand gegenüber Formen der Unterdrückung ansetzt, sondern mit einer
Machtform in Verbindung gebracht werden kann, die über Steigerungsan-
forderungen statt über Repression wirkt.20 Unter den Maßgaben des „un-

17 Vgl. BÜNGER 2013 [Anm. 12]; LACLAU, Ernesto: Jenseits von Emanzipation, in: DERS.:
Emanzipation und Differenz, Wien: turia+kant 2002, 23–44.
18 Vgl. exemplarisch: KOCH, Lutz / SCHÖNHERR, Christian (Hg.): Kant – Pädagogik und
Politik (= Systematische Pädagogik 6), Würzburg: Ergon 2005.
19 BOLTANSKI, Luc / CHIAPELLO, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK
2003.
20 Vgl. FOUCAULT, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frank-
furt am Main: Suhrkamp [1977] 1995; BRÖCKLING, Ulrich: Empowerment, in: DERS. /
KRASMANN, Susanne / LEMKE, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 55–62.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 349

ternehmerischen Selbst“21 ist Emanzipation durchaus funktional: Kreativi-


tät und Innovativität sind mitunter wichtiger als die unkritische Einhaltung
überkommener Vorschriften; ‚Geschichte machen‘ heißt dann ‚Karriere
machen‘.

Gerade diese Betonung individueller Selbstverwirklichung kann als ein Ef-


fekt und Erbe des Bildungsbegriffs gesehen werden, in dem die Abblen-
dung gesellschaftlicher Bedingungen zugunsten des ‚freien Individuums‘
und einer ‚Vervollkommnung der Humanität‘ schon angelegt ist.22 Die
„Fiktion der Bildung“, ihre „Lebenslüge“, schreibt der Bildungstheoretiker
Heinz-Joachim Heydorn, besteht in der Suggestion, „den von seiner Ge-
sellschaftlichkeit abstrahierten Menschen befreien zu können.“23 Die an-
gedeutete Verstrickung von Bildung in neue Machtformen und gesell-
schaftliche Funktionalisierungen ist nun allerdings ein für die Bildungsthe-
orie ernüchternder und unbefriedigender Befund, sofern es – wie eben skiz-
ziert – bei Bildung gerade um die Möglichkeit eines freien Verhältnisses
zu den sozialen Erwartungen und sozialisatorischen Formierungen gehen
sollte. Gegenüber bildungssoziologischen Perspektiven besteht die spezi-
fisch bildungsphilosophische Pointe darin, die mit dem Bildungsbegriff
aufgeworfene Frage nach den Möglichkeitsräumen zur Überschreitung von
überkommenen Zuschreibungs- und Zugehörigkeitslogiken in den Vorder-
grund zu rücken. In diesem Sinne lassen sich die spätestens seit Mitte des
20. Jahrhunderts formulierten Einsätze einer Kritik der Bildung zugleich

21 BRÖCKLING, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungs-


form, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
22 Vgl. schon HORKHEIMER, Max: Begriff der Bildung, in: DERS.: Gesammelte Schriften,
Bd. 8. Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, Frankfurt am Main: Fischer [1952]
1985, 409–419; RICKEN, Norbert: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genea-
logie der Bildung, Wiesbaden: Springer VS 2006.
23 HEYDORN, Heinz-Joachim: Zum Verhältnis von Bildung und Politik, in: DERS.: Bil-
dungstheoretische und Pädagogische Schriften. 1967–1970, Studienausgabe der Werke
Bd. 2, Wetzlar: Büchse der Pandora [1968] 2004, 186.
350 Carsten Bünger

auch als Bemühungen um jeweilige Neufassungen und Aktualisierungen


dieses – den sozialen Ort und dessen Bedingungen überschreitenden –
Überschussmotivs der Bildung verstehen. An die Stelle der sozialen Ortlo-
sigkeit des neuhumanistischen Gegen-Entwurfs tritt dann die Auseinander-
setzung mit der Frage, inwiefern in den sozialen Verhältnissen selbst Mög-
lichkeitsräume einer Überschreitung enthalten sind – bzw. wie sich Bedin-
gung und Unbedingtes als vermittelt denken lassen.24

Mit diesem turn, in dem sich die Bildungstheorie zunehmend dem sozialen
Ort der Möglichkeit von Bildung zuwendet, wird nun aber gerade keine
neue Gewissheit gewonnen, die sich bspw. in eine emanzipatorisch-päda-
gogische Programmatik überführen ließe. Vielmehr lässt sich an der kriti-
schen Bildungstheorie Heydorns selbst studieren, wie die Auseinanderset-
zung mit den historischen und sozialen Bedingungen dazu führt, dass Ge-
wissheiten abnehmen: Was es braucht, damit Bildung als „allgemeine Be-
ratung über die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten“25 wirk-
sam wird – ob sich Bildung in die Befähigung übersetzt, Geschichte zu
machen, kann nicht länger mit Bestimmtheit gewusst werden. Der Einsatz
der Bildungstheorie besteht stattdessen darin, die Möglichkeit der Bildung
als Möglichkeit offen zu halten.26

24 Vgl. BÜNGER, Carsten: Bedingungen des Unbedingten? Notizen zu einer Theoriege-


schichte der Kontextualisierung von Bildungsprozessen, in: DERS. / SANDERS, Olaf /
SCHENK, Sabrina (Hg.): Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus, Hamburg: Ar-
gument 2018, 16–24.
25 So der Titel eines der Hauptwerke von Johann Amos Comenius, auf den sich Heydorn
vielfach bezieht.
26 Vgl. BÜNGER, Carsten: Die offene Frage der Mündigkeit. Studien zur Politizität der
Bildung, Paderborn: Schöningh 2013.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 351

Immanente Transzendenz der Geschichte –


Perspektiven kritischer Bildungstheorie

Es ist die Problemstellung, wie sich das Verhältnis von Bildung und Ge-
schichte im Sinne humaner Verbesserungen fassen lässt, über die sich ab
den 1950er Jahren die insbesondere mit den Namen Heinz-Joachim Hey-
dorn verbundene Kritische Bildungstheorie entwickelt hat.27 Darin findet
sich zwar manche Nähe zur Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos,
die schon aus der verbindenden Relektüre von Hegel und Marx resultiert.
Zugleich gehört diese genuin bildungstheoretische Perspektive nicht zu
den Ansätzen einer kritischen Erziehungswissenschaft, die sich über die
Rezeption der kritischen Theorie und den pädagogischen Anschluss an Ha-
bermas entwickelt haben.

Die pädagogischen und bildungstheoretischen Schriften des 1916 gebore-


nen Heydorn finden ihren Ausgangspunkt darin, dass die in der Aufklärung
wie im Neuhumanismus unterstellten Voraussetzungen emanzipatorischer
Praxis angesichts zweier Weltkriege
„in eine Krise geraten sind, die einmal durch Veränderungen in der gesellschaft-
lichen Wirklichkeit überhaupt bewirkt ist, darüber hinaus aber auch durch tief-

27 Vgl. KONEFFKE. Gernot: Einleitung, in: HEYDORN, Heinz-Joachim: Bildungstheoreti-


sche und Pädagogische Schriften. 1949–1967, Studienausgabe der Werke Bd. 1, Wetz-
lar: Büchse der Pandora 2004, 11–42; LÜTKE-HARMANN, Martina: „Die Zeit, die
bleibt.“ Zu den Konzepten einer Einholung und Aktualisierung der Geschichte, in: NO-
VKOVIC, Dominik / STEDEROTH, Dirk / THOLE, Werner (Hg.): Die Befähigung des Men-
schen zum Menschen. Zu Heinz-Joachim Heydorns kritischer Bildungstheorie, Wies-
baden: Springer VS 2019, 77–92. Vgl. zur folgenden Darstellung auch: BÜNGER, Cars-
ten: Emanzipation im Widerspruch. Notizen zur Dialektik von Überschreitung und Ver-
strickung, in: DERS. u. a. (Hg.): Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungs-
theorie, Paderborn: Schöningh 2009, 171–190; BÜNGER, Carsten / PONGRATZ, Ludwig:
Zwischen Reformskeptizismus und Aufklärungsoptimismus. Zur Frage nach der Aktu-
alität der Bildungskritik Heinz-Joachim Heydorns, in: NOVKOVIC, Dominik / STEDE-
ROTH, Dirk / THOLE, Werner (Hg.): Die Befähigung des Menschen zum Menschen. Zu
Heinz-Joachim Heydorns kritischer Bildungstheorie, Wiesbaden: Springer VS 2019,
181–198.
352 Carsten Bünger

greifende Erschütterung aller geistigen Sicherheit [...]. Zwischen dem Menschen-


hymnus von 1900 und dem Jahre 1958 liegen Auschwitz und Maidanek, bleibt
die entsetzliche Verkrüppelung des Menschen durch den Menschen, in der die
ganze Gefährdung seiner Existenz erkennbar wird.“28

Nachdem die Menschen „alle Ideen in ihrer Perversion erlebt haben“29, ist
nach Heydorn die Frage nach den Bedingungen der Kritik und der Mög-
lichkeit von Emanzipation neu aufzuwerfen. Die verbreitete Erfahrung des
Sinnverlusts, der Aussichtslosigkeit und Verzweiflung thematisiert Hey-
dorn nicht nur in den Frühschriften an zentraler Stelle; sie verweist auf den
historischen Ort seiner Überlegungen: Während sich im 19. Jahrhundert
angesichts der industriellen Revolution der Glauben verbreitete, „dass uns
die Geschichte selbst dem endgültigen und vollkommenen Ort unserer
Existenz zuführen würde“30, mutet diese Vorstellung 100 Jahre später be-
reits absurd an: „Zwischen dem Optimismus unserer Väter und der heuti-
gen Situation liegt nun eine geschichtliche Erfahrung, die nie wieder rück-
gängig zu machen ist, der Glaube an die Geschichte ist zerstört und in einer
verhängnisvollen Weise in den Glauben an ihre Heillosigkeit umgeschla-
gen.“31 Beides, sowohl der „Glauben an die Geschichte“ wie der „Glauben
an ihre Heillosigkeit“, drückt für Heydorn das fatalistische Bewusstsein
aus, das dem Bestehenden bloß affirmativ gegenüberstehen kann. Beson-
ders gefährlich wird, wenn die Geschichte als unaufhaltsamer Prozess des
Zerfalls wahrgenommen wird. Bereits Anfang der 1950er Jahre formuliert
er: „[H]inter einer Wand von verlogenen Phrasen vollzieht sich die Res-
tauration aus Angst. [...] Aber niemand steht gegen sie auf, weil niemand

28 HEYDORN, Heinz-Joachim: Das sozialistische Erziehungsziel, in: DERS.: Bildungstheo-


retische und Pädagogische Schriften. 1949–1967, Studienausgabe der Werke Bd. 1,
Wetzlar: Büchse der Pandora [1958] 2004, 161–164, 162–163.
29 HEYDORN, Heinz-Joachim: Politische Schriften 1946–1974, Studienausgabe der Werke
Bd. 7, Wetzlar: Büchse der Pandora 2004, 101.
30 EBD.
31 EBD.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 353

beweisen kann, dass es sich lohnt, das Wagnis hat seinen Sinn verloren.“32
Es wird ihm daher zur „vornehmsten Aufgabe der Pädagogik, mitten in
einer solchen Zeit der Krise, […] Hoffnungen auf eine sinnvollere Mög-
lichkeit der menschlichen Existenz“33 zu stiften. Dabei ist für Heydorn die
„Entfatalisierung des Zeitalters“34, die Abarbeitung an Geschichtsauffas-
sungen im Sinne eines Fortschritts- oder Verhängniszusammenhangs,
nicht nur eine Aufgabe konkreter pädagogischer Praxis und politischen En-
gagements. Vielmehr stellt sie auf der systematischen Ebene das Kern-
problem in Heydorns Bildungstheorie dar: Wie ist das Verhältnis von Bil-
dung und Geschichte zu bestimmen, wenn es um die Möglichkeit gehen
soll, dass Menschen ihre Geschichte machen? Wie kann die Möglichkeit –
dass etwas getan werden kann, um die Krise zu überwinden und das Unheil
abzuwenden – gedacht werden, ohne diese Möglichkeit lediglich zu postu-
lieren?

Entscheidend ist für Heydorn, das Verhältnis zur Geschichte auf eine
Weise zu bestimmen, in der Geschichte weder als unabwendbarer Wir-
kungszusammenhang gedacht wird noch als rein beliebige Ansammlung
von Geschehnissen, die für die Frage „Was tun?“ letztlich irrelevant wäre.
Es geht mit anderen Worten um das Verhältnis von Geschichte und Frei-
heit, von Bedingungen und Unbedingtem. Heydorn hält fest: Der Anspruch
der Emanzipation, der Geschichte aus Freiheit einen Sinn zu geben und in
ihr zu entfalten, entsteht als Anspruch der Moderne erst mit dem Aufstieg

32 HEYDORN, Heinz-Joachim: Hoffnung im Ungewissen. Zur Erziehung in unserer Zeit,


in: DERS.: Bildungstheoretische und Pädagogische Schriften. 1949–1967, Studienaus-
gabe der Werke Bd. 1, Wetzlar: Büchse der Pandora [1951] 2004, 89–98, 96.
33 HEYDORN, Heinz-Joachim: Freiheit und Ordnung in der Erziehung, in: DERS.: Bildungs-
theoretische und Pädagogische Schriften. 1949–1967, Studienausgabe der Werke Bd.
1, Wetzlar: Büchse der Pandora [1953] 2004, 79–88, 80.
34 HEYDORN, Heinz-Joachim: Zur politischen Erziehung in Deutschland, in: DERS.: Bil-
dungstheoretische und Pädagogische Schriften. 1949–1967, Studienausgabe der Werke
Bd. 1, Wetzlar: Büchse der Pandora [1951] 2004, 58–78, 75.
354 Carsten Bünger

des Bürgertums, ist in diesem Sinne selbst historisch, aber er „kann durch
die Geschichte weder bestätigt noch aufgehoben werden, er ist seinem We-
sen nach außergeschichtlich.“35 Freiheit lässt sich nicht aus einer Eigenlo-
gik von Geschichte ableiten, sonst wäre sie nicht. Zugleich jedoch muss
sich jeder Freiheitsanspruch mit der geschichtlichen Wirklichkeit vermit-
teln. Man könnte sagen, die Freiheit der Bildung wirkt nur im und als Ver-
hältnis zu den gesellschaftlichen Bedingungen: in der Form der Befrei-
ung.36 Diese Problemstellung wird von Heydorn mehrfach aufgegriffen. In
einer ebenfalls frühen Schrift formuliert er: Die Geschichte
„zeigt uns zwar keine Notwendigkeit, die sich auch ohne unseren Willen voll-
zieht, kein immanentes Vernunftprinzip in fortschreitender Enthüllung, aber sie
weist die Möglichkeit auf. [...] An der Möglichkeit wird sich unsere Freiheit ge-
wiß, aber diese Möglichkeit wird nur erkannt, wenn die Bedingung erkannt ist,
aus der sie erwächst, ihr Verflochtensein in eine gegebene Welt. Die Freiheit wird
zum Irrsinn, wo sie sich auf keine Analyse des Wirklichen stützen kann.“37

In einem Text von 1969 heißt es:


„Eine klassische revolutionäre Lösung ist in der technologischen Gesellschaft
ebenso unmöglich geworden wie das Vertrauen auf eine Evolution, die mit Hilfe
eines hypostasierten geschichtlichen Gesetzes ans Ziel kommt. Es wird darum
gehen müssen, Revolution und Evolution miteinander zu vermitteln und sich in-
nerhalb einer solchen Vermittlung zu bewegen.“38

Bildung ist vor diesem Hintergrund als ein Verhältnis zu verstehen, in dem
die gesellschaftlichen Bedingungen in ihrem Gewordensein begriffen –
und zugleich die in diesen Bedingungen liegenden Möglichkeiten zur Ge-
staltung erkannt und ergriffen werden.39 Dabei ist ‚Gestaltung‘ zwar einer-

35 HEYDORN 2004 [Anm. 32], 92.


36 Vgl. MENKE, Christoph: Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel, Berlin: Suhr-
kamp 2018.
37 HEYDORN 2004 [Anm. 32], 93.
38 HEYDORN, Heinz-Joachim: Elemente einer Friedenserziehung, in: DERS.: Bildungsthe-
oretische und Pädagogische Schriften 1967–1970, Studienausgabe der Werke Bd. 2,
Wetzlar: Büchse der Pandora [1969] 2004, 237–251, 246.
39 Der Zusammenhang von Bildung und Ereignis klingt in Heydorns Begriff des „Bil-
dungsakts“ an. Gernot Koneffke fasst diesen Aspekt der Bildungstheorie Heydorns in
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 355

seits kein abstrakter Selbstzweck, sondern an der ‚Entfaltung von Huma-


nität‘ orientiert – zugleich ist die Bedeutung dessen, was ‚Entfaltung von
Humanität‘ bedeuten kann, weder durch die geschichtliche Analyse noch
durch theoretische Entwürfe vorwegzunehmen; ihr Inhalt ist vielmehr not-
wendig unbestimmt, wenn es um ein Werden in Freiheit gehen soll. Dies
konfrontiert die Frage nach einer allgemein verbindlichen Orientierung des
Bildungsgangs mit einer konstitutiven Ungewissheit, die für Heydorn jede
Bemühung um die Aneignung und Gestaltung der Geschichte mit dem
Charakter des Wagnisses versieht.40

Neben dieser Problematik einer Orientierung ohne Telos stellt sich im Rah-
men von Heydorns Bildungstheorie die Frage, wie die Bedingung der
Möglichkeit zu solchen Bildungsprozessen angegeben werden kann: Was
ermöglicht eine Beziehung zur Geschichte, die diese ebenso als Bedingung
der eigenen Gegenwart erschließt wie auch zur weiteren Gestaltung öffnet?
Was kann über den sozialen Ort einer solchen Möglichkeit gesagt werden?
Indem Heydorns kritische Bildungstheorie nach den „systemimmanenten
Anknüpfungsmöglichkeiten“ sucht, um die „gesellschaftlichen Grenzen zu
transzendieren“41, folgt Heydorns Antwort einer dialektischen Perspektive.
Die Möglichkeit einer solchen ‚immanenten Transzendenz‘ sieht Heydorn
in der widersprüchlichen Verfasstheit gesellschaftlich organisierter Bil-
dung: Die Schule und ihre Reformen stehen für Heydorn in der Kritik, weil
sie der Ort sein könnte, über die sich die gegenwärtige Gesellschaft verän-
dern ließe, wobei hiermit nicht ein instrumentelles Verständnis von Päda-
gogik im Sinne von politisierender Agitation verbunden wird. Vielmehr

systematischer Hinsicht als nicht ableitbaren Zusammenhang von historisch notwendi-


gen und hinreichenden Bedingungen der Mündigkeit. Vgl. dazu: KONEFFKE, Gernot:
Der Grund für die mögliche Befreiung von Herrschaft liegt im Diesseits – gegen die
Theologisierung der kritischen Bildungstheorie, in: Pädagogische Korrespondenz 33
(2005), 15–41.
40 Vgl. exemplarisch: HEYDORN 2004 [Anm. 34], 62.
41 HEYDORN 2004 [Anm. 38], 246.
356 Carsten Bünger

sieht Heydorn in der Schulung der Abstraktionsfähigkeit das Potenzial der


Veränderung angelegt, in der rationalen Durchdringung der gegebenen Be-
dingungen.

Der hierbei aufscheinende Widerspruch, der sich für Heydorn durch die
Verfasstheit der Bildungsinstitutionen zieht, ist dabei nicht als einer zu ver-
stehen, der zwischen ideellem Anspruch und pädagogischer Wirklichkeit
angesiedelt wäre. Stattdessen handelt es sich um einen Widerspruch inner-
halb der gesellschaftlichen Praxis einer Schulung der Vernunft: Im zuneh-
menden Maße, so Heydorns Diagnose, ist die bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaft auf die systematische Förderung von Rationalität und Refle-
xionsvermögen angewiesen, die in ihr zu Produktions- und Innovations-
zwecken verwertet werden.42 Die Vernunft in ihrer unvernünftigen Form,
als instrumentelle Vernunft, fungiert für Heydorn zwar – statt als Organ
„humaner“, moralisch reflektierter Zweckbestimmung – als Ausdruck ka-
pitalistischer Herrschaft und bürgerlicher Selbstbeherrschung. Zugleich
braucht es nichts anderes als Vernunft, um diese auf ihre Engführungen
und herrschaftlichen Zurichtungen hin kritisch zu untersuchen. Die funkti-
onale Zurichtung der Vernunft entlang kapitalistischer Nützlichkeits- und
Investitionserwägungen kann – so Heydorns dialektische Perspektive – im
Gebrauch der Vernunft selbst zum Gegenstand der Reflexion werden: „Die
systematische Vermittlung von gesellschaftlicher Rationalität durch Bil-
dung enthält die Möglichkeit aller Rationalität: Das Selbstverständliche zu
bezweifeln“43. Als Selbstkritik weist der Vernunftgebrauch dann über
seine ihm zugedachte Funktion hinaus, vermag diese infrage zu stellen und

42 Ausführlich entfaltet Heydorn diese Perspektive in seinem Hauptwerk, siehe: HEY-


DORN, Heinz-Joachim: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, in: DERS.:
Studienausgabe der Werke Bd. 3, Wetzlar: Büchse der Pandora [1970] 2004.
43 HEYDORN, Heinz-Joachim: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs, in: DERS.: Bil-
dungstheoretische und Pädagogische Schriften 1971–1974, Studienausgabe der Werke
Bd. 4, Wetzlar: Büchse der Pandora 2004, 56–145, 61.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 357

die Verständigung über die vernünftigere Einrichtung des gesellschaftli-


chen Zusammenlebens zu motivieren. Geht es also um die Möglichkeit ei-
nes Verhältnisses zu den gesellschaftlichen Bedingungen der Lebensfüh-
rung, so ist diese Figur einer kritischen Wendung des sozialisatorisch for-
mierten Vernunftgebrauchs für Heydorn nicht nur auf individuelle Bil-
dungsprozesse zu beziehen, sondern verweist auf die Geschichte sozialer
Kämpfe, letztlich auf die Frage nach der Realisierung eines vernünftigen
Allgemeinen.44

Es ist dieser Zusammenhang, in dem das Motiv einer befreiten Vernunft


aufs engste mit einer geschichtsphilosophischen Rahmung verbunden ist:
Eine Perspektive auf Geschichte, in der die gesellschaftlichen Rationali-
sierungen als Vermittlungsformen von Vernunft und Herrschaft reflektiert
werden. Dabei ist die Befreiungsperspektive für Heydorn der Menschheits-
geschichte gleichsam ‚eingeschrieben‘; sie ist in ihr – sei es auch (anfäng-
lich) unkenntlich oder (nachträglich) verstümmelt – beständig präsent. Sie
findet sich von Beginn an verknüpft mit dem Anspruch einer rationalen
Einrichtung menschlicher Lebensverhältnisse, denen auch noch das (mit
dem Übergang zur Industriegesellschaft entstehende) allgemeine Bil-
dungswesen zuarbeitet. Eben dies ist die Stelle, an der der Rückgriff auf
die Kritische Bildungstheorie heute selbst in Probleme gerät: Um die Mög-
lichkeit der Bildung zu denken, scheint Heydorn nicht umhin zu kommen,
diese wiederum in eine große Erzählung einzuspannen.45 Wenngleich diese
auch nicht mehr von Gewissheiten der Erfüllung getragen ist, so doch von
der Gewissheit eines aktualisierbaren Potentials, das zugleich einen gat-

44 Vgl. BÜNGER 2013 [Anm. 26].


45 SCHÄFER, Alfred: Hegemoniale Einsätze. Überlegungen zum Ort der Kritik, in: BÜN-
GER, Carsten / EULER, Peter / GRUSCHKA, Andreas / PONGRATZ, Ludwig A. (Hg.): Hey-
dorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungstheorie, Paderborn: Schöningh 2009,
193–214.
358 Carsten Bünger

tungsgeschichtlichen Zusammenhang stiftet: die Entfaltung des Menschen


entlang seiner Befreiungen hin zu einer Vollendung der Freiheit.

Von einem Unvermögen erzählen

Große Erzählungen sind darauf angewiesen, dass sie glaubhaft sind – oder
anders: dass sie etwas hervorbringen, woran geglaubt werden kann. Dies
verweist auf das Problem, das Lyotard als den faktischen Schwund der
Überzeugungskraft großer Erzählungen bezeichnet hat46: Ganz in Überein-
stimmung mit dem oben zitierten Verweis Heydorns auf die im 20. Jahr-
hundert erfahrene ‚Perversion aller Ideen‘ beschreibt auch Lyotard, dass
die Bindungskraft geschichtlicher Orientierungen aufgrund der mit ihnen
verbundenen gesellschaftlichen Ereignisse erloschen ist.47 Dass es auch in
der kritisch-bildungstheoretischen ‚Erzählung‘ um Fragen des Glaubens
geht, hat Heydorn sehr genau gesehen. Am Ende seines Hauptwerks „Über
den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“ schreibt er:
„Es gibt Indikatoren, daß es der Menschheit gelingt, zu sich selbst frei zu werden;
es gibt den Hinweis auf ihre psychische und physische Liquidation. Es gibt kein
Gesetz, nach dem sich Geschichte vollziehen muß, es gibt Tendenzen innerhalb
derer wir handeln können. […] Die Gewißheit, daß es gelingen wird, ist letztlich
eine Frage des Glaubens, dem der Indikator nicht widerspricht, der durch ihn aber
nicht abgedeckt wird. Nur dies ist eine Frage des Glaubens; empirisch wissen wir
nur um das Unaufgelöste. Es ist der Glaube an die Verheißung des Menschen, der
die Gewißheit gibt, der Glaube, daß sich alles Zerrissene wiederfindet, das Un-
zerstörbare dem Zerstörten unterliegt.“48

46 LYOTARD, Jean-François: Sendschreiben zu einer allgemeinen Geschichte, in: DERS.:


Postmoderne für Kinder. Briefe aus d. Jahren 1982–1985, Wien: Passagen, 38–56.
47 Die Differenz zwischen Lyotard und Heydorn liegt freilich in der Konsequenz, die diese
daraus ziehen: Während es für Lyotard darauf ankommt aus der Trauerarbeit die Of-
fenheit für Erzählungen zu gewinnen, die keinem universalistischem Modell einer um-
greifenden Großerzählung folgen, sucht Heydorn eine Möglichkeit zu formulieren, die
sich gerade der Nicht-Identität der Geschichte, ihren inneren Widersprüchen verdankt.
48 HEYDORN 2004 [Anm. 42], 300–301.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 359

Das Problem der großen Erzählung gattungsgeschichtlicher Bildung be-


steht heute jedoch nicht nur im Mangel an der Bereitschaft, an die aus einer
‚Verheißung‘ resultierenden Möglichkeiten zu glauben. Unabhängig von
Fragen der Glaubwürdigkeit besteht das Problem großer Erzählungen viel-
mehr darin, dass mit dem Motiv einer humanistischen Verheißung ein
Richtungssinn der Befreiungen angenommen wird. Unter der Hand wird
aus der bildungstheoretisch anvisierten Freiheit im Verhältnis zur Ge-
schichte ein bloßes Mittel, das dem Zweck unterworfen wird, etwas in der
Geschichte bereits ‚Angelegtes‘ zu realisieren.49 In diesem Sinne opfert die
große Erzählung die Gegenwart für eine (stets noch bessere) Zukunft – und
dies nicht nur in einem übertragenen Sinn: Es sind große Erzählungen, die
wirkliche Opfer – Entbehrungen, Kriege, Tote – im Namen einer Notwen-
digkeit legitimieren.50

Was also bleibt für die Selbstverständigung kritisch-emanzipatorischer


Bildung? Was bleibt zu tun? Besteht noch eine Möglichkeit zur Kritik der
Gegenwart, wenn die Kritik sich nicht auf einen Zielpunkt der Geschichte,
auf einen allmählich zu realisierenden Bezugspunkt orientieren und be-
gründen kann? Was heißt es, etwas zu tun, wenn sich das Tun nicht in der
Gewissheit einer ‚Verwirklichung‘ beruhigen kann? Mit diesen Fragen in
einen Kontakt zu kommen, der nicht auf einen Abbruch der Bemühungen
um Kritik und Emanzipation hinausläuft, bedeutet nicht zuletzt, ein Ver-
hältnis zu den Vorstellungswelten und Denkformen zu gewinnen, die als
kritische Theorien vorliegen. So wie Derrida in seinem Band, „Was tun mit
der Frage ‚Was tun‘?“51 ein Verhältnis zum Denken der Revolution bei
Marx und Lenin zu fassen sucht, stellt sich die Frage der Wiederaneignung,
der Neufassung und Aktualisierung auch in der Auseinandersetzung mit

49 Vgl. MENKE, Christoph: Am Tag der Krise, Berlin: August 2018.


50 Vgl. NANCY, Jean-Luc: Was tun?, Zürich: diaphanes 2017.
51 DERRIDA, Jacques: Was tun – mit der Frage „Was tun“?, Wien: turia+kant 2018.
360 Carsten Bünger

den Relationierungen von Bildung und Emanzipation, wie sie hier entlang
der Kritischen Bildungstheorie diskutiert wurden. Dabei gibt es keine Po-
sition, von der aus das selbstgewisse Urteil einer Verabschiedung oder
Überholtheit formuliert werden könnte. Wenngleich sich das Format ‚Bil-
dungstheorie‘ nicht mehr als orientierender Entwurf ‚wahrer Menschwer-
dung‘ fassen lässt, drückt sich die aktuelle Form einer Bindung an diese
Traditionen vielleicht gerade darin aus, sich einem doppelten Unvermögen
zu stellen: dem Unvermögen, die Geschichte menschheitsgeschichtlicher
Bildung weiter zu erzählen – wie jenem, sie für sich zu behalten. Es ist
dann weniger die orientierende Funktion der kritischen Theoriebildung, als
die inspirierende Kraft heterogener Aneignungen, die auf ein überschrei-
tendes Moment verweisen. Das Freiheitsmotiv der Bildung lässt sich so als
die Möglichkeit eines Ereignisses vorstellen, die erst aus dem Unvermögen
resultiert, eine konsistente Geschichte zu erzählen.

Autorenangaben: Carsten Bünger, Dr. phil. habil., vertritt die Professur für Erzie-
hungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erziehungs- und Bildungsphilosophie
am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Koblenz-Lan-
dau (Campus Landau). Informationen zu Arbeitsschwerpunkten und Publikatio-
nen unter: www.c-buenger.de
Heydorn lesen?
Zur religionspädagogischen Rezeption
kritischer Bildungstheorie

Lukas Ricken – in Response auf Carsten Bünger

Abstract: Die kritische Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns wurde für die


Grundlegung eines spezifisch religionspädagogischen Bildungsbegriffes seit den
1980er Jahren immer wieder punktuell rezipiert. Der Beitrag stellt exemplarisch
Ansätze einer Rezeption Heydorns bei Peter Biehl, Godwin Lämmermann, Folkert
Rickers und Rudolf Englert vor, um auf dieser Grundlage Thesen zur religionspä-
dagogischen Relevanz Heydorns zur Diskussion zu stellen und gleichzeitig vor
einer Theologisierung kritischer Bildungstheorie zu warnen.

„Es ist kein Zweifel, daß der Religionsunterricht, solange ihn die Gesellschaft
noch an den Schulen für tunlich hält, hier eine Möglichkeit gewinnt, falls sie
wahrgenommen werden sollte: In ihm kann sich der Mensch zum Gegenstand
werden, in widersprüchlicher Freiheit erfahren, ohne daß die Gesellschaft den In-
halt im Vorwege festlegt.“1

Heinz-Joachim Heydorn war zu Lebzeiten vor allem in der evangelischen


Theologie und Religionspädagogik kein gänzlich Unbekannter. In seinem
Werk finden sich nicht nur immer wieder Berührungspunkte zum kirchli-
chen Feld2; mehrere Beiträge im Evangelischen Erzieher3 und ein Artikel

1 HEYDORN, Heinz-Joachim: Erziehung, in: OTTO, Gert (Hg.): Praktisch-theologisches


Handbuch, Hamburg: Furche 1970, 131–153, 152.
2 Vgl. z. B. HEYDORN, Heinz-Joachim: Rede auf dem Kirchentag, in: DERS.: Werke Bd.
1. Bildungstheoretische und pädagogische Schriften 1949–1967, Vaduz: Topos 1994,
165–168; HEYDORN, Heinz-Joachim / OTTO, Gert: Wie demokratisch kann die Kirche
sein?, Frankfurt am Main: Evang. Presseverb. 1969.
3 Vgl. HEYDORN, Heinz-Joachim: Zum Verhältnis von Schule und Gesellschaft, in: Der
Evangelische Erzieher 18 (1996), 429–427 sowie DERS.: Humanoira und Naturwissen-
schaften, in: EBD. 20 (1968), 37–39.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_20
362 Lukas Ricken

im Praktisch-theologischen Handbuch4 lassen zudem darauf schließen,


dass Heydorn im Rahmen der Verwissenschaftlichung von Religionspäda-
gogik als relevanter Vertreter der Bezugswissenschaft Pädagogik wahrge-
nommen wurde.5 Wirkliche Resonanzen Heydorns in der religionspädago-
gischen Theoriebildung lassen sich hingegen erst seit Mitte der 1980er
Jahre punktuell nachweisen. Bezüge reichen nur in wenigen Fällen über
Fußnoten hinaus6, eine systematische Auseinandersetzung mit der kri-
tischen Bildungstheorie hat bis heute erst in Ansätzen stattgefunden.

In meinem Beitrag möchte ich mich der Frage nach der religionspädago-
gischen Rezeption Heydorns in drei Anläufen nähern: Eingangs decke ich
exemplarisch Spuren kritischer Bildungstheorie im Werk vier religionspä-
dagogischer Autoren7 im Zeitraum von 1985 bis 2010 auf. Im Anschluss
an diese Verortung stelle ich Argumente gegen eine explizit theologische
Heydornrezeption vor, um schließlich drei Thesen zur Relevanz Heydorns
für die religionspädagogische Theorie und Praxis zu formulieren. Sämtli-
che Überlegungen verstehen sich dabei als vorläufig, die intensive Aufar-
beitung des bisherigen sowie des potentiellen Einflusses kritischer Bil-
dungstheorie auf die Religionspädagogik bleibt weiterhin Desiderat.

4 Vgl. HEYDORN 1970 [Anm. 1].


5 Vgl. SCHWEITZER, Friedrich / SIMOJOKI, Henrik / MOSCHNER, Sarah u. a.: Religionspä-
dagogik als Wissenschaft. Transformationen der Disziplin im Spiegel ihrer Zeitschrif-
ten, Freiburg im Breisgau: Herder 2010, 148.
6 Diese ließen sich vor allem über die Suche in Personenregistern einschlägiger Mono-
graphien und Sammelbände sowie über Google Books auffinden. Ich danke Jan-Hen-
drik Herbst für wertvolle Hinweise zum Beginn meiner Recherchen.
7 Eine Antwort auf die Frage, ob und wo Heydorn Spuren im Werk deutschsprachiger
Religionspädagoginnen hinterlassen hat, muss ich zum jetzigen Zeitpunkt schuldig
bleiben. Die bisherige Recherche blieb ohne Ergebnisse.
Heydorn lesen? 363

1 Verortung: Kritische Bildungstheorie im religionspädagogischen


Diskurs

Der Entwicklung religionspädagogischer Bildungstheorie ging im protes-


tantischen Diskurs eine „Phase heftiger Polemik gegen den Bildungsbe-
griff und seiner Ablehnung (bzw. Umformulierung) in der Theologie“8 vo-
raus. Diese Ablehnung speiste sich u. a. aus Positionen der Dialektischen
Theologie9, lässt sich aber darüber hinaus als „anachronistische Auseinan-
dersetzung mit der theologischen Rezeption des neuhumanistischen Bil-
dungsbegriffs im 19. Jahrhundert“10 und dem aus dieser entstandenen Kon-
zept des Kulturprotestantismus einordnen.

Einen Neuanfang markierte 1980 Reiner Preul mit seiner Monographie Re-
ligion – Bildung – Sozialisation.11 Preul kritisiert die „Unterordnung“12 des
Bildungsbegriffes unter den der Erziehung13 und betont, dass die „Reali-
sierung von personhafter Wirklichkeit [...] prinzipiell nicht methodisier-
bar“ sei. Weder das „im Glauben ergriffene Selbstverständnis“ noch das
„rein humane Selbstverständnis (Normen des sozialen Verhaltens etc.)“

8 SCHELANDER, Robert: Bildung, in: PORZELT, Burkard / SCHIMMEL, Alexander (Hg.):


Strukturbegriffe der Religionspädagogik, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2015, 60–
66, 62.
9 Vgl. BARTH, Karl: Evangelium und Bildung, Zollikon: Evangelischer Verlag 1938.
10 SCHELANDER 2015 [Anm. 8], 63.
11 Vgl. PREUL, Reiner: Religion – Bildung – Sozialisation. Studien zur Grundlegung einer
religionspädagogischen Bildungstheorie, Gütersloh: Mohn 1980. Peter Biehl schreibt
Preul die Bedeutung zu, „als erster“ eine religionspädagogische Bildungstheorie einge-
fordert zu haben (BIEHL, Peter: Erfahrung, Glaube und Bildung. Studien zu einer erfah-
rungsbezogenen Religionspädagogik, Gütersloh: Mohn 1991, 126). Für Rudolf Englert
ist Preuls Schrift eines „der wenigen Werke aus den letzten dreißig Jahren, die es wirk-
lich verdienen, eine ‚religionspädagogische Bildungstheorie‘ zu heißen“ (ENGLERT,
Rudolf: Vorsicht Schlagseite! Was im Bildungsdiskurs der Religionspädagogik gegen-
wärtig zu kurz kommt, in: Theologisch-Praktische Quartalsschrift 158 (2010), 123–
131, 124).
12 PREUL 1980 [Anm. 11], 61.
13 Verstanden als „planmäßige[...] Einwirkung durch ‚Zucht‘ und ‚Lehre‘“ (EBD. 94).
364 Lukas Ricken

seien „lehrbar im Sinne methodisch sicherer Vermittlung, wohl aber [...]


im Rahmen des Bildungsprozesses lernbar“14. Vor allem Peter Biehl (1.1)
und Godwin Lämmermann (1.2) knüpften an Preuls Unterscheidung von
Erziehung und Bildung an, um diese mit Heydorn anzuschärfen und wei-
terzudenken.

1.1 Peter Biehl: Zur Neufassung des Bildungsbegriffs


in religionspädagogischer Perspektive

Der Göttinger Religionspädagoge Peter Biehl markiert 1989 das Desiderat


einer „Neufassung des Bildungsbegriffs“. Religionspädagogisches Denken
dürfe sich nicht auf die bloße Wirkungsgeschichte der Beziehung von bib-
lischer Verheißung und Lebenswelt beschränken, gerade mit Blick auf die
„utopischen Gehalte“ der Schrift sei es
„dringend erforderlich, in Auseinandersetzung mit H.-J. Heydorn, W. Klafki, K.
Mollenhauer und H. Peukert eine Neufassung des Bildungsbegriffs zu erarbeiten.
Bildung setzt nämlich die Antizipation eines ‚gemeinsamen Lebens‘ (Schleier-
macher) voraus. Sie läßt sich als ein Prozeß verstehen, in dem Zukunft als Er-
möglichung der Subjektwerdung des Menschen im Kontext einer gemeinsamen
Lebenswelt ständig freigelegt wird“15.

Während sich Biehl mit dem hier skizzierten Bildungsverständnis explizit


auf Heydorn bezieht16, rückt die kritische Bildungstheorie 1991 in der fer-
tigen Studie in den Hintergrund bzw. in die Fußnoten, auch wenn der Un-

14 EBD., 94. Hervorh. im Original.


15 BIEHL, Peter: Autobiographische Anmerkungen zur Entwicklung des Vermittlungs-
problems in der Religionspädagogik, in: LACHMANN, Rainer / RUPP, Horst F. (Hg.):
Lebensweg und religiöse Erziehung. Religionspädagogik als Autobiographie Bd. 2,
Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1989, 29–51, 46. Hervorh. im Original.
16 Vgl. HEYDORN, Heinz-Joachim: Bildungstheoretische Schriften Bd. 3, Frankfurt am
Main: Syndikat 1980, 285.
Heydorn lesen? 365

tertitel Zur Neufassung des Bildungsbegriffs in religionspädagogischer


Perspektive klar an Heydorn angelehnt ist.17

Biehl fokussiert sich bei seiner Arbeit an einem „pädagogisch wie theolo-
gisch überzeugenden Bildungsbegriff“18 in der Grundlegung vor allem auf
Klafki, der neben der kritisch-emanzipatorischen Perspektive Heydorns
auch die empirisch-analytische Perspektive des Berliner Modells (v. a.
Wolfgang Schultz‘) und die historisch-hermeneutische Perspektive der
Allgemeinen Pädagogik Flittners „innerhalb der didaktischen Fragestel-
lung zu verschränken“19 suche. Im Anschluss widmet sich Biehl vor allem
Peukert; dieser sei „wie Klafki dem aufklärerischen Charakter moderner
Pädagogik verpflichtet“ – gleichzeitig bleibe bei Peukert im Gegensatz zu
Klafki und „wie bei Heydorn – die Theologie der Bildung nicht äußer-
lich“.20 Im weiteren Verlauf der Argumentation bezieht sich Biehl noch
mehrfach auf Heydorn. Er plädiert u. a. gestützt auf Heydorn dafür, die
„Sachebene der Bildung“ nicht zugunsten der „Beziehungsebene“ zu ver-
nachlässigen, da es der „Härte der Auseinandersetzung mit sich selbst und
der Welt“ bedürfe.21 Zur sprachlichen Struktur religiöser Bildung22 führt

17 Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und das Problem der Bildung. Zur Neufas-
sung des Bildungsbegriffs in religionspädagogischer Perspektive, in: Biehl 1991 [Anm.
11], 123–223.
18 EBD., 125.
19 EBD., 131. Für die Bezeichnung der Perspektiven bezieht sich Biehl auf Habermas. Vgl.
EBD., 129.
20 EBD., 136.
21 EBD., 175–176. Biehl zitiert in diesem Zusammenhang Heydorns Aufsatz aus dem
Praktisch-theologischen Handbuch in der zweiten Auflage von 1975 [Anm. 1] 155:
„Bildung als Subjektwerdung des Menschen vollzieht sich ‚über Inhalte oder Anlässe,
die inhaltliche Bedeutung haben‘; denn ‚Erkenntnisvermittlung und glaubhaft ge-
machte Hoffnung auf Leben‘ machen den Bildungsvorgang aus.“
22 „Religiöse Bildung ist erforderlich, um die Quellen der Freiheit zum Handeln zu er-
schließen. [...] Die Quellen der Freiheit sind sprachlich verfaßt.“ (BIEHL 1991 [Anm.
11], 188. Hervorh. im Original).
366 Lukas Ricken

Biehl mit Bezug auf Heydorns Neufassung des Bildungsbegriffs aus, Spra-
che sei
„zugleich ‚Voraussetzung aller Bildung‘; sie ist nämlich imstande, ‚das Imperfekt
zum Futur zu bringen, das Unbeendete zur Zukunft. Sprache ist Kommunikation
über Zeiten; unabgeschlossener Dialog mit den Toten und Gespräch im kommen-
den Lande‘.“23

Entgegen der Ankündigung im Jahr 1989 und den Assoziationen, die ihr
Untertitel weckt, kommt es in Biehls fertiger Studie nicht zu einer syste-
matischen Auseinandersetzung mit der kritischen Bildungstheorie, wenn-
gleich diese auch an zentralen Gelenkstellen des Argumentationsganges
hinzugezogen wird. Heydorns kritisch-emanzipatorische Perspektive mar-
kiert so neben anderen Autoren das Reflexionsniveau zeitgenössischer Pä-
dagogik.

1.2 Godwin Lämmermann: Rückgewinnung des Bildungsbegriffs


als religionspädagogische Grundkategorie

Ausführlicher als Biehl hat sich der Augsburger Religionspädagoge God-


win Lämmermann zu verschiedenen Zeitpunkten mit Heydorn auseinan-
dergesetzt. Bereits in seiner 1985 erschienenen Habilitationsschrift Reli-
gion in der Schule als Beruf fordert Lämmermann die Ausarbeitung einer
allgemeinen Bildungstheorie im Anschluss an Heydorn, dem er große Be-
deutung für die Genese der Habilitation zuschreibt.24 Über Preul hinaus
plädiert auch Lämmermann wie Biehl für eine spezifisch theologische Be-

23 BIEHL 1991 [Anm. 1], 188. Zitate aus HEYDORN, Heinz-Joachim: Zu einer Neufassung
des Bildungsbegriffs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, 102 u. 118.
24 „Als besonders fruchtbar erwies sich, dass ich mich schon längere Zeit mit dem bil-
dungstheoretischen Ansatz von Heinz J. Heydorn beschäftigt hatte.“ (LÄMMERMANN,
Godwin: Hoffen und wagen, in: RUPP, Horst F. / SCHWARZ, Susanne (Hg.): Lebensweg,
religiöse Erziehung und Bildung. Religionspädagogik als Autobiographie Bd. 6, Würz-
burg: Königshausen & Neumann 2015, 201–215, 210).
Heydorn lesen? 367

gründung dieser Theorie ausgehend von der Vorstellung der Gottebenbild-


lichkeit.25

Bei seinen Durchgängen durch die Geschichte der Theorieentwicklung26


und des Lehrerberufs27 greift Lämmermann immer wieder auf Heydorns
bildungsgeschichtliche Texte zurück, um unterschiedliche Phänomene ein-
zuordnen. Im Rahmen des Durchgangs durch die Bildungstheorie im 20.
Jahrhundert ist Heydorn gar ein Teilkapitel gewidmet.28 Lämmermann
identifiziert mit Heydorn die „eigentliche Aufgabe des Lehrers“ darin, die
„aufklärerischen Elemente aus der Geschichte von Theologie, Philosophie
und Pädagogik [...] gegen den Zug der Zeit in Geltung zu setzen“.29 Damit
dies gelingen könne müsse gelten:
„Die unhintergehbaren heteronomen Einflüsse sollen unter die Bedingungen ei-
ner pädagogischen Autonomie gebracht und dem selbstbestimmten pädagogi-
schen Urteil unterstellt werden. Die Berufsaufgabe des Lehrers besteht ganz we-
sentlich darin, kritisch sich mit den heteronomen Bedingungen seines Handelns
auseinanderzusetzen und diese konstruktiv zu Momenten seiner autonomen
Selbstbestimmung zu machen.“30

25 Vgl. LÄMMERMANN, Godwin: Religion in der Schule als Beruf. Der Religionslehrer
zwischen institutioneller Erziehung und Persönlichkeitsbildung, München: Kaiser
1985, 373. „Lämmermann hat seine zentrale These, dass der Lehrer der entscheidende
Faktor im sozialen System der Schule sei, mit einer auf H.-J. Heydorn zurückgehenden
Bildungstheorie begründet und sich ausführlich mit der bildungstheoretischen Tradition
auseinandergesetzt. Er fordert nicht eine spezielle „Theorie der religiösen Bildung“ (R.
Preul), sondern eine spezifisch theologische Begründung für eine allgemeine Bildungs-
theorie“ (BIEHL, Peter: Die Wiederentdeckung der Bildung in der gegenwärtigen Reli-
gionspädagogik. Ein Literaturbericht, in: DERS. und NIPKOW, Karl Ernst: Bildung und
Bildungspolitik in theologischer Perspektive, Münster: LIT 2003, 111–152, 129. Her-
vorh. im Original).
26 Vgl. LÄMMERMANN 1985 [Anm. 25], 17–123.
27 Vgl. EBD., 125–251.
28 Vgl. EBD., 97–103.
29 EBD., 102.
30 EBD., 103.
368 Lukas Ricken

Darüber hinaus ist auch Lämmermanns normativ gehaltenes Fazit deutlich


von Heydorn geprägt. Um einem Religionsunterricht vorzubeugen, der die
gesellschaftlichen Verhältnisse einseitig affirmiert, sei die „Rückgewin-
nung des Bildungsbegriffs als religionspädagogischer Grundkategorie“31
geboten. Dazu müsse dieser gegen einen „Erziehungsgedanken, der dann
vornehmlich lern-, curriculums- oder sozialisationstheoretisch ausgelegt
wird“32 stark gemacht und auch theologisch begründet werden.

In seiner 20 Jahre später erschienenen Religionsdidaktik33 knüpft Lämmer-


mann im Rahmen der bildungstheoretischen Grundlegung an seine Habi-
litation an und wendet sich erneut Heydorn zu. Er nutzt diese Gelegenheit,
um auf Horst F. Rupp zu reagieren34, der in seiner Habilitationsschrift Re-
ligion – Bildung – Schule Lämmermann und Heydorn vorgeworfen hatte,
zugunsten eines idealistischen Bildungsbegriffs die gesellschaftlichen
Funktionen35 von Schule außer acht zu lassen.36 Lämmermann gewinnt die
„wesentlichsten Impulse“ seiner konstruktiv-kritischen Religionsdidaktik
„aus der Beschäftigung mit der Geschichte des Bildungsdenkens, für die nach
meiner Auffassung H.J. Heydorn die richtigen und wichtigen Schlüsse im Sinne

31 EBD., 372. Hervorh. im Original.


32 EBD.
33 Vgl. LÄMMERMANN, Godwin: Religionsdidaktik. Bildungstheoretische Grundlegung
und konstruktiv-kritische Elementarisierung, Stuttgart: Kohlhammer 2005.
34 „In den letzten Jahren wird in Religionspädagogik und Pädagogik wieder die Bildungs-
theorie H. J. Heydorns verstärkt gewürdigt – allerdings oft – wie etwa bei H. Rupp –
auch mit katastrophalen Fehldeutungen, die ein fundamentales Nichtverstehen doku-
mentieren.“ (EBD., 119) Lämmermann bleibt hier leider weitere Belege für die ver-
stärkte Würdigung Heydorns schuldig.
35 Rupp nennt Qualifikation, Selektion, Allokation, Sozialisation, Erziehung sowie Perso-
nalisation bzw. Bildung (Vgl. RUPP, Horst F.: Religion – Bildung – Schule. Studien zur
Geschichte und Theorie einer komplexen Beziehung, Weinheim: Deutscher Studien-
Verlag 1994, 281–287).
36 Vgl. EBD., 280.
Heydorn lesen? 369

eines emphatischen Bildungsverständnis gezogen hat, das schon bei ihm (anders
Rupp) eine genuine sozialkritische Funktion hatte.“37

Lämmermanns Schlussfolgerungen sollen aufgrund ihrer engen Orientie-


rung an Heydorn ausführlich zitiert werden:
„Aufgabe der pädagogischen Theoriebildung ist es deshalb nach Heydorn, auch
die jeweiligen Herrschafts-, Macht- und Wirtschaftsverhältnisse zu analysieren,
auf deren Hintergrund sich pädagogische Vorstellungen entwickelt haben. Denn
in den pädagogischen Vorstellungen bilden sich nur die tatsächlichen sozialen
Verhältnisse ab. In der Theorie kann nichts gedacht werden, was nicht auch ge-
sellschaftlich möglich wäre. Aber nicht alles, was möglich ist, ist auch wirklich.
Es ist deshalb in der Analyse danach zu fragen, wie eine Gesellschaft tatsächlich
aussieht und welche Potenzen in ihr für ein anderes Leben gegeben sind. Denn –
so die Behauptung Heydorns – durch soziale Verhältnisse werden die historisch
gleichzeitig gegebenen Gewinnmöglichkeiten für besseres Leben reduziert. Das
Nachdenken über Bildung hat diese überschießenden Möglichkeiten zu erschlie-
ßen. Aus der Geschichte des Bildungsbegriffs gewinnt die Pädagogik die kriti-
sche Kraft zur Gegenwartsanalyse.“38

Der Bildungsgedanke sei nach Heydorn nicht nur „per se kritisch, weil er
an Tradition erinnert, in der andere Möglichkeiten des Menschseins the-
matisiert werden“39. Darüber hinaus habe er aufgrund der jüdisch-christli-
chen Tradition „notwendigerweise ein theologisches Moment“40.

Zusammengefasst wird Heydorn bei Lämmermann vor allem als Historiker


und Theoretiker des Bildungsbegriffs rezipiert und religionspädagogisch

37 Vgl. LÄMMERMANN 2005 [Anm. 33], 12.


38 EBD., 120.
39 EBD., 124. „Denn Kritik meint ja nichts anderes als die Wirklichkeit mit ihren unreali-
sierten positiven wie negativen Möglichkeiten.“ (EBD.).
40 EBD., 124. Lämmermann bezieht sich hier vor allem auf die alttestamentliche „Vorstel-
lung von der Ganzheitlichkeit des Menschen und von seinem Heilsein“ sowie auf die
„emanzipatorische Funktion“ des neutestamentlichen Erlösungsgedankens (EBD.). Um
diese Argumentation zu stützen, verweist er auf Bd. 1 (71) und Bd. 3 (15) der Bildungs-
theoretischen Schriften Heydorns.
370 Lukas Ricken

fruchtbar gemacht. Ergänzt wird dies durch vorsichtige Ansätze einer the-
ologischen Rezeption Heydorns.

1.3 Folkert Rickers: Bildung als Antizipation befreiter Zukunft

Neben Godwin Lämmermann muss der Religionspädagoge Folkert Ri-


ckers als wohl profiliertester Fürsprecher Heydorns in der Religionspäda-
gogik gelten.41 Diese Fürsprache spiegelt sich sogar in Rickers autobiogra-
phischen Reflexionen42, in denen er seine „Lust auf Reform und auf neue
Gestaltung in Kirche, Christentum und Theologie”43 auf das Studium der
Exegese und eben auf Heydorn zurückführt:
„Bei Heinz-Joachim Heydorn fand ich dann schließlich die Einsicht, daß Ver-
nunft, entbunden etwa zu dem Zweck, Menschen für ein bestimmtes Können und
für ein bestimmtes Verhalten zu disponieren, sich eben nicht auf diese Zwecke
begrenzen läßt (instrumentalisierte, domestizierte Vernunft). Vernunft ist eine,
und sie ist darauf angelegt, alles zu durchleuchten, zu durchdringen, zu analysie-
ren und dem Individuum größtmögliche Freiheit und Selbstbestimmung zu schaf-
fen.”44

Heydorn komme die Bedeutung zu, in „großartiger Weise [...] den Wider-
spruch zwischen dem gesellschaftlichen Verhängnis des Menschen und

41 Vgl. neben den hier untersuchten Texten auch RICKERS, Folkert: Theologische Dimen-
sionen von Bildung, Subjektwerdung und Religion. Anmerkungen zum Bildungsver-
ständnis von Hartmut von Hentig und Heinz-Joachim Heydorn, in: KUČERA, Zdeněk /
LÁŠEK, Jan B. (Hg.): Docete omnes gentes, Brno: L. Marek 2004, 22–31 sowie: RI-
CKERS, Folkert: Die Zukunft des Religionsunterrichts angesichts von Globalisierung,
in: DERS. / GOTTWALD, Eckard: Die Zukunft des Religionsunterrichts angesichts von
Globalisierung und Multikulturalität, Nordhausen: Bautz 2004, 171–195.
42 RICKERS, Folkert: „Bewußtsein ist alles“, in: LACHMANN, Rainer / RUPP, Horst F. (Hg.):
Lebensweg und religiöse Erziehung. Religionspädagogik als Autobiographie Bd. 3,
Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 2000, 347–367. Rickers verweist mit dem Leit-
motiv seiner autobiographischen Reflexionen auf HEYDORN 1980 [Anm. 16], 301.
43 RICKERS 2000 [Anm. 42], 353.
44 EBD., 353.
Heydorn lesen? 371

seiner möglichen Freiheit herausgearbeitet“ und „damit auch der Religi-


onspädagogik eine pädagogische Leitlinie vorgegeben“ zu haben.45

In seiner 1996 publizierten Darstellung evangelischer Religionspädagogik


in zeitgeschichtlicher Perspektive nutzt Rickers Heydorn zur methodolo-
gischen Grundlegung historisch arbeitender Religionspädagogik. Diese
müsse nach der Einbindung von Lehr- und Lernprozessen in ihre jeweili-
gen gesellschaftlichen Zusammenhänge fragen, um aufzudecken, „welche
Potentiale an Humanität und gesellschaftlich-politischer Verantwortung“46
die pädagogische Vermittlung von Religion zu unterschiedlichen Zeiten
freigesetzt habe. Aus dieser Perspektive und mit Hilfe des Heydornschen
Begriffsinstrumentariums47 ordnet Rickers das Konzept der Evangelischen
Unterweisung aufgrund ihrer autoritären Struktur als Erziehung48 ein, wo-
bei er der Vermittlung biblischer Traditionen zumindest einen potentiellen
Bildungswert zugesteht.49 „Bildungsmöglichkeiten“ schreibt Rickers auch
dem hermeneutischen Religionsunterricht zu, habe dieser doch „bei der
Anwendung der historisch-kritischen Methode auf kritisches Denken ge-
setzt, also das rationale Potential vermehrt, das schon auf den Weg der
Emanzipation führt.“50 Vor allem im problemorientierten Unterricht sieht
Rickers „starke bildungsbezogene Akzente“ und die Möglichkeit, „sich in
widersprüchlicher Freiheit zu erfahren“51.

45 EBD., 358.
46 RICKERS, Folkert: Evangelische Religionspädagogik in zeitgeschichtlicher Perspektive,
in: JRP 12 (1996), 29–56, 32.
47 Vgl. EBD., 34.
48 „Ihre harte Intention wurde nur dadurch abgemildert, daß sie zwar doktriniär auftrat,
nicht aber von Nötigung und Zwang bestimmt war.“ (EBD., 37).
49 EBD., 41.
50 EBD., 43.
51 EBD., 47. Im problemorientierten Setting können Schülerinnen und Schüler „im Denken
und Handeln emanzipatorische Situationen antizipieren, ohne daß die gesellschaftli-
chen Verhältnisse einen wirklichen Vollzug von Emanzipation schon zulassen.“
372 Lukas Ricken

Unter anderen Vorzeichen kommt Rickers 2010 im Kontext der Frage nach
Eschatologie und Religionspädagogik auf Heydorn zu sprechen. In Hey-
dorn sieht Rickers den ‚Vordenker‘ eines Unterrichtsprinzips, das von es-
chatologischer Dynamik durchzogen ist.52 Die Inspiration für dieses Den-
ken habe Heydorn „indirekt“53 aus den Schriften Comenius‘ gewonnen und
in seinen Bildungsbegriff die „Spannung zwischen der Erwartung und
Schaffung des Zukünftigen und dem Gegenwärtigen“54 eingetragen. Bil-
dung sei nach Heydorn der
„Versuch des Menschen, die Erziehungsverhältnisse zu transzendieren, sich kraft
eigener Vernunft neu zu entwerfen und darin eine neue Menschheit zu antizipie-
ren. Denn die Befreiung des Menschen zu sich selbst sollte – wenn sie denn ge-
lingen kann – der Befreiung aller korrespondieren, auch der Toten.“55

Dem Religionsunterricht käme – in Antizipation möglicher Freiheit – die


Rolle zu, „Anwalt jener Traditionen [zu] werden, durch die Jugendliche in
pointierter Weise von der eschatologischen Dynamik des Evangeliums be-
rührt werden können und sie bildungsbezogen ins Spiel [zu] bringen, über
den traditionellen Rahmen des Religionsunterrichts hinaus.“56

Heydorn wird somit bei Folkert Rickers für ein vertieftes und kritisch aus-
gerichtetes Verständnis religionspädagogischer Praxis in Geschichte und
Gegenwart herangezogen. Das auf Zukunft ausgerichtete Moment der Bil-
dungstheorie Heydorns wird zudem theologisch selbstbewusst für einen
eschatologisch ausgerichteten Religionsunterricht in Stellung gebracht.

52 Vgl. RICKERS, Folkert: Eschatologie und Religionspädagogik. Bildungstheoretische


Aspekte, in: JRP 26 (2010), 153–167, 164.
53 EBD.
54 EBD., 165.
55 EBD., 166. Hervorh. im Original.
56 EBD., 166.
Heydorn lesen? 373

1.4 Rudolf Englert: Der Wahrheitsanspruch von Bildung

Etwas andere Akzente setzt Rudolf Englert, der einzige katholische Reli-
gionspädagoge, auf den in diesem Kapitel eingegangen wird. Englert
kommt in jüngeren Veröffentlichungen zur religiösen Bildung immer wie-
der kurz auf Heydorn zu sprechen, so z. B. wenn er eine „einseitige Fixie-
rung aufs Industriöse“57 in einem lediglich auf berufliche Qualifikation und
Wirtschaftswachstum ausgerichteten Bildungsdiskurs kritisiert. Mit Hey-
dorn verbindet Englert die Opposition gegen jedes Bildungsverständnis,
das „einseitig affirmativ“58 gesellschaftliche Zustände repräsentiert.

Über diese Abgrenzung hinaus greift Englert auf Heydorn zurück, um die
bildungstheoretischen Prämissen aktueller konstruktivistisch-religionspä-
dagogischer Konzeptionen zu kritisieren. Eine vermeintlich subjektorien-
tierte Religionspädagogik müsse
„in ihren Überlegungen stärker mit einbeziehen, dass Menschen nicht nur Produ-
zenten einer eigenen Vorstellungswelt sind, sondern auch Produkte einer ihnen
vorgegebenen Lebenswelt; einer Lebenswelt, die den schöpferischen Elan der
Menschen in hohem Maße anregen, aber eben auch fast ganz zum Erliegen brin-
gen kann.“59

Gegen die Gefahr der bildungsbürgerlichen Verkürzung subjektorientierter


Religionspädagogik60 könne auch Heydorn für die „ideologiekritische A-

57 ENGLERT 2010 [Anm. 11], 126.


58 ENGLERT, Rudolf: Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung,
Stuttgart: Kohlhammer 22008, 163.
59 EBD., 128. Hervorh. im Original.
60 In der gegenwärtigen Religionspädagogik wird dieser Zusammenhang meist von Bour-
dieu her erschlossen. Vgl. ALTMEYER, Stefan / GRÜMME, Bernhard: Unentdeckte Po-
tentiale. Zur Bourdieu-Rezeption in der Religionspädagogik, in: KREUTZER, Ansgar /
SANDER, Hans-Joachim (Hg.): Religion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre
Bourdieus in der Theologie, Freiburg im Breisgau: Herder 2018, 248–267.
374 Lukas Ricken

nalyse der Bedingungen [...], welche die Subjektwerdung von Menschen


blockieren“61, herangezogen werden.

Ebenfalls in Abgrenzung zu konstruktivistischen Konzepten greift Englert


auf Heydorn zurück, um die Wahrheitsfrage im religionspädagogischen
Bildungsdiskurs wach zu halten:
„Dass Bildung, wie Heydorn einmal schrieb, die Wahrheitsfrage in sich enthält
‚als Frage nach einem unvollendeten, wenn auch stets Gegenwärtigen‘, ja, in ih-
rem Kern ‚Suche nach Wahrheit‘ ist, erscheint aus heutiger Sicht vielleicht als
eine zu empathische Formulierung. Und doch macht sie auf einen Impetus bild-
nerischen Bemühens aufmerksam, der meines Erachtens nicht verloren gehen
darf, auch wenn sich dieser Wahrheit im Zeichen weltanschaulicher Pluralität
kein für alle gültiger Ausdruck mehr geben lässt“62.

Dass der Wahrheitsanspruch von „mit persönlichen Wesentlichkeitserfah-


rungen verbundenen Einsichten“ weiterhin als „kommunikabel und als ra-
tional verhandelbar“ gelte, ist für Englert „wichtige Möglichkeitsbedin-
gung jeder religiösen Bildung, die mehr und anderes sein will als bloß ein
Austausch über subjektive Erfahrungen und fromme Gefühle.“63 Heydorn
zieht er hinzu, um die Opposition gegen gesellschaftsaffirmative oder kon-
struktivistische Entwicklungen bildungstheoretisch zu stützen.

2 Abgrenzung: Wider die „Theologisierung“


kritischer Bildungstheorie

Über diese exemplarischen Versuche dezidiert religionspädagogischer Re-


zeption Heydorns hinaus hat Ewald Titz 1999 in seiner erziehungswissen-
schaftlichen Dissertation die These aufgestellt, dass eine zentrale Säule in
Heydorns Denken die „Verheißung des Exodus“ als „der Motivationshori-

61 ENGLERT 2010 [Anm. 11], 128.


62 ENGLERT 2008 [Anm. 58], 171. Die zitierten Passagen stammen aus HEYDORN, Heinz-
Joachim: Bildungstheoretische Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main: Syndikat, 169.
63 ENGLERT 2008 [Anm. 58], 171.
Heydorn lesen? 375

zont für pädagogisch-befreiendes Handeln“ sei.64 Titz‘ Arbeit wurde inner-


halb der evangelischen wie katholischen Religionspädagogik durchaus po-
sitiv wahrgenommen65, was schließlich dazu geführt haben wird, dass Titz
für den Heydorn-Artikel im Lexikon der Religionspädagogik (2001) ver-
antwortlich zeichnete.66 Mit Heydorn konzeptualisiert Titz die Rolle von
Religionslehrer*innen „im Sinne eines Messianismus, der sich die Zukunft
offen hält“67 und damit „in einer großen Tradition, für die Heydorn immer
wieder auf Comenius verweist, in der die Gesellschaftskritik u. die Zusage
einer Verheißung untrennbar verbunden sind.“68

Titz Ansatz scheint die oben skizzierten Versuche, Heydorn auch für eine
theologische Begründung von Bildung in Stellung zu bringen, zu legiti-
mieren und zu bestärken. Allerdings hat dieser Versuch vehementen Wi-
derspruch durch Gernot Koneffke provoziert.69 Koneffke sieht in der theo-
logischen Lesart Heydorns den Versuch der Delegitimation kritischer Bil-
dungstheorie, die man – sobald der Nachweis, dass sie „im Kern nichts
anderes als mühselig kaschierte Theologie“70 sei, erbracht wurde – päda-

64 Vgl. TITZ, Ewald: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der
Bildungstheorie Heydorns, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1999. Hervorh. im
Original.
65 Vgl. METTE, Norbert: Rez. zu: Titz, Ewald: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion
des Bilderverbots in der Bildungstheorie Heydorns, Weinheim 1999, in: International
Journal of Practical Theology 6 (2002), 163–165 sowie RICKERS, Folkert: Rez. zu Titz,
Ewald: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der Bildungs-
theorie Heydorns, Weinheim 1999, in: Zeitschrift für Pädagogik 47/1 (2001), 142–144.
66 Vgl. TITZ, Ewald: Art. Heydorn, Heinz-Joachim, in: METTE, Norbert / RICKERS, Folkert
(Hg.): Lexikon der Religionspädagogik Bd. 1, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag
2001, 837–839.
67 EBD., 838.
68 EBD.
69 Vgl. KONEFFKE, Gernot: Der Grund für die mögliche Befreiung von Herrschaft liegt im
Diesseits. Gegen die Theologisierung der kritischen Bildungstheorie, in: Pädagogische
Korrespondenz 33 (2004), 15–41.
70 EBD., 15.
376 Lukas Ricken

gogisch disqualifizieren könne.71 Gegen Titz vertritt Koneffke die Kern-


these, „dass die Achse der Bildungstheorie für Heydorn nicht der Begriff
der Verheißung, sondern der der Mündigkeit ist“72 – bei gleichzeitiger Be-
hauptung der systematischen Unverträglichkeit beider Begriffe. Bildung
werde von Heydorn zwar als „unbedingte Setzung“73 gedacht, für deren
Gelingen zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen zu
identifizieren seien. Dieses Unbedingte sei jedoch nicht in der Offenba-
rung, sondern im vernünftigen Subjekt selbst zu verorten: „Ein Grund der
Vernunft, der nicht selber wieder Vernunft wäre, kann nicht gedacht, dieser
Zirkel immerhin als letzte Auskunft erkannt werden.“74 Die Befreiungsge-
schichte des Exodus habe in Heydorns Werk damit den Stellenwert einer
„Geschichte der Menschen“ und sei „nicht Heilsgeschichte“75.
„Unter der Geltung des Bildungsbegriffs wird das Exodusereignis aus dem Rah-
men priesterlicher Verweisungen versetzt in den Bedeutungszusammenhang
menschlicher Selbstbefreiung. Weit entfernt davon, erledigt zu sein, geht so das
jüdisch-christliche Erbe in der neuzeitlichen Weltbildung erst auf.“76

Die Passagen im Werk Heydorns, die ihre Leserinnen und Leser „auf eine
religiöse Spur setzen oder doch zu religiösen Assoziationen reizen“77, seien
auf die „Darstellungsweise“ Heydorns sowie die „Lebendigkeit und Kraft
von Heydorns Einfühlung in geschichtliche Einzelerscheinungen und Zu-
sammenhänge“78 zurückzuführen – eine Einfühlung, die sich auch auf die

71 „Ihr Festhalten an der Idee der Befreiung und Versöhnung disqualifiziere sie für den
erziehungswissenschaftlichen Diskurs, ihr spekulatives Element sei besser dort aufge-
hoben, wo es seit jeher um die Sehnsucht nach dem göttlich bestimmten ganz Anderen
gehe. Als Theologie enttarnt, könne man die kritische Bildungstheorie ins Archiv neh-
men.“ (EBD.).
72 EBD., 17.
73 EBD.
74 EBD., 19–20.
75 EBD., 23.
76 EBD., 31.
77 EBD., 24.
78 EBD., 25
Heydorn lesen? 377

Geschichte des Volkes Israel erstrecke. Gerade mit Blick auf die oben skiz-
zierten religionspädagogischen Rezeptionsversuche, die immer wieder ih-
ren Ausgang bei Heydorns Auseinandersetzung mit Comenius79 nehmen,
muss mit Koneffke festgehalten werden, dass diese Auseinandersetzung
zwar von einer „empathischen Dichte, die naive Lektüre zur Annahme um-
standsloser Identifikation Heydorns mit Comenius führen kann“, gekenn-
zeichnet ist, jedoch „durchweg kritisch“ erfolgte.80

3 Vermittlung: Drei Thesen zur religionspädagogischen Relevanz


kritischer Bildungstheorie

Koneffkes Warnung vor einer Theologisierung kritischer Bildungstheorie


weckt Skepsis gegenüber Versuchen, Heydorn für die theologische Be-
gründung eines religionspädagogischen Bildungsbegriffes heranzuziehen.
Diese Skepsis wird verstärkt durch Carsten Büngers Warnung vor einer
Einbindung kritischer Bildungstheorie in ‚große‘ geschichtsphilosophi-
sche Erzählungen.81 Im Anschluss an das konvergenztheoretische Argu-
ment Karl Ernst Nipkows, nach dem die „pädagogische Sachgemäßheit“
pädagogischer Theorien „gleichsam vom Theologen theologisch gefordert,
die theologische Sachgemäßheit vom Pädagogen pädagogisch gefordert
werden“ müsse82 und in Anerkennung der Differenz der „Sprachspiele“83

79 Auch Christoph Bäumler bezeichnet Comenius als Heydorns theologischen „Gewährs-


mann“, räumt aber gleichzeitig ein, dass sich sowohl bei Comenius als auch bei Hey-
dorn die Frage stelle, „ob der Theologie eine Begründungsleistung für eine bildungs-
theoretische Reflexion zuerkannt wird“. (BÄUMLER, Christoph: Theologische Implika-
tionen in der kritischen Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns, in: EULER, Peter /
PONGRATZ, Ludwig A. (Hg.): Kritische Bildungstheorie. Zur Aktualität Heinz-Joachim
Heydorns, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1995, 75–86, 77).
80 KONEFFKE 2004 [Anm. 69], 25.
81 Vgl. den Beitrag Carsten Büngers in diesem Band.
82 NIPKOW, Karl Ernst: Grundfragen der Religionspädagogik, Gütersloh: Mohn 1975, 178.
83 „Theologische und pädagogische Sachverhalte und selbst theologische und pädagogi-
sche Sprache sind aufeinander abbildbar; aber es bleiben gleichwohl zwei unter-
378 Lukas Ricken

sollen daher in aller Vorläufigkeit drei Thesen zur religionspädagogischen


Relevanz kritischer Bildungstheorie formuliert werden, die von einer the-
ologischen Heydornlektüre bewusst Abstand nehmen.

3.1 Konvergenz in der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von
Erfahrung

In seiner Darstellung der kritischen Bildungstheorie Heydorns in religions-


pädagogischer Perspektive84 postuliert Ludwig Pongratz eine Konvergenz
pädagogischer und religionspädagogischer Theoriebildung in der „Rekon-
struktion des Bildungsprozesses als Erfahrungsprozeß“85. Religionspäda-
gogische Konzepte der 1970er und 1980er Jahre wie etwa die Korrelations-
oder Symboldidaktik reagierten – so Pongratz – auf den von Heydorn
schon früh registrierten „schleichende[n] Verfall subjektiver Erfahrungs-
fähigkeit“86. Sowohl Heydorn als auch der Religionspädagogik ginge es
um „eine intensive Vermittlung von Erfahrung und Begriff, von Spontane-
ität und Reflexion, um der Eindimensionalität und Banalität reduzierter
Alltäglichkeit ihre Tiefe zurückzugeben“87.

Rudolf Englerts an Heydorn geschärfte Forderung, Religionspädagogik


müsse nach dem fragen, was Erfahrung und damit Subjektwerdung ver-
stellt, gewinnt vor diesem Hintergrund an Bedeutung. Angesichts dessen

schiedliche ‚Sprachspiele‘ (L. Wittgenstein)“. (NIPKOW, Karl Ernst: Religion in der Pä-
dagogik? In: Zeitschrift für Pädagogik 38/2 (1992), 215–234, 231).
84 Vgl. PONGRATZ, Ludwig: Unterwerfung und Widerstand. Heinz-Joachim Heydorns kri-
tische Bildungstheorie in religionspädagogischer Perspektive, in: JRP 6 (1989), 59–78.
Pongratz war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung außerplanmäßiger Professor für All-
gemeine Pädagogik an der RWTH Aachen und Dozent am Katechetischen Institut des
Bistums Aachen.
85 EBD., 75.
86 EBD. Für aktuelle Ansätze wie etwa die Performative Religionsdidaktik lässt sich diese
Feststellung mit Nachdruck bestätigen.
87 PONGRATZ 1989 [Anm. 84], 77.
Heydorn lesen? 379

sind aktuelle Versuche der „Wiederbelebung“88 ideologiekritischer Religi-


onsdidaktik jenseits „randständige[r] Spezialdiskurse und schmückende[r]
Festreden“89 nur zu begrüßen. Mit Heydorn ist Religionspädagogik ange-
halten, sich auf der Grundlage ideologiekritischer Analyse gegen jede Ver-
einseitigung oder Vereinnahmung des Bildungsbegriffes auszusprechen,
religiöse Bildung vor ihrer Funktionalisierung zu schützen und gegen
„[a]ntiintellektuelle Affekte“90 zu verteidigen. Dabei kommt auch den Re-
ligionslehrer*innen eine Schlüsselfunktion zu. Eine entsprechende Text-
passage liest sich beinahe wie ein aktueller Kommentar zur Digitalisierung
in Bildungskontexten:
„Die Wirkung des Menschen auf den Menschen bleibt eine entscheidende Größe;
selbst eine flüchtige, aber bedeutsame Begegnung kann ein bestimmendes Ge-
wicht für das Leben haben. Der technologische Apparat, der heute von der Erzie-
hung Besitz ergreift, ist der Sache nach indifferent; er wird mit den Inhalten ge-
füttert, die ein bestehendes Interesse erheischt. Mit ihm steigern sich, wie über
alle Bereiche der Technologie, Möglichkeiten; er kann neues instrumentarium
possibilis salutis sein, aber auch einer bisher unbekannten Perversion. Was der
Erzieher selber beiträgt, gewinnt daher unabsehbare Bedeutung; er muß den Ein-
bruch des Bewußtseins in die Determination auslösen.“91

3.2 Historische Religionspädagogik in kritisch-reflexiver Absicht

Godwin Lämmermann und Folkert Rickers haben in ihren Arbeiten Wege


aufgezeigt, ausgehend von Heydorn historische Selbstvergewisserung in
kritischer Absicht zu betreiben. Die Debatte um Sinn und Zweck histo-
risch-religionspädagogischer Forschung kann von diesen Ansätzen nur
profitieren. In den letzten Jahren haben zum Beispiel Stefanie Pfister und
Michael Wermke argumentiert, dass das „Nachvollziehen historischer Ent-

88 Vgl. z. B. HERBST, Jan-Hendrik / MENNE, Andreas: Ideologiekritik im Religionsunter-


richt? Wiederbelebungsversuch eines religionsdidaktischen Leitprinzips, in: ÖRF 27/1
(2019), 89–105.
89 ENGLERT 2010 [Anm. 11], 126.
90 PONGRATZ 1989 [Anm. 84], 76.
91 HEYDORN 1970 [Anm. 1], 134.
380 Lukas Ricken

wicklungs- und Transformationsprozesse zu einem vertieften Verständnis


der Gegenwart führen kann“ und damit eine „paradigmatische Funktion
sowohl für systematische als auch handlungsorientierte Theoriebildung“
aufweise,92 während der Kirchenhistoriker Johannes Wischmeyer Skepsis
angesichts des „Streben[s] nach Funktionalisierbarkeit historischer For-
schungsergebnisse“93 äußerte.

Auf den Spuren kritischer Bildungstheorie ist dafür zu plädieren, dass his-
torische Forschung zukünftig verstärkt danach fragt, ob und wann Religi-
onspädagogik dazu
„beigetragen hat, die jeweils bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu stabilisie-
ren, oder ob sie den Jugendlichen behilflich war, unbegründete Herrschaft zu
durchschauen, sich ihr zu entziehen und sich auf den Weg einer demokratischen,
selbstbestimmten Existenz zu machen.“94

3.3 Im religionspädagogischen Alltag: Widersprüche suchen und


aushalten

Abschließend und ein Stück weit im Rückblick auf meine unterrichtsprak-


tischen Erfahrungen während des Referendariats möchte ich auf eine sehr
persönliche Lektüreerfahrung eingehen. In seinem eingangs zitierten Arti-
kel im Praktisch-theologischen Handbuch Gert Ottos geht Heydorn an
mehreren Stellen auf die Bedeutung von Widersprüchen ein. Der Erzie-
hungsprozess ist Heydorn zufolge durch ein ‚Spannungsgefüge‘ gekenn-

92 PFISTER, Stefanie / WERMKE, Michael: Bildungsgeschichte in der Religionspädagogik


– auf der Suche nach ihrem systematischen Ort, in: dies. (Hg.): Religiöse Bildung als
Gegenstand historischer Forschung, Leibzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014, 7–13,
11.
93 WISCHMEYER, Johannes: Historische Religionspädagogik, in: Verkündigung und For-
schung 59/2 (2014), 110–123, 112.
94 RICKERS 1996 [Anm. 46], 52.
Heydorn lesen? 381

zeichnet; der Mensch könne „nur in der Spannung zum Gegenüber ein
Selbstbewußtsein und damit Freiheit“95 erfahren. Heydorn führt aus:
„Spannungen können schmerzlich sein; der Versuch, diesen Schmerz aus dem
Erziehungsprozeß herauszueskamotieren und Widerspruchslosigkeit vorzutäu-
schen, da doch der Widerspruch unsere Welt spaltet, setzt den Menschen aus ihm
heraus, die Möglichkeit des ihm eigenen Glücks.“96

Damit sich der Mensch „zum Gegenstand werden“ und „in widersprüchli-
cher Freiheit erfahren“97 kann, ist es mit Heydorn notwendig, Spannungen
und Widersprüchen nicht aus dem Weg zu gehen. Werden sie vielmehr in
elementarisierter Form in das Unterrichtsgeschehen eingebunden98, wird
Schüler*innen die Möglichkeit eröffnet, die Auseinandersetzung mit (the-
ologischer) Komplexität als persönlich bedeutsam zu erfahren. Dann kann
auch der Religionsunterricht zum Ort von Bildung werden.

Autorenangaben: Lukas Ricken, M. A. ist Referendar am Zentrum für schulprak-


tische Lehrerausbildung in Krefeld und Promovend an der Katholisch-Theologi-
schen Fakultät der Universität Tübingen.

95 HEYDORN 1970 [Anm. 1], 137.


96 EBD.
97 EBD., 152.
98 Vgl. zur Theorie und Empirie eines Lernens an Widersprüchen LESER, Christoph: Po-
litische Bildung in und durch Schule, Wiesbaden: Springer VS 2011.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein?
Die aktuelle Debatte um ‚politische Neutralität‘ aus
Sicht einer kritisch-emanzipatorischen politischen
Bildung

Bettina Lösch

Abstract: Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie politisch Lehrkräfte und
politische Bildner*innen sein dürfen und sollten. Es wird zunächst der gegenwär-
tige Diskurs um ‚politische Neutralität‘ in den Blick genommen, der sich einerseits
um die Meldeportale „Neutrale Schule“ der Partei Alternative für Deutschland
(AfD), andererseits um die Kriterien für die staatliche Förderung von Demokra-
tiebildungsprojekten dreht. In beiden Fällen spielt der „Beutelsbacher Konsens“
eine tragende Rolle, weshalb nach seiner historischen Entstehung und seiner In-
strumentalisierbarkeit gefragt wird. Anschließend werden Prinzipien einer kri-
tisch-emanzipatorischen politischen Bildung dargelegt, die über den Beutelsba-
cher Konsens hinausgehend formuliert wurden, um neue Diskussionen in der Bil-
dungspraxis anzuregen und aufzuzeigen, warum politische Bildung nicht neutral
sein kann.

Für die Bildungspraxis stellt sich immer wieder die Frage, wie politisch
Lehrkräfte an Schulen und (politische) Bildner*innen im außerschulischen
Kontext sein dürfen. Wie gehen sie in der Bildungsarbeit mit ihrer eigenen
politischen Positionierung um? Ab wann fängt eine politische Überwälti-
gung der Teilnehmer*innen oder der Schüler*innen an und welche Kont-
roversität ist notwendig, damit sich alle eine eigene Meinung und ein kri-
tisch-reflexives Urteil zu einem bestimmten Thema und zu den gesell-
schaftspolitischen Verhältnisse bilden können? Die aktuelle Debatte um
‚politische Neutralität‘ hat in dieser Hinsicht zu einiger Verunsicherung in
unterschiedlichsten Bildungskontexten beigetragen. Gibt es überhaupt eine
politisch neutrale Position und welche normative Orientierung geben das
Grundgesetz und die Menschenrechte vor?

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_21
384 Bettina Lösch

Die Behauptung, politische Bildung habe neutral zu sein, entstammt der-


zeitig zwei Diskurskontexten: Gegenwärtig versucht die Partei Alternative
für Deutschland (AfD) mit der Einrichtung von so genannten Meldeporta-
len „Neutrale Schule“ im Internet den „Beutelsbacher Konsens“ (BK), der
für die schulische politische Bildung gilt, zu instrumentalisieren. Mit die-
sen Plattformen sollen Schüler*innen (auch Eltern oder Lehrkräfte) dazu
aufgerufen werden, Lehrer*innen zu melden und dahingehend zu denun-
zieren, wenn sich diese kritisch gegenüber Aussagen, Inhalten und Perso-
nen der AfD äußern. Die AfD will mit ihren Portalen darüber hinaus eine
rechtliche Beratung anbieten und behauptet, der BK gebe ein politisches
Neutralitätsgebot vor. Dieser hat jedoch weder rechtliche Geltung (wie das
Grundgesetz oder die Menschenrechte) noch impliziert er ein Neutralitäts-
gebot. Trotz der Stellungnahme einiger Fachverbände1, die über die Histo-
rie, die Geltung und die Zielsetzung des BKs aufzuklären bemüht sind, hat
die AfD mit ihrer Politik und irreführenden Behauptung eine deutliche
Verunsicherung unter Lehrkräften und Bildner*innen bewirkt. Sie verfügt
außerdem über mehr mediale Präsenz als die kleinen Fachverbände der po-
litischen Bildung und nutzt die Möglichkeiten des Internets sowie sozialer
Medien, um ihre ideologischen Positionen zu verbreiten.

Das alleine wäre schon problematisch, hinzu kommt allerdings, dass die
Forderung nach ‚politischer Neutralität‘ gleichzeitig auch von staatlicher
Seite im Rahmen der Vergabe von Fördermitteln an außerschulische Bil-
dungsakteure erhoben wird. Daraus resultiert eine für die politische Bil-
dung problematische Gemengelage, die massive Auswirkungen für eine

1 „Gemeinsame Stellungnahme von GPJE, DVPB und DVPW-Sektion zur AfD Melde-
plattform ‚Neutrale Schule‘“; siehe: Gesellschaft für Politikdidaktik und Politische Ju-
gend- und Erwachsenenbildung (GPJE), Deutsche Vereinigung für Politische Bildung
(DVPB) und die Sektion Politikwissenschaft und Politische Bildung der Deutschen
Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) (2018), in: http://dvpb.de/gemeinsame-
stellungnahme-von-gpje-dvpb-und-dvpw-sektion-zur-afd-meldeplattform-neutrale-sch
ulen/ [abgerufen am 12.04.2019].
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 385

demokratische Gesellschaft nach sich zieht. Bundes- und Landesministe-


rien fordern im Rahmen ihrer Förderprogramme, etwa für Demokratiepä-
dagogik und Extremismusprävention, eine ‚politische Neutralität‘ der För-
derempfänger. Obgleich der Beutelsbacher Konsens für die Schule und den
Unterricht formuliert wurde, sehen sich nun auch außerschulische Träger
und Akteure der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung sowie der
Demokratiebildung und Rechtsextremismusprävention damit konfrontiert.
Auch wenn im BK selbst kein Neutralitätsgebot formuliert ist, wurde die-
ser in der Praxis der Lehramtsausbildung und der Schule nicht selten da-
hingehend interpretiert. Dieses tradierte Fehlkonzept überträgt sich nun auf
das Feld der außerschulischen Bildung.

Da die Debatte um Neutralität und den BK, und ob dieser auch für die au-
ßerschulische politische Bildung gelte, schon länger währt, haben im Jahr
2015 einige Wissenschaftler*innen und politische Bildner*innen aus sehr
unterschiedlichen Kontexten (Schule, Hochschule, Jugend- und Erwachse-
nenbildung, Soziale Arbeit, NGOs) die „Frankfurter Erklärung. Für eine
kritisch-emanzipatorische politische Bildung“2 in einem gemeinsamen
Diskussions- und Schreibprozess verfasst. Diese Prinzipien werden in die-
sem Aufsatz dargelegt sowie weiter ausformuliert, um zu zeigen, wie sie
den Beutelsbacher Konsens erweitern, der historisch betrachtet nie ein
wirklich gemeinsam ausgehandelter Konsens war.

1 Der Beutelsbacher Konsens in seiner Entstehung und


aktuellen Problematik für eine demokratische Gesellschaft

Es gibt wohl heutzutage kaum noch Lehramtsstudierende in den Gesell-


schaftswissenschaften, denen der Beutelsbacher Konsens kein Begriff ist.

2 „Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ (FFE


2015): in: https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklaerung/ [ab-
gerufen am 12.04.2019].
386 Bettina Lösch

Er gilt als Leitschnur bzw. als Berufsethos des Faches und ist in den Rah-
menrichtlinien der politischen und ökonomischen Bildung formuliert. Er
soll nicht nur für das Schulfach Gesellschaftswissenschaften, Politik, Poli-
tik & Wirtschaft (in NRW neuerdings: Wirtschaft & Politik), sondern fä-
cherübergreifend gelten. Im außerschulischen Bereich wissen zwar viele
Bildner*innen, dass sie sich an diesen ‚Konsens‘ halten sollen, der Wort-
laut und vor allem die Geschichte und die gesellschaftspolitischen Rah-
menbedingungen des BK sind jedoch meist unbekannt. Im Gegensatz zu
den drei Grundsätzen des BK verblasst das Grundgesetz der BRD geradezu
in der Erinnerung der Lehrkräfte und der (politischen) Bildner*innen.

Der BK geht historisch betrachtet aus tatsächlichen und noch offen ausge-
tragenen Auseinandersetzungen um unterschiedliche politische Positionie-
rungen zurück. Exemplarisch wird hierfür der Streit um die Hessischen
Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre in den 1970er Jahren
herangezogen.
„Der Beutelsbacher Konsens wurde in politisierten Zeiten verfasst. Der große
Richtungsstreit der 1970er-Jahre betraf nicht zuletzt die demokratietheoretische
Frage, ob es genüge, Schülerinnen und Schüler für ein politisches Engagement
innerhalb der bestehenden bürgerlichen Demokratie zu befähigen oder ob man
darüber hinaus die Frage nach einer demokratischen Neuordnung von Wirtschaft
und Gesellschaft aufwerfen solle. Der Dissens war somit ein politischer.“3

Der Dissens ergab sich zum einen aus der unterschiedlichen politischen
und bildungspolitischen Ausrichtung der sozialdemokratisch oder christ-
demokratisch regierten Bundesländer, zum anderen aber auch aus pädago-
gisch-didaktischen, politischen und wissenschaftstheoretischen Ansätzen,
die in Gefolge der 1968er Revolte und der Kritischen Theorie die Auffas-

3 SALOMON, David: Konsens und Dissens. Von Beutelsbach nach Heppenheim?, in: WID-
MAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine
Debatte der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016,
285–293, 286.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 387

sungen über Demokratie und Demokratisierung, über Lebensweisen, Er-


ziehungsformen und Gesellschaft als solche veränderten.

Konkret geht die Regelung des BK auf eine Fachtagung von Politikdidak-
tikern im baden-württembergischen Beutelsbach zurück. Dabei handelt es
sich nicht, wie die Bezeichnung zunächst vermuten lässt, um einen in oder
für die Fachdisziplin ausgehandelten Konsens. Das ist meist das erste Miss-
verständnis. Der BK ist die Mitschrift des Protokollanten Hans-Georg
Wehling, der im Auftrag seines Vorgesetzten und des damaligen Leiters
der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, Sieg-
fried Schiele, die Tagung beobachten und zentrale Aspekte festhalten
sollte.4 Wehling hat in einem Aufsatz zur Tagung mit dem Titel „Konsens
à la Beutelsbach?“, der 1977 erschienen ist, drei Grundsätze festgehalten
(1. Überwältigungsverbot, 2. Kontroversitätsgebot, 3. Orientierung an den
Interessen der Schüler*innen sowie die Operationalisierbarkeit dieser In-
teressen).5 Es verhielt sich ähnlich wie gegenwärtig z. B. mit dem ‚Atom-
konsens‘ oder dem ‚Braunkohlekompromiss‘: Es geht bei diesen Konsen-
sen und Kompromissen nicht um eine politische und gesellschaftliche Be-
ratschlagung, der dann ein gemeinsam ausgehandelter Konsens folgt.
‚Konsens‘ scheint hier eher die Bedeutung zu haben, zu einer formalen,
meist herrschaftlich durchgesetzten Regelung zu gelangen, die fachliche
oder gesellschaftspolitische Kontroversen befrieden soll. Als Minimalkon-
sens konnte der BK sich wahrscheinlich deshalb innerhalb der unterschied-
lichen politischen und wissenschaftstheoretischen Lager durchsetzen, da
gegen die drei formal gehaltenen Prinzipien nicht wirklich etwas einge-

4 WIDMAIER, Benedikt / ZORN, Peter: Konsens in der politischen Bildung? Zur Einfüh-
rung, in: DIES. (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der poli-
tischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 9–13, 10.
5 WEHLING, Hans-Georg: Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertenge-
spräch. Textdokumentation aus dem Jahr 1977, in: WIDMAIER, Benedikt / ZORN, Peter
(Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung,
Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 19–27.
388 Bettina Lösch

wendet werden kann. Problematisch ist eher die fehlende Sichtbarkeit der
Deutungsoffenheit, und dass sich die Maßgaben, etwa das Überwälti-
gungsverbot, im Kontext des damaligen „Radikalenerlasses“ vor allem ge-
gen linke Lehrkräfte richtete.6 Der BK hatte stets eine ideologische Funk-
tion, etwa Ansprüche nach Emanzipation oder Demokratisierung als Über-
wältigung von Schüler*innen zurückzuweisen, in dem der gesellschaftli-
che status quo (etwa der eingeschränkten bürgerlich-liberalen Demokratie)
aufrechterhalten werden sollte.7 Er kann in diesem Sinne auch anders ge-
nutzt werden, etwa um tatsächliche Kontroversität einzufordern oder
rechte und rechts-konservative Positionen als Überwältigung zu bezeich-
nen. Durch seine normative Unbestimmtheit lässt er sich in und für alle
Richtungen nutzen, aber auch instrumentalisieren.8

Es stellt sich somit auch die Frage, ob es sich bei der Debatte um den Nut-
zen des BK nicht vielmehr um einen Stellvertreterkonflikt handelt.9 Statt
um den BK zu streiten, müsste es vielmehr um eine (notwendige) demo-
kratietheoretische und demokratiepolitische Reflexion und Auseinander-

6 STUDT, Marcel: Rolf Schmiederers pragmatische Wende? Zur Bedeutung des Radika-
lenerlasses für die Geschichte der politischen Bildung in den 1970er-Jahren, in: WID-
MAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine
Debatte der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016,
87–95.
7 ZIMMERMANN, Christian: Das uneingelöste Potential des Beutelsbacher Konsenses, in:
WIDMAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?
Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung
2016, 343–352, 343–344.
8 Zu weiteren kritischen Einwänden siehe: HERBST, Jan-Hendrik: Offenbarung aus einem
„brennenden Dornbusch im Schwarzwald“ (G. Steffens)? Der Beutelsbacher Konsens
und seine religionspädagogische Rezeption, in: Theo-Web 18/2 (2019, i. E).
9 LÖSCH, Bettina: Warum diese Angst vor dem politischen Dissens? Zur Demokratisie-
rung gehören der Streit um Alternativen und die Kritik am Bestehenden, in: WIDMAIER,
Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte
der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 224–232,
225.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 389

setzung in der politischen Bildung gehen.10 Interessant bleibt – insbeson-


dere für die Lehramtsausbildung – die positive Frage: Wie politisch posi-
tioniert sollten Lehrkräfte sein? Wie wichtig ist ihre Vorbildfunktion? Was
bedeutet es für Schüler*innen und Teilnehmer*innen, sich ihr eigenes Ur-
teil in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber zu bilden, ihre eigenen
Positionen zu schärfen?11

Auf demokratietheoretischer Ebene müssen wir uns viel weitreichendere


Fragen stellen: Wie sollen wir zur Demokratiebildung beitragen, wenn
diese strukturell abgebaut wird, eine Krise der Repräsentation konstatiert
werden kann und möglichweise etliche gesellschaftliche und Menschheits-
probleme nicht mehr einfach und leichterdings politisch steuerbar und lös-
bar sind? Wenn diese Nicht-Lösbarkeit von existentiellen Problemen (etwa
Erderwärmung, Klimawandel, Umweltverschmutzung, Schuldenkrise,
globale Ungerechtigkeit) als Versagen der Demokratie wahrgenommen
wird, dann haben es nicht nur autoritäre Politiken leicht, sondern Ansätze
einer Demokratiebildung erscheinen als ausweglos.

2 Die Frankfurter Erklärung für eine kritisch-


emanzipatorische politische Bildung

Ein wichtiger Impuls, und zwar nicht nur für die politische Bildung, bildete
in den 1970er Jahren der pädagogische Imperativ, wie er von Adorno for-
muliert wurde: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist
die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß

10 Vgl. auch ZIMMERMANN 2016 [Anm. 7] sowie SALOMON 2016 [Anm. 3].
11 Zur „bezogenen Urteilsbildung“ siehe SCHRÖDER, Achim: Außerschulische Jugendbil-
dung, in: BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz / RÜHLE, Manuel (Hg.): Handbuch
Kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft,
Weinheim: Beltz Juventa 2018, 452–466.
390 Bettina Lösch

ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“12 „Die einzig
wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie; wenn
ich den Kantschen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur
Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“13 Diese dezidierte Haltung,
dass Bildung auch zu Widerspruch und kritischer Selbstaufklärung befähi-
gen kann, ist der politischen Bildung im Laufe der Zeit verloren gegangen.
Die Kritische Theorie wurde als Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie
von denjenigen für tot oder anachronistisch erklärt, die eine andere (wis-
senschafts-) politische Ausrichtung favorisierten und den gesellschaftli-
chen status quo der bürgerlichen Gesellschaft, liberaler Demokratie und
Marktwirtschaft garantieren wollten.14 In den letzten Jahren kam es aller-
dings zu einer Re-aktualisierung kritischer politischer Bildungsansätze, die
sich explizit auf die kritische Theorie – in einem weiter gefassten Sinne als
die Kritische Theorie der Frankfurter Schule – und neuere herrschaftskri-
tische Ansätze der Gesellschaftsforschung berufen.15 Hierbei handelt es
sich um eine durchaus heterogene Strömung, die unterschiedliche Fachdis-
ziplinen umfasst.

12 ADORNO, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp,


1971, 88.
13 EBD., 93.
14 DEMIROVIĆ, Alex: Der Zeitkern der Wahrheit. Zur Forschungslogik kritischer Gesell-
schaftstheorie, in: BEERHORST, Joachim / DEMIROVIĆ, Alex / GUGGEMOS, Michael
(Hg.): Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt am Main.:
Suhrkamp 2004, 475–499, 495.
15 Vgl. etwa LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas (Hg.): Handbuch kritische politische
Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010. MENDE, Janne / MÜLLER, Stefan
(Hg.): Emanzipation in der politischen Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau
2009. WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Poli-
tische Bildung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013. EIS, Andreas / SALOMON,
David (Hg.): Gesellschaftliche Umbrüche gestalten – Transformationen in der Politi-
schen Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2014. Ausführliche Auflistung
in LÖSCH / EIS 2018 [Anm. 18].
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 391

Eine Autorengruppe von 23 Wissenschaftler*innen und politischen Bild-


ner*innen haben 2015 in einer „Frankfurter Erklärung“16 zentrale Prinzi-
pien und Thesen „für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“
zur Diskussion gestellt, denen sich zahlreiche weitere Akteur*innen und
Bildungsträger angeschlossen haben. Sie setzt da ein, wo der BK endet:
mit einer fachdidaktischen Positionierung zu demokratietheoretischen
Grundlagen, einem Bezug zu aktuellen Gesellschaftsanalysen und epocha-
len Schlüsselproblemen, die sich zur Begründung von Bildungsinhalten
aus Sicht der Verfasser*innen besser eignen als sogenannte Bildungsstan-
dards. Wie können gesellschaftspolitische und ökonomische Verhältnisse
wieder zentraler Inhalt politischer Bildung werden?
„Die Frankfurter Erklärung versteht sich also nicht als neuer ‚Grundkonsens‘ für
ein bestimmtes ‚politisches Lager‘, sondern als Angebot für die weiterhin drin-
gend notwendige Kontroverse über ein fachliches und professionelles Selbstver-
ständnis, das sich nicht auf einen prozeduralen Minimalkonsens (‚agree to disag-
ree‘) reduzieren lässt. Sie versteht sich als interdisziplinärer Vorschlag, über das
Selbstverständnis politischer Bildung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher
Krisen und Umbrüche neu nachzudenken.“17

Die Frankfurter Erklärung formuliert Prinzipien und Ziele kritisch-eman-


zipatorischer Bildung in sechs Grundsätzen (FFE 1–6), die mittlerweile in
einigen Fachaufsätzen erläutert und weitergedacht wurden.18

16 FFE 2015 [Anm. 2].


17 Vgl. z. B. EIS, Andreas: Vom Beutelsbacher Konsens zur ‚Frankfurter Erklärung: Für
eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung‘?, in: WIDMAIER, Benedikt / ZORN,
Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen
Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 131–139, 135.
18 LÖSCH, Bettina / EIS, Andreas: Kritische Gesellschaftsanalysen und globale politische
Bildung, in: ZDG 9/1 (2018), 43–60, sowie LÖSCH, Bettina / EIS, Andreas: Politische
Bildung, in: BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz / RÜHLE, Manuel (Hg.): Handbuch
Kritische Pädagogik, Weinheim: Beltz Juventa 2018, 506–531.
392 Bettina Lösch

„1. Krisen: Eine an der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhält-


nisse interessierte Politische Bildung stellt sich den Umbrüchen und
vielfältigen Krisen unserer Zeit.“ (FFE 1)

Politische Bildung lebt von ihrem kritischen Verständnis historischer Ent-


wicklungen, aber auch von ihrem zeitdiagnostischen Gegenwartsbezug so-
wie ihrem sorgsamen Blick auf die Zukunft der Menschheit. Es ist mitunter
nicht leicht, so etwas wie „epochaltypische Schlüsselprobleme“ (W.
Klafki) oder „existenzielle Probleme“ (W. Hilligen) zu identifizieren. Ge-
genwärtig werden Bedrohungsszenarien gerne populistisch aufgebauscht,
den Menschen dadurch eher Wissen vorenthalten und Ängste geschürt. Po-
litische Bildung soll dagegen aufklären, aber nicht verängstigen. Sie muss
orientierendes Wissen ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen, „dass eine
als unüberschaubar erlebte Welt strukturieren hilft und damit zugleich auch
Selbsterkenntnis und Selbstfindung ermöglicht“19. Politische Bildung ist
Selbst- und Welterschließung zugleich.

In der kritischen Gesellschaftsforschung wird derzeit von einer „multiplen


Krise“ ausgegangen.20 Damit wird der Ansatz vertreten, einzelne Krisen-
phänomene nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern den Ge-
samtzusammenhang und die Dynamiken der Krisenprozesse zu erkennen.
Zur Vielfach- oder multiplen Krise gehören: 1) die Wirtschafts- und Fi-
nanzkrise, d. h. die Krise der finanzmarktdominierten Akkumulation; 2)
die sozial-ökologische Krise: die Energie-, Ressourcen- und Klimakrise;
eine Krise der bäuerlichen Landwirtschaft und der Ernährung; 3) die Dau-
erkrisen der Reproduktion: die Prekarisierung von Arbeits- und Lebens-
verhältnissen, die Krisen in den Geschlechterverhältnissen, aber auch in

19 AHLHEIM, Klaus: Politische Bildung, in: BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz (Hg.):
Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim: Juventa 1997, 302–315, 311.
20 Vgl. DEMIROVIĆ, Alex / DÜCK, Julia / BECKER, Florian / BADER, Pauline (Hg.): Viel-
fachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg: VSA-Verlag 2011.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 393

Bereichen wie der Stadtentwicklung, des Bildungssystems und der Ge-


sundheitsversorgung sowie 4) die Krise der politischen Repräsentation und
der parlamentarischen Demokratie. In der kritischen Gesellschaftsfor-
schung wird davon ausgegangen, dass es sich hierbei nicht (nur) um ‚Her-
ausforderungen‘ oder ‚Dysfunktionalitäten‘ handelt. Es geht auch keines-
wegs um einfache Problemlösungen. Vielmehr besteht die Herausforde-
rung darin zu erkennen, wie Krisenlösungsmechanismen in einem Bereich,
z. B. die Abwrackprämie für Autos im Jahr 2009 als Folge der Wirtschafts-
und Finanzkrise 2007/08, die Krise in einem anderen Bereich vertieft hat,
hier die sozial-ökologische Krise. Verstehens- und Bildungsprozesse kom-
men nicht daran vorbei, Komplexität zu entfalten statt sie zu leugnen und
die gesellschaftlichen Widersprüche und Rahmenbedingungen herauszu-
arbeiten.

„2. Kontroversität: Politische Bildung in einer Demokratie bedeutet,


Konflikte und Dissens sichtbar zu machen und um Alternativen zu
streiten.“ (FFE 2)

Da die Frage nach Herrschafts- und Machtverhältnissen im und mit dem


BK weitgehend ausgeblendet wird, diese aber das Politische bestimmen,
geht die Frankfurter Erklärung hiermit offensiver um. Gesellschaft ist, zu-
mal in ihrer kapitalistischen Strukturiertheit, von Interessensgegensätzen
und komplexen Herrschafts- und Machverhältnissen durchzogen. Streitfra-
gen sowie Konflikte zur Sprache zu bringen und politisch auszutragen, ist
ein grundlegendes Kennzeichen von Demokratie. Politische Bildung
braucht – ebenso wie politisches Handeln – eine Orientierung an Konflikt-
und Konsenshaftigkeit von Politik: Konsens bedeutet hier, sich als Men-
schen mit gleicher Würde, Rechten und Bedürfnissen anzuerkennen und
somit auf eine gemeinsame Welt, einen öffentlichen Raum zu beziehen,
Partikularinteressen zu überwinden, sich zu solidarisieren und damit hand-
lungs- und entscheidungsfähig werden zu können. Konflikt meint wiede-
rum, dass unterschiedliche Interessen sichtbar, verstanden und vertreten
werden können, dass zu Politik und Demokratie gehört, Umgangsweisen
394 Bettina Lösch

mit unterschiedlichen Interessen und Streitpositionen zu finden. Menschen


lernen sowohl im und am Konflikt, als auch durch konsensuale Prozesse,
d. h. durch das Abwägen vom Eigenen und Gemeinsamen, durch gemein-
same Beratschlagung.

Während der BK davon ausgeht, dass sich Kontroversität in Wissenschaft


und Politik abbildet und nur auf Bildungsprozesse übertragen bzw. dort
aufgegriffen werden muss, fragt eine kritische politische Bildung danach,
wer welche (Deutungs-) Macht besitzt, Themen auf die politische Agenda
zu setzen bzw. welche Themen, Probleme es nicht in die politische Öffent-
lichkeit schaffen, de-thematisiert oder gar delegitimiert und ausgeschlos-
sen werden. Im Zuge der Privatisierung von Bildung, der finanziellen För-
derung von Wissenschaft über außerstaatliche „Drittmittel“, kann z. B.
nicht so einfach davon ausgegangen werden, dass Wissenschaft Kontro-
versität hervorbringt. Der BK besagt nichts über das grundlegende demo-
kratietheoretische Problem, wie Lehrkräfte und Bildner*innen diese Kont-
roversität im Kontext neoliberaler Privatisierung und autoritärer Entwick-
lung von Staatlichkeit erkennen und dann aneignen sollen.

„3. Machtkritik: Selbstbestimmtes Denken und Handeln wird durch


Abhängigkeiten und sich überlagernde soziale Ungleichheiten be-
schränkt. Diese Macht- und Herrschaftsverhältnisse gilt es, wahrzu-
nehmen und zu analysieren.“ (FFE 3)

Anders als der formal gehaltene BK, der im luftleeren Raum zu schweben
scheint, thematisiert die Frankfurter Erklärung gesellschaftliche Rahmen-
bedingungen, die die bürgerliche Gesellschaft und Demokratie kennzeich-
nen. Sie beachtet Machtgefälle und ungleiche Ressourcen, ist insofern an-
ders normativ positioniert als die scheinbar neutralen Formulierungen des
BK. In diesem wird stillschweigend davon ausgegangen, dass alle die glei-
chen sozialen Positionen, politischen Teilhaberechte und Einflussmöglich-
keiten haben. In der Frankfurter Erklärung ist insofern ausdrücklich for-
muliert:
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 395

„Aufgabe einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildungsarbeit ist es, aus-


geschlossene und benachteiligte Positionen sichtbar zu machen. […] Politische
Bildung thematisiert, wie Ausschlüsse produziert und Grenzen gezogen werden:
etwa zwischen privat und öffentlich, sozial und politisch, illegitim und legitim,
Expert_innen und Laien.“21

Pädagogische-didaktische Ansätze, die sich mit Diskriminierung, Ausbeu-


tung und sozialer Ungleichheit auseinandersetzen, arbeiten mit race, class
und gender (auch dis-/ability) als Kategorien sozialer Ungleichheit. Diese
Dimensionen sozialer Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse
sollten im Mittelpunkt einer emanzipatorischen Bildungsarbeit stehen. Er-
gänzend zu ideologie- und herrschaftskritischen Analysen zielen poststruk-
turalistische Ansätze auf eine Dekonstruktion von Macht- und Herrschafts-
verhältnissen und decken Formen der Naturalisierung und Biologisierung
sozialer Konstrukte auf. Gesellschaft und Subjekt werden nicht gegenüber-
gestellt, sondern es wird versucht, die Erfahrungsebene der Individuen mit
den (verinnerlichten) Macht- und Herrschaftsverhältnissen in Verbindung
zu bringen. Vorurteile und Diskriminierung werden in diesem Sinne nicht
als individuelle Fehlurteile verstanden, sondern als Ideologien und Macht-
praktiken offengelegt, die in Subjektivierungsprozesse eingeschrieben sind
und erlernt werden. Politische Bildung bedeutet dann, bestimmte ange-
lernte (inkorporierte, ritualisierte bzw. habitualisierte) Praxen und Denk-
weisen zu reflektieren, wieder zu verlernen und neue Handlungsoptionen
und -freiheiten zu gewinnen. Sie bedeutet auch die Möglichkeit, struktu-
relle gesellschaftliche Zusammenhänge mit symbolischen, diskursiven,
sprachlichen und auf das eigene Selbst bezogenen Formen ins Verhältnis
zu setzen.

21 FFE 2015, Artikel 3 [Anm. 2].


396 Bettina Lösch

„4. Reflexivität: Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen,


Lernverhältnisse sind nicht herrschaftsfrei, Politische Bildung legt die-
se Einbindung offen.“ (FFE 4)

Den Vertreter*innen kritisch-emanzipatorischer politischer Bildung wird


durch ihre normative Positionierung und die kritische Problematisierung
gesellschaftlicher Verhältnisse immer wieder vorgehalten, sie seien zu po-
litisch, zu politisierend.22 Während die einen Kritik als formales wissen-
schaftliches Prozedere der Wahrheitsfindung oder zu erlernende Methode
begreifen (im Sinne eines kritischen Rationalismus nach R. Popper), geht
es in der kritischen politischen Bildung um die Aktualisierung von Kritik
als Problem23:
„Was wird zum Gegenstand der Kritik? (das heißt: worin zeigt sich Herrschaft)?
2. Wie ist das Verhältnis von Kritisierenden und Kritisiertem (das heißt: für wen
zeigt sich Herrschaft)? 3. Was sind die Quellen der Kritik (das heißt, was erlaubt
es, Herrschaft zu distanzieren)?“24

Durch die Problematisierung sozialer Positionierungen sowie von Herr-


schafts- und Machtverhältnissen soll Überwältigung reflektiert und ver-
mieden werden. Dementgegen bleibt der BK hinsichtlich der Frage unbe-
stimmt, was geschichtlich z. B. in den 1970er Jahren als Indoktrination ver-
standen wurde bzw. was heute als überwältigende Äußerungen und Hand-
lungen gedeutet wird. Sind damit sexistische oder rassistische Äußerungen
der Lehrkräfte gemeint? Oder ist ein deutliches Eintreten für Grund- und
Menschenrechte bereits überwältigend?

22 Vgl. etwa: SANDER, Wolfgang: „Kritische politische Bildung“ – Eine Dekonstruktion,


in: WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische
Bildung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 240–248.
23 BÜNGER, Carsten: Was heißt kritische politische Bildung heute? Zum Problem der Kri-
tik, in: WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Poli-
tische Bildung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 51–59, 53.
24 EBD.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 397

Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen. Niemand, auch keine kri-
tische Perspektive, befindet sich außerhalb von Macht- und Herrschafts-
verhältnissen. Kritische politische Bildungsansätze greifen daher auf neu-
ere Gesellschafts- und Subjekttheorien zurück, die diese Eingebundenheit
zu verstehen suchen und danach fragen, wie Individuen gleichzeitig verge-
sellschaftet und subjektiviert werden. Überwältigung passiert heute nicht
primär durch intentionale und personalisierte Indoktrination oder klare
Hierarchien, sondern viel stärker durch symbolische Herrschaftsformen,
durch Normierungen und Disziplinierungen, durch eine Verbindung von
Macht und Wissen. Hier müsste das „Überwältigungsverbot“ erweitert
werden. Macht- und Herrschaftsverhältnisse in (politischen) Bildungspro-
zessen transparent werden zu lassen, kann z. B. bedeuten, Pseudopartizipa-
tion als Vortäuschung, Instrumentalisierung oder Disziplinierung zu ana-
lysieren und zu verstehen, statt sie simulativ zu affirmieren. Dies kann dazu
beitragen, Überwältigung durch symbolische Herrschaft zu minimieren o-
der ihr vorzubeugen. Sie eröffnet zumindest Selbstreflexivität, die für Pro-
fessionalisierung zentral ist. Jede Lehrperson hat eine eigene politische
Haltung sowie ein Anliegen, das sie bei der Auswahl von Lerninhalten und
der Vorgehensweise motiviert und leitet. Zu einer professionellen Haltung
gehört, dass Lehrende sich selbstreflexiv dieser Haltung und des eigenen
Anliegens bewusst sind und diese transparent machen.25 Damit verbunden
sind auch der ‚Habitus‘ (die Denk- und Wahrnehmungsweise von Welt)
und die ‚soziale Positionierung‘ der Lehrenden. Diese prägen die Perspek-
tive auf Bildung, Unterricht, Inhalt und Lernende. „Kritisch-emanzipatori-
sche Politische Bildung beginnt dort, wo solche Normsetzungen und Kon-
struktionen sichtbar gemacht, kritisiert und infrage gestellt werden.“ Da-
durch bieten politische Bildner_innen den Teilnehmenden „einen Schutz

25 LAPP, Michaela: Ein Anliegen formulieren: Inhaltlicher Anspruch und Methodenwahl


im Politikunterricht, in: LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas (Hg.): Handbuch kritische
politische Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010, 377–388.
398 Bettina Lösch

vor Überwältigung und stärken deren Recht auf Eigensinn und Selbstbe-
stimmung.“26

„5. Ermutigung: Politische Bildung schafft eine ermutigende Lernum-


gebung, in der Macht- und Ohnmachtserfahrungen thematisiert und
hinterfragt werden.“ (FFE 5)

Auf der Basis kritischer Gesellschaftstheorien, die die Inkorporation von


Herrschaft und Macht in Körper (z. B. P. Bourdieu, M. Foucault, J. Butler)
thematisieren, wird in der Frankfurter Erklärung die emotionale und kör-
perliche Bedeutung in der politischen Bildung reflektiert. Das hat mehrere
Bedeutungen: Zum einen basiert politisches Lernen und Handeln nicht al-
lein auf vernunftgeleiteten Analysen und Entscheidungen. Lernprozesse
sind in spezifische Lernbedingungen eingebettet, die gesellschaftliche Ver-
hältnisse, also auch Zugänge und Kämpfe um materielle Güter und soziale
Anerkennung, widerspiegeln. Die eigene soziale Positioniertheit, sei es die
erworbenen Privilegien oder umgekehrt die verinnerlichten Diskriminie-
rungserfahrungen, beeinflussen unseren Bildungsprozess. Zum anderen
hat die politische Urteilsbildung eine leiblich-emotionale Komponente:
„Politische Positionierungen zeigen sich in Wut und Begeisterung, Ableh-
nung und Engagement. Soziale Ordnungen sind auch in Körper einge-
schrieben“27

Politische Bildung schafft in diesem Sinne eine ermutigende Lernumge-


bung, in der Macht- und Ohnmachtserfahrungen thematisiert und hinter-
fragt werden und in der es auch um Möglichkeiten der (Selbst-) Befreiung,
Ermächtigung und Emanzipation geht. Kognitive Bewusstwerdungspro-
zesse allein reichen nicht aus, um Herrschaftsverhältnisse zu verstehen und
sich daraus zu befreien. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass psy-

26 FFE 2015, Artikel 4 [Anm. 2].


27 EBD.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 399

chische Dispositionen nur eingeschränkt aufklärungsfähig sind, der Habi-


tus veränderbar, aber träge ist, Individuen an bereits erreichten Privilegien
und Sichtweisen festhalten, dass Lernblockaden und Widerstände entste-
hen, wenn das eigene Selbstbild oder verinnerlichte Herrschaftsmechanis-
men in Frage gestellt werden, dann sind Bildungsprozesse, die auf Abbau
von Herrschafts-, Macht- und Ungleichheitsgefügen zielen, nicht leicht
umsetzbar. Kreative, erfahrungsbasierte, aber auch irritierende Zugänge
sind hier perspektivenreicher. In der politischen Bildung geht es nicht in
erster Linie darum, das Wissen von anderen nachzuvollziehen, sondern
v. a. zu ermutigen und zu begeistern, den Lauf der Welt selbst zu verstehen,
Erfahrung zu machen, was es heißt, eingreifend zu denken und zu handeln,
gemeinsam zu scheitern und gemeinsam etwas zu bewirken.

Doch dazu braucht es einen anderen Subjektbegriff. Das Subjektverständ-


nis in politischen Bildungskonzepten und -materialien verfolgt meist einen
linearen Reifeprozess. Auch Konzepte der Mündigkeit als Bildungsziel
suggerieren, Emanzipation und Selbstbestimmung würden irgendwann im
‚gelungenen‘ Bildungsprozess erreicht.28 Doch entsteht Lernen und Hin-
terfragen nicht eher aus biographischen Brüchen, aus Erfahrungen des
Scheiterns, aus immer wieder erlebten Widersprüchen? Auch durch Spra-
che und Visualisierung verfestigen sich vorgefertigte Bilder von Gesell-
schaft. Diese Bilder im Kopf sind einprägsam und auch in der Reflexion
kaum vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie dienen als Platzanweiser: Wer
gehört dazu und wohin? Was gilt als normal, was als abweichend? Bil-
dungsmaterialien und -sequenzen müssen versuchen, diese soziale Vielfalt
einzuholen. Sei es in der Sprache, der Bebilderung, den inhaltlichen Prä-
missen, den Erzählungen und Diskursen, den Aufgabenstellungen etc.

28 Vgl. BÜNGER, Carsten 2013 [Anm. 23].


400 Bettina Lösch

„6. Veränderung: Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft


individuell und kollektiv handelnd zu verändern.“ (FFE 6)

Um der Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen entgegenzu-


wirken, hat politische Bildung die Aufgabe, gesellschaftspolitische Zu-
sammenhänge begreifbar zu machen. Nicht jede ist ihres Glückes Schmied
und nicht jeder wird durch Partizipation oder Anpassung im Bildungspro-
zess seine soziale Position selbst bestimmen können. Wenn unter politi-
schem Handeln mehr verstanden wird, als der mit einem Kreuzchen erle-
digte individuelle Wahlakt, dann bedarf es des gemeinsamen, kooperativen
Denkens und Tuns. Politisches Handeln meint mehr als an bestehenden
Herrschaftsstrukturen (und Ausbeutungsverhältnissen) zu partizipieren
und diese zu reproduzieren.
„Politische Bildung eröffnet Zugänge, Fremdbestimmung und Selbstentmündi-
gung wahrzunehmen und zeigt Wege zur Selbst- und Mitbestimmung auf. Prak-
tizierte Mündigkeit vermag die eigenen und kollektiven Denkweisen und Hand-
lungsräume in konkreten Kontexten zu erweitern. Dies geschieht durch Kritik,
Widerspruch und Protest gegenüber den bestehenden sozialen Herrschaftsver-
hältnissen.“29

Handeln enthält die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, zu denken und


zu gründen. Wie Ahlheim bereits 1997 betont, muss politische Bildung
ihre ethische und utopische Dimension wiedergewinnen. Das heißt sich zu
fragen, was mit dem häufig diffamierten „utopischen Denken“ eigentlich
gemeint war.30 Auch das gehört zur Wiedergewinnung des Politischen: Die
Verhältnisse sich anders vorzustellen und emanzipativ zu verändern, wenn
es nötig ist.

29 FFE 2015, Artikel 6 [Anm. 2].


30 AHLHEIM 1997 [Anm. 19], 302–315, 312–313.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 401

3 Resümee

Die aktuelle Diskussion um ‚politische Neutralität‘ sollte insofern viel-


mehr eine Diskussion um die demokratischen Grundlagen der Gesellschaft
sein. Aber auch die Frage nach Visionen und Perspektiven für eine sozial-
ökologische Transformation von Gesellschaft – in Anbetracht einer Viel-
fachkrise – sollten mehr Raum in der politischen Bildung einnehmen. Die
von der AfD geforderte politische Neutralität lenkt nicht nur von wichtigen
Fragen demokratischer und zukünftiger Gestaltung von Gesellschaft ab.
Sie verschiebt Denkweisen und Diskurse dahingehend, dass rechte politi-
sche Positionen als eine von vielen im demokratischen Pluralismus wahr-
genommen und anerkannt werden.

Eine zentrale Aufgabe demokratischer und emanzipativer politischer Bil-


dung liegt darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen und
ihnen nicht lediglich unterworfen zu sein. Die tradierte Fehlinterpretation
des BK, politische Bildner*innen und Lehrkräfte sollen neutral sein, die
Behauptung der AfD, dass diese Fehlinterpretation eine rechtlich abgesi-
cherte Grundlage von Bildungsarbeit sei und diese neutral sein müsse
(auch gegenüber antidemokratischen Positionen) sowie die staatlichen
Auflagen in öffentlichen Förderprogrammen für Demokratie und gegen
Extremismus, ergeben ein problematisches Zusammenspiel für die politi-
sche Bildung in einer demokratischen Gesellschaft. Die Behauptung von
verschiedensten Seiten, politische Bildung habe neutral zu sein, führt dazu,
dass demokratische Grundsätze, Grund- und Menschenrechte missachtet
und Prozesse der Selbstbestimmung eingeschränkt werden. Es wird ein
Denk- und Sprechverbot gegenüber diskriminierenden, antifeministischen,
rassistischen, nationalistischen und antidemokratischen Positionen erteilt
und diejenigen werden verunsichert und verdächtigt, die sich sachlich und
ethisch für eine demokratische politische Bildungsarbeit einsetzen. Bedeu-
tet demokratischer Pluralismus wirklich, antidemokratischen Positionen
mehr Raum in der öffentlichen Debatte zu gewähren, während gleichzeitig
402 Bettina Lösch

– unter der Maßgabe von Neutralität – nichts gegen diese eingewendet wer-
den soll?

Die Frankfurter Erklärung für eine kritische und emanzipatorische politi-


sche Bildung formuliert dagegen, dass sich wieder verstärkt mit gesell-
schafts- und demokratiepolitischen Problemen sowie reflexiv mit demo-
kratietheoretischen Fragen beschäftigt werden sollte. Anders als in Ansät-
zen der Demokratiepädagogik geht es dabei nicht darum, Kinder und Ju-
gendliche zur Demokratie oder Partizipation zu ‚erziehen‘, sondern sie als
„Autor*innen der künftigen Selbstgesetzgebung“31 ernst zu nehmen. Die
gegenwärtigen Proteste für mehr Klimagerechtigkeit zeigen nur zu gut, wie
Kinder und Jugendliche sich für Demokratisierung einsetzen, über drän-
gende Probleme gemeinsam beratschlagen wollen und die Frage der Zu-
kunft der Gesellschaft und des Planeten nicht vertagen, sondern jetzt auf
der politischen Agenda verhandelt haben wollen. Diese Bewegungen und
Aktionen kann politische Bildung aufgreifen. Engagiert ist das Gegenteil
von neutral. Eine politische Bildung, die auf demokratischen Prinzipien
basiert und diese emanzipativ weiter entwickeln will, braucht diese Enga-
giertheit anstatt weiterer Verunsicherungen.

Autorinnenangaben: Dr. Bettina Lösch ist Privatdozentin und akademische Rätin


am Lehrbereich Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an
der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln. Sie arbeitet und pu-
bliziert im Kontext kritischer politischer Bildung.

31 STEFFENS, Gerd: Politische Bildung in einer Welt der Umbrüche und Krisen, in: SAN-
DER, Wolfgang / SCHEUNPFLUG, Annette (Hg.): Politische Bildung in der Weltgesell-
schaft. Herausforderungen, Positionen, Kontroversen, Bonn: Bundeszentrale für politi-
sche Bildung 2011, 385–398, 385.
Irritierbarkeit.
Eine theologische Überlegung
zur kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik

Dominik Gautier – in Response auf Bettina Lösch

Abstract: Der Beitrag stellt mit Blick auf Bettina Löschs Überlegungen zur kri-
tisch-emanzipatorischen politischen Bildung das ‚Netzwerk antisemitismus- und
rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie‘ (narrt) vor. Im Gespräch
mit der auf Selbstkritik zielenden Diskussion über Rassismus in politischer und
religiöser Bildung wird das Motiv der Irritierbarkeit theologisch bedacht und als
Kategorie selbstkritischer religionspädagogischer Professionalität herausgestellt.

1 Einleitung: Streit um ‚Neutralität’

‚Politische Neutralität’ ist auch in der jüngeren und jüngsten Theologiege-


schichte ein kontrovers diskutiertes Thema. Als die im Jahr 1968 die öku-
menische Initiative ‚Politisches Nachtgebet’ eine gegenwartskritische The-
ologie zu entwickeln, die sich unter anderem mit dem Krieg in Vietnam
beschäftigte (‚Vietnam ist Golgatha!’), stellte man sie in eine Traditionsli-
nie mit den nationalsozialistisch ausgerichteten Kirchenpartei der ‚Deut-
schen Christen’, die das Evangelium in Politik aufzulösen versuche.1
Echos dieser Diskussion finden sich in einer Schrift der Partei ‚Alternative
für Deutschland’ (AfD) zur vermeintlichen ‚unheiligen Allianz’ zwischen
Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) und einer Politik, die sich für

1 Vgl. CORNEHL, Peter: Dorothee Sölle, das ‚Politische Nachtgebet’ und die Folgen, in:
HERMLE, Siegfried / LEPP, Claudia / OELKE, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Pro-
testantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren (Arbeiten
zur Kirchlichen Zeitgeschichte 47), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 265–
284, 266–267.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_22
404 Dominik Gautier

sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung, migrationsgesellschaftli-


che Öffnung sowie die Klimapolitik einsetze.2

Gegenüber einer Politik, die mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der
‚Neutralität’ politischer Bildung, sexistische oder rassistische Rede akzep-
tabel zu machen versuche und zugleich den Widerspruch hiergegen ver-
hindern wolle, plädiert Bettina Lösch für eine reflexive und engagierte po-
litische Bildung. Dieser Ansatz macht sich für demokratische Grundsätze,
Grund- und Menschenrechte sowie Prozesse der Selbstbestimmung stark
und nimmt damit – begründet – für sich in Anspruch, politische Positionen
zurückzuweisen, welche diese ‚Spielregeln’ zu unterlaufen versuchen.

Mit Blick auf das ‚Netzwerk antisemitismus- und rassismuskritische Reli-


gionspädagogik und Theologie’ (narrt), zu dessen Mitinitiator*innen ich
zähle, möchte ich Löschs Überlegungen als bedeutsamen Impuls zur Klä-
rung des Selbstverständnisses einer politischen Theologie und Religions-
pädagogik herausstellen. Überblickshaft wende ich mich hierzu zunächst
dem Verhältnis von politischer Bildung und Rassismuskritik zu, um dann
zu fragen, inwiefern Rassismuskritik eine Perspektive gegenwärtiger poli-
tischer Religionspädagogik darstellt. Dieser „Durchgang“ mündet in eine
von Lösch informierte Perspektive, die für eine – theologische reflektierte
– Irritierbarkeit hinsichtlich eigener Involvierung in Antisemitismus und
Rassismus plädiert – und die als eine Kategorie politisch-religionspädago-
gischer Professionalität begriffen werden sollte.

2 Vgl. AFD-FRAKTION IM THÜRINGER LANDTAG: Unheilige Allianz. Der Pakt der evange-
lischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen, Erfurt 2019. Hierzu auch folgende
Analyse, in der betont wird, dass die katholische Kirche in dieser Schrift mitgemeint
sei: MÖHRING-HESSE, Matthias: Angriff gegen die rotgrün versiffte Kirche. Wie eine
Landtagsfraktion der AfD über den rechten Glauben wacht – und was daraus theolo-
gisch gelernt werden kann, in: feinschwarz.net (2019) [abgerufen am 03.07.2019].
Irritierbarkeit 405

2 Politische Bildung und Rassismuskritik

Eine Auseinandersetzung mit der Forderung nach ‚politischer Neutralität’,


welche die Akzeptanz rassistischer Rede zu fördern versucht (man denke
etwa an Begriffe wie „Entsorgung“, „Umvolkung“, „Kopftuchmädchen
und Messermänner“3), macht eine vertiefte Beschäftigung mit den Wirk-
weisen von Rassismus notwendig. Die ‚Frankfurter Erklärung für kritisch-
emanzipatorische politisch Bildung’ zielt gerade auf eine solche Analyse,
wenn sie für macht- und herrschaftskritische Sensibilität plädiert und sozi-
ale Ungleichheit, die auf Differenzkategorien wie ‚Rasse’, ‚Klasse’ und
‚Geschlecht’ zum Thema macht. Grundsatz 3 der Erklärung lautet daher:
„Machtkritik: Selbstbestimmtes Denken und Handeln wird durch Abhängigkeiten
und sich überlagernde soziale Ungleichheiten beschränkt. Diese Macht- und
Herrschaftsverhältnisse gilt es, wahrzunehmen und zu analysieren.“4

Die kritische Analyse einer mit Rassekonstruktionen arbeitenden Unter-


scheidung zwischen ‚uns’ und ‚Anderen’, so spitzen Benno Hafeneger und
Benedikt Widmaier weiter zu, sei die zentrale Aufgabe eine rassismuskri-
tischen politischen Bildung.5

Diese Aufgabe soll hier anhand der Überlegungen Paul Mecherils zur ras-
sismuskritischen Ausrichtung politischer Bildung skizziert werden: Ras-
sismuskritik nimmt (1) die Alltäglichkeit von Rassismus in den Blick, wie
sie nicht nur durch subtile Diskriminierungen, zunehmend ‚normal’ wer-

3 Vgl. DETERING, Heinrich: Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen
Rechten, Stuttgart: Reclam 2019.
4 Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung’, Grund-
satz 2 (FFE 2), in: https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklae-
rung/ [abgerufen am 03.07.2019].
5 Vgl. HAFENEGER, Benno / WIDMAIER, Benedikt: Warum rassismuskritische politische
Bildung?, in: HAFENEGER, Benno / UNKELBACH, Katharina / WIDMAIER, Benedikt
(Hg.): Rassismuskritische politische Bildung. Theorien – Konzepte – Orientierungen
(Non-formale politische Bildung 14), Frankfurt am Main: Wochenschau 2019, 9–15,
10–11.
406 Dominik Gautier

dendes rassistisches Sprechen von Politiker*innen, sondern auch den An-


stieg rassistischer Gewalttaten zu beobachten ist.6
(2) Die rassismuskritische Perspektive setzt voraus, dass es sich bei ‚Rasse’
nicht um eine biologische Gegebenheit handelt. Sie versteht ‚Rasse’ als
eine soziale Konstruktion, mit der Vormacht und Herrschaft plausibilisiert
und legitimiert werden kann. In diesem Vorgang muss nicht unbedingt di-
rekt mit dem verpönten Rassebegriff gearbeitet werden. Der Rassebegriff
kann sich auch im Verweis auf vermeintlich eindeutige und unveränderli-
che körperliche, kulturelle oder religiöse ‚Eigenschaften’ verbergen. Ras-
sismus dient dem Zweck, den ‚Einen’ mit diesen Verweisen mehr ‚Norma-
lität’ und ‚Vorrechte’ einzuräumen als den ‚Anderen’, die zum Beispiel
aufgrund ihrer ‚Religion’ ‚zurecht’ schlechter zu behandeln seien.7
(3) Die rassismuskritische Perspektive versteht Rassismus letztlich als ei-
nen quasi-religiösen Diskurs der Selbstsuche, bei dem über die Schaffung
eines ‚Anderen’ das ‚Eigene’ der Identität produziert wird. Der Mitbegrün-
der der Cultural Studies Stuart Hall erklärt entsprechend: „Die [weißen]
Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen,
sondern weil sie ohne den Schwarzen, nicht wissen, wer sie sind.“8 Rassis-
mus ist demnach nicht etwa als eine ‚soziale Rückständigkeit’, sondern als
Subjektivierungsinstanz zu verstehen, die Selbstverständnisse der Über-
und Unterlegenheit samt ihrer Abstufungen und komplexen Überscheidun-
gen hervorbringt.9

6 Vgl. MECHERIL, Paul: Politische Bildung und Rassismuskritik, in: LÖSCH, Bettina /
THIMMEL, Andreas (Hg.): Kritische politische Bildung. Ein Handbuch (Politik und Bil-
dung 54), Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010, 241–252, 243–244.
7 Vgl. EBD., 244–245.
8 HALL, Stuart: Ethnizität: Identität und Differenz, in: ENGELMANN, Jan (Hg.): Die klei-
nen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt am Main / New York: Cam-
pus 1999, 84–98, 93.
9 Vgl. MECHERIL 2010, 245–246 [Anm. 6].
Irritierbarkeit 407

(4) Das Anliegen der Rassismuskritik ist es, auf die Transzendierung einer
auf Rassekonstruktionen zurückgehenden Solidarität hinzuwirken – hin zu
einer Solidarität, welche an die Gleichwertigkeit aller Menschen anzu-
knüpfen und hierauf aufzubauen versucht.10

Rassismuskritik als Versuch der kritischen ‚Aufklärung’ über die Einbin-


dung in soziale Ungleichheit stellt demnach eine bedeutsame ‚Brille’ für
die Konzeption politischer Bildung dar. Allerdings sollten, so betont Me-
cheril, auch die Theorie und Praxis politische Bildung selbst einer stetigen
Kritik unterzogen werden, um zu überprüfen, wie sie in die Reproduktion
von Rassismus eingebunden sind. Diese Auffassung ergibt sich aus der
Einsicht, dass Rassismus immer dort vorkommen kann, wo es um die Aus-
bildung von Identität geht. Ein – das ‚Eigene’ nicht aussparender – Kritik-
begriff, der mit einem ‚Selbstverdacht’ arbeitet, wird auch von Lösch und
in Grundsatz 4 der Frankfurter Erklärung als wichtiges Moment einer kri-
tisch-emanzipatorischen Bildung beschrieben: „Reflexivität: Politische
Bildung ist selbst Teil des Politischen, Lernverhältnisse sind nicht herr-
schaftsfrei, Politische Bildung legt diese Einbindung offen.“11

3 Politische Religionspädagogik und Rassismuskritik

Hat sich diese Diskussion in der Religionspädagogik niedergeschlagen? In


einem religionspädagogischen Lexikonartikel zum Stichwort ‚Rassismus’
konstatiert Thomas Schlag, dass sich in „den gegenwärtigen bundesrepub-
likanischen Debatten eine Vielzahl von Belegen dafür finden [lassen], dass
erneut Menschen aufgrund von ‚Rasse, Hautfarbe, Geschlecht […]’ stig-
matisiert, verfolgt und gejagt werden.“12 Bevor ich näher auf diesen Artikel
eingehe, möchte ich zunächst festhalten, dass an dieser Gegenwartsbe-

10 Vgl. EBD., 250–251.


11 FFE 4.
12 Vgl. SCHLAG, Thomas: Art. Rassismus, in: WiReLex 2019 [abgerufen am 19.09.2019].
408 Dominik Gautier

schreibung die Wende zu einer sich stärker politisch, möglicherweise sogar


dezidiert rassismus- und antisemitismuskritisch verstehender Religionspä-
dagogik deutlich werden könnte.

Nach Judith Könemann kann eine solche Wende hin zur Reflexion des po-
litischen Selbstverständnisses der Religionspädagogik seit den 2000er Jah-
ren im Zuge der Diskussion um das Verhältnis von Religion und Demo-
kratie ausgemacht werden. Nach Versuchen einer religionspädagogischen
Orientierung an den politisch-theologischen Ansätzen von Jürgen Molt-
mann, Johann Baptist Metz und Dorothee Sölle habe seit den 1980er Jah-
ren die Auseinandersetzung mit (individueller) religiöser Identität ange-
sichts der Rede vom (religiösen) ‚Traditionsabbruch’ dominiert. Politische
Fragen seien dann höchstens individualethisch in den Blick gekommen.13
Die Diskussion über die politische Dimension von Religionspädagogik sei
durch die Arbeiten des katholischen Religionspädagogen Bernhard
Grümme und des oben bereits erwähnten evangelischen Religionspädago-
gen Schlag angeregt worden.14

In Grümmes und Schlags weiteren Arbeiten lässt sich eine Hinwendung zu


einer selbstkritischen Überprüfung der Einbindung in Herrschaftsverhält-
nisse nachvollziehen, die eine Überschneidung mit dem Ansatz kritischer
politischer Bildung erkennen lässt. Grümme geht es mit seinem – von ihm
durchaus als ambivalent diskutierten – Begriff der ‚aufgeklärten Heteroge-
nität’ um eine macht- und herrschaftssensible Selbstreflexion der Religi-
onspädagogik in Anbetracht komplex ineinander greifender sozialer Un-

13 Vgl. KÖNEMANN, Judith: Art. Politische Religionspädagogik, in: WiReLex 2016 [abge-
rufen am 19.09.2019].
14 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme, Grund-
satzüberlegungen. Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts,
Stuttgart: Kohlhammer 2009; SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung.
Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive (Religionspädagogik in
pluraler Gesellschaft 14), Freiburg im Breisgau: Herder 2010.
Irritierbarkeit 409

gleichheitsverhältnisse, die – wie auch die Frankfurter Erklärung anspricht


– auf Differenzkategorien wie ‚Rasse’, ‚Klasse’ und ‚Geschlecht’ zurück-
gehen.15 Diese Überlegungen könnten zu einer dezidiert antisemitismus-
und rassismuskritischen Reflexion ausgearbeitet werden.

Der erwähnte von Schlag verfasste Lexikonartikel könnte als Versuch der
Konkretion verstanden werden. In reflexiver Weise ist dem Artikel daran
gelegen, bei der Problematisierung von Rassismus nicht in die ‚Moralis-
mus-Falle’ zu geraten: So warnt Schlag davor, in Konflikten über Rassis-
mus allzu schnell mit dem Etikett der moralischen Illegitimität zu operie-
ren. Eine entschiedene Zurückweisung von rassistischen Argumentationen
werde so – wider Willen – verhindert.16 Diese Auffassung trifft sich inso-
fern (1) sowohl mit dem Ansatz kritischer politischer Bildung, die – blickt
man auf Grundsatz 2 der ‚Frankfurter Erklärung’ – auf Kontroversität setzt,
innerhalb derer sich dann eine an Grund- und Menschenrechten orientierte
Argumentation erweisen kann als auch (2) mit dem Ansatz der Rassismus-
kritik, der auf Distanz zum Gut-Böse-Schema eines vorranging moralisch
argumentierenden Antirassismus geht, um mehr Selbstproblematisierung
und damit eine tieferreichende Zurückweisung von Rassismus zu errei-
chen.17

Neben einer Verortung der Religionspädagogik in einer auf Demokratie


und Menschenrechte verpflichteten Bildung brauche es eine Auseinander-
setzung mit biblischen und theologischen Traditionen, vor allem auch mit
der theologischen Anthropologie, die eine reflektierte Zurückweisungen

15 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Art. Heterogenität, in: WiReLex 2019 [abgerufen am


19.09.2019]; GRÜMME, Bernhard: Religionspädagogische Denkformen. Eine kritische
Revision im Kontext von Heterogenität (QD 229), Freiburg im Breisgau: Herder 2019.
16 Vgl. SCHLAG 2019 [Anm. 12].
17 Vgl. MECHERIL, Paul / MELTER, Claus: Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem
Rassismus, in: Mecheril, Paul u. a. (Hg.): Migrationspädagogik (Bachelor|Master),
Weinheim / Basel: Beltz 2010, 150–178, 170–173.
410 Dominik Gautier

rassistischer Realität zu durchdenken helfen. „Zu fragen ist also“, erklärt


Schlag mit Blick auf die Gefahr einer eindimensionalen religionspädago-
gischen Adressierung von Rassismus, „worauf man sich biblisch und the-
ologisch zu beziehen vermag, ohne dass dies sogleich als blauäugig, kli-
scheehaft oder schlichtweg idealistisch angesehen wird.“18 Hier bestehe
„noch erheblicher didaktischer Differenzierungsbedarf.“19 Schlags eigene
Vorschläge zielen nun in durchaus selbstkritischem Blick auf eine christli-
che ‚Abwertungskultur’ gegenüber dem Judentum, die möglicherweise in
der reformatorischen Theologie sei.20 Als Gegenkraft gegen eine antisemi-
tische und rassistische Kontinuität benennt Schlag dann unter anderem (1)
das Motiv der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,27), mit dem über die Gleich-
wertigkeit aller Menschen nachgedacht und die rassistische Ungleichwer-
tigkeitsideologie zurückgewiesen werden könne sowie (2) das Motiv der
in Gal 3,28 entfalteten Einheit in Christus, aus der Paulus eine „Absage an
diskriminierende Zuschreibungen“21 ableite. Gerade hier ergibt sich mei-
nes Erachtens die Möglichkeit eines Gesprächs mit der in der Rassismus-
kritik geforderten ‚anderen Solidarität’, welche die hergebrachten ‚Solida-
ritätskategorien’ der ‚Klasse’, ‚Nation’ oder ‚Rasse’ zu überwinden ver-
sucht – sofern auch das für Exklusivismus anfällige Moment des ‚in Chris-
tus’ mitbedacht wird.

Schlag legt diese Motive nun – zurecht – in die Menschenwürde affirmie-


render Weise aus, um Rassismus zurückzuweisen. Dies korrespondiert
meinem Eindruck nach auch mit der gegenwärtigen zu begrüßenden Ge-
sprächslage in den Kirchen. Gibt es hierüber hinaus jedoch nicht auch theo-

18 Vgl. SCHLAG 2019 [Anm. 12].


19 Vgl. EBD.
20 Vgl. den antisemitismuskritisch-theologisch ausgerichteten Aufsatz von SCHLAG,
Thomas: Das reformatorische Menschenbild und die Bildung des Menschen – Konse-
quenzen für den interreligiös sensiblen Bildungsdialog, in: ZPT 68 (2016), 438–452.
21 Vgl. SCHLAG 2019 [Anm. 12].
Irritierbarkeit 411

logische Traditionen, die eine antisemitismus- und rassismuskritische Hal-


tung vor allem hinsichtlich der selbstkritischen Reflexion eigener Einge-
bundenheit in soziale – auch religiös legitimierte oder zumindest geduldete
– Ungleichheit nahelegen würden? Eine ‚systematischere’ an die Forde-
rung der Rassismuskritik anschließende Bearbeitung der Frage, inwiefern
Theologie und Religionspädagogik selbst in die Produktion von Rassismus
involviert sind, steht meines Erachtens noch aus – auch, wenn die Auf-
nahme des Stichwortes ‚Rassismus’ in ein religionspädagogisches Lexikon
einen wichtigen kleinen Schritt darstellt.

4 Irritierbarkeit: Das ‚Netzwerk antisemitismus- und


rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie’ (narrt)

4.1 Das Netzwerk in der Perspektive kritisch-politischer Bildung

Das ‚Netzwerk antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädago-


gik und Theologie’ (narrt) setzt bei der Frage nach einer theologisch und
religionspädagogisch reflektieren selbstkritischen Auseinandersetzung an.
Das Netzwerk ist an der Evangelischen Akademie zu Berlin angesiedelt
und ist verbunden mit dem Comenius-Institut, der Evangelischen Arbeits-
stätte für Erziehungswissenschaft in Münster, dem Institut Kirche und Ju-
dentum in Berlin sowie mit dem Institut für Evangelische Theologie und
Religionspädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ge-
rade die Verortung an einer Evangelischen Akademie, die sich der Etablie-
rung einer machtsensiblen ‚Diskurskultur’ verpflichtet sieht, ergibt institu-
tionell die Möglichkeit, die Suche nach antisemitismus- und rassismuskri-
tischer Sensibilität an der Schnittstelle zwischen Kirche, Wissenschaft und
gesellschaftspolitischer Bildung voranzutreiben.22 Gerade weil das Netz-
werk an einer Evangelischen Akademie verortet ist, die ihrem Selbstver-

22 Vgl. EVANGELISCHE AKADEMIEN IN DEUTSCHLAND: Diskurskultur. Ein Positionspapier


der Evangelischen Akademien in Deutschland, Berlin 2012, 6.
412 Dominik Gautier

ständnis nach gesellschaftliche Entwicklungen selbstreflexiv begleiten,


protestantischen Perspektiven einbringen und zur demokratischen Kultur
beitragen möchte, legt sich ein Gespräch zwischen kritisch-politischer Bil-
dung und dem Anliegen des Netzwerkes nahe.23 Anhand der sechs Grunds-
ätze der ‚Frankfurter Erklärung’ sollen daher hier zentrale Überschnei-
dungspunkte zwischen dem von Lösch vorgestellten Ansatz und dem Netz-
werk aufgezeigt werden.

Dem Netzwerk geht es (1) um die Adressierung einer gesellschaftlichen


Krise, die nicht als ‚Flüchtlingskrise’, sondern als Krise eines kirchlichen
und gesellschaftlichen ‚Wir’ begriffen werde sollte, das sich zu rassistisch
und antisemitisch anschlussfähigen Identität-, Heimats-, Abendlands- oder
Religionsdiskursen zu verhalten hat und die Frage betrifft, wer ‚wir’ als
Kirche und Gesellschaft sein möchten.
Diese massive Herausforderung verdient (2) eine kontroverse Auseinan-
dersetzung, die über einen moralischen Antirassismus hinausgehen sollte,
ohne diesen in seinem Anliegen zu disqualifizieren: Es braucht eine Streit-
kultur, die sich mit den Ambivalenzen und Fallstricken von Antisemitis-
mus- und Rassismuskritik auseinandersetzt.
Es ist (3) die zentrale Auffassung des Netzwerkes, dass Theologie und Kir-
che sich nicht außerhalb des Problems von Antisemitismus und Rassismus
verorten können, sondern Teil dieses Problems darstellen. Dies gilt es ge-
nauer und immer wieder neu zu benennen.24

23 Vgl. EBD., 3.
24 Vgl. hierzu LOBERMEIER, Olaf / KLEMM, Jana / STROBL, Rainer: Abschlussbericht. Kir-
chenmitgliedschaft und politische Kultur. Ausprägungen von Elementen Gruppenbezo-
gener Menschenfeindlichkeit unter Mitgliedern der evangelischen Kirche, Hannover
2016.
Irritierbarkeit 413

(4) Dieser Involvierung gegenüber bedarf es einer selbstkritischen Refle-


xion eigenen Redens und Handelns, die neue theologische und religions-
pädagogische Arbeit erfordert.
Es ist (5) das Anliegen des Netzwerkes, eine schwierige Aufklärung der
Gegenwart, die Privilegierung und Marginalisierung, Macht und Ohn-
macht samt ihrer Zwischenstufen und Verschränkungen aufzudecken ver-
sucht, nicht als Verhinderung, sondern als Ermutigung zu komplexitätsbe-
wusstem Engagement zu verstehen.
Es ist damit (6) eine Zielvorstellung des Netzwerkes, in der Bearbeitung
solcher Verstrickungen an der Möglichkeit individuellen sowie gemeinsa-
men Handelns festzuhalten. Dieses Handeln ist dabei weder in der Weise
aktionistisch, dass eigenes Falschliegen ausgeblendet wird, noch in der
Weise ‚apathisch’, dass aus Angst, Fehler zu begehen, jedes Engagement
unterlassen wird.

Über Fachtage und Tagungen versucht das Netzwerk Akteur*innen aus


Kirche, Wissenschaft, Bildungsarbeit, Kultur, Gesellschaft und Politik zu-
sammenzubringen, konstruktive (Streit-) Gespräche über die Adressierung
antisemitischer und rassistischer Wirklichkeit zu initiieren und hierbei the-
ologische wie religionspädagogische Debatten in Gang zu bringen und ent-
sprechendes Material zu sammeln beziehungsweise zu generieren. Verwie-
sen werden kann an dieser Stelle auf die bisher stattgefundenen Tagungen
‚Rassisten sind immer die Anderen. Über Verstrickung und Handlungsfä-
higkeit’ (2015), ‚Vor Gott sind alle Menschen gleich. Rassismus als Thema
der Religionspädagogik’ (2015), ‚Nicht jüdisch noch griechisch. Rassis-
muskritische Perspektiven auf Selbstbilder und Abgrenzungsmuster’
(2016) sowie auf die Tagung ‚Identität. Macht. Verletzung. Rassismuskri-
tische theologische Perspektiven’ (2018). Bisher sind hieraus zwei weit-
414 Dominik Gautier

verteilte Broschüren entstanden, die die Ergebnisse dieser Veranstaltungen


dokumentieren und zur weiteren Diskussion beitragen sollen.25

4.2 Überlegungen zur theologischen Adressierung von Antisemitismus


und Rassismus

Die Aufmerksamkeit des Netzwerkes richtet sich in letzter Zeit vorrangig


auf die theologische und religionspädagogische Reflexion des Identitäts-
begriffs. Daher sei hier noch einmal an Hall erinnert: Er hat erklärt, dass
Identitätsprozesse in Macht- und Herrschaftskontexten hervorgebracht
werden, und daher nicht frei von Macht- und Herrschaftsansprüchen sind:
‚Unschuldige’ Identität gebe es nicht. Joachim Willems hat in diesem Zu-
sammenhang zum Beispiel darauf aufmerksam gemacht, dass Prozesse res-
pektvollen interreligiösen Lernens, wider Willen hierarchische Denkmus-
ter von christlichem ‚Wir’ und muslimischem ‚Anderen’ bestärken können
und betont, dass die Schwächung solcher Dynamiken einer stärkeren –
auch – theologischen Aufmerksamkeit bedarf.26 Angesichts solcher Ambi-
valenz plädiert Hall nun aber nicht für eine ‚Identitätsentsagung’, sondern
für eine ‚Identitätspolitik’, die sich ihrer eigenen ‚Problematik’ stellt, in-
dem sie irritierbar zu bleiben und stetig inklusiver zu werden versucht.27

Die theologische Anthropologie – insbesondere eine Auseinandersetzung


mit dem Sündenbegriff – stellt in dieser Frage meines Erachtens eine hilf-
reiche Ressource dar. Ein theologischer Blick auf ‚den’ Menschen könnte

25 Vgl. EVANGELISCHE AKADEMIE ZU BERLIN u. a. (Hg.): Vor Gott sind alle Menschen
gleich. Beiträge zu einer rassismuskritischen Religionspädagogik und Theologie, Ber-
lin 2016; EVANGELISCHE AKADEMIE ZU BERLIN u. a. (Hg.): Identität. Macht. Verletzung.
Rassismuskritische theologische Perspektiven, Berlin 2019.
26 Vgl. WILLEMS, Joachim: Art. Interreligiöse Kompetenz, in: WiReLex 2017 [abgerufen
am 03.07.2019].
27 Vgl. HALL, Stuart: Die Frage der kulturellen Identität (1992), in: HALL, Stuart: Ausge-
wählte Schriften 2, Hamburg: Argument Verlag 1994, 180–222.
Irritierbarkeit 415

sowohl eine Irritierbarkeit gegenüber der eigenen Praxis denken helfen,


aber auch eine Ermutigungsdimension aufscheinen lassen, die dazu ver-
hilft, in aller Verstricktheit an der Möglichkeit des Handelns festzuhalten.
Inwiefern? Die theologische Tradition verweist darauf, dass die Sündigkeit
des Menschen aus seinem Identitätsbegehren resultiert und aus seinem
Willen zur Selbstrechtfertigung sowohl das Verhältnis zur Welt als auch
zu Gott ‚zerfällt’.28 Die Sündenthematik könnte sich gerade mit Blick auf
die Adressierung der Ambivalenz des Identitätsbegriffs und seiner Ten-
denz zu Hierarchisierung bewähren. Die Sündenperspektive könnte zu ei-
nem Realismus beitragen, der damit rechnet, dass – vor allem – soziale
Lebensvollzüge immer wieder in die ‚Identitätsfalle’ zu geraten drohen
und – mit dem Sündenbegriff weitergedacht – keine Position außerhalb
von den ‚Identitätsfallen’ Rassismus und Antisemitismus möglich ist. Mit
diesem Realismus kann ausgehalten und thematisiert werden, dass mit
christlicher Identität ‚Abgründe’ von Ausschluss und Ausbeutung verbun-
den (gewesen) sind – etwa gegenüber dem Judentum und (ehemals) Kolo-
nisierten. So kann auch einer theologischen Sichtweise Raum gegeben
werden, die ernst nimmt, dass Gottes Wirken sowohl als Religionskritik,
aber auch als Ermutigung zum sozialen Engagement zu verstehen ist. An-
gesichts der Entwicklungen sozialer Schließung sollte Gott also als eine
Kraft gedacht werden, die das Identitätsbegehren, aus dem sich Rassismus
speist, irritiert. Den Gottesgedanken ernst zu nehmen, hieße dann, irritier-
bar zu bleiben hinsichtlich gesellschaftlicher Identitätsdiskurse, in die ‚ich’
involviert bin, aber es hieße auch nach einem Engagement zu suchen, dass
auf die bewusste Irritation dieser Diskurse setzt. Dies würde bedeuten, dass
‚ich’ übe, ‚mich’ von den Identitätsdiskursen zu emanzipieren, die ‚mich’

28 Vgl. BONHOEFFER, Dietrich: Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt [1940–1943],
in: BONHOEFFER, Dietrich: Ethik [DBW 6], Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1992,
301–341.
416 Dominik Gautier

auf Über- oder Unterlegenheit, ‚Normalität’ oder ‚Andersheit’ festzulegen


versuchen.

Solche Reflexionen können am besten im Gespräch mit jüdischen und


schwarzen theologischen Perspektiven entwickelt werden, da diese die in
Antisemitismus und Rassismus verstrickte Identität des Christentums irri-
tieren helfen. Zu bearbeiten ist dann ein christlicher Identitätsdiskurs, der
weiterhin – wenn auch subtil – von einer Ablösung des Judentums durch
das Christentum ausgeht, statt die zum Beispiel von Daniel Boyarin her-
ausgearbeitete ‚Verwobenheit’ von Judentum und Christentum als Res-
source zu begreifen, die sich antisemitischen und weiteren auf Rassekon-
struktionen basierenden Spaltungsversuchen widersetzt.29 Zu denken ist
hierbei an theologische Ansätze wie sie etwa im Zusammenhang der ‚Ar-
beitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kir-
chentag’ entstehen.30

Die Rezeption schwarzer Theologie könnte an die Geschichte hegemonia-


ler christlicher Theologie erinnern helfen, die bis heute die Thematisierung
von Rassismus meist ausspart und damit die reale Spaltung in schwarzes
und weißes Christentum unbearbeitet lässt, statt – wie es James H. Cone
gezeigt hat – das Kreuz als Erinnerung an rassistische Gewaltgeschichte zu
begreifen, deren Wahrnehmung eine Perspektive der selbst- und gewalt-
kritischen Solidarität aufscheinen lässt.31 Eske Wollrad hat dagegen aufge-

29 Vgl. BOYARIN, Daniel: The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York:
The New Press 2012.
30 Vgl. KAMMERER, Gabriele: In die Haare, in die Arme. 40 Jahre ‚Arbeitsgemeinschaft
Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag’, Gütersloh: Güterslo-
her Verlagshaus 2001.
31 Vgl. CONE, James H.: The Cross and the Lynching Tree, Maryknoll: Orbis Books 2011.
Irritierbarkeit 417

zeigt wie aus weißer feministisch-theologischer Perspektive eine selbstkri-


tische Auseinandersetzung mit Rassismus aussehen könnte.32

Eine solche von der theologischen Anthropologie informierte Sichtweise


hilft meines Erachtens, eine wichtige Zukunftsaufgabe für religiöse Bil-
dung deutlicher zu benennen: In religiösen Bildungsprozessen sollte mehr
kritische Auseinandersetzung mit der Involvierung in gesellschaftlich ver-
mittelte Selbst- und Differenzkonstruktionen stattfinden, die mit dem jüdi-
schen, schwarzen oder muslimischen ‚Anderen’ arbeiten. Zudem könnte
mehr Lernen über Geschichten, Bewegungen und Praktiken des Wider-
stands gegenüber solchen Prozessen geschehen – zum Beispiel durch eine
nicht-idealisierende Auseinandersetzung mit den von Martin Luther King
und Malcolm X vertretenen Ansätzen.33

Zugleich möchte ich stark machen, die vorgestellte theologische Einsicht


durch Metareflexionen religionspädagogischer Theorie und Praxis einzu-
holen, wie es auch von den hier rezipierten religionspädagogischen Ansät-
zen gefordert wird. Irritierbarkeit wäre damit Kennzeichen realistischer re-
ligionspädagogischer Professionalität, die um die Ambivalenz (nicht nur)
des Religionsunterrichts hinsichtlich der Reproduktion von hierarchisch
geprägtem ‚Wir’-‚Nicht-Wir’-Denken weiß und das eigene Bildungshan-
deln hieraufhin stetig überprüft.

32 Vgl. WOLLRAD, Eske: Wildniserfahrung. Womanistische Herausforderung und eine


Antwort aus Weißer feministischer Perspektive, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
1999.
33 Vgl. einen ersten Entwurf hierzu von KALOUDIS, Anke / ÖZSOY, Serdar: Rassismus ent-
gegentreten. Eine Unterrichtseinheit zu Martin Luther King und Malcolm X, in: rpi-
Impulse 4 (2018), 28–29.
418 Dominik Gautier

5 Schluss: Irritierbarkeit als politisch-theologische Position

Trotz der (nicht nur) historischen Involvierung der christlichen Theologie


in Antisemitismus und Rassismus, deren kontinuierliche Bearbeitung not-
wendig ist, versuche ich theologisches Denken und eine entsprechende Re-
ligionspädagogik doch als Denkweise der Distanzierung von Freund-Fein-
des-Kulturen und als Ansatz eines entsprechenden Engagements für die
Schwächung solcher Kulturen zu verstehen. In Zeiten, in den rassistische
Freund-Feindes-Diskurse nicht nur geduldet, sondern politisch eingesetzt
und bestärkt werden, scheint mir diese Position der Irritierbarkeit selbst
eine politische Position zu sein.

Ich habe mit Blick auf die rassismuskritische und religionspädagogische


Diskussion, das Netzwerk und die hierin entstehende Theologie zu zeigen
versucht, dass diese Irritierbarkeit nicht als Zerstreutheit, sondern eher als
‚professionelle’ einzuübende Irrtierbarkeit verstanden werden sollte. Hier-
bei hätte vertiefend noch mehr sowohl die Verhältnisbestimmung von An-
tisemitismus und Rassismus bedacht als auch die emanzipatorische Di-
mension herausgearbeitet werden können, die es im Gespräch mit theolo-
gischen Ansätzen jüdischer, muslimischer, schwarzer Selbstermächtigung
zu entwickeln gäbe.

Die hier eingenommene Position sieht in der Irritierbarkeit ein wichtiges


Moment sich einer derzeit wachsenden Kultur der Selbstrechtfertigung zu
widersetzen und die Einsicht in die Würdigung aller Menschen durch Gott
ernster zu nehmen. Diese Einsicht kann im vertieften Einsatz für eine de-
mokratische Kultur der Selbstüberprüfung und der Verpflichtung auf
Grund- und Menschenrechte geachtet werden. Das Gespräch zwischen
Theologie, Religionspädagogik und dem Ansatz kritisch-emanzipatori-
scher politischer Bildung sollte also vertieft werden: Zu diskutieren wäre
dann ebenfalls, die auch mit der Frankfurter Erklärung denkbare Perspek-
Irritierbarkeit 419

tive34, dass das Ringen um eine demokratische Kultur zum gegenwärtigen


Zeitpunkt wahrscheinlich mehr politischen Mut als akademische Distanz
erfordert.35

Autorenangaben: Dominik Gautier unterrichtet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter


das Fach Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie und Re-
ligionspädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Nach seinem
Studium in Oldenburg und New York promoviert er derzeit über die theologische
Ethik Reinhold Niebuhrs in rassismuskritischer Perspektive. Er ist Mitinitiator des
‚Netzwerks antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und The-
ologie’ (narrt).

34 Vgl. FFE 5 und FFE 6.


35 Vgl. MECHERIL, Paul / SHURE, Saphira: Rassismuskritik in ‚bewegten Zeiten’, in: De-
mokratie gegen Menschenfeindlichkeit 1 (2018), 66–75, 74.
TEIL V –
EXEMPLARISCHE PRAXISFELDER
Von den ungleichen Geschwistern
‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ – Konkretisierungen anhand
kirchlich-religiöser Praxisfelder

Claudia Gärtner

Die „Zeichen der Zeit“ legen es nahe, so Hans Mendl, religiöse Bildung
wieder deutlich politisch auszurichten. Allerdings bestehe derzeit noch ein
„zentrales Desiderat“1 darin, diese Dimension didaktisch zu konturieren.
„Es fällt auf, dass die ProtagonistInnen eines deutlicher politisch ausgerichteten
Religionsunterrichts bislang überwiegend normativ und appellativ argumentie-
ren. Was aussteht, ist die Konkretisierung dieses stimmigen Plädoyers auf eine
entsprechende Didaktik und Methodik einer politisch orientierten religiösen Bil-
dung hin: Die Auskonturierung neuer öffentlichkeitsorientierter Lehr- und Lern-
formate und die Erstellung alltagstauglicher Materialien für den Religionsunter-
richt und die religiöse Bildungsarbeit allgemein.“2

Diese Leerstelle ist insofern problematisch, als ‚Kritik‘ und ‚Emanzipa-


tion‘ Begriffe darstellen, die unmittelbar Praxis implizieren. Um dieses De-
siderat zu bearbeiten, werden im Folgenden nicht nur – wie oftmals in wis-
senschaftlichen Sammelbänden üblich – einige wenige Praxisüberlegun-
gen exemplarisch angeführt, sondern der Praxis und deren Akteur*innen
wird ein eigener umfassender Hauptteil gewidmet. Die Praxisbeiträge fol-
gend dabei keiner deduktiven Logik, sie sind nicht als Umsetzung der bis-
herigen theoretischen Überlegungen zu einer kritisch-emanzipatorischen
Praxis zu verstehen. Vielmehr liegt der Konzeptionierung dieses Sammel-
bands eine enge Verknüpfung von Theorie und Praxis zugrunde, wonach

1 MENDL, Hans: Weltverantwortung. Politisch und global lernen im Religionsunterricht,


in: ÖRF 27/1 (2019), 57–72, 72.
2 EBD.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_23
424 Hinführung V

aus der Praxis Erkenntnisse für und Anforderungen an die Theoriebildung


formuliert werden können.3

Eine solche explizite Verzahnung von Theorie-Praxis ist nach Bernd


Schröder in der Religionspädagogik erstmalig beim Problemorientierten
Religionsunterricht dezidiert sichtbar geworden. Es wurden Projektgrup-
pen von theoretisch und praktisch tätigen Religionsdidaktiker*innen ein-
gerichtet, die Unterrichtsmaterialien entwickelten und ausprobierten. Die
Erfahrungen flossen in der Art eines Regelkreislaufs in die Theoriebildung
ein.4 So waren Religionslehrer*innen gewinnbringend an der Entwicklung
des Problemorientierten Religionsunterrichts beteiligt, allerdings ist nach
Schröder diese Theorie-Praxis-Verzahnung längerfristig konzeptionell
nicht tiefenwirksam gewesen.5

Auch in der gegenwärtigen Religionsdidaktik stellt der wechselseitige


Theorie-Praxis-Transfer noch weitgehend ein Desiderat dar. Zum einen
fordern Praktiker*innen, Studierende und Lehramtsanwärter*innen eine
stärkere Praxisorientierung der Religionsdidaktik ein, zum anderen ist von
religionsdidaktischer Seite zu konstatieren, dass neuere Entwicklungen
und Erkenntnisse kaum ihren Weg in die Praxis finden. So zeigt eine Studie
über Lehramtsanwärter*innen, dass diese im RU das zuvor im Studium
Gelernte kaum umsetzen, sondern vielmehr auf subjektive Theorien, All-

3 Insofern ist die handlungswissenschaftlich bzw. -theoretisch grundgelegte Theorie-Pra-


xis-Dialektik auch für eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik zentral (vgl.
BRIEDEN, Norbert / HEGER, Johannes: Art. Handlungswissenschaft, in: WiReLex 2018
[abgerufen am 30.08.2019]).
4 Vgl. SCHRÖDER, Bernd: „1968“ und die Religionspädagogik – aus der Sicht eines Nach-
68ers, in: RICKERS, Folkert / DERS. (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukir-
chen-Vluyn: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 351–377, 369–370.
5 Vgl. EBD., 362–363.
Von den ungleichen Geschwistern ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ 425

tagsroutinen und vorgefertigte Unterrichtsmodelle rekurrieren.6 Daher ge-


winnen in der Religionsdidaktik Forschungsformate wie die Fachdidakti-
sche Entwicklungsforschung an Gewicht, die in einem zyklisch-iterativen
Vorgehen Theorie und Praxis miteinander verbinden, um theoretisch fun-
dierte und zugleich empirisch gesättigte Forschungserkenntnisse und Un-
terrichtsmodelle zu generieren.7

Auch in den folgenden Beiträgen stehen Praxiserfahrungen und theoreti-


sche Konzeptionierungen in einem engen Reflexionsverhältnis, auch wenn
sie keine Projekte der Fachdidaktischen Entwicklungsforschung darstel-
len. So wurden alle Autor*innen der folgenden Beiträge aufgefordert, ihre
eigene religionspädagogische Praxis im Horizont von Theorien kritischer
Pädagogik zu erörtern. Als konkreter Bezugspunkt hierfür wurde die
Frankfurter Erklärung (FFE) vorgeschlagen.8 Diese stellt eine kompri-
mierte Zusammenfassung davon dar, was unter kritisch-emanzipatorischer
Bildung verstanden werden kann. Für einen kritisch-kontroversen Dialog
zwischen ihr und der Religionspädagogik ist sie demnach besonders pro-
duktiv. Die FFE ist jedoch nicht nur eng genug, um die Spezifika einer
solchen Bildung zu artikulieren, sondern auch gleichzeitig so allgemein
formuliert, dass die im Sammelband angeführten Praxisbeispiele unter ih-
rem Dach diskutiert werden können. Damit ist die Erwartung verbunden,
auch die unterschiedlichen Referenzpunkte einer ‚neuen politischen Reli-

6 Vgl. REESE-SCHNITTGER, Annegret: Die entscheidenden Ressourcen für die Gestaltung


von Unterricht und die Bewältigung des Alltags. Zusammenfassung und Diskussion der
Ergebnisse, in: ENGLERT, Rudolf u. a.: Innenansichten des Referendariats. Wie erleben
Religionslehrer/innen an Grundschulen ihren Vorbereitungsdienst? Eine empirische
Untersuchung zur Entwicklung (religions)pädagogischer Handlungskompetenz, Müns-
ter: LIT 2006, 364–378.
7 Vgl. GÄRTNER, Claudia (Hg.): Religionsdidaktische Entwicklungsforschung. Lehr-
Lernprozesse im Religionsunterricht initiieren und erforschen, Stuttgart: Kohlhammer
2018.
8 Vgl. zur Frankfurter Erklärung ausführlich die Beiträge von Ulrich ENGEL, Dominik
GAUTIER und Bettina LÖSCH in diesem Band.
426 Hinführung V

gionspädagogik‘ stärker zusammenzudenken und prononciert Konsens-


punkte wie Kontroversen zu explizieren. Zugleich führt der Abstraktions-
grad der FFE, der ihrer Programmatik geschuldet ist, dazu, dass die Frage
nach konkreten didaktischen bzw. pädagogischen Konsequenzen relativ
offen bleibt. Diese Offenheit versuchen die folgenden Beiträge in je unter-
schiedlichen Kontexten kirchlich-religiöser Bildungsfelder konkret zu fül-
len. Dabei treten Perspektiven und Herausforderungen des Dialogs zwi-
schen Religionspädagogik und Politischer Bildung ebenso in den Blick wie
Potenziale und Grenzen der Fortschreibung einer kritisch-emanzipatori-
schen Religionspädagogik. Ausgehend von der FFE lässt sich, so die hier
vertretene These, nicht nur begründet ausweisen, dass, sondern auch wie
Religionspädagogik heute noch kritisch-emanzipatorisch gedacht werden
kann (und sollte).

Mit Blick zurück in die Geschichte lässt sich aus der Reformdekade ein
weiteres Desiderat der Problemorientierten Religionspädagogik erkennen.
Zwar seien neben dem dominierenden Problemorientierten Religionsun-
terricht am Lernort Schule durchaus auch an anderen religionspädagogi-
schen Orten entsprechende Praxismodelle entwickelt worden, wie Norbert
Mette in seinem Beitrag für die Jugendarbeit, die Erwachsenenbildung und
Entwicklungsarbeit entfaltet. Doch woran es fehlte, so Bernd Schröder in
seinen historischen Analysen, „ist ein übergreifender bzw. all die Spezial-
reflexionen zusammenführender religionspädagogischer Diskurs“9, der
auch die Vielfalt der Lern- und Bildungsorte in den Blick nimmt. Dieses
historische Desiderat aufgreifend, werden im Folgenden sowohl Praxisbei-
spiele aus der formalen Bildung in Schule (BÜRGER / JENDT, GÄRTNER,
HERBST), Universität (DEBOUR) oder Ausbildung (EICH), als auch der non-
formalen Bildung aus unterschiedlichen Bereichen wie kirchlicher Ver-
bände (HOLBEIN-MUNSKE), Akademien (KELLER / KLÄSENER) und welt-

9 SCHRÖDER 2010 [Anm. 4], 369.


Von den ungleichen Geschwistern ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ 427

kirchlicher Diözesanstrukturen (WÜLLHORST) diskutiert. Dabei wird ge-


rade die Stärke von Projekten sichtbar, die schulische und außerschulische
Bildung miteinander verzahnen: Deutlich wird dies beispielsweise an Pro-
jekten wie ‚Compassion‘ oder ‚Tagen religiöser Orientierung‘ (BART-
MANN / HERBST / SCHÄFER, WOHNIG). Beiden gelingt es, die Vorzüge von
schulischer und außerschulischer Bildung miteinander zu vermitteln. So
wird in Bezug auf ‚Tage religiöser Orientierung‘ konstatiert:
„Durch die Kooperation mit Schule in allen Schulformen erreichen Tage religiö-
ser Orientierung im Gegensatz zu einigen anderen Feldern der Jugendpastoral alle
Lebenswelten. […] Unterschiedliche Wertvorstellungen und Weisen, die Welt zu
sehen, treffen aufeinander.“10

Gleichzeitig können die bekannten Stärken außerschulischer Bildung, z. B.


ihre größeren Freiräume in formaler und inhaltlicher Hinsicht, genutzt wer-
den.

10 ARBEITSSTELLE FÜR JUGENDSEELSORGE DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (AfJ):


Tage religiöser Orientierung sind Gemeinden auf Zeit. Eine Beschreibung der aktuellen
Situation in den deutschen (Erz-) Bistümern, Düsseldorf: Haus Altenberg 2017, 14.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf Tagen
religiöser Orientierung?

Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

Abstract: Tage religiöser Orientierung (TrO) sind ein gängiges Konzept der Schul-
pastoral. Im folgenden Aufsatz wird anhand des pädagogischen Konzepts der The-
menzentrierten Interaktion (TZI), das TrO zumeist zugrunde liegt, erörtert, inwie-
fern auf TrO kritisch-emanzipatorische und politische Bildung möglich ist. Als
Kriterien für eine solche werden die sechs Grundsätze der Frankfurter Erklärung
herangezogen. Herausgearbeitet werden existierende Potenziale, zukünftige Per-
spektiven und problematische Leerstellen kritisch-emanzipatorischer Bildung auf
TrO.

TrO sind ein schulpastorales Angebot in schulauswärtigen Jugendbil-


dungsstätten: Über den Zeitraum von drei bis fünf Tagen wird eine Gruppe
von Schüler*innen von zwei bis drei Teamer*innen begleitet, zumeist Stu-
dierenden pädagogischer Fächer. Auf TrO entscheiden die Schüler*innen
selbst, welche Themen sie in der gemeinsamen Zeit bearbeiten. Die Tea-
mer*innen planen prozess- und teilnehmer*innen-orientiert die inhaltli-
chen Einheiten, die methodisch vielfältig gestaltet werden.1

1 Besitzen TrO eine politische Dimension?

TrO sind ein verbreitetes Modell der Schulpastoral, welches dazu dient,
religiös-spirituelle Bildung zu ermöglichen.2 In den vielfältigen religions-

1 Für inhaltliche Rückmeldungen zu diesem Artikel danken wir Ludwig A. Pongratz,


Hermann Steinkamp und vor allem Judith Wüllhorst.
2 Eine genaue Einführung in TrO oder die TZI kann an dieser Stelle nicht geleistet wer-
den. Vgl. dazu ARBEITSSTELLE FÜR JUGENDSEELSORGE DER DEUTSCHEN BISCHOFSKON-
FERENZ (AfJ): Tage religiöser Orientierung sind Gemeinden auf Zeit. Eine Beschrei-
bung der aktuellen Situation in den deutschen (Erz-) Bistümern, Düsseldorf: Haus Al-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_24
430 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

pädagogischen Publikationen zu TrO wurde der Beitrag zu einer politi-


schen und kritisch-emanzipatorischen Bildung bisher nicht untersucht.3
Dies überrascht auf den ersten Blick auch nicht, schließlich geht es auf
Tagen religiöser Orientierung scheinbar lediglich um religiöse Bildung.
Dies wird besonders deutlich an den individuellen Lebensthemen, die auf
TrO besprochen werden. So wird häufig angenommen, dass es sich um
einen persönlichen Raum der Sinnfindung handelt, um Selbstreflexion o-
der um die „Vermittlung von Existenz und Evangelium“4. TrO dienen zu-
dem der „Stressbewältigung“5 und können damit der Ganztagsschule eine
Oase der Ruhe entgegensetzen. In diesem Sinne bezeichnet der Religions-
pädagoge Hermann Steinkamp TrO auch kritisch als „Entertainment mit
‚Psychospielen‘“6.

Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass TrO ein Konzept sind, dass einer
politischen Tradition von Religionspädagogik entspringt. Die Beziehun-
gen zur gesellschaftlichen Reformdekade um 1968 lassen sich einerseits
daran verdeutlichen, dass es sich um „Jugendpastoral auf der Grundlage
der Würzburger Synode“7 handelt. So konzediert Norbert Mette: „Beein-
flusst durch die erwähnten soziokulturellen Umbrüche in Gefolge von

tenberg 2017. LANGMAACK, Barbara: Einführung in die themenzentrierte Interaktion.


Das Leiten von Lern- und Arbeitsgruppen erklärt und praktisch angewandt, Weinheim
52011.
3 Vgl. z. B. KatBl 140 (2015); Kirche und Schule 43 (2016).
4 HOBELSBERGER, Hans: Eine pastoraltheologische Reflexion, in: KatBl 140 (2015), 163–
167, 163.
5 KRAUßE, Eileen: Religiöse Orientierung ist Auseinandersetzung mit dem eigenen Le-
ben, in: KatBl 140 (2015), 168–173, 173.
6 STEINKAMP, Hermann: Teamen bei TRO, in: BITTER, Gottfried / BLASBERG-KUHNKE,
Martina (Hg.): Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft. Für Norbert Mette,
Würzburg: echter 2011, 418–423, 422.
7 Vgl. z. B. AfJ 2017 [Anm. 2], 10. Damit erwächst das Konzept von TrO aus eben jenen
Traditionen kirchlicher Jugendarbeit, die bereits in diesem Band thematisiert und in
dem Beitrag von Norbert METTE und dem Interview von Hermann STEINKAMP als
emanzipatorisch bezeichnet wurden.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 431

‚1968‘ wuchs beispielsweise in den Jugendverbänden das Bewusstsein für


die gesellschaftliche und politische Dimension ihrer Arbeit.“8 Andererseits
basieren TrO auf dem Religionsbegriff Paul Tillichs, der in der Religions-
pädagogik der Reformdekade als Öffnung zur politischen Wirklichkeit
verwendet wurde: „Die Schülerinnen und Schüler wählen die Themen, die
sie unbedingt angehen.“9 Inwiefern sich diese politische Tradition auch
heute noch auf TrO wiederfinden lässt, wird im Folgenden anhand des pä-
dagogischen Konzepts der TZI reflektiert.

2 Die politische Dimension des pädagogischen Konzepts TZI

Das pädagogische Konzept der TZI liegt TrO zumeist zugrunde. Dieser
Ansatz der humanistischen Psychologie besitzt das Ziel, so postuliert Ei-
leen Krauße, Mitarbeiterin im Referat Jugendpastorale Bildung, „politisch
und gesellschaftlich wirksam zu sein.“10 Auch im Rahmen der kritischen
politischen Bildung wird TZI angewendet und diskutiert, da es mit dieser
gelingen kann „Bildungsräume zu schaffen, in denen das Subjekt die es
umgebenden Macht- und Herrschaftsprozesse versteht sowie Handlungs-
möglichkeiten entwickeln kann, um in diese Realität gestaltend einzugrei-
fen.“11

TZI lässt sich als ein gesellschaftskritisches und antifaschistisches Konzept


begreifen, das durchaus eine Nähe zur Kritischen Pädagogik im Anschluss

8 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.


9 KRAUßE 2015 [Anm. 5], 168.
10 EBD., 172. Vgl. auch SCHARER, Matthias: Vielheit couragiert leben. Die politische Kraft
der Themenzentrierten Interaktion (Ruth C. Cohn) heute, Ostfildern: Matthias Grüne-
wald 2019.
11 LAPP, Michaela: Ein Anliegen formulieren: Inhaltlicher Anspruch und Methodenwahl
im Politikunterricht, in: LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andrea: Kritische politische Bil-
dung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010, 377–388, 377. Vgl. EBD., 378–381.
432 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

an Adorno besitzt.12 Ruth C. Cohn, die Begründerin des Konzepts, verband


mit diesem einen politischen Anspruch, nämlich eine erneute faschistische
Gewaltherrschaft zu verhindern.13 Cohn war während des Nationalsozia-
lismus gezwungen in die USA auszuwandern. Von dieser Erfahrung ge-
prägt, suchte sie nach einem Weg, „gesellschaftstherapeutisch zu arbeiten,
pädagogisch und politisch.“14 Wie Adorno ging es ihr um die Stärkung
subjektiver Autonomie, die Kraft, Widerstand zu leisten und die eigene
Rolle im Sozialen reflektieren zu können; es ging ihr um eine „Be-
wußtheitserweiterung der Massen“15. So bietet sich die TZI gerade in der
Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen an.
Zum Beispiel bietet sie pädagogische Leitlinien im Umgang mit dem Er-
folg des autoritären Populismus.16

Wenn im Folgenden TrO und TZI als politisch bezeichnet werden, liegt
dem ein spezifischer Politikbegriff zugrunde, der nicht auf einen engen Be-
reich von Parteipolitik und demokratischen Institutionen beschränkt ist,
sondern bereits in den „mikrosozialen Strukturen beginnt“17, wie der Reli-
gionspädagoge Thorsten Knauth feststellt. Diesem Verständnis zufolge
kann auch die kritische Reflexion der eigenen Prioritäten als politisch an-
gesehen werden.18 Insofern es auch auf TrO darum gehen kann, das Ver-

12 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik / HOLBEIN, Christoph / WÜLLHORST, Judith: TZI als subjekt-
bezogene Handlungsoption zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, in:
GEYER, Felix u. a.: Europa – verkauft und verführt? Sozialethische Reflexionen zu Her-
ausforderungen der europäischen Integration (Forum Sozialethik 19), Münster:
Aschendorff 2018, 216–238.
13 Vgl. COHN, Ruth C. / FARAU, Alfred: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei
Perspektiven, Stuttgart: Klett-Cotta 32001, 211–213.
14 EBD., 323.
15 EBD., 449.
16 Vgl. HERBST / HOLBEIN / WÜLLHORST 2018 [Anm. 12].
17 KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religionsunterricht
und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte und Aktuali-
tät, in: ZPT 70 (2018), 128–141, 140.
18 Vgl. KRAUßE 2015 [Anm. 5], 173.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 433

hältnis von subjektiver Lebenslage zu den gesellschaftlichen Verhältnissen


zu reflektieren, geht es um das Erlernen soziologischer Fantasie.19 Auch
Ruth Cohn vertritt ein solches Verständnis, wenn sie die politische Einge-
bundenheit und Implikationen von TZI folgendermaßen erklärt: „Die äu-
ßeren Verhältnisse bedingen den Menschen, und die Menschen bedingen
die äußeren Verhältnisse. Ökonomische Reform ohne Humanität, oder hu-
manistische Pädagogik ohne ökonomische Reform erscheinen mir unmög-
lich zu sein!“20 In diesem Sinne thematisiert die folgende Reflexion die
Möglichkeiten, Leerstellen und Grenzen TrO – auf der Basis von TZI – als
einen Raum für kritisch-emanzipatorische Bildung anzusehen.

3 TrO im Horizont der Frankfurter Erklärung:


Existierende Potenziale, zukünftige Perspektiven und
problematische Leerstellen

Die Frankfurter Erklärung stellt eine praxisorientierte Ausformulierung der


zentralen Prinzipien einer kritisch-emanzipatorischen Bildung dar und bie-
tet sich aus diesem Grund an, um über Potenziale, Perspektiven und Leer-
stellen von TrO nachzudenken. Dabei wird die These vertreten, dass auf
TrO bereits Potenziale existieren, um Kontroversität (FFE 2) und Ermuti-
gung (FFE 5) zu erreichen. In Bezug auf Krisenorientierung (FFE 1) und
Machtkritik (FFE 3) können zumindest mögliche Perspektiven skizziert
werden, diese auf TrO einzubringen. Problematische Leerstellen bestehen
dagegen im Hinblick auf Reflexivität (FFE 4) und Veränderung (FFE 6).

19 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Das Erlernen soziologischer Phantasie im Rahmen der TZI-
Grundausbildung, in: Themenzentrierte Interaktion 32 (2018), 155–156.
20 COHN, Ruth C.: Zu wenig geben ist Diebstahl – zu viel geben ist Mord!, in: Themen-
zentrierte Interaktion 26 (2012), 85–91, 86.
434 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

3.1 Existierende Potenziale von kritisch-emanzipatorischer


Bildung auf TrO: Soziale Kontroversität und ermutigende
Selbstwirksamkeitserfahrung

Auf TrO gibt es bereits das Potenzial, kritisch-emanzipatorische Bildung


zu ermöglichen, insofern gelernt werden kann, Pluralität wahrzunehmen
und auszuhalten, Konflikte konstruktiv auszutragen und somit „Gemein-
sinn“21 zu entwickeln. Dies möchten wir hier als soziale Kontroversität be-
zeichnen (FFE 2). Die Gruppe und ihre Dynamik ist ein Kernelement auf
TrO und für TZI. Dabei ist der TZI zufolge zentral, dass die Einzelnen
einen Raum in der Gruppe bekommen, der zwischen Autonomie und In-
terdependenz vermittelt. TZI bietet durch die Grundhaltung und pädagogi-
schen Prinzipien wie das Chairperson-Postulat Perspektiven, zwei proble-
matische Optionen des Verhaltens in Gruppen zu irritieren. Einerseits han-
delt es sich um die Option des Egoismus, die darin besteht, sich selbst zu
behaupten und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein. Andererseits
handelt es sich, gleichsam gegenläufig, um die Option, im „Schmelztiegel
des Kollektivs“22 aufzugehen. Dementgegen bieten TrO Gelegenheiten,
Konformitätsdruck zu thematisieren und zu durchbrechen sowie „Rollen-
fixierungen in der Klasse zu hinterfragen und aufzubrechen und Entwick-
lung zu ermöglichen.“23 Die Vielfalt der Gruppe kann durch Methoden wie
‚Gruppeneintopf‘ einen Resonanzraum erhalten: Anonym werden positiv
und negativ konnotierte Adjektive für die Stimmung in der Gruppe benannt
und gesammelt. Das Ergebnis wird dann von den Teamer*innen präsentiert
und bietet eine Basis, ohne persönliche Zuschreibungen über Probleme,
Konflikte und Ausschlüsse in der Gruppe ins Gespräch zu kommen. Bei-
spielsweise wird bei dieser Methode häufig genannt, dass viele Konflikte

21 STRUBE, Sonja Angelika: Gemeinsinn als Tiefendimension religiöser Bildung. Impulse


nach Hannah Arendt, in: KatBl 142 (2017), 138–143.
22 ADORNO, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: DERS.: Ge-
sammelte Schriften 10.2., Frankfurt am Main: Suhrkamp 72003, 555–572, 567.
23 HOBELSBERGER 2015 [Anm. 4], 165.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 435

ungeklärt schwelen. Über diese Wahrnehmung und mögliche Formen des


Umgangs kann dann ein Aushandlungsprozess in der Gruppe initiiert wer-
den. Die Basis für dieses Vorgehen bietet erneut TZI, nach der „das Stö-
rende als Hinweis auf Übersehenes und Verdrängtes in Gruppen zu verste-
hen und zu schätzen“24 ist. Mit der TZI kann man lernen, konfliktive Ver-
hältnisse in Gruppen konstruktiv auszutragen. „Phänomene wie Autorität,
Macht, Statusgefälle, Entstehung sozialer Normen“25 können performativ
erlebt und reflektiert werden. Ein solches Lernen wird im Rahmen der TZI
als politisch erachtet, weil ein Mensch, der gelernt hat in einer Gruppe die
eigene Meinung zu vertreten und zugleich die Bedürfnisse anderer Perso-
nen wahrzunehmen und wertzuschätzen, „sich auch am Arbeitsplatz nicht
so leicht von seinem Chef überfahren lassen wird, ebenso wenig, wie er
bestrebt sein wird, nur die eigenen Interessen rücksichtslos durchzuset-
zen.“26

Ein zweites Potenzial, das bereits auf vielen TrO verwirklicht wird, ist die
Ermutigung von Jugendlichen (FFE 5). So gibt es einen Raum dafür, eigene
Ohnmachtserfahrungen zu reflektieren und zu thematisieren. Der spiritu-
elle Rahmen von TrO, die Morgen- und Abendimpulse, bieten dafür einen
prädestinierten Ort. Sie sind ein „Raum […] zum Innehalten und Nach-
Denken, für Stille, Meditation, Gebet und […] Zeit, die frei gefüllt werden
kann.“27 In der Auseinandersetzung mit eigenen Zukunftsvorstellungen,
die zum Teil dem Anliegen der Berufsberatung diametral gegenüberstehen,

24 RÖHLING, Jens: Anmerkungen zur ‚Haltung‘ der TZI. Oder: Ama et fac quod vis (Au-
gustin), in: Themenzentrierte Interaktion 28 (2014), 15–19, 17.
25 Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.
26 JOHACH, Helmut: Auf dem Marsch durch die Institutionen. oder: Wieweit kann TZI die
Gesellschaft verändern?, in: LÖHMER, Cornelia / STANDHARDT, Rüdiger (Hg.): Zur Tat
befreien. Gesellschaftspolitische Perspektiven der TZI-Gruppenarbeit, Mainz: Matthias
Grünewald 1994, 77–98, 92–93.
27 KESTING, Georg: Haare glätten für die Seele, in: Religionsunterricht an berufsbildenden
Schulen 4 (2009), 27–28, 27.
436 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

können die Jugendlichen sich ebenso mit eigenen Grenzerfahrungen be-


schäftigen wie beim Sprechen über (religiöse) Sinnfragen, die ein Poten-
zial dafür bieten, den Alltag und seine Normalitätsvorstellungen zu trans-
zendieren. Darüber hinaus bietet die Vielfalt an Lernformen die Chance,
ermutigende Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen. TrO sind „ganz-
heitlich orientiert“28, es wird aktiv und sportiv, intersubjektiv-sozial oder
nachdenklich und spirituell gelernt. Theaterpädagogische Methoden er-
gänzen erlebnispädagogische Ansätze im Niedrigseilgarten oder in Form
von Kooperationsübungen. Gerade individuelle und kollektive Mitbestim-
mungsmöglichkeiten – die Nichtteilnahme an einer Übung aufgrund des
Freiwilligkeitsgebots oder die gemeinsame Bestimmung des weiteren Ta-
gesverlaufs – implizieren ein Ernstnehmen der Schüler*innen und ihrer In-
teressen. Diese Wertschätzung kann dazu ermutigen, Verantwortung zu
übernehmen und individuelle oder soziale Veränderungen im Alltag anzu-
stoßen. Dies kann gelingen, weil die Teamer*innen „prozessorientiert und
vor allem mit den Themen [arbeiten], die die Schülerinnen und Schüler
einbringen.“29 Mit Ruth Cohn kann Ermutigung als zentrales Ziel von TrO
begriffen werden:
Ich möchte Menschen […] ermutigen, nicht zu resignieren und sich ohnmächtig
zu fühlen, sondern ihre Vorstellungskräfte und ihr Handlungsvermögen einzuset-
zen, um sich solidarisch zu erklären und zu verhalten, solange wir selbst noch
autonome Kräfte in uns spüren.30

3.2 Zukünftige Perspektiven von kritisch-emanzipatorischer


Bildung auf TrO: Tagespolitische Krisenorientierung und
machtkritische Unterbrechung

Über bereits existierende Potenziale hinaus bieten TrO weitere Perspekti-


ven, die kritisch-emanzipatorische Bildung ermöglichen können, aber eine

28 KRAUßE 2015 [Anm. 5], 171.


29 EBD., 168.
30 COHN / FARAU 2001 [Anm. 13], 375.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 437

bewusste Entscheidung im Vorhinein für sie voraussetzen. Einerseits ist


eine krisenorientierte Gestaltung von TrO durchaus möglich und wird
durch TZI unterstützt, insofern die Themen durch die Teilnehmer*innen
selbst gesetzt werden und damit eine Orientierung an den aktuellen Ge-
schehnissen in der Lebenswelt der Jugendlichen vorgesehen ist (FFE 1).
Gerade die Themenwahl besitzt auf TrO eine besonders wichtige Funk-
tion.31 Das Thema ist nach TZI etwas, dass nicht einfach definiert werden
kann, sondern in einem Gruppenprozess auszuhandeln und zu erschließen
ist. Aus diesem Grund beginnen TrO mit einem intensiven Prozess der
Themenfindung, bei dem die Schüler*innen für ihre Position einstehen und
sich in einem offenen Prozess von Gruppendynamik erfahren können.
Auch wenn häufig ähnliche Themen verhandelt werden, Steinkamp spricht
hier von „Klischee-Themen“32, lässt sich dies auch so interpretieren, dass
diese Themen für die Jugendlichen in ihrer Lebenssituation besondere Be-
deutsamkeit haben. Wer möchte ernsthaft bestreiten, dass Themen wie
„Liebe, Freundschaft, Partnerschaft, Zukunft oder Gruppengemein-
schaft“33 für diese Altersgruppe nicht zentral sind. Durch ausgewählte An-
leitung nach TZI können die Schüler*innen im Idealfall Themen auf die
Agenda setzen, die in ihrer Lebenswelt aktuell sind und auch explizit eine
politische Dimension besitzen, wie z. B. Klimawandel, Populismus oder
interreligiösen und interkulturellen Austausch.34

31 Vgl. AFJ 2017 [Anm. 2], 5. Durch kritische Impulse der Teamer*innen können reine
Komfortzonen-Themen vermieden werden, denn TrO sollen „immer auch konfrontativ
und herausfordernd“ (HOBELSBERGER 2015 [Anm. 4], 166) sein.
32 STEINKAMP 2011 [Anm. 6], 421.
33 Vgl. AFJ 2017 [Anm. 2], 17–21.
34 Zum Beispiel wurde in einer multikulturellen Gruppe über die eigenen Erfahrungen mit
Rassismus, aber auch die Vermischung von Antisemitismus und Israelkritik gespro-
chen. Besonders am Thema „schwarzer Humor“ ließen sich die eigene Haltung, die
Grenzen von Witzen und die Konsequenzen des eigenen Handelns reflektieren. Lern-
prozesse können ermöglicht werden, wenn beispielsweise ein Schüler seinem langjäh-
rigen Freund im relativ sicheren Rahmen der TrO offenbaren kann: „Auch wenn ich
438 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

Die Krisenorientierung von TrO lässt sich spezifizieren, insofern nach TZI
das Störungspostulat gilt, demzufolge Störungen sich Vorrang nehmen.
Dies kann kleinere Vorfälle (z. B. einen Vogel im Gruppenraum), aber
auch größere Ereignisse betreffen (z. B. einen Terroranschlag, über den
medial berichtet wird). Störungen können sich in der TZI-Terminologie
auch im Globe befinden: „Der GLOBE umfasst die unmittelbaren Gege-
benheiten wie Tageszeit und Raumausstattung ebenso wie bewegende po-
litische Ereignisse und die sozioökonomischen Verhältnisse, die die Le-
benssituation der Beteiligten prägen.“35 Ein Beispiel für eine solche Situa-
tion stellt die Katastrophe von Fukushima dar, die während eines TrO-Kur-
ses passierte. In den ersten Stunden sickerte die Nachricht in die Gruppe
und sie wurde so präsent, dass am ursprünglichen Thema nicht mehr wei-
tergearbeitet werden konnte. Auf der Grundlage von Teilnehmer*innen-
und Prozessorientierung wurden daraufhin via Beamer die Nachrichten
übertragen. Nach einer ersten Phase der Information gab es Raum, sich
über die Sorgen und Ängste, aber auch mögliche Reaktionen auf den Vor-
fall auszutauschen.36 Als ein weiteres, religiös geprägtes Beispiel kann ein
Abendimpuls genannt werden, der die Version vom Vater Unser von Ha-
gen Rether aufgreift. In diesem Kabarettstück thematisiert Rether die Wi-
dersprüche des christlichen Glaubens im Horizont globaler Ungerechtig-
keit und sozialer Verwerfungen. So halten wir das Störungspostulat für ein
eminent wichtiges Instrument, um Bildungsprozesse krisenorientiert und
politisch auszurichten. Dies artikuliert Ruth Cohn im folgenden Zitat be-
sonders prägnant.

seit Jahren über diesen Witz auf meine Kosten mitlache, muss ich zugeben, dass er mich
eigentlich verletzt.“
35 LAPP 2010 [Anm. 11], 379.
36 Vgl. dazu WIGGER, Lothar / PLATZER, Barbara / BÜNGER, Carsten (Hg.): Nach
Fukushima? Zur erziehungs- und bildungstheoretischen Reflexion atomarer Katastro-
phen, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 439

„Wenn wir uns stören lassen von dem, was uns stört, und Störungen als Hinder-
nisse und als Chance zu erkennen und zu behandeln bereit sind, sind wir im Pro-
zeß eines Fortschritts im Humanum. Wenn wir uns nicht stören lassen von der
großen Störung im Weltbereich von Not und Inhumanität, kann diese Störung
sich verselbstständigen und zur letzten aller Störungen werden.“37

Eine zweite Perspektive stellt Machtkritik dar, die bisher jedoch nur mar-
ginal auf TrO präsent ist (FFE 3). Gruppendynamische Phänomene können
als Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden, im „Mikro-
kosmos der Kleingruppe“ bilden sich z. B. „Machtkämpfe“38 ab, die mit
Fragen der sozialen Position und Privilegierung zusammenhängen (kön-
nen). Auf TrO könnte es gelingen, auf der Basis von TZI, in unterschiedli-
cher Intensität und in disparaten Formen von Schutzräumen, eine „Me-
takommunikation“39 über diese Themen anzuregen und damit die Fähigkeit
der Jugendlichen zu stärken, über die eigene soziale Bestimmtheit zu re-
flektieren. Dabei geht es auch darum, entsprechend der Selbstbestim-
mungsfähigkeit der Jugendlichen, echte Freiräume demokratischer Mitbe-
stimmung einzuräumen. Dies gelingt mit dem basisdemokratischen Kon-
zept der TZI, bei dem die Leitung selbst als teilnehmend gedacht wird und
die Teilnehmer*innen als leitend. Die rote Linie zwischen Leitung und Ju-
gendlichen, wie sie in der Schule streng gezogen ist, wird damit prinzipiell
aufgehoben. Dies realisiert sich tendenziell in den einzelnen Interaktionen.

Zugleich gibt es auf TrO auch explizit die Möglichkeit, über Abhängigkei-
ten und soziale Machtverhältnisse nachzudenken. Bei Themen wie „Liebe,
Freundschaft, Partnerschaft“ können die Teilnehmer*innen beispielsweise
ihre Genderrolle reflektieren und sich der Macht sozialer Normen bewusst

37 OCKEL, Anita / COHN, Ruth C.: Das Konzept des Widerstands in der Themenzentrierten
Interaktion. Vom psychoanalytischen Konzept des Widerstands über das TZI-Konzept
der Störung zum Ansatz einer Gesellschaftstherapie, in: LÖHMER, Cornelia / STAND-
HARDT, Rüdiger (Hg.): TZI. Pädagogisch-therapeutische Gruppenarbeit nach Ruth C.
Cohn, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, 177–206, 205.
38 Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.
39 EBD.
440 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

werden. Dabei ist es zentral, dass TrO in einem Rahmen stattfinden, der im
Gegensatz zur Schule von Bewertungsfreiheit und Freiwilligkeit geprägt
ist, was auch dadurch garantiert wird, dass die Lehrpersonen nicht am Pro-
gramm teilnehmen. Die Schüler*innen entscheiden faktisch selbst, ob und
inwiefern sie sich auf die Tage einlassen. Dies wird von den Teamer*innen
ernstgenommen. Die Erfahrung ist jedoch auch, dass durch den Freiraum
und die Wertschätzung eine andere Offenheit besteht, sich auf das Angebot
der TrO einzulassen. Gerade dadurch, dass die Jugendlichen auch ohne
Anwesenheit der Teamer*innen ganz alleine miteinander ins Gespräch
über persönliche Themen kommen, können sie Erfahrungen machen, in
denen sie z. B. einen reflektierten Umgang mit der eigenen Schwäche fin-
den. So formulieren Schüler*innen in Erfahrungsberichten ihre Erlebnisse
folgendermaßen: „Mit eigenen Fragen, Ängsten, Hoffnungen wahrgenom-
men werden, ohne dass sie als Schwäche gebrandmarkt werden.“40 Oder:
erleben, dass auch ‚schwach‘ sein eine Stärke ist“ und „sogar die so stark
erscheinen, schwach sind.“41

Solche Perspektiven sind insofern politisch, als sie eine Unterbrechung zur
Schule in der Leistungsgesellschaft darstellen. Die eigenen Schwächen zu
zeigen, die menschliche Verwundbarkeit anzuerkennen, ist ein theologi-
sches und ein politisches Thema.42 In einer Leistungsgesellschaft, in der
das „Unternehmerische Selbst“ (U. Bröckling) die zentrale Subjektivie-

40 KESTING 2009 [Anm. 28], 27.


41 EBD., 28.
42 Vgl. z. B. KEUL, Hildegund: Weihnachten – Das Wagnis der Verwundbarkeit, Ostfil-
dern: Patmos 2013. Gerade für die Religionspädagogik ist es von Interesse, dass von
kritischen Pädagog*innen wie Daniel Burghardt der theologisch anschlussfähige Vul-
nerabilitätsbegriff erschlossen wird. Ist es nicht so, dass „Lernen und Hinterfragen nicht
eher aus biographischen Brüchen, aus Erfahrungen des Scheiterns, aus immer wieder
erlebten Widersprüchen“ (Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band) entsteht?
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 441

rungsfigur darstellt, gibt es wenig Raum für menschliche Fallibilität.43 In-


sofern auf TrO die schulische Leistungsgesellschaft und ihr Konformitäts-
druck ein Stück weit distanziert werden und alltägliche Selbstverständlich-
keiten hinterfragt werden können, gibt es häufig die Deutung, dass TrO in
Anlehnung an Johann B. Metz eine „Unterbrechung“ oder in Bezug auf
Michel Foucault eine „Heterotopie“ darstellen.44 Diese Deutung liegt be-
reits dadurch nahe, dass der Ort häufig abgeschieden ist. TrO ist von Form,
Inhalten und Struktur ein Frei-Raum, der einen Ausbruch aus den schuli-
schen Mustern der Disziplinierung ermöglicht. Allerdings muss an dieser
Stelle eingewendet werden, dass diese Deutung nur dann legitim ist, wenn
auch eine explizite Reflexion auf diese Differenz stattfindet. Ansonsten
sanktioniert die ‚Wohlfühloase TrO‘ womöglich gar erst den stressigen
Schulalltag und eignet sich besonders gut, um aufzutanken und nach der
Rückkehr erneut motiviert ins Hamsterrad einzusteigen.45 Diese Proble-
matik deutet auf eine Leerstelle hin, die TrO sicherlich betrifft. Machtkri-
tische Perspektiven auf TrO anzustoßen wird erst dann möglich, wenn man
den Kontrastraum zur expliziten Reflexion nutzt, wie der kritische Bil-
dungstheoretiker Ludwig A. Pongratz überzeugend festhält.

Pongratz, der auch in der Religionspädagogik und der Jugendverbandsar-


beit tätig war, sieht dieses Potenzial, wenn er feststellt, „[d]aß nämlich die
institutionellen Bedingungen schulischen Lernens die Zieloptionen eines
schüler- und erfahrungsorientierten RU u. U. permanent in Frage stellen
oder unterlaufen.“46 Daher habe er zumindest kurzzeitig versucht, den en-

43 Vgl. z. B. BUCHER, Rainer: Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte


Verwaltung der Welt, Würzburg: echter 2019.
44 Vgl. KRAUßE 2015 [Anm. 5], 168; HOBELSBERGER 2015 [Anm. 4], 163, 167.
45 Vgl. den Beitrag von Ansgar KREUTZER in diesem Band.
46 PONGRATZ, Ludwig A.: Schulendtage einer 9. Klasse. Von den Schwierigkeiten und
Möglichkeiten eines Exodus aus der Institution Schule, in: KatBl 103 (1978), 470–474,
470. Pongratz beschreibt zwar Schulendtag, diese erinnern jedoch stark an TrO, inso-
442 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

gen Rahmen schulischer Bildung zu verlassen und andere Formen von Bil-
dungsprozessen zu ermöglichen. Dabei ging es ihm darum, „das tägliche
Unterrichtsgeschehen reflexiv zu thematisieren und damit Unterricht in
Richtung eines Selbsterfahrungsprozesses umzuformen.“47 Darin sieht er
die Möglichkeit angelegt, zum Beispiel „Rollenpräskriptionen“48 zu durch-
brechen und andere problematische Mechanismen wie das schulische Kon-
kurrenzprinzip und dessen Wirkung nachvollziehen zu lernen.49 Allerdings
fehlt auf TrO eine solche Reflexion häufig.

3.3 Problematische Leerstellen von kritisch-emanzipatorischer Bildung


auf TrO: Machtkritische Selbstreflexivität und strukturelle
Veränderungsperspektiven

Als eine bisherige Leerstelle kann darüber hinaus die fehlende machtkriti-
sche Selbstreflexivität festgestellt werden (FFE 4). Grundsätzlich lässt sich
bei den Teamer*innen die Überzeugung feststellen, das TrO eine äußerst
sinnvolle und anregende Institution sind.50 Möglicherweise mangelt es in
den Reflexionen der Teamer*innen noch daran, sich stärker die Frage zu
stellen, inwiefern TrO die bestehenden Verhältnisse eher reproduzieren,
als einen Raum dafür zu bieten, sie kritisch zu reflektieren und infrage zu
stellen. Aus diesem Grund scheinen uns die selbstkritischen Perspektiven
im Rahmen dieser Tätigkeit noch nicht ausgeprägt genug zu sein. Mit Her-
mann Steinkamp können diesbezüglich zwei unterreflektierte Themen her-
vorgehoben werden, die auf die vorausgesetzte Differenz von Schule und
TrO abzielen. Erstens, so arbeitet Steinkamp heraus, sind Teamer*innen
auf TrO-Kursen mit der Rolle von Lehrer*innen auf komplexe Weise ver-

fern sie erfahrungskatechetisch ausgerichtet sind, einen Bezug zur kirchlichen Jugend-
verbandsarbeit besitzen und auch TZI verwendet wird.
47 EBD., 470.
48 EBD.
49 Vgl. EBD., 473–474.
50 Vgl. STEINKAMP 2011 [Anm. 6], 421.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 443

strickt. Sie definieren ihre Rolle in Abgrenzung zu den begleitenden Leh-


rer*innen. Dadurch geraten sie jedoch in eine „(zumeist) unbewusste bzw.
unreflektierte Rivalität mit der Lehrerrolle.“51 So wurde ein „manchmal
geradezu militante[s] ‚Gegenüber‘ zur Schule“52 vertreten. Gleichzeitig
wollen viele Teamer*innen später in den Lehrberuf einsteigen und gerade
für diesen Beruf Erfahrungen sammeln. Insofern übten sie sich bereits, ent-
gegen ihrer Selbsteinschätzung, auf eine paradoxe Art in ihre spätere Rolle
ein.53 Dabei besteht möglicherweise sogar die problematische „Tendenz zu
(‚dilettantischem‘) Psychologisieren“54. Die geringe Professionalität der
Teamer*innen, die im Kontrast zur Schule als Stärke von TrO gesehen
wird, ist so der Kern des Problems. Zweitens gelangen auch die Schü-
ler*innen möglicherweise gar nicht aus ihrer alten Rolle heraus. So sind
ggf. bereits bei der Themenwahl subtile Mechanismen wie das Religions-
stunden-Ich auch außerhalb der Schule wirksam, wie Steinkamp vermu-
tet.55 So trifft seine Polemik durchaus einen problematischen Punkt, wenn
er anmerkt, dass das „‚Psycho‘-Entertainment“ auf TrO „zwar auch das
‚Gegenteil‘ von Schule ist, aber anders als es der anfänglichen Idee der
‚Unterbrechung‘ entspricht.“56 Unabhängig von diesen Problemen gilt es
jedoch festzuhalten, dass es auf TrO fest institutionalisierte Prozesse einer
Feedback-Kultur gibt, in denen diese Probleme explizit reflektiert werden
sollten. Dadurch ist einer solchen machtkritischen Selbstreflexivität prin-
zipiell ein Raum eröffnet.

Die zentrale Leerstelle stellt sicherlich die Frage nach dauerhaften und
strukturellen Veränderungen dar, weil TrO selten kollektive Transforma-

51 EBD., 420.
52 EBD.
53 Vgl. EBD., 419.
54 EBD., 422.
55 Vgl. EBD., 421.
56 EBD., 423.
444 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

tionsprozesse anstoßen (FFE 6). Es ist schwierig, im Nachhinein zu über-


prüfen, inwiefern TrO tatsächlich nichts dergleichen bewirkt haben, aller-
dings können wir auch von keiner Erfahrung berichten, in der TrO struk-
turelle Veränderungen angestoßen haben und z. B. – wie der Pädagoge
Ludwig A. Pongratz aus eigener Erfahrung schildert – „zur Geburtsstunde
einer außerschulischen Jugendgruppe wurden, die heute im Rahmen der
CAJ als Lehrlingsgruppe aktiv weiterarbeitet.“57 Auf eine solche Verände-
rung ist TZI jedoch angelegt, wie Ruth Cohn verdeutlicht. „Nur wenn sich
die Bedingungen ändern, die gesellschaftlichen, ökonomischen, politi-
schen, institutionellen, können sich auch die Menschen ändern; wer dies
verkennt, wer dies verdrängt, beschwichtigt, verheißt Befriedung ohne Be-
freiung“58 Allerdings können Bildungsprozesse wie TrO, die auf der TZI
aufbauen, als Bestandteil eines kollektiven Veränderungsprozesses begrif-
fen werden. Denn Cohn formuliert die gegenläufige Position ebenfalls:
„Ich […] denke heute, dass Revolutionen, die nur die ökonomischen und politi-
schen Umstände und nicht die Menschen selbst in ihrer Haltung verändern, zwar
die Umkehrung von oben/unten und unten/oben bewirken, nicht aber Armut und
Ungerechtigkeit selbst [abschaffen]. So verändern sich die Namen der Gewaltträ-
ger und der Unterdrückten, nicht aber die Phänomene der Gewalt und Hilflosig-
keit.“59

TZI stellt den Versuch dar, im Bewusstsein dieser Problematik eine radikal
demokratische Bildungspraxis zu konstituieren. Offensichtlich ist jedoch,
dass das politische Veränderungspotenzial von TrO noch nicht ansatzweise
ausgeschöpft ist. Methoden wie die Zukunftswerkstatt oder Aktionsformen

57 PONGRATZ 1978 [Anm. 46], 474.


58 COHN 2012 [Anm. 20], 86.
59 COHN zitiert nach LÖHMER, Cornelia / STANDHARDT, Rüdiger: TZI – Die Kunst, sich
selbst und eine Gruppe zu leiten. Einführung in die Themenzentrierte Interaktion, Stutt-
gart: Klett-Cotta 42015, 37.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 445

wie ein Smartmob könnten dabei spannende Elemente einer politischen


Handlungsorientierung darstellen.60

4 Fazit und Ausblick

Die vorausgegangenen Überlegungen haben verdeutlicht, dass TrO eine


politische Dimension besitzen und kritisch-emanzipatorische Bildung er-
möglichen können. Positiv hervorheben lässt sich, dass sowohl für die
Schüler*innen als auch für die Teamer*innen selbst, die auf Fortbildungen
und Tagungen ihren eigenen Horizont erweitern können, Bildung im em-
phatischen Sinn stattfinden kann, da es optimalerweise wenig bis keine ex-
terne Zwecksetzung gibt. Absetzung und Abgrenzung von Schule als
Raum der Selektion ist dabei besonders wichtig, weil so sowohl der „Ge-
fahr einer Überanpassung an schulspezifische Habitusforderungen“ als
auch der Erfahrung, „in einem selektiven Bildungssystem sehr früh Aus-
grenzung und Nichtanerkennung“61 zu erleben, zumindest partiell entge-
gengewirkt werden kann. Zudem kann es mithilfe von TZI gelingen, Bil-
dungsprozesse zu initiieren, die indirekt gruppenbezogener Menschen-
feindlichkeit entgegenwirken.62 Kritisch hervorgehoben werden muss,
dass diese Konsequenzen nicht automatisch eintreten, sondern gerade der
Kontrastcharakter zur Schule explizit zu reflektieren ist, um zu verhindern,
dass TrO zu einer affirmativen Wohlfühlveranstaltung verkommen. Es ist
in der Tat von den Teamer*innen und ihrem Bildungsverständnis abhän-
gig, inwiefern auf TrO über einen individualistischen Ansatz hinaus auch

60 Vgl. den Beitrag von Alexander WOHNIG in diesem Band.


61 AFJ 2017 [Anm. 2], 16.
62 HERBST, Jan-Hendrik / HOLBEIN, Christoph: Die TZI als Ansatz humanistischer Gesell-
schaftstherapie. Reaktualisierung eines ureigenen Anspruchs im Spiegel radikaler De-
mokratietheorien, in: Themenzentrierte Interaktion 31 (2017), 79–87.
446 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer

eine politische Dimension in die Lernprozesse eingetragen werden und kri-


tisch-emanzipatorische Bildung ermöglicht werden kann.

Autor*innenangaben: Friederike Bartmann arbeitet als pädagogische Referentin


bei der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW.
Jan-Hendrik Herbst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Religionspädagogik
an der TU Dortmund. Simon Schäfer ist Lehrer für Mathematik und Philosophie
am Gymnasium im Loekamp (Marl). Alle drei haben am Ruth-Cohn-Institut In-
ternational die TZI Grundausbildung gemacht und waren jahrelang als Bildungs-
referentin bzw. Teamer*innen im TrO-Team der KSJ Münster tätig.
Kritisch-emanzipatorischer Religionsunterricht –
Grundlegende Überlegungen
am Beispiel des Themas ‚Christliche Tierethik‘

Markus Bürger und Sebastian Jendt


„Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach
den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So
kann sie dann in einer […] angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der
Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens […]
Antwort geben.“ (GS 4)
Abstract: Der in Gaudium et Spes auf dem II. Vaticanum formulierte Anspruch ist
von nicht minderer Bedeutung für den Religionsunterricht. Vor diesem Horizont
soll der folgende Beitrag am Beispiel der Tierethik Potenziale für einen kritisch-
emanzipatorischen Religionsunterricht erörtern, welcher aktuelle Krisenphäno-
mene aufdeckt, im Kontext globaler Strukturen der Ungerechtigkeit analysiert und
Konsequenzen aus christlicher Perspektive entwickelt. Die Frankfurter Erklärung
bietet einen wertvollen Impuls und Orientierungspunkt zur Systematisierung und
Vergewisserung des hier formulierten Ansinnens.

1 Religionsunterricht for Future?

Am 20. August 2018 verweigerte die damals 15-jährige Klimaschutzakti-


vistin Greta Thunberg erstmals den Unterrichtsbesuch. Sie saß stattdessen
täglich vor dem schwedischen Reichstagsgebäude und streikte ‚fürs
Klima‘. Nach eigenen Angaben wurde ihr Interesse für das Thema bereits
zuvor geweckt: „Mit 12 entschloss ich mich, kein Fleisch mehr zu essen
und niemals zu fliegen.“1 Es entwickelte sich eine Jugendbewegung, die

1 Zitiert nach: WOLFF, Reinhard: Greta schwänzt die Schule – fürs Klima, in: https://
taz.de/15-jaehrige-Aktivistin-aus-Schweden/!5528023/ [abgerufen am 09.08.2019].

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_25
448 Markus Bürger und Sebastian Jendt

auf strukturelle Zusammenhänge globaler Missstände hinwies und die Ein-


haltung des Pariser Übereinkommens von 2015 einforderte.

Thomas von Aquin schreibt in seiner Summa contra gentiles: „Ein Irrtum
über die Geschöpfe mündet in ein falsches Wissen über Gott und führt den
Geist des Menschen von Gott fort.“2 Wenn Thomas recht hat, führt die
Ausblendung der Tiere aus Theologie und Religionsunterricht in ein fal-
sches Gottesbild.3 Die Auseinandersetzung mit den Mitgeschöpfen berühre
vielmehr existenzielle Fragen des menschlichen Daseins. Nun werden den
streikenden Schüler*innen kaum die Worte des Kirchenvaters zu Ohren
gekommen sein. Dennoch ergibt sich aus religionspädagogischer Perspek-
tive die Herausforderung, die Motive der Fridays for Future Bewegung in
Verantwortung für die Welt theologisch zu reflektieren und Impulse für
das eigene Handeln zu setzen.

Die zum großen Teil aus dem Bildungssektor stammenden Autor*innen


der Frankfurter Erklärung nehmen die deutlich werdenden sozial-ökologi-
schen Krisen, Transformationsprozesse und gesellschaftlichen Impulse
auf, um Konsequenzen für die eigenen Aufgabenbereiche zu entwickeln,
um den Herausforderungen der Gegenwart gerecht zu werden (FFE 1). Das
Unterrichtsfach ‚Religion‘, das sich im Sinne des II. Vatikanums den Zei-
chen der Zeit verpflichtet hat, muss sich in besonderer Weise diesen Prob-
lemen stellen, um seinen Anspruch gegenüber den Schüler*innen ange-
messen wahrzunehmen. In der Frankfurter Erklärung wird insgesamt die
Bedeutung der Politischen Bildung herausgestellt. Wird diese religionspä-
dagogisch adaptiert, bleibt es eine Herausforderung für Religionslehrer*in-
nen, die religiöse Dimension eines politisch orientierten Unterrichts zum

2 AQUIN, Thomas [von]: Summa contra gentiles II. c3., zitiert nach: LÜKE, Ulrich:
Mensch – Natur – Gott: Naturwissenschaftliche Beiträge und theologische Erträge,
Münster: LIT 2002, 156.
3 Vgl. den Beitrag von Simone HORSTMANN in diesem Band.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 449

Ausdruck zu bringen. Der folgende Beitrag soll Potenziale und Orientie-


rungsmöglichkeiten am Beispiel der ‚Tierethik‘ aus christlicher Perspek-
tive eröffnen und diskutieren.

2 Kritisch-emanzipatorischer Religionsunterricht
„Es ist wichtig zu unterscheiden, dass Lehren nicht die Übertragung des Begrei-
fen des Objektes auf den Schüler ist, sondern bedeutet, ihn in dem Sinne zu for-
dern, dass er als wissendes Subjekt in der Lage ist, zu begreifen und das Begrif-
fene zu kommunizieren. Darin liegt für mich die Bedeutung, der Schülerin mit
ihren Zweifeln, Denkanstößen und ihrer vorläufigen Inkompetenz zuzuhören.
Und beim Zuhören lerne ich mit ihr zu sprechen.“4

Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire beschreibt in seiner „Pädagogik


der Autonomie“ das, was heute viele Pädagog*innen auf den ersten Blick
unterstreichen würden: Der Lehrende, der als Lernbegleitung den Schü-
ler*innen zu selbständigen und selbstdenkenden Subjekten verhilft. Liest
man Freires Werke dagegen gründlich, ergeben sich fundamentale Unter-
schiede zu einem Konzept des selbstgesteuerten Lernens, das sich gegen-
wärtig immer mehr zu manifestieren scheint. So hebt Norbert Mette im
Anschluss an die Religionspädagogen Thomas Krobath und Martin Jäggle
eine
„zunehmende Ökonomisierung des Bildungswesens [hervor], die für die Schulen
zur Folge habe, dass zugunsten der Vermittlung und Aneignung praktisch ver-
wertbaren Wissens kaum mehr Platz für eine (kritische) Allgemeinbildung bleibe
und dem Erwerb von Kompetenzen, die ‚für die Reproduktion demokratischer
Verhandlungsformen und partizipativer Gestaltungsprozesse als Grundlage einer
sich weiter demokratisierenden Gesellschaft‘ benötigt würden, bestenfalls eine
nachgeordnete Bedeutung beigemessen würde.“5

4 FREIRE, Paulo: Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis,
Münster: Waxmann 2008, 109.
5 METTE, Norbert: Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“, in:
KROBATH, Thomas / LEHNER-HARTMANN, Andrea / POLAK, Regina (Hg.): Anerken-
nung in religiösen Bildungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven (= Wiener Forum
für Theologie und Religionswissenschaft 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2013, 277–287, 277. Mette bezieht sich dabei auf folgenden Text: Vgl. KROBATH, Tho-
450 Markus Bürger und Sebastian Jendt

Bei Krobath und Jäggle gipfelt der Befund in einer Diagnose der „implizi-
ten ‚Religion’ der Leistungsgesellschaft“6.

Entgegen einer auf „das Zustandebringen standardisierungsfähiger Output-


Leistung getrimmt[en]“7 Vorstellung von Lernen hat ein kritisch-emanzi-
patorischer Religionsunterricht die Chance, dem auf ökonomische Ver-
wertbarkeit hin reduzierten Kompetenzbegriff entgegenzusteuern, indem
er sich als widerständiger Unterricht wahrnimmt, der „Fremdbestimmung
und Selbstentmündigung“ (FFE 6) wahrnimmt und aufzeigt. Kritisch-
emanzipatorische politische Bildung beginne dort, so die Frankfurter Er-
klärung, „wo solche Normsetzungen und Konstruktionen sichtbar ge-
macht, kritisiert und infrage gestellt werden“ (FFE 4). Genau dies soll Re-
ligionsunterricht leisten: ganz im jesuanischen Sinne müssen die Schü-
ler*innen im Religionsunterricht durch eine prophetische Auseinanderset-
zung mit Götzenreligionen die Fähigkeit zur Entmystifizierung entwi-
ckeln, die aufdeckt und entlarvt. Ein kritisch-emanzipatorischer Religions-
unterricht, der sowohl sich als auch das dialogische Verhältnis zwischen
Schüler*innen und Lehrer*innen ernst nimmt, muss ein prophetischer Ein-
spruch gegen die Religion des Kapitalismus und gegen seine Realitäten
sein. Er ist vielmehr Werbung für das Befreiungsprojekt ‚Israel‘ und die
Befreiungsbewegung der jesuanischen Ekklesia. Der Religionsunterricht

mas / JÄGGLE, Martin: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung.
Ein Beitrag zum Schulentwicklungsdiskurs in Österreich, in: Amt und Gemeinde 1/61
(2010), 51–63.
6 KROBATH / JÄGGLE 2010 [Anm. 5], 54. Bereits der lateinamerikanische Befreiungsthe-
ologe Jon Sobrino hat in der ökonomischen Verfassung der Gesellschaft quasireligiöse
Strukturen erkannt und als ‚Götzendienst‘ ausgemacht. Vgl. hierzu SOBRINO, Jon:
Christologie der Befreiung, Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 22008, 251–253.
Papst Franziskus beklagt in Evangelii Gaudium dieses Beziehungsverhältnis des Men-
schen zur Wirtschaft und kommt zu dem Schluss: „Diese Wirtschaft tötet.“ (EG 53).
7 KROBATH / JÄGGLE 2010 [Anm. 5], 54.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 451

kann in Anlehnung an Mt 25, 31–46 eine „Historische Kompetenz“8 ent-


wickeln, die die Schüler*innen Fragen stellen lässt: Wem gehorchen? Wer
kommt zu Wort? Auf welche Geschichten soll gehört werden? Die Au-
tor*innen der Frankfurter Erklärung stellen ähnliche Fragen, die relevant
für eine kritisch-emanzipatorische Bildung sind:
„Welche gesellschaftlichen Grundprobleme werden öffentlich thematisiert, wel-
che Stimmen werden gehört und welche Akteur*innen setzen ihre Vorstellungen
des Gemeinwohls durch? Welche Gründe gibt es für den Fremd- und Selbstaus-
schluss ungleich positionierter Gruppen und Akteur*innen?“ (FFE 3)

Der Sozialphilosoph Oskar Negt verfolgt mit der Konzeption von ‚Gesell-
schaftlichen Kompetenzen‘ einen Ansatz, welcher eine Reduzierung des
Kompetenzbegriffs auf employability und flexibility für ökonomische Zwe-
cke zu überwinden versucht. Um Kritik-, Reflexions- und demokratische
Partizipationsfähigkeit der Menschen zu fördern, entwickelte Negt alterna-
tive Kompetenzbereiche, welche jedoch bedingt als methodisch-didakti-
sches Modell, denn vielmehr als inhaltliche Zieldimensionen politischer
Bildung zu verstehen sind. Zentrale Bereiche bei Negt sind Identitätskom-
petenz/Interkulturelle Kompetenz, Technologische Kompetenz, Gerechtig-
keitskompetenz, Ökologische Kompetenz, Historische Kompetenz als auch
Ökonomische Kompetenz.9 So ist Gerechtigkeitskompetenz beispielsweise
als die Entwicklung einer Sensibilität für (un-) rechtes Verhalten und Öko-
logische Kompetenz als ein Bewusstsein für das Beziehungsverhältnis zwi-
schen Mensch und Natur zu verstehen, während die Historische Kompe-

8 Vgl. NEGT, Oskar: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen:
Steidl 2010. Siehe auch: ZEUNER, Christine: Gerechtigkeit und Gerechtigkeitskompe-
tenz: Diskurs und Praxis für eine kritische politische Bildung, in: REPORT 3/30 (2007),
39–48.
9 Vgl. EBD.
452 Markus Bürger und Sebastian Jendt

tenz die Erinnerung an die Vergangenheit mit der Utopiefähigkeit für die
Zukunft verknüpft.10

Im Anschluss an die Systematisierung durch Negt kann der Religionsun-


terricht das Horchen auf die Stimmen der Armen, Leidenden, Ausgeschlos-
senen, Vergessenen, Untergegangenen einüben. „Unser Gott ist nicht mit
den Tüchtigen. Unser Gott ist mit den Verlierern, denn Erfolg ist keiner
der Namen Gottes“ (M. Buber). Vielmehr muss der Religionsunterricht ein
Ort des Verlernens von Kapitalgläubigkeit sein, wo Möglichkeiten einer
anderen Welt diskutiert werden, in der Widerstand gegen ökonomistische
und konsumistische Verführungen gelebt wird.11 Die Adressaten der Bibel
sind zu allererst die Armen und auch Freire sprach mit seiner Pädagogik
der Unterdrückten zunächst die Armen an. Trotzdem können wir von
Freire lernen und ganz im befreiungstheologischen Sinne die Bibel zusam-
men mit den Schüler*innen wieder von unten her bzw. mit den Augen der
Verlierer*innen lesen, auch der schulischen Verlierer*innen. Wenn wir
den biblischen Texten ihren ökonomisch-politischen Stachel wieder ein-
pflanzen, merken wir, dass die Armen selbst unsere Lehrer*innen werden
können. In dieser Tradition steht auch Papst Franziskus, der erste Papst aus
Lateinamerika, der bereits durch seine Namensgebung symbolisiert, dass
er der Anwalt der Armen und der Tiere sein möchte. In seiner sog. Um-
weltenzyklika Laudato si‘ erweitert Papst Franziskus in Anlehnung an die
Option für die Armen nun den Armutsbegriff auf die Gesamtheit der
Schöpfung (u. a. die Tiere) (vgl. LS 92). Wenn Franziskus von den Armen
als unseren Lehrenden spricht, dann tut er dies nicht in einer romantisie-

10 Vgl. HUFER, Klaus-Peter: Oskar Negt (geb. 1933): „Demokratie muss gelernt werden”,
in: GLOE, Markus / OEFTERING, Tonio (Hg.): Politische Bildung meets Politische The-
orie (= Votum. Beiträge zur politischen Bildung und Politikwissenschaft 1), Baden-
Baden: Nomos 2017, 229–243, 236.
11 Vgl. RICKERS, Folkert: Politische Bildung im Religionsunterricht und der Kapitalismus,
in: Keryks 9 (2010), 145–172.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 453

renden Art. Er träumt von einer Kultur der Armut in Abgrenzung zur Kul-
tur des Überflusses, ohne die ein gemeinsames Leben zwischen Mensch,
Tier und Natur auf diesem Planeten bald nicht mehr möglich sein wird,
denn die Ressourcen werden knapp, die Tiere sterben aus und das Klima
verändert sich drastisch. Die Trennlinie zwischen religiöser und politischer
Bildung wird im Religionsunterricht folglich immer dünner.12

Nur schwerlich aber gelingt es, die Haltung der eigenen Behäbigkeit und
Bequemlichkeit zu durchbrechen. Dies sollen die Schüler*innen in erster
Linie wahrnehmen, ohne dass sie durch einen blinden Aktionismus über-
fordert werden. Vielmehr soll es darum gehen, herauszustellen, dass tief-
gehende strukturelle Veränderungen nur erreicht werden können, wenn
sich Menschen dauerhaft und kontinuierlich zusammenschließen und en-
gagieren.13 Grundlegend dafür ist die Überwindung eines traurig machen-
den, isolierenden Individualismus, der suggeriert, jeder von uns stünde al-
lein vor den Problemen der Welt und müsse diese durch individuelle mo-
ralische Anstrengungen, wie etwa einem richtigen ethisch-nachhaltigen
Konsum, bearbeiten. Hierfür ist es wichtig, den Schüler*innen Beispiele
und Orientierungspunkte vorzustellen, um einem eventuellen Gefühl der
Überwältigung entgegenzuwirken (FFE 4).

Die Schüler*innen sollen anhand der hier vorgestellten Unterrichtsbau-


steine erkennen, dass die Bekämpfung von strukturellen Problemen und
Herausforderungen nicht bedeuten kann, in Selbstbezüglichkeit zu erstar-
ren, sondern vielmehr mutig die Initiative zu ergreifen und prophetisch ge-
gen ungerechte Strukturen aufzutreten. Dann wird einem Wandel im
Geiste von Solidarität und Barmherzigkeit der Weg bereitet, an dem Schü-
ler*innen aus christlicher Verantwortung heraus politisch partizipieren

12 Vgl. EBD.
13 Vgl. das Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.
454 Markus Bürger und Sebastian Jendt

dürfen. In Bezug auf die Tiere heißt das: nur ein Umdenken bezüglich un-
serer Beziehung der Natur und dem Tier gegenüber sowie nur ein Umden-
ken in unserer Art zu wirtschaften und Profit zu maximieren, wird unseren
Planeten noch retten können. Dies zu begreifen, heißt am Religionsunter-
richt zu partizipieren. Die Frankfurter Erklärung verweist in diesem Kon-
text auf gesellschaftliche Kontroversität als Herausforderung und Prinzip
für den kritisch-emanzipatorischen Religionsunterricht. „Eine echte politi-
sche Kontroverse macht unterschiedliche Interessen, Denkweisen und Pra-
xen sowie Alternativen gesellschaftlicher Zukunftsentwicklung sichtbar.“
(FFE 2) Zugleich darf Kontroversität für den Religionsunterricht aus christ-
licher Perspektive nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden.14 Hier wird
in besonderer Weise das Spannungsfeld zwischen pluraler Meinungsviel-
falt und christlich begründetem Handlungsrahmen deutlich, in dem sich
der Religionsunterricht gesellschafts- und zukunftsfähig zu positionieren
hat.

3 Christliche Tierethik als Unterrichtsreihe im


Religionsunterricht15

„Wir sind nicht Gott.“ (LS 67) Diese Aussage Papst Franziskus‘ aus seiner
Umweltenzyklika Laudato si‘ steht im Kontext zum biblisch gegründeten
Umgang des Menschen mit der Schöpfung. Da der Inhalt der Aussage
scheinbar evident ist, wird die Dimension der Kritik des Papstes umso
deutlicher: Aus einem biblisch falschverstandenen Anthropo-Zentrismus

14 Eine Analyse zu Neutralität und Parteilichkeit unter Bezugnahme auf die Frankfurter
Erklärung bietet der Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
15 Die in den folgenden Fußnoten angegeben Materialen sind hier bewusst auf Internet-
seiten beschränkt, um einen möglichst problemlosen Zugriff für die Lehrperson zu ge-
währleisten. Weiterhin wird auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet, die Materialen
den Bedürfnissen der jeweiligen Lerngruppen anzupassen. Ein umfassendes Unter-
richtsmodell zum Thema findet sich bei BÜRGER, Markus / JENDT, Sebastian / HAGEN-
CORD, Rainer: Christliche Tierethik (= EinFach Religion), Paderborn: Schöningh 2017.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 455

sieht sich der Mensch als Krone der Schöpfung.16 Eine Distanzierung von
einem verantwortungslosen Umgang mit der Schöpfung und das Erkennen
konkreter Verantwortung unter Berücksichtigung persönlicher Handlungs-
spielräume stellt eine zentrale Zielsetzung für den Unterricht in den Sekun-
darstufen I und II dar. Der Aufbau des vorliegenden Praxisbeitrags orien-
tiert sich am Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln. Die Schüler*innen
sollen in ihrer Lebenswelt abgeholt werden, um Missstände auf globaler
Ebene erfassen zu können. Dies geschieht durch konkrete Verknüpfungen
zwischen persönlichem Nahrungsmittelkonsum und globaler Dimension
der Produktion, welche nicht zuletzt Ausdruck im Hunger von 25% der
brasilianischen Bevölkerung am anderen Ende der Welt findet (Kapitel
3.1). Die Schüler*innen nehmen die Perspektive von notleidenden Men-
schen in der sog. Dritten Welt ein und erkennen dadurch die Zeichen der
Zeit17, indem sie Hunger, Umweltzerstörung in Zusammenhang mit der
Tierfutterproduktion und dem Fleischkonsum setzen, sodass die biblische
Botschaft von der ‚Bewahrung der Schöpfung‘ in die Lebenswelt der Schü-
ler*innen selbst tritt. Dass eine andere Welt möglich ist, lässt sich u. a. an-
hand der Darstellung alternativer Tierhaltungskonzepte erschließen (Kapi-
tel 3.2). Die Darstellung der konventionellen Tierhaltung verdeutlicht zu-
gleich die Unmenschlichkeit der gegenwärtigen Praxis. Die Erarbeitung
des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier in der ersten Schöpfungser-
zählung ist hierfür zentral (Kapitel 3.3). Der Baustein verdeutlicht Konse-
quenzen theologischer Fehlinterpretationen, die Eingang ins kollektive Be-
wusstsein der Menschen gefunden haben. Durch einen historisch-kriti-
schen Umgang mit biblischen Zeugnissen erkennen die Schüler*innen im
schöpfungstheologischen Diskurs eine Anthropologie, die den Menschen
als irdisches Wesen und Teil der Evolution sieht und somit eine vertiefte

16 Vgl. den Beitrag von Simone HORSTMANN in diesem Band.


17 Die Frankfurter Erklärung drückt sich wie folgt aus: „Eine an der Demokratisierung
gesellschaftlicher Verhältnisse interessierte Politische Bildung stellt sich den Umbrü-
chen und vielfältigen Krisen unserer Zeit“ (FFE 1).
456 Markus Bürger und Sebastian Jendt

Reflexion der unleugbaren Verwandtschaft von Mensch und Tier mit sich
zieht. Indem die Schüler*innen Glaubensaussagen in Beziehung zum eige-
nen Leben und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit setzen sowie ihre Be-
deutung aufzeigen, eröffnet sich für sie die Möglichkeit der Urteilsbildung
in religiösen und ethischen Fragen. Die Schüler*innen beurteilen und be-
werten mit Blick auf sensible ökologische und politische Fragen der Mas-
sentierhaltung, des überhöhten Fleischkonsums, der Vernichtung ganzer
Ökosysteme und der Verelendung der sog. Dritten Welt Zusammenhänge
und reflektieren sie im Lichte der Bibel (Kapitel 3.4).

3.1 Warum unsere Hühner den Regenwald aufessen


und 25% der Brasilianer hungern
„Wenn es so ist, dass aufgrund unseres Fleischkonsums Menschen aus Latein-
amerika vertrieben werden von ihren Höfen, dass sie ins Elend und in die Armut
getrieben werden, weil wir Kraftfutter brauchen für unser tägliches Fleisch auf
unseren Tellern, dann kann man dieses Fleisch nicht mehr mit gutem Gewissen
essen.“18

Anton Rotzetter, Mitbegründer des Institutes für Theologische Zoologie,


fasst in dem Radiobeitrag des Bayerischen Rundfunks zusammen, worum
es in diesem Einstieg in die Unterrichtsreihe gehen soll: Angelehnt an das
Kapitel ‚Warum unsere Küken den Regenwald aufessen und 25% der Bra-
silianer hungern‘ aus der Dokumentation We Feed the World19, soll der
Zusammenhang von Tierfutterproduktion, Umweltzerstörung und dem Er-
nährungsproblem in der sog. Dritten Welt verdeutlicht werden, um den
Schüler*innen die globalen Auswirkungen des europäischen Fleischkon-
sums transparent zu machen. In Deutschland werden jährlich 750 Millio-
nen Tiere geschlachtet, davon ca. 628 Millionen Hühner. Die Tendenz ist

18 ROTZETTER, Anton: Religionen als Anwälte der Tiere, in: http://www.br.de/radio/bay-


ern2/wissen/radiowissen/tiere-seele-religionen-100.html [abgerufen am 09.08.2019],
20.53–21.12.
19 WAGENHOFER, Erwin: We Feed the World – essen global, Berlin: DCM Film Distribu-
tion 2005.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 457

steigend. Der überwiegende Teil der Hühner stammt aus der sog. Massen-
tierhaltung, in der die Tiere fast ausschließlich mit Soja gefüttert werden.
Für eine schnelle Mästung der Tiere ist Soja die ideale Lösung; hinzu
kommt der finanzielle Aspekt: Soja aus Lateinamerika zu importieren ist
günstiger als auf lokale Futteralternativen zurückzugreifen. Bedenkt man,
dass Deutschland bei der benötigten Menge an Futter (1,7 Millionen
Schlachtungen von Hühnern am Tag!) bei weitem nicht genügend Kapazi-
täten hätte, so viel Getreide anzubauen bzw. Tierfutter zu produzieren,
scheint dieser Weg in einem global agierenden Wirtschaftssystem unum-
gänglich. In Lateinamerika muss seit Jahren der Regenwald weichen, da-
mit dort Soja-Plantagen für Tierfutter entstehen. Aus diesem Umstand fol-
gen nun zwei relevante Aspekte für den Unterricht. Zum einen werden in-
digene Bevölkerungen aus ihrer Heimat vertrieben, damit Wald gerodet
werden kann, und in Städte getrieben, in denen sie weder ihre eigene Kul-
tur entfalten, noch der Armut entrinnen können. Zum anderen greifen wir
durch die Rodung des Regenwaldes dermaßen stark in unser Ökosystem
ein, dass der Kampf um die – theologisch gesprochen – ‚Bewahrung der
Schöpfung‘ für zukünftige Generationen fast aussichtslos zu sein scheint.
In ganz Brasilien werden mittlerweile Plantagen errichtet (Mango, Zucker-
rohr für Biosprit, Soja für Tierfutter etc.), die künstlich bewässert werden
müssen. Dafür werden Flüsse wie z. B. der Sao Francisco in Brasilien um-
geleitet. In der Folge verlieren Menschen ihre Existenzgrundlage, für die
der Fluss lebensnotwendig ist. Vermehrt findet man in Brasilien vertrock-
nete Flüsse auf der einen Seite und zum anderen riesige private Stauseen.
Nur einige Kilometer entfernt von diesen Privatseen, die der Plantagenbe-
wässerung dienen, leben Familien, die keinen Zugang zu Wasser haben.
Sie sterben verfrüht an Hunger und Durst.

Den Schüler*innen soll an dieser Stelle kein schlechtes Gewissen gemacht


werden, sie sollen vielmehr aufgeklärt werden, dass wir durch unser All-
tagsleben, unseren Konsum und besonders durch unseren Fleischverzehr
verflochten sind mit der globalen Umweltzerstörung und der Entstehung
458 Markus Bürger und Sebastian Jendt

von Armut. Darüber hinaus sollen sie verstehen, dass beides kein unum-
kehrbarer Zustand ist, sondern – im Sinne vom oben erwähnten widerstän-
digem Unterricht – strukturell verändert werden kann.

Die Schüler*innen erarbeiten anhand der Filmausschnitte und Texte20 die


Problematik der Frage Warum fressen unsere Hühner den Regenwald auf
und hungern 25% der Brasilianer? und erkennen den Zusammenhang von
Tierfutterproduktion, globaler Armut und Wassermangel. „Ausgeschlos-
sene und benachteiligte Positionen“ werden an diesem Beispiel exempla-
risch sichtbar gemacht, was laut der Frankfurter Erklärung „Aufgabe einer
kritisch-emanzipatorischen politischen Bildungsarbeit ist“ (FFE 3).

3.2 Gegenüberstellung von konventioneller und artgerechter Tierhaltung

In diesem Baustein sollen konventionelle und artgerechte Tierhaltung an-


hand der Dokumentarfilme We feed the world und einem Interview mit
Karl Schweisfurth gegenübergestellt werden, um den unterschiedlichen
Umgang mit Tieren in der Fleischproduktion und die damit einhergehende
Kontroversität zu verdeutlichen. Unterscheiden sollen die Schüler*innen
neben dem Umgang mit dem Tier auch die Rolle des Menschen während
des Produktionsprozesses. Hierbei wird deutlich, dass nicht nur die Würde
des Tieres in der konventionellen Tierhaltung enorm leidet, auch der
Mensch verkommt durch die maschinelle Ausübung des Tötens. Die Schü-
ler*innen beschäftigen sich in diesem Baustein sowohl mit der Schlach-
tung von Hühnern als auch von Schweinen. Den Schüler*innen sollen hier
Alternativen zur Massentierhaltung offenbart werden. Mittels einer Doku-

20 BÖRNECKE, Stefan: Deutscher Hunger vernichtet Regenwald. Umweltschäden durch


Fleisch, in: https://www.fr.de/wirtschaft/deutscher-hunger-vernichtet-regenwald-1136
7511.html [abgerufen am 09.08.2019]; LIEBRICH, Silvia: Fleisch frisst Land. Raubbau
am Regenwald, in: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/raubbau-am-regenwald-
fleisch-frisst-land-1.1161723 [abgerufen am 09.08.2019].
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 459

mentation über Karl Schweisfurth,21 dem ehemaligen Besitzer der Firma


Herta, lernen die Schüler*innen die ökologische Tierhaltung kennen. Auch
hier erkennen sie ihre eigene Verflechtung in das Problem Massentierhal-
tung: Den Schüler*innen wird klar, dass eine flächendeckende ökologische
Tierhaltung in Deutschland nur dann möglich ist, wenn jeder seinen
Fleischbedarf reduziert. Weideplatz für Tierhaltung und Tierfutterproduk-
tion ist nicht vorhanden, wenn jeder Wert auf sein tägliches Fleisch legt.
Um eine Überwältigung der Schüler*innen zu vermeiden, steht der Leh-
rende in der Verantwortung, keine persönlichen Schuldzuweisungen an der
Massentierhaltung zuzulassen; vielmehr sollte die Lehrkraft darauf verwei-
sen, dass die Massentierhaltung in Strukturen des kapitalistischen Wirt-
schaftssystems verwoben ist und demzufolge eine strukturelle Umkehr ge-
nauso von Nöten ist wie eine persönliche. An dieser Stelle zeigt sich so-
wohl die politischen wie auch sozialen Dimensionen im Religionsunter-
richt.22

Darüber hinaus können die Schüler*innen mit den Begriffen Nutztiere und
Haustiere konfrontiert werden. Eine Beschäftigung mit den Charakterei-
genschaften eines Schweines23 und eines Huhnes lässt die Schüler*innen
sehr schnell erkennen, dass diese Termini lediglich künstliche Konstrukte
des Menschen sind und nichts mit den eigentlichen Gewohnheiten der
Tiere zu tun haben. Die Ähnlichkeit des Schweines mit dem Hund z. B.
wird die Schüler*innen verblüffen und ihre wahrscheinlich vorhandenen
Meinungen vom Schwein als Fleischprodukt aufbrechen.

21 Interview mit Karl-Ludwig Schweisfurth, München: Seventh Generation 2009, in:


https://www.youtube.com/watch?v=AoOWmeIxZYA [abgerufen am 09.08.2019].
22 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Art. Politik, Religionsunterricht, in: WiReLex 2015 [abgeru-
fen am 19.09.2019].
23 Leider Kein Schwein gehabt. Schweinehaltung in Österreich, Wien: VGT 2007, in:
https://www.youtube.com/watch?v=RsHtU9zWCgQ [abgerufen am 09.08.2019].
460 Markus Bürger und Sebastian Jendt

Die Schüler*innen werden durch das Aufdecken der Ungerechtigkeiten


Tier und Mensch gegenüber Wut empfinden.24 Auch das ist wichtig für den
Religionsunterricht: „Politisches Lernen und Handeln basiert nicht allein
auf rationalen Analysen und Entscheidungen“, so die Frankfurter Erklä-
rung, „politische Positionierungen zeigen sich in Wut und Begeisterung,
Ablehnung und Engagement.“ (FFE 5) Ebenso denkbar ist das Gefühl der
Wut in Bezug auf die Thematisierung überhaupt, da unter Umständen tief
verankerte Haltungen und Lebensgewohnheiten hinterfragt werden müs-
sen. Es besteht die Gefahr, dass aus der Kontroversität über den Sachver-
halt ein Konflikt innerhalb des Klassenverbandes entsteht. Die Lehrkraft
sollte nicht in Versuchung geraten, die Haltungen der Schüler*innen mo-
ralisierend zu werten; die Quellen müssen für sich sprechen können. Der
begründete Verweis auf die Verflechtung struktureller Gegebenheit kann
hier jedoch eine entlastende Funktion haben.

3.3 Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier in der ersten


Schöpfungserzählung

In diesem Baustein wird zunächst die über Jahrhunderte tradierte Formel


‚Der Mensch als die Krone der Schöpfung‘ hinterfragt, um sie theologisch
begründet um die Formel ‚Der Mensch als Schützer im Lebenshaus‘ zu
ersetzen. Zunächst wird der sog. Herrschaftsauftrag ‚Macht euch die Erde
untertan‘ in Gen 1,28 problematisiert. Eine Analyse des sog. Herrschafts-
auftrages in der ersten Schöpfungserzählung geschieht anhand eines Tex-

24 In ethisch-moralischen Kontexten, wie dieser Unterrichtsreihe zur ‚Christlichen Tie-


rethik‘, ist das Phänomen des Religionsstunden-Ichs vermehrt vorzufinden, welches –
trotz aller damit verbundenen Problematik – auch positive Aspekte umfasst: „Zum ei-
nen wird betont, dass man dem Schüler das Recht lassen sollte, seine Subjektivität zu
verbergen und die Maske der Schülerrolle aufzusetzen, zum anderen wird hierin gera-
dezu eine Chance erblickt: Der Schüler/die Schülerin begibt sich in einen Schutzraum,
von dem er/sie Antworten wagen kann, ohne das Gefühl zu haben, zu viel von sich
preisgegeben zu haben“ (ROTH, Michael: Art. Das Religionsstunden-Ich, in: WiReLex
2018 [abgerufen am 19.09.2019]).
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 461

tes von Erich Zenger und altorientalischen Rollsiegeln,25 wodurch das jü-
disch-christliche Verständnis von der Verantwortung des Menschen ge-
genüber seinen Mitgeschöpfen verdeutlicht wird. Im Kontext von Schöp-
fung und Verantwortung fällt häufig der Begriff ‚Sünde‘. An dieser Stelle
ist es notwendig, den Begriff der ‚Strukturellen Sünde‘ einzuführen, der
für die Theologen Hagencord und Rotzetter vom Institut für Theologische
Zoologie elementare Wichtigkeit besitzt: Nicht der einzelne Bauer, der
sich aus ökonomischen Gründen den Regeln des Marktes unterwirft, trägt
die Schuld an der Massentierhaltung, sondern das wirtschaftliche System
der profitorientierten Massentierhaltung selbst. Große Schlachthöfe wer-
den von der EU gefördert und subventioniert, während ökologische Bauern
stets um ihre Existenz kämpfen müssen. Es sind feste Strukturen und Ver-
träge, die Einzelpersonen oftmals die Möglichkeit nehmen, gerecht und
fair zu produzieren. Es sind Strukturen, die sich in der Geschichte mani-
festiert haben, nicht dem Willen Gottes entsprechen und deswegen zurecht
als ‚sündhaft‘ zu bezeichnen sind.

Im öffentlichen Diskurs wird der Verweis auf sachlogische Diskrepanzen


immer wieder herangezogen, um die Bibel als Glaubensfundament einer
Religion zu disqualifizieren. Hier handelt es sich um eine Reduzierung auf
qualitativer Ebene, wenn man die Bibel lediglich als einen Bericht zur Ver-
mittlung historischer Sachverhalte verstehen möchte. Die erste Schöp-
fungserzählung ist in der Zeit des babylonischen Exils entstanden und in
diesem Kontext als Trost- und Hoffnungsgeschichte zu deuten. Welche
Bedeutung haben biblische Berichte aber für Christen heute? Aus der
Ebenbildlichkeit Gottes und aus der Schöpfungserzählung als dem „er-

25 ZENGER, Erich: Theologische Grundlagen: Gottes Schöpfung – Lebenshaus für alle.


Die Botschaft der biblischen Schöpfungstheologie, in: Kappes, Michael (Hg.): Gottes
Schöpfung feiern und bewahren. Materialien zur Gestaltung des Schöpfungstages und
der Schöpfungszeit 1. September bis 4. Oktober, Münster: ACK Nordrhein-Westfalen
2011, 8–19.
462 Markus Bürger und Sebastian Jendt

ste[n] ‚Wort Gottes‘ an uns“26 begründet sich eine besondere Verantwor-


tung für die Schöpfung aus christlicher Perspektive. Diese grundsätzliche
Verantwortung lässt sich an Grenzüberschreitungen wie z. B. dem Phäno-
men der Massentierhaltung als gegenwärtige Herausforderung konkretisie-
ren. Der Mensch lebt in einem Beziehungsgeflecht mit anderen Menschen
und mit der ganzen Schöpfung, die von gegenseitigen Abhängigkeitsstruk-
turen gekennzeichnet sind. Das Übel des anderen hat das eigene Übel zur
Folge. Gehorsam gegenüber Gott ist daher als Verantwortung für die Welt
und sich selbst zu verstehen.

3.4 Wie stehe ich als Christ zu diesem Thema?

Am Ende der Reihe findet eine multiperspektivische Auseinandersetzung


mit der Ausgangsfrage zur Entwicklung einer eigenen Stellungnahme bzgl.
der Nutztierhaltung unter besonderer Berücksichtigung der christlichen
Perspektive statt. Die Schüler*innen müssen nicht mit einer christlichen
Perspektive auf die Nutztierhaltung übereinstimmen. Jedoch erkennen sie,
dass eine christliche Position keine willkürliche Haltung ist, sondern Partei
für die ausgebeuteten Tiere ergreift. Durchaus im Sinne einer Option für
die Armen trifft Gott eine Option für die Schwachen (hier sind die Schwa-
chen die Tiere) und Ausgebeuteten, weil sie unter Bedingungen leben, die
so nicht von gottgewollt sind. Der christliche Gott ist also parteiisch.27
Christliche Nachfolge heißt demnach parteiisch Stellung zu beziehen und
sich dafür einsetzen, dass das himmelschreiende Unrecht umgekehrt und
das Schöpferhaus Gottes wieder eine Heimat für alle wird. Den Schüler*in-
nen wird in dieser Unterrichtsreihe deutlich, dass die Massentierhaltung
und ihre Folgen für Tier, Mensch und Umwelt Resultate des Kapitalismus

26 KEHL, Medard: Schöpfung. Warum es uns gibt, Freiburg im Breisgau: Herder 2010, 64.
27 Vgl. METTE, Norbert: Art. Gerechtigkeit, in: WiReLex 2016 [abgerufen am 19.09.
2019].
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 463

sind. Religionsunterricht stellt sich zusammen mit seinen Schüler*innen


„den Krisen unserer Zeit“ (FFE 1).

4 Ausblick

Wenn politisch motivierte Schüler*innen an den Fridays for Future Pro-


testen teilnehmen, dann machen es wohl nur die wenigsten aus religiöser
Überzeugung. Jedoch kann die christliche Botschaft hier Inspiration für
viele Jugendliche sein, an dieser politischen Aktion, an dieser historischen
Notwendigkeit zu partizipieren, um am Reich Gottes mitzuwirken. Glaube
steht immer im Spannungsverhältnis Gott – Mensch – Welt; ein Religions-
unterricht, der dies ernst nimmt, erkennt, dass religiöse Bildung immer zu-
gleich politische Bildung bedeutet: Sehen, was die ursächlichen ‚struktu-
rellen Sünden‘ für das Artensterben, die Massentierhaltung und die Um-
weltzerstörung sind; Urteilen, wie ein Idealzustand im Lichte des Evange-
liums aussehen müsste; Handeln, im Sinne von Reflexionen über christlich
motivierte Tierschutzpraxis. Im Religionsunterricht werden Alternativen
gesellschaftlicher Zukunftsentwicklung sichtbar gemacht: „Kontroversität
als didaktisches Prinzip“, wie es in der Frankfurter Erklärung heißt, „ar-
beitet Streitpunkte und grundlegende Dissense heraus, zeigt Gegensätze
auf und fördert kritisches Denken“ (FFE 2).

Autorenangaben: Markus Bürger ist Mitarbeiter am Institut für Theologische Zo-


ologie in Münster und Lehrer für Katholische Religionslehre, Philosophie und Ge-
schichte an der Friedrich-Spee-Gesamtschule in Paderborn. Sebastian Jendt ist
Lehrer für Katholische Religionslehre und Geschichte am Mariengymnasium in
Papenburg. Zusammen haben die Autoren die Unterrichtsreihe „Christliche Tie-
rethik“ in der Reihe „EinFach Religion“ herausgebracht.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen)
Begabtenförderung? Reflexion und Diskussion
am Beispiel von Ferienakademien im Cusanuswerk

Clara Debour

Abstract: Im Mai 2015 organisierte die Fachschaft Pädagogik des Begabtenförder-


werks Cusanuswerk eine Tagung zum Thema „Biographieförderung“. Ziel war es
das Bildungs- und Förderverständnis des Cusanuswerks auf seine praktische Um-
setzung hin zu überprüfen: Wie kann man Menschen dazu ermutigen, Subjekte
ihrer eigenen Bildungsbiographie zu werden und sich für Veränderung im eigenen
Leben und in der Gesellschaft einzusetzen? Ausgehend von den Ergebnissen der
Tagung und anhand der Frankfurter Erklärung wird das Bildungsprogramm des
Cusanuswerk beispielhaft reflektiert und Möglichkeiten, Grenzen und Alternati-
ven von kritischer politischer Bildung im Rahmen von Begabtenförderung disku-
tiert.

Kann es überhaupt eine kritische politische Bildung im Rahmen der (kirch-


lichen) Begabtenförderung geben? Um diese Frage genauer zu beantwor-
ten, wird im Folgenden exemplarisch das Cusanuswerk und dessen Bil-
dungsprogramm in den Blick genommen. Diese Auswahl erscheint an die-
ser Stelle sinnvoll, weil im Cusanuswerk der Auftrag von politischer und
religiöser Bildung verbunden wird.

In der Bundesrepublik gibt es 13 sogenannte Begabtenförderwerke, die die


verschiedenen weltanschaulichen, religiösen, politischen, wirtschafts- oder
gewerkschaftsorientierten Strömungen in Deutschland abbilden.1 Sie spie-
geln die Pluralität der Gesellschaft wider, um die Gefahr zu vermeiden, nur

1 Vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG: Begabtenförderung. Die Be-


gabtenförderungswerke, in: https://www.bmbf.de/de/die-begabtenfoerderungswerke-
884.html [abgerufen am 17.06.2019].

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_26
466 Clara Debour

eine politische oder soziale Strömung zu stärken. Ihr Ziel ist es, so heißt es
auf der Webseite des BMBF, „hoch qualifizierte und verantwortungsbe-
wusste Persönlichkeiten heranzubilden, die der Gesellschaft etwas zurück-
geben.“2 Damit steht also nicht (nur) das Bilden einer Funktionselite im
Vordergrund, sondern ebenso das ethische Profil, die Rückbindung an
Wertmaßstäbe in Bezug auf die Verantwortungsbereitschaft gegenüber der
Gesellschaft. So wird ein normativer Bildungsanspruch formuliert, der im
Folgenden Gegenstand der Auseinandersetzung sein wird.

1 Cusanische Ferienakademien als Beispiel für politische und


religiöse Bildung im Rahmen von Begabtenförderwerken

Das folgende Kapitel soll zum einen das Cusanuswerk und sein Bildungs-
und Förderverständnis und zum anderen das Konzept der Ferienaka-
demien, die das Herzstück der ideellen Förderung sind, vorstellen.

1.1 Cusanuswerk

Was ist das Cusanuswerk und welches Bildungs- und Förderverständnis


vertritt es?
„Die Bischöfliche Studienförderung Cusanuswerk ist das Begabtenförderungs-
werk der katholischen Kirche […] Die Geförderten sollen befähigt werden, ihre
Talente und ihr Gestaltungsvermögen in christlicher Verantwortung dort einzu-
bringen, wo die Zukunft des Gemeinwesens entschieden wird: in Staat, Gesell-
schaft und Familie, Wissenschaft und Kirche, Wirtschaft, Kultur und Medien.“3

So beschreibt das Cusanuswerk sein Leitbild im öffentlichen Webauftritt.


Das Förderverständnis hat somit eine deutliche Akzentuierung der Be-
fähigung zu Verantwortungsbereitschaft für das Gemeinwesen in einem
christlichen Sinne. Dies geht einher mit der individuellen Begleitung und

2 EBD.
3 CUSANUSWERK: Wir über uns. Leitbild, in: https://www.cusanuswerk.de/wir-ueber-uns/
ueber-uns/leitbild.html [abgerufen am 17.06.2019].
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 467

Förderung der Stipendiat*innen, die hier befähigt werden sollen: „Wir


fördern die Entfaltung der Persönlichkeit: Mut, Unternehmungsgeist und
schöpferische Initiative, Selbstbewusstsein und Selbstkritik, intellektuelle
Neugier und geistige Eigenständigkeit, christliche Spiritualität und
Glaubenszeugnis.“4 In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der Bio-
graphieförderung einzuführen, der geprägt durch Anette Schavan das cha-
rakteristische Merkmal der cusanischen Förderung geworden ist.5 „Die Ge-
förderten des Cusanuswerks wollen in christlichem Verantwortungsbe-
wusstsein der Kirche und der Welt dienen.“6 Es geht also um die Stärkung
des Einzelnen zum Wohle der Allgemeinheit. Noch konkreter formuliert
die Theologin und ehemalige Generalsekretärin des Cusanuswerks Claudia
Lücking-Michel den Bildungsauftrag der Begabtenförderwerke: „Nicht
Option für die Armen oder Begabtenförderung ist die Alternative, sondern
Prüfstein an jede Begabtenförderung muss sein, dass sie am Ende den
größeren Nutzen für die Nichtprivilegierten mit sich bringt.“7 Es geht also
um die Frage nach Privilegien, diese zu erkennen und hieraus ableitend
Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Mit Blick auf die
deutsche Geschichte mahnt Roman Herzog in der Festansprache zum 40
jährigen Bestehen des Cusanuswerk: „Auch ein Land mit den besten Auto-
bahnen, der pünktlichsten Eisenbahn und der effektivsten Industrie-
produktion kann gleichzeitig ein Land der Barbarei sein.“8 Biographieför-

4 EBD.
5 Vgl. QUENNET-THIELEN, Cornelia: 60jähriges Jubiläum des Cusanuswerkes. Festrede
von Staatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen im Bundesministerium für Bildung und
Forschung in der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (11.11.2016), in:
https://www.bmbf.de/de/60jaehriges-jubilaeum-des-cusanuswerkes-3592.html [abge-
rufen am 17.06.2019].
6 CUSANUSWERK: Wir über uns. Leitbild, in: https://www.cusanuswerk.de/wir-ueber-uns/
ueber-uns/leitbild.html [abgerufen am 17.06.2019].
7 LÜCKING-MICHEL, Claudia: Was heißt Chancengerechtigkeit im Bildungswesen? Bega-
bungen fördern, in: Herder Korrespondenz 64/6 (2010), 316.
8 HERZOG, Roman (Bundespräsident): 40 Jahre Cusanuswerk. Festansprache zum Jubilä-
umsjahrestreffen vom 30. Mai 1996 bis 2. Juni 1996, in: https://www.cusanuswerk.de/
468 Clara Debour

derung ist also auch eine Form der Bildung, die der Forderung entspricht,
„daß Auschwitz nicht noch einmal sei“.9 Auf den spezifisch christlichen
Kontext des Cusanuswerks bezogen, sagt Lücking-Michel: „Von Christen
können wir erhoffen, dass sie die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeli-
ums zu deuten wissen und dem Evangelium die Kraft zutrauen, den einzel-
nen Menschen zu verändern, so dass mit ihm und über ihn die Menschheit
selbst verändert wird.“10 Somit wird durchaus ein klar kritisch-emanzipa-
torischer Bildungsanspruch formuliert, der v. a. transformativ gedacht ist
und über rein akademischen Wissenstransfer hinausgeht.

1.2 Ferienakademien

Die Ferienakademien sind das Zentrum der cusanischen Bildungsförde-


rung. Zwei Wochen lang setzen sich ca. 80 Cusaner*innen mit einem ak-
tuellen und gesellschaftlich relevanten Thema auseinander, z. B. dem Wert
der Arbeit, der Krise der Demokratie oder der politischen Dimension des
Christentums. Die Themen werden im Austausch zwischen cusanischer
Geschäftsstelle und Cusaner*innen im Vorhinein festgelegt. Für die inhalt-
liche Ausgestaltung, Planung und Organisation sind die cusanischen Bil-
dungsreferent*innen zuständig. Die Akademien sind, entsprechend ihrem
Namen, wissenschaftlich angelegt: Es werden Referent*innen eingeladen,
zumeist renommierte Professor*innen, die einen Vortrag zu einer spezifi-
schen, das Thema betreffenden Fragestellung halten. Danach gibt es Raum
für Fragen und Diskussionen im Plenum. Daneben gibt es verschiedene
Workshopangebote, die den Stipendiat*innen auf der Akademie zur Aus-
wahl stehen. Diese finden dann in kleineren Gruppen statt und sind sehr

fileadmin/user_upload/Roman_Herzog_40_Jahre_Cusanuswerk.pdf [abgerufen am 17.


06.2019].
9 ADORNO, W. Theodor: Erziehung nach Auschwitz, in: DERS:. Erziehung zur Mündig-
keit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, 88.
10 LÜCKING-MICHEL 2010 [Anm. 7], 316.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 469

unterschiedlich angelegt, sowohl methodisch als auch disziplinär. Wie ge-


nau eine Ferienakademie gestaltet ist, hängt sehr stark von der Leitung und
den von ihr eingeladenen Referent*innen ab. Hinzu kommt, dass neben der
Freizeit- und Abendgestaltung (z. B. Sportangebote oder die Organisation
eines Kulturabends) die Cusaner*innen die zeitlichen Freiräume auf den
Akademien mit eigenen Themen füllen können, z. B. mit eigenen Impuls-
referaten. Den Möglichkeiten sind hier keine Grenzen gesetzt. Zudem gibt
es ein fest verankertes geistliches Programm, das in Zusammenarbeit von
geistlicher Begleitung und Cusaner*innen auf Akademien gestaltet wird,
hierbei handelt es sich v. a. um Gebetseinheiten, die täglich stattfinden.
Doch auch das Forum 42, welches kirchenpolitische relevante Themen zur
Diskussion stellt, hat sich in den letzten Jahren als Einheit etabliert.

Ruth Jung, eine der Bildungsreferentinnen im Cusanuswerk, brachte die


grundsätzliche Idee von Ferienakademien als Unterbrechung auf den
Punkt, indem sie riet:
„Und – wenn irgend möglich: Lassen Sie Ihr Studium, Ihre Hausarbeiten und
Referate, Ihre Sorgen und Zeitnöte (vielleicht auch Ihr Handy) daheim und ver-
suchen Sie, die beiden Wochen dieser Akademie als persönlichen Freiraum zu
begreifen: jenseits der Hochschul- und Fächergrenzen, jenseits von Engstirnigkeit
und Verzagtheit, jenseits der Klischees, Rollen- und Leistungserwartungen, die
Ihnen sonst das Leben schwermachen.“11

2 Praktischer Ausgangspunkt: Fachschaftstagung Pädagogik

Ausgehend von dem bereits umrissenen Bildungsverständnis des Cusanus-


werks hat sich die Fachschaft Pädagogik in den Jahren 2014 und 2015 der
Frage gewidmet, inwiefern die bestehende Bildungsstruktur dem eigenen
Anspruch der Biographieförderung gerecht wird. Biographieförderung
wurde dabei als ein emphatischer Bildungsbegriff gedeutet, wie er auch

11 JUNG, Ruth: Willkommensemail zu der Ferienakademie „Natur- und Geisteswissen-


schaften. Zwei ungleiche Geschwister“ (Sommer 2012 in Papenburg).
470 Clara Debour

der kritischen politischen Bildung zu Grunde liegt. Dabei wurden haupt-


sächlich Ferienakademien, ihre Struktur und Funktion, genauer unter die
Lupe genommen. Im Zentrum der Reflexionen stand die Fachschaftsta-
gung „Biographieförderung: eine bildungstheoretische Annäherung an
cusanische Ferienakademien“, die im Mai 2015 stattfand und auf der die
Frage reflektiert wurde, wie ein solcher Bildungsbegriff auf Ferienakade-
mien umzusetzen sei. Die bestehende Praxis sollte kritisch reflektiert und
konstruktiv weitergedacht werden. Den Organisator*innen der Tagung12
ging es dabei besonders darum, die politische Dimension von Ferienaka-
demien zu beleuchten: Wie können Menschen dazu ermutigt werden Sub-
jekte ihrer eigenen Bildungsbiographie zu werden und sich für Verände-
rung im eigenen Leben und besonders im gesellschaftlichen Kontext ein-
zusetzen? Anhand von verschiedenen bildungstheoretischen Ansätzen
wurde die Praxis von Ferienakademien analysiert und alternative Vor-
schläge zur Gestaltung herausgearbeitet. Im Folgenden werden exemplari-
sche Eindrücke von der Tagung wiedergegeben und konkrete Praxiskon-
zepte als Beispielfelder für kritische politische Bildung angeführt.

Insgesamt gab es vier verschiedene Workshops, die unterschiedliche An-


sätze verfolgten, um Biographieförderung zu ermöglichen: Theaterpäda-
gogisch wurde sich beispielsweise der Frage gewidmet: wer spricht eigent-
lich, wenn ich „ich“ sage? Es wurde mit Hilfe von Methoden des postdra-
matischen Theaters und des Diskurstheaters die gesellschaftliche Relevanz
der De- und Konstruktion von Persönlichkeit und Rollen herausgearbeitet
und erprobt. Hierbei stand v. a. die Auseinandersetzung mit der eigenen
Person und Rolle im Fokus. Postdramatisches Theater ist jedoch nicht nur
eine pädagogische Methode, sondern auch Form einer gesellschaftskriti-
schen Analyse. Es erzählt von der Unmöglichkeit eindeutiger Geschichts-

12 Dies waren namentlich: Clara Debour, Jan Henrik Herbst, Lea Hufnagel, Christoph
Kruse, Manuela Soller.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 471

schreibung und ist damit immer auch ein Beispiel für Multiperspektivität.
Es werden verschiedene Mittel wie Handlung, Dialog, Figur, Zeit und
Raum auf eine Ebene nebeneinandergestellt und so enthierarchisiert. Die
Vorrangstellung der linearen Handlungsabfolge (Drama) weicht dem zur
Schau-Stellen der Figuren in ihrer Abhängigkeit von Strukturen. Durch die
ständige Unterbrechung und die charakteristische Autopoiesis ist der Post-
dramatik ein selbstreflexives und entlarvendes Moment – und damit auch
ein primär kritisches – immanent. Das postdramatische Theater macht sei-
ne Zuschauer*innen zu produktiven Mitakteur*innen bzgl. der Sinnkon-
struktion.13 Damit eignet sich diese Methode und Perspektive in besonde-
rer Art und Weise für einen kritischen Blick auf die eigene Person und die
gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie lebt. Im Workshop zum Thema
Bibliodrama wurden ebenfalls Rollen erprobt und körperlich-emotionales
Lernen im Kontext biblischer Geschichten erfahrbar gemacht. Hierbei
stand die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben und dessen Impli-
kationen für das alltägliche und gesellschaftliche Leben im Mittelpunkt.
Persönliche Erfahrungen vom Suchen nach dem Sinn des Lebens bildeten
den Ausgangspunkt dieses Workshops. Anhand von szenischen Darstel-
lungen biblischer Bilder wurden Gleichnisse und Rollen erlebt und erwei-
tert. Der Kern von Bibliodrama wurde im Workshop performativ deutlich:
Es geht um die Horizontverschmelzung unserer eignen Erlebniswelt mit
den Veränderungsimpulsen Jesu, die in den biblischen Rollen enthalten
sind.14 Im Workshop zur Systemischen Pädagogik wurden verschiedene
Methoden und Theorien präsentiert, z. B. Milton Erickson und die von ihm
abgeleitete Timelinearbeit, Michael White mit seinem narrativen Ansatz
für die systemische Therapie oder das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM),
ein psychoedukatives Selbstmanagement-Training von Maja Storch und

13 Vgl. ENGELHART, Andreas: Das Theater der Gegenwart, München: C. H. Beck, 2013,
71.
14 Vgl. ZEUNERT, Burkhard: Workshopbeschreibung im Tagungsprogramm, Bonn 2015.
472 Clara Debour

Frank Krause. Dies sind nur drei Beispiele dafür, wie wir unsere Biogra-
phie immer wieder selbst neu erzählen bzw. konstruieren können. Das be-
deutet, dass Formen und Möglichkeiten kennengelernt wurden, der Frage
nach zu gehen, wie Selbstwirksamkeit und Veränderung in unseren Le-
bensvollzügen gefördert werden können.15
„Wer also Biographieförderung als Bildungsauftrag versteht, muss sich über den
Rahmen Gedanken machen, in dem diese ermöglicht werden soll. Das gilt u. a.
für die Art der Wissensvermittlung wie auch die Schaffung individueller Zugänge
zur eigenen (Lern)Motivation.“16

Auch in der systemischen Pädagogik geht es also um ein selbstreflexives


Moment und um die Frage nach der Ermöglichung von Transformation in
Bezug auf sich selbst wie auf die Gesellschaft.

Der vierte Workshop beschäftigte sich mit den Grundlagen der Themen-
zentrierten Interaktion (TZI), ein Konzept für die Arbeit in Gruppen, bei
dem es um soziales Lernen und die persönliche Entwicklung einer*s
jede*n einzelnen geht: „Lebendiges Lernen heißt zu leben, während ich
lerne.“17 Dieser Satz stammt von Ruth Cohn, der Begründerin der TZI und
ist der Leitsatz dieses Ansatzes. Grundlage des lebendigen Lernens ist die
dynamische Balance zwischen dem ICH (Individuum), dem WIR (Gruppe)
und dem ES (Anliegen/Thema).18
„Die TZI [verbindet] individuelle, zwischenmenschliche und sachliche Aspekte
zu einem Konzept […], das alle Chancen hat, Lebens- und Arbeitsprobleme nicht
nur vordergründig auf der intellektuellen Ebene zu verstehen und zu lösen, son-

15 Vgl. SCHODEN, Patrick: Workshopbeschreibung im Tagungsprogramm, Bonn 2015.


16 EBD.
17 Ruth C. COHN zitiert nach LÖHMER, Cornelia / STANDHARDT, Rüdiger: TZI – Die Kunst,
sich selbst und eine Gruppe zu leiten. Einführung in die Themenzentrierte Interaktion,
Stuttgart: Klett-Cotta 2006, 15.
18 LAUDAGE-KLEEBERG, Regina: Workshopbeschreibung im Tagungsprogramm, Bonn
2015.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 473

dern Kopf, Herz und Hand gleichermaßen als am Geschehen beteiligt anzusehen
und einzubeziehen.“19

Vor dem Wertehintergrund der Humanistischen Psychologie hat die TZI


einen „sozial-präventiven Auftrag […] ein Konzept zur Verfügung zu stel-
len, das Ausgleich schafft zwischen individuellen und kollektiven Bedürf-
nissen, zwischen kognitiven und emotionalen Ansprüchen, zwischen Ab-
hängigkeit und Einsatz von Macht.“20 Daher eignet sie sich besonders gut
für themenzentriertes Lernen in Gruppen, wie es beispielsweise auf Feri-
enakademien der Fall ist.

Am Ende wurden alle Workshopergebnisse im Plenum präsentiert und in


eine Zukunftswerkstatt eingebracht, die eine mögliche Neuausrichtung von
Ferienakademien zum Ziel hatte.

3 Kritische politische Bildung auf cusanischen Ferienakademien?


Eine Reflexion entlang der Frankfurter Erklärung

Es wurde bereits im Bildungs- und Förderverständnis des Cusanuswerks


dargelegt, dass dieses in erster Linie die Befähigung seiner Stipendiat*in-
nen zur Verantwortungsbereitschaft im christlichen Sinne beabsichtigt und
zudem die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln und der
daraus resultierenden Möglichkeit zur Transformation zum Ziel hat.

Dieser Anspruch soll im Folgenden anhand der Frankfurter Erklärung ü-


berprüft werden. Zugleich werden Alternativen dargelegt, wie diesem An-
spruch Rechnung getragen werden könnte.

19 LANGMACK, Barbara: Einführung in die Themenzentrierte Interaktion TZI. Leben rund


ums Dreieck, Weinheim / Basel: Beltz 2011, 15.
20 EBD. 19.
474 Clara Debour

3.1 „Krisen: Eine an der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse


interessierte Politische Bildung stellt sich den Umbrüchen und vielfäl-
tigen Krisen unserer Zeit.“ (FFE 1)21

Thematisch betrachtet werden auf den cusanischen Ferienakademien


durchaus Krisenthemen behandelt, ob Klimawandel, Krise der Demokratie
oder Finanzkrise, die Frage stellt sich eher nach der Art und Weise der
Auseinandersetzung mit diesen Themen: Bleibt es bei der Bestands-
aufnahme von Krisen, oder geht es auch darum, Lösungs- und Handlungs-
optionen zu entwickeln? Durch die Struktur der Akademien mit Schwer-
punkt auf Frontalvorträgen von Professor*innen geht es hier in erster Linie
um Wissenstransfer und somit nicht um die Befähigung, politisches Wissen
und Fähigkeiten anzuwenden. In der Frankfurter Erklärung heißt es jedoch:
„Kompetenzorientierung wird didaktisch substanzlos, wenn politisches
Wissen und Fähigkeiten nicht auf die politische Gestaltung gesellschaft-
licher Gegenwarts- und Zukunftsfragen bezogen werden.“ (FFE 1) Daher
wurde mitunter vorgeschlagen einen stärkeren Praxisbezug auf den Ferien-
akademien zu etablieren, der konkret nach Handlungsoptionen fragt und
diese bspw. mit den oben beschriebenen Methoden erprobt. Hier wären
u. a. Plan- und Rollenspiele zu nennen. Auch die dynamische Balance zwi-
schen ICH, ES, und WIR ist hier besonders wichtig. Denn nur wenn ich
einen persönlichen Bezug zum Thema aufbauen und dieses in meiner ei-
genen Biographie verorten kann, ist meine Lernmotivation hoch und die
Auseinandersetzung nachhaltig.22 Hierbei spielt auch die Gruppe eine
wichtige Rolle. Die Akademien könnten bspw. eher auf gemeinsame Ar-
beitsprozesse ausgelegt sein, so könnten in der Gruppe Projektideen ent-

21 Die folgenden Überschriften sind der „Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-eman-
zipatorische Politische Bildung.“ (FFE 2015) entnommen. Für eine genauere Darstel-
lung vgl. den Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
22 Vgl. LANGMACK, Barbara: Einführung in die Themenzentrierte Interaktion TZI. Leben
rund ums Dreieck, Weinheim / Basel: Beltz 2011, 107.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 475

wickelt werden, die dann nach der Akademie zur Umsetzung kommen (s.
„Ermutigung“ und „Veränderung“).

3.2 „Kontroversität: Politische Bildung in einer Demokratie bedeutet,


Konflikte und Dissens sichtbar zu machen und um Alternativen zu
streiten.“ (FFE 2)

Auch wenn der Anspruch der Dialogfähigkeit und des Austausches über
die Grenzen der Fächer hinaus ein elementarer Teil des cusanischen Bil-
dungsverständnisses ist, scheinen Ferienakademien sowohl inhaltlich als
auch strukturell diesem Anspruch nicht gänzlich gerecht zu werden. Dies
liegt u. a. daran, dass die eingeladenen Expert*innen wenig Diversität ver-
körpern: Zumeist sind es weiße deutsche Professoren und Professorinnen.
Hier soll beispielhaft eine Akademie genannt werden, die die Finanzkrise
zum Thema hatte und auf der in erster Linie neoliberale Denker eingeladen
und auch vorrangig zitiert wurden. So beschränkte sich das Spektrum auf
eine Bandbreite von Friedrich A. von Hayek bis John M. Keynes. Eine
grundsätzliche Infragestellung unseres momentanen Wirtschafts- und Ge-
sellschaftssystems war, so ließe sich vor dem Hintergrund der Auswahl von
Themen und Referent*innen vermuten, in keiner Weise vorgesehen. Wenn
die Stipendiat*innen jedoch dazu befähigt werden sollen, sowohl unterein-
ander als auch mit den Referent*innen in einen kontroversen Dialog zu
treten, braucht es offene und geschützte Räume, die nicht einseitig bis ideo-
logisch besetzt sind. Zudem bräuchte es auch niederschwellige Diskus-
sionsformate, um allen die Möglichkeit der Teilhabe und des Sich-Äußerns
zu geben. Hier stellen bspw. unterschiedliche Arbeitsformen wie Klein-
gruppenphasen, Schreibgespräche oder Methoden wie Fish-Bowl gute
Möglichkeiten der Umsetzung dar. Dadurch werden nicht nur diejenigen
gehört, die qua positionem das Recht haben zu sprechen (Expert*in) oder
diejenigen, die es gewohnt sind, sich den Raum zu nehmen (vorrangig
Männer), sondern auch die weniger Privilegierten. Die Form des großen
Plenums begünstigt einseitige Machtstrukturen und damit verbundene in-
476 Clara Debour

haltliche Positionen. Sie ist somit für das Ermöglichen kritisch-emanzipa-


torischer Bildung weniger gut geeignet.

3.3 „Machtkritik: Selbstbestimmtes Denken und Handeln wird durch Ab-


hängigkeiten und sich überlagernde soziale Ungleichheiten beschränkt.
Diese Macht- und Herrschaftsverhältnisse gilt es, wahrzunehmen und
zu analysieren.“ (FFE 3)

Zu Beginn des Artikels wurde Claudia Lücking-Michel mit der Idee des
Dienstes an der Gesellschaft und dem Mehrwert für die Nichtprivilegierten
zitiert. Daraus leitet sich die Frage ab, wie sich diese Vorstellung konkret
in den Ferienakademien niederschlägt. Derzeit liegt die Organisation und
Planung einer Ferienakademie nur in den Händen der Bildungsreferent*in.
Auch wenn durch die Bildungskommission (welche auch aus Stipendi-
at*innen besteht) Einfluss auf die thematische Ausrichtung genommen
wird, ist dies nicht der Fall bei der Umsetzung. Zudem gibt es wenig Frei-
räume für organisatorische und inhaltliche Partizipation während der Aka-
demie. Auch wenn es Raum für stipendiatische Angebote gibt, scheinen
diese eher zweitrangig zu sein, was u. a. an der Freiwilligkeit sowie dem
fehlenden Einbezug in die vorherige Planung des Gesamtprogramms er-
kennbar wird. Wenn Menschen dazu befähigt werden sollen, selbstständig
zu denken und zu handeln, ist es wichtig, sie auch mit an der Gestaltung
ihres Lernkontextes teilhaben zu lassen, damit sie sich von passiv-lernen-
den Konsument*innen zu proaktiven-Mitgestalter*innen entwickeln kön-
nen (FFE 5). Hierfür braucht es in erster Linie Freiräume, die nicht nor-
miert sind und keiner Wertung unterliegen. Möglich wäre es beispielsweise
nicht nur die kognitiven Leistungen anzuerkennen, sondern fest institutio-
nalisierte Angebote zu schaffen, die auch andere Fähigkeiten voraussetzen
und fördern (soziale, körperliche, künstlerische und musische Kompeten-
zen etc.).
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 477

Das gilt ebenso für die inhaltliche Setzung: Marginalisierte Gruppen und
Stimmen der Gesellschaft finden selten bis keinen Raum im Programm der
Akademien, wie bereits auch an der Akademie zur Finanzkrise beispielhaft
dargelegt wurde. Es gibt eine starke Orientierung an einem meist männlich
dominierten weißen Wissenskanon, der unhinterfragt als Norm gesetzt
wird. Wenn ein Anliegen der Förderung der Mehrwert für die Nichtprivi-
legierten sein soll, sollten diese auch in irgendeiner Art und Weise auf Fe-
rienakademien zu Wort kommen.

Zudem entsteht auf den Akademien zwischen den Stipendiat*innen –


durch die unterschiedlichen fachlichen Vorkenntnisse – ein Gefälle, das
selten aufgefangen wird. Der Raum für introvertierte und fachfremde
Menschen ist gering. Hieran anschließend sollten Machtstrukturen auch
auf der Akademie in einem geschützten Raum angeleitet reflektiert werden
können. Hierzu eignen sich bspw. Anti-Bias Methoden, um Privile-
gierungsmuster nicht nur kognitiv zu durchdringen, sondern auch durch
Übungen zu erleben.
„Anti-Bias versteht sich als intersektionaler Ansatz, der die verschiedenen For-
men von Diskriminierung als Ausdruck gesellschaftlich ungleicher Positionen
und Machtverhältnisse und ihre vielschichtigen gegenseitigen Verstrickungen in
den Blick nimmt.“23

In einem größeren Kontext betrachtet geht hiermit auch die Reflexion bzgl.
der eigenen Privilegien als Stipendiat*innen einher mit der Frage, wie
bereits auf Akademien Verantwortung für die Gruppe und als Gruppe für
die Gesellschaft übernommen werden kann. Grundsätzlich ist eine explizi-
te Auseinandersetzung mit Gruppenprozessen (bspw. anhand der TZI) und
der Kultur einer je eigenen Gruppe wichtig, da sie nicht nur das Erlernen
sozialer Kompetenzen ermöglicht, sondern auch gesellschaftliche Prozesse

23 ANTI-BIAS-NETZ (Hg.): Einleitung, in: DIES.: Vorurteilsbewusste Veränderungen mit


dem Anti-Bias-Ansatz, Freiburg im Breisgau: Lambertus 2016, 11.
478 Clara Debour

im Kleinen reflektiert.24 Durch eine professionelle Anleitung und/oder


Reflexion können hier wertvolle Erfahrungen gemacht werden.

3.4 „Reflexivität: Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen, Lern-
verhältnisse sind nicht herrschaftsfrei, Politische Bildung legt diese
Einbindung offen.“ (FFE 4)

An den Punkt der Machtkritik schließt sich auch die Frage an, wie die
eigenen Verstrickungen in Machtverhältnisse, als Begabtenförderwerk, als
Bildungsreferent*in oder als Stipendiat*in, reflektiert werden können. Da-
zu heißt es in der Frankfurter Erklärung:
„Politische Bildner*innen sind sich ihrer gesellschaftlichen Einbindung bewusst
und nehmen dazu eine kritisch-reflexive Position ein, die sie transparent und da-
mit kritisierbar macht. Dadurch bieten sie den Teilnehmenden einen Schutz vor
Überwältigung und stärken deren Recht auf Eigensinn und Selbstbestimmung.“
(FFE 4)

Um einen echten Dialog auf Augenhöhe zu ermöglichen und die Hierarchie


zwischen Professor*in und Referent*in auf der einen Seite und Studieren-
den auf der anderen abzuflachen, ist es wichtig dies zu thematisieren und
neue Formen der Partizipation zu ermöglichen. Auch sollte in Bezug auf
die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse eine kritische Selbstreflexion
bzgl. des Begriffes der Elite und der Frage nach deren Aufgabe ermöglicht
werden.

3.5 „Ermutigung: Politische Bildung schafft eine ermutigende Lernumge-


bung, in der Macht- und Ohnmachtserfahrungen thematisiert und hin-
terfragt werden.“ (FFE 5)

Wie bereits im bisherigen Aufsatz angedeutet wurde, können Ferienakade-


mien das Potenzial bieten, ermutigende Lernumgebungen zu ermöglichen.
Voraussetzung hierfür ist Partizipation und Mitbestimmung, wie anhand

24 Vgl. das Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.


Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 479

der Punkte „Krisen“, „Kontroversität“ und „Machtkritik“ bereits dargelegt


wurde; zudem ist das Thematisieren von Machtstrukturen und der Abbau
von Hierarchien (v. a. in Bezug auf Klasse und Gender) auf den Akademien
selbst (gesellschaftlicher Mikrokosmos) wichtig. Um dies zu ermöglichen,
ist es zentral, Wissensanschlüsse zu schaffen, die es jedem*r einzelnem*n
erlauben sich in Beziehung zu dem Thema zu setzen, sich mitzuteilen und
sich in den Gruppenprozess einzubringen. Hierbei ist Prozessorientierung
besonders wichtig: Wenn der Individualität der einzelnen Teilnehmer*in-
nen und zugleich der Heterogenität der Gruppe Rechnung getragen werden
soll, braucht es offenere Strukturen und Prozesse, wo die Fähigkeiten und
Bedürfnisse der Teilnehmenden sich eingliedern können. Das heißt auch,
ganzheitliches und – um es mit der TZI zu formulieren – lebendiges Lernen
zu ermöglichen; also nicht nur kognitives, sondern auch körperliches,
emotionales und soziales Lernen zu fördern. Die TZI bietet hier ein gutes
Konzept, um dem gerecht zu werden: Auf Ferienakademien bezogen hieße
das, dass eine Schwerpunktverlagerung vom ES (dem inhaltlichen Anlie-
gen) hin zum ICH und WIR stattfinden müsste, um neue Zugänge zur eige-
nen Lernmotivation zu schaffen.

3.6 „Veränderung: Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft in-


dividuell und kollektiv handelnd zu verändern.“ (FFE 6)

Ermutigende Lernräume können also individuelle und kollektive Transfor-


mationen ermöglichen. Die Motivation sich zu engagieren und an gesell-
schaftlicher Veränderung teilzuhaben bzw. diese voranzutreiben, kann hier
eingeübt und gestärkt werden. Hierfür müssen die Akademien jedoch we-
niger auf reine Wissensaneignung ausgelegt sein, als vielmehr auf die An-
wendung. Auch wenn es in einem ersten Schritt gilt, gesellschaftliche
Missstände zu analysieren, sich derer bewusst zu werden und sich dazu zu
positionieren, sollte es nicht dabei stehen bleiben, sondern in einem
zweiten Schritt auch Handlungsoptionen umfassen. Akademien können
einen geschützten Raum für Probehandlungen bieten. In einer Zukunfts-
480 Clara Debour

werkstatt können gemeinsam Ideen entwickelt werden, wie eine sozial-


ökologische Transformation der Gesellschaft gestaltet werden kann, womit
Bildung transformativ wird.25 Ziel sollte es also sein die Akademien als
Freiraum zu nutzen, um gemeinsam kreativ, konstruktiv und produktiv
z. B. eine Projektidee zu entwickeln, die einen Mehrwert für die Gesell-
schaft haben kann. Das „große Ganze“ im Blick zu behalten und immer
wieder Anknüpfungspunkte zur gesellschaftspolitischen Realität zu er-
möglichen, sollte u. a. eine Aufgabe der anleitenden Personen sein.

4 Resümee

Abschließend kann die Eingangsfrage nach der Möglichkeit kritischer po-


litischer Bildung im Rahmen der Begabtenförderung, hier am Beispiel des
Cusanuswerks reflektiert und diskutiert, tendenziell bejaht werden. Auch
wenn mindestens die Gefahr einer Reproduktion von Machtstrukturen in-
nerhalb der Gesellschaft besteht, gibt es – wie anhand der Frankfurter Er-
klärung dargelegt – konkrete Optionen innerhalb des Bildungsprogramms
kritisch-emanzipatorische Bildung zu ermöglichen, die diese Gefahr expli-
zit mitreflektiert. Über die bestehenden Möglichkeiten hinaus konnte ein
konkreter Veränderungsbedarf formuliert werden: Damit kritische politi-
sche Bildung auf Ferienakademien möglich wird, braucht es strukturelle
Mitbestimmungsmöglichkeiten und freie Räume für Mitgestaltung, eine
Vielfalt an Methoden und Herangehensweisen, um jedem*r einzelnem*n
Teilhabe und Entfaltung seiner eigenen Individualität zu ermöglichen. Es
braucht eine stärkere Kontroversität in Form und Inhalt und eine größere
Heterogenität der eingeladenen Expert*innen. Zudem sind praktische Er-
fahrungsräume notwendig. Ebenso ist das Herstellen eines klareren Bezugs
zur Gesellschaft, zur eigenen Lebensrealität, sowie das Geben von Impul-

25 Vgl. z. B. KOLLER, Hans-Christoph: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie


transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart: Kohlhammer 22018.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 481

sen für Transformation essentiell. Diese Aspekte sind notwendig, um dem


Ziel gerecht zu werden, kritisch-emanzipatorische Bildung zu fördern und
Menschen Lernräume zu ermöglichen, aus denen heraus sie Verantwor-
tung übernehmen, ihre Privilegien für den Nutzen der Allgemeinheit ein-
bringen und v. a. für einen Dialog bereit sind. Nur wenn die eigenen Struk-
turen auf Macht hin hinterfragt, die eigenen Privilegien gesehen und in
Frage gestellt werden, nur wenn immer wieder Selbstreflexion (in Bezug
auf die Teilnehmenden als auch Veranstalter*innen) stattfindet und unter-
schiedliche Perspektiven ermöglicht werden, können Menschen ermutigt
werden, Subjekte ihrer eigenen Bildungsbiographie zu werden und sich für
Veränderung im eigenen Leben wie auch in der Gesellschaft einzusetzen.

Autorinnenangaben: Clara Debour, 1. Staatsexamen in Deutsch, Französisch, Po-


litik und Wirtschaft. Im Anschluss an ihr Lehramtsstudium an der Albert-Lud-
wigs-Universität in Freiburg arbeitet sie derzeit als Anti-Bias-Trainerin, Theater-
pädagogin, freie Produktionsassistenz und Dramaturgie in diversen Bereichen der
freien Theaterszene in Berlin und verbindet u. a. politische und ästhetische Bildung
miteinander.
Kritisch-religiöse Bildung
in der religionspädagogischen Ausbildung
angehender Seelsorger*innen im Bistum Trier

Klaus-Gerd Eich

Abstract: Dieser Beitrag entfaltet als Skopus der religionspädagogischen Ausbil-


dung angehender Seelsorger*innen des Bistums Trier eine didaktische Handlungs-
kompetenz (2.) und bettet sie in das Ausbildungskonzept der praktisch-theologi-
sche Ausbildung des Bistums Trier ein, das auf einem Konzept von Schlüsselqua-
lifikationen fußt (1.). Nach einer Darlegung verschiedener Ebenen, auf denen die-
ses Modell basiert, wird abschließend der Versuch unternommen, zu erörtern, wo
und wie dieses Modell an die Vorstellung einer kritisch-emanzipatorischen Reli-
gionspädagogik anschlussfähig ist (3.).

Ich werde die Frage, ob und wie sich kritisch-religiöse Bildungsmomente


in der Berufseinführung angehender Seelsorger*innen im Bistum Trier fin-
den lassen in drei Schritten angehen. In einem ersten Teil lege ich den Kon-
text der religionspädagogischen Ausbildung im Bistum Trier offen. Dabei
nehme ich das Ausbildungsziel der angehenden Pastoralen Mitarbeiter*in-
nen während der Berufseinführung in den Blick, erläutere das zugrunde-
liegende Ausbildungskonzept, das auf einer Vorstellung von Schlüsselqua-
lifikationen fußt und biete eine Reflexionsfolie an. In einem zweiten Schritt
stelle ich das religionspädagogische Ausbildungskonzept in seiner Zieldi-
mension, seiner organisatorischen Struktur dar und im dritten Teil mar-
kiere ich fünf verschiedene Ebenen, auf denen das Modell operiert. Dabei
werde ich Anschlüsse zeigen, ob und wie sich kritisch-religiöse Bildung
auf den verschiedenen Ebenen zeigt und wo ich noch Desiderate sehe.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_27
484 Klaus-Gerd Eich

1 Der Kontext der Berufseinführung angehender


Seelsorger*innen im Bistum Trier

Das Ausbildungsziel der Berufseinführung kann im Anschluss an den ehe-


maligen Studienleiter für Pastoraltheologie des Bistums Trier Georg Köhl
als „Entwicklung einer eigenständigen beruflichen Identität als Seelsorge-
rin oder Seelsorger“1 beschrieben werden.

Identität wird hier als fluides Konstrukt verstanden, das jenseits statischer
Normierung liegt, die Fragmentarität menschlicher Existenz in Anschlag
bringt und damit jedem statusbezogenen Denken den Boden entzieht. Es
verweist so auf einen unabschließbaren Prozess.2 Gerade unter problema-
tischen Bedingungen wird die Praktische Theologie gezwungen, das eman-
zipatorische Potential zu entfalten. Viera Pirker hält mit Henning Luther
fest: „Mit der Intention, ihren emanzipatorischen Gehalt offen zu halten,
beschreibt er Identität als eine fortschreitende Bewegung im Sinne eines
unabschließbaren Prozesses der Bildung.“3

Als hilfreiches Instrument, den Prozess der beruflichen Entwicklung be-


schreiben zu können, erwies sich eine dreipolige Skizze, die ein Span-
nungsverhältnis zwischen den Polen (fachlich fundiertes) Selbstkonzept,
(gesellschaftlicher und kirchlicher) Situation und dem Auftrag/der Auf-
gabe aufzeigt. Dieses Reflexionsdreieck wird zu verschiedenen Phasen der
Berufseinführung eingespielt, um die Näherungswerte zu den Polen und
das Austarieren der Achsen ins Bewusstsein der Kandidat*innen und der
Ausbildungsverantwortlichen zu heben. Diese Skizze ermöglicht die Ex-

1 KÖHL, Georg: Lern-Ort Praxis. Ein didaktisches Modell, wie Seelsorge gelernt werden
kann, Münster / Hamburg / London: LIT 2003, 278–284.
2 So zuerst: LUTHER, Henning: Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen The-
orie des Subjekts, Stuttgart: Radius 1992.
3 PIRKER, Viera: Art. Identität, in: PORZELT, Burkard / SCHIMMEL, Alexander: Strukturbe-
griffe der Religionspädagogik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015, 38–43, 41.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 485

plikation, Beobachtung und die Deutung des eigenen, impliziten Selbstver-


ständnisses und geht davon aus, dass biographische Ereignisse, situative
Veränderungen und eine veränderte Auftragslage Herausforderungen für
die Identitätsentwicklung als Seelsorger*innen bereithalten und ermögli-
chen.

Der Pol Situation nimmt das Spannungsfeld Kirche und Gesellschaft in den
Blick. Hier bedarf es vielfältiger Analyseraster, um dieses Verhältnis zu
durchleuchten. Es erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit Gesell-
schafts- und Kirchentheorien. Dies ist notwendig, will man die propheti-
sche Dimension in der Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Kirche
nicht von vorneherein eliminieren. In Bezug auf praktisch-theologisches
Handeln wird damit einem Pragmatismus gewehrt, der nicht lediglich das
Bekannte repliziert, sondern auf Wirksamkeit setzt. Es geht um human-,
sozial, und gesellschaftswissenschaftliche Kompetenz. Exemplarisch für
viele Fragestellungen können hier folgende Spannungen genannt werden,
die Pastorale Mitarbeiter*innen im schulischen Kontext erleben. Als Seel-
sorger*innen verkünden sie einen Gott, der jede*n unabhängig von Leis-
tung und Fähigkeit annimmt. In der Schule erleben sie jedoch sehr stark,
welche Bedeutung das Leistungsprinzip mit seiner Selektions- und Allo-
kationsfunktion in der Schule und Gesellschaft hat. Damit zusammenhän-
gend wird an den Studientagen häufig die Frage nach den ‚Bildungsverlie-
rer*innen‘ aufgeworfen und durch welche gesellschaftlichen Mechanis-
men diese Verlierer*innen ‚produziert‘ werden. Es gilt aufzudecken, wie
die regulative Idee der Chancengleichheit im Bildungssystem faktisch un-
terlaufen wird.4

4 Vgl. bspw. BOURDIEU, Pierre / PASSERON, Jean-Claude, (Hg.): Die Illusion der Chan-
cengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frank-
reichs, Stuttgart: Ernst Klett 1971.
486 Klaus-Gerd Eich

Der Pol Auftrag/Aufgabe akzentuiert die Spannung von gegenwärtiger


Kirche und einer Reich-Gottes-Vision. Sie fragt nach dem, was evangeli-
umsgemäß ‚dran ist‘. Es geht um eine persönliche und institutionelle Aus-
einandersetzung mit diesem Auftrag und die Einbindung in die Weltkirche
und die konkrete Ortskirche. In der Polarität Situation – Auftrag liegt die
Chance darin, das eigene Handeln in der Wahrheit des Evangeliums zu
halten und birgt die Gefahr in ideologische Auseinandersetzungen abzu-
gleiten. Intentional geht es um theologische und spirituelle Kompetenz.
Beispielhaft sei hier auf folgende Spannung verwiesen. Seelsorger*innen
begegnen Schüler*innen in verschiedenen Systemkonstellationen: im Re-
ligionsunterricht, in der kirchlichen Jugendarbeit, in der Schulseelsorge
und in der Gemeinde-/Sakramentenkatechese. In diesen Systemen herr-
schen jeweils eigene Systemlogiken und unterschiedliche Zielsetzungen
und Rollenerwartungen seitens der Kultusministerien, der Deutschen Bi-
schofskonferenz und des Bistums.5 Angehende Seelsorger*innen stehen
vor der Herausforderung, zu klären, was der jeweilige Handlungszusam-
menhang ist und wie die Aufgabe zu definieren ist.

Der Pol Selbstkonzept versucht den Zusammenhang von Identität und


Kompetenz zu erfassen.6 Hier geht es um fachliche Aneignung berufsspe-
zifischer Handlungskompetenzen und persönliches Wachstum. Es geht um
das Austarieren von Rolle und Person, um authentisches Agieren zu er-
möglichen und einem Subjektivismus zu wehren. Intentional geht es um
die Aneignung von Sach-, Methoden und Sozialkompetenz. In Bezug auf
das Vorhin Beschriebene geht es darum, zu klären, in welchen Rollen und

5 Zu diesen divergierenden Systemlogiken mit ihren jeweiligen Rollenerwartungen kön-


nen als erster Überblick die Ausführungen von Lames dienen. Vgl. LAMES, Gundo:
Schulseelsorge als soziales System, Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 2000, 184–
192.
6 Als wegweisend ist hier immer noch die Arbeit von Hermann Stenger zu nennen. STEN-
GER, Hermann: Kompetenz und Identität, in: DERS. (Hg.): Eignung für die Berufe der
Kirche, Freiburg im Breisgau: Herder 1988, 31–133.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 487

Handlungszusammenhängen und mit welchen Systemlogiken sie Schü-


ler*innen begegnen und was eine angemessene Handlungsstrategie ist.

Nach dieser Zielbeschreibung der Berufseinführung angehender Seelsor-


ger*innen, sowie dem Dreieck Situation – Auftrag – Selbstkonzept als ers-
ter Reflexionshilfe, geht es im folgenden Abschnitt darum, das gesamte
Ausbildungskonzept kurz zu skizzieren und eine Einordnung der religions-
pädagogischen Ausbildung vorzunehmen.

2 „Lernen zwischen persönlicher Kompetenzentwicklung und


Schlüsselqualifikationen“7

Diese Überschrift kann als Resümee des Auseinander- und Zusammenset-


zens der Vertreter*innen der Praktisch-theologischen Fächer in der Berufs-
einführung exploriert werden. Unter Beteiligung der Vertreter*innen der
Pastoralpsychologie, Pastoraltheologie, Homiletik, Pastoralliturgik und
Religionspädagogik entstand ein gemeinsames Konzept, das die jeweilige
Fachlogik durchbrach und ein an Schlüsselqualifikationen orientiertes
Konzept für die Berufseinführung entstehen ließ. Wissenschaftstheoretisch
steht dabei ein Verständnis Praktischer Theologie als Handlungswissen-
schaft im Hintergrund.8 Maßgebend war die Frage, was die Kandidat*in-
nen im Vollzug des Faches am jeweiligen Lernort dort am besten lernen

7 So die Überschrift eines Artikels des Autors, in dem er die Genese der Entwicklung
eines Schlüsselqualifikationskonzeptes für angehende Seelsorger*innen im Bistum
Trier nachzeichnet. EICH, Klaus-Gerd: Lernen zwischen persönlicher Kompetenzent-
wicklung und Schlüsselqualifikationen – eine mehrdimensionale praktisch-theologi-
sche Herausforderung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 117 (2008), 288–303, 288.
8 Vgl. exemplarisch für die Pastoraltheologie, KÖHL 2003 [Anm. 1], 218–225 und für die
Religionspädagogik, EICH, Klaus-Gerd: Der Einsatz Pastoraler Mitarbeiter des Bistums
Trier in der Schule. Ein religionspädagogischer Entwurf zur Rezeption und Evaluation
von Qualitätsmanagementsystemen für Religionsunterricht und Schulseelsorge, Neu-
wied 2002 (www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/715 [abgerufen am 16.09.
2019]), 13–24.
488 Klaus-Gerd Eich

können. Summarisch aufgelistet werden folgende Schlüsselqualifikationen


angestrebt:

Aus Sicht der Pastoraltheologie: Qualifikation zum professionellen Han-


deln in und mit Gruppen und Projekten. Dies beinhaltet die Qualifikation
zu differenzierter Perspektivenübernahme in themen- und beziehungsori-
entierten Gruppen, Qualifikation zu einem reflektierten Rollenverständnis
in Gruppen und komplexen Projekten und die Qualifikation zur Anwen-
dung und Beurteilung unterschiedlicher Leitungs- und Beratungsstile.

Aus Sicht der Religionspädagogik: Qualifikation zu einem didaktischen


Handeln im weitesten Sinne. Angestrebt werden eine Qualifikation zur Or-
ganisation von planvollem Lernen, Qualifikation zu exemplarischem Ler-
nen, Qualifikation zu Lernen im Mix verschiedener Methoden und Sozial-
formen, Qualifikation zum Lernen nach dem „Feedback-Prinzip“, Qualifi-
kation zu einem subsidiären Lehrer*innen/Vermittler*innenverständnis.

Aus Sicht der Homiletik: Qualifikation zu einem kerygmatischen Verge-


genwärtigungshandeln: Intendiert sind eine Qualifikation zur kontextuel-
len Erfassung biblischer Texte/systematisch-theologischer Inhalte und ih-
res Erfahrungshintergrundes, eine Qualifikation zur erfahrungsbezogenen
Wahrnehmung von Gegenwart in unterschiedlichen Kontexten, eine Qua-
lifikation zur Entdeckung möglicher erfahrungsbezogener Interdependen-
zen zwischen biblischen Texten/systematischer Theologie und jeweiliger
Gegenwart und eine Qualifikation zur rhetorischen Gestaltung sowie zur
hörer*innen- und situationsorientierten Vermittlung der entdeckten Inter-
dependenzen.

Aus Sicht der Pastoralliturgik: Qualifikation zu einem elementartheologi-


schen Vergegenwärtigungshandeln in einer liturgischen Feier: Dies bein-
haltet eine Qualifikation zu einer authentischen spirituellen und kooperati-
ven Leitungskompetenz in Gottesdiensten und zu einem entsprechenden
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 489

Leitungsstil, Qualifikation Gottesdienste unterschiedlicher Art text-, sym-


bol- und adressantengerecht vorbereiten und kommunikativ (Gott, Kirche,
Welt) entsprechend ihrer Dramaturgie gestalten zu können, Qualifikation
zum konstruktiven Umgang mit den Rahmensetzungen und Richtlinien ei-
nes am II. Vatikanum orientierten Liturgieverständnisses (SC 7) bei der
Vorbereitung und Gestaltung von Gottesdiensten.9

Gleichzeitig muss an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden,


dass formulierte Schlüsselqualifikationen dem Verdacht ausgesetzt sind,
„den leistungsbewussten Mitläufer mit den nötigen Qualifikationen auszu-
statten”.10 Sie stehen somit im Verdacht, sich nahtlos in ein unkritisches
Bildungsverständnis einzufügen, das lediglich gesellschaftliche Mechanis-
men wiederholt und einer reinen Anwendbarkeit von Bildung und einer
Verbetriebswirtschaftlichung von Bildung das Wort redet. Negt möchte
den Kompetenz- und Schlüsselqualifikationsbegriff gesellschaftlich um-
deuten, um dem obersten Lernziel, nämlich Stiftung von Zusammenhang,
gerecht werden zu können.11 Negt formuliert sechs Schlüsselqualifikatio-
nen, um „Wesenszusammenhänge der heutigen Welt zu erkennen und die
bestehende Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer notwendigen Um-
gestaltung der praktischen Kritik zu unterziehen.“12 Er führt als Schlüssel-
qualifikationen an: Identitätskompetenz, Technologische Kompetenz, Ge-
rechtigkeitskompetenz, Ökologische Kompetenz, Ökonomische Kompe-
tenz und Historische Kompetenz.13 Im abschließenden Teil wird zu fragen

9 EICH 2008 [Anm. 5], 296–298.


10 So Oskar Negt, zitiert nach: HUFER, Klaus-Peter: Oskar Negt (geb. 1933), in: GLOE,
Markus / OEFTERING, Tonio (Hg.): Politische Bildung meets Politische Theorie, Baden-
Baden: Nomos 2017, 229–243, 234.
11 So Negt im Anschluss an Hufer; vgl. EBD., 236.
12 Zitiert nach EBD.
13 EBD.
490 Klaus-Gerd Eich

sein, ob das Ausbildungskonzept Elemente dieses Bildungsverständnisses


einlöst oder zumindest anschlussfähig daran ist.

Nach diesem holzschnittartigen Einblick in das Schlüsselqualifikations-


konzept und seiner kritischen Anfragen daran, gilt es nun einen Blick auf
das religionspädagogische Ausbildungskonzept zu werfen.

3 Die religionspädagogische Berufseinführung angehender


Seelsorgerinnen und Seelsorger im Bistum Trier:
Ziel, Organisation und Perspektiven

Angehende Pastorale Mitarbeiter*innen stehen in der religionspädagogi-


schen Berufseinführung vor der Herausforderung, sich in ein staatlich ver-
antwortetes Schulsystem einfügen zu müssen und qualifizierten Religions-
unterricht zu erteilen, obwohl sie Seelsorger*innen werden wollten und
nicht Lehrer*in.14 Im Anklang an das in Punkt 1 eingeführte Reflexions-
dreieck müssen sie sich einer ungewohnten Situation stellen und analysie-
ren, eine Aufgabe angehen, die sie vorrangig nicht gewählt haben und ein
fachliches Selbstkonzept entwickeln, das Rollenfacetten evoziert, die sie je
nach eigener Schulbiographie, sogar ablehnen. Es gilt also zu schauen, wie
diese Spannung von Unterrichten müssen und Seelsorger*in werden wol-
len konstruktiv bewältigt werden kann.

Selbstverständlich gilt es auch in der Pastoral zielgerichtete Lernprozesse


zu initiieren, durchzuführen und zu reflektieren, man denke hier nur an Er-
wachsenenbildung oder (Sakramenten-) Katechese.

14 Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen unter den Mitarbeitende des Bistums Trier in


der Schule agieren, EICH 2002 [Anm. 6], 46–49.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 491

3.1 Didaktische Handlungskompetenz als Ziel religionspädagogischer


Ausbildung angehender Seelsorger*innen

Didaktische Handlungskompetenz ist ebenso schulisch wie in der Pastoral


erforderlich, sie kann daher als eine Zieldimension herauskristallisiert wer-
den, die schulisches Agieren und Segmente pastoralen Arbeitens (da, wo
es um die Gestaltung von Lernprozessen geht) miteinander verbindet.15

Um Kompetenzen erlernbar zu machen, bedarf es einer Ermöglichungsdi-


daktik statt einer Erzeugungsdidaktik. Im Kontext der Berufseinführung
werden drei didaktische Modelle, angeboten, die ermöglichungsdidakti-
sches Potential in sich tragen: das einer Kommunikativen Glaubensdidak-
tik16, die auf dem allgemeindidaktischen Model W. Klafkis fußt17, dem
Elementarisierungskonzept von Nipkow18 und Schweitzer19 sowie der The-
menzentrierten Interaktion20, die auch im Kontext der Pastoraltheologie als
Gruppenleitungsmodell eingeführt wird.

15 EICH, Klaus-Gerd: Nicht nur für die Schule, sondern auch für die Seelsorge lernen sie.
Didaktische Handlungskompetenz als Ziel religionspädagogischer Ausbildung im Bis-
tum Trier, in: KÖHL, Georg u. a. (Hg.): Seelsorge lernen in Studium und Beruf, Trier:
Paulinus 2006, 390–396.
16 Vgl. RITTGEN, Paul: Kommunikative Glaubensdidaktik. Religionspädagogik im weite-
ren Sinne: Modell kritisch-konstruktive Fachdidaktik, Trier 1988 (maschinenschriftli-
ches Manuskript: zu beziehen über das Bischöfliche Generalvikariat Trier), DERS.: Mo-
dell einer kommunikativen Glaubensdidaktik, in: LENTZEN-DEIS, Wolfgang (Hg.): Der
Menschenfreundliche Gott (FS A. Thome), Trier: Paulinus 1990, 199–219 und Eich
2002 [Anm. 6], 70–76.
17 KLAFKI, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kri-
tisch-konstruktiven Didaktik, Weinheim: Beltz 1985.
18 NIPKOW, Karl Ernst: Grundfragen der Religionspädagogik, Bd.3, Gemeinsam leben und
gemeinsam lernen, Gütersloh: GTB 1982, 191–222.
19 SCHWEITZER, Friedrich: Elementarisierung als religionspädagogische Aufgabe: Erfah-
rungen und Perspektiven, Zeitschrift für Pastoraltheologie 5 (2000), 240–251.
20 Aus der Fülle der Literatur kann hier nur kurz auf eine Grundlagenperspektive verwei-
sen werden. Der emeritierte Innsbrucker Religionspädagoge Mattias Scharer kann als
492 Klaus-Gerd Eich

3.2 Zur Organisation der Berufseinführung

Die Berufseinführung dauert gemäß den Statuten der Deutschen Bischofs-


konferenz drei Jahre. Im ersten Jahr halten die Kandidat*innen angeleite-
ten Unterricht unter Anleitung einer Mentorin oder eines Mentors. Am
Ende dieses Jahres steht als Leistungsfeststellung eine Hausarbeit mit einer
praktisch-theologischen Fragestellung, die sich aus der Praxis der jeweili-
gen Kandidat*innen ergibt. In diesem ersten Jahr erfolgt ein beratender
Unterrichtsbesuch. Nach dem ersten Jahr erfolgt die Einweisung in eine
Planstelle, eine Kirchliche Unterrichtserlaubnis ist für zwei Jahre erteilt
und ab diesem Zeitpunkt erteilen die Kandidat*innen eigenverantwortli-
chen Unterricht, mit allen Rechten und Pflichten einer staatlichen Lehr-
kraft. Während dieser Zeit erfolgen zwei weitere beratende Unterrichtsbe-
suche sowie eine Prüfungslehrprobe, die die Eignung der Kandidat*in fest-
stellt.

Als Unterstützungssystem werden pro Jahr 5–7 Studientage angeboten, die


sich mit Fragen der Kandidat*innen, die sich aus deren Praxis ergeben,
beschäftigen. Die Teilnehmenden der Berufseinführung bringen hier je-
weils exemplarisch Beispiele aus ihrer Praxis ein, die zunächst deskriptiv
dargestellt werden, dann fachwissenschaftlich analysiert werden, um zu ei-
ner veränderten Praxis zu führen. Darüber hinaus steht allen Kandidat*in-
nen ein Fachbegleiter zur Verfügung, der für spezifische Fragen zur Situ-
ation kontaktiert werden kann.

Protagonist dieses Ansatzes gelten. Zur Erstinformation: SCHARER, Matthias: Die The-
menzentrierte Interaktion (TZI) als theologiekompatible Didaktik für die Leitung von
pastoralen Gruppen, in: KÖHL 2006 [Anm. 9], 522–527. Zum Zusammenhang von TZI
und kritischer Bildungsarbeit ist auch die Arbeit von Silvia Habringer-Hagleitner her-
anzuziehen. HAGLEITNER, Silvia: Mit Lust an der Welt – in Sorge um sie. Feministisch-
politische Bildungsarbeit nach Paulo Freire und Ruth C. Cohn, Mainz: Grünewald
1996.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 493

4 Anschlüsse für kritisch-religiöse Bildungsmomente in der


Berufseinführung angehender Seelsorger*innen im Bistum Trier

Wie aus den beiden vorangegangen Abschnitten ersichtlich, operiert das


Ausbildungsmodell auf verschiedenen Ebenen:
• einer wissenschaftstheoretischen Ebene (Praktische Theologie als
Handlungswissenschaft)
• einer Zieleebene der gesamten Ausbildung (eigenständige berufliche
Identität als Seelsorgerin/Seelsorger)
• einer Zielebene, die sich aus der fachwissenschaftlichen Perspektive
der religionspädagogischen Berufseinführung ergibt (Entwicklung ei-
ner didaktischen Identität)
• einer Ebene der Aneignung didaktischer Modelle, die ermöglichungs-
didaktischen Prinzipien entsprechen (Kommunikative Glaubensdidak-
tik nach Rittgen, Elementarisierungskonzept, TZI)
• einer Ebene unmittelbarer Praxiserfahrung (Planung, Durchführung
und Reflexion von Unterricht)
In diesem letzten Abschnitt möchte ich die skizzierten Ebenen heranziehen
und auf der jeweiligen Ebene beschreiben, wo ich Anschlüsse sehe oder
wo es noch Möglichkeiten gäbe, sich verstärkt mit einer emanzipatorischen
Perspektive auseinanderzusetzen. Die Eintragungen aus der Praxis erfol-
gen hier eher kursorisch und wären systematisch genauer zu erfassen.
Ebenso stellen sie eine subjektive Auswahl des Ausbildungsverantwortli-
chen dar und bedürfen der Ergänzung durch Kolleg*innen und Kandida-
ten*innen. Um den Horizont kritisch- emanzipatorischer Bildung auszu-
leuchten, werden die Signaturen kritisch-emanzipatorischer Bildung, wie
sie in der „Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Bil-
494 Klaus-Gerd Eich

dung“21 herausgearbeitet wurden, zu Grunde gelegt. Kritisch emanzipato-


rische Bildung zeichnet sich durch eine Krisenorientierung, Kontroversi-
tät, Machtkritik, Reflexivität, Ermutigung und Veränderung durch Han-
deln aus.

Auf wissenschaftstheoretischer Ebene ist zumindest anzufragen, ob eine


handlungswissenschaftliche Fundierung der Praktischen Theologie mit ih-
rer Annahme einer idealen Sprechsituation nicht zumindest latent in der
Gefahr steht, idealistische Züge zu tragen und das, was erst kommunikativ
entstehen soll, unkritisch vorauszusetzen.22 Heger stellt den bleibenden
Verdienst des Handlungswissenschaftlichen Ansatzes heraus23, plädiert je-
doch für einen kritisch-reflektierten multiperspektivischen Ansatz, der die
in der Wissenschaftstheorie diskutierten Ansätze für ergänzungswürdig
hält.24 So zeigt sich der Handlungswissenschaftliche Ansatz kompatibel
und verschränkbar mit einer ideologiekritischen Perspektive.25 Eine solche
Erweiterung der wissenschaftstheoretischen Fundierung des Ausbildungs-
konzeptes würde die Dimension der Kontroversität (Aufgreifen der ver-
schiedenen Ansätze, sie in ihren Gemeinsamkeiten und Kontradiktionen
ernst zunehmen), der Reflexivität (kritische Vergewisserung der eigenen
Perspektive), der Veränderung durch Handeln (Grundannahme einer ver-
änderungswürdigen Praxis als Fundament des Handlungswissenschaftli-
chen Ansatzes) einlösen. Heger stellt diesen multiperspektivischen Ansatz

21 Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung (FFE), in:


https://akg-online.org/sites/default/files/frankfurter_erklaerung.pdf [abgerufen am 06.
08.2019].
22 Vgl. zur Kritik: GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in:
WiReLex 2019 [abgerufen am 09.06.2019].
23 HEGER, Johannes: Wissenschaftstheorie als Perspektivenfrage?! Eine kritische Diskus-
sion wissenschaftstheoretischer Ansätze der Religionspädagogik, Paderborn: Ferdinand
Schöningh 2017, 209–226.
24 EBD., 569–581.
25 EBD., 137–182.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 495

in den Kontext einer Deutung der ‚Zeichen der Zeit‘, die auf die Krisen-
phänomene der jeweiligen Situation explizit Bezug nimmt.26

Die Zielebene der gesamten Ausbildung thematisiert den Zusammenhang


von Identität und Kompetenz in der Polarität von Situation – Auftrag –
Selbstkonzept. Diese Zielvorstellung hat hohes Anregungspotential, sich
kritisch-konstruktiv mit sich, der eigenen und der Realitätswahrnehmung
der Anderen27, den Wahrnehmungen und Interpretationen, Gesellschafts-
und Weltdeutungen auseinanderzusetzen (Krisenorientierung, Kontrover-
sität, Reflexivität). Die Ausbildung regt hier an, sich einer Fülle von Ana-
lyseinstrumenten zu bedienen und auch den Diskurs mit anderen Wissen-
schaften zu führen. Die Verwendung dieser Analysemodelle hat nicht nur
hermeneutische Funktion, sondern intendiert eine kritisch-emanzipatori-
sche Handlungsperspektive. Es geht nicht um Verstehen um des Verste-
hens willen, sondern um die Veränderung von Praxis (Ermutigung, Verän-
derung von Handeln).

Die Entwicklung einer didaktischen Identität bildet die Sinnspitze der reli-
gionspädagogischen Ausbildung. In der Aneignung didaktischer Modelle
kommt es zu Fragestellungen der Vergleichbarkeiten und den Akzentuie-
rungen der jeweiligen Modelle. Die Kandidat*innen unterstreichen hier
immer wieder, dass sie die Zielbestimmung von Klafkis Didaktik als
Selbst-, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit als besondere Heraus-
forderung erleben und sie sich fragen, ob der geplante und durchgeführte
Unterricht dieser Dimension entspricht und mit welchen Deutekategorien,
sie diese Fragen beantworten. Damit ist meist auch die Frage des Bildungs-
und Erziehungsauftrags im deutschen Schulwesen mitgegeben. Wir ver-

26 EBD., 580–581.
27 Hierauf legt Zilleßen einen besonderen Akzent. Vgl. ZILLEßEN, Dietrich: Art. Emanzi-
pation in: LexRP Bd.1, 394–401, 400.
496 Klaus-Gerd Eich

halten sie sich zueinander? Welche Bildungs-, und Erziehungsideale ver-


trete ich, und an welchen Maßstäben messe ich dies? Welche Systeman-
passungen verlangt Schule, wie viel Abweichung darf es geben (Akzentu-
ierung der Reflexivität, der Ermutigung und Veränderung des Handelns
angesichts krisenhaft erlebter Situationen)?

Bezüglich der TZI bringen die Kandidat*innen immer wieder die Frage-
stellung nach einer schüler- und sachgemäßen Themenformulierung ein.
Oft erleben sie im Unterricht, dass sie Frage- und Aufgabenstellungen be-
handeln, die keinerlei Resonanz bei der Schülerschaft hervorruft.28 Zu-
nächst suchen sie nach methodischen Kniffen, wie der Inhalt gut verpackt
werden kann. Im Laufe der Ausbildung erleben sie immer stärker, dass es
dort, wo es gelingt, Themen zu eruieren, die Person und Tradition mitei-
nander verbinden, viel Anregungspotential gibt, die kritisch- emanzipato-
rische Lernprozesse ermöglichen (Krisenorientierung, Kontroversität) und
in handlungsorientierten Lernsettings auch zu veränderten Handeln führen
kann (Ermutigung, Veränderung).29

Allen didaktischen Modellen gemein ist, dass sie nach Verstehensvoraus-


setzungen und Zugangsmöglichkeiten der Adressaten* innen fragen. In
dieser Fokussierung liegt oft das größte Anreizpotential für die Kandi-
dat*innen. Wenn sie Lebensgeschichten ihrer Schüler*innen in den Blick
nehmen, gelangen sie häufig zu Fragestellungen, wie Unterstützung für

28 Zur Bedeutung der Resonanzpädagogik: ROSA, Hartmut / ENDRES, Wolfgang: Reso-


nanzpädagogik. Wen es im Klassenzimmer knistert, Weinheim / Basel: Beltz 2016.
29 Vgl. zur Bedeutung von Themen im Bildungsprozess: FREIRE, Paulo: Pädagogik der
Unterdrückten, Reinbek: Rowohlt Taschenbuchverlag 1973, 84–104. Aus Sicht der
Themenzentrierten Interaktion kann eine Nähe der Bedeutung von Themen mit der
problemformulierenden Methode Freires in emanzipatorischer Absicht herausgearbei-
tet werden. Vgl. HAGLEITNER [Anm. 6], 158. Zur Darstellung des Entdeckens generati-
ver Themen: FUNKE, Kira: Paulo Freire. Werk, Wirkung und Aktualität, Münster /
New York / München / Berlin: Waxmann 2010, 163–170.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 497

Bildungsverlierer*innen aussehen kann.30 Hier liegt enormes Potential für


kritisch-emanzipatorische Prozesse (Krisenorientierung, Kontroversität,
Reflexivität). Auf der Ebene unmittelbarer Praxiserfahrung sei hier nur auf
die Frage von Methoden- und Sozialformenentscheidungen hingewiesen.
Auch hier gilt es zu fragen, welche methodischen Arrangements bergen
kritisch emanzipatorisches Anregungsmaterial, welche Sozialformen för-
dern diese Prozesse.

Rückblickend kann festgehalten werden, dass sich Elemente dessen, was


Emanzipation beinhaltet, in der Ausbildung angehender Seelsorger*innen
im Bistum Trier wiederfinden lassen. So lassen sich Dimensionen, wie sie
in der Frankfurter Erklärung grundgelegt wurden, auf allen Ebenen des
Ausbildungskonzeptes nachweisen, die jedoch ausbauwürdig sind. Eine
eindeutige Unterbelichtung zeigt sich in der Dimension der Machtkritik.
Diese Dimension der Macht stellt sich in Anbetracht der Missbrauchsthe-
matik, der unerledigten Amtsfrage, dem inneren Zustand der Kirche selbst
ein Krisenphänomen für die Kirche in der Welt dar, das zur Kontroverse
auffordert und nach einer neuen Reflexion und zu veränderten Diskursen
ruft. Die Machtfrage bildet sich natürlich auch im Ausbildungssystem
selbst ab, da asymmetrische Beziehungen zwischen Kandidat*innen und
Ausbildungsverantwortlichen herrschen und gestaltet werden müssen.

Autorenangaben: Dr. theol. Klaus-Gerd Eich, Studienleiter für Praktische Theolo-


gie im Bistum Trier, verantwortlich für die inhaltliche Gestaltung der Berufsein-
führung angehender Seelsorger*innen im Bistum Trier, Lehrbeauftragter des Ruth
Cohn Instituts für Themenzentrierte Interaktion nach Ruth C. Cohn.©

30 Zur Problematik der Bildungsverlierer*innen: QUENZEL, Gudrun / HURRELMANN, Klaus


(Hg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten, Berlin: Springer VS 2010.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter
Religionsunterricht

Claudia Gärtner

Abstract: Oftmals werden ästhetisch und politisch orientierte religionspädagogi-


sche Ansätze als (gegensätzliche) Alternativen wahrgenommen. Im folgenden
Beitrag wird hingegen aufgezeigt, dass Kunst und Politik eine durchaus wechsel-
hafte Beziehungsgeschichte besitzen, die in den letzten Jahren äußerst lebendig
erscheint. An ausgewählten Kunstwerken wird daher aufgezeigt, inwiefern eine
religionspädagogische Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst ein bedeu-
tendes kritisch-emanzipatorisches Bildungspotenzial entfalten kann.

1 Kunst und Politik – ein komplizierter Beziehungsstatus

Das Verhältnis von Kunst und Politik ist kompliziert – und erinnert ein
wenig an ein Ehepaar, das auf eine lange, wechselvolle Beziehung zurück-
blicken kann: Es gibt Phasen inniger, fast symbiotischer Nähe, heftiger
Zerwürfnisse, kritischer Distanz, wortkarger Koexistenz oder freund-
schaftlichen Miteinanders. Seit Mitte der 1960er Jahre beeinflussten und
provozierten zahlreiche Künstler*innen mit ihren politischen Werken und
Aktionen weite Teile der Gesellschaft, so z. B. die Plakatkunst von Klaus
Staeck, der erweiterte Kunstbegriff und die Vorstellung von „sozialer
Skulptur“ von Joseph Beuys, Anselm Kiefers Performances mit Hitlergruß
oder seine großformatigen Malereien zur deutschen Geschichte und My-
thologie. Spätestens seit den 1990er Jahren wurde es zunehmend ruhiger
um die politische Kunst. Eine Orientierung an politischen Themen drohe
die Autonomie der Kunst zu gefährden, laufe Gefahr sich für politische
Propaganda instrumentalisieren zu lassen und vernachlässige das ästheti-
sche Repertoire der Kunst – so lauteten die Vorbehalte. Doch seit einigen
Jahren ist eine Renaissance politischer Kunst unübersehbar. Kaum eine
zeitgenössische Ausstellung kommt umher, eine der großen politischen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_28
500 Claudia Gärtner

Herausforderungen der Gegenwart aufzugreifen: Globalisierung, Migra-


tion, Kapitalismus oder Kolonialismus. Anlässlich der Documenta 14
(2017), kuratiert von Adam Szymczyk, erreichten die Debatten über eine
Repolitisierung der Kunst ihren bisherigen medialen Höhepunkt. Äußerst
kritisch wurde die Ausstellungskonzeption kritisiert, die sich oftmals un-
terkomplex auf die moralisch richtige Seite der Geschichte stellen wolle
und die Kunst als Gerechtigkeitsmaschine betrachte.
„Die abgrundtiefe Sehnsucht der Documenta 14, moralisch richtigzuliegen, ist
ihre größte Schwäche. Sie machte […] aus Kunstwerken Dokumente des interna-
tionalen Befreiungskampfes, angeführt von furchtlosen Kuratoren, die eben aus
dem transfeministischen Teach-in gestolpert sind.“1

Auch die Aktionen des „Zentrums für Politische Schönheit“2 werden re-
gelmäßig medial heftig kritisiert, da hier unter dem Deckmantel der Kunst-
freiheit politisch propagandistisch oder extremistisch agiert würde. Diese
Kritik erinnert stark an die Auseinandersetzungen um politische Kunst in
den 1970er Jahren.3

Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in der Kunstpädagogik entde-


cken, wenn man auf ihr Verhältnis zur politischen Bildung schaut.4 Hierbei
geht es nicht nur um die Erschließung von politischen Motiven in der Kunst
oder um den Erwerb von Bildkompetenzen,5 die angesichts der Dominanz

1 Vgl. POFALLA, Boris: Alle werden eingemeindet, in: https://www.faz.net/aktuell/feuil-


leton/kunst/superkunstjahr-2017/documenta-14-in-kassel-wo-steht-die-kunst-150554
43-p2.html [abgerufen am 22.3.2019].
2 Vgl. https://politicalbeauty.de/ [abgerufen am 22.3.2019].
3 Exemplarisch dafür steht etwa Adornos Diktum: „lieber keine Kunst mehr als sozialis-
tischer Realismus.“ (ADORNO, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1970, 85).
4 Vgl. den Überblick bei LANGE, Marie-Luise: Von der Kunsterziehung zur ästhetischen
Forschung, in: BESAND, Anja (Hg.): Politik trifft Kunst. Zum Verhältnis von politischer
und kultureller Bildung, Bonn: bpb 2012, 31–41.
5 Vgl. BESAND, Anja: Kunstunterricht und Politikunterricht, in: DIES. 2012 [Anm. 4], 43–
57, 49.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 501

visueller und digitaler Kommunikationsformen zwingend notwendig sind,


um an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Diskursen teilneh-
men zu können. Stattdessen wird der künstlerischen Bildung selbst politi-
sches Potenzial zugemessen. So könne z. B. die ästhetische Forschung als
ein kunstpädagogischer Ansatz „auch als zukünftiges Modell für eine de-
mokratisch kommunizierende, interdisziplinär agierende Multi-Options-
Gesellschaft reüssieren.“6

Hier ist nicht der Ort, diese Debatte grundsätzlich weiterzuführen. Viel-
mehr soll im Folgenden fokussiert anhand ausgewählter Werke erörtert
werden, inwiefern diese Arbeiten ein Potenzial für kritisch-emanzipatori-
sche Bildungsprozesse im Religionsunterricht besitzen (Kap. 3). Denn die
Frage, inwiefern Kunst sowohl ein hohes künstlerisches, als auch kritisches
Potenzial besitzt, kann letztlich nur am einzelnen Werk selbst diskutiert
werden.

Zuvor soll jedoch die komplizierte Beziehungsgeschichte von Kunst und


Politik um eine dritte Partnerin erweitert werden: die Religion. Um sich in
dieser jahrtausendealten „Dreiecksbeziehung“ nicht zu verlieren (denn
schon das alttestamentliche Bilderverbot hat als Fremdgötterverbot eine
religiöse, politische und ästhetische Pointe), wird der Blick auf die Religi-
onspädagogik konzentriert und nach dem Verhältnis von ästhetischer und
politischer Religionspädagogik gefragt.

2 Ästhetisch und politisch orientierte Religionspädagogik

Eine gängige Lesart der Religionspädagogik macht verschiedene Etappen


in der jüngeren Geschichte der Religionspädagogik aus: Seit Ende der
1960er Jahre wurde die Religionspädagogik, zumindest in Teilen, politisch

6 LANGE 2012 [Anm. 4], 39.


502 Claudia Gärtner

orientiert.7 In den anschließenden Jahrzehnten fand eine Entwicklung von


einer politisch- und handlungs- zu einer wahrnehmungs- und ästhetisch-
orientierten religionspädagogischen, wie auch praktisch-theologischen
Hermeneutik statt.8 Ausgangspunkt war die Annahme, dass bereits durch
die menschliche Wahrnehmung über das Handeln der Menschen entschie-
den wird. „Praktisch-theologisches Handeln wird […] weniger als Handeln
begriffen, sondern als Kunst. Nicht mehr die klassischen Handlungswis-
senschaften, sondern die Ästhetik wird zum bevorzugten außertheologi-
schen Bezugspunkt der Praktischen Theologie.“9 Für die Religionspädago-
gik resultiert hieraus die Aufgabe, die Wahrnehmung der Menschen zu
schulen, ihnen neue Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten für Leben
und Glauben zu ermöglichen und sie so zu einer kritischen Urteilsbildung
zu befähigen.10 Zahlreiche bild- oder performativ-orientierte religionspä-
dagogische Ansätze knüpfen an dieser Grundorientierung ästhetischen

7
Vgl. z. B. den Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
8 Vgl. FÜRST, Walter: Ästhetik der Praktischen Theologie. Über mögliche Wege zur Bil-
dung eines christlichen Pastoralstils, in: SCHULZ, Ehrenfried / BROSSEDER, Hubert /
WAHL, Heribert (Hg.): Den Menschen nachgehen. Offene Seelsorge als Diakonie der
Gesellschaft, St. Ottilien: EOS 1987, 23–41; DERS. (Hg.): Pastoralästhetik. Die Kunst
der Wahrnehmung und Gestaltung in Glaube und Kirche, Freiburg: Herder 2002;
GRÖZINGER, Albrecht: Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung
der Praktischen Theologie, München: Chr. Kaiser 1987; DERS.: Praktische Theologie
als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995; BIEHL, Peter:
Religionspädagogik und Ästhetik, in: JRP 5 (1988), 3–44; ALTMEYER, Stefan: Von der
Wahrnehmung zum Ausdruck: zur ästhetischen Dimension von Glauben und Lernen,
Stuttgart: Kohlhammer 2006.
9 GRÖZINGER, Albrecht: Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, in: DERS. /
LOTT, Jürgen (Hg.): Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens
und Handelns, Rheinbach-Merzbauch: CMZ-Verlag 1997, 311–328, 315; religionspä-
dagogisch sind in dieser Entwicklung vor allem Hilger und Peter Biehl zu nennen. Vgl.
ALTMEYER 2006 [Anm. 8], 41–47.
10 Vgl. HILGER, Georg: Wahrnehmung und Verlangsamung als religionsdidaktische Ka-
tegorien. Überlegungen zu einer ästhetisch inspirierten Religionsdidaktik, in: HEIM-
BROCK, Hans-Günter (Hg.): Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Weinheim:
Deutscher Studienverlag 1998, 138–157.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 503

Lernens an.11 An die Stelle gesellschaftlicher Themen traten verstärkt vor-


nehmlich subjekt- und wahrnehmungsorientierte Auseinandersetzung mit
Symbolen und (pop-) kulturellen Gegenwartszeugnissen oder performa-
tive, rituelle Vollzüge, was dazu führte, dass ästhetisches Lernen in der
Religionspädagogik teils als verengt oder entpolitisierend betrachtet
wird.12 Politische und ästhetische Religionspädagogik drohen in dieser
Lesart zu Gegensätzen stilisiert zu werden.

Die starke Trennung von ästhetisch und politisch orientierter Religionspä-


dagogik erweist sich jedoch heute als unzutreffend – und war es in den
1970er Jahren auch schon.13 Erstens lässt sich Ästhetik und Politik nicht
gegeneinander ausspielen. So sind politische und gesellschaftliche Dis-
kurse eminent ästhetisch-kulturell imprägniert, wie bereits im vorangegan-
genen Kapitel exemplarisch im Bereich der Kunst deutlich wurde.14 Wenn
gegenwärtig z. B. über Fragen nach der Dominanz von urban-globalen Le-
bensstilen versus regional-nationaler Identitäten gestritten wird, dann ist
dies auch ein ästhetischer Diskurs. Auch Politik wird bereits seit der Antike

11 Vgl. den Überblick bei GÄRTNER, Claudia: Ästhetisches Lernen. Eine Religionsdidak-
tik zur Christologie in der gymnasialen Oberstufe, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien:
Herder 2011.
12 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grund-
satzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunter-
richts, Stuttgart: Kohlhammer 2009, 82–85; LÄMMERMANN, Godwin: Religionspäda-
gogik zwischen politischer und ästhetischer Signatur. Eine nicht ganz unpolemische
Auseinandersetzung zur Rettung der Ästhetik vor den Ästheten, in: ZPT 57 (2005),
358–368.
13 Vgl. ASSIG, Hubertus: Glück und Heil. Plädoyer für den Vorrang der Ästhetik in der
Ethik, in: ASSIG, Hubertus / MALLINCKRODT, Hansjürgen von (Hg.), Politische Kate-
chese. Theologische und didaktische Skizzen, München: Pfeiffer 1972, 172–185. Diese
Trennung war in den frühen 1970er Jahren sogar unüblich. Dies lässt sich soziologisch
damit erklären, dass 1968 „Künstlerkritik“ und „Sozialkritik“ noch gemeinsam artiku-
liert wurden, in der Folgezeit jedoch separiert auftreten (vgl. BOLTANSKI, Luc / CHIA-
PELLO, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003).
14 Vgl. exemplarisch RANCIÈRE, Jacques: Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve 2008.
504 Claudia Gärtner

über Bilder und ästhetische Inszenierungen betrieben. Wenn somit bereits


rein auf der Materialebene ästhetische und künstlerische Erzeugnisse der
Gegenwart wahrnehmungsorientiert erschlossen werden, so bricht die Ge-
genüberstellung von politisch und ästhetisch orientiertem Lernen zusam-
men. Zweitens lässt sich aber auch auf einer formalen Ebene die Notwen-
digkeit einer Durchdringung von ästhetischem und politischem Lernen
herausstellen. Bereits 1972 forderte der politische Religionspädagoge Hu-
bertus Assig:
„Die ästhetische Sensibilisierung der Menschen für ein humaneres, glücklicheres,
heileres Leben kann vielmehr entscheidende Hilfe sein, eine Lebenswirklichkeit
herbeizuführen, die auf dem Wege einer nur kritisch-intellektuellen Imagination
oder der direkten politischen Aktion eben nicht herbeizuführen ist.“15

Spätestens mit der Krise der Korrelationsdidaktik und dem Aufkommen


der Performativen Religionsdidaktik wurde eine einseitige Fokussierung
auf die rationale Durchdringung von Religion im schulischen RU kritisch
hinterfragt. Die Performative Religionsdidaktik hat nachdrücklich darauf
hingewiesen, dass sich Religion nicht im Reden über Religion erschöpft.
Um die Eigenlogiken von Religion wahrzunehmen und zu verstehen, be-
nötigt es daher eine explizite Beschäftigung mit religiösen Erfahrungen
und ihren Deutungsmustern, mit spezifisch religiösen Kommunikations-
und Handlungsstrukturen – und diese sind oftmals ästhetisch und teils auch
leiblich-körperlich geprägt. Blickt man zudem auf die gegenwärtige Ge-
stalt von Religiosität, dann lassen sich hier Verschiebungen entdecken, die
diesen Trend zum Ästhetischen unterstreichen. Nach Rudolf Englert geht
dies mit einer Verschiebung des Religiösen in Richtung des Emotionalen
einher und wird von einer tiefgreifenden Erosion des Dogmatischen und
Rationalen begleitet.16 Das heißt ein vertieftes Verständnis von Religion
kann zum einen gar nicht ohne ästhetisches Lernen erlangt werden und

15 ASSIG 1972 [Anm. 13], 172–173.


16 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Was wird aus Religion? Beobachtungen, Analysen und Fallge-
schichten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern: Grünewald 2018, 100–146.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 505

scheint zum anderen ohne eine ästhetische Dimension für viele Schüler*in-
nen auch gar nicht mehr ansprechend zu sein.

In diesem Gefüge gilt es, eine politisch orientierte Religionsdidaktik mit


performativ-ästhetischen, hermeneutischen Ansätzen zu verbinden.
„D. h. in eine religionshermeneutisch und ästhetisch-wahrnehmungsorientierte
Matrix ist immer wieder eine Struktur von Problemorientierung einzuzeichnen,
die den Dialog herausfordert und eine Form von Partizipationskompetenz ausbil-
det, sich in religiös-weltanschaulich relevanten Fragen begründet am Diskurs be-
teiligen zu können und für sich zu klären, warum religiöse Deutungsmuster und
Praktiken für einen selbst in Frage kommen oder eben nicht.“17

Um Welt und Gesellschaft im Lichte der christlichen Botschaft kritisch zu


reflektieren, um ihr emanzipatorisches Potenzial zu entdecken, bedarf es
eben u. a. auch Einblicke in die ästhetischen, mystisch-spirituellen, liturgi-
schen Dimensionen von Religion und deren Hermeneutik.18

Dass eine derartige Verbindung von ästhetischem und politischem Lernen


sowohl mit konzeptionellen Problemstellungen als auch mit didaktischen
Lernhürden zu kämpfen hat, habe ich bereits anderenorts ausführlicher dar-
gestellt.19 So ist performativ-ästhetisches Lernen durch gegenwärtige
Trends zur Oberflächenästhetisierung, Digitalisierung und Selfie-Kultur,
die zu individualisierter, selbst-referenzieller Fokussierung neigen, heraus-

17 KUMLEHN, Martina: Religiöse Indifferenz und Differenzkompetenz. Religiöse Bildung


als Überführung komplexer religiöser Unbestimmtheiten in einen bewussten Umgang
mit dem Unbestimmbaren, in: ROSE, Miriam / WERMKE, Michael (Hg.): Konfessions-
losigkeit heute. Zwischen Religiosität und Säkularität, Leipzig: Evangelische Verlags-
anstalt 2014, 288–303, 301–302.
18 Vgl. ähnlich SÖLLE, Dorothee: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, Mün-
chen: Piper 42001; METZ, Johann B.: Mystik der offenen Augen, hg. v. Johann REI-
KERSTORFER, Freiburg im Breisgau: Herder 2011.
19 Vgl. GÄRTNER, Claudia: Ästhetisches Lernen – ein Beitrag zur Entpolitisierung der Re-
ligionspädagogik?, in: KÖNEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und Gerech-
tigkeit?! Warum religiöse Bildung politisch sein muss, Ostfildern: Grünewald 2013,
135–149.
506 Claudia Gärtner

gefordert.20 Zudem verdeutlichen empirische Studien, dass kunstorientier-


tes Lernen in der Unterrichtspraxis ihren konzeptionellen Anspruch oft-
mals nicht einlöst. Kunst wird dabei von Lernenden nicht als etwas Frem-
des, Perturbierendes wahrgenommen, das Wahrnehmung und Handeln für
Kritik und Transformation des Gegebenen öffnet. Vielmehr neigen Schü-
ler*innen zur subjektiven, teils an Beliebigkeit grenzenden Sichtweisen auf
Kunst, die ihren Blick auf Gott und die Welt bestärken, ohne ihn nachhaltig
zu hinterfragen oder zu transformieren.21 Diese Problemstellungen und
Lernhürden sind jedoch nicht prinzipieller Natur, sondern ergeben sich u. a.
in spezifischen Theorie-Praxissituationen und sind damit auch kontextuell
und lokal zu reflektieren und zu modifizieren.22

Dies soll im Folgenden exemplarisch geschehen, indem anhand konkreter


Kunstwerke das kritisch-emanzipatorische Potenzial des Ästhetischen für
religiöse Lernprozesse ausgelotet wird. Dazu ist es nicht nur notwendig,
die komplizierte Beziehung von Kunst und Politik auf ausgewählte Werke
(Kap. 1) und ein spezifisches Verständnis ästhetischen Lernens (Kap. 2)
hin zu konkretisieren, sondern diese auch in ein spezifisches Verständnis
von politischem Lernen einzubetten (Kap. 3).

20 Vgl. GÄRTNER, Claudia: Performanz oder Reflexion, Selbstinszenierung oder Diffe-


renzerfahrung? Aktuelle Herausforderungen performativen Lernens, in: RpB 76
(2017), 50–57.
21 Vgl. GÄRTNER, Claudia: Über die Wirkung von Kunst am Lernort ‚Gemeinde’. Einbli-
cke in eine qualitativ-empirische Studie, in: Theo-Web 9/1 (2010), 264–277; DIES.: „Bei
Bildern hat jeder andere und eigene Wahrnehmungen“. Was und wie lernen Schüler/-
innen, wenn sie Bilder im Religionsunterricht erschließen?, in: DIES. / BRENNE, Andreas
(Hg.): Kunst im Religionsunterricht – Funktion und Wirkung. Entwicklung und Erpro-
bung empirischer Verfahren, Stuttgart: Kohlhammer 2015, 79–110.
22 Vgl. zur lokalen fachdidaktischen Theoriebildung und Praxisentwicklung in der Reli-
gionsdidaktik GÄRTNER, Claudia (Hg.): Religionsdidaktische Entwicklungsforschung.
Lehr-Lernprozesse im Religionsunterricht initiieren und erforschen, Stuttgart: Kohl-
hammer 2018.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 507

3 Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik und


ästhetisches Lernen

Bislang wurde eher allgemein von politisch orientiertem Lernen gespro-


chen. Im Folgenden soll dieses in Hinblick auf kritisch-emanzipatorische
politische Bildung konkretisiert werden, wie sie in der Frankfurter Erklä-
rung programmatisch entworfen und in der vorliegenden Publikation im-
mer wieder als zentraler Referenzpunkt betrachtet wird.23 Es gilt daher zu
erörtern, inwiefern mit Kunst Lernprozesse initiiert werden können, die so-
wohl religiös relevant als auch – im Sinne der Frankfurter Erklärung – kri-
senorientiert, kontrovers, reflexiv, machtkritisch, ermutigend und auf Ver-
änderung zielend sind.

3.1 Superhelden in Religion, Kunst und Gesellschaft

Mit diesen Plakaten (s. Abb. 1–3) machte sich vor einiger Zeit eine kirch-
liche Organisation für die Rechte benachteiligter Kinder stark. Die Bot-
schaft ist eindeutig gesellschaftskritisch: Kinder besitzen Potenziale, sie
sind kleine Superhelden, die ihre Kräfte in dieser Gesellschaft häufig nicht
entwickeln können. Der Hintergrund verweist darauf, dass dies besonders
für Kinder aus ökonomisch benachteiligten Familien zutrifft. Die Plakate
bringen die gravierende Bildungsungerechtigkeit in Deutschland zum Aus-
druck. Arm – reich, Kinder – Erwachsene sind hier Hierarchien, die macht-
kritisch und krisenorientiert miteinander in Beziehung gesetzt werden. Mit
diesen Plakaten setzt sich Kirche ihrem diakonischen Selbstverständnis
folgend für benachteiligte Kinder ein. Im RU können anhand dieser Bilder

23 Vgl. z. B. der Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.


508 Claudia Gärtner

somit gesellschaftskritische Aspekte entdeckt und der diakonische Auftrag


von Kirche erarbeitet werden.

Abb. 1–3: Plakatserie einer kirchlichen Organisation, 2007

Fragt man, inwiefern es sich hierbei um ein kritisch-emanzipatorisches


Lernsetting handelt, so ist der Vergleich mit Bildern der polnischen
Künstlerin Elzbieta Jablonska aufschlussreich (s. Abb. 4).24 In einer Foto-
serie greift sie ebenfalls Comichelden wie Batman und Spiderman auf. Al-
lerdings streift sie sich selbst auf den inszenierten Fotografien die Kostüme
über und setzt ihren nur spärlich bekleideten Sohn auf ihren Schoß. Männer
bzw. Väter fehlen auf ihren Bildern.

„Supermother“ nennt sie ihre Arbeiten, die damit – anders als die
kirchlichen Plakate – einen deutlichen Genderbezug erhalten. Hier prägen
geschlechtsspezifische und -stereotypische Wahrnehmungsmuster die Be-
trachtung mit, die zugleich deutlich hinterfragt werden. Mit diesem ge-
schärften Blick fällt auf, dass die Kirchenplakate diesen Aspekt ausblen-

24 Vgl. ausführlich BURRICHTER, Rita / GÄRTNER, Claudia: Mit Bildern lernen. Eine Bild-
didaktik für den Religionsunterricht, München: Kösel-Verlag 2014, 64–67.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 509

den. Die Superhelden werden von Jungen mit raumgreifender, extrover-


tierter Körperhaltung dargestellt, das einzige Mädchen wird als in sich ge-
kehrte Fee mit verschlossener Körperhaltung gezeigt.

Abb. 4: Elzbieta Jablonska, Supermother, Fotografie, 2002

Darüber hinaus besitzt „Supermother“ auch religionskritische Bezüge,


denn die Künstlerin nimmt auf die christliche Ikonografie von Madonna
mit Kind oder die Pietà Bezug. So ist z. B. die auf Abb. 4 gezeigte Körper-
haltung mit Jesus auf dem Schoß ein kunstgeschichtlich geprägtes Motiv.
Vielfach reicht die Madonna dem Jesuskind einen Apfel und bezeichnet
sich damit als „neue“ Eva. Sowie Eva mit dem Apfel den Sündenfall
brachte, so birgt der von Maria überreichte Apfel in Jesus Christus die Er-
lösung der Menschheit. Jablonska greift diese Gestik explizit auf und trans-
formiert sie zugleich, indem sie ihrem Sohn einen Keks gibt. Der religiöse
Akt wird so zu einer Geste des Ernährens gewandelt. Passend dazu ist die
Szene in einer Küche situiert, dem traditionellen Arbeitsplatz der Hausfrau.
Doch Jablonska konterkariert tradierte Vorstellungen von Hausfrau und
Mutter, indem sie sich als Kämpferin für Gerechtigkeit im Batmankostüm
präsentiert. Zugleich spielt sie damit kritisch auf überzogene Erwartungen
510 Claudia Gärtner

an Mütter als multitaskingfähige Superheldinnen an. Die Irritationen, die


das Werk auslöst, entstehen aus diesem vielschichtigen Spiel von ge-
schlechtsspezifischen und popkulturellen Stereotypen mit religiösen und
kunstgeschichtlichen Motiven.

Trotz oder gerade wegen dieses ironischen Umgangs mit (religiösen) Frau-
en- und Männerbildern lässt sich an diesem Werk eine wechselseitige kri-
tische Erschließung von Christentum und Gegenwartskultur ausmachen.
Jablonska macht darauf aufmerksam, dass die Marienbilder bis heute ihre
Bildgeschichte und Bildwirkung besitzen. Damit ruft sie zugleich ins
Gedächtnis, wie maßgeblich Frau- und Muttersein in der Geschichte des
Christentums durch Maria, die Mutter Jesu, in Kunst, Gesellschaft und
Religion geprägt wurde. Als Gottesmutter wird sie verehrt und zugleich
wird durch ihre Jungfräulichkeit ein entsexualisiertes und durch ihre
(vermeintliche) Demut ein mitleidendes, passives Frauen- und Mutterbild
gezeichnet. Maria wird zur „Supermother“.

Diese zumeist unbewussten geschlechtsstereotypen Wahrnehmungs- und


Handlungsmuster bewusst zu machen und zu dekonstruieren, kann eine
wichtige Erkenntnis sein, die in der Auseinandersetzung mit „Super-
mother“ gewonnen wird. Aus einem solchen „Gendertrouble“ können ge-
schlechtergerechtere Bilder von und Aufgaben für Frau- und Muttersein
entstehen – so z. B. durch eine Relecture der biblischen Texte über Maria.
Denn die biblischen Texte zeichnen Maria nicht nur als starke, tatkräftige
und sich kümmernde Mutter, sondern auch als eigenständige Frau, die im
Magnifikat in gesellschaftspolitischen Kategorien denkt und betet (Lk 1,
46–55), die lernen muss, ihren Sohn loszulassen (Lk, 2, 41–52; Mk 3, 31–
35) und die nach der Himmelfahrt ihres Sohnes im Kreise seiner Jüngerin-
nen und Jünger verbleibt (Apg 1, 12–14). Das biblische Marienbild ist so-
mit viel komplexer, sperriger und auch für heutige Mütter- und Frauenbil-
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 511

der inspirierender als es das „Vorbild“ der reinen Gottesmutter erahnen


lässt.25

Schülerinnen und Schüler, die sich auf eine solch vielschichtige Erschlie-
ßung des Kunstwerks einlassen, können Gendervielfalt in der Bibel und
Tradition entdecken, androzentrische Texte auf vergessene, marginali-
sierte Sichtweisen befragen und Androzentrismen in Bibel und Tradition
aufdecken. Im Vergleich mit der Plakatserie können Lernende zum einen
erkennen, wie hier gesellschaftliche und intergenerationale Missstände an-
geprangert und die diakonische Funktion von Kirche hervorgehoben wer-
den. Zum anderen wird deutlich, dass Gender, Religion und Gesellschaft
kritisch intersektional in Beziehung gesetzt werden muss.26 Dadurch ver-
meidet ein Lernsetting mit diesen Bildserien einseitige Religions- oder Ge-
sellschaftskritik, denn Ästhetik, Religion und Kritik sind hier nicht vonei-
nander zu trennen. Im Sinne der Frankfurter Erklärung erweist sich ein so
orientiertes ästhetisches Lernen im RU als krisenorientiert, kontrovers, re-
flexiv und zugleich machtkritisch.

3.2 Kleidung als Ausdrucksträger religiöser und kultureller


Identitäten

Die bosnisch-österreichische Künstlerin Azra Aksamija greift ebenfalls re-


ligiöse Motive und Praktiken in ihren Werken auf, die gesellschaftlich und
politisch äußerst kontrovers rezipiert werden.27 In „Dirndlmoschee“ (s.

25 Vgl. MILLER, Gabriele: „Maria, unsere Schwester im Glauben. Das Marienbild des
Neuen Testaments“, in: SPENDEL, Stefanie Aurelia / WAGNER, Marion (Hg.): Maria zu
lieben. Moderne Rede über eine biblische Frau, Regensburg: Friedrich Pustet 1999, 23–
38.
26 Vgl. KNAUTH, Thorsten / JOCHIMSEN, Maren A. (Hg.): Einschließungen und Ausgren-
zungen. Zur Intersektionalität von Religion, Geschlecht und sozialem Status für religi-
öse Bildung, Münster: Waxmann 2017.
27 Vgl. die regelmäßigen Proteste der FPÖ gegen Ausstellungen bzw. Auszeichnungen
der Künstlerin, sowie die sinnentstellte Zitation von Äußerungen der Künstlerin durch
512 Claudia Gärtner

Abb. 5) entwirft sie ein Kleidungsstück, das an ein traditionelles österrei-


chisches Dirndlkleid erinnert, dessen Kittel sich jedoch in einen Gebets-
teppich für drei Personen entfalten lässt. Aus dem Schultertuch wird ein
Kopftuch. Um die Ausrichtung nach Mekka zu ermöglichen, sind am
Schürzensaum ein Karabiner mit Kompass sowie mehrere Gebetsketten
befestigt, an deren Ende funktionslose Schweizer Miniaturmesser hängen,
die mit dem typischen weißen Kreuz dekoriert sind.28

Abb. 5: Azra Aksamija, Dirndlmoschee, 2005

Ähnliche religiös-kulturelle Transformationen von Kleidung vollzieht sie


in „Frontier Vest“ (s. Abb. 6), ein Objekt, das sie angesichts des israelisch-
palästinensischen Konflikts entworfen hat. Hierbei handelt es sich um eine
kugelsichere Weste, die sowohl zum jüdischen Gebetsschal Tallit, als auch
zum muslimischen Gebetsteppich umgewandelt werden kann und – entge-

die FPÖ, um diese in eigenen islamfeindlichen Kampagnen zu missbrauchen (vgl.


https://www.azraaksamija.net/news/ [abgerufen am 8.4.2019]).
28 Vgl. SCHÖNHAGEN, Astrid Silvia: Azra Aksamijas Wearable Mosque. Kleidung als
transkulturelle Camouflage, in: Kunst und Kirche 2 (2016), 4–11, 5.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 513

gen religiöser Traditionen – sowohl für Männer als auch Frauen benutzbar
ist.

Abb. 6: Azra Aksamija, Frontier Vest, 2006

Aksamija spielt mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Bezügen.


Humor und Ironie sind Bestandteil ihrer Arbeiten, doch zugleich erschöp-
fen sie sich hierin nicht, sondern werfen tiefergreifende Fragen und Kon-
textbezüge auf. So steht die schlichte, graue und hochgeschlossene Dirndl-
moschee im Kontrast zu den heute weitverbreiteten Dirndlmodellen, die
sich durch Farbenfrohheit, tiefe Dekolletees, kurze Ärmel und Röcke aus-
zeichnen. Aksamijas Kleid orientiert sich hingegen an traditionellen All-
tags- oder Arbeitstrachten, die sich durch weitgehende Schlichtheit aus-
zeichneten. Der Kontrast der Kleider erinnert an die hochgradig konstru-
ierte Tradition der gegenwärtigen Dirndlmode, die ihren Ursprung im auf-
kommenden Tourismus im späten 19. Jahrhundert nahm und durch popu-
läre Kultur wie die Operette „Im weißen Rößl“ in den 1930er Jahren be-
fördert wurde. Das Dirndl wurde in der urbanen Kultur zur Projektionsflä-
che des guten Landlebens. Besonderen Einfluss hatte hierbei das von jüdi-
schen Inhabern geführte Münchener „Trachtengeschäft Wallach“. Die Na-
514 Claudia Gärtner

zi-Ideologie stilisierte das Dirndl als urtümlich deutsche Kleidung. Die


„Reichsbeauftragte für Trachtenarbeit“ Gertrud Pesendorfer veränderte die
traditionellen Trachten, indem sie taillenbetonte, leicht erotisierte Dirndl
entwarf, die deutlich mehr Haut entblößten. Zugleich folgte sie damit der
Nazi-Ideologie, kräftige, gesunde Körper zur Schau zu stellen.29 Das
Dirndl wurde so zur völkischen Tracht. Parallel dazu wurde das „Trach-
tengeschäft Wallach“ arisiert, die Inhaber wurden enteignet. Ungeachtet
dieser Geschichte erlebt diese Form des Dirndls insbesondere seit den
1990ern eine starke Renaissance.

Mit Dirndlmoschee ruft Ajsamija zum einen diese Geschichte und Instru-
mentalisierung der Tracht in Erinnerung. Am Dirndl wird verdichtet deut-
lich, wie Kleidung Funktionen, Projektionen und Ideologien transportiert,
die Frauen buchstäblich tragen. Damit besitzt das Werk eine deutlich ide-
ologiekritische Dimension. Zugleich greift sie dabei religiöse Fragen auf,
indem sie ihr Kleid als Moschee bezeichnet. Kleidung wird somit zu einem
„Sakralraum“, die Grenzen zwischen Mode und Architektur werden auf-
gebrochen. Die Künstlerin betrachtet den Gebetsteppich bereits als Mo-
schee, entsprechend der wörtlichen Bedeutung als „Ort der Niederwer-
fung“.
„Theoretisch kann man den Gebetsteppich im Islam als den kleinsten architekto-
nischen Raum verstehen. Er vereint alles, was man zum Beten braucht: ein Sym-
bol zur Kommunikation und Zusammenkunft, eine klare Ausrichtung nach
Mekka und einen sauberen Ort, an dem man auch seinen Kopf ablegen kann.
Mehr braucht man zum Beten nicht. Man sieht in der Architekturgeschichte isla-
mischer Bauten sehr deutlich, dass sich die eigentliche Form der Moscheen ab-
hängig von Ort und Zeit immer wieder verändert hat. Die Moscheearchitektur hat

29 Vgl. WALLNÖFER, Elsbeth: Geraubte Tradition. Wie die Nazis unsere Kultur verfälsch-
ten, Augsburg: Sankt Ulrich Verlag 2011, 154–158.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 515

sich eigentlich erst durch die Assimilation von Elementen verschiedenster Kul-
turkreise weiterentwickelt.“30

Ähnliche tragbare Moscheen entwickelt die Künstlerin auch für Business-


Anzüge („Normanic Mosque“). Sie entwickelt kulturelle und religiöse
Transformations- und Assimilationsprozesse und setzt diese fort, indem sie
sich für unterschiedliche Kulturräume und Kontexte Religion quasi kör-
perlich aneignet. Damit können die tragbaren Moscheen nicht nur als ide-
ologiekritischer, sondern auch als emanzipatorischer Akt des Umgangs mit
Religion und Kultur gedeutet werden. Die Dirndlmoschee macht somit
Transformationen explizit und fokussiert transkulturelle Prozesse. „Damit
ist die Dirndlmoschee ein Vexierbild, genauer ein Vexierkleid von Eige-
nem und Fremden, mit dem die Künstlerin eine vor allem in der Mode-
branche häufig anzutreffende Selbst-Orientalisierung unterläuft.“31

Ein solche Aneignung und Transformation von Kultur und Religion im


Bereich von Kleidung ist Heranwachsenden äußerst vertraut. Der Kunst-
pädagoge Ansgar Schnurr entdeckt in einigen ästhetischen Lebenswelten
von Jugendlichen den Trend, die eigene Identität mit exotischem, oftmals
orientalischem Habitus aufzuladen. „Die Orientalisierung […] scheint ein
jugendkulturelles Phänomen der Globalisierung zu sein.“32 Diese oftmals
medial konstruierte Zugehörigkeit entspricht einer inszenierten Selbstori-

30 AKSAMIJA, Azra: Wie näht man eine Moschee?, DER STANDARD, Printausgabe,
14./15.1.2012, in: https://derstandard.at/1326249198141/Religioeses-Bauen-Wie-naeh
t-man-eine-Moschee [abgerufen am 20.3.2019].
31 SCHÖNHAGEN 2016 [Anm. 28], 7.
32 SCHNURR, Ansgar, Fremdheit loswerden – das Fremde wieder erzeugen. Zur Gestaltung
von Zugehörigkeiten im Remix jugendlicher Lebenswelten, in: LUTZ-STERZENBACH,
Barbara / SCHNURR, Ansgar / WAGNER, Ernst (Hg.): Bildwelten remixed. Transkultur,
Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld: Transcript 2013, 69–
88, 79.
516 Claudia Gärtner

entalisierung,33 die gerade auch durch Mode ausgetragen wird und nicht
nur bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund anzutreffen ist.

In religionsdidaktischen Lernsettings können somit anhand der Arbeiten


von Azra Aksamija religions- und kulturkritisch gesellschaftliche Ent-
wicklungen erörtert werden. Es treten hierbei Genderfragen ebenso auf wie
Fragen nach religiöser und kultureller Assimilation, Integration bzw.
Transformation. Zugleich sind die Arbeiten auch ein Beispiel, wie sich die
Künstlerin selbstbestimmt Religion und Kultur aneignet.34 Die Heran-
wachsenden können dies zum Ausgangspunkt nehmen, um ihre eigene Pra-
xis entsprechend zu reflektieren und ermutigt neue, selbstbestimmte Wege
der Aneignung ausprobieren. Welche Symbole, Accessoires und Marken
verwende ich, um mein Selbstbild nach außen zu tragen? Wo passe ich
mich an? Wo gehe ich eigene Wege? Welche „heiligen“ Objekte oder re-
ligiöse Kleidungsstücke trage ich (Freundschaftsbändchen, Konzert-
Shirts, Trikots, Kopftuch, Kreuz…)? Wie fühlt es sich an, in anderer, frem-
der Kleidung und Traditionen zu stecken, z. B. in einem Messgewand, ei-
ner (Ordens-) Tracht, einem Kopftuch? Diese Fragen zielen auf performa-
tive Lernumgebungen, die im Sinne der Performativen Religionsdidaktik
stets intensiv durch reflexive Momente rückgebunden werden müssen. Ein
so ausgerichtetes religionsdidaktisches Lernen stößt entsprechend der

33 Vgl. LECHKOWICH, Ann Marie / JONES, Carla: Introduction: The Globalization of Asian
Dress: Re-Orienting Fashion or Re-Orientalizing Asia?, in: DIES. / NIESSEN, Sandra
(Hg.): Re-Orienting fashion. The Globalization of Asian Dress, Oxford: Berg Publis-
hers 2003, 1–48.
34 Dass dies im Bereich von Kleidung noch längst nicht selbstverständlich ist, zeigen ak-
tuell die kontroversen Debatten um die Ausstellung „Contemporary Muslim Fashions“
im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt (2019). Die hier gezeigte „modest fashion“
ruft auf Grund des kreativen und selbstbewussten Umgangs mit kulturellen und religi-
ösen Kleidungsvorschriften teils Begeisterung hervor, zugleich wird diese Schau von
vielen Rechten und Feministinnen vehement kritisiert.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 517

Frankfurter Erklärung reflexive sowie ermutigende, auf Veränderung zie-


lende Lernprozesse an.

Die Werke der zwei Künstlerinnen zeigen somit exemplarisch, auf welch
unterschiedlichen Ebenen ästhetisches und politisches Lernen miteinander
verwoben sind. Auf einer thematischen Ebene werden Motive aufgegrif-
fen, die sowohl politische als auch religiöse Bezüge besitzen und die in den
jeweiligen Werken kontrovers und mehrdeutig verarbeitet werden (z. B.
Geschlechterstereotype, Kopftuch). Auf einer kompetenzorientierten
Ebene können Fähigkeiten erworben werden, um Bilder analysieren, inter-
pretieren und ggf. Bildfunktionen dekonstruieren oder selbstbestimmt
transformieren zu können (z. B. Ikonografie Maria mit Jesuskind; Ideolo-
gisierung und Erotisierung des Dirndls). Auf einer handlungsorientierten
Ebene können die Werkbeispiele motivieren, anhand der verwendeten äs-
thetischen Strategien die eigene ästhetische Praxis zu reflektieren und
selbstbestimmt neue Formen der ästhetischen (Selbst-) Expression auszu-
probieren (z. B. Kleidung, spielerische Übernahme anderer Genderrollen).
Im Sinne der Frankfurter Erklärung können entsprechende Lernsettings
krisenorientierte, kontroverse, reflexive, machtkritische, ermutigende und
auf Veränderung zielende Lernprozesse initiieren.

Autorinnenangaben: Dr. theol. habil, Claudia Gärtner ist Professorin für Prakti-
sche Theologie an der Technischen Universität Dortmund und Leiterin der Ar-
beitsstelle für religiöse Bildkompetenz und Bilddidaktik. Sie war mehrere Jahre
Studienrätin an einem Gymnasium mit den Fächern Katholische Religionslehre
und Kunst.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret –
Didaktische Reflexionen anhand biblischen,
ethischen und performativen Lernens

Jan-Hendrik Herbst

Abstract: In der jüngsten Zeit wird ‚Ideologiekritik‘ als religionspädagogischer


Leitbegriff und fachdidaktisches Lernprinzip wiederentdeckt. Anhand von drei
Praxisbeispielen sollen die Möglichkeiten und Grenzen eines ideologiekritischen
RUs diskutiert werden. Als Kriterien dienen dabei die Grundsätze der Frankfurter
Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung, wobei exempla-
rische Fokussierungen vorgenommen werden.

In Zeiten struktureller Krisen wie der Wirtschafts-, Euro- oder Fluchtkrise


gewinnen auch Gesellschafts- und Ideologiekritik einen neuen Zulauf.1
Beispielhaft dafür steht das neue Interesse an der Forschung der (frühen)
Kritischen Theorie und den Studien zum autoritären Charakter.2 Es über-
rascht daher auch nicht, dass Ideologiekritik in unterschiedlichen Diszipli-
nen erneut zu einem relevanten Thema wird.3 Eine Wiederaufnahme ideo-

1 Die folgenden Überlegungen basieren unter anderem auf dem Workshop „Ideologiekri-
tik und Religionsunterricht“, den ich im September 2018 auf der AKRK-Jahrestagung
durchgeführt habe. Impulse und kritische Rückmeldungen wurden aufgenommen und
weitergedacht. Die Tagung selbst, auf der die Wahrheitsfrage im Horizont einer post-
faktischen Gesellschaft debattiert wurde, verweist bereits auf die Aktualität ideologie-
kritischer Reflexionen.
2 Vgl. z. B. ADORNO, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Mit einem
Nachwort von Volker Weiß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019.
3 Ideologiekritik scheint auch für die Pädagogik wieder ein relevantes Thema zu sein
(vgl. RIEGER-LADICH, Markus: Achselschweiß und Mundgeruch. Ideologiekritik nach
Marx, in: ethik und gesellschaft 1 (2018), 1–21). Rieger-Ladich nennt dort drei thema-
tische Beispiele (Digitalisierung, Bildungsaufstieg und Integration), die auch religions-
pädagogisch von Interesse sein können (vgl. EBD., 15–16). Die Begriffe ‚Ideologie‘ und
‚Ideologiekritik‘ gilt es konzeptionell weiterzuentwickeln, wobei dies auch im Rahmen
der Kritischen Theorie gelingen kann (vgl. EBD., 12–15).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_29
520 Jan-Hendrik Herbst

logiekritischer RP lässt sich somit durchaus mit einem krisenbewussten


Wissenschaftsverständnis erklären, wie es der erste Grundsatz der Frank-
furter Erklärung einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung dar-
stellt. Auch RP ist nämlich an „der Demokratisierung gesellschaftlicher
Verhältnisse interessiert […]“ und reagiert so auf soziale Transformatio-
nen und die „vielfältigen Krisen unserer Zeit.“ (FFE 1) Im Folgenden soll
in einem ersten Schritt die religionspädagogische Revitalisierung von Ide-
ologiekritik in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Ausgehend
davon wird anhand von drei Beispielen für den RU diskutiert, inwiefern
die Frankfurter Erklärung wichtige Impulse für diesen geben kann.

1 Ideologiekritik als religionsdidaktisches Lernprinzip:


Begriffstheoretische, historische und didaktische
Vorreflexionen

Der Begriff ‚Ideologiekritik‘ wurde besonders in der religionspädagogi-


schen Reformdekade um 1968 verwendet. Er war ein leitender Begriff der
Problemorientierten Konzeption. Die damals vorgenommenen grundle-
genden Überlegungen sind auch für heutige Ansätze relevant.4 Heute fin-
den sich ideologiekritische Überlegungen u. a. in den Ansätzen von Nor-
bert Mette, Thomas Ruster oder Godwin Lämmermann.5 Diese können laut

4 Unter den breitesten Strang einer ideologiekritischen Tradition in der RP lassen sich
u. a. die Entwürfe von G. Otto, S. Vierzig und G. Lämmermann subsumieren (vgl.
YOON, Hwa-Seok: Zur Theorie der Religionsdidaktik als die Gesellschaftskritik oder
Ideologiekritik, in: Journal of Christian Education & Information Technology, 8 (2005),
219–236).
5 Diese Ansätze sind sehr disparat. Zudem gilt: „Allenfalls in der Rezeption von Kon-
zepten wie Paulo Freires ‚Pädagogik der Unterdrückten‘, Johann Baptist Metz‘ ‚politi-
scher Theologie‘ oder Impulsen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie kom-
men ideologiekritische Perspektiven noch stärker zum Tragen“ (ENGLERT, Rudolf: Ide-
ologiekritik, in: PORZELT, Burkhard / SCHIMMEL, Alexander (Hg.): Strukturbegriffe der
Religionspädagogik (Festgabe für Werner Simon), Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015,
126–132, 129. Nichtsdestoweniger bescheinigt Englert den Entwürfen „Potenzial“
(EBD., 130).
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 521

Rudolf Englert „daran erinnern, dass RP bleibend in der Gefahr steht, un-
durchschauten Interessen dienstbar zu sein und Zwecke zu befördern, die
im Lichte christlichen Glaubens und seiner religionskritischen Tradition
problematisch sind.“6

Heuristisch ist es hilfreich, drei Ebenen der religionspädagogischen Ver-


wendung des Begriffs ‚Ideologiekritik‘ zu differenzieren. Einerseits wird
er als wissenschaftstheoretischer Grundbegriff verwendet, der die syste-
matischen Gehalte einer historisch identifizierbaren Konzeption zu heben
verspricht.7 Das damit verbundene Programm impliziert eine ideologiekri-
tische Analyse wissenschaftlicher Theoriebildung und der daraus resultie-
renden Wissensproduktion. Dazu kann beispielsweise eine „[i]deologiekri-
tische Analyse ausgewählter Lehrpläne“8 gezählt werden. Auf einer zwei-
ten, hier näher betrachteten Ebene lässt sich die ideologiekritische Analyse
und Ausrichtung religiöser Bildungsprozesse verorten.9 Dabei wird Ideo-
logiekritik als religionsdidaktische Kategorie aufgefasst, die zur Planung,
Durchführung und Reflexion von RU verwendet werden kann. So lässt sich
Ideologiekritik beispielsweise als ein allgemeines Ziel von RU auffassen.
Bedingungen, Sozialformen, Methoden und Inhalte des Unterrichts kön-
nen ideologiekritisch analysiert und Ideologien wie ihre Kritik somit selbst

6 EBD., 130.
7 Johannes Heger verwendet ihn beispielsweise als wissenschaftstheoretischen Grundbe-
griff, wenn er von einer ideologiekritischen Perspektive spricht. Vgl. HEGER, Johannes:
Wissenschaftstheorie als Perspektivenfrage?! Eine kritische Diskussion wissenschafts-
theoretischer Ansätze der Religionspädagogik (Religionspädagogik in pluraler Gesell-
schaft), Paderborn: Schöningh 2017, 137–182.
8 HAHN, Matthias: Evangelische Religion im Lehrplan. Ideologiekritische Analyse aus-
gewählter Lehrpläne für den Ev. Religionsunterricht, Weinheim: Dt. Studien 1992.
9 Auf dieser Ebene stellt Ideologiekritik ein Grundprinzip religiöser Bildung dar. Exemp-
larisch dafür steht die klassische Publikation von Siegfried VIERZIG (Ideologiekritik und
Religionsunterricht. Zur Theorie und Praxis eines kritischen Religionsunterrichts, Zü-
rich / Einsiedeln / Köln: Benziger 1975).
522 Jan-Hendrik Herbst

Gegenstand des Unterrichts werden.10 Auf einer dritten Ebene lässt sich
eine ideologiekritische Begründung religiöser Bildung an der öffentlichen
Schule identifizieren.11 Die drei Ebenen hängen eng miteinander zusam-
men, ihre Differenzierung ist hierbei analytisch zu verstehen.

Ideologiekritik basiert auf der Annahme, „dass Menschen gegen ihre eige-
nen Interessen zu handeln scheinen“12. Beispielsweise lässt sich im Rück-
griff auf Pierre Bourdieu fragen, weshalb „[a]usgerechnet die Verlierer im
Wettkampf um Bildungstitel […] den Schulen das größte Vertrauen vor-
schießen“13. Das Handeln entgegen der eigenen Interessen erfordert eine
Erklärung, die durch ideologiekritische Analysen hervorgebracht werden
soll. Ideologiekritik lässt sich so verstehen als die normativ fundierte Ana-
lyse einer Ideologie, einem „System von Überzeugungen, das geeignet ist,
den Blick auf die herrschenden Verhältnisse zu verschleiern.“14 Bei einem
solchen Verständnis wird problematisiert, dass Ideologien die gegebenen
Verhältnisse naturalisieren, sie werden „als vernünftig als legitim als recht-
mäßig oder ganz schlicht als ‚natürlich‘“15 angesehen. Insofern lässt sich
Ideologiekritik in einem ersten, abstrakten Begriffsverständnis auch als be-
gründete Denaturalisierung bestimmter anthropologischer oder sozialthe-
oretischer Grundannahmen verstehen. Ohne die theoretische Schwierig-
keit der Begriffsbestimmung hier näher zu reflektieren, werden in den an-

10 Vgl. z. B. SISTERMANN, Rolf: Literatur und Ideologie im Religionsunterricht: Die ideo-


logiekritische Behandlung literarischer Texte (Studien zur praktischen Theologie), Zü-
rich: Benziger 1979.
11 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbil-
dung, Stuttgart: Kohlhammer 2007, 279.
12 RIEGER-LADICH 2018 [Anm. 3], 1.
13 EBD., 1.
14 EBD., 4.
15 EBD.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 523

geführten Praxisbeispielen konkrete Ideologien thematisiert, die diese Vor-


überlegungen exemplifizieren können.

Ideologiekritik lässt sich in Bezug auf den RU als Unterbrechung gesell-


schaftlicher Plausibilitäten begreifen.16 Damit ist gemeint, dass ideologi-
sche Überzeugungssysteme als solche thematisiert und problematisiert
werden. Sie lassen die gegebenen Verhältnisse üblicherweise als normal
und natürlich erscheinen. Die religiöse Sicht auf die Welt, z. B. das bibli-
sche Wirklichkeitsverständnis, lässt sich dann als Unterbrechung, als Pro-
vokation und Irritation, solcher gängigen Annahmen begreifen und in
Form einer „Didaktik der Unterbrechung“17 ausbuchstabieren.

Die religionspädagogische Bezugnahme auf Ideologiekritik sollte die da-


mit verbundenen Schwierigkeiten bedenken.18 Ideologiekritik steht in der
Gefahr, Überwältigung oder Werteübertragung zu evozieren19, die Eigen-
logik religiöser Bildung zu missachten, die Komplexität der Realität zu un-
terlaufen oder Lernprozesse kognitiv zu reduzieren. Diese intuitiv einsich-
tigen Anfragen lassen sich poststrukturalistisch, systemtheoretisch, phäno-
menologisch oder kommunitaristisch zuspitzen und theoretisch fundieren.
Religionsdidaktisch resultieren daraus einige spezifische Herausforderun-
gen. Diese gilt es zu bedenken, weil Ideologiekritik ansonsten seine analy-
tische Tiefe zu verlieren und als politischer Kampfbegriff zu vereinnahmt

16 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Ideologiekritik und Religionsunterricht. Zum unabgegolte-


nen Potenzial des ideologiekritischen Arguments für den konfessionellen Religionsun-
terricht, in: RpB 79 (2018), 79, 86–97, 87.
17 HAUNHORST, Benno: Wer braucht politische Theologie?, in: MANEMANN, Jürgen (Hg.):
Politische Theologie gegengelesen, Münster: LIT 2008, 19–23, 19.
18 Vgl. z. B. HERBST 2018 [Anm. 16].
19 Beispielsweise wird mit Ideologiekritik ein „moralisierender Jargon“ oder eine „pater-
nalistische Geste“ (RIEGER-LADICH 2018 [Anm. 3], 2) verbunden. Schließlich wird es
häufig und schnell als übergriffig empfunden, wenn andere meinen, besser zu wissen,
was die Interessen der betroffenen Personen sind, als diese selbst. Bereits die Annahme,
dass Menschen gegen ihre Interessen handeln können, wird problematisiert.
524 Jan-Hendrik Herbst

werden droht. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Weiterent-


wicklungen und Fortschreibungen einer sozialphilosophischen Ideologie-
kritik existieren, die sich systematisch mit diesen Problemen beschäftigen
und versuchen, sie zu umgehen. Diese stellen den gedanklichen Hinter-
grund der folgenden Überlegungen dar.

2 Potenziale der Frankfurter Erklärung: Drei Praxisbeispiele eines


ideologiekritischen Religionsunterrichts

Die Frankfurter Erklärung bezieht sich nicht nur auf den Politikunterricht
oder außerschulische Bildung, die explizit als politisch benannt ist. Politi-
sche Bildung ist ein Unterrichtsprinzip und findet sich folglich „in unter-
schiedlichen Schulfächern“, zudem wird sie „fächerübergreifend prakti-
ziert“. Darüber hinaus „ist [sie] im außerschulischen Bereich in vielfältigs-
ter Art etabliert und repräsentiert: in Bildungsstätten, Jugendverbänden
und bei Bildungsträgern sowie in sozialen Bewegungen und Initiativen“
(FFE P). Aus diesem Grund wird im Folgenden genauer das Potenzial der
Frankfurter Erklärung ausgeleuchtet und dabei auf das didaktische Prinzip
der Ideologiekritik bezuggenommen. Die drei dargelegten Praxisbeispiele
existieren bereits, sie werden jedoch im Horizont der Kategorie Ideologie-
kritik rekonfiguriert, da sie bisher nicht unter diesem Begriff firmieren. Bei
der Analyse wird jedes Beispiel einem Prinzip der Frankfurter Erklärung
zugeordnet, auch wenn sich möglicherweise mehrere Prinzipien durch die-
ses verwirklichen ließen. Unabhängig von der möglichen Verbindung der
Prinzipien soll es jedoch um eine Fokussierung und Schwerpunktsetzung
gehen, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frankfurter Erklärung
und dem kritisch-emanzipatorischen Potenzial religiöser Bildung ermögli-
chen sollen.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 525

2.1 „Kontroversität“ (FFE 2) am Beispiel Biblischen Lernens:


Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten

Im RU werden häufig Gleichnisse Jesu besprochen, zum Beispiel das


Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Lk 19, 11–27; Mt 25, 14–30). Ein
Herr stattet seine drei Knechte für die Dauer einer Reise mit einer gleichen
Menge an Startkapital und dem Auftrag aus, dieses zu vermehren. Als er
zurückkehrt, wird abgerechnet: Zwei haben Gewinn erzielt und werden
entsprechend entlohnt, dem dritten, der aus Angst nichts investierte und
daher ohne Gewinn blieb, wird auch noch das Startkapital genommen und
an den erfolgreichsten weitergegeben. Dieses Gleichnis bietet sich gerade
aufgrund seiner Ambivalenz an, der zentrale Satz, mit dem der Herr seine
Handlung legitimiert, „Wer hat, dem wird gegeben!“, ist auch als Mat-
thäus-Effekt bekannt. Dieser kann die Wirklichkeit dessen, was als „Bega-
bungsideologie“20 begriffen werden kann, eher bestärken als irritieren.
Dies gilt auch für das gesamte Gleichnis: In der gängigen Lesart wird die
Wirklichkeitserfahrung gestärkt, dass sich Fleiß lohnt und Faulheit bestraft
wird. Der Imperativ, etwas aus den eigenen Talenten zu machen, ist offen-
sichtlich aus dem Gleichnis abzuleiten.21 Diese Lesart stellt zwar eine gän-
gige alltägliche Deutung dar, die sich beispielsweise auch in Predigten oder
Unterrichtsentwürfen22 findet, zu ihr gibt es jedoch auch plausible Alter-

20 ALTMEYER, Stefan / GRÜMME, Bernhard: Gerechtigkeit durch religiöse Bildung, in:


Theologisch-Praktische Quartalsschrift 3 (2014), 314–324, 324.
21 Vgl. PIRKER, Viera: Wer hat, dem wird gegeben? Zur bildungspolitischen Problematik
der Ressourcen(un)gerechtigkeit in einer identitätsbildenden Religionspädagogik, in:
Könemann, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und Gerechtigkeit?! Warum religi-
öse Bildung politisch sein muss, Ostfildern: Grünewald 2013 (Bildung und Pastoral),
67–83, 67.
22 Vgl. AESCHLIMANN, Esther / WAGNER, Katharina: Talente und Samaritaner: Zwei
Gleichnisse im Rahmen der ganzheitlichen sinnorientierten Pädagogik, in: Reli – Zeit-
schrift für den Religionsunterricht, 42 (2013), 18–22. FACHSEMINARGRUPPE KATHOLI-
SCHE RELIGIONSLEHRE MÖNCHENGLADBACH: Sünde: Verweigerung der von Gott gege-
benen Möglichkeiten: Unterrichtsversuch zur Parabel von den anvertrauten Talenten
(Mt 25, 14–30), in: RU: Ökumenische Zeitschrift für den Religionsunterricht 4 (1986),
526 Jan-Hendrik Herbst

nativen. Im Sinne des Kontroversitätsprinzips der Frankfurter Erklärung


geht es auch darum, solche alternativen Lesarten zu thematisieren, um
„Konflikte und Dissens sichtbar zu machen und um Alternativen zu strei-
ten“ (FFE 1). In Bildungsprozessen sind „Streitpunkte“ und „Gegensätze“
herauszuarbeiten, weil sie „kritisches Denken“ (FFE 2) fördern können.

Gerade Gleichnisse bieten die Möglichkeit einen ideologiekritischen Blick


auf die Welt zu schulen, da sie die gängige Wahrnehmung der Wirklichkeit
durchkreuzen und eine geradezu umstürzende Weltsicht einspielen.23 So
lässt sich auch eine befreiende und kontextsensible Lesart im Unterricht
platzieren, in der „ausdrücklich Partei für den dritten Sklaven [ergriffen
wird], der sein Talent nicht gewinnbringend einsetzt.“24 Beispielsweise
kann dessen Schicksal mit dem „Leidensweg Jesu“ parallelisiert werden:
„Wer sich wie [Jesus…] gegen die ungerechten Herrschaftsverhältnisse […]
stellt, muss damit rechnen, vor den Augen der Welt gnadenlos zu scheitern. Nur
der wirklich parteiliche Gott wird sich in letzter Konsequenz für sie oder ihn ein-
setzen, sonst niemand.“25

In dieser Lesart wird also auch das schroffe Verhalten des Herrn proble-
matisiert und mit der Güte Gottes kontrastiert. Diese Lesart hinterfragt die
Ideologie der Talente. Diese Überlegungen lassen sich als mögliche Deu-
tung einspielen und auf die eigene Sozialisation beziehen: „Sich involvie-
ren lassen, eigene deterministische Denkmuster entdecken und kritisch
freilegen, Selbstverständlichkeiten aufbrechen“26. Wie kann das konkret
aussehen? Beispielsweise könnten die Schüler*innen kritisch diskutieren,

151–153. Dementgegen vgl. z. B. THEIS, Joachim: Das Gleichnis von den Talenten:
Unterrichtsvorbereitung mit Berücksichtigung der vier elementaren Ebenen in bibli-
schen Texten, in: KatBl 118 (1993), 484–490.
23 Vgl. CROSSAN, John Dominic: The Dark Interval. Towards a Theology of Story, Salem:
Polebridge Press 1994, 31.
24 PIRKER 2013 [ANM. 21], 83.
25 ALTMEYER / GRÜMME 2014 [Anm. 20], 324.
26 EBD.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 527

inwiefern folgender Arbeitsauftrag, der einem Religionsbuch entnommen


ist, zur Aktualisierung des Gleichnisses angemessen ist: „Du hast gute Ge-
danken! Warum arbeitest du nicht mit? […] Beweg‘ dich! Mach was aus
dir! Nutze deine Möglichkeiten! Alles liegt an dir!“27 Durch bibliodrama-
tische Elemente könnten zudem performative Zugänge ermöglicht werden.
In einem solchen didaktischen Arrangement ließe sich der gesellschaftli-
che Zwang zur Selbstoptimierung rechtfertigungstheologisch anfragen.28
Und religiöse Bildungsprozesse könnten durch das Prinzip der Kontrover-
sität bereichert werden.

2.2 „Machtkritik“ (FFE 3) am Beispiel ethischen Lernens:


Das Compassion-Projekt

Das Compassion-Projekt stellt eine Art schulisches Sozialpraktikum dar,


das im RU vor- und nachbereitet wird. Die Schüler*innen können Erfah-
rungen mit ehrenamtlichem Engagement in sozialen Einrichtungen wie Al-
tenheimen, Kindertagesstätten oder Tafeln machen und diese reflektieren.
Das Projekt erscheint auf dem ersten Blick als hervorragende Möglichkeit
christliche Wertvorstellungen auch praktisch einzuüben und mit konkreten
Schwierigkeiten des Alltags konfrontiert zu werden. Allerdings ist es not-
wendig, dass die „Macht- und Herrschaftsverhältnisse“, die im Rahmen der
Sozialpraktika auftauchen, reflektiert werden, um damit zusammenhän-
gende „Abhängigkeiten und sich überlagernde soziale Ungleichheiten“
(FFE 3) erkennen zu können. Dass diese im Rahmen des Projekts durchaus
„[s]elbstbestimmtes Denken und Handeln“ (FFE 3) beschränken können,
hat der Politikdidaktiker Alexander Wohnig in seiner Dissertation heraus-
gearbeitet.29 Compassion-Projekte ermöglichen zwar tiefgreifende Erfah-

27 Zitiert nach EBD.


28 Vgl. GÄRTNER, Claudia: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und
Grundlagen religiöser Bildung in der Schule, Paderborn: Schöningh 2015, 227–232.
29 Vgl. den Beitrag von Alexander WOHNIG in diesem Band.
528 Jan-Hendrik Herbst

rungen, auf einer Reflexionsebene lassen sie jedoch eine ideologiekritische


Analyse vermissen, wenn die politische Dimension des Praktikums ver-
nachlässigt wird. Zum Beispiel wird „die Bedeutung von Ehrenamt für die
Gesellschaft“30 nur selten reflektiert. Dabei zeigt Wohnig auf, dass Com-
passion-Projekte zum Teil durch die sogenannte „Aktivierungsideologie“31
geprägt sind. Der Sozialstaatsabbau soll kompensiert werden durch ehren-
amtliches Engagement; je früher die Schüler*innen dazu aktiviert werden,
desto besser. Zu dieser Meinung trägt das Compassion-Projekt teilweise
bei, wie Wohnig herausarbeitet. So sieht eine Lehrerin das „Idealbild“ ihrer
Schule darin verkörpert, „dass jeder Schüler […] ein Ehrenamt übernimmt,
also alle tausend Schüler ungefähr.“32 Eine solche Vorstellung stellt sich
unreflektiert in den Dienst „politischer Technologie“ und übersieht, dass
es sich bei ehrenamtlichem Engagement auch um „die kostenlose Bereit-
stellung sozialstaatlicher Leistungen“33 handelt. Sie leistet damit einen
„Beitrag zu einer Selbstführung und Subjektivierung“34 und so zu einer In-
dividualisierung struktureller Probleme und politischer Konflikte. Zu-
gleich sieht Wohnig im Compassion-Projekt auch die Möglichkeit, diese
Denkmuster zu analysieren sowie zu hinterfragen und damit ideologiekri-
tische Lernanlässe zu bieten.35

Wohnig plädiert dafür, „Machtgefälle und ungleiche Ressourcen“ (FFE 3)


im Rahmen der Projekte kritisch zu analysieren. Dafür schlägt er vor, dass
vor allem in der Vorbereitungsphase des Praktikums die Bedeutung von
Engagement in der Gesellschaft thematisiert wird und die Erkenntnisse in

30 WOHNIG, Alexander: Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Ana-
lyse von Praxisbeispielen politischer Bildung, Wiesbaden: Springer VS 2017, 232.
31 EBD., 349.
32 Zitiert nach EBD., 240.
33 EBD., 393.
34 EBD., 362.
35 Vgl. EBD., 361.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 529

Forschungsfragen festzuhalten sind.36 Konkret ließe sich beispielsweise


die Ambivalenz von Tafeln thematisieren, die zwar auf der einen Seite Not
lindern, andererseits aber keine politische Veränderung der Ursachen an-
streben:
„Vor Ort kann schnell der Eindruck entstehen, dass Tafeln ‚nötig‘ sind. Wichtiger
ist jedoch die Frage, wie in unserer Gegenwartsgesellschaft Tafeln ‚möglich‘ ge-
macht werden und welche Bedeutung damit verbunden ist.“37

Eine solche Auseinandersetzung ermöglicht es, ein anspruchsvolles Kon-


zept von Nächstenliebe zu entwickeln, dass nicht nur (paternalistische)
Hilfstätigkeiten umfasst, sondern strukturelle Fragen inkludiert. Diese be-
treffen auch die Frage, wie sich die Schüler*innen zu der Außenaufforde-
rung positionieren, ständig engagiert ins Gemeinwohl eingreifen zu sollen.
Die einseitige Fokussierung „auf das Ziel der Erzeugung von Eigenverant-
wortung und Bereitschaft zur individuellen sozialen Verantwortungsüber-
nahme“38 lässt sich so kritisch reflektieren. Damit ist auch ein Raum dafür
eröffnet, einer als sozial verkleideten Selbstoptimierung und Aktivierung
das christliche Verständnis von Rechtfertigung sowie einer Logik der Al-
ternativlosigkeit „[v]isionäres Denken und Handeln in christlicher Per-
spektive“39 entgegenzusetzen. Im Rahmen von Wohnigs Konzeption las-
sen sich „ausgeschlossene und benachteiligte Positionen sichtbar […] ma-
chen“ (FFE 3). Soziales Engagement ist milieuabhängig, wodurch dessen
Bedeutungssteigerung und die Anerkennung für die Arbeit durchaus sozi-
ale Ungleichheit reproduzieren kann.

36 Vgl. EBD., 362.


37 Selke zitiert nach EBD., 375.
38 EBD., 362.
39 GÄRTNER 2015 [Anm. 28], 224.
530 Jan-Hendrik Herbst

2.3 „Reflexivität“ (FFE 4) am Beispiel performativen Lernens:


Der Kirchenraum als Heterotopie

Im Rahmen einer performativ ausgerichteten RP wird Kirchenräumen eine


besondere Bedeutung beigemessen. Diese können in der Kirchenraumpä-
dagogik, im Anschluss an Michel Foucault, als Heterotopien verstanden
werden, als Andersorte, die ihre eigene Logik besitzen und durch eine
Grenze von ihrer alltäglichen Umgebung getrennt sind.40 Durch Erfah-
rungslernen kann bei einer intensiven Begehung des Kirchenraums der
Kontrast zum gestressten Schulalltag hervorstechen. Das Kirchengebäude
kommt in seiner eigenen Qualität in den Blick und eröffnet so das „Poten-
tial zum Anderssehen“41. Der Kirchenraum und sein „Unterbrechungscha-
rakter“42 geraten in den Blick. Es kann die Erfahrung einer „Unterbrechung
des Alltags, […] des geschäftigen, funktional-gerichteten Sehens“43 er-
möglicht werden.

Diese Form des performativen Lernens ist notwendig auf „Reflexivität“


angewiesen, denn auch diese „Lernverhältnisse sind nicht herrschaftsfrei“
(FFE 4). So lädt die Kirchraumpädagogik zwar zu einer kritischen Ausei-
nandersetzung mit einer alltäglich erfahrenen Beschleunigungsideologie
und der mit ihr verbundenen Selbstoptimierung ein. Ihr kritisches Potenzial

40 Zur Rezeption des Heterotopiebegriffs in der Kirchenraumpädagogik vgl. z. B. SCHWIL-


LUS, Harald: Konzeptionen und Perspektiven kirchenpädagogischer Arbeit im Kloster
Lehnin, in: LOZAR, Angelika (Hg.): Das geistliche Erbe. Wege und Perspektiven der
Vermittlung, Berlin: Lukas Verlag 2003 (Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der
Zisterzienser), 127–146, 140–141; vgl. UMBACH, Helmut (2014): Heilig – in Christus.
Studien zu Raumaspekten der Christologie im Neuen Testament, zur Kirchenraum-Pä-
dagogik und zum protestantischen Kirchenbau heute, Göttingen: Vandenhoeck & Rup-
recht, 116–125; vgl. LUNGERSHAUSEN, Christine: Anderssehen in räumlichen Wechsel-
spielen. Wie lässt sich Sinneröffnung am Ort zeitgenössischer Kirchenfenster beschrei-
ben? Marburg und Berlin: LIT 2017 (Ästhetik – Theologie – Liturgik), 98–102.
41 LUNGERSHAUSEN 2017 [Anm. 40], 102.
42 EBD., 101.
43 EBD.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 531

lässt sich jedoch nur dann nutzen, wenn die „Einbindung“ der Religion und
der Lehrperson in diese Verhältnisse berücksichtigt werden und realisiert
wird, dass auch der Kirchenraum kein echtes Außerhalb darstellt. Auch
wenn die instrumentelle Steigerungslogik des Alltags durch Kontempla-
tion möglicherweise tatsächlich gebrochen werden kann, bleiben beide
gleichzeitig dadurch miteinander verwoben, dass Entschleunigung für ei-
nen erneuten Einstieg in die Steigerungslogik instrumentalisiert werden
kann. Damit eröffnet das kirchenraumpädagogische Arrangement potenzi-
ell eine selbstreflexive und religionskritische Perspektive auf die Funktio-
nalisierung bürgerlicher Wohlfühlreligion. Die Schüler*innen können so
eine andere Sicht auf „Entschleunigungsoasen“44 und angepasste Religi-
onsformen kennenlernen, indem sie das gesellschaftlich provozierte aura-
tische Bedürfnis nach heiligen Orten45 mit den Grundbedingungen kapita-
listischer Produktionsweise in Verbindung bringen: Die Sehnsucht nach
Stille und ruhigen Rückzugsorten entwickelt sich möglicherweise erst aus
einer Beschleunigungsdynamik, die auch den Schulalltag prägt. Ein sol-
ches Lernsetting ermöglicht es, ein anspruchsvolles Konzept von Kirchen-
räumen zu entwickeln und die soziale Funktionalisierung von Religion als
reiner Kontingenzbewältigungspraxis kritisch zu reflektieren. Eine solche
Reflexivität, die im Unterrichtsgeschehen transparent werden sollte, bietet
zudem einen „Schutz vor Überwältigung“ (FFE 4), der gerade in Bezug auf
performative Unterrichtseinheiten bedeutsam ist.46

44 ROSA, Hartmut: Entschleunigungsoase und Erfahrungsraum, in: DRAMATURGISCHE GE-


SELLSCHAFT (Hg): Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft „Geteilte Zeit“. The-
ater zwischen Entschleunigungsoase und Produktionsmaschine, Berlin: dg 2007, 37–
39.
45 Vgl. SCHWILLUS 2003 [Anm. 40], 140.
46 Eine Möglichkeit, die Differenz von beschleunigter Schulwelt und dem Kirchenraum
performativ einzuholen, stellt folgende Methode dar: Die Schüler*innen lassen jeweils
zehn Minuten im Klassenraum und in einem Kirchenraum ihren Gedanken freien Lauf
und verschriftlichen sie. Ein Vergleich der Gedanken ergibt (möglicherweise) starke
532 Jan-Hendrik Herbst

An dieser Stelle ist es besonders wichtig, wie einleitend skizziert, die Ver-
bindung der drei Ebenen religionspädagogischer Ideologiekritik zu schär-
fen. An der Kirchenraumpädagogik wird deutlich, wie sich diese Ebenen
wechselseitig beeinflussen. Denn performatives Lernen in Kirchengebäu-
den sollte selbst noch einmal ideologiekritisch analysiert werden, weil
kirchliche Bauwerke und ihre innere Struktur Ausdruck historisch kristal-
lisierter Macht- und Herrschaftsverhältnisse sein können und möglicher-
weise ganz konkret auf Ausbeutungsverhältnissen aufbauen, zum Beispiel
auf kolonialer Fronarbeit.

3 Ein resümierender Ausblick: Perspektiven und Desiderate

Die drei Beispiele haben angedeutet, wie ideologiekritische Überlegungen


und die Frankfurter Erklärung den RU bereichern können. Dabei wären die
angeführten Beispiele noch eingehender zu diskutieren und für den Unter-
richt aufzubereiten. In der bisherigen Analyse wurde ein Fokus auf ihre
Potenziale gelegt, mögliche Probleme müssten tiefergreifend reflektiert
werden. Die hier ausgewählten Beispiele besitzen jedoch den Anspruch,

Unterschiede, über die auf die Raumdifferenzen reflektiert werden kann. Dabei gilt: Für
den performativen Religionsunterricht ist eine präzise Unterscheidung von „religiöser
Praxis und deren inszenatorischer Erschließung bzw. deren Thematisierung in religiö-
sen Unterrichtsprozessen“ (DRESSLER, Bernhard / KLIE, Thomas / KUMLEHN, Martina:
Der Umgang mit Performanz will gelernt sein, in: DIES. (Hg.): Unterrichtsdramaturgien.
Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart: Kohlhammer 2012, 317–320,
317) nötig. Diese kann jedoch nur dann gewährleistet werden, wenn Möglichkeiten der
Distanzierung und Reflexion in das didaktische Setting integriert werden. Dazu kann
eine ideologiekritische Perspektive in besonderer Weise beitragen, da sie einerseits die
„Produktivität von Fremdheitszumutungen“ (EBD., 319) und andererseits die soziale
Funktion der Religion erschließen kann. Eine Verbindung ideologiekritischer Überle-
gungen mit performativer Religionsdidaktik bietet sich an, weil so „Devotion vor dem
Fremden und seiner Faszinationskraft“ (EBD.) vermieden wird. Vielmehr sollte „das
Verstehen von Religion […] nicht einer Überwältigung durch Religion“ (EBD.) geopfert
werden. „Man kann in Religion hineingeraten, aber auch das muss man wissen können,
um entsprechend urteils- und handlungsfähig zu werden.“ (EBD.).
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 533

zumindest einige der Probleme, die mit einem ideologiekritischen RU ver-


bunden sind, zu umgehen. So wurde die betroffene Ideologie benannt und
eine wissenschaftliche Analyse ihrer Eigenlogik vorausgesetzt. Bezugs-
punkte waren jeweils soziologische Theorien von Pierre Bourdieu, Stephan
Lessenich und Hartmut Rosa. Zudem sollte das bisherige Reflexionsniveau
didaktischer Theoriebildung nicht unterschritten und ihre Differenzie-
rungsfortschritte nicht einfach nivelliert werden. So funktioniert Ideologie-
kritik tendenziell parasitär, indem sie an bestehende religionsdidaktische
Lernprinzipien im Rahmen eines integrativen Verflechtungsmodells an-
setzt; in diesem Fall an biblischem, ethischem und performativem Lernen.
Dabei gilt es gerade auch vom Begriff der Ideologie her besonders zu be-
tonen, dass die ästhetisch-performative Dimension religiöser Bildung zu
berücksichtigen ist, weil Ideologien auch in die jeweiligen Körper einge-
schrieben sind: Herrschafts- und Machtverhältnisse werden inkorporiert
und verinnerlicht.47 Ideologiekritik findet gerade im Zirkel von Reflexion
und Erfahrung statt.48 Zugleich ermöglicht ein solches Vorgehen einen un-
verkürzten Blick auf Subjektorientierung, weil ideologiekritisch auch die
„Bedingungen“ analysiert werden, „welche die Subjektwerdung von Men-
schen blockieren.“49

47 Vgl. den Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.


48 Damit soll die Fachlichkeit und Eigenlogik des Religionsunterrichts garantiert werden,
wie sie vor dem Hintergrund verschiedener „‚Modi der Welterschließung‘ (Baumert /
Klieme-Gutachten)“ (DRESSLER / KLIE / KUMLEHN 2012 [Anm. 46], 317) begriffen wer-
den kann.
49 ENGLERT, Rudolf: Vorsicht Schlagseite! Was im Bildungsdiskurs der Religionspäda-
gogik gegenwärtig zu kurz kommt, in: Theologisch-praktische Quartalsschrift 158
(2010), 123–131, 129. Englert diagnostiziert eine „idealistische“ und „bildungsbürger-
liche Verkürzung“ wie ein „ideologiekritisches Defizit“ (EBD., 128) in der subjektori-
entierten Religionspädagogik. Dementgegen plädiert er dafür, „die in der Geschichte
der Bildungstheorie steckende kritische Traditionslinie“ (EBD., 127) wieder stärker zu
machen.
534 Jan-Hendrik Herbst

Angedeutet werden konnte nur, dass RU gerade dann ein ideologiekriti-


sches Potenzial bietet, wenn er theologisch orientiert ist. Das Fachprofil
wird zwar besonders beim biblischen und performativen Lernen deutlich50,
doch die Theologizität der Beispiele beschränkt sich eher darauf, „Religion
als Weltabstand“51 zu deuten. Das „ideologiekritische […] Potential der
Christologie“52 oder anderer theologischer Topoi ließen sich noch stärker
herausarbeiten. Zudem wäre es von Erkenntnisinteresse, die Möglichkei-
ten und Grenzen eines ideologiekritischen RUs über den deutschsprachi-
gen Kontext hinaus zu bedenken, gerade weil der Problemorientierte RU
und die religionspädagogische Reformdekade um 1968 relativ singuläre
Entwicklungen in globaler Perspektive darstellen.53

In Bezug auf die Frankfurter Erklärung wäre zu bedenken, dass die sechs
Grundsätze zwar Potenziale für den RU bieten, jedoch in der spezifischen
Perspektive der RP noch zu ergänzen und erweitern wären. Dabei bieten
besonders die letzten beiden, hier nicht thematisierten Prinzipen „Ermuti-
gung“ (FFE 5) und „Veränderung“ (FFE 6) theologischen Interpretations-

50 Auch für das Compassion-Projekt ließe sich eine theologische Zuspitzung denken,
wenn es darum geht, das theologische Fach- und Konzeptwissen der Schüler*innen zu
schulen. Diese könnten z. B. ein angemessenes Verständnis dogmatischer Zentralbe-
griffe wie ‚Sünde‘ und ‚Schuld‘ entwickeln, das auch strukturelle Perspektiven inte-
griert und einlädt zur Deutung der eigenen Lebensführung „im Horizont von Rechtfer-
tigung“ (vgl. SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Reli-
gionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg im Breisgau: Herder 2010, 512).
51 LUTHER, Henning: Religion im Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des
Subjekts, Stuttgart: Radius 1992, 22. „Religiös sein heißt hier nicht, Sinn für eine (die)
andere Welt zu haben, sondern die Welt anders zu sehen, einen anderen Sinn für die
Welt zu bekommen.“ (EBD., 29) Weitere mögliche Verbindungen von Ideologiekritik
und Theologie führt Luther später aus (vgl. EBD., 94–96).
52 TÜRCKE, Christoph: Zum ideologiekritischen Potenzial der Theologie. Konsequenzen
einer materialistischen Paulus-Interpretation, Springe: Zu Klampen 1979, 12.
53 Anschließen ließe sich beispielsweise an angelsächsische Debatten und die Religions-
pädagogen John Hull und Michael Grimmit (vgl. MEYER, Karlo: Zeugnisse fremder
Religionen im Unterricht: ‚Weltreligionen‘ im deutschen und englischen Religionsun-
terricht, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999, 136–140, 226).
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 535

spielraum, wie auch daran deutlich wird, dass der mit ihnen eng verbun-
dene Begriff „Hoffnung“ politikdidaktisch entdeckt wird.54

Autorenangaben: Jan-Hendrik Herbst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Re-


ligionspädagogik an der TU Dortmund. Er forscht zur politischen Dimension des
Religionsunterrichts.

54 Vgl. BESAND, Anja: Hoffnung und Ihre Losigkeit. Politische Bildung im Zeitalter der
Illusionskrise, in: DIES. / OVERWIEN, Bernd / ZORN, Peter (Hg.): Politische Bildung mit
Gefühl, Bonn: bpb 2019, 173–187. Überlegungen zur theologischen Kategorie ‚Hoff-
nung‘ finden sich auch im Beitrag von Ulrich ENGEL in diesem Band.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der
Christlichen Arbeiterjugend: Reflexionen am Beispiel
der Methode „Sehen, Urteilen, Handeln“

Christoph Holbein-Munske

Abstract: Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie in der CAJ-Methodik
religiöse Bildungsprozesse als kritisch-emanzipatorische Bildungsprozesse gestal-
tet werden, um Anregungen für eine kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung
aufzuzeigen. Hierfür wird zunächst in die CAJ-Methodik ROLWA als politisch-
bildende und spirituelle Methode eingeführt. In einem zweiten Schritt wird die
Methode daraufhin befragt, wie sie die Anliegen der Frankfurter Erklärung kon-
kretisiert. Abschließend werden weiterführende Impulse aus der ROLWA für die
kritische politische Bildung zur weiteren Diskussion formuliert.

Wie sieht religiöse Bildung in Zeiten einer „multiplen Krise“1 aus? Ist es
ein „Zurück in die Zukunft“, wie die Grundausrichtung dieses Sammelban-
des suggeriert: Muss religiöse Bildung nicht wieder politisch werden, um
die religiöse Dimension der Wirklichkeit zu erschließen? Wenn es darum
geht, historisch bedeutsame Ansätze für eine kritisch-emanzipatorische re-
ligiöse Bildung zu reaktualisieren, ist die Christliche Arbeiterjugend (CAJ)
mit ihrer Programmatik und Methodik prädestiniert, Impulse dafür zu bie-
ten: Erstens verdanken wichtige Akteure im historischen Aufbruch der Kir-
che rund um das Zweite Vatikanische Konzil und die Befreiungstheologie
ihre religiös-politische Bildung unter anderem der CAJ und ihrer Metho-
dik. Zweitens wird dieses programmatische und methodische Erbe durch
jede neue Generation der CAJler*innen jeweils bereits für ihre jeweiligen
gesellschaftlichen Verhältnisse reaktualisiert.

1 Vgl. den Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_30
538 Christoph Holbein-Munske

In diesem Praxisartikel geht es mir erstens darum, in die Methode der


ROLWA (Reflection of Life and Workers‘ Action) einzuführen und auf-
zuzeigen, wie in ihr politische Bildung und politische Spiritualität zusam-
menhängen (Kap.1). Mein zweites Anliegen ist es, anhand der ROLWA
sinnvolle Konkretionen der Anliegen der Frankfurter Erklärung aufzuzei-
gen und wichtige Charakteristika der ROLWA deutlich zu machen (Kap.
2).

1 Die CAJ-Methodik: ROLWA und Sehen, Urteilen, Handeln

Im folgenden Kapitel führe ich in drei Schritten die Methode Sehen, Urtei-
len, Handeln in der Christlichen Arbeiterjugend ein. Im ersten Schritt ver-
orte ich den mit ihr verbundenen kirchlichen Paradigmenwechsel histo-
risch. Im zweiten Schritt skizziere ich die Grundzüge der Methode.
Schließlich führe ich in den Bildungsanspruch der ROLWA und ihre Spi-
ritualität ein.

1.1 Sehen, Urteilen Handeln: Ein historischer Paradigmenwechsel der


Christlichen Arbeiterjugend

Der Dreischritt Sehen, Urteilen, Handeln wurde im Kontext der Christli-


chen Arbeiterjugend (CAJ) entwickelt und von dessen Gründer Josef Car-
dijn weit verbreitet. Die CAJ wurde 1925 zunächst in Belgien gegründet
und verbreitete sich international. In Deutschland existiert sie offiziell seit
1947.2 In dem Verband schließen sich junge Menschen zusammen, um aus-
gehend von selbst erfahrenen und wahrgenommenen Ungerechtigkeiten,
die Gesellschaft zu verstehen und sie zu verändern. Es geht darum, dass
junge Menschen sich mit anderen verbünden, um gemeinsam politisch

2 Zuvor hatten bereits CAJler*innen wie Marcel Callo als Zwangsarbeiter*innen die CAJ
im nationalsozialistischen Deutschland verbreitet. Die Protagonist*innen wurden je-
doch, soweit bekannt, umgebracht.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 539

handlungsfähig zu werden – auch, um ihren Glauben wirksam zu leben. Da


die Analyse der CAJ die konkreten Lebensumstände und die globalen Zu-
sammenhänge in den Blick nimmt, ist die Bewegung regional, bundesweit
und global organisiert.

Ihren historischen Ausgangspunkt fand die CAJ im Arbeiter*innenmilieu


der 1910er und 1920er Jahre. Hier waren es die katastrophalen Lebens-
und Arbeitsbedingungen, die Josef Cardijn dazu brachten, junge Menschen
zu organisieren. Im Hintergrund stand sein Glaube an die Würde und Be-
rufung jedes Menschen und die Einschätzung, dass die Lebens- und Ar-
beitsbedingungen zu diesem im Widerspruch standen. Cardijn war mit die-
sem Aufbruch eine zentrale Figur eines aufkommenden kritischen Katho-
lizismus, und die CAJ und deren Theologie verbreiteten sich rasch in wei-
teren Ländern.3 Dort prägte sie Vorläufer*innen der Befreiungstheologie
wie Fernando Torres, die lernten, die christlichen Überzeugungen (‚Urtei-
len‘) radikal auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beziehen (‚Se-
hen‘).4 Im folgenden Kapitel werde ich erläutern, wie die CAJ diese Me-
thode heute konzeptionalisiert.

1.2 Sehen, Urteilen, Handeln als Bildungs- und Aktionsmethode

Mit dem Dreischritt Sehen, Urteilen, Handeln arbeitet die CAJ seit ihren
Anfängen. Josef Cardijn und weitere wichtige Leiter*innen und Beglei-
ter*innen der CAJ haben die Methode geprägt.5 Zentrale Merkmale sind
im Dokument über die ROLWA festgehalten. Die ROLWA, auch Revision

3 Vgl. HORN, Gerd-Rainer: Western European Liberation Theology: The First Wave,
Oxford: Oxford University Press 2008.
4 Vgl. EBD.
5 Vgl. ANTONY, Bernhard: Arbeiterleben und Arbeitswelt mit Hoffnung sehen. J. Car-
dijns Impulse zur Lebensbetrachtung (Revision de vie), in: ANTONY, Bernhard (Hg.):
Zur Arbeiterschaft – zur Arbeiterbewegung entschieden. 100 Jahre Joseph Cardijn,
Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1982, 144–167.
540 Christoph Holbein-Munske

de Vie oder Lebensbetrachtung genannt, stellt die klassische, typische


Form der CAJ-Methodik dar.6 Eine Basisgruppe von ungefähr vier bis acht
Personen trifft sich regelmäßig und reflektiert ihr eigenes Leben anhand
von Sehen, Urteilen, Handeln. Ausgangspunkt sind die Lebensrealitäten
der versammelten Menschen. Sie lernen diese ernst zu nehmen und als Er-
kenntnisorte zu verstehen, an dem sich gesellschaftliche Verhältnisse kon-
kret manifestieren. Im Ausgang von den eigenen Lebensrealitäten spiegelt
sich bereits, dass es uns im Ziel nicht um eine Wohltätigkeitsperspektive
geht, sondern um Subjektwerdung: Die jungen Arbeiter*innen sollen selbst
in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Lebensumstände zu verstehen
und zu verändern, wo sie Veränderung für notwendig erachten. Im Sehen
geht es dann darum, die tieferliegenden sozialen, politischen, ökonomi-
schen und kulturellen Gründe derjenigen Situation zu verstehen, unter der
die Person leidet: Warum ist der Druck in der Schule so groß? Welche
ökonomische Dynamik führt dazu, dass in der eigenen Branche vor allem
befristete Verträge genutzt vorkommen, und welche Auswirkung hat das
auf die eigene Lebensplanung? Die Versammelten streben eine möglichst
umfassende Analyse an. Im Urteilen äußern die Gruppenmitglieder ihre
eigenen Gefühle zur Situation, und gehen dann dazu über, ihre eigenen
Überzeugungen zu formulieren und diese mit Idealen, mit religiösen Zeug-
nissen, und unter Bezugnahme anderer Quellen wie den Menschenrechten
zu begründen. Auf dieser Grundlage entwickelt die Gruppe eine Vision
davon, wie die Situation sein sollte. Im Prozess zu prekärer Arbeit hat die
CAJ Deutschland ihre „Vision einer gerechten Arbeitswelt“ dokumen-
tiert.7 Im Anschluss entwickelt die Gruppe konkrete Ziele und Handlungs-
schritte hin zu ihrer Vision. Diese können individuelle Handlungen sein –

6 Vgl. zur ROLWA auch HOLBEIN, Christoph: Bildung durch Aktion. Inspirationen der
Christlichen Arbeiterjugend, in: KatBl 142 (2017), 354–357.
7 CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Unsere Vision einer gerechten
Arbeitswelt, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/2016/Vision_web.pdf
[abgerufen am 30.06.2019].
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 541

„ich werde mich beim nächsten Mal meinem Chef widersetzen“ –, sie kön-
nen auch kollektiver Natur sein – „wir organisieren eine Demonstration
gegen Abschiebungen“. Häufig merkt die Gruppe auch, dass sie bestimmte
Aspekte tiefer ergründen muss, oder dass es sinnvoll ist, eine eigene Um-
frage zu initiieren, dass sie also noch tiefer Sehen muss, um wirklich zu
verstehen. Auf diese Weise können umfangreichere Aktionsprozesse wie
der zum Thema Prekäre Arbeit oder der zum Thema Flucht entstehen, in
denen immer wieder der Kreislauf von Sehen, Urteilen, Handeln durchlau-
fen wird.

1.3 Sehen, Urteilen, Handeln als politische und religiöse Bildung

Der methodische Dreischritt beschreibt als Ganzen das Bildungskonzept


der CAJ. Erst im (mehrmaligen) Durchlaufen aller drei Schritte kann die
CAJ-Methodik dem Bildungsauftrag der CAJ entsprechen. Die jungen Ar-
beiter*innen bilden sich nicht nur durch abstrakte Erkenntnis, sondern in-
dem sie analysieren, die Situation beurteilen und handeln. Auf den Punkt
gebracht ist das mit dem Begriff „Bildung durch Aktion“.8 Gleichzeitig
bauen sie selbst Gemeinschaftsstrukturen auf, die wiederum bildend auf
sie zurückwirken.9 Die Bildungsprozesse sind auf Langfristigkeit angelegt.
Das anspruchsvolle Ziel ist laut Bildungsauftrag der CAJ die „Grundlage
für das Schaffen eines ‚neuen‘ Menschen und den Aufbau einer ‚neuen‘
Gesellschaft.“10 Von besonderer Bedeutung ist der Grundsatz, dass die Bil-
dungsgabe „inmitten, durch, für und mit den jungen ArbeiterInnen ausge-
führt“11 werden, mit dem Zutrauen, dass sie „die Fähigkeit und das Verant-

8 Vgl. HOLBEIN 2017 [Anm. 6].


9 Vgl. CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Der Bildungsauftrag der
CAJ 2002, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/statisch/Der_Bildungs-
auftrag_der_CAJ.pdf [abgerufen am 30.06.2019], 14–15.
10 EBD., 3.
11 EBD.
542 Christoph Holbein-Munske

wortungsbewusstsein haben, um ihre eigene Befreiung selbst herbeizufüh-


ren.“12.

Es geht dabei in der Bildung der CAJler*innen um Bewusstseinsbildung,


um Verstehen der gesellschaftlichen Situation, um Kompetenzen der
Selbstorganisation, um Verantwortungsbewusstsein, um Erlernen von So-
lidarität. Auch die Frage nach Gott verorten wir als Frage der Praxis in
diesem langfristigen Bildungsprozess:
„Ganz allmählich wird [die*der Arbeiter*in] dann anfangen, sich Fragen über
sich selbst zu stellen, seine/ihre Existenz, seine/ihre Herkunft, sein/ihr Schicksal
und das Schicksal aller Menschen. Im Verlaufe dieses Prozesses kann er den An-
ruf eines ‚höheren Wesens‘ vernehmen. In einem solchen Fall muss er dann da-
rauf antworten, jedoch immer durch sein tägliches Engagement zusammen mit
seinen Brüdern und Schwestern, d. h. allen unterdrückten Menschen.“13

Dieser ganzheitliche Bildungsansatz zielt auf kritische politische Bildung.


Er umfasst zwar auch Wissen und Kompetenzen, geht jedoch weit darüber
hinaus: Letztlich geht es um politische Existenzweisen der jungen Men-
schen.

Damit berühren wir ein weiteres für die CAJ-Methodik zentrales Charak-
teristikum: Sie ist Bildungs- und Aktionsmethodik und gleichzeitig (nicht
getrennt davon) eine spirituelle Methode. Der Glaube prägt die gesamte
Methode grundlegend:
„Der Glaube kommt nicht erst sekundär als ein normatives Deutungsinstrument
der erhobenen Situation ins Spiel, sondern liegt als normative Prämisse der ge-
samten Methode zugrunde. Die aufmerksame Zuwendung zur Lebenswirklichkeit
eines jeden Menschen und zu ihren einfachsten Alltagserfahrungen ist bereits ein
Glaubensakt, in dem der Glaubensinhalt, die in Gott gründende Würde und Be-
rufung dieses Lebens, erfahrbar gemacht und performativ vollzogen wird.“14

12 EBD.
13 EBD., 15.
14 KLEIN, Stephanie: Erkenntnis und Methode in der Praktischen Theologie, Stuttgart:
Kohlhammer 2005.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 543

Daraus erwächst eine Spiritualität, die das Spirituelle nicht als eigenen
Sonderbereich der Realität begreift, sondern auf die Realität begreifend,
beurteilend und handelnd bezogen ist. Entsprechend ist auch die Ausübung
dieser Spiritualität nicht notwendig an Gebete oder andere Formen expli-
ziter Spiritualität geknüpft, auch wenn das durchaus möglich ist. Während
Gottesdienste oder auch Meditationen einen eigenen spirituellen Bereich
konstituieren können, zielt die CAJ-Methodik gerade darauf, einen solchen
Unterschied aufzulösen. Was aber bedeutet dann Spiritualität, wenn ihre
Ausübung sich nicht notwendig in Formen wie Gottesdiensten und Gebe-
ten artikuliert und vielleicht nicht einmal als solche zu erkennen ist?

Eine Definition von Jon Sobrino ist hier aufschlussreich. Er versteht unter
Spiritualität den „Geist eines bestimmten Subjektes oder einer als Subjekt
auftretenden Gruppe, insoweit dieser/diese zur Totalität der Wirklichkeit
in Beziehung steht.“15 Diese Definition kann an das im Bildungsauftrag
benannte Ziel anknüpfen, dass es um „den neuen Menschen“ geht. Das
heißt, dass die Bildung über die themenspezifischen Kenntnisse und Kom-
petenzen im Umgang mit der konkreten Situation hinausgehen muss. Der
Bildungsprozess zielt auf die Konstitution der lernenden Subjekte.

Sie kultivieren ein Bündel von Einstellungen und Haltungen, eine eigene
Kultur, in der es ihnen darum geht, auch künftig langfristig in den verschie-
denen Lebensbereichen Gruppen aufzubauen, mit denen sie gemeinsam se-
hen, urteilen und handeln. Indem sie in der ROLWA die konkreten Situa-
tionen in der Realität als Orte der Erkenntnis, des Glaubens und des Han-
delns begreifen, üben sie sich darin, immer in dieser Art und Weise ein
Verhältnis zum Ganzen der Realität einzunehmen.

15 SOBRINO, Jon: Geist, der befreit. Lateinamerikanische Spiritualität, Freiburg u. a.: Her-
der 1989, 26.
544 Christoph Holbein-Munske

2 Die CAJ-Methodik als kritisch-emanzipatorische religiöse


Bildung

Im Folgenden geht es mir darum, die Methodik der CAJ mit den Positionen
der Frankfurter Erklärung zu verbinden. Dabei soll erstens erkundet wer-
den, welche Rolle das jeweilige Merkmal für die politische Bildung in der
CAJ spielt. Zweitens soll angemerkt werden, worauf in der Anwendung
der CAJ-Methodik zu achten ist, damit dieses Merkmal tatsächlich zur Gel-
tung kommt. Drittens geht es mir darum, aufzuzeigen, welche besonderen
Impulse sich für Prozesse kritischer politischer Bildung aus der CAJ-Me-
thodik ergeben. In der Struktur halte ich mich an die einzelnen Positionen
der Frankfurter Erklärung.

2.1 Ausgehen von Lebensrealitäten – gemeinsam die Krisen


entdecken16

Die Frankfurter Erklärung beginnt mit den „Umbrüchen und vielfältigen


Krisen unserer Zeit.“17 Die ROLWA setzt nicht unmittelbar an den Krisen
an. Stattdessen geht sie von den Lebensrealitäten der beteiligten Menschen
aus. „Was sind die Arbeitsbedingungen? Wie ist die Situation im Wohn-
viertel?“18 Die großen Krisenzusammenhänge geraten mittelbar in den
Blick. In der tieferen Analyse finden die Lernenden heraus, wie viele Men-
schen sonst noch von der Situation betroffen sind. Hiermit kann unterschie-

16 In der Struktur halte ich mich an die Struktur der Frankfurter Erklärung. Es kann hilf-
reich sein, sie sich zunächst noch einmal zu vergegenwärtigen. Vgl. „Frankfurter Er-
klärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ (FFE 2015), in:
https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklaerung/ [abgerufen am
30.06.2019].
17 EBD.
18 CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Reflexion des Lebens und der
Arbeiteraktion, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/statisch/Die_RLA
A_ROWLA_Lebensbetrachtung.pdf [abgerufen am 30.06.2019], 4.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 545

den werden, „ob es ein individuelles oder kollektives Problem ist“.19 Dies
hilft häufig, um eine individualistische Deutung zu überwinden, der gemäß
individuelle Probleme lediglich auf das persönliche Handeln zurückzufüh-
ren sind. Beispielsweise reflektieren junge Menschen ihre Arbeitsbedin-
gungen und stellen dabei fest, dass befristete Arbeitsverträge nicht nur
selbst verschuldet sind, sondern strukturelle Gründe haben.20 Indem weiter
danach gefragt wird, welche Auswirkungen diese Umstände haben, kön-
nen die Beteiligten Wirkungszusammenhänge in ihrem Leben herstellen
und damit die Relevanz ihrer Arbeitsbedingungen im eigenen Leben und
im Leben ihrer Mitstreiter*innen erfahren. Nachdem die Relevanz der Le-
bensumstände und deren gesellschaftliche Dimension herausgearbeitet
wurde, kommt nun ein entscheidender Schritt für die Aufdeckung gesell-
schaftlicher Krisenzusammenhänge: Es gilt nach den Gründen dafür zu fra-
gen, warum die Realität ist, wie sie ist. Hierfür stehen einige vertiefende
Fragen zur Verfügung; neben der Frage danach, wer von der Situation pro-
fitiert, ist hier vor allem die ‚SPEC‘-Analyse zu nennen, die nach den so-
zialen, politischen, ökonomischen (economic) und kulturellen (cultural)
Gründen fragt. Hier liegt jedoch gleichzeitig eine Herausforderung für die
alltägliche Bildungspraxis. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusam-
menhänge entsteht nicht einfach aus sich heraus, sondern bedarf der ge-
meinsamen Aneignung von Analysen. Beispielsweise konnte in der Ana-
lyse zu prekärer Arbeit auf die Analysen von anderen CAJ-Nationalbewe-
gungen und auf wissenschaftliche Literatur zurückgegriffen werden. An
dieser Stelle sind die Sich-Bildenden also gefragt, sich vertiefendes Wissen
anzueignen. An politische Bildner*innen stellt sich die Herausforderung
so dar, dass sie*er nicht schon vorab weiß, welche Lebensrealitäten sich in
der konkreten Gruppe als relevant erweisen werden. Damit die CAJ-Me-

19 EBD.
20 Vgl. CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Analyse der CAJ zu prekä-
rer Arbeit, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/prekaere-arbeit/Analy-
se_Langfassung_web.pdf [abgerufen am 30.06.2019].
546 Christoph Holbein-Munske

thodik ihren Charakter als kritische politische Bildung aufrechterhält, ist


nichtsdestotrotz gerade an diesem Anspruch unbedingt festzuhalten, dass
die konkreten Lebensrealitäten in ihren gesellschaftlichen Zusammenhän-
gen und deren Krisenhaftigkeit verstanden werden.

2.2 Kontroversität – Miteinander streiten, gemeinsam kämpfen und


umkämpfte Ideale aneignen

Die Kontroversität findet sich innerhalb der CAJ-Methodik auf zwei Ebe-
nen wieder. Im Urteilen wird gemeinsam darum gerungen, wie die Gruppe
die im Sehen-Schritt erörterte Realität bewertet. In einem zweiten Schritt
wird die erarbeitete Position im Handeln nach außen getragen und vertre-
ten, wobei mit Widerspruch zu rechnen ist. Hier ist die methodisch ange-
legte Langfristigkeit der ROLWA- Prozesse ein wichtiger Aspekt: Sie ist
so ausgerichtet, dass die Gruppe nicht nur einmalig sieht, urteilt und han-
delt, sondern dass sie sich nach einiger Zeit wiedertrifft. Die beschrittenen
Handlungsschritte werden reflektiert, und es wird evaluiert, was in der Ak-
tion beibehalten und was verändert werden soll. Damit muss der Bildungs-
prozess umfassender als einzelne Unterrichtseinheiten oder Wochenend-
veranstaltungen gedacht werden. Er findet innerhalb der CAJ gerade durch
das Handeln und dessen systematischer Reflexion statt. In der Reflexion
können nun gerade auch die Momente in den Blick kommen, in denen Wi-
derstand erfahren wurde. Ein paar Beispiele können Aufschluss geben:
• Auf der 1. Mai-Demo wurde ein CAJler von einem Mitglied einer
kommunistischen Partei darauf angesprochen, ob sich die von der CAJ
geforderten Veränderungen, etwa die Arbeitszeitverkürzung, nicht zu
sehr innerhalb der bestehenden Gesellschaft gedacht sind.
• Nach der Verabschiedung einer Positionierung gegen prekäre Arbeit
wurden Vertreter*innen der CAJ zu einem Gespräch mit Arbeiterge-
ber*innen-Vertreter*innen eingeladen, die die Wichtigkeit von Leih-
arbeit und befristeten Verträgen vertraten.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 547

• CAJler*innen, die zu Geschlechtergerechtigkeit arbeiten, werden auch


innerverbandlich von anderen CAJler*innen dahingehend angefragt,
ob überhaupt noch in großem Ausmaß Ungleichheiten in den Lebens-
bedingungen bestünden.
Die Anfragen können in der Reflexion aufgegriffen und somit nicht als
abstrakte Pro-Kontra-Diskussion, sondern als reale Anfragen an die eigene
Position verstanden werden. Indem sie in der Gruppe diskutiert werden,
entsteht ein zunehmendes Verständnis der kontroversen Positionen und der
darin enthaltenen zentralen Streitpunkte.

Das spezifische Potenzial, das die ROLWA hier bietet, liegt in meinen Au-
gen besonders im Urteilen-Schritt begründet. Denn damit geht es in der
ROLWA auch darum, sich gesellschaftlich etablierte Ideale und Werte an-
zueignen. Im Schritt des Urteilens sind die Teilnehmenden der ROLWA
dazu aufgefordert, zu benennen und zu diskutieren, welche Überzeugun-
gen, Werte, biblischen oder anderen religiösen Referenzen ihnen im Blick
auf die reflektierte Situation wichtig sind. Sie lernen, abstrakte Überzeu-
gungen und Werturteile mit ihren eigenen Erfahrungen in Verbindung zu
bringen und damit zu konkretisieren und in ihrem kritischen Gehalt zu re-
aktualisieren. Dadurch werden sie gesellschaftlich sprachfähig und verset-
zen sich in die Lage, sich in öffentliche Diskurse einzuschalten. Ideale wie
‚Menschenwürde‘ oder ‚Gleichheit‘ sind in ihrer Bedeutung gesellschaft-
lich umkämpft. Wenn in einer ROLWA junge Menschen darüber diskutie-
ren, ob ihre prekären Arbeitsbedingungen oder Geschlechterungleichhei-
ten ihrer Menschenwürde widersprechen, dann lernen sie, sich innerhalb
der entsprechenden Kontroversen argumentativ begründet zu positionie-
ren. Diese Aneignung umkämpfter Ideale und Werte einzuüben, wäre mei-
nes Erachtens auch Aufgabe kritischer politischer Bildung: Sich in der ge-
sellschaftlichen Kontroversität zu bewegen, bedeutet nicht nur, Gesell-
schaft zu verstehen, sondern ebenso, eine eigene Positionierung begründen
548 Christoph Holbein-Munske

und dabei benennen zu können, auf welche argumentative Grundlage sich


die Positionierung stützt.

2.3 Machtkritik – Die eigene Machtlosigkeit verstehen und


überwinden

In der ROLWA fokussiert der Sehen-Part ausdrücklich auf die Gründe da-
für, dass die Situation ist, wie sie ist. Hier kann gerade die Frage danach,
wer unter der Situation leidet, und wer davon profitiert, Aufschluss über
relevante Machtverhältnisse geben. Auch die SPEC-Analyse kann hier
hilfreich sein (s. Kap. 2.1). Insgesamt spielen für die Machtkritik jedoch
vor allem zwei Elemente eine Rolle, die nicht unmittelbar mit dem Fragen-
katalog der ROLWA zu tun haben, sondern mit der CAJ-Programmatik:

1. Die CAJ bezieht sich in ihrem Bildungskonzept positiv auf den Arbei-
ter*innen-Begriff.21 Ziel ist es, nicht nur die Gesellschaft als eine zu ver-
stehen, die durch Klassen strukturiert ist, sondern die eigene Positionierung
darin zu erkennen. Das heißt unter CAJler*innen: Es geht darum, die ei-
gene Zugehörigkeit zur Arbeiter*innenklasse zur verstehen. „Durch die
fortschreitende Reflexion von Realität und Aktion erkennen wir Ausbeu-
tung, die Existenz zweier Klassen und diejenige, zu der wir gehören: Zur
Arbeiterklasse, zum Volk, zu den Ausgebeuteten.“22 Diese Affirmation der
Klassenzugehörigkeit impliziert eine grundlegende Kritik hegemonialer
Diskurse und ist damit immanent machtkritisch. Innerhalb neoliberaler
Steuerung des Bildungswesens werden die Einzelnen lediglich als Indivi-
duen angesprochen, die zwar in vielfältiger Weise durch die Gesellschaft
geprägt sind, aber bei denen die Individualität das Gemeinsame sekundär
erscheinen und tendenziell verschwinden lässt.23 Die Bewusstseinsbildung

21 Vgl. CAJ DEUTSCHLAND 2002 [Anm. 9].


22 Vgl. EBD., 5–6.
23 Vgl. den Beitrag von Andreas HELLGERMANN in diesem Band.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 549

in der CAJ steht nicht nur selbst ideologiekritisch gegenüber dieser indivi-
dualistischen Gesellschaftsbeschreibung, sondern leitet die Lernenden
dazu an, die machtvollen Gesellschaftsstrukturen als relevant zu erkennen.
Dieser Prozess umfasst auch die Verantwortungsträger*innen und Bild-
ner*innen. Beispielsweise verstand ich selbst im Zuge der Bildungspro-
zesse in der CAJ, dass ich die Folgen der Prekarisierung am eigenen Leib
erfahre. Ich lernte, dass mich trotz unterschiedlicher Milieu-Zugehörigkeit
und Bildungsabschluss mehr mit denjenigen verbindet, die etwa in der
Pflege, bei Lieferdiensten oder in anderen Bereichen unter prekären Ar-
beitsbedingungen arbeiten, oder die auch keine Arbeit haben, als mit den
Eigentümer*innen großer Unternehmen, und kann mich damit als Arbeiter
verstehen. Zwar mögen sich unsere Lebensrealitäten mehr oder weniger
unterscheiden; qualitativ erfahren wir die gleiche strukturelle Prekarisie-
rung. Diese Erkenntnis lässt sich mit der Analyse Isabell Loreys verknüp-
fen, wenn sie schreibt: „In gegenwärtigen postfordistischen Gesellschaften
ist Prekarisierung als Prozess sozialer und ökonomischer Verunsicherung
nicht mehr als gesellschaftliches Randphänomen zu verstehen, nicht mehr
als ‚a-typisch’ oder ‚unnormal’. Prekarisierung ist auch hier längst in der
sogenannten gesellschaftlichen Mitte angekommen.“24

2. In ihrer Ausbreitung ist die CAJ nicht beschränkt auf ein kleines Milieu,
sondern grundsätzlich offen ausgerichtet. Leitend in der Suche nach neuen
Aufbrüchen ist für sie dabei, was auch in der Gründung leitend war: Gerade
diejenigen Menschen zu organisieren, bei denen der Widerspruch zwi-
schen ihrer Würde und Berufung auf der einen Seite sowie ihren Lebens-
bedingungen auf der anderen Seite besonders frappierend ist. Diese Aus-
richtung führt häufig dazu, dass sehr unterschiedliche Menschen miteinan-
der ihre Lebensrealitäten reflektieren und dabei auch Menschen zu Wort

24 Lorey, Isabell: Gouvernementale Prekarisierung (2011), in: http://eipcp.net/transversal/


0811/lorey/de.html [abgerufen am 15.07.2019].
550 Christoph Holbein-Munske

kommen, deren Stimmen häufig nicht gehört werden. Immer wieder sind
wichtige Bestandteile in Aktionen daher auch, diese Stimmen sichtbar zu
machen. So hat die Bundeaktionsgruppe Weltnah eine Ausstellung organi-
siert, in der junge Menschen mit und ohne Fluchthintergrund ihre Vorstel-
lungen für ihr Leben und die gemeinsame Vision des Zusammenlebens
sichtbar machen. In diesen Runden können also schon durch die Zusam-
mensetzung Stimmen hörbar gemacht werden, die sonst nicht hörbar sind.

Der besondere Ansatz der CAJ-Methodik liegt in meinen Augen darin,


dass nicht nur Machtstrukturen analysiert und sonst Nicht-Gehörte gehört
werden, sondern dass die jungen Menschen selbst ihre eigene Machtlosig-
keit in den Bereichen verstehen, in denen sie sie besonders verwundbar
sind und diskriminiert bzw. ausgebeutet werden. Diese Machtlosigkeit be-
steht auch dann, wenn junge Menschen sich in anderen Lebensbereichen
handlungsfähig erleben. Dadurch können sie selbst an politischer Subjek-
tivierung teilhaben und gleichzeitig Solidarität mit Anderen entwickeln,
denen es ähnlich geht. Diese Solidarisierung ist in der CAJ besonders beim
internationalen Austausch sichtbar, in denen bei allen Unterschieden be-
sondere Aufmerksamkeit auf die Gemeinsamkeiten in den Lebensrealitä-
ten gelegt wird.

2.4 Reflexivität – Gruppen aufbauen, die interne Kritik ermöglichen

Die strukturellen Rahmenbedingungen der politischen Bildung heben sich


aufgrund der demokratischen Prinzipien der CAJ zunächst einmal deutlich
von der Einbindung in schulische Strukturen ab. Die jungen Menschen
wählen ihre Leitung und ihren Vorstand selbst. Auch die Bildner*innen
sind damit meist demokratisch legitimiert und legen über ihre Arbeit Re-
chenschaft ab. Diese Prozeduren bilden einen wichtigen Baustein zum
transparenten und selbstreflexiven Umgang mit innerorganisationalen
Machtstrukturen, und sie ermächtigt die Mitglieder dazu, Verantwortung
zu übernehmen.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 551

Nichtsdestotrotz bleibt das Problem bestehen, dass die CAJ in sozialen,


politischen, ökonomischen und kulturellen Konstellationen eingebunden
ist und damit umgehen muss. Daher ist es hilfreich, auch die Situation des
Verbands regelmäßig mit Hilfe der CAJ-Methodik zu reflektieren, damit
die CAJ möglichst gut ihrem Wesensmerkmal ‚Autonom‘25 entspricht.

In den ROLWA-Kleingruppen werden die Erfahrungen der einzelnen Per-


sonen ernst genommen und sind wichtiger als die Aussagen der Leitung.
Dieses Setting ermächtigt dazu, innerverbandliche Machtdimensionen von
der Basis aus aufzudecken und Selbstreflexivität anzustoßen, aber auch die
eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren. Ein Beispiel hierfür liefert eine
Aktionsgruppe zum Thema Geschlechtergerechtigkeit, in der auch die Rol-
le von Frauen und Männern und deren Verhaltensweisen im Verband re-
flektiert wurden.

Politische Bildung unter dem Anspruch, die in ihr wirksamen Herrschafts-


verhältnisse zu reflektieren, benötigt dafür geeignete Strukturen, insbeson-
dere, wenn sie nicht nur von den Reflexionsperspektiven der Bildner*in-
nen abhängig sein will. Als ein Leitbild hierfür in der CAJ kann die sich
autonom konstituierende ROLWA-Gruppe gelten, in der die Moderations-
rollen in der ROLWA jeweils von Treffen zu Treffen wechseln – auch
wenn die Gruppen diesem Ideal in der Praxis in unterschiedlichem Maße
entsprechen.

25 Vgl. CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Internationale Grundsatzer-


klärung, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/statisch/Die_internationa-
le_Grundsatzerkl%C3%A4rung.pdf [abgerufen am 30.06.2019].
552 Christoph Holbein-Munske

2.5 Ermutigung – Die emotionale Verankerung der Überzeugungen und


Visionen

Unter dem Thema der Ermutigung thematisiert die Frankfurter Erklärung


die „leiblich emotionale Komponente“26 politischer Urteilsbildung. In der
Bildungsarbeit mit der CAJ-Methodik erfahren wir diese Komponente als
essenziell. Zunächst einmal geht es uns darum, die häufig unbewussten,
manchmal auch verdrängten Gefühle sichtbar und artikulierbar zu machen.
Nachdem wir eine Situation analysiert haben, sprechen wir im ersten
Schritt des Urteilens über die Emotionen, die durch sie ausgelöst werden.
Häufig kommen dabei Gefühle wie Wut, Traurigkeit, Druck, manchmal
auch Freude oder Mut zur Sprache. Zunächst äußern die Teilnehmenden
ihre Gefühle und artikulieren die Resonanz aufeinander. Auf diese Weise
bauen sie Vertrauen in der Gruppe auf. Erst danach urteilt die Gruppe nach
den gemeinsamen Wertmaßstäben. Über die eigenen Gefühle zu sprechen,
erzeugt häufig viel Motivation. Indem sie die Gefühle in Verbindung mit
den Wertmaßstäben und Visionen bringen, eignen sich die Lernenden
Maßstäbe und Visionen emotional an und stehen selbstbewusst für sie ein.
Sätze wie „Jeder Mensch ist mehr wert als alles Gold der Erde“27 gewinnen
für die Einzelnen in der Gruppe an emotionaler Qualität und sind damit
tiefer verankert.

Darüber hinaus gehört die konsequente Würdigung der Bildungs- und Ak-
tionsfortschritte zu den zentralen Ermutigungs-Katalysatoren in der CAJ-
Methodik: Wer den Mut aufgebracht hat, etwa der Chefin zu widerspre-
chen, oder wer weitere Mitstreiter*innen im Freund*innenkreis für die Ak-
tion gewonnen hat, wird dafür gefeiert. Dieses Feiern der eigenen Schritte
spielt eine zentrale Rolle:

26 FFE 2015 [Anm. 16].


27 Vgl. VISION [Anm. 7].
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 553

„Es ist wichtig, alles, auch die kleinsten Einzelheiten im globalen Rahmen dessen,
was man zu verwirklichen vorgesehen hat, zu berücksichtigen. Jede einzelne An-
strengung ist ein Schritt nach vorne, ein Sieg über die Trägheit, über die Routine,
über den Egoismus, über den Bewusstseinsmangel, über das sich-auf-andere-Ver-
lassen. In diesem Sinn ist es wichtig, allem einen Wert beizumessen, was man in
der Aktion erreicht hat: neue Erfahrungen, neue Mittel der Organisation, Fort-
schritt in der Methode, Selbstvertrauen und Vertrauen in die jungen ArbeiterIn-
nen, Gefühl der Stärke.“28

In Österreich etwa wurde der Dreischritt hin zum Vierschritt Sehen, Urtei-
len, Handeln, Feiern weiterentwickelt.

2.6 Veränderung – Die Lernenden konsequent als Subjekte ihrer Praxis


ansprechen

Die CAJ begreift den Kern ihrer Arbeit als „Bildung durch Aktion.“29 Das
heißt auch: Wenn der Bildungsprozess Fahrt aufnimmt, umfasst er ein ge-
meinsames Suchen nach Wegen individuellen und kollektiven Handelns.
Im Handeln erkennen die Lernenden ihre Fortschritte und die Schwierig-
keiten und nutzen beides, um in der anschließenden Reflexion mehr über
die Gesellschaft und sich selbst darin zu verstehen.30 Nützliche Mittel für
die politische Praxis, etwa über geeignete Aktionsformen, erlernen sie ge-
wissermaßen nebenbei. Eine Stärke dieser konsequenten Ausrichtung aller
Schritte auf die Aktion ist, dass sie die eigenen Handlungsmöglichkeiten
stets mit reflektieren und vermieden wird, dass sie das Lernen als Selbst-
zweck begreifen.

Die Handlungsorientierung des Bildungsprozesses unterstützt konsequent


die politische Subjektivierung, da die Menschen sich gegenseitig als Hand-
lungsfähige anfragen:

28 ROLWA [Anm. 18], 13.


29 Vgl. HOLBEIN 2017 [Anm. 6].
30 Vgl. BILDUNGSAUFTRAG [Anm. 9], 8.
554 Christoph Holbein-Munske

„Wir erfahren uns als Handelnde, nicht nur als Betroffene in sozialen, politischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen. Damit finden wir einen Ausdruck für
das eigene Gefühl von Ungerechtigkeit, überwinden das Gefühl von Ohnmacht,
und wir lernen, politisch hörbar und wirksam zu handeln. Wir lernen, eine Hal-
tung nicht nur zu haben, sondern sie zu verkörpern und für sie einzustehen […].“31

Die Beachtung von Sehen, Urteilen und Handeln hilft, alle diese drei As-
pekte als zusammengehörig in der Praxis eines jeden Subjektes zu sehen:
Wo politische Bildung das Handeln nur als Zusatz begreift, während das
Verstehen das eigentliche darstelle, droht sie, das sich bildende Subjekt zur
Zuschauer*in zu degradieren.

3 Ausblick

Die Auseinandersetzung mit der Frankfurter Erklärung kann zentrale poli-


tisch-bildungsrelevante Aspekte der CAJ-Methodik aufzeigen. Indem sie
sichtbar und bewusst gemacht werden, können sie in der alltäglichen Praxis
deutlicher fokussiert und gestärkt werden. Hierzu gehört, dass das Ausge-
hen von konkreten Lebensrealitäten gerade nicht dazu führen soll, die um-
fassenden Krisen außer Acht zu lassen, sondern dass es in der vertieften
Ursachenanalyse auf ein Gespür für das Aufdecken der Krisen ankommt.
Überraschenderweise kann das Urteilen eine besonders wichtige Rolle für
den kritisch-politisch-bildenden Charakter der Methodik spielen, und zwar
dann, wenn die Teilnehmenden der Gruppe miteinander ringen, und vor
allem, wenn sie sich Wertmaßstäbe aneignen, die sie dann in ihrem Leben
offensiv vertreten und dadurch lernen, innerhalb von Kontroversität eigene
Positionen zu beziehen und zu begründen. Das Urteilen bietet darüber hin-
aus großes Potenzial dazu, sich gegenseitig zu ermutigen und die eigenen
Wertmaßstäbe emotional zu verankern. Im Handeln geht es nicht nur da-
rum, dass die Lernenden ihre eigenen Handlungsperspektiven innerhalb

31 Vgl. CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Das Christliche in der CAJ,


in: http://www.caj.de/multimedia/Beschl%C3%BCsse/2018_Das_Christliche_in_der_
CAJ.pdf [abgerufen am 30.06.2019].
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 555

machtvoller Verhältnisse erkennen, sondern auch darum, dass sie den ge-
schärften Blick, den Mut und ihr Urteilsvermögen in den Alltag hinein und
damit Machtkritik außerhalb des sicheren Rahmens üben. Zwei weitere
grundsätzliche Aspekte wurden in der Auseinandersetzung sichtbar. Ers-
tens ist es für die Reflexivität der Gruppen, in denen die ROLWA prakti-
ziert wird, wichtig, dass auch gruppeninterne Machtstrukturen kritisch re-
flektiert werden können, wofür es geeignete Settings braucht. Zweitens
spielt die Ausrichtung am Arbeiter*innen-Begriff insofern für die ganze
ROLWA eine wichtige Rolle, als dieser Begriff dazu anleitet, eine Verbin-
dung unterschiedlicher Menschen aufgrund verbundener Lebensrealitäten
und Überzeugungen herzustellen.

Abschließend möchte ich auf einen für die CAJ-Methodik zentralen Punkt
hinweisen, der in der Frankfurter Erklärung so explizit nicht vorkommt.
Mit der Form (politischen) Bildung üben wir immer auch ein bestimmtes
Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit ein.

In der Beschreibung der ROLWA als spirituelle Methode wurde deutlich,


dass die Lernenden auf der Meta-Ebene ein Verhältnis zum Ganzen der
Wirklichkeit gezielt einüben. Diese Beschreibung wirft für jegliche kriti-
scher politischer Bildung eine Frage auf: Welches Verhältnis zur Wirklich-
keit üben die Lernenden durch die Form des Bildungsprozesses auf der
Meta-Ebene ein? Denn auch wenn dieses Einüben nicht (als Spiritualität
oder in anderen Begriffen) mit-reflektiert wird, praktizieren die Lernenden
eine bestimmte Form der Kritik, der Wahrnehmung, des Dialogs. Insofern
empfiehlt es sich, bewusst zu reflektieren, inwieweit die Form des Lernens
dem Lernziel entspricht. Beispielsweise benötigt die Kultivierung der
CAJ-Spiritualität benötigt Zeit. Daher bleiben bei allem Wert von punktu-
ellen Seminaren langfristige selbstorganisierte Gruppen die präferierte Or-
ganisationsform. Die Frankfurter Erklärung fokussiert Langfristigkeit zu-
nächst einmal nicht. Das liegt sicherlich auch daran, dass in ganz unter-
schiedlichen Kontexten eine zu den jeweiligen Rahmenbedingungen pas-
556 Christoph Holbein-Munske

sende Variante kritischer politischer Bildung entwickelt wird. Zielt kriti-


sche politische Bildung auf neue Existenzweisen, ist eine Kontinuität der
Bildungsprozesse dennoch überaus hilfreich. Doch auch in den Kontexten,
in denen Langfristigkeit nicht möglich ist, gilt es mit zu reflektieren, wel-
ches Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit eingeübt wird. Damit politi-
sche Bildung kritisch ist, muss auch das eingeübte Verhältnis ein praktisch-
kritisches sein.

Autorenangaben: Christoph Holbein-Munske ist Geistlicher Leiter der Christli-


chen Arbeiterjugend Deutschland. Er arbeitet zur Grundlegung und Reaktualisie-
rung der CAJ-Methodik und -Spiritualität. Derzeit bereitet er außerdem eine Pro-
motion in Christlicher Sozialethik an der Universität Münster vor.
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche –
Ein Bericht aus der Bildungspraxis

Andrea Keller und Robert Kläsener

Abstract: Am Beispiel des Projektes Religionssensible politische Bildungsarbeit


wird erläutert, welchen Herausforderungen sich eine religionssensible politische
Bildung aus katholisch-sozialer Perspektive stellen muss, aber auch, welche Res-
sourcen in dieser Form der Bildungsarbeit liegen. Anhand des Escape-Games
#DemoEx wird der Mehrwert einer religionssensiblen politischen Bildung in der
Praxis verdeutlicht und aufgezeigt, welche Gemeinsamkeiten die kritisch-emanzi-
patorische politische Bildung und die kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung
haben.

1 Einleitung

Die Zeiten, in denen in Deutschland Kinder und Jugendliche in die Reli-


gion ihrer jeweiligen Familien hineinwachsen und ihr selbstverständlich
ein Leben lang treu bleiben, gehören der Vergangenheit an. Zwar ist es
immer noch so, dass die Jugendlichen mehrheitlich in ihre Glaubensge-
meinschaft hineingeboren werden.1 Aber es ist heutzutage einfach, sich
von einer Religion abzuwenden – auch um für sich ein anderes Religions-
bekenntnis zu wählen. Es gilt Religionsfreiheit und es gibt heute einen gro-
ßen „Markt“ von Religionen, bedingt durch Migrationsprozesse und glo-
balisiertes Wissen. „Wenige fühlen sich mit der eigenen Konfession so
stark verbunden, dass ein Kirchenaustritt gar nicht zur Diskussion steht.“2
Insbesondere gilt dies für christliche Jugendliche. Zudem wachsen viele
Jugendliche völlig ohne Bezug zu Religion auf. Für den Bereich der Politik

1 Siehe CALMBACH, Marc u. a.: Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen
im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden: Springer VS 2016, 347–348.
2 EBD., 349.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_31
558 Andrea Keller und Robert Kläsener

sind parallele Entwicklungen zu beobachten. Das Parteien- und Meinungs-


spektrum differenziert sich weiter aus. Die Wähler*innen fühlen sich meist
nicht mehr lebenslang mit einer Partei verbunden.3

Sowohl für den politischen als auch religiösen Bereich gibt es also heute
vielfältige Angebote, aus denen die jungen Menschen wählen können, und
auch müssen, weil sich ihnen die Sinnfragen weiter stellen. In gewisser
Weise wird diese „Wahl“ sogar komplexer und angesichts verführerischer
Alternativen auch „gefährlicher“. Die pädagogische Arbeit muss sich die-
ser Situation stellen, um junge Menschen in der Orientierung zu unterstüt-
zen. Die Vergangenheit ist dabei mit einzubeziehen, um zu erklären, wie
und warum sich die Dinge gegenüber früheren Zeiten so entwickelt haben.
Zentral sind aber Fragen der Zukunft. Die Förderung der Selbstständigkeit
und Kritikfähigkeit junger Menschen soll diesen Perspektiven für ihr zu-
künftiges Handeln eröffnen. Das Ziel bleibt also, dass die jungen Men-
schen selbstverantwortlich ihren eigenen Weg finden, auch im Hinblick
auf die herausfordernden neuen Angebote von Religion und Politik.

Erweitert wird die Situation vielfältiger religiöser und politischer Ange-


bote durch das Internet und die sozialen Medien. Gerade junge Menschen
verbringen viel Zeit in diesen virtuellen Wirklichkeiten. Unbestritten müs-
sen politische wie religiöse Bildung die neuen Medien im Blick haben, ge-
hört die Ausbildung von Medienkompetenz zu ihren Aufgaben. Dabei ist
zu beobachten, dass im Internet und in den sozialen Medien politische und
religiöse Strömungen anders erscheinen als in der analogen Welt. Außen-
seiter und extreme Positionen nehmen in Social Media-Kanälen häufig viel
mehr Raum ein. Sie erscheinen so bedeutsamer als sie tatsächlich sind.

3 Vgl. KORTE, Karl-Rudolf: Wahlen in Deutschland, Zeitbilder. Bundeszentrale für poli-


tische Bildung, Bonn 2009, 105, zitiert nach: https://www.bpb.de/system/files/...pdf/
4719_zb_wahlen2013_barrierefrei_k02.pdf [abgerufen am 02.08.2019].
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 559

Denn die Bedeutung im Internet richtet sich nicht danach, wie vielen Per-
sonen etwas wichtig ist, sondern danach, wie viel Aktivität Personen oder
auch Bots entwickeln, um Meinungen zu verbreiten. Wenige, aber sehr ak-
tive Nutzer*innen erzeugen größere Aufmerksamkeit als z. B. etablierte
große Parteien, denen viele, aber wenig aktive Mitglieder angehören. Die-
ser Effekt wird noch durch sogenannte Filterblasen verstärkt. Für die Nut-
zer*innen ist es oft nicht leicht einzuordnen, ob Nachrichten stimmen, wel-
che Meinung in der Bevölkerung oder unter Expert*innen mehrheitlich
vertreten wird. Dies können extremistische Gruppierungen für ihre Zwecke
ausnutzen, unabhängig davon, ob sie ihre Ideologie religiös oder politisch
begründen. Infolgedessen ist es notwendig, junge Menschen in ihrer Ent-
wicklung medienkompetent zu begleiten, damit sie sich eine fundierte
Meinung zu einem Sachverhalt erschließen können.

2 Politische Bildung aus katholisch-sozialer Perspektive

Politische Bildung hat die Aufgabe und das Ziel, die Mündigkeit der Teil-
nehmer*innen zu fördern, indem sie ihnen das notwendige Wissen vermit-
telt sowie die eigene Urteilsfähigkeit schult. Grundlage der politischen Bil-
dung, auch aus katholisch-sozialer Perspektive, ist der Beutelsbacher Kon-
sens4, der jede Form massiver politischer Beeinflussung verbietet, die An-
erkennung und Förderung der Vielfalt politischer Meinungen fordert sowie
zu politischem Handeln anregt und ermutigt. Die katholisch-sozial orien-
tierte politische Bildung der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bil-
dungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (AKSB) verfolgt die-
sen Auftrag auf Basis des christlichen Menschenbildes und der christlichen
Werte:

4 Vgl. WEHLING, Hans-Georg: Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Experten-


gespräch. Textdokumentation aus dem Jahr 1977, in: WIDMAIER, Benedikt / ZORN, Pe-
ter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bil-
dung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 19–27, 24.
560 Andrea Keller und Robert Kläsener

„Katholisch-sozial orientierte politische Bildung ist ein genuin kirchlicher Auf-


trag, an dem die Mitglieder der AKSB mitwirken. Sie leisten als Träger der freien
Jugend- und Erwachsenenbildung neben anderen Trägern einen eigenständigen
Beitrag zur politischen Bildung auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene. Mit ihrer spezifischen Wertorientierung sind sie Teil des pluralen Träger-
spektrums der Jugendhilfe und der Weiterbildung.“5

Politische Bildung aus katholisch-sozialer Perspektive hat folglich dezi-


diert Position zu beziehen und eine spezifische Werteorientierung anzubie-
ten, um so ihre gesellschaftliche Gestaltungskraft zu entfalten.6 Religions-
sensible politische Bildung in kirchlicher Trägerschaft „plädiert für die Be-
nennung von Gründen für weltanschauliche Überzeugungen in einer offe-
nen Gesellschaft.“7 Insbesondere durch die zunehmenden parlamentari-
schen Anfragen der AfD wird über eine missbräuchliche Interpretation des
Überwältigungsverbots zu einem sogenannten Neutralitätsgebots versucht,
den Beutelsbacher Konsens zu instrumentalisieren, um zivilgesellschaftli-
che Akteure der politischen Bildung unter Druck zu setzen und zu diskre-
ditieren.8 Dabei verpflichtet gerade der Beutelsbacher Konsens die Akteure

5 ARBEITSGEMEINSCHAFT KATHOLISCH-SOZIALER BILDUNGSWERKE IN DER BUNDESREPUB-


LIK DEUTSCHLAND: Am Puls der Zeit. Konvention über katholisch-sozialorientierte po-
litische Jugend- und Erwachsenenbildung der AKSB und Aktualisierende Ergänzun-
gen, Bonn 2010, 17.
6 Vgl. KIRCHENAMT DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN DEUTSCHLAND / SEKRETARIAT DER
DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hg.): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtig-
keit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bi-
schofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Gemeinsame
Texte 9, Hannover und Bonn 1997, 8. Sowie REITEMEYER, Michael: Herausforderungen
für die politische Bildung in katholischer Trägerschaft, in: DERS. / WIDMAIER, Benedikt
/ WEBER, Karl / SCHUCK, Markus (Hg.): Politische Bildung stärken – Demokratie för-
dern, Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag 2017, 49–59, 50–51. Sowie WALD-
MANN, Klaus: Kann wertfrei über Demokratie informiert und diskutiert werden?, in:
Journal für politische Bildung 9/2 (2019): Demokratieförderung vs. Politische Bil-
dung?, 26–31, 27.
7 WEBER, Karl: Wie politisch ist das religiöse?, in: GRILLMEYER, Siegfried / DERS. (Hg.):
Das Religiöse ist politisch. Plädoyer für eine religionssensible politische Bildung,
Würzburg: Echter 2019, 33–40, 37.
8 Vgl. CREMER, Hendrik: Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber ras-
sistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien?, Berlin 2019.
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 561

der politischen Bildung darauf, Jugendliche nicht zu indoktrinieren. Er


setzt aber keine Wertneutralität voraus. Insbesondere bei Aussagen, die ge-
gen die Werte des Grundgesetzes verstoßen und damit nicht von der Mei-
nungsfreiheit gedeckt sind, ist eine deutliche Positionierung sogar zwin-
gend notwendig. Eine wertgebundene politische Bildung aus katholisch-
sozialer Perspektive ist folglich mit dem Überwältigungsverbot des Beu-
telsbacher Konsens vereinbar und macht das Spezifikum katholisch-sozia-
ler politischer Bildung aus.9

Politische Bildung will Menschen Erfahrungs- und Diskussionsrahmen


bieten, in denen sie ihre eigene Meinung bilden und zum Ausdruck bringen
können und in denen sie ernst genommen werden. Gemeinsam sollten die
politischen Dimensionen eines Problems erarbeitet und mögliche Lösungs-
ansätze entwickelt werden. Dabei ist zu beachten, dass mögliche Lösungs-
ansätze (sozial-) ethischen Prinzipien wie Menschenrechten, Gemeinwohl
und Gerechtigkeit folgen und es muss gelernt und erläutert werden, warum
dies so sein sollte.

Welche Gefahren für eine Gesellschaft entstehen, wenn grundlegende


Rechte missachtet werden, lassen sich insbesondere am Beispiel des reli-
giös oder politisch begründeten Extremismus aufzeigen. Zur Auseinander-
setzung mit religiösem Extremismus hat die Akademie Klausenhof – im
Rahmen des Projektes Religionssensible politische Bildungsarbeit – mit
dem Escape Game #DemoEx eine kostenlos verfügbare Methode entwi-
ckelt, die im Folgenden als Praxisbeispiel näher vorgestellt wird und den

9 Vgl. WALDMANN, Klaus: Kann wertfrei über Demokratie informiert und diskutiert wer-
den?, in: Journal für politische Bildung 9/2 (2019): Demokratieförderung vs. Politische
Bildung?, 26–31, 29–30 Sowie HUFEN, Friedhelm: Politische Jugendbildung und Neut-
ralitätsgebot, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 66/2 (2018), 216–221.
562 Andrea Keller und Robert Kläsener

besonderen Ansatz religionssensibler politischer Bildung veranschauli-


chen soll.

3 Praxis-Beispiel aus dem Projekt: Das Escape Game #DemoEx

Escape Rooms bzw. Escape Games erleben in den vergangenen fünf Jahren
einen enormen Zulauf. Sie greifen auf Spielekonzepte der Computerspiel-
szene aus den 1980er-Jahren zurück.10 Auch wenn ihnen unterschiedliche
Erzählungen und Plots zu Grunde liegen, funktionieren sie vom Aufbau
stets ähnlich. „Escape rooms are live-action team-based games where play-
ers discover clues, solve puzzles, and accomplish tasks in one or more
rooms in order to accomplish a specific goal (usually escaping from the
room) in a limited amount of time.”11 Hierbei werden von den Teilneh-
mer*innen unterschiedliche Kompetenzen benötigt. Gleichzeitig bietet
eine Rahmenzählung, die während des Spiels in den Hintergrund tritt, die
Möglichkeit sich spielerisch einer Thematik zu nähern, um sie in der an-
schließenden Reflexion zu vertiefen.

2018 entstand in der Akademie Klausenhof die Idee, die Methodik des Es-
cape Games zur politischen Bildung zum Thema religiöser Extremismus
zu nutzen. Daraufhin wurde das Escape Game #DemoEx entwickelt, das
mithilfe der Hintergrunderzählung einen engen Bezug zur Lebenswelt der
Jugendlichen herstellt. Die Erläuterung der Spielregeln durch die Spiellei-
tung wird durch ein plötzlich vibrierendes Handy im Raum unterbrochen.
Die Teilnehmer*innen kennen zu diesem Zeitpunkt die Hintergrunderzäh-
lung des Escape Games noch nicht und lernen diese nun kennen, indem sie
über das Handy mit einer gewissen Kim in Kontakt treten: Kim sucht ihren

10 Vgl. NICHOLSON, Scott: Peeking behind the locked door: A survey of escape room fa-
cilities. White Paper (2015), 1–35, 4–6, in: http://scottnicholson.com/pubs/erfacwhite.
pdf [abgerufen am 02.08.2019].
11 EBD., 1.
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 563

Bruder Viktor und bittet die Jugendlichen um Hilfe. Sie mache sich Sorgen
um ihn, da sie von Viktor einen Abschiedsbrief erhalten habe und nicht
zuordnen könne, was es damit auf sich habe und warum Viktor die Stadt
verlassen möchte. Sie benötige die Hilfe der Jugendlichen, bevor ihr Bru-
der in 60 Minuten in den Zug steige. Mithilfe der verschiedenen Rätsel und
Aufgaben erschließen sich die Jugendlichen ein immer vollständigeres
Bild, warum Viktor die Stadt verlassen möchte. Dabei werden sie auf spie-
lerische Weise mit den Mechanismen von religiösem Extremismus kon-
frontiert und lernen den Prozess kennen, wie sich (junge) Menschen lang-
sam radikalisieren. Wenn sie alle Aufgaben innerhalb der vorgegebenen
60 Minuten erfolgreich gelöst haben, kann Kim die Abreise ihres Bruders
Viktor verhindern und das Escape Game ist gelöst.

In der anschließenden Diskussion lernen die Teilnehmer*innen zwischen


Religion und religiösem Extremismus zu differenzieren. Im Rahmen der
politischen Bildung aus katholisch-sozialer Perspektive erfahren die Teil-
nehmer*innen, dass Religion dann eine wichtige Wertebasis für die Ge-
sellschaft darstellen kann, wenn sie sich für eine plurale Weltsicht einsetzt,
ohne das Individuum mit seinen eigenen Wertvorstellungen zu überwälti-
gen.

Im Escape Game erleben sich die Jugendlichen und die Gruppe, wie sie
gemeinsam die Aufgabe lösen, sich Wissen aneignen und eigene Erfahrun-
gen sammeln. Entscheidend ist die anschließende gemeinsame Reflexion
des Spiels, um sich dieser Erfahrungen bewusst zu werden und einen Lern-
prozess anzustoßen. Dieser Ansatz ist exemplarisch für die Arbeit des bun-
desweiten Projektes Religionssensible politische Bildungsarbeit, mit dem
die AKSB Jugendliche durch politische Bildung gegen religiös motivierten
Extremismus stärkt.
564 Andrea Keller und Robert Kläsener

4 Das Projekt Religionssensible politische Bildungsarbeit

Die Religionssensible politische Bildungsarbeit soll junge Menschen darin


fördern, ihre Persönlichkeit auszubilden, und verfolgt einen primärpräven-
tiven Ansatz, der sich an alle Jugendlichen richtet. Das Projekt ist Teil des
Bundesvorhabens Antimobbing Profis/Respekt Coaches und läuft seit
2018.

Das Besondere des Projekts Religionssensible politische Bildungsarbeit


beziehungsweise des Projekts Respekt Coaches besteht darin, dass politi-
sche Bildung, Jugendsozialarbeit, Schulen und Präventionseinrichtungen
zusammen Konzepte entwickeln und umsetzen.12 Gemeinsam werden je-
weils vor Ort Projekte für die Jugendlichen konzipiert und durchgeführt.
Die Jugendlichen werden dort aufgesucht, wo sie einen großen Teil ihrer
Zeit verbringen: in der Schule. Die Veranstaltungen können in der Schule
stattfinden, aber auch an Bildungs- und Gedenkstätten. Die Schulklassen
werden meist über einen längeren Zeitraum durch politische Bildung und
Jugendsozialarbeit begleitet. Dabei wird versucht, auf die Interessen der
Jugendlichen einzugehen und ihnen bewusst zu machen, dass Politik etwas
mit ihrem Leben zu tun hat.13 Das Thema Religion wird aufgegriffen, wenn
es von den Jugendlichen selbst angesprochen wird oder im Kontext von
politischen oder gesellschaftlichen Fragen aktuell wird. Dabei sollen vor
allem die positiven Ressourcen von Religion in den Blick genommen wer-

12 Vgl. TABAKOVIC, Petra: Demokratieförderung und politische Bildung in der Jugendso-


zialarbeit. Aufgabe, Beitrag und Herausforderungen, in: Dreizehn. Zeitschrift für Ju-
gendsozialarbeit, 19 (2018), 4–9, 8.
13 Insbesondere bei der Arbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen trägt der Lebens-
weltbezug entscheidend zum Gelingen bei der Vermittlung von politischer Bildung bei.
Vgl. NETZWERKAKTIVIERENDE BILDUNGSARBEIT – VERSTÄRKER (2014): Wie politische
Bildungsarbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen gelingen kann, 13–14. Sowie
DETJEN, Joachim: Politische Bildung für bildungsferne Milieus. in: APuZ 32–33
(2007), 3–8.
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 565

den, zugleich aber die Gefahren – zum Beispiel Hasspropaganda im Inter-


net – nicht ausgeblendet werden. Das Ziel ist es, dass Jugendliche (ihre)
Religion als Ressource für sich wahrnehmen,14 ihre eigene Meinung bilden
und vertreten können und dabei die Religion und die Meinung der anderen
respektieren. Grundlage des Vorgehens ist das Konzept der Religionssen-
siblen Erziehung.

5 Religionssensibilität in der politischen Bildung

Etwa 2004 entwickelten Martin Lechner und Angelika Gabriel im Rahmen


des Forschungsprojektes Religion in der Jugendhilfe am Jugendpastora-
linstitut Don Bosco in Benediktbeuern unter dem Titel Religionssensible
Erziehung ein Konzept für die Heimerziehung.15 Das Konzept wurde spä-
ter für Kindertagesstätten, Schulen und die außerschulische Bildung wei-
terentwickelt. Bei dem Konzept geht es darum, dass die Pädagog*innen
und Erzieher*innen die Religiosität der Kinder und Jugendlichen wahrneh-

14 Vgl. YUZVA CLEMENT, David / NADAR, Maike: Religionssensibilität in der politischen


Bildung: Wissens-, Haltungs- und Handlungskompetenzen, in: GRILLMEYER, Siegfried
/ WEBER, Karl (Hg.): Das Religiöse ist politisch. Plädoyer für eine religionssensible
politische Bildung, Würzburg: Echter 2019, 63–82, 78. Siehe auch die sechste These
von WEILNBÖCK, Harald / UHLMANN, Milena: Thesen zu guter Praxis in der Extremis-
musprävention und in der Programmgestaltung. Aus Anlass des Vortrags „Zum inter-
nationalen Stand der Extremismusprävention in Europa – Ansätze und Erfahrungen“:
20 Prinzipien guter Praxis (2018), in: http://www.bpb.de/politik/extremismus/radikali-
sierungspraevention/264235/20-thesen-zu-guter-praeventionspraxis [abgerufen am
17.04.2019] und dazu den Kommentar von KIEFER, Michael: Gute Praxis in der Extre-
mismusprävention und in der Programmgestaltung – Kommentar von Michael Kiefer,
2018, in: http://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/271898/
kommentar-zu-den-20-thesen-von-michael-kiefer?rl=0.5491539676874453 [abgeru-
fen am 17.04.2019].
15 Siehe dazu z. B. LECHNER, Martin / GABRIEL, Angelika (Hg.): Religionssensible Erzie-
hung. Impulse aus dem Forschungsprojekt "Religion in der Jugendhilfe" (2005–2008),
München: Don Bosco 2009 oder auch LECHNER, Martin / DÖRNHOFF, Norbert / HILLER,
Stephan (Hg.): Religionssensible Erziehung in der Jugendhilfe. Benachteiligte Kinder
und Jugendliche in ihrer religiösen Entwicklung fördern (= Beiträge zur Erziehungs-
hilfe), Freiburg im Breisgau: Lambertus 2014.
566 Andrea Keller und Robert Kläsener

men und darauf eingehen, um sie in ihrer religiösen und persönlichen Ent-
wicklung zu fördern.

Das Konzept ist nicht auf eine bestimmte Religion ausgerichtet, vielmehr
setzt es weltanschauliche Pluralität voraus. Diese wird als Normalfall an-
genommen, nicht als Problem.16 Es geht darum, die Menschen dabei zu
unterstützen, selbst Antworten auf Sinnfragen des Lebens finden zu kön-
nen. Um das Konzept umsetzen zu können, müssen die Pädagog*innen re-
ligiös kundig sein.17 Das verlangt von ihnen gemäß Funk: verlässliche An-
gehörige verschiedener Religionen im Umfeld kennen, ein geklärtes
Selbstverständnis der eigenen Haltung im Hinblick auf Religion haben,
Konzepte von Ewigkeit kennen, ein positives Verständnis der Intentionen
der Religionen, das Leben ‚ganzheitlich‘ zu leben haben, wissen, dass Re-
ligionen politisiert werden können und die Religionspraktiken der Men-
schen davon unterscheiden können.18 Es geht nicht darum, Religionsleh-
rer*innen ersetzen zu können, sondern darum, ein allgemeines Grundver-
ständnis von Religion zu haben und zu wissen, wen man bei Fragen an-
sprechen könnte, um die jungen Menschen in ihrer Entwicklung unterstüt-
zen zu können.

16 Siehe dazu JÄGGLE, Martin: Religionssensible Bildung. Religiöses Lernen in der plura-
len Gesellschaft, in: LUTZ, Ronald / KIESEL, Doron (Hg.): Sozialarbeit und Religion.
Herausforderungen und Antworten, Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 299–309,
300; FREISE, Josef: Kulturelle und religiöse Vielfalt nach Zuwanderung. Theoretische
Grundlagen – Handlungsansätze – Übungen zur Kultur- und Religionssensibilität,
Schwalbach: Wochenschau Verlag 2017; FUNK, Christine: Weil es um die Achtung des
Menschen geht: Religionssensibilität als pädagogische Kompetenz, in: LUTZ, Ronald /
KIESEL, Doron (Hg.): Sozialarbeit und Religion. Herausforderungen und Antworten,
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 322–335 oder auch die Autoren des folgenden
Sammelbandes: NAUERTH, Matthias u. a. (Hg.): Religionssensibilität in der Sozialen
Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder, Stuttgart: W. Kohlhammer 2017.
17 Siehe LECHNER 2014 [Anm. 15], 60–63.
18 Siehe FUNK 2016 [Anm. 16], 328–329. In ihrem Artikel nennt Funk weitere Kriterien.
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 567

In der politischen Bildung ist ein religionssensibler Ansatz sinnvoll, weil


Religionen nicht unsichtbar19 oder zur reinen Privatsache geworden sind,
sondern selbst gesellschaftspolitische Dimensionen haben. Das Religiöse
wandelt sich zwar, verliert aber nicht an Bedeutung für die Gesellschaft.20
Religion, Politik und Gesellschaft sind auf mehreren Ebenen miteinander
verbunden: auf rechtlicher Ebene (zum Beispiel Religionsfreiheit), auf der
Ebene der politischen Gestaltung (zum Beispiel konfessionelle Parteien),
auf der Ebene von gesellschaftlichem beziehungsweise sozialem Engage-
ment (von Religionsgemeinschaften getragene Institutionen wie Schulen,
Kindergärten, Alten- und Krankenpflege und Sozialdienste), auf der Ebene
von Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens (zum Beispiel religi-
öse Moral- oder Gerechtigkeitsvorstellungen) und auf der Ebene der Be-
gründung von Werten, die die Gesellschaft zusammenhalten (zum Beispiel
religiöse Begründungen für Menschenrechte21). Dies gilt auch für Gesell-
schaften, die religiös plural geprägt sind. Wenn junge Menschen darin un-
terstützt werden sollen, zu autonomen und mündigen Bürger*innen zu
werden, darf die (politische) Bildungsarbeit nicht den Einfluss von Reli-

19 Schon 1967 kritisierte Luckmann, dass die Religionssoziologie die Religion als im Nie-
dergang begriffen beschrieb, weil sie fälschlicherweise Religion mit Kirche gleich-
setzte. Siehe LUCKMANN, Thomas: Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von
Hubert Knoblauch (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 947), Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1991, 50–61.
20 Siehe LUHMANN, Niklas: Säkularisierung, in: DERS.: Die Religion der Gesellschaft.
Herausgegeben von André Kieserling, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 278–319,
279 und 289–290 und LUHMANN, Niklas: Funktion der Religion, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1977, 50–51. Siehe auch BLUME, Michael: Wohin geht die Reise der Religi-
onen? Die Thesen der Säkularisierung, Islamisierung, Pluralisierung und Polarisierung
im Faktencheck, in: CHEEMA, Saba-Nur (Hg.): (K)Eine Glaubensfrage: religiöse Viel-
falt im pädagogischen Miteinander. Grundkenntnisse und praktische Empfehlungen für
Schule und außerschulische Bildungsarbeit, Frankfurt am Main: Bildungsstätte Anne
Frank 2017, 26–30.
21 Es geht hierbei nicht um die Genese der Menschenrechte, sondern um eine inhaltliche
Begründung, warum es wichtig, ist, dass es sie gibt. Religionen und ethische Theorien
können Gesetze, die es gibt, begründen oder auch Argumente liefern, um aufzuzeigen,
wenn Gesetze unmenschlich oder ungerecht sind. Sie können so als Korrektiv dienen.
568 Andrea Keller und Robert Kläsener

gionen bzw. diejenigen Bereiche ausblenden, in denen Religionen im po-


litischen und gesellschaftlichen Leben eine Rolle spielen.

Bei einer sich an das oben beschriebene Escape Game anschließenden Dis-
kussion ließe sich beispielsweise diskutieren, dass Religionen mögliche
Antworten auf Sinnfragen geben, letztendlich aber offen bleiben muss,
welche Antwort die richtige ist. Aus diesem Grund steht es in der Freiheit
jedes Einzelnen, selbst nach Antworten zu suchen und religiöse Aussagen
kritisch zu hinterfragen. Auch wenn es ungewiss ist, ob es die Religion mit
einer richtigen Antwort gibt, sind Religionen dennoch mit ihren Weltdeu-
tungen und Sinnkonzepten hilfreich, Orientierung zu bieten. Sie sind eine
Quelle moralischer Prinzipien und Normen, die sich wiederum kritisch
prüfen lassen, zum Beispiel daran, ob sie zu einem besseren Zusammenle-
ben aller Menschen beitragen. Auf diese Weise kann auch aus politischer
Perspektive begründet werden, warum Aussagen zu misstrauen sind, nach
denen eine bestimmte Religion die einzig wahre sei und ihr folglich alles
– notfalls mit Zwang – untergeordnet werden muss. So können auch die
Grenzen zum Extremismus ausgelotet werden. Die Jugendlichen erhalten
Orientierung, aber keine Vorgabe. Sie lernen die Ressourcen von Religion,
aber auch die Gefahren der Verabsolutierung kennen.

6 Gemeinsamkeiten einer kritisch-emanzipatorischen


politischen Bildung und einer kritisch-emanzipatorischen
religiösen Bildung

Im Hinblick auf die Herausforderungen einer vielfältigen religiösen Land-


schaft und extremistischer Strömungen gibt es Parallelen und Schnittmen-
gen für die politische und die religiöse Bildung. Sowohl politische Ideolo-
gien als auch Religionen bieten Orientierung für die Lebensgestaltung. Sie
bilden jeweils einen Rahmen, innerhalb dessen das eigene und das gesell-
schaftliche Zusammenleben gestaltet werden können. Es werden mögliche
Ziele und Grundwerte, wie zum Beispiel Gerechtigkeit und Gemeinwohl,
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 569

vorgegeben und begründet. Wenn verschiedene Weltsichten aufeinander-


treffen, müssen für den Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens
Lösungen gefunden werden, zum Beispiel durch demokratische Aushand-
lungsprozesse. Das ist völlig normal, da jeder Mensch seine eigene Welt-
sicht hat, auch innerhalb einer Partei oder Religionsgemeinschaft. Ein
Problem entsteht dann, wenn Menschen ihre Weltsicht verabsolutieren und
anderen aufzwingen wollen.

Solche Verabsolutierung kann eine Reihe negativer Auswirkungen auf


eine demokratische Gesellschaft haben: Zum einen erschwert oder verhin-
dert ein solch exklusivistisches Verständnis22 von Religion oder Politik,
Diskussionen auf Augenhöhe zu führen. Da von vorneherein feststeht, dass
alles, was nicht zum eigenen Weltbild passt, schlechter und falsch ist, kann
und braucht man nicht mehr um die Wahrheit zu ringen. Es kann dann nur
noch darum gehen, die anderen von seiner Meinung zu überzeugen oder
sie ihnen schlimmstenfalls mit Gewalt aufzuzwingen. Zum anderen wer-
den Menschen, die nicht das eigene Weltbild vertreten, oft abgewertet, weil
sie aus Sicht der Exklusivist*innen im Unrecht sind. Mit einer Abwertung
von Menschen kann einhergehen, dass ihnen (Menschen-) Rechte abge-
sprochen werden. Eine weitere Folge kann darin bestehen, dass eine reli-
giöse oder politische Ideologie über das Wohl der Menschen gestellt wird.
Das heißt, ein Weltbild dient den Menschen nicht mehr zur Orientierung,
sondern die Menschen müssen dem Weltbild dienen beziehungsweise dem,
was für die einzige Wahrheit gehalten wird. Damit gehen oft Unterdrü-
ckung und Zwang einher und Menschen werden der Ideologie geopfert. Es

22 Zum exklusivistischen Religionsverständnis in Abgrenzung zu anderen Religionsver-


ständnissen siehe FREISE, Josef: Soziale Arbeit und Religion in der Migrationsgesell-
schaft, in: LUTZ, Ronald / KIESEL, Doron (Hg.): Sozialarbeit und Religion. Herausfor-
derungen und Antworten, Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 65–77, 67–69 bzw.
FREISE, Josef: Interreligiöser Dialog: Gegen den Terror und für den Frieden, in: NAU-
ERTH, Matthias u. a. (Hg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, The-
orien, Praxisfelder, Stuttgart: W. Kohlhammer 2017, 109–125, 110–113.
570 Andrea Keller und Robert Kläsener

spielt dann keine Rolle, ob die Ideologie religiös oder politisch begründet
wird.

Eine Herausforderung sowohl einer kritisch-emanzipatorischen politi-


schen Bildung als auch einer kritisch-emanzipatorischen religiösen Bil-
dung besteht also darin, für eine plurale Weltsicht zu werben und die ne-
gativen Folgen eines exklusivistischen Weltbildes deutlich zu machen. Es
geht darum, aufzuzeigen, welche Interessen mit exklusivistischen Weltbil-
dern verfolgt werden, welche Gruppen wie und warum ausgeschlossen
werden und warum dies nicht dem Gemeinwohl dient23 – weder in religiö-
ser noch in politischer Hinsicht. Auf diese Weise werden Menschen ge-
stärkt, eine eigene kritische Haltung zu entwickeln.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass ein exklusivistisches Weltbild beque-


mer ist als die dauernde mühsame Suche nach Orientierung. Für Jugendli-
che in ihrem Bedürfnis nach Deutungen des eigenen Lebens und der Welt
ist es wichtig, zu erfahren, dass es sich lohnt, offen für andere zu bleiben
und eine kritische Haltung zu entwickeln. Wenn Menschen gut damit um-
gehen können, dass die eine Wahrheit nicht gefunden werden kann, werden
sie weniger anfällig sein für Extremist*innen, die ihnen versuchen weiszu-
machen, diese eine Wahrheit zu kennen. Auf der anderen Seite ist eine kri-
tisch-emanzipatorische Bildung, wie oben dargelegt, nicht wertfrei und be-
liebig. Es geht gerade darum, Maßstäbe zu vermitteln, anhand derer die
verschiedenen politischen oder religiösen Gesellschaftsvorstellungen ver-
glichen werden können. Ein solcher Maßstab ist zum Beispiel die Frage,

23 FRANKFURTER ERKLÄRUNG: Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung


(Juni 2015), in: https://akg-online.org/sites/default/files/frankfurter_erklaerung.pdf
[abgerufen am 13.08.2019].
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 571

ob die Menschenrechte geachtet werden.24 Demokratische Gesellschaften


sind darauf angewiesen, dass die Menschen offen und bereit sind, ihre re-
ligiösen und politischen Weltsichten immer wieder kritisch zu hinterfra-
gen. Dazu bedarf es politischer Bildung, die das Thema Religion nicht aus-
spart.

7 Fazit

Religion und Religionen sind Teile gesellschaftlicher Wirklichkeit. Schon


daher ist es sinnvoll, Religion nicht aus der politischen Bildung auszublen-
den, erst recht angesichts extremistischer Strömungen. Anhand eines Pra-
xisbeispiels wurde dargelegt, wie eine religionssensible politische Bildung
aussehen kann. Daran anschließend wurden Beispiele aufgeführt, nach
welchen Prinzipien sich eine solche Bildungsarbeit ausrichten sollte. Da
die Begründungsstrategien von menschenverachtenden Ideologien und To-
talitarismus in Politik und Religion sehr ähnlich sind, entsprechen sich
auch die Herausforderungen einer kritisch-emanzipatorischen politischen
Bildung und einer kritisch-emanzipatorischen religiösen Bildung. Als eine
Herausforderung wurde die Exklusivität des Wahrheitsanspruchs näher be-
trachtet. Daraus lassen sich beispielhaft Ziele einer religionssensiblen po-
litischen Bildung ableiten: die Eigenständigkeit der Menschen in Bezug
auf Politik und Religion zu fördern, die Fähigkeit einzuüben, kritisch über
Religion und Politik zu diskutieren, die Menschen darin zu bestärken, an-
dere Meinungen auszuhalten, für Offenheit und Geduld für eine lebens-
lange Wahrheitssuche zu werben, dabei zu unterstützen, Ungewissheit aus-
zuhalten und das Allgemeinwohl in den Blick zu nehmen. Das Ziel einer
religionssensiblen politischen Bildung ist es nicht, Lösungen vorzugeben,
sondern Lösungswege aufzuzeigen, um die Menschen, besonders die Ju-

24 Vgl. SCHEUNPFLUG, Annette / AFFOLDERBACH, Martin: Religionssensible Schulen, in:


MÜLLER, Stefan / SANDER, Wolfgang (Hg.): Bildung in der postsäkularen Gesellschaft,
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018, 233–245, 240–241.
572 Andrea Keller und Robert Kläsener

gendlichen zur politischen Partizipation und aktiven politischen Teilnahme


zu befähigen. Erst dann können sie sich als kritische und mündige Bür-
ger*innen in den demokratischen Meinungsprozess einbringen.

Autor*innenangaben: Dr. Andrea Keller, Koordinatorin des Projekts „Religions-


sensible politische Bildungsarbeit“ bei der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozia-
ler Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (AKSB). Robert Klä-
sener, Referent für politische Bildung der Kommende Dortmund, Leitung der
Fachgruppe Arbeit – Bildung – Soziales der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozi-
aler Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (AKSB).
Compassion-Projekte in der religiösen Bildung als An-
stoß für kritische politische Bildung?

Alexander Wohnig

Abstract: Der Beitrag zeigt auf der Basis der Ergebnisse einer empirischen Studie
auf, unter welchen Bedingungen Compassion-Projekte, die der religiösen Bildung
entstammen, einen Anlass für affirmative oder kritische politische Bildung dar-
stellen können. Dafür wird zunächst ein Verständnis von kritischer politischer Bil-
dung skizziert und dem kritischen Potential in der Theorie der Compassion-Pro-
jekte nachgespürt. Im Fazit wird ein Ausblick darauf gegeben, welche Potentiale
bei einem Zusammendenken von kritischer politischer und kritischer religiöser
Bildung entstehen können.

Einleitung – kritische oder affirmative (politische) Bildung?

In der Einleitung des vorliegenden Bandes wird auf eine Feststellung von
Janne Mende und Stefan Müller rekurriert, die auch diesem Beitrag seine
Struktur gibt. Dort heißt es: „Politische Bildung ist keineswegs per se
emanzipatorisch.“1 Dies ist keinesfalls eine neue Erkenntnis, auch Ausfüh-
rungen von Bildungstheoretiker*innen und Pädagog*innen (u. a. Heydorn),
(Sozial)Philosoph*innen (Adorno) usw. verweisen auf diesen Aspekt. Für
die politische Bildung hat Rolf Schmiederer festgestellt, dass diese entwe-
der affirmativ oder kritisch-emanzipatorisch sein kann2. Im ersten Fall be-
schränkt sie sich auf die Darstellung dessen, was ist. Sie leitet Schüler*in-
nen an, das Bestehende, insbesondere die vorfindbaren gesellschaftlichen
Verhältnisse, kennenzulernen und unkritisch als gegeben hinzunehmen. Im

1 MENDE, Janne / MÜLLER, Stefan: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Emanzipation in der poli-
tischen Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2009, 5–17, 5.
2 SCHMIEDERER, Rolf: Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und
Didaktik des Politischen Unterrichts, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt
21971, 22–23.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_32
574 Alexander Wohnig

zweiten Falle positioniert sich politische Bildung mit einem bestimmten


Kritikverständnis: Die vorfindbaren Verhältnisse werden kritisch analy-
siert und die Norm der Demokratie mit der Wirklichkeit konfrontiert. So
kann die Norm der ‚demokratischen Schule‘ oder der ‚demokratischen
Universität‘ kritisch nach ihrer Verwirklichung in den gegenwärtigen Ver-
hältnissen befragt werden. Dabei kann deutlich werden, dass diese gesell-
schaftlichen Bereiche nicht (durchweg) demokratisch gestaltet sind. In
Schmiederers Didaktik geht es deshalb um die kritische Analyse der Ge-
sellschaft und die Entwicklung eines Willens, diese Gesellschaft bspw.
hinsichtlich mehr Beteiligungsmöglichkeiten zu verändern: „Nur wenn po-
litische Bildung bereit ist, vorgegebene Barrieren und Spielregeln in Frage
zu stellen, kann sie verhindern, der Stabilisierung der bestehenden Verhält-
nisse zu dienen.“3 Eine solche politische Didaktik ist normativ, da sie auf
mehr Demokratie zielt. Ihre Aufgabe ist die Demokratisierung der Gesell-
schaft. Dafür interveniert sie auch in Gesellschaft.

Im Folgenden werde ich anhand der Forschungsergebnissen zu den zwei


Konzepten Compassion und Sozialpraktikum, die in Schule immer mehr
Eingang finden, zeigen, wie diese
a) zur unkritischen affirmativen Aktivierung von Schüler*innen zu
konformem Verhalten im „aktivierenden Sozialstaat“4, und/oder
b) zur kritischen politischen Analyse der Gesellschaft durch Schü-
ler*innen führen können.
Beide Konzepte und Initiativen sind nicht primär für politische Bildung
und politisches Lernen entwickelt worden, sondern gelten vielmehr als ein
allgemeinpädagogischer Beitrag für das Sozialcurriculum von Schulen.

3 EBD.,43.
4 LESSENICH, Stephan: „Aktivierender“ Sozialstaat: eine politisch-soziologische Zwi-
schenbilanz, in: BISPINCK, Reinhard / BOSCH, Gerhard / HOFEMANN, Klaus / NAEGELE,
Gerhard (Hg.): Sozialpolitik und Sozialstaat, Wiesbaden: Springer VS 2012, 41–53.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 575

Schüler*innen engagieren sich dabei über einen längeren Zeitraum und


schulisch organisiert in einer sozialen Einrichtung. Compassion wird häu-
fig in Anbindung an den Religionsunterricht – gerade an Schulen in katho-
lischer Trägerschaft – durchgeführt. Das Sozialpraktikum kommt zumeist
ohne fachliche Anbindung aus und läuft ‚nebenher‘. Trotzdem findet, so
die Grundannahme, im Absolvieren eines Sozialpraktikums oder in Com-
passion-Projekten eine Form politischer Bildung und Sozialisation statt,
indem junge Menschen in sozialen Einrichtungen Erfahrungen machen, die
auf die Ebene der Politik und die Frage nach der Organisation von Gesell-
schaft verweisen. Diese beiden Sozialprojekte, so werden sie im Folgenden
zusammengefasst bezeichnet, weisen starke Ähnlichkeiten mit dem Lehr-
/Lernkonzept des Service-Learnings auf, einem weiteren Sozialprojekt.
Auch hier engagieren sich junge Menschen sozial. Service-Learning Pro-
jekte haben jedoch immer den Anspruch, an einen Fachunterricht angebun-
den zu sein. Junge Menschen engagieren sich dabei bspw. in Sozialeinrich-
tungen und erarbeiten im Fachunterricht Kenntnisse, die das Engagement,
das Durchschauen ihrer Einsatzstellen usw. unterstützen.5 Hier können ge-
zielt politische Bildungsprozesse angestoßen werden.

Wenn politische Bildung keineswegs per se emanzipatorisch ist, so ist es


Bildung an sich auch nicht. In dem hier thematisierten Kontext von Sozi-
alprojekten in Schulen ist zu beobachten, dass diese – mal mehr, mal we-
niger offensiv – (auch) auf eine Erziehung zum angepassten Verhalten im
aktivierenden Sozialstaat zielen: Schüler*innen sollen sich so früh wie
möglich im sozialem Engagement üben, dies als Tugend einer/eines guten
Bürgerin/Bürgers verstehen lernen und im Anschluss an die Schulzeit wei-
terführen. Sie sollen als aktive und gute Bürger*innen einen Teil der Ko-
produktion sozialer Leistungen darstellen, die der aktivierende Sozialstaat

5 SEIFERT, Anna / ZENTNER, Sandra / NAGY, Franziska: Praxisbuch Service-Learning –


„Lernen durch Engagement an Schulen“, Weinheim / Basel: Beltz 2012.
576 Alexander Wohnig

in Nachfolge des für- und versorgenden Sozialstaates als Mittel und Lö-
sung zur Bereitstellung gesellschaftlicher Wohlfahrt propagiert.6 In dem
Aktivierungsparadigma, das als ein hegemoniales Denkmuster der aktuel-
len Gesellschaft gelten kann,7 zeigt sich eine Umkehrung des Verhältnisses
von Individuum und Gesellschaft im Sozialstaat: „[V]on der Verantwor-
tung der Gesellschaft für das Wohlergehen individueller Personen zur Ver-
antwortung der Einzelnen für die Wohlfahrt der Gesellschaft.“8 In diesem
Sinne findet eine Subjektivierung (Foucault) vormals gesellschaftlicher
Aufgaben statt, die sich durch verschiedene staatliche Steuerungen (u. a.
Bildungsmaßnahmen, Arbeitsmarktpolitiken) in die Subjekte einschrei-
ben.

Sind Sozialprojekte also, im Sinne Schmiederers, affirmativ und daher aus


Sicht einer an Emanzipation und Mündigkeit festhaltenden politischen Bil-
dung zu verwerfen? Oder bieten sie Gelegenheiten, um Selbstverständlich-
keiten und Alternativlosigkeit zu hinterfragen und vermeintlich ‚unpoliti-
sche‘ Fragen und Gegenstände zu politisieren, können sie also Gelegen-
heiten schaffen für kritische politische Bildung? Und unter welchen didak-
tischen Zielsetzungen, Konzepten und Vorgehensweisen wäre eine solche
politische Bildung als ‚kritisch‘ zu bezeichnen? Diesen Fragen geht der

6 Vgl. kritisch für den Fall des Service-Learnings etwa WOHNIG, Alexander: Zur Not-
wendigkeit das Politische im sozialen Lernen zu reflektieren. Bausteine einer Didaktik
zur Verbindung von sozialem und politischem Lernen, in: FRICKE, Michael / KULD,
Lothar / SLIWKA, Anne (Hg.): Compassion – Diakonisches Lernen – Service Learning.
Konzepte Sozialer Bildung an der Schule, Münster / New York: Waxmann 2018, 199–
217.
7 LESSENICH, Stephan: Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft, in:
DÖRRE, Klaus / LESSENICH, Stephan / ROSA, Hartmut: Soziologie. Kapitalismus. Kritik.
Eine Debatte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, 126–177.
8 GERDES, Jürgen: Von sozialer Gerechtigkeit zu Teilhabe- und Chancengerechtigkeit.
Neoliberale Diskursstrategien und deren postdemokratische Konsequenzen, in: BAUER,
Ulrich / BOLDER, Axel / BREMER, Helmut / DOBISCHAT, Rolf / KUTSCHA, Günter (Hg.):
Expansive Bildungspolitik – Expansive Bildung?, Wiesbaden: Springer VS 2014, 61–
88, 65.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 577

Beitrag nach. Zunächst wird skizziert, was als ‚das Politische’ in Compas-
sion-Projekten gelten kann: Wo sind in diesen Konzepten in der Theorie
Elemente zu finden, die ‚das Politische‘ sichtbar machen können? Zudem
wird ein Modellprojekt dargestellt, das zum Ziel hatte, Sozialerfahrungen
politisch zu reflektieren, die Schüler*innen in Sozialprojekten – wie Com-
passion – machen. In einem zweiten Schritt wird ein Verständnis von po-
litischer Bildung dargelegt, das den Anspruch hat, ‚kritisch‘ zu sein. Dieses
Verständnis stellt den Kritikbegriff, in Rückgriff auf die Kritische Theorie
der Gesellschaft – die sogenannte „Frankfurter Schule“ – in den Mittel-
punkt. Anschließend wird drittens umrissen, welche Gelegenheiten und
Anknüpfungspunkte Compassion-Projekte empirisch für kritische politi-
sche Bildungsprozesse bieten. Dabei werden empirische Forschungsergeb-
nisse aus dem oben genannten Modellprojekt zu Rate gezogen. Neben den
Chancen für kritische politische Bildung wird auch skizziert, welche Ge-
fahren entstehen, wenn Sozialerfahrungen, die Schüler*innen in Sozialpro-
jekten machen, nicht politisch reflektiert werden. Dabei kann auf die oben
genannte Gegenüberstellung von affirmativer und kritischer politischer
Bildung zurückgegriffen werden: Während die eine den Schüler*innen
eine kritische Analyse der bestehenden Verhältnisse ermöglicht, passt die
andere die Schüler*innen an diese Verhältnisse an, ohne, dass die Mög-
lichkeit zur Kritik entsteht. Dieser Anpassungsprozess ist für junge Men-
schen, die in einer Gesellschaft sozialisiert werden, die maßgeblich von
dem Denkmuster der (politischen) Alternativlosigkeit gekennzeichnet ist,9
umso eindrücklicher. Im Fazit werden die Erkenntnisse aus der politikdi-

9 Nicht allen Fragen kann in diesem Beitrag adäquat und umfänglich nachgegangen wer-
den. Eine Darstellung des aktuellen Diskurses um Engagement sowie die politische
Lernprozessanalyse, der die Ausführungen entstammen, kann in WOHNIG, Alexander:
Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Analyse von Praxisbeispie-
len politischer Bildung, Wiesbaden: Springer VS 2017 ausführlich nachgelesen werden.
578 Alexander Wohnig

daktischen Forschung zur kritischen politischen Bildung fragmentarisch


auf eine kritische religiöse Bildung übertragen.

1 ‚Das Politische‘ in Compassion-Projekten10

Auf den ersten Blick sind Compassion-Projekte Sozialprojekte, die einen


Fokus auf das soziale Helfen in der Gemeinde/Community legen. Schü-
ler*innen helfen über einen bestimmten Zeitraum in Sozialeinrichtungen,
wo sie ‚Mitfühlen‘ und ‚Barmherzigkeit‘ erleben und erlernen sollen. Dem
Projekt liegt kein ausgearbeitetes Konzept politischer Bildung zu Grunde.
Die theoretische Begründung von Compassion, die u. a. in den Schriften
von Johann Baptist Metz vorgenommen wird, lässt jedoch das Politische
daran hervortreten. Bei ihm lässt sich der Anspruch nach einer Analyse der
gesellschaftlichen Verhältnisse in Compassion-Projekten erkennen, in der
auffindbare gesellschaftliche Entwicklungen kritisiert werden und eine Po-
sitionierung stattfindet. Compassion ist, so Metz, eine Form des Wider-
standes und zwar „gegen die Ursachen ungerechten und unschuldigen Lei-
dens in der Welt“11. Hier geht es also um die Herstellung und den Erhalt
der Möglichkeit politischen Verhaltens im Sinne politischer Analyse, Ur-
teilsbildung und Widerstand mit der Perspektive einer gesellschaftspoliti-
schen Veränderung. Metz prägte den Begriff der „neuen Politischen The-
ologie“. In seinem Verständnis von Politischer Theologie bezieht sich
Metz auf die Frankfurter Schule und hier besonders auf die Dialektik der

10 Da in diesem Sammelband das Verhältnis von kritischer politischer und religiöser Bil-
dung im Zentrum steht, wird in diesem Kapitel der Fokus auf das Compassion-Konzept
gelegt. Die empirischen Ergebnisse, die in Abschnitt drei beschrieben werden, entstam-
men jedoch allen beforschten Sozial- und nicht ausschließlich Compassion-Projekten.
Wie in der Einleitung angedeutet, gleichen sich diese mit ihrem Schwerpunkt auf das
Ermöglichen sozialer Erfahrungen von Schüler*innen in Sozialeinrichtungen.
11 METZ, Johann Baptist: Compassion. Zu einem Weltprogramm des Christentums im
Zeitalter des Pluralismus der Religionen und Kulturen, in: DERS. / KULD, Lothar / WEIS-
BROD, Adolf (Hg.): Compassion. Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwor-
tung lernen, Freiburg: Herder 2000, 9–20, 16.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 579

Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Dabei geht es Metz um eine Ret-
tung der Errungenschaften der Moderne, indem er, in Anschluss an die Di-
alektik der Aufklärung, mit der Moderne gegen die Moderne denkt. Die
Aufklärung habe, so Metz, in der Entwicklung der Gestalt von Vernunft
ein Vorurteil nicht überwinden können, nämlich das gegenüber der Erin-
nerung. Die anamnetische Vernunft, also die Erinnerung an verletztes Le-
ben und den unerfüllten Anspruch auf Gerechtigkeit, sei die Grundlage,
dass Aufklärung sich „über das von ihr selbst angerichtete Unheil aufklä-
ren“12 und die Moderne sich „über ihre moralische und politische Erschöp-
fung verständigen“13 könne. Die neue Politische Theologie geht davon aus,
dass es Leidenssituationen immer wieder gibt, stellt aber auch klar, dass
diese verändert werden können und müssen. Daher sei es auch zentral, den
Begriff der Gerechtigkeit über die Begriffe des ungerechten und unschul-
digen Leidens zu setzen und zu sichern.

Auch Lothar Kuld und Stefan Gönnheimer formulieren den Anspruch, dass
im Rahmen der Compassion-Projekte Fragen zu den bestehenden Verhält-
nissen aufgeworfen und entsprechende Alternativen entwickelt werden.
Zudem sollen junge Menschen den Ursachen von Ungerechtigkeit nachge-
hen sowie daran anschließend eine „gewissenhafte Weltpolitik“ unterstüt-
zen.14 Compassion liegt also ein dezidiert normatives Ziel zu Grunde.
Reine Zuwendung zum Nächsten, so wie sie in der Compassion-Praxis oft-
mals vorkommt, kann, so die Autoren, gesellschaftliche Krisenphänomene
nicht lösen, da diese ein Ausdruck sozialer Kälte seien. Das Politische in

12 METZ, Johann Baptist: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie. 1967–1997,
Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1997, 183.
13 METZ 1997 [Anm. 12].
14 KULD, Lothar / GÖNNHEIMER, Stefan: Compassion. Sozialverpflichtendes Lernen und
Handeln, Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 2000, 11.
580 Alexander Wohnig

Compassion-Projekten ist hier als Gegenmaßnahme zu gesellschaftlichen


Krisenphänomenen zu verstehen.15

Das Modellprojekt „Soziales Engagement politisch denken“ knüpfte an


den vorhanden politischen Gehalt der Compassion-Projekte an. Ziel des
Modellprojektes war es, Sozialerfahrungen von Schüler*innen aus den
Compassion-Projekten politisch zu reflektieren, um so gezielt und politik-
didaktisch angeleitet politische Lern- und Bildungsprozesse anzuschlie-
ßen. Dabei war die Beobachtung leitend, dass in Sozialprojekten zwar so-
ziale Erfahrungen gemacht werden, diese aber nahezu nie politisch und
schon gar nicht politikdidaktisch angeleitet, reflektiert werden16. Im Rah-
men des Modellprojekts besuchten Schüler*innen nach ihrem Sozialpro-
jekt – zumeist engagierten sie sich über einen Zeitraum von zwei Wochen
– ein zweitägiges Seminar der außerschulischen politischen Bildung, in
dem sie ihre Erfahrungen reflektieren konnten. So sollte die Möglichkeit
entstehen, auf strukturelle politische Ursachen für beobachtete Missstände
(Fachkräftemangel, Pflegenotstand, unzureichende Finanzierung der Ein-
richtungen usw.) zu blicken. Ebenso entstand in den Seminaren die Gele-
genheit zu politischer Partizipation, indem Gespräche mit Akteur*innen
aus Sozialeinrichtungen, Politiker*innen usw. durchgeführt wurden17. Das
Modellprojekt hat damit einen Versuch unternommen, Räume und Gele-

15 KULD / GÖNNHEIMER 2000 [Anm. 14], 10; KULD, Lothar, Dimensionen der Compas-
sion-Initiative, in: METZ / KULD / WEISBROD 2000 [Anm. 11], 89–96; Ausführlich be-
schrieben in: WOHNIG 2017 [Anm. 9], 58–64.
16 WOHNIG, Alexander: Zum Stellenwert von Demokratie und Kritik in Konzepten des
Demokratie-Lernens. Unveröffentlichte Examensarbeit, Frankfurt am Main 2010.
17 Siehe zur didaktischen und methodischen Gestaltung ausführlich WOHNIG, Alexander:
Soziale Erfahrungen politisch reflektieren. Wie Sozialprojekte als Ausgangspunkt für
politisches Lernen genutzt werden können, in: Schulmagazin 86 (2018), 69–72 und
GÖTZ, Michael: Soziale Praxis & Politische Bildung. Compassion und Service Learning
politisch denken – das Projekt, in: DERS.: / WIDMAIER, Benedikt / WOHNIG, Alexander
(Hg.): Soziales Engagement politisch denken. Chancen für Politische Bildung, Schwal-
bach am Taunus: Wochenschau 2015, 27–43.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 581

genheiten für die von Kuld, Gönnheimer und Metz geforderten kritischen
politischen Reflexionsprozesse zu schaffen, z. B. Fragen zu den bestehen-
den Verhältnissen in Sozialeinrichtungen zu stellen und Alternativen zu
entwickeln (bspw. über die Methode der Zukunftswerkstatt18). Wie soziale
Erfahrungen, die in Compassion-Projekten gemacht werden, zu kritischen
politischen aber auch affirmativen Bildungsprozessen führen können, wird
in Abschnitt 3 erläutert, nachdem zunächst in Abschnitt 2 ein Verständnis
von kritischer politischer Bildung skizziert wird.

2 Kritische politische Bildung – ein Verständnis

In der Diskussion um kritische politische Bildung, die seit dem Erscheinen


des gleichnamigen Handbuches19 entbrannt ist, wurde und wird darüber
diskutiert, ob es eine (un)kritische politische Bildung geben kann20, ob es
die kritische politische Bildung gibt und falls ja, was diese kennzeichnet21.
Dabei wurde und wird betont, dass es zwar einen Kern kritischer politi-
scher Bildung, bspw. durch den gemeinsamen Bezug auf kritische Gesell-
schaftstheorien gibt, dass diese Bezüge aber verschieden sind und durchaus
unterschiedliche Schwerpunkte setzen.

Unter Bedingungen aktueller Begriffsverwirrungen in der politischen Bil-


dung, die v. a. durch die Förderpolitik staatlicher Akteure vorangetrieben

18 KUHNT, Beate / MÜLLER, Norbert R.: Moderationsfibel Zukunftswerkstätten. Verstehen


– anleiten – einsetzen, Das Praxisbuch zur sozialen Problemlösungsmethode Zukunfts-
werkstatt, Neu-Ulm: SPAK Bücher 32006.
19 LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas (Hg.): Kritische politische Bildung. Ein Handbuch,
Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010.
20 SANDER, Wolfgang: „Kritische politische Bildung“ – eine Dekonstruktion, in: WID-
MAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische Bil-
dung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 240–248.
21 Etwa WIDMAIER / OVERWIEN 2013 [Anm. 20] und GÖRTLER, Michael / LOTZ, Mathias
/ PARTETZKE, Marc / POMA POMA, Sara / WINCKLER, Marie (Hg.): Kritische politische
Bildung: Standpunkte und Perspektiven, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2017.
582 Alexander Wohnig

wurde22, erscheint es immer wichtiger, einen Kern kritischer politischer


Bildung zu definieren. Unstrittig ist in der politischen Bildung, dass Mün-
digkeit als normative Leitidee gilt. „Mit der Voraussetzung von Demokra-
tie, Mündigkeit, gehört Kritik zusammen. Mündig ist der, der für sich
selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet;
der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber in der Kraft zum Wi-
derstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen
nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit
seinem Dasein sich rechtfertigt.“23 Mündigkeit, als Voraussetzung von De-
mokratie, bedeutet zunächst einmal die Fähigkeit zu Kritik, d. h. die kriti-
sche Auseinandersetzung mit Gesellschaft als Quelle des Erkenntnisge-
winns24. Somit rückt der Kritikbegriff in das Zentrum und zwar verstanden
als kritische Denk- und Analysepraxis. Der Kern eines solchen Verständ-
nisses bezieht sich auf die Fähigkeit, die bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse kritisch in den Blick zu nehmen, zu analysieren und hinsicht-
lich einem Mehr an Demokratie zu verändern. Politische Bildung, die sich
auf einen solchen Mündigkeitsbegriff bezieht, ist also normativ auf Demo-
kratisierung gerichtet und keineswegs neutral. „Kritik“ und „Bildung“ drü-
cken eine Haltung aus, „zu der der Wille zum Wissen und zur Wahrheit
sowie der Mut, leidenschaftlich für Vernunft und vernünftige Verhältnisse
einzutreten wie selbstverständlich dazugehören und gesellschaftliche Ver-
hältnisse zu verwerfen, die dem nicht entsprechen“25.

22 WIDMAIER, Benedikt: Demokratiebildung, Demokratieförderung, Demokratiedidaktik,


Demokratielernen... wie jetzt? Die neue Unübersichtlichkeit in der politischen Bildung,
in: Hessische Blätter für Volksbildung 68 / 3 (2018), 258–266.
23 ADORNO, Theodor W.: Kritik, in: DERS.: Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 2003 / 1969, 785–793, 785.
24 HORKHEIMER, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in: DERS.: Gesammelte Schrif-
ten, Band 4, Frankfurt am Main: Fischer 1988 / 1937, 162–216.
25 DEMIROVIC, Alex: Bildung und Gesellschaftskritik. Zur Produktion kritischen Wissens,
in: LÖSCH / THIMMEL 2010 [Anm. 19], 65–76, 74.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 583

Kritische politische Bildung eröffnet Bildungsgelegenheiten, in denen die


bestehenden Verhältnisse kritisch analysiert werden können. Sie richtet
kritische Fragen an die bestehenden Verhältnisse und arbeitet normative
Versprechen, wie das Demokratiepostulat und das Sozialstaatsprinzip, an
der empirischen Wirklichkeit ab, im Sinne einer immanenten Kritik 26
(z. B.: Inwiefern sind die Verhältnisse in den Einrichtungen auf Gleichheit
ausgerichtet?). Im Zentrum einer solchen politischen Bildung steht das
Stellen und Nachgehen von Fragen, die an die Wirklichkeit gerichtet wer-
den.27

3 Compassion-Projekte als Gelegenheit für kritische


politische Bildungsprozesse

Compassion-Projekte bieten Gelegenheiten für kritische politische Bil-


dungsprozesse, da junge Menschen in diesen die gesellschaftlichen Ver-
hältnisse erfahren. Das Handeln in sozialen Einrichtungen kann als Gele-
genheit gesehen werden, um kritische Fragen zu entwickeln und diesen
nachzugehen. Alltägliche Beobachtungen, wie die kurzen Betreuungszei-
ten, schlechte Entlohnung im Berufsfeld oder fehlende Freizeitangebote in
Pflegeeinrichtungen, können durch eine politikdidaktisch angeleitete Re-
flexion auf strukturelle Ursachen sowie politische Bedingungen und Ent-
scheidungen bezogen werden. Es bietet sich für eine gewissenhafte politi-
sche Reflexion an, bereits in der Vorbereitung auf ein Compassion-Projekt
Fragen zu entwickeln, denen die jungen Menschen in ihrer Einsatzstelle

26 Vgl. CELIKATES, Robin: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung


und kritische Theorie, Frankfurt am Main: Campus 2009.
27 Vgl. etwa die politischen Fragen und Kategorien bei GIESECKE, Hermann: Didaktik der
politischen Bildung, München: Juventa 71972, 159–172; ausführlich zum hier darge-
legten Verständnis kritischer politischer Bildung auch WOHNIG, Alexander: Was ist po-
litische Bildung? Eine begriffliche Annäherung über verschiedene Zugänge, in: Außer-
schulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung 50
(2019), 11–17.
584 Alexander Wohnig

nachgehen können. Ein möglicher Katalog, der sich an politischen Kate-


gorien orientiert, kann folgende Fragen beinhalten:
• Ursachenforschung: Warum sind die erlebten Bedingungen so, wie
sie sind?
• Bewertung: Ist es gut, so wie es ist?
• Alternative: Wie müsste es sein? Wie könnte es besser sein?
• Akteure und Macht: Wer bestimmt, wie die Bedingungen sind?
• Akteure und Interessen: Wer oder was verhindert mit welchem In-
teresse, dass die Bedingungen besser/anders werden?
• Veränderung: Was müsste geschehen, damit die Bedingungen bes-
ser/anders werden?
• Solidarität: Wer müsste sich mit wem zusammentun, um die Be-
dingungen zu verbessern/zu verändern?
• Mitbestimmung: Was können wir tun, um die Bedingungen zu ver-
bessern/zu verändern?
Die Möglichkeiten für politische Bildung in Compassion-Projekten liegen
auf dem subjektorientierten Zugang und dem Bezug auf die subjektiven
Erfahrungen der Schüler*innen. Diese können einen Ausgangspunkt für
kritische politische Bildungsprozesse darstellen. Genau hier liegen aber
auch die Grenzen und sogar die Gefahren von Compassion-Projekten. Die
Erfahrungen werde oftmals absolut gesetzt, sie sollen, so die oftmals for-
mulierte Intention betreuender Lehrer*innen28, gar nicht kritisch reflektiert
werden, sondern für sich stehen und dadurch, so die Hoffnung, Schüler*in-

28 WOHNIG, Alexander: Wie wirken sich Sozialpraktika auf das politische Lernen von
Schülerinnen und Schülern aus? Denkmuster von Lehrpersonen im Projekt „Soziale
Praxis und Politische Bildung – Compassion & Service Learning politisch denken“, in:
ZIEGLER, Béatrice (Hg.): Vorstellungen, Konzepte und Kompetenzen von Lehrperso-
nen der politischen Bildung. Beiträge zur Tagung „Politische Bildung empirisch 2012“,
Zürich / Chur: Rüegger Verlag 2014, 92–107.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 585

nen das Mitfühlen, Barmherzigkeit sowie soziale Bildungsprozesse eröff-


nen.29

Die empirische Studie des Autors zu Sozialprojekten zeigt, dass diese,


wenn sie nicht politisch reflektiert werden, zu einer Anpassung an die be-
stehenden Verhältnisse und hier insbesondere an die Ideologie des aktivie-
renden Sozialstaates führen. Schüler*innen nehmen in den Sozialeinrich-
tungen Missstände wahr. Ihr eigenes Engagement hilft zumindest temporär
diese Missstände einzudämmen, bspw. indem sie in Pflegeeinrichtungen
Zeit mit pflegebedürftigen Menschen verbringen. Dafür erhalten sie Dank
und Lob von Mitarbeiter*innen und vor allem pflegebedürftigen Men-
schen, da sich, so die auf den Erfahrungen basierenden Denkmuster der
Schüler*innen, sonst niemand um diese Menschen kümmern würde. Alle
Schüler*innen, die im Rahmen der Studie beobachtet und interviewt wur-
den, äußern auf der Basis dieser Erfahrungen einen einhelligen Lösungs-
vorschlag zur Behebung der Missstände: Es müsse mehr gesamtgesell-
schaftliches ehrenamtliches Engagement geben. Die Erfahrungen führen
also nicht von alleine zu kritischen politischen Bildungsprozessen, sondern
müssen gezielt – politikdidaktisch angeleitet – reflektiert werden. Ge-

29 So äußert eine Lehrerin: „Da [bei einer möglichen politischen Nachbereitung der Com-
passion-Projekte] ist dann für mich die Angst vorhanden, dass das… Ethische und So-
ziale dann vielleicht auf der Strecke bleiben, weil politisch wird das dann oft nur so
geschichtlich und historisch vielleicht betrachtet oder auf diesen Begriffen wie, ähm,
Demokratie und so, solche Begriffe, aber nicht diese Empathie, also vielleicht kommt
das dann zu kurz und das ist ja meiner Meinung nach das Wichtigere daran.“ Eine an-
dere Lehrerin betont die Präferenz des Sozialen. „Also für mich nach wie vor hat die
Präferenz das soziale Lernen erst mal natürlich für die Schüler, weil, äh, ich finde auch,
äh, persönliche Umgangsformen und so weiter das ist was ganz, ganz Wichtiges, ja.“
Weiterhin ist, auch schon aus den vorangegangenen Äußerungen, eine gewisse Ableh-
nung des Politischen zu erkennen: „Also politisch ist immer so ein bisschen schwierig
[…]. So ne politische Prägung kann ja leicht auch in die falsche Richtung laufen.“
(WOHNIG 2017 [Anm. 6], 209–225).
586 Alexander Wohnig

schieht dies nicht, werden Schüler*innen affirmativ zur unkritischen Über-


nahme des Gegebenen erzogen.30

Im Sinne der für diesen Tagungsband zentralen Frankfurter Erklärung für


eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung sollten vor allem die
zwei Prinzipien der Kontroversität und der Veränderung betont werden:
„Politische Bildung in einer Demokratie bedeutet, Konflikte und Dissens
sichtbar zu machen und um Alternativen zu streiten“ und sie „eröffnet
Wege, die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd zu verändern“31.
Kontroversität heißt hierbei nicht, dass beliebig viele Meinungen nebenei-
nander und zur Auswahl gestellt werden, sondern, dass die politisch-ge-
sellschaftlichen Konflikte kontrovers bearbeitet werden. Dadurch, dass
Schüler*innen von ihren Erfahrungen hin zur Übernahme der neoliberalen
Ideologie des aktivierenden Sozialstaates überwältigt werden, bedeutet
Kontroversität den Konflikt um die Ausgestaltung des Sozialstaates sicht-
bar zu machen und zu lernen, kritische Fragen zu stellen, die nicht direkt
den aus Erfahrungen abgeleiteten Handlungsimpulsen („Wenn alle Men-
schen ehrenamtlich in Pflegeeinrichtungen helfen, ist das Problem des
Pflegenotstands lösbar!“) entspringen. Im Anschluss an eine kritische Ana-
lyse, bspw. des Konfliktes um den Pflegenotstand, lassen sich dann Alter-
nativen formulieren. Dies kann u. a. mithilfe der Methode der Zukunfts-
werkstatt, die zur politischen Reflexion eines Sozialprojektes auch mit jün-
geren Zielgruppen (dritte und sechste Klassenstufe) erprobt wurde, oder in
Anlehnung an konfliktorientierte didaktische Konzeptionen32, gesche-
hen33. Dabei lassen sich Alternativen zu den bestehenden Bedingungen und

30 Ausführlich in WOHNIG 2018 [Anm. 6].


31 FRANKFURTER ERKLÄRUNG für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung 2015.
32 GIESECKE 1972 [Anm. 27] und NONNENMACHER, Frank: Sozialkunde – vom Schulfach
zum Lernbereich, in: DERS. (Hg.): Das Ganze sehen. Schule als Ort politischen und
sozialen Lernens, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 1996, 11–30.
33 Vgl. ausführlich WOHNIG 2018 [Anm. 17].
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 587

Verhältnissen erarbeiten (vgl. die oben genannte Frage: Wie müsste es


sein? Wie könnte es besser sein?). Am Ende einer solchen Reflexion sollte
auch die Frage nach Möglichkeiten des eigenen politischen und kollektiven
Handelns stehen. Gerade weil Schüler*innen das Denkmuster vom indivi-
duellen Helfen als einzige Möglichkeit sehen, um identifizierte Probleme
in Sozialeinrichtungen zu bearbeiten, ist es wichtig, Fragen nach kol-
lektiven politischen Möglichkeiten der Veränderung Raum zu geben. Dies
kann in Gesprächen mit politischen Akteur*innen und Expert*innen aus
dem Sozialbereich geschehen, in dem die Schüler*innen diese ‚erwachse-
nen‘ Akteur*innen mit ihren Analysen, Urteilen und Forderungen konfron-
tieren und somit politisch partizipieren. Weitergehend können aus der po-
litischen Reflexion auch politische Aktionen entstehen, in denen die Ur-
teile an eine breitere Öffentlichkeit transportiert werden, bspw. indem eine
Infoveranstaltung in der Schule organisiert wird.34

4 Fazit – kritische politische und kritische religiöse Bildung durch


Compassion-Projekte?

Für eine kritisch-emanzipatorische Ausrichtung von Compassion-Projek-


ten, die oft im Kontext der religiösen Bildung angesiedelt sind, ist es zent-
ral, neben Werten und ethischen Grundsätzen wie der Nächstenliebe, der
Solidarität und des Mitfühlens auch auf politisch-strukturelle Hindernisse
für normative Leitvorstellungen zu blicken. Das bedeutet, dass die politi-
schen Konflikte in ihren strukturellen Kategorien (Macht, Herrschaft, Ide-

34 Vgl. zu Aktionen, die aus den Nachbereitungsseminaren entstanden sind BROMBACH,


Stephanie: Politische Bildung in der Berufsschule und die Kooperation mit der außer-
schulischen politischen Bildung, in: GÖTZ / WIDMAIER / WOHNIG 2015 [Anm. 17], 53–
60. Vgl. allgemein zu politischen Aktionen im Kontext des Politikunterrichts NONNEN-
MACHER, Frank: Handlungsorientierung und politische Aktion in der schulischen poli-
tischen Bildung. Ursprünge, Grenzen und Herausforderungen, in: WIDMAIER, Benedikt
/ NONNENMACHER, Frank (Hg.): Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der
politischen Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2011, 83–100.
588 Alexander Wohnig

ologie, Recht, Interessen usw.) analysiert werden. Andernfalls führen sol-


che Projekte zur unkritischen und affirmativen Anpassung an die Ideologie
des aktivierenden Sozialstaates. Der besondere Wert, politische und religi-
öse Bildung in diesem Kontext zusammenzudenken, besteht dann darin,
normative Begründungen, Werte und ethisch-religiöse Grundsätze auch
kritisch hinsichtlich ihrer Verwirklichungsbedingungen unter den beste-
henden Verhältnissen zu hinterfragen: Inwiefern kann unter den Bedingun-
gen des aktivierenden Sozialstaates bspw. Nächstenliebe, Solidarität und
Mitfühlen/Barmherzigkeit gelebt werden und wie stehen diese Werte im
Verhältnis zu den strukturellen Ursachen für die Bedingungen in den Ein-
richtungen, z. B. über die Fragen: Soll/Kann Barmherzigkeit alle Probleme
in den Einrichtungen lösen? Heißt Nächstenliebe, Solidarität und Mitfüh-
len/Barmherzigkeit auch, sich für politisch egalitärere Verhältnisse einzu-
setzen? Dafür sollte der Religionsunterricht nicht nur die ethisch-morali-
sche Dimension der Compassion-Projekte betonen, sondern ebenso die po-
litisch-gesellschaftliche Bildungsgelegenheit der Compassion-Projekte
nutzen, bspw. indem die oben formulierten politischen Fragen als For-
schungsfragen für das eigene Engagement mit den Schüler*innen entwi-
ckelt werden. Die Forschung zeigt hier, dass Lehrer*innen diese Dimen-
sion aktiv mit einbringen müssen, da Schüler*innen in Compassion-Pro-
jekten vor allem auf die positiven Wirkungen ihres caritativen Engage-
ments bezüglich der beobachteten Probleme (Pflegenotstand, Fachkräfte-
mangel etc.) verweisen. So bleibt die Option politischer Lösungsmöglich-
keiten verborgen, während individuelles caritatives Handeln absolut ge-
setzt wird. Ein solches politikdidaktisches Vorgehen im Religionsunter-
richt wäre auch im Sinne von Johann Baptist Metz‘ Forderung, Compas-
sion möge die Möglichkeit zu politischem Handeln herstellen. Compassion
kann dies, indem Situationen, in denen Leiden sichtbar wird, als veränder-
bar analysiert werden. Jürgen Rekus, der mit Metz zusammengearbeitet
hat, betont in diesem Kontext, Compassion sei gesellschaftsbezogen, da
die gesellschaftlichen Verhältnisse hinsichtlich besserer Möglichkeiten des
menschlichen Handelns befragt würden. Durch die Begleitung sollen so-
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 589

wohl Haltungen und Werte, die mit dem Leid der Menschen verbunden
sind, denen sich die Schüler*innen zuwenden, als auch diese Haltungen
und Werte, die das Leid erzeugen, analysiert werden.35 Hier zeigt sich also
der Anspruch, politische und religiöse Bildung zu verbinden.

Daran anknüpfend könnte es für das Zusammendenken von kritischer po-


litischer und kritischer religiöser Bildung fruchtbar sein, gemeinsam über
die jeweiligen normativen Grundlagen, die gesellschaftstheoretischen Be-
züge, das Verhältnis zu Neutralität und Kontroversität usw. zu diskutieren.
Dabei würden sowohl Abgrenzungen und Besonderheiten der jeweiligen
Fachlichkeit, als auch gemeinsame Arbeitsgrundlagen (bspw. der Bezug
zur Kritischen Theorie) hervortreten.

Autorenangaben: Dr. Alexander Wohnig ist seit August 2019 Juniorprofessor für
Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Siegen. Er arbeitet zu poli-
tischer Bildung an der Schnittstelle von Schule und außerschulischen politischen
Bildungsträgern und begleitet wissenschaftlich u. a. das Modellprojekt „Politische
Partizipation als Ziel der politischen Bildung“ (bpb, Haus am Maiberg).

35 REKUS, Jürgen: Compassion – ein erlebnisbezogenes Bildungskonzept, in: METZ / KULD


/ WEISBROD 2000 [Anm. 11], 75–88, 75–76.
Kritisch-emanzipatorische Bildung in der kirchlichen
Arbeit mit weltwärts-Freiwilligen

Judith Wüllhorst

Abstract: Entwicklungspolitische Freiwilligendienste in katholischer Trägerschaft


erfreuen sich in Deutschland einer großen Beliebtheit und werden seit 2008 auch
staatlich gefördert. Aus kritischer Perspektive wirft dies die Frage auf, ob damit
(post-) koloniale Weltbilder und bestehende Machtverhältnisse nicht eher festge-
schrieben statt überwunden werden. Im folgenden Aufsatz sollen unter Bezug-
nahme auf die Frankfurter Erklärung Chancen und Gefahren eines weltwärts-
Dienstes beleuchtet werden. Es wird analysiert, an welchen Stellen ein Freiwilli-
gendienst im Ausland, trotz aller innewohnenden Dialektik, das Potential bietet,
zu einem kritisch-emanzipatorischen Lerndienst zu werden, der auf eine wirkliche
Veränderung der Verhältnisse zielt. Hintergrund für diese Praxisreflexion bildet
die Arbeit mit weltwärts-Freiwilligen im Bistum Münster.

1 Einleitung: Stories matter.


„Geschichten sind wichtig. Viele Geschichten sind wichtig. Geschichten wurden
benutzt, um zu enteignen und zu verleumden. Aber Geschichten können auch ge-
nutzt werden, um zu befähigen und zu humanisieren. Geschichten können die
Würde eines Volkes brechen. Aber Geschichten können diese gebrochene Würde
auch wiederherstellen.“1

Geschichten sind Machtinstrumente. Sie können Glauben Ausdruck ver-


leihen, versöhnen und Gemeinschaft schaffen. Gleichzeitig können Ge-
schichten aber auch helfen, Systeme von Ausgrenzung und Unterdrückung
zu erhalten, bestehende Machtstrukturen zu stabilisieren oder Menschen

1 NGOZI ADICHIE, Chimamanda: „Die Gefahr einer einzigen Geschichte“, übersetztes


Skript eines TED Talks, 2014, in: https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_
the_danger_of_a_single_story/transcript?language=de [abgerufen am 23.09.2019].

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_33
592 Judith Wüllhorst

zu Objekten zu degradieren. Wer sie erzählt, wie sie erzählt werden und
was sie erzählen, ist immer auch ein Ausdruck von Macht.2

Auch in der Arbeit mit Freiwilligen im Bistum Münster geht es um per-


sönliche und gesellschaftliche Geschichten, um die Auseinandersetzung
mit der eigenen Macht und Ohnmacht, mit Machtstrukturen und Verstri-
ckung in postkoloniale Machtsysteme.3 Indem es jungen Menschen ermög-
licht wird, für ein Jahr ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und in einem
anderen kulturellen Kontext zu leben, können sie lernen, scheinbar Selbst-
verständliches zu hinterfragen. Sie werden mit ihren eigenen Privilegien
konfrontiert, erleben die unmittelbaren Folgen von Kolonialismus und
Ausbeutung und lernen zu verstehen, wie stark das eigene Denken geprägt
ist durch Geschichten, die bewusst oder unbewusst eigene Vorurteile ge-
nährt und verfestigt haben. Sie werden durch ihren Auslandsaufenthalt
auch, ob sie es wollen oder nicht, zu Geschichtenerzähler*innen, die durch
ihre „authentischen“ Erfahrungen eine verstärkte Legitimierung und Macht
bekommen, über das Erlebte in „Afrika“ oder „Lateinamerika“ zu berich-
ten4. Dies ist Chance und Gefahr zugleich: Welche Geschichten werden

2 Die Kategorie der Erzählung ist auch politisch- theologisch anschlussfähig. Vgl. hierzu
METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen
Fundamentaltheologie (= Welt der Theologie), Mainz: Matthias-Grünewald 51992,
181–203.
3 Das Bistum Münster ist seit 1991 anerkannter Träger für Freiwilligendienste im Aus-
land und seit 2008 offizielle Entsendeorganisation für „weltwärts“-Freiwillige. Jährlich
werden durch das Referat Freiwilligendienste im Ausland der Fachstelle Weltkirche
des Bistums rund 29 jungen Erwachsenen auf ihren einjährigen Aufenthalt in Afrika
oder Lateinamerika vorbereitet und während ihres Jahres begleitet. Aktuelle Einsatz-
stellen finden sich in Ghana, Mexiko, Tansania, Uganda, in der Dominikanischen Re-
publik, Ruanda und Südafrika.
4 Die Bezeichnungen der Kontinente sind an dieser Stelle bewusst in Anführungszeichen
gesetzt, da immer wieder die Erfahrung gemacht wird, dass von den unterschiedlichen
Ländern Lateinamerikas oder Afrikas als von einem großen Allgemeinposten gespro-
chen wird. Das eigene Kind geht dann nicht für ein Jahr nach Tansania, sondern nach
Afrika.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 593

erzählt? Werden bestehende Stereotypen und Vorurteile eher verhärtet o-


der aufgebrochen? Wie (selbst-) kritisch reflektieren die Freiwilligen ihr
eigenes Handeln? Und, welchen Beitrag kann kritisch-politische Bildung
in diesem Feld kirchlicher Arbeit leisten? Diesen Fragen soll in der hier
vorliegenden Praxisreflexion nachgegangen werden.

2 Einordnung des Praxisfeldes: Freiwilligendienste im


Ausland – Hilfs- oder Lerndienst?

Bei Freiwilligendiensten im Ausland handelt es sich um eine „besondere


Form des bürgerschaftlichen Engagements“5, welches es als sogenannte
„geregelte Dienste“ seit den 1990er Jahren in Deutschland gibt.6 Das Feld
der Akteure im Bereich Freiwilligendienste ist groß und wandelt sich ste-
tig. Christliche Träger haben hier jedoch von Beginn an eine zentrale Rolle
gespielt.7 Noch heute gibt es das „Diakonische Jahr im Ausland“ der Evan-
gelischen Kirche oder das Programm „Missionar auf Zeit“ (MaZ) der ka-
tholischen Missionsorden, welche auch als zentrale Vorläufer zu dem groß
angelegten „weltwärts-Programm“ des Bundesministeriums für Zusam-
menarbeit und Entwicklung (BMZ) gesehen werden können. Das staatlich
geförderte weltwärts-Programm des BMZs wurde 2008 gestartet und ver-
eint unter seinem Dach mittlerweile rund 200 zumeist zivilgesellschaftlich

5 FISCHER, Jörn: Freiwilligendienste und ihre Wirkung – vom Nutzen des Engagene-
ments, in: APuZ 48 (2011), 54–62.
6 STERN, Tobias u. a. (Hg.): Der entwicklungspolitische Freiwilligendienst „weltwärts“
(= Band I: Hauptbericht), Bonn: BMZ 2011, 5.
7 Die historischen Zusammenhänge von Mission und Kolonialismus können an dieser
Stelle nicht adäquat problematisiert werden. Vgl. hierzu u. a. KOLLMAN, Paul: At the
origins of mission and missiology: A study in the dynamics of religious language., in:
Journal of the American Academy of Religion 79/2 (2011), 425–458; COLLET, Gian-
carlo / WECKEL, Ludger: Auf dem Weg zu einer solidarischen Missionswissenschaft:
Ein Diskussionsbeitrag, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissen-
schaft 95 (2011).
594 Judith Wüllhorst

und gemeinwohlorientierte Entsendeorganisationen (ca. 80 davon sind in


katholischer Trägerschaft).8

Im Rahmen dieses Programms gehen jährlich rund 3400 Freiwillige zwi-


schen 18 und 28 Jahren für einen entwicklungspolitischen Freiwilligen-
dienst in Länder des Globalen Südens, die nach der OECD/DAC-Liste als
„Entwicklungsländer“ definiert sind. Dort engagieren sie sich zwischen
sechs und 24 Monate bei einer lokalen Partnerorganisation für Bildung,
Gesundheit, Umwelt, Landwirtschaft, Kultur oder Menschenrechte.9 Bei
den katholischen Trägern steht nach eigenem Selbstverständnis die „soli-
darische Mitgestaltung einer lebenswerten Gesellschaft im In- und Aus-
land“ sowie die „Mitverantwortung für globale Herausforderungen, aber
auch für sich selbst und den Anderen“10 im Zentrum.11 Diese Ausrichtung
macht bereits deutlich, wie sehr ein Freiwilligendienst in katholischer Trä-
gerschaft primär auch als politisch-emanzipatorischer Dienst zu sehen ist,
der die Mitgestaltung von Gesellschaft als konkretes „Zeugnis und Aus-
druck christlicher Glaubenspraxis“12 versteht.

Die Einordnung des weltwärts-Dienstes, der „umfassende Möglichkeiten


des ‚Globalen Lernens’ eröffnen [soll]“13, in den Bildungsbereich bleibt

8 Vgl. STERN, Tobias u. a. 2011 [Anm. 6].


9 HAAS, Benjamin: Ambivalenz der Gegenseitigkeit. Reziprozitätsformen des weltwärts-
Freiwilligendienstes im Spiegel der postkolonialen Theorie (= Interdisziplinäre Studien
zu Freiwilligendiensten Bd. 2), Köln: Kölner Wissenschaftsverlag 2012, 18–19.
10 KATHOLISCHE BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT FREIWILLIGENDIENSTE (KBF), in: https://
welt-weit-freiwillig.de/ueber-uns [abgerufen am 23.09.2019].
11 Auch nach Judith Könemann sind Verantwortung, Verantwortungsübernahme, gesell-
schaftlicher Teilhabe, Reflexion und Mündigkeit Zielperspektiven einer religiösen Bil-
dung, die immer auch politische Bildung ist. Vgl. KÖNEMANN, Judith: Plädoyer für eine
politische Religionspädagogik, in: RpB 78 (2018), 15–23.
12 KBF [Anm. 10].
13 BMZ: Förderleitlinie zur Umsetzung des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes
weltwärts, Bonn 2014, 3.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 595

allerdings nicht unumstritten, da weltwärts einerseits klar als Lerndienst


konzipiert wurde, gleichzeitig aber unter dem Slogan „Lernen durch tat-
kräftiges Helfen“ auch so etwas wie ein Hilfsdienst sein soll.14 Der Politik-
didaktiker Benjamin Haas stellt heraus, dass das Programm damit eine Idee
forciere, die in der Entwicklungszusammenarbeit eigentlich längst verab-
schiedet worden war, die der „Hilfe für die Armen im Süden“15. Dieses
Paradigma fördert verzerrte Vorstellungen bei Freiwilligen, die sich als
„kleine Entwicklungshelfer*innen“ sehen und das Anliegen „etwas Gutes
zu tun“ oder „anderen zu helfen“ als Hauptmotivation für ihren Dienst se-
hen.16 Eine solche Haltung ist kritisch zu sehen, da sie zu einer Objektivie-
rung des Gegenübers führt. Menschen und Einrichtungen im Globalen Sü-
den dienen dann primär dazu, das „Helfenwollen“ in die Tat umzusetzen.17
Diese Einstellung behindert eine kritische Reflexion der eigenen Person in
einem komplexen Beziehungsgeflecht. In Literatur zu weltwärts und Me-
dien wird dies unter Schlagwörtern wie „Wer hilft hier wem?“ (Fokuscafe
Lateinamerika) „Egotrip ins Elend“ (SZ-Magazin), „Abenteuerurlaub auf
Staatskosten“ (Spiegel) immer wieder diskutiert. Eine solche kritische
Auseinandersetzung mit der Problematik und Funktion des weltwärts-
Dienstes ist wichtig und muss auch in der Begleitung von Freiwilligen
Raum finden, da nur so selbstkritisches Lernen ermöglicht werden kann.
Zwar ist es mittlerweile Konsens, dass weltwärts primär ein entwicklungs-
politischer Bildungsdienst ist, die wissenschaftliche Auseinandersetzung

14 Vgl. HAAS, Benjamin: Verfehlte Ansprüche eines global-politischen Lernortes. Der


entwicklungspolitische Freiwilligendienst weltwärts rassimuskritisch betrachtet, in:
HAFENEGER, Benno / UNKELBACH, Katharina / WIDMAIER, Benedikt (Hg.): Rassismus-
kritische politische Bildung. Theorien – Konzepte – Orientierungen (= non-formale po-
litische Bildung), Berlin: Wochenschau 2019, 205–217, 211.
15 HAAS 2012 [Anm. 9], 62.
16 Vgl. STERN, TOBIAS ET AL 2011 [Anm. 6], 18.
17 Dies spielt sich auch darin wider, dass es vielen Freiwilligen oftmals völlig egal ist, in
welches Land sie gehen „hauptsache ein Entwicklungsland“ (HAAS 2019 [Anm. 14],
211).
596 Judith Wüllhorst

mit den Verstrickungen dieses Dienstes in postkoloniale Machtstrukturen


und das Potential, diese Machtstrukturen aufzubrechen bleibt jedoch in der
kirchlichen Freiwilligenarbeit nach wie vor zu wenig diskutiert und soll
daher hier bewusst ins Zentrum der Überlegungen gestellt werden.18

3 Reflexion: Der weltwärts-Freiwilligendienst als religiöser und


kritisch-politischer Lerndienst?!

Von Anfang an war der christliche Glaube mit dem Anspruch verknüpft,
gesellschaftliches Leben mitzugestalten und auf eine Veränderung der
Verhältnisse im Sinne des Evangeliums hinzuwirken.19 Anteil zu nehmen
an Freuden und Ängsten der Menschen von heute, Herrschaftsstrukturen
kritisch zu reflektieren und auf eine Transformation im Sinne des Huma-
nen zu drängen bleiben Grundkategorien, die jungen Freiwilligen auch
während ihres Dienstes in der Weltkirche vermittelt werden sollen.20 Wenn
sich Freiwillige im Rahmen von weltwärts für ein Jahr ins Ausland bege-
ben, dann machen sie eine „Exposure-Erfahrung“ durch die sie, wie
Norbert Mette es darlegt, mit „einer Wirklichkeit in Kontakt [kommen],

18 Ein kritischer Blick auf „weltwärts“ könnte aus unterschiedlichen Perspektiven gewor-
fen werden. Eine umfassende Kritik an dem Programm ist in dieser Arbeit nicht mög-
lich, bewusst liegt daher der Fokus auf dem Potential von „weltwärts“ als Lernort für
kritisch-emanzipatorische Bildung. Vgl. zu dieser Frage ebenfalls: EICHHORN, Jaana:
Fachworkshop. Freiwilligendienste – Orte politischen Lernens. Konzepte und Metho-
den, in: Voluntaris 3/2 (2015), 57–61.
19 Vgl. hierzu auch KÖNEMANN 2018 [Anm. 11]: In Jesus Christus wird ein Gott verehrt,
der in dieser Welt und in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen Mensch ge-
worden ist. Während seines Wirkens hat er diese Verhältnisse immer wieder kritisch in
den Blick genommen und zu einer Transformation im Sinne des Evangeliums aufgeru-
fen. Seine Herrschaftskritik, sein Blick auf die Marginalisierten und seine radikalen
Forderungen, auf eine befreite Gesellschaft hinzuwirken, verleihen der christlichen
Botschaft bis heute eine radikale politische Dimension.
20 Vgl. METZ, Johann B.: Zur Theologie der Welt (= Topos-Taschenbücher 11), Mainz:
Matthias-Grünewald 1979; PEUKERT, Helmut: Reflexionen über die Zukunft von Bil-
dung, in: DERS.: Bildung in gesellschaftlicher Transformation, Paderborn: Ferdinand
Schöningh 2015, 61.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 597

die ihnen bislang nicht bekannt war“21 und die unglaubliches Lernpotential
bietet. Die Erfahrungen, die sie während ihres Jahres machen, verändern
ihre Sicht auf die Welt so dass sie zwar nicht „mit neuen Augen“, wohl
aber aus anderen Perspektiven sehen lernen.22

Damit ist der Dienst, gerade bei christlichen Trägern, klar ein religiöser
Lerndienst, der jedoch immer auch eine kritisch- emanzipatorische Dimen-
sion umfasst und auf ein „Mehr an Freiheit, Emanzipation, Autonomie,
Partizipation und Handlungsfähigkeit“23 drängt.24 Gerade in den konkreten
persönlichen Erfahrungen, die Freiwillige während ihres einjährigen Aus-
landsaufenthaltes machen, liegt viel Potential, denn das „was mit Emanzi-
pation gemeint ist, [kann] letztlich nur in der Praxis gelernt werden“.25

Ob und wie stark ein Freiwilligendienst im Ausland tatsächlich zu einem


kritisch-emanzipatorischen Lerndienst wird, hängt stark davon ab, wie die
Begleitung der Freiwilligen gestaltet ist, wie die konkreten Erfahrungen

21 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.


22 Vgl. METTE, Norbert: Neuen Herausforderungen begegnen: Die Rolle von religiöser
Bildung im Angesicht von Terror und Gewalt, in: BAHR, Matthias / KROPAČ, Ulrich /
SCHAMBECK, Mirjam (Hg.): Subjektwerdung und religiöses Lernen. Für eine Religions-
pädagogik, die den Menschen ernst nimmt, München: Kösel 2005, 168–177, 176.
23 PIRKER, Viera: Wer hat, dem wird gegeben? Zur bildungspolitischen Problematik der
Ressourcen(un)gerechtigkeit in einer identitätsbildenden Religionspädagogik, in: KÖ-
NEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und Gerechtigkeit. Warum religiöse
Bildung politisch sein muss (= Bildung und Pastoral 2), Ostfildern: Grünewald 2013,
70–87, 80.
24 Damit werden Kompetenzen ausgebildet, die nicht nur für das Mündigwerden im Glau-
ben, sondern auch für „eine Mitwirkung und Einflussnahme auf gesellschaftliche Pro-
zesse unabdingbar sind.“ (KÖNEMANN 2018 [Anm. 11], 23.). Vgl. ebenfalls: BOSCHKI,
Reinhold / ALTMEYER, Stefan / MÜNCH, Julia: Einführung in die Religionspädagogik
(= Einführung Theologie), Darmstadt: WBG 22012, 84: Durch religiöse Bildung soll
darauf hingewirkt werden, dass der einzelne Mensch Subjekt und in diesem Sinne ent-
scheidungsfähig und mündig wird, denn das freiheitliche Geschehen des Glaubens ist
ohne mündige Subjekte nicht denkbar.
25 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
598 Judith Wüllhorst

der Freiwilligen rückgebunden und eingeholt und unter welcher Prämisse


diese bearbeitet werden. Orientierungspunkte dafür, wie dies gelingen
kann, liefert die Frankfurter Erklärung, deren sechs Prinzipien im Folgen-
den mit der Arbeit im Freiwilligenkontext zusammengedacht werden.

3.1 Impulse aus der Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatori-


sche Bildung

Bereits die erste These der Frankfurter Erklärung macht deutlich, dass es
um kritische Lernprozesse anzustoßen einer Auseinandersetzung mit den
Krisenerscheinungen unserer Zeit bedarf, welche für die Freiwilligen wäh-
rend ihres weltwärts-Jahres oft wesentlich unmittelbarer sind als in ihrer
gewohnten Umgebung in Deutschland. Sie erleben das Auseinanderklaffen
und die verheerende Diskrepanz zwischen Lebensstandards, ökonomi-
schen Ressourcen und sozialen Absicherungen weltweit. Sie sehen die Fol-
gen eines Wirtschaftssystems, das darauf ausgelegt ist, dass es Wenigen
gut geht, auf Kosten von Vielen. Sie können lernen zu verstehen, was es
für Menschen in Ghana oder Tansania bedeutet, wenn sie versuchen wol-
len, auf einem Markt zu bestehen, der überschwemmt wird mit subventio-
nierten Billighähnchen oder Überschusseiern aus europäischer Massentier-
haltung, oder wenn ganze Wälder zerstört werden, um Futtermittel für
Tiere anzubauen.26 Sie erfahren auch, wie viel stärker die Menschen im
globalen Süden von den Folgen des Klimawandels betroffen sind und wie
unmöglich es ihnen gemacht wird, auf sicherem Weg in Länder des globa-
len Nordens zu reisen oder Aufenthaltsgenehmigungen zu erlangen.

Diese unmittelbare Konfrontation mit den vielfältigen Krisen unserer Zeit


führt häufig zu starken Emotionen. In Gesprächen und auf den Begleitse-
minaren berichten Freiwillige immer wieder von ihrer Wut angesichts des

26 Vgl. zu dieser Problematik auch den Beitrag von Markus BÜRGER in diesem Band.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 599

Erlebten und ihren dadurch genährten Wunsch, etwas an den bestehenden


Verhältnissen zu verändern. Empörung ist ein wichtiger Grundstein politi-
scher Bildung, denn allein die kognitiven Bewusstwerdungsprozesse rei-
chen, wie Lösch es in diesem Sammelband darlegt, nicht aus, „um Herr-
schaftsverhältnisse zu verstehen und sich daraus zu befreien“.27
„In der politischen Bildung geht es nicht in erster Linie darum, das Wissen von
anderen nachzuvollziehen, sondern v. a. zu ermutigen und zu begeistern, den Lauf
der Welt selbst zu verstehen, Erfahrung zu machen, was es heißt, eingreifend zu
denken und zu handeln, gemeinsam zu scheitern und gemeinsam etwas zu bewir-
ken.“28

Die wichtige „leiblich-emotionale Komponente“ (FFE 5) politischer Ur-


teilsbildung wird in den stark formalisierten Bildungseinrichtungen im In-
land häufig vernachlässigt. Umso wertvoller ist es, dass ein Freiwilligen-
dienst diese emotionalen Lernräume eröffnen kann. Gleichzeitig bietet er
damit auch die Möglichkeit, erlebte Macht- und Ohnmachtserfahrungen zu
thematisieren und zu hinterfragen und so ein Bewusstsein der eigenen Teil-
mächtigkeit zu entwickeln.29 Im Idealfall lernen Freiwillige während ihres
Dienstes, sich als Subjekt im Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht zu
konstituieren.30 und „die durch die Anforderung hervorgerufene Ambiva-
lenz-, Fremdheits- oder Krisenerfahrung produktiv zu verarbeiten“.31

Hierfür spielt Ermutigung (Ff5) eine zentrale Rolle. Und zwar einerseits
die Ermutigung, sich ansprechen zu lassen und eigene Erfahrungen zu ma-
chen, als auch der Mut, diese selbstkritisch zu reflektieren. Das Hinterfra-

27 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.


28 EBD.
29 COHN, Ruth C. / BRÜHLMANN-JECKLIN, Erica: Das Mögliche tun. Ruth C. Cohn Ge-
spräche und Begegnungen, Oberhofen am Thunersee: Zytglogge 2010.
30 Vgl. den Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
31 Holzbrecher zitiert nach BÜNGER, Carsten: Politische Bildung nach dem ‚Tod des Sub-
jekts‘, in: LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas (Hg.): Kritische politische Bildung. Ein
Handbuch, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010 (= Reihe Politik und Bildung
54), 315–325, 319.
600 Judith Wüllhorst

gen von scheinbar Selbstverständlichem und den eigenen Sehgewohnhei-


ten spielt dabei eine zentrale Rolle. Dieses Aufbrechen von jahrelang ein-
geübten Haltungen und Sichtweisen, ist nicht leicht und benötigt eine gute
pädagogische Begleitung.32 Nicht selten gibt es einen starken Widerstand
seitens der Freiwilligen, wenn „das eigene Selbstbild oder verinnerlichte
Herrschaftsmechanismen in Frage gestellt werden“33 oder es zu einer kri-
tischen Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien kommt.34 Für die
Leitung bedeutet dies, sensibel und angemessen an diese Themen heranzu-
gehen und eine ermutigende Lernatmosphäre zu schaffen. Gut ausgewählte
Methoden35, ein entsprechendes Setting und das Andocken an den alltägli-
chen Erfahrungen der Freiwilligen kann hier einiges in Bewegung setzen.
Wenn Themen wie Rassismus, Diskriminierung, Kolonialismus, Migra-
tion, Gender oder Klimawandel auf Begleitseminaren methodisch gut an-
geleitet platziert werden, können Bildungsprozesse in Gang gesetzt wer-
den, die weit über das Auslandsjahr hinauswirken. Ein besonderer Fokus
liegt daher in der Arbeit mit Freiwilligen im Bistum Münster auch auf der
Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, der eigenen Sozialisie-
rung und den eigenen Sehgewohnheiten. Neben sehr intensiven und per-
sönlichen Einheiten, wie z. B. dem Lebensfluss, gibt es auch zahlreiche
kleinere Einheiten, durch die Freiwillige dafür sensibilisiert werden sollen,

32 Vgl. den Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.


33 EBD.
34 Nicht immer gelingen diese Bemühungen, da es stark von der jeweiligen Person ab-
hängt, wie sehr diese bereit ist, sich auf eine kritische Auseinandersetzung mit Privile-
gien oder Krisenerscheinungen um sie herum einzulassen.
35 Eine wertvolle Plattform für die Arbeit mit Freiwilligen bietet beispielsweise glokal
e. V., ein Berliner Verein für machtkritische Bildungsarbeit und Beratung, der seit 2006
in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig ist und es sich zum Ziel ge-
setzt hat für globale und innergesellschaftliche Machtverhältnisse zu sensibilisieren und
Menschen dazu befähigen, zu deren Abbau beizutragen.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 601

wie stark unser Blick auf die Welt genormt ist durch Vorerfahrungen und
Sehgewohnheiten.

Eine dieser kürzeren Übungen nennt sich „Maus-Kopf“. Hierbei wird die
Gruppe in zwei Kleingruppen geteilt. (A und B). Gruppe A bekommt Ab-
bildung 1 zu sehen, und tauscht sich über den dort abgebildeten Kopf aus.
Gruppe B sieht Abbildung 2 und tauscht sich über die Eigenschaften einer
Maus aus. Anschließend werden Paaren mit je einer Person aus A und B
gebildet. Eine dritte Vorlage, die sowohl als Kopf als auch als Maus gese-
hen werden kann (Abb 3), wird nun kurz gezeigt. Anschließend bekommen
sie den Auftrag, das gezeigte Bild gemeinsam, ohne zu sprechen, auf Pa-
pier zu bringen. Das Ergebnis ist fast immer das gleiche: Gruppe A sieht
den Kopf, B die Maus und genau das versuchen sie dann auch auf Papier
zu bringen. Malansätze des Gegenübers werden entsprechend korrigiert,
belächelt oder schlicht durchgestrichen und neu gemalt.

Abb. 1 Abb.2 Abb. 3

Erst beim Aufdecken der Bilder wird deutlich, dass beide Partner*innen
unterschiedliche Bilder im Hinterkopf hatten und die jeweilige Beurteilung
vor dem Hintergrund der eigenen Wirklichkeitskonstruktion vorgenom-
men wurde. Abb. 3 beinhaltet tatsächlich beide Bilder, das wird jedoch
durch das vorschnelle Assoziieren, mit den eigenen Vorerfahrungen nicht
wahrgenommen. Durch diese und ähnliche Übungen sollen sich die Frei-
602 Judith Wüllhorst

willigen bewusstwerden, wie stark die Wahrnehmung und das Handeln


von eigenen Vorstellungen, Bildern und Erinnerungen abhängig ist.

Genau hier beginnt eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung, die


sich zum Ziel setzt, Normsetzungen und Konstruktionen sichtbar zu ma-
chen und infrage zu stellen (FFE 4). Es geht darum zu erkennen, dass ich
selbst mit meinem Blick auf die Dinge niemals objektiv und frei bin. Ler-
nende und Politische Bildner*innen sind immer auch selbst in „soziale und
politische Diskurse eingebunden, die ihre Wahrnehmungs-, Denk- und
Handlungsweisen beeinflussen“. (FFE 4) Sich nicht mit den „ersten immer
schon vorstrukturierten Eindrücken“36 zufrieden zu geben, offen dafür zu
werden, dass es auch andere Perspektiven geben kann, ist eine zentrale
Grundlage für das Erlernen einer kritischen Haltung, die durch Offenheit
und Wachheit gekennzeichnet ist.

Ein weiteres wichtiges Anliegen der Frankfurter Erklärung ist es, kontro-
verse Theorien und Tatsachen vorzustellen und den aktiven Meinungsstreit
zu fördern (FFE 2). Nur so können junge Menschen einüben, sich selbst
oder herrschende Systeme in Frage zu stellen und in Konfrontationen oder
Widerstände zu gehen. Während ihres Auslandsjahres kommen die Frei-
willigen mit vielfältigen alternativen Sicht- und Denkweisen in Berührung.
Gerade die stark divergierenden Umgangsformen mit Sexualität, Partner-
schaft, Religion und Geschlechterrollen führen immer wieder zu Missver-
ständnissen und Herausforderungen. Einen Freiwilligendienst zu machen
bedeutet also auch zu lernen, „Streitfragen und Konflikte zur Sprache zu
bringen“ (FFE 2) und zwar auf eine Weise, in der die Einzelnen lernen,
authentisch für eigene Überzeugungen einzutreten, ohne diese absolut zu
setzen. Auf diese Weise kann ein „Denken in Alternativen“ gefördert wer-

36 CILLEN, Ursula: Emanzipation oder Mündigkeit. Zu einem Grundproblem gegenwärti-


ger Pädagogik, in: Der evangelische Erzieher – ZPT 25 (1973), 405–424, 421.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 603

den, welches angesichts aktueller Entwicklungen in Politik und Gesell-


schaft mehr denn je benötigt wird.37 Grundlegende Kritik an der bestehen-
den Gesellschaft wird so erst möglich, weil Freiwillige durch neue Kon-
texte lernen, diese „als eine andere [zu] denken […], denn die existieren-
de“.38

Eine (selbst-) kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt, dem eigenen


Denken und Handeln gehört unabdingbar zur Freiwilligenarbeit dazu, auch
hinsichtlich der eigenen Motivation: Möchte ich mich wirklich anfragen
lassen und Neues erlernen, oder ist der Dienst für mich vielmehr ein Auf-
polieren des Lebenslaufs, eine Form der Selbstverwertung und Optimie-
rung, die längst alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Miteinanders
durchdrungen hat?39. Bewusst provokant, aber treffend, formuliert der Ko-
ordinator des Entwicklungspolitischen Netzwerks EPN Hessen, Andreas
van Baaijen:
„Das Primat der Selbstverwirklichung setzt uns unter den Zwang, ein eigenes
Selbst zu kreieren, zu erfinden oder einzukaufen. Sich zu unterscheiden, abzuhe-
ben, etwas Besonderes zu sein, ist zur Voraussetzung geworden, um in unseren
de facto weitgehend gleichförmigen Gesellschaften als Identität überleben zu
können. So begeben wir uns permanent auf die Suche nach den Accessoires zur

37 Vgl. LÖSCH, Bettina: Warum diese Angst vor dem politischen Dissens? Zur Demokra-
tisierung gehören der Streit um Alternativen und die Kritik am Bestehenden, in: WID-
MAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine
Debatte der politischen Bildung (= Schriftenreihe / Bundeszentrale für politische Bil-
dung Band 1793), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 224–232.
38 Theodor W. Adorno zitiert nach HENKENBORG, Peter: Überlegungen zu einer kritischen
Theorie politischer Bildung, in: WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was
heißt heute kritische politische Bildung? (= Wochenschau Wissenschaft 2), Schwalbach
am Taunus: Wochenschau 2013, 109–118, 115.
39 Vgl. MESSERSCHMIDT, Astrid: Widersprüche der Mündigkeit. Anknüpfungen an A-
dornos und Beckers Gespräch zu einer "Erziehung zur Mündigkeit" unter aktuellen Be-
dingungen neoliberaler Bildungsreformen, in: AHLHEIM, Klaus / HEYL, Matthias (Hg.):
Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute (=
Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft 3), Hannover: Offizin 32015, 126–153,
128.
604 Judith Wüllhorst

Kreation individueller Differenz – wir finden sie auf dem Markt der Kulturen.
[…] Der Konsum von Differenz, also von Kultur, verschlingt nicht nur Geld und
andere Lebenswelten, sondern auch diejenigen, die uns als StatistInnen in jenen
fremden Kulturen dienen, deren Lebenswelt wir konsumieren – und die zumeist
nicht über die ökonomischen Mittel verfügen, sich am Einkaufsbummel auf dem
Globalen Markt der Differenz zu beteiligen.“40

Die Auseinandersetzung mit den hier aufgeworfenen Fragen kann einen


Prozess in Gang bringen, in dem sich die Freiwilligen ihrer Selbst und ihrer
eigenen Handlungsmotivation bewusster werden und eine kritische Hal-
tung gegenüber einer „Erziehung zur Selbstdisziplinierung, zur Selbstop-
timierung und zur Verinnerlichung von Leistungszwängen, Herrschafts-
strukturen und unreflektiert übernommenen gesellschaftlichen Normen“41
entwickeln können.

In einer Gesellschaft, die Produktivität und Leistungssteigerung zu den un-


hinterfragten Maximen gemacht hat, können die Dinge, die eigentlich im
Interesse der Menschen liegen sollten, leicht aus dem Blick geraten. Ziele
wie ein freies und friedliches Miteinander werden hierbei nicht selten na-
tionalistischem Kalkül und Gewinn untergeordnet und der Mensch zuneh-
mend unter dem Faktor „Humankapital“ gesehen und nach seinem jewei-
ligen Verwertbarkeitspotential bewertet.42 Eine kritische Auseinanderset-

40 VAN BAIIJEN, Andreas: Schöne neue Welt – Fernweh und Projekttourismus – Gedanken
zum Verhältnis des Nordens zum Süden, in: BERLINER ENTWICKLUNGSPOLITISCHER
RATSCHLAG EV (Hg.): Von Trommlern und Helfern. Beiträge zu einer nicht-rassisti-
schen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit, Berlin: BER 2010, 62–64,
62.
41 Vgl. HAMMERMEISTER, Juliane: Das verstrickte Subjekt, in: EIS, Andreas / SALOMON,
David (Hg.): Gesellschaftliche Umbrüche gestalten. Transformationen in der Politi-
schen Bildung (= Wochenschau Wissenschaft), Schwalbach am Taunus: Wochenschau
2014, 136.
42 Die Debatte darum, dass qualifizierte, gut ausgebildete Flüchtlinge ja durchaus will-
kommen wären, andere aber nicht, zeugt von diesem Kalkül. Anstatt sich gemeinsam
um tragfähige Lösungen für globale Probleme zu bemühen, achtet zunehmend jede*r
auf eigenen Interessen, die notfalls auch gegen anderen und unter Inkaufnahme der Zer-
störung von Menschenleben durchgesetzt werden.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 605

zung mit diesen Entwicklungen ist notwendig und gleichzeitig, gerade im


formellen Bildungsbereich, kaum noch praktizierbar. Wenn es jedoch ei-
nen Ort dafür gibt, dann liegt dieser genau an den „Bruchstellen und Aus-
lassungen“43, an den Widersprüchlichkeiten der gesellschaftlichen Reali-
tät, die auch in einem Freiwilligendienst erlebt und thematisiert werden
müssen.44

3.2 Exemplarische Vertiefung

Die Tatsache, dass junge Freiwillige aus Deutschland kurz nach dem Abi-
tur, mit Rückflugticket und bestem Versicherungs- und Impfschutz, staat-
lich finanziert und durch kirchliche Träger subventioniert, für ein Jahr in
das „Abenteuer Ausland“ starten können bringt die weltweiten gravieren-
den Ungleichheiten an Ressourcen, Zeit und Geld auf kaum überbietbare
Weise zum Ausdruck. Mit dem weltwärts-Taschen-, Wohn- und Verpfle-
gungsgeld verfügen sie über weit mehr finanzielle Mittel, als Arbeitneh-
mer*innen vor Ort. Zudem hätten diese auch niemals die Chance, kurzer-
hand für ein Jahr einen Freiwilligendienst in Deutschland zu absolvieren.45

Machtgefälle und ungleiche Ressourcen bleiben in gesellschaftlichen De-


batten häufig unterbelichtet. Kritisch-emanzipatorische politische Bil-

43 MESSERSCHMIDT 2015 [Anm. 39], 138.


44 Der intensiven Reflexion während und nach dem eigenen Freiwilligendienst kommt
dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Zeit der Rückkehr und das Betrachten des Er-
lebten aus einer gewissen Distanz macht ein Einordnen und Verstehen oft erst möglich.
Hier zeigt sich, wie nachhaltig ein Dienst war und wie sehr er zu einer Veränderung der
Verhältnisse beitragen kann. Bei vielen Anbietern von Freiwilligendiensten hört die
Begleitung jedoch bereits mit dem Rückkehrerseminar auf. Was hier nicht thematisiert
und besprochen wurde, findet dann oft auch später keinen Reflexionsraum mehr.
45 Dies hat sich im Zuge einer Einführung eines Reverse-Dienstes glücklicherweise ein
wenig geändert, dieser ist jedoch bei den meisten Trägern, auch dem Bistum Münster,
noch stark ausbaufähig und ermöglicht es längst nicht annähernd so vielen Menschen
aus dem globalen Süden in den globalen Norden zu reisen wie andersherum.
606 Judith Wüllhorst

dungsarbeit bedeutet jedoch auch, „ausgeschlossene und benachteiligte


Positionen sichtbar zu machen“ (FFE 3), eigene Privilegien zu thematisie-
ren und Diskriminierungs- und Unterdrückungsmechanismen, wie struktu-
rellen Rassismus, offen zu legen und selbstkritisch anzuprangern.46 Die
Auseinandersetzung mit Kategorien wie race, class und gender sowie
postkolonialen und poststrukturalistischen Ansätzen sollte daher in der Ar-
beit mit Freiwilligen eine zentrale Rolle einnehmen.47 Ansätzen einer kri-
tischen-politischen Bildung können wichtige Impulse dafür liefern, die Er-
fahrungen der Freiwilligen mit den eigenen, verinnerlichten Macht- und
Herrschaftsverhältnissen in Verbindung zu bringen.48
„Vorurteile und Diskriminierung werden in diesem Sinne nicht als individuelle
Fehlurteile verstanden, sondern als Ideologien und Machtpraktiken offen gelegt,
die in Subjektivierungsprozesse eingeschrieben sind und erlernt werden. Politi-
sche Bildung bedeutet dann, bestimmte angelernte (inkorporierte, ritualisierte
bzw. habitualisierte) Praxen und Denkweisen zu reflektieren, wieder zu verlernen
und neue Handlungsoptionen und -freiheiten zu gewinnen.“49

Sich selbst, mit den eigenen, oft stereotypen Denkweisen kritisch in den
Blick zu nehmen, bedeutet auch, einen selbstkritischen Blick auf die eigene
Arbeit zu entwickeln. Auch eine gut gemeinte Partnerschaftsarbeit ist nicht
frei von Rassismen und Machtasymmetrien. Diese müssen so gut es geht
thematisiert und offengelegt werden, was auch bedeutet, sich kritisch damit
auseinanderzusetzen, ob weltwärts nicht eher dazu beiträgt, bestehende
Verhältnisse zu zementieren, als sie aufzubrechen.50

46 Wertvoll ist hier u. a. OGETTE, Tupoka: exit RACISM. Rassismuskritisch denken ler-
nen, Münster: Unrast 2017.
47 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
48 Vgl. EBD.
49 EBD.
50 Zu dieser Frage findet sich bereits eine Reihe kritischer Literatur, beispielsweise veröf-
fentlicht vom Berliner Entwicklungspoltischen Ratschlags (BER) oder glokal e. V. Un-
ter Überschriften wie „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“, „Bildung für nachhaltige
Ungleichheit?“, „Einbahnstraße hin und zurück“ oder „Eine geförderte Revolution gibt
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 607

Besonders der eingangs erwähnten Macht von Geschichten kommt in der


Auseinandersetzung mit Machtasymmetrien eine zentrale Rolle zu. Wel-
che Dinge berichte ich? Welche Fotos zeige ich und welche Bilder trans-
portiere ich damit?
„Durch Sprache und Visualisierung verfestigen sich vorgefertigte Bilder von Ge-
sellschaft. Diese Bilder im Kopf sind einprägsam und auch in der Reflexion kaum
vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie dienen als Platzanweiser: Wer gehört dazu
und wohin? Was gilt als normal, was als abweichend?“51

Nicht nur persönlichen Geschichten und Berichterstattungen sollten dabei


in den Blick genommen werden, sondern auch die öffentliche. Die Ent-
wicklung einer kritischen Haltung gegenüber Werbung und Medienkam-
pagnen, die Menschen aus Ländern des Globalen Südens als Objekte und
reine Empfänger*innen von Hilfsleistungen darstellen, spielt hier eine
wichtige Rolle. Kommerzielle und insbesondere „wohltätige“ Medienar-
beit vervielfältigt nicht selten Bilder und Assoziationen, mit denen auf sub-
tile Art und Weise die Menschen des Globalen Südens als homogene
Masse, als „unterentwickelt“, „unzivilisiert“ oder „arm“ stigmatisiert wer-
den. Diese, sowie Blogeinträge von Freiwilligen, dienen auf Seminaren als
Diskussionsgrundlage und ‚worst practice Beispiele‘ für eine dringend not-
wendige, intensivere Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern im Kopf
und der Macht, die sich darin widerspiegelt.52

es nicht“, werden hier kritische Perspektiven auf Freiwilligendienste im Ausland ent-


wickelt.
51 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
52 Beispiele hierzu finden sich zahlreiche, gerade Hilfswerke „werben“ für ihre Spenden-
kampagnen immer wieder mit höchst problematischen Motiven, die Stereotypen ver-
härten und nicht dazu beitragen, dass sich die dominanten Geschichten über Länder des
Globalen Südens verändern. Auch Anzeigen von großen Konzernen sind häufig von
Rassismus und Sexismus durchzogen. Die Einheit zur kritischen Berichterstattung und
zum Umgang mit Medien nimmt während der Vorbereitung eine wichtige Rolle. Hilf-
reich ist hierfür u. a. die Borschüre „Mit kolonialen Grüßen“ von glokal e. V.
608 Judith Wüllhorst

4 Fazit: Veränderung braucht Reflexion und den Mut, neue


Geschichten zu erzählen
„Geschichten, Wirklichkeit, Gesellschaft etc. sind nichts Gott-, Natur- oder ‚Kul-
tur’ gegebenes, sondern werden von Menschen gemacht. […] sie sind Akteure,
das heißt, sie sind weder als Marionetten den Strukturen hilflos ausgeliefert, noch
existieren sie als unabhängige Subjekte im luftleeren Rau, Auf ihre je eigene
Weise, eigensinnig und dabei höchst unterschiedliche, deuten sie die (Um-) Welt,
eigenen sie sich an, verändern sie dadurch.“53

Gerne nutzen Medien und auch wir selbst die Macht von Geschichten, von
Stereotypen und Klischees, denn diese festigen immer auch die eigene, pri-
vilegierte Position. Das primäre Problem aber mit Klischees ist für
Chimamanda Ngozi Adiche nicht, dass sie unwahr sind, sondern „dass sie
unvollständig sind. Sie machen eine Geschichte zur einzigen Ge-
schichte.“54 Die „single story“, schreibt fest, ideologisiert und reduziert.
Die Realität aber ist komplexer. Dieser Komplexität darf sich Bildungsar-
beit nicht entziehen. Einen Freiwilligendienst als religiösen, politischen
und kritischen Lerndienst anzubieten bedeutet daher immer auch, junge
Menschen dazu zu befähigen, sich nicht vorschnell mit einfachen Denk-
weisen zufrieden zu geben, Dinge kritisch zu hinterfragen und überkom-
mene Strukturen aufzubrechen. Es bedeutet auch zu ermutigen, die gesell-
schaftlichen Verhältnissen nicht ausschließlich als etwas wahrzunehmen,
dem man unterworfen ist, sondern auch als etwas, das gestaltet und „indi-
viduell und kollektiv handelnd“ (FFE6) verändert werden kann.55 Freiwil-
lige sollen durch ihren Dienst so gestärkt werden, dass sie lernen, Ge-
schichten der Ausgrenzung und Festschreibung zu dekonstruieren und ihre
eigenen, komplexen Geschichten zu schreiben und selbstkritisch zu artiku-

53 RICHTER, Regina: Was könnte machtkritisches historisch-politisches Lernen sein? Vor-


schläge am Beispiel Rassismuskritik, in: GLOKAL E. V. (Hg.): Connecting the dots. Ler-
nen aus Geschichte(n) zu Unterdrückung und Widerstand, Berlin, 18–29, 29.
54 NGOZI ADICHIE 2014 [Anm. 1].
55 Vgl. LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas: Einleitung, in: DIES.: Kritische politische Bil-
dung. Ein Handbuch (= Reihe Politik und Bildung 54), Schwalbach am Taunus: Wo-
chenschau 2010, 8.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 609

lieren. Gelingt dies, halte ich es für eine berechtigte Hoffnung, dass durch
die konkreten Exposure- Erfahrungen von zahlreichen jungen Menschen
in Zukunft neue und andere Geschichten über Macht, Privilegien und die
eigene Teilmächtigkeit erzählt werden. Auf diese Weise kann ein Freiwil-
ligendienst, trotz aller innewohnenden Dialektik von Verstrickung und
Überschreitung56 zu einem politisch, emanzipatorischen Lerndienst wer-
den, der gerade in seiner auf Befreiung und Veränderung zielenden Dimen-
sion auch ein eminent religiöser und kritischer Lerndienst bleibt.

Autorinnenangaben: Judith Wüllhorst hat in Münster und Buenos Aires Theologie


und Sozialwissenschaften studiert und arbeitet aktuell als Referentin für Freiwil-
ligendienste im Ausland in der Fachstelle Weltkirche des Bischöflichen General-
vikariates in Münster.

56 Vgl. den Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band.


TEIL VI –
ABSCHLUSS UND AUSBLICK
Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Rückblick und Zusammenfassung

Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

In der Debatte um eine neue politische Religionspädagogik gibt es, wie


bereits in der Einleitung dargelegt wurde, eine große Pluralität an Ansätzen
und Entwürfen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in den unterschiedlichen
Beiträgen dieses Sammelbandes wider, sie darf als Stärke und Schwäche
zugleich begriffen werden. Positiv daran ist der zugrundeliegende Theo-
rienpluralismus, der kontroverse Diskussionen und Multiperspektivität
gewährleistet. Zugleich besteht die Gefahr, die jeweiligen Konzeptionen
und Ansätze isoliert zu entwerfen und die singulären Versuche nicht auch
in eine Debatte über Konsens und Meinungsverschiedenheiten zu verwi-
ckeln – auch weil eine gemeinsame Terminologie fehlt. Inwiefern die Be-
griffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ zielführend sind, um auch heute eine
gemeinsame Sprache politisch reflektierter Religionspädagogik zu entwi-
ckeln, wurde in diesem Band aus unterschiedlichen Blickwinkeln disku-
tiert. Um abschließend einige verbindene Linien zu zeichnen und zentrale
Erträge des Sammelbandes zu heben, werden im Folgenden drei Impulse
skizziert, die aus den Beiträgen für die Religionspädagogik folgen können.
Diese sollen beispielhaft verdeutlichen, inwiefern die historisch profilierte
und interdisziplinär fundierte Auseinandersetzung mit ‚Kritik‘ und ‚Eman-
zipation‘ religionspädagogisch relevant ist, wie sie in einem vierten Ab-
schnitt resümierend zusammengefasst wird. Leerstellen, Desiderate und
offene Fragen werden in einem separaten Ausblick ausformuliert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_34
614 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

1 Historischer Impuls: Historisch informiertes Wiederaufgreifen


der wissenschaftstheoretischen Perspektive einer
ideologiekritischen Religionspädagogik

Es ist deutlich geworden, dass Religionspädagogik immer weniger vom


gesellschaftlichen Kontext absehen kann, in dem religiöse Bildung
stattfindet. Themen wie Rassismus, Rechtspopulismus oder gruppenbezo-
gene Menschenfeindlichkeit (GÄRTNER, GAUTIER) sowie Bezüge zum
Klimawandel (BÜRGER / JENDT, HELLGERMANN, LÖSCH, PIRKER), zur
globalen Gerechtigkeit und der Orientierung an den Menschenrechten
(HOLBEIN-MUNSKE, METTE, WÜLLHORST) stellen auch für die Religions-
pädagogik virulente Themen dar. In diesem Zusammenhang könnte es
durchaus reizvoll sein, „den schon seit Jahrzehnten ins Abseits geratenen
Ansatz einer problemorientierten Religionspädagogik […] ‚neu zu besu-
chen‘.“1 Schließlich wurde in der religionspädagogischen Reformdekade
um 1968 der Bezug zur gesellschaftspolitischen Realität auf einer syste-
matisch-grundlagentheoretischen Ebene intensiv reflektiert (GRÜMME,
KNAUTH, LEHNER-HARTMANN, METTE, Interviews mit Zeitzeug*innen).
Allerdings lässt sich feststellen, dass unter ‚Problemorientierung‘ ganz
unterschiedliche Entwürfe gefasst wurden bzw. werden (HEUMANN) und
dieses „Label“ auf katholischer Seite wenig Verwendung fand bzw. findet
(METTE).

Eine ungebrochene Rezeption der damaligen Ansätze kann heute jedoch


nicht mehr gelingen, weil mit ihnen Schwierigkeiten verbunden sind, die
auch in diesem Sammelband deutlich werden: Wenn im Religionsunter-
richt auf Wunsch der Schüler*innen ein ‚Spiegel‘-Artikel zum Thema ‚Fi-
nanzen des Vatikans‘ behandelt wird (ASSIG), erinnert dies beispielsweise
an die bekannte Kritik von Klaus Wegenast, dass der damals artikulierte

1 KOERRENZ, Ralf / SIMOJOKI, Henrik: Editorial. In: ZPT 70 (2018), 125–127, 126.
Rückblick und Zusammenfassung 615

„christliche Nonkonformismus […] häufig nur mit Mühe von dem progres-
siver Tageszeitungen zu unterscheiden ist.“2 Allerdings muss auch konsta-
tiert werden, dass manche der damaligen Ansätze religionspädagogisch
bisher nicht adäquat berücksichtig und „ignorant beiseite geschoben“3
wurden. Die intensive Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten am
Problemorientierten Ansatz in Form einer „reflexiven Neuaneignung“4 auf
einer grundlagentheoretischen Ebene scheint dabei ein zielführendes Vor-

2
WEGENAST, Klaus: Das Problem der Probleme. Das Verhältnis des problemorientierten
Religionsunterrichtes zur Theologie und zu den sozialwissenschaftlich verantworteten
Fächern, in: ZPT 24 (1972), 102–126, 106. Dies wird auch in anderen Interviews sicht-
bar. Einerseits reflektieren diese selbst auf Schwierigkeiten, z. B. den Fachlichkeitsver-
lust im Zuge der Problemorientierung (HALBFAS, HEUMANN, METTE, STEFFENSKY). An-
dererseits scheinen in den Interviews die Probleme der damaligen Ansätze (weiterhin)
durch. Wenn beispielsweise von den „Handy- und I-Phone-Eremiten“ (STEINKAMP) ge-
sprochen wird, wirkt die Gedankenwelt anachronistisch. Und auch die Abgrenzung von
den „damals Kreativsten“ gegenüber „Traditionalisten“ (HALBFAS), die Etikettierung
des ‚Marburger Bundes Freiheit der Wissenschaft‘ als „reaktionär[]“ (FÜSSEL) oder die
polemische Kirchenkritik (HEUMANN, VIERZIG) erinnern an die ideologischen Graben-
kämpfe und die Politisierung der Wissenschaft um 1968, was aus heutiger Perspektive
nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar ist.
3 Interview von Jürgen HEUMANN in diesem Band. Die in den Interviews von Heumann
und Vierzig artikulierte Kritik, nicht genügend in der fachwissenschaftlichen Diskus-
sion wahrgenommen worden zu sein, mag aus der heutigen Perspektive wie eine unzu-
friedene Krittelei wirken, doch bei näherer Betrachtung lässt sich durchaus ein Wahr-
heitskern der Wahrnehmung feststellen. Exemplarisch dafür steht Klaus Wegenasts Re-
zension von Siegfried Vierzigs Dissertation ‚Ideologiekritik und Religionsunterricht‘.
Diese scheint Wegenast, der Vierzig zufolge der einzige Religionspädagoge sei, der
sich mit seinem Ansatz beschäftigt habe, nicht besonders intensiv gelesen zu haben,
insofern sie pauschalen und polemischen Verdikten verfällt. So bemängelt Wegenast
die „Ideologieanfälligkeit“ des Werks, womöglich weil Vierzig die ‚Kritische Theorie‘
intensiv rezipiert. Auch die fehlende Theologizität wird moniert, ohne jedoch beispiels-
weise die intensive Auseinandersetzung Vierzigs mit der Politischen Theologie zu er-
wähnen: „Maßstab für eine angemessene theologische Bemühung ist […] im ganzen
Buch die Ethik, die Ethik Jesu wohlgemerkt, die Vierzig genau zu kennen scheint. Und
wo bleibt da das Grunddatum der Versöhnung in Christus und und und …? – Ein inte-
ressanter und konsequenter Versuch in einer Richtung, die m. E. falsch ist.“ (WE-
GENAST, Klaus: Religionspädagogik zwischen 1970 und 1980. Ein Forschungsbericht
in Kurzform, in: Theologische Literaturzeitung 106/3 (1981), 154–155, 155).
4 Beitrag von Thorsten KNAUTH in diesem Band.
616 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

gehen darzustellen, das um konkrete und fachdidaktische Überlegungen zu


ergänzen wäre. Besonders wertvoll könnte es sein, die im historischen
Überblick weniger bekannten Entwürfe einer politischen Religionspäda-
gogik näher zu untersuchen, die gerade auf der katholischen Seite zu finden
sind. Die Debatte dort war zwar „alles andere als ausgeprägt“, sie hat „ver-
spätet“5 stattgefunden und sich vor allem an der Auseinandersetzung um
das Werk „Fundamentalkatechetik“ (1968) von Hubertus Halbfas entzün-
det. Allerdings findet sich in den Spuren der Neuen Politischen Theologie
und der Theologie der Befreiung eine politische Tradition der Religions-
pädagogik, die besonders in Münster ein Zentrum besaß und die „große
Linie: Filthaut, Exeler, Mette“6 betrifft. Diese Ansätze werden auch heute,
ergänzt um Nebenakteure wie Heinrich Missalla, aufgegriffen und rezipiert
(KÖNEMANN). Ihre bedeutendste Wirkung entfaltet diese Tradition (wo-
möglich) im Synodenbeschluss ‚Der Religionsunterricht in der Kirche‘
(1974) (METTE).

Unmittelbar verbunden mit dem Problemorientierten Ansatz der religions-


pädagogischen Reformdekade um 1968 ist die wissenschaftstheoretische
Perspektive einer „Religionspädagogik als Ideologiekritik“7. Einer solchen
geht es darum, die sozialen Zusammenhänge von Wissenschaft im Sinne
der bekannten Frage von Johann B. Metz zu analysieren (KROTH): „Wer
treibt – wann und wo – für wen und in welcher Absicht Theologie?“8 Noch
stärker hervorzuheben wäre gegenwärtig dabei, dass eine kritisch-emanzi-
patorische Religionspädagogik die eigene Position und ihre Verstrickung
in die sozialen Zusammenhänge reflektieren und offenzulegen hätte. Zu

5 Interview von Norbert METTE in diesem Band.


6 Interview von Kuno FÜSSEL in diesem Band.
7 HEGER, Johannes: Wissenschaftstheorie als Perspektivenfrage?! Eine kritische Diskus-
sion wissenschaftstheoretischer Ansätze der Religionspädagogik, Paderborn: Ferdinand
Schöningh 2017, 137.
8 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen
Fundamentaltheologie, Mainz: Grünewald 51992, 10.
Rückblick und Zusammenfassung 617

berücksichtigen ist dabei eine doppelte Eingebundenheit, einerseits eine


ökonomisch-politische Eingebundenheit von Forschung und Lehre, wie sie
exemplifiziert werden kann an der kritischen Analyse von Herrschaftswis-
sen in religionspädagogischen Lexika oder der ökonomischen Bedeutung
von Kompetenzen (HELLGERMANN, HORSTMANN, WOHNIG). Anderer-
seits geht es um eine kirchlich-lehramtliche Eingebundenheit, deren ambi-
valente Wirkungen und strukturelle Gewaltförmigkeit ehrlich zu untersu-
chen ist (EICH, HALBFAS, KÖNEMANN, PIRKER). Ob ein so positiver Bezug
auf Papst Franziskus, wie er sich im Rahmen der politisch-theologischen
Ausführungen finden lässt (BÜRGER / JENDT, ENGEL, HELLGERMANN,
METTE, KROTH), auch in Zukunft noch trägt, muss an anderer Stelle ent-
schieden werden.

Eine systematische und historisch informierte Auseinandersetzung mit die-


ser wissenschaftstheoretischen Perspektive ist auch heute wertvoll, unter
anderem auch um von den damaligen Fehlern zu lernen.9 Vermieden wer-
den sollte heute beispielsweise eine reduktionistische Rede von Begriffen
wie ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘. Vielmehr gilt es diese heute poststruktu-

9 Die Auseinandersetzung mit den Fehlern ist auch deshalb wichtig, weil diese im gegen-
wärtigen Kontext eine Zuspitzung erfahren. Beispielhaft verdeutlichen lässt sich dies
am Begriff der ‚Ideologiekritik‘, der als politischer Kampfbegriff gelten kann. Dies
zeigt beispielsweise der Terminus ‚Gender-Ideologie‘ zeigt. Die Verstrickungen von
Gesellschaftskritik sollten genaustens analysiert werden, es gilt einen negativen von
einem kritischen Ideologiebegriff zu unterscheiden (vgl. RIEGER-LADICH, Markus:
Achselschweiß und Mundgeruch. Ideologiekritik nach Marx, in: ethik und gesellschaft
1 (2018), 1–21, 4). Ansonsten ließe sich auch nicht mehr trennscharf zwischen Ideolo-
giekritik und Verschwörungstheorie differenzieren, wie die Rede von einem „geradezu
teuflischen großen Zusammenhang“ (STEINKAMP) belegt. Auch die Abwehr einer ide-
ologiekritischen Perspektive auf Ideologie- bzw. Religionskritik selbst deutet auf Prob-
leme hin (HEUMANN). Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Ist die ideologiekritische Religions-
pädagogik am Ende? Die Problemorientierte Konzeption der religionspädagogischen
Reformdekade um 1968 auf dem Prüfstand, in: KÄBISCH, David (Hg.): Wind of change?
‚1968‘ und ‚1989‘ in der ost- und westdeutschen Religionspädagogik (AKHRP),
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020 (i. E.).
618 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

ralistisch neu zu denken und auch theologisch präziser auszubuchstabieren


(GRÜMME, HORSTMANN, METTE).

Bleibende Potenziale stellen die gesellschaftstheoretische Fundierung und


machtkritische Sensibilität der damaligen Ansätze dar. Trotz der Entste-
hung einer öffentlichen und politischen Religionspädagogik scheint derzeit
weiterhin eine Leerstelle religionspädagogischer Konzeptionsentwicklung
in der fehlenden Berücksichtigung gesellschaftlicher Strukturen und Herr-
schaftsverhältnisse zu bestehen. Im Licht der Vergangenheit erscheint die
Annahme durchaus plausibel, dass der Religionspädagogik in den letzten
Jahrzehnten ihr kritischer Stachel gezogen worden ist (KNAUTH, LEHNER-
HARTMANN, METTE). Dies mag auch daran liegen, dass die Kritische The-
orie im Laufe der letzten Jahrzehnte als religionspädagogische Bezugsdis-
ziplin an den Rand gedrängt wurde (HERBST, KNAUTH, METTE). Eine stär-
kere religionspädagogische Adaption aktueller Entwürfe Kritischer Theo-
rie steht gegenwärtig an, um auf einer grundlagentheoretischen Ebene zu
klären, wie die Hinwendung zum gesellschaftlichen und politischen
Kontext systematisch begründet und theoretisch adäquat durchgeführt wer-
den kann. Neben der Kritischen Theorie Frankfurter Proveninenz, die im
Zeitalter des autoritären Populismus erneut auf der Weltbühne der Sozial-
philosophie reüssiert,10 gilt es darüber hinaus auch auf poststrukturalisti-
sche, postmarxistische und postkoloniale Theoriezusammenhänge zu re-
kurrieren (GRÜMME, HORSTMANN, KÖNEMANN, LEHNER-HARTMANN,
PIRKER). Eine besondere Bedeutung, neben Pierre Bourdieu, Gayatri C.
Spivak oder Judith Butler, kommt dabei Michel Foucault zu. Im Anschluss
an deutschsprachige Adaptionen, zum Beispiel bei Andreas Reckwitz, Ul-
rich Bröckling, Isabell Lorey oder Byung-Chul Han, scheint eine gesell-
schaftskritische Perspektive auf neue Formen der subtilen Machtausübung

10 Vgl. z. B. GORDON, Peter E. / HAMMER, Espen / HONNETH, Axel: The Routledge Com-
panion to the Frankfurt School, New York: Routledge 2019.
Rückblick und Zusammenfassung 619

als Selbstoptimierung eine „generationsbildende Kritikform“11 darzustel-


len (GRÜMME, HOLBEIN-MUNSKE, LEHNER-HARTMANN). Von der Poli-
tischen Theologie (ENGEL, HELLGERMANN, KREUTZER), über die kritische
politische Bildung (FFE 4) hin zur Pädagogik (BÜNGER) werden zentrale
Erkenntnisse der Gouvernementalitätsforschung aufgegriffen und mit
Blick auf Bildungsprozesse weitergedacht. Auch in der Religionspädago-
gik wird eine solche gesellschaftstheoretische Zeitdiagnose immer wichti-
ger (GRÜMME, LEHNER-HARTMANN, STEINKAMP), um die gesellschaftli-
chen Zusammenhänge einer ‚multiplen Krise‘ adäquater nachvollziehen zu
können (LÖSCH).12 Kritische Theorie gilt es heute also breiter und pluraler
zu denken und auch, aber nicht nur in Bezug auf die Frankfurter Schule zu
entfalten.

Ein erster wichtiger Impuls dieses Sammelbandes liegt also darin, die
ideologiekritische Perspektive der Religionspädagogik wieder stärker zu
entfalten und unter neuen Bedingungen und in neuen Theoriebezügen zu
revitalisieren – im Sinne einer „jeweils zu aktualisierende[n] Kontextuali-
sierung“13. Insofern von den Fehlern und Potenzialen der Reformansätze

11 NASSEHI, Armin: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen
Vernunft (kursbuch.edition), Hamburg: Sven Murmann 22018, 13.
12 Der Rekurs auf gouvernementalitätstheoretische Analysen scheint gerade in der Reli-
gionspädagogik wertvoll, insofern auch für diese gilt, was Fulbert Steffensky im Inter-
view „besonders für Katholiken“ festhält: „Sie kämpfen immer noch gegen Autoritäten
[…], die ihre Autorität schon lange verloren haben.“ (STEFFENSKY) Beziehen lässt sich
dies aber beispielsweise auch auf den evangelischen Religionspädagogen Siegfried
Vierzig, wenn dieser konstatiert, dass heute ein Religionsunterricht nötig sei, „dessen
Thema das Leben ist, […] nicht eingegrenzt auf biblisch-religiöse Inhalte“ (VIERZIG,
HEUMANN). Allerdings verweist Hermann Steinkamp in seinem Interview darauf, dass
die subtilen und anonymen Herrschaftsmechanismen, die mithilfe von Foucault heraus-
gearbeitet werden können, in der Gegenwart bereits teilweise ihre Analysekraft einge-
büßt haben könnten. Schließlich lassen sich „heute antidemokratische Tendenzen,
Rückfälle in autokratische Verhältnisse und politische Barbarei beim Namen nennen:
Trump, Erdogan, Assad, Bolsonaro oder Maduro“ (STEINKAMP).
13 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
620 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

gleichermaßen gelernt werden kann, müssen diese weder pauschal diskre-


ditiert, noch unmittelbar glorifiziert werden, um einen Lernertrag aus der
Beschäftigung mit ihnen zu generieren.

2 Systematischer Impuls: Interdisziplinär informierte Reflexion


der Verbindung von religiöser und politischer Bildung

Wichtige Ausgangspunkte dieses Sammelbandes stellen, wie erläutert, die


gesellschaftlichen und politischen Krisen der Gegenwart dar. Diese werden
in den unterschiedlichen Beiträgen aufgegriffen und für die religionspäda-
gogische Theoriebildung produktiv gemacht. Beispielsweise lässt sich dies
am Thema „Klimawandel“ und der sozialen Bewegung „Fridays for Fu-
ture“ verdeutlichen (HELLGERMANN, LEHNER-HARTMANN, PIRKER). Zu
den Herausforderungen unserer Zeit zählen die Autor*innen daneben auch
gesellschaftliche Krisen wie soziale Ungleichheit oder kapitalistische
Produktionsbedingungen (KREUTZER, METTE). Diese kontextuellen Deter-
minanten beeinflussen reale Prozesse religiöser Bildung und ihre Konzep-
tualisierung. Insbesondere forcieren sie die Reflexion auf das Verhältnis
von religiöser und politischer Bildung. Auch wenn dieses in der jüngeren
Zeit vermehrt religionspädagogisch bedacht wird, geschieht dies beinahe
gänzlich ohne den Bezug auf die kritische politische Bildung, die in diesem
Band im Fokus steht. Der Austausch und Dialog mit diesem neuen Para-
digma politikdidaktischer Theoriebildung stellt ein besonderes Anliegen
dieses Sammelbandes dar (BÜNGER, GAUTIER, LÖSCH, RICKEN, WOHNIG).
Damit handelt es sich um den Impuls, einen bereits existierenden Dialog
fortzuführen – zu intensivieren, zu profilieren und zu differenzieren.14

14 GRÜMME, Bernhard: Ein unabgeschlossener Dialog der Fächer – Religion und Politik,
in: BESAND, Anja / GESSNER, Susann (Hg.): Politische Bildung mit klarem Blick (FS
Wolfgang Sander), Frankfurt am Main: Wochenschau 2018, 228–237.
Rückblick und Zusammenfassung 621

In der Auseinandersetzung mit der Frankfurter Erklärung für eine kritisch-


emanzipatorische politische Bildung konnte das Programm einer kritisch-
emanzipatorischen Religionspädagogik angeschärft werden. Deren Grund-
sätze – Krisenorientierung, Kontroversität, Machtkritik, Reflexivität, Er-
mutigung und Veränderung – haben sich auch für die Religionspädagogik
als weiterführende Reflexionskategorien erwiesen, anhand derer kritisch-
emanzipatorische religiöse Bildung kritisch begutachtet, pointiert auf den
Begriff gebracht und neu konzipiert werden kann (EICH, KELLER / KLÄSE-
NER). So wurde dargelegt, wie in der Christlichen Arbeiterjugend anhand
der politisch-spirituellen Methode Reflection of Life and Workers‘ Action
(ROLWA) in der gemeinsamen Reflexion alltägliche Auswirkungen ge-
sellschaftlicher Krisen auf die eigene Lebenswelt erschlossen werden
(HOLBEIN-MUNSKE). Dann wurde Kontroversität als kritisches Kriterium
verwendet, um die formalen und inhaltlichen Einseitigkeiten von Bil-
dungsveranstaltungen der katholischen Begabtenförderung des ‚Cusanus-
werks‘ zu problematisieren (DEBOUR). Machtkritische Perspektiven lassen
sich religionspädagogisch durch die Schärfung von Wahrnehmung und äs-
thetisch-kulturell fundierte Perspektivwechsel in die konkreten Bildungs-
prozesse eintragen (GÄRTNER, WÜLLHORST). Die gängige Frontstellung
von politisch und ästhetisch orientierter Religionspädagogik, die durch die
Annahme einer ‚kulturhermeneutischen Wende‘ angebahnt wird (GRÜM-
ME, KÖNEMANN), ist (tendenziell) zu unterlaufen, insofern die Verbindung
von politischer und ästhetischer Dimension, von Sozial- und Künstlerkri-
tik, für damalige und heutige Entwürfe einer kritisch-emanzipatorischen
Religionspädagogik zentral ist (GÄRTNER, HEUMANN, PIRKER). Wertvoll
könnte die Rezeption historischer ‚Grenzgänger‘ sein, die Ästhetik, Kritik
und Politik zusammen gedacht und eng miteinander verbunden haben, bei-
spielsweise Peter Biehl oder Henning Luther (EICH, HERBST, HORST-
MANN, KÖNEMANN, LEHNER-HARTMANN). Zudem zeigt die ideologiekri-
tische Auseinandersetzung mit Sozialprojekten eine mangelnde religions-
pädagogische Reflexivität, insofern sie dazu tendieren, politische Kon-
flikte unsichtbar zu machen, in die auch die Schüler*innen und Lehrer*in-
622 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

nen eingebunden sind (HERBST, WOHNIG). Zugleich können außerschuli-


sche Bildungsprozesse, die leistungsunabhängige Selbstwirksamkeitser-
fahrungen ermöglichen, die Teilnehmer*innen zu kritisch-konstruktiven
Engagement in der Gesellschaft ermutigen (BARTMANN / HERBST / SCHÄ-
FER). Und ein Religionsunterricht, der die individualistische Tendenz der
Kompetenzorientierung aufbricht und die Schüler*innen zur politischen
Handlungsfähigkeit befähigt, kann sogar als Impuls zur ökologisch-demo-
kratischen Veränderung begriffen werden (BÜRGER / JENDT).15

Ein Konsens in den Beiträgen scheint die Kritik an einem reduzierten Bil-
dungsverständnis darzustellen, dass vorwiegend auf die Anforderungen
des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist, die Lernenden „zu einem findigen Tas-
tendrücker“16 zu erziehen. Es wird an die Tradition einer kritischen Bil-
dungstheorie angeschlossen, für die beispielsweise Theodor W. Adorno,
Paulo Freire, Heinz-Joachim Heydorn oder Helmut Peukert stehen (BÜN-
GER, HORSTMANN, KÖNEMANN, LÖSCH, RICKEN). In der Auseinanderset-
zung mit ihnen lässt sich ein affirmativer Bildungs- und ein idealistischer
Subjektbegriff problematisieren, wie er gegenwärtig in der Religionspäda-
gogik häufig verwendet wird.17 Voraussetzung dafür ist, dass die Subjekte
nicht als isolierte Monaden, sondern als zutiefst geprägt von den gesell-
schaftlichen Strukturen aufgefasst werden. Ausgehend von diesen Überle-
gungen können die religionspädagogische Kompetenzorientierung (HALB-

15 Wird Subjektorientierung konsequent gedacht und das Anliegen der religionspädago-


gischen Reformentwürfe ernst genommen, „Unterricht von den tatsächlichen Bedürf-
nissen der Schüler her neu zu überdenken“ (RICKERS), muss Kompetenzorientierung
fundamental infrage gestellt werden. Vgl. HEDTKE, Reinhold: Das Interesse der Schü-
ler, Abwehr entfremdeten Lernens bei Rolf Schmiederer, in: MAY, Michael / SCHATT-
SCHNEIDER, Jessica (Hg.): Klassiker der Politikdidaktik neu gelesen. Originale und
Kommentare, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2011, 167–189.
16 Karl Rahner nach dem Interview von Kuno FÜSSEL in diesem Band.
17 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Vorsicht Schlagseite! Was im Bildungsdiskurs der Religions-
pädagogik gegenwärtig zu kurz kommt, in: Theologisch-Praktische Quartalsschrift 158
(2010), 123–131.
Rückblick und Zusammenfassung 623

FAS, HELLGERMANN, HEUMANN) sowie eine individualistische Verengung


bestimmter Sozialprojekte im Rahmen religiöser Bildungsprozesse syste-
matisch kritisiert werden (HERBST, WOHNIG).

Da es sich um den Impuls zu einem interdisziplinär fundierten Dialog han-


delt, gilt es dabei das Proprium der Religionspädagogik und die Eigen-Lo-
gik religiöser Bildung zu bewahren und ggf. zuzuspitzen. Kritisch-emanzi-
patorische Religionspädagogik muss demnach nicht nur interdisziplinär in-
formiert, sondern auch theologisch fundiert erfolgen (HORSTMANN, MET-
TE). Dies kann besonders durch eine Rezeption der Politischen Theologie
und ihrer Aktualisierungsversuche gelingen (ENGEL, GRÜMME, HELLGER-
MANN, KÖNEMANN, KREUTZER, KROTH, LEHNER-HARTMANN, WOHNIG).
Religionspädagogisch könnten so beispielsweise spezifische Kritikgegen-
stände und -formen präzisiert werden, die in der Sozialphilosophie oder
Bildungstheorie bisher tendenziell unterbeleuchtet bleiben, weil die Sensi-
bilität für das Religiöse noch zu wenig ausgeprägt ist. Zu religiös forma-
tierten Gegenständen von Machtkritik zählen in den Beiträgen der Theis-
mus (z. B. HORSTMANN), bestimmte Formen religiöser Sozialisation (z. B.
METTE), Letztbegründungsphilosophie bzw. -theologie (z. B. KROTH),
bürgerliche Religiosität (z. B. HELLGERMANN) oder ein identitäres Chris-
tentum (z. B. ENGEL, GAUTIER).

Abschließend kann konzediert werden, dass ein weiterer systematischer


Impuls dieses Sammelbandes darin besteht, die Verbindung von religiöser
und politischer Bildung interdisziplinär informiert zu reflektieren und hin-
sichtlich der kritisch politischen Bildung zu vertiefen. Grundlegend geht
es um die Entwicklung einer kritischen Theorie religiöser Bildung, um „die
624 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen und ihnen nicht lediglich un-


terworfen zu sein.“18

3 Praktischer Impuls: Perspektiven einer kritisch-


emanzipatorischen Ausrichtung religiöser Bildungsprojekte

In der bisherigen Forschung zur politischen Dimension religiöser Bildung


besteht ein zentrales Desiderat darin, die bisherigen programmatischen
Überlegungen didaktisch und methodisch zu konkretisieren.19 Diese Leer-
stelle stellt ein eklatantes Problem dar, insofern ‚Kritik‘ und ‚Emanzipa-
tion‘ Begriffe darstellen, die nicht idealistisch-abstrakt über dem realen
Geschehen schweben, sondern einen unmittelbaren Praxisbezug implizie-
ren. Dieses Desiderat konnte mit dem Sammelband zwar nicht gänzlich
behoben werden, allerdings werden in den Praxisbeiträge Projekte außer-
schulischer und schulischer religiöser Bildung politisch dimensioniert und
so erste Perspektiven aufgezeigt, wie existierende Bildungsprozesse kri-
tisch-emanzipatorisch ausgerichtet werden können. In diesen Beiträgen
wird exemplarisch verdeutlicht, was es bedeutet das Politische als „ein
durchgängiges Handlungs- und Reflexionsprinzip“20 der Religionspädago-
gik zu begreifen. Dies kann auf zweifache Weise gelingen.

Einerseits geht es um eine kritische Sichtung bestehender Bildungspraxis,


um beispielsweise fehlendes politisches Bewusstsein, Pseudopartizipation
oder unterkomplexe Inhalte problematisieren zu können (HELLGERMANN,
LÖSCH). Anwenden ließe sich dies auf die Analyse von Curricula, Lehr-
werken oder realer Unterrichtspraxis.21 Dabei treten auch mögliche Apo-

18 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.


19 Vgl. MENDL, Hans: Weltverantwortung. Politisch und global lernen im Religionsunter-
richt, in: ÖRF 27/1 (2019), 57–72, 72.
20 Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.
21 Ein Beispiel dafür stellt das Dissertationsprojekt „Repräsentationen des Globalen Sü-
dens in dem evangelischen Schulbuch ‚Das Kursbuch Religion‘ (1976–2017) – eine
Rückblick und Zusammenfassung 625

rien einer kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik zutage, insofern


eine solche in der Gefahr steht, neue Ausschlüsse zu evozieren (GAUTIER,
HORSTMANN). Andererseits geht es um die konstruktive Neujustierung re-
ligiöser Bildungspraxis, gerade im Hinblick auf den durch äußere Deter-
minanten eingeschränkten Religionsunterricht (BÜRGER / JENDT, GÄRT-
NER, HERBST). In den unterschiedlichen Beiträgen wurde dabei reflektiert,
wie religiöse Bildungspraxis die Menschen ermächtigen kann, „Dinge und
Zusammenhänge, die bisher unhinterfragt blieben, neu zu entdecken und
sich aus den damit verbundenen Zwängen und Bestimmungen zu be-
freien“22. Beispielsweise wird das „Lernen über Geschichten, Bewegungen
und Praktiken des Widerstands“ vorgeschlagen, wie es in Bezug auf das
Thema Rassismus „eine nicht-idealisierende Auseinandersetzung mit den
von Martin Luther King und Malcolm X vertretenen Ansätzen“23 ermög-
licht werden könne. Eine andere Konkretisierung stellt das „Escape-Game
#DemoEx“ dar, das leiblich-spielerisch Motive dafür erschließt, religiös-
fundamentalistische Praxis analytisch durchdringen zu können (KELLER /
KLÄSENER). Die Methode dient dazu einen „Erfahrungs- und Diskussions-
rahmen zu bieten“24, um gefühlsbasierte Erfahrungsprozesse reflektieren
und kritisch diskutieren zu können.

Zwei Merkmale einer kritisch-emanzipatorischen Bildungspraxis werden


besonders sichtbar. Erstens scheint eine solche darauf angewiesen zu sein,
schulische und außerschulische Zusammenhänge miteinander zu ver-
schränken.25 Schließlich können so die Vorzüge des jeweiligen Kontextes

Thematische Diskursanalyse vor dem Horizont postkolonialer Theorien“ von Julia


Henningsen dar.
22 Beitrag von Andrea LEHNER-HARTMANN in diesem Band.
23 Beitrag von Dominik GAUTIER in diesem Band, Kursivsetzung C. G. / J. H.
24 Beitrag von Andrea KELLER und Robert KLÄSENER in diesem Band.
25 Ein solcher Impuls ergibt sich auch aus der Geschichte kritisch-emanzipatorischer Re-
ligionspädagogik, in der gerade die Jugendverbände eine solche Programmatik beför-
dert und vorangebracht haben (METTE, STEINKAMP).
626 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

genutzt und die Schwächen wechselseitig kompensiert werden. Dies wird


besonders deutlich an Projekten wie ‚Compassion‘ (WOHNIG) oder ‚Tagen
religiöser Orientierung‘ (BARTMANN / HERBST / SCHÄFER). Sie erreichen
auf der Basis von teilnehmenden Schulklassen Menschen unterschiedli-
cher Milieus, sie sind jedoch nicht in dem Maße wie der Religionsunter-
richt den spezifischen Zwängen und Grenzen der Schule ausgesetzt, wie
sie durch die Bedingungen von Notengebung und Stundenplan vorgegeben
sind. Zweitens fällt auf, dass pädagogische Konzepte mittlerer Reichweite
bevorzugt werden, um die enorme Differenz zwischen den abstrakt-theo-
retischen Grundlagenüberlegungen einer kritisch-emanzipatorischen The-
oriebildung und ihrer Praxiskonzeptualisierung zu überbrücken. Bezugge-
nommen wird dabei zum Beispiel auf die Themenzentrierte Interaktion
(BARTMANN / HERBST / SCHÄFER, DEBOUR, WÜLLHORST), die CAJ-Me-
thode ROLWA (HOLBEIN-MUNSKE), postdramatische Theaterpädagogik,
Bibliodrama oder Anti-Bias-Arbeit (DEBOUR). Anhand dieser Ansätze, so
zeigen die Praxisbeiträge, lässt sich der Anspruch einer politisch reflektier-
ten und kritisch-emanzipatorischen religiösen Bildung adäquat konkreti-
sieren.

4 Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Resümierende Überlegungen

Der Sammelband ist programmatisch mit „Kritisch-emanzipatorische Re-


ligionspädagogik“ betitelt. Was lässt sich abschließend darunter verste-
hen? Resümierend gilt es die im Sammelband enthaltene Semantik der
zentralen Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ zu bündeln. Bereits in der
Einleitung wurde eine Arbeitsdefinition für beide gegeben, die durchaus in
der Nähe des gängigen Alltagsverständnisses liegen dürfte. Für den Ver-
lauf des Sammelbandes wurde ein konstellativer Begriffszugang verspro-
Rückblick und Zusammenfassung 627

chen.26 Dadurch wurde die Bandbreite an Verständnissen deutlich, die ge-


genwärtig diskutiert werden. Schließlich ging es darum, ‚Kritik‘ und ‚E-
manzipation‘ als Problembegriffe zu verstehen: Sie sind die Träger theo-
retischer und praktischer Probleme, die nur in den dargestellten Span-
nungsfeldern und der aufgeworfenen Pluralität der Zugänge angemessen
erschlossen werden können. Allerdings wurde keine bisher „endgültige be-
griffliche Erfassung“ herausgearbeitet, wobei eine solche auch „nicht am
Anfang, sondern […] am Schluß der Untersuchung“27 stehen sollte. Dieser
Schluss ist nun erreicht, sodass zumindest überblicksartig, anhand der Bei-
träge im Sammelband, die Bedeutung von ‚Kritik‘, ‚Emanzipation‘ und
damit von einer ‚kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik‘ nachzu-
vollziehen sein wird. Offensichtlich ist, dass es sich um weite Begriffe,
ggf. sogar leere Signifikanten handelt, die auf vielfältige Weise gefüllt wer-
den können, zum Beispiel mit „Verstand (Kritik) und Freiheit (Emanzipa-
tion)“28. Um diese Bandbreite in den Griff zu bekommen, werden drei Un-
terscheidungen rekonstruiert, die die Beiträge dieses Bandes systematisie-
ren können. ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ lassen sich partikularistisch oder
universalistisch denken, in Bezug auf das Individuum oder die Gesellschaft
entfalten sowie insgesamt in einem weiten oder engen Sinne auffassen.

26 Dieser methodische Zugang ist durch ein dialektisches Begriffsverständnis im An-


schluss an Hegel geprägt, er wurde vor allem im Rahmen der frühen Kritischen Theorie
entfaltet, aber auch in der Politischen Theologie aufgenommen (KROTH). Eine viel-
schichtige und spannungsreiche Realität könne, so die Annahme, nicht anhand wider-
spruchsloser und eindeutig definierter Begriffe erfasst werden. Will Denken einer sol-
chen Realität gerecht werden, müsse dieses konstellativ erfolgen. In Adornos Worten
bedeutet das: „Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er
öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kas-
senschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern
eine Nummernkombination“ (ADORNO, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1975, 166).
27 Max Weber nach EBD., 167. Adorno lässt, im Gegensatz zu Weber, allerdings offen,
„[o]b es einer solchen Definition am Schluß allemal bedarf“ (EBD.).
28 Beitrag von Fulbert STEFFENSKY in diesem Band.
628 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik, die sich eher am Par-


tikularen orientiert, kritisiert einzelne Ausschlüsse, deren strukturelle
Wirkmechanismen fokussiert werden. Exemplifizieren lässt sich diese Per-
spektive an konkreten Themen wie Rassismus- bzw. Anthropozentrismus-
Kritik (GÄRTNER, GAUTIER, HORSTMANN). Emanzipation bedeutet in die-
sem Zusammenhang die Beseitigung spezifischer Unrechtsstrukturen, un-
ter denen die anvisierte Bezugsgruppe leidet. Dementgegen bezieht sich
universalistische Kritik bzw. Emanzipation auf soziale Verhältnisse, von
denen die meisten oder gar alle Menschen benachteiligt werden. Die Sub-
jektivierungsfigur des ‚Unternehmerischen Selbst‘, die, wie bereits darge-
legt, in vielen Beiträgen aufgegriffen wurde, stellt dafür ein Beispiel dar.
Schließlich sind in unserer Gesellschaft (fast) alle vom Imperativ der Leis-
tungssteigerung betroffen. Tendenziell lassen sich den beiden Formen die
Begriffe ‚Diskriminierung‘ und ‚Ausbeutung‘ zuordnen. Allerdings, so hat
sich gezeigt, sollten diese beiden Formen nicht gegeneinander ausgespielt,
sondern kritisch miteinander vermittelt werden. Während die partikularis-
tische Denkfigur dazu tendiert, das Gemeinsame und Verbindende von
Macht- und Herrschaftsverhältnissen aus dem Blick zu verlieren, scheint
die universalistische Perspektive die ‚Dialektik der Emanzipation‘ zu ver-
kennen: Sie übersieht, dass emanzipatorische Anliegen, selbst neue Aus-
schlüsse hervorrufen können und in die kritisierten Zusammenhänge ver-
strickt bleiben.

Eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik, die sich eher am Indi-


viduum orientiert, basiert auf der Wertschätzung von Individualität. Ihr
Anliegen ist die Möglichkeit einer freien Selbstentfaltung der Einzelnen,
die mit Begriffen wie ‚Mündigkeit‘ oder ‚Autonomie‘ bezeichnet wird.
Gesellschaftliche Strukturen kommen hier in den Blick, insofern sie eine
solche verhindern. Die individuumszentrierte Perspektive findet sich häu-
fig, aber nicht zwingend bei denjenigen, die sich an einem emphatischen
Bildungsbegriff ausrichten (DEBOUR, EICH, KELLER / KLÄSENER, KÖNE-
MANN). Dementgegen steht für eine gesellschaftsbezogene Religionspäda-
Rückblick und Zusammenfassung 629

gogik die gesellschaftstheoretische Analyse von Macht- und Herrschafts-


verhältnissen im Zentrum. Die Perspektive wird umgedreht: Während im
ersten Fall die freie Entfaltung der Einzelnen die Voraussetzung für die
freie Entfaltung aller darstellt, wird hier davon ausgegangen, dass sich die
Einzelnen nur in herrschaftsfreien sozialen Verhältnissen frei entfalten
können (BÜRGER / JENDT, HELLGERMANN, KROTH, WOHNIG). Auch hier
scheint eine falsche Frontstellung wenig zielführend zu sein, wie in der
Auseinandersetzung mit der kritischen Bildungstheorie von Heydorn ver-
deutlicht wurde. In dieser lässt sich Bildung nur als Reflexion des Indivi-
duums denken, dass die eigene Situiertheit in den gesellschaftlichen Wi-
dersprüchen vermittelnd aufhebt (BÜNGER, KÖNEMANN, RICKEN).

Eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik, die von ‚Kritik‘ und


‚Emanzipation‘ in einem weiten Begriffssinn spricht, lässt sich leichter auf
bestehende Bildungskonzepte übertragen, insofern relativ viele Projekte
und Lernprozesse als ‚kritisch‘ und ‚emanzipatorisch‘ bezeichnet werden
können (DEBOUR, EICH, KELLER / KLÄSENER). Verdeutlichen lässt sich
diese Unterscheidung besonders prägnant an den Praxisbeiträgen. Wenn
bereits dort eine kritisch-emanzipatorische Bildung vermutet wird, „wo es
gelingt Themen zu eruieren, die Person und Tradition miteinander verbin-
den“29, werden Ansprüche formuliert, die insgesamt religiöser Bildung zu-
grunde liegen. Gleiches gilt für die Formulierung, dass die Einzelnen „er-
mutigt werden, Subjekte ihrer eigenen Bildungsbiographie zu werden und
sich für Veränderung im eigenen Leben wie auch in der Gesellschaft ein-
zusetzen“30. Kennzeichnend für kritisch-emanzipatorische Bildung im
weiten Sinn ist der assoziative Bezug auf gesellschaftspolitische Verhält-
nisse, ein eher formales und allgemeines Verständnis von Machtkritik so-
wie ein Fokus auf die Perspektive individueller Ermutigung. ‚Kritik‘ und

29 Beitrag von Klaus-Gerd EICH in diesem Band.


30 Beitrag von Clara DEBOUR in diesem Band.
630 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

‚Emanzipation‘ werden hier zum Teil so weit gefasst, dass eine Unterschei-
dung zu unkritischer und nicht-emanzipatorischer Bildung beinahe nicht
mehr möglich ist. Dementgegen basiert ein engeres Verständnis von kri-
tisch-emanzipatorischer Bildung auf einer klaren Vorstellung von ‚Kritik‘
und ‚Emanzipation‘, die nicht nur formal, sondern auch material bestimmt
werden (BARTMANN / HERBST / SCHÄFER, GÄRTNER, HOLBEIN-MUNSKE,
LÖSCH). Kritisiert werden dann „Geschlechterstereotype“31, das „Unter-
nehmerische Selbst“32 oder eine „strukturelle Prekarisierung“33, wobei eine
solche Kritik zumeist auf der gesellschaftstheoretischen Analyse sozialer
Verhältnisse aufbaut. Kennzeichnend für kritisch-emanzipatorische Bil-
dung im engen Sinn ist der gesellschaftstheoretisch vermittelte Bezug auf
den politischen Kontext, wie er beispielsweise im Begriff der „multiplen
Krise“34 ausgedrückt ist. Dadurch bestimmt ist auch ein schärferer Blick
für bestehende Machtverhältnisse, deren Plausibilität jedoch von der Über-
zeugungskraft der zugrundeliegenden Gesellschaftstheorie abhängt. Zu-
dem ist die Perspektive kollektiver Veränderung dadurch notwendig inklu-
diert, weil die Machtkritik häufig so grundlegend ist, dass Emanzipation
nicht durch individuelles Verhalten, sondern nur durch strukturelle Trans-
formationen zu erreichen ist. Ein enger Begriff kritisch-emanzipatorischer
Bildung ermöglicht ein klares Unterscheidungsvermögen darüber, wann
Bildungsprozesse (nicht) als kritisch-emanzipatorisch zu bezeichnen sind.
Die Schwierigkeit im Umgang mit einer kritisch-emanzipatorischen Reli-
gionspädagogik besteht nun darin, dass der eine Extremfall eines sehr wei-
ten Begriffsverständnisses möglicherweise ziemlich trivial erscheint, der
andere einer sehr engen Auffassung aber äußerst gewagt wirkt. Auch hier

31 Beitrag von Claudia GÄRTNER in diesem Band.


32 Beitrag von Friederike BARTMANN / Jan-Hendrik HERBST / Simon SCHÄFER in diesem
Band.
33 Beitrag von Christoph HOLBEIN-MUNSKE in diesem Band.
34 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
Rückblick und Zusammenfassung 631

gilt es die Schwierigkeiten angemessen zu vermitteln, ohne in ein einseiti-


ges Extrem zu geraten.

Die Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische Bildung stellt


für diesen Sammelband einen wichtigen Bezugspunkt dar (ENGEL, GAU-
TIER, LÖSCH). Ihre Stärke ist es, die hier unterschiedenen Begriffe von
‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ zu umfassen, je nachdem wie man die sechs
Grundsätze priorisiert und wie stark man sie inhaltlich füllt. In gewisser
Hinsicht lässt sie sich als kleinster gemeinsamer Nenner dieser Beiträge
auffassen, es gibt ihr gegenüber keinen expliziten Widerspruch. Auch eine
kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik orientiert sich demnach an
den Kategorien von Krisenorientierung, Kontroversität, Machtkritik, Re-
flexivität, Ermutigung und Veränderung, um „sich den Emanzipations-
gedanken neu anzueignen“35. Das bedeutet mindestens, dass in religiösen
Bildungsprozessen die Lernenden dabei unterstützt werden, „sich nicht-
reflektierter Prägungen bewusst zu werden, solche Einflusssphären zu
benennen und sich ggf. von diesen zu distanzieren.“ 36 Diese
ideologiekritisch-individuelle Perspektive, die mit Foucault zugespitzt als
„Entschlossenheit, ‚sich so nicht regieren zu lassen‘“37 verstanden werden
kann, sollte jedoch ergänzt werden durch die Eröffnung von Solidarisie-
rungsprozessen (STEINKAMP). Allerdings bleibt unklar, ob und wie Bil-
dung dazu beitragen sollte, Menschen gegenüber ‚falschen‘ gesellschaft-
lichen Entwicklungen „zu immunisieren“38. Diese offene Frage stellt nicht
das einzige Desiderat des Sammelbandes dar. Aufgrund der vielfältigen
Beiträge gilt es den Rückblick nun prospektiv zu wenden und Leerstellen,

35 Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band.


36 Thomas Schlag und Jasmine Suhner zitiert nach dem Interview von Norber METTE in
diesem Band.
37 Michel Foucault zitiert nach dem Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.
38 Beitrag von Siegfried VIERZIG in diesem Band.
632 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Desiderate und Probleme zu thematisieren, die sich aus den Beiträgen für
weiterführende religionspädagogische Forschung ergeben.
Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Offene Fragen und programmatischer Ausblick

Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Die interdisziplinären Beiträge des Sammelbandes inspirieren eine kri-


tisch-emanzipatorische Religionspädagogik und tragen zu deren Weiter-
entwicklung bei. Im resümierenden Rückblick wurden drei Impulse der
Beiträge im Sammelband herausgearbeitet und begriffliche Differenzie-
rungen eingeführt, um ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ adäquater begreifen zu
können. Dabei ist jedoch auch, wie bereits in den jeweiligen Hinführungen
zu den unterschiedlichen Teilen des Sammelbandes skizziert, deutlich ge-
worden, dass es Desiderate gibt, die es an dieser Stelle präziser zu benen-
nen gilt. Denn die Lektüre der Aufsätze macht auf blinde Flecken und un-
bearbeitete Felder aufmerksam, die hier abschließend und sicherlich nicht
vollständig in Form offener Fragen markiert werden sollen. Gefragt wird
somit, welche Probleme einer kritisch-emanzipatorischen Religionspäda-
gogik noch nicht hinreichend bedacht wurden und zukünftig aufgegriffen
werden können.

1 Welche historisch bekannten Probleme und Aporien einer


kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik gibt es und
wie können diese vermieden werden?

Der Bezug zur religionspädagogischen Reformdekade und zur Problem-


orientierten Konzeption wurde auch damit gerechtfertigt, dass aus gemach-
ten Fehlern gelernt werden kann. Dies ist derzeit besonders relevant, inso-
fern „sich gegenwärtige und historische Debatten um eine ungebührliche
Politisierung von Religionspädagogik bzw. Politikdidaktik überlagern.“ 1

1 Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_35
634 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Allerdings findet sich in der Forschung bisher keine systematische Fehler-


analyse, die auf einer theoriekonstitutiven Ebene die Ursachen vom „Prob-
lem der Probleme“ (K. Wegenast) adäquat herausarbeitet. Nach Bernhard
Dressler fehlt weitgehend „eine genauere Auseinandersetzung mit den Ein-
wänden der Kritiker“.2 Dazu zählt sicherlich auch, die Vielfalt in der Tra-
dition kritisch-emanzipatorischer Ansätze wahrzunehmen und begriffliche
Fallstricke von ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ angemessen zu problematisie-
ren (KÖNEMANN). Die Auseinandersetzung mit vergangenen Schwierig-
keiten können an einem Beispiel verdeutlicht werden.

Die (vermeintliche) Traditionsvergessenheit des Problemorientierten RU


ist der gegenwärtigen Religionspädagogik als Problemanzeige bewusst
(z. B. GRÜMME). Mit der Würzburger Synoden und einigen katholischen
Ansätzen liegen jedoch traditionsbewusste religionspädagogische Konzep-
tionierungen vor, an die auch heute eine kritisch-emanzipatorische Religi-
onspädagogik anknüpfen kann (z. B. KÖNEMANN). So betrachtet beispiels-
weise Andrea Lehner-Hartmann Traditionen als Orientierungsangebote,
die jedoch nicht unreflektiert übernommen, sondern einen, ‚Relevanz-
check‘ benötigen. „Die Sinnangebote aus der Tradition sind also der kriti-
schen Aneignung und Transformation der jungen Menschen auszusetzen.
Diese Form der Kritik darf die Religionspädagogik den jungen Menschen
nicht abnehmen, sondern sie muss sie dazu ermuntern.“3 Dabei ist jedoch
weitgehend offen, anhand welcher Kriterien eine solche Kritik vorgenom-
men werden kann, um nicht beliebig zu werden, sondern eine Unterschei-
dung der Geister zu entwickeln. Lehner-Hartmann schlägt zwei theologi-
sche Kriterien vor, die von der Politischen Theologie inspiriert sind: ein

2 DRESSLER, Bernhard: Rez. zu KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Religionsunter-


richt. Eine kritische Rekonstruktion, in: Theologische Literaturzeitung 129 (2004),
1369–1373, 1373, mit Bezug auf die sicherlich historisch umfassendste Darstellung der
Reformdekade von Thorsten Knauth.
3 Beitrag von Andrea LEHNER-HARTMANN in diesem Band.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 635

nicht fassbares Gottesbild, in dem sich Gott sowohl als deus revelatus als
auch deus absconditus erweist, sowie eine parteiliche Theologie für Aus-
geschlossene und Marginalisierte. Im interdisziplinären Horizont einer kri-
tisch-emanzipatorischen Religionspädagogik überzeugt diese Konzeptio-
nierung des Umgangs mit Traditionen. Dennoch ist augenfällig, dass in den
religionspädagogischen Theoriebeiträgen der Rekurs auf Tradition merk-
lich formal verbleibt bzw. an theologischen Leitgedanken eher grob aus-
gerichtet ist (METTE). Überzeugt es letztlich, wenn religiöse Traditionen
hauptsächlich „als ‚Anti-Traditionen‘ zu herrschenden sozialen Praxen
von Gewalt, Ungerechtigkeit und Machtsteigerung“ 4 aufgefasst werden?
Und wie ist Tradition dann in die Praxis einzuspeisen, noch dazu in einen
Kontext, in dem (religiöse) Traditionen nahezu abgebrochen sind? Hier
wird ein Desiderat der vorliegenden Beiträge zu einer kritisch-emanzipa-
torischen Religionspädagogik deutlich, dass sich auch in den Praxisfeldern
widerspiegelt, in denen die Bezugnahme auf Traditionen nahezu unter-
bleibt (z. B. BARTMANN / HERBST / SCHÄFER, BÜRGER / JENDT, DEBOUR).
Nur wenn es gelingt, die vergangenen Fehler adäquater zu verstehen, kann
die Vergangenheit als Gradmesser und Garant für die Qualität zukünftiger
Diskussionen dienen.

2 (Wie) kann eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik


die Eigenlogik religiöser Bildung adäquat beachten?

Eng verbunden mit der ersten Frage ist das Thema des Eigen-Werts einer
kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik. Was kann religiöse Bil-
dung Spezifisches zu einer kritisch-emanzipatorischen Pädagogik beitra-
gen? Ansgar Kreutzer trägt mit seinem Bezug auf Dorothee Sölles „Mystik
als Widerstand“ eine theologische Perspektive in die Debatten ein, die in
zweifacher Perspektive für eine kritisch-emanzipatorische Religionspäda-

4 Beitrag von Thorsten KNAUTH in diesem Band.


636 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

gogik weiterführend sein kann. Erstens wird mit dem Rekurs auf Mystik
eine dezidiert religiöse Ressource von Befreiungs- und Emanzipationspro-
zessen hervorgehoben.5 Dabei ist zweitens aufschlussreich, dass mit Mys-
tik ein Traditionsangebot eingebracht wird, dass nicht als kognitives Ori-
entierungsangebot, sondern als spirituelle Quelle erschlossen wird. Erin-
nert sei in diesem Zusammenhang an Rudolf Englert, der vor einer kogni-
tiven Verengung der Religionspädagogik warnt und auffordert Traditionen
zu pflegen, die stärker das „Herz“ ansprächen.6 Aber wie lassen sich diese
Überlegungen in Bezug auf reale Prozesse religiöser Bildung operationa-
lisieren? Und welche weiteren Traditionsressourcen könnten und sollten
darüber hinaus gehoben werden? Gegenwärtig stellen diese Fragen noch
ein Desiderat kritisch-emanzipatorischer Religionspädagogik dar – obwohl
bereits Folkert Rickers gegenüber der Politikdidaktik Rolf Schmiederers
darauf hingewiesen hat, dass diese auf „transzendente Elemente in der
Immanenz“7 angewiesen sei. Und auch Carsten Bünger fragt in seinem
Beitrag, wie beim „faktischen Schwund der Überzeugungskraft großer Er-
zählungen“ die Möglichkeit von Bildung zu denken sei, die mehr als ein
fatalistisches Bewusstsein umfast, „das dem Bestehenden bloß affirmativ
gegenüberstehen kann“8. Könnte nicht gerade hierin eine wertvolle Spezi-
fität religionspädagogischer Theoriebildung liegen, die beispielsweise die
theologische Kategorie ‚Hoffnung‘ – wie sie von Sölle und anderen Ver-
treter*innen der Politischen Theologie aus einer christlichen Mystik und

5 Umso beachtlicher ist es, dass sich der Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band
aus einer erziehungswissenschaftlich-bildungsphilosophischen Perspektive auf einen
mystischen Text des Chassidismus bezieht, um die Möglichkeiten und Grenzen kri-
tisch-emanzipatorischer Bildungstheorie in der Gegenwart zu eruieren.
6 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Was wird aus Religion? Beobachtungen, Analysen und Fallge-
schichten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern: Grünewald 2018, 100–146.
7 RICKERS, Folkert: Die politische Aufgabe der Religionspädagogik, in: DERS. (Hg.): Re-
ligionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsentwürfe im Überschneidungsfeld,
Stuttgart: Calwer 1973, 9–32, 31.
8 Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 637

ihrem Transzendenzüberschuss entwickelt wurde (ENGEL, KREUTZER) –


für religiöse Bildung ergiebig macht? Und was ist mit der (theologisch
anschlussfähigen) Kategorie der ‚Utopie‘ (HORSTMANN, LÖSCH) oder der
Notwendigkeit und zugleich Unmöglichkeit des Erzählens einer konsisten-
ten Geschichte (BÜNGER), wie es ebenfalls in der Religionspädagogik dis-
kutiert wird? Vielleicht liegen hierin auch Antwortperspektiven auf offene
Fragen der Politikdidaktik, die eine politische „Illusionskrise“9 und das
„Erschöpfen utopischer Energien“10 konstatiert und versucht, „Hoffnung
als zentrale Kategorie der politischen Bildung“11 zu veranschlagen.

Eine Möglichkeit, die Eigenlogik kritisch-emanzipatorischer Religionspä-


dagogik zu bewahren, könnte darin liegen, diese als einen multidimensio-
nalen Ansatz zu entwerfen: Sie umfasst dann gleichermaßen ästhetische,
liturgische, ethische, politische oder hermeneutische Elemente.12 Dazu
wäre es jedoch nötig, die einzelnen Dimensionen und ihren Status genauer
zu bestimmen sowie ihr Verhältnis zueinander zu klären. Darauf verweist
die Spannung zwischen einer politisch sensiblen bzw. dimensionierten Re-
ligionspädagogik, „der das Politische als eine Dimension neben anderen
eingeschrieben wird“ und einer politischen Religionspädagogik, „die das
Politische als konstitutiven Bestandteil ihrer selbst betrachtet“13. Zu disku-

9 BESAND, Anja: Hoffnung und Ihre Losigkeit. Politische Bildung im Zeitalter der Illusi-
onskrise, in: DIES. / OVERWIEN, Bernd / ZORN, Peter (Hg.): Politische Bildung mit Ge-
fühl, Bonn: bpb 2019, 173–187, 176.
10 EBD., 177. Vgl. dagegen SALOMON, David: Das Utopische, in: JUCHLER, Ingo (Hg.):
Politische Ideen und politische Bildung, Wiesbaden: Springer VS 2018, 1–16. ENG-
LERT, Rudolf: Das Christentum und der Geist der Utopie, in: KatBl 133 (2008), 4–8.
11 EBD., 181.
12 Vgl. GÄRTNER, Claudia: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und
Grundlagen religiöser Bildung in der Schule, Paderborn: Schöningh 2015, 17–97.
13 Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.
638 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

tieren gilt es die Frage, ob bei der letzteren „ein Gefälle zu ihrer Politisie-
rung nicht begrifflich trennscharf genug zu vermeiden ist.“14

Auch wenn eine solche Vermittlungsleistung noch aussteht, wird im Sam-


melband ein gangbarer Weg am Verhältnis von Ästhetik und Politik deut-
lich. In den vorliegende religionspädagogischen Theorie- und Praxisbei-
trägen wird diese Verbindung bereits punktuell produktiv sichtbar (GÄRT-
NER, PIRKER), gleichwohl eine stärkere Überwindung von Vorbehalten
zwischen einer politisch und ästhetisch ausgerichteten Religionspädagogik
noch Zukunftsaufgabe ist. Diese erscheint umso vielversprechender, als äs-
thetische Expressionen im besonderen Maße Erfahrungen artikulieren, zu-
gleich aber auch die mehrfach bereits problematisierte Gefahr der Über-
wältigung bearbeiten können. Denn mehrere Beiträge stellen überzeugend
heraus, dass Erfahrung und Gefühl, „Exposure“15 und Praxis für die politi-
sche Dimensionierung religiöser Bildungsprozesse eine notwendige Be-
dingung darstellen. So imaginiert Simone Horstmann in ihrem Beitrag,
dass „Schlachthöfe, Tiertransporte, Versuchslabore, Tierfabriken, Zoos
usf.“16 aufgesucht und in Prozessen religiöser Bildung reflektiert werden.
Zugleich stellt sich aber die neuralgische Frage, wie und unter welchen
Bedingungen die Gefahren von Überwältigung und Werteübertragung um-
gangen werden können und wie (stark) normative Positionierung in Bil-
dung eine Rolle spielen darf (s. unten: Frage 4). Im ästhetischen Modus
kann jedoch Positionalität und Parteilichkeit ihren Ausdruck finden und
wird zugleich durch ihre inhärente Mehrperspektivität und Mehrdeutigkeit
gebrochen. Zwar können Kunstwerke die Menschen zutiefst berühren, sie
emotional ergreifen, doch zugleich brechen „starke“ Werke Eindeutigkei-

14 Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band.


15 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
16 Beitrag von Simone HORSTMANN in diesem Band.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 639

ten auf, lassen Mehrschichtigkeit und Deutungsvielfalt zu.17 In der Ausei-


nandersetzung mit der Politischen Theologie kann eine kritisch-emanzipa-
torische Religionspädagogik eine produktive Verknüpfung von Parteilich-
keit und Normativität, von Mystik und Politik, von Ästhetik und Handlung
entdecken, wie es Ansgar Kreutzer am Beispiel von Dorothee Sölle ver-
deutlicht.
„Ihre originelle methodische Verbindung von diskursiv-korrelativer Theologie
mit expressiver Ästhetik und mit politischem Engagement verdiente es stilprä-
gend zu wirken für Gegenwart und Zukunft einer politischen, gesellschaftskri-
tisch und emanzipatorisch ausgerichteten Theologie.“18

Jedoch gilt auch für die Verbindung von politischer und ästhetischer Di-
mension religiöser Bildung, dass man noch einer vertieften religionspäda-
gogischen Bearbeitung harrt.

3 Welche didaktischen Grenzen gibt es beim


religionspädagogischen Bezug auf gesellschaftstheoretische
Zeit- und Krisendiagnosen?

In dem Sammelband wird immer wieder auf die multiplen Krisen der Ge-
genwart rekurriert, die es zu bearbeiten gelte. Dabei schimmert in den
meisten Beiträgen eine Argumentation durch, wie sie Wolfgang Klafki
über epochaltypische Schlüsselprobleme in seiner Pädagogik angeführt
hat: Gesellschaftliche und zum Teil globale Probleme, die die Einzelnen in
ihrem Alltag unmittelbar betreffen, müssen in Bildungsprozessen reflek-

17 Auch Ideologien und Diktaturen bedienen sich in der Regel einer ästhetischen
Formsprache, die auf die beschriebene Ergriffenheit und Überwältigung setzt. Doch
hier ist das Moment der Brechung, der Mehrperspektivität nicht gegeben, wie z. B. in
der sozialistischen oder nationalsozialistischen Ästhetik. Aus Kunst wird Propaganda
oder Kitsch.
18 Beitrag von Ansgar KREUTZER in diesem Band.
640 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

tiert werden.19 Mit dieser Argumentation hängen allerdings grundlegende


Problemstellungen zusammen. So weist Carsten Bünger darauf hin, dass
Bildung hier zu einem bloßen Mittel werden kann, das dem Zweck unter-
worfen ist, die Gegenwart „für eine (stets noch bessere) Zukunft“20 zu op-
fern. Darüber hinaus betont Bernhard Dressler, dass Gegenwarts- und Zu-
kunftsprobleme „nicht unstrittig identifiziert und diagnostiziert werden“21
können, da es sich um bestimmte Perspektiven auf die Welt mit spezifi-
schen Deutungsvoraussetzungen handele: Sind z. B. religiöser Fundamen-
talismus oder Sexismus drängende Probleme und sollten diese im Religi-
onsunterricht bearbeitet werden? Traditionalistische oder fundamentalisti-
sche Gruppierungen jeglicher Religion würden diese Frage vermutlich
nicht eindeutig bejahen. Zugleich lässt sich in Bildung aber auch nicht auf
gesellschaftstheoretische Perspektiven und zeitdiagnostische Elemente
verzichten. Sollen die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen
Instrumentalisierungen von Bildung kritisch analysiert werden, braucht es
auch in der Religionspädagogik einen interdisziplinären Theorienpluralis-
mus. Der vorliegende Band will diesbezüglich einen Beitrag leisten.

Zugleich muss festgestellt werden, dass gerade die Bearbeitung auf der
mittleren Theorieebene religionspädagogisch noch ein Desiderat darstellt.
So nehmen zahlreiche Beiträge einer kritisch-emanzipatorischen Religi-
onspädagogik diesen Theorienpluralismus grundlagentheoretisch in den
Blick (GRÜMME, KÖNEMANN, LEHNER-HARTMANN). Bei der konkreten

19 Vgl. z. B. KLAFKI, Wolfgang: Bildung im Medium des Allgemeinen: Konzentration auf


epochaltypische Schlüsselprobleme, in: DERS. (Hg.): Neue Studien zur Bildungstheorie
und Didaktik, Weinheim / Basel: Beltz 62007, 56–68.
20 Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band.
21 DRESSLER, Bernhard: Bildungsprozesse im Wechsel der Perspektiven von Teilnahme
und Beobachtung. Vorschlag eines Theorierahmens, in: LAGING, Ralf / KUHN, Peter
(Hg.): Bildungstheorie und Sportdidaktik (Bildung und Sport 9), Wiesbaden: Springer
VS 2018, 293–316, 296. Dressler spricht von dem Problem, den „Aufmerksamkeits-
konjunkturen aktueller Konfliktlagen“ (EBD., 296, Fn. 4) zu erliegen.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 641

Identifizierung und Bearbeitung von gesellschaftlichen Schlüsselproble-


men, wie sie derzeit in der Klimakrise, dem wachsenden Fundamentalis-
mus, Populismus und Rassismus uvm. ausgemacht werden, bedarf es je-
doch oftmals noch vertiefende und thematisch ausgeschärfte Verbindun-
gen von Grundlagentheorie und Praxisreflexion. Dass gerade in diesem
Zusammenspiel gewichtige theoretische Problemstellungen, aber auch Er-
kenntnisse auftauchen, wird derzeit im Bereich (religiöse) Bildung für
nachhaltige Entwicklung deutlich.22 So überrascht es nicht, dass theore-
tisch fundierte Praxisentwürfe für viele religionspädagogische Praxisfelder
noch weitgehend ein Desiderat darstellen. Mit Blick auf die Reformdekade
um 1968 lässt sich erkennen, dass damals religionspädagogisch viele „re-
lativ abstrakte Makro-Analysen gesellschaftlicher Verhältnisse“23 aufge-
griffen wurden, ohne dass diese hinreichend religionspädagogisch konkre-
tisiert und praktisch geworden seien. Dieser Blick zurück sollte die Religi-
onspädagogik motivieren, im engen Dialog mit unterschiedlichen Akteur*
innen in den vielfältigen Praxisfeldern kritisch-emanzipatorische religiöse
Bildungsprojekte zu entwerfen und durchzuführen, zu evaluieren und kon-
zeptionell ggf. zu transformieren.

22 Viele religionspädagogische Praxisbeispiele reduzieren die Klimadebatte im RU im


Horizont einer (verkürzten) Schöpfungstheologie auf einen individualistisch verengten
Umweltschutz, indem z. B. zu Müllsammelaktionen oder reduziertem Plastikkonsum
aufgerufen wird. Für eine religionspädagogische Weiterentwicklung greift jedoch der
Rekurs auf derzeit dominierende pädagogische Konzeptionen einer Bildung für nach-
haltige Entwicklung (BNE) zu kurz. Denn die BNE muss sich, um religionspädagogisch
überzeugend zu sein, auch einer theologischen Kritik unterziehen, z. B. hinsichtlich ih-
res oftmals systemerhaltenden Bezugs auf die Logik der Wirtschaft. Somit wird am
konkreten Gegenstand im Horizont spezifischer Diskurse nochmals eine theoretische
Ausschärfung einer kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik eingefordert. Vgl.
als ein Beispiel hierfür BEDERNA, Katrin: Everyday for future. Theologie und religiöse
Bildung für nachhaltige Entwicklung, Ostfildern: Grünewald 2019.
23 Vgl. SCHRÖDER, Bernd: „1968“ und die Religionspädagogik – aus der Sicht eines Nach-
68ers, in: RICKERS, Folkert / DERS. (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukir-
chen-Vluyn: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 351–377, 368.
642 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Zudem kann sich eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik we-


der in der Bearbeitung von Schlüsselproblemen noch in einer Krisendiag-
nose erschöpfen (LEHNER-HARTMANN). Wird zu stark eine Semantik der
Krise bedient, kann sich daraus eine apokalyptisch aufgeladene Situation
des Ausnahmezustands speisen, die nicht unproblematisch ist, wie der The-
ologe Rolf Schieder mit Blick auf die Neue Rechte konstatiert. Mit dieser
werden die „kollektiven Erregungszuständen“24 nur perpetuiert; dement-
gegen benötige es eschatologisch perspektivierte „geduldige Mitarbeiter
am kommenden Reich Gottes“25. Darüber hinaus scheint gerade religions-
pädagogisch die (alleinige) Orientierung an den Krisen der Gegenwart
nicht zwingend weiterführend zu sein, wie Stefan Altmeyer darlegt. Pro-
blematisch seien die mit der Krisensemantik verbundenen „Verfallsdis-
kurse“26, die sich auch religionspädagogisch artikulieren. Als theologi-
schen Gegenbegriff positioniert Altmeyer die Perspektive des ‚Kairos‘, die
„einen Blick [ermöglicht], der offen ist für eine mögliche Begegnung mit etwas
Unerwartetem: offen für eine Erfahrung von Glück, für Spuren von Sinn, viel-
leicht sogar einer Hoffnung auf Heil – gerade in Zeiten individueller und gesell-
schaftlicher Krisen.“27

Auch wenn diese Überlegungen zu berücksichtigen sind, um einen fal-


schen Krisenbegriff zu problematisieren, bleibt „ein kritisches Denken der
Krise unabdingbar“, das als „ein öffnendes Krisendenken“28 zu konzeptu-
alisieren ist. Theologisch gesehen können Krisen dann immer auch als das
Aufbrechen neuer Möglichkeiten gedeutet werden. Diese Überlegungen
sind dabei nicht nur gegenwartsanalytisch interessant, sie können auch hin-
sichtlich des Vergangenheitsbezugs produktiv gewendet werden, insofern

24 SCHIEDER, Rolf: Die Politische Theologie der neuen Rechten, in: feinschwarz.net [ab-
gerufen am 16.07.2019].
25 EBD.
26 ALTMEYER, Stefan: Abschied von der Krise. Für einen neuen religionspädagogischen
Blick auf die Gegenwart, in: RpB 77 (2017), 91–101, 92.
27 EBD., 101.
28 Beitrag von Ulrich ENGEL in diesem Band.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 643

es sich beim „Kairos, für den die Chiffre ‚1968‘ steht“29, zwar um ein his-
torisches Ereignis handelt, das sich nicht wiederholen lässt, an dessen kri-
senhafte Momente jedoch auch heute noch erinnert und von dem somit
weiterhin gelernt werden kann. Die konkrete Transformation von Krisen-
diagnosen in einen ‚Kairos‘, der religionspädagogisch fruchtbar gemacht
werden kann, stellt jedoch weitgehend noch ein religionspädagogisches
Desiderat dar.

4 Wie parteilich und politisch positioniert darf bzw. sollte eine


kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik sein?

In einigen Beiträgen wird nicht nur formal die Orientierung an der didak-
tischen Kategorie des ‚Politischen‘ gefordert, sondern eine dezidiert mate-
riale politische Position eingenommen. Während ‚Fridays for Future‘ bei-
spielsweise (tendenziell) positiv aufgenommen wird (HELLGERMANN,
LEHNER-HARTMANN, PIRKER), werden rechtspopulistische oder autoritär-
nationalradikale Positionen äußerst kritisch betrachtet (ENGEL, HELLGER-
MANN, LEHNER-HARTMANN, LÖSCH). Auch wenn es gute Gründe für eine
solche Positionierung und Parteilichkeit geben mag, gilt es die damit ver-
bundenen Ansprüche, Schwierigkeiten und Probleme adäquater zu analy-
sieren. Schließlich findet so eine (Re-) Politisierung der Wissenschaft statt.

Unterschieden werden muss dabei zwischen Religionspädagogik als Wis-


senschaft und religiöser Bildung als Lernprozess. Einerseits stellt sich die
Frage, inwiefern es wissenschaftstheoretisch zu rechtfertigen ist, dass sich
Religionspädagogik als ein „politischer Akteur“30 versteht, der auch ad ex-
tra durch politische Positionierung wahrnehmbar ist. Johannes Heger plä-
diert für eine solche, „auch (!) unmittelbar politische Religionspädagogik

29 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.


30 HEGER, Johannes: Religionspädagogik als politischer Akteur? – Zum Gedanken einer
auch (!) unmittelbar politischen Religionspädagogik, in: ZPth 38 (2018), 45–55, 44.
644 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

ad extra“31. Durchaus in seinem Sinne dürfte die Intervention österreichi-


scher Religionspädagog*innen gewesen sein, die sich 2018 öffentlich und
kritisch zur Debatte um ein Kopftuchverbot für Kinder geäußert haben, die
von der damaligen ÖVP-FPÖ-Regierung angestoßen wurde. Argumentiert
wurde für eine pluralitätsfähige und verantwortungsbewusste Bildung oh-
ne Diskriminierungspolitik.32 Daraus resultieren Fragen nach Gründen und
Grenzen einer solchen Politisierung. Sind solche Stellungnahmen theolo-
gisch gefordert? Und wie steht es gar um ein „Moment[] des zivilen Unge-
horsams“33? Auch in den Beiträgen dieses Sammelbandes spielt dabei
(weiterhin) das Diktum eine Rolle, „dass sich Religionspädagogen und -
pädagoginnen – frei nach Paul Watzlawick – ‚nicht nicht politisch positio-
nieren‘ können.“34 Eine grundsätzliche Debatte steht jedoch erst am An-
fang, schließlich müssen neben fachwissenschaftlichen Fragen auch recht-
liche, pädagogische und didaktische Erwägungen hinzugezogen werden.
Diese spielen besonders auf der zweiten Ebene realer Bildungsprozesse
eine äußerst relevante Rolle, denn auch dort wird im Sammelband für Po-
sitionalität und Parteilichkeit plädiert (z. B. BÜRGER / JENDT, HELLGER-
MANN, HORSTMANN, LÖSCH). Aber tritt gerade dann nicht das Problem
ein, dass in der Politikdidaktik diskutiert wird? Wie steht es hier um den
Beutelsbacher Konsens? Und handelt es sich dann nicht „um eine geradezu
bekenntnishaft weltanschaulich aufgeladene, hoch parteipolitisch instru-
mentalisierte Inanspruchnahme des Kritikbegriffs“35? Auch wenn rassisti-

31 EBD., 54. Beispielhaft für politisch-wissenschaftliche Akteure, die in diesem Sammel-


band thematisiert werden, stehen das Forum für kritische politische Bildung (LÖSCH),
der Arbeitskreis ReligionslehrerInnen am Institut für Theologie und Politik (HELLGER-
MANN, METTE) und NARRT, das Netzwerk für antisemitismus- und rassismuskritische
Religionspädagogik und Theologie (GAUTIER).
32 KRAML, Martina / LEHNER-HARTMANN, Andrea / WEIRER, Wolfgang: Keine Instrumen-
talisierung der Religion! Ein offener Brief an die österreichische Regierung, in: Die
Furche, 13.12.2018.
33 Beitrag von Andreas HELLGERMANN in diesem Band.
34 SCHRÖDER 2010 [Anm. 23], 359.
35 Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band – im Anschluss an Wolfgang Sander.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 645

sche oder rechtsextreme Positionen dann in Bildungsprozessen kritisiert


werden dürfen bzw. sollten, wenn sie mit konkreten Parteien verbunden
sind,36 resultieren daraus komplexe Fragen zur Normativität von Bildung
und Wissenschaft, die an dieser Stelle nicht weiter bearbeitet werden kön-
nen.37 Eine genuin religionspädagogische Auseinandersetzung mit dem
Beutelsbacher Konsens und dem „tradierte[n] Fehlkonzept“38 politischer
Neutralität steht fraglos an. Allerdings stellt sich die Frage: Impliziert nicht
die Forderung nach einer eindeutigen Positionierung, einer „Option zu
Gunsten von Emanzipation und Gerechtigkeit“, die problematische Situa-
tion, dass es „‚richtige‘ und ‚falsche‘ Positionen gibt“39 – ohne allgemein-
gültige Kriterien für ihre Unterscheidung?

5 Wie verhält sich eine kritisch-emanzipatorische


Religionspädagogik zu etablierten didaktischen Konzepten wie
der Kompetenzorientierung?

Eine weitere weitgehend unbearbeitete religionspädagogische Leerstelle


stellt der Umgang mit neoliberal fundierter Selbstoptimierung und dem
‚unternehmerischen Selbst‘ dar, die in vielen Beiträge gesellschaftsanaly-
tisch herausgestellt und kritisiert werden. Losgelöst von der Frage, ob diese
„derzeitig wohl erfolgreichste Figur“40 von Gesellschaftsbeschreibung und
-kritik durchträgt, sind die religionspädagogischen Konsequenzen aus die-
ser vielerorts geäußerten Kritik zu erörtern. Am deutlichsten formulieren
dies Hellgermann sowie Bürger und Jendt in ihren Beiträgen, wenn sie die

36 CREMER, Hendrik: Das Neutralitätsgebot in der Bildung: Neutral gegenüber rassisti-


schen und rechtsextremen Positionen von Parteien?, Berlin: Deutsches Institut für Men-
schenrechte 2019.
37 Vgl. MESETH, Wolfgang / CASALE, Rita / TERVOOREN, Anja / ZIRFAS, Jörg (Hg.): Nor-
mativität in der Erziehungswissenschaft, Wiesbaden: Springer VS 2019.
38 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
39 SCHRÖDER 2010 [Anm. 23], 359.
40 NASSEHI, Armin: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen
Vernunft (kursbuch.edition), Hamburg: Sven Murmann 22018, 12.
646 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

Kompetenzorientierung als Ausdruck eines neoliberalen Schulsystems


verstehen, das auf Selbstoptimierung ziele und ein kritisch-emanzipatori-
sches Bildungsverständnis aufgegeben habe. Schule scheine vermehrt auf
eine Art von ‚selbstgesteuertem Lernen‘ hinauszulaufen, das Schüler*in-
nen konkurrenzfähig für den kapitalistischen Arbeitsmarkt (Employabili-
ty-Management) mache (BÜRGER / JENDT). In gewissem Sinn, so ließe sich
die in den Interviews artikulierte Kritik an der Kompetenzorientierung deu-
ten (HALBFAS, HEUMANN), dient ihnen die Vergangenheit hier als distan-
zierender Blick auf die Gegenwart, der scheinbare Selbstverständlichkei-
ten relativiert und ein kritisches Korrektiv gegenüber problematischen Ent-
wicklungen darstellt.

Es ist jedoch auffällig, dass in den religionspädagogischen Theoriebeiträ-


gen ebenfalls kritisch auf das ‚unternehmerische Selbst‘ rekurriert wird,
der Begriff der „Kompetenz“ jedoch nicht erwähnt wird. In vielen Praxis-
beiträgen werden hingegen teils kritisch, teils affirmativ kompetenzorien-
tierte Lernziele entworfen. Diese Spannungen zwischen kritischer Gesell-
schaftsanalyse, theoretischer Bearbeitung und reflektiertem praktischen
Umgang hiermit, gilt es dringend weiter zu bearbeiten. Einer vehementen
Ablehnung der Kompetenzorientierung stehen Praxisüberlegungen entge-
gen, die durchaus Kompetenzen formulieren, um Schüler*innen zu kri-
tisch-emanzipatorischem Handeln zu befähigen.41 Doch zeigt sich hier,
dass es noch keine im religionspädagogischen Diskurs etablierten Begriff-
lichkeiten gibt, um diese Kompetenzen zu fassen. Dass durchaus spezifisch
religiöse Kompetenzen erworben werden können, die einer neoliberalen
Verzweckung und Funktionalisierung von Bildung entgegenstehen, darauf
weist Dorothee Sölles Mystikbegriff hin (KREUTZER). Für sie ist es eine
zentrale mystische Erfahrung zu erkennen, ohne Zweck zu sein:

41 Vgl. die Beiträge von Klaus-Gerd EICH und Markus BÜRGER / Sebastian JENDT in die-
sem Band, die sich auf den Kompetenzbegriff von Oskar Negt beziehen.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 647

„Es ist die Abwesenheit von allem Zweck, aller Berechnung, allem quid pro quo,
allem Etwas für etwas Anderes, aller Herrschaft, die sich das Leben zu Dienste
macht. Wo immer wir zerrissen sind zwischen Sein und Handeln, Empfinden und
Tun, da leben wir nicht ‚sunder warumbe‘ [ohne Warum; Ausdruck von Meister
Eckhart], sondern berechnen Aufwand und Erfolg, kalkulieren Wahrscheinlich-
keit und Nutzen und folgen unbegriffenen Ängsten.“42

Diese Überlegungen zu entfalten und um neue Ansätze zu ergänzen, kann


ein wertvoller Impuls für weiteres religionspädagogisches Nachdenken
darstellen, der jedoch bisher noch aussteht.

6 Programmatischer Abschluss und Ausblick

In der Einleitung wurde auf die Flaschenpost-Metapher in der frühen Kri-


tischen Theorie rekurriert. Diese sollte verdeutlichen, dass etwas Vergan-
genes einen Aktualitätsbezug besitzen kann. An dieser Stelle soll eine wei-
tere Metapher aufgegriffen werden, die die Zukunftsorientierung eines sol-
chen Vergangenheitsbezugs ebenso hervorheben kann: Angesichts der kri-
senhaften Ereignisse, die sich global in Politik und Gesellschaft ereignen,
wird in der Politischen Bildung sowie der Religionspädagogik unabhängig
voneinander von einer schlafenden Wissenschaft gesprochen. Thorsten
Knauth konzediert beispielsweise einen „Schlaf weitgehender politischer
Abstinenz“43, aus dem die Religionspädagogik geweckt werden müsse.
Dementgegen benötige es gerade heute „die Wachheit einer kritischen und
gerechtigkeitssensiblen praktischen Wissenschaft“44. Analog dazu konsta-
tiert der emeritierte Politikdidaktiker Gerd Steffens einen „biedermeierli-

42 SÖLLE, Dorothee: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München: Piper
42001, 87.
43 KNAUTH, Thorsten: Rez. zu KÖNEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und
Gerechtigkeit. Warum religiöse Bildung politisch sein muss, in: Theologische Litera-
turzeitung 20 (2015), 130–131, 131.
44 EBD.
648 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst

che[n] Schlummer“45, aus dem die Politikdidaktik aufwachen müsse. Die


kritische politische Bildung sei ein möglicher Impuls dazu. Mit der meta-
phorischen Sprache soll ein Defizit an politischem und ideologiekritischem
Bewusstsein ausgedrückt werden. Die vielfältigen und konflikthaften Ent-
wicklungen, die auch den Ausgangspunkt dieser Publikation darstellen,
werden auf unterschiedliche Weise in den Beiträgen dieses Bandes aufge-
nommen. Dabei wird eruiert, wie die abgebrochene kritische Spitze der
Religionspädagogik erneut angeschärft werden kann.

Die Ausgangsfrage dieses Sammelbandes lautete, inwiefern ‚Kritik‘ und


‚Emanzipation‘ auch heute noch weiterführende Leitbegriffe der Religi-
onspädagogik darstellen: Können sie dem Anliegen Ausdruck verleihen,
die gesellschaftliche Krisenentwicklung adäquat fachwissenschaftlich und
-didaktisch zu denken? Ausgehend von historischen Impulsen und Fort-
schreibungen in den zentralen Bezugsdisziplinen des Problemorientierten
Religionsunterricht, der Politischen Theologie, der Kritischen Pädagogik
und der Politischen Bildung, wurde diese Frage näher untersucht. Dabei
gilt es zu bedenken, dass dieser Sammelband nur als ein erster Aufschlag
anzusehen ist. Es bestehen weiterhin offene Probleme und ungeklärte Fra-
gen, es bleiben Aporien und Desiderate einer kritisch-emanzipatorischen
Religionspädagogik zu bedenken. Auch wenn es gute Gründe dafür gibt,
religiöse Bildung kritisch-emanzipatorisch zu denken, bleibt der Impuls
dieses Bandes zurückhaltend formuliert und wird nicht zu einem eindeuti-
gen Appell gemünzt. Schließlich lässt sich an dieser Stelle gar nicht ent-
scheiden, ob die Tagung „Zurück in die Zukunft?“ und dieser Sammelband
zu einem fachdidaktisch fundierteren Bewusstsein über politische Zusam-
menhänge beitragen kann. Inwiefern eine zukunftsorientierte Rückkehr in

45 STEFFENS, Gerd: Bildungspotenziale der Kritik – eine notwendige Erinnerung, in: WID-
MAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische Bil-
dung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 256–264, 262.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 649

die Vergangenheit möglich ist und diese als Seismograph und Inspirations-
quelle für zukünftige Inhalte und Arbeitsformen dienen kann, muss viel-
mehr die Zukunft selbst entscheiden.

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