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Kritisch-Emanzipatorische Religionspädagogik: Diskurse Zwischen Theologie, Pädagogik Und Politischer Bildung
Kritisch-Emanzipatorische Religionspädagogik: Diskurse Zwischen Theologie, Pädagogik Und Politischer Bildung
Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik
Diskurse zwischen Theologie,
Pädagogik und Politischer Bildung
Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik
Claudia Gärtner · Jan-Hendrik Herbst
(Hrsg.)
Kritisch-
emanzipatorische
Religionspädagogik
Diskurse zwischen Theologie,
Pädagogik und Politischer Bildung
Hrsg.
Claudia Gärtner Jan-Hendrik Herbst
Dortmund, Deutschland Dortmund, Deutschland
Springer VS
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Geleitwort
Die vorliegende Publikation hat sich zum Ziel gesetzt, Potenziale, Perspek-
tiven und Probleme einer kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik
interdisziplinär zu vermessen. Von unterschiedlichen Standorten und aus
jeweils anderen Perspektiven werden Möglichkeiten und Grenzen einer re-
ligionspädagogischen Bezugnahme auf ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ um-
rissen und die politische Dimension religiöser Bildung reflektiert. Wesent-
liche Beiträge hierzu wurden auf der Tagung „Zurück in die Zukunft? Kri-
tik und Emanzipation in politischer und religiöser Bildung“ debattiert, die
Anfang 2019 in der Katholischen Akademie Schwerte mit zahlreichen
Teilnehmer*innen aus der Religionspädagogik, der Politikdidaktik, der Pä-
dagogik und der Theologie durchgeführt wurde. Die intensiven Diskussio-
nen sind in diesen Sammelband ebenso eingeflossen wie zahlreiche weitere
Beiträge, die diese Debatten ergänzen und erweitern.
Die interdisziplinäre Ausrichtung der Tagung war für alle Beteiligten eine
besondere Herausforderung, weil es darum ging, über die fachinternen
Sprachspiele hinweg konstruktive Kommunikation zu ermöglichen. Als
erstes möchten wir uns bei allen Teilnehmer*innen dafür bedanken, dass
dies gelungen ist. Es erforderte Geduld, gegenseitiges Zuhören, gemeinsa-
mes Nachdenken und die Anstrengung des Begriffs.
Besonders danken möchten wir allen Referent*innen, die durch ihre Bei-
träge die Tagung bereichert und ermöglicht haben: Carsten Bünger, Domi-
nik Gautier, Andreas Hellgermann, Simone Horstmann, Judith Könemann,
Jürgen Kroth, Bettina Lösch, Norbert Mette, Viera Pirker und Lukas Ri-
cken. Herzlichen Dank!
Wir freuen uns sehr darüber, dass ein gemeinsames Ringen um die Leitbe-
griffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ in politischer und religiöser Bildung un-
ter der Frage „Zurück in die Zukunft?“ so ernsthaft und produktiv möglich
war, und hoffen, dass der auf dieser Tagung basierende, aber um wichtige
Beiträge erweiterte Sammelband eine Grundlage für zukünftige Debatten
und Diskussionen darstellt.
Geleitwort ................................................................................................. V
Einleitung: Zurück in die Zukunft? ........................................................... 1
Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Problemorientierter Religionsunterricht:
Vernachlässigtes Potential für eine politisch sensible
Religionspädagogik in postdemokratischen Zeiten? ............................... 33
Bernhard Grümme
Emanzipation –
religionspädagogische Leitidee oder überholtes Ideal?......................... 139
Andrea Lehner-Hartmann
Politische Religionspädagogik –
ein kritisch-emanzipatorischer Ansatz .................................................. 195
Judith Könemann
Solidarische Subjektwerdung –
Ein theologischer Kommentar zur Frankfurter Erklärung
für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung .......................... 243
Ulrich Engel
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation:
Kritische Bildungstheorie weiter erzählen ............................................ 341
Carsten Bünger
Heydorn lesen?
Zur religionspädagogischen Rezeption kritischer Bildungstheorie ....... 361
Lukas Ricken – in Response auf Carsten Bünger
Irritierbarkeit.
Eine theologische Überlegung
zur kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik............................. 403
Dominik Gautier – in Response auf Bettina Lösch
Inhalt XI
Kritisch-emanzipatorische Bildung
auf Tagen religiöser Orientierung?........................................................ 429
Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer
Kritisch-emanzipatorischer Religionsunterricht –
Grundlegende Überlegungen
am Beispiel des Themas ‚Christliche Tierethik‘ ................................... 447
Markus Bürger und Sebastian Jendt
Kritisch-emanzipatorische Bildung
in der kirchlichen Arbeit mit weltwärts-Freiwilligen ............................ 591
Judith Wüllhorst
Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Rückblick und Zusammenfassung ........................................................ 613
Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Offene Fragen und programmatischer Ausblick ................................... 633
Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Einleitung: Zurück in die Zukunft?
„Etwas Neues zu schreiben heißt immer auch, einen Bezug zu großen, inspirie-
renden Autoren zu entwickeln. Sie vererben uns eine Art zu lesen, sie haben eine
Arbeit der Aufklärung und Erklärung geleistet und […] ihre Gesten haben eine
autorisierende Wirkung auf uns.“1
Zurück in die Zukunft?2 Diese Frage ist der Titel einer Film-Trilogie von
Robert Zemeckis, in der es um Zeitreisen geht. Die Science-Fiction-Erzäh-
lung zeigt auf, wie eng Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinan-
der verwoben sind. Die Hauptpersonen der Trilogie reisen in frühere Zeiten
und versuchen dort Korrekturen vorzunehmen, um die Jetztzeit vor Gefah-
ren zu bewahren. Vergangenheit und Gegenwart beeinflussen sich dabei
wechselseitig in einer komplexen Gemengelage.
1 ERIBON, Didier: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, Berlin: Suhrkamp
2017, 61.
2 Recherchen haben ergeben, dass der Rekurs auf die Frage „Zurück in die Zukunft?“
häufiger im Zusammenhang mit den rezipierten Bezugswissenschaften gegeben ist.
Beispielhaft dafür steht Rodrigo DUARTE mit seinem Artikel „Zurück in die Zukunft.
Die kritische Theorie der Kulturindustrie und die ‚Globalisierung‘“ (in: DERS.: Deplat-
zierungen, Wiesbaden: Springer VS 22017, 39–50). Zudem fand auch ein Studientag zu
Jürgen Moltmann mit dem Titel „Zurück in die Zukunft“ in der Evangelischen Akade-
mie in Lutherstadt Wittenberg im Januar 2019 statt.
3 Wenn 1968 als einfache Jahreszahl verwendet wird, werden keine Anführungszeichen
gesetzt. Handelt es sich um die Chiffre bzw. das Symbol wird die Schreibweise „1968“
bevorzugt.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_1
2 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ sind dabei unmittelbar mit dieser
Chiffre verbunden.
Im Mai 2018 fand in Berlin, 50 Jahre nach 1968, der internationale Kon-
gress „Emanzipation“ statt. Renommierte Wissenschaftler*innen aus der
ganzen Welt, z. B. Didier Eribon, Chantal Mouffe oder Wendy Brown, dis-
kutierten darüber, wie ‚Kritik‘ und Emanzipation‘ heute gedacht werden
können. Es kamen geschätzt fast 1000, vor allem junge Menschen, in das
Haus der Kulturen der Welt, um bei bestem Wetter im stickigen Hörsaal
die erste Plenarveranstaltung „Was ist Emanzipation?“ mitzuerleben. Die
lebendige Atmosphäre wurde in der Berichterstattung als „Festivalatmos-
phäre“4 beschrieben.
Der Anschluss an „1968“ erweist sich dabei auch für religiöse Bildung als
plausibel: ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ waren für mindestens eine Dekade
die zentralen Leitbegriffe in der Religionspädagogik. In den späten 1960er
und frühen 1970er Jahren waren sie Dreh- und Angelpunkt in den Debatten
verschiedener Disziplinen (z. B. Sozialwissenschaften, Pädagogik, Theo-
logie und Politikdidaktik). Um sie herum wurden zentrale Theoreme grup-
piert. Es waren unter anderem die großen Koryphäen dieser Zeit, die sich
ihnen widmeten: Karl Ernst Nipkow, Gert Otto, Hubertus Halbfas, Peter
Biehl, Hans-Peter Kaufmann, Dietrich Zilleßen, Folkert Rickers, Siegfried
4 MALOWITZ, Karsten / KLENK, Moritz: Berliner Splitter I. Bericht vom ersten Tag der
Konferenz „Emanzipation“ (2018), in: https://soziopolis.de/vernetzen/veranstaltungs-
berichte/artikel/berliner-splitter-i-freitag/ [abgerufen am 31.01.2019]. Über den Kon-
gress wurde in überregionalen Medien ausführlich berichtet, beispielsweise in der Süd-
deutschen Zeitung, dem Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Eine
Dokumentation der Pressestimmen findet sich auf der Seite „Kritische Theorie in Ber-
lin“ online unter criticaltheoryinberlin.de/emancipation/#documentation [abgerufen am
23.10.2019].
Einleitung 3
Vierzig oder Dieter Stoodt. Dabei bezogen sie sich auch auf die kritische
Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik5 und die Politische Theologie.6
Doch seit Mitte der 1970er Jahre lässt sich in der Fachwissenschaft eine
Abwendung von dieser Terminologie beobachten.7 Man kann ein Bündel
an Gründen für die Heftigkeit dieser Abwendung identifizieren, wobei es
sowohl interne (z. B. konzeptionelle Schwierigkeiten der Begriffe), als
auch äußere Faktoren (z. B. eine gesamtgesellschaftliche Tendenzwende)
wahrzunehmen gilt. Auch wenn die beiden Begriffe in den genannten Wis-
senschaften, auch der Religionspädagogik, immer mal wieder an einzelnen
Stellen auftauchten, überrascht vor diesem Hintergrund erst einmal ein Er-
eignis wie der Kongress in Berlin.
‚Kritik‘ lässt sich als ‚bestimmte Negation‘ auffassen, insofern der zu kri-
tisierende Gegenstand durch Analyse umrissen und als problematisch ab-
gelehnt wird. Typische Gegenstände emphatisch verstandener, also auf
größere Zusammenhänge bezogener Kritik sind gesellschaftliche Macht-
und Herrschaftsverhältnisse, soziale Ungleichheit und -gerechtigkeit, Ein-
und Ausschlüsse, soziale Pathologien (z. B. Entfremdung, Verdinglichung
oder Anomien), sowie Ideologien (z. B. Rassismus, Sexismus, neoliberale
Subjektivierung) (FFE 3). Dabei geht es darum, in einer kritischen Zeitdi-
agnose aktuelle Krisenphänomene und ihre Zusammenhänge begrifflich zu
fassen. ‚Kritik‘ setzt voraus, dass ihr Gegenstand sich begründet als falsch
aufweisen lässt und zugleich verändert werden kann. Gleichzeitig ist die
Einsicht gewachsen, dass es keinen Standpunkt außerhalb der kritisierten
Zusammenhänge gibt, sodass Kritik reflexiv zu denken und die eigene Ver-
strickung offenzulegen ist (FFE 4).
An dieser Stelle setzt der Begriff der Emanzipation an, der auf der ‚praxis-
optimistischen‘ Annahme aufbaut, dass positive Veränderungen möglich
sind (FFE 5 und FFE 6). Emanzipation gibt dabei die Blickrichtung der
des Fortschritts wird zwar nicht als gänzlich linear beschrieben, doch letzt-
lich offenbart sich ein Professionalisierungsnarrativ, das die beiden ge-
nannten Aspekte umfasst.16 Die fachwissenschaftliche Gegenwart hat sich
aus der Vergangenheit entfaltet, diese integriert, in einem Hegelschen Sinn
umfassend aufgehoben. Gerade in Bezug auf die in diesem Sammelband
verhandelten Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ zeigen sich diese An-
nahmen deutlich.
Eine evolutive Perspektive besitzt eine intuitive Plausibilität und eine ge-
wisse Berechtigung. Sicherlich lassen sich fachwissenschaftliche Lerner-
folge benennen. Und natürlich gilt es relevante Kontextveränderungen zu
beachten, wenn die Vergangenheit zurate gezogen wird. Auch Theorien
sind schließlich immer kontextuell verortet. Eine Theorie, die im heutigen
Kontext entwickelt wurde, hat bezüglich ihrer Kontextpassung einen na-
türlichen Vorsprung vor älteren Entwürfen. Im Rahmen einer evolutiven
Perspektive ist man jedoch dazu geneigt, diesen natürlichen Vorsprung zu
einem prinzipiellen Vorrang zu hypostasieren. Damit werden vergangene
Ansätze historisiert und ihre systematischen Gehalte für gegenwärtige
Wissenschaft verkannt.
17 PETZOLD, Klaus: Religionspädagogik und Politik – Ein Einwurf, in: ZPT 65 (2013),
372–383, 373. Der Kristallisationspunkt seiner Feststellung ist Thomas Schlags Ent-
wurf, evangelische Religionspädagogik im Horizont des Politischen zu denken.
18 EBD.
19 EBD., 372.
Einleitung 11
net. Dementgegen fordert er „einen fairen Dialog […] zwischen den Ge-
nerationen“20, ohne dass – auf der Basis von möglicherweise ungeprüften
„Pauschalurteile[n]“21 – die damaligen Entwürfe einfach historisiert wer-
den.
Seine These, dass die Religionspädagogik schon einmal weiter war, deutet
einen Bruch mit der evolutiven Perspektive an. Dabei geht es ihm darum,
der Vergangenheit nicht einen prinzipiellen, sondern einen partiellen Vor-
rang einzuräumen, nämlich „in einzelnen konkreten Bereichen“22, die es
zu identifizieren gilt.23 Beispielsweise nennt er die Bedeutung der (politi-
schen) Theologie für die Religionspädagogik, die bereits in der religions-
pädagogischen Reformdekade diskutiert wurde.24 In einer solchen Per-
spektive entdeckt Petzold Vorzüge: Die „zukunftsweisenden Vorarbeiten
einer früheren Generation und ihre Pionierversuche“25 könnten systema-
tisch gewürdigt werden. „Niemand müsste sich unter den Anspruch stellen
(lassen), ‚das Rad völlig neu zu erfinden‘ – oder gar nur so zu tun, als ob.“26
Andererseits könnten die „weniger zukunftsträchtigen Ergebnisse, Positi-
onen und Fehlentwicklungen“27 gleichermaßen identifiziert werden, wo-
durch „die Chance wachsen [könnte], selber aus früheren Fehlern zu lernen
und sie nicht unbedingt zu wiederholen.“28 Die Fehler könnten differen-
ziert wahrgenommen und nicht pauschal zugeschrieben werden. Die Frage
‚Zurück in die Zukunft?‘ markiert dementsprechend einen Zeitbezug, der
über die evolutive Perspektive hinausgeht. Sie insinuiert, dass Ungleich-
20 EBD., 382.
21 EBD., 373.
22 EBD.
23 Vgl. EBD., 378–379.
24 Vgl. EBD., 379.
25 EBD., 382.
26 EBD.
27 EBD.
28 EBD.
12 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Ein solcher Zeitbezug lässt sich als kritisch bezeichnen, wenn man das Kri-
tikverständnis des Politikdidaktikers Gerd Steffens anlegt, der beinahe pro-
phetisch formuliert, dass Kritik „die Gegenwart für die Zukunft öffnet, in-
dem sie die in ihr angelegten – verlorenen, vergessenen, verschütteten oder
erst zu erkennenden – Möglichkeiten hervortreibt“29. Unter diesen Voraus-
setzungen kann ein Blick in die Vergangenheit neue Erkenntnisse hervor-
bringen, Sichtweisen verschieben und die Aura des Anachronismus hinter
sich lassen.
29 STEFFENS, Gerd: Bildungspotenziale der Kritik – Eine notwendige Erinnerung, in: WID-
MAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische Bil-
dung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 256–264, 258. Eine ähnliche For-
mulierung findet sich auch bei Theodor W. Adorno: „‚Alle Verdinglichung ist ein Ver-
gessen‘ und Kritik heißt eigentlich so viel wie Erinnerung, nämlich in den Phänomenen
mobilisieren, wodurch sie das wurden, was sie geworden sind, und dadurch der Mög-
lichkeit innewerden, dass sie auch ein Anderes hätten werden und dadurch ein Anderes
sein können“ (ADORNO, Theodor W.: Einleitung in die Soziologie (1968), Frankfurt am
Main: Suhrkamp 32012, 250).
30 MENKE, Christoph: Response to Didier Eribon (2016), in: https://didiereribon.blogspot.
de/2016/11/christoph-menke-response-to-didier.html [abgerufen am 31.01.2019].
Einleitung 13
gung, unter der zweiten dagegen eine nostalgische Erinnerung. Über beide
Formen konstatiert Menke in Anlehnung an Kierkegaard:
„‚Repetition and remembrance are the same process, only in opposite directions;
for that what we remember is past [or bygone], it is repeated backwards; while
true repetition is remembering forwards [or directed onwards].‘ […] Remem-
brance makes us melancholic about what we have forever lost or, in this case,
what we have missed in the past […]; remembrance makes us loose the present.
Repetition on the other hand, which is directed forward or onward, makes us
happy because repetition is […] ‚liberation‘“.31
Menke konstatiert, dass es eine Form der Rückkehr geben müsse, die neue
Möglichkeitsperspektiven eröffnet, die befreiend und emanzipatorisch ist.
Er beschreibt sie als fundamental wichtig „for any critical form of thinking
and politics”32. Nur wenn man zwischen einem rückwärts- und einem vor-
wärtsgewandten Modus des Vergangenheitsbezugs unterscheiden könne,
nur dann sei kritisch-emanzipatorische Theoriebildung und Praxis mög-
lich. In diesem Sinn ist die Frage ‚Zurück in die Zukunft?‘ also selbst kri-
tisch-emanzipatorisch: „To return is not resignation, melancholia or, even
worse, nostalgia. To return rather means to take up the struggle for libera-
tion at its own, inner blind spot, to continue and radicalize it.”33
31 EBD.
32 EBD.
33 EBD.
34 KNAUTH 2003 [Anm. 14], 11.
35 EBD., 12.
14 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
nen den Funken der Hoffnung anzufachen“36. Auch wenn die theoretischen
Entwürfe von damals sperrig wirken und womöglich den gegenwärtigen
Plausibilitäten zuwiderlaufen, erhebt die Auseinandersetzung mit ihnen
möglicherweise „immer neu den Verdacht, daß die ‚Plausibilitätsstruktu-
ren einer Gesellschaft’ durchaus ‚Verblendungszusammenhänge’ sein
können.“37 Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen lassen
sich drei mögliche Formen einer produktiven Bezugnahme auf die Vergan-
genheit unterscheiden.
1. Die Vergangenheit dient als Gradmesser und Garant für die Qualität
zukünftiger Diskussionen. Die theoretischen Probleme vergangener
Ansätze ließen sich analysieren, um die gemachten Fehler exakter be-
nennen zu können. Für die Zukunft könnte ein solches Vorgehen die
Qualität von Debatten garantieren, da auch ein Maßstab dafür existier-
te, hinter welches Einsichtsniveau nicht zurückgefallen werden dürfe.
2. Die Vergangenheit dient als Seismograph und Inspirationsquelle für
zukünftige Inhalte und Arbeitsformen. Vergangene Ansätze können Er-
kenntnisse enthalten, die verloren gegangen sind. Demnach lässt sich
die Gegenwart auch mit vergangenen Ideen ergänzen und erweitern.
3. Die Vergangenheit dient als distanzierender Blick auf die Gegenwart,
der scheinbare Selbstverständlichkeiten relativiert und ein kritisches
Korrektiv gegenüber problematischen Entwicklungen darstellt. Die
Auseinandersetzung mit den vergangenen Ansätzen ermöglicht einen
neuen Blick auf die Gegenwart, die aufgrund ihrer Unmittelbarkeit
möglicherweise eine gefährlich intuitive Plausibilität aufweist. Ver-
36 BENJAMIN, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: DERS.: Illuminationen. Ausge-
wählte Schriften 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 251–261, 253.
37 METZ, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer prakti-
schen Fundamentaltheologie, Mainz: Grünewald 1984, 147.
Einleitung 15
Insofern lässt sich dieser Sammelband auch als eine erneute Prüfung der
Flaschenpost verstehen, um eine bekannte Metapher der frühen Kritischen
Theorie aufzugreifen. Diese Metapher findet implizit in der Religionspä-
dagogik Verwendung, wenn z. B. Folkert Rickers konzediert:
„Die gesellschaftskritische Sichtweise der Religionspädagogik […] hat sich im
Fach nicht durchgesetzt. Aber sie ist – das ist ihr eigentlicher Wert – unter be-
stimmten historischen Bedingungen bewusst gemacht worden, kann von Religi-
onspädagogen jederzeit individuell angeeignet und zur Analyse herangezogen
werden.“38
38 RICKERS, Folkert: Am Anfang war der Text – Erinnerungen an die Anfänge des prob-
lemorientierten Religionsunterrichts. Ein kritischer Rückblick für die Zukunft, in: DERS.
/ SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Van-
denhoeck & Ruprecht 2010, 337–351, 350.
16 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Abgeschlossen wird der Band mit einem ausführlichen Resümee und ei-
nem Ausblick. In diesen wird versucht, die derzeitigen Entwürfe, ihre Ver-
netzungen und Verästelungen, angemessen darzustellen. Hier werden die
verschiedenen Argumentationsfäden erneut aufgegriffen und zu einem ge-
meinsamen Impuls für aktuelle (religionspädagogische) Diskurse zusam-
mengebunden. Damit soll auch die Problematik bearbeitet werden, dass –
wie es Folkert Rickers seit Jahrzehnten postuliert hat – die vielfältigen An-
sätze und Beiträge zu einer politischen Religionspädagogik „in jeder Be-
ziehung singulär“42 geblieben sind. Hinführungen, Resümee, Responses
und Verweise im Band zielen darauf, eine zerfaserte Debatte zu orientieren
und ihre Gravitationszentren herauszuarbeiten.
Die sechs Teile des Sammelbandes bieten eine erste Hinführung dazu, wie
religiöse Bildung kritisch-emanzipatorisch gedacht werden könnte. Der
Anspruch ist es, die vielfältigen Perspektiven der derzeitigen Debatten dar-
Jan-Hendrik Herbst
‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ lassen sich historisch gesehen als zentrale re-
ligionspädagogische Konzepte verstehen. Für ihre spezifische Verbindung
und politische Imprägnierung besitzt die religionspädagogische Reformde-
kade um 1968 eine besondere Bedeutung.1 Diese kann als besonders inten-
sive Phase der Auseinandersetzung bezeichnet werden, in der gerade der
sogenannte Problemorientierte Ansatz Entwürfe eines kritisch-emanzipa-
torischen Religionsunterrichts umfasste.2 Und gerade „in postdemokrati-
schen Zeiten“3 wird erneut auf den Problemorientierten Religionsunter-
richt und dessen unabgegoltene Potenziale geschaut.4 In diesem ersten Teil
einer religionspädagogischen Auseinandersetzung mit ‚Kritik‘ und ‚Eman-
zipation‘ geht es um einen historischen Rückblick, um Retrospektionen
und Rekonstruktionen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_2
24 Hinführung I
von 1965 bis 1975 angegeben. Als ihr Ausgangspunkt wird zumeist der
Vortrag „Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen?“5
von Hans-Bernhard Kaufmann betrachtet, der ein wichtiger Vertreter des
Problemorientierten Ansatzes war. Die Abgrenzung gegenüber einem bi-
belorientierten Unterricht (Evangelische Unterweisung oder katholische
Materialkerygmatik) war dabei ein entscheidender Grundimpuls. Wie der
Name dieses religionspädagogischen Programms bereits verrät, ging es da-
bei um eine Orientierung an lebensweltbezogenen Problemen, die auch
eine Nähe zu den Schüler*innen und ihren Anliegen ermöglichen sollte.
Diese Hinwendung zur Welt implizierte auch eine neue Auseinanderset-
zung mit Politik und Gesellschaft. Daher verwundert es nicht, wenn attes-
tiert wird, dass der Problemorientierten Konzeption „in besonderer Weise
das Politische […] eingeschrieben“6 ist.
10 EBD.
11 KNAUTH 2003 [Anm. 1], 309. Vgl. EBD., 123. Nach Knauth kann von einer innertheo-
logischen und gesamtgesellschaftlichen „Tendenzwende“ (EBD., 290) gesprochen wer-
den.
12 Beitrag von Thorsten KNAUTH in diesem Band.
13 EBD.
14 SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Religionspädago-
gik in politischer Perspektive, Freiburg / Basel / Wien: Herder 2010, 372.
15 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Konturen einer ‚neuen politischen Religionspädagogik‘?
Begriffstheoretische Betrachtungen einer zerfaserten Debatte, in: ÖRF 27/1 (2019), 28–
41.
26 Hinführung I
stellt die Position dar, dass die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ nicht
aufgegeben werden dürfen, weil sie ein wichtiges Problembewusstsein be-
wahren.
enthalten sind. Die Langversion kann auf der Verlagsseite zu diesem Buch
als Zusatzmaterial frei heruntergeladen werden. Gerade zur Auswahl und
Darstellungsweise der interviewten Personen seien vier (selbst-) kritische
Anmerkungen ergänzt.
19 EBD.
20 Vgl. FÜSSEL, Kuno / SÖLLE, Dorothee / STEFFENSKY, Fulbert: Die Sowohl-als-auch-
Falle. Eine theologische Kritik des Postmodernismus, Luzern: Edition Exodus 1993.
21 MEYER-BLANCK, Michael: Kleine Geschichte der evangelischen Religionspädagogik:
Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Gütersloh: Chr. Kaiser 2003, 179.
Retrospektionen und Rekonstruktionen 29
gogik tätig waren,22 stellt diese Situation auch in Bezug auf die Inter-
views ein Problem dar: Nur eine Frau, Margot Rickers, kommt in die-
sen zu Wort. Dies besitzt zudem den faden Beigeschmack, dass sie
manchen auch nur als Frau vom Religionspädagogen Folkert Rickers
bekannt ist. Um die bisherige „androzentrische […] Geschichtsschrei-
bung der Religionspädagogik“23 nicht zu verschärfen, soll auf einige
namhafte Religionspädagoginnen hingewiesen werden, die zum Prob-
lemorientierten Religionsunterricht, zu ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘,
interessante Beiträge verfasst haben. Dadurch soll zumindest eine re-
duzierte Form der „‚Sichtbarmachung‘ der Frauen“24 ermöglicht wer-
den. Zum einen sind Gritta Ulrich und Christine Reents, die Professo-
rin für Praktische Theologie in Wuppertal war, zu nennen, die Beiträge
zum Problemorientierten Religionsunterricht25 und kritischer Bil-
dung26 verfasst und sich zugleich mit der Geschlechterfrage in der re-
ligionspädagogischen Forschung beschäftigt haben. Dann gilt es Hele-
22
Vgl. dazu exemplarisch Thomas Schlags umfassende Analyse der Zeitschrift „Der
evangelische Erzieher“ bzw. ZPT. Im Zeitraum von „1968“ haben dort insgesamt „nur
neun Frauen“ (SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Re-
ligionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg / Basel / Wien: Herder 2010, 85,
Fn. 271) Aufsätze veröffentlicht, unter anderem D. Sölle.
23 PITHAN, Annebelle: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Religionspädagoginnen des 20. Jahr-
hunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 9–19, 12.
24 EBD., 13.
25 Vgl. ULRICH, Gritta: Die Bewährung des thematisch-problemorientierten Religionsun-
terrichts in der Praxis der Grundschule und der Sekundarstufe 1, in: RICKERS, Folkert /
DRESSLER, Bernhard (Hg.): Thematisch-problemorientierter Religionsunterricht. Auf-
bruch – Bewährung in der Praxis – Impulse, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlags-
haus 2003, 39–52. Ulrich war Assistentin bei Liselotte Corbach. Vgl. PITHAN, Anne-
belle: Liselotte Corbach. Einstehen für die eigene Überzeugung, in: DIES. 1997 [Anm.
23], 135–159, 156.
26 REENTS, Christine: Erziehung zum kritisch-produktiven Denken im Religionsunterricht
der Grund- und Orientierungsstufe. Theoretische Grundlegung, Gütersloh: Gerd Mohn
1974. REENTS, Christine: Erziehung zum kritischen Denken im Religionsunterricht 3.
bis 6. Schuljahr, Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg / Patmos 1973. Reents und
Ulrich haben auch beide in dem angeführten Sammelband zu „Religionspädagoginnen
im 20. Jahrhundert“ publiziert. Reents selbst war u. a. Privatdozentin in Oldenburg.
30 Hinführung I
27 Vgl. REENTS, Christine: Helene Ramsauer. Mit Herz und Seele Lehrerin in Schule und
Hochschule, in: PITHAN 1997 [Anm. 23], 100–116. SCHIRMER, Helmut: Religionspäda-
gogik an der Reformuniversität Oldenburg. Entwicklung und Profil der Fachdidaktik
Religion, in: DERS. (Hg.): Religionspädagogik im Widerstreit: Ein Oldenburger Quel-
len- und Studienbuch, Bern: Peter Lang 2011, 9–33, 11.
28 Von Interesse ist auch, dass gerade Frauen wie Veit oder Reents kritisch gegenüber
einem Religionsunterricht waren, der die biblische Tradition nicht ausreichend berück-
sichtigt (vgl. zu Veit z. B. den Artikel von Else Grell, in: PITHAN 1997 [Anm. 23], 307–
309; vgl. zu Christine Reents: Knauth 2003 [Anm. 1], 277).
29 Interview von Jürgen HEUMANN in diesem Band.
30 Interview von Norbert METTE in diesem Band.
31 Vgl. OTTO, Gert / DÖRGER, Hans-Joachim / LOTT, Jürgen: Neues Handbuch des Reli-
gionsunterrichts, Hamburg: Furche 1972. LUTHER, Henning: Kritik als pädagogische
Kategorie untersucht an H. J. Gamm: Kritische Schule und H. Stock: Religionsunter-
richt in der kritischen Schule, in: Praktische Theologie 8 (1973), 3–16.
32 Vgl. ZILLEßEN, Dietrich (Hg.): Religionsunterricht und Gesellschaft. Plädoyer für die
Freiheit, Düsseldorf: Patmos 1970. DERS.: Emanzipation und Religion. Elemente einer
Theorie und Praxis der Religionspädagogik, Frankfurt am Main: Diesterweg 1982.
Retrospektionen und Rekonstruktionen 31
Bernhard Grümme
„Will politische Bildung mehr sein als nur eine Bestätigung und Verteidigung
bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse […], so muß ihr Ziel sein, zur Demo-
kratisierung der Gesellschaft und zur Emanzipation der Menschen beizutragen.
Demokratisierung bedeutet insbesondere den Abbau überflüssiger und daher ir-
rationaler Herrschaft von Menschen über Menschen […]. Erziehung zur Demo-
kratie bedeutet demnach Stärkung des Widerstandes gegen Ausbeutung und Herr-
schaft im Zusammenhang einer nicht demokratisch kontrollierten Reproduktion
der Gesellschaft.1
1 SCHMIEDERER, Rolf: Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und
Didaktik des Politischen Unterrichts (= Theorie und Geschichte der politischen Bil-
dung), Frankfurt am Main: Evangelische Verlagsanstalt 1971, 37–38.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_3
34 Bernhard Grümme
Unter deren Eindruck wie zugleich unter dem zunehmend entfalteten Be-
wusstsein gesellschaftlich-politischer Kontextualisierung entfaltet sich
ebenfalls in der Religionspädagogik eine vergleichbare Ausrichtung an
Emanzipation und Ideologiekritik. Das Evangelium soll eingespielt wer-
den in das gesellschaftliche Ringen um Befreiung und Mündigkeit. Und so
formuliert in einer signifikanten Parallelität der Aufbruchsstimmung der
für diesen Teil religionspädagogischer Debatten signifikante Folkert Ri-
ckers, „dass die Aufgabe der Religionspädagogik primär eine politische
sein müsse. Sie ist nicht ihre einzige. Aber in der politischen Intention kul-
miniert die gesamte Arbeit der Religionspädagogik in Hochschule und
Schule“. Diese finde ihr Ziel „als eine politisch intendierte Religionspäda-
gogik“. In dieser sollen die Schüler „unter besonderer Berücksichtigung
des religiösen Bereichs (religiöse Traditionen, deren Wirkungsgeschichte
und deren Aktualisierung in religiösen Institutionen und im gesellschaft-
lich-politischen Leben) befähigt werden zu einem begründeten politischen
Bewusstsein und Engagement für emanzipatorische, gesellschaftsverän-
dernde Praxis. Auf dieser Basis vermag der einzelne seine Identität zu fin-
den, die auch als politische eine dezidiert religiöse sein kann“.3
2 Vgl. GÖRTLER, Michael / LOTZ, Mathias / PARTETZKE, Marc u. a. (Hg.): Kritische politi-
sche Bildung: Standpunkte und Perspektiven, Schwalbach am Taunus: Wochenschau
2017; NASSEHI, Armin: Gab es 1968? Eine Spurensuche, Hamburg: kursbuch.edition
2018.
3 Vgl. RICKERS, Folkert: Die politische Aufgabe der Religionspädagogik, in: DERS. (Hg.):
Religionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsentwürfe im Überscheidungs-
feld, Stuttgart: Calwer 1973, 9–32; Vgl. RICKERS, Folkert / SCHRÖDER, Bernd (Hg.):
1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Vandenhoek & Ruprecht 2010;
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 35
Solche Sätze lassen aufhorchen. Werden nicht in diesem Text aus dem Jahr
1973 die Bibel und die christliche Tradition nicht mehr als sie selbst wahr-
genommen und in den Lernprozess eingebracht, sondern von vornherein
der politischen Praxis dienstbar gemacht? Die Glaubenstradition als Stein-
bruch der Identitätsbildung, die selbst vor allem politisch intendiert ist?
Das hier artikulierte Politikverständnis wird streng normativ als eine eman-
zipatorische, auf gesellschaftliche Transformation ausgerichtete Praxis ge-
fasst. Der Glaube scheint einer so qualifizierten politischen Bewusstseins-
bildung untergeordnet, einer Identität, die zunächst eben politisch definiert
und erst dann auch entschieden religiös sein kann. Die Eigenlogik des Re-
ligiösen gegenüber Politik, Ethik und Vernunft scheint hier jedenfalls in
bedrohlicher Intensität relativiert.
und Perspektiven, wie eine zukünftige Gesellschaft gestaltet sein kann. Eine kri-
tische politische Bildungspraxis will darauf aufbauend ermöglichen, dass die
Subjekte die Macht- und Herrschaftsverhältnisse begreifen, in die sie eingebun-
den sind. Sie sollen Handlungsmöglichkeiten entwickeln können, diese Verhält-
nisse zu gestalten und verändern. Dafür ist es notwendig, dass sich die politische
Bildung kritisch und kontrovers mit den aktuellen Verhältnissen auseinander-
setzt.“10
10 LÖSCH, Bettina / THIMMEL, Andreas: Einleitung; in: DERS.: Kritische politische Bildung.
Ein Handbuch (= Politik und Bildung), Bonn: Wochenschau 2011, 7–11, 8.
11 SANDER, Wolfgang: „Kritische politische Bildung“ – eine Dekonstruktion; in: WID-
MAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische Bil-
dung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 240–248, 247.
12 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grund-
satzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des RU, Stuttgart:
Kohlhammer 2009; GRÜMME, Bernhard / SANDER, Wolfgang, Von der „Vergegnung“
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 39
neut aus der Perspektive der Religionspädagogik das Konzept der Prob-
lemorientierung in den Fokus. Ihm kommt insofern emblematische Bedeu-
tung zu, als dass sich in der Positionierung zu ihm das Profil, die Logik
und die Kraft religiöser Bildung im Gegenwartskontext manifestiert. Er
gerät zum Kristallisationspunkt und – insofern der gegenwärtige Kontext
als der einer durchgreifenden Heterogenität der Lebenswelten begriffen
wird – zum Bewährungsort heterogenitätsfähiger Religionspädagogik.13
Wohl kaum eine andere Konzeption der Religionspädagogik sieht sich da-
mit selber einem kritisch-theoretischen Aufbruch in die Moderne ver-
pflichtet, um Anschlussfähigkeit an die Prozesse der Modernisierung und
der Emanzipation zu gewinnen, wie das zwischen 1965–1975 entwickelte
(Martin Buber) zum Dialog? Das Verhältnis von Religionsdidaktik und Politikdidaktik,
in: Theo-Web 7/1 (2008), 143–157.
13 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und
konkrete Bausteine, Freiburg im Breisgau: Herder 2017.
14 KNAUTH 2018 [Anm. 8], 137.
40 Bernhard Grümme
15 GLOY, Horst / KAUFMANN, Hans Bernhard: Vorwort, in: KNAUTH, Thorsten (Hg.): Prob-
lemorientierter Religionsunterricht (= ARP 23), Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht
Verlag 2003, 7–9, 7–8; Vgl. KNAUTH 2018 [Anm. 8], 219–220.
16 Vgl. KNAUTH 2003 [Anm. 15.], 88–90.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 41
17 EBD., 13.
18 EBD., 316.
19 KNAUTH 2018 [Anm. 8], 128.
42 Bernhard Grümme
20 EBD., 137.
21 KNAUTH 2003 [Anm. 15.], 151; vgl. NIPKOW, Karl Ernst: Problemorientierter Religi-
onsunterricht, in: LexRp 2001, 1559–1565.
22 KNAUTH 2003 [Anm. 15.], 328; Vgl. EBD., 150–152.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 43
Doch die Gefahren, die in einer solchen Entkoppelung von Tradition und
Emanzipation, von Hermeneutik und Ideologiekritik liegen, sind kritisch
analysiert, im weitesten Sinne historisiert und doch zugleich als kritisches
Korrektiv in den Gegenwartsdiskurs eingespielt. Die Frage allerdings wird
dann umso dringlicher, ob Knauth als der maßgebliche Vertreter dieser
Konzeption der Komplexität der eingangs skizzierten Herausforderungen
in seiner Analyse wie in seiner produktiven Weiterentwicklung des Kon-
zepts tatsächlich entspricht. Kann sein fortgeschriebenes Konzept deren
Einsprüche angemessen parieren? Gewiss bleibt es unverzichtbares Erbe
des Problemorientierten Religionsunterrichts, dass sich darin der Religi-
onsunterricht seiner politischen Implikationen selbstreflexiv vergewis-
serte, seine Inhalte immer auch in politischen Kategorien durchbuchsta-
bierte und damit versuchte, die kritisch-befreiende Kraft des christlichen
Glaubens im Kampf um das Subjektseinkönnen und die Autonomie aller
vor Gott zur Geltung zu bringen. Ein solcher RU durchbrach damit die
zeitlose Existentialisierung, Spiritualisierung und Individualisierung seiner
Doch stellt ein solcher Problemorientierter RU nach wie vor den gelunge-
nen „Testfall für die Verbindung von politischem und religiösem Lernen
in einem gesellschaftsbezogenen Ansatz von Religionsunterricht“ dar?24
Knauth selber will dies im gegenwärtigen Diskurs unter Rekurs auf Han-
nah Arendt und im Zusammenhang mit aktuellen politiktheoretischen
Überlegungen durch eine Ausweitung des Politikbegriffs auf das Feld des
Politischen aufzeigen.25 Von ihrem Gegenstand her kann diese Konzeption
des Problemorientierten RU
„durch hermeneutisch-theologische Rückbesinnung auf Alltag und religiöse Tra-
dition eine eigene Logik und Agenda des Politischen entwickeln. Auf dieser
Agenda stehen – bleibend und dringlich – die ineinander verschränkten Fragen
von Gerechtigkeit und Anerkennung in der kulturellen, sozialen, aber auch zu-
nehmend ökologischen Dimension der Thematik. Im Blick auf diese großen
Schlüsselthemen wird eine problemorientierte Religionspädagogik nicht umhin
kommen, in der Tradition kritischer Theorie den globalen Modus einer kapitalis-
tischen Vergesellschaftung in seinen verdinglichenden, entfremdenden und ex-
kludierenden Auswirkungen auf Menschen und Verhältnisse verstehen, themati-
sieren und kritisieren zu müssen.“26
Stehen wir aber damit nicht erneut am Anfang unserer Überlegungen? Ge-
nau jene Problemkonstellation einer ungebührlichen Politisierung und un-
dialektischen Ausrichtung am Emanzipationsgedanken scheint selbst in
dieser weiterentwickelten Version erneut fortgeschrieben zu sein. Die Ein-
Damit aber stellt sich diese prekäre und hochkomplexe Frage nach Politi-
sierung und der Legitimität einer an Maximen wie der Emanzipation in
normativer Weise ausgerichteten Religionspädagogik mit aller Schärfe er-
neut – nun aber über den engen Kontext der Problemorientierung hinaus.
Religionspädagogisch ist dies deshalb brisant, weil eine solche normative
Ausrichtung einerseits zum inhaltlichen Profil einer Religionspädagogik
gehören müsste, die ja mit der Reich-Gottes-Botschaft auf eine ganz be-
stimmte Option von Befreiung und befreiter Freiheit rekurriert. Und ande-
rerseits müsste sie gerade diese kritische Selbstreflexivität aufbringen, um
sich aus dem Geiste der Ideologiekritik vor eigenen Instrumentalisierungen
zu schützen.28
Wenn so der Blick geweitet wird auf die hoch brisante Frage der Legitimi-
tät einer an Emanzipation und einer an Befreiung aus dem Geiste des Evan-
29 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2019
[abgerufen am 13.09.2019]. In starker Überarbeitung sind auch einzelne Partien im Fol-
genden übernommen.
30 Vgl. BENNER, Dietrich: Studien zur Theorie der Erziehungswissenschaft, Weinheim /
München: Beltz Juventa 1994, 59–77; RUHLOFF, Jörg, Emanzipation, in: BENNER, Diet-
rich / OELKERS, Jürgen (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim / Ba-
sel: Beltz 2010, 279–287, 285.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 47
31 RUHLOFF, 2010 [Anm. 30], 287; vgl. JAEGGI, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines
sozialphilosophischen Problems, Berlin: Suhrkamp 2016.
32 BRÖCKLING, Ulrich: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin:
Suhrkamp 2017, 38.
33 ZILLEßEN, Dietrich: Emanzipation, in: LexRp 2001, 394–401, 395.
34 RIBOLITS, Erich: Das Ende der Emanzipation, in: CHRISTOF, Eveline / RIBOLITS, Erich
(Hg.): Bildung und Emanzipation, Innsbruck: Studienverlag 2013, 23–39, 24.
35 MASSCHELEIN, Jan: Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft wei-
terdenken, in: BENNER, Dietrich / BORRELLI, Michele / HEYTING, Frieda (Hg.): Kritik
48 Bernhard Grümme
41 PEUKERT, Helmut: Die Frage nach der Allgemeinbildung als Frage nach dem Verhältnis
von Bildung und Vernunft, in: PLEINES, Jürgen-Eckhard (Hg.): Das Problem des Allge-
meinen in der Bildungstheorie, Würzburg: Königshausen & Neumann 1987, 82.
42 Vgl. NIPKOW, Karl Ernst: Zur Bildungspolitik der evangelischen Kirche. Eine histo-
risch-systematische Studie, in: BIEHL, Peter / NIPKOW, Karl Ernst (Hg.): Bildung und
Bildungspolitik in theologischer Perspektive, Münster: LIT 2003, 153–251, 246–249.
50 Bernhard Grümme
Angesichts dessen sowie unter dem Eindruck der oben genannten kriti-
schen Vorbehalte sieht sich eine heterogenitätsfähige Religionspädagogik
gezwungen, einerseits sich den Emanzipationsgedanken neu anzueignen.
Dazu muss er nachmetaphysisch reformuliert werden, muss sie sich ihrer
Kontextualität und ihres kontextuellen Gebrauchs des Emanzipationsbe-
griffs selbstkritisch bewusst werden und dabei seine diskursiven Konstruk-
tionsmechanismen selbstreflexiv-kritisch bedenken. Der Beitrag einer al-
teritätstheoretischen Begründung liegt freilich darin, dass dieser Emanzi-
pationsbegriff durch den Alteritätsgedanken und den Gottesgedanken vor
seiner eigenen Verabsolutierung geschützt wird. Er lässt sich in einer he-
terogenitätsfähigen, nachmetaphysischen Vernunft so konturieren, dass er
sich dieser Kontextualität wie seiner diskursiven Konstruktionsmechanis-
men selbstreflexiv-kritisch bewusst wird und die relative Eigenlogik päda-
gogischer Prozesse zugleich wahren und dennoch orientieren kann.44
48 Vgl. KÖNEMANN, Judith: Plädoyer für eine politische Religionspädagogik, in: RpB 78
(2018), 15–23, 16.
49 Vgl. GRÜMME, 2018 [Anm. 48], 203–212.
Problemorientierter Religionsunterricht: Vernachlässigtes Potential? 53
Thorsten Knauth
Abstract: In diesem Beitrag wird das Projekt einer systematischen und reflexiven
Weiterentwicklung von problemorientierter Religionspädagogik fortgesetzt. Um
das Potenzial problemorientierter Ansätze zur Geltung zu bringen, werden in einer
theoriebezogenen Reflexion der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik seit der
Reformdekade (1965–1975) Folgen für die analytische Erfassung gegenwärtiger
Problemlagen skizziert. Dies führt für eine Theorie problemorientierter Religions-
pädagogik zu einer Neujustierung des Verständnisses von Grundbegriffen (Politik,
Emanzipation und Religion). Problemorientierter Religionsunterricht wird als eine
eigensinnige Sphäre sozialer Freiheit im Kontext kritischer Bildungswissenschaft
verstanden, der sich in die Auseinandersetzung um gelingende Lebensformen ein-
mischt.
1 Einleitung
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_4
56 Thorsten Knauth
Diese Einwände sind überwiegend nicht neu und wurden – wie zum Bei-
spiel die Kritik an der Instrumentalisierung von Religion und die einseitige
Orientierung am Emanzipationsbegriff – bereits inmitten des „Streits um
den problemorientierten Religionsunterricht“ Anfang der siebziger Jahre
vorgebracht.5 Gleichwohl müssen sie für Versuche einer reflexiven Neuan-
BILDUNGSFORSCHUNG (Hg.): Gedenkschrift zu Ehren von Prof. Dr. Dr. Klaus Petzold,
Jena 2017, 25–41; DERS.: Heilige Texte und die politische Dimension des Religionsun-
terrichts, in: HELLER, THOMAS (Hg.): Religion und Bildung – interdisziplinär. Fest-
schrift für Michael Wermke zum 60. Geburtstag, Leipzig: EVA 2018, 479–490.
4 Vgl. auch den Beitrag von Bernhard GRÜMME in diesem Band, der grundsätzliche Ein-
wände zusammenfasst, sowie Thomas Schlags Vortrag „Religiöse Bildung und Politik
– eine Felderöffnung aus evangelischer Perspektive“ während der GWR-Jahrestagung
2019 („Politische Dimensionen religiöser Bildung“), erscheint in Theo-Web 18/2
(2019).
5 Vgl. den als Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden zu verstehenden Band von
KAUFMANN, Hans Bernhard (Hg.): Streit um den problemorientierten Religionsunter-
58 Thorsten Knauth
richt in Schule und Kirche, Frankfurt am Main / Berlin / München: Diesterweg 1973;
vgl. zu einem zusammenfassenden Überblick der kritischen Stellungnahmen KNAUTH
2003 [Anm. 2], 270–276.
6 Vgl. zuletzt KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religi-
onsunterricht und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte
und Aktualität, in: ZPT 70 (2018), 128–141.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 59
9 Vgl. Knauth 2003 [Anm. 2], 62–68. Vgl. dazu FEND, Helmut: Sozialgeschichte des
Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten
Jahrhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.
10 Vgl. KNAUTH, Thorsten: 1968 und die evangelische Religionspädagogik: Ansätze, Wir-
kungen, unabgegoltene Potenziale, in: RICKERS, Folkert / SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968
und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2010, 297–
310, 298.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 61
Besonders das Feld von Bildung schien dafür geeignet zu sein, einer soli-
darischeren und gerechteren Vergesellschaftungsform den Weg zu bahnen.
Diese Hoffnung konnte deshalb nicht als naiv und idealistisch abgetan wer-
den, weil die in den Dimensionen von Subjekt, Recht, sozialem Status und
kultureller Anerkennung erreichten Freiheitsfortschritte einen inhärenten
„Geltungsüberhang“ aufwiesen, der „mehr an legitimierbaren Ansprüchen
und Verpflichtungen enthält, als in der Faktizität der gesellschaftlichen
Wirklichkeit jeweils realisiert ist“12 und daher ein transformatorisches Po-
tenzial besitzt. Mit den Fortschritten sind, anders gesagt, normative Stan-
dards im Blick auf die Entfaltung der Persönlichkeit, der Gleichheits- und
Gerechtigkeitsidee sowie auf soziale Wertschätzung und die Anerkennung
einer Vielfalt von Lebensformen gesetzt, durch die Verletzungen z. B. in
Form von Einschränkungen individueller Rechte und Freiheiten, Unge-
rechtigkeit, materielle Deprivation und kulturelle Missachtung als nichtle-
gitimierbare Formen von Diskriminierung aufgezeigt und zurückgewiesen
werden können. In diesen Sphären individueller, sozialer, kultureller und
rechtlicher Anerkennung werden die Subjekte insofern in die Lage ver-
setzt, Verletzungen normativer Standards „als ungerechtfertigte Benach-
teiligungen oder Exklusionen“13 zu erfahren und zu artikulieren. Der Gel-
tungsüberhang dieser Gerechtigkeitsnormen setzt somit eine Dynamik in
Gang, die gegebene Sozialverhältnisse in Richtung auf eine Universalisier-
barkeit der Normen übersteigen kann.
Dies war auch seinerzeit noch die analytisch begründete Hoffnung von Jür-
gen Habermas (1973), der in den genannten kulturellen Modernisierungen
die Entwicklung zu einer universalistischen Moral erkannte, die aus dem
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit resultierende Ungleichheiten
und Ungerechtigkeiten offenzulegen und zu transformieren in der Lage
sein müsste. Bereits 1969 bescheinigte Habermas der Protestbewegung,
den Unterschied zwischen technischen und praktisch-ethischen Fragen der
12 EBD., 224.
13 EBD., 225.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 63
16 Vgl. WINKER, Gabriele / DEGELE, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Un-
gleichheit, Bielefeld: Transcript 2009.
17 Vgl. KNAUTH, Thorsten: Gerechtigkeit und Anerkennung als Schlüsselbegriffe in einer
Religionspädagogik der Vielfalt, in: HEINRICH-SCHAFFRICK, Pia / SCHAFFRICK,
Matthias (Hg.): Theologie der Teilhabe. Gemeinschaft, Beziehung, Begegnung (FS
Rolf Heinrich), Münster: LIT 2016, 49–72.
18 Vgl. auch SENNETT, Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berliner Ta-
schenbuch 2007.
19 HONNETH 2010 [Anm. 11], 228.
20 BAUMAN, Zygmunt: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn: BpB
2005.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 65
23 HONNETH, Axel: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin: Suhr-
kamp 2015, 132.
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 67
freien Verhaltens der Subjekte zu sich selbst und zu anderen auch mit Hilfe
des Entfremdungsbegriffes analysiert werden.24 Subjekte werden ihrer
Möglichkeit enteignet, sich in Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung
intersubjektiv reflektiert selbst zu bestimmen. Die Verzerrung von freien
Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung lässt sich im Sinne des Ent-
fremdungsbegriffes als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“25 und somit
als eine Störung der Weltaneignung deuten, die den Erfahrungsprozess
blockiert und Beziehungen zu verdinglichen droht.
Entfremdung ist damit eine Form des Verlustes von Freiheit, weil Subjekte
sich nicht mehr frei zu sich selbst und zu anderen verhalten können, son-
dern einander im Modus von Versachlichung und Entpersönlichung begeg-
nen. Entfremdung, Freiheitsverlust und Verdinglichung können daher als
Phänomene des Sozialen im Kontext neoliberaler Entschränkungen ver-
wertungsorientierten Handelns betrachtet werden. Sie sind in die Lebens-
formen eingelassen und blockieren einen an gemeinsamer Selbstverwirk-
lichung orientierten sozialen Erfahrungsprozess.26
3.1 Politikverständnis
Die Frage nach dem Politischen lässt sich weiterhin begrifflich entlang der
von Axel Honneth angesprochenen Sphären der Anerkennung differenzie-
ren. Politische Themen berühren Fragen der Möglichkeit, sich in gesell-
schaftlichen Räumen als Individuum erfahren und zeigen zu können; sie
betreffen die Einschränkung oder Anerkennung individueller Freiheits-
rechte; sie beziehen sich auf die Möglichkeit, in materieller Hinsicht am
sozialen und kulturellen Leben teilhaben zu können; und sie berühren
schließlich auch die Frage, ob Menschen frei sind zu lieben, wen und wie
sie wollen. Diese strukturelle Erweiterung und Differenzierung des Politi-
schen ist in den Ansätzen jener Jahre angelegt, gleichwohl aber nicht voll
entfaltet. Denn Ende der 1960er Jahre formierten sich erst anfanghaft die
sozialen Bewegungen, die die Idee sozialer Freiheit und Anerkennung in
den Dimensionen von Geschlecht (Frauen-, Lesben- und Schwulenbewe-
gung), Behinderung (sog. Krüppelbewegung) oder kultureller bzw. religi-
öser Diversifizierung (Anti-rassistische, diskriminierungskritische Bewe-
gung) propagierten und vorantrieben. Die Idee der sozialen Freiheit, die
das gesellschaftliche Reformprojekt verfolgte, faltete sich zunächst noch
undifferenziert in der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aus.30 An die-
ser Entwicklung haben auch die Ansätze des problemorientierten Religi-
onsunterrichts Anteil, die überwiegend im thematischen Spektrum sozialer
Gerechtigkeit blieben und sich an einem Leitbild von Mündigkeit und
Emanzipation orientierten, in das sich die diversifizierten Diskurse über
Der Emanzipationsbegriff wäre falsch verstanden, wollte man ihn als ide-
alistische Zielgröße religionspädagogischen Ansätzen einfach vorschrei-
ben, um religiöse Lernprozesse auf Emanzipation auszurichten. In diesem
Fall träfe der Instrumentalisierungsvorwurf tatsächlich zu und würde zu-
sätzlich das konterkarieren, was angestrebt wird, nämlich die Befreiung
aus verdinglichender Abhängigkeit und Herrschaft zur Möglichkeit, in
freier Selbstbestimmung über die eigenen Geschicke verfügen zu können.
Dieser begriffliche Kern des Emanzipationskonzeptes kann nicht in prä-
skriptiver normativer Setzung sein Potenzial entfalten, sondern nur, indem
deutlich wird, wie sich die Idee von Befreiung aus materialen Prozessen
von Interaktion und Auseinandersetzung mit Wirklichkeit (Weltaneig-
nung) prozesshaft herausschält. Der Emanzipationsbegriff ist ein an ent-
sprechende soziale Praktiken gebundener Bewegungsbegriff, der sich auch
im Prozess der Entfaltung, Herausarbeitung und Verwirklichung von sozi-
aler Freiheit (in verschiedenen Dimensionen und sozialen Sphären) mit Er-
fahrungen anreichert. Emanzipation ist daher als ein Anreicherungsbegriff
zu verstehen und nimmt durch seine Bezogenheit auf unterschiedliche so-
Potenziale und Perspektiven des problemorientierten Ansatzes 71
36 So der Titel eines Werks von Rahel JAEGGI 2016 [Anm. 24].
74 Thorsten Knauth
Kritik ist somit intern auf die Krise einer Lebensform bezogen und arbeitet
an den widersprüchlichen Momenten der Lebensformen jene Aspekte her-
aus, die auf eine Transformation der sozialen Praktiken drängen. Lebens-
formen kommen in die Krise, wenn die ihr eigenen Praktiken nicht mehr
ausreichen, die ihnen gestellten immanenten oder aber auch externen Prob-
leme zu lösen. Lebensformen sind dann „unbewohnbar“ geworden, wie
Rahel Jaeggi in einer eingängigen Metapher formuliert37: ihre Fähigkeit,
Probleme der Lebensgestaltung zu bearbeiten, gerät ins Stocken, und es
entsteht gewissermaßen ein Problem mit den Problemen, das nach einer
neuen Beschreibung der unbestimmt gewordenen Situation und einer Lö-
sung der Handlungs- und Erfahrungsblockade drängt. Rahel Jaeggi zeigt
nun in Anlehnung an Überlegungen von John Dewey, wie die prozesshafte
Verschränkung von Problembeschreibung und Lösungsfindung einen
Lern- und Erfahrungsprozess in Gang setzt, in dessen Verlauf Problemlö-
sung durch eine Reorganisation und Vertiefung von Erfahrungen ermög-
licht wird: „Gelungene Lernprozesse sind solche, die Erfahrungsmöglich-
keiten erweitern und vertiefen (...)“.38
Meine Erörterung ist nun an einem Punkt angelangt, an dem zu klären ist,
welche Rolle Religion in der bislang entwickelten Architektur von Grund-
begriffen einer problemorientierten Religionspädagogik übernimmt. Dazu
möchte ich den inneren Zusammenhang der bislang vorgestellten Grund-
begriffe kurz erläutern: Ich habe gezeigt, dass problemorientierte Religi-
onspädagogik ein weites Verständnis des Politischen zu Grunde legt, durch
das Politik in den sozialen Alltags-Praktiken von Menschen identifiziert
werden kann und als Angelegenheit einer partizipativ von unten entwickel-
ten dialogischen Praxis konzeptualisiert wird. Der solchermaßen gewon-
nene Begriff des Politischen als dialogische Praxis ist Bestandteil und zu-
39 EBD., 446.
76 Thorsten Knauth
In dieses Ensemble gilt es nun, die Rolle und Bedeutung von Religion und
religiöser Tradition einzutragen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang
noch einmal daran, dass dem problemorientierten Ansatz vorgeworfen
wird, er instrumentalisiere Religion für politische Praxis und berücksich-
tige zu wenig die Eigenlogik des Religiösen und den Eigenwert religiöser
Tradition. Vor dem Hintergrund dieses Einwandes möchte ich nun die Ei-
genlogik von Religion gerade so bestimmen, dass ein bestimmtes Ver-
ständnis des Politischen als freiheitsermöglichende Praxis für Religion
konstitutiv ist.41
Denn mit dem Hinweis auf die Eigenlogik von Religion kann ja nicht ge-
meint sein, dass Religion jenseits der Praxis von Subjekten und abgelöst
von sozialen, kulturellen und historischen Kontexten in einem transzen-
denten Sonderraum stattfindet und soziale und politische Strukturen der
Existenz lediglich eine Kulisse für theologische Analysen bilden. Religion
als eine eigenständige Dimension zu verstehen, kann somit nicht zu einem
„Ausstieg aus der Sozialisation in einen Bereich transzendierender eigent-
licher Existenz“42 verstanden werden, sondern muss im Gegenteil tiefer in
das Verstehen der sozialisatorischen, gesellschaftlichen Bedingungen so-
zialen und politischen Existierens hineinführen. Diese Intuition lag bereits
Ansätzen eines ideologiekritischen Religionsunterrichts zu Grunde, die zu
Recht auf einen fundamentalen Widerspruch zwischen den behaupteten
Geltungsansprüchen von Religion und der faktisch realisierten gesell-
schaftlichen Praxis hinwiesen. Religion, die Grundlage einer befreienden
Praxis sein will und über ihre Gottesrede Freiheit behauptet, droht selbst-
widersprüchlich zu werden, wenn sie durch ihre eigene Praxis nicht zur
gesellschaftlichen Realisierung von Freiheit beiträgt. Theologie, die religi-
öse Praxis reflektiert, ist damit konstitutiv auf ihre Interdependenz mit ei-
ner kritischen Theorie der Gesellschaft angewiesen. Sie „bliebe abstrakt,
wenn sie nicht für die gesellschaftliche Unterdrückung von Freiheit und
die Zerstörung möglicher Identität von Subjekten aufmerksam wäre.“43
In den Blick kommt damit Religion als ein handlungs- und orientierungs-
leitender Deutungszusammenhang, der als Bestandteil von sozialer Praxis
in den Lebenswelten und Lebensformen auch an den Ambivalenzen und
„wie der Zirkel von Haß und Vernichtung in einer Praxis universaler Solidarität
aller endlichen Wesen durchbrochen werden könne, die Frage nach Wahrheit und
wahnhaft verzerrter Wahrnehmung von Wirklichkeit, die Frage nach einer zure-
chenbaren und doch jedem Zugriff sich entziehenden Identität des Subjekts und
schließlich die dunkelste Frage der Religionsgeschichte, die nach dem Verhältnis
von unbedingter Freiheits- und Befreiungserfahrung in Religion und der Gewalt
von Menschen über Menschen.“45
1 Bei diesem Interview handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Die Langversion kann
auf der Verlagsseite zu diesem Buch als Zusatzmaterial frei heruntergeladen werden.
Die Interviews wurden einzeln mit den Personen geführt und an dieser Stelle zusam-
mengetragen.
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C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_5
84 Gespräch mit Zeitzeug*innen
Vierzig: Seit 1991 bin ich emeritiert und seitdem habe mich auch nicht
mehr fachwissenschaftlich mit Religionspädagogik befasst, aber auch mit
95 Jahren habe ich noch eine dezidierte Meinung dazu. Ein problemorien-
tierter Unterricht ist der einzig denkbare vertretbare Religionsunterricht
für mich. Wobei ich unter „problemorientiert“ jede Form eines an Lebens-
fragen orientierten Unterrichts verstehe, wie er heute auch vielfach prak-
tiziert wird. Wir brauchen auch heute einen offenen Religionsunterricht,
dessen Thema das Leben und der nicht eingegrenzt auf biblisch-religiöse
Inhalte ist. Aus diesem Grunde befürworte ich die Initiative der Tagung
über Kritik und Emanzipation sehr. Kritik und Emanzipation sind nicht
zeitbedingte Eigenschaften, sondern Grundformen menschlicher Existenz,
die heute wichtiger sind denn je. Der gegenwärtige Zustand der Gesell-
schaft zeigt dieses überdeutlich. […]
Steffensky: Ich kann mir keine religiöse oder andere Bildung vorstellen,
die nicht zu mehr Verstand (Kritik) und Freiheit (Emanzipation) führt. Es
ist aber zu bedenken: es gibt Aufgaben, die die Zeiten uns stellen. In meiner
theologischen Jugend hatten wir gegen autoritäre Systeme in Kirche, Ge-
sellschaft etc. zu kämpfen, die uns Denken und Lachen, Vernunft und Frei-
heit verboten. So mussten wir gegen unsere Traditionen kämpfen. Das al-
lerdings ist nicht mehr die Hauptfront und Frage. Wir haben damals ge-
fragt: Von wem und von was müssen wir uns trennen? Die Frage von heute
ist fast umgekehrt. Mit wem können wir uns verbünden? Was tröstet uns in
der unwirtlichen Gesellschaft? Von welchen Broten unserer Tradition kön-
nen wir uns ernähren? Welcher Autorität kann man trauen? Es gibt ein
Problem der Theologen und Theologinnen: Dass sie gelegentlich an Fron-
ten kämpfen, an denen die Feinde schon lange abgehauen sind. Sie kämp-
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 85
fen immer noch gegen Autoritäten (gilt besonders für Katholiken), die ihre
Autorität schon lange verloren haben.
Vierzig: Der Grund dafür, dass seit den 1980er Jahren in der Religions-
pädagogik eine Stille herrscht, die die vorherige Aufbruchsstimmung ab-
rupt beendete, war das Desinteresse und Missfallen der Kirchen, katho-
lisch wie evangelisch, an einer grundsätzlichen Neuformulierung des schu-
lischen Religionsunterrichts. Dass dieser Entwurf von kirchlicher Seite un-
beachtet geblieben ist, hat meines Erachtens den Grund, dass die Kirche
ihr Verkündigungsmonopol bedroht sah. […]
3 Steffensky zitiert nach DRESSLER, Bernhard: 1968 und die Religionspädagogik. Ein
sehr persönlicher Rückblick, in: Theo-Web 12/2 (2013), 206–218, 210.
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 87
Steffensky: Vor „Allmachtswahn“ sind ganz sicher die bewahrt, die die
Hände in der Tasche lassen und sich ihrem faulen Gottvertrauen hingeben.
Wer aber anfängt zu sehen, Zusammenhänge zu erkennen, sie zu benennen
und an Zuständen zu arbeiten, der stellt sofort den Zusammenhang des Un-
heils fest. Wenn wir z. B. im Nachtgebet über die Zustände in den Gefäng-
nissen gearbeitet haben, kamen wir alsbald darauf, was Schulsysteme da-
mit zu tun haben; was autoritäre Erziehungsstile und verbaute Städte damit
zu tun haben; was das Rachebedürfnis einer Gesellschaft mit dem Zustand
der Gefängnisse zu tun hat. Wenn man ein Leiden anpackt, stößt man auf
ein Bündel von Leiden. Und die Hauptfrage im PN: was lassen wir liegen,
weil wir nicht alles tun können? Aber wer ein Herz hat, dem fällt es schwer,
etwas liegen zu lassen. Es sieht vielleicht nach außen wie Größenwahn aus,
alles anpacken zu wollen. Aber es ist auch ein Schmerz, nicht alles anpa-
cken zu können. Das sollen die bedenken, die den Linken Größenwahn vor-
werfen. Faulpelze geraten nicht in die Gefahr des Größenwahnes.
Herbst: Herr Vierzig und Frau Rickers, wie sehr wurden ihre damaligen
Unterrichtskonzepte durch „1968“ beeinflusst? Wie stark waren Schü-
ler*innen- und Studierendenproteste, die beispielsweise eine Ausrichtung
an Religionskritik forderten, Anlass für die Konzeption einer ideologiekri-
tischen Religionspädagogik?4
Vierzig: Fragt man nach den damaligen Gründen für den Aufbruch zur
Veränderung des Religionsunterrichts, liegen sie nicht in der Theologie,
sondern in den gesellschaftspolitischen Verhältnissen der Zeit. So wurde
die Gründung des PTI in Kassel ausgelöst durch einen dramatischen Rück-
gang der Teilnahme von Gymnasialschülern am Religionsunterricht. Die-
ser war eine Folge der 1968er-Bewegung an den Universitäten, wie auch
die Neuordnung der Didaktik im Deutschunterricht unter dem hessischen
Kultusminister von Friedeburg (Klafki-Kommission) im Zusammenhang
mit der neu entstandenen Curriculumtheorie. Wir griffen im PTI die lern-
zielorientierte Didaktik auf, um den Religionsunterricht neu zu konzipie-
ren. Damit hatten wir einen bundesweiten Erfolg.
Herbst: Herr Steffensky, kommen wir zu Ihrer Praxis: Sie haben mit D.
Sölle zusammen das politische Nachtgebet entwickelt. Was lässt sich reli-
gionspädagogisch davon lernen? Stellt es eine Blaupause dar, um politi-
sche und liturgische Bildung im Religionsunterricht oder in der Katechese
miteinander zu verbinden?
Steffensky: Leichter fiele es mir, über die Fehler des Nachtgebets zu spre-
chen (wie Fehler immer leichter zu nennen sind). Aber es gibt einen Lern-
erfolg, der wohl auch für den RU oder die Katechese gilt. Das Glück und
das Unglück der Menschen zu nennen, über ihre Gründe zu reden und Ver-
änderungen zu bedenken, kann nicht mehr vernachlässigt werden. Es ge-
Die evangelische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 89
hört ins Zentrum des christlichen Bedenkens und es ist nicht nur eine se-
kundäre moralische Angelegenheit. Dies muss nicht immer geschehen,
aber es ist ein ständig zu beachtender Gottesdienst. Dass das PN – dieses
natürlich nicht allein – dazu beigetragen hat, zeigt schon die Geläufigkeit
des Namens Politisches Nachtgebet. Zu handeln wie das PN, nämlich die
politischen Sünden einer Gesellschaft namhaft zu machen, gehört sowohl
zur politischen wie auch zur katechetischen Bildung, wo das Evangelium
ernst genommen wird.
Herbst: Herr Heumann, Sie haben 1991 noch einmal einen Markstein ge-
setzt, als Sie „Siegfried Vierzig zu Ehren“ den Sammelband „Freiheit und
Kritik“ herausgegeben haben, der mit dem Untertitel „Beiträge zu einer
ideologiekritischen Religionspädagogik“5 versehen ist. Gab es zu diesem
Zeitpunkt noch die Tradition einer kritisch-emanzipatorischen Religions-
pädagogik oder zumindest eine Diskussion darüber? Mit welchen Vorbe-
halten waren Sie damals konfrontiert?
5 Vgl. HEUMANN, Jürgen (Hg.): Freiheit und Kritik. Siegfried Vierzig zu Ehren, Olden-
burg 1991.
90 Gespräch mit Zeitzeug*innen
Heumann: Für die öffentliche religiöse Bildung, die der RU an der Schule
zu leisten hat, bleibt der Blick auf seine Verflochtenheit mit Existenz und
Lebenswelt essentiell. Deshalb sind die Kategorien „Problem und Proble-
matisierung“ so wichtig: Nicht Problematisierung um ihrer selbst willen,
sondern weil Religion, Gesellschaft und Kultur in ihren Brüchen, Unge-
reimtheiten, Verletzungen so von Schülern erkannt werden müssen, dass
diese in der Lage sind, nach eigenen begründeten Antworten zu suchen.
Wer z. B. von Jesus, Gott, Allah redet, muss sich immer der Ambivalenz,
die solchen Symbolworten innewohnen, bewusst sein; bewusst sein hin-
sichtlich von Verstehenswandlungen innerhalb der Traditionen solcher
Worte bzw. hinsichtlich ihrer gegenwärtigen Inanspruchnahme (ob von
Kirchen, Kultur, Gesellschaft, Staat oder anderen Religionen/Weltan-
schauungen). Gerade Gottesbildern darf eben nicht ohne kritische Befra-
gung gefolgt werden. Die Kategorien ‚Problem‘ und ‚Ideologiekritik‘ bie-
ten den hermeneutischen Schlüssel, um dieses Ziel zu erreichen.
Heumann: Den Vorwurf des „Verlusts der Fachlichkeit“ halte ich teil-
weise für gerechtfertigt (s. oben). Halbfas‘ Einwand war an der Stelle be-
rechtigt, dass im RU konsensuale, für ein Verstehen europäischer Religion
und Geschichte unabdingbare Inhalte oft zu kurz kamen. Wenn seinerzeit
nicht sofort ideologische Grabenkämpfe ausgebrochen wären, hätte man
Inhaltlichkeit und Problemorientierung gut vermitteln können. Es handelte
sich hier ja nicht um unvereinbare Gegensätze. Im Grunde haben die Leh-
rer in den Schulen beide Aspekte im Laufe der Jahre auch selbst ausgegli-
chen. Hilfreich war hier sicher auch das von Halbfas mitentwickelte Kon-
zept einer Symboldidaktik., die in ihrer evangelischen Variante bei Peter
Biehl und mir selbst deutlich ideologiekritische Aspekte aufnahm. Der Vor-
wurf politischer Instrumentalisierung ist m. E. Unsinn. Problemorientie-
rung und Ideologiekritik selbst Instrumentalisierung vorzuwerfen, ist
kirchlicher Polemik geschuldet und zeigt mangelnde Sensibilität gegen-
über einer pädagogisch begründeten religiösen Bildung. […]
Herbst: Lieber Herr Heumann, Sie waren noch bis 2011 Direktor des In-
stituts für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität
Oldenburg. Damit haben Sie neuere Entwicklungen in der Religionspäda-
gogik noch als Professor mitbekommen. Daher noch einige Fragen an Sie,
die die aktuelleren Entwicklungen in der Religionspädagogik betreffen. In-
Herbst: Der Nachfolger von Ihnen und Prof. Vierzig, Prof. Willems, kon-
statiert, dass ein religionskritischer Religionsunterricht gegenwärtig nicht
mehr so funktionieren kann wie noch 1968, weil es „mögliche Zusammen-
hänge zwischen Religionskritik einerseits und kulturalistischen (antimus-
limischen) Rassismen andererseits“9 gebe. Stimmen Sie dieser These zu?
Und wenn ja, welche Konsequenzen folgen daraus für einen (religions-
) kritischen Religionsunterricht?
Heumann: Nein, ich stimme diesem Argument in keiner Weise zu, weil es
unterstellt, dass es der Religionskritik per se darum geht, Religionen zu
diskreditieren, gar mit rassistischen Attitüden. Religions- und Ideologie-
kritik geht es nicht darum religiöse oder kulturelle Phänomene zu diskre-
ditieren, sondern die jeweiligen Wahrheitsansprüche in Frage zu stellen
und sich Herrschaftsansprüchen oder Definitionsgewalten eben nicht aus-
zuliefern. Die öffentliche Schule und gerade die religiöse Bildung haben
seit der Aufklärung einen schwierigen Prozess vollzogen. Gäbe es zu einem
kritisch aufgeklärten RU denn heute eine Alternative?
matisieren, wenn sie nicht zur Ideologie werden sollen. Zweitens müssen
die Wertaussagen und Traditionen der großen Religionen in ihrem Selbst-
verständnis nahegebracht und doch auch in der Ambivalenz ihrer Inhalte,
Traditionen und Institutionen beispielhaft reflektiert werden.
Fulbert Steffensky (* 1933) war von 1972 bis 1975 Professor für Erzie-
hungswissenschaften an der FH Köln und von 1975 bis 1998 Professor für
Religionspädagogik an der Universität Hamburg. In vielen Texten und vor
allem mit dem Politischen Nachtgebet, das er gemeinsam mit seiner Frau
Dorothee Sölle gegründet hat, hob er die politische Dimension des Glau-
bens hervor. Die ambivalente Funktion von Religion, ihre ideologische und
emanzipatorische Seite, hat er mit Blick auf den Religionsunterricht bei-
spielsweise im Werk „Gott und Mensch – Herr und Knecht? Autoritäre
Religion und menschliche Befreiung im Religionsbuch“ (1973) untersucht.
Siegfried Vierzig (* 1923) war von 1974 bis 1991 Professor für Evangeli-
sche Theologie und Religionspädagogik an der Carl von Ossietzky Uni-
versität Oldenburg. Er hat mit seiner Dissertation „Ideologiekritik und Re-
ligionsunterricht“ (1975) intensiv Ansätze aus der Kritischen Gesell-
schaftstheorie und der Politischen Theologie rezipiert und eine politische
Konzeption von Religionsunterricht vorgelegt. Seine theoretischen Vor-
stellungen hat er in vielfältigen Unterrichtsvorschlägen konkretisiert, unter
anderem im Band „Religion und Ideologie“ (1977), den er mit Elga Sorge
herausgegeben hat.
Blick in den Rückspiegel II:
Die katholische Religionspädagogik der
Reformdekade um 19681
Jan-Hendrik Herbst
Herbst: Lieber Herr Assig, lieber Herr Betz, lieber Herr Füssel, lieber Herr
Halbfas, lieber Herr Mette, lieber Herr Steinkamp! Ich freue mich sehr,
dass wir Sie für ein Gespräch mit uns gewinnen konnten. Gemeinsam
möchten wir einen Blick von heute zurück wagen und aus der Geschichte
Probleme, Potenziale und Perspektiven gegenwärtiger Religionspädagogik
herausarbeiten. Uns interessieren also Ihre vergangenen Erfahrungen
ebenso wie gegenwärtige Einschätzungen. Beginnen wir, zum Anlass pas-
send, mit einer Frage zur Tagung „Zurück in die Zukunft?“. Was denken
Sie darüber, dass es im März 2019 eine Tagung über ‚Kritik‘ und ‚Eman-
zipation‘ in der Religionspädagogik geben soll? Lohnt sich Ihres Erachtens
ein Blick zurück in die Vergangenheit aus systematischem Interesse?
Mette: (Ideologie-) Kritik und Emanzipation waren seit Anfang der 1970er
Jahre des vergangenen Jahrhunderts für gut zwei Jahrzehnte zu Leitbe-
griffen der Religionspädagogik geworden. Allerdings gilt das stärker für
die evangelische als für die katholische Religionspädagogik. […] Beson-
ders stark avancierte der Emanzipationsbegriff in der kirchlichen Jugend-
arbeit […] zum Leitbegriff […]. Beeinflusst wurde diese Ausrichtung der
Religionspädagogik stark durch die damalige Diskussion in der Pädagogik
bzw. Erziehungswissenschaft […]. Im Hintergrund stand dabei die Kri-
1 Bei diesem Interview handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Die Langversion kann
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102 Gespräch mit Zeitzeugen
Halbfas: Sie können mich auch fragen, ob sich ein Blick zurück in die Ge-
schichte lohnt. Wer wären wir denn, wenn uns unsere eigene Geschichte
nicht als Frage und Aufgabe bewusst bliebe? Das gilt allgemein und
grundsätzlich. Es gilt auch für die Geschichte des Religionsunterrichts. Als
ein „emanzipatorischer Religionsunterricht“ diskutiert wurde, waren die
daran Beteiligten ja nicht dümmer als die heute Agierenden. Die damals
Kreativsten waren von der Gedankenwelt der 1968er Generation betrof-
fen, und ihnen standen genug Traditionalisten gegenüber, die über jede
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 103
Steinkamp: Ich möchte auf die Frage, ob sich ein Blick „Zurück in die
Zukunft?“ für die Religionspädagogik lohnt, mit einer Erinnerung antwor-
ten. ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ wurden in und seit den 1968er Jahren
nicht nur neue Schlagworte, sie transportierten auch politische Program-
matiken – bis in viele Jugendverbände hinein. Unter den sich wandelnden
Konzepten und Etiketten errang das der „emanzipatorischen Jugendar-
beit“ schon bald einen prominenten Rang. Von der Religionspädagogik
eher zögerlich rezipiert, wurde dieses Konzept zunächst in einem „Seiten-
tal“ hoffähig, der sogenannten außerschulischen Pädagogik, z. B. der
kirchlichen Jugendarbeit. Ein die 1970er Jahre prägendes kirchliches Er-
eignis spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: die Gemein-
same Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschlands, die
„Würzburger Synode“. […] Im letzten Jahr hat meine Münsteraner Fakul-
tät eine Tagung zur Erinnerung an die Würzburger Synode veranstaltet.
Die hat sich schon deshalb gelohnt, weil sie einen markanten kirchlichen
Lernprozess rekonstruiert hat. U. a. wurde daran erinnert, dass die Frak-
tion der Bischöfe in der Synode das „Jugendpapier“ scharf kritisiert hatte,
weil es „neomarxistisches Vokabular“ enthielt.
Füssel: Zunächst gestatte ich mir ein Wortspiel. Hätte man nicht auch
„Vorwärts in die Vergangenheit“ als Leitlinie formulieren können? Es
dürfte ja klar sein, dass wir unseren aktuellen Standort nur zureichend be-
stimmen können, wenn wir uns darüber vergewissern, woher wir kommen,
104 Gespräch mit Zeitzeugen
welche Ziele wir haben, wer wir sind und was wir können. […] Die zent-
ralen Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ haben ihre Geschichte. Diese
kann hier nur erwähnt, aber nicht gewürdigt werden. Unterstrichen wer-
den soll jedoch: Sie sind untrennbar damit verbunden, was seit der Aufklä-
rung die Konzeption einer umfassend verstandenen Bildung ausmacht. Ge-
rade in Zeiten wie diesen, wo die für Bildung zuständigen Institutionen
dazu tendieren, Bildung auf Ausbildung zu einem für das Kapital und seine
Vermehrung nützlichen, „eindimensionalen Menschen“ (Herbert Mar-
cuse) oder, wie es schon 1968 Karl Rahner in bestechender Voraussicht
formulierte, „zu einem findigen Tastendrücker“, verkommen zu lassen,
müssen wir alles daran setzen, in Theologie und Geisteswissenschaften ge-
gen das Auslöschen eines umfassenden Bildungsverständnisses und seines
befreienden Potenzials anzutreten.
Mette: Ich greife nur einen Punkt heraus, der für mich ein besonderes An-
liegen ist: Die christliche Religionspädagogik muss aufweisen können,
dass sie bei der Betonung der politischen Dimension ihres Denkens und
Tuns bei ihrer ureigenen Sache ist, dass es sich also um eine Verkürzung
des christlichen Glaubens handelt, wenn bei seiner Vermittlung um diese
Dimension nicht zur Geltung gebracht würde. Um das an einem einschlä-
gigen Beispiel zu zeigen: Mit dem Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer von
Himmel und Erde ist es nicht zu vereinbaren, wenn mit dieser Schöpfung
menschlicherseits Raubbau betrieben wird. In diesem Sinne ist klar zu ma-
chen, dass es sich bei dem Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Nach-
haltigkeit (Bewahrung der Schöpfung) – um die großen Herausforderun-
gen der Gegenwart schlagwortartig zu benennen – nicht um sozialethische
Konsequenzen des Glaubens handelt, sondern dass das ein konstitutives
Moment des Glaubens darstellt, ebenso wie seine spirituell-mystische Seite
[…].
Herbst: Wie schätzen Sie das ein, Herr Halbfas? Sie haben unter anderem
in Ihrem Werk „Das dritte Auge“ (1982) analysiert, dass auch innere Apo-
rien des Problemorientierten Ansatzes für die religionspädagogische Ab-
wendung von ihm verantwortlich sind. Welche dieser Aporien halten Sie
aus der heutigen Perspektive für besonders relevant, welche würden Sie
ggf. relativieren?
Halbfas: Dies sind Fragen, die für mich ihre Aktualität verloren haben,
weil sie in größere Zusammenhänge überführt wurden. Ich habe ange-
sichts der damals herrschenden Standards die Funktionalisierung der
Lerninhalte kritisiert, den Niedergang der hermeneutischen Kultur, die
Verringerung des Sachwissens, die Missachtung der allgemeinen Schul-
kultur, die Egalisierung des didaktischen Denkens und vor allem den Aus-
fall der Fähigkeit, mit metaphorischer und symbolischer Sprache umgehen
zu können. Das alles halte ich weiterhin für relevant. […]
Mette: Eine frühe Ausnahme auf katholischer Seite bildete in der Tat der
Münsteraner Pastoraltheologe Theodor Filthaut (1907–1967), der schon
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 107
1965 einen Band zur „Politische(n) Erziehung aus dem Glauben“ heraus-
gegeben hat.3 […] Filthaut bedauerte, dass sich der Religionsunterricht
politisch enthaltsam gebe, und forderte, dass er von seiner Sache her einen
Beitrag dazu leiste, die Schüler*innen zur verantwortlichen Gestaltung des
demokratischen Staates anzuhalten. Ausdrücklich inspiriert von der poli-
tischen Theologie Johann Baptist Metz‘ haben Hubertus Assig und
Hansjürgen von Mallinckrodt 1972 einen Sammelband zur „Politische(n)
Katechese“ herausgegeben.4 In demselben Jahr veröffentlichte Wolfgang
Offele einen Band mit eigenen Beiträgen zum Thema „Emanzipation und
Religionsunterricht“.5 Aber diesen beiden Büchern ging es genauso wie
dem von Theodor Filthaut: Sie spielten in der weiteren religionspädagogi-
schen Diskussion keine Rolle. Etwas anders erging es dem Wirken des
Münsteraner Pastoraltheologen und Religionspädagogen Adolf Exeler
(1926–1983), der sich bei einer Begegnung mit der Befreiungspastoral und
-katechese in Lateinamerika der politisch-befreienden Dimension des
christlichen Glaubens bewusst geworden war und sich seitdem mit aller
Kraft dafür einsetzte, dieses in Theorie und Praxis des Religionsunterrichts
und der kirchlichen Bildungsarbeit auch hierzulande zu berücksichtigen.
Teilweise wurde das auch zum Thema der von ihm betreuten Dissertatio-
nen. In diesem Sinne ließe sich womöglich von einer „Münsteraner
Schule“ sprechen; allerdings wäre dies eine Fremd- und keine Selbstbe-
zeichnung.
Natürlich muss auch die Theologie von Johann Baptist Metz in diesem Zu-
sammenhang genannt werden. Zwar hat Metz sich nicht direkt mit den
3 Vgl. FILTHAUT, Theodor (Hg.): Politische Erziehung aus dem Glauben (= Grünewald-
Reihe), Mainz: Matthias-Grünewald 1965.
4 Vgl. ASSIG, Hubertus / MALLINCKRODT, Hansjürgen von: Politische Katechese. Theo-
logische und didaktische Skizzen (= Pfeiffer-Werkbücher 112), München: Pfeiffer
1972.
5 Vgl. OFFELE, Wolfgang (Hg.): Emanzipation und Religionspädagogik, Zürich / Einsie-
deln / Köln: Benziger 1972.
108 Gespräch mit Zeitzeugen
Herbst: Herr Füssel, wie schätzen Sie diesen Sachverhalt ein: Gab es auf
Seiten der katholischen Religionspädagogik etwas, das man „Münsteraner
Schule“ nennen könnte? Gab es zum Beispiel im Kreis um T. Filthaut und
A. Exeler ein ähnlich stark ausgeprägtes politisches Bewusstsein wie im
Kreis von Karl Rahner, Johann B. Metz, Helmut Peukert und Ihnen? Wie
stark schätzen Sie insgesamt den Einfluss der Politischen Theologie auf die
Religionspädagogik ein?
Füssel: Die Nomenklatur der Frage aufgreifend, kann ich mir einen Ver-
weis auf meine in der großen Festschrift zum 90. Geb. von J. B. Metz, die
7 Vgl. JANßEN, Hans-Gerd / PRINZ, Julia D. E. / RAINER, Michael J.: Theologie in gefähr-
deter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz
zum 90. Geburtstag (= Religion – Geschichte – Gesellschaft), Münster: LIT 2018.
8 Vgl. Füssels Beitrag in LANGENOHL, Bertil / GROßE RÜSCHKAMP, Christian (Hg.): Wozu
Theologie? Anstiftungen aus der praktischen Fundamentaltheologie von Tiemo Rainer
Peters, Münster: LIT 2005.
110 Gespräch mit Zeitzeugen
Herbst: Herr Mette, Sie haben ja auch in Münster studiert und waren As-
sistent von Adolf Exeler. Johann B. Metz und weitere der genannten Per-
sonen kennen Sie persönlich. Zudem haben Sie sich in Ihren Arbeiten mit
Themen wie Frieden, Gerechtigkeit und Befreiung beschäftigt. Inwiefern
wurden Sie und Ihre religionspädagogische Denkweise durch die Politi-
sche Theologie und die Theologie der Befreiung geprägt? Wie wurden Sie
durch den „Geist von 1968“ beeinflusst? Welche Impulse waren für Sie
besonders wichtig, welche Probleme sehen Sie aus heutiger Perspektive
jedoch auch? Was kann die heutige Religionspädagogik von den damali-
gen Impulsen noch lernen?
Mette: Die Universität Münster, an der ich seit 1968 studiert habe, zählte
sicherlich nicht zu den Zentren der damaligen Studentenbewegung. Aber
auch hier zeitigte sie mehr oder weniger beachtliche Auswirkungen, wie
z. B. ständige Sit-ins, Sprengung von Lehrveranstaltungen, Institutsbeset-
zungen, Demonstrationen gegen hochschulpolitische Maßnahmen oder die
Notstandsgesetzgebung u. Ä. m. Aufgeschlossene Professoren ließen sich
auf Druck von studentischer Seite auf eine Änderung der Gestaltung ihrer
Lehrveranstaltungen ein. Berufungsverfahren blieben nicht länger Ange-
legenheit des Professorenkollegiums, sondern wurden von den Studieren-
den und dem Mittelbau kritisch-konstruktiv begleitet. Es herrschte so etwas
wie eine Aufbruchsstimmung: Wir verändern die Welt und – besonders für
die Theologiestudierenden – die Kirche. Das Pastoralkonzil der katholi-
schen Kirche in den Niederlanden und der deutsche Katholikentag in Es-
sen 1968 markierten dies in besonderer Weise. Die Nichtrezeption der En-
zyklika „Humanae Vitae“ von Papst Paul VI trug das Ihre dazu bei.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 111
Mit der auf katholischer Seite von Johann Baptist Metz inaugurierten
(neuen) Politischen Theologie hielt dieses Zeitgefühl, kritisch reflektiert,
Einzug auch in die Theologie und in die Kirche. Theologen und Theologin-
nen begannen, sich mit Resolutionen zu Entwicklungen in der Kirche öf-
fentlich Gehör zu verschaffen. Kritische Priestergruppen bildeten sich. Die
Hochschulgemeinden, unter ihnen auch die in Münster, wurden zu Foren
einer kritischen Kirche. Die Katholisch-Theologische Fakultät der Univer-
sität Münster wurde aufgrund ihres exzellenten Lehrkörpers, besonders
durch Karl Rahner und Johann Baptist Metz repräsentiert, zu einem An-
ziehungsort für Studierende aus aller Welt, die kamen, um hier zu promo-
vieren. Dadurch wurde die Fakultät zu einem Ort des interkulturellen Ge-
sprächs. Mit den Studierenden aus Lateinamerika wurde die Theologie der
Befreiung nach Münster gebracht. […] Es war die Politische Theologie,
die sich als praktische Fundamentaltheologie verstand, im Verbund mit
der Befreiungstheologie mit ihrer Betonung des Primats der Orthopraxie,
die mein Interesse an der Praktischen Theologie weckte und für mich lei-
tend für deren Verständnis wurde. Das drückt sich in für mich zentral ge-
wordenen Begriffen dieser theologischen Disziplin aus: Subjektwerdung,
Identität, Gerechtigkeit, Freiheit und Befreiung, universale Solidarität,
Option für die Armen und Exkludierten, Versöhnung und Frieden etc. Für
viele meiner Generation bedeutete das Theologiestudium […] einen Pro-
zess der persönlichen Aufklärung und Befreiung aus einer gewissen Enge
der eigenen Sozialisation. Nicht zufällig erkannten sich viele in Tilmann
Mosers „Gottesvergiftung“ selbstkritisch wieder und die Auseinanderset-
zung damit ermöglichte es ihnen, ihnen vermittelte be- oder unterdrü-
ckende zwanghafte Gottesvorstellungen u. Ä. m. hinter sich zu lassen. Von
solchen psychischen Belastungen ist die später herangewachsene und jetzt
heranwachsende Generation von Ausnahmen abgesehen frei. Aber nicht
zu unterschätzen ist, welche anderen Götter ihnen in ihrer Sozialisation
eingeimpft wurden und werden. ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ sind weiterhin
höchst aktuell.
112 Gespräch mit Zeitzeugen
Herbst: Herr Assig, Sie haben eins der genannten Werke herausgebracht.
Wie ist der Sammelband „Politische Katechese“ eigentlich zustande ge-
kommen? Und welche Bedeutung hatte dabei die „Politische Theologie“
von Johann B. Metz?
Assig: Bei der Entstehung des Werks muss eine Bündelung von Vorausset-
zungen beachtet werden: Besonders hervorzuheben ist dabei das ‚Dokto-
randen-Kolloquium‘ von Johann B. Metz. Zudem müssen das Zweite Vati-
kanische Konzil und die von Religionslehrern organisierte ‚Gruppe 69‘
genannt werden. Zunächst kannten sich drei Textautoren persönlich aus
dem Doktoranden-Kreis von Johann B. Metz: Dr. H. von Mallinckrodt, Dr.
L. Rütti und ich. Metz hatte in Münster einen großen Kreis von Doktoran-
den um sich geschart. Das sogenannte ‚Doktoranden-Kolloquium‘ tagte
regelmäßig und zählte im Jahr 1969 34 Teilnehmer. Darunter waren Hol-
länder, Belgier, Franzosen, Amerikaner und Spanier. In den Sitzungen des
Doktoranden-Kolloquiums stellten die Teilnehmer in der Regel Perspekti-
ven ihrer Dissertation vor. Prof. Metz brachte allerdings auch eigene The-
men ein, zum Beispiel Überlegungen zu einer theologischen Ästhetik oder
zur Theologie der Befreiung in Südamerika. Prof. Metz gönnte sich und
seinen Doktoranden gelegentlich Arbeitssitzungen in einer vornehmlichen
Villa, gelegen zwischen Ochtrup und Wettringen. Dieses ‚Haus Rothen-
berge‘ gehörte ursprünglich einem betuchten Bankier und erfreute uns
durch sein gediegenes Ambiente. Mallinckrodt, Rütti und mir ging es in
ersten Gesprächen nicht nur darum, die Theoreme der Neuen Politischen
Theologie auf den Religionsunterricht zu beziehen. Besonders umtrieb uns
auch die Überlegung, ob nicht die Impulse des Zweiten Vatikanischen Kon-
zils – insbesondere der Pastoralkonstitution ‚Die Kirche in der Welt von
heute‘ – nicht deutliche Auswirkungen haben müssten auf den traditionel-
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 113
Herbst: Der Titel „Politische Katechese“ ist heute nicht unmittelbar nach-
vollziehbar. Wie war der Titel gemeint?
Herbst: Herr Betz, Sie haben den Sammelband „Politische Katechese“ als
Reihenherausgeber mitangeregt. Was hat Sie dazu motiviert? Und können
Sie etwas über die Wirkung des Bandes sagen?
9 Die „Gruppe 69“ war ein informeller Kreis von Religionslehrer*innen im Bistum Mün-
ster, „die in Auseinandersetzung mit den praktischen Erfahrungen und neueren Theo-
rien des RU die Konzeption eines RU aus der Perspektive des Selbstverständnisses der
Schulen heute vertreten.“ (Auszug aus den unveröffentlichten Arbeitsthesen der Grup-
pe).
114 Gespräch mit Zeitzeugen
Betz: Durch Johannes XXIII. und seine Forderung nach einem Aggiorna-
mento wurden wir daran erinnert, dass wir noch gar nicht im Heute ange-
kommen waren, wir waren in der Sprache und im Denken, in der Theologie
und der Pädagogik im Gestern stecken geblieben und hatten einen unge-
heuren Nachholbedarf. Wir hatten noch die Nazizeit erlebt und waren po-
litisch sensibilisiert. Selbstverständlich war uns ein ökumenisches Denken
vertraut und die evangelischen Publikationen haben uns genauso interes-
siert wie die katholischen. Walter Dirks und Eugen Kogon hatten wir schon
im Studium kennengelernt, die Frankfurter Hefte waren eine Weile ‚unser
täglich Brot‘. Mit Walter Dirks und seiner Frau stand ich auch im steten –
aber seltenen – Kontakt. Und später waren wir froh, dass Baptist Metz
unser Vordenker und Stichwortgeber geworden ist. Schon vor den ‚Acht-
undsechzigern‘ hatten wir für alles ‚Linke‘ ein besonderes Ohr. „Politi-
sche Katechese“ erschien 1972, welche Wirkung sie in Deutschland oder
Spanien entfaltet hat, weiß ich allerdings nicht.
Assig: Zwei Erlebnisse in meinem RU habe ich bis heute in guter Erinne-
rung. In einem Kurs hatte ich, dem Curriculum entsprechend, eine Einfüh-
rung in das Markus-Evangelium angeboten. Nach einigen Unterrichtsstun-
den meldete sich ein Schüler und machte einen Vorschlag, den er offen-
sichtlich mit den Kursteilnehmern abgestimmt hatte: Statt der Beschäfti-
gung (!) mit dem Neuen Testament hielte es der Kurs für dringend nötig,
einen ‚Spiegel‘-Artikel zu diskutieren und sich mit den ‚Finanzen des Va-
tikans‘ kritisch auseinanderzusetzen. Ähnlich erging es mir mit dem Ver-
such, den Katechismus zum Thema zu machen. Tenor des Kurses: Die dort
gestellten Fragen und Antworten würden als lebensfremd und indoktrinie-
rend empfunden. Meine rettende Idee, die Schüler/innen mit dem ‚Hollän-
dischen Katechismus‘ und dem ‚Katechismus des Don Mazzi‘ zu konfron-
tieren, machte sie neugierig und fand allgemeine Zustimmung. Seit diesen
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 115
Herbst: Auch Sie, Herr Füssel, haben in der Zeit um 1968 als Religions-
lehrer gearbeitet – zusammen mit Herrn Assig am Overbergkolleg. Wie
stark wurden ihre Vorstellungen damals (und heute) durch „1968“ beein-
flusst? Welche Auswirkungen lassen sich Ihrer Meinung nach für den ge-
samten Religionsunterricht feststellen? Wie stark waren Schüler*innen-
und Studierendenproteste, die beispielsweise eine Ausrichtung an Religi-
onskritik forderten, Anlass für die Konzeption einer ideologiekritischen
Religionspädagogik?10
Füssel: […] Es ist mir unmöglich, hier eine Kommentierung der Entwick-
lung der Religionspädagogik und ihrer verschiedenen Strömungen und
Ausprägungen von 1968 bis heute vorzunehmen. […] Daher beschränke
ich mich auf einige doch sehr persönliche und daher subjektive Bemerkun-
gen. Keine Stellungnahme, ob eher parteiisch oder distanziert, wird be-
streiten können, dass die weltweiten Revolten von Schüler/innen und Stu-
dierenden im Sommer 1968 den Bildungssektor insgesamt, sowohl durch
Zuspitzung als auch durch Ablehnung nachhaltig geprägt haben. Vor al-
lem die Forderung der schonungslosen Aufdeckung der Rolle von Erzie-
hung, Schule, Wissenschaft und Kirche in der Zeit des deutschen Faschis-
mus und der nahezu totalen Verdrängung, Vertuschung oder Verharmlo-
sung der Kooperationen und Verstrickungen von Verantwortlichen und
Mitläufern mit dem Faschismus, diesem Geflecht des Bösen, das die Mär-
tyrer des Faschismus sehr wohl durchschaut hatten und von uns daher be-
ständig den Herrschenden vor Augen gehalten wurde, musste zu einer ra-
dikalen Bildungsreform das Fanal setzen, das aber keineswegs zur Etab-
lierung von ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘, sondern zu extremen Spannungen
und Auseinandersetzungen führte. Man denke nur an die Auseinanderset-
zungen um die sogen. „Hessischen Rahmenrichtlinien“ und die reaktio-
näre Rolle des sogen. „Marburger Bundes Freiheit der Wissenschaft“. An
den bald folgenden Demonstrationen gegen die „Notstandsgesetze“, die
dann später in die Demonstrationen der Friedensbewegung mündeten, be-
teiligten sich nach meiner eigenen Erfahrung und Beteiligung auch viele
Schüler/innen, die an vielen Orten durch einen mutigen RU, der sich auf
die messianischen Ursprünge des Christentums zurück besann und ein kla-
res antimilitaristisches und antifaschistisches Profil entwickelte, unter-
stützt und geistig verproviantiert wurden, was von den kirchlichen und
staatlichen Behörden meist missbilligt und mit der Androhung von Strafen
bekämpft wurde. Ich habe damals nebenamtlich in verschiedenen Schulen
in Münster Physik unterrichtet, kenne mich also ein wenig aus, besitze aber
keine flächendeckenden empirischen Untersuchungen zur Absicherung der
von mir hier mitgeteilten Wahrnehmung der Situation. […] Was die Ent-
faltung einer ideologiekritischen Konzeption von Religionspädagogik an-
belangt, beschränke ich mich darauf, auf den Ansatz von Siegfried Vierzig
zu verweisen. […]
für Sie diese Leitkategorien? Wie stark wurden Sie bei Ihrem Forschungs-
thema von der Sensibilität für das Soziale geleitet, die ‚1968‘ möglicher-
weise sehr stark ausgeprägt war?
Dass Schulklassen und andere Subsysteme der Schule immer auch als so-
ziale Systeme wahrgenommen wurden, auch hinsichtlich dessen, was sich
dort außer „Unterricht“ sonst noch ereignet, hat in den letzten Jahren im-
mer wieder (einmal) das Interesse von Lehrer*innen und Erziehungswis-
senschaftler*innen auf sich gezogen. Typische Phänomen und Rollen wie
Streber, Außenseiter, Cliquen u. ä. sind auch von Religionslehrer*innen oft
thematisiert worden, sei es, um sie transparent zu machen, ihren Einfluss
auf das soziale Klima zu reflektieren, oder auch im Blick auf theologisch
relevante Themen wie „Gemeinschaft/Gemeinde“, Versöhnung, Gerech-
tigkeit. Diese Überlegungen lagen auch meiner Mitarbeit bei Lehrer*in-
12 Vgl. SLATER, Philip E.: Mikrokosmos. Eine Studie über Gruppendynamik, Frankfurt
am Main: S. Fischer 1978.
118 Gespräch mit Zeitzeugen
Mette: Ich kann es mir als Antwort auf diese letzte Frage einfach machen,
indem ich mich einem von mir voll und ganz geteilten Votum von Thomas
Schlag und Jasmine Suhner anschließe: „Trotz staatlicher und zivilgesell-
schaftlicher Bemühungen um Werte wie Freiheit und individuelle Autono-
mie ist die gegenwärtige Gesellschaft geprägt von Kräften, die Abhängig-
keiten schaffen: von Leistungsdruck, Konsumzwang, usw. Religionsbezo-
gene Bildung hat die Möglichkeit und die Aufgabe, den Blick für solche
13 KOERRENZ, Ralf / SIMOJOKI, Henrik: Editorial, in: ZPT 70 (2018), 125–127, 125.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 119
Halbfas: […] Die Religionspädagogik hat, wenn sie einen neuen Schwer-
punkt fokussiert, das bis dahin dominierende Thema nie ausreichend be-
arbeitet, geschweige denn der Lehrerschaft vermittelt. Durchweg bleiben
nur halbwegs beackerte Aufgabenfelder zurück. Die nächste Phase verliert
aus den Augen, was zuvor wichtig war. In den letzten Jahren ging es allein
um „Kompetenzorientierung“. Aber wer kann weiterhin mit Bibeltexten
umgehen, wie es der hermeneutische Religionsunterricht anstrebte? Wer
versteht den „problemorientierten“ Religionsunterricht noch, wie Peter
Biehl ihn lehrte? Welches Metaphern- und Symbolverständnis bestimmt
den Umgang mit religiösen Traditionen? Was heißt Religionsunterricht als
Sprachunterricht im Blick auf Mythos, Sage, Legende, Gleichnis, Dogma?
Dies alles liegt hinter uns und bleibt dennoch als unverzichtbare Aufgabe
vor uns. Welche Religionsdidaktiker halten dies heute noch zusammen?
[…]
Herbst: Herr Steinkamp, Sie haben mit Ihren Forschungen zur Gouverne-
mentalitätstheorie und Pastoralmacht (M. Foucault) ein höchst aktuelles
Thema aufgegriffen, das jedoch einige Fragen mit sich bringt – gerade im
Hinblick auf die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘. Welche Auswir-
kungen hat eine solche Gesellschaftsanalyse für den Religionsunterricht?
120 Gespräch mit Zeitzeugen
Hubertus Assig (* 1939) hat unter anderem mit Hansjürgen von Mallinck-
rodt und Ludwig Rütti das Werk „Politische Katechese“ (1972) herausge-
bracht, das durch die neue Politische Theologie von Johann B. Metz ge-
prägt ist und derzeit erneut wahrgenommen wird.14 Assig, Mallinckrodt
und Rütti waren gemeinsam im Metzschen Doktorandenkolloquium und
haben – dadurch inspiriert – an unterschiedlichen Stellen systematisch dar-
über reflektiert, welche Konsequenzen aus einer religionspädagogischen
Rezeption der Theologie von J. B. Metz resultieren.15 Assig selbst war stark
an pädagogischer und politischer Praxis orientiert.16 Besonders bekannt ge-
worden sind seine Textsammlungen für den Religionsunterricht „Glück
und Heil“ (1972) sowie „Politische Ethik“ (1972), die er zusammen mit
Werner Trutwin herausgegeben hat.
Otto Betz (* 1927) war als Religionslehrer und Assistent von Theoderich
Kampmann in München tätig. Danach war er Professor für allgemeine Er-
ziehungswissenschaft und katholische Religionspädagogik an der Univer-
14 Vgl. KÖNEMANN, Judith: Art. Politische Religionspädagogik, in: WiReLex 2016 [abge-
rufen am 15.05.2019]. Von größerem Interesse zeugt auch, dass das Werk ins Spanische
übersetzt wurde.
15 Vgl. ASSIG, Hubertus: Emanzipatorische Sensibilität gegen pathologische Religion. Ein
religionspädagogischer Beitrag zur Theorie und Didaktik einer christlichen Glück-
sethik, Dortmund: Pädagogische Hochschulschriften 1974. In dieser Arbeit, seiner Dis-
sertation, hat sich Assig unter anderem ausführlich mit dem Emanzipationsbegriff be-
schäftigt. Vgl. EBD., 50–80; 360–370.
16 Nachdem Hubertus Assig Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der damaligen PH Dort-
mund an der Professur für Theologie und ihre Didaktik bei Hansjürgen von Mallinck-
rodt war, arbeitete er als Lehrer und Schulleiter in Lengerich am heutigen Hannah-
Arendt-Gymnasium. Neben der Schulpraxis hat er sich auch früh (kirchen-) politisch
engagiert, unter anderem in der sogenannten „Gruppe 69“, in der im Austausch mit
Oberstudienräten, Religionsfachleiter*innen und -lehrer*innen neue Visionen des Re-
ligionsunterrichts entworfen wurden, die unter anderem in den „Thesen zum Religions-
unterricht“ verschriftlicht sind.
122 Gespräch mit Zeitzeugen
Kuno Füssel (* 1941) ist Theologe und Lehrer, u. a. für das Fach katholi-
sche Religionslehre. Er hat bei Johann B. Metz und Karl Rahner promo-
viert und war bei Metz sowie bei Herbert Vorgrimler Assistent. Bekannt
geworden ist er u. a. für seine materialistische Bibellektüre und seine theo-
logische Wissenschaftstheorie. Für den (Mathematik- und) Religionsunter-
richt hat er konkrete Unterrichtsentwürfe vorlegt.17 Dabei engagiert er sich
auch für den konfessionellen Religionsunterricht gegenüber einem säkula-
ristisch-atheistischen Milieu, z. B. im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Stif-
tung.18 Darüber hinaus gilt Füssel als jemand, der besonders gut über die
Jahre um 1968 und ihre Auswirkungen für die Theologie Auskunft zu ge-
ben weiß.19
Hubertus Halbfas (* 1932) war von 1967 bis 1987 Professor für Religions-
pädagogik an der PH Reutlingen. Mit seinem Werk „Fundamentalkateche-
tik“ (1968), das unter anderem in Englisch, Spanisch und Italienisch über-
setzt wurde, ist er über den deutschsprachigen Raum bekannt geworden.
17 Vgl. FÜSSEL, Kuno / SEGBERS, Franz: So lernen die Völker des Erdkreises Gerechtig-
keit, Luzern: Edition Exodus 1995.
18 Vgl. FÜSSEL, Kuno: Warum der Religionsunterricht unverzichtbar bleibt – ein zorniges
Plädoyer, in: AK RELIGIONSLEHRERINNEN IM ITP (Hg.): Religionsunterricht unter
freiem Himmel. Anstöße zur Kritik des neoliberalen Götzendienstes in der Schule,
Münster: Edition ITP-Kompass 2018, 27–29. Seine Arbeit mit dem ‚Arbeitskreis Reli-
gionslehrerInnen‘, der am Institut für Theologie und Politik (ITP) in Münster angesie-
delt ist, kann besonders hervorgehoben werden.
19 Vgl. FÜSSEL, Kuno / RAMMINGER, Michael: Zwischen Medellín und Paris. 1968 und
die Theologie, Münster: Edition ITP-Kompass 2009.
Die katholische Religionspädagogik der Reformdekade um 1968 123
Mit „Aufklärung und Widerstand“ (1971) hat er nicht nur ein dezidiert ide-
ologiekritisch-emanzipatorisches Werk vorgelegt, sondern auch praktische
Unterrichtsvorschläge entworfen, die enthaltene Überlegungen konkreti-
sieren.20 Besonders spannend erscheint es dabei, dass er mit „Das dritte
Auge“ (1982) den Problemorientierten Religionsunterricht fundamental
kritisiert hat. Durch aktuelle Beiträge beteiligt er sich bis heute an religi-
onspädagogischen Debatten. Seine Veröffentlichungen in den letzten 20
Jahren befassen sich vor allem mit theologischen Inhalten und kritisieren
die Abstinenz der aktuellen Religionspädagogik gegenüber einem Glau-
ben, mit dem immer weniger Menschen etwas anfangen können.
Hermann Steinkamp (* 1938) war von 1975 bis 2004 Professor u. a. für
Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Er ist für seine Forschung zur ideologiekritischen Analyse von Kleingrup-
pen und zu Foucaults Begriff der Pastoralmacht bekannt.21 Zudem zeigt er
20 Vgl. HALBFAS, Hubertus: Das Menschenhaus. Ein Lesebuch für den Religionsunter-
richt, Düsseldorf: Patmos 1972. HALBFAS, Hubertus: Lehrerhandbuch Religion. Infor-
mationen und Materialien zur Unterrichtsvorbereitung, Düsseldorf: Patmos 1974.
21 STEINKAMP, Hermann: Gruppendynamik und Demokratisierung. Ideologiekritische und
sozialethische Studien zur empirischen und angewandten Kleingruppenforschung,
München: Kaiser 1973. DREIER, Wilhelm / STEINKAMP, Hermann: Wirkmacht des So-
zialen. Mit einem Erfahrungsbericht über die Fortbildung in sozialer Gruppenarbeit,
124 Gespräch mit Zeitzeugen
sich, ebenso wie Mette, als Vertreter der Politischen Theologie. Beispiels-
weise hat er mit Tiemo R. Peters und Thomas Pröpper den bekannten Sam-
melband „Erinnern und Erkennen“ (1993) herausgegeben. Steinkamp und
Mette haben viel zusammengearbeitet, u. a. zur Rezeption der Befreiungs-
theologie und zum wissenschaftstheoretischen Status der Sozialwissen-
schaften für die Praktische Theologie.22
Münster: Regensberg 1969. Vgl. z. B. STEINKAMP, Hermann: Lange Schatten der Pas-
toralmacht, Münster: LIT 2015.
22 Vgl. z. B. METTE, Norbert / STEINKAMP, Hermann: Sozialwissenschaften und Praktische
Theologie (= Leitfaden Theologie 11), Düsseldorf: Patmos 1983.
TEIL II –
RELIGIONSPÄDAGOGISCHE REFLEXIONEN
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und
Perspektiven: Kritik und Emanzipation in der
Religionspädagogik
Claudia Gärtner
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_7
128 Hinführung II
trauen“3 sei. Denn theologisch könne hierin die Alterität Gottes nicht ein-
geholt werden. Vielmehr trüge eine so ausgerichtete Didaktik dazu bei,
dass „das Bekannte noch einmal in religiösen oder ethischen Kategorien
wiederholt“4 wird. Rusters Kritik ist damals stark problematisiert worden.5
Vor allem seine alleinige Fokussierung auf den Kapitalismus und die von
ihm eingebrachten religionspädagogischen Alternativen konnten nicht
überzeugen. Dennoch hat Ruster einen Fragehorizont eröffnet, der sich die
Religionspädagogik heute stellen muss. Wie kann diese subjektorientiert
an eine Lebenswelt anknüpfen, wenn die Lebenswelt einer Subjektwer-
dung zuwiderzulaufen droht?
3 RUSTER, Thomas: Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von
Christentum und Religion, Freiburg im Breisgau: Herder 2000, 200.
4 DERS.: „Den ‚Schicksalsmächten‘ widerstehen“, in: engagement. Zeitschrift für Erzie-
hung und Schule 1 (2001), 3–11, 8.
5 Vgl. MEURER, Thomas: Bibelkunde statt Religionsunterricht? Zu Thomas Rusters Kon-
zept einer „Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis“, in: rhs 44 (2001),
248–255; HALBFAS, Hubertus: Thomas Rusters ‚fällige Neubegründung des Religions-
unterrichts‘. Eine kritische Antwort, in: rhs 44 (2001), 41–53.
6 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2019
[abgerufen am 16.09.2019].
130 Hinführung II
2 Kompetenzorientierung
7 So die Kritik im Beitrag von Andreas HELLGERMANN in diesem Band. Vgl. auch REU-
TER, Ingo: Michel Foucaults Impuls für eine religionspädagogische Kritik schulischer
Bildungsökonomisierung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014.
8 So lehnen sich die Beiträge von Klaus-Gerd EICH und Markus BÜRGER / Sebastian
JENDT in diesem Band an den kritischen Kompetenzbegriff von Oskar Negt an.
9 Würzburger Synode Art. 2.3.4.
132 Hinführung II
„Wächteraufgabe […] auf einer systemischen Ebene beispielsweise auf die kriti-
sche Begleitung der Entfaltung von Bildungsstandards und Kompetenzorientie-
rung, auf Fragen der Leistungsmessung und der zeitlichen Ausgestaltung von
Schule sowie auf das Einfordern von Projekten, mit denen die Zweckrationalität
von Schule zumindest ergänzt wird.“10
11 ENGLERT, Rudolf: Was wird aus Religion. Beobachtungen, Analysen und Fallgeschich-
ten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern: Grünewald 2018, 161. Im Origi-
nal teils kursiv.
12 Die Frage nach Gefühl und Emotion wird derzeit auch in der politischen Bildung de-
battiert. Vgl. HÖLZEL, Tina / JUGEL, David: „Da kannst du Freunde verlieren!“ Politi-
sche Bildung, Emotionen und Bindung – Zur Aufklärung eines fachdidaktischen Irr-
tums, in: BESAND, Anja / OVERWIEN, Bernd / ZORN, Peter (Hg.): Politische Bildung mit
Gefühl, Bonn: bpb 2019, 246–266.
13 SCHRÖDER, Bernd: „1968“ und die Religionspädagogik – aus der Sicht eines Nach-
68ers, in: RICKERS, Folkert / SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädago-
gik, Neukirchen-Vluyn: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 351–377, 375.
134 Hinführung II
14 Vgl. HALBFAS, Hubertus: Religionspädagogik und Katechetik. Ein Beitrag zur wissen-
schaftstheoretischen Klärung, in: KatBl 97 (1972), 331–343.
Religionspädagogische Grundlagenreflexionen und Perspektiven 135
Die politische Theologie von Johann B. Metz hat nicht nur religionspäda-
gogische Reformdokumente wie den Synodenbeschluss zum Religionsun-
terricht auf der Würzburger Synode geprägt, sondern Metz war auch „der
mächtige Impulsgeber für eine theologische Fundierung des Compassion-
Projekts“22, in denen Schüler*innen Erfahrung mit Menschen sammeln
sollen, die von Leid und Hilfsbedürftigkeit, von sozialer Benachteiligung
und Ausgrenzung betroffen sind. Diese Erfahrungen sollen Triebfedern für
soziales und politisches Lernen werden. In ähnlicher Weise betrachtet
Norbert Mette in seinem Beitrag „Exposure“ als einen unverzichtbaren Be-
standteil religionspädagogischer Lehre und Forschung. Lernende sollten so
„mit einer Wirklichkeit in Kontakt kommen, die ihnen bislang nicht bekannt war
und aus der sie lernen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. So wichtig es für eine
Bildungsarbeit, die sich als emanzipatorisch versteht, auch ist, sie theoretisch zu
fundieren und bis in die didaktische Umsetzung hinein auszuarbeiten, so kann
das, was mit Emanzipation gemeint ist, letztlich nur in der Praxis gelernt wer-
den.“23
Hieran schließt der Beitrag von Simone Horstmann an und schlägt Expo-
sure-Erfahrungen auf Schlachthöfen, Tiertransporten, Versuchslaboren
und Tierfabriken vor, um die anthropologische Engführung einer kritisch-
emanzipatorischen Religionspädagogik zu sprengen. Eine so ausgerichtete
kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik steht somit in der religions-
pädagogischen Tradition von Compassion und Diakonischem Lernen, hat
22 KULD, Lothar: Art. Compassion, in: WiReLex 2016 [abgerufen am 16.09.2019]; vgl.
auch METZ, Johann Baptist / KULD, Lothar / WEISBROD, Adolf (Hg.): Compassion.
Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, Freiburg im Breisgau:
Herder 2000.
23 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
138 Hinführung II
Andrea Lehner-Hartmann
Wenn heute von Emanzipation die Rede ist, tauchen dazu reflexartig As-
soziationen zu Frauenemanzipation auf; erst in einem zweiten Schritt
kommt die Vielfalt anderer Emanzipationsbewegungen und -bestrebungen
in den Blick. In der Einschätzung des Projektes zeigen sich sehr unter-
schiedliche Sichtweisen: während die einen meinen, Emanzipation sei be-
reits formal erreicht und somit überholt, mahnen die anderen deren noch
ausstehende reale Einholung an, was sich an der Frauenemanzipation gut
zeigen lässt. Darüber hinaus zeigen sich in der Konnotierung des Begriffes
‚Emanzipation‘ starke Gegensätze. „Während er den einen zur positiven
Bezeichnung der Befreiung aus Fremdbestimmung dient, wird er von den
anderen zur höhnischen Etikettierung von Utopisten verwandt und als
bloße Leerformel ohne empirische, praktische Bedeutung hingestellt.“1
1 LEE, Koon-Ho: Heinrich Heine und die Frauenemanzipation, Stuttgart: Metzler 2005,
8–9.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_8
140 Andrea Lehner-Hartmann
Mit SCHLAG / GRÜMME kann darauf verwiesen werden, dass der Emanzi-
pationsbegriff in Auseinandersetzung mit seiner Kritik neu gewonnen wer-
den muss. Dies nicht zuletzt deswegen, damit er nicht bestehende (Unter-
drückungs-) Verhältnisse und Wirkmechanismen reproduziert und sich
selbst karikiert, indem er indoktrinären Kräften in die Hände spielt.3
1 Kontextuelle Verortung
Wird heute von Emanzipation gesprochen, geschieht dies mit mehr oder
weniger expliziter Bezugnahme auf die Entwicklungen der 1960er- /
1970er-Jahre. Diese Zeit gibt auch für die religionspädagogischen Debat-
ten den Fokus ab.
2 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2017
[abgerufen am 17.06.2019].
3 Vgl. EBD.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 141
Die katholische Kirche – die noch dazu im Kreuzfeuer der Kritik stand –
konnte diesen Entwicklungen nichts Positives abgewinnen. Dies begründet
4 ‚1968‘ markiert dabei weniger ein Datum als eine Generationslagerung, die bestimmte
Praktiken und Erfahrungen charakterisieren. (vgl. NASSEHI, Armin: Gab es 1968? Eine
Spurensuche, Hamburg: kursbuch.edition 2018, 37).
5 FÜLBERTH, Georg: Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren, in: PÄTZOLD, Kurt / WEIS-
SBECKER, Manfred (Hg.): Schlagwörter und Schlachtrufe: aus zwei Jahrhunderten deut-
scher Geschichte, Leipzig: Militzke 2002, 88–91.
6 Ausführlicher: HUFER, Klaus-Peter: „Emanzipation“ – gesellschaftliche Veränderung
durch Erziehung? Revolution in der Erziehungswissenschaft, in: RICKERS, Folkert /
SCHRÖDER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn: Neu-
kirchener Theologie 2010, 41–55.
7 Vgl. NASSEHI 2018 [Anm. 4], 79.
142 Andrea Lehner-Hartmann
8 Vielmehr wird bis heute um eine adäquate Interpretation der Texte des II. Vatikani-
schen Konzils gestritten. Vgl. dazu: HÜNERMANN, Peter: ... in mundo huius temporis ...
Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils im kulturellen Transformationspro-
zess der Gegenwart: Das Textkorpus des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ein konsti-
tutioneller Text des Glaubens, in: TÜCK, Jan-Heiner (Hg.): Erinnerung an die Zukunft:
das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg im Breisgau: Herder 22013, 40–62; SCHELKS-
HORN, Hans: Das Zweite Vatikanische Konzil als kirchlicher Diskurs über die Moderne.
Ein philosophischer Beitrag zur Frage nach der Hermeneutik des Konzils, in: TÜCK
22013 [Anm. 8], 63–93; TÜCK, Jan-Heiner: Die Verbindlichkeit des Konzils. Die Her-
meneutik der Reform als Interpretationsschlüssel, in: TÜCK 22013 [Anm. 8], 94–113;
EBD.: Postkonziliare Interpretationskonflikte. Nachtrag zur Debatte um die Verbind-
lichkeit des Konzils, in: TÜCK 22013 [Anm. 8], 114–126.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 143
In der Schule stellte sich für den Religionsunterricht der 1970er-Jahre die
Lage durchaus brisant dar. Die Beliebtheitswerte waren katastrophal, die
kirchenkritischen Einwürfe konnten nicht länger ignoriert werden und die
bisherigen Konzepte taugten nicht mehr. Eine Neuorientierung erschien
mehr als notwendig. Die Diskussionen in der Religionspädagogik, die
letztendlich auch in der Konzeptionierung eines problemorientierten Reli-
gionsunterrichts mündeten, erfuhren aus den unterschiedlichen Bezugs-
Großen Einfluss übte dabei die kritische (Bildungs)Theorie12 aus, die die
Debatten zur Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu mündigen Bür-
ger*innen aufgreift und zunächst deren nicht eingeholte Versprechen kri-
tisiert. Angemahnt wird, dass Bildung selbst nicht von der Geschichte ge-
sellschaftlicher Herrschaft zu trennen ist und sowohl das Potenzial zur Ver-
änderung als auch zur Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse hat.13
Dieser dialektische Charakter ging in den 1970er-Jahren in der Euphorie
des Glaubens an eine lineare Einholbarkeit gesellschaftsverändernder
Maßnahmen im Emanzipationsdiskurs oftmals unter. 14 Vor dem Hinter-
12 Exemplarisch: ADORNO, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gesprä-
che mit Hellmut Becker 1959–1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp 262017; HENTIG,
Hartmut von: Systemzwang und Selbstbestimmung: über die Bedingungen der Gesamt-
schule in der Industriegesellschaft, Stuttgart: Klett, 1968; HEYDORN, Heinz-Joachim:
Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Frankfurt am Main: Europäische
Verl.-Anst. 1970; MOLLENHAUER, Klaus: Erziehung und Emanzipation: Polemische
Skizzen, Weinheim u. a.: Juventa, 71977.
‚Kritische Theorie‘ wurde in Abgrenzung von ‚traditioneller Theorie‘ konzipiert, der es
nicht um ein aufgeschichtetes Wissen ging, sondern um unverkürzte Rationalität, um
individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft und um das Glück aller
Individuen und damit verbunden die Ablehnung aller totalitären und autoritären Regime
sowie ausbeuterischer und repressiver Strukturen. (vgl. WEIß, Edgar: Grundlagen Kri-
tischer Theorie, in: LÖSCH / THIMMEL 22011 [Anm. 11], 77–88, 78).
13 PONGRATZ, Ludwig A. / BÜNGER, Carsten: Bildung, in: FAULSTICH-WIELAND, Han-
nelore / FAULSTICH, Peter (Hg.): Erziehungswissenschaft: ein Grundkurs, Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch 2008, 110–129, 123–124.
14 Pädagogischer Optimismus und die durchaus auch resignative Sichtweise der kritischen
Theorie Adornos standen in einer gewissen Spannung zueinander. (vgl. BEHRENDT,
Rainer: Die sozialen Voraussetzungen und der soziologische Kern der kritischen poli-
tischen Bildung, in: WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute
Kritische Politische Bildung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 35–43,
35). Bemerkenswert ist ebenfalls, dass in vielen Analysen kaum beachtet wurde, dass
die 1968er Bewegung de facto von einer bürgerlich beheimateten Studenten*innen-Be-
wegung dominiert war, die an den sogenannten Protestaktionen und Befreiungsbewe-
gungen anders teilnehmen und davon profitieren konnte – beispielsweise im Hinterfra-
gen professoraler Positionen und im Agieren gegen hierarchische Strukturen – als Al-
tersgenoss*innen, die aufgrund ihrer bereits beruflichen Verpflichtungen oder durch
ihre soziale Ausgangslage stärker fremdbestimmt waren. Ebenso wurde unterschätzt,
dass die Erleichterung des Zugangs zu schulischer Bildung, z. B. durch den Ausbau des
146 Andrea Lehner-Hartmann
grund der Erfahrungen des Dritten Reiches sieht ADORNO „die einzige
wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit darin […], dass die Erziehung
eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“15 Um Wider-
spruch oder Widerstand leisten zu können, bedarf es zunächst der kriti-
schen Beleuchtung der jeweiligen Lebensumstände und -verhältnisse, die
Ungerechtigkeiten und Freiheitseinschränkungen erkennbar machen. Dies
setzt die Entwicklung von Kritikfähigkeit voraus.
Kritik ist somit untrennbar mit Emanzipation verbunden. Sie stellt das
Werkzeug dar, um Unfreiheit analysieren und erkennen zu können, wovon
es sich zu emanzipieren gilt. Gleichzeitig bleibt sie ein wesentliches Ele-
ment bei der Verwirklichung von Emanzipationsbestrebungen. Die Ent-
wicklung von Kritikfähigkeit war und ist eine pädagogische Aufgabe,
durch die erst möglich wird, dass Individuen Unrechtsverhältnisse, Unter-
drückung und Unfreiheit erkennen können. Sie hat dabei das Risiko zu wa-
gen, dass sich Widerspruch und Widerstand auch gegen jene richtet, die
dazu erziehen wollen.
wurde, also gewissermaßen eine ‚zweite Naivität‘ (Paul Ricoeur) der Tradition
gegenüber entwickelt.“21
Diese Aussage, formuliert aus Sorge um den Verlust von Tradition, ist als
solche zu würdigen. Mit Blick auf gegenwärtige Entwicklungen wird be-
tont, dass es vorrangig um das Finden von Gewissheiten, um das Gestalten
der eigenen Lebensführung, das Gewinnen von Verbindlichkeiten und Tra-
dition geht. „Ging es der damaligen Religionspädagogik um kritische Ver-
unsicherung, so geht es heute um Gestalt suchende Vergewisserung.“22
Diese schemenhafte Gegenüberstellung von Tradition und Ideologiekritik
(als Kernelement von Emanzipation), kritischer Verunsicherung und Ver-
gewisserungssuche als ein scheinbar unvereinbares Gegenüber gilt es aber
zu hinterfragen. SCHRÖDERS Überlegungen verweisen auf die Notwendig-
keit zu klären, welche Bedeutung Emanzipation und Kritik im Kontext re-
ligiöser Bildung zukommen.
21 SCHRÖDER, Bernd: „1968“ und die Religionspädagogik – aus der Sicht eines Nach-
68ers, in: RICKERS / SCHRÖDER 2010 [Anm. 6], 351–377, 375.
22 SCHRÖDER 2010 [Anm. 21], 377.
23 ZILLEßEN, Dietrich: Art. Emanzipation, in: Lexikon der Religionspädagogik Bd. 1
(2001), 394–401, 394.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 149
Gleichzeitig ist aber mit dem Erkennen der erlösenden und befreienden
Freiheit verbunden, dass eine Kritik, die von der christlichen Sache aus-
geht, auch auf die materiellen Bedingungen und Verflechtungen im sozia-
len und ökonomischen Bereich der Gesellschaft abzielen muss, um nicht
idealistisch abzuheben.25
dern „letztendlich sogar zu einer besonders avancierten Form der Zementierung gege-
bener Herrschaftsbedingungen geworden [ist]“ (EBD., 26).
27 Dies charakterisiert auch die Zielrichtung der Kritischen Theorie. „Kritische Theorie
will nicht die Welt nach veränderten Prinzipien einrichten […] sondern die Ideologie
überwinden, dass sie nach Prinzipien einzurichten sei.“ (BRAUNSTEIN, Dirk: Zum Ma-
terialismus der Kritischen Theorie. Bemerkungen über ‚ein paar Thesen‘ Adornos, in:
JACOBSEN, Marc / LEHMANN, Dirk / RÖHRBEIN, Florian (Hg.): Kritische Theorie und
Emanzipation, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, 17–37, 26.
28 Emanzipation als Forderung war historisch gesehen nicht immer mit einer uneinge-
schränkten Gleichstellung verbunden. Sichtbar wird wie dies an der Emanzipation der
Juden oder der Frauen im 19. Jahrhundert. Der männliche, christliche Bürger blieb der
unhinterfragte Bezugspunkt. Mit Ribolits lässt sich denn auch sagen: „Emanzipation
gesellschaftlich Benachteiligter hat […] kaum je etwas anderes bedeutet, als die dem
bürgerlich-kapitalistischen System eingeschriebene Logik – jene Rationalität, die in
den durch Eigentum, Waren und Staat bestimmten Prämissen vorgegeben sei – endgül-
tig zur vollen Geltung bringen zu wollen. Der in unterschiedlichsten Varianten geführte
Kampf um politische Emanzipation war ein Kampf um Emanzipation innerhalb der
Bedingungen des gegebenen politisch-ökonomischen Status quo, kaum je einer um
Emanzipation von diesen“ (RIBOLITS 2013 [Anm. 26], 28–29).
29 GRÜMME / SCHLAG 2017 [Anm. 2].
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 151
sich das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu
befragen und die Macht auf diese Wahrheitsdiskurse hin.“30
30 FOUCAULT, Michel: Was ist Kritik? (übersetzt von Walter Seitter), Berlin: Merve 1992,
15, zitiert in: BUTLER, Judith: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/2 (2002), 249–265, 258.
31 Vgl. SCHELKSHORN, Hans: Allianzen zwischen Christentum und neorechten Parteien in
Europa: Vortrag zur 19. Severin-Akademie am 10. Jänner 2017 (Schriftenreihe des Fo-
rum St. Severin für Christliche Spiritualität, Bildung und Kunst, Bd. 47), Linz: Katho-
lischer Akademikerverband der Diözese Linz 2017; DERS.: Wider die Instrumentalisie-
rung des Christentums. Zur Unvereinbarkeit von neorechter Ideologie und christlicher
Moral, in: LESCH, Walter (Hg.): Christentum und Populismus: klare Fronten?, Freiburg:
Herder 2017, 26–37.
152 Andrea Lehner-Hartmann
Aufgabe der Religionspädagogik ist es, nicht nur werbend und traditions-
erschließend zu arbeiten, indem sie religionsdidaktisch vorsortiert und ent-
scheidet, welche Themen Relevanz beanspruchen, sondern, die Tradition
einem Relevanzcheck angesichts der individuellen, sozialen und politi-
schen Herausforderungen auszusetzen und die Adressat*innen – in Schule,
aber auch in außerschulischen Kontexten und der Erwachsenenbildung –
zu befähigen, dies vornehmen zu können.32 Die Sinnangebote aus der Tra-
dition sind also der kritischen Aneignung und Transformation der jungen
Menschen auszusetzen. Diese Form der Kritik darf die Religionspädagogik
den jungen Menschen nicht abnehmen, sondern sie muss sie dazu ermun-
tern. Die jungen Menschen werden sich in einer religiösen Tradition nur
verantwortungsbewusst verorten können, wenn sie durch ihr verunsichern-
des Fragen dazu beitragen dürfen, die Lebendigkeit von Traditionen auf-
recht zu erhalten. Und sie werden darin nur einen Platz für sich entdecken
können, wenn sie in ihren (An)Fragen, ihren Ausdrucksweisen, ihrer se-
lektiven Auswahl an Bewahrenswertem und ihrer Suche nach Antworten
ernst genommen werden. In einer Welt der subtilen und nicht immer leicht
zu durchschauenden Verführungen, in denen unterschiedliche Menschen-
und Gottesbilder angeboten werden, ist es notwendig, eine Haltung zur Un-
terscheidung der Geister zu entwickeln. Diese gilt es auch auf die biblische
und kirchliche Tradition anzulegen.
32 HERBST und MENNE zeigen in ihrem Beitrag in ÖRF 27/1 (2019) anhand des Framing-
Konzepts auf, wie eine Wahrnehmungsschulung erfolgen kann, die Schüler*innen un-
terschiedliche Perspektiven von Weltwahrnehmung erkennen lässt ohne dabei einer he-
gemonialen Vereinnahmung durch die Lehrperson vorschnell zu erliegen. Sie stellen
damit im Kontext einer politischen Religionspädagogik Ideologiekritik als religionsdi-
daktisches Lernprinzip vor (vgl. HERBST, Jan-Hendrik / MENNE, Andreas: Ideologiekri-
tik im Religionsunterricht? Wiederbelebungsversuch eines religionsdidaktischen Lern-
prinzips, in: ÖRF 27/1 (2019), 89–105).
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 153
de herabzublicken und „sich gegen die Welt [zu] immunisieren“33. Aus ei-
nem christlichen Gottesverständnis heraus gilt es zweierlei stark zu ma-
chen: gegen ein vereinnahmendes Gottesverständnis ist darauf zu verwei-
sen, dass Gott sich sowohl als deus revelatus als auch als deus absconditus
erweist, den zu suchen es sich lohnt, der aber nicht als eindeutig Fassbarer
zu haben ist. Und gegenüber den ausgrenzenden Tendenzen gilt es die bib-
lische Sichtweise Gottes einzubringen, der sich der Ausgeschlossenen und
Marginalisierten bevorzugt annimmt und der sich von ihnen in ihren erleb-
ten Ungerechtigkeiten anfragen lässt. Und dies wird nicht zuletzt an der
Autorität Jesu deutlich, dessen Gotteserfahrungen sehr oft einer Bewäh-
rungsprobe ausgesetzt werden und im Kreuzestod seine stärkste Heraus-
forderung erfahren. Diese Erfahrungen werden durch das Ereignis der Auf-
erstehung nicht bedeutungslos, sondern höchstens in eine Hoffnung trans-
formiert, die sinnlosem Leid nicht das letzte Wort gibt. Entgegen einer
Ausblendung der Erfahrung von Leid und Sinnlosigkeit warnt METZ denn
auch: „Wer […] die theologische Rede von der Auferstehung des Christen
so hört, dass in ihr der Schrei des Gekreuzigten unhörbar geworden ist, der
hört nicht Theologie, sondern Mythologie, nicht das Evangelium, sondern
einen Siegermythos.“34 Verkaufen wir den jungen Menschen – in bester
Absicht natürlich – einen „Siegermythos“, dann bleiben ihre Sinnlosig-
keitserfahrungen im Hintergrund. Liest man den Tod Jesu aber „als eine
bleibende Mahnung gegen sinnloses Leid und als bleibende Mahnung zur
33 ZILLEßEN, Dietrich: Raumbeschreitungen. Wie Didaktik der Religion bei Sinnen ist, in:
KLIE, Thomas / LEONHARD, Silke (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer Perfor-
mativen Religionspädagogik, Leipzig: EVA 2003, 67–91, 77.
34 METZ, Johann Baptist: Theodizee-empfindliche Gottesrede, in: METZ, Johann Baptist
(Hg.): „Landschaft aus Schreien“. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz: Matthias-
Grünewald 1995, 81–102, 84.
154 Andrea Lehner-Hartmann
Mit Blick auf die bliblische Botschaft sind in einem ersten Schritt die Un-
sicherheiten, Verunsicherungen, Infragestellungen, Krisen etc. von Kin-
dern und Jugendlichen zu identifizieren, in einem zweiten Schritt ist zu
überlegen, wie die Adressat*innen sicher bzw. sichernd im Umgang damit
begleitet werden können. Tragfähige Beziehungen werden dazu ausschlag-
gebender sein als normativ vorgegebene Lebensmodelle und Sichtweisen,
die keine Garantie für die Lebensrelevanz der jeweiligen Adressat*innen
abgeben können. Die herausfordernde Beziehungsarbeit besteht darin,
Kinder und Jugendliche zu ihren – auch verunsichernden – existenziellen
Fragen zu führen, damit sie sich trauen, sich diesen zu stellen und von
möglichen Ängsten, Nöten oder Demütigungserfahrungen nicht paralysie-
ren zu lassen. Dies bedeutet auch, sie darin zu bestärken, dass gewonnene
35
LEHNER-HARTMANN, Andrea: Wider das Schweigen und Vergessen. Gewalt in der Fa-
milie, Innsbruck: Tyrolia 2002, 225.
36 Siegfried VIERZIG problematisiert in den 1970er-Jahren das Vorherrschen eines inner-
lichen Befreiungsdenkens im NT, das neuplatonistisch der Befreiung des Bewusstseins
den Vorzug vor einer gesellschaftlich-politischen Befreiung gibt, wodurch es zu einer
Trennung zwischen innerer und äußerer Emanzipation, Glaubensfreiheit und politischer
Freiheit gekommen ist. „Diese idealistischen Eierschalen wird das Christentum heute
überwinden müssen. Seine Aufgabe ist, die Emanzipation des Bewusstseins durch die
Verkündigung der Freiheit vom Gesetz zu betreiben und in gleicher Weise für die po-
litische Emanzipation einzutreten.“ (VIERZIG, Siegfried: Christentum und Emanzipa-
tion, in: OFFELE, Wolfgang (Hg.): Emanzipation und Religionspädagogik (= Unterwei-
sen und Verkünden 20), Zürich: Benzinger 1972, 39–47, 42–43.) Die Gefahr, die VIER-
ZIG in der Fokussierung auf die innere Freiheit ausmacht, ist, dass dadurch die Gefahr
nicht gebannt ist, dass im Handeln dennoch ein System der Unfreiheit installiert wird –
wie dies in der Bindung des Menschen an amtshierarchische Entscheidungen der Fall
war. Eine Kollaboration der Amtshierarchie mit den Mächtigen dieser Welt zeigte eine
große Wirkweise auf die Wahrnehmung des Evangeliums; stand doch irgendwann nicht
mehr der Gekreuzigte, sondern der Weltenherrscher im Fokus. (EBD., 43) Komplemen-
tär dazu wurde ein Marienbild geformt, das nicht den Sturz der Mächtigen vom Thron
verkündet, sondern Frauen ein Vorbild als reine, demütige Magd abgeben sollte. Wer
sich diesen autoritären Vorgaben nicht beugt, wird gemaßregelt oder gar verfolgt.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 155
behindern. Die größte Religionskritik entspringt somit der Beschäftigung mit religiöser
Tradition innerhalb einer Religionsgemeinschaft und weniger der Kritik von außen.
39 LEHNER-HARTMANN, Andrea: Dem Widerständigen Raum geben. (Religiöses) Lernen
jenseits gesellschaftlicher Einpassung, in: KROBATH, Thomas / LEHNER-HARTMANN,
Andrea / POLAK, Regina (Hg.): Anerkennung in religiösen Bildungsprozessen: Inter-
disziplinäre Perspektiven, Göttingen: V&R Unipress 2013, 165–176.
40 GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht im public turn: Ein politisch dimensionierter
Religionsunterricht auf der Suche nach einem angemessenen Öffentlichkeitsbegriff, in:
ÖRF 27/1 (2019), 10–27, 21–22.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 157
plinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine
Grenze. Das Kann hat dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der
vom Können ausgeht.“46 Darin besteht die besonders subtile Form des Ne-
oliberalismus, die Freiheit selbst auszubeuten.
Die Verwiesenheit auf sich selbst lässt den Gedanken nach Befreiung so-
wie Emanzipationsbestrebungen kaum aufkommen. Scheitern bleibt eben-
falls in der eigenen Verantwortung und ist als ungenügende Anstrengung
oder schwacher Wille zu interpretieren. Gesellschaftliche Bedingungen
bleiben ausgeblendet. Nach HAN besteht darin die besondere Intelligenz
des neoliberalen Regimes. Eine Solidarisierung der Ausgebeuteten wird
damit verunmöglicht. In Folge richtet sich die Aggression vielmehr gegen
sich selbst. „Diese Autoaggressivität macht den Ausgebeuteten nicht zum
Revolutionär, sondern zum Depressiven.“49 Als solcher ist er ein willfäh-
riger Zeitgenosse, der gut manipulierbar ist. Die neueren politischen Ent-
wicklungen insbesondere in bisher demokratisch organisierten Staaten le-
und verführt, ist wirksamer als jene Macht, die anordnet, androht und verordnet.“ (EBD.,
27).
46 EBD., 10.
47 EBD., 64–67.
48 EBD., 15.
49 EBD., 16.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 159
gen ein beunruhigendes Zeugnis davon ab. Der Bürger wird in politischen
Dingen zu einem Konsumenten ohne wirkliches Interesse an der aktiven
Gestaltung der Gemeinschaft. „Er reagiert nur passiv auf die Politik, in-
dem er nörgelt, sich beschwert […]“.50 Dieser Logik folgen auch Politik
und Politiker*innen, die zu Lieferanten werden, die ihre Wähler*innen zu-
friedenstellen müssen.51 Partizipation erfolgt nur mehr in Form von Be-
schwerde und Reklamation in der von HAN so benannten „Zuschauerde-
mokratie“52. Digitalisierung scheint diese Haltung auf allen Ebenen zu ver-
stärken. Neben jenen, die es sich mehr oder weniger gut darin eingerichtet
bzw. resigniert haben, gibt es immer wieder auch kritische Stimmen, die
sich damit nicht zufriedengeben wollen und die sich insbesondere in der
jungen Generation artikulieren.
50 EBD., 21.
51 Das Einfordern von Transparenz in der Politik stellt nach HAN keine politische Forde-
rung dar, weil nicht die Transparenz für politische Entscheidungsprozesse gefordert
wird, sondern das Ziel vielmehr darin besteht, Politiker*innen zu entblößen, zu demas-
kieren und zu skandalisieren.
52 EBD., 21.
160 Andrea Lehner-Hartmann
53 Vgl. MEADOWS, Dennis L.: Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome
zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Dt. Verl.-Anst. 1972.
54 Vgl. CALMBACH, Marc u. a.: Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugend-
lichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden: Springer VS 2016,
463: Anzumerken dazu ist, dass dies insbesondere in der Gruppe der experimentalisti-
schen Hedonisten (EBD., 119–122) erfolgt, die ein animierendes soziales Umfeld auf-
weisen und selten von existenziellen Sorgen wie die Prekären geplagt werden.
55 EBD., 462.
Emanzipation – Leitidee oder überholtes Ideal? 161
Norbert Mette
1 Zeitgeschichtliche Einführung
Im Beitrag „Religionsunterricht“ von Gert Otto in dem von ihm 1970 her-
ausgegebenen „Praktisch-theologischen Handbuch“ heißt es mit Blick auf
die neu sich stellenden Herausforderungen für dieses Fach, dass das Reli-
gionsverständnis aus seiner individualistischen Engführung befreit und im
Zusammenhang mit Sozialisation und Emanzipation reflektiert werden
müsse. „Logischerweise“, so hat er hinzugefügt, „impliziert die religiöse
Fragestellung dann im Ansatz Religionskritik.“1 Bündig findet sich in die-
sem Hinweis der Zusammenhang von Emanzipation und Kritik ausge-
drückt. „Emanzipation“ war in der damaligen Zeit des tiefgreifenden kul-
turellen Umbruchs zu einem der Leitbegriffe geworden. Zu emanzipieren
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_9
164 Norbert Mette
galt es sich von der Elterngeneration, die beschuldigt wurde, ihre Mittäter-
schaft bzw. ihr Mitläufertum an dem diktatorischen Nazi-Regime und sei-
nen Gräueltaten nicht aufgearbeitet zu haben, von den überkommenen
Werten und Normen, gerade im Sexualbereich, von dem Untertanengeist,
zu dem der Staat und die gesellschaftlichen Institutionen einschließlich
Schulen und Universitäten anhielten. Man fühlte sich solidarisch mit den
unterdrückten Völkern in aller Welt und ihrem Kampf um Befreiung aus
der Kolonialherrschaft. Etwas später schloss sich dem der Kampf der
Frauen um ihre Emanzipation aus der Vorherrschaft und Unterdrückung
der Männer an. Verbunden war das mit einer durch intensive Aufklärungs-
arbeit fundierte Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und den sie le-
gitimierenden Ideologien. Ein Feld, das davon betroffen war, war die Re-
ligion, in Deutschland vor allem in ihrer institutionalisierten Gestalt der
beiden Großkirchen. Sie galten als der Ausbund von Repression schlecht-
hin. Mit Tillmann Mosers Selbstanalyse in seinem Buch „Gottesvergif-
tung“2 konnten sich viele identifizieren, weil sie eine ähnliche religiöse So-
zialisation hinter sich hatten. Zudem hatte auf katholischer Seite Papst Paul
VI 1968 mit dem „Pillenverbot“ restriktiv in die sexuelle Selbstbestim-
mung der Menschen eingegriffen, was einen erheblichen Autoritätsverlust
des päpstlichen Lehramts bei der Mehrheit seines Kirchenvolkes einläu-
tete. Theologie und Kirche konnten, wollten sie überhaupt noch Gehör fin-
den, nicht so weitermachen wie bisher.
3 Vgl. zum Folgenden die zusammenfassende Darstellung von Wilhelm Sturm in seinem
Beitrag „Religionspädagogische Konzeptionen“, in: ADAM, Gottfried / LACHMANN,
Rainer (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen: Vandenhoeck & Rup-
recht 51997, 37–86, 59–60. Die Zitate sind dem Buch „Ideologiekritik und Religions-
unterricht“ von Siegfried Vierzig (Zürich u. a. 1975) entnommen.
4 Ein ähnliches Vorgehen legt sich für den verwandten Begriff „Kritik“ bzw. „Ideologie-
kritik“/“Religionskritik“ nahe. Vgl. GROSCH, Hans: Religion – Glaube –Ideologie, in:
ZILLEßEN, Dietrich (Hg.): Religionspädagogisches Werkbuch, Frankfurt am Main:
Diesterweg 1972, 115–120; POST, Werner: Ideologie – Ideologiekritik, in: EBD., 121–
126; ZIRKER, Hans: Religionskritik – Zweifel, in: BÖCKER, Werner / HEIMBROCK, Hans-
Georg / KERKHOFF, Engelbert (Hg.): Handbuch Religiöser Erziehung. Band 2, Düssel-
166 Norbert Mette
Als Einstieg seien die 1975 erschienen ersten beiden Bände des dreibändi-
gen religionspädagogischen Grundlagenwerks des evangelischen Tübinger
Religionspädagogen Karl-Ernst Nipkow herangezogen.5 Im Sachregister
der beiden Bände taucht auch das Stichwort „Emanzipation“ mit jeweils
mehreren Verweisen auf. Nipkows Anliegen ist es, das Emanzipationsver-
ständnis gegen einen Gebrauch, der es ohne Gehalt, als leere Freiheit auf-
fasst, inhaltlich zu konturieren, also zu erkunden, was damit als menschli-
che Lebensform positiv gemeint ist.6 Er wendet sich einerseits gegen eine
bürgerlich-liberale Auslegungstradition, die einseitig auf die Freiheit des
liberalen, emanzipierten Bürgers setzt, und andererseits gegen die staats-
sozialistische Auslegung, die umgekehrt das Individuum einer kollektivis-
tischen Konstruktion von Gesellschaft unterordnet.7 Gegenüber beiden
anthropologischen Verkürzungen des menschlichen Lebenszusammen-
hangs entfaltet er ein kommunikatives Verständnis von Freiheit, für das er
sich auf die aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven gewon-
nene Einsicht von der vorgängigen Verbundenheit von Individuum und so-
zialer Beziehung beruft.8 Im weiteren Fortgang bringt er das noch einmal
in Verbindung mit einem insbesondere an Martin Luther gewonnen theo-
logischen Verständnis von Freiheit, wobei er allerdings auch die ambiva-
lente Rolle der Kirchen gegenüber dem neuzeitlichen Aufklärungs- und
dorf: Schwann 1987, 530–541; BEUSCHER, Bernd: Ideologie, Ideologiekritik, in: LexRP
I (2001), 855–859; ZIRKER, Hans: Religion, Religionskritik, in: LexRP I (2001), 1672–
1678; LÄMMERMANN, Gottfried: Religion – Religionskritik, in: BITTER, Gottfried u. a.
(Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München: Kösel 2001,
84–88; ENGLERT, Rudolf: Ideologiekritik, in: PORZELT, Burkard / SCHIMMEL, Alexan-
der (Hg.): Strukturbegriffe der Religionspädagogik, Bad Heilbronn: Julius Klinkhardt
2015, 126–131; HEGER, Johannes: Art. Ideologiekritik, in: WiReLex 2018 [abgerufen
am 21.10.2019]; HEUMANN, Jürgen: Kritik, in: EBD.
5 Vgl. NIPKOW, Karl Ernst: Grundfragen der Religionspädagogik. Band 1 und 2, Güters-
loh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985. Band 3 ist 1982 erschienen.
6 Vgl. EBD., Band 2, 148.
7 Vgl. EBD., Band 1, 108–110.
8 Vgl. EBD., Band 1, 111–127.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 167
In diesem Sinne habe sich die christliche Religionsdidaktik mit aus ande-
ren Quellen sich speisenden ähnlich gesinnten Gesprächspartnern zu ver-
bünden. In den nächsten Abschnitten warnt Grewel davor, auf dem Weg
der Emanzipation Mittel einzusetzen, die andere wiederum zu Opfern wer-
den lässt, und vor der Versuchung von Erziehern, Menschen übergriffig
nach ihren Vorstellungen formen zu wollen. Als „Bedingungen und Ziel-
faktoren religiösen Lernens unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation“15
führt er an:
12 EBD., 141–142.
13 EBD., 144.
14 EBD.
15 EBD., 147.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 169
Zum Lexikon der Religionspädagogik aus dem Jahr 2001 hat der evange-
lische Religionspädagoge an der Universität zu Köln, Dietrich Zilleßen,
den Artikel „Emanzipation“ beigesteuert.17 Die Eingangssätze lauten:
„Religionspädagogik zielt wie alle pädagogischen Bemühungen darauf, Lebens-
chancen zu verbessern und im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Leben humaner
(freier, gerechter etc.) zu gestalten sowie zum sinnvollen Umgang mit Begren-
zungen/Grenzen zu bewegen. Für diese Humanisierung als gesellschaftskri-
16 EBD., 149.
17 Vgl. ZILLEßEN, Dietrich: Emanzipation, in: LexRP I (2001), 394–401.
170 Norbert Mette
tisches/politisches Projekt hat sich vom Ende der 60er bis zur Mitte der 80er Jahre
des 20. Jahrhunderts die ‚emanzipatorische Religionspädagogik’‘ eingesetzt.“18
18 EBD., 394 (Die Abkürzungen in diesem Zitat und in den folgenden sind aufgelöst).
19 Vgl. EBD., 395.
20 EBD., 398.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 171
21 EBD., 400.
172 Norbert Mette
22 Vgl. GRÜMME, Bernhard / SCHLAG, Thomas: Art. Emanzipation, in: WiReLex 2019
[abgerufen am 21.10.2019].
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 173
„Die (sc. Grenzfragen zur Theologie hin aufwerfen lassende, NM) Ethik der in-
tersubjektiven Kreativität als dem normativen Kern von Bildungsprozessen wäre
von dort her als eine innovative, kreativ-transformatorische wie kritische Praxis
zu bestimmen, die als freiheitsstiftende Praxis auch die gesellschaftlichen wie in-
stitutionellen Ausgestaltungen von Bildung wie die gesellschaftlich-geschichtli-
chen Bedingungen der solidarischen Existenz der Subjekte anvisiert […]. Ihr geht
es in ihrer Orientierung an Wahrnehmungs- Handlungs- und Urteilsfähigkeit des
Subjekts im Verhältnis zu sich selber, zum anderen und zur sozialen Wirklichkeit
nicht letztlich um eine auf sich selbst bezogene Menschwerdung des Menschen –
übrigens nicht zuletzt auch unter besonderer Berücksichtigung der Genderper-
spektive […] (sc. und einer vorrangigen Option für die und mit den Armen, NM).
Es geht nicht primär um ein Freiwerden von, sondern ein Freiwerden für andere
(sc. und mit ihnen; NM).“
Zustand von Kirche und Gesellschaft als Opposition in der Kirche, solange die
Amtskirche strukturell und faktisch der Mündigkeit der jungen Menschen und
damit der kirchlichen Zukunft hindernd im Wege steht.“
(4) „Weil Selbstfindung und Mündigkeit an die Fundamentaldemokratisierung
der Gesamtgesellschaft – einschließlich der Kirchen – gebunden sind, und weil
die Zukunft der Kirche nicht minder von der gesellschaftspolitischen Reife der
Christen abhängt, muß die kirchliche Jugendarbeit primär durch Aktionen die
‚Demokratisierung’ der Kirchenstrukturen fördern.“
4 „Hausaufgaben“
31 Vgl. METTE, Norbert: Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der ‚Geldkultur“,
in: KROBATH, Thomas / LEHNER-HARTMANN, Andrea / POLAK, Regina (Hg.): Anerken-
nung in religiösen Bildungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven, Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 277–287 (dort die Verweise auf die Schriften von John
M. Hull).
32 Vgl. FREIRE, Paulo: Pädagogik der Autonomie, Münster: Waxmann 2008.
33 Vgl. BETTO, Frei: Por uma educaçāo critica e partticipativa, Rio de Janeiro: Anfiteatro
2018.
34 Vgl. METTE, Norbert: Mündigkeit, in: PORZELT / SCHIMMEL 2015 [Anm. 4], 49–54.
35 Vgl. METZ, Johann Baptist: Erlösung und Emanzipation, in: DERS.: Glaube in Ge-
schichte und Gesellschaft, Mainz: Matthias Grünewald 1977, 104–119.
Emanzipation (und Kritik) in der Religionspädagogik 179
heitstheologie mit der Theologie der Befreiung könnte auch die Religions-
pädagogik viel für ihre Grundlegung profitieren.36
36 Anhaltspunkte dafür gibt der Artikel „Freiheit“ im WiReLex 2016 von Paul Platzbecker
(besonders im dritten Abschnitt). Allerdings sind sie deduktiv aus der dogmatischen
Lehrtradition gewonnen und bleiben entsprechend allgemein. Nicht zuletzt mit Blick
auf ihre Bedeutung für die Gegenwart wären sie aufschlussreicher, wenn nicht nur die
jeweilige theologieimmanente Logik der im Verlauf der Geschichte eingenommenen
Positionen und erfolgten Kontroversen dargestellt würde, sondern diese auch vor ihrem
jeweiligen (sozial-) geschichtlichen Hintergrund ausgelegt würden.
37 Vgl. überblicksartig METTE, Norbert: Konziliarer Prozeß, in: LexRP I (2001), 1093–
1098.
180 Norbert Mette
Ich schließe mit einem Zitat aus einem kirchlichen Dokument, nämlich aus
dem Schlussdokument der Bischofssynode zum Thema „De iustitia in
mundo“ aus dem Jahre 1970, das ich schon mehrfach benutzt habe, weil es
m. E. klar ein Desiderat benennt, das noch längst nicht überwunden ist:
„Die heute noch vorwiegende Art der Erziehung begünstigt einen engstirnigen
Individualismus. Ein Großteil der Menschen versinkt geradezu in maßloser Über-
schätzung des Besitzes. Schule und Massenmedien stehen nun einmal im Bann
des etablierten ‚Systems‘ und können daher nur einen Menschen formen, wie die-
ses ‚System‘ ihn braucht, einen Menschen nach dessen Bild, keinen neuen Men-
schen, sondern nur eine Reproduktion des herkömmlichen Typ […]. Die Erzie-
hung muß dringen auf eine ganz und gar menschliche Lebensweise in Gerechtig-
keit, Liebe und Einfachheit. Sie muss auch die Fähigkeit wecken zu kritischem
Nachdenken über unsere Gesellschaft und über die in ihr geltenden Werte sowie
die Bereitschaft, diesen Werten abzusagen, wenn sie nicht mehr dazu beitragen,
allen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen […]. Das ist dann wenigstens schon
einmal ein Anfang zum Umbau der Welt.“38
Autorenangaben: Prof. i.R. Dr.Dr.h.c. Norbert Mette, Prof. für Praktische Theolo-
gie und Religionspädagogik von 1984 bis 2002 an der Universität Paderborn, von
2002 bis 2011 an der Universität Dortmund; seitdem im Ruhestand.
„Erziehung zur Freiheit erschöpft sich für gewisse liberale Erzieher darin, die
Schüler von der Wandtafel zu befreien und ihnen stattdessen Diaprojektoren zu
verschaffen.“ (Paulo Freire)
„Falls Ihnen etwas, das ich heute sage, ganz unzumutbar erscheint, so bitte ich
Sie, dies der Ernsthaftigkeit meines Ansinnens zuzuschreiben.“ (Gayatri C.
Spivak)
Abstract: Der Beitrag setzt bei der Beobachtung an, dass die religionspädagogi-
sche Debatte um den Emanzipationsbegriff immer schon von der impliziten
Vorannahme bestimmt war, dass Befreiung und Emanzipation allein dem Men-
schen zukämen. Diese anthropozentrische Engführung ist jedoch prekär: Sind
nicht alle drei großen, monotheistischen Religionen nach wie vor von einem wei-
testgehend kritiklos geteilten und theologisch höchst bedenklichen Konsens zur
strukturellen Gewalt an (nicht-menschlichen) Tieren getragen?
1 Kontextualisierung
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_10
182 Simone Horstmann
Ich lese Norbert Mettes analytisches Vorgehen daher vor allem auch vor
dem Hintergrund des dadurch ermöglichten Gewinns. Dieser besteht m. E.
darin, die dezidiert herrschaftskritischen Dimensionen von Emanzipation
und Kritik besonders dadurch sichtbar machen zu können, dass sie sich hier
im Gewand ihres vermeintlichen formalen Gegenteils, nämlich selbst als
Diskurswissen zeigen – und dies besonders deutlich, wie ich meine. Denn
wer die referierten Ansätze bei allen inhaltlichen Divergenzen übereinan-
der projiziert, um ihren gemeinsamen Nenner hervortreten zu lassen, wird
diesem gemeinsamen Konsens, als dem Kernsubstrat eines akademisch-
goutierten und insofern bereits immer schon gezähmten Emanzipations-
und Kritikverständnisses sehr bald ansichtig. Ich nenne nur einige, hier de-
kontextualisierte Formeln aus den von Norbert Mette diskutierten Ansät-
zen, um dieses unterstellte Kernsubstrat der Sache nach zu verdeutlichen:
„Emanzipation ist die Befreiung von Menschen aus Abhängigkeitsverhält-
nissen“; „Emanzipatorische Erziehung zielt auf einen Zugewinn an Huma-
nität unter den Bedingungen von Familie, Nachbarschaft und Gemeinde“
(Grewel); sie habe ferner das Ziel, „Lebenschancen zu verbessern und im
Rahmen ihrer Möglichkeiten das Leben humaner (freier, gerechter etc.) zu
gestalten“; die „emanzipatorische Religionspädagogik“ trete für die „Hu-
manisierung als gesellschaftskritische[m]/politische[m] Projekt ein“; „Hu-
manität […] für alle ist ein religiöses Versprechen, auf das sich Religions-
pädagogik gründet“ (Zilleßen); einer emanzipatorischen Religionspädago-
gik ginge es um die „Menschwerdung des Menschen“ (Grümme/Schlag).2
Es geht einer kritischen und emanzipatorischen Religionspädagogik dem-
nach, so verstehe ich diese verkürzte Synopse, um den von allen weitest-
gehend kritiklos geteilten gemeinsamen Nenner – den Menschen.
2 Ich verweise hier auf die Quellennachweise im Artikel von N. Mette. Entsprechende
Referenzen finden sich auch über diese Aufzählung hinaus, so etwa bei Peter Biehl und
Hans-Bernhard Kaufmann: Emanzipation meint beiden Autoren zufolge „immer Auf-
hebung menschlicher Fremdbestimmung“. (BIEHL, Peter / KAUFMANN, Hans-Bernhard:
Zum Verhältnis von Emanzipation und Tradition in der Religionspädagogik. Einlei-
tende Thesen, in: DIES. (Hg.): Zum Verhältnis von Emanzipation und Tradition. Ele-
mente einer religionspädagogischen Theorie, Frankfurt am Main: Diesterweg 1975, 9–
16, 10).
3 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, welche Hoffnungen ursprüng-
lich in die analytische und praktische Kraft insbesondere des Emanzipationsbegriffs
gesetzt wurde, wie N. Mette anmerkt: „Wenn man nun fragt, ob und inwiefern sich für
den ganzen Zusammenhang unmittelbarere Auswirkungen der sog. 1968er-Bewegung
auf den Raum der katholischen Kirche angeben lassen, so kann man das vor allem an
einem Begriff festmachen, der damals gewissermaßen ein epochales Lebensgefühl zum
Ausdruck brachte: Emanzipation. Dieses Programmwort, in dem die Tradition der Auf-
klärung mit ihrer Zielsetzung der Mündigkeit aller Menschen und die Tradition des
Marxismus mit seinem Streben nach Überwindung aller Ausbeutungs- und Unterdrü-
ckungsverhältnisse sich miteinander verbanden, fand damals, wenngleich mit einer ge-
wissen zeitlichen Verzögerung, auch in christlichen Gruppen und Bewegungen große
Resonanz, nicht zuletzt weil sie in ihm eine oft verdrängte Traditionslinie ihres eigenen
Glaubens wiederentdeckten.“ (METTE, Norbert: 1968 und die katholische Religionspä-
dagogik. Ansätze, Wirkungen, unabgegoltene Potentiale, in: RICKERS, Folkert / SCHRÖ-
184 Simone Horstmann
DER, Bernd (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen: Neukirchener Verlag
2010, 311–324, 316–317).
4 Dietrich Zilleßen etwa bemerkt zu diesem Umschwung: „Nachdem Emanzipation im
Diskurs der Religionspädagogik eine große Rolle spielte, mehren sich die Rufe nach
dem Bewährten und Autorität. Es kommt dabei zu einer „‘Vergangenheitsbewältigung‘,
die sich darin äußert, dass Emanzipation bzw. jede emanzipatorische Konzeption ins-
gesamt und pauschal kritisiert und der „Emanzipations-Pädagogik“ gegenüber gar
verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet werden.“ (ZILLEßEN, Dietrich: Emanzipa-
tion und Religion. Elemente einer Theorie und Praxis der Religionspädagogik, Frank-
furt am Main: Diesterweg 1982, 20).
5 Ähnlich auch die Diagnose von Henning Luther, der bemerkt, dass die pädagogische
Tradition Bildung vorrangig als nacherlebte Einfügung entworfen hat, als Einpassung
und Eingliederung in die Tradition; auch in der Religionspädagogik tritt demnach der
Aspekt der Emanzipation und der Kritik zugunsten einer aneignenden Hermeneutik zu-
rück. (Vgl. LUTHER, Henning: Kritik als pädagogische Kategorie. Untersucht an H. J.
Gamm: Kritische Schule und H. Stock: Religionsunterricht in der kritischen Schule, in:
Praktische Theologie 8 (1973), 3–16, 5–6).
6 Vgl. RADKAU, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München: C. H.
Beck 2011, bes. Kap. III.
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 185
7 ADORNO, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000 [1966],
13.
8 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz: Grünewald, 51992,
95.
186 Simone Horstmann
Wenn man der Fährte des Emanzipationsbegriffs folgt, wird man zumin-
dest nicht gänzlich den Eindruck vermeiden können, dass dieser Begriff
die hier kritisierte Anthropozentrik immer schon insofern selbst mitprodu-
ziert hat, als das „Animalische“ bzw. das „Natürliche“ nicht selten zu jenen
Gegenkonzepten zu taugen schienen, von denen es sich zu emanzipieren
galt.9 Emanzipation, so Hermann Giesecke, „ist die Formel für den Ver-
9 Gayatri Ch. Spivak hat ihre postkoloniale Perspektive nicht zuletzt durch semiotische
Ansätze plausibilisiert, in denen sie die kulturelle Produktion des Imperialismus kriti-
siert, die sie als „Weltenmachen“ (Worlding) bezeichnet. Ihr zufolge hat die epistemi-
sche Gewalt des Imperialismus dazu geführt, dass die insbesondere die sog. „Dritte
Welt“ in ein Zeichen verwandelt worden ist, dessen Produktion dermaßen ausgeblendet
oder kaschiert wurde, dass die westliche Überlegenheit und Dominanz demgegenüber
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 187
quasi naturalisiert und glaubhaft gemacht werden konnten. Auch die abgrenzende Rede
vom Tier bzw. vom Animalischen in dieser Worlding-Tradition gesehen werden, wenn
etwa, wie Derrida kritisiert, bereits in einem semantischen Rundumschlag vom „Tier“
gesprochen wird. (Vgl. SPIVAK, Gayatri Ch.: Three Women’s Texts and a Critique of
Imperialism, in: Critical Inquiry 12/1 (1985), 243–261, 247. Vgl. ebenfalls DERRIDA,
Jacques: Das Tier, das ich also bin, Wien: Passagen Verlag 2010).
10 GIESECKE, Hermann: Emanzipation, Tradition und praktisches Bewusstsein, in: BIEL,
Peter / KAUFMANN, Hans-Bernhard, (Hg.): Zum Verhältnis von Emanzipation und Tra-
dition. Elemente einer religionspädagogischen Theorie, Frankfurt am Main: Diesterweg
1975, 76–79, 77.
11 KÖGLER, Hans-Herbert: Autonomie und Überschreitung. Bruchstücke einer Theorie der
hermeneutischen Agency, in: DERS. / PECHRIGGL, Alice / WINTER, Rainer (Hg.): Enigma
Agency. Macht – Widerstand – Reflexivität, Münster: transcript 2019, 81–112, 88.
12 FREIRE, Paulo: Politische Alphabetisierung, in: SCHREINER, Peter u. a. (Hg): Paulo Frei-
re. Unterdrückung und Befreiung, Münster: Waxmann 2007, 27–43, 34.
188 Simone Horstmann
13 EBD., 58. Im Hinblick auf die Tiere wiederholt Freire viele klassische und altbekannte
Stereotype (das Tier sei reine Natur, reiner Instinkt usf.). Implizit kommt bei ihm jedoch
auch ein weitläufigerer Blick auf die nicht-menschliche Natur zur Sprache: „Die Frei-
heit und die Angst, das Leben zu verlieren, verbinden sich in einem tieferen, für das
Leben unerlässlichen Kern der Kommunikation. In diesem Sinne erscheint es mir als
ein bedauerlicher Widerspruch, progressiv und revolutionär daherzureden und zu-
gleich eine das Leben verleugnende Praxis zu betreiben. Eine umweltfeindliche Praxis
für die Luft, das Wasser, das Land, eine Praxis, die die Wälder zerstört. Die Bäume
zerstört, die Tiere und die Vögel bedroht.“ (FREIRE, Paulo: Cartas pedagogicas. Erster
Brief, in: SCHREINER, Peter u. a. (Hg): Paulo Freire. Unterdrückung und Befreiung,
Münster: Waxmann 2007, 97–115, 114. Zur Kritik an Freires Tiervergessenheit vgl.
SPANNRING, Reingard: Bildungswissenschaft. Auf dem Weg zu einer posthumanisti-
schen Pädagogik?, in: DERS. u. a. (Hg.): Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-
Animal-Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Münster: transcript 2015, 29–
52, bes. 37–39.)
(Vorläufige) Grenzen der Emanzipation 189
Die Hypothek, mit der nun speziell das Christentum die Tiere belastet hat,
ist anders als im Judentum und im Islam keine rituelle Form des schockie-
rend sichtbaren (uns insofern, wie man zumindest eingestehen muss: auch
sehr ‚ehrlichen‘ und unverholenen) Tötens, sondern in gewisser Hinsicht
das spiegelbildliche Gegenteil. Tiere werden im christlichen Abendland bis
heute nicht rituell, sondern möglichst apathisch getötet, vermeintlich
schmerzfrei und stets in dem Versuch, diesem Sterben und Töten den
Nimbus vollkommener Normalität und Selbstverständlichkeit zu verlei-
hen.15 Die Rede von der Emanzipation, von der Befreiung aus Leid und
14 Vgl. JOY, Melanie: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Kar-
nismus – eine Einführung, Münster: Compassion media 2013.
15 Vielleicht liegt gerade in dieser Tatsache die fundamentalste, weil nihilistische Gewalt
des Christentums an den Tieren: In einer monströsen Bemächtigungsaktion hat die
190 Simone Horstmann
Tod, kann von hier her der utopisch anmutende Hoffnungsschimmer auf
ein Ende dieser Selbstverständlichkeit sein, mit der Christ/inn/en den Tod
anderer Wesen bis heute weitestgehend irritationsfrei bejahen. Emanzipa-
tion verhandelt demnach auch jene Hoffnung, dass die wirkliche Friedens-
botschaft des Evangeliums sich gegenüber den Selbstverständlichkeiten
dieser Welt als das noch Selbstverständlichere wird ausweisen können.16
Und gerade deswegen muss Emanzipation notwendig mit Utopie einher-
gehen, wie schon Paulo Freire bemerkt: Denn „die, die herrschen, die, die
nicht lieben, die, die ausbeuten, können eben deswegen nicht utopisch sein,
weil sie keine Zukunft haben. Worin besteht die Zukunft des Unterdrü-
ckers? Nur in der Verlängerung der Gegenwart.“17
18 Ebenso diskussionswürdig sind m. E. aber auch die noch nicht zu Ende gedachten Eng-
führungen zwischen Emanzipation und der soteriologischen Kernkategorie der Erlö-
sung, sowie auch die christologischen Anthropozentrismen.
19 Eine Theologie, die die Allmacht Gottes allerdings in mechanistischen Kausalmustern
entwirft, und Gottes Macht zu den geschöpflichen Mächten in notwendige Konkurrenz
setzt, „wirkt mit am Mythos des Menschen als jenem Gott der Tiere, der seine eigene
Macht in einem beständigen Kampf gegen die Tiere durchzusetzen hat – so wie Gott
sich als Gott der Menschen gegen deren Machtbestrebungen durchsetzt.“ (HORSTMANN
2018 [Anm. 15], 195–196.
192 Simone Horstmann
4 „Exposure“
20 SAID, Edward W.: The World, the Text and the Critic, Cambridge: Univ. Press 1983,
226–247.
21 CLIFFORD, James: Notes on Travel and Theory, in: DERS. / DHARESHWAR, Vivek (Hg.):
Travelling Theories, Travelling Theorists 5 (1989), 177–188.
22 RANCIÈRE, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen Verlag 2010, 23.
194 Simone Horstmann
Judith Könemann
Abstract: Der vorliegende Artikel untersucht, ob und wie der in der Pädagogik
wieder aufkommende kritisch-emanzipatorische Ansatz für eine Religionspädago-
gik fruchtbar gemacht werden kann. Dazu wird ein Ansatz von Religionspädago-
gik, der diese als politische versteht, grundgelegt. Ausgehend von begrifflichen
Bestimmungen der Begriffe Emanzipation und Mündigkeit und den semantischen
Bedeutungsverschiebungen, die die Begriffe in ihrer Geschichte erfuhren, werden
die Anschlussmöglichkeiten für die Religionspädagogik aufgezeigt, die in drei As-
pekten liegen: der selbstreflexiven Wendung des Begriffs Emanzipation, der en-
gen Verbindung und Aufeinanderbezogenheit der Begriffe Emanzipation und
Mündigkeit und in der den Begriffen inne liegenden prozessualen Dynamik.
1 Vgl. dazu KÖNEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und Gerechtigkeit. Wa-
rum religiöse Bildung politisch sein muss, Ostfildern: Grünewald 2013 (Bildung und
Pastoral, Bd. 1); GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik, Bestandsauf-
nahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Re-
ligionsunterrichts, Stuttgart: Kohlhammer 2009.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_11
196 Judith Könemann
2 Vgl. FILTHAUT, Theodor: Politische Erziehung aus dem Glauben, Mainz: Grünewald
1965; RICKERS, Folkert: Religionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsent-
würfe im Überschneidungsfeld, Stuttgart: Calwer 1973.
Politische Religionspädagogik 197
„Der Glaube wird selbst um seine volle Realisierungskraft gebracht, wenn man
seinen Bezug zur politischen Wirklichkeit negiert. Dieser Teil ist heute ein we-
sentlicher Teil des Weltverständnisses und des Weltverhältnisses des Christen
überhaupt.“3
Das Politische der Religionspädagogik rückte erst in jüngerer Zeit vor al-
lem im Kontext der Auseinandersetzungen um Bildungsgerechtigkeit in
den Vordergrund und führte entweder zu einem Verständnis von Religi-
onspädagogik, der das Politische als eine Dimension neben anderen einge-
schrieben ist, oder zu einer politischen Religionspädagogik, die das Poli-
tische als konstitutiven Bestandteil ihrer selbst betrachtet, wie der hier ver-
tretene Ansatz.7
7 GRÜMME 2009 [Anm. 1]; KÖNEMANN, Judith: Art. Politische Religionspädagogik, in:
WiReLex 2016 [abgerufen am 20.06.2019].
8 ARENDT, Hannah: Was ist Politik, hg. von Ursula Ludz, München: Piper 42010 (2003 /
1993).
9 EBD., 9; 11.
10 Vgl. SUTOR, Bernhard: Politische Bildung als Praxis. Grundzüge eines didaktischen
Konzepts, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 1992, 8.
200 Judith Könemann
11 Vgl. BENZ, Arthur / DOSE, Nicolai (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regel-
systemen. Eine Einführung, 2., aktualisierte und veränderte Auflage, Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
12 Vgl. KÖNEMANN, Judith / FRANTZ, Christiane / MEUTH, Anna-Maria / SCHULTE, Max:
Religiöse Interessenvertretung. Kirchen in der Öffentlichkeit – Christen in der Politik,
Paderborn: Schöningh 2015 (Gesellschaft – Ethik – Religion, Bd. 4), ferner KÖNE-
MANN, Judith: Weder „Staat“ noch „Privat“. Zur Rolle der Kirchen in zivilgesellschaft-
licher Öffentlichkeit, in: Orientierung 70 (2006), 202–207.
Politische Religionspädagogik 201
15 Vgl. PEUKERT, Helmut: Was ist eine Praktische Wissenschaft? in: FUCHS, Ottmar (Hg.):
Theologie und Handeln. Beiträge zur Fundierung der Praktischen Theologie als Hand-
Politische Religionspädagogik 203
lungstheorie, Düsseldorf: Patmos 1984, 64–79, 70; ferner METTE, Norbert: Religions-
pädagogik, Düsseldorf: Patmos 1994, 109–110.
16 RIEGER-LADICH, Markus: Pathosformel Mündigkeit. Beobachtungen zur Form erzie-
hungswissenschaftlicher Reflexion, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päda-
gogik 78 (2002), Heft 2, 153–183.
204 Judith Könemann
19 Vgl. FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.
20 Vgl. SAID, Edward: Orientalism, London: Routledge & Keagan 1978; SPIVAK, Gayatri
Chakravorty. Can the subaltern speak?, Basingstoke: McMillan 1988.
21 Vgl. FREIRE, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Rein-
bek bei Hamburg: Rowohlt, 1973; DERS.: Erziehung als Praxis der Freiheit. Beispiele
zur Pädagogik der Unterdrückten, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1974.
22 SONDEREGGER, Ruth: Wie diszipliniert ist (Ideologie-) Kritik? Zwischen Philosophie,
Soziologie und Kunst, in: JAEGGI, Rahel / WESCHE, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frank-
furt am Main: Suhrkamp 42016, 55–80, 72.
206 Judith Könemann
darüber, wie Subjekte lernen, und wie wenig Einfluss wir letztlich auf die
individuellen Aneignungsprozesse des Subjekts haben, gelehrt.23
23 Vgl. CASPARY, Ralf (Hg.): Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik (=
Herder-Spektrum, Bd. 5763), Freiburg im Breisgau: Herder 2006, 54–69; ROTH, Ger-
hard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philoso-
phischen Konsequenzen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994; DERS.: Das Gehirn
nimmt die Welt nicht so wahr, wie sie ist, in: ECKOLDT, Matthias: Kann das Gehirn das
Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis,
Heidelberg: Carl-Auer-Verlag 2013.
24 Vgl. KOSELLECK, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik
der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 32016, 182–202.
25 Vgl. EBD., 185.
26 Vgl. EBD.,185.
Politische Religionspädagogik 207
27 EBD., 186.
28 Vgl. EBD., 186–187.
29 Vgl. EBD., 188.
30 Vgl. Rieger-Ladich 2002 [Anm. 17], 157.
31 Vgl. KANT, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Was ist Auf-
klärung?, in: Gesammelte Werke Bd. VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998 [5. überprüfter Nachdruck von 1964], 53–61.
208 Judith Könemann
mulans und als Vollzug der Mündigwerdung erstreckt sich damit auf eine
Zeit, die den einmaligen Rechtsakt einer Emanzipation übersteigt.“32
kann nur vom Subjekt selbst geleistet werden. Nun ist aber auch das Ziel
der ‚Mündigkeit‘ als Zustand nicht statisch und immer gegeben, sondern
beinhaltet ein dynamisches Moment. Man kann seine Mündigkeit auch
wieder verlieren, z. B. durch einen Rechtsakt, in dem jemand entmündigt
wird, oder durch Krankheit, die eben genau das verhindert, was Mündig-
keit meint, nämlich ein unabhängiges Nutzen der eigenen Verstandesmög-
lichkeiten und der darauf basierenden Urteilsfähigkeit.
Es ist nun die Aufgabe von Lern- und Bildungsprozessen, das Subjekt in
diesem Prozess seines ‚Mündig-Werdens‘ und ‚sich Emanzipierens‘ zu be-
gleiten und formale wie inhaltliche Bedingungen zur Verfügung zu stellen,
die diesen Prozess befördern. Jedem Subjekt eignet anthropologisch das
Potential zur Mündigkeit und zum sich Emanzipieren, auch wenn dieses
Potential im konkreten Lebenszusammenhang noch nicht entwickelt oder
entfaltet ist, wodurch auch immer beschädigt wurde oder aber vom Subjekt
selbst verweigert wird. Im pädagogischen Prozess gilt es nun, dieses Poten-
210 Judith Könemann
Zum ersten: Damit solches nicht geschieht, bedarf es insbesondere des äu-
ßeren, außerhalb des Subjekts liegenden, eben nicht selbstreflexiven Mo-
ments der Emanzipation. Denn, für das Schaffen von Bedingungen, die
dem Lern- und Bildungsprozess des Subjekts förderlich sind, und die das
Werden von Mündigkeit und Emanzipation ermöglichen, bedarf es zwin-
gend einer Emanzipation, die eben nicht selbstreflexiv, sondern auf das
Kollektiv und das System, in diesem Falle auf das Bildungssystem bezogen
ist und emanzipative, d. h. befreiende äußere Akte inhaltlicher, strukturel-
ler oder auch politischer Natur setzt. Solche Handlungen oder Akte sind
notwendig, um den selbstreflexiv bezogenen Prozess der Emanzipation
beim Subjekt zu unterstützen, zu erleichtern und zu befördern. Diese Hand-
lungen jedoch kann nicht das Subjekt aus sich selbst heraus leisten, dazu
bedarf es zwingend der vom jeweiligen System oder Institution getragenen
emanzipatorischen Akte.
Eine zentrale Frage der Kritischen Theorie und auch der 1970er Jahre war
die Frage danach, ob und inwieweit die Individuen eigentlich in der Lage
sind, ihre ‚eigenen‘ ‚wahren‘ Bedürfnisse zu entdecken oder nicht, und ob
sie in der Lage sind, die eigenen Verhältnisse zu kritisieren. Es wird immer
wieder Situationen geben, in denen Individuen das eigene Eingebunden-
sein und Mitwirken an unterdrückenden Strukturen nicht wahrnehmen,
weil sie kognitiv und affektiv nicht in der Lage sind, oder weil ihnen ein-
fach das nötige Wollen dazu fehlt. In solchen Fällen wird auch ein aus-
schließlich von außen herangetragener emanzipatorischer Prozess nicht
möglich sein, denn schon dieser wäre bereits eine Übermächtigung des An-
deren. Letztlich ist pädagogisch nur mit dem zu arbeiten, was in der eman-
zipatorischen Pädagogik von Paulo Freire ‚Bewusstseinsbildung‘ heißt
und die Arbeit an den so genannten generativen Themen bedeutet.37 Ge-
meint ist der Prozess, Menschen darin zu begleiten, ihre generativen The-
men, d. h. Themen, die sie existentiell beschäftigen, zu entdecken, mit den
Menschen an diesen zu arbeiten und dabei hegemoniale Verstrickungen
aufzudecken sowie Empowermentprozesse zu initiieren. 38 Schon in den
1950er Jahren machte die Aktionsforschung, die zurzeit unter dem Stich-
1 Vgl. die Kritik von EVERSCHOR, Franz: First Reformed, in: https://www.filmdienst.de/
film/details/561767/first-reformed#kritik [abgerufen am 24.04.2019].
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_12
216 Viera Pirker
2 SCHRADER, Paul: Transcendental Style in Film: Ozu, Bresson, Dreyer. With a New In-
troduction: Rethinking transcendental style, San Diego: University of California Press
2018. Transcendental Style bedeutet die Abkehr des Art-House-Films von narrativen
hin zu ästhetischen Strukturen, weg vom Storytelling und hin zur Erschaffung einer
transzendentalen Film-Realität, die aus sich heraus eine spirituelle Ästhetik erzeugt.
SCHRADER (EBD., 3) beschreibt dies beispielsweise durch verspätete und nicht mit der
Handlung akkordierende Schnitte, feststehende Kamera, den Verzicht auf Einsatz von
Musik, lückenhafte Erzählweise und Überhöhungen des Alltäglichen. Solche filmi-
schen Mittel erzeugen bei den Zuschauer*innen ein Gefühl des Unwohlseins, welches
sie für sich selbst beantworten und ergänzen müssen.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 217
3 Zu den Techniken des Slow Cinema vgl. SCHRADER 2018 [Anm. 2], 11–18.
4 Vgl. GRUBER, Franz: Ist die politische Theologie am Ende?, in: Quart 4 (2006), 7–9, 8.
218 Viera Pirker
In nüchterner Klärung der Sachlage hat Judith Könemann die Frage nach
dem kritisch-emanzipatorischen Ansatz in einer politischen Religionspä-
dagogik aufgenommen und von Begriffsgeschichten und Fachgeschichte
her die Argumentation für das Politische in einer entschieden subjektori-
entierten Religionspädagogik konturiert.5 Dies hat sie in vier Teilen unter-
nommen: Zunächst (1) Anliegen und Genese einer politischen Religions-
pädagogik mit der Grundfrage, ob der Religionspädagogik ein politisches
Bewusstsein inhärent sei, gerade auch angesichts der vorzufindenden Kon-
zentration auf ästhetische und performative Paradigmen. Dann (2) Das Po-
litische und das Politikverständnis, mit der Klärung, dass ‚politisch‘ das
„Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen“ (Hannah Arendt)
meine, also eine Weitung auf das soziale Handeln, sowohl in staatlich-in-
stitutioneller als auch in zivilgesellschaftlicher Reichweite, wobei letztere
auch der Ort der Kirchen ist. Sie schließt Überlegungen (3) zum Ansatz
einer Politischen Religionspädagogik an, indem sie das Politische als
durchgängiges Handlungs- und Reflexionsprinzip der Religionspädagogik
platziert – grundlegend, und allen anderen Dimensionen (ästhetisch, erfah-
rungsorientiert, performativ, biographisch) vorauslaufend. Das Bildungs-
verständnis charakterisiert sie darin als „strikt subjektorientiert“6 – mit dem
„Werden zu sich“, der Entfaltung eigener Subjektivität „geht es ihr zu al-
lererst um den Menschen, um seine Existenz, um sein Leben-Können und
um die Möglichkeit eines gelingenden Lebens.“7 Theologisch gesprochen
geht es um das Heil des Menschen – und Subjektwerdung wird im reli-
5 Dieser Text ist als Response auf den Beitrag von Judith KÖNEMANN entstanden, orien-
tiert sich stark an diesem, und öffnet von dort her einige praktische und kontextuelle
Perspektiven für die Religionspädagogik, durchaus auch in ungesichertem Feld. Bezüge
auf den Text werden nicht mit Seitenzahlen ausgewiesen.
6 Vgl. den Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.
7 EBD.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 219
Im ersten Überblick teile ich viele der treffenden Beobachtungen, die Ju-
dith Könemann vorgebracht hat. Fachgeschichtlich geht mir die Frage
nach, wieso es so wenig impact der Politischen Theologie auf die Religi-
onspädagogik gegeben hat. Auf der Ebene von Vermittlungsinhalten und
Lerngegenständen haben ihre Anliegen durchaus Eingang gefunden, und
Religionspädagogik könnte auf dieser Ebene kritisch-emanzipatorisch ver-
standen werden, wie es Norbert Mette in seinem Überblick9 auch themati-
siert hat: Interreligiöse Begegnung, Eine-Welt-Arbeit, Christentumskritik
als Aufgabe der religiösen Erziehung, die Entwicklung von Charismen und
Talenten der Individuen, all dies sind – immer unter dem pädagogischen
und eschatologischen Vorbehalt der Nicht-Erreichbarkeit – wiederkeh-
rende Anliegen einer kritisch-emanzipatorischen, an Politischer Theologie
8 EBD. Früh schon hat Ulrike Greiner das Festhalten der Praktischen Theologie am „Ideal
eines ‚aufgeklärten mündigen‘ Subjekts und an dessen Selbstbewußtsein und Autono-
mie“ kritisiert, vgl. GREINER, Ulrike: Der Spur des Anderen folgen? Religionspädago-
gik zwischen Theologie und Humanwissenschaften (= Beiträge zur mimetischen The-
orie 11), Münster: LIT 2000, 306.
9 Vgl. den Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
220 Viera Pirker
worden. Die Frage nach dem guten Zusammenleben wird von unterschied-
lichen Menschen gegenwärtig unterschiedlicher beantwortet, als es ein
„kritisch-emanzipatives Paradigma“ erhoffen ließe, das auf Entwicklung
durch Wachstum und Bildung setzt – die Subjekte sind ‚widerständig‘ und
verweigern sich mitunter auch aktiv ihren Möglichkeiten, wie sich in An-
lehnung an die soziologische Identitätsanalyse von Jean-Claude Kaufmann
zeigen lässt.13 Es ist eine Parallele zwischen dem Emanzipationsbegriff in
der Religionspädagogik und der Entwicklung des Identitätsbegriffs wahr-
zunehmen, die hier erläutert werden soll. Eine pädagogische Identitätsbe-
gleitung kann gar nicht anders, als eine Richtung, ein ‚Wohin‘ anzunehmen
und dieses auch emanzipatorisch zu formulieren. Sie füllt diese Richtung
mit einem subjektorientierten Bildungsverständnis, das zu mehr Freiheit,
Autonomie, Partizipation und Handlungsfähigkeit führt – Begriffe, die Kö-
nemann als ‚unbestimmt‘ kritisiert hat. Im Rahmen bedauerlicher politi-
scher Umbrüche in Europa sich manifestierende Gegenbewegungen zu ei-
nem kritisch-emanzipatorischen Bildungsideal können nicht ignoriert wer-
den. Vielmehr zeigen sie Grenzen einer pädagogischen Zielorientierung
auf.
13 Vgl. KAUFMANN, Jean-Claude: Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität, Kon-
stanz 2005; PIRKER, Viera: Wer hat, dem wird gegeben? Zur bildungspolitischen Prob-
lematik der Ressourcen(un)gerechtigkeit in einer identitätsbildenden Religionspädago-
gik, in: KÖNEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und Gerechtigkeit?! Wa-
rum religiöse Bildung politisch sein muss (= Bildung und Pastoral 2), Ostfildern: Grü-
newald 2013, 67–83, 73–77.
222 Viera Pirker
16 Vgl. CHARIM, Isolde: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verän-
dert, Wien: Zsolnay 2018, 57–79.
17 Vgl. LEITLEIN, Hannes u. a.: Jana Highholder: Ist sie die Antwort?, in: Die Zeit. Christ
und Welt 14 (2019).
18 Vgl. NOTHELLE-WILDFEUER, Ursula / STRIET, Magnus (Hg.): Einfach nur Jesus? Eine
Kritik am „Mission Manifest“, Freiburg, Basel, Wien: Herder 2018.
224 Viera Pirker
ne zu rücken, wenn nicht gar in den luftleeren Raum. Denn inwiefern klärt
und positioniert eine politische Brille die Religionspädagogik konkret, in
ihrem kritisch-emanzipatorischen Handeln in Theorie, Forschung und Pra-
xis? Was macht, wie agiert, wozu begleitet eine politische Religionspäda-
gogik auf den beschriebenen Feldern?
Ich erlebe und verstehe das Christentum als eine von Grund auf eminent
politische Religion, in der sich Menschen entschieden zu den bestehenden
Verhältnissen ins Verhältnis setzen, mit diesen arbeiten und Zivilgesell-
schaft mitgestalten, keineswegs der Welt enthoben: ein „way of life“, wie
Edmund Arens sagte, kein „world view“19. Das bedeutet: Es kann über-
haupt kein christliches Leben geben, das nicht „politisch“ im Sinne von
„Gemeinschaft gestaltend“ ist. Communio ist sein Grundvollzug, mehr
noch als eine individuell und innerlich gelebte Pietas. Diese Communio
reicht von Christus her weit hinaus in die Welt, in die Gesellschaft der im-
mer sich wandelnden Gegenwart. Von den biblischen Wurzeln her betrach-
tet, eröffnen alttestamentliche Prophetie und Verheißung, ebenso wie die
neutestamentliche Predigt Jesu vom Reich-Gottes alternative Gesell-
schaftsmodelle in ihrer jeweiligen Zeit, und weiten den Blick auf ein ande-
res, mögliches und zu hoffendes Miteinander.20 Das Christentum hat sich
dabei in seiner machtförmigen Geschichte selten umstürzlerisch zu herr-
schenden politischen Gegebenheiten verhalten, wohl aber in einer steten
Praxis der individuellen Umkehr und einer steten Ermöglichung des ande-
ren Lebens, einer steten Offenheit: du kannst anders sein und anders leben,
dein einzelnes Leben zählt, als Beispiel und Möglichkeit, für dich und für
andere. Vielleicht ist genau dies eminent christlich, sich nicht opponent
gegen herrschende Realitäten zu wenden, sondern diese mit Methoden der
19 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Was wird aus Religion? Beobachtungen, Analysen und Fallge-
schichten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern: Grünewald 2018, 289.
20 Vgl. den Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 225
22 Papst FRANZISKUS: Enzyklika LAUDATO SI über die Sorge für das gemeinsame Haus.
Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (= Verlautbarungen des Apos-
tolischen Stuhls 202), Bonn 2015.
Subjektorientierte religiöse Bildungsprozesse – medial gespiegelt 227
Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, der den Vatikan in den letz-
ten Jahren bei der Einführung von Maßnahmen für den Kinderschutz be-
gleitet hat, verdeutlicht aus seinen Erfahrungen heraus unmissverständlich,
dass die kirchlichen Strukturen jetzt dringend Veränderung von innen be-
nötigen, die von außen nicht angestoßen werden können. Insbesondere
mahnt er eine ausbleibende theologische Antwort im Rahmen kirchlicher
Praxis an:
„Es gab keine theologische Haltung zum sexuellen Missbrauch, sie wussten nicht,
was sie beten sollten. […] Missbrauch ist etwas, mit dem die Kirche eigentlich
nichts zu tun hat, er hat nichts mit ihren ureigenen Glaubensgründen zu tun. Ein
innerer Kompass fehlte, der nicht von außen eingekauft werden kann, sondern
aus geistlichem Diskurs entstehen muss.“24
Auch dies kann als ein politischer Auftrag an Theologie und Religionspä-
dagogik verstanden werden, das institutionelle, kirchliche, religiöse Zu-
sammenleben im Glauben mit und neu zu gestalten, einen geistlichen Dis-
kurs zu führen – doch wie angesichts des von tiefen Gräben durchzogenen
Zueinanders von kirchlichen und theologischen Realitäten tragfähige Brü-
cken gebaut werden können, bleibt offen. Auffällig ist, dass eine sichtbare
Einmischung von Religionspädagogik und Praktischer Theologie in dieses
Dunkelfeld kirchlich geschützten Handelns bisher kaum zu verzeichnen
ist, obwohl gerade diese Fachbereiche wissenschaftlich als Anwälte von
Kindern und Jugendlichen in der Kirche agieren müssten.25 Die fachlichen
23 Vgl. HOFF, Gregor: Sakralisierung der Macht. Theologische Reflexionen zum katholi-
schen Missbrauch-Komplex, Lingen 2019.
24 FEGERT, Jörg: Empathie statt Klerikalismus. Chancen und Grenzen externer Unterstüt-
zung bei der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch, in: Stimmen der Zeit
144/3 (2019), 189–204.
25 Für den Fachverband DKV liegt ein deutlicher Appell vor mit KUTHE, Jens: Der Miss-
brauchsskandal und seine Folgen – ein Statement, in: unterwegs 1 (2019), 3–7.
228 Viera Pirker
29 Vgl. GERRITZEN, Nana / TISCHEWSKI, Oda: Gleiche Leistung, schlechtere Noten. Ras-
sismus in der Schule 2019 (= SWR2.Wissen), in: https://www.swr.de/-/id=23268850/
property=download/nid=660374/s1b4du/swr2-wissen-20190330.pdf [abgerufen am
30.03.2019].
30 Kritische Positionierung bei ENGLERT 2018 [Anm. 16], 38; 239–308.
230 Viera Pirker
Ist die Religionspädagogik als Fach und als Praxis gegenwärtig in der
Lage, an den skizzierten kirchen- und gesellschaftspolitischen Hotspots
strukturell emanzipatorische Konzepte zu entwickeln? Im schulischen
Kontext kann sie sich an die Seite der Schwachen stellen, an die Seite de-
rer, die individuell und anders sind und im Leistungssystem nicht voll lan-
den können. Religionslehrer*innen können sich im Rahmen von Schulent-
wicklung aktiv für eine Entwicklung des sozialen Miteinanders ausspre-
chen und in diesem Kontext auch wesentliche Arbeit leisten.31 Doch wie
geht eine religionspädagogische Begleitung zu Kritik und Emanzipation in
einer Kirche, die gegenwärtig kaum erkennbar selbstkritisch oder emanzi-
patorisch auf die befreiende Kraft des Evangeliums zu setzen scheint? In-
nerhalb des römisch-katholischen Kontexts, auf den die katholische Reli-
gionspädagogik konfessionell verwiesen und angewiesen ist, gestaltet sich
Emanzipation im Sinne einer strukturellen Entwicklung politisch träge und
ist kaum wahrzunehmen. Individuell und spirituell hingegen ist sie vielfach
kondensiert und in Begriffen der Unterscheidung, Berufung, Begleitung,
inneren Reife, religiösem Wachstum im Glauben zu verorten. Die Diskre-
panz zwischen den in europäischen Ländern selbstverständlichen und vom
EuGH vertretenen Grundrechten (z. B. Diskriminierungsverbot; Gleichbe-
handlung) und kirchlicher Praxis ist in einer demokratischen Gesellschaft
deutlich zu spüren. Die Verhältnisbestimmungen von Religionsgemein-
schaften und säkularer Gesellschaft sind insgesamt stark angefragt – die
Jan-Hendrik Herbst
1 Vgl. z. B. BIEHL, Peter: Zur Funktion der Theologie in einem themenorientierten Reli-
gionsunterricht, in: KAUFMANN, Hans-Bernhard (Hg.): Streit um den problemorientier-
ten Religionsunterricht in Schule und Kirche, Frankfurt am Main: Diesterweg 1973,
64–79. BUß, Hinrich: Politische Theologie und Religionspädagogik, in: EBD., 49–63.
VIERZIG, Siegfried: Politische Theologie I + II, in: Informationen zum Religionsunter-
richt 6 (1974), H. 2, 32–38; H. 3, 32–34. KNAUTH, Thorsten: Problemorientierter Reli-
gionsunterricht. Eine kritische Rekonstruktion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2003, 103–125. Für die folgenden Überlegungen vgl. auch HERBST, Jan-Hendrik: The-
ologie in gefährdeter Zeit? Deutungsstreit um die Politische Theologie, in: fein-
schwarz.net (2018). Die Perspektive ist hier primär auf die deutschsprachige katholi-
sche Theologie beschränkt, da die Komplexität der Debatten ansonsten zu unübersicht-
lich ist. Allerdings wird auch auf Dorothee Sölle rekurriert (ENGEL, KREUTZER). Wich-
tige Perspektiven geraten durch diesen Fokus jedoch aus dem Blick, z. B. die Frage nach
einer Verhältnisbestimmung von Politischer Theologie und Public Theology.
2 Dies führt Norbert METTE in seinem Beitrag in diesem Band unter dem Stichwort
„Hausaufgabe 2“ näher aus.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_13
236 Hinführung III
Derzeit ist eine neue Aufmerksamkeit für die Anliegen der Politischen
Theologie unverkennbar.3 Viele Veranstaltungen und Veröffentlichungen
verpflichten sich momentan einer historisch orientierten Erinnerung an die
Politische Theologie. Ihr prominentester Vertreter, Johann B. Metz, ist
kürzlich 90 geworden. Es erscheint eine Gesamtausgabe seiner Schriften
und zu seinem Geburtstag ist ein umfassender Sammelband erschienen.4
Gleichzeitig lassen sich einige Vorhaben finden, die sich einer program-
matischen Aktualisierung widmen und dabei Kontextveränderungen wie
Verschiebungen im theoretischen Koordinatensystem aufnehmen. Drei
umfassende Monographien und ein programmatischer Sammelband kön-
nen dabei besonders hervorgehoben werden; mit diesen haben die vier Au-
toren, die für den Sammelband gewonnen werden konnten, die aktuelle
Diskussion vorangebracht: Es geht um Ulrich Engels „Politische Theolo-
gie nach der Postmoderne“ (2016), Ansgar Kreutzers „Politische Theolo-
gie für heute“ (2017), Michael Rammingers und Philipp Geitzhaus‘ „Gott
in Zeit – Zur Kritik der postpolitischen Theologie“ (2018), in dem Andreas
Hellgermann einen Grundlagenbeitrag veröffentlicht hat, sowie Jürgen
Kroths „Dein Reich komme: Studien zu einer politischen Theologie sakra-
mentaler Theorie und Praxis“ (2018).
3 Auch in den Politikwissenschaften lässt sich eine neue Aufmerksamkeit für Politische
Theologie beobachten (vgl. HIDALGO, Oliver: Politische Theologie. Beiträge zum un-
trennbaren Zusammenhang zwischen Religion und Politik, Wiesbaden: Springer VS
2018).
4 Vgl. JANßEN, Hans-Gerd / PRINZ, Julia D. E. / RAINER, Michael J. (Hg.): Theologie in
gefährdeter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist
Metz zum 90.Geburtstag, Münster: LIT 2018. Auch ein Kolloquium fand zu diesem
Anlass im Münsteraner Franz-Hitze-Haus statt.
Neuere Entwicklungen und Kontroversen der Politischen Theologie 237
Erstens wird in diesen versucht, einen Umgang damit zu finden, dass mit
Politischer Theologie heute ein Schein von Anachronismus verbunden ist.
Schließlich wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts eher die Frage gestellt:
„Ist die politische Theologie am Ende?“8 Denn es schien so, dass „[d]ie
große Stunde der politischen Theologie […] die späten 1960er Jahre und
das darauf folgende Jahrzehnt“9 waren. Die neueren Entwürfe, die in den
folgenden Beiträgen ihren Widerhall finden, müssen sich mit unterschied-
lichen Kontexttransformationen auseinandersetzen, die sowohl theoreti-
scher als auch gesellschaftlicher Art sind. Politische Theologie wird bei-
spielsweise nach der Postmoderne betrieben, also nach einer „Krise der
metaphysischen Philosophie“, dem Ausrufen einer „Skepsis gegenüber
den Metaerzählungen“10 und dem „Cultural Turn“11. Als ein Grund für den
Bedeutungsverlust der Politischen Theologie werden – vor dem Hinter-
grund dieser Transformationen – Probleme in ihrer Theoriearchitektur aus-
gemacht. Ulrich Engel oder Ansgar Kreutzer distanzieren sich beispiels-
weise stärker von vergangen Entwürfen, sie bemühen eine „(Neu-) Kontu-
rierungen politisch sensibler Theologie“12 und damit ihre kritische Revi-
sion. Kreutzer setzt sich beispielsweise intensiv mit dem unabgegoltenen
Potenzial, aber auch den „Schwachstellen Metzscher Theologie“ auseinan-
der, „die sich sowohl auf ihren konkreten Gesellschaftsbezug als auch auf
Teile ihrer Theorieanlage beziehen“13. Während sie die Frage „Zurück in
die Zukunft?“ also eher verhalten bejahen, findet sich beispielsweise bei
Hellgermann und Kroth eine deutlich affirmativere Bezugnahme auf Jo-
hann B. Metz, beide verorten sich in seiner Tradition einer Politischen The-
ologie aus Münster. Sie trauen Metz‘ Theologie immer noch zu, eine ‚ge-
fährliche Erinnerung‘ zu bewahren und mit ihm produktive Ungleichzei-
8 GRUBER, Franz: Ist die Politische Theologie am Ende? in: Quart Online 4 (2006), 7.
9 EBD.
10 Lyotard nach ENGEL, Ulrich: Politische Theologie nach der Postmoderne. Geisterge-
spräche mit Derrida & Co., Osterfildern: Matthias Grünewald 2016, 11.
11 KREUTZER, Ansgar: Politische Theologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen
eines theologischen Programms, Freiburg im Breisgau: Herder 2017, 95. Auch für En-
gel ist der Kulturbegriff bedeutsam (vgl. ENGEL 2016 [Anm. 11], 12).
12 KREUTZER 2017 [Anm. 12], 31.
13 EBD., 20.
Neuere Entwicklungen und Kontroversen der Politischen Theologie 239
Der dritte Problemkomplex betrifft die Frage, wie der Terminus ‚Zeichen
der Zeit‘ adäquat theologisch zu verstehen ist. Dass aktuelle Geschehnisse
in den folgenden Beiträgen einer Politischen Theologie eine wichtige Rolle
spielen, steht außer Frage: Reagiert wird auf den „autoritären Nationalra-
dikalismus“23 (ENGEL), auf die globale Erderwärmung (HELLGERMANN)
und den Wandel der Arbeitswelt (KREUTZER). Doch wie (stark) darf oder
muss eine ‚Theologie in Geschichte und Gesellschaft‘ von aktueller Ge-
sellschaftspolitik abstrahieren, wenn sie als Politische Theologie immer
nur indirekt und kritisch politisch sein kann? Und darüber hinaus ist unge-
klärt, welche Krisen, Phänomene und Praxisbereiche für Politische Theo-
logie loci theologici darstellen. Offen ist hier einerseits die Bedeutung der
theologischen Perspektive, die in den Beiträgen hauptsächlich über den be-
grifflichen Zugang präsent ist, in ‚Mystik‘ (KREUTZER), ‚Hoffnung‘ (EN-
GEL) oder ‚Unterbrechung‘ (HELLGERMANN). Andererseits ist ebenfalls
ungeklärt, nach welcher Kriteriologie die Auswahl der Krisen und Praxis-
orte begründet werden kann. Dass religiöse Bildung für Politische Theolo-
gie ein wichtiges Praxisfeld darstellt, wird zumindest festgestellt (ENGEL,
HELLGERMANN).24
Der kurze Blick auf derzeitige Debatten um die Politische Theologie zeigt,
dass es einen Deutungsstreit darüber gibt, wie diese theologische Denk-
form heute zu betreiben ist. Wie ungebrochen darf und sollte man an die
Entwürfe der 1960er und 1970er Jahre anschließen, wie stark gilt es sich
Ulrich Engel
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_14
244 Ulrich Engel
15.09.2019]. Im Folgenden werden Zitate aus der Erklärung mit der Sigle ‚FFE‘ und
mit Angabe der Nr. nachgewiesen.
2 METZ, Johann Baptist: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 1967–1997,
Mainz: Grünewald 1997, 65.
3 EBD., 66.
4 WITTGENSTEIN, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 31982, 57 (I, 67): „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als
durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die ver-
schiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs,
Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.“
Solidarische Subjektwerdung 245
Ich rekurriere zu diesem Zweck anfangs eines jeden Kapitels auf die im
Frankfurter Manifest formulierten Grundsätze und entwickle an diese an-
schließend meine theologischen Überlegungen entlang von vier zentralen
Stichworten der Erklärung: Krisen, Kontroversität, Machtkritik und Ermu-
tigung. Im Dialog mit Didier Eribon, Heinrich Detering, Michel Foucault
und Johann Baptist Metz suche ich zu zeigen, wie eine Politische Theolo-
gie, die als kritische Instanz sowohl Leidens- als auch Befreiungserinne-
rungen tradiert, neoliberale Selbstbezüglichkeiten aufdeckt und auf diese
Weise neue Hoffnungspotentiale erschließen sowie politische Spielräume
für solidarische Subjektwerdungsprozesse eröffnen kann.5
Die erste These der Frankfurter Erklärung diagnostiziert die aktuell viru-
lenten Probleme von Kapitalismus, Ökologie, Demokratie und Reproduk-
tion hinsichtlich ihres tiefgreifenden Veränderungspotentials für alle Ge-
genwarts- und Zukunftsfragen. „Eine an der Demokratisierung gesell-
schaftlicher Verhältnisse interessierte Politische Bildung stellt sich den
Umbrüchen und vielfältigen Krisen unserer Zeit.“6 Zu diesem Zweck gilt
es die vielgestaltigen Entfremdungs- wie Befreiungserfahrungen zu thema-
Theologisch relevant ist der erste Abschnitt, weil er im Sinne einer Gesell-
schaftsanalyse die „Zeichen der Zeit“7 einer kritischen Betrachtung unter-
zieht. Erst auf der Basis dieser Untersuchung kann nach Maßgabe der Pas-
toralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils
(1962–1965) eine theologische Interpretation eben dieser gesellschaftli-
chen Situation „im Licht des Evangeliums“ (GS 4) erfolgen.
Für meinen Kommentar8 zum ersten Grundsatz greife ich auf Didier Eri-
bon und seinen autobiografisch geprägten Roman „Retour à Reims“9 zu-
rück. In diesem Werk befasst sich Eribon mit seiner Herkunft aus dem
französischen Proletariat. Nach langen Jahren der Abwesenheit kehrt er in
seine Heimatstadt Reims zurück. Um diese Reise überhaupt antreten zu
können, musste erst sein Vater gestorben sein. Am Ziel begegnet er seiner
Mutter, mit der er Fotos aus seiner Kindheit und Jugend anschaut. Im Laufe
des Gesprächs, das frühere Ausgrenzungen sowie seine persönliche Eman-
zipationsgeschichte erinnert, fragt Eribon (sich) immer wieder, ob man
dem sozialen Erbe der Familie wirklich entkommen kann.
7 ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt die-
ser Zeit ‚Gaudium et spes‘, Nr. 4, zit. nach: HÜNERMANN, Peter / HILBERATH, Bernd
Jochen (Hg.): Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil.
Lateinisch – deutsch. Bd. 1: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Kon-
stitutionen, Dekrete, Erläuterungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Freiburg im
Breisgau: Herder 2004, 592–749. Im Folgenden werden Zitate aus der Pastoralkonsti-
tution im laufenden Text mit der Sigle ‚GS‘ und mit Angabe der Nr. nachgewiesen.
8 Zum Folgenden greife ich zurück auf ENGEL, Ulrich: Contra la idea de un cristianismo
identitario, in: Iglesia Viva no 278 (Abril–Junio 2019), 43–62.
9 ERIBON, Didier: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn,
Berlin: Suhrkamp 2016 (Original: Paris 2009).
Solidarische Subjektwerdung 247
Er thematisiert dies im Blick auf seine Existenz als schwuler Mann (was
ich hier nicht weiter ausführe10) wie auch im Blick auf seine soziale Her-
kunft: „Ich schämte mich dafür, dass ich mich meiner Mutter schämte […],
für das, was sie war, was meine Eltern waren, für den Ort, an dem sie leb-
ten, für ihre Art zu sprechen […]“11. Solcherart fortwirkende Abhängigkei-
ten wahrzunehmen und zu reflektieren, ist Voraussetzung jedweder kri-
tisch-emanzipatorischen Bildungsarbeit.
Die von Eribon markierte soziale Ordnung der ehemals links und inzwi-
schen rechtsextrem wählenden französischen Arbeiterklasse wie auch die
Ordnung des homophoben Umfelds sowie die damit einhergehende Infer-
iorisierung von Arbeiter*innen, Arbeitslosen, LGBTIQ-Menschen und an-
deren ausgegrenzten Subjekten – derzeit sind dies vor allem Flüchtende16
– markiert das politischen Feld nicht allein in Frankreich, sondern in ganz
Europa.
22 FFE 2.
23 FFE 2.
24 PEGIDA: Positionspapier, Dezember 2014, Pkt. 13, in: http://www.menschen-in-dres-
den.de/wp-content/uploads/2014/12/pegida-positionspapier.pdf [abgerufen am 15.09.
2019].
Solidarische Subjektwerdung 251
Ein solches neurechtes Stammesdenken hat mit dem Gott Abrahams und
dem Gott Jesu Christi nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Im Gegen-
teil: Wo AfD und Pegida „das Zusammenleben an die ausgrenzende Iden-
tität einer Einheit binden, die alles andere nicht nötig hat und bekämpft,
besteht […] die heilsame Wahrheit des Christentums darin, gerade ‚nicht
Ein solches Christentum, das sich seiner jüdischen Wurzel bewusst ist, be-
darf weder Mauern noch Stacheldraht, um die eigene Identität vor anderen
Völkern zu schützen. Papst Franziskus, der sich 2017 in einem Interview
mit der spanischen Zeitung El País35 in diesem Sinne äußerte, grenzt sich
30 SCHÜßLER, Michael: Nicht ohne die Anderen! Widerständiges zur identitären Umfor-
mung des Christentums, in: Lebendige Seelsorge 69 (2018), 392–399, 398.
31 EBD., 397.
32 Der hier leitende Gedanke des ‚nicht ohne‘ geht auf Michel de Certeau SJ zurück. Cer-
teaus zentrale, auf Martin Heideggers fundamentalontologische Formel vom ‚Nicht
ohne‘ des Seins rückbezogene „Kategorie nicht ohne spielt auf tausenderlei Weise ins
Funktionieren der christlichen Erfahrung hinein. So ist in der Organisation der Ge-
meinde niemand Christ ohne den anderen, und keine Gemeinde kann sich christlich
nennen, ohne dazu autorisiert zu sein durch einen notwendigen Bezug zum Anderen der
Geschichte und zu (gleichzeitig bestehenden oder künftigen) anderen Gruppen. Ge-
nauso ist Jesus in den Evangelien nicht ohne den Vater (der in ihm spricht) und nicht
ohne die Jünger (die andere und noch größere Werke als die seinen vollbringen wer-
den).“ DE CERTEAU, Michel: GlaubensSchwachheit, hrsg. von Luce Giard. Aus dem
Französischen von Michael Lauble (= ReligionsKulturen 2), Stuttgart: Kohlhammer
2009, 155–187, 177.
33 PITTL, Sebastian: Die politische Theologie der Neuen Rechten, in: Lebendige Seelsorge
69 (2018), 404–409, 408.
34 EBD., 409.
35 PAPA FRANCISCO: ‚El peligro en tiempos de crisis es buscar un salvador que nos
devuelva la identidad y nos defienda con muros‘, in: El País v. 22.1.2017 = https://el-
pais.com/internacional/2017/01/21/actualidad/1485022162_846725.html [abgerufen
am 15.09.2019].
Solidarische Subjektwerdung 253
gegen jedwede – wie er es nennt – „verquere Identität“36 ab, die auf cha-
rismatische Führerpersönlichkeiten und Ausgrenzung setzt. In diesem Zu-
sammenhang zog Franziskus in seinem Interview eine Parallele zur Situa-
tion 1933 in Deutschland, das sich damals in einer Krise befunden und sei-
ne Identität gesucht habe – und Hitler gewählt hat.
Einer der umkämpften oder bereits gekaperten Begriffe ist das schon er-
wähnte ‚christliche Abendland‘. Der Zusammenhang zwischen einem
Abendland-Begriff, der ausgrenzt, und einer menschenunwürdigen Politik
als Folge des ersten, hat viel mit dem ‚Wir‘ zu tun, das Vertreter*innen der
Neuen Rechten permanent beschwören. Auf der Herbstvollversammlung
2018 des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat der Göttinger Li-
teraturwissenschaftler Heinrich Detering einen aufschlussreichen Vortrag
zur Rhetorik der Neuen Rechten gehalten, insbesondere zur Rhetorik füh-
render Köpfe der Partei AfD.
Detering suchte in seinem Vortrag Antworten auf die Frage, „wer oder was
das ‚wir‘ ist, das in den Äußerungen der AfD wiederkehrend als ‚unser
Volk‘, ‚unser Vaterland‘, ‚unsere Kultur‘ erscheint“37 – und eben: ‚unser
christliches Abendland‘! In luzider Klarheit zeigt Detering auf, wie der
Thüringer AfD-Vorsitzende (‚Sprecher‘) Bernd Höcke Einwanderer, sog.
38 HÖCKE, Björn: [Vollständiges Transkript der Rede vom 17.1.2017 im Ballhaus Watzke,
Dresden, im Rahmen der Veranstaltungsreihe ‚Dresdner Gespräche‘, organisiert vom
Jugendverband der Alternative für Deutschland, Junge Alternative]. Quelle: Compact
TV, in: https://www.youtube.com/watch?v=sti51-c8abaw, 57:02–1:45:40 (~ 47 Minu-
ten), in: https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand
-eines-total-besiegten-volkes/19273518-all.html [abgerufen am 15.09.2019].
39 EBD.
40 MANEMANN, Jürgen: Pegida ist eine anti-politische Bewegung!, in: https://philosophie-
indebate.de/2052/indebate-pegida-ist-eine-anti-politische-bewegung/ [abgerufen am
15.09.2019]; Manemann rekurriert im zweiten Satz des Zitats auf Heidenreich, Felix:
Was ist und wie entsteht demokratische Identität?, in: WENDEL, Saskia (Hg.): Was ist
und wie entsteht demokratische Identität?, Göttingen 2014, 15–31.
41 DETERING 2018 [Anm. 37].
Solidarische Subjektwerdung 255
schicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen.
Die Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘.“42
Spiegelbildlich bezeugen die drei hier resümierten Vorwürfe, wie sich eine
kritische kirchlich-theologische Positionierung in die aktuellen politischen
Kontroversen und Kämpfe hineingibt. Für religiöse Bildungsprozesse er-
geben sich in Absetzung der skizzierten pseudochristlichen identitären
Muster drei Kriterien der Arbeit: Universalität (vs. Nationalismus), Alteri-
tätsoffenheit (vs. ethnische Verengung) und Nächstenliebe (vs. Unbarm-
herzigkeit). Für solch einen pädagogischen Ansatz bedarf es zudem im
Sinne Deterings einer immer wieder neuen Sensibilisierung im Blick auf
ausgrenzende Sprachpraktiken.
47 FFE 3.
48 Vgl. FFE 4: „Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen, Lernverhältnisse sind
nicht herrschaftsfrei, Politische Bildung legt diese Einbindung offen.“
49 FFE 3.
Solidarische Subjektwerdung 257
50 Zu Person und Werk im Überblick vgl. ERIBON Didier: Michel Foucault. Eine Biogra-
phie. Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 32008; KAMMLER, Clemens / PARR, Rolf / SCHNEIDER, Ulrich Johannes (Hg.):
Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2008. Zu den folgenden
Ausführungen vgl. auch ENGEL, Ulrich: Michel Foucault. ‚Überwachen und Strafen‘,
in: Wort und Antwort 54 (2013), 136–138.
51 HETZEL, Andreas: Michel Foucault: Überwachen und Strafen (1975), Der Wille zum
Wissen (1976), in: GRAMM, Gerhard / HETZEL, Andreas / LILIENTHAL, Matthias: Inter-
pretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stuttgart: Reclam 2001, 195–224, 197.
52 FOUCAULT, Michel: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft. Aus
dem Englischen von Claus-Diether Rath, in: VOGL, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Po-
sitionen einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main.: Suhrkamp 1994, 65–
93, 91.
53 EBD., 91.
54 DERS.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen
von Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 182012, 38.
55 HETZEL 2001 [Anm. 51], 199.
56 EBD., 199.
258 Ulrich Engel
dernen Gesellschaften unbesetzt. Sie ist offen, weil ihr jedweder legitimie-
rende Grund – Vernunft, Natur oder Gott – abhandengekommen ist.
Trotz der bei Foucault und Heller markierten leeren Mitte bleibt die Macht
wirkmächtig, insofern sie Wirklichkeit produziert und auf diese Weise
Subjekte hinsichtlich ihrer Identität und ihres Selbstverhältnisses konstitu-
iert: „Das Individuum ist also nicht das Gegenüber der Macht; es ist, wie
ich glaube, eine seiner engsten Wirkungen. Das Individuum ist eine Wir-
kung der Macht und gleichzeitig – oder genau insofern es eine ihrer Wir-
kungen ist – ihr verbindendes Element.“58 Damit ist impliziert, dass ein
Widerstand gegen Machtkonstellationen niemals außerhalb des Feldes der
Macht gedacht und praktiziert werden kann.
Von zentraler Bedeutung ist der Begriff der Pastoralmacht, die Foucault
als ein spezifisches Erbe des kirchlich institutionalisierten Christentums
57 HELLER, Agnes: Politik nach dem Tode Gottes, in: HUBER, Jörg / MÜLLER, Alois Martin
(Hg.): Instanzen / Perspektiven / Imaginationen (= Interventionen 4), Basel / Frankfurt
am Main: 1995, 75–94, 94.
58 FOUCAULT, Michel: Recht der Souveränität / Mechanismus der Disziplin. Aus dem Ita-
lienischen von Elke Wehr, in: DERS.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen
und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, 75–95, 83.
Solidarische Subjektwerdung 259
definiert. Als ἐκκλησία „vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige In-
dividuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt seien, anderen zu dienen,
und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder
Erzieher usw., sondern als Pastoren.“59 Ziel des Pastors ist, das individuelle
Heil anderer über Zeit und Raum hinweg zu sichern. Dazu setzt er seine
spezifische Macht vierfach ein:
1. Der Pastor befiehlt und muss zugleich in selbstloser Weise „bereit sein,
sich für das Leben und Heil der Herde zu opfern“60;
2. er ist zwar für die Gemeinde als Ganze da, sorgt sich aber vor allem
um jedes einzelne Individuum;
3. … und das lebenslang;
4. er muss zum Zwecke seiner spezifischen Machtausübung wissen, was
die Menschen bewegt und sucht deshalb ihre Seelen zu erforschen und
ihr Gewissen zu steuern.
Ich fasse die Analyse Foucaults zusammen und identifiziere vier Kennzei-
chen der Pastoralmacht. Zudem markiere ich vier biblisch- bzw. systema-
tisch-theologische Verknüpfungen. Die Gestalt der christlich-ekklesialen
Pastoralmacht ist demnach:
• uneigennützig (vgl. Joh 10,11b: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für
die Schafe.“),
• personzentriert (vgl. Mt 18,12f.: „Wenn jemand hundert Schafe hat
und eines von ihnen sich verirrt, lässt er dann nicht die neunundneun-
zig auf den Bergen zurück und sucht das verirrte?“),
• treu (vgl. im Lied vom Guten Hirten Ps 23,6a: „Lauter Güte und Huld
werden mir folgen mein Leben lang“),
59 FOUCAULT, Michel: Das Subjekt und die Macht, in: DREYFUS, Hubert L. / RABINOW,
Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem
Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault. Aus dem Amerikanischen
von Claus Rath und Ulrich Raulff, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, 241–261, 248.
60 EBD., 248.
260 Ulrich Engel
An die Stelle der Kirche sind neue Institutionen getreten: der Staat und die
Polizei (wobei Foucault letztere als eine „Regierungstechnologie“66 der
ersteren begreift). Beide Akteure der modernen Pastoralmacht resp. die in
61 Vgl. zum Hintergrund ENGEL, Ulrich: ‚Du aber, geh in deine Kammer, wenn du be-
test...‘ (Mt 6,6). Gebet und Bußbekenntnis im Zwielicht zwischen Öffentlichem und
Privatem, in: Wort und Antwort 43 (2002), 41–43.
62 FOUCAULT 1994 [Anm. 52], 85.
63 EBD., 80.
64 FOUCAULT 1987 [Anm. 59], 249.
65 EBD., 249.
66 FOUCAULT 1994 [Anm. 52], 85.
Solidarische Subjektwerdung 261
67 EBD., 81.
68 EBD., 81.
69 EBD., 93.
70 EBD., 89.
71 EBD., 90.
72 EBD., 92.
73 KANT, Immanuel: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleiner Schriften, hrsg. von Horst-
D. Brandt. Mit einer Einführung von Ernst Cassirer (= Philosophische Bibliothek 512),
Hamburg: Meiner 1999, 20–22.
74 Vgl. DESCARTES, René: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die
Grundlagen der Philosophie. Lateinisch – deutsch. Auf Grund der Ausgabe von Artur
Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe, durchgesehen von Hans Günter Zekl (= Philoso-
phische Bibliothek 250a), Hamburg: Meiner 31992, 45 (II, 3): „Und so komme ich […]
schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, sooft ich ihn
ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“
262 Ulrich Engel
phia betrieb, interessiert Foucault vor allem die Kritik der Welt, wie er sie
bei Nietzsche durchgeführt sah. „Das zentrale philosophische Problem ist
wohl das der Gegenwart und dessen, was wir in eben diesem Moment sind.
Wobei das Ziel heute weniger darin besteht, zu entdecken, als vielmehr
abzuweisen, was wir sind.“75 Wenn, wie oben ausgeführt, Individualisie-
rung und Totalisierung die unumgänglichen Konsequenzen der neuzeitli-
chen (Pastoral-) Machtbeziehungen sind, dann besteht die wesentliche
Aufgabe darin, neue Weisen und Gestalten von Subjektivität hervorzubrin-
gen. Diese Arbeit begreift Foucault als eine kritisch-überschreitende Praxis
der „Erzeugung des Menschen durch den Menschen“76, die darin besteht,
„daß die Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört haben,
sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu ver-
schieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie unterschiedlicher
Subjektivitäten zu konstituieren. Diese Serie von Subjektivitäten wird nie-
mals zu einem Ende kommen“77. Hier wird im Sinne des o.g. vierten Kenn-
zeichens der Pastoralmacht Wahrheit produziert – so vorläufig und prekär
sie immer auch sein mag – und durch diese ein „Raum von Möglichkei-
ten“78 eröffnet.
Theologisch anschlussfähig ist dieser Gedanke insofern, als dass die einst
von den Kirchen zur Anwendung gebrachte „Disziplinierungskategorie“79
der religiösen Biographiemacht, die das kirchlich-pastorale Leben in Gän-
80 Vgl. dazu die luzide Untersuchung von HÖLZL, Michael: Theorie vom guten Hirten.
Eine kurze Geschichte pastoralen Herrschaftswissens (= Theologie: Forschung und
Wissenschaft 59), Berlin: LIT 2017. Weiterhin s. STEINKAMP, Hermann: Die sanfte
Macht der Hirten. Die Bedeutung Michel Foucaults für die Praktische Theologie,
Mainz: Grünewald 1999; DERS.: Lange Schatten der Pastoralmacht. Theologisch-kriti-
sche Rückfragen (= Diakonik 13), Münster: LIT 2015. Vgl. ebenfalls das Interview von
Hermann STEINKAMP in diesem Band.
81 ALTMEYER 2017 [Anm. 6], 100.
82 Vgl. dazu BAUER, Christian: Versuch einer Klärung der Begriffe angesichts von Ohn-
macht und Gnadenlosigkeit heute, in: BUCHER, Rainer / KROCKAUER, Rainer (Hg.):
Macht und Gnade. Untersuchungen zu einem konstitutiven Spannungsfeld der Pastoral,
Münster: LIT 2005, 45–60 (Werkstatt Theologie. Praxisorientierte Studien und Dis-
kurse 4).
83 SANDER, Hans-Joachim: Gott im Zeichen der Macht – ein Diskurs über die Moderne
hinaus. Theologie nach Foucault, in: BAUER, Christian / HÖLZL, Michael (Hg.): Gottes
264 Ulrich Engel
Der fünfte Grundsatz der ‚Frankfurter Erklärung‘ vertritt die These, dass
Politische Bildung „eine ermutigende Lernumgebung“84 schafft, in der die
„konkreten Lebensbedingungen“85 mitsamt all ihren kognitiven und leib-
lich-emotionalen Aspekten in ihr Recht gesetzt werden. Ziel einer solchen
kritisch-emanzipatorischen Bildung ist die solidarische Subjektwerdung
einer/eines jeden und damit die individuell und kollektiv verantwortete
Veränderung von Gesellschaft insgesamt.86
und des Menschen Tod? Die Theologie vor der Herausforderung Michel Foucaults,
Mainz: Grünewald 2003, 105–125, 117.
84 FFE 5.
85 FFE 5.
86 Vgl. FFE 6: „Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft individuell und kol-
lektiv handelnd zu verändern.“
87 Vgl. LIS 2018 [Anm. 17], 125.
Solidarische Subjektwerdung 265
Theologisch ist die zuletzt gestellte Frage relevant, weil die Theologie ge-
nau dieses solidarische Moment in den Mittelpunkt ihres Subjektbegriffs
stellt. Um dies zu zeigen, folge ich der sog. neuen Politischen Theologie
von Johann Baptist Metz und seinem 2017 verstorbenen Mitstreiter Tiemo
R. Peters OP.88 Ich lese dazu frühe Texte von Metz.89
88 Zu Person und Werk des international leider wenig bekannten Theologen s. ENGEL,
Ulrich: ‚Contemplata aliis tradere‘. Zur politischen Theologie von Tiemo R. Peters OP
(1938–2017) – eine Recherche in dominikanischer Perspektive, in: PETERS, Tiemo R. /
NEUHAUS, Peter: Glauben ohne Geländer. Ein Gespräch am Rande des Lebens. Mit ei-
nem Geleitwort und einer theologischen Recherche von Ulrich Engel sowie einem Ge-
spräch zwischen Tiemo R. Peters und Karl Meyer, hrsg. von Thomas Eggensperger und
Ulrich Engel (= Dominikanische Quellen und Zeugnisse 21), Leipzig: Benno 2019, 96–
111; BRANTSCHEN, Johannes B. / ENGEL, Ulrich / MIČKOVIC, Ján B.: Arbeit an den
Grundlagen der neuen Politischen Theologie. Tiemo Rainer Peters, in: PETERS, Tiemo
Rainer / SENNER, Walter: Bewahren und Bewähren. Historische und politische Theolo-
gie nach Thomas von Aquin, hrsg. von Thomas Eggensperger, Ostfildern: Grünewald
2015, 129–143.
89 Im Folgenden greife ich auf einen Vortrag zurück, den ich auf Einladung des For-
schungsinstituts für Philosophie Hannover am 9.1.2019 in der Ev.-luth. Marktkirche
Hannover gehalten habe. Vgl. weiterhin ENGEL, Ulrich: Politische Theologie – politi-
sche Spiritualität. Standortbestimmung in Zeiten von Pegida, AfD und politischem
Anti-Monotheismus, in: MÖLLENBECK, Thomas / SCHULTE, Ludger (Hg.): Spiritualität.
Auf der Suche nach ihrem Ort in der Theologie, Münster: Aschendorff 2017, 187–199.
90 METZ, Johann Baptist: Verantwortung der Hoffnung, in: KELLNER, Erich, im Auftrag
des Präsidiums der PAULUS-GESELLSCHAFT (Hg.): Christliche Humanität und marxisti-
scher Humanismus (= Dokumente der Paulus-Gesellschaft 17), München: Paulus-Ge-
sellschaft 1966, 92–107.
266 Ulrich Engel
Der Text Verantwortung der Hoffnung ist nicht nur deshalb interessant,
weil Metz dort zum ersten Mal explizit – wenn auch eher „nebenbei“91 –
von einer „politischen Theologie“92 spricht. Im vorliegenden Zusammen-
hang ist mir vor allen Dingen wichtig, wie Metz seinem Hoffnungsbegriff
einen Zeitindex einschreibt und ihn auf diese Weise theologisch qualifi-
ziert.93 1966 charakterisiert Metz die christliche Hoffnung noch als escha-
tologisch; später wird er stattdessen die Begriffsfelder um die Vokabeln
apokalyptisch94 und messianisch95 herum bevorzugen. Auf jeden Fall gilt:
In der Konsequenz ihres eschatologisch-apokalyptisch-messianischen
Charakters ist die christliche Hoffnung weder „rein passive Erwartung“96
91
PETERS, Tiemo Rainer: Johann Baptist Metz. Theologie des vermißten Gottes (= Theo-
logische Profile), Mainz: Grünewald 1998, 41.
92 METZ 1966 [Anm. 90], 105. Vgl. dazu KLEDEN, Paulus Budi: Christologie in Fragmen-
ten. Die Rede von Jesus Christus im Spannungsfeld von Hoffnungs- und Leidensge-
schichte bei Johann Baptist Metz (= Religion – Geschichte – Gesellschaft 20), Münster:
LIT 2001, 35–36.
93 Mit Dorothee Sölle verstehe ich christliche Hoffnung nicht zuerst als „eine Leistung
[…] und auch nicht [als] eine Über-Ich-Forderung, der dann das Ich so gerade irgend-
wie nachhinkt, sondern zuallererst [als] ein Geschenk, ein Geschenk Gottes, des Gottes,
der in uns sein will und in uns handeln will und in uns und mit uns sein kann.“ (SÖLLE,
Dorothee: in: Worauf dürfen wir hoffen? Ein Gespräch zwischen Paulus Engelhardt,
Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky, hrsg. von Thomas Eggensperger und Ulrich
Engel, Mainz: Grünewald 2002, 47 [Einfügungen in eckigen Klammern: U. E.]).
94 Vgl. z. B. METZ, Johann Baptist: Kampf um die verlorene Zeit. Thesen zur Apokalyptik,
in: Evangelische Kommentare 11 (1978), 39–41.
95 Vgl. bspw. DERS.: Aufstand der Hoffnung. Das Synodendokument ‚Unsere Hoffnung‘
als Aufruf zur messianischen Erneuerung der Kirche. Referat auf dem Katholikentag
1982 in Düsseldorf, in: ZENTRALKOMITEE DER DEUTSCHEN KATHOLIKEN (Hg.): Kehrt
um und glaubt – erneuert die Welt. 87. Deutscher Katholikentag. Dokumentation (=
Deutscher Katholikentag 87.1), Paderborn: Bonifatius 1982, 389–399.
96 DERS. 1966 [Anm. 90], 103.
Solidarische Subjektwerdung 267
97 EBD., 99.
98 EBD., 98.
99 EBD., 99.
100 EBD., 96.
101 EBD.
102 EBD., 99. Vgl. dazu auch DERS.: Gott vor uns. Statt eines theologischen Arguments, in:
UNSELD, Siegfried (Hg.): Ernst Bloch zu Ehren. Beiträge zu seinem Werk, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1965, 227–241.
103 Vgl. METZ 1966 [Anm. 90], 97.
104 EBD., 96.
105 EBD., 97.
106 Vgl. EBD., 99; Metz bezieht sich dort (allerdings mit erheblich verderbter Zitation) auf
PANNENBERG, Wolfhart: Der Gott der Hoffnung, in: UNSELD 1965 [Anm. 102], 210–
225, 212.
268 Ulrich Engel
um „das Heil des Bundes, des Volkes, ‚der Vielen‘“107 geht, zielt auch die
christliche Hoffnungspraxis nicht allein auf das individuelle Heil des je
einzelnen Subjekts, sondern immer auch auf die „interpersonale und sozi-
ale Existenz“108. Anders formuliert: Die jüdisch-christliche Hoffnung auf
Subjektwerdung hat nicht allein und auch nicht zuerst auf das Heil des ein-
zelnen Individuums im Blick, sondern zielt per definitionem auf Subjekte,
die in solidarische Handlungszusammenhänge eingebunden sind. Deshalb
qualifiziert Metz seine eschatologisch gewendete109 Hoffnungstheologie
als politische Theologie: „Die Theologie der Welt ist […] vor allem poli-
tische Theologie. Die schöpferisch-militante Hoffnung, von der sie geleitet
ist, bezieht sich nämlich wesentlich auf die Welt als Gesellschaft und auf
die weltverändernden Kräfte in ihr.“110
Weil eine solche Hoffnung, die alles auf die in Gott kommende Zukunft
setzt, auch um ihre eigenen Gefährdungen der „Selbstentfremdung“111 und
der „Schuld“112 (und zwar in individueller und struktureller Hinsicht) weiß,
versucht sie „solchen Erfahrungen standzuhalten und gerade in ihnen die
schmerzliche Weite und Tiefe ihrer spes contra spem zu realisieren.“113 In
diesem Hoffen wider alle Hoffnung wird die christliche Existenz alteritäts-
Der Blick auf einen zweiten Text – Armut im Geiste117 (1961) – mag den
dargelegten Zusammenhang weiter vertiefen. Politisch ist die dort thema-
tisierte Armut im Geiste, weil sie nicht „verhältnislos“118 ist – was meint:
sie lässt sich nicht jenseits der Sphäre des Gesellschaftlichen realisieren.
Politisch ist sie auch, weil sie in und aus Spannungen lebt: „zwischen
Christentum und Kultur, Kirche und Welt, Glaube und Politik“119.
κένωσις (Entäußerung) in Welt und Geschichte hinein (vgl. Phil 2,7), und
in der „radikalen Menschwerdung“121 in seinem Sohn hinterließ Gott im
Kreuz – so Metz – „das Sakrament der Armut im Geiste, das Sakrament
wahren kompromißlosen Menschentums in einer […] schuldigen Welt“122.
Im Sinne dieser Formulierung – ‚Sakrament wahren kompromißlosen
Menschentums‘ – folgt aus dem „Geist der Menschwerdung Gottes“123 der
„Geist der Menschwerdung des Menschen“124. Anders formuliert: Aus
dem Theologumenon der Inkarnation ergibt sich die Forderung nach einer
Subjektwerdung aller. In einem solchen Geist der Menschwerdung des
Menschen zu leben bedeutet, zwischen Geist und Geistern, Gott und Göt-
tern, dem Zeit-Geist und dem Geist der Wahrheit (Joh 14,17) zu unter-
scheiden.125 Kritisches Denken bedarf solcher Unterscheidung.
nerorden, in: DERS.: Gott der Menschen. Wegmarken dominikanischer Theologie, Ost-
fildern: Grünewald 2010, 89–98.
121 METZ 2007 [Anm. 117], 24.
122 EBD., 24.
123 EBD., 18.
124 EBD., 27.
125 Vgl. die Thesen VI und VIII bei PETERS 1989 [Anm. 118], 101–102.
126 METZ, Johann Baptist: Passion und Passionen, in: DERS. 2007 [Anm. 117], 63–78, 69.
127 EBD., 69.
128 EBD., 68. Vgl. weiterführend MICKOVIC, Ján Branislav: Den Widerspruch denken. Das
Leidensverständnis in den Theologien von Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz (=
Freiburger theologische Studien 179), Freiburg im Breisgau: Herder 2014.
Solidarische Subjektwerdung 271
Damit bezieht sich Metz auf eine Einsicht der Väter des Zweiten Vatika-
nischen Konzils, die in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes program-
matisch formulierten: Der auferstandene Christus weckt „durch die Kraft
seines Geistes“ (GS 38) in den Menschen eine engagierte „Hoffnung“ (GS
38), mittels der „die Menschheitsfamilie sich bemüht, ihr eigenes Leben
menschlicher zu machen und die ganze Erde diesem Ziel zu unterwerfen.“
(GS 38). Politische Theologie hat diesem Ziel zuzuarbeiten, weil von der
gesellschaftlichen Umsetzung dieser passiosensiblen und alteritätsoffenen
Mitleidenschaft die Möglichkeit einer menschenwürdigen Politik über-
haupt abhängt!130 Denn die Tugend der Mitleidenschaft ist notwendige Be-
dingung der Möglichkeit von Demokratie.
Gerade das Erinnern anderen und fremden Leidens, so die Hoffnung der
neuen Politischen Theologie, bricht „möglicherweise unbeherrschbar ge-
wordene Verhältnisse zwischen Ethnien, Kulturen und Religionen auf. Es
sprengt den Teufelskreis der egoistischen Selbstbezüglichkeit und eröffnet
[neue] politische Spielräume, die letztlich der Versöhnung und Zukunfts-
gestaltung dienen.“131 In dieser Vision kommen Kritik und Emanzipation
in Politischer Bildung und Politischer Theologie überein. Denn (religiöse)
Bildung, die an dem hier nur knapp skizzierten Programm arbeitet, könnte
Hoffnungspotentiale neu erschließen und politische Spielräume für solida-
rische Subjektwerdungsprozesse eröffnen. Sowohl auf Seiten der Pädago-
gik als auch auf Seiten der Theologie bedarf es dazu Praxen, die Krisen
wahrnehmen, Kontroversen nicht scheuen, Machtkonstellationen hinter-
Ansgar Kreutzer
Abstract: Dorothee Sölles politische Theologie der Arbeit eignet sich hervorra-
gend als Beispiel einer kritisch-emanzipatorischen Theologie, das der Aktualisie-
rung lohnt. Der Artikel reinterpretiert Sölles Kritik an entfremdeter Arbeit vor dem
Hintergrund neuer Arbeitsformen, in deren Zentrum das Leitbild des „Arbeits-
kraftunternehmers“ steht. Gerade angesichts einer zunehmend entgrenzten, das
heißt auf problematische Weise Zugriff auf das ganze Leben gewinnenden Ar-
beitswelt, kann Sölles originelle Kopplung von Mystik und Politik ein dazu oppo-
sitionelles und damit humanisierendes Potenzial entfalten.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_15
274 Ansgar Kreutzer
die von der Aufklärung angestoßene kritische Reflexion auch noch auf sich
selbst beziehen muss, und somit auf ihre eigenen gesellschaftlich-politi-
schen Umstände und den damit mitgegebenen Interessenlagen:
„Wenn wir davon ausgehen, dass Aufklärung als der Prozess dieses Ausgehens
[aus der ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ (Kant), A. K.] unteilbar ist, das
heißt, dass sich bestimmte kritische Fähigkeiten des Menschen die Gegenstände
ihrer Anwendung nicht vorschreiben lassen, dann entstammt das politisch aufge-
klärte Bewusstsein demselben kritischen, rationalen Geist, dem auch theologische
Aufklärung sich verdankt.“1
1 SÖLLE, Dorothee: Politische Theologie, in: DIES.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Stuttgart:
Kreuz 2006, 35–115, 39.
2 Vgl. den biographischen Hinweis, der sich in der Einführung von Ursula Baltz-Otto zu
den Gesammelten Werken Sölles findet: „Ich erinnere mich genau an den Tag, als ich
den Ausdruck ‚Theologie der Befreiung‘ zum ersten Mal hörte. Es fiel mir wie Schup-
pen von den Augen; alles was mich am Terminus ‚Politische Theologie‘ gestört hatte
[v. a. seine Verwendung im autoritär-antidemokratischen Denken des Juristen Carl Sch-
mitt, A. K.], was mich unbefriedigt ließ, war mit einem Mal abgefallen. Die teologia de
liberacíon ist eines der großen Geschenke, die wir in der Ersten Welt von der Dritten
Welt erhalten.“ (Dorothee Sölle, zit. n. BALTZ-OTTO, Ursula: „Ich soll mich nicht ge-
wöhnen“. Eine Einführung in Dorothee Sölles Denken, in: SÖLLE 2006 [Anm. 1], 9–
33, 23–24) Die Befreiungstheologie hat sie u. a. als theologisches Paradigma herausge-
arbeitet und für ihre eigene Theologie fruchtbar gemacht in ihrer Einführung in die
Theologie: SÖLLE, Dorothee: Gott denken. Einführung in die Theologie, in: DIES.: Ge-
sammelte Werke, Bd. 9, Stuttgart: Kreuz 2009, 7–238.
3 Vgl. etwa BOSCHKI, Reinhold / REHBERGER, Claudia: Dorothee Sölle. Religiöse Poesie
und befreiende Theologie, in: BARWASSER, Carsten u. a.: Theologien der Gegenwart,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, 221–235; SAUER, Hanjo: Wie
Mystik als Widerstand 275
von Gott reden? Ansätze der Theologie im 20. Jahrhundert (= Linzer Philosophisch-
Theologische Beiträge 26), Frankfurt am Main: Peter Lang 2013, 477–497. Zur Bio-
graphie Sölles vgl. WIND, Renate: Dorothee Sölle – Rebellin und Mystikerin. Die Bio-
graphie, Stuttgart: Kreuz 22009. Zu Rezeptionen Sölles: KULHMANN, Helga: Eher eine
Kunst als eine Wissenschaft. Resonanzen der Theologie Dorothee Sölles, Stuttgart:
Kreuz 2007.
4 HARTLIEB, Elisabeth: Mystik nach dem „Tod Gottes“. Zum Vermächtnis der Politi-
schen Theologie Dorothee Sölles, in: Herder-Korrespondenz 65/6 (2011), 299–303,
300 (Hervorh. A. K.) mit Bezug zum Grundduktus der Gesammelten Werke Sölles.
5 Vgl. EBD., 300 Solche Konjunktionen finden sich leitmotivartig in den Charakteristiken
des Werkes von Sölle. So enthält beispielsweise der Artikel BOSCHKI / REHBERGER 2006
[Anm. 3] die programmatischen Überschriften „Biographie und Theologie“ und „Ge-
dichte und Gebete“.
6 HARTLIEB 2011 [Anm. 4], 300.
7 BALTZ-OTTO 2006 [Anm. 2], 17.
276 Ansgar Kreutzer
Im Zentrum von Sölles Theologie der Arbeit steht ihre Kritik an Entfrem-
dung. Sie ordnet diese ein in die klassische, etwa von Georg Wilhelm
Friedrich Hegel und Karl Marx profilierte philosophische Kritik an Ent-
fremdung als
„eine[r] historisch-gesellschaftliche[n] Gesamtsituation, in der die Beziehungen
zwischen Menschen als Verhältnisse zwischen Sachen, Dingen, erscheinen und
in der die durch die materielle und geistige Tätigkeit der Menschen hervorge-
brachten Produkte, gesellschaftlichen Verhältnisse, Institutionen und Ideologien
den Menschen als fremde beherrschende Mächte gegenübertreten“10.
10 Philosophisches Wörterbuch zit. n. SÖLLE 2007 [Anm. 9], 79. Das sozialphilosophisch
unterfütterte Konzept der Entfremdung scheint in der Gegenwart zur Identifizierung
und Kritik sozialer Problemlagen eine Renaissance zu erleben. Vgl. etwa den Entwurf:
JAEGGI, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems,
Berlin: Suhrkamp 2016 und den Überblick: HENNING, Christoph: Theorien der Ent-
fremdung. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2015; zur klassischen Entfremdungsthe-
orie bei Hegel und Marx vgl. EBD., 78–133.
278 Ansgar Kreutzer
will, also die Produkte, die er herstellt, die Bedingungen, unter denen er
arbeitet, die institutionellen Formen, in die Arbeit organisatorisch einge-
bunden ist, sowie die ideellen Vorstellungen von Arbeit, gewinnen eine
eigenständige Macht über die Arbeiter*innen, treten ihnen als „fremde be-
herrschende Mächte“ gegenüber. In diesem Sinne unterscheidet Sölle drei
Entfremdungsphänomene: Inhumane Arbeit entfremdet den Menschen zu-
nächst vom Produkt seiner Arbeit. Als kleines „Rädchen im Getriebe“ kann
er seinen Anteil am Arbeitsergebnis nicht mehr erkennen, geht seiner
Selbstwirksamkeit verlustig. Zudem haben die entfremdet Arbeitenden
keinen Zugriff auf die Produktionsbedingungen. Ihnen fehlen etwa die au-
tonome Gestaltung oder die Zeitsouveränität der Tätigkeit. Schließlich un-
tergräbt die massenhaft organisierte Arbeit der Industriegesellschaft mit
ihren utilitaristischen und konkurrenzbesetzten Sozialbeziehungen die So-
lidarität der Arbeiter*innen untereinander. Sölle fasst diese inhumanen
Wirkungen entfremdeter Arbeit zusammen:
„Der Arbeiter ist von seinem Produkt, das anderen gehört, entfremdet: er ist ent-
fremdet von seinen Produktivkräften, die von anderen beherrscht werden, und er
ist entfremdet von den Mitmenschen, weil der Arbeitsprozess in der kapitalisti-
schen Gesellschaft die Menschen gegeneinander ausspielt.“11
14 EBD., 57.
15 EBD., 86.
16 EBD.
17 EBD., 79.
280 Ansgar Kreutzer
dem Menschen antut: Sie hält uns gefangen in etwas, was kleiner ist, als wir sind
und sein können.“18
18 EBD., 81. Abb. 1: Bild aus: SÖLLE 1985 [Anm. 9], 77. Gerade weil Sölles politische
Theologie zugleich ästhetisch ausgerichtet ist, ist es schade, dass der Abdruck des Holz-
schnitts Tretmühle von Walter Habdank, der sich in der Erstausgabe von „Lieben und
arbeiten“ (EBD., 77) findet, bei der Neuherausgabe von „Lieben und arbeiten“ in den
Gesammelten Werken, Bd. 5 nicht aufgenommen wurde.
19 SÖLLE 2007 [Anm. 9], 83.
Mystik als Widerstand 281
Sölles Theologie der Arbeit ist charakteristisch für ihre kritische und eman-
zipative Theologie insgesamt: Sie korreliert konkrete Beobachtungen aus
der Arbeitswelt, die unter Rückgriff auf das sozialphilosophische Theorem
der Entfremdung diagnostiziert und kritisiert werden, mit ihrer theologi-
schen Interpretation von Schöpfung als „Mitschöpfung“. Sie durchsetzt
diese diskursiv-korrelative Theologie mit Formen der Kunst wie dem
Holzschnitt „Tretmühle“ von Walter Habdank. Und sie erdet Diskurs und
Kunst durch Bezug auf konkretes gesellschaftspolitisches und sozialkriti-
sches Engagement. Können Inhalt und Form dieser Theologie der Arbeit
heute noch, im Zeitalter des flexiblen und digitalen Kapitalismus, ein kri-
tisches und emanzipatives Potenzial entfalten?
20 EBD., 90.
21 Vgl. SAUER, Dieter: „Organisatorische Revolution.“ Umbrüche in der Arbeitswelt –
Ursachen, Auswirkungen und arbeitspolitische Antworten, Hamburg: VSA 2013.
282 Ansgar Kreutzer
22 Der inzwischen breit rezipierte Begriff des Arbeitskraftunternehmers wurde von den
Arbeitssoziologen G. Günter Voß und Hans J. Pongratz eingeführt. Vgl. den program-
matischen Artikel: DIES.: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware
Arbeitskraft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50/1 (1998),
131–158, und: DIES.: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten
Arbeitsformen, Berlin: edition sigma 2003. Eine theologische Auseinandersetzung mit
diesen Arbeitsformen und ihren anthropologischen Implikationen, auch aus gnadenthe-
ologischer Sicht, versuche ich in: KREUTZER, ANSGAR: Gnade und (Arbeits-) Gesell-
schaft. Zeitgenössische Gnadentheologie im sozialen Kontext, in: Theologie und
Glaube 92/2 (2017), 246–259.
23 SAUER 2013 [Anm. 21], 22. Vgl. analytisch und kritisch zu diesen Formen selbstorga-
nisierter Arbeit und ihren ambivalenten „Freiheitsräumen“ die Publikation mit dem be-
zeichnenden Titel: GLIßMANN, Wilfried / PETERS, Klaus: Mehr Druck durch mehr Frei-
heit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen, Hamburg: VSA
2001.
Mystik als Widerstand 283
Die neue selbstorganisierte Arbeit scheint kaum mehr etwas mit den von
Sölle kritisierten Entfremdungserfahrungen der Industriegesellschaft zu
tun haben: Arbeitnehmer*innen sind in ihrer Arbeitsorganisation selbstbe-
stimmt, verfügen – Handy und Laptop sei Dank – über weitgehende Zeit-
und Ortsouveränität. Dennoch erfüllt das Umschlagen von Fremd- in
Selbststeuerung, von Fremd- in Selbstausbeutung den klassischen Tatbe-
stand der Entfremdung, wenn auch in subtilerer Form: Der „Umstand, dass
Menschen bis zum Umfallen für andere arbeiten und dabei glauben, sie
wären ‚selbstmotiviert‘“ ist „Ausdruck einer Entfremdung von den eigenen
Belastungsgrenzen (und damit von der eigenen Leiblichkeit und Frei-
heit)“28. Hatte Sölle als ikonographischen Ausdruck der Entfremdung in
der Industriegesellschaft die Tretmühle gewählt, so gilt dieser neuen Form
der Selbst-Entfremdung unter dem Leitbild der Arbeitskraftunternehmer
das Hamsterrad als Sinnbild.29 Der Unterschied von Tretmühle und Hams-
terrad als Symbole jeweils anderer Formen von Entfremdung ist bezeich-
nend: Sieht sich der Mensch in der Tretmühle anonymen Mächten ausge-
liefert, die ihn zur fremdbestimmten Arbeit antreiben, so hält der Arbeits-
kraftunternehmer sein ihn überforderndes Hamsterrad stetig selbst am Lau-
fen – und kann ihm doch und gerade deswegen nicht entkommen:
„Und da habe ich das gemacht, was früher die Vorgesetzten gemacht haben. Ich
habe mich dazu gebracht, immer effektiver zu arbeiten. Ich habe mich selber unter
Druck gesetzt. Das ist natürlich die optimale Form, ist doch klar. Kein Vorgesetz-
ter kann mich so unter Druck setzen wie ich mich selber, das ist doch klar. Weiß
ich doch auch. Aber Sie kommen ja nicht raus aus diesem Prozess.“30
Dorothee Sölles Theologie der Arbeit, die aus der Hochzeit der Industrie-
gesellschaft stammt, kennt die spezifischen Selbstausbeutungs- und Selbst-
entfremdungsmechanismen der Arbeitskraftunternehmer noch nicht. Den-
noch hat sie in ihrem Werk sehr dezidiert ein Jenseits zur um sich greifen-
den Selbst-Vernutzung beschrieben: die mystische Erfahrung. In ihrem als
Hauptwerk apostrophierten Buch „Mystik und Widerstand“31 umkreist
Sölle mit vielen Quellen aus Philosophie, Religionsgeschichte und christ-
licher Theologie den Kern der mystischen Erfahrung und bestimmt als eine
„Basisformel“32 – mit dem mittelalterlichen Theologen und Mystiker
Meister Eckhart – das „ohne Warum“, das „sunder warumbe“: „Sein [Mei-
30 Das Zitat entstammt einem Interview aus dem Bereich Sachbearbeitung und wird von
SAUER 2013 [Anm. 21], 34 aufgeführt.
31 SÖLLE, Dorothee: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München: Piper
42001. Das Buch ist ebenso wie Sölles unvollendetes letztes Werk, „Mystik des Todes“,
aufgenommen in: SÖLLE, DOROTHEE: Gesammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart: Kreuz 2007.
BOSCHKI / REHBERGER 2006 [Anm. 3] sprechen von Mystik und Widerstand als von
„Dorothee Sölles spätem Hauptwerk“ (EBD., 221). Die erste Überschrift des Beitrags
lautet zugespitzt: „Mystik als Widerstand“, ein Titel, den Hanjo Sauer für seine Dar-
stellung der Theologie Sölles insgesamt übernimmt (SAUER 2013 [Anm. 3]). Das damit
betonte Widerstandspotenzial (zugleich Kritik- und Emanzipationspotenzial), das in der
mystischen Tradition (in Sölles Interpretation) per se steckt, lässt sich, so die Inspiration
dieses Beitrags, insbesondere unter den Bedingungen einer entgrenzten, auf die (Ver-)
Nutzung der Person als Ganzes abzielenden Erwerbsarbeit entfalten.
32 Vgl. SÖLLE 2001 [Anm. 31], 74.
286 Ansgar Kreutzer
ster Eckharts, A. K.] Begriff des ‚sunder warumbe‘ ist für mich ein unver-
zichtbarer Ausdruck des mystischen Daseins.“33 Wieder greift Sölle zur
Erläuterung ihres mystisch-theologischen Grundgedankens zur Ästhetik
und entfaltet den Eckhart’schen Impuls mit einem Gedicht des Romanti-
kers Angelus Silesius: „Die Ros ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“34 In ihrem grund-
sätzlich politisch-theologischen Zugriff auch auf mystische Traditionen
versteht Sölle diese Basisformel der Mystik ebenfals als Kritik an einer
dominierenden Zweckrationalität, wie sie nicht zuletzt für die entgrenzte
Arbeitsgesellschaft typisch ist.
„Was bedeutet dieses ‚ohne Warum‘, in dem wir leben sollen und in dem das
Leben selber lebt? Es ist die Abwesenheit von allem Zweck, aller Berechnung,
allem quid pro quo, allem Etwas für etwas Anderes, aller Herrschaft, die sich das
Leben zu Dienste macht. Wo immer wir zerrissen sind zwischen Sein und Han-
deln, Empfinden und Tun, da leben wir nicht ‚sunder warumbe‘, sondern berech-
nen Aufwand und Erfolg, kalkulieren Wahrscheinlichkeit und Nutzen und folgen
unbegriffenen Ängsten.“35
Sölle wendet die Mystik, die sie nicht als das Andere, sondern auch als
Ausdruck politischen Widerstands versteht, bewusst zeitkritisch:
„Ich sage das mit Blick auf die in der hochtechnologischen Welt massiv wach-
sende Zweckrationalität, die jedes grundlose Dasein verbietet: Wir essen be-
stimmte Speisen, um abzunehmen, gehen zum Tanzunterricht, um beweglich zu
bleiben, beten, um die Erfüllung bestimmter Wünsche von Gott zu erhalten. Die
Rose blüht keineswegs ‚ohn Warum‘ oder ‚weil sie blühet‘, sondern sie ist in
33 EBD., 87. Vgl. als instruktive Einführung in die christliche Mystik: WENDEL, Saskia:
Christliche Mystik. Eine Einführung, Kevelaer: topos plus 22011. Wendel rekurriert im
Unterkapitel „Die Einheit von vita activa und vita contemplativa“ auf Sölle (EBD., 107–
108).
34 Zit. n. SÖLLE, Dorothee: Die Ros ist ohn Warum. Eine mystische Annäherung an die
Frage nach dem Sinn des Lebens, in: DIES.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart: Kreuz
2006, 223–230, 228. Hier nimmt Sölle auch Bezug auf das „sunder warumbe“ Meister
Eckharts. Zum Eckhart’schen Motiv des „sunder warumbe“ bei Sölle vgl. auch SAUER
2013 [Anm. 3], 488–489.
35 SÖLLE 2001 [Anm. 31], 87.
Mystik als Widerstand 287
unserer Lebenswelt des Marktes eine Ware zum Verkauf wie alle anderen Gegen-
stände auch.“36
Blendet man von hier aus zurück auf die Folgen entgrenzter Arbeit im Zei-
chen der Arbeitskraftunternehmer, zeigt sich, dass die mystische Grund-
haltung, die sich in vielen Kulturformen und Religionen aufspüren lässt,
ein heilsames oppositionelles, emanzipatorisches Potenzial besitzt gegen
die pathologischen Folgen von Selbstrationalisierung und -ökonomisie-
rung: Gehört es zur Selbstrationalisierung, die ganze Lebensführung unter
das Diktat effektiver Nutzung von Fertigkeiten zu stellen, so bevorzugt die
mystische Haltung des „sunder warumbe“ in sich selbstzweckliche Tätig-
keiten, die Sölle z. B. in Formen des Staunens oder der Freude identifiziert:
„das Erstaunen; die intensive unbegründbare Freude sind solche oft be-
schriebenen Dimensionen der [mystischen, A. K.] Grunderfahrung“37.
Eine breit angelegte, wie Sölle sagt, „demokratisierte“38 Kultur der Mystik
könnte auch die Einseitigkeiten der Selbstökonomisierung, die Unterwer-
fung der Subjekte unter Effektivitätskategorien, korrigieren. In ihren sozu-
sagen subjekttheoretischen Reflexionen aus dem Geist der Mystik zu „Ich
und Ichlosigkeit“, in denen sie für ein Von-sich-lassen-Können plädiert,
formuliert Sölle eine zur Selbstökonomisierung unserer Tage kontrastive
Kritik reinen Erfolgsdenkens: „Das Ich loslassen heißt unter anderem, den
Zwang zum Erfolg hinter sich lassen.“39 Dieses von sich lassen können,
dieses im Bild der arbeitssoziologischen Diagnose „Aussteigen aus dem
36 EBD., 87.
37 EBD., 39.
38 Vgl. etwa EBD., 28: „Ich versuche hier, die mystische Erfahrung zu demokratisieren,
das heißt, sie nicht als eine elitäre Angelegenheit weniger Auserwählter zu verstehen
[…].“
39 EBD., 288.
288 Ansgar Kreutzer
40 EBD., 290.
41 EBD., 235.
42 EBD., 245. Die derzeit zwischen gewerkschaftlichen und kirchlichen Gruppen ge-
schmiedete „Allianz für den freien Sonntag“ stellt ein Beispiel solch zivilgesellschaft-
lichen Engagements gegen die Pathologien einer grenzenlosen Arbeitsgesellschaft dar.
Vgl. etwa Allianz für den freien Sonntag, Petition: Der Sonntag muss frei bleiben. Ar-
gumente für einen konsequenten Sonntagsschutz, o. J. (z. B.: www.kirche-und-arbeits-
welt.de/Downloads/Broschu%cc%88re_Sonntagspetition_Netz.pdf [abgerufen am 01.
02.2019]).
Mystik als Widerstand 289
Dorothee Sölle hat als einzige unter den Gründervätern und -müttern der
politischen Theologie eine konkrete Theologie der Arbeit vorgelegt. Ge-
rade ihre politisch-theologisch durchwirkte Auseinandersetzung mit den in
sich pluralen, religiösen wie auch nicht religiösen Traditionen der Mystik
enthält wichtige Inspirationen, um den heutigen Pathologien der entgrenz-
ten Arbeitsgesellschaft – mit ihrem Leitbild des sich potenziell selbst über-
fordernden und entfremdenden Arbeitskraftunternehmers – entgegenzutre-
ten, enthält wichtige Anstöße, um für eine humanisierende Lebens- und
Handlungslogik des „ohne warum“ einzutreten, die in selbstzwecklicher
Reflexion, Kontemplation, Kunst, Gebet oder Spiel ihren Ausdruck finden
kann. Angesichts des sich ausbreitenden Zwangs zu einer rein zweckratio-
nalen Lebensführung, der mit entgrenzter Erwerbsarbeit verbunden ist,
kann die von Sölle herausgearbeitete antiinstrumentalistische Grundhal-
tung der Mystik einen geradezu subversiven Charakter gewinnen, er-
scheint, um Sölles Formulierung aktualisierend zuzuspitzen, Mystik als
Widerstand.43
Aktualität besitzt aber nicht nur der inhaltliche Zugriff Sölles auf eine Kul-
tur der Mystik, als Widerstandspotenzial gegen die Pathologien entgrenz-
ter Arbeit, sondern ebenso ihre spezifische Form politischer Theologie, die
sie in ihrer Theologie der Arbeit zur Anwendung bringt. Ihre originelle
methodische Verbindung von diskursiv-korrelativer Theologie mit expres-
siver Ästhetik und mit politischem Engagement verdiente es, stilprägend
43 Sölle selbst formuliert (in ähnlicher Form, freilich nicht in dem hier evozierten spezifi-
schen Zusammenhang, sondern allgemein): „Mystik ist Widerstand.“ (So die Über-
schrift zum III. Teil von „Mystik und Widerstand“: SÖLLE 2001 [Anm. 31], 239).
290 Ansgar Kreutzer
44 Unter diesem Aspekt scheint mir die theologische Rezeption des französischen Sozio-
logen Pierre Bourdieu (1930–2002) für das Projekt einer gesellschaftskritisch und
emanzipatorisch ausgerichteten, politischen Theologie aussichtsreich, da dieser die so-
zialethisch-politisch relevanten Mechanismen von Macht und sozialer Exklusion mit
kulturellen und ästhetischen Dimensionen verbunden hat (paradigmatisch etwa in sei-
nem Hauptwerk: BOURDIEU, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftli-
chen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 91997). Zudem hat sich Bourdieu
ebenso als Wissenschaftler wie als öffentlicher und politisch engagierter Intellektueller
verstanden (vgl. zu Werk und Person Bourdieus etwa die Einführung: SCHWINGEL,
Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, Hamburg: Junius 72011). Zu theologischen
Rezeptionen Bourdieus vgl. KREUTZER, Ansgar / SANDER, Hans-Joachim (Hg.): Reli-
gion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie (= Quaes-
tiones disputatae 295), Freiburg im Breisgau: Herder 2018. Versuche einer von Bour-
dieu inspirierten aktualisierten und konkretisierten politisch ausgerichteten Theologie
habe ich unternommen in: KREUTZER, Ansgar: Politische Theologie für heute. Aktuali-
sierungen und Konkretionen eines theologischen Programms, Freiburg im Breisgau:
Herder 2017.
Vergangenheit und Aktualität der
politischen Theologie
Jürgen Kroth
Abstract: Um politische Theologie wird seit einiger Zeit wieder gerungen. Die
vermeintlich konsequente Weiterentwicklung der politischen Theologie – so die
These des Beitrags – hat die konsequente Auflösung der politischen Theologie zur
Folge. Angesichts dessen bleibt es fundamental, den Ansatz von Johann Baptist
Metz zu sichern und zugleich immer wieder zu aktualisieren. Es gilt auch, sich der
gesellschaftstheoretischen Diskursarchive zu versichern, die gleichfalls ihr pro-
duktives Potential noch längst nicht verloren haben. Dabei wird aber auch deut-
lich, dass sich Theologie, will sie wirklich Rede von Gott sein, nicht von den rea-
len Lebensbedingungen der Menschen dispensieren kann. Denn wo es um Gott
geht, geht es immer auch um den Menschen, um Gesellschaft und Politik.
Vorbemerkungen
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_16
292 Jürgen Kroth
Nur zur Einordnung seien hier einige Anmerkungen gemacht. Ein theolo-
gisches Denken in Konstellationen ist gerade der politischen Theologie ei-
gen, weil sie weniger in der Entfaltung einer theologischen Prinzipienlehre
besteht, sondern vor immer neuen Herausforderungen sich erhellend, er-
gründend, erklärend und ermutigend zu bewähren hat. Dabei geschieht das
natürlich nicht in einem luftleeren theologischen Raum, sondern in kriti-
scher Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskursarchiven1. Man
könnte sagen, dass politische Theologie immer kognitiv fremdbestimmt
ist: zum einen von der Wirklichkeit, über die sie natürlich nicht verfügen
kann, sondern die ihr vorgegeben ist; zum anderen aber durch andere Wis-
senschaften, mit denen diese theologische Denkform immer in einem sehr
anregenden und konstruktiven Dialog sich befindet.
Politische Theologie führt von vornherein ein intensives Gespräch mit an-
deren Wissenschaften, das von dem Gedanken geleitet ist, von den anderen
zu lernen selbst dort, wo man glaubt, ihnen intensiv widersprechen zu müs-
sen. Das betrifft nun nicht mehr nur die Philosophie als primäre Bezugs-
wissenschaft, sondern auch bis dahin in der Theologie eher schwach rezi-
pierte Diskurse mit der Ökonomie, der Soziologie, der kritischen Ge-
schichtswissenschaft, dem Marxismus, der Ideologiekritik, der Sprachthe-
orie, den Naturwissenschaften, bis hin zu den neueren Ansätzen der Neu-
rowissenschaften uvm.
Für die Theologie sind all diese Diskurse wichtig. Sie sind freilich geprägt
von einer starken Optionalität, die wiederum fundiert ist in biblischen Tra-
ditionen, die sich in der Geschichte der Kirche immer wieder – manchmal
auch gegen starke Widersacher – durchgehalten hat. An sie anzuschließen
und damit den Fragen nach gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen,
2 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen
Fundamentaltheologie, Mainz: Grünewald 51992, 10.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 295
Dabei aber kann und darf sie nicht bei den gesellschaftlichen Auswirkun-
gen und Phänomenen stehen bleiben, sondern hat nach den geschichtlich-
gesellschaftlichen Verhältnissen selbst zu fragen, die diese produzieren –
also nach dem geschichtlichen Stand der Produktionsverhältnisse. Hier
scheiden sich die Geister zwischen den Anliegen einer politischen Theolo-
gie der Befreiung und deren Revisionen in Richtung einer spät- oder post-
modernen Einbettung in den Status quo, zu denen ich jetzt komme.
Möglicherweise spiegelt sich auch eine Krise ganz anderer Art wider. Ist
die Flut an theologischen Kompendien, die in den letzten 20 Jahren den
theologischen Büchermarkt ‚bereicherten‘, ein möglicherweise letzter
Versuch, die Dinge der Theologie noch einmal in großen Systematiken
darzustellen? Wann immer es eng um die Theologie wurde, gab es genau
solche Versuche. Wenn diese Beobachtung stimmt, dann ist nicht alleine
die politische Theologie in der Krise, sondern die Theologie insgesamt.
Die Frage ist dann, welche Theologie auf die Herausforderungen der Zeit
am ehesten zu reagieren vermag. Hier wäre vielleicht mit der Zustimmung
296 Jürgen Kroth
von Kreutzer, Schüßler und Sander zu rechnen. Allerdings würden sie so-
fort einwenden, dass es die politische Theologie in Anlehnung an Johann
Baptist Metz nicht mehr ist. Sie habe ihre inspirierende Kraft verloren, sei
„fragwürdig geworden“3, es fehle ihr an Konkretheit4, ihr philosophisches
und gesellschaftstheoretisches Rüstzeug genüge den Anforderungen der
Zeit nicht mehr5, sie verbleibe im Rahmenparadigma der Moderne und sei
deshalb für postmodernistische Situationen nicht mehr anschlussfähig6,
uvm. Schauen wir uns das noch einen Moment etwas genauer an.
Wer auch immer zurzeit auf politische Theologie sich bezieht, macht dies
nicht ohne affirmative Hintergedanken. Jeder möchte die Metzsche politi-
sche Theologie beerben oder weiterführen. Allerdings sei diese nicht mehr
in der Lage, eine wirkliche Inspirationskraft für Theologie und Kirche zu
entfalten.7 Es brauche einen Neuansatz, eine Retractio, ein Update, vor al-
lem aber brauche es neue gesellschaftstheoretische Vermittlungen. Dabei
richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Vermittlung von politischer The-
ologie mit Kritischer Theorie.
Diese Vermittlung ist in der Tat stark, auch wenn der textbasierte Nach-
weis einer engen Verbundenheit bei Metz selbst gar nicht so leicht zu füh-
ren ist. Es bleibt aber richtig: Zentrale Positionen der Metzschen politi-
schen Theologie verdanken sich der intensiven, nie aber einfach nur affir-
mativen Auseinandersetzung mit Adorno, Horkheimer, Benjamin, Mar-
cuse, Habermas und dem etwas anders gelagerten Denken von Bloch. Ei-
nige wenige Stichworte mögen hier genügen, um den Beleg zu führen:
• Die anamnetische Verfasstheit der Vernunft wird in Auseinander-
setzung vor allem mit Adorno und Benjamin, in je spezieller Form
mit Horkheimer und Marcuse entfaltet;
• die Sensibilität für die Leidenden entspringt natürlich zentral bib-
lischen Traditionen, aber eben auch vor allem dem Gespräch mit
Adornos Negativer Dialektik;
• auch die Wiedergewinnung des apokalyptischen Impulses ent-
springt biblischen Traditionen, aber vertieft durch einen geschärf-
ten Blick in die Wirklichkeit als perennierender Katastrophe vor
allem im Gespräch mit Benjamin und Adorno;
• die frühe eschatologische Perspektive in der politischen Theologie
verdankt sich der Diskussion mit Ernst Bloch;
• der Synodentext ‚Unsere Hoffnung‘ klingt an vielen Stellen wie
eine theologische Rezeption der Negativen Dialektik;
• die Kritik der Fortschrittsideologie gewinnt Metz auf der Basis des
Benjaminschen und Adornoschen Denkens.
Das alles wäre umfassender darzustellen. Hier mögen indes diese kurzen
Hinweise genügen.
Es wird etwa bei Kreutzer die Kritische Theorie zwar rekonstruiert, zu-
gleich aber auch transformiert und damit ihres kritischen Stachels beraubt,
indem er die gesellschaftskritischen Intentionen in kulturtheoretische ver-
ändert. Kreutzer knüpft semantisch an die Überlegungen von Adorno und
Horkheimer an, entkernt sie aber gleichsam. Dort, wo Adorno und Hork-
298 Jürgen Kroth
heimer auf der Basis einer marxistisch grundgelegten Kritik der bestehen-
den Verhältnisse und deren ideologischen Verschleierungspotentiale ihre
originellen Beiträge zur Kulturindustrie vorlegen, reduziert Kreutzer dies,
indem er rein kulturtheoretisch, aber nicht -kritisch argumentiert. Damit
aber verliert auch sein Anliegen einer Reformulierung der politischen The-
ologie zugleich den Blick auf die makrostrukturellen Bedingungsfaktoren,
auf den gesellschaftlichen Praxisfeldern der Ökonomie, der Politik und der
Ideologie und gerät damit in die Fänge bürgerlicher Wissenschaft, die es
doch zu überwinden galt.
Gerade nicht das ungeteilte, von allen anderen geschiedene, Individuum ist
die Grundperspektive der Weihnachtstradition im Besonderen und der bi-
Es mag sein, dass das Weihnachtsbeispiel ein wenig zu einfach wirkt. Aber
vielleicht ist es auch symptomatisch für das Anliegen von Kreutzer und
seinen Weggefährten. Ernst Bloch vermerkte:
„Zu einem Kind, das im Stalle geboren, wird gebetet. Näher, niedriger, heimlicher
kann kein Blick in die Höhe umgebrochen werden. Zugleich ist der Stall wahr,
eine so geringe Herkunft des Stifters wird nicht erfunden. Sage macht keine
Elendsmalerei und sicher keine, die sich durch ein ganzes Leben fortsetzt. Der
Stall, der Zimmermannssohn, der Schwärmer unter kleinen Leuten, der Galgen
am Ende, das ist aus geschichtlichem Stoff, nicht aus dem goldenen, den die Sage
liebt.“10
Dass Theologie auf Praxis sich zu beziehen hat, hat sich zwar innerhalb
der praktischen Theologie breit durchgesetzt; im allgemeinen Verständnis
von Theologie ist das noch nicht durchgängig anerkannt. Insofern war der
Versuch einer praktischen Fundamentaltheologie von Anfang an ambitio-
niert und durchaus auch nicht Ausdruck des theologischen Mainstreams.
Die Frage allerdings war und ist immer: auf welche Praxis denn? Ist es der
Bezug auf den Selbstvollzugs der Kirche? Ist es das Handeln der Kirche in
9 PEUKERT, Helmut: Über die Zukunft von Bildung, in: Frankfurter Hefte. FH-extra 6, 39
(1984), 129–137, 131.
10 Vgl. BLOCH, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973,
1483.
300 Jürgen Kroth
der Welt? Ist es die Praxis der von der christlichen Tradition inspirierten,
inzwischen aber kirchlich dezentrierten Menschen? Sind es Handlungs-
vollzüge, die Karl Rahner als anonymes Christentum beschrieben hat?
Sind es gesellschaftspolitische und gesellschaftskritische Perspektiven, die
sich überhaupt nicht mehr christlichen Traditionen verpflichtet sehen, aber
dennoch in großer inhaltlicher Nähe dazu verstanden werden können? Pra-
xis, das ist leicht zu erkennen, ist ein plurale tantum.
Über Kant hinausgehend hat Metz mit seinem Postulat einer praktischen
Fundamentaltheologie nicht mehr nur das sittliche Handeln des Einzelnen
im Blick. Es geht auch darum, „eine Praxis beschreiben und anrufen zu
können, in der Christen die gesellschaftlichen (historischen, psychologi-
schen) Bedingungszusammenhänge durchstoßen – kurzum die Praxis des
Glaubens in der mystisch-politischen Nachfolge“11. Damit wird ein Fun-
dament gelegt, das allerdings in der heutigen Diskussion abermals unter-
laufen wird. Wie sehr Schüßler den Ansatz politischer Theologie missver-
steht wird deutlich, wenn er Metz referiert. Zunächst zitiert er völlig tref-
fend: „Sie (die Theologie; J.K.) pocht auf die intelligible Kraft der Praxis
selbst.“12 Er fährt aber dann fort: „Was passiert nun aber, wenn sich die
Bedingungen der Glaubenspraxis in Geschichte und Gesellschaft grundle-
gend verändern?“13 Doch bei Metz geht es gerade nicht um die Glaubens-
praxis, es sei denn, diese würde als gesellschaftskritische Praxis des Glau-
bens verstanden. Dieses Verständnis würde Schüßler sicherlich umgehend
zurückweisen.
11 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 90.
12 EBD., 63.
13 SCHÜßLER, Michael: Praktische Wende der Politischen Theologie? Von der schöpferi-
schen Kraft des Evangeliums im Risiko der Ereignisse, in: KLINGEN, Henning / ZEIL-
LINGER, Peter / HÖLZL, Michael: Extra ecclesiam ... Zur Institution und Kritik von Kir-
che. Jahrbuch Politische Theologie 6/7, Münster 2013, 286–307, 286.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 301
14 EBD., 304–305.
15 Vgl. METZ, Johann B.: Glauben in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 63.
16 Postmodernismus steht hier für die noch nicht hinreichend gelöste Frage, ob es sich
tatsächlich um einen Epochenwandel handelt, also einer wirklichen Ablösung der Mo-
derne, oder ob es sich um eine ideologische Ausblendung der Risikofaktoren der Mo-
derne, genauer gesagt: der kapitalistischen Gestalt der Moderne handelt, in der dann die
Fragen nach den Opfern der Geschichte nicht mehr zu fragen ist, weil dies ja wiederum
ein Einheitsmoment darstellen würde, das ja gerade von postmodernistischen Protago-
nisten aufgelöst wurde. Gerade gegen diese Tendenz hat politische Theologie – wenigs-
tens in der Folge von Johann B. Metz – immer darauf insistiert, der Auflösung der Gro-
ßen Erzählung allein deshalb schon widerstehen zu müssen, weil ohne sie die Rettung
der Verlorenen kaum noch hinreichend gedacht und ihre Rettung i. S. von Helmut Peu-
kert praktisch behauptet werden kann. Ob und inwiefern es einen postmodernen Mar-
xismus geben kann, ist hier nicht zu diskutieren.
302 Jürgen Kroth
Rainer Peters17 meinte, und darüber hinaus auch noch das Ganze verändern
wollen. Angesichts des Zustands dieser Welt sind, so glaube ich, nicht die-
jenigen begründungspflichtig, die ihn verändern wollen, sondern jene, die
es als „systemtheoretische Lektion“ ansehen „auf das Pathos der Totalver-
änderung [zu] verzichten“18.
Dieser Gott ist der Maßstab, das Bestehende als insuffizient zu qualifizie-
ren. Es ist das Reich Gottes, vor dessen Hintergrund das Antireich in aller
17 Vgl. PETERS, Tiemo Rainer: Mehr als das Ganze. Nachdenken über Gott an den Gren-
zen der Moderne, Ostfildern: Grünewald 22016.
18 SCHÜßLER, Michael, „Updates“ [Anm. 4], 35.
19 PETERS, Tiemo Rainer: Auftakt: Wozu treiben wir Theologie?, in: JANßEN, Hans-Gerd
/ PRINZ, Julia D. E. / RAINER, Michael J. (Hg.): Theologie in gefährdeter Zeit. Stich-
worte von nahen und fernen Weggefährten für Johann B. Metz zum 90. Geburtstag,
Münster: LIT 2018, 10–11, 10.
20 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 63.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 303
Schärfe sichtbar wird. Es ist Gott, in dessen Nachfolge wir gerufen sind.
Allerdings nicht in reiner Glaubenspraxis, sondern in der Praxis des Rei-
ches Gottes. „Die Praxis der Nachfolge gehört konstitutiv in die Christolo-
gie [...]. Für jede Christologie gilt, daß Christus immer so gedacht werden
muß, daß er nie nur gedacht ist.“21 Aber umgekehrt gilt auch, dass Gott
oder Christus erst in der Praxis der Nachfolge erkannt werden kann. „Nur
ihm nachfolgend wissen Christen, auf wen sie sich eingelassen haben und
wer sie rettet.“22 Es zeigt sich hier also ein theologisches Politikverständ-
nis. Wenn es um Gott und den Menschen geht und wenn es dabei immer
auch um die Verhältnisse geht, in denen Menschen leben und unter denen
sie leiden, dann kann es keinen Bereich geben, der nicht davon umfangen
ist. Geht es um Gott, geht es um Politik.
Ganz anders etwa bei Kreutzer und Schüßler. Bei ihnen ist der Hauptbe-
zugspunkt die Systemtheorie von Niklas Luhmann und mit ihm um die
Differenzierung in verschiedene gesellschaftliche Subsysteme. „Sie (die
Politik; J.K.) hat keinen exklusiven Ort mehr in der Gesellschaft. Als ein
gesellschaftliches Funktionssystem ist sie denselben Kontingenzen, Rela-
tivierungsprozessen und Ohnmachtserfahrungen ausgesetzt wie die Reli-
gion. [...] Gewinner dieser Entwicklung ist die zunehmend brutale Dyna-
mik wirtschaftlicher Prozesse.“23
Das Problem besteht nun darin, sich in diese vermeintliche Situation ein-
und mit ihr abzufinden. Systemtheoretisch mag hier tatsächlich kein Aus-
weg möglich sein. Wer aber befindet eigentlich über die Theologie? Die
Systemtheorie? Wenn es mit Gott um das Ganze der Wirklichkeit geht,
wenn es um die Hoffnung auf die Möglichkeit der Rettung der Lebenden
21 EBD., 64.
22 EBD.
23 SCHÜßLER, Michael: „Updates“ [Anm. 4], 23–24.
304 Jürgen Kroth
wie der Toten geht, und wenn der Referenzrahmen der Systemtheorie ge-
rade dies gar nicht mehr denken lässt; braucht es dann nicht vielleicht einen
anderen Referenzrahmen?
Sowohl bei Schüßler wie auch bei Kreutzer scheint eine hohe Bereitschaft
vorzuliegen, sich den bestehenden Verhältnissen zu beugen. Dabei ist der
Versuch, unter den Bedingungen der Postmoderne und der damit verbun-
denen Auflösung der großen Erzählungen immer noch Theologie zu trei-
ben durchaus ehrenwert. Nur scheint mir der Preis dafür zu hoch.
Was ist der Maßstab der Aktualität von politischer Theologie? Ist es die
Anzahl an Beiträgen in theologischen Fachpublikationen? Sind es Sympo-
sien? Ist es die Wahrnehmung ihrer Position in der Öffentlichkeit? Ist es
die Aufnahme ihrer Überlegungen in die kirchlichen Binnendiskussionen
oder gar Strukturdebatten? Natürlich können das Indikatoren sein, aber ob
damit wirklich Aktualität indiziert ist, wäre dann eher eine Frage nach ihrer
Relevanz. Hier wird ein anderes Aktualitätsverständnis zugrunde gelegt.
Es geht nämlich um die Frage, ob und inwiefern Theologie im Allgemei-
nen und politische Theologie im Besonderen in der Lage ist, aktuelle Ten-
denzen der Gesellschaft nicht nur wahrzunehmen, sondern das Rüstzeug
für eine Beurteilung dieser Tendenzen besitzt und Handlungsperspektiven
angeben kann, in diese gesellschaftlichen Entwicklungen einzugreifen – in
welcher Form auch immer.
Kirche ebenso verankert wie auf die Gestaltung einer Zukunft verpflichtet
ist, in der Leben in Fülle für alle möglich ist.
Schon Ernst Bloch ahnte, dass hier eine tiefe Schwierigkeit besteht. Ob-
gleich er von der Hoffnung als einem Prinzip ausging, schien es dennoch
nötig, das Hoffen zu lernen. Er beginnt daher das Vorwort zum Prinzip
Hoffnung mit gewichtigen Fragen und Problemlagen:
„Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was
erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen
nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so
ist er Furcht. [...] Es kommt wieder darauf an, das Hoffen zu lernen.“24
24 BLOCH, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 1.
306 Jürgen Kroth
Nun ließe sich möglicherweise einwenden, das sei ja bei Metz so nicht zu
finden. Das ist richtig, weil Metz sich immer davor scheute, zu eindeutig
auf unmittelbar marxistische Protagonist*innen zurückzugreifen. Aber es
folgt konsequent dem Denkansatz der politischen Theologie bei Metz
selbst, weil Metz trotz dieser Vorbehalte ein deutliches Gespür für die vor
allem ökonomische Überdetermination aller gesellschaftlicher Verhält-
nisse hatte.
Politische Theologie hat darüber hinaus von Anbeginn an sich den Zeichen
der Zeit gestellt. Der Vorwurf von Hans-Joachim Sander, Metz befasse
sich nicht mit den Zeichen der Zeit, sondern mit ihrer geistigen Signatur26,
geht daher grundlegend fehl. Auch sein Urteil, das Konzil verstehe die Zei-
chen der Zeit sozial und politisch, Metz hingegen publizistisch27, ist nicht
triftig. Politische Theologie distanziert sich gerade nicht von dieser Welt28,
sondern versucht ihre inneren Tendenzen zu beschreiben, zu bewerten und
zu verändern. Das soll an einem gesellschaftlichen Problem verdeutlicht
werden.
25 Vgl. ALTHUSSER, Louis: Für Marx, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974; DERS. / BALI-
BAR, Etienne: Das Kapital lesen, Hamburg: Rowohlt 1972.
26 Vgl. SANDER, Hans Joachim: Symptom ‚Gotteskrise‘ [Anm. 3], 53.
27 Vgl. EBD.
28 Vgl. EBD.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 307
Hellsichtig markierte Metz damit eine Entwicklung, die sich schon seit den
1990er Jahren abzeichnete, die nun aber mit Papst Franziskus eine Öffent-
lichkeit erhalten hat, die viele aufgeschreckt und irritiert hat. Papst Fran-
ziskus sprach in Evangelii gaudium von einer neuen, erschreckenden Ten-
denz: „Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und
der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: (...) Die Ausgeschlossenen
sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘“. (EG 53) Viele warfen
dem Papst anschließend ökonomische Unkenntnis ebenso vor wie ideolo-
gische Einseitigkeit. Aber stimmt das?
Schon 1990 verwies der Ökonom und Theologe Franz Josef Hinkelam-
mert31 darauf, dass unter den Bedingungen monetaristischer Ökonomie im-
mer mehr Menschen aus den Marktmechanismen ausgeschlossen seien, in-
sofern ihre Arbeitskraft nicht mehr nachgefragt werde und sie auch selbst
infolge ihrer Armut nicht mehr Güter und Dienstleistungen nachfragen
könnten. Sie seien damit vom ökonomischen Austauschprozess ausge-
schlossen. Sie würden daher auch nicht mehr ausgebeutet, da Ausbeutung
immer voraussetzt, am Marktgeschehen zu partizipieren. Wer aber dies
nicht mehr kann, wird auch nicht mehr ausgebeutet. Es entsteht damit das
abscheuliche Privileg, ausgebeutet zu werden. Verschärfend findet aber
29 METZ, Johann B.: Glauben in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 220.
30 EBD.
31 Vgl. HINKELAMMERT, Franz Josef: Solidarität als Parteinahme gegen Unterdrückung
und Ausbeutung, in: ChristInnen für den Sozialismus (Hg.): Geschichte – Theorie –
Praxisberichte, Fünfte, neu bearbeitete Auflage, Münster 1992, 80–88.
308 Jürgen Kroth
32 Dies reflektiert einen grundlegenden Wandel im ökonomischen Diskurs vor allem ver-
treten durch den sog. Monetarismus von Friedrich-August Hayek und Milton Friedman.
In „Kapitalismus und Freiheit“ unterwirft Friedman alle menschlichen Beziehungen
den Markbeziehungen. Auch alle Güter jenseits der Produktionsprozesse werden der
Marklogik unterworfen. Es darf seiner Logik folgend keine Beziehungen geben, die
nicht auf irgendeine Art auch Marktbeziehungen sind. Hayek, auf dessen grundlegen-
den Arbeiten ja auch die Überlegungen von Friedman basieren, hat dies dann auch re-
lativ deutlich formuliert. Für eine Welt, so schreibt er in der Wirtschaftswoche vom 6.
März 1981, „die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung
(...) unlösbar. Wenn wir garantieren, daß jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal
geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu
erfüllen. Gegen die Überbevölkerung gibt es nur eine Bremse, nämlich daß sich nur die
Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.“ Und in einem
Interview El Mercurio vom 19. April 1981 heißt es: „Eine freie Gesellschaft braucht
auch eine bestimmte Moral, die sich letztlich auf die Erhaltung des Lebens beschränkt:
nicht auf die Erhaltung allen Lebens, denn es könnte notwendig werden, das eine oder
andere individuelle Leben zu opfern zugunsten der Rettung einer größeren Anzahl an-
deren Lebens. Die einzig gültigen moralischen Maßstäbe für die Kalkulation des Le-
bens können daher nur sein: das Privateigentum und der Vertrag.“
33 Vgl. die gründlichen Analysen von HINKELAMMERT, Franz Josef: Die ideologischen
Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus, Fribourg / Münster 1985; DERS.:
Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen
der modernen Gesellschaftstheorie, Luzern / Mainz: Grünewald 1994.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 309
Johann Baptist Metz wies mit Recht darauf hin, dass die bloße Solidarität
unter Gleichen den Anspruch wahrer Solidarität verfehle und der Tausch-
logik folge. Aber auch anspruchsvollere Konzepte werden mit dem Ver-
dacht belegt, dass Solidarität letztlich von der „transzendentale(n) Simula-
310 Jürgen Kroth
tion der Gleichrangigkeit der Partner“34 geprägt sei. Dies betreffe sogar die
auf reziproken Anerkennungsverhältnissen basierenden Ansätze von Ha-
bermas und Apel.
Die Zukunft der politischen Theologie ist kein Selbstzweck. Es ist nicht
entscheidend, ob eine bestimmte theologische Denkform eine Zukunft hat
oder nicht. Was es aber braucht, ist ein theologisches Denken, das in der
Lage ist, auf die zentralen Herausforderungen in Geschichte und Gesell-
schaft zu reagieren. Die politische Theologie war und ist eine solche theo-
logische Denkform. Sie will kein System sein, aber systematisch in die be-
stehenden Systeme eingreifen, sie will korrektivisch an der bestimmten
Negation des herrschenden Unrechts mitarbeiten. Es braucht dazu eine ge-
naue Wahrnehmung dessen, was ist. Es braucht Erinnerung, die Maßstäbe
zur Beurteilung bereitstellt. Es braucht die praktische Antizipation einer
34 METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft [Anm. 2], 223.
Vergangenheit und Aktualität der politischen Theologie 311
Autorenangaben: Prof. Dr. Jürgen Kroth, nach Promotion bei J. B. Metz und Ha-
bilitation in Pastoraltheologie Honorarprofessor für Religionspädagogik und Ka-
techetik an der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar, Privatdozent
für Pastoraltheologie an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität
Regensburg und Religionslehrer an der Ludwig-Erhard-Schule Neuwied.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie:
Fridays for Future, die Politische Theologie
und die Schule
Abstract: Die Diskussion um die Politische Theologie ist wieder lebendiger ge-
worden. Damit verbunden wird schnell die häufig gehörte Kritik, Politische Theo-
logie sei zu wenig konkret, empirisch nicht gesättigt und deshalb wenig aktuell.
Dem will der Text widersprechen und zwar durch eine Bezugnahme auf ‚Fridays
for Future‘. Allein daraus ergibt sich schnell eine Verbindung zur Schule oder zu-
mindest zu Fragen der Bildung. Ein bedeutsamer Begriff in diesem Zusammen-
hang ist ‚Unterbrechung‘. Dieser kann zur Schlüsselkategorie einer Religionspä-
dagogik werden, die ihre zentrale Aufgabe nicht darin sieht, den gesellschaftlichen
Status quo aufrechtzuerhalten.
1 Politische Theologie, das ist nicht nur die Theologie von Johann Baptist Metz, sondern
auch die seiner Schüler*innen (vor allem Timo R. Peters, Helmut Peukert und Kuno
Füssel) und in neuester Zeit des Instituts für Theologie und Politik in Münster (vgl.
dazu das Interview mit Norbert METTE in diese Band). In dem vorliegenden kurzen
Text ist vor allem Metz der Bezugspunkt.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_17
314 Andreas Hellgermann
logie nicht empirisch gesättigt daherkommt. Was will damit gesagt wer-
den? Hat die Theologie die Aufgabe, die Welt abzuzählen? Und hat die
Religionspädagogik die Aufgabe, unseren Unterricht abzuzählen, zu evalu-
ieren, wie das auf Neudeutsch heißt? Das Problem ist doch nicht, dass wir
alles richtig zählen. Gerade im Religionsunterricht muss es darum gehen,
den Schleier des Zählens zu durchschauen und herunterzureißen, damit wir
besser sehen können, was los ist. Und dazu trägt Politische Theologie mehr
denn je bei. Ihre Aktualisierung geschieht genau in dem Moment, in dem
sie das tut: sehen und verstehen, was los ist. Davon ist Politische Theologie
durchtränkt – noch immer, aber eben nicht auf die Weise, wie manche Kri-
tiker*innen der Politischen Theologie das gerne hätten.2
2 So zum Beispiel Ansgar Kreutzer: „So hat sich wiederholt eine fehlende Konkretheit
der Politischen Theologie gezeigt.” Oder: „Methodisch ist der Vorgehensweise von
Metz eine gewisse Empirieferne zu konstatieren.” (KREUTZER, Ansgar: Politische The-
ologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen eines theologischen Programms,
Freiburg: Herder 2017, 56 bzw. 57).
3 Diese beiden Punkte sind insofern relevant, als es momentan (post-) politische Theolo-
gien gibt, die das Politische einer Theologie in ihrer Anwendung ausmachen und durch
den Rückgriff auf die Systemtheorie geprägt sind. Genauer hierzu: GEITZHAUS, Philipp
/ RAMMINGER, Michael (Hg.): Gott in Zeit. Zur Kritik der postpolitischen Theologie,
Münster: ITP-Kompass 2018. Darin zur Auseinandersetzung mit der Systemtheorie aus
einer Perspektive der Politischen Theologie: HELLGERMANN, Andreas: Welt unterbre-
chen. „Werdet nicht gleichgestalt dieser Welt.“ (Röm 12,2), 67–118.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 315
4 Dieser Text ist aktuell. Er ist im Juli 2019 abgeschlossen worden, also mitten in den
Auseinandersetzungen um die sich noch weiter zuspitzende Klimakatastrophe. Ein letz-
ter Durchgang durch den Text findet in dem Moment statt, in dem Brände ungeahnten
Ausmaßes in der Arktis auftreten, Klimaforscher annehmen, dass Rückkopplungsef-
fekte (Auftauen des Permafrostbodens und damit verbundenes Austreten von Methan-
gas in die Erdatmosphäre) wohl viel schneller auftreten werden, als bislang angenom-
men. Die Frage in dieser Situation ist auch, ob die Fridays-for-Future-Schüler*innen so
wie die ganze Klimagerechtigkeitsbewegung auf dem Moment der Unterbrechung be-
harren oder sich durch das Ausarbeiten pragmatisch-realistischer Forderungen und die
Rücknahme des Moments des zivilen Ungehorsams durch Schulstreik und Baggerbe-
setzungen von den Vertreter*innen des Status quo vereinnahmen lassen werden. Dar-
über hinaus ist diese Aktualität auch ein Beleg sowohl für die Notwendigkeit als auch
die Brauchbarkeit Politischer Theologie, für die ein systemtheoretisches Update weder
politisch noch theologisch weiterführend ist.
5 Der Begriff Klimawandel ist angesichts der real stattfindenden Katastrophe ein Euphe-
mismus, insofern die Anführungszeichen. In den offiziellen Verlautbarungen zum Bei-
spiel der Bundesregierung ist es der übliche Begriff.
316 Andreas Hellgermann
Ich habe dieses Szenario polemisch dargestellt und glaube doch auch, dass
es besser ist das zu tun, als nichts zu tun. Vielleicht kommen in diesem
Zusammenhang durchaus kritische Diskussionen auf. Aber zugleich wird
an diesem Beispiel deutlich, warum das mit einer Politischen Theologie
nicht zu machen ist. Weder lässt sie sich in einen ausdifferenzierten Bereich
der Religion abschieben, noch ist sie in der dargestellten Weise anwendbar.
Vielmehr steht sie für einen Bruch mit genau dem, was hier geschildert ist.
Und sie steht für diesen Bruch, so meine These – in emanzipatorischer Ab-
sicht.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 317
Worin bestünde nun der positive Gehalt der Politischen Theologie? Vor ein
paar Jahren hatte ich Johann Baptist Metz noch einmal zu einer Fortbildung
für Religionslehrer*innen im Bistum Münster eingeladen und die erste Fra-
ge war die Frage danach, was denn das Politische der Politischen Theologie
ausmache, was ihr Spezifisches sei? Seine Antwort war einfach und klar
Es ist kein Zufall, dass hier Freire ins Spiel gebracht wird. In Verbindung
mit der Politischen Theologie sollte er einer der wichtigsten Gesprächs-
partner sein, Emanzipation religionspädagogisch zu buchstabieren. Mit
Metz zusammen verweist er auf die Bedeutung des Begriffs des Poli-
tischen. Je nachdem wie dieser Begriff ausformuliert wird, wird er zu ei-
nem notwendigen Begriff emanzipatorischer Bildung. In aller Kürze ließe
sich Folgendes sagen: Es gibt Vieles, was wir in unserem Alltag Politik
nennen. Das eigentlich Politische zielt in seinem Kern auf etwas anderes.
7 FREIRE, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte zu befreiender Bil-
dungsarbeit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, 115.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 319
Es gibt diejenigen, die ohne Anteil sind, und die emanzipatorischen Pro-
zesse, die in der Geschichte stattgefunden haben und stattfinden werden,
finden hier ihren Bezugspunkt. Der Kampf um den Anteil der Anteillosen,
der stattfindet und Brüche in der sinnlich wahrnehmbaren polizeilichen
Ordnung erzeugt, ist ein politischer. Er behauptet die Gleichheit, die sein
normativer Kern ist und die denen, die auf die unterschiedlichsten
historischen Weisen ohne Anteil sind, vorenthalten wird. Der Begriff der
Polizei ist an dieser Stelle irritierend und schließt an Rancière an. Er geht
über die real sichtbare Polizei hinaus und meint das gesamte gesellschaft-
liche Ordnungs-, Verteilungs- und Legitimierungssystem, das im Allge-
meinen mit dem Begriff Politik bezeichnet wird. In diesem Sinne ist die
real sichtbare Polizei ein Teil dieses Systems. Am aktuellen Beispiel des
Braunkohletagebaus, kann man das Zusammenspiel der sichtbaren Polizei
für den Erhalt des Waldes berücksichtigt nicht die Interessen derjenigen,
die in Kolumbien oder Mali vom Klimawandel betroffen sind, die
Forderung eines grundlegenden Wandels sehr wohl.
Dies zeigt sich auch auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler, die im
Moment streiken. Die Auseinandersetzung kreist nicht um die Frage, ob es
denn gut ist, dass junge Menschen sich für das Klima einsetzen. Selbst-
verständlich sollen sie das tun, aber in ihrer Freizeit, in ihrem Privatleben
außerhalb der Schule. Ihnen wird gedroht oder es wird versucht, sie freund-
lich zu vereinnahmen, um genau diesen Punkt zu vermeiden, an dem die
Funktionalität des Gegebenen angekratzt wird. Aber die Schüler*innen tun
das einzig Richtige: Sie stellen einen Bezug zum Allgemeinen her und
sagen nicht nur: Wir sind jung und möchten eine Zukunft haben. Der Bezug
zum Allgemeinen wird vermittelt über die Frage nach der Aufgabe von
Bildung in Zeiten des ‚Klimawandels‘. In diesen Auseinandersetzungen ist
das der entscheidende Punkt, der an der gegebenen Ordnung rührt. Fridays
for Future kann genau da zu einem emanzipatorischen Akt werden, wo die
Schülerinnen und Schüler erkennen, dass sie mit ihren Aktionen den vor-
gegebenen Rahmen von Bildung – die Reproduktion der gegebenen Ver-
hältnisse – verlassen, dies jedoch nicht nur um ihrer eigenen Interessen
willen tun, aber genau dadurch auch selbst zu anderen, freieren und solida-
rischeren Subjekten werden.
ses System ist nicht mehr hinzunehmen.“ (Ansprache an die Verantwortlichen von So-
zialen Bewegungen aus aller Welt – Rom 28.10.2014).
322 Andreas Hellgermann
hat, ad acta gelegt worden. Eine Situation im Sinne Freires beinhaltet im-
mer beides: die Begrenzung und die Möglichkeit zu ihrer Überwindung.
„In Grenzsituationen ist die Existenz von Menschen mitgesetzt, denen diese Si-
tuation direkt oder indirekt dient, und von solchen, deren Existenzrecht durch sie
bestritten wird und die man an die Leine gelegt hat. Begreifen letztere eines Tages
diese Situation als Grenze zwischen Sein und Menschlicher-Sein und nicht mehr
als Grenze zwischen Sein und Nichts, dann beginnen sie ihre zunehmend kriti-
schen Aktionen darauf abzustellen, die unerprobte Möglichkeit, die mit diesem
Begreifen verbunden ist, in die Tat umzusetzen.“12
Der Begriff der Bewältigung, wie ihn die neuesten Lehrplänen verstehen,
fordert immer ein Handeln, das die Vorgaben der Situation zur Norm des
Handelns macht, insofern die Begrenzung durch die Situation nicht verlas-
sen wird. Dies zeigt sich vor allem darin, dass die Situation als Anforde-
rungssituation charakterisiert wird. So notwendig es sein mag, durch Bil-
dung auch zu lernen, wie man mit den Schwierigkeiten und Herausforde-
rungen des Lebens klarkommt, so sehr ist diese Vorstellung, wenn sie denn
zum vorrangigen Bildungsziel wird, nichts anderes als die Kapitulation des
Individuums vor den Gegebenheiten und damit auch ein emanzipatorischer
Rückschritt. Denn emanzipatorische Bildung muss die Auseinander-
setzung mit den Gegebenheiten zur eigentlichen Herausforderung
machen.13 Für die Religionspädagogik wird Politische Theologie genau an
dieser Stelle unverzichtbar. Sie fordert uns auf, die Bedeutung der Katego-
12 FREIRE, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt 41981, 85.
13 Natürlich werden auch dafür Fähigkeiten gebraucht, die durchaus „Kompetenzen“ ge-
nannt werden können. Sie unterscheiden sich jedoch von dem Kompetenzbegriff nach
Weinert, wie er seit fast 20 Jahren in der Kompetenz- und Handlungsorientierung zur
neuen Norm einer auf Ausbildung reduzierten Bildung geworden ist. Diese Kompeten-
zen können mit Kuno Füssel benannt werden als „die Fähigkeit unermüdlich zu fragen,
Gut und Böse zu unterscheiden, zu trauern und die Fähigkeit zum Mitleid. In ihnen
spiegelt sich der befreiungstheologische Dreischritt von Sehen, Urteilen und Handeln
wider, der in seiner Klarheit und Einfachheit grundlegend sein kann für eine Kompe-
tenzorientierung, die zu einer umfassenden, subjektkonstituierenden und gesellschafts-
verändernden humanen Bildung führen könnte.“ (HELLGERMANN 2018 [ANM. 5], 165–
166).
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 323
14 METZ, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer prakti-
schen Fundamentaltheologie, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 31980, 150.
15 METZ 1980 [Anm. 13], 42.
16 EBD. 41.
17 HOMEYER, Josef (Hg.): Unsere Hoffnung. Ein Beschluß der Gemeinsamen Synode der
Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: 1975, 29.
324 Andreas Hellgermann
in der Eröffnung eines Raumes oder Feldes jenseits der Verlängerung des
Gegebenen. Um dem nahe zu kommen, ist der Begriff der Transzendenz
angemessen. Religionslehrer*innen sollten wissen, dass Emanzipation und
Transzendenz korrespondierende Begriffe sein können. Sie machen aber
die Erfahrung, dass ihren Schüler*innen diese Transzendenzerfahrung
bzw. -möglichkeit oftmals verschlossen ist. Diese muss sich – das wusste
schon Dietrich Bonhoeffer – nicht an den Grenzen des Lebens, sondern in
dessen Mitte zeigen.
ture bewegt, wird das deutlich. Ihre grundlegende Forderung nach einem
Systemchange steht in diametralem Gegensatz zu einer Position ohne ‚Un-
terbrechung‘, für die politisch aktuell die Grünen stehen. Der Systemtheo-
retiker Armin Nassehi, der auch öffentlich für diese Position wirbt, formu-
liert es folgendermaßen: „Wir müssen die Probleme mit den Bordmitteln
der Gesellschaft lösen, denn andere haben wir nicht.“18 Die scheinbare
Plausibilität löst sich sehr schnell auf, wenn man sich vor Augen führt, dass
gesellschaftliche Veränderungs- und Emanzipationsprozesse ihre Dynamik
immer durch Unterbrechungen gewannen, die von progressiven sozialen
Bewegungen getragen wurden (Frauenbewegung, Ökologiebewegung,
Anti-Apartheidsbewegung). Im aktuellen Beispiel sind es gerade die
‚Bordmittel‘ (Marktlogik, Wachstumszwang, Kapitalverwertung), die die
Katastrophe produziert haben und nun das probate Mittel zu ihrer Bekämp-
fung sein sollen. Die zweite Variante, der Weg nach innen, korrespondiert
im Moment vor allem mit einem resignativen Zug und der vermeintlichen
Erkenntnis, dass es für ein Aufhalten der Katastrophe zu spät sei.
Wissen gerüstet auch wieder abschaffen. Eines jedenfalls ist sicher: nichts ist we-
niger unschuldig, als den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen.“19
19 BOURDIEU, Pierre u. a.: Das Elend der Welt, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 1997,
429.
20 METZ 1980 [Anm. 13], 32.
21 EBD., 34.
22 Diese Tauschlogik zeigt sich in der Bewertung einer Person durch die Likes bei Face-
book, die Clicks für ein Youtube-Filmchen, aber auch den Boom von Partnervermitt-
lungsbörsen im Internet. Vgl. hierzu: HELLGERMANN, Andreas: Selbstermächtigung o-
der Unterwerfung. Selbstdesign in den Zeiten des Neoliberalismus, in: GEGGERLE, Lio-
ba / LAHAYE, Dominik / TIEDEMANN, Maike: ich und mein wir. Wer oder was gestaltet
meine Identität? Forum für Entwerfen e. V. 2018, 20–41.
Unterbrechung als religionspädagogische Kategorie 327
deutet zunächst nichts anderes, als dass sie selbst zu lernen haben. Freire
hat dafür einen Doppelbegriff erfunden: Lehrer*innen werden zu ‚Lehrer-
Schülern‘ und Schüler*innen werden zu ‚Schüler-Lehrern‘. Die Lehrer*in-
nen beginnen im Religionsunterricht auf die Probleme und die Not ihrer
Schüler*innen zu hören, eine Voraussetzung dafür, das Leiden derjenigen
gemeinsam zur Sprache zu bringen, die im Unterricht nicht da sind. Be-
züglich des ‚Klimawandels‘ verbietet sich die Aufforderung an die Schüler,
fleißig beim fairen Ökowelthandel mitzumachen. Stattdessen wäre eine Art
bildungspolitisches Schuldbekenntnis notwendig: „Wir haben es versaut
und ihr werdet die Leidtragenden sein.“25 Dieses Schuldbekenntnis ist die
Voraussetzung dafür, sich mit den Schüler*innen gemeinsam auf den Weg
zu machen, um die notwendigen grundlegenden Veränderungen in den
Blick zu bekommen. Denn wir Lehrer*innen wissen tatsächlich nicht den
Weg, der zu gehen ist. Dieses Schuldbekenntnis aber bietet zugleich einen
Punkt für Schüler*innen, sich als gleich im Verhältnis zu ihren
Lehrer*innen zu erfahren. Das könnte der Ausgangspunkt von Emanzi-
pation sein: die Gleichheit zu behaupten und anzuerkennen. 26 An diesem
Über Greta Thunberg als Medienspektakel mag man denken, was man will.
Wenn sie sagt: „Ich will, dass ihr in Panik geratet“ oder „Ich will, dass ihr
handelt, als wenn euer Haus brennt“, formuliert sie Sätze der Unter-
brechung. Die Versuche, Fridays for Future freundlich zu vereinnahmen,
sind ein Hinweis darauf, dass Greta Thunberg einen Punkt trifft, und sie
offenbaren genau die Strategie, die der gegenwärtigen Form von Bildung
zu Grunde liegt: dass es so weitergehen möge. Religionspädagogik, die das
emanzipatorische Potential der Politischen Theologie ausschöpfen möchte,
muss sich diesen Versuchen widersetzen: in der Schule und auch auf der
Straße, im Klassenraum und im Hambacher Forst, in der eindeutigen Zu-
rückweisung rechter Parolen und einem klaren Entgegentreten, egal an
wissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien: Pas-
sagen Verlag 22009, 53).
330 Andreas Hellgermann
welchem Ort, auch außerhalb der Schule und in entschiedener Form. Dass
sie dabei auch politisch wird, sollte sie nicht erschrecken. Denn: Wir Leh-
rer*innen sind Politiker*innen und Künstler*innen!27
27 Das verstehbar zu machen, war ein Grundanliegen der befreienden Pädagogik Freires.
Vgl. FREIRE, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Neue Texte zu befreiender
Bildungsarbeit, Hamburg: Rowohlt 1986.
TEIL IV –
KRITISCH-PÄDAGOGISCHE REFLEXIONEN
Trivialisierung von Kritik? Kritische Pädagogik und
kritische politische Bildung im Blickfeld
Jan-Hendrik Herbst
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_18
334 Hinführung IV
8 Vgl. BÜNGER, Carsten: Bildungsphilosophie, in: BERNHARD u. a. 2018 [Anm. 1], 229–
244. LÖSCH, Bettina / EIS, Andreas: Politische Bildung, in: BERNHARD u. a. 2018 [Anm.
1], 502–517.
9 BERNHARD u. a. 2018 [Anm. 1], 11.
10 EBD., 11.
11 EBD., 15.
12 EBD., 15–16.
336 Hinführung IV
hat (GAUTIER).13 Dabei geht es auch darum, wie der Bezug auf Intersekti-
onalitätstheorien oder der Begriff der „multiplen Krise“14 verdeutlicht, die
Zusammenhänge dieser Herrschaftsverhältnisse zu begreifen. Ausgehend
von einer solchen kritischen Analyse sollen durch Pädagogik und politi-
sche Bildung existierende Herrschaftsverhältnisse im Sinne eines emanzi-
patorischen Erkenntnisinteresses gemindert werden. Kritische Pädagogik
impliziert so eine politische Positionalität und Parteilichkeit, die eine ge-
sellschaftspolitische Verantwortung beinhaltet. Eine solche engagierte
Grundhaltung findet sich beispielsweise in der Orientierung an den Men-
schenrechten im kritischen Gegenüber zum autoritären Populismus. Dabei
lässt sich die Forderung nach einer (scheinbaren) ‚Neutralität‘ aus einer
politikdidaktischen (LÖSCH) und einer theologischen Perspektive (GAU-
TIER) zurückweisen. Selbstreflexion und Transparenz seien dagegen ent-
scheidend für eine Parteilichkeit, die nicht überwältigend ist (LÖSCH).
Rhetorisch wird gefragt:
„Bedeutet demokratischer Pluralismus wirklich, antidemokratischen Positionen
mehr Raum in der öffentlichen Debatte zu gewähren, während gleichzeitig – unter
der Maßgabe von Neutralität – nichts gegen diese eingewendet werden soll?“15
13 Vgl. darüber hinaus z. B. GAUTIER, Dominik: Was tun, um den weißen Christus loswer-
den? Rassismuskritisches Lernen mit dem jungen Dietrich Bonhoeffer, in: Evangeli-
sche Akademie zu Berlin u. a. (Hg.): Vor Gott sind alle Menschen gleich. Beiträge zu
einer rassismuskritischen Religionspädagogik und Theologie, Berlin: BAG K+R 2016,
25–29.
14 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
15 EBD.
Kritische Pädagogik und kritische politische Bildung im Blickfeld 337
Es gehe darum, „Kritik aufs neue zu denken in einer Zeit, in der die Sub-
version der Ordnung ein wesentlicher Teil ihrer Optimierung geworden
ist.“20 Diese Überlegungen gehen soweit, dass gar von einer „‚neue[n]‘ kri-
tische[n] Erziehungswissenschaft“21 bzw. Pädagogik gesprochen wird. Zu-
gleich wird der solidarische Anschluss an die frühe Kritische Theorie ge-
sucht, es wird auf motivische Ähnlichkeiten zu Foucaults Analysen hinge-
wiesen.22
16 Ein ähnlicher Band wurde mit einer internationalen Perspektive etwas früher herausge-
geben (vgl. SÜNKER, Heinz / KRÜGER, Heinz-Hermann (Hg.): Kritische Erziehungswis-
senschaft am Neubeginn?! Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999).
17 MASSCHELEIN, Jan: Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft wei-
terdenken, in: BENNER, Dietrich (Hg.): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kri-
tische in Erziehung und Erziehungswissenschaft, Weinheim: Beltz 2003, 124–141, 125.
18 EBD., 131.
19 EBD., 137.
20 EBD., 139.
21 EBD., 138.
22 Vgl. EBD., 139.
338 Hinführung IV
Damit findet auch in der Kritischen Pädagogik eine Reaktion auf neuere
theoretische Entwicklungen statt. Dies äußert sich in einer Partikularisie-
rung und Pluralisierung der Bemühungen, kritisch-emanzipatorische Bil-
dung zu denken. Nicht zufällig finden sich heute Ansätze dafür gerade in
der Auseinandersetzung mit einzelnen Denker*innen wie Foucault23, Ju-
dith Butler24, Pierre Bourdieu25 oder Jacques Rancìere26. Die Aufnahme
und Auseinandersetzung mit dieser Neubestimmung finden ihren Nieder-
schlag in den Beiträgen dieses Bandes. Poststrukturalistische und postko-
loniale Perspektiven werden integriert (BÜNGER, GAUTIER) und die „Am-
bivalenzen“27 kritischer Theorien reflektiert.28 So wird darüber nachge-
dacht, wie kritische Bildungstheorie heute betrieben werden kann, ohne
das Ganze zu denken (BÜNGER).29 Und selbstkritisch wird gefragt, „inwie-
fern Theologie und Religionspädagogik selbst in die Produktion von Ras-
sismus involviert sind“30. Ein Ergebnis der folgenden Überlegungen lässt
sich womöglich bereits jetzt folgendermaßen festhalten: „Das Gespräch
zwischen Theologie, Religionspädagogik und dem Ansatz kritisch-eman-
zipatorischer politischer Bildung sollte […] vertieft werden“31. Dabei las-
sen sich ‚Kritik‘ und ‚Emanzipation‘ offensichtlich nicht als material be-
Carsten Bünger
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_19
342 Carsten Bünger
Als einige Zeit später sein Schüler, der Maggid von Mesritsch aus den gleichen
Gründen den Himmel um Hilfe anflehen sollte, begab er sich zu derselben Stelle
im Wald und sagte: „Herr der Welt, leih mir dein Ohr. Ich weiß nicht, wie es
zugeht, das Feuer zu entfachen, aber noch kann ich das Gebet aufsagen.“ Und
das Wunder geschah.
Wieder einige Zeit später ging Rabbi Mosche Löb von Sasow in den Wald, um
sein Volk zu retten, und sagte: „Ich weiß nicht, wie es zugeht, das Feuer zu ent-
fachen, ich kenne auch nicht das Gebet, aber ich kann die Stelle bestimmen, und
das sollte genügen.“ Und auch das genügte, und das Wunder geschah.
Schließlich kam die Reihe an Rabbi Israel von Rizin, die Bedrohung abzuwenden.
In seinem Lehnstuhl sitzend, nahm er seinen Kopf zwischen die Hände und sprach
zu Gott: „Ich bin nicht fähig, das Feuer zu entzünden, noch kenne ich das Gebet,
ich kann auch nicht die Stelle im Wald wiederfinden. Alles, was ich zu tun vermag,
ist, diese Geschichte zu erzählen.“ Wird es genügen? Es genügte.
Alles aber, was wir heute wissen, ist, dass wir nicht einmal mehr die Geschichte
erzählen können, und das einzige, was wir noch zu tun vermögen, ist, von diesem
Unvermögen zu erzählen... Genügt selbst das noch?
Mit Ausnahme des letzten Absatzes handelt es sich um eine Erzählung aus
der jüdischen Mystik, genauer: um eine der zahlreichen Legenden und re-
ligiösen Anekdoten der osteuropäischen Chassidim. Sie wird unterschied-
lich erzählt und findet sich z. B. in einer Variante in den Sammlungen Mar-
tin Bubers1 und einer etwas anderen Version bei Gershom Sholem2, der auf
eine frühe Niederschrift von 1906 verweist. Für die religiöse Bewegung
der Chassidim sind solche Erzählungen nach Buber nicht nur als Erinne-
rung an gemeinsame Herkünfte und Weisheiten relevant, durch die der Zu-
sammenhang einer jüdischen Verbundenheit in der Diaspora tradiert wird.
Vielmehr wird laut Buber die mündliche Überlieferung selbst zu einem
Medium, in der Beziehungen zum Mystischen ebenso thematisiert wie zu
stiften gesucht werden. Buber schreibt: „[D]as Erzählen hat die Weihe ei-
1 Vgl. BUBER, Martin: Die Erzählungen der Chassidim, in: Werkausgabe Bd. 18.1, Gü-
tersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015 [1949], 122–750, 503.
2 SHOLEM, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main:
Metzner 1957, 384.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 343
ner heiligen Handlung“.3 In der hier zitierten Erzählung sieht Scholem da-
her nicht nur eine Geschichte unter vielen, sondern die Beschreibung der
„Situation, in der wir uns heute der jüdischen Mystik gegenüber befin-
den.“4 Diese Situation charakterisiert Scholem als das Ergebnis einer ‚Ver-
wandlung‘: „Eine Verwandlung, die so tief ist, dass vom Mysterium
schließlich nur noch Geschichte übrigbleibt.“5 Dies bedeute gerade nicht
deren unwiederbringliche Vergangenheit, sondern beinhalte die Möglich-
keit einer Vergegenwärtigung, so dass „das geheime Leben“ der Geschich-
ten „heute oder morgen bei dir oder bei mir wieder zum Vorschein kom-
men kann.“ Scholem fügt hinzu: „Solches Erzählen hat etwas vom Vollzug
eines religiösen Rituals an sich.“6
Der letzte Absatz der oben zitierten Erzählung gehört – wie gesagt – nicht
zu den chassidischen Varianten; er wurde offenbar erst später hinzugefügt,
wobei die Quelle dieses ergänzenden Abschnitts nicht auffindbar ist.
Durch diesen Zusatz, der gleichzeitig wie eine konsequente Fortführung
des Narrativs wie auch als skeptischer Kommentar erscheint, wird die bis
dahin bestimmende Zuversicht möglicher Anknüpfung und Vergegenwär-
tigung ins Ungewisse verschoben. Wir können nicht einmal mehr die Ge-
schichte erzählen – nur darum lässt sich wissen; was wir noch zu tun ver-
mögen, scheint darauf reduziert, von diesem Unvermögen zu erzählen. Was
3 BUBER 2015 [Anm. 1], 52. Buber nennt die chassidische Form der Erzählung „Le-
gende“: Sie steht für eine Beziehung zur Welt, in der sich die Scheidung zwischen
Menschlichem und Göttlichen vollzogen hat, „nun aber von Sphäre zu Sphäre ein Ver-
kehr, eine Zwiesprache, eine Wechselwirkung geschieht – von dieser erzählt sie.“ Bu-
ber 2015 [Anm. 1], 51. Sofern sie nicht nur von dieser erzählt, sondern selbst eine solche
Beziehung ist, ließe sich von einem performativen Zusammenhang von Überlieferung
und Überliefertem sprechen.
4 SCHOLEM 1957 [Anm. 2], 384.
5 EBD., 384.
6 EBD., 383.
344 Carsten Bünger
aber kann es bedeuten, dass wir die Geschichte nicht mehr erzählen kön-
nen? Und: Wie erzählt man davon?
Agamben, der ebenfalls auf die chassidische Erzählung Bezug nimmt7, be-
schreibt den ‚paradoxen‘ Zusammenhang von Feuer und Erzählung als
„unmögliche Aufgabe“: Der Sinn der Erzählung sei es, die Wirkung des
Feuers zu erzeugen. Dies wiederum vermag sie nur, wenn und indem sie
deren Verlust bezeugt; einen Verlust, für den die Anwesenheit der Erzäh-
lung selbst stehe.8 Insofern ließe sich argumentieren, dass es sich bei sol-
chem Erzählen – im Sinne eines religiösen Rituals – ohnehin nicht um et-
was handelt, was man können kann: Man hat es immer schon mit anvisier-
ten Wirkungen zu tun, die sich der subjektiven Verfügung entziehen.
7 Vgl. AGAMBEN, Giorgio: Die Erzählung und das Feuer, Frankfurt am Main: Fischer
2017, 7–16.
8 Vgl. EBD., 13.
9 EBD., 8.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 345
10 Vgl. RUHLOFF, Jörg: Bildung und Bildungsgerede, in: Vierteljahrsschrift für wissen-
schaftliche Pädagogik, 82/3 (2006), 287–299.
346 Carsten Bünger
lassen hat, öffnet sich der Möglichkeitsraum der Bildung im Horizont viel-
fältiger Bestimmungen und Auseinandersetzungen.11
Eben hieran zeigt sich eine immanente Beziehung von Bildung und Eman-
zipation12: Das mit dem neuhumanistischen Bildungsbegriff verbundene
Freiheitsmotiv verweist auf eine Überschreitung jeder sozialisatorischen
Anpassung an gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen. Als ‚Selbst-
Bildung‘ – entlang einer „freien Wechselwirkung von Ich und Welt“
(Humboldt) konzipiert – markiert der Begriff der Bildung eine Differenz
gegenüber jeder Form der Bevormundung – einschließlich den aufklä-
rungspädagogischen Konzeptionen der Philanthropen. In begriffsge-
schichtlicher Perspektive hält Reinhart Koselleck fest, „daß der Begriff der
Bildung per definitionem einer primär sozialen, gar standes- oder klassen-
spezifischen Bestimmung widerspricht. Bildung als Selbstbildung und als
kommunikative Lebensführung ist sozial offen und in alle Schichten hinein
anschlußfähig.“13 Gerade darin steckt die Radikalität des Bildungsmotivs,
Unbestimmtheit als unbedingte und gleiche Freiheit jedes Einzelnen zu
denken – und denkbar werden zu lassen. Auffallend ist jedoch, dass dem
neuhumanistischen Verständnis von Bildung damit etwas Ortloses – Uto-
pisches – eignet: Schließlich entsprach die als Bildung der Individualität
entworfene Unabhängigkeit kaum den historisch realen Lebens- und Er-
fahrungswelten. Vielmehr dient der bildungsphilosophisch-idealistische
11 Vgl. SCHÄFER, Alfred: Das Versprechen der Bildung, Paderborn: Schöningh 2011;
BÜNGER, Carsten: Bildungsphilosophie, in: BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz /
RÜHLE, Manuel (Hg.): Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim: Beltz / Juventa
2018, 229–244.
12 Vgl. BÜNGER, Carsten: Bildung und Emanzipation? Perspektiven nach dem Ende ihres
selbstverständlichen Zusammenhangs, in: CHRISTOF, Eveline / RIBOLITS, Erich (Hg.):
Bildung und Emanzipation (Schulheft Nr. 152/4), Innsbruck: StudienVerlag 2013, 7–
22.
13 KOSELLECK, Reinhart: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur
der Bildung, in: DERS. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungs-
güter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, 11–46, 28.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 347
14 Vgl. HUMBOLDT, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit
des Staates zu bestimmen, in: DERS.: Werke in fünf Bänden, Bd. I: Schriften zur Anth-
ropologie und Geschichte, Darmstadt: WBG [1792] 1980, 56–233.
15 Vgl. exemplarisch: MESSERSCHMIDT, Astrid: Weltbilder und Selbstbilder. Bildungspro-
zesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt am
Main: Brandes & Apsel 2009.
16 MOLLENHAUER, Klaus: Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen, München:
Juventa 1968, 112.
348 Carsten Bünger
17 Vgl. BÜNGER 2013 [Anm. 12]; LACLAU, Ernesto: Jenseits von Emanzipation, in: DERS.:
Emanzipation und Differenz, Wien: turia+kant 2002, 23–44.
18 Vgl. exemplarisch: KOCH, Lutz / SCHÖNHERR, Christian (Hg.): Kant – Pädagogik und
Politik (= Systematische Pädagogik 6), Würzburg: Ergon 2005.
19 BOLTANSKI, Luc / CHIAPELLO, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK
2003.
20 Vgl. FOUCAULT, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frank-
furt am Main: Suhrkamp [1977] 1995; BRÖCKLING, Ulrich: Empowerment, in: DERS. /
KRASMANN, Susanne / LEMKE, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 55–62.
Von der Kritik der Bildung und der Möglichkeit der Emanzipation 349
Mit diesem turn, in dem sich die Bildungstheorie zunehmend dem sozialen
Ort der Möglichkeit von Bildung zuwendet, wird nun aber gerade keine
neue Gewissheit gewonnen, die sich bspw. in eine emanzipatorisch-päda-
gogische Programmatik überführen ließe. Vielmehr lässt sich an der kriti-
schen Bildungstheorie Heydorns selbst studieren, wie die Auseinanderset-
zung mit den historischen und sozialen Bedingungen dazu führt, dass Ge-
wissheiten abnehmen: Was es braucht, damit Bildung als „allgemeine Be-
ratung über die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten“25 wirk-
sam wird – ob sich Bildung in die Befähigung übersetzt, Geschichte zu
machen, kann nicht länger mit Bestimmtheit gewusst werden. Der Einsatz
der Bildungstheorie besteht stattdessen darin, die Möglichkeit der Bildung
als Möglichkeit offen zu halten.26
Es ist die Problemstellung, wie sich das Verhältnis von Bildung und Ge-
schichte im Sinne humaner Verbesserungen fassen lässt, über die sich ab
den 1950er Jahren die insbesondere mit den Namen Heinz-Joachim Hey-
dorn verbundene Kritische Bildungstheorie entwickelt hat.27 Darin findet
sich zwar manche Nähe zur Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos,
die schon aus der verbindenden Relektüre von Hegel und Marx resultiert.
Zugleich gehört diese genuin bildungstheoretische Perspektive nicht zu
den Ansätzen einer kritischen Erziehungswissenschaft, die sich über die
Rezeption der kritischen Theorie und den pädagogischen Anschluss an Ha-
bermas entwickelt haben.
Nachdem die Menschen „alle Ideen in ihrer Perversion erlebt haben“29, ist
nach Heydorn die Frage nach den Bedingungen der Kritik und der Mög-
lichkeit von Emanzipation neu aufzuwerfen. Die verbreitete Erfahrung des
Sinnverlusts, der Aussichtslosigkeit und Verzweiflung thematisiert Hey-
dorn nicht nur in den Frühschriften an zentraler Stelle; sie verweist auf den
historischen Ort seiner Überlegungen: Während sich im 19. Jahrhundert
angesichts der industriellen Revolution der Glauben verbreitete, „dass uns
die Geschichte selbst dem endgültigen und vollkommenen Ort unserer
Existenz zuführen würde“30, mutet diese Vorstellung 100 Jahre später be-
reits absurd an: „Zwischen dem Optimismus unserer Väter und der heuti-
gen Situation liegt nun eine geschichtliche Erfahrung, die nie wieder rück-
gängig zu machen ist, der Glaube an die Geschichte ist zerstört und in einer
verhängnisvollen Weise in den Glauben an ihre Heillosigkeit umgeschla-
gen.“31 Beides, sowohl der „Glauben an die Geschichte“ wie der „Glauben
an ihre Heillosigkeit“, drückt für Heydorn das fatalistische Bewusstsein
aus, das dem Bestehenden bloß affirmativ gegenüberstehen kann. Beson-
ders gefährlich wird, wenn die Geschichte als unaufhaltsamer Prozess des
Zerfalls wahrgenommen wird. Bereits Anfang der 1950er Jahre formuliert
er: „[H]inter einer Wand von verlogenen Phrasen vollzieht sich die Res-
tauration aus Angst. [...] Aber niemand steht gegen sie auf, weil niemand
beweisen kann, dass es sich lohnt, das Wagnis hat seinen Sinn verloren.“32
Es wird ihm daher zur „vornehmsten Aufgabe der Pädagogik, mitten in
einer solchen Zeit der Krise, […] Hoffnungen auf eine sinnvollere Mög-
lichkeit der menschlichen Existenz“33 zu stiften. Dabei ist für Heydorn die
„Entfatalisierung des Zeitalters“34, die Abarbeitung an Geschichtsauffas-
sungen im Sinne eines Fortschritts- oder Verhängniszusammenhangs,
nicht nur eine Aufgabe konkreter pädagogischer Praxis und politischen En-
gagements. Vielmehr stellt sie auf der systematischen Ebene das Kern-
problem in Heydorns Bildungstheorie dar: Wie ist das Verhältnis von Bil-
dung und Geschichte zu bestimmen, wenn es um die Möglichkeit gehen
soll, dass Menschen ihre Geschichte machen? Wie kann die Möglichkeit –
dass etwas getan werden kann, um die Krise zu überwinden und das Unheil
abzuwenden – gedacht werden, ohne diese Möglichkeit lediglich zu postu-
lieren?
Entscheidend ist für Heydorn, das Verhältnis zur Geschichte auf eine
Weise zu bestimmen, in der Geschichte weder als unabwendbarer Wir-
kungszusammenhang gedacht wird noch als rein beliebige Ansammlung
von Geschehnissen, die für die Frage „Was tun?“ letztlich irrelevant wäre.
Es geht mit anderen Worten um das Verhältnis von Geschichte und Frei-
heit, von Bedingungen und Unbedingtem. Heydorn hält fest: Der Anspruch
der Emanzipation, der Geschichte aus Freiheit einen Sinn zu geben und in
ihr zu entfalten, entsteht als Anspruch der Moderne erst mit dem Aufstieg
des Bürgertums, ist in diesem Sinne selbst historisch, aber er „kann durch
die Geschichte weder bestätigt noch aufgehoben werden, er ist seinem We-
sen nach außergeschichtlich.“35 Freiheit lässt sich nicht aus einer Eigenlo-
gik von Geschichte ableiten, sonst wäre sie nicht. Zugleich jedoch muss
sich jeder Freiheitsanspruch mit der geschichtlichen Wirklichkeit vermit-
teln. Man könnte sagen, die Freiheit der Bildung wirkt nur im und als Ver-
hältnis zu den gesellschaftlichen Bedingungen: in der Form der Befrei-
ung.36 Diese Problemstellung wird von Heydorn mehrfach aufgegriffen. In
einer ebenfalls frühen Schrift formuliert er: Die Geschichte
„zeigt uns zwar keine Notwendigkeit, die sich auch ohne unseren Willen voll-
zieht, kein immanentes Vernunftprinzip in fortschreitender Enthüllung, aber sie
weist die Möglichkeit auf. [...] An der Möglichkeit wird sich unsere Freiheit ge-
wiß, aber diese Möglichkeit wird nur erkannt, wenn die Bedingung erkannt ist,
aus der sie erwächst, ihr Verflochtensein in eine gegebene Welt. Die Freiheit wird
zum Irrsinn, wo sie sich auf keine Analyse des Wirklichen stützen kann.“37
Bildung ist vor diesem Hintergrund als ein Verhältnis zu verstehen, in dem
die gesellschaftlichen Bedingungen in ihrem Gewordensein begriffen –
und zugleich die in diesen Bedingungen liegenden Möglichkeiten zur Ge-
staltung erkannt und ergriffen werden.39 Dabei ist ‚Gestaltung‘ zwar einer-
Neben dieser Problematik einer Orientierung ohne Telos stellt sich im Rah-
men von Heydorns Bildungstheorie die Frage, wie die Bedingung der
Möglichkeit zu solchen Bildungsprozessen angegeben werden kann: Was
ermöglicht eine Beziehung zur Geschichte, die diese ebenso als Bedingung
der eigenen Gegenwart erschließt wie auch zur weiteren Gestaltung öffnet?
Was kann über den sozialen Ort einer solchen Möglichkeit gesagt werden?
Indem Heydorns kritische Bildungstheorie nach den „systemimmanenten
Anknüpfungsmöglichkeiten“ sucht, um die „gesellschaftlichen Grenzen zu
transzendieren“41, folgt Heydorns Antwort einer dialektischen Perspektive.
Die Möglichkeit einer solchen ‚immanenten Transzendenz‘ sieht Heydorn
in der widersprüchlichen Verfasstheit gesellschaftlich organisierter Bil-
dung: Die Schule und ihre Reformen stehen für Heydorn in der Kritik, weil
sie der Ort sein könnte, über die sich die gegenwärtige Gesellschaft verän-
dern ließe, wobei hiermit nicht ein instrumentelles Verständnis von Päda-
gogik im Sinne von politisierender Agitation verbunden wird. Vielmehr
Der hierbei aufscheinende Widerspruch, der sich für Heydorn durch die
Verfasstheit der Bildungsinstitutionen zieht, ist dabei nicht als einer zu ver-
stehen, der zwischen ideellem Anspruch und pädagogischer Wirklichkeit
angesiedelt wäre. Stattdessen handelt es sich um einen Widerspruch inner-
halb der gesellschaftlichen Praxis einer Schulung der Vernunft: Im zuneh-
menden Maße, so Heydorns Diagnose, ist die bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaft auf die systematische Förderung von Rationalität und Refle-
xionsvermögen angewiesen, die in ihr zu Produktions- und Innovations-
zwecken verwertet werden.42 Die Vernunft in ihrer unvernünftigen Form,
als instrumentelle Vernunft, fungiert für Heydorn zwar – statt als Organ
„humaner“, moralisch reflektierter Zweckbestimmung – als Ausdruck ka-
pitalistischer Herrschaft und bürgerlicher Selbstbeherrschung. Zugleich
braucht es nichts anderes als Vernunft, um diese auf ihre Engführungen
und herrschaftlichen Zurichtungen hin kritisch zu untersuchen. Die funkti-
onale Zurichtung der Vernunft entlang kapitalistischer Nützlichkeits- und
Investitionserwägungen kann – so Heydorns dialektische Perspektive – im
Gebrauch der Vernunft selbst zum Gegenstand der Reflexion werden: „Die
systematische Vermittlung von gesellschaftlicher Rationalität durch Bil-
dung enthält die Möglichkeit aller Rationalität: Das Selbstverständliche zu
bezweifeln“43. Als Selbstkritik weist der Vernunftgebrauch dann über
seine ihm zugedachte Funktion hinaus, vermag diese infrage zu stellen und
Große Erzählungen sind darauf angewiesen, dass sie glaubhaft sind – oder
anders: dass sie etwas hervorbringen, woran geglaubt werden kann. Dies
verweist auf das Problem, das Lyotard als den faktischen Schwund der
Überzeugungskraft großer Erzählungen bezeichnet hat46: Ganz in Überein-
stimmung mit dem oben zitierten Verweis Heydorns auf die im 20. Jahr-
hundert erfahrene ‚Perversion aller Ideen‘ beschreibt auch Lyotard, dass
die Bindungskraft geschichtlicher Orientierungen aufgrund der mit ihnen
verbundenen gesellschaftlichen Ereignisse erloschen ist.47 Dass es auch in
der kritisch-bildungstheoretischen ‚Erzählung‘ um Fragen des Glaubens
geht, hat Heydorn sehr genau gesehen. Am Ende seines Hauptwerks „Über
den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“ schreibt er:
„Es gibt Indikatoren, daß es der Menschheit gelingt, zu sich selbst frei zu werden;
es gibt den Hinweis auf ihre psychische und physische Liquidation. Es gibt kein
Gesetz, nach dem sich Geschichte vollziehen muß, es gibt Tendenzen innerhalb
derer wir handeln können. […] Die Gewißheit, daß es gelingen wird, ist letztlich
eine Frage des Glaubens, dem der Indikator nicht widerspricht, der durch ihn aber
nicht abgedeckt wird. Nur dies ist eine Frage des Glaubens; empirisch wissen wir
nur um das Unaufgelöste. Es ist der Glaube an die Verheißung des Menschen, der
die Gewißheit gibt, der Glaube, daß sich alles Zerrissene wiederfindet, das Un-
zerstörbare dem Zerstörten unterliegt.“48
den Relationierungen von Bildung und Emanzipation, wie sie hier entlang
der Kritischen Bildungstheorie diskutiert wurden. Dabei gibt es keine Po-
sition, von der aus das selbstgewisse Urteil einer Verabschiedung oder
Überholtheit formuliert werden könnte. Wenngleich sich das Format ‚Bil-
dungstheorie‘ nicht mehr als orientierender Entwurf ‚wahrer Menschwer-
dung‘ fassen lässt, drückt sich die aktuelle Form einer Bindung an diese
Traditionen vielleicht gerade darin aus, sich einem doppelten Unvermögen
zu stellen: dem Unvermögen, die Geschichte menschheitsgeschichtlicher
Bildung weiter zu erzählen – wie jenem, sie für sich zu behalten. Es ist
dann weniger die orientierende Funktion der kritischen Theoriebildung, als
die inspirierende Kraft heterogener Aneignungen, die auf ein überschrei-
tendes Moment verweisen. Das Freiheitsmotiv der Bildung lässt sich so als
die Möglichkeit eines Ereignisses vorstellen, die erst aus dem Unvermögen
resultiert, eine konsistente Geschichte zu erzählen.
Autorenangaben: Carsten Bünger, Dr. phil. habil., vertritt die Professur für Erzie-
hungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erziehungs- und Bildungsphilosophie
am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Koblenz-Lan-
dau (Campus Landau). Informationen zu Arbeitsschwerpunkten und Publikatio-
nen unter: www.c-buenger.de
Heydorn lesen?
Zur religionspädagogischen Rezeption
kritischer Bildungstheorie
„Es ist kein Zweifel, daß der Religionsunterricht, solange ihn die Gesellschaft
noch an den Schulen für tunlich hält, hier eine Möglichkeit gewinnt, falls sie
wahrgenommen werden sollte: In ihm kann sich der Mensch zum Gegenstand
werden, in widersprüchlicher Freiheit erfahren, ohne daß die Gesellschaft den In-
halt im Vorwege festlegt.“1
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_20
362 Lukas Ricken
In meinem Beitrag möchte ich mich der Frage nach der religionspädago-
gischen Rezeption Heydorns in drei Anläufen nähern: Eingangs decke ich
exemplarisch Spuren kritischer Bildungstheorie im Werk vier religionspä-
dagogischer Autoren7 im Zeitraum von 1985 bis 2010 auf. Im Anschluss
an diese Verortung stelle ich Argumente gegen eine explizit theologische
Heydornrezeption vor, um schließlich drei Thesen zur Relevanz Heydorns
für die religionspädagogische Theorie und Praxis zu formulieren. Sämtli-
che Überlegungen verstehen sich dabei als vorläufig, die intensive Aufar-
beitung des bisherigen sowie des potentiellen Einflusses kritischer Bil-
dungstheorie auf die Religionspädagogik bleibt weiterhin Desiderat.
Einen Neuanfang markierte 1980 Reiner Preul mit seiner Monographie Re-
ligion – Bildung – Sozialisation.11 Preul kritisiert die „Unterordnung“12 des
Bildungsbegriffes unter den der Erziehung13 und betont, dass die „Reali-
sierung von personhafter Wirklichkeit [...] prinzipiell nicht methodisier-
bar“ sei. Weder das „im Glauben ergriffene Selbstverständnis“ noch das
„rein humane Selbstverständnis (Normen des sozialen Verhaltens etc.)“
Biehl fokussiert sich bei seiner Arbeit an einem „pädagogisch wie theolo-
gisch überzeugenden Bildungsbegriff“18 in der Grundlegung vor allem auf
Klafki, der neben der kritisch-emanzipatorischen Perspektive Heydorns
auch die empirisch-analytische Perspektive des Berliner Modells (v. a.
Wolfgang Schultz‘) und die historisch-hermeneutische Perspektive der
Allgemeinen Pädagogik Flittners „innerhalb der didaktischen Fragestel-
lung zu verschränken“19 suche. Im Anschluss widmet sich Biehl vor allem
Peukert; dieser sei „wie Klafki dem aufklärerischen Charakter moderner
Pädagogik verpflichtet“ – gleichzeitig bleibe bei Peukert im Gegensatz zu
Klafki und „wie bei Heydorn – die Theologie der Bildung nicht äußer-
lich“.20 Im weiteren Verlauf der Argumentation bezieht sich Biehl noch
mehrfach auf Heydorn. Er plädiert u. a. gestützt auf Heydorn dafür, die
„Sachebene der Bildung“ nicht zugunsten der „Beziehungsebene“ zu ver-
nachlässigen, da es der „Härte der Auseinandersetzung mit sich selbst und
der Welt“ bedürfe.21 Zur sprachlichen Struktur religiöser Bildung22 führt
17 Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und das Problem der Bildung. Zur Neufas-
sung des Bildungsbegriffs in religionspädagogischer Perspektive, in: Biehl 1991 [Anm.
11], 123–223.
18 EBD., 125.
19 EBD., 131. Für die Bezeichnung der Perspektiven bezieht sich Biehl auf Habermas. Vgl.
EBD., 129.
20 EBD., 136.
21 EBD., 175–176. Biehl zitiert in diesem Zusammenhang Heydorns Aufsatz aus dem
Praktisch-theologischen Handbuch in der zweiten Auflage von 1975 [Anm. 1] 155:
„Bildung als Subjektwerdung des Menschen vollzieht sich ‚über Inhalte oder Anlässe,
die inhaltliche Bedeutung haben‘; denn ‚Erkenntnisvermittlung und glaubhaft ge-
machte Hoffnung auf Leben‘ machen den Bildungsvorgang aus.“
22 „Religiöse Bildung ist erforderlich, um die Quellen der Freiheit zum Handeln zu er-
schließen. [...] Die Quellen der Freiheit sind sprachlich verfaßt.“ (BIEHL 1991 [Anm.
11], 188. Hervorh. im Original).
366 Lukas Ricken
Biehl mit Bezug auf Heydorns Neufassung des Bildungsbegriffs aus, Spra-
che sei
„zugleich ‚Voraussetzung aller Bildung‘; sie ist nämlich imstande, ‚das Imperfekt
zum Futur zu bringen, das Unbeendete zur Zukunft. Sprache ist Kommunikation
über Zeiten; unabgeschlossener Dialog mit den Toten und Gespräch im kommen-
den Lande‘.“23
Entgegen der Ankündigung im Jahr 1989 und den Assoziationen, die ihr
Untertitel weckt, kommt es in Biehls fertiger Studie nicht zu einer syste-
matischen Auseinandersetzung mit der kritischen Bildungstheorie, wenn-
gleich diese auch an zentralen Gelenkstellen des Argumentationsganges
hinzugezogen wird. Heydorns kritisch-emanzipatorische Perspektive mar-
kiert so neben anderen Autoren das Reflexionsniveau zeitgenössischer Pä-
dagogik.
23 BIEHL 1991 [Anm. 1], 188. Zitate aus HEYDORN, Heinz-Joachim: Zu einer Neufassung
des Bildungsbegriffs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, 102 u. 118.
24 „Als besonders fruchtbar erwies sich, dass ich mich schon längere Zeit mit dem bil-
dungstheoretischen Ansatz von Heinz J. Heydorn beschäftigt hatte.“ (LÄMMERMANN,
Godwin: Hoffen und wagen, in: RUPP, Horst F. / SCHWARZ, Susanne (Hg.): Lebensweg,
religiöse Erziehung und Bildung. Religionspädagogik als Autobiographie Bd. 6, Würz-
burg: Königshausen & Neumann 2015, 201–215, 210).
Heydorn lesen? 367
25 Vgl. LÄMMERMANN, Godwin: Religion in der Schule als Beruf. Der Religionslehrer
zwischen institutioneller Erziehung und Persönlichkeitsbildung, München: Kaiser
1985, 373. „Lämmermann hat seine zentrale These, dass der Lehrer der entscheidende
Faktor im sozialen System der Schule sei, mit einer auf H.-J. Heydorn zurückgehenden
Bildungstheorie begründet und sich ausführlich mit der bildungstheoretischen Tradition
auseinandergesetzt. Er fordert nicht eine spezielle „Theorie der religiösen Bildung“ (R.
Preul), sondern eine spezifisch theologische Begründung für eine allgemeine Bildungs-
theorie“ (BIEHL, Peter: Die Wiederentdeckung der Bildung in der gegenwärtigen Reli-
gionspädagogik. Ein Literaturbericht, in: DERS. und NIPKOW, Karl Ernst: Bildung und
Bildungspolitik in theologischer Perspektive, Münster: LIT 2003, 111–152, 129. Her-
vorh. im Original).
26 Vgl. LÄMMERMANN 1985 [Anm. 25], 17–123.
27 Vgl. EBD., 125–251.
28 Vgl. EBD., 97–103.
29 EBD., 102.
30 EBD., 103.
368 Lukas Ricken
eines emphatischen Bildungsverständnis gezogen hat, das schon bei ihm (anders
Rupp) eine genuine sozialkritische Funktion hatte.“37
Der Bildungsgedanke sei nach Heydorn nicht nur „per se kritisch, weil er
an Tradition erinnert, in der andere Möglichkeiten des Menschseins the-
matisiert werden“39. Darüber hinaus habe er aufgrund der jüdisch-christli-
chen Tradition „notwendigerweise ein theologisches Moment“40.
fruchtbar gemacht. Ergänzt wird dies durch vorsichtige Ansätze einer the-
ologischen Rezeption Heydorns.
Heydorn komme die Bedeutung zu, in „großartiger Weise [...] den Wider-
spruch zwischen dem gesellschaftlichen Verhängnis des Menschen und
41 Vgl. neben den hier untersuchten Texten auch RICKERS, Folkert: Theologische Dimen-
sionen von Bildung, Subjektwerdung und Religion. Anmerkungen zum Bildungsver-
ständnis von Hartmut von Hentig und Heinz-Joachim Heydorn, in: KUČERA, Zdeněk /
LÁŠEK, Jan B. (Hg.): Docete omnes gentes, Brno: L. Marek 2004, 22–31 sowie: RI-
CKERS, Folkert: Die Zukunft des Religionsunterrichts angesichts von Globalisierung,
in: DERS. / GOTTWALD, Eckard: Die Zukunft des Religionsunterrichts angesichts von
Globalisierung und Multikulturalität, Nordhausen: Bautz 2004, 171–195.
42 RICKERS, Folkert: „Bewußtsein ist alles“, in: LACHMANN, Rainer / RUPP, Horst F. (Hg.):
Lebensweg und religiöse Erziehung. Religionspädagogik als Autobiographie Bd. 3,
Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 2000, 347–367. Rickers verweist mit dem Leit-
motiv seiner autobiographischen Reflexionen auf HEYDORN 1980 [Anm. 16], 301.
43 RICKERS 2000 [Anm. 42], 353.
44 EBD., 353.
Heydorn lesen? 371
45 EBD., 358.
46 RICKERS, Folkert: Evangelische Religionspädagogik in zeitgeschichtlicher Perspektive,
in: JRP 12 (1996), 29–56, 32.
47 Vgl. EBD., 34.
48 „Ihre harte Intention wurde nur dadurch abgemildert, daß sie zwar doktriniär auftrat,
nicht aber von Nötigung und Zwang bestimmt war.“ (EBD., 37).
49 EBD., 41.
50 EBD., 43.
51 EBD., 47. Im problemorientierten Setting können Schülerinnen und Schüler „im Denken
und Handeln emanzipatorische Situationen antizipieren, ohne daß die gesellschaftli-
chen Verhältnisse einen wirklichen Vollzug von Emanzipation schon zulassen.“
372 Lukas Ricken
Unter anderen Vorzeichen kommt Rickers 2010 im Kontext der Frage nach
Eschatologie und Religionspädagogik auf Heydorn zu sprechen. In Hey-
dorn sieht Rickers den ‚Vordenker‘ eines Unterrichtsprinzips, das von es-
chatologischer Dynamik durchzogen ist.52 Die Inspiration für dieses Den-
ken habe Heydorn „indirekt“53 aus den Schriften Comenius‘ gewonnen und
in seinen Bildungsbegriff die „Spannung zwischen der Erwartung und
Schaffung des Zukünftigen und dem Gegenwärtigen“54 eingetragen. Bil-
dung sei nach Heydorn der
„Versuch des Menschen, die Erziehungsverhältnisse zu transzendieren, sich kraft
eigener Vernunft neu zu entwerfen und darin eine neue Menschheit zu antizipie-
ren. Denn die Befreiung des Menschen zu sich selbst sollte – wenn sie denn ge-
lingen kann – der Befreiung aller korrespondieren, auch der Toten.“55
Heydorn wird somit bei Folkert Rickers für ein vertieftes und kritisch aus-
gerichtetes Verständnis religionspädagogischer Praxis in Geschichte und
Gegenwart herangezogen. Das auf Zukunft ausgerichtete Moment der Bil-
dungstheorie Heydorns wird zudem theologisch selbstbewusst für einen
eschatologisch ausgerichteten Religionsunterricht in Stellung gebracht.
Etwas andere Akzente setzt Rudolf Englert, der einzige katholische Reli-
gionspädagoge, auf den in diesem Kapitel eingegangen wird. Englert
kommt in jüngeren Veröffentlichungen zur religiösen Bildung immer wie-
der kurz auf Heydorn zu sprechen, so z. B. wenn er eine „einseitige Fixie-
rung aufs Industriöse“57 in einem lediglich auf berufliche Qualifikation und
Wirtschaftswachstum ausgerichteten Bildungsdiskurs kritisiert. Mit Hey-
dorn verbindet Englert die Opposition gegen jedes Bildungsverständnis,
das „einseitig affirmativ“58 gesellschaftliche Zustände repräsentiert.
Über diese Abgrenzung hinaus greift Englert auf Heydorn zurück, um die
bildungstheoretischen Prämissen aktueller konstruktivistisch-religionspä-
dagogischer Konzeptionen zu kritisieren. Eine vermeintlich subjektorien-
tierte Religionspädagogik müsse
„in ihren Überlegungen stärker mit einbeziehen, dass Menschen nicht nur Produ-
zenten einer eigenen Vorstellungswelt sind, sondern auch Produkte einer ihnen
vorgegebenen Lebenswelt; einer Lebenswelt, die den schöpferischen Elan der
Menschen in hohem Maße anregen, aber eben auch fast ganz zum Erliegen brin-
gen kann.“59
Titz Ansatz scheint die oben skizzierten Versuche, Heydorn auch für eine
theologische Begründung von Bildung in Stellung zu bringen, zu legiti-
mieren und zu bestärken. Allerdings hat dieser Versuch vehementen Wi-
derspruch durch Gernot Koneffke provoziert.69 Koneffke sieht in der theo-
logischen Lesart Heydorns den Versuch der Delegitimation kritischer Bil-
dungstheorie, die man – sobald der Nachweis, dass sie „im Kern nichts
anderes als mühselig kaschierte Theologie“70 sei, erbracht wurde – päda-
64 Vgl. TITZ, Ewald: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der
Bildungstheorie Heydorns, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1999. Hervorh. im
Original.
65 Vgl. METTE, Norbert: Rez. zu: Titz, Ewald: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion
des Bilderverbots in der Bildungstheorie Heydorns, Weinheim 1999, in: International
Journal of Practical Theology 6 (2002), 163–165 sowie RICKERS, Folkert: Rez. zu Titz,
Ewald: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der Bildungs-
theorie Heydorns, Weinheim 1999, in: Zeitschrift für Pädagogik 47/1 (2001), 142–144.
66 Vgl. TITZ, Ewald: Art. Heydorn, Heinz-Joachim, in: METTE, Norbert / RICKERS, Folkert
(Hg.): Lexikon der Religionspädagogik Bd. 1, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag
2001, 837–839.
67 EBD., 838.
68 EBD.
69 Vgl. KONEFFKE, Gernot: Der Grund für die mögliche Befreiung von Herrschaft liegt im
Diesseits. Gegen die Theologisierung der kritischen Bildungstheorie, in: Pädagogische
Korrespondenz 33 (2004), 15–41.
70 EBD., 15.
376 Lukas Ricken
Die Passagen im Werk Heydorns, die ihre Leserinnen und Leser „auf eine
religiöse Spur setzen oder doch zu religiösen Assoziationen reizen“77, seien
auf die „Darstellungsweise“ Heydorns sowie die „Lebendigkeit und Kraft
von Heydorns Einfühlung in geschichtliche Einzelerscheinungen und Zu-
sammenhänge“78 zurückzuführen – eine Einfühlung, die sich auch auf die
71 „Ihr Festhalten an der Idee der Befreiung und Versöhnung disqualifiziere sie für den
erziehungswissenschaftlichen Diskurs, ihr spekulatives Element sei besser dort aufge-
hoben, wo es seit jeher um die Sehnsucht nach dem göttlich bestimmten ganz Anderen
gehe. Als Theologie enttarnt, könne man die kritische Bildungstheorie ins Archiv neh-
men.“ (EBD.).
72 EBD., 17.
73 EBD.
74 EBD., 19–20.
75 EBD., 23.
76 EBD., 31.
77 EBD., 24.
78 EBD., 25
Heydorn lesen? 377
Geschichte des Volkes Israel erstrecke. Gerade mit Blick auf die oben skiz-
zierten religionspädagogischen Rezeptionsversuche, die immer wieder ih-
ren Ausgang bei Heydorns Auseinandersetzung mit Comenius79 nehmen,
muss mit Koneffke festgehalten werden, dass diese Auseinandersetzung
zwar von einer „empathischen Dichte, die naive Lektüre zur Annahme um-
standsloser Identifikation Heydorns mit Comenius führen kann“, gekenn-
zeichnet ist, jedoch „durchweg kritisch“ erfolgte.80
3.1 Konvergenz in der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von
Erfahrung
schiedliche ‚Sprachspiele‘ (L. Wittgenstein)“. (NIPKOW, Karl Ernst: Religion in der Pä-
dagogik? In: Zeitschrift für Pädagogik 38/2 (1992), 215–234, 231).
84 Vgl. PONGRATZ, Ludwig: Unterwerfung und Widerstand. Heinz-Joachim Heydorns kri-
tische Bildungstheorie in religionspädagogischer Perspektive, in: JRP 6 (1989), 59–78.
Pongratz war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung außerplanmäßiger Professor für All-
gemeine Pädagogik an der RWTH Aachen und Dozent am Katechetischen Institut des
Bistums Aachen.
85 EBD., 75.
86 EBD. Für aktuelle Ansätze wie etwa die Performative Religionsdidaktik lässt sich diese
Feststellung mit Nachdruck bestätigen.
87 PONGRATZ 1989 [Anm. 84], 77.
Heydorn lesen? 379
Auf den Spuren kritischer Bildungstheorie ist dafür zu plädieren, dass his-
torische Forschung zukünftig verstärkt danach fragt, ob und wann Religi-
onspädagogik dazu
„beigetragen hat, die jeweils bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu stabilisie-
ren, oder ob sie den Jugendlichen behilflich war, unbegründete Herrschaft zu
durchschauen, sich ihr zu entziehen und sich auf den Weg einer demokratischen,
selbstbestimmten Existenz zu machen.“94
zeichnet; der Mensch könne „nur in der Spannung zum Gegenüber ein
Selbstbewußtsein und damit Freiheit“95 erfahren. Heydorn führt aus:
„Spannungen können schmerzlich sein; der Versuch, diesen Schmerz aus dem
Erziehungsprozeß herauszueskamotieren und Widerspruchslosigkeit vorzutäu-
schen, da doch der Widerspruch unsere Welt spaltet, setzt den Menschen aus ihm
heraus, die Möglichkeit des ihm eigenen Glücks.“96
Damit sich der Mensch „zum Gegenstand werden“ und „in widersprüchli-
cher Freiheit erfahren“97 kann, ist es mit Heydorn notwendig, Spannungen
und Widersprüchen nicht aus dem Weg zu gehen. Werden sie vielmehr in
elementarisierter Form in das Unterrichtsgeschehen eingebunden98, wird
Schüler*innen die Möglichkeit eröffnet, die Auseinandersetzung mit (the-
ologischer) Komplexität als persönlich bedeutsam zu erfahren. Dann kann
auch der Religionsunterricht zum Ort von Bildung werden.
Bettina Lösch
Abstract: Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie politisch Lehrkräfte und
politische Bildner*innen sein dürfen und sollten. Es wird zunächst der gegenwär-
tige Diskurs um ‚politische Neutralität‘ in den Blick genommen, der sich einerseits
um die Meldeportale „Neutrale Schule“ der Partei Alternative für Deutschland
(AfD), andererseits um die Kriterien für die staatliche Förderung von Demokra-
tiebildungsprojekten dreht. In beiden Fällen spielt der „Beutelsbacher Konsens“
eine tragende Rolle, weshalb nach seiner historischen Entstehung und seiner In-
strumentalisierbarkeit gefragt wird. Anschließend werden Prinzipien einer kri-
tisch-emanzipatorischen politischen Bildung dargelegt, die über den Beutelsba-
cher Konsens hinausgehend formuliert wurden, um neue Diskussionen in der Bil-
dungspraxis anzuregen und aufzuzeigen, warum politische Bildung nicht neutral
sein kann.
Für die Bildungspraxis stellt sich immer wieder die Frage, wie politisch
Lehrkräfte an Schulen und (politische) Bildner*innen im außerschulischen
Kontext sein dürfen. Wie gehen sie in der Bildungsarbeit mit ihrer eigenen
politischen Positionierung um? Ab wann fängt eine politische Überwälti-
gung der Teilnehmer*innen oder der Schüler*innen an und welche Kont-
roversität ist notwendig, damit sich alle eine eigene Meinung und ein kri-
tisch-reflexives Urteil zu einem bestimmten Thema und zu den gesell-
schaftspolitischen Verhältnisse bilden können? Die aktuelle Debatte um
‚politische Neutralität‘ hat in dieser Hinsicht zu einiger Verunsicherung in
unterschiedlichsten Bildungskontexten beigetragen. Gibt es überhaupt eine
politisch neutrale Position und welche normative Orientierung geben das
Grundgesetz und die Menschenrechte vor?
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_21
384 Bettina Lösch
Das alleine wäre schon problematisch, hinzu kommt allerdings, dass die
Forderung nach ‚politischer Neutralität‘ gleichzeitig auch von staatlicher
Seite im Rahmen der Vergabe von Fördermitteln an außerschulische Bil-
dungsakteure erhoben wird. Daraus resultiert eine für die politische Bil-
dung problematische Gemengelage, die massive Auswirkungen für eine
1 „Gemeinsame Stellungnahme von GPJE, DVPB und DVPW-Sektion zur AfD Melde-
plattform ‚Neutrale Schule‘“; siehe: Gesellschaft für Politikdidaktik und Politische Ju-
gend- und Erwachsenenbildung (GPJE), Deutsche Vereinigung für Politische Bildung
(DVPB) und die Sektion Politikwissenschaft und Politische Bildung der Deutschen
Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) (2018), in: http://dvpb.de/gemeinsame-
stellungnahme-von-gpje-dvpb-und-dvpw-sektion-zur-afd-meldeplattform-neutrale-sch
ulen/ [abgerufen am 12.04.2019].
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 385
Da die Debatte um Neutralität und den BK, und ob dieser auch für die au-
ßerschulische politische Bildung gelte, schon länger währt, haben im Jahr
2015 einige Wissenschaftler*innen und politische Bildner*innen aus sehr
unterschiedlichen Kontexten (Schule, Hochschule, Jugend- und Erwachse-
nenbildung, Soziale Arbeit, NGOs) die „Frankfurter Erklärung. Für eine
kritisch-emanzipatorische politische Bildung“2 in einem gemeinsamen
Diskussions- und Schreibprozess verfasst. Diese Prinzipien werden in die-
sem Aufsatz dargelegt sowie weiter ausformuliert, um zu zeigen, wie sie
den Beutelsbacher Konsens erweitern, der historisch betrachtet nie ein
wirklich gemeinsam ausgehandelter Konsens war.
Er gilt als Leitschnur bzw. als Berufsethos des Faches und ist in den Rah-
menrichtlinien der politischen und ökonomischen Bildung formuliert. Er
soll nicht nur für das Schulfach Gesellschaftswissenschaften, Politik, Poli-
tik & Wirtschaft (in NRW neuerdings: Wirtschaft & Politik), sondern fä-
cherübergreifend gelten. Im außerschulischen Bereich wissen zwar viele
Bildner*innen, dass sie sich an diesen ‚Konsens‘ halten sollen, der Wort-
laut und vor allem die Geschichte und die gesellschaftspolitischen Rah-
menbedingungen des BK sind jedoch meist unbekannt. Im Gegensatz zu
den drei Grundsätzen des BK verblasst das Grundgesetz der BRD geradezu
in der Erinnerung der Lehrkräfte und der (politischen) Bildner*innen.
Der BK geht historisch betrachtet aus tatsächlichen und noch offen ausge-
tragenen Auseinandersetzungen um unterschiedliche politische Positionie-
rungen zurück. Exemplarisch wird hierfür der Streit um die Hessischen
Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre in den 1970er Jahren
herangezogen.
„Der Beutelsbacher Konsens wurde in politisierten Zeiten verfasst. Der große
Richtungsstreit der 1970er-Jahre betraf nicht zuletzt die demokratietheoretische
Frage, ob es genüge, Schülerinnen und Schüler für ein politisches Engagement
innerhalb der bestehenden bürgerlichen Demokratie zu befähigen oder ob man
darüber hinaus die Frage nach einer demokratischen Neuordnung von Wirtschaft
und Gesellschaft aufwerfen solle. Der Dissens war somit ein politischer.“3
Der Dissens ergab sich zum einen aus der unterschiedlichen politischen
und bildungspolitischen Ausrichtung der sozialdemokratisch oder christ-
demokratisch regierten Bundesländer, zum anderen aber auch aus pädago-
gisch-didaktischen, politischen und wissenschaftstheoretischen Ansätzen,
die in Gefolge der 1968er Revolte und der Kritischen Theorie die Auffas-
3 SALOMON, David: Konsens und Dissens. Von Beutelsbach nach Heppenheim?, in: WID-
MAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine
Debatte der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016,
285–293, 286.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 387
Konkret geht die Regelung des BK auf eine Fachtagung von Politikdidak-
tikern im baden-württembergischen Beutelsbach zurück. Dabei handelt es
sich nicht, wie die Bezeichnung zunächst vermuten lässt, um einen in oder
für die Fachdisziplin ausgehandelten Konsens. Das ist meist das erste Miss-
verständnis. Der BK ist die Mitschrift des Protokollanten Hans-Georg
Wehling, der im Auftrag seines Vorgesetzten und des damaligen Leiters
der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, Sieg-
fried Schiele, die Tagung beobachten und zentrale Aspekte festhalten
sollte.4 Wehling hat in einem Aufsatz zur Tagung mit dem Titel „Konsens
à la Beutelsbach?“, der 1977 erschienen ist, drei Grundsätze festgehalten
(1. Überwältigungsverbot, 2. Kontroversitätsgebot, 3. Orientierung an den
Interessen der Schüler*innen sowie die Operationalisierbarkeit dieser In-
teressen).5 Es verhielt sich ähnlich wie gegenwärtig z. B. mit dem ‚Atom-
konsens‘ oder dem ‚Braunkohlekompromiss‘: Es geht bei diesen Konsen-
sen und Kompromissen nicht um eine politische und gesellschaftliche Be-
ratschlagung, der dann ein gemeinsam ausgehandelter Konsens folgt.
‚Konsens‘ scheint hier eher die Bedeutung zu haben, zu einer formalen,
meist herrschaftlich durchgesetzten Regelung zu gelangen, die fachliche
oder gesellschaftspolitische Kontroversen befrieden soll. Als Minimalkon-
sens konnte der BK sich wahrscheinlich deshalb innerhalb der unterschied-
lichen politischen und wissenschaftstheoretischen Lager durchsetzen, da
gegen die drei formal gehaltenen Prinzipien nicht wirklich etwas einge-
4 WIDMAIER, Benedikt / ZORN, Peter: Konsens in der politischen Bildung? Zur Einfüh-
rung, in: DIES. (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der poli-
tischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 9–13, 10.
5 WEHLING, Hans-Georg: Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertenge-
spräch. Textdokumentation aus dem Jahr 1977, in: WIDMAIER, Benedikt / ZORN, Peter
(Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung,
Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 19–27.
388 Bettina Lösch
wendet werden kann. Problematisch ist eher die fehlende Sichtbarkeit der
Deutungsoffenheit, und dass sich die Maßgaben, etwa das Überwälti-
gungsverbot, im Kontext des damaligen „Radikalenerlasses“ vor allem ge-
gen linke Lehrkräfte richtete.6 Der BK hatte stets eine ideologische Funk-
tion, etwa Ansprüche nach Emanzipation oder Demokratisierung als Über-
wältigung von Schüler*innen zurückzuweisen, in dem der gesellschaftli-
che status quo (etwa der eingeschränkten bürgerlich-liberalen Demokratie)
aufrechterhalten werden sollte.7 Er kann in diesem Sinne auch anders ge-
nutzt werden, etwa um tatsächliche Kontroversität einzufordern oder
rechte und rechts-konservative Positionen als Überwältigung zu bezeich-
nen. Durch seine normative Unbestimmtheit lässt er sich in und für alle
Richtungen nutzen, aber auch instrumentalisieren.8
Es stellt sich somit auch die Frage, ob es sich bei der Debatte um den Nut-
zen des BK nicht vielmehr um einen Stellvertreterkonflikt handelt.9 Statt
um den BK zu streiten, müsste es vielmehr um eine (notwendige) demo-
kratietheoretische und demokratiepolitische Reflexion und Auseinander-
6 STUDT, Marcel: Rolf Schmiederers pragmatische Wende? Zur Bedeutung des Radika-
lenerlasses für die Geschichte der politischen Bildung in den 1970er-Jahren, in: WID-
MAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine
Debatte der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016,
87–95.
7 ZIMMERMANN, Christian: Das uneingelöste Potential des Beutelsbacher Konsenses, in:
WIDMAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?
Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung
2016, 343–352, 343–344.
8 Zu weiteren kritischen Einwänden siehe: HERBST, Jan-Hendrik: Offenbarung aus einem
„brennenden Dornbusch im Schwarzwald“ (G. Steffens)? Der Beutelsbacher Konsens
und seine religionspädagogische Rezeption, in: Theo-Web 18/2 (2019, i. E).
9 LÖSCH, Bettina: Warum diese Angst vor dem politischen Dissens? Zur Demokratisie-
rung gehören der Streit um Alternativen und die Kritik am Bestehenden, in: WIDMAIER,
Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte
der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 224–232,
225.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 389
Ein wichtiger Impuls, und zwar nicht nur für die politische Bildung, bildete
in den 1970er Jahren der pädagogische Imperativ, wie er von Adorno for-
muliert wurde: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist
die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß
10 Vgl. auch ZIMMERMANN 2016 [Anm. 7] sowie SALOMON 2016 [Anm. 3].
11 Zur „bezogenen Urteilsbildung“ siehe SCHRÖDER, Achim: Außerschulische Jugendbil-
dung, in: BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz / RÜHLE, Manuel (Hg.): Handbuch
Kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft,
Weinheim: Beltz Juventa 2018, 452–466.
390 Bettina Lösch
ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“12 „Die einzig
wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie; wenn
ich den Kantschen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur
Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“13 Diese dezidierte Haltung,
dass Bildung auch zu Widerspruch und kritischer Selbstaufklärung befähi-
gen kann, ist der politischen Bildung im Laufe der Zeit verloren gegangen.
Die Kritische Theorie wurde als Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie
von denjenigen für tot oder anachronistisch erklärt, die eine andere (wis-
senschafts-) politische Ausrichtung favorisierten und den gesellschaftli-
chen status quo der bürgerlichen Gesellschaft, liberaler Demokratie und
Marktwirtschaft garantieren wollten.14 In den letzten Jahren kam es aller-
dings zu einer Re-aktualisierung kritischer politischer Bildungsansätze, die
sich explizit auf die kritische Theorie – in einem weiter gefassten Sinne als
die Kritische Theorie der Frankfurter Schule – und neuere herrschaftskri-
tische Ansätze der Gesellschaftsforschung berufen.15 Hierbei handelt es
sich um eine durchaus heterogene Strömung, die unterschiedliche Fachdis-
ziplinen umfasst.
19 AHLHEIM, Klaus: Politische Bildung, in: BERNHARD, Armin / ROTHERMEL, Lutz (Hg.):
Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim: Juventa 1997, 302–315, 311.
20 Vgl. DEMIROVIĆ, Alex / DÜCK, Julia / BECKER, Florian / BADER, Pauline (Hg.): Viel-
fachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg: VSA-Verlag 2011.
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 393
Anders als der formal gehaltene BK, der im luftleeren Raum zu schweben
scheint, thematisiert die Frankfurter Erklärung gesellschaftliche Rahmen-
bedingungen, die die bürgerliche Gesellschaft und Demokratie kennzeich-
nen. Sie beachtet Machtgefälle und ungleiche Ressourcen, ist insofern an-
ders normativ positioniert als die scheinbar neutralen Formulierungen des
BK. In diesem wird stillschweigend davon ausgegangen, dass alle die glei-
chen sozialen Positionen, politischen Teilhaberechte und Einflussmöglich-
keiten haben. In der Frankfurter Erklärung ist insofern ausdrücklich for-
muliert:
Wie politisch darf und sollte Bildung sein? 395
Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen. Niemand, auch keine kri-
tische Perspektive, befindet sich außerhalb von Macht- und Herrschafts-
verhältnissen. Kritische politische Bildungsansätze greifen daher auf neu-
ere Gesellschafts- und Subjekttheorien zurück, die diese Eingebundenheit
zu verstehen suchen und danach fragen, wie Individuen gleichzeitig verge-
sellschaftet und subjektiviert werden. Überwältigung passiert heute nicht
primär durch intentionale und personalisierte Indoktrination oder klare
Hierarchien, sondern viel stärker durch symbolische Herrschaftsformen,
durch Normierungen und Disziplinierungen, durch eine Verbindung von
Macht und Wissen. Hier müsste das „Überwältigungsverbot“ erweitert
werden. Macht- und Herrschaftsverhältnisse in (politischen) Bildungspro-
zessen transparent werden zu lassen, kann z. B. bedeuten, Pseudopartizipa-
tion als Vortäuschung, Instrumentalisierung oder Disziplinierung zu ana-
lysieren und zu verstehen, statt sie simulativ zu affirmieren. Dies kann dazu
beitragen, Überwältigung durch symbolische Herrschaft zu minimieren o-
der ihr vorzubeugen. Sie eröffnet zumindest Selbstreflexivität, die für Pro-
fessionalisierung zentral ist. Jede Lehrperson hat eine eigene politische
Haltung sowie ein Anliegen, das sie bei der Auswahl von Lerninhalten und
der Vorgehensweise motiviert und leitet. Zu einer professionellen Haltung
gehört, dass Lehrende sich selbstreflexiv dieser Haltung und des eigenen
Anliegens bewusst sind und diese transparent machen.25 Damit verbunden
sind auch der ‚Habitus‘ (die Denk- und Wahrnehmungsweise von Welt)
und die ‚soziale Positionierung‘ der Lehrenden. Diese prägen die Perspek-
tive auf Bildung, Unterricht, Inhalt und Lernende. „Kritisch-emanzipatori-
sche Politische Bildung beginnt dort, wo solche Normsetzungen und Kon-
struktionen sichtbar gemacht, kritisiert und infrage gestellt werden.“ Da-
durch bieten politische Bildner_innen den Teilnehmenden „einen Schutz
vor Überwältigung und stärken deren Recht auf Eigensinn und Selbstbe-
stimmung.“26
3 Resümee
– unter der Maßgabe von Neutralität – nichts gegen diese eingewendet wer-
den soll?
31 STEFFENS, Gerd: Politische Bildung in einer Welt der Umbrüche und Krisen, in: SAN-
DER, Wolfgang / SCHEUNPFLUG, Annette (Hg.): Politische Bildung in der Weltgesell-
schaft. Herausforderungen, Positionen, Kontroversen, Bonn: Bundeszentrale für politi-
sche Bildung 2011, 385–398, 385.
Irritierbarkeit.
Eine theologische Überlegung
zur kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik
Abstract: Der Beitrag stellt mit Blick auf Bettina Löschs Überlegungen zur kri-
tisch-emanzipatorischen politischen Bildung das ‚Netzwerk antisemitismus- und
rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie‘ (narrt) vor. Im Gespräch
mit der auf Selbstkritik zielenden Diskussion über Rassismus in politischer und
religiöser Bildung wird das Motiv der Irritierbarkeit theologisch bedacht und als
Kategorie selbstkritischer religionspädagogischer Professionalität herausgestellt.
1 Vgl. CORNEHL, Peter: Dorothee Sölle, das ‚Politische Nachtgebet’ und die Folgen, in:
HERMLE, Siegfried / LEPP, Claudia / OELKE, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Pro-
testantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren (Arbeiten
zur Kirchlichen Zeitgeschichte 47), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 265–
284, 266–267.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_22
404 Dominik Gautier
Gegenüber einer Politik, die mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der
‚Neutralität’ politischer Bildung, sexistische oder rassistische Rede akzep-
tabel zu machen versuche und zugleich den Widerspruch hiergegen ver-
hindern wolle, plädiert Bettina Lösch für eine reflexive und engagierte po-
litische Bildung. Dieser Ansatz macht sich für demokratische Grundsätze,
Grund- und Menschenrechte sowie Prozesse der Selbstbestimmung stark
und nimmt damit – begründet – für sich in Anspruch, politische Positionen
zurückzuweisen, welche diese ‚Spielregeln’ zu unterlaufen versuchen.
2 Vgl. AFD-FRAKTION IM THÜRINGER LANDTAG: Unheilige Allianz. Der Pakt der evange-
lischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen, Erfurt 2019. Hierzu auch folgende
Analyse, in der betont wird, dass die katholische Kirche in dieser Schrift mitgemeint
sei: MÖHRING-HESSE, Matthias: Angriff gegen die rotgrün versiffte Kirche. Wie eine
Landtagsfraktion der AfD über den rechten Glauben wacht – und was daraus theolo-
gisch gelernt werden kann, in: feinschwarz.net (2019) [abgerufen am 03.07.2019].
Irritierbarkeit 405
Diese Aufgabe soll hier anhand der Überlegungen Paul Mecherils zur ras-
sismuskritischen Ausrichtung politischer Bildung skizziert werden: Ras-
sismuskritik nimmt (1) die Alltäglichkeit von Rassismus in den Blick, wie
sie nicht nur durch subtile Diskriminierungen, zunehmend ‚normal’ wer-
3 Vgl. DETERING, Heinrich: Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen
Rechten, Stuttgart: Reclam 2019.
4 Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung’, Grund-
satz 2 (FFE 2), in: https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklae-
rung/ [abgerufen am 03.07.2019].
5 Vgl. HAFENEGER, Benno / WIDMAIER, Benedikt: Warum rassismuskritische politische
Bildung?, in: HAFENEGER, Benno / UNKELBACH, Katharina / WIDMAIER, Benedikt
(Hg.): Rassismuskritische politische Bildung. Theorien – Konzepte – Orientierungen
(Non-formale politische Bildung 14), Frankfurt am Main: Wochenschau 2019, 9–15,
10–11.
406 Dominik Gautier
6 Vgl. MECHERIL, Paul: Politische Bildung und Rassismuskritik, in: LÖSCH, Bettina /
THIMMEL, Andreas (Hg.): Kritische politische Bildung. Ein Handbuch (Politik und Bil-
dung 54), Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2010, 241–252, 243–244.
7 Vgl. EBD., 244–245.
8 HALL, Stuart: Ethnizität: Identität und Differenz, in: ENGELMANN, Jan (Hg.): Die klei-
nen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt am Main / New York: Cam-
pus 1999, 84–98, 93.
9 Vgl. MECHERIL 2010, 245–246 [Anm. 6].
Irritierbarkeit 407
(4) Das Anliegen der Rassismuskritik ist es, auf die Transzendierung einer
auf Rassekonstruktionen zurückgehenden Solidarität hinzuwirken – hin zu
einer Solidarität, welche an die Gleichwertigkeit aller Menschen anzu-
knüpfen und hierauf aufzubauen versucht.10
Nach Judith Könemann kann eine solche Wende hin zur Reflexion des po-
litischen Selbstverständnisses der Religionspädagogik seit den 2000er Jah-
ren im Zuge der Diskussion um das Verhältnis von Religion und Demo-
kratie ausgemacht werden. Nach Versuchen einer religionspädagogischen
Orientierung an den politisch-theologischen Ansätzen von Jürgen Molt-
mann, Johann Baptist Metz und Dorothee Sölle habe seit den 1980er Jah-
ren die Auseinandersetzung mit (individueller) religiöser Identität ange-
sichts der Rede vom (religiösen) ‚Traditionsabbruch’ dominiert. Politische
Fragen seien dann höchstens individualethisch in den Blick gekommen.13
Die Diskussion über die politische Dimension von Religionspädagogik sei
durch die Arbeiten des katholischen Religionspädagogen Bernhard
Grümme und des oben bereits erwähnten evangelischen Religionspädago-
gen Schlag angeregt worden.14
13 Vgl. KÖNEMANN, Judith: Art. Politische Religionspädagogik, in: WiReLex 2016 [abge-
rufen am 19.09.2019].
14 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme, Grund-
satzüberlegungen. Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts,
Stuttgart: Kohlhammer 2009; SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung.
Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive (Religionspädagogik in
pluraler Gesellschaft 14), Freiburg im Breisgau: Herder 2010.
Irritierbarkeit 409
Der erwähnte von Schlag verfasste Lexikonartikel könnte als Versuch der
Konkretion verstanden werden. In reflexiver Weise ist dem Artikel daran
gelegen, bei der Problematisierung von Rassismus nicht in die ‚Moralis-
mus-Falle’ zu geraten: So warnt Schlag davor, in Konflikten über Rassis-
mus allzu schnell mit dem Etikett der moralischen Illegitimität zu operie-
ren. Eine entschiedene Zurückweisung von rassistischen Argumentationen
werde so – wider Willen – verhindert.16 Diese Auffassung trifft sich inso-
fern (1) sowohl mit dem Ansatz kritischer politischer Bildung, die – blickt
man auf Grundsatz 2 der ‚Frankfurter Erklärung’ – auf Kontroversität setzt,
innerhalb derer sich dann eine an Grund- und Menschenrechten orientierte
Argumentation erweisen kann als auch (2) mit dem Ansatz der Rassismus-
kritik, der auf Distanz zum Gut-Böse-Schema eines vorranging moralisch
argumentierenden Antirassismus geht, um mehr Selbstproblematisierung
und damit eine tieferreichende Zurückweisung von Rassismus zu errei-
chen.17
23 Vgl. EBD., 3.
24 Vgl. hierzu LOBERMEIER, Olaf / KLEMM, Jana / STROBL, Rainer: Abschlussbericht. Kir-
chenmitgliedschaft und politische Kultur. Ausprägungen von Elementen Gruppenbezo-
gener Menschenfeindlichkeit unter Mitgliedern der evangelischen Kirche, Hannover
2016.
Irritierbarkeit 413
25 Vgl. EVANGELISCHE AKADEMIE ZU BERLIN u. a. (Hg.): Vor Gott sind alle Menschen
gleich. Beiträge zu einer rassismuskritischen Religionspädagogik und Theologie, Ber-
lin 2016; EVANGELISCHE AKADEMIE ZU BERLIN u. a. (Hg.): Identität. Macht. Verletzung.
Rassismuskritische theologische Perspektiven, Berlin 2019.
26 Vgl. WILLEMS, Joachim: Art. Interreligiöse Kompetenz, in: WiReLex 2017 [abgerufen
am 03.07.2019].
27 Vgl. HALL, Stuart: Die Frage der kulturellen Identität (1992), in: HALL, Stuart: Ausge-
wählte Schriften 2, Hamburg: Argument Verlag 1994, 180–222.
Irritierbarkeit 415
28 Vgl. BONHOEFFER, Dietrich: Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt [1940–1943],
in: BONHOEFFER, Dietrich: Ethik [DBW 6], Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1992,
301–341.
416 Dominik Gautier
29 Vgl. BOYARIN, Daniel: The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York:
The New Press 2012.
30 Vgl. KAMMERER, Gabriele: In die Haare, in die Arme. 40 Jahre ‚Arbeitsgemeinschaft
Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag’, Gütersloh: Güterslo-
her Verlagshaus 2001.
31 Vgl. CONE, James H.: The Cross and the Lynching Tree, Maryknoll: Orbis Books 2011.
Irritierbarkeit 417
Claudia Gärtner
Die „Zeichen der Zeit“ legen es nahe, so Hans Mendl, religiöse Bildung
wieder deutlich politisch auszurichten. Allerdings bestehe derzeit noch ein
„zentrales Desiderat“1 darin, diese Dimension didaktisch zu konturieren.
„Es fällt auf, dass die ProtagonistInnen eines deutlicher politisch ausgerichteten
Religionsunterrichts bislang überwiegend normativ und appellativ argumentie-
ren. Was aussteht, ist die Konkretisierung dieses stimmigen Plädoyers auf eine
entsprechende Didaktik und Methodik einer politisch orientierten religiösen Bil-
dung hin: Die Auskonturierung neuer öffentlichkeitsorientierter Lehr- und Lern-
formate und die Erstellung alltagstauglicher Materialien für den Religionsunter-
richt und die religiöse Bildungsarbeit allgemein.“2
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_23
424 Hinführung V
Mit Blick zurück in die Geschichte lässt sich aus der Reformdekade ein
weiteres Desiderat der Problemorientierten Religionspädagogik erkennen.
Zwar seien neben dem dominierenden Problemorientierten Religionsun-
terricht am Lernort Schule durchaus auch an anderen religionspädagogi-
schen Orten entsprechende Praxismodelle entwickelt worden, wie Norbert
Mette in seinem Beitrag für die Jugendarbeit, die Erwachsenenbildung und
Entwicklungsarbeit entfaltet. Doch woran es fehlte, so Bernd Schröder in
seinen historischen Analysen, „ist ein übergreifender bzw. all die Spezial-
reflexionen zusammenführender religionspädagogischer Diskurs“9, der
auch die Vielfalt der Lern- und Bildungsorte in den Blick nimmt. Dieses
historische Desiderat aufgreifend, werden im Folgenden sowohl Praxisbei-
spiele aus der formalen Bildung in Schule (BÜRGER / JENDT, GÄRTNER,
HERBST), Universität (DEBOUR) oder Ausbildung (EICH), als auch der non-
formalen Bildung aus unterschiedlichen Bereichen wie kirchlicher Ver-
bände (HOLBEIN-MUNSKE), Akademien (KELLER / KLÄSENER) und welt-
Abstract: Tage religiöser Orientierung (TrO) sind ein gängiges Konzept der Schul-
pastoral. Im folgenden Aufsatz wird anhand des pädagogischen Konzepts der The-
menzentrierten Interaktion (TZI), das TrO zumeist zugrunde liegt, erörtert, inwie-
fern auf TrO kritisch-emanzipatorische und politische Bildung möglich ist. Als
Kriterien für eine solche werden die sechs Grundsätze der Frankfurter Erklärung
herangezogen. Herausgearbeitet werden existierende Potenziale, zukünftige Per-
spektiven und problematische Leerstellen kritisch-emanzipatorischer Bildung auf
TrO.
TrO sind ein verbreitetes Modell der Schulpastoral, welches dazu dient,
religiös-spirituelle Bildung zu ermöglichen.2 In den vielfältigen religions-
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_24
430 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer
Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass TrO ein Konzept sind, dass einer
politischen Tradition von Religionspädagogik entspringt. Die Beziehun-
gen zur gesellschaftlichen Reformdekade um 1968 lassen sich einerseits
daran verdeutlichen, dass es sich um „Jugendpastoral auf der Grundlage
der Würzburger Synode“7 handelt. So konzediert Norbert Mette: „Beein-
flusst durch die erwähnten soziokulturellen Umbrüche in Gefolge von
Das pädagogische Konzept der TZI liegt TrO zumeist zugrunde. Dieser
Ansatz der humanistischen Psychologie besitzt das Ziel, so postuliert Ei-
leen Krauße, Mitarbeiterin im Referat Jugendpastorale Bildung, „politisch
und gesellschaftlich wirksam zu sein.“10 Auch im Rahmen der kritischen
politischen Bildung wird TZI angewendet und diskutiert, da es mit dieser
gelingen kann „Bildungsräume zu schaffen, in denen das Subjekt die es
umgebenden Macht- und Herrschaftsprozesse versteht sowie Handlungs-
möglichkeiten entwickeln kann, um in diese Realität gestaltend einzugrei-
fen.“11
Wenn im Folgenden TrO und TZI als politisch bezeichnet werden, liegt
dem ein spezifischer Politikbegriff zugrunde, der nicht auf einen engen Be-
reich von Parteipolitik und demokratischen Institutionen beschränkt ist,
sondern bereits in den „mikrosozialen Strukturen beginnt“17, wie der Reli-
gionspädagoge Thorsten Knauth feststellt. Diesem Verständnis zufolge
kann auch die kritische Reflexion der eigenen Prioritäten als politisch an-
gesehen werden.18 Insofern es auch auf TrO darum gehen kann, das Ver-
12 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik / HOLBEIN, Christoph / WÜLLHORST, Judith: TZI als subjekt-
bezogene Handlungsoption zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, in:
GEYER, Felix u. a.: Europa – verkauft und verführt? Sozialethische Reflexionen zu Her-
ausforderungen der europäischen Integration (Forum Sozialethik 19), Münster:
Aschendorff 2018, 216–238.
13 Vgl. COHN, Ruth C. / FARAU, Alfred: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei
Perspektiven, Stuttgart: Klett-Cotta 32001, 211–213.
14 EBD., 323.
15 EBD., 449.
16 Vgl. HERBST / HOLBEIN / WÜLLHORST 2018 [Anm. 12].
17 KNAUTH, Thorsten: Bleibend notwendig! Der Problemorientierte Religionsunterricht
und seine Bedeutung für eine kritische Religionspädagogik – Geschichte und Aktuali-
tät, in: ZPT 70 (2018), 128–141, 140.
18 Vgl. KRAUßE 2015 [Anm. 5], 173.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 433
19 Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Das Erlernen soziologischer Phantasie im Rahmen der TZI-
Grundausbildung, in: Themenzentrierte Interaktion 32 (2018), 155–156.
20 COHN, Ruth C.: Zu wenig geben ist Diebstahl – zu viel geben ist Mord!, in: Themen-
zentrierte Interaktion 26 (2012), 85–91, 86.
434 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer
Ein zweites Potenzial, das bereits auf vielen TrO verwirklicht wird, ist die
Ermutigung von Jugendlichen (FFE 5). So gibt es einen Raum dafür, eigene
Ohnmachtserfahrungen zu reflektieren und zu thematisieren. Der spiritu-
elle Rahmen von TrO, die Morgen- und Abendimpulse, bieten dafür einen
prädestinierten Ort. Sie sind ein „Raum […] zum Innehalten und Nach-
Denken, für Stille, Meditation, Gebet und […] Zeit, die frei gefüllt werden
kann.“27 In der Auseinandersetzung mit eigenen Zukunftsvorstellungen,
die zum Teil dem Anliegen der Berufsberatung diametral gegenüberstehen,
24 RÖHLING, Jens: Anmerkungen zur ‚Haltung‘ der TZI. Oder: Ama et fac quod vis (Au-
gustin), in: Themenzentrierte Interaktion 28 (2014), 15–19, 17.
25 Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.
26 JOHACH, Helmut: Auf dem Marsch durch die Institutionen. oder: Wieweit kann TZI die
Gesellschaft verändern?, in: LÖHMER, Cornelia / STANDHARDT, Rüdiger (Hg.): Zur Tat
befreien. Gesellschaftspolitische Perspektiven der TZI-Gruppenarbeit, Mainz: Matthias
Grünewald 1994, 77–98, 92–93.
27 KESTING, Georg: Haare glätten für die Seele, in: Religionsunterricht an berufsbildenden
Schulen 4 (2009), 27–28, 27.
436 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer
31 Vgl. AFJ 2017 [Anm. 2], 5. Durch kritische Impulse der Teamer*innen können reine
Komfortzonen-Themen vermieden werden, denn TrO sollen „immer auch konfrontativ
und herausfordernd“ (HOBELSBERGER 2015 [Anm. 4], 166) sein.
32 STEINKAMP 2011 [Anm. 6], 421.
33 Vgl. AFJ 2017 [Anm. 2], 17–21.
34 Zum Beispiel wurde in einer multikulturellen Gruppe über die eigenen Erfahrungen mit
Rassismus, aber auch die Vermischung von Antisemitismus und Israelkritik gespro-
chen. Besonders am Thema „schwarzer Humor“ ließen sich die eigene Haltung, die
Grenzen von Witzen und die Konsequenzen des eigenen Handelns reflektieren. Lern-
prozesse können ermöglicht werden, wenn beispielsweise ein Schüler seinem langjäh-
rigen Freund im relativ sicheren Rahmen der TrO offenbaren kann: „Auch wenn ich
438 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer
Die Krisenorientierung von TrO lässt sich spezifizieren, insofern nach TZI
das Störungspostulat gilt, demzufolge Störungen sich Vorrang nehmen.
Dies kann kleinere Vorfälle (z. B. einen Vogel im Gruppenraum), aber
auch größere Ereignisse betreffen (z. B. einen Terroranschlag, über den
medial berichtet wird). Störungen können sich in der TZI-Terminologie
auch im Globe befinden: „Der GLOBE umfasst die unmittelbaren Gege-
benheiten wie Tageszeit und Raumausstattung ebenso wie bewegende po-
litische Ereignisse und die sozioökonomischen Verhältnisse, die die Le-
benssituation der Beteiligten prägen.“35 Ein Beispiel für eine solche Situa-
tion stellt die Katastrophe von Fukushima dar, die während eines TrO-Kur-
ses passierte. In den ersten Stunden sickerte die Nachricht in die Gruppe
und sie wurde so präsent, dass am ursprünglichen Thema nicht mehr wei-
tergearbeitet werden konnte. Auf der Grundlage von Teilnehmer*innen-
und Prozessorientierung wurden daraufhin via Beamer die Nachrichten
übertragen. Nach einer ersten Phase der Information gab es Raum, sich
über die Sorgen und Ängste, aber auch mögliche Reaktionen auf den Vor-
fall auszutauschen.36 Als ein weiteres, religiös geprägtes Beispiel kann ein
Abendimpuls genannt werden, der die Version vom Vater Unser von Ha-
gen Rether aufgreift. In diesem Kabarettstück thematisiert Rether die Wi-
dersprüche des christlichen Glaubens im Horizont globaler Ungerechtig-
keit und sozialer Verwerfungen. So halten wir das Störungspostulat für ein
eminent wichtiges Instrument, um Bildungsprozesse krisenorientiert und
politisch auszurichten. Dies artikuliert Ruth Cohn im folgenden Zitat be-
sonders prägnant.
seit Jahren über diesen Witz auf meine Kosten mitlache, muss ich zugeben, dass er mich
eigentlich verletzt.“
35 LAPP 2010 [Anm. 11], 379.
36 Vgl. dazu WIGGER, Lothar / PLATZER, Barbara / BÜNGER, Carsten (Hg.): Nach
Fukushima? Zur erziehungs- und bildungstheoretischen Reflexion atomarer Katastro-
phen, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 439
„Wenn wir uns stören lassen von dem, was uns stört, und Störungen als Hinder-
nisse und als Chance zu erkennen und zu behandeln bereit sind, sind wir im Pro-
zeß eines Fortschritts im Humanum. Wenn wir uns nicht stören lassen von der
großen Störung im Weltbereich von Not und Inhumanität, kann diese Störung
sich verselbstständigen und zur letzten aller Störungen werden.“37
Eine zweite Perspektive stellt Machtkritik dar, die bisher jedoch nur mar-
ginal auf TrO präsent ist (FFE 3). Gruppendynamische Phänomene können
als Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden, im „Mikro-
kosmos der Kleingruppe“ bilden sich z. B. „Machtkämpfe“38 ab, die mit
Fragen der sozialen Position und Privilegierung zusammenhängen (kön-
nen). Auf TrO könnte es gelingen, auf der Basis von TZI, in unterschiedli-
cher Intensität und in disparaten Formen von Schutzräumen, eine „Me-
takommunikation“39 über diese Themen anzuregen und damit die Fähigkeit
der Jugendlichen zu stärken, über die eigene soziale Bestimmtheit zu re-
flektieren. Dabei geht es auch darum, entsprechend der Selbstbestim-
mungsfähigkeit der Jugendlichen, echte Freiräume demokratischer Mitbe-
stimmung einzuräumen. Dies gelingt mit dem basisdemokratischen Kon-
zept der TZI, bei dem die Leitung selbst als teilnehmend gedacht wird und
die Teilnehmer*innen als leitend. Die rote Linie zwischen Leitung und Ju-
gendlichen, wie sie in der Schule streng gezogen ist, wird damit prinzipiell
aufgehoben. Dies realisiert sich tendenziell in den einzelnen Interaktionen.
Zugleich gibt es auf TrO auch explizit die Möglichkeit, über Abhängigkei-
ten und soziale Machtverhältnisse nachzudenken. Bei Themen wie „Liebe,
Freundschaft, Partnerschaft“ können die Teilnehmer*innen beispielsweise
ihre Genderrolle reflektieren und sich der Macht sozialer Normen bewusst
37 OCKEL, Anita / COHN, Ruth C.: Das Konzept des Widerstands in der Themenzentrierten
Interaktion. Vom psychoanalytischen Konzept des Widerstands über das TZI-Konzept
der Störung zum Ansatz einer Gesellschaftstherapie, in: LÖHMER, Cornelia / STAND-
HARDT, Rüdiger (Hg.): TZI. Pädagogisch-therapeutische Gruppenarbeit nach Ruth C.
Cohn, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, 177–206, 205.
38 Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.
39 EBD.
440 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer
werden. Dabei ist es zentral, dass TrO in einem Rahmen stattfinden, der im
Gegensatz zur Schule von Bewertungsfreiheit und Freiwilligkeit geprägt
ist, was auch dadurch garantiert wird, dass die Lehrpersonen nicht am Pro-
gramm teilnehmen. Die Schüler*innen entscheiden faktisch selbst, ob und
inwiefern sie sich auf die Tage einlassen. Dies wird von den Teamer*innen
ernstgenommen. Die Erfahrung ist jedoch auch, dass durch den Freiraum
und die Wertschätzung eine andere Offenheit besteht, sich auf das Angebot
der TrO einzulassen. Gerade dadurch, dass die Jugendlichen auch ohne
Anwesenheit der Teamer*innen ganz alleine miteinander ins Gespräch
über persönliche Themen kommen, können sie Erfahrungen machen, in
denen sie z. B. einen reflektierten Umgang mit der eigenen Schwäche fin-
den. So formulieren Schüler*innen in Erfahrungsberichten ihre Erlebnisse
folgendermaßen: „Mit eigenen Fragen, Ängsten, Hoffnungen wahrgenom-
men werden, ohne dass sie als Schwäche gebrandmarkt werden.“40 Oder:
erleben, dass auch ‚schwach‘ sein eine Stärke ist“ und „sogar die so stark
erscheinen, schwach sind.“41
Solche Perspektiven sind insofern politisch, als sie eine Unterbrechung zur
Schule in der Leistungsgesellschaft darstellen. Die eigenen Schwächen zu
zeigen, die menschliche Verwundbarkeit anzuerkennen, ist ein theologi-
sches und ein politisches Thema.42 In einer Leistungsgesellschaft, in der
das „Unternehmerische Selbst“ (U. Bröckling) die zentrale Subjektivie-
gen Rahmen schulischer Bildung zu verlassen und andere Formen von Bil-
dungsprozessen zu ermöglichen. Dabei ging es ihm darum, „das tägliche
Unterrichtsgeschehen reflexiv zu thematisieren und damit Unterricht in
Richtung eines Selbsterfahrungsprozesses umzuformen.“47 Darin sieht er
die Möglichkeit angelegt, zum Beispiel „Rollenpräskriptionen“48 zu durch-
brechen und andere problematische Mechanismen wie das schulische Kon-
kurrenzprinzip und dessen Wirkung nachvollziehen zu lernen.49 Allerdings
fehlt auf TrO eine solche Reflexion häufig.
Als eine bisherige Leerstelle kann darüber hinaus die fehlende machtkriti-
sche Selbstreflexivität festgestellt werden (FFE 4). Grundsätzlich lässt sich
bei den Teamer*innen die Überzeugung feststellen, das TrO eine äußerst
sinnvolle und anregende Institution sind.50 Möglicherweise mangelt es in
den Reflexionen der Teamer*innen noch daran, sich stärker die Frage zu
stellen, inwiefern TrO die bestehenden Verhältnisse eher reproduzieren,
als einen Raum dafür zu bieten, sie kritisch zu reflektieren und infrage zu
stellen. Aus diesem Grund scheinen uns die selbstkritischen Perspektiven
im Rahmen dieser Tätigkeit noch nicht ausgeprägt genug zu sein. Mit Her-
mann Steinkamp können diesbezüglich zwei unterreflektierte Themen her-
vorgehoben werden, die auf die vorausgesetzte Differenz von Schule und
TrO abzielen. Erstens, so arbeitet Steinkamp heraus, sind Teamer*innen
auf TrO-Kursen mit der Rolle von Lehrer*innen auf komplexe Weise ver-
fern sie erfahrungskatechetisch ausgerichtet sind, einen Bezug zur kirchlichen Jugend-
verbandsarbeit besitzen und auch TZI verwendet wird.
47 EBD., 470.
48 EBD.
49 Vgl. EBD., 473–474.
50 Vgl. STEINKAMP 2011 [Anm. 6], 421.
Kritisch-emanzipatorische Bildung auf TrO? 443
Die zentrale Leerstelle stellt sicherlich die Frage nach dauerhaften und
strukturellen Veränderungen dar, weil TrO selten kollektive Transforma-
51 EBD., 420.
52 EBD.
53 Vgl. EBD., 419.
54 EBD., 422.
55 Vgl. EBD., 421.
56 EBD., 423.
444 Friederike Bartmann, Jan-Hendrik Herbst und Simon Schäfer
TZI stellt den Versuch dar, im Bewusstsein dieser Problematik eine radikal
demokratische Bildungspraxis zu konstituieren. Offensichtlich ist jedoch,
dass das politische Veränderungspotenzial von TrO noch nicht ansatzweise
ausgeschöpft ist. Methoden wie die Zukunftswerkstatt oder Aktionsformen
1 Zitiert nach: WOLFF, Reinhard: Greta schwänzt die Schule – fürs Klima, in: https://
taz.de/15-jaehrige-Aktivistin-aus-Schweden/!5528023/ [abgerufen am 09.08.2019].
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C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_25
448 Markus Bürger und Sebastian Jendt
Thomas von Aquin schreibt in seiner Summa contra gentiles: „Ein Irrtum
über die Geschöpfe mündet in ein falsches Wissen über Gott und führt den
Geist des Menschen von Gott fort.“2 Wenn Thomas recht hat, führt die
Ausblendung der Tiere aus Theologie und Religionsunterricht in ein fal-
sches Gottesbild.3 Die Auseinandersetzung mit den Mitgeschöpfen berühre
vielmehr existenzielle Fragen des menschlichen Daseins. Nun werden den
streikenden Schüler*innen kaum die Worte des Kirchenvaters zu Ohren
gekommen sein. Dennoch ergibt sich aus religionspädagogischer Perspek-
tive die Herausforderung, die Motive der Fridays for Future Bewegung in
Verantwortung für die Welt theologisch zu reflektieren und Impulse für
das eigene Handeln zu setzen.
2 AQUIN, Thomas [von]: Summa contra gentiles II. c3., zitiert nach: LÜKE, Ulrich:
Mensch – Natur – Gott: Naturwissenschaftliche Beiträge und theologische Erträge,
Münster: LIT 2002, 156.
3 Vgl. den Beitrag von Simone HORSTMANN in diesem Band.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 449
2 Kritisch-emanzipatorischer Religionsunterricht
„Es ist wichtig zu unterscheiden, dass Lehren nicht die Übertragung des Begrei-
fen des Objektes auf den Schüler ist, sondern bedeutet, ihn in dem Sinne zu for-
dern, dass er als wissendes Subjekt in der Lage ist, zu begreifen und das Begrif-
fene zu kommunizieren. Darin liegt für mich die Bedeutung, der Schülerin mit
ihren Zweifeln, Denkanstößen und ihrer vorläufigen Inkompetenz zuzuhören.
Und beim Zuhören lerne ich mit ihr zu sprechen.“4
4 FREIRE, Paulo: Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis,
Münster: Waxmann 2008, 109.
5 METTE, Norbert: Religiöse Erziehung und Bildung im Kontext der „Geldkultur“, in:
KROBATH, Thomas / LEHNER-HARTMANN, Andrea / POLAK, Regina (Hg.): Anerken-
nung in religiösen Bildungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven (= Wiener Forum
für Theologie und Religionswissenschaft 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2013, 277–287, 277. Mette bezieht sich dabei auf folgenden Text: Vgl. KROBATH, Tho-
450 Markus Bürger und Sebastian Jendt
Bei Krobath und Jäggle gipfelt der Befund in einer Diagnose der „implizi-
ten ‚Religion’ der Leistungsgesellschaft“6.
mas / JÄGGLE, Martin: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung.
Ein Beitrag zum Schulentwicklungsdiskurs in Österreich, in: Amt und Gemeinde 1/61
(2010), 51–63.
6 KROBATH / JÄGGLE 2010 [Anm. 5], 54. Bereits der lateinamerikanische Befreiungsthe-
ologe Jon Sobrino hat in der ökonomischen Verfassung der Gesellschaft quasireligiöse
Strukturen erkannt und als ‚Götzendienst‘ ausgemacht. Vgl. hierzu SOBRINO, Jon:
Christologie der Befreiung, Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 22008, 251–253.
Papst Franziskus beklagt in Evangelii Gaudium dieses Beziehungsverhältnis des Men-
schen zur Wirtschaft und kommt zu dem Schluss: „Diese Wirtschaft tötet.“ (EG 53).
7 KROBATH / JÄGGLE 2010 [Anm. 5], 54.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 451
Der Sozialphilosoph Oskar Negt verfolgt mit der Konzeption von ‚Gesell-
schaftlichen Kompetenzen‘ einen Ansatz, welcher eine Reduzierung des
Kompetenzbegriffs auf employability und flexibility für ökonomische Zwe-
cke zu überwinden versucht. Um Kritik-, Reflexions- und demokratische
Partizipationsfähigkeit der Menschen zu fördern, entwickelte Negt alterna-
tive Kompetenzbereiche, welche jedoch bedingt als methodisch-didakti-
sches Modell, denn vielmehr als inhaltliche Zieldimensionen politischer
Bildung zu verstehen sind. Zentrale Bereiche bei Negt sind Identitätskom-
petenz/Interkulturelle Kompetenz, Technologische Kompetenz, Gerechtig-
keitskompetenz, Ökologische Kompetenz, Historische Kompetenz als auch
Ökonomische Kompetenz.9 So ist Gerechtigkeitskompetenz beispielsweise
als die Entwicklung einer Sensibilität für (un-) rechtes Verhalten und Öko-
logische Kompetenz als ein Bewusstsein für das Beziehungsverhältnis zwi-
schen Mensch und Natur zu verstehen, während die Historische Kompe-
8 Vgl. NEGT, Oskar: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen:
Steidl 2010. Siehe auch: ZEUNER, Christine: Gerechtigkeit und Gerechtigkeitskompe-
tenz: Diskurs und Praxis für eine kritische politische Bildung, in: REPORT 3/30 (2007),
39–48.
9 Vgl. EBD.
452 Markus Bürger und Sebastian Jendt
tenz die Erinnerung an die Vergangenheit mit der Utopiefähigkeit für die
Zukunft verknüpft.10
10 Vgl. HUFER, Klaus-Peter: Oskar Negt (geb. 1933): „Demokratie muss gelernt werden”,
in: GLOE, Markus / OEFTERING, Tonio (Hg.): Politische Bildung meets Politische The-
orie (= Votum. Beiträge zur politischen Bildung und Politikwissenschaft 1), Baden-
Baden: Nomos 2017, 229–243, 236.
11 Vgl. RICKERS, Folkert: Politische Bildung im Religionsunterricht und der Kapitalismus,
in: Keryks 9 (2010), 145–172.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 453
renden Art. Er träumt von einer Kultur der Armut in Abgrenzung zur Kul-
tur des Überflusses, ohne die ein gemeinsames Leben zwischen Mensch,
Tier und Natur auf diesem Planeten bald nicht mehr möglich sein wird,
denn die Ressourcen werden knapp, die Tiere sterben aus und das Klima
verändert sich drastisch. Die Trennlinie zwischen religiöser und politischer
Bildung wird im Religionsunterricht folglich immer dünner.12
Nur schwerlich aber gelingt es, die Haltung der eigenen Behäbigkeit und
Bequemlichkeit zu durchbrechen. Dies sollen die Schüler*innen in erster
Linie wahrnehmen, ohne dass sie durch einen blinden Aktionismus über-
fordert werden. Vielmehr soll es darum gehen, herauszustellen, dass tief-
gehende strukturelle Veränderungen nur erreicht werden können, wenn
sich Menschen dauerhaft und kontinuierlich zusammenschließen und en-
gagieren.13 Grundlegend dafür ist die Überwindung eines traurig machen-
den, isolierenden Individualismus, der suggeriert, jeder von uns stünde al-
lein vor den Problemen der Welt und müsse diese durch individuelle mo-
ralische Anstrengungen, wie etwa einem richtigen ethisch-nachhaltigen
Konsum, bearbeiten. Hierfür ist es wichtig, den Schüler*innen Beispiele
und Orientierungspunkte vorzustellen, um einem eventuellen Gefühl der
Überwältigung entgegenzuwirken (FFE 4).
12 Vgl. EBD.
13 Vgl. das Interview von Hermann STEINKAMP in diesem Band.
454 Markus Bürger und Sebastian Jendt
dürfen. In Bezug auf die Tiere heißt das: nur ein Umdenken bezüglich un-
serer Beziehung der Natur und dem Tier gegenüber sowie nur ein Umden-
ken in unserer Art zu wirtschaften und Profit zu maximieren, wird unseren
Planeten noch retten können. Dies zu begreifen, heißt am Religionsunter-
richt zu partizipieren. Die Frankfurter Erklärung verweist in diesem Kon-
text auf gesellschaftliche Kontroversität als Herausforderung und Prinzip
für den kritisch-emanzipatorischen Religionsunterricht. „Eine echte politi-
sche Kontroverse macht unterschiedliche Interessen, Denkweisen und Pra-
xen sowie Alternativen gesellschaftlicher Zukunftsentwicklung sichtbar.“
(FFE 2) Zugleich darf Kontroversität für den Religionsunterricht aus christ-
licher Perspektive nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden.14 Hier wird
in besonderer Weise das Spannungsfeld zwischen pluraler Meinungsviel-
falt und christlich begründetem Handlungsrahmen deutlich, in dem sich
der Religionsunterricht gesellschafts- und zukunftsfähig zu positionieren
hat.
„Wir sind nicht Gott.“ (LS 67) Diese Aussage Papst Franziskus‘ aus seiner
Umweltenzyklika Laudato si‘ steht im Kontext zum biblisch gegründeten
Umgang des Menschen mit der Schöpfung. Da der Inhalt der Aussage
scheinbar evident ist, wird die Dimension der Kritik des Papstes umso
deutlicher: Aus einem biblisch falschverstandenen Anthropo-Zentrismus
14 Eine Analyse zu Neutralität und Parteilichkeit unter Bezugnahme auf die Frankfurter
Erklärung bietet der Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
15 Die in den folgenden Fußnoten angegeben Materialen sind hier bewusst auf Internet-
seiten beschränkt, um einen möglichst problemlosen Zugriff für die Lehrperson zu ge-
währleisten. Weiterhin wird auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet, die Materialen
den Bedürfnissen der jeweiligen Lerngruppen anzupassen. Ein umfassendes Unter-
richtsmodell zum Thema findet sich bei BÜRGER, Markus / JENDT, Sebastian / HAGEN-
CORD, Rainer: Christliche Tierethik (= EinFach Religion), Paderborn: Schöningh 2017.
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 455
sieht sich der Mensch als Krone der Schöpfung.16 Eine Distanzierung von
einem verantwortungslosen Umgang mit der Schöpfung und das Erkennen
konkreter Verantwortung unter Berücksichtigung persönlicher Handlungs-
spielräume stellt eine zentrale Zielsetzung für den Unterricht in den Sekun-
darstufen I und II dar. Der Aufbau des vorliegenden Praxisbeitrags orien-
tiert sich am Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln. Die Schüler*innen
sollen in ihrer Lebenswelt abgeholt werden, um Missstände auf globaler
Ebene erfassen zu können. Dies geschieht durch konkrete Verknüpfungen
zwischen persönlichem Nahrungsmittelkonsum und globaler Dimension
der Produktion, welche nicht zuletzt Ausdruck im Hunger von 25% der
brasilianischen Bevölkerung am anderen Ende der Welt findet (Kapitel
3.1). Die Schüler*innen nehmen die Perspektive von notleidenden Men-
schen in der sog. Dritten Welt ein und erkennen dadurch die Zeichen der
Zeit17, indem sie Hunger, Umweltzerstörung in Zusammenhang mit der
Tierfutterproduktion und dem Fleischkonsum setzen, sodass die biblische
Botschaft von der ‚Bewahrung der Schöpfung‘ in die Lebenswelt der Schü-
ler*innen selbst tritt. Dass eine andere Welt möglich ist, lässt sich u. a. an-
hand der Darstellung alternativer Tierhaltungskonzepte erschließen (Kapi-
tel 3.2). Die Darstellung der konventionellen Tierhaltung verdeutlicht zu-
gleich die Unmenschlichkeit der gegenwärtigen Praxis. Die Erarbeitung
des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier in der ersten Schöpfungser-
zählung ist hierfür zentral (Kapitel 3.3). Der Baustein verdeutlicht Konse-
quenzen theologischer Fehlinterpretationen, die Eingang ins kollektive Be-
wusstsein der Menschen gefunden haben. Durch einen historisch-kriti-
schen Umgang mit biblischen Zeugnissen erkennen die Schüler*innen im
schöpfungstheologischen Diskurs eine Anthropologie, die den Menschen
als irdisches Wesen und Teil der Evolution sieht und somit eine vertiefte
Reflexion der unleugbaren Verwandtschaft von Mensch und Tier mit sich
zieht. Indem die Schüler*innen Glaubensaussagen in Beziehung zum eige-
nen Leben und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit setzen sowie ihre Be-
deutung aufzeigen, eröffnet sich für sie die Möglichkeit der Urteilsbildung
in religiösen und ethischen Fragen. Die Schüler*innen beurteilen und be-
werten mit Blick auf sensible ökologische und politische Fragen der Mas-
sentierhaltung, des überhöhten Fleischkonsums, der Vernichtung ganzer
Ökosysteme und der Verelendung der sog. Dritten Welt Zusammenhänge
und reflektieren sie im Lichte der Bibel (Kapitel 3.4).
steigend. Der überwiegende Teil der Hühner stammt aus der sog. Massen-
tierhaltung, in der die Tiere fast ausschließlich mit Soja gefüttert werden.
Für eine schnelle Mästung der Tiere ist Soja die ideale Lösung; hinzu
kommt der finanzielle Aspekt: Soja aus Lateinamerika zu importieren ist
günstiger als auf lokale Futteralternativen zurückzugreifen. Bedenkt man,
dass Deutschland bei der benötigten Menge an Futter (1,7 Millionen
Schlachtungen von Hühnern am Tag!) bei weitem nicht genügend Kapazi-
täten hätte, so viel Getreide anzubauen bzw. Tierfutter zu produzieren,
scheint dieser Weg in einem global agierenden Wirtschaftssystem unum-
gänglich. In Lateinamerika muss seit Jahren der Regenwald weichen, da-
mit dort Soja-Plantagen für Tierfutter entstehen. Aus diesem Umstand fol-
gen nun zwei relevante Aspekte für den Unterricht. Zum einen werden in-
digene Bevölkerungen aus ihrer Heimat vertrieben, damit Wald gerodet
werden kann, und in Städte getrieben, in denen sie weder ihre eigene Kul-
tur entfalten, noch der Armut entrinnen können. Zum anderen greifen wir
durch die Rodung des Regenwaldes dermaßen stark in unser Ökosystem
ein, dass der Kampf um die – theologisch gesprochen – ‚Bewahrung der
Schöpfung‘ für zukünftige Generationen fast aussichtslos zu sein scheint.
In ganz Brasilien werden mittlerweile Plantagen errichtet (Mango, Zucker-
rohr für Biosprit, Soja für Tierfutter etc.), die künstlich bewässert werden
müssen. Dafür werden Flüsse wie z. B. der Sao Francisco in Brasilien um-
geleitet. In der Folge verlieren Menschen ihre Existenzgrundlage, für die
der Fluss lebensnotwendig ist. Vermehrt findet man in Brasilien vertrock-
nete Flüsse auf der einen Seite und zum anderen riesige private Stauseen.
Nur einige Kilometer entfernt von diesen Privatseen, die der Plantagenbe-
wässerung dienen, leben Familien, die keinen Zugang zu Wasser haben.
Sie sterben verfrüht an Hunger und Durst.
von Armut. Darüber hinaus sollen sie verstehen, dass beides kein unum-
kehrbarer Zustand ist, sondern – im Sinne vom oben erwähnten widerstän-
digem Unterricht – strukturell verändert werden kann.
Darüber hinaus können die Schüler*innen mit den Begriffen Nutztiere und
Haustiere konfrontiert werden. Eine Beschäftigung mit den Charakterei-
genschaften eines Schweines23 und eines Huhnes lässt die Schüler*innen
sehr schnell erkennen, dass diese Termini lediglich künstliche Konstrukte
des Menschen sind und nichts mit den eigentlichen Gewohnheiten der
Tiere zu tun haben. Die Ähnlichkeit des Schweines mit dem Hund z. B.
wird die Schüler*innen verblüffen und ihre wahrscheinlich vorhandenen
Meinungen vom Schwein als Fleischprodukt aufbrechen.
tes von Erich Zenger und altorientalischen Rollsiegeln,25 wodurch das jü-
disch-christliche Verständnis von der Verantwortung des Menschen ge-
genüber seinen Mitgeschöpfen verdeutlicht wird. Im Kontext von Schöp-
fung und Verantwortung fällt häufig der Begriff ‚Sünde‘. An dieser Stelle
ist es notwendig, den Begriff der ‚Strukturellen Sünde‘ einzuführen, der
für die Theologen Hagencord und Rotzetter vom Institut für Theologische
Zoologie elementare Wichtigkeit besitzt: Nicht der einzelne Bauer, der
sich aus ökonomischen Gründen den Regeln des Marktes unterwirft, trägt
die Schuld an der Massentierhaltung, sondern das wirtschaftliche System
der profitorientierten Massentierhaltung selbst. Große Schlachthöfe wer-
den von der EU gefördert und subventioniert, während ökologische Bauern
stets um ihre Existenz kämpfen müssen. Es sind feste Strukturen und Ver-
träge, die Einzelpersonen oftmals die Möglichkeit nehmen, gerecht und
fair zu produzieren. Es sind Strukturen, die sich in der Geschichte mani-
festiert haben, nicht dem Willen Gottes entsprechen und deswegen zurecht
als ‚sündhaft‘ zu bezeichnen sind.
26 KEHL, Medard: Schöpfung. Warum es uns gibt, Freiburg im Breisgau: Herder 2010, 64.
27 Vgl. METTE, Norbert: Art. Gerechtigkeit, in: WiReLex 2016 [abgerufen am 19.09.
2019].
Kritisch-emanzipatorischer RU am Beispiel ‚Christliche Tierethik‘ 463
4 Ausblick
Clara Debour
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_26
466 Clara Debour
eine politische oder soziale Strömung zu stärken. Ihr Ziel ist es, so heißt es
auf der Webseite des BMBF, „hoch qualifizierte und verantwortungsbe-
wusste Persönlichkeiten heranzubilden, die der Gesellschaft etwas zurück-
geben.“2 Damit steht also nicht (nur) das Bilden einer Funktionselite im
Vordergrund, sondern ebenso das ethische Profil, die Rückbindung an
Wertmaßstäbe in Bezug auf die Verantwortungsbereitschaft gegenüber der
Gesellschaft. So wird ein normativer Bildungsanspruch formuliert, der im
Folgenden Gegenstand der Auseinandersetzung sein wird.
Das folgende Kapitel soll zum einen das Cusanuswerk und sein Bildungs-
und Förderverständnis und zum anderen das Konzept der Ferienaka-
demien, die das Herzstück der ideellen Förderung sind, vorstellen.
1.1 Cusanuswerk
2 EBD.
3 CUSANUSWERK: Wir über uns. Leitbild, in: https://www.cusanuswerk.de/wir-ueber-uns/
ueber-uns/leitbild.html [abgerufen am 17.06.2019].
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 467
4 EBD.
5 Vgl. QUENNET-THIELEN, Cornelia: 60jähriges Jubiläum des Cusanuswerkes. Festrede
von Staatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen im Bundesministerium für Bildung und
Forschung in der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (11.11.2016), in:
https://www.bmbf.de/de/60jaehriges-jubilaeum-des-cusanuswerkes-3592.html [abge-
rufen am 17.06.2019].
6 CUSANUSWERK: Wir über uns. Leitbild, in: https://www.cusanuswerk.de/wir-ueber-uns/
ueber-uns/leitbild.html [abgerufen am 17.06.2019].
7 LÜCKING-MICHEL, Claudia: Was heißt Chancengerechtigkeit im Bildungswesen? Bega-
bungen fördern, in: Herder Korrespondenz 64/6 (2010), 316.
8 HERZOG, Roman (Bundespräsident): 40 Jahre Cusanuswerk. Festansprache zum Jubilä-
umsjahrestreffen vom 30. Mai 1996 bis 2. Juni 1996, in: https://www.cusanuswerk.de/
468 Clara Debour
derung ist also auch eine Form der Bildung, die der Forderung entspricht,
„daß Auschwitz nicht noch einmal sei“.9 Auf den spezifisch christlichen
Kontext des Cusanuswerks bezogen, sagt Lücking-Michel: „Von Christen
können wir erhoffen, dass sie die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeli-
ums zu deuten wissen und dem Evangelium die Kraft zutrauen, den einzel-
nen Menschen zu verändern, so dass mit ihm und über ihn die Menschheit
selbst verändert wird.“10 Somit wird durchaus ein klar kritisch-emanzipa-
torischer Bildungsanspruch formuliert, der v. a. transformativ gedacht ist
und über rein akademischen Wissenstransfer hinausgeht.
1.2 Ferienakademien
12 Dies waren namentlich: Clara Debour, Jan Henrik Herbst, Lea Hufnagel, Christoph
Kruse, Manuela Soller.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 471
schreibung und ist damit immer auch ein Beispiel für Multiperspektivität.
Es werden verschiedene Mittel wie Handlung, Dialog, Figur, Zeit und
Raum auf eine Ebene nebeneinandergestellt und so enthierarchisiert. Die
Vorrangstellung der linearen Handlungsabfolge (Drama) weicht dem zur
Schau-Stellen der Figuren in ihrer Abhängigkeit von Strukturen. Durch die
ständige Unterbrechung und die charakteristische Autopoiesis ist der Post-
dramatik ein selbstreflexives und entlarvendes Moment – und damit auch
ein primär kritisches – immanent. Das postdramatische Theater macht sei-
ne Zuschauer*innen zu produktiven Mitakteur*innen bzgl. der Sinnkon-
struktion.13 Damit eignet sich diese Methode und Perspektive in besonde-
rer Art und Weise für einen kritischen Blick auf die eigene Person und die
gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie lebt. Im Workshop zum Thema
Bibliodrama wurden ebenfalls Rollen erprobt und körperlich-emotionales
Lernen im Kontext biblischer Geschichten erfahrbar gemacht. Hierbei
stand die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben und dessen Impli-
kationen für das alltägliche und gesellschaftliche Leben im Mittelpunkt.
Persönliche Erfahrungen vom Suchen nach dem Sinn des Lebens bildeten
den Ausgangspunkt dieses Workshops. Anhand von szenischen Darstel-
lungen biblischer Bilder wurden Gleichnisse und Rollen erlebt und erwei-
tert. Der Kern von Bibliodrama wurde im Workshop performativ deutlich:
Es geht um die Horizontverschmelzung unserer eignen Erlebniswelt mit
den Veränderungsimpulsen Jesu, die in den biblischen Rollen enthalten
sind.14 Im Workshop zur Systemischen Pädagogik wurden verschiedene
Methoden und Theorien präsentiert, z. B. Milton Erickson und die von ihm
abgeleitete Timelinearbeit, Michael White mit seinem narrativen Ansatz
für die systemische Therapie oder das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM),
ein psychoedukatives Selbstmanagement-Training von Maja Storch und
13 Vgl. ENGELHART, Andreas: Das Theater der Gegenwart, München: C. H. Beck, 2013,
71.
14 Vgl. ZEUNERT, Burkhard: Workshopbeschreibung im Tagungsprogramm, Bonn 2015.
472 Clara Debour
Frank Krause. Dies sind nur drei Beispiele dafür, wie wir unsere Biogra-
phie immer wieder selbst neu erzählen bzw. konstruieren können. Das be-
deutet, dass Formen und Möglichkeiten kennengelernt wurden, der Frage
nach zu gehen, wie Selbstwirksamkeit und Veränderung in unseren Le-
bensvollzügen gefördert werden können.15
„Wer also Biographieförderung als Bildungsauftrag versteht, muss sich über den
Rahmen Gedanken machen, in dem diese ermöglicht werden soll. Das gilt u. a.
für die Art der Wissensvermittlung wie auch die Schaffung individueller Zugänge
zur eigenen (Lern)Motivation.“16
Der vierte Workshop beschäftigte sich mit den Grundlagen der Themen-
zentrierten Interaktion (TZI), ein Konzept für die Arbeit in Gruppen, bei
dem es um soziales Lernen und die persönliche Entwicklung einer*s
jede*n einzelnen geht: „Lebendiges Lernen heißt zu leben, während ich
lerne.“17 Dieser Satz stammt von Ruth Cohn, der Begründerin der TZI und
ist der Leitsatz dieses Ansatzes. Grundlage des lebendigen Lernens ist die
dynamische Balance zwischen dem ICH (Individuum), dem WIR (Gruppe)
und dem ES (Anliegen/Thema).18
„Die TZI [verbindet] individuelle, zwischenmenschliche und sachliche Aspekte
zu einem Konzept […], das alle Chancen hat, Lebens- und Arbeitsprobleme nicht
nur vordergründig auf der intellektuellen Ebene zu verstehen und zu lösen, son-
dern Kopf, Herz und Hand gleichermaßen als am Geschehen beteiligt anzusehen
und einzubeziehen.“19
21 Die folgenden Überschriften sind der „Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-eman-
zipatorische Politische Bildung.“ (FFE 2015) entnommen. Für eine genauere Darstel-
lung vgl. den Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
22 Vgl. LANGMACK, Barbara: Einführung in die Themenzentrierte Interaktion TZI. Leben
rund ums Dreieck, Weinheim / Basel: Beltz 2011, 107.
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 475
wickelt werden, die dann nach der Akademie zur Umsetzung kommen (s.
„Ermutigung“ und „Veränderung“).
Auch wenn der Anspruch der Dialogfähigkeit und des Austausches über
die Grenzen der Fächer hinaus ein elementarer Teil des cusanischen Bil-
dungsverständnisses ist, scheinen Ferienakademien sowohl inhaltlich als
auch strukturell diesem Anspruch nicht gänzlich gerecht zu werden. Dies
liegt u. a. daran, dass die eingeladenen Expert*innen wenig Diversität ver-
körpern: Zumeist sind es weiße deutsche Professoren und Professorinnen.
Hier soll beispielhaft eine Akademie genannt werden, die die Finanzkrise
zum Thema hatte und auf der in erster Linie neoliberale Denker eingeladen
und auch vorrangig zitiert wurden. So beschränkte sich das Spektrum auf
eine Bandbreite von Friedrich A. von Hayek bis John M. Keynes. Eine
grundsätzliche Infragestellung unseres momentanen Wirtschafts- und Ge-
sellschaftssystems war, so ließe sich vor dem Hintergrund der Auswahl von
Themen und Referent*innen vermuten, in keiner Weise vorgesehen. Wenn
die Stipendiat*innen jedoch dazu befähigt werden sollen, sowohl unterein-
ander als auch mit den Referent*innen in einen kontroversen Dialog zu
treten, braucht es offene und geschützte Räume, die nicht einseitig bis ideo-
logisch besetzt sind. Zudem bräuchte es auch niederschwellige Diskus-
sionsformate, um allen die Möglichkeit der Teilhabe und des Sich-Äußerns
zu geben. Hier stellen bspw. unterschiedliche Arbeitsformen wie Klein-
gruppenphasen, Schreibgespräche oder Methoden wie Fish-Bowl gute
Möglichkeiten der Umsetzung dar. Dadurch werden nicht nur diejenigen
gehört, die qua positionem das Recht haben zu sprechen (Expert*in) oder
diejenigen, die es gewohnt sind, sich den Raum zu nehmen (vorrangig
Männer), sondern auch die weniger Privilegierten. Die Form des großen
Plenums begünstigt einseitige Machtstrukturen und damit verbundene in-
476 Clara Debour
Zu Beginn des Artikels wurde Claudia Lücking-Michel mit der Idee des
Dienstes an der Gesellschaft und dem Mehrwert für die Nichtprivilegierten
zitiert. Daraus leitet sich die Frage ab, wie sich diese Vorstellung konkret
in den Ferienakademien niederschlägt. Derzeit liegt die Organisation und
Planung einer Ferienakademie nur in den Händen der Bildungsreferent*in.
Auch wenn durch die Bildungskommission (welche auch aus Stipendi-
at*innen besteht) Einfluss auf die thematische Ausrichtung genommen
wird, ist dies nicht der Fall bei der Umsetzung. Zudem gibt es wenig Frei-
räume für organisatorische und inhaltliche Partizipation während der Aka-
demie. Auch wenn es Raum für stipendiatische Angebote gibt, scheinen
diese eher zweitrangig zu sein, was u. a. an der Freiwilligkeit sowie dem
fehlenden Einbezug in die vorherige Planung des Gesamtprogramms er-
kennbar wird. Wenn Menschen dazu befähigt werden sollen, selbstständig
zu denken und zu handeln, ist es wichtig, sie auch mit an der Gestaltung
ihres Lernkontextes teilhaben zu lassen, damit sie sich von passiv-lernen-
den Konsument*innen zu proaktiven-Mitgestalter*innen entwickeln kön-
nen (FFE 5). Hierfür braucht es in erster Linie Freiräume, die nicht nor-
miert sind und keiner Wertung unterliegen. Möglich wäre es beispielsweise
nicht nur die kognitiven Leistungen anzuerkennen, sondern fest institutio-
nalisierte Angebote zu schaffen, die auch andere Fähigkeiten voraussetzen
und fördern (soziale, körperliche, künstlerische und musische Kompeten-
zen etc.).
Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? 477
Das gilt ebenso für die inhaltliche Setzung: Marginalisierte Gruppen und
Stimmen der Gesellschaft finden selten bis keinen Raum im Programm der
Akademien, wie bereits auch an der Akademie zur Finanzkrise beispielhaft
dargelegt wurde. Es gibt eine starke Orientierung an einem meist männlich
dominierten weißen Wissenskanon, der unhinterfragt als Norm gesetzt
wird. Wenn ein Anliegen der Förderung der Mehrwert für die Nichtprivi-
legierten sein soll, sollten diese auch in irgendeiner Art und Weise auf Fe-
rienakademien zu Wort kommen.
In einem größeren Kontext betrachtet geht hiermit auch die Reflexion bzgl.
der eigenen Privilegien als Stipendiat*innen einher mit der Frage, wie
bereits auf Akademien Verantwortung für die Gruppe und als Gruppe für
die Gesellschaft übernommen werden kann. Grundsätzlich ist eine explizi-
te Auseinandersetzung mit Gruppenprozessen (bspw. anhand der TZI) und
der Kultur einer je eigenen Gruppe wichtig, da sie nicht nur das Erlernen
sozialer Kompetenzen ermöglicht, sondern auch gesellschaftliche Prozesse
3.4 „Reflexivität: Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen, Lern-
verhältnisse sind nicht herrschaftsfrei, Politische Bildung legt diese
Einbindung offen.“ (FFE 4)
An den Punkt der Machtkritik schließt sich auch die Frage an, wie die
eigenen Verstrickungen in Machtverhältnisse, als Begabtenförderwerk, als
Bildungsreferent*in oder als Stipendiat*in, reflektiert werden können. Da-
zu heißt es in der Frankfurter Erklärung:
„Politische Bildner*innen sind sich ihrer gesellschaftlichen Einbindung bewusst
und nehmen dazu eine kritisch-reflexive Position ein, die sie transparent und da-
mit kritisierbar macht. Dadurch bieten sie den Teilnehmenden einen Schutz vor
Überwältigung und stärken deren Recht auf Eigensinn und Selbstbestimmung.“
(FFE 4)
4 Resümee
Klaus-Gerd Eich
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_27
484 Klaus-Gerd Eich
Identität wird hier als fluides Konstrukt verstanden, das jenseits statischer
Normierung liegt, die Fragmentarität menschlicher Existenz in Anschlag
bringt und damit jedem statusbezogenen Denken den Boden entzieht. Es
verweist so auf einen unabschließbaren Prozess.2 Gerade unter problema-
tischen Bedingungen wird die Praktische Theologie gezwungen, das eman-
zipatorische Potential zu entfalten. Viera Pirker hält mit Henning Luther
fest: „Mit der Intention, ihren emanzipatorischen Gehalt offen zu halten,
beschreibt er Identität als eine fortschreitende Bewegung im Sinne eines
unabschließbaren Prozesses der Bildung.“3
1 KÖHL, Georg: Lern-Ort Praxis. Ein didaktisches Modell, wie Seelsorge gelernt werden
kann, Münster / Hamburg / London: LIT 2003, 278–284.
2 So zuerst: LUTHER, Henning: Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen The-
orie des Subjekts, Stuttgart: Radius 1992.
3 PIRKER, Viera: Art. Identität, in: PORZELT, Burkard / SCHIMMEL, Alexander: Strukturbe-
griffe der Religionspädagogik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015, 38–43, 41.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 485
Der Pol Situation nimmt das Spannungsfeld Kirche und Gesellschaft in den
Blick. Hier bedarf es vielfältiger Analyseraster, um dieses Verhältnis zu
durchleuchten. Es erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit Gesell-
schafts- und Kirchentheorien. Dies ist notwendig, will man die propheti-
sche Dimension in der Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Kirche
nicht von vorneherein eliminieren. In Bezug auf praktisch-theologisches
Handeln wird damit einem Pragmatismus gewehrt, der nicht lediglich das
Bekannte repliziert, sondern auf Wirksamkeit setzt. Es geht um human-,
sozial, und gesellschaftswissenschaftliche Kompetenz. Exemplarisch für
viele Fragestellungen können hier folgende Spannungen genannt werden,
die Pastorale Mitarbeiter*innen im schulischen Kontext erleben. Als Seel-
sorger*innen verkünden sie einen Gott, der jede*n unabhängig von Leis-
tung und Fähigkeit annimmt. In der Schule erleben sie jedoch sehr stark,
welche Bedeutung das Leistungsprinzip mit seiner Selektions- und Allo-
kationsfunktion in der Schule und Gesellschaft hat. Damit zusammenhän-
gend wird an den Studientagen häufig die Frage nach den ‚Bildungsverlie-
rer*innen‘ aufgeworfen und durch welche gesellschaftlichen Mechanis-
men diese Verlierer*innen ‚produziert‘ werden. Es gilt aufzudecken, wie
die regulative Idee der Chancengleichheit im Bildungssystem faktisch un-
terlaufen wird.4
4 Vgl. bspw. BOURDIEU, Pierre / PASSERON, Jean-Claude, (Hg.): Die Illusion der Chan-
cengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frank-
reichs, Stuttgart: Ernst Klett 1971.
486 Klaus-Gerd Eich
7 So die Überschrift eines Artikels des Autors, in dem er die Genese der Entwicklung
eines Schlüsselqualifikationskonzeptes für angehende Seelsorger*innen im Bistum
Trier nachzeichnet. EICH, Klaus-Gerd: Lernen zwischen persönlicher Kompetenzent-
wicklung und Schlüsselqualifikationen – eine mehrdimensionale praktisch-theologi-
sche Herausforderung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 117 (2008), 288–303, 288.
8 Vgl. exemplarisch für die Pastoraltheologie, KÖHL 2003 [Anm. 1], 218–225 und für die
Religionspädagogik, EICH, Klaus-Gerd: Der Einsatz Pastoraler Mitarbeiter des Bistums
Trier in der Schule. Ein religionspädagogischer Entwurf zur Rezeption und Evaluation
von Qualitätsmanagementsystemen für Religionsunterricht und Schulseelsorge, Neu-
wied 2002 (www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/715 [abgerufen am 16.09.
2019]), 13–24.
488 Klaus-Gerd Eich
15 EICH, Klaus-Gerd: Nicht nur für die Schule, sondern auch für die Seelsorge lernen sie.
Didaktische Handlungskompetenz als Ziel religionspädagogischer Ausbildung im Bis-
tum Trier, in: KÖHL, Georg u. a. (Hg.): Seelsorge lernen in Studium und Beruf, Trier:
Paulinus 2006, 390–396.
16 Vgl. RITTGEN, Paul: Kommunikative Glaubensdidaktik. Religionspädagogik im weite-
ren Sinne: Modell kritisch-konstruktive Fachdidaktik, Trier 1988 (maschinenschriftli-
ches Manuskript: zu beziehen über das Bischöfliche Generalvikariat Trier), DERS.: Mo-
dell einer kommunikativen Glaubensdidaktik, in: LENTZEN-DEIS, Wolfgang (Hg.): Der
Menschenfreundliche Gott (FS A. Thome), Trier: Paulinus 1990, 199–219 und Eich
2002 [Anm. 6], 70–76.
17 KLAFKI, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kri-
tisch-konstruktiven Didaktik, Weinheim: Beltz 1985.
18 NIPKOW, Karl Ernst: Grundfragen der Religionspädagogik, Bd.3, Gemeinsam leben und
gemeinsam lernen, Gütersloh: GTB 1982, 191–222.
19 SCHWEITZER, Friedrich: Elementarisierung als religionspädagogische Aufgabe: Erfah-
rungen und Perspektiven, Zeitschrift für Pastoraltheologie 5 (2000), 240–251.
20 Aus der Fülle der Literatur kann hier nur kurz auf eine Grundlagenperspektive verwei-
sen werden. Der emeritierte Innsbrucker Religionspädagoge Mattias Scharer kann als
492 Klaus-Gerd Eich
Protagonist dieses Ansatzes gelten. Zur Erstinformation: SCHARER, Matthias: Die The-
menzentrierte Interaktion (TZI) als theologiekompatible Didaktik für die Leitung von
pastoralen Gruppen, in: KÖHL 2006 [Anm. 9], 522–527. Zum Zusammenhang von TZI
und kritischer Bildungsarbeit ist auch die Arbeit von Silvia Habringer-Hagleitner her-
anzuziehen. HAGLEITNER, Silvia: Mit Lust an der Welt – in Sorge um sie. Feministisch-
politische Bildungsarbeit nach Paulo Freire und Ruth C. Cohn, Mainz: Grünewald
1996.
Kritisch-religiöse Bildung in der Seelsorger*innen-Ausbildung 493
in den Kontext einer Deutung der ‚Zeichen der Zeit‘, die auf die Krisen-
phänomene der jeweiligen Situation explizit Bezug nimmt.26
Die Entwicklung einer didaktischen Identität bildet die Sinnspitze der reli-
gionspädagogischen Ausbildung. In der Aneignung didaktischer Modelle
kommt es zu Fragestellungen der Vergleichbarkeiten und den Akzentuie-
rungen der jeweiligen Modelle. Die Kandidat*innen unterstreichen hier
immer wieder, dass sie die Zielbestimmung von Klafkis Didaktik als
Selbst-, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit als besondere Heraus-
forderung erleben und sie sich fragen, ob der geplante und durchgeführte
Unterricht dieser Dimension entspricht und mit welchen Deutekategorien,
sie diese Fragen beantworten. Damit ist meist auch die Frage des Bildungs-
und Erziehungsauftrags im deutschen Schulwesen mitgegeben. Wir ver-
26 EBD., 580–581.
27 Hierauf legt Zilleßen einen besonderen Akzent. Vgl. ZILLEßEN, Dietrich: Art. Emanzi-
pation in: LexRP Bd.1, 394–401, 400.
496 Klaus-Gerd Eich
Bezüglich der TZI bringen die Kandidat*innen immer wieder die Frage-
stellung nach einer schüler- und sachgemäßen Themenformulierung ein.
Oft erleben sie im Unterricht, dass sie Frage- und Aufgabenstellungen be-
handeln, die keinerlei Resonanz bei der Schülerschaft hervorruft.28 Zu-
nächst suchen sie nach methodischen Kniffen, wie der Inhalt gut verpackt
werden kann. Im Laufe der Ausbildung erleben sie immer stärker, dass es
dort, wo es gelingt, Themen zu eruieren, die Person und Tradition mitei-
nander verbinden, viel Anregungspotential gibt, die kritisch- emanzipato-
rische Lernprozesse ermöglichen (Krisenorientierung, Kontroversität) und
in handlungsorientierten Lernsettings auch zu veränderten Handeln führen
kann (Ermutigung, Veränderung).29
Claudia Gärtner
Das Verhältnis von Kunst und Politik ist kompliziert – und erinnert ein
wenig an ein Ehepaar, das auf eine lange, wechselvolle Beziehung zurück-
blicken kann: Es gibt Phasen inniger, fast symbiotischer Nähe, heftiger
Zerwürfnisse, kritischer Distanz, wortkarger Koexistenz oder freund-
schaftlichen Miteinanders. Seit Mitte der 1960er Jahre beeinflussten und
provozierten zahlreiche Künstler*innen mit ihren politischen Werken und
Aktionen weite Teile der Gesellschaft, so z. B. die Plakatkunst von Klaus
Staeck, der erweiterte Kunstbegriff und die Vorstellung von „sozialer
Skulptur“ von Joseph Beuys, Anselm Kiefers Performances mit Hitlergruß
oder seine großformatigen Malereien zur deutschen Geschichte und My-
thologie. Spätestens seit den 1990er Jahren wurde es zunehmend ruhiger
um die politische Kunst. Eine Orientierung an politischen Themen drohe
die Autonomie der Kunst zu gefährden, laufe Gefahr sich für politische
Propaganda instrumentalisieren zu lassen und vernachlässige das ästheti-
sche Repertoire der Kunst – so lauteten die Vorbehalte. Doch seit einigen
Jahren ist eine Renaissance politischer Kunst unübersehbar. Kaum eine
zeitgenössische Ausstellung kommt umher, eine der großen politischen
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_28
500 Claudia Gärtner
Auch die Aktionen des „Zentrums für Politische Schönheit“2 werden re-
gelmäßig medial heftig kritisiert, da hier unter dem Deckmantel der Kunst-
freiheit politisch propagandistisch oder extremistisch agiert würde. Diese
Kritik erinnert stark an die Auseinandersetzungen um politische Kunst in
den 1970er Jahren.3
Hier ist nicht der Ort, diese Debatte grundsätzlich weiterzuführen. Viel-
mehr soll im Folgenden fokussiert anhand ausgewählter Werke erörtert
werden, inwiefern diese Arbeiten ein Potenzial für kritisch-emanzipatori-
sche Bildungsprozesse im Religionsunterricht besitzen (Kap. 3). Denn die
Frage, inwiefern Kunst sowohl ein hohes künstlerisches, als auch kritisches
Potenzial besitzt, kann letztlich nur am einzelnen Werk selbst diskutiert
werden.
7
Vgl. z. B. den Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
8 Vgl. FÜRST, Walter: Ästhetik der Praktischen Theologie. Über mögliche Wege zur Bil-
dung eines christlichen Pastoralstils, in: SCHULZ, Ehrenfried / BROSSEDER, Hubert /
WAHL, Heribert (Hg.): Den Menschen nachgehen. Offene Seelsorge als Diakonie der
Gesellschaft, St. Ottilien: EOS 1987, 23–41; DERS. (Hg.): Pastoralästhetik. Die Kunst
der Wahrnehmung und Gestaltung in Glaube und Kirche, Freiburg: Herder 2002;
GRÖZINGER, Albrecht: Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung
der Praktischen Theologie, München: Chr. Kaiser 1987; DERS.: Praktische Theologie
als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995; BIEHL, Peter:
Religionspädagogik und Ästhetik, in: JRP 5 (1988), 3–44; ALTMEYER, Stefan: Von der
Wahrnehmung zum Ausdruck: zur ästhetischen Dimension von Glauben und Lernen,
Stuttgart: Kohlhammer 2006.
9 GRÖZINGER, Albrecht: Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, in: DERS. /
LOTT, Jürgen (Hg.): Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens
und Handelns, Rheinbach-Merzbauch: CMZ-Verlag 1997, 311–328, 315; religionspä-
dagogisch sind in dieser Entwicklung vor allem Hilger und Peter Biehl zu nennen. Vgl.
ALTMEYER 2006 [Anm. 8], 41–47.
10 Vgl. HILGER, Georg: Wahrnehmung und Verlangsamung als religionsdidaktische Ka-
tegorien. Überlegungen zu einer ästhetisch inspirierten Religionsdidaktik, in: HEIM-
BROCK, Hans-Günter (Hg.): Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Weinheim:
Deutscher Studienverlag 1998, 138–157.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 503
11 Vgl. den Überblick bei GÄRTNER, Claudia: Ästhetisches Lernen. Eine Religionsdidak-
tik zur Christologie in der gymnasialen Oberstufe, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien:
Herder 2011.
12 Vgl. GRÜMME, Bernhard: Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grund-
satzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunter-
richts, Stuttgart: Kohlhammer 2009, 82–85; LÄMMERMANN, Godwin: Religionspäda-
gogik zwischen politischer und ästhetischer Signatur. Eine nicht ganz unpolemische
Auseinandersetzung zur Rettung der Ästhetik vor den Ästheten, in: ZPT 57 (2005),
358–368.
13 Vgl. ASSIG, Hubertus: Glück und Heil. Plädoyer für den Vorrang der Ästhetik in der
Ethik, in: ASSIG, Hubertus / MALLINCKRODT, Hansjürgen von (Hg.), Politische Kate-
chese. Theologische und didaktische Skizzen, München: Pfeiffer 1972, 172–185. Diese
Trennung war in den frühen 1970er Jahren sogar unüblich. Dies lässt sich soziologisch
damit erklären, dass 1968 „Künstlerkritik“ und „Sozialkritik“ noch gemeinsam artiku-
liert wurden, in der Folgezeit jedoch separiert auftreten (vgl. BOLTANSKI, Luc / CHIA-
PELLO, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003).
14 Vgl. exemplarisch RANCIÈRE, Jacques: Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve 2008.
504 Claudia Gärtner
scheint zum anderen ohne eine ästhetische Dimension für viele Schüler*in-
nen auch gar nicht mehr ansprechend zu sein.
Mit diesen Plakaten (s. Abb. 1–3) machte sich vor einiger Zeit eine kirch-
liche Organisation für die Rechte benachteiligter Kinder stark. Die Bot-
schaft ist eindeutig gesellschaftskritisch: Kinder besitzen Potenziale, sie
sind kleine Superhelden, die ihre Kräfte in dieser Gesellschaft häufig nicht
entwickeln können. Der Hintergrund verweist darauf, dass dies besonders
für Kinder aus ökonomisch benachteiligten Familien zutrifft. Die Plakate
bringen die gravierende Bildungsungerechtigkeit in Deutschland zum Aus-
druck. Arm – reich, Kinder – Erwachsene sind hier Hierarchien, die macht-
kritisch und krisenorientiert miteinander in Beziehung gesetzt werden. Mit
diesen Plakaten setzt sich Kirche ihrem diakonischen Selbstverständnis
folgend für benachteiligte Kinder ein. Im RU können anhand dieser Bilder
„Supermother“ nennt sie ihre Arbeiten, die damit – anders als die
kirchlichen Plakate – einen deutlichen Genderbezug erhalten. Hier prägen
geschlechtsspezifische und -stereotypische Wahrnehmungsmuster die Be-
trachtung mit, die zugleich deutlich hinterfragt werden. Mit diesem ge-
schärften Blick fällt auf, dass die Kirchenplakate diesen Aspekt ausblen-
24 Vgl. ausführlich BURRICHTER, Rita / GÄRTNER, Claudia: Mit Bildern lernen. Eine Bild-
didaktik für den Religionsunterricht, München: Kösel-Verlag 2014, 64–67.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 509
Trotz oder gerade wegen dieses ironischen Umgangs mit (religiösen) Frau-
en- und Männerbildern lässt sich an diesem Werk eine wechselseitige kri-
tische Erschließung von Christentum und Gegenwartskultur ausmachen.
Jablonska macht darauf aufmerksam, dass die Marienbilder bis heute ihre
Bildgeschichte und Bildwirkung besitzen. Damit ruft sie zugleich ins
Gedächtnis, wie maßgeblich Frau- und Muttersein in der Geschichte des
Christentums durch Maria, die Mutter Jesu, in Kunst, Gesellschaft und
Religion geprägt wurde. Als Gottesmutter wird sie verehrt und zugleich
wird durch ihre Jungfräulichkeit ein entsexualisiertes und durch ihre
(vermeintliche) Demut ein mitleidendes, passives Frauen- und Mutterbild
gezeichnet. Maria wird zur „Supermother“.
Schülerinnen und Schüler, die sich auf eine solch vielschichtige Erschlie-
ßung des Kunstwerks einlassen, können Gendervielfalt in der Bibel und
Tradition entdecken, androzentrische Texte auf vergessene, marginali-
sierte Sichtweisen befragen und Androzentrismen in Bibel und Tradition
aufdecken. Im Vergleich mit der Plakatserie können Lernende zum einen
erkennen, wie hier gesellschaftliche und intergenerationale Missstände an-
geprangert und die diakonische Funktion von Kirche hervorgehoben wer-
den. Zum anderen wird deutlich, dass Gender, Religion und Gesellschaft
kritisch intersektional in Beziehung gesetzt werden muss.26 Dadurch ver-
meidet ein Lernsetting mit diesen Bildserien einseitige Religions- oder Ge-
sellschaftskritik, denn Ästhetik, Religion und Kritik sind hier nicht vonei-
nander zu trennen. Im Sinne der Frankfurter Erklärung erweist sich ein so
orientiertes ästhetisches Lernen im RU als krisenorientiert, kontrovers, re-
flexiv und zugleich machtkritisch.
25 Vgl. MILLER, Gabriele: „Maria, unsere Schwester im Glauben. Das Marienbild des
Neuen Testaments“, in: SPENDEL, Stefanie Aurelia / WAGNER, Marion (Hg.): Maria zu
lieben. Moderne Rede über eine biblische Frau, Regensburg: Friedrich Pustet 1999, 23–
38.
26 Vgl. KNAUTH, Thorsten / JOCHIMSEN, Maren A. (Hg.): Einschließungen und Ausgren-
zungen. Zur Intersektionalität von Religion, Geschlecht und sozialem Status für religi-
öse Bildung, Münster: Waxmann 2017.
27 Vgl. die regelmäßigen Proteste der FPÖ gegen Ausstellungen bzw. Auszeichnungen
der Künstlerin, sowie die sinnentstellte Zitation von Äußerungen der Künstlerin durch
512 Claudia Gärtner
gen religiöser Traditionen – sowohl für Männer als auch Frauen benutzbar
ist.
Mit Dirndlmoschee ruft Ajsamija zum einen diese Geschichte und Instru-
mentalisierung der Tracht in Erinnerung. Am Dirndl wird verdichtet deut-
lich, wie Kleidung Funktionen, Projektionen und Ideologien transportiert,
die Frauen buchstäblich tragen. Damit besitzt das Werk eine deutlich ide-
ologiekritische Dimension. Zugleich greift sie dabei religiöse Fragen auf,
indem sie ihr Kleid als Moschee bezeichnet. Kleidung wird somit zu einem
„Sakralraum“, die Grenzen zwischen Mode und Architektur werden auf-
gebrochen. Die Künstlerin betrachtet den Gebetsteppich bereits als Mo-
schee, entsprechend der wörtlichen Bedeutung als „Ort der Niederwer-
fung“.
„Theoretisch kann man den Gebetsteppich im Islam als den kleinsten architekto-
nischen Raum verstehen. Er vereint alles, was man zum Beten braucht: ein Sym-
bol zur Kommunikation und Zusammenkunft, eine klare Ausrichtung nach
Mekka und einen sauberen Ort, an dem man auch seinen Kopf ablegen kann.
Mehr braucht man zum Beten nicht. Man sieht in der Architekturgeschichte isla-
mischer Bauten sehr deutlich, dass sich die eigentliche Form der Moscheen ab-
hängig von Ort und Zeit immer wieder verändert hat. Die Moscheearchitektur hat
29 Vgl. WALLNÖFER, Elsbeth: Geraubte Tradition. Wie die Nazis unsere Kultur verfälsch-
ten, Augsburg: Sankt Ulrich Verlag 2011, 154–158.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 515
sich eigentlich erst durch die Assimilation von Elementen verschiedenster Kul-
turkreise weiterentwickelt.“30
30 AKSAMIJA, Azra: Wie näht man eine Moschee?, DER STANDARD, Printausgabe,
14./15.1.2012, in: https://derstandard.at/1326249198141/Religioeses-Bauen-Wie-naeh
t-man-eine-Moschee [abgerufen am 20.3.2019].
31 SCHÖNHAGEN 2016 [Anm. 28], 7.
32 SCHNURR, Ansgar, Fremdheit loswerden – das Fremde wieder erzeugen. Zur Gestaltung
von Zugehörigkeiten im Remix jugendlicher Lebenswelten, in: LUTZ-STERZENBACH,
Barbara / SCHNURR, Ansgar / WAGNER, Ernst (Hg.): Bildwelten remixed. Transkultur,
Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld: Transcript 2013, 69–
88, 79.
516 Claudia Gärtner
entalisierung,33 die gerade auch durch Mode ausgetragen wird und nicht
nur bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund anzutreffen ist.
33 Vgl. LECHKOWICH, Ann Marie / JONES, Carla: Introduction: The Globalization of Asian
Dress: Re-Orienting Fashion or Re-Orientalizing Asia?, in: DIES. / NIESSEN, Sandra
(Hg.): Re-Orienting fashion. The Globalization of Asian Dress, Oxford: Berg Publis-
hers 2003, 1–48.
34 Dass dies im Bereich von Kleidung noch längst nicht selbstverständlich ist, zeigen ak-
tuell die kontroversen Debatten um die Ausstellung „Contemporary Muslim Fashions“
im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt (2019). Die hier gezeigte „modest fashion“
ruft auf Grund des kreativen und selbstbewussten Umgangs mit kulturellen und religi-
ösen Kleidungsvorschriften teils Begeisterung hervor, zugleich wird diese Schau von
vielen Rechten und Feministinnen vehement kritisiert.
Ganz schön politisch: Ästhetisch orientierter Religionsunterricht 517
Die Werke der zwei Künstlerinnen zeigen somit exemplarisch, auf welch
unterschiedlichen Ebenen ästhetisches und politisches Lernen miteinander
verwoben sind. Auf einer thematischen Ebene werden Motive aufgegrif-
fen, die sowohl politische als auch religiöse Bezüge besitzen und die in den
jeweiligen Werken kontrovers und mehrdeutig verarbeitet werden (z. B.
Geschlechterstereotype, Kopftuch). Auf einer kompetenzorientierten
Ebene können Fähigkeiten erworben werden, um Bilder analysieren, inter-
pretieren und ggf. Bildfunktionen dekonstruieren oder selbstbestimmt
transformieren zu können (z. B. Ikonografie Maria mit Jesuskind; Ideolo-
gisierung und Erotisierung des Dirndls). Auf einer handlungsorientierten
Ebene können die Werkbeispiele motivieren, anhand der verwendeten äs-
thetischen Strategien die eigene ästhetische Praxis zu reflektieren und
selbstbestimmt neue Formen der ästhetischen (Selbst-) Expression auszu-
probieren (z. B. Kleidung, spielerische Übernahme anderer Genderrollen).
Im Sinne der Frankfurter Erklärung können entsprechende Lernsettings
krisenorientierte, kontroverse, reflexive, machtkritische, ermutigende und
auf Veränderung zielende Lernprozesse initiieren.
Autorinnenangaben: Dr. theol. habil, Claudia Gärtner ist Professorin für Prakti-
sche Theologie an der Technischen Universität Dortmund und Leiterin der Ar-
beitsstelle für religiöse Bildkompetenz und Bilddidaktik. Sie war mehrere Jahre
Studienrätin an einem Gymnasium mit den Fächern Katholische Religionslehre
und Kunst.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret –
Didaktische Reflexionen anhand biblischen,
ethischen und performativen Lernens
Jan-Hendrik Herbst
1 Die folgenden Überlegungen basieren unter anderem auf dem Workshop „Ideologiekri-
tik und Religionsunterricht“, den ich im September 2018 auf der AKRK-Jahrestagung
durchgeführt habe. Impulse und kritische Rückmeldungen wurden aufgenommen und
weitergedacht. Die Tagung selbst, auf der die Wahrheitsfrage im Horizont einer post-
faktischen Gesellschaft debattiert wurde, verweist bereits auf die Aktualität ideologie-
kritischer Reflexionen.
2 Vgl. z. B. ADORNO, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Mit einem
Nachwort von Volker Weiß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019.
3 Ideologiekritik scheint auch für die Pädagogik wieder ein relevantes Thema zu sein
(vgl. RIEGER-LADICH, Markus: Achselschweiß und Mundgeruch. Ideologiekritik nach
Marx, in: ethik und gesellschaft 1 (2018), 1–21). Rieger-Ladich nennt dort drei thema-
tische Beispiele (Digitalisierung, Bildungsaufstieg und Integration), die auch religions-
pädagogisch von Interesse sein können (vgl. EBD., 15–16). Die Begriffe ‚Ideologie‘ und
‚Ideologiekritik‘ gilt es konzeptionell weiterzuentwickeln, wobei dies auch im Rahmen
der Kritischen Theorie gelingen kann (vgl. EBD., 12–15).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_29
520 Jan-Hendrik Herbst
4 Unter den breitesten Strang einer ideologiekritischen Tradition in der RP lassen sich
u. a. die Entwürfe von G. Otto, S. Vierzig und G. Lämmermann subsumieren (vgl.
YOON, Hwa-Seok: Zur Theorie der Religionsdidaktik als die Gesellschaftskritik oder
Ideologiekritik, in: Journal of Christian Education & Information Technology, 8 (2005),
219–236).
5 Diese Ansätze sind sehr disparat. Zudem gilt: „Allenfalls in der Rezeption von Kon-
zepten wie Paulo Freires ‚Pädagogik der Unterdrückten‘, Johann Baptist Metz‘ ‚politi-
scher Theologie‘ oder Impulsen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie kom-
men ideologiekritische Perspektiven noch stärker zum Tragen“ (ENGLERT, Rudolf: Ide-
ologiekritik, in: PORZELT, Burkhard / SCHIMMEL, Alexander (Hg.): Strukturbegriffe der
Religionspädagogik (Festgabe für Werner Simon), Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015,
126–132, 129. Nichtsdestoweniger bescheinigt Englert den Entwürfen „Potenzial“
(EBD., 130).
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 521
Rudolf Englert „daran erinnern, dass RP bleibend in der Gefahr steht, un-
durchschauten Interessen dienstbar zu sein und Zwecke zu befördern, die
im Lichte christlichen Glaubens und seiner religionskritischen Tradition
problematisch sind.“6
6 EBD., 130.
7 Johannes Heger verwendet ihn beispielsweise als wissenschaftstheoretischen Grundbe-
griff, wenn er von einer ideologiekritischen Perspektive spricht. Vgl. HEGER, Johannes:
Wissenschaftstheorie als Perspektivenfrage?! Eine kritische Diskussion wissenschafts-
theoretischer Ansätze der Religionspädagogik (Religionspädagogik in pluraler Gesell-
schaft), Paderborn: Schöningh 2017, 137–182.
8 HAHN, Matthias: Evangelische Religion im Lehrplan. Ideologiekritische Analyse aus-
gewählter Lehrpläne für den Ev. Religionsunterricht, Weinheim: Dt. Studien 1992.
9 Auf dieser Ebene stellt Ideologiekritik ein Grundprinzip religiöser Bildung dar. Exemp-
larisch dafür steht die klassische Publikation von Siegfried VIERZIG (Ideologiekritik und
Religionsunterricht. Zur Theorie und Praxis eines kritischen Religionsunterrichts, Zü-
rich / Einsiedeln / Köln: Benziger 1975).
522 Jan-Hendrik Herbst
Gegenstand des Unterrichts werden.10 Auf einer dritten Ebene lässt sich
eine ideologiekritische Begründung religiöser Bildung an der öffentlichen
Schule identifizieren.11 Die drei Ebenen hängen eng miteinander zusam-
men, ihre Differenzierung ist hierbei analytisch zu verstehen.
Ideologiekritik basiert auf der Annahme, „dass Menschen gegen ihre eige-
nen Interessen zu handeln scheinen“12. Beispielsweise lässt sich im Rück-
griff auf Pierre Bourdieu fragen, weshalb „[a]usgerechnet die Verlierer im
Wettkampf um Bildungstitel […] den Schulen das größte Vertrauen vor-
schießen“13. Das Handeln entgegen der eigenen Interessen erfordert eine
Erklärung, die durch ideologiekritische Analysen hervorgebracht werden
soll. Ideologiekritik lässt sich so verstehen als die normativ fundierte Ana-
lyse einer Ideologie, einem „System von Überzeugungen, das geeignet ist,
den Blick auf die herrschenden Verhältnisse zu verschleiern.“14 Bei einem
solchen Verständnis wird problematisiert, dass Ideologien die gegebenen
Verhältnisse naturalisieren, sie werden „als vernünftig als legitim als recht-
mäßig oder ganz schlicht als ‚natürlich‘“15 angesehen. Insofern lässt sich
Ideologiekritik in einem ersten, abstrakten Begriffsverständnis auch als be-
gründete Denaturalisierung bestimmter anthropologischer oder sozialthe-
oretischer Grundannahmen verstehen. Ohne die theoretische Schwierig-
keit der Begriffsbestimmung hier näher zu reflektieren, werden in den an-
Die Frankfurter Erklärung bezieht sich nicht nur auf den Politikunterricht
oder außerschulische Bildung, die explizit als politisch benannt ist. Politi-
sche Bildung ist ein Unterrichtsprinzip und findet sich folglich „in unter-
schiedlichen Schulfächern“, zudem wird sie „fächerübergreifend prakti-
ziert“. Darüber hinaus „ist [sie] im außerschulischen Bereich in vielfältigs-
ter Art etabliert und repräsentiert: in Bildungsstätten, Jugendverbänden
und bei Bildungsträgern sowie in sozialen Bewegungen und Initiativen“
(FFE P). Aus diesem Grund wird im Folgenden genauer das Potenzial der
Frankfurter Erklärung ausgeleuchtet und dabei auf das didaktische Prinzip
der Ideologiekritik bezuggenommen. Die drei dargelegten Praxisbeispiele
existieren bereits, sie werden jedoch im Horizont der Kategorie Ideologie-
kritik rekonfiguriert, da sie bisher nicht unter diesem Begriff firmieren. Bei
der Analyse wird jedes Beispiel einem Prinzip der Frankfurter Erklärung
zugeordnet, auch wenn sich möglicherweise mehrere Prinzipien durch die-
ses verwirklichen ließen. Unabhängig von der möglichen Verbindung der
Prinzipien soll es jedoch um eine Fokussierung und Schwerpunktsetzung
gehen, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frankfurter Erklärung
und dem kritisch-emanzipatorischen Potenzial religiöser Bildung ermögli-
chen sollen.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 525
In dieser Lesart wird also auch das schroffe Verhalten des Herrn proble-
matisiert und mit der Güte Gottes kontrastiert. Diese Lesart hinterfragt die
Ideologie der Talente. Diese Überlegungen lassen sich als mögliche Deu-
tung einspielen und auf die eigene Sozialisation beziehen: „Sich involvie-
ren lassen, eigene deterministische Denkmuster entdecken und kritisch
freilegen, Selbstverständlichkeiten aufbrechen“26. Wie kann das konkret
aussehen? Beispielsweise könnten die Schüler*innen kritisch diskutieren,
151–153. Dementgegen vgl. z. B. THEIS, Joachim: Das Gleichnis von den Talenten:
Unterrichtsvorbereitung mit Berücksichtigung der vier elementaren Ebenen in bibli-
schen Texten, in: KatBl 118 (1993), 484–490.
23 Vgl. CROSSAN, John Dominic: The Dark Interval. Towards a Theology of Story, Salem:
Polebridge Press 1994, 31.
24 PIRKER 2013 [ANM. 21], 83.
25 ALTMEYER / GRÜMME 2014 [Anm. 20], 324.
26 EBD.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 527
30 WOHNIG, Alexander: Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Ana-
lyse von Praxisbeispielen politischer Bildung, Wiesbaden: Springer VS 2017, 232.
31 EBD., 349.
32 Zitiert nach EBD., 240.
33 EBD., 393.
34 EBD., 362.
35 Vgl. EBD., 361.
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 529
lässt sich jedoch nur dann nutzen, wenn die „Einbindung“ der Religion und
der Lehrperson in diese Verhältnisse berücksichtigt werden und realisiert
wird, dass auch der Kirchenraum kein echtes Außerhalb darstellt. Auch
wenn die instrumentelle Steigerungslogik des Alltags durch Kontempla-
tion möglicherweise tatsächlich gebrochen werden kann, bleiben beide
gleichzeitig dadurch miteinander verwoben, dass Entschleunigung für ei-
nen erneuten Einstieg in die Steigerungslogik instrumentalisiert werden
kann. Damit eröffnet das kirchenraumpädagogische Arrangement potenzi-
ell eine selbstreflexive und religionskritische Perspektive auf die Funktio-
nalisierung bürgerlicher Wohlfühlreligion. Die Schüler*innen können so
eine andere Sicht auf „Entschleunigungsoasen“44 und angepasste Religi-
onsformen kennenlernen, indem sie das gesellschaftlich provozierte aura-
tische Bedürfnis nach heiligen Orten45 mit den Grundbedingungen kapita-
listischer Produktionsweise in Verbindung bringen: Die Sehnsucht nach
Stille und ruhigen Rückzugsorten entwickelt sich möglicherweise erst aus
einer Beschleunigungsdynamik, die auch den Schulalltag prägt. Ein sol-
ches Lernsetting ermöglicht es, ein anspruchsvolles Konzept von Kirchen-
räumen zu entwickeln und die soziale Funktionalisierung von Religion als
reiner Kontingenzbewältigungspraxis kritisch zu reflektieren. Eine solche
Reflexivität, die im Unterrichtsgeschehen transparent werden sollte, bietet
zudem einen „Schutz vor Überwältigung“ (FFE 4), der gerade in Bezug auf
performative Unterrichtseinheiten bedeutsam ist.46
An dieser Stelle ist es besonders wichtig, wie einleitend skizziert, die Ver-
bindung der drei Ebenen religionspädagogischer Ideologiekritik zu schär-
fen. An der Kirchenraumpädagogik wird deutlich, wie sich diese Ebenen
wechselseitig beeinflussen. Denn performatives Lernen in Kirchengebäu-
den sollte selbst noch einmal ideologiekritisch analysiert werden, weil
kirchliche Bauwerke und ihre innere Struktur Ausdruck historisch kristal-
lisierter Macht- und Herrschaftsverhältnisse sein können und möglicher-
weise ganz konkret auf Ausbeutungsverhältnissen aufbauen, zum Beispiel
auf kolonialer Fronarbeit.
Unterschiede, über die auf die Raumdifferenzen reflektiert werden kann. Dabei gilt: Für
den performativen Religionsunterricht ist eine präzise Unterscheidung von „religiöser
Praxis und deren inszenatorischer Erschließung bzw. deren Thematisierung in religiö-
sen Unterrichtsprozessen“ (DRESSLER, Bernhard / KLIE, Thomas / KUMLEHN, Martina:
Der Umgang mit Performanz will gelernt sein, in: DIES. (Hg.): Unterrichtsdramaturgien.
Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart: Kohlhammer 2012, 317–320,
317) nötig. Diese kann jedoch nur dann gewährleistet werden, wenn Möglichkeiten der
Distanzierung und Reflexion in das didaktische Setting integriert werden. Dazu kann
eine ideologiekritische Perspektive in besonderer Weise beitragen, da sie einerseits die
„Produktivität von Fremdheitszumutungen“ (EBD., 319) und andererseits die soziale
Funktion der Religion erschließen kann. Eine Verbindung ideologiekritischer Überle-
gungen mit performativer Religionsdidaktik bietet sich an, weil so „Devotion vor dem
Fremden und seiner Faszinationskraft“ (EBD.) vermieden wird. Vielmehr sollte „das
Verstehen von Religion […] nicht einer Überwältigung durch Religion“ (EBD.) geopfert
werden. „Man kann in Religion hineingeraten, aber auch das muss man wissen können,
um entsprechend urteils- und handlungsfähig zu werden.“ (EBD.).
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 533
In Bezug auf die Frankfurter Erklärung wäre zu bedenken, dass die sechs
Grundsätze zwar Potenziale für den RU bieten, jedoch in der spezifischen
Perspektive der RP noch zu ergänzen und erweitern wären. Dabei bieten
besonders die letzten beiden, hier nicht thematisierten Prinzipen „Ermuti-
gung“ (FFE 5) und „Veränderung“ (FFE 6) theologischen Interpretations-
50 Auch für das Compassion-Projekt ließe sich eine theologische Zuspitzung denken,
wenn es darum geht, das theologische Fach- und Konzeptwissen der Schüler*innen zu
schulen. Diese könnten z. B. ein angemessenes Verständnis dogmatischer Zentralbe-
griffe wie ‚Sünde‘ und ‚Schuld‘ entwickeln, das auch strukturelle Perspektiven inte-
griert und einlädt zur Deutung der eigenen Lebensführung „im Horizont von Rechtfer-
tigung“ (vgl. SCHLAG, Thomas: Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Reli-
gionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg im Breisgau: Herder 2010, 512).
51 LUTHER, Henning: Religion im Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des
Subjekts, Stuttgart: Radius 1992, 22. „Religiös sein heißt hier nicht, Sinn für eine (die)
andere Welt zu haben, sondern die Welt anders zu sehen, einen anderen Sinn für die
Welt zu bekommen.“ (EBD., 29) Weitere mögliche Verbindungen von Ideologiekritik
und Theologie führt Luther später aus (vgl. EBD., 94–96).
52 TÜRCKE, Christoph: Zum ideologiekritischen Potenzial der Theologie. Konsequenzen
einer materialistischen Paulus-Interpretation, Springe: Zu Klampen 1979, 12.
53 Anschließen ließe sich beispielsweise an angelsächsische Debatten und die Religions-
pädagogen John Hull und Michael Grimmit (vgl. MEYER, Karlo: Zeugnisse fremder
Religionen im Unterricht: ‚Weltreligionen‘ im deutschen und englischen Religionsun-
terricht, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999, 136–140, 226).
Ideologiekritischer Religionsunterricht konkret 535
spielraum, wie auch daran deutlich wird, dass der mit ihnen eng verbun-
dene Begriff „Hoffnung“ politikdidaktisch entdeckt wird.54
54 Vgl. BESAND, Anja: Hoffnung und Ihre Losigkeit. Politische Bildung im Zeitalter der
Illusionskrise, in: DIES. / OVERWIEN, Bernd / ZORN, Peter (Hg.): Politische Bildung mit
Gefühl, Bonn: bpb 2019, 173–187. Überlegungen zur theologischen Kategorie ‚Hoff-
nung‘ finden sich auch im Beitrag von Ulrich ENGEL in diesem Band.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der
Christlichen Arbeiterjugend: Reflexionen am Beispiel
der Methode „Sehen, Urteilen, Handeln“
Christoph Holbein-Munske
Abstract: Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie in der CAJ-Methodik
religiöse Bildungsprozesse als kritisch-emanzipatorische Bildungsprozesse gestal-
tet werden, um Anregungen für eine kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung
aufzuzeigen. Hierfür wird zunächst in die CAJ-Methodik ROLWA als politisch-
bildende und spirituelle Methode eingeführt. In einem zweiten Schritt wird die
Methode daraufhin befragt, wie sie die Anliegen der Frankfurter Erklärung kon-
kretisiert. Abschließend werden weiterführende Impulse aus der ROLWA für die
kritische politische Bildung zur weiteren Diskussion formuliert.
Wie sieht religiöse Bildung in Zeiten einer „multiplen Krise“1 aus? Ist es
ein „Zurück in die Zukunft“, wie die Grundausrichtung dieses Sammelban-
des suggeriert: Muss religiöse Bildung nicht wieder politisch werden, um
die religiöse Dimension der Wirklichkeit zu erschließen? Wenn es darum
geht, historisch bedeutsame Ansätze für eine kritisch-emanzipatorische re-
ligiöse Bildung zu reaktualisieren, ist die Christliche Arbeiterjugend (CAJ)
mit ihrer Programmatik und Methodik prädestiniert, Impulse dafür zu bie-
ten: Erstens verdanken wichtige Akteure im historischen Aufbruch der Kir-
che rund um das Zweite Vatikanische Konzil und die Befreiungstheologie
ihre religiös-politische Bildung unter anderem der CAJ und ihrer Metho-
dik. Zweitens wird dieses programmatische und methodische Erbe durch
jede neue Generation der CAJler*innen jeweils bereits für ihre jeweiligen
gesellschaftlichen Verhältnisse reaktualisiert.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_30
538 Christoph Holbein-Munske
Im folgenden Kapitel führe ich in drei Schritten die Methode Sehen, Urtei-
len, Handeln in der Christlichen Arbeiterjugend ein. Im ersten Schritt ver-
orte ich den mit ihr verbundenen kirchlichen Paradigmenwechsel histo-
risch. Im zweiten Schritt skizziere ich die Grundzüge der Methode.
Schließlich führe ich in den Bildungsanspruch der ROLWA und ihre Spi-
ritualität ein.
2 Zuvor hatten bereits CAJler*innen wie Marcel Callo als Zwangsarbeiter*innen die CAJ
im nationalsozialistischen Deutschland verbreitet. Die Protagonist*innen wurden je-
doch, soweit bekannt, umgebracht.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 539
Mit dem Dreischritt Sehen, Urteilen, Handeln arbeitet die CAJ seit ihren
Anfängen. Josef Cardijn und weitere wichtige Leiter*innen und Beglei-
ter*innen der CAJ haben die Methode geprägt.5 Zentrale Merkmale sind
im Dokument über die ROLWA festgehalten. Die ROLWA, auch Revision
3 Vgl. HORN, Gerd-Rainer: Western European Liberation Theology: The First Wave,
Oxford: Oxford University Press 2008.
4 Vgl. EBD.
5 Vgl. ANTONY, Bernhard: Arbeiterleben und Arbeitswelt mit Hoffnung sehen. J. Car-
dijns Impulse zur Lebensbetrachtung (Revision de vie), in: ANTONY, Bernhard (Hg.):
Zur Arbeiterschaft – zur Arbeiterbewegung entschieden. 100 Jahre Joseph Cardijn,
Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1982, 144–167.
540 Christoph Holbein-Munske
6 Vgl. zur ROLWA auch HOLBEIN, Christoph: Bildung durch Aktion. Inspirationen der
Christlichen Arbeiterjugend, in: KatBl 142 (2017), 354–357.
7 CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Unsere Vision einer gerechten
Arbeitswelt, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/2016/Vision_web.pdf
[abgerufen am 30.06.2019].
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 541
„ich werde mich beim nächsten Mal meinem Chef widersetzen“ –, sie kön-
nen auch kollektiver Natur sein – „wir organisieren eine Demonstration
gegen Abschiebungen“. Häufig merkt die Gruppe auch, dass sie bestimmte
Aspekte tiefer ergründen muss, oder dass es sinnvoll ist, eine eigene Um-
frage zu initiieren, dass sie also noch tiefer Sehen muss, um wirklich zu
verstehen. Auf diese Weise können umfangreichere Aktionsprozesse wie
der zum Thema Prekäre Arbeit oder der zum Thema Flucht entstehen, in
denen immer wieder der Kreislauf von Sehen, Urteilen, Handeln durchlau-
fen wird.
Damit berühren wir ein weiteres für die CAJ-Methodik zentrales Charak-
teristikum: Sie ist Bildungs- und Aktionsmethodik und gleichzeitig (nicht
getrennt davon) eine spirituelle Methode. Der Glaube prägt die gesamte
Methode grundlegend:
„Der Glaube kommt nicht erst sekundär als ein normatives Deutungsinstrument
der erhobenen Situation ins Spiel, sondern liegt als normative Prämisse der ge-
samten Methode zugrunde. Die aufmerksame Zuwendung zur Lebenswirklichkeit
eines jeden Menschen und zu ihren einfachsten Alltagserfahrungen ist bereits ein
Glaubensakt, in dem der Glaubensinhalt, die in Gott gründende Würde und Be-
rufung dieses Lebens, erfahrbar gemacht und performativ vollzogen wird.“14
12 EBD.
13 EBD., 15.
14 KLEIN, Stephanie: Erkenntnis und Methode in der Praktischen Theologie, Stuttgart:
Kohlhammer 2005.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 543
Daraus erwächst eine Spiritualität, die das Spirituelle nicht als eigenen
Sonderbereich der Realität begreift, sondern auf die Realität begreifend,
beurteilend und handelnd bezogen ist. Entsprechend ist auch die Ausübung
dieser Spiritualität nicht notwendig an Gebete oder andere Formen expli-
ziter Spiritualität geknüpft, auch wenn das durchaus möglich ist. Während
Gottesdienste oder auch Meditationen einen eigenen spirituellen Bereich
konstituieren können, zielt die CAJ-Methodik gerade darauf, einen solchen
Unterschied aufzulösen. Was aber bedeutet dann Spiritualität, wenn ihre
Ausübung sich nicht notwendig in Formen wie Gottesdiensten und Gebe-
ten artikuliert und vielleicht nicht einmal als solche zu erkennen ist?
Eine Definition von Jon Sobrino ist hier aufschlussreich. Er versteht unter
Spiritualität den „Geist eines bestimmten Subjektes oder einer als Subjekt
auftretenden Gruppe, insoweit dieser/diese zur Totalität der Wirklichkeit
in Beziehung steht.“15 Diese Definition kann an das im Bildungsauftrag
benannte Ziel anknüpfen, dass es um „den neuen Menschen“ geht. Das
heißt, dass die Bildung über die themenspezifischen Kenntnisse und Kom-
petenzen im Umgang mit der konkreten Situation hinausgehen muss. Der
Bildungsprozess zielt auf die Konstitution der lernenden Subjekte.
Sie kultivieren ein Bündel von Einstellungen und Haltungen, eine eigene
Kultur, in der es ihnen darum geht, auch künftig langfristig in den verschie-
denen Lebensbereichen Gruppen aufzubauen, mit denen sie gemeinsam se-
hen, urteilen und handeln. Indem sie in der ROLWA die konkreten Situa-
tionen in der Realität als Orte der Erkenntnis, des Glaubens und des Han-
delns begreifen, üben sie sich darin, immer in dieser Art und Weise ein
Verhältnis zum Ganzen der Realität einzunehmen.
15 SOBRINO, Jon: Geist, der befreit. Lateinamerikanische Spiritualität, Freiburg u. a.: Her-
der 1989, 26.
544 Christoph Holbein-Munske
Im Folgenden geht es mir darum, die Methodik der CAJ mit den Positionen
der Frankfurter Erklärung zu verbinden. Dabei soll erstens erkundet wer-
den, welche Rolle das jeweilige Merkmal für die politische Bildung in der
CAJ spielt. Zweitens soll angemerkt werden, worauf in der Anwendung
der CAJ-Methodik zu achten ist, damit dieses Merkmal tatsächlich zur Gel-
tung kommt. Drittens geht es mir darum, aufzuzeigen, welche besonderen
Impulse sich für Prozesse kritischer politischer Bildung aus der CAJ-Me-
thodik ergeben. In der Struktur halte ich mich an die einzelnen Positionen
der Frankfurter Erklärung.
16 In der Struktur halte ich mich an die Struktur der Frankfurter Erklärung. Es kann hilf-
reich sein, sie sich zunächst noch einmal zu vergegenwärtigen. Vgl. „Frankfurter Er-
klärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ (FFE 2015), in:
https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklaerung/ [abgerufen am
30.06.2019].
17 EBD.
18 CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Reflexion des Lebens und der
Arbeiteraktion, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/statisch/Die_RLA
A_ROWLA_Lebensbetrachtung.pdf [abgerufen am 30.06.2019], 4.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 545
den werden, „ob es ein individuelles oder kollektives Problem ist“.19 Dies
hilft häufig, um eine individualistische Deutung zu überwinden, der gemäß
individuelle Probleme lediglich auf das persönliche Handeln zurückzufüh-
ren sind. Beispielsweise reflektieren junge Menschen ihre Arbeitsbedin-
gungen und stellen dabei fest, dass befristete Arbeitsverträge nicht nur
selbst verschuldet sind, sondern strukturelle Gründe haben.20 Indem weiter
danach gefragt wird, welche Auswirkungen diese Umstände haben, kön-
nen die Beteiligten Wirkungszusammenhänge in ihrem Leben herstellen
und damit die Relevanz ihrer Arbeitsbedingungen im eigenen Leben und
im Leben ihrer Mitstreiter*innen erfahren. Nachdem die Relevanz der Le-
bensumstände und deren gesellschaftliche Dimension herausgearbeitet
wurde, kommt nun ein entscheidender Schritt für die Aufdeckung gesell-
schaftlicher Krisenzusammenhänge: Es gilt nach den Gründen dafür zu fra-
gen, warum die Realität ist, wie sie ist. Hierfür stehen einige vertiefende
Fragen zur Verfügung; neben der Frage danach, wer von der Situation pro-
fitiert, ist hier vor allem die ‚SPEC‘-Analyse zu nennen, die nach den so-
zialen, politischen, ökonomischen (economic) und kulturellen (cultural)
Gründen fragt. Hier liegt jedoch gleichzeitig eine Herausforderung für die
alltägliche Bildungspraxis. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusam-
menhänge entsteht nicht einfach aus sich heraus, sondern bedarf der ge-
meinsamen Aneignung von Analysen. Beispielsweise konnte in der Ana-
lyse zu prekärer Arbeit auf die Analysen von anderen CAJ-Nationalbewe-
gungen und auf wissenschaftliche Literatur zurückgegriffen werden. An
dieser Stelle sind die Sich-Bildenden also gefragt, sich vertiefendes Wissen
anzueignen. An politische Bildner*innen stellt sich die Herausforderung
so dar, dass sie*er nicht schon vorab weiß, welche Lebensrealitäten sich in
der konkreten Gruppe als relevant erweisen werden. Damit die CAJ-Me-
19 EBD.
20 Vgl. CHRISTLICHE ARBEITERJUGEND (CAJ) DEUTSCHLAND: Analyse der CAJ zu prekä-
rer Arbeit, in: https://www.caj.de/multimedia/Textdokumente/prekaere-arbeit/Analy-
se_Langfassung_web.pdf [abgerufen am 30.06.2019].
546 Christoph Holbein-Munske
Die Kontroversität findet sich innerhalb der CAJ-Methodik auf zwei Ebe-
nen wieder. Im Urteilen wird gemeinsam darum gerungen, wie die Gruppe
die im Sehen-Schritt erörterte Realität bewertet. In einem zweiten Schritt
wird die erarbeitete Position im Handeln nach außen getragen und vertre-
ten, wobei mit Widerspruch zu rechnen ist. Hier ist die methodisch ange-
legte Langfristigkeit der ROLWA- Prozesse ein wichtiger Aspekt: Sie ist
so ausgerichtet, dass die Gruppe nicht nur einmalig sieht, urteilt und han-
delt, sondern dass sie sich nach einiger Zeit wiedertrifft. Die beschrittenen
Handlungsschritte werden reflektiert, und es wird evaluiert, was in der Ak-
tion beibehalten und was verändert werden soll. Damit muss der Bildungs-
prozess umfassender als einzelne Unterrichtseinheiten oder Wochenend-
veranstaltungen gedacht werden. Er findet innerhalb der CAJ gerade durch
das Handeln und dessen systematischer Reflexion statt. In der Reflexion
können nun gerade auch die Momente in den Blick kommen, in denen Wi-
derstand erfahren wurde. Ein paar Beispiele können Aufschluss geben:
• Auf der 1. Mai-Demo wurde ein CAJler von einem Mitglied einer
kommunistischen Partei darauf angesprochen, ob sich die von der CAJ
geforderten Veränderungen, etwa die Arbeitszeitverkürzung, nicht zu
sehr innerhalb der bestehenden Gesellschaft gedacht sind.
• Nach der Verabschiedung einer Positionierung gegen prekäre Arbeit
wurden Vertreter*innen der CAJ zu einem Gespräch mit Arbeiterge-
ber*innen-Vertreter*innen eingeladen, die die Wichtigkeit von Leih-
arbeit und befristeten Verträgen vertraten.
Kritisch-emanzipatorische religiöse Bildung in der CAJ 547
Das spezifische Potenzial, das die ROLWA hier bietet, liegt in meinen Au-
gen besonders im Urteilen-Schritt begründet. Denn damit geht es in der
ROLWA auch darum, sich gesellschaftlich etablierte Ideale und Werte an-
zueignen. Im Schritt des Urteilens sind die Teilnehmenden der ROLWA
dazu aufgefordert, zu benennen und zu diskutieren, welche Überzeugun-
gen, Werte, biblischen oder anderen religiösen Referenzen ihnen im Blick
auf die reflektierte Situation wichtig sind. Sie lernen, abstrakte Überzeu-
gungen und Werturteile mit ihren eigenen Erfahrungen in Verbindung zu
bringen und damit zu konkretisieren und in ihrem kritischen Gehalt zu re-
aktualisieren. Dadurch werden sie gesellschaftlich sprachfähig und verset-
zen sich in die Lage, sich in öffentliche Diskurse einzuschalten. Ideale wie
‚Menschenwürde‘ oder ‚Gleichheit‘ sind in ihrer Bedeutung gesellschaft-
lich umkämpft. Wenn in einer ROLWA junge Menschen darüber diskutie-
ren, ob ihre prekären Arbeitsbedingungen oder Geschlechterungleichhei-
ten ihrer Menschenwürde widersprechen, dann lernen sie, sich innerhalb
der entsprechenden Kontroversen argumentativ begründet zu positionie-
ren. Diese Aneignung umkämpfter Ideale und Werte einzuüben, wäre mei-
nes Erachtens auch Aufgabe kritischer politischer Bildung: Sich in der ge-
sellschaftlichen Kontroversität zu bewegen, bedeutet nicht nur, Gesell-
schaft zu verstehen, sondern ebenso, eine eigene Positionierung begründen
548 Christoph Holbein-Munske
In der ROLWA fokussiert der Sehen-Part ausdrücklich auf die Gründe da-
für, dass die Situation ist, wie sie ist. Hier kann gerade die Frage danach,
wer unter der Situation leidet, und wer davon profitiert, Aufschluss über
relevante Machtverhältnisse geben. Auch die SPEC-Analyse kann hier
hilfreich sein (s. Kap. 2.1). Insgesamt spielen für die Machtkritik jedoch
vor allem zwei Elemente eine Rolle, die nicht unmittelbar mit dem Fragen-
katalog der ROLWA zu tun haben, sondern mit der CAJ-Programmatik:
1. Die CAJ bezieht sich in ihrem Bildungskonzept positiv auf den Arbei-
ter*innen-Begriff.21 Ziel ist es, nicht nur die Gesellschaft als eine zu ver-
stehen, die durch Klassen strukturiert ist, sondern die eigene Positionierung
darin zu erkennen. Das heißt unter CAJler*innen: Es geht darum, die ei-
gene Zugehörigkeit zur Arbeiter*innenklasse zur verstehen. „Durch die
fortschreitende Reflexion von Realität und Aktion erkennen wir Ausbeu-
tung, die Existenz zweier Klassen und diejenige, zu der wir gehören: Zur
Arbeiterklasse, zum Volk, zu den Ausgebeuteten.“22 Diese Affirmation der
Klassenzugehörigkeit impliziert eine grundlegende Kritik hegemonialer
Diskurse und ist damit immanent machtkritisch. Innerhalb neoliberaler
Steuerung des Bildungswesens werden die Einzelnen lediglich als Indivi-
duen angesprochen, die zwar in vielfältiger Weise durch die Gesellschaft
geprägt sind, aber bei denen die Individualität das Gemeinsame sekundär
erscheinen und tendenziell verschwinden lässt.23 Die Bewusstseinsbildung
in der CAJ steht nicht nur selbst ideologiekritisch gegenüber dieser indivi-
dualistischen Gesellschaftsbeschreibung, sondern leitet die Lernenden
dazu an, die machtvollen Gesellschaftsstrukturen als relevant zu erkennen.
Dieser Prozess umfasst auch die Verantwortungsträger*innen und Bild-
ner*innen. Beispielsweise verstand ich selbst im Zuge der Bildungspro-
zesse in der CAJ, dass ich die Folgen der Prekarisierung am eigenen Leib
erfahre. Ich lernte, dass mich trotz unterschiedlicher Milieu-Zugehörigkeit
und Bildungsabschluss mehr mit denjenigen verbindet, die etwa in der
Pflege, bei Lieferdiensten oder in anderen Bereichen unter prekären Ar-
beitsbedingungen arbeiten, oder die auch keine Arbeit haben, als mit den
Eigentümer*innen großer Unternehmen, und kann mich damit als Arbeiter
verstehen. Zwar mögen sich unsere Lebensrealitäten mehr oder weniger
unterscheiden; qualitativ erfahren wir die gleiche strukturelle Prekarisie-
rung. Diese Erkenntnis lässt sich mit der Analyse Isabell Loreys verknüp-
fen, wenn sie schreibt: „In gegenwärtigen postfordistischen Gesellschaften
ist Prekarisierung als Prozess sozialer und ökonomischer Verunsicherung
nicht mehr als gesellschaftliches Randphänomen zu verstehen, nicht mehr
als ‚a-typisch’ oder ‚unnormal’. Prekarisierung ist auch hier längst in der
sogenannten gesellschaftlichen Mitte angekommen.“24
2. In ihrer Ausbreitung ist die CAJ nicht beschränkt auf ein kleines Milieu,
sondern grundsätzlich offen ausgerichtet. Leitend in der Suche nach neuen
Aufbrüchen ist für sie dabei, was auch in der Gründung leitend war: Gerade
diejenigen Menschen zu organisieren, bei denen der Widerspruch zwi-
schen ihrer Würde und Berufung auf der einen Seite sowie ihren Lebens-
bedingungen auf der anderen Seite besonders frappierend ist. Diese Aus-
richtung führt häufig dazu, dass sehr unterschiedliche Menschen miteinan-
der ihre Lebensrealitäten reflektieren und dabei auch Menschen zu Wort
kommen, deren Stimmen häufig nicht gehört werden. Immer wieder sind
wichtige Bestandteile in Aktionen daher auch, diese Stimmen sichtbar zu
machen. So hat die Bundeaktionsgruppe Weltnah eine Ausstellung organi-
siert, in der junge Menschen mit und ohne Fluchthintergrund ihre Vorstel-
lungen für ihr Leben und die gemeinsame Vision des Zusammenlebens
sichtbar machen. In diesen Runden können also schon durch die Zusam-
mensetzung Stimmen hörbar gemacht werden, die sonst nicht hörbar sind.
Darüber hinaus gehört die konsequente Würdigung der Bildungs- und Ak-
tionsfortschritte zu den zentralen Ermutigungs-Katalysatoren in der CAJ-
Methodik: Wer den Mut aufgebracht hat, etwa der Chefin zu widerspre-
chen, oder wer weitere Mitstreiter*innen im Freund*innenkreis für die Ak-
tion gewonnen hat, wird dafür gefeiert. Dieses Feiern der eigenen Schritte
spielt eine zentrale Rolle:
„Es ist wichtig, alles, auch die kleinsten Einzelheiten im globalen Rahmen dessen,
was man zu verwirklichen vorgesehen hat, zu berücksichtigen. Jede einzelne An-
strengung ist ein Schritt nach vorne, ein Sieg über die Trägheit, über die Routine,
über den Egoismus, über den Bewusstseinsmangel, über das sich-auf-andere-Ver-
lassen. In diesem Sinn ist es wichtig, allem einen Wert beizumessen, was man in
der Aktion erreicht hat: neue Erfahrungen, neue Mittel der Organisation, Fort-
schritt in der Methode, Selbstvertrauen und Vertrauen in die jungen ArbeiterIn-
nen, Gefühl der Stärke.“28
In Österreich etwa wurde der Dreischritt hin zum Vierschritt Sehen, Urtei-
len, Handeln, Feiern weiterentwickelt.
Die CAJ begreift den Kern ihrer Arbeit als „Bildung durch Aktion.“29 Das
heißt auch: Wenn der Bildungsprozess Fahrt aufnimmt, umfasst er ein ge-
meinsames Suchen nach Wegen individuellen und kollektiven Handelns.
Im Handeln erkennen die Lernenden ihre Fortschritte und die Schwierig-
keiten und nutzen beides, um in der anschließenden Reflexion mehr über
die Gesellschaft und sich selbst darin zu verstehen.30 Nützliche Mittel für
die politische Praxis, etwa über geeignete Aktionsformen, erlernen sie ge-
wissermaßen nebenbei. Eine Stärke dieser konsequenten Ausrichtung aller
Schritte auf die Aktion ist, dass sie die eigenen Handlungsmöglichkeiten
stets mit reflektieren und vermieden wird, dass sie das Lernen als Selbst-
zweck begreifen.
„Wir erfahren uns als Handelnde, nicht nur als Betroffene in sozialen, politischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen. Damit finden wir einen Ausdruck für
das eigene Gefühl von Ungerechtigkeit, überwinden das Gefühl von Ohnmacht,
und wir lernen, politisch hörbar und wirksam zu handeln. Wir lernen, eine Hal-
tung nicht nur zu haben, sondern sie zu verkörpern und für sie einzustehen […].“31
Die Beachtung von Sehen, Urteilen und Handeln hilft, alle diese drei As-
pekte als zusammengehörig in der Praxis eines jeden Subjektes zu sehen:
Wo politische Bildung das Handeln nur als Zusatz begreift, während das
Verstehen das eigentliche darstelle, droht sie, das sich bildende Subjekt zur
Zuschauer*in zu degradieren.
3 Ausblick
machtvoller Verhältnisse erkennen, sondern auch darum, dass sie den ge-
schärften Blick, den Mut und ihr Urteilsvermögen in den Alltag hinein und
damit Machtkritik außerhalb des sicheren Rahmens üben. Zwei weitere
grundsätzliche Aspekte wurden in der Auseinandersetzung sichtbar. Ers-
tens ist es für die Reflexivität der Gruppen, in denen die ROLWA prakti-
ziert wird, wichtig, dass auch gruppeninterne Machtstrukturen kritisch re-
flektiert werden können, wofür es geeignete Settings braucht. Zweitens
spielt die Ausrichtung am Arbeiter*innen-Begriff insofern für die ganze
ROLWA eine wichtige Rolle, als dieser Begriff dazu anleitet, eine Verbin-
dung unterschiedlicher Menschen aufgrund verbundener Lebensrealitäten
und Überzeugungen herzustellen.
Abschließend möchte ich auf einen für die CAJ-Methodik zentralen Punkt
hinweisen, der in der Frankfurter Erklärung so explizit nicht vorkommt.
Mit der Form (politischen) Bildung üben wir immer auch ein bestimmtes
Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit ein.
1 Einleitung
1 Siehe CALMBACH, Marc u. a.: Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen
im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden: Springer VS 2016, 347–348.
2 EBD., 349.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_31
558 Andrea Keller und Robert Kläsener
Sowohl für den politischen als auch religiösen Bereich gibt es also heute
vielfältige Angebote, aus denen die jungen Menschen wählen können, und
auch müssen, weil sich ihnen die Sinnfragen weiter stellen. In gewisser
Weise wird diese „Wahl“ sogar komplexer und angesichts verführerischer
Alternativen auch „gefährlicher“. Die pädagogische Arbeit muss sich die-
ser Situation stellen, um junge Menschen in der Orientierung zu unterstüt-
zen. Die Vergangenheit ist dabei mit einzubeziehen, um zu erklären, wie
und warum sich die Dinge gegenüber früheren Zeiten so entwickelt haben.
Zentral sind aber Fragen der Zukunft. Die Förderung der Selbstständigkeit
und Kritikfähigkeit junger Menschen soll diesen Perspektiven für ihr zu-
künftiges Handeln eröffnen. Das Ziel bleibt also, dass die jungen Men-
schen selbstverantwortlich ihren eigenen Weg finden, auch im Hinblick
auf die herausfordernden neuen Angebote von Religion und Politik.
Denn die Bedeutung im Internet richtet sich nicht danach, wie vielen Per-
sonen etwas wichtig ist, sondern danach, wie viel Aktivität Personen oder
auch Bots entwickeln, um Meinungen zu verbreiten. Wenige, aber sehr ak-
tive Nutzer*innen erzeugen größere Aufmerksamkeit als z. B. etablierte
große Parteien, denen viele, aber wenig aktive Mitglieder angehören. Die-
ser Effekt wird noch durch sogenannte Filterblasen verstärkt. Für die Nut-
zer*innen ist es oft nicht leicht einzuordnen, ob Nachrichten stimmen, wel-
che Meinung in der Bevölkerung oder unter Expert*innen mehrheitlich
vertreten wird. Dies können extremistische Gruppierungen für ihre Zwecke
ausnutzen, unabhängig davon, ob sie ihre Ideologie religiös oder politisch
begründen. Infolgedessen ist es notwendig, junge Menschen in ihrer Ent-
wicklung medienkompetent zu begleiten, damit sie sich eine fundierte
Meinung zu einem Sachverhalt erschließen können.
Politische Bildung hat die Aufgabe und das Ziel, die Mündigkeit der Teil-
nehmer*innen zu fördern, indem sie ihnen das notwendige Wissen vermit-
telt sowie die eigene Urteilsfähigkeit schult. Grundlage der politischen Bil-
dung, auch aus katholisch-sozialer Perspektive, ist der Beutelsbacher Kon-
sens4, der jede Form massiver politischer Beeinflussung verbietet, die An-
erkennung und Förderung der Vielfalt politischer Meinungen fordert sowie
zu politischem Handeln anregt und ermutigt. Die katholisch-sozial orien-
tierte politische Bildung der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bil-
dungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (AKSB) verfolgt die-
sen Auftrag auf Basis des christlichen Menschenbildes und der christlichen
Werte:
9 Vgl. WALDMANN, Klaus: Kann wertfrei über Demokratie informiert und diskutiert wer-
den?, in: Journal für politische Bildung 9/2 (2019): Demokratieförderung vs. Politische
Bildung?, 26–31, 29–30 Sowie HUFEN, Friedhelm: Politische Jugendbildung und Neut-
ralitätsgebot, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 66/2 (2018), 216–221.
562 Andrea Keller und Robert Kläsener
Escape Rooms bzw. Escape Games erleben in den vergangenen fünf Jahren
einen enormen Zulauf. Sie greifen auf Spielekonzepte der Computerspiel-
szene aus den 1980er-Jahren zurück.10 Auch wenn ihnen unterschiedliche
Erzählungen und Plots zu Grunde liegen, funktionieren sie vom Aufbau
stets ähnlich. „Escape rooms are live-action team-based games where play-
ers discover clues, solve puzzles, and accomplish tasks in one or more
rooms in order to accomplish a specific goal (usually escaping from the
room) in a limited amount of time.”11 Hierbei werden von den Teilneh-
mer*innen unterschiedliche Kompetenzen benötigt. Gleichzeitig bietet
eine Rahmenzählung, die während des Spiels in den Hintergrund tritt, die
Möglichkeit sich spielerisch einer Thematik zu nähern, um sie in der an-
schließenden Reflexion zu vertiefen.
2018 entstand in der Akademie Klausenhof die Idee, die Methodik des Es-
cape Games zur politischen Bildung zum Thema religiöser Extremismus
zu nutzen. Daraufhin wurde das Escape Game #DemoEx entwickelt, das
mithilfe der Hintergrunderzählung einen engen Bezug zur Lebenswelt der
Jugendlichen herstellt. Die Erläuterung der Spielregeln durch die Spiellei-
tung wird durch ein plötzlich vibrierendes Handy im Raum unterbrochen.
Die Teilnehmer*innen kennen zu diesem Zeitpunkt die Hintergrunderzäh-
lung des Escape Games noch nicht und lernen diese nun kennen, indem sie
über das Handy mit einer gewissen Kim in Kontakt treten: Kim sucht ihren
10 Vgl. NICHOLSON, Scott: Peeking behind the locked door: A survey of escape room fa-
cilities. White Paper (2015), 1–35, 4–6, in: http://scottnicholson.com/pubs/erfacwhite.
pdf [abgerufen am 02.08.2019].
11 EBD., 1.
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 563
Bruder Viktor und bittet die Jugendlichen um Hilfe. Sie mache sich Sorgen
um ihn, da sie von Viktor einen Abschiedsbrief erhalten habe und nicht
zuordnen könne, was es damit auf sich habe und warum Viktor die Stadt
verlassen möchte. Sie benötige die Hilfe der Jugendlichen, bevor ihr Bru-
der in 60 Minuten in den Zug steige. Mithilfe der verschiedenen Rätsel und
Aufgaben erschließen sich die Jugendlichen ein immer vollständigeres
Bild, warum Viktor die Stadt verlassen möchte. Dabei werden sie auf spie-
lerische Weise mit den Mechanismen von religiösem Extremismus kon-
frontiert und lernen den Prozess kennen, wie sich (junge) Menschen lang-
sam radikalisieren. Wenn sie alle Aufgaben innerhalb der vorgegebenen
60 Minuten erfolgreich gelöst haben, kann Kim die Abreise ihres Bruders
Viktor verhindern und das Escape Game ist gelöst.
Im Escape Game erleben sich die Jugendlichen und die Gruppe, wie sie
gemeinsam die Aufgabe lösen, sich Wissen aneignen und eigene Erfahrun-
gen sammeln. Entscheidend ist die anschließende gemeinsame Reflexion
des Spiels, um sich dieser Erfahrungen bewusst zu werden und einen Lern-
prozess anzustoßen. Dieser Ansatz ist exemplarisch für die Arbeit des bun-
desweiten Projektes Religionssensible politische Bildungsarbeit, mit dem
die AKSB Jugendliche durch politische Bildung gegen religiös motivierten
Extremismus stärkt.
564 Andrea Keller und Robert Kläsener
men und darauf eingehen, um sie in ihrer religiösen und persönlichen Ent-
wicklung zu fördern.
Das Konzept ist nicht auf eine bestimmte Religion ausgerichtet, vielmehr
setzt es weltanschauliche Pluralität voraus. Diese wird als Normalfall an-
genommen, nicht als Problem.16 Es geht darum, die Menschen dabei zu
unterstützen, selbst Antworten auf Sinnfragen des Lebens finden zu kön-
nen. Um das Konzept umsetzen zu können, müssen die Pädagog*innen re-
ligiös kundig sein.17 Das verlangt von ihnen gemäß Funk: verlässliche An-
gehörige verschiedener Religionen im Umfeld kennen, ein geklärtes
Selbstverständnis der eigenen Haltung im Hinblick auf Religion haben,
Konzepte von Ewigkeit kennen, ein positives Verständnis der Intentionen
der Religionen, das Leben ‚ganzheitlich‘ zu leben haben, wissen, dass Re-
ligionen politisiert werden können und die Religionspraktiken der Men-
schen davon unterscheiden können.18 Es geht nicht darum, Religionsleh-
rer*innen ersetzen zu können, sondern darum, ein allgemeines Grundver-
ständnis von Religion zu haben und zu wissen, wen man bei Fragen an-
sprechen könnte, um die jungen Menschen in ihrer Entwicklung unterstüt-
zen zu können.
16 Siehe dazu JÄGGLE, Martin: Religionssensible Bildung. Religiöses Lernen in der plura-
len Gesellschaft, in: LUTZ, Ronald / KIESEL, Doron (Hg.): Sozialarbeit und Religion.
Herausforderungen und Antworten, Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 299–309,
300; FREISE, Josef: Kulturelle und religiöse Vielfalt nach Zuwanderung. Theoretische
Grundlagen – Handlungsansätze – Übungen zur Kultur- und Religionssensibilität,
Schwalbach: Wochenschau Verlag 2017; FUNK, Christine: Weil es um die Achtung des
Menschen geht: Religionssensibilität als pädagogische Kompetenz, in: LUTZ, Ronald /
KIESEL, Doron (Hg.): Sozialarbeit und Religion. Herausforderungen und Antworten,
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 322–335 oder auch die Autoren des folgenden
Sammelbandes: NAUERTH, Matthias u. a. (Hg.): Religionssensibilität in der Sozialen
Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder, Stuttgart: W. Kohlhammer 2017.
17 Siehe LECHNER 2014 [Anm. 15], 60–63.
18 Siehe FUNK 2016 [Anm. 16], 328–329. In ihrem Artikel nennt Funk weitere Kriterien.
Religionssensible politische Bildung für Jugendliche 567
19 Schon 1967 kritisierte Luckmann, dass die Religionssoziologie die Religion als im Nie-
dergang begriffen beschrieb, weil sie fälschlicherweise Religion mit Kirche gleich-
setzte. Siehe LUCKMANN, Thomas: Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von
Hubert Knoblauch (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 947), Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1991, 50–61.
20 Siehe LUHMANN, Niklas: Säkularisierung, in: DERS.: Die Religion der Gesellschaft.
Herausgegeben von André Kieserling, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 278–319,
279 und 289–290 und LUHMANN, Niklas: Funktion der Religion, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1977, 50–51. Siehe auch BLUME, Michael: Wohin geht die Reise der Religi-
onen? Die Thesen der Säkularisierung, Islamisierung, Pluralisierung und Polarisierung
im Faktencheck, in: CHEEMA, Saba-Nur (Hg.): (K)Eine Glaubensfrage: religiöse Viel-
falt im pädagogischen Miteinander. Grundkenntnisse und praktische Empfehlungen für
Schule und außerschulische Bildungsarbeit, Frankfurt am Main: Bildungsstätte Anne
Frank 2017, 26–30.
21 Es geht hierbei nicht um die Genese der Menschenrechte, sondern um eine inhaltliche
Begründung, warum es wichtig, ist, dass es sie gibt. Religionen und ethische Theorien
können Gesetze, die es gibt, begründen oder auch Argumente liefern, um aufzuzeigen,
wenn Gesetze unmenschlich oder ungerecht sind. Sie können so als Korrektiv dienen.
568 Andrea Keller und Robert Kläsener
Bei einer sich an das oben beschriebene Escape Game anschließenden Dis-
kussion ließe sich beispielsweise diskutieren, dass Religionen mögliche
Antworten auf Sinnfragen geben, letztendlich aber offen bleiben muss,
welche Antwort die richtige ist. Aus diesem Grund steht es in der Freiheit
jedes Einzelnen, selbst nach Antworten zu suchen und religiöse Aussagen
kritisch zu hinterfragen. Auch wenn es ungewiss ist, ob es die Religion mit
einer richtigen Antwort gibt, sind Religionen dennoch mit ihren Weltdeu-
tungen und Sinnkonzepten hilfreich, Orientierung zu bieten. Sie sind eine
Quelle moralischer Prinzipien und Normen, die sich wiederum kritisch
prüfen lassen, zum Beispiel daran, ob sie zu einem besseren Zusammenle-
ben aller Menschen beitragen. Auf diese Weise kann auch aus politischer
Perspektive begründet werden, warum Aussagen zu misstrauen sind, nach
denen eine bestimmte Religion die einzig wahre sei und ihr folglich alles
– notfalls mit Zwang – untergeordnet werden muss. So können auch die
Grenzen zum Extremismus ausgelotet werden. Die Jugendlichen erhalten
Orientierung, aber keine Vorgabe. Sie lernen die Ressourcen von Religion,
aber auch die Gefahren der Verabsolutierung kennen.
spielt dann keine Rolle, ob die Ideologie religiös oder politisch begründet
wird.
7 Fazit
Alexander Wohnig
Abstract: Der Beitrag zeigt auf der Basis der Ergebnisse einer empirischen Studie
auf, unter welchen Bedingungen Compassion-Projekte, die der religiösen Bildung
entstammen, einen Anlass für affirmative oder kritische politische Bildung dar-
stellen können. Dafür wird zunächst ein Verständnis von kritischer politischer Bil-
dung skizziert und dem kritischen Potential in der Theorie der Compassion-Pro-
jekte nachgespürt. Im Fazit wird ein Ausblick darauf gegeben, welche Potentiale
bei einem Zusammendenken von kritischer politischer und kritischer religiöser
Bildung entstehen können.
In der Einleitung des vorliegenden Bandes wird auf eine Feststellung von
Janne Mende und Stefan Müller rekurriert, die auch diesem Beitrag seine
Struktur gibt. Dort heißt es: „Politische Bildung ist keineswegs per se
emanzipatorisch.“1 Dies ist keinesfalls eine neue Erkenntnis, auch Ausfüh-
rungen von Bildungstheoretiker*innen und Pädagog*innen (u. a. Heydorn),
(Sozial)Philosoph*innen (Adorno) usw. verweisen auf diesen Aspekt. Für
die politische Bildung hat Rolf Schmiederer festgestellt, dass diese entwe-
der affirmativ oder kritisch-emanzipatorisch sein kann2. Im ersten Fall be-
schränkt sie sich auf die Darstellung dessen, was ist. Sie leitet Schüler*in-
nen an, das Bestehende, insbesondere die vorfindbaren gesellschaftlichen
Verhältnisse, kennenzulernen und unkritisch als gegeben hinzunehmen. Im
1 MENDE, Janne / MÜLLER, Stefan: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Emanzipation in der poli-
tischen Bildung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2009, 5–17, 5.
2 SCHMIEDERER, Rolf: Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und
Didaktik des Politischen Unterrichts, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt
21971, 22–23.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_32
574 Alexander Wohnig
3 EBD.,43.
4 LESSENICH, Stephan: „Aktivierender“ Sozialstaat: eine politisch-soziologische Zwi-
schenbilanz, in: BISPINCK, Reinhard / BOSCH, Gerhard / HOFEMANN, Klaus / NAEGELE,
Gerhard (Hg.): Sozialpolitik und Sozialstaat, Wiesbaden: Springer VS 2012, 41–53.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 575
in Nachfolge des für- und versorgenden Sozialstaates als Mittel und Lö-
sung zur Bereitstellung gesellschaftlicher Wohlfahrt propagiert.6 In dem
Aktivierungsparadigma, das als ein hegemoniales Denkmuster der aktuel-
len Gesellschaft gelten kann,7 zeigt sich eine Umkehrung des Verhältnisses
von Individuum und Gesellschaft im Sozialstaat: „[V]on der Verantwor-
tung der Gesellschaft für das Wohlergehen individueller Personen zur Ver-
antwortung der Einzelnen für die Wohlfahrt der Gesellschaft.“8 In diesem
Sinne findet eine Subjektivierung (Foucault) vormals gesellschaftlicher
Aufgaben statt, die sich durch verschiedene staatliche Steuerungen (u. a.
Bildungsmaßnahmen, Arbeitsmarktpolitiken) in die Subjekte einschrei-
ben.
6 Vgl. kritisch für den Fall des Service-Learnings etwa WOHNIG, Alexander: Zur Not-
wendigkeit das Politische im sozialen Lernen zu reflektieren. Bausteine einer Didaktik
zur Verbindung von sozialem und politischem Lernen, in: FRICKE, Michael / KULD,
Lothar / SLIWKA, Anne (Hg.): Compassion – Diakonisches Lernen – Service Learning.
Konzepte Sozialer Bildung an der Schule, Münster / New York: Waxmann 2018, 199–
217.
7 LESSENICH, Stephan: Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft, in:
DÖRRE, Klaus / LESSENICH, Stephan / ROSA, Hartmut: Soziologie. Kapitalismus. Kritik.
Eine Debatte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, 126–177.
8 GERDES, Jürgen: Von sozialer Gerechtigkeit zu Teilhabe- und Chancengerechtigkeit.
Neoliberale Diskursstrategien und deren postdemokratische Konsequenzen, in: BAUER,
Ulrich / BOLDER, Axel / BREMER, Helmut / DOBISCHAT, Rolf / KUTSCHA, Günter (Hg.):
Expansive Bildungspolitik – Expansive Bildung?, Wiesbaden: Springer VS 2014, 61–
88, 65.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 577
Beitrag nach. Zunächst wird skizziert, was als ‚das Politische’ in Compas-
sion-Projekten gelten kann: Wo sind in diesen Konzepten in der Theorie
Elemente zu finden, die ‚das Politische‘ sichtbar machen können? Zudem
wird ein Modellprojekt dargestellt, das zum Ziel hatte, Sozialerfahrungen
politisch zu reflektieren, die Schüler*innen in Sozialprojekten – wie Com-
passion – machen. In einem zweiten Schritt wird ein Verständnis von po-
litischer Bildung dargelegt, das den Anspruch hat, ‚kritisch‘ zu sein. Dieses
Verständnis stellt den Kritikbegriff, in Rückgriff auf die Kritische Theorie
der Gesellschaft – die sogenannte „Frankfurter Schule“ – in den Mittel-
punkt. Anschließend wird drittens umrissen, welche Gelegenheiten und
Anknüpfungspunkte Compassion-Projekte empirisch für kritische politi-
sche Bildungsprozesse bieten. Dabei werden empirische Forschungsergeb-
nisse aus dem oben genannten Modellprojekt zu Rate gezogen. Neben den
Chancen für kritische politische Bildung wird auch skizziert, welche Ge-
fahren entstehen, wenn Sozialerfahrungen, die Schüler*innen in Sozialpro-
jekten machen, nicht politisch reflektiert werden. Dabei kann auf die oben
genannte Gegenüberstellung von affirmativer und kritischer politischer
Bildung zurückgegriffen werden: Während die eine den Schüler*innen
eine kritische Analyse der bestehenden Verhältnisse ermöglicht, passt die
andere die Schüler*innen an diese Verhältnisse an, ohne, dass die Mög-
lichkeit zur Kritik entsteht. Dieser Anpassungsprozess ist für junge Men-
schen, die in einer Gesellschaft sozialisiert werden, die maßgeblich von
dem Denkmuster der (politischen) Alternativlosigkeit gekennzeichnet ist,9
umso eindrücklicher. Im Fazit werden die Erkenntnisse aus der politikdi-
9 Nicht allen Fragen kann in diesem Beitrag adäquat und umfänglich nachgegangen wer-
den. Eine Darstellung des aktuellen Diskurses um Engagement sowie die politische
Lernprozessanalyse, der die Ausführungen entstammen, kann in WOHNIG, Alexander:
Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Analyse von Praxisbeispie-
len politischer Bildung, Wiesbaden: Springer VS 2017 ausführlich nachgelesen werden.
578 Alexander Wohnig
10 Da in diesem Sammelband das Verhältnis von kritischer politischer und religiöser Bil-
dung im Zentrum steht, wird in diesem Kapitel der Fokus auf das Compassion-Konzept
gelegt. Die empirischen Ergebnisse, die in Abschnitt drei beschrieben werden, entstam-
men jedoch allen beforschten Sozial- und nicht ausschließlich Compassion-Projekten.
Wie in der Einleitung angedeutet, gleichen sich diese mit ihrem Schwerpunkt auf das
Ermöglichen sozialer Erfahrungen von Schüler*innen in Sozialeinrichtungen.
11 METZ, Johann Baptist: Compassion. Zu einem Weltprogramm des Christentums im
Zeitalter des Pluralismus der Religionen und Kulturen, in: DERS. / KULD, Lothar / WEIS-
BROD, Adolf (Hg.): Compassion. Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwor-
tung lernen, Freiburg: Herder 2000, 9–20, 16.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 579
Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Dabei geht es Metz um eine Ret-
tung der Errungenschaften der Moderne, indem er, in Anschluss an die Di-
alektik der Aufklärung, mit der Moderne gegen die Moderne denkt. Die
Aufklärung habe, so Metz, in der Entwicklung der Gestalt von Vernunft
ein Vorurteil nicht überwinden können, nämlich das gegenüber der Erin-
nerung. Die anamnetische Vernunft, also die Erinnerung an verletztes Le-
ben und den unerfüllten Anspruch auf Gerechtigkeit, sei die Grundlage,
dass Aufklärung sich „über das von ihr selbst angerichtete Unheil aufklä-
ren“12 und die Moderne sich „über ihre moralische und politische Erschöp-
fung verständigen“13 könne. Die neue Politische Theologie geht davon aus,
dass es Leidenssituationen immer wieder gibt, stellt aber auch klar, dass
diese verändert werden können und müssen. Daher sei es auch zentral, den
Begriff der Gerechtigkeit über die Begriffe des ungerechten und unschul-
digen Leidens zu setzen und zu sichern.
Auch Lothar Kuld und Stefan Gönnheimer formulieren den Anspruch, dass
im Rahmen der Compassion-Projekte Fragen zu den bestehenden Verhält-
nissen aufgeworfen und entsprechende Alternativen entwickelt werden.
Zudem sollen junge Menschen den Ursachen von Ungerechtigkeit nachge-
hen sowie daran anschließend eine „gewissenhafte Weltpolitik“ unterstüt-
zen.14 Compassion liegt also ein dezidiert normatives Ziel zu Grunde.
Reine Zuwendung zum Nächsten, so wie sie in der Compassion-Praxis oft-
mals vorkommt, kann, so die Autoren, gesellschaftliche Krisenphänomene
nicht lösen, da diese ein Ausdruck sozialer Kälte seien. Das Politische in
12 METZ, Johann Baptist: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie. 1967–1997,
Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1997, 183.
13 METZ 1997 [Anm. 12].
14 KULD, Lothar / GÖNNHEIMER, Stefan: Compassion. Sozialverpflichtendes Lernen und
Handeln, Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer 2000, 11.
580 Alexander Wohnig
15 KULD / GÖNNHEIMER 2000 [Anm. 14], 10; KULD, Lothar, Dimensionen der Compas-
sion-Initiative, in: METZ / KULD / WEISBROD 2000 [Anm. 11], 89–96; Ausführlich be-
schrieben in: WOHNIG 2017 [Anm. 9], 58–64.
16 WOHNIG, Alexander: Zum Stellenwert von Demokratie und Kritik in Konzepten des
Demokratie-Lernens. Unveröffentlichte Examensarbeit, Frankfurt am Main 2010.
17 Siehe zur didaktischen und methodischen Gestaltung ausführlich WOHNIG, Alexander:
Soziale Erfahrungen politisch reflektieren. Wie Sozialprojekte als Ausgangspunkt für
politisches Lernen genutzt werden können, in: Schulmagazin 86 (2018), 69–72 und
GÖTZ, Michael: Soziale Praxis & Politische Bildung. Compassion und Service Learning
politisch denken – das Projekt, in: DERS.: / WIDMAIER, Benedikt / WOHNIG, Alexander
(Hg.): Soziales Engagement politisch denken. Chancen für Politische Bildung, Schwal-
bach am Taunus: Wochenschau 2015, 27–43.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 581
genheiten für die von Kuld, Gönnheimer und Metz geforderten kritischen
politischen Reflexionsprozesse zu schaffen, z. B. Fragen zu den bestehen-
den Verhältnissen in Sozialeinrichtungen zu stellen und Alternativen zu
entwickeln (bspw. über die Methode der Zukunftswerkstatt18). Wie soziale
Erfahrungen, die in Compassion-Projekten gemacht werden, zu kritischen
politischen aber auch affirmativen Bildungsprozessen führen können, wird
in Abschnitt 3 erläutert, nachdem zunächst in Abschnitt 2 ein Verständnis
von kritischer politischer Bildung skizziert wird.
28 WOHNIG, Alexander: Wie wirken sich Sozialpraktika auf das politische Lernen von
Schülerinnen und Schülern aus? Denkmuster von Lehrpersonen im Projekt „Soziale
Praxis und Politische Bildung – Compassion & Service Learning politisch denken“, in:
ZIEGLER, Béatrice (Hg.): Vorstellungen, Konzepte und Kompetenzen von Lehrperso-
nen der politischen Bildung. Beiträge zur Tagung „Politische Bildung empirisch 2012“,
Zürich / Chur: Rüegger Verlag 2014, 92–107.
Compassion-Projekte als Anstoß für kritische politische Bildung? 585
29 So äußert eine Lehrerin: „Da [bei einer möglichen politischen Nachbereitung der Com-
passion-Projekte] ist dann für mich die Angst vorhanden, dass das… Ethische und So-
ziale dann vielleicht auf der Strecke bleiben, weil politisch wird das dann oft nur so
geschichtlich und historisch vielleicht betrachtet oder auf diesen Begriffen wie, ähm,
Demokratie und so, solche Begriffe, aber nicht diese Empathie, also vielleicht kommt
das dann zu kurz und das ist ja meiner Meinung nach das Wichtigere daran.“ Eine an-
dere Lehrerin betont die Präferenz des Sozialen. „Also für mich nach wie vor hat die
Präferenz das soziale Lernen erst mal natürlich für die Schüler, weil, äh, ich finde auch,
äh, persönliche Umgangsformen und so weiter das ist was ganz, ganz Wichtiges, ja.“
Weiterhin ist, auch schon aus den vorangegangenen Äußerungen, eine gewisse Ableh-
nung des Politischen zu erkennen: „Also politisch ist immer so ein bisschen schwierig
[…]. So ne politische Prägung kann ja leicht auch in die falsche Richtung laufen.“
(WOHNIG 2017 [Anm. 6], 209–225).
586 Alexander Wohnig
wohl Haltungen und Werte, die mit dem Leid der Menschen verbunden
sind, denen sich die Schüler*innen zuwenden, als auch diese Haltungen
und Werte, die das Leid erzeugen, analysiert werden.35 Hier zeigt sich also
der Anspruch, politische und religiöse Bildung zu verbinden.
Autorenangaben: Dr. Alexander Wohnig ist seit August 2019 Juniorprofessor für
Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Siegen. Er arbeitet zu poli-
tischer Bildung an der Schnittstelle von Schule und außerschulischen politischen
Bildungsträgern und begleitet wissenschaftlich u. a. das Modellprojekt „Politische
Partizipation als Ziel der politischen Bildung“ (bpb, Haus am Maiberg).
Judith Wüllhorst
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_33
592 Judith Wüllhorst
zu Objekten zu degradieren. Wer sie erzählt, wie sie erzählt werden und
was sie erzählen, ist immer auch ein Ausdruck von Macht.2
2 Die Kategorie der Erzählung ist auch politisch- theologisch anschlussfähig. Vgl. hierzu
METZ, Johann B.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen
Fundamentaltheologie (= Welt der Theologie), Mainz: Matthias-Grünewald 51992,
181–203.
3 Das Bistum Münster ist seit 1991 anerkannter Träger für Freiwilligendienste im Aus-
land und seit 2008 offizielle Entsendeorganisation für „weltwärts“-Freiwillige. Jährlich
werden durch das Referat Freiwilligendienste im Ausland der Fachstelle Weltkirche
des Bistums rund 29 jungen Erwachsenen auf ihren einjährigen Aufenthalt in Afrika
oder Lateinamerika vorbereitet und während ihres Jahres begleitet. Aktuelle Einsatz-
stellen finden sich in Ghana, Mexiko, Tansania, Uganda, in der Dominikanischen Re-
publik, Ruanda und Südafrika.
4 Die Bezeichnungen der Kontinente sind an dieser Stelle bewusst in Anführungszeichen
gesetzt, da immer wieder die Erfahrung gemacht wird, dass von den unterschiedlichen
Ländern Lateinamerikas oder Afrikas als von einem großen Allgemeinposten gespro-
chen wird. Das eigene Kind geht dann nicht für ein Jahr nach Tansania, sondern nach
Afrika.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 593
5 FISCHER, Jörn: Freiwilligendienste und ihre Wirkung – vom Nutzen des Engagene-
ments, in: APuZ 48 (2011), 54–62.
6 STERN, Tobias u. a. (Hg.): Der entwicklungspolitische Freiwilligendienst „weltwärts“
(= Band I: Hauptbericht), Bonn: BMZ 2011, 5.
7 Die historischen Zusammenhänge von Mission und Kolonialismus können an dieser
Stelle nicht adäquat problematisiert werden. Vgl. hierzu u. a. KOLLMAN, Paul: At the
origins of mission and missiology: A study in the dynamics of religious language., in:
Journal of the American Academy of Religion 79/2 (2011), 425–458; COLLET, Gian-
carlo / WECKEL, Ludger: Auf dem Weg zu einer solidarischen Missionswissenschaft:
Ein Diskussionsbeitrag, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissen-
schaft 95 (2011).
594 Judith Wüllhorst
Von Anfang an war der christliche Glaube mit dem Anspruch verknüpft,
gesellschaftliches Leben mitzugestalten und auf eine Veränderung der
Verhältnisse im Sinne des Evangeliums hinzuwirken.19 Anteil zu nehmen
an Freuden und Ängsten der Menschen von heute, Herrschaftsstrukturen
kritisch zu reflektieren und auf eine Transformation im Sinne des Huma-
nen zu drängen bleiben Grundkategorien, die jungen Freiwilligen auch
während ihres Dienstes in der Weltkirche vermittelt werden sollen.20 Wenn
sich Freiwillige im Rahmen von weltwärts für ein Jahr ins Ausland bege-
ben, dann machen sie eine „Exposure-Erfahrung“ durch die sie, wie
Norbert Mette es darlegt, mit „einer Wirklichkeit in Kontakt [kommen],
18 Ein kritischer Blick auf „weltwärts“ könnte aus unterschiedlichen Perspektiven gewor-
fen werden. Eine umfassende Kritik an dem Programm ist in dieser Arbeit nicht mög-
lich, bewusst liegt daher der Fokus auf dem Potential von „weltwärts“ als Lernort für
kritisch-emanzipatorische Bildung. Vgl. zu dieser Frage ebenfalls: EICHHORN, Jaana:
Fachworkshop. Freiwilligendienste – Orte politischen Lernens. Konzepte und Metho-
den, in: Voluntaris 3/2 (2015), 57–61.
19 Vgl. hierzu auch KÖNEMANN 2018 [Anm. 11]: In Jesus Christus wird ein Gott verehrt,
der in dieser Welt und in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen Mensch ge-
worden ist. Während seines Wirkens hat er diese Verhältnisse immer wieder kritisch in
den Blick genommen und zu einer Transformation im Sinne des Evangeliums aufgeru-
fen. Seine Herrschaftskritik, sein Blick auf die Marginalisierten und seine radikalen
Forderungen, auf eine befreite Gesellschaft hinzuwirken, verleihen der christlichen
Botschaft bis heute eine radikale politische Dimension.
20 Vgl. METZ, Johann B.: Zur Theologie der Welt (= Topos-Taschenbücher 11), Mainz:
Matthias-Grünewald 1979; PEUKERT, Helmut: Reflexionen über die Zukunft von Bil-
dung, in: DERS.: Bildung in gesellschaftlicher Transformation, Paderborn: Ferdinand
Schöningh 2015, 61.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 597
die ihnen bislang nicht bekannt war“21 und die unglaubliches Lernpotential
bietet. Die Erfahrungen, die sie während ihres Jahres machen, verändern
ihre Sicht auf die Welt so dass sie zwar nicht „mit neuen Augen“, wohl
aber aus anderen Perspektiven sehen lernen.22
Damit ist der Dienst, gerade bei christlichen Trägern, klar ein religiöser
Lerndienst, der jedoch immer auch eine kritisch- emanzipatorische Dimen-
sion umfasst und auf ein „Mehr an Freiheit, Emanzipation, Autonomie,
Partizipation und Handlungsfähigkeit“23 drängt.24 Gerade in den konkreten
persönlichen Erfahrungen, die Freiwillige während ihres einjährigen Aus-
landsaufenthaltes machen, liegt viel Potential, denn das „was mit Emanzi-
pation gemeint ist, [kann] letztlich nur in der Praxis gelernt werden“.25
Bereits die erste These der Frankfurter Erklärung macht deutlich, dass es
um kritische Lernprozesse anzustoßen einer Auseinandersetzung mit den
Krisenerscheinungen unserer Zeit bedarf, welche für die Freiwilligen wäh-
rend ihres weltwärts-Jahres oft wesentlich unmittelbarer sind als in ihrer
gewohnten Umgebung in Deutschland. Sie erleben das Auseinanderklaffen
und die verheerende Diskrepanz zwischen Lebensstandards, ökonomi-
schen Ressourcen und sozialen Absicherungen weltweit. Sie sehen die Fol-
gen eines Wirtschaftssystems, das darauf ausgelegt ist, dass es Wenigen
gut geht, auf Kosten von Vielen. Sie können lernen zu verstehen, was es
für Menschen in Ghana oder Tansania bedeutet, wenn sie versuchen wol-
len, auf einem Markt zu bestehen, der überschwemmt wird mit subventio-
nierten Billighähnchen oder Überschusseiern aus europäischer Massentier-
haltung, oder wenn ganze Wälder zerstört werden, um Futtermittel für
Tiere anzubauen.26 Sie erfahren auch, wie viel stärker die Menschen im
globalen Süden von den Folgen des Klimawandels betroffen sind und wie
unmöglich es ihnen gemacht wird, auf sicherem Weg in Länder des globa-
len Nordens zu reisen oder Aufenthaltsgenehmigungen zu erlangen.
26 Vgl. zu dieser Problematik auch den Beitrag von Markus BÜRGER in diesem Band.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 599
Hierfür spielt Ermutigung (Ff5) eine zentrale Rolle. Und zwar einerseits
die Ermutigung, sich ansprechen zu lassen und eigene Erfahrungen zu ma-
chen, als auch der Mut, diese selbstkritisch zu reflektieren. Das Hinterfra-
wie stark unser Blick auf die Welt genormt ist durch Vorerfahrungen und
Sehgewohnheiten.
Eine dieser kürzeren Übungen nennt sich „Maus-Kopf“. Hierbei wird die
Gruppe in zwei Kleingruppen geteilt. (A und B). Gruppe A bekommt Ab-
bildung 1 zu sehen, und tauscht sich über den dort abgebildeten Kopf aus.
Gruppe B sieht Abbildung 2 und tauscht sich über die Eigenschaften einer
Maus aus. Anschließend werden Paaren mit je einer Person aus A und B
gebildet. Eine dritte Vorlage, die sowohl als Kopf als auch als Maus gese-
hen werden kann (Abb 3), wird nun kurz gezeigt. Anschließend bekommen
sie den Auftrag, das gezeigte Bild gemeinsam, ohne zu sprechen, auf Pa-
pier zu bringen. Das Ergebnis ist fast immer das gleiche: Gruppe A sieht
den Kopf, B die Maus und genau das versuchen sie dann auch auf Papier
zu bringen. Malansätze des Gegenübers werden entsprechend korrigiert,
belächelt oder schlicht durchgestrichen und neu gemalt.
Erst beim Aufdecken der Bilder wird deutlich, dass beide Partner*innen
unterschiedliche Bilder im Hinterkopf hatten und die jeweilige Beurteilung
vor dem Hintergrund der eigenen Wirklichkeitskonstruktion vorgenom-
men wurde. Abb. 3 beinhaltet tatsächlich beide Bilder, das wird jedoch
durch das vorschnelle Assoziieren, mit den eigenen Vorerfahrungen nicht
wahrgenommen. Durch diese und ähnliche Übungen sollen sich die Frei-
602 Judith Wüllhorst
Ein weiteres wichtiges Anliegen der Frankfurter Erklärung ist es, kontro-
verse Theorien und Tatsachen vorzustellen und den aktiven Meinungsstreit
zu fördern (FFE 2). Nur so können junge Menschen einüben, sich selbst
oder herrschende Systeme in Frage zu stellen und in Konfrontationen oder
Widerstände zu gehen. Während ihres Auslandsjahres kommen die Frei-
willigen mit vielfältigen alternativen Sicht- und Denkweisen in Berührung.
Gerade die stark divergierenden Umgangsformen mit Sexualität, Partner-
schaft, Religion und Geschlechterrollen führen immer wieder zu Missver-
ständnissen und Herausforderungen. Einen Freiwilligendienst zu machen
bedeutet also auch zu lernen, „Streitfragen und Konflikte zur Sprache zu
bringen“ (FFE 2) und zwar auf eine Weise, in der die Einzelnen lernen,
authentisch für eigene Überzeugungen einzutreten, ohne diese absolut zu
setzen. Auf diese Weise kann ein „Denken in Alternativen“ gefördert wer-
37 Vgl. LÖSCH, Bettina: Warum diese Angst vor dem politischen Dissens? Zur Demokra-
tisierung gehören der Streit um Alternativen und die Kritik am Bestehenden, in: WID-
MAIER, Benedikt / ZORN, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine
Debatte der politischen Bildung (= Schriftenreihe / Bundeszentrale für politische Bil-
dung Band 1793), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, 224–232.
38 Theodor W. Adorno zitiert nach HENKENBORG, Peter: Überlegungen zu einer kritischen
Theorie politischer Bildung, in: WIDMAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was
heißt heute kritische politische Bildung? (= Wochenschau Wissenschaft 2), Schwalbach
am Taunus: Wochenschau 2013, 109–118, 115.
39 Vgl. MESSERSCHMIDT, Astrid: Widersprüche der Mündigkeit. Anknüpfungen an A-
dornos und Beckers Gespräch zu einer "Erziehung zur Mündigkeit" unter aktuellen Be-
dingungen neoliberaler Bildungsreformen, in: AHLHEIM, Klaus / HEYL, Matthias (Hg.):
Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute (=
Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft 3), Hannover: Offizin 32015, 126–153,
128.
604 Judith Wüllhorst
Kreation individueller Differenz – wir finden sie auf dem Markt der Kulturen.
[…] Der Konsum von Differenz, also von Kultur, verschlingt nicht nur Geld und
andere Lebenswelten, sondern auch diejenigen, die uns als StatistInnen in jenen
fremden Kulturen dienen, deren Lebenswelt wir konsumieren – und die zumeist
nicht über die ökonomischen Mittel verfügen, sich am Einkaufsbummel auf dem
Globalen Markt der Differenz zu beteiligen.“40
40 VAN BAIIJEN, Andreas: Schöne neue Welt – Fernweh und Projekttourismus – Gedanken
zum Verhältnis des Nordens zum Süden, in: BERLINER ENTWICKLUNGSPOLITISCHER
RATSCHLAG EV (Hg.): Von Trommlern und Helfern. Beiträge zu einer nicht-rassisti-
schen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit, Berlin: BER 2010, 62–64,
62.
41 Vgl. HAMMERMEISTER, Juliane: Das verstrickte Subjekt, in: EIS, Andreas / SALOMON,
David (Hg.): Gesellschaftliche Umbrüche gestalten. Transformationen in der Politi-
schen Bildung (= Wochenschau Wissenschaft), Schwalbach am Taunus: Wochenschau
2014, 136.
42 Die Debatte darum, dass qualifizierte, gut ausgebildete Flüchtlinge ja durchaus will-
kommen wären, andere aber nicht, zeugt von diesem Kalkül. Anstatt sich gemeinsam
um tragfähige Lösungen für globale Probleme zu bemühen, achtet zunehmend jede*r
auf eigenen Interessen, die notfalls auch gegen anderen und unter Inkaufnahme der Zer-
störung von Menschenleben durchgesetzt werden.
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 605
Die Tatsache, dass junge Freiwillige aus Deutschland kurz nach dem Abi-
tur, mit Rückflugticket und bestem Versicherungs- und Impfschutz, staat-
lich finanziert und durch kirchliche Träger subventioniert, für ein Jahr in
das „Abenteuer Ausland“ starten können bringt die weltweiten gravieren-
den Ungleichheiten an Ressourcen, Zeit und Geld auf kaum überbietbare
Weise zum Ausdruck. Mit dem weltwärts-Taschen-, Wohn- und Verpfle-
gungsgeld verfügen sie über weit mehr finanzielle Mittel, als Arbeitneh-
mer*innen vor Ort. Zudem hätten diese auch niemals die Chance, kurzer-
hand für ein Jahr einen Freiwilligendienst in Deutschland zu absolvieren.45
Sich selbst, mit den eigenen, oft stereotypen Denkweisen kritisch in den
Blick zu nehmen, bedeutet auch, einen selbstkritischen Blick auf die eigene
Arbeit zu entwickeln. Auch eine gut gemeinte Partnerschaftsarbeit ist nicht
frei von Rassismen und Machtasymmetrien. Diese müssen so gut es geht
thematisiert und offengelegt werden, was auch bedeutet, sich kritisch damit
auseinanderzusetzen, ob weltwärts nicht eher dazu beiträgt, bestehende
Verhältnisse zu zementieren, als sie aufzubrechen.50
46 Wertvoll ist hier u. a. OGETTE, Tupoka: exit RACISM. Rassismuskritisch denken ler-
nen, Münster: Unrast 2017.
47 Beitrag von Bettina LÖSCH in diesem Band.
48 Vgl. EBD.
49 EBD.
50 Zu dieser Frage findet sich bereits eine Reihe kritischer Literatur, beispielsweise veröf-
fentlicht vom Berliner Entwicklungspoltischen Ratschlags (BER) oder glokal e. V. Un-
ter Überschriften wie „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“, „Bildung für nachhaltige
Ungleichheit?“, „Einbahnstraße hin und zurück“ oder „Eine geförderte Revolution gibt
Kritische Bildung in der kirchlichen Arbeit mit Freiwilligen 607
Gerne nutzen Medien und auch wir selbst die Macht von Geschichten, von
Stereotypen und Klischees, denn diese festigen immer auch die eigene, pri-
vilegierte Position. Das primäre Problem aber mit Klischees ist für
Chimamanda Ngozi Adiche nicht, dass sie unwahr sind, sondern „dass sie
unvollständig sind. Sie machen eine Geschichte zur einzigen Ge-
schichte.“54 Die „single story“, schreibt fest, ideologisiert und reduziert.
Die Realität aber ist komplexer. Dieser Komplexität darf sich Bildungsar-
beit nicht entziehen. Einen Freiwilligendienst als religiösen, politischen
und kritischen Lerndienst anzubieten bedeutet daher immer auch, junge
Menschen dazu zu befähigen, sich nicht vorschnell mit einfachen Denk-
weisen zufrieden zu geben, Dinge kritisch zu hinterfragen und überkom-
mene Strukturen aufzubrechen. Es bedeutet auch zu ermutigen, die gesell-
schaftlichen Verhältnissen nicht ausschließlich als etwas wahrzunehmen,
dem man unterworfen ist, sondern auch als etwas, das gestaltet und „indi-
viduell und kollektiv handelnd“ (FFE6) verändert werden kann.55 Freiwil-
lige sollen durch ihren Dienst so gestärkt werden, dass sie lernen, Ge-
schichten der Ausgrenzung und Festschreibung zu dekonstruieren und ihre
eigenen, komplexen Geschichten zu schreiben und selbstkritisch zu artiku-
lieren. Gelingt dies, halte ich es für eine berechtigte Hoffnung, dass durch
die konkreten Exposure- Erfahrungen von zahlreichen jungen Menschen
in Zukunft neue und andere Geschichten über Macht, Privilegien und die
eigene Teilmächtigkeit erzählt werden. Auf diese Weise kann ein Freiwil-
ligendienst, trotz aller innewohnenden Dialektik von Verstrickung und
Überschreitung56 zu einem politisch, emanzipatorischen Lerndienst wer-
den, der gerade in seiner auf Befreiung und Veränderung zielenden Dimen-
sion auch ein eminent religiöser und kritischer Lerndienst bleibt.
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C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_34
614 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
1 KOERRENZ, Ralf / SIMOJOKI, Henrik: Editorial. In: ZPT 70 (2018), 125–127, 126.
Rückblick und Zusammenfassung 615
„christliche Nonkonformismus […] häufig nur mit Mühe von dem progres-
siver Tageszeitungen zu unterscheiden ist.“2 Allerdings muss auch konsta-
tiert werden, dass manche der damaligen Ansätze religionspädagogisch
bisher nicht adäquat berücksichtig und „ignorant beiseite geschoben“3
wurden. Die intensive Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten am
Problemorientierten Ansatz in Form einer „reflexiven Neuaneignung“4 auf
einer grundlagentheoretischen Ebene scheint dabei ein zielführendes Vor-
2
WEGENAST, Klaus: Das Problem der Probleme. Das Verhältnis des problemorientierten
Religionsunterrichtes zur Theologie und zu den sozialwissenschaftlich verantworteten
Fächern, in: ZPT 24 (1972), 102–126, 106. Dies wird auch in anderen Interviews sicht-
bar. Einerseits reflektieren diese selbst auf Schwierigkeiten, z. B. den Fachlichkeitsver-
lust im Zuge der Problemorientierung (HALBFAS, HEUMANN, METTE, STEFFENSKY). An-
dererseits scheinen in den Interviews die Probleme der damaligen Ansätze (weiterhin)
durch. Wenn beispielsweise von den „Handy- und I-Phone-Eremiten“ (STEINKAMP) ge-
sprochen wird, wirkt die Gedankenwelt anachronistisch. Und auch die Abgrenzung von
den „damals Kreativsten“ gegenüber „Traditionalisten“ (HALBFAS), die Etikettierung
des ‚Marburger Bundes Freiheit der Wissenschaft‘ als „reaktionär[]“ (FÜSSEL) oder die
polemische Kirchenkritik (HEUMANN, VIERZIG) erinnern an die ideologischen Graben-
kämpfe und die Politisierung der Wissenschaft um 1968, was aus heutiger Perspektive
nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar ist.
3 Interview von Jürgen HEUMANN in diesem Band. Die in den Interviews von Heumann
und Vierzig artikulierte Kritik, nicht genügend in der fachwissenschaftlichen Diskus-
sion wahrgenommen worden zu sein, mag aus der heutigen Perspektive wie eine unzu-
friedene Krittelei wirken, doch bei näherer Betrachtung lässt sich durchaus ein Wahr-
heitskern der Wahrnehmung feststellen. Exemplarisch dafür steht Klaus Wegenasts Re-
zension von Siegfried Vierzigs Dissertation ‚Ideologiekritik und Religionsunterricht‘.
Diese scheint Wegenast, der Vierzig zufolge der einzige Religionspädagoge sei, der
sich mit seinem Ansatz beschäftigt habe, nicht besonders intensiv gelesen zu haben,
insofern sie pauschalen und polemischen Verdikten verfällt. So bemängelt Wegenast
die „Ideologieanfälligkeit“ des Werks, womöglich weil Vierzig die ‚Kritische Theorie‘
intensiv rezipiert. Auch die fehlende Theologizität wird moniert, ohne jedoch beispiels-
weise die intensive Auseinandersetzung Vierzigs mit der Politischen Theologie zu er-
wähnen: „Maßstab für eine angemessene theologische Bemühung ist […] im ganzen
Buch die Ethik, die Ethik Jesu wohlgemerkt, die Vierzig genau zu kennen scheint. Und
wo bleibt da das Grunddatum der Versöhnung in Christus und und und …? – Ein inte-
ressanter und konsequenter Versuch in einer Richtung, die m. E. falsch ist.“ (WE-
GENAST, Klaus: Religionspädagogik zwischen 1970 und 1980. Ein Forschungsbericht
in Kurzform, in: Theologische Literaturzeitung 106/3 (1981), 154–155, 155).
4 Beitrag von Thorsten KNAUTH in diesem Band.
616 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
9 Die Auseinandersetzung mit den Fehlern ist auch deshalb wichtig, weil diese im gegen-
wärtigen Kontext eine Zuspitzung erfahren. Beispielhaft verdeutlichen lässt sich dies
am Begriff der ‚Ideologiekritik‘, der als politischer Kampfbegriff gelten kann. Dies
zeigt beispielsweise der Terminus ‚Gender-Ideologie‘ zeigt. Die Verstrickungen von
Gesellschaftskritik sollten genaustens analysiert werden, es gilt einen negativen von
einem kritischen Ideologiebegriff zu unterscheiden (vgl. RIEGER-LADICH, Markus:
Achselschweiß und Mundgeruch. Ideologiekritik nach Marx, in: ethik und gesellschaft
1 (2018), 1–21, 4). Ansonsten ließe sich auch nicht mehr trennscharf zwischen Ideolo-
giekritik und Verschwörungstheorie differenzieren, wie die Rede von einem „geradezu
teuflischen großen Zusammenhang“ (STEINKAMP) belegt. Auch die Abwehr einer ide-
ologiekritischen Perspektive auf Ideologie- bzw. Religionskritik selbst deutet auf Prob-
leme hin (HEUMANN). Vgl. HERBST, Jan-Hendrik: Ist die ideologiekritische Religions-
pädagogik am Ende? Die Problemorientierte Konzeption der religionspädagogischen
Reformdekade um 1968 auf dem Prüfstand, in: KÄBISCH, David (Hg.): Wind of change?
‚1968‘ und ‚1989‘ in der ost- und westdeutschen Religionspädagogik (AKHRP),
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020 (i. E.).
618 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
10 Vgl. z. B. GORDON, Peter E. / HAMMER, Espen / HONNETH, Axel: The Routledge Com-
panion to the Frankfurt School, New York: Routledge 2019.
Rückblick und Zusammenfassung 619
Ein erster wichtiger Impuls dieses Sammelbandes liegt also darin, die
ideologiekritische Perspektive der Religionspädagogik wieder stärker zu
entfalten und unter neuen Bedingungen und in neuen Theoriebezügen zu
revitalisieren – im Sinne einer „jeweils zu aktualisierende[n] Kontextuali-
sierung“13. Insofern von den Fehlern und Potenzialen der Reformansätze
11 NASSEHI, Armin: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen
Vernunft (kursbuch.edition), Hamburg: Sven Murmann 22018, 13.
12 Der Rekurs auf gouvernementalitätstheoretische Analysen scheint gerade in der Reli-
gionspädagogik wertvoll, insofern auch für diese gilt, was Fulbert Steffensky im Inter-
view „besonders für Katholiken“ festhält: „Sie kämpfen immer noch gegen Autoritäten
[…], die ihre Autorität schon lange verloren haben.“ (STEFFENSKY) Beziehen lässt sich
dies aber beispielsweise auch auf den evangelischen Religionspädagogen Siegfried
Vierzig, wenn dieser konstatiert, dass heute ein Religionsunterricht nötig sei, „dessen
Thema das Leben ist, […] nicht eingegrenzt auf biblisch-religiöse Inhalte“ (VIERZIG,
HEUMANN). Allerdings verweist Hermann Steinkamp in seinem Interview darauf, dass
die subtilen und anonymen Herrschaftsmechanismen, die mithilfe von Foucault heraus-
gearbeitet werden können, in der Gegenwart bereits teilweise ihre Analysekraft einge-
büßt haben könnten. Schließlich lassen sich „heute antidemokratische Tendenzen,
Rückfälle in autokratische Verhältnisse und politische Barbarei beim Namen nennen:
Trump, Erdogan, Assad, Bolsonaro oder Maduro“ (STEINKAMP).
13 Beitrag von Norbert METTE in diesem Band.
620 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
14 GRÜMME, Bernhard: Ein unabgeschlossener Dialog der Fächer – Religion und Politik,
in: BESAND, Anja / GESSNER, Susann (Hg.): Politische Bildung mit klarem Blick (FS
Wolfgang Sander), Frankfurt am Main: Wochenschau 2018, 228–237.
Rückblick und Zusammenfassung 621
Ein Konsens in den Beiträgen scheint die Kritik an einem reduzierten Bil-
dungsverständnis darzustellen, dass vorwiegend auf die Anforderungen
des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist, die Lernenden „zu einem findigen Tas-
tendrücker“16 zu erziehen. Es wird an die Tradition einer kritischen Bil-
dungstheorie angeschlossen, für die beispielsweise Theodor W. Adorno,
Paulo Freire, Heinz-Joachim Heydorn oder Helmut Peukert stehen (BÜN-
GER, HORSTMANN, KÖNEMANN, LÖSCH, RICKEN). In der Auseinanderset-
zung mit ihnen lässt sich ein affirmativer Bildungs- und ein idealistischer
Subjektbegriff problematisieren, wie er gegenwärtig in der Religionspäda-
gogik häufig verwendet wird.17 Voraussetzung dafür ist, dass die Subjekte
nicht als isolierte Monaden, sondern als zutiefst geprägt von den gesell-
schaftlichen Strukturen aufgefasst werden. Ausgehend von diesen Überle-
gungen können die religionspädagogische Kompetenzorientierung (HALB-
4 Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Resümierende Überlegungen
‚Emanzipation‘ werden hier zum Teil so weit gefasst, dass eine Unterschei-
dung zu unkritischer und nicht-emanzipatorischer Bildung beinahe nicht
mehr möglich ist. Dementgegen basiert ein engeres Verständnis von kri-
tisch-emanzipatorischer Bildung auf einer klaren Vorstellung von ‚Kritik‘
und ‚Emanzipation‘, die nicht nur formal, sondern auch material bestimmt
werden (BARTMANN / HERBST / SCHÄFER, GÄRTNER, HOLBEIN-MUNSKE,
LÖSCH). Kritisiert werden dann „Geschlechterstereotype“31, das „Unter-
nehmerische Selbst“32 oder eine „strukturelle Prekarisierung“33, wobei eine
solche Kritik zumeist auf der gesellschaftstheoretischen Analyse sozialer
Verhältnisse aufbaut. Kennzeichnend für kritisch-emanzipatorische Bil-
dung im engen Sinn ist der gesellschaftstheoretisch vermittelte Bezug auf
den politischen Kontext, wie er beispielsweise im Begriff der „multiplen
Krise“34 ausgedrückt ist. Dadurch bestimmt ist auch ein schärferer Blick
für bestehende Machtverhältnisse, deren Plausibilität jedoch von der Über-
zeugungskraft der zugrundeliegenden Gesellschaftstheorie abhängt. Zu-
dem ist die Perspektive kollektiver Veränderung dadurch notwendig inklu-
diert, weil die Machtkritik häufig so grundlegend ist, dass Emanzipation
nicht durch individuelles Verhalten, sondern nur durch strukturelle Trans-
formationen zu erreichen ist. Ein enger Begriff kritisch-emanzipatorischer
Bildung ermöglicht ein klares Unterscheidungsvermögen darüber, wann
Bildungsprozesse (nicht) als kritisch-emanzipatorisch zu bezeichnen sind.
Die Schwierigkeit im Umgang mit einer kritisch-emanzipatorischen Reli-
gionspädagogik besteht nun darin, dass der eine Extremfall eines sehr wei-
ten Begriffsverständnisses möglicherweise ziemlich trivial erscheint, der
andere einer sehr engen Auffassung aber äußerst gewagt wirkt. Auch hier
Desiderate und Probleme zu thematisieren, die sich aus den Beiträgen für
weiterführende religionspädagogische Forschung ergeben.
Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik:
Offene Fragen und programmatischer Ausblick
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Gärtner und J.-H. Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische
Religionspädagogik, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28759-7_35
634 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
nicht fassbares Gottesbild, in dem sich Gott sowohl als deus revelatus als
auch deus absconditus erweist, sowie eine parteiliche Theologie für Aus-
geschlossene und Marginalisierte. Im interdisziplinären Horizont einer kri-
tisch-emanzipatorischen Religionspädagogik überzeugt diese Konzeptio-
nierung des Umgangs mit Traditionen. Dennoch ist augenfällig, dass in den
religionspädagogischen Theoriebeiträgen der Rekurs auf Tradition merk-
lich formal verbleibt bzw. an theologischen Leitgedanken eher grob aus-
gerichtet ist (METTE). Überzeugt es letztlich, wenn religiöse Traditionen
hauptsächlich „als ‚Anti-Traditionen‘ zu herrschenden sozialen Praxen
von Gewalt, Ungerechtigkeit und Machtsteigerung“ 4 aufgefasst werden?
Und wie ist Tradition dann in die Praxis einzuspeisen, noch dazu in einen
Kontext, in dem (religiöse) Traditionen nahezu abgebrochen sind? Hier
wird ein Desiderat der vorliegenden Beiträge zu einer kritisch-emanzipa-
torischen Religionspädagogik deutlich, dass sich auch in den Praxisfeldern
widerspiegelt, in denen die Bezugnahme auf Traditionen nahezu unter-
bleibt (z. B. BARTMANN / HERBST / SCHÄFER, BÜRGER / JENDT, DEBOUR).
Nur wenn es gelingt, die vergangenen Fehler adäquater zu verstehen, kann
die Vergangenheit als Gradmesser und Garant für die Qualität zukünftiger
Diskussionen dienen.
Eng verbunden mit der ersten Frage ist das Thema des Eigen-Werts einer
kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik. Was kann religiöse Bil-
dung Spezifisches zu einer kritisch-emanzipatorischen Pädagogik beitra-
gen? Ansgar Kreutzer trägt mit seinem Bezug auf Dorothee Sölles „Mystik
als Widerstand“ eine theologische Perspektive in die Debatten ein, die in
zweifacher Perspektive für eine kritisch-emanzipatorische Religionspäda-
gogik weiterführend sein kann. Erstens wird mit dem Rekurs auf Mystik
eine dezidiert religiöse Ressource von Befreiungs- und Emanzipationspro-
zessen hervorgehoben.5 Dabei ist zweitens aufschlussreich, dass mit Mys-
tik ein Traditionsangebot eingebracht wird, dass nicht als kognitives Ori-
entierungsangebot, sondern als spirituelle Quelle erschlossen wird. Erin-
nert sei in diesem Zusammenhang an Rudolf Englert, der vor einer kogni-
tiven Verengung der Religionspädagogik warnt und auffordert Traditionen
zu pflegen, die stärker das „Herz“ ansprächen.6 Aber wie lassen sich diese
Überlegungen in Bezug auf reale Prozesse religiöser Bildung operationa-
lisieren? Und welche weiteren Traditionsressourcen könnten und sollten
darüber hinaus gehoben werden? Gegenwärtig stellen diese Fragen noch
ein Desiderat kritisch-emanzipatorischer Religionspädagogik dar – obwohl
bereits Folkert Rickers gegenüber der Politikdidaktik Rolf Schmiederers
darauf hingewiesen hat, dass diese auf „transzendente Elemente in der
Immanenz“7 angewiesen sei. Und auch Carsten Bünger fragt in seinem
Beitrag, wie beim „faktischen Schwund der Überzeugungskraft großer Er-
zählungen“ die Möglichkeit von Bildung zu denken sei, die mehr als ein
fatalistisches Bewusstsein umfast, „das dem Bestehenden bloß affirmativ
gegenüberstehen kann“8. Könnte nicht gerade hierin eine wertvolle Spezi-
fität religionspädagogischer Theoriebildung liegen, die beispielsweise die
theologische Kategorie ‚Hoffnung‘ – wie sie von Sölle und anderen Ver-
treter*innen der Politischen Theologie aus einer christlichen Mystik und
5 Umso beachtlicher ist es, dass sich der Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band
aus einer erziehungswissenschaftlich-bildungsphilosophischen Perspektive auf einen
mystischen Text des Chassidismus bezieht, um die Möglichkeiten und Grenzen kri-
tisch-emanzipatorischer Bildungstheorie in der Gegenwart zu eruieren.
6 Vgl. ENGLERT, Rudolf: Was wird aus Religion? Beobachtungen, Analysen und Fallge-
schichten zu einer irritierenden Transformation, Ostfildern: Grünewald 2018, 100–146.
7 RICKERS, Folkert: Die politische Aufgabe der Religionspädagogik, in: DERS. (Hg.): Re-
ligionsunterricht und politische Bildung. Unterrichtsentwürfe im Überschneidungsfeld,
Stuttgart: Calwer 1973, 9–32, 31.
8 Beitrag von Carsten BÜNGER in diesem Band.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 637
9 BESAND, Anja: Hoffnung und Ihre Losigkeit. Politische Bildung im Zeitalter der Illusi-
onskrise, in: DIES. / OVERWIEN, Bernd / ZORN, Peter (Hg.): Politische Bildung mit Ge-
fühl, Bonn: bpb 2019, 173–187, 176.
10 EBD., 177. Vgl. dagegen SALOMON, David: Das Utopische, in: JUCHLER, Ingo (Hg.):
Politische Ideen und politische Bildung, Wiesbaden: Springer VS 2018, 1–16. ENG-
LERT, Rudolf: Das Christentum und der Geist der Utopie, in: KatBl 133 (2008), 4–8.
11 EBD., 181.
12 Vgl. GÄRTNER, Claudia: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und
Grundlagen religiöser Bildung in der Schule, Paderborn: Schöningh 2015, 17–97.
13 Beitrag von Judith KÖNEMANN in diesem Band.
638 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
tieren gilt es die Frage, ob bei der letzteren „ein Gefälle zu ihrer Politisie-
rung nicht begrifflich trennscharf genug zu vermeiden ist.“14
Jedoch gilt auch für die Verbindung von politischer und ästhetischer Di-
mension religiöser Bildung, dass man noch einer vertieften religionspäda-
gogischen Bearbeitung harrt.
In dem Sammelband wird immer wieder auf die multiplen Krisen der Ge-
genwart rekurriert, die es zu bearbeiten gelte. Dabei schimmert in den
meisten Beiträgen eine Argumentation durch, wie sie Wolfgang Klafki
über epochaltypische Schlüsselprobleme in seiner Pädagogik angeführt
hat: Gesellschaftliche und zum Teil globale Probleme, die die Einzelnen in
ihrem Alltag unmittelbar betreffen, müssen in Bildungsprozessen reflek-
17 Auch Ideologien und Diktaturen bedienen sich in der Regel einer ästhetischen
Formsprache, die auf die beschriebene Ergriffenheit und Überwältigung setzt. Doch
hier ist das Moment der Brechung, der Mehrperspektivität nicht gegeben, wie z. B. in
der sozialistischen oder nationalsozialistischen Ästhetik. Aus Kunst wird Propaganda
oder Kitsch.
18 Beitrag von Ansgar KREUTZER in diesem Band.
640 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
Zugleich muss festgestellt werden, dass gerade die Bearbeitung auf der
mittleren Theorieebene religionspädagogisch noch ein Desiderat darstellt.
So nehmen zahlreiche Beiträge einer kritisch-emanzipatorischen Religi-
onspädagogik diesen Theorienpluralismus grundlagentheoretisch in den
Blick (GRÜMME, KÖNEMANN, LEHNER-HARTMANN). Bei der konkreten
24 SCHIEDER, Rolf: Die Politische Theologie der neuen Rechten, in: feinschwarz.net [ab-
gerufen am 16.07.2019].
25 EBD.
26 ALTMEYER, Stefan: Abschied von der Krise. Für einen neuen religionspädagogischen
Blick auf die Gegenwart, in: RpB 77 (2017), 91–101, 92.
27 EBD., 101.
28 Beitrag von Ulrich ENGEL in diesem Band.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 643
es sich beim „Kairos, für den die Chiffre ‚1968‘ steht“29, zwar um ein his-
torisches Ereignis handelt, das sich nicht wiederholen lässt, an dessen kri-
senhafte Momente jedoch auch heute noch erinnert und von dem somit
weiterhin gelernt werden kann. Die konkrete Transformation von Krisen-
diagnosen in einen ‚Kairos‘, der religionspädagogisch fruchtbar gemacht
werden kann, stellt jedoch weitgehend noch ein religionspädagogisches
Desiderat dar.
In einigen Beiträgen wird nicht nur formal die Orientierung an der didak-
tischen Kategorie des ‚Politischen‘ gefordert, sondern eine dezidiert mate-
riale politische Position eingenommen. Während ‚Fridays for Future‘ bei-
spielsweise (tendenziell) positiv aufgenommen wird (HELLGERMANN,
LEHNER-HARTMANN, PIRKER), werden rechtspopulistische oder autoritär-
nationalradikale Positionen äußerst kritisch betrachtet (ENGEL, HELLGER-
MANN, LEHNER-HARTMANN, LÖSCH). Auch wenn es gute Gründe für eine
solche Positionierung und Parteilichkeit geben mag, gilt es die damit ver-
bundenen Ansprüche, Schwierigkeiten und Probleme adäquater zu analy-
sieren. Schließlich findet so eine (Re-) Politisierung der Wissenschaft statt.
41 Vgl. die Beiträge von Klaus-Gerd EICH und Markus BÜRGER / Sebastian JENDT in die-
sem Band, die sich auf den Kompetenzbegriff von Oskar Negt beziehen.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 647
„Es ist die Abwesenheit von allem Zweck, aller Berechnung, allem quid pro quo,
allem Etwas für etwas Anderes, aller Herrschaft, die sich das Leben zu Dienste
macht. Wo immer wir zerrissen sind zwischen Sein und Handeln, Empfinden und
Tun, da leben wir nicht ‚sunder warumbe‘ [ohne Warum; Ausdruck von Meister
Eckhart], sondern berechnen Aufwand und Erfolg, kalkulieren Wahrscheinlich-
keit und Nutzen und folgen unbegriffenen Ängsten.“42
42 SÖLLE, Dorothee: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München: Piper
42001, 87.
43 KNAUTH, Thorsten: Rez. zu KÖNEMANN, Judith / METTE, Norbert (Hg.): Bildung und
Gerechtigkeit. Warum religiöse Bildung politisch sein muss, in: Theologische Litera-
turzeitung 20 (2015), 130–131, 131.
44 EBD.
648 Claudia Gärtner und Jan-Hendrik Herbst
45 STEFFENS, Gerd: Bildungspotenziale der Kritik – eine notwendige Erinnerung, in: WID-
MAIER, Benedikt / OVERWIEN, Bernd (Hg.): Was heißt heute Kritische Politische Bil-
dung?, Schwalbach am Taunus: Wochenschau 2013, 256–264, 262.
Offene Fragen und programmatischer Ausblick 649
die Vergangenheit möglich ist und diese als Seismograph und Inspirations-
quelle für zukünftige Inhalte und Arbeitsformen dienen kann, muss viel-
mehr die Zukunft selbst entscheiden.