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180027 PS Die Vorsokratiker (2018W) Bibiane Blauensteiner

Matr.-Nr.: 09726086

Die Atomisten sprechen von Atomen, aus denen alles in der Welt besteht. Wie genau verstehen die
Atomisten diese Atome und wie erklären sie die Entstehung aller Dinge der Welt (bzw. was erklärt die
Bewegung und die Zusammenfügung der Atome)? Wie schätzen Sie diese Theorie ein?

„…; in Wirklichkeit aber [nur] Atome und Leeres.“1

Nur in einem einzigen überlieferten Fragment werden jene „Atome“ () wörtlich
erwähnt, die namensgebend für eine philosophische Schule waren, die ihren Ursprung im
Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. nahm. Als Begründer des antiken Atomismus gelten
Leukipp und sein Schüler Demokrit von Abdera, der Leukipps Überlegungen in seine
Schriften einfließen ließ und erweiterte. Im 4. Jahrhundert v. Chr. entwickelt Epikur darauf
aufbauend seine eigene atomistische Lehre.

Die Philosophie der vorsokratischen Atomisten erscheint zunächst als Gegenposition zum
Monismus der eleatischen Philosophie. Dessen zentraler Idee der Unteilbarkeit und
Unveränderlichkeit des Seienden steht das atomistische Weltbild der unzählbar vielen
Teilchen gegenüber, die sich fortlaufend zu neuen Dingen zusammensetzen und wieder
auseinandergehen. Tatsächlich gelingt mit der atomistischen Theorie jedoch Beachtliches: Die
Dynamik der Welt – Entstehen, Vergehen, jede Veränderung – wird vereinbar mit der Idee
etwas Ewigen und Unveränderlichen – den Grundbausteinen des Seienden.

Durch mutige Annahmen wird eine Theorie von umfangreicher Erklärungskraft aufgebaut, die
sowohl logisch schlüssig als auch mit der sinnlichen Wahrnehmung außerordentlich gut
vereinbar ist. Ihre prinzipiellen Limitationen teilt sie im Grunde mit einer jeden
physikalischen Theorie: Es werden gewisse, nicht weiter erklärbare Prämissen gesetzt und
letzte Ursachen fehlen.

Atome

Um eine Vielheit, aus der das Seiende aufgebaut ist, auch nur gedanklich zu ermöglichen, ist
es zunächst notwendig, den Vertreter einer Einheitslehrer etwas entgegenzusetzten, die unter
anderem folgendermaßen argumentieren:

"And if someone thinks the universe is not continuous but consists of divided pieces …
if it is divisible everywhere, there is no unit, and therefore no many, and the whole is
void. If on the other hand it is divisible in one place and not another, this seems like a

1
Sextus Empiricus, Adv. Math. VII 135 f. (DK 68 B 9).

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piece of fiction. For how far is it divisible, and why is one part of the whole like this -
full - and another part divided?"2

Die Entgegnung der Atomisten besteht nun darin, die zweite Möglichkeit („piece of fiction“),
als Tatsache zu postulieren: (Zumindest materiell) Seiendes ist – nicht überall aber eben in
gewissen Einheiten – teilbar, die dann ihrerseits nicht weiter geteilt werden können.

Von jenen kleinsten Einheiten („so klein, dass sie sich unseren Sinnen entziehen“3), den
unteilbaren4 Atomen, wird angenommen, dass sie alle aus derselben Substanz bestehen und
zwar vollständig, sie sind „voll“. In dieser Annahme unterscheiden sich diese Atome von den
vier Elementen des Empedokles und den unendlich vielfältigen Teilchen des Anaxagoras.
Es existieren allerdings Atome in „… allerlei Gestalten und allerlei Formen und
Größenunterschiede“5, „… die einen …. eckig, die anderen mit einem Haken …, die einen
konkav, die anderen konvex …“6.
Den Atomen wird eine Masse zugeschrieben, die – da durch die Annahme einer einzigen
„vollen“ Grundsubstanz keine Dichteunterschiede bestehen – direkt proportional der
Ausdehnung ist.
Auf Grund ihrer Darstellung ist davon auszugehen, dass die Atome als dreidimensionale
Objekte zu denken sind7. Durch Translation und Rotation können sie im dreidimensionalen
Raum ihre Lage verändern.
Die Theorie geht von unendlich vielen Atome aus („der Zahl nach unbeschränkt viele“8).

… und Leeres

Das atomistische Naturmodell kennt neben den Atomen ein weiteres wesentliches Element:
Die Leere. Die Eleaten hatten die Nicht-Existenz der Leere als gegeben angenommen, da
„void [] non-existent, and [] no part of what is is non-existent“9. Ebenso wie im Fall der
Teilbarkeit wird die Annahme in diesem Argument durch eine entgegengesetzte erwidert: Der
Leere wird eine (den Atomen gleichwertige) Existenz zugesprochen – sie ist daher
wesentlicher Bestandteil des Seienden.

2
Aristoteles de gen. et. corr. A8, 325a2 in der Übersetzung von Kirk, Raven, Schofield (1982).
3
Simplikios in Cael., S. 294,33-295,24; Aristoteles fr. 208 Rose (DK 68 A 37).
4
Furley (1974) argumentiert, dass die Unteilbarkeit sowohl physikalisch als auch theoretisch zu verstehen ist.
5
Simplikios in Cael., S. 294,33-295,24; Aristoteles fr. 208 Rose (DK 68 A 37).
6
Ibid.
7
Obwohl Aristoteles als Vergleich ihrer Eigenschaften von Buchstaben spricht (Arstoteles, Methaph. A 4, 985b
4 ff. (DK 67 A 6).
8
Ibid.
9
Aristoteles de gen. et. corr. A8, 325a2 in der Übersetzung von Kirk, Raven, Schofield (1982).

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Die Leere als Gesamtheit wird als unendlich ausgedehnter Raum angenommen („der
Ausdehnung nach unbeschränkt“10).

Durch diese Grundannahmen erscheint nun vieles, das der sinnlichen Wahrnehmung
zugänglich ist, nicht mehr paradox, sondern im Rahmen der atomistischen Theorie schlüssig
erklärbar.

Bewegung

„Denn die Annahme der Bewegung sei unmöglich, wenn es kein Leeres gäbe; denn
das Volle sei außerstande, etwas in sich aufzunehmen. Wenn es etwas aufnehmen und
mithin zwei [Körper] an einem Ort sein sollten, wäre es möglich, dass auch beliebig
viele Körper gleichzeitig [am selben Ort] seien.“11

In diesem Aristoteles-Bericht wird das Vorhandensein von Bewegung als Möglichkeit


gesehen, die Existenz der Leere zu beweisen. Eine andere Sichtweise12 setzt die Existenz der
Leere als gegeben voraus und ermöglicht es damit, Bewegung auf diese Weise ohne
Widerspruch zu beschreiben. Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass durch die Leere
jegliche Art der (räumlichen) Veränderung (unter anderem Wachstum) erklärbar wird: Atome
nehmen den Platz von Leere ein.
Die Atomisten kennen zwei Arten der Bewegung. Zum einen befinden sich alle Atome in
einem Zustand unkoordinierter Eigenbewegung („…, weil es ihre Natur sei, niemals zu
ruhen“13). Daraus resultieren weitere makroskopische Bewegungen durch „Mitziehen“ der
Körper und Kollisionen. Unabhängig davon befindet sich alle Materie immer schon in einer
kosmischen Wirbelbewegung („Es sondere sich ein Wirbel ab, bestehend aus Atomen aller
Art.14“).

Die Entstehung aller Dinge

Die Vielfalt der materiellen Dinge wird in der atomistischen Theorie erklärt durch ein
Zusammenkommen von Atomen und die Bildung von „Verflechtungen“.

10
Simplikios in Cael., S. 294,33-295,24; Aristoteles fr. 208 Rose (DK 68 A 37).
11
Aristoteles, Phys Δ6, 213b 1ff. (DK 67 A 19).
12
Wie sie das Demokrit-Fragment DK 68 B 9 nahelegt.
13
Aristoteles, De an. A 3, 406b 16 f. (DK 68 A 104).
14
Simplikios in Phys., S. 327,24 f. (DK 68 B 167, A 67).

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Ursprünglich begannen sich materielle Strukturen, „Welten“, zu bilden, indem sich durch die
Wirbelbewegung ähnliche Atome zu gruppieren begannen. So entstanden die Himmelskörper,
die Erde und schließlich alle materiellen Dinge durch zusammenhängende Atomgebilde. Die
einzelnen Atome gehen eine Verbindung ein, wenn sie ihrer Form nach „zusammenpassen“,
zum Beispiel durch komplementäre Ein- und Ausbuchtungen. Die Atome verschmelzen dabei
nie vollständig zu einer Einheit. Sie trennen sich schließlich wieder, was wiederum ein
Zerfallen der Dinge zur Folge hat.
Unvergänglich und in sich unveränderlich sind nur die Atome selbst und die Leere. Alle
Dinge der wahrnehmbaren Welt sind das Produkt unterschiedlicher, immer wieder neuer
Zusammensetzungen von Atomen.

„Die Unterschiede [sind] die Ursachen von allem übrigen …“15

Alle Eigenschaften der makroskopischen Dinge ergeben sich aus ihrer atomaren
Zusammensetzung, wobei drei Eigenschaften der Atome von Bedeutung sind:
Ihre Form, ihre (räumlichen) Lage und die Ordnung der Atome (relativ zueinander).
Die Dichte und damit die Masse eines Körpers (in der Umgebung von „Welten“: sein
Gewicht) wird durch den Anteil der Atome im Verhältnis zur Leere bestimmt. Seine Härte
ergibt sich aus der Gleichmäßigkeit der Verteilung.
Prinzipiell wird allen durch die Sinnesorgane wahrgenommenen Eigenschaften eine
eigenständige Realität abgesprochen, da es „… in Wirklichkeit … [nur] Atome und Leeres“16
gibt. Die Farbwahrnehmung resultiert aus einer Wechselwirkung von (materiellen)
Ausströmungen, zunächst mit der Luft, dann mit den Atomen der Sinnesorgane und
schließlich mit den Seelen-Atome. Es handelt sich also um eine rein materialistische
Erklärung. Geschmack und Geruch wird auf ähnliche Weise auf die Form der Atome
zurückgeführt. Eine Erklärung des Tastsinns ist nicht überliefert17.

15
Arstoteles, Methaph. A 4, 985b 4 ff. (DK 67 A 6).
16
Sextus Empiricus, Adv. Math. VII 135 f. (DK 68 B 9).
17
Kirk, Raven, Schofield (1982), S. 429.

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Erklärungskraft

Die atomistische Theorie bietet für eine Vielzahl der beobachtbaren Phänomene in der Natur
eine Erklärung und wagt auch Erklärungsversuche für Bereiche, die der Beobachtung nicht
zugänglich sind: kosmologische Entwicklungen und in Größenordnungen, die jenseits der
menschlichen Wahrnehmung liegen.
Eine Zielsetzung der Atomisten ist jedenfalls eine Einsicht in die wahre Beschaffenheit des
Seins und in die Vorgänge der Natur.

„Es gibt zwei Formen der Einsicht, die eine echt, die andere dunkel…. Im Folgenden
zieht er die echte der dunklen vor …“18

Eine solche „echte“ Einsicht nur durch die Vernunft möglich, die sinnliche Wahrnehmung
gibt jedoch zielführende Hinweise und bestätigt die theoretischen Erkenntnisse19.

… und Grenzen

Die Atomisten hatten offensichtlich ansatzweise Ideen von ursächlichen Kräften und
Prinzipien, man könnte sie Naturgesetzte nennen, die das Verhalten der Atome bestimmen.

„kein Ding entsteht [oder: ereignet sich] aufs Geradewohl, sondern alles infolge eines
Verhältnisses [oder: in begründeter Weise] und durch Notwendigkeit.“20

Als Ursache für die Verkettung von Atomen wird das räumliche „Ineinanderpassen“ genannt
und dass eine Trennung wiederum auf eine „stärkere, aus ihrer Umgebung kommende
Notwendigkeit“21 zurückzuführen ist.
In unterschiedlichen Zusammenhängen ist die Rede von dem Prinzip „Gleiches zu Gleichem“
und einer „… [Kraft] …, die die Dinge zusammenbringt“22. Teilchen ähnlicher Form und
Masse bilden die einzelnen „Welten“ und anschließend Körper. In ähnlicher Weise werden

18
Sextus Empiricus, Adv. Math. VII 137-139 (DK 68 B 11b).
19
Kirk, Raven, Schofield (1982), S. 412f.
20
Aetios I 25,4 (Stobaios; DK 67 B 2).
21
Simplikios in Cael., S. 294,33-295,24; Aristoteles fr. 208 Rose (DK 68 A 37).
22
Sextus Expiricus, Adv. math. VII 116 f. (DK 68 B 164).

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Phänomene der Sinneswahrnehmung erklärt („Denn jedes erkennt das Verwandte am


besten“23).
Auch beide Bewegungsarten, die Eigenbewegung der Atome und die ursprüngliche
Wirbelbewegung werden einem nicht weiter hinterfragten Prinzip „naturgegeben“
zugeschrieben.

Allgemeine physikalische Prinzipien werden offensichtlich aus lebensweltlichen


Beobachtungen abgeleitet24. Die Beschreibungen bleiben vage und es wird kein Versuch
unternommen, physikalische Kräfte in einer gleichwertig detaillierten Weie zu behandeln wie
die atomaren Grundlagen. Diese materielle Ausrichtung führt zu klar ersichtlichen Grenzen
der Tauglichkeit als physikalische Theorie – eine Theorie, die beispielsweise nicht in der
Lage wäre, einen beschleunigten Bewegungsverlauf exakt vorherzusagen25. Auch
komplementäre oder ergänzende Elemente, etwa die Idee einer nicht-materiellen Strahlung,
sind nicht vorhanden.
Ebenso fern des Denkbaren waren offenbar theoretische Annahmen, die der alltäglichen
Erfahrung und Vorstellung völlig fremd sind, unter Umständen jedoch eine noch
umfassendere Naturerklärung ermöglichen würden. So wird die Existenz von Teilchen, die
gleichzeitig denselben Raum belegen, einfach kategorisch ausgeschlossen.

Von den vier aristotelischen Ursachen fehlt der Atomtheorie jedenfalls die „causa finalis“.
Speziell aus heutiger Sicht lässt sich argumentieren, dass eine solche nicht unbedingt ein
Merkmal einer erfolgreichen physikalischen Theorie sein muss.
Auch werden – wie bei andersartigen (nicht nur) vorsokratischen Theorien – Prämissen
angenommen, die nicht weiter auf eine Ursache zurückgeführt werden (können). Die
Eigenschaften der Atome werden postuliert, ebenso wie die Prinzipien, die sie in Bewegung
versetzen.
Aristoteles spricht speziell die Frage nach dem Ursprung der Bewegungen an:

"Die Frage aber nach der Bewegung, woher denn oder wie sie bei dem Seienden
stattfinde, haben auch diese ... beiseite gesetzt."26

23
Theophrast. Sens. 50, 54 (DK 68 A 135).
24
Aristoteles erwähnt anerkennend, dass Demokrit, von „proper, physical arguments“24 bewegt wurde.
25
Erwähnt muss werden, dass solche Vorhersagen nicht unbedingt der Anspruch der Philosophen jener Zeit
waren. Zudem ist ein Großteil der Schriften Demokrits nicht erhalten.
26
Aristoteles, Metaph. A 4, 985b 4 ff.

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Und die Grundannahme der Atomtheorie – dass alles Materielle in bestimmte Einheiten
teilbar ist und darunter nicht mehr, obwohl die kleinsten Einheiten ihrerseits ebenfalls
Ausdehnung besitzen und voller Substanz sind27?
Eine Möglichkeit, die Denkweise der frühen Atomisten nachzuvollziehen, schlägt Furley28
vor: Er vermutet, dass sie auch in dieser Hinsicht eine Analogie zwischen sinnlicher
Wahrnehmung und Denkvorgängen gesehen haben: Es existiert demgemäß ein unteres Limit,
unter dem keine Teile mehr unterscheidbar sind und daher nicht einmal gedanklich aus
Einzelteilen bestehen. Somit ist auch keine Teilung mehr möglich.

Unbegründet bleibt jedenfalls die Frage nach dem Ursprung der Atome und der Leere. Auch
in diesem Punkt besteht eine Parallele zur modernen (Atom-)Physik.

27
Anderenfalls wäre ein Stück ausgedehnter Materie aus einer Summe von ausdehnungslosen oder
substanzlosen Bestandteilen zusammengesetzt – was einen logischen Widerspruch darstellt.
28
Furley (1974), p. 520 f.

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Literaturverzeichnis
Primärliteratur

Diels, H. - Kranz, W. (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1934 (5 Aufl.), Bde. I-III

Primavesi, O. - Mansfeld, J. (Hg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 2012 (Reclam)

Aristoteles Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz (hrsg. Wellmann), Carvallo, Héctor, Grassi,
Ernesto, München 1966 (rowohlts Klassiker 205-208)

Sekundärliteratur
Kirk, G.S., Raven, J. E., Schofield, M., The Presocratic Philosophers, Cambridge 1982 (2. Auflage)

Furley, D. (1974), „The Atomists’ Reply to the Eleatics “, in: The Pre-Socratics: A Collection of
Critical Essays, hg. A. Mourelatos, Princeton, 504-526

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