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SWP-Aktuell

Problemstellung

Stiftung
Wissenschaft und
Politik
Deutsches Institut
für Internationale
Politik und Sicherheit

Auf dem Weg in ein neues Ungarn


Innere und außenpolitische Folgen des Machtwechsels in Budapest
Kai-Olaf Lang

Bei den ungarischen Parlamentswahlen im April 2010 fuhr die konservative Fidesz-
Partei einen außerordentlichen Sieg ein. Mit einer absoluten Mehrheit der Wählerstim-
men konnte die Oppositionsgruppierung mehr als zwei Drittel der Parlamentsmandate
erringen. Die Partei des machtbewussten angehenden Ministerpräsidenten Viktor
Orbán steht nun vor der Herausforderung, die hohen Erwartungen der Wählerschaft
in einem schwierigen wirtschaftlich-sozialen und finanzpolitischen Umfeld zu erfüllen.
Das erklärte Ziel des Wahlsiegers, Ungarn im Innern zu reformieren und wirtschaft-
lich zu dynamisieren und dadurch auch die außenpolitische Handlungsfähigkeit
des Landes zu verbessern, entspricht den Interessen der Partner Ungarns in der Euro-
päischen Union. Eine allzu wachstumsfreundliche Wirtschaftspolitik, Druck seitens
der starken rechtsradikalen Opposition Jobbik und ein überideologisierter Kurs auf
ein »neues Ungarn« könnten aber für gesellschaftliche Spaltungen sorgen und eine
langfristige Konsolidierung erschweren. Überdies können intensivere Beziehungen zu
den ungarischen Minderheiten Spannungen mit einigen Nachbarländern hervorrufen.
Mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft des Landes in der ersten Hälfte 2011 wäre ein
gestärkter deutsch-ungarischer Dialog von Vorteil.

Bei den ungarischen Parlamentswahlen kamen auf nur knapp ein Fünftel der
am 11. und 25. April 2010 siegte erwar- Listenstimmen und verloren gegenüber
tungsgemäß der konservative Fidesz, den letzten Wahlen rund 24 Prozent-
während die seit acht Jahren regierende punkte. Ein beachtliches Ergebnis konnte
Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) die rechtsradikale Jobbik-Partei verbuchen,
eine herbe Niederlage erlitt. Die mehrheits- für die ein Sechstel der Wählerschaft
bildenden Effekte des Wahlsystems über- votierte. Die eigentliche Überraschung
setzten einen Anteil von knapp 53% der der Wahlen war jedoch die ökologisch-
Wählerstimmen, die für den Fidesz (und zentristische Gruppierung »Politik kann
seinen kleinen christdemokratischen Bünd- anders sein« (LMP), die mit über 7% den
nispartner KDNP) abgegeben wurden, in Einzug in die Volksvertretung schaffte.
eine erdrückende Zwei-Drittel-Mehrheit der
Parlamentssitze. Die Sozialisten dagegen

Dr. Kai-Olaf Lang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe EU-Integration SWP-Aktuell 43
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Tabelle
Ergebnis der ungarischen Parlamentswahlen vom April 2010

Partei Anzahl der … aus … von der Gesamt Anteil an Stimmenanteil


Mandate in Regional- Landesliste Parlaments- (Regional-
Direktwahl-- listen mandaten listen)
kreisen
FIDESZ-KDNP 172 87 3 262 67,88% 52,73%
Jobbik 26 21 47 12,18% 16,67%
LMP 5 11 16 4,15% 7,48%
MSZP 2 28 29 59 15,28% 19,30%
Sonstige* 2 2 0,52% 3,82%
Summe 176 146 64 386 100,00% 96,18%
* Davon ein gemeinsamer Abgeordneter der Unternehmerpartei und des FIDESZ-KDNP-Bündnisses.
Quelle: Ungarisches Landeswahlbüro, <www.valasztas.hu>.

Fidesz-MPSZ Fidesz – Magyar Polgári Szövetség MDF Magyar Demokrata Fórum (Unga-
(Fidesz – Ungarischer Bügerbund) risches Demokratisches Forum)
Jobbik Jobbik Magyarországért mozgalom MSZP Magyar Szocialista Párt (Unga-
(Bewegung für ein besseres Ungarn) rische Sozialistische Partei)
KDNP Kereszténydemokrata Néppárt SZDSZ Szabad Demokraták Szövetsége
(Christlich-Demokratische Volkspartei) (Bund der Freien Demokraten)
LMP Lehet Más a Politika (Politik kann anders sein)

Neugestaltung der und den linksliberalen Freien Demokraten


politischen Landschaft (SZDSZ) sind die beiden bedeutendsten Par-
Dieses Wahlresultat bringt eine neue Quali- teien des ungarischen Systemwechsels und
tät in die politische Landschaft Ungarns. damit die »alte Mitte« der ungarischen Poli-
Es markiert nicht zuletzt das vorläufige tik verschwunden. Durchsetzen konnte sich
Ende einer sich seit vielen Jahren kristalli- indes die LMP, die mit ihrer doppelten
sierenden Bipolarität zwischen einer Fidesz- Frontstellung gegen die nationale und kon-
dominierten Rechten und einer sozialis- servative Rechte und die in der Regierungs-
tischen Linken. Nun hat sich der Fidesz als arbeit verschlissene MSZP punktete.
wuchtiger Block etabliert, der rechts von In Bezug auf Ungarns Innenpolitik und
den aufstrebenden Nationalisten der Jobbik generell auf das Funktionieren der unga-
und links von der geschwächten MSZP rischen Demokratie stellen sich drei Fra-
flankiert wird. gen: Können sich die angeschlagenen Sozia-
Unverkennbar ist, dass die Wahlentschei- listen, die sich als führende Oppositions-
dung einem expliziten Anti-MSZP-Reflex partei verstehen, regenerieren, und wie
folgte. Alle drei Gewinner der Wahlen, wird sich ihr Verhältnis zur LMP gestalten?
Fidesz, Jobbik und LMP, sind denn auch in Kann sich die Jobbik festigen? Und – last
gewisser Weise Protestparteien – wenn- but not least – wie geht der Fidesz mit
gleich mit äußerst unterschiedlicher Stoß- seiner außerordentlichen Mehrheit um?
richtung. Während das Hauptaugenmerk
der meisten Beobachter dem Triumph des
Fidesz und dem Aufstieg der extremen Ausgelaugte Sozialisten und eine
Rechten galt, blieb eine tiefgreifende Um- neue Öko-Partei
gestaltung im Zentrum der politischen Die MSZP muss sich nach ihrer verheeren-
Landschaft eher unterbelichtet. Mit dem den Niederlage neu formieren. Schmerzlich
Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) trafen die Partei nicht nur schwerste Ein-

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bußen in der Wählergunst, sondern ins- und breiter in jenen gesellschaftlichen
besondere dass sie ihr wenig ambitioniertes Segmenten verankern, in denen sie in den
Hauptwahlziel verfehlte, nämlich eine letzten Monaten Anklang gefunden hat: in
Zwei-Drittel-Mehrheit des Fidesz zu verhin- den urbanen, vor allem Budapester Milieus
dern. Neben einem personellen Neuanfang, der besser Gebildeten und bei ehemaligen
der vermutlich mit der Übernahme des SZDSZ-Wählern.
Parteivorsitzes durch den sozialistischen All diese Faktoren tragen nicht dazu
Spitzenkandidaten Attila Mesterházy bei, die Durchschlagskraft der gemäßigten
akzentuiert werden wird, dürfte die MSZP Oppositionsparteien zu vergrößern. In der
vor allem darauf bedacht sein, ihr Profil als Summe verfügen MSZP und LMP über etwas
Partei der sozialen Gerechtigkeit zu schär- weniger als ein Fünftel der Parlaments-
fen. Diese Dimension war in der Vergangen- mandate. Dies bedeutet beispielsweise, dass
heit verblasst, da sich insbesondere unter sie nicht einmal gemeinsam in der Lage
dem unpopulären sozialistischen Ex- sind, die Einrichtung parlamentarischer
Premier Ferenc Gyurcsány das Image der Untersuchungskommissionen durchzuset-
MSZP zu dem einer Business-freundlichen, zen. Um diese arithmetische Schwäche aus-
sozialliberalen und überdies korrupten zugleichen, ist eine verstärkte Koordinie-
Gruppierung wandelte. Dementsprechend rung unabdingbar. Genau diese kann aber
haben traditionelle Wählergruppen in aufgrund der Interessenunterschiede beider
Scharen der Partei den Rücken gekehrt. Gruppierungen schnell an Grenzen stoßen.
Unter Rentnern oder Personen mit geringer
Formalbildung etwa hatte die MSZP noch
2006 mehr als 50% Zustimmung erfahren, Ungarns radikale Nationalisten:
jetzt genießt der Fidesz bei dieser Bevölke- Die Jobbik im Parlament
rungsgruppe einen Rückhalt von mehr Mit der Jobbik ist eine nationalistische,
als 60%. Ein solcher Schwenk zurück wird xenophobe und globalisierungsfeindliche
aber nicht einfach, da die Partei ihr reform- Partei im ungarischen Parlament vertreten,
orientiertes Erbe nicht bruchlos negieren und das in beachtlicher Stärke. Jobbiks
kann. Überdies wird es nicht leicht sein, Popularität resultiert vor allem aus drei
sich von Ferenc Gyurcsány zu distanzieren, Faktoren. Erstens konnte die Partei mit
da dieser etwa in der Parlamentsfraktion einem aggressiven Ethnonationalismus
nach wie vor über beachtlichen Einfluss jene Teile der ungarischen Gesellschaft an
verfügt und im Extremfall mit der Grün- sich binden, denen der moderate, »patrio-
dung einer eigenen Partei drohen kann. tische« Appell des Fidesz nicht ausreichte.
Noch unbestimmt ist das Verhältnis zur Während der Fidesz die Folgen des 1920 ge-
LMP. Diese scheint um Äquidistanz zum schlossenen Friedensvertrags von Trianon
Fidesz und zu den Sozialisten bemüht. Eine durch Anknüpfung neuer wirtschaftlicher
übermäßige Nähe zur MSZP würde der Par- und gesellschaftspolitischer Bindungen
tei jedenfalls den Nimbus des unbelasteten mit den ungarischen Minderheiten in den
Newcomers nehmen. Folgerichtig hat sie Nachbarländern kompensieren will, ist die
auch in der zweiten Runde der Wahlen Revision der Grenzen ein Ziel, das Jobbik-
das sozialistische Werben um gegenseitige Politiker offen artikulieren. Zweitens ver-
Unterstützung zurückgewiesen. Die LMP fügt Jobbik über wichtige Vorfeldorganisa-
wird versuchen, sich nicht als ausschließ- tionen, die zivilgesellschaftlichen Charak-
lich grüne Partei darzustellen, sondern als ter haben. Auch wenn die Jobbik formelle
umsichtige New-Politics-Gruppierung, Bindungen an die mittlerweile aufgelöste
als Fürsprecherin der Zivilgesellschaft und Ungarische Garde (bzw. deren Nachfolge-
Bürgerrechtspartei, als Vertreterin eines organisation) gekappt hat, besteht nach wie
modernen und kosmopolitischen Ungarns. vor ein enges Verhältnis zu dieser sowie zu
Auf diese Weise möchte sie sich dauerhaft anderen nationalistischen Gruppierungen.

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Drittens profitierte Jobbik von gesellschaft- tikstil zunutze gemacht. Dabei spielte das
lichen Problemen. Mit ihrer Roma-feind- gewandelte Selbstverständnis der Partei
lichen Rhetorik konnte die Partei in Gebie- eine nicht zu unterschätzende Rolle. Orban
ten mit einem hohen Roma-Anteil beson- hat seine politische Formation mehrmals
ders gut abschneiden. Erfolgreich war sie transformiert: Aus einer nonkonformis-
auch in den strukturschwachen landwirt- tischen Partei des jugendlichen, antikom-
schaftlichen oder durch monoindustrielle, munistischen Widerstands machte er
kommunistische Hinterlassenschaften zuerst eine nationalliberale Gruppierung,
geprägten Regionen im Nordosten und dann eine sozialkonservative, national-
Osten des Landes. Die Jobbik ist aber keines- plebejische Bewegung. Der vierte Fidesz,
wegs nur eine Partei von Transformations- der sich in den letzten Jahren anbahnte
verlierern aus peripheren Regionen. Bil- und im Urnengang vom April zur Wahl
dungsferne Schichten sind in der Anhän- stand, gibt sich als bürgerliche Volkspartei
gerschaft eher unterrepräsentiert. Charak- der rechten Mitte, ist aber faktisch ein Sam-
teristisch ist der große Zuspruch unter melbecken unterschiedlicher Interessen
Jungwählern. Fast ein Viertel der 18- bis und Wählergruppen. Die mit dieser Funk-
29-jährigen Wähler stimmte für die Par- tion verbundene Integrationsaufgabe wird
tei, die bei dieser Altersgruppe den zweiten durch die Konkurrenz mit der Jobbik nicht
Rang einnahm. Eine größere Zahl von leichter, steht der Fidesz doch vor der Auf-
Jobbik-Wählern hatte 2006 noch für Fidesz gabe, den rechten Rand des politischen
(37%) oder für MSZP (21%) votiert. Spektrums einzubinden, ohne dabei gemä-
ßigte Wählersegmente zu verprellen. Die in
den Wahlen manifest gewordene »Fidesz-
Aufbruch in ein Koalition« zusammenzuhalten wird ein
bürgerliches Ungarn? äußerst schwieriges Unterfangen. Dessen
Seinen triumphalen Wahlsieg verdankt der Gelingen ist aber auch eine Voraussetzung
Fidesz primär dem Nein zur Sozialistischen dafür, dass die ambitionierte Idee des Auf-
Partei. Die MSZP hatte es in acht langen baus eines neuen, »bürgerlichen« Ungarns
Regierungsjahren nicht verstanden, die realisiert werden kann.
Volkswirtschaft des Landes auf ein solides Selbstgesetztes strategisches Ziel ist es,
Fundament zu stellen. Reformmaßnahmen den Fidesz in den kommenden 15 bis 20
kamen zu spät oder waren halbherzig. Jahren zum dominanten politischen
Die bereits lange vor der internationalen Bestimmungsfaktor in einem nicht wie
Finanzkrise eingetretene Schieflage des bislang »dualen«, sondern »zentralen poli-
Staatshaushaltes ließ den sozialistischen tischen Kraftfeld« aufzubauen. Dabei wird
Regierungen nur die Option einer harten wohl, wie dies Viktor Orbáns Rhetorik der
Austeritätspolitik. Angesichts der Ver- »Revolution an den Wahlurnen« suggeriert,
strickung in zahlreiche Korruptionsaffären ein radikaler Bruch mit dem Bisherigen
und eines veritablen Glaubwürdigkeits- angestrebt – nicht im Sinne eines Aus-
verlusts der linken Führungsequipe – Sinn- hebelns demokratischer Grundsätze, wie
bild hierfür war die unrühmliche »Lügen- dies alarmistisch Orbáns politische Geg-
rede« des damaligen Premiers Gyurcsány, ner unterstellen, sondern als Resultat
die im Herbst 2006 bekannt geworden war zweier gesellschaftspolitischer Groß-
– hatte sich in der letzten Legislaturperiode vorhaben. Erstens soll ein systematischer
schon frühzeitig eine Wechselstimmung Elitenwechsel betrieben werden – die
breitgemacht. Macht exkommunistischer Seilschaften
Viktor Orbán, der energische Fidesz- sowie einflussreicher »Oligarchen« soll
Vorsitzende und künftige ungarische Regie- zurückgedrängt, eine neue bürgerliche
rungschef, hat sich diese Ausgangslage mit Elite etabliert werden. Zweitens will Fidesz
seinem offensiven und polarisierenden Poli- eine Art moralische Wende herbeiführen,

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die das Erbe der bis jetzt regierenden förderung oder Energieeffizienz abzielende
»neoliberalen Eliten« abstreift und sich an Neue Széchenyi-Plan richtig anlaufen. Bei
Ungarns nationaler Identität orientiert. alledem ist man mit der Kursnahme auf
Der Weg zu einem »neuen politisch-wirt- den Euro vorsichtig – der angehende Wirt-
schaftlichen System« (Viktor Orbán) führt schaftsminister Matolcsy erklärte, man
zunächst über eine Reorganisation und könne wohl nicht vor Ende 2011 ein an-
Machtfokussierung in der Exekutive, inner- zustrebendes Zieldatum für die Übernahme
halb derer einige Großministerien ent- der Gemeinschaftswährung bekanntgeben.
stehen, so etwa eines für »Ressourcen« Ungewissheiten könnten sich aber dar-
(Gesundheit, Kultur, Soziales, Bildung, aus ergeben, dass die Regierungspartei im
Sport) oder ein weiteres für Wirtschaft und Zuge einer »smarten Wirtschaftsstimulie-
Finanzen. Wichtig ist aus Sicht der Regie- rung« (György Matolcsy) und um rasch Sig-
rungspartei auch, ihre Vormachtstellung nale an die Wählerschaft zu senden, zu
bei den Kommunal- und Regionalwahlen früh auf Steuersenkungen und andere
im Herbst zu zementieren. Mittelfristig wachstumsanregende Maßnahmen setzt.
könnten in der Folge grundlegendere Ände- Auch wenn die klaren Mehrheitsverhält-
rungen vollzogen werden, die sich mit der nisse eine budgetäre Gesundung begün-
Verfassungsmehrheit des Regierungslagers stigen, könnte die Zustimmung für den
verwirklichen ließen. Fidesz bei fortgesetzter Haushaltsdisziplin
Die zentrale Herausforderung für die rasch bröckeln. In diesem Falle könnten
Regierung Orbán ist die Meisterung der andere Themen stärker betont werden,
schwierigen wirtschaftlichen Lage und die etwa die Politik gegenüber den ungarischen
Festigung der Staatsfinanzen. Viktor Orbán Minderheiten in den Nachbarländern.
hat angekündigt, in Verhandlungen mit
dem Internationalen Währungsfonds und
der EU (beide hatten Ungarn zusammen Außen- und europapolitische Folgen
mit der Weltbank im Herbst 2008 auf zwei Außenpolitisch ist von der neuen Regie-
Jahre angelegte Hilfen im Wert von 20 Mil- rung Kontinuität mit einigen neuen Akzen-
liarden Euro gewährt) um Flexibilität nach- ten zu erwarten. Für Beständigkeit dürfte
zusuchen, um so die nur schwer erreich- nicht zuletzt die Ernennung des erfahrenen
bare Zielmarke eines Haushaltsdefizits von János Martonyi zum Außenminister bür-
3,8% anheben zu können. György Matolcsy, gen. Außerdem ist Ungarn angesichts der
der im neuen Kabinett für die Staatsfinan- wirtschaftlichen Malaise gezwungen, sich
zen zuständig sein wird, sprach in ersten vor allem mit sich selbst zu beschäftigen.
Stellungnahmen von einem Fehlbetrag Insofern wird auch die außenpolitische
zwischen 4,5 und 6,5% für das laufende Passivität der Vorgängerregierungen nur
Jahr. Trotz einer teils kämpferischen Wort- schwerlich überwunden werden.
wahl, der zufolge Ungarn kein »Diktat« Zu jenen Bereichen, in denen mit gewis-
internationaler Finanzinstitutionen hin- sen Neuerungen zu rechnen ist, gehört
nehmen werde, wird die neue Regierung die Mitteleuropapolitik. Insbesondere die
das Ziel der finanziellen Sanierung wohl Zusammenarbeit in der Visegrád-Gruppe
nicht aufgeben. In der Partei scheint man ist eine der Prioritäten des Fidesz. Die Auf-
sich schon lange vor den Wahlen darauf wertung der Visegrád-Kooperation könnte
verständigt zu haben, dass in den ersten aber durch Komplikationen im Verhältnis
beiden Regierungsjahren die volkswirt- zur Slowakei erschwert werden. Möglicher-
schaftliche Stabilisierung im Vordergrund weise wird Budapest vor allem den Kontakt
stehen muss, bevor eine gestalterische zur konservativen Regierung in Warschau
Phase einsetzen kann. Erst zu diesem Zeit- suchen, zumal die polnische EU-Ratspräsi-
punkt könnten auch teure Programme wie dentschaft in der zweiten Hälfte 2011 un-
der auf Mittelstandspolitik, Tourismus- mittelbar an die ungarische anschließen

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wird. Viktor Orbán erklärte zum Beispiel Stimmrecht für Wahlen in Ungarn
seine Bereitschaft, die von Polen in letzter verbriefen.
Zeit erfolgreich betriebene Bildung von Ungeachtet der Staatsbürgerschafts-
Themenkoalitionen der neuen Mitglied- politik könnten Parteien, die ungarische
staaten zu unterstützen. Orbán nannte die Minderheiten vertreten, in einigen Ländern
Gemeinsame Agrarpolitik, den EU-Haus- nun stärker nach Autonomie rufen. Ein
halt, Lastenteilung in der Klimapolitik oder besonderes Problem stellt für die Fidesz-
Energiesicherheit als mögliche Koopera- Regierung in diesem Kontext die Jobbik
tionsfelder. Gerade eine verbesserte Sicher- dar, die eine eigene Politik gegenüber den
heit bei der Versorgung mit Energieträgern Auslandsungarn verfolgen wird. So hat
hatte sich der Fidesz seit langem auf seine etwa ein Europaabgeordneter der Partei
Fahnen geschrieben. Deswegen wird die angekündigt, er werde im rumänischen
Partei die in Ostmittel- und Südosteuropa Szeklerland (einer überwiegend von Un-
angestoßenen Projekte zur transnationalen garn bewohnten Region in Ostsiebenbür-
Vernetzung aktiv unterstützen. Mit Blick gen) quasi ein Wahlkreis-Büro eröffnen.
auf die großen Pipelineprojekte hatte sich Überdies könnten in den ungarischen Sied-
seit einiger Zeit abgezeichnet, dass der lungsgebieten veranstaltete Aufmärsche
Fidesz den Widerstand gegen das South- von Jobbik-nahen radikalnationalistischen
Stream-Projekt aufgibt. Faktisch ist er mitt- und großungarischen Organisationen (etwa
lerweile auf die Linie der Vorgängerregie- der Ungarischen Garde oder der »Jugend-
rungen eingeschwenkt. Nun befürwortet bewegung der 64 Komitate«) harte Maß-
Fidesz sowohl die Zusammenarbeit mit nahmen der dortigen Behörden provozie-
Russland in Sachen South Stream als auch ren, auf die wiederum die Fidesz-Regierung
die Nabucco-Pipeline. Im politischen Sinne umsichtig reagieren müsste.
signalisieren Viktor Orbán und seine Partei Gerade im schwierigen slowakisch-
zwischenzeitlich ebenfalls, dass sie ein ungarischen Verhältnis könnten neue Ver-
pragmatisches Verhältnis zu Russland werfungen entstehen. Der Anfang Juni
pflegen wollen – der Fidesz-Chef hatte sich anstehende 90. Jahrestag der Unterzeich-
Ende vergangenen Jahres in Sankt Peters- nung des Vertrags von Trianon etwa könnte
burg mit Russlands Regierungschef Putin mit emotionalen Aufwallungen einher-
getroffen und dabei seinen Willen bekun- gehen, zumal er in die Endphase des Wahl-
det, die ungarisch-russischen Beziehungen kampfs in der Slowakei fällt. Auch Viktor
auf eine neue Grundlage zu stellen. Orbáns traditionell kritische Haltung zu
Am ehesten ist hinsichtlich der Bezie- den Beneš-Dekreten könnte für neue Frik-
hungen zu den Auslandsungarn mit Neu- tionen im bilateralen Verhältnis sorgen.
orientierungen zu rechnen. Die Interessen Im ersten Halbjahr 2011 wird Ungarn
der ungarischen Minderheiten im Karpa- die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen.
tenbecken konsequent zu fördern ist seit Die Fidesz-Regierung wird daran interes-
langem ein zentrales Anliegen des Fidesz. siert sein, nach innen und außen Professio-
Die von der Partei anvisierte Einführung nalität und europapolitische Handlungs-
der doppelten Staatsbürgerschaft für An- fähigkeit zu demonstrieren. Das übergeord-
gehörige der ungarischen Minderheiten nete Interesse dürfte darin liegen, eine
ist ein rotes Tuch für viele Nachbarstaaten. solide Präsidentschaft abzugeben und grö-
Allerdings hat der designierte Außen- ßere Ausrutscher zu vermeiden. Angesichts
minister János Martonyi angekündigt, es der außenpolitischen Absichten des Fidesz
werde dabei ein individualisiertes Verfah- in der Region und im Verhältnis zu den
ren geben. Eine automatisierte Passvergabe ungarischen Minderheiten ist es vorstell-
an Hunderttausende solle auf diese Weise bar, dass der ungarische Ratsvorsitz The-
vermieden werden. Möglicherweise würde men wie der Donaustrategie, dem Erweite-
der Besitz der Staatsbürgerschaft kein rungs- und Stabilisierungsprozess auf dem

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Westlichen Balkan oder der Frage der  Die ungarische EU-Ratspräsident-
kulturellen Vielfalt besondere Aufmerk- schaft bzw. die Vorbereitung auf sie bietet
samkeit widmen wird. Ebenso wird sich die Deutschland eine Chance, durch personelle
Regierung in Budapest in diesem Zusam- wie inhaltliche Flankierung Kontakte mit
menhang dafür einsetzen, dass Rumänien der neuen ungarischen Regierung aufzu-
und Bulgarien im Frühjahr 2011 in die nehmen und zu intensivieren. Parallel zur
Schengen-Zone aufgenommen werden. gemeinsamen Reflexion einzelner Themen-
felder sollte die deutsche Seite signalisie-
ren, dass eine Stärkung Ungarns, wie sie
Vertiefung des deutsch-ungarischen der Fidesz anstrebt, auch ein Mehr an euro-
Dialogs im europapolitischen Kontext papolitischer und regionaler Verantwor-
Deutschlands Interessen im Verhältnis zu tung bedeutet. In diesem Kontext könnte
Ungarn haben sich auch nach dem Macht- etwa einer europapolitisch wenig gewinn-
wechsel in Budapest nicht geändert. Der bringenden Kampagne Budapests entgegen-
Bundesrepublik ist an einem Ungarn gele- getreten werden, die darauf abzielt, die
gen, das sich wirtschaftlich und haushalts- Übergangsfrist für den Landerwerb durch
politisch regeneriert, das konstruktive Ausländer zu verlängern (die Frist läuft im
Beziehungen zu seinen Nachbarländern Frühjahr 2011 aus).
unterhält und als proaktiver und berechen-  Grundsätzlich gilt es, die neue unga-
barer Partner in der Europa- und Außen- rische Regierung einzubinden und ihr En-
politik auftritt. Würde Ungarn volkswirt- gagement einzufordern. Als Reaktion auf
schaftlich stagnieren oder finanzpolitisch die Hervorhebung der mitteleuropäischen
unbedacht agieren, richtete sich das Augen- Dimension oder der Zusammenarbeit mit
merk der internationalen Finanzmärkte den neuen Mitgliedsländern, die in der
nicht nur auf das Land selbst, sondern Fidesz-Führung erwogen wird, sollte ein
möglicherweise auch (wieder) auf andere intensivierter deutsch-ungarischer europa-
neue Mitgliedstaaten der EU. Ein mit den politischer Dialog offeriert werden. Mit der
Nachbarstaaten in Konflikte geratendes Etablierung eines solchen Dialogs ließe sich
Ungarn würde regional spürbare Spannun- die Blockbildung unter den ostmittel- und
gen hervorrufen. südosteuropäischen Mitgliedstaaten auf-
Ein intensivierter Dialog könnte dazu weichen. Wichtig wäre hierbei vor allem
beitragen, Felder für eine bilaterale Koope- der Kontakt zum künftigen ungarischen
ration zu ermitteln. Darüber hinaus könnte »Regierungszentrum«, konkret zu Partei-
er die neue Regierung in Budapest, die das chef und Ministerpräsident Orbán sowie zu
Gewicht und Ansehen ihres Landes wieder- seinem unmittelbaren Umfeld in der Partei-
herstellen will, auch an die regionale und und Regierungsspitze – etwa zum neuen
gesamteuropäische Verantwortung erin- Amt des Ministerpräsidenten, dem so-
nern. Eine Aufwertung der Kooperation mit genannten Miniszterelnökség, oder zum
Ungarn wäre nicht zuletzt ein wichtiger stellvertretenden Regierungschef und
Akzent für das deutsche Engagement in Fidesz-Strategen Tibor Navracsics, der mit
Ostmitteleuropa – wobei neben den prio- Koordinationsfragen betraut worden ist.
ritären Beziehungen zu Polen im Sinne  In einem solchen Dialog könnten fol-
eines diversifizierten regionalen Ansatzes gende Themenbereiche behandelt werden.
außer mit Ungarn weitere Partnerschaften In der Energiepolitik würde eine deutsch-
aufgebaut werden sollten. ungarische Energieplattform als politische
Deutschlands bilateraler Dialog mit Schnittstelle für Regierungen, Parla-
Ungarn, der notwendigerweise in einen mentsvertreter und Selbstverwaltungen
EU-Kontext eingebunden ist, könnte fol- sowie als Kontaktbörse für einschlägige
gende Leitlinien berücksichtigen. Unternehmen dienen. In jährlichen Zu-
sammenkünften könnten deutsche und

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ungarische Interessen sowie Möglich- Regierung stellen will. Deutschland
keiten zur Kooperation in den Feldern sollte sie in dieser Hinsicht wohlwollend
Energiesicherheit, Energieeffizienz und unterstützen. Mit der Thematik befasste
Klimapolitik ausgelotet werden. Deutsch- Nichtregierungsorganisationen, Regie-
land ließe sich auf diesem Wege auch rungsstellen und Selbstverwaltungen aus
mittelbar in den Prozess der energiewirt- Deutschland und Ungarn könnten zusam-
schaftlichen Kooperation zwischen den men mit geeigneten Repräsentanten aus
ostmittel- und südosteuropäischen Län- Rumänien, der Slowakei oder Tschechien
dern einbeziehen, der im Februar 2010 ein multilaterales Projektnetzwerk schaffen.
auf einem Energiegipfel in Budapest an- Im Rahmen eines strukturierten Erfah-
gestoßen wurde. rungsaustauschs und auf Grundlage der
Seit vielen Jahren betrachtet Ungarn den nationalen Integrationsprogramme könnte
Westlichen Balkan als vorrangiges Ter- das Netzwerk Fehlstellen ausmachen sowie
rain seiner außenpolitischen Aktivitäten. konkrete Schwerpunktmaßnahmen ent-
© Stiftung Wissenschaft und In diesem Zusammenhang könnte ein wickeln, mit denen sich die staatsbürger-
Politik, 2010 bilaterales Strategieforum Westlicher Balkan liche und gesellschaftliche Teilhabe von
Alle Rechte vorbehalten
erwogen werden, an dem politische, Angehörigen der Roma-Minderheiten
Das Aktuell gibt ausschließ- zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche verbessern ließe.
lich die persönliche Auf- Akteure aus beiden Ländern teilnehmen
fassung des Autors wieder
würden, die mit der Region vertraut
SWP sind. Aus deutscher Sicht könnten dabei Fazit
Stiftung Wissenschaft und
Politik insbesondere die Erfahrungen und Leh- Insgesamt werden Erfolg und Nachhaltig-
Deutsches Institut für ren aus dem Szeged-Prozess (der nicht keit der Fidesz-Politik vor allem davon
Internationale Politik und
Sicherheit zuletzt die kommunale und regionale abhängen, ob die Wirtschaft des Landes
Selbstverwaltung in Südosteuropa voran- revitalisiert, die sozial und ideologisch tief
Ludwigkirchplatz 3−4
10719 Berlin
bringen sollte) oder aus der Präsenz zahl- zerklüftete ungarische Gesellschaft geeint
Telefon +49 30 880 07-0 reicher ungarischer Unternehmen in der und die Beziehungen Ungarns zu seinen
Fax +49 30 880 07-100 Region von Interesse sein. Nachbarn kooperativ gestaltet werden
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org Europäische Infrastrukturprojekte, trans- können. Das Szenario einer solchen Orbán-
regionale Verkehrspolitik und der Auf- schen Konsolidierung im Innern und im
ISSN 1611-6364
bau neuer Energienetzwerke könnten Außenverhältnis ist realistisch, kann aber
ebenfalls Gegenstand eines verstärkten leicht einer fortgesetzten inneren Polarisie-
deutsch-ungarischen Austauschs sein. rung und Konflikten über die Stellung der
Transport und Verkehr dürften Schlüs- ungarischen Minderheit in den angrenzen-
selkategorien in der geplanten Donau- den Ländern zum Opfer fallen.
strategie werden. Ungarn hat etwa Eine zentrale innere Voraussetzung ist
gegenüber seinen Nachbarn Serbien und dabei, dass die Orbán-Regierung Ungarn
Kroatien die Idee neuer Verkehrs- und nicht nur finanziell und wirtschaftlich
Energieverbindungen lanciert. Ein früh- instand setzt, sondern auch neue Glaub-
zeitiges Eruieren möglicher Gemeinsam- würdigkeit gewinnt. Anders ausgedrückt:
keiten und strategischer Prioritäten Sie muss nicht nur das Haushaltsdefizit
könnte Aufgabe einer deutsch-ungarischen reduzieren, sondern auch das Defizit an
Arbeitsgruppe Konnektivität sein, die sich Vertrauen in die politische Führung des
aus Vertretern von Ministerialbürokra- Landes. Sollte ihr dies misslingen, dürfte
tien und Experten beider Länder (sowie sich insbesondere die Jobbik mit ihrer
deutscher Bundesländer) zusammen- Radikalität und dem Image des unbelaste-
setzt. ten Neuankömmlings längerfristig als rele-
Die bessere Integration von Roma in vanter politischer Akteur etablieren.
die Mehrheitsgesellschaft ist eine Heraus-
forderung, der sich die neue ungarische

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