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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

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Nikolaus Knoepffler

Ein systematischer Leitfaden


Angewandte Ethik

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2009


Nikolaus Knoepffler ist Lehrstuhlinhaber für Angewandte Ethik und
Leiter des Ethikzentrums an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.ddb.de abruf bar.
ISBN 978-3-8252-3293-1 (UTB)
ISBN 978-3-412-20381-8 (Böhlau)

© 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien


Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist unzulässig.
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln
Druck und Bindung: AALEXX Druck GmbH, Großburgwedel
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Das eingesetzte Papier
stammt aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern.
Printed in Germany
ISBN 978-3-8252-3293-1
5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
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Teil I Allgemeine Grundlegung

1 Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . 17


1.1 Eine Definition von „Ethik“ in Abgrenzung zu „Moral“,
„Ethos“ und „Recht“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
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1.2 Erste Grundannahme: Menschliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 21


1.3 Zweite Grundannahme: Ethischer Absolutismus
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und Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

2 Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen. . . . . . . 30


2.1 Naturrechtslehren und Wertphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.1.1 Platon (428–348) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.1.2 Aristoteles (384–322) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.1.3 Stoa (ab ca. 300 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.1.4 Thomas von Aquin (1224–1274) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.1.5 Neuzeitliche Naturrechtslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.1.6 Schelers (1874–1928) und Deweys (1859–1952)
2.1.6 Wertphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.1.7 Die Grenzen dieser Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.2 Formale Pflichtethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
2.2.1 Kant (1724–1804) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
2.2.2 Habermas (* 1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.2.3 Die Grenzen dieser Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.3 Konsequenzialistische Ethiken am Beispiel
utilitaristischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
2.3.1 Typen des Aktutilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
2.3.2 Die Grenzen des Aktutilitarismus und
die umstrittene Alternative eines Regelutilitarismus . . . . . . . . 44
2.4 Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.4.1 Hobbes (1588–1679) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
6 Inhaltsverzeichnis

2.4.2 Rawls (1921–2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47


2.4.3 Grenzen der Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
2.5 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

3 Typologie Angewandter Ethiken und das Verständnis


von „Anwendung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.1 Das Top-down-Modell Angewandter Ethik
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und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50


3.2 Das Bottom-up-Modell Angewandter Ethik und
seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.3 Das holistische Modell Angewandter Ethik als
sachgemäße Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
3.4 Zusammenfassende vereinfachte Typologie
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Angewandter Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

4 Anspruch und Aufgabe Angewandter Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Teil II Systematische Grundlegung

5 Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte . . . . . 65


5.1 Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde . . . . . . . . . . 65
5.1.1 Das Prinzip der Menschenwürde als Antwort
auf eine grundlegende Menschheitserfahrung . . . . . . . . . . . . . 65
5.1.2 Das Prinzip der Menschenwürde und seine Differenz
zu den Prinzipien von Marxismus und Utilitarismus . . . . . . . . 66
5.1.3 Abgrenzungen von anderen Würdekonzeptionen . . . . . 69
5.1.4 Folgerungen für die Anwendung des Prinzips
der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5.2 Die Begründungsdimension „Menschheitserfahrung“ . . . . . . . 71
5.3 Die Frage der Extension der Menschenwürde und
der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
5.3.1 Lebensanfang des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
5.3.2 Lebensende des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.3.3 Die Frage der Extension im Hinblick auf
nicht-menschliche Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

6 Menschenrechte und Menschenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100


6.1 Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Inhaltsverzeichnis 7

6.2 Gerechtigkeit als Menschenrecht und Menschenpflicht . . . . . 103


6.2.1 Grundlegende Voraussetzung für das
Verständnis von Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
6.2.2 Maßgebliche Unterscheidungen der Gerechtigkeit
im Anschluss an Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6.2.3 Gerechtigkeit als Anspruch und Verpflichtung . . . . . . . 112
6.2.4 Exemplifizierung: Geschlechtergerechtigkeit als
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berechtigtes Anliegen von feministischer Ethik


und von Gender Ethics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
6.3 Nachhaltigkeit als Menschenpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.4 Konkretisierung in Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.5 Risiko im Handeln/Anwenden, aber auch im Unterlassen . . . 126
6.6 Allgemeine Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
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7 Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts als einer
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Basis einer implementierbaren Angewandten Ethik . . . . . . . . . . . . 133


7.1 Globale Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
7.1.1 Friedenssicherung als globale politische
Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
7.1.2 Sicherung funktionierenden Wirtschaftens
als globale Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
7.1.3 Klimaschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
7.2 Globale Strukturen und das Prinzip der Subsidiarität . . . . . . . 140
7.2.1 Mögliche globale Strukturen: der platonische
Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
7.2.2 Mögliche globale Strukturen vor dem
Hintergrund des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
7.2.3 Die nationale und subnationale Dimension –
die entscheidende Funktion des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . 145
7.3 Gesamtschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

8 Systematik der Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147


8.1 Die Verantwortungsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
8.2 Verweisungszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
8.3 Konkretion am Beispiel des ethischen Konfliktfalls
„Gentechnik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
8 Inhaltsverzeichnis

8.3.1 Intuitive Grundidee, Forschungsfelder und


Anwendungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
8.3.2 Gentechnik in ihrer Relevanz für die unter-
schiedlichen Bereiche Angewandter Ethik . . . . . . . . . . . . . . . 156

9 Wissenschaftsethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
9.1 Wissenschaftsethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
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9.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 160


9.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
von gentechnischen Forschungsvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . 162

10 Technikethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
10.1 Technikethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
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10.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 173


10.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
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der gentechnisch veränderten Maissorte MON 810 . . . . . . . . 176

11 Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
11.1 Wirtschaftsethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
11.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 187
11.3 Das bereichsspezifische Konfliktfeld am Beispiel des
Einflusses des global agierenden Unternehmens Monsanto . . . 192

12 Umweltethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
12.1 Umweltethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
12.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 198
12.2.1 Allgemeine Umweltethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
12.2.2 Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
12.2.3 Pflanzenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
12.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
von gentechnischen Eingriffen an Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . 203

13 Bioethik des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207


13.1 Bioethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
13.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 214
13.2.1 Sexualethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
13.2.2 Medizinethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
13.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
Inhaltsverzeichnis 9

genetischen Enhancements des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 233

14 Sportethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
14.1 Sportethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
14.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 242
14.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
von (Gen)Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
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15 Medienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
15.1 Medienethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
15.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 251
15.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
der Darstellung Grüner Gentechnik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
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16 Schlussüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
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Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Personen- und Institutionenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
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Vorwort

Ethische Fragen finden immer häufiger einen Platz in Fernsehsendungen


und auf den ersten Seiten großer Zeitungen, denn viele Menschen fragen
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sich: Ist es gerecht, dass mancher Fußballspieler oder Manager in Deutsch-


land mehr als das Hundertfache von dem verdient, was eine Kranken-
schwester bekommt? Wie ist eine Welt zu gestalten, damit alle Menschen
die notwendige gesundheitliche Versorgung erhalten? Sollen wir die Kern-
energie friedlich nutzen, um den Klimawandel zu verlangsamen? Dürfen
wir Pflanzen und Tiere gentechnisch verändern? Haben Menschen das
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Recht, sich am Lebensende töten zu lassen? Schon auf diese beispielhaft


genannten Fragen findet sich in der öffentlichen Diskussion eine Vielzahl
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von Antworten, die nicht mit­einander vereinbar sind.


Dieses Buch zur Angewandten Ethik will keine einfachen Antworten ge-
ben. Es soll auch nicht einfach eine Einführung in diese neue Wissenschafts-
disziplin bieten. Vielmehr geht es um einen systematischen Leitfaden aus ei-
ner Hand, der ermöglichen soll, bei der Fülle des Sachstands und der ethischen
Diskussionslage in den verschiedenen Bereichen der Angewandten Ethik ei-
nen Überblick über die wichtigsten ethischen Konfliktfelder zu bekommen.
Darum verzichte ich auf eine weiter gehende Aus­einandersetzung mit der
mittlerweile enorm angewachsenen Sekundär­­literatur und beschränke An-
merkungen auf das Nötigste. Einige Abschnitte des Buchs sind als „Vertie-
fung“ gekennzeichnet und anders gesetzt. Sie können beim ersten Lesen aus-
gelassen werden, ohne dass dadurch das Grundverständnis des Textes verloren
geht.
Herr Liehr vom Böhlau-Verlag hat die Anregung zu diesem Buch gege-
ben. Ich danke ihm für die sorgfältige Betreuung und die Aufnahme in die
Reihe der UTB-Studienbücher. Ich danke auch den Mitgliedern meines
Teams im Bereich Ethik in den Wissenschaften an der Friedrich-Schiller-
Universität Jena, mit denen ich die einzelnen Abschnitte des Buchs ausführ-
lich diskutieren konnte. Ihre Hinweise und Korrekturen haben mir sehr
geholfen. Widmen möchte ich das Buch meinen Hörern an der Friedrich-
Schiller-Universität in Jena.

Jena, am 31. Juli 2009 Nikolaus Knoepffler


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
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Hinführung

Angewandte Ethik handelt wesentlich von Konflikten. Um welche Art von


Konflikten geht es hierbei? Nehmen wir den Konflikt um die Zulässigkeit
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aktiver Sterbehilfe, wenn der Sterbende darum bittet. Rechtlich ist der Kon-
flikt sozusagen transnational. Während diese Form der Sterbehilfe in
Deutschland verboten ist, darf sie in den Beneluxstaaten bei Berücksichti-
gung konkreter Sorgfaltsregeln durchgeführt werden. Darüber hinaus gibt es
einen moralischen Konflikt, der unabhängig von den rechtlichen Regelun-
gen in den Niederlanden wie in Deutschland zu finden ist. Manche Bundes-
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bürger genauso wie niederländische Bürger halten diese Form aktiver Ster-
behilfe für moralisch zulässig, andere Bürger in beiden Ländern lehnen diese
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

aufgrund ihrer moralischen Einstellungen ab. Dazu kommt ein Konflikt auf
der Ebene ethischer Ansätze: Wer mit dem ethischen Ansatz von Platon
argumentiert, findet gute Gründe für die Zulässigkeit aktiver Sterbehilfe,
wer mit einer kantischen Ethik argumentiert, findet gute Gründe für die
Unzulässigkeit. Ähnlich strittig ist die Frage, wie es zu bewerten ist, wenn
Unternehmen zur Einwerbung von Aufträgen Geschäftspartnern bestimmte
„nützliche Freundlichkeiten“ erweisen. Auf der moralischen Ebene werden
die einen derartige Freundlichkeiten billigen, andere werden diese ablehnen.
Auf der Ebene ethischer Theorien (vgl. dazu ausführlich das 2. Kapitel) gibt
es Ethiken, die selbst klare Fälle von Korruption rechtfertigen können, wäh-
rend andere ethische Ansätze Korruption immer als unzulässig einschätzen.
Darüber hinaus ist zu fragen, wann die Grenze zwischen einer berechtigten
Freundlichkeit und einer moralisch nicht akzeptablen „Korruption“ über-
schritten ist. Rechtlich sind die Bestimmungen hierzu in verschiedenen
Ländern unterschiedlich.
Diese Beispiele verweisen darauf, dass Bewertungen moralischer und
ethischer Art in ein Netz von Überzeugungen eingewoben sind. Das Zent-
rum dieses Netzes bilden dabei diejenigen fundamentalen Einstellungen
und Vorstellungsmuster, die auch unter dem Begriff „Weltanschauung“ zu-
sammengefasst werden. Dazu gehören beispielsweise grundsätzliche An-
nahmen, inwieweit wir erkennen können, was „wirklich“ ist. Können wir die
uns umgebenden Dinge erkennen, wie sie sind (Realisten) oder doch we-
nigstens in einer sachgemäßen Annäherung (kritische Realisten), oder ent-
14 Hinführung

halten sie derart viele von uns in die Dinge hineingelegte Konstruktions­
elemente, dass wir sie nicht mehr an sich erfassen können (so beispielsweise
Konstruktivisten). Evolutionäre Erkenntnistheoretiker gehen einfach davon
aus, dass unsere Form zu erkennen zum Überleben geeignet ist. Diese Pas-
sung muss aber gerade nicht bedeuten, dass wir die Gegenstände erkennen,
wie sie eigentlich sind.
Zum Zentrum dieses Netzes gehören auch fundamentale Überzeugun-
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gen, was der letzte Sinn des Lebens ist. Für Juden, Christen und Muslime ist
dieser Sinn durch einen als persönlich verstandenen liebenden, barmherzi-
gen Gott gegeben. Für Agnostiker (griechisch: a = Verneinung, gignoskein =
erkennen) und Atheisten (griechisch: a = Verneinung, theos = Gott) hat der
Mensch dagegen die Aufgabe, sich selbst seinen Lebenssinn zu setzen.
Abhängig von unterschiedlichen Weltanschauungen wird sich darum
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auch ein unterschiedliches Verständnis davon entwickeln, was unter einer


Angewandten Ethik zu verstehen ist und welche Aufgabe sie hat.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Darum dient der erste Teil dieses Buchs dazu, die Begriffe der Anwen-
dung und der Ethik und somit den Begriff einer Angewandten Ethik zu
klären. Da es aber nicht die eine Ethik, sondern eine Fülle ethischer Ansätze
gibt, ist es hierbei notwendig – freilich eher holzschnittartig – ethische
Hauptpositionen und ihre Methoden zur Sprache zu bringen.1 Zudem sind
Grundannahmen zu behandeln, ohne die Ethik als Wissenschaft nicht
möglich ist. Ich nenne diesen Teil „metaethisch“ (griechisch: meta = hinter),
weil Begriffsklärungen, Begriffsanalysen, Grundannahmen und die Klassifi-
kation ethischer Theorien zur besseren Zuordnung der eigenen Position den
Hintergrund der eigentlichen ethischen Fragen erhellen, aber noch nicht
selbst Ethik sind.
Nach dieser metaethischen Untersuchung geht es anschließend um eine
systematische Grundlegung der Angewandten Ethik. Hier entfalte ich eine
normative universalistische Ethik, die unabhängig von unterschiedlichen
Weltanschauungen als gemeinsames Band dienen kann, um ethische und
moralische Konflikte zu lösen oder zumindest besser zu strukturieren. Diese
Ethik basiert auf den Grundprinzipien der Menschenwürde und den mit ihr
verbundenen Menschenrechten, der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit.
Deswegen erläutere ich diese Prinzipien und behandele auch Fragen einer
politischen Ethik und einer Ethik des Rechts.

1 Dieser Abschnitt kann vom philosophisch gebildeten Leser übersprungen wer-


den.
Hinführung 15

Nach diesen übergreifenden ethischen Fragestellungen geht es im dritten


Teil um die Darstellung einzelner spezifischer Bereiche Angewandter Ethik.
Dabei stellt sich die besondere Herausforderung der Vermittlung der über-
greifenden Normen und Werte mit bereichsspezifischen Anforderungen.
Der Aufbau dieser drei Teile sieht damit so aus:
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Abb. 1 Aufbau der Arbeit2

2 Abbildungen und Tabellen sind, wenn nicht anders vermerkt, von mir für dieses
Buch entworfen worden.
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17

Teil I Allgemeine Grundlegung

1 Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen


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Die Begriffe „Ethik“, „Moral“ und der damit verbundene Begriff „Ethos“
werden in vielfältiger Weise gebraucht. Darüber hinaus besteht eine Ten-
denz, ethische Überlegungen mit rechtlichen Vorgaben zu vermischen. Da-
rum ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt den Gebrauch dieser Begriffe zu
klären. Zudem sollen zwei wesentliche Grundannahmen einer normativen
Ethik mit weltweitem Geltungsanspruch thematisiert werden, nämlich die
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Annahme menschlicher Freiheit und die Annahme eines ethischen Univer-


salismus.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

1.1 Eine Definition von „Ethik“ in Abgrenzung zu „Moral“,


„Ethos“ und „Recht“
Der Philosoph und Arzt Aristoteles (384–322 v. Chr.) prägte als erster in
seinem Buch Ethika Nikomacheia, der Ethik für seinen Sohn Nikomachos,
den Begriff „Ethik“ (griechisch: ethos = Sitte, Gewohnheit). Er verstand dabei
„Ethik“ als Teil der politischen Wissenschaft, die besonders die Fragen nach
dem moralisch Guten und dem Rechten thematisiert.
Heute wird der Begriff „Ethik“ in vielfältiger Weise gebraucht, oftmals
synonym mit dem Begriff der „gängigen moralischen Überzeugungen“ (la-
teinisch: mos = Sitte, Gewohnheit). Dieser Sprachgebrauch findet sich in den
Feuilletons vieler Zeitungen. „Moralisch“ und sein Synonym „ethisch“ be-
zeichnen dann das sittlich Gute. Die Gegenbegriffe sind „unmoralisch“ bzw.
„unethisch“. In diesem Sprachgebrauch ist das Unmoralische bzw. Unethi-
sche das sittlich Schlechte.
„Ethik“ und „Moral“ können auch je spezifisch definiert werden. Je nach
Sprachspiel nehmen die Begriffe dann unterschiedliche Bedeutungen an, die
nur aus den jeweiligen Texten selbst zu erschließen sind. Aus der Soziologie
kommende Denker wie Habermas ordnen dem Ethischen das Gute und
damit verbundene Werte zu, dem Moralischen dagegen das Rechte und da-
mit verbunden die Normen: „Ethisch-politische Fragen stellen sich aus der
18 Teil I Allgemeine Grundlegung

Perspektive von Angehörigen, die sich in lebenswichtigen Fragen darüber


klar werden wollen, welche Lebensform sie teilen, auf welche Ideale hin sie
ihr gemeinsames Leben entwerfen sollen. […] Bei moralischen Fragen tritt
der teleologische Gesichtspunkt […] ganz hinter dem normativen Gesichts-
punkt zurück, unter dem wir prüfen, wie sich unser Zusammenleben im
gleichmäßigen Interesse aller regeln lässt“ (Habermas 1992, 198–200).
In der gegenwärtigen philosophischen und theologischen Ethikdiskus-
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sion hat sich im Unterschied hierzu weitgehend durchgesetzt, „Ethik“ als


eine Fachdisziplin zu verstehen, die, je nachdem ob es sich um philosophi-
sche oder theologische Ethik handelt, auch synonym mit „Moralphiloso-
phie“ bzw. „Moraltheologie“ bezeichnet werden kann. Sie thematisiert die
Sprache der Moral, rechtfertigt ethische Normen und entwickelt konsis-
tente ethische Theorien. Davon zu unterscheiden ist die Moral entweder als
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eine gesellschaftliche „Konvention“ (lateinisch: convenire = übereinkommen)


oder als Gesamtheit der im Rahmen bestimmter ethischer Theorien aner-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

kannten Normen, Ideale, Werte und damit verbundener Einstellungen. Der


Einzelne ist dann moralisch, wenn seine persönliche Einstellung mit dieser
gesellschaftlichen Konvention oder den Normen, Idealen und Werten einer
ethischen Theorie übereinstimmt. Ein Spezialfall der Moral ist das Ethos,
das beispielsweise im ärztlichen Berufsethos Normen und Wertvorstellun-
gen einer bestimmten Berufsgruppe enthält und von dieser auch mit Sank-
tionen durchgesetzt werden kann. Davon zu unterscheiden ist das Recht.
Wenn es als positives Recht gesetzlich wird, umfasst es verbindliche und
grundsätzlich sanktionierbare Normen. In manchen Fällen, man denke an
die Regelung zum Schwangerschaftsabbruch, wird jedoch unter bestimmten
Umständen von der Sanktion einer rechtswidrigen Handlung abgesehen.
Meist stellen diese Gesetze gesellschaftliche Wert- und Normkompromisse
dar. Dennoch lässt sich in Anlehnung an die herrschende Meinung Recht
bestimmen als alle ordnungsgemäß und nicht durch einen Unrechtsstaat ge-
setzten, im Großen und Ganzen in der Gesellschaft durchsetzbaren und
damit gerechten Normen.
Bei nicht wenigen Menschen gibt es eine Tendenz, Recht und Ethik zu
verwechseln. Dies ist aber ein Fehler, denn trotz des engen Zusammenhangs
zwischen Moral, Ethos und Recht sind diese dennoch nicht identisch. So
mögen viele Menschen einen Ehebruch für unmoralisch halten. Das deut-
sche Recht kennt jedoch keine Bestimmung, wonach ein solches Verhalten
rechtswidrig wäre. Noch deutlicher wird diese Differenz von Moral und
Recht, wenn man an so einfache Beispiele wie das Verkehrsrecht denkt: Es
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 19

ist moralisch unerheblich, ob man sich für ein Rechts- (Deutschland) oder
ein Linksfahrgebot ( Japan) entscheidet. Moralisch wichtig ist allein, dass es
zum Schutz der Verkehrsteilnehmer derartige Regelungen gibt und diese
dann befolgt werden.
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Abb. 2 Gegenüberstellung von „Ethik“, „Moral“, „Ethos“ und „Recht“

Diese Bestimmungen von „Ethik“, „Moral“, „Ethos“ und „Recht“ sind nicht
unumstritten. Für einige Philosophen in der Tradition sprachanalytischer
Ethik kann „Ethik“ als Wissenschaftsdisziplin nichts anderes sein als Begriffs-
klärung der Sprache der Moral, also gerade keine Normenbegründung und
Normenvermittlung leisten. Sie hat sich vielmehr auf die Reflexion ethischer
Begriffe, Kriterien, Normen oder Handlungsprinzipien zu beschränken, um
diese in ihrer Bedeutung zu analysieren und damit zu klären. Sie begründet
jedoch keine Normen und Werte, ist also strikt nicht-normativ. Dahinter kann
die Überzeugung stehen, Normen und Werte entzögen sich ganz prinzipiell
wissenschaftlicher Reflexion, weil ethische Aussagen nicht verifiziert oder fal-
sifiziert werden können. Sie sind nicht wahrheitsfähig. Allerdings kann diese
Tradition nicht mehr aus sich heraus begründen, warum sie Wissenschaft auf
die Kenntnis von verifizierbaren Fakten reduziert, denn genau diese Annahme
selbst ist nicht mehr verifizier- oder falsifizierbar. Natürlich ist es dennoch
möglich, eine kognitive (lateinisch: cognoscere = erkennen) Ethik als Wissen-
schaftsdisziplin abzulehnen. Man kann nämlich von der Überzeugung ausge-
hen, dass alle moralischen Einstellungen und Normen
20 Teil I Allgemeine Grundlegung

1. entweder ähnlich wie auch Geschmacksempfindungen


nicht kognitiv sind
2. oder einen nicht weiter vernunftfähig begründbaren Imperativ
darstellen
3. oder Präferenzurteile aussprechen: „Ich ziehe es vor, x zu tun
und y nicht zu tun, und empfehle dir ebenfalls x zu tun
und y nicht zu tun.“
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Nehmen wir das Beispiel des Folterns. Ein Kognitivist kann die Sollensfor-
derung aufstellen: Du sollst nicht foltern. Diese Forderung ist übersetzbar
in: Es ist geboten, nicht zu foltern. Diese Aussage ist begründungs- und
wahrheitsfähig. Der Non-Kognitivist dagegen wird behaupten, derartige
Aussagen seien weder begründungs- noch wahrheitsfähig. Je nach non-kog-
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nitivistischer Spielart wird er stattdessen entweder sagen


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

1. „Foltern ist empörend!“ (Ayers emotivistischer Non-Kognitivismus),


oder er wird sagen:
2. „Ich missbillige das Foltern, also foltere auch du nicht!“
(Stevensons appellativer Non-Kognitivismus),
oder er wird sagen:
3. „Ich entscheide mich dafür, nicht zu foltern, entscheide dich ebenso!“
(Hares dezisionistischer Non-Kognitivismus).

Theoretisch könnte er jedoch auch genau gegenteilig formulieren:

1. „Foltern ist toll!“,


oder:
2. „Foltere!“
oder er wird sagen:
3. „Ich entscheide mich für das Foltern, handle ebenso!“

Der Preis einer solchen Konzeption ist durch den Mangel an Wahrheitsfä-
higkeit und die Relativität zu dem jeweiligen Subjekt bedingt. Es gibt keine
objektiven wahrheitsfähigen Kriterien, warum wir nicht foltern sollten (vgl.
auch die allgemeinen Überlegungen zum ethischen Relativismus unter 1.3).
Andere Philosophen reduzieren Ethik auf eine hermeneutische (grie-
chisch: hermeneuein = auslegen) Deskription (lateinisch: describere = beschreiben)
moralischer Einstellungen. Diese Beschreibung dient zur Interpretation,
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 21

wie moralische Einstellungen unsere Lebenswelt mitgestalten. Auch


diese deskriptiv-hermeneutische Ethik erhebt keinen Anspruch darauf,
Normen zu entwickeln oder die Qualität von Geltungsansprüchen zu
bewerten.
Eng mit der hermeneutischen Ethik ist eine narrative Ethik (lateinisch:
narrare = erzählen) verbunden, bei der Einsichten in Werte und der Sinn
von Handlungen durch Erzählungen erschlossen werden. Im Akt des Er-
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zählens und in der Rezeption des Erzählten können Werte entstehen


oder auch bewahrt werden. Berühmte Erzählungen in dieser Hinsicht
bieten insbesondere die Heiligen Schriften vieler Religionen.
So wichtig eine sprachanalytische Begriffsarbeit und eine hermeneutische
Deskription ist, so wichtig auch das narrative Element für das Verständnis und
die Weitergabe von Werten sein kann, so ist eine Ethik, die mit einem norma-
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tiven Anspruch auftritt, jedoch nicht darauf zu reduzieren. Es geht einer sol-
chen Ethik nämlich darum, handlungsleitende Kriterien, Werte, Normen und
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Handlungsprinzipien in einer Weise kognitiv zu entdecken bzw. zu entwi-


ckeln, die über Sprachanalyse, Deskription und Narration hinausgeht. Ob es
sich dabei um Entdeckungen oder Entwicklungen handelt, entscheidet sich
vor dem Hintergrund der zu Grunde liegenden Theorie. Für theologische
Ethiken sind dies meist göttliche Offenbarungen, denen sich der Mensch zu
öffnen hat. In diesem Sinn kann man von „Entdeckungen“ sprechen, aber
auch die unterschiedlichen Naturrechtslehren können in diese Richtung ge-
deutet werden: Wir entdecken in der sorgfältigen Analyse unserer Menschen-
natur die ihr entsprechenden Normen und Werte. Dagegen entwickeln wir
nach Ansicht beispielsweise von Vertragstheoretikern diese Normen und
Werte selbst.
Noch einmal anders argumentieren evolutionäre Ethiken. Wir entwi-
ckeln unsere Normen und Werte zwar in gewisser Weise selbst, aber nicht
durch Vertragskonstruktionen, die sich rationaler Überlegung verdanken,
sondern im Rahmen unserer Angepasstheit an die gegebenen Umstände.
Normen und Werte sind darum wandelbar, um Leben und Überleben zu
gewährleisten.

1.2 Erste Grundannahme: Menschliche Freiheit

Die Entscheidung für eine kognitiv begründete normative Ethik hat aus meh-
reren Gründen eine gewisse Brisanz, denn die Möglichkeit, Normen, also
22 Teil I Allgemeine Grundlegung

Sollensforderungen, aufzustellen, setzt voraus, dass der Mensch zumindest in


einem gewissen Rahmen frei ist, diese Normen zu befolgen.
Doch an der Möglichkeit einer Freiheit in diesem gehaltvollen Sinn beste-
hen Zweifel. So bestreiten einige Hirnforscher und Philosophen diese Freiheit
und mit ihr die Sinnhaftigkeit jeder normativen Ethik. Wo nämlich keine
Freiheit vorhanden ist, sind Sollensforderungen sinnlos. Allerdings sollte man
sich der Konsequenz dieser Aussagen bewusst sein. Wir mögen dann als bio-
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logische Roboter vielleicht das Tun von Mördern verachten, die mit ihrer Tat
einen Menschen vernichten und damit zugleich auch seinen einzigartigen Zu-
gang zur Welt, seine einzigartige Perspektive für immer zerstören, doch ist
auch diese Verachtung nur biologisch programmiert, eben Reaktion eines bio-
logischen Roboters.
Es kann hier nicht darum gehen, die weit gefächerte und schwierige Dis-
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kussion um die menschliche Freiheit, die zudem mit dem viel weiter gehen-
den Problem des Verhältnisses von Mentalem (Bewusstseinsvollzüge) und
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Physischem (körperliche Vollzüge) verbunden ist, zu behandeln. Vielmehr


gehe ich von der Annahme aus, dass wir zumindest in gewisser Weise frei
sind, bestimmte Sollensforderungen zu erfüllen oder eben bewusst nicht zu
erfüllen. Wir wissen dann im Einzelfall vermutlich immer noch nicht, ob wir
oder die anderen Menschen in einer bestimmten Situation frei gewesen sind
oder nicht, aber wir dürfen dennoch verbrecherische Taten nicht nur emoti-
onal, sondern auch moralisch verabscheuen. Wir dürfen auch davon ausge-
hen, dass „normale“ Menschen die Möglichkeit haben zu entscheiden, ob sie
zu Verbrechern werden oder nicht.
Diese Annahme menschlicher Freiheit und damit der Möglichkeit, dass
Menschen aus freiem Willen Böses, aber gerade auch Gutes tun können, er-
hebt nicht den Anspruch, die Frage nach der menschlichen Freiheit und damit
verbundene weitere Fragen metaphysisch zu lösen. Es wird also keine be-
stimmte Antwort auf die philosophische Frage gegeben, ob es einen immate-
riellen Agenten im Menschen gibt, der für das Tun eines Menschen die Ver-
antwortung trägt, wie beispielsweise Platon und Descartes annahmen. Diese
von Hirnforschern wie Wolf Singer bekämpfte Zweiteilung des Menschen ist
nicht nötig, um die Realität von Freiheit zu behaupten. Selbst eine Korrelation
von neuronaler mit geistiger Tätigkeit ist annehmbar. Aber ich bestreite die
These, man könne phy�����������������������������������������������������
sikalisch mittels eines Experiments beweisen oder wi-
derlegen, dass es menschliche Freiheit gibt. Man könne also zeigen, dass „alle
mentalen („geistigen“) Phänomene auf neuronalen Prozessen beruhen und
folglich diesen nach- und nicht vorgängig sind“, wenn man zugleich damit
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 23

auch behauptet, dass alles Geistige und somit eben auch die Freiheit sozusagen
nur „epigenetisch“, also ohne jede kausale Bedeutung sind.3
Auch wird hier keine philosophische oder theologische Theorie voraus-
gesetzt, in welchem Verhältnis menschliche Freiheit beispielsweise zum
Wirken eines als allmächtig verstandenen Gottes steht.4 Es geht ebenfalls
nicht darum, die Fragen zu behandeln, ob der Mensch nach dem Tod wei-
terlebt und für seine Taten in dieser Welt in einem jenseitigen Gericht zur
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Verantwortung gezogen wird, wie es beispielsweise Platon und die großen


monotheistischen Weltreligionen annehmen, freilich mit unterschiedlichen
Vorstellungen.5
Die Annahme menschlicher Freiheit in dem gehaltvollen Sinn, dass wir
als Menschen eben auch imstande sind, aus Bosheit Böses zu tun, bedeutet
also: Wir sind nicht vollständig durch unsere Gene und die Umwelt be-
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stimmt. Es bedeutet jedoch gerade nicht, den großen Einfluss sowohl unse-
rer Gene als auch unserer Umwelt zu bestreiten. Wir sind immer auch in
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Strukturen eingebettet, die zum Bösen, aber auch zum Guten Anreize schaf-
fen können.
Exemplarisch hat dies das vielfach weltweit wiederholte Milgramexperi-
ment (Milgram 2009) nachgewiesen. Der Psychologe Stanley Milgram hat
dieses Experiment erstmals 1960 durchgeführt. Hintergrund des Experi-
ments war das Verfahren gegen den Schreibtischmassenmörder Eichmann
in Jerusalem. Dieser hatte eine zentrale Rolle bei der Vernichtung von Men-
schen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft in den nationalsozialisti-

3 So der Hirnforscher Wolf Singer in der FAZ (18. Juli 2008; vgl. auch Pauen/
Roth 2008). Zur Auseinandersetzung mit diesen Freiheit bestreitenden Positionen
vgl. die von Rager (2000) und Geyer (2004) herausgegebenen Sammelbände. Zur
Frage nach der Bedeutung und Möglichkeit menschlicher Freiheit vgl. aus der
sehr umfangreichen Literatur z. B. für einen geschichtlichen Überblick Rosenber-
ger (2006), zur systematischen Fragestellung die unterschiedlichen Perspektiven
von Honderich (1990), Bieri (2003), Nida-Rümelin (2005) und Seebaß (2007).
4 Dies wird unter der Fragestellung des Verhältnisses von Gnade und Freiheit ver-
handelt und hat eine entscheidende Rolle für die Reformation, aber auch die in-
nerkatholischen Gnadenstreitigkeiten gespielt. Bis heute klassisch ist hierfür der
Streit zwischen Erasmus von Rotterdam, der den freien Willen mit seiner Schrift
De libero arbitrio (lateinisch für „Über den freien Willen“) verteidigte und Luther, der
ihm mit De servo arbitrio (lateinisch für „Über den knechtischen Willen“) antwortete.
Es sei aber auch an den innerkatholischen Gnadenstreit zwischen Jesuiten und
Dominikanern im 17. Jahrhundert erinnert, den selbst der damalige Papst nicht zu
entscheiden wagte.
5 Vgl. beispielsweise zu den Vorstellungen des Christentums Ratzinger (1977).
24 Teil I Allgemeine Grundlegung

schen Gaskammern inne gehabt. Eichmann hatte sich vor Gericht in seiner
Verteidigung darauf berufen, er habe nur Befehlen gehorcht und sei darum
unschuldig. Milgrams Grundfrage lautete daher: Sind „normale“ Menschen
nur aufgrund einer bestimmten Konstellation, im konkreten Fall einer Au-
toritätsperson im Rahmen eines psychologischen Experiments, dazu „ver-
führbar“, Menschen, die sie praktisch nicht kennen, schwer zu schaden. Das
erschreckende Ergebnis des Experiments lautete: Mehr als zwei Drittel der
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aus der „normalen“ Bevölkerung rekrutierten Probanden waren bereit, Men-


schen, die sie gerade einmal eine Stunde kannten, nur deshalb schwer zu
schädigen, sogar im Zweifelsfall zu töten, weil diese Lernreihen nicht per-
fekt wiedergeben konnten und die Autorität eine Bestrafung durch immer
stärker werdende Elektroschocks befahl.6 Dies taten sie, obwohl sie hören
konnten, wie der Prüfling (im Experiment ein Schauspieler, der in Wirklich-
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keit gar keine Schocks abbekam) ab einer Höhe von 135 Volt mehr und
mehr vor Schmerzen schrie, die Einstellung des Experiments forderte und
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schließlich überhaupt nicht mehr antwortete. Die Probanden taten es oft


unter großen inneren Kämpfen aus dem einzigen Grund, weil es der Ver-
suchsleiter befahl. Dieses Experiment wurde weltweit in unterschiedlichen
Versuchsvarianten wiederholt. Die Varianten bestätigten grundsätzlich diese
menschliche Verführbarkeit durch Autoritäten, die unmoralische Hand-
lungsweisen befehlen.

6 Den Probanden wurde erklärt, dass es sich um ein Experiment handele, bei dem
überprüft werden solle, ob der Lernerfolg durch Strafe erhöht werden kann. Der
Prüfling sollte Wortreihen lernen. Bei der Versuchsanordnung bestand das Team
aus dem Versuchsleiter, der Autorität, sowie dem Probanden, der als Lehrer auch
die Strafen austeilen musste, nämlich einen Schalter betätigen, und dem Prüfling
als drittem Teammitglied, dem der Lehrer einen Elektroschock zu geben hatte,
wenn der Schüler Fehler machte. Diese Strafen stiegen bei jeder falschen Antwort
des Prüflings um 15 Volt, beginnend mit einem milden Elektroschock von 15 Volt
bis zu einem schweren Schock von 450 Volt. Zwar betonte der Versuchsleiter, dass
auch der höchste Schock nicht die Gesundheit gefährde, die Instrumententafel da-
gegen signalisierte klar das extrem hohe Risiko dieses Stromschlags. Der Prüfling
war ebenso wie der Versuchsleiter in die eigentliche Zielsetzung des Experiments
eingeweiht, in den Augen des Probanden jedoch ebenso wie er selbst ein Pro-
band, da der Prüfling ihm als Mitproband vorgestellt und nur per manipuliertem
Losverfahren die Rollen von Prüfling und Lehrer vergeben wurden. Der Proband
musste also subjektiv davon ausgehen, er hätte genauso Prüfling sein können. Der
Prüfling wurde auf einem Stuhl in einer Weise angeschnallt, die Assoziationen an
den elektrischen Stuhl wachrufen konnte.
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 25

Dieses Experiment gehört zu den bedeutendsten Versuchen experimen-


teller Psychologie. Es besteht nämlich gerade in der Öffentlichkeit und bei
Moralisten die Neigung, an die Moral des Einzelnen zu appellieren, ohne zu
berücksichtigen, in welcher Regelebene bzw. unter welchen Rahmenbedin-
gungen er seine Handlungen zu vollziehen hat. Damit soll nicht das Tun
Eichmanns und anderer Schreibtischtäter verharmlost werden. Auch geht es
nicht darum, dass sich der Einzelne mit Berufung auf die verführerischen
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Rahmenbedingungen aus der Verantwortung ziehen kann. Es soll nur be-


reits hier deutlich werden, welche Bedeutung Rahmenbedingungen für das
Tun des Einzelnen haben.
Wie ist es aber um den Fall bestellt, wenn nicht wie in diesem Experi-
ment ein Verhalten gefordert wird, das eigentlich gesellschaftlich geächtet
ist, sondern wenn die Gesellschaft als Ganze bestimmte moralische Vorstel-
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lungen teilt, die wir heute als unmenschlich ansehen, wie die Akzeptanz der
Sklaverei?
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

1.3 Zweite Grundannahme: Ethischer Absolutismus


und Universalismus
Diese Frage führt zu einer weiteren ganz entscheidenden Frage: Kann eine
begründete normative Ethik mindestens eine absolut (lateinisch: absolutus =
lösgelöst, unbedingt) geltende Norm aufstellen, also eine Norm, die nicht von
kulturellen oder sonstigen Umständen abhängt und damit universelle Reich-
weite (lateinisch: universalis = allgemeine), erreichen kann? Oder ist jede
Norm relativ (lateinisch: relatus = bezogen), also auf bestimmte Zeiten oder
Orte oder beides bezogen? Der Relativismus in der Ethik geht davon aus,
dass alle Normen wandelbar sind. In diesem Sinn gelten Normen nur parti-
kular (lateinisch: particula = Stückchen, kleiner Teil), also nur für einen kleinen
Teil aller Menschen.

Vertiefung: Vielfältige Begrifflichkeiten, vielfältige Strukturierungen


von Ethiktypen
Allerdings ist die Begrifflichkeit „Partikularismus“ nicht eindeutig. So bezeichnet
„ethischer Partikularismus“ auch eine Position, die Normen unbedingter Gültig-
keit kennt, z. B. man sei verpflichtet, seinem eigenen Gewissen zu folgen. Doch
beschränkt sich dies auf sehr abstrakte Normen – man könnte auch sagen auf
Normen hinter den Normen. Dagegen sind alle konkreteren Normen wie bei-
26 Teil I Allgemeine Grundlegung

spielsweise das Tötungsverbot oder Wahrheitsgebot kontextabhängig. Auch die


Menschenrechte sind so abstrakt, dass sie nur in der jeweils kon­kreten Gesell-
schaft gelebt und erfahren werden können.
Für eine dem Partikularismus nahe stehende vornehmlich englischsprachige
Denkbewegung hat sich der Name „Kommunitarismus“ eingebürgert. Dieser ist
eine Sammelbezeichnung für Sozialphilosophen wie MacIntyre, Nussbaum, San-
del, Taylor, Etzioni oder Walzer. Gemeinsam ist ihnen bei aller Verschiedenheit
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die Kritik an einem individualistischen, freiheitlichen Menschenbild und damit


verbundenen „abstrakten“ Menschenrechten. Sie bilden damit eine Gegenbe-
wegung gegen den Liberalismus (lateinisch: liber = frei) und seine Vorläufer,
also gegen so unterschiedliche Denker wie Locke und Kant sowie im letzten
Jahrhundert Hayek, Nozick, Feinberg, Berlin und Rawls. Insbesondere das
Menschenbild in Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit hat ihre Kritik ausgelöst. Sie
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kritisieren insbesondere, dass hier der Mensch so vorgestellt wird, als ob


er sich seine Wert- und Sinnoptionen selbst setzen könnte. Kommunitaristen
betonen dagegen die soziale Einbettung des Einzelnen in eine konkrete Gemein-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schaft, die Wertorientierung gibt und eine faktische Sozialmoral etabliert. Sie
lehnen es darum auch ab, eine Theorie universeller Gerechtigkeit wie Rawls
anzunehmen, weil „Gerechtigkeit“ wie auch die Menschenrechte einen Norm-
und Wertkomplex darstellen, der sich erst in der jeweiligen Gesellschaft konkre-
tisiert. Der späte Rawls hat sich in seinen letzten Schriften davon inspirieren
lassen.7
Man bringt den Kommunitarismus, der sich teilweise auf Aristoteles beruft
(vgl. 2.1.2), auch in die Nähe der Tugendethiken und sieht die Kommunitaris-
mus-Liberalismus-Debatte als Fortführung der Debatte zwischen Anhängern
von Tugendethiken versus Anhängern von Prinzipienethiken. Wer jedoch die
aristotelische Ethik genauer studiert, kann erkennen, dass er zumindest für einen
derartigen Streit nicht die Grundlagen bietet. Vielmehr sind Tugenden integraler
Bestand einer Ethik, die weit über eine reine Tugendethik hinausgeht. Dies ist
notwendigerweise so, weil sich nur in einem größeren Zusammenhang klären
lässt, was überhaupt als Tugend im Sinne einer wünschenswerten, zur Gewohn-
heit gewordenen Einstellung des Einzelnen gelten kann.
Wieder eine andere Unterscheidung, die besonders in der analytisch ge­
prägten Ethik mehr und mehr zum Standard zu werden scheint, unterscheidet

7 Nochmals davon zu unterscheiden wären die „libertär“ genannten Denker wie


James Buchanan, die nicht einmal die liberale Grundlage teilen, wonach Men-
schen als Gleiche einen Vertrag schließen, sondern die davon ausgehen, dass die
Ausgangslage völlig normenfrei ist. Entscheidend ist damit sozusagen die „Lotte-
rie der Natur“. Sie bildet den Rahmen für den folgenden Vertrag.
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 27

nicht-kognitivistische von kognitivistischen Ansätzen (vgl. das dazu unter 1.1


Gesagte). Die kognitivistischen Ansätze lassen sich wiederum in nicht-natu-
ralistische und naturalistische Ansätze aufgliedern. Naturalistische Ansätze,
beispielsweise evolutionäre Ethiken, wollen Ethik auf naturwissenschaftliche
Vorgaben reduzieren bzw. in diese übersetzen. Ethik soll unter dem Primat der
Naturwissenschaften, im Fall evolutionärer Ethiken unter dem Primat der Evo-
lutionstheorie, bewahrt werden. Im Prinzip lässt sich unsere ethische Praxis
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vollständig in die Evolutionstheorie übersetzen und auf diese Weise rechtfer-


tigen. Bereits Moore (1993 [1903], 97ff) hat eine solche Reduktion kritisiert.
Allerdings ist seine Kritik, evolutionäre Ethik begehe einen naturalistischen
Fehlschluss, selbst wieder kritisierbar, da er von einer bestimmten Form des
Nicht-Naturalismus ausgeht, dem starken ethischen Realismus. Doch gibt es
auch andere Formen, nämlich Subjektivismus und Objektivismus. Im ethischen
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Realismus in seinen verschiedenen Spielarten haben Werte eine eigene Realität.


Sie sind inhaltlich bestimmt und erfühlbar. Ein Hauptvertreter ist Scheler (vgl.
2.1.6). Im Unterschied hierzu vertritt der Subjektivismus, dass wir von möglichst
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

wenig ethischen Voraussetzungen ausgehen sollten. Es genügt beispielsweise


wie in bestimmten Vertragstheorien (vgl. 2.4) die Annahme eigeninteressierter
Akteure, die rational einen Vertrag aushandeln, der allen ermöglicht, möglichst
gut (in einem subjektiv bestimmten Sinn; es gibt keine objektiven Werte) zu
leben. Davon zu unterscheiden ist der Objektivismus in seinen verschiedenen
Spielarten, der nicht nur von eigeninteressierten Akteuren ausgeht, sondern
Strukturen rationaler Subjektivität unterstellt. Kants Ansatz wäre hierzu ein gutes
Beispiel (vgl. 2.2.1). Der Objektivismus, der intersubjektive rationale Strukturen,
aber gerade keine objektiven Werte annimmt, ist also nicht mit dem Realismus zu
verwechseln (vgl. einführend Quante 2003 und vertiefend Halbig 2007). Diese
Strukturierung lässt sich in folgender Weise darstellen:

Abb. 3 Ethiktypen in einer möglichen Strukturierung


[Quelle: nach Quante 2003, 22]
28 Teil I Allgemeine Grundlegung

Ein klassisches Beispiel für einen Relativismus in normativen Fragen


„berichtet“ bereits der griechische Geschichtsschreiber Herodot (490/480–
425 v. Chr.). Wenn man ihm Glauben schenken darf, bot der Perserkönig
Darius einigen Griechen an seinem Hof, die üblicherweise ihre Toten
bestatten, eine große Summe Geld für den Fall, sie würden ihre Toten essen.
Die Griechen lehnten dieses nach ihrem Verständnis verbrecherische Tun
ab. Einwohnern des damaligen Indiens, die den Brauch hatten, ihre Toten
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zu essen, bot er dagegen Geld, wenn sie diese beerdigen würden. Auch
die Inder lehnten dieses nach ihrer Ansicht unmoralische Handeln ab. He-
rodot zog daraus den Schluss: Jedes Volk hält seine Gebräuche für moralisch
gut, die abweichenden Gebräuche anderer Völker dagegen für moralisch
schlecht.
Eine sehr wichtige Frage stellt sich im Zusammenhang mit dieser
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Schlussfolgerung: Darf man dieses Beispiel verallgemeinern und von daher


einen ethischen Relativismus vertreten, wonach alle moralischen Einstellun-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gen und Normen kulturgebunden oder in sonst einer Weise relativ sind?
Wenn dies der Fall wäre, würden die Begriffe „gut“ und „böse“ sowie „mora-
lisch richtig“ und „moralisch falsch“ nichts anderes bedeuten als „akzeptiert
bzw. gewünscht in einer Gesellschaft“ und „nicht akzeptiert bzw. uner-
wünscht in einer Gesellschaft“. Selbst kulturübergreifende moralische Ein-
stellungen zu einer bestimmten Zeit beweisen nicht, dass der ethische Rela-
tivismus falsch ist, da die Zeitkomponente zu berücksichtigen ist. So gab es
eine Zeit, in der die Sklaverei praktisch überall als eine moralisch richtige
Institution akzeptiert war. Aus heutiger Sicht aber lehnen wir diese Institu-
tion ab. Ist nun diese Ablehnung erneut nur ein Beispiel unserer „kulturellen
Befangenheit“? Ist auch die Anerkenntnis des Prinzips der Menschenwürde
und der Menschenrechte und die damit verbundene Ablehnung von Völker-
mord und Vertreibungen, von Sklaverei und Folter ein reines Kulturpro-
dukt?
Der ethische Relativismus ist rein logisch nicht zu widerlegen.8 Er be-
schränkt seine Wahrheitswertskepsis nämlich nur auf den ethischen Bereich.

8 Anders verhält es sich mit dem epistemischen (griechisch: episteme = Erfahrung,


Wissen) Relativismus. Dieser beansprucht nämlich als absolut wahr, dass es keine
absolute Wahrheit gibt, was selbstwidersprüchlich ist, denn dann wäre auch der
Satz selbst, dass es keine absolute Wahrheit gibt, relativ und damit gerade nicht
immer wahr.
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 29

So kann er nämlich behaupten, es sei epistemisch wahr, dass es keine univer-


sell geltenden ethischen Normen gibt. Dennoch lässt sich an weltweit gel-
tenden Konventionen ablesen: Die Weltgemeinschaft geht davon aus, dass
es Werte und Normen gibt, die immer und überall gelten, also gerade nicht
relativ sind. Sie lehnt die Sklaverei nicht ab, weil sie die Meinung hat, dass
Sklaven in unsere Gesellschaft nicht passen, aber es für andere Gesellschaf-
ten sehr wohl angemessen sein kann, Sklaven zu halten. Vielmehr ist sie
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davon überzeugt, dass es immer und überall falsch ist, Menschen als Sklaven
zu halten. Die Weltgemeinschaft hat ihre klare Ablehnung der Grausam-
keiten des vergangenen Jahrhunderts mit Völkermord und Vertreibungen
immer neu deutlich gemacht, weil sie davon überzeugt ist, dass es immer und
überall falsch ist, Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Volk zu
töten oder zu vertreiben. Für die Vereinten Nationen sind Menschenwürde
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und Menschenrechte zentrale Normen und Werte, von denen gerade ihre
transkulturelle Bedeutung unterstrichen wird. Gerade deshalb wurde bei der
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen auf jegliche Begründung


verzichtet, die im Sinne einer bestimmten Kultur oder philosophischen bzw.
theologischen Schule hätte interpretiert werden können. Insofern mag ein
begründungstheoretischer Pluralismus für universelle Werte und Normen
sinnvoll sein, dem ethischen Relativismus ist jedoch eine klare Absage zu
erteilen. Andernfalls lässt man für Sklaverei, Folter und Völkermord indirekt
Rechtfertigungsmöglichkeiten offen.
Nach der Ablehnung des ethischen Relativismus stellt sich in aller
Schärfe die Frage: Können absolutistische normative Ethiken mit universa-
len Geltungsansprüchen leisten, was relativistische nicht vermögen? Wenn
sie dies vermögen, welcher unter den vielen Ansätzen ist dann vorzugswür-
dig?
30 Teil I Allgemeine Grundlegung

2 Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen

Die klassischen, wohl am meisten diskutierten absolutistischen, normativ-


ethischen Ansätze mit universellem Geltungsanspruch sind die antiken
Konzeptionen von Platon, Aristoteles und der Stoa, ihre christliche Wei-
terführung (meist exemplifiziert an der Ethik eines Thomas von Aquin)
und moderne Ausprägungen (Schelers Wertphilosophie), Vertragstheorien
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(Hobbes, Rawls), der Ansatz von Immanuel Kant und seine Umformung
beispielsweise durch Habermas sowie utilitaristische Konzeptionen als Un-
tergruppe konsequenzialistischer Ansätze. Diese sollen im Folgenden kurz
skizziert werden.9
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2.1 Naturrechtslehren und Wertphilosophie


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Die antiken Konzeptionen gehen ebenso wie ihre christliche Weiterführung


bei Thomas davon aus, dass eine objektive transzendente Wirklichkeit, die
Idee des Guten schlechthin (Platon), Gott philosophisch gedacht (Aristote-
les), der Weltlogos als schöpferisch-vernünftige Ursache allen Seins (Stoa)
bzw. Gott als die sich in Geschichte offenbarende Liebe (Thomas), das Gute
und damit die Richtigkeit der Normen und der ihnen korrespondierenden
Handlungen verbürgt. Dabei gehen Naturrechtslehren davon aus, dass in der
menschlichen Natur wesensmäßig ein Streben nach der Erfüllung dieser
Natur angelegt ist. Dieses Streben geht letztlich auf das Gute, das zugleich
seine Erfüllung bedeutet. In gewisser Verbundenheit mit diesen Ansätzen
stehen neuzeitliche Naturrechtslehren und die Wertphilosophie.10

9 Es ist klar, dass sich die Ansätze darin nicht erschöpfen. Zu einer vollständigeren
Übersicht vgl. man entsprechende Einführungen und Übersichten, z. B. Andersen
(2005), Birnbacher (2003), Düwell u. a. (2006), Pieper (2007) oder Quante (2003).
Zudem teile ich beispielsweise die Einschätzung von Charles Taylor (2007, 19),
wonach der Epikureismus im Rahmen der wirkmächtigen Weltanschauungen in
seiner humanistischen Tendenz ohne echten Gottesbezug in seiner Zeit, der An-
tike, eine Ausnahme darstellt. Er ist in Taylors Worten „die eine Schwalbe, die
noch keinen Sommer macht“.
10 Was ethische Fragestellungen angeht, sind die Hauptwerke Platons Politeia sowie
Nomoi, die Hauptwerke Aristoteles’ Ethika Nikomacheia und Politika – mit dem
ausdrücklichen Beginn der Ethik als Wissenschaftsdisziplin, das Hauptwerk von
Thomas die Summa Theologiae II-II, das Hauptwerk Schelers Der Formalismus in
der Ethik und die materiale Wertethik. Die Zuordnung von Platon und Aristoteles
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 31

2.1.1 Platon (428–348)

Platon entwickelte seine normativ ethischen Überlegungen „verstreut“ auf


Schriften, die als Dialoge verfasst sind. Sie enthalten in Erzählungen (narra-
tives Element) gekleidete Positionen, in ihnen wird ausführlich argumen-
tiert, und man findet auch harte Begriffsarbeit. Platons Grundannahmen
lauten:
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1. Die Wahrheit ist theoretisch erkennbar.


2. Die zentrale Wahrheit besteht in der Idee des Guten als Seinsgrund
von allem, was ist, einschließlich der moralischen Werte (aber auch
der ästhetischen usw.).
3. Die Erkenntnis der Idee des Guten lässt zugleich die zentralen
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moralischen Werte erkennen, nach denen sich der Mensch zu richten


hat. Dabei ist diese Erkenntnis keine intellektualistisch misszuverste-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

hende: Die Idee des Guten, das Urgute, übt auf uns eine anziehende
Wirkung aus. Unsere Erkenntnis ist darum eigentlich ein Verlangen
nach dieser Idee. Das Gute wird geliebt, weil es uns anzieht, weil es
„attraktiv“ ist (vgl. den Dialog Symposion). Dabei ist diese Erkenntnis
nach platonischem Verständnis eigentlich ein Wiedererkennen, da die
Geistseele des Menschen als ewige gedacht, also präexistent ist. Je
nachdem, ob ein Mensch sich auf den Weg der Erkenntnis macht oder
nicht, ob er gemäß seiner eigentlichen Geistnatur lebt oder nicht, wird
er nach dem Leben bestraft oder belohnt (vgl. die Erzählungen im
Dialog Timaios, 39d4–42e4).

Dabei vertritt Platon jedoch einen ethischen Optimismus, wie sein


Hauptwerk, die Politeia, gut erkennen lässt. Der Mensch, der sich auf
den Weg der Erkenntnis macht und die Idee des Guten erkennt, han­-
delt entsprechend. Ein solcher Mensch ist der Philosoph (griechisch: sophia
= Weisheit, philein = einen freundschaftlichen Umgang pflegen). Seine Ver­-
nunft beherrscht seine Triebhaftigkeit und regelt die übrigen Fähig­kei-
ten. Dabei sind bei ihm die zentralen moralischen Tugenden die Tugen­-
den der Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung und in gewisser Weise

zu den Naturrechtslehren ist hierbei aufgrund ihrer vielschichtigen Werke nicht


ganz unproblematisch.
32 Teil I Allgemeine Grundlegung

als Zuordnungstugend die Tugend der Gerechtigkeit, die für das rechte
Zuordnungsverhältnis von Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung sorgt.
Sie heißen deshalb auch Kardinaltugenden, weil sie als Angelpunkt
(lateinisch: cardo = Türangel, Angelpunkt) des moralisch guten Lebens
gelten. Darum sollten Philoso­phen den Staat regieren. Sie dürfen dabei
um des guten Ziels willen die Untertanen betrügen und sogar so weit
gehen, Menschen nach besten körperlichen und geistigen Merkmalen
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zu züchten. Sie dürfen eine strenge Zensur durchführen, zu Abtreibungen


ermutigen und eine Tötung behinderter Neugeborene erzwingen. Der
Staat ist dabei in der Weise undemokratisch, dass die Philosophenkönige
als Führungselite im Besitz der Wahrheit alle wichtigen Entscheidungen
treffen.
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2.1.2 Aristoteles (384–322)


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Auch Aristoteles, ehemaliger Schüler Platons, vertritt – Platon in gewisser


Weise ähnlich – eine Naturrechtslehre. Der Mensch wie jedes andere Lebe-
wesen auch hat eine wesensmäßige Natur, die sich im Lauf ihrer Geschichte
in einem zielgerichteten Werdeprozess realisiert und so die Vollendung ihrer
Form/Gestalt erhält: „Die Natur aber ist das Ziel. Wir nennen nämlich den-
jenigen Zustand die Natur eines jeden Dings, der vorhanden ist, wenn das
Werden dieses Dings zur Vollendung gekommen ist, wie es beim Menschen,
Pferd, Haus der Fall ist“ (Aristoteles Pol 1252b31–34). Anders gesagt: Wenn
wir einen erwachsenen Menschen mit seinen ausgeübten Fähigkeiten erle-
ben oder ein gebautes Haus in all seiner Schönheit oder auch Schlichtheit
sehen, dann wissen wir, was wir mit „Haus“ bezeichnen bzw. was das Haus
seiner Natur nach ist. Mit diesem teleologischen (griechisch: telos = Ziel)
Naturverständnis legt er damit auf der Seinsebene in die einzelnen „Dinge“
hinein, was später auch ethisch von Bedeutung ist und weswegen die Ethik
des Aristoteles ebenfalls teleologisch genannt werden kann: Es ist normativ
gut, wenn ein Mensch seine Menschennatur realisiert. Sie realisiert sich
konkret eben gerade dadurch, dass ein Mensch glücklich ist. Notwendige
Bedingungen für das Glücklichsein des Menschen sind nach Aristoteles in
Anlehnung an Platon die Kardinaltugenden und darüber hinaus weitere Tu-
genden wie z.  B. die Großzügigkeit. Tugenden werden im Gemeinwesen
gelernt und gelebt. Aristoteles ist davon überzeugt, dass die Gemeinschaft
der Polis darum auch eine entscheidende Rolle spielt, ob ein Mensch glück-
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 33

lich werden kann.11 Tugenden erkennt man dabei oft am rechten Maß bzw.
der rechten Mitte. So ist die Tapferkeit die rechte Mitte zwischen Tollkühn-
heit und Feigheit, die Großzügigkeit die rechte Mitte zwischen Verschwen-
dungssucht und Geiz. Eine besondere Rolle nimmt unter den Tugenden die
Gerechtigkeit ein, da sie in gewisser Weise alle Tugenden in sich aufhebt.
Aristoteles unterscheidet dabei auch die individualethisch zu verstehende
Tugend des Einzelnen von Gerechtigkeit als politischer „Tugend“ und for-
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muliert die wirkmächtige Unterscheidung zwischen dem Natürlichen (grie-


chisch: to physikon = das Natürliche) und dem Gesetzlichen (griechisch: to nomi-
kon = das Gesetzmäßige), also sozusagen eine Naturrechtslehre, wonach das
von Natur Gerechte überall die gleiche Autorität hat.12 Vor dem Hinter-
grund dieses naturrechtlichen Verständnisses und der damit verbundenen
Ontologie (griechisch: ontologia = Seinslehre) der menschlichen Natur ist klar,
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warum der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses die Ethik des Aris-
toteles nicht treffen kann, denn die menschliche Natur selbst ist, wie gerade
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gezeigt, normativ zu denken (vgl. Schockenhoff 2008, 118).


Aristoteles unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von Platon: Seine
„Glückseligkeitslehre“, seine Lehre von der Eudaimonia (griechisch: eu = gut,
daimon = Geschick), ist konkret. Zum Glück des Menschen gehört auch ein
glückliches Geschick einschließlich „äußerer Güter“ (EN 1099a31). Ande-
rerseits hat diese Lehre aber auch Anklänge an Platon (vgl. EN 1176a30ff ).
Dies gilt insbesondere im Rahmen seiner metaphysischen Überlegungen,
wenn Aristoteles schreibt, dass Gott als unbewegter Beweger die Welt be-
wegt, wie das Geliebte das Liebende (vgl. Mphy 1072b3). Die Lebenserfül-
lung besteht darum auch in der Schau dieses Gottes (vgl. EN 1177a, 12–19)
in gewisser Analogie zur Schau der Idee des Guten bei Platon. Dies ist das
eigentliche Ziel des Menschen. Dieses teleologische Verständnis von Eudai-
monie als Ziel der Moralität unterscheidet sich deutlich von Ethiken, die
Moralität auf den guten Willen im Subjekt gründen (vgl. 2.2.1).
Aristoteles‘ Vorstellung des wohlgeordneten Staats ist nicht monar-
chisch-aristokratisch wie bei Platon, sondern wesentlich demokratischer,
obwohl auch bei ihm weder Frauen noch Unfreie zu den Wählenden gezählt
werden. Er ist hier viel mehr von Vorstellungen seiner Zeit geprägt als

11 Davon ist der Kommunitarismus beeinflusst. Vgl. die Vertiefung in 1.3.


12 ����������������������������������������������������������������������������
Vgl. Aristoteles EN 1134b18–1135a5. Da����������������������������������������
diese Konzeption auch von großer sys-
tematischer Bedeutung ist, behandele ich sie ausführlich in meinem Abschnitt zur
Gerechtigkeit (s. 5.2.2).
34 Teil I Allgemeine Grundlegung

Platon. Aristoteles hält es auch für vertretbar, dass es Sklaven gibt, weil sei-
ner Ansicht nach manche Menschen von Natur aus nicht imstande sind,
sich ihres Verstandes ohne Anleitung eines anderen Menschen zu bedienen.
Zugleich kann er sich jedoch auch ähnlich wie später Paulus eine Freund-
schaft zwischen einem Herrn und seinem Sklaven gut vorstellen.
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2.1.3 Stoa (ab ca. 300 v. Chr.)

In diesen konkreten, angewandt ethischen Fragen sind die unterschiedli-


chen Denker der um 300 v. Chr. von Zenon aus Kition gegründeten Stoa
(benannt nach ihrem Hauptversammlungsort, einer Halle, griechisch: stoa
poikilé = bemalte Halle) vielfach verschiedener Meinung. Das verwundert
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nicht, da es sich um eine Denkbewegung handelt, die über Jahrhunderte


bedeutende Persönlichkeiten hervorbrachte, beispielsweise Seneca (1–65 n.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Chr.) oder den römischen Kaiser Marcus Aurelius (121–180 n. Chr.). Doch
entwickeln sie bei allen internen Divergenzen eine geradezu klassisch zu
nennende Naturrechtslehre: Der Mensch soll ein seiner Natur entsprechen-
des Leben führen. Dies ist sein eigentliches Lebensziel, ist das, was sich
schickt, ist das, worin die eigentliche Pflicht des Menschen besteht. Insofern
ist die stoische Ethik eine Ethik der Pflicht, die sozusagen an der vernünfti-
gen Menschennatur, so wie sie ist, ihr Maß nimmt. Damit verbunden ist der
Grundgedanke eines Naturrechts für alle Menschen, da alle aufgrund ihrer
Vernunft an der Weltvernunft, dem Logos (griechisch: Logos = Vernunft) An-
teil haben. Das Naturrecht ist dabei das mit der Weltvernunft identische
Weltgesetz, an dem das positive Recht, also das Recht, das die Menschen
sich in konkreten Gesetzen „setzen“ (lateinisch: ponere = setzen), Maß zu neh-
men hat. Hier führt die Stoa Gedanken weiter, die sich bereits bei Platon
und Aristoteles finden, auch wenn die metaphysischen Grundannahmen
nicht identisch sind.

2.1.4 Thomas von Aquin (1224–1274)

Thomas von Aquin denkt die Konzeptionen von Platon und Aristoteles,
aber auch stoisches Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen
Glaubensüberzeugung weiter. Dabei unterscheidet er sich von Platon, Aris-
toteles und stoischen Denkern insbesondere dadurch, dass er von theologi-
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 35

sche Glaubensüberzeugungen ausgeht. Jeder Mensch ist bereits durch Got-


tes Wirken im erlösenden Christusereignis gerechtfertigt. Er kann sich nur
dieser Rechtfertigung verweigern. Das letzte Ziel allen Handelns stellt die
niemals endende Gemeinschaft mit dem Gott der Liebe (bildlich ausge-
drückt: himmlische Seligkeit) dar. Die Aufgabe des Menschen besteht da-
rum nach Thomas darin, sich von Gottes Wirklichkeit ergreifen zu lassen,
um, ergriffen von dieser Wirklichkeit und strebend nach dieser, das Gute zu
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tun und das Böse zu unterlassen. Auf diese Weise schafft der Mensch die
Grundlage für ein gutes und erfülltes Leben.
Andererseits gibt es auch große systematische Gemeinsamkeiten mit den
antiken Denkern. So denkt auch Thomas Gott als vernünftig, der die ver-
nünftige Ordnung der Welt und die menschliche Vernunftnatur geschaffen
hat, gemäß der der Mensch leben soll. Der Mensch ist also nach Thomas,
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ähnlich wie bei Platon, Aristoteles und der Stoa, aufgrund seiner Menschen-
natur auf Handlungsziele angelegt, die nicht beliebig sind. Sein Leben ist
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dann geglückt, wenn er gemäß diesen naturgegebenen Ordnungszusam-


menhängen lebt, also sein wahres Menschsein verwirklicht. Deshalb können
der Ansatz des Thomas, aber auch die Ansätze von Platon, Aristoteles und
der Stoa als Naturrechtslehren verstanden werden. Zudem verbindet sie ihre
tugendethische Dimension, wobei Thomas die Kardinaltugenden in den Tu-
genden von Glaube, Hoffnung und Liebe wurzeln lässt. Wie nach Aristote-
les die Tugenden in der Gemeinschaft der Polis erfahrbar werden, lassen sie
sich nach Thomas nur in der Gemeinschaft der Kirche in ihrer eigentlichen
Dimension erlernen und leben.
Interessanterweise kommt Thomas in den konkreten angewandt ethi-
schen Fragen zu teilweise völlig anderen Überzeugungen als seine natur-
rechtlichen Lehrer. So lehnt er im Gegensatz zu Platon und Aristoteles
Ehescheidung und Abtreibung ab. Im Unterschied zu Aristoteles, aber dafür
in einer Linie mit Platon spricht er sich für ein monarchisch-aristokratisches
Regierungssystem aus, wobei die Kirchenführer die Letztverantwortung und
Regierungsgewalt haben sollen. Wie Platon verficht er eine strenge Zensur
und verteidigt die Verfolgung Andersdenkender.

2.1.5 Neuzeitliche Naturrechtslehren

In der Neuzeit werden die Naturrechtslehren weiter entwickelt. Exem­


plarisch für die neuzeitliche Naturrechtskonzeption stehen in Deutschland
36 Teil I Allgemeine Grundlegung

Samuel von Pufendorf (1632–1694) und in England der zeitgleich geborene


John Locke (1632–1704), der Pufendorfs Naturrecht als „bestes Werk seiner
Art“ bezeichnet hat.
Ähnlich wie die antiken und mittelalterlichen Naturrechtslehren neh-
men neuzeitliche Naturrechtslehren ihren Ausgang bei der mensch­-
lichen Natur, aus deren Beobachtung man vernünftige moralische
Normen aufstellen kann, und bei Gott als Urheber dieser Naturgesetz­-
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lichkeit.
Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass die antiken
und mittelalterlichen Naturrechtslehren Tugendethik und Naturrecht strikt
verschränken: Alle konkreten Fragen menschlicher Praxis sind eingewoben
in dieses gemeinsame „Netz“: Das Gute und das Rechte sind untrennbar
verbunden. Das neuzeitliche Naturrecht dagegen tendiert dazu, das Gute
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und das Rechte zu trennen: Die Tugendpflichten verbürgen in einer eher


privatisiert gedachten Lebensgestaltung des Einzelnen sein gutes Leben,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

während die Rechte und Rechtspflichten gerechte gesellschaftliche Zu-


stände ermöglichen und menschliche Grundrechte wie das Recht auf Le-
ben schützen. Sie sind sozusagen die notwendigen Bedingungen der Mög-
lichkeit guten Lebens, aber noch nicht dessen Realisierung selbst, die erst
mit der Erfüllung der Tugendpflichten geschehen kann. Mehr und mehr ist
damit das gute Leben nur noch Thema subjektiver Freiheitsspielräume, also
Privatsache. Dies bedeutet auch: Religiöse Überzeugungen gehören nicht
mehr in die Sphäre des öffentlichen Lebens, sondern sind ebenfalls Privat-
sache. Nicht von ungefähr schreibt Locke seine berühmten Briefe über die
(religiöse) Toleranz und legt damit den Grundstein für eine Gesellschaft,
die heute als „säkular“ bezeichnet werden kann: Der Staat ist nicht mehr an
weltanschauliche Grundüberzeugungen gebunden, die er notfalls mit Ge-
walt um des Wahren und Guten willen durchsetzt. Es gibt nicht mehr Zen-
sur, Zwang und Verfolgung Andersdenkender, wie sie beispielsweise Platon
und Thomas von Aquin verlangen, weil jetzt die Freiheit eine viel bedeuten-
dere Rolle spielt, denn sie bildet zusammen mit der Gleichheit und Unver-
letzlichkeit der Person die höchsten Rechtsgüter, so einer der zentralen
Gedanken seines politischen Hauptwerks Zwei Abhandlungen über die Re-
gierung. Nach Locke (1992 [1689], 338) gilt nämlich: „Die Macht fällt an
das Volk zurück, das dann ein Recht hat, seine ursprüngliche Freiheit wie-
der aufzunehmen.“ Diese Freiheit des Volkes bedeutet aber, dass jetzt der
Staat nicht mehr wie in der geschlossenen mittelalterlichen Gesellschaft
Wahrheitsstaat ist, sondern unterschiedliche weltanschauliche Entwürfe
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 37

zu­lässt. Also darf die Regierung nicht mehr die Religion ihrer Bürger be-
stimmen.13
Die Differenz zwischen dem antiken und mittelalterlichen Naturrecht
und dem neuzeitlichen Naturrecht lässt sich in folgender Weise vereinfacht
abbilden:
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Abb. 4 Naturrechtskonzeptionen [Quelle: nach Anzenbacher 1998, 69]

2.1.6 Schelers (1874–1928) und Deweys (1859–1952)


Wertphilosophie

Max Scheler steht in gewisser Weise den antiken und mittelalterlichen


Ethiken nahe, auch wenn er ausdrücklich eine metaphysische oder religiöse
Begründung der Ethik ablehnt und seine Ethik auch nicht als Synthese an-
tiker und neuzeitlicher Ethik verstanden wissen will. Nach Scheler gibt es
ähnlich zu Platon und Thomas absolute Werte, die inhaltlich bestimmt sind.
Ein reiner Formalismus in einer Ethik, die sich nur auf die formale Regel
eines kategorischen Imperativs stützen würde wie bei Kant (s. dort 2.2), ver-
fehlt das Eigentliche. Darum lautet der Titel seines Hauptwerks Der Forma-
lismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Im Unterschied zu Platon

13 Vgl. ����������������������������������������������������������������������
Anzenbacher 1998, 71. Zu einer genaueren Beschreibung der modernen sä-
kularen Staatsidee und der sie tragenden Grundeinstellung vgl. Taylor 2007.
38 Teil I Allgemeine Grundlegung

existieren diese Werte aber nicht in einer Art „Wertehimmel“ und sind auch
nicht an die Existenz eines Gottes gebunden. Diese Werte werden intuitiv
„gefühlt“, noch bevor ihre Bedeutung verstandesmäßig ergründet wurde: Sie
sind dabei echte Objekte intentionaler Gefühlsakte und können phänome-
nologisch erschlossen werden.
Die amerikanischen Pragmatisten, insbesondere John Dewey, verbinden
den Gedanken der Wertbindung mit dem der Kommunikation: Ein Mensch
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teilt sich einem anderen Menschen mit und durchbricht so die eigene
Selbstzentriertheit. Im Akt der Kommunikation erfährt er diese als wertbil-
dend, wobei gemeinsame Werte „entstehen“ (vgl. Joas 1999, 162–194). So
kommt es durch ein selbstloses Sich-Ausliefern an den anderen im Mitteilen
zu einer neuen Dimension von Werterfahrung.
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2.1.7 Die Grenzen dieser Positionen


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Die Naturrechtslehren von Platon bis Thomas sind jeweils eingebunden in


eine Weltanschauung, die heute gerade nicht von allen Menschen mit ihren
unterschiedlichen Grundüberzeugungen geteilt wird.14 Zudem widerspre-
chen sich diese Naturrechtslehren in ihren konkreten Aussagen zu einzelnen
Konfliktfeldern Angewandter Ethik teilweise fundamental. Man denke
hierbei nur an die oben kurz angedeuteten unterschiedlichen Normen be-
züglich der Rolle der Frau und der Demokratie.
Aber auch die Wertphilosophie Schelers ist keine Position, die einen weit
reichenden Konsens erzielen kann. Sie setzt zwar nicht antike oder mittel­
alterliche metaphysische Überzeugungen voraus, aber vertritt mit ihrer phä-
nomenologischen Ausrichtung ebenfalls einen ganz bestimmten Zugangs-
weg zum Aufbau der dabei vertretenen Ethik. Umgekehrt erscheint die
Wertphilosophie von Dewey wiederum so inhaltsoffen, dass sie sich die Kri-
tik gefallen lassen muss, einzelne Erfahrungen einem „leeren Universalismus

14 So hält auch J. Ratzinger fest: „Tatsache ist jedenfalls, dass unsere säkulare Rati-
onalität, […], in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt. Ihre
Evidenz ist faktisch an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden, und sie muss an-
erkennen, dass sie als solche nicht in der ganzen Menschheit nachvollziehbar und
daher in ihr auch nicht im Ganzen operativ sein kann. Mit anderen Worten, die
rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen,
und die dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig
unerreichbar“ (Ratzinger 2006, 55).
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 39

des Demokratischen, dessen Motivationskraft unerfindlich bleibt“ ( Joas


1999, 193) zu opfern.

2.2 Formale Pflichtethiken

Während in den Naturrechtslehren und in der Wertphilosophie, jedenfalls


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des schelerschen Typus, eine objektiv verstandene Menschennatur bzw. ob-


jektive Werte als Bezugspunkt dienen, gehen die Überlegungen formaler
Ethiken nicht von „äußeren“ Gegebenheiten aus. Es geht nicht mehr darum,
Anteil an einer Idee des Guten zu bekommen bzw. sich von Gott ergreifen
zu lassen. Vielmehr wenden sich formale Ethiken dem Subjekt selbst zu.
Der Mensch hat sozusagen in seiner eigenen Vernunft den Schlüssel zu fin-
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den, um Normen zu entwickeln.


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

2.2.1 Kant (1724–1804)

Immanuel Kant entwickelt eine Philosophie, die bei der menschlichen Ver-
nunft ansetzt. Er nennt diese Philosophie Transzendentalphilosophie, weil sie
eine Philosophie ist, die die im Subjekt liegenden alle Erfahrungen über-
schreitenden (lateinisch: transcendere = überschreiten), d. h. nicht empirischen,
aber im Subjekt „befindlichen“ Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis
und Freiheit systematisch darstellt und von diesen her die theoretische und
praktische Philosophie entwickelt (vgl. Knoepffler 2001, 48–50, 68f ). Verein-
facht gesagt: Was wir erkennen und was wir tun, hängt von Bedingungen in
uns ab, die man nicht mehr messen und wiegen, nicht mehr mit Hilfe der
Naturwissenschaften entdecken kann. Dennoch müssen wir diese Bedingun-
gen annehmen, weil nur sie ermöglichen, dass wir tatsächlich die Vielfalt der
Außenwelt ordnen und so erkennen können. Was wir erkennen sind allerdings
nicht die Dinge, wie sie an sich sind, sondern so wie sie uns in unserer Erfah-
rung erscheinen, denn wir überformen alles, was wir erkennen, durch unsere
räumliche und zeitliche Vorstellung und ordnen es durch Vernunftkategorien
wie die Kausalität in einer bestimmten Weise: Wir ordnen nacheinander er-
scheinende Vorgänge mit Hilfe der Vernunftkategorie „Kausalität“ in der
Weise, dass uns dieses Nacheinander als eine notwendige Folge erscheint. Wir
haben also nach Kant bestimmte Strukturen „im Kopf“, mit denen wir Gegen-
stände und Ereignisse konstruieren und sie so für uns erfahrbar machen, ohne
40 Teil I Allgemeine Grundlegung

dass wir tatsächlich wissen, wie diese Gegenstände an sich aussehen und die
Ereignisse an sich ablaufen. Bildlich gesprochen: Wie die Libelle nur mit
Facettenaugen sehen kann, so können wir Menschen das nur mit unseren
Augen. Da wir Menschen aber alle die gleichen Vorstellungs- und Denk­
formen haben, können wir Naturwissenschaften und Naturgesetze entdecken.
Wir sollten uns nach Kant nur bewusst sein, dass diese Entdeckungen zu-
gleich unsere Konstruktionen sind.
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Darum können wir mit der theoretischen Erkenntnis über die eigentlichen
„Gegenstände“ wie Gott, menschliche Freiheit und Unsterblichkeit keine
Aussagen machen, da sie jenseits unserer Erfahrung liegen. Wir können weder
beweisen noch widerlegen, dass es sie gibt. Dennoch müssen wir sie postulie-
ren (lateinisch: postulare = einfordern), da uns die Realität von Sollensforderun-
gen fordern lässt, dass es Freiheit geben muss. Gäbe es nämlich keine Freiheit,
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wären Sollensforderungen sinnlos. Kant ist darum überzeugt, dass wir tatsäch-
lich Freiheit als Bedingung der Möglichkeit für moralisches Tun haben. Diese
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Freiheit nennt er darum transzendental, denn sie liegt all unserem Tun in uns
als moralischen Subjekten voraus und kann auch nicht empirisch entdeckt
werden.
Dabei versteht Kant den der transzendentalen Freiheit entspringenden
guten Willen des Menschen als zentralen, ebenfalls aller Erfahrung vorgän-
gigen, nicht empirisch wahrnehmbaren Ausgangspunkt seiner praktischen
Vernunft. Für seine Ethik hat sich darum der webersche Begriff der Gesin-
nungsethik eingebürgert. Der gute Wille erweist sich dabei als ein Handeln
aus Pflicht, weswegen diese Ethik auch deontologisch (griechisch: to deon =
das der Pflicht entsprechende; das, was sich ziemt) genannt wird. Handeln aus
Pflicht lässt sich im Unterschied zum pflichtgemäßen Handeln nicht empi-
risch feststellen. Wir wissen nämlich beispielsweise nicht, wenn uns ein Ver-
käufer nicht übervorteilt, ob er dies aus Pflicht tut, d. h., kein Eigeninteresse
im Spiel ist, oder ob er diese pflichtgemäße Handlung des Nichtübervortei-
lens deshalb vollzieht, weil er ansonsten Nachteile für sein weiteres Geschäft
befürchtet. In letztgenanntem Fall vollzieht der Verkäufer nach Kant keine
moralische Handlung, auch wenn diese Handlung damit natürlich keines-
wegs unmoralisch ist. Sie ist amoralisch, d. h., sie verstößt nicht gegen die
Moral und hat doch nichts mit Moral zu tun. Maßgabe des Handelns aus
Pflicht, also des moralischen Handelns, ist nämlich der kategorische, d. h.
der ohne jede Bedingungen geltende Imperativ: „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz
werde“ (Kant 1968 [1785], 421, kursiv im Original). Dabei ist das allgemeine
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 41

Gesetz strukturell als Naturgesetz zu denken. Dieser Imperativ kann nach


Kant (1968 [1785], 421) deshalb auch so lauten: „Handle so, als ob die Ma-
xime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze wer-
den sollte.“ Dabei ist dieser Imperativ nicht von außen an den Einzelnen
herangetragen, sondern entspringt der eigenen praktischen Vernunft, und
damit auch dem eigenen guten Willen, nicht aber den eigenen Neigungen,
modern formuliert: Der Imperativ entspringt gerade nicht dem Eigeninter-
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esse. Kant spricht deshalb auch von Autonomie, von Selbstgesetzgebung


(griechisch: autos = selbst, nomos = Gesetz): Die praktische Vernunft ist auto-
nom, weil die Regeln gemäß dem kategorischen Imperativ aus ihr selbst
entspringen. Sie ist autonom, weil diese Regeln in derselben Ausnahmslosig-
keit wie Naturgesetze geltend eben Gesetzescharakter haben; denn alle ver-
nünftigen Lebewesen partizipieren an dieser praktischen Vernunft. Sie ist in
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diesem Sinn allen gemeinsam. Diese Autonomie nennt Kant auch Freiheit
des Willens: „was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“
(Kant 1968 [1785], 446f ).15 In angewandt ethischen Fragen führt dies Kant
zu einerseits sehr radikalen Positionen, man denke nur an sein ausnahmslo-
ses Verbot jeder Lüge, andererseits erweist er sich in politischen Fragen als
Vordenker bis heute, wie beispielsweise im Falle seiner Idee eines Völker-
bunds, der ewigen Frieden verbürgt.

2.2.2 Habermas (*1929)

Beeinflusst von Kants formaler Ethik, aber ohne dessen metaphysische Annah-
men eines transzendentalen Faktums der Vernunft, formuliert Jürgen Haber-
mas (z. B. 1983) seine Diskursethik. Systematischer Ausgangspunkt ist hierbei
die wechselseitige Anerkennung der am Gespräch – Habermas spricht von
„Diskurs“ – beteiligten Menschen. Dies ist die eigentliche Pflicht jedes Ge-
sprächsteilnehmers. Zwischen ihnen ist als Vernunftwesen eine grundsätzliche
Verständigung möglich. Dabei kommt ein klassisches Argument zum Tragen
(vgl. z. B. Habermas 1983): Wer diese wechselseitige Anerkennung als mündige
Subjekte bestreitet, begeht in diesem Akt des Bestreitens einen pragmatischen

15 Dieser Autonomiebegriff ist also nicht mit einem heutigen Autonomiebegriff zu


verwechseln, der Autonomie mit Selbstbestimmung des Einzelnen gleichsetzt.
42 Teil I Allgemeine Grundlegung

Selbstwiderspruch, weil er sein Gegenüber gerade in diesem Bestreiten für wür-


dig hält, dass mit diesem argumentiert wird. So ist jedes faktische Argumentie-
ren ein Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation zwischen mündigen Subjekten.
Dabei ist Habermas davon überzeugt, dass mündige und damit vernünftige
Subjekte in einem herrschaftsfreien Diskurs diejenigen Normen finden wer-
den, die alle Betroffenen einschließlich der damit verbundenen Folgen akzep-
tieren können. Freilich räumt auch er ein, dass Menschen faktisch getroffene
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Entscheidungen in Frage stellen. Auch greift er selbst in bioethischen Fragen


(vgl. Habermas 2002) auf Denkfiguren zurück, die nicht mehr einer idealen
Sprechsituation geschuldet sind, sondern eher bestimmte Intuitionen wieder-
geben. So unterscheidet er das „Gewordene“ von dem „Gemachten“ und argu-
mentiert praktisch auf diese Weise mit fast schon naturrechtlich zu nennenden
Kategorien (vgl. dazu ausführlicher 13.3).
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

2.2.3 Die Grenzen dieser Positionen

Kants formale Pflichtethik gibt zwar mit Hilfe des kategorischen Imperativs
eine Art Test für moralisches Verhalten an. Jedoch lässt sich fragen, ob der
transzendentalphilosophische Ansatz Kants, der seiner gesamten Ethik zu-
grunde liegt, weil er damit sein Verständnis von Freiheit und praktischer
Vernunft begründet, nicht bestreitbar ist. Zudem scheint seine Ethik in kon-
kreten Konflikten Lösungen vorzuschlagen, die von den meisten abgelehnt
werden. Man denke nur an sein berühmtes Diktum: „Wahrhaftigkeit in
Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen
gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer
Nachteil erwachsen; und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise
zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich
doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinn
des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der
Pflicht überhaupt Unrecht: d. i. ich mache, so viel an mir ist, dass Aussagen
(Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte,
die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen;
welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“ (Kant
1968 [1797a]). Kant folgert nämlich selbst daraus, dass man sogar einem
Amokläufer wahrheitsgemäß antworten müsse, wenn dieser fragt, ob man
eine bestimmte Person in seinem Haus als Gast habe, selbst auf die Gefahr
hin, dass der Amokläufer die Person dann töten würde. Im Dritten Reich
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 43

hätte dies bedeutet: Man müsste der Gestapo wahrheitsgemäß antworten,


wenn man einen Juden bei sich versteckt hielte.
Aber nicht nur Kants formale Pflichtethik, sondern auch die habermas-
sche Position, die ohne transzendentalphilosophischen Bezug auskommt, ist
der Kritik ausgesetzt. Gegen Habermas wird eingewandt, er überschätze die
Vernünftigkeit des Menschen und vertrete dabei einen ethischen Optimis-
mus wie er bereits für Platon und die griechische, aber ebenso für die neu-
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zeitliche Aufklärung typisch ist. Selbst in einem herrschaftsfreien Diskurs


aller Beteiligten kann es jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass alle ge-
meinsam Entscheidungen fällen, die nicht langfristig lebensdienlich sind.
Denn Inhalte sind dieser Ethik nicht vorgegeben und Menschen sind ver-
führbar. In gewisser Weise ähnelt die Position von Habermas hier der Posi-
tion Deweys.
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

2.3 Konsequenzialistische Ethiken am Beispiel


utilitaristischer Theorien
Als Gegenentwurf zu dieser ethischen Vernunftphilosophie setzen utilitaris-
tische Ethiken (lateinisch: utilis = nützlich) bei den Handlungsfolgen an. Uti-
litaristische Ethiken sind also konsequenzialistisch (lateinisch: consequi = fol-
gen), da die Konsequenzen der Handlungen im Zentrum der Überlegungen
stehen und gehören damit in Max Webers Terminologie zum Typus der
Verantwortungsethiken.

2.3.1 Typen des Aktutilitarismus

Wenn die Folgen jeder einzelnen Handlung zentral sind, spricht man dabei
vom Aktutilitarismus (lateinisch: actus = Handlung). Der Maßstab für die
gewünschten Handlungsfolgen jeder Handlung ist dabei in Benthams
(1748–1832) klassischem Diktum die Maximierung des größtmöglichen
Glücks der größtmöglichen Zahl (vgl. Bentham 1968ff [1789], 199), wobei
er dabei ausdrücklich auch Tiere einschloss. Henry Sidgwick erläuterte, wel-
ches Gewicht der Einzelne und sein Streben nach Glück dabei haben: Jeder
zähle als einer und niemandes Glück sei vom Gesichtspunkt des Universums
höher zu bewerten als das eines anderen. John Stuart Mill (1806–1873) hat
diesen Utilitarismus modifiziert, sodass er den Begriff des Glücks und der
44 Teil I Allgemeine Grundlegung

Lust neu bestimmte. In der grundlegenden Abwägung der zu maximieren-


den Lust sind einige Formen von Lustempfinden höher zu gewichten als
andere. Heutige aktutilitaristische Ansätze wie beispielsweise der Präferen-
zenutilitarismus Peter Singers (1994) haben diese Position verfeinert und
fordern die Maximierung der Realisierung von Präferenzen (lateinisch: prae­
ferre = vorziehen) von dazu fähigen Lebewesen. Diese Präferenzen sind
ebenfalls qualitativ zu gewichten.
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Der Präferenzenutilitarismus baut eine Brücke zu einer weiteren utilita-


ristischen Ausprägung, dem Bilanzutilitarismus, denn viele Lebewesen wol-
len nicht nur ihr Glück bzw. ihre Lust maximieren, sondern haben auch ein
wesentliches Interesse daran, nicht zu leiden. Es geht dann um die Glücks-
maximierung und Leidminimierung der größtmöglichen Zahl bzw. um die
bestmögliche Gesamtbilanz.16
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Der Utilitarismus ist damit eine extrem uneigennützige Position. Jeder


Einzelne zählt eben nur als einer unter Milliarden Menschen, und wenn
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

noch weitere Lebewesen Präferenzen zeigen können, als einer unter einer
gewaltigen Zahl von Lebewesen, die ebenfalls Präferenzen haben.

2.3.2 Die Grenzen des Aktutilitarismus und die umstrittene


Alternative eines Regelutilitarismus

Der Utilitarismus hat mit mehreren grundsätzlichen Anfragen zu kämpfen.


So stellt seine extreme Uneigennützigkeit für die meisten Menschen eine
Überforderung dar. Theoretisch wäre sogar denkbar, dass sich ein gesunder
Mensch töten lassen sollte, damit durch seine Organe sieben andere Men-
schen leben können, die ein Organ benötigen. Aber abgesehen davon würde
der Utilitarismus verlangen, dass jeder Einzelne in jedem Akt, den er voll-
zieht, überlegt, ob er nicht einen anderen nutzenbringenderen, die Glücks-
summe noch mehr steigernden Akt ausführen sollte. Wer also beispielsweise
ein Buch kauft, müsste sich fragen, ob dieses Geld im Kongo nicht besser
aufgehoben wäre.

16 Der negative Utilitarismus in Reinform, dem es ausschließlich darum geht, Leid zu


minimieren, stellt eine lebensverachtende Position dar. Der Grund hierfür ist ein-
fach: Es gibt dann kein Leid mehr, wenn es keine leidensfähigen Lebewesen mehr
gibt. Radikal gedacht: Wenn es möglich wäre, die Welt so rasch zu vernichten, dass
wir alle leidlos sterben würden, und wenn wir das zuvor nicht wüssten, dann wäre
dies nach einem so verstandenen Utilitarismus ein moralischer Imperativ.
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 45

Dazu kommt, dass der Aktutilitarist auch lügen und betrügen, sogar tö-
ten dürfte, wenn solche Handlungen das Glück der größtmöglichen Zahl
steigern würden. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, hat sich
eine andere Spielart des Utilitarismus entwickelt, der Regelutilitarismus in
seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Gemeinsam ist den Regelutilita-
rismen zu verlangen, die nutzbringendsten Regeln aufzustellen, die freilich
in der Anwendung im Einzelfall subutilitär sein könnten, dennoch aber
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eingehalten werden müssten. Manche Regelutilitaristen verteidigen auf


diese Weise auch die Menschenrechte, weil diese als nutzbringendste Re-
geln angesehen werden. Es ließe sich jedoch denken, dass sie wieder abzu-
schaffen wären, wenn sich andere Regeln als nutzbringender herausstellen
könnten. Überhaupt lässt sich gegen den Regelutilitarismus geltend ma-
chen, dass er gerade ein wesentliches utilitaristisches Prinzip opfert, wenn
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er Regeln zu wahren verlangt, die in einer konkreten Situation nicht das


Glück der größtmöglichen Zahl befördern. Hier trifft auf den Regelutilita-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

rismus die Kritik zu, die oben bereits gegen Kants ausnahmsloses Wahr-
heitsgebot zum Tragen kam.
Ebenfalls nicht geklärt ist, wie die einzelnen Interessen konkret gegen-
einander abzuwägen sind und wer überhaupt als Interessensträger zählt: nur
Menschen oder auch höhere Säugetiere oder sogar Bakterien, die auch leben
„wollen“.
Dagegen ist eine Kritik vollständig verfehlt, die dem Utilitarismus unter-
stellt, er würde zu einer Maximierung des Eigennutzens aufrufen. Das ge-
rade tut er nicht. Er vertritt zwar keinen absolute Uneigennützigkeit, aber er
relativiert den Eigennutzen des Einzelnen in einer Weise wie kaum ein an-
derer ethischer Ansatz.����������������������������������������������������
Damit ist der Utilitarismus streng von einem ökono-
mischen Ansatz zu unterscheiden, der vom Menschen als rationalem Opti-
mierer des Eigeninteresses, dem sogenannten homo oeconomicus, ausgeht.
Die Maximierung nach objektiven Kriterien der Gesamtsumme der größt-
möglichen Zahl (klassischer Utilitarismus) ist etwas völlig anderes als die
Maximierung des Eigennutzens durch einen rationalen Agenten gemäß sei-
nen eigenen Präferenzen. Im ersten Fall handelt es sich um einen ethischen
Ansatz, im Fall des homo oeconomicus geht es um eine methodische Abs-
traktion moderner Ökonomik zur Analyse bestimmter Konstellationen.
46 Teil I Allgemeine Grundlegung

2.4 Vertragstheorien

Am ehesten wären noch Vertragstheorien in die Nähe einer Position zu


bringen, die den eigenen Nutzen zu maximieren beabsichtigt. Allerdings ist
der Ausgangspunkt dieser Klasse ethischer Theorien ein anderer, wie sich
exemplarisch an den Positionen von Hobbes und Rawls zeigen lässt.
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2.4.1 Hobbes (1588–1679)

Die Religionskriege hatten das Vertrauen in die Fähigkeit der Religion,


Frieden und Wohlstand zu bringen, zerstört. Alle Religionsparteien vertei-
digten ihre Handlungen damit, Gottes Willen zu tun. Thomas Hobbes
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(1588–1679) entwarf darum eine Ethik ohne eine transzendente Begrün-


dung. Stattdessen entwickelte er eine Vertragstheorie, die insbesondere die
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Selbsterhaltung der einzelnen Subjekte sichert. Sein Ausgangspunkt ist


hierbei die Überzeugung, dass im Naturzustand jeder Mensch ein Recht
auf alles hat (vgl. Hobbes 1996 [1651], 91). Das führt aber notwendiger-
weise zu einem Krieg aller gegen alle, da die Menschen oft dieselbe Sache
begehren. Allerdings hat jeder Mensch in seinem Gewissen die Verpflich-
tung, den Frieden zu suchen, weil dem Menschen von der Vernunft her
verboten ist zu tun, was sein Leben zerstören könnte (vgl. ebd., 91). Nur
durch eine wechselseitige Aufgabe von Rechten kann aber das grundle-
gende Recht auf Leben gesichert werden. Dies geschieht in einem Vertrag.
Damit verbürgt nicht mehr die Idee des Guten, sondern ein Vertrag zwi-
schen den Rechtssubjekten das Wohlergehen der Menschen. Es ist zu-
gleich abzusichern, dass dieser Vertrag eingehalten wird. Bei Hobbes ge-
schieht dies durch die Abtretung der Rechte an den Souverän, der nur die
Pflicht hat, das Lebensrecht der ihre sonstigen Rechte Abtretenden zu ge-
währleisten. Der Souverän hat sogar das Recht, die Religion seiner Unter-
tanen zu bestimmen, wenn dies dazu dient, ihnen ein gutes Leben zu er-
möglichen.
Die Begründung, die konkrete Ausgestaltung und die Durchsetzbarkeit
eines derartigen Vertrags sind bis heute wesentliche Fragen vertragstheore-
tischer Ansätze dieses Typs, in der Fachliteratur „contractarianism“ ge-
nannt.
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 47

2.4.2 Rawls (1921–2002)

Andere dagegen begründen den Vertrag auf einem moralischen Ideal von
Gerechtigkeit als Fairness. Dieser Typ wird als „contractualism“ bezeichnet.
Das bekannteste Hauptwerk hierzu ist „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von
John Rawls (1999 [1971]). Er konstruiert eine fiktive urzuständliche Ver-
tragssituation, in der alle Betroffenen einem Vertrag zustimmen können, der
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bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien enthält. Die grundlegende Idee lautet:


Wir Menschen würden bereits aus Eigeninteresse, wenn wir nicht wüssten,
welchen Platz wir später in der Gesellschaft einnehmen, für eine demokra-
tische Gesellschaft optieren. Die Freiheit wäre ein zentraler Wert dieser Ge-
sellschaft. Mit ihr verbunden wäre aber die Gerechtigkeit als Fairness in dem
Sinn, dass gesellschaftliche Änderungen immer die am Gemeinnutzen ab-
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gewogene, größtmögliche Begünstigung der am schlechtesten Gestellten in


dieser Gesellschaft im Blick haben. Die grundlegende Struktur des rawls­
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schen Arguments besteht dabei wie bei allen Vertragstheorien aus drei
Schritten:

Aus den ersten beiden Schritten,


1.  dem Urzustand (original position) und
2.  der rationalen Konsensfindung,
folgen
3.  institutionelle Arrangements/Gerechtigkeitsgrundsätze.

In der Tradition der von neuzeitlichen Naturrechtslehren eingeführten


Trennung des Rechten und des Guten ordnet Rawls mit dieser Konzeption
das Recht und die Gerechtigkeit ausdrücklich dem Guten und Nützlichen
vor.

2.4.3 Grenzen der Vertragstheorien

Allerdings lassen sich auch Vertragstheorien in mehrfacher Hinsicht in


Frage stellen. Grundsätzlich sind Verträge wechselseitig. Was geschieht
dann mit Menschen, die keine Verträge schließen oder halten können, z. B.
Komatöse? Wie können diese in einem hobbesschen Modell geschützt wer-
den? Aber selbst, wenn man mit Rawls dies sozusagen über den fiktiven
Urzustand vorwegnimmt, also der Einzelne im Urzustand nicht weiß, ob er
48 Teil I Allgemeine Grundlegung

nicht selbst komatös wird und darum auch am Schutz Komatöser ein Inter-
esse hat, wird diese Konstruktion grundsätzlich in Frage gestellt: Die realen
Menschen im Hier und Heute werden die rawlssche Option für die am
schlechtesten Gestellten nicht teilen müssen. Warum sollten sie sich in eine
fiktive Urzustandssituation hineindenken, die von allen realen Fähigkeiten
und Umständen abstrahiert? Warum sollten sie also bereit sein, Umvertei-
lungen zu akzeptieren, wenn sie dafür Einbußen hinnehmen müssen – also
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diese Umverteilungen nicht mehr zu ihrem Vorteil sind, z. B. weil sie bereits
selbst für den Fall vorgesorgt haben, dass sie komatös werden?
Rawls erreicht nämlich sein spezifisches Ergebnis, Gerechtigkeit als Fair-
ness, erreicht, weil er den Urzustand durch den Schleier des Nichtwissens
und die Annahme der grundsätzlichen Gleichheit in besonderer Weise spe-
zifiziert hat. Rawls hat bereits in den Urzustand diese grundsätzliche Gleich-
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heit durch Abstraktion von allen Unterschieden und reine Reduktion des
Menschen auf ein eigeninteressiertes Subjekt mit Risikoaversion hineinge-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

legt, was er als Resultat, als Gesellschaftsvertrag herausbekommt.

2.5 Übersicht

Die genannten ethischen Ansätze bestimmen bis heute in unterschiedlicher


Weise ethische Aussagen in den Bereichen der Angewandten Ethik. Auf-
grund ihrer Stärken und Schwächen gibt es bis heute nicht die eine ethische
Position, die allgemein geteilt wird.
Die Vielzahl ethischer Konzeptionen weist zudem auf die Schwierigkeit hin,
genauer zu verstehen, worauf eine normative „Angewandte Ethik“ abzielt.
Denn es ist klar, dass eine utilitaristische Angewandte Ethik in vielen Ein-
zelfragen andere Handlungsanweisungen geben wird als eine Angewandte
Ethik, die vom Ansatz Kants beeinflusst ist. Außerdem kommt hinzu, dass
auch umstritten ist, was „angewandt“ eigentlich bedeutet: Ist von einer Kon-
zeption Angewandter Ethik auszugehen, wonach ethische Kriterien, Nor-
men und Prinzipien auf bestimmte Kontexte „von oben“ anzuwenden sind?
Oder bilden sich „von unten“, d. h. aus der Situation bereichsspezifische Kri-
terien? Oder sind Prinzipien und Situation je neu zu vermitteln? Warum
gibt es überhaupt die Rede von einer Anwendung der Ethik?

Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, sollen die bisher behandelten Posi-
tionen nochmals in einer Übersicht zusammengefasst werden:
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Abb. 5
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen

Gesamtübersicht zu wichtigen absolutistischen ethischen Theorien


49
50 Teil I Allgemeine Grundlegung

3 Typologie Angewandter Ethiken und das Verständnis


von „Anwendung“

Eine Ethik heißt „angewandte“, wenn sie konkret wird. „Angewandt“ und
somit konkret ist die Ethik dadurch, dass sie sich ganz bestimmten Hand-
lungsfeldern zuwendet und deren eigene Problemlagen aufgreift, dabei aber
auch Rücksicht auf deren jeweilige sachliche Zusammenhänge nimmt. Um
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nur einige Beispiele zu nennen: Wer heute über Fragen am Lebensanfang


des Menschen diskutiert, muss die neuesten Ergebnisse der Embryologie
berücksichtigen. Wer über indirekte Sterbehilfe spricht, muss die Fort-
schritte in der Palliativmedizin in Rechnung stellen. Fragen zum Risiko
der Kernenergie haben die Unterschiede verschiedener Reaktortechniken
zu berücksichtigen. Was sich effektiv über moralische Dilemmata in der
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Wirtschaft sagen lässt, muss zunächst Maß nehmen an den Zuständen in


diesem Teilbereich der Wirklichkeit. Erst wenn der Sachstand grundlegend
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

geklärt ist, können ethische Sollensforderungen angemessen formuliert wer-


den.

3.1 Das Top-down-Modell Angewandter Ethik


und seine Grenzen
Es stellen sich nicht wenige unter Angewandter Ethik eine Ethik vor, die
ethische Prinzipien sowie Regeln unter den genannten empirischen Rand-
bedingungen deduktiv (lateinisch: deducere = ableiten) zur Anwendung bringt.
Tom Beauchamp (2005, 7) nennt eine derartige Konzeption externalistisch
(die Prinzipien kommen sozusagen von außen) und spricht von einem „Top-
down-Modell“ (englisch für „von oben nach unten“), da hier die ethischen
Prinzipien sozusagen von oben nach unten, d. h. auf die konkrete Situation,
etwa in folgender Weise deduziert werden:

Prämissen (lateinisch: praemittere = voranschicken):


1. Jede Handlung der Beschreibung eines bestimmten Typs
ist verpflichtend.
2. Handlung b ist eine Handlung der Beschreibung
dieses bestimmten Typs.
Konklusion (lateinisch: concludere = erschließen, folgern):
3. Also ist Handlung b verpflichtend.
Typologie Angewandter Ethiken und das Verständnis von „Anwendung“ 51

Angenommen beispielsweise, jede Handlung, die als eine zumutbare Hilfe-


leistung beschrieben werden kann, ist verpflichtend und die Handlung, einer
Person zu helfen, die am Straßenrand zusammengebrochen ist, gehört zu
diesem Typ von Handlung (Handlung b in der gerade aufgestellten Prä-
misse), dann ist diese Handlung verpflichtend. Dieses einfache Modell ist
besonders auch im Rahmen von ethischen Technikfolgenabschätzungen von
großer Bedeutung. In der Technikfolgenabschätzung wird der Nutzenbegriff
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meist im Sinne von „Optimierung“ und damit relativ weit gefasst, um unter-
schiedliche gesellschaftliche Zielsetzungen miteinander vergleichbar zu ma-
chen. Die Anwendungsbedingungen werden beispielsweise mittels der Sze-
narientechnik erhoben und das Ergebnis für das, was zu tun ist, je nach
vorgestellter „Zukunft“ in der folgenden Weise deduziert:17
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Prämissen:
1. Jede Anwendung einer Technik vom Typ A,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

die insgesamt gesellschaftliche Zielsetzungen (gemäß


vorgestellter Zukunftsszenarien) optimiert, ist zulässig.
2. Die Anwendung b ist eine Anwendung einer Technik
der Beschreibung vom Typ A.
Konklusion:
3. Also ist die Anwendung b zulässig.

Doch diese einfache Vorstellung von Anwendung der Ethik berücksichtigt


nicht, dass manchmal erst im Nachhinein die Passung zwischen einer kon-
kreten Norm und dem zugrunde liegenden Normen- und Wertegerüst ge-
zeigt werden kann. Auch übersieht sie, dass Prinzipien oft erst über die Si-
tuation besser verstanden werden können. Eine rein deduktiv arbeitende
Angewandte Ethik und eine derartige Technikfolgenabschätzung übersehen
also, dass allgemeine Prinzipien für konkrete Situationen angepasst werden
müssen. Dies geht weit über die Anerkennung empirischer Rahmenbedin-
gungen hinaus, denn gerade im Hinblick auf normative Bewertungen gilt:
Vorherrschende Wertvorstellungen sind ebenso von Bedeutung wie gesell-
schaftliche Settings und geschichtliche Erfahrungen. Die medizinethischen
Diskussionen zum Lebensende in Deutschland beispielsweise zeigen, wie

17 Dabei geht es im Feld der Technikfolgenabschätzung nicht um die Frage der Ver-
pflichtung von Technik, sondern nur in der schwächeren Form um die Zulässig-
keit einer Technik.
52 Teil I Allgemeine Grundlegung

sehr die jüngere deutsche Vergangenheit eine Rolle spielt. Im Unterschied


zu den Diskussionen in vielen anderen Ländern wird sie aufgrund der Er-
mordung behinderter Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus, die als
Sterbehilfe getarnt war, anders geführt als in Ländern, die keine derartige
Geschichte erlebt haben. Doch nicht nur in der Medizinethik, sondern auch
in anderen Bereichen wird dies deutlich sichtbar. Die Debatte um die Kern-
energie wird bei uns vielfach vor dem Hintergrund der Katastrophe von
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Tschernobyl geführt, in Ländern Ostasiens dagegen gilt Kernenergie als


Zeichen des Fortschritts.

3.2 Das Bottom-up-Modell Angewandter Ethik


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und seine Grenzen


Aus den genannten Gründen vertreten andere Angewandte Ethiker ein ge-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nau gegensätzliches Modell zum „Top-down-Modell“: das „Bottom-up-


Modell“ (englisch für „von unten nach oben“). Gemäß diesen Modellen erge-
ben sich Regeln aus den konkreten Umständen eines Falls. Falllösungen
geschehen über den Vergleich mit ähnlichen, bereits gelösten Fallkonstella-
tionen. Man kann vereinfachend sagen: Die konkrete Praxis konstituiert
selbst die Normen. In bestimmten Modellen wird sogar das Umgekehrte zu
den deduktiven Zugängen angenommen: Regeln, die sich in konkreten Si-
tuationen unkontrovers als richtige auffinden lassen, werden verallgemeinert
in dem Sinn, dass man ihre Anwendung auf weitere Fälle ausweitet. „An-
wendung“ bekommt auf diese Weise eine andere Bedeutung: „Anwendung“
als eine Regel konstituierend ist eigentlich „Entdeckung“.
Ein wesentliches Problem dieses Modells und damit auch dieses Ver-
ständnisses von Anwendung besteht jedoch darin, dass die Ausweitung einer
Entdeckung von Regeln in dem einen Fall auf weitere Fälle selbst wieder
voraussetzt, dass es moralisch anerkannte Regeln geben muss, die die einzel-
nen Fälle miteinander verbinden. Diese Regeln können dann aber nicht
selbst ausschließlich Teil dieser Fälle sein. Je allgemeiner sie sind, desto mehr
nähern sie sich allgemeinen Regeln an, sodass sich das Bottom-up-Modell
unter der Hand in ein Top-down-Modell verwandelt. Wenn dies aber aus-
geschlossen wird und man bei ganz konkreten Regeln für Einzelfälle bleiben
möchte, bekommt man ein sprachliches Problem. Der Begriff der Regel
setzt eine Mehrzahl von Situationen voraus, sonst handelt es sich nicht um
eine Regel. So wie es keine Privatsprachen geben kann, kann es auch keine
Typologie Angewandter Ethiken und das Verständnis von „Anwendung“ 53

Regeln geben, die nur für einen Fall gelten. Es handelt sich dann schlicht um
keine Regeln mehr. Zudem stellen sich in diesen Fällen die Fragen: Wer hat
eigentlich recht? Warum sollte dieser Konfliktfall nicht auch ganz anders
interpretiert und gelöst werden können?
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3.3 Das holistische Modell Angewandter Ethik


als sachgemäße Alternative
Es scheinen die Alternativen „top-down“ und „bottom-up“ dem nicht ge-
recht zu werden, was eine Anwendung von Prinzipien und Regeln in der
Angewandten Ethik wirklich leisten sollte. Beide Alternativen übersehen,
was gerade die hermeneutische Tradition der letzten Jahrzehnte für den
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Umgang und die Auslegung von Rechtstexten herausgearbeitet hat: Die Er-
kenntnis eines Textes und die konkrete Anwendung, im Beispiel rechtlicher
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Regelungen auf einen konkreten Fall, sind ein einheitlicher und nicht zwei
getrennte Akte. Die Anwendung ist also nicht ein nachträglicher Teil, nach-
dem etwas verstanden wurde, sondern bestimmt dieses Verstehen von vorn-
herein mit. Dabei ist das hermeneutische Problem nur „ein Sonderfall der
Anwendung von etwas Allgemeinem auf eine konkrete und besondere Situ-
ation“ (Gadamer 1990, 317). So hat bereits Aristoteles die Überzeugung
vertreten, dass die Methode ihrem Gegenstand entsprechen muss. Im mora-
lischen Bereich ist deshalb nicht dieselbe Präzision der Anwendung von
Nöten wie beispielsweise in der Mathematik und in der Logik, bei denen aus
ersten Prinzipien alles Übrige deduzierbar ist (vgl. Aristoteles EN, 1094b11f ).
Die konkrete Situation und das jeweilige Vorverständnis des Handelnden
bestimmen in der Praxis die Anwendung der Regeln und Prinzipien. Wie
aber können diese konkrete Situation und das jeweilige Vorverständnis dann
mit den Prinzipien vermittelt werden?
Die philosophische Tradition thematisiert diese Frage ganz allgemein,
also noch nicht in einem spezifisch ethischen Kontext, im Rahmen von
Überlegungen zu „Klugheit“, „Urteilskraft“ oder auch „Theorie-Praxis-Ver-
hältnis“. So schreibt beispielsweise Kant (1968 [1793], 275): „Dass zwischen
Theorie und Praxis noch ein Mittelglied der Verknüpfung und des Übergan-
ges von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch so
vollständig sein, wie sie wolle, fällt in die Augen; denn zu dem Verstandes-
begriff, welcher die Regel enthält, muss ein Actus der Urteilskraft hinzu-
kommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel
54 Teil I Allgemeine Grundlegung

sei oder nicht; und da für die Urteilskraft nicht wiederum Regeln gegeben
werden können, wonach sie sich in der Subsumtion zu richten haben (weil
das ins Unendliche gehen würde), so kann es Theoretiker geben, die in ihrem
Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt“.
Ein Beispiel hierfür, das noch ohne jeden direkten ethischen Bezug ist,
stellt die medizinische Regel dar, sich vor einer Operation nach gewissen
Reglements zu desinfizieren. Wenn ein Arzt erstmals nach dieser Regel han-
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delt, so hat er sich meist an dem Vorbild anderer Ärzte orientiert. Faktisch
gilt: Wenn relativ viele Ärzte sich in einer bestimmten Weise desinfizieren,
so bilden sich von daher Standards, in die „Neulinge“ hineinwachsen. Diese
Standards ermöglichen, die Verletzung dieser Regel als eine solche zu verste-
hen und gegen Ärzte, die diese Standards verletzen, ein Disziplinarverfahren
einzuleiten. Dennoch gibt es natürlich Ausnahmen von der standardmäßi-
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gen Anwendung der Regel. Man stelle sich vor, dass ein Arzt zu einer Not-
operation gerufen wird, bei der keine Zeit zu verlieren ist. In diesem Fall
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

wird er die Regel der Desinfektion in situativ angemessener Weise interpre-


tieren. Er wird also das übliche Ritual drastisch verkürzen. Ist kein Mittel
zur Hand und die Beschaffung zeitlich nicht möglich, wird er die Regel
überhaupt nicht mehr anwenden, da grundlegendere Regeln, z. B. das Prin-
zip, menschliches Leben zu retten, gerade durch die Befolgung der Desin-
fektionsregel verletzt würden. In gewisser Weise kommt hier einerseits in
der Tat die Einsicht zum Tragen, dass im Bereich der Anwendung von Re-
geln gerade kein rein mechanisches Abarbeiten möglich ist.
Umso mehr gilt dies für rechtliche (und auch für ethische) Fragestellun-
gen. So weiß der gute Jurist, dass es Fälle gibt, für die das Recht – zumindest
in ihren Einzelvorschriften – nicht alles so voraussieht, dass sie immer
schlüssig unter vorgegebenen Normierungen zu subsumieren wären. Er weiß
auch, dass es Fälle gibt, in denen eine buchstabengetreue Auslegung von
Regeln – in diesem Fall von Gesetzen – größtes Unrecht bewirken kann.
Von daher erschließt sich der alte Gedanke: Das Verabsolutieren des Rechts
kann größtes Unrecht bewirken.18 Dabei wird angenommen, dass man in
konkreten Situationen entweder – beim Fehlen einer Regel – eine angemes-
sene Entscheidung im Sinne des gesetzlich Intendierten zu treffen vermag
oder, wenn die buchstabengetreue Anwendung einer Regel gerade den mit
dieser Regel intendierten Sinn in der konkreten Situation verletzten würde,

18 So zitiert bereits Cicero (1994, I: 33) den alten Grundsatz: „summum ius saepe
summa iniuria.“
Typologie Angewandter Ethiken und das Verständnis von „Anwendung“ 55

diese Regel außer Kraft setzen darf. Diese Fähigkeit wird in der politischen
und in der Rechtsphilosophie seit Platon unter dem Begriff der Tugend der
Epikie behandelt, also der Tugend, das Geziemende und Angemessene in
der konkreten Situation bei der Auslegung des Gesetzes zu treffen. Dasselbe
gilt analog in der Anwendung ethischer Normen.
Daraus ergibt sich: Die Engführungen sowohl von Top-down-Modellen
als auch von Bottom-up-Modellen sind zu vermeiden. Auch wenn die ein-
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zelnen Bereiche wie beispielsweise Medizin oder Wirtschaft eigene Krite-


rien haben, so ist doch davon auszugehen, dass es einen über alle Bereiche
hinausgehenden Rahmen geben muss, der freilich „kein unkorrigierbares
System von Regeln“ (Siep 2004, 23) darstellt. Dieser Rahmen muss dann für
die verschiedenen Bereiche der Ethik konkretisiert werden. Diese Konkreti-
sierung verfährt holistisch (griechisch: to holon = das Ganze, die Gesamtheit).
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Sie nimmt die Gesamtheit von Prinzipien und Situation in ihren vielfältigen
Bezügen in den Blick. Dabei ist sowohl das Verfahren holistisch, „weil der
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Fortgang kein deduktiver ist, sondern zwischen den früheren und späteren
Schritten der Argumentation eine Wechselbeziehung besteht“ (ebd., 24),
und zudem werden die Kriterien, Normen und Prinzipien teils in den Kon-
texten entwickelt und teils im Kontakt mit der Wirklichkeit überprüft. Die
normative Bewertung ist somit holistisch. Dies geschieht auf dreifache
Weise:

„(a) zunächst im Sinne der Abhängigkeit der einzelnen Normen vom


Gesamtzusammenhang der Werte und Normen, die sich wechselseitig
stützen müssen, wenngleich nicht im strengen Sinne der Systemphilo-
sophie.
(b) Ferner folgt aus der semantischen Analyse von ‚gut‘ ein evaluativer
Holismus: Die Güte des Ganzen ist nicht auf die Summe der Teile
zurückführbar.
(c) Da das menschliche Handeln zu dieser Güte beitragen soll, haben
Normen die diesem Ziel entsprechenden Handlungsweisen zum
Gegenstand“ (ebd., 26).

Dabei gilt: Jede Anwendung der Ethik auf einen besonderen Sektor mensch-
licher Handlungsmöglichkeiten muss sich sozusagen an den „Spielregeln“
orientieren, die in ihm gelten. Allgemein gesprochen: Spielregeln existieren
nicht in einem geschichtsleeren Raum, sondern sind immer in eine Tradition
eingebunden und aus konkreten Entstehungskontexten erwachsen, die sich
56 Teil I Allgemeine Grundlegung

teilweise über sehr lange Zeiträume bewährt haben. Umgekehrt können sich
die „Spielregeln“ durch ihre konkrete Anwendung mit der Zeit wandeln.
Sogar das gesamte moralische „Gebäude“ kann entscheidende Veränderun-
gen erfahren. Denn aufgrund seines Vorverständnisses legt der Handelnde
die Regeln aus und kann sie in der Interpretation im Lauf der Zeit vor dem
Hintergrund neuer Erfahrungen umdeuten, und eventuell besser verstehen.
Was damit gemeint ist, lässt sich gut am Beispiel der Anwendung des
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Prinzips der Menschenwürde verdeutlichen, das in einem spezifischen ge-


schichtlichen Kontext zur weltweiten Geltung gekommen und so als welt-
weiter Wert entstanden ist. Die neu entflammten Debatten um das Folter-
verbot, um die Frage, ob es gerechtfertigt sein kann, unschuldige Zivilisten
zu töten, um größeren Schaden zu verhindern (so beispielsweise in der even-
tuellen Zulässigkeit des Abschusses von Zivilmaschinen in der Hand von
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Terroristen) ebenso wie die weiter andauernden Debatten um die Zulässig-


keit der Todesstrafe zeigen, dass die Entdeckung eines bestimmten Sinnge-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

halts von Menschenwürde vor dem Hintergrund der Gewaltgeschichte noch


immer in konkreten Fallkonstellationen einzuholen ist. Man könnte von ei-
ner hermeneutischen Spirale sprechen. Prinzipien und Werte lassen sich erst
über teilweise lange Zeiträume in ihrer Bedeutung erfassen und müssen im-
mer wieder neu interpretiert werden.
Zugleich bedingen die neuen Möglichkeiten am Lebensanfang und Le-
bensende des Menschen sowie in der Transplantationsmedizin neue Fall-
konstellationen. Hier legt sich die Vermutung nahe, dass diese Kontexte eine
neue Entstehungsgeschichte für ein weiter gehendes Verständnis von Men-
schenwürde bedingen. Gerade die derzeitigen Debatten, ob das Prinzip der
Menschenwürde ausschließt oder gerade zulässt, dass sich jemand selbst tö-
tet oder auf sein Verlangen hin getötet werden darf oder dass jemand seine
eigenen Organe verkaufen darf (Streitfrage einer kommerzialisierten Or­
gan­lebendspende) sowie die offenen Debatten um die Anwendung des Prin-
zips in Konfliktfällen am Lebensanfang lassen erahnen, dass wir uns in einer
Phase befinden, in der wir in gewisser Weise dieses Prinzip neu verstehen
und anwenden lernen müssen.
Diese Typologie ist sehr vereinfacht, denn sie lässt die Frage unberück-
sichtigt, ob es überhaupt möglich ist, dieselben fundamentalen Normen für
die unterschiedlichen Bereichsethiken anzunehmen. Im anderen Fall müsste
man sozusagen in den Bottom-up-Modellen nochmals für die jeweiligen
Teilbereiche, beispielsweise für die Medizinethik wie auch für die Wirt-
schaftsethik, die gerade erörterte Frage erneut stellen: Sollen konkretere
Typologie Angewandter Ethiken und das Verständnis von „Anwendung“ 57

Normen aus den bereichsspezifischen Prinzipien deduziert werden (top-


down) oder werden auch in den Bereichen in den jeweiligen konkreten Si-
tuationen die jeweiligen Normen bottom-up entwickelt oder gilt auch hier
der holistische Ansatz.
Der hier vertretene holistische Ansatz geht grundsätzlich davon aus, dass
die einzelnen Bereiche wie Medizinethik und Wirtschaftsethik trotz teil-
weise bereichsspezifischer Normen doch darüber hinaus übergreifende Prin-
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zipien teilen, wie die systematische Grundlegung nachweisen wird. In die-


sem Ansatz vertrete ich sowohl den Wert der einzelnen Bereiche und der
konkreten Situationen als auch die Bedeutung allgemeiner Prinzipien.

3.4 Zusammenfassende vereinfachte Typologie


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Angewandter Ethik
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Abb. 6 Typologie Angewandter Ethik


58 Teil I Allgemeine Grundlegung

4 Anspruch und Aufgabe Angewandter Ethik

Anspruch und Aufgabe einer Angewandten Ethik sind also entscheidend


davon abhängig, welcher ethische Ansatz und welcher Typ der Anwendung
zum Tragen kommt. Nehmen wir das kantische Beispiel des Kaufmanns, der
einen Käufer nicht übervorteilt: Für Kant spielt es eine entscheidende Rolle,
ob der Kaufmann aus Pflicht oder nur pflichtgemäß handelt, für eine konse-
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quenzialistische Ethik dagegen ist das Motiv für die Handlung ohne Bedeu-
tung, solange nur die Konsequenzen der Handlung gut sind. Für eine Ver-
tragstheorie geht es dagegen darum, ob der (implizite) Vertrag eingehalten
wird, weswegen ebenfalls die kantische Unterscheidung in diesem Fall be-
langlos ist. Dagegen würden Naturrechtslehren in Kombination mit Tugend­
ethiken diese Unterscheidung berücksichtigen, denn beim Handeln aus
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Pflicht zeigt sich sozusagen eine der menschlichen Natur entsprechende


Handlung, die zugleich eine gute Gewohnheit weiter vertieft, während das
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

rein pflichtgemäße Handeln, z. B. nur aus Angst ansonsten Kunden zu ver-
lieren, weniger hoch geschätzt wird, ohne damit im kantischen Sinn völlig
amoralisch (nicht unmoralisch!) zu werden.
Doch damit sind noch keineswegs alle Schwierigkeiten benannt. Selbst
innerhalb eines bestimmten ethischen Ansatzes gibt es Dissense und somit
moralische Konflikte. Angenommen man vertritt eine rawlssche Vertragsthe-
orie, wie sieht es dann mit der Frage nach der Beihilfe zur Selbsttötung am
Lebensende aus? Darf diese geleistet werden? Oder auch: Wie ist der Kon-
fliktfall „Nutzung der Kernenergie zur friedlichen Energiegewinnung“ zu
lösen? Als ob diese Schwierigkeiten noch nicht genügen würden, gibt es
auch noch moralische Dilemmata: Diese können intrapersonal, aber auch
interpersonell sein. Selbst innerhalb eines ethischen Ansatzes egal welchen
Typs lässt sich beispielsweise kaum die Frage klären, wem von zwei Men-
schen das letzte freie Intensivbett zur Verfügung gestellt werden kann, wenn
diese zeitgleich eintreffen und ähnlich bedürftig sind. Hier kann oft nur
dezisionistisch (lateinisch: decisio = Entscheidung) vorgegangen werden: Die
Entscheidung, Person A das Bett zu geben, hat nicht mehr Gründe für sich
als die Entscheidung, Person B intensivmedizinisch zu behandeln. Es wer-
den also Entscheidungen getroffen, die auch genauso gut anders hätten aus-
fallen können. Ähnliches gilt, wenn zwei Boote mit je zwei vierköpfigen
Familien in Seenot sind, aber die Zeit nur reicht, um eine Familie zu retten.
Dabei soll zur Vereinfachung davon ausgegangen werden, dass es sich bei
dieser Familie nicht um eigene Verwandte oder um Personen handelt, für die
Anspruch und Aufgabe Angewandter Ethik 59

es eine klare persönliche Präferenz gibt. Selbst ein Utilitarist wird hier kaum
eine bessere Entscheidungsgrundlage finden können, als willkürlich zu ei-
nem der Boote zu fahren, um dessen Besatzung zu retten.
Jede Realisierung von Vorschlägen hat zudem Dimensionen, die sich un-
serer Erkenntnis entziehen. Mit jeder Entscheidung, etwas zu tun oder ge-
rade nicht zu tun, geschieht etwas, was nicht mehr umkehrbar, was nicht
reversibel ist. Die bisher offene Zukunft wird Vergangenheit und kann da-
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mit nicht mehr geändert werden. Sie kann nur noch verschieden interpre-
tiert werden. Damit aber verschärft sich gerade in der konkreten Entschei-
dung die Frage nach den sie bestimmenden Normen und Werten. Ein
ängstlicher Mensch wird anders entscheiden als ein mutiger, ein tollkühner
wiederum anders als ein ängstlicher und ein mutiger, um nur eine Andeu-
tung zu machen. Indem also ethische Überzeugungen praktisch werden,
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geschieht ein entscheidungshafter Übergang von einer bisher offenen Zu-


kunft in eine festgelegte Vergangenheit. Auf diese Weise entsteht eine Art
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Spirale zwischen den der Entscheidung vorausgehenden Bedingungen und


der durch die realisierte Entscheidung neu geschaffenen Wirklichkeit mit
ihren neuen vorausgehenden Bedingungen, die selbst wieder zum Ausgangs-
punkt neuer Entscheidungen werden. Dies gilt freilich nicht nur bei der
Anwendung ethischer Prinzipien und Regeln, sondern für praktische An-
wendungen allgemein.
Hierin zeigt sich auch der fundamentale Unterschied in der Entdeckung
von Regeln und Prinzipien, die beispielsweise in der Natur herrschen, und
dem Gebrauch von Regeln und Prinzipien in der praktischen Anwendung.
Im ersten Fall geht es darum, Zusammenhänge zu begreifen, die durch eine
wie auch immer zu verstehende Naturgesetzlichkeit geschehen, aber von uns
nicht beeinflusst werden können. Im anderen Fall geht es um das Gestalten
der Zukunft.
Obwohl der Mensch sozusagen die Zukunft antizipieren kann, ist er auf-
grund seiner Endlichkeit und Begrenztheit nicht imstande, alle Folgen einer
praktischen Anwendung, aber auch – was sehr wichtig ist – des Verzichts auf
eine Anwendung vorwegzunehmen. Die konkreten Folgen der Anwendung
genau wie der Nicht-Anwendung von Techniken sind dafür ein sehr gutes
Beispiel. Die durch die Anwendung von Antibiotika antizipierte Folge,
nämlich die Rettung vieler Menschenleben, geht einher mit der nicht inten-
dierten und kaum antizipierten Folge der dadurch rascher anwachsenden
Weltbevölkerung. Der lange Zeit im Mittelalter übliche Verzicht auf die
Anwendung, den menschlichen Leichnam zu sezieren, und zwar auf Grund
60 Teil I Allgemeine Grundlegung

religiöser Vorstellungen, hatte die nicht intendierte Folge, dass der Blind-
darm nicht entdeckt wurde und deshalb viele Menschen an Blinddarment-
zündungen verstarben. Oder ein aktuelleres Beispiel: Die konkrete Folge der
per Gesetz in manchen Ländern erzwungenen Beimischung von Biosprit
hat die nicht intendierte Folge, dass Menschen in bestimmten Ländern von
einer Hungersnot bedroht sind, weil die Lebensmittelpreise massiv steigen,
da statt Nahrungsmitteln vermehrt Nutzpflanzen zur Gewinnung von Bio­
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sprit angebaut werden.


Vor dem Hintergrund der Möglichkeit ethischer und moralischer Dis-
sense und moralischer Dilemmata verwundert es nicht, wenn die quer durch
unterschiedliche weltanschauliche Positionen vertretene Meinung derzeit
zu sein scheint: Fachvertreter Angewandter Ethik können nicht beanspru-
chen, moralische Expertisen zu liefern, die über eine größere Autorität
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verfügen als die Autorität, die jeder andere hat, der in diesen Fragen mit
Gründen argumentiert. Vielmehr helfen sie im Wesentlichen den Entschei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dungsträgern, sich über die Gründe ihrer Entscheidungen klarer zu wer-


den.19 Die unterschiedlichen Positionen Angewandter Ethiker zu medizin­
ethischen Fragen, zu Fragen im Bereich der (Gen)Technik und Kernenergie
scheinen dieser Meinung Recht zu geben. Wenn dies aber so ist, dann redu-
ziert sich die eigentliche Kompetenz der Angewandten Ethiker auf be-
stimmte Fertigkeiten im Umgang mit Argumenten. Diese wert- und regel-
neutralen Fertigkeiten sind dann freilich in unterschiedlicher Weise nutzbar,
weswegen ein Vergleich mit der antiken Sophistik nicht mehr abwegig ist.
Die Sophisten verkauften ihr Wissen im Umgang mit Argumenten für
Geld. Wer „anschaffte“, bestimmte damit, wofür oder wogegen zu argumen-
tieren war.
Einen möglichen, von ihm als „bescheiden“ gekennzeichneten Ausweg
aus dieser Nähe zum Sophismus zeigt Birnbacher (2006, 33f ). Nach seiner
Überzeugung kann und soll die Angewandte Ethik zwar keine verlässliche
oder letztgültige Orientierung im Sinn „ewiger Werte“ oder eines fest ste-
henden Kanons von Prinzipien und Regeln liefern, aber sie kann mögliche
Lösungen identifizieren und analysieren, sowie eigene Lösungsvorschläge
erarbeiten. Diese sollten sich gegenüber anderen Lösungen durch Klarheit
oder Explizitheit auszeichnen. Dennoch bleiben derartige Lösungen Ange-

19 Dies behaupten unabhängig voneinander beispielsweise derart unterschiedlich


positionierte Philosophen wie Almond (2005, 36f ), Birnbacher (2006, 32f ) und
Spaemann (2002, 36).
Anspruch und Aufgabe Angewandter Ethik 61

bote, die deshalb darauf angewiesen sind von der Mehrheit akzeptiert zu
werden, um in ihrer Anwendung gerechtfertigt zu werden. Entgegengesetzte
Positionen gehen davon aus, dass es absolute Werte oder Prinzipien und
Regeln gibt, die eine absolute Geltung beanspruchen und deshalb nicht
mehr durch ein Mehrheitsprinzip in ihrer Anwendung gerechtfertigt wer-
den müssen. Sie können sogar gegen Mehrheiten eingefordert werden.
Nach meiner Überzeugung hat die Angewandte Ethik einerseits die
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Aufgabe, wie Birnbacher es vorschlägt, Lösungsvorschläge für ethisch rele-


vante Konfliktfälle zu identifizieren und zu analysieren und zugleich be-
scheiden eigene Lösungen als angemessenere zu entwickeln und zu vertre-
ten. Andererseits aber gehe ich davon aus, dass es absolute Werte und
Prinzipien gibt, die auch gegen eine Mehrheit in ihrer Anwendung gerecht-
fertigt werden können, sogar müssen. Freilich werden aufgrund des holisti-
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schen Zugangs, den ich für den angemessenen halte, auch diese Werte und
Prinzipien in konkreten Situationen und somit durch die Anwendung im-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

mer besser verstanden werden. Absolutheit darf hier also nicht in dem Sinn
missverstanden werden, als gäbe es eine Art satzhaft mögliche vollständige
Fixierung der Bedeutung dieser Normen und Werte.
Wenn ich davon spreche, dass es absolute Normen und Werte gibt, die
auch gerechtfertigt sind, selbst wenn eine Mehrheit sie faktisch ablehnen
würde, heißt das freilich nicht, dass damit der Anspruch aufgegeben ist, dass
alle Menschen, also logischerweise auch die Mehrheit, sie annehmen sollte
und auch annehmen könnte. Im folgenden Teil II möchte ich genau diesen
ethisch-universalistischen Anspruch erheben und systematisch darlegen,
dass es Normen und Werte einer Angewandten Ethik gibt, die ein gemein-
sames Band quer zu unterschiedlichen Weltanschauungen bilden und von
allen Menschen angenommen werden sollten. Ebenfalls möchte ich auf­
weisen, dass diese fundamentalen Normen und Werte ein die einzelnen
Bereichsethiken übergreifendes Normen- und Wertegerüst darstellen und
somit in allen Bereichen zur Anwendung kommen, freilich in oftmals unter-
schiedlicher Weise und mit je von den Bereichen selbst vorgegebenen Anre-
gungen zum besseren Verständnis der Normen und Werte.

Vertiefung: Angewandte Ethik und ihr Verhältnis zur Politik-


und Rechtswissenschaft
Die Angewandte Ethik benötigt in der Anwendung Urteilskraft und Klugheit. Dies
hat sie mit der Politik- und der Rechtswissenschaft als auf das Praktische aus-
gerichtete Wissenschaften gemeinsam. Alle diese Wissenschaften beschäfti-
62 Teil I Allgemeine Grundlegung

gen sich mit dem oben besprochenen Theorie-Praxis-Verhältnis und enthalten


damit ein prudentielles (lateinisch: prudens = klug) und ein hermeneutisches
Element: Sie benötigen Klugheit bei der Anwendung: Diese setzt ein angemes-
senes Verstehen der Situation und der Passung der vertretenen Normen bzw.
Überzeugungen voraus. Nicht von ungefähr nennt man die Rechtswissenschaft
zusammen mit der Rechtsanwendung auch Jurisprudenz, und zumindest die
klassische Politikwissenschaft hat seit Platon und Aristoteles das normative Ziel,
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Prinzipien und Regeln für das Zusammen­leben der Menschen aufzustellen. Auch
wenn manche Politikwissenschaftler heute ausschließlich empirisch oder de-
skriptiv-hermeneutisch arbeiten, bleibt das normative Anliegen dieser Wissen-
schaft bis heute ein wichtiges Moment. Von daher kann man festhalten: Ange-
wandte Ethik, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft verbindet in ihrer
Arbeitsweise, einerseits analytisch sowie hermeneutisch-deskriptiv, andererseits
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normativ vorzugehen.
Sie verbindet zudem, dass ihre Gegenstandsbereiche im Unterschied zu den
Naturwissenschaften ideelle Gebilde sind: Verfassungen/Gesetze/diesbezüg­
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

liche Institutionen als Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft, politische


Beziehungen und die damit verbundenen Institutionen als Gegenstandsbereich
der Politikwissenschaft, Normen und Werte in bestimmten Bereichen als Aufga-
benfeld der Angewandten Ethik20.
Jedoch bestehen gerade in den ideellen „Gegenständen“ wesentliche Unter-
schiede. In der Rechtswissenschaft sind die Normen, Gesetze genannt, von da-
für legitimierten Organen, z. B. in Demokratien vom parlamentarischen Gesetz-
geber, gegeben worden. Sie sind damit nicht universal. So hat das Vereinigte
Königreich von Großbritannien und Nordirland ein anderes Embryonenschutzge-
setz als die Bundesrepublik Deutschland. Die Rechtswissenschaft, wie sie in
den jeweiligen Ländern betrieben wird, legt diese Gesetze aus und überprüft
beispielsweise ihre Einbettung in das gesamte rechtliche Normengefüge. Dage-
gen würde eine normative Angewandte Ethik, wenn sie nicht relativistisch ist,
eine verbrauchende Forschung mit menschlichen Embryonen gemäß den ange-
nommenen Prinzipien befürworten, ablehnen oder für ethisch nicht entscheidbar
halten. Im ersten Fall wäre dann das bundesdeutsche Gesetz unethisch, im
zweiten Fall das britische, im drittgenannten Fall wären beide Gesetze in ethi-
scher Hinsicht dezisionistisch, also Ergebnisse von Entscheidungen, die auch

20 Der Teil Angewandter Ethik, der die gesellschaftliche Dimension thematisiert


und sich auf institutionelle Gebilde bezieht, kann auch Sozialethik genannt wer-
den. Aber die Angewandte Ethik enthält auch einen individualethischen Teil, da
sie auch auf die persönliche Verantwortung des Einzelnen und seine individuell
zurechenbare Praxis reflektiert.
Anspruch und Aufgabe Angewandter Ethik 63

anders hätten ausfallen können, weil es letztlich keine hinreichende ethische Be-
gründung für die eine oder andere Gesetzgebung gibt, aber doch eine Gesetz-
gebung von Nöten ist.
Zudem gibt es juristische Normen, die in ihrer konkreten Gestalt ethisch
wertfrei sind, aber dennoch nötig und sinnvoll: Es ist egal, ob wir in unserem
Staat Rechts- oder Linksverkehr haben. Es muss nur geordnet sein, damit wir
eben wissen, auf welcher Straßenseite wir fahren sollen. Erst eine Verletzung
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dieser Regel kann wieder nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch relevant wer-
den. Wer nämlich in London rechts fährt, obwohl Linksverkehr vorgeschrieben
ist, gefährdet Gesundheit und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer.
Darüber hinaus gibt es einen Grundlagenstreit in der Rechtswissenschaft, ob
Gesetze ihre Rechtfertigung rein im Verfahren positivistisch erlangen oder eine
Rückbindung an vorrechtliche Normen benötigen, z. B. einen Rekurs auf das
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Naturrecht. Je nach Positionierung verändert sich damit auch das Verhältnis von
Angewandter Ethik zur Rechtswissenschaft.
Ein ähnlicher Grundlagenstreit findet in der Politikwissenschaft statt. Realis-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ten lehnen einen Rekurs auf ethische Fragestellungen zumindest für die zwi-
schenstaatliche Politik ab. Sie gehen davon aus, dass hier reines Macht­kalkül
vorherrscht und nehmen dies zum Ausgangspunkt. Partikularistische Politikwis-
senschaftler verneinen die Universalität von Normen und kommen damit auch zur
Verneinung universeller Menschenrechte. Demgegenüber argumentieren an uni-
versellen Menschenrechten orientierte Politikwissenschaftler für einen Bezug zu
ethischen Fragestellungen. Eine derartige normative Politikwissenschaft verbin-
det mit der Angewandten Ethik beispielsweise Fragen nach einer gerechten und
verantwortbaren gesellschaftlichen Ordnung sowie lebensdienlichen Institutio-
nen. Darum ist es in manchen Fällen sehr wichtig, konkrete Konfliktfälle interdis-
ziplinär anzugehen.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
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65

Teil II: Systematische Grundlegung

5 Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und


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Menschenrechte

Menschenwürde und Menschenrechte sind für viele Menschen erst auf-


grund der schrecklichen Menschheitserfahrung ihrer Verletzung als zentra-
ler Wert- und Normkomplex entstanden.
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5.1 Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

5.1.1 Das Prinzip der Menschenwürde als Antwort auf eine


grundlegende Menschheitserfahrung

Im Jahr 1945 wurde der Weltgemeinschaft das ganze Ausmaß der rassistisch
motivierten nationalsozialistischen Verbrechen gegen Menschen jüdischen
Glaubens und jüdischer Herkunft bewusst. Der millionenfache Mord am
jüdischen Volk war trotz seiner Singularität freilich nicht das einzige Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit, das das Gewissen der Menschen in der
Welt aufrüttelte. Wie unmenschlich die Nationalsozialisten auch mit Men-
schen slawischer Herkunft umgingen, verdeutlicht eine Aussage Himmlers
vom 4. Oktober 1943, die im Konzentrationslager Flossenbürg auf einer
Gedenktafel dokumentiert ist: „Wie es den Russen geht, wie es den Tsche-
chen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut
unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn
notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen
Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert
mich nur so weit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders
interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000
russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur
insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“
Die Grundlage dieser Grausamkeiten bildeten zwei nationalsozialisti-
sche Prinzipien:
66 Teil II Systematische Grundlegung

1. Du bist nichts, dein Volk ist alles.


2. Die arische Rasse ist besonders kostbar, andere Rassen sind
minderwertig oder sind gar zu vernichten.

Deshalb negierten die Charta der Vereinten Nationen 1945, die Menschen-
rechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 und das bundesdeutsche
Grundgesetz 1949 diese zwei vom Nationalsozialismus propagierten Prinzi-
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pien und setzten an ihre Stelle positiv das Prinzip der Menschenwürde; in
den Worten der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948):
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie
sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der
Geschwisterlichkeit begegnen.“
Gerade die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948)
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wendet sich darüber hinaus Artikel für Artikel gegen die grausamen Men-
schenrechtsverletzungen der Nationalsozialisten, denen mehr als 20 Millio-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nen Menschen zum Opfer fielen (vgl. Morsink 2001). Vor diesem Hinter-
grund lässt sich darum das Prinzip der Menschenwürde als Kontraposition
gegenüber den beiden nationalsozialistischen Prinzipien verstehen und in
folgender Weise entfalten:

1. Das Prinzip der Menschenwürde als Prinzip einer grundsätzlichen


Subjektstellung, d. h., der Einzelne darf nicht für das Volk oder
sonstige Ziele (z. B. Glücksmaximierung der größtmöglichen Zahl)
aufgeopfert werden.
2. Das Prinzip der Menschenwürde als Prinzip einer grundsätzlichen
Gleichheit aller Menschen, wonach jeder Mensch jedem Menschen,
egal welcher Rasse und Hautfarbe, welcher religiösen oder weltan-
schaulichen Überzeugung, egal ob Frau oder Mann, egal ob
leistungsfähig oder nicht, die Anerkennung als Gleichen schuldet.

5.1.2 Das Prinzip der Menschenwürde und seine Differenz


zu den Prinzipien von Marxismus und Utilitarismus

Das so verstandene Prinzip der Menschenwürde und der mit ihr verbunde-
nen Menschenrechte ist grundsätzlich auch von den Prinzipien eines soge-
nannten Humanismus marxscher Prägung zu unterscheiden. Im Unterschied
zum Nationalsozialismus und anderen faschistischen Theorien, die jedoch
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 67

wie der italienische Faschismus den nationalsozialistischen Rassismus nicht


teilte, hat der Marxismus und der in seiner Tradition stehende real existie-
rende Sozialismus zwar das Grundprinzip der Gleichheit aller Menschen
doktrinär nicht in Frage gestellt. Aber das erste Prinzip der prinzipiellen
Subjektstellung wurde analog zum nationalsozialistischen „Du bist nichts,
dein Volk ist alles“ durch das Prinzip „Du bist nichts, die Partei ist alles“
abgelöst. Deshalb konnte auch Erich Mielke, der ehemalige Minister für
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Staatssicherheit der DDR, formulieren: „Wir sind nicht davor gefeit, dass
wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüsste,
würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozess. Weil ich ein Huma-
nist bin. Deshalb habe ich solche Auffassung. […] Das ganze Geschwafel
von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen.
Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“21
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Eine Ethik, die vom Prinzip der Menschenwürde ausgeht, unterscheidet


sich damit auch grundsätzlich vom Utilitarismus. Dieser negiert das erste
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Abb. 7 Die Bedeutung von Menschenwürde

21 Abschrift der Tonbandaufzeichnung der erweiterten Kollegiumssitzung am 19.


Februar 1982, dokumentiert bei Joachim Walther: Erich Mielke – ein deutscher
Jäger. Audio CD, München 1997 (hier zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/
Menschlichkeit, eingesehen 05.11.08).
68 Teil II Systematische Grundlegung

Prinzip, da der Einzelne für das Glück der größtmöglichen Zahl geopfert
werden kann. Er relativiert aber auch das zweite Prinzip der grundsätzlichen
Gleichheit aller Menschen, insofern beispielsweise im Präferenzenutilita-
rismus nur gleiche Präferenzen als gleich gezählt werden. Darum zählt ein
Mensch mit schwerer geistiger Behinderung nicht mehr als Gleicher, weil er
nicht die gleichen Präferenzen ausbilden kann. Er ist weniger zu berücksich-
tigen als ein gesunder Hund (vgl. Singer 199422).
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Im vollständigen Gegensatz zum Nationalsozialismus sowie anderen fa-


schistischen Theorien und auch im Gegensatz zum real existierenden Sozia-
lismus und zum Utilitarismus implizieren die Menschenwürde und die mit
ihr verbundenen Menschenrechte, dass der einzelne Mensch nicht für ir-
gendein Ziel (z. B. Staatszwecke, Nutzenerwägungen, gesellschaftliche Ide-
ale) vollständig instrumentalisiert werden darf. Die klassische Formulierung
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für diesen Zusammenhang hat Kant (1968 [1785]) in seinem kategorischen


Imperativ, der bekannten Selbstzweckformel gegeben: „Handle so, dass du
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!“ Diese For-
mel ist freilich sehr deutungsoffen und kann gerade nicht in einfacher Weise
zur Entscheidungsfindung beitragen, denn es müssen in diesen ethisch legi-
time von ethisch illegitimen Instrumentalisierungen unterschieden werden
(vgl. Hoerster 2002, 18). Natürlich darf man jemandem die Frage nach dem
Weg zum Bahnhof stellen, auch wenn man diese Person eigentlich als „Na-
vigationsgerät“ instrumentalisiert. Doch man lässt der anderen Person ge-
rade die Freiheit, die Auskunft auch zu verweigern, und instrumentalisiert
sie darum eben nicht vollständig. Diese ethische Implikation aus der in der
Anerkennung der Menschenwürde verbürgten Anerkennung des prinzipiel-
len Subjektstatus jedes Menschen ist auch rechtlich normorientierend ge-
worden. Das Prinzip der Menschenwürde verbietet es nach Überzeugung
des bundesdeutschen Verfassungsgerichts, „den Menschen zum bloßen Ob-
jekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine

22 Peter Singer, dessen jüdische Großeltern von den Nationalsozialisten ermordet


wurden, wird manchmal völlig zu Unrecht aufgrund seines Präferenzutilitarismus
und damit verbundener medizinethischer Positionen in die Nähe der Nationalso-
zialisten gerückt. In Deutschland und der Schweiz wurde er am Reden gehindert.
Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, den wesentlichen Unterschied zwi-
schen einer nationalsozialistischen Einstellung und einer utilitaristischen Ethik zu
begreifen.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 69

Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt“ (BVerfGE 50, 166/175; 87, 209/


228).

5.1.3 Abgrenzungen zu anderen Würdekonzeptionen

Die so verstandene Menschenwürde ist damit zu unterscheiden von


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n einer gattungsbezogenen Würde. Die Würde des Menschen als


Gattungswesen ist eine Würde, „in jenem schwachen Sinn, in dem wir
auch dem menschlichen Leichnam ‚Würde‘ zusprechen“ (Birnbacher 2001,
400). Diese gattungsbezogene Würde wird nicht dadurch verletzt, dass
Rechte irgendeines existierenden Individuums missachtet werden. Genau
darum aber geht es bei der Bestimmung von Menschenwürde im Sinne
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von prinzipieller Gleichheit und prinzipiellem Subjektstatus.


n einer Würde im Sinne eines Anspruchs, nicht erniedrigt zu werden, da
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

diese Bestimmung zu wenig den Bedeutungsumfang umgreift. Außerdem


wird oft damit verbunden, dass nur Menschen erniedrigt werden können,
die eine bestimmte geistige Kompetenz haben.
n einer abgestuften Würde wie sie z. B. die Schweizer Verfassung Tieren
zuspricht. Es ist rein begrifflich nicht möglich, grundsätzliche Gleichheit
und grundsätzlichen Subjektstatus abzustufen. Wie sollte Gleichheit be-
hauptet werden, wenn man diese zugleich gradualisiert? Insofern kann
es auch keine unterschiedliche Qualität eines Würdeanspruchs geben.
Wenn es aber keine unterschiedliche Qualität eines Würdeanspruchs
geben kann, dann ist auch eine Abstufung des Menschenwürdeschutzes
nicht nachvollziehbar.

Darüber hinaus sind die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen
Grundrechte (auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Religionsfreiheit usw.)
nicht abhängig davon, welche Eigenschaften Menschen haben und wie sie
sich verhalten, sondern kommen den Menschen dadurch zu, dass sie Men-
schen sind. Die Menschenwürde als zentrales Prinzip jeder humanen Ge-
sellschaft in diesem Sinn ist darum nur durch den Tod verlierbar und somit
auch zu unterscheiden von
n einer sozialen und verliehenen Würde: Wir reden von Würdenträgern
(lateinisch: dignitates), beispielsweise der Würde des Bischofs, insofern die
ausgeübte soziale Rolle als würdevoll anerkannt wird, und leiten daraus
Ansprüche ab: Ansprüche an die Achtung der sozialen Rolle dieser Wür-
70 Teil II Systematische Grundlegung

denträger und ebenso Ansprüche an die Träger der sozialen Rolle,


sich gemäß der Rolle zu verhalten.
n einer expressiven Würde: Wir nennen das Verhalten eines Menschen
würdevoll, wenn das gezeigte Verhalten unter schwierigen Umständen
seiner sozialen Rolle entspricht und in diesem Sinn verdienstvoll ist.
n einer moralischen Würde: Wir nennen das Verhalten eines Menschen
würdevoll, wenn das gezeigte Verhalten den moralischen Standards
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unserer Gesellschaft entspricht und deshalb anerkennenswert ist.


n einer ästhetischen Würde: Wir bezeichnen z. B. Berge oder Kathedralen
aufgrund dessen, wie wir sie wahrnehmen als würdevoll in dem Sinn, dass
sie es verdienen, für wertvoll gehalten zu werden.
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5.1.4 Folgerungen für die Anwendung des Prinzips


der Menschenwürde
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Das Prinzip der Menschenwürde darf auch nicht mit weniger fundamenta-
len und handhabbaren Regeln vermischt werden. Diese Regeln können
nämlich in ihrer Geltung auch in bestimmten Kontexten aufgehoben wer-
den. Ihre größere Praxisnähe und Konkretheit kann diese Konsequenzen
haben. Nehmen wir wieder das Beispiel der Desinfektionsregel (vgl. 3.3):
So desinfiziert ein Arzt vor einer Operation nach einer Standardregel seine
Hände. Befindet er sich aber in einer Notsituation, wo sofort operiert wer-
den muss und keine Zeit bleibt, die übliche Desinfektionsregel zu befolgen,
so darf er diese Regel auch missachten. Das Prinzip der Menschenwürde
beansprucht dagegen universelle Gültigkeit. Es kann keine Situation geben,
die berechtigt, es außer Kraft zu setzen. Gerade aufgrund seines fundamen-
talen Charakters hat dieses Prinzip damit auch Leitbildcharakter und ist
insofern in seinem „Wie“ der Anwendung zu lernen. Es steht in besonderer
Weise in einem dynamischen Verhältnis zum Handelnden und zur Situa-
tion, nämlich in dem spezifischen Sinn eines Metaprinzips.
Was bedeutet das? Das Prinzip der Menschenwürde steht in einer Wech-
selwirkung mit den Entscheidungen der Akteure. Es wird einerseits in kon-
kreten Entscheidungen und Handlungen mit vollzogen und in diesem Sinn
gelernt. Andererseits lassen die konkreten Entscheidungen und Handlungen
erkennen, wie dieses Prinzip ausgelegt wird. In ihnen wird es interpretiert
und vermittelt sowie seine Bedeutung auf diese Weise gestaltet. Diese Ver-
mittlung und Gestaltung der Bedeutung ist dabei nicht als eine Aushöhlung
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 71

des Gehalts und der absoluten Geltung des Prinzips der Menschenwürde
misszuverstehen, sondern entspricht der hier vertretenen Grundüberzeu-
gung, dass gerade das Prinzip der Menschenwürde eine besondere Plastizität
beinhaltet. Es entfaltet sich die in ihm enthaltene Bedeutung, die vom Prin-
zip allein, abstrakt genommen, so nicht aussagbar ist.
Das Prinzip der Menschenwürde ist darum auch nicht mit einzelnen
Grundrechten gleichzusetzen. Menschenwürde ist nicht die einfache Summe
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der Grundrechte und der mit ihnen implizit gegebenen Pflichten, sondern
vielmehr deren Grund. Das lässt sich leicht daran zeigen, dass in praktisch
allen ethischen Ansätzen alle Grundrechte unter bestimmten Umständen
eingeschränkt oder sogar aufgehoben werden können, z. B. im Fall der Not-
wehr, weil es zu Rechts- und Pflichtenkollisionen kommen kann. Auch die
Rechtsprechung folgt diesem weitgehenden ethischen Konsens. So heißt es
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beispielsweise im Grundgesetz lapidar im Hinblick auf das Recht auf freie


Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf Leben: „In diese Rechte
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ (Art. 2 Abs. 2 GG).
Die unbedingte Menschenwürde dagegen ist keinen Bedingungen (z. B. be-
stimmten Einschränkungen durch Gesetze) unterworfen, weil sie als Grund
der Menschenrechte auf einer anderen Ebene verortet ist. Sie kann nicht
abgesprochen werden. Vielmehr kommt sie zu oder nicht.
Das Prinzip der Menschenwürde ist also im Unterschied zu Prinzipien
im Sinne der Menschenrechte ein Prinzip besonderen Typs. Es ist das Prin-
zip „hinter“ den Prinzipien, das Fundament des ethischen Prinzipienge­
bäudes. Klaus Dicke (2002, 115) spricht deshalb davon, dass Würde das
fundamentale Prinzip ist, in dessen Licht alle politischen und rechtlichen
Entscheidungen – und ich möchte ergänzen: alle ethischen Entscheidungen
– zu treffen sind.

5.2 Die Begründungsdimension „Menschheitserfahrung“

Die so verstandene Menschenwürde entspringt, wie gesagt, einer Mensch-


heitserfahrung: Menschen haben die grausamen Konsequenzen der Verlet-
zung der Anerkenntnis dieser Würde erfahren und auch von daher die Not-
wendigkeit gesehen, die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen
Menschenrechte und Werte zum Fundament einer neuen Weltgesellschaft
zu machen. Darum beginnt die Menschenrechtserklärung der Vereinten
Nationen (1948) in ihrer Präambel damit festzuhalten, dass nur die „Aner-
72 Teil II Systematische Grundlegung

kennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen


Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von
Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt ist“. Damit sind auch drei
Grundwerte benannt, die durch die Menschenwürde und die Menschen-
rechte gewahrt werden. Diese Werte differenzieren dabei aus, was für ein
gelingendes menschliches Leben zentral ist. Die Anerkenntnis von Men-
schenwürde und Menschenrechten und den damit verbundenen Werten von
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Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden haben ein fundamentales Ziel, nämlich


Bedingungen zu schaffen, damit menschliches Leben geschützt wird und
gelingen kann.
Es sind jedoch nicht nur diese Unheilserfahrungen, sondern auch Erfah-
rungen der Faszination für Menschenwürde und damit verbundener Werte
die Menschen dazu gebracht haben, diesem Normen- und Wertkomplex
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nicht nur ihre verbale Zustimmung zu geben, sondern diese in ihren Gesell-
schaften Realität werden zu lassen, im Fachbegriff, zu implementieren (eng-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

lisch: to implement = realisieren, in die Tat umsetzen). So üben die mit der
Menschenwürde verbundenen Werte des Lebens, der Freiheit, der Gerech-
tigkeit und des Friedens eine große Faszination gerade auch auf heutige Ge-
nerationen aus. Beispielsweise setzen sich Menschen, die nie Krieg am eige-
nen Leib erlebt haben, für Frieden in der Welt ein. Während noch in den
50er Jahren des 20. Jahrhunderts beispielsweise im katholischen Religions-
unterricht von Schülern mit Begeisterung gelesen wurde, wie der Gott Ab-
rahams, Isaaks und Jakobs die Ägypter ins Meer stürzt und vernichtet und
so sein Volk Israel rettet, fragen Schülerinnen und Schüler seit den 70er
Jahren: Wie kann Gott nur so grausam sein und so viele Ägypter einfach
töten?23 Heute sind vor allem Friedensstifter wie Mahatma Gandhi und
Martin Luther King leuchtende Vorbilder für viele Menschen.
Was aber heißt hierbei, die Werte von Menschenwürde und Menschen-
rechten mit damit verbundenen Werten wie Leben (das zugleich ein Gut
ist), Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden seien erfahren worden? Die Sprech-
weise zeigt an, dass diese Werte nicht konstruiert wurden. Sie sind keine
menschliche Konstruktion aufgrund von Aushandlungsprozessen, die nur
verbindlich sind, sofern man die Konstruktion für sinnvoll hält. Dagegen
lässt diese Sprechweise offen, ob dieses Zum-Bewusstsein-Kommen so­
zusagen einer Art (Wieder)Entdeckung dieser Werte entspricht, so wie es

23 Ich danke meinem Onkel, Pfarrer Karl Jahnke, der vier Jahrzehnte Religion an
Gymnasien unterrichtete, für dieses Beispiel.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 73

Naturrechtslehren nahelegen würden, oder ob sie als echte geschichtliche


Innovation entstanden sind. Gerade die Väter und Mütter der Menschen-
rechtserklärung der Vereinten Nationen haben hierzu keine Entscheidung
getroffen. Sie haben aber aufgrund der ausdrücklichen Intervention der chi-
nesischen Seite auf jeden Bezug zu Naturrechtslehren verzichtet. Versteht
man Menschenwürde und Menschenrechte und den in diesen geschützten
Werten von Leben, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden als echte historische
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Innovation, was für die Menschenrechte, aber wohl auch für die heutige Be-
deutung von Menschenwürde ebenso wenig zu bezweifeln ist, wie für unser
Verständnis von der Bedeutung von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, so
mutet die Behauptung, diese Menschenrechte seien entdeckt worden, sehr
gezwungen an. Treffender ist es, die Menschheitserfahrung der Bedeutung
von Menschenwürde und Menschenrechten als Entstehung dieses Norm-
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und Wertkomplexes zu verstehen. Sie werden so als Innovation kenntlich


gemacht. Dennoch können sie im Unterschied zur Konstruktion – darauf
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

weist der Begriff der Erfahrung hin – gleichzeitig ihren Evidenzcharakter


bewahren, den eine solche Innovation für die Beteiligten aufweist. Sie leuch-
ten sozusagen unmittelbar ein, wenn sie entstanden sind. Anders ausge-
drückt: Wir können uns nicht mehr vorstellen, ohne diese Prinzipien auszu-
kommen. Wir erkennen sie als absolut gültig, als unbedingt an, wohl wissend,
dass diese Anerkenntnis zugleich eine Innovation darstellt und es eine lange
Zeit gegeben hat, in denen diese Werte noch nicht „auf der Welt waren“.
Darum kann auch die Metapher der „Geburt“ (so bei Michel Foucault oder
Jean Bottéro, vgl. zum Gesamten Joas) angemessen sein, um auszudrücken,
wie ein historisch neu gesetzter Beginn Unbedingtheit annehmen kann.

Vertiefung: eine mögliche vertragstheoretische Rechtfertigung


Die Menschheitserfahrung der Bedeutung von Menschenwürde und Menschen-
rechte lässt sich auch vertragstheoretisch auf einer mittleren, also weltanschau-
lich voraussetzungsarmen Ebene, rational rechtfertigen. Diese Rechtfertigung
setzt damit weder theologische noch philosophische Systeme voraus.24

24 Diese Rechtfertigung (übernommen aus Knoepffler 2004, 44–47) dient einer


argumentativen Vertiefung des Bisherigen. Sie ist aber relativ anspruchsvoll und
kann bei einem ersten Studium des Buchs auch übersprungen werden. Ich ent-
wickle diese Rechtfertigung in Anlehnung an den Ansatz von Gewirth (1998),
der allerdings nicht auf die Menschenwürde abhebt, und Beyleveld/Brownsword
(2001), die auch ausdrücklich die Menschenwürde thematisieren. Eine ausführ­
74 Teil II Systematische Grundlegung

Ausgangspunkt ist vielmehr die Annahme, dass unterschiedliche moralische


Ansätze eine wichtige Übereinstimmung teilen. Bentham beispielsweise emp-
fiehlt, so zu handeln, dass die Glücksbilanz maximiert wird. Kierkegaard schlägt
vor, so zu handeln, dass wir Gottes Geboten Folge leisten. Nietzsche fordert
dazu auf, so zu handeln, dass es den Idealen des Übermenschen entspricht. Das
gemeinsame Band aller Ansätze ist die Befähigung, in einem gehaltvollen Sinn
zu handeln (vgl. Gewirth 1998, 94). Diese Befähigung, in einem gehaltvollen
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Sinn zu handeln, ist nicht an einen religiösen oder philosophischen Ethikansatz


gebunden, sondern geht allen diesen voraus. Was aber ist damit gemeint?
Handeln in diesem Sinn setzt zwei konstitutive Charakteristika voraus, Frei-
heit und Intentionalität. Freiheit ist dabei in dem obigen Sinn zu verstehen, dass
Handelnde für ihr Tun Verantwortung übernehmen können, weil sie selbst dieses
Tun bestimmen, d. h., dass sie bei Kenntnis der relevanten Umstände wählen
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können, was sie tun. Wählen zu können, was man tut, setzt also voraus, dass
man nicht vollständig Instrument des Willens anderer ist. Intentionalität besagt
damit, dass die Handelnden mit ihrem Handeln ein Ziel anstreben, das einerseits
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

zum Handeln stimuliert, andererseits aber auch dem Handelnden entspringt. Die
Intentionalität im gehaltvollen Sinn kann dabei mehrstufig sein. Handelnde kön-
nen das Ziel haben, ein bestimmtes Ziel nicht zu haben. Ein derartig gehaltvoller
Begriff von Intentionalität schließt aus, bereits dann von moralisch relevanten
Handlungen zu sprechen, wenn beispielsweise eine Grille zirpt. Vielmehr setzen
moralische Handlungen im Vollsinn des Wortes diese mehrstufige Fähigkeit zu
wählen voraus und zugleich damit auch die Fähigkeit zur Distanzierung von eige-
nen Wünschen.25
Wie lässt sich von diesem übergreifenden Ausgangspunkt her die gegensei-
tige Achtung von Menschenwürde begründen? Beginnen wir damit zu erläutern,
was es bedeutet, dass jemand handelt. Wenn ich handeln möchte, dann beab-
sichtige ich, etwas auf Grund eines Ziels zu tun, das ich freiwillig gewählt habe.
Es lässt sich also der Satz aufstellen:

1 Ich beabsichtige (= Intention), X zu tun auf Grund eines Ziels Z,


das ich freiwillig gewählt habe.

liche Analyse und Verteidigung der gewirthschen Argumentation gegen mögliche


Einwände findet sich bei Beyleveld (1991).
25 Dies ist beispielsweise der Grundgedanke jeder Fastenübung. Auch wenn ich ei-
gentlich den Wunsch habe, etwas zu essen, nehme ich bewusst Stellung zu diesem
Wunsch und folge meinem übergeordneten Wunsch, auf das Essen zu verzichten.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 75

Da Z für mich etwas ist, das ich freiwillig gewählt habe, hat Z für mich einen
hinreichenden Wert, um mein Handeln zu bewirken. Als zweiter Satz ergibt sich
damit:
2 Z ist gut, wobei „gut“ hier nur bedeutet, dass ich Z genug Wert beimesse,
um es anzustreben.
Um aber überhaupt handeln zu können, müssen die notwendigen Bedingungen
des Handelns gegeben sein. Dies sind allgemeine, notwendige Bedingungen für
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Handeln im gehaltvollen Sinn, ganz grundsätzlich meine Subjektstellung und der


Anspruch, grundsätzlich gleich behandelt zu werden. Dieser Anspruch impliziert
nicht, dass ich in allen Fällen gleich behandelt werden muss, um handeln zu
können. Vielmehr geht es um die grundsätzliche Gleichstellung, die beispiels-
weise Sklaverei ausschließt, also dass nicht mehr ich handele, sondern der Herr
durch mich handelt. Darum lautet der dritte Satz:
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3 Es gibt allgemeine notwendige Bedingungen für Handlungen in einem


gehaltvollen Sinn.
Wenn ich also Z erreichen möchte, dann benötige ich diese allgemeinen not-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

wendigen Bedingungen für Handlungen in einem gehaltvollen Sinn. Es ergibt


sich also als vierter Satz:
4 Ich muss die allgemeinen, notwendigen Bedingungen haben, um Z
erreichen zu können, was auch immer Z sein würde.
Daraus ergibt sich folgerichtig, dass es in meinem Interesse ist, dass andere
Handelnde nicht gegen meinen Willen diese meine allgemeinen notwendigen
Bedingungen „verletzen“, also meine Subjektstellung verletzen oder meinen An-
spruch, grundsätzlich gleich behandelt zu werden. Vielmehr ist es mein Inter-
esse, dass sie sogar diese allgemeinen Bedingungen sichern helfen, wenn ich
dies möchte. Würde mein Interesse von den anderen nicht berücksichtigt, dann
würde man mir die allgemeinen notwendigen Bedingungen des Handelns ein-
schränken oder sogar entziehen. Das „Muss“ aus (4) als praktisch vorschreiben-
des Erfordernis impliziert damit zwar nicht logisch, aber pragmatisch die Aner-
kennung meiner Menschenwürde, die oben ja als Prinzip der Achtung meiner
Subjektstellung und Achtung der fundamentalen Gleichheit der Menschen ent-
faltet wurde. Damit lautet der fünfte Satz:
5 Ich habe als Handelnder pragmatisch Anspruch auf die Anerkennung
meiner Menschenwürde.
Bestreitet man diesen Satz, dann behauptet man, dass andere mir diese not-
wendigen Bedingungen entziehen dürften. Man würde mir absprechen, Han-
delnder in einem gehaltvollen Sinn sein zu dürfen. Dies hätte die irrationale Kon-
sequenz der pragmatischen Selbstwidersprüchlichkeit, denn dann hätte ein so
Handelnder zugleich zugestanden, dass auch ihm die notwendigen Bedingun-
76 Teil II Systematische Grundlegung

gen des Handelnkönnens in einem gehaltvollen Sinn entzogen werden könnten;


denn es gilt logisch: Wenn ein bestimmtes Prädikat P zu einem bestimmten
Subjekt S gehört, weil dieses Subjekt eine allgemeine Qualität Q besitzt, dann
muss dieses Prädikat zu jedem Subjekt gehören, das die Qualität Q besitzt. Von
daher ergibt sich rational aus dem auf uns als Menschen angewandten Begriff
des Handelns:
6 Alle Handelnden haben pragmatisch den Anspruch auf die Anerkennung
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ihrer Menschenwürde.
Daraus folgt:
7 Handle so, dass in deinem Handeln die Menschenwürde aller Handelnden
(dich eingeschlossen) anerkannt ist!
Diese rationale Begründung der Menschenwürde erklärt auch, warum die
nationalsozialistischen Prinzipien nicht nur als menschenverachtende Akte
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empfunden werden, sondern zudem pragmatisch irrational, weil selbstwider-


sprüchlich sind. Im Falle des Nicht-mehr-der-Stärkere-Seins führt die Anwen-
dung dieser Prinzipien dazu, dass die eigenen notwendigen Handlungsbe­
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dingungen nicht mehr durch den dann Stärkeren geachtet werden, sofern er
zumindest in bestimmten Fällen diese Prinzipien nun gegen die Unterlegenen
anwendet.
Eine vertragstheoretische Rechtfertigung von Menschenwürde und Men-
schenrechten lässt wichtige Fragen offen: Wie steht es mit denjenigen Men-
schen, die nicht selbst Verträge schließen können, weil sie noch nicht, nicht
mehr oder nie in den oben beschriebenen gehaltvollen Sinn handeln können?
Wie steht es um nicht-menschliche Lebewesen, die ebenfalls keine Vertrags-
partner sein können? Welche Rolle spielen diejenigen Menschen, die noch gar
nicht existieren?

5.3 Die Frage der Extension der Menschenwürde


und der Menschenrechte

Der weltweite Konsens zu Menschenwürde und Menschenrechten, wie ihn


internationale Erklärungen ausdrücken, gilt allen Menschen und kann als
Erfahrungskonsens quer zu unterschiedlichen Weltanschauungen und Reli-
gionen für die grundsätzliche Klärung der Frage der Extension von Men-
schenwürde und Menschenrechten verstanden werden: „Alle Menschen
sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Damit sind Menschen
unabhängig von aktuellen Eigenschaften, die sie zeigen, eingeschlossen. In-
direkt wird damit auch die Tötung von Menschen, die die Nationalsozialis-
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 77

ten als „unwertes Leben“ diffamierten, und alle damit vergleichbaren Hand-
lungen als Verbrechen gegen Menschenwürde und Menschenrechte
gebrandmarkt. Menschenwürde und Menschenrechte sind eben nicht von
spezifischen Eigenschaften wie Geschlecht, Rassenzugehörigkeit, aber auch
Leistungsfähigkeit und sonstigen Fähigkeiten abhängig. Jedem geborenen
Menschen kommt diese Würde zu. Sie ist sein genuines Recht. Dieser
Rechtsanspruch, der gerade an keine andere Eigenschaft als die des Mensch-
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seins auf dieser Welt geknüpft ist, entspringt der Erfahrung, was es bedeutet,
wenn dieses Recht von anderen Eigenschaften geborener Menschen als die-
ser abhängig gemacht wird: Menschen können dann aufgrund bestimmter
Eigenschaften aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen und ermordet
werden, wofür der Name „Auschwitz“ steht. Jede Inanspruchnahme der De-
finitionsgewalt darüber, wer zum Kreis der von ihm zu respektierenden
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menschlichen Wesen gehört, ist gleichbedeutend „mit der Ermächtigung


eines letztlich willkürlich zusammengesetzten Kreises seiner Bürger, das aus
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

diesem Kreis ausgeschlossene menschliche Leben daraufhin zu beurteilen,


ob und inwieweit seine Zulassung zu diesem ausgewählten Zirkeln den In-
teressen der bereits zu ihm Gehörigen dient oder nicht“ (Schweidler 2003,
25). Also gibt es „eine staatliche Verpflichtung zum ungeteilten Respekt vor
der Würde“ (ebd., 24).
Allerdings ist diese Hintergrunderfahrung auf geborene Menschen bezo-
gen. Die Menschenrechtserklärung lässt gerade die Frage offen, ob die Zuer-
kenntnis von Menschenwürde auch vor der Geburt von Bedeutung ist. Zu-
dem bleibt offen, wann ein Mensch als tot gilt und damit nicht mehr
prinzipiell Subjekt und prinzipiell gleich sein kann. Auch ist es nicht ihr
Thema, ob es auch andere Lebewesen geben könnte, denen eine der Men-
schenwürde äquivalente Würde zukommt.

5.3.1 Lebensanfang des Menschen

Der Lebensanfang des Menschen wird oftmals gerade mit Berufung auf den
biologischen Befund bestimmt. Dieser Befund ist jedoch deutungsoffen.

Biologische Grunddaten
Es läuft bereits vor der Befruchtung ein systematischer und strukturierter
kontinuierlicher Prozess ab, der je nachdem, ob eine Befruchtung stattfindet,
auf die eine oder andere Weise systematisch und strukturiert weitergeht.
78 Teil II Systematische Grundlegung

Dennoch gibt es eine zentrale Weichenstellung: Kommt es zur Befruchtung


oder nicht?
Auch der Befruchtungsprozess selbst läuft systematisch und strukturiert
ab. Es lassen sich dabei nur jeweils im Nachhinein neue Stufen feststellen.
Das Geschehen selbst vollzieht sich ohne Brüche. Wichtig ist hierbei, dass
erst ab dem etwa 4. Tag der Vereinigung des Erbguts von Ei- und Samen-
zelle eine gemeinsame Genexpression stattfindet. Dabei bleiben im Vier-,
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eventuell auch im Achtzellstadium alle Zellen wohl zumindest in der Weise


totipotent (lateinisch: totus = ganz, posse = können), dass sich jede einzelne
Zelle in jede beliebige Körper- oder Keimzelle, aber auch noch zu einem
ganzen Menschen ausdifferenzieren kann.
In der Embryologie wird die Phase, in der ein erster Kontakt zur mütter-
lichen Schleimhaut erfolgt, als Stadium 4 definiert. Die Blastozyste heftet
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sich etwa am fünften oder sechsten Tag nach dem Eisprung an der mütter-
lichen Uterusschleimhaut an. Dieses Stadium ist biologisch von großer Be-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

deutung, da nach herrschender entwicklungsbiologischer Meinung erst Po-


sitionseffekte der mütterlichen Schleimhaut die korrekte Ausrichtung des
Embryoblasts bewirken. Der menschliche Keim ist überhaupt erst lebensfä-
hig, wenn diese Strukturierung gelingt.
Nach der Einnistung bildet sich der Primitivstreifen aus. Damit geht das
Stadium, in dem noch eine Zwillingsbildung möglich ist, bis auf die Mög-
lichkeit zu Siamesischen Zwillingen zu Ende. Die Organogenese und die
Ausbildung des Nervensystems beginnen.

Abb. 8 Embryonalentwicklung [Quelle: Schöler 2005, 72]


Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 79

Nach zehn Wochen, was der zwölften Schwangerschaftswoche entspricht


(Schwangerschaftswochen werden nach der letzten Menstruation gezählt),
ist die Organogenese und Gesichtsprofilierung abgeschlossen. Der mensch-
liche Organismus wird ab dieser Zeit in der Medizin als „Fötus“ bezeich-
net.

Unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten
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Die unterschiedliche Deutung dieser biologischen Grunddaten erlaubt fol-


gende Hauptpositionen im Hinblick auf den Lebensanfang des Menschen
und damit im Hinblick auf die Zuerkenntnis von Menschenwürde.

Position Erläuterung
Position 1 Annahme, dass Menschenwürde dem Keim ab der Be-
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fruchtung (dabei gibt es weitere Differenzierungen des


genauen Zeitpunkts der Befruchtung) zukommt
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Position 2 Annahme, dass Menschenwürde dem Embryo ab der Aus-


bildung des Primitivstreifens zukommt
Position 3 Annahme, dass dem Embryo bzw. Fötus Menschenwürde
zu einem späteren Zeitpunkt, spätestens aber bis zur
Geburt zukommt

Tab. 1 Positionen zur Zuerkenntnis von Menschenwürde am Lebensanfang

Position 1
Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass im Vorkernstadium noch kein Mensch,
nicht einmal ein menschlicher Organismus vorhanden ist, sondern nur lokal
eng beieinander seiendes männliches und weibliches Erbgut. Also kann hier
rein begrifflich noch nicht vom Zukommen der Menschenwürde gespro-
chen werden, da wir es noch gar nicht mit einem Menschen zu tun haben
können.
Welche Gründe sprechen jedoch dafür, dass Menschenwürde dem
menschlichen Keim/Embryo (griechisch: embryo = Keim) ab der Vereinigung
des Erbguts der Vorkerne zukommt? Die wichtigsten Argumente hierfür
sind unter dem Begriff der SKIP-Argumente zusammengefasst. Es handelt
sich um das Spezies-, das Kontinuums-, das Identitäts- und das Potentiali-
tätsargument. Dazu kommen noch das Vorsichtsargument und ein emotio-
nales Argument.
Das Speziesargument bedient sich der Grundüberlegung, dass jeder von
Menschen gezeugte Organismus von Anfang seiner Existenz an ein Mensch
80 Teil II Systematische Grundlegung

ist, dem Menschenwürde zukommt. Das Kontinuumsargument unterstützt


diese Überlegung mit der Begründung, dass nach Abschluss der Vereinigung
des Erbguts der Vorkerne in der Entwicklung keine Zäsur in diesem bruch-
losen Geschehen vorfindbar sei. Das Identitätsargument betont, dass mit
Abschluss der Vereinigung des Erbguts der Vorkerne bereits die Identität
des neuen menschlichen Organismus festgelegt ist, entweder rein genetisch,
was auf jeden Fall biologisch korrekt ist, oder auch ontologisch, wenn davon
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ausgegangen wird, dass mit der Entstehung eines neuen Organismus auch
eine Beseelung stattgefunden hat. Letztgenannte Annahme setzt freilich ei-
nen Leib-Seele-Dualismus in platonisch-cartesianischer Tradition voraus.
Rein ontologisch in aristotelischer Tradition argumentiert das Potentiali-
tätsargument: Der menschliche Keim ist bereits ein neuer eigenständiger
Organismus und besitzt die aktive Potentialität (Entelechie), sich als Mensch
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zu entwickeln. Also sollte ihm deshalb bereits zu diesem frühen Zeitpunkt


Menschenwürde zuerkannt werden.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Befürworter der ersten Position können auch herausstellen, dass selbst


für den Fall, dass diese Argumente nicht vollständig überzeugen, es doch in
einer so wichtigen Frage, in der es um die Zuerkenntnis von Menschen-
würde geht, sinnvoll sei, Vorsicht walten zu lassen und darum der früheste
mögliche Zeitpunkt für die Zuerkenntnis von Menschenwürde anzuneh-
men. Zudem empfinden wohl die meisten von uns den Beginn ihrer Exis-
tenz im Zeugungsakt der Eltern. Dies gilt selbst für eineiige Zwillinge, de-
ren Existenz biologisch erst später beginnt: „Rückwärts gelesen werden auch
eineiige Zwillinge ihre Identität nicht erst in den getrennten Embryonen
nach dem 14. Tag wahrnehmen“ (Rosenberger 2006, 244).

Anfragen an Position 1
Dagegen lässt sich jedoch argumentieren: Wir wissen heute, dass aus emb-
ryonalen Stammzellen wieder Keimzellen, also Ei- und Samenzellen wer-
den können. Normale Körperzellen lassen sich durch den Transfer in ent-
kernte Eizellen wieder in einen embryonalen Zustand versetzen, wie eben
der Zellkerntransfer (das Klonen) beweist. Es lassen sich gerade am Lebens-
anfang eine Vielzahl von Prozessen steuern, sodass es eine Frage der Inter-
pretation ist, von welcher aktiven Potentialität man ausgehen möchte. Man
benötigt beispielsweise die aristotelische Zusatzannahme einer inneren En-
telechie des menschlichen Keims aufgrund einer bestimmten Naturvorstel-
lung, um ihm die aktive Potentialität des Menschseins zuzusprechen. An-
sonsten hat ein Embryo in der Petrischale keine derartige Potentialität,
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 81

sondern je nach Nährlösung eine völlig andere. Aber selbst unter dieser An-
nahme bleibt zu diskutieren, welche Bedeutung die epigenetische Struktu-
rierung durch Positionseffekte der mütterlichen Schleimhaut hat und wel-
che Rolle es spielt, dass es auch noch Zwillinge geben kann.
In dieser Phase, in der noch eine Zwillingsbildung möglich ist und we-
sentliche Strukturierungen noch nicht stattgefunden haben, scheint auch
das Identitätsargument so nicht dienlich zu sein. Zudem gibt es Entwick-
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lungen des menschlichen Keims, die menschlich, aber eben keine Menschen
sind, beispielsweise Gebilde, denen ein menschlicher Kopf fehlt. Deswegen
ist auch das strenge Speziesargument problematisch.
Das Kontinuumsargument trägt ebenfalls nicht viel aus, weil bereits der
Vorgang vor und während der Befruchtung kontinuierlich abläuft. Dann
wäre aber bereits jeder, der mit einem Kondom verhütet, Zerstörer eines
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kontinuierlichen Prozesses, an dessen Ende die Existenz eines Menschen


stehen kann. Man benötigt also wiederum das Potentialitätsargument, um
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

einen bestimmten Zeitpunkt auszuzeichnen, von dem an das eigentliche


Kontinuum beginnt.
Aber auch das Vorsichtsargument ist problematisch, da Vorsicht ihren
Preis hat und zu große Vorsicht ebenfalls schaden kann. Dies lässt sich gut
im Rückgriff auf ein verwandtes Problem illustrieren, das mehr als 1500
Jahre von großer Bedeutung war. Lange Zeit wurde die Position vertreten,
dass bereits der männliche Samen die menschliche Seele übertrage. Damit
verband sich die Vorstellung, dass der männliche Samen quasi einen Men-
schen im Kleinen (homunculus) beinhalte, da die menschliche Seele als das
Eigentliche des Menschen verstanden wurde. Begründet wurde diese Posi-
tion damit, dass analog zum Samen einer Pflanze auch der Samen des Man-
nes eigentlich die gesamte aktive Potenz in sich trüge, sodass unter idealen
Bedingungen daraus ein geborener Mensch werden könne.26 Darüber hinaus
wurde aber auch für diese Position argumentiert, dass man in einer so wich-
tigen Sache wie dem Umgang mit menschlichen Leben besonders vorsichtig
sein müsse und darum davon ausgehen sollte, dass es sich so verhalte. Darum
sei jede Vergeudung männlichen Samens als Tötung eines Menschen zu ver-
stehen. Das hatte weitreichende Konsequenzen, beispielsweise in der Be-
wertung bestimmter Formen der Empfängnisregelung. Nicht wenige Men-
schen sind daran zerbrochen, weil sie glaubten durch ihren Lebensstil am

26 Der griechische Begriff „Sperma“ bedeutet auch „Sprössling, Kind, Sohn, Ab-
kömmling“.
82 Teil II Systematische Grundlegung

Tod von Menschen schuldig zu sein. Obwohl erst durch das Auffinden der
weiblichen Eizelle die Homunculus-Theorie als sicher widerlegt gelten kann,
hatte dennoch beispielsweise bereits der wohl bedeutendste Philosoph und
Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin, diese Theorie abgelehnt. Er
hatte für seine Ablehnung nicht unsere medizinisch-naturwissenschaftli-
chen Erkenntnisse. Er hatte vielmehr aus philosophischen Gründen ernste
positive Zweifel an der Berechtigung dieser Position und ging darum davon
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aus, dass ein Mensch erst mit der Beseelung einer Geistseele vorhanden ist,
die jedenfalls erst dann stattfände, wenn der Embryo auch sinnlich mensch-
liche Gestalt annimmt. Für ihn war die homunculus-Theorie, wie wir heute
wissen zu Recht, übervorsichtig.
Aber auch ein emotionales Argument kann gegen diese Position geltend
gemacht werden (vgl. Merkel 2002, 151). Man stelle sich vor, es brennt in
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einer Klinik, die sowohl eine Neugeborenen- wie eine Fertilisationsabtei-


lung hat. Wen würde man retten, wenn man nur die Wahl hätte, entweder
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ein Baby oder einen Kühlschrank, in dem sich mehrere hundert befruchtete
Eizellen, also menschliche Keime befinden, aus dem Brand herauszutragen?
Auch hier sagt die Intuition, dass praktisch alle Menschen das Kind retten
würden.
Vor dem Hintergrund dieser Einwände gibt es darum auch andere Posi-
tionen, den Beginn des Menschseins im moralisch relevanten Sinn festzu-
machen.

Position 2
Vertreter dieser Position gehen davon aus, dass die Existenz eines individu-
ellen menschlichen Lebewesens erst gegeben ist, wenn die neuronale Ent-
wicklung beginnt. Es kann also frühestens ab dem Zeitpunkt der Ausbil-
dung des Primitivstreifens mit der Anlage der Neuralplatte davon gesprochen
werden, dass eine neuronale Tätigkeit und damit Vorformen des Gehirns
vorhanden sind. Wie nun am Lebensende mit der Feststellung des Ganz-
hirntods zumindest nach Überzeugung der Bundesärztekammer der Tod
des Menschen festgestellt wird, so könnte man in Analogie dazu sagen, dass
auch der Beginn des menschlichen Lebens erst gegeben ist, wenn sich der
Primitivstreifen ausgebildet hat und erste neuronale Tätigkeit nachgewiesen
werden kann. Erst ab diesem Zeitpunkt wäre es dann überhaupt begrifflich
sinnvoll, von einem Zukommen der Menschenwürde zu sprechen, da zuvor
noch gar kein Mensch, sondern nur ein menschlicher Organismus vorhan-
den ist. Dieser ist zwar als Organismus individuell, aber noch kein individu-
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 83

eller Mensch.27 Das heißt allerdings nicht, dass Lebensbeginn und Lebens-
ende dasselbe sind. Vielmehr gibt es eine ethisch relevante Asymmetrie. Am
Lebensanfang beginnt ein Prozess, am Lebensende dagegen hört er auf.
Deshalb muss auch dem frühen Embryo ein anderer Schutz zukommen als
dem Verstorbenen. Dieser Schutz des frühen Embryos vor der Nidation,
also vor seiner Individualisierung kann aber als für eine Güterabwägung of-
fen angesehen werden, da diesem Embryo keine Menschenwürde und damit
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keine prinzipielle Gleichheit und kein prinzipieller Subjektstatus zukom-


men.
Die Stärke der Annahme, dass Menschenwürde dem Embryo ab der
Ausbildung des Primitivstreifens und der Anlage der Neuralplatte zukommt,
lässt sich gerade vor dem Hintergrund des Rechtsarguments gut verstehen:
Ab diesem Zeitpunkt haben wir es definitiv mit einem einzigen, individuel-
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len entwicklungsfähigen Embryo zu tun.


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Anfragen an Position 2
Vertreter der ersten Position werden diese Festlegung nicht akzeptieren, da
für sie eben bereits durch die Vereinigung des Erbguts der Vorkerne ein
neuer, wenn auch in mehrere Menschen teilbarer, menschlicher Organismus
entstanden ist, der in vielen Fällen das Ziel der Geburt erreichen wird. Die-
ses entwicklungsfähige Genom und nicht der Beginn neuronaler Tätigkeit
begründe die Existenz eines Menschen, wenn freilich nicht notwendiger-
weise eines Menschen im numerischen Sinn.
Vertreter der nachfolgenden dritten Position halten es nicht für gerecht-
fertigt, bereits zu so einem frühen Zeitpunkt von einem Menschen im vollen
moralischen Sinn zu sprechen, da zwischen uns als geborenen Menschen

27 Zumindest in der katholischen Theologie, die den Papst als oberste Lehrautori-
tät anerkennt, ist dies eine notwendige Annahme, weil sie von der Beseelung des
Menschen ausgeht, die einem göttlichen Akt entspringt. In seiner Ansprache bei
der Privataudienz der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften hat Papst Bene-
dikt XVI. diese Lehre, dass jede Geistseele unmittelbar von Gott und nicht von
den Eltern geschaffen wird, erneut bestätigt (vgl. Osservatore Romano 2008/256,
1). Es ist aber in dieser Logik schwer vorstellbar, warum diese Beseelung bereits
stattfinden sollte, solange noch eine Zwillingsbildung möglich ist, es aber auch
noch möglich ist, dass Zwillinge wieder zu einem einzigen Menschen fusionie-
ren (vgl. dazu Knoepffler 1999b, 72f ). Der mittelalterliche Theologe Thomas von
Aquin, den die katholische Kirche bis heute als den Theologen empfiehlt, hält eine
Beseelung erst für möglich, wenn eine körperliche Grundlage vorhanden ist (vgl.
Thomas von Aquin, SG II, 2, cap. 89, 3 und dazu Knoepffler 2004, 63–65).
84 Teil II Systematische Grundlegung

und einem zwei Monate alten Embryo ein weitreichender moralischer Un-
terschied bestehe. Darum sei eine Zuerkenntnis von Menschenwürde und
Menschenrechten in diesem Stadium zu früh. Sie verweisen dabei auch auf
die lange geschichtliche Praxis der Abtreibung, die in vielen Kulturen gebil-
ligt, zumindest aber nicht in der gleichen Weise wie die Tötung eines gebo-
renen Menschen angesehen wurde und wird.
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Position 3
Vertreter der dritten Position argumentieren dafür, einen gesellschaftlich
verträglichen Zeitpunkt festzulegen, von dem an Menschenwürde zuerkannt
werden sollte. Manche sehen diesen Zeitpunkt mit Abschluss der Embryo-
nalperiode nach zwölf Wochen für gegeben an, andere argumentieren für
einen späteren Zeitpunkt während der Schwangerschaft, wieder andere wol-
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len die Geburt als entscheidenden Zeitpunkt fixieren. Dabei gehen die meis-
ten Vertreter davon aus, dass wir im von ihnen als graduellem Menschwer-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dungsprozess gedeuteten Vorgang einen gesellschaftlich durchsetzbaren


Zeitpunkt wählen müssen.

Anfragen an Position 3
Vertreter der dritten Position haben ihrerseits die Schwierigkeit zu begrün-
den, warum die Geburt oder ein anderer als der von den ersten beiden Posi-
tionen genannter Zeitpunkt vorzugswürdig sei. Die Geburt ist zwar in vielen
Kulturen der einschneidende Moment – wir feiern unseren Geburtstag und
nicht einen irgendwie errechneten Zeugungstag –, und die Rechtsfähigkeit
fängt in fast allen Fällen erst mit der Geburt an, aber dennoch zeigen heutige
medizinische Möglichkeiten, dass der Mensch schon viel früher auch außer-
halb des mütterlichen Uterus lebensfähig ist. Warum sollte also einem Men-
schen nur deshalb keine Menschenwürde zukommen, weil er noch nicht
geboren ist? Die Frage rein gesellschaftlich begründen zu wollen, bedeutet
wieder einen Rückfall in einen ethischen Relativismus.

Eine argumentativ nicht lösbare Frage


Es verwundert bei den vielfältigen Argumenten nicht, dass es gerade in der
Frage, wann der Mensch als Mensch beginnt, dem Menschenwürde zu-
kommt, der einzige gemeinsame Nenner darin besteht, dem Menschen auf
jeden Fall mit der Geburt Menschenwürde zuzuerkennen. Was davor der
Fall ist, lässt sich dagegen nicht eindeutig entscheiden. Dies spiegelt sich
auch in der unterschiedlichen Rechtslage der einzelnen Länder wider.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 85

Vertiefender juristischer Exkurs

Am 8. Juli 2004 hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof mit 14 zu 3


Stimmen geurteilt, dass die Entscheidung darüber, ab welchem Zeitpunkt das
Leben beginne, im Ermessensspielraum der einzelnen Staaten liege. In diesem
Urteil ging es um eine Klage gegen Frankreich, das auch dem Fötus keine
Rechtspersönlichkeit zuerkennt. Damit ist aber klar, dass eine Tötung von Emb-
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ryonen nicht als Verletzung des Artikels 2 des Europäischen Menschenrechts-


übereinkommens zu verstehen ist, der das Recht auf Leben schützt, wenn ein
einzelner Staat eine dementsprechende Gesetzeslage hat.
Man könnte aber vor diesem Hintergrund zumindest versuchen, die Frage mit
Bezug auf deutsche Gesetze und Entscheidungen des Bundesverfassungsge-
richts national zu lösen. In Deutschland ist beispielsweise nur der Import von
Stammzellen genehmigt, wenn die Stammzelllinien vor einem Stichdatum ge-
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wonnen wurden. Gemäß Embryonenschutzgesetz § 6 Absatz 1 ist zudem nach


herrschender juristischer Meinung auch das Klonen mit therapeutischer Zielset-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

zung verboten. Das Gesetz fügt in § 6 Absatz 2 aber interessanterweise an:


„Ebenso wird bestraft, wer einen in Absatz 1 bezeichneten Embryo auf eine Frau
überträgt.“ Mit anderen Worten: Das deutsche Embryonenschutzgesetz verbie-
tet es unter Strafe zu versuchen, einem menschlichen Embryo, den es freilich nur
auf Grund einer Straftat gibt, durch eine Implantation das Leben zu retten. Das
Strafgesetz scheint vor diesem Hintergrund also gerade nicht ein Beleg dafür zu
sein, dass der frühe Embryo ein Mensch ist, dem Menschenwürde zukommt. Wie
wäre es sonst zu erklären, dass ein Strafgesetz unter Strafe verbietet, einem
frühen Embryo das Leben (durch Implantation) zu retten, wenn es zugleich über-
zeugt wäre, dieser sei im vollen moralischen Sinn ein Mensch. Darum liegt die
Deutung nahe, dass sich im § 6 ein allgemeiner Lebensschutz ausspricht: Es
soll so verhindert werden, dass ein Mensch geboren wird, der auf Grund der
Klonierungstechnik nach seiner Geburt Schaden leiden könnte.
Manche wie der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-
Wolfgang Böckenförde behaupten, dass nach dem bundesdeutschen Grund­
gesetz menschlichen Embryonen vor dem 14. Tag ihrer Entwicklung Menschen-
würde zukomme, und schließen daraus, dass jede embryonale Stammzellfor-
schung einschließlich des therapeutischen Klonens zu verbieten sei. Der zu-
ständige Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats hatte jedoch bereits
1949 die Frage vorliegen, ob auch das ungeborene menschliche Leben in den
Artikel 2 des Grundgesetzes mit einbezogen werden, also sein Lebensrecht sta-
tuiert werden sollte (und damit in gewisser Weise auch seine Würde). Der Ab-
geordnete Seebohm, der die Aufnahme des ungeborenen Lebens in Artikel 2
Absatz 2 Grundgesetz beantragt hatte, war bereit, diesen Antrag zurückzuzie-
86 Teil II Systematische Grundlegung

hen, als es den Anschein hatte, dass der Ausschuss seiner Interpretation folgen
und das ungeborene Leben ab der Zeugung als mit eingeschlossen verstehen
würde. Daraufhin gab der Abgeordnete Greve ausdrücklich zu Protokoll, dass er
„unter dem Recht auf Leben nicht auch das Recht auf das keimende Leben
verstehe“. Das brachte Seebohm dazu, seinen Antrag erneut zu stellen: Mit 11
zu 7 Stimmen entschied sich der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats
gegen eine Aufnahme. Es wäre nun ein logischer Fehlschluss aus der Nicht-
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Aufnahme zu schließen, dass damit das Gegenteil beschlossen gewesen wäre,


also dass Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz nur für die geborenen Menschen gel-
ten würde. Dies belegen auch die beiden Urteile des Bundesverfassungsge-
richts von 1975 und 1993. In ihnen wird ausdrücklich festgehalten, dass den
ungeborenen Embryonen und Föten ab dem etwa 14. Entwicklungstag Men-
schenwürde zukomme: Im Urteil von 1975 haben die Richter des Bundesverfas-
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sungsgerichts sogar formuliert: „Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz


eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biologisch-physiolo-
gischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tag nach der Empfängnis (Nidation, Indi-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

viduation) an (BVerfGE 39, 1).“ Vor diesem Hintergrund bleibt festzuhalten, was
auch die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach
klargestellt hat: „Beide Urteile gestatten keine Aussage darüber, wie das Bun-
desverfassungsgericht den Grundrechtsstatus eines in-vitro gezeugten Emb-
ryos beurteilen wird; denn beide Entscheidungen bezogen sich auf die Zeugung
herkömmlicher Art. Man kann allenfalls Vermutungen anstellen, wie das Gericht
im Falle einer extrakorporalen Befruchtung entscheiden wird, sollte es eines Ta-
ges über die Verfassungsmäßigkeit der Präimplantationsdiagnostik oder der
Stammzellforschung zu therapeutischen Zwecken an in-vitro befruchteten Emb-
ryonen ohne Entwicklungschancen zu urteilen haben“ (http://www.medizinund-
gewissen.de/limbachrede.html). Richtig ist darum, dass das Grundgesetz und
das Bundesverfassungsgericht keine Aussagen darüber machen, ob dem frühen
menschlichen Embryo Menschenwürde zukommt. Eine juristische Entscheidung
im nationalen Rahmen hierzu steht noch aus. Aber auch im Hinblick auf die Ab-
treibung selbst ist das Bundesverfassungsgericht zu einer unstimmigen Lösung
gekommen: Es spricht dem Embryo nach dem 14. Tag Menschenwürde zu, ver-
langt aber zugleich, dass es flächendeckend möglich gemacht werden muss,
eine rechtswidrige Abtreibung, d. h. eine Tötung des Embryos, straffrei nach Be-
ratung durchführen lassen zu können. Es erlaubt sogar, dass der Staat sich an
dieser Tötungshandlung mitbeteiligt, indem rechtswidrige Abtreibungen „solida-
risch“ bezahlt werden.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 87

5.3.2 Lebensende des Menschen

Wenn ein Mensch tot ist, kommt ihm nicht mehr Menschenwürde im Sinne
von prinzipieller Gleichheit und prinzipiellem Subjektstatus zu, denn ein
Leichnam ist weder Subjekt, noch hat er einen Anspruch auf Gleichbehand-
lung. Ein menschlicher Leichnam ist kein Mensch mehr, sondern nur noch
seine körperlichen „Überreste“. Wer entweder ein Boot mit einem Leich-
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nam oder ein Boot mit einem lebenden Menschen aus Seenot retten kann,
muss nach dem Gebot der Hilfeleistung den lebenden Menschen retten.
Darum ist die Frage nach der Extension der Menschenwürde am Lebens-
ende für eine Angewandte Ethik von großer Bedeutung.28

Biologische Grunddaten und damit verbundene Positionen


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Das Ende eines menschlichen Lebens ist normalerweise, abgesehen bei-


spielsweise von Todesfällen, die durch ein Augenblicksereignis eintreten,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

z. B. wenn jemand bei einer Flugzeugexplosion sofort verstirbt, ein Prozess,
bei dem ein bis dato existierendes Lebewesen sämtliche charakteristische
Eigenschaften des Lebendigen irreversibel verliert und als Gesamtorganis-
mus nicht mehr funktioniert. Bevor das vollständige Ende eintritt, sterben in
der Regel einzelne Organe und Zellen ab. So ist beispielsweise noch einige
Minuten, nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hat, ein minimales EKG
aufzeichenbar. Noch drei Stunden danach reagieren die Pupillen auf be-
stimmte Tropfen mit Kontraktion und Muskelbewegungen sind feststellbar.
Noch funktionstüchtige Hauttransplantate sind bis zu 24 Stunden nach
dem Herztod zu gewinnen. Medizinisch ist darum der genaue Todeszeit-
punkt nur gemäß den vorher festgelegten Parametern festzustellen. Dabei
kommen in Frage:

1. Tod von wesentlichen, für das Ich-Bewusstsein notwendigen Teilen


des Gehirns (Teilhirntodhypothese)
2. Tod des Organismus als Ganzem bei irreversiblem Verlust jeder
Herztätigkeit (Herztodhypothese)
3. Tod des Organismus als Ganzem bei Ausfall des ganzen Hirns
(Ganzhirntodhypothese)

28 Der Begriff der Würde im Hinblick auf menschliche Leichname ist darum nicht
mit dem normativ anspruchsvolleren Begriff der Menschenwürde zu verwech-
seln.
88 Teil II Systematische Grundlegung

4. Tod des Organismus als Ganzem bei Ausfall jeder vegetativen


Selbststeuerung (Desintegrationshypothese)
5. Organtodhypothese (Tod aller Organe)
6. Gewebetodhypothese (Tod aller Gewebe)
7. Zelltod- bzw. Totaltodhypothese (Tod aller Zellen)
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Teilhirntod Herztod Ganzhirntod Desintegration Organtod Gewebetod Zelltod

Abb. 9 Todeszeitpunkte im Normalfall, anders dagegen beim dissozierten


Ganzhirntod, wo erst das Gehirn und dann das Herz irreversibel stirbt

Auch wenn alle Positionen vertretbar sind und beispielsweise Stoecker


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(1999) den Menschen erst als tot versteht, wenn er seine arttypische Zusam-
mensetzung von Zellen verloren hat, so lassen sich doch folgende Haupt­
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

positionen im Hinblick auf das Todesverständnis und damit im Hinblick auf


die Zuerkenntnis von Menschenwürde festhalten:

Hypothese Position
Herztodhypothese Keine Menschenwürde nach dem irreversiblen
Ausfall der Herzfunktion
Ganzhirntodhypothese Keine Menschenwürde nach Absterben
des ganzen Hirns
Teilhirntodhypothese Keine Menschenwürde, wenn Bewusstsein
irreversibel nicht mehr möglich ist

Tab. 2 Todeshypothesen

Option für einen Ganzhirntod als sinnvollem Kompromiss


Die Teilhirntodhypothese hat die Schwierigkeit, dass umstritten ist, ob das
Absterben des Bewusstseins bereits als Todeszeitpunkt gelten kann. Medizi-
nisch ist der Zeitpunkt zudem kaum exakt zu bestimmen. Allerdings gibt es
eine Ausnahme: Wenn das Großhirn bei Neugeborenen gänzlich fehlt (An-
enzephalie), kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass keinerlei
Bewusstsein vorhanden sein kann, ein Mensch nicht da ist, der moralisch im
vollen Sinn zu berücksichtigen wäre. In allen anderen Fällen bestünde die
Gefahr, dass Menschen, die noch als Menschen leben und denen damit ein
mit ihrer Menschenwürde verbundenes Lebensrecht zukommt, im Rahmen
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 89

einer Organentnahme getötet würden, um anderen Menschen das Leben zu


retten. Ein guter Zweck würde durch ein ethisch unzulässiges Mittel, näm-
lich die Tötung eines Menschen, erkauft.
Die Herztodhypothese ist ebenfalls sehr problematisch. Zwar galt bis vor
wenigen Jahrzehnten der irreversible Verlust der Herz- und damit verbun-
denen Kreislauffunktion als sicheres Todeskriterium, doch neue medizini-
sche Möglichkeiten haben diese Festlegung obsolet gemacht. So lebte z. B.
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Barney Clark, dessen eigenes Herz zu diesem Zeitpunkt irreversibel zerstört


war, vier Monate ohne Herz an einer Maschine und in dieser Zeit lachte,
sprach und aß er. Von besonderer Bedeutung ist diese Frage bei der Organ-
transplantation (vgl. den Abschnitt zur Medizinethik), da mittlerweile
Herztransplantationen bei Kindern vorgenommen wurden, die Herzen von
anderen Kindern bekamen, deren kardiozirkulatorischer Tod festgestellt
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worden war (vgl. Boucek u. a. 2008). Wie der Ethiker Veatch (2008, 673) in
derselben Ausgabe der führenden medizinischen Fachzeitschrift „New Eng-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

land Journal of Medicine“ dazu anmerkte: „[…] jede erfolgreiche Herztrans-


plantation kann nicht von einer Person kommen, die aufgrund eines irrever-
siblen Herzstillstands für tot erklärt worden ist“. Darum erscheint die
Herztodhypothese vor dem Hintergrund dieser neuen Möglichkeiten nur
noch akzeptabel zu sein, wenn das Herz tatsächlich irreversibel zu schlagen
aufgehört hat.
Der Ganzhirntod als Folge eines irreversiblen Herz- und Kreislaufversa-
gens verbunden mit Totenstarre kann ebenfalls unproblematisch als Tod ei-
nes Menschen verstanden werden. Er wurde bereits von Xavier Bichat
(1771–1802) beschrieben.
Für die Organentnahme ist jedoch der dissoziierte Ganzhirntod wichtig.
Dabei stirbt das Gehirn ab, das Herz aber schlägt nur dank intensivmedizi-
nischer Maßnahmen noch weiter. Der dissoziierte Ganzhirntod wird welt-
weit von den Ärztevertretungen als Todeszeitpunkt des Organismus als
Ganzem anerkannt (erstmals 1968 in Deutschland und Frankreich, kurz da-
rauf durch das Ad Hoc Committee of Harvard Medical School). Die Annahme
des dissoziierten Ganzhirntods als Tod des Menschen ist jedoch umstritten.
Der Philosoph Hans Jonas kann sich nicht vorstellen, dass in einem Leich-
nam ein Herz schlagen kann, dass dieser höhere Temperatur entwickelt
usw.
Dies hat wichtige Konsequenzen für die Entnahme von Organen nach
Feststellung des Ganzhirntods. Wer nämlich am Ganzhirntodkriterium
zweifelt, aber dennoch die Organspende bei Einwilligung zulässt, vertritt die
90 Teil II Systematische Grundlegung

Möglichkeit einer aktiven Sterbehilfe zu altruistischen (lateinisch: alter = der


andere) Zwecken. Nach diesem Verständnis werden nämlich Sterbende, die
in die Organspende eingewilligt haben, durch die Organentnahme getötet,
um anderen Menschen das Leben zu retten oder ihre Lebensqualität we-
sentlich zu verbessern.
Doch verwechseln Gegner des Ganzhirntodkriteriums einzelne Merk-
male von Leben mit dem Leben des Organismus als Ganzem. So stirbt
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menschliches Leben (nicht das menschliche Lebewesen) beispielsweise in


Form von Samenzellen erst lange nach einer Erdbestattung ab. Deswegen ist
die Annahme, erst der Totaltod sei der Tod des Menschen, für uns nicht
praktikabel. Wir würden sonst Sterbende verbrennen oder bestatten. Aber
auch die weniger unpraktikable Annahme, die Desintegration der vegetati-
ven Selbststeuerung zum Kriterium zu nehmen und an dem irreversiblen
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Ausfall des Herz-Kreislauf-System in Kombination mit dem Ausfall aller


Hirnfunktionen festzumachen, ist voraussetzungsreich: Warum sollte rein
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

vegetatives menschliches Leben ohne jegliche Hirnfunktion ein menschli-


ches Lebewesen konstituieren, dem Menschenwürde zukommt? Zudem
gibt es ein instruktives Beispiel, das nochmals die Sinnhaftigkeit des Ganz-
hirntodkriteriums illustriert. In Bangkok wurde in den 30er Jahren des letz-
ten Jahrhunderts ein Mann durch Kopfabschlagen öffentlich hingerichtet.
Eine Aufnahme zeigt, dass das Herz des Geköpften noch schlägt. Er ist also
medizinisch-naturwissenschaftlich als Gesamtorganismus als tot zu be-
zeichnen, obwohl noch nicht der ganze Organismus tot ist, beispielsweise
die meisten Organe noch funktionieren.
Darum erscheint der derzeit weit reichende Konsens auf Gesetzesebene,
den Tod des Menschen nach Regeln, die dem Erkenntnisstand der medizi-
nischen Wissenschaften entsprechen, festzulegen, gerechtfertigt zu sein.
Dieser Konsens existiert dagegen für das vorgeburtliche menschliche Leben
so nicht. Dies hat gute Gründe, die bereits in der Deutungsoffenheit des
biologischen Befunds liegen (vgl. 5.3.1).

5.3.3 Die Frage der Extension im Hinblick auf nicht-menschliche


Lebewesen

Tieren und anderen Lebewesen kann rein begrifflich keine Menschenwürde


zukommen. Doch mit dieser begrifflichen Feststellung ist die eigentliche
Frage nur verdeckt. Sie lautet: Kann es auch nicht-menschliche Lebewesen
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 91

geben, denen ein dem Menschen gleicher moralischer Status zukommt, so-
dass sie als prinzipielle Subjekte und prinzipiell Gleiche zu gelten haben,
ihnen also die jeweilige nach dem jeweiligen Lebewesen identische Würde,
was den semantischen Gehalt angeht, zukommt?
Diese Frage gewinnt ihre Brisanz unter anderem aus der Tatsache, dass
dem Menschen dieser moralische Status unabhängig von allen konkreten
Eigenschaften des einzelnen geborenen Menschen zuerkannt wird. Als
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Mensch kommen ihm Menschenwürde und die damit verbundenen Men-


schenrechte zu.
Dennoch wird auch in den internationalen Erklärungen die Zuerkennt-
nis der Menschenwürde in der Vernunft und grundsätzlichen Moralfähig-
keit (Gewissen) des Menschen verankert. Gerade deshalb verspüren wir
Menschenrechtsverletzungen als Menschenrechtsverletzungen, weil sie uns
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als Vernunft- und Moralwesen missachten. Aber diese Vernunft und grund-
sätzliche Moralfähigkeit werden nicht empirisch im Einzelfall überprüft.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Vielmehr kommt eben jedem Menschen ohne diese empirische Prüfung


Menschenwürde zu, selbst dann wenn er geistig so schwer behindert ist, dass
er empirisch weder Vernunft noch Moralfähigkeit zeigen kann. Kontrafak-
tisch gilt diese Zuerkenntnis auch bei jedem Neugeborenen, das ebenfalls
noch nicht vernünftig ist und zu moralischen Handlungen fähig ist. Hinter-
grund ist eben die Menschheitserfahrung, zu welchen Grausamkeiten Men-
schen fähig sind, wenn sie außer dem Kriterium des biologischen Mensch-
seins noch andere Kriterien hinzufügen, um Menschen als Menschen
anzuerkennen.
Was aber bedeutet dies für die Frage der Extension der Zuerkenntnis von
prinzipiellem Subjektstatus und prinzipieller Gleichheit an nicht-menschli-
che Lebewesen? Die Lösung lautet: Wenn es nicht-menschliche Lebewesen
gibt, von denen einige Exemplare über Vernunft und Moralfähigkeit verfü-
gen, dann ist diesen eine der Menschenwürde äquivalente Würde zuzuer-
kennen, und zwar ebenfalls in dem Sinne, dass diese Würde allen Exempla-
ren dieser Gattung zukommt. So kommt beispielsweise Spaemann (1996,
264) zum Ergebnis: „Und wenn sich andere natürliche Arten im Universum
finden sollten, die lebendig sind, eine empfindende Innerlichkeit besitzen
und deren erwachsene Exemplare häufig über Rationalität und Selbstbe-
wusstsein verfügen, dann müssten wir nicht nur diese, sondern alle Exemp-
lare dieser Art ebenfalls als Personen anerkennen, also zum Beispiel mögli-
cherweise alle Delphine.“ Dies könnte auch für Wale, Menschenaffen,
eventuell sogar Krähenvögel (vgl. Marzluff/Angell 2005) gelten. Zudem ist
92 Teil II Systematische Grundlegung

es nicht ausgeschlossen, dass es auf fremden Planeten vernunftbegabte Le-


bewesen gibt.
Heißt dies, dass allen nicht in dieser Weise vernunftbegabten Lebewesen
damit überhaupt kein moralischer Status zukommt? Dies heißt es nicht. Es
bedeutet nur, dass ihnen kein prinzipieller Subjektstatus zukommt und dass
sie nicht als prinzipiell gleiche zu achten sind. Wie aber wäre dann dieser
moralische Status in Abgrenzung zu einem moralischen Status, der auf der
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Menschenwürde bzw. einer ihr moralisch äquivalenten Würde beruht, zu


bestimmen?
Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn wir uns die Selbstverständlich-
keit bewusst machen, dass wir uns als Menschen nicht-menschlichen Lebe-
wesen nur mit unserer menschlichen Perspektive nähern können. Es ist da-
her angebracht, bei unseren Erfahrungen als Menschen anzusetzen
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(anthropozentrische Epistemologie (griechisch: anthropos = Mensch, lateinisch:


centrum = Mittelpunkt )), um auf diese Weise den ethischen Anthropozent-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

rismus zu überwinden.
Die grundlegende anthropozentrische Erfahrung besteht darin, dass alles
Lebendige leben will und in gewisser Weise eine einmalige Gestalt seiner
Art ist. Dabei manifestiert der Löwe viel deutlicher als ein Getreidehalm
seine Einmaligkeit. Doch auch jeder Halm ist an einer bestimmten Raum-
und Zeitstelle verortet, sodass doch jeder Halm eine eigene Gestalt hat,
wenn er auch mit anderen Halmen genidentisch ist. Je einfacher die Lebens-
form, umso rudimentärer mag auch das Lebensinteresse ausgeprägt sein.
Doch scheint sogar ein Tuberkulosebakterium eine Art „Lebensdrive“ zu
haben.
Lebensformen empfinden ähnlich und wohl auch ganz unterschiedlich:
Wir Menschen haben eine Vermutung, wie es sich für eine Katze anfühlt zu
leiden, weil sie in Mimik und Lautgebung ein uns ähnliches Schmerzverhal-
ten zeigt. Wie mag jedoch die Welt für eine Libelle mit ihren Facettenaugen
aussehen? Wie mag sich eine Maispflanze „fühlen“, die der Maiszünsler at-
tackiert? Schon der Begriff „Fühlen“ erscheint wohl den meisten von uns
übertrieben zu sein – und doch lässt sich auch in der Pflanzenwelt ein klares
Verhalten gegenüber Schädlingen nachweisen, verbunden mit einer Art
„Kommunikation“ untereinander, sodass in einem befallenen Feld später at-
tackierte Pflanzen ein Abwehrverhalten gegen Schädlinge zeigen können
(vgl. Odparlik u. a. 2008).
Die Achtung vor allem Lebendigen als eine Grunderfahrung, die noch-
mals von allen konkreten Eigenschaften abstrahiert, drückt am besten der
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 93

Begriff der „Würde“ aus. Diese Achtungsdimension ist das Band, welches
diesen Würdebegriff mit dem Begriff der Würde in „Menschenwürde“ ver-
bindet und ein Verbot einschließt, Lebewesen in einer Weise zu instrumen-
talisieren, die jeden Respekt vor ihnen vermissen lässt (vgl. Kunzmann 2007,
z.  B. 108f ). Dabei wird die Selbstzwecklichkeit der Lebewesen im Sinne
einer ontologischen Selbstzwecklichkeit berücksichtigt: Lebewesen haben
eine innere Struktur, die sie seinsmäßig zur Vollendung bringen wollen.
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Insofern haben sie einen Eigenwert. Man kann auch von einer ihnen eig-
nenden Integrität sprechen (vgl. Kallhoff 2002). Diese ontologische Selbst-
zwecklichkeit darf jedoch gerade nicht mit der moralischen Selbstzweck-
lichkeit verwechselt werden, die z. B. Kant für den Menschen reserviert hat
und dessen vollständige Instrumentalisierung verbietet. Im Unterschied zur
Menschenwürde wird nämlich allem Lebendigen aufgrund seiner Leben-
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digkeit gerade kein prinzipieller Subjektstatus und keine prinzipielle Gleich-


heit, und zwar sowohl mit dem Menschen als auch untereinander, zugebil-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ligt. Natürlich verdient ein Hund eine andere Form der Achtung als ein
Gerstenhalm oder ein Bakterium, aber eben keine Achtung wie ein Mensch.
Er verdient diese größere Achtung, weil er nach allem, was wir naturwissen-
schaftlich wissen, komplexe Empfindungen und Präferenzen hat – von
Empfindungen und Präferenzen eines Bakteriums zu sprechen, erscheint
übertrieben und wirklichkeitsfremd. Das vollständige Instrumentalisie-
rungsverbot gilt für nicht-menschliche Lebewesen also gerade nicht, es sei
denn, Exemplare ihrer Gattung wären analog zu uns moral- und vernunftfä-
hig. Vielmehr ist eine vollständige Instrumentalisierung bei nicht-menschli-
chen Lebewesen zu rechtfertigen oder aber unter bestimmten Umständen
zu unterlassen.
Die Zuerkenntnis von Würde in diesem moralisch deutlich weniger „an-
spruchsvollen“ Sinn an nicht-menschliche Lebewesen hat wichtige Konse-
quenzen für das Verhältnis zu nicht-menschlichen Lebewesen: Sie verlangt
eine Achtung vor dem Leben und der Lebensweise dieser Lebewesen. Da-
rum muss sich rechtfertigen, wer nicht-menschliche Lebewesen vernichtet
oder in ihre Lebensweise eingreift. Dabei ist die Rechtfertigungstiefe von
der Komplexität des Lebewesens abhängig. So kann die Herstellung von
Bakterien, die Umweltschäden dadurch beseitigen, dass sie sich genau von
diesen schädlichen Materialien ernähren, eine legitime Instrumentalisierung
sein, während eine schwere gesundheitliche Gefährdung von Menschenaf-
fen für die Herstellung von Kosmetika dies wohl nicht ist (vgl. auch detail-
lierter die Abschnitte zu Pflanzen- und Tierethik: 12.2).
94 Teil II Systematische Grundlegung
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Abb. 10 Menschenwürde und Würde nicht-menschlicher Lebewesen


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Vertiefung: Abgrenzung von alternativen Ansätzen


Damit unterscheidet sich ein solches Ansetzen bei der Menschenwürde von al-
ternativen Ansätzen, die entweder nur den Menschen als moralisches Wesen
auszeichnen, so der ethische Anthropozentrismus, oder ihn in gewisser Weise
als ein Lebewesen bzw. ein Naturglied unter anderen verstehen, wie im Physio-,
Bio- und Pathozentrismus sowie im Präferenzenutilitarismus singerscher Prä-
gung.
Der ethische Anthropozentrismus unterscheidet sich von einem reinen mora-
lischen Anthropozentrismus, weil hier die Zentrierung auf den Menschen exklusiv
verstanden wird. Klassisch hat diesen Ansatz Kant formuliert:
㤠1. Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn
unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Per-
son und vermöge der Einheit des Bewusstseins bei allen Veränderungen, die
ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, derglei-
chen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und
walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn
er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat […]“ (Kant
1968 [1798], 127).
Der Anthropozentrismus erkennt weder der übrigen belebten noch der unbe-
lebten Natur einen eigenen Wert zu. Eine Folge dieses Ansatzes ist nämlich
beispielsweise, dass Tierquälerei nur deshalb als unmoralisch verstanden wird,
weil dadurch der Mensch selbst verroht, oder weil andere Menschen, die nicht
möchten, dass Tiere gequält werden, durch ein solches Tun in diesem Wunsch
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 95

missachtet werden; nicht aber deshalb, weil Tiere darunter leiden. In Deutsch-
land sind neue Entwicklungen zu beobachten, Tiere rechtlich nicht mehr als „Sa-
chen“ zu werten (§ 90b BGB). Dennoch kann selbst die Grundgesetzänderung
zu Gunsten des Tierschutzes (Art. 20 GG: Tierschutz als Staatsziel) weiterhin
anthropozentrisch interpretiert werden. Die Schweiz dagegen hat ausdrücklich
die „Würde der Kreatur“ in ihrer Verfassung verankert.29 Darin spiegelt sich ein
Wandel in der Bewertung der nicht-menschlichen Lebewesen. Der Ansatz bei
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der Menschenwürde ist für eine solche Bewertung offen. Er ist eben nicht mit
dem moralischen Anthropozentrismus zu verwechseln.
Der Ansatz bei der Menschenwürde ist jedoch umgekehrt in keiner Weise mit
einem radikalen Physiozentrismus (griechisch: physis = Natur), der auch als
Holismus30 oder Ökozentrismus (griechisch: oikos = Haus) bezeichnet wird, zu
vereinbaren. Allgemein betonen Vertreter der holistischen Position:
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„Wenn menschliche Wesen wie andere Tiere, Pflanzen, Böden und Wasser
auch gleiche Mitglieder der biotischen Gemeinschaft sind, und wenn Mitglied-
schaft in der Gemeinschaft das Kriterium für gleiche moralische Rücksicht ist,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dann haben nicht nur Tiere, Pflanzen, Böden und Wasser die gleichen (sehr
abgeschwächten) ‚Rechte’, sondern auch menschliches Individualwohl und
menschliche Rechte sind dem Wohl der Gemeinschaft im ganzen unterzuord-
nen“ (Callicot 1997, 237f; vgl. Rolston 1988).
Auch wenn hier das Zusprechen von Rechten in Anführungszeichen gesetzt
wird, geraten Holisten mit dem üblichen Rechtsbegriff in Widerspruch. „Rechte
sind stets Individualrechte oder individuelle Ansprüche, die dem betreffenden
Individuum als Individuum, das heißt um seiner selbst willen eingeräumt werden“
(Hoerster 2004, 96). Da Wasser nicht als Individuum verstanden werden kann,
ist es nicht sinnvoll, von Rechten des Wassers oder einer Landschaft zu spre-
chen. Abgesehen davon ist völlig unklar, was die Unterordnung menschlichen
Gemeinwohls und menschlicher Rechte bedeutet. Ist es dennoch zulässig,
Sumpfgebiete trocken zu legen, um durch die Zerstörung des natürlichen Habi-
tats von Malariamücken für die Menschen Gesundheitsvorsorge zu betreiben?

29 Freilich ist die Rede von der „Würde der Kreatur“ unbestimmt. Zudem ist der
Begriff „Kreatur“ ursprünglich theologisch und bezeichnet alles Geschaffene, auch
die unbelebte Natur. Vgl. dazu Busch/Kunzmann (2004, 42–47) und Baranzke
(2002).
30 Diese Begrifflichkeit eines moralischen „Holismus“ ist nicht mit dem wissen-
schaftstheoretischen Holismus zu verwechseln, der im Unterschied zum Top-
down- und Bottom-up-Zugang bei der Verhältnisbestimmung von Prinzipien zu
konkreten Situationen im Rahmen der Angewandten Ethik vertreten wird.
96 Teil II Systematische Grundlegung

Selbst Vertreter dieser Position räumen ein, dass das Abwägen der Rechte eine
„schwierige und heikle Frage“ (Callicot 1997, 239) ist. In Wirklichkeit ist sie
nicht lösbar.
Im Unterschied dazu vertritt der egalitäre Biozentrismus eine Position, die
zwar nicht Entitäten allgemein, aber allen Lebewesen ein gleiches Recht auf
Leben zuerkennt. Durch Albert Schweitzers Schlagwort von der „Ehrfurcht vor
dem Leben“ ist dieser Gedanke insbesondere in den deutschsprachigen Debat-
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ten vorbereitet worden. Für Schweitzer galt das Prinzip, Leben zu erhalten, als
das „denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen“. Für den „denkend
gewordenen Mensch erwächst“ die Nötigung dazu: „Als gut gilt ihm: Leben er-
halten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Stand brin-
gen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben nie-
derhalten“ (Schweitzer 1974, 171). Schweitzer erkennt aber selbst ein
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Grundproblem seines Prinzips, alles Leben zu schützen: Die Erhaltung bestimm-


ter Lebewesen erfordert den Tod anderer: „Wer einen Fischadler rettet, muss
ihm täglich Fischlein opfern“ (ebd., 243).
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Schweitzers Position wird in der Folgezeit weiter radikalisiert: „Alle Lebewe-


sen haben bioethisch geurteilt 1) prinzipiell das gleiche Recht auf Leben, denn
sie sind 2) ‚Selbstzweck’“ (so Altner, zitiert nach Van den Daele u. a. 1996, 235;
vgl. damit verwandte Positionen von Regan 2004 [1983] und Taylor 1986). Die
Verwendung der Selbstzweckformel zur Begründung von Eigenwert und beson-
derer Würde alles Lebendigen hat dabei besonders in der deutschen Diskussion
3) strategische Bedeutung. Die Menschenwürde, wie sie im Grundgesetz be-
müht wird, wird besonders seit dem einflussreichen Kommentar von Dürig
(1951) mit Bezug auf Kants Selbstzweckformel (1968 [1785], 428f) begründet.
Allerdings ist nach Kant der Mensch genau deshalb Selbstzweck, weil er ein
moralfähiges Lebewesen ist, das ein Ich-Bewusstsein hat. Sich selbst am Leben
erhalten zu wollen oder sich fortzupflanzen ist gerade kein Grund, von Selbst-
zwecklichkeit und Würde zu sprechen. Vielmehr begründe dies nur einen „ge-
meinen Wert“ (Kant (1968 [1797b], 435) bzw. „äußeren Wert (pretium usus)“,
d. h. einem Gebrauchswert, der nach Kants Ansicht auch Sachen zukommt,
weswegen er, wie oben gesehen, Tiere sogar als Sachen bezeichnet. Insofern
begründet der Bezug auf einen bei genauerem Hinsehen gerade nicht-kantisch
begründeten Selbstzweck, nämlich die seinsmäßige Annahme, dass auch die
Natur jedes Lebendigen eine innere Lebensdynamik und insofern eine Selbst-
zwecklichkeit im aristotelischen Sinn habe, noch nicht das prinzipiell gleiche
Recht auf Leben. Das seinsmäßige (ontologische) Faktum, dass Organismen
leben wollen, begründet also aus sich heraus noch nicht die moralische Forde-
rung nach einem gleichen Lebensrecht, denn dass jemand etwas will, begründet
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 97

noch nicht, dass diesem Wunsch zu entsprechen ist. Es fehlt also gerade noch
die Begründung für die Forderung nach dem gleichen Lebensrecht.
Ein wesentlicher Grund, warum eine derartige Begründung wohl nicht zu
leisten ist, lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Wenn allen Lebewe-
sen prinzipiell das gleiche Recht auf Leben zukäme, müsste dies konsequenter-
weise ebenso für das Tuberkulosebakterium wie für den von einer Tuberkulose-
infektion betroffenen Menschen gelten. Diese Auffassung führt in unauflösliche
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strukturelle Dilemmata, weswegen diese Position in ihrer Radikalität für bioethi-


sche Konfliktfälle wenig hilfreich ist und in dieser Form den moralischen Intuitio-
nen der meisten Menschen fundamental widerspricht. Doch selbst wenn man
Mikroorganismen, Insekten und Pflanzen aus dem moralischen Universum aus-
schließt, bleibt die Frage, ob dieses Dilemma nicht wiederkehrt bei der Frage:
Wer ist zu retten, der Hund oder der Mensch, wenn nur einer von beiden gerettet
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werden kann?
Tom Regan (2004 [1983], 324ff) bietet hierfür eine Lösung an, indem er eine
Hierarchisierung einführt. Zwar geht auch er von einem gleichen inhärenten Wert
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

aller Lebewesen aus, insofern sie „Subjekte von Leben“ sind, aber er spricht nur
noch von einem prima-facie-Recht aller Lebewesen, nicht geschädigt zu wer-
den. Was dies bedeutet, erläutert er an folgendem Beispiel: In einem Boot, das
vom Untergang bedroht ist, befinden sich vier normale erwachsene Menschen
und ein Hund. Der Untergang des Boots kann nur dadurch vermieden werden,
dass entweder der Hund oder ein Mensch über Bord gehen und damit dem si-
cheren Tod ausgeliefert wird. Nach Regan darf der Hund über Bord geworfen
werden, da dieser zwar das gleiche prima-facie-Recht hat, nicht geschädigt zu
werden, aber dennoch sein Schaden unvergleichlich geringer ist als der Scha-
den für die betroffenen Menschen. Allerdings betont Regan in seinem Vorwort
zur Ausgabe von 2004 (vgl. Regan 2004, XXXiii): Wenn es darum gehe, ob ein
Hund oder ein irreversibel komatöser Mensch zu retten ist, habe der Hund Vor-
rang, da der Tod für den komatösen Menschen keinen Schaden mehr darstelle.
Mit einer derartigen Lösung wird freilich ein neues Kriterium in die Diskussion
eingeführt, nämlich eine Abwägung von Schaden.
Damit nähert sich die nicht-utilitaristische Position Regans in ihren Konse-
quenzen einem hierarchischen Pathozentrismus (s. unten) an, allerdings gerade
nicht in seiner bekannten utilitaristischen Form, denn Regan lehnt die Aggrega-
tion (Aufsummierung) von Empfindungen, die für den Utilitarismus kennzeich-
nend ist, ab. Nach Regan (2004 [1983], 325) ist auch der Tod einer Million
Hunde nicht mit dem Tod eines normalen Menschen vergleichbar, sodass bei-
spielsweise in einem Schiff voller Hunde eher alle Hunde über Bord zu werfen
wären als ein normaler Mensch (ebd. 325). Regans Begründung hierfür lautet,
98 Teil II Systematische Grundlegung

dass der jeweilige einzelne Hund weniger geschädigt wird als der betreffende
Mensch.
Wie argumentiert nun aber ein hierarchischer Pathozentrismus (griechisch:
pathein = leiden, empfinden) der die Empfindungen einzelner Lebewesen für
moralisch relevant hält und nach Qualitäten abstuft? Er ist insbesondere in der
Verbindung mit dem ethischen Ansatz des Präferenzutilitarismus, der insbeson-
dere durch Peter Singer (1990,1999) vertreten wird, weltweit bekannt gewor-
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den. Dabei ist freilich die Gleichsetzung von „Empfindungen“ und „Präferenzen“
nicht ganz korrekt, denn nach Singer sind es die jeweiligen Präferenzen (Interes-
sen) der einzelnen Lebewesen, die moralisch bedeutsam sind, nicht einfach die
Empfindungsfähigkeit überhaupt. Diese Präferenzen sind in der Weise gegen­
einander abzuwägen, dass der größtmögliche Nutzen für Lebewesen gemäß de-
ren eigenen Präferenzen zustande kommt. Dabei gibt es eine Hierarchie, die sich
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aus der Intensität der jeweiligen Interessen ergibt. So haben viele Menschen bei-
spielsweise im Unterschied zu allen Mitgliedern bestimmter Tierarten die Fähig-
keit, die Zukunft zu antizipieren. Ihre Interessen sind daher höher zu gewichten.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Jedoch stellen sich bei diesem Ansatz neben dem für den Utilitarismus be-
kannten Aggregationsproblem weitere Probleme. Thomas Nagel (1974) hat be-
schrieben, warum es für uns unmöglich ist, uns in ein uns relativ verwandtes
Lebewesen, nämlich die Fledermaus, einzufühlen. Wenn wir aber nicht wirklich
wissen, wie es ist, eine Katze, ein Hund oder eine Fledermaus zu sein, dann
fehlen uns wesentliche Kriterien für eine Güterabwägung. Wenn wir nicht dazu
in der Lage sind, uns angemessen in ein anderes Lebewesen „hineinzuverset-
zen“, können wir auch nicht gut einschätzen, was es „präferiert“, welche Interes-
sen es also in einer Situation zu verwirklichen sucht, abgesehen davon, dass ein
Überlebensinteresse als Präferenz angenommen werden kann. Denn wir können
zwar davon ausgehen, dass beispielsweise Fledermäuse ein uns ähnliches
Schmerzempfinden haben und damit ein uns ähnliches Interesse, Schmerzen zu
vermeiden, aber wir wissen natürlich darüber hinaus nicht, wie es ist, eine Fle-
dermaus zu sein, welche fledermaustypischen Präferenzen es gibt und wie diese
zu bewerten sind.
Der Hauptgrund für die Ablehnung des hierarchischen Pathozentrismus in
seiner präferenzutilitaristischen Ausprägung bei Singer liegt jedoch vor allem
darin begründet, dass er zu Güterabwägungen führen kann, die den moralischen
Intuitionen vieler Menschen widersprechen. So kann dieser Ansatz – konsequent
durchgeführt – dazu führen, das Leben eines normalen Schweins in einer Güter-
abwägung höher zu gewichten als das Leben eines Waisenkindes mit schwerer
geistiger Behinderung, das selbst keine höher stehenden Präferenzen zu haben
scheint und an dem kein Mensch mehr ein Interesse hat.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 99

Singers Ansatz ist aufgrund seines Personenkonzepts, das Vernunft auch


empirisch voraussetzt, nicht mit dem Ansatz im Ausgang von der Menschen-
würde vereinbar, wonach allen Menschen unabhängig von empirisch realisierten
Fähigkeiten Menschenwürde zukommt. Aber er weist auf einen wichtigen Punkt
hin, den eine rein anthropozentrisch interpretierte Menschenwürde nicht berück-
sichtigen kann: das Ernstnehmen anderer Lebewesen im moralischen Sinn.
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
100 Teil II Systematische Grundlegung

6 Menschenrechte und Menschenpflichten

Nur mit der Menschenwürde (oder einer moralisch äquivalenten Würde)


sind unveräußerliche Menschenrechte (bzw. äquivalente Rechte) verbunden,
die als letzter Ausgangspunkt und zentrales Kriterium des hier vertretenen
ethischen Bezugsrahmens dienen können.31
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6.1 Menschenrechte

Die Anerkenntnis jedes Menschen als Subjekt und prinzipiell Gleicher im-
pliziert die Anerkenntnis, dass jedem Menschen unveräußerliche Rechte
zukommen. Freilich sind die Menschenrechtskataloge oftmals nicht de-
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ckungsgleich. Auch sind die jeweiligen Einteilungen unterschiedlich.


Grundsätzlich lassen sich die Menschenrechte jedoch in Abwehr/Schutz-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

und Anspruchsrechte unterteilen:


Die Abwehr- und Schutzrechte umfassen grundsätzliche Rechte libera-
ler Tradition wie Religions- und Forschungsfreiheit sowie das Recht auf
Leben und körperliche Unversehrtheit. Sie schützen einerseits den einzel-
nen Bürger, aber auch Institutionen vor Eingriffen anderer, einschließlich
Eingriffen des Staates, aber umfassen auch den Schutz des Staates zur Ab-
wehr gegen Eingriffe anderer in die eigenen Rechte. Beispielsweise darf kein
Arzt einen Patienten gegen dessen Willen behandeln. Kein Mensch darf
einen anderen Menschen foltern, auch nicht im Dienst hochrangiger staat-

31 Das bundesdeutsche Grundgesetz hält diese Verbindung von Menschenwürde


und unveräußerlichen Menschenrechten sogar ausdrücklich in seinem ersten Ar-
tikel fest und hebt die Grundrechte in den Rang unmittelbar geltenden Rechts:
„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum
zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3)
Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und
Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Doch, wie ausdrücklich gesagt,
sollte man nicht Ethik und Recht verwechseln, auch wenn sich gerade in diesem
Artikel des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes die zuvor gemachten Mensch-
heitserfahrungen der Verletzung von Menschenwürde und Menschenrechten
verdichten. Darum ist die in diesem Buch vertretene Begriffsbestimmung der
Menschenwürde auch nicht notwendig deckungsgleich mit dem vielfach durch
das Bundesverfassungsgericht interpretierten Begriff der Menschenwürde im
Grundgesetz (vgl. Knoepffler 2004).
Menschenrechte und Menschenpflichten 101

licher Ziele. Ansonsten verletzt er dessen körperliche Unversehrtheit. Dar­


über hat der Staat zu wachen.
Unter die Anspruchsrechte fallen politische Partizipationsrechte (latei-
nisch: participare = teilhaben), z. B. das Recht, eine Partei zu gründen, soziale
Rechte wie das Recht auf soziale Sicherung und justizielle Rechte, z. B. das
Menschenrecht auf Gleichbehandlung vor Gericht.
Im Unterschied zum Prinzip der Menschenwürde stellt sich im Rahmen
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der mit ihnen verbundenen Menschenrechte jedoch das Problem, dass Men-
schenrechte miteinander in Konflikt geraten können. Das Recht auf Glau-
bensfreiheit erlaubt beispielsweise die Wahl eines Glaubens, der bestimmte
Menschenrechte nicht berücksichtigt, z. B. den Mann der Frau überordnet.
Das Abwehrrecht auf Leben einer Geisel führt dazu, dass das Abwehrrecht
auf Leben des Geiselnehmers bei der Anwendung des finalen Rettungs-
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schusses nicht mehr gewahrt werden kann. Das soziale Anspruchsrecht


(nach der Präambel der Weltgesundheitsorganisation): „Den höchstmögli-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

chen Gesundheitsstandard zu genießen, ist eines der fundamentalen Rechte


jedes Menschen unabhängig von Rasse, Religion, politischer Einstellung,
ökonomischem oder sozialem Rang“, kollidiert mit anderen Anspruchsrech-
ten, z. B. auf Bildung, und mit Freiheitsrechten, z. B. dem Recht auf Eigen-
tum.
Dazu kommt: Prinzipielle universelle Menschenrechte werden auf natio-
naler Ebene in vielen Fällen nicht gewahrt. Das gilt nicht nur für die ekla-
tanten und offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen, wie sie die Men-
schen in Bürgerkriegsregionen und diktatorischen Ländern erleben. Es gilt
auch für das leukämiekranke Mädchen von Parias in Indien, das praktisch
keine echte Behandlungschance für seine Erkrankung hat. Es ließen sich
noch viele weitere Beispiele finden.
Darüber hinaus ist zu fragen, in welcher Weise die Menschenwürde und
die Menschenrechte der kommenden Generationen antizipativ Berücksich-
tigung finden sollten. Der teilweise irreversible Verbrauch von Bodenschät-
zen, schwer umkehrbare sonstige Eingriffe in die Natur und eine wohl nicht
mehr unumkehrbare Anhäufung von Schulden in vielen Staaten enthalten
nämlich eine gewaltiges zukünftiges Gefährdungspotential.
Vor diesem Hintergrund scheint eine realistische Achtung mancher mit
der Menschenwürde verbundenen Menschenrechte nur gewährleistet zu
sein, wenn mit den Menschenrechten auch Menschenpflichten verbunden
sind. Nicht nur haben alle Menschen aufgrund ihrer prinzipiellen Gleich-
heit einen Anspruch auf Gerechtigkeit, sie haben auch die ethische Ver-
102 Teil II Systematische Grundlegung
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Abb. 11 Der Zusammenhang von Menschenwürde, Menschenrechten und


Menschenpflichten

pflichtung im Rahmen ihrer Möglichkeiten, an einer gerechten Welt welt-


weit mitzuwirken. Dabei ist Gerechtigkeit synchron (griechisch: syn to chrono
= gleichzeitig mit) und diachron (griechisch: dia chronou = durch die Zeit)
Dimension der Gerechtigkeit) zu verwirklichen: Wir sollen heute (syn-
chrone Dimension) eine gerechte Welt bauen, doch zugleich soll vergange-
nes Unrecht, wenn möglich, wieder gut gemacht und zukünftiges mögliches
Unrecht vermieden werden (diachrone Dimension).
Die Verpflichtung zur Gerechtigkeit ergibt sich aus folgender so einfa-
chen wie oft übersehenen Überlegung: Wer beansprucht, aufgrund seines
Subjektstatus zugleich als Gleicher geachtet zu werden, hat auch die Ver-
pflichtung, den anderen aufgrund dessen Subjektstatus als Gleichen zu ach-
ten. Täte er dies nicht, würde er performativ (lateinisch: performare = vollzie-
hen), also indem er diese Nichtachtung als Gleichen vollzieht, einen
Widerspruch begehen. Er würde aufgrund seines Subjektstatus vom anderen
Achtung als Gleicher verlangen, diese aber umgekehrt zugleich dem ande-
ren verweigern, obwohl diesem der gleiche Subjektstatus zukommt und er
genau die gleiche Forderung nach Achtung als Gleicher aufgrund des ihm
zukommenden Subjektstatus verlangen kann.
Menschenrechte und Menschenpflichten 103

Diese Verpflichtung hat eine individualethische und eine sozialethische


Dimension und verweist auf eine Ethik des Rechts und der Politik. Die
Menschenpflichten könnte man auch unter dem Begriff der Verantwortung
des Einzelnen, aber auch der institutionalisierten Verantwortung, insbeson-
dere rechtlicher und politischer Institutionen, für eine gerechte Welt thema-
tisieren.32
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6.2 Gerechtigkeit als Menschenrecht und Menschenpflicht

Allen Menschen kommen unabhängig von Geschlecht, Rasse und Glau-


benszugehörigkeit Menschenwürde und die damit verbundenen Menschen-
rechte zu. Alle Menschen gelten in dieser Hinsicht als Subjekte und als
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Gleiche. Wie aber kann ihr Subjektstatus und ihre grundsätzliche Gleich-
heit ernst genommen werden?
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Eine Lösung bietet sich an, die grundsätzliche Gleichheit aller Men-
schen als Subjekte im Hinblick auf ihre Würde und Rechte durch die An-
wendung des Prinzips der Gerechtigkeit zu realisieren. Dieses Prinzip ist
dabei selbst in seiner Bedeutung umstritten, weil nicht nur die grundsätzli-
che Gleichheit im Hinblick auf Würde und Rechte, sondern auch die fakti-
sche Ungleichheit unter uns Menschen von entscheidender Bedeutung ist.33
So wäre ein reiner Gerechtigkeitsegalitarismus (lateinisch: aequalitas = Gleich-
heit) in allen Belangen, wonach alle in allem das Gleiche zu bekommen
haben, schlicht unsinnig, denn wir Menschen haben unterschiedliche Ge-
schmäcker und unterschiedliche Vorlieben. Diese Form der – umgangs-
sprachlich – Gleichmacherei verfehlt den Sinn des Gerechtigkeitsprinzips.
Auch würde beispielsweise eine völlig gleiche Entlohnung unterschiedlicher
Tätigkeiten ohne jede Rücksicht auf ein meritokratisches (lateinisch: merere
= verdienen) Element, also ohne eine angemessene Berücksichtigung des

32 Freilich darf diese ethische Forderung nicht mit einer rechtlichen Interpretation
der Menschenwürde im Grundgesetz verwechselt werden. Hier ist nämlich herr-
schende Meinung, dass dieser Würdeanspruch ebenso wie die mit ihm verbunde-
nen Grundrechte keine Pflichtdimension beinhaltet. Allerdings kann eigens wie
bei der in Art. 14 II GG festgelegten Sozialbindung im Fall des Grundrechts
auf Privateigentum praktisch eine dem Recht korrespondierende Pflicht rechtlich
verbindlich sein: „Eigentum verpflichtet“.
33 Vgl. zu den folgenden Überlegungen Rawls (2002) [1971], Höffe (1994, 2002 und
2004) und Horn (2003, 92–100).
104 Teil II Systematische Grundlegung

Geleisteten, negativ auf die Leistungsbereitschaft zurückschlagen. Dagegen


wäre ein gerechtigkeitstheoretischer Inegalitarismus im Hinblick auf das
Abwehrrecht auf Leben nicht hinnehmbar: Alle Menschen haben das glei-
che Recht auf Leben.

6.2.1 Grundlegende Voraussetzung für das Verständnis von


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Gerechtigkeit

Eine weit verbreitete Überzeugung, wie Gerechtigkeit verwirklicht wird,


sieht folgendermaßen aus: Menschen teilen miteinander und gleichen so
Ungleichheiten in der Gesellschaft zumindest zu einem gewissen Grad aus.
Auf diese Weise wird Gerechtigkeit verwirklicht. Diese Gerechtigkeitsvor-
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stellung bezieht sich auf konkrete Handlungen. Gerechtigkeit wird als Tu-
gend handelnder Personen verstanden. Ungerechtigkeit erweist sich in ei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nem Verhalten, das danach strebt, Gewinn zu Lasten anderer zu machen.


Für diese Gier nach einem Vorteil zum Nachteil anderer ist seit der Antike
der Begriff der Pleonexia (griechisch: pleon echein = mehr haben wollen) in Ge-
brauch. Heutige Diskussionen um gierige Manager spiegeln diese Überzeu-
gung wider.
Doch eine solche Vorstellung von Gerechtigkeit ist in zweifacher Hin-
sicht zu einfach. Zum einen ist die Verengung auf eine wirtschaftsethische
Dimension nicht ausreichend, zum anderen übersieht die Fokussierung auf
das Handeln, welche Bedeutung die Handlungsbedingungen für das Han-
deln haben, denn diese Handlungsbedingungen, also die Ausgestaltung von
Institutionen und ihren Befugnissen ist für konkrete gerechte Handlungen
von zentraler Bedeutung (vgl. Homann/Blome-Drees 1992, 27f ).
Die Bedeutung von Handlungsbedingungen, also einer Rahmenordnung
für konkrete Handlungen lässt sich mit Hilfe eines einfachen Beispiels gut
erläutern. Wenn in der Bundesliga Profifußball gespielt wird, gibt es zum
einen die Regeln (Rahmenordnung/Regelebene), was als Tor, was als Foul,
was als Abseits gilt usw. Auf der anderen Seite stehen die konkreten Spiel-
züge, die Aktionen der einzelnen Spieler (Handlungsebene). Das Regelwerk
bildet den Rahmen. Die Mannschaften wissen, dass sie nur mit jeweils elf
Spielern auf dem Feld stehen dürfen, dass nur einer dieser Spieler in einer
von Regeln festgelegten Zone, dem Strafraum, die Hände benutzen darf
usw. Je mehr auf dem Spiel steht, im Profifußball unter Umständen die ei-
gene berufliche Existenz, umso mehr besteht die Versuchung, die Regeln zu
Menschenrechte und Menschenpflichten 105

verletzen, um eigene Vorteile zu erzielen. Um dauernde Regelverstöße zu


vermeiden, die langfristig das Spiel zerstören würden, gibt es den Schieds-
richter als Instanz, der dafür sorgt, dass Regelverstöße geahndet werden. Der
Schiedsrichter ist damit der Garant des fairen Spiels. Die Spieler sind zwar
die direkt Beteiligten, aber ohne den Schiedsrichter würde langfristig Profi-
fußball nicht funktionieren, selbst wenn alle Beteiligten beste Absichten
hätten. Zu leicht kann es zu einem Streit kommen, ob der Ball im Aus ge-
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wesen ist oder nicht, ob eine Attacke des Abwehrspielers bereits als Regel-
verstoß oder nur als körperbetontes Spiel gewertet werden sollte usw.
Was hier für ein einfaches Spiel gilt, spielt eine umso größere Rolle, wenn
es darum geht, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Sie bedarf der Handlungsbe-
dingungen, die eine doppelte Funktion haben: Als Regelwerk stellen sie den
institutionellen Rahmen für individuelle und soziale Gerechtigkeit dar, als
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Sanktionsinstanzen sorgen sie für die Durchsetzbarkeit der Gerechtigkeit


sowohl im individuellen Bereich als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

6.2.2 Maßgebliche Unterscheidungen der Gerechtigkeit im


Anschluss an Aristoteles

Der griechische Philosoph Aristoteles hat als erster eine systematische Klä-
rung unterschiedlicher Bedeutungen von Gerechtigkeit durchgeführt und
dieser Aufgabe das gesamte fünfte Buch seiner Nikomachischen Ethik ge-
widmet. Damit liefert er ein sehr hilfreiches Grundgerüst, um in der Frage,
was das Prinzip der Gerechtigkeit bedeutet und wie dieses Prinzip zu reali-
sieren ist, mehr Klarheit zu gewinnen.

Die allgemeine Gerechtigkeit: die Bedeutung der Gesetzeskonformität


Interessanterweise hat Aristoteles dabei bereits eine Dimension von Ge-
rechtigkeit im Hinblick, die bei der üblichen individualethischen Behand-
lung seiner Gerechtigkeitskonzeption oftmals keine große Beachtung findet,
aber gerade für heutige Fragestellungen nach einer gerechten Rahmenord-
nung von zentraler Bedeutung ist. Gerechtigkeit bedeutet für Aristoteles
nämlich nicht nur die Gesamtheit aller Tugenden des Einzelnen als Geset-
zeskonformität, d. h., der Einzelne verhält sich als notwendige Bedingung
gesetzeskonform im engen Sinn und erfüllt als hinreichende Bedingung den
Sinn der Gesetze (Gesetzeskonformität im weiten Sinn: Rechtsgesinnung
und ihre Verwirklichung), vielmehr hat Gerechtigkeit auch eine institutio-
106 Teil II Systematische Grundlegung

nelle Seite (im weiten Sinn), also von der Hausgemeinschaft bis zu politi-
schen Institutionen: „Deswegen gibt es umso mehr ein Gerechtes der Frau
gegenüber als den Kindern und dem Besitz, dies nämlich ist das Recht im
Haus. Ein anderes Recht aber ist das im politischen Bereich. Von dem poli-
tischen Gerechten ist das eine naturgegeben, das andere gesetzlich. Das na-
turgegebene Gerechte hat überall die gleiche Autorität und hängt nicht von
der Meinung der Menschen ab, beim Gesetzten kommt es von seinem Ur-
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sprung her nicht darauf an“ (Aristoteles EN, 1134b15–21).


Zugleich führt Aristoteles damit eine weitere sehr wirkmächtige Unter-
scheidung ein. So geht er unbefangen von dem naturgegebenen Gerechten
aus und unterscheidet dieses vom positiven Recht. Die eigentliche Schwie-
rigkeit liegt hierbei, wie bereits im Hinblick auf die Naturrechtslehren ange-
sprochen, in der konkreten Bestimmung des naturgegebenen Gerechten.
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Dennoch lässt sich – über Aristoteles hinaus – vor dem Hintergrund des
Menschenwürdeprinzips und der damit verbundenen Menschenrechte sa-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gen, dass diese wohl unter das von Natur aus gegebene Gerechte fallen und
gerade nicht menschliche Konstruktionen sind. Darum ist ihre eigentliche
Begründungsdimension eine universelle Menschheitserfahrung und gerade
nicht bloß eine vertragliche Abmachung.
Aristoteles kennt, um nochmals zu der sehr wichtigen obigen Unter-
scheidung zurückzukehren, nicht nur eine Gerechtigkeit des Einzelnen,
sondern auch die Idee von gerechten Institutionen, selbst wenn er noch
nicht den modernen Begriff der Gerechtigkeit von Institutionen verwendet.
So versteht er die Individualethik nur als Teilbereich der politischen Wis-
senschaft. Letztgenannte ist die Leitwissenschaft: „Denn sie befiehlt, welche
Wissenschaften in den Staaten nötig sind, welche ein jeder lernen muss und
in welchem Maß. […] Darüber hinaus macht sie Gesetzesvorschläge, was
man zu tun und zu lassen hat.“34 Diese aristotelische Aussage interpretiere
ich dahin, dass er uns damit zu verstehen gibt, was für eine zentrale Bedeu-
tung Institutionen haben, weswegen die Individualethik nur einen Teilbe-
reich der Ethik der Institutionen darstellt, und die Gerechtigkeit des Einzel-
nen der Gerechtigkeit von Institutionen untergeordnet bleibt.

34 Aristoteles (EN, 1094a26–1094b6) relativiert damit ganz am Anfang seiner indi-


vidualethisch angelegten Nikomachischen Ethik genau diese und ordnet sie der
politischen Wissenschaft als Leitwissenschaft unter. Vgl. auch den Abschnitt zu
den Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts.
Menschenrechte und Menschenpflichten 107
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Abb. 12 Gerechtigkeit nach Aristoteles I [Quelle: nach Höffe 2004, 25]

Allerdings kennt Aristoteles für die Gerechtigkeit von Institutionen noch


nicht den Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Dieser Terminus wurde erst-
mals vom Jesuiten Taparelli Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet. Weltweit
hat sich dieser Begriff auch mit Hilfe von Rawls Standardwerk Eine Theorie
der Gerechtigkeit durchgesetzt, das von der sozialen Gerechtigkeit als erster
Tugend sozialer Institutionen spricht (Rawls 1999 [1971], 3). Dabei fasst er
unter die sozialen Institutionen die gesamte Grundstruktur der Gesellschaft
einschließlich politischer Institutionen, soweit sie Grundrechte und funda-
mentale Pflichten verteilen (ebd., 6).
Doch auch wenn Aristoteles noch nicht den Begriff der sozialen Gerech-
tigkeit kennt, so zeigen seine Überlegungen, wie sehr er sich bereits der Tat-
sache bewusst ist, dass eine gerechte Rahmenordnung von Nöten ist und
diese dabei am Naturrecht Maß zu nehmen hat. Dieser gerechten Rahmen-
108 Teil II Systematische Grundlegung

ordnung, verstanden als Gesetz, korrespondiert eine Gesetzeskonformität


aller Beteiligten, seien es Einzelne oder Institutionen.
Vor diesem Hintergrund der sozialethischen Dimension von Gerechtig-
keit lassen sich darum die bisher genannten aristotelischen Unterscheidun-
gen (hier auch mit ihren klassischen lateinischen Übersetzungen, die ihre
fortdauernde Wirkmächtigkeit unterstreichen) in folgender Weise weiter-
führen und meiner Ansicht nach in Anlehnung an Höffe modern interpre-
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tieren.

Die besondere Gerechtigkeit: Verteilungsgerechtigkeit


und ausgleichende Gerechtigkeit
Aristoteles hat weitere Unterscheidungen in seine Gerechtigkeitskonzep-
tion eingeführt, die bis heute von höchstem systematischem Interesse sind
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und bei vielen aktuellen Gerechtigkeitsfragen eine zentrale Rolle spielen. Es


handelt sich hierbei um seine Untergliederung der besonderen Gerechtig-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

keit in Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit, lateinisch: distri-


buere = verteilen) und die den „vertraglichen Verkehr“ (EN 1131a1) ordnende
Gerechtigkeit, die später lateinisch als iustitia regulativa bezeichnet wurde.
Sie ist wiederum in die Tauschgerechtigkeit (lateinisch: iustitia commutativa)
und die richtende Gerechtigkeit (lateinisch: iustitia correctiva) ausdifferen-
ziert. Worum geht es bei diesen Formen der Gerechtigkeit? Es geht um die
gerechte Mitte im Ausgleich der unterschiedlichen Ansprüche.
Beginnen wir mit der Verteilungsgerechtigkeit im klassischen Sinn als
einer Entscheidung, die vom politischen System abhängig ist, das die jewei-
lige Würdigkeit ihrer Bürger definiert. So erhält im klassischen Beispiel der
Feldherr von der Kriegsbeute einen größeren Anteil als der gemeine Soldat.
Aristoteles nennt diese Verteilung „geometrisch“. Hier wird nach dem Ver-
dienstaspekt zugeteilt. Doch lässt sich natürlich fragen, ob diese Zuteilung
wirklich gerecht ist. Aristoteles selbst hat das Problem bereits erkannt, wenn
er schreibt, dass die Demokraten die „Würdigkeit“, wonach zugeteilt wird, in
der Freiheit sehen, die Oligarchen im Reichtum, wieder andere in der Ab-
stammung und die Aristokraten im Sinne der tüchtigsten Bürger in der
Tüchtigkeit (vgl. EN 1131a27–29).
Bei der klassischen reinen ausgleichenden Gerechtigkeit erhält dagegen
jeder den genau gleichen Anteil. Das klassische Beispiel hierfür ist das Teilen
eines Kuchens, bei der jeder denselben Anteil erhält. Idealerweise gilt dies
auch für die richtende Gerechtigkeit, bei der jeder gleich zu behandeln ist.
Aristoteles nennt diese Verteilung arithmetisch.
Menschenrechte und Menschenpflichten 109

In den meisten ökonomischen und sonstigen Tauschverträgen handelt es


sich jedoch um eine Mischung beider Aspekte der Gerechtigkeit, weil sie
nicht nur auf individueller Ebene ablaufen, sondern zugleich in institutio-
nelle Arrangements eingebunden sind. Diese institutionellen Arrangements,
seien sie staatlich oder nicht, bringen vielfach distributive Gerechtigkeits-
überlegungen ein. So gewährleistet beispielsweise eine staatliche Rahmen-
ordnung, sei es direkt oder indirekt, dass sich die Bürger die für das Leben
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notwendigen Lebensmittel kaufen können. In der Familie achten die Eltern


darauf, dass die jüngeren Kinder auch zu ihrem Recht kommen, selbst wenn
sie, objektiv gesehen, weniger einzutauschen haben.

Transzendentale Tauschgerechtigkeit als Verbindung distributiver


und ausgleichender Gerechtigkeit
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Mit Höffe (1987; 2004, 68–70, 74–78) lässt sich unter einer Weiterführung
dieser Überlegungen die Verteilung der Grundgüter als Tauschgerechtigkeit
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

verstehen, wenn man Tauschgerechtigkeit nicht rein ökonomisch betrachtet.


In der Hausgemeinschaft sorgen die Eltern für ihre Kinder, und sie können
dabei davon ausgehen, dass diese wiederum für sie sorgen werden, wenn sie
die Hilfe der Kinder im Alter benötigen. Hier ist der Tausch noch sehr gut
vorstellbar. Er ist aber bereits heute in den meisten Staaten zugleich geord-
net und damit dem rein familiären Tausch entzogen, insofern es staatliche
Rentenregelungen gibt, die nicht nur reine Tauschelemente, sondern auch
distributive Elemente enthalten.
In Verbindung mit dem Vertragsmodell von Gewirth lässt sich mit Höffe
die Tauschgerechtigkeit aber auch auf die grundlegenden Bedingungen der
Handlungsfähigkeit jedes Menschen ausweiten, also auf die mit seiner Men-
schenwürde und den damit verbundenen Menschenrechten notwendigen
Grundgüter (im weiten Sinn des Wortes): das, was materiell und immateriell
zum Leben nötig ist. Da dies notwendige Bedingungen sind, spricht Höffe
hier in Anlehnung zum kantischen Sprachgebrauch (vgl. 2.2.1) vom „trans-
zendentalen Tausch“. Da für alle Menschen die Abwehrrechte als notwen-
dige Bedingungen wechselseitig gelten, ist es ein Tausch. Diese Rede von ei-
nem Tausch ist, weit gefasst, auch für Anspruchsrechte anwendbar, weil
prinzipiell alle Menschen gegenseitig dazu verpflichtet sind, sich diese zu
ermöglichen. Daran ändert auch nichts, dass rein faktisch manche Men-
schen dazu nie in der Lage sein werden und dass wie im Fall der Eltern-
Kind-Beziehung der Tausch phasenverschoben vollzogen wird und teilweise
institutionell überformt ist. Die zu diesem Tausch (im weiten Sinn) befähi-
110 Teil II Systematische Grundlegung

gende Grundhaltung ist auch das, was oftmals mit „Solidarität“ (lateinisch:
solidus = fest) 35, zu der wir verpflichtet sind und auf die wir umgekehrt auch
einen Anspruch haben, bezeichnet wird. Das Prinzip der Solidarität bean-
sprucht, so verstanden, strukturell unbegrenzte und universelle Geltung.
Entscheidend ist dabei, den transzendentalen bzw. solidarischen Tausch
nicht als Nullsummenspiel anzusehen, denn jeder profitiert von dem Tausch.
Der Arme gewinnt seine notwendigen Handlungsbedingungen, der Reiche,
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mit dessen als Steuern eingezogenem Geld Arme unterstützt werden kön-
nen, gewinnt ebenfalls, denn der Arme muss nicht stehlen, um überleben zu
können; der Arme hat auch keine Veranlassung eine Revolutionen zu pla-
nen. Also muss der Reiche keine Angst um sein Eigentum haben. Darüber
hinaus kann sich der Reiche, ob er das nun faktisch empirisch in Betracht
zieht oder nicht, über das Arrangement des Tauschs darauf verlassen, dass
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auch er Unterstützung finden wird, sollte er einmal seinen Reichtum verlie-


ren und zu den Ärmeren gehören.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Damit der transzendentale Tausch aber auch für alle Seiten von Vorteil
bleibt – er gilt wie gesagt nicht nur für Individuen, sondern auch für Institu-
tionen – ist er in entscheidender Weise durch das Prinzip der Subsidiarität
(lateinisch: subsidium = Hilfe) zu ergänzen. Dieses Prinzip besagt, dass Soli-
darität erst dann von Nöten ist, wenn der Einzelne oder kleinere „Lebens-
kreise“ ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können – freilich bleibt es
immer eine bleibende Herausforderung festzustellen, wann der Einzelne
bzw. Hausgemeinschaften usw. dazu nicht mehr in der Lage sind. Das Prin-
zip der Subsidiarität schützt somit den Einzelnen und kleinere Gemein-
schaften vor permanenten mit dem Prinzip der Solidarität begründeten
staatlichen, aber auch sonstigen nicht nötigen und auch nicht gewollten
Eingriffen. Das Prinzip der Solidarität wird auf diese Weise durch das Prin-
zip der Subsidiarität „gezähmt“. Vor diesem Hintergrund scheint der Begriff
des transzendentalen Tausches umso angemessener, denn er drückt gerade
die Grenze des Handelns sozialer Institutionen, aber auch der Hilfeleistun-
gen Einzelner aus. Die Grenze wird überschritten, wo nicht mehr notwen-
dige Handlungsbedingungen gesichert werden, sondern beispielsweise eine
Institution sich anmaßt in Freiheitsrechte einzugreifen.

35 Der Ursprung des Solidaritätsgedankens stammt aus dem römischen Recht, frei-
lich in einem ganz spezifischen Sinn: Solidarität bedeutete als obligatio in solidum
die gemeinschaftliche Haftung, z. B. einer Familie.
Menschenrechte und Menschenpflichten 111

Ein gutes Beispiel für die vornehmlich solidarische Sicherung der Grund-
güter stellt das System gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland dar. Die-
ses System ist solidarisch konzipiert und operiert mit einer Mischung von
Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit. Der Verteilungs­
aspekt ist dabei sozusagen umgestülpt. Jeder zahlt in das System nach seinen
Möglichkeiten ein (Anwendung des Subsidiaritätsprinzips), wer mehr ver-
dient mehr, wer weniger verdient weniger, auch wenn prozentual der gleiche
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Wert festgelegt ist. Dagegen bekommt jeder das Gleiche im Krankheitsfall


an Leistungen heraus (Anwendung des Solidaritätsprinzips).
Ein gutes Beispiel für die vornehmlich subsidiär gestaltete Sicherung von
Grundgütern zeigt sich im Rentensystem, bei dem darum auch die arithme-
tische Gerechtigkeit im Vordergrund steht. Wer viel einzahlt, erhält auch
viel zurück. Zudem gibt es eine Fülle privater Vorsorgemöglichkeiten, die
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völlig ins Belieben der Betroffenen gestellt sind. Dennoch bleibt ein wesent-
licher Verteilungsgerechtigkeitsaspekt erhalten: Wer zu wenig Rente oder
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gar keine Rente erhalten würde, kann im Fall der Bedürftigkeit Anspruch
auf einen bestimmten Rentenbetrag erheben, der dann solidarisch finanziert
wird.

Der kategoriale Tausch als zweite Form der Verbindung distributiver


und ausgleichender Gerechtigkeit
Sonstige Tauschgeschäfte, die nicht die notwendigen Handlungsbedin-
gungen verbürgen, könnte man dann im Gegensatz zum transzendentalen
Tausch als kategorialen (griechisch: kategorein = direkt benennen) Tausch be-
zeichnen. Auch hier handelt es sich meist um Mischungsverhältnisse aus
Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit. Das Geld ist
das Mittel, dass den Tausch ermöglicht, denn es wird gerade nicht das Glei-
che getauscht, sondern Verschiedenes, dem ein Geldwert zugeteilt wird. So
wird eben auch Arbeit gegen Geld getauscht, nicht nur Waren.

Das zentrale Kriterium der „Angemessenheit“


Die Zuteilung dieses Geldwerts ist dabei solange unproblematisch, solange
sich ein Markt entwickelt hat, der zu einer angemessenen Bewertung der
unterschiedlichen zu tauschenden Güter einschließlich der Arbeitskraft
führt. Problematisch – und das zeigen aktuelle Diskussionen – wird es, wenn
Güter unangemessen bewertet zu sein scheinen: Wenn ein Manager eines
Unternehmens ein Gehalt bekommt, welches das Gehalt des durchschnitt-
lichen Arbeitnehmers um den Faktor 100 übersteigt und trotzdem eine wei-
112 Teil II Systematische Grundlegung

tere Gehaltserhöhung von fünfzehn Prozent erhält, tariflich gebundene Ar-


beitnehmer dagegen nur drei Prozent, dann scheint für viele dieser
kategoriale Tausch nicht mehr fair zu sein. Warum sollte nicht auch der
durchschnittliche Arbeiter in ähnlicher Weise am Gewinn eines florieren-
den Unternehmens beteiligt werden, sodass entweder alle fünfzehn Prozent
erhalten oder alle drei Prozent? Dies erinnert an die alte Frage, welcher Preis
für ein Glas Wasser in der Wüste angemessen ist, der mein Verdursten ver-
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hindern kann. Wenn der Anbieter ein Monopol hat, könnte er mich unan-
gemessen ausbeuten und einen exorbitant hohen Geldbetrag für das rettende
Wasser verlangen, da es ja meine Leben retten würde. Aristoteles würde
ein solches ausbeuterisches Verhalten als Pleonexia, als Gier nach „Mehr“
brandmarken und für unmoralisch ansehen. Wie aber wäre dieses Verhalten
in einer freien Marktwirtschaft zu werten?
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Abschließende Übersicht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Aus dem Vorausgehenden ergibt sich folgende von Aristoteles inspirierte,


aber ihn auch weiterführende Einteilung:

Abb. 13 Gerechtigkeit nach Aristoteles II [Quelle: nach Ottmann 2001, 151]

6.2.3 Gerechtigkeit als Anspruch und Verpflichtung

Die an Aristoteles orientierten und durch vertragstheoretische Überlegun-


gen erweiterten Unterscheidungen sind bis heute hilfreich, um entschei-
dende Kontroversen über die Bedeutung der Gerechtigkeit zu verstehen.
Dabei sind dies besonders Kontroversen im Hinblick auf die soziale Gerech-
tigkeit, also die Gerechtigkeit von Institutionen.
Menschenrechte und Menschenpflichten 113

Grundsätzliche Fragen
Nehmen wir die gerade differenzierten Dimensionen der Gerechtigkeit
ernst, so scheint es unkontrovers zu sein, dass jeder Mensch aufgrund seiner
im Prinzip der Menschenwürde ausgesagten grundsätzlichen Gleichheit
einen Anspruch darauf hat, bei der richtenden Gerechtigkeit gleich behan-
delt zu werden. Der Richter bzw. die Geschworenen (je nach Land) dürfen
sich beim Urteil nicht davon leiten lassen, welchen Glauben, welches Ge-
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schlecht, welche Nationalität usw. der Straftäter hat. Vielmehr gilt es ein der
Sache entsprechendes, nicht der Person entsprechendes Urteil zu fällen. Das
bedeutet freilich nicht, dass jeder Diebstahl gleich zu bewerten ist. Wer
immer wieder stiehlt, ist anders zu verurteilen als ein Ersttäter, aber die
grundsätzliche Gleichheit gilt gerade dadurch, dass jeder Ersttäter und je-
der Wiederholungstäter im Rahmen des geltenden Rechts gleich zu behan-
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deln ist. Dementsprechend sind die Institutionen auszugestalten. Dabei ist


es von keiner entscheidenden Bedeutung, ob beispielsweise Geschworene
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

wie in den USA oder der Richter wie in Deutschland über die Schuld oder
Nicht-Schuld des Angeklagten entscheiden. Entscheidend ist, dass die
Rechtsstruktur diese grundsätzliche Gleichheit wahrt. Staaten, die diese
richtende Gerechtigkeit anders handhaben, gelten darum als Unrechts­
staaten.
Auch ist vor dem Hintergrund des Menschenwürdeprinzips unstrittig,
dass jeder Mensch einen Anspruch auf Grundgüter hat, die er benötigt, um
seinen Subjektstatus zu sichern, und die seiner grundsätzlichen Gleichheit
mit allen Menschen entsprechen.
Dagegen ist fast alles strittig, was in die Bereiche der Verteilungs- und
der Tauschgerechtigkeit fallen soll. Zwar erscheint die Tauschgerechtigkeit
bei freiwilligen Tauschhandlungen auf den ersten Blick nicht kontrovers zu
sein: Jeder zahlt den gleichen Preis für ein paar Schuhe. Doch wie sind diese
konkret freiwilligen kategorialen Tauschleistungen von den transzendental
genannten Tauschleistungen zu unterscheiden: Wann muss die Allgemein-
heit einspringen, um einem Menschen Schuhe zu kaufen? Anders gefragt:
Nach welchen Kriterien wird seine „Schuhbedürftigkeit“ festgestellt? Auch
stellt sich damit verbunden das Problem: Inwieweit kann dem Einzelnen
selbst zugemutet werden, die Versorgung mit Grundgütern wie Grundnah-
rungsmittel, notwendigen Bildungsgütern und Gesundheitsleistungen, aber
natürlich auch im Hinblick auf alles, was sonst zum Leben nötig ist (Woh-
nung usw.), zu bestreiten. So wird dem „Reichen“ das Bildungsgut „Schule“
in Deutschland genauso geschenkt wie dem, der es sich selbst niemals leisten
114 Teil II Systematische Grundlegung

könnte. Bei der Versorgung mit gleichen Gesundheitsleistungen werden da-


gegen „Reichere“ stärker in die Pflicht genommen als „Ärmere“, während die
noch „Reicheren“ sich das Gut nach Marktpreisen von privaten Versiche-
rungen kaufen können.
Ebenfalls strittig ist, wann immaterielle Grundgüter wie die individuel-
len Grundfreiheiten und die politischen Bürgerrechte gewahrt sind und hier
die Gleichbehandlung aller gegeben ist.
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Dazu kommt eine weitere offene Frage: Was gehört zu den notwendigen
Grundgütern? Abwehrrechte lassen sich meist gut benennen: Niemand darf
einen Menschen töten, und das gilt in gleicher Weise für alle Menschen,
abgesehen von Situationen der Notwehr oder Nothilfe. Dagegen sind An-
spruchsrechte auf Grundgüter in vielen Fällen deutungsoffen, und ihre
Reichweite ist kontrovers. Typische Beispiele hierfür sind die unterschiedli-
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chen Gerechtigkeitsvorstellungen im Hinblick auf die Reichweite des An-


spruchs auf Güter wie Bildungs- und Gesundheitsgüter, aber auch, ob bei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

spielsweise ein Fernseher zur Lebensgrundlage eines Sozialhilfeempfängers


zu gehören hat. So haben in den USA alle Menschen zwar einen Anspruch
auf eine kostenlose, eher auf nicht so hoch stehendem Niveau befindliche
Grundschul- und High-School-Ausbildung, aber eben nicht auf eine kos­
tenlose Collegeausbildung. Die Folge davon ist, dass fast jeder, der es nur
irgendwie finanzieren kann, seine Kinder auf Privatschulen schickt und da-
für teils erhebliche Summen ausgibt. In Deutschland ist die staatliche Schule
auf einem in den meisten Bundesländern so hohen Niveau, dass Privatschu-
len (noch) nicht den großen Markt gefunden haben. Umstritten ist aber, ob
die Hochschulausbildung kostenlos sein soll, ob also diese Ausbildung zu
den Grundgütern gehört, auf die jeder mit entsprechenden schulischen
Voraussetzungen einen Anspruch hat, sie kostenlos erhalten zu dürfen oder
nicht.
Aber nicht nur bei direkten staatlichen Aufgaben stellen sich wichtige
Fragen. Auch die bereits oben angesprochene Thematik der hohen Löhne
handelt nicht nur davon, wie hoch die Marktpreise für eine bestimmte Ar-
beit sind, sondern auch ob dieser Marktpreis angemessen ist. Wird nicht
eine Rahmenordnung benötigt, die verhindert, dass ein überzogener Markt-
preis sozusagen ausbeuterisch verlangt und auch gezahlt wird: Ist beispiels-
weise die Arbeit eines Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn wirklich
so viel mehr wert als die Arbeit eines Zugbegleiters? Bei Austauschgeschäf-
ten gilt: Käufer und Verkäufer müssen den Eindruck eines fairen Handels
haben, dann ist der austauschenden Gerechtigkeit Genüge getan. Diese Un-
Menschenrechte und Menschenpflichten 115

terscheidungen gelten freilich nicht nur für Einzelindividuen, sondern ge-


rade auch für das „Handeln“ von Institutionen.

Der transzendentale Tausch als globale Realisierung


von Solidarität und Subsidiarität
Die genannten Kontroversen sind Thema einer Fülle ethischer und politi-
scher Debatten. Dennoch wage ich im Folgenden ein Lösungsangebot, das
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natürlich nur skizzenhaft sein kann und sehr im Allgemeinen bleiben muss.
Konkretionen werden sich zum Teil in den einzelnen Bereichsethiken fin-
den lassen.
Die gesellschaftlichen Institutionen sind so einzurichten, dass die Grund-
güter, die wir zum Leben und zum Handeln im grundsätzlichen Sinn be­
nötigen, für alle verfügbar sind. Das bedeutet aber, dass Grundgüter wie
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notwendige Nahrungsmittel, Bildungs- und Gesundheitsleistungen allen


Menschen in allen Ländern dieser Erde verfügbar zu machen sind. Man
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

mag dabei lange streiten, ob ein Fernseher zu den notwendigen Grundgü-


tern gehört oder nicht, unzweifelhaft ist, dass Nahrung mit einer bestimm-
ten Kalorienzahl für die meisten Menschen die untere Grenze darstellt und
dass genau diese Nahrung nicht allen Menschen zur Verfügung gestellt wird.
Dasselbe gilt für Bildungs- und Gesundheitsleistungen. Auch hier lässt sich
über die konkreten Leistungsbegrenzungen streiten und im Sinne des Prin-
zips der Subsidiarität sogar die Frage stellen, warum beispielsweise allen
Menschen das Gut Bildung kostenlos zur Verfügung gestellt wird, auch
wenn manche Eltern reich genug wären, für dieses Gut zu bezahlen. Aber es
besteht doch kein Zweifel, dass das Recht auf Gesundheitsleistungen und
auf Bildung verletzt wird, wenn nicht einmal die Möglichkeit besteht, bei
einer Krebserkrankung behandelt zu werden oder Lesen und Schreiben zu
lernen. Darum ist auch hier die Nationalisierung oder gar Regionalisierung
im Zur-Verfügung-Stellen der Leistungen verfehlt, wenn dadurch nur man-
chen, aber gerade nicht allen Menschen diese Leistungen zur Verfügung
gestellt werden. Auch hier fehlt es an effektiven transnationalen Strukturen,
die dort Solidarität verwirklichen, wo die eigenen Mittel (eines Staats, einer
Region) fehlen, oder die die Führung eines Staats sanktionieren können,
wenn die Mittel zwar vorhanden sind, aber missbräuchlich verwendet oder
abgezweigt werden.
In der Theorie wäre es ideal, wenn für jeden Menschen solidarisch und
weltweit gesichert die Grundgüter zur Verfügung gestellt werden könnten.
Zugleich wäre es ideal, wenn alle Menschen für diese solidarische Aktion in
116 Teil II Systematische Grundlegung

die Pflicht genommen werden könnten. Wer von der Gemeinschaft Hilfe
bekommt, sollte auch im Rahmen seiner Möglichkeiten etwas für die Ge-
meinschaft tun. Wer arbeiten kann, soll arbeiten. Es sind verfehlte Anreiz-
strukturen, wenn Nichtarbeitende sich der Arbeit verweigern und die Soli-
darität anderer ausbeuten können. Auch sollten die Arbeiten, die nicht
zureichend honoriert werden, um die Grundgüter zu sichern, in einer Weise
bezuschusst werden, dass jeder Mensch seine notwendigen Handlungsbe-
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dingungen realisieren kann. Dies wird von Nation zu Nation, Region zu


Region verschieden sein – und der Streit wird bleiben, wie die Grenzen ge-
nau zu ziehen sind, aber die prinzipielle universelle Geltung von Menschen-
würde und Menschenrechten wäre durch diesen transzendentalen Tausch
verwirklicht.
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Vertiefung: Transzendentaler Tausch und das rawlssche Differenzprinzip


Dieser so verstandene transzendentale Tausch ist nicht mit dem für die Gerech-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

tigkeitsdiskussion sehr einflussreichen Differenzprinzip von Rawls (1999 [1971],


53ff, 266) zu verwechseln. Denn für Rawls müssen alle gesellschaftlichen Un-
gleichheiten so beschaffen sein, dass sie gerade den am schlechtesten Gestell-
ten Vorteile bringen. Zudem darf es keine Veränderungen geben, wenn diese
nicht den am schlechtesten Gestellten Vorteile bringen. Dagegen sichert der
transzendentale Tausch die grundsätzliche Gleichheit aller durch eine Gleichver-
teilung der Grundgüter im Sinne der notwendigen Handlungsbedingungen. Al-
les, was darüber hinausgeht, ist darum gerade nicht mehr davon abhängig, ob es
auch für die am schlechtesten Gestellten in der Gesellschaft von Vorteil ist. Da-
mit ist diese Gerechtigkeitskonzeption des transzendentalen Tauschs auch im-
mun gegen zwei wesentliche Kritikpunkte der rawlsschen Konzeption:
1. Sie benötigt nicht die Konstruktion eines „Schleiers des Nichtwissens“ in
Kombination mit dem Maximinprinzip, d. h. der Annahme, dass Menschen vom
„Worst-Case-Szenario“ ausgehen. Rawls geht nämlich davon aus, dass wir,
wenn wir nicht wüssten, welche Rolle wir einmal in der Gesellschaft einnehmen,
die Gesellschaft so einrichten würden, als ob wir den schlechtesten Platz ein-
nehmen müssten und deshalb den schlechtesten Platz möglichst gut ausgestal-
ten würden.
2. Sie erlaubt im Unterschied zu Rawls beispielsweise die Besserstellung von
Menschen, die zwar nicht am schlechtesten gestellt sind, aber dennoch sehr
bescheiden leben, ohne dass damit notwendigerweise auch die am schlechtes-
ten Gestellten profitieren müssen. Sie erweitert damit sowohl für kategoriale
Tauschhandlungen als auch für die Verteilungsgerechtigkeit Spielräume der
Freiheit, die der Ansatz von Rawls verstellt.
Menschenrechte und Menschenpflichten 117

Kategorialer Tausch und Freiheit


Unter der Annahme, der transzendentale Tausch sei vollzogen, ist beim ka-
tegorialen Tausch darauf zu achten, die fundamentale Freiheit zu wahren,
die als Selbstbestimmungsrecht ein menschliches Grundrecht darstellt, das
direkt mit dem Prinzip der Menschenwürde verbunden ist. Diese Freiheit
sollte analog für Institutionen gelten. Auch diese sollten frei tauschen und
verteilen können. Dabei gehört es zu den Aufgaben von Institutionen, einer-
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seits für faire Bedingungen im Rahmen der kategorialen Tauschgerechtig-


keit und der Verteilungsgerechtigkeit zum Wohl des Einzelnen zu sorgen,
andererseits aber auch dafür zu sorgen, dass diese Bedingungen um des Ge-
meinwohls willen nicht gefährdet werden.

Ergebnis: Soziale Gerechtigkeit als Realisierung des individuellen Wohls


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und des Gemeinwohls


Als Ergebnis lässt sich damit festhalten: Soziale Gerechtigkeit von Instituti-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

onen und Individuen realisiert sich als transzendentale Tauschgerechtigkeit


durch Solidarität und Subsidiarität. Sie ist für den Einzelnen Anspruch
und Verpflichtung zugleich. In diesem Feld gilt der Gleichheitsgrundsatz:
Jeder hat das gleiche Recht auf Leben und die notwendigen Bedingungen
seiner Handlungsfähigkeit. Jeder hat aber auch daran mitzuwirken, dass al-
len diese Rechte und diese notwendigen Bedingungen verfügbar gemacht
werden. Dies ist die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen der sozialen
Gerechtigkeit im Sinne des transzendentalen Tausches und der sozialen
Gerechtigkeit im Sinne legaler Gerechtigkeit. Dagegen gilt grundsätzlich
der Anspruch auf Freiheit bei allen sonstigen kategorialen Tausch- und
Verteilungs­handlungen. Aber auch hier besteht die Verpflichtung der Insti-
tutionen darin, für faire Vertrags- und Austauschbedingungen einerseits,
und faire Verteilungsbedingungen andererseits zu sorgen.������������������
Das einfache Bei-
spiel des Fußballspiels hat gezeigt, von welcher Bedeutung die Regeln für
dieses Spiel sind (Rahmenordnung, Handlungsbedingungen), wie wichtig
aber auch ein Schiedsrichter ist, der dafür sorgt, dass die Regeln beachtet
werden. Institutionen haben darum diese doppelte Aufgabe, nämlich eine
gerechte Rahmenordnung festzulegen und dann dafür zu sorgen, dass die
mit dieser Rahmenordnung verbundenen Regeln befolgt werden.36 Nur so

36 Vgl. dazu die weiter gehenden Überlegungen im Rahmen der Folgerungen für
eine Ethik der Politik und des Rechts sowie im Rahmen der einzelnen Bereichs-
ethiken.
118 Teil II Systematische Grundlegung

werden sowohl das individuelle Wohl als auch das Wohl der Gemeinschaft
realisiert, sei es in einer Hausgemeinschaft, sei es in Staaten, sei es auf glo­
baler Ebene.
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Abb. 14 Soziale Gerechtigkeit

6.2.4 Exemplifizierung: Geschlechtergerechtigkeit als berechtigtes


Anliegen von feministischer Ethik bzw. von Gender Ethics

Ein beispielhaftes ethisches Konfliktfeld, in dem seit langem um ein rechtes


Verständnis davon gerungen wird, wie das mit der Menschenwürde verbun-
dene Gleichheitsprinzip verwirklicht werden kann, stellt die Geschlechter-
gerechtigkeit dar. Unabhängig von biologischem und sozial geschaffenem
Geschlecht gelten im Rahmen des hier vertretenen Ansatzes alle Menschen
Menschenrechte und Menschenpflichten 119

als prinzipiell Gleiche. Allen kommen die Menschenrechte zu, weswegen es


eine unzulässige Diskriminierung darstellt, Menschen aufgrund ihres biolo-
gischen oder soziokulturellen Geschlechts zu benachteiligen und ihnen
Rechte zu verwehren. Hier ist auch das wichtige und berechtigte Anliegen
einer feministischen Ethik bzw. einer Gender Ethics (englisch: sex = das bio-
logische Geschlecht, gender = das sozial geschaffene Geschlecht) auszumachen.
Viele Studien der vergangenen Jahrzehnte (vgl. Pine 2002) zeigen ein-
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drücklich, wie sehr nämlich kulturelle Einstellungen Geschlechterrollen


prägen und fixieren können und damit manchmal dazu geführt haben, das
Gleichheitsprinzip zu verletzen. Das Verhältnis der freien germanischen
Frau zu ihrem Gatten lässt sich nicht mit der römischen Unterordnung der
Frau unter den pater familias vergleichen. Indianische Stämme in Nordame-
rika kannten Homosexuelle als dritte Genderkategorie neben Frauen und
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Männern. Auch die griechische Kultur, exemplifiziert in Platons Mythos


vom ursprünglichen Menschen (Symp 189d6–193d6), kennt sozusagen eine
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dritte Kategorie. Die arbeitende Bäuerin in einer landwirtschaftlich gepräg-


ten mittelalterlichen Kultur ist in ihrer Geschlechterrolle nicht mit der Bür-
gersfrau des 19. Jahrhunderts zu vergleichen, die daheim ihre Kinder erzieht.
Eunuchen spielen in vielen Kulturen, am Hof des Sultans wie des chine­
sischen Kaisers, eine bedeutende Rolle. In anderen Kulturen ist dies ein
Schimpfwort.
Historische Studien zeigen dabei auf, welche Formen von Stereotypen
gegen Menschen aufgrund ihres biologischen Geschlechts, insbesondere
Frauen, aber auch gegen Menschen aufgrund ihres sozialen Geschlechts in
vergangener Zeit vorhanden sind. Eine historisch arbeitende feministische
Ethik beispielsweise deckt Strukturen der Unterdrückung von Frauen auf,
unabhängig davon, ob sich zum damaligen Zeitpunkt die betreffenden
Frauen so gefühlt hatten. Sie thematisiert aber auch diejenigen Frauenge-
stalten, die bereits zu ihrer Zeit die Zurücksetzung der Frauen als Ungerech-
tigkeit empfunden und angeprangert haben, sowie die Lebensgeschichten
von Frauen, die aus patriarchalen Strukturen ausbrechen konnten oder zu-
mindest Strategien entwickelten, um in ihrer Zeit typische Frauenrollen
zu überschreiten. Gerade Königinnen wie Elisabeth I. von England können
hier als Beispiel dienen.
Das Prinzip der Menschenwürde enthält die Anerkennung der prinzipi-
ellen Gleichheit aller Menschen im Sinne ihrer Rechtsansprüche unabhän-
gig davon, welchem Geschlecht sie angehören und welches soziale Ge-
schlecht sie einnehmen. Es war darum eine fundamentale Rechts- und auch
120 Teil II Systematische Grundlegung

Menschenwürdeverletzung, dass eine sehr lange Zeit Frauen auch in den


meisten demokratischen Gesellschaften der Erde ein so grundlegendes
Recht wie das Wahlrecht nicht zuerkannt wurde, in manchen Kantonen der
Schweiz bis 1975.
Es zeigt auch, wie noch heute bestehende Strukturen in vielen Ländern
es den einzelnen Menschen aufgrund ihres biologischen oder sozialen Ge-
schlechts oftmals schwer machen, umfassende Lebenspläne zu verwirkli-
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chen. Dies gilt insbesondere für Frauen, wenn sie einerseits Kinder großzie-
hen wollen, zugleich aber auch berufliche Erfüllung suchen.
Hier setzt ein weiteres berechtigtes Anliegen der unterschiedlichen For-
men feministischer Ethik an, die sich mit einer ethischen Reflexion „jener
Handlungen, Praktiken, Strukturen und Systeme, die in Verdacht stehen,
ungerechtfertigterweise die Lebenssituation von Frauen zu verschlechtern,
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ihre schlechte Lage aufrechtzuerhalten oder zu ihrer Benachteiligung beizu-


tragen“ (Siegetsleitner 2006, 195) befassen. Dabei werden auch die traditio-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nellen Ethiktheorien feministisch weiter gedacht und für die grundsätzliche


Fragestellung fruchtbar gemacht. Heutige Formen von gender ethics erwei-
tern diese Fragestellungen auf alle Menschen, die wegen ihres sozialen Ge-
schlechts Benachteiligungen erfahren.
Gerade für Fragen Angewandter Ethik ist es wichtig, empirische Studien
ernst zu nehmen, die zeigen, dass beispielsweise Kohlbergs Stufenmodell
zur moralischen Reife eines Menschen typisch männlich geprägt ist. Carol
Gilligan hat diesem ethischen Bezugsrahmen die „weibliche“ Alternative
einer „Care Ethics“ („Fürsorgeethik“) gegenüber gestellt, um auf diese Weise
zu zeigen, dass es alternative Möglichkeiten gibt, moralisches Verhalten zu
bewerten.
Die eigentlich systematische Aufgabe feministischer Ethik und einer
Gender Ethics besteht zusammenfassend darin, heutige und mögliche kom-
mende Benachteiligungen von Menschen aufgrund ihres Geschlechts, sei es
biologisch, sei es sozial, aufzudecken und Lösungsmöglichkeiten vorzu-
schlagen. Diese Aufgabe lässt sich als Teil einer von Menschenwürde und
Menschenrechten ausgehenden Angewandten Ethik auffassen. Diese the-
matisiert unterschiedliche Formen von Benachteiligung, egal welcher „Art“,
und trägt so der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen in umfassender
Weise Rechnung.
Menschenrechte und Menschenpflichten 121

6.3 Nachhaltigkeit als Menschenpflicht

Die Gerechtigkeit hat aber noch eine weitere Dimension, die erst in jüngerer
Zeit wieder in den Vordergrund gerückt ist: die intergenerationelle Gerech-
tigkeit. Es gibt nämlich nicht nur eine Verpflichtung zur Gerechtigkeit in
Bezug auf das individuelle und soziale Wohl der heute existierenden Men-
schen, sondern auch eine Verpflichtung, kommende Generationen und de-
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ren Wohl ethisch zu berücksichtigen.


Es lässt sich hier fragen, ob überhaupt der Begriff der „intergenerationel-
len Gerechtigkeit“ in diesem Zusammenhang angemessen ist. Unproblema-
tisch ist seine Verwendung, sofern die Generationen bereits leben. Eltern
schulden ihren Kindern Fürsorge, Kinder schulden ihren alten Eltern Für-
sorge. Doch die diachrone Dimension muss noch viel weitergehender gefasst
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werden: Wie steht es um die noch nicht geborenen Menschen, deren Le-
bensgrundlagen wir möglicherweise heute aufs Spiel setzen. Dahinter steht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

die Überzeugung, wie kostbar und schutzwürdig das menschliche Leben


überhaupt ist. Jonas (2003 [1979], 36) hat darum den Imperativ formuliert:

„‚Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind


mit der Per­ma­nenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘, […]
oder einfach: ‚Gefährde nicht die Bedingungen für den infiniten
Fortbestand der Menschheit auf Erden‘“.

Ich halte es darum für angemessener, aufgrund dieses großen Zeithorizonts


auf den Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit in diesem Zusam-
menhang zu verzichten und stattdessen den gerade in dieser Hinsicht bereits
eingeführten Begriff der Nachhaltigkeit zu verwenden. Gemäß dem gerade
zitierten Imperativ ist Nachhaltigkeit (sustainability) bzw. nachhaltige Ent-
wicklung (sustainable development) eine Menschenpflicht.
Der Begriff stammt eigentlich aus der Forstwirtschaft und stellt ein Be-
wirtschaftungsprinzip dar, wonach nicht mehr Holz geerntet werden soll, als
jeweils nachwachsen kann. Freilich umfasst Nachhaltigkeit viel mehr als nur
die schonende Nutzung eines regenerierbaren Systems, sondern erstreckt
sich praktisch auf alle Bereiche menschlichen Lebens, die eine Zukunftsdi-
mension haben. Seine weltweite Bedeutung hat das Prinzip der Nachhaltig-
keit durch den Brundlandt-Report (1987), benannt nach der Vorsitzenden
der World Commission on Environment and Development (WCED) be-
kommen, denn die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat diesem
Bericht zugestimmt. Hier wird Nachhaltigkeit in folgender Weise definiert:
122 Teil II Systematische Grundlegung

„Dauerhafte Entwicklung [sustainable development] ist eine Entwicklung,


die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künf-
tige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“37
Eine konkretisierende Auslegung des Prinzips der Nachhaltigkeit findet
sich im sogenannten Drei-Säulen-Konzept. Dieses Konzept bewertet eine
Entwicklung nach ihren Folgen für die ökologische, ökonomische und sozi-
ale Dimension. Die soziale Dimension konkretisiert die Folgen von Ent-
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wicklungen für das Zusammenleben der Menschen. Die ökonomische Di-


mension berücksichtigt das Eigeninteresse der heutigen Menschen. Die
ökologische Dimension erweitert den Verantwortungshorizont der heutigen
Menschen einerseits auf Generationen in einer ferneren Zukunft, anderer-
seits aber auch auf den menschlichen Umgang mit der Natur und nicht-
menschlichen Lebewesen und trägt damit der Würde nicht-menschlicher
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Lebewesen Rechnung. Dennoch ist sie nicht mit einer „Artengerechtigkeit“


in dem Sinn zu verwechseln, als ob andere Lebewesen einen gleichen An-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

spruch haben könnten wie Menschen, deren fundamentale Würde und


Rechte immer Vorrang vor der nicht-menschlichen Würde behalten.

Abb. 15 Nachhaltigkeit

Dennoch ist der hier verwendete Nachhaltigkeitsbegriff am menschlichen


Wohlergehen orientiert, das gerade auch die ökologische und soziale Di-
mension mit berücksichtigt. So könnte eine Diktatur eventuell größere öko-
nomische Vorteile für alle erzeugen als eine Demokratie. Nach dem hier
präferierten Nachhaltigkeitsbegriff ist es jedoch letztgenannte vorzuziehen,

37 Hier zitiert nach Detzer u. a. (1999, 79, im Original: „Sustainable development is
development that meets the needs of the present without compromising the ability
of future generations to meet their own needs“).
Menschenrechte und Menschenpflichten 123

weil sie bei der sozialen Dimension die grundsätzliche Freiheit aller Men-
schen wahrt.38

6.4 Konkretisierung in Regeln

Die Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten, Gerechtigkeit


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und Nachhaltigkeit lassen sich durch Regeln operationalisierbar machen


und davor bewahren, als utopische Forderungen und damit als nicht umsetz-
bar abqualifiziert zu werden.

1) Individualverträglichkeitsregel
Es ist ethisch geboten zu tun, was für die einzelnen Menschen zuträglich ist,
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und zu unterlassen, was dem Individuum mehr Schaden als Nutzen bringt,
insbesondere, was das Lebensrecht oder andere Grundrechte eines oder
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mehrerer Menschen verletzt. Dies bedeutet freilich keine Absolutsetzung


von Vorsichtsmaßnahmen, da Menschen durch diese mittel- und langfristig
ebenfalls schwer geschädigt werden können.

2) Sozialverträglichkeitsregel
Es ist ethisch geboten zu tun, was der Gerechtigkeit zwischen den heute
lebenden Menschen zuträglich ist, und zu unterlassen, was den Menschen
mehr schadet als nutzt. Darum sind die notwendigen Handlungsbedingun-
gen für alle in gleicher Weise zu gewährleisten (transzendentaler Tausch),
sodass alle Menschen befähigt werden, ihre Talente zu entwickeln. Diejeni-
gen Menschen, die am verletzlichsten und am leichtesten auszubeuten sind,
sind besonders zu schützen. Auch ist die Gleichheit vor Gericht strikt zu
achten. In allen anderen Feldern soll größtmögliche Freiheit herrschen, so-
lange die Gerechtigkeit nicht verletzt wird und das Gemeinwohl keinen
Schaden nimmt.

38 Leist (1996, 475) unterscheidet zu Recht vier unterschiedliche Konzepte von


Nachhaltigkeit. Er nennt diese die physikalisch-chemische (Stabilität des Ener-
gieflusses und Materialbestands), die biologische (gleichbleibende Artenvielfalt),
die ökonomische (Konstanz des ökonomischen Wohlfahrtsniveaus) und die hu-
manökologische, die sich auf den gleichbleibenden Nutzenkreislauf zwischen
Mensch und Natur bezieht.
124 Teil II Systematische Grundlegung

3) Nachhaltigkeitsregel im Hinblick auf die damit verbundene soziale Dimension


Es ist darauf zu achten, die Individualitäts- und Sozialverträglichkeit auf
Menschen künftiger Generationen auszuweiten. Es geht darum, dafür zu
sorgen, die soziale Dimension nicht nur für den Augenblick, sondern lang-
fristig in diesem Sinn zu realisieren. Hierbei ist das Prinzip der Subsidiarität
streng zu beachten.
Allerdings ist es umstritten, in welcher Weise die Bedürfnissen zukünf­
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tiger Generationen zu berücksichtigen sind (vgl. Leist 2005, 484–491). Zu


diesem Zweck wurde in die Debatte der Begriff der Diskontierung einge-
führt. Dieser Begriff besagt, dass die Nutzenwerte für künftige Generatio-
nen bezüglich der heutigen Generation sozusagen abzuzinsen sind. Würde
nämlich die Diskontierung gleich Null sein, wäre es beispielsweise immer
vorzugswürdig, für die noch gar nicht geborenen Urenkel € 1000 zu sparen
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als sich selbst für € 999 heute etwas zu gönnen. Die eigentliche Frage lautet
darum, ob und in welchem Umfang wir heute Finanzen für die Zukunft
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aufzuwenden haben, selbst wenn wir dann möglicherweise selbst nicht mehr
leben und darum davon auch nicht profitieren können. Anders gesagt: Es ist
zu klären, wie die Lasten zwischen uns und unseren späteren Nachkommen
zu verteilen sind.

4) Nachhaltigkeitsregeln im Hinblick auf die damit verbundene ökologische


Dimension
Für die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit ist eine Reihe weiterer
Regeln (vgl. im Folgenden Detzer u. a. 1999, 99–101, darüber hinaus Regan
2004 [1983]) zu berücksichtigen:
Regenerationsregel: Der Abbau erneuerbarer Ressourcen darf nicht höher
sein als deren Regeneration bzw. Assimilation (z. B. durch Aushandeln von
Nutzungsquoten). Dies gilt insbesondere für essentielle Ressourcen, deren
Verbrauch – absolut gesehen – Null sein sollte. Idealerweise sollte sogar ein
Zugewinn an derartigen Ressourcen erstrebt werden.
Substitutionsregel: Der Abbau erschöpfbarer Ressourcen sollte in einem ent-
sprechenden Verhältnis zu den Bestandserhöhungen an funktionsäquivalen-
ten Ressourcen bzw. technischen Innovationen oder Effektivitätsverbesse-
rungen im Verbrauch stehen (z. B. Beginn einer Substitution von Erdöl als
Antriebsquelle durch erneuerbare Energieträger).
Optimierungsregel: Die Ressourcenproduktivität sollte darum in den meisten
Fällen optimiert, die Ressourcenintensität minimiert werden (z.  B. durch
gezieltes Recycling, Strommanagement). Unsinnig ist dagegen eine Scho-
Menschenrechte und Menschenpflichten 125

nung von Ressourcen, die im Übermaß vorhanden sind: Wenn es genug


Wasser aus einer Quelle gibt, braucht man nicht zu sparen. Wenn genug
Sonnenstrahlen auf die Erde treffen, wäre es unvernünftig, den Zugang zu
diesen zu rationieren.
Reversibilitätsregel: Eingriffe, die in die Natur vorgenommen werden, sollten
möglichst so gestaltet werden, dass künftige Generationen die Möglichkeit
haben, diese Eingriffe zumindest im Grundsätzlichen wieder umzukehren.
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Dabei ist im Einzelfall zu unterscheiden, um welche Ressourcen es sich han-


delt, ob um belebte oder unbelebte Natur, ob um Ressourcen, die lebens-
wichtig sind (z. B. Wasser, Luft) oder lebensdienlich sein können (z. B. fos-
sile Brennstoffe, Holz). Eine besondere Bedeutung hat hierbei der Umgang
mit nicht-menschlichen Lebewesen, da diesen im Rahmen des integrativen
Ansatzes im Unterschied zu Dingen ein eigener Wert zukommt.
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Schutzregel nicht-menschlicher Lebewesen: Das Schädigen und Töten nicht-


menschlicher Lebewesen bedarf einer Rechtfertigung. Diese kann norma-
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lerweise nicht pauschal sein: Ein Schimpanse verdient beispielsweise eine


größere Achtung als eine Mücke, denn er ist in seiner Integrität anders ver-
letzbar.

5) Nachhaltigkeitsregeln im Hinblick auf die damit verbundene ökonomische


Dimension
Was die ökonomische Dimension angeht, so lassen sich als Regeln festhal-
ten (vgl. Busch u. a. 2002, 55–62):
Substanzerhaltungsregel: Das Kapital als ökonomische Substanz, nämlich
„die natürliche Ausstattung der Erde gemeinsam mit den vom Menschen in
Gestalt von Investitionen und Wissen hinzugefügten Anteilen“ (Hampicke
2000, 640), sollte wachsen oder zumindest konstant bleiben, sodass eben
dieses Kapital auch kommenden Generationen erhalten bleibt.39
Anreizregel: Die Rahmenbedingungen sind so zu gestalten, dass individual-
und sozialverträgliches Handeln einerseits, ökologisches Verhalten anderer-
seits nicht ausgebeutet wird, sondern zum gegenseitigen Vorteil gereicht
oder zumindest niemanden schlechter stellt, wenn die notwendigen Hand-
lungsbedingungen gesichert sind. Es ist also darauf zu achten, dass keine

39 Vor diesem Hintergrund scheint beispielsweise die immer weiter zunehmende


Staatsverschuldung vieler Staaten diesem Kriterium der Nachhaltigkeit zuwider
zu laufen und somit mittel- und langfristig unverantwortlich zu sein.
126 Teil II Systematische Grundlegung

Strukturen entstehen, die ein Verhalten als rational nahe legen, das kollektiv
selbstschädigend ist.
Gesamtkostenregel: Bislang negative externe Effekte, d. h. negative Wirkun-
gen, die jemand verursacht, ohne dafür angemessen Schadensersatz zu leis-
ten, sollen internalisiert werden, d. h., der Schadensverursacher hat für diese
Effekte zu bezahlen. Er hat also die Gesamtkosten zu tragen. Die „Bewer-
tung der zu internalisierenden Effekte, mit anderen Worten, die Bestim-
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mung der Höhe der z.  B. durch Emissionen hervorgerufenen monetären


Schäden bleibt voll den Wirtschaftssubjekten überlassen“ (Hampicke 2000,
636). Dieses Kriterium hat ursprünglich Pigou (1978 [1920]) in die Debatte
eingeführt. Ihm haben Baumol und Oates (1971) ein weniger anspruchs­
volles Kriterium entgegengesetzt. Wirtschaftssubjekte sollen demnach zwar
nicht die gesamten externen Effekte, die sie verursacht haben, tragen müs-
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sen, aber sie haben beispielsweise im Fall schädlicher Emissionen eine aus-
zuhandelnde Emissionsabgabe zu bezahlen. Wie aber ist mit Schäden um-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

zugehen, die solche Ausmaße annehmen, dass sie die Verursacher wirt-
schaftlich vernichten würden, man denke an das Kernkraftwerksunglück in
Tschernobyl 1986?

6.5 Risiko im Handeln/Anwenden, aber auch im Unterlassen

Das Beispiel „Tschernobyl“ verweist auf eine der zentralen Fragen im Zu-
sammenhang mit diesen Regeln, der Frage nach dem Risiko. Die Versiche-
rungswirtschaft definiert Risiko durch die Formel: Eintrittswahrscheinlich-
keit multipliziert mit der Schadenshöhe. Diese Definition eignet sich für
Konfliktfälle in der Angewandten Ethik sehr gut, wenn man berücksichtigt,
dass die Risikoanalyse nur ein Baustein für eine ethische Bewertung, aber
nicht nur für diese, darstellt. Dies belegt der Umgang der Versicherungswirt-
schaft mit dem Absichern von Unfällen von Kernkraftwerken, obwohl für
einen Unfall dieser Schwere in einem Kernkraftwerk in Deutschland mit
völlig anderen und besseren Sicherheitsstandards als in dem ehemaligen so-
wjetischen Kernkraftwerk eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit besteht und
das Risiko deshalb trotz der immensen Schadenshöhe nach dieser Formel
eher gering zu veranschlagen ist. Keine Versicherung der Welt ist nämlich
bereit, einen Betreiber von Kernkraftwerken, selbst von Kernkraftwerken
mit den höchsten Sicherheitsstandards, gegen die Risiken einer Großkatas-
trophe zu versichern – und bisher ist auch die Internalisierung derartiger
Menschenrechte und Menschenpflichten 127

negativer externer Effekte nicht in der Weise geregelt, dass die Betreiber für
den gesamten Schaden aufkommen müssten. Der Schadensfall würde näm-
lich entweder den Versicherer oder das nicht versicherte Unternehmen voll-
ständig in den wirtschaftlichen Konkurs treiben. Dazu kommt die Frage,
wer für einen Schaden in einem solchen Fall aufzukommen hätte, wenn die-
ser die Folge eines terroristischen Anschlags wäre, also in gewisser Weise
außerhalb der Verantwortung der Betreiber stünde. Grundsätzlich aber stellt
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sich in einem solchen Zusammenhang die Frage, ob es überhaupt nach den


genannten Prinzipien und Regeln zulässig sein darf, eine Technik einzuset-
zen, die ein derartig hohes Schadensausmaß haben kann.40 Demgegenüber
steht das Problem, dass alternative Techniken wie Kohlekraftwerke in nicht
unbeträchtlichem Maß für die Klimaerwärmung mit den ihr zugehörigen
hohen Risiken verbunden sind, wobei das Schadensausmaß nicht wie beim
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Kernkraftunglück zeitnah, sondern über längere Zeithorizonte auftritt, da-


für aber sehr wahrscheinlich ist. Nach obiger Definition ist das Risiko hier
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mathematisch höher. Diesem Faktum muss freilich die Risikowahrnehmung


nicht entsprechen.

Vertiefung: Exemplifizierung
Die Risikowahrnehmung korreliert in vielen Fällen nicht mit dem eigentlichen ver-
sicherungsmathematisch errechneten Risiko und sie korreliert auch nicht mit
den eingetretenen Schäden. Immer noch exemplifiziert die folgende Befragung
von amerikanischen Collegestudierenden dies sehr eindrücklich:

Todesursache (USA 1985) Todesfälle Schätzung Schätzung


(absolut) (proz.)
Rauchen 150.000 2.400 1,6
Alkohol 100.000 2.600 2,6
Straßenverkehr 50.000 10.500 21,0
Schusswaffen 17.000 1.900 11,0
Schwimmen 3.000 370 12,0
priv. Flugverkehr 1.300 650 50,0
kommerzieller Flugverkehr 130 650 500,0

Tab. 3 Risikowahrnehmung [Quelle: nach Nida-Rümelin 2005, 869]

40 Dieser Frage wird im Rahmen der Bereichsethik „Technikethik“ nachgegangen.


128 Teil II Systematische Grundlegung

Einer der Hauptgründe besteht darin, dass Menschen dazu neigen, alltägliche
und bekannte Risiken, insbesondere wenn sie diese selbst steuern können wie
das Autofahren zu unterschätzen, dagegen ­Risiken, denen sie ausgesetzt sind,
ohne selbst etwas unternehmen zu können, oder die neuartig sind, zu überschät-
zen. Auch wenn sich mittlerweile die Einschätzung von Risiken, insbesondere
die des Rauchens, verändert hat, so zeigen die Zahlen dennoch mit großer Deut-
lichkeit, dass alltägliche Risiken, die man selbst glaubt steuern zu können, bei-
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spielsweise beim Alkohol um den Faktor 25 unterschätzt werden, während die


Risikoeinschätzung bei Risiken, die man nicht steuern kann wie die des kommer-
ziellen Flugverkehrs, um das Vierfache zu hoch ist.

Die Risikowahrnehmung ist deshalb beispielsweise im Hinblick auf das


Risiko eines Kernkraftwerksunglück zwischen einem Mitarbeiter im
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Werk, der die Prozesse mitsteuert, und einem Außenstehenden mit hoher
Wahrscheinlichkeit unterschiedlich: Der Mitarbeiter wird das Risiko im
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Normalfall für geringer halten als der Außenstehende. Auch spielt eine
Rolle bei der Wahrnehmung, ob man damit sein Geld verdient oder
nicht.
Für eine ethische Bewertung spielt die Risikowahrnehmung neben dem
versicherungsmathematisch berechneten Risiko eine wichtige Rolle. Sie ver-
weist darauf, dass neben dem versicherungsmathematischen Risiko bei einer
Bewertung von Risiken noch weitere Faktoren von Bedeutung sind: Ist der-
jenige, der sich dem Risiko aussetzt, im Besitz von Steuerungsmöglichkeiten
wie ein Autofahrer? Hat derjenige, der einem Risiko ausgesetzt wird, die
Möglichkeit, das Risiko zu vermeiden? Wer in ein Fußballstadion geht, setzt
sich unweigerlich dem Risiko des Passivrauchens aus. Er kann aber auf einen
Besuch verzichten. Dagegen ist es für einen Radfahrer praktisch unmöglich,
sich nicht den Risiken des Straßenverkehrs auszusetzen, auch wenn er ein
entschiedener Gegner jeder Erlaubnis des Autofahrens wäre. Er hat sich hier
der Mehrheit zu beugen, die dieses gesellschaftlich akzeptiert. Wer als Un-
ternehmer in bestimmte mit Risiko behaftete Großtechniken investiert,
weiß, dass seine Entscheidungen Auswirkungen auf andere haben. Er weiß
aber auch, dass der Verzicht auf diese Investitionen Auswirkungen haben
kann, die ebenfalls weit reichende Folgen mit sich bringen, weil dadurch
Arbeitsplätze verloren gehen können oder auch ein wertvolles Produkt nicht
entsteht usw.
Eine ethische Bewertung in den unterschiedlichen Bereichen Ange-
wandter Ethik wird darum im Hinblick auf das Risiko neben den klassi-
Menschenrechte und Menschenpflichten 129

schen versicherungsmathematischen Faktoren „Eintrittswahrscheinlichkeit“


und „Schadensausmaß“ zu berücksichtigen haben:

1. Risikowahrnehmung,
2. Auswirkung auf andere,
3. erhoffter Nutzen,
4. Folgen eines Unterlassens,
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5. Reichweite des Schadens versus Reichweite des Nutzens,


6. Eintrittszeitpunkt eines möglichen Schadens,
7. eigene Partizipation bei der Entscheidung im Hinblick auf das Risiko.

Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen sind einige weitere allge-


meine Kriterien für eine angewandt ethische Bewertung von Bedeutung.
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6.6 Allgemeine Kriterien

Über die Prinzipien und Regeln hinaus lassen sich mehrere allgemeine Kri-
terien und Regeln benennen, die bei der Bewertung von Lösungen für anste-
hende Herausforderungen in den unterschiedlichen Dimensionen hilfreich
sind.

1) Die Partizipationsregel
Die Überlegungen zum Risiko haben die Bedeutung der eigenen Partizi­
pation bei der Übernahme von Risiken deutlich werden lassen. Dies gilt
freilich nicht nur für Risiken, sondern allgemein: Alle von bestimmten
Entscheidungen Betroffenen sollten am Entscheidungsfindungsprozess
partizipieren. Diese Regel besagt natürlich nicht, dass alle Betroffenen de
facto an den Entscheidungen mitwirken müssen. Sie bedeutet natürlich
auch nicht, dass den getroffenen Entscheidungen von allen materiell zuge-
stimmt wird – man denke nur an die Debatten um die Erweiterung von
Flughäfen. Wesentlich ist aber, dass dieser Prozess so gestaltet ist, dass die
Partizipation wirklich gewährleistet und so geregelt ist, dass es faire Mög-
lichkeiten einer Beteiligung gibt, sodass auch die unterlegene Gruppierung
in einem bestimmten Konfliktfall die Entscheidung, die sie zwar abgelehnt
hat, nun aber mittragen kann, also der soziale Frieden gewahrt bleibt. Hier
zeigt sich die Bedeutung demokratisch-partizipativer Prozesse für uns, un-
sere Zukunft und unsere Um- und Mitwelt.
130 Teil II Systematische Grundlegung

2) Das Pareto-Kriterium
Für die Entscheidungsfindung in derartigen Prozessen kann ein sehr ein­
faches Kriterium hilfreich sein, das mittels des aus der Ökonomie entnom-
menen Pareto-Kriteriums gewonnen wurde (vgl. Busch u. a. 2002, 50). Die-
ses Kriterium bildet in der Ökonomik ein Effizienzkriterium. Unter der
Bedingung, dass Menschenwürde und Menschenrechte gewahrt sind, also
die notwendigen Handlungsbedingungen gesichert sind, lässt es sich in
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folgender Weise als Regel im Hinblick auf das Nachhaltigkeitsprinzip dar-


stellen:

ökologisch ökonomisch sozial


pareto-superior, Verbesserung, Verbesserung, Verbesserung,
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ethisch geboten ohne dass die ohne dass die ohne dass die
ökonomische oder ökologische oder ökologische oder
soziale Dimension soziale Dimension ökonomische
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

verschlechtert verschlechtert Dimension ver-


wird wird schlechtert wird
keine Anwend- Verbesserung, Verbesserung, Verbesserung,
barkeit des doch mindestens doch mindestens doch mindestens
Pareto-Kriteriums, eine der anderen eine der anderen eine der anderen
ethisch problema- Dimensionen ver- Dimensionen ver- Dimensionen ver-
tisch schlechtert sich schlechtert sich schlechtert sich
pareto-inferior, Verschlechterung Verschlechterung Verschlechterung
ethisch unzu- ohne Verbesse- ohne Verbesse- ohne Verbesse-
lässig rung einer ande- rung einer ande- rung einer ande-
ren Dimension ren Dimension ren Dimension

Tab. 4 Pareto-Prinzip und Nachhaltigkeit

Ethisch geboten und damit für alle Betroffenen letztlich annehmbar sind
also pareto-superiore Regelungen und Handlungen, die es ermöglichen,
ohne Verschlechterung in einer der drei Nachhaltigkeitsdimensionen Ver-
besserungen in (mindestens) einer der anderen Dimensionen zu erreichen.
Umgekehrt sind pareto-inferiore Regelungen und Handlungen ethisch un-
zulässig, durch die sich (mindestens) eine Dimension verschlechtert, ohne
dass es in der/den anderen Dimension(en) Verbesserungen gibt. Gibt es da-
gegen in mindestens einer der Dimensionen eine Verbesserung, in mindes-
tens einer anderen dagegen eine Verschlechterung so ist das Pareto-Krite-
rium nicht mehr anwendbar.
Menschenrechte und Menschenpflichten 131

Auch ist eine weitere Einschränkung bei der Anwendung zu machen:


Eine rein mechanische Anwendung von Regelungen, die am Pareto-Krite-
rium Maß nehmen, ist problematisch, da dieses für den Ausgangspunkt
und Zeitdimensionen unempfindlich ist: Wenn beispielsweise die ökologi-
sche Dimension anfänglich sehr wenig berücksichtigt wurde, ist es nach
diesem Kriterium dennoch pareto-superior, die ökonomische Dimension
weiter zu verbessern, wenn dabei die ökologische und die soziale Dimen-
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sion nicht verschlechtert werden. Deshalb benennt das Kriterium nur ei-
nen Mindeststandard einer ethischen Bewertung. Im Zusammenhang der
Bereichsethiken spielen deshalb weitere Kriterien eine teilweise sehr wich-
tige Rolle.

3) Das Kriterium der Güterabwägung


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Lässt sich das Pareto-Kriterium nicht anwenden, so muss, sofern Men-


schenwürde und Menschenrechte davon unangetastet bleiben (Priorität
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

der Würde vor dem Nutzen) bei Einzelentscheidungen das Kriterium der
Güterabwägung zur Anwendung kommen: Es ist diejenige Handlung
zu vollziehen, die insgesamt am Ende zu einem besseren Ergebnis führt als
die alternativen Handlungen bzw. das Unterlassen des Handelns über-
haupt.

4) Das argumentationspragmatische Kriterium


Des Weiteren ist ein Kriterium argumentationspragmatischer Natur (vgl.
Birnbacher 1999, 22f ) hilfreich, das sich in zwei Unterpunkte aufschlüsselt:
1.  eine Debatte, die mögliche Anwendungen, mögliche Forschungs­
ziele und die damit verbundenen Zielsetzungen unterscheidet,
2.  eine Debatte, die nach Möglichkeit an bereits entschiedenen
und ethisch sorgfältig diskutierten Referenzfällen Maß nimmt.
Die Frage lautet dann, ob sich der neue Konfliktfall von dem
akzeptierten Referenzfall in relevanter Weise unterscheidet.
Wenn ja, ließe sich die Problemstellung auf diese Differenz
einschränken.

Es ist also sinnvoll, zuerst zu überprüfen, ob wir bereits Referenzfälle finden,


die uns bestimmte Lösungen nahe legen. Das argumentationspragmatische
Kriterium ist ein Kriterium unter der Bedingung „ceteris paribus“ (lateini-
scher Ausdruck für „wobei das Übrige gleich ist“), d h. unter der Bedingung, dass
sonst die Umstände in allen anderen Belangen gleich sind.
132 Teil II Systematische Grundlegung

5) Das Sachkriterium
Abschließend sei noch ein ganz allgemein geltendes Kriterium in Erinne-
rung gebracht, da es im ethischen Tagesgeschäft immer wieder verletzt wird:
Im Umgang mit angewandt ethischen Problemfeldern ist eine sachliche De-
batte zu führen. Eine notwendige Bedingung einer sachlichen Debatte ist die
Wahrung logischer Grundregeln einschließlich des Konsistenzkriteriums:
Die Argumentation muss in sich stimmig sein. Wer beispielsweise einerseits
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die Nichtrechtswidrigkeit von Abtreibungen damit begründet, dass ein Em-


bryo mit acht Wochen noch kein Mensch im Vollsinn des Wortes sei und
ihm deshalb noch keine Menschenwürde zukomme, die embryonale Stamm-
zellforschung aber mit dem Argument ablehnt, der frühe Embryo im Alter
von wenigen Tagen sei bereits ein Mensch, dem Menschenwürde zukomme,
verletzt das Konsistenzkriterium (vgl. die Belege in Knoepffler 2005), denn
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wie sollte ein wenige Tage alter Embryo mehr Mensch sein können als ein
acht Wochen alter Embryo?
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Während die Anwendung der Regeln und Kriterien für den Einzelnen
oder kleinere Gruppen in vielen Fällen relativ einfach ist, ist sie für größere
Institutionen schwieriger zu vollziehen. Was folgt dann aus den bisherigen
Überlegungen für eine Ethik der Politik und des Rechts?
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 133

7 Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts als
einer Basis einer implementierbaren Angewandten Ethik

Der Klassiker politischen Denkens, Machiavelli (1469–1527), bezeichnete


als Ziel politischen Handelns, Macht zu erlangen und zu vermehren bzw. die
staatliche Herrschaft auszuüben oder zu beeinflussen. Aus den Prinzipien
von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit folgen jedoch an-
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ders bestimmte Ziele politischen Handelns. Aufgabe der Politik ist es dann,
diese ethischen Prinzipien zum Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft
in Rahmenordnungen zu institutionalisieren, zu verrechtlichen und so dafür
zu sorgen, dass diese Prinzipien befolgt und ihr Nichtbefolgen sanktioniert
wird.
Damit verbunden ist eine klare Entscheidung im Hinblick auf das Ver-
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ständnis für die Rolle des Rechts. Das Recht ist auf die ethischen Prinzipien
zum Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft bezogen. Ein rechtsethi-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

scher Reduktionismus, der im Sinne von Kelsens Reiner Rechtslehre (1934)


positivistisch das Recht als ein rein gesetztes von allen ethischen Einflüssen,
jedoch nicht nur diesen, reinigen will, wird deshalb abgelehnt. Vielmehr
gehe ich von einem wenigstens in Teilen rechtsethischen Normativismus
aus, der aus dem Anspruch des Menschen auf Achtung seiner Menschen-
würde, auf Gerechtigkeit und eine nachhaltige Entwicklung Rechtsnormen
verlangen kann, die im Dienst dieser ethischen Prinzipien stehen. Wie sollte
man ansonsten im Rahmen eines rein positivistisch gedachten Rechtsver-
ständnisses Rechtsnormen, die beispielsweise die Sklaverei zulassen, ableh-
nen können? Diese Konzeption muss dabei nicht notwendig naturrechtlich
gedeutet werden, auch wenn sie für derartige Deutungen offen bleibt. Denn
die menschliche Natur, die eine innere Lebensdynamik besitzt, kann so ver-
standen werden, dass sie sozusagen normativ nach der Beachtung der ge-
nannten Prinzipien „verlangt“.41

41 Vgl. auch zum Verhältnis von Ethik und Recht den Abschnitt zum Prinzip der
Gerechtigkeit und die im ersten Kapitel beschriebene Differenz auch zu Ethos,
Moral und Moralität. Vgl. auch die weiterführenden Überlegungen bei Von der
Pfordten (2005) und Huber (2006).
134 Teil II Systematische Grundlegung

7.1 Globale Herausforderungen


Vor dem Hintergrund globaler Bedrohungen können Rahmenordnungen
nicht mehr nur national oder regional sein. Bis heute besteht das Risiko ei-
nes die Welt zerstörenden Kriegs mit thermo-nuklearen Waffen. Aber nicht
nur die Friedenssicherung, sondern auch die Sicherung einer menschen-
freundlichen Weltwirtschaft, sodass niemand mehr verhungern und nie-
mand mehr auf die handlungsnotwendigen Grundgüter verzichten muss,
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sowie eines lebensdienlichen Klimaschutzes stellen die Politik vor Heraus-


forderungen, die nur noch durch globale Rahmenordnungen zu lösen sind.
Das bisherige Versagen einzelner Staaten bei der Sicherung von Men-
schenwürde und Menschenrechten, von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit,
ist ein Indiz, wie weit die derzeitige Politik noch von der Schaffung weltum-
spannender menschenfreundlicher Strukturen und damit einschließlich
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rechtsstaatlicher Rechtsstrukturen entfernt ist. Die Folgen dieser fehlenden


transnationalen Strukturen lassen sich gut an drei ganz unterschiedlichen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Konflikten mit einer globalen Dimension illustrieren: der Friedenssiche-


rung, der Sicherung funktionierenden Wirtschaftens und des schonenden
Umgangs mit unserem Klima.

7.1.1 Friedenssicherung als globale politische Herausforderung

Beginnen wir mit einem typischen Konflikt, der die internationale Friedens-
sicherung gefährdet, dem Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästi-
nensern. Im Moment scheinen beide Seiten eine Art Nullsummenspiel zu
spielen: Was ich gewinne, verlierst du, was du gewinnst, verliere ich. Sie
scheinen blind zu sein für die Chance einer Kooperation, die zwar auch Ver-
zicht bedeutet, aber dennoch beide Seiten besser stellen würde, also das
Nullsummenspieldenken aufzubrechen vermag. Sie scheinen damit in einer
Struktur verhaftet zu sein, die man in der Spieltheorie als „Gefangenendi-
lemma“ bezeichnet.

Vertiefung: der Begriff „Gefangenendilemma“


Der Begriff „Gefangenendilemma“ leitet sich von dem klassischen Beispiel her,
an Hand dessen das Dilemma erstmals expliziert wurde. Zwei Gefangene, nen-
nen wir sie Petra und Paul, denen man nur eine kleine Straftat nachweisen kann
(unerlaubter Waffenbesitz), die man aber wegen einer größeren Straftat (ver-
suchter Bankraub) belangen möchte, die aber ein Schuldeingeständnis voraus-
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 135

setzt, könnten durch gemeinsames Schweigen das für beide immerhin zweit-
beste Ergebnis erzielen (welches gleichzeitig das für beide zusammen beste
erzielbare Ergebnis darstellt). Wenn nur einer den Bankraub zugibt, kann er für
sich jedoch das beste Ergebnis herausholen, da er als Kronzeuge der Anklage
anschließend frei käme, sein „Kollege“ bzw. seine „Kollegin“ dagegen bekommt
die Höchststrafe wegen seines hartnäckigen Leugnens (zehn Jahre, gegenüber
dem kollektiv besten Ergebnis von einem Jahr bedeutet dies den Abzug von
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neun Nutzenpunkte). Bekennen jedoch beide die größere Straftat, dann bekom-
men sie zwar nicht die volle Strafe, aber eine deutlich höhere Strafe (acht Jahre,
was den Verlust von sieben Nutzenpunkten bedeutet) als wenn man sie nur we-
gen unerlaubten Waffenbesitzes belangen könnte (ein Jahr, keine Nutzenpunkte).
Die soziale Falle besteht nun darin, dass es für jeden Einzelnen vorzugswürdig
ist, im Fachbegriff: die dominante Strategie (lateinisch: dominare = herrschen),
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zu bekennen, denn bekennt der andere nicht, kommt man frei (ein Nutzenpunkt),
bekennt der andere jedoch, so bekommt man wenigstens nur acht statt der zehn
Jahre.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

In der folgenden Tabelle wird dies in folgender Weise (in Klammern die Jahre)
dargestellt:
Nichtgestehen Geständnis von
von Petra Petra
Nichtgestehen von Paul 0;0 (je 1 Jahr Haft) -9;1 (10 J.; Freispruch)
Geständnis von Paul 1;-9 (Freispruch; 10 J.) -7;-7 (je 8 J.)

Tab. 5 Gefangenendilemma

Trotz seiner vielen Dimensionen lässt sich der Konflikt zwischen Palästi-
nensern und Israel vereinfacht auch als ein solches Gefangenendilemma
konstruieren. Würden nämlich Israelis und Palästinenser kooperieren, ge-
wännen sie Frieden und Stabilität in ihrer Region. Der Preis, den sie dafür
zahlen müssen, sind territoriale Einbußen und Probleme mit den Feinden
einer derartigen Kompromisslösung im eigenen Lager (ordnen wir diesem
Kompromiss als Nutzenwert für jede Partei vier Nutzenpunkte zu). Wenn
dagegen entweder nur die Israelis oder nur die Palästinenser hart bleiben, so
gewinnt derjenige, der hart bliebe, zuungunsten der nachgebenden Gegen-
seite einen zusätzlichen Nutzenpunkt. Die Gegenseite erhält nur einen ent-
würdigenden Frieden (Nutzenwert: 1). Bleiben dagegen beide Seiten hart, so
behalten beide den Status quo mit permanenter Kriegsgefahr, aber auch der
Möglichkeit, doch noch alles zu gewinnen. Dieser Status bringt beiden je
zwei Nutzenpunkte:
136 Teil II Systematische Grundlegung

Israelis kooperieren Israelis bleiben hart


Palästinenser kooperieren 4;4 1;5
Palästinenser bleiben hart 5;1 2;2

Tab. 6 Das Israel-Palästina-Drama I

Es würde sich für die Konfliktparteien also eine Kooperation empfehlen.


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Doch aus eigener Kraft sind sie dazu nicht in der Lage, wenn sie der spiel-
theoretischen Rationalität folgen, denn diese empfiehlt als dominante Stra-
tegie das Hartbleiben. Würde nämlich die andere Seite zur Kooperation
bereit sein, gewönne man als hart bleibende Seite fünf Nutzenpunkte, würde
die erstgenannte Konfliktpartei jedoch hart bleiben, empfiehlt sich ebenso
das Hartbleiben, weil man dann wenigstens zwei Nutzenpunkte sichert.
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Man stellt sich also in jedem Fall besser, wenn man hart bleibt. Nur wenn
beide Konfliktparteien sich in dieser Weise verhalten, verspielen beide Sei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ten zwei Nutzenpunkte, die sie durch eine Kooperation gewonnen hätten.
Gäbe es funktionierende internationale Institutionen zur Friedenssiche-
rung, so könnten diese das Dilemma überwinden helfen. Wenn Israelis und
Palästinenser für ihr Hartbleiben durch funktionierende internationale Ins-
titutionen beispielsweise durch Entzug wirtschaftlicher Förderung, durch
Ausschluss aus Organisationen usw. sanktioniert, für Kompromissbereit-
schaft (Kooperation) dagegen beispielsweise durch Wirtschaftshilfe belohnt
würden, dann könnte das bestehende Dilemma aufgebrochen und die Ko-
operation zur dominanten Strategie werden: Angenommen die Kooperation
wird mit zwei zusätzlichen Nutzenpunkten belohnt, das Hartbleiben dage-
gen mit dem Abzug von drei Nutzenpunkten sanktioniert, lohnt sich eine
Kooperationsbereitschaft in jedem Fall, also egal wie sich die andere Seite
verhält. Dann ergäbe sich nämlich:

Israelis kooperieren Israelis bleiben hart


Palästinenser kooperieren 4+2;4+2 = 6;6 1+2;5-3 = 3;2
Palästinenser bleiben hart 5-3;1+2 = 2;3 2-3;2-3 = -1;-1

Tab. 7 Das Israel-Palästina-Drama II

Dies gilt freilich nicht nur für derartige bilaterale Konflikte, sondern lässt
sich auch als Mittel gegenüber Staaten denken, die sich der Sicherung der
Menschenrechte, der Gerechtigkeit oder der Nachhaltigkeit verweigern, um
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 137

daraus für die herrschende Klasse bzw. das Land (billigere Produkte durch
geringeren Umweltschutz) zu schaffen. Werden die Herrschenden empfind-
lich sanktioniert, dann werden sie es sich nicht mehr leisten können, Men-
schenrechte zu verletzen. Werden Staaten sanktioniert, werden sie es sich
nicht mehr leisten können, den Umweltschutz zu vernachlässigen. Doch
diese Möglichkeit für Sanktionen ist nur gegeben, wenn es wirkmächtige
globale Strukturen gibt, die so eingerichtet sind, dass sie nicht selbst wieder
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in ähnliche „Spiele“ gefangen werden können.

7.1.2 Sicherung funktionierenden Wirtschaftens als globale


Herausforderung
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Nehmen wir ein zweites Beispiel: Die ganz großen Krisen der Weltwirt-
schaft haben bisher stets ihren Ausgang an den Finanzmärkten genommen“,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

so titelt die Welt am Sonntag (2008/40, 35), um dann auf die Politik zu ver-
weisen, die derartige Krisen vermeiden helfen könnte. Noch weiter gehen
führende Ökonomen aus Europa und den USA, die in einem Appell, ����� abge-
druckt in der Financial Times Deutschland (6.10.2008, 26), ausdrücklich nach
einer transnationalen Regulierung der Finanzmärkte rufen. Damit stellen sie
sich gegen die klassische neoliberale Lehre, wie sie beispielsweise prominent
Hayek (1899–1992) vertrat. In seinem Werk Der Weg zur Knechtschaft (2009
[1944]) argumentierte er, dass Regierungen sich nicht in die Kontrolle der
Inflation und andere Wirtschaftsangelegenheiten einmischen sollten; eine
Ausnahme sei die Einschränkung der Geldmenge.
Wie kommt es zu dieser Wende? Warum wird der Ruf nach der Politik
zu Recht laut? Warum kann nicht nur, sondern muss eine Ethik der Politik
auch in Hinsicht auf das Wirtschaften, für globale Strukturen und globale
Regulierungen optieren, wenn sie von den Prinzipien der Menschenwürde,
der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit ausgeht?
Überlässt man das Wirtschaften den freien Kräften des Marktes, kann es
wie beispielsweise im Fall der Krise der Finanzmärkte in Folge des Schwar-
zen Oktober 1929 zu einem Sog der Abwärtsspirale kommen, der viele Ban-
ken und mit ihnen die Existenz vieler kleiner und großer Unternehmen und
die finanzielle Lebensgrundlage vieler Menschen vernichtet. Die Sogwir-
kung beginnt, wenn Kredite billig sind. Unternehmen und „Häuslebauer“
erhalten günstige Kredite. Damit steigen Aktienkurse und Hauspreise. Ge-
fährlich wird es, wenn die Aktienkurse und die Hauspreise nur noch eine
138 Teil II Systematische Grundlegung

Spekulationsblase bilden, also Unternehmen bzw. Häuser überbewertet sind.


Können dann die Kredite nicht mehr bedient werden, weil die Zinsen ge-
stiegen sind, müssen beispielsweise Häuser versteigert werden, der Preis für
Häuser verfällt. Entspricht der Wert der Häuser nun nicht mehr den aufge-
nommenen Krediten, fallen die Kredite aus bzw. können nur zum Teil geret-
tet werden. Dabei verlieren viele Menschen „ihr Dach über dem Kopf“. Das
Vertrauen der Banken in Kreditnehmer und der Menschen, die als Kreditge-
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ber den Banken Geld geliehen haben, in die Banken nimmt ab. Unterneh-
men erhalten nicht nur für gewagtere Investitionen kein Geld mehr, sondern
auch gesunde Unternehmen erhalten für notwendige und gut abgesicherte
Investitionen kein Geld mehr. Sie können sich beispielsweise dann keine
Rohstoffe für ihre Produkte kaufen und können so gegen jede wirtschaftli-
che Logik in die Insolvenz getrieben werden. Damit können weniger Men-
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schen Arbeit erhalten und angemessen verdienen. Es wird weniger konsu-


miert. Die Nachfrage sinkt und damit beginnt eine Rezession, die erneut
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Unternehmen gefährdet und mit ihnen die dort befindlichen Arbeitsplätze.


Einzelne Staaten sind bei der Lösung derartiger Probleme meist überfor-
dert, denn die Finanzmärkte agieren global.
Aber damit nicht genug: Die Finanzmärkte sind nur ein Beispiel, wie das
freie Spiel der Kräfte versagen kann. Solange Menschen weltweit verhun-
gern oder an Krankheiten sterben, die aus Mangel an einer gerechten welt-
weiten Verteilung von Gesundheitsgütern nicht ausreichend haben thera-
piert werden können, hat das freie Wirtschaften ein grundsätzliches Versagen
(trotz aller Erfolge) gezeigt. Es genügt also nicht, nur die Finanzmärkte zu
sichern, wenn eine Politik menschendienlich sein will. Erneut stellt sich da-
mit die Frage, wie globale Strukturen mit dem Ziel einer derartigen men-
schenfreundlichen Politik beschaffen sein sollten.

7.1.3 Klimaschutz

Kommen wir zu einem dritten Beispiel: Das Treibhausgas Kohlendioxid be-


fördert eine Klimaerwärmung, deren Folgen nach Schätzungen von Rück-
versicherungen vermutlich die Weltgemeinschaft teurer zu stehen kommen
werden als eine Eindämmung des Ausstoßes von Kohlendioxid. Zu Recht
hat darum die Weltgemeinschaft diese Gefahren sehr ernst genommen. In
mehreren Konferenzen hat sie Vorgaben erarbeitet. Am bedeutsamsten ist
hierbei das 1997 verabschiedete Kyoto-Protokoll, das im Rahmen der Uni-
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 139

ted Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) abge-


schlossen wurde. Dieses ist im Februar 2005 in Kraft getreten, nachdem
auch Russland dieses Protokoll ratifiziert hat, wodurch das für das In-Kraft-
Treten nötige Quorum erreicht worden ist, nämlich die Ratifizierung durch
mindestens 55 Staaten, die für mindestens 55 Prozent der Emissionen ver-
antwortlich sind. Darin verpflichten sich die unterzeichnenden Industrie-
länder, ihre Gesamtemission von sechs Treibhausgasen gegenüber 1990 in
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der Zeit von 2008 bis 2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent zu senken.
Zugleich enthält das Protokoll Bestimmungen zur Umsetzbarkeit der Ziele.
Ein wesentliches Mittel hierbei ist die Ermöglichung eines Handelns mit
Emissionszertifikaten. Ein Land das mehr emittiert als zugelassen, kann
sich von einem Land, das weniger emittiert, derartige Zertifikate kaufen, um
so seine festgelegte Quote einzuhalten. Zudem dürfen die Industrieländer
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ihre Verpflichtungen auch dadurch erfüllen, dass sie in Entwicklungslän-


dern für eine Emissionsreduktion sorgen, z.  B. durch Aufforstungspro-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gramme. Dies sieht nach einem „Kuhhandel“ aus, dient aber der Effizienz,
genauer dem gezielten Mitteleinsatz: Statt große Summe dort zu investie-
ren, wo ein ohnehin hoher Standard nur noch mühsam verbessert werden
kann, sollten die Mittel dahin fließen, wo sie den Standard effizient heben
können.
Allerdings hat die USA als zweitgrößten Verursacher von Emissionen
das Kyoto-Protokoll nicht ratifiziert. China als größter Verursacher von
Emissionen ist ebenso wie Indien aufgrund des Status eines Entwicklungs-
landes nicht zur Reduktion von Emissionen verpflichtet. Da die Entwick-
lungsländer nämlich bisher noch wenig in den Genuss von bestimmten
­Gütern kamen, die Emissionen hervorrufen, z. B. von Autos, haben sie öko-
nomisch und sozial in diesem Bereich einen Nachholbedarf. Aus diesem
Grund haben die unterzeichnenden Staaten zum Schaden der ökologi-
schen Dimension die genannte Vereinbarung abgeschlossen. Damit führt
diese Vereinbarung zu einer unerwünschten Konsequenz: Staaten, die nicht
unterzeichnen, und Nicht-Industrieländer haben einen Anreiz, die unter-
zeichnenden Industrieländer bezüglich der ökologischen Dimension „aus-
zubeuten“, indem sie beim Umweltschutz nicht kooperieren, also selbst die
umweltschädlichen Emissionen nicht reduzieren. Im Unterschied zu klas-
sischen Dilemmata-Strukturen, bei denen sich alle Beteiligten kollektiv
selbst schädigen, wenn für den Einzelnen die Nicht-Kooperation die domi-
nante Strategie darstellt, haben wir es hier mit einseitigen Strukturen zu
tun. Die unterzeichnenden Industrieländer haben nämlich einer Koopera-
140 Teil II Systematische Grundlegung

tionsvorleistung zugestimmt. Die Nicht-Industrieländer und die nicht-


unterzeichnenden Industrieländer kommen nun in den Genuss der dadurch
bewirkten ökologischen Vorteile, ohne selbst etwas dafür beitragen zu müs-
sen. Es besteht dann die dominante Strategie im Sinne ökonomischer Ra-
tionalität darin, selbst keine oder wenig Mittel für den Umweltschutz auf-
zuwenden, wenn dies vorteilhafter ist, wie die folgende Matrix annimmt. In
ihr ist der Gewinn der Emissionsreduktion für die unterzeichnenden In-
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dustrieländer mit einem Nutzenpunkt bewertet, für die anderen mit vier,
wenn diese nicht kooperieren, obwohl insgesamt bei gemeinsamer Koope-
ration gemeinsam sechs Nutzenpunkte, also ein höherer Nutzen zu reali-
sieren wäre.
Nicht-Industrieländer; Nicht-Industrieländer,
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nicht unterzeichnende nicht unterzeichnende


Industrieländer Industrieländer
kooperieren nicht kooperieren
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

unterzeichnende
Industrie­länder 1;4 3;3
(Kooperation)

Tab. 8 Das einseitige Klimaschutzspiel

Damit haben mit China, Indien und den USA drei der vier größten Energie
verbrauchenden Staaten einen Anreiz, nicht zu kooperieren, um sich so ei-
nen Vorteil zu sichern, der langfristig zum Schaden aller ist. Anders gesagt:
Von den vier größten Energie verbrauchenden Nationen hat sich nur Japan
verpflichtet, seine Emissionen zu senken. Erneut fehlt es an globalen Struk-
turen, die eine Kooperation aller Staaten erzwingen könnten.

7.2 Globale Strukturen und das Prinzip der Subsidiarität

Eine der Hauptaufgaben künftiger Politik und künftigen Rechts besteht


darum darin, diese Strukturen zu schaffen, also in dieser Hinsicht die Ver-
einten Nationen als vereinte Nationen wirkmächtig zu realisieren. Dabei
besteht freilich zugleich die wichtige Aufgabe darin, das Prinzip der Sub-
sidiarität zu achten, also diese Institutionen in ein „Check and Balance“, in
ein gutes Gleichgewicht von Macht und Kontrolle zu bringen, um einen
Weltstaat zu verhindern, der sich in seinem Machtbedürfnis verabsolutieren
könnte. Bereits auf der Ebene global agierender Unternehmen und anderer
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 141

Organisationen lässt sich nämlich feststellen, wie leicht die zuständige Zen-
trale gegen dieses Prinzip der Subsidiarität verstößt und Macht und Einfluss
beansprucht, die ihr gerade nicht zukommt.

7.2.1 Mögliche globale Strukturen: der platonische


Lösungsvorschlag
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Man könnte Platon als denjenigen verstehen, der bereits einen klassisch zu
nennenden Lösungsvorschlag entwickelt hat, wie globale Strukturen konst-
ruiert werden sollten. Zwar ist sein Hauptwerk, die Politeia, ursprünglich auf
den idealen Stadtstaat bezogen, doch lassen sich darin enthaltene Überle-
gungen sehr gut für die Problemstellung fruchtbar machen. Wir benötigen
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nach seiner Überzeugung eine Regierung des Staatskörpers durch die


Besten (griechisch: aristoi) oder den Besten, den Monarchen. Wenn alle Re-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gierungen von den Besten geführt werden, werden diese sich auch auf
die besten globalen Strukturen einigen, so könnte man seinen Gedanken
„globalisieren“.
Aber bleiben wir noch bei Platon selbst. Wie werden die Besten oder der
Beste gefunden? Da jeder Staat in Feindseligkeiten verwickelt wird, bedarf
es eines Wehrstands, der aus den Besten des Nährstands (Bauern, Handwer-
ker) als drittem, staatstragendem Teil rekrutiert wird. Die besten Wächter,
nämlich diejenigen, die das Wahre und Gute kennen, sollen als Philoso-
phenkönige den Staat leiten. Sie erhalten dafür eine spezielle Ausbildung,
die durch einen fünfzehn Jahre dauernden Dienst in hohen Beamtenstellen
in der Praxis erprobt wird. Sie haben keine Familien im üblichen Sinn, son-
dern sie haben Frauen und Kinder gemeinsam, um Neid usw. zu vermeiden.
Mit fünfzig Jahren aber zieht sich dieser erlesene Kreis zurück, lebt nur noch
für die wahre Philosophie, der Schau des an sich Guten, und gibt die großen
Ideen aus, nach denen der Staat geführt wird.
Derartige Strukturen eines idealen Staats, regiert von Philosophen­
königen, bergen eine zentrale Schwierigkeit. Sie benötigen eine bestimmte
Konzeption des Guten, die von allen als wahr anzuerkennen ist. Anders
formuliert: Derartige Strukturen können niemals demokratisch sein, weil
niemals eine Mehrheit bestimmt, was wahr und gut ist, sondern das Wahre
und Gute bereits vorgegeben ist. Sie schaffen damit den Typus einer ge-
schlossenen Gesellschaft und schränken, wenn sie globale Strukturen Ver-
einter Nationen wären, zentrale menschliche Grundrechte ein, z.  B. das
142 Teil II Systematische Grundlegung

Recht auf freie Religionsausübung, auf Meinungsfreiheit sowie grundle-


gende politische Freiheiten. Darüber hinaus sind auch diese Strukturen
nicht davor gesichert, in eine Tyrannis zu entarten, wie Platon selbst be-
merkt hat.
Darum ist der platonische Lösungsvorschlag bei all seiner intuitiven
Faszination (Regierung durch den bzw. die Besten) mit dem hier vertretenen
Ansatz nicht vereinbar. Nach diesem Ansatz ist vielmehr das Demokratie­
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prinzip als Grundlage verpflichtend, um die menschlichen Grundfreiheiten


ernst zu nehmen.

7.2.2 Mögliche globale Strukturen vor dem Hintergrund


des Demokratieprinzips
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Dieses Demokratieprinzip, das zugleich ein Republikprinzip im weiten Sinn


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ist – die dänische Monarchie erfüllt ein so verstandenes Republikprinzip


ebenfalls –, bedeutet „den Konstruktionsplan für eine Staatsverfassung, die
auf vorverfassungsrechtliche Freiheit gebaut und nach verfassungsrechtli-
chen Freiheitsprinzipien gestaltet ist“ (Gröschner/Lembcke 2006, 57). Es
handelt sich also nicht um eine Diktatur der Mehrheit, sondern es ist eine
verfassungsmäßig geordnete, repräsentative Demokratie, die gerade auch
Minderheiten berücksichtigt.
Das hat auch Folgen für ein Verständnis ethisch angemessener globaler
Strukturen. Die Völker müssen diesen globalen Strukturen zustimmen
können. Es müssen Strukturen sein, die auf vorverfassungsrechtliche Frei-
heit gebaut und nach verfassungsrechtlichen Freiheitsprinzipien gestaltet
sind. Diese realisieren sozusagen die objektive Freiheitsordnung und auf
diese Weise die politische Idee der Freiheit. Zugleich müssen sie im Dienst
der Prinzipien von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit
stehen. Dabei korrespondiert der objektiven Freiheit, verwirklicht im Re-
publikprinzip, die subjektive Freiheit, verwirklicht im Menschenwürde-
prinzip, und die intersubjektive Freiheit, verwirklicht im Gerechtigkeits-
und Nachhaltigkeitsprinzip. Das Gerechtigkeitsprinzip ermöglicht und
begrenzt nämlich dialogisch Freiheitsspielräume, das Nachhaltigkeitsprin-
zip vermittelt diesen Freiheitsdialog auch in die Zukunft. Dies gilt nicht
nur für den Einzelnen, sondern auch für Völker. Darum sollen diese glo-
balen Strukturen kein Volk schlechter, sondern möglichst alle Völker bes-
ser stellen.
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 143

Die entscheidende Frage lautet dabei: Wie können globale Strukturen


aussehen, die eine freiheitliche Grundordnung (Republik- und Menschen-
würdeprinzip), die damit verbundene Friedenssicherung (Machtmonopol),
soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltigen Entwicklung gewährleisten?
Ein Grundproblem besteht hierbei darin, dass gerade auch demokrati-
sche Staaten dazu neigen, eine selbstbezogene Politik zu machen. Das hat
gute Gründe: Zu wenige Menschen in einem Staat sind beispielsweise
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bereit, einen noch höheren Beitrag zu ihrer Krankenkasse zu bezahlen, um


damit eine weltweite medizinische Grundversorgung aller Menschen si-
chern zu helfen. Darum sind Diskussionen um Krankenversicherungen
normalerweise immer binnenländisch, ohne den Blick auf die gesundheit-
liche Not derer, die nicht zu diesem Staat dazu gehören.
Globale Strukturen zur Sicherung von Frieden und Freiheit, Gerech-
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tigkeit und Nachhaltigkeit benötigen also globale, funktionsfähige Struk-


turen, die genügend Sicherungen eingebaut haben, damit sie nicht totali-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

tär werden können, aber andererseits das Demokratieprinzip in einer


Weise interpretieren, dass nicht nur die kurzfristigen Vorteilserwägungen
von Mehrheiten und Interessensgruppen befriedigt werden. Diese Struk-
turen müssen dabei so geschaffen sein, dass sie den kulturellen Unterschie-
den Rechnung tragen. Das bedeutet jedoch gerade nicht, dass schlechte
Gewohnheiten als kulturelle Eigenarten zu tolerieren sind. Wer beispiels-
weise im Rahmen von Entwicklungshilfe geschenkte Traktoren verrotten
lässt, sollte dafür sanktioniert werden, indem seine Entwicklungshilfe ge-
kürzt wird.

Gewaltmonopol der Vereinten Nationen


Es sind globale Strukturen nötig, die ein Gewaltmonopol der Vereinten
­Nationen sowohl in zwischenstaatlichen Beziehungen als auch bei Verlet-
zungen von Republik- und Menschenwürdeprinzip in einzelnen Staaten
sichern. Damit das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen gesichert ist,
müssten alle Staaten auf Atom- und sonstige Massenvernichtungswaffen
verzichten und ihr militärisches Potential de facto auf eine reine Grenz-
truppe verringern, quasi eine Grenzpolizei. Ein Staat, der einen Krieg be-
ginnt, sollte deshalb analog zu einem Menschen, der einen anderen Men-
schen überfällt, rasch und konsequent von der Weltgemeinschaft durch eine
internationale Streitmacht in seine Schranken gewiesen und zugleich scharf
sanktioniert werden können. Hierbei sollten in Analogie zu einem Polizei-
einsatz die internationalen Spielregeln klar und transparent sein.
144 Teil II Systematische Grundlegung

Zugleich wäre auch das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen in ei-


ner Weise zu gestalten, dass die jeweiligen Befehlshaber nicht die Macht
hätten, dieses Gewaltmonopol zu nutzen, um eine eigene autoritäre Mili-
tärdiktatur globalen Stils durchsetzen zu können. Das globale Gewaltmo-
nopol sollte darum auch für innerstaatliche Konflikte verbindlich sein,
wenn die grundlegenden Rechte von dort lebenden Menschen verletzt
würden, also ein Staat sein innerstaatliches Gewaltmonopol missbraucht
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oder nicht mehr imstande ist, seine innerstaatlichen Konflikte selbst zu


lösen.
Vor dem Hintergrund international agierender Verbrechersyndikate
sollte in Ergänzung zu diesem militärischen Gewaltmonopol noch an eine
internationale Polizei mit analogen Vollmachten zum US-amerikanischen
FBI gedacht werden, die den spezifischen Auftrag hat, diesen Verbrecher-
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syndikaten das Handwerk zu legen.


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Verantwortung der Vereinten Nationen für die notwendigen


Handlungsbedingungen
Die Vereinten Nationen sollten für Grundgüter wie Nahrung, Gesundheit
und Bildung gemäß internationaler Solidarität Strukturen errichten, die alle
Staaten verpflichten, je nach Möglichkeit, für diese Grundgüter Sorge zu
tragen. Bedürftige Staaten hätten damit einen Anspruch auf Hilfeleistungen
durch reichere Staaten. Die Geldflüsse wären jedoch durch die Vereinten
Nationen zu kontrollieren. Ein effektives Management der Hilfen wäre zu
gewährleisten. Staaten, die diese Hilfen in Anspruch nehmen, hätten sich
diesem Management zu unterwerfen. Staatsführer, die in ihrem Land nicht
für eine Versorgung mit Grundgütern sorgen, zugleich aber internationale
Hilfe verweigern, sind gemäß einem klar reglementierten Verfahren vor ei-
nen internationalen Gerichtshof zu stellen, der sie wegen Verletzung der
Menschenrechte usw. anklagt.

Kontrolle der Vereinten Nationen für international agierende Unternehmen


und Organisationen
Die Vereinten Nationen haben auch globale Institutionen zu schaffen,
die effektiv Finanzmärkte, aber eben nicht nur diese, sondern überhaupt
transnationale Unternehmen und Organisationen kontrollieren. Diese Insti-
tutionen der Vereinten Nationen haben dafür Sorge zu tragen, dass Unter-
nehmensleitungen und die Unternehmen selbst, die notwendige Hand-
lungsbedingungen ihrer Mitarbeit verletzen (z.  B. Hungerlohn, die Ge­-
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 145

sundheit schädigende Arbeitsbedingungen, Korruption), für ihr Fehlverhal­-


ten streng sanktioniert werden.
Bisherige Initiativen, das zeigt die internationale Bankenkrise, aber auch
das Fehlverhalten mancher Unternehmen, z. B. was Korruption angeht, sind
viel zu wenig einflussreich, denn sie sind nicht durch effektive internationale
Sanktionsmöglichkeiten abgesichert. Beispielhaft sei hierfür der United Na-
tions Global Compact genannt, der am 31. Januar 1999 offiziell von UN-Ge-
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neralsekretär Kofi Annan in einer Rede anlässlich des Weltwirtschaftsfo-


rums in Davos allen interessierten Unternehmensführern angeboten wurde.
Auch der im Oktober 2005 angenommenen Allgemeinen Erklärung über Bio-
ethik und Menschenrechte. Wegweiser für die Internationalisierung der Bioethik
der UNESCO wird ein ähnliches Schicksal beschieden sein, sobald „hand-
feste“ Interessen eine Verletzung der vorgesehenen Standards im Eigeninte-
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resse der Betroffenen für sinnvoll erscheinen lassen.


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

7.2.3 Die nationale und subnationale Dimension –


die entscheidende Funktion des Subsidiaritätsprinzips

Die globalen Strukturen müssen freilich so beschaffen sein, dass sie das Sub-
sidiaritätsprinzip nicht verletzen. Es sollte darum nur international geregelt
werden, was nicht national geregelt werden kann, so wie nur national gere-
gelt werden sollte, was nicht auch auf unteren Ebenen in einfacherer Weise
zu regeln ist. Die so verstandenen Vereinten Nationen brauchen beispiels-
weise keiner Polizei der Welt bei der Aufklärung eines kleinen Diebstahls
helfen. Sie sollten gerade vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede
keine Eingriffe in Bildungsvorhaben oder gesundheitliche Sicherungsmaß-
nahmen vornehmen dürfen, wenn die Grundgüter von Gesundheit und Bil-
dung gesichert sind. Ob also ein Staat möglichst viele Studenten hat und
beispielsweise nur Kindergärtnerinnen mit einem Universitätsabschluss
akzeptiert, ein anderer dagegen alternative Fortbildungsmöglichkeiten im-
plementiert und Kindergärtnerinnen mit mittlerer Reife und einer weiteren
fachbezogenen Ausbildung gewinnt, hat die Vereinten Nationen nicht zu
interessieren. Wer dies bestreitet, nähert sich bereits wieder dem platoni-
schen Modell an, weil er dann zu wissen glaubt, wie eine universelle Ausbil-
dung im Detail auszusehen hat.
Das Subsidiaritätsprinzip gilt bis zu den einzelnen Menschen. Wofür
der Einzelne Verantwortung übernehmen kann, das sollte ihm weder die
146 Teil II Systematische Grundlegung

Gruppe, die Region, der Staat oder gar die Vereinten Nationen abnehmen.
Es kann sich niemand auf der Handlungsebene aus dieser Pflicht stehlen,
nur weil auf der Regelebene (global, national, regional usw.) keine direkten
Vorgaben vorhanden sind. Freilich wird er bei einem Fehlverhalten nicht
sanktioniert. Hier wird sozusagen „reine Moral“ wirksam. Es ���������������
gilt dement-
sprechend: Der systematische Ort von Moral und Ethos sind Rahmenord-
nung und Teilsysteme/Institutionen/Gruppen sowie Einzelpersonen.
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7.3 Gesamtschau

Damit lassen sich die Überlegungen in folgender Weise darstellen:


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Abb. 16 Gesamtschau zur Bedeutung von Politik und Recht


[Quelle: nach Anzenbacher 1997, 208]
147

Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik


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8 Systematik der Bereiche

Viele Themen der spezifischen Bereiche der Angewandten Ethik haben eine
lange Geschichte. Seit sumerischer Zeit wird nachweislich über die Bewer-
tung von Abtreibung und Sterbehilfe nachgedacht. Bereits in den großen
platonischen Werken Politeia und Nomoi findet sich eine Fülle angewandt-
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ethischer Themen, z. B. medienethische Überlegungen zur Notwendigkeit


einer Zensur, medizinethische Gedanken zu einer Menschenzucht in Ana-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

logie zur Tierzucht, die sportethische Frage nach der Sinnhaftigkeit des
Sports und wirtschaftsethische Bemerkungen zur Bedeutung des Geldes.
Allerdings werfen neue Herausforderungen wie die Gentechnik auch ganz
neue Fragestellungen auf. Zudem haben die jeweiligen Philosophen die Be-
reiche nicht systematisch abgehandelt, sondern sind den Fragen im größeren
Rahmen ihrer jeweiligen Werke nachgegangen. Diese Systematik zu schaf-
fen stellt aber gerade die eigentliche Aufgabe einer Angewandten Ethik als
Wissenschaftsdisziplin dar. Wesentlicher Bestandteil dieser Aufgabe ist da-
bei der Aufweis, wie das Norm- und Wertgefüge von Menschenwürde und
Menschenrechten, von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in den einzelnen
Bereichen zur Anwendung kommen kann.

8.1 Verantwortungsdimensionen

Das Norm- und Wertgefüge bildet nämlich zusammen mit dem jeweiligen
bereichsspezifischen Ethos sowie den jeweilig geltenden Gesetzen das Wes-
wegen der Verantwortung. Doch was ist eigentlich unter „Verantwortung“ zu
verstehen?
Es können ganz verschiedene Typen von Verantwortung und Dimensio-
nen der Verantwortung ausgemacht werden. So lassen sich Handlungen,
Handlungsergebnisse, deskriptive und normative Handlungszuschreibun-
gen und damit korrespondierende Typen von Rollenverantwortung und mo-
148 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

ralischer Verantwortung unterscheiden, nach Ott (2005, 611) vermutlich


etwa tausend Verantwortungstypen.42
Trotz dieser Vielzahl von Typen lassen sich doch sieben wesentliche Di-
mensionen der Verantwortung ausmachen. Neben dem Weswegen der Ver-
antwortung, sind dabei noch das Wovor bzw. wem gegenüber, das Wer, das
Was, Wofür und Wann zu nennen.
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Abb. 17 Verantwortungsdimensionen

42 Ropohl (1994, 1996) hat für diese Verantwortungstypen eine Matrix entworfen,
der ich in der Fragestellung und Kategorisierung in sieben Bereiche folge (vgl.
auch Ott 2005, 609–612, und Kunzmann 2006, 253–258), aber gerade nicht auf
technikethische Fragen einschränke und auch im Detail verändere. Vgl. auch
Körtner (2001) und Lenk (1998).
Systematik der Bereiche 149

Verantwortung kann nur eingefordert werden, wenn es Instanzen gibt,


wovor bzw. wem gegenüber Verantwortung zu realisieren ist: dem persönli-
chen Gewissen, vor dem Urteil der anderen, seien es einzelne oder Gruppen,
aber auch vor Gerichten.
Wer aber hat sich zu verantworten? Es sind all diejenigen, die an Hand-
lungen, Unterlassungen, an der Herstellung von Produkten usw. in den ein-
zelnen Bereichen beteiligt sind, seien es Individuen, Institutionen oder Un-
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ternehmen, Behörden, ganze Staaten oder sogar die Staatengemeinschaft.


Dabei stehen insbesondere Führungskräfte in einer besonderen Verantwor-
tung, und sie können leicht in tief greifende Konflikte geraten. Sie sind da-
her zugleich erste Adressaten einer ethischen Urteilsbildung als auch einer
notwendigen Folgenabschätzung, die in Analogie zu einer Technikfolgenab-
schätzung (vgl. 10.2) Personenfolgenabschätzung43 genannt werden sollte.
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Führungskräfte sind in einer solchen Abschätzung auf schwerwiegende Ri-


sikofaktoren wie bestimmte gefährdende Charaktereigenschaften ebenso zu
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

analysieren wie auf hervorragende Potentiale und Chancen. Diese Personen-


folgenabschätzung könnte Anleihen bei der langen spirituellen Tradition,
beispielsweise der Regel des Benedikt im Hinblick auf die Eigenschaften
des Abtes als der entscheidenden Führungspersönlichkeit des Klosters, so-
wie bei modernen psychologischen Erkenntnissen machen. Grundsätzlich
sollte sie
1. den Stand einer Person und ihre Entwicklungsmöglichkeiten analysie-
ren,
2. unmittelbare und mittelbare soziale, ökologische und ökonomische
Folgen, die sich aus Entscheidungen dieser Person aufgrund ihrer
Charakterzüge, ihres Wertegerüsts und ihrer Fähigkeiten und Schwä-
chen ergeben, abschätzen,
3. auf Grund des zugrunde gelegten Werte- und Normfundaments diese
Folgen beurteilen oder auch weitere wünschenswerte Entwicklungen
der Person befördern,
4. indem ihr Weiterbildungs- und Fördermaßnahmen für solche Entwick-
lungsschritte angeboten werden.

43 Der Begriff der Personenfolgenabschätzung könnte durch seine Nähe zum Begriff
der Technikfolgenabschätzung als herabwürdigend empfunden werden. Dies ist
gerade nicht gemeint. Vielmehr geht es darum, analog zu den Risiken und Chan-
cen bei Techniken, die ernsthaft zu überprüfen sind, auch mit ebenso großem
Ernst den Menschen zu bewerten, denn das bisher größte Unheil wie auch Wohl
ist durch Menschen in diese Welt gekommen.
150 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
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Abb. 18 Personenfolgenabschätzung

Neben dem Subjekt der Verantwortung ist das zweifache Objekt der Verant-
wortung zu berücksichtigen: das Was und Wofür der Verantwortung. Dabei
bilden Handlung oder Unterlassung und das intendierte Produkt bzw. Re-
sultat das Was der Verantwortung, die vorhersehbaren und unvorhersehbaren
Folgen der Handlung, die über das intendierte Produkt bzw. Resultat hin-
ausgehen, das Wofür. Zwischen ethischen Theorien gehört es in diesem Zu-
sammenhang zu einer der umstrittensten Fragen, wie Handlungen und Un-
terlassungen zueinander im Bewertungsverhältnis stehen (vgl. Birnbacher
1995, Smith 2005). Ein weiteres Problem stellt dar, wie unvorhersehbare
Folgen und ein spekulatives Risiko zu berücksichtigen sind. Darauf wird
später noch einzugehen sein.
Systematik der Bereiche 151

Damit verbunden ist eine weitere Dimension der Verantwortung, das


Wann. Verantwortung kann im Vorhinein zu einer Handlung bzw. Unterlas-
sung, im Vollzug der Handlung und retrospektiv wahrgenommen werden.
Sie kann zudem in der Weise vollzogen werden – das Wie der Verantwor-
tung –, dass der Einzelne, die Gruppe oder die Gesellschaft das Handeln
bzw. Unterlassen direkt verursacht. Es kann aber auch sein, dass Handlun-
gen oder Unterlassungen jemandem (teilweise) zugerechnet werden, der
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diese nicht selbst vollzogen hat. In bestimmten Fällen haftet dann sogar
nicht die Person, die einen Schaden angerichtet hat, sondern diejenige, der
man den Schaden zurechnet. Dabei muss nicht einmal persönliche Schuld
im Spiel sein. Man denke nur daran, dass Eltern, ohne ihre Aufsichtspflicht
verletzt zu haben, für ihre noch nicht rechtlich belangbaren Kinder haften,
beispielsweise wenn diese auf dem Heimweg von der Schule einen Schaden
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anrichten.
Veranwortung ist also eine vielstellige Relation, die die Komplexität die-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ses Begriffs anzeigt.

8.2 Verweisungszusammenhänge

Bei einer systematischen Darstellung der Bereiche ist ebenso zu berücksich-


tigen, dass diese nicht einfach unvermittelt nebeneinander stehen. So hän-
gen Wissenschafts- und Technikethik eng zusammen, da sich viele Techni-
ken wissenschaftlichen Erkenntnissen verdanken. Aber auch die Umwelt-
ethik, die die außermenschliche Bioethik einschließt, und die Bioethik am
Menschen sind miteinander verbunden, da in beiden Bereichen Leben in
seinen vielfältigen Dimensionen thematisiert wird. Zugleich spielen gerade
in diesen Bereichen, man denke nur an die Gentechnik, technik- und wis-
senschaftsethische Überlegungen eine wichtige Rolle.
Die genannten Bereiche sind wiederum in mehrfacher Weise mit den
Fragestellungen der Wirtschafts-, Unternehmens- und Führungsethik ver-
bunden. Jedes größere Unternehmen hat Forschungsabteilungen, die wis-
senschaftlich arbeiten und bei denen sich wissenschaftsethische und wirt-
schaftsethische Fragestellungen verzahnen: Wann darf ein Unternehmen
wissenschaftliche Erkenntnisse, die die eigenen Abteilungen herausgefun-
den haben, unterdrücken, wenn diese Erkenntnisse dem Unternehmensge-
winn schaden? Die Bedeutung technischer Errungenschaften und techni-
scher Innovationen für Unternehmen, aber auch für die Volkswirtschaften
152 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

ganzer Nationen, verbindet ebenfalls Problemstellungen dieser Bereiche


Angewandter Ethik miteinander. Was die Medizinethik als Teil der Bio-
ethik des Menschen angeht, so gibt es z.  B. über Allokationsfragen, also
Fragen, wie knappe Ressourcen gerecht verteilt werden können, oder medi-
zintechnische Möglichkeiten ebenfalls deutliche Schnittfelder mit Frage-
stellungen anderer Bereiche. Große Sportereignisse, um den Bereich der
Sportethik zu nennen, sind mittlerweile zugleich auch riesige wirtschaftliche
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Unternehmungen geworden. In der Sportmedizin wird zudem die Verbin-


dung zu klassischen medizinethischen Konflikten wichtig. Auch die Bedeu-
tung der Medien spielt gerade im Sport eine große Rolle. Hier zeigt sich
auch, wie die Medienethik in vielfältiger Weise in alle anderen Bereiche hi-
neinragt.44
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8.3 Konkretion am Beispiel des ethischen Konfliktfalls


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

„Gentechnik“
Die Gentechnik stellt eine der facettenreichsten Techniken dar. Sie wirft
darum eine Vielzahl von ethischen Fragen auf, die praktisch alle Bereiche
der Angewandten Ethik in der einen oder anderen Weise berühren. So kann
dieses konkrete Beispiel einführend sowohl die verschiedenen Dimensionen
der Verantwortung als auch den Verweisungszusammenhang der Bereiche
illustrieren. Im Detail soll dieser vielgestaltige ethische Konfliktfall anschlie-
ßend in den einzelnen Bereichen exemplarisch behandelt werden.

8.3.1 Intuitive Grundidee, Forschungsfelder und


Anwendungsmöglichkeiten

Alle Lebewesen auf dieser Erde speichern ihre genetische Information, den
genetischen Code, in Paaren von Nukleinsäuren. Der genetische Code ist

44 Für die Aufteilung in die genannten Bereiche nehme ich die Einteilung der Sam-
melbände von Nida-Rümelin (Hg.) (2005, Erstauflage 1995) und Knoepffler u. a.
(2006) zum Vorbild. Wichtige Anregungen verdanke ich zudem Beiträgen in
Düwell u. a. (Hg.) (2006, Erstauflage 2002), und Frey/Wellman (Hg.) (2005). Vgl.
auch die einschlägigen Lexikonbeiträge in Korff u. a. (Hg.) (2000) sowie in der
von Chadwick herausgegebenen vierbändigen „Encyclopedia of Applied Ethics“
(1997).
Systematik der Bereiche 153

dabei mit wenigen Ausnahmen universell: Die Proteinsynthese läuft z. B. bei
der Hefe und beim Menschen nach identischen Regeln ab. Jeweils eine
Dreiergruppe (im Fachbegriff: ein Triplett) einsträngiger Messenger-Ribo-
nukleinsäuren (abgekürzt: mRNA) kodiert eine von zwanzig Aminosäuren.
Da Proteine aus einer Kette verschiedener Aminosäuren bestehen, bestimmt
die Länge und Reihenfolge der Aminosäurensequenz wesentlich Form und
Funktion des entsprechenden Proteins. Um sich eine Vorstellung davon zu
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machen, was dies bedeutet, kann ein Vergleich mit Legobausteinen helfen.45
Einige wenige Steintypen genügen, um eine praktisch unbeschränkte An-
zahl unterschiedlicher Bauwerke entstehen zu lassen. Wie es die Konfigura-
tion der Steine ermöglicht, dass wir beispielsweise etwas als Haus und etwas
als Turm identifizieren, so bewirkt die Konfiguration der Tripletts, dass wir
es mit Mücken oder Menschen zu tun haben, obwohl die Nukleinsäuren
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identisch sind. Wie kommt es dabei dazu, dass sich Mücken oder Menschen
bilden? Die Grundbausteine sorgen selbst dafür, dass sich bestimmte Ami-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nosäuren aneinander reihen. Diese dienen letztlich dazu, dass wir in unserer
Gestalt existieren.
Man definiert dabei als „Gen“, sehr vereinfacht gesprochen, denjenigen
Abschnitt von Nukleinsäuren – genau genommen sind es Desoxyribonukle-
insäuren (abgekürzt: DNA) –, der die Information für ein Protein enthält.
Die Gesamtheit der Gene eines Lebewesens, also seine genetische Gesamt-
konfiguration, bezeichnet man als Genom dieses Lebewesens. Bei aller Un-
terschiedlichkeit der Gesamtkonfiguration, finden sich in den einzelnen
Sequenzen derart große Ähnlichkeiten zwischen den Lebewesen, dass bei-
spielsweise der Einzeller Hefe und der Mensch als ein Gebilde aus etwa
100 Billionen Zellen in verblüffender Weise verwandt sind. Die Hälfte aller
Gene, die in unserer Spezies als Ursachen oder Auslöser von Krankheiten
entdeckt wurden, ist auch bei der Hefe zu finden, obwohl sich die Entwick-
lungslinien von Hefe und Mensch bereits vor mehr als 700 Millionen Jahren
trennten. Ein weiteres Beispiel für diese große Verwandtschaft: Der Wurm
C. elegans verliert seine Fähigkeit, Eier zu legen, wenn in ihn ein Gen einge-
bracht wird, das beim Menschen eine Form der Erkrankung an Alzheimer
auslöst. Umgekehrt sorgt das gesunde menschliche Gen, in den Wurm ein-

45 Die obige, anthropomorphe Redeweise „speichern“ sowie das von mir gebrauchte
Bild der Legobausteine sowie der nachfolgende Bezug zum Kochrezept zeigen
an, dass es hier nur um eine intuitive Grundidee der Vorgänge geht. Für eine na-
turwissenschaftlich präzise und umfassende Darstellung sei auf die einschlägigen
Lehrbücher verwiesen.
154 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

gebracht, dafür, dass er wieder normal Eier legen kann, wenn sein entspre-
chendes Gen defekt war.
Vor diesem Hintergrund lässt sich gut verstehen, wozu die Gentechnik
nützlich sein kann. Sie kann zur Entwicklung von Grundlagen gebraucht
werden, also um die Abfolge der Basenpaare zu identifizieren und in einem
weiteren Schritt diesen so entzifferten genetischen Code ebenso zu ent-
schlüsseln, also die Auswirkung der Sequenzen verstehen zu lernen. Auf
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diese Weise können Gensequenzen entdeckt werden, die zu besonderen Ei-


genschaften befähigen, wobei viele Eigenschaften multifaktoriell sind, also
nicht nur auf eine Gensequenz zurückgeführt werden können und zudem
Umwelteinflüsse ebenfalls eine Rolle spielen können.
Die Entdeckung besonderer Eigenschaften spielt für den Umgang mit
Pflanzen und Tieren eine große Rolle. Damit wird eine große Breite diag-
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nostischer Möglichkeiten zur Verfügung gestellt. So können auch Genver-


änderungen identifiziert werden, die für Krankheiten oder Behinderungen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

disponieren. Dies ist besonders im Zusammenhang beider Formen vorge-


burtlicher Diagnostik beim Menschen von Bedeutung, die genetische Prä-
implantationsdiagnostik, also die genetische Diagnostik eines in vitro ge-
zeugten menschlichen Keims im Acht- bis Sechzehnzellstadium vor der
Implantation, und die genetische Pränataldiagnostik.
Die Gentechnik kann aber auch dazu dienen, gentechnische Eingriffe vor-
zunehmen. Dabei sind zwei Formen zu unterscheiden: Die klassischen
Züchtungsverfahren zielen darauf ab, dafür zu sorgen, möglichst nur das
gewünschte Erbgut bestimmter Lebewesen an die nächstfolgenden Genera-
tionen weiterzugeben. Die gentechnischen Eingriffe auf der molekularen
Ebene bringen gezielt einzelne Gene bzw. Genabschnitte in ein Lebewesen
ein bzw. eliminieren diese. Dabei sind weitere Unterscheidungen zu machen:
Der Eingriff kann sich auf alle Körperzellen eines Lebewesens beziehen, die
nicht Keimzellen sind. Es handelt sich dann um einen somatischen Eingriff
(griechisch: soma = Körper). Der Eingriff kann aber auch die Keimzellen und
damit (möglicherweise) die Nachkommen betreffen. Es handelt sich dann
um einen Eingriff in die Keimbahn. Auch bei der Zielsetzung „gewünschtes
Erbgut“ sind weitere Unterscheidungen zu treffen. Es kann darum gehen,
Lebewesen gentechnisch zu behandeln, um sie zu therapieren, um sie gegen
bestimmte Risiken (Schädlinge, Schädlingsvernichtungsmittel) wider-
standsfähig (resistent) zu machen oder um sie zu optimieren, z. B. um einen
Reis herzustellen, der Vitamin A enthält (vgl. Ye et al. 2000). In bestimmten
Fällen dienen diese Lebewesen einer therapeutischen Zielsetzung. Ein Bei-
Systematik der Bereiche 155

spiel hierfür ist die gentechnische Herstellung von Insulin durch das Ein-
führen einer bestimmten Sequenz von Nukleinsäuren in Bakterien, sodass
diese menschliches Insulin produzieren. Aber nicht nur Bakterien, sondern
sogar Säugetiere können medizinischen Zwecken dienen. Wilmuts (1997)
berühmte Klonierung von Schafen hatte das Ziel, eine sichere Methode zu
entwickeln, um transgene Schafe, die in ihrer Milch das Antikrebsmittel
Interleukin produzierten, in ihrer Transgenität in den Nachfolgegeneratio-
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nen zu erhalten.46
Beim Menschen geht es derzeit darum, genetisches Material mit Hilfe
von „harmlosen“ Viren in Körperzellen einzubringen (virale Genfähren), um
so bestimmte genetisch bedingte Erkrankungen zu heilen, im Fachbegriff:
Es geht um somatische Eingriffe mit therapeutischer (griechisch: therapeuein
= heilen) Zielsetzung. Theoretisch lassen sich aber auch Eingriffe in die
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Keimbahn mit therapeutischer Zielsetzung denken. Noch radikaler wäre es


analog zu den Eingriffen bei Pflanzen und Tieren gentechnische Eingriffe
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

beim Menschen mit der Zielsetzung vorzunehmen, seine physiologischen,


kognitiven oder verhaltensmäßigen Fähigkeiten zu verbessern, fachsprach-
lich: Enhancement durchzuführen (vgl. Winnacker u. a. 2002, Knoepffler/
Savulescu 2009).
Ein Spezialfall ist in diesem Zusammenhang die Technik des Klonens
(griechisch: klon = Zweig, Spross), fachsprachlich des somatischen Zellkern-
transfers, bei Lebewesen, die sich nicht als Klone wie in der Pflanzenwelt, in
der es genidentische Ableger usw. gibt, fortpflanzen. Hier geht es darum,
einen kompletten Organismus genidentisch zu kopieren. Dies ist mittler-
weile auch bei Säugetieren und sogar beim Menschen möglich, wie Versuche
mit dem somatischen Zellkerntransfer zu therapeutischen Zwecken zeigen.
Einen weiteren Spezialfall stellt die embryonale und adulte Stammzell-
forschung dar, die insofern auch zur Gentechnologie gehört, da hier in be-
sonderem Maße gentechnische Verfahren zur Anwendung kommen kön-
nen. So kann man beispielsweise embryonale Stammzellen genetisch so
verändern, dass sie vom Immunsystem des Empfängers nicht so leicht abge-
stoßen werden. Man kann aber auch die Klonierungstechnik und zugleich
weiteres gentechnisches Wissen anwenden, um menschliche Blastozysten,
also frühe menschliche Embryonen, herzustellen, aus denen man zwar
Stammzellen gewinnen kann, die sich jedoch selbst niemals über das Blasto-

46 vgl. zu einem Überblick über die Fülle transgener Tiermodelle Schenkel (2006,
171–189).
156 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

zystenstadium hinaus entwickeln können (vgl. Meissner/Jänisch 2005). Im


Bereich der adulten Stammzellen gelingt es mittlerweile induzierte, pluripo-
tente Stammzellen herzustellen, die ähnliche Eigenschaften wie embryonale
Stammzellen haben, ohne dabei, wie bei gentechnischen Eingriffen sonst
meist nötig, virale Genfähren benutzen zu müssen (vgl. Kim et al. 2009).
Außerdem lassen sich für diese Verfahren eingeschleuste Gene wieder ent-
fernen (vgl. Woltjen et al. 2009). Ein weiteres Verfahren hat eine Forscher-
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gruppe um Hans Schöler im Juli 2009 publiziert (vgl. Kinarm Ko et al.


2009). Hierbei wandeln sich Hodenzellen in pluripotente Stammzellen um
und haben ebenfalls ähnliche Eigenschaften wie embryonale Stammzellen.

8.3.2 Gentechnik in ihrer Relevanz für die unterschiedlichen


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Bereiche Angewandter Ethik


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Das dargestellte Feld gentechnischer Forschungs- und Anwendungsmög-


lichkeit zeigt unmittelbar den Bezug zum Bereich „Wissenschaftsethik“ und
zum Bereich „Technikethik“. Dies gilt auch für die wirtschaftsethische Di-
mension des gewählten Fallbeispiels. Da Gentechnik ein gewaltiges wirt-
schaftliches Potential hat, ist der Bezug zur Wirtschafts- und Unterneh-
mensethik ebenfalls offensichtlich. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass
Fragen der Gentechnik eine umwelt- und medizinethische Relevanz haben,
denn es wird dabei entweder direkt mit Lebewesen einschließlich des Men-
schen oder indirekt mit von ihnen gewonnenen Zellen und Geweben ge-
forscht, und die Anwendungen haben mittelbar oder unmittelbar eine große
Relevanz für die Umwelt und diese Lebewesen. Diese Relevanz kann sich
im Falle gentechnischen Enhancements auch auf die Sportethik auswirken.
Im ersten Fall geht es dabei um Möglichkeiten, beispielsweise die gentech-
nische Verbesserung von Gedächtnisleistungen, aber auch die Veränderung
von Verhalten mittels gentechnischer Methoden, im Fall des Sports vor-
nehmlich um die Möglichkeiten, physiologische Fähigkeiten zu verbessern.
Es finden sich ebenfalls Bezüge zur Medienethik: Die Präsentation und
Bewertung bestimmter gentechnischer Forschungsfelder und Anwendungs-
möglichkeiten zeigt den großen Einfluss, der den Medien hier durch Mög-
lichkeiten der Visualisierung gegeben ist.
Dieser kleine, keineswegs vollständige Überblick lässt erkennen, dass es
einen Verweisungszusammenhang zwischen den einzelnen Bereichen gibt.
Wenn im Folgenden die Bereiche getrennt voneinander behandelt werden,
Systematik der Bereiche 157

so soll doch dieser Verweisungszusammenhang als Hintergrund dadurch


präsent bleiben, dass die Exemplifizierung in allen Bereichen mittels eines
Konfliktfalls aus dem Feld der Gentechnik und hierbei, soweit möglich, der
Grünen Gentechnik vollzogen wird.
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158 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

9 Wissenschaftsethik

Man kann vereinfachend sagen, dass das gemeinsame Band aller Wissen-
schaften darin besteht, neue Erkenntnisse zu erreichen, eben „mehr zu wis-
sen“. Der Unterschied besteht – wiederum grob gesprochen – darin, dass die
Natur- und Ingenieurswissenschaften sowie die Medizin sich eher dadurch
auszeichnen, dass das neue Wissen Probleme lösen soll und oft einen Pro-
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duktionsfaktor darstellt, während die Geisteswissenschaften bestehende Lö-


sungen in Frage stellen, also problematisieren, oder weitere, alternative Lö-
sungsangebote, also ein Orientierungswissen, schaffen (vgl. Mittelstraß
1982, 16). Zwei wesentliche Besonderheiten einer Ethik der Wissenschaft
bestehen nun darin, dass sie einerseits als Geisteswissenschaft nicht-geistes-
wissenschaftliche Wissenschaften normiert und andererseits sich selbst
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ethisch als Wissenschaft zu reflektieren hat. Ihre zentrale Aufgabe lässt sich
mit Schweidler (2006, 307) in folgender Weise benennen: „Wissenschafts­
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ethik ist dasjenige Gebiet der Angewandten Ethik, in dem die spezifische
ethische Verantwortung der Forschung thematisiert wird, und zwar sowohl
unter dem Blickwinkel der Forschenden und der Forschergemeinschaften
als auch unter dem der gesamten Bedingungen, unter denen in modernen
gesellschaftlichen Systemen wissenschaftliche Forschung handlungsleitende
Bedeutung gewinnt.“ Dabei sind auch die Folgen dieser Forschung, soweit
sie ethisch relevant sind, zu thematisieren.

9.1 Wissenschaftsethische Positionen

Von Wissenschaftsethik im strengen Sinn kann eigentlich erst mit dem


Entstehen der Ausdifferenzierung der Ethik in Bereichsethiken gesprochen
werden. Im Unterschied zu den meisten anderen Bereichsethiken gibt es
unter gegenwärtigen Wissenschaftsethikern nur geringe Kontroversen. Die
Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft wird allgemein vertreten. Bis
heute fehlt teilweise in einschlägigen Handbüchern und Lexika auch wegen
dieses grundsätzlich unkontroversen Status der Wissenschaftsethik das be-
treffende Stichwort, so z. B. in Frey/Wellman (Hg.) (2005) und in Düwell
u. a. (Hg.) (2006). Darum kann man im Unterschied zu den meisten anderen
Bereichsethiken kaum von widerstreitenden zeitgenössischen Ansätzen
sprechen, selbst wenn es Wissenschaftsethiker in einer eher utilitaristischen
Tradition ebenso gibt wie Wissenschaftsethiker, die eher in aristotelischer
Wissenschaftsethik 159

Tradition stehen (vgl. für diese Position exemplarisch Hubig 1993) oder wie
auch hier vertreten, eine Wissenschaftsethik, die vom Prinzip der Men-
schenwürde ausgeht (vgl. Schweidler 2006). Streitpunkte sind vielmehr die
konkrete Einschätzung bestimmter Forschungen (vgl. dazu exemplarisch
9.3).
Ganz fundamental haben jedoch bereits antike Denker wissenschafts­
ethische Themen erörtert. So lässt sich in Platons Politeia die Überlegung
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finden, dass es nicht zu verantworten sei, wenn alle Menschen ein bestimm-
tes Wissen haben, da dieses Unruhe stiften könnte. Aber Platon geht sogar
noch einen Schritt weiter. So lautet seine Vorschrift zur Verschleierung des
staatlichen Zuchtprogramms: „Es scheint, dass unsere Herrscher allerlei
Täuschungen und Betrug werden anwenden müssen zum Nutzen der Be-
herrschten“ (Politeia 459c–d).
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Die Kirchen vertraten lange Zeit die Position, dass Forschungsergebnisse


nur mit ihrer Autorität veröffentlicht werden dürfen. Bis heute gilt für Theo-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

logen in den mit dem Papst in Einheit stehenden Kirchen, dass sie ihre
Forschungsergebnisse nicht veröffentlichen dürfen und sich auch nicht zu
bestimmten Fragen äußern sollten, wenn diese nicht in Übereinstimmung
mit lehramtlichen Äußerungen zu stehen scheinen: „�������������������
Es kann ferner vor-
kommen, dass die Schwierigkeit nach Abschluss einer ernsthaften Prüfung
in der Bereitschaft, ohne inneren Widerstand gegen den Spruch des Lehr-
amtes zu hören, bestehen bleibt, weil dem Theologen die Gegengründe zu
überwiegen scheinen. Er muss dann angesichts einer Zustimmung, die er
nicht geben kann, bereit bleiben, die Frage gründlicher zu studieren. Sie
kann ein Aufruf zu schweigendem und betendem Leiden in der Gewissheit
sein, dass, wenn es wirklich um die Wahrheit geht, diese sich notwendig am
Ende durchsetzt“ (Kongregation für die Glaubenslehre 1990, Nr. 31).�������
In ei-
ner ähnlichen Weise verlangen auch heutige Konzerne oft von ihren Wis-
senschaftlern, bestimmte Ergebnisse nicht zu veröffentlichen und aus Loya-
lität zu dem sie beschäftigenden Unternehmen zu schweigen.
Dagegen formuliert bereits Kant im Rahmen seiner Schrift Beantwor-
tung der Frage, was ist Aufklärung: „Ebenso ist ein Geistlicher verbunden,
seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der
Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun, denn er ist auf diese Bedingung
angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den
Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken
über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer
Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzu­
160 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

teilen“ (Kant 1968 [1784], 38). Er benennt damit einen Wert, der bis heute
zum eigentlichen Spezifikum der Wissenschaft gehört: die Forschungs-
freiheit.

9.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder


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Der zentrale mit der Menschenwürde und dem mit ihr verbundenen Selbst-
bestimmungsrecht gegebene bereichsspezifische Wert ist die Forschungs-
freiheit. Ein Wissenschaftler, der in seinem Forschen keine Forschungsfrei-
heit genießt, ist eigentlich nur ein „Handlanger“ anderer Interessen. Deshalb
ist zumindest die akademische Wissenschaft frei in ihrer Forschung, und es
ist ein Kennzeichen des universitären Forschers, dass er sich seine For-
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schungsfelder frei wählen kann. Dort, wo dies nicht der Fall ist, kann darum
auch nicht mehr von echter universitärer Forschung die Rede sein. Vielmehr
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

handelt es sich dann um Hochschulen, die vorgeschriebenen Linien folgen,


oder um Forschungsabteilungen, die ihrem jeweiligen Arbeitgeber verpflich-
tet sind. Der bundesdeutschen Gesellschaft ist die Forschungsfreiheit sogar
ein so hoher Wert, dass sie als Grundrecht im Grundgesetz unter der so
genannten Ewigkeitsklausel steht. Solange das Grundgesetz in Geltung ist,
kann dieses Grundrecht nicht abgeschafft werden. Hintergrund dafür ist die
Erfahrung mit der menschenverachtenden NS-Ideologie, die auch vor ideo-
logischer Einflussnahme auf die Wissenschaft nicht zurückschreckte und
diese zu instrumentalisieren versuchte.
Neben diesem zentralen Wert der Forschungsfreiheit gibt es bereichs-
spezifische Normen und Werte, die für eine gute wissenschaftliche Praxis
kennzeichnend sind. Weltweit haben große Forschungsorganisationen für
ihre Wissenschaftler Empfehlungen einer guten wissenschaftlichen Praxis
erlassen.

Vertiefung: Empfehlungen der Max-Planck-Gesellschaft (Hg., 2000, 3)


„a) Regeln für die wissenschaftliche Alltagspraxis
– genaue Beachtung disziplinspezifischer Regeln für die Gewinnung und Aus-
wahl von Daten,
– zuverlässige Sicherung und Aufbewahrung der Primärdaten; eindeutige und
nachvollziehbare Dokumentation aller wichtigen Ergebnisse,
– Regel des systematischen Skeptizismus: Offenheit für Zweifel auch an den
eigenen Ergebnissen bzw. an den Ergebnissen der eigenen Gruppe,
Wissenschaftsethik 161

– Bewusstmachen stillschweigender axiomatischer Annahmen; Kontrolle von


aus eigenem Interesse oder selbst moralisch motiviertem Wunschdenken; sys-
tematische Aufmerksamkeit für mögliche Fehldeutungen in Folge der metho-
disch beschränkten Erfassbarkeit des Forschungsgegenstandes (Übergenerali-
sierung).

b) Regeln der Kollegialität und Kooperation


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– keine Behinderung der wissenschaftlichen Arbeit von Konkurrenten, zum Bei-


spiel durch Verzögern von Reviews oder durch Weitergeben von wissenschaft-
lichen Ergebnissen, die man vertraulich erhalten hat,
– Förderung der wissenschaftlichen Qualifikation von Nachwuchsforschern,
– Offenheit gegen Kritik und Zweifel von Kollegen und Mitarbeitern,
– sorgfältige, uneigennützige und unvoreingenommene Begutachtung von Kolle-
gen; Verzicht bei Befangenheit,
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

c) Regeln für die Veröffentlichung von Ergebnissen


– prinzipielle Veröffentlichung der mit öffentlichen Mitteln erzielten Ergebnisse
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

(Prinzip der Öffentlichkeit der Grundlagenforschung),


– Veröffentlichung auch falsifizierter Hypothesen in angemessener Weise und
Einräumen von Irrtümern (Prinzip einer irrtumsoffenen Wissenschaftskultur),
strikte Redlichkeit in der Anerkennung und angemessenen Berücksichtigung der
Beiträge von Vorgängern, Konkurrenten und Mitarbeitern (Prinzip der Anerken-
nung).“

Es geht hierbei um die genaue Beachtung disziplinspezifischer Normen.


Eine Verletzung dieser Normen ist eigentlich nicht Thema einer ethischen
Reflexion, sondern ein Fall für zuständige Ethikkommissionen oder sogar
den Staatsanwalt, so beispielsweise im Fall des koreanischen Klonforschers
Hwang, dem die Fälschung bestimmter Daten seiner Klonexperimente
nachgewiesen werden konnte. Die ethische Fragestellung beginnt erst, wenn
diese Regeln in ihrer Gültigkeit in Frage gestellt oder ihre Reichweite oder
genauere Bedeutung problematisiert wird.
Dies gilt auch für selbstverständliche Normen und Werte, wie den fairen
Umgang mit Kollegen oder Untergebenen. Offensichtliches Fehlverhalten
von Gutachtern (Verletzung der Fairness als Bestandteil der Gerechtigkeit),
z. B. die ungerechtfertigte Ablehnung einer Forschungsarbeit oder die ter-
minliche Verzögerung, um eine eigene Arbeit in diesem Feld vorher publi-
zieren zu können, sind ebenfalls nicht Thema einer ethischen Reflexion,
sondern ein Fall für zuständige Stellen, die helfen, eine gute wissenschaftli-
che Praxis zu sichern.
162 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Dies gilt analog auch für eine weitere wesentliche moralische Norm im
Bereich der Wissenschaft. Wissenschaftler haben die grundsätzliche Pflicht,
ihre Forschung offen zu legen, und dabei auch genau zu benennen, wem sie
für die Forschung etwas verdanken. Diese Transparenz sollte sich gerade
nicht nur auf alle mit öffentlichen Mitteln erzielten Ergebnisse beziehen,
sondern für alle Ergebnisse überhaupt, zumindest wenn sie im Hinblick auf
die Prinzipien von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit von
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Bedeutung sind. Dies kann wiederum ein einfaches Beispiel erläutern: So


wurden „für die Tabakindustrie ungünstige Ergebnisse spätestens seit Mitte
der 1970er-Jahre unterdrückt, verwässert, verschwiegen, überlagert oder ma-
nipuliert“ (Fangerau 2006, 292f ). Die ethische Bewertung solcher Vergehen
ist nicht kontrovers: Sie sind nach praktisch allen ethischen Ansätzen unzu-
lässig. Solche Fälle sind darum ebenfalls ein Thema für Gerichte und eine
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mediale Aufklärung.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

9.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel von


gentechnischen Forschungsvorhaben
Der zentrale bereichsspezifische Wert der Forschungsfreiheit und das ge-
rade kurz angedeutete Wissenschaftsethos als Gefüge von Normen, die diese
Forschungsfreiheit „einhegen“, bilden den ethischen Bezugsrahmen in der
Bewertung wissenschaftlicher Forschungsvorhaben.
Bereichsspezifische ethische Konflikte entstehen dann, wenn entweder
nicht geklärt werden kann, ob und in welchem Umfang Forschungsvorha-
ben zu einer Gefährdung von Menschenwürde oder der mit ihr verbunde-
nen Menschenrechten oder der Prinzipien der Gerechtigkeit bzw. der Nach-
haltigkeit führen können, bzw. wenn umstritten ist, welche Formen von
Gefährdungen ethisch noch zulässig sind, damit der Fundamentalwert der
Forschungsfreiheit seine Bedeutung behält. So ist umstritten, ob die ver-
brauchende menschliche Embryonenforschung als eine Verletzung von
Menschenwürde und Menschenrechten anzusehen ist. Wie bereits im Rah-
men der Frage nach der Extension der Menschenwürde gezeigt wurde, gibt
es hier einen ethischen Konfliktfall, der nur noch mit Rückgriff auf funda-
mentale Überzeugungen entschieden werden kann. Wenn man der Über-
zeugung ist, dass dem frühen menschlichen Embryo Menschenwürde und
damit verbunden ein Recht auf Leben zukommt, dann rechtfertigt die For-
schungsfreiheit niemals eine verbrauchende Embryonenforschung, so wenig
Wissenschaftsethik 163

wie sie es rechtfertigen würde, dass man mit geborenen Menschen eine ver-
brauchende Forschung durchführen darf. Ist man dagegen der Überzeugung,
der frühe Embryo sei nichts anderes als menschliche Zellen, deren morali-
sche Bedeutung ähnlich wie diejenige von Eizellen einzuschätzen ist, dann
ist der Grundwert der Forschungsfreiheit so gewichtig, dass mit Berufung
auf diese derartige Zellen verbraucht werden dürfen, wenn sie von den „Be-
sitzern“ für die Forschung zur Verfügung gestellt werden.
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Ein anderer Konfliktfall betrifft Freilandversuche im Bereich der Grünen


Gentechnik. Derzeit wird in vielen Ländern kontrovers diskutiert, ob es
Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Pflanzen geben darf. In
Deutschland wird die Ebene der Diskussion von manchen Gentechnikgeg-
nern überschritten. Sie zerstören widerrechtlich Versuchsfelder und verhin-
dern auf diese Weise gerade die Biosicherheitsforschung für die betreffenden
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gentechnisch veränderten Pflanzen. Dies ist ein widersprüchliches Verhal-


ten, da dieselben Personen zugleich den Forschern vorwerfen, die Sicherheit
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

wäre nicht gewährleistet.

Vertiefung: Auszug aus dem Statement des Präsidenten der


Deutschen Forschungsgemeinschaft
Wie wichtig Freilandversuche sind, hat der Präsident der Deutschen For-
schungsgemeinschaft in folgender Weise ausgeführt (Kleiner 2009):
„Zum verantwortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnik gehört die
Biosicherheitsforschung. Seit 1987 werden, vom BMBF finanziert, die ökologi-
schen Auswirkungen bei gentechnisch veränderten Pflanzen in zahlreichen For-
schungsverbünden und an unterschiedlichen Pflanzenarten und sogenannten
Zielorganismen untersucht. Es ist sicher auch einem Laien einsichtig, dass diese
Untersuchungen im Freiland stattfinden müssen. Es ist paradox, dass diese Frei-
landversuche, die gerade im Zusammenhang mit der Biosicherheitsforschung
stehen, zerstört und die verantwortlichen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler öffentlich verunglimpft werden. So zum Beispiel geschehen vor zwei
Jahren, als Gentechnik-Gegner auf einem Gelände der Justus-Liebig-Universität
in Gießen rund 20 Prozent eines Freilandversuchs mit transgener Gerste – der
erste seiner Art in der Bundesrepublik – zerstörten. Untersucht werden sollte,
wie sich zwei gentechnisch veränderte Gerstenlinien mit einer Resistenz gegen
Pilzkrankheiten auf nützliche Pilze und damit die Bodenqualität auswirken.“

Die ethische Kontroverse hat vielfältige Dimensionen, da neben wissen-


schaftsethischen auch umwelt- und bioethische Überlegungen eine große
Rolle spielen. So ist beispielsweise zu diskutieren (vgl. 12.2.3 und 12.3), ob
164 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

die Veränderung von Pflanzen als eine Verletzung der pflanzlichen Integrität
verstanden werden kann, und ob, bei Bejahung dieser Frage, diese Verlet-
zung so gewichtig ist, dass sie die Forschungsfreiheit beschneiden darf. Ein
weiteres bioethisches Argument gegen derartige Versuche ist der Schaden
für betroffene Tiere. So wird bereits der Anbau von gentechnisch verän­
dertem Mais zu Forschungszwecken mit der Schädigung der Larven des
Monarchfalters in Verbindung gebracht. Wirtschaftsethisch ließe sich dis-
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kutieren, ob eine solche Forschung nicht mittelfristig über den Weg ihrer
Anwendung Großkonzernen wie beispielsweise Monsanto die Möglichkeit
gibt, eine monopolartige Struktur in diesem Feld aufzubauen und neue Ab-
hängigkeiten für Bauern zu schaffen.
Es lassen sich aber auch drei klassische wissenschaftsethische Fragen
stellen. So kann ganz grundsätzlich gefragt werden, ob derartige Forschungs-
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vorhaben nicht einen unzulässigen Eingriff in die natürliche Ordnung bzw.


in religiöser Sprache „in die gute Schöpfung“ bedeuten, also der Mensch hier
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

etwas tut, das ihm nicht zukommt, er Grenzen überschreitet, die er nicht
überschreiten sollte. Die zweite Kontroverse geht darum, ob durch derartige
Forschungsvorhaben die Würde und die mit ihr verbundenen Rechte von
Menschen nicht in einer solchen Weise gefährdet werden, dass derartige
Forschungsvorhaben verboten werden müssten. So befürchten manche Kri-
tiker der Grünen Gentechnik, dass bereits Freilandversuche ein unabschätz-
bares Risikopotential haben, weswegen im schlechtesten Fall aus derartigen
Versuchen eine irreversible Umweltkatastrophe mit großem Schaden für uns
Menschen resultieren könnte. Dieses rein spekulative Risiko sollte aus Vor-
sichtsgründen den Ausschlag gegen eine solche Forschung geben. Damit
verbunden ist die dritte Problematik, die Problematik der schiefen Ebene:
Eigentlich zulässige Forschungsvorhaben können zu nicht intendierten,
ethisch unzulässigen Forschungsvorhaben oder unzulässigen Anwendungen
führen (vgl. im Folgenden Kunzmann/Knoepffler 2009).
In der ersten Kontroverse geht es um den Wert der bestehenden Ord-
nung, die durch ein gentechnisches Forschungsvorhaben als gefährdet ange-
sehen wird. Der Konflikt besteht hier zwischen denjenigen, die davon über-
zeugt sind, dass wir die Welt mit Hilfe gentechnischer Eingriffe verändern
dürfen, vielleicht sogar sollten, und denjenigen, die davon ausgehen, dass
bereits eine wohl geordnete Natur und Welt vorfindlich ist, die durch gen-
technische Eingriffe gestört wird. Diese Vorstellung entspricht der Vorstel-
lung eines griechischen „Kosmos“: „Dem Begriff des Kosmos kommt […]
eine normative Funktion zu, denn die von ihm repräsentierte Wohlordnung
Wissenschaftsethik 165

als dem möglichst guten Zustand für alle Wesen schreibt Personen ver-
pflichtend vor, wie sie in und an der Natur handeln können resp. nicht han-
deln dürfen, ohne den je erreichten Zustand der natürlichen Wohlordnung
zu verschlechtern“ ( Janich/Weingarten 2002, 93). Diese Vorstellung einer
vorhandenen Wohlordnung deckt sich auch mit der ersten biblischen Schöp-
fungserzählung, in der Gott bei jedem Schöpfungsschritt das Gutsein der
Schöpfung betont (vgl. Gen 1). Hier hat die heutige Rede ihre Wurzeln, wir
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sollten nicht in die Schöpfung eingreifen bzw. wir sollten „Gott nicht ins
Handwerk pfuschen“ oder auch „nicht Gott spielen wollen“, die auch in
Kreisen zu wirken scheint, die nicht an Gott glauben. Andererseits lässt sich
aus derselben Schöpfungserzählung aufgrund der Gottebenbildlichkeit des
Menschen (vgl. Gen 1,26f ) auch eine Aufforderung herauslesen, dass wir
uns am göttlichen Schöpfungswirken beteiligen sollen, wenn man die
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Schöpfung als nicht abgeschlossenen Vorgang begreift.


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Vertiefung: theologische Argumente


Beispielsweise findet sich im Katholischen Erwachsenenkatechismus die Aus-
sage: „Das Eingreifen des Menschen in die Natur und Umwelt ist Auftrag Got-
tes; es ist nicht nur sittlich vertretbar, sondern es ist auch sittlich verpflichtend
[…]. Wie steht es nun um die Ziele der Genforschung und Gentechnologie?
Wie sind sie ethisch zu bewerten? Die Anwendung in der Pflanzen- und Tier-
züchtung sowie in der Pharmakologie richtet sich auf die Verbesserung der Le-
bensbedingungen und die Herstellung wirtschaftlich und therapeutisch wichti-
ger Produkte. Von dieser Zielsetzung her kann man die Gentechnologie in diesen
Bereichen nicht als sittlich verwerflich ansehen“ (Deutsche Bischofskonferenz
1995, 299f). Hintergrund hierfür ist die Überzeugung, dass das Schöpfungsge-
schehen keinen einmaligen Akt darstellt, sondern ein fortlaufendes Geschehen
ist, an dem der Mensch als Mitschöpfer mitzuwirken hat.
Stellungnahmen aus dem Bereich evangelischer Kirchen sind in dieser Frage
oft gespalten. Sie bieten das gesamte Spektrum von Ablehnung (vgl. Evangeli-
sche Kirche von Westfalen 2005), weil die Herstellung gentechnisch veränder-
ter Pflanzen als unerlaubte Grenzüberschreitung verstanden wird, bis hin zu ei-
ner sehr positiven Sicht dieser neuen gentechnischen Möglichkeiten (vgl.
Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer 1999). Bei der Ablehnung spielt auch
noch ein weiteres Kriterium eine Rolle, das traditionell mit „Demut“, „Beschei-
denheit“ wiedergegeben wird. Gegner der Herstellung gentechnisch veränder-
ter Pflanzen befürchten, dass Menschen hier über die ihnen gesteckten Grenzen
hinausgehen, statt sich zu bescheiden. Freilich verbirgt sich hinter diesem Krite-
166 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

rium ebenfalls meist ein bestimmtes Verständnis von „Schöpfung“ und den mit
dieser „Schöpfung“ gesetzten Grenzen.
Die grundlegende Entscheidungssituation besteht also hier zwischen Men-
schen, die sich mit Berufung auf ihre Forschungsfreiheit zu einer solchen
Forschung ermächtigt sehen, und denjenigen, die eine solche Forschung
nicht nur selbst nicht betreiben wollen, sondern auch dafür argumentieren,
anderen diese Forschungsmöglichkeit nicht zuzugestehen, also die For-
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schungsfreiheit in diesem Fall nicht gelten lassen, weil sie gentechnische


Eingriffe für eine so gravierende Störung der wohlgeordneten Natur anse-
hen. Sie bestreiten also für diesen Fall gentechnischer Eingriffe das Recht
auf Forschungsfreiheit.
In der zweiten Kontroverse spielt das Risiko der Freilandversuche die
entscheidende Rolle. Gegner dieser Forschung führen spekulative und reale
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Risiken dieser Versuche an. Die spekulative Möglichkeit, Freilandversuche


könnten Gesundheit oder sogar Leben von Menschen gefährden ist in die-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ser Argumentation der hinreichende Grund, in diesem Feld die Forschungs-


freiheit durch das Verbot von Freilandversuchen einzuschränken. Ein Bei-
spiel, das in diesem Zusammenhang ins Feld der Kontroverse geführt wird,
stellt das Aufkommen von Rinderwahnsinn (BSE) dar (auch wenn BSE
nichts mit Gentechnik zu tun hat). Niemand, der Rindernahrung unter an-
derem unter Verwendung von Abfallprodukten von Schafen technisch her-
stellte und verfütterte, hatte überhaupt in Erwägung gezogen, dass diese bei
Schafen vorkommende Erkrankung die Artgrenzen würde überschreiten
können. Gegner der Grünen Gentechnik betonen in diesem Zusammen-
hang auch, dass dieses Risiko von Menschen getragen wird, die gerade diese
Forschungsvorhaben nicht verantworten und ihren Folgen „ausgeliefert“
sind. Befürworter der Forschung im Bereich der Grünen Gentechnik argu-
mentieren dagegen damit, dass sich diese Gefährdungen nicht bestätigt ha-
ben. So haben Forscher der Technischen Universität München beispiels-
weise herausgefunden, dass die Fütterung von Kühen mit gentechnisch
modifiziertem Mais deren Milch offenbar nicht verändert.47 Darüber
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hin-
aus lehnen sie die Argumentation mit spekulativen Risiken ab, da damit
theoretisch alle Vorhaben bestritten werden könnten. Wer spekulativ gen-
technischen Eingriffen in Pflanzen ein unbekanntes Risiko zuordnet, macht

47 Vgl. Meyer u. a. 2009. Allerdings wird die Aussagekraft dieser Untersuchung von
Greenpeace (2009) bestritten, u. a. deshalb, weil nur ein Teil der Kühe über die
gesamten zwei Jahre in diesem Experiment anwesend war.
Wissenschaftsethik 167

jede Vergleichbarkeit mit anderen Forschungsvorhaben unmöglich. „Kann


man keine Unterschiede [zwischen gentechnischen Eingriffen und konven-
tioneller Züchtung] erkennen, so beweist das zwar nicht, dass es tatsächlich
keine Unterschiede gibt (wir könnten ja morgen einen finden), trotzdem
werden wir die Dinge vorläufig als gleich und nicht als verschieden behan-
deln“ (Van den Daele 1996, 264). Was reale Risiken angeht, sind sich Be-
fürworter und Gegner einig. Sie haben entweder minimal zu sein (darüber
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kann natürlich wieder gestritten werden) oder verhindern ein betreffendes


Forschungsvorhaben. Ein Beispiel hierfür wäre das nicht zulässige und da-
rum auch nicht realisierte Forschungsvorhaben einer winterharten Kartof-
fel, die für Menschen giftige Glykolalkaloide enthielte.
Die dritte Kontroverse behandelt die grundsätzliche Frage, ob nicht die
Forschung in dem Feld Grüner Gentechnik auch dazu führen könnte, ein
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Wissen zu generieren, das Forschungsvorhaben oder Anwendungen er-


möglicht, die für die Menschheit verheerend sein könnten, sei es, dass sie
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

die Permanenz menschlichen Lebens bedrohen könnten (die zweite Kont-


roverse in neuem Gewand), sei es, dass grundsätzliche Werte bedroht wer-
den (die erste Kontroverse in neuem Gewand). Im Unterschied zu den vo-
rausgehenden Kontroversen geht es um eine Problematik, die in der
Fachliteratur unter den Begriffen „Argument der schiefen Ebene“, „Damm-
bruchargument“ bzw. „slippery slope argument“ verhandelt wird. Hinter-
grund dieser Kontroverse sind die Folgen der Atomforschung, die an sich
großartige Erkenntnisse brachte, aber eben auch eine Anwendung, nämlich
den Bau der Atombombe, ermöglichte und auf diese Weise bis heute eine
reale Gefährdung der Permanenz menschlichen Lebens bedeutet. Wer diese
Gefahr sieht, wird darum gegen die Möglichkeit der Grünen Gentechnik
argumentieren können, nicht müssen, da dennoch die Möglichkeit be-
stünde, dort die Grenze der Forschungsfreiheit zu ziehen, wo diese an sich
zulässig ist. So könnte jemand beispielsweise Forschungsvorhaben zum
Zweck gentechnischer Eingriffe am Menschen ablehnen, ohne Forschungs-
vorhaben im Bereich der Grünen Gentechnik abzulehnen, selbst wenn
letztgenannte Forschungsvorhaben erst den Grund für eine möglicherweise
erfolgreiche Forschung mit Blick auf den Menschen geschaffen haben soll-
ten.
Die Kontroversen lassen sich damit in folgender Weise im Sinne eines
Entscheidungsbaums abbilden:
168 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Abb. 19 Entscheidungsbaum bei Forschungsvorhaben

Dieser Entscheidungsbaum gibt noch keine eindeutige Lösung vor. Viel-


mehr verdeutlicht er, wo sich Wege von Befürwortern und Gegnern be-
stimmter Forschungsvorhaben trennen. Eine Wissenschaftsethik, die auf
den Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten, Gerechtigkeit
und Nachhaltigkeit basiert, kann nur grundsätzlich die Grenze der For-
schungsfreiheit an der Stelle bestimmen, an der Grundrechte von Menschen
durch die Forschung direkt bedroht werden, also beispielsweise das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit gefährdet wird. Es bleibt aber,
wie die Kontroversen zeigen, zur Lösung der anstehenden Fragen immer
auch, wie auch in juristischen Festlegungen ein dezisionistisches Moment
(vgl. 5). Da gerade bei weit reichenden Forschungsvorhaben wie in der Gen-
technik nicht nur der einzelne Wissenschaftler bzw. das wissenschaftliche
Team und seine Forschungseinrichtung die Verantwortung haben, sondern
auch die Gesellschaft als Ganze nicht nur die Folgen zu tragen, sondern
auch zu verantworten hat, sind für die Entscheidungsfindung meist Aus-
handlungsprozesse nötig. Diese gestalten sich um so schwieriger, je offener
dabei ist, wofür die Verantwortung zu übernehmen ist, ob nur für die vorher-
sehbaren Folgen oder auch für unvorhersehbare Folgen, ob nur für Hand-
Wissenschaftsethik 169

lungen oder auch für Unterlassungen. Auch ist dabei von wesentlicher
Bedeutung, wie Haftungsfragen geregelt werden und damit verbunden, ob
der Forscher auch von Gerichten für bestimmte Folgen zu Verantwortung
gezogen werden kann, weil man ihm Folgen zurechnet, die er zwar nicht
direkt bewirkt hat, die aber mit Hilfe seiner Forschungen überhaupt erst
möglich wurden. Bei all dem darf aber nicht die eingangs als zentrales
Grundrecht benannte Forschungsfreiheit als wichtigste Bereichsnorm durch
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ideologische Einflussnahme verletzt werden. So können Gefährdungen vor-


geschoben werden, in Wirklichkeit wird jedoch ein Weltanschauungsstreit
verhandelt.
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170 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

10 Technikethik

Bestimmte Formen wissenschaftlicher Forschung können gewaltige Wir-


kungen haben, ohne je als Technik (griechisch: techne = Fertigkeit) im klassi-
schen Sinn zur Anwendung zu kommen. Man denke nur an Kants Kritik
der reinen Vernunft oder neue Einsichten der theoretischen Physik wie Ein-
steins allgemeine Relativitätstheorie, die unser Weltbild nachhaltig verän-
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dert haben. Umgekehrt gab und gibt es technische Anwendungen, die ohne
vorausgehende wissenschaftliche Forschung im modernen Sinn getätigt
wurden und ebenfalls große Auswirkungen hatten. Jahrtausendelang züch-
teten die Menschen Tiere und Pflanzen, ohne die Grundprinzipien der Ge-
netik verstanden zu haben. Sie hatten ein Erfahrungswissen, aber kein wis-
senschaftliches Wissen im modernen Sinn.
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Dennoch hängen Wissenschaft und Technik in vielen Fällen eng mitei-


nander zusammen. Dies gilt insbesondere für die Ingenieurswissenschaften
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

als technologische Wissenschaften, die Naturwissenschaften, aber auch die


wissenschaftliche Forschung in der Medizin. Wissenschaftliche Forschung
und technische Anwendungen sind in diesen Bereichen eng aufeinander be-
zogen. So sieht Hubig (1993, 54) in den Prozessen von Technik und Wis-
senschaft auch parallel angelegte Strukturen, die ich noch um die Folgen
ergänzen und etwas verändern möchte.

Strukturparallelität Technik Wissenschaft


Mittel Werkzeuge Operationen
Mittel-Zweck-Schema Materialien u. Ä. Methoden, Versuche
Handlungsbedingungen Systemtechnologie Paradigmen (anerkanntes
Denksystem)
Folgen Anwendungen Forschungsergebnisse
Tab. 9 Strukturparallelität von Technik und Wissenschaft

Die Aufgabe der Technikethik besteht hierbei in der ethischen Reflexion


„auf die Bedingungen, Zwecke und Folgen der Entwicklung des Einsatzes
von Technik“ (Grunwald 2000, 508).

10.1 Technikethische Positionen

Wie in der Wissenschaftsethik, aber ebenso in den übrigen Bereichsethiken,


gilt für die hier vertretene Technikethik, dass das Norm- und Wertgerüst
Technikethik 171

von Menschenwürde und Menschenrechten, Gerechtigkeit und Nachhal-


tigkeit den ethischen Bezugsrahmen bildet. Wie für die übrigen Bereichs-
ethiken gilt aber auch, dass es eine Fülle unterschiedlicher Positionen zum
Umgang mit technischen Anwendungen und auch grundsätzlich im Hin-
blick auf technische Möglichkeiten gegeben hat und gibt.48
Francis Bacon (1561–1626) steht dabei bis heute für diejenige technik­
ethische Position, nach der Technik zum Wohl des Menschen, insbesondere
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zur Beseitigung seiner materiellen Not, einzusetzen ist. Dabei ist er davon
überzeugt, dass Erfindungen und technischer Fortschritt die Menschen be-
glücken und, damit verbunden, moralischer machen, denn wenn es den
Menschen materiell besser geht, sind sie beispielsweise nicht gezwungen,
ihre materielle Not durch Diebstahl oder anderes Fehlverhalten zu sichern.
Darum hat der Mensch nicht nur ein Recht darauf, die Welt zu erkennen,
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sondern auch sie zu beherrschen. Der weisen Regierung gesteht er ein-


schränkend zu, problematische Erkenntnisse oder technische Möglichkeiten
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

besser nicht bekannt zu machen bzw. anzuwenden. Dieses Denken findet


sich bis heute unter vielen Ingenieuren und Technikern: Technik steht im
Dienst des menschlichen Wohlergehens.
In der Linie dieses Denkens steht auch Karl Marx, nach Ott (2005, 575)
derjenige, der sich im 19.  Jahrhundert am gründlichsten mit technologi-
schen Fragen beschäftigt hat. Marx sah zwar ebenfalls die Hauptaufgabe der
Technik darin, den Menschen das Leben zu erleichtern, doch bezweifelt er,
dass dies in einer kapitalistischen Gesellschaft Realität wird. Grundlegend
bleibt aber auch bei ihm eine Technikbewertung, die als solche Technik
prinzipiell als zulässig und wünschenswert ansieht.
Gegen diese Sicht der Technik haben sich Gruppen von Menschen be-
reits früh gewandt. Das vielleicht bekannteste Beispiel sind die Amish in
den USA, die die neueren Techniken ablehnen, ihren technischen Stand
(großteils den Stand des 17.  Jahrhunderts) „eingefroren“ haben. Dahinter
verbirgt sich eine technikethische Position, wonach es ein angemessenes
Maß an Technik gibt, das zu einem bestimmten Zeitpunkt als erreicht gilt.
Auch wenn in dieser Linie nur wenige argumentieren, gibt es doch bis heute
Technikkonservative, die zumindest für bestimmte neue technische Mög-

48 Vgl. zur technikphilosophischen Geschichte und heutigen technikethischen Dis-


kussion den vorzüglichen Überblick in Ott (2005, 569–621), der diesem kurzen
Überblick zugrunde liegt. Dort finden sich auch die entsprechenden weiterführen-
den Literaturangaben.
172 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

lichkeiten ein Moratorium befürworten: Wir sollten zum jetzigen Zeitpunkt


halt machen und beispielsweise auf die Anwendung von Kernenergie oder
Grüner Gentechnik verzichten (vgl. 9.3 und 10.3).
Eine nochmals darüber hinausgehende, an die Fundamente jeder techno-
logischen Möglichkeit rührende Technikkritik kommt im 20. Jahrhundert
auf. Martin Heidegger hat vor dem Hintergrund der furchtbaren Möglich-
keiten technischer Anwendungen seine Technikkritik entwickelt. Er sieht
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eine noch über einen atomaren dritten Weltkrieg hinaus gehende Gefahr,
weil die „anrollende Revolution der Technik den Menschen auf eine Weise
fesseln, behexen, blenden und verblenden könnte, dass eines Tages das rech-
nende Denken als das einzige in Geltung und Übung bliebe. […] Dann hätte
der Mensch sein Eigenstes, dass er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist,
verleugnet und weggeworfen“ (Heidegger 1982, 25). Sein Lösungsangebot
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ist keine vollständige Absage an die Technik, sondern eine Haltung „des
gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt“ (ebd., 23), ein Gebrauchen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

der technischen Möglichkeiten in Distanz, statt der Faszination der Technik


zu verfallen. Eine andere Blickrichtung haben die technikkritischen Äuße-
rungen von Horkheimer und Adorno, die auf die Gefahr hinweisen, dass
Einstellungen, wie sie die an sich unproblematischen technischen Anwen-
dungen nahe legen, Menschen in Interaktionskontexten verrohen lassen
können, wobei nach ihrer Überzeugung die objektiven gesellschaftlichen
Strukturen in erster Linie der Vermenschlichung bedürften. Der Umgang
mit der Technik würde dann folgen (vgl. Ott 2005, 584f ). Diese Überlegun-
gen Heideggers und Horkheimers/Adornos haben u. a. Denker wie Marcuse
und Habermas beeinflusst. In Verbindung mit dem von Jonas propagierten
Prinzip „Verantwortung“ (vgl. 6.3 und 8.1) für eine Permanenz menschli-
chen Lebens haben sie einen großen Einfluss genommen und die Umwelt-
bewegung beeinflusst (vgl. auch 12.1).
Seit der Ausdifferenzierung der Technikethik als eigener Disziplin haben
sich in den letzten Jahren unterschiedliche spezifische Ansätze ausgebildet.
Bei aller Vielzahl lassen sich in der deutschsprachigen Diskussion folgende
prominente Ansätze benennen. Ott (2005, 607ff ) vertritt eine Technikethik,
der es darum geht, Bedingungen zu benennen, die eine technologische In-
novation bzw. technische Vollzüge praktisch vernünftig machen. Hier ist die
Nähe zur Diskursethik bei Habermas spürbar. Jonas, Lenk und Ropohl be-
tonen die Bedeutung der Kategorie der Verantwortung für die Ethik (vgl.
8.1) und vertreten eine Pflichtethik in Anlehnung an Kant. Hastedt (1991),
Gethmann (Hg.) (1998) und Grunwald (2008) thematisieren ähnlich wie
Technikethik 173

der hier vertretene Ansatz die Verträglichkeitsdimension und entwickeln


eine prozedurale Technikethik. In Aushandlungsprozessen werden vor dem
Hintergrund geltender ethischer Prinzipien auf demokratisch legitimiertem
Weg vernünftige Entscheidungen getroffen, die lebensdienlich sind. Eine
Nähe zu diesem Vorgehen hat auch der wertorientierte Ansatz von Hubig
(1993). Hubig selbst hat wesentlich an den heutigen Kodizes im Bereich von
Ingenieuren und Technikern mitgearbeitet und in dieser Hinsicht eine we-
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sentliche Orientierungsleistung erbracht. Gerade für das bereichsspezifische


Ethos ist dieser Ansatz von einer großen Bedeutung.

10.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder


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So benennt die von Hubig wesentlich mitkonzipierte Richtlinie des Ver-


bands Deutscher Ingenieure (VDI) von 1991 als Werte, die für eine Bewer-
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tung technischer Anwendungen von Belang sind, Funktionsfähigkeit, Wirt-


schaftlichkeit, Wohlstand, Persönlichkeitsentfaltung/Gesellschaftsqualität,
Umweltqualität, Gesundheit und Sicherheit. Zwischen diesen Werten gibt es
mögliche Spannungsverhältnisse. So kann beispielsweise die Rücksicht-
nahme auf eine möglichst hohe Umweltqualität (ökologische Dimension
der Nachhaltigkeit) den Wert der Wirtschaftlichkeit (ökonomische Dimen-
sion der Nachhaltigkeit) bedrohen. Diese Werte bilden zusammen mit stan-
desspezifischen Normen (Sorgfaltspflichten, Loyalität gegenüber dem Ar-
beitgeber und kollegiales Miteinander, Folgenabschätzungen für die Umwelt
und Gesellschaft), wie sie sich im VDI-Kodex von 2003 finden, das be-
reichsspezifische Normen- und Wertegerüst. Der VDI ((Hg.) 1991) selbst
formuliert dabei als grundsätzliche Wertvorstellung: „Das Ziel allen techni-
schen Handelns soll es sein, die menschlichen Lebensmöglichkeiten durch
Entwicklung und sinnvolle Anwendung technischer Mittel zu sichern und
zu verbessern.“ In diesem Sinn formuliert auch der (nicht verbindliche und
auch bei vielen Ingenieuren bis heute nicht bekannte) Ingenieur-Eid aus der
Musterberufsordnung der Bundesingenieurkammer (hier nach Wendeling-
Schröder 2000, 2002f ):

Vertiefung: Ingenieurseid:
„In Ehrfurcht und Achtung vor den gegenwärtigen, einstigen und zukünftigen
Generationen spreche ich diesen Eid:
174 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Ich bekenne mich zum schöpferischen Wissen der Ingenieure, werde die
ethischen Grundsätze mit Sorgfalt wahren und mich im Sinne der edlen Überlie-
ferung fortbilden. Ich übernehme die alte und ehrenvolle Pflicht, als vernunftbe-
gabter Teil der Natur dem Erhalt der gesamten Schöpfung zu dienen. Im Geist
der Tradition und unter dem demokratisch verbürgten Schutz des Gewissens
stelle ich mich der besonderen moralischen Verantwortung meines Amtes. Mein
Beruf trage dazu bei, allen Lebewesen ein Dasein in Würde, in Sicherheit und in
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Gesundheit zu ermöglichen. Ich unterlasse berufliche Handlungen, die diesen


Werten widersprechen, wenn ich abschätzen kann, dass die Folgen meines
Handelns die Gebote der Menschlichkeit jetzt oder in Zukunft verletzen und dem
Leben schaden. Unter Einhaltung der Grenzen meines Könnens und Dürfens
beuge ich mich nicht den Weisungen Dritter und führe keine Aufgaben aus, die
meine Kompetenzen überschreiten oder meinem Sachverstand widersprechen.
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Ich verpflichte mich zur Offenlegung meiner beruflichen Qualifikationen und zur
wahrheitsgetreuen Information der Öffentlichkeit über Chancen und mögliche
Risiken meiner Arbeit. Ich achte die gesellschaftliche Bedeutung und Würde der
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Ingenieurkunst und bemühe mich mit allen Kräften, dieses Ansehen den Stan-
desregeln meines Berufes gemäß zu fördern. Dies alles gelobe ich feierlich, bei
meiner Ehre und zum Wohle von Mensch und Umwelt.“

Auch hier gilt wie in den übrigen Bereichen: Solange diese Normen und
Werte unumstritten als Konkretisierung und sinnlogische Weiterführung
des grundlegenden ethischen Normen- und Wertgefüges im Ausgang von
Menschenwürde und Menschenrechten, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit
verstanden werden können und solange ihre Verletzung selbstverständlich
zu sanktionieren ist, bedarf es keiner weiteren ethischen Reflexion. So bedarf
es keiner ethischen Diskussion, ob Techniker, die ihre Sorgfaltspflicht verlet-
zen und damit wie in Tschernobyl eine sehr große Katastrophe verursachen,
auch für diese moralisch verantwortlich zu machen sind. Diskussionswürdig
bleibt in diesem Fall vielmehr, ob eine solche Technik überhaupt verant-
wortbar ist, wenn Menschen durch eine selbst verschuldete und fehlerhafte
Bedienung wie im konkreten Fall solchen Schaden verursachen können.
Gerade sehr gefährliche Techniken haben dazu geführt, dass sich die
Technikfolgenabschätzung als ein wichtiges Element auch für technikethi-
sche Überlegungen etabliert hat. Nach der Definition der VDI-Richtlinie
3780 (VDI (Hg.) 1991) umfasst dabei die Technikfolgenabschätzung „das
planmäßige, systematische, organisierte Vorgehen, das
1. den Stand einer Technik und ihre Entwicklungsmöglichkeiten
analysiert,
Technikethik 175

2. unmittelbare und mittelbare technische, wirtschaftliche, gesundheitliche,


ökologische, humane, soziale und andere Folgen dieser Technik und
möglichen Alternativen abschätzt,
3. auf Grund definierter Ziele und Werte diese Folgen beurteilt oder auch
weitere wünschenswerte Entwicklungen fordert,
4. Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten daraus herleitet und
ausarbeitet.“49
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Abb. 20 Technikfolgenabschätzung

49 Zu einer weitergehenden Diskussion unterschiedlicher Konzepte der Technikfol-


genabschätzung vgl. z. B. Grunwald (Hg.) (1999) und Ott (2005, 624–636).
176 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

10.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel der


gentechnisch veränderten Maissorte MON 810

Vor diesem Hintergrund soll beispielhaft gefragt werden, ob die Grüne


Gentechnik als eine moderne technische Möglichkeit ethisch zulässig ist.
Anwendungen unterscheiden sich von Forschungsvorhaben im Bereich der
Grünen Gentechnik in einem wesentlichen Punkt: Sie haben eine enorme
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Reichweite. Bereits jetzt sind die Anbauflächen gentechnisch veränderter


Pflanzen insgesamt größer als das gesamte Gebiet der Europäischen Union
(vgl. www.isaaa.org). Sind gentechnisch veränderte Pflanzen einmal in die-
ser enormen Zahl in die Natur ausgebracht, so können sie kaum mehr zu-
rückgeholt werden, jedenfalls dann nicht, wenn sie in andere verwandte
Pflanzen auskreuzen können. Gerade im Rahmen des Nachhaltigkeitsprin-
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zips war die Reversibilitätsregel aber von einer großen Bedeutung. Es bedarf
darum guter Gründe, wenn diese Regel nicht beachtet werden muss, z. B.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dass praktisch kein Risiko für das Leben von Menschen besteht, sondern im
Gegenteil Menschen davon Nutzen haben (sei es in der sozialen oder der
ökonomischen Dimension der Nachhaltigkeit oder auch in beiden Dimen-
sionen) oder aber auch, dass ein solches Vorgehen ökologisch vorteilhaft ist,
ohne dass die anderen Dimensionen verletzt werden. Dann haben wir eine
pareto-superiore und ethisch vorzugswürdige Anwendung. Lässt sich eine
derartige Entscheidung nicht treffen, also keine Paretosuperiorität feststel-
len, so muss eine Güterabwägung vorgenommen werden. Die Entschei-
dungssituation lässt sich damit in folgender Weise darstellen:

Abb. 21 Entscheidungsbaum zur Anwendung

Betrachten wir als Beispiel für eine technikethische Bewertung die Frage, ob
die Maissorte MON 810 des US-amerikanischen Agrarkonzerns Monsanto
Technikethik 177

im großen Maßstab ausgesät werden darf.50 Dabei geht es nicht um eine


rechtliche, sondern eine ethische Fragestellung, denn rechtlich haben man-
che Staaten eine solche Aussaat verboten, andere erlauben diese. Die Zuläs-
sigkeit des Vorhabens hängt von zwei wesentlichen Entscheidungen ab.
Zum einen geht es um die grundsätzliche Frage, ob mit diesem Anbau ein
Gefährdungspotential verbunden ist oder nicht. Bereits hier unterscheiden
sich Befürworter und Gegner eines solchen Anbaus grundsätzlich. Für Be-
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fürworter besteht kein reales Risiko. Sie weisen darauf hin, dass zumindest
nach den Ergebnissen deutscher Sicherheitsforschung kein Gefährdungspo-
tential mit diesen Pflanzen verbunden ist. Sie weisen darauf hin, dass der
Mais MON 810 als Wirkprinzip genau jenes Gen aus dem Bacillus thurin-
giensis (deshalb der Name „Bt-Mais“) enthält, das ihn ein Toxin (griechisch:
toxine = Gift) gegen die Raupen des Maiszünslers bilden lässt, das ihn gegen
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diese resistent macht. Während aber Gegner auf die (vermeintlichen) Ge-
fahren dieser gentechnischen Veränderung hinweisen, wehren sie sich nicht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

dagegen, dass das betreffende Toxin selbst seit über 30 Jahren in Deutsch-
land zur Schädlingsbekämpfung auch im Ökolandbau eingesetzt wird.51
Zusätzlich argumentieren sie mit einem spekulativen Risiko dieses An-
baus für die Menschen und einem nach bestimmten Studien vermuteten
Risiko für die Larven des Monarchfalters und andere Insekten.
Die zentrale Grundentscheidung verläuft bereits bei der Frage, ob Ge-
fährdungspotential vorhanden ist oder nicht. Wenn kein Gefährdungspo-
tential für eine der betroffenen Dimensionen der Nachhaltigkeit angenom-
men wird, gibt es keine über die im Bereich der Wissenschaftsethik hierzu
zusätzlich formulierten Einwände.
Wird dagegen ein Gefährdungspotential angenommen, so wären weni-
ger gefährliche, gleichwertige Alternativen in jeden Fall vorzuziehen. Befür-
worter der Anwendung von Bt-Mais gehen dabei davon aus, dass es diese
Alternativen nicht gibt, manche Gegner werden dagegen die Aussaat von

50 Auch hierzu vgl. zu weiteren ethisch relevanten Aspekten die Behandlung dessel-
ben Beispiels im Rahmen von Wirtschaftsethik und außermenschlicher Bioethik.
51 „Bacillus thuringiensis (B.t.) wird seit über 30 Jahren in Deutschland eingesetzt,
heute auf über 20.000 Hektar im Jahr, überwiegend im Weinbau, Forst-, Obst- und
Gemüsebau. (Eine Unterart israelensis wird am Oberrhein auf über 10.000 Hektar
pro Jahr gegen Stechmückenlarven ausgebracht.)“, so wörtlich zu lesen auf: http://
www.oekolandbau.de/erzeuger/pflanzenbau/pflanzenschutz/nutzorga­nismen/
bakterien/bacillus-thuringiensis-ssp-aizawai-und-kurstaki/ (einges. a. 08.07.2009).
178 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

konventionellem Mais als gleichwertige oder sogar bessere Alternative ver-


anschlagen.
Geht man davon aus, dass es keine weniger gefährlichen gleichwertigen
„konventionellen“ Alternativen gibt, so bleibt immer noch die Frage, ob un-
ter dieser Rücksicht von einer Pareto-Superiorität des Bt-Mais gegenüber
konventionellem Mais, sei er konventionell oder ökologisch angebaut, aus-
gegangen werden kann. So führen Befürworter positive wirtschaftliche und
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ökologische Effekte ins Feld, nämlich höhere Erträge als beim konventio-
nellen Mais mit einer für die Bauern verbundenen höheren Gewinnspanne
sowie einen Minderverbrauch konventioneller Insektizide. Gegner dagegen
werden auf die Möglichkeit einer ökonomischen Abhängigkeit von einem
Großkonzern und damit verbundene ökonomische Risiken für die betroffe-
nen Bauern verweisen und die Problematik der Auskreuzung in den ökolo-
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gischen Anbau ins Feld führen (vgl. 11.3). Ökologisch werden sie die Pro-
blematik einer möglichen Reduktion der Artenvielfalt benennen und von
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

daher die Pareto-Superiorität im Hinblick auf die Nachhaltigkeit beim An-


bau des Bt-Mais bestreiten. Auch werden sie auf die Möglichkeit eines ge-
genüber dieser Wirkung resistenten Maiszünslers verweisen.
Vor dem Hintergrund dieser Argumentationsstrukturen lässt sich nach-
vollziehen, warum die Anwendung von Bt-Mais im Besonderen und der
Grünen Gentechnik im Allgemeinen kontrovers diskutiert wird und warum
es zudem einer differenzierten Argumentation bedarf. Letztlich entscheidet
sich auch im Bereich der Technik sehr viel daran, ob man spekulative Risi-
ken in die Bewertung einfließen lässt oder nicht. Ich halte dies für nicht
zielführend, weil die Argumentation mit spekulativen Risiken zugleich ge-
gen jede Handlung, aber auch gegen die Unterlassung jeder Handlung in
Anschlag gebracht werden kann. Rein spekulativ kann nämlich jede Hand-
lung genau wie der Verzicht auf dieselbe Handlung zu katastrophalen Fol-
gen führen.
179

11 Wirtschaftsethik

Die Bereiche der Technik und Wissenschaft sind eng mit dem Bereich der
Wirtschaft verbunden. Viele wissenschaftliche Errungenschaften sind von
wirtschaftlichem Interesse, ebenso die meisten technischen Anwendungen.
Nicht selten befinden sich wissenschaftliche Forscher in ihrer Arbeit von
Unternehmen direkt als Mitarbeiter in deren Forschungsabteilungen oder
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indirekt durch Kooperationen im Rahmen von industriellen Drittmitteln


universitärer Forschung in Abhängigkeitsverhältnissen. In noch stärkerem
Maß betrifft dies Ingenieure und überhaupt die Angestellten von Unterneh-
men. Wie abhängig moderne Volkswirtschaften vom Erfolg von Unterneh-
men sind, zeigt sich beispielsweise, wenn der Absatz der Autoindustrie
„schwächelt“. Dies kann nicht nur gewaltige ökonomische, sondern auch so-
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ziale Auswirkungen haben. Umgekehrt hat ein boomender Automarkt weit-


reichende negative ökologische Folgen, direkt durch den Ausstoß von kli-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

maschädlichen Gasen wie Kohlendioxid oder Giften wie Kohlenmonoxid,


indirekt durch den irreversiblen Verbrauch fossiler Brennstoffe und anderer
Rohstoffe.
Ein weiteres zentrales ethisches Konfliktfeld ist durch diese enge Bezie-
hung von Technik und Wirtschaft angelegt: Da Unternehmen nach Gewinn
streben, wird nicht notwendigerweise die bestmögliche Technik verkauft,
sondern diejenige, die am meisten Gewinn verspricht. Auch hier kann das
Beispiel der Autoindustrie hilfreich sein (vgl. Lenk/Maring 1998):
Ende der sechziger Jahre hatte sich der damalige Präsident des amerikani-
schen Automobilkonzerns Ford entschieden, einen Kleinwagen zu bauen, um
den Marktinteressen zu entsprechen. Dieser Wagen, später als Ford Pinto ver-
kauft, sollte billig und sparsam sein. Der Präsident setzte als Preislimit für diesen
Wagen 2.000 US $ fest. Jedoch zeigte sich in der Testphase, dass der Tank
einen ernsten Defekt hatte. Bei Auffahrunfällen über 40 km/h bestand die große
Gefahr, dass die Türen blockierten, der Tank riss und das Fahrzeug in Flammen
aufging. Die Passagiere waren also, ohne darüber informiert zu sein, dem Risiko
ausgesetzt, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Zur gleichen Zeit begann in
den USA die Diskussion über die Sicherheit im Straßenverkehr. Die Lobby die-
ses und anderer Fahrzeughersteller verhinderte jedoch mehr als acht Jahre lang,
dass es durch die Regierung zu Sicherheitsregulierungen kam.
Eines der Mittel, mit denen der Automobilhersteller seine Lobbyarbeit ver-
richtete, war die folgende Nutzen-Kosten-Rechnung, die zeigt, dass es billiger
kommen würde, Personen in ihren Autos verbrennen zu lassen:
180 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Kosten einer
Kosten bei Unfällen
Tankverbesserung
Kostenauf- 11 Mio Pkw à 11 US $ 180 verbrannte Personen à
stellung 1,5 Mio LKW à 11 US $ 200.000 US $
180 Verletzte à 67.000 US $
2.100 zerstörte Autos à 700 US $
Kosten- 137 Mio US $ 49,5 Mio US $
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summe
Tab. 10 Der Pinto-Skandal

Diese Nutzen-Kosten-Analyse erwies sich im Nachhinein als falsch. Es gab mehr


Tote und Verletzte, der Automobilhersteller musste viel höhere Summen als an-
genommen an Betroffene oder deren Angehörige zahlen, als diese Analyse öf-
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fentlich bekannt wurde. Auch war das Renommee sehr beschädigt. Es wurde mit
dieser Kalkulation, Menschenleben zu verrechnen, gegen das genannte funda-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

mentale Prinzip der Menschenwürde verstoßen und damit wurden monetäre In-
teressen über die Lebensdienlichkeit gestellt. Das Prinzip der personalen Würde
verbietet nämlich, dass ein Mensch nur als Zweck gesehen wird. In dieser Kos-
ten-Nutzen-Analyse wird aber das Leben eines Menschen gegen finanzielle
Werte aufgerechnet. Diese Analyse und die aus ihr entspringende Verhaltens-
weise waren nicht individualverträglich, weil sie das Leben von Menschen ab-
sichtlich bedrohten und aufs Spiel setzten. Nicht von ungefähr haben Lenk/Ma-
ring (1998, 15) dieses Beispiel als eine „horrend inhumane Nichtbeachtung
prädistributiver Rechte Betroffener (Recht auf Leben, Unversehrtheit, Gesund-
heit)“ bezeichnet. Darüber hinaus ist diese Verhaltensweise des Unternehmens
nicht sozialverträglich, weil in dieser Kosten-Nutzen-Analyse die sozialen Aus-
wirkungen, die nicht mehr quantifizierbar sind, übersehen werden: das Leid der
Verwandten, der Verlust von Kindern oder Eltern usw. Allerdings ließe sich die
Frage stellen, ob der Bau der Fahrzeuge mit dem schlechten Tank dann ethisch
zu rechtfertigen gewesen wäre, wenn das Unternehmen dem Kunden diese Pro-
blematik offen gelegt und gegen einen Aufpreis einen besseren Tank angeboten
hätte. Man denke nur daran, dass heute allgemein bekannt ist, dass ESP als
Antischleudertechnik eine signifikante Anzahl von teilweise tödlich endenden
Unfällen verhindern hilft. Dennoch wird diese Technik gerade in Kleinwagen oft
gar nicht oder nur gegen Aufpreis angeboten. Ist dies nur deshalb gerechtfertigt,
weil der Kunde darum weiß?

Darüber hinaus gibt es aber auch wichtige Wirtschaftszweige, bei denen die
klassischen Wissenschaften und die Technik keine Rolle zu spielen schei-
Wirtschaftsethik 181

nen. Wie die Bankenkrise gezeigt hat, können Großbanken durch gewagte
Spekulationen ganze Volkswirtschaften gefährden. Manager, die dafür eine
Mitschuld tragen und über Jahre von den Gewinnen riskanter Transaktio-
nen profitiert haben, können die Schäden externalisieren und dürfen so un-
gestraft eine fundamentale ethische Regel der Nachhaltigkeit verletzen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die wesentliche Frage einer Wirt-
schafts- und der mit ihr verbundenen Unternehmens- und Führungsethik:
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Wie lassen sich die fundamentalen ethischen Prinzipien von Menschen-


würde und Menschenrechten, von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in Un-
ternehmen spezifizieren, durch bereichsspezifische Normen und Werte er-
gänzen und zur Geltung bringen?
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11.1 Wirtschaftsethische Positionen


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

International herrscht insofern auf gesellschaftlich-unternehmerischer Seite


Einigkeit, dass sich führende Unternehmen zum Ethos des Global Compact
der Vereinten Nationen bekennen (vgl. 11.2), auch wenn es in der akademi-
schen Ethik für den Bereich der Wirtschaftsethik das Spektrum der im ers-
ten Teil genannten Ansätze, also von einer utilitaristischen bis hin zu einer
kantischen Wirtschaftsethik gibt (vgl. die Übersicht in Frederick (Hg.)
2002, 1–138).
Dagegen ist sowohl gesellschaftlich als auch in der akademischen Ethik-
diskussion in einem hohen Maß umstritten, was der systematische Ort der
Moral in der Wirtschaftsethik ist. Allgemein wird dabei unter Wirtschafts­
ethikern die übliche Vereinfachung abgelehnt, wonach Appelle genügen
würden, damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer moralisch angemessen han-
deln, denn die Appellanten verlangen normalerweise, dass der moralisch
Handelnde Verzicht auf eigene Gewinne übt. Dieses Modell ist unter den
Bedingungen moderner Gesellschaften nicht tragfähig, wie eine Vielzahl
von Beispielen seit dem Manchesterkapitalismus, also dem grausamen Um-
gang von Unternehmern mit ihren Arbeiterinnen und Arbeitern während
der Industrialisierung in England, bis in unsere Zeit hinein beweist. Wirt-
schaftsethische Ansätze, bei denen „Marktversagen durch Ethik und Ethik-
versagen durch Religion geheilt werden soll“ (so Pies 2006, 291, den Ansatz
von Koslowski zusammenfassend) sind nicht ausreichend. Religion konnte
und kann eine derartige korrektive Funktion nicht hinreichend ausfüllen –
dies zeigt schon der Aufschrei des Propheten Amos im achten vorchrist­
182 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

lichen Jahrhundert, der die grausame und unmenschliche Behandlung der


Armen anprangerte.
Darum hatten bereits seit dem 19. Jahrhundert im Unterschied zu den
kommunistischen Radikalvorschlägen einer Enteignung der Unternehmer
kirchliche Sozialrundschreiben und seit dem Zweiten Weltkrieg die Vertre-
ter der sozialen Marktwirtschaft wie Müller-Armack in Deutschland Rah-
menordnungen konzipiert, um das ungezügelte Eigeninteresse „einzuhegen“.
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Aber auch Unternehmer selbst schufen in ihrem Bereich Regelwerke. So


konzipierte beispielsweise Ernst Abbe (1921 [1896]) in Jena Ende des
19. Jahrhunderts eine Unternehmensverfassung, das Statut der Carl-Zeiss-
Stiftung, das die Rechte und Pflichten der Beschäftigten ordnete und unter
anderem bahnbrechende Neuerungen wie bezahlten Urlaub, Krankenver-
sorgung, aber auch – bis heute nicht allgemein realisiert – relative Gehälter
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auch für die Führungspersönlichkeiten festlegte. Moderne Theoretiker von


derartigen Regelwerken und einem Wertemanagement in Unternehmen wie
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

beispielsweise Wieland (2003) geben Anleitungen, wie derartige Unterneh-


menskodizes ausgestaltet werden können. Auch hier soll dazu ein Vorschlag
skizziert werden (vgl. 11.2.2).
Heute kristallisieren sich im deutschsprachigen Raum vor allem zwei
wirtschaftsethische Ansätze heraus, welche die zentrale Fragestellung des
Verhältnisses von Ethik und Ökonomik systematisch bearbeiten, die An-
sätze von Peter Ulrich sowie Karl Homann und seiner Schule.
Dabei schlägt Peter Ulrich (2008) eine von ihm „integrativ“ genannte
Wirtschaftsethik vor. Diese gibt eine ethisch-kritische Reflexionsorientie-
rung vor, einen „moral point of view“ (ebd., 135). Es geht darum, auch unter
den Bedingungen moderner Gesellschaften der Vernunftethik Vorrang vor
der Ökonomie zu geben, also die einzelnen Akteure in der Wirtschaft als
verantwortliche, moralische Subjekte ernst zu nehmen, aber im Unterschied
zu klassischen Modellen nicht durch Appelle, sondern als Teilnehmer an
einem vernünftigen Diskurs bzw. Dialoggeschehen. Das Ziel ist die „Trans-
formation der ökonomischen Vernunft“, die, hierin ist sich Ulrich mit den
meisten Wirtschaftsethikern einig, nur institutionentheoretisch zu lösen ist.
Dabei wendet sich Ulrich ausdrücklich gegen eine Form der Transforma-
tion, die entweder Moral auf der Handlungsebene ökonomisiert oder die
umgekehrt die Moral als korrektive Eingrenzung der ökonomischen Ratio-
nalität durch Überordnung von rein appellativen moralischen Ansprüchen
definiert. Vereinfacht
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gesagt: Ulrich möchte ernst nehmen, dass wir in mo-
dernen Gesellschaften leben, in denen reine Appelle nicht weiterhelfen. An-
Wirtschaftsethik 183

dererseits will er jedoch den Einzelnen nicht aus seiner moralischen Verant-
wortung entlassen. Das integrative Element der Konzeption Ulrichs besteht
genau darin, der ökonomischen Rationalität nicht das letzte Wort zu lassen,
sondern sie in einen ethischen Rahmen einzupassen, der aber eben nicht ein
appellativer bleibt. Dies kann nach seiner Überzeugung dann gelingen, wenn
wir als moralische Subjekte in einer Diskursgemeinschaft die moralischen
Normen und Werte aushandeln, statt sie uns durch eine angeblich ökonomi-
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sche Sachlogik vorgeben zu lassen, und wenn wir Sanktionsmechanismen


festlegen. Gerade der Öffentlichkeit kommt darum eine besondere Rolle zu.
Die „unbegrenzte allgemeine Öffentlichkeit aller mündigen (Wirtschafts-)
Bürger [ist] aus diskursethischer Sicht als die gedankliche ‚Meta-Institution‘
(Apel) oder der (oberste) systematische Ort der unternehmensethischen Legiti-
mation zu begreifen“ (Ulrich 2008, 485). Die kommunikativ-ethische Ratio-
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nalität gibt die eigentliche Zielrichtung an, die letztlich in der Wahrung der
Subjektstellung und Würde des Menschen auch im Arbeits- und Wirt-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schaftsprozess besteht. Darum können sich auch Führungskräfte nicht auf


eine rein ökonomische Sachlogik berufen. Im Gegenteil tragen sie für diese
„Meta-Institution“ eine wesentliche Verantwortung. Der Ort der Moral ist
darum in diesem Modell ein im Diskurs erreichter, normativer Unterbau,
den alle betroffenen „(Wirtschafts-)Bürger“ festsetzen. Ethik ist der Öko-
nomik vorgeordnet und hat „eine andere, sozialökonomische Rationalität“
(ebd., 135) zu schaffen.
Dagegen bestimmen Homann in der Weiterführung von Überlegungen
von Brennan/Buchanan (1993) sowie Becker (1990) und mit ihm seine
Schüler Pies und Suchanek Wirtschaftsethik als „allgemeine Ethik mit öko-
nomischer Methode“ (Homann/Lütge 2004, 19, vgl. Pies/Sardison 2006 und
Suchanek 2007). Es geht darum,�����������������������������������������
„den Gegenstand ‚Moral‘ in terms of eco-
nomics zu rekonstruieren“ (Homann/Lütge 2004, 19), inhaltlich gesagt, das
Eigeninteresse der Akteure in der Wirtschaft mit geltenden, lebensdienli-
chen Normen und Werten kompatibel zu machen.52

52 Homanns Grundgedanke ist über die Jahre weiterentwickelt worden. Das mit
Lütge verfasste Buch aus dem Jahr 2004 stellt seine Position sehr klar und prä-
gnant dar und wird im Folgenden hauptsächlich zitiert. Zur Vertiefung des An-
satzes empfiehlt sich insbesondere Homann/Suchanek (2000) und Homann/Pies
(2000). Immer noch eine fast klassisch zu nennende Einführung in seinen Ansatz,
wenn auch in bestimmten Aspekten entscheidend weiterentwickelt, bietet Ho-
mann/Blome-Drees (1992).
184 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Ausgangspunkt ist dabei die zweifache Überzeugung,


1. dass Menschen im Normalfall eigeninteressiert handeln, also ihren
Nutzen maximieren wollen, und
2. dass die Struktur des Gefangenendilemmas (vgl. zur Erklärung 7.1.1)
kennzeichnend für alle Situationen ist, in denen Wettbewerb, Konkur-
renz und Marktwirtschaft sowie eingeschränkte Kommunikation
herrschen.
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Homann ist dabei der Überzeugung, dass zentrale moralische Probleme als
soziale Fallen im Sinne von derartigen Dilemmatastrukturen zu analysieren
sind. Der „Witz“ derartiger Fallen besteht darin, dass der Einzelne, indem er
versucht, seinen (subjektiven) Nutzen zu maximieren, letztlich das für ihn
selbst zweitschlechteste Ergebnis realisiert. Hätte man kooperiert, hätte man
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gemeinsam das zweitbeste Resultat erreichen können, im Fall des Gefange-


nendilemmas wäre man nur jeweils ein Jahr statt acht Jahre ins Gefängnis
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gewandert.
Allerdings lässt dieses klassische Beispiel noch nicht die soziale Proble-
matik in voller Schärfe sichtbar werden, denn es ist ja gerade im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger, dass diejenigen, die eine Bank ausrauben wollen,
dafür konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Falle hat ihren
guten Sinn. Ähnliches gilt für vergleichbare Strukturen, die beispielsweise
Kartellabsprachen zwischen Unternehmen zum Wohl der Konsumenten
verhindern sollen. Aber es lassen sich auch andere Beispiele anführen, die
eindeutig das reine, selbst schädigende Verhalten, zu dem durch derartige
Strukturen Anreize gesetzt sind, zeigen. Denken wir an die Situation zweier
Unternehmen, bei denen Anreize bestehen, auf Investitionen in den Um-
weltschutz zu verzichten, der für alle vorteilhaft wäre, weil alle von einer
besseren Umwelt profitieren, aber geschäftsschädigend, wenn nur eines der
beiden Unternehmen investieren würde. Das investierende Unternehmen
würde nämlich unter den Voraussetzungen, dass diese Investition Geld kos­
tet und keine Rahmenordnung dies honoriert, seine Produkte teurer anbie-
ten müssen als der Mitbewerber.
Da die Gefangenendilemmasituation nicht nur auf den Bereich des wirt-
schaftlichen Handelns beschränkt ist, sondern alle Bereiche des menschli-
chen Handelns betrifft, in denen Eigeninteressen verschiedener Akteure
aufeinander treffen, konzipiert Homann die Theorie der Wirtschaftsethik
zugleich als allgemeine Gesellschaftstheorie. Ziel ist es, die Rahmenordnung
und die Institutionen so zu gestalten, dass diese bereits die Moral enthalten
Wirtschaftsethik 185

und zugleich zum gegenseitigen Vorteil sind, damit sie auch wirklich durch-
setzbar, im Fachbegriff „implementierbar“ sind. Pies (2006, 270) nennt die
Auflösung dieses Konflikts von Eigeninteresse und Moral die orthogonale
Positionierung, eine Veränderung der Denkrichtung um 90 Grad. Auf diese
Weise können dilemmatische Strukturen (vgl. dazu auch in einem weiteren
Kontext 7.1) aufgebrochen oder für die Implementierung der grundlegen-
den Werte und Normen in Dienst genommen werden. Dies kann gelingen,
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wenn man diese Strukturen durch andere Anreize über die Regelebene so
umbaut, dass es sich lohnt, grundlegende Werte und Normen zu befolgen.
Es kommt also nicht mehr darauf an, dass der Einzelne altruistisch (latei-
nisch: alter = der andere), also auf den anderen bezogen und damit uneingen-
nützig handelt, er darf vielmehr ganz auf seinen eigenen Vorteil bedacht
sein. Wenn die institutionellen Arrangements stimmen, so wird sein Eigen-
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interesse gerade die Realisierung der grundlegenden Werte und Normen


befördern. Wenn beispielsweise die Rahmenordnung für Korruption so hohe
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Strafen ausspricht und auch durchsetzen kann, dass sich Korruption nicht
mehr lohnt, wird eine individuelle Person oder ein Unternehmen bereits
aus Eigeninteresse nicht mehr korrumpieren und sich auch nicht mehr
korrumpieren lassen. Dieser Ansatz mündet darum in dem Ergebnis: „Der
systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung“
(Homann/Blome-Drees 1992, 35, kursiv im Original).��������������������
Ethik wird mit öko-
nomischer Methode betrieben. Ulrich (2008, 135) nennt diese Wirtschafts­
ethik darum eine „funktionalistische Wirtschaftsethik“.
Beide Ansätze enthalten sehr wichtige Einsichten für die hier vertretene
Wirtschaftsethik, die vom Prinzip der Menschenwürde ausgeht. Nach Ho-
mann ist die herausragende Bedeutung des Eigeninteresses für wirtschafts­
ethische Überlegungen ernst zu nehmen. Die Regelebene ist darum von
wesentlicher Bedeutung bezüglich der als homines oeconomici zu modellie-
renden Wirtschaftssubjekte. Von Ulrich ist jedoch zu lernen, dass Ethik
nicht ausschließlich mit ökonomischer Methode zu betreiben ist, sondern
gerade die Regelebene einer transökonomischen, ethischen Grundlagen­
reflexion bedarf. Im Unterschied zu Ulrich ist diese Angewandte Ethik
­allerdings nicht als Produkt allein rationaler und diskursiver Vernunft zu
verstehen, sondern basiert, wie im zweiten Teil dieses Buchs ausgeführt, auf
grundlegenden Menschheitserfahrungen.
Der systematische Ort der Moral ist eben nicht nur die Regelebene, wel-
che die als homines oeconomici modellierte Wirtschaftssubjekte „domesti-
ziert“, sondern ebenfalls die Handlungsebene: Jeder Kapitaleigner und Ar-
186 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

beitgeber, jeder Manager und sonstige Arbeitnehmer bleibt für seine


Handlungen auch dann moralisch verantwortlich, wenn die Regelebene
diese gerade nicht reguliert. Wenn Regeln, aus welchen Gründen auch im-
mer, lebensfeindlich sind, kann sich der Einzelne nicht darauf berufen, dass
er nur den Regeln gefolgt ist.
Der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist in einer
solchen Wirtschaftsethik darum sowohl die Rahmenordnung als auch die
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Handlungsebene. Dabei wird erneut der holistische Ansatz vertreten: Die


grundlegenden Werte und Normen sind auch für den Bereich Wirtschaft
das Fundament, aber zugleich spielen bereichsspezifische Anforderungen
eine wesentliche Rolle, sodass es im Wesentlichen darauf ankommt, bereits
die Regelebene so zu gestalten, dass Moral und Eigeninteresse möglichst
kompatibel werden.
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Die hier dargestellten Ansätze lassen sich nach dem Gesagten in folgen-
der Weise veranschaulichen (vgl. die teils wörtlich übernommene Übersicht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

in Ulrich 2008, 135):

Abb. 22 Wirtschaftsethische Theorien [Quelle: nach Ulrich 2008, 135 für die
ersten beiden Ansätze]
Wirtschaftsethik 187

11.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder

Viele, weltweit agierende Unternehmen haben sich zur Initiative „Global


Compact“ der Vereinten Nationen verpflichtet. Er enthält zehn Regeln, die
als eine mögliche Umsetzung der hier zugrunde gelegten Werte und Nor-
men verstanden werden können. Die Unternehmen verpflichten sich darin,
die Menschenrechte zu wahren, gerechte Arbeitsbedingungen zu realisieren,
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die Umwelt zu schützen und keine Korruption zuzulassen.

Vertiefung: Global Compact der Vereinten Nationen (1999)


Menschenrechte
Prinzip 1: Globale Unternehmen sollen sich im Rahmen ihres Einflussbereichs
für die Wahrung der internationalen Menschenrechte einsetzen und entspre-
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chend handeln.
Prinzip 2: Sie sollen sicherstellen, dass ihr Unternehmen sich von Partnern
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

distanziert, die die Menschenrechte missachten.


Gerechte Arbeitsbedingungen
Prinzip 3: Sie sollen die Versammlungsfreiheit respektieren und das Recht
auf Tarifverhandlungen anerkennen.
Prinzip 4: Sie sollen jegliche Form von Zwangsarbeit abschaffen.
Prinzip 5: Sie sollen Kinderarbeit grundsätzlich verbieten.
Prinzip 6: Sie sollen keinerlei Diskriminierung in Bezug auf Arbeit und
Beschäftigung zulassen.
Umwelt
Prinzip 7: Sie sollen Umweltprobleme mit Umsicht lösen.
Prinzip 8: Sie sollen Initiativen auf den Weg bringen, die die Verantwortung
gegenüber der Umwelt fördern.
Prinzip 9: Sie sollen sich für die Entwicklung und Verbreitung umweltfreund­
licher Technologien einsetzen.
Korruptionsbekämpfung
Prinzip 10: Globale Unternehmen sollen gegen alle Formen der Korruption
einschreiten, einschließlich Erpressung und Bestechung.

Der Global Compact enthält eine Fülle detaillierter Ausführungsbestim-


mungen, die allerdings so zahlreich sind, dass es nicht möglich ist, alle Be-
stimmungen zu erfüllen. So gibt er zwar Unternehmen einen Kompass vor,
doch fehlt zu einer erfolgreichen Implementierung wie die Bankenkrise,
aber auch Korruptionsskandale zeigen, ein handhabbares Regelwerk. Ein
188 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

derartiges Regelwerk könnte in folgender Weise konzipiert werden (vgl.


Knoepffler/Albrecht 2009):

Die soziale Verantwortung


Ein ethisches Unternehmen zeichnet sich dadurch aus, dass es die Men-
schenrechtsdimension einschließlich der Arbeitgeberrechte als unantast­
bares Fundament ethisch verantwortlichen Wirtschaftens einbezieht,
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n also genau überprüft, ob überhaupt und wenn ja in welcher Weise


in Ländern, in denen Menschenrechtsverletzungen geschehen,
unternehmerische Tätigkeiten verantwortet werden können,
n zudem ein Training der Mitarbeiter in Menschenrechtsfragen
durchführt
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n und eine Menschenrechtspolitik implementiert.

Zu einer umfassenden Menschenrechtsimplementierung gehört ein Mana­


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gementsystem, das die Chancengleichheit der Mitarbeiter fördert:


n die Chancengleichheit von Mitarbeitern mit Kindern und unge­
bundeneren Mitarbeitern durch die Möglichkeit von Teilzeitarbeit,
Job-Sharing, Kinderzeitjahre, Kinderbetreuungsangebote,
n die Chancengleichheit von Frauen und Männern,
n die Chancengleichheit von inländischen und ausländischen Mit­
arbeitern,
n die Chancengleichheit von Menschen mit und ohne Behinderung.

Mittels der Anteile der weiblichen Führungskräfte, der nicht-inländischen


Arbeitnehmer und der Führungskräfte mit Familien lässt sich abschätzen,
inwieweit dieses Programm durchgesetzt wird oder nur eine unverbindliche
Idealnorm darstellt.
Zu einer umfassenden sozialen Unternehmenspolitik, in der sich ethi-
sches Führungsverhalten konkretisiert, gehört aber auch in zentraler Weise
ein organisches Arbeitsplatzwachstum bzw. nach Erreichen des gesteckten
Wachstumsziels ein organischer Arbeitsplatzerhalt und eine gesunde Struk-
tur im Verhältnis von Fachkräften zu Auszubildenden, von unbefristeten zu
befristeten Arbeitsverträgen. Allerdings ist hierbei interpretationsoffen und
damit festzulegen, wann eine gesunde Struktur gegeben ist.
Eine sich ihrer Verantwortung bewusste Führungskraft wird auch auf die
eigene wie die Weiterbildung der Mitarbeiter achten und in regelmäßigen
Wirtschaftsethik 189

Abständen Mitarbeitergespräche führen. Außerdem wird sie auf eine ange-


messene Arbeitszeit und einen Schutz bei Krankheit, sofern dies nicht staat-
lich zureichend geregelt ist, Wert legen. Diese Verantwortung lässt sich
ebenfalls durch Kennzahlen feststellen:

n die Anzahl der Mitarbeitergespräche pro Jahr,


n die Anzahl der durchschnittlichen Trainingstage pro Mitarbeiter,
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n das Gesamtbudget für Mitarbeiterschulungen und Weiterbildungsmaß-


nahmen,
n die Anzahl der Arbeitsstunden, der Urlaubstage,
n die Absicherung im Krankheitsfall, z. B. in Unternehmen, die in
Ländern agieren, in denen es keine allgemein verpflichtende Kranken-
versicherung gibt wie z. B. in den USA.
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Eine weitere wesentliche Aufgabe stellt die faire Entlohnung dar. Auch hier
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

lässt sich überprüfen, in welchem Verhältnis das Gehalt der Führungskräfte


zum Gehalt der durchschnittlichen Arbeitnehmer liegt. Hierbei könnte ein
Vorschlag von großer Bedeutung sein, den Ernst Abbe schon vor über hun-
dert Jahren im Rahmen des Statuts der Carl-Zeiss-Stiftung für die Carl-
Zeiss-Werke verbindlich gemacht hat: „Das höchste Jahreseinkommen, wel-
ches einem Beamten [modern: einem Vorstandsmitglied], die Mitglieder der
Geschäftsleitung eingeschlossen, für seine vertragsmäßige Dienstleistung
gewährt wird, darf zur Zeit der Festsetzung nicht hinausgehen über das
Zehnfache vom durchschnittlichen jährlichen Arbeitseinkommen der sämt-
lichen über 24 Jahre alten und mindestens drei Jahre im Betrieb tätigen, in
gewöhnlichem Lohnverhältnis stehenden Arbeiter aller Stiftungsbetriebe,
nach dem Durchschnitt der letztverflossenen drei Geschäftsjahre“ (Abbe
1921 [1896], 304). Auch wenn heute im Unterschied zu Abbes Zeit das
Jahreseinkommen definiert wird als „Fixum plus erfolgsabhängige Bestand-
teile plus Sonderpositionen (Firmenwagen, Betriebsrente usw.)“, so bleibt
bei diesem Vorschlag die grundsätzliche Überzeugung entscheidend, dass
das Jahreseinkommen der Bestbezahlten zu den durchschnittlich Bezahlten
in einer Relation stehen sollte, die nicht ständig zugunsten der Bestbezahl-
ten verschoben werden darf. Genau dies aber ist seit Langem gängige Praxis.
So schreibt beispielsweise der ehemalige Vorsitzende der deutschen Vor-
stände von Renault und Ford: „Noch vor zehn bis zwanzig Jahren verdiente
ein Konzernchef etwa 20- bis 50-mal so viel wie seine Mitarbeiter. Daran
hatte zu Recht niemand Anstoß genommen. Heute ist dieser Faktor zum
190 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Teil bis zu 400 explodiert“ (Goeudevert 2008, 158). Diese Praxis stellt, ob-
wohl sie keine geltenden Regeln bricht, dennoch zumindest in einigen der
Fälle einen Missbrauch von Handlungsmöglichkeiten dar und verletzt die
soziale Verantwortung. Darum ist eine faire Entlohnung nötig, die, wie die
Beispiele zeigen, wohl auf der Regelebene erzwungen werden muss. Aller-
dings bleibt dabei ein Streitpunkt, wann eine Entlohnung fair ist und wie in
diesem Zusammenhang Erfolg lohnmäßig abgebildet werden kann. Sollte
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der Erfolg auch von Parametern wie Nachhaltigkeit abhängig sein?


Mit der fairen Entlohnung als einer Idealnorm ist eine weitere sozial sehr
bedeutsame Verpflichtung einer Führungskraft verbunden. Sie hat ein klares
Regelwerk für Mitarbeiter und Management zu erstellen, das intern und
extern veröffentlicht wird und die Forderung beinhaltet, keine Form von
Korruption zu dulden:
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n keine Annahme von irgendwelchen Begünstigungen über das Gehalt


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

und die allgemein bekannten kleinen Freundlichkeiten (z. B. Weih-


nachtsfeier des Unternehmens) hinaus, die eine eigene Bestechlichkeit
realisieren,
n aber auch keine Aktionen, um sich andere durch Vergünstigungen oder
Erpressungen „gefügig“ zu machen.

Dieser Verzicht auf korruptes Verhalten mag kurzfristig nachteilig sein,


langfristig bietet er den Reputationsgewinn eines ehrlich schaffenden Un-
ternehmens mit ehrlichen und damit verlässlichen Führungskräften. Dazu
gehört positiv ein Engagement der Führungskräfte, damit das Unternehmen
mit seinen Kunden und Lieferanten fair umgeht, also auch hier klare Leitli-
nien besitzt, wie in Konfliktfällen (z. B. Reklamationen) zu reagieren ist.

Die ökologische Verantwortung


Die ökologische Verantwortung eines Unternehmens besteht darin, für eine
Umweltpolitik und ein Umweltmanagement zu sorgen, wodurch eine posi-
tive Umweltperformance erreicht wird.
Dabei ist unter einer Umweltpolitik von Führungskräften zu verstehen,
dass diese ein explizites Statement ihres Unternehmens haben, das klarlegt,
wie der Umgang mit der Umwelt aussieht. Diese Umweltpolitik sollte trans-
parent sein, also im Geschäfts- oder einem eigens angefertigten Umweltbe-
richt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zentrale Punkte der
Umweltpolitik sind:
Wirtschaftsethik 191

n der Bezug zu wesentlichen Umweltthemen,


n eine klare Verantwortlichkeiten für den Umweltbereich,
n die Verpflichtung zum kontinuierlichen Audit (lateinisch: audire =
hören), also zu einem Untersuchungsverfahren, das bestimmte Prozesse
hinsichtlich der Erfüllung von Anforderungen und Richtlinien
bewertet,
n die Einhaltung vorgeschriebener Umweltstandards,
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n der Ausweis von umweltorientierten zusätzlichen Maßnahmen.

Die Umweltpolitik konkretisiert sich in einem schriftlich festgelegten und


standardisierten Managementsystem nach dem ISO14001 Standard, der
EMAS-Verordnung der EU oder einem eigenen Umweltmanagementsys-
tem, das bewertbar ist.
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Ganz wesentlich ist in diesem Zusammenhang die konkret nachweisbare


Umweltperformance. Nachhaltiges Führungsverhalten arbeitet kontinuier-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

lich daran, den Ressourcenverbrauch zu verbessern und Emissionen und


Abfall zu reduzieren. Dazu zählen auch Schlüsselindikatoren, welche Ener-
giequellen verwendet werden, in welcher Weise Wasser belastet wird und ob
die Produkte recycelbar sind.

Die ökonomische Verantwortung


Vielfach wird übersehen, dass die zentrale Verantwortung einer Führungs-
kraft darin besteht, für einen wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zu
sorgen. Ein sozial und ökologisch ausgerichtetes Unternehmen, das im
Markt nicht erfolgreich ist, kann nämlich auch die Nachhaltigkeit der sozi-
alen und ökologischen Dimension nicht erreichen, denn wenn es vom Markt
verschwindet, ist zumindest die soziale Dimension ebenfalls zerstört. Anders
gesagt: Die ökonomische Dimension gehört konstitutiv zur ethischen Be-
wertung hinzu. Ein Unternehmen, seine Führungskräfte, aber auch alle üb-
rigen Mitarbeiter haben darauf zu achten,

n dass das Unternehmen langfristig im Markt bestehen kann, sich also in


der Umsatz- und Gewinnentwicklung ein guter Trend zeigt;
n welche Neuerungen das Unternehmen auf den Markt bringt, wie es
innovativ tätig ist
n und ob es Strategien vorsieht, wenn der bisherige Markt für die eigenen
Produkte bedroht ist.
192 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Eine Reihe ökonomischer Kennzahlen und Bewertungsmethoden geben


Hinweise auf die Wahrnehmung der Verantwortung im ökonomischen Be-
reich. Dies sind unter anderem die Eigenkapitalquote, das Produktportfolio,
die Abhängigkeit von bestimmten Kunden oder Märkten aber auch die
Ausgeglichenheit des Mitarbeiterstammes, um den Wissenstransfer im Un-
ternehmen langfristig zu gewährleisten.
Doch selbst wenn ein Unternehmen dieses bereichsspezifische Ethos re-
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alisiert, bleibt dennoch ein wesentliches wirtschaftsethisches Problem zur


Gestaltung offen, nämlich die ordnungspolitische Verantwortung der Ge-
sellschaft, darauf zu achten, dass Unternehmen nicht zu einflussreich wer-
den. Eine wesentliche Aufgabe hierbei besteht darin, die Regelebene so zu
gestalten, dass eine gesunde unternehmerische Konkurrenz entsteht. Dies
kann nämlich niemals eine Aufgabe der einzelnen Unternehmen sein, und
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dies gehört auch nicht zur unternehmerischen Verantwortung. Diese Prob-


lematik lässt sich gut an einem Beispiel aus dem Bereich der Grünen Gen-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

technik exemplifizieren.

11.3 Das bereichsspezifische Konfliktfeld am Beispiel des


Einflusses des global agierenden Unternehmens Monsanto
Das in über 100 Ländern tätige Unternehmen Monsanto hat in bestimmten
Bereichen der Grünen Gentechnik praktisch ein Monopol. Das Unterneh-
men ist Weltmarktführer bei der Entwicklung und Produktion von Pflan-
zenschutzmitteln und Saatgut unter Einsatz biotechnologischer Verfahren.
Seit 1999 hat Monsanto für über 13 Mrd. US $ Saatgutfirmen aufgekauft.
Es steigerte allein in den Jahren 2005 bis 2008 seinen Umsatz von 6,3 Mrd.
US $ auf 11,4 Mrd. US $. Das führt beispielsweise den in Bonn erscheinen-
den Internetauftritt „gesundheit-report.de“ zu der Aussage: „Derzeit produ-
ziert Monsanto rund 90 Prozent aller weltweit angebauten Genpflanzen,
was den Verdacht nahelegt, dass der Konzern auf Dauer die Landwirtschaft
global unter seine Kontrolle bekommen möchte.“53 Im gleichen Bericht wird
zudem ausdrücklich als Ziel Monsantos benannt, „die Ernährung ganzer
Völker abhängig von Monsanto zu machen“. Zu diesem Zweck habe Mon-

53 http://www.gesundheit-report.de/ernaehrung/artikel635/gentechnik-genmais-
und-monsanto.html (eingesehen am 25.04.2009).
Wirtschaftsethik 193

santo die Terminator-Technologie entwickelt, bei der das Saatgut keinen


keimfähigen Samen produzieren kann oder in der Folgegeneration nur sehr
schlechte Resultate bringt, sowie das konventionell gezüchtete Hybrid-
Saatgut auf den Markt gebracht, das nach der Ernte nicht mehr als Saatgut
verwendbar ist.54
Unterstellen wir zum Zweck des Arguments, dass diese Behauptung den
Sachverhalt trifft, obwohl Monsanto selbst ein völlig anderes, wirtschafts­
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ethisch sehr wünschenswertes Ziel formuliert: „Ziel von Monsanto ist es,
unter gleichzeitiger Schonung natürlicher Ressourcen, die Erträge und die
Qualität der Agrarproduktion deutlich zu verbessern. Von Monsanto entge-
gen der eigenen Darstellung entwickelte Produkte werden somit eine wich-
tige Rolle bei der Bewältigung von globalen Herausforderungen in Berei-
chen wie Ernährung, nachwachsende Rohstoffe, Energie, Gesundheit und
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Umwelt spielen.“55 Wenn Monsanto als Ziel hat, ein Monopol aufzubauen
und damit logischerweise Abhängigkeiten schafft, so wäre dieses Ziel ei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gentlich nur Zweck zu dem eigentlichen Ziel, möglichst viel Gewinn ma-
chen zu können. Kann von Monsanto verlangt werden, eine solche Zielset-
zung zu korrigieren? Ist es nicht aus der Dynamik des Wirtschaftens heraus
für jedes Unternehmen das Ideal, eine Art Monopolstellung zu erreichen,
um so den Gewinn maximieren zu können? Freilich ist dies in den meisten
Fällen nicht möglich. Auch gibt es bestimmte Regeln wie beispielsweise das
Kartellrecht der EU, die Monopol- und Oligopolbildung verhindern sollen.
Doch wäre es ein ethischer Kategorienfehler, von einem Unternehmen zu
verlangen, dass es ohne äußere Vorgaben darauf verzichtet, seine geschäft­
liche Position möglichst zu optimieren.
Die eigentliche wirtschaftsethische Problematik liegt an dieser Stelle da-
her auf der Regelebene. Der derzeitige Ordnungsrahmen befördert gerade
im Bereich der Herstellung gentechnisch veränderter Pflanzen diese Mono-

54 In diesem Report wird diese Technik auch mit Selbsttötungen von indischen
Bauern in Verbindung gebracht: „Dieses Verfahren hat dazu geführt, dass unter
indischen Mais- und Baumwollbauern wegen stark und ständig steigender Saat-
gutpreise und vieler Missernten die Suizidrate stark angestiegen ist.“ Doch zeigen
unabhängige Untersuchungen (vgl. Gruère u. a. 2008) sowie das fast exponentielle
Wachstum im Anbau von Bt-Cotton in Indien, dass auf die ganze Zeitspanne
gerechnet, diese Behauptung nicht aufrecht gehalten werden kann (vgl. dazu aus-
führlich die medienethischen Überlegungen 15.3).
55 http://www.monsanto.de/Monsanto/uebermonsanto.php
(eingesehen am 25.04.2009).
194 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

polisierung. Für die meisten Unternehmen lohnt es sich nämlich nicht, diese
Technologie weiter zu entwickeln, weil die Widerstände und bürokratischen
Hemmnisse insbesondere in einigen europäischen Staaten einschließlich
Deutschlands so groß sind. Nur wenige Unternehmen wie Monsanto haben
die Möglichkeit, gewinnbringend in diesem Feld weiter zu wirken. Dabei
kommt Monsanto wie auch anderen global agierenden Unternehmen entge-
gen, dass verschiedene Staaten unterschiedliche Vorschriften erlassen. Klei-
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nere europäische Firmen haben deshalb einen konkurrenzmäßigen Nachteil.


Sie können sich die Investitionen in gentechnisch veränderte Pflanzen nicht
leisten, weil die Zeitspannen zwischen Beantragung und Zulassung groß
sind und letztlich auch keine Sicherheit besteht, ob eine Zulassung nicht
widerrufen wird. So hatte im Dezember 2008 die Europäische Behörde für
die Lebensmittelsicherheit (EFSA) Monsantos Genmais MON810 Sicher-
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heit in allen relevanten Bereichen bescheinigt, dennoch widerrief die bun-


desdeutsche Landwirtschaftsministerin Aigner die Genehmigung für die
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Aussaat im Jahr 2009, indem sie neue Sicherheitsbedenken ins Feld führte.
Für Monsanto, das diese Sorte weltweit für den Anbau verkauft, ist der deut-
sche Markt nicht wegen des Umsatzes, sondern nur aufgrund der strategi-
schen Bedeutung wichtig. So geht es in der Auseinandersetzung mit der
Bundesrepublik Deutschland um Rechtssicherheit, weswegen Monsanto ge-
gen diesen Entscheid klagen wird. Das Beispiel Deutschland könnte sonst
Schule machen.
Auf politischer Seite wurde zudem übersehen, was von entscheidender
Bedeutung ist, nämlich dass dieses Verhalten die Monopolisierung voran-
treibt. Für kleinere Unternehmen können ähnliche politische Entscheidun-
gen bereits das Aus bedeuten, weil die Investitionen in eine solche Pflanze
im Falle derartiger Entscheidungen sich nicht auszahlen und ein Unterneh-
men, das vor allem auf den Verkauf des Saatguts einer solchen Pflanze
gesetzt hätte, den Ruin befürchten müsste. Aus der Pharmaindustrie ist be-
kannt, dass die Nichtzulassung neuer Medikamente für bestimmte Unter-
nehmen den finanziellen Ruin bedeuten kann, weil die Investitionen in die
Entwicklung so teuer sind.
Will man also der Gefahr einer Monopolisierung im Bereich der Grünen
Gentechnik entgehen, so bestünde die eigentliche ordnungspolitische Auf-
gabe über sicherheitsrelevante Fragen hinaus darin, einen funktionierenden
Wettbewerb zu sichern. Im anderen Fall wird man de facto daran mitwirken,
dass beispielsweise Monsanto eine Machtfülle bekommen könnte, die das
Unternehmen in die Lage versetzt, auf die Ernährungslage mancher Völker
Wirtschaftsethik 195

zentral Einfluss nehmen zu können. Dem Unternehmen selbst wäre hierbei


solange für eine derartige Zielsetzung kein Vorwurf zu machen, solange es
die Macht nicht dazu ausnutzt, Staaten zu erpressen und die Ernährungs-
lage negativ zu beeinflussen.
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196 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

12 Umweltethik

Die Umweltethik befasst sich mit ethischen Fragen der nicht-menschlichen


Natur und menschlichen Eingriffen in diese Natur. Wie umweltethische
Textsammlungen bedeutender Aufsätze zeigen (vgl. Light/Holmes (Hg.)
2003), gehört die ethische Reflexion auf die unbelebte und belebte Natur zu
ihrem Arbeitsgebiet. Dabei geht es beispielsweise um die Frage, ob nicht-
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menschlichen Lebewesen ein eigener Wert zukommt und um die Frage, wie
die Natur als Lebensgrundlage für uns Menschen geschützt werden kann.56

12.1 Umweltethische Positionen


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Vergleichbar mit Technik- und Wirtschaftsethik gibt es auch im Bereich der


Umweltethik ideengeschichtliche Wurzeln. Viele Religionen machen auf
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

die Bedeutung der nicht-menschlichen Natur aufmerksam und betonen die


menschliche Verantwortung für diese. So messen beispielsweise Buddhis-
mus und Hinduismus Tieren einen eigenen Wert bei.
Dagegen vertritt Kant die lange Zeit vorherrschende Sichtweise: „������
In An-
sehung des Schönen, obgleich Leblosen in der Natur ist ein Hang zum blo-
ßen Zerstören (spiritus destructionis) der Pflicht des Menschen gegen sich
selbst zuwider: weil es dasjenige Gefühl im Menschen schwächt oder ver-
tilgt, was zwar nicht für sich allein schon moralisch ist, aber doch diejenige
Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens
dazu vorbereitet, nämlich etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben
(z.  B. die schönen Kristallisationen, das unbeschreiblich Schöne des Ge-
wächsreichs)“ (Kant 1968 [1797], 443). Die unbelebte Natur hat nach Kant
keinen moralischen Wert an sich. Ihre Zerstörung ist nicht deshalb mora-
lisch falsch, weil damit der unbelebten Natur selbst ein Schaden geschieht.

56 Die ethische Reflexion auf das Verhältnis des Menschen zur belebten Natur wird
manchmal auch als Bioethik bezeichnet. Als Van Rensselaer Potter 1970 mit sei-
nem Artikel Bioethics: the Science of Survival diesen Begriff in die wissenschaftliche
Diskussion einführte, ging es ihm um für alle Menschen akzeptable Lebensbe-
dingungen und ein „gutes“ Überleben („survival“) aller. Bioethik in diesem Sinn
war also in erster Linie Umweltethik. Doch fast zeitgleich etablierte sich auch ein
zweiter Gebrauch des Begriffs „Bioethik“, der unter dem Titel „Bioethik“ medizin­
ethische und mit der Medizinethik verbundene Fragestellungen verhandelte und
sich in dieser Bedeutung auch weitgehend durchgesetzt hat und auch hier in dieser
Bedeutung weitergeführt wird (vgl. 13.1).
Umweltethik 197

Die unbelebte Natur ist nämlich sachhaft. Ihr kann gar kein Schaden zuge-
fügt werden. Dennoch ist die Zerstörung, sogar der einfache Wunsch zur
Zerstörung des Schönen in der Natur nicht vernunftgemäß, sondern wider-
spricht der Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Der Mensch, der aus
Pflicht handelt, handelt absichtslos im Bezug auf sein Eigeninteresse. Ge-
rade der Drang, etwas Schönes, wenn auch Unbelebtes zu zerstören, droht
zugleich im Menschen diese Absichtslosigkeit zu beschädigen, denn ein
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Hang zum bloßen Zerstören ist nach Kant immer ichbezogen und gerade
nicht mit dem eigentlichen guten Willen verbindbar. Noch mehr gilt dies
für den grausamen Umgang mit Tieren, die ebenfalls nicht um ihrer selbst
willen, sondern um des guten Willens willen zu berücksichtigen sind (vgl.
5.3.3).
Im 19. Jahrhundert kommt immer mehr das umweltethische Bewusst-
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sein im Hinblick auf die Grenzen des Wachstums auf. So betont beispiels-
weise Mill (1965 [1848/1871]) bereits diese Grenzen und hält es für ausge-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schlossen, dass wirtschaftlicher Wohlstand und Bevölkerung unbeschränkt


wachsen können. Die Heimat- und Naturschutzbewegung entsteht eben-
falls zu dieser Zeit.
Als Wissenschaftsdisziplin entwickelt sich eine eigenständige Umwelte-
thik aber erst seit den 60er Jahren des 20.  Jahrhunderts. Die Veröffentli-
chung von Rachel Carsons Silent Spring 1962, worin sie vor den Gefahren
durch Pestizide für Mensch und Tier warnt, wird nicht nur als Beginn der
Umweltbewegung angenommen (vgl. Palmer 2003, 15), sondern löste auch
die akademische Umweltethik aus. Mit den Überlegungen zur Nachhaltig-
keit (vgl. 6.3) kommt die Bedeutung des menschlichen „Survivals“ bzw. der
Permanenz menschlichen Lebens auf Erden (vgl. Van Rensselaer Potter
1970; Meadows et al. 1972 [Report to the Club of Rome], Jonas 1979) und
damit verbunden die intergenerationelle Gerechtigkeit als wesentliche um-
weltethische Frage in den Blick. Im Umgang mit dieser Frage treffen erneut
utilitaristische Ansätze (z.  B. Mill, 2.3.1) mit kontraktualistischen (z.  B.
Rawls, vgl. 2.4.2), kommunitaristischen (vgl. 1.3) und deontologischen (z. B.
Kant, vgl. 2.2.1) bzw. diskurstheoretischen Ansätzen (z. B. Habermas, vgl.
2.2.2) aufeinander:
198 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

„Intergenera- Annahmen Theorien Basis interge-


tionelle über die nerationeller
Gerechtigkeit Sozialstruktur Gerechtigkeit
abstrakte Allgemeine Utilitarismus Einfach gegebene
Annahmen ohne Interessen
Gewichtung Kantianismus Gleicher Wert der
spezieller rationalen Person
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Gesichtspunkte
konkrete Interessenantago- Vertragstheorie Hypothetischer
nismus Vertrag
Geteilte Ziele der Kommunitarismus Soziale
Gemeinschaft, Einbettung in
Gemeinschaft eine konkrete
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konstitutiv für Gemeinschaft“


Personsein
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Tab. 11 Intergenerationelle Gerechtigkeit [Quelle: Leist 2005, 457]

Dazu kommt es zu einer vertieften ethischen Reflexion über den Status


nicht-menschlicher Lebewesen, insbesondere der Tiere (bahnbrechend hier
Singers Animal Liberation) und vor dem Hintergrund der Diskussion um die
Grüne Gentechnik der Pflanzen (vgl. Odparlik u. a. (Hg.) 2008, Odparlik
2009). Es werden dabei neben der anthropozentrischen Position bio- und
pathozentrische Ansätze vertreten (vgl. dazu ausführlich 5.3.3). Radikale
Vertreter eines Holismus wollen sogar der unbelebten Natur Rechte einräu-
men.

12.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder

Der hier vertretene Ansatz geht von den fundamentalen anthropozentri-


schen Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten sowie Ge-
rechtigkeit und Nachhaltigkeit aus. Dieser Ansatz umfasst aber auch die
Dimension einer eigenen moralischen Berücksichtigung von nicht-mensch-
lichen Lebewesen (vgl. 5.3.3). Was bedeutet dies für die einzelnen Teilberei-
che der Umweltethik?
Umweltethik 199

12.2.1 Allgemeine Umweltethik

Bei der allgemeinen Umweltethik sollen diese Fundamentalnormen durch


die Konkretisierung des Nachhaltigkeitsprinzips in Regeln, wie sie für die
ökologische und ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit gefordert
wurden (vgl. 6.4), bindend bleiben. Grundsätzlich
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gelten darum für um-
weltethische Überlegungen die ökologischen Regeln und ökonomischen
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Regeln, also die Regenerations-, Substitutions-, Optimierungs- und Rever-


sibilitätsregel einerseits, sowie die Substanzerhaltungs-, Anreiz- und Ge-
samtkostenregel andererseits.
Wichtige Themenfelder sind der Umgang mit Wasservorräten und die
Reduktion der Luftverschmutzung, der Klimaschutz und der Schutz von
Naturräumen. Dabei spielen umwelt- und technikethische Überlegungen in
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der Risikominimierung bestimmter Techniken wie Kernenergie und Gen-


technik eine große Rolle. Auch geht es um eine angemessene Abfallentsor-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gung usw.
Eine zentrale Herausforderung stellt in diesem Kontext das Bevölke-
rungswachstum in Verbindung mit wachsenden Ansprüchen der Menschen
dar: Immer mehr Menschen benötigen dabei immer mehr Ressourcen. Ge-
rade an dieser Herausforderung kann man sehr gut nachvollziehen, warum
nicht alles, was für einzelne Familien oder Gruppen oder auch Völker gut ist,
insgesamt wünschenswerte Folgen haben muss. Selbst wenn jede Frau
durchschnittlich nur drei Kinder hätte, die wiederum ins Erwachsenenalter
kommen und sich fortpflanzen würden, wüchse die Erdbevölkerung mit je-
der Generation um ein Drittel an. Man kann sich ausmalen, wie damit die
Tragfähigkeit der Erde notwendigerweise an eine Grenze kommen muss.
Ein weiteres umweltethisches Problem stellt sich in der ökonomischen
Dimension der Nachhaltigkeit. Unternehmen haben oft einen Anreiz, um-
weltschädliches Verhalten zu externalisieren, wenn dilemmatische Struktu-
ren gegeben sind, die dazu verführen, aus Eigeninteresse (national, unter-
nehmerisch, persönlich) in dieser Weise zu handeln. Das Beispiel des
Klimaschutzes hatte im Rahmen der Behandlung globaler Herausforderun-
gen gezeigt (vgl. 6.1.3), wie schwierig die Umsetzung dafür ist. Dies lässt
sich modellhaft vereinfacht (nur zwei Unternehmen U1 und U2 und nur die
beiden Alternativen A1 billigere, aber unsichere und umweltschädigende
Autos herzustellen, und A2 die besseren teureren Wagen zu produzieren)
zeigen. Gehen wir davon aus, dass sich für die Unternehmen letztlich nur
der Wettbewerbsvorteil rechnet, dann werden sie sich ohne Rahmenbedin-
200 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

gungen für den Großteil der Fahrzeugflotte gegen umweltschonende Maß-


nahmen entscheiden (beide wählen A1). Damit haben beide keine Wettbe-
werbsvorteile, aber auch nichts verloren. Würde nur einer der beiden in den
Umweltschutz investieren, so werden seine Produkte so teuer, dass der Kon-
kurrent, der nichts tut, profitiert. Nur wenn beide A2 wählen, also umwelt-
schonendere Pkws auf den Markt bringen, gewinnen beide Unternehmen
(und zugleich wird die Umwelt geschont). Nehmen wir folgende Auszah-
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lungsmatrix an:

U2 mit A1 U2 mit A2
U1 mit A1 0;0 3;-1
U1 mit A2 -1;3 1;1
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Tab. 12 Das Auto-Umwelt-Spiel I

Ebenso wie im Fall des Klimaschutzes kann eine globale Steuerung die-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ses Dilemma aufbrechen. Wenn zumindest sehr wichtige „Autofahrer­


nationen“, durch Sanktionen für umweltschädliche Autos (-2), und durch
Anreize zum Kauf besonders umweltschonender Fahrzeuge (+2), dieses
Dilemma aufbrechen, lohnt sich der Bau umweltfreundlicher Pkws:

U2 mit A1 U2 mit A2
U1 mit A1 0-2;0-2 3-2;-1+2
U1 mit A2 -1+2;3-2 1+2;1+2

Tab. 13 Das Auto-Umwelt-Spiel II


Darum kann nur eine faire Rahmenordnung durch Anreize für ökologisches
und soziales Verhalten einerseits und Sanktionen für umweltfeindliches und
unsoziales Verhalten andererseits bewirken, dass der „Umweltsünder“ nicht
letztlich zum Gewinner wird.

12.2.2 Tierethik

Ein spezielles Themenfeld im Rahmen der Umweltethik stellt die Tierethik


dar (vgl. die allgemeinen Überlegungen in 5.3.3). Umstritten ist dabei, ob
Tiere überhaupt getötet werden dürfen. Im Rahmen des hier vertretenen
Ansatzes lässt sich die Tötung von Tieren unter bestimmten Umständen
rechtfertigen. Allerdings sind unterschiedliche Fälle getrennt zu behandeln:
Umweltethik 201

1. das Töten von Tieren, die das Leben von Menschen bedrohen oder
durch deren Töten Menschen vor dem Verhungern oder Erfrieren
gerettet werden können;
2. das Töten von Tieren zu Versuchszwecken, wenn alternativ nur mit
Menschen derartige Versuche gemacht werden könnten;
3. das Töten von Tieren, um Nahrung zu gewinnen, obwohl auch
nicht-tierische Nahrung ausreichend verfügbar ist;
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4. das Töten von Tieren, um Kleidungsstücke zu gewinnen, z. B. Pelze;


5. das Töten von Tieren, um bestimmte nicht-medizinische Produkte,
z. B. Kosmetika herstellen zu können;
6. das Töten von Tieren, um Spaß zu haben, z. B. Fuchsjagden.

Vor der skizzenhaften Besprechung dieser Fallkonstellationen ist eine wich-


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tige Vorbemerkung zu machen: Das Töten von Tieren kann bei Wildtieren
so weit gehen, dass dadurch nicht nur einzelne Individuen einer Art, sondern
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

die ganze Art ausgelöscht wird. Eine Tierart aussterben zu lassen ist umwelt-
ethisch nicht zu rechtfertigen, denn damit würde eine ganze Art zu einem
für uns Menschen nicht notwendigen Zweck ausgelöscht – vom Extremfall,
dass nur dadurch das Leben von Menschen gerettet werden können, einmal
abgesehen. Dies steht im Widerspruch zur Sozialverträglichkeitsregel und
zur Reversibilitätsregel (vgl. 6.4). So werden künftige Generationen der
Möglichkeit beraubt, derartige Tierarten zu erleben, weil sie einen derarti-
gen Eingriff in die Natur nicht mehr umkehren können.
Umgekehrt sind im Rahmen des hier vertretenen Ansatzes die ersten
beiden aufgeführten Fälle im Hinblick auf das Töten einzelner Tiere unpro-
blematisch. Das Lebensrecht des Menschen ist wichtiger als die Würde von
Tieren. Schwieriger ist bereits der Fall, bei dem Tiere zur Nahrungs- und
Kleidungsgewinnung getötet werden. Warum sollte in einer Güterabwägung
das Interesse des Menschen am Fleischverzehr oder Pelzen über das Über-
lebensempfinden des Tieres gestellt werden? Hier entscheidet sich die Frage,
ob das subjektiv empfundene Wohlergehen von Menschen über das Überle-
bensempfinden der betroffenen Tiere zu stellen ist. Noch problematischer
sind die letzten beiden Fälle. Im Unterschied zu Medikamenten sind Kos-
metika nicht wirklich für die Gesundheit des Menschen nötig. Man benö-
tigt also einen noch weitergehenderen Begriff menschlichen Wohlergehens,
um zu rechtfertigen, warum Tiere bei derartigen Versuchen ihr Leben ver-
lieren müssen. Das Töten von Tieren zum Spaß enthält beispielsweise bei
Fuchsjagden als ein konstitutives Element den Faktor, dass das betroffene
202 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Tier sich ängstigt und in seinem Überlebensempfinden verletzt wird, noch


bevor es schließlich getötet wird. Es steht also das menschliche Lustgefühl
des Jagens dem tierischen Angstempfinden gegenüber. So wichtig dieses
menschliche Lustempfinden evolutionsgeschichtlich gewesen sein mag, so
wenig rechtfertigt es im Rahmen der hier vertretenen Normen und Werte
derartige Formen des Tötens von Tieren, denn diese Form des Umgangs mit
Tieren grenzt bereits an Tierquälerei, die eine Verletzung der Schutzregel
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nicht-menschlicher Lebewesen darstellt.


Darüber hinaus stellen sich Fragen im Hinblick auf den Umgang mit
Tieren, beispielsweise im Rahmen der Nutztierhaltung. Dem Nutztier soll-
ten dabei folgende „fünf Freiheiten“ gewährt werden, die das britische Farm
Animal Council aufgestellt hat (hier zitiert nach Busch/Kunzmann 2006,
62):
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1. „Freiheit von Hunger und Durst – durch Zugang zu frischem Wasser


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

und gesunder Nahrung.


2. Freisein von Unbehagen – durch die Bereitstellung einer angemessenen
Umgebung mit Schutzzonen und komfortablen Ruhezonen.
3. Freisein von Schmerzen, Verletzungen und Krankheiten – durch
Prävention oder schnelle Diagnose und Behandlung.
4. Freisein zum Ausleben normaler Verhaltensweisen – durch ausreichend
Platz, angemessene Einrichtungen und Kontakt zu Artgenossen.57
5. Freisein von Angst und Leiden – durch Haltungsbedingungen und eine
Behandlung, die kein psychisches Leiden fördern.“

Zentral bleibt insgesamt im Umgang mit Tieren (einschließlich ihres Tö-


tens) – und in einer gewissen Analogie mit Pflanzen (s. u.) –, was Sitter-
Liver (2008, 174) in folgende Worte fasst: „Richtig bleibt, dass die Anerken-
nung des Eigenwertes von anderen Wesen uns nicht von der Notwendigkeit
entbindet, solche andere zu beeinträchtigen und zu zerstören. Doch diese
Existenzbedingung entzieht uns nicht die Möglichkeit einer Ethik der Ach-
tung, die uns anhält, Kreaturen insgesamt nur so weit zu beeinträchtigen, wie
es für uns im Streben nach einem guten Leben unerlässlich ist.“

57 Einer kritischen Note bedarf der Punkt 4), denn es ist nicht ganz klar, was „nor-
male Verhaltensweisen“ sind und unter welchen Bedingungen sie erhoben werden
sollen.
Umweltethik 203

12.2.3 Pflanzenethik

Tierschutz und Tierethik sind seit längerem vertraute Begriffe in der bioethi-
schen Diskussion außermenschlicher Natur. Dagegen sind die Pflanzen erst in
jüngerer Zeit zum ausdrücklichen Thema ethischer Betrachtungen geworden.
Da viele Überlegungen die im Rahmen der Tierethik entwickelt wurden, auch
im Hinblick auf Pflanzen von Bedeutung sind, sind Pflanzen in ihrem Eigen-
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wert ebenfalls zu berücksichtigen. In Anlehnung an die gerade aufgezählten,


fünf Freiheiten von Nutztieren könnte man beispielsweise Nutzpflanzen fol-
gende Pflege „angedeihen“ lassen, die ihren Eigenwert respektiert:

1. ausreichende Versorgung mit Wasser, Nährstoffen und Licht;


2. Bereitstellung einer angemessenen Umgebung;
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3. Prävention oder Einsatz von Pestiziden und anderen Hilfsmitteln.


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Dies erscheint eine sinnvolle Weiterführung tierethischer Überlegungen zu


sein, wenn man die derzeitige Forschung im Hinblick auf Pflanzen ernst
nimmt und vor diesem Hintergrund eine Pflanzenethik entwirft, die Pflan-
zen moralisch berücksichtigt (vgl. zu unterschiedlichen Konzepten Kallhoff
2002, Odparlik (Hg.) 2008, Odparlik 2009). Man könnte in diesem Rah-
men auch von einem Eigenwert, einer Würde von Pflanzen sprechen, da
diese gedeihen und leben „wollen“. Dann gilt: „Eine Verletzung des eigenen
Gutes und dementsprechend der Würde der Pflanze liegt dann vor, wenn ihre
Integrität beeinträchtigt oder sogar zerstört wird. Das ist der Fall, wenn in
den Prozess der Herstellung der individuellen Ganzheit auf störende Weise
eingegriffen wird bzw. er gänzlich unterbunden wird“ (Odparlik 2009, 137).
Die grundlegende Frage lautet dann: Wann ist eine derartige Verletzung im
Rahmen einer Güterabwägung zum Wohl des Menschen gerechtfertigt und
in welchen Fällen ist dies nicht der Fall. Dies soll am Beispiel von gentech-
nischen Eingriffen bei Pflanzen untersucht werden.

12.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel von


gentechnischen Eingriffen an Pflanzen
Im Rahmen von wissenschafts-, technik- und wirtschaftsethischen Überle-
gungen wurde bereits die Problematik gentechnischer Eingriffe bei Pflanzen
thematisiert. Hier soll es nun um ein spezifisch pflanzenethisches Konflikt-
204 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

feld gehen: Sind gentechnische Eingriffe bei Pflanzen prinzipiell unzulässig,


wenn man von einer Würde der Pflanzen im Sinne eines moralischen Ei-
genwerts ausgeht?
Derzeit unterscheidet man vier Möglichkeiten eines gentechnischen
Vor­gehens bei Pflanzen:

1. die konventionelle Züchtung, bei der das genetische Material der


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Elterngeneration kombiniert wird, wobei auf der Ebene der Phänotypen


gescreent wird;
2. das sog. smart breeding, bei dem wie bei der bisher üblichen konventio-
nellen Züchtung gekreuzt wird, mit dem Unterschied, dass hier auf der
DNA-Ebene gescreent wird;
3. die Herstellung cisgener Pflanzen, bei denen arteigene oder „artfremde“
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Gensequenzen in diese Pflanzen eingebaut wurden, die aber im Prinzip


kreuzbar sind, also Gensequenzen miteinander kreuzbarer Pflanzen,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

sowie
4. die Herstellung transgener Pflanzen, bei denen „artfremde“ Gensequen-
zen von Arten eingebaut wurden, die man nicht kreuzen kann, z. B. in
den Bt-Mais Gensequenzen des Bacillus thuringiensis.

Abb. 23 Unterschiedliche Eingriffe ins Genom

Die konventionelle Züchtung als Kreuzen verschiedener Pflanzen ist ein


hochgradiger Eingriff im Hinblick auf das künftige Genom. Im zweiten Fall
wird von der modernen Gentechnik nur das diagnostische Können bean-
sprucht. Im dritten Fall werden diese Techniken zwar in Anspruch genom-
men, aber theoretisch könnten die gleichen Resultate auch durch Kreu-
zungsvorgänge erzielt werden. In all diesen Fällen, so die wohl allgemein
Umweltethik 205

geteilte Meinung, werden Pflanzen nicht in ihrem Eigenwert missachtet, da


– theoretisch – die Natur ähnliche Resultate, wenn auch über andere Zeit-
räume erbringen könnte. Damit entspräche dieser Vorgang auch der Natur
der Pflanze. Allerdings gibt es mittlerweile erste Anfragen, ob nicht bereits
manche Formen konventioneller Züchtung den Eigenwert bzw. die Würde
von Pflanzen verletzen könnten, sodass nicht die Eingriffsform (konventio-
nell versus transgen), sondern die Eingriffsfolge für die konkret entstehende
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neue Pflanze ethisch zu bewerten ist (vgl. Odparlik 2009, 154ff ).


Dabei ist allerdings sowohl die Referenz als auch die Semantik des Be-
griffs „Würde“ nicht geklärt. Im Hinblick auf die Referenz stellt sich die
Frage: Geht es um die Würde der einzelnen Pflanze? Umstritten ist nämlich,
ob Pflanzen sich als Individuen beschreiben lassen. Wovon soll man ausge-
hen, von der genetischen Einheitlichkeit oder von der Morphologie?
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Eine Lösung könnte darin bestehen, die Würde der Pflanzen als gat-
tungsbezogen zu verstehen. Eine andere Lösung bestünde darin, die einzel-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nen Fälle zu unterscheiden, je nachdem, ob die betreffenden Pflanzen als


Individuen zu verstehen sind oder nicht.
Was die Semantik betrifft, so lautet die entscheidende Frage: Was bedeu-
tet „Würde der Pflanze“, und welche moralischen Konsequenzen sind daraus
zu ziehen? Versteht man die Pflanzenwürde als eine gattungsbezogene
Würde, so argumentieren Gegner der Herstellung transgener Pflanzen da-
mit, dass diese Würde derartige Eingriffe verbieten würde, da auf diese Weise
die Art in einer Weise verändert würde, die der Art bzw. ihrer Natur nicht
entspräche. Diese Argumentation setzt voraus, dass die betreffenden Perso-
nen wissen, was einer Art entspricht. Dieses „Wissen“ kann jedoch von Be-
fürwortern der Herstellung transgener Pflanzen in Zweifel gezogen werden.
Geht es dagegen um die Würde einzelner, individueller Pflanzen, so besteht
ein Problem der Argumentation gegen gentechnische Eingriffe darin, dass
bestimmte Veränderungen des Erbguts gerade einen Schutz für diese Pflan-
zen bedeuten, beispielsweise die Transgenität von Mais, die dazu führt, dass
der Mais sich gegen Schädlinge besser zur Wehr setzen kann. Dagegen
könnte eingewandt werden, dass die Würde auch dann durch das Einbrin-
gen artfremder DNA verletzt werden kann, wenn diese zu einer Verbesse-
rung oder einem Schutz führt. Dahinter steht dann erneut ein bestimmtes,
bestreitbares Verständnis von „Natur“, „Natürlichkeit“, „Art“ und „Artfremd-
heit“. Darum bleibt es, selbst wenn man die Rede von der Würde von Pflan-
zen für sinnvoll erachtet, unter verschiedenen Vertretern eines moralischen
Status von Pflanzen umstritten, ob man bereits konventionelle Züchtungs-
206 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

verfahren, smart breeding oder auch die Herstellung cisgener Pflanzen oder
die Herstellung transgener Pflanzen ablehnen sollte oder nicht.
Jedoch lässt sich noch ein weiteres Argument gegen gentechnische Ein-
griffe bei Pflanzen finden, das ebenso für Tier und Mensch Anwendung
finden kann: Wer davon überzeugt ist, dass die Natur als Schöpfung norma-
tiv in der Weise „aufgeladen“ ist, dass sie das Einfügen artfremder Gene aus
prinzipiell nicht kreuzbaren Lebewesen verbietet, kann mit diesem Argu-
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ment gegen die gentechnische Herstellung transgener Pflanzen argumentie-


ren. ���������������������������������������������������������������
Es wird hier ein Argument aufgenommen, das bereits im Zusammen-
hang mit der Forschung (vgl. 9.3) thematisiert wurde: Bei diesem Argument
ist nicht klar, ob es sich bei der Verwendung des Begriffs „Schöpfung“ um
einen theologischen Begriff handelt oder ob dieser Begriff metaphorisch
Verwendung findet und eigentlich gesagt werden soll, dass die Herstellung
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transgener Pflanzen etwas Widernatürliches (im obigen Sinn) und deshalb


Unzulässiges sei, weil sie die Würde der Pflanze verletze. Im zweiten Fall
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

kehrt man wieder zur obigen Argumentation zurück.


Als Ergebnis lässt sich darum festhalten: Auch unter der Annahme einer
Würde oder Integrität der Pflanzen finden sich für die Frage nach der prin-
zipiellen Zulässigkeit der Grünen Gentechnik widerstreitende Positionen.
Nach dem hier vertretenen Ansatz empfiehlt sich eine Einzelfallbewertung,
die gerade nicht nur für gentechnische Eingriffe zur Herstellung transgener
Pflanzen zur Anwendung gebracht werden sollte, sondern auch für konven-
tionelle Züchtungsverfahren von Bedeutung ist.
207

13 Bioethik des Menschen

Während umweltethische Debatten lange Zeit in der Ethik kaum eine Rolle
spielten, gehören die in der Bioethik des Menschen verhandelten Themen,
insbesondere das Feld menschlicher Sexualität und der Bereich der Medizin,
seit den Anfängen zu den Feldern ethischer Reflexion. Dies verwundert
nicht, denn wir Menschen sind zutiefst von unserer Sexualität sowie von
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unserem körperlichen und geistigen Zustand und dem damit verbundenen


Wunsch, gesund zu sein, geprägt. Der Umgang mit menschlicher Sexualität
(Sexualethik) und der Umgang mit menschlicher Krankheit und damit ver-
bundene Fragestellungen einschließlich neuer gentechnischer Möglichkei-
ten (Medizinethik) gehören darum zum Kernbestand menschlichen Nach-
denkens und sind gemeinsam unter einer menschlichen Bioethik zu ver-
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handeln.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

13.1 Bioethische Positionen

Ein wesentlicher Teil der bioethischen Fragen wurde bereits seit Jahrtausen-
den verhandelt. Auch wenn dabei der Hippokratische Eid nicht eigentlich
Ethik ist, sondern vielmehr das Ethos einer bedeutenden „Ärztegruppe“, die
mit dem Namen des Arztes Hippokrates (ca. 460–385/351) in Griechen-
land verbunden ist, bildet dieser Eid doch bis heute einen wichtigen Hinter-
grund zumindest für medizinethische Fragen.58

Vertiefung: Hippokratischer Eid


„§ 1 Ich schwöre bei Apollon, dem Arzt, und Asklepios und Hygieia und
Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, indem ich sie zu Zeugen anrufe,
dass ich nach meinem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese schriftliche
Verpflichtung erfüllen werde:
§ 2 Meinen Lehrer in dieser (Heil)Kunst werde ich wie meine Eltern achten,
mit ihm den Lebensunterhalt teilen und ihn, wenn er Not leidet, mitversorgen.
Seine Nachkommen werde ich meinen Brüdern gleichstellen und sie, wenn sie
es wünschen, in dieser (Heil)Kunst unterweisen, ohne Bezahlung und
schriftliche Verpflichtung. Unterweisung und mündlichen Unterricht und alle

58 Die Angaben zu seinem Tod schwanken um 24 Jahre (vgl. Weisser 1991, 11). Der
Eid wird in der Übersetzung von J. C. Wilmanns (2000, 203f ) zitiert.
208 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

übrige Belehrung werde ich meinen Söhnen und denen meines Lehrers erteilen
wie auch den Schülern, die nach ärztlichem Grundsatz sich mit der schriftli-
chen Verpflichtung gebunden und den Eid geleistet haben, sonst aber
niemandem.
§ 3 Meine Verordnungen werde ich zum Nutzen der Patienten treffen, nach
meinem Vermögen und Urteil; Schädigungen und Unrecht aber werde ich von
ihnen abwehren.
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§ 4 Ich werde keinesfalls jemandem auf Verlangen hin ein tödliches Mittel
geben, auch nicht einen entsprechenden Rat erteilen. In gleicher Weise werde
ich auch nicht einer Frau ein fruchtzerstörendes Zäpfchen geben.
§ 5 Redlich und rein werde ich mein Leben und meine (Heil)Kunst bewahren.
§ 6 Ich werde auch keinesfalls Steinleidende schneiden, sondern das den
Männern überlassen, die diese Tätigkeit ausüben.
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§ 7 In alle Häuser, in die ich eintreten werde, werde ich zum Nutzen der
Patienten eintreten und mich dabei von jedem vorsätzlichen Unrecht und jeder
Schädigung fernhalten, insbesondere von sexuellen Handlungen an Körpern
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

von Frauen und Männern, Freien und Sklaven.


§ 8 Was auch immer ich bei der Therapie oder auch außerhalb der Therapie
vom Leben der Menschen sehen oder hören werde und was man nicht nach
außen hinaus plaudern darf, werde ich verschweigen, weil ich der Auffassung
bin, dass derartiges absolut geheim zu halten ist.
§ 9 Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht verletze, so möge mir Erfolg im
Leben und in der (Heil)Kunst zu teil werden und Ruhm bei allen Menschen bis
in ewige Zeiten; wenn ich ihn aber übertrete und meineidig werde, soll das
Gegenteil davon geschehen.“

Doch nicht nur Ärzte haben sich bioethischen Fragen angenommen.59 Bei
den großen beiden antiken Philosophen Platon und Aristoteles finden sich
wesentliche bioethische Themen. So schildert beispielsweise Platon im Sym-
posion homosexuelle Beziehungen, sogar zwischen Erwachsenen und Ju-
gendlichen, und versteht sie als die Höchstform menschlichen Zusammen-

59 Die folgenden Beispiele geben die Diskussion weder in ihrer geschichtlichen


Breite noch in der Vielfalt der angerissenen bioethischen Themen nicht einmal
skizzenhaft wieder. Sie sollen nur einen Eindruck davon vermitteln, dass gerade
die großen Philosophen, die für jedes Philosophiestudium einschlägig sein sollten,
bis heute systematisch interessante Überlegungen angestellt haben. Es bleibt ein
forschungsmäßiges Desiderat, eine umfassende Geschichte der Bioethik zu erar-
beiten.
Bioethik des Menschen 209

lebens. In seinem Spätwerk, den Nomoi, verurteilt er dagegen Homosexua-


lität als widernatürlich (vgl. Nomoi 636c). Was medizinethische Fragen an-
geht, so argumentiert er für eine Aussetzung von Neugeborenen, wenn diese
missgebildet sind, oder als Mittel der Bevölkerungsplanung (Pol 461b–c).
Im Hinblick auf die Arzt-Patienten-Beziehung beschreibt er sowohl den
paternalistischen Arzt der Sklaven im rücksichtlosen Umgang mit diesen als
auch den Arzt der Freien, der wie heutige Ärzte eine Anamnese (griechisch:
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anamnesis = Erinnerung) erhebt, also die Vorgeschichte des Patienten, was


Krankheiten betrifft, abklärt, und sich um die Einwilligung bemüht: „Der
freie Arzt […] erkundigt sich über Ursprung und Natur der [Krankheiten],
indem er sich mit dem Kranken selbst und dessen Umgebung näher einlässt,
und so lernt er zugleich selbst von dem Leidenden und belehrt sie so gut er
es vermag. Auch verordnet er ihm nicht eher Arzneimittel, bevor er ihn ei-
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nigermaßen überredet hat, dieselben zu nehmen, und so erst, nachdem er ihn


mit allen Mitteln der Überredung willig gemacht hat, versucht er unter sei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ner beständigen Leitung ihn zur Gesundheit zu führen und vollständig wie-
derherzustellen“ (Nomoi 720b–d).
Aristoteles, der selbst Arzt war, unterscheidet drei Typen von Ärzten:
„Arzt ist erstens der Ausübende, zweitens der Anordnende und drittens der
in der Kunst Gebildete; denn solche gibt es in fast allen Künsten. Das Urteil
trauen wir den so Gebildeten ebenso zu wie dem Fachmann“ (Pol 1281a1-
6). Im siebten Buch der Politika behandelt er ausführlich sexualethische The-
men. So argumentiert er beispielsweise dafür, Frauen mit 18 Jahren, Männer
mit 37 Jahren zu verheiraten. „Denn dann sind sie körperlich auf der Höhe,
und die Fruchtbarkeit hört später für beide Teile zur selben Zeit auf“ (Pol
1335a30f ). Auch befürwortet er, hier Platon folgend, eine staatliche Gebur-
tenkontrolle und argumentiert ähnlich wie dieser sogar für eine Kindsaus-
setzung bei behinderten Kindern. Die staatliche Geburtenkontrolle darf je-
doch nicht erst zu einem so späten Zeitpunkt erfolgen. Vielmehr gilt: „[…]
wenn dagegen die Zahl der Kinder zu groß wird, so verbietet zwar die Ord-
nung der Sitten, irgendein Geborenes auszusetzen; dennoch soll die Zahl
der Kinder eine Grenze haben, und wenn ein Kind durch Vereinigung über
diese Grenze hinaus entsteht, so soll man es entfernen, bevor es Wahrneh-
mung und Leben erhalten hat. Denn was erlaubt ist, soll sich nach dem
Vorhandensein von Wahrnehmung und Leben richten“ (Pol 1336a19–26).
Die christliche Ethik ist seit ihren Anfängen in sexualethischen Dingen
deutlich strenger als die antike Philosophie. Homosexualität und jede Form
außerehelicher geschlechtlicher Beziehungen werden ebenso als wider­
210 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

natürlich60 gebrandmarkt wie die Empfängnisverhütung. Der für die katho-


lische Kirche bis heute sehr wichtige Philosoph und Theologe Thomas von
Aquin fasst diese Position zusammen, wenn er schreibt: „Und so, insoweit
die Entstehung von Nachkommenschaft verhindert wird, ist dies ein Verge-
hen wider die Natur, was in jedem Geschlechtsakt geschieht, aus dem keine
Nachkommen entstehen können“ (ST II-II q. 154 a. 1 co.). Im Bezug auf die
Abtreibung hingegen ist er weniger rigoros als andere Theologen, denn so-
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lange noch kein beseelter Mensch vorhanden ist, gilt die Abtreibung zwar
als ein schweres Vergehen gegen die menschliche Natur, aber erst ab dem
Zeitpunkt der Geistbeseelung gilt sie als Tötung eines Menschen (lateinisch:
homicida = Tötung eines Menschen): „Die aber Gifte der Sterilität verwenden,
sind nicht Gatten, sondern Unzüchtige. Obwohl diese Sünde schwerwiegend
ist und unter die Übeltaten gezählt werden muss und gegen die Natur ist,
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weil sogar die wilden Tiere ihre Nachkommen erwarten, ist es dennoch we-
niger als eine Tötung, weil die Konzeption noch auf eine andere Weise ver-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

hindert werden konnte. Und es ist auch [eine Frühabtreibung] nicht als eine
solche Irregularität [Tötung] zu beurteilen, außer wenn an dem schon for-
mierten Fötus eine Abtreibung vorgenommen wird; denn die Samen werden
allmählich formiert usw.“ (Super Sent., lib. 4 d. 31 q. 2 a. 3 expos., eigene
Übersetzung). Die Selbsttötung und auch die aktive Tötung am Lebensende
gelten ihm ebenfalls als ethisch unzulässig. Diese Position vertreten auch
weitgehend die Reformatoren, obwohl bereits in der Renaissance erstmals
christliche Denker Überlegungen zur aktiven Sterbehilfe, die Einwilligung
der Patienten vorausgesetzt, als diskussionswürdig zulassen, so beispielsweise
der später heiliggesprochene Thomas Morus (1516), der von einem freilich
heidnischen Land „Nirgendwo“ erzählen lässt, in dem dieses ärztliche Praxis
ist.
Auch bei den beiden bedeutenden Philosophen des 18. Jahrhunderts
Hume und Kant finden sich bioethisch relevante Überlegungen. Besonders
bedeutsam ist hierbei gerade die im Kontext von unheilbaren Krankheiten
so wichtige Frage, ob in solchen Fällen eine Selbsttötung zulässig sein
könnte. Dies befürwortet Hume, während Kant jede Form der Selbsttötung

60 Vgl. Römerbrief 1,26f: „Darum hat sie Gott dahingegeben in schändlichen Lei-
denschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem
widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr
mit der Frau verlassen […].“
Bioethik des Menschen 211

ablehnt und diese Ablehnung in einer Weise argumentativ untermauert, die


bis heute von Gegnern einer Selbsttötung auch für das Lebensende oftmals
vertreten wird (vgl. Kant 1968 [1785], 421f ). Dieses Argument lässt sich in
folgender Weise strukturieren:

1. Die Würde des Menschen gründet in seiner Fähigkeit, sittlich zu


handeln.
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2. Sittliches Handeln setzt die eigene Existenz voraus.


3. Die Selbsttötung zerstört die eigene Existenz.
4. Die Selbsttötung zerstört die Möglichkeit, sittlich zu handeln.
5. Sittliches Handeln ist Handeln gemäß der Pflicht zur Eigen- und
Nächstenliebe.
6. Die Selbsttötung verstößt gegen die sich aus der Menschenwürde
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ergebende Pflicht zur Eigen- und Nächstenliebe.


7. Also ist Selbsttötung eine schwer unsittliche Tat.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Auch wenn viele weitere Moralphilosophen und Moraltheologen, aber auch


Geistliche, Ärzte und Juristen sich zu unterschiedlichen bioethischen Frage-
stellungen geäußert haben, so ist es dennoch wohl nicht übertrieben zu
sagen, dass erst vor dem Hintergrund eines gewaltigen medizinischen Fort-
schritts mit der Gründung des Hastings Centers (1969) und des Ken­nedy-
Instituts (1971) die moderne Bioethik des Menschen als eigenständige
Wissenschaftsdisziplin ihren Anfang genommen hat. Ein Beleg für diesen
Beginn einer neuen Ära bioethischer Reflexion in den 70er Jahren des letz-
ten Jahrhunderts ist die Aufnahme des Schlagworts „bioethics“ durch die
Library of Congress im Jahr 1974 mit Verweis auf Daniel Callahans (1973)
Gebrauch von „Bioethics as a Discipline“ (in der ersten Nummer der Has-
tings Center Studies). Seitdem hat sich eine Vielzahl von säkularen Bioethi-
ken entwickelt. Dabei geht es um die grundsätzlichen theoretischen An-
sätze, die nach den wesentlichen, geltenden Normen und Werten in diesem
Feld fragen.61

61 Vgl. im Folgenden Callahan (2004 [1995]). Es geht also nicht um eine klinische
Bioethik oder eine Bioethik im Sinn einer politischen Bioethik, nicht um kultu-
relle oder feministische Bioethik, man denke nur an die Care Ethics von Gilligan,
nicht um eine narrative Bioethik usw., obwohl diese Ethiken wichtige weitere Ein-
sichten liefern.
212 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Von diesen Ansätzen unterscheidet sich ein kasuistischer Zugang (latei-


nisch: casus = Fall), der versucht, ethische Konfliktfälle von unten her, von
einzelnen Fällen her, zu lösen. Ethische Prinzipien werden dabei mittels die-
ser Fälle allererst gewonnen, indem Erfahrung und Reflexion sich in kon-
krete Normen und Werte übersetzen. Ein solcher Zugang ist in gewisser
Weise der Praxis im anglo-amerikanischen Common Law sehr ähnlich (vgl.
Callahan 2004 [1995], 283; vgl. auch das unter 3.2 zum Bottom-up-Modell
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Gesagte).
Wird dagegen die Kasuistik nur als Hilfsmittel im Rahmen einer größe-
ren Theorie, z. B. einer naturrechtlich konzipierten Bioethik gebraucht, dann
kann man eigentlich nicht von einem kasuistischen Zugang sprechen. Viel-
mehr sind in diesem Fall naturrechtliche Überlegungen zur Beantwortung
bioethischer Fragen von zentraler Bedeutung, wobei es auch hier eine große
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Breite möglicher Interpretationen dessen gibt, wie das Naturrecht zu verste-


hen ist (vgl. zur Diskussion Curran/McCormick 1991 und Schockenhoff
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

1996, 143–232).
Die derzeit wohl prominentesten drei bioethischen Ansätze, die es zu-
mindest kurz darzustellen gilt, sind:

1. utilitaristische Bioethiken, deren bekannteste Vertreter Peter Singer


(1994) und John Harris (1995, 2007) sind,
2. naturrechtlich geprägte Ansätze (vgl. z. B. Schockenhoff 1996, 2000)
und
2. der nicht-utilitaristische Vier-Prinzipien-Ansatz von Tom Beauchamp
und James Childress (2009 [1979]).

Die große Stärke utilitaristischer Bioethiken besteht darin, dass sie für Kon-
fliktfälle Lösungen angeben, für die andere Ansätze nur noch Dilemmata
konstatieren. Dennoch kommen diese Bioethiken, zumindest in bestimmten
Spielarten, aufgrund des Grundprinzips der Glücksmaximierung der größt-
möglichen Zahl (nicht exklusiv im Hinblick auf Menschen formuliert) zu
bioethischen Konsequenzen, die nicht mit den hier als gemeinsames Band
ethischer Überzeugungen angenommenen Prinzipien von Menschenwürde,
Menschenrechten, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit vereinbar sind. So
kann dieser Ansatz – konsequent durchgeführt – rechtfertigen, warum ein
das Leben bedrohendes Experiment, um Therapien zu entwickeln, im Ent-
scheidungsfall eher an einem geistig schwerstbehinderten Waisenkind
durchzuführen ist als an einem gesunden Schwein, da das Schwein höhere
Bioethik des Menschen 213

Interessen zu zeigen vermag und damit die Glückssumme mehr gesteigert


wird als im umgekehrten Fall.62
Naturrechtlich argumentierende Bioethiken gehen davon aus, dass wir in
der sorgfältigen Analyse unserer Menschennatur die ihr entsprechenden
Normen und Werte entdecken. Wie andere deontologische Ethiken, bei-
spielsweise kantischer Tradition, gehen sie auch davon aus, dass es Handlun-
gen gibt, die in sich schlecht sind. Allerdings wird diese „In-sich-Schlechtig-
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keit“ damit begründet, dass derartige Handlungen dem widersprechen, was


wir Menschen von Natur aus sein sollen. Das wesentliche Hauptproblem
derartiger Bioethiken besteht in der großen Interpretationsbreite des Natur-
rechts, wie allein die große Bandbreite platonischer, aristotelischer und tho-
manischer Positionen gezeigt hat.63
Anders verhält es sich mit dem Vier-Prinzipien-Ansatz von Beauchamp
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und Childress. Die Prinzipien


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

1. Patientenselbstbestimmung64,
2. Nichtschadensprinzip,
3. Fürsorgeprinzip und
4. Gerechtigkeitsprinzip

lassen sich nämlich sehr gut mit dem hier vertretenen Norm- und Wertege-
rüst vereinbaren. Diese amerikanische Medizinethik führte in den siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Veränderung im Verständnis
der Einwilligung ein. Jetzt geht es um eine wohlinformierte Einwilligung, im
Fachbegriff: den informed consent (englisch: informed consent = informierte
Einwilligung). Der Patient wird als selbstbestimmt verstanden. Er ist die

62 Allerdings zieht Singer nicht notwendig derartige Konsequenzen. Seine Aussagen


lassen sich auch in der Weise interpretieren, dass gilt: „Sofern wir die betreffenden
Experimente an diesen Menschen nicht für legitim halten, können wir sie auch an
Tieren nicht für legitim halten.“ (Hoerster 2004, 46). Andererseits betont Singer
(1999, 464; eigene Übersetzung) jedoch: „Wenn ein Lebewesen nicht fähig ist zu
leiden oder Freude und Glück zu erfahren, muss nichts berücksichtigt werden.“
Regelutilitaristische Ansätze würden diese Position wohl nicht teilen. Vgl. zur all-
gemeinen Kritik am Utilitarismus auch 2.3.
63 Vgl. zum Naturrecht die allgemeinen Überlegungen in 2.1.
64 Beauchamp und Childress verwenden dafür den Begriff „autonomy“, weswegen
vielfach im Deutschen auch vom Prinzip der Patientenautonomie gesprochen
wird. Dies stellt begrifflich jedoch eine Fehlverwendung dar, weil Selbstgesetzge-
bung (= Autonomie, vgl. 2.2.1) und Selbstbestimmung nicht dasselbe sind.
214 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Letztinstanz bei der Entscheidung über eine Behandlung. Diese Überzeu-


gung von der Patientenselbstbestimmung ist sehr gut aus dem Prinzip der
Menschenwürde erschließbar. Auch die übrigen drei Prinzipien, das Nicht-
schadens-, das Fürsorge- und das Gerechtigkeitsprinzip können geradezu
als bereichsspezifische Konkretion der hier zugrunde gelegten Prinzipien
verstanden werden. Dabei gilt, dass diese Prinzipien grundsätzlich gleich-
wertig sind, auch wenn Nichtschädigungs-, Fürsorge- und Gerechtigkeits-
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prinzip in einem starken Bezug zur Selbstbestimmung stehen.

13.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder

13.2.1 Sexualethik
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Für die Sexualethik hat das Prinzip der Selbstbestimmung und das Nicht-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schädigungsprinzip eine besondere Bedeutung.����������������������������


Sexuelle Praktiken sind zu-
lässig, wenn sie der eigenen Selbstbestimmung entspringen und weder sich
selbst noch andere Menschen schädigen.
Unzulässig sind alle sexuellen Praktiken mit Kindern, weil sie diese in
ihrem späteren sexuellen Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigen und sie
dauerhaft schädigen können, da Kinder besonders vulnerabel (lateinisch: vul-
nerabilis = verletzlich, verletzbar) sind. Auch Menschen mit geistiger Behin-
derung verdienen einen besonderen Schutz. Sehr schwer zu beurteilen sind
sexuelle Praktiken, wenn es um Jugendliche geht. So ist beispielsweise das
Heiratsalter nicht überall gleich. Grundsatz muss auch hier sein: Wenn ein
Zweifel an einer selbst bestimmten Einwilligung besteht, sind sexuelle Prak-
tiken nicht zulässig. Dies bezieht sich auch auf einen Jugendlichen, der einen
anderen zu etwas verführt, wozu dieser Mensch innerlich noch nicht bereit
war. Allerdings wird man dies kaum nachweisen und dementsprechend nicht
sanktionieren können. Doch dies berührt nicht die Frage der ethischen Un-
zulässigkeit.
Ethisch unzulässig ist auch jede Form von Zwangsprostitution, da hier
gegen die Prinzipien der Selbstbestimmung und damit verbunden das
Nichtschädigungsprinzip verstoßen wird. Sehr schwierig zu bewerten ist da-
gegen die Prostitution, sofern sie aus freiem Willen geschieht. Hier stellt
sich die grundsätzliche Frage, ob mit der Menschenwürde auch Menschen-
pflichten verbunden sind, konkret die Pflicht, bestimmte Formen des Um-
Bioethik des Menschen 215

gangs mit dem eigenen Körper nicht zuzulassen. Das Grundrecht der kör-
perlichen Unversehrtheit wird damit zu einer Pflicht, diese zu wahren.
Das Nichtschädigungs- und Fürsorgeprinzip verletzt, wer Kinder in die
Welt setzt, aber diese dann ihrem Schicksal überlässt. Im schlimmsten Fall
setzt er sie damit dem Hungertod aus. Dies dürfte auch Kant im Sinn gehabt
haben, als er über die elterliche Aufgabe schrieb: „Sie können ihr Kind nicht
gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit be-
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gabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem
Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein
Weltbürger in einen Zustand herüberzogen, der ihnen nun auch nach
Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann“ (Kant 1968 [1797], 280f ).
Vor dem Hintergrund des Prinzips der Nachhaltigkeit gibt es eine wei-
tere Verantwortung. Wie umweltethische Überlegungen bereits gezeigt ha-
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ben, führt ein unkontrolliertes Bevölkerungswachstum in eine Krise. Ebenso


gilt aber auch, dass die Permanenz menschlichen Lebens in dem Moment
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gefährdet wäre, in dem sich alle Menschen Kinder versagen würden, sei es,
dass sie sich sexueller Handlungen enthielten, sei es, dass sie verhüten wür-
den. Selbst wenn dies mit den ehrenwertesten Motiven geschehen würde,
wäre hier das Prinzip der Nachhaltigkeit in gravierendster Weise verletzt.
Solange allerdings genügend Menschen die Erde bevölkern und damit die
Permanenz menschlichen Lebens auf dieser Erde gesichert ist,65 haben wir
zwar als Menschengemeinschaft eine gemeinsame „Pflicht zum Dasein und
Sosein einer Nachkommenschaft überhaupt“ ( Jonas 2003 [1979], 86), aber
wir haben als einzelne nicht die Verpflichtung zu eigenen Kindern. Darum
sollten alle Menschen ihre Sexualität in einer Form leben, die dem mensch-
lichen Leben und seiner Permanenz hier auf Erden dient, ohne aber zu einer
bestimmten Form sexuellen Verhaltens gezwungen zu sein. Enthaltsamkeit
ist dabei ebenfalls eine Form sexuellen Verhaltens, denn der enthaltsame
Mensch bleibt in all seinen Lebensvollzügen Mann bzw. Frau. Wer als
Nonne oder Mönch lebt, beispielsweise um so besser für andere Menschen
da sein zu können, und darin Erfüllung findet, hat damit seine Lebensform
gefunden. Er dient indirekt der Permanenz menschlichen Lebens auf Erden.

65 Dies gilt im Unterschied zu bestimmten utilitaristischen Überlegungen, die ins-


gesamt von einer Verpflichtung zu mehr Nachkommenschaft ausgehen, wenn da-
durch die Gesamtnutzensumme gesteigert würde. Vgl. zu dieser Diskussion Parfit
(1984, 351–441).
216 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Dies gilt auch für alle, die zwar keine Nachkommen haben, aber durch Ge-
schlechtsverkehr die partnerschaftliche Beziehung stärken.
Während über das hier Gesagte eine weitgehende sexualethische Einig-
keit herrscht, gibt es bestimmte Formen sexuellen Verhaltens, die ethische
Konflikte hervorrufen. Grundsätzlich umstritten ist, ob Menschen nur zum
Vergnügen sexuell aktiv sein dürfen, wenn sie damit niemandem schaden.
Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob man es überhaupt für
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möglich hält, dass dies ohne einen persönlichen Schaden möglich ist oder
ob der Mensch auf diese Weise moralisch anfängt „abzurutschen“. Alles
entscheidet sich dabei daran, ob man mit der Menschenwürde bestimmte
Menschenpflichten verbindet oder nicht. Für Kant beispielsweise ist Selbst-
befriedigung „Schändung (nicht bloß Abwürdigung) der Menschheit in der
eigenen Person“ (Kant 1968 [1797], 424). Sie ist nach Kant eine noch
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schärfere Pflichtverletzung als die Selbsttötung, weil sie „naturwidrig der


Sittlichkeit im höchsten Grad widerstreitende Verletzung der Pflicht wider
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

sich selbst“ ist. Diese Naturwidrigkeit bleibt nach Kant im Prinzip auch
unter Eheleuten erhalten, wenn kein Kind zeugbar ist, weil der Geschlechts-
akt dann nur der „tierischen Lust“ dient. Dagegen vertreten andere Ethiker,
die vom Prinzip der Menschenwürde ausgehen und die vier Prinzipien von
Beauchamp und Childress teilen, die Ansicht, dass auch eine Ausübung
der Sexualität zum reinen Vergnügen dann gerechtfertigt ist, solange nie-
mandem dadurch ein Schaden entsteht. Die selbstbezogene Form der
Sexualität bei der Selbstbefriedigung ist dabei moralisch indifferent, so-
lange der Mensch sich dabei nicht in sich selbst verschließt. Was Eheleute
angeht, die keine Kinder zeugen können oder wollen, aber miteinander
Geschlechtsverkehr haben, kann sogar auf indirekte Weise die Permanenz
menschlichen Lebens gefördert werden, denn sie können sich dadurch
leiblich Liebe schenken. Von daher wäre auch die Verhütung gerechtfertigt.
Die Abtreibungsfrage entscheidet sich daran, ob man bereits dem frühen
Embryo mit der Befruchtung Menschenwürde zuerkennt, dann wäre
auch die „Pille danach“ und die Spirale verboten, ob man dies erst mit der
Nidation tut, dann wäre jede Form der Abtreibung nach Feststellung
der klinischen Schwangerschaft unzulässig außer im Fall einer schweren
Bedrohung für Leben oder Gesundheit der Mutter, oder ob man erst zu
einem späteren Zeitpunkt davon ausgeht, dass das Ungeborene ein Mensch
ist, dem Menschenwürde zukommt. Dann wäre eine Abtreibung bis zu
diesem Zeitpunkt möglicherweise vertretbar, abhängig von einer Güterab-
wägung.
Bioethik des Menschen 217

Die bisher behandelten Formen sexuellen Verhaltens lassen sich in fol-


gender Weise darstellen:
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Abb. 24 Realisierung menschlicher Sexualität

Ein ganz eigenes Konfliktfeld stellt die Frage nach der Zulässigkeit homo-
sexueller Handlungen dar. Für die einen sind sie eine legitime mit dem
Selbstbestimmungsrecht verbundene Form sexuellen Verhaltens unter kon-
sentierenden Erwachsenen, das keinerlei Diskriminierung der betreffenden
Personen erlaubt. Andere dagegen sehen darin einen Verstoß gegen die
menschliche Würde, weil sexuelle Akte nur in einer Ehe zwischen Mann
und Frau naturgemäß seien. Für sie stellt sich dann nur die Frage, ob dieses
Verhalten auch gesetzlich unter Strafe zu stellen ist (wie es beispielsweise
auch in Deutschland bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war)
oder zu tolerieren ist, wobei diese Toleranz bestimmte Formen der Diskri-
minierung zulassen würde. Eine Möglichkeit, diese Position zu bestreiten,
besteht darin, die Grundannahme, wonach nur sexuelle Akte zwischen ei-
nem Mann und einer Frau naturgemäß seien, zu bestreiten, denn bereits die
Kategorisierung „Mann“ und „Frau“ stellt eine Vereinfachung der biologi-
schen menschlichen Vielfalt dar.

Vertiefung: humangenetischer Befund


So lässt sich doch allein humangenetisch feststellen: Die Unterscheidung der
Geschlechter in Mann (46 Chromosomen, davon als Geschlechtschromosomen
ein X- und ein Y-Chromosom) und Frau (ebenfalls 46 Chromosomen, aber zwei
X-Chromosomen) stellt bereits eine deutliche Vereinfachung der genetischen
218 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Gendervielfalt dar. Es gibt Menschen mit nur 45 Chromosomen. Sie haben nur
ein X-Chromosom (Ullrich-Turner-Syndrom), andere Menschen haben 47 Chro-
mosomen, und zwar entweder drei X Chromosomen, dann sind sie phänoty-
pisch, d. h. in ihrem Aussehen meist unauffällig weiblich, oder zwei X und ein Y
Chromosom (sog. Klinefelter-Syndrom), dann sind sie zwar im Aussehen männ-
lich, aber unfruchtbar und oft mit einem femininen Einschlag (breites Becken,
Gynäkomastie, weiblicher Typ der Schambehaarung), oder ein X- und zwei Y-
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Chromosomen, dann sind sie im Aussehen männlich, aber möglicherweise et-


was aggressiver. Darüber hinaus gibt es den seltenen Fall, dass verschieden
geschlechtliche, zweieiige embryonale Zwillinge in der Frühphase ihrer Entwick-
lung zu einem einzigen Menschen werden (sog. Chimärenbildung), d. h. die Zel-
len vereinigen sich zu einem einzigen Organismus. Ein solcher Mensch ist dann
ein echter Hermaphrodit. Seine Zellen tragen mosaikartig sowohl den männli-
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chen und den weiblichen Chromosomensatz. Auch gibt es nicht nur numerische
Aberrationen und den Fall der Chimärenbildung, sondern auch strukturelle Ver-
änderungen an den jeweiligen X- bzw. Y-Chromosomen. So zeigen beispiels-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

weise Menschen mit einer Deletion (lateinisch: delere = zerstören) des kurzen
Arms des X-Chromosoms viele Symptome wie ein Mensch mit nur 45 Chromo-
somen und einem einzigen X-Chromosom.66 Bei Menschen, die phänotypisch
wie Männer aussehen, aber einen weiblichen Chromosomensatz tragen, liegt
häufig eine Translokation der SRY-Region auf einem der beiden X-Chromoso-
men vor. Solche Menschen ähneln Menschen mit dem Klinefelter-Syndrom
(XXY) und sind immer unfruchtbar.

Aus der Fülle weiterer möglicher Fragestellungen soll hier nur noch ab-
schließend auf die Bedeutung der Treue in Partnerschaften eingegangen und
die Fragen behandelt werden, ob diese nur auf zwei Menschen beschränkt
werden sollte und inwieweit es überhaupt in die Kompetenz des Staates fällt,
in dieser Hinsicht Bestimmungen zu erlassen.
Wenn Menschen in freier Entscheidung einander versprechen, sich ge-
genseitig ein Leben lang treu sein zu wollen, beispielsweise im Rahmen ei-
ner Eheschließung, dann hat dieses Versprechen wie alle Versprechen
grundsätzlich einen bindenden Charakter. Wer dieses Versprechen heimlich
bricht, verletzt nicht nur das Versprechen selbst als eine Institution – wel-
chen Sinn haben Versprechen, wenn sie aus bestimmten Gründen gebro-
chen werden –, sondern missbraucht auch das in ihn gesetzte Vertrauen des

66 Ohne X-Chromosom kann kein Mensch existieren. Embryonen mit 44 Auto­


somen und nur einem Y-Chromosomen gehen immer rasch zugrunde.
Bioethik des Menschen 219

Partners. Diese Missachtung schädigt so den Partner und ist darum nach
den hier zugrunde gelegten Prinzipien nicht zulässig. Viel schwieriger ge-
staltet es sich, wenn ein Partner merkt, dass ihn das gegebene Versprechen
überfordert und er dies offen mit dem Partner anspricht. In diesem Fall kann
die Folge beispielsweise eine Scheidung der Ehe sein, manchmal gibt es an-
dere Arrangements zwischen den Eheleuten. Haben die Partner Kinder,
kommt eine weitere Dimension ins Spiel. Scheidungen und Ehekrisen sind
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für Kinder oft mit Belastungen verbunden.


Eine völlig andere Lösung besteht darin, die Beschränkung der Ehe auf
zwei Menschen aufzuheben. Ob dies ethisch zulässig ist, lässt sich vor dem
Hintergrund der vorausgesetzten Prinzipien nicht abschließend beantwor-
ten. Unter der Annahme, dass alle beteiligten Partner konsentieren, gibt es
zumindest prima facie keinen Grund, die Polygamie (griechisch: polys = viel,
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gamos = Ehe), die Ehe mit mehr als einem Partner, zu verbieten. So erlaubt
der Islam die Ehe zwischen einem Mann und mehreren Frauen. Man benö-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

tigt darum Zusatzannahmen, um ein ethisches Verbot der Bigamie zu be-


gründen, beispielsweise dass es für uns Menschen der beste Weg sei, einen
und nicht mehrere Partner gleichzeitig zu haben. Diese Überzeugung liegt
der Gesetzgebung vieler Staaten zugrunde, und sie verbieten die Polygamie.
Warum aber redet der Staat überhaupt in diesen Fragen mit? Sollte er nicht
nach dem Gesagten möglichst wenig in die sexuellen Praktiken seiner Bür-
ger eingreifen, solange die Betroffenen zugestimmt haben und nicht vulne-
rabel sind?
Der Staat setzt die Rahmenordnung. Wie oben gezeigt, hat diese eine
wesentliche Funktion. Er hat damit eine fundamentale Mitverantwortung
für die Permanenz menschlichen Lebens. Konkret sollte die Rahmenord-
nung so gestaltet sein, dass Kinder so aufwachsen können, dass ihre Grund-
rechte gewahrt werden. Während nämlich sexuelle Praktiken, sofern sie
nicht gegen die grundlegenden Prinzipien verstoßen, Privatsache sind, sind
Kinder selbst gerade keine Privatsache. Vor diesem Hintergrund ist auch sehr
gut nachvollziehbar, warum die Schaffung möglichst guter Rahmenbedin-
gungen für das Gelingen von Ehe bzw. Partnerschaften und Familie zu einer
wesentlichen Aufgabe des Staats gehört. Inwieweit dabei die Einehe, die
Vielehe oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft in einem Staat zuge-
lassen werden, hängt von vielen grundsätzlichen Annahmen darüber ab, wer
wir als Menschen sind.
220 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

13.2.2 Medizinethik

Im Bereich der Medizinethik gibt es ein breites Spektrum ethischer Kon-


fliktfälle. Dieses reicht von der Frage, wie eine gelingende Arzt-Patienten-
Beziehung auszusehen hat, und von Konfliktfällen am Lebensanfang und
Lebensende bis zum Problemfeld, in welcher Weise Gerechtigkeit im Ge-
sundheitswesen realisiert werden kann.
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Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
Im Gesundheitswesen ist eine einzelstaatliche Rahmenordnung nicht zu-
reichend, obwohl dies derzeit gängige Praxis ist. Dies zeigt sehr illustrativ
die folgende Grafik zu Gesundheitsausgaben einzelner Länder pro Person
im Jahr 200667:
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Ausgaben in Anteil am Brutto-


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Land
absoluten Zahlen inlandsprodukt
Kongo 18 US $ 4,3 %

Indien 109 US $ 4,9 %

Brasilien 765 US $ 7,5 %

Südafrika 869 US $ 8,6 %

Deutschland 3328 US $ 10,4 %

USA 6714 US $ 15,3 %

Tab. 14 Vergleich von Gesundheitsausgaben


Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Für eine Person wird in
Deutschland fast das 200fache für Gesundheitsleistungen im Vergleich zum
Kongo aufgewendet. Noch frappierender ist das Verhältnis im Hinblick auf
die Gesundheitsausgaben der USA. Hier betragen die Ausgaben mehr als
das 350fache der Summe, die im Kongo aufgewendet werden. Selbst der
Vergleich zwischen Deutschland und den USA ist interessant, wird doch in

67 Dies sind die Angaben der WHO, wie sie im Juni 2009 verfügbar waren. Ich
möchte darauf hinweisen, dass ich aufgrund meines medizinethischen Schwer-
punkts im Folgenden verstärkt auf meine eigenen Forschungsarbeiten (s. Litera-
turverzeichnis) zurückgreife.
Bioethik des Menschen 221

den USA mehr als das Doppelte pro Person für Gesundheitsleistungen auf-
gewendet als in Deutschland.68 Hinter diesen Strukturen der jeweiligen Ge-
sundheitssysteme stecken lange geschichtliche Entwicklungen und kom-
plexe gesellschaftliche Entscheidungen, die oft nicht oder nicht zureichend
reflektiert sind. Auf jeden Fall zeigt sich hier ein globales Gerechtigkeitspro-
blem, präziser: ein globales Problem von Verteilungsgerechtigkeit gesund-
heitlicher Güter, das auch nicht dadurch entschärft wird, dass im Kongo
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viele medizinische Leistungen deutlich billiger sind als in den USA.


Geht man nämlich von dem Prinzip der Menschenwürde aus, wonach
jedem Menschen unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Rasse und sei-
nen individuellen Fähigkeiten ein grundsätzlicher Subjektstatus und eine
grundsätzliche Gleichheit mit allen Menschen zukommt, so lässt sich gut
nachvollziehen, warum die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEM)
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der Vereinten Nationen ausdrücklich betont: „(1) Jeder hat das Recht auf
einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gewährleistet“ (Art. 25 AEM).


Noch eindeutiger formuliert praktisch zeitgleich die Präambel der Weltge-
sundheitsorganisation (WHO): „Den höchstmöglichen Gesundheitsstandard
zu genießen, ist eines der fundamentalen Rechte jedes Menschen unabhän-
gig von Rasse, Religion, politischer Einstellung, ökonomischem oder sozia-
lem Rang“.
Dies ist gut nachzuvollziehen, denn das Leben ist die notwendige Bedin-
gung, damit ein Mensch existiert. Die Existenz eines Menschen aber ist
notwendige (und hinreichende) Bedingung dafür, dass einem Menschen
Menschenwürde zuerkannt werden kann. Darum sollten diese Vorgaben von
AEM und der Präambel der WHO zumindest soweit umgesetzt werden,
dass die die Existenz bedrohenden gesundheitlichen Risiken bei allen Men-
schen abgesichert werden. Zugleich darf natürlich das mit der Menschen-
würde verbundene Selbstbestimmungsrecht nicht verletzt werden. Dies lässt

68 Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass ca. 17 Prozent der US-Amerika-
ner das Risiko eingehen, sich nicht zu versichern. Dies sind vor allem diejenigen,
die einerseits „zu reich“ für eine staatliche Unterstützung im Rahmen von Medi-
caid sind, aber andererseits oft nicht genügend Geld haben, um beispielsweise ihr
Haus abzuzahlen, die Kinder aufs College schicken zu können und gleichzeitig
eine recht teure Versicherung zu bezahlen. Normalerweise übernimmt dies zwar
der Arbeitgeber, aber bei Selbständigen und bestimmten Arbeitsverhältnissen ist
dies nicht der Fall.
222 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

sich auch in Abwandlung der rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze (Rawls


1999 [1971]) in folgender Weise konkretisieren:

1. Das Gesundheitssystem sollte möglichst viel Selbstbestimmung


zulassen, die mit der Selbstbestimmung aller verträglich ist.
2. Ungleichheiten im Gesundheitswesen sind so zu gestalten, dass (a)
vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil
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gereichen, und (b) die Existenz bedrohende (gesundheitliche und


finanzielle) Risiken abgesichert werden.

Der erste Grundsatz hat fundamentale und steuernde Bedeutung für den
zweiten Grundsatz. Auch in Fragen der gesundheitlichen Versorgung gilt
nämlich, dass das Prinzip der Subsidiarität strikt zu berücksichtigen ist. Die
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Selbstbestimmung des Einzelnen hat Vorrang, solange nicht grundlegende


Ansprüche anderer Menschen, insbesondere das subjektive Recht auf Leben
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

und Wohlergehen, Solidarität verlangen.


Genau hier spielt der zweite Satz eine entscheidende Rolle. Was diese
grundlegenden Ansprüche angeht, so gilt ein Egalitarismus bezüglich der
Absicherung gegenüber Krankheiten und Behinderungen, die die Existenz
bedrohen (Satz 2b). Es soll dadurch jedem Menschen, unabhängig davon, in
welchem Land der Erde er lebt, so viel an Gesundheitsleistungen in einer
weltweiten solidarischen Regelversorgung zugestanden werden, wie er benö-
tigt, damit seine Absicherung gegen die Existenz bedrohende gesundheitli-
che Risiken gewährleistet ist. „Absicherung“ besagt hierbei ein Zweifaches:
Es besagt einerseits, dass im Rahmen der medizinischen Möglichkeiten ei-
nem Menschen geholfen wird, dessen Leben oder fundamentales gesund-
heitliches Wohlergehen auf dem Spiel steht. Es besagt andererseits, dass
diese Hilfe für den Betroffenen bezahlbar bleibt, also als Folge einer kost-
spieligen Behandlung kein finanzieller Ruin eintritt (vgl. Oberender/Zerth
2003, 5). Aber auch diese Solidarität hat Grenzen. Wer herzinfarktgefährdet
ist, bekommt dennoch nicht auf Kosten der Allgemeinheit eine persönliche
Intensivstation in seinem Eigenheim eingerichtet.
Dennoch sind allgemein bezüglich der Gesundheitsversorgung Un-
gleichheiten zulässig, wenn diese letztlich zu jedermanns Vorteil sind (Satz
2a). Der individuelle Gerechtigkeitsaspekt zeigt sich gerade darin, dass hier-
bei im klassischen Sinn der Einzelne Gesundheitsleistungen nach dem
Prinzip des „suum cuique“ (jedem das ihm Zukommende) einfordern kann
(distributiv), nicht aber nach dem Prinzip „Jedem das Gleiche“ (additiv-
Bioethik des Menschen 223

egalitär). Darum erlaubt ein solches Verständnis auch, dass verschiedene


Länder unterschiedliche Gesundheitssysteme haben usw. Der entscheidende
Punkt ist jedoch, dass alle Systeme die Grundversorgung abzudecken im-
stande sind. Wesentliche, bis heute weitgehend nicht gelöste Konfliktfälle
bestehen darin, wie ein Gesundheitssystem auszugestalten ist, so dass keiner
der Betroffenen (Ärzte, Patienten, Krankenkassen) einen Anreiz hat, unnö-
tige Leistungen zu erbringen, zu fordern oder auf andere Weise unnötige
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Kosten zu verursachen, die andere „solidarisch“ mittragen müssen. Die viel-


fältigen Gesundheitsreformen nicht nur in Deutschland zeigen, dass bisher
noch keine Lösung vollständig zu befriedigen vermag.

Das Arzt-Patienten-Verhältnis
Unterstellt man kontrafaktisch, dass das jeweilige Gesundheitssystem die
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grundlegenden Gerechtigkeitsfragen gelöst hat, dann ist für das Arzt-


Patienten-Verhältnis die Konkretisierung von Menschenwürde und Men-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schenrechten durch das bereichsspezifische Prinzip der Patientenselbstbe-


stimmung, das Nichtschadens- und das Fürsorgeprinzip gegeben. Der Arzt
bzw. die Ärztin hat dann die Verpflichtung, den Patienten hinreichend
über Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären und seine Einwilligung für
entsprechende Behandlungen einzuholen. Aber auch der Patient hat eine
Verantwortung. Hat er eingewilligt, ist er verpflichtet, die für die Behand-
lung nötigen eigenen Anstrengungen zu unternehmen und die Vorschriften
einzuhalten. Man spricht im Fachbegriff von der compliance (englisch: com-
pliance = Einhaltung) des Patienten. Ethische Konfliktfälle brechen dann auf,
wenn entweder nicht klar ist, ob der Patient überhaupt einwilligungsfähig
ist – dies gilt gerade im Bereich psychischer Erkrankungen –, oder ob er
bereit zur compliance ist, oder wenn er, obwohl voll kompetent und aufge-
klärt, in einen vernünftigen Behandlungsvorschlag nicht einwilligen möchte.
Im letztgenannten Fall darf nach den ethischen Prinzipien die Behandlung
nicht durchgeführt werden. Lehnt also ein kompetenter und aufgeklärter
Zeuge Jehovas eine lebensrettende Bluttransfusion ab, so können die Ärzte
ihn nicht retten. Lehnt jemand eine Chemotherapie ab, obwohl diese wohl
seine einzige Chance auf Heilung bietet, so darf diese nicht gegen seinen
Willen an ihm vollzogen werden. In manchen Fällen – darin besteht der
eigentliche Konflikt für den Arzt bzw. die Ärztin – könnten Patienten zu
lebensrettenden Behandlungen überredet werden, wenn man das Prinzip des
informed consent verletzen würde. Nach den hier zugrunde liegenden Prin-
zipien darf er dies nicht, weil das Fürsorgeprinzip das Selbstbestimmungs-
224 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

recht nicht aushebelt. In strenger hippokratischer Tradition dagegen wäre


eine solche „barmherzige“ Lüge vermutlich erlaubt. Dies Problem stellt sich
in ähnlicher Weise für den Konfliktfall, ob einem Patienten ein ungünstiger
Befund mitgeteilt werden soll.

Konfliktfälle am Lebensanfang
Der klassische Konfliktfall am Lebensanfang ist die Abtreibungsfrage. Die
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modernen Möglichkeiten von humaner Embryonen- bzw. embryonaler


Stammzellforschung, von Klonierungstechnik, von gentischer Präimplanta-
tions- (international abgekürzt als PGD von preimplantation genetic diag-
nosis) und Pränataldiagnostik (PND) sowie die Existenz frühabtreibender
Mittel (Pille danach, Spirale) haben dieses Problemfeld erweitert. Dabei
spielt für einige dieser Fragen zusätzlich eine Rolle, ob die Voraussetzung,
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nämlich die In-Vitro-Fertilisation (IVF, lateinisch: in vitro = im Glas, feri-


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Abb. 25 Grundentscheidungen zum moralischen Status des Embryos


Bioethik des Menschen 225

lisatio = Befruchtung), also die künstliche Befruchtung ethisch zulässig ist


oder nicht. Gegner der IVF lehnen eine solche Form der Befruchtung ab,
weil sie den Geschlechts- vom Zeugungsakt trennt oder auch weil sie die
Einstiegstechnik in Formen der „Anthropotechnik“ (griechisch: anthropos =
Mensch), also einer weiter gehenden Form der Technisierung menschlichen
Daseins bilden kann. Befürworter der IVF argumentieren, dass Paaren, die
auf „natürliche“ Weise keine Kinder bekommen können, in vielen Fällen zu
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einem eigenen Kind verholfen werden kann. Beim reproduktiven Klonen


dagegen herrscht weitest gehende Einigkeit, da nach allen medizinethischen
Ansätzen Verfahren unzulässig sind, bei denen ein schwerer Schaden für ge-
borene Menschen zu erwarten ist. Aus dem Tierversuch weiß man aber um
die schweren Schäden für manche geborene geklonte Säugetiere.
Setzt man voraus, dass die jeweiligen Techniken ansonsten keine uner-
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wünschten gesellschaftlichen Auswirkungen haben (vgl. 13.2.3; 13.3), und


berücksichtigt nur die Frage nach dem moralischen Status des Embryos,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

lässt sich nach dem in 5.3.1 und 13.2.1 (u. a. zur Abtreibungsfrage) Ausge-
führten obiger Entscheidungsbaum (Abb. 25) aufstellen.

Konfliktfälle am Lebensende
Ein wesentlicher Konfliktfall am Lebensende ist die Frage einer Therapie-
zieländerung, wenn die Prognose für den Patienten infaust (lateinisch: infaus-
tus = ungünstig) ist. Dieser Konflikt ist solange ein rein medizinischer, so-
lange es darum geht abzuschätzen, ob bestimmte Maßnahmen wie eine
Herzoperation einem Patienten noch helfen oder nicht. Sie werden zu ei-
nem ethischen Konfliktfall, sobald diese Therapiezieländerung mit einer
Lebensverkürzung verbunden ist. Während nämlich die Sterbebegleitung
ethisch nicht kontrovers ist, gibt es eine weitreichende Kontroverse,
n ob Maßnahmen wie das Entfernen einer Magensonde bei (mutmaßli-
cher) Einwilligung des Patienten ethisch erlaubt sind, wenn Menschen
dadurch früher sterben, weil handlungstheoretisch umstritten ist, ob dies
immer eine aktive Handlung darstellt,
n ob als Nebenwirkung einer Behandlung, z. B. einer Schmerztherapie,
eine mögliche Lebenszeitverkürzung in Kauf genommen werden darf
(indirekte Sterbehilfe),
n ob sich Menschen am Lebensende selbst töten dürfen,
n ob ihnen dabei geholfen werden darf (Beihilfe zur Selbsttötung) oder
n ob sie sogar aktiv getötet werden dürfen, wenn sie dies wünschen
(aktive Sterbehilfe).
226 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Zur Entscheidung dieser Fragen ist es nicht kontrovers, dass Sterbende auf
jeden Fall eingewilligt haben müssen, um eine der genannten Maßnahmen
überhaupt zulässig zu machen, vielmehr ist ethisch umstritten, ob es eine mit
der Menschenwürde verbundene Pflicht zum Lebenserhalt gibt, sodass be-
reits das Entfernen einer Sonde oder das Abstellen einer Herz-Lungen-
Maschine als unerlaubte Lebensverkürzung zu gelten hat, selbst wenn der
Patient dies ausdrücklich beispielsweise in einer Patientenverfügung so
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wünscht. Während in Deutschland derartige Formen der Sterbehilfe als


„passiv“ gekennzeichnet werden und rechtlich erlaubt sind, lehnen andere
Länder wie Israel derartige lebensverkürzende Maßnahmen ab. Sobald die
Sonde eingesetzt ist, darf sie nicht mehr entfernt werden, weil dieses Entfer-
nen als Tötung des Menschen verstanden wird. Darum wurde beim ehema-
ligen israelischen Premier Scharon die Maschinen nicht abgestellt. Hier
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entscheidet sich also alles an der Frage, ob ein solches Entfernen als Thera-
piezieländerung verstanden werden kann, die dem natürlichen Verlauf sei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nen Weg lässt, oder als eine Maßnahme, die den Tod des Patienten bewirkt.
Kein Zweifel besteht dagegen an der ethischen Zulässigkeit der indirek-
ten Sterbehilfe, wenn der Patient eingewilligt hat, sofern man Handlungen
mit einem doppelten Effekt annimmt. Der doppelte Effekt besteht dabei in
Folgendem: Der Arzt nimmt beispielsweise eine Schmerzbehandlung vor.
Direkt zielt er darauf ab, den Schmerz des Patienten zu lindern (angezielter
Effekt), indirekt kann diese Therapie aber den Tod beschleunigen, wenn das
Morphium dazu führt, dass die Atmung aussetzt (nicht intendierter Effekt).
Allerdings ist diese Form der Sterbehilfe in der Praxis nicht unproblema-
tisch, weil hier die Grenze zur aktiven Sterbehilfe fließend ist. Fortschritte in
der Palliativmedizin führen mittlerweile zu einer immer seltener werdenden
Quote von einer derartigen indirekten Sterbehilfe.
Was die Beihilfe zur Selbsttötung am Lebensende angeht, entscheidet
sich die Frage daran, ob man mit Kant (vgl. 13.1) oder ähnlich argumentie-
renden Positionen von einer mit der Menschenwürde verbunden Pflicht
zum Lebenserhalt ausgeht und deshalb die Selbsttötung und damit auch die
Beihilfe zur Selbsttötung für ethisch unzulässig erklärt oder ob man das mit
der Menschenwürde gegebene Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen be-
tont. Im letzten Fall kann man sich leicht gegen den Vorwurf verteidigen,
man müsse dann jede Selbsttötung, nicht nur diejenige am Lebensende zu-
lassen. Der fundamentale, ethisch relevante Unterschied besteht darin, dass
man davon ausgehen kann, dass das Selbstbestimmungsrecht am Lebens-
ende tatsächlich das genuine Selbstbestimmungsrecht des betreffenden
Bioethik des Menschen 227

Menschen ausdrückt, während beispielsweise ein unglücklich Verliebter, der


sich umbringen möchte, etwas tut, was zwar seinen momentanen Willen
ausdrückt, aber nicht seinen eigentlichen Willen. Er ist, wenn man dies so
sagen will, wegen seines Gemütszustands für eine bestimmte Zeit nicht
wirklich mündig zu nennen.
Was die aktive Sterbehilfe eines um sie informiert bittenden mündigen
Patienten angeht, so wird, wer eine Pflicht zum Lebenserhalt annimmt, diese
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Form der Sterbehilfe bzw. Lebensbeendigung ablehnen. Eine mittlere Posi-


tion wird zwar grundsätzlich die Überzeugung teilen, dass die Lebensver-
kürzung auf Wunsch des einwilligungsfähigen Patienten an sich ethisch
zulässig ist, wird aber dennoch diese Möglichkeit aus gesellschaftlichen
Gründen in Frage stellen. Das Fremdtötungsverbot hat ein großes Gewicht,
aktive Sterbehilfe zu verbieten oder doch wenigstens zu erschweren.
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Vertiefung: eine mögliche Begründung des Fremdtötungsverbots


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

„Regeln in unserem moralischen Regelwerk gegen das aktive oder passive Ver-
ursachen des Todes einer anderen Person sind nicht isolierte Fragmente. Sie
sind Fäden in einem Regelwerk, das Achtung vor menschlichem Leben unter-
stützt. Je mehr Fäden wir entfernen, umso schwächer wird das Regelwerk. Wenn
wir auf Verhaltensänderungen und Einstellungen unsere Aufmerksamkeit richten,
nicht nur auf Regeln, könnten Verschiebungen in der öffentlichen Handhabung
die allgemeine Einstellung zur Achtung vor dem Leben aufweichen. Verbote sind
oft sowohl instrumentell als auch symbolisch von Bedeutung, und ihre Aufhe-
bung kann eine Menge von Verhaltensweisen ebenso wie Praktiken und Restrik-
tionen ändern“ (Beauchamp/Childress 2009, 178).

Organtransplantationen
Ein weiteres ethisches Konfliktfeld stellt die Frage nach der Zulässigkeit von
Organtransplantationen dar. Wie unter 5.3.2 gezeigt, gibt es gute Gründe,
den Ganzhirntod als Tod des Menschen anzunehmen. Ethisch und juris-
tisch umstritten ist, in welcher Form die postmortale Organentnahme eine
Einwilligung des Spenders voraussetzt. Unproblematisch ist die „direkte“
Einwilligung beispielsweise mittels eines Organspendeausweises. Bei der er-
weiterten Einwilligungslösung, die gesetzlich in Deutschland gilt, werden bei
Verstorbenen ohne Organspendeausweis die Angehörigen oder Naheste-
henden nach dessen mutmaßlichen Willen befragt. Bei der Widerspruchsre-
gelung, die in Österreich gilt, werden dagegen Organe entnommen, sofern
der Verstorbene dem nicht zu Lebzeiten widersprochen hat.
228 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Obwohl die grundsätzliche Spendebereitschaft in Deutschland und Ös-


terreich praktisch gleich ist, werden auf Grund der anderen Regelung in
Österreich relativ gesehen deutlich mehr Organe gewonnen. Nach Angaben
von Eurotransplant kamen im Jahr 2008 auf Österreich in absoluten Zahlen
168 postmortale Organspender, in Deutschland waren es 1184, obwohl es
etwa zehnmal so viele Einwohner hat wie Österreich – man hätte also etwa
1700 Organe erwarten müssen. Dies wirft eine gravierende, ethisch rele-
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vante Frage auf. Es gibt Menschen, die dringend Organe benötigen und
denen man helfen könnte, wenn genügend Organe vorhanden wären. Nach
dem mit dem Prinzip der Menschenwürde verbundenen Lebensrecht sollte
der Staat Wege suchen, möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen,
damit diese Menschen gerettet werden können. Menschliche Leichname
dagegen stehen nicht unter den Schutz der Menschenwürde in diesem ge-
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haltvoll philosophischen Sinn. Ihre Leichname sollten deshalb im Prinzip


für lebensrettende Maßnahmen verfügbar sein. Die postmortale Organgabe
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

ist in diesem Sinn ein letztes Zeichen mitmenschlicher Solidarität, denn sie
rettet Leben oder verbessert die Lebensqualität.
Freilich besteht bei der Widerspruchsregelung die Grenze an dem Punkt,
wo die postmortale Würde und die damit verbundenen Persönlichkeits-
rechte, die freilich nicht mit der Menschenwürde im strikten Sinn verwech-
selt werden dürfen, verletzt werden könnten: Wenn ein Mensch zu Lebzei-
ten Widerspruch gegen eine Organentnahme nach dem Tod eingelegt hat,
so ist dies zu tolerieren. Unser Todesverständnis ist zu sehr durch unter-
schiedliche weltanschauliche und religiöse Sichtweisen mitbestimmt, als
dass sich eine postmortale Organgabe für alle verpflichtend machen ließe.
So ist in islamisch geprägten Gesellschaften die Bestattung eines möglichst
„intakten“ Körpers von großer Wichtigkeit, weswegen beispielsweise im
Iran sogar eine staatlich organisierte kommerzialisierte Nierenlebendspende
eingerichtet wurde: Es ist weniger anstößig, zu Lebzeiten seine Niere zu
verkaufen, als Nieren nach dem Tod zu entnehmen. Dazu kommt ein psy-
chologischer Vorbehalt: Manche Menschen würden erheblich an Lebens-
qualität einbüßen, wenn sie wüssten, dass ihrem Leichnam Organe entnom-
men werden. Sie hätten davor zu Lebzeiten große Ängste. Wieder andere
Menschen teilen das Ganzhirntodkriterium nicht und lehnen deshalb die
Organentnahme nach Feststellung des Ganzhirntods ab. Auch wenn, wie
gesagt, sehr gute Gründe, für dieses Kriterium sprechen, so sollte doch die
gegenteilige Überzeugung im individuellen Fall durch die Möglichkeit eines
Widerspruchs toleriert werden.
Bioethik des Menschen 229

Darum sollte eine solidarische Widerspruchsregel für die postmortale


Organgabe verbunden mit für die Organentnahme „freundlichen“ Rahmen-
bedingungen allgemein eingeführt werden.
Verbunden mit einer Subsidiaritätsklausel, die die Lebendorganspende
minimieren hilft, könnte eine derartige Regelung allein in Deutschland etwa
tausend Menschen das Leben retten und viele Menschen von der Dialyse-
maschine unabhängig machen und ihnen so eine verbesserte Lebensqualität
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ermöglichen. Zugleich könnte eine derartige Regelung die durch den Or-
ganmangel ausgelöste Diskussion um die kommerzialisierte Lebendorgan­
gabe unnötig werden lassen und auch die Zahl von Organlebendspenden
minimieren, denn jede Lebendspende stellt ein gesundheitliches Risiko für
den Spender dar und widerspricht dem ärztlichen Nichtschadensprinzip.
Für die weitergehende Frage, ob lebende Menschen sich töten lassen
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dürfen, um damit beispielsweise das Leben ihres Kindes zu retten, erfordert


eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Fragen, inwieweit wir an dem
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Tabu der Fremdtötung rütteln möchten und welche Bedeutung für uns das
Theorem der Heiligkeit des Lebens hat. Vor dem Hintergrund des Prinzips
der Menschenwürde im Sinne einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen
und eines prinzipiellen Subjektstatus aller Menschen gibt es dafür keine ein-
deutige Antwort.

Medizinische Forschung
Medizinische Forschung am Menschen soll dazu dienen, für den kranken
Menschen neue Therapien zu entwickeln. Sie unterscheidet sich von den
anderen Forschungsvorhaben (vgl. dazu das 9. Kapitel) darin, dass das be-
forschte „Objekt“ zugleich Subjekt, nämlich ein Mensch ist. Die Selbst-
bestimmung und das Wohlergehen des Probanden setzt darum der For-
schungsfreiheit des Arztes eine wesentliche Grenze.
Von daher sind Forschungsvorhaben wie diejenigen nationalsozialis­
tischer Ärzte, bei denen bewusst der Tod oder die schwere Schädigung der
Probanden in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt wurden, auf keinen
Fall mit dem Prinzip der Menschenwürde und dem damit verbundenen
Recht auf Leben vereinbar. Weltweit haben die Ärzte diese Verbrechen
­gegen die Menschlichkeit geächtet und sich als Konsequenz im Nürnber­
ger Kodex von 1946 und dem Genfer Gelöbnis von 1948 (1964 fortge-
schrieben in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, die fort-
laufend überarbeitet wird,) an mehrere bereichsspezifsche ethische Normen
gebunden:
230 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

n die informierte Einwilligung der Probanden,


n den besonderen Schutz vulnerabler Probanden (Kinder, Menschen mit
geistiger Behinderung, überhaupt nicht-einwilligungsfähige Menschen),
n die sorgfältige Abschätzung der körperlichen und geistigen Risiken und
Belastungen für den Probanden im Vergleich zum voraussichtlichen
Nutzen für ihn und Andere, wobei als Maßstab die Pflicht des Arztes
gilt, das Leben, die Gesundheit, die Privatsphäre und die Würde der
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Versuchsperson zu schützen,
n die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften der jeweiligen Länder als
Mindeststandard,
n die Durchführung der Forschung gemäß den allgemein anerkannten
wissenschaftlichen Grundsätzen.
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Diese Normen sind anhand neu auftretender ethischer Konfliktfälle fortlau-


fend auszudifferenzieren und weiterzuentwickeln. So ist beispielsweise um-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

stritten, ob es eine Forschung an vulnerablen Personen geben darf oder nicht.


Der Verzicht einer solchen Forschung bedeutet, dass es für diese Patienten-
gruppen keine spezifisch angepassten Therapien gibt. Eine fremdnützige
Forschung an ihnen kann jedoch auch als Verletzung ihrer grundlegenden
Rechte gedeutet werden. Hier hängt alles davon ab, ob man diesen Personen
eine Solidarität unterstellen darf, die es rechtfertigt, sie minimalen Risiken
auszusetzen oder nicht, oder ob man eine solche Solidarität nicht unterstel-
len sollte. Aber auch für eine nicht rein fremdnützige Forschung an einwil-
ligungsfähigen Erwachsenen haben die obigen Regeln strenge Anwendung
zu finden, um Schaden vom Patienten abzuwenden.

Vertiefung: der Fall „Jesse Gelsinger“


Gelsinger litt an einer seltenen angeborenen Stoffwechselerkrankung, der
Transcarbamylase-Defizienz (OTC-Defizienz), die auf Mutationen im OTC-Gen
beruht. Diese Erkrankung ist relativ gut zu beherrschen, wenn man eine spezielle
Diät einhält und bestimmte Medikamente nimmt. Gelsinger nahm an einer Studie
des Institute for Human Gene Therapy in Pennsylvania teil, die für ihn auch einen
individuellen Nutzen hätte haben können. Bei ihm wurde ein Heilversuch mittels
somatischer Gentherapie durchgeführt. Ihm wurde das in einen viralen Gen-
transfervektor eingebaute, funktionsfähige OTC-Gen direkt in die Leberarterie
injiziert. Doch statt einer möglichen Besserung entwickelte Gelsinger als Reak-
tion auf den Virusvektor eine massive Immunantwort und es trat ein multiples
Organversagen auf. Er starb wenige Tage nach der Injektion. Die US-amerikani-
Bioethik des Menschen 231

sche Food and Drug Administration (FDA) stellte in ihrer Untersuchung des Fal-
les fest, dass die verantwortlichen Studienleiter gleich mehrere Regeln der aner-
kannten Maßstäbe guter Wissenschaft gebrochen hatten. Sie hatten Gelsinger
in die Studie aufgenommen, obwohl ein Blutparameter Werte erreichte, die zu
seinem Ausschluss hätten führen müssen. Zudem hatten sie es versäumt, zwei
Patienten zu melden, die nach der Behandlung schwere Nebenwirkungen zeig-
ten. Schließlich ließen die Forscher in der Patienteneinverständniserklärung Ver-
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suche an Affen mit tödlichem Ausgang unerwähnt.

Gentherapie
Der Todesfall „Gelsinger“ zeigt, dass eine somatische Gentherapie noch in
den Anfängen steht. Dagegen ist die Substitutionstherapie, beispielsweise
die Herstellung von menschlichem Insulin mittels gentechnisch veränderten
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Bakterien, bereits Routine. Noch einen Schritt weiter ginge die gentechni-
sche Veränderung der Keimbahnzellen und menschlicher Embryonen zu
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

therapeutischen Zwecken. Hier ist die Eingriffstiefe am größten, da die Än-


derungen an die Folgegenerationen weitergegeben werden können. Wäh-
rend für die somatische Gentherapie die übliche Abwägung vor dem Hin-
tergrund von Nichtschadens- und Fürsorgeprinzip vorzunehmen ist, kommt
im Fall der Keimbahntherapie die grundsätzliche Frage auf, ob es zulässig
ist, in unsere genetische Konstitution einzugreifen. Diese Problematik ver-
schärft sich noch dadurch, dass es nicht nur rein therapeutische Maßnah-
men gibt, sondern diese Eingriffe auch der Prävention von Krankheiten oder
der Korrektur von Normabweichungen dienen können (vgl. dazu ausführ-
lich 13.3).

Gendiagnostik an geborenen Menschen


In einem ähnlichen Grenzbereich bewegt sich die Gendiagnostik. Nicht
umstritten ist das Recht von Menschen, ihre genetische Konstitution im
Hinblick auf mögliche Krankheitsdispositionen diagnostizieren zu lassen.
Umstritten dagegen ist, ob sie derartige Befunde Versicherungen mitteilen
müssen. Vor dem Hintergrund des Gerechtigkeitsprinzips scheint es näm-
lich eine gravierende Ungleichbehandlung zu sein, wenn Menschen ihnen
bekannte „konventionelle“ Diagnosen beispielsweise bei einer Verbeamtung
oder wenn sie eine Lebensversicherung oder private Krankenversicherung
abschließen wollen, offen legen müssen, dagegen genetisches Wissen ge-
heim bleiben kann. Andererseits kann die Befürchtung aufkommen, dass die
Zulässigkeit genetischer Information für den Abschluss von Versicherungen
232 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

dazu führt, dass Menschen gegen ihren Willen gendiagnostisch untersucht


werden und so ihr Recht auf Nichtwissen keine Berücksichtigung findet.
Andererseits könnte jemand, der verbeamtet wird, genau dies auch als Argu-
ment gegen konventionelle Untersuchungen geltend machen. Warum sollte
hier das Recht auf Nichtwissen nicht in gleicher Weise gelten? Entschei-
dend ist hier wohl, ob die Gefahr des immer gläserner werdenden Menschen
besteht, sodass auch hier von eindeutigen Krankheitsdispositionen nach und
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nach auch weiter gehende Veranlagungen genetisch diagnostiziert und wei-


tergegeben werden müssen.

Wunscherfüllende Medizin
Ein in der Bedeutung rasch zunehmendes ethisches Konfliktfeld stellt die
wunscherfüllende Medizin dar. Hierbei stellen sich mehrere grundsätzliche
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Fragen. Die eine Frage hängt mit der gerade behandelten Problematik im
Rahmen von Gentherapie und Gendiagnostik zusammen: Was ist Krank-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

heit, und wann geht es um Normabweichungen, die aber keine Krankheit im


eigentlichen Sinn ist? Gehört beispielsweise die künstliche Befruchtung zur
klassischen oder zur wunscherfüllenden Medizin? Würde es einen Unter-
schied machen, ob das Paar keine medizinisch nachweisbare funktionelle
Störung hat, oder ob dies der Fall ist? Wie sieht es mit dem Wunsch von
Menschen aus, die eine Geschlechtsumwandlung verlangen, weil sie das
­Gefühl haben, sich im falschen Körper zu befinden?
Die Bestimmung der WHO, Gesundheit als des „Zustandes vollständi-
gen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des
Freiseins von Krankheit und Gebrechen“ zu bezeichnen, hat einerseits eine
Engführung des Begriffs von Gesundheit im Sinne von Funktionalität und
von Krankheit im Sinne von Dysfunktionalität aufgebrochen. Andererseits
ist diese Definition von Gesundheit so anspruchsvoll, dass praktisch nie-
mand mehr als gesund gelten kann. Realistischer ist es darum, davon
­aus­zugehen, dass bei der Bestimmung von Gesundheit und Krankheit medi-
zinische Sachkenntnis auf der einen Seite und gesellschaftliche sowie indi-
viduell-subjektive Konstruktionstätigkeit auf der anderen Seite ineinander
fließen. Im Rahmen medizinischer Sachkenntnis sind dies empirisch erheb-
bare und beschreibbare Parameter, die eine physische und psychische Funk-
tionalität oder Dysfunktionalität erkennen lassen. In vielen Fällen ist damit
die Frage bereits entschieden, ob jemand als krank zu verstehen ist oder
nicht, beispielsweise bei einem schweren Herzinfarkt, in anderen Fällen je-
doch ist diese Frage gerade nicht entschieden, wie etwa, ab wann genau ein
Bioethik des Menschen 233

Blutdruck als medikamentös zu behandelnder Bluthochdruck zu behandeln


ist. Hier muss immer eine gewisse Willkür im Spiel sein.
Nimmt man also an, dass sich trotz dieser Unsicherheit, klare Grenzen
zwischen Krankheit und Nicht-Krankheit angeben zu können, dennoch in
vielen Fällen bestimmen lässt, was als Krankheit zu gelten hat und was nicht,
dann schließt sich an diese Problematik die Frage an, inwieweit eine rein
wunscherfüllende, also nicht mehr heilende Medizin noch mit der eigentli-
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chen Aufgabe des Arztes als Arzt verbunden sein sollte. Nehmen wir an,
dass die operative Korrektur einer Nase als Schönheitsoperation, aber nicht
als Krankheit zu gelten hat. Damit wäre bereits klar, dass sie nicht von einer
Krankenversicherung zu zahlen ist. Sollte dann nicht aber auch der Arzt wie
ein Gewerbetreibender behandelt werden und die Schönheitsoperation als
eine garantiepflichtige Dienstleistung eingestuft sein statt wie bisher als eine
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Dienstleistung, für die es gerade keine Erfolgsgarantie gibt? Oder sollten


derartige Operationen überhaupt nicht zugelassen sein? Geht man von den
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

vier Prinzipien von Beauchamp und Childress aus, so würde die Patienten-
selbstbestimmung einen solchen Eingriff rechtfertigen. Problematisch ist
allerdings das Nichtschädigungsprinzip, denn die körperliche Unversehrt-
heit eines Patienten wird durch den Eingriff berührt. Man muss dieses Prin-
zip dann so verstehen, dass der Patient subjektiv davon überzeugt ist, dass
diese Operation ihm ein besseres Leben ermöglicht, als wenn er auf sie ver-
zichten würde. Dafür ist er bereit, ein gesundheitliches Risiko einzugehen.
Wollte man derartige Eingriffe verbieten, so müsste man erneut Menschen-
pflichten mit der Menschenwürde verbinden und ein solches Ansinnen als
einen Angriff auf die eigene Würde verstehen: Der Mensch hätte in diesem
Verständnis eine mit seiner Würde verbundene Verpflichtung, seine körper-
liche Unversehrtheit zu wahren und bestimmte Grenzen zu respektieren.

13.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel


genetischen Enhancements des Menschen
Die Bedeutung der Fragestellung, ob man Eingriffe verbieten sollte, die
nicht therapeutisch sind, gewinnt eine besondere Schärfe vor dem Hinter-
grund neuer, „am Horizont“ auftauchender Möglichkeiten im Rahmen eines
genetischen Enhancements. Unter dem Begriff „genetisches Enhancement“
ist dabei jede physiologische, kognitive und verhaltensmäßige Verbesserung
des Menschen mit Hilfe gentechnischer Methoden zu verstehen, die ein-
234 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

deutig über therapeutische Maßnahmen oder reine Veränderungen hinaus-


geht (vgl. Knoepffler/Savulescu (Hg.) 2009, Sorgner u. a. (Hg.) 2006).
Zur Vereinfachung soll kontrafaktisch angenommen werden, diese Tech-
niken wären etabliert und sicher. Ohne diese Annahme müsste nämlich für
jede einzelne gentechnische Anwendung gefragt werden: Birgt sie für die
Probanden ein hohes Risiko? Diese Risikoabschätzung wäre zum jetzigen
Zeitpunkt rein spekulativ, da die angedachten genetischen Verbesserungen
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beim Menschen noch in keinem Fall die klinische Erprobung erreicht ha-
ben. Zudem würden Risikoüberlegungen die eigentliche bioethische Frage-
stellung überdecken: Ist es zulässig, vielleicht sogar geboten, dass wir uns
selbst genetisch verbessern?
Dabei ist gerade vor dem mit dem Menschenwürdeprinzip verbundenen
Selbstbestimmungsrecht wesentlich zu berücksichtigen, ob das genetische
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Enhancement
n einer Entscheidung des betreffenden Menschen für sich selbst ent-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

springt,
n auf eine Entscheidung der Eltern zurückgeht,
n auf einer Entscheidung einer Gruppe in der Gesellschaft fußt oder
n auf eine Entscheidung staatlicher Autoritäten zurückgeht.

Es gibt gute Gründe, genetisches Enhancement weder Gruppen in der Ge-


sellschaft noch staatlichen Autoritäten anzuvertrauen. Auch wenn es im Be-
reich der Erziehung eine Schulpflicht gibt, so ist doch eine genetische Ver-
besserung jenseits jeder therapeutischen Zielsetzung auf einer Ebene
angesiedelt, die der Staat nicht regulieren sollte, weil sie zu tief in das Selbst-
bestimmungsrecht des Einzelnen eingreift. Zwar hat der Staat Schutzpflich-
ten, doch wenn er uns nicht vorschreiben darf, was wir essen und trinken
sollen, so hat er noch weniger ein Recht einem vorzuschreiben, dass man
sich genetisch verbessern sollte. Der grundsätzliche Subjektstatus jedes Ein-
zelnen setzt den Eingriffen des Staats auf der Ebene genetischen Enhance-
ments eine klare Grenze, selbst wenn damit nicht ausgeschlossen werden
muss, dass es staatliche Empfehlungen geben könnte. Diese sollten aber
nicht so weitgehen, dass damit zugleich Anreize entstünden und indirekt
eine Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger vollzogen würde. Dahin-
ter steht die Überzeugung, dass kein Staat und keine Gesellschaft das Recht
haben, Menschen nach ihrem Bild zu machen und einzelne Mitglieder der
Gesellschaft zu zwingen, ihren Nachwuchs nach vorgegebenen Kriterien
auszuwählen. Im anderen Fall würde nämlich nicht mehr gelten: Der Staat
Bioethik des Menschen 235

ist für den Menschen da, sondern: Der Mensch ist für den Staat da. Darum
kann ein derartiges Ziel, das den Einzelnen den Staatszielen sogar in seiner
biologischen Grundkonstitution unterwirft, auch vor dem Hintergrund des
Prinzips der Menschenwürde selbst nicht bestehen, weil der Subjektstatus
des Einzelnen zur Disposition steht.
Auch sollte der Einzelne Entscheidungen dieser Tragweite nicht in der
Weise an Gruppen in der Gesellschaft abtreten, sodass er sich von diesen
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entmündigen ließe. Das schließt nicht aus, dass Menschen freiwillig bei-
spielsweise einer religiösen Gemeinschaft angehören und bei ihrer Ent-
scheidungsfindung den Vorgaben der Autoritäten dieser Gemeinschaft
Folge leisten. Nur sollte eben prinzipiell gelten: Das Recht auf Selbstbestim-
mung sollte analog zur Selbstbestimmung im Bereich therapeutischer Maß-
nahmen, wo der Patient das letzte Wort hat, auch hier nicht verletzt sein,
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d.  h., es sollten keine Gruppen in der Gesellschaft Menschen, die diesen
Gruppen nicht angehören, in solchen persönlichen Entscheidungskonstella-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

tionen Vorschriften machen können.


Viel schwieriger gestaltet sich die Frage, wenn es um das Verhältnis von
Eltern zu ihren Nachkommen geht, da hier ein besonderes Verantwortungs-
verhältnis besteht. Darum möchte ich zur Vereinfachung die obigen Ent-
scheidungsmöglichkeiten auf die beiden ersten Fälle reduzieren:
n einer Entscheidung des betreffenden Menschen für sich selbst,
n eine Entscheidung der Eltern für ihre Kinder und möglicherweise deren
Nachkommen.

Was heißt dieses „möglicherweise“? Bei der Entscheidung des einzelnen


Menschen für sich selbst ist davon auszugehen, dass das genetische Enhan-
cement nur diesen Menschen selbst betrifft, im anderen Fall geht seine Ent-
scheidung in eine elterliche Entscheidung über, weil er bei einer Keimbahn-
behandlung durch seine Entscheidung auch seine Nachkommen involviert.69
Im Hinblick auf die elterliche Entscheidung ist darum die Eingriffstiefe zu
berücksichtigen: Handelt es sich um ein genetisches Enhancement, das nur

69 Indirekt betrifft jede unserer Entscheidungen auf die eine oder andere Weise un-
sere Nachkommen, da jede Entscheidung weit reichende Folgen nach sich ziehen
kann, aber auf jeden Fall „den Lauf der Welt“ verändert. So könnte eine bessere
physiologische Ausstattung einer somatisch gentechnisch veränderten Person eine
berufliche Besserstellung ermöglichen, die sich auch auf die Erziehung der nicht
genetisch veränderten Kinder auswirkt. Doch soll es hier nur um die direkten Aus-
wirkungen gehen.
236 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

den behandelten Menschen, in diesem Fall das Kind betrifft, wie im Fall
einer genetischen Substitutionsbehandlung sowie einer somatischen Gen-
behandlung? Oder handelt es sich um einen gentechnischen Eingriff, der
auch an die Nachkommen des behandelten Menschen weitergegeben wird,
was bei der Keimbahnbehandlung oder bei einer künstlichen Befruchtung
mit anschließender gentechnischer Veränderung des Embryos der Fall ist.
Darüber hinaus ist zu unterscheiden, welche Zielsetzung mit dem gen-
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technischen Eingriff verbunden ist: Sollen physiologisch-körperliche Merk-


male verbessert werden, sollen kognitive Fähigkeiten verbessert werden oder
soll der Mensch in seinem Verhalten verbessert werden? Damit ergibt sich
folgende Strukturierung:
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Abb. 26 Strukturierung des genetischen Enhancements

Betrachten wir ein konkretes Fallbeispiel: Angenommen, es wäre ohne Ne-


benwirkungen möglich, die genetische Konstitution unserer Augen in einer
Weise zu verbessern, dass wir wie Katzen im Dunkeln sehen könnten und
zugleich den Scharfblick des Adlers hätten. Wir würden gleichzeitig jedoch
keinerlei Einbußen erleben, was das normale Sehen angeht, so dass wir bei-
spielsweises lesen und schreiben könnten wie bisher. Gibt es dann Gründe
gegen eine solche Änderung der menschlichen genetischen Konstitution?
Bioethik des Menschen 237

Ist es beispielsweise erlaubt, die genetische Konstitution zu verändern, um


die Sehkraft zu verbessern?
Beginnen wir mit dem Fall, dass diese Änderung nur den Einzelnen be-
treffen würde, also die Verbesserung der Sehkraft durch ein somatisches ge-
netisches Enhancement erreicht wird. Die Änderung unserer Sehkraft eröff-
net neue Freiheits- und Handlungsspielräume. Wie Rastermikroskope und
Fernrohre unsere Möglichkeiten, etwas zu sehen, verbessern (vgl. Harris
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2007, 19f ), wie der Einsatz von Spezialbrillen in bestimmten Bereichen,


z. B. um gegen die Sonne und ihre UV-Strahlen zu schützen, neue Spiel-
räume schafft, so würde eine derartige Verbesserung auch den Einzelnen
besser stellen. Man könnte nun fragen, ob diese Verbesserung nicht die Ne-
benwirkung hat, Dinge zu sehen, die man eigentlich nicht hat sehen wollen.
In einem solchen Fall muss der Einzelne für sich entscheiden, ob eine der-
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artige „objektive“ Verbesserung für ihn „subjektiv“ wirklich eine Verbesse-


rung darstellt. Wenn nicht, sollte er logischerweise auf ein derartiges Enhan-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

cement verzichten.
Wird dagegen ganz allgemein damit argumentiert, dies sei unnatürlich,
so muss gefragt werden, was der Bewertungsmaßstab dafür ist, denn „Natür-
lichkeit“ ist ein sehr deutungsoffener Begriff. Wie „natürlich“ ist der Ge-
brauch einer Sonnenbrille, die zugleich gegen UV-Strahlen schützt? Dage-
gen ließe sich sagen, dass man jederzeit die Sonnenbrille abnehmen kann,
die gentechnisch veränderten Augen dagegen nicht. Aber macht dies einen
ethisch so wesentlichen Unterschied aus, dass ein solches Enhancement ver-
boten werden sollte?
Dazu kommt: Wie „natürlich“ ist das heutige, kulturell durchformte Le-
ben? Aber selbst wenn man einen klaren Begriff von Natürlichkeit hätte,
warum sollte diese nicht überboten werden dürfen? Gemäß dem vorausge-
setzten ethischen Bezugsrahmen jedenfalls wäre eine solche genetische Ver-
besserung zulässig, wenn der Mensch neue Freiheits- und Handlungsspiel-
räume gewinnt und keinen Schaden nimmt, es sei denn, man würde analog
zum Beispiel der Schönheitsoperation einer Nase davon ausgehen, wir wä-
ren verpflichtet, unsere körperliche Unversehrtheit nicht anzutasten. Hier
wiederholt sich dann verschärft der Streit, der bereits im Feld der Grünen
Gentechnik thematisiert wurde (vgl. 12.3).
Geht man jedoch von der grundsätzlichen Vereinbarkeit mit dem Men-
schenwürdeprinzip aus, so ließe sich vor dem Hintergrund des Gerechtig-
keitsprinzips fragen: Wird hier nicht die Gerechtigkeitsfrage berührt, da
offen ist, ob sich alle Menschen eine solche genetische Verbesserung werden
238 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

leisten können. Auch ist zu überdenken, ob ein Mensch Schaden nimmt,


wenn ein anderer Mensch besser sieht. Was bedeutet es konkret, wenn ein
genetisch verbesserter Mensch Aufgaben übernehmen kann, für die man
zuvor mechanische Hilfsmittel, z. B. ein Nachtsichtgerät benötigte? Sicher-
lich hätte er bei einer Bewerbung um einen Nachtwachdienst Vorteile ge-
genüber dem nicht genetisch veränderten Menschen. Eine Lösung dieser
Problematik – hier nur im Sinne einer ersten Andeutung – könnte über eine
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allgemeine solidarisch bezahlte genetische Verbesserungsmöglichkeit laufen,


die ähnlich wie im Bereich des Bildungswesens allen gleiche Zugangschan-
cen gibt. Nur ließe sich dann fragen, ob dies auch für die Korrektur einer
Nase gelten sollte, da jemand mit einer korrigierten Nase vielleicht ebenfalls
bessere Berufschancen haben könnte.
Was aber ist mit denjenigen, die eine genetische Verbesserung ablehnen?
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Sie haben dazu ein gutes Recht im Sinne ihrer Selbstbestimmung, aber sie
müssen analog zu denen, die nicht bereit sind, bestimmte Bildungsmöglich-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

keiten in Anspruch zu nehmen, auf entsprechende Gestaltungsspielräume


verzichten, die dieses genetische Enhancement gegeben hätte. Sogar der
vielleicht bedeutendste Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts, John
Rawls (2001 [1971], 129) behauptet: „… es liegt im Interesse jedes Einzel-
nen, bessere natürliche Gaben mitzubekommen. Das hilft ihm bei der Ver-
folgung seines bevorzugten Lebensplanes. Im Urzustand also möchten die
Menschen ihren Nachkommen die besten Erbeigenschaften mitgeben.“ Al-
lerdings könnte man einwenden, dass Rawls von besseren natürlichen Gaben
spricht, also gerade nicht von einem genetischen Enhancement.
Viel schärfer stellt sich dagegen die Frage einer genetischen Verbesse-
rung der Sehkraft, wenn es um die Möglichkeit der Keimbahnbehandlung
geht. Ein Einwand könnte lauten, dass diese Keimbahnänderung analog die
Unterscheidung zwischen „Gewachsenem“ und „Gemachtem“ aufhebe und
die kindliche Selbstbestimmung einschränke (vgl. Habermas 2002). Doch
warum sollte hier nicht die mutmaßliche Einwilligung des Kindes vorausge-
setzt werden, da doch diese Änderung neue Möglichkeiten der Selbstbe-
stimmung ermöglicht? Es ließe sich auch denken, dass die Gentechnik in
der Weise vorangekommen wäre, dass die Kinder später die Möglichkeit
hätten, die genetische Verbesserung rückgängig zu machen, wenn sie dies
denn wollten. Aber angenommen, dies wäre nicht der Fall, so bleibt ent-
scheidend: Wenn die Verbesserung der Sehkraft als eine nicht schadende
Verbesserung verstanden werden kann, so erweitert dies die Selbstbestim-
mungsmöglichkeiten des Menschen. Dies darf als sein Interesse unterstellt
Bioethik des Menschen 239

werden und darum wäre auch eine Keimbahnbehandlung in einem solchen


Fall unter den gemachten Voraussetzungen wünschenswert.
Im Unterschied zu einer utilitaristischen Zugangsweise, z. B. von John
Harris (2007, 19ff ), bedeutet „wünschenswert“ aber gerade nicht, dass es
eine moralische Pflicht zum Enhancement geben sollte, denn der Men-
schenwürdeansatz erlaubt es dem Einzelnen, mit dem Gegebenen zufrieden
zu sein. Es gibt dann auch keine moralische Verpflichtung zu einem derarti-
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gen genetischen Enhancement im Hinblick auf die Kinder. Denn jemand,


der für sich das genetische Enhancement ablehnt, kann auch aus seiner Ab-
lehnung die Vermutung erschließen, dass auch seine Nachkommen ableh-
nen würden. Außerdem bleibt den Nachkommen noch die Möglichkeit ei-
ner somatischen Genbehandlung offen.
Was aber könnte dann noch ein Grund für die Ablehnung eines risiko-
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freien genetischen Enhancements sein? Eine Überlegung, die hierzu führen


könnte, könnte lauten: Das eigentliche Ziel des Menschen ist keine physio-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

logische Perfektion, sondern spirituelle Erfüllung, Annahme des Lebens mit


all seinen schönen Seiten, aber auch seinen Widrigkeiten. Darum darf es
gerade vor dem Hintergrund eines mit dem Prinzip der Menschenwürde
verbundenen Rechts auf Selbstbestimmung niemals zur Verpflichtung wer-
den, sich oder die eigenen Kinder genetisch verbessern zu müssen.
240 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

14 Sportethik

Während genetisches Enhancement derzeit noch als eine Zukunftsfrage er-


scheinen mag, beginnt im Bereich des Sports bereits der vermehrte Einsatz
genetischer Techniken. Dies reicht von einer Gendiagnose, um zu bestim-
men, ob Kinder in spezifischen Sportarten überhaupt eine Chance haben, die
absolute Spitze zu erreichen, über Substitutionsbehandlungen von Sportlern
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mit gentechnisch hergestellten EPO (Erytropoetin, ein Glycoprotein, das


die Bildung von roten Blutkörperchen in den Knochenmark-Stammzellen
anregt) bis zum Gendoping im Sinne eines physiologischen genetischen En-
hancements, beispielsweise der Muskelkraft. Bevor diesem Konfliktfeld
nachgegangen werden kann, ist aber zuvor zu klären, was die Aufgabe einer
Sportethik ist, welche Positionen vertreten werden und welches bereichs­
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spezifische Ethos mit damit verbundenen Fragestellungen es gibt.


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

14.1 Sportethische Positionen

Die Sportethik als Reflexion auf die ethische relevante Dimension des
Sports trifft auf die große Schwierigkeit, dass es bis heute nicht gelungen ist,
„Sport“ eindeutig zu definieren. Der Begriff selbst leitet sich vom lateini-
schen Verb „deportare“ (= wegtragen) ab. Damit ist ein wesentliches Element
des Sports bezeichnet, nämlich sich von der üblichen Arbeit wegtragen zu
lassen: Zum Sport gehört eine gewisse Zweckfreiheit.
Diese Bestimmung bleibt natürlich wage, da es auch andere Tätigkeiten
gibt, um sich „wegtragen“ zu lassen. Gibt es darüber hinaus etwas Spezifi-
sches? Nicht alle Sportarten sind körperlich, man denke nur an Schach,
nicht alle sind Wettkampfsportarten, man denke nur ans Jogging, nicht alle
sind Mannschaftssportarten usw. Analog zum Spiel könnte man in Anleh-
nung an Wittgenstein (1984 [1953], Nr. 65ff ) bei den verschiedenen sport-
lichen Tätigkeiten davon sprechen, dass es sich um eine Familienähnlichkeit
handelt. Das Fußballspiel als Sport ist mit dem Schachspiel als Sport durch
die agonale Struktur (griechisch: agon = Wettkampf ), die zugleich eine spiele-
risch-künstliche ist, also keinem realen Konflikt entspringt, und die klare
Regelstruktur verwandt. Es ist mit dem Jogging durch die körperliche Betä-
tigung und die freiwillige Ineffizienz verbunden. Man joggt beispielsweise
auf einem Laufband, ohne dass dieses Laufen jemand von Ziel A nach Ziel
B bringt. Man spielt Fußball – und nach dem Spiel ist vor dem Spiel, d. h.,
Sportethik 241

der künstliche Konflikt beginnt von Neuem, was seine perspektivische


Zweckfreiheit anzeigt.
So hat sich aufgrund der vielfältigen Ausprägungen von Sport seit der
Antike ein unterschiedliches Verständnis gebildet, was der Sinn von Sport
ist. Bereits zu Platons Zeiten kannte man den Hochleistungssport, die grie-
chischen Olympischen Spiele, bei denen Sieger teilweise in ihrer Heimat-
stadt lebenslang Kost und Logis umsonst erhielten, also eine im Verhältnis
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sehr hohe Belohnung für ihren Erfolg bekamen. Man kannte den Breiten-
sport, vor allem die im Stil von Unterricht gehandhabte „Leibesertüchti-
gung“ der männlichen Kinder und Jugendlichen. Der Name „Gymnasium“
(griechisch: gymnos = unbekleidet, da man unbekleidet Sport trieb) erinnert da-
ran, dass diese ersten Schulen vor allem dieser sportlichen Tätigkeit dienten.
Allerdings war dieser Unterricht nicht ganz zweckfrei, denn er sollte zu-
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gleich für den Kriegsdienst notwendige körperliche Grundlagen vermitteln.


Platon selbst hat neben allgemeinen sportphilosophischen Überlegungen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

(vgl. Pol 410a5ff ) auch ein wichtiges sportethisches Thema behandelt: Er


lehnt im Unterschied zu den meisten Zeitgenossen in hochmoderner Weise
mit guten Gründen jede Diskriminierung von Frauen im Sport ab, indem er
davon ausgeht, dass „wir also die Frauen zu demselben gebrauchen wollen
wie die Männer“ (Pol 451e6f ).
Das Verbot der antiken Olympischen Spiele durch Kaiser Theodosius
393 v. Chr. spiegelt einen weiteren Aspekt ethischer Überlegungen wider:
Der Sport sollte nach der vom Kaiser vertretenen Ansicht keine christlich-
religiösen Werte verletzen, was nach seiner Ansicht durch diese heidnischen
Spiele geschah.
Auch wenn in späterer Zeit, z. B. im Wettkampf der Ritter im Mittelalter,
wichtige sportethische Werte wie die Fairness eine große Rolle spielen, so
kann man sagen, dass eine sportethische Reflexion im eigentlichen Sinn erst
in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eingesetzt hat. 1972 gründete
sich die International Association for the Philosophy of Sport (IAPS), und 1974
wurde mit dem Journal of the Philosophy of Sport die erste Zeitschrift gegrün-
det, die sich systematisch auch sportethischen Themen widmet. In Deutsch-
land gehört der Beitrag von Korff (1982) zu den ersten systematischen Re-
flexionen auf die ethische Relevanz des Sports.
Dabei finden sich auch hier Vertreter der zu Anfang dieses Buchs bespro-
chenen zeitgenössischen Ansätze analog zur Bioethik wieder. So vertritt
beispielsweise der Oxforder Ethiker Julian Savulescu (2007) in gut utilitaris-
tischer Tradition die Position, dass die Freigabe des Dopings im Hochleis-
242 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

tungssport mit dem Geist des Sports vereinbar ist. Andere Positionen lassen
sich beispielsweise in Pawlenka (Hg.) (2004) finden. Bei Albrecht (2008)
gibt es einen sportethischen Ansatz, der wirtschaftsethische Instrumente für
sportethische Konfliktfälle fruchtbar macht (ähnlich Franck 1999) und zu-
gleich die Brücke zwischen Sportethik und Medizinethik schlägt.
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14.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder

Unabhängig davon, ob man utilitaristisch oder von einem Ansatz mit der
Menschenwürde herkommend argumentiert, besteht darin Einigkeit, dass
wir Menschen Sport treiben dürfen. Wer joggen will, darf joggen, er darf
aber auch seinen Lauf abbrechen, wenn ihm das so gefällt. Ethische Kon-
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flikte entstehen, wenn gerade Kinder und Jugendliche sowie Menschen mit
geistiger Behinderung, zu Formen des Sports getrieben werden, bei denen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

bezweifelt werden kann, ob hier noch ihre Selbstbestimmung, soweit bereits


ausgeprägt, geachtet wird. Ist es ethisch zu rechtfertigen, wenn bereits acht-
jährige Kinder täglich vier Stunden trainieren?
Geht man vom Prinzip der Menschenwürde und dem damit verbunde-
nen Recht auf körperliche Unversehrtheit aus, so entscheidet sich die ethi-
sche Frage, ob Sportarten wie das Boxen zulässig sind oder nicht, daran, ob
man mit der Menschenwürde die Menschenpflicht verbindet, auf seine kör-
perliche Unversehrtheit zu achten. Die Frage verschärft sich, wenn Kinder
und Jugendliche in Sportarten wie dem Kunstturnen als Leistungssport ei-
nem erheblichen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt werden. Hier begehen
verantwortliche Personen eine eindeutige Verletzung des Menschenrechts
auf körperliche Unversehrtheit der ihnen anempfohlenen Personen.
Schon immer hat Sport Zwecken gedient, die nicht der Grundidee von
Sport als einer Form zweckfreien Tuns entsprach: Leibesertüchtigung, um
bessere Krieger zu bekommen, beispielsweise, aber auch einfach nur der
Wunsch, einmal im Mittelpunkt zu stehen und als Sieger gefeiert zu werden,
also „die Lorbeeren“ (in der Antike erhielt der Olympiasieger eine Lorbeer-
kranz) zu ernten, oder auch ganz nüchterne finanzielle Interessen bis dahin,
dass Sport einer Erwerbsarbeit gleich dem Lebensunterhalt dient.
In diesem Fall betreten wir eine neue ethische Dimension, bei der sich
wirtschafts- und sportethische Fragestellungen verzahnen. Es treten ethische
Fragen auf, die bereits in der Wirtschaftsethik von Bedeutung waren: Wenn
große Summen im Spiel sind, können ganz unterschiedliche Möglichkeiten
Sportethik 243

von Korruption auftreten, von denen die bekannteste die Schiedsrichterbeste-


chung ist. Mit welchen Mitteln kann dies verhindert werden? Auch ist es für
eine Gesellschaft problematisch, wenn beispielsweise zwölf Nationalspieler
der deutschen U-21-Nationalmannschaft im Jahr 2009 jeweils mehr als eine
Million Euro und damit meist mehr als das Dreifache der bundesdeutschen
Kanzlerin verdienen? Andere Fragen lauten: Sollten Fußballvereine wie
Wirtschaftsunternehmen an der Börse gehandelt werden? Sind Sportereig-
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nisse von einer solchen Bedeutung, dass sie staatliche Unterstützung verdie-
nen, von Polizeieinsätzen bis zum staatlich subventionierten Bau von Stadien
einschließlich damit verbundener staatlich finanzierter Infrastrukturmaß-
nahmen. Bei der Beantwortung dieser Fragen spielt es eine große Rolle, wie
sehr bestimmte Sportereignisse wie Fußballweltmeisterschaften und Olym-
pische Spiele einerseits Fremdenhass überwinden helfen und zugleich damit
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eine unbefangene nationale Identität stärken, wie die friedlichen und ausge-
lassenen Feiern beispielsweise bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutsch-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

land, dem sogenannten „Sommermärchen“, 2006 zeigten.


Der Zusammenhang von maßvoll betriebenem Sport als Gesundheits-
vorsorge ist seit langem bekannt. Darüber hinaus haben gerade Mann-
schaftssportarten die Eigenschaft, recht betrieben, Gemeinschaftsgefühl zu
entwickeln, auf spielerische Weise beizubringen, dass Siege nur durch ge-
genseitiges Sich-Unterstützen errungen werden und Niederlagen weniger
bitter sind, wenn sie das Team zusammen trägt. Von daher zeigt sich eine
wichtige Bedeutung des Sports für die Bildung. Eine weitere ethisch nicht
kontroverse positive Seite des Sports besteht darin, dass regelmäßig einen
Sport Ausführende wichtige Sekundärtugenden wie Disziplin und Maßhal-
ten lernen können. Nicht von ungefähr gehört damit der Sport zum Fächer-
kanon der Schulen und sind Krankenkassen daran interessiert, dass ihre
Mitglieder Sport treiben.
Während diese Rolle des Sports ethisch nicht kontrovers ist, sondern
höchstens der Umfang, in dem der Staat diesen fördern sollte, hängt das
wohl zentrale sportethische Konfliktfeld mit dem fundamentalen bereichs-
spezifischen sportethischen Wert, der zugleich Norm ist, zusammen, dem
Prinzip der Fairness: Wer sich auf Sportarten einlässt, die regelgebunden
und agonal sind, hat sich an die geltenden Regeln zu halten. Er verletzt das
mit dem Prinzip der Gerechtigkeit verbundene Prinzip der Fairness, wenn
er diese Regeln bricht. Wer im Fußball ein Foul begeht, hat das Fairness-
prinzip genauso verletzt wie der Schachspieler, der gegen die vereinbarte
Regel einen Zug zurücknimmt, wenn der Mitspieler es nicht sieht. Die Ver-
244 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

letzung des Fairnessgebots nimmt in dem Maß zu, in dem zusätzliche Güter
im Spiel sind. Die „Hand Gottes“, wie Maradona sein regelwidrig per Hand
erzieltes Tor im Viertelfinale Argentiniens, des späteren Weltmeisters, gegen
England bezeichnete, ist ein Beispiel einer Unfairness von sehr großer sport-
licher Tragweite. Aber natürlich spielten bei dem erfolgreichen Abschneiden
bei einer Weltmeisterschaft auch finanzielle Interessen eine Rolle. Ein Welt-
meister bekommt lukrative Werbeverträge. Ein Foul „im rechten Augen-
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blick“ kann also auch über sehr hohe Summen entscheiden und von wirt-
schaftlicher Bedeutung sein.
Eine spezielle Form der Unfairness stellt das Dopen dar, bei dem sich ein
Sportler durch die Einnahme unerlaubter Substanzen einen Wettbewerbs-
vorteil verschafft und so die Konkurrenten wettkampfmäßig schädigt (Ver-
letzung der Sportgerechtigkeit), noch ganz unabhängig davon, ob er sich
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dabei selbst gesundheitlich schädigt. Ob eine Verletzung der eigenen kör-


perlichen Integrität ethisch nicht zulässig ist, hängt davon ab, inwieweit man
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

den Schutz der eigenen körperlichen Unversehrtheit als eine Pflicht gegen
sich selbst erachtet.
Allerdings wird das Urteil, Doping sei ethisch unzulässig, dann zu hinter-
fragen sein, wenn

1. der Sport selbst gar keine Wettkampfsportart darstellt, also der


Dopende nur dopt, um seine eigene Leistung zu steigern, oder sich
Athleten, die sich in Wettkampfsportarten auf gemeinsame erlaubte
Dopingsubstanzen geeinigt haben und das Dopen nicht mehr verboten
wäre, und
2. diese Dopingsubstanzen keine die Gesundheit schädigende Wirkung
haben.

Dazu kommt eine weitere Komplexitätsstufe durch neue mögliche Formen


des Dopings mittels der Gentechnik.

14.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel von


(Gen)Doping
Die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) versteht unter Gendoping „die
nichttherapeutische Anwendung von Zellen, Genen, Genelementen oder
der Regulierung der Genexpression, welche die sportliche Leistungsfähig-
Sportethik 245

keit erhöhen kann“ (Gerlinger u. a. 2008, 3). Es stellt eine neue Form des
Dopings dar.
Solange (Gen)Doping verboten ist, verschafft sich der (Gen)Dopende
durch den Regelbruch gegenüber dem Nichtdopenden im Wettkampfsport
einen Wettbewerbsvorteil. Er verletzt damit das Prinzip der Fairness. Aller-
dings gibt es für dieses Verhalten, spieltheoretisch gesehen, in der gegenwär-
tigen Situation zumindest im Hochleistungssport massive Anreize, sofern
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dem Sportler der Erfolg wichtiger als seine Gesundheit ist. Wenn ich – hier
sehr vereinfacht – als Sportler weiß, dass die Konkurrenz dopt und damit
einen entscheidenden Vorteil hat, habe ich nur die Möglichkeit, von vornhe-
rein den Sieg abzuschreiben oder aber auch zu dopen, um wieder Chancen-
gleichheit herzustellen. Wenn ich aber nicht weiß, ob die Konkurrenz dopt,
dann stelle ich mich durch (Gen)Dopen, was den Erfolg angeht, in jedem
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Fall besser. Dopt die Konkurrenz, dann ziehe ich zumindest gleich (ohne
(Gen)Dopen verliere ich), dopt sie nicht, habe ich beste Gewinnchancen. In
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

der Matrix sehen dann die Auszahlungen für die Athleten Peter und Paul
mit den Alternativen N für Nicht(gen)dopen und D für (Gen)Dopen so aus,
wenn ich die gleich angenommene Gewinnwahrscheinlichkeit von jeweils
50 Prozent mit einem Nutzenpunkt annehme, den Preis für das Dopen mit
dem Verlust eines Nutzenpunktes bewerte, den sicheren Gewinn mit drei
Nutzenpunkten (von dem dann ein Nutzenpunkt wegen des (Gen)Dopens
abzuziehen ist) und die sichere Niederlage mit dem Verlust von zwei Nut-
zenpunkten (-2) bewerte:

Nicht(gen)dopen (Gen)Dopen von


von Peter Peter
Nicht(gen)dopen von Paul 1;1 -2;2
(Gen)Dopen von Paul 2;-2 0;0
Tab. 15 Das (Gen)Doping-Spiel I

Die derzeitigen Rahmenbedingungen schaffen Anreize zum (Gen)Dopen


für alle Betroffenen. Die Kontrollmöglichkeiten sind unzureichend, viele
Substanzen sind neu entwickelt und lassen sich nicht nachweisen. Der Er-
folg jedoch wird zumindest im Hochleistungssport sehr honoriert. Damit ist
für beide Sportler im dargestellten Fall (Gen)Doping die dominante Strate-
gie. Kann nun ein Sportler Paul dazu bewegt werden, sich regelkonform zu
verhalten, also nicht zu (gen)dopen, und gelingt dies bei einem anderen
Sportler Peter nicht, so verbessert Peter seine Position um einen Nutzen-
246 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

punkt, während Paul im Vergleich zur Situation, in der er auch (gen)dopt,


einen Nutzenpunkt verliert. Da Sportlern diese Problematik bekannt ist,
kommt es auch zu defensivem (Gen)Dopen. Dieses ist nicht darauf gerich-
tet, Vorteile zu erzielen, sondern will nur Chancengleichheit für den Wett-
kampf gewährleisten.
Nur eine klare außersportliche Dopinggesetzgebung, eine verbesserte Er-
kennung von (Gen)Dopingsubstanzen verbunden mit einem völligen Ver-
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zicht öffentlich-rechtlicher Medienanstalten auf von Doping durchsetzte


Sportarten mit einer gewissen Frist bietet eine Möglichkeit, die Anreiz-
strukturen zu verändern. Dann würde sich nämlich im obigen Fall nicht
mehr das (Gen)Dopen als dominante Strategie empfehlen, da zum Preis für
das (Gen)Dopen selbst noch der Preis für die Sanktionen dazu käme, der
mit dem Verlust von drei Nutzenpunkten angenommen werden soll:
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Nicht(gen)dopen von (Gen)Dopen von Peter


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Peter)
Nicht(gen)dopen von Paul 1;1 -2;2-3
(Gen)Dopen von Paul 2-3;-2 -3;-3
Tab. 16 Das (Gen)Doping-Spiel II

Wären die Sanktionen noch schärfer, bedeuteten sie beispielsweise den Ver-
lust von fünf Nutzenpunkten, dann wird das Nicht(gen)dopen zur dominan-
ten Strategie.
Doch das Problem einer ethischen Bewertung des (Gen)Dopings lässt
sich noch weiter zuspitzen. Unter der Annahme, dass das Gen nicht schäd-
lich wäre und sich die Athleten auf bestimmte nichtschädliche Formen des
(Gen)Dopens einigen würden, benötigt man ein Verständnis von Natürlich-
keit im Sport, um derartige Formen sportethisch ablehnen zu können. Denn
in diesem Fall würde niemand betrogen und keiner würde seine Gesundheit
schädigen. Sportethisch kehrt damit die Grundfrage im Hinblick auf das
genetische Enhancement des Menschen wieder.
Allerdings ließe sich mit unerwünschten gesellschaftlichen Folgen argu-
mentieren. Wenn Höchstleistung nur mit Hilfe derartiger Substanzen oder
Veränderungen an der eigenen genetischen Konstitution zu erreichen ist,
könnte dies gerade vor dem Hintergrund der großen Vorbildwirkung von
Athleten auf Jugendliche diese gefährden (Verletzung des Nichtschädi-
gungsprinzips), wenn sie sehr ehrgeizig sind, und sie dazu bringen, selbst
derartige Substanzen oder Veränderungen nachzufragen. Doch auch hier
Sportethik 247

wiederholt sich das oben Gesagte (vgl. 13.3): Wenn ohne persönliche Ne-
benwirkungen Verbesserungen möglich sind, warum sollten diese dann un-
tersagt werden? Wer damit argumentiert, dass dann die Nicht(Gen)Dopen-
den einen Nachteil haben und das Gerechtigkeitsprinzip verletzt wird, muss
sich fragen, wie dann zu bewerten ist, dass Schulen und Universitäten auch
bestimmte Fähigkeiten verbessern sollen. Erneut benötigt man ein bestimm-
tes Verständnis von Natürlichkeit, um unterschiedliche Formen von Verbes-
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serungen zu unterscheiden (vgl. dazu die kontroversen Beiträge in Knoepff-


ler/Savulescu (Hg.) 2009).
Solange allerdings das (Gen)Doping verboten ist und die Gesundheit
gefährdet, gibt es sehr gute Gründe, streng gegen Dopingsünder vorzugehen
und präventiv Maßnahmen einzuleiten. So sollte insbesondere im Jugendbe-
reich sehr genau in der sportmedizinischen Betreuung darauf geachtet wer-
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den, die Jugendlichen vor (Gen)Doping zu schützen. Vor dem Hintergrund


der neuen gentechnischen Möglichkeiten ist es unbedingt geboten, rasch
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

und zügig die notwendige Veränderung sportlicher Rahmenbedingungen in


Angriff zu nehmen. Sonst droht eine Explosion des Dopings, die insbeson-
dere heranwachsende Sportler in Leib und Leben bedroht und dem Sport
noch mehr seine ursprüngliche Zweckfreiheit nimmt als die bereits existie-
rende Dopingpraxis. Von daher ergeben sich als notwendige Schritte harte
Sanktionen gegen sich fehl verhaltende Sportler. Darüber hinaus sind auch
alle übrigen, die sich an der Dopingpraxis der Sportler beteiligen, seien es
Ärzte, seien es Trainer, seien es Sponsoren oder seien es sogar die eigenen
Eltern, streng zu bestrafen.
Da aber das (Gen)dopen nicht auf den Bereich des Hochleistungssports
beschränkt ist, sondern gerade in der Bodybuildingszene oder auch im
Wrestling häufig Dopingsubstanzen eingesetzt werden, ist zu überlegen, wie
in diesem Bereich das Dopingverbot durchgesetzt werden kann.
Überhaupt sollte bereits heute überlegt werden, ob angesichts der drama-
tischen Verhältnisse im Leistungssport öffentlich-rechtliche Medienanstal-
ten nicht grundsätzlich auf Sportberichterstattung zu verzichten hätten.
Damit aber ist bereits die Verzahnung der Sportethik mit einem weiteren
Bereich angewandter Ethik angezeigt, der Medienethik.
248 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

15 Medienethik

Die Medienethik (lateinisch: medium = Mitte, Öffentlichkeit, Gemeingut) ist


die ethische Reflexion auf „die gesellschaftlichen Vorgaben und den Prozess
der Erstellung (Produktion), der Bereitstellung (Distribution) und der Nut-
zung (Rezeption) medienvermittelter Mitteilungen, also [insbesondere] der
Massenmedien (Presse, Film, Hörfunk, Fernsehen) sowie neuerer medialer
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Angebots- und Austauschformen (Internet)“ (Funiok 2007, 11). Natürlich


können auch Theatervorstellungen, Bücher, CDs und DVDs zu den Medien
gerechnet werden, um nur einige weitere Medien zu nennen. Andererseits ist
umstritten, inwieweit beispielsweise ein Gemälde, Geld, lesbare Zeichen
oder auch religiöse Zeichen wie Sakramente zu den Medien gehören. Sollte
möglicherweise die Medienethik als ein Teilbereich einer umfassenderen
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Kommunikationsethik verstanden werden? Oder ist das Umgekehrte der


Fall?
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Wenn wir davon ausgehen, dass alles, was wir über die Welt wissen, me-
dial vermittelt ist, anfänglich meist über den Gesichtsausdruck und die
Worte der Mutter nach der Geburt, dann prägen die Medien unseren Um-
gang mit allen ethischen und sonstigen Fragestellungen in einer fundamen-
talen Weise.
Darüber hinaus prägen Medien in vielfältiger Weise Lebensbereiche. Po-
litiker verhalten sich mediengerecht. Profifußballer erhalten eine spezielle
Ausbildung für den Umgang mit den Medien. Medienereignisse wie die
Olympischen Spiele beeinflussen die Politik. Die Regeln von Sportarten
werden medialen Ansprüchen angepasst, um für Fernsehzuschauer attrakti-
ver zu sein oder Werbepausen zuzulassen. Das Internet gibt Menschen eine
Chance, beispielsweise ihre Musik einer weiteren Öffentlichkeit bekannt zu
geben, ohne dass sie dafür einen Vertrag mit einer renommierten Firma er-
halten müssen usw.70

15.1 Medienethische Positionen

Medienethische Überlegungen gibt es bereits seit der Antike (vgl. im Fol-


genden Sorgner 2006, 142–147). Erneut ist es Platon, der in seiner Politeia

70 Ich danke meinem Kollegen Martin Leiner für wertvolle Hinweise und Einsich-
ten in die Bedeutung der Medien.
Medienethik 249

mehrere wesentliche, bis heute umstrittene medienethische Fragen angeht.


So betont er beispielsweise die Bedeutung der Medien für die Erziehung
und vertritt gerade aus diesem Grund vor dem Hintergrund seines Konzepts
des Wahren und Guten eine Zensur, die sogar so weit geht, den bedeutends-
ten Dichter seiner Zeit nur in Teilen im Idealstaat zugänglich zu machen:
„[…] wenn du Lobredner Homers antriffst, welche behaupten, dieser Dich-
ter habe Hellas gebildet, und bei der Anordnung und Förderung aller
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menschlichen Dinge müsse man ihn zur Hand nehmen, um von ihm zu
lernen und das ganze eigene Leben nach diesem Dichter einrichten und
durchführen, so mögest du sie dir gefallen lassen und mit ihnen, als die so
gut sind wie sie nur immer können, vorlieb nehmen, auch ihnen zugeben,
Homer sei der dichterischste und erste aller Tragödiendichter, doch aber
wissen, dass in den Staat nur der Teil von der Dichtkunst aufzunehmen ist,
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der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervor-
bringt. Wirst du aber die süßliche Muse aufnehmen, dichte sie nun Gesänge
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

oder gesprochene Verse, so werden dir Lust und Unlust im Staate das Regi-
ment führen statt des Gesetzes“ (Pol 606e1–607a9). Auch sollen hochran-
gige Künstler des Staats verwiesen werden, die alle möglichen Charaktere
nachahmen, also gerade nicht nur diejenigen Charaktere spielen, die zum
Wahren und Guten führen. Stattdessen soll man sich mit weniger herausra-
genden Künstlern begnügen, wenn das, was sie sagen, nach den gesetzlichen
Vorgaben geschieht (vgl. Pol 398a1–399b5). Medien sind also nach Platon
zweckgebunden. Sie haben der Erziehung zu dienen. Darum darf auch nicht
alles, was medial darstellbar ist, dargestellt werden, wenn es den Weg zum
Wahren und Guten behindert.
Auch Aristoteles betont den Wert der Medien für die Erziehung, zu-
gleich aber dürfen und sollen sie auch Vergnügen bereiten (vgl. Pol 1339b10–
15). Medien haben also nicht nur der Wertevermittlung zu dienen. Sie ha-
ben auch eine kathartische (griechisch: katharsis = Reinigung) Wirkung,
weswegen es ausdrücklich heißt, dass das Medium Musik „nicht eines einzi-
gen Nutzens wegen verwendet werden soll, sondern um mehrerer willen,
nämlich der Erziehung und Reinigung Willen“ (Pol 1341b36–38).
Das Christentum betont durchgängig die Bedeutung der Medien für die
Erziehung im Sinn des Wahren, Guten und Schönen. Das Medium „Buch“
spielt dabei aufgrund der eigenen Heiligen Schriften eine herausragende
Bedeutung, sodass diese Heiligen Schriften bald nur noch als das Buch (grie-
chisch: Buch = biblion) gelten: die Bibel. Mit dieser Überzeugung verbindet
sich ein Verbot aller Medien, die vom Wahren, Guten und Schönen weglei-
250 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

ten können. Bereits Kaiser Konstantin ließ nach dem Konzil von Nikaia
(325 n. Chr.) die Bücher des auf diesem Konzil zum Ketzer erklärten Arius
verbrennen. Im Decretum Gelasianum (496 n. Chr.) wurde erstmals eine Liste
verbotener Bücher aufgestellt. Diese wurden oftmals verbrannt. Seit 1559
gab es einen für alle Christen in Gemeinschaft mit dem Papst verbindlichen
Index verbotener Bücher, der erst offiziell von Papst Paul VI. 1966 abge-
schafft wurde. Auf dem Index standen neben den Werken der Reformatoren
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und anderer nicht mit dem Papst in Gemeinschaft stehender Christen bei-
spielsweise auch Werke von Kopernikus und Galilei, vieler moderner Philo-
sophen einschließlich Pascals, darunter auch Kants Kritik der reinen Vernunft,
dazu auch dichterische Werke wie die von Heine, Sartre und Zola. Bis heute
kritisieren Vertreter aller Religionen bestimmte Medienprodukte und emp-
fehlen ihren Gläubigen diese zu meiden. Die iranischen obersten religiösen
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Richter sprachen sogar gegen den Dichter der Satanischen Verse, Salman
Rushdie, die Todesstrafe aus. Das zeigt auch, wie stark sich in den letzten
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Jahrhunderten auch die Politik einsetzte, um Zensur zu üben. Auch hierbei


wurde das Argument verwendet, dass bestimmte Medien beispielsweise den
Frieden und die innere Ordnung stören würden. Das Menschenrecht auf
Meinungsfreiheit musste in einem langen Prozess erkämpft werden.
Im Rahmen theologischer und philosophischer Ethiken waren über die-
ses konkrete Beispiel der Zensur hinaus auch immer medienethische The-
men behandelt worden, z. T. in einer Verzahnung mit wissenschaftsethischen
Fragestellungen (vgl. 9.1). Erste medienethische Kodizes wurden in den
USA bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erarbeitet (vgl. Ferré 2008). Syste-
matisch allerdings entwickelte sich eine Medienethik als Bereichsethik fast
zeitgleich mit den anderen Bereichsethiken erst im letzten Drittel des ver-
gangenen Jahrhunderts. Zeitschriften wie das Journal of Mass Media Ethics
und Media Ethics in den USA erschienen erstmals in den 80er Jahren des
letzten Jahrhunderts sowie das in Europa von R. Capurro herausgegebene
International Journal for Information Ethics sogar erst seit 2004. Besonders be-
deutend ist der aus christlich-ethischer Wertetradition stammende Medien-
ethiker C. G. Christians, der Initiator und Mitherausgeber des Standard-
werks Media Ethics: Cases and Moral Reasoning (in der 8.  Auflage 2008
erschienen) sowie des Handbook of Mass Media (2008). Auch in Deutschland
hat die kirchliche Publizistik eine Vorreiterrolle in der Behandlung medien-
ethischer Themen übernommen. Wichtige Abhandlungen stammen bei-
spielsweise von dem Münchner Jesuiten R. Funiok (2007) und dem evange-
lischen Theologen M. Leiner (2006). Dabei ist zu erwarten, dass sich die
Medienethik 251

Medienethik analog zu den anderen Bereichsethiken ebenfalls gemäß den


großen derzeitigen ethischen Ansätzen in unterschiedliche Positionierun-
gen hinein entwickeln wird. Bereits jetzt gibt es ganz verschiedene methodi-
sche Zugänge, im Ausgang von Fällen, im Ausgang von Strukturen, oder im
ökonomischen Zugriff (vgl. die Belege bei Leiner 2006, 176), doch lässt sich
ein sehr klarer, von dem Zentralbegriff der Verantwortung (vgl. 8.1) gepräg-
ter Ansatz als vorherrschend erkennen.
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15.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder

In einer großen Ähnlichkeit mit der Wissenschafts- und Technikethik lässt


sich darum sagen: Es gibt derzeit zumindest in Deutschland einen recht
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weit reichenden Konsens. Diesen antizipiert in gewisser Weise das vom


Deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden bereits
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

1973 (2008 erneut aktualisiert) beschlossene Berufsethos. Auch wenn die


Printmedien nur ein Teil der Medien sind, so kann der Pressekodex doch als
exemplarisch für das bereichsspezifische Ethos angesehen werden. Bereits
die Präambel weist wesentliche Normen und Werte wie die Pressefreiheit
aber auch die Verantwortung der Presse aus. Die sich an die Präambel an-
schließenden 16 „Ziffern“ genannten Normen und Werten können als be-
reichsspezifische Konkretion der grundlegenden Prinzipien von Menschen-
würde und Menschenrechten verstanden werden. Dabei stellt der Kodex
selbst die Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde als 1. Ziffer an
den Anfang. Dies Grundwerte werden in den weiteren Ziffern entfaltet. Da-
bei spielt der Schutz von Persönlichkeitsrechten und die Betonung sorgfäl-
tiger Recherche ebenso eine wesentliche Rolle wie die Achtung von Berufs-
geheimnissen.71

Vertiefung: Pressekodex
Präambel
Die im Grundgesetz der Bundesrepublik verbürgte Pressefreiheit schließt die
Unabhängigkeit und Freiheit der Information, der Meinungsäußerung und der
Kritik ein. Verleger, Herausgeber und Journalisten müssen sich bei ihrer Arbeit

71 Diese sind so inhaltsreich und abgewogen, dass es sich lohnt, sie in Gänze in der
Fassung vom 3. Dezember 2008 abzudrucken.
252 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und ihrer Verpflichtung für das
Ansehen der Presse bewusst sein. Sie nehmen ihre publizistische Aufgabe fair,
nach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen
und sachfremden Beweggründen wahr.
Die publizistischen Grundsätze konkretisieren die Berufsethik der Presse. Sie
umfasst die Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen
Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren und für die Freiheit der Presse
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einzustehen. […]
Die Berufsethik räumt jedem das Recht ein, sich über die Presse zu beschweren.
Beschwerden sind begründet, wenn die Berufsethik verletzt wird.
Diese Präambel ist Bestandteil der ethischen Normen.

Ziffer 1 Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde


Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahr-
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haftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in
der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Glaubwürdigkeit der Medien.

Ziffer 2 Sorgfalt
Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröf-
fentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach
den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und
wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift
oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Mel-
dungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.
Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.

Ziffer 3 Richtigstellung
Veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, insbesondere personenbezo-
gener Art, die sich nachträglich als falsch erweisen, hat das Publikationsorgan,
das sie gebracht hat, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig
zu stellen.

Ziffer 4 Grenzen der Recherche


Bei der Beschaffung von personenbezogenen Daten, Nachrichten, Informations-
material und Bildern dürfen keine unlauteren Methoden angewandt werden.

Ziffer 5 Berufsgeheimnis
Die Presse wahrt das Berufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht
Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht
preis. Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.
Medienethik 253

Ziffer 6 Trennung von Tätigkeiten


Journalisten und Verleger üben keine Tätigkeiten aus, die die Glaubwürdigkeit
der Presse in Frage stellen könnten.

Ziffer 7 Trennung von Werbung und Redaktion


Die Verantwortung der Presse gegenüber der Öffentlichkeit gebietet, dass re-
daktionelle Veröffentlichungen nicht durch private oder geschäftliche Interessen
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Dritter oder durch persönliche wirtschaftliche Interessen der Journalistinnen und


Journalisten beeinflusst werden. Verleger und Redakteure wehren derartige Ver-
suche ab und achten auf eine klare Trennung zwischen redaktionellem Text und
Veröffentlichungen zu werblichen Zwecken. Bei Veröffentlichungen, die ein Ei-
geninteresse des Verlages betreffen, muss dieses erkennbar sein.

Ziffer 8 Persönlichkeitsrechte
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Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt
jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in
der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht


auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Da-
tenschutz.

Ziffer 9 Schutz der Ehre


Es widerspricht journalistischer Ethik, mit unangemessenen Darstellungen in
Wort und Bild Menschen in ihrer Ehre zu verletzen.

Ziffer 10 Religion, Weltanschauung, Sitte


Die Presse verzichtet darauf, religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeu-
gungen zu schmähen.

Ziffer 11 Sensationsberichterstattung, Jugendschutz


Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Ge-
walt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.

Ziffer 12 Diskriminierungen
Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zuge-
hörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskri-
miniert werden.

Ziffer 13 Unschuldsvermutung
Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige
förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Un-
schuldsvermutung gilt auch für die Presse.
254 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Ziffer 14 Medizin-Berichterstattung
Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle
Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen
beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen
Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen
dargestellt werden.
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Ziffer 15 Vergünstigungen
Die Annahme von Vorteilen jeder Art, die geeignet sein könnten, die Entschei-
dungsfreiheit von Verlag und Redaktion zu beeinträchtigen, ist mit dem Ansehen,
der Unabhängigkeit und der Aufgabe der Presse unvereinbar. Wer sich für die
Verbreitung oder Unterdrückung von Nachrichten bestechen lässt, handelt un-
ehrenhaft und berufswidrig.
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Ziffer 16 Rügenveröffentlichung
Es entspricht fairer Berichterstattung, vom Deutschen Presserat öffentlich aus-
gesprochene Rügen zu veröffentlichen, insbesondere in den betroffenen Publi-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

kationsorganen bzw. Telemedien.


Quelle: http://www.presserat.de/Pressekodex.pressekodex.0.html (eingesehen
am 01.06.09)

Dieser Kodex lässt wesentliche Themenfelder einer Medienethik erkennen.


Wie weit ist beispielsweise die Pressefreiheit durch Wahrhaftigkeit (ein-
schließlich des Verzichts auf besondere Effekthascherei, vgl. Ziffer 14) und
Persönlichkeitsrechte anderer beschränkt? Nehmen wir ein konkretes Bei-
spiel: Als die Abstimmung im Bundestag zur Änderung des Stammzellge-
setzes im Jahr 2008 anstand, zeigte das Mittagsmagazin von ARD und ZDF
ein Feature des Bayerischen Rundfunks, bei dem durch die filmische Dar-
stellung von kurz vor der Geburt stehenden ungeborenen Menschen beim
Zuschauer der Eindruck entstand, es ginge um die Frage der Tötung dieser
Föten. Damit wurde eklatant gegen Ziffer 14 verstoßen, da beim Zuschauer
unbegründete Befürchtungen geweckt wurden, als ob die Debatte im Bun-
destag darum ginge, ob man Ungeborene, deren menschliches Antlitz im
Ultraschall bereits sichtbar ist, für die wissenschaftliche Forschung töten
dürfe. Zugleich wurde indirekt gegen Ziffer 9 verstoßen. Denn Befürworter
der Verschiebung des Stichtags wurden durch diese unangemessene Darstel-
lung in Wort und Bild in ihrer Ehre so verletzt, als ob sie nämlich das Aus-
schlachten von kurz vor der Geburt stehenden Menschen zu Forschungs-
zwecken befürworten würden. Vor diesem Hintergrund muss man sagen,
dass die betreffenden Journalisten zwar ihr Recht auf freie Meinungsäuße-
Medienethik 255

rung ausübten, aber darin zugleich gegen zwei wesentliche medienethische


Normen verstoßen haben. Bereits dieses noch sehr klare Beispiel verdeut-
licht, wie schwierig im konkreten Einzelfall eine medienethische Bewertung
ausfallen wird.
Schon schwieriger ist zu bewerten, ob die Darstellung eines gekreuzigten
Fußballtrainers bereits eine Missachtung seiner Person darstellt (Ziffer 9)
oder ob sie ganz grundsätzlich und allgemein religiöse Gefühle verletzt (Zif-
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fer 10)? Damit verbunden ist ein zentrales Problem, inwieweit auch heute
noch Zensur berechtigt ist. Einigkeit herrscht, dass es einen Kinder- und
Jugendschutz geben muss. Doch während zumindest das Fernsehen in der
Darstellung sexueller Inhalte relativ große Zurückhaltung übt, sobald Kin-
der und Jugendliche mögliche Zuschauer sein könnten, ist die Darstellung
von Gewalt gerade auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur sehr be-
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grenzt eingeschränkt (vgl. aber Ziffer 11). Nicht nur in James-Bond-Filmen,


Western und Kriegsfilmen wird in großer Zahl gestorben. Es gibt kaum ei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

nen größeren öffentlich-rechtlichen Sender, der ohne Krimis und damit ver-
bundene Tötungsdelikte auskommt. Wiederum stellt sich die Frage: Wo
sollte die Grenze gesetzt werden? Die Frage verschärft sich vor dem Hinter-
grund angebotener Gewaltspiele. Doch es ließe sich die Gegenfrage stellen:
Ist nicht bereits das Schachspiel ein Medium, bei dem „Bauern“ geopfert
werden?
Der Pressekodex weist auf eine weitere wichtige ethische Fragestellung
hin, wenn er in Ziffer 7 die Verantwortung der Presse für Unabhängigkeit
von privaten und geschäftlichen Interessen anmahnt. Hier kommt es zu ei-
nem Konflikt zwischen der Verantwortungsdimension und der Interessens-
dimension des Journalisten (vgl. Leiner 2006, 163–167).

Abb. 27 Journalistische Verantwortung versus journalistische Interessen


256 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

Der Konflikt zwischen journalistischer Verantwortung und anderen journa-


listischen Interessen hat vielfältige Dimensionen. Sie stehen im Spannungs-
feld von Interessen aus Politik, Wirtschaft, Sport oder auch der Kulturszene.
Ein Verriss kann die Karriere eines aufstrebenden Autors oder Theaterregis-
seurs im schlechtesten Fall vernichten. Von besonderer Bedeutung ist dabei
die Einbindung der Medien in wirtschaftliche Belange, denn manche Me-
dien gehören „Global Players in Business“ wie Sony, oder stehen in be-
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stimmten Abhängigkeitsverhältnissen (Verzahnung medien- und wirt-


schaftsethischer Fragestellungen). Dazu kommen Abhängigkeiten auf der
persönlichen Ebene. Funiok (2007) unterteilt darum die Medienethik noch
einmal in eine „Medienethik als Unternehmens-Ethik“ (119ff ) und eine
„Berufsethik der Medienschaffenden“ (127ff ), wobei er letztere in eine
„Ethik des Journalismus“, „eine Ethik der Produzenten“, „eine Ethik der Pu-
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blic Relations“, „eine Ethik der Werbung“ und „eine Ethik der Propaganda“
unterteilt. Medien haben eine große Verantwortung für Bildung und unab-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

hängige Information, doch rechtfertigt dies eine Art Zwangsgebühr, wie sie
in Deutschland von jedem, der ein Radio, einen Fernseher oder einen inter-
netfähigen Computer kauft, erhoben wird, obwohl doch öffentlich-rechtli-
ches Fernsehen verschlüsselbar wäre? Umgekehrt haben auch die medialen
Konsumenten eine Verantwortung, was sie lesen, hören und ansehen.
Darüber hinaus gibt es ein breites Spektrum an weiteren ethischen Fra-
gen. Als beispielsweise eine Milliardärin von einem ehemaligen Liebhaber
damit erpresst wurde, dass er die längst vergangene Liebschaft öffentlich
machen würde und sie seiner Erpressung nicht nachgab, sondern ihn an-
zeigte, berichteten selbst überregionale Tageszeitungen ausführlich über das
Gerichtsverfahren. Medienethisch wäre zu fragen, ob eine solche Berichter-
stattung nicht genau das erfüllt, womit der Erpresser drohte. All dies sind
Themenfelder, mit denen sich eine Ethik der Medien zu beschäftigen hat.
Dazu kommt eine weitere Dimension durch die weltweite Verfügbarkeit
von Informationen im Netz. Die weltweiten Möglichkeiten, richtige wie fal-
sche Nachrichten zu verbreiten, hat mehrere Seiten: Für Diktaturen wird es
immer schwerer, ihre Zensur durchzusetzen. Im Netz ist auch die Sicht der
anderen Seite verfügbar. Andererseits ist es vielfach unmöglich, ehrverlet-
zende Darstellungen, Verleumdungen, aber auch Copyright-Verletzungen
verhindern oder bestrafen zu können. Wird der betreffende Eintrag gelöscht,
so kann er auf einer anderen Seite wieder auftauchen. So stellt sich die sys-
temische Frage, wie in manchen Fällen überhaupt noch medienethische
Medienethik 257

Überzeugungen über Appelle hinaus mit Hilfe einer Rahmenordnung im-


plementierbar sind, also nicht nur rein appellativen Charakter haben.
Kehren wir zur exemplarischen Darstellung dieser vielgestaltigen me-
dienethischen Problematik zu dem Beispiel zurück, das uns bereits in vielen
anderen Bereichsethiken für eine vertiefte Untersuchung gedient hat: der
Grünen Gentechnik.
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15.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel der


Darstellung Grüner Gentechnik
Am 20. Juni 2009 veröffentlichte der Münchner Merkur auf der ersten Seite
des Bayernteils, der allen regionalen Blättern dieser Zeitung beiliegt, einen
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Beitrag von Thomas Schmidt mit dem Titel „Agro-Gentechnik macht Bau-
ern abhängig“.72 Der Beitrag selbst ist auch im Internet frei zugänglich. Dort
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

findet man ihn am selben Tag, aber im Titel der Internetadresse wird aus
„Agro-Gentechnik macht Bauern abhängig“ bezeichnenderweise „mon-
santo-genozid-an-bauern“73. Der Artikel selbst beginnt mit: „Der US-Kon-
zern Monsanto steht wegen seinem gentechnisch veränderten Saatgut im-
mer wieder in der Kritik, doch niemand wählt so deutliche Worte, wie die
indische Umweltschützerin Vandana Shiva. Sie wirft dem Unternehmen
Genozid an 200.000 indischen Bauern vor.“ Während in der Printausgabe
diese Zeilen in Normaldruck erschienen sind, druckt die Internetausgabe sie
fett. Der Beitrag geht dann weiter: „An 200.000 Bauern, die von Reichtum
träumten, doch ihre Samen alljährlich teuer vom Monopolisten Monsanto
kaufen mussten, mehr und mehr Pestizide auf ihren Feldern ausbrachten, in
Abhängigkeit und Schulden verfielen und sich schließlich verzweifelt das
Leben nahmen.“74 Der Autor des Beitrags lässt sowohl den Begriff „Geno-
zid“ wie die Zahl von 200.000 Bauern als Opfer Monsantos stehen, ohne
überhaupt die Richtigkeit zu überprüfen. Der Begriff „Genozid“ ist von

72 Eine systematische Untersuchung zur Berichterstattung über die Grüne Gentech-


nik am Beispiel von Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der tageszeitung findet
sich bei Oberthür (2008, 243–270).
73 Die vollständige Adresse lautet: http://www.merkur-online.de/nachrichten/bayern/
monsanto-genozid-an-bauern-mm-364408.html (eingesehen am 20. 06. 2009).
74 Dem Satz fehlt das Prädikat. Vermutlich hätte der erste Abschnitt „[…] Genozid
an 200.000 indischen Bauern.“ nicht mit einem Punkt, sondern einem Komma
enden sollen, dann wäre der folgende Teil eine Apposition.
258 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

vornherein ein falscher Sprachgebrauch, denn dieser Begriff bezeichnet


einen Völkermord, der international geächtet ist. Am 9. Dezember 1948 be-
schloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution
260 die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes
(Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, Convention
on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide). Die Bundesrepu-
blik Deutschland ratifizierte diese Konvention im Februar 1955. Wäre der
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Vorwurf des Genozids korrekt, müsste das Unternehmen Monsanto inter-


national geächtet werden. Zudem wären zumindest die Vorstände vor dem
Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzuklagen. Auch die Angabe der
Zahlen ist falsch, denn das u. a. von Deutschland und anderen Staaten finan-
zierte „International Food Policy Research Institute“ (gegründet 1975)
kommt in einer sorgfältigen, den wissenschaftlichen Standards genügenden
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Studie zu dem Ergebnis (Gruère u.  a. 2008, VI), „dass Bt Baumwolle [in
Indien] weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für bäu-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

erliche Selbsttötungen ist“. Die gewaltige Zunahme des Anbaus von Bt


Baumwolle in Indien in den letzten Jahren spricht ebenfalls eine deutliche
Sprache: Warum sollten Bauern so dumm sein, etwas anzubauen, was so
viele von ihnen in den Tod treiben würde. Vor diesem Hintergrund verstößt
der Beitrag gegen das oberste Gebot der Presse, nämlich die Achtung der
Wahrheit (Ziffer 1 und 2). Auch wird der journalistische Anstand verletzt
(Ziffer 9), da „unbegründete Behauptungen und Beschuldigungen, insbe-
sondere [für Monsanto] ehrverletzender Art“ veröffentlicht werden, denn
der Leser wird in keiner Weise darauf hingewiesen, dass Frau Shiva eine
wissenschaftlichen Studien widersprechend Botschaft verkündete, die durch
den Gebrauch von Worten wie „Genozid“ zugleich schlimmste Erinnerun-
gen im deutschen Leser weckt. Im Gegenteil wird die Autorität ihrer Aus-
sagen dadurch verstärkt, dass der Artikel fortfährt: „Die Trägerin des alter-
nativen Nobelpreises tourt durch Europa, spricht vor tausenden von
Zuhörern, warnt vor genmanipulierten Pflanzen.“ Indem diese ihre Aus-
zeichnung als alternative Nobelpreisträgerin erwähnt wird, entsteht beim
Leser der Eindruck, ihren Äußerungen besonders vertrauen zu können.
Gleichzeitig wird die Kritik verallgemeinert und mit einem weiteren Kri-
tikpunkt verbunden. Es geht sofort weiter: „Gestern legte sie einen Zwi-
schenstopp in München ein, denn Monsanto ist auch in Bayern Thema.
Zuletzt erhitzte die Debatte um die Maissorte Mon 810 die Gemüter im
Freistaat, dessen Anbau Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner
schließlich verbot. Eingeladen hatte das Netzwerk Zivilcourage, dessen
Medienethik 259

Sprecher Christoph Fischer betonte: ‚Unser aller Lebensgrundlagen werden


durch die Agro-Gentechnik gefährdet.‘ In Bayern entstehe eine Basisbewe-
gung, die sich notfalls auch mit ‚zivilem Ungehorsam‘ verteidigen müsse.
Konzernen wie Monsanto oder der deutschen BASF ginge es um die Kont-
rolle der Zukunft, so Shiva.“ Wenn der Anbau von Bt-Baumwolle 200.000
Menschen in den Tod getrieben hätte, dann wäre ziviler Ungehorsam gegen
einen solchen Anbau sicher berechtigt. Doch auf einmal geht es nicht mehr
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nur um den Anbau von Bt Baumwolle in Indien, nicht mehr nur um Mon-
santo, sondern um Widerstand gegen Firmen, die „die Kontrolle der Zu-
kunft“ übernehmen wollen. Diese plakative Aussage ist überzogen, dennoch
weist sie auf eine wirkliche Gefahr von Oligo- bzw. Monopolisierung in der
Agro-Gentechnik hin (vgl. dazu die Überlegungen in 11.3). Diese kann je-
doch gerade nicht durch die Formen „zivilen Ungehorsams“ bekämpft wer-
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den, bei der Gegner der Grünen Gentechnik Versuchsfelder mit gentech-
nisch veränderten Pflanzen zerstören, die zudem oft gerade nicht Konzernen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

gehören, sondern Eigentum von staatlichen Forschungsinstitutionen sind


(vgl. 9.3). Denn derartige Aktionen verstärken nur die Tendenz zur Mono-
polisierung, da nur große Unternehmen derartige Schäden verkraften kön-
nen. Doch diese Problematik bleibt ebenfalls unerwähnt. Stattdessen werden
die Äußerungen von Percy Schmeiser wiedergegeben: „Monsanto strebe die
‚totale Kontrolle‘ über die Farmer an und würde diese sogar anstiften, sich
gegenseitig zu bespitzeln, ob der Nachbar Genpflanzen ohne Lizenz aus-
bringt. Es herrsche eine ‚Kultur der Angst‘“. Auch wenn die Aussagen
Schmeisers korrekt sein können, wird dem Leser vermittelt, dass sie korrekt
sind. Der Leser erfährt nämlich nichts vom Hintergrund des Rechtsstreits
zwischen Percy Schmeiser und Monsanto. 95 bis 98 Prozent seines Rapses
auf einer Fläche von etwa 4 km² war gentechnisch veränderter Monsanto-
Raps (Roundup Ready), ohne dass Schmeiser Lizenzgebühren gezahlt hatte.
Monsanto verklagte ihn wegen Verletzung des Patentrechts, da ein solches
Ernteergebnis nicht Ergebnis einer Auskreuzung von den angrenzenden
Feldern von Bauern, die Bt-Mais anbauten, sein konnte. Er wurde 2004 ver-
urteilt, ohne aber Schadensersatz an Monsanto zahlen zu müssen, da er nicht
von diesem Raps profitiert habe. 2008 verklagte umgekehrt Schmeiser Mon-
santo wegen fortgesetzter Kontaminierung seiner Felder durch gentechnisch
veränderten Raps. Monsanto ging auf alle seine Forderungen ein, sodass es
nicht zum Prozess kam. Wiederum erfährt der Leser nichts von diesem
Hintergrund, der Schmeisers Aussage zumindest im Hinblick auf den An-
bau von Gen-Raps und Raps in unmittelbarer Nachbarschaft als wahr aus-
260 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik

gewiesen hätte: „Sobald gentechnisch verändertes Saatgut eingeführt ist,


kann man die Ausbreitung nicht mehr kontrollieren.“ Indem der Artikel
berechtigte Anfragen an die Grüne Gentechnik mit unrichtigen, ehrverlet-
zenden Aussagen vermengt, führt er den Leser in die Irre und missachtet
den Pressekodex. Dennoch besteht keine Möglichkeit, gegen einen derarti-
gen Artikel erfolgreich vorzugehen, der vor allem zitiert und berichtet. Die
tendenziöse Auswahl, der Verzicht auf Richtigstellung lässt sich kaum er-
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folgreich einfordern. Wenn dies bereits bei einem so brennenden Thema wie
der Grünen Gentechnik in einer nicht unbedeutenden regionalen Zeitung
der Fall ist, so lässt sich vorstellen, um wie viel weniger das medienethische
Ethos im Internet durchsetzbar ist. Gleichzeitig zeigt das Beispiel ein Wei-
teres, womit der betreffende Verfasser des Artikels genauso wie der Redak-
teur des Bayernteils des Münchner Merkur etwas entschuldigt werden kann:
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Gerade so ethisch vielfältig umstrittene und emotional besetzte Themen wie


die Grüne Gentechnik machen es Journalisten besonders schwer, objektiv
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

und unparteiisch zu berichten, denn meistens sind sie in diesen Fragen selbst
Partei.75

75 Nach empirischen Studien (Weischenberg u. a. 2006) waren im Jahr 2005 mehr als
ein Drittel der Journalisten in ihrer Parteineigung Anhänger der Grünen.
261

16 Schlussbemerkung

Angewandte Ethik hat es mit Konflikten zu tun. Zwar erschöpft sich ihre
Aufgabe nicht darin, doch bieten diese das Feld, in dem sich die Ange-
wandte Ethik zu bewähren hat. Im Unterschied zu Konflikten vor Gericht,
die immer eine letzte Entscheidung haben, kommt es bei Konflikten in den
Bereichen der Angewandten Ethik häufig vor, dass sie nicht abschließend
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gelöst werden können. Selbst wenn man von den Prinzipien der Menschen-
würde und der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit
ausgeht, kann es beispielsweise in der Frage des Umgangs mit einer verbrau-
chenden Forschung an menschlichen Embryonen ganz unterschiedliche
Antworten geben, abhängig davon, wie man den Embryo seinsmäßig ver-
steht, ob als einen Menschen oder eine Vorform des Menschen. Ähnliches
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gilt in anderen Bereichen. In den vielfältigen Fragestellungen zur Grünen


Gentechnik entscheidet sich die ethische Frage wesentlich an der Risikoein-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

schätzung, an der Bewertung ökonomischer, ökologischer und sozialer Fol-


gen dieser Technik, aber auch im Verständnis dessen, was Integrität und
Würde einer Pflanze eigentlich bedeutet. In wirtschaftsethischen Konflikt-
fällen hängt die Lösung oft weitgehend von dem Verständnis der Gerechtig-
keit ab, in sexual- und medizinethischen Konflikten davon, ob mit dem
Prinzip der Menschenwürde nicht nur Menschenrechte, sondern auch Men-
schenpflichten verbunden sind und welche Konsequenzen letztere mit sich
bringen. Diese Problematik der Interpretation von Menschenwürde und
Gerechtigkeit stellt sich ebenso bei Fragen des Dopings im Sport. Medien-
ethische Grenzfälle, ob bereits die Wahrheit verdreht, der Sachverhalt un-
korrekt dargestellt oder die Ehre von Personen verletzt wurde, sind ebenfalls
nicht immer entscheidbar.
In diesen Streitfällen sollte im gesellschaftlich-politischen Bereich eine
Respekttoleranz herrschen, die mithilft, gerade für derartige Fälle tragfähige
rechtliche Kompromisse zu erarbeiten, mit denen möglichst viele Menschen
leben können, und die den gesellschaftlichen Frieden zu wahren helfen. Der
Leitgedanke hierbei könnte lauten, dass jeder „bereitwilliger sein muss, die
Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen; und wenn er sie nicht
retten kann, erkundige er sich, wie jener sie versteht, und versteht jener sie
schlecht, so verbessere er ihn mit Liebe […]“ (Ignatius von Loyola 1988
[1547], Nr. 22).
262

Glossar
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Agnostizismus Die Überzeugung, dass sich kein Gott erkennen lässt


(griechisch: a = Verneinung, gignoskein = erkennen).
Aktutilitarismus Eine utilitaristische Theorie, nach welcher der Maßstab
für die gewünschten Handlungsfolgen jeder Handlung die Maximierung
des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl ist (lateinisch: actus =
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Handlung).
Angewandte Ethik Eine Ethik (s. dort) heißt „angewandte“, wenn sie
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

konkret wird. „Angewandt“ und somit konkret ist die Ethik dadurch, dass sie
sich ganz bestimmten Handlungsfeldern zuwendet und deren eigene Prob-
lemlagen aufgreift, dabei aber auch Rücksicht auf deren jeweilige sachliche
Zusammenhänge nimmt.
Anthropozentrismus Ein Ansatz, nach welchem der Mensch im Mittel-
punkt steht und Ausgangspunkt aller Werte ist (griechisch: anthropos =
Mensch, lateinisch: centrum = Mittelpunkt). Der Anthropozentrismus erkennt
weder der übrigen belebten noch der unbelebten Natur einen eigenen Wert
zu, es sei denn, sie hat für den Menschen einen Wert.
Argument Lateinisch: arguere = behaupten; in der Logik „eine Folge von
Aussagesätzen, mit der der Anspruch verbunden ist, dass ein Teil dieser
Sätze (die Prämissen) einen Satz der Folge (die Konklusion) in dem Sinne
stützen, dass es rational ist, die Konklusion für wahr zu halten, falls die Prä-
missen wahr sind“ (Beckermann 2003, 4). Hier in einem weiteren Sinn ver-
wendet, nämlich im ursprünglichen Sinn einer Behauptung, für die Gründe
angegeben werden, die aber nicht den gerade genannten Anspruch haben
müssen.
Atheismus Die Überzeugung, dass es keinen Gott gibt (griechisch: a = Ver-
neinung, theos = Gott).
Autonomie I (kantisch) Begriff der kantischen Philosophie, der in strenger
Anlehnung an seine Herkunft aus dem Griechischen (autos = selbst, nomos =
Gesetz) Selbstgesetzgebung im Bereich des Moralischen besagt. Dies bedeu-
tet, dass der Einzelne auf Grund seiner Teilhabe an der überindividuellen,
Glossar 263

praktischen Vernunft imstande ist, im Moralischen selbst die Gesetze zu


finden, wonach er (und damit auch alle anderen vernunftbegabten Lebewe-
sen) handeln soll (Gegenbegriff: Heteronomie (griechisch: heteros = der an-
dere), wo der andere, z.  B. der absolute König oder ein heiliges Buch, die
moralischen „Gesetze“ gibt).
Autonomie II (medizinethisch) Ein Begriff in der modernen Medizinethik
(und nicht nur dort), der als Synonym für das Selbstbestimmungsrecht des
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Einzelnen verwendet wird.

Bioethik I Die Ethik vom Umgang mit biologischen Organismen, die so-
wohl die außermenschliche Bioethik (hier synonym unter einem Teil der
Umweltethik) als auch die Bioethik am Menschen umfasst. In einem sehr
weit gefassten Begriff kann sie fast alle Bereiche der Angewandten Ethik
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einschließen (so bei Korff u. a. (Hg.) 2000).


Bioethik II In diesem Buch wird der Begriff „Bioethik“ für die Bioethik
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

des Menschen reserviert und die außermenschliche Bioethik als Teil der
Umweltethik behandelt. Damit folge ich der englischsprachigen Zuordnung,
wie sie das Kennedy Institute und das Hastings Center Anfang der 70er
Jahre des letzten Jahrhunderts vorgenommen haben.
Biozentrismus Eine dem Physiozentrismus verwandte Position, die zwar
nicht Entitäten allgemein, aber allen Lebewesen ein gleiches Recht auf Le-
ben und eine eigene Wertigkeit zuerkennt.
Bottom-up-Modell Ein Problemlösungsansatz, der nach konkreten Um-
ständen eines Falls „von unten nach oben“ Regeln entwickelt, nach denen
sich ähnliche Fallkonstellationen lösen lassen.

Deontologische Ethik Die Gesinnungsethik oder deontologische Ethik


hebt den guten Willen als Kernelement hervor, der in einem Handeln aus
Pflicht besteht (griechisch: to deon = das der Pflicht entsprechende; das, was sich
ziemt). Handeln aus Pflicht lässt sich im Unterschied zum pflichtgemäßen
Handeln nicht empirisch feststellen.
Deskriptiv-hermeneutische Ethik Ziel dieses Ansatzes ist die Beschrei-
bung (lateinisch: describere = beschreiben) und Auslegung (griechisch: hermeneu-
ein = auslegen) moralischer Einstellungen. Eine deskriptiv-hermeneutische
Ethik erhebt keinen Anspruch darauf, Normen zu entwickeln oder die Qua-
lität von Geltungsansprüchen zu bewerten.
Dilemma/dilemmatisch Situationen, in denen jede Handlungsweise mit
bindenden moralischen Prinzipien in Widerspruch gerät.
264 Glossar

Diskursethik In einem (herrschaftsfreien) Diskurs zwischen Vernunft­


wesen werden Wertkonflikte verhandelt, ausgetragen und nach der rational
besten Alternative entschieden.

Ethik Die wissenschaftliche Disziplin, die in Reflexionsarbeit zur Klärung


von moralischen Begriffen, Erarbeitung von Normen usw. besteht.
Ethos Eine gruppenspezifische „Konvention“, die mitunter für die Mit-
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glieder bindend gruppenspezifische Wertvorstellungen und Normen um-


fasst.
Eudaimonia Die Lehre der Glückseligkeit (griechisch: eu = gut, daimon =
Geschick). Zum Glück des Menschen gehört ein glückliches Geschick ein-
schließlich „äußerer Güter“.
Eugenik Die Anwendung humangenetischer Erkenntnisse auf Bevölke-
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rungs- und Gesundheitspolitik mit der Absicht den Anteil an positiv bewer-
teten Merkmalen und Erbanlagen in der Bevölkerung zu erhöhen (griechisch:
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

eu = gut, genos = Geschlecht).

Gleichheit, grundsätzliche Grundsätzliche Gleichheit bedeutet, dass alle


Menschen bezüglich der Grundbedürfnisse und fundamentaler Freiheits-
spielräume gleich sind. Es bedeutet aber nicht, dass alle Menschen in allem
gleich zu behandeln sind.

Holistische Ethik Ein ganzheitlicher Ansatz, nach dem die Gesamtheit


von Prinzipien und vielfältigen Bezügen in einer Situation in den Blick ge-
nommen werden (griechisch: to holon = das Ganze, die Gesamtheit). Holistische
Werturteile haben größtmöglichen Geltungsanspruch und sehen von Ein-
zelfällen ab.

Implementation Das Durchsetzen von bestimmten Regeln oder Normen.


Implementation ist nicht mit Anwendung von Regeln und Normen zu ver-
wechseln, bei der es nicht nur um ihre Durchsetzbarkeit, sondern wesentlich
auch um die Frage geht, wie diese in konkreten Situationen umzusetzen, also
anzuwenden sind.

Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung und in gewisser Weise


als Zuordnungstugend die Tugend der Gerechtigkeit, die für das rechte Zu-
ordnungsverhältnis von Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung sorgt (so Pla-
tons klassisch zu nennendes Verständnis). Sie heißen deshalb auch Kardinal-
Glossar 265

tugenden, weil sie als Angelpunkt (lateinisch: cardo = Türangel, Angelpunkt)


des moralisch guten Lebens gelten.
Konflikt/Konfliktfälle Lateinisch: confligere = zusammenstoßen; meint in der
Ethik das Aufeinandertreffen konträrer Bedürfnisse, Normen und Werte.
Eine wesentliche Aufgabe der Ethik besteht in der Konfliktlösung. Kon-
flikte erweisen sich als dilemmatisch (s. dort), wenn sie nicht aufgelöst wer-
den können, ohne dass ein bindendes moralisches Prinzip verletzt wird.
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Medienethik Die mediale Kommunikation und ihre Entstehung, gesell-


schaftliche Verbreitung, Verwendung und Entwicklung sind der Bezugs-
punkt ethischer Reflexion der Medienethik (lateinisch: medium = Mitte,
Öffentlichkeit, Gemeingut). Eine besondere Stellung nehmen dabei Massen-
medien (Presse, Film, Hörfunk, Fernsehen) sowie neuere mediale Kommu-
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nikationsformen wie das Internet, DVDs und andere digitale Medien ein.
Menschenwürde Es gibt unterschiedliche Menschenwürdekonzeptionen.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Die hier vertretene Bestimmung geht davon aus, dass jedem Menschen eine
unbedingte, also nicht an Bedingungen geknüpfte Menschenwürde zu-
kommt. Dies bedeutet: Jedem Menschen kommt grundsätzlicher Subjekt-
status und grundsätzliche Gleichheit (s. dort) zu. Diese unbedingte Men-
schenwürde kann der Mensch nicht verlieren, solange er lebt. Sie kann
unterschiedlich begründet werden. Man kann dieses Prinzip auch als regula-
tives Prinzip bezeichnen, insofern es als Hintergrund für die verschiedenen
ethischen Konzeptionen zu dienen vermag, und die Festlegung auf ein be-
stimmtes Interpretations- und Bewertungsmodell vermieden werden kann,
wobei es eine regulierende Funktion einnimmt: Es gibt einen Maßstab an,
woran sich das Handeln zu orientieren hat, ohne dass sich das Handeln lo-
gisch aus diesem Prinzip deduzieren ließe.
Meta-Ethik „Metaethisch“ (griechisch: meta = hinter) sind Begriffsklärun-
gen, Begriffsanalysen, Grundannahmen und die Klassifikation ethischer
Theorien, die den Hintergrund der eigentlichen ethischen Fragen bilden,
aber noch nicht selbst Ethik sind.
Monotheismus Die Theologie eines einzigen Gottes (griechisch: monos =
einzig, theos = Gott), im Gegensatz zur pantheistischen Viel-Götter-Lehre.
Moral Die Menge der gesellschaftlichen „Konventionen“, der persönlichen
Wertvorstellungen und Normen oder von Normen und Werten im Rahmen
einer ethischen Theorie.
Moralphilosophie Anderes Wort für philosophische Ethik; insofern prä-
ziser als der Begriff „philosophische Ethik“, da es auch um Fragen geht, die
266 Glossar

terminologisch ganz korrekt bezeichnet „metaethische Fragen“ sind, z. B. die


Frage nach der Bedeutung des Begriffs „gut“.

Narrative Ethik Einsichten in bestimmte Werte und den Sinn von Hand-
lungen werden durch Erzählungen erschlossen (lateinisch: narrare = erzäh-
len). Im Akt des Erzählens und in der Rezeption des Erzählten können
Werte entstehen oder auch bewahrt werden. Berühmte Erzählungen in die-
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ser Hinsicht bieten insbesondere die Heiligen Schriften vieler Religionen.


Naturalistischer Fehlschluss Der Versuch, normative Werturteile direkt
aus nicht-normativen Bedingungen abzuleiten. Solche Fehlschlüsse oder
Kategorienfehler haben häufig die Form: A) In der Natur setzt sich der Stär-
kere durch. B) Wir sind Teil der Natur. Also gilt C): Stark sein ist normativ
gut und wir sollen danach streben stark zu sein. Dabei wird unzulässig von
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der (wertfreien) empirischen Behauptung A) auf ein normatives Werturteil


C) geschlossen.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Naturrecht Die Überzeugung, dass aus der Natur des Menschen eine
Ordnung herausgelesen werden kann, die für den Menschen erkennbar ist
und die rechtliche Bestimmungen für menschliches Verhalten vorgeben kann.
Naturrechtslehre Eine Familie von philosophischen und theologischen
Konzeptionen, wonach die menschliche Natur kraft ihrer Vernünftigkeit aus
sich heraus (oder als von Gott geschaffene) das natürliche Sittengesetz fin-
det.
Normativ Lateinisch: norma = Richtschnur, Regel; Fachbegriff für ein Vor-
gehen in der Ethik, bei dem Regeln und Sollensforderungen aufgestellt
werden.

Pathozentrismus Eine Bewertungstheorie, die Leiden (griechisch: pathein


= leiden, empfinden) als zentrale Kategorie annimmt. Die Empfindungen ein-
zelner Lebewesen sind damit (einzig) moralisch relevant und folglich auch
die Frage, wie und nach welchen Qualitäten Leiden abgestuft und damit
beurteilt werden kann.
Physiozentrismus Griechisch: physis = Natur; wird auch als Holismus oder
Ökozentrismus (griechisch: oikos = Haus) bezeichnet und behauptet eine
Wertigkeit des gesamten Ökosystems Erde, von dem her alle anderen Werte
entwickelt werden und somit der Mensch nur Wert hat, da er ein Teil der
Natur ist.
Potentialität Lateinisch: posse = können; Fachbegriff, der in unterschiedli-
cher Bedeutung verstanden werden kann: Potentialität als logische, passive
Glossar 267

oder aktive Möglichkeit. Die aktive Potentialität kann eine allgemeine aktive
Potentialität bezeichnen, oder auch eine aktive eines Organismus. Dieser
letzte Begriff von Potentialität ist in der Diskussion um den moralischen
Status des menschlichen Keims, des Embryos und des Fötus von besonderer
Bedeutung. Er hängt in seiner Bedeutung eng mit der aristotelisch-thomis-
tischen Seinslehre zusammen, wonach ein Organismus bereits aktual die
dispositionelle (veranlagungsmäßige) Potentialität zu allem hat, was er ein-
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mal wird. Allerdings ist beispielsweise bei Thomas von Aquin für den
menschlichen Keim und Embryo diese aktive Potentialität noch nicht gege-
ben, sondern nur eine passive Potentialität.
Präferenzenutilitarismus Eine utilitaristische Theorie, welche Hand-
lungsfolgen danach bewertet, inwieweit sie die Präferenzen und damit die
Vorlieben und Wünsche aller von einer Handlung Betroffenen realisiert.
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Recht Verbindliche und grundsätzliche sanktionierbare Normen, Wert-


Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

und Normkompromisse, oft in Form von positivem Recht, also Recht, das
die Menschen sich in konkreten Gesetzen „setzen“ (lateinisch: ponere = set-
zen, davon positum = das Gesetzte).
Regelutilitarismus Begründung und Ausformulierung von Handlungsre-
geln, nach denen utilitaristisch die besten Handlungsfolgen zu erwarten
sind.

Sportethik Systematische Reflexion auf ethisch relevante Dimensionen


und bestimmte Konfliktfälle im Bereich des Sports (lateinisch: deportare =
wegtragen). Gemeint ist wohl, dass man sich von der üblichen Arbeit weg-
tragen lässt und sich vergnügt (altfranzösisch: se deporter = sich zerstreuen, ver-
gnügen).

Technikethik Eine Bereichsethik, die sich auf die Auswirkungen von


Technologien auf menschliches Handeln reflektiert.
Teleologische Ethik Auf der Seinsebene ist ein Ziel vorgegeben, das zu
verwirklichen normativ gut ist (griechisch: telos = Ziel). Es ist normativ gut,
wenn ein Mensch seine Menschennatur realisiert. Sie realisiert sich konkret
eben gerade dadurch, dass ein Mensch glücklich ist.
Top-down-Modell Ein Problemlösungsansatz, nach dem ethische Prinzi-
pien „von oben nach unten“ angewandt werden. Es wird also von allgemei-
nen Regeln auf konkrete Handlungsvorgaben in einer bestimmten Situation
geschlossen.
268 Glossar

Transzendentalphilosophie (kantisch) Teil der Philosophie Kants, die


des­halb von ihm transzendental genannt wird, weil sie ihre Prinzipien nicht
aus der Erfahrung gewinnt, sondern im Überstieg (lateinisch: transcendere =
übersteigen) hin zu den Erkenntnismöglichkeiten und der Freiheit im Sub-
jekt selbst.

Umweltethik Die wissenschaftliche Reflexion ethischer Fragen bezüglich


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der nicht-menschlichen Natur und menschlichen Eingriffen in diese be-


lebte, und unbelebte Natur. Dabei geht es beispielsweise um die Frage, ob
nicht-menschlichen Lebewesen ein eigener Wert zukommt, und um die
Frage, wie die Natur als Lebensgrundlage für uns Menschen geschützt wer-
den kann.
Utilitaristische Ethik Die Konsequenzen der Handlungen stehen im Zen-
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trum der Überlegungen und somit beurteilen utilitaristische Ethiken (latei-


nisch: utilis = nützlich), die auch konsequenzialistisch (lateinisch: consequi =
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

folgen) genannt werden, eine Handlung danach, wie gut bzw. nützlich deren
(mögliche) Folgen sind.

Vertragstheorie Mittels eines Vertrags zwischen rationalen Wesen wer-


den Rechte und Pflichten gegenseitig anerkannt, welche die normative
Grundlage einer Gemeinschaft bilden. Eine Vertragstheorie, auch Kontrak-
tualismus genannt, kann sowohl auf Makroebene das Fundament für Staats-
gründungen liefern als auch auf Mikroebene einen kooperativen Ausweg aus
einer Dilemma Situation weisen.

Wirtschaftsethik Ein Gebiet der Angewandten Ethik, das ethische An-


sätze und Fragestellungen in den Bereichen von Wirtschaft allgemein, von
Unternehmen (auch Unternehmensethik genannt) und deren Führung
(auch Führungsethik genannt) thematisiert.

Wissenschaftsethik Ein Gebiet der Angewandten Ethik, das spezifisch


ethische Verantwortung von Forschung, Forschenden und Forschergemein-
schaften untersucht sowie Folgen und Bedingungen von Wissenschaft im
Bezug auf die gesamte Gesellschaft in den Blick nimmt.
269

Zitierte Literatur

Die Zitate wurden nach der neuen deutschen Rechtschreibung wiedergege-


ben. Zum besseren Verständnis habe ich in einigen Zitaten in eckigen Klam-
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mern eine kurze Ergänzung eingefügt. Hervorhebungen in Zitaten sind


grundsätzlich von den jeweiligen Verfassern. Übersetzte Zitate stammen von
mir, sofern nicht Übersetzungen zitiert wurden. Als Verlagsort ist immer nur
der erste Ort angegeben. Bei der Jahresangabe existiert für antike und mit-
telalterliche Texte meist kein genaues Erscheinungsdatum. Darum werden
sie im Text mit den üblichen Kürzeln angegeben (hier im Literaturverzeich-
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nis der Jahreszahl der Ausgabe vorangestellt). Die Seitenangabe erfolgt nach
den international üblichen Zählungen, beispielsweise bei Platon nach der
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Stephanuszitation. Bei neueren klassischen Werken sind die Ersterschei-


nungsdaten in eckigen Klammern beigefügt. Zitate aus nicht-wissenschaft-
lichen Zeitungen oder Zeitschriften werden direkt im Text belegt. Die Quel-
len sind hier nicht nochmals aufgelistet. Eigene, von mir an anderer Stelle
publizierte Texte habe ich nicht eigens zitiert, da diese mit wenigen Ausnah-
men sowieso für dieses Studienbuch überarbeitet oder neu geschrieben wur-
den. Sie sind allerdings, soweit verwendet, in der Bibliografie aufgeführt.
Auch habe ich bereits in der Fußnote am Anfang des dritten Teils darauf
hingewiesen, dass ich für die einzelnen Bereiche die jeweiligen einschlägigen
Stellen in Handbüchern und Lexika zur Angewandten Ethik konsultiert
habe. Im Folgenden sind darum nur diejenigen Beiträge namentlich er-
wähnt, die auch im Text selbst wörtlich zitiert wurden.

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von 1906 mit den Varianten der Ausgabe von 1896 nebst Ergänzungsstatut von
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281

Personen- und Institutionenregister

A Brundlandt 121
Abbe 182, 189 Buchanan 26, 183
Adorno 172 Bundesverfassungsgericht 85–86, 100
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Aigner 194, 258 Busch 95, 125, 130, 202


Albrecht 188, 242
Almond 60 C
Altner 96 Callahan 211–212
Amish 171 Callicot 95–96
Amos 181 Capurro 250
Andersen 30 Carson 197
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Angell 91 Chadwick 152


Anzenbacher 37, 146 Childress 212–213, 216, 227, 233
Apel 183 Christians 250
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Aristoteles 17, 26, 30, 32–35, 53, 62, Cicero 54


80, 96, 105–109, 158, 208, 209, 213, Club of Rome 197
249, 267 Curran 212
Ayer 20
D
B Darius 28
Bacon 171 Deutsche Forschungsgemeinschaft 163
BASF 259 Descartes 22
Baumol 126 Detzer 122, 124
Baranzke 95 Deutsche Bischofskonferenz 165
Beauchamp 50, 212–213, 216, 227, 233 Dewey 37–39, 43
Becker 183 Dicke 71
Beckermann 262 Dürig 96
Benedikt XVI. (s. Ratzinger) Düwell 30, 152, 158
Bentham 43, 74
Berlin 26 E
Beyleveld 73–74 Eichmann 23–25
Bichat 89 Epikur(eismus) 30
Bieri 23 Erasmus 23
Birnbacher 30, 60, 61, 69, 131, 150 Etzioni 26
Blome–Drees 104,183, 185 Evangelische Kirche 159, 165
Bockenförde 85
Bottéro 71 F
Boucek 89 Fangerau 162
Brennan 183 Farm Animal Council 202
Brownsword 73 Feinberg 26
282 Personen- und Institutionenregister

Ferré 250 Horn 103


Fischer 259 Hoerster 68, 95, 213
Ford 179–180 Holmes 196
Foucault 73 Honderich 23
Franck 242 Horkheimer 172
Frankfurter Allgemeine Zeitung 257 Huber 133
Frederick 181 Hubig 159, 170, 173
Frey 152, 158 Hume 210
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Funiok 248, 250, 256


I
G Ignatius von Loyola 261
Gadamer 53
Galilei 250 J
Gelsinger 230–231 Jänisch 156
Gerlinger 245 Janich 165
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Gethmann 172 Joas 38–39, 73


Gewirth 73–76, 109 Jonas 89, 121, 172, 197, 215
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Geyer 23
Gilligan 120, 211 K
Goeudevert 190 Kallhoff 93, 203
Greenpeace 166 Kant 13, 26, 27, 30, 37, 39–43, 45, 48,
Greve 86 53, 58, 68, 93–94, 96, 109, 159–160,
Gröschner 142 170, 172, 181, 196–198, 210–211, 213,
Gruère 193, 258 215–216, 226, 250, 262–263, 268
Grunwald 170, 172, 175 Katholische Kirche 35, 83, 159, 210
Kelsen 133
H Kennedy Institute 211, 263
Habermas 17–18, 30, 41–43, 172, 197, Kierkegaard 74
238 Kim 156
Halbig 27 Kinarm Ko 156
Hampicke 125–126 Kleiner 163
Hare 20 Korff 152, 241, 263
Harris 212, 237, 239 Körtner 148
Hastedt 172–173 Kohlberg 120
Hastings Center 211, 263 Kongregation für die Glaubenslehre 159
Hayek 26, 137 Konstantin 250
Heidegger 172 Kopernikus 250
Heine 250 Koslowski 181
Herodot 28 Kunzmann 93, 95, 148, 164, 202
Himmler 65
Hobbes 30, 46 L
Höffe 103, 107–110 Leiner 248, 250–251, 255
Homann 104, 182–186 Leist 123–124, 198
Personen- und Institutionenregister 283

Lembcke 142 Oberender 222


Lenk 148, 172, 179, 180 Oberthür 257
Light 196 Odparlik 92, 198, 203, 205
Limbach 86 Osservatore Romano 83
Locke 26, 36–37 Ott 148, 171–172, 175
Lütge 183 Ottmann 112
Luther 23
P
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M Palmer 197
MacIntyre 26 Pascal 250
Marcus Aurelius 34 Pauen 23
Marcuse 172 Paul VI. 250
Maring 179, 180 Pawlenka 242
Martin Luther King 72 Pieper 30
Marx(ismus) 66–69, 171 Pies 181, 183, 185
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Marzluff 91 Pigou 126


Max-Planck-Gesellschaft 160–161 Pine 119
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

McCormick 212 Platon 13, 22, 23, 30–38, 43, 55, 62, 80,
Meadows 197 119, 141–142, 145, 147, 159, 208–209,
Meissner 156 213, 241, 248–249, 264
Menschenrechtsgerichtshof 85 Pufendorf 36
Meyer 166
Mielke 67 Q
Milgram 23–25 Quante 27, 30
Mill 43, 197
Mittelstraß 158 R
Monsanto 164, 176–178, 192–195, Rager 23
257–260 Ratzinger (Benedikt XVI.) 23, 38, 83,
Moore 27 149,
Morsink 66 Rawls 26, 30, 46, 47–48, 58, 103, 107,
Müller-Armack 182 116, 197, 222, 238
Münchner Merkur 257–260 Regan 96–98, 124
Ropohl 148, 172
N Rosenberger 23
Nagel 98 Rolston 95
Netzwerk Zivilcourage 258–259 Roth 23
Nida-Rümelin 23, 127, 152 Rushdie 250
Nietzsche 74
Nozick 26 S
Nussbaum 26 Sardison 183
Sartre 250
O Savulescu 155, 234, 241, 247
Oates 126 Scharon 226
284 Personen- und Institutionenregister

Scheler 27, 30, 37–39 V


Schenkel 155 Vandana Shiva 257–260
Schmeiser 259–260 Van den Daele 96, 167
Schmidt 257–260 Van Potter 196–197
Schockenhoff 33, 212 Verband Deutscher Ingenieure 173–174
Schöler 78, 156 Von der Pfordten 133
Schweidler 77, 158, 159 Veatch 89
Schweitzer 96 Vereinte Nationen 29, 66, 71, 73, 121,
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Seebaß 23 140–146, 152, 181, 187, 221, 258


Seebohm 85–86
Seneca 34 W
Sidgwick 43 Walzer 26
Siegetsleitner 120 WCED 121
Siep 55 Weber 40, 43
Singer, P. 44, 68, 94, 98–99, 198, Weingarten 165
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212–213 Weischenberg 260


Singer, W. 22–23 Weisser 207
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010

Sorgner 234 Wellman 152, 158


Sitter-Liver 202 Wendeling-Schröder 173
Spaemann 60, 91 Wieland 182
Stevenson 20 Wilmanns 207
Suchanek 183 Wilmuts 155
Winnacker 155
T Wittgenstein 240
tageszeitung 257 Woltjen 156
Taparelli 107
Taylor, C. 26, 30, 37 Y
Taylor, P. W. 96 Ye 154
Theodosius 241
Thomas von Aquin 30, 34–37, 82–83, Z
210, 213, 267 Zenon 34
Zerth 222
U Zola 250
Ulrich 182–183, 185–186

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