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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Nikolaus Knoepffler
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
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und Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Angewandter Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
7 Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts als einer
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
9 Wissenschaftsethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
9.1 Wissenschaftsethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
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10 Technikethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
10.1 Technikethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
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11 Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
11.1 Wirtschaftsethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
11.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 187
11.3 Das bereichsspezifische Konfliktfeld am Beispiel des
Einflusses des global agierenden Unternehmens Monsanto . . . 192
12 Umweltethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
12.1 Umweltethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
12.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 198
12.2.1 Allgemeine Umweltethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
12.2.2 Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
12.2.3 Pflanzenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
12.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
von gentechnischen Eingriffen an Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . 203
14 Sportethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
14.1 Sportethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
14.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 242
14.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
von (Gen)Doping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
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15 Medienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
15.1 Medienethische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
15.2 Bereichsspezifische Normen und Werte – Themenfelder . . . . . 251
15.3 Bereichsspezifische ethische Konflikte am Beispiel
der Darstellung Grüner Gentechnik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
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16 Schlussüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
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Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Personen- und Institutionenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
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11
Vorwort
Hinführung
aktiver Sterbehilfe, wenn der Sterbende darum bittet. Rechtlich ist der Kon-
flikt sozusagen transnational. Während diese Form der Sterbehilfe in
Deutschland verboten ist, darf sie in den Beneluxstaaten bei Berücksichti-
gung konkreter Sorgfaltsregeln durchgeführt werden. Darüber hinaus gibt es
einen moralischen Konflikt, der unabhängig von den rechtlichen Regelun-
gen in den Niederlanden wie in Deutschland zu finden ist. Manche Bundes-
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bürger genauso wie niederländische Bürger halten diese Form aktiver Ster-
behilfe für moralisch zulässig, andere Bürger in beiden Ländern lehnen diese
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aufgrund ihrer moralischen Einstellungen ab. Dazu kommt ein Konflikt auf
der Ebene ethischer Ansätze: Wer mit dem ethischen Ansatz von Platon
argumentiert, findet gute Gründe für die Zulässigkeit aktiver Sterbehilfe,
wer mit einer kantischen Ethik argumentiert, findet gute Gründe für die
Unzulässigkeit. Ähnlich strittig ist die Frage, wie es zu bewerten ist, wenn
Unternehmen zur Einwerbung von Aufträgen Geschäftspartnern bestimmte
„nützliche Freundlichkeiten“ erweisen. Auf der moralischen Ebene werden
die einen derartige Freundlichkeiten billigen, andere werden diese ablehnen.
Auf der Ebene ethischer Theorien (vgl. dazu ausführlich das 2. Kapitel) gibt
es Ethiken, die selbst klare Fälle von Korruption rechtfertigen können, wäh-
rend andere ethische Ansätze Korruption immer als unzulässig einschätzen.
Darüber hinaus ist zu fragen, wann die Grenze zwischen einer berechtigten
Freundlichkeit und einer moralisch nicht akzeptablen „Korruption“ über-
schritten ist. Rechtlich sind die Bestimmungen hierzu in verschiedenen
Ländern unterschiedlich.
Diese Beispiele verweisen darauf, dass Bewertungen moralischer und
ethischer Art in ein Netz von Überzeugungen eingewoben sind. Das Zent-
rum dieses Netzes bilden dabei diejenigen fundamentalen Einstellungen
und Vorstellungsmuster, die auch unter dem Begriff „Weltanschauung“ zu-
sammengefasst werden. Dazu gehören beispielsweise grundsätzliche An-
nahmen, inwieweit wir erkennen können, was „wirklich“ ist. Können wir die
uns umgebenden Dinge erkennen, wie sie sind (Realisten) oder doch we-
nigstens in einer sachgemäßen Annäherung (kritische Realisten), oder ent-
14 Hinführung
halten sie derart viele von uns in die Dinge hineingelegte Konstruktions
elemente, dass wir sie nicht mehr an sich erfassen können (so beispielsweise
Konstruktivisten). Evolutionäre Erkenntnistheoretiker gehen einfach davon
aus, dass unsere Form zu erkennen zum Überleben geeignet ist. Diese Pas-
sung muss aber gerade nicht bedeuten, dass wir die Gegenstände erkennen,
wie sie eigentlich sind.
Zum Zentrum dieses Netzes gehören auch fundamentale Überzeugun-
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gen, was der letzte Sinn des Lebens ist. Für Juden, Christen und Muslime ist
dieser Sinn durch einen als persönlich verstandenen liebenden, barmherzi-
gen Gott gegeben. Für Agnostiker (griechisch: a = Verneinung, gignoskein =
erkennen) und Atheisten (griechisch: a = Verneinung, theos = Gott) hat der
Mensch dagegen die Aufgabe, sich selbst seinen Lebenssinn zu setzen.
Abhängig von unterschiedlichen Weltanschauungen wird sich darum
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Darum dient der erste Teil dieses Buchs dazu, die Begriffe der Anwen-
dung und der Ethik und somit den Begriff einer Angewandten Ethik zu
klären. Da es aber nicht die eine Ethik, sondern eine Fülle ethischer Ansätze
gibt, ist es hierbei notwendig – freilich eher holzschnittartig – ethische
Hauptpositionen und ihre Methoden zur Sprache zu bringen.1 Zudem sind
Grundannahmen zu behandeln, ohne die Ethik als Wissenschaft nicht
möglich ist. Ich nenne diesen Teil „metaethisch“ (griechisch: meta = hinter),
weil Begriffsklärungen, Begriffsanalysen, Grundannahmen und die Klassifi-
kation ethischer Theorien zur besseren Zuordnung der eigenen Position den
Hintergrund der eigentlichen ethischen Fragen erhellen, aber noch nicht
selbst Ethik sind.
Nach dieser metaethischen Untersuchung geht es anschließend um eine
systematische Grundlegung der Angewandten Ethik. Hier entfalte ich eine
normative universalistische Ethik, die unabhängig von unterschiedlichen
Weltanschauungen als gemeinsames Band dienen kann, um ethische und
moralische Konflikte zu lösen oder zumindest besser zu strukturieren. Diese
Ethik basiert auf den Grundprinzipien der Menschenwürde und den mit ihr
verbundenen Menschenrechten, der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit.
Deswegen erläutere ich diese Prinzipien und behandele auch Fragen einer
politischen Ethik und einer Ethik des Rechts.
2 Abbildungen und Tabellen sind, wenn nicht anders vermerkt, von mir für dieses
Buch entworfen worden.
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17
Die Begriffe „Ethik“, „Moral“ und der damit verbundene Begriff „Ethos“
werden in vielfältiger Weise gebraucht. Darüber hinaus besteht eine Ten-
denz, ethische Überlegungen mit rechtlichen Vorgaben zu vermischen. Da-
rum ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt den Gebrauch dieser Begriffe zu
klären. Zudem sollen zwei wesentliche Grundannahmen einer normativen
Ethik mit weltweitem Geltungsanspruch thematisiert werden, nämlich die
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ist moralisch unerheblich, ob man sich für ein Rechts- (Deutschland) oder
ein Linksfahrgebot ( Japan) entscheidet. Moralisch wichtig ist allein, dass es
zum Schutz der Verkehrsteilnehmer derartige Regelungen gibt und diese
dann befolgt werden.
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Diese Bestimmungen von „Ethik“, „Moral“, „Ethos“ und „Recht“ sind nicht
unumstritten. Für einige Philosophen in der Tradition sprachanalytischer
Ethik kann „Ethik“ als Wissenschaftsdisziplin nichts anderes sein als Begriffs-
klärung der Sprache der Moral, also gerade keine Normenbegründung und
Normenvermittlung leisten. Sie hat sich vielmehr auf die Reflexion ethischer
Begriffe, Kriterien, Normen oder Handlungsprinzipien zu beschränken, um
diese in ihrer Bedeutung zu analysieren und damit zu klären. Sie begründet
jedoch keine Normen und Werte, ist also strikt nicht-normativ. Dahinter kann
die Überzeugung stehen, Normen und Werte entzögen sich ganz prinzipiell
wissenschaftlicher Reflexion, weil ethische Aussagen nicht verifiziert oder fal-
sifiziert werden können. Sie sind nicht wahrheitsfähig. Allerdings kann diese
Tradition nicht mehr aus sich heraus begründen, warum sie Wissenschaft auf
die Kenntnis von verifizierbaren Fakten reduziert, denn genau diese Annahme
selbst ist nicht mehr verifizier- oder falsifizierbar. Natürlich ist es dennoch
möglich, eine kognitive (lateinisch: cognoscere = erkennen) Ethik als Wissen-
schaftsdisziplin abzulehnen. Man kann nämlich von der Überzeugung ausge-
hen, dass alle moralischen Einstellungen und Normen
20 Teil I Allgemeine Grundlegung
Nehmen wir das Beispiel des Folterns. Ein Kognitivist kann die Sollensfor-
derung aufstellen: Du sollst nicht foltern. Diese Forderung ist übersetzbar
in: Es ist geboten, nicht zu foltern. Diese Aussage ist begründungs- und
wahrheitsfähig. Der Non-Kognitivist dagegen wird behaupten, derartige
Aussagen seien weder begründungs- noch wahrheitsfähig. Je nach non-kog-
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Der Preis einer solchen Konzeption ist durch den Mangel an Wahrheitsfä-
higkeit und die Relativität zu dem jeweiligen Subjekt bedingt. Es gibt keine
objektiven wahrheitsfähigen Kriterien, warum wir nicht foltern sollten (vgl.
auch die allgemeinen Überlegungen zum ethischen Relativismus unter 1.3).
Andere Philosophen reduzieren Ethik auf eine hermeneutische (grie-
chisch: hermeneuein = auslegen) Deskription (lateinisch: describere = beschreiben)
moralischer Einstellungen. Diese Beschreibung dient zur Interpretation,
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 21
tiven Anspruch auftritt, jedoch nicht darauf zu reduzieren. Es geht einer sol-
chen Ethik nämlich darum, handlungsleitende Kriterien, Werte, Normen und
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Die Entscheidung für eine kognitiv begründete normative Ethik hat aus meh-
reren Gründen eine gewisse Brisanz, denn die Möglichkeit, Normen, also
22 Teil I Allgemeine Grundlegung
logische Roboter vielleicht das Tun von Mördern verachten, die mit ihrer Tat
einen Menschen vernichten und damit zugleich auch seinen einzigartigen Zu-
gang zur Welt, seine einzigartige Perspektive für immer zerstören, doch ist
auch diese Verachtung nur biologisch programmiert, eben Reaktion eines bio-
logischen Roboters.
Es kann hier nicht darum gehen, die weit gefächerte und schwierige Dis-
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kussion um die menschliche Freiheit, die zudem mit dem viel weiter gehen-
den Problem des Verhältnisses von Mentalem (Bewusstseinsvollzüge) und
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auch behauptet, dass alles Geistige und somit eben auch die Freiheit sozusagen
nur „epigenetisch“, also ohne jede kausale Bedeutung sind.3
Auch wird hier keine philosophische oder theologische Theorie voraus-
gesetzt, in welchem Verhältnis menschliche Freiheit beispielsweise zum
Wirken eines als allmächtig verstandenen Gottes steht.4 Es geht ebenfalls
nicht darum, die Fragen zu behandeln, ob der Mensch nach dem Tod wei-
terlebt und für seine Taten in dieser Welt in einem jenseitigen Gericht zur
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stimmt. Es bedeutet jedoch gerade nicht, den großen Einfluss sowohl unse-
rer Gene als auch unserer Umwelt zu bestreiten. Wir sind immer auch in
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Strukturen eingebettet, die zum Bösen, aber auch zum Guten Anreize schaf-
fen können.
Exemplarisch hat dies das vielfach weltweit wiederholte Milgramexperi-
ment (Milgram 2009) nachgewiesen. Der Psychologe Stanley Milgram hat
dieses Experiment erstmals 1960 durchgeführt. Hintergrund des Experi-
ments war das Verfahren gegen den Schreibtischmassenmörder Eichmann
in Jerusalem. Dieser hatte eine zentrale Rolle bei der Vernichtung von Men-
schen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft in den nationalsozialisti-
3 So der Hirnforscher Wolf Singer in der FAZ (18. Juli 2008; vgl. auch Pauen/
Roth 2008). Zur Auseinandersetzung mit diesen Freiheit bestreitenden Positionen
vgl. die von Rager (2000) und Geyer (2004) herausgegebenen Sammelbände. Zur
Frage nach der Bedeutung und Möglichkeit menschlicher Freiheit vgl. aus der
sehr umfangreichen Literatur z. B. für einen geschichtlichen Überblick Rosenber-
ger (2006), zur systematischen Fragestellung die unterschiedlichen Perspektiven
von Honderich (1990), Bieri (2003), Nida-Rümelin (2005) und Seebaß (2007).
4 Dies wird unter der Fragestellung des Verhältnisses von Gnade und Freiheit ver-
handelt und hat eine entscheidende Rolle für die Reformation, aber auch die in-
nerkatholischen Gnadenstreitigkeiten gespielt. Bis heute klassisch ist hierfür der
Streit zwischen Erasmus von Rotterdam, der den freien Willen mit seiner Schrift
De libero arbitrio (lateinisch für „Über den freien Willen“) verteidigte und Luther, der
ihm mit De servo arbitrio (lateinisch für „Über den knechtischen Willen“) antwortete.
Es sei aber auch an den innerkatholischen Gnadenstreit zwischen Jesuiten und
Dominikanern im 17. Jahrhundert erinnert, den selbst der damalige Papst nicht zu
entscheiden wagte.
5 Vgl. beispielsweise zu den Vorstellungen des Christentums Ratzinger (1977).
24 Teil I Allgemeine Grundlegung
schen Gaskammern inne gehabt. Eichmann hatte sich vor Gericht in seiner
Verteidigung darauf berufen, er habe nur Befehlen gehorcht und sei darum
unschuldig. Milgrams Grundfrage lautete daher: Sind „normale“ Menschen
nur aufgrund einer bestimmten Konstellation, im konkreten Fall einer Au-
toritätsperson im Rahmen eines psychologischen Experiments, dazu „ver-
führbar“, Menschen, die sie praktisch nicht kennen, schwer zu schaden. Das
erschreckende Ergebnis des Experiments lautete: Mehr als zwei Drittel der
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keit gar keine Schocks abbekam) ab einer Höhe von 135 Volt mehr und
mehr vor Schmerzen schrie, die Einstellung des Experiments forderte und
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
6 Den Probanden wurde erklärt, dass es sich um ein Experiment handele, bei dem
überprüft werden solle, ob der Lernerfolg durch Strafe erhöht werden kann. Der
Prüfling sollte Wortreihen lernen. Bei der Versuchsanordnung bestand das Team
aus dem Versuchsleiter, der Autorität, sowie dem Probanden, der als Lehrer auch
die Strafen austeilen musste, nämlich einen Schalter betätigen, und dem Prüfling
als drittem Teammitglied, dem der Lehrer einen Elektroschock zu geben hatte,
wenn der Schüler Fehler machte. Diese Strafen stiegen bei jeder falschen Antwort
des Prüflings um 15 Volt, beginnend mit einem milden Elektroschock von 15 Volt
bis zu einem schweren Schock von 450 Volt. Zwar betonte der Versuchsleiter, dass
auch der höchste Schock nicht die Gesundheit gefährde, die Instrumententafel da-
gegen signalisierte klar das extrem hohe Risiko dieses Stromschlags. Der Prüfling
war ebenso wie der Versuchsleiter in die eigentliche Zielsetzung des Experiments
eingeweiht, in den Augen des Probanden jedoch ebenso wie er selbst ein Pro-
band, da der Prüfling ihm als Mitproband vorgestellt und nur per manipuliertem
Losverfahren die Rollen von Prüfling und Lehrer vergeben wurden. Der Proband
musste also subjektiv davon ausgehen, er hätte genauso Prüfling sein können. Der
Prüfling wurde auf einem Stuhl in einer Weise angeschnallt, die Assoziationen an
den elektrischen Stuhl wachrufen konnte.
Der Begriff „Ethik“ und zwei Grundannahmen 25
lungen teilt, die wir heute als unmenschlich ansehen, wie die Akzeptanz der
Sklaverei?
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
schaft, die Wertorientierung gibt und eine faktische Sozialmoral etabliert. Sie
lehnen es darum auch ab, eine Theorie universeller Gerechtigkeit wie Rawls
anzunehmen, weil „Gerechtigkeit“ wie auch die Menschenrechte einen Norm-
und Wertkomplex darstellen, der sich erst in der jeweiligen Gesellschaft konkre-
tisiert. Der späte Rawls hat sich in seinen letzten Schriften davon inspirieren
lassen.7
Man bringt den Kommunitarismus, der sich teilweise auf Aristoteles beruft
(vgl. 2.1.2), auch in die Nähe der Tugendethiken und sieht die Kommunitaris-
mus-Liberalismus-Debatte als Fortführung der Debatte zwischen Anhängern
von Tugendethiken versus Anhängern von Prinzipienethiken. Wer jedoch die
aristotelische Ethik genauer studiert, kann erkennen, dass er zumindest für einen
derartigen Streit nicht die Grundlagen bietet. Vielmehr sind Tugenden integraler
Bestand einer Ethik, die weit über eine reine Tugendethik hinausgeht. Dies ist
notwendigerweise so, weil sich nur in einem größeren Zusammenhang klären
lässt, was überhaupt als Tugend im Sinne einer wünschenswerten, zur Gewohn-
heit gewordenen Einstellung des Einzelnen gelten kann.
Wieder eine andere Unterscheidung, die besonders in der analytisch ge
prägten Ethik mehr und mehr zum Standard zu werden scheint, unterscheidet
zu essen, bot er dagegen Geld, wenn sie diese beerdigen würden. Auch
die Inder lehnten dieses nach ihrer Ansicht unmoralische Handeln ab. He-
rodot zog daraus den Schluss: Jedes Volk hält seine Gebräuche für moralisch
gut, die abweichenden Gebräuche anderer Völker dagegen für moralisch
schlecht.
Eine sehr wichtige Frage stellt sich im Zusammenhang mit dieser
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gen und Normen kulturgebunden oder in sonst einer Weise relativ sind?
Wenn dies der Fall wäre, würden die Begriffe „gut“ und „böse“ sowie „mora-
lisch richtig“ und „moralisch falsch“ nichts anderes bedeuten als „akzeptiert
bzw. gewünscht in einer Gesellschaft“ und „nicht akzeptiert bzw. uner-
wünscht in einer Gesellschaft“. Selbst kulturübergreifende moralische Ein-
stellungen zu einer bestimmten Zeit beweisen nicht, dass der ethische Rela-
tivismus falsch ist, da die Zeitkomponente zu berücksichtigen ist. So gab es
eine Zeit, in der die Sklaverei praktisch überall als eine moralisch richtige
Institution akzeptiert war. Aus heutiger Sicht aber lehnen wir diese Institu-
tion ab. Ist nun diese Ablehnung erneut nur ein Beispiel unserer „kulturellen
Befangenheit“? Ist auch die Anerkenntnis des Prinzips der Menschenwürde
und der Menschenrechte und die damit verbundene Ablehnung von Völker-
mord und Vertreibungen, von Sklaverei und Folter ein reines Kulturpro-
dukt?
Der ethische Relativismus ist rein logisch nicht zu widerlegen.8 Er be-
schränkt seine Wahrheitswertskepsis nämlich nur auf den ethischen Bereich.
davon überzeugt, dass es immer und überall falsch ist, Menschen als Sklaven
zu halten. Die Weltgemeinschaft hat ihre klare Ablehnung der Grausam-
keiten des vergangenen Jahrhunderts mit Völkermord und Vertreibungen
immer neu deutlich gemacht, weil sie davon überzeugt ist, dass es immer und
überall falsch ist, Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Volk zu
töten oder zu vertreiben. Für die Vereinten Nationen sind Menschenwürde
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und Menschenrechte zentrale Normen und Werte, von denen gerade ihre
transkulturelle Bedeutung unterstrichen wird. Gerade deshalb wurde bei der
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(Hobbes, Rawls), der Ansatz von Immanuel Kant und seine Umformung
beispielsweise durch Habermas sowie utilitaristische Konzeptionen als Un-
tergruppe konsequenzialistischer Ansätze. Diese sollen im Folgenden kurz
skizziert werden.9
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9 Es ist klar, dass sich die Ansätze darin nicht erschöpfen. Zu einer vollständigeren
Übersicht vgl. man entsprechende Einführungen und Übersichten, z. B. Andersen
(2005), Birnbacher (2003), Düwell u. a. (2006), Pieper (2007) oder Quante (2003).
Zudem teile ich beispielsweise die Einschätzung von Charles Taylor (2007, 19),
wonach der Epikureismus im Rahmen der wirkmächtigen Weltanschauungen in
seiner humanistischen Tendenz ohne echten Gottesbezug in seiner Zeit, der An-
tike, eine Ausnahme darstellt. Er ist in Taylors Worten „die eine Schwalbe, die
noch keinen Sommer macht“.
10 Was ethische Fragestellungen angeht, sind die Hauptwerke Platons Politeia sowie
Nomoi, die Hauptwerke Aristoteles’ Ethika Nikomacheia und Politika – mit dem
ausdrücklichen Beginn der Ethik als Wissenschaftsdisziplin, das Hauptwerk von
Thomas die Summa Theologiae II-II, das Hauptwerk Schelers Der Formalismus in
der Ethik und die materiale Wertethik. Die Zuordnung von Platon und Aristoteles
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 31
hende: Die Idee des Guten, das Urgute, übt auf uns eine anziehende
Wirkung aus. Unsere Erkenntnis ist darum eigentlich ein Verlangen
nach dieser Idee. Das Gute wird geliebt, weil es uns anzieht, weil es
„attraktiv“ ist (vgl. den Dialog Symposion). Dabei ist diese Erkenntnis
nach platonischem Verständnis eigentlich ein Wiedererkennen, da die
Geistseele des Menschen als ewige gedacht, also präexistent ist. Je
nachdem, ob ein Mensch sich auf den Weg der Erkenntnis macht oder
nicht, ob er gemäß seiner eigentlichen Geistnatur lebt oder nicht, wird
er nach dem Leben bestraft oder belohnt (vgl. die Erzählungen im
Dialog Timaios, 39d4–42e4).
als Zuordnungstugend die Tugend der Gerechtigkeit, die für das rechte
Zuordnungsverhältnis von Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung sorgt.
Sie heißen deshalb auch Kardinaltugenden, weil sie als Angelpunkt
(lateinisch: cardo = Türangel, Angelpunkt) des moralisch guten Lebens
gelten. Darum sollten Philosophen den Staat regieren. Sie dürfen dabei
um des guten Ziels willen die Untertanen betrügen und sogar so weit
gehen, Menschen nach besten körperlichen und geistigen Merkmalen
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lich werden kann.11 Tugenden erkennt man dabei oft am rechten Maß bzw.
der rechten Mitte. So ist die Tapferkeit die rechte Mitte zwischen Tollkühn-
heit und Feigheit, die Großzügigkeit die rechte Mitte zwischen Verschwen-
dungssucht und Geiz. Eine besondere Rolle nimmt unter den Tugenden die
Gerechtigkeit ein, da sie in gewisser Weise alle Tugenden in sich aufhebt.
Aristoteles unterscheidet dabei auch die individualethisch zu verstehende
Tugend des Einzelnen von Gerechtigkeit als politischer „Tugend“ und for-
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warum der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses die Ethik des Aris-
toteles nicht treffen kann, denn die menschliche Natur selbst ist, wie gerade
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Platon. Aristoteles hält es auch für vertretbar, dass es Sklaven gibt, weil sei-
ner Ansicht nach manche Menschen von Natur aus nicht imstande sind,
sich ihres Verstandes ohne Anleitung eines anderen Menschen zu bedienen.
Zugleich kann er sich jedoch auch ähnlich wie später Paulus eine Freund-
schaft zwischen einem Herrn und seinem Sklaven gut vorstellen.
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Chr.) oder den römischen Kaiser Marcus Aurelius (121–180 n. Chr.). Doch
entwickeln sie bei allen internen Divergenzen eine geradezu klassisch zu
nennende Naturrechtslehre: Der Mensch soll ein seiner Natur entsprechen-
des Leben führen. Dies ist sein eigentliches Lebensziel, ist das, was sich
schickt, ist das, worin die eigentliche Pflicht des Menschen besteht. Insofern
ist die stoische Ethik eine Ethik der Pflicht, die sozusagen an der vernünfti-
gen Menschennatur, so wie sie ist, ihr Maß nimmt. Damit verbunden ist der
Grundgedanke eines Naturrechts für alle Menschen, da alle aufgrund ihrer
Vernunft an der Weltvernunft, dem Logos (griechisch: Logos = Vernunft) An-
teil haben. Das Naturrecht ist dabei das mit der Weltvernunft identische
Weltgesetz, an dem das positive Recht, also das Recht, das die Menschen
sich in konkreten Gesetzen „setzen“ (lateinisch: ponere = setzen), Maß zu neh-
men hat. Hier führt die Stoa Gedanken weiter, die sich bereits bei Platon
und Aristoteles finden, auch wenn die metaphysischen Grundannahmen
nicht identisch sind.
Thomas von Aquin denkt die Konzeptionen von Platon und Aristoteles,
aber auch stoisches Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen
Glaubensüberzeugung weiter. Dabei unterscheidet er sich von Platon, Aris-
toteles und stoischen Denkern insbesondere dadurch, dass er von theologi-
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 35
tun und das Böse zu unterlassen. Auf diese Weise schafft der Mensch die
Grundlage für ein gutes und erfülltes Leben.
Andererseits gibt es auch große systematische Gemeinsamkeiten mit den
antiken Denkern. So denkt auch Thomas Gott als vernünftig, der die ver-
nünftige Ordnung der Welt und die menschliche Vernunftnatur geschaffen
hat, gemäß der der Mensch leben soll. Der Mensch ist also nach Thomas,
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ähnlich wie bei Platon, Aristoteles und der Stoa, aufgrund seiner Menschen-
natur auf Handlungsziele angelegt, die nicht beliebig sind. Sein Leben ist
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lichkeit.
Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass die antiken
und mittelalterlichen Naturrechtslehren Tugendethik und Naturrecht strikt
verschränken: Alle konkreten Fragen menschlicher Praxis sind eingewoben
in dieses gemeinsame „Netz“: Das Gute und das Rechte sind untrennbar
verbunden. Das neuzeitliche Naturrecht dagegen tendiert dazu, das Gute
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zulässt. Also darf die Regierung nicht mehr die Religion ihrer Bürger be-
stimmen.13
Die Differenz zwischen dem antiken und mittelalterlichen Naturrecht
und dem neuzeitlichen Naturrecht lässt sich in folgender Weise vereinfacht
abbilden:
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13 Vgl. ����������������������������������������������������������������������
Anzenbacher 1998, 71. Zu einer genaueren Beschreibung der modernen sä-
kularen Staatsidee und der sie tragenden Grundeinstellung vgl. Taylor 2007.
38 Teil I Allgemeine Grundlegung
existieren diese Werte aber nicht in einer Art „Wertehimmel“ und sind auch
nicht an die Existenz eines Gottes gebunden. Diese Werte werden intuitiv
„gefühlt“, noch bevor ihre Bedeutung verstandesmäßig ergründet wurde: Sie
sind dabei echte Objekte intentionaler Gefühlsakte und können phänome-
nologisch erschlossen werden.
Die amerikanischen Pragmatisten, insbesondere John Dewey, verbinden
den Gedanken der Wertbindung mit dem der Kommunikation: Ein Mensch
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teilt sich einem anderen Menschen mit und durchbricht so die eigene
Selbstzentriertheit. Im Akt der Kommunikation erfährt er diese als wertbil-
dend, wobei gemeinsame Werte „entstehen“ (vgl. Joas 1999, 162–194). So
kommt es durch ein selbstloses Sich-Ausliefern an den anderen im Mitteilen
zu einer neuen Dimension von Werterfahrung.
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14 So hält auch J. Ratzinger fest: „Tatsache ist jedenfalls, dass unsere säkulare Rati-
onalität, […], in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt. Ihre
Evidenz ist faktisch an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden, und sie muss an-
erkennen, dass sie als solche nicht in der ganzen Menschheit nachvollziehbar und
daher in ihr auch nicht im Ganzen operativ sein kann. Mit anderen Worten, die
rationale oder die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen,
und die dann das Ganze tragen könnte, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig
unerreichbar“ (Ratzinger 2006, 55).
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 39
Immanuel Kant entwickelt eine Philosophie, die bei der menschlichen Ver-
nunft ansetzt. Er nennt diese Philosophie Transzendentalphilosophie, weil sie
eine Philosophie ist, die die im Subjekt liegenden alle Erfahrungen über-
schreitenden (lateinisch: transcendere = überschreiten), d. h. nicht empirischen,
aber im Subjekt „befindlichen“ Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis
und Freiheit systematisch darstellt und von diesen her die theoretische und
praktische Philosophie entwickelt (vgl. Knoepffler 2001, 48–50, 68f ). Verein-
facht gesagt: Was wir erkennen und was wir tun, hängt von Bedingungen in
uns ab, die man nicht mehr messen und wiegen, nicht mehr mit Hilfe der
Naturwissenschaften entdecken kann. Dennoch müssen wir diese Bedingun-
gen annehmen, weil nur sie ermöglichen, dass wir tatsächlich die Vielfalt der
Außenwelt ordnen und so erkennen können. Was wir erkennen sind allerdings
nicht die Dinge, wie sie an sich sind, sondern so wie sie uns in unserer Erfah-
rung erscheinen, denn wir überformen alles, was wir erkennen, durch unsere
räumliche und zeitliche Vorstellung und ordnen es durch Vernunftkategorien
wie die Kausalität in einer bestimmten Weise: Wir ordnen nacheinander er-
scheinende Vorgänge mit Hilfe der Vernunftkategorie „Kausalität“ in der
Weise, dass uns dieses Nacheinander als eine notwendige Folge erscheint. Wir
haben also nach Kant bestimmte Strukturen „im Kopf“, mit denen wir Gegen-
stände und Ereignisse konstruieren und sie so für uns erfahrbar machen, ohne
40 Teil I Allgemeine Grundlegung
dass wir tatsächlich wissen, wie diese Gegenstände an sich aussehen und die
Ereignisse an sich ablaufen. Bildlich gesprochen: Wie die Libelle nur mit
Facettenaugen sehen kann, so können wir Menschen das nur mit unseren
Augen. Da wir Menschen aber alle die gleichen Vorstellungs- und Denk
formen haben, können wir Naturwissenschaften und Naturgesetze entdecken.
Wir sollten uns nach Kant nur bewusst sein, dass diese Entdeckungen zu-
gleich unsere Konstruktionen sind.
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Darum können wir mit der theoretischen Erkenntnis über die eigentlichen
„Gegenstände“ wie Gott, menschliche Freiheit und Unsterblichkeit keine
Aussagen machen, da sie jenseits unserer Erfahrung liegen. Wir können weder
beweisen noch widerlegen, dass es sie gibt. Dennoch müssen wir sie postulie-
ren (lateinisch: postulare = einfordern), da uns die Realität von Sollensforderun-
gen fordern lässt, dass es Freiheit geben muss. Gäbe es nämlich keine Freiheit,
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wären Sollensforderungen sinnlos. Kant ist darum überzeugt, dass wir tatsäch-
lich Freiheit als Bedingung der Möglichkeit für moralisches Tun haben. Diese
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Freiheit nennt er darum transzendental, denn sie liegt all unserem Tun in uns
als moralischen Subjekten voraus und kann auch nicht empirisch entdeckt
werden.
Dabei versteht Kant den der transzendentalen Freiheit entspringenden
guten Willen des Menschen als zentralen, ebenfalls aller Erfahrung vorgän-
gigen, nicht empirisch wahrnehmbaren Ausgangspunkt seiner praktischen
Vernunft. Für seine Ethik hat sich darum der webersche Begriff der Gesin-
nungsethik eingebürgert. Der gute Wille erweist sich dabei als ein Handeln
aus Pflicht, weswegen diese Ethik auch deontologisch (griechisch: to deon =
das der Pflicht entsprechende; das, was sich ziemt) genannt wird. Handeln aus
Pflicht lässt sich im Unterschied zum pflichtgemäßen Handeln nicht empi-
risch feststellen. Wir wissen nämlich beispielsweise nicht, wenn uns ein Ver-
käufer nicht übervorteilt, ob er dies aus Pflicht tut, d. h., kein Eigeninteresse
im Spiel ist, oder ob er diese pflichtgemäße Handlung des Nichtübervortei-
lens deshalb vollzieht, weil er ansonsten Nachteile für sein weiteres Geschäft
befürchtet. In letztgenanntem Fall vollzieht der Verkäufer nach Kant keine
moralische Handlung, auch wenn diese Handlung damit natürlich keines-
wegs unmoralisch ist. Sie ist amoralisch, d. h., sie verstößt nicht gegen die
Moral und hat doch nichts mit Moral zu tun. Maßgabe des Handelns aus
Pflicht, also des moralischen Handelns, ist nämlich der kategorische, d. h.
der ohne jede Bedingungen geltende Imperativ: „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz
werde“ (Kant 1968 [1785], 421, kursiv im Original). Dabei ist das allgemeine
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 41
diesem Sinn allen gemeinsam. Diese Autonomie nennt Kant auch Freiheit
des Willens: „was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“
(Kant 1968 [1785], 446f ).15 In angewandt ethischen Fragen führt dies Kant
zu einerseits sehr radikalen Positionen, man denke nur an sein ausnahmslo-
ses Verbot jeder Lüge, andererseits erweist er sich in politischen Fragen als
Vordenker bis heute, wie beispielsweise im Falle seiner Idee eines Völker-
bunds, der ewigen Frieden verbürgt.
Beeinflusst von Kants formaler Ethik, aber ohne dessen metaphysische Annah-
men eines transzendentalen Faktums der Vernunft, formuliert Jürgen Haber-
mas (z. B. 1983) seine Diskursethik. Systematischer Ausgangspunkt ist hierbei
die wechselseitige Anerkennung der am Gespräch – Habermas spricht von
„Diskurs“ – beteiligten Menschen. Dies ist die eigentliche Pflicht jedes Ge-
sprächsteilnehmers. Zwischen ihnen ist als Vernunftwesen eine grundsätzliche
Verständigung möglich. Dabei kommt ein klassisches Argument zum Tragen
(vgl. z. B. Habermas 1983): Wer diese wechselseitige Anerkennung als mündige
Subjekte bestreitet, begeht in diesem Akt des Bestreitens einen pragmatischen
Kants formale Pflichtethik gibt zwar mit Hilfe des kategorischen Imperativs
eine Art Test für moralisches Verhalten an. Jedoch lässt sich fragen, ob der
transzendentalphilosophische Ansatz Kants, der seiner gesamten Ethik zu-
grunde liegt, weil er damit sein Verständnis von Freiheit und praktischer
Vernunft begründet, nicht bestreitbar ist. Zudem scheint seine Ethik in kon-
kreten Konflikten Lösungen vorzuschlagen, die von den meisten abgelehnt
werden. Man denke nur an sein berühmtes Diktum: „Wahrhaftigkeit in
Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen
gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer
Nachteil erwachsen; und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise
zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich
doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinn
des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der
Pflicht überhaupt Unrecht: d. i. ich mache, so viel an mir ist, dass Aussagen
(Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte,
die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen;
welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“ (Kant
1968 [1797a]). Kant folgert nämlich selbst daraus, dass man sogar einem
Amokläufer wahrheitsgemäß antworten müsse, wenn dieser fragt, ob man
eine bestimmte Person in seinem Haus als Gast habe, selbst auf die Gefahr
hin, dass der Amokläufer die Person dann töten würde. Im Dritten Reich
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen 43
Wenn die Folgen jeder einzelnen Handlung zentral sind, spricht man dabei
vom Aktutilitarismus (lateinisch: actus = Handlung). Der Maßstab für die
gewünschten Handlungsfolgen jeder Handlung ist dabei in Benthams
(1748–1832) klassischem Diktum die Maximierung des größtmöglichen
Glücks der größtmöglichen Zahl (vgl. Bentham 1968ff [1789], 199), wobei
er dabei ausdrücklich auch Tiere einschloss. Henry Sidgwick erläuterte, wel-
ches Gewicht der Einzelne und sein Streben nach Glück dabei haben: Jeder
zähle als einer und niemandes Glück sei vom Gesichtspunkt des Universums
höher zu bewerten als das eines anderen. John Stuart Mill (1806–1873) hat
diesen Utilitarismus modifiziert, sodass er den Begriff des Glücks und der
44 Teil I Allgemeine Grundlegung
noch weitere Lebewesen Präferenzen zeigen können, als einer unter einer
gewaltigen Zahl von Lebewesen, die ebenfalls Präferenzen haben.
Dazu kommt, dass der Aktutilitarist auch lügen und betrügen, sogar tö-
ten dürfte, wenn solche Handlungen das Glück der größtmöglichen Zahl
steigern würden. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, hat sich
eine andere Spielart des Utilitarismus entwickelt, der Regelutilitarismus in
seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Gemeinsam ist den Regelutilita-
rismen zu verlangen, die nutzbringendsten Regeln aufzustellen, die freilich
in der Anwendung im Einzelfall subutilitär sein könnten, dennoch aber
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rismus die Kritik zu, die oben bereits gegen Kants ausnahmsloses Wahr-
heitsgebot zum Tragen kam.
Ebenfalls nicht geklärt ist, wie die einzelnen Interessen konkret gegen-
einander abzuwägen sind und wer überhaupt als Interessensträger zählt: nur
Menschen oder auch höhere Säugetiere oder sogar Bakterien, die auch leben
„wollen“.
Dagegen ist eine Kritik vollständig verfehlt, die dem Utilitarismus unter-
stellt, er würde zu einer Maximierung des Eigennutzens aufrufen. Das ge-
rade tut er nicht. Er vertritt zwar keinen absolute Uneigennützigkeit, aber er
relativiert den Eigennutzen des Einzelnen in einer Weise wie kaum ein an-
derer ethischer Ansatz.����������������������������������������������������
Damit ist der Utilitarismus streng von einem ökono-
mischen Ansatz zu unterscheiden, der vom Menschen als rationalem Opti-
mierer des Eigeninteresses, dem sogenannten homo oeconomicus, ausgeht.
Die Maximierung nach objektiven Kriterien der Gesamtsumme der größt-
möglichen Zahl (klassischer Utilitarismus) ist etwas völlig anderes als die
Maximierung des Eigennutzens durch einen rationalen Agenten gemäß sei-
nen eigenen Präferenzen. Im ersten Fall handelt es sich um einen ethischen
Ansatz, im Fall des homo oeconomicus geht es um eine methodische Abs-
traktion moderner Ökonomik zur Analyse bestimmter Konstellationen.
46 Teil I Allgemeine Grundlegung
2.4 Vertragstheorien
Andere dagegen begründen den Vertrag auf einem moralischen Ideal von
Gerechtigkeit als Fairness. Dieser Typ wird als „contractualism“ bezeichnet.
Das bekannteste Hauptwerk hierzu ist „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von
John Rawls (1999 [1971]). Er konstruiert eine fiktive urzuständliche Ver-
tragssituation, in der alle Betroffenen einem Vertrag zustimmen können, der
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schen Arguments besteht dabei wie bei allen Vertragstheorien aus drei
Schritten:
nicht selbst komatös wird und darum auch am Schutz Komatöser ein Inter-
esse hat, wird diese Konstruktion grundsätzlich in Frage gestellt: Die realen
Menschen im Hier und Heute werden die rawlssche Option für die am
schlechtesten Gestellten nicht teilen müssen. Warum sollten sie sich in eine
fiktive Urzustandssituation hineindenken, die von allen realen Fähigkeiten
und Umständen abstrahiert? Warum sollten sie also bereit sein, Umvertei-
lungen zu akzeptieren, wenn sie dafür Einbußen hinnehmen müssen – also
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diese Umverteilungen nicht mehr zu ihrem Vorteil sind, z. B. weil sie bereits
selbst für den Fall vorgesorgt haben, dass sie komatös werden?
Rawls erreicht nämlich sein spezifisches Ergebnis, Gerechtigkeit als Fair-
ness, erreicht, weil er den Urzustand durch den Schleier des Nichtwissens
und die Annahme der grundsätzlichen Gleichheit in besonderer Weise spe-
zifiziert hat. Rawls hat bereits in den Urzustand diese grundsätzliche Gleich-
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heit durch Abstraktion von allen Unterschieden und reine Reduktion des
Menschen auf ein eigeninteressiertes Subjekt mit Risikoaversion hineinge-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
2.5 Übersicht
Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, sollen die bisher behandelten Posi-
tionen nochmals in einer Übersicht zusammengefasst werden:
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Abb. 5
Klassifikation und Kritik absolutistischer Hauptpositionen
Eine Ethik heißt „angewandte“, wenn sie konkret wird. „Angewandt“ und
somit konkret ist die Ethik dadurch, dass sie sich ganz bestimmten Hand-
lungsfeldern zuwendet und deren eigene Problemlagen aufgreift, dabei aber
auch Rücksicht auf deren jeweilige sachliche Zusammenhänge nimmt. Um
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meist im Sinne von „Optimierung“ und damit relativ weit gefasst, um unter-
schiedliche gesellschaftliche Zielsetzungen miteinander vergleichbar zu ma-
chen. Die Anwendungsbedingungen werden beispielsweise mittels der Sze-
narientechnik erhoben und das Ergebnis für das, was zu tun ist, je nach
vorgestellter „Zukunft“ in der folgenden Weise deduziert:17
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Prämissen:
1. Jede Anwendung einer Technik vom Typ A,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
17 Dabei geht es im Feld der Technikfolgenabschätzung nicht um die Frage der Ver-
pflichtung von Technik, sondern nur in der schwächeren Form um die Zulässig-
keit einer Technik.
52 Teil I Allgemeine Grundlegung
Regeln geben, die nur für einen Fall gelten. Es handelt sich dann schlicht um
keine Regeln mehr. Zudem stellen sich in diesen Fällen die Fragen: Wer hat
eigentlich recht? Warum sollte dieser Konfliktfall nicht auch ganz anders
interpretiert und gelöst werden können?
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Umgang und die Auslegung von Rechtstexten herausgearbeitet hat: Die Er-
kenntnis eines Textes und die konkrete Anwendung, im Beispiel rechtlicher
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Regelungen auf einen konkreten Fall, sind ein einheitlicher und nicht zwei
getrennte Akte. Die Anwendung ist also nicht ein nachträglicher Teil, nach-
dem etwas verstanden wurde, sondern bestimmt dieses Verstehen von vorn-
herein mit. Dabei ist das hermeneutische Problem nur „ein Sonderfall der
Anwendung von etwas Allgemeinem auf eine konkrete und besondere Situ-
ation“ (Gadamer 1990, 317). So hat bereits Aristoteles die Überzeugung
vertreten, dass die Methode ihrem Gegenstand entsprechen muss. Im mora-
lischen Bereich ist deshalb nicht dieselbe Präzision der Anwendung von
Nöten wie beispielsweise in der Mathematik und in der Logik, bei denen aus
ersten Prinzipien alles Übrige deduzierbar ist (vgl. Aristoteles EN, 1094b11f ).
Die konkrete Situation und das jeweilige Vorverständnis des Handelnden
bestimmen in der Praxis die Anwendung der Regeln und Prinzipien. Wie
aber können diese konkrete Situation und das jeweilige Vorverständnis dann
mit den Prinzipien vermittelt werden?
Die philosophische Tradition thematisiert diese Frage ganz allgemein,
also noch nicht in einem spezifisch ethischen Kontext, im Rahmen von
Überlegungen zu „Klugheit“, „Urteilskraft“ oder auch „Theorie-Praxis-Ver-
hältnis“. So schreibt beispielsweise Kant (1968 [1793], 275): „Dass zwischen
Theorie und Praxis noch ein Mittelglied der Verknüpfung und des Übergan-
ges von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch so
vollständig sein, wie sie wolle, fällt in die Augen; denn zu dem Verstandes-
begriff, welcher die Regel enthält, muss ein Actus der Urteilskraft hinzu-
kommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel
54 Teil I Allgemeine Grundlegung
sei oder nicht; und da für die Urteilskraft nicht wiederum Regeln gegeben
werden können, wonach sie sich in der Subsumtion zu richten haben (weil
das ins Unendliche gehen würde), so kann es Theoretiker geben, die in ihrem
Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt“.
Ein Beispiel hierfür, das noch ohne jeden direkten ethischen Bezug ist,
stellt die medizinische Regel dar, sich vor einer Operation nach gewissen
Reglements zu desinfizieren. Wenn ein Arzt erstmals nach dieser Regel han-
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delt, so hat er sich meist an dem Vorbild anderer Ärzte orientiert. Faktisch
gilt: Wenn relativ viele Ärzte sich in einer bestimmten Weise desinfizieren,
so bilden sich von daher Standards, in die „Neulinge“ hineinwachsen. Diese
Standards ermöglichen, die Verletzung dieser Regel als eine solche zu verste-
hen und gegen Ärzte, die diese Standards verletzen, ein Disziplinarverfahren
einzuleiten. Dennoch gibt es natürlich Ausnahmen von der standardmäßi-
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gen Anwendung der Regel. Man stelle sich vor, dass ein Arzt zu einer Not-
operation gerufen wird, bei der keine Zeit zu verlieren ist. In diesem Fall
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
18 So zitiert bereits Cicero (1994, I: 33) den alten Grundsatz: „summum ius saepe
summa iniuria.“
Typologie Angewandter Ethiken und das Verständnis von „Anwendung“ 55
diese Regel außer Kraft setzen darf. Diese Fähigkeit wird in der politischen
und in der Rechtsphilosophie seit Platon unter dem Begriff der Tugend der
Epikie behandelt, also der Tugend, das Geziemende und Angemessene in
der konkreten Situation bei der Auslegung des Gesetzes zu treffen. Dasselbe
gilt analog in der Anwendung ethischer Normen.
Daraus ergibt sich: Die Engführungen sowohl von Top-down-Modellen
als auch von Bottom-up-Modellen sind zu vermeiden. Auch wenn die ein-
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Sie nimmt die Gesamtheit von Prinzipien und Situation in ihren vielfältigen
Bezügen in den Blick. Dabei ist sowohl das Verfahren holistisch, „weil der
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Fortgang kein deduktiver ist, sondern zwischen den früheren und späteren
Schritten der Argumentation eine Wechselbeziehung besteht“ (ebd., 24),
und zudem werden die Kriterien, Normen und Prinzipien teils in den Kon-
texten entwickelt und teils im Kontakt mit der Wirklichkeit überprüft. Die
normative Bewertung ist somit holistisch. Dies geschieht auf dreifache
Weise:
Dabei gilt: Jede Anwendung der Ethik auf einen besonderen Sektor mensch-
licher Handlungsmöglichkeiten muss sich sozusagen an den „Spielregeln“
orientieren, die in ihm gelten. Allgemein gesprochen: Spielregeln existieren
nicht in einem geschichtsleeren Raum, sondern sind immer in eine Tradition
eingebunden und aus konkreten Entstehungskontexten erwachsen, die sich
56 Teil I Allgemeine Grundlegung
teilweise über sehr lange Zeiträume bewährt haben. Umgekehrt können sich
die „Spielregeln“ durch ihre konkrete Anwendung mit der Zeit wandeln.
Sogar das gesamte moralische „Gebäude“ kann entscheidende Veränderun-
gen erfahren. Denn aufgrund seines Vorverständnisses legt der Handelnde
die Regeln aus und kann sie in der Interpretation im Lauf der Zeit vor dem
Hintergrund neuer Erfahrungen umdeuten, und eventuell besser verstehen.
Was damit gemeint ist, lässt sich gut am Beispiel der Anwendung des
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Angewandter Ethik
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
quenzialistische Ethik dagegen ist das Motiv für die Handlung ohne Bedeu-
tung, solange nur die Konsequenzen der Handlung gut sind. Für eine Ver-
tragstheorie geht es dagegen darum, ob der (implizite) Vertrag eingehalten
wird, weswegen ebenfalls die kantische Unterscheidung in diesem Fall be-
langlos ist. Dagegen würden Naturrechtslehren in Kombination mit Tugend
ethiken diese Unterscheidung berücksichtigen, denn beim Handeln aus
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rein pflichtgemäße Handeln, z. B. nur aus Angst ansonsten Kunden zu ver-
lieren, weniger hoch geschätzt wird, ohne damit im kantischen Sinn völlig
amoralisch (nicht unmoralisch!) zu werden.
Doch damit sind noch keineswegs alle Schwierigkeiten benannt. Selbst
innerhalb eines bestimmten ethischen Ansatzes gibt es Dissense und somit
moralische Konflikte. Angenommen man vertritt eine rawlssche Vertragsthe-
orie, wie sieht es dann mit der Frage nach der Beihilfe zur Selbsttötung am
Lebensende aus? Darf diese geleistet werden? Oder auch: Wie ist der Kon-
fliktfall „Nutzung der Kernenergie zur friedlichen Energiegewinnung“ zu
lösen? Als ob diese Schwierigkeiten noch nicht genügen würden, gibt es
auch noch moralische Dilemmata: Diese können intrapersonal, aber auch
interpersonell sein. Selbst innerhalb eines ethischen Ansatzes egal welchen
Typs lässt sich beispielsweise kaum die Frage klären, wem von zwei Men-
schen das letzte freie Intensivbett zur Verfügung gestellt werden kann, wenn
diese zeitgleich eintreffen und ähnlich bedürftig sind. Hier kann oft nur
dezisionistisch (lateinisch: decisio = Entscheidung) vorgegangen werden: Die
Entscheidung, Person A das Bett zu geben, hat nicht mehr Gründe für sich
als die Entscheidung, Person B intensivmedizinisch zu behandeln. Es wer-
den also Entscheidungen getroffen, die auch genauso gut anders hätten aus-
fallen können. Ähnliches gilt, wenn zwei Boote mit je zwei vierköpfigen
Familien in Seenot sind, aber die Zeit nur reicht, um eine Familie zu retten.
Dabei soll zur Vereinfachung davon ausgegangen werden, dass es sich bei
dieser Familie nicht um eigene Verwandte oder um Personen handelt, für die
Anspruch und Aufgabe Angewandter Ethik 59
es eine klare persönliche Präferenz gibt. Selbst ein Utilitarist wird hier kaum
eine bessere Entscheidungsgrundlage finden können, als willkürlich zu ei-
nem der Boote zu fahren, um dessen Besatzung zu retten.
Jede Realisierung von Vorschlägen hat zudem Dimensionen, die sich un-
serer Erkenntnis entziehen. Mit jeder Entscheidung, etwas zu tun oder ge-
rade nicht zu tun, geschieht etwas, was nicht mehr umkehrbar, was nicht
reversibel ist. Die bisher offene Zukunft wird Vergangenheit und kann da-
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mit nicht mehr geändert werden. Sie kann nur noch verschieden interpre-
tiert werden. Damit aber verschärft sich gerade in der konkreten Entschei-
dung die Frage nach den sie bestimmenden Normen und Werten. Ein
ängstlicher Mensch wird anders entscheiden als ein mutiger, ein tollkühner
wiederum anders als ein ängstlicher und ein mutiger, um nur eine Andeu-
tung zu machen. Indem also ethische Überzeugungen praktisch werden,
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religiöser Vorstellungen, hatte die nicht intendierte Folge, dass der Blind-
darm nicht entdeckt wurde und deshalb viele Menschen an Blinddarment-
zündungen verstarben. Oder ein aktuelleres Beispiel: Die konkrete Folge der
per Gesetz in manchen Ländern erzwungenen Beimischung von Biosprit
hat die nicht intendierte Folge, dass Menschen in bestimmten Ländern von
einer Hungersnot bedroht sind, weil die Lebensmittelpreise massiv steigen,
da statt Nahrungsmitteln vermehrt Nutzpflanzen zur Gewinnung von Bio
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verfügen als die Autorität, die jeder andere hat, der in diesen Fragen mit
Gründen argumentiert. Vielmehr helfen sie im Wesentlichen den Entschei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
bote, die deshalb darauf angewiesen sind von der Mehrheit akzeptiert zu
werden, um in ihrer Anwendung gerechtfertigt zu werden. Entgegengesetzte
Positionen gehen davon aus, dass es absolute Werte oder Prinzipien und
Regeln gibt, die eine absolute Geltung beanspruchen und deshalb nicht
mehr durch ein Mehrheitsprinzip in ihrer Anwendung gerechtfertigt wer-
den müssen. Sie können sogar gegen Mehrheiten eingefordert werden.
Nach meiner Überzeugung hat die Angewandte Ethik einerseits die
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schen Zugangs, den ich für den angemessenen halte, auch diese Werte und
Prinzipien in konkreten Situationen und somit durch die Anwendung im-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
mer besser verstanden werden. Absolutheit darf hier also nicht in dem Sinn
missverstanden werden, als gäbe es eine Art satzhaft mögliche vollständige
Fixierung der Bedeutung dieser Normen und Werte.
Wenn ich davon spreche, dass es absolute Normen und Werte gibt, die
auch gerechtfertigt sind, selbst wenn eine Mehrheit sie faktisch ablehnen
würde, heißt das freilich nicht, dass damit der Anspruch aufgegeben ist, dass
alle Menschen, also logischerweise auch die Mehrheit, sie annehmen sollte
und auch annehmen könnte. Im folgenden Teil II möchte ich genau diesen
ethisch-universalistischen Anspruch erheben und systematisch darlegen,
dass es Normen und Werte einer Angewandten Ethik gibt, die ein gemein-
sames Band quer zu unterschiedlichen Weltanschauungen bilden und von
allen Menschen angenommen werden sollten. Ebenfalls möchte ich auf
weisen, dass diese fundamentalen Normen und Werte ein die einzelnen
Bereichsethiken übergreifendes Normen- und Wertegerüst darstellen und
somit in allen Bereichen zur Anwendung kommen, freilich in oftmals unter-
schiedlicher Weise und mit je von den Bereichen selbst vorgegebenen Anre-
gungen zum besseren Verständnis der Normen und Werte.
Prinzipien und Regeln für das Zusammenleben der Menschen aufzustellen. Auch
wenn manche Politikwissenschaftler heute ausschließlich empirisch oder de-
skriptiv-hermeneutisch arbeiten, bleibt das normative Anliegen dieser Wissen-
schaft bis heute ein wichtiges Moment. Von daher kann man festhalten: Ange-
wandte Ethik, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft verbindet in ihrer
Arbeitsweise, einerseits analytisch sowie hermeneutisch-deskriptiv, andererseits
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normativ vorzugehen.
Sie verbindet zudem, dass ihre Gegenstandsbereiche im Unterschied zu den
Naturwissenschaften ideelle Gebilde sind: Verfassungen/Gesetze/diesbezüg
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
anders hätten ausfallen können, weil es letztlich keine hinreichende ethische Be-
gründung für die eine oder andere Gesetzgebung gibt, aber doch eine Gesetz-
gebung von Nöten ist.
Zudem gibt es juristische Normen, die in ihrer konkreten Gestalt ethisch
wertfrei sind, aber dennoch nötig und sinnvoll: Es ist egal, ob wir in unserem
Staat Rechts- oder Linksverkehr haben. Es muss nur geordnet sein, damit wir
eben wissen, auf welcher Straßenseite wir fahren sollen. Erst eine Verletzung
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dieser Regel kann wieder nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch relevant wer-
den. Wer nämlich in London rechts fährt, obwohl Linksverkehr vorgeschrieben
ist, gefährdet Gesundheit und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer.
Darüber hinaus gibt es einen Grundlagenstreit in der Rechtswissenschaft, ob
Gesetze ihre Rechtfertigung rein im Verfahren positivistisch erlangen oder eine
Rückbindung an vorrechtliche Normen benötigen, z. B. einen Rekurs auf das
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Naturrecht. Je nach Positionierung verändert sich damit auch das Verhältnis von
Angewandter Ethik zur Rechtswissenschaft.
Ein ähnlicher Grundlagenstreit findet in der Politikwissenschaft statt. Realis-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
ten lehnen einen Rekurs auf ethische Fragestellungen zumindest für die zwi-
schenstaatliche Politik ab. Sie gehen davon aus, dass hier reines Machtkalkül
vorherrscht und nehmen dies zum Ausgangspunkt. Partikularistische Politikwis-
senschaftler verneinen die Universalität von Normen und kommen damit auch zur
Verneinung universeller Menschenrechte. Demgegenüber argumentieren an uni-
versellen Menschenrechten orientierte Politikwissenschaftler für einen Bezug zu
ethischen Fragestellungen. Eine derartige normative Politikwissenschaft verbin-
det mit der Angewandten Ethik beispielsweise Fragen nach einer gerechten und
verantwortbaren gesellschaftlichen Ordnung sowie lebensdienlichen Institutio-
nen. Darum ist es in manchen Fällen sehr wichtig, konkrete Konfliktfälle interdis-
ziplinär anzugehen.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
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65
Menschenrechte
Im Jahr 1945 wurde der Weltgemeinschaft das ganze Ausmaß der rassistisch
motivierten nationalsozialistischen Verbrechen gegen Menschen jüdischen
Glaubens und jüdischer Herkunft bewusst. Der millionenfache Mord am
jüdischen Volk war trotz seiner Singularität freilich nicht das einzige Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit, das das Gewissen der Menschen in der
Welt aufrüttelte. Wie unmenschlich die Nationalsozialisten auch mit Men-
schen slawischer Herkunft umgingen, verdeutlicht eine Aussage Himmlers
vom 4. Oktober 1943, die im Konzentrationslager Flossenbürg auf einer
Gedenktafel dokumentiert ist: „Wie es den Russen geht, wie es den Tsche-
chen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut
unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn
notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen
Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert
mich nur so weit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders
interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000
russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur
insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“
Die Grundlage dieser Grausamkeiten bildeten zwei nationalsozialisti-
sche Prinzipien:
66 Teil II Systematische Grundlegung
Deshalb negierten die Charta der Vereinten Nationen 1945, die Menschen-
rechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 und das bundesdeutsche
Grundgesetz 1949 diese zwei vom Nationalsozialismus propagierten Prinzi-
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pien und setzten an ihre Stelle positiv das Prinzip der Menschenwürde; in
den Worten der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948):
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie
sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der
Geschwisterlichkeit begegnen.“
Gerade die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948)
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wendet sich darüber hinaus Artikel für Artikel gegen die grausamen Men-
schenrechtsverletzungen der Nationalsozialisten, denen mehr als 20 Millio-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
nen Menschen zum Opfer fielen (vgl. Morsink 2001). Vor diesem Hinter-
grund lässt sich darum das Prinzip der Menschenwürde als Kontraposition
gegenüber den beiden nationalsozialistischen Prinzipien verstehen und in
folgender Weise entfalten:
Das so verstandene Prinzip der Menschenwürde und der mit ihr verbunde-
nen Menschenrechte ist grundsätzlich auch von den Prinzipien eines soge-
nannten Humanismus marxscher Prägung zu unterscheiden. Im Unterschied
zum Nationalsozialismus und anderen faschistischen Theorien, die jedoch
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 67
Staatssicherheit der DDR, formulieren: „Wir sind nicht davor gefeit, dass
wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüsste,
würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozess. Weil ich ein Huma-
nist bin. Deshalb habe ich solche Auffassung. […] Das ganze Geschwafel
von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen.
Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“21
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Prinzip, da der Einzelne für das Glück der größtmöglichen Zahl geopfert
werden kann. Er relativiert aber auch das zweite Prinzip der grundsätzlichen
Gleichheit aller Menschen, insofern beispielsweise im Präferenzenutilita-
rismus nur gleiche Präferenzen als gleich gezählt werden. Darum zählt ein
Mensch mit schwerer geistiger Behinderung nicht mehr als Gleicher, weil er
nicht die gleichen Präferenzen ausbilden kann. Er ist weniger zu berücksich-
tigen als ein gesunder Hund (vgl. Singer 199422).
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die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!“ Diese For-
mel ist freilich sehr deutungsoffen und kann gerade nicht in einfacher Weise
zur Entscheidungsfindung beitragen, denn es müssen in diesen ethisch legi-
time von ethisch illegitimen Instrumentalisierungen unterschieden werden
(vgl. Hoerster 2002, 18). Natürlich darf man jemandem die Frage nach dem
Weg zum Bahnhof stellen, auch wenn man diese Person eigentlich als „Na-
vigationsgerät“ instrumentalisiert. Doch man lässt der anderen Person ge-
rade die Freiheit, die Auskunft auch zu verweigern, und instrumentalisiert
sie darum eben nicht vollständig. Diese ethische Implikation aus der in der
Anerkennung der Menschenwürde verbürgten Anerkennung des prinzipiel-
len Subjektstatus jedes Menschen ist auch rechtlich normorientierend ge-
worden. Das Prinzip der Menschenwürde verbietet es nach Überzeugung
des bundesdeutschen Verfassungsgerichts, „den Menschen zum bloßen Ob-
jekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine
Darüber hinaus sind die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen
Grundrechte (auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Religionsfreiheit usw.)
nicht abhängig davon, welche Eigenschaften Menschen haben und wie sie
sich verhalten, sondern kommen den Menschen dadurch zu, dass sie Men-
schen sind. Die Menschenwürde als zentrales Prinzip jeder humanen Ge-
sellschaft in diesem Sinn ist darum nur durch den Tod verlierbar und somit
auch zu unterscheiden von
n einer sozialen und verliehenen Würde: Wir reden von Würdenträgern
(lateinisch: dignitates), beispielsweise der Würde des Bischofs, insofern die
ausgeübte soziale Rolle als würdevoll anerkannt wird, und leiten daraus
Ansprüche ab: Ansprüche an die Achtung der sozialen Rolle dieser Wür-
70 Teil II Systematische Grundlegung
Das Prinzip der Menschenwürde darf auch nicht mit weniger fundamenta-
len und handhabbaren Regeln vermischt werden. Diese Regeln können
nämlich in ihrer Geltung auch in bestimmten Kontexten aufgehoben wer-
den. Ihre größere Praxisnähe und Konkretheit kann diese Konsequenzen
haben. Nehmen wir wieder das Beispiel der Desinfektionsregel (vgl. 3.3):
So desinfiziert ein Arzt vor einer Operation nach einer Standardregel seine
Hände. Befindet er sich aber in einer Notsituation, wo sofort operiert wer-
den muss und keine Zeit bleibt, die übliche Desinfektionsregel zu befolgen,
so darf er diese Regel auch missachten. Das Prinzip der Menschenwürde
beansprucht dagegen universelle Gültigkeit. Es kann keine Situation geben,
die berechtigt, es außer Kraft zu setzen. Gerade aufgrund seines fundamen-
talen Charakters hat dieses Prinzip damit auch Leitbildcharakter und ist
insofern in seinem „Wie“ der Anwendung zu lernen. Es steht in besonderer
Weise in einem dynamischen Verhältnis zum Handelnden und zur Situa-
tion, nämlich in dem spezifischen Sinn eines Metaprinzips.
Was bedeutet das? Das Prinzip der Menschenwürde steht in einer Wech-
selwirkung mit den Entscheidungen der Akteure. Es wird einerseits in kon-
kreten Entscheidungen und Handlungen mit vollzogen und in diesem Sinn
gelernt. Andererseits lassen die konkreten Entscheidungen und Handlungen
erkennen, wie dieses Prinzip ausgelegt wird. In ihnen wird es interpretiert
und vermittelt sowie seine Bedeutung auf diese Weise gestaltet. Diese Ver-
mittlung und Gestaltung der Bedeutung ist dabei nicht als eine Aushöhlung
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 71
des Gehalts und der absoluten Geltung des Prinzips der Menschenwürde
misszuverstehen, sondern entspricht der hier vertretenen Grundüberzeu-
gung, dass gerade das Prinzip der Menschenwürde eine besondere Plastizität
beinhaltet. Es entfaltet sich die in ihm enthaltene Bedeutung, die vom Prin-
zip allein, abstrakt genommen, so nicht aussagbar ist.
Das Prinzip der Menschenwürde ist darum auch nicht mit einzelnen
Grundrechten gleichzusetzen. Menschenwürde ist nicht die einfache Summe
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der Grundrechte und der mit ihnen implizit gegebenen Pflichten, sondern
vielmehr deren Grund. Das lässt sich leicht daran zeigen, dass in praktisch
allen ethischen Ansätzen alle Grundrechte unter bestimmten Umständen
eingeschränkt oder sogar aufgehoben werden können, z. B. im Fall der Not-
wehr, weil es zu Rechts- und Pflichtenkollisionen kommen kann. Auch die
Rechtsprechung folgt diesem weitgehenden ethischen Konsens. So heißt es
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darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ (Art. 2 Abs. 2 GG).
Die unbedingte Menschenwürde dagegen ist keinen Bedingungen (z. B. be-
stimmten Einschränkungen durch Gesetze) unterworfen, weil sie als Grund
der Menschenrechte auf einer anderen Ebene verortet ist. Sie kann nicht
abgesprochen werden. Vielmehr kommt sie zu oder nicht.
Das Prinzip der Menschenwürde ist also im Unterschied zu Prinzipien
im Sinne der Menschenrechte ein Prinzip besonderen Typs. Es ist das Prin-
zip „hinter“ den Prinzipien, das Fundament des ethischen Prinzipienge
bäudes. Klaus Dicke (2002, 115) spricht deshalb davon, dass Würde das
fundamentale Prinzip ist, in dessen Licht alle politischen und rechtlichen
Entscheidungen – und ich möchte ergänzen: alle ethischen Entscheidungen
– zu treffen sind.
nicht nur ihre verbale Zustimmung zu geben, sondern diese in ihren Gesell-
schaften Realität werden zu lassen, im Fachbegriff, zu implementieren (eng-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
lisch: to implement = realisieren, in die Tat umsetzen). So üben die mit der
Menschenwürde verbundenen Werte des Lebens, der Freiheit, der Gerech-
tigkeit und des Friedens eine große Faszination gerade auch auf heutige Ge-
nerationen aus. Beispielsweise setzen sich Menschen, die nie Krieg am eige-
nen Leib erlebt haben, für Frieden in der Welt ein. Während noch in den
50er Jahren des 20. Jahrhunderts beispielsweise im katholischen Religions-
unterricht von Schülern mit Begeisterung gelesen wurde, wie der Gott Ab-
rahams, Isaaks und Jakobs die Ägypter ins Meer stürzt und vernichtet und
so sein Volk Israel rettet, fragen Schülerinnen und Schüler seit den 70er
Jahren: Wie kann Gott nur so grausam sein und so viele Ägypter einfach
töten?23 Heute sind vor allem Friedensstifter wie Mahatma Gandhi und
Martin Luther King leuchtende Vorbilder für viele Menschen.
Was aber heißt hierbei, die Werte von Menschenwürde und Menschen-
rechten mit damit verbundenen Werten wie Leben (das zugleich ein Gut
ist), Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden seien erfahren worden? Die Sprech-
weise zeigt an, dass diese Werte nicht konstruiert wurden. Sie sind keine
menschliche Konstruktion aufgrund von Aushandlungsprozessen, die nur
verbindlich sind, sofern man die Konstruktion für sinnvoll hält. Dagegen
lässt diese Sprechweise offen, ob dieses Zum-Bewusstsein-Kommen so
zusagen einer Art (Wieder)Entdeckung dieser Werte entspricht, so wie es
23 Ich danke meinem Onkel, Pfarrer Karl Jahnke, der vier Jahrzehnte Religion an
Gymnasien unterrichtete, für dieses Beispiel.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 73
Innovation, was für die Menschenrechte, aber wohl auch für die heutige Be-
deutung von Menschenwürde ebenso wenig zu bezweifeln ist, wie für unser
Verständnis von der Bedeutung von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, so
mutet die Behauptung, diese Menschenrechte seien entdeckt worden, sehr
gezwungen an. Treffender ist es, die Menschheitserfahrung der Bedeutung
von Menschenwürde und Menschenrechten als Entstehung dieses Norm-
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können, was sie tun. Wählen zu können, was man tut, setzt also voraus, dass
man nicht vollständig Instrument des Willens anderer ist. Intentionalität besagt
damit, dass die Handelnden mit ihrem Handeln ein Ziel anstreben, das einerseits
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
zum Handeln stimuliert, andererseits aber auch dem Handelnden entspringt. Die
Intentionalität im gehaltvollen Sinn kann dabei mehrstufig sein. Handelnde kön-
nen das Ziel haben, ein bestimmtes Ziel nicht zu haben. Ein derartig gehaltvoller
Begriff von Intentionalität schließt aus, bereits dann von moralisch relevanten
Handlungen zu sprechen, wenn beispielsweise eine Grille zirpt. Vielmehr setzen
moralische Handlungen im Vollsinn des Wortes diese mehrstufige Fähigkeit zu
wählen voraus und zugleich damit auch die Fähigkeit zur Distanzierung von eige-
nen Wünschen.25
Wie lässt sich von diesem übergreifenden Ausgangspunkt her die gegensei-
tige Achtung von Menschenwürde begründen? Beginnen wir damit zu erläutern,
was es bedeutet, dass jemand handelt. Wenn ich handeln möchte, dann beab-
sichtige ich, etwas auf Grund eines Ziels zu tun, das ich freiwillig gewählt habe.
Es lässt sich also der Satz aufstellen:
Da Z für mich etwas ist, das ich freiwillig gewählt habe, hat Z für mich einen
hinreichenden Wert, um mein Handeln zu bewirken. Als zweiter Satz ergibt sich
damit:
2 Z ist gut, wobei „gut“ hier nur bedeutet, dass ich Z genug Wert beimesse,
um es anzustreben.
Um aber überhaupt handeln zu können, müssen die notwendigen Bedingungen
des Handelns gegeben sein. Dies sind allgemeine, notwendige Bedingungen für
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ihrer Menschenwürde.
Daraus folgt:
7 Handle so, dass in deinem Handeln die Menschenwürde aller Handelnden
(dich eingeschlossen) anerkannt ist!
Diese rationale Begründung der Menschenwürde erklärt auch, warum die
nationalsozialistischen Prinzipien nicht nur als menschenverachtende Akte
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dingungen nicht mehr durch den dann Stärkeren geachtet werden, sofern er
zumindest in bestimmten Fällen diese Prinzipien nun gegen die Unterlegenen
anwendet.
Eine vertragstheoretische Rechtfertigung von Menschenwürde und Men-
schenrechten lässt wichtige Fragen offen: Wie steht es mit denjenigen Men-
schen, die nicht selbst Verträge schließen können, weil sie noch nicht, nicht
mehr oder nie in den oben beschriebenen gehaltvollen Sinn handeln können?
Wie steht es um nicht-menschliche Lebewesen, die ebenfalls keine Vertrags-
partner sein können? Welche Rolle spielen diejenigen Menschen, die noch gar
nicht existieren?
ten als „unwertes Leben“ diffamierten, und alle damit vergleichbaren Hand-
lungen als Verbrechen gegen Menschenwürde und Menschenrechte
gebrandmarkt. Menschenwürde und Menschenrechte sind eben nicht von
spezifischen Eigenschaften wie Geschlecht, Rassenzugehörigkeit, aber auch
Leistungsfähigkeit und sonstigen Fähigkeiten abhängig. Jedem geborenen
Menschen kommt diese Würde zu. Sie ist sein genuines Recht. Dieser
Rechtsanspruch, der gerade an keine andere Eigenschaft als die des Mensch-
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seins auf dieser Welt geknüpft ist, entspringt der Erfahrung, was es bedeutet,
wenn dieses Recht von anderen Eigenschaften geborener Menschen als die-
ser abhängig gemacht wird: Menschen können dann aufgrund bestimmter
Eigenschaften aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen und ermordet
werden, wofür der Name „Auschwitz“ steht. Jede Inanspruchnahme der De-
finitionsgewalt darüber, wer zum Kreis der von ihm zu respektierenden
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Der Lebensanfang des Menschen wird oftmals gerade mit Berufung auf den
biologischen Befund bestimmt. Dieser Befund ist jedoch deutungsoffen.
Biologische Grunddaten
Es läuft bereits vor der Befruchtung ein systematischer und strukturierter
kontinuierlicher Prozess ab, der je nachdem, ob eine Befruchtung stattfindet,
auf die eine oder andere Weise systematisch und strukturiert weitergeht.
78 Teil II Systematische Grundlegung
sich etwa am fünften oder sechsten Tag nach dem Eisprung an der mütter-
lichen Uterusschleimhaut an. Dieses Stadium ist biologisch von großer Be-
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Unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten
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Position Erläuterung
Position 1 Annahme, dass Menschenwürde dem Keim ab der Be-
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Position 1
Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass im Vorkernstadium noch kein Mensch,
nicht einmal ein menschlicher Organismus vorhanden ist, sondern nur lokal
eng beieinander seiendes männliches und weibliches Erbgut. Also kann hier
rein begrifflich noch nicht vom Zukommen der Menschenwürde gespro-
chen werden, da wir es noch gar nicht mit einem Menschen zu tun haben
können.
Welche Gründe sprechen jedoch dafür, dass Menschenwürde dem
menschlichen Keim/Embryo (griechisch: embryo = Keim) ab der Vereinigung
des Erbguts der Vorkerne zukommt? Die wichtigsten Argumente hierfür
sind unter dem Begriff der SKIP-Argumente zusammengefasst. Es handelt
sich um das Spezies-, das Kontinuums-, das Identitäts- und das Potentiali-
tätsargument. Dazu kommen noch das Vorsichtsargument und ein emotio-
nales Argument.
Das Speziesargument bedient sich der Grundüberlegung, dass jeder von
Menschen gezeugte Organismus von Anfang seiner Existenz an ein Mensch
80 Teil II Systematische Grundlegung
ausgegangen wird, dass mit der Entstehung eines neuen Organismus auch
eine Beseelung stattgefunden hat. Letztgenannte Annahme setzt freilich ei-
nen Leib-Seele-Dualismus in platonisch-cartesianischer Tradition voraus.
Rein ontologisch in aristotelischer Tradition argumentiert das Potentiali-
tätsargument: Der menschliche Keim ist bereits ein neuer eigenständiger
Organismus und besitzt die aktive Potentialität (Entelechie), sich als Mensch
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Anfragen an Position 1
Dagegen lässt sich jedoch argumentieren: Wir wissen heute, dass aus emb-
ryonalen Stammzellen wieder Keimzellen, also Ei- und Samenzellen wer-
den können. Normale Körperzellen lassen sich durch den Transfer in ent-
kernte Eizellen wieder in einen embryonalen Zustand versetzen, wie eben
der Zellkerntransfer (das Klonen) beweist. Es lassen sich gerade am Lebens-
anfang eine Vielzahl von Prozessen steuern, sodass es eine Frage der Inter-
pretation ist, von welcher aktiven Potentialität man ausgehen möchte. Man
benötigt beispielsweise die aristotelische Zusatzannahme einer inneren En-
telechie des menschlichen Keims aufgrund einer bestimmten Naturvorstel-
lung, um ihm die aktive Potentialität des Menschseins zuzusprechen. An-
sonsten hat ein Embryo in der Petrischale keine derartige Potentialität,
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 81
sondern je nach Nährlösung eine völlig andere. Aber selbst unter dieser An-
nahme bleibt zu diskutieren, welche Bedeutung die epigenetische Struktu-
rierung durch Positionseffekte der mütterlichen Schleimhaut hat und wel-
che Rolle es spielt, dass es auch noch Zwillinge geben kann.
In dieser Phase, in der noch eine Zwillingsbildung möglich ist und we-
sentliche Strukturierungen noch nicht stattgefunden haben, scheint auch
das Identitätsargument so nicht dienlich zu sein. Zudem gibt es Entwick-
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lungen des menschlichen Keims, die menschlich, aber eben keine Menschen
sind, beispielsweise Gebilde, denen ein menschlicher Kopf fehlt. Deswegen
ist auch das strenge Speziesargument problematisch.
Das Kontinuumsargument trägt ebenfalls nicht viel aus, weil bereits der
Vorgang vor und während der Befruchtung kontinuierlich abläuft. Dann
wäre aber bereits jeder, der mit einem Kondom verhütet, Zerstörer eines
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26 Der griechische Begriff „Sperma“ bedeutet auch „Sprössling, Kind, Sohn, Ab-
kömmling“.
82 Teil II Systematische Grundlegung
Tod von Menschen schuldig zu sein. Obwohl erst durch das Auffinden der
weiblichen Eizelle die Homunculus-Theorie als sicher widerlegt gelten kann,
hatte dennoch beispielsweise bereits der wohl bedeutendste Philosoph und
Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin, diese Theorie abgelehnt. Er
hatte für seine Ablehnung nicht unsere medizinisch-naturwissenschaftli-
chen Erkenntnisse. Er hatte vielmehr aus philosophischen Gründen ernste
positive Zweifel an der Berechtigung dieser Position und ging darum davon
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aus, dass ein Mensch erst mit der Beseelung einer Geistseele vorhanden ist,
die jedenfalls erst dann stattfände, wenn der Embryo auch sinnlich mensch-
liche Gestalt annimmt. Für ihn war die homunculus-Theorie, wie wir heute
wissen zu Recht, übervorsichtig.
Aber auch ein emotionales Argument kann gegen diese Position geltend
gemacht werden (vgl. Merkel 2002, 151). Man stelle sich vor, es brennt in
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ein Baby oder einen Kühlschrank, in dem sich mehrere hundert befruchtete
Eizellen, also menschliche Keime befinden, aus dem Brand herauszutragen?
Auch hier sagt die Intuition, dass praktisch alle Menschen das Kind retten
würden.
Vor dem Hintergrund dieser Einwände gibt es darum auch andere Posi-
tionen, den Beginn des Menschseins im moralisch relevanten Sinn festzu-
machen.
Position 2
Vertreter dieser Position gehen davon aus, dass die Existenz eines individu-
ellen menschlichen Lebewesens erst gegeben ist, wenn die neuronale Ent-
wicklung beginnt. Es kann also frühestens ab dem Zeitpunkt der Ausbil-
dung des Primitivstreifens mit der Anlage der Neuralplatte davon gesprochen
werden, dass eine neuronale Tätigkeit und damit Vorformen des Gehirns
vorhanden sind. Wie nun am Lebensende mit der Feststellung des Ganz-
hirntods zumindest nach Überzeugung der Bundesärztekammer der Tod
des Menschen festgestellt wird, so könnte man in Analogie dazu sagen, dass
auch der Beginn des menschlichen Lebens erst gegeben ist, wenn sich der
Primitivstreifen ausgebildet hat und erste neuronale Tätigkeit nachgewiesen
werden kann. Erst ab diesem Zeitpunkt wäre es dann überhaupt begrifflich
sinnvoll, von einem Zukommen der Menschenwürde zu sprechen, da zuvor
noch gar kein Mensch, sondern nur ein menschlicher Organismus vorhan-
den ist. Dieser ist zwar als Organismus individuell, aber noch kein individu-
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 83
eller Mensch.27 Das heißt allerdings nicht, dass Lebensbeginn und Lebens-
ende dasselbe sind. Vielmehr gibt es eine ethisch relevante Asymmetrie. Am
Lebensanfang beginnt ein Prozess, am Lebensende dagegen hört er auf.
Deshalb muss auch dem frühen Embryo ein anderer Schutz zukommen als
dem Verstorbenen. Dieser Schutz des frühen Embryos vor der Nidation,
also vor seiner Individualisierung kann aber als für eine Güterabwägung of-
fen angesehen werden, da diesem Embryo keine Menschenwürde und damit
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Anfragen an Position 2
Vertreter der ersten Position werden diese Festlegung nicht akzeptieren, da
für sie eben bereits durch die Vereinigung des Erbguts der Vorkerne ein
neuer, wenn auch in mehrere Menschen teilbarer, menschlicher Organismus
entstanden ist, der in vielen Fällen das Ziel der Geburt erreichen wird. Die-
ses entwicklungsfähige Genom und nicht der Beginn neuronaler Tätigkeit
begründe die Existenz eines Menschen, wenn freilich nicht notwendiger-
weise eines Menschen im numerischen Sinn.
Vertreter der nachfolgenden dritten Position halten es nicht für gerecht-
fertigt, bereits zu so einem frühen Zeitpunkt von einem Menschen im vollen
moralischen Sinn zu sprechen, da zwischen uns als geborenen Menschen
27 Zumindest in der katholischen Theologie, die den Papst als oberste Lehrautori-
tät anerkennt, ist dies eine notwendige Annahme, weil sie von der Beseelung des
Menschen ausgeht, die einem göttlichen Akt entspringt. In seiner Ansprache bei
der Privataudienz der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften hat Papst Bene-
dikt XVI. diese Lehre, dass jede Geistseele unmittelbar von Gott und nicht von
den Eltern geschaffen wird, erneut bestätigt (vgl. Osservatore Romano 2008/256,
1). Es ist aber in dieser Logik schwer vorstellbar, warum diese Beseelung bereits
stattfinden sollte, solange noch eine Zwillingsbildung möglich ist, es aber auch
noch möglich ist, dass Zwillinge wieder zu einem einzigen Menschen fusionie-
ren (vgl. dazu Knoepffler 1999b, 72f ). Der mittelalterliche Theologe Thomas von
Aquin, den die katholische Kirche bis heute als den Theologen empfiehlt, hält eine
Beseelung erst für möglich, wenn eine körperliche Grundlage vorhanden ist (vgl.
Thomas von Aquin, SG II, 2, cap. 89, 3 und dazu Knoepffler 2004, 63–65).
84 Teil II Systematische Grundlegung
und einem zwei Monate alten Embryo ein weitreichender moralischer Un-
terschied bestehe. Darum sei eine Zuerkenntnis von Menschenwürde und
Menschenrechten in diesem Stadium zu früh. Sie verweisen dabei auch auf
die lange geschichtliche Praxis der Abtreibung, die in vielen Kulturen gebil-
ligt, zumindest aber nicht in der gleichen Weise wie die Tötung eines gebo-
renen Menschen angesehen wurde und wird.
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Position 3
Vertreter der dritten Position argumentieren dafür, einen gesellschaftlich
verträglichen Zeitpunkt festzulegen, von dem an Menschenwürde zuerkannt
werden sollte. Manche sehen diesen Zeitpunkt mit Abschluss der Embryo-
nalperiode nach zwölf Wochen für gegeben an, andere argumentieren für
einen späteren Zeitpunkt während der Schwangerschaft, wieder andere wol-
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len die Geburt als entscheidenden Zeitpunkt fixieren. Dabei gehen die meis-
ten Vertreter davon aus, dass wir im von ihnen als graduellem Menschwer-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Anfragen an Position 3
Vertreter der dritten Position haben ihrerseits die Schwierigkeit zu begrün-
den, warum die Geburt oder ein anderer als der von den ersten beiden Posi-
tionen genannter Zeitpunkt vorzugswürdig sei. Die Geburt ist zwar in vielen
Kulturen der einschneidende Moment – wir feiern unseren Geburtstag und
nicht einen irgendwie errechneten Zeugungstag –, und die Rechtsfähigkeit
fängt in fast allen Fällen erst mit der Geburt an, aber dennoch zeigen heutige
medizinische Möglichkeiten, dass der Mensch schon viel früher auch außer-
halb des mütterlichen Uterus lebensfähig ist. Warum sollte also einem Men-
schen nur deshalb keine Menschenwürde zukommen, weil er noch nicht
geboren ist? Die Frage rein gesellschaftlich begründen zu wollen, bedeutet
wieder einen Rückfall in einen ethischen Relativismus.
hen, als es den Anschein hatte, dass der Ausschuss seiner Interpretation folgen
und das ungeborene Leben ab der Zeugung als mit eingeschlossen verstehen
würde. Daraufhin gab der Abgeordnete Greve ausdrücklich zu Protokoll, dass er
„unter dem Recht auf Leben nicht auch das Recht auf das keimende Leben
verstehe“. Das brachte Seebohm dazu, seinen Antrag erneut zu stellen: Mit 11
zu 7 Stimmen entschied sich der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats
gegen eine Aufnahme. Es wäre nun ein logischer Fehlschluss aus der Nicht-
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viduation) an (BVerfGE 39, 1).“ Vor diesem Hintergrund bleibt festzuhalten, was
auch die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach
klargestellt hat: „Beide Urteile gestatten keine Aussage darüber, wie das Bun-
desverfassungsgericht den Grundrechtsstatus eines in-vitro gezeugten Emb-
ryos beurteilen wird; denn beide Entscheidungen bezogen sich auf die Zeugung
herkömmlicher Art. Man kann allenfalls Vermutungen anstellen, wie das Gericht
im Falle einer extrakorporalen Befruchtung entscheiden wird, sollte es eines Ta-
ges über die Verfassungsmäßigkeit der Präimplantationsdiagnostik oder der
Stammzellforschung zu therapeutischen Zwecken an in-vitro befruchteten Emb-
ryonen ohne Entwicklungschancen zu urteilen haben“ (http://www.medizinund-
gewissen.de/limbachrede.html). Richtig ist darum, dass das Grundgesetz und
das Bundesverfassungsgericht keine Aussagen darüber machen, ob dem frühen
menschlichen Embryo Menschenwürde zukommt. Eine juristische Entscheidung
im nationalen Rahmen hierzu steht noch aus. Aber auch im Hinblick auf die Ab-
treibung selbst ist das Bundesverfassungsgericht zu einer unstimmigen Lösung
gekommen: Es spricht dem Embryo nach dem 14. Tag Menschenwürde zu, ver-
langt aber zugleich, dass es flächendeckend möglich gemacht werden muss,
eine rechtswidrige Abtreibung, d. h. eine Tötung des Embryos, straffrei nach Be-
ratung durchführen lassen zu können. Es erlaubt sogar, dass der Staat sich an
dieser Tötungshandlung mitbeteiligt, indem rechtswidrige Abtreibungen „solida-
risch“ bezahlt werden.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 87
Wenn ein Mensch tot ist, kommt ihm nicht mehr Menschenwürde im Sinne
von prinzipieller Gleichheit und prinzipiellem Subjektstatus zu, denn ein
Leichnam ist weder Subjekt, noch hat er einen Anspruch auf Gleichbehand-
lung. Ein menschlicher Leichnam ist kein Mensch mehr, sondern nur noch
seine körperlichen „Überreste“. Wer entweder ein Boot mit einem Leich-
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nam oder ein Boot mit einem lebenden Menschen aus Seenot retten kann,
muss nach dem Gebot der Hilfeleistung den lebenden Menschen retten.
Darum ist die Frage nach der Extension der Menschenwürde am Lebens-
ende für eine Angewandte Ethik von großer Bedeutung.28
z. B. wenn jemand bei einer Flugzeugexplosion sofort verstirbt, ein Prozess,
bei dem ein bis dato existierendes Lebewesen sämtliche charakteristische
Eigenschaften des Lebendigen irreversibel verliert und als Gesamtorganis-
mus nicht mehr funktioniert. Bevor das vollständige Ende eintritt, sterben in
der Regel einzelne Organe und Zellen ab. So ist beispielsweise noch einige
Minuten, nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hat, ein minimales EKG
aufzeichenbar. Noch drei Stunden danach reagieren die Pupillen auf be-
stimmte Tropfen mit Kontraktion und Muskelbewegungen sind feststellbar.
Noch funktionstüchtige Hauttransplantate sind bis zu 24 Stunden nach
dem Herztod zu gewinnen. Medizinisch ist darum der genaue Todeszeit-
punkt nur gemäß den vorher festgelegten Parametern festzustellen. Dabei
kommen in Frage:
28 Der Begriff der Würde im Hinblick auf menschliche Leichname ist darum nicht
mit dem normativ anspruchsvolleren Begriff der Menschenwürde zu verwech-
seln.
88 Teil II Systematische Grundlegung
(1999) den Menschen erst als tot versteht, wenn er seine arttypische Zusam-
mensetzung von Zellen verloren hat, so lassen sich doch folgende Haupt
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Hypothese Position
Herztodhypothese Keine Menschenwürde nach dem irreversiblen
Ausfall der Herzfunktion
Ganzhirntodhypothese Keine Menschenwürde nach Absterben
des ganzen Hirns
Teilhirntodhypothese Keine Menschenwürde, wenn Bewusstsein
irreversibel nicht mehr möglich ist
Tab. 2 Todeshypothesen
worden war (vgl. Boucek u. a. 2008). Wie der Ethiker Veatch (2008, 673) in
derselben Ausgabe der führenden medizinischen Fachzeitschrift „New Eng-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
geben, denen ein dem Menschen gleicher moralischer Status zukommt, so-
dass sie als prinzipielle Subjekte und prinzipiell Gleiche zu gelten haben,
ihnen also die jeweilige nach dem jeweiligen Lebewesen identische Würde,
was den semantischen Gehalt angeht, zukommt?
Diese Frage gewinnt ihre Brisanz unter anderem aus der Tatsache, dass
dem Menschen dieser moralische Status unabhängig von allen konkreten
Eigenschaften des einzelnen geborenen Menschen zuerkannt wird. Als
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als Vernunft- und Moralwesen missachten. Aber diese Vernunft und grund-
sätzliche Moralfähigkeit werden nicht empirisch im Einzelfall überprüft.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
rismus zu überwinden.
Die grundlegende anthropozentrische Erfahrung besteht darin, dass alles
Lebendige leben will und in gewisser Weise eine einmalige Gestalt seiner
Art ist. Dabei manifestiert der Löwe viel deutlicher als ein Getreidehalm
seine Einmaligkeit. Doch auch jeder Halm ist an einer bestimmten Raum-
und Zeitstelle verortet, sodass doch jeder Halm eine eigene Gestalt hat,
wenn er auch mit anderen Halmen genidentisch ist. Je einfacher die Lebens-
form, umso rudimentärer mag auch das Lebensinteresse ausgeprägt sein.
Doch scheint sogar ein Tuberkulosebakterium eine Art „Lebensdrive“ zu
haben.
Lebensformen empfinden ähnlich und wohl auch ganz unterschiedlich:
Wir Menschen haben eine Vermutung, wie es sich für eine Katze anfühlt zu
leiden, weil sie in Mimik und Lautgebung ein uns ähnliches Schmerzverhal-
ten zeigt. Wie mag jedoch die Welt für eine Libelle mit ihren Facettenaugen
aussehen? Wie mag sich eine Maispflanze „fühlen“, die der Maiszünsler at-
tackiert? Schon der Begriff „Fühlen“ erscheint wohl den meisten von uns
übertrieben zu sein – und doch lässt sich auch in der Pflanzenwelt ein klares
Verhalten gegenüber Schädlingen nachweisen, verbunden mit einer Art
„Kommunikation“ untereinander, sodass in einem befallenen Feld später at-
tackierte Pflanzen ein Abwehrverhalten gegen Schädlinge zeigen können
(vgl. Odparlik u. a. 2008).
Die Achtung vor allem Lebendigen als eine Grunderfahrung, die noch-
mals von allen konkreten Eigenschaften abstrahiert, drückt am besten der
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 93
Begriff der „Würde“ aus. Diese Achtungsdimension ist das Band, welches
diesen Würdebegriff mit dem Begriff der Würde in „Menschenwürde“ ver-
bindet und ein Verbot einschließt, Lebewesen in einer Weise zu instrumen-
talisieren, die jeden Respekt vor ihnen vermissen lässt (vgl. Kunzmann 2007,
z. B. 108f ). Dabei wird die Selbstzwecklichkeit der Lebewesen im Sinne
einer ontologischen Selbstzwecklichkeit berücksichtigt: Lebewesen haben
eine innere Struktur, die sie seinsmäßig zur Vollendung bringen wollen.
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Insofern haben sie einen Eigenwert. Man kann auch von einer ihnen eig-
nenden Integrität sprechen (vgl. Kallhoff 2002). Diese ontologische Selbst-
zwecklichkeit darf jedoch gerade nicht mit der moralischen Selbstzweck-
lichkeit verwechselt werden, die z. B. Kant für den Menschen reserviert hat
und dessen vollständige Instrumentalisierung verbietet. Im Unterschied zur
Menschenwürde wird nämlich allem Lebendigen aufgrund seiner Leben-
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ligt. Natürlich verdient ein Hund eine andere Form der Achtung als ein
Gerstenhalm oder ein Bakterium, aber eben keine Achtung wie ein Mensch.
Er verdient diese größere Achtung, weil er nach allem, was wir naturwissen-
schaftlich wissen, komplexe Empfindungen und Präferenzen hat – von
Empfindungen und Präferenzen eines Bakteriums zu sprechen, erscheint
übertrieben und wirklichkeitsfremd. Das vollständige Instrumentalisie-
rungsverbot gilt für nicht-menschliche Lebewesen also gerade nicht, es sei
denn, Exemplare ihrer Gattung wären analog zu uns moral- und vernunftfä-
hig. Vielmehr ist eine vollständige Instrumentalisierung bei nicht-menschli-
chen Lebewesen zu rechtfertigen oder aber unter bestimmten Umständen
zu unterlassen.
Die Zuerkenntnis von Würde in diesem moralisch deutlich weniger „an-
spruchsvollen“ Sinn an nicht-menschliche Lebewesen hat wichtige Konse-
quenzen für das Verhältnis zu nicht-menschlichen Lebewesen: Sie verlangt
eine Achtung vor dem Leben und der Lebensweise dieser Lebewesen. Da-
rum muss sich rechtfertigen, wer nicht-menschliche Lebewesen vernichtet
oder in ihre Lebensweise eingreift. Dabei ist die Rechtfertigungstiefe von
der Komplexität des Lebewesens abhängig. So kann die Herstellung von
Bakterien, die Umweltschäden dadurch beseitigen, dass sie sich genau von
diesen schädlichen Materialien ernähren, eine legitime Instrumentalisierung
sein, während eine schwere gesundheitliche Gefährdung von Menschenaf-
fen für die Herstellung von Kosmetika dies wohl nicht ist (vgl. auch detail-
lierter die Abschnitte zu Pflanzen- und Tierethik: 12.2).
94 Teil II Systematische Grundlegung
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missachtet werden; nicht aber deshalb, weil Tiere darunter leiden. In Deutsch-
land sind neue Entwicklungen zu beobachten, Tiere rechtlich nicht mehr als „Sa-
chen“ zu werten (§ 90b BGB). Dennoch kann selbst die Grundgesetzänderung
zu Gunsten des Tierschutzes (Art. 20 GG: Tierschutz als Staatsziel) weiterhin
anthropozentrisch interpretiert werden. Die Schweiz dagegen hat ausdrücklich
die „Würde der Kreatur“ in ihrer Verfassung verankert.29 Darin spiegelt sich ein
Wandel in der Bewertung der nicht-menschlichen Lebewesen. Der Ansatz bei
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der Menschenwürde ist für eine solche Bewertung offen. Er ist eben nicht mit
dem moralischen Anthropozentrismus zu verwechseln.
Der Ansatz bei der Menschenwürde ist jedoch umgekehrt in keiner Weise mit
einem radikalen Physiozentrismus (griechisch: physis = Natur), der auch als
Holismus30 oder Ökozentrismus (griechisch: oikos = Haus) bezeichnet wird, zu
vereinbaren. Allgemein betonen Vertreter der holistischen Position:
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„Wenn menschliche Wesen wie andere Tiere, Pflanzen, Böden und Wasser
auch gleiche Mitglieder der biotischen Gemeinschaft sind, und wenn Mitglied-
schaft in der Gemeinschaft das Kriterium für gleiche moralische Rücksicht ist,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
dann haben nicht nur Tiere, Pflanzen, Böden und Wasser die gleichen (sehr
abgeschwächten) ‚Rechte’, sondern auch menschliches Individualwohl und
menschliche Rechte sind dem Wohl der Gemeinschaft im ganzen unterzuord-
nen“ (Callicot 1997, 237f; vgl. Rolston 1988).
Auch wenn hier das Zusprechen von Rechten in Anführungszeichen gesetzt
wird, geraten Holisten mit dem üblichen Rechtsbegriff in Widerspruch. „Rechte
sind stets Individualrechte oder individuelle Ansprüche, die dem betreffenden
Individuum als Individuum, das heißt um seiner selbst willen eingeräumt werden“
(Hoerster 2004, 96). Da Wasser nicht als Individuum verstanden werden kann,
ist es nicht sinnvoll, von Rechten des Wassers oder einer Landschaft zu spre-
chen. Abgesehen davon ist völlig unklar, was die Unterordnung menschlichen
Gemeinwohls und menschlicher Rechte bedeutet. Ist es dennoch zulässig,
Sumpfgebiete trocken zu legen, um durch die Zerstörung des natürlichen Habi-
tats von Malariamücken für die Menschen Gesundheitsvorsorge zu betreiben?
29 Freilich ist die Rede von der „Würde der Kreatur“ unbestimmt. Zudem ist der
Begriff „Kreatur“ ursprünglich theologisch und bezeichnet alles Geschaffene, auch
die unbelebte Natur. Vgl. dazu Busch/Kunzmann (2004, 42–47) und Baranzke
(2002).
30 Diese Begrifflichkeit eines moralischen „Holismus“ ist nicht mit dem wissen-
schaftstheoretischen Holismus zu verwechseln, der im Unterschied zum Top-
down- und Bottom-up-Zugang bei der Verhältnisbestimmung von Prinzipien zu
konkreten Situationen im Rahmen der Angewandten Ethik vertreten wird.
96 Teil II Systematische Grundlegung
Selbst Vertreter dieser Position räumen ein, dass das Abwägen der Rechte eine
„schwierige und heikle Frage“ (Callicot 1997, 239) ist. In Wirklichkeit ist sie
nicht lösbar.
Im Unterschied dazu vertritt der egalitäre Biozentrismus eine Position, die
zwar nicht Entitäten allgemein, aber allen Lebewesen ein gleiches Recht auf
Leben zuerkennt. Durch Albert Schweitzers Schlagwort von der „Ehrfurcht vor
dem Leben“ ist dieser Gedanke insbesondere in den deutschsprachigen Debat-
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ten vorbereitet worden. Für Schweitzer galt das Prinzip, Leben zu erhalten, als
das „denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen“. Für den „denkend
gewordenen Mensch erwächst“ die Nötigung dazu: „Als gut gilt ihm: Leben er-
halten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Stand brin-
gen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben nie-
derhalten“ (Schweitzer 1974, 171). Schweitzer erkennt aber selbst ein
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noch nicht, dass diesem Wunsch zu entsprechen ist. Es fehlt also gerade noch
die Begründung für die Forderung nach dem gleichen Lebensrecht.
Ein wesentlicher Grund, warum eine derartige Begründung wohl nicht zu
leisten ist, lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Wenn allen Lebewe-
sen prinzipiell das gleiche Recht auf Leben zukäme, müsste dies konsequenter-
weise ebenso für das Tuberkulosebakterium wie für den von einer Tuberkulose-
infektion betroffenen Menschen gelten. Diese Auffassung führt in unauflösliche
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werden kann?
Tom Regan (2004 [1983], 324ff) bietet hierfür eine Lösung an, indem er eine
Hierarchisierung einführt. Zwar geht auch er von einem gleichen inhärenten Wert
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
aller Lebewesen aus, insofern sie „Subjekte von Leben“ sind, aber er spricht nur
noch von einem prima-facie-Recht aller Lebewesen, nicht geschädigt zu wer-
den. Was dies bedeutet, erläutert er an folgendem Beispiel: In einem Boot, das
vom Untergang bedroht ist, befinden sich vier normale erwachsene Menschen
und ein Hund. Der Untergang des Boots kann nur dadurch vermieden werden,
dass entweder der Hund oder ein Mensch über Bord gehen und damit dem si-
cheren Tod ausgeliefert wird. Nach Regan darf der Hund über Bord geworfen
werden, da dieser zwar das gleiche prima-facie-Recht hat, nicht geschädigt zu
werden, aber dennoch sein Schaden unvergleichlich geringer ist als der Scha-
den für die betroffenen Menschen. Allerdings betont Regan in seinem Vorwort
zur Ausgabe von 2004 (vgl. Regan 2004, XXXiii): Wenn es darum gehe, ob ein
Hund oder ein irreversibel komatöser Mensch zu retten ist, habe der Hund Vor-
rang, da der Tod für den komatösen Menschen keinen Schaden mehr darstelle.
Mit einer derartigen Lösung wird freilich ein neues Kriterium in die Diskussion
eingeführt, nämlich eine Abwägung von Schaden.
Damit nähert sich die nicht-utilitaristische Position Regans in ihren Konse-
quenzen einem hierarchischen Pathozentrismus (s. unten) an, allerdings gerade
nicht in seiner bekannten utilitaristischen Form, denn Regan lehnt die Aggrega-
tion (Aufsummierung) von Empfindungen, die für den Utilitarismus kennzeich-
nend ist, ab. Nach Regan (2004 [1983], 325) ist auch der Tod einer Million
Hunde nicht mit dem Tod eines normalen Menschen vergleichbar, sodass bei-
spielsweise in einem Schiff voller Hunde eher alle Hunde über Bord zu werfen
wären als ein normaler Mensch (ebd. 325). Regans Begründung hierfür lautet,
98 Teil II Systematische Grundlegung
dass der jeweilige einzelne Hund weniger geschädigt wird als der betreffende
Mensch.
Wie argumentiert nun aber ein hierarchischer Pathozentrismus (griechisch:
pathein = leiden, empfinden) der die Empfindungen einzelner Lebewesen für
moralisch relevant hält und nach Qualitäten abstuft? Er ist insbesondere in der
Verbindung mit dem ethischen Ansatz des Präferenzutilitarismus, der insbeson-
dere durch Peter Singer (1990,1999) vertreten wird, weltweit bekannt gewor-
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den. Dabei ist freilich die Gleichsetzung von „Empfindungen“ und „Präferenzen“
nicht ganz korrekt, denn nach Singer sind es die jeweiligen Präferenzen (Interes-
sen) der einzelnen Lebewesen, die moralisch bedeutsam sind, nicht einfach die
Empfindungsfähigkeit überhaupt. Diese Präferenzen sind in der Weise gegen
einander abzuwägen, dass der größtmögliche Nutzen für Lebewesen gemäß de-
ren eigenen Präferenzen zustande kommt. Dabei gibt es eine Hierarchie, die sich
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aus der Intensität der jeweiligen Interessen ergibt. So haben viele Menschen bei-
spielsweise im Unterschied zu allen Mitgliedern bestimmter Tierarten die Fähig-
keit, die Zukunft zu antizipieren. Ihre Interessen sind daher höher zu gewichten.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Jedoch stellen sich bei diesem Ansatz neben dem für den Utilitarismus be-
kannten Aggregationsproblem weitere Probleme. Thomas Nagel (1974) hat be-
schrieben, warum es für uns unmöglich ist, uns in ein uns relativ verwandtes
Lebewesen, nämlich die Fledermaus, einzufühlen. Wenn wir aber nicht wirklich
wissen, wie es ist, eine Katze, ein Hund oder eine Fledermaus zu sein, dann
fehlen uns wesentliche Kriterien für eine Güterabwägung. Wenn wir nicht dazu
in der Lage sind, uns angemessen in ein anderes Lebewesen „hineinzuverset-
zen“, können wir auch nicht gut einschätzen, was es „präferiert“, welche Interes-
sen es also in einer Situation zu verwirklichen sucht, abgesehen davon, dass ein
Überlebensinteresse als Präferenz angenommen werden kann. Denn wir können
zwar davon ausgehen, dass beispielsweise Fledermäuse ein uns ähnliches
Schmerzempfinden haben und damit ein uns ähnliches Interesse, Schmerzen zu
vermeiden, aber wir wissen natürlich darüber hinaus nicht, wie es ist, eine Fle-
dermaus zu sein, welche fledermaustypischen Präferenzen es gibt und wie diese
zu bewerten sind.
Der Hauptgrund für die Ablehnung des hierarchischen Pathozentrismus in
seiner präferenzutilitaristischen Ausprägung bei Singer liegt jedoch vor allem
darin begründet, dass er zu Güterabwägungen führen kann, die den moralischen
Intuitionen vieler Menschen widersprechen. So kann dieser Ansatz – konsequent
durchgeführt – dazu führen, das Leben eines normalen Schweins in einer Güter-
abwägung höher zu gewichten als das Leben eines Waisenkindes mit schwerer
geistiger Behinderung, das selbst keine höher stehenden Präferenzen zu haben
scheint und an dem kein Mensch mehr ein Interesse hat.
Der Ausgangspunkt: Menschenwürde und Menschenrechte 99
6.1 Menschenrechte
Die Anerkenntnis jedes Menschen als Subjekt und prinzipiell Gleicher im-
pliziert die Anerkenntnis, dass jedem Menschen unveräußerliche Rechte
zukommen. Freilich sind die Menschenrechtskataloge oftmals nicht de-
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der mit ihnen verbundenen Menschenrechte jedoch das Problem, dass Men-
schenrechte miteinander in Konflikt geraten können. Das Recht auf Glau-
bensfreiheit erlaubt beispielsweise die Wahl eines Glaubens, der bestimmte
Menschenrechte nicht berücksichtigt, z. B. den Mann der Frau überordnet.
Das Abwehrrecht auf Leben einer Geisel führt dazu, dass das Abwehrrecht
auf Leben des Geiselnehmers bei der Anwendung des finalen Rettungs-
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Gleiche. Wie aber kann ihr Subjektstatus und ihre grundsätzliche Gleich-
heit ernst genommen werden?
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Eine Lösung bietet sich an, die grundsätzliche Gleichheit aller Men-
schen als Subjekte im Hinblick auf ihre Würde und Rechte durch die An-
wendung des Prinzips der Gerechtigkeit zu realisieren. Dieses Prinzip ist
dabei selbst in seiner Bedeutung umstritten, weil nicht nur die grundsätzli-
che Gleichheit im Hinblick auf Würde und Rechte, sondern auch die fakti-
sche Ungleichheit unter uns Menschen von entscheidender Bedeutung ist.33
So wäre ein reiner Gerechtigkeitsegalitarismus (lateinisch: aequalitas = Gleich-
heit) in allen Belangen, wonach alle in allem das Gleiche zu bekommen
haben, schlicht unsinnig, denn wir Menschen haben unterschiedliche Ge-
schmäcker und unterschiedliche Vorlieben. Diese Form der – umgangs-
sprachlich – Gleichmacherei verfehlt den Sinn des Gerechtigkeitsprinzips.
Auch würde beispielsweise eine völlig gleiche Entlohnung unterschiedlicher
Tätigkeiten ohne jede Rücksicht auf ein meritokratisches (lateinisch: merere
= verdienen) Element, also ohne eine angemessene Berücksichtigung des
32 Freilich darf diese ethische Forderung nicht mit einer rechtlichen Interpretation
der Menschenwürde im Grundgesetz verwechselt werden. Hier ist nämlich herr-
schende Meinung, dass dieser Würdeanspruch ebenso wie die mit ihm verbunde-
nen Grundrechte keine Pflichtdimension beinhaltet. Allerdings kann eigens wie
bei der in Art. 14 II GG festgelegten Sozialbindung im Fall des Grundrechts
auf Privateigentum praktisch eine dem Recht korrespondierende Pflicht rechtlich
verbindlich sein: „Eigentum verpflichtet“.
33 Vgl. zu den folgenden Überlegungen Rawls (2002) [1971], Höffe (1994, 2002 und
2004) und Horn (2003, 92–100).
104 Teil II Systematische Grundlegung
Gerechtigkeit
stellung bezieht sich auf konkrete Handlungen. Gerechtigkeit wird als Tu-
gend handelnder Personen verstanden. Ungerechtigkeit erweist sich in ei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
wesen ist oder nicht, ob eine Attacke des Abwehrspielers bereits als Regel-
verstoß oder nur als körperbetontes Spiel gewertet werden sollte usw.
Was hier für ein einfaches Spiel gilt, spielt eine umso größere Rolle, wenn
es darum geht, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Sie bedarf der Handlungsbe-
dingungen, die eine doppelte Funktion haben: Als Regelwerk stellen sie den
institutionellen Rahmen für individuelle und soziale Gerechtigkeit dar, als
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Der griechische Philosoph Aristoteles hat als erster eine systematische Klä-
rung unterschiedlicher Bedeutungen von Gerechtigkeit durchgeführt und
dieser Aufgabe das gesamte fünfte Buch seiner Nikomachischen Ethik ge-
widmet. Damit liefert er ein sehr hilfreiches Grundgerüst, um in der Frage,
was das Prinzip der Gerechtigkeit bedeutet und wie dieses Prinzip zu reali-
sieren ist, mehr Klarheit zu gewinnen.
nelle Seite (im weiten Sinn), also von der Hausgemeinschaft bis zu politi-
schen Institutionen: „Deswegen gibt es umso mehr ein Gerechtes der Frau
gegenüber als den Kindern und dem Besitz, dies nämlich ist das Recht im
Haus. Ein anderes Recht aber ist das im politischen Bereich. Von dem poli-
tischen Gerechten ist das eine naturgegeben, das andere gesetzlich. Das na-
turgegebene Gerechte hat überall die gleiche Autorität und hängt nicht von
der Meinung der Menschen ab, beim Gesetzten kommt es von seinem Ur-
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Dennoch lässt sich – über Aristoteles hinaus – vor dem Hintergrund des
Menschenwürdeprinzips und der damit verbundenen Menschenrechte sa-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
gen, dass diese wohl unter das von Natur aus gegebene Gerechte fallen und
gerade nicht menschliche Konstruktionen sind. Darum ist ihre eigentliche
Begründungsdimension eine universelle Menschheitserfahrung und gerade
nicht bloß eine vertragliche Abmachung.
Aristoteles kennt, um nochmals zu der sehr wichtigen obigen Unter-
scheidung zurückzukehren, nicht nur eine Gerechtigkeit des Einzelnen,
sondern auch die Idee von gerechten Institutionen, selbst wenn er noch
nicht den modernen Begriff der Gerechtigkeit von Institutionen verwendet.
So versteht er die Individualethik nur als Teilbereich der politischen Wis-
senschaft. Letztgenannte ist die Leitwissenschaft: „Denn sie befiehlt, welche
Wissenschaften in den Staaten nötig sind, welche ein jeder lernen muss und
in welchem Maß. […] Darüber hinaus macht sie Gesetzesvorschläge, was
man zu tun und zu lassen hat.“34 Diese aristotelische Aussage interpretiere
ich dahin, dass er uns damit zu verstehen gibt, was für eine zentrale Bedeu-
tung Institutionen haben, weswegen die Individualethik nur einen Teilbe-
reich der Ethik der Institutionen darstellt, und die Gerechtigkeit des Einzel-
nen der Gerechtigkeit von Institutionen untergeordnet bleibt.
tieren.
Mit Höffe (1987; 2004, 68–70, 74–78) lässt sich unter einer Weiterführung
dieser Überlegungen die Verteilung der Grundgüter als Tauschgerechtigkeit
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
gende Grundhaltung ist auch das, was oftmals mit „Solidarität“ (lateinisch:
solidus = fest) 35, zu der wir verpflichtet sind und auf die wir umgekehrt auch
einen Anspruch haben, bezeichnet wird. Das Prinzip der Solidarität bean-
sprucht, so verstanden, strukturell unbegrenzte und universelle Geltung.
Entscheidend ist dabei, den transzendentalen bzw. solidarischen Tausch
nicht als Nullsummenspiel anzusehen, denn jeder profitiert von dem Tausch.
Der Arme gewinnt seine notwendigen Handlungsbedingungen, der Reiche,
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mit dessen als Steuern eingezogenem Geld Arme unterstützt werden kön-
nen, gewinnt ebenfalls, denn der Arme muss nicht stehlen, um überleben zu
können; der Arme hat auch keine Veranlassung eine Revolutionen zu pla-
nen. Also muss der Reiche keine Angst um sein Eigentum haben. Darüber
hinaus kann sich der Reiche, ob er das nun faktisch empirisch in Betracht
zieht oder nicht, über das Arrangement des Tauschs darauf verlassen, dass
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Damit der transzendentale Tausch aber auch für alle Seiten von Vorteil
bleibt – er gilt wie gesagt nicht nur für Individuen, sondern auch für Institu-
tionen – ist er in entscheidender Weise durch das Prinzip der Subsidiarität
(lateinisch: subsidium = Hilfe) zu ergänzen. Dieses Prinzip besagt, dass Soli-
darität erst dann von Nöten ist, wenn der Einzelne oder kleinere „Lebens-
kreise“ ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können – freilich bleibt es
immer eine bleibende Herausforderung festzustellen, wann der Einzelne
bzw. Hausgemeinschaften usw. dazu nicht mehr in der Lage sind. Das Prin-
zip der Subsidiarität schützt somit den Einzelnen und kleinere Gemein-
schaften vor permanenten mit dem Prinzip der Solidarität begründeten
staatlichen, aber auch sonstigen nicht nötigen und auch nicht gewollten
Eingriffen. Das Prinzip der Solidarität wird auf diese Weise durch das Prin-
zip der Subsidiarität „gezähmt“. Vor diesem Hintergrund scheint der Begriff
des transzendentalen Tausches umso angemessener, denn er drückt gerade
die Grenze des Handelns sozialer Institutionen, aber auch der Hilfeleistun-
gen Einzelner aus. Die Grenze wird überschritten, wo nicht mehr notwen-
dige Handlungsbedingungen gesichert werden, sondern beispielsweise eine
Institution sich anmaßt in Freiheitsrechte einzugreifen.
35 Der Ursprung des Solidaritätsgedankens stammt aus dem römischen Recht, frei-
lich in einem ganz spezifischen Sinn: Solidarität bedeutete als obligatio in solidum
die gemeinschaftliche Haftung, z. B. einer Familie.
Menschenrechte und Menschenpflichten 111
Ein gutes Beispiel für die vornehmlich solidarische Sicherung der Grund-
güter stellt das System gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland dar. Die-
ses System ist solidarisch konzipiert und operiert mit einer Mischung von
Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit. Der Verteilungs
aspekt ist dabei sozusagen umgestülpt. Jeder zahlt in das System nach seinen
Möglichkeiten ein (Anwendung des Subsidiaritätsprinzips), wer mehr ver-
dient mehr, wer weniger verdient weniger, auch wenn prozentual der gleiche
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völlig ins Belieben der Betroffenen gestellt sind. Dennoch bleibt ein wesent-
licher Verteilungsgerechtigkeitsaspekt erhalten: Wer zu wenig Rente oder
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
gar keine Rente erhalten würde, kann im Fall der Bedürftigkeit Anspruch
auf einen bestimmten Rentenbetrag erheben, der dann solidarisch finanziert
wird.
hindern kann. Wenn der Anbieter ein Monopol hat, könnte er mich unan-
gemessen ausbeuten und einen exorbitant hohen Geldbetrag für das rettende
Wasser verlangen, da es ja meine Leben retten würde. Aristoteles würde
ein solches ausbeuterisches Verhalten als Pleonexia, als Gier nach „Mehr“
brandmarken und für unmoralisch ansehen. Wie aber wäre dieses Verhalten
in einer freien Marktwirtschaft zu werten?
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Abschließende Übersicht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Grundsätzliche Fragen
Nehmen wir die gerade differenzierten Dimensionen der Gerechtigkeit
ernst, so scheint es unkontrovers zu sein, dass jeder Mensch aufgrund seiner
im Prinzip der Menschenwürde ausgesagten grundsätzlichen Gleichheit
einen Anspruch darauf hat, bei der richtenden Gerechtigkeit gleich behan-
delt zu werden. Der Richter bzw. die Geschworenen (je nach Land) dürfen
sich beim Urteil nicht davon leiten lassen, welchen Glauben, welches Ge-
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schlecht, welche Nationalität usw. der Straftäter hat. Vielmehr gilt es ein der
Sache entsprechendes, nicht der Person entsprechendes Urteil zu fällen. Das
bedeutet freilich nicht, dass jeder Diebstahl gleich zu bewerten ist. Wer
immer wieder stiehlt, ist anders zu verurteilen als ein Ersttäter, aber die
grundsätzliche Gleichheit gilt gerade dadurch, dass jeder Ersttäter und je-
der Wiederholungstäter im Rahmen des geltenden Rechts gleich zu behan-
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wie in den USA oder der Richter wie in Deutschland über die Schuld oder
Nicht-Schuld des Angeklagten entscheiden. Entscheidend ist, dass die
Rechtsstruktur diese grundsätzliche Gleichheit wahrt. Staaten, die diese
richtende Gerechtigkeit anders handhaben, gelten darum als Unrechts
staaten.
Auch ist vor dem Hintergrund des Menschenwürdeprinzips unstrittig,
dass jeder Mensch einen Anspruch auf Grundgüter hat, die er benötigt, um
seinen Subjektstatus zu sichern, und die seiner grundsätzlichen Gleichheit
mit allen Menschen entsprechen.
Dagegen ist fast alles strittig, was in die Bereiche der Verteilungs- und
der Tauschgerechtigkeit fallen soll. Zwar erscheint die Tauschgerechtigkeit
bei freiwilligen Tauschhandlungen auf den ersten Blick nicht kontrovers zu
sein: Jeder zahlt den gleichen Preis für ein paar Schuhe. Doch wie sind diese
konkret freiwilligen kategorialen Tauschleistungen von den transzendental
genannten Tauschleistungen zu unterscheiden: Wann muss die Allgemein-
heit einspringen, um einem Menschen Schuhe zu kaufen? Anders gefragt:
Nach welchen Kriterien wird seine „Schuhbedürftigkeit“ festgestellt? Auch
stellt sich damit verbunden das Problem: Inwieweit kann dem Einzelnen
selbst zugemutet werden, die Versorgung mit Grundgütern wie Grundnah-
rungsmittel, notwendigen Bildungsgütern und Gesundheitsleistungen, aber
natürlich auch im Hinblick auf alles, was sonst zum Leben nötig ist (Woh-
nung usw.), zu bestreiten. So wird dem „Reichen“ das Bildungsgut „Schule“
in Deutschland genauso geschenkt wie dem, der es sich selbst niemals leisten
114 Teil II Systematische Grundlegung
Dazu kommt eine weitere offene Frage: Was gehört zu den notwendigen
Grundgütern? Abwehrrechte lassen sich meist gut benennen: Niemand darf
einen Menschen töten, und das gilt in gleicher Weise für alle Menschen,
abgesehen von Situationen der Notwehr oder Nothilfe. Dagegen sind An-
spruchsrechte auf Grundgüter in vielen Fällen deutungsoffen, und ihre
Reichweite ist kontrovers. Typische Beispiele hierfür sind die unterschiedli-
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natürlich nur skizzenhaft sein kann und sehr im Allgemeinen bleiben muss.
Konkretionen werden sich zum Teil in den einzelnen Bereichsethiken fin-
den lassen.
Die gesellschaftlichen Institutionen sind so einzurichten, dass die Grund-
güter, die wir zum Leben und zum Handeln im grundsätzlichen Sinn be
nötigen, für alle verfügbar sind. Das bedeutet aber, dass Grundgüter wie
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die Pflicht genommen werden könnten. Wer von der Gemeinschaft Hilfe
bekommt, sollte auch im Rahmen seiner Möglichkeiten etwas für die Ge-
meinschaft tun. Wer arbeiten kann, soll arbeiten. Es sind verfehlte Anreiz-
strukturen, wenn Nichtarbeitende sich der Arbeit verweigern und die Soli-
darität anderer ausbeuten können. Auch sollten die Arbeiten, die nicht
zureichend honoriert werden, um die Grundgüter zu sichern, in einer Weise
bezuschusst werden, dass jeder Mensch seine notwendigen Handlungsbe-
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36 Vgl. dazu die weiter gehenden Überlegungen im Rahmen der Folgerungen für
eine Ethik der Politik und des Rechts sowie im Rahmen der einzelnen Bereichs-
ethiken.
118 Teil II Systematische Grundlegung
werden sowohl das individuelle Wohl als auch das Wohl der Gemeinschaft
realisiert, sei es in einer Hausgemeinschaft, sei es in Staaten, sei es auf glo
baler Ebene.
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
chen. Dies gilt insbesondere für Frauen, wenn sie einerseits Kinder großzie-
hen wollen, zugleich aber auch berufliche Erfüllung suchen.
Hier setzt ein weiteres berechtigtes Anliegen der unterschiedlichen For-
men feministischer Ethik an, die sich mit einer ethischen Reflexion „jener
Handlungen, Praktiken, Strukturen und Systeme, die in Verdacht stehen,
ungerechtfertigterweise die Lebenssituation von Frauen zu verschlechtern,
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Die Gerechtigkeit hat aber noch eine weitere Dimension, die erst in jüngerer
Zeit wieder in den Vordergrund gerückt ist: die intergenerationelle Gerech-
tigkeit. Es gibt nämlich nicht nur eine Verpflichtung zur Gerechtigkeit in
Bezug auf das individuelle und soziale Wohl der heute existierenden Men-
schen, sondern auch eine Verpflichtung, kommende Generationen und de-
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werden: Wie steht es um die noch nicht geborenen Menschen, deren Le-
bensgrundlagen wir möglicherweise heute aufs Spiel setzen. Dahinter steht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Abb. 15 Nachhaltigkeit
37 Hier zitiert nach Detzer u. a. (1999, 79, im Original: „Sustainable development is
development that meets the needs of the present without compromising the ability
of future generations to meet their own needs“).
Menschenrechte und Menschenpflichten 123
weil sie bei der sozialen Dimension die grundsätzliche Freiheit aller Men-
schen wahrt.38
1) Individualverträglichkeitsregel
Es ist ethisch geboten zu tun, was für die einzelnen Menschen zuträglich ist,
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und zu unterlassen, was dem Individuum mehr Schaden als Nutzen bringt,
insbesondere, was das Lebensrecht oder andere Grundrechte eines oder
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
2) Sozialverträglichkeitsregel
Es ist ethisch geboten zu tun, was der Gerechtigkeit zwischen den heute
lebenden Menschen zuträglich ist, und zu unterlassen, was den Menschen
mehr schadet als nutzt. Darum sind die notwendigen Handlungsbedingun-
gen für alle in gleicher Weise zu gewährleisten (transzendentaler Tausch),
sodass alle Menschen befähigt werden, ihre Talente zu entwickeln. Diejeni-
gen Menschen, die am verletzlichsten und am leichtesten auszubeuten sind,
sind besonders zu schützen. Auch ist die Gleichheit vor Gericht strikt zu
achten. In allen anderen Feldern soll größtmögliche Freiheit herrschen, so-
lange die Gerechtigkeit nicht verletzt wird und das Gemeinwohl keinen
Schaden nimmt.
als sich selbst für € 999 heute etwas zu gönnen. Die eigentliche Frage lautet
darum, ob und in welchem Umfang wir heute Finanzen für die Zukunft
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
aufzuwenden haben, selbst wenn wir dann möglicherweise selbst nicht mehr
leben und darum davon auch nicht profitieren können. Anders gesagt: Es ist
zu klären, wie die Lasten zwischen uns und unseren späteren Nachkommen
zu verteilen sind.
Strukturen entstehen, die ein Verhalten als rational nahe legen, das kollektiv
selbstschädigend ist.
Gesamtkostenregel: Bislang negative externe Effekte, d. h. negative Wirkun-
gen, die jemand verursacht, ohne dafür angemessen Schadensersatz zu leis-
ten, sollen internalisiert werden, d. h., der Schadensverursacher hat für diese
Effekte zu bezahlen. Er hat also die Gesamtkosten zu tragen. Die „Bewer-
tung der zu internalisierenden Effekte, mit anderen Worten, die Bestim-
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sen, aber sie haben beispielsweise im Fall schädlicher Emissionen eine aus-
zuhandelnde Emissionsabgabe zu bezahlen. Wie aber ist mit Schäden um-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
zugehen, die solche Ausmaße annehmen, dass sie die Verursacher wirt-
schaftlich vernichten würden, man denke an das Kernkraftwerksunglück in
Tschernobyl 1986?
Das Beispiel „Tschernobyl“ verweist auf eine der zentralen Fragen im Zu-
sammenhang mit diesen Regeln, der Frage nach dem Risiko. Die Versiche-
rungswirtschaft definiert Risiko durch die Formel: Eintrittswahrscheinlich-
keit multipliziert mit der Schadenshöhe. Diese Definition eignet sich für
Konfliktfälle in der Angewandten Ethik sehr gut, wenn man berücksichtigt,
dass die Risikoanalyse nur ein Baustein für eine ethische Bewertung, aber
nicht nur für diese, darstellt. Dies belegt der Umgang der Versicherungswirt-
schaft mit dem Absichern von Unfällen von Kernkraftwerken, obwohl für
einen Unfall dieser Schwere in einem Kernkraftwerk in Deutschland mit
völlig anderen und besseren Sicherheitsstandards als in dem ehemaligen so-
wjetischen Kernkraftwerk eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit besteht und
das Risiko deshalb trotz der immensen Schadenshöhe nach dieser Formel
eher gering zu veranschlagen ist. Keine Versicherung der Welt ist nämlich
bereit, einen Betreiber von Kernkraftwerken, selbst von Kernkraftwerken
mit den höchsten Sicherheitsstandards, gegen die Risiken einer Großkatas-
trophe zu versichern – und bisher ist auch die Internalisierung derartiger
Menschenrechte und Menschenpflichten 127
negativer externer Effekte nicht in der Weise geregelt, dass die Betreiber für
den gesamten Schaden aufkommen müssten. Der Schadensfall würde näm-
lich entweder den Versicherer oder das nicht versicherte Unternehmen voll-
ständig in den wirtschaftlichen Konkurs treiben. Dazu kommt die Frage,
wer für einen Schaden in einem solchen Fall aufzukommen hätte, wenn die-
ser die Folge eines terroristischen Anschlags wäre, also in gewisser Weise
außerhalb der Verantwortung der Betreiber stünde. Grundsätzlich aber stellt
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Vertiefung: Exemplifizierung
Die Risikowahrnehmung korreliert in vielen Fällen nicht mit dem eigentlichen ver-
sicherungsmathematisch errechneten Risiko und sie korreliert auch nicht mit
den eingetretenen Schäden. Immer noch exemplifiziert die folgende Befragung
von amerikanischen Collegestudierenden dies sehr eindrücklich:
Einer der Hauptgründe besteht darin, dass Menschen dazu neigen, alltägliche
und bekannte Risiken, insbesondere wenn sie diese selbst steuern können wie
das Autofahren zu unterschätzen, dagegen Risiken, denen sie ausgesetzt sind,
ohne selbst etwas unternehmen zu können, oder die neuartig sind, zu überschät-
zen. Auch wenn sich mittlerweile die Einschätzung von Risiken, insbesondere
die des Rauchens, verändert hat, so zeigen die Zahlen dennoch mit großer Deut-
lichkeit, dass alltägliche Risiken, die man selbst glaubt steuern zu können, bei-
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Werk, der die Prozesse mitsteuert, und einem Außenstehenden mit hoher
Wahrscheinlichkeit unterschiedlich: Der Mitarbeiter wird das Risiko im
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Normalfall für geringer halten als der Außenstehende. Auch spielt eine
Rolle bei der Wahrnehmung, ob man damit sein Geld verdient oder
nicht.
Für eine ethische Bewertung spielt die Risikowahrnehmung neben dem
versicherungsmathematisch berechneten Risiko eine wichtige Rolle. Sie ver-
weist darauf, dass neben dem versicherungsmathematischen Risiko bei einer
Bewertung von Risiken noch weitere Faktoren von Bedeutung sind: Ist der-
jenige, der sich dem Risiko aussetzt, im Besitz von Steuerungsmöglichkeiten
wie ein Autofahrer? Hat derjenige, der einem Risiko ausgesetzt wird, die
Möglichkeit, das Risiko zu vermeiden? Wer in ein Fußballstadion geht, setzt
sich unweigerlich dem Risiko des Passivrauchens aus. Er kann aber auf einen
Besuch verzichten. Dagegen ist es für einen Radfahrer praktisch unmöglich,
sich nicht den Risiken des Straßenverkehrs auszusetzen, auch wenn er ein
entschiedener Gegner jeder Erlaubnis des Autofahrens wäre. Er hat sich hier
der Mehrheit zu beugen, die dieses gesellschaftlich akzeptiert. Wer als Un-
ternehmer in bestimmte mit Risiko behaftete Großtechniken investiert,
weiß, dass seine Entscheidungen Auswirkungen auf andere haben. Er weiß
aber auch, dass der Verzicht auf diese Investitionen Auswirkungen haben
kann, die ebenfalls weit reichende Folgen mit sich bringen, weil dadurch
Arbeitsplätze verloren gehen können oder auch ein wertvolles Produkt nicht
entsteht usw.
Eine ethische Bewertung in den unterschiedlichen Bereichen Ange-
wandter Ethik wird darum im Hinblick auf das Risiko neben den klassi-
Menschenrechte und Menschenpflichten 129
1. Risikowahrnehmung,
2. Auswirkung auf andere,
3. erhoffter Nutzen,
4. Folgen eines Unterlassens,
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Über die Prinzipien und Regeln hinaus lassen sich mehrere allgemeine Kri-
terien und Regeln benennen, die bei der Bewertung von Lösungen für anste-
hende Herausforderungen in den unterschiedlichen Dimensionen hilfreich
sind.
1) Die Partizipationsregel
Die Überlegungen zum Risiko haben die Bedeutung der eigenen Partizi
pation bei der Übernahme von Risiken deutlich werden lassen. Dies gilt
freilich nicht nur für Risiken, sondern allgemein: Alle von bestimmten
Entscheidungen Betroffenen sollten am Entscheidungsfindungsprozess
partizipieren. Diese Regel besagt natürlich nicht, dass alle Betroffenen de
facto an den Entscheidungen mitwirken müssen. Sie bedeutet natürlich
auch nicht, dass den getroffenen Entscheidungen von allen materiell zuge-
stimmt wird – man denke nur an die Debatten um die Erweiterung von
Flughäfen. Wesentlich ist aber, dass dieser Prozess so gestaltet ist, dass die
Partizipation wirklich gewährleistet und so geregelt ist, dass es faire Mög-
lichkeiten einer Beteiligung gibt, sodass auch die unterlegene Gruppierung
in einem bestimmten Konfliktfall die Entscheidung, die sie zwar abgelehnt
hat, nun aber mittragen kann, also der soziale Frieden gewahrt bleibt. Hier
zeigt sich die Bedeutung demokratisch-partizipativer Prozesse für uns, un-
sere Zukunft und unsere Um- und Mitwelt.
130 Teil II Systematische Grundlegung
2) Das Pareto-Kriterium
Für die Entscheidungsfindung in derartigen Prozessen kann ein sehr ein
faches Kriterium hilfreich sein, das mittels des aus der Ökonomie entnom-
menen Pareto-Kriteriums gewonnen wurde (vgl. Busch u. a. 2002, 50). Die-
ses Kriterium bildet in der Ökonomik ein Effizienzkriterium. Unter der
Bedingung, dass Menschenwürde und Menschenrechte gewahrt sind, also
die notwendigen Handlungsbedingungen gesichert sind, lässt es sich in
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ethisch geboten ohne dass die ohne dass die ohne dass die
ökonomische oder ökologische oder ökologische oder
soziale Dimension soziale Dimension ökonomische
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Ethisch geboten und damit für alle Betroffenen letztlich annehmbar sind
also pareto-superiore Regelungen und Handlungen, die es ermöglichen,
ohne Verschlechterung in einer der drei Nachhaltigkeitsdimensionen Ver-
besserungen in (mindestens) einer der anderen Dimensionen zu erreichen.
Umgekehrt sind pareto-inferiore Regelungen und Handlungen ethisch un-
zulässig, durch die sich (mindestens) eine Dimension verschlechtert, ohne
dass es in der/den anderen Dimension(en) Verbesserungen gibt. Gibt es da-
gegen in mindestens einer der Dimensionen eine Verbesserung, in mindes-
tens einer anderen dagegen eine Verschlechterung so ist das Pareto-Krite-
rium nicht mehr anwendbar.
Menschenrechte und Menschenpflichten 131
sion nicht verschlechtert werden. Deshalb benennt das Kriterium nur ei-
nen Mindeststandard einer ethischen Bewertung. Im Zusammenhang der
Bereichsethiken spielen deshalb weitere Kriterien eine teilweise sehr wich-
tige Rolle.
der Würde vor dem Nutzen) bei Einzelentscheidungen das Kriterium der
Güterabwägung zur Anwendung kommen: Es ist diejenige Handlung
zu vollziehen, die insgesamt am Ende zu einem besseren Ergebnis führt als
die alternativen Handlungen bzw. das Unterlassen des Handelns über-
haupt.
5) Das Sachkriterium
Abschließend sei noch ein ganz allgemein geltendes Kriterium in Erinne-
rung gebracht, da es im ethischen Tagesgeschäft immer wieder verletzt wird:
Im Umgang mit angewandt ethischen Problemfeldern ist eine sachliche De-
batte zu führen. Eine notwendige Bedingung einer sachlichen Debatte ist die
Wahrung logischer Grundregeln einschließlich des Konsistenzkriteriums:
Die Argumentation muss in sich stimmig sein. Wer beispielsweise einerseits
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wie sollte ein wenige Tage alter Embryo mehr Mensch sein können als ein
acht Wochen alter Embryo?
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Während die Anwendung der Regeln und Kriterien für den Einzelnen
oder kleinere Gruppen in vielen Fällen relativ einfach ist, ist sie für größere
Institutionen schwieriger zu vollziehen. Was folgt dann aus den bisherigen
Überlegungen für eine Ethik der Politik und des Rechts?
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 133
7 Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts als
einer Basis einer implementierbaren Angewandten Ethik
ders bestimmte Ziele politischen Handelns. Aufgabe der Politik ist es dann,
diese ethischen Prinzipien zum Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft
in Rahmenordnungen zu institutionalisieren, zu verrechtlichen und so dafür
zu sorgen, dass diese Prinzipien befolgt und ihr Nichtbefolgen sanktioniert
wird.
Damit verbunden ist eine klare Entscheidung im Hinblick auf das Ver-
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ständnis für die Rolle des Rechts. Das Recht ist auf die ethischen Prinzipien
zum Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft bezogen. Ein rechtsethi-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
41 Vgl. auch zum Verhältnis von Ethik und Recht den Abschnitt zum Prinzip der
Gerechtigkeit und die im ersten Kapitel beschriebene Differenz auch zu Ethos,
Moral und Moralität. Vgl. auch die weiterführenden Überlegungen bei Von der
Pfordten (2005) und Huber (2006).
134 Teil II Systematische Grundlegung
Beginnen wir mit einem typischen Konflikt, der die internationale Friedens-
sicherung gefährdet, dem Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästi-
nensern. Im Moment scheinen beide Seiten eine Art Nullsummenspiel zu
spielen: Was ich gewinne, verlierst du, was du gewinnst, verliere ich. Sie
scheinen blind zu sein für die Chance einer Kooperation, die zwar auch Ver-
zicht bedeutet, aber dennoch beide Seiten besser stellen würde, also das
Nullsummenspieldenken aufzubrechen vermag. Sie scheinen damit in einer
Struktur verhaftet zu sein, die man in der Spieltheorie als „Gefangenendi-
lemma“ bezeichnet.
setzt, könnten durch gemeinsames Schweigen das für beide immerhin zweit-
beste Ergebnis erzielen (welches gleichzeitig das für beide zusammen beste
erzielbare Ergebnis darstellt). Wenn nur einer den Bankraub zugibt, kann er für
sich jedoch das beste Ergebnis herausholen, da er als Kronzeuge der Anklage
anschließend frei käme, sein „Kollege“ bzw. seine „Kollegin“ dagegen bekommt
die Höchststrafe wegen seines hartnäckigen Leugnens (zehn Jahre, gegenüber
dem kollektiv besten Ergebnis von einem Jahr bedeutet dies den Abzug von
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neun Nutzenpunkte). Bekennen jedoch beide die größere Straftat, dann bekom-
men sie zwar nicht die volle Strafe, aber eine deutlich höhere Strafe (acht Jahre,
was den Verlust von sieben Nutzenpunkten bedeutet) als wenn man sie nur we-
gen unerlaubten Waffenbesitzes belangen könnte (ein Jahr, keine Nutzenpunkte).
Die soziale Falle besteht nun darin, dass es für jeden Einzelnen vorzugswürdig
ist, im Fachbegriff: die dominante Strategie (lateinisch: dominare = herrschen),
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zu bekennen, denn bekennt der andere nicht, kommt man frei (ein Nutzenpunkt),
bekennt der andere jedoch, so bekommt man wenigstens nur acht statt der zehn
Jahre.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
In der folgenden Tabelle wird dies in folgender Weise (in Klammern die Jahre)
dargestellt:
Nichtgestehen Geständnis von
von Petra Petra
Nichtgestehen von Paul 0;0 (je 1 Jahr Haft) -9;1 (10 J.; Freispruch)
Geständnis von Paul 1;-9 (Freispruch; 10 J.) -7;-7 (je 8 J.)
Tab. 5 Gefangenendilemma
Trotz seiner vielen Dimensionen lässt sich der Konflikt zwischen Palästi-
nensern und Israel vereinfacht auch als ein solches Gefangenendilemma
konstruieren. Würden nämlich Israelis und Palästinenser kooperieren, ge-
wännen sie Frieden und Stabilität in ihrer Region. Der Preis, den sie dafür
zahlen müssen, sind territoriale Einbußen und Probleme mit den Feinden
einer derartigen Kompromisslösung im eigenen Lager (ordnen wir diesem
Kompromiss als Nutzenwert für jede Partei vier Nutzenpunkte zu). Wenn
dagegen entweder nur die Israelis oder nur die Palästinenser hart bleiben, so
gewinnt derjenige, der hart bliebe, zuungunsten der nachgebenden Gegen-
seite einen zusätzlichen Nutzenpunkt. Die Gegenseite erhält nur einen ent-
würdigenden Frieden (Nutzenwert: 1). Bleiben dagegen beide Seiten hart, so
behalten beide den Status quo mit permanenter Kriegsgefahr, aber auch der
Möglichkeit, doch noch alles zu gewinnen. Dieser Status bringt beiden je
zwei Nutzenpunkte:
136 Teil II Systematische Grundlegung
Doch aus eigener Kraft sind sie dazu nicht in der Lage, wenn sie der spiel-
theoretischen Rationalität folgen, denn diese empfiehlt als dominante Stra-
tegie das Hartbleiben. Würde nämlich die andere Seite zur Kooperation
bereit sein, gewönne man als hart bleibende Seite fünf Nutzenpunkte, würde
die erstgenannte Konfliktpartei jedoch hart bleiben, empfiehlt sich ebenso
das Hartbleiben, weil man dann wenigstens zwei Nutzenpunkte sichert.
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Man stellt sich also in jedem Fall besser, wenn man hart bleibt. Nur wenn
beide Konfliktparteien sich in dieser Weise verhalten, verspielen beide Sei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
ten zwei Nutzenpunkte, die sie durch eine Kooperation gewonnen hätten.
Gäbe es funktionierende internationale Institutionen zur Friedenssiche-
rung, so könnten diese das Dilemma überwinden helfen. Wenn Israelis und
Palästinenser für ihr Hartbleiben durch funktionierende internationale Ins-
titutionen beispielsweise durch Entzug wirtschaftlicher Förderung, durch
Ausschluss aus Organisationen usw. sanktioniert, für Kompromissbereit-
schaft (Kooperation) dagegen beispielsweise durch Wirtschaftshilfe belohnt
würden, dann könnte das bestehende Dilemma aufgebrochen und die Ko-
operation zur dominanten Strategie werden: Angenommen die Kooperation
wird mit zwei zusätzlichen Nutzenpunkten belohnt, das Hartbleiben dage-
gen mit dem Abzug von drei Nutzenpunkten sanktioniert, lohnt sich eine
Kooperationsbereitschaft in jedem Fall, also egal wie sich die andere Seite
verhält. Dann ergäbe sich nämlich:
Dies gilt freilich nicht nur für derartige bilaterale Konflikte, sondern lässt
sich auch als Mittel gegenüber Staaten denken, die sich der Sicherung der
Menschenrechte, der Gerechtigkeit oder der Nachhaltigkeit verweigern, um
Folgerungen für eine Ethik der Politik und des Rechts 137
daraus für die herrschende Klasse bzw. das Land (billigere Produkte durch
geringeren Umweltschutz) zu schaffen. Werden die Herrschenden empfind-
lich sanktioniert, dann werden sie es sich nicht mehr leisten können, Men-
schenrechte zu verletzen. Werden Staaten sanktioniert, werden sie es sich
nicht mehr leisten können, den Umweltschutz zu vernachlässigen. Doch
diese Möglichkeit für Sanktionen ist nur gegeben, wenn es wirkmächtige
globale Strukturen gibt, die so eingerichtet sind, dass sie nicht selbst wieder
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Nehmen wir ein zweites Beispiel: Die ganz großen Krisen der Weltwirt-
schaft haben bisher stets ihren Ausgang an den Finanzmärkten genommen“,
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
so titelt die Welt am Sonntag (2008/40, 35), um dann auf die Politik zu ver-
weisen, die derartige Krisen vermeiden helfen könnte. Noch weiter gehen
führende Ökonomen aus Europa und den USA, die in einem Appell, ����� abge-
druckt in der Financial Times Deutschland (6.10.2008, 26), ausdrücklich nach
einer transnationalen Regulierung der Finanzmärkte rufen. Damit stellen sie
sich gegen die klassische neoliberale Lehre, wie sie beispielsweise prominent
Hayek (1899–1992) vertrat. In seinem Werk Der Weg zur Knechtschaft (2009
[1944]) argumentierte er, dass Regierungen sich nicht in die Kontrolle der
Inflation und andere Wirtschaftsangelegenheiten einmischen sollten; eine
Ausnahme sei die Einschränkung der Geldmenge.
Wie kommt es zu dieser Wende? Warum wird der Ruf nach der Politik
zu Recht laut? Warum kann nicht nur, sondern muss eine Ethik der Politik
auch in Hinsicht auf das Wirtschaften, für globale Strukturen und globale
Regulierungen optieren, wenn sie von den Prinzipien der Menschenwürde,
der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit ausgeht?
Überlässt man das Wirtschaften den freien Kräften des Marktes, kann es
wie beispielsweise im Fall der Krise der Finanzmärkte in Folge des Schwar-
zen Oktober 1929 zu einem Sog der Abwärtsspirale kommen, der viele Ban-
ken und mit ihnen die Existenz vieler kleiner und großer Unternehmen und
die finanzielle Lebensgrundlage vieler Menschen vernichtet. Die Sogwir-
kung beginnt, wenn Kredite billig sind. Unternehmen und „Häuslebauer“
erhalten günstige Kredite. Damit steigen Aktienkurse und Hauspreise. Ge-
fährlich wird es, wenn die Aktienkurse und die Hauspreise nur noch eine
138 Teil II Systematische Grundlegung
ber den Banken Geld geliehen haben, in die Banken nimmt ab. Unterneh-
men erhalten nicht nur für gewagtere Investitionen kein Geld mehr, sondern
auch gesunde Unternehmen erhalten für notwendige und gut abgesicherte
Investitionen kein Geld mehr. Sie können sich beispielsweise dann keine
Rohstoffe für ihre Produkte kaufen und können so gegen jede wirtschaftli-
che Logik in die Insolvenz getrieben werden. Damit können weniger Men-
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7.1.3 Klimaschutz
der Zeit von 2008 bis 2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent zu senken.
Zugleich enthält das Protokoll Bestimmungen zur Umsetzbarkeit der Ziele.
Ein wesentliches Mittel hierbei ist die Ermöglichung eines Handelns mit
Emissionszertifikaten. Ein Land das mehr emittiert als zugelassen, kann
sich von einem Land, das weniger emittiert, derartige Zertifikate kaufen, um
so seine festgelegte Quote einzuhalten. Zudem dürfen die Industrieländer
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gramme. Dies sieht nach einem „Kuhhandel“ aus, dient aber der Effizienz,
genauer dem gezielten Mitteleinsatz: Statt große Summe dort zu investie-
ren, wo ein ohnehin hoher Standard nur noch mühsam verbessert werden
kann, sollten die Mittel dahin fließen, wo sie den Standard effizient heben
können.
Allerdings hat die USA als zweitgrößten Verursacher von Emissionen
das Kyoto-Protokoll nicht ratifiziert. China als größter Verursacher von
Emissionen ist ebenso wie Indien aufgrund des Status eines Entwicklungs-
landes nicht zur Reduktion von Emissionen verpflichtet. Da die Entwick-
lungsländer nämlich bisher noch wenig in den Genuss von bestimmten
Gütern kamen, die Emissionen hervorrufen, z. B. von Autos, haben sie öko-
nomisch und sozial in diesem Bereich einen Nachholbedarf. Aus diesem
Grund haben die unterzeichnenden Staaten zum Schaden der ökologi-
schen Dimension die genannte Vereinbarung abgeschlossen. Damit führt
diese Vereinbarung zu einer unerwünschten Konsequenz: Staaten, die nicht
unterzeichnen, und Nicht-Industrieländer haben einen Anreiz, die unter-
zeichnenden Industrieländer bezüglich der ökologischen Dimension „aus-
zubeuten“, indem sie beim Umweltschutz nicht kooperieren, also selbst die
umweltschädlichen Emissionen nicht reduzieren. Im Unterschied zu klas-
sischen Dilemmata-Strukturen, bei denen sich alle Beteiligten kollektiv
selbst schädigen, wenn für den Einzelnen die Nicht-Kooperation die domi-
nante Strategie darstellt, haben wir es hier mit einseitigen Strukturen zu
tun. Die unterzeichnenden Industrieländer haben nämlich einer Koopera-
140 Teil II Systematische Grundlegung
dustrieländer mit einem Nutzenpunkt bewertet, für die anderen mit vier,
wenn diese nicht kooperieren, obwohl insgesamt bei gemeinsamer Koope-
ration gemeinsam sechs Nutzenpunkte, also ein höherer Nutzen zu reali-
sieren wäre.
Nicht-Industrieländer; Nicht-Industrieländer,
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unterzeichnende
Industrieländer 1;4 3;3
(Kooperation)
Damit haben mit China, Indien und den USA drei der vier größten Energie
verbrauchenden Staaten einen Anreiz, nicht zu kooperieren, um sich so ei-
nen Vorteil zu sichern, der langfristig zum Schaden aller ist. Anders gesagt:
Von den vier größten Energie verbrauchenden Nationen hat sich nur Japan
verpflichtet, seine Emissionen zu senken. Erneut fehlt es an globalen Struk-
turen, die eine Kooperation aller Staaten erzwingen könnten.
Organisationen lässt sich nämlich feststellen, wie leicht die zuständige Zen-
trale gegen dieses Prinzip der Subsidiarität verstößt und Macht und Einfluss
beansprucht, die ihr gerade nicht zukommt.
Man könnte Platon als denjenigen verstehen, der bereits einen klassisch zu
nennenden Lösungsvorschlag entwickelt hat, wie globale Strukturen konst-
ruiert werden sollten. Zwar ist sein Hauptwerk, die Politeia, ursprünglich auf
den idealen Stadtstaat bezogen, doch lassen sich darin enthaltene Überle-
gungen sehr gut für die Problemstellung fruchtbar machen. Wir benötigen
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gierungen von den Besten geführt werden, werden diese sich auch auf
die besten globalen Strukturen einigen, so könnte man seinen Gedanken
„globalisieren“.
Aber bleiben wir noch bei Platon selbst. Wie werden die Besten oder der
Beste gefunden? Da jeder Staat in Feindseligkeiten verwickelt wird, bedarf
es eines Wehrstands, der aus den Besten des Nährstands (Bauern, Handwer-
ker) als drittem, staatstragendem Teil rekrutiert wird. Die besten Wächter,
nämlich diejenigen, die das Wahre und Gute kennen, sollen als Philoso-
phenkönige den Staat leiten. Sie erhalten dafür eine spezielle Ausbildung,
die durch einen fünfzehn Jahre dauernden Dienst in hohen Beamtenstellen
in der Praxis erprobt wird. Sie haben keine Familien im üblichen Sinn, son-
dern sie haben Frauen und Kinder gemeinsam, um Neid usw. zu vermeiden.
Mit fünfzig Jahren aber zieht sich dieser erlesene Kreis zurück, lebt nur noch
für die wahre Philosophie, der Schau des an sich Guten, und gibt die großen
Ideen aus, nach denen der Staat geführt wird.
Derartige Strukturen eines idealen Staats, regiert von Philosophen
königen, bergen eine zentrale Schwierigkeit. Sie benötigen eine bestimmte
Konzeption des Guten, die von allen als wahr anzuerkennen ist. Anders
formuliert: Derartige Strukturen können niemals demokratisch sein, weil
niemals eine Mehrheit bestimmt, was wahr und gut ist, sondern das Wahre
und Gute bereits vorgegeben ist. Sie schaffen damit den Typus einer ge-
schlossenen Gesellschaft und schränken, wenn sie globale Strukturen Ver-
einter Nationen wären, zentrale menschliche Grundrechte ein, z. B. das
142 Teil II Systematische Grundlegung
Die globalen Strukturen müssen freilich so beschaffen sein, dass sie das Sub-
sidiaritätsprinzip nicht verletzen. Es sollte darum nur international geregelt
werden, was nicht national geregelt werden kann, so wie nur national gere-
gelt werden sollte, was nicht auch auf unteren Ebenen in einfacherer Weise
zu regeln ist. Die so verstandenen Vereinten Nationen brauchen beispiels-
weise keiner Polizei der Welt bei der Aufklärung eines kleinen Diebstahls
helfen. Sie sollten gerade vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede
keine Eingriffe in Bildungsvorhaben oder gesundheitliche Sicherungsmaß-
nahmen vornehmen dürfen, wenn die Grundgüter von Gesundheit und Bil-
dung gesichert sind. Ob also ein Staat möglichst viele Studenten hat und
beispielsweise nur Kindergärtnerinnen mit einem Universitätsabschluss
akzeptiert, ein anderer dagegen alternative Fortbildungsmöglichkeiten im-
plementiert und Kindergärtnerinnen mit mittlerer Reife und einer weiteren
fachbezogenen Ausbildung gewinnt, hat die Vereinten Nationen nicht zu
interessieren. Wer dies bestreitet, nähert sich bereits wieder dem platoni-
schen Modell an, weil er dann zu wissen glaubt, wie eine universelle Ausbil-
dung im Detail auszusehen hat.
Das Subsidiaritätsprinzip gilt bis zu den einzelnen Menschen. Wofür
der Einzelne Verantwortung übernehmen kann, das sollte ihm weder die
146 Teil II Systematische Grundlegung
Gruppe, die Region, der Staat oder gar die Vereinten Nationen abnehmen.
Es kann sich niemand auf der Handlungsebene aus dieser Pflicht stehlen,
nur weil auf der Regelebene (global, national, regional usw.) keine direkten
Vorgaben vorhanden sind. Freilich wird er bei einem Fehlverhalten nicht
sanktioniert. Hier wird sozusagen „reine Moral“ wirksam. Es ���������������
gilt dement-
sprechend: Der systematische Ort von Moral und Ethos sind Rahmenord-
nung und Teilsysteme/Institutionen/Gruppen sowie Einzelpersonen.
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7.3 Gesamtschau
Viele Themen der spezifischen Bereiche der Angewandten Ethik haben eine
lange Geschichte. Seit sumerischer Zeit wird nachweislich über die Bewer-
tung von Abtreibung und Sterbehilfe nachgedacht. Bereits in den großen
platonischen Werken Politeia und Nomoi findet sich eine Fülle angewandt-
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logie zur Tierzucht, die sportethische Frage nach der Sinnhaftigkeit des
Sports und wirtschaftsethische Bemerkungen zur Bedeutung des Geldes.
Allerdings werfen neue Herausforderungen wie die Gentechnik auch ganz
neue Fragestellungen auf. Zudem haben die jeweiligen Philosophen die Be-
reiche nicht systematisch abgehandelt, sondern sind den Fragen im größeren
Rahmen ihrer jeweiligen Werke nachgegangen. Diese Systematik zu schaf-
fen stellt aber gerade die eigentliche Aufgabe einer Angewandten Ethik als
Wissenschaftsdisziplin dar. Wesentlicher Bestandteil dieser Aufgabe ist da-
bei der Aufweis, wie das Norm- und Wertgefüge von Menschenwürde und
Menschenrechten, von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in den einzelnen
Bereichen zur Anwendung kommen kann.
8.1 Verantwortungsdimensionen
Das Norm- und Wertgefüge bildet nämlich zusammen mit dem jeweiligen
bereichsspezifischen Ethos sowie den jeweilig geltenden Gesetzen das Wes-
wegen der Verantwortung. Doch was ist eigentlich unter „Verantwortung“ zu
verstehen?
Es können ganz verschiedene Typen von Verantwortung und Dimensio-
nen der Verantwortung ausgemacht werden. So lassen sich Handlungen,
Handlungsergebnisse, deskriptive und normative Handlungszuschreibun-
gen und damit korrespondierende Typen von Rollenverantwortung und mo-
148 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Abb. 17 Verantwortungsdimensionen
42 Ropohl (1994, 1996) hat für diese Verantwortungstypen eine Matrix entworfen,
der ich in der Fragestellung und Kategorisierung in sieben Bereiche folge (vgl.
auch Ott 2005, 609–612, und Kunzmann 2006, 253–258), aber gerade nicht auf
technikethische Fragen einschränke und auch im Detail verändere. Vgl. auch
Körtner (2001) und Lenk (1998).
Systematik der Bereiche 149
43 Der Begriff der Personenfolgenabschätzung könnte durch seine Nähe zum Begriff
der Technikfolgenabschätzung als herabwürdigend empfunden werden. Dies ist
gerade nicht gemeint. Vielmehr geht es darum, analog zu den Risiken und Chan-
cen bei Techniken, die ernsthaft zu überprüfen sind, auch mit ebenso großem
Ernst den Menschen zu bewerten, denn das bisher größte Unheil wie auch Wohl
ist durch Menschen in diese Welt gekommen.
150 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
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Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Abb. 18 Personenfolgenabschätzung
Neben dem Subjekt der Verantwortung ist das zweifache Objekt der Verant-
wortung zu berücksichtigen: das Was und Wofür der Verantwortung. Dabei
bilden Handlung oder Unterlassung und das intendierte Produkt bzw. Re-
sultat das Was der Verantwortung, die vorhersehbaren und unvorhersehbaren
Folgen der Handlung, die über das intendierte Produkt bzw. Resultat hin-
ausgehen, das Wofür. Zwischen ethischen Theorien gehört es in diesem Zu-
sammenhang zu einer der umstrittensten Fragen, wie Handlungen und Un-
terlassungen zueinander im Bewertungsverhältnis stehen (vgl. Birnbacher
1995, Smith 2005). Ein weiteres Problem stellt dar, wie unvorhersehbare
Folgen und ein spekulatives Risiko zu berücksichtigen sind. Darauf wird
später noch einzugehen sein.
Systematik der Bereiche 151
diese nicht selbst vollzogen hat. In bestimmten Fällen haftet dann sogar
nicht die Person, die einen Schaden angerichtet hat, sondern diejenige, der
man den Schaden zurechnet. Dabei muss nicht einmal persönliche Schuld
im Spiel sein. Man denke nur daran, dass Eltern, ohne ihre Aufsichtspflicht
verletzt zu haben, für ihre noch nicht rechtlich belangbaren Kinder haften,
beispielsweise wenn diese auf dem Heimweg von der Schule einen Schaden
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anrichten.
Veranwortung ist also eine vielstellige Relation, die die Komplexität die-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
8.2 Verweisungszusammenhänge
„Gentechnik“
Die Gentechnik stellt eine der facettenreichsten Techniken dar. Sie wirft
darum eine Vielzahl von ethischen Fragen auf, die praktisch alle Bereiche
der Angewandten Ethik in der einen oder anderen Weise berühren. So kann
dieses konkrete Beispiel einführend sowohl die verschiedenen Dimensionen
der Verantwortung als auch den Verweisungszusammenhang der Bereiche
illustrieren. Im Detail soll dieser vielgestaltige ethische Konfliktfall anschlie-
ßend in den einzelnen Bereichen exemplarisch behandelt werden.
Alle Lebewesen auf dieser Erde speichern ihre genetische Information, den
genetischen Code, in Paaren von Nukleinsäuren. Der genetische Code ist
44 Für die Aufteilung in die genannten Bereiche nehme ich die Einteilung der Sam-
melbände von Nida-Rümelin (Hg.) (2005, Erstauflage 1995) und Knoepffler u. a.
(2006) zum Vorbild. Wichtige Anregungen verdanke ich zudem Beiträgen in
Düwell u. a. (Hg.) (2006, Erstauflage 2002), und Frey/Wellman (Hg.) (2005). Vgl.
auch die einschlägigen Lexikonbeiträge in Korff u. a. (Hg.) (2000) sowie in der
von Chadwick herausgegebenen vierbändigen „Encyclopedia of Applied Ethics“
(1997).
Systematik der Bereiche 153
dabei mit wenigen Ausnahmen universell: Die Proteinsynthese läuft z. B. bei
der Hefe und beim Menschen nach identischen Regeln ab. Jeweils eine
Dreiergruppe (im Fachbegriff: ein Triplett) einsträngiger Messenger-Ribo-
nukleinsäuren (abgekürzt: mRNA) kodiert eine von zwanzig Aminosäuren.
Da Proteine aus einer Kette verschiedener Aminosäuren bestehen, bestimmt
die Länge und Reihenfolge der Aminosäurensequenz wesentlich Form und
Funktion des entsprechenden Proteins. Um sich eine Vorstellung davon zu
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machen, was dies bedeutet, kann ein Vergleich mit Legobausteinen helfen.45
Einige wenige Steintypen genügen, um eine praktisch unbeschränkte An-
zahl unterschiedlicher Bauwerke entstehen zu lassen. Wie es die Konfigura-
tion der Steine ermöglicht, dass wir beispielsweise etwas als Haus und etwas
als Turm identifizieren, so bewirkt die Konfiguration der Tripletts, dass wir
es mit Mücken oder Menschen zu tun haben, obwohl die Nukleinsäuren
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identisch sind. Wie kommt es dabei dazu, dass sich Mücken oder Menschen
bilden? Die Grundbausteine sorgen selbst dafür, dass sich bestimmte Ami-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
nosäuren aneinander reihen. Diese dienen letztlich dazu, dass wir in unserer
Gestalt existieren.
Man definiert dabei als „Gen“, sehr vereinfacht gesprochen, denjenigen
Abschnitt von Nukleinsäuren – genau genommen sind es Desoxyribonukle-
insäuren (abgekürzt: DNA) –, der die Information für ein Protein enthält.
Die Gesamtheit der Gene eines Lebewesens, also seine genetische Gesamt-
konfiguration, bezeichnet man als Genom dieses Lebewesens. Bei aller Un-
terschiedlichkeit der Gesamtkonfiguration, finden sich in den einzelnen
Sequenzen derart große Ähnlichkeiten zwischen den Lebewesen, dass bei-
spielsweise der Einzeller Hefe und der Mensch als ein Gebilde aus etwa
100 Billionen Zellen in verblüffender Weise verwandt sind. Die Hälfte aller
Gene, die in unserer Spezies als Ursachen oder Auslöser von Krankheiten
entdeckt wurden, ist auch bei der Hefe zu finden, obwohl sich die Entwick-
lungslinien von Hefe und Mensch bereits vor mehr als 700 Millionen Jahren
trennten. Ein weiteres Beispiel für diese große Verwandtschaft: Der Wurm
C. elegans verliert seine Fähigkeit, Eier zu legen, wenn in ihn ein Gen einge-
bracht wird, das beim Menschen eine Form der Erkrankung an Alzheimer
auslöst. Umgekehrt sorgt das gesunde menschliche Gen, in den Wurm ein-
45 Die obige, anthropomorphe Redeweise „speichern“ sowie das von mir gebrauchte
Bild der Legobausteine sowie der nachfolgende Bezug zum Kochrezept zeigen
an, dass es hier nur um eine intuitive Grundidee der Vorgänge geht. Für eine na-
turwissenschaftlich präzise und umfassende Darstellung sei auf die einschlägigen
Lehrbücher verwiesen.
154 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
gebracht, dafür, dass er wieder normal Eier legen kann, wenn sein entspre-
chendes Gen defekt war.
Vor diesem Hintergrund lässt sich gut verstehen, wozu die Gentechnik
nützlich sein kann. Sie kann zur Entwicklung von Grundlagen gebraucht
werden, also um die Abfolge der Basenpaare zu identifizieren und in einem
weiteren Schritt diesen so entzifferten genetischen Code ebenso zu ent-
schlüsseln, also die Auswirkung der Sequenzen verstehen zu lernen. Auf
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spiel hierfür ist die gentechnische Herstellung von Insulin durch das Ein-
führen einer bestimmten Sequenz von Nukleinsäuren in Bakterien, sodass
diese menschliches Insulin produzieren. Aber nicht nur Bakterien, sondern
sogar Säugetiere können medizinischen Zwecken dienen. Wilmuts (1997)
berühmte Klonierung von Schafen hatte das Ziel, eine sichere Methode zu
entwickeln, um transgene Schafe, die in ihrer Milch das Antikrebsmittel
Interleukin produzierten, in ihrer Transgenität in den Nachfolgegeneratio-
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nen zu erhalten.46
Beim Menschen geht es derzeit darum, genetisches Material mit Hilfe
von „harmlosen“ Viren in Körperzellen einzubringen (virale Genfähren), um
so bestimmte genetisch bedingte Erkrankungen zu heilen, im Fachbegriff:
Es geht um somatische Eingriffe mit therapeutischer (griechisch: therapeuein
= heilen) Zielsetzung. Theoretisch lassen sich aber auch Eingriffe in die
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46 vgl. zu einem Überblick über die Fülle transgener Tiermodelle Schenkel (2006,
171–189).
156 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
9 Wissenschaftsethik
Man kann vereinfachend sagen, dass das gemeinsame Band aller Wissen-
schaften darin besteht, neue Erkenntnisse zu erreichen, eben „mehr zu wis-
sen“. Der Unterschied besteht – wiederum grob gesprochen – darin, dass die
Natur- und Ingenieurswissenschaften sowie die Medizin sich eher dadurch
auszeichnen, dass das neue Wissen Probleme lösen soll und oft einen Pro-
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ethisch als Wissenschaft zu reflektieren hat. Ihre zentrale Aufgabe lässt sich
mit Schweidler (2006, 307) in folgender Weise benennen: „Wissenschafts
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
ethik ist dasjenige Gebiet der Angewandten Ethik, in dem die spezifische
ethische Verantwortung der Forschung thematisiert wird, und zwar sowohl
unter dem Blickwinkel der Forschenden und der Forschergemeinschaften
als auch unter dem der gesamten Bedingungen, unter denen in modernen
gesellschaftlichen Systemen wissenschaftliche Forschung handlungsleitende
Bedeutung gewinnt.“ Dabei sind auch die Folgen dieser Forschung, soweit
sie ethisch relevant sind, zu thematisieren.
Tradition stehen (vgl. für diese Position exemplarisch Hubig 1993) oder wie
auch hier vertreten, eine Wissenschaftsethik, die vom Prinzip der Men-
schenwürde ausgeht (vgl. Schweidler 2006). Streitpunkte sind vielmehr die
konkrete Einschätzung bestimmter Forschungen (vgl. dazu exemplarisch
9.3).
Ganz fundamental haben jedoch bereits antike Denker wissenschafts
ethische Themen erörtert. So lässt sich in Platons Politeia die Überlegung
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finden, dass es nicht zu verantworten sei, wenn alle Menschen ein bestimm-
tes Wissen haben, da dieses Unruhe stiften könnte. Aber Platon geht sogar
noch einen Schritt weiter. So lautet seine Vorschrift zur Verschleierung des
staatlichen Zuchtprogramms: „Es scheint, dass unsere Herrscher allerlei
Täuschungen und Betrug werden anwenden müssen zum Nutzen der Be-
herrschten“ (Politeia 459c–d).
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logen in den mit dem Papst in Einheit stehenden Kirchen, dass sie ihre
Forschungsergebnisse nicht veröffentlichen dürfen und sich auch nicht zu
bestimmten Fragen äußern sollten, wenn diese nicht in Übereinstimmung
mit lehramtlichen Äußerungen zu stehen scheinen: „�������������������
Es kann ferner vor-
kommen, dass die Schwierigkeit nach Abschluss einer ernsthaften Prüfung
in der Bereitschaft, ohne inneren Widerstand gegen den Spruch des Lehr-
amtes zu hören, bestehen bleibt, weil dem Theologen die Gegengründe zu
überwiegen scheinen. Er muss dann angesichts einer Zustimmung, die er
nicht geben kann, bereit bleiben, die Frage gründlicher zu studieren. Sie
kann ein Aufruf zu schweigendem und betendem Leiden in der Gewissheit
sein, dass, wenn es wirklich um die Wahrheit geht, diese sich notwendig am
Ende durchsetzt“ (Kongregation für die Glaubenslehre 1990, Nr. 31).�������
In ei-
ner ähnlichen Weise verlangen auch heutige Konzerne oft von ihren Wis-
senschaftlern, bestimmte Ergebnisse nicht zu veröffentlichen und aus Loya-
lität zu dem sie beschäftigenden Unternehmen zu schweigen.
Dagegen formuliert bereits Kant im Rahmen seiner Schrift Beantwor-
tung der Frage, was ist Aufklärung: „Ebenso ist ein Geistlicher verbunden,
seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der
Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun, denn er ist auf diese Bedingung
angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den
Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken
über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer
Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzu
160 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
teilen“ (Kant 1968 [1784], 38). Er benennt damit einen Wert, der bis heute
zum eigentlichen Spezifikum der Wissenschaft gehört: die Forschungs-
freiheit.
Der zentrale mit der Menschenwürde und dem mit ihr verbundenen Selbst-
bestimmungsrecht gegebene bereichsspezifische Wert ist die Forschungs-
freiheit. Ein Wissenschaftler, der in seinem Forschen keine Forschungsfrei-
heit genießt, ist eigentlich nur ein „Handlanger“ anderer Interessen. Deshalb
ist zumindest die akademische Wissenschaft frei in ihrer Forschung, und es
ist ein Kennzeichen des universitären Forschers, dass er sich seine For-
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schungsfelder frei wählen kann. Dort, wo dies nicht der Fall ist, kann darum
auch nicht mehr von echter universitärer Forschung die Rede sein. Vielmehr
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Dies gilt analog auch für eine weitere wesentliche moralische Norm im
Bereich der Wissenschaft. Wissenschaftler haben die grundsätzliche Pflicht,
ihre Forschung offen zu legen, und dabei auch genau zu benennen, wem sie
für die Forschung etwas verdanken. Diese Transparenz sollte sich gerade
nicht nur auf alle mit öffentlichen Mitteln erzielten Ergebnisse beziehen,
sondern für alle Ergebnisse überhaupt, zumindest wenn sie im Hinblick auf
die Prinzipien von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit von
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mediale Aufklärung.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
wie sie es rechtfertigen würde, dass man mit geborenen Menschen eine ver-
brauchende Forschung durchführen darf. Ist man dagegen der Überzeugung,
der frühe Embryo sei nichts anderes als menschliche Zellen, deren morali-
sche Bedeutung ähnlich wie diejenige von Eizellen einzuschätzen ist, dann
ist der Grundwert der Forschungsfreiheit so gewichtig, dass mit Berufung
auf diese derartige Zellen verbraucht werden dürfen, wenn sie von den „Be-
sitzern“ für die Forschung zur Verfügung gestellt werden.
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die Veränderung von Pflanzen als eine Verletzung der pflanzlichen Integrität
verstanden werden kann, und ob, bei Bejahung dieser Frage, diese Verlet-
zung so gewichtig ist, dass sie die Forschungsfreiheit beschneiden darf. Ein
weiteres bioethisches Argument gegen derartige Versuche ist der Schaden
für betroffene Tiere. So wird bereits der Anbau von gentechnisch verän
dertem Mais zu Forschungszwecken mit der Schädigung der Larven des
Monarchfalters in Verbindung gebracht. Wirtschaftsethisch ließe sich dis-
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kutieren, ob eine solche Forschung nicht mittelfristig über den Weg ihrer
Anwendung Großkonzernen wie beispielsweise Monsanto die Möglichkeit
gibt, eine monopolartige Struktur in diesem Feld aufzubauen und neue Ab-
hängigkeiten für Bauern zu schaffen.
Es lassen sich aber auch drei klassische wissenschaftsethische Fragen
stellen. So kann ganz grundsätzlich gefragt werden, ob derartige Forschungs-
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etwas tut, das ihm nicht zukommt, er Grenzen überschreitet, die er nicht
überschreiten sollte. Die zweite Kontroverse geht darum, ob durch derartige
Forschungsvorhaben die Würde und die mit ihr verbundenen Rechte von
Menschen nicht in einer solchen Weise gefährdet werden, dass derartige
Forschungsvorhaben verboten werden müssten. So befürchten manche Kri-
tiker der Grünen Gentechnik, dass bereits Freilandversuche ein unabschätz-
bares Risikopotential haben, weswegen im schlechtesten Fall aus derartigen
Versuchen eine irreversible Umweltkatastrophe mit großem Schaden für uns
Menschen resultieren könnte. Dieses rein spekulative Risiko sollte aus Vor-
sichtsgründen den Ausschlag gegen eine solche Forschung geben. Damit
verbunden ist die dritte Problematik, die Problematik der schiefen Ebene:
Eigentlich zulässige Forschungsvorhaben können zu nicht intendierten,
ethisch unzulässigen Forschungsvorhaben oder unzulässigen Anwendungen
führen (vgl. im Folgenden Kunzmann/Knoepffler 2009).
In der ersten Kontroverse geht es um den Wert der bestehenden Ord-
nung, die durch ein gentechnisches Forschungsvorhaben als gefährdet ange-
sehen wird. Der Konflikt besteht hier zwischen denjenigen, die davon über-
zeugt sind, dass wir die Welt mit Hilfe gentechnischer Eingriffe verändern
dürfen, vielleicht sogar sollten, und denjenigen, die davon ausgehen, dass
bereits eine wohl geordnete Natur und Welt vorfindlich ist, die durch gen-
technische Eingriffe gestört wird. Diese Vorstellung entspricht der Vorstel-
lung eines griechischen „Kosmos“: „Dem Begriff des Kosmos kommt […]
eine normative Funktion zu, denn die von ihm repräsentierte Wohlordnung
Wissenschaftsethik 165
als dem möglichst guten Zustand für alle Wesen schreibt Personen ver-
pflichtend vor, wie sie in und an der Natur handeln können resp. nicht han-
deln dürfen, ohne den je erreichten Zustand der natürlichen Wohlordnung
zu verschlechtern“ ( Janich/Weingarten 2002, 93). Diese Vorstellung einer
vorhandenen Wohlordnung deckt sich auch mit der ersten biblischen Schöp-
fungserzählung, in der Gott bei jedem Schöpfungsschritt das Gutsein der
Schöpfung betont (vgl. Gen 1). Hier hat die heutige Rede ihre Wurzeln, wir
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sollten nicht in die Schöpfung eingreifen bzw. wir sollten „Gott nicht ins
Handwerk pfuschen“ oder auch „nicht Gott spielen wollen“, die auch in
Kreisen zu wirken scheint, die nicht an Gott glauben. Andererseits lässt sich
aus derselben Schöpfungserzählung aufgrund der Gottebenbildlichkeit des
Menschen (vgl. Gen 1,26f ) auch eine Aufforderung herauslesen, dass wir
uns am göttlichen Schöpfungswirken beteiligen sollen, wenn man die
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rium ebenfalls meist ein bestimmtes Verständnis von „Schöpfung“ und den mit
dieser „Schöpfung“ gesetzten Grenzen.
Die grundlegende Entscheidungssituation besteht also hier zwischen Men-
schen, die sich mit Berufung auf ihre Forschungsfreiheit zu einer solchen
Forschung ermächtigt sehen, und denjenigen, die eine solche Forschung
nicht nur selbst nicht betreiben wollen, sondern auch dafür argumentieren,
anderen diese Forschungsmöglichkeit nicht zuzugestehen, also die For-
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47 Vgl. Meyer u. a. 2009. Allerdings wird die Aussagekraft dieser Untersuchung von
Greenpeace (2009) bestritten, u. a. deshalb, weil nur ein Teil der Kühe über die
gesamten zwei Jahre in diesem Experiment anwesend war.
Wissenschaftsethik 167
lungen oder auch für Unterlassungen. Auch ist dabei von wesentlicher
Bedeutung, wie Haftungsfragen geregelt werden und damit verbunden, ob
der Forscher auch von Gerichten für bestimmte Folgen zu Verantwortung
gezogen werden kann, weil man ihm Folgen zurechnet, die er zwar nicht
direkt bewirkt hat, die aber mit Hilfe seiner Forschungen überhaupt erst
möglich wurden. Bei all dem darf aber nicht die eingangs als zentrales
Grundrecht benannte Forschungsfreiheit als wichtigste Bereichsnorm durch
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10 Technikethik
dert haben. Umgekehrt gab und gibt es technische Anwendungen, die ohne
vorausgehende wissenschaftliche Forschung im modernen Sinn getätigt
wurden und ebenfalls große Auswirkungen hatten. Jahrtausendelang züch-
teten die Menschen Tiere und Pflanzen, ohne die Grundprinzipien der Ge-
netik verstanden zu haben. Sie hatten ein Erfahrungswissen, aber kein wis-
senschaftliches Wissen im modernen Sinn.
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zur Beseitigung seiner materiellen Not, einzusetzen ist. Dabei ist er davon
überzeugt, dass Erfindungen und technischer Fortschritt die Menschen be-
glücken und, damit verbunden, moralischer machen, denn wenn es den
Menschen materiell besser geht, sind sie beispielsweise nicht gezwungen,
ihre materielle Not durch Diebstahl oder anderes Fehlverhalten zu sichern.
Darum hat der Mensch nicht nur ein Recht darauf, die Welt zu erkennen,
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eine noch über einen atomaren dritten Weltkrieg hinaus gehende Gefahr,
weil die „anrollende Revolution der Technik den Menschen auf eine Weise
fesseln, behexen, blenden und verblenden könnte, dass eines Tages das rech-
nende Denken als das einzige in Geltung und Übung bliebe. […] Dann hätte
der Mensch sein Eigenstes, dass er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist,
verleugnet und weggeworfen“ (Heidegger 1982, 25). Sein Lösungsangebot
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ist keine vollständige Absage an die Technik, sondern eine Haltung „des
gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt“ (ebd., 23), ein Gebrauchen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Vertiefung: Ingenieurseid:
„In Ehrfurcht und Achtung vor den gegenwärtigen, einstigen und zukünftigen
Generationen spreche ich diesen Eid:
174 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Ich bekenne mich zum schöpferischen Wissen der Ingenieure, werde die
ethischen Grundsätze mit Sorgfalt wahren und mich im Sinne der edlen Überlie-
ferung fortbilden. Ich übernehme die alte und ehrenvolle Pflicht, als vernunftbe-
gabter Teil der Natur dem Erhalt der gesamten Schöpfung zu dienen. Im Geist
der Tradition und unter dem demokratisch verbürgten Schutz des Gewissens
stelle ich mich der besonderen moralischen Verantwortung meines Amtes. Mein
Beruf trage dazu bei, allen Lebewesen ein Dasein in Würde, in Sicherheit und in
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Ich verpflichte mich zur Offenlegung meiner beruflichen Qualifikationen und zur
wahrheitsgetreuen Information der Öffentlichkeit über Chancen und mögliche
Risiken meiner Arbeit. Ich achte die gesellschaftliche Bedeutung und Würde der
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Ingenieurkunst und bemühe mich mit allen Kräften, dieses Ansehen den Stan-
desregeln meines Berufes gemäß zu fördern. Dies alles gelobe ich feierlich, bei
meiner Ehre und zum Wohle von Mensch und Umwelt.“
Auch hier gilt wie in den übrigen Bereichen: Solange diese Normen und
Werte unumstritten als Konkretisierung und sinnlogische Weiterführung
des grundlegenden ethischen Normen- und Wertgefüges im Ausgang von
Menschenwürde und Menschenrechten, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit
verstanden werden können und solange ihre Verletzung selbstverständlich
zu sanktionieren ist, bedarf es keiner weiteren ethischen Reflexion. So bedarf
es keiner ethischen Diskussion, ob Techniker, die ihre Sorgfaltspflicht verlet-
zen und damit wie in Tschernobyl eine sehr große Katastrophe verursachen,
auch für diese moralisch verantwortlich zu machen sind. Diskussionswürdig
bleibt in diesem Fall vielmehr, ob eine solche Technik überhaupt verant-
wortbar ist, wenn Menschen durch eine selbst verschuldete und fehlerhafte
Bedienung wie im konkreten Fall solchen Schaden verursachen können.
Gerade sehr gefährliche Techniken haben dazu geführt, dass sich die
Technikfolgenabschätzung als ein wichtiges Element auch für technikethi-
sche Überlegungen etabliert hat. Nach der Definition der VDI-Richtlinie
3780 (VDI (Hg.) 1991) umfasst dabei die Technikfolgenabschätzung „das
planmäßige, systematische, organisierte Vorgehen, das
1. den Stand einer Technik und ihre Entwicklungsmöglichkeiten
analysiert,
Technikethik 175
Abb. 20 Technikfolgenabschätzung
zips war die Reversibilitätsregel aber von einer großen Bedeutung. Es bedarf
darum guter Gründe, wenn diese Regel nicht beachtet werden muss, z. B.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
dass praktisch kein Risiko für das Leben von Menschen besteht, sondern im
Gegenteil Menschen davon Nutzen haben (sei es in der sozialen oder der
ökonomischen Dimension der Nachhaltigkeit oder auch in beiden Dimen-
sionen) oder aber auch, dass ein solches Vorgehen ökologisch vorteilhaft ist,
ohne dass die anderen Dimensionen verletzt werden. Dann haben wir eine
pareto-superiore und ethisch vorzugswürdige Anwendung. Lässt sich eine
derartige Entscheidung nicht treffen, also keine Paretosuperiorität feststel-
len, so muss eine Güterabwägung vorgenommen werden. Die Entschei-
dungssituation lässt sich damit in folgender Weise darstellen:
Betrachten wir als Beispiel für eine technikethische Bewertung die Frage, ob
die Maissorte MON 810 des US-amerikanischen Agrarkonzerns Monsanto
Technikethik 177
fürworter besteht kein reales Risiko. Sie weisen darauf hin, dass zumindest
nach den Ergebnissen deutscher Sicherheitsforschung kein Gefährdungspo-
tential mit diesen Pflanzen verbunden ist. Sie weisen darauf hin, dass der
Mais MON 810 als Wirkprinzip genau jenes Gen aus dem Bacillus thurin-
giensis (deshalb der Name „Bt-Mais“) enthält, das ihn ein Toxin (griechisch:
toxine = Gift) gegen die Raupen des Maiszünslers bilden lässt, das ihn gegen
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diese resistent macht. Während aber Gegner auf die (vermeintlichen) Ge-
fahren dieser gentechnischen Veränderung hinweisen, wehren sie sich nicht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
dagegen, dass das betreffende Toxin selbst seit über 30 Jahren in Deutsch-
land zur Schädlingsbekämpfung auch im Ökolandbau eingesetzt wird.51
Zusätzlich argumentieren sie mit einem spekulativen Risiko dieses An-
baus für die Menschen und einem nach bestimmten Studien vermuteten
Risiko für die Larven des Monarchfalters und andere Insekten.
Die zentrale Grundentscheidung verläuft bereits bei der Frage, ob Ge-
fährdungspotential vorhanden ist oder nicht. Wenn kein Gefährdungspo-
tential für eine der betroffenen Dimensionen der Nachhaltigkeit angenom-
men wird, gibt es keine über die im Bereich der Wissenschaftsethik hierzu
zusätzlich formulierten Einwände.
Wird dagegen ein Gefährdungspotential angenommen, so wären weni-
ger gefährliche, gleichwertige Alternativen in jeden Fall vorzuziehen. Befür-
worter der Anwendung von Bt-Mais gehen dabei davon aus, dass es diese
Alternativen nicht gibt, manche Gegner werden dagegen die Aussaat von
50 Auch hierzu vgl. zu weiteren ethisch relevanten Aspekten die Behandlung dessel-
ben Beispiels im Rahmen von Wirtschaftsethik und außermenschlicher Bioethik.
51 „Bacillus thuringiensis (B.t.) wird seit über 30 Jahren in Deutschland eingesetzt,
heute auf über 20.000 Hektar im Jahr, überwiegend im Weinbau, Forst-, Obst- und
Gemüsebau. (Eine Unterart israelensis wird am Oberrhein auf über 10.000 Hektar
pro Jahr gegen Stechmückenlarven ausgebracht.)“, so wörtlich zu lesen auf: http://
www.oekolandbau.de/erzeuger/pflanzenbau/pflanzenschutz/nutzorganismen/
bakterien/bacillus-thuringiensis-ssp-aizawai-und-kurstaki/ (einges. a. 08.07.2009).
178 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
ökologische Effekte ins Feld, nämlich höhere Erträge als beim konventio-
nellen Mais mit einer für die Bauern verbundenen höheren Gewinnspanne
sowie einen Minderverbrauch konventioneller Insektizide. Gegner dagegen
werden auf die Möglichkeit einer ökonomischen Abhängigkeit von einem
Großkonzern und damit verbundene ökonomische Risiken für die betroffe-
nen Bauern verweisen und die Problematik der Auskreuzung in den ökolo-
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gischen Anbau ins Feld führen (vgl. 11.3). Ökologisch werden sie die Pro-
blematik einer möglichen Reduktion der Artenvielfalt benennen und von
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
11 Wirtschaftsethik
Die Bereiche der Technik und Wissenschaft sind eng mit dem Bereich der
Wirtschaft verbunden. Viele wissenschaftliche Errungenschaften sind von
wirtschaftlichem Interesse, ebenso die meisten technischen Anwendungen.
Nicht selten befinden sich wissenschaftliche Forscher in ihrer Arbeit von
Unternehmen direkt als Mitarbeiter in deren Forschungsabteilungen oder
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Kosten einer
Kosten bei Unfällen
Tankverbesserung
Kostenauf- 11 Mio Pkw à 11 US $ 180 verbrannte Personen à
stellung 1,5 Mio LKW à 11 US $ 200.000 US $
180 Verletzte à 67.000 US $
2.100 zerstörte Autos à 700 US $
Kosten- 137 Mio US $ 49,5 Mio US $
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summe
Tab. 10 Der Pinto-Skandal
fentlich bekannt wurde. Auch war das Renommee sehr beschädigt. Es wurde mit
dieser Kalkulation, Menschenleben zu verrechnen, gegen das genannte funda-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
mentale Prinzip der Menschenwürde verstoßen und damit wurden monetäre In-
teressen über die Lebensdienlichkeit gestellt. Das Prinzip der personalen Würde
verbietet nämlich, dass ein Mensch nur als Zweck gesehen wird. In dieser Kos-
ten-Nutzen-Analyse wird aber das Leben eines Menschen gegen finanzielle
Werte aufgerechnet. Diese Analyse und die aus ihr entspringende Verhaltens-
weise waren nicht individualverträglich, weil sie das Leben von Menschen ab-
sichtlich bedrohten und aufs Spiel setzten. Nicht von ungefähr haben Lenk/Ma-
ring (1998, 15) dieses Beispiel als eine „horrend inhumane Nichtbeachtung
prädistributiver Rechte Betroffener (Recht auf Leben, Unversehrtheit, Gesund-
heit)“ bezeichnet. Darüber hinaus ist diese Verhaltensweise des Unternehmens
nicht sozialverträglich, weil in dieser Kosten-Nutzen-Analyse die sozialen Aus-
wirkungen, die nicht mehr quantifizierbar sind, übersehen werden: das Leid der
Verwandten, der Verlust von Kindern oder Eltern usw. Allerdings ließe sich die
Frage stellen, ob der Bau der Fahrzeuge mit dem schlechten Tank dann ethisch
zu rechtfertigen gewesen wäre, wenn das Unternehmen dem Kunden diese Pro-
blematik offen gelegt und gegen einen Aufpreis einen besseren Tank angeboten
hätte. Man denke nur daran, dass heute allgemein bekannt ist, dass ESP als
Antischleudertechnik eine signifikante Anzahl von teilweise tödlich endenden
Unfällen verhindern hilft. Dennoch wird diese Technik gerade in Kleinwagen oft
gar nicht oder nur gegen Aufpreis angeboten. Ist dies nur deshalb gerechtfertigt,
weil der Kunde darum weiß?
Darüber hinaus gibt es aber auch wichtige Wirtschaftszweige, bei denen die
klassischen Wissenschaften und die Technik keine Rolle zu spielen schei-
Wirtschaftsethik 181
nen. Wie die Bankenkrise gezeigt hat, können Großbanken durch gewagte
Spekulationen ganze Volkswirtschaften gefährden. Manager, die dafür eine
Mitschuld tragen und über Jahre von den Gewinnen riskanter Transaktio-
nen profitiert haben, können die Schäden externalisieren und dürfen so un-
gestraft eine fundamentale ethische Regel der Nachhaltigkeit verletzen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die wesentliche Frage einer Wirt-
schafts- und der mit ihr verbundenen Unternehmens- und Führungsethik:
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dererseits will er jedoch den Einzelnen nicht aus seiner moralischen Verant-
wortung entlassen. Das integrative Element der Konzeption Ulrichs besteht
genau darin, der ökonomischen Rationalität nicht das letzte Wort zu lassen,
sondern sie in einen ethischen Rahmen einzupassen, der aber eben nicht ein
appellativer bleibt. Dies kann nach seiner Überzeugung dann gelingen, wenn
wir als moralische Subjekte in einer Diskursgemeinschaft die moralischen
Normen und Werte aushandeln, statt sie uns durch eine angeblich ökonomi-
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nalität gibt die eigentliche Zielrichtung an, die letztlich in der Wahrung der
Subjektstellung und Würde des Menschen auch im Arbeits- und Wirt-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
52 Homanns Grundgedanke ist über die Jahre weiterentwickelt worden. Das mit
Lütge verfasste Buch aus dem Jahr 2004 stellt seine Position sehr klar und prä-
gnant dar und wird im Folgenden hauptsächlich zitiert. Zur Vertiefung des An-
satzes empfiehlt sich insbesondere Homann/Suchanek (2000) und Homann/Pies
(2000). Immer noch eine fast klassisch zu nennende Einführung in seinen Ansatz,
wenn auch in bestimmten Aspekten entscheidend weiterentwickelt, bietet Ho-
mann/Blome-Drees (1992).
184 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Homann ist dabei der Überzeugung, dass zentrale moralische Probleme als
soziale Fallen im Sinne von derartigen Dilemmatastrukturen zu analysieren
sind. Der „Witz“ derartiger Fallen besteht darin, dass der Einzelne, indem er
versucht, seinen (subjektiven) Nutzen zu maximieren, letztlich das für ihn
selbst zweitschlechteste Ergebnis realisiert. Hätte man kooperiert, hätte man
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gewandert.
Allerdings lässt dieses klassische Beispiel noch nicht die soziale Proble-
matik in voller Schärfe sichtbar werden, denn es ist ja gerade im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger, dass diejenigen, die eine Bank ausrauben wollen,
dafür konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Falle hat ihren
guten Sinn. Ähnliches gilt für vergleichbare Strukturen, die beispielsweise
Kartellabsprachen zwischen Unternehmen zum Wohl der Konsumenten
verhindern sollen. Aber es lassen sich auch andere Beispiele anführen, die
eindeutig das reine, selbst schädigende Verhalten, zu dem durch derartige
Strukturen Anreize gesetzt sind, zeigen. Denken wir an die Situation zweier
Unternehmen, bei denen Anreize bestehen, auf Investitionen in den Um-
weltschutz zu verzichten, der für alle vorteilhaft wäre, weil alle von einer
besseren Umwelt profitieren, aber geschäftsschädigend, wenn nur eines der
beiden Unternehmen investieren würde. Das investierende Unternehmen
würde nämlich unter den Voraussetzungen, dass diese Investition Geld kos
tet und keine Rahmenordnung dies honoriert, seine Produkte teurer anbie-
ten müssen als der Mitbewerber.
Da die Gefangenendilemmasituation nicht nur auf den Bereich des wirt-
schaftlichen Handelns beschränkt ist, sondern alle Bereiche des menschli-
chen Handelns betrifft, in denen Eigeninteressen verschiedener Akteure
aufeinander treffen, konzipiert Homann die Theorie der Wirtschaftsethik
zugleich als allgemeine Gesellschaftstheorie. Ziel ist es, die Rahmenordnung
und die Institutionen so zu gestalten, dass diese bereits die Moral enthalten
Wirtschaftsethik 185
und zugleich zum gegenseitigen Vorteil sind, damit sie auch wirklich durch-
setzbar, im Fachbegriff „implementierbar“ sind. Pies (2006, 270) nennt die
Auflösung dieses Konflikts von Eigeninteresse und Moral die orthogonale
Positionierung, eine Veränderung der Denkrichtung um 90 Grad. Auf diese
Weise können dilemmatische Strukturen (vgl. dazu auch in einem weiteren
Kontext 7.1) aufgebrochen oder für die Implementierung der grundlegen-
den Werte und Normen in Dienst genommen werden. Dies kann gelingen,
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wenn man diese Strukturen durch andere Anreize über die Regelebene so
umbaut, dass es sich lohnt, grundlegende Werte und Normen zu befolgen.
Es kommt also nicht mehr darauf an, dass der Einzelne altruistisch (latei-
nisch: alter = der andere), also auf den anderen bezogen und damit uneingen-
nützig handelt, er darf vielmehr ganz auf seinen eigenen Vorteil bedacht
sein. Wenn die institutionellen Arrangements stimmen, so wird sein Eigen-
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Strafen ausspricht und auch durchsetzen kann, dass sich Korruption nicht
mehr lohnt, wird eine individuelle Person oder ein Unternehmen bereits
aus Eigeninteresse nicht mehr korrumpieren und sich auch nicht mehr
korrumpieren lassen. Dieser Ansatz mündet darum in dem Ergebnis: „Der
systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung“
(Homann/Blome-Drees 1992, 35, kursiv im Original).��������������������
Ethik wird mit öko-
nomischer Methode betrieben. Ulrich (2008, 135) nennt diese Wirtschafts
ethik darum eine „funktionalistische Wirtschaftsethik“.
Beide Ansätze enthalten sehr wichtige Einsichten für die hier vertretene
Wirtschaftsethik, die vom Prinzip der Menschenwürde ausgeht. Nach Ho-
mann ist die herausragende Bedeutung des Eigeninteresses für wirtschafts
ethische Überlegungen ernst zu nehmen. Die Regelebene ist darum von
wesentlicher Bedeutung bezüglich der als homines oeconomici zu modellie-
renden Wirtschaftssubjekte. Von Ulrich ist jedoch zu lernen, dass Ethik
nicht ausschließlich mit ökonomischer Methode zu betreiben ist, sondern
gerade die Regelebene einer transökonomischen, ethischen Grundlagen
reflexion bedarf. Im Unterschied zu Ulrich ist diese Angewandte Ethik
allerdings nicht als Produkt allein rationaler und diskursiver Vernunft zu
verstehen, sondern basiert, wie im zweiten Teil dieses Buchs ausgeführt, auf
grundlegenden Menschheitserfahrungen.
Der systematische Ort der Moral ist eben nicht nur die Regelebene, wel-
che die als homines oeconomici modellierte Wirtschaftssubjekte „domesti-
ziert“, sondern ebenfalls die Handlungsebene: Jeder Kapitaleigner und Ar-
186 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Die hier dargestellten Ansätze lassen sich nach dem Gesagten in folgen-
der Weise veranschaulichen (vgl. die teils wörtlich übernommene Übersicht
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Abb. 22 Wirtschaftsethische Theorien [Quelle: nach Ulrich 2008, 135 für die
ersten beiden Ansätze]
Wirtschaftsethik 187
chend handeln.
Prinzip 2: Sie sollen sicherstellen, dass ihr Unternehmen sich von Partnern
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Eine weitere wesentliche Aufgabe stellt die faire Entlohnung dar. Auch hier
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Teil bis zu 400 explodiert“ (Goeudevert 2008, 158). Diese Praxis stellt, ob-
wohl sie keine geltenden Regeln bricht, dennoch zumindest in einigen der
Fälle einen Missbrauch von Handlungsmöglichkeiten dar und verletzt die
soziale Verantwortung. Darum ist eine faire Entlohnung nötig, die, wie die
Beispiele zeigen, wohl auf der Regelebene erzwungen werden muss. Aller-
dings bleibt dabei ein Streitpunkt, wann eine Entlohnung fair ist und wie in
diesem Zusammenhang Erfolg lohnmäßig abgebildet werden kann. Sollte
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technik exemplifizieren.
53 http://www.gesundheit-report.de/ernaehrung/artikel635/gentechnik-genmais-
und-monsanto.html (eingesehen am 25.04.2009).
Wirtschaftsethik 193
ethisch sehr wünschenswertes Ziel formuliert: „Ziel von Monsanto ist es,
unter gleichzeitiger Schonung natürlicher Ressourcen, die Erträge und die
Qualität der Agrarproduktion deutlich zu verbessern. Von Monsanto entge-
gen der eigenen Darstellung entwickelte Produkte werden somit eine wich-
tige Rolle bei der Bewältigung von globalen Herausforderungen in Berei-
chen wie Ernährung, nachwachsende Rohstoffe, Energie, Gesundheit und
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Umwelt spielen.“55 Wenn Monsanto als Ziel hat, ein Monopol aufzubauen
und damit logischerweise Abhängigkeiten schafft, so wäre dieses Ziel ei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
gentlich nur Zweck zu dem eigentlichen Ziel, möglichst viel Gewinn ma-
chen zu können. Kann von Monsanto verlangt werden, eine solche Zielset-
zung zu korrigieren? Ist es nicht aus der Dynamik des Wirtschaftens heraus
für jedes Unternehmen das Ideal, eine Art Monopolstellung zu erreichen,
um so den Gewinn maximieren zu können? Freilich ist dies in den meisten
Fällen nicht möglich. Auch gibt es bestimmte Regeln wie beispielsweise das
Kartellrecht der EU, die Monopol- und Oligopolbildung verhindern sollen.
Doch wäre es ein ethischer Kategorienfehler, von einem Unternehmen zu
verlangen, dass es ohne äußere Vorgaben darauf verzichtet, seine geschäft
liche Position möglichst zu optimieren.
Die eigentliche wirtschaftsethische Problematik liegt an dieser Stelle da-
her auf der Regelebene. Der derzeitige Ordnungsrahmen befördert gerade
im Bereich der Herstellung gentechnisch veränderter Pflanzen diese Mono-
54 In diesem Report wird diese Technik auch mit Selbsttötungen von indischen
Bauern in Verbindung gebracht: „Dieses Verfahren hat dazu geführt, dass unter
indischen Mais- und Baumwollbauern wegen stark und ständig steigender Saat-
gutpreise und vieler Missernten die Suizidrate stark angestiegen ist.“ Doch zeigen
unabhängige Untersuchungen (vgl. Gruère u. a. 2008) sowie das fast exponentielle
Wachstum im Anbau von Bt-Cotton in Indien, dass auf die ganze Zeitspanne
gerechnet, diese Behauptung nicht aufrecht gehalten werden kann (vgl. dazu aus-
führlich die medienethischen Überlegungen 15.3).
55 http://www.monsanto.de/Monsanto/uebermonsanto.php
(eingesehen am 25.04.2009).
194 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
polisierung. Für die meisten Unternehmen lohnt es sich nämlich nicht, diese
Technologie weiter zu entwickeln, weil die Widerstände und bürokratischen
Hemmnisse insbesondere in einigen europäischen Staaten einschließlich
Deutschlands so groß sind. Nur wenige Unternehmen wie Monsanto haben
die Möglichkeit, gewinnbringend in diesem Feld weiter zu wirken. Dabei
kommt Monsanto wie auch anderen global agierenden Unternehmen entge-
gen, dass verschiedene Staaten unterschiedliche Vorschriften erlassen. Klei-
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Aussaat im Jahr 2009, indem sie neue Sicherheitsbedenken ins Feld führte.
Für Monsanto, das diese Sorte weltweit für den Anbau verkauft, ist der deut-
sche Markt nicht wegen des Umsatzes, sondern nur aufgrund der strategi-
schen Bedeutung wichtig. So geht es in der Auseinandersetzung mit der
Bundesrepublik Deutschland um Rechtssicherheit, weswegen Monsanto ge-
gen diesen Entscheid klagen wird. Das Beispiel Deutschland könnte sonst
Schule machen.
Auf politischer Seite wurde zudem übersehen, was von entscheidender
Bedeutung ist, nämlich dass dieses Verhalten die Monopolisierung voran-
treibt. Für kleinere Unternehmen können ähnliche politische Entscheidun-
gen bereits das Aus bedeuten, weil die Investitionen in eine solche Pflanze
im Falle derartiger Entscheidungen sich nicht auszahlen und ein Unterneh-
men, das vor allem auf den Verkauf des Saatguts einer solchen Pflanze
gesetzt hätte, den Ruin befürchten müsste. Aus der Pharmaindustrie ist be-
kannt, dass die Nichtzulassung neuer Medikamente für bestimmte Unter-
nehmen den finanziellen Ruin bedeuten kann, weil die Investitionen in die
Entwicklung so teuer sind.
Will man also der Gefahr einer Monopolisierung im Bereich der Grünen
Gentechnik entgehen, so bestünde die eigentliche ordnungspolitische Auf-
gabe über sicherheitsrelevante Fragen hinaus darin, einen funktionierenden
Wettbewerb zu sichern. Im anderen Fall wird man de facto daran mitwirken,
dass beispielsweise Monsanto eine Machtfülle bekommen könnte, die das
Unternehmen in die Lage versetzt, auf die Ernährungslage mancher Völker
Wirtschaftsethik 195
12 Umweltethik
menschlichen Lebewesen ein eigener Wert zukommt und um die Frage, wie
die Natur als Lebensgrundlage für uns Menschen geschützt werden kann.56
56 Die ethische Reflexion auf das Verhältnis des Menschen zur belebten Natur wird
manchmal auch als Bioethik bezeichnet. Als Van Rensselaer Potter 1970 mit sei-
nem Artikel Bioethics: the Science of Survival diesen Begriff in die wissenschaftliche
Diskussion einführte, ging es ihm um für alle Menschen akzeptable Lebensbe-
dingungen und ein „gutes“ Überleben („survival“) aller. Bioethik in diesem Sinn
war also in erster Linie Umweltethik. Doch fast zeitgleich etablierte sich auch ein
zweiter Gebrauch des Begriffs „Bioethik“, der unter dem Titel „Bioethik“ medizin
ethische und mit der Medizinethik verbundene Fragestellungen verhandelte und
sich in dieser Bedeutung auch weitgehend durchgesetzt hat und auch hier in dieser
Bedeutung weitergeführt wird (vgl. 13.1).
Umweltethik 197
Die unbelebte Natur ist nämlich sachhaft. Ihr kann gar kein Schaden zuge-
fügt werden. Dennoch ist die Zerstörung, sogar der einfache Wunsch zur
Zerstörung des Schönen in der Natur nicht vernunftgemäß, sondern wider-
spricht der Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Der Mensch, der aus
Pflicht handelt, handelt absichtslos im Bezug auf sein Eigeninteresse. Ge-
rade der Drang, etwas Schönes, wenn auch Unbelebtes zu zerstören, droht
zugleich im Menschen diese Absichtslosigkeit zu beschädigen, denn ein
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Hang zum bloßen Zerstören ist nach Kant immer ichbezogen und gerade
nicht mit dem eigentlichen guten Willen verbindbar. Noch mehr gilt dies
für den grausamen Umgang mit Tieren, die ebenfalls nicht um ihrer selbst
willen, sondern um des guten Willens willen zu berücksichtigen sind (vgl.
5.3.3).
Im 19. Jahrhundert kommt immer mehr das umweltethische Bewusst-
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sein im Hinblick auf die Grenzen des Wachstums auf. So betont beispiels-
weise Mill (1965 [1848/1871]) bereits diese Grenzen und hält es für ausge-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Gesichtspunkte
konkrete Interessenantago- Vertragstheorie Hypothetischer
nismus Vertrag
Geteilte Ziele der Kommunitarismus Soziale
Gemeinschaft, Einbettung in
Gemeinschaft eine konkrete
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gung usw.
Eine zentrale Herausforderung stellt in diesem Kontext das Bevölke-
rungswachstum in Verbindung mit wachsenden Ansprüchen der Menschen
dar: Immer mehr Menschen benötigen dabei immer mehr Ressourcen. Ge-
rade an dieser Herausforderung kann man sehr gut nachvollziehen, warum
nicht alles, was für einzelne Familien oder Gruppen oder auch Völker gut ist,
insgesamt wünschenswerte Folgen haben muss. Selbst wenn jede Frau
durchschnittlich nur drei Kinder hätte, die wiederum ins Erwachsenenalter
kommen und sich fortpflanzen würden, wüchse die Erdbevölkerung mit je-
der Generation um ein Drittel an. Man kann sich ausmalen, wie damit die
Tragfähigkeit der Erde notwendigerweise an eine Grenze kommen muss.
Ein weiteres umweltethisches Problem stellt sich in der ökonomischen
Dimension der Nachhaltigkeit. Unternehmen haben oft einen Anreiz, um-
weltschädliches Verhalten zu externalisieren, wenn dilemmatische Struktu-
ren gegeben sind, die dazu verführen, aus Eigeninteresse (national, unter-
nehmerisch, persönlich) in dieser Weise zu handeln. Das Beispiel des
Klimaschutzes hatte im Rahmen der Behandlung globaler Herausforderun-
gen gezeigt (vgl. 6.1.3), wie schwierig die Umsetzung dafür ist. Dies lässt
sich modellhaft vereinfacht (nur zwei Unternehmen U1 und U2 und nur die
beiden Alternativen A1 billigere, aber unsichere und umweltschädigende
Autos herzustellen, und A2 die besseren teureren Wagen zu produzieren)
zeigen. Gehen wir davon aus, dass sich für die Unternehmen letztlich nur
der Wettbewerbsvorteil rechnet, dann werden sie sich ohne Rahmenbedin-
200 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
lungsmatrix an:
U2 mit A1 U2 mit A2
U1 mit A1 0;0 3;-1
U1 mit A2 -1;3 1;1
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Ebenso wie im Fall des Klimaschutzes kann eine globale Steuerung die-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
U2 mit A1 U2 mit A2
U1 mit A1 0-2;0-2 3-2;-1+2
U1 mit A2 -1+2;3-2 1+2;1+2
12.2.2 Tierethik
1. das Töten von Tieren, die das Leben von Menschen bedrohen oder
durch deren Töten Menschen vor dem Verhungern oder Erfrieren
gerettet werden können;
2. das Töten von Tieren zu Versuchszwecken, wenn alternativ nur mit
Menschen derartige Versuche gemacht werden könnten;
3. das Töten von Tieren, um Nahrung zu gewinnen, obwohl auch
nicht-tierische Nahrung ausreichend verfügbar ist;
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tige Vorbemerkung zu machen: Das Töten von Tieren kann bei Wildtieren
so weit gehen, dass dadurch nicht nur einzelne Individuen einer Art, sondern
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
die ganze Art ausgelöscht wird. Eine Tierart aussterben zu lassen ist umwelt-
ethisch nicht zu rechtfertigen, denn damit würde eine ganze Art zu einem
für uns Menschen nicht notwendigen Zweck ausgelöscht – vom Extremfall,
dass nur dadurch das Leben von Menschen gerettet werden können, einmal
abgesehen. Dies steht im Widerspruch zur Sozialverträglichkeitsregel und
zur Reversibilitätsregel (vgl. 6.4). So werden künftige Generationen der
Möglichkeit beraubt, derartige Tierarten zu erleben, weil sie einen derarti-
gen Eingriff in die Natur nicht mehr umkehren können.
Umgekehrt sind im Rahmen des hier vertretenen Ansatzes die ersten
beiden aufgeführten Fälle im Hinblick auf das Töten einzelner Tiere unpro-
blematisch. Das Lebensrecht des Menschen ist wichtiger als die Würde von
Tieren. Schwieriger ist bereits der Fall, bei dem Tiere zur Nahrungs- und
Kleidungsgewinnung getötet werden. Warum sollte in einer Güterabwägung
das Interesse des Menschen am Fleischverzehr oder Pelzen über das Über-
lebensempfinden des Tieres gestellt werden? Hier entscheidet sich die Frage,
ob das subjektiv empfundene Wohlergehen von Menschen über das Überle-
bensempfinden der betroffenen Tiere zu stellen ist. Noch problematischer
sind die letzten beiden Fälle. Im Unterschied zu Medikamenten sind Kos-
metika nicht wirklich für die Gesundheit des Menschen nötig. Man benö-
tigt also einen noch weitergehenderen Begriff menschlichen Wohlergehens,
um zu rechtfertigen, warum Tiere bei derartigen Versuchen ihr Leben ver-
lieren müssen. Das Töten von Tieren zum Spaß enthält beispielsweise bei
Fuchsjagden als ein konstitutives Element den Faktor, dass das betroffene
202 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
57 Einer kritischen Note bedarf der Punkt 4), denn es ist nicht ganz klar, was „nor-
male Verhaltensweisen“ sind und unter welchen Bedingungen sie erhoben werden
sollen.
Umweltethik 203
12.2.3 Pflanzenethik
Tierschutz und Tierethik sind seit längerem vertraute Begriffe in der bioethi-
schen Diskussion außermenschlicher Natur. Dagegen sind die Pflanzen erst in
jüngerer Zeit zum ausdrücklichen Thema ethischer Betrachtungen geworden.
Da viele Überlegungen die im Rahmen der Tierethik entwickelt wurden, auch
im Hinblick auf Pflanzen von Bedeutung sind, sind Pflanzen in ihrem Eigen-
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sowie
4. die Herstellung transgener Pflanzen, bei denen „artfremde“ Gensequen-
zen von Arten eingebaut wurden, die man nicht kreuzen kann, z. B. in
den Bt-Mais Gensequenzen des Bacillus thuringiensis.
Eine Lösung könnte darin bestehen, die Würde der Pflanzen als gat-
tungsbezogen zu verstehen. Eine andere Lösung bestünde darin, die einzel-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
verfahren, smart breeding oder auch die Herstellung cisgener Pflanzen oder
die Herstellung transgener Pflanzen ablehnen sollte oder nicht.
Jedoch lässt sich noch ein weiteres Argument gegen gentechnische Ein-
griffe bei Pflanzen finden, das ebenso für Tier und Mensch Anwendung
finden kann: Wer davon überzeugt ist, dass die Natur als Schöpfung norma-
tiv in der Weise „aufgeladen“ ist, dass sie das Einfügen artfremder Gene aus
prinzipiell nicht kreuzbaren Lebewesen verbietet, kann mit diesem Argu-
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Während umweltethische Debatten lange Zeit in der Ethik kaum eine Rolle
spielten, gehören die in der Bioethik des Menschen verhandelten Themen,
insbesondere das Feld menschlicher Sexualität und der Bereich der Medizin,
seit den Anfängen zu den Feldern ethischer Reflexion. Dies verwundert
nicht, denn wir Menschen sind zutiefst von unserer Sexualität sowie von
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handeln.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Ein wesentlicher Teil der bioethischen Fragen wurde bereits seit Jahrtausen-
den verhandelt. Auch wenn dabei der Hippokratische Eid nicht eigentlich
Ethik ist, sondern vielmehr das Ethos einer bedeutenden „Ärztegruppe“, die
mit dem Namen des Arztes Hippokrates (ca. 460–385/351) in Griechen-
land verbunden ist, bildet dieser Eid doch bis heute einen wichtigen Hinter-
grund zumindest für medizinethische Fragen.58
58 Die Angaben zu seinem Tod schwanken um 24 Jahre (vgl. Weisser 1991, 11). Der
Eid wird in der Übersetzung von J. C. Wilmanns (2000, 203f ) zitiert.
208 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
übrige Belehrung werde ich meinen Söhnen und denen meines Lehrers erteilen
wie auch den Schülern, die nach ärztlichem Grundsatz sich mit der schriftli-
chen Verpflichtung gebunden und den Eid geleistet haben, sonst aber
niemandem.
§ 3 Meine Verordnungen werde ich zum Nutzen der Patienten treffen, nach
meinem Vermögen und Urteil; Schädigungen und Unrecht aber werde ich von
ihnen abwehren.
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§ 4 Ich werde keinesfalls jemandem auf Verlangen hin ein tödliches Mittel
geben, auch nicht einen entsprechenden Rat erteilen. In gleicher Weise werde
ich auch nicht einer Frau ein fruchtzerstörendes Zäpfchen geben.
§ 5 Redlich und rein werde ich mein Leben und meine (Heil)Kunst bewahren.
§ 6 Ich werde auch keinesfalls Steinleidende schneiden, sondern das den
Männern überlassen, die diese Tätigkeit ausüben.
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§ 7 In alle Häuser, in die ich eintreten werde, werde ich zum Nutzen der
Patienten eintreten und mich dabei von jedem vorsätzlichen Unrecht und jeder
Schädigung fernhalten, insbesondere von sexuellen Handlungen an Körpern
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Doch nicht nur Ärzte haben sich bioethischen Fragen angenommen.59 Bei
den großen beiden antiken Philosophen Platon und Aristoteles finden sich
wesentliche bioethische Themen. So schildert beispielsweise Platon im Sym-
posion homosexuelle Beziehungen, sogar zwischen Erwachsenen und Ju-
gendlichen, und versteht sie als die Höchstform menschlichen Zusammen-
ner beständigen Leitung ihn zur Gesundheit zu führen und vollständig wie-
derherzustellen“ (Nomoi 720b–d).
Aristoteles, der selbst Arzt war, unterscheidet drei Typen von Ärzten:
„Arzt ist erstens der Ausübende, zweitens der Anordnende und drittens der
in der Kunst Gebildete; denn solche gibt es in fast allen Künsten. Das Urteil
trauen wir den so Gebildeten ebenso zu wie dem Fachmann“ (Pol 1281a1-
6). Im siebten Buch der Politika behandelt er ausführlich sexualethische The-
men. So argumentiert er beispielsweise dafür, Frauen mit 18 Jahren, Männer
mit 37 Jahren zu verheiraten. „Denn dann sind sie körperlich auf der Höhe,
und die Fruchtbarkeit hört später für beide Teile zur selben Zeit auf“ (Pol
1335a30f ). Auch befürwortet er, hier Platon folgend, eine staatliche Gebur-
tenkontrolle und argumentiert ähnlich wie dieser sogar für eine Kindsaus-
setzung bei behinderten Kindern. Die staatliche Geburtenkontrolle darf je-
doch nicht erst zu einem so späten Zeitpunkt erfolgen. Vielmehr gilt: „[…]
wenn dagegen die Zahl der Kinder zu groß wird, so verbietet zwar die Ord-
nung der Sitten, irgendein Geborenes auszusetzen; dennoch soll die Zahl
der Kinder eine Grenze haben, und wenn ein Kind durch Vereinigung über
diese Grenze hinaus entsteht, so soll man es entfernen, bevor es Wahrneh-
mung und Leben erhalten hat. Denn was erlaubt ist, soll sich nach dem
Vorhandensein von Wahrnehmung und Leben richten“ (Pol 1336a19–26).
Die christliche Ethik ist seit ihren Anfängen in sexualethischen Dingen
deutlich strenger als die antike Philosophie. Homosexualität und jede Form
außerehelicher geschlechtlicher Beziehungen werden ebenso als wider
210 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
lange noch kein beseelter Mensch vorhanden ist, gilt die Abtreibung zwar
als ein schweres Vergehen gegen die menschliche Natur, aber erst ab dem
Zeitpunkt der Geistbeseelung gilt sie als Tötung eines Menschen (lateinisch:
homicida = Tötung eines Menschen): „Die aber Gifte der Sterilität verwenden,
sind nicht Gatten, sondern Unzüchtige. Obwohl diese Sünde schwerwiegend
ist und unter die Übeltaten gezählt werden muss und gegen die Natur ist,
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weil sogar die wilden Tiere ihre Nachkommen erwarten, ist es dennoch we-
niger als eine Tötung, weil die Konzeption noch auf eine andere Weise ver-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
hindert werden konnte. Und es ist auch [eine Frühabtreibung] nicht als eine
solche Irregularität [Tötung] zu beurteilen, außer wenn an dem schon for-
mierten Fötus eine Abtreibung vorgenommen wird; denn die Samen werden
allmählich formiert usw.“ (Super Sent., lib. 4 d. 31 q. 2 a. 3 expos., eigene
Übersetzung). Die Selbsttötung und auch die aktive Tötung am Lebensende
gelten ihm ebenfalls als ethisch unzulässig. Diese Position vertreten auch
weitgehend die Reformatoren, obwohl bereits in der Renaissance erstmals
christliche Denker Überlegungen zur aktiven Sterbehilfe, die Einwilligung
der Patienten vorausgesetzt, als diskussionswürdig zulassen, so beispielsweise
der später heiliggesprochene Thomas Morus (1516), der von einem freilich
heidnischen Land „Nirgendwo“ erzählen lässt, in dem dieses ärztliche Praxis
ist.
Auch bei den beiden bedeutenden Philosophen des 18. Jahrhunderts
Hume und Kant finden sich bioethisch relevante Überlegungen. Besonders
bedeutsam ist hierbei gerade die im Kontext von unheilbaren Krankheiten
so wichtige Frage, ob in solchen Fällen eine Selbsttötung zulässig sein
könnte. Dies befürwortet Hume, während Kant jede Form der Selbsttötung
60 Vgl. Römerbrief 1,26f: „Darum hat sie Gott dahingegeben in schändlichen Lei-
denschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem
widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr
mit der Frau verlassen […].“
Bioethik des Menschen 211
61 Vgl. im Folgenden Callahan (2004 [1995]). Es geht also nicht um eine klinische
Bioethik oder eine Bioethik im Sinn einer politischen Bioethik, nicht um kultu-
relle oder feministische Bioethik, man denke nur an die Care Ethics von Gilligan,
nicht um eine narrative Bioethik usw., obwohl diese Ethiken wichtige weitere Ein-
sichten liefern.
212 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Gesagte).
Wird dagegen die Kasuistik nur als Hilfsmittel im Rahmen einer größe-
ren Theorie, z. B. einer naturrechtlich konzipierten Bioethik gebraucht, dann
kann man eigentlich nicht von einem kasuistischen Zugang sprechen. Viel-
mehr sind in diesem Fall naturrechtliche Überlegungen zur Beantwortung
bioethischer Fragen von zentraler Bedeutung, wobei es auch hier eine große
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1996, 143–232).
Die derzeit wohl prominentesten drei bioethischen Ansätze, die es zu-
mindest kurz darzustellen gilt, sind:
Die große Stärke utilitaristischer Bioethiken besteht darin, dass sie für Kon-
fliktfälle Lösungen angeben, für die andere Ansätze nur noch Dilemmata
konstatieren. Dennoch kommen diese Bioethiken, zumindest in bestimmten
Spielarten, aufgrund des Grundprinzips der Glücksmaximierung der größt-
möglichen Zahl (nicht exklusiv im Hinblick auf Menschen formuliert) zu
bioethischen Konsequenzen, die nicht mit den hier als gemeinsames Band
ethischer Überzeugungen angenommenen Prinzipien von Menschenwürde,
Menschenrechten, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit vereinbar sind. So
kann dieser Ansatz – konsequent durchgeführt – rechtfertigen, warum ein
das Leben bedrohendes Experiment, um Therapien zu entwickeln, im Ent-
scheidungsfall eher an einem geistig schwerstbehinderten Waisenkind
durchzuführen ist als an einem gesunden Schwein, da das Schwein höhere
Bioethik des Menschen 213
1. Patientenselbstbestimmung64,
2. Nichtschadensprinzip,
3. Fürsorgeprinzip und
4. Gerechtigkeitsprinzip
lassen sich nämlich sehr gut mit dem hier vertretenen Norm- und Wertege-
rüst vereinbaren. Diese amerikanische Medizinethik führte in den siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Veränderung im Verständnis
der Einwilligung ein. Jetzt geht es um eine wohlinformierte Einwilligung, im
Fachbegriff: den informed consent (englisch: informed consent = informierte
Einwilligung). Der Patient wird als selbstbestimmt verstanden. Er ist die
13.2.1 Sexualethik
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Für die Sexualethik hat das Prinzip der Selbstbestimmung und das Nicht-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
gangs mit dem eigenen Körper nicht zuzulassen. Das Grundrecht der kör-
perlichen Unversehrtheit wird damit zu einer Pflicht, diese zu wahren.
Das Nichtschädigungs- und Fürsorgeprinzip verletzt, wer Kinder in die
Welt setzt, aber diese dann ihrem Schicksal überlässt. Im schlimmsten Fall
setzt er sie damit dem Hungertod aus. Dies dürfte auch Kant im Sinn gehabt
haben, als er über die elterliche Aufgabe schrieb: „Sie können ihr Kind nicht
gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit be-
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gabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem
Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein
Weltbürger in einen Zustand herüberzogen, der ihnen nun auch nach
Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann“ (Kant 1968 [1797], 280f ).
Vor dem Hintergrund des Prinzips der Nachhaltigkeit gibt es eine wei-
tere Verantwortung. Wie umweltethische Überlegungen bereits gezeigt ha-
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gefährdet wäre, in dem sich alle Menschen Kinder versagen würden, sei es,
dass sie sich sexueller Handlungen enthielten, sei es, dass sie verhüten wür-
den. Selbst wenn dies mit den ehrenwertesten Motiven geschehen würde,
wäre hier das Prinzip der Nachhaltigkeit in gravierendster Weise verletzt.
Solange allerdings genügend Menschen die Erde bevölkern und damit die
Permanenz menschlichen Lebens auf dieser Erde gesichert ist,65 haben wir
zwar als Menschengemeinschaft eine gemeinsame „Pflicht zum Dasein und
Sosein einer Nachkommenschaft überhaupt“ ( Jonas 2003 [1979], 86), aber
wir haben als einzelne nicht die Verpflichtung zu eigenen Kindern. Darum
sollten alle Menschen ihre Sexualität in einer Form leben, die dem mensch-
lichen Leben und seiner Permanenz hier auf Erden dient, ohne aber zu einer
bestimmten Form sexuellen Verhaltens gezwungen zu sein. Enthaltsamkeit
ist dabei ebenfalls eine Form sexuellen Verhaltens, denn der enthaltsame
Mensch bleibt in all seinen Lebensvollzügen Mann bzw. Frau. Wer als
Nonne oder Mönch lebt, beispielsweise um so besser für andere Menschen
da sein zu können, und darin Erfüllung findet, hat damit seine Lebensform
gefunden. Er dient indirekt der Permanenz menschlichen Lebens auf Erden.
Dies gilt auch für alle, die zwar keine Nachkommen haben, aber durch Ge-
schlechtsverkehr die partnerschaftliche Beziehung stärken.
Während über das hier Gesagte eine weitgehende sexualethische Einig-
keit herrscht, gibt es bestimmte Formen sexuellen Verhaltens, die ethische
Konflikte hervorrufen. Grundsätzlich umstritten ist, ob Menschen nur zum
Vergnügen sexuell aktiv sein dürfen, wenn sie damit niemandem schaden.
Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob man es überhaupt für
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möglich hält, dass dies ohne einen persönlichen Schaden möglich ist oder
ob der Mensch auf diese Weise moralisch anfängt „abzurutschen“. Alles
entscheidet sich dabei daran, ob man mit der Menschenwürde bestimmte
Menschenpflichten verbindet oder nicht. Für Kant beispielsweise ist Selbst-
befriedigung „Schändung (nicht bloß Abwürdigung) der Menschheit in der
eigenen Person“ (Kant 1968 [1797], 424). Sie ist nach Kant eine noch
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sich selbst“ ist. Diese Naturwidrigkeit bleibt nach Kant im Prinzip auch
unter Eheleuten erhalten, wenn kein Kind zeugbar ist, weil der Geschlechts-
akt dann nur der „tierischen Lust“ dient. Dagegen vertreten andere Ethiker,
die vom Prinzip der Menschenwürde ausgehen und die vier Prinzipien von
Beauchamp und Childress teilen, die Ansicht, dass auch eine Ausübung
der Sexualität zum reinen Vergnügen dann gerechtfertigt ist, solange nie-
mandem dadurch ein Schaden entsteht. Die selbstbezogene Form der
Sexualität bei der Selbstbefriedigung ist dabei moralisch indifferent, so-
lange der Mensch sich dabei nicht in sich selbst verschließt. Was Eheleute
angeht, die keine Kinder zeugen können oder wollen, aber miteinander
Geschlechtsverkehr haben, kann sogar auf indirekte Weise die Permanenz
menschlichen Lebens gefördert werden, denn sie können sich dadurch
leiblich Liebe schenken. Von daher wäre auch die Verhütung gerechtfertigt.
Die Abtreibungsfrage entscheidet sich daran, ob man bereits dem frühen
Embryo mit der Befruchtung Menschenwürde zuerkennt, dann wäre
auch die „Pille danach“ und die Spirale verboten, ob man dies erst mit der
Nidation tut, dann wäre jede Form der Abtreibung nach Feststellung
der klinischen Schwangerschaft unzulässig außer im Fall einer schweren
Bedrohung für Leben oder Gesundheit der Mutter, oder ob man erst zu
einem späteren Zeitpunkt davon ausgeht, dass das Ungeborene ein Mensch
ist, dem Menschenwürde zukommt. Dann wäre eine Abtreibung bis zu
diesem Zeitpunkt möglicherweise vertretbar, abhängig von einer Güterab-
wägung.
Bioethik des Menschen 217
Ein ganz eigenes Konfliktfeld stellt die Frage nach der Zulässigkeit homo-
sexueller Handlungen dar. Für die einen sind sie eine legitime mit dem
Selbstbestimmungsrecht verbundene Form sexuellen Verhaltens unter kon-
sentierenden Erwachsenen, das keinerlei Diskriminierung der betreffenden
Personen erlaubt. Andere dagegen sehen darin einen Verstoß gegen die
menschliche Würde, weil sexuelle Akte nur in einer Ehe zwischen Mann
und Frau naturgemäß seien. Für sie stellt sich dann nur die Frage, ob dieses
Verhalten auch gesetzlich unter Strafe zu stellen ist (wie es beispielsweise
auch in Deutschland bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war)
oder zu tolerieren ist, wobei diese Toleranz bestimmte Formen der Diskri-
minierung zulassen würde. Eine Möglichkeit, diese Position zu bestreiten,
besteht darin, die Grundannahme, wonach nur sexuelle Akte zwischen ei-
nem Mann und einer Frau naturgemäß seien, zu bestreiten, denn bereits die
Kategorisierung „Mann“ und „Frau“ stellt eine Vereinfachung der biologi-
schen menschlichen Vielfalt dar.
Gendervielfalt dar. Es gibt Menschen mit nur 45 Chromosomen. Sie haben nur
ein X-Chromosom (Ullrich-Turner-Syndrom), andere Menschen haben 47 Chro-
mosomen, und zwar entweder drei X Chromosomen, dann sind sie phänoty-
pisch, d. h. in ihrem Aussehen meist unauffällig weiblich, oder zwei X und ein Y
Chromosom (sog. Klinefelter-Syndrom), dann sind sie zwar im Aussehen männ-
lich, aber unfruchtbar und oft mit einem femininen Einschlag (breites Becken,
Gynäkomastie, weiblicher Typ der Schambehaarung), oder ein X- und zwei Y-
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chen und den weiblichen Chromosomensatz. Auch gibt es nicht nur numerische
Aberrationen und den Fall der Chimärenbildung, sondern auch strukturelle Ver-
änderungen an den jeweiligen X- bzw. Y-Chromosomen. So zeigen beispiels-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
weise Menschen mit einer Deletion (lateinisch: delere = zerstören) des kurzen
Arms des X-Chromosoms viele Symptome wie ein Mensch mit nur 45 Chromo-
somen und einem einzigen X-Chromosom.66 Bei Menschen, die phänotypisch
wie Männer aussehen, aber einen weiblichen Chromosomensatz tragen, liegt
häufig eine Translokation der SRY-Region auf einem der beiden X-Chromoso-
men vor. Solche Menschen ähneln Menschen mit dem Klinefelter-Syndrom
(XXY) und sind immer unfruchtbar.
Aus der Fülle weiterer möglicher Fragestellungen soll hier nur noch ab-
schließend auf die Bedeutung der Treue in Partnerschaften eingegangen und
die Fragen behandelt werden, ob diese nur auf zwei Menschen beschränkt
werden sollte und inwieweit es überhaupt in die Kompetenz des Staates fällt,
in dieser Hinsicht Bestimmungen zu erlassen.
Wenn Menschen in freier Entscheidung einander versprechen, sich ge-
genseitig ein Leben lang treu sein zu wollen, beispielsweise im Rahmen ei-
ner Eheschließung, dann hat dieses Versprechen wie alle Versprechen
grundsätzlich einen bindenden Charakter. Wer dieses Versprechen heimlich
bricht, verletzt nicht nur das Versprechen selbst als eine Institution – wel-
chen Sinn haben Versprechen, wenn sie aus bestimmten Gründen gebro-
chen werden –, sondern missbraucht auch das in ihn gesetzte Vertrauen des
Partners. Diese Missachtung schädigt so den Partner und ist darum nach
den hier zugrunde gelegten Prinzipien nicht zulässig. Viel schwieriger ge-
staltet es sich, wenn ein Partner merkt, dass ihn das gegebene Versprechen
überfordert und er dies offen mit dem Partner anspricht. In diesem Fall kann
die Folge beispielsweise eine Scheidung der Ehe sein, manchmal gibt es an-
dere Arrangements zwischen den Eheleuten. Haben die Partner Kinder,
kommt eine weitere Dimension ins Spiel. Scheidungen und Ehekrisen sind
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gamos = Ehe), die Ehe mit mehr als einem Partner, zu verbieten. So erlaubt
der Islam die Ehe zwischen einem Mann und mehreren Frauen. Man benö-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
13.2.2 Medizinethik
Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
Im Gesundheitswesen ist eine einzelstaatliche Rahmenordnung nicht zu-
reichend, obwohl dies derzeit gängige Praxis ist. Dies zeigt sehr illustrativ
die folgende Grafik zu Gesundheitsausgaben einzelner Länder pro Person
im Jahr 200667:
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Land
absoluten Zahlen inlandsprodukt
Kongo 18 US $ 4,3 %
67 Dies sind die Angaben der WHO, wie sie im Juni 2009 verfügbar waren. Ich
möchte darauf hinweisen, dass ich aufgrund meines medizinethischen Schwer-
punkts im Folgenden verstärkt auf meine eigenen Forschungsarbeiten (s. Litera-
turverzeichnis) zurückgreife.
Bioethik des Menschen 221
den USA mehr als das Doppelte pro Person für Gesundheitsleistungen auf-
gewendet als in Deutschland.68 Hinter diesen Strukturen der jeweiligen Ge-
sundheitssysteme stecken lange geschichtliche Entwicklungen und kom-
plexe gesellschaftliche Entscheidungen, die oft nicht oder nicht zureichend
reflektiert sind. Auf jeden Fall zeigt sich hier ein globales Gerechtigkeitspro-
blem, präziser: ein globales Problem von Verteilungsgerechtigkeit gesund-
heitlicher Güter, das auch nicht dadurch entschärft wird, dass im Kongo
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der Vereinten Nationen ausdrücklich betont: „(1) Jeder hat das Recht auf
einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
68 Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass ca. 17 Prozent der US-Amerika-
ner das Risiko eingehen, sich nicht zu versichern. Dies sind vor allem diejenigen,
die einerseits „zu reich“ für eine staatliche Unterstützung im Rahmen von Medi-
caid sind, aber andererseits oft nicht genügend Geld haben, um beispielsweise ihr
Haus abzuzahlen, die Kinder aufs College schicken zu können und gleichzeitig
eine recht teure Versicherung zu bezahlen. Normalerweise übernimmt dies zwar
der Arbeitgeber, aber bei Selbständigen und bestimmten Arbeitsverhältnissen ist
dies nicht der Fall.
222 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Der erste Grundsatz hat fundamentale und steuernde Bedeutung für den
zweiten Grundsatz. Auch in Fragen der gesundheitlichen Versorgung gilt
nämlich, dass das Prinzip der Subsidiarität strikt zu berücksichtigen ist. Die
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Das Arzt-Patienten-Verhältnis
Unterstellt man kontrafaktisch, dass das jeweilige Gesundheitssystem die
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Konfliktfälle am Lebensanfang
Der klassische Konfliktfall am Lebensanfang ist die Abtreibungsfrage. Die
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lässt sich nach dem in 5.3.1 und 13.2.1 (u. a. zur Abtreibungsfrage) Ausge-
führten obiger Entscheidungsbaum (Abb. 25) aufstellen.
Konfliktfälle am Lebensende
Ein wesentlicher Konfliktfall am Lebensende ist die Frage einer Therapie-
zieländerung, wenn die Prognose für den Patienten infaust (lateinisch: infaus-
tus = ungünstig) ist. Dieser Konflikt ist solange ein rein medizinischer, so-
lange es darum geht abzuschätzen, ob bestimmte Maßnahmen wie eine
Herzoperation einem Patienten noch helfen oder nicht. Sie werden zu ei-
nem ethischen Konfliktfall, sobald diese Therapiezieländerung mit einer
Lebensverkürzung verbunden ist. Während nämlich die Sterbebegleitung
ethisch nicht kontrovers ist, gibt es eine weitreichende Kontroverse,
n ob Maßnahmen wie das Entfernen einer Magensonde bei (mutmaßli-
cher) Einwilligung des Patienten ethisch erlaubt sind, wenn Menschen
dadurch früher sterben, weil handlungstheoretisch umstritten ist, ob dies
immer eine aktive Handlung darstellt,
n ob als Nebenwirkung einer Behandlung, z. B. einer Schmerztherapie,
eine mögliche Lebenszeitverkürzung in Kauf genommen werden darf
(indirekte Sterbehilfe),
n ob sich Menschen am Lebensende selbst töten dürfen,
n ob ihnen dabei geholfen werden darf (Beihilfe zur Selbsttötung) oder
n ob sie sogar aktiv getötet werden dürfen, wenn sie dies wünschen
(aktive Sterbehilfe).
226 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Zur Entscheidung dieser Fragen ist es nicht kontrovers, dass Sterbende auf
jeden Fall eingewilligt haben müssen, um eine der genannten Maßnahmen
überhaupt zulässig zu machen, vielmehr ist ethisch umstritten, ob es eine mit
der Menschenwürde verbundene Pflicht zum Lebenserhalt gibt, sodass be-
reits das Entfernen einer Sonde oder das Abstellen einer Herz-Lungen-
Maschine als unerlaubte Lebensverkürzung zu gelten hat, selbst wenn der
Patient dies ausdrücklich beispielsweise in einer Patientenverfügung so
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entscheidet sich also alles an der Frage, ob ein solches Entfernen als Thera-
piezieländerung verstanden werden kann, die dem natürlichen Verlauf sei-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
nen Weg lässt, oder als eine Maßnahme, die den Tod des Patienten bewirkt.
Kein Zweifel besteht dagegen an der ethischen Zulässigkeit der indirek-
ten Sterbehilfe, wenn der Patient eingewilligt hat, sofern man Handlungen
mit einem doppelten Effekt annimmt. Der doppelte Effekt besteht dabei in
Folgendem: Der Arzt nimmt beispielsweise eine Schmerzbehandlung vor.
Direkt zielt er darauf ab, den Schmerz des Patienten zu lindern (angezielter
Effekt), indirekt kann diese Therapie aber den Tod beschleunigen, wenn das
Morphium dazu führt, dass die Atmung aussetzt (nicht intendierter Effekt).
Allerdings ist diese Form der Sterbehilfe in der Praxis nicht unproblema-
tisch, weil hier die Grenze zur aktiven Sterbehilfe fließend ist. Fortschritte in
der Palliativmedizin führen mittlerweile zu einer immer seltener werdenden
Quote von einer derartigen indirekten Sterbehilfe.
Was die Beihilfe zur Selbsttötung am Lebensende angeht, entscheidet
sich die Frage daran, ob man mit Kant (vgl. 13.1) oder ähnlich argumentie-
renden Positionen von einer mit der Menschenwürde verbunden Pflicht
zum Lebenserhalt ausgeht und deshalb die Selbsttötung und damit auch die
Beihilfe zur Selbsttötung für ethisch unzulässig erklärt oder ob man das mit
der Menschenwürde gegebene Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen be-
tont. Im letzten Fall kann man sich leicht gegen den Vorwurf verteidigen,
man müsse dann jede Selbsttötung, nicht nur diejenige am Lebensende zu-
lassen. Der fundamentale, ethisch relevante Unterschied besteht darin, dass
man davon ausgehen kann, dass das Selbstbestimmungsrecht am Lebens-
ende tatsächlich das genuine Selbstbestimmungsrecht des betreffenden
Bioethik des Menschen 227
„Regeln in unserem moralischen Regelwerk gegen das aktive oder passive Ver-
ursachen des Todes einer anderen Person sind nicht isolierte Fragmente. Sie
sind Fäden in einem Regelwerk, das Achtung vor menschlichem Leben unter-
stützt. Je mehr Fäden wir entfernen, umso schwächer wird das Regelwerk. Wenn
wir auf Verhaltensänderungen und Einstellungen unsere Aufmerksamkeit richten,
nicht nur auf Regeln, könnten Verschiebungen in der öffentlichen Handhabung
die allgemeine Einstellung zur Achtung vor dem Leben aufweichen. Verbote sind
oft sowohl instrumentell als auch symbolisch von Bedeutung, und ihre Aufhe-
bung kann eine Menge von Verhaltensweisen ebenso wie Praktiken und Restrik-
tionen ändern“ (Beauchamp/Childress 2009, 178).
Organtransplantationen
Ein weiteres ethisches Konfliktfeld stellt die Frage nach der Zulässigkeit von
Organtransplantationen dar. Wie unter 5.3.2 gezeigt, gibt es gute Gründe,
den Ganzhirntod als Tod des Menschen anzunehmen. Ethisch und juris-
tisch umstritten ist, in welcher Form die postmortale Organentnahme eine
Einwilligung des Spenders voraussetzt. Unproblematisch ist die „direkte“
Einwilligung beispielsweise mittels eines Organspendeausweises. Bei der er-
weiterten Einwilligungslösung, die gesetzlich in Deutschland gilt, werden bei
Verstorbenen ohne Organspendeausweis die Angehörigen oder Naheste-
henden nach dessen mutmaßlichen Willen befragt. Bei der Widerspruchsre-
gelung, die in Österreich gilt, werden dagegen Organe entnommen, sofern
der Verstorbene dem nicht zu Lebzeiten widersprochen hat.
228 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
vante Frage auf. Es gibt Menschen, die dringend Organe benötigen und
denen man helfen könnte, wenn genügend Organe vorhanden wären. Nach
dem mit dem Prinzip der Menschenwürde verbundenen Lebensrecht sollte
der Staat Wege suchen, möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen,
damit diese Menschen gerettet werden können. Menschliche Leichname
dagegen stehen nicht unter den Schutz der Menschenwürde in diesem ge-
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ist in diesem Sinn ein letztes Zeichen mitmenschlicher Solidarität, denn sie
rettet Leben oder verbessert die Lebensqualität.
Freilich besteht bei der Widerspruchsregelung die Grenze an dem Punkt,
wo die postmortale Würde und die damit verbundenen Persönlichkeits-
rechte, die freilich nicht mit der Menschenwürde im strikten Sinn verwech-
selt werden dürfen, verletzt werden könnten: Wenn ein Mensch zu Lebzei-
ten Widerspruch gegen eine Organentnahme nach dem Tod eingelegt hat,
so ist dies zu tolerieren. Unser Todesverständnis ist zu sehr durch unter-
schiedliche weltanschauliche und religiöse Sichtweisen mitbestimmt, als
dass sich eine postmortale Organgabe für alle verpflichtend machen ließe.
So ist in islamisch geprägten Gesellschaften die Bestattung eines möglichst
„intakten“ Körpers von großer Wichtigkeit, weswegen beispielsweise im
Iran sogar eine staatlich organisierte kommerzialisierte Nierenlebendspende
eingerichtet wurde: Es ist weniger anstößig, zu Lebzeiten seine Niere zu
verkaufen, als Nieren nach dem Tod zu entnehmen. Dazu kommt ein psy-
chologischer Vorbehalt: Manche Menschen würden erheblich an Lebens-
qualität einbüßen, wenn sie wüssten, dass ihrem Leichnam Organe entnom-
men werden. Sie hätten davor zu Lebzeiten große Ängste. Wieder andere
Menschen teilen das Ganzhirntodkriterium nicht und lehnen deshalb die
Organentnahme nach Feststellung des Ganzhirntods ab. Auch wenn, wie
gesagt, sehr gute Gründe, für dieses Kriterium sprechen, so sollte doch die
gegenteilige Überzeugung im individuellen Fall durch die Möglichkeit eines
Widerspruchs toleriert werden.
Bioethik des Menschen 229
ermöglichen. Zugleich könnte eine derartige Regelung die durch den Or-
ganmangel ausgelöste Diskussion um die kommerzialisierte Lebendorgan
gabe unnötig werden lassen und auch die Zahl von Organlebendspenden
minimieren, denn jede Lebendspende stellt ein gesundheitliches Risiko für
den Spender dar und widerspricht dem ärztlichen Nichtschadensprinzip.
Für die weitergehende Frage, ob lebende Menschen sich töten lassen
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Tabu der Fremdtötung rütteln möchten und welche Bedeutung für uns das
Theorem der Heiligkeit des Lebens hat. Vor dem Hintergrund des Prinzips
der Menschenwürde im Sinne einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen
und eines prinzipiellen Subjektstatus aller Menschen gibt es dafür keine ein-
deutige Antwort.
Medizinische Forschung
Medizinische Forschung am Menschen soll dazu dienen, für den kranken
Menschen neue Therapien zu entwickeln. Sie unterscheidet sich von den
anderen Forschungsvorhaben (vgl. dazu das 9. Kapitel) darin, dass das be-
forschte „Objekt“ zugleich Subjekt, nämlich ein Mensch ist. Die Selbst-
bestimmung und das Wohlergehen des Probanden setzt darum der For-
schungsfreiheit des Arztes eine wesentliche Grenze.
Von daher sind Forschungsvorhaben wie diejenigen nationalsozialis
tischer Ärzte, bei denen bewusst der Tod oder die schwere Schädigung der
Probanden in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt wurden, auf keinen
Fall mit dem Prinzip der Menschenwürde und dem damit verbundenen
Recht auf Leben vereinbar. Weltweit haben die Ärzte diese Verbrechen
gegen die Menschlichkeit geächtet und sich als Konsequenz im Nürnber
ger Kodex von 1946 und dem Genfer Gelöbnis von 1948 (1964 fortge-
schrieben in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, die fort-
laufend überarbeitet wird,) an mehrere bereichsspezifsche ethische Normen
gebunden:
230 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Versuchsperson zu schützen,
n die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften der jeweiligen Länder als
Mindeststandard,
n die Durchführung der Forschung gemäß den allgemein anerkannten
wissenschaftlichen Grundsätzen.
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sche Food and Drug Administration (FDA) stellte in ihrer Untersuchung des Fal-
les fest, dass die verantwortlichen Studienleiter gleich mehrere Regeln der aner-
kannten Maßstäbe guter Wissenschaft gebrochen hatten. Sie hatten Gelsinger
in die Studie aufgenommen, obwohl ein Blutparameter Werte erreichte, die zu
seinem Ausschluss hätten führen müssen. Zudem hatten sie es versäumt, zwei
Patienten zu melden, die nach der Behandlung schwere Nebenwirkungen zeig-
ten. Schließlich ließen die Forscher in der Patienteneinverständniserklärung Ver-
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Gentherapie
Der Todesfall „Gelsinger“ zeigt, dass eine somatische Gentherapie noch in
den Anfängen steht. Dagegen ist die Substitutionstherapie, beispielsweise
die Herstellung von menschlichem Insulin mittels gentechnisch veränderten
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Bakterien, bereits Routine. Noch einen Schritt weiter ginge die gentechni-
sche Veränderung der Keimbahnzellen und menschlicher Embryonen zu
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Wunscherfüllende Medizin
Ein in der Bedeutung rasch zunehmendes ethisches Konfliktfeld stellt die
wunscherfüllende Medizin dar. Hierbei stellen sich mehrere grundsätzliche
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Fragen. Die eine Frage hängt mit der gerade behandelten Problematik im
Rahmen von Gentherapie und Gendiagnostik zusammen: Was ist Krank-
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chen Aufgabe des Arztes als Arzt verbunden sein sollte. Nehmen wir an,
dass die operative Korrektur einer Nase als Schönheitsoperation, aber nicht
als Krankheit zu gelten hat. Damit wäre bereits klar, dass sie nicht von einer
Krankenversicherung zu zahlen ist. Sollte dann nicht aber auch der Arzt wie
ein Gewerbetreibender behandelt werden und die Schönheitsoperation als
eine garantiepflichtige Dienstleistung eingestuft sein statt wie bisher als eine
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vier Prinzipien von Beauchamp und Childress aus, so würde die Patienten-
selbstbestimmung einen solchen Eingriff rechtfertigen. Problematisch ist
allerdings das Nichtschädigungsprinzip, denn die körperliche Unversehrt-
heit eines Patienten wird durch den Eingriff berührt. Man muss dieses Prin-
zip dann so verstehen, dass der Patient subjektiv davon überzeugt ist, dass
diese Operation ihm ein besseres Leben ermöglicht, als wenn er auf sie ver-
zichten würde. Dafür ist er bereit, ein gesundheitliches Risiko einzugehen.
Wollte man derartige Eingriffe verbieten, so müsste man erneut Menschen-
pflichten mit der Menschenwürde verbinden und ein solches Ansinnen als
einen Angriff auf die eigene Würde verstehen: Der Mensch hätte in diesem
Verständnis eine mit seiner Würde verbundene Verpflichtung, seine körper-
liche Unversehrtheit zu wahren und bestimmte Grenzen zu respektieren.
beim Menschen noch in keinem Fall die klinische Erprobung erreicht ha-
ben. Zudem würden Risikoüberlegungen die eigentliche bioethische Frage-
stellung überdecken: Ist es zulässig, vielleicht sogar geboten, dass wir uns
selbst genetisch verbessern?
Dabei ist gerade vor dem mit dem Menschenwürdeprinzip verbundenen
Selbstbestimmungsrecht wesentlich zu berücksichtigen, ob das genetische
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Enhancement
n einer Entscheidung des betreffenden Menschen für sich selbst ent-
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springt,
n auf eine Entscheidung der Eltern zurückgeht,
n auf einer Entscheidung einer Gruppe in der Gesellschaft fußt oder
n auf eine Entscheidung staatlicher Autoritäten zurückgeht.
ist für den Menschen da, sondern: Der Mensch ist für den Staat da. Darum
kann ein derartiges Ziel, das den Einzelnen den Staatszielen sogar in seiner
biologischen Grundkonstitution unterwirft, auch vor dem Hintergrund des
Prinzips der Menschenwürde selbst nicht bestehen, weil der Subjektstatus
des Einzelnen zur Disposition steht.
Auch sollte der Einzelne Entscheidungen dieser Tragweite nicht in der
Weise an Gruppen in der Gesellschaft abtreten, sodass er sich von diesen
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entmündigen ließe. Das schließt nicht aus, dass Menschen freiwillig bei-
spielsweise einer religiösen Gemeinschaft angehören und bei ihrer Ent-
scheidungsfindung den Vorgaben der Autoritäten dieser Gemeinschaft
Folge leisten. Nur sollte eben prinzipiell gelten: Das Recht auf Selbstbestim-
mung sollte analog zur Selbstbestimmung im Bereich therapeutischer Maß-
nahmen, wo der Patient das letzte Wort hat, auch hier nicht verletzt sein,
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d. h., es sollten keine Gruppen in der Gesellschaft Menschen, die diesen
Gruppen nicht angehören, in solchen persönlichen Entscheidungskonstella-
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69 Indirekt betrifft jede unserer Entscheidungen auf die eine oder andere Weise un-
sere Nachkommen, da jede Entscheidung weit reichende Folgen nach sich ziehen
kann, aber auf jeden Fall „den Lauf der Welt“ verändert. So könnte eine bessere
physiologische Ausstattung einer somatisch gentechnisch veränderten Person eine
berufliche Besserstellung ermöglichen, die sich auch auf die Erziehung der nicht
genetisch veränderten Kinder auswirkt. Doch soll es hier nur um die direkten Aus-
wirkungen gehen.
236 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
den behandelten Menschen, in diesem Fall das Kind betrifft, wie im Fall
einer genetischen Substitutionsbehandlung sowie einer somatischen Gen-
behandlung? Oder handelt es sich um einen gentechnischen Eingriff, der
auch an die Nachkommen des behandelten Menschen weitergegeben wird,
was bei der Keimbahnbehandlung oder bei einer künstlichen Befruchtung
mit anschließender gentechnischer Veränderung des Embryos der Fall ist.
Darüber hinaus ist zu unterscheiden, welche Zielsetzung mit dem gen-
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cement verzichten.
Wird dagegen ganz allgemein damit argumentiert, dies sei unnatürlich,
so muss gefragt werden, was der Bewertungsmaßstab dafür ist, denn „Natür-
lichkeit“ ist ein sehr deutungsoffener Begriff. Wie „natürlich“ ist der Ge-
brauch einer Sonnenbrille, die zugleich gegen UV-Strahlen schützt? Dage-
gen ließe sich sagen, dass man jederzeit die Sonnenbrille abnehmen kann,
die gentechnisch veränderten Augen dagegen nicht. Aber macht dies einen
ethisch so wesentlichen Unterschied aus, dass ein solches Enhancement ver-
boten werden sollte?
Dazu kommt: Wie „natürlich“ ist das heutige, kulturell durchformte Le-
ben? Aber selbst wenn man einen klaren Begriff von Natürlichkeit hätte,
warum sollte diese nicht überboten werden dürfen? Gemäß dem vorausge-
setzten ethischen Bezugsrahmen jedenfalls wäre eine solche genetische Ver-
besserung zulässig, wenn der Mensch neue Freiheits- und Handlungsspiel-
räume gewinnt und keinen Schaden nimmt, es sei denn, man würde analog
zum Beispiel der Schönheitsoperation einer Nase davon ausgehen, wir wä-
ren verpflichtet, unsere körperliche Unversehrtheit nicht anzutasten. Hier
wiederholt sich dann verschärft der Streit, der bereits im Feld der Grünen
Gentechnik thematisiert wurde (vgl. 12.3).
Geht man jedoch von der grundsätzlichen Vereinbarkeit mit dem Men-
schenwürdeprinzip aus, so ließe sich vor dem Hintergrund des Gerechtig-
keitsprinzips fragen: Wird hier nicht die Gerechtigkeitsfrage berührt, da
offen ist, ob sich alle Menschen eine solche genetische Verbesserung werden
238 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Sie haben dazu ein gutes Recht im Sinne ihrer Selbstbestimmung, aber sie
müssen analog zu denen, die nicht bereit sind, bestimmte Bildungsmöglich-
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14 Sportethik
Die Sportethik als Reflexion auf die ethische relevante Dimension des
Sports trifft auf die große Schwierigkeit, dass es bis heute nicht gelungen ist,
„Sport“ eindeutig zu definieren. Der Begriff selbst leitet sich vom lateini-
schen Verb „deportare“ (= wegtragen) ab. Damit ist ein wesentliches Element
des Sports bezeichnet, nämlich sich von der üblichen Arbeit wegtragen zu
lassen: Zum Sport gehört eine gewisse Zweckfreiheit.
Diese Bestimmung bleibt natürlich wage, da es auch andere Tätigkeiten
gibt, um sich „wegtragen“ zu lassen. Gibt es darüber hinaus etwas Spezifi-
sches? Nicht alle Sportarten sind körperlich, man denke nur an Schach,
nicht alle sind Wettkampfsportarten, man denke nur ans Jogging, nicht alle
sind Mannschaftssportarten usw. Analog zum Spiel könnte man in Anleh-
nung an Wittgenstein (1984 [1953], Nr. 65ff ) bei den verschiedenen sport-
lichen Tätigkeiten davon sprechen, dass es sich um eine Familienähnlichkeit
handelt. Das Fußballspiel als Sport ist mit dem Schachspiel als Sport durch
die agonale Struktur (griechisch: agon = Wettkampf ), die zugleich eine spiele-
risch-künstliche ist, also keinem realen Konflikt entspringt, und die klare
Regelstruktur verwandt. Es ist mit dem Jogging durch die körperliche Betä-
tigung und die freiwillige Ineffizienz verbunden. Man joggt beispielsweise
auf einem Laufband, ohne dass dieses Laufen jemand von Ziel A nach Ziel
B bringt. Man spielt Fußball – und nach dem Spiel ist vor dem Spiel, d. h.,
Sportethik 241
sehr hohe Belohnung für ihren Erfolg bekamen. Man kannte den Breiten-
sport, vor allem die im Stil von Unterricht gehandhabte „Leibesertüchti-
gung“ der männlichen Kinder und Jugendlichen. Der Name „Gymnasium“
(griechisch: gymnos = unbekleidet, da man unbekleidet Sport trieb) erinnert da-
ran, dass diese ersten Schulen vor allem dieser sportlichen Tätigkeit dienten.
Allerdings war dieser Unterricht nicht ganz zweckfrei, denn er sollte zu-
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tungssport mit dem Geist des Sports vereinbar ist. Andere Positionen lassen
sich beispielsweise in Pawlenka (Hg.) (2004) finden. Bei Albrecht (2008)
gibt es einen sportethischen Ansatz, der wirtschaftsethische Instrumente für
sportethische Konfliktfälle fruchtbar macht (ähnlich Franck 1999) und zu-
gleich die Brücke zwischen Sportethik und Medizinethik schlägt.
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Unabhängig davon, ob man utilitaristisch oder von einem Ansatz mit der
Menschenwürde herkommend argumentiert, besteht darin Einigkeit, dass
wir Menschen Sport treiben dürfen. Wer joggen will, darf joggen, er darf
aber auch seinen Lauf abbrechen, wenn ihm das so gefällt. Ethische Kon-
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flikte entstehen, wenn gerade Kinder und Jugendliche sowie Menschen mit
geistiger Behinderung, zu Formen des Sports getrieben werden, bei denen
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nisse von einer solchen Bedeutung, dass sie staatliche Unterstützung verdie-
nen, von Polizeieinsätzen bis zum staatlich subventionierten Bau von Stadien
einschließlich damit verbundener staatlich finanzierter Infrastrukturmaß-
nahmen. Bei der Beantwortung dieser Fragen spielt es eine große Rolle, wie
sehr bestimmte Sportereignisse wie Fußballweltmeisterschaften und Olym-
pische Spiele einerseits Fremdenhass überwinden helfen und zugleich damit
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eine unbefangene nationale Identität stärken, wie die friedlichen und ausge-
lassenen Feiern beispielsweise bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutsch-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
letzung des Fairnessgebots nimmt in dem Maß zu, in dem zusätzliche Güter
im Spiel sind. Die „Hand Gottes“, wie Maradona sein regelwidrig per Hand
erzieltes Tor im Viertelfinale Argentiniens, des späteren Weltmeisters, gegen
England bezeichnete, ist ein Beispiel einer Unfairness von sehr großer sport-
licher Tragweite. Aber natürlich spielten bei dem erfolgreichen Abschneiden
bei einer Weltmeisterschaft auch finanzielle Interessen eine Rolle. Ein Welt-
meister bekommt lukrative Werbeverträge. Ein Foul „im rechten Augen-
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blick“ kann also auch über sehr hohe Summen entscheiden und von wirt-
schaftlicher Bedeutung sein.
Eine spezielle Form der Unfairness stellt das Dopen dar, bei dem sich ein
Sportler durch die Einnahme unerlaubter Substanzen einen Wettbewerbs-
vorteil verschafft und so die Konkurrenten wettkampfmäßig schädigt (Ver-
letzung der Sportgerechtigkeit), noch ganz unabhängig davon, ob er sich
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den Schutz der eigenen körperlichen Unversehrtheit als eine Pflicht gegen
sich selbst erachtet.
Allerdings wird das Urteil, Doping sei ethisch unzulässig, dann zu hinter-
fragen sein, wenn
keit erhöhen kann“ (Gerlinger u. a. 2008, 3). Es stellt eine neue Form des
Dopings dar.
Solange (Gen)Doping verboten ist, verschafft sich der (Gen)Dopende
durch den Regelbruch gegenüber dem Nichtdopenden im Wettkampfsport
einen Wettbewerbsvorteil. Er verletzt damit das Prinzip der Fairness. Aller-
dings gibt es für dieses Verhalten, spieltheoretisch gesehen, in der gegenwär-
tigen Situation zumindest im Hochleistungssport massive Anreize, sofern
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dem Sportler der Erfolg wichtiger als seine Gesundheit ist. Wenn ich – hier
sehr vereinfacht – als Sportler weiß, dass die Konkurrenz dopt und damit
einen entscheidenden Vorteil hat, habe ich nur die Möglichkeit, von vornhe-
rein den Sieg abzuschreiben oder aber auch zu dopen, um wieder Chancen-
gleichheit herzustellen. Wenn ich aber nicht weiß, ob die Konkurrenz dopt,
dann stelle ich mich durch (Gen)Dopen, was den Erfolg angeht, in jedem
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Fall besser. Dopt die Konkurrenz, dann ziehe ich zumindest gleich (ohne
(Gen)Dopen verliere ich), dopt sie nicht, habe ich beste Gewinnchancen. In
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
der Matrix sehen dann die Auszahlungen für die Athleten Peter und Paul
mit den Alternativen N für Nicht(gen)dopen und D für (Gen)Dopen so aus,
wenn ich die gleich angenommene Gewinnwahrscheinlichkeit von jeweils
50 Prozent mit einem Nutzenpunkt annehme, den Preis für das Dopen mit
dem Verlust eines Nutzenpunktes bewerte, den sicheren Gewinn mit drei
Nutzenpunkten (von dem dann ein Nutzenpunkt wegen des (Gen)Dopens
abzuziehen ist) und die sichere Niederlage mit dem Verlust von zwei Nut-
zenpunkten (-2) bewerte:
Peter)
Nicht(gen)dopen von Paul 1;1 -2;2-3
(Gen)Dopen von Paul 2-3;-2 -3;-3
Tab. 16 Das (Gen)Doping-Spiel II
Wären die Sanktionen noch schärfer, bedeuteten sie beispielsweise den Ver-
lust von fünf Nutzenpunkten, dann wird das Nicht(gen)dopen zur dominan-
ten Strategie.
Doch das Problem einer ethischen Bewertung des (Gen)Dopings lässt
sich noch weiter zuspitzen. Unter der Annahme, dass das Gen nicht schäd-
lich wäre und sich die Athleten auf bestimmte nichtschädliche Formen des
(Gen)Dopens einigen würden, benötigt man ein Verständnis von Natürlich-
keit im Sport, um derartige Formen sportethisch ablehnen zu können. Denn
in diesem Fall würde niemand betrogen und keiner würde seine Gesundheit
schädigen. Sportethisch kehrt damit die Grundfrage im Hinblick auf das
genetische Enhancement des Menschen wieder.
Allerdings ließe sich mit unerwünschten gesellschaftlichen Folgen argu-
mentieren. Wenn Höchstleistung nur mit Hilfe derartiger Substanzen oder
Veränderungen an der eigenen genetischen Konstitution zu erreichen ist,
könnte dies gerade vor dem Hintergrund der großen Vorbildwirkung von
Athleten auf Jugendliche diese gefährden (Verletzung des Nichtschädi-
gungsprinzips), wenn sie sehr ehrgeizig sind, und sie dazu bringen, selbst
derartige Substanzen oder Veränderungen nachzufragen. Doch auch hier
Sportethik 247
wiederholt sich das oben Gesagte (vgl. 13.3): Wenn ohne persönliche Ne-
benwirkungen Verbesserungen möglich sind, warum sollten diese dann un-
tersagt werden? Wer damit argumentiert, dass dann die Nicht(Gen)Dopen-
den einen Nachteil haben und das Gerechtigkeitsprinzip verletzt wird, muss
sich fragen, wie dann zu bewerten ist, dass Schulen und Universitäten auch
bestimmte Fähigkeiten verbessern sollen. Erneut benötigt man ein bestimm-
tes Verständnis von Natürlichkeit, um unterschiedliche Formen von Verbes-
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15 Medienethik
Wenn wir davon ausgehen, dass alles, was wir über die Welt wissen, me-
dial vermittelt ist, anfänglich meist über den Gesichtsausdruck und die
Worte der Mutter nach der Geburt, dann prägen die Medien unseren Um-
gang mit allen ethischen und sonstigen Fragestellungen in einer fundamen-
talen Weise.
Darüber hinaus prägen Medien in vielfältiger Weise Lebensbereiche. Po-
litiker verhalten sich mediengerecht. Profifußballer erhalten eine spezielle
Ausbildung für den Umgang mit den Medien. Medienereignisse wie die
Olympischen Spiele beeinflussen die Politik. Die Regeln von Sportarten
werden medialen Ansprüchen angepasst, um für Fernsehzuschauer attrakti-
ver zu sein oder Werbepausen zuzulassen. Das Internet gibt Menschen eine
Chance, beispielsweise ihre Musik einer weiteren Öffentlichkeit bekannt zu
geben, ohne dass sie dafür einen Vertrag mit einer renommierten Firma er-
halten müssen usw.70
70 Ich danke meinem Kollegen Martin Leiner für wertvolle Hinweise und Einsich-
ten in die Bedeutung der Medien.
Medienethik 249
menschlichen Dinge müsse man ihn zur Hand nehmen, um von ihm zu
lernen und das ganze eigene Leben nach diesem Dichter einrichten und
durchführen, so mögest du sie dir gefallen lassen und mit ihnen, als die so
gut sind wie sie nur immer können, vorlieb nehmen, auch ihnen zugeben,
Homer sei der dichterischste und erste aller Tragödiendichter, doch aber
wissen, dass in den Staat nur der Teil von der Dichtkunst aufzunehmen ist,
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der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervor-
bringt. Wirst du aber die süßliche Muse aufnehmen, dichte sie nun Gesänge
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
oder gesprochene Verse, so werden dir Lust und Unlust im Staate das Regi-
ment führen statt des Gesetzes“ (Pol 606e1–607a9). Auch sollen hochran-
gige Künstler des Staats verwiesen werden, die alle möglichen Charaktere
nachahmen, also gerade nicht nur diejenigen Charaktere spielen, die zum
Wahren und Guten führen. Stattdessen soll man sich mit weniger herausra-
genden Künstlern begnügen, wenn das, was sie sagen, nach den gesetzlichen
Vorgaben geschieht (vgl. Pol 398a1–399b5). Medien sind also nach Platon
zweckgebunden. Sie haben der Erziehung zu dienen. Darum darf auch nicht
alles, was medial darstellbar ist, dargestellt werden, wenn es den Weg zum
Wahren und Guten behindert.
Auch Aristoteles betont den Wert der Medien für die Erziehung, zu-
gleich aber dürfen und sollen sie auch Vergnügen bereiten (vgl. Pol 1339b10–
15). Medien haben also nicht nur der Wertevermittlung zu dienen. Sie ha-
ben auch eine kathartische (griechisch: katharsis = Reinigung) Wirkung,
weswegen es ausdrücklich heißt, dass das Medium Musik „nicht eines einzi-
gen Nutzens wegen verwendet werden soll, sondern um mehrerer willen,
nämlich der Erziehung und Reinigung Willen“ (Pol 1341b36–38).
Das Christentum betont durchgängig die Bedeutung der Medien für die
Erziehung im Sinn des Wahren, Guten und Schönen. Das Medium „Buch“
spielt dabei aufgrund der eigenen Heiligen Schriften eine herausragende
Bedeutung, sodass diese Heiligen Schriften bald nur noch als das Buch (grie-
chisch: Buch = biblion) gelten: die Bibel. Mit dieser Überzeugung verbindet
sich ein Verbot aller Medien, die vom Wahren, Guten und Schönen weglei-
250 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
ten können. Bereits Kaiser Konstantin ließ nach dem Konzil von Nikaia
(325 n. Chr.) die Bücher des auf diesem Konzil zum Ketzer erklärten Arius
verbrennen. Im Decretum Gelasianum (496 n. Chr.) wurde erstmals eine Liste
verbotener Bücher aufgestellt. Diese wurden oftmals verbrannt. Seit 1559
gab es einen für alle Christen in Gemeinschaft mit dem Papst verbindlichen
Index verbotener Bücher, der erst offiziell von Papst Paul VI. 1966 abge-
schafft wurde. Auf dem Index standen neben den Werken der Reformatoren
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und anderer nicht mit dem Papst in Gemeinschaft stehender Christen bei-
spielsweise auch Werke von Kopernikus und Galilei, vieler moderner Philo-
sophen einschließlich Pascals, darunter auch Kants Kritik der reinen Vernunft,
dazu auch dichterische Werke wie die von Heine, Sartre und Zola. Bis heute
kritisieren Vertreter aller Religionen bestimmte Medienprodukte und emp-
fehlen ihren Gläubigen diese zu meiden. Die iranischen obersten religiösen
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Richter sprachen sogar gegen den Dichter der Satanischen Verse, Salman
Rushdie, die Todesstrafe aus. Das zeigt auch, wie stark sich in den letzten
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Vertiefung: Pressekodex
Präambel
Die im Grundgesetz der Bundesrepublik verbürgte Pressefreiheit schließt die
Unabhängigkeit und Freiheit der Information, der Meinungsäußerung und der
Kritik ein. Verleger, Herausgeber und Journalisten müssen sich bei ihrer Arbeit
71 Diese sind so inhaltsreich und abgewogen, dass es sich lohnt, sie in Gänze in der
Fassung vom 3. Dezember 2008 abzudrucken.
252 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und ihrer Verpflichtung für das
Ansehen der Presse bewusst sein. Sie nehmen ihre publizistische Aufgabe fair,
nach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen
und sachfremden Beweggründen wahr.
Die publizistischen Grundsätze konkretisieren die Berufsethik der Presse. Sie
umfasst die Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen
Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren und für die Freiheit der Presse
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einzustehen. […]
Die Berufsethik räumt jedem das Recht ein, sich über die Presse zu beschweren.
Beschwerden sind begründet, wenn die Berufsethik verletzt wird.
Diese Präambel ist Bestandteil der ethischen Normen.
haftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. Jede in
der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Ziffer 2 Sorgfalt
Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröf-
fentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach
den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und
wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift
oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Mel-
dungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.
Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.
Ziffer 3 Richtigstellung
Veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, insbesondere personenbezo-
gener Art, die sich nachträglich als falsch erweisen, hat das Publikationsorgan,
das sie gebracht hat, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig
zu stellen.
Ziffer 5 Berufsgeheimnis
Die Presse wahrt das Berufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht
Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht
preis. Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.
Medienethik 253
Ziffer 8 Persönlichkeitsrechte
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Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt
jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in
der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Ziffer 12 Diskriminierungen
Niemand darf wegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zuge-
hörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskri-
miniert werden.
Ziffer 13 Unschuldsvermutung
Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige
förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Un-
schuldsvermutung gilt auch für die Presse.
254 Teil III Spezifische Bereiche Angewandter Ethik
Ziffer 14 Medizin-Berichterstattung
Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle
Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen
beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen
Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen
dargestellt werden.
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Ziffer 15 Vergünstigungen
Die Annahme von Vorteilen jeder Art, die geeignet sein könnten, die Entschei-
dungsfreiheit von Verlag und Redaktion zu beeinträchtigen, ist mit dem Ansehen,
der Unabhängigkeit und der Aufgabe der Presse unvereinbar. Wer sich für die
Verbreitung oder Unterdrückung von Nachrichten bestechen lässt, handelt un-
ehrenhaft und berufswidrig.
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Ziffer 16 Rügenveröffentlichung
Es entspricht fairer Berichterstattung, vom Deutschen Presserat öffentlich aus-
gesprochene Rügen zu veröffentlichen, insbesondere in den betroffenen Publi-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
fer 10)? Damit verbunden ist ein zentrales Problem, inwieweit auch heute
noch Zensur berechtigt ist. Einigkeit herrscht, dass es einen Kinder- und
Jugendschutz geben muss. Doch während zumindest das Fernsehen in der
Darstellung sexueller Inhalte relativ große Zurückhaltung übt, sobald Kin-
der und Jugendliche mögliche Zuschauer sein könnten, ist die Darstellung
von Gewalt gerade auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur sehr be-
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nen größeren öffentlich-rechtlichen Sender, der ohne Krimis und damit ver-
bundene Tötungsdelikte auskommt. Wiederum stellt sich die Frage: Wo
sollte die Grenze gesetzt werden? Die Frage verschärft sich vor dem Hinter-
grund angebotener Gewaltspiele. Doch es ließe sich die Gegenfrage stellen:
Ist nicht bereits das Schachspiel ein Medium, bei dem „Bauern“ geopfert
werden?
Der Pressekodex weist auf eine weitere wichtige ethische Fragestellung
hin, wenn er in Ziffer 7 die Verantwortung der Presse für Unabhängigkeit
von privaten und geschäftlichen Interessen anmahnt. Hier kommt es zu ei-
nem Konflikt zwischen der Verantwortungsdimension und der Interessens-
dimension des Journalisten (vgl. Leiner 2006, 163–167).
blic Relations“, „eine Ethik der Werbung“ und „eine Ethik der Propaganda“
unterteilt. Medien haben eine große Verantwortung für Bildung und unab-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
hängige Information, doch rechtfertigt dies eine Art Zwangsgebühr, wie sie
in Deutschland von jedem, der ein Radio, einen Fernseher oder einen inter-
netfähigen Computer kauft, erhoben wird, obwohl doch öffentlich-rechtli-
ches Fernsehen verschlüsselbar wäre? Umgekehrt haben auch die medialen
Konsumenten eine Verantwortung, was sie lesen, hören und ansehen.
Darüber hinaus gibt es ein breites Spektrum an weiteren ethischen Fra-
gen. Als beispielsweise eine Milliardärin von einem ehemaligen Liebhaber
damit erpresst wurde, dass er die längst vergangene Liebschaft öffentlich
machen würde und sie seiner Erpressung nicht nachgab, sondern ihn an-
zeigte, berichteten selbst überregionale Tageszeitungen ausführlich über das
Gerichtsverfahren. Medienethisch wäre zu fragen, ob eine solche Berichter-
stattung nicht genau das erfüllt, womit der Erpresser drohte. All dies sind
Themenfelder, mit denen sich eine Ethik der Medien zu beschäftigen hat.
Dazu kommt eine weitere Dimension durch die weltweite Verfügbarkeit
von Informationen im Netz. Die weltweiten Möglichkeiten, richtige wie fal-
sche Nachrichten zu verbreiten, hat mehrere Seiten: Für Diktaturen wird es
immer schwerer, ihre Zensur durchzusetzen. Im Netz ist auch die Sicht der
anderen Seite verfügbar. Andererseits ist es vielfach unmöglich, ehrverlet-
zende Darstellungen, Verleumdungen, aber auch Copyright-Verletzungen
verhindern oder bestrafen zu können. Wird der betreffende Eintrag gelöscht,
so kann er auf einer anderen Seite wieder auftauchen. So stellt sich die sys-
temische Frage, wie in manchen Fällen überhaupt noch medienethische
Medienethik 257
Beitrag von Thomas Schmidt mit dem Titel „Agro-Gentechnik macht Bau-
ern abhängig“.72 Der Beitrag selbst ist auch im Internet frei zugänglich. Dort
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
findet man ihn am selben Tag, aber im Titel der Internetadresse wird aus
„Agro-Gentechnik macht Bauern abhängig“ bezeichnenderweise „mon-
santo-genozid-an-bauern“73. Der Artikel selbst beginnt mit: „Der US-Kon-
zern Monsanto steht wegen seinem gentechnisch veränderten Saatgut im-
mer wieder in der Kritik, doch niemand wählt so deutliche Worte, wie die
indische Umweltschützerin Vandana Shiva. Sie wirft dem Unternehmen
Genozid an 200.000 indischen Bauern vor.“ Während in der Printausgabe
diese Zeilen in Normaldruck erschienen sind, druckt die Internetausgabe sie
fett. Der Beitrag geht dann weiter: „An 200.000 Bauern, die von Reichtum
träumten, doch ihre Samen alljährlich teuer vom Monopolisten Monsanto
kaufen mussten, mehr und mehr Pestizide auf ihren Feldern ausbrachten, in
Abhängigkeit und Schulden verfielen und sich schließlich verzweifelt das
Leben nahmen.“74 Der Autor des Beitrags lässt sowohl den Begriff „Geno-
zid“ wie die Zahl von 200.000 Bauern als Opfer Monsantos stehen, ohne
überhaupt die Richtigkeit zu überprüfen. Der Begriff „Genozid“ ist von
Studie zu dem Ergebnis (Gruère u. a. 2008, VI), „dass Bt Baumwolle [in
Indien] weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für bäu-
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
nur um den Anbau von Bt Baumwolle in Indien, nicht mehr nur um Mon-
santo, sondern um Widerstand gegen Firmen, die „die Kontrolle der Zu-
kunft“ übernehmen wollen. Diese plakative Aussage ist überzogen, dennoch
weist sie auf eine wirkliche Gefahr von Oligo- bzw. Monopolisierung in der
Agro-Gentechnik hin (vgl. dazu die Überlegungen in 11.3). Diese kann je-
doch gerade nicht durch die Formen „zivilen Ungehorsams“ bekämpft wer-
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den, bei der Gegner der Grünen Gentechnik Versuchsfelder mit gentech-
nisch veränderten Pflanzen zerstören, die zudem oft gerade nicht Konzernen
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
folgreich einfordern. Wenn dies bereits bei einem so brennenden Thema wie
der Grünen Gentechnik in einer nicht unbedeutenden regionalen Zeitung
der Fall ist, so lässt sich vorstellen, um wie viel weniger das medienethische
Ethos im Internet durchsetzbar ist. Gleichzeitig zeigt das Beispiel ein Wei-
teres, womit der betreffende Verfasser des Artikels genauso wie der Redak-
teur des Bayernteils des Münchner Merkur etwas entschuldigt werden kann:
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und unparteiisch zu berichten, denn meistens sind sie in diesen Fragen selbst
Partei.75
75 Nach empirischen Studien (Weischenberg u. a. 2006) waren im Jahr 2005 mehr als
ein Drittel der Journalisten in ihrer Parteineigung Anhänger der Grünen.
261
16 Schlussbemerkung
Angewandte Ethik hat es mit Konflikten zu tun. Zwar erschöpft sich ihre
Aufgabe nicht darin, doch bieten diese das Feld, in dem sich die Ange-
wandte Ethik zu bewähren hat. Im Unterschied zu Konflikten vor Gericht,
die immer eine letzte Entscheidung haben, kommt es bei Konflikten in den
Bereichen der Angewandten Ethik häufig vor, dass sie nicht abschließend
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gelöst werden können. Selbst wenn man von den Prinzipien der Menschen-
würde und der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit
ausgeht, kann es beispielsweise in der Frage des Umgangs mit einer verbrau-
chenden Forschung an menschlichen Embryonen ganz unterschiedliche
Antworten geben, abhängig davon, wie man den Embryo seinsmäßig ver-
steht, ob als einen Menschen oder eine Vorform des Menschen. Ähnliches
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Glossar
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Handlung).
Angewandte Ethik Eine Ethik (s. dort) heißt „angewandte“, wenn sie
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
konkret wird. „Angewandt“ und somit konkret ist die Ethik dadurch, dass sie
sich ganz bestimmten Handlungsfeldern zuwendet und deren eigene Prob-
lemlagen aufgreift, dabei aber auch Rücksicht auf deren jeweilige sachliche
Zusammenhänge nimmt.
Anthropozentrismus Ein Ansatz, nach welchem der Mensch im Mittel-
punkt steht und Ausgangspunkt aller Werte ist (griechisch: anthropos =
Mensch, lateinisch: centrum = Mittelpunkt). Der Anthropozentrismus erkennt
weder der übrigen belebten noch der unbelebten Natur einen eigenen Wert
zu, es sei denn, sie hat für den Menschen einen Wert.
Argument Lateinisch: arguere = behaupten; in der Logik „eine Folge von
Aussagesätzen, mit der der Anspruch verbunden ist, dass ein Teil dieser
Sätze (die Prämissen) einen Satz der Folge (die Konklusion) in dem Sinne
stützen, dass es rational ist, die Konklusion für wahr zu halten, falls die Prä-
missen wahr sind“ (Beckermann 2003, 4). Hier in einem weiteren Sinn ver-
wendet, nämlich im ursprünglichen Sinn einer Behauptung, für die Gründe
angegeben werden, die aber nicht den gerade genannten Anspruch haben
müssen.
Atheismus Die Überzeugung, dass es keinen Gott gibt (griechisch: a = Ver-
neinung, theos = Gott).
Autonomie I (kantisch) Begriff der kantischen Philosophie, der in strenger
Anlehnung an seine Herkunft aus dem Griechischen (autos = selbst, nomos =
Gesetz) Selbstgesetzgebung im Bereich des Moralischen besagt. Dies bedeu-
tet, dass der Einzelne auf Grund seiner Teilhabe an der überindividuellen,
Glossar 263
Bioethik I Die Ethik vom Umgang mit biologischen Organismen, die so-
wohl die außermenschliche Bioethik (hier synonym unter einem Teil der
Umweltethik) als auch die Bioethik am Menschen umfasst. In einem sehr
weit gefassten Begriff kann sie fast alle Bereiche der Angewandten Ethik
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des Menschen reserviert und die außermenschliche Bioethik als Teil der
Umweltethik behandelt. Damit folge ich der englischsprachigen Zuordnung,
wie sie das Kennedy Institute und das Hastings Center Anfang der 70er
Jahre des letzten Jahrhunderts vorgenommen haben.
Biozentrismus Eine dem Physiozentrismus verwandte Position, die zwar
nicht Entitäten allgemein, aber allen Lebewesen ein gleiches Recht auf Le-
ben und eine eigene Wertigkeit zuerkennt.
Bottom-up-Modell Ein Problemlösungsansatz, der nach konkreten Um-
ständen eines Falls „von unten nach oben“ Regeln entwickelt, nach denen
sich ähnliche Fallkonstellationen lösen lassen.
rungs- und Gesundheitspolitik mit der Absicht den Anteil an positiv bewer-
teten Merkmalen und Erbanlagen in der Bevölkerung zu erhöhen (griechisch:
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
nikationsformen wie das Internet, DVDs und andere digitale Medien ein.
Menschenwürde Es gibt unterschiedliche Menschenwürdekonzeptionen.
Angewandte Ethik, 9783825232931, 2010
Die hier vertretene Bestimmung geht davon aus, dass jedem Menschen eine
unbedingte, also nicht an Bedingungen geknüpfte Menschenwürde zu-
kommt. Dies bedeutet: Jedem Menschen kommt grundsätzlicher Subjekt-
status und grundsätzliche Gleichheit (s. dort) zu. Diese unbedingte Men-
schenwürde kann der Mensch nicht verlieren, solange er lebt. Sie kann
unterschiedlich begründet werden. Man kann dieses Prinzip auch als regula-
tives Prinzip bezeichnen, insofern es als Hintergrund für die verschiedenen
ethischen Konzeptionen zu dienen vermag, und die Festlegung auf ein be-
stimmtes Interpretations- und Bewertungsmodell vermieden werden kann,
wobei es eine regulierende Funktion einnimmt: Es gibt einen Maßstab an,
woran sich das Handeln zu orientieren hat, ohne dass sich das Handeln lo-
gisch aus diesem Prinzip deduzieren ließe.
Meta-Ethik „Metaethisch“ (griechisch: meta = hinter) sind Begriffsklärun-
gen, Begriffsanalysen, Grundannahmen und die Klassifikation ethischer
Theorien, die den Hintergrund der eigentlichen ethischen Fragen bilden,
aber noch nicht selbst Ethik sind.
Monotheismus Die Theologie eines einzigen Gottes (griechisch: monos =
einzig, theos = Gott), im Gegensatz zur pantheistischen Viel-Götter-Lehre.
Moral Die Menge der gesellschaftlichen „Konventionen“, der persönlichen
Wertvorstellungen und Normen oder von Normen und Werten im Rahmen
einer ethischen Theorie.
Moralphilosophie Anderes Wort für philosophische Ethik; insofern prä-
ziser als der Begriff „philosophische Ethik“, da es auch um Fragen geht, die
266 Glossar
Narrative Ethik Einsichten in bestimmte Werte und den Sinn von Hand-
lungen werden durch Erzählungen erschlossen (lateinisch: narrare = erzäh-
len). Im Akt des Erzählens und in der Rezeption des Erzählten können
Werte entstehen oder auch bewahrt werden. Berühmte Erzählungen in die-
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Naturrecht Die Überzeugung, dass aus der Natur des Menschen eine
Ordnung herausgelesen werden kann, die für den Menschen erkennbar ist
und die rechtliche Bestimmungen für menschliches Verhalten vorgeben kann.
Naturrechtslehre Eine Familie von philosophischen und theologischen
Konzeptionen, wonach die menschliche Natur kraft ihrer Vernünftigkeit aus
sich heraus (oder als von Gott geschaffene) das natürliche Sittengesetz fin-
det.
Normativ Lateinisch: norma = Richtschnur, Regel; Fachbegriff für ein Vor-
gehen in der Ethik, bei dem Regeln und Sollensforderungen aufgestellt
werden.
oder aktive Möglichkeit. Die aktive Potentialität kann eine allgemeine aktive
Potentialität bezeichnen, oder auch eine aktive eines Organismus. Dieser
letzte Begriff von Potentialität ist in der Diskussion um den moralischen
Status des menschlichen Keims, des Embryos und des Fötus von besonderer
Bedeutung. Er hängt in seiner Bedeutung eng mit der aristotelisch-thomis-
tischen Seinslehre zusammen, wonach ein Organismus bereits aktual die
dispositionelle (veranlagungsmäßige) Potentialität zu allem hat, was er ein-
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mal wird. Allerdings ist beispielsweise bei Thomas von Aquin für den
menschlichen Keim und Embryo diese aktive Potentialität noch nicht gege-
ben, sondern nur eine passive Potentialität.
Präferenzenutilitarismus Eine utilitaristische Theorie, welche Hand-
lungsfolgen danach bewertet, inwieweit sie die Präferenzen und damit die
Vorlieben und Wünsche aller von einer Handlung Betroffenen realisiert.
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und Normkompromisse, oft in Form von positivem Recht, also Recht, das
die Menschen sich in konkreten Gesetzen „setzen“ (lateinisch: ponere = set-
zen, davon positum = das Gesetzte).
Regelutilitarismus Begründung und Ausformulierung von Handlungsre-
geln, nach denen utilitaristisch die besten Handlungsfolgen zu erwarten
sind.
folgen) genannt werden, eine Handlung danach, wie gut bzw. nützlich deren
(mögliche) Folgen sind.
Zitierte Literatur
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den international üblichen Zählungen, beispielsweise bei Platon nach der
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Wendeling-Schröder, U. u. a. 2000: Der Ingenieur-Eid. Ethische, naturphilosophi-
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A Brundlandt 121
Abbe 182, 189 Buchanan 26, 183
Adorno 172 Bundesverfassungsgericht 85–86, 100
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Geyer 23
Gilligan 120, 211 K
Goeudevert 190 Kallhoff 93, 203
Greenpeace 166 Kant 13, 26, 27, 30, 37, 39–43, 45, 48,
Greve 86 53, 58, 68, 93–94, 96, 109, 159–160,
Gröschner 142 170, 172, 181, 196–198, 210–211, 213,
Gruère 193, 258 215–216, 226, 250, 262–263, 268
Grunwald 170, 172, 175 Katholische Kirche 35, 83, 159, 210
Kelsen 133
H Kennedy Institute 211, 263
Habermas 17–18, 30, 41–43, 172, 197, Kierkegaard 74
238 Kim 156
Halbig 27 Kinarm Ko 156
Hampicke 125–126 Kleiner 163
Hare 20 Korff 152, 241, 263
Harris 212, 237, 239 Körtner 148
Hastedt 172–173 Kohlberg 120
Hastings Center 211, 263 Kongregation für die Glaubenslehre 159
Hayek 26, 137 Konstantin 250
Heidegger 172 Kopernikus 250
Heine 250 Koslowski 181
Herodot 28 Kunzmann 93, 95, 148, 164, 202
Himmler 65
Hobbes 30, 46 L
Höffe 103, 107–110 Leiner 248, 250–251, 255
Homann 104, 182–186 Leist 123–124, 198
Personen- und Institutionenregister 283
M Palmer 197
MacIntyre 26 Pascal 250
Marcus Aurelius 34 Pauen 23
Marcuse 172 Paul VI. 250
Maring 179, 180 Pawlenka 242
Martin Luther King 72 Pieper 30
Marx(ismus) 66–69, 171 Pies 181, 183, 185
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McCormick 212 Platon 13, 22, 23, 30–38, 43, 55, 62, 80,
Meadows 197 119, 141–142, 145, 147, 159, 208–209,
Meissner 156 213, 241, 248–249, 264
Menschenrechtsgerichtshof 85 Pufendorf 36
Meyer 166
Mielke 67 Q
Milgram 23–25 Quante 27, 30
Mill 43, 197
Mittelstraß 158 R
Monsanto 164, 176–178, 192–195, Rager 23
257–260 Ratzinger (Benedikt XVI.) 23, 38, 83,
Moore 27 149,
Morsink 66 Rawls 26, 30, 46, 47–48, 58, 103, 107,
Müller-Armack 182 116, 197, 222, 238
Münchner Merkur 257–260 Regan 96–98, 124
Ropohl 148, 172
N Rosenberger 23
Nagel 98 Rolston 95
Netzwerk Zivilcourage 258–259 Roth 23
Nida-Rümelin 23, 127, 152 Rushdie 250
Nietzsche 74
Nozick 26 S
Nussbaum 26 Sardison 183
Sartre 250
O Savulescu 155, 234, 241, 247
Oates 126 Scharon 226
284 Personen- und Institutionenregister