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Thema

Wie viel

CH 19,90  CHF / Benelux 12,50 €


Knecht

Frühling 2023 D & A 11,90 €


SONDERAUSGABE Nr. 24
steckt
in
mir?

24

811903
198673
4
Bin ich Wie
nur mit erkenne
anderen ich das
frei? Wahre?

HEGEL
Mit Robert Menasse, Judith Butler, Karl Lauterbach,
Thea Dorn, Axel Honneth, Christoph Menke, Slavoj Žižek, u. v. m.
WA
WALT
LTEERR- -BBEENNJJAAMMI INN- -LLEECCTTUURREESS

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AGENTS
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OF POSSIBILITY:
POSSIBILITY:
THE
THE COMPLEXITY
COMPLEXITY
OF
OF SOCIAL
SOCIAL CHANGE
CHANGE

JUNE
JUNE14–16
14–162023
2023 OTTO-BRAUN-SAAL,
OTTO-BRAUN-SAAL,
6–8 PM
6–8 PM STAATSBIBLIOTHEK
STAATSBIBLIOTHEK
ZU
ZUBERLIN,
BERLIN,
POTSDAMER
POTSDAMERSTR. 33
STR. 33

33
LLEECCTTUURREESS

Organized
Organized
byby
the
the
Centre
Centre
for
for
Social
Social
Critique,
Critique,
Humboldt-Universität
Humboldt-Universität
zuzu
Berlin.
Berlin.
criticaltheoryinberlin.de
criticaltheoryinberlin.de
InIn
media
media
cooperation
cooperation
with
with
Editorial
Hegel war einer der wirkmächtigsten Philosophen der
Geschichte. Seine Überlegungen zu Fortschritt,
Staat und Freiheit sind von ungebrochener Aktualität.
Gerade heute.
Hegel war überzeugt, dass die Freiheit des Einzelnen sich niemals
losgelöst oder gar in Konkurrenz zur Gesellschaft verstehen lässt.
Wirklich frei, so versuchte er zu zeigen, werden wir erst mit
und durch die anderen. „Bei-sich-selbst-Sein im Anderen“ lautete
in seinen Worten das ambitionierte Ansinnen seiner Philosophie.
Folgt man ihm in diesem Gedanken, dann eröffnen sich neue
Perspektiven auf heutige Probleme, für die eine Politik, die vom
Einzelnen ausgeht, keine Antwort zu bieten scheint. Anstatt
eine starke Klimapolitik, Umverteilung oder Coronamaßnahmen
Jana Glaese, primär als Bedrohung der individuellen Freiheit zu sehen, könnte
Chefredakteurin der man – ausgehend von der Annahme, dass Freiheit unweigerlich
­Sonderausgabe
sozial ist – fragen: Welche Institutionen bräuchte es, um Selbst­
bestimmung und Entfaltung auch in Zukunft zu garantieren?
Welche sozialen Beziehungen würden es uns ermöglichen, bei uns
selbst zu sein?
Ebenso wie wir lebte Hegel in Zeiten großer Umbrüche. Als
Jugendlicher verfolgte er begeistert die Französische Revolution.
Die Philosophie seiner Tage war ebenfalls im Wandel begriffen,
die Religion hatte ihre unhinterfragte Vormachtstellung verloren,
das Verhältnis von Ich und Welt, Individuum und Gesellschaft wollte
neu gedacht werden. Kein Wunder also, dass sein Anspruch an die
Philosophie war, „ihre Zeit in Gedanken“ zu fassen. Anders als oft
angenommen, liefert Hegel dabei keine Prognosen, die uns erlauben
zu sagen, wie wir von der Gegenwart in die Zukunft schreiten.
Aber seine Hinwendung zu Momenten der Krise als Chance – um
Coverillustration: Jordan Andrew Carter; Autorinnenfoto: Johanna Ruebel

Neues zu schaffen und Ideale voranzutreiben – könnte heute, da die


Zukunft zunehmend düster erscheint, als Inspiration dienen.
Hegel liefert keine leichten Antworten. Anstatt eines Entweder-
oder ging es dem Philosophen der Dialektik darum, Widersprüche
zusammenzudenken und aufzuheben – freilich ohne jemals alle
Spannung einzuebnen. Das Denken bleibt also immer in Bewegung.
Gerade in dieser Komplexität und Dynamik liegt der Reiz seiner
Philosophie.

Sonderausgabe Nr. 24 Hegel 03


Mit Beiträgen von

Robert Menasse
Sein literarisches Schaffen prägt die europäische Belletristik. Der gefeierte österreichi-
sche Schriftsteller und Essayist entdeckte schon im Studium Hegel als „seinen“
Philosophen. Der selbst ernannte „Bluthegel“ Robert Menasse erzählt uns von seiner
Faszination für den dialektischen Denker und den Einsichten, die mit der mühsamen
Erschließung seiner Texte einhergehen können.
Seite 09

Judith Butler
Selbst eine philosophische Stimme von Weltrang, lässt uns Judith Butler an ihren
Gedanken über Hegel teilhaben. Dabei offenbart sich Hegels Geschichtsverständnis als
höchst relevant für die Gegenwart. Denn seine Philosophie sei nicht, wie oft angenom-
men, strikt auf ein Ziel ausgerichtet, sondern entfalte ihr Potenzial gerade in Momen-
ten des Umbruchs. Was wäre geeigneter, um den Krisen unserer Zeit zu begegnen?
Seite 10

Axel Honneth
Die „Phänomenologie des Geistes“ kann Leser zur Verzweiflung treiben. Schwer
zugänglich erscheint Hegels Werk über die Entwicklung des Bewusstseins. Der Sozial­
philosoph Axel Honneth, dessen Anerkennungstheorie zu den wichtigsten Weiterent-
wicklungen von Hegels Denken zählt, lässt uns dafür umso anschaulicher daran teilhaben.
Im Interview erklärt er, warum es sich lohnt, die „Phänomenologie“ heute noch zu lesen.
Seite 32

Millay Hyatt
Trotz aller Systematik fällt es oft schwer, den Überblick über Hegels Philosophie zu
behalten. Ein Glück, dass Millay Hyatt, die selbst zu Hegel promovierte, drei seiner
großen Werke im Überblick darstellt. Das scheinbar Unmögliche wird so möglich:
die „Phänomenologie des Geistes“, die „Wissenschaft der Logik“ und die „Grund­linien
der Philosophie des Rechts“ in ihren Grundzügen auf einer Seite zu erschließen.
Seite 36

Susan Buck-Morss
Ein eurozentrischer Blickwinkel verleitet dazu, Hegels Gedanken zu Freiheit und
Anerkennung lediglich mit hiesigen historischen Ereignissen zu verbinden. Dabei
ist es wahrscheinlich, dass die wenig beachtete Revolution in Haiti Hegels Philosophie
maßgeblich prägte. Können hieraus neue Erkenntnisse erwachsen? Die New Yorker
Philosophin Susan Buck-Morss plädiert für einen neuen Umgang mit Hegels Werk.
Seite 44

04 Hegel
Michael Quante
Liebhaber von pointierten Zitaten werden bei Hegel leider nur selten fündig. Berühmte
Stellen aus seinen Texten gibt es trotzdem zahlreiche; lediglich das Verständnis fällt
mitunter schwer. Michael Quante, Hegel-Kenner und Professor für Philosophie an
der Universität Münster, nimmt sich der Aufgabe an und erklärt Hegels Philosophie
anhand von vier Zitaten aus den Originalschriften des Philosophen.
Seite 48

Jonathan Meese
Mit seinen Zeichnungen aus dem Buch „Immer Ärger mit Hegel“ (Walther König,
2021) ermöglicht uns Jonathan Meese einen ungewöhnlichen Blick auf den Philosophen.
Die Werke des weltweit renommierten Künstlers sind in privaten und öffentlichen
Sammlungen vertreten, unter anderem im Museum of Modern Art in New York und
im Centre Pompidou in Paris. Er lebt und arbeitet in Berlin und Hamburg.
Fotos: Rafaela Pröll; European Graduate School; Jürgen Bauer; Lidia Tirri; Sebastián Freire; WWU & Peter Wattendorf; Jana Edisonga; PR; Katarina Markovi; Uwe Dettmar/Goethe Uni Frankfurt

Seite 68

Christoph Menke
Der Philosoph Christoph Menke gilt als einflussreicher Vertreter der „dritten
Generation“ der Frankfurter Schule. Bestimmendes Thema seiner zahlreichen Publika-
tionen ist die Freiheit. Im Interview spricht er über den Zusammenhang von Recht
und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie und zeigt: Trotz konservativer Züge handelt
es sich um ein Werk von großem progressiven Potenzial.
Seite 80

Slavoj Žižek
Was ist der Gang der Geschichte? Der wohl bekannteste Hegelianer unserer Zeit,
­Slavoj Žižek, geht dieser Frage für uns nach. In seinem Essay argumentiert er,
dass sich die unerwarteten Wendungen und Prozesse der Geschichte mit Hegels Philo-
sophie bestens erschließen lassen. Denn: Die Geschichte ist verrückt! Und das im
wahrsten Sinne des Wortes.
Seite 100

Eva Geulen
Kunst und Ästhetik spielen in Hegels Philosophie eine zentrale Rolle. Dabei hielt er
den Zenit der Kunst für längst überschritten. Was hat es mit dieser Beobachtung
auf sich? Und was verstand Hegel überhaupt unter Kunst? Über diese Fragen und
über die Befreiung der Kunst spricht die Professorin für europäische Kultur- und
Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin Eva Geulen im Interview.
Seite 108

Sonderausgabe Nr. 24 05
Inhalt
Intro
03 Editorial
04 Beitragende
08 Warum Hegel lesen?
Antworten von Mithu Sanyal,

2
Robert Menasse, Judith Butler,
Karl Lauterbach, Dietmar Dath,
Gertrude Lübbe-Wolff,
Florian Schroeder, Thea Dorn
14 Das Versprechen der Vernunft
Essay von Sebastian Ostritsch
20 Stationen eines Lebens Denken
und Sein
Karte von Hendrik Buchholz
24 Die Philosophen-WG
Essay von Kilian Thomas
28 Quellen der Inspiration 52  „Das Leben ist die unmittel-
Perspektiven von Kilian Thomas bare Form der Wahrheit“
Gespräch mit Karen Ng
56 Was heißt Dialektik?
Essay von Friedrich Weißbach

1
60 Wissenschaft der Logik
Überblick von Millay Hyatt
62 „Digitale Technologien sind
weder Objekt noch Subjekt“
Gespräch mit Jörg Noller
66 Hegel in Zitaten
Bewusstsein Erklärt von Michael Quante

und Geist
32 „ Was das Bewusstsein antreibt,
ist die Erfahrung des Scheiterns“
Gespräch mit Axel Honneth
36 Phänomenologie des Geistes
Überblick von Millay Hyatt
38 Herr und Knecht. Fünf Lesarten
Perspektiven von Lea Wintterlin
44 „In der Haitianischen Revolution
sah Hegel etwas Universelles“
Gespräch mit Susan Buck-Morss
Illustration: Jordan Andrew Carter

48 Hegel in Zitaten
Erklärt von Michael Quante

06 Hegel
«Ein Buch, das mir die
ganze Welt des Denkens
eröffnet hat!»
Denis Scheck

Exkurs
Hegel und
seine Kritiker
69 Götterdämmerung
Essay von Hanno Sauer
72 Gegner im Geiste
Perspektiven von Theresa
Schouwink
76 Hegel-Konjunkturen
Essay von Moritz Rudolph

3 824 Seiten | 57 Abbildungen | Broschiert


€ 25,– | (bp 6465) ISBN 978-3-406-78363-0

«Es ist eine Stärke des Buchs,


durch die Schilderung von Hegels
Recht und Leben viele Voraussetzungen von
dessen Werk sichtbar gemacht

4
Freiheit zu haben.»
Michael Hesse, WDR3

80 „ Wir müssen Individualität «In geschickter und anschaulicher


und Gemeinschaft Weise verbindet Vieweg Biogra-
fisches und Anekdotisches … mit
miteinander verbinden“
Gespräch mit Christoph Menke
84 Grundlinien der Philosophie
Geschichte, systematischen Überlegungen,
die aber stets dem lebensgeschicht-

Ästhetik,
lichen Denkweg folgen.»
des Rechts Micha Brumlik, taz

Religion
Überblick von Millay Hyatt
86 Das Pöbel-Problem
Essay von Jana Glaese
90 „Soziale Freiheit liegt in einem 100 Verrückte Geschichte
nichtentfremdeten Leben“ Essay von Slavoj Žižek
Gespräch mit Frederick Neuhouser 104 „Der Geist sind wir“
94 Hegel in Zitaten Gespräch mit Terry Pinkard
Erklärt von Michael Quante 108 „Hegel verabschiedet das
© Jan-Peter Kasper | FSU

Schönheitsideal der Kunst“


Gespräch mit Eva Geulen
112 Hegel in Zitaten
Erklärt von Michael Quante
114 Literatur und Impressum
Intro Perspektiven

Warum Hegel lesen?


Seine Werke gelten als äußerst schwer verständlich und dennoch
wird Hegel weiter gelesen. Prominente Personen aus Politik,
Literatur und Gesellschaft erzählen, warum sich die Auseinander­-
setzung mit diesem Philosophen auch heute lohnt

Mithu Sanyal,
Kulturwissenschaftlerin
und Autorin

Der Grund, warum ich Hegel schät-


ze? Hegel hasste Indien. Genauer:
Hegel hielt indische Philosophie für
wertlos – ja, sprach ihr ab, überhaupt
Philosophie zu sein –, trotzdem war
er intellektuell ehrlich genug, sich
auch nach diesem Urteil intensiv mit
ihr auseinanderzusetzen. Keiner sei-
ner indophilen Zeitgenossen, wie
Schelling oder Schopenhauer, arbei-
tete sich tiefer in die indische Philo-
sophie ein. Hegel hingegen konnte
schier nicht aufhören, über Indien
nachzudenken. Und zu schreiben:
80 000 Worte! So viel Platz widmete
er sonst nur noch der griechischen
Philosophie. „Man kann Hegel Arro-
ganz vorwerfen, aber keine Igno-
ranz“, bringt die Philosophin Nikita
Dhawan sein komplexes Verhältnis zu
dem auf den Punkt, was ihm letztlich
wie der dunkle Doppelgänger seiner
eigenen Philosophie erscheinen wür-
de. Denn irgendwann beschlich He-
gel der Verdacht, dass Indien sein
Konzept des absoluten Geistes schon
Jahrhunderte zuvor durch die Idee
„Hegel konnte schier
des „Brahman“ vorweggenommen nicht a­ ufhören, über Indien
hatte. Jemand, der über etwas, das er
verachtete, so produktiv reflektierte,
nachzudenken“
ist es wert, gelesen zu werden. – Mithu Sanyal

08 Hegel
„Phänomenologie“ Satz für Satz, par-
allel und danach noch vier Semester
nur die „Logik“ und die hegelsche
Geschichtsphilosophie. Später lasen
wir natürlich Marx – aber das war der
Unterschied zu den deutschen Stu-
denten, die damals zuerst Marx lasen,
dann bei Lenin erfuhren, dass man
Hegel gelesen haben musste, um
Marx verstehen zu können –, in Wien
lasen wir alles in der richtigen Rei-
henfolge … um am Ende von Paul
Feyerabend erlöst zu werden. Ich
habe durch Hegel viel begriffen, eine
Zeit lang dachte ich: alles! Heute ist
mir vieles unbegreiflich. Zum Bei-
spiel, wie man glauben kann zu den-
ken, wenn man nicht dialektisch
denkt. Oder wie es möglich ist, dass
bei den gegenwärtigen Identitätsdis-
„Ich habe durch Hegel viel b ­ egriffen, kussionen niemand mehr daran erin-
nert, wie Hegel diesen Unsinn weg-
eine Zeit lang dachte ich: alles!“ gewischt hatte – den Glauben, dass
– Robert Menasse die radikale Ausdifferenzierung des
Ganzen die Wahrheit wahrnehmbar
macht, statt anzuerkennen, dass die
Wahrheit das Ganze ist, zusammen-
gefasst in einem Satz, der heute so
ketzerisch wie saukomisch ist: Die
Identität ist die Identität der Identität
mit der Nichtidentität. Wer sich nicht
aufgehoben fühlt in der Gattung, ge-
winnt nichts, wenn er als Besonder-
heit „sichtbar“ ist. Hegel-Lektüre
Robert Menasse, kann etwas bewirken, das heute, wie
österreichischer Schriftsteller ich immer wieder höre, gesucht ist:
und Essayist die Kompetenz, Widersprüche zu be-
greifen und aufzuheben. Für die Stu-
Z u meinen Studienzeiten hatte ich dentenzeitung schrieb ich damals un-
das Glück, dass die Wiener Philoso- ter dem Pseudonym Bluthegel. Ich
phie noch eine starke hegelianische denke, ich hätte dieses Pseudonym
oder wie andere sagten: verhegelte behalten sollen. Vielleicht hätte ich
Tradition hatte. Als ich die ersten Sei- mir einige Missverständnisse erspart.
ten der „Phänomenologie des Geistes“
las, wusste ich sofort, dass ich „mei-
Fotos: Dominik Asbach/laif; Rafaela Pröll

nen“ Philosophen gefunden hatte.


Keinen Mann mit klugen Gedanken,
sondern den Geist von Selbst- und
Weltverständnis. Wir diskutierten
mit Professor Michael Benedikt (des-
sen Name unbedingt erinnert werden
muss!) sechs Semester lang die ganze

Sonderausgabe Nr. 24 09
Intro Perspektiven

Judith Butler, „Die ‚Phänomeno­ welche Art von Zukunft möglich ist.
Maxine Elliot Professor für Hegels „Phänomenologie“ richtet den
­Gender Studies und Kritische logie‘ richtet Blick auf die Erfahrung des Um-
Theorie
den Blick auf die bruchs und ihre unerwarteten Mög-
lichkeiten. Die räumlichen und zeit-
W ährend überall auf der Welt reak- Erfahrung des lichen Koordinaten unserer Welt sind
tionäre Kräfte auftreten, oft um eine
Rückkehr zu einer Zeit zu fordern, in
Umbruchs und ihre nicht mehr dieselben, für die wir sie
einst hielten. Die Wege des Wissens,
der eine andere „Rassen“- und Ge- unerwarteten die sicher schienen, sind sich ihrer
schlechterordnung herrschte, fragen
sich viele Linke: In welcher Zeit leben
Möglichkeiten“ selbst nicht mehr sicher. Das Ergeb-
nis ist jedoch weder Nihilismus noch
wir? Vermögen wir überhaupt zu sagen, – Judith Butler die stetige Zerstörung aller unserer
welche Zeit wir erleben? Die zeitliche Vorannahmen. Was sich daraus er-
Desorientierung unserer Tage wird gibt, ist ein Wandel, dessen Form wir
durch die Aussicht auf die Klimazer- nicht vorhersehen können, sondern
störung noch verschärft, eine globale den wir durchlaufen müssen. Obwohl
Situation, die viele Menschen, jünge- viele meinen, Hegel verstehe die Ge-
re wie ältere, im Unklaren darüber schichte als Marsch hin zu einem
lässt, welche Zukunft es für das vorherbestimmten Ende, ist seine
menschliche Leben und Lebenspro- „Phänomenologie“ genau genommen
zesse aller Art geben wird. Mitten im keine Teleologie. In unserer Zeit ist
Krieg wissen viele Menschen nicht, Hegels Darstellung der Geschichte
eine Darstellung der wiederkehren-
den Krise. Und die immer tiefer ge-
hende und drängendere Frage stellt
sich in folgender Weise: Wie kann die
Welt erneuert werden, ohne die Idee
des Menschen, die uns an diesen Ab-
grund gebracht hat, wieder in den
Mittelpunkt zu stellen? Die Antwort
besteht darin, die radikale Interde-
pendenz von Lebensbeziehungen
und Wesen zu bejahen, die ohne ein-
ander weder leben noch gedeihen
können – eine Solidarität von und für
die Lebenden gegen die Kräfte der
Zerstörung.

„Wer sich auf ihn


beruft, wird von
Hegel fast immer
blamiert“
– Dietmar Dath
Karl Lauterbach, Gesundheits­
minister und Mediziner

Ob Hegel selbst Mitglied im Corona-


Expertenrat der Bundesregierung ge-
worden wäre? Vielleicht hätte er ge-
sagt, dass sein persönliches Mitwirken
nicht notwendig sei, solange alle für die
Einschätzung der Situation relevanten
Einzelwissenschaften vertreten seien.
Seine Grundeinsicht ist ja, dass nur alle
Arten von Wissen zusammen die
Wahrheit erkennen lassen. Eine „be-
sondere Wissenschaft“ (wie Hegel for-
muliert) erkennt das Besondere, das sie
sich zum Gegenstand gemacht hat –
zum Beispiel die Virologie die Beschaf-
fenheit eines neuen Virus. Anderes Be-
sonderes wird von anderen Disziplinen
erkannt. Nur im Zusammenkommen,
ja im Widerspruch unterschiedlicher
Perspektiven erwächst die Erkenntnis
des Ganzen. Dieser „dialektische“ Pro-
zess lässt sich nicht abkürzen, sondern
nur konkret durchlaufen. Das ist be-
sonders hart, wenn etwas Unbekanntes
wie etwa ein neues Virus auftritt und
„Hegels Philosophie ermutigt in Ungewissheit gehandelt werden
uns, an Widersprüchen zu lernen muss. Hegel wäre nicht verwundert,
wenn im Laufe der Pandemie die
und zu wachsen“ Wissenschaften zu neuen Einsichten
kommen. Im Gegenteil: Seine Philo-
– Karl Lauterbach
sophie ermutigt uns, an Widersprü-
chen zu lernen und zu wachsen.

Dietmar Dath,
Journalist und Autor

Unter den berühmten Deutschen gibt persönlich kennengelernt hat, anders


es drei, die mit der Vernunft Ernst ge- als Vernunft oder Verstand, die zu
macht haben. Kant konnte zeigen, missbrauchen die meisten Menschen
wie unfassbar langweilig sie oft ist. täglich Gelegenheit haben. Seit er tot
Marx wies nach, dass sie auch lustig ist, geht Hegel durch allerlei deutsche
und nützlich sein kann. Hegel inter- Köpfe wie ein heißer Wind durch
Fotos: Cayce Clifford; Nikita Teryoshin; Katrin Binner

essierte sich für ihre Anwendungen Vorhänge, die sich zu Unrecht für
und Folgen nur am Rande, weshalb es Wände ernst zu nehmender Gedan-
ihm allein gelang, die volle Spannwei- kenbauten halten. Manchmal ra-
te der Flügel dieser bösen Göttin dar- scheln sie hübsch. Wer sich auf ihn
zustellen. Dabei war es ihm nicht beruft, wird von Hegel fast immer
vordringlich um die Vernunft oder blamiert. Diejenigen unter uns, die
den Verstand zu tun, sondern um den das wenigstens merken, haben dann
Geist, den außer ihm niemand je etwas gelernt. Die anderen nicht.

Sonderausgabe Nr. 24 11
Intro Perspektiven

Gertrude Lübbe-Wolff, emeritierte zusammengesucht, an welchen Institu-


Professorin für Öffentliches tionen – vom sozialstaatlichen Schutz
Recht und ehemalige Richterin vor existenzieller Not über eine funk-
des Bundesverfassungsgerichts tionsfähige und -willige, nicht kor-
(2002 – 2014) rupte Polizei und Justiz bis zur Stra-
ßenbeleuchtung  – es liegt, wenn wir
Hegel hat wie kein anderer die Be- sicher durch die Straßen gehen kön-
deutung der Institutionen für die nen, und woran es fehlt, wo das nicht
Entwicklung gesellschaftlicher Ver- möglich ist. Hegel zu studieren,
hältnisse durchdrungen und analy- schärft das Bewusstsein für die an-
siert – „Institutionen“ dabei im wei- spruchsvollen institutionellen Vor-
testen Sinne verstanden als die aussetzungen allen Fortschritts zum
menschengemachten Einrichtungen, Besseren und schützt vor naivem
die unser Verhalten und unsere Ein- Moralismus. Das ist heute wichtiger
stellungen prägen, einschließlich der denn je.
Regeln des Rechts. Meinen Studen-
ten habe ich dazu gern die Stelle aus
dem Zusatz zu Paragraf 268 der
Rechtsphilosophie zitiert: „Geht je-
mand zur Nachtzeit sicher auf der
Straße, so fällt es ihm nicht ein, dass „Hegel schärft das Florian Schroeder,
dieses anders sein könne, denn diese
Gewohnheit der S ­icherheit ist zur
Bewusstsein für Kabarettist und Moderator

andern Natur g ­eworden, und man die Voraussetzungen In einer Zeit, die Selbstbestätigung
denkt nicht gerade nach, wie dies erst zum höchsten Gut ernannt hat, wird
die Wirkung b ­ esonderer Institutio-
­allen Fortschritts“ Hegel zum Anwalt des Teufels. Hegel
nen sei.“ Dann haben wir gemeinsam – Gertrude Lübbe-Wolff spricht von der „Macht des Negati-
ven“, welcher der Mensch „ins Ange-
sicht schauen“, bei welcher er „verwei-
len“ soll. Das muss für gegenwärtige
Ohren wie eine Provokation klingen,
geht es doch heute vor allem darum,
dem Negativen auszuweichen, angeb-
lich konstruktiv zu sein. Selbst die
Psychologie hat einen Zweig entwi-
ckelt, der sich positiv nennt – ein Wi-
derspruch in sich. Nehmen wir das
Dunkle, das Negative, das Fremde in
uns selbst nicht wahr, werden wir
zwangsläufig verhärten und verdum-
men. Jeder Fortschritt beginnt durch
und bei Negativität. Zugleich ist die-
ses Negative nie das letzte Wort. Ge-
nau wie das Positive wird es aufgeho-
ben in einem Höheren, dem „an und
für sich“. Dieser dritte dialektische
Fotos: Julia Sellmann; Anja Weber (2)

Schritt ist wiederum nur der Anfang


der nächsten dialektischen Bewegung.
Dieses Denken in Bewegung, des
Werdens macht Hegel so schwierig,
komplex und abschreckend. Hegel ent-
zieht sich der einfachen Definition,

12 Hegel
seine Begriffe schweben und führen „Hegel ist unver- Thea Dorn,
ihre Bedeutung mit sich wie ein Fluss Schriftstellerin und
sein Ufer. Für das Wikipedia-Zeital-
schämt. Er erfordert Literaturkritikerin
ter die wohl maximale Provokation. Beweglichkeit, das
Hegel fordert heraus, indem er uns Hegel zu lesen, ist wie eine Fahrt in
zwingt, uns einzulassen, innerhalb des Gegenteil der herr- der Geisterbahn. Seitenweise nichts
Gedankens zu sein und zugleich schenden moralischen als Dunkelheit, die Ahnung, dass sich
draußen im System. Kurz: Hegel ist etwas Bedrohliches verbirgt, und
unverschämt. Er erfordert Beweg- Selbstgewissheit“ plötzlich springt einen wirklich ein
lichkeit, das Gegenteil der herrschen- – Florian Schroeder dämonischer Satz oder Halbsatz an,
den moralischen Selbstgewissheit. grell angestrahlt, die Konturen er-
schreckend scharf: „(…) ihre Freiheit
ist gestorben an der Furcht zu ster-
ben“. „Der Krieg (…) hat die höhere
Bedeutung, dass durch ihn (…) die
sittliche Gesundheit der Völker (…)
erhalten wird, wie die Bewegung der
Winde die See vor der Fäulnis be-
wahrt, in welche sie eine dauernde
Ruhe, wie die Völker ein dauernder
oder gar ein ewiger Friede versetzen
würde.“ Solche Sätze muss man aus-
halten können, heute zumal. Ich glau-
be, wir sollten sie aushalten. Nicht um
„das sittliche Moment des Krieges“
zu verherrlichen, wie Hegel es tat.
Sondern um schaudernd zu erkennen,
in welcher Aporie sich eine freiheitli-
che Gesellschaft befindet, in der die
Angst, das Leben, die Gesundheit und
den Wohlstand zu riskieren zur alles
dominierenden Angst geworden ist.

„Hegel zu lesen,
ist wie eine Fahrt in
der Geisterbahn.
Seitenweise nichts
als Dunkelheit,
die Ahnung, dass
sich etwas Bedroh­
liches verbirgt“
– Thea Dorn

Sonderausgabe Nr. 24 13
Intro Essay

Welcher Mensch steht hinter Hegels abstrakter


Systemphilosophie? Welche Erlebnisse und
Begegnungen prägten sein Denken? Und wie sahen
ihn seine Zeitgenossen? Ein Essay über einen
so absonderlichen wie wagemutigen Philosophen
Von Sebastian Ostritsch

Das Versprechen
der Vernunft
Berlin wollte man wissen, was Hegel über die Sache denkt.
Die Hegel-Manie ging so weit, dass sie schließlich den
Neid des Königs provozierte: Als Hegel an seinem 56. Ge-
burtstag ein rauschendes Fest feierte, sorgte die darauf-
folgende Berichterstattung in der Vossischen Zeitung für
großen Unmut bei Friedrich Wilhelm III. Seine eigene
Geburtstagsparty wurde im Vergleich dazu kaum gewür-
Sebastian Ostritsch lehrt und forscht am Institut für digt! Er beschloss daher, Meldungen über private Feiern
Philosophie der Universität Stuttgart. Er wurde mit einer von nun an zu verbieten.
Arbeit über Hegels Rechtsphilosophie promoviert und Was faszinierte die Zeitgenossen derart an Hegel? Er
arbeitet außerdem zur Philosophie der Zeit, Ewigkeit
und des Computerspiels. 2020 erschien von ihm „Hegel.
war, wie sein Schüler und erster Biograf Karl Rosenkranz
Der Weltphilosoph“ (Propyläen) schrieb, eine „gesättigte, einsammelnde Herbstnatur“ und
daher niemand, der mit überbordendem, oberflächlichem
Wer in den 1820er-Jahren an der Berliner Universität stu- Charme seine Zuhörer in den Bann geschlagen hätte.
dierte, dürfte allenthalben mit Kreide- und Bleistiftkritze- Stattdessen war sein Charakter von einer gewissen Sprö-
leien an den Wänden konfrontiert gewesen sein, die von digkeit und Bedächtigkeit, was ihm bereits als Student den
„Aufhebung“, der „Wahrheit des Ganzen“ oder dem „Ab- Spitznamen „der Alte“ einbrachte. In seinen Vorlesungen
soluten“ kündeten. Der Grund für diese philosophischen trug er seine ohnehin schon schwer verständlichen Ge-
Autorenfoto: Marc Alter; Illustration: Matheus Pedreira

Graffiti war die enorme Popularität von Georg Wilhelm danken zu allem Überfluss auch noch auf Schwäbisch vor.
Friedrich Hegel, der von 1818 bis zu seinem Tod 1831 in Und trotzdem strömten außer den regulären Studenten
Berlin lehrte. Der 1770 in Stuttgart geborene und aufge- auch die Berliner Honoratioren in Hegels Veranstaltun-
wachsene Hegel, der eine recht steinige und von Umwe- gen. Wie lässt sich diese rätselhafte Beliebtheit erklären?
gen gekennzeichnete akademische Karriere hinter sich Wenn es nach Arthur Schopenhauer geht, der aus purem
hatte, wurde in der preußischen Hauptstadt zu einem phi- Trotz seine Vorlesungen auf dieselbe Uhrzeit legte wie
losophischen Superstar, dessen Ruhm weit über den Hör- Hegel, war jener schlicht „ein Scharlatan“, ein schamloser
saal hinausstrahlte. Gleich ob es sich um Neuigkeiten aus Trickbetrüger, dem es gelungen war, unverständlichen
Kunst, Kultur, Wirtschaft oder Wissenschaft handelte: In Unsinn als tiefe Weisheit zu verkaufen.

14 Hegel
Spröde, kompliziert – und dennoch lebt
sein Ruhm fort: Hegel als 3-D-Druck
Intro Essay

Einer ernsthaften Überprüfung hält dieser Vorwurf nicht „Hegel ist überzeugt, dass
stand. Hegels Philosophie ist schwierig, aber alles andere
als Nonsens. Zudem übersieht eine Kritik im Stile Scho-
die Vernunft dem Universum
penhauers, was die Menschen an Hegels Philosophie ei- selbst die tiefsten Geheimnisse
gentlich fasziniert, nämlich das Versprechen der Vernunft.
Hegel selbst drückt es so aus: „Wer die Welt vernünftig
zu ­entlocken vermag. Nichts
ansieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in könne der Macht der Vernunft
Wechselbestimmung.“ Damit will Hegel seine Überzeu-
gung zum Ausdruck bringen, dass die Vernunft dem Uni-
widerstehen“
versum selbst die tiefsten Geheimnisse zu entlocken ver-
mag. Nichts, weder Natur noch Geschichte noch die geben. Außerdem seien alle Erkenntnisansprüche darauf
soziale Wirklichkeit, kann laut Hegel der Macht der Ver- zu beschränken, wie die Dinge uns erscheinen. Wie sie an
nunft widerstehen. Freilich hält er nicht alles, was es gibt, sich – also unabhängig von der Aktivität unseres Verstan-
für durch und durch vernünftig – das zu behaupten, wäre des und unserer raumzeitlichen Sinnlichkeit – sind, darü-
kein Vernunftoptimismus, sondern Zynismus. Allerdings ber lasse sich nichts sagen. Wenn es auch wohl gar nicht
beharrt er darauf, dass selbst das Unvernünftigste noch Kants Absicht gewesen sein dürfte, wurde seine kritische
den Keim der Vernunft in sich trägt. Denn nur so könne es Philosophie von vielen als ein substanzieller Schlag gegen
überhaupt irgendwie verstanden oder auch nur als unver- das philosophische Wissen als solches empfunden. Nicht
nünftig kritisiert werden. umsonst nannte der jüdische Aufklärungsphilosoph Mo-
Dass diese These von der Herrschaft der Vernunft ses Mendelssohn Kant den „Alleszermalmer“.
derart zu begeistern wusste, hat sicherlich auch damit zu Hegel war mit den Arbeiten des Alleszermalmers bes-
tun, dass erst wenige Jahrzehnte zuvor Immanuel Kant tens vertraut. Bereits während seiner Studienzeit am Tü-
den überbordenden Vernunftansprüchen der Metaphysik binger Stift, wo er von 1788 bis 1793 Philosophie und
vergangener Zeiten den Garaus gemacht zu haben schien. evangelische Theologie studierte, waren die kantischen
In seiner „Kritik der reinen Vernunft“, die 1781 in erster Schriften ein heiß diskutiertes Thema unter den Studen-
und 1787 in stark überarbeiteter zweiter Auflage erschien, ten. Allerdings tauchte zur selben Zeit auch ein anderer
setzte Kant den Erkenntnisansprüchen des Menschen Name wieder auf, der für Hegel – wie auch für seine bei-
neue und enge Grenzen: Die Grundstrukturen der Reali- den Freunde Friedrich Hölderlin und Friedrich Wilhelm
tät hätten ihren Ursprung in den Erkenntnisvermögen Joseph Schelling – enorm wichtig werden sollte: Spinoza.
des Subjekts, genauer gesagt im Verstand und seinen Ka- Dieser war zwar bereits seit über 100 Jahren tot, aber sein
tegorien einerseits sowie den Formen der Sinnlichkeit von Denken erlebte in den Berliner Intellektuellensalons eine
Raum und Zeit andererseits. Erkenntnis sei nur möglich, Wiedergeburt, nachdem die Nachricht die Runde machte,
wenn Verstand und Sinnlichkeit zusammenwirkten. Eine dass sich Gotthold Ephraim Lessing, eine der zentralen
Erkenntnis der übersinnlichen Welt könne es daher nicht Figuren der Aufklärung in Deutschland, auf seinem Ster-
bebett zum Spinozismus bekannt hätte. Im Zentrum von
Spinozas Hauptwerk, der 1677 posthum erschienenen
Hegel-Denkmal vor „Ethik“, stand der Gedanke, dass Gott und die Natur
dem „Studenten­
letztlich ein und dasselbe sind. Unter Gott=Natur wiede-
speisehaus“, Ecke
Dorotheenstraße in rum verstand Spinoza nicht so sehr ein statisches Ensem-
Berlin, 1885 ble natürlicher Dinge (natura naturata), sondern vor allem
den ganzheitlichen Prozess, der sie hervorbringt (natura
naturans). Kant hatte zwar die Erkenntnis auf die Erschei-
nungen im Diesseits beschränkt, im Glauben an einen jen-
Fotos: bpk-Bildagentur; bpk/Staatsbibliothek zu Berlin

seitigen Gott aber nichts Vernunftwidriges erkennen kön-


nen. Die Existenz Gottes war, im Gegenteil, sogar ein
Postulat – also eine unbeweisbare, aber doch notwendige
Behauptung – der praktischen Vernunft. Dagegen räumte
Spinoza die Idee eines transzendenten Schöpfergottes
vollkommen ab. Das eigentliche Göttliche war für ihn die
diesseitige Wirklichkeit, verstanden als ein dynamisches,
vernünftiges Ganzes. An die Stelle eines personalen Got-
tes trat das All-Eine.

16 Hegel
Die spinozistische Idee des All-Einen sollte Hegel nicht
mehr loslassen. Von Kant wiederum übernahm er den Ge-
danken, dass die erste Aufgabe der Philosophie darin be-
stünde, das Denken über sich selbst aufzuklären. Hegels
erster großer Versuch, dies zu leisten, war die „Phänome-
nologie des Geistes“. Verfasst hat sie Hegel in Jena. Dort-
hin hatte es ihn 1801 nach zwei wenig ruhmreichen Sta-
tionen als Hauslehrer in Bern und Frankfurt gezogen. Das
Erbe des verstorbenen Vaters sowie die Unterstützung
seines jüngeren Freundes Schelling, der dort bereits als
Professor wirkte, machten dieses ökonomische und akade-
mische Wagnis möglich. Allerdings kam Hegels akademi-
sche Laufbahn in Jena schon recht bald zu einem Ende.
Schuld war vor allem die politische Lage, die sich seit Aus-
bruch der Französischen Revolution im Jahr 1789 nicht
beruhigen wollte. Zwar hatte Napoleon die Revolution
für beendet erklärt, überzog daraufhin aber Europa mit
Krieg. Als seine Truppen im Oktober 1806 Jena einnah-
men, machte Hegel sich mit den gerade noch geretteten
Manuskriptbögen der „Phänomenologie“ auf die Flucht
nach Bamberg, wo er eine Stelle als Zeitungsredakteur an-
treten sollte. Allerdings verließ er die Stadt nicht, ohne
noch einen Blick auf Napoleon höchstpersönlich zu er-
haschen, den Hegel als den Begründer einer neuen, frei-
heitlichen europäischen Ordnung verehrte und von dem
er sogar als „Weltseele“ schwärmte.

Bildungsreise des Bewusstseins


Die „Phänomenologie“ ist eine Art Bildungsreise des Be-
wusstseins, durch die es über sich selbst und sein Verhält-
nis zur Welt aufgeklärt werden soll. Dabei unterläuft das
Bewusstsein eine Metamorphose nach der anderen: Es
entdeckt, dass es selbst ganz anders beschaffen sein muss,
als es zunächst dachte. So reiht sich Bewusstseinsgestalt an
Eigenhändige Anmerkungen Hegels in seinem ­Manuskript Bewusstseinsgestalt, bis es schließlich im „absoluten Wis-
der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Berlin 1821 sen“ zur gelingenden Selbsterkenntnis kommt: Das Be-
wusstsein erkennt die Identität von Denken und Sein, von
Subjekt und Objekt. Als 1831 eine Neuauflage der „Phä-
nomenologie“ im Gespräch ist, notiert sich Hegel: „Ei-
genthümliche frühere Arbeit, nicht Umarbeiten [sic].“
Der Verfasser selbst war also später nicht mehr ganz von
seinem ersten großen Werk überzeugt.
Die Veröffentlichung der „Phänomenologie“ bringt
Hegel zunächst keinen akademischen Ruhm, ja nicht ein-
mal eine Stelle an einer Universität ein. Dennoch gelingt
„Die Veröffentlichung der es ihm, endlich aus dem prekären Arbeitsverhältnis als Re-
‚Phänomenologie‘ bringt Hegel dakteur in eine sichere Stellung zu gelangen: 1808 wird er
auf Vermittlung seines Freundes Friedrich Immanuel
zunächst keinen akademischen Niethammer zum Rektor des Nürnberger Gymnasiums
ernannt. 1811 heiratet er und wird in den nächsten Jahren
Ruhm, ja nicht einmal eine Vater zweier Söhne. Es ist erstaunlich, dass Hegel, der nun
Stelle an einer Universität ein“ vom bürgerlichen Leben ganz in Beschlag genommen

Sonderausgabe Nr. 24 17
Intro Essay

zu sein scheint, dennoch Zeit zum Philosophieren findet. „Um dialektisch zu denken, muss
Er verfasst sein vielleicht wichtigstes und beeindruckends-
tes Werk, „Die Wissenschaft der Logik“, deren drei Bü-
man mitnichten einem starren
cher 1812, 1813 und 1816 erscheinen. Schema folgen, sondern sich viel-
Reines Denken, reines Sein mehr dem lebendigen Rhythmus
In der „Logik“ wird die bereits angesprochene, von Kant des Denkens hingeben“
inspirierte Idee, das Denken einer Selbstaufklärung zu
unterziehen, auf ebenso radikale wie geniale Weise voran-
getrieben. Hegels Ausgangsfrage könnte minimalistischer als dieser Prozess der begrifflichen Entfaltung. Um dia-
nicht sein: Was geschieht, wenn man einmal rein, das heißt lektisch zu denken, muss man daher mitnichten einem
ganz ohne Voraussetzungen zu denken beginnt? Der erste starren Schema von These, Antithese und Synthese fol-
Gedanke, auf den man nach Hegel kommt, wenn man gen, sondern sich vielmehr dem lebendigen Rhythmus des
nichts Bestimmtes voraussetzt, ist schlicht das „reine Denkens hingeben.
Sein“. Dieses Sein beschreibt nicht, wie oder was etwas Auf dialektische Weise spannt sich in der „Logik“ nun
ist – von einem etwas oder gar einem Ding kann auch noch ein begriffliches Netzwerk auf, das in seiner dynamischen
keine Rede sein. Vielmehr geht es nur um das bloße Dass. Ganzheit bei Hegel den Namen „der Begriff“ erhält. Der
Es handelt sich, mit anderen Worten, um ein ganz inhalts- Begriff – den es so nur im Singular gibt – ist das, was alles
loses oder leeres Sein. Genau genommen ist das derart Begreifen möglich macht und zu dem sich kein Außen-
minimalistisch gedachte Sein nichts anderes als die Leere standpunkt einnehmen lässt. Anders als für Kant hat sich für
selbst – oder eben: nichts. Das Sein entpuppt sich also als Hegel daher auch die Rede von einem für uns unerkenn-
das Nichts! Umgekehrt lässt sich auch das Nichts nicht baren Ding an sich erübrigt: Es gibt schlicht nichts, was
vom Sein unterscheiden, ist es doch, wie auch das Sein, das gänzlich jenseits des Begriffs läge. Metaphysik und Ontolo-
gänzlich Unmittelbare und Unbestimmte. Sobald wir gie sind damit auf kritischem Wege zurückerobert worden,
aber darauf aufmerksam werden, wie das Sein im Nichts der totale Herrschaftsanspruch der Vernunft ist erneuert.
und das Nichts im Sein verschwindet, wie das eine in das Dass der Begriff – und damit die Vernunft – in der Tat
andere übergeht, haben wir auch schon einen dritten Ge- die gesamte Wirklichkeit durchdringt, will Hegel in einem
halt vor unserem geistigen Auge entdeckt: das Werden. weiteren Werk, seiner „Enzyklopädie der philosophischen
Damit ist freilich nur der Anfang der „Logik“ ge- Wissenschaften“, zeigen. Deren erste Auflage erscheint
macht. Jedoch zeigt sich hier bereits Hegels große Ent- 1817 in Heidelberg; Hegel ist dort inzwischen auf seine
deckung, nämlich dass das Denken in sich und aus sich erste Professur berufen worden. Zwei überarbeitete Fas-
heraus bewegt ist. Wer sich auf einen Begriff einlässt und sungen der „Enzyklopädie“ folgen 1827 und 1830. Dieses
seiner inneren Logik folgt, der wird über diesen Begriff als Vorlesungskompendium konzipierte Werk enthält ne-
selbst hinausgeführt auf einen neuen, reichhaltigeren Be- ben einer Kurzfassung der „Wissenschaft der Logik“ auch
griff, der selbst wieder einem solchen Wandel unterliegt. eine „Realphilosophie“. Denn die hegelsche Logik ist für
Hegels berühmt-berüchtigte Dialektik ist nichts anderes sich genommen nur ein „Reich der Schatten“, aus dem

Illustre Runde in Weimar 1803: Hegel (6. v. links) umgeben


von den großen Denkern der Zeit, darunter Fichte, Goethe
und die Brüder Humboldt
Foto: bpk-Bildagentur

18 Hegel
alles Sinnliche und Reale verbannt ist. Um das Reale geht
es in den beiden anderen Teilen von Hegels enzyklopädi-
schem System: der „Naturphilosophie“ und der „Philoso- Neu im Programm
phie des Geistes“. Auch wenn Hegels „Naturphilosophie“
in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der For-
schung gerückt ist – unter anderem, weil man sich von ihr
Antworten auf die ökologische Krise verspricht –, beruht ACADEMIA
Hegels Ruhm doch vornehmlich auf seiner „Philosophie
des Geistes“. Diese umfasst bei ihm weit mehr als eine phi- Band 22
Helmut Schneider [Hrsg.]

Jahrbuch für Hegelforschung


losophische Psychologie oder „Philosophy of Mind“. Jahrbuch für
Geistig ist für Hegel auch die Welt der sozialen Institutio- Hegelforschung
nen, der Kunst, der Religion und der Philosophie. 2023, ca. 247 S.,
Als Professor in Berlin entfaltet Hegel sein System brosch., ca. 42,– €
vornehmlich in seinen Vorlesungen und veröffentlicht ISBN 978-3-98572-077-4
mit den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ E-Book 978-3-98572-078-1
(1820/1821) nur eine weitere Monografie. Bei den (Jahrbuch für
Hegelforschung, Bd. 22)

Helmut Schneider (Hrsg.)


„Grundlinien“ handelt es sich um eine eigenständige Syn-
Erscheint ca. April 2023
these aus Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie. Schon zu
Lebzeiten haben Kritiker Hegel vorgeworfen, mit diesem ACADEMIA

Werk den Preußischen Staat und die Restauration ver-


herrlicht zu haben. Im 20. Jahrhundert haben Karl Popper
Hegels Denken bleibt in seinem Problembewusstsein
und andere Hegel sogar als Vordenker des Totalitarismus und Problembestand bedeutsam. Das Jahrbuch will zur
verunglimpft. Derartige Vorwürfe sind aber völlig aus der Erschließung der Philosophie Hegels beitragen durch
Luft gegriffen. Auch wenn Hegel sich im Laufe seines Le- Editionen neuer Hegeltexte, Interpretationen und biblio-
bens vom naiven Revolutionsbegeisterten zu einem scho- graphische Berichterstattung.
nungslosen Kritiker des revolutionären Terrors gewandelt
hatte, blieb er doch immer glühender Anhänger der Frei-
heitsidee. Sie steht auch im Zentrum der „Grundlinien“.
Einen Freiheitsbegriff, der das willkürliche Schalten und
Jörg Noller
Walten des Individuums ins Zentrum stellt, lehnt Hegel
zwar ab. Der Grund dafür ist aber nicht Freiheitsfeind- Geist und
Schillers Philosophie
des Geistes
Geisteswissenschaft 6
lichkeit, sondern die Einsicht, dass die Freiheit, die uns
wirklich erfüllt, in der selbstbestimmten Bindung an an- Jörg Noller
Zur ästhetischen Einheit
Schillers Philosophie
dere Menschen und Institutionen besteht. Hegel macht des Geistes von Vernunft und Natur
auf seine Weise mit der These des Aristoteles ernst, dass Zur ästhetischen Einheit von
Vernunft und Natur 2023, ca. 200 S., geb., ca. 49,– €
der Mensch ein gemeinschaftliches Lebewesen (zôon poli- ISBN 978-3-495-99938-7
tikón) ist, und gibt diesem Gedanken zugleich eine frei- E-Book 978-3-495-99939-4
heitsphilosophische Wendung: Eine freie, das heißt selbst- (Geist und Geisteswissen-
bestimmte Identität erhält das Individuum paradoxerweise schaft, Bd. 6)
nur in der Gemeinschaft. Die damit verbundene Einsicht, Erscheint ca. März 2023
dass es zur Verwirklichung menschlicher Freiheit eines
dritten Weges zwischen liberalem Individualismus einer-
Dieses Buch rekonstruiert Schillers Philosophie als eine
seits und gleichmacherischem Kollektivismus andererseits Philosophie des Geistes und befragt sie auf ihren syste-
bedarf, dürfte nichts von ihrer Aktualität verloren haben. matischen Gehalt. Im Zentrum stehen dabei seine The-
Dass sich die vernünftig aufgefasste Freiheit auf Dauer orie der Willensfreiheit und Bildung, seine Ethik und
gesehen auch in der Geschichte ihren Weg bahnt – und Ästhetik sowie sein Versuch, das Leib-Seele-Problem
zwar trotz Leid, Unglück und immer wieder aufkeimen- philosophisch zu klären.
der Barbarei! –, gehört ganz wesentlich zum hegelschen
Versprechen der Vernunft dazu. Es fordert unser Denken Nomos
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unweigerlich heraus, selbst dann, oder vielleicht sogar
umso mehr, wenn wir diesen Optimismus nicht teilen. Portofreie Buch-Bestellungen
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Intro Karte

Stationen eines Lebens


Ebenso wie heutige Universitätsgelehrte musste schon
Hegel seinen Lebensmittelpunkt häufig aus beruflichen
Gründen verschieben. Welche Orte, historischen
Ereignisse und biografischen Erfahrungen ihn prägten,
zeigt unsere Karte
Von Hendrik Buchholz

1770
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
wird im August als Sohn von
Georg Ludwig Hegel und Maria
Magdalena Louisa Hegel in
Stuttgart geboren.

Berlin

Jena

ab 1776
Frankfurt Der junge Hegel besucht das Gymnasium illustre
Bamberg in Stuttgart und interessiert sich für alte Sprachen,
Philosophie, Geschichte und Mathematik.

Heidelberg
Nürnberg

Stuttgart

Tübingen
Stuttgart

1770 – 1788

Bern

1770
Hölderlin und
Beethoven 1781
werden geboren. Kant veröffentlicht die
„Kritik der reinen Vernunft“.
Sieben Jahre später folgt die
„Kritik der praktischen Vernunft“.

20 Hegel
Tübingen; Jean-Pierre-Louis-Laurent Houël/Public Domain/Wikipedia; Public Domain/Wikipedia; Württembergische Landesbibliothek Stuttgart/Graphische Sammlungen

1793
Hegel wird Privatlehrer in Bern bei der
wohlhabenden Familie Steiger. In der Privat­
bibliothek der Steigers studiert er viele
bedeutende philosophische Werke
Bern
und beschäftigt sich auch mit theologischen
Abhandlungen. In der Auseinandersetzung 1793 – 1796 Frankfurt
mit Lessing und Kant verfasst er Schriften über
das Christentum.
1797 – 1801


„ Die Positivität der
1797
In Frankfurt wird Hegel Haus­
christlichen Religion“
lehrer der Familie Gogel. Hegel
schärft seine philosophischen
Kenntnisse besonders in der
politischen Philosophie; er setzt
sich mit Werken von Hume und
Montesquieu auseinander, aber
auch mit denen zeitgenössischer
um 1790 Philosophen wie Fichte.
Mit seinen Zimmergenossen
Friedrich Hölderlin (links
im Bild) und Friedrich Wilhelm
Joseph Schelling (rechts
im Bild) steht Hegel in regem 1799
intellektuellen Austausch. Hegels Vater stirbt. Dank eines großzügigen
In dieser Zeit intensiviert Erbes kann er sich einen Wechsel in
Hegel seine philosophischen eine wissenschaftliche Laufbahn leisten.
Interessen.


„ Der Geist des Christentums
und sein Schicksal“

1788
Mit 18 Jahren beginnt Hegel
ein Studium an der Eberhard
Tübingen Karls Universität in Tübingen.
1788 – 1793 Er studiert Evangelische
Theologie und Philosophie
und kommt im Tübinger Stift
Fotos: Public Domain/Wikipedia (2); Jacob Krull/Stadtmuseum

(Bild rechts) unter.

1794/1795
1789 Veröffentlichung von
Es kommt zum Sturm auf die Bastille; die Französi- Fichtes „Grundlage
sche Revolution nimmt ihren Anfang. Hegel und seine 1790 der gesamten
Zimmergenossen zeigen sich von den revolutionären Kant veröffentlicht Wissenschaftslehre“.
Ereignissen in Frankreich beeindruckt. Der Sturm auf die „Kritik der
die Bastille und seine Folgen werden Hegels Urteilskraft“.
Philosophie grundlegend beeinflussen.

Sonderausgabe Nr. 24 21
1801
In Jena beginnt Hegels Universitätskar-
riere mit einer Vorlesung über „Logik und
Metaphysik“. Ab 1802 gibt Hegel
zusammen mit Schelling das „Kritische
Journal der Philosophie“ heraus.
Jena

1801–1807 1805
Nachdem Hegel sich mit einer
Habilitationsschrift über Planeten­
bewegungen 1801 zum Privat­
dozenten qualifiziert hat, wird er 1805
zum außerordentlichen Professor
ernannt. Für diese Position hatte
Schelling ihn vorgeschlagen.
In dieser Zeit begegnet Hegel auch
mehrmals Goethe.

 „Kritisches Journal
der Philosophie“
 „Die Verfassung
Deutschlands“
 „Die Differenz des Fichteschen
und Schellingschen Systems der
Philosophie“

 „Phänomenologie
Februar 1807
des Geistes“
Hegel erfährt von der
unehelichen Geburt seines
ersten Kindes, Ludwig
Fischer. Der Sohn wird in
Jena von seiner Mutter
großgezogen und erst 1817
von Hegel aufgenommen.
Hegel wird jedoch Bamberg
zeitlebens ein schwieriges
Verhältnis zu seinem
1807–1808
erstgeborenen Sohn haben.

März 1807
Hegel wird für einige
Monate Chefredakteur Nürnberg
der Bamberger Zeitung.
Seine journalistischen
1808–1816
 „Wissenschaft
Versuche sind jedoch
der Logik“
nicht von Dauer. 1808 1811
In Nürnberg findet Hegel Hegel heiratet
eine Anstellung als Marie von Tucher.
Gymnasiallehrer, sein 1813 und 1814
Freund Friedrich I. kommen zwei
Niethammer kann ihn Söhne zur Welt,
erfolgreich für die Stelle Karl und Immanuel.
vorschlagen.

1800 1806
Schelling Napoleon besiegt die 1813
veröffentlicht
1804 preußischen Truppen bei
Kant, dessen Philo­- Die Völkerschlacht führt bei Leipzig zur
das „System Jena. Hegel erwartet Niederlage der französischen Truppen.
sophie von Hegel viel
des trans­ damals voll Vorfreude die Napoleon wird auf die Insel Elba verbannt.
rezipiert wurde, stirbt.
zendentalen französischen Einheiten. Hegel wird später über dessen Nieder-
Napoleon wird im
Idealismus“. Im Angesicht Napoleons lage sagen: „die Rechtlichkeit der Völker
selben Jahr in Paris
bezeichnet er den Eroberer hat diesen Koloss gestürzt“.
zum Kaiser gekrönt.
euphorisch als „Weltgeist
zu Pferde“.
22 Hegel
1818 1829
Hegel wird Lehrstuhlnachfolger von Hegel wird Rektor der
Johann Gottlieb Fichte. Seine Vorlesungen Berliner Universität.
erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Zeit
in Berlin wird Hegels Weltruhm begründen.  „Grundlinien der
Philosophie des Rechts“

 „Enzyklopädie der
 „Über die philosophischen
Berlin englische Wissenschaften im
1818–1831 Reformbill“ Grundrisse“
(2. u. 3. Aufl.)

1831
Hegel stirbt im
November
entweder an der
grassierenden
Cholera oder an
einem Magenleiden.

Heidelberg

1816–1818
Fotos: Kösener Archiv/Public Domain/Wikipedia; Peter Krafft/Deutsches Historisches Museum Berlin/
Public Domain; Public Domain/Wikipedia; Lithographie F. Kugler/Public Domain/Wikipedia; Jakob

1816
Hegel wird an der Universität
Schlesinger/Public Domain/Wikipedia; Eugène Delacroix/Public Domain/Wikipedia

Heidelberg Professor für


Philosophie.

1817
Er veröffentlicht die erste Auflage seiner
„Enzyklopädie“; hier findet sich eine
Gesamtdarstellung seines philosophi-
schen Systems, das sich in Logik, Natur
und Geist aufteilt.

 „Verhandlungen in der Versamm-  „Enzyklopädie der


lung der Landstände des philosophischen
Königreichs Württemberg im Wissenschaften“
Jahr 1815 und 1816“ (1. Aufl.)

1817 1819 1830


1814/1815 Das Wartburgfest findet Attentat auf den Schriftsteller Es kommt zur
Der Wiener am vierten Jahrestag August von Kotzebue. In der Julirevolution
Kongress und damit der Völkerschlacht von Folge werden die Karlsbader in Paris und
die Restauration Leipzig statt. Tausende Beschlüsse verabschiedet, zum Sturz der
in Europa beginnt, Studenten protestieren die die Pressefreiheit und Bourbonen­
die in direktem an diesem Tag für Lehrfreiheit an Universitäten herrschaft
Spannungsverhältnis einen Nationalstaat. drastisch einschränken. in Frankreich.
zu Hegels republika- Hegels Reaktion auf die Auch mehrere Studenten von
nischen Ideen steht. Ereignisse ist verhalten. Hegel werden verhaftet.

Sonderausgabe Nr. 24 23
Intro Essay

Während in Frankreich die Revolution wütet,


lebt Hegel als Student drei Jahre lang mit
Hölderlin und Schelling  auf einem Zimmer. Ihre
gemeinsame Zeit im Tübinger Stift ist ebenso
ungewöhnlich wie folgenreich

Die
Philosophen-WG
Von Kilian Thomas

Nur selten ist es in der Weltgeschichte der Fall, dass ein-


flussreiche Philosophen, noch dazu in der empfänglichs-
ten Zeit ihres Lebens, auf engstem Raum zusammenleben.
Umso erstaunlicher ist die Zusammenkunft von Georg
Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Hölderlin und Fried-
rich Wilhelm Joseph Schelling, die sich während ihres
Studiums drei Jahre lang ein gemeinsames Zimmer teilen.
Der Ort dieser verheißungsvollen Begegnung ist das Tü-
binger Stift, ein am Rand der Tübinger Altstadt liegendes
Studienhaus, in dessen Mauern sich ursprünglich ein Au-
gustinerkloster befand. Hegel ist 18 Jahre alt, als er im
Herbst 1788 aus seiner Heimatstadt Stuttgart in die kleine
Universitätsstadt Tübingen zieht, um dort ein Studium
der Theologie und Philosophie aufzunehmen. Im selben
Jahrgang mit ihm befindet sich Hölderlin, dessen Liebe
zur Poesie bereits erwacht ist, zwei Jahre später folgt
Schelling im jungen Alter von 15 Jahren. Mit sieben wei-
teren Stipendiaten beziehen sie im Herbst 1790 ein ge-
meinsames Schlaf- und Studierzimmer, auf dem sie bis
zum Sommer 1793 zusammenleben.
Die gemeinsame Zeit wird im Rückblick gern my-
thisch überhöht und vor dem Hintergrund ihrer späteren
Erfolge betrachtet. Oft wird von einem innigen Verhältnis
Hegel
Illustrationen: Lea Kontak

ausgegangen, das an das frühromantische Ideal der „Sym-


philosophie“ – des gemeinsamen Philosophierens im Ge-
spräch – erinnert. Dies gilt umso mehr, als jenes berühmte
„Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, an

24 Hegel
„Abendliche Gänge ins Wirtshaus
oder zu Frauen werden mit Kerker­
haft bestraft. Hegel fällt dieser
Regelung wiederholt zum Opfer“

Haltung von den Stipendiaten erwartet wird. Meist steht


man vor Sonnenaufgang auf und trifft sich zum gemeinsa-
men Gebet, bevor sich jeder der ersten Lerneinheit des
Tages widmet. Abendliche Gänge ins Wirtshaus oder gar
zu Frauen werden mit Kerkerhaft bestraft. Auch Hegel
Hölderlin fällt dieser Regelung wiederholt zum Opfer, weil er be-
trunken oder zu spät nach Hause kommt. Selbstredend
wird auch das Christentum auf dogmatische Weise gelehrt,
immerhin soll aus den Stiftlern die nächste Generation an
Pfarrern hervorgehen. Diese religiöse Ausrichtung bringt
Nietzsche später dazu, im Gedanken an Hegel und Schel-
ling den Deutschen Idealismus insgesamt als trügerisches
Projekt anzusehen. Denn unter seinem philosophischen
Deckmantel verberge sich, so Nietzsche, ein unverkennbar
christliches Antlitz, das die geistige Mitgift ihrer Zeit in
Tübingen sei: „Man hat nur das Wort Tübinger Stift aus-
zusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philoso-
dem neben Hegel vermutlich auch Schelling und Hölder- phie im Grunde ist, – eine hinterlistige Theologie.“
lin beteiligt sind, nur wenige Jahre später entsteht. Bis Tatsächlich begehren die drei jedoch vielmehr gegen
heute wird die Urheberschaft dieses utopischen Manifests die dogmatische Theologie auf, die im Stift gelehrt wird.
diskutiert, das ebenso originell wie spekulativ eine künfti- Schelling spricht später in einem Brief von jenem Tübin-
ge Philosophie entwirft, die selbst vor revolutionärer ger „Priestertum, das neuerdings Vernunft heuchelt“.
Staatsskepsis nicht zurückscheut. Manche Gedanken pas-
sen zu dem genialischen Schelling, der anders als Hegel
bereits in jungen Jahren große philosophische Leistungen
erwarten lässt. Andere Ansätze wiederum erinnern an den
Dichter Hölderlin, der während ihrer gemeinsamen Zeit
in Tübingen ein umfangreiches und anspruchsvolles lyri-
sches Werk hervorbringt. Hegel, in dessen Handschrift
die Skizze überliefert ist, hat dagegen wohl lediglich die
Feder geführt. Einen eindeutigen Hinweis auf den geisti-
gen Urheber gibt es aber ebenso wenig, wie es Dokumen-
te zu ihrer Zeit in Tübingen gibt, die das wahre Verhältnis
des jungen Dreierbunds belegen.
Gesichert jedenfalls ist, dass ihr Aufenthalt im Stift von
einer strengen klösterlichen Lebensführung geprägt ist. In
Hegels Verpflichtungsurkunde zum Eintritt in das angese- Schelling
hene Studienhaus gelobt er in feierlichen Worten, „mit
allem Ernst und Fleiß zu studieren, besonders aber mich
auf keine andere Profession, dann die Theologiam zu le-
gen“. Ob er in jungen Jahren tatsächlich an eine geistliche
Laufbahn gedacht oder bei der Niederschrift dieser Zeilen
nicht vielmehr die Finger gekreuzt haben mag, sei dahin-
gestellt. Die Worte bezeugen jedoch eindrücklich, welche

25
Intro Essay

„Hegel, Hölderlin und Schelling Ansonsten gilt Hegel zu Studienzeiten als jemand, der
beteiligen sich an der schwärme­ ohne Zweifel fleißig und talentiert ist, sich aber weder
durch Genialität noch durch eigenständige philosophi-
rischen Begeisterung für die Ideen sche Gedanken auszeichnet. In den Worten eines mit ihm
befreundeten Kommilitonen „war Metaphysik Hegels Sa-
der Französischen Revolution“ che nicht sonderlich. Sein Held war Jean-Jacques Rous-
seau, in dessen Émil, Contrat social, Confessions; und
Auch Hegel geht in den Jahren nach seinem Studium ge- andere, bei denen ähnliche Sentiments herrschen, und
danklich eigene Wege und wendet sich ebenso gegen die worin man sich gewisser (all)gemeiner Verstandesregulie-
dogmatische Glaubenslehre wie gegen den aufgeklärten rungen, oder, wie H. sagte, Fesseln entledigte“. Seine ers-
Vernunftglauben. Stattdessen entwirft er ein Konzept der ten beruflichen Erfolge verdankt Hegel nicht zuletzt den
Volksreligion, dessen Lehre „auf der allgemeinen Vernunft Vermittlungen seiner Freunde, etwa ermöglicht ihm Höl-
gegründet“ sei, aber auch „Fantasie, Herz und Sinnlich- derlin eine Hauslehrerstelle in Frankfurt.
keit“ berücksichtige. Im „Ältesten Systemprogramm“ heißt Wenig bekannt ist, dass Hegel in jungen Jahren auch
es in ähnlicher Weise über die „Mythologie der Vernunft“, Gedichte verfasst hat. In einem Gedicht von 1796, das er
dass sie gedankliche Abstraktion und sinnliche Anschau- Hölderlin widmet, spricht Hegel drei Jahre nach seinem
lichkeit miteinander verbinden soll: „Ehe wir die Ideen Austritt aus dem Stift von „der entfloh’nen Tage Lust“
ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das und der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen: „Schon
Volk kein Interesse“. Und umgekehrt: Ehe die Mythologie mahlt sich mir der langersehnten, feurigen / Umarmung
vernünftig sei, müsse sich der Philosoph ihrer schämen. Scene“. Ferner ist von „des alten Bundes Treue“ die Rede
Diese „neue Mythologie“ bleibt als zu verwirklichen- und der beglückenden Gewissheit, jenen Bund nun „fes-
des Projekt freilich reine Zukunftsmusik. Doch sie trägt ter, reifer noch zu finden“. Schelling dagegen beklagt
die Züge eines generellen Aufbruchs, einer radikalen Er- 1795 in einem Brief an Hegel, dass sich der freigeistige
neuerung, die zu jener Zeit auch durch die politischen Hölderlin jeglichem Kontakt entzieht, und bekräftigt da-
Umstände beeinflusst wird. Denn während Hegel, Hölderlin gegen die eigene Freundschaft zu Hegel: „Hölderlin – ich
und Schelling in Tübingen studieren, wütet im benach- vergeb es seiner Laune, dass er unsrer noch nie gedacht
barten Frankreich die Revolution. Der Ruf nach Freiheit hat. Hier meine Hand, alter Freund! Wir wollen uns
wird dabei auch unter den Studenten der schwäbischen nimmer fremd werden!“ Überhaupt zeugt der briefliche
Kleinstadt laut. 1793 sieht sich sogar der württembergi- Austausch ab 1794 – Hölderlins Wankelmut ist wohl
sche Herzog gezwungen, in der Sache tätig zu werden. schnell vergessen – von einem offenen und warmherzi-
Per Dekret wendet er sich an die Leitung des Studien- gen Verhältnis. Freilich kommt es nach 1800 zum Bruch
hauses. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass im „Stift die des Dreierbunds, da die späteren philosophischen Syste-
Stimmung äußerst demokratisch sein solle, besonders me von Hegel und Schelling in unvereinbarem Wider-
aber ohne Scheu die französische Anarchie und der Kö- streit zueinander stehen und Hölderlin zusehends in Ein-
nigsmord öffentlich verteidigt werden“. Aus der befohle- samkeit und Wahnsinn versinkt. Bis dahin verzeichnet der
nen Prüfung des Sachverhalts geht jedoch nichts Belast- in brüderlichem und vertraulichem Ton gehaltene Brief-
bares hervor. Dabei sind die Befürchtungen des Herzogs wechsel jedoch eine produktive Freundschaft, deren ge-
nicht völlig aus der Luft gegriffen: Es gibt tatsächlich, von danklicher Reichtum sich auf je eigene Weise in ihren
französischen Stipendiaten initiiert, einen geheimen poli- Werken ausdrückt. Nicht zuletzt resultiert daraus in Tei-
tischen Club im Stift, dem offenbar auch Hegel, Hölder- len der Deutsche Idealismus, der bis heute als klassische
lin und Schelling angehören. Der studentische Zirkel ver- Phase der deutschen Philosophie gilt. Ohne Übertreibung
folgt das Ziel, dem Ideal der Freiheit und Gleichheit eine lässt sich die folgenreiche Tübinger Wohngemeinschaft
Stimme zu geben. Während der Sitzungen des Clubs wird daher mit dem Philosophen Manfred Frank als „einzigar-
lebhaft über das politische Geschehen debattiert, es wer- tige Fügung der Geistesgeschichte“ bezeichnen.
den Freiheitslieder gedichtet und aus dem Französischen
übersetzt. Aufgrund seiner Parteinahme für die französi-
sche Sache wird Hegel, der von seinen Kommilitonen an- Kilian Thomas hat Germanistik und
sonsten gern feixend als „alter Mann“ bezeichnet wird, Philosophie in Stuttgart und Leipzig
studiert. Er promoviert zur Ästhetik und
dabei gar für einen „derben Jakobiner“ gehalten. Auch
Erkenntnistheorie um 1800 mit einer
Autorenfoto: Privat

Hölderlin und Schelling beteiligen sich an den freisinni- Arbeit über literarische Figurationen von
gen Reden und der schwärmerischen Begeisterung für die Erhabenheit. Zurzeit arbeitet er als
aufkommenden Ideen der Französischen Revolution. Redakteur des Philosophie Magazins

26 Hegel
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Dark Horse und


Niklas Keller,
Kora Kristof und
Tilman Santarius,
Philipp Blom,
Peter Madsen und
Adrian Mears.

27
Intro Perspektiven

Quellen der Inspiration


Kein philosophisches System kommt aus dem Nichts,
auch Hegel greift die Ideen seiner Vorgänger auf.
Doch worauf reagiert er konkret? Welche Ansätze sind
für sein Werk wichtig?
Von Kilian Thomas

Rousseau und der Staat


„Die Individuen überantworten sich einer
Gemeinschaft, deren gemeinsamer
Wille das allgemeine Wohl zum Ziel hat“

D 
as Verhältnis zwischen Individuum und Gesell- organisiert, anstatt die politische Macht einer herrschen-
schaft wird oftmals als Verhältnis gegenseitiger den Minderheit oder gar einem Einzelnen zu überlassen.
Zugeständnisse und Kompromisse begriffen: Um Nur wenn der allgemeine Wille der Bevölkerung die kon-
von staatlich gewährleisteten Vorteilen wie zivilrechtlicher trollierende Instanz in staatlichen Angelegenheiten ist,
Sicherheit und Eigentumsschutz zu profitieren, muss der handelt es sich um eine legitime Ausübung von Macht.
Einzelne einen Teil seiner natürlichen Freiheit aufgeben. Dieses radikaldemokratisch anmutende Verständnis
Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) verbirgt jedoch nicht, dass Rousseau einen „schlechthin
vertritt dagegen jene – zunächst paradox anmutende – Vor- ungebundenen Absolutismus des Staatswillens“ (Ernst
stellung einer Einheit von Individuum und Gesellschaft Cassirer) vertritt, wofür er oft kritisiert wurde. Denn kei-
sowie Freiheit und Gesetz, auf der auch Hegels Staats- neswegs ist die volonté générale schlicht als Summe aller
philosophie basiert. Wahre Freiheit, so Rousseau, erlangt Einzelinteressen zu verstehen. Sie fungiert vielmehr als
der Mensch nicht im Naturzustand, sondern erst, indem normative Bestimmung, durch die die zufälligen und indi-
er sich einem selbst gewählten Gesetz unterstellt: „Denn viduellen Bedürfnisse der gesellschaftlichen Mitglieder
der Antrieb des reinen Begehrens ist Sklaverei, und der im Zaum gehalten werden sollen.
Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit.“ Bei aller berechtigten Kritik darf jedoch der Grund-
Auf dieser Grundlage entwickelt Rousseau ein Gesell- impuls des rousseauschen Gesellschaftsmodells nicht
schaftsmodell, in dessen Mittelpunkt die auf das Gemein- vergessen werden: Der Weg führt in die Freiheit. Diesen
wohl ausgerichtete volonté générale (der allgemeine Wille) Ansatz greift Hegel auf und erweitert ihn zum weltge-
steht. Die Individuen mit ihren jeweiligen Interessen schichtlichen Paradigma. Hegels staatsphilosophische
überantworten sich entsprechend jener größeren Gemein- Überlegungen folgen darüber hinaus in weiten Teilen
schaft, deren gemeinsamer Wille das allgemeine Wohl der Vorstellung einer volonté générale und der Idee einer
zum Ziel hat. Damit fungiert die Bevölkerung zugleich als dialektischen Verflechtung von Individuum und Ge-
staatlicher Souverän, der sich selbst verwaltet und meinschaft.

28 Hegel
Kant und die Moral
überzeugt, mit dem „kategorischen Imperativ“ ein solches
Prinzip gefunden zu haben, dessen Sitz und Ursprung al-
„Kant ist überzeugt, ein lein in der Vernunft liegt: „Handle nur nach derjenigen
­moralisches Prinzip gefunden Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie
ein allgemeines Gesetz werde.“ Das vor einer Handlung
zu haben, dessen Ursprung stehende Individuum solle sich fragen: Was würde pas-
allein in der Vernunft liegt“ sieren, wenn alle Menschen demselben Grundsatz folgen
würden? Wenn die daraus resultierende Wirklichkeit ver-
nünftigerweise nicht gewollt werden kann oder schlicht

S
eit jeher konkurrieren verschiedene Auffassungen unvorstellbar ist, dann ist der Grundsatz abzulehnen. An-
darüber, welche Maßstäbe zur moralischen Bewer- dernfalls ist er gutzuheißen.
tung von Handlungen heranzuziehen sind. Zu He- Was aber folgt daraus konkret? Hegel kritisiert, dass
gels Zeit entwickelt sich vor allem die Pflichtethik Imma- sich aus dem formalen Prinzip, das Kant aufstellt, keine
nuel Kants (1724–1804) zu einer einflussreichen Position realen Pflichten ableiten lassen. Überdies verstricke sich
im deutschsprachigen Raum. Ihr Vorteil scheint die so das moralische Selbstgespräch der Vernunft in Tautolo-
simple wie folgenreiche Lösung eines ethischen Problems gien und bleibe stets an das Handeln des Einzelnen ge-
zu sein: Eine inhaltlich ausgearbeitete Ethik aus konkre- bunden. Die wahre Sittlichkeit, so Hegel, basiert dagegen
ten Grundsätzen (wie etwa die Zehn Gebote) bleibt an be- auf einer Ethik der wechselseitigen Anerkennung, die von
stimmte Situationen gebunden und begründet – so Kant – Beginn an gesellschaftlich verwurzelt ist und ihre Erfül-
kein allgemeines moralisches Prinzip. Kant ist dagegen lung im staatlichen Gemeinwohl findet.

Spinoza und die Natu


r
D 
er unverkennbare Einfluss, den der niederländi-
sche Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677)
auf Hegel ausübt, wird in folgender Würdigung „Spinoza begreift Gott als
aus Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philo-
sophie“ deutlich: „Spinoza ist Hauptpunkt der modernen ­unbegrenzte Substanz,
Philosophie: entweder Spinozismus oder keine Philoso- die sowohl sich selbst als auch
phie.“ Spinoza begreift Gott als absolute, unbegrenzte
Substanz, die sowohl sich selbst als auch die in ihr ent- die in ihr enthaltene
haltene Welt hervorgebracht hat. Auf dieses ursächliche Welt hervorgebracht hat“
Prinzip lasse sich alles Existierende zurückführen. Die
in dieser Vorstellung enthaltene Identifikation der gött-
lichen Substanz mit der Natur hat ihm den Vorwurf ein- über sie hinaus. Die Aufhebung dualistischer Gegensätze
gebracht, einen Pantheismus zu vertreten, der sich bei wie Gott/Welt, Denken/Sein und Leib/Seele in ein allei-
näherem Betrachten in einen leeren Atheismus verflüch- niges Prinzip (Monismus) übernimmt Hegel an zentraler
tigt: Wenn alles Gott ist, ist Gott zugleich nichts, kein Stelle. Allerdings ist ihm das spinozistische Substanzprin-
allmächtiges Wesen, keine übergeordnete Instanz. Doch zip zu starr und unbeweglich – und nicht zuletzt: zu de-
genau genommen begreift Spinoza Geist und Materie als terministisch – gedacht. Er versucht daher, den Ansatz zu
Attribute der ewigen Gott-Substanz; als jenen Teil ihres dynamisieren und unter den Aspekten von Beweglichkeit
Wesens, der uns zugänglich ist. Wenngleich sie in allen und Entwicklung zu erfassen. Sein Konzept des Absoluten
materiellen und geistigen Objekten anwesend ist, geht basiert außerdem nicht auf dem Begriff der Substanz, son-
die göttliche Substanz als schöpferisches Prinzip zugleich dern auf dem Begriff des Geistes.

Sonderausgabe Nr. 24 29
Foto: Julia Sellmann
1
Bewusstsein
und Geist

Wie werde ich zu einem Ich? Gewöhnlich begreifen


wir uns und unsere Umwelt, das eigene Bewusstsein
und das eines anderen als voneinander getrennt. Hegel
hingegen meint: Nur im Kontakt mit anderen Objekten
und Subjekten erlangen wir Wissen über uns selbst.
In seinem ersten großen Werk, der „Phänomenologie
des Geistes“, zeichnet er die Entwicklung des Bewusst-
seins nach, die im „absoluten Geist“ gipfelt

Hegel Sonderausgabe Nr. 24 31


Bewusstsein und Geist Gespräch

„Was das Bewusstsein


antreibt, ist die
Erfahrung des Scheiterns“
In der „Phänomenologie des Geistes“ beschreibt
Hegel die Bildung des Bewusstseins und setzt
sich dabei mit der Geistesgeschichte von der Antike
bis in die Moderne auseinander. Axel Honneth
erklärt, worin der Reiz dieses historischen
Erinnerungsprozesses liegt und warum man das Buch
dennoch mit einer „Prise Nüchternheit“ lesen sollte
Das Gespräch führte Lisa Friedrich

Philosophie Magazin: Sie haben gelungen, herauszufinden, worum es menologie“ führt uns durch eine Ent-
sich intensiv mit Hegel und der in dem Buch eigentlich gehen soll. wicklung von der elementarsten bis
„Phänomenologie des Geistes“ zur komplexesten Gestalt unseres
auseinandergesetzt, Herr Honneth. Mit dem Gefühl, an dem Werk zu Wissens und handelt dabei unter an-
Wann sind Sie dem Buch zuerst scheitern, waren Sie sicherlich derem die Französische Revolution,
begegnet? nicht allein. Es ist zwar eines der die Romantik und die griechische
Axel Honneth: Meine erste Begeg- einflussreichsten Werke der Philo- Polis ab – wie großartig, wenn es ei-
nung mit dem Buch war recht un- sophiegeschichte, zugleich jedoch nem Philosophen gelingt, all dies am
glücklich. Als ich im dritten oder besonders schwer zugänglich. Wo- Leitfaden einer einzigen Entwick-
vierten Semester war, gab Otto Pög- rin liegt dennoch sein Reiz? lung darzustellen. Das ist ein mächti-
geler, einer der führenden Hegel-­ Die Attraktivität des Buches liegt auf ger, betörender Anspruch.
Experten der Zeit, ein Seminar zur der Hand: Es werden darin eine Un-
Vorrede der „Phänomenologie“. Da menge von individuellen Einstellun- In der „Phänomenologie des Geis-
das Buch schon damals einen legen- gen, literarischen Gebilden, philoso- tes“ nimmt Hegel uns also mit auf
dären Ruf genoss, wollte ich dieses phischen Theorien und kulturellen eine Reise.
Seminar unbedingt besuchen. Ich bin Erscheinungen so abgehandelt, als Es ist eine beliebte Redewendung,
jedoch vollständig gescheitert. Mir ist ließen sie sich als notwendige Gestal- von einer Reise zu sprechen. Doch
es trotz der sehr klugen Seminar­ ten eines Prozesses der Bildung des die Metapher hat einen Haken: Eine
führung von Otto Pöggeler nicht Bewusstseins verstehen. Die „Phäno- Reise geht ja für gewöhnlich nach

32 Hegel
Axel Honneth ist ein Vertreter der Kritischen
Theorie und gehört zu den einflussreichsten
Philosophen der Gegenwart. Seine Theorie
der Anerkennung ist maßgeblich durch
Hegel inspiriert. Seit 2011 lehrt er an der
Columbia University in New York. Von 2001
bis 2018 war er Direktor des Instituts für
Sozialforschung in Frankfurt. Zu seinen
wichtigsten Werken zählen u. a. „Kampf um
Anerkennung“ (Suhrkamp, 1992), „Das Ich
im Wir“ (Suhrkamp, 2010). Gerade erschien
bei Suhrkamp „Der arbeitende Souverän.
Eine normative Theorie der Arbeit“

„Hegel zeigt uns im


Rückblick die Bildung
unseres Bewusstseins
auf, wer wir gewor-
den sind: eine soziale
Gemeinschaft,
die sich sicher ist,
­herausgefunden
zu haben, wie die
Welt beschaffen ist“

vorne. Aber Hegel rollt seinen Ent- muss zwangsläufig mit den elemen-
wicklungsprozess so auf, als blicke er tarsten Formen des Wissens von der
von hinten, vom erreichten Ziel, dar- Welt beginnen, um dann nachzuvoll-
auf zurück. Daher scheint mir die ziehen, welche Entwicklungsstufen
Vorstellung eines Erinnerungspro- die gegenwärtige soziale Gemein-
zesses plausibler zu sein. So be- schaft durchlaufen hat.
schreibt es etwa Robert Brandom in
seinem Buch „A Spirit of Trust“ – ei- Wie funktioniert dieser Erinnerungs-
nes der besten Bücher über die „Phä- prozess?
nomenologie“, das in den letzten 30 Schon der Titel „Phänomenologie des
bis 40 Jahren erschienen ist. Hegel Geistes“ ist ja etwas rätselhaft. Eine
zeigt uns im Rückblick die Bildung bessere Annäherung an das Buch er-
unseres Bewusstseins auf, wer wir im laubt der Titel „Wissenschaft der Er-
Laufe dieses Prozesses geworden fahrung des Bewusstseins“, den Hegel
sind: eine soziale Gemeinschaft, die auch verwendete. Er möchte darin in
sich sicher ist, herausgefunden zu ha- wissenschaftlicher Form darstellen,
Foto: Jürgen Bauer

ben, wie die Welt beschaffen ist und wie sich das Bewusstsein durch Besin-
welchen Platz sie selbst darin ein- nung auf sein eigenes Wissen allmäh-
nimmt. Dieser Erinnerungsprozess lich bildet. Das Bewusstsein ist die

Sonderausgabe Nr. 24 33
Bewusstsein und Geist Gespräch

mentale Position, die wir einnehmen, den ersten Kapiteln ist dies ein kogni- Aber Hegel stellt uns vor das Prob-
sobald wir auf die Welt schauen und tives Scheitern. Das Buch beginnt mit lem, dass das sich entwickelnde Be-
uns fragen, wie wir sie angemessen er- dem Bewusstsein und der sinnlichen wusstsein ab einem bestimmten
kennen können. Daraus folgt in der Gewissheit. Auf dieser ersten Stufe ist Punkt gar kein individuelles Bewusst-
Lektüre zugleich eine erste Schwie- das Bewusstsein davon überzeugt, sein mehr ist, sondern zum Mitglied
rigkeit. Hegel stellt diesen Bildungs- dass sein gesamtes Wissen auf der einer größeren Gemeinschaft wird.
prozess aus mindestens zwei Perspek- Aufnahme von sinnlichen Daten aus Das geschieht mit dem Übergang
tiven dar: Einerseits aus der der Außenwelt beruht. Doch es muss vom Bewusstsein zum Selbstbewusst-
Perspektive des Bewusstseins, das er feststellen, dass in seinen sinnlichen sein. Plötzlich ist das Subjekt, das die
untersucht, und andererseits aus der Eindrücken immer schon sprachliche Leserin beobachtet, kein Individuum
Perspektive derer, die es bei seinen Kategorien enthalten sind, mit denen mehr, sondern ein Kollektiv. Das
Bemühungen beobachten – den Lese- es diese registriert. Es ist daher stets muss man erst einmal angemessen
rinnen. Man muss im Text ständig selbst aktiv tätig, indem es zum Bei- verstehen.
versuchen auseinanderzuhalten, wann spiel Kategorien anwendet. Später
Hegel welche Perspektive beschreibt. folgt das Selbstbewusstsein. Hier än- Damit nennen Sie zugleich eine
Die Perspektive der Leserin ist der dert sich die Erfahrung des Schei- der zentralen Erkenntnisse des
ersten überlegen. Sie beobachtet ei- terns insofern, als das Bewusstsein Werkes: Das Bewusstsein kann
nen Prozess, in den das Bewusstsein nun feststellen muss, dass es kein an- nur zu Wissen von sich selbst ge-
verwickelt ist und den es daher noch gemessenes Verständnis seiner selbst langen, wenn es sich als intersub-
gar nicht angemessen verstehen kann. erlangen kann, wenn es sich als iso- jektiv – als Mitglied einer Gemein-
liertes Bewusstsein begreift. Es teilt schaft – versteht.
Die Lektüre wird zusätzlich da- vielmehr eine Wirklichkeit mit ande- Genau. Es muss sich als Mitglied ei-
durch erschwert, dass Hegel sich ren, ihm gleichen Subjekten. Die trei- ner sozialen Gemeinschaft begreifen
an philosophischen und histori- bende Kraft bildet hier also die nega- lernen, die sich erkennend zur Welt
schen Positionen abarbeitet, aber tive Erfahrung, mit den jeweils verhält. Ab dem Vernunftkapitel ist
kaum Namen oder Vertreter herangezogenen Kriterien kein ange- der Träger des Bewusstseins, den wir
nennt – warum? messenes Wissen der Wirklichkeit zu lesend beobachten, ein Kollektiv ge-
Das stimmt. Man kann es entweder erlangen. Damit tut sich aber sogleich worden, das seine Tätigkeit – nämlich
als Arroganz deuten, als habe er es gar eine weitere Schwierigkeit auf. herauszufinden, was die Welt ist, wo-
nicht für nötig befunden, den jeweils rin die Wirklichkeit besteht und wel-
dargestellten Positionen die Namen ches ihr Platz darin ist – gemeinsam
der Philosophen zuzuordnen, die „Dem Bewusstseins- ausübt. Vernunft beschreibt als Kate-
diese historisch vertreten haben. Die subjekt geht es wie gorie kein Einzelbewusstsein mehr,
andere Erklärung ist, dass er über- sondern das Bewusstsein einer episte-
zeugt ist, dass die Positionen sich ei- jedem Heranwach- mischen Gemeinschaft. Das ändert
nem Prozess verdanken, in dem Sub- senden, der das, sich dann noch einmal mit dem Über-
jekte, Personen oder Autoren nur gang von der Vernunft zum Geist:
eine ausführende Rolle spielen. Sie was er von der Welt Das Kollektiv wird mit diesem Über-
sind in strengem Sinne gar nicht als
Autoren zu verstehen, sondern erfül-
zu wissen glaubt, mit gang zu einer sittlichen Gemein-
schaft. Es gibt sich eine kulturelle
len eine objektive Funktion: Sie füh- jeder neuen Erfah- Lebensform und erkennt, dass es ins-
ren etwas aus, das die Entwicklung
des Bewusstseins aus sich heraus vor-
rung ändern muss“ titutionelle Formen entwickeln muss,
in denen es sich verwirklichen kann.
antreibt.
Und zwar? Am Ende dieses Prozesses steht
Was ist es, das die Bewegung vor- Das Bewusstseinssubjekt wird im das „absolute Wissen“. Wie anma-
antreibt? Was veranlasst das Be- Laufe der Erfahrung mit sich selbst ßend ist sein Anspruch, etwas
wusstsein, nach vorne zu schrei- gezwungen, seine eigene Gestalt zu „Absolutes“ darzustellen?
ten und neue Stufen zu erklimmen? wandeln. Damit geht es ihm wie je- Dass Hegel glaubt, mit dem absolu-
Ich würde das, was den Prozess an- dem Heranwachsenden, der das, was ten Wissen enden zu müssen, halte
treibt, als unterschiedliche Erfahrun- er von der Welt zu wissen glaubt, mit ich erst einmal für stimmig. Wenn wir
gen des Scheiterns beschreiben. In jeder neuen Erfahrung ändern muss. den gesamten Prozess durchlaufen

34 Hegel
haben, erkennen wir am Ende, dass in mir die Gegenreaktion einer eben- vorantreibt. Daher war die „Phäno-
wir durch unsere Erkenntnisbemü- solchen Anerkennung bewirkt, er- menologie“ für mich nie eine zentrale
hungen an einem viel größeren Pro- fahre ich auch, dass ich die Welt kraft Inspirationsquelle.
zess teilnehmen, durch den der meines Bewusstseins verändern
Geist – andere würden sagen „Gott“ – kann  – in dem Moment erlange ich Wenn nicht das Konzept der An-
sich selbst zu verstehen und zu reali- ein Selbstbewusstsein. erkennung  – was können wir aus
sieren versucht. Für diese vollendete der „Phänomenologie des Geistes“
Form unseres Wissens müssen wir mitnehmen? Warum sollte man
eine angemessene Gestalt finden, die sie heute noch lesen?
nach Hegels Überzeugung durch die „Hegel nimmt Man kann das Buch meines Erach-
Philosophie repräsentiert wird. Na- an, dass wir in der tens auf zwei sehr verschiedene Wei-
türlich meint er damit seine eigene sen lesen: Entweder konzentriert
Philosophie. Aber jeder Philosoph, ­europäischen man sich auf einzelne Kapitel, die
der eine systematische Philosophie- Gesellschaft die großartige, häufig brillante Doku-
geschichte schreibt, wird diese mit mente einer philosophischen Ausein-
seinen eigenen Überzeugungen en- endgültige Form andersetzung mit bestimmten Be-
den lassen müssen. Problematisch einer vernünftigen wusstseinsgestalten der Geschichte
hingegen ist, dass Hegel zu unterstel- darstellen – etwa Hegels Kritik an der
len scheint, die gesamte Weltge- Gesellschaftsordnung Französischen Revolution, seine Po-
schichte sei zu einem Ende gelangt gefunden haben. lemik gegen die Romantik, die Zu-
und habe in der Gesellschaftsform, rückweisung des kantischen Trans-
die er darlegt, ihre Vollendung gefun- Das ist durchaus zendentalismus oder die Kritik am
den. Er nimmt an, dass wir in der eu-
ropäischen Gesellschaft, wie er sie in
anmaßend“ griechischen Stadtstaat. Diese Teile
lassen sich je für sich studieren, weil
seiner „Rechtsphilosophie“ ein wenig jedes Mal mit neuen, immanent ent-
idealisierend charakterisiert, die end- wickelten Argumenten vorgeführt
gültige Form einer vernünftigen Ge- Greifen Sie in Ihrer Theorie auf wird, wieso eine bestimmte Bewusst-
sellschaftsordnung gefunden haben. Hegel und sein Konzept der Aner- seinsgestalt an den von ihr selbst ge-
Das ist durchaus anmaßend. kennung, wie wir es etwa in der setzten Ansprüchen zwingend scheitert.
„Phänomenologie“ finden, zurück? Oder man liest die „Phäno­menologie“
Lassen Sie uns noch einmal zum Hegel hat der Anerkennung in frühe- als ein Ganzes, um nachzuvollziehen,
Selbstbewusstsein zurückkehren. ren und späteren Werken einen we- wie Hegel die gesamte Geschichte
An dieser Stelle bringt Hegel das sentlich höheren Stellenwert einge- der Bildung unseres gegenwärtigen
Konzept der Anerkennung ins räumt, etwa in seinen Entwürfen zu Bewusstseins zu rekonstruieren ver-
Spiel. Was ist damit gemeint? einer „Realphilosophie“ und in seiner sucht. Das ist gewiss großartig, hat
Hegel argumentiert, dass wir ein an- „Rechtsphilosophie“. In der „Phäno- aber auch seine Tücken und offenbart
gemessenes Bewusstsein unserer menologie des Geistes“ hingegen den bereits beschriebenen jugendli-
selbst nur erlangen können, wenn wir spielt die Erfahrung der Anerken- chen Übermut. Was Hegel in diesem
uns als Mitglied einer sozialen Ge- nung nur eine kleine Rolle. Sie soll Werk versucht, scheitert gelegentlich
meinschaft verstehen lernen, die auf erklären, welcher Einstellung es be- an selbst gesetzten Ansprüchen, in-
Verhältnissen wechselseitiger Aner- darf, um den Übergang von einem dem es einzelne Übergänge etwa
kennung beruht. Wir haben an die- Bewusstsein seiner selbst als einem nicht gut zu erklären vermag. Außer-
sem Punkt verstanden, dass wir Sub- bloß individuellen, isolierten Subjekt dem ist es ziemlich eurozentrisch.
jekte sind, die dank ihrer begrifflichen hin zum Bewusstsein seiner selbst als Will man dieses Buch als Ganzes ver-
Operationen die Wirklichkeit konsti- Mitglied einer sozialen Gemeinschaft stehen, so sollte man sich mit einer
tuieren können. Das reicht aber noch vollziehen zu können  – dazu bedarf Prise Nüchternheit an die Arbeit ma-
nicht aus, um zu dem Bewusstsein zu es, so möchte Hegel zeigen, der chen und nicht alles für bare Münze
gelangen, dass wir an dieser Wirk- wechselseitigen Anerkennung der nehmen.
lichkeit etwas zu bewirken vermögen, Freiheit des Gegenübers. Aber in die-
ohne sie einfach nur zu konsumieren. sem Werk ist die Anerkennung nicht
Erst wenn ich einem Subjekt be- der Mechanismus, der den Bildungs-
gegne, das mich anerkennt und damit prozess des Bewusstseins im Ganzen

Sonderausgabe Nr. 24 35
Bewusstsein und Geist Überblick

Phänomenologie des Geistes


Wie in einer Spirale durchläuft das Bewusstsein immer neue
Aufhebungen und erklimmt höhere Stufen seiner selbst.
Am Anfang steht das reine einzelne Bewusstsein; am Ende
der absolute Geist, zu dem es nichts Äußerliches mehr gibt.
Ein Überblick zu Hegels erstem Werk
Von Millay Hyatt

Das auf sich selbst bezogene


Selbstbewusstsein erstarrt in der
Vereinzelung. In seinem Unglück
erkennt es die Notwendigkeit der
Allgemeinheit.

Selbstbewusstsein
Das Bewusstsein begreift, dass die
physikalischen Gesetze nicht in
der Natur sind, sondern dass Das Selbstbewusstsein ist das
sie von ihm selbst als Verstandes­ Bewusstsein auf sich selbst
kategorien generiert werden.
bezogen. Das Subjekt nimmt nun
nicht mehr nur das Andere wahr,
sondern auch sich selbst.
Bewusstsein
Das Bewusstsein ist die Anerkennung
elementarste Form des Wissens. Das selbstbewusste
Es unterscheidet das Subjekt entdeckt
ein anderes Selbst­
Andere – also andere Objekte
bewusstsein
und seine Umwelt – von sich selbst. und will von ihm
Objektivierung anerkannt werden.
Die Welt wird zum
Objekt für das selbst-
In diesem Zustand bedient
bewusste Subjekt.
es drei zunehmend komplexe
Formen des Wissens: Verstand
Der Kampf um gegen­
Das Ding unterliegt seitige Anerkennung
physikalischen zeigt sich in der
Gesetzen, wie Beziehung zwischen …
Wahrnehmung zum Beispiel der
Schwerkraft.
Das Ding hat
allgemeine Eigen- Herr und Knecht
schaften. Es ist Der Knecht fügt sich der Herrschaft des
Sinnliche zum Beispiel Herrn; dieser bekommt vom Knecht aber keine
Gewissheit viereckig, weiß und befriedigende Anerkennung, da dieser nicht
Das Ding ist schmeckt süß. frei ist. Der Knecht erlangt durch seine Bearbei-
unmittelbar und tung der Dinge der Welt zumindest eine
besonders. Es Herrschaft über diese, die dem Herrn aufgrund
ist das, was hier seiner Passivität verwehrt bleibt. Letztlich
und jetzt ist. kann es in diesem asymme­trischen Verhältnis
keine Anerkennung geben.

36
Geist
Der Geist ist das Zusammen­
Das Begreifen dieses
fallen von Vernunft und Realität. Er ist
Zusammen­hangs von Vernunft die vollkommene Durchdringung der Dinge
und Wirklichkeit führt zum der Welt und des Bewusstseins. Somit wird
Übergang von der Erkenntnis der die Wahrheit erlangt. Die Beziehungen
Welt zu ihrer Gestaltung.
zwischen Selbstbewusstseinen untereinander
werden als sittliche Gemeinschaft erkannt
und in politischen Prozessen vollzogen.
Somit wird die Freiheit erlangt.
Vernunft
und schließlich in
Das Subjekt erfasst der Philosophie
im Begriff.
hier seine Position im
Verhältnis zu anderen Subjekten
zeigt er sich
und zu den Objekten der in der Religion in
natürlichen Welt. einem geoffen-
barten Gott …

Während sich der


Individualität Geist in der Kunst
Die Gegensätzlichkeit noch in materiellen
zwischen Wirklichkeit Formen äußert, …
und Vernunft wird
Diese drei Ausdrucksformen
überwunden: Das
Verwirklichung des Geistes, beginnend
Selbstbewusstsein
bei der Kunst, befreien sich
Die Vernunft begreift sein Handeln
zunehmend von einem
möchte die Welt nicht mehr als etwas
substanziellen Träger.
aber nicht Oppositionelles,
Beobachtung nur beobachten, sondern als Selbst­
Die Vernunft sondern verändern. entfaltung
setzt sich Sie versucht, ihre und Bestandteil
systematisch Zwecke gegen der Realität.
mit der Natur die Wirklichkeit
auseinander. durchzusetzen.

 Hegel, „Phänomenologie
des Geistes“ (1807)

37
Bewusstsein und Geist Perspektiven

Herr und Knecht Fünf Lesarten

Nur knapp zehn Seiten umfasst die Dialektik


von Herr und Knecht – und ist dabei
wirkmächtig wie kaum ein anderer
Text der Philosophiegeschichte.
Das Kapitel aus der „Phänomenologie
des Geistes“ schildert, wie das
Selbstbewusstsein auf ein anderes trifft,
aber in dieser Begegnung keine
Selbstgewissheit findet, solange
das Verhältnis ein ungleiches ist. Der Herr
bleibt abhängig vom Knecht und dessen
Arbeit, während dieser, auch wenn
unfrei, sich zumindest in seiner
Arbeit als Selbst erfahren kann. Letztlich
aber, so Hegel, finden wir nur in wechselseitiger
Anerkennung wahre Selbstgewissheit.
Erst im „Wir“ vollendet sich das
„Ich“. Diese Gedanken haben viele
Philosophen maßgeblich geprägt.
Ihre unterschiedlichen
Interpretationen zeugen von
der Vielschichtigkeit des
Originaltextes

Von Lea Wintterlin

38 Hegel
   „Phänomenologie des Geistes“, in:
„Gesammelte Werke“, Bd. 9, S. 109–115

der Herr, diß der Knecht. (…)


Das Selbstbewußtseyn ist an Das unwesentliche Bewußt-
und für sich, indem, und da- seyn ist hierin für den Herrn
durch, daß es für ein anderes der Gegenstand, welcher die
an und für sich ist; d. h. es ist Wahrheit der Gewißheit sei-
nur als ein Anerkanntes. (…) ner selbst ausmacht. Aber es
Das Verhältniß beyder Selbst- erhellt, daß dieser Gegen-
bewußtseyn ist also so be- stand seinem Begriffe nicht
stimmt, daß sie sich selbst und entspricht, sondern daß dar-
einander durch den Kampf in, worin der Herr sich voll-
auf Leben und Tod bewäh- bracht hat, ihm vielmehr ganz
ren.  — Sie müssen in diesen etwas anderes geworden, als
Kampf gehen, denn sie müs- ein selbstständiges Bewußt­
sen die Gewißheit ihrer selbst, seyn. (…) Die Wahrheit des
für sich zu seyn, zur Wahrheit selbstständigen Bewußtseyns
an dem andern, und an ihnen ist demnach das knechtische
selbst erheben. (…) In dieser Bewußtseyn. (…) das formirende
Erfahrung wird es dem Thun, ist zugleich die Einzeln-
Selbstbewußtseyn, daß ihm heit oder das reine Fürsichseyn
das Leben so wesentlich als des Bewußtseyns, welches nun
das reine Selbstbewußtseyn in der Arbeit außer es in das
ist. (…) (S)o sind sie als zwey ­Element des Bleibens tritt; das
entgegengesetzte Gestalten arbeitende Bewußtseyn kommt
also hiedurch zur Anschauung
Illustration: Lea Kontak (nach einer Vorlage von James Gillray)

des Bewußtseyns; die eine das


selbstständige, welchem das des selbstständigen Seyns, als
Fürsichseyn, die andere das un­- seiner selbst.
selbstständige, dem das Le-
ben oder das Seyn für ein an-
deres, das Wesen ist; jenes ist

Sonderausgabe Nr. 24 39
Bewusstsein und Geist Perspektiven

1 2

Entfremdung Die Knecht-


im Kapitalismus schaft der Frau
Der Proletarier als Knecht und Herr und Knecht – dabei hat
der Kapitalist als Herr – in man wahrscheinlich zwei
der Übertragung der hegel- Männer vor Augen. Aus femi­-
schen Denkfigur auf die nistischer Perspektive ließe
sozioökonomischen Verhält- sich darin aber auch ein
nisse des Kapitalismus ungleiches Geschlech-
stellt die marxistische terverhältnis ausma-
Lesart die hegelsche chen, innerhalb dessen
Dialektik „vom die Frau das „absolut
Kopf auf die Füße“ Andere“ darstellt

Obwohl Karl Marx (1818–1883) sich nicht explizit auf „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Diesen
das Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ beruft, sind berühmten Ausspruch Simone de Beauvoirs (1908–1986)
die Bezüge in seinem Denken unübersehbar. Zentral ist könnte man als genuin hegelschen Gedanken lesen: Auch
dabei der Begriff der Arbeit. So wie der Knecht über das die (Geschlechts-)Identität formt sich erst in der Aner-
bearbeitete Ding zu einem Bewusstsein seiner selbst ge- kennung durch den anderen. Das Wesen der Frau ist
langt, ist die Arbeit für Marx das „sich bewährende Wesen nicht naturgegeben, sondern ergibt sich daraus, „wie sie
des Menschen“. Durch die aktive und schöpferische Um- ihren Körper und ihre Beziehung zur Welt über das
formung der Natur unterscheide sich der Mensch vom fremde Bewusstsein der anderen wiedererfasst.“ Histo-
Tier und komme in der Arbeit zum „Selbstgenuss seiner risch wurde sie dabei jedoch vom Mann unterdrückt. In
Persönlichkeit“. Oder in den hegelschen Worten: „(D)as ihrer Analyse dieses Prozesses bezieht sich Beauvoir ex-
arbeitende Bewusstsein kommt (…) hierdurch zur An- plizit auf die Herr-und-Knecht-Dialektik. Um Subjekt zu
schauung des selbstständigen Seins als seiner selbst.“ Doch werden, setzt der Mann die Frau als das Andere, als das
in der kapitalistischen Warenproduktion ist diese Tätig- Unwesentliche, als Objekt. Die Unterdrückung gehe da-
keit laut Marx entfremdet: Der Arbeiter produziert nur bei sogar noch tiefer als die des hegelschen Knechts.
für den Kapitalisten, er erkennt sich und seine Zwecke Denn: „Zwischen ihr und dem Mann hat es nie einen
nicht mehr im Produkt seiner Arbeit wieder. Um die Ent- Kampf gegeben.“ Durch ihre Gebärfähigkeit stellt der
fremdung aufzuheben, muss sich das Proletariat aus den Mann die Frau von vornherein auf die Seite des Lebens
Ketten der Bourgeoisie befreien. Diese Emanzipation der und der Natur und damit außerhalb des Kampfes um
Arbeiterklasse lesen marxistische Denker wie der rus- menschliche Anerkennung: „Nicht indem er Leben Fotos: Public Domain/Wikipedia; Ullstein Bild; Bridgeman Images, Public Domain/Wikipedia

sisch-französische Philosoph Alexandre Kojève als dialek- schenkt, sondern indem er es einsetzt, erhebt sich der
tische Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse, die im Mensch über das Tier“, gibt Beauvoir diesen Gedanken
Herr-und-Knecht-Kapitel beschrieben wird. Dabei wird wieder. Das ermöglicht es dem Mann, die Frau als das
die Emanzipation allerdings nicht als ein Prozess des Be- „Unwesentliche, das nie zum Wesentlichen wird, das ab-
wusstseins gefasst, sondern auf ihre materialistischen solut Andere ohne Wechselseitigkeit“ zu fassen. Um sich
Füße gestellt. Der arbeitende Knecht wird erst dann frei, aus diesen unterdrückenden Zuschreibungen zu befreien,
wenn er sich die Produktionsmittel und das Produkt sei- müssen Frauen für eine Gesellschaft kämpfen, in der bei-
ner Arbeit wieder aneignet. Denn: Das gesellschaftliche de Geschlechter als Existierende anerkannt werden, die
Sein bestimmt das Bewusstsein und nicht umgekehrt. die animalische Natur transzendieren: das heißt als Sub-
jekte, als Gleiche unter Gleichen.
Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“,
hg. v. Barbara Zehnpfennig (Meiner, 2005)  imone de Beauvoir, „Das andere Geschlecht.
S
Sitte und Sexus der Frau“ (Rowohlt, 2018)

40 Hegel
3 4

Dekolonialer Narzisstische
Kampf um An­ Negation
erkennung des anderen
Die Vordenker der post- Im kindlichen Spiegelstadium
­kolonialen Theorie benutz- kann man mit dem Psycho­
ten die hegelsche Begriff- analytiker Jacques Lacan den
lichkeit, um rassistische, hegelschen Herren wieder­
koloniale Macht­verhältnisse erkennen, der seine Ab-
zu be­schreiben und ihre hängigkeit vom anderen
Über­windung zu denken negiert

In seinem 1952 erschienenen Werk „Schwarze Haut, weiße


Masken“ greift Frantz Fanon (1925–1961), ein französi- Der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981) greift
scher Psychiater karibischer Abstammung, unter anderem die Dynamik von Herr und Knecht in seinem berühmten
die Herr-und-Knecht-Dialektik auf, um die Machtverhält- Konzept des „Spiegelstadiums“ auf. Es beschreibt das
nisse zwischen Sklaven und Sklavenhaltern zu analysieren. kindliche Gewahrwerden des eigenen Bildes im Spiegel:
Dabei stellt er vor allem die Unterschiede zu Hegel heraus: Der Säugling, der seinen Körper noch nicht zusammen-
Anders als dem hegelschen Herrn gehe es dem weißen hängend wahrnimmt und kontrollieren kann, erblickt im
Herrn nicht um Anerkennung – denn eine solche erwartet Spiegelbild seine imaginäre Einheit. Das Kind ist ent-
er gar nicht von dem entmenschlichten Sklaven. Und an- zückt von seinem eigenen kohärenten Bild und wähnt
ders als der hegelsche Knecht findet der Sklave auch nicht sich allmächtig; doch ermöglicht wird diese Allmachts-
über die Arbeit im geformten Ding zu einem Selbstbe- fantasie überhaupt erst durch die Mutter, die das Kind auf
wusstsein. „Bei Hegel wendet sich der Sklave vom Herrn dem Arm hält. Die Mutter hat also die Position des hegel-
ab und dem Objekt zu. Hier wendet sich der Sklave dem schen Knechts: Sie ist es, die die Allmachtsfantasie des
Herrn zu und gibt das Objekt auf.“ In seinem Streben nach Kindes – mit Hegel: des Herren – überhaupt erst möglich
Anerkennung übernimmt er dessen Normen und Werte, macht. Lacan beschreibt mit dem kindlichen Spiegelstadi-
ohne dabei eine eigene Identität und Subjektivität zu beja- um den innersten Funktionsmechanismus auch des er-
hen: Er trägt eine „weiße Maske“. An diesen Verhältnissen wachsenen Narzissmus: Die Abhängigkeit vom anderen
ändere sich laut Fanon auch durch die Abschaffung der wird negiert, der andere als anderer nicht anerkannt. So
Sklaverei nichts. Denn auch hier habe es keinen Kampf ge- wie die Mutter vom Kind wie eine Art nährend-sorgender
geben: Die Sklaven seien, „in der Unwesentlichkeit der Appendix empfunden wird, erkennt auch der Narzisst an-
Knechtschaft versunken, von dem Herrn befreit worden“. dere nicht als andere an. Ja, die anderen sind eine bestän-
Erst in der Dekolonisation, wie Fanon sie während der alge- dige Bedrohung der illusionären Allmacht – eine Bedro-
rischen Befreiungsbewegung miterlebt, zeigt sich ein akti- hung, die im selbstverliebten Ich eine für die Außenwelt
ves und kämpferisches Streben nach Anerkennung. Da der gefährliche Spannung erzeugt: Die Spannung „hat keinen
Kolonisator den Kolonisierten nicht als gleichwertigen anderen Ausweg – wie Hegel uns lehrt – als die Zerstö-
Menschen anerkennt, kann die Überwindung der koloni- rung des andern“, so Lacan.
sierten Welt nicht in einer Austragung von rationalen Argu-
menten bestehen, sondern nur in einem Moment der Ge- Jacques Lacan, „Schriften I“
walt, in dem der Unterdrückte sich als selbstständig (Turia + Kant, 2016)
beweist. Erst so kann die erstarrte Dialektik der Anerken-
nung wieder in Bewegung gebracht werden.

 rantz Fanon, „Schwarze Haut, weiße Masken“


F
(Turia + Kant, 2019)

Sonderausgabe Nr. 24 41
Bewusstsein und Geist Perspektiven

Der Leib
als Knecht
der Seele
Aus sprachanalytischer
Perspektive lässt sich das
Herr-und-Knecht-Kapitel als
Kritik an dem plato­nischen
Bild der Seele als „Beherrscherin
des Leibes“ lesen

Die sprachanalytische Philosophie, die unter anderem auf Denker wie


Wittgenstein, Frege und Russell zurückgeht, nähert sich der Lösung
philosophischer Probleme oft durch logische Analyse der Alltags­
sprache. In diesem Sinne liest auch der deutsche Philosoph Pirmin
Stekeler-Weithofer (*1952) das Herr-und-Knecht-Kapitel als Ver-
such, die Wahrheit von (Selbst-)Aussagen zu bestimmen. Wie wird
ein Wissensanspruch wie „Dies ist mein Arm“ zu einem Wissen? Die
Figuren des Herren und des Knechts versteht er dabei als Analogie für
Leib und Seele und wendet sie gegen das platonische Bild der Seele als
der „Beherrscherin des Leibes“. Denn wie in der Herr-und-Knecht-­
Dialektik dreht sich dieses Verhältnis letztlich um: Ein geistiges
Selbstwissen ist ohne den leiblichen Vollzug nicht vorstellbar. Die
Aussage „Dies ist mein Arm“ kommt erst mit und in dem Prozess des
Hebens zu seiner Wahrheit. Personales Selbstbewusstsein entsteht
also in einem dialektischen Prozess: in der Arbeit des Knechts, die
Stekeler-Weithofer als „geistig geformtes Handeln“ beschreibt. Im
Gegensatz zu poststrukturalistischen oder sozialphilosophischen Deu-
tungen versteht Stekeler-Weithofer die Herr-und-Knecht-Dialektik
nicht als ein interpersonales Geschehen zwischen zwei Menschen
oder verschiedenen Personengruppen. Das Selbstbewusstsein sei
nicht durch Anerkennung von außen bestimmt, sondern „wesentlich
durch eigenes Tun und die Eigen­kontrolle des Erfolgs unseres Tuns“.

Pirmin Stekeler-Weithofer, „Hegels Phänomenologie des Geistes.


Ein dialogischer Kommentar“, Bd. 1 (Meiner, 2014)
Foto: Dirk Broszat; Autorinnenfoto: Privat

Lea Wintterlin studierte Philoso-


phie in Tübingen und Berlin und
Literarisches Schreiben in Leipzig.
Derzeit schreibt sie an ihrem
Debütroman. Sie ist regelmäßig als
freie Autorin für das Philosophie
Magazin tätig

42 Hegel
„Die Wahrheit des
selbstständigen
Bewußtseyns ist (…) das
knechtische Bewußtseyn“
 Hegel, „Phänomenologie des Geistes“
Foto: Paulina Hildesheim
Bewusstsein und Geist Gespräch

„In der Haitianischen


Revolution sah Hegel
etwas Universelles“
War Hegels Herr-Knecht-Dialektik von
der Revolution in Haiti inspiriert? Im Gespräch
erläutert die Philosophin Susan Buck-Morss
ihre originelle These und plädiert für einen neuen
Blick auf die Geschichte
Das Gespräch führte Millay Hyatt

Die Belagerung von Crête-à-Pierrot 1802, eine der härtesten Auseinandersetzungen zwischen den Truppen
Toussaint Louvertures und der französischen Kolonialmacht während der Haitianischen Revolution

44 Hegel
Susan Buck-Morss ist Professorin für
politische Philosophie am Graduate Center
der City University of New York. In ihren
Arbeiten verbindet sie Einsichten aus der
Philosophie, den Geschichts- und den
Kulturwissenschaften. Ihr Buch „Hegel und
Haiti“ erschien 2011 bei Suhrkamp

Philosophie Magazin: Frau Buck- 1993 entdeckte ich während eines vielleicht sehr naiv von mir, eine
Morss, Sie haben unter anderem Forschungsaufenthalts in Deutsch- Verbindung zu vermuten, aber der
über Walter Benjamin, den Isla- land Hegels frühe Vorlesungen aus Gedanke ließ mich nicht in Ruhe.
mismus und die Kultur der Sowjet- den Jahren 1803 bis 1805, die kurz
union geschrieben. Woher rührt zuvor veröffentlicht worden waren. Welche Hinweise haben Sie ge-
Ihr Interesse an Hegel? In einer dieser Schriften, „System funden, dass womöglich doch ein
Susan Buck-Morss: Ich war das ers- der Sittlichkeit“, spricht Hegel zum Zusammenhang besteht?
te Mal Mitte der 1970er-Jahre in ersten Mal von Herren und Sklaven. Hegel war ein junger Dozent in Jena,
Deutschland. Alle Studierenden da- Vorher war die Dialektik der Aner- als Napoleon in die Stadt einzog, und
mals lasen Adorno, Lenin und Marx. kennung in seinem Denken entwe- wir wissen, dass er von solchen Ereig-
Ich kam über Lukács und den frühen der eine religiöse Kategorie oder nissen im Zeitgeschehen sehr beein-
Marx zu Hegel. Es war der radikale sogar eine zwischen Menschen, die druckt war. Für mich stellte sich also
Hegel, der linke Hegel, der Hegel, eine Liebesbeziehung haben. Plötz- die Frage, welche anderen aktuellen
der in politischen Diskussionen le- lich aber ging es um Herren und Ereignisse Hegels Arbeit eventuell
bendig war, der mein Interesse weck- Sklaven  – interessanterweise nicht inspiriert haben. In der historischen
te. Diese linke Perspektive stand ins- um Knechte, wie es später in der Karibikforschung gab es dazu nichts,
besondere dem Positivismus und „Phänomenologie“ heißt. Ich wusste denn sie beschäftigt sich eben mit der
anderen Formen der Faktenanalyse genug über die Geschichte der Kari- Geschichte der Karibik und nicht mit
kritisch gegenüber. Letztere konnten bik, um mich zu fragen: Kann es ein der deutschen Philosophie. Und in
weder mit dem Phänomen der Verän- Zufall sein, dass Hegel ausgerechnet der Hegel-Forschung gab es nichts,
derung umgehen noch mit der Tatsa- diesen Konflikt wählt, genau zu dem denn das Letzte, woran man in die-
che, dass das, was man weiß und wie Zeitpunkt, als die afrikanischstäm- sem Bereich dachte, war die Insel
man es weiß, das Bewusstsein verän- migen Sklaven in der französischen Haiti. Also arbeitete ich weiter an der
Foto: Aunaies/Bridgeman Images; Autorinnenfoto: Pressebild/Sebastián Freire

dert – was wiederum zu dem Wunsch Kolonie Saint-Domingue nach zehn Grenze zwischen den verschiedenen
führen kann, die Realität zu verän- Jahren Kampf ihre europäischen Fachbereichen. Gab es einen blinden
dern. Das war es, was mich an Hegel Herrscher besiegten und die Sklave- Fleck, den ich sichtbar machen könn-
interessiert hat. rei abschafften? Sie gründeten dann te? Dann entdeckte ich einen Mikro-
den Staat Haiti, der als erster über- film – das war vor dem Internet! – mit
In Ihrem Artikel „Hegel und ­Haiti“, haupt von ehemaligen Sklaven ge- der damals wichtigsten politischen
der erstmals im Jahr 2000 er- führte wurde und der der erste un- Zeitschrift, die in vielen Ländern ge-
schien und Ihrem gleichnamigen abhängige Staat in Lateinamerika lesen wurde und die ausgerechnet
Buch vorausging, argumentieren war. Wenn man sich an das Hegel- „Minerva“ hieß. Hegel schrieb be-
Sie, dass Hegels Herr-Knecht- Expertentum wendet, lautet die Ant- kanntlich: „Die Eule der Minerva be-
Dialektik von der Haitianischen wort auf meine Frage: Natürlich ist ginnt erst mit der einbrechenden
Revolution inspiriert wurde. Wie es ein Zufall, es gibt keinerlei Belege Dämmerung ihren Flug.“ Und tat-
kamen Sie auf diese Verbindung? für eine Verbindung. Es war sächlich gab es in diesem Jahr

Sonderausgabe Nr. 24 45
Bewusstsein und Geist Gespräch

1804/1805, also genau zu der Zeit, als uns. Deutschland hat keinen alleinigen „Der spannende
Hegel die „Phänomenologie“ schrieb, Anspruch auf Hegel. Der spannende
in der „Minerva“ eine Retrospektive Hegel, der Hegel, der uns dazu brin- Hegel, der uns dazu
über Haiti, die sich über mehrere gen könnte, anders über den Postko- bringen könnte,
Ausgaben erstreckte. Der Herausge- lonialismus zu denken, ist nicht der
ber, Johann Wilhelm von Archenholz, deutsche Hegel, sondern der Hegel, anders über den
sagte, das ist ein so wichtiges Ereig- der in globalen, in universellen Be- Postkolonialismus
nis, wir wollen darüber schreiben, was griffen dachte. Das ist der nützliche
dort in den letzten zehn Jahren pas- Hegel. Aber es geht nicht darum, He- zu denken, ist
siert ist. Hegel hat die „Minerva“ ge- gel neu zu interpretieren und dann nicht der deutsche
lesen, das ist belegt. Es gibt zwei Mo- einfach weiter den Kanon der westli-
nografien über diese Zeitschrift mit chen Philosophie zu unterrichten. Hegel, sondern
einer Geschichte ihrer Themen, aber Nein, wir befinden uns an einem der, der in globalen,
dort steht nichts über diese Haiti- Punkt, an dem wir zurückgehen müs-
Texte! Und doch gibt es diese Texte, sen, an dem die gesamte Grundlage universellen
ganze 100  Seiten davon. Das zeigt, des Wissens neu überdacht und re- Begriffen dachte“
wie vorsichtig wir sein sollten, mit konstruiert werden muss. Wir befin-
dem, was die Forschung als wichtig den uns gerade in einem sehr kriti-
und als Narrative über die Vergan- schen Moment. Noch versuchen wir,
genheit präsentiert. mit den alten Ideen irgendwie durch-
zukommen, aber irgendwann können
Offenbart sich damit auch eine an- wir keine Zeit mehr schinden. Wir
dere Bedeutung der Herr-Knecht- haben wirklich eine Menge Arbeit vor
Dialektik? uns, wenn wir globale Antworten fin-
Eines wird in jedem Fall klar: Her- den wollen auch auf die aktuellen
ren und Knechte sind in der „Phäno- drängenden Fragen, wie etwa die dro-
menologie“  keine Metaphern, son- hende Klima­katastrophe.
dern historische Subjekte. Das
Wissen um Hegels Auseinanderset- Der postkoloniale Diskurs hilft uns
zung mit den Geschehnissen in Haiti dabei, unsere Geschichte und un-
verankert das Kapitel in konkreten his- sere Traditionen neu zu sehen und
torischen Zusammenhängen  – das zu überdenken. Sehen Sie auch
macht ja die Philosophie der Neuzeit problematische Aspekte seiner
aus und das war auch Hegels moder- Kritik?
ne Auffassung. Diese strukturelle Mein Kollege an der Cornell Uni-
Verankerung übersieht man leicht, versity, Enzo Traverso, hat das heuti-
wenn man den  Idealismus allein als ge intellektuelle Leben in Europa
ein Denken begreift, das abgehoben völlig treffend als melancholisch be-
und entrückt ist.  schrieben. Es herrscht Weltunter-
gangsstimmung. Wer will denn heu-
Welche Konsequenzen sollten wir te noch jung sein und sich sagen
Ihrer Meinung nach aus der Auf- lassen, dass wir das Ende von allem
deckung dieses blinden Flecks in erleben? Das ist nicht gerade inspi-
unserer Hegel-Lektüre ziehen? rierend! Mich beunruhigt dieses
Ich glaube nicht, dass das Problem Schwelgen in der Niederlage, in der
dadurch gelöst wird, dass in deut- Verzweiflung. Der postkolonialen
schen Schulen Toussaint Louverture Kritik wird gern vorgeworfen, diese
oder andere haitianische Führungs- Stimmung noch zu vertiefen, indem
persönlichkeiten zur Pflichtlektüre sie unser Wissen und unsere Ge-
gemacht werden. Es geht vielmehr schichte infrage stellt. Dabei aber
darum, dass wir nicht dem Irrtum an- ließe sich die aktuelle Situation auch
hängen, unsere Vergangenheit gehöre als etwas Gutes sehen. Dieses Haus,

46 Hegel
in dem wir leben, wackelt. Steht doch Was wird in diesen Momenten Konzept der Erfahrung, die immer
nicht rum und schaut zu, wie die Bal- offenbart? ihre Körperlichkeit, ihre Leibhaftig-
ken herunterfallen, sondern geht hin- Die Freiheit als Allgemeingut und keit behält. Für Hegel hat das einen
aus in die Welt! Denn dort gibt es viel Potenzial der Menschheit. Wert  – aber seiner Meinung nach
zu lernen und viel zu tun. müssen wir darüber hinausgehen. Mir
Die Geschichte dieser Momen- scheint es im Gegenteil wichtig, dass
In Ihrem Buch „Hegel und Haiti“ te der Freiheit, aber auch ihre wir dieses ursprüngliche Moment der
sprechen Sie von der Philosophie Zerstörung wird, wenn ich Sie Aktualität immer wieder anerkennen.
als „Wachhund der Geschichte“. richtig verstehe, in der Univer- Es gibt diese wunderbare Stelle in der
Damit meinen Sie eine Philoso- salgeschichte erzählt. Wie unter- Einleitung zur „Negativen Dialek-
phie, welche die Geschichte, wie scheidet sich diese von Hegels tik“, wo Adorno schreibt: „Wut (ist)
sie von den Siegern erzählt wird, Idee der Weltgeschichte? die Signatur eines jeglichen Idealis-
mit der Wahrheit konfrontiert. Mein Verständnis von Universalge- mus.“ Der Begriff will alles erfassen,
Anstatt die Idee einer allgemein schichte basiert im Gegensatz zu dem so wie ein Tier nach der Nahrung
gültigen Wahrheit abzulehnen, Hegels auf einer negativen Geschichts- greifen und sie verschlingen will.
wie es der Kulturrelativismus tut, philosophie. Es geht mir darum, die
argumentieren Sie für ein „univer- Vergangenheit von der selbstrechtfer- Sie sind kritisch gegenüber Hegels
selles moralisches Gefühl“. Ist das tigenden Erzählung der Sieger der Fortschrittsdenken. Würden Sie
hegelianisch gedacht? Geschichte zu befreien. Bei Hegel ist sich dennoch als eine dialektische
Ich habe von Hegel gelernt, dass es in das, was später in der Geschichte Denkerin verstehen?
der Philosophie darum geht zu den- kommt, automatisch auf einer höhe- Dialektik kann viel zu programma-
ken, was tatsächlich geschieht  – es ren Stufe. Das ist ein Sieger-Narrativ. tisch werden. Man nimmt den Begriff
geht um Aktualität, um das, was im Universalgeschichte ist nicht linear und den Gedanken und macht den
Moment passiert. Aber wenn ich und „gehört“ keiner Nation, keinem Gedanken vom Begriff und den Begriff
nach einem konventionellen Ver- Kollektiv. Philosophisch gesprochen vom Gedanken abhängig; das dreht
ständnis „Hegelianerin“ wäre und als geht es darum, die Welt so wahrzu- man dann um und sagt, dass sie kri-
solche die Welt anschaute, dann wür- nehmen, wie sie tatsächlich ist. Die tisch aufeinander bezogen sind, und
de ich sofort von der Aktualität abs- reichsten Entdeckungen der Univer- es wird schematisch. Aber der frühe
trahieren und sie irgendwo hinstel- salgeschichte finden sich an den Rän- Hegel hat mir wirklich die Augen ge-
len, wo sie sich zu etwas anderem dern der Kultur. In „Hegel und Haiti“ öffnet. Ein dialektisch aufgebautes
hinbewegen kann  – damit hätte ich schreibe ich: „Nicht durch die Kultur, Argument nachzuvollziehen, ist sehr
sie „begriffen“. Dabei war die Rei- sondern in Situationen, in denen diese aufschlussreich und intellektuell eine
henfolge beim frühen Hegel genau Kultur verraten zu werden droht, ge- ungeheuer wichtige Erfahrung. Aber es
umgekehrt. Zuerst sah er Haiti, dann langen wir zum Bewusstsein einer ge- ist eine Methode. Es ist kein System. 
arbeitete er seine Philosophie der meinsamen Humanität.“
Geschichte aus. Und dann wurde er
erfolgreich, und diese Philosophie Die lineare und absolute Perspek-
verhärtete sich zu einer Erklärung tive scheint interessanterweise gar
für alles. Aber in der Haitianischen nicht von Anfang an zentral für He-
Revolution sah er etwas Universelles, gel zu sein. Der frühe Hegel, aber
und das war es auf jeden Fall. Ähnlich auch seine „Logik“, beginnt mit
war es im Arabischen Frühling oder der Sinneswahrnehmung und mit
bei der Indignados-Bewegung in den Dingen, die den Begriff – also
Spanien. Auch da gab es etwas Uni- die Aufhebung des Vielfältigen in
verselles: ein Moment, um ein hege- eine sie fassende, übergeordnete
lianisches Wort zu gebrauchen, ein Einheit – stören. Erst in seinen späten
Moment der offenbarten Wahrheit. Texten wird der Begriff allmächtig
Wie Hegel es getan hätte, benutze und begräbt alles unter sich.
ich hier bewusst den religiösen Be- Ganz genau. Darauf wollte ich mit
griff der Offenbarung. Es ist ein Au- der Betonung der Aktualität hinaus.
genblick  – der aber nicht zwangs­ Hegels anfängliche Hinwendung
läufig zum Erfolg führen wird. zum Sinnlichen zeigt sich in seinem

Sonderausgabe Nr. 24 47
Hegel
in Zitaten
Erklärt von Michael Quante    „Phänomenologie des Geistes“,
in: „Gesammelte Werke“, Bd. 9, S. 19

Erläuterung „Das
Wahre
Hegel verwendet „das Wahre“ nicht
bloß in dem Sinn, dass eine Behaup-
tung einer Tatsache entspricht. Viel-
mehr meint er die angemessene
Realisierung einer wesentlichen Be-
stimmung, die sich im Verhalten ei-

ist das
ner Person oder Sache zeigt. So
verwenden wir Hegels Begriff vom
Wahren, wenn wir etwa im Alltag
von einem „wahren“ Freund spre-
chen, denn dann meinen wir eine

Ganze.
Person, welche die Idee der Freund-
schaft verlässlich verwirklicht. Beim
„Ganzen“ denkt Hegel nicht an die
Summe der einzelnen Teile, sondern
an eine vollständige, in sich begriff-
lich strukturierte Ordnung. Bei sozi-
alen oder kulturellen Gebilden
schließt dies die Selbstinterpretati-
on der Teile und deren Verständnis
des Ganzen ein. Das Wahre einer
Gesellschaft ist also das Ganze aus
ihrer institutionellen Organisation
und dem Verständnis der ihr zuge- Das Ganze aber ist nur das durch
hörigen Individuen.
seine Entwicklung sich vollen-
dende Wesen. Es ist von dem Ab-
soluten zu sagen, daß es wesentlich
Resultat, daß es erst am Ende
das ist, was es in Wahrheit ist; und
hierin eben besteht seine Natur,
Wirkliches, Subject, oder sich

48 Hegel
selbst Werden, zu seyn. So wider-
sprechend es scheinen mag,
daß das Absolute wesentlich als
Relevanz
Resultat zu begreiffen sey, so Hegels Konzeption des Ganzen ist
stellt doch eine geringe Ueberlegung auch heute aktuell: Zum einen fragt
sie nach den rational erfassbaren
diesen Schein von Widerspruch Strukturen und zielt damit auf die

zurecht. Der Anfang, das Princip, Komplexität einer Sache. Zum an-
deren reduziert sie dieses Ganze
oder das Absolute, wie es zuerst nicht auf eine Summe von Fakten,
sondern nimmt über deren Zusam-
und unmittelbar ausgesprochen wird, menhang auch deren Selbstinter-

ist nur das Allgemeine. Wo wenig, pretation (z. B. einer sozialen Grup-
pe) in den Blick. Seine Aussage, das
wenn ich sage: alle Thiere, diß Ganze (und nicht etwa jedes seiner
Teile isoliert betrachtet) sei das
Wort für eine Zoologie gelten kann, Wahre, weist uns darauf hin, dass

ebenso fällt es auf, daß die Worte wir komplexe Fragen nicht anhand
isolierter Tatsachen oder besonde-
des Göttlichen, Absoluten, Ewigen rer Einzelfälle erörtern, sondern in
der Gesamtheit des Problems ver-
u. s. w. das nicht aussprechen, stehen müssen. Weder einzelne,

was darin enthalten ist.“ häufig extreme Fälle noch isolierte


Sachverhalte ermöglichen, so lässt
sich Hegel lesen, eine angemesse-
ne kritische Reflexion.

Sonderausgabe Nr. 24 49
Foto: Julia Sellmann
2
Denken und Sein

Wie erkenne ich das Wahre? Anders als Kant glaubt


Hegel nicht, dass uns die Welt an sich verborgen
bleiben muss. Das Wahre bleibt nicht im Jenseits des
Erkennbaren oder im bloßen Denken angesiedelt.
Es äußert sich! Wissen und Wirklichkeit, Denken und
Sein sind so miteinander verwoben. Widersprüche, so
zeigt Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik“, ­halten
das Denken dabei in Bewegung und treiben es über
sich hinaus

Hegel Sonderausgabe Nr. 24 51


Denken und Sein Gespräch

„Das Leben ist die


unmittelbare Form
der Wahrheit“
In der „Wissenschaft der Logik“ untersucht Hegel
die Strukturen des Denkens und Seins. Für die
Philosophin Karen Ng  ist das anspruchsvolle Werk ein
Schlüsseltext der Moderne. Im Gespräch erklärt sie,
weshalb Logik und Leben eine Einheit bilden
Das Gespräch führte Josefine Berkholz

Philosophie Magazin: Frau Ng, dass wir, um etwas zu wissen, zu den-


worum geht es in der „Wissen- ken oder zu erfahren, bereits be-
schaft der Logik“? stimmte Vorannahmen oder Formen
Karen Ng: Einer der erstaunlichsten des Denkens haben müssen, die dem,
Aspekte im Hinblick auf die „Logik“ was wir denken und wissen, Gestalt
ist, dass sich darüber niemand einig geben. Allerdings wird bis heute in
zu sein scheint. Aus historischer Pers- der Hegel-Forschung diskutiert, ob es
pektive können wir sie als Hegels sich bei diesen Bestimmungen bloß
Karen Ng ist Professorin für Philosophie an
Version eines Nachdenkens über die um Bestimmungen unseres Denkens
der Vanderbilt University und Forschungs­
stipendiatin am Center for Post-Kantian notwendigen Bedingungen des Den- handelt – das wäre die eher kantiani-
Philosophy in Potsdam. Ihre Schwerpunkte kens, des Wissens und der Erfahrung sche Perspektive  – oder um Bestim-
liegen in der Kritischen Theorie und betrachten. Die berühmteste Theorie mungen der Realität – das ist die eher
Foto: Maximilian Virgili; Autorinnenfoto: Center for Humanities and Social Change

im Deutschen Idealismus. Ihr Buch „Hegel’s


hierzu ist zu Hegels Zeit Kants „Kri- ontologische Lesart. Und: Wie ver-
Concept of Life“ (Oxford University Press,
2020) wurde mit dem Journal of the History tik der reinen Vernunft“. Darin ver- stehen wir den Unterschied zwischen
of Philosophy Book Prize 2021 ausgezeichnet sucht er, jene grundlegenden Katego- Denken und Realität? Gibt es da eine
rien unseres Denkens zu bestimmen, Kluft? Wenn ja, wie überbrücken wir
ohne die wir unsere Erfahrung und sie? Die scheinbar einfache Frage,
unsere Welt nicht verstehen, ja, über- worum es geht, stellt uns beim Lesen
haupt keine einheitliche Erfahrung der „Logik“ also schon vor Schwie-
haben könnten. Denken Sie beispiels- rigkeiten.
weise an Kausalität oder Substanz.
Hegel liefert eine sehr schwierige, Was ist Ihre Position zu dieser Frage?
etwas obskure Version davon, aber er So wie ich es verstehe, versucht He-
versucht weitgehend dasselbe. Die gels dialektisches Denken uns zu zei-
„Logik“ stellt letztlich die These auf, gen, wie die Differenz zu einer Art

52 Hegel
Einheit wird: dass die Art und Weise,
wie wir über die Dinge denken, der
Realität tatsächlich eine Form gibt,
und dass die Form der Realität wiede-
rum unser Denken prägt. Hegel be-
schreibt die „Logik“ als eine „Wis-
senschaft des reinen Denkens“. Es
geht also eindeutig um die Bestim-
mungen des Denkens. Und es gibt ein
kantianisches Erbe in dem, was er tut,
das sehr wichtig ist. Andererseits den-
ke ich, dass auch die ontologischen
Lesarten richtig sind und Hegel letzt-
lich zeigen will, dass es sich bei diesen
Bestimmungen um eine Struktur der
Realität handelt. Die Schwierigkeit
liegt also nicht darin zu entscheiden,
welche Seite richtig liegt – in vielerlei
Hinsicht liegen sie beide richtig. Die
Schwierigkeit liegt darin zu begrei-
fen, wie die Form unserer Gedanken
und die Struktur der Realität tatsäch-
lich auf eine kohärente Weise zusam-
menkommen können.

Hegel ist ein Systemphilosoph.


Welche Stellung nimmt die „Lo-
gik“ im Hinblick auf den Rest sei-
nes Werkes ein?
Hegels philosophisches System be-
steht aus drei Teilen, die sich jeweils
auf einen anderen Aspekt der Wirk-
lichkeit beziehen: der „Naturphiloso-
phie“, die sich mit den Formen der
natürlichen Welt befasst, der „Philo-
sophie des Geistes“, die sich weitge-
hend mit dem selbstbewussten Men-
schen beschäftigt, und der „Logik“,
die, wie gesagt, versucht, die grundle-
gendsten Kategorien unseres Den-
kens zu untersuchen. Hegel will nun
„Hegel zeigt, dass die Art, wie zeigen, dass diese grundlegenden As-
pekte der Wirklichkeit aufs Engste
wir über die Dinge denken, der miteinander verwoben sind und dass
Realität eine Form gibt, und wir, um einen Aspekt der Wirklichkeit
zu verstehen, ihn in seiner tiefen Ver-
dass die Form der Realität flechtung mit dem Ganzen betrach-
wiederum unser Denken prägt“ ten müssen. Die Logik bezeichnet
Hegel als das „Reich der Schatten“.
Ich finde das eine großartige Meta-
pher, denn Schatten sind natürlich
nicht selbstwirksam, sie brauchen

Sonderausgabe Nr. 24 53
Denken und Sein Gespräch

etwas Reales, das sie wirft. Während Ihr kürzlich erschienenes Buch selbst organisierender Form und
also die „Logik“ in einer sehr abstrak- „Hegel’s Concept of Life“ wurde zweckmäßiger Aktivität liefert. Ein
ten Weise über die reinen Formen weithin als eine neue Interpreta- Organismus bildet ein einheitliches
unseres Denkens nachdenkt, betrach- tion der „Logik“ rezipiert. Was ist Ganzes und er ist „innerlich zweck-
ten die „Naturphilosophie“ und die das Neue an Ihrem Verständnis? mäßig“ in dem Sinne, dass seine Akti-
„Philosophie des Geistes“ die natür- Als ich die „Logik“ zum ersten Mal vitäten und die Prozesse, die er durch-
liche und geistige Realität, die diese las, faszinierte mich, dass in diesem läuft, auf einen Zweck ausgerichtet
„Schatten“, die unsere Denkformen entscheidenden Moment im letzten sind. Das bedeutet nicht, dass er in-
sind, hervorrufen, und wie die Reali- Abschnitt des Buches, den er „die tentional handelt, aber er ist dennoch
tät beschaffen sein muss, damit das Idee“ – ein sehr wichtiges und ziem- zweckgerichtet. Von dieser Erkennt-
überhaupt möglich ist. lich technisches Konzept – nennt, auf nis aus können wir über die kompli-
einmal ein Kapitel über das Leben zierteren, selbstbewussten Formen
auftaucht. Er sagt, es gehe nicht um der Vernunft und der Zwecksetzung
„Was wir in Lebe­ biologisches Leben, aber der Inhalt nachdenken, an denen Hegel letztlich
wesen sehen, in der des Kapitels dreht sich im Kern um
Lebewesen: Wie nehmen Lebewesen
interessiert ist.

Einheit eines Orga- ihre Umgebung wahr? Wie kommt „Leben“ kann hier also fast als „Le-
nismus, in seiner es, dass sie eine körperliche Form ha-
ben? Wie, dass sie sich fortpflanzen
bendigkeit“ verstanden werden,
eher als ein Prinzip?
Selbsterhaltung und und als Angehörige einer Gattung le- Ich würde es so beschreiben: Die
Reproduktion, ist ben? Wie gesagt, die „Logik“ ist ein
sehr abstraktes und technisches Buch,
Form des Lebendigen – oder die
Form lebendiger Aktivität – liefert
eine Minimalform sodass mich das wirklich verwirrte uns Prinzipien für Verständlichkeit.
der Vernunft“ und ich dachte: Was zum Teufel hat
das in der „Logik“ zu suchen? In mei-
Natürlich sind auch Dinge, die nicht
lebendig sind, für uns verständlich.
nem Buch argumentiere ich, dass der Hegel will nicht sagen, dass wir die
Begriff des Lebens zentral ist, um zu Dinge nur dann verstehen können,
Was hat Sie dazu bewogen, sich verstehen, was wir schon am Anfang wenn wir sie als lebendig begreifen.
ausgerechnet mit der „Logik“ zu diskutiert haben, nämlich wie Den- Vielmehr stellt sich die Frage der
befassen? ken und Realität als eins gedacht wer- Verständlichkeit für Hegel erst dann,
Ich habe mich immer für Kontinen- den können. „Leben“ stellt für Hegel wenn lebendige Wesen auf den Plan
talphilosophie und Kritische Theorie so etwas wie eine minimale Einheit treten. Er behauptet in der „Logik“,
interessiert, und im Grunde habe ich rationaler Form dar. Was wir in Le- Leben sei „die unmittelbare Idee“.
damit angefangen, Hegel zu lesen, bewesen sehen, in der Einheit eines Ich würde das übersetzen als „unmit-
weil immer alle gegen ihn waren. Ich Organismus, in seiner Tätigkeit der telbare Form der Wahrheit“ und ich
wollte verstehen, was das große Prob- Selbsterhaltung und Reproduktion, denke, es bedeutet, dass sich die Fra-
lem ist. Als ich dann begann, ihn zu ist eine Minimalform der Vernunft. ge, ob etwas wahr ist, und auch, ob
lesen, war ich sehr angetan und fand etwas gut ist, erst dann stellt, wenn es
ihn viel aufschlussreicher, als ich er- Was kann man sich unter einer Lebewesen gibt, für die die Dinge
wartet hatte. Als Doktorandin an der Minimalform der Vernunft vor- wahr oder gut sein können. Die Frage
New School in New York habe ich stellen? nach der Verständlichkeit erfordert
dann ein einjähriges Seminar über die Wie bereits erwähnt, müssen die Din- also zunächst, dass wir uns fragen, für
„Wissenschaft der Logik“ bei Richard ge, damit wir so etwas wie Wissen wen die Dinge verständlich sind.
J. Bernstein belegt und bin kopfüber oder Erfahrung von ihnen haben kön-
in diesen Text hineingefallen. Ich war nen, schon irgendeine Art von Einheit In Ihrem Buch lässt sich eine Ver-
wie besessen davon und hatte das Ge- besitzen. Wenn alles verstreut und bindung zwischen der Idee der
fühl, dass ich ihn unbedingt ent- unzusammenhängend wäre, könnten Möglichkeit von Wahrheit und der
schlüsseln musste – und damit viel- wir von Erfahrung oder Wissen über- Freiheit des Denkens ausmachen.
leicht auch Hegel im Allgemeinen. haupt nicht in sinnvoller Weise spre- Beide scheinen an eine Überein-
Denn die „Logik“ ist womöglich He- chen. Der lebende Organismus ist stimmung mit einem inneren
gels wichtigster Text, der Schlüssel zu nun insofern wichtig, als dass er uns Zweck oder Prinzip gebunden zu
seinem System. ein erstes Konzept von etwas wie sich sein. Können Sie das erläutern?

54 Hegel
„Nichts bleibt bei und somit verstanden werden kann, die Möglichkeit, ihre Unzulänglich-
sondern auch, dass er sich selbst eine keiten zu erkennen und zu verste-
Hegel, weil die Idee Form gibt, dass er sich seiner Umge- hen, warum beispielsweise unsere
selbst sich weiter­ bung bedient, um sich zu reproduzie- Institutionen in Widersprüche oder
ren  – und nicht nur sich selbst, son- Krisen geraten.
entwickelt. Diese Art dern auch seine Spezies. Er tut all das
der Auseinanderset- in einer kohärenten Weise, und in Viele Konzepte, die später zu
dieser Aktivität zeigt sich bereits eine wichtigen Werkzeugen für Theo-
zung ist sehr nützlich Minimalversion eines freien, selbst- rien wie die Kritische Theorie
für Sozialkritik“ bestimmten Verhaltens. wurden, etwa die Dialektik oder
die bestimmte Negation, werden
Es gibt ein berühmtes Zitat von in der „Logik“ etabliert oder spie-
Hegel, das besagt: „Was wirk- len dort eine entscheidende Rolle.
Ich argumentiere in meinem Buch, lich ist, ist vernünftig, und was Wie erklären Sie sich die Wirk-
dass Hegels Konzept des Lebens vom vernünftig ist, ist wirklich.“ Auf mächtigkeit dieser Konzepte?
Konzept der inneren Zweckmäßig- den ersten Blick kann das wie ein Hegel, so obskur und schwer zu ver-
keit abgeleitet ist, das wir in Kants seltsamer, etwas fauler Versuch stehen er auch ist, war und ist einer
dritter Kritik, der „Kritik der Urteils- erscheinen, sich aller Realität zu der scharfsinnigsten Philosophen der
kraft“, entwickelt sehen. Kant denkt entledigen, die nicht ins rationale Moderne und des modernen Lebens.
darin, sehr verknappt, über folgende hegelsche System passt. Wie ver- Ich sage das eingedenk aller Schwie-
Frage nach: Wie wäre es möglich, stehen Sie ihn? rigkeiten, die der Begriff der Moder-
Urteile zu treffen, wenn die Welt, wie Dieser Satz, der sogenannte „Dop- ne mit sich bringt. Er versteht nicht
er es nennt, ein „rohes, chaotisches pelsatz“, stammt aus dem Vorwort nur die zutiefst geschichtliche Natur
Aggregat“ wäre – wenn es keinen all- der „Rechtsphilosophie“, ich bleibe unseres gesellschaftlichen Zusam-
gemeinen Zusammenhang gäbe, kei- also für den Moment bei der sozialen menlebens, er ist auch einer der ers-
ne auch nur minimale Einheitlichkeit, Welt, aber das Motiv ist sehr ist ähn- ten Denker, der die historische Ge-
sondern nur reine Kontingenz? Nun, lich zu dem, was Hegel in der „Lo- genwart als historisches Produkt und
es wäre nicht möglich. Also führt er gik“ verfolgt. Wenn wir in der sozia- als Produkt freier menschlicher Tä-
das Prinzip der Zweckmäßigkeit ein. len und politischen Realität, die uns tigkeit begreift. Dieser Historizismus
Es ist ein sehr komplexes Prinzip, das umgibt, leben und wenn wir sie auch macht ihn sehr fruchtbar für Gesell-
viele Formen annimmt. Der wichtigs- produzieren wollen, müssen wir ei- schaftstheorien. Hinzu kommt, und
te Gedanke für mein Argument ist nen Weg finden, sie uns verständlich damit komme ich auf den Begriff des
aber, dass Organismen in ihrer Form, zu machen. Wenn Hegel nun sagt, Lebens zurück, seine Dynamik. Das
ihrer Aktivität und ihren Reprodukti- dass das Wirkliche vernünftig ist und ist einer der Punkte, die ihn so schwer
onsprozessen so etwas wie eine innere das Vernünftige wirklich, dann ist lesbar machen, aber genau das trägt
Einheit aufweisen müssen, die erfasst damit gemeint, dass unsere Instituti- auch zu seiner anhaltenden Anzie-
und realisiert werden kann. Erst der onen und sozialen Praktiken einen hungskraft bei: Nichts bleibt. Nichts
Bezug auf diesen inneren Zweck der Zweck haben, dass sie geschaffen bedeutet dasselbe wie auf der vorigen
Dinge erlaubt uns, wahre Urteile zu wurden, um bestimmte Ziele zu er- Seite, weil die Idee selbst sich weiter-
fällen. Daraus ziehe ich den Schluss, füllen, und dass sie uns nur im Hin- entwickelt. Und ich denke, diese Art
dass innere Zweckmäßigkeit eine Be- blick auf diese Ziele verständlich der Auseinandersetzung ist sehr nütz-
dingung für Wahrheit sein kann. He- werden können. Auch sie haben wie- lich für Sozialkritik, weil sie etwas
gel fokussiert nun aber viel stärker als der diese vernünftige Form, auf die Wahres trifft. Wir haben zu Beginn
Kant auf die Idee, dass das nicht nur wir uns beziehen müssen, um sie ver- darüber gesprochen, wie Gedanken
eine minimale Bedingung für Ver- nünftig zu rekonstruieren. Das heißt und Realität zusammenkommen kön-
ständlichkeit und Wahrheit liefert, aber nicht, dass sie deswegen immer nen. Nun, die Realität ist ein dynami-
sondern auch für Freiheit. schon vollständig funktionieren. Es scher, sich ständig verändernder, sich
heißt nicht einmal, dass sie beson- entwickelnder, vielleicht sogar ein le-
In welchem Sinne? ders gut funktionieren. Aus der Fä- bendiger Prozess. Also muss auch
In der lebendigen Aktivität eines Or- higkeit, unsere soziale Welt ver- unser Denken sich bewegen, um diese
ganismus sehen wir nicht nur, dass er ständlich und in diesem Sinne Realität zu erfassen. Das ist etwas,
in minimalem Sinne einheitlich ist vernünftig zu machen, folgt vielmehr woran ich glaube.

Sonderausgabe Nr. 24 55
Denken und Sein Essay

„Das ist dialektisch!“ In manchen Kreisen sagt man


damit nicht nur, dass etwas komplex ist, sondern
­signalisiert, dass man tiefgründig denkt. Doch was
­genau verbirgt sich hinter dem Begriff?
Von Friedrich Weißbach

Was heißt
Dialektik?
Das Wort Dialektik kommt aus dem Altgriechischen von Geschichtsphilosophie schreibt er: „Alles fließt: Darin ist
dialektike und bedeutet Unterredung. Es bezeichnet einen also enthalten; nicht das Sein ist das Wahre, sondern die
dialogischen Reflexionsprozess, bei dem bestehendes Wahrheit des Seins ist das Werden. Betrachten wir, was
Wissen und Überzeugungen auf den Prüfstand gestellt im Werden enthalten ist, so sehen wir, dass dasselbe Sein
werden, um ein präziseres Verständnis des jeweiligen Un- und Nichtsein enthält.“
tersuchungsgegenstandes zu gewinnen. Im Zentrum steht Doch wie kommt Hegel darauf, dass das Sein ein Wer-
dabei die Infragestellung oder, wie es im dialektischen Jar- den ist? Und was meint er, wenn er sagt, dass das Sein das
gon heißt, die Negation von vermeintlichen Wahrheiten. Nichtsein enthält? Ist dies nicht widersprüchlich? Die Er-
Die klassische Dialektik baut auf einem Dreisatz auf: Eine klärung finden wir in Hegels „Wissenschaft der Logik“.
gegebene These wird durch eine Antithese negiert und der Unter Logik versteht er nicht die mathematische Logik
entstandene Widerspruch letztlich in einer Synthese, die als der vernünftigen Schlussfolgerungen, sondern die Wis-
eine neue Wissensebene begriffen werden muss, aufgelöst. senschaft des Logos, also des Begriffs. In seiner Logik ver-
Hegel schließt an diese Methode an, geht aber zu- sucht Hegel nicht mehr und nicht weniger, als den Begriff
gleich darüber hinaus. Großes Vorbild war für ihn Platons auf den Begriff zu bringen und damit über das Denken
Werk „Parmenides“, das er als das „größte Kunstwerk der und Wissen an sich zu reflektieren. Ausgangspunkt bildet
alten Dialektik“ bezeichnet und in dem ein fiktiver Dialog für Hegel dabei die urphilosophische Frage nach dem
zwischen Sokrates und Parmenides über das Sein und die Sein. Seine Antwort darauf ist so einleuchtend wie ver-
Vielheit wiedergegeben wird. Das Werk verdeutlicht für blüffend: Wir müssen das allgemeine Sein als abstrakte
Hegel, dass sich das Sein in seinem Wesen nur dialektisch Einheit begreifen, die noch nicht bestimmt, also noch
begreifen lässt. Anders als andere einschlägige Theorien nicht begrifflich gefasst ist – das abstrakte Sein an sich ist
seiner Zeit – wie etwa die von Kant – versteht er das We- also (noch) nicht Stuhl oder Buch. Als Unbestimmtes ist
sen nicht als eine statische Einheit, die der Betrachter ver- das Sein alles, da alles Sein ist. Wenn wir überhaupt etwas
sucht auf den Begriff zu bringen, sondern als ein dynami- über das Sein sagen können, dann dass es nicht das Nichts
sches Werden, als ein Entstehen und Vergehen, das es ist. Das Sein ist also nur über seine Negation zu verstehen.
immer wieder neu begrifflich zu bestimmen gilt. Das Schaut man sich das Nichts an, zeigt sich eine er-
Sein ist ganz nach Heraklits berühmtem Diktum „pantha staunliche Gleichheit mit dem Sein. Denn auch das
rhei“ für Hegel im Fluss. In seiner Vorlesung über die Nichts lässt sich nur über sein Gegenteil beziehungsweise

56 Hegel
Friedrich Weißbach hat Philosophie und
­Musikwissenschaft an der Humboldt-Uni­ver­
sität zu Berlin, der Sapienza Universitá
di Roma sowie der Université ­Lumière Lyon 2
studiert. Seit 2020 lehrt er am Institut für
Sozialwissenschaften der Humboldt-Univer­
sität. Er ist Gründer und Leiter des Instituts
für Chaos und schreibt regelmäßig für das
Philosophie Magazin

seine Negation – nämlich, dass es nicht Sein ist – begriff-


lich fassen. In dieser Erkenntnis steckt das Urmoment der
hegelschen Dialektik: Hier offenbart sich, dass das Sein,
wenn wir es begreifen wollen, nicht einfach bei sich blei-
ben kann, sondern sich zu seinem Gegenteil bewegen
muss. Um das eine zu verstehen, muss man zu dem an-
dern wandern. Das bedeutet aber keineswegs, dass das
Sein und das Nichts gleich sind. Im Gegenteil, sie sind
absolut unterschieden. Aber als solche sind sie untrennbar
miteinander verbunden.
Daraus ergeben sich zwei fundamentale Einsichten:
Zum einen, dass die Welt wesentlich widersprüchlich ver-
fasst ist. Und zum andern, dass dem Negativen immer ein
positives Moment innewohnt. Die Bewegung des Seins als
Werden ergibt sich aus dem permanenten Wechselspiel
zwischen Bestimmung und Negation.
Für alle Urteile über die Welt bedeutet dies, dass sie
nie endgültig sind und wir uns einer Sache nie absolut
gewiss sein können. Wahrheit und Gewissheit stehen in
diesem Sinne in Spannung zueinander und schließen sich
„Hegel versteht das Sein gegenseitig aus. Die Dialektik kann als eine spiralförmige
nicht als eine statische Einheit, Denkbewegung von einer Bestimmung zur nächsten ver-
standen werden. Sie ist ein Lernprozess, bei dem von
sondern als ein dynamisches Stufe zu Stufe ein höheres Reflexionsniveau erreicht wird.

Werden, das es immer Dabei eröffnet jede Stufe einen neuen Blick auf das Er-
kenntnisobjekt, der wiederum neue Interpretationen und
wieder neu begrifflich zu Korrekturen fordert. Entgegen einem populären Ver-
ständnis von Dialektik, wo These und Antithese in einer
bestimmen gilt“ versöhnenden Synthese aufgehen, verstand Hegel  – ge-
nauso wie schon die antiken Denker  – das dialektische
Foto: Max Slobodda; Autorenfoto: Privat

Durchdringen also als einen unendlichen Prozess. Das


bedeutet aber keinesfalls, dass man einfach alles sagen
oder behaupten könnte. Denn die Negation ist nicht will-
kürlich, sondern entsteht als Reaktion auf das bereits
Gesetzte. Ihr Ausgangspunkt ist immer ein krisenhaftes
Moment. Im wörtlichen Sinne des altgriechischen

Sonderausgabe Nr. 24 57
Denken und Sein Essay

Wortes krínein, was sowohl mit „scheiden“ als auch „ent- Die Überzeugung, dass gesellschaftliche Krisen und Wi-
scheiden“ zu übersetzen ist, scheidet sich in der Krise die dersprüche Ausgangspunkt für soziale Umbrüche sind,
Idee vom Erkenntnisgegenstand. Es gilt, ihn neu zu be- teilten auch Vertreter der Frankfurter Schule, wie etwa
stimmen beziehungsweise neu über ihn zu entscheiden. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Wenn sie in
Das Destruktive der Negation wird dabei konstruktiv und ihrem berühmten Werk „Dialektik der Aufklärung“ auf-
erschafft Neues. zeigen, inwiefern der Nationalsozialismus Ergebnis einer
Gerade dieses konstruktive Moment der Krise, das der aufklärerischen Bewegung ist, machen sie über Hegel
hegelschen Dialektik innewohnt, hat die spätere philoso- und Marx hinaus allerdings deutlich, dass die dialektische
phische Debatte stark geprägt. Sein berühmtester Schüler Verfasstheit der Welt auch Ausgangspunkt für Regressi-
war sicherlich Karl Marx. Auch er bedient sich der dialek- on sein kann. Bis heute liegt der Reiz der dialektischen
tischen Methode, doch lehnt er die Grundidee des Idealis- Methode darin, dass sie die Möglichkeit für emanzipative
mus ab, wonach das Bewusstsein Primat über die Materie Prozesse in den Begebenheiten unserer unmittelbaren
habe. Stattdessen stellt er Hegels Gedanken „vom Kopf Umwelt verortet. Es ist Aufgabe heutiger Denker, diese
auf die Füße“ und setzt die Materie ins Zentrum seiner herauszudestillieren und gesellschaftlich anschlussfähig
Überlegungen: Laut Marx prägt nicht der Geist die Mate- zu machen. Gerade in Zeiten multipler Krisen scheint
rie, sondern die Materie den Geist. Statt der begrifflichen die dialektische Methode deswegen so aktuell wie nie.
sind die sozioökonomischen Widersprüche Triebkraft der Denn eins ist klar: Einfache Antworten auf unsere Prob-
Geschichte und gesellschaftlicher Veränderungen. leme gibt es nicht.

Drei Konzepte
der Dialektik
Von Hendrik Buchholz Thomas
von Aquin
(1225 – 1274) Immanuel
Kant
In der mittelalterlichen Scholastik
(1724 – 1804)
Aristoteles bildet sich eine dialektisch
aufgebaute Textform aus, die
(384 – 322 v. Chr.) Kant spricht in der „Kritik der
„Quaestiones“. So besitzen
reinen Vernunft“ von einer trans-
Schriften von Thomas von Aquin
zendentalen Dialektik und warnt
Zur Dialektik äußert sich Aristote- folgende Struktur: Auf eine
damit vor Scheinurteilen,
les unter anderem in seiner philosophische Problemfrage folgt
welche die Methode produzieren
„Topik“: Prämissen, also Annah- die Darstellung von Argumenten
kann. Denn: Die Dialektik neigt
men, deren Wahrheitswert als einer dem Autor entgegengesetzten
auf Vernunftebene zu Fehl­
wahrscheinlich gilt, werden gegen- Position. Das Zitat einer wissen-
schlüssen. Wendet man sie an, um
einander abgewogen und zu einer schaftlichen, meist theologischen
auf Grundlage von haltlosen
Konklusion zusammengeführt. Autorität bildet da­rauf den Anfang
Annahmen über die außersinnli-
Ein typisches Beispiel lautet: Alle einer eigenen Gegenargumen­
che, also transzendentale Wirklich-
Menschen sind sterblich; tation, welche die Meinung des
keit zu urteilen, führt das zu
Aristoteles ist ein Mensch, also ist zitierten Denkers bekräftigt
Fehlurteilen. Auf Basis reiner Ver-
Aristoteles sterblich. Die Dialektik und weiterführt.
nunfturteile maßt man sich dann
ist für den antiken Denker
Aussagen an, die schlicht nicht
demnach eine Methode des logi-
zu prüfen sind – etwa eine logi-
schen Schlussfolgerns, die auch
sche Beweisführung für die
als Deduktion bezeichnet
werden kann. Existenz Gottes.

58 Hegel
„Die Logik ist (…)
als das Reich des reinen
Gedankens zu fassen.

Dieses Reich ist die


Wahrheit, wie sie
ohne Hülle an (und)
für sich selbst ist“
Foto: Max Slobodda

 Hegel, „Wissenschaft der Logik“


Denken und Sein Überblick

Wissenschaft der Logik


Hegels zweites großes Werk erforscht die Grundstrukturen
unseres Denkens und Seins. Was hieße es, voraussetzungslos zu
denken? Wie formt sich unser Wissen? So wie das Bewusstsein
durchläuft auch das Denken einen Prozess der Aufhebungen
und wird dabei immer komplexer und allgemeiner. So vermag es
schließlich, alle Gegensätze vollends in sich zu vereinen
Von Millay Hyatt

Objektive Logik

Negation der Negation: Dass etwas


nicht etwas ist, kann wiederum
­negiert werden – also die Frucht ist Wesen
Nichtblüte aber auch nicht Nichtblüte,
Das Wesen ist gewesenes
schließlich ist sie aus der Blüte
Sein, also Sein, das eine
hervor­gekommen. Damit wird eine
Entwicklung durchlaufen und
Einheit hergestellt. Diese ist das ­Wesen.
eine Geschichte hat. Die
Frucht war einmal Blüte und
kann in ihrem Wesen nur
mit dieser Geschichte ver-
Negation: Wenn wir sagen, was
standen werden.
etwas ist, sagen wir gleichzeitig, was es
nicht ist. Indem wir zusammendenken,
Dasein
was etwas ist und nicht ist, was
es ist und wird, entsteht eine neue, Dasein ist gewordenes Sein, das sein
bestimmte Einheit, nämlich das Dasein. Nichtsein in sich trägt. So ist zum Beispiel
die Frucht unter anderem bestimmt
in ihrem Fruchtsein, dass sie Nichtblüte
ist. Das Dasein bezieht sich über das
Andere – hier die Blüte – auf sich selbst.
Der Widerspruch So ist es „für sich“.
löst sich auf, denkt
man Sein und Werden
Nichts als Momente
Jede Geburt enthält schon den
vom Werden.
Keim des Vergehens, nämlich
Krankheit und Tod, in sich; jeder
Tod markiert auch den Anfang
neuen Lebens.

Sein – Nichts
Das Denken beginnt mit dem reinen Sein,
unmittelbar und ohne Bestimmung.
Soweit die Dinge hier noch nicht von einem
Bewusstsein gedacht werden, existieren
sie unabhängig von diesem, also „an sich“.
Aber ohne jegliche Bestimmung kann das
Sein nicht vom Nichts unterschieden werden.

60
Subjektive Logik

Absolute Idee
Die Logik gipfelt in der absoluten Idee, das
heißt der vollbrachten Identität von
Durch stetig wiederholte Theorie und Praxis. Die absolute Idee ist
Negationen und Negationen vollständig und kehrt somit zu ihrem Anfang
der Negationen erreichen zurück – zum Leben: „(D)ie absolute Idee
wir Idee und absolute Idee. allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich
wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit.“
Die Gegenüberstellung von „an sich“ und
„für sich“ – also etwas, das unabhängig von
einem Bewusstsein einfach ist, was es ist,
und etwas, das erst in einer Reflexionsbewe-
gung bezogen auf sich selbst ist – ist hier
vollständig aufgehoben. Die absolute Idee
ist „an und für sich“.

Idee
Die Idee ist die Einheit von Begriff und
Realität. Die Idee steht nicht, wie im normalen
Sprachgebrauch, den Dingen gegenüber,
sondern verleiht den Dingen erst ihre Wahr-
heit. So ist zum Beispiel der Staat ohne die
Idee des Staates ein bloßes Herrschaftsinst-
rument, der Mensch ohne die Idee des
Menschen eine bloße Ansammlung von bio-
logischen und chemischen Prozessen.

Begriff
Der Begriff ist die Einheit von Sein und
Reflexion. Indem wir uns reflektierend mit den
Dingen beschäftigen, entwickelt der Begriff
sich aus ihnen heraus. So entsteht etwa in der
Auseinandersetzung mit gewissen Objekten
ein Begriff von der „Frucht“ als Teil der
Pflanze, welche die Samen umschließt; ver-
schiedene Fruchtarten werden in den Begriff
aufgenommen: Der Begriff der Frucht enthält
Abgrenzungen zu Nichtfrüchten. Begriff
und Ding stehen in wechselseitiger Beziehung
zueinander – das Ding gibt uns den Inhalt
des Begriffs, aber ohne Begriff könnten wir
das Ding nicht fassen.
 Hegel, „Wissenschaft
der Logik“ (1812–1816)

61
Denken und Sein Gespräch

„Digitale Technologien
sind weder Objekt
noch Subjekt“
Wie hätte Hegel auf den heutigen Stand der Technik
geblickt? Der Philosoph Jörg Noller erläutert,
warum künstliche Intelligenz nicht zu dialektischem
Denken fähig ist, und wohin der Weltgeist steuern
könnte, wenn das Metaverse Wirklichkeit wird
Das Gespräch führte Dominik Erhard / Fotos von Lorenzo Maccotta

Das menschliche Bewusstsein zeich- Was impliziert das nun für das
net sich dadurch aus, dass es eine Denken von Maschinen? Können
subjektive Innenseite hat, die sich Maschinen etwa dialektisch denken?
etwa im Fühlen und Begehren zeigt. Es gibt strukturelle Ähnlichkeit im
Künstliche neuronale Netze, wie sie Funktionieren und Operieren von
für KI verwendet werden, mögen künstlichen neuronalen Netzen und
eine rudimentäre selbstbezügliche unserem Denken: Mustererkennung
Struktur haben, doch ist dies nicht wäre eines davon. Mustererkennung
Jörg Noller vertritt seit dem Sommer­ hinreichend für Subjektivität. Dazu ist eine rudimentäre Form von Den-
semester 2022 den Lehrstuhl für Praktische wäre es notwendig, dass KI einen le- ken und auch von Urteilen. Denn auf
Philosophie an der Universität Konstanz. bendigen Körper hat. Das Bewusst- Basis von zahlreichen Informationen
Zuletzt erschien von ihm „Personale
sein von Lebewesen ist immer Be- kann KI zu einem besonders wahr-
Lebensformen. Identität – Einheit – Würde“
(Brill mentis, 2022) wusstsein von etwas, es weist eine scheinlichen Ergebnis und einer
geistige Richtung auf. Menschliches Empfehlung kommen, etwa bei medi-
Bewusstsein ist dadurch gekenn- zinischen Diagnosen – vorausgesetzt,
Philosophie Magazin: Herr Noller, zeichnet, dass es Selbstbewusstsein dass ihr ein Erkenntnisziel von uns
wie unterscheidet sich mensch- ist, das heißt, dass wir uns auf unsere Menschen vorgegeben wird. Die „Er-
liches Denken von der Funktions- eigenen Bewusstseinszustände be- kenntnis“ von KI ist aber nicht intrin-
weise anderer bewusstseinsähn- wusst beziehen und uns selbst zum sisch motiviert und KI hat vor allem
licher Zustände wie jenen von Problem werden können. Künstliche auch keinen Begriff und kein Be-
künstlicher Intelligenz? Intelligenz kann sich nicht frei selbst wusstsein von Negativität, das heißt
Jörg Noller: Wenn wir über das bestimmen und infrage stellen, da sie davon, dass etwas auch nicht oder
Denken nachdenken wollen, müssen ihre Ziele von außen vorgegeben be- ganz anders sein könnte. Auch ist dia-
wir über das Bewusstsein sprechen. kommt. lektisches Denken nach Hegel immer

62 Hegel
bestimmtes, eindeutiges Denken – er
spricht von der „bestimmten Negati-
on“. Künstliche neuronale Netze ha-
ben es aber nur mit Wahrscheinlich-
keiten zu tun. Deswegen kann man
ihr „Denken“ immer nur ein hypo-
thetisches, bedingtes Denken nen-
nen. Daraus, dass Negativität und Be-
stimmtheit nach Hegel konstitutiv
für dialektisches Denken sind, folgt,
dass KI nicht dialektisch denken
kann. Das heißt, anders als wir kann
KI nicht von etwas überrascht und
herausgefordert werden, und sie kann
uns auch keine Rechenschaft ablegen
über die Gründe, die zu ihren Er-
kenntnissen geführt haben. Da KI wie
jede Technologie ein Produkt des
menschlichen Geistes ist, können wir
also nicht davon sprechen, dass sie
selbst etwas mit dialektischem Den-
ken zu tun hat. Vielmehr ist es so, dass
unser Verhältnis zu diesen Technolo-
gien dialektisch genannt werden
kann. Denn auf den ersten Blick er-
scheint KI als etwas uns ganz und gar
Entgegengesetztes, Fremdes  – als
Objekt. In einem nächsten – dialekti-
schen  – Schritt aber können wir er-
kennen, dass sie ein Produkt unseres
Geistes ist, insofern sie mit denjeni-
gen Daten operiert, die wir ihr zur
Verfügung gestellt haben, und mithil- Eintauchen in virtuelle Welten: Wie werden neue Technologien
fe derjenigen Algorithmen, die wir wie VR-Brillen unser Denken und Sein verändern?
programmiert haben.

Laut Hegel gelangen wir erst im


Zusammentreffen und der Negati-
on von anderen Objekten und an- „KI hat keinen Begriff und kein
deren Subjekten zu einem Selbst-
bewusstsein. Welche Rolle hätte
Bewusstsein von Negativität,
wohl der Kontakt mit Computern also davon, dass etwas auch nicht
in seiner „Phänomenologie“ ein-
genommen?
oder ganz anders sein könnte“
Die neuen Medien haben eine Phä-
Autorenfoto: Deniz Tasdelen

nomenologie, also eine Art, dem Be-


wusstsein zu erscheinen, die jenseits
von Hegels Horizont liegt. Die Kate-
gorien von Subjektivität und

Sonderausgabe Nr. 24 63
Denken und Sein Gespräch

„Eine ‚Dialektik der Objektivität, aber auch von Mecha- Andererseits treten diese Maschinen
nismus und Organismus, die für Hegel dadurch mit uns in neuartige Bezie-
Digitalität‘ wird zentral waren, greifen hier nicht mehr hungen, die Formen von Intersubjek-
­darin bestehen, dass richtig. Dies können wir etwa am Bei- tivität besitzen, etwa dann, wenn wir
spiel von künstlicher Intelligenz se- mit KI durch Sprachbefehle kommu-
wir uns im scheinbar hen: Diese ist weder ein Subjekt noch nizieren. Man könnte also mit He-
Anderen der ein Objekt, weder reiner Mechanis-
mus noch lebendiger Organismus.
gel  – ganz dialektisch  – sagen, dass
durch die neuen Technologien und
digitalen Objekte Wir brauchen also neue Kategorien, Medien unsere bisherigen Begriffe
am Ende selbst um diese neuen virtuellen Phänome-
ne zu bestimmen.
„in Bewegung“ geraten. Eine neue
„Phänomenologie des Geistes“ wür-
(wieder-)erkennen“ de der Technik eine wesentlich wich-
Welche könnten das sein? tigere Rolle zusprechen müssen, als
Ich habe dafür die Begriffe der Trans- Hegel es seinerzeit tat, einfach des-
subjektivität und Interobjektivität wegen, weil die digitale Technik kein
vorgeschlagen: Einerseits erweitern bloßes Objekt oder Instrument mehr
wir unsere Subjektivität um digitale darstellt, sondern nahtloser Teil und
Medien und Maschinen, indem wir Moment unserer Lebenswelt gewor-
sie etwa mit unseren Daten füttern. den ist. So verstanden erweist sich die

Einheit von digitaler Welt und All­-


tag: Ein italie­nischer Jugendlicher zu
Hause beim Videospielen
Differenz von menschlichem Subjekt lebensweltlicher Faktor, zu dem wir In diesem Sinne könnte das Metaver-
und digitalem Objekt wie etwa künst- in eine neue Beziehung treten. Wir se, mit Hegel gesprochen, tatsächlich
licher Intelligenz durchaus als dialek- sollten die neue Technik, wie etwa KI, ein neuer Schritt in der Geschichte
tisch. Denn bei rechtem Licht bese- weder objektivieren noch personifi- des Weltgeistes sein, und es bleibt zu
hen sind wir es, die künstliche zieren, sondern sie als eine Erweite- hoffen, dass sich darin unsere Auto-
Intelligenz erzeugt und ihr die Daten rung unseres Geistes begreifen. nomie, verstanden als qualitative
zur Verfügung gestellt haben, mittels Freiheit, vergrößert.
derer sie nur operieren kann. Eine Lassen Sie uns noch etwas wei-
„Dialektik der Digitalität“  – wenn ter in die Zukunft blicken. Aktuell Immanuel Kant diagnostizierte
man so reden möchte – wird also da- arbeiten die größten Technikkon- seinerzeit eine wachsende Un-
rin bestehen, dass wir uns im schein- zerne der Welt an einer Vision, mündigkeit der Menschen, die er
bar Anderen der digitalen Objekte die sie Metaverse nennen. Kurz auch auf den Gebrauch von Me-
am Ende selbst (wieder-)erkennen. gesagt beschreibt dies die Idee, dien zurückführte. Kurz: Wer ein
dass wir uns künftig mit VR-Brillen Buch hat, lässt den Verstand ver-
Was müsste sich in der aktuel- in dreidimensionale, virtuelle Um- kümmern. Kommen vermitteln-
len Hegel-Forschung ändern, um gebungen begeben und dort den de Instanzen bei Hegel ähnlich
ihn für das Nachdenken über den Großteil unserer Zeit verbringen. schlecht weg?
technischen Fortschritt nutzbar Doch wohin steuert der Weltgeist, Für Hegel ist die Vermittlung nicht
zu machen? wenn unsere Umwelt von Unter- so sehr als Mediengebrauch zu ver-
Bislang wurde das Verhältnis von nehmen erstellt ist? stehen, sondern selbst ein Teil oder
Mensch und Technik oft im Sinne ei- Dies hängt davon ab, was wir genau besser gesagt: Moment der Wirk-
nes Werkzeuggebrauchs oder einer unter dem Metaverse verstehen. Ver- lichkeit. Vermittlung ist nach Hegel
Subjekt-Objekt-Differenz verstan- stehen wir darunter eine rein kom- aber nichts Ungerichtetes, sondern
den. Der Mensch sah sich der Tech- merzielle Angelegenheit, dann wird immer teleologisch auf ein höheres
nik entgegengesetzt und die Technik der Weltgeist darin nicht zu finden Ziel hin orientiert. Entscheidend ist
dem Menschen. Heidegger etwa sein. Wir haben es dann nur mit inst- dabei Hegels Auffassung von Negati-
sprach mit Blick auf die moderne rumenteller Vernunft zu tun, die uns vität, die man als „Motor“ dieser
Technik von einem „Gestell“, und heteronom bestimmt, jedoch keinen Vermittlungsentwicklung oder auch
dies in einem negativen Sinne, inso- Raum für die Entfaltung von Autono- als „Dialektik“ verstehen kann. Diese
fern wir dadurch die Natur instru- mie und Moralität bietet. Begreifen Negativität können wir nach Hegel
mentalisieren und objektivieren und wir das Metaverse dagegen als einen mit Blick auf die digitalen Medien so
am Ende selbst von der Technik ent- voll integrierten und nahtlos vernetz- verstehen, dass wir uns mit etwas
menschlicht werden. Der Hegel-For- ten virtuellen Handlungsraum, dann konfrontieren lassen, das jenseits
schung liegt zumeist noch dieses ob- können wir dies durchaus im Sinne unseres Horizonts liegt. Virtuelle
jektivistische und objektivierende von Hegel verstehen und ihm einen Mündigkeit ist nur möglich, wenn
Verständnis von Technik zugrunde. philosophischen Sinn abgewinnen. wir offen für das Andere sind, was
Es hatte sicherlich lange Zeit seine Virtuelle Gegenstände sind ubiprä- uns immer auch irritieren kann. Mit
Berechtigung, gerade auch vor dem sent – wir können auf sie von jedem Hegel könnten wir daher sagen, dass
Hintergrund von Naturzerstörung physischen Ort zugreifen. Wir treten unsere Mediennutzung immer Teil
und -beherrschung. Die neuesten im Metaverse mit virtuellen Objekten eines größeren Ganzen sein sollte  –
Entwicklungen der Digitalisierung, und Subjekten in ein physisch unver- sei es der öffentliche Gebrauch unse-
allen voran das maschinelle Lernen, mitteltes, ja „geistiges“ Verhältnis, rer Vernunft oder der Weltgeist.
konfrontieren uns nun aber mit neu- was man eine „virtuelle Intimität“ Wichtig ist hier zu betonen, dass
artigen Phänomenen, die sich nicht nennen könnte. Es entsteht also eine Geistiges nach Hegel nichts mit Si-
einfach in ein Subjekt-Objekt-Sche- interessante neuartige Form von mulationen, Fiktionen und Illusio-
ma zwängen lassen. Es wird darauf Überall-Gleichzeitigkeit und Über- nen zu tun hat. Hegel vertritt einen
ankommen, Mensch und Technik in all-Verbundenheit. Virtuelle Realität Realismus des Geistes. Ebenso müs-
ein engeres Verhältnis zu setzen, als weist darin viele Ähnlichkeiten mit sen wir versuchen, die digitalen Me-
Foto: Lorenzo Maccotta

dies bislang getan wurde. Denn Tech- Hegels Begriff des Geistes auf, da dien so zu verwenden, dass sie gerade
nologie wird am Beispiel von KI im- hier herkömmliche Gegensätze, wie nicht bloße Scheinwelten oder Fil-
mer weniger als ein Gegenstand oder etwa Subjektivität und Objektivität, terblasen eröffnen, sondern realitäts-
Werkzeug sichtbar, sondern als ein zu etwas Neuem vermittelt werden. stiftend sind.

Sonderausgabe Nr. 24 65
Hegel
in Zitaten
Erklärt von Michael Quante    „Wissenschaft der Logik“,
in: „Gesammelte Werke“, Bd. 11, S. 323

Erläuterung „Das
Wesen
Das „Wesen“ bezeichnet in Hegels
„Logik“ Gegenstände, die sich durch
ein Selbstverhältnis auszeichnen.
Damit ist nicht nur das Selbstbe-
wusstsein, dem Hegel sich immer

muß
wieder zuwendet, gemeint, sondern
jeder komplexe Gegenstand, bei
dem wir ein Innen und ein Außen,
eine private und eine soziale Pers-
pektive unterscheiden können. Das
Wesen einer Sache, einer Person

erschei-
oder auch eines Regelwerks ist, so
Hegel, allerdings nicht von seinem
Äußeren zu trennen. Eine Kraft
muss wirken, damit sie wirklich ist
und wir sie als solche erkennen kön-

nen.
nen. Prinzipiell gehören zum Inneren
des Wesens seine Äußerungen hin-
zu, so zum Beispiel ist der Charakter
einer Person das, was sie in ihrem
Handeln realisiert. Und eine Gesell-
schaftsordnung, die von innen her
gerecht sein will, aber nach außen
stets Ungerechtigkeiten hervorruft,
ist dann auch in ihrem Wesen nicht
gerecht.

Das Seyn ist die absolute Ab-


straction; diese Negativität ist
ihm nicht ein äusserliches,
sondern es ist Seyn und sonst
nichts als Seyn, nur als diese

66 Hegel
absolute Negativität. Um der-
selben willen ist Seyn nur als
sich aufhebendes Seyn, und ist
Wesen. Das Wesen aber ist als Relevanz
Im Kontext der Philosophie, aber
die einfache Gleichheit mit sich auch anderer Wissenschaften, etwa

umgekehrt ebenfalls Seyn (…) der Psychologie, ist Hegels Konzep-


tion des Wesens aktuell, weil es
Dieses Seyn aber, zu dem Theorien, die etwas rein Innerliches,
Privates oder Subjektives anneh-
das Wesen sich macht, ist das men, das hinter der beobachtbaren

wesentliche Seyn, die Existenz; Realität verborgen ist, infrage stellt.


Auch bei alltäglichen Interpretatio-
ein Herausgegangenseyn aus nen komplexer sozialer Phänomene
entfaltet Hegels Konzeption aufklä-
der Negativität und Innerlichkeit. rende Kraft. Zum Beispiel unterstel-
len Verschwörungstheorien häufig
So erscheint das Wesen. eine sich hinter den beobachtbaren

Die Reflexion ist das Scheinen Phänomenen verbergende Wirklich-


keit, die eigenen Zwecken und Zie-
des Wesens in ihm selbst. len folgt. Hegel zufolge kann es
aber weder ein authentisches Erle-
Die Bestimmungen derselben ben oder Erfahren, das für andere

sind in die Einheit einge­ unzugänglich ist, noch verborgene,


hinter den Vorgängen waltende
schlossen schlechthin nur als Kräfte geben. Weil sich das Wesen
der Dinge zeigen muss, sind solche
gesetzte, aufgehobene; oder Argumente wider­sprüchlich.

sie ist das in seinem Gesetzt­


seyn unmittelbar mit sich
identische Wesen.“

Sonderausgabe Nr. 24 67
Exkurs
Hegel und seine Kritiker
Wer „das Ganze“ denken will, muss auf Gegenwind
gefasst sein. Hegels Philosophie provozierte
sowohl zu seinen Lebzeiten als auch danach immer
wieder harsche Kritik. Ist das bloß ein Zeichen
der Komplexität seines Denkens? Oder offenbart
die Kritik Schwachstellen des Systems?

Autorenfoto: Elisa Prodöhl


Verdient Hegels Philosophie wirklich so viel
­Aufmerksamkeit, wie die Wissenschaft
ihr heute zukommen lässt? Nein, meint unser Autor.
Antworten auf die Fragen, die Hegel stellte,
lassen sich mittlerweile besser ohne ihn finden
Von Hanno Sauer / Zeichnungen von Jonathan Meese

Götterdämmerung
Hanno Sauer ist Professor für Philoso-
Natur und eines endlichen Geistes“ war das erklärte Ziel
phie an der Universität Utrecht und lehrt seiner „Wissenschaft der Logik“. Danach wurde immer
dort Ethik, Metaethik und Politische wieder versucht, den, wie Marx einst schrieb, „rationellen
Philosophie. Von ihm erschienen ist „Moral Kern“ in der „mystischen Hülle“ von Hegels Prosa zu finden.
Thinking, Fast and Slow“ (Routledge,
2018) und jüngst „Moral. Die Erfindung von
Vor allem beim ambitionierten philosophischen Nach-
Gut und Böse“ (Piper, 2023) wuchs gehört es zum guten Ton, hermeneutische Parkett-
sicherheit bei mindestens einem „der Großen“ vorweisen
zu können. Vor 20 Jahren war Nietzsche de ­rigueur; heute
ist Hegel wieder in Mode.
Aber ist das überhaupt eine gute Idee? Was können
Land, soll Mark Twain einst gesagt haben, wird nicht wir heute von Hegel lernen? Offen gestanden, nur sehr
mehr hergestellt  – das mache es so wertvoll. Eine solch wenig. Exegetisches Denken ist immer methodisch heikel:
lobenswerte Knappheit ist auch der uneinholbare Vorteil, Oft liest man die eigenen Gedanken erst in einen histori-
den die Geschichte der Philosophie gegenüber der gegen- schen Text hinein, nur um sie dann, ausgestattet mit der
wärtigen Philosophie hat: Es wird keine neue mehr pro- Sakralität der Tradition, aus diesem wieder herauslesen zu
duziert. Die alten Meister sind längst verstummt. können. So mancher, der das Talent zur Philosophie ge-
Doch auch mit dieser charmanten Tradition posthu- habt hätte, gab sich im Nachkriegsdeutschland zufrieden
mer Verschwiegenheit scheint es jetzt ein Ende zu haben. mit der Rolle des Eckermann für den preußischen Staats-
Kürzlich wurde die philosophisch interessierte Welt von philosophen. Aber diese Aufschubtaktik historiografischer
der zweifelhaften Nachricht heimgesucht, ein deutscher Kammerdiener neigt zum Kollaps: Irgendjemand muss ja
Professor habe fünf Kisten bis jetzt unbekannter Mit- Philosophie machen und nicht nur ihre Geschichte schrei-
schriften von Hegels Vorlesungen zur Ästhetik aus dessen ben, denn Philosophie ist nun mal das, wovon die Ge-
Heidelberger Zeit in den Archiven des Erzbistums Mün- schichte der Philosophie die Geschichte ist.
chen und Freising geborgen. Hegel hat vielleicht brauchbare Vorahnungen zu einer
Aber vielleicht muss dieser Gruß aus der Vergangen- inferentialistischen Semantik gehabt, nach der unser Den-
heit auch nicht wundern. Bescheidenheit war ja noch nie ken immer logisch strukturiert ist. (Wer weiß, dass etwas
Hegels Sache. Nichts weniger als die „Darstellung Got- ein Löwe ist, weiß auch, dass es kein Tiger ist.) Aber wer
tes (...) in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der will seine Ideen zur Todesstrafe, die eigentlich eine

Sonderausgabe Nr. 24 69
Exkurs: Hegel und seine Kritiker Essay

„Ich bin immer wieder über- Hegel. Ich bin immer wieder überrascht, wie schnell die
Wahrheitsambitionen der Philosophie geopfert werden,
rascht, wie schnell die Wahrheits­ um weiter Heiligenverehrung zu betreiben. Wer will be-
ambitionen der Philosophie streiten, dass über bessere Informationen und Begrifflich-
keiten zu verfügen, einen philosophischen Vorteil darstellt?
geopfert werden, um weiter Wer eine im weitesten Sinn „hegelianische“ Position
­Heiligenverehrung zu betreiben“ heute vertreten will, dem stehen dafür endlich wissen-
schaftlich seriöse Werkzeuge zur Verfügung. Hegels
Hauptambition bestand ja darin, die individualistischen
Vorurteile der Aufklärungsphilosophie zu revidieren und
Respektbezeugung gegenüber dem Exekutierten sei; zu durch den Vorrang eines objektiven Geistes und der Ge-
den amerikanischen Ureinwohnern, deren „Stumpfsinn“ schichtlichkeit unseres Denkens zu ersetzen. Moderne
sie zu jeder höheren Kultur unfähig mache; zur Rolle der Theorien kultureller Evolution, etwa von Cecilia Heyes
Frau, die als passiv und subjektiv „empfindend“ in Staat, oder Joseph Henrich, leisten genau das: Sie zeigen, dass
Wissenschaft und Wirtschaft nichts verloren habe; zur unser gesamtes Denken und unsere Werte von komplexen
Wärme als dem Moment der realen Auflösung der Un- Mechanismen kultureller Übertragung abhängen. Das
mittelbarkeit des Materiellen (oder so ähnlich); zum ger- Mängelwesen Mensch, das nur sehr dürftig mit angebore-
manischen Volk, in dessen „nordischem Prinzip“ die Welt- nen Instinkten ausgestattet ist, lebt vom akkumulierten
geschichte erst zu sich selbst kommt, gleich miteinkaufen? kulturellen Kapital aus Informationen, Ritualen, Normen,
Diese problematischen Aspekte von Hegels Denken Institutionen und Wissensbeständen, das vorangegangene
sind kein Zufall, sondern von Anfang an in sein System Generationen hinterlassen haben. Sie machen unseren
eingebaut. Die Aufgabe des Philosophen, so Hegel, ist es, „erweiterten Geist“ aus. Unser Denken ist ein außer- und
das Wirkliche als Vernünftiges zu begreifen – denn wenn überindividuell ablaufender Prozess, der über unsere
man die Welt vernünftig anschaue, schaue sie auch ver- Köpfe hinweg abläuft und schlauer ist als wir. Hegels „List
nünftig zurück. Das heißt, dass sich so gut wie alles – ob der Vernunft“ ist die perfekte Metapher dafür.
Geschlechter, Völker, „Rassen“, Denkkategorien, Institu- Etwas mehr Skepsis gegenüber den „Großen“ der Phi-
tionen oder physikalische Größen – als Moment einer dia- losophie – und viel weniger Ehrerbietung – wäre ratsam.
lektischen Gliederung rekonstruieren lassen muss. Am Ein angenehmer Nebeneffekt dieser Götterdämmerung
Ende entsteht stets eine metaphysische Hierarchie, die wäre auch eine Diversifizierung des Kanons. Die Geschich-
das Unmittelbare (etwa: das Geistige des Mannes), wenn te der Philosophie ist ja ein geradezu lächerlich melanin-
es erst durch die Bestimmung der Negativität (das „Ande- armes sausage fest, und wer es für eine gute Idee hält, mehr
re“ des Mannes, also die Frau) hindurchgegangen ist, der marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, hätte
Idee als der Realisierung des Begriffs (der Ehe als sittli- schon viel damit gewonnen, sich auf die Gegenwart zu
cher Einheit der beiden) subordiniert. Hegel ist ohne die- konzentrieren. Lesen Sie C. Thi Nguyen, Cailin O’Connor,
se Implikationen nicht zu haben, denn sie machen das ei- Hrishikesh Joshi, Regina Rini, Olúfémi O. Táíwò, Amia
gentlich Originelle seiner Philosophie aus. Wer sie Srinivasan, Victor Kumar, Jessica Flanigan. Das goldene
ablehnen möchte, lehnt damit den methodischen Kern Zeitalter der Philosophie ist: jetzt.
von Hegels gesamter Philosophie ab.
Unter den Disziplinen, die sich um Wissen bemühen,
hatte die Philosophie immer schon eine auffällige Neigung
zur historizistischen Nabelschau. Aber warum eigentlich?
Geht es in der Philosophie in Wirklichkeit gar nicht um die
Wahrheit, sondern, wie Gadamer es formulierte, um das
„Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“?
Teilweise vielleicht. Aber doch nur teilweise. Und für
den Teil der Philosophie, der sich darum bemüht, etwas
über die Wirklichkeit zu lernen, gilt: Wer nicht mit dem
systematischen Niveau des aktuellen Debattenstands
vertraut ist und keine Kenntnis von den Ergebnissen der Hegel aus der Sicht des Künstlers Jonathan Meese:
Für einen Gesprächsband, in dem der Philosoph
modernen Wissenschaften hat, hat uns systematisch wenig
Slavoj Žižek seine Hegel-Interpretation darlegt,
zu sagen. Und dies gilt, so leid es mir tut, für so gut wie alle zeichnete Meese zehn Bilder des großen Dialektikers
der „großen“ Philosophen, ob Kant, Platon oder eben („Immer Ärger mit Hegel“, Walther König, 2021)

70 Hegel
Exkurs: Hegel und seine Kritiker Essay

Gegner im Geiste
Der Einfluss von Hegels Denken ist unbestreitbar,
doch stießen seine Ideen keineswegs nur auf
Begeisterung. Wir stellen fünf berühmte Antipoden
des Philosophen und ihre scharfzüngigen Abrech-
nungen mit ihm vor
Von Theresa Schouwink

„Hegels Formulierungen
sind absichtlich dunkel, um ihre
Inhaltsleere zu ­verschleiern“

Arthur Schopenhauer zu verschleiern. Auch in der Frage, womit sich die


(1788 – 1860) Philosophie befassten sollte, vertrat Schopenhauer
einen anderen Standpunkt. Für Hegel ist die
Geschichte ausgezeichneter Gegenstand der Philo-

J
edoch die größte Frechheit im Auftischen baren sophie. In ihr sieht er einen vernünftigen Prozess,
Unsinns, im Zusammenschmieren sinnleerer, in dem sich der „absolute Geist“ und die menschliche
„ rasender Wortgeflechte, wie man sie bis dahin nur Freiheit verwirklichen. Für Schopenhauer, der in der
in Tollhäusern vernommen hatte, trat endlich im Hegel Tradition Platons steht, ist die Beschäftigung mit
auf und wurde das Werkzeug der plumpesten allgemeinen geschichtlichen Veränderungen etwas Unphilosophi-
Mystifikation, die je gewesen, mit einem Erfolg, welcher sches. Nicht die Welt der flüchtigen und sich ständig
der Nachwelt fabelhaft erscheinen und ein Denkmal wandelnden Erscheinungen gilt es ihm zufolge
deutscher Niaiserie [Albernheit] bleiben wird.“ So lautet zu verstehen, sondern das darunterliegende, ewige
eine der zahlreichen Stellen, an denen Schopenhauer Prinzip. Dieses Prinzip wiederum ist für Schopen-
Hegel attackiert. Die Ablehnung beruht einerseits auf hauer keineswegs der Geist, sondern ein irrationaler,
einer Konkurrenz, in der Schopenhauer das Nachsehen dunkler und zielloser Drang, der die gesamte
hat: Als der unbekannte Privatdozent in naseweiser Wirklichkeit durchzieht: der „Wille zum Leben“.
Selbstüberschätzung seine Vorlesung an der Berliner In Schopenhauers Augen gibt es kein Fortschritts­
Universität zur selben Zeit wie der Starphilosoph Hegel geschehen, sondern nur immer wieder neue Äuße-
ansetzt, bleibt sein Hörsaal so gut wie leer. Doch über rungen des Willens, der immer neues Leiden erzeugt.
diese persönlichen Feindseligkeiten hinaus sind es grund- Diese unterschiedlichen Auffassungen gipfeln in
legende Unterschiede im Philosophieverständnis, die einer entgegengesetzten Perspektive auf Napoleon:
Schopenhauer von Hegel trennen. Zwar sind beide Für Hegel ist dieser ein „welthistorisches Individu-
Systemphilosophen mit dem Anspruch einer umfassen- um“, die „Weltseele zu Pferde“, die die Moder­
den Wirklichkeitserklärung, doch die Differenzen nisierung Europas vorantrieb. Für Schopenhauer
beginnen bereits bei stilistischen Fragen: Schopenhauer hingegen ist Napoleon ein Beispiel für das zerstöre­
schrieb selbst in einer ausgesprochen klaren und an- rische und brutale Wirken des Willens.
schaulichen Sprache. In seinen Augen waren Hegels
Formulierungen absichtlich dunkel, um ihre Inhaltsleere

72 Hegel
Søren Kierkegaard
(1813 – 1855) steht die ethische Lebensauffassung in einer wesent-
lichen Spannung zum Absoluten und Göttlichen,

H
egels Philosophie war in den 1830er-Jahren welches menschliche Konventionen  – auch am Ende
auch in Dänemark zu großem Einfluss gekom- der Geschichte – immer übersteigt. Während Hegel
men und Kierkegaard beschäftigte sich zunächst letztlich eine Art Vernunftreligion vertritt, in der Gott
mit einiger Faszination mit ihr. Retrospektiv stellte sich innerweltlich verwirklicht, steht der Glaube für
er fest, er sei ein „hegelianischer Narr“ gewesen, und Kierkegaard über Vernunft, Philosophie und Sittlich-
entwickelte sein eigenes Denken in dezidierter keit. Für den dänischen Denker ist der Glaube etwas
Abgrenzung zu Hegel. Denn dessen abstraktes System, Irrationales, Paradoxes und zutiefst Persönliches.
das Widersprüche harmonisch vermittelt, so Kierke- Besonders deutlich wird dieser Unterschied an
gaards Eindruck, werde dem Einzelnen und seinen Kierkegaards Auseinandersetzung mit der biblischen
existenziellen Fragen, Zweifeln und Nöten überhaupt Geschichte von Abrahams Opfer: Abraham entschei-
nicht gerecht. Worauf es im Leben wirklich ankomme, det sich gegen die ethischen Gebote seiner Gemein-
seien die Entscheidungen und die Verantwortung schaft und für die Befolgung von Gottes Weisung,
des Individuums, das sich dabei keineswegs auf Ver- den eigenen Sohn Isaak zu opfern. In der hegelschen
nunftgründe verlassen kann. Dennoch sind Spuren von Philosophie wäre dies nicht zu rechtfertigen, für
Hegels Denken bei Kierkegaard erkennbar. So ähnelt Kierkegaard ist es hingegen ein herausragendes
die Auffassung des ethischen Lebens, wie sie der Beispiel für den paradoxen „Sprung in den Glauben“.
Gerichtsrat Wilhelm in „Entweder – Oder“ schildert, So schreibt er in „Furcht und Zittern“: „Das Paradox
der hegelschen Sittlichkeit: Moral wird nicht als des Glaubens ist somit dies, dass der Einzelne
formales, universelles Prinzip verstanden, sondern als höher ist als das Allgemeine, dass der Einzelne, um
die konkreten Normen und Institutionen einer be- an eine jetzt seltenere dogmatische Distinktion
stimmten Gemeinschaft. Eine besondere Rolle spielt für zu erinnern, sein Verhältnis zum Allgemeinen durch
Wilhelm dabei, wie für Hegel, die Ehe, die die sexuelle sein Verhältnis zum Absoluten bestimmt, nicht
Beziehung zweier Menschen in etwas Höheres und sein Verhältnis zum Absoluten durch sein Verhältnis
Dauerhafteres verwandelt. Doch anders als Hegel ist zum Allgemeinen.“
Kierkegaard keineswegs der Auffassung, dass sich
im modernen Staat und seiner Sittlichkeit der absolute
Geist beziehungsweise Gott verwirklicht. Vielmehr

„Hegels abstraktes System


wird dem Einzelnen und
Fotos: Public Domain/Wikipedia (2)

seinen existenziellen Fragen


überhaupt nicht gerecht“

Sonderausgabe Nr. 24 73
Exkurs: Hegel und seine Kritiker Essay

„Für Hegel ist die


Welt wie ein
‚Topf Sirup‘, alles Karl Popper
hängt zusammen“ (1902 – 1994)

P 
opper schließt sich dem polemischen Urteil
Schopenhauers an: Auch er hält Hegel für einen
intellektuell unredlichen Hochstapler, der sich
Bertrand Russell mit der Aura des tiefsinnigen Magiers umgeben und
(1872 – 1970) die Menschen mit seinem obskuren Schreibstil vorsätz-
lich manipuliert habe. Hegels geistige Scharlatanerie

I
n seiner Zeit als Student in Cambridge war der zeige sich bereits an seiner Ahnungslosigkeit in Sachen
Philosoph Bertrand Russell laut seiner Selbstbeschrei- Naturwissenschaften (Hegel habe unter anderem in
bung einige Jahre überzeugter Hegelianer. Später seiner Habilitationsschrift einen „Beweis“ dafür erbrin-
jedoch wendete er sich, nicht zuletzt unter dem Einfluss gen wollen, dass es nur sieben Planeten im Sonnensystem
seines Freundes G. E. Moore, von Hegel ab und kam zu geben könne – allerdings war kurz zuvor ein möglicher
dem Schluss, dass „fast alle Lehren Hegels falsch“ seien. achter Planet entdeckt worden). Vor allem aber ist Hegel
Allerdings führe Hegels Philosophie eine „bedeutsame in Poppers Augen – neben Platon und Marx – Vertreter
Wahrheit“ vor Augen: „Je fehlerhafter die Logik, umso eines gefährlichen Historizismus, der Geschichte
interessanter die sich aus ihr ergebenden Konsequen- nicht als kontingent und durch freie Entscheidungen der
zen.“ Wie andere Kritiker monierte Russell Hegels Ideen Menschen bestimmt, sondern als schicksalhaft und von
über den vernünftigen Gang der Geschichte, seinen bestimmten Gesetzen gelenkt denkt. Damit sei Hegel ein
Nationalismus, seine Glorifizierung des monarchisti- Wegbereiter des Totalitarismus und einer der gefähr-
schen Staates und sein eigenwilliges Freiheitsverständnis, lichsten Feinde der liberalen „offenen Gesellschaft“, die
dem zufolge, so Russell, Freiheit „eigentlich nur das die individuelle Freiheit und das kritische Bewusstsein
Recht“ meine, „dem Gesetz gehorchen zu dürfen“. Vor vor dem Zugriff des Staates schützt. Zitate wie „Der
allem aber vertritt Russell ein fundamental anderes Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden
Verständnis von Logik und Metaphysik. Für Hegel, so ist“ und „Es ist der Gang Gottes in der Welt, dass
meint Russell, sei die Welt wie ein „Topf Sirup“ – alles der Staat ist“ zeigen für Popper, dass Hegels Philosophie
hängt mit allem zusammen und alles Einzelne ist letztlich nichts anderes als eine Vergöttlichung des
nur durch die Beziehungen zueinander und zum Ganzen Staates und eine Apologetik der preußischen Monarchie
bestimmt. Auch im Denken muss entsprechend alles ist. Von dieser, so betont Popper unermüdlich, sei
immer auf eine höhere Einheit bezogen werden, schließ- Hegel schließlich auch bezahlt worden. Dem Ziel einer
lich gilt Hegel zufolge: „Das Wahre ist das Ganze.“ totalitären Vereinnahmung diene auch die hegelsche
Russell vermutet, dass Hegel mit diesen Ansichten Dialektik, die sich an Widersprüchen nicht mehr stößt,
mystische Erfahrungen seiner Jugendzeit rationalisierte – sondern sie in einer höheren Einheit „aufhebt“ und
der Realität seien sie aber nicht angemessen. Diese so jede Kritik wie auch wissenschaftlichen Fortschritt
sei tatsächlich nicht wie ein „Topf Sirup“, sondern wie verunmögliche. So resümiert Popper: „Die Philosophie
ein „Haufen Schrot“ strukturiert und bestehe folglich der Identität dient der Rechtfertigung der bestehenden
aus eigenständig existierenden Einzeldingen (wie Stühle, Ordnung. Ihr Hauptergebnis ist ein ethischer und juridischer
Tische, Sonne, Mond): „Ein Ding“, so Russells Über­ Positivismus, die Lehre, dass das Bestehende gut ist, da
zeugung, „kann genau das sein, was es ist (…), auch es keine anderen Maßstäbe geben kann als die bestehen-
wenn es überhaupt keine Beziehungen hätte.“ Entspre- den; es ist die Lehre, dass Macht Recht ist.“
chend lassen sich auch im Denken viele wahre
Aus­sagen treffen, die nicht auf ein „Ganzes“ bezogen
werden müssen. Russells logischer Atomismus und „Hegel ist ein Wegbereiter des
Anti-Hegelianismus waren in der analytischen Philoso- Totalitarismus und ein Feind der
phie lange Zeit bestimmend.
liberalen Gesellschaft“
74 Hegel
„Die Welt besteht nicht aus dem
dialektischen Verhältnis von
Gegensätzen, sondern aus
den konkreten Kämpfen vielfältiger
und unvorhersehbarer Kräfte“

Gilles Deleuze
(1925 – 1995)
der Dialektik totalitäre Züge verleiht. So schreibt
er in „Differenz und Wiederholung“: Der „hegelsche

G
illes Deleuze war Schüler von Jean Hyppolite, Widerspruch“ scheint „die Differenz bis ans Ende
der als Erster Hegels „Phänomenologie des zu treiben; dieser Weg aber ist der ausweglose Weg,
Geistes“ ins Französische übersetzte und der sie zur Identität zurückführt und die Identität
einflussreiche Kommentare zu ihr verfasste. Hegels ihrem Sein und ihrem Gedachtsein genügen lässt.
Denken prägte Deleuze stark, allerdings in Form einer Nur mit Bezug auf das Identische, in Abhängigkeit
Negativfolie. Seine eigene Philosophie, so betont er, sei vom Identischen ist der Widerspruch die
„generalisierter Anti-Hegelianismus“. Die wesentliche größte Differenz. Trunkenheit und Taumel sind
Kritik betrifft Hegels Verständnis von Differenz: Deleuze vorgetäuscht; das Dunkle ist schon von Anfang an
stimmt mit Hegel darin überein, dass die Welt nicht aus geklärt.“ Das Problem der Differenzvernichtung
„Dingen an sich“ besteht, sondern die Dinge über ihre zeige sich auch in Hegels Staatsverständnis, in
Beziehungen zueinander bestimmt sind. Doch bei Hegel dem sich die Individuen dem Allgemeinen unterord-
nehmen diese Beziehungen eine bestimmte Form an, nen müssen. Deleuze beruft sich auf Nietzsche, um
nämlich die der Negation, die durch den dialektischen an die Stelle von Hegels glatt geschliffener Negation
Prozess in der „Identität von Identität und Nichtidenti- eine Differenz zu setzen, die „affirmativ“ – schöpfe-
tät“ aufgehoben wird. Die Welt erscheint so als risch und produktiv – ist. Die Welt bestehe nicht
Einheit der Gegensätze. Diese Auffassung von Differenz aus dem dialektischen Verhältnis von Gegensätzen,
findet Deleuze völlig verfehlt: Hegel behaupte zwar, sondern aus den konkreten Kämpfen vielfältiger
Fotos: Public Domain/Wikipedia; Flickr/Commons; Ullstein Bild; Autorinnenfoto: Johanna Ruebel

mit seiner Dialektik das Konkrete und Individuelle der und unvorhersehbarer Kräfte. An die Stelle der
Welt erfassen zu können, bleibe aber tatsächlich immer Dialektik, die sich kreis- beziehungsweise spiral­
abstrakt, weil er nur eine abstrakte Seite um ihre förmig aufwärtsbewegt, setzt Deleuze ein „rhizoma-
entgegengesetzte abstrakte Seite ergänze. Zudem, so tisches“ Denken, das gleich einem Wurzelgeflecht
Deleuze, werde bei Hegel die Differenz letztlich immer wuchert und horizontale Vernetzungen bildet.
auf die Einheit bezogen und in ihr aufgehoben, was

Theresa Schouwink ist leitende Redakteurin


des Philosophie Magazins. Sie hat an der
Freien Universität Berlin Theaterwissenschaften
und Philosophie studiert

Sonderausgabe Nr. 24 75
Exkurs: Hegel und seine Kritiker Essay

Die Gesinnung eines Denkers identifiziert man


am liebsten zweifelsfrei – Marxist oder Marktliberaler?
Staatsdiener oder Freiheitsdenker? Hegel aber
ist einmal Feind der Linken, dann der Rechten. Essay
über einen Philosophen zwischen den Fronten
Von Moritz Rudolph / Zeichnung von Jonathan Meese

Hegel-
Konjunkturen
Lange Zeit schien Hegels politische Zuordnung klar: Der
preußische Staatsphilosoph, der für „vernünftig“ hielt, was
„wirklich“ ist, galt als Apologet der nachrevolutionären
Restaurationsepoche und Vordenker späterer Zwangsge-
bilde, etwas des Zweiten und Dritten Deutschen Reiches.
Dass das Individuum in seinem System wie ein Zahnrad
wirkt, das man gut ölen oder austauschen muss, damit es
den Betriebsablauf von Staat und Weltgeschichte nicht
stört, war ganz nach rechtskonservativem Geschmack, der
mit linker und liberaler Liederlichkeit nichts anfangen
konnte und stattdessen auf Hierarchie und Schicksal setzte.
Daher blieb das linke Interesse an Hegel stets auf des-
sen Methode beschränkt. Marx etwa setzte dem bloß be-
trachtenden Flug der „Eule der Minerva“ das „Schmet-
tern des gallischen Hahns“ entgegen, um alle Verhältnisse
umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes Da-
sein fristet. Selbst im zum Staat erstarrten Realsozialismus
des 20. Jahrhunderts war noch etwas von diesem Verände-
rungsimpuls zu spüren. Auf der anderen Seite der Mauer
suchte Adorno mit dialektischen Mitteln einen Ausweg
aus der Misere von Faschismus, Stalinismus und Kultur-
industrie, in denen er etwas von jenem unerbittlichen
Zwang wirken sah, den Hegel bejaht hatte. Nur wer vor
dieser totalitären Konsequenz zurückweicht und das Sys-
tem von innen auflöst, kann sich, so Adorno, auf Hegel
einlassen. Noch harscher fiel die liberale Kritik aus. Sie
konnte an Hegel gar nichts Gutes erkennen, hielt ihn für
einen Mystiker, Kauderwelschler und Kopfverdreher, des-
sen irrationale Lehre geradewegs zur Auflösung der Ver-
nunft, zu Unterwerfung und Krieg führe, weshalb Karl
Popper eine Linie „von Hegel zu Hitler“ zog.

76 Hegel
Nach 1989 schien sich das jedoch zu ändern. Francis überfordern schien? Eine gewiefte Machtclique hätte sich
Fukuyama, der einflussreichste liberale Interpret der Glo- wohl etwas geschickter angestellt. Und ist diese Unterstel-
balisierungsära, gab sich in seiner berühmten These vom lung nicht schon selbst Gnostizismus, also jener Hegelianis-
Ende der Geschichte als waschechter Hegelianer zu er- mus, den die Kritiker nicht loszuwerden scheinen?
kennen: Die Anerkennungskämpfe seien nun, da der Li- Die Konjunkturen Hegels verraten uns etwas über Ver-
beralismus den Kommunismus aus dem Feld geschlagen schiebungen in der politischen Lage. Früher, als Linke und
hat, an ihr Ende gelangt. Die Gegenwart und Zukunft ge- Liberale mit dem Staat fremdelten, verhielten sie sich Hegel-
hörten, wie schon Hegel bemerkt hatte, Amerika. Zwar skeptisch. Er kam allenfalls als Methodenlieferant in Be-
erntete Fukuyama heftigen Widerspruch, aber insgeheim tracht, um hegelianischer als der Meister selbst aufzutreten
glaubten wohl viele im Westen, dass sie in der besten aller und das Rad der Weltgeschichte so weit zu drehen, dass es
möglichen Welten leben und dass man ihr System auch von der Achse fliegt und der Karren feststeckt. Die Rechte
dem Rest der Welt anempfehlen müsse. Zum Jubiläums- wollte das verhindern, ihr ging Ordnung, die alte Ordnung
jahr 2020 bekam man schließlich einen freiheitlich aufge- von Hierarchie und Opfer, deren Relikte sie auch noch im
peppten Hegel präsentiert. Zahlreiche Biografien, Essays Staat der Neuzeit wirken sah, über alles. Und so hielt sie
und Geburtstagsveranstaltungen betonten Hegels Sympa- sich an Hegel, den Philosophen des modernen Staats-­
thien für Fortschritt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Wissenschafts-Komplexes. Heute ist davon nicht mehr viel
sodass er im Grunde als frühliberaler Vordenker unserer übrig geblieben. Die Rechte und der Staat gehen getrennte
Gegenwart gelten könne, der nicht nur methodisch, son- Wege, und man fragt sich, was sie stattdessen will. Den
dern auch inhaltlich zu uns gehört. Und als Gesundheits- Kampf aller gegen alle? Ein Refugium in Sippe, Familie,
minister Lauterbach sein Plädoyer für die Impfpflicht im Kommune? Die Rückkehr ins Reich? Oder eine Lebens-
Januar 2022 mit dem Hegel-Satz „Freiheit ist die Einsicht form im Einklang mit den Naturgewalten, die nicht von
in die Notwendigkeit“ begründete, war Hegel endgültig Hegels „Wissenden“ „regiert“ wird, sondern von den Ah-
im Herzen des linksliberalen Staates angekommen. nenden, den Priestern, Seherinnen und Schamanen?
Das Verhältnis zu Hegel scheint von der politischen Umgekehrt müssen wir uns auch fragen, was der heu-
Großwetterlage abzuhängen. Wer die Macht hat, interes- tige Hegelianismus der Linken und Liberalen bedeutet.
siert sich für ihn, während der Underdog nicht hinneh- Ihren Abschied vom ganz Anderen, weil sie nach dem
men will, dass das Wirkliche auch das Vernünftige ist. Fol- schrecklichen 20. Jahrhundert Angst vor der eigenen Cou-
gerichtig ging nun, in der liberalen Epoche, die Rechte rage zur Veränderung bekommen haben? Oder warten sie
auf „Abstand zu Hegel“, wie Caroline Sommerfeld kürz- auf eine günstigere Gelegenheit und halten sich bis dahin
lich in der rechtsintellektuellen Zeitschrift Sezession an den Hegel-Staat, bei dem sie wissen, woran sie sind?
schrieb. Sommerfeld porträtierte Hegel als „politischen Oder wähnen sie sich bereits an jenem „Sonntag des Le-
Gnostiker“, der vorgab, Einsicht in den geheimen Welt- bens“ angelangt, der von der schönen, faulen Gegenwart
plan Gottes zu haben. Dieses behauptete Wissen machte träumen lässt, weil Idee und Wirklichkeit in eins fallen?
ihn, so Sommerfeld, zum Erzähler einer Zwangsgeschich- Vielleicht erleben wir aber auch bald wieder eine Um-
te, die Autoritäten dabei behilflich ist, Herrschaftspläne bildung der Lager. Dann nämlich, wenn der Liberalismus
umzusetzen und Abweichler als Wahrheitsleugner zu dif- als politische Leitidee Risse bekommt. Befindet er sich
famieren. Denn wer mit Gott in Kontakt steht, duldet kei- nicht überall in der Defensive – durch eine rechtspopulis-
nen Widerspruch, selbst wenn es sich um einen säkulari- tische Revolte im Innern des Westens und den Aufstieg
sierten Gott im Gewand der Wissenschaft handelt. Was von Autokratien im Außenbereich? Gut möglich, dass die
Sommerfeld genau meint, gibt sie im letzten Absatz ihres Rechte, sobald sie ihre Chance auf die Macht wittert, wie-
Essays zu erkennen, der einen Verweis auf Giorgio Agam- der Gefallen an Hegel findet, während Liberale dann ihr
bens Kritik der Corona-Maßnahmen enthält. Die „gnosti- Interesse verlieren und Hegel zum Schurken erklären.
sche Anmaßung“ von „Politik“ und „Medizin“ habe in den
letzten Jahren ein Wahrheitsregime errichtet, das die Ge-
sellschaft nach biotechnologischem Vorbild ummodeln
will und keinen Widerspruch zulässt.
Hegel als Philosoph des Great Reset? Man mag seine Moritz Rudolph ist Redakteur des
Philosophie Magazins. Er hat Politik,
Autorenfoto: Johanna Ruebel

Zweifel haben, ob Corona-Experten, Politik, Verwaltung


Geschichte und Philosophie studiert und
und Superreiche tatsächlich eine Einsicht in den Weltplan zu internationaler Politik in der älteren
für sich reklamieren und sich zu entsprechenden Taten ver- kritischen Theorie promoviert. Sein Buch
schworen haben. Stolperten sie nicht selbst ziemlich plan- „Der Weltgeist als Lachs“ ist 2021 bei
Matthes & Seitz erschienen
los durch den pandemischen Ereignisparcours, der sie zu

Sonderausgabe Nr. 24 77
Foto: Thomas Albdorf
3
Recht und Freiheit

Was heißt es, frei zu sein? Hegels Antwort mag ver-


blüffen. Wahre Freiheit gibt es für ihn nur in der
Gesellschaft, niemals außerhalb von ihr. Kritiker sehen
in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“
den Entwurf eines totalitären Gebildes. Hegel hin­
gegen versteht unsere modernen Institutionen – die
Familie, den Markt, den Staat – als Wegbereiter
einer umfassenden Sittlichkeit, welche die Freiheit des
Einzelnen und des Ganzen vereint

Hegel Sonderausgabe Nr. 24 79


Recht und Freiheit Gespräch

„Wir müssen
­Individualität und
­Gemeinschaft mit­
einander verbinden“
Da, wo wir selbstbestimmt und unberührt von
gesellschaftlichen Zwängen entscheiden können, so
eine weitverbreitete Annahme, sind wir frei.
Nicht so für Hegel. In seiner Philosophie sind
Freiheit und Recht untrennbar miteinander verwoben.
Ein Interview mit Christoph Menke
Das Gespräch führte Friedrich Weißbach

Philosophie Magazin: Herr Menke, Methode, über diese normativen Fra-


als Philosoph, der sich sowohl mit gen nachzudenken, auf den Weg ge-
rechtsphilosophischen Fragestel- bracht, die sie mit dem, was später als
lungen als auch mit Hegels Werk Gesellschaftstheorie bezeichnet wird,
beschäftigt: Was ist das Besonde- verbindet. Es gibt bei Hegel keine
re an Hegels Rechtsphilosophie? Theorie der Gerechtigkeit, des Rich-
Christoph Menke: Der besondere tigen oder Guten ohne eine Theorie
Autorenfoto: Pressebild; Foto: Stefanie Moshammer

Christoph Menke ist Professor für Praktische


Philosophie mit Schwerpunkt Politische und auch die folgende Philosophie der existierenden, historisch gewor-
Philosophie und Rechtsphilosophie an der
stark bestimmende Zug der Rechts- denen sozialen Wirklichkeit. Diese
Goethe-Universität Frankfurt am Main.
In seinem Buch „Kritik der Rechte“ (Suhrkamp, philosophie liegt darin, dass sie nor- Verbindung von Gerechtigkeitstheo-
2015) setzte er sich mit Hegels Rechts­ mative Fragen – wie etwa „Was ist das rie und Gesellschaftstheorie, die eine
philosophie auseinander. Hegels Freiheits­ Gerechte?“, „Was ist das Gute?“ oder ganze Denktradition  – von Marx bis
theorie untersuchte er in „Autonomie
„Was ist das Richtige?“ – mit der Butler, Honneth und Foucault – prä-
und Befreiung“ (Suhrkamp, 2018). Zuletzt
erschien Menkes Buch „Theorie der Befreiung“ Frage nach dem historisch Gegebenen gen sollte, beginnt mit den „Grund-
(Suhrkamp, 2022) verbindet. Damit hat Hegel eine neue linien der Philosophie des Rechts“.

80 Hegel
Was genau macht diesen Denkan-
satz aus?
Hegels Ansatz richtet sich gegen die
unmittelbar vorhergehende Theorie
Kants. Diese versteht Hegel als einen
Versuch, eine abstrakte Konzeption
der Normativität zu entwickeln, die
von der Analyse der historischen Be-
gebenheiten losgelöst ist. Hegel wen-
det sich gegen diese Abstraktion und
verortet die Philosophie historisch:
Wir können immer nur von dem
Standpunkt aus denken, an dem wir
sind. Alles andere ist nicht nur un-
möglich, sondern in den Konsequen-
zen auch falsch. Philosophie, so He-
gel, sollte so verstanden werden, dass
sie ihre geschichtliche Wirklichkeit
auf den Begriff zu bringen versucht:
Denken, was ist! Dieser Ansatz ist
Hegels entscheidende Innovation für
die philosophische Diskussion.

Welchen Platz nimmt die Rechts­


philosophie in Hegels Werk ein?
Zunächst muss man sich vergegen-
wärtigen, dass die Rechtsphilosophie
neben der „Logik“, die eine Sonder-
stellung hat, der einzige Systemteil
ist, der zu einer eigenständigen Buch-
publikation ausgearbeitet worden ist.
Daran sieht man, welche unglaubli-
che Bedeutung Hegel diesem Teil, der
auch als seine eigentliche politische
Philosophie verstanden werden kann,
gibt. Es wäre aber ein Missverständnis
zu denken, dass Hegels Philosophie
nur hier politisch wird und es ansons-
ten nicht sei. Vielmehr ist sein Den-
ken, indem es über die Gegenwart
reflektiert, sie zu begreifen versucht
und Perspektiven ihrer vernünftigen
„Philosophie, so Hegel, sollte Einrichtung erarbeitet, immer schon
politisch. Der Gegensatz von Herr-
so ­verstanden werden, dass sie ihre schaft und Freiheit bestimmt Hegels
­geschichtliche Wirklichkeit auf Philosophie eigentlich durchgehend.
Insofern könnte man sagen, dass die
den B­ egriff zu bringen versucht: politische Grundbestimmung der he-

Denken, was ist!“ gelschen Philosophie in diesem Buch


nun zum expliziten Gegenstand ge-
macht wird. Dennoch haben spätere
Denker wie etwa Marx ihre

Sonderausgabe Nr. 24 81
Recht und Freiheit Gespräch

Anknüpfungspunkte für ein kritisches er aufzeigt, dass wir es nur verstehen das Gute. Der Begriff der Sittlichkeit
und emanzipatorisches Denken in an- können, wenn wir es als eine Sonder- soll uns sagen, wie so etwas wie das
deren Schriften Hegels ausgemacht. form dieser allgemeinen Dimension Gute, die Gerechtigkeit oder das
des Rechts begreifen: Recht im juri- Richtige in unseren Lebenszusammen-
dischen Sinne ist für Hegel nichts an- hängen und damit in uns selbst da ist.
„Der Begriff der deres als die Artikulation, Organisati-
on und Institutionalisierung einer
Es ist die innere Natur beziehungs-
weise die zweite Natur der Menschen.
Sittlichkeit soll uns Normativität, die unsere alltäglichen Zum anderen will Hegel mit dem

sagen, wie das Gute Praktiken immer schon bestimmt. Konzept der Sittlichkeit betonen,
dass die verschiedenen Dimensionen,
oder das Richtige Anders als bei Kant ergibt sich das in denen Recht existiert – juridisches,
Recht also nicht aus der Moral, moralisches Recht –, in ihrer Plurali-
in unseren Lebens­ sondern aus einer historischen tät ein System bilden, das es als Gan-
zusammenhängen Normativität, die durch Praktiken zes und in seinen Zusammenhängen
entsteht. zu verstehen gilt.
und damit in Ganz genau. Um Hegel zu verstehen,
uns selbst da ist“ ist es sinnvoll, den Praxisbegriff – den Man könnte meinen, dass Hegels
er selbst nicht verwendet – ins Zent- Rechtsphilosophie ausschließlich
rum zu setzen. Die Praxis ist dabei eine deskriptive Theorie sei, die
Woran liegt das? nicht im Gegensatz zur Normativität den Status quo beschreibt. Würde
Diese Theoretiker berufen sich auf zu verstehen, sondern als ihre Ver- man ihn da richtig verstehen?
Hegel als einen Denker der Negativi- wirklichung, ja als ihre Wirklichkeit. Nein, sie hat einen klar normativen
tät, Entzweiung und der Differenz. Während sich bei Kant Normativität Anspruch. Hegel sieht einen großen
Sowohl die „Phänomenologie des aus dem Denken einzelner Subjekte Unterschied darin, ob die Normativi-
Geistes“ als auch die „Wissenschaft ergibt, ist sie bei Hegel immer schon tät den sozialen Praktiken nur imma-
der Logik“ arbeiten stark mit diesem in der sozialen Wirklichkeit realisiert. nent ist und einfach gelebt wird oder
Gedanken des vorantreibenden Wi- Sie ist gerade dann da, wenn niemand ob sie zugleich, wie er sagt, gedacht
derspruchs. Aus dieser kritischen Pers- über sie nachdenkt. Wenn ich ein wird. Das ist nicht als philosophische
pektive ist die Rechtsphilosophie eher Brötchen kaufe, dann liegt schon in Leistung zu verstehen, sondern voll-
der Versuch, die Negativität des Den- der Handlung des Kaufens eine Nor- zieht sich, indem sie artikuliert, re-
kens und des Handelns zu begrenzen mativität. Sowohl der Bäcker als auch flektiert und dabei immer auch neu
und sie in gesellschaftliche Strukturen ich haben in dieser Situation Ansprü- formuliert wird. Hegel formuliert das
zu bringen, die sie nicht nur einhegen, che, die eingelöst werden sollen. Programm der Rechtsphilosophie da-
sondern letztlich mit einer Neuetab- her am Anfang so, dass der Anspruch
lierung von Herrschaftsverhältnissen Ein zentraler Begriff für Hegel ist des Werkes ist, die historische Ge-
versöhnbar machen. die Sittlichkeit. Welche Rolle genwart in Gedanken zu fassen. Und
nimmt er innerhalb seiner Rechts- das ist sowohl ein philosophisches als
Eine Form, Strukturen zu setzen, philosophie ein? auch ein politisches Projekt. Das
ist das Recht. Was versteht Hegel Der Begriff der Sittlichkeit soll zwei- Denken über die Gegenwart lässt die-
unter Recht? erlei leisten. Zum einen bringt er die se nicht unberührt, denn Denken ver-
Hegels Rechtsbegriff ist zunächst Grundüberzeugung Hegels hinsicht- ändert immer, was es denkt.
sehr weitläufig: Er umfasst alle sozia- lich der Frage „Wie gibt es so etwas
len Praktiken, die durch eine interne wie das Gute?“ auf den Punkt: Dem- Hegel wurde aufgrund seiner
normative Ordnung bestimmt sind nach ist das Gute nicht einfach ein Rechtsphilosophie nicht nur als
und in unserem Handeln eigentlich Sollen, eine Norm im Sinne einer staatskonformistisch, sondern so-
immer schon verwirklicht werden. Idealvorstellung, sondern es ist in gar als preußischer Staatsphilo-
Was wir allgemein unter Recht ver- unseren Umgangsweisen miteinan- soph schlechthin bezeichnet. Ist
stehen, bezeichnet Hegel als das abs- der immer schon realisiert und somit an dieser Einordnung etwas dran?
trakte Recht und es bildet nur einen etwas bereits Existierendes. In ganz Im Konzept des Staates werden bei
kleinen Teil seines Rechtskonzepts. banalen Praktiken – ich erwidere einen Hegel zwei Ebenen ineinanderge-
Hegels besonderer Beitrag zur Ana- Gruß, halte einen Vertrag ein oder schoben. Es gibt zum einen eine
lyse dieses abstrakten Rechts ist, dass liebe mein Kind  – praktizieren wir grundlegende Bestimmung des Staates,

82 Hegel
die sich auf die Tradition des politi- Die gesellschaftliche Realität war in der Partizipation an staatlichen
schen Republikanismus bezieht. Zum nicht mehr bestimmend für die poli- Strukturen hat Marx kritisiert.
andern gibt es die Bestimmung, in der tische und die rechtliche Form. Des-
Hegel tatsächlich die Institutionen wegen hatte Hegel – anders beispiels- In Ihrem Buch „Kritik der Rechte“
des seinerzeit durch napoleonische weise als Kant, der die Gewalt knüpfen Sie an Marx an und wen-
Reformen hindurchgegangenen preu­ verurteilte  – auch kein Problem mit den sich gegen das moderne
ß­ischen Staatswesens aufgreift. Auf dem revolutionären Umsturz. In der Recht als subjektives Recht, also
der ersten Ebene ist die Idee der Poli- Revolution setzt sich eine sittliche eines Rechts, das nur den Einzel-
tik sehr radikal. Nach Hegel brauchen Wahrheit durch. Entscheidend für interessen zukommt. Ein solches
wir den Staat – oder auch die Politik –, Hegel war dabei, dass die Wahrheit in Recht sehen Sie auch in Hegels
weil wir uns darin zu Subjekten ma- der Revolution nicht einfach prokla- Rechtsphilosophie eingeschrieben.
chen, die nicht lediglich ihre partiku- miert, sondern gelebt wurde. Was ist daran problematisch?
laren Interessen verfolgen. Das ist Meine Kritik an der Form der subjek-
eine alte Idee der Politik, wonach es tiven Rechte ist zunächst zutiefst he-
darum geht, das gesellschaftliche Zu- „Hegel glaubte, dass gelianisch, weil ich davon ausgehe,
sammenleben nicht nur als ein hin-
zunehmendes Schicksal zu verstehen,
für eine moderne dass Subjekte nur deshalb Ansprüche
haben, die berechtigt sein können,
sondern als durch uns ­gemeinsam ge- Subjektivität auch weil sie sich als Glieder eines sittli-
staltbar zu begreifen. Der Staat ist in
diesem Sinne nicht das ­abschließende
Räume notwendig chen sozialen Zusammenhangs selbst
verstehen können. Mit Hegel denke
Ergebnis eines ­politischen Prozesses, seien, die nicht ich, dass die Figur subjektiver Rechte
sondern ihr ­ eigentlicher Ermögli-
chungsraum. Gleichzeitig argumen-
unter dem Einfluss untauglich wird, wenn sie als Er-
mächtigungswerkzeug verstanden
tiert Hegel aber auch, dass dieser po- des Staates stehen“ wird, um gegen die sozialen Zusam-
litische Impuls am besten in einem menhänge Forderungen zu richten
nichtdemokratischen Staatswesen und egoistische Bedürfnisse durchzu-
existiert, in dem die Partizipations- Warum hat Marx die Rechtsphilo- setzen. Wie Marx glaube ich aber,
möglichkeiten der Einzelnen be- sophie Hegels so stark kritisiert, dass Hegel es letztlich nicht geschafft
schränkt sind. Es besteht offensicht- wenn sie im Kern progressiv ist? hat, die Frage zu beantworten, wie in-
lich eine Spannung in Hegels Eigentlich knüpft der junge Marx an dividuelle Freiheit, die durch subjek-
Argumentation: Einerseits kann jeder Hegel an und versucht, ihn zu radika- tive Rechte garantiert werden soll,
Mensch nur in der Politik ein freies lisieren. Der entscheidende Unter- und soziale und politische Partizipa-
Leben verwirklichen. Gleichzeitig schied liegt darin, dass Hegel glaubte, tion zusammengedacht werden kön-
sind die Partizipationsmöglichkeiten die moderne Sittlichkeit müsse not- nen. Er scheitert an dieser Frage, weil
an der politischen Ordnung außeror- wendigerweise mit der Schaffung von er sie auf zwei Sphären verteilt hat:
dentlich begrenzt. Räumen einhergehen, die nicht re- als könnte ich hier Individuum sein
giert werden, also nicht unter dem und da politisches Subjekt. Gleichzei-
Wenn Hegel das Recht als eine Einfluss des Staates stehen. Diese tig glaube ich aber auch, dass Marx
formalisierte Form der Sittlichkeit Räume sieht er in der kapitalistischen aus dieser Kritik falsche Konsequen-
beschreibt, schließt er damit jede Ökonomie beziehungsweise bürger- zen gezogen hat, weil er der Figur der
Form des Protests gegen den lichen Gesellschaft, auch wenn Hegel individuellen, asozialen Freiheit kei-
Staat als unsittlich aus? selbst sie als irrational und potenziell nen Platz gegeben hat. Die Wahrheit
Foto: laif/CAMERA PRESS/Bill Potter; Autorinnenfoto: privat

In Bezug auf die Französische Revo- fatal bewertet hat. Er glaubte, dass liegt meiner Meinung nach in einer
lution sieht Hegel es eindeutig umge- für das moderne Verständnis freier Position zwischen Marx und Hegel.
kehrt: Unsittlich war das Ancien Ré- Subjektivität auch die Freigabe sol- Wir müssen beides miteinander ver-
gime. Es hatte vielleicht in seiner cher Zonen der politischen Unkont- binden: die zur Asozialität neigende
Entstehungsphase eine bestimmte rollierbarkeit notwendig seien. Die- Individualität und die Einsicht, dass
Legitimität, ist aber unsittlich gewor- sen Versöhnungsgedanken zwischen wir immer Teilnehmer einer Gesell-
den, weil durch bestimmte Lern- und einer kapitalistisch-bürgerlichen Ge- schaft sind und nur als Teil von ihr
Erfahrungsprozesse die soziale Praxis sellschaft, in der der individualisti- sein und denken können.
so verändert wurde, dass der alte Staat sche Egoismus sich bis zum Extrem
dem nicht mehr entsprechen konnte. ausbildet, und der Idee eines Lebens

Sonderausgabe Nr. 24 83
Recht und Freiheit Überblick

Grundlinien der
Philosophie des Rechts
In seiner Rechtsphilosophie befasst sich Hegel mit
der menschlichen Freiheit. Ebenso wie für das Bewusstsein
und das Denken skizziert er auch für die Freiheit einen
aufsteigenden Entwicklungsprozess. Der Mensch scheint
zwar in seinem Willen von Grund auf frei. Doch diese
Freiheit realisiert er nur in der Gesellschaft
Von Millay Hyatt

Diese Pflicht steht als abstraktes


Sollen der realen Welt gegenüber.
Um das Gute tatsächlich zu
realisieren, braucht es die Struktu-
ren der Sittlichkeit.

Das Verbrechen – der Vertrags-


bruch – und die Rache als Wieder- Moralität
holung des Verbrechens zerstören
die Gemeinschaft und verweisen
auf die Notwendigkeit der Moralität. Hier ist Freiheit nicht inhaltsleer,
sondern beschreibt unsere
Fähigkeit, in Einklang mit unserem
Verständnis des Guten zu handeln.
Das eigene Gewissen gibt uns vor,
was es heißt, Gutes zu tun.
Durch seine Verankerung
Abstraktes Recht in Institutionen sichert die Moralität
die Freiheit aller als subjektives Wohl.
Das abstrakte Recht sichert
die Freiheit als Willkür, das heißt, der
Inhalt des Willens ist hier zufällig.
Diese Form des Rechts bezieht sich in
erster Linie auf das Eigentum,
zum Beispiel in Form des Vertrags,
der es der Person in der Regel freistellt,
wie sie ihr Eigentum gebraucht.

84
Weltgeschichte
Zunehmend zeigt sich hier der absolute Geist.
Der absolute Geist ist der Geist, der die gesamte Realität
durchdrungen hat und von nichts Äußerem, also etwas
ihm Fremden beschränkt ist. So bewegt sich der Lauf der
Geschichte hin zu einer immer größeren Freiheit.

Viele verschiedene
Staaten in ihrem Zusammenspiel
ergeben die Weltgeschichte.

Sittlichkeit
Die Sittlichkeit sichert die Freiheit als
Allgemeinwohl. Hier geht es nicht mehr darum,
als Einzelner seinem Willen und seiner Moral
nachzugehen, sondern sich innerhalb der Gesellschaft
zu verwirklichen. Für Hegel ist dies die
umfassendste Form der Freiheit.

3. Staat
Eine sittliche Gesellschaft (wahre Sittlichkeit)
setzt sich zusammen aus
den Institutionen: Im Staat werden Einzelinteressen
zur Einheit des guten Lebens
der Allgemeinheit aufgehoben.
2. Bürgerliche Gesellschaft Der Staat formuliert zu
(mittelbare Sittlichkeit) diesem Zweck Gesetze und
Hier werden die Mittel zur setzt sie mit ihrer
Befriedigung der Bedürfnisse Regierungsgewalt durch.
gebildet, Produktion und Tausch
ergeben eine Volkswirtschaft.
Allerdings wird hier nicht
1. Familie dem allgemeinen Wohl, sondern
(unmittelbare Sittlichkeit) nur dem besonderen, also
Die Rollenverteilung der Ehe individuellen Wohl gedient. Um
(der Mann in die Gesellschaft die Ordnung der Zivilgesellschaft
hinein gerichtet, die Frau zu gewährleisten, braucht
ins Häusliche hinein gerichtet), es Rechtspflege, Polizei,
das gemeinsame Vermögen und Korporationen.
die Kinder, welche die Familie
verlassen und zu Bürgern werden,
geben dem Einzelnen eine
ursprüngliche Struktur für das
Handeln in Gemeinschaft.
 Hegel, „Grundlinien der
Philosophie des Rechts“ (1820)

85
Recht und Freiheit Essay

Die Superreichen werden zunehmend zur


Zielscheibe gesellschaftlicher Kritik. Doch erfasst
diese den Kern des Übels? Hegel zeigt,
dass hier viel mehr als materielle Ungleichheit droht,
und gelangt dabei selbst an die Grenzen seiner
politischen Philosophie
Von Jana Glaese

Das Pöbel-Problem

Jana Glaese ist Redakteurin des


Philosophie Magazins und Chefredak-
teurin der Sonderausgaben. Studiert
hat sie in Maastricht, Cambridge und
New York

86 Hegel
„Unsittlich wird nach Hegel, wer aus
dem ‚Vermittlungszusammenhang‘
der Marktgesellschaft hinausgedrängt
wird (die Armen) oder aus ihm
heraustritt (die Reichen)“

Hegels Rechtsphilosophie beansprucht nichts Geringeres, Auf den ersten Blick scheint es, als ob Hegel uns mit dem
als eine Ordnung zu entwerfen, die das Individuum und reichen Pöbel einen schönen Begriff für einen Sachverhalt
das Ganze in Einklang bringt und gegensätzliche Kräfte liefert, der heute immer krasser zutage zu treten scheint:
miteinander versöhnt. Doch es bleibt ein Riss, den Hegel Zu viel Reichtum korrumpiert und macht asozial. Wer zu
nicht zu kitten vermag, und der nicht wenige außerhalb viel Geld hat, wird zum Feind für die Gesellschaft. Spätes-
der vermeintlich integrierenden Ordnung zurücklässt. tens seit Occupy Wall Street sind die Reichen zur Ziel-
Die Rede ist vom Pöbel. scheibe der Kritik geworden. Falls man sich diese „Wohl-
Der Pöbel meint diejenigen, die nicht mehr in Markt standsverwahrlosung“ zuletzt noch einmal vor Augen
und Gesellschaft eingebunden, sondern, vereinzelt und führen wollte, konnte man das mit Ruben Östlunds Film
entfremdet, in einen Zustand der sozialen Isolation ge- „Triangle of Sadness“ tun. Schauplatz der Satire ist eine
worfen sind. Hegel dachte hier zuallererst an die Armen, Luxujacht mit superreichen Passagieren.
an „das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß Mit einer Mischung aus Ekel und Faszination kann
einer gewissen Subsistenzweise“, die damit ihr Recht, man den Passagieren dabei zuschauen, wie sie die Mitar-
durch Arbeit zu existieren, ebenso verliert wie ihre Ehre beiter herumscheuchen, kundtun, mit welchen trivialen
und ihr Vertrauen in die Gesellschaft. Das Problem des bis grausamen Dingen sie ihren Reichtum angehäuft ha-
armen Pöbels bleibt für Hegel eine ebenso „bewegende ben (Dünger, Instagram und Landminen), schließlich in
und quälende“ wie ungelöste Erscheinung, der erst in einen Sturm geraten und auf ihrem eigenen Erbrochenen
Marx’ Konzept des Proletariats als revolutionärer Masse und Kot hin und her rutschen, bevor sie von einer Hand-
ein Platz in der Geschichte zukommt. granate aus der Produktion des auf der Jacht mitreisenden
Doch damit nicht genug. Denn der arme Pöbel hat Waffenhändler-Ehepaares in die Luft gesprengt werden.
noch einen Doppelgänger: den reichen Pöbel. Auch unter Der Film ist Reichen-Bashing at its best. Er präsen-
den Reichen, bemerkt Hegel, drohe eine soziale Verwahr- tiert uns eine Oberschicht  – ganz sicher ein Teil dessen,
losung, weil sie – in diesem Fall durch ihr Vermögen – jeg- was Thomas Piketty als das reichste 1 Prozent bezeichne-
Foto: Martin Parr/Agentur Focus; Autorinnenfoto: Johanna Ruebel

licher Abhängigkeit enthoben sind. Qua ihrer wirtschaft- te –, die jeglichen Bezug zur Gesellschaft und zur Wirk-
lichen Macht erheben sie sich über die Gesellschaft. lichkeit verloren hat. Der Crew wird eingebläut, niemals,
Unsittlich, ja pöbelhaft wird also, wer aus dem „Vermitt- aber auch niemals Widerworte gegen die Wünsche der
lungszusammenhang“ der Marktgesellschaft hinausge- Passagiere zu geben. Die Unterwerfung führt so weit, dass
drängt wird (die Armen) oder aus ihm heraustritt (die man sogar verspricht, die verschmutzten Segel zu reini-
Reichen). Der Kern des Übels – das, was den Pöbel zum gen, die eine der reichen Damen zu sehen glaubt, obgleich
Pöbel macht – ist allerdings nicht Armut oder Reichtum das motorbetriebene Schiff kein einziges Segel besitzt.
an sich, sondern die sich damit verknüpfende, gesell- Aber so unterhaltsam und genugtuend solche Porträts
schaftsfeindliche „Gesinnung“. Der arme Pöbel gibt sich der verkommenen Superreichen auch sein mögen, so lässt
der Empörung gegen die Gesellschaft hin, der reiche Pö- sich damit leicht verkennen, dass längst nicht alle dieser
bel fällt durch seine „Verdorbenheit“ auf. Lebensweise frönen. Laut der New Yorker Soziologin

Sonderausgabe Nr. 24 87
Recht und Freiheit Essay

„Wahrscheinlich dämmert es h ­ eute „unsichtbare Hand des Marktes“; für Durkheim ist es just
so einigen, dass das Bürgertum die Arbeitsteilung, die das Gefühl gegenseitiger Abhän-
gigkeit und damit den Gemeinsinn stärkt. Etwa das Glei-
­unserer Breiten, global gesehen, che beschreibt Hegel, wenn er sagt: „In der bürgerlichen
das Unvereinbare für sich Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles anderes ist ihm
nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Um-
reklamiert: absurden Reichtum fang seiner Zwecke nicht erreichen (…) (D)er besondere

und Sittlichkeit“ Zweck (…) befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl
der anderen mit befriedigt.“ Anders als bei Marx hat der
Markt also keine entfremdende, sondern (bestenfalls) eine
integrierende Wirkung. In guter dialektischer Manier soll
Rachel Sherman, die seit Langem die obersten Schichten der Markt Egoismus und Solidarität miteinander versöh-
der Gesellschaft erforscht, wollen viele Vermögende gar nen. Doch das Problem des Pöbels offenbart, dass dies
nicht protzig und abgehoben sein. Vielmehr orientieren nicht so ganz gelingen mag. Der Punkt: Für die Reichen
sie sich an der Gesinnung der Mittelschicht: harte Arbeit, entfallen jegliche Einschränkungen. Björn Vedder fasst
vernünftiger Konsum, Bescheidenheit, Bewusstsein für die diese Beziehung in seinem Buch „Reicher Pöbel“ poin-
eigenen Privilegien. „Solange die Reichen sich vom Bild tiert, wenn er schreibt: „(D)ie Pöbelhaftigkeit ist sittlicher
der „bösen“ reichen Leute distanzieren können, erscheint Mangel aus einem Überschuss an Freiheit.“
ihnen ihr Anspruch legitim. Es ist fast so, als wären sie Wahrhaft sittlich, Nichtpöbel sind also nur diejenigen,
nicht reich.“ Man kann natürlich fragen, ob diese Menschen die bereit sind, ihre Macht und ungebundene Freiheit auf-
sich dabei nicht selbst belügen. Schließlich leben die meis- zugeben. Neben dem Luxuspöbel à la Östlund und den
ten von ihnen in schicken Stadthäusern und Lofts, viele vermeintlich „guten“ Reichen, die Sherman beschreibt,
besitzen ein zweites Wochenendhaus, haben ein jährliches gibt es eine wachsende Bewegung von insbesondere jungen
Einkommen von über einer halben Million Dollar, Ver- Vermögenden, die eben dieses Ansinnen zu verfolgen scheint.
mögen von über 3 Millionen Dollar, oder gleich beides. Sie organisieren sich in Gruppen wie Millionaires for
Entscheidend ist aber: Trotz ihres Reichtums halten ­Humanity, Resource Generation oder taxmenow und for-
sie nicht „alles für erlaubt“ und setzen ihr Vermögen nicht dern eine höhere staatliche Besteuerung ihres Vermögens.
„gegen die Sitte“ ein, so wie von Hegel beschrieben. Auch Ihre Anstrengungen gehen also nicht primär dahin, sich
wenn diese Reichen nichts an die Gesellschaft bindet, moralisch zu beweisen, sondern dahin, die Wurzeln der
auch wenn sie sich aus „dem Band der Not“ herauslösen, Verpöbelung freizulegen: Sie wollen zurück in ein Ver-
wollen diese Menschen kein Pöbel sein. Dabei beanspru- hältnis der Abhängigkeit und sich von anderen in die
chen sie zwei Dinge für sich, die laut Hegel eigentlich Pflicht nehmen lassen.
nicht zusammengehen: Reichtum und Moral. Sie wollen Ob diese Bewegung, im Ganzen wohl eher eine Min-
also wohlhabend sein, aber nicht unsittlich. Und unsere derheit, den sozialen Riss zu kitten vermag, ist sehr frag-
Gesellschaft suggeriert ihnen, dass dies möglich ist. lich. Die Ironie bliebe freilich: Unsere Gesellschaft bedarf
Schließlich gibt es auch ein Narrativ der ‚guten‘ Reichen. anscheinend einiger Superreicher, die ihre Freiheit aus
Das sind dann die Warren Buffetts, die einen großen Teil eigenen Stücken beschneiden wollen  – es ist nicht die
ihres Vermögens spenden, Stiftungen gründen und als Mehrheitsgesellschaft, die dies fordert. Nach einer Um-
Gönner der Gesellschaft auftreten. Aber können die Rei- frage finden 70  Prozent der Deutschen eine Erbschafts-
chen qua moralischer Anstrengung wirklich der Unsitt- steuer sogar unfair. Die Unterstützung für eine Reichen-
lichkeit entkommen? steuer liegt zwar schon höher, aber umgesetzt wurde auch
Folgt man Hegels Denken über den Pöbel, dann muss diese bisher nicht. Vielleicht liegt es daran, dass viele ins-
diese Moral eine Farce bleiben. Denn sie entspringt kei- geheim davon träumen, es selbst noch in den Club der
ner tatsächlichen Abhängigkeit. Für die Reichen ist die Reichen zu schaffen. Und wahrscheinlich dämmert es so
Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse nicht abhängig einigen auch, dass das Bürgertum unserer Breiten, global
von denen der Gesellschaft. Sie bleiben in ihrem Handeln gesehen, ebenso das Unvereinbare für sich reklamiert: ab-
ungebunden. Für Hegel geht es aber gerade um die Rezi- surden Reichtum und Sittlichkeit. Womöglich sagt unser
prozität. Er ist in der Lage, die Marktgesellschaft als etwas Umgang mit dem reichen Pöbel mehr über unser Ver-
Gutes zu begreifen, weil er ebenso wie Adam Smith und ständnis der Freiheit aus als über diesen selbst.
Émile Durkheim meint, dass in ihr Eigen- und Gesamt-
interessen miteinander in Einklang gebracht werden
können. Smith beschreibt dieses Zusammenspiel als die

88 Hegel
„Das Recht ist etwas
heiliges überhaupt,
allein weil es das Daseyn (…)
der selbstbewußten
Freyheit ist“
 Hegel, „Grundlinien der Philosophie des Rechts“
Foto: Sam Gregg
Recht und Freiheit Gespräch

„Soziale Freiheit
liegt in einem
nichtentfremdeten
Leben“
Wann werden Institutionen von Garanten der
­Freiheit zur unzumutbaren Einschränkung?
Im Gespräch ­erläutert Frederick Neuhouser Hegels
Sozialtheorie und erklärt, woran sich eine rationale
Gesellschafts­ordnung erkennen lässt
Das Gespräch führte Jana Glaese

Philosophie Magazin: Herr Neu- gewinnen sie, wenn wir auf die richti-
houser, Hegels Werk mit dem Titel ge Weise in der Familie, in der Zivil-
„Grundlinien der Philosophie des gesellschaft und im Staat mitwirken.
Frederick Neuhouser ist Professor für Rechts“ legt nahe, dass er sich da-
Philosophie an der Columbia University, rin mit Fragen des Rechts oder der Neben der sozialen Freiheit be-
New York. Sein Schwerpunkt liegt in
Ethik beschäftigt. Sie aber lesen trachtet Hegel auch andere Arten
der politischen Philosophie und Sozialtheorie
des 19. Jahrhunderts. Mit Hegel befasst es als ein Werk der Gesellschafts- von Freiheit. Er entwirft eine kom-
er sich u. a. in seinem Buch „Foundations theorie. Warum? plexe Typologie.
of Hegel’s Social Theory“ (Harvard University Frederick Neuhouser: Der Begriff Was Hegel so interessant macht, ist,
Press, 2000) und zuletzt in „Diagnosing
des Rechts ist bei Hegel sehr weit ge- dass er nicht einfach nur auf der Seite
Social Pathology“ (Cambridge University
Press, 2022) fasst und bezeichnet jede Einrich- der negativen oder positiven Freiheit,
tung, die unsere Freiheit verwirklicht. des Kommunitarismus oder des Libe-
Dabei interessiert sich Hegel insbe- ralismus steht. Er sieht, dass wir in
sondere für eine Art von Freiheit, die Westeuropa bestimmte Institutionen
im sozialen Leben selbst verwirklicht zur Verwirklichung von Freiheit ge-
wird. Ich verwende für diese Freiheit schaffen und geerbt haben, die – zu-
den Begriff der sozialen Freiheit. Wir mindest für Hegel – drei verschiedene

90 Hegel
Formen von Freiheit beinhalten. Er Teil dessen, was wir dort tun. Der Freiheitsbegriff in Einklang zu
will zeigen, dass die moderne soziale Staat agiert eher als koordinierende bringen. Kritiker würden ihm vor-
Welt eine ist, die alle drei unterbrin- Instanz und stellt sicher, dass sowohl werfen, dass er dabei die Freiheit
gen und auf konsistente Weise zu- Familien als auch die Zivilgesellschaft des Ganzen über die des Individu-
sammenfügen kann. Die erste ist die sich entfalten können, ohne dabei in ums stellt. Zu Recht?
persönliche oder liberale Freiheit. den Bereich der jeweils anderen Ins- Ich denke, dass man Hegel mit dieser
Sie beruht auf einer Reihe von Rech- titution vorzudringen. Dem Staat Interpretation missversteht. Ethische
ten – darunter das Eigentumsrecht –, kommt also eine indirekte Rolle in Freiheit ist, das zeigt sich in seinem
die es dem Einzelnen erlauben, so zu der Reproduktion zu. Werk eindeutig, nie etwas, das sich
handeln, wie er es für richtig hält. nur im Ganzen abspielt. Was aber
Die zweite Auffassung von Freiheit richtig ist: Hegel denkt, dass das so-
ließe sich auch Autonomie nennen „Institutionen geben ziale Ganze – also „der Staat“ – freier
und geht auf Luther, Rousseau und
Kant zurück: Sie besagt, dass man frei
uns eine Struktur, und selbstbestimmter ist als jedes In-
dividuum. Er schreibt dem Ganzen
ist, wenn man in der Welt in Über- ­innerhalb derer wir eine Art von Freiheit zu, die für ihn
einstimmung mit seinem eigenen
Verständnis von dem, was gut und
ein Leben führen als eine gründlichere Verwirklichung
des Ideals der Selbstbestimmung gilt.
richtig ist, handelt. Die dritte Frei- können, das wir als Der Staat selbst ist ein selbstbestim-
heit, die soziale Freiheit, ist am
schwierigsten zu beschreiben. Sie er-
sinnvoll empfinden“ mendes Wesen. Gleichzeitig setzt
diese Form von Freiheit des sozialen
langt man durch die Teilhabe an so- Ganzen aber voraus, dass die einzel-
zialen Institutionen, deren Haupt- nen Mitglieder dieses Ganzen ein
funktion darin besteht, das Leben zu Die Rede ist immer von „vernünf- maximales Maß von Freiheit finden,
reproduzieren – sowohl das materiel- tigen“ sozialen Institutionen. Was zu der sie als Einzelne fähig sind.
le Leben als auch das intellektuelle ist damit gemeint?
oder spirituelle Leben. Wenn Hegel sagt, dass diese Institu- Das heißt, Sie würden widerspre-
tionen vernünftig strukturiert sein chen, wenn man Hegel vorwirft,
Hegel meint, dass es drei Institu- müssen, dann meint er damit, dass das Wohl der Gemeinschaft auf
tionen gibt, die entscheidend für unsere Teilhabe an diesen Institutio- Kosten des Einzelnen erreichen zu
die Erreichung einer umfassenden nen jedem und jeder von uns ein Ge- wollen.
Freiheit sind. Welche sind das und fühl unserer eigenen Identität ver- Hegels Sozialphilosophie versucht zu
warum konzentriert er sich just mitteln muss. Die Institutionen verstehen, ob die soziale Welt, in der
auf diese? geben uns eine Struktur, innerhalb wir uns befinden, zumindest prinzi-
Er hat hier besonders folgende Insti- derer wir ein Leben führen können, piell in der Lage ist, diese beiden
tutionen im Blick: die Familie, die das wir als sinnvoll empfinden. Da- Dinge – die Freiheit des Einzelnen
Zivilgesellschaft und den Rechtsstaat. mit ist soziale Teilhabe auch ein Aus- und des Ganzen – in Einklang zu
Hegel ist der Meinung, dass diese für druck dessen, was man als gut emp- bringen. Er will weder das eine noch
die soziale Reproduktion, einschließ- findet. In diesen Institutionen findet das andere opfern. Er ist überzeugt,
lich der materiellen Reproduktion, der Einzelne auch – das ist ebenso dass unsere Institutionen, zumindest
von zentraler Bedeutung sind. In der zentral – Anerkennung durch andere in ihren grundlegendsten Umrissen,
Familie etwa reproduzieren wir uns Gesellschaftsmitglieder. Man könnte diese Art von Übereinstimmung zu-
biologisch. In der Zivilgesellschaft – also sagen, soziale Freiheit bedeutet, lassen. Wenn es regelmäßig zu Kon-
die man auch als Raum der Markt- ein nichtentfremdetes soziales Leben flikten zwischen den Bedürfnissen des
wirtschaft beschreiben könnte – pro- zu führen. gesellschaftlichen Ganzen und denen
Autorenfoto: Marvin Ester

duzieren und reproduzieren wir die des Einzelnen kommt, dann wäre dies
Dinge, die wir zum materiellen In seiner Rechtsphilosophie ver- für Hegel ein klarer Hinweis darauf,
Überleben brauchen. Das ist nicht sucht Hegel einen eher indivi- dass unsere Institutionen selbst nicht
das Einzige, aber es ist ein wichtiger dualistischen und einen sozialen rational sind und geändert werden

Sonderausgabe Nr. 24 91
Recht und Freiheit Gespräch

„Jeder Elternteil muss müssen. Allerdings räumt er auch ein,


dass es Zeiten geben wird, in denen
Millionen von ihnen sind dafür ge-
storben. Die Ukraine wäre ein weite-
sich dem stellen, dass ein freier und rationaler Staat von res Beispiel.
die Umstände es den Einzelnen verlangt, ihr Leben
aufs Spiel zu setzen – für das Überle- Ihr jüngst erschienenes Buch „Dia-
erforderlich machen ben des Staates, aber auch für die po- gnosing Social Pathology“ greift
können, das eigene litischen Ideale, die dem sozialen
Ganzen zugrunde liegen. Ähnliches
Hegels Auseinandersetzung mit
der Suche nach Freiheit als ma-
Leben für seine ließe sich für die Familie sagen: Jeder terieller und spiritueller Erfüllung
ebenfalls auf. Ihr Interesse gilt
Kinder zu riskieren“ gute Elternteil muss sich der Tatsache
stellen, dass die Umstände es erfor- diesmal aber primär sozialen Miss-
derlich machen können, dass er sein ständen. Wie ist Hegel hier hilf-
eigenes Leben für seine Kinder ris- reich?
kiert. Oder denken Sie an die sowjeti- Ich versuche zu zeigen, dass die meis-
schen Soldaten im Zweiten Welt- ten sozialen Probleme sich als soziale
Foto: Olga Kessler

krieg. Sie mussten ihr Leben nicht Krankheit betrachten lassen. Das
nur für das nationale Überleben, son- Konzept der Krankheit ist hilfreich,
dern auch für ethische Ideale opfern. um zwischen Symptomen und der

92 Hegel
tiefer liegenden Ursache eines Miss-
standes zu unterscheiden. Oft kon-
an Armut in der Zivilgesellschaft un-
vermeidbar sei. Aber das störte ihn.
„Man kann mit
zentrieren wir uns auf die Symptome Er fand selbst in seinem stark ideali- Hegel argumentieren,
eines Problems und vermeintlich in-
dividuelle Fehler oder Defizite, an-
sierten Gesellschaftsentwurf nie eine
Lösung dafür.
dass eine Gesellschaft,
statt ihre Ursachen im sozialen Ge- die ständig große
füge in den Blick zu nehmen. Für
Hegel spielte der Begriff der sozialen
Denken Sie denn, dass die Stan-
dards, die Hegel zur Definition
Ungleichheiten unter
Pathologie zugegeben keine große vernünftiger sozialer Institutionen ihren Mitgliedern
verwendet hat, heute ebenfalls
Rolle. In jungen Jahren macht er da-
von Gebrauch, aber er kommt in sei- noch eine Richtschnur bieten?
reproduziert,
ner „Philosophie des Rechts“ nicht In jedem Fall. Ich glaube, dass diese pathologisch ist“
darauf zurück. Dennoch liefert uns Ideale auch heute noch für die Ge-
Hegel eine Reihe von konzeptionel- sellschaft relevant sind. Lassen Sie
len Ressourcen, um über soziale Pa- mich ein letztes Beispiel geben. He-
thologien von heute nachzudenken gel ist äußerst brillant, was die Fami-
und sie strukturell, also als Störungen lie angeht. Er sieht, wie die bürgerli-
in unserer sozialen Praxis und in Pro- che Familie eine Antwort auf die
zessen der Reproduktion zu begrei- veränderten Ansprüche der Moderne
fen: Mit ihm lassen sich geistige oder und der Marktwirtschaft ist. Auf ein-
ethische Funktionsstörungen besser mal gibt es einen starken Fokus auf
fassen. Auch Marx verweist auf solche das Individuum; der Einzelne ist der
Missstände in der „geistigen“ Repro- zentrale Akteur. Aber um sich diese
duktion – wenn er sagt, dass Arbeit neuen Handlungs- und Entschei-
entfremdet, dann erinnert er zugleich dungsspielräume überhaupt aneig-
an die geistige Qualität der Arbeit, die nen zu können, braucht es eine ande-
im Kapitalismus systematisch geop- re Erziehung. Hegel zeigt, dass die
fert wird. bürgerliche Kleinfamilie genau auf
diesen Anspruch reagierte, ganz an-
Auch mit Hegel ließe sich also ders, als es die vormoderne Großfa-
über ein pathologisches Arbeits- milie gekonnt hätte. Natürlich soll-
verhältnis im Kapitalismus spre- ten wir die spezifischen Details von
chen? Hegels Darstellung der patriarchali-
Genau. Man kann mit hegelianischen schen, bürgerlichen Familie nicht
Mitteln argumentieren – und Hegel mehr als Ideal nehmen. Aber die
selbst tut das ja auch schon –, dass meisten Menschen wollen weiterhin
eine Zivilgesellschaft, die ständig eine Form von Ehe oder Partner-
große Ungleichheiten unter ihren schaft, Elternschaft und Kinderer-
Mitgliedern reproduziert, die eine ziehung. Sie erkennen, dass wir
große Anzahl von Menschen in die durch und in der Familie zu eigen-
Armut zwingt, die einem großen Teil ständigen Personen heranwachsen,
der erwachsenen Bevölkerung nicht die mit einem Vertrauen in sich
erlaubt, Arbeit zu finden, patholo- selbst und andere in die Welt treten.
gisch ist. In all dem zeigt sich, dass Dieser Anspruch an die Institution
die Zivilgesellschaft das Versprechen, gilt auch für heutige, depatriarchali-
das sie uns gibt – nämlich innerhalb sierte und deheterosexualisierte Fa-
dieser als autonome Subjekte zu milien. Die Familie bleibt ein wichti-
agieren  –, nicht erfüllt. Heutzutage, ger Ort der Identifikation und
mehr noch als vor 50 Jahren, ist die Freiheit. Die grundlegenden Ideale,
Gesellschaft nach Hegels eigenem die in Hegels Philosophie zum Tra-
Verständnis pathologisch. Er selbst gen kommen, sind also nach wie vor
meinte zwar, dass ein gewisser Grad ernst zu nehmen.

Sonderausgabe Nr. 24 93
Hegel
in Zitaten    „Grundlinien der Philosophie des Rechts“,
in: „Gesammelte Werke“, Bd. 14,1, S. 31–32
Erklärt von Michael Quante

Erläuterung
„Der Boden des
Hegel entwickelt in seiner Rechts-
philosophie eine systematische Ord- Rechts ist über-
nung normativer Ansprüche. Er un-
terscheidet dabei zwischen den haupt das Geistige,
und seine nähere
Geltungsansprüchen des Rechts,
der Moral und der Sittlichkeit. So-
weit diese institutionell verankert
und von der Gesellschaft befolgt
werden, stellen sie eine Verwirkli- Stelle und Ausgangs-
punkt der Wille,
chung von Freiheit dar (hier ist sie
wirksam). Der „Boden“ des Rechts
ist die Fähigkeit rationaler Subjekte,
ihre eigenen Ansprüche artikulieren,
mit Gründen einfordern und gegen welcher frey ist, so
daß die Freyheit
Kritik mit Argumenten verteidigen zu
können. Die Teilsysteme einer ver-
nünftig eingerichteten Gesellschaft
(z. B. das Privatrecht, der Markt oder
die Familie) sind dabei rational re- seine Substanz und
Bestimmung aus-
konstruierbare Ordnungen von Gel-
tungsansprüchen. Sie lassen sich
als ein Ganzes, das heißt philoso-
phisch als vernünftig ausweisen.
Die Wahrheit dieser normativen macht, und das
Rechtssystem das
Ordnung zeigt sich darin, dass die
Bürgerinnen und Bürger sie als
„zweyte Natur“ annehmen.

Reich der ver­


wirklichten Freiheit,
die Welt des

94 Hegel
Geistes aus ihm
selbst hervorge-
bracht, als eine Relevanz
zweyte Natur, ist. Hegels Rechtsphilosophie ist at-
traktiv, weil sie verschiedene Arten
von Geltungsansprüchen voneinan-
der unterscheidet. Damit lassen
(…) Daß der Wille frey und was der sich politische Debatten hinsicht-
Wille und Freyheit ist — die lich ihrer verschiedenen normativen
Deduction hievon kann (…) allein Dimensionen differenzierter führen
und Normkonflikte, zum Beispiel
im Zusammenhang des Ganzen Statt zwischen rechtlichen und morali-
finden. Die Grundzüge dieser schen Ansprüchen, besser verste-
Prämisse, — daß der Geist zunächst hen. In modernen Gesellschaften
nimmt die Vielfalt individueller Pers-
Intel­ligenz und daß die Bestimmungen, pektiven stetig zu. Deshalb ist He-
durch welche sie in ihrer Entwicklung gels Voraussetzung, dass ethische
fortgeht, vom Gefühl, durch Ansprüche begründbar sind, wich-
tig. Sie sind mit rational nachvoll-
Vor­stellen, zum Denken, der Weg sind,
ziehbaren Gründen einzufordern
sich als Wille hervorzubringen, und gegenüber Kritik zu rechtferti-
welcher, als der praktische Geist über- gen. Eine Lösung von Uneinigkeiten
haupt, die nächste Wahrheit der durch bloßen Rückgriff auf Macht
wird damit zugunsten rationaler Be-
Intelligenz ist, habe ich in meiner gründung abgelehnt. Diese Aspek-
‚Enzyklopädie der philosophischen te der hegelschen Konzeption des
Wissenschaften‘ (Heidelberg, 1817.) freien Willens sind für moderne De-
mokratien unverzichtbar.
§ 363 – 399. dargestellt (…).
In Ansehung der (…) Momente
des Begriffes des Willens, welche
das Resultat jener Prämisse sind, kann
sich übrigens zum Behuf des Vor­
stellens auf das Selbstbewußtseyn eines
jeden berufen werden.“

Sonderausgabe Nr. 24 95
Impulse für ein
freieres Leben.
Streitbar. Lebensnah. Konkret.
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Foto: Maximilian Virgili
4
Geschichte,
Ästhetik, Religion

Wie tritt „der Geist“ in Erscheinung? Für Hegel lässt


sich die fortschreitende Selbsterkenntnis des Menschen
eindeutig erfassen: Sie zeigt sich in der Entfaltung der
Freiheit in der Geschichte und in unserer Selbstdeu-
tung in Kunst, Religion und Wissenschaft. Fortschritt
ist aber mitnichten linear, sondern birgt unerwartete
Brüche und Wendungen

Hegel Sonderausgabe Nr. 24 99


Geschichte, Ästhetik, Religion Essay

In der Geschichte, so Hegel, offenbart sich


„der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“.
Doch wie genau sieht diese voranschreitende
Bewegung aus? Ein Essay von Slavoj Žižek über die
Kraft der „Verrückung“ und die Entstehung des Neuen
Von Slavoj Žižek / Aus dem Englischen von Hendrik Buchholz

Verrückte
Geschichte

Es kann als Gemeinplatz angesehen werden, dass die Ge- dieselbe melodische Linie zunächst (in „Vertigo“) das
schichte für Hegel ein Prozess ist und sich durch eine musikalische Eröffnungsmoment eines Satzes, der un-
stufenweise Aufhebung auf Vernunft und Freiheit als ihr aufhaltsam auf ein romantisches Crescendo zusteuert,
finales Ziel zubewegt. Aber es gibt eine Dimension, die das sich stark an Wagners „Tristan“ anlehnt; ihre Wie-
eine solche Vorstellung von linearem Fortschritt ver- deraufnahme im Klarinettenquintett bleibt hingegen
fehlt. Diese Dimension wird am besten durch den Begriff fest im vorwagnerianischen und klassischen Raum eines
der Verrückung erfasst. Verrückung ist ein Begriff, des- Themas und seiner Variationen. Das Überraschende ist
sen richtiges Verständnis es uns erlaubt, einige zentrale hier die rückläufige Richtung dieser Verschiebung: zu-
Missverständnisse auszuräumen, die Hegels Begriff der erst ein romantischer Vorstoß in Richtung eines klimati-
Aufhebung immer wieder heimsuchen. schen Crescendos, dann der Schritt zurück in einen eher
Betrachten wir zunächst ein vielleicht unerwartetes klassischen Kontext, in dem solche Crescendi ausge-
Beispiel: Bernard Herrmanns Klarinettenquintett „Sou- schlossen sind.
venirs de voyage“ (1967), das mit derselben melodischen Aber da wir uns hier mit der Geschichte und nicht
Linie beginnt, die er ein Jahrzehnt zuvor am Anfang des mit Anekdoten aus der Musik befassen, wollen wir uns
berühmtesten Stücks („Scène d’amour“) aus seiner Par- dem historischen Fortschritt auf seinem Höhepunkt zu-
titur von Hitchcocks „Vertigo“ (1958) verwendet hat. wenden: der Französischen Revolution. In seinem Buch
Wir haben es hier mit einem schönen Fall von Verrü- „The Haitians. A Decolonial History“ lehnt Jean Casi-
ckung zu tun; mit dem Herausreißen eines Elements – in mir die Vorstellung ab, die Haitianische Revolution sei
diesem Fall einer melodischen Linie – aus seinem Kon- die wahre Vollendung der Ideale der Französischen Re-
text und der Platzierung in einem anderen Kontext, der volution. Er argumentiert stattdessen, dass „Haiti das
einer abweichenden Logik folgt. In unserem Fall ist Projekt der Moderne eher verrückt hat als vollendet“. 

100 Hegel
„Verrückung ist ein Begriff, der uns erlaubt,
einige zentrale Missverständnisse auszuräumen, die Hegels
­Begriff der Aufhebung immer wieder heimsuchen“

Slavoj Žižek gehört zu den einflussreichsten Philosophen


Foto: Katarina Marković

der Gegenwart. Er forscht an der Universität Ljubljana und ist


internationaler Direktor des Birkbeck Institute for the
Humanities der Universität London. In zahlreichen Büchern
legte er seine von Hegel, Marx und Lacan inspirierten
Analysen der politischen Gegenwart dar

Sonderausgabe Nr. 24 101


Geschichte, Ästhetik, Religion Essay

Casimirs Kritik richtet sich an all jene (mich eingeschlos- historischen Kontext, in dem die Revolution von einer
sen), die in der Haitianischen Revolution die Universali- kleinen Gruppe von Fachleuten durchgeführt und durch
sierung und Radikalisierung der Französischen Revolu- die Hinwendung zu nichtproletarischen Themen (Land
tion sehen: Erst durch ihre Wiederholung in Haiti wird und Frieden) gewonnen wurde. Mao Zedong tat etwas
die Französische Revolution wirklich zu einem weltge- noch Radikaleres: Entgegen der Vision von Marx und
schichtlichen Ereignis mit universeller Bedeutung. In Engels wandte er sich von den Arbeitern zu den Bauern
diesem Sinne ist die Haitianische Revolution die Aufhe- auf dem Land als revolutionäre Kraft zu – etwas, das für
bung der Französischen Revolution: die volle Verwirkli- Marx und Engels unvorstellbar war. Auch in diesen bei-
chung ihrer Potenziale, ihre Wiederholung auf einer hö- den Fällen handelt es sich nicht um eine kontinuierliche
heren Ebene. Expansion, sondern um eine radikale Verrückung – kein
Wunder, dass sich in beiden Fällen orthodoxe Marxisten
Eurozentrische Falle gegen die Neuausrichtung wandten (der Hauptvorwurf
Vom Standpunkt des vorherrschenden postkolonialen der Menschewiki an Lenin war, dass er auf nichtmarxis-
Denkens aus ist eine solche Sichtweise allzu „eurozent- tische Weise eine Revolution wollte, bevor die Umstände
risch“: Wenn die Haitianische Revolution auf die Ent- dafür reif waren).
faltung der immanenten Potenziale der Französischen Wir sollten auch bedenken, dass der Kapitalismus als
Revolution reduziert wird, dann ist – um es auf Hegelia- solcher einen Prozess der ständigen Verrückung beinhal-
nisch zu sagen – die Französische Revolution, ein euro- tet. Der Kapitalismus ist in Europa entstanden, hat sich
päisches Phänomen, der übergreifende Begriff und die dann aber allmählich zu einer globalen Wirtschaftsord-
Haitianische Revolution bleibt ein untergeordnetes Mo- nung ausgeweitet. Diese Ausweitung war nicht kontinu-
ment ihrer Selbstentfaltung. Auch wenn die Haitianer ierlich, sondern beinhaltete radikale Verrückungen. Der
„französischer als die Franzosen selbst“ waren, auch Kapitalismus war nicht nur von Anfang an mit der Kolo-
wenn sie weiter gingen und konsequenter waren als die nisierung und dem Aufkommen der Sklaverei verbunden,
Franzosen, waren sie Teil eines europäischen Prozesses. sondern er veränderte sich auch mit dem Aufkommen
Der Begriff der Verrückung ermöglicht es uns, diese eu- starker außereuropäischer kapitalistischer Länder wie
rozentrische Falle zu vermeiden: Die Haitianische Revo- Japan, Indien und jetzt China.
lution hat auch die Französische Revolution verrückt,
und Verrückung bedeutet, dass die Elemente, die die
Französische Revolution definieren, in Haiti völlig neu „Ja, die Geschichte schreitet
kontextualisiert und in einen neuen symbolischen und
sozialen Raum integriert wurden. Dieser verleiht ihnen
­voran, aber in jedem Moment
eine neue Bedeutung, die nichts mit der ursprünglichen ihres Fortschritts wird der
Bedeutung zu tun hat – man kann diese neue Bedeutung
keineswegs von der ursprünglichen „ableiten“.
Begriff des Fortschritts selbst,
Nehmen wir die Gleichheit, ein Begriff, der aus dem die Richtung, in die sich
modernen europäischen Denken stammt. Obwohl sich
viele Befürworter der Gleichheit dafür einsetzten, diesen
die Geschichte bewegt, radikal
Begriff auch auf Frauen, andere „Rassen“ und so weiter neu definiert“
auszudehnen, verbleibt eine solche Ausweitung im Rah-
men einer westlichen Vorstellung von Gleichheit. Wenn
ein wahrer Anderer (z.  B. schwarze Sklaven) sich die Es ist interessant zu beobachten, wie dieselben postkolo-
Gleichheit aneignet, wird dieser Begriff nicht nur erwei- nialen Linken, die jede Ausweitung von Gleichheit und
tert, sondern in einen anderen Bereich transponiert, was Demokratie als Verrückung bezeichnen  – und nicht als
sich radikal auf seine Funktionsweise auswirkt – „Gleich- kontinuierliche Entwicklung –, stets darauf bestehen, dass
heit“ wird nicht mehr im Sinne eines europäischen libera- der Kapitalismus „eurozentrisch“ ist, also Europa zuge-
len Individualismus verstanden, sondern wird zu einem schrieben wird. Die zugrunde liegende Prämisse ist klar:
Moment der sozialen Einheit. Das Unbehagen an der Wenn eine fortschrittliche Idee wie Gleichheit und De-
Black-Lives-Matter-Bewegung beweist dies überdeutlich. mokratie auf die Dritte Welt ausgedehnt wird, bedeutet
Und ist nicht die gesamte Geschichte des Marxismus dies eine radikale Verrückung und ist nicht mehr europä-
und der kommunistischen Revolutionen eine Geschichte isch, dagegen bleibt der „böse“ Kapitalismus ein fremder
der Verrückungen? Trotz der zahlreichen Marx-Zitate (europäischer) Eindringling. Dieser Fehler ist schwerwie-
überführt Lenin Marx in einen radikal anderen gend, weil er die entscheidende Tatsache übersieht, dass

102 Hegel
der Kapitalismus in Wirklichkeit universell ist: Er wird Louverture, der erste Anführer des freien Haiti, bestand
nicht aus einer Kultur herausgelöst und dann von einer auf der Gleichheit aller „Rassen“ und schaffte die Skla-
anderen vereinnahmt, er steht vielmehr für eine univer- verei formell ab. Gleichzeitig aber führte er die Arbeits-
selle Verrückung des Kulturellen als solches. pflicht ein (die Plantagenarbeiter mussten an ihrem Ar-
An diesem Punkt können wir auf die Beziehung zwi- beitsplatz bleiben, damit die Produktion weiterlief). Die
schen der hegelschen Aufhebung und der Verrückung folgenden Führer, Jean-Jacques Dessalines und Henri
zurückkommen: Ein Ansatz, der die beiden einander ge- Christophe, läuteten eine Anti-Weißen-Bewegung ein
genüberstellt (wie wir bei Casimir bezüglich der Revolu- (alle Nicht-Schwarzen mit Ausnahme der Polen, die die
tion von Haiti gesehen haben), verfehlt ein Kernmerkmal Revolution unterstützten, wurden massakriert), aber die
des hegelschen dialektischen Prozesses, er reduziert das Arbeitspflicht blieb bestehen, sodass sich für die ehema-
Subjekt auf eine dynamisierte Substanz. Nehmen wir an, ligen Sklaven nicht viel änderte. Während der Herr-
der Staat durchläuft die Stadien des asiatischen despoti- schaft Christophes war Haiti in zwei Staaten aufgeteilt:
schen Staates, der antiken Sklavenhalterdemokratien, der Christophe regierte als Kaiser den nördlichen Teil und
feudalen Monarchien, des modernen autoritären Staates Alexandre Sabès Pétion die Republik im südlichen Teil.
und so weiter, aber all dies sind besondere Formationen, Während sich der Norden zu einer halb feudalen, autori-
die sich als immanente Entfaltung desselben Staatsbe- tären Nachahmung eines modernen europäischen Staa-
griffs erweisen. Ist dies der Fall? tes entwickelte, der sich auf die Steigerung der Produk-
Wenn wir auf dieser abstrakten Ebene bleiben, müs- tion und des Reichtums (in den Händen der herrschenden
sen wir hier mindestens zwei Punkte hinzufügen. Ers- schwarzen Elite) konzentrierte, wurde in der Republik
tens impliziert für Hegel die vollkommene Vollendung im Süden Land an Kleinbauern verteilt. Obwohl einige
einer Idee (wenn die Realität mit ihrer Idee überein- Kommentatoren den Süden als einen Versuch feierten,
stimmt) immer die Selbstverneinung dieser Idee selbst; neue gemeinschaftliche Lebensformen als Alternative
sagen wir, die Realität der Staaten passt niemals voll- zur europäischen Moderne zu entwickeln, scheiterte das
ständig zur Idee des Staates – wenn dies geschieht, dann Experiment bald. Ein weiteres Paradoxon war, dass der
haben wir keinen Staat mehr, sondern den Übergang zu mit Dessalines vollzogene Wechsel von der Gleichheit
einer Religionsgemeinschaft. Zweitens, und das ist noch der Rassen zur Vorherrschaft der Schwarzen mit dem
wichtiger, geht in einem dialektischen Prozess das Prä- Aufkommen einer autoritären Klassenstruktur inklusive
dikat immer in das Subjekt über: Was zu Beginn ein Kaiser an der Spitze zusammenfiel. Gerade als die
untergeordnetes partikuläres Moment des Prozesses Schwarzen ihre volle Souveränität durchsetzen wollten,
war, behauptet sich als sein Subjekt und setzt rückwir- ahmten sie also das Schlimmste nach, das die europäi-
kend seine Voraussetzungen als seine eigenen Momente sche Tradition hergab.  
(es „begründet“). Um die vielleicht berühmteste Stelle von Hegel zu
Es ist also nicht dasselbe Subjekt, das von einer zu paraphrasieren: Es kommt darauf an, die Geschichte
einer anderen partikularen Form übergeht und dasselbe nicht nur als einen Prozess der Aufhebung, sondern
Agens bleibt, die Fäden zieht und die gesamte Bewegung ebenso sehr als einen Prozess der Verrückung aufzufas-
steuert: Was Hegel das „Absolute“ nennt, ist genau der sen. Nur so können wir uns von all dem teleologischen
Prozess, in dem radikale Umkehrungen stattfinden und Ballast befreien, der unser Verständnis von Hegel be-
ein Prädikat zu einem neuen Subjekt wird. Jeder dialek- schwert, und Hegel zu unserem wahren Zeitgenossen
tische Übergang ist also eine Form der Verrückung: Die machen: Ja, die Geschichte schreitet voran, aber in jedem
vorherige Substanz wird in eine neue, umfassende Uni- entscheidenden Moment ihres Fortschritts wird der Be-
versalität verrückt. Es ist nicht die gleiche Universalität, griff des Fortschritts selbst, die Richtung, in die sich die
die von einer bestimmten Form in eine andere über- Geschichte bewegt, radikal neu definiert.
geht  – in jedem Wechsel wird die Universalität selbst Wenn wir der globalen Erwärmung ernsthaft entge-
verrückt; sie wird zu einem untergeordneten Moment gentreten wollen, muss unsere Vorstellung von wirt-
einer wiederum neuen Universalität reduziert. schaftlichem Fortschritt radikal verändert werden.
Wenn wir die globale Zusammenarbeit stärken wollen,
Paradox der Revolution müssen sich unsere Vorstellungen von Demokratie (bis
Zurück nach Haiti: Was das Bild noch komplizierter hin zur Beschränkung auf die Nationalstaaten) wie auch
macht, ist die Tatsache, dass die Spannung zwischen der von souveränen Staaten bis zur Unkenntlichkeit verän-
Nachahmung Europas und dem Ausbruch aus der euro- dern. Das Wort „verrückt“ bedeutet auch „grotesk, bi-
päischen Moderne im Kern des revolutionären Prozes- zarr“, und das ist auch Hegels letzte Botschaft: Wahrer
ses selbst verankert ist. François-Dominique Toussaint Fortschritt ist grotesk.  

Sonderausgabe Nr. 24 103


Geschichte, Ästhetik, Religion Gespräch

„Der Geist sind wir“


Kritiker sehen Hegels Geschichtsphilosophie
als eine Theorie des unvermeidlichen Fortschritts.
Eine tiefgreifende Missinterpretation, meint
Terry  Pinkard. Im Interview erläutert er, wie Hegels
Blick auf die Geschichte von einem subtilen
Verständnis der menschlichen Natur geprägt ist
Das Gespräch führte Dominik Erhard

Die Geschichte ist keine unabhängige


Entität, sie wird von Menschen gemacht:
Demonstration der Black-Lives-Matter-
Bewegung in Washington, D. C. 2020
Terry Pinkard ist Professor für Philosophie
an der Georgetown University und renommierter
Hegel-Experte. Neben „Hegel. A Biography“
(CUP, 2001) erschienen von ihm „Does History
Make Sense? Hegel on the H ­ istorical
Shapes of Justice“ (HUP, 2017) und zuletzt
„Power, Practice, and Forms of Life. Sartre’s
Appropriation of Hegel and Marx (UCP, 2022)

Philosophie Magazin: Herr Pinkard, Natur aus eine bestimmte Art von sollten deshalb nicht nach der Gleich-
von allen Teilen des hegelschen Ruhm und Macht über andere Men- schritt-Dialektik suchen, als die Hegels
Systems scheint die Geschichts- schen anstreben. Und in der moder- Denken oft dargestellt wird.
philosophie noch immer am wenigs- nen liberalen Demokratie, so heißt es,
ten Beachtung zu finden. Warum haben wir einen Weg gefunden, dieses Sie haben die Interpretation des
ist das so? Bestreben zu zähmen. Es gibt also ein „hegelschen Naturalismus“ ge-
Terry Pinkard: Ich denke, dass ein empirisches Gesetz, das wir vermeint- prägt, der zufolge Subjektivität
Grund sicher folgender ist: Da jeder lich bestätigen können. Aber ich glau- und Geist nach Hegel keine meta-
glaubt, etwas über Hegel zu wissen, be nicht, dass Hegel nach empirischen physischen Entitäten sind. Statt-
gibt es wenig Motivation, sich wirk- Gesetzen der Geschichte in dem Sin- dessen sind sie konstitutiv für unse-
lich mit seinen Ideen auseinanderzu- ne sucht, wie Fukuyama meint. Dies re biologische Natur. Was meinen
setzen. Jeder kennt Hegels angebliche ist eine weitverbreitete Fehlinterpre- Sie damit? Und wie kann uns diese
Ansicht, dass die Geschichte durch tation von Hegels Geschichtsphilo- Ansicht helfen, Hegels Auffassung
den Dreischritt von These, Antithese sophie. Eine andere ist jene, die ich als von Geschichte zu verstehen?
und Synthese voranschreitet. Und na- metaphysische Sichtweise oder schlicht Hegel ist insofern ein Naturalist, als
türlich soll er geglaubt haben, dass die „faule Lesart“ bezeichne. er glaubt, dass es keine metaphysi-
Geschichte ein klares Ziel hat und sie schen Einflüsse oder getrennten
irgendwann um 1807 endet, wenn sie Welche Auffassung vertreten de- Dualitäten gibt, wie man sie zum Bei-
dieses Ziel erreicht hat. Obwohl diese ren Anhänger? spiel bei Descartes findet. Wir sind
Ansichten völlig falsch sind, halten sie Hier wird Hegel so dargestellt, als ob einfach natürliche Geschöpfe, die be-
viele davon ab, tatsächlich einen Blick er den Lauf der Geschichte auf eine stimmte Kräfte ausüben. Dazu gehört
in Hegels Werke zu werfen. Art übergreifenden metaphysischen die Kraft der Rationalität, die von
Geist stützen würde, der seinen eige- unserem Selbstbewusstsein abhängt.
In Ihrem Buch „Does History Make nen Weg geht und die Individuen Durch sie sind wir nicht nur eine wei-
Sense?“ argumentieren Sie aller- unterdessen einfach verschluckt. Jür- tere Tierart, sondern rationale Tiere.
dings, dass Hegels Geschichtsphi- gen Habermas legt beispielsweise oft Dieser Gattung gibt Hegel den Na-
losophie auch dann oft missver- nahe, dass der Geist ein großer men „Geist“. Wichtig zu verstehen
standen wird, wenn sie Beachtung Schlund wäre, der alles in sich auf- ist, dass die Natur als solche für
findet. An welche Fehlinterpreta- nimmt, es halb verdaut und dann wie- Hegel nicht die Fähigkeit besitzt, sich
tionen denken Sie hier? der ausspuckt. Ich halte das für ein zu verbessern oder zu verschlechtern,
Zunächst einmal gibt es Denkerinnen irreführendes Bild von Hegels An- weil sie keine Einheit bildet. Sie
und Denker wie Francis Fukuyama, sichten. Denn Geschichte ist tatsäch- bleibt mit sich selbst im Zwiespalt.
die eine Art empirische Studie der lich ein großes kontingentes Chaos, Dank unserer rationalen Natur sind
Geschichte durchführen und versu- in dem die Menschen allmählich ver- wir Menschen hingegen in der Lage,
Foto: Kamal X; Autorenfoto: Privat

chen, ein Gesetz aufzustellen, von suchen, aus den Stücken dieses Chaos über uns selbst nachzudenken, Inter-
dem sie glauben, dass es die Geschich- eine Geschichte über sich selbst zu- pretationen anzustellen und uns da-
te beherrscht. Bei dem Gesetz handelt sammenzusetzen. Und dabei gibt es durch in bessere oder schlechtere
es sich eigentlich um eine Adaption nicht den einen Prozess, der sie von Versionen beziehungsweise Formen
der alten Ansicht, dass Menschen von einer Sache zur anderen bringt. Wir unserer selbst zu organisieren.

Sonderausgabe Nr. 24 105


Geschichte, Ästhetik, Religion Gespräch

„Wir probieren ver- sollten, nachzukommen, sind wir un- des Aufsammelns der Teile, beim
zufrieden. Worum es in der Ge- Wegwerfen jener Teile, die nicht
schiedenste Inter- schichte wirklich geht, ist also der funktionieren, beim Behalten der Tei-
pretationen von uns Kampf um Autorität. Die Geschichte le, die funktionieren, und beim erneu-
lehrt uns, dass niemand eine natürli- ten Zusammensetzen schafft er etwas
aus und machen uns che Autorität über einen anderen hat. Neues. Das ist es, was Hegel „Auf­
so zu beweglichen Es gibt keine natürliche Autorität von hebung“ nennt.
Aristokraten über Bürgerliche, von
­Zielen für uns selbst“ Männern über Frauen, von einer Eth- Wenn Politiker heute davon spre-
nie über die andere. Genau in dieser chen, dass sie Dinge tun, weil sie
Erkenntnis liegt das Potenzial der glauben, auf der richtigen Seite
Was genau meint Hegel, wenn er modernen Welt, von der Hegel schon der Geschichte zu stehen, was
Geist sagt? zu seiner Zeit glaubte, dass sie alles würde Hegel davon halten? Oder
Lassen Sie es mich so ausdrücken: verändern könnte. anders formuliert: Wie nützlich
Wenn Sie jedes „Geist“ in Hegels ist Hegels Geschichtsphilosophie
Manuskripten durch „selbstbewusstes Wie wichtig ist in all diesen Kämp- normativ für die Gegenwart?
Leben“ ersetzen, wird einiges klarer. fen die Kontingenz im Lauf der Die Floskel „auf der richtigen Seite
Hegel betont, dass Geist nur insofern Geschichte? der Geschichte stehen“ gründet auf
existiert, als es denkende Lebewesen Hegel ist in der Tat der Meinung, dem Missverständnis, dass die Ge-
gibt, die ein Selbstbewusstsein besit- dass der Zufall in der Geschichte schichte eine unabhängige Entität ist,
zen. Man könnte eine Analogie zwi- eine große Rolle spielt. Wenn wir uns die sich von sich aus in eine bestimm-
schen Geist und Sprache ziehen, denn die Geschichte anschauen, sehen wir te Richtung bewegt. Als Individuen
die Sprache existiert nur, weil Men- ein ganzes Durcheinander verschie- sind wir also an Bord oder nicht. Je-
schen sie sprechen, und sie ist ein dener kontingenter Faktoren. Wenn denfalls können wir in dieser Sicht-
strukturiertes System, in dem Men- es ein Prinzip gibt, das die Geschich- weise keinen Einfluss auf die Rich-
schen gut oder schlecht funktionie- te – oder genauer gesagt, die Akteure, tung nehmen. In diesem Bild wird
ren, Fehler machen können und so die Geschichte machen  – antreibt, also nahegelegt, dass es eine objektive
weiter. Ganz ähnlich verhält es sich dann ist es die Erfahrung, dass sich Antwort auf die Frage gibt, wohin wir
auch mit dem Geist. bestimmte Lebensformen als unleb- uns bewegen sollten, die unabhängig
bar erweisen. Wenn wir die Erfah- von unserem Handeln ist. Das ist na-
Wie hängt Hegels Sicht auf den rung machen, dass unsere Selbstinter- türlich eine großartige Idee, wenn Sie
Menschen als ein selbstinterpre- pretation und die Welt um uns herum Politiker sind und versuchen, Men-
tierendes Tier mit seinen Gedan- nicht übereinstimmen, dann schafft schen in einer bestimmten Frage auf
ken über Geschichte zusammen? dies den Anstoß zur Veränderung. Ihre Seite zu ziehen. Nach Hegels
Weil wir keine klare Vorstellung von Das Leben konfrontiert uns mit Wi- Ansicht wissen wir jedoch nur, wo die
uns haben können, probieren wir ver- dersprüchen. Das ist der Motor, der Geschichte gewesen ist, aber wir ha-
schiedenste Interpretationen von uns die Geschichte antreibt: das ständige ben keine Ahnung, wohin sie geht.
aus und machen uns so zu bewegli- Scheitern unserer Selbstinterpretati- Heutzutage ist die Sichtweise verbrei-
chen Zielen für uns selbst. Eine Inter- on. In diesen Momenten sind wir bis tet, dass jeder seine eigene Narration
pretation von uns beiden könnte zum tief ins Innerste gespalten. Sowohl zum Lauf der Geschichte hat. Hegel
Beispiel sein, dass ich ein Bürgerli- kollektiv als auch individuell. Und ei- hätte dagegen rebelliert, denn man
cher bin und Sie ein Aristokrat oder nes der Merkmale des Geistes ist, dass kann eine Geschichte nicht wirklich
umgekehrt. Nun sind diese Interpre- er nicht still sitzt, sobald er diese Wi- erzählen, wenn man deren Ende nicht
tationen in gewisser Weise überhaupt dersprüche bemerkt. Er denkt, dass er kennt. Und wir kennen das Ende
nicht natürlich. Es sind Vorstellun- sich selbst geformt hat, aber dann fin- nicht …
gen, die wir von uns selbst haben, und det er sich in Situationen wieder, die
wir erlegen uns bestimmte Anforde- er überhaupt nicht beabsichtigt hatte.
rungen und Pflichten auf, wenn wir Der Geist stellt fest, dass die Interpre-
versuchen, diesen Vorstellungen ge- tationen von sich nicht glücken, dass
recht zu werden. Wenn es uns aber sie auseinanderfallen, und er versucht,
nicht gelingt, unserer Auffassung von die Scherben aufzusammeln. In die-
dem, was wir in diesem Fall tun sem Prozess des Auseinanderfallens,

106 Hegel
„( Wir können) sagen,
daß die Weltgeschichte die
Darstellung ist, wie der Geist
zu dem Bewußtseyn dessen
kommt, was er an sich ist“
 Hegel, „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“
Foto: Johanna Maria-Fritz/Ostkreuz
Geschichte, Ästhetik, Religion Gespräch

„Hegel verabschiedet
das Schönheitsideal
der Kunst“
Für Hegel war das „Absolute“ nur in der antiken
Kunst wahrnehmbar. Und danach?
Steigt die Kunst schlicht ab in die Bedeutungs­
losigkeit – oder e­ röffnen sich ganz neue Spielräume?
Ein Interview mit Eva Geulen
Das Gespräch führte Friedrich Weißbach

Philosophie Magazin: Frau ­Geulen, bestreiten. Die künstlerische Moder-


Hegel wird bekanntermaßen zu- ne seit dem 19. Jahrhundert und ihre
geschrieben, nicht nur das Ende Anwälte in den Kunstwissenschaften
der Geschichte, sondern auch das mochten sich mit Hegels Urteil über
Ende der Kunst verkündet zu ha- ihre Bedeutungslosigkeit nicht abfin-
ben. Was hat es mit dieser These den und haben immer wieder dage-
Eva Geulen ist Professorin für europäische
Kultur- und Wissensgeschichte an der auf sich? gen rebelliert.
Humboldt-Universität zu Berlin und Direktorin Eva Geulen: Wir reden vom Ende
des Leibniz-Zentrums für Literatur- und der Kunst, als ob Hegel dazu eine Wie ist Hegels Beobachtung vom
Kulturforschung. Mit Hegels Vorlesungen zur
These in die Welt gesetzt hätte. Aber Ende der Kunst zu verstehen?
Ästhetik und modernen Diskursen über
„Das Ende der Kunst“ hat sie sich im so ist es nicht. Er hat nur festgestellt, Hegel meint, dass die Kunst allein in
gleichnamigen Werk (Suhrkamp, 2002) dass die Kunst nach Maßgabe ihrer der griechischen Antike die höchste
beschäftigt höchsten Möglichkeiten ein Vergan- Ausdrucksform des Geistes gewesen
genes ist und ihr keine so große Be- sei. Weder vor noch nach der Antike
deutung mehr zukommt. Hegel for- war sie je wieder die adäquate und
muliert diesen Gedanken aber nicht verbindliche Ausdrucksform des Ab-
als These, sondern als historisches soluten.
Faktum. Erst die Rezeption hat dar-
aus eine These gemacht, denn The- Die Kunst soll also idealerweise eine
sen kann man immerhin noch „Ausdrucksform des Geistes“ sein?

108 Hegel
Genau. Hegel spricht von Kunst als
sinnliches Erscheinen der Idee oder
des Absoluten – immer noch sinnlich,
aber ein Erscheinen und Schein und
damit nicht die grobe stoffliche, irdi-
sche Wirklichkeit, sondern wiederge-
boren zu einer höheren Wirklichkeit.
Anders gesagt: Wenn Kunst produ-
ziert wird, wird ein ideeller Inhalt
mithilfe der Form zur sinnlichen Er-
scheinung gebracht. Dieses Verhält-
nis von Form und Inhalt ist also für
Hegel das Kriterium, um ein Kunst-
werk zu beurteilen. Ein Kunstwerk ist
dann vollkommen, wenn Form und
Inhalt unmittelbar übereinstim-
men  – ein Ideal, das Hegel nur in der
griechischen Antike erfüllt sieht.

Haben Sie ein Beispiel für die


Übereinstimmung von Form und
Inhalt? Und was wäre Kunst, wo
diese nicht zusammenkommen?
Für Hegel war die unmittelbare Ein-
heit von Bedeutung und Gestalt zum
Beispiel in vielen ägyptischen Kunst-
werken nicht erreicht, weil wir den
Pyramiden ihre Bedeutung nicht an-
sehen können. Zur noch nicht schö-
nen Kunst zählen auch Formen wie
Rätsel oder Parabeln, in denen sich
die Bedeutung ebenfalls nicht unmit-
telbar aus der Gestalt ergibt. Allein
die griechische Kunst hat es ver-
mocht, durch die Einheit von Inhalt
und Form die sittliche Substanz ihrer
Gesellschaft darzustellen, zum Bei-
spiel in den Grabplastiken der grie-
chischen Klassik oder im antiken
Drama. Hier zeigt sich jeweils die
höchste Funktion, die Kunst erfüllen
„Ein Kunstwerk ist dann vollkommen, kann, und alles, was sie sonst an Un-
Autorinnenfoto: Ilya Lipkin; Foto: Stefanie Moshammer

wenn Form und Inhalt unmittelbar terhaltung, Belehrung oder Bildung


leistet, fällt gemessen an diesem An-
übereinstimmen  – ein Ideal, das Hegel spruch dahinter zurück. Sowohl vor
als auch nach der Antike blieb dieses
nur in der griechischen Antike erfüllt sieht“ Ideal unerreicht. Das gilt sowohl für
die sogenannte symbolische Kunst,
die Hegel auch Vorkunst nennt und
worunter er hauptsächlich die nicht-
europäische Kunst zählt, als auch

Sonderausgabe Nr. 24 109


Geschichte, Ästhetik, Religion Gespräch

für die romantische Nachkunst, die der letzten 2000  Jahre ist also von Art Drehscheibe – Hegel spricht auch
auf den Höhepunkt der klassischen dem Ideal der Einheit von Form und von „Durchgangspunkt“ – für die bei-
Kunst folgt und in der Form und In- Inhalt schon abgefallen. Das heißt, den anderen, das Ideal verfehlenden
halt die Einheit nicht mehr bilden unsere ganze Kunst seit der Antike Kunstformen der Vor- und Nach-
können, unter anderem weil der bis ins 18.  Jahrhundert ist eine Art kunst. Und wie die Vorkunst in der
christliche Gott einer sinnlichen anachronistisches Zitat der symboli- klassischen Kunst fortlebt, so weist sie
Darstellung nicht so fähig ist, wie die schen Vorkunst. Diese Verwandt- zwangsläufig auch schon voraus auf
griechische Götterwelt es war. Auch schaft löst die dialektische Fort- das notwendige Auseinanderfallen
die moderne Verabsolutierung der in- schrittsgeschichte tendenziell auf. von Gestalt und Bedeutung.
dividuellen Liebe sprengt die drama- Das zweite Bemerkenswerte ist, dass
tische Form. Die „hündische“ Liebe Hegel sich überhaupt mit dieser Vor- Wenn man Kunst von anderen
der Protagonistin in Kleists „Käth- kunst auseinandersetzt. Anders als bei Kulturen als Vorkunst bezeichnet,
chen von Heilbronn“ ist Hegel ein seinen Zeitgenossen – wie etwa Schil- kann das aber doch auch als eine
Beispiel für ein Zerbrechen der schö- ler – fallen bei Hegel die Objekte der Art der Degradierung im Sinne
nen Form an neuen Inhalten. Vorkunst nicht aus der Geschichte von „es ist noch nicht Kunst“ ver-
heraus, sondern bekommen darin standen werden.
Mit welcher Kunst hat sich Hegel eine gewichtete Stellung. Und das Man kann sagen, dass alles nach
auseinandergesetzt? Gab es zu Dritte ist, dass die klassische Kunst Maßgabe dieses hypostasierten klas-
seiner Zeit Künstler oder Kompo- zwar die Überwindung der Vorkunst sizistischen Kunstideals bewertet
nisten, die ihn besonders beein- ist, aber notwendig das Krause und wird. Und verglichen mit dem sind
flusst oder zu dieser Analyse an- Bunte der Vorkunst in sich aufnimmt. die Vorkunst und die Nachkunst tat-
geregt haben? sächlich weniger wert. Aber man darf
Sein Wissen über die Kunst ist schon nicht vergessen, dass Hegels Syste-
erstaunlich. Über seinen Geschmack „Alles Vorange­gan- matik durch und durch historisch ist.
weiß man weniger. In den verschiede- Und da die ganze Entwicklung der
nen Mitschriften der Vorlesungen ­­ge­ne spielt in die Kunst zusätzlich einen Zweck im
gibt es aber Hinweise, dass Hegel bei
allem Tiefgang Präferenzen für die
­klassische Kunst großen Ganzen erfüllt, ist es mit ei-
ner Bewertung nicht so einfach. Es
leichte Muse hatte, wie die Operette ­hinein, wenngleich reicht nicht aus, nur auf die Entwick-
beispielsweise. Aber wenn man ein-
mal so in der Dialektik steckt wie He-
bloß als Nebenseite lung der Kunst zu gucken, denn ihre
Bedeutung relativiert sich spätestens
gel, dann gibt es vielleicht keinen oder Hintergrund“ zur Lebzeit Hegels auch noch einmal
Gegenstand, den man damit nicht be- durch den Aufstieg der Wissenschaft
wältigen kann. Ich glaube, es ist und Philosophie. Außerdem würde
schwierig zu sagen, dass ihn eine kon- Inwiefern? ich sagen, dass die „Mängel“ der ro-
krete Kunst beeinflusst hat, abgese- Die klassische Kunst ist die Umarbei- mantischen Kunst auch als eine Ent-
hen natürlich von der zeitüblichen tung dieser Vorkunst. Und um diese lastung der Kunst von philosophi-
Bewunderung der klassischen Antike. Bearbeitungsleistung oder „Aufhe- schen Ansprüchen gedeutet werden
bung“ zu erkennen, muss von der können. Während auf der klassischen
Die Rede von nichteuropäischer Vorkunst noch genug allegorisches Kunst der ganze Anspruch der Wahr-
Vorkunst und weiter entwickel- Beiwerk übrig geblieben sein; als heit und des Geistes lastet, braucht
ter europäischer Kunst weckt den Überwundenes sind zum Beispiel Nachkunst nicht mehr die Wahrheit,
Verdacht westlicher Überheblich- Rätselelemente auch in der klassi- das Absolute, den Geist zu repräsen-
keit. Lässt sich einer Theorie mit schen Kunst vorhanden. Alles Voran- tieren. Stattdessen kann sie sich mit
solch eurozentristischen Grund- gegangene spielt in die klassische anderen Dingen auseinandersetzen
annahmen heute noch etwas ab- Kunst hinein, sagt Hegel, wenngleich und andere Funktionen überneh-
gewinnen? bloß als Nebenseite oder Hinter- men. Das kann man auch als eine Be-
Ja, das glaube ich schon. Zunächst grund. In diesem Sinne ist die symbo- freiung verstehen.
muss betont werden, dass die Phase lische Kunst nicht nur ihre Grundla-
der Vorkunst, laut Hegel, dem sehr ge, sondern auch in der klassischen In Hegels Ästhetik – Sie haben es
ähnelt, was nach der griechischen An- Kunst noch präsent. Historisch be- gerade angedeutet  – erscheinen
tike kommt. Die Kunstproduktion trachtet ist die klassische Kunst eine Kunst, Religion und Philosophie als

110 Hegel
eine Trias. Was haben diese drei Was halten Sie von dem Gedanken? die der Innovationslogik gehorcht.
miteinander zu tun und warum Von dem Primat der Philosophie in Die ganze Logik der Avantgarden ist
spielen sie eine so wichtige Rolle Kunstdingen halte ich nicht viel. Ge- geprägt von dem Gedanken, dass wir
für Hegels ästhetische Theorie? gen den Primat des Begriffs und das das Gegebene hinter uns lassen müs-
Hegel beschreibt damit eine histori- Prärogativ des philosophischen Erken- sen. Die sich wiederholende Rede
sche Entwicklung. Während die nens würde ich die nicht immer be- vom Ende der Kunst macht aus der
Kunst der Antike sinnlicher Ausdruck grifflich durchartikulierten Erkenntnis- Überbietungsformel eine Art Dis-
einer objektiven Wahrheit war, wurde weisen der Kunst selbst stark­machen. kurs, in dem die Dinge weitertrans-
Wahrheit im Laufe der Geschichte Kunst erkennt anders und lässt sich portiert werden. Die Reflexion über
zunehmend verinnerlicht und sperrte eben nicht immer auf den Begriff brin- das Ende der Kunst unterminiert
sich damit gegen eine versinnlichende gen. Aber wenn es auf den Begriff ge- diese Überbietungslogik, erzeugt
Darstellung. Dieser Prozess beginnt bracht ist, dann ist es doch eher die aber zugleich immer neue Deutun-
für Hegel mit der christlichen Religi- Philosophie und nicht die Kunst, die gen. Der Diskurs vom Ende der
on und endet mit der Philosophie als spricht. Außerdem gibt es neben der Kunst erweist sich somit als eine dis-
höchster Form der Erkenntnis. Philosophie ja auch noch andere For- kontinuierliche Kontinuität.
men des Umgangs mit der Kunst: die
Hermeneutik, die Auslegung oder den Was bleibt für Sie bei all diesen
„Von dem Primat Kommentar beispielsweise. Weiterführungen das Besondere
der Philosophie in Das Ende der Kunst ist, wie Sie
an Hegels ästhetischer Theorie?
Das Besondere an Hegels Ansatz ist
Kunstdingen halte in Ihrem gleichnamigen Buch zei- die Etablierung der Historizität der
ich nicht viel. gen, eine wiederkehrende An-
kündigung, ein wiederkehrendes
Kunst im Denken über Kunst, also
dass sich das Wesen und die Möglich-
Kunst erkennt anders Motiv der Moderne. Was verbirgt keiten der Kunst geschichtlich verän-
sich dahinter? dern. In dieser Weise wurde vorher
und lässt sich eben Es gibt zwei Tendenzen, das Ende nicht über Kunst nachgedacht und
nicht immer auf den der Kunst zu denken: Die eine ist die dahinter ist heute nicht mehr zurück-
utopische Vorstellung, dass wir ein- zugehen. Obwohl er ein eingefleisch-
Begriff bringen“ mal in einer befreiten Gesellschaft ter Klassizist ist, verabschiedet Hegel
leben könnten, in der wir der Kunst das normative Schönheitsideal, in-
nicht mehr bedürfen. Da wird Kunst dem er es für vergangen erklärt. Seine
Hegel spricht hier auch davon, als ein Bewusstsein von Nöten ver- These vom Ende der Kunst entlässt
dass die Philosophie die Richterin standen, als Symptom gesellschaftli- die Kunst in die Geschichtlichkeit.
der Kunst sei. Wie ist das zu ver- cher Defizite. Die Idee findet sich
stehen? zum Beispiel bei Ernst Bloch. Dane-
Die Philosophie ist die Richterin der ben gibt es eine negative Sichtweise,
Kunst insofern, als sie die Erkennt- der zufolge die Kunst abstirbt. Das
nis der Kunst ist und ihr sagt, was kennen wir als kulturkonservative
ihre historische Bedeutung und ihre Klage schon lange. In den meisten
Funktion gewesen sind. Das kann die Theorien der Kunst überschneiden
Kunst, so Hegel, nicht selber, weil sie sich diese beiden Deutungen, etwa
an Sinnliches verwiesen ist und ihre bei Heidegger und Adorno. Aber
Erkenntnisse deshalb bloß mittelbar jede Auseinandersetzung mit dem
sind. Die Kunst ist nicht an demsel- Ende der Kunst spielt sich zwischen
ben Punkt wie die Philosophie, wenn diesen beiden Deutungspolen ab.
die Philosophie über das Wesen der Allgemeiner scheint mir jedoch, dass
Kunst entscheidet und Aussagen die Rede vom Ende der Kunst eine
über die Aufgabe, die Möglichkeit spezifisch moderne Form darstellt,
und die Geschichte der Kunst trifft. über ­ Ästhetik nachzudenken. Die
Das Anliegen seiner Ästhetik ist kei- Beschäftigung mit dem Ende der
nesfalls, gute von schlechter Kunst Kunst ist eine Art Traditionspflege
zu unterscheiden. unter Bedingungen einer Moderne,

Sonderausgabe Nr. 24 111


Hegel
in Zitaten    „Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften
im Grundrisse“ (1830), in: „Gesammelte Werke“,
Bd. 20, S. 554–555
Erklärt von Michael Quante

„Diese Wissenschaft ist in sofern die


Einheit der Kunst und Religion,
als die der Form nach äußerliche An-
Erläuterung schauungsweise der erstern, deren
Im Systemteil „Absoluter Geist“ un- subjectives Produciren und Zersplittern
tersucht Hegel Kunst, Religion und des sub­stantiellen Inhalts in viele
Philosophie als zentrale Medien kul-
tureller Selbstdeutung. „Absolut“
selbstständige Gestalten, in der Totalität
sind sie, weil sich darin, so Hegels der zweiten, deren in der Vorstellung
These, der Mensch oder Gott selbst sich entfaltendes Auseinandergehen und
erkennt und verwirklicht, sodass die
Vermitteln des Entfalteten, nicht nur
für alle Wissensformen charakteris-
tische Differenz von Form und In- zu einem Ganzen zusammengehalten,
halt, zum Beispiel von grafischer sondern auch in die einfache geistige
Darstellung und Information, zuneh- Anschauung vereint und dann darin zum
mend entfällt. Diese Aufhebung der
Form-Inhalt-Differenz vollzieht sich
selbstbewußten Denken erhoben ist.
stufenweise. Kunst, Religion und Diß Wissen ist damit der denkend er-
Philosophie lassen sich durch spe- kannte Begriff der Kunst und Religion,
zifische Konstellationen der Form-
Inhalt-Differenz unterscheiden. Zu-
in welchem das in dem Inhalte Ver-
gleich, dies beansprucht Hegel mit schiedene als nothwendig, und
seiner Konzeption des absoluten diß Nothwendige als frei erkannt ist.
Geistes zu zeigen, nimmt die Selbst-
verwirklichung des Absoluten zu.
Damit lassen sich die Geltungsan-
sprüche von Kunst, Religion und
Die Philosophie be-
Philosophie philosophisch in eine
aufsteigende Ordnung bringen. stimmt sich hiernach
zu einem Erkennen
von der Nothwendig-
keit des Inhalts der
absoluten Vorstellung,
so wie von der

112 Hegel
Noth­wendigkeit der
beiden Formen, einer-
seits der unmittel­baren Relevanz
Hegels Konzeption des Absoluten

Anschauung und Poesie, ist in der heutigen Zeit auslegungs-


bedürftig; dennoch kommt seiner

und der voraussetz­enden Konzeption des absoluten Geistes


eine hohe Aktualität zu. Erstens

Vor­stellung, der
werden die kulturellen Selbstdeu-
tungen als Äußerungen mit rationa-
lem Inhalt verstanden. Auch künst-
objectiven und äußer- lerische und religiöse Äußerungen
können zu einer rationalen Debatte
lichen Offenbarung, um kulturelle Identität(en) beitragen.
Außerdem werden ihre Funktions-

andererseits zuerst des weisen unterschieden und ihre je-


weiligen Eigenheiten berücksichtigt.

subjectiven Insich­ Zugleich kommt die Aktualität der


hegelschen Konzeption hier an

gehens, dann der sub- Grenzen: Es werden nicht alle For-


men kultureller Selbstdeutung be-

jectiven Hinbewegung
rücksichtigt; so fehlen zum Beispiel
die Wissenschaften (wie z. B. Biolo-

und des Identificirens


gie, Geschichte oder Jura). Auch die
Annahme einer aufsteigenden Ord-
nung von Geltungsansprüchen muss
des Glaubens mit angesichts der Pluralität moderner
Gesellschaften als Vereinfachung

der Voraussetzung.“ oder gar Bevormundung gelten.

Sonderausgabe Nr. 24 113


Impressum Literatur
Sonderausgabe Nr. 24 Quellen Weiterführende Literatur
Frühling 2023
Philomagazin Verlag GmbH Simone de Beauvoir, „Das andere Robert Brandom, „Im Geiste des
Brunnenstraße 143, 10115 Berlin Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau“, Vertrauens. Eine Lektüre der ‚Phänomenologie
+49 (0)30 / 54 90 89-10 übers. v. Uli Aumüller u. Grete Osterwald, des Geistes‘“, Berlin: Suhrkamp 2021
info@philomag.de, redaktion@philomag.de Berlin: Rowohlt 2018 Dietmar Dath, „Hegel. 100 Seiten“,
Gilles Deleuze, „Differenz und Leipzig: Reclam 2020
Chefredakteurin: Jana Glaese (V.i.S.d.P.) Wiederholung“, übers. v. Joseph Vogl, Christoph Halbig, Michael
Redaktionelle Beratung: München: Wilhelm Fink 1992 ­Quante, Ludwig Siep (Hg.), „Hegels
Dr. Svenja Flaßpöhler Frantz Fanon, „Schwarze Haut, Erbe“, Berlin: Suhrkamp 2004
Redaktion: Dominik Erhard, weiße Masken“, übers. v. Eva Moldenhauer, Klaus Hartmann, „Hegels Logik“,
Moritz Rudolph, Theresa Schouwink, Wien: Turia + Kant 2019 Berlin: De Gruyter 1999
Kilian Thomas Jürgen Kaube, „Hegels Welt“, Berlin:
Schlussredakteurin: Hegel, G. W. F., „Gesammelte Werke“, Rowohlt 2020
Dr. Sandra Schnädelbach* hg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Sebastian Ostritsch, „Hegel. Der
Lektorin: Christiane Braun* Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Weltphilosoph“, Berlin: Propyläen 2020
Praktikant: Hendrik Buchholz Meiner 1968 ff.: Terry Pinkard, „Hegel. A Biography“,
„Phänomenologie des Geistes“, Cambridge: Cambridge University
Art-Direktorin: Lea Kontak in: ders., Bd. 9, 1980 Press 2000
Layout: Marie Lautsch* „Wissenschaft der Logik. Erster Band. Frank Ruda, „Hegels Pöbel. Eine
Gestaltungskonzept: Lea Kontak, Die objektive Logik (1812/13)“, in: ders., Untersuchung der ‚Grundlinien der Philoso-
Marie Lautsch* Bd. 11, 1978 phie des Rechts‘“, Konstanz: Konstanz
Bildchefin: Friederike Göckeler* „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, University Press 2011
in: ders., Bd. 14,1, 2009 Herbert Schnädelbach, „Hegel
Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau
„Enzyklopädie der philosophischen zur Einführung“, Hamburg: Junius 2020
Geschäftsführer und Verleger:
Wissenschaften im Grundrisse (1830)“, in: Annette Sell, „Der lebendige Begriff.
Fabrice Gerschel
ders., Bd. 20, 1992 Leben und Logik bei G. W. F. Hegel“,
Verlagsmanagerin: Anush Simon
„Vorlesungen über die Philosophie der Freiburg i. Br.: Alber 2014
Verlagsassistentin: Maria Kapfer
Weltgeschichte IV“, in: ders., Bd. 27,4, 2020 Peter Singer, „Hegel. A Very Short
Vertrieb: IPS Pressevertrieb GmbH Introduction“, New York: Oxford University
Druck: Möller Pro Media GmbH, Søren Kierkegaard, „Furcht und Press 2011
­Ahrensfelde Zittern“, übers. v. Günther Jungbluth, in: Charles Taylor, „Hegel“,
ders., „Die Krankheit zum Tode. Furcht und übers. v. Gerhard Fehn, Frankfurt a. M.:
Anzeigen: Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff Suhrkamp 1983
PremiumContentMedia Angst“, hg. v. Hermann Diem u. Walter Klaus Vieweg, „Hegel. Der Philosoph
Thomas Laschinski Rest, München: dtv 2005 der Freiheit. Biographie“, München: 
+49 (0)30 / 60 98 59 30 Jacques Lacan, „Schriften I“, C. H. Beck 2019
E-Mail: advertisebooks@laschinski.com übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien: Slavoj Žižek, „Hegel im verdrahteten
Turia + Kant 2016 Gehirn“, übers. v. Frank Born,
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Frankfurt a. M.: S. Fischer 2020
Über den Verlag Manuskripte“, hg. v. Barbara Zehnpfennig, Günther Zöller, „Hegels Philosophie“,
+40 (0)30 / 54 90 89-150 Hamburg: Meiner 2005 München: C. H. Beck 2020
presse@philomag.de Karl R. Popper, „Die offene Gesell-
ISSN 2627-1966 schaft und ihre Feinde II. Falsche Propheten“,
übers. v. Dr. P. K. Feyerabend, München:
Abo-/Leser-Service: Francke 1980 (1958)
+49 (0)40 / 38 66 66 309 Bertrand Russell, „Philosophie des
Philosophie Magazin Leserservice Abendlandes und ihr Zusammenhang
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Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg übers. v. Elisabeth Fischer-Wernecke
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* Freie Mitarbeit Kommentar“, Bd. 1, Hamburg: Meiner 2014

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sehr lange unterwegs sein mit diesem Die Bände enthalten neben dem vollständigen Hegel’schen Text einen
interpretierenden, gut verständlichen Kommentar von Pirmin Stekeler.
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