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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

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Marco Schrage

Ein Grundriss

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Marco Schrage

Verlag Barbara Budrich


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Opladen & Toronto 2022


Opladen & Toronto 2022
Friedens- und Konfliktethik
Friedens- und Konfliktethik
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Marco Schrage,
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utb-Bandnr. 5935
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

utb-ISBN 978-3-8252-5935-8
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort  9

Erster Hauptteil. Voraussetzungen – eine orientierende Verortung  11

1 Ethische Grundlagen  11
1.1 Moral – Ethos – Ethik  11
1.2 Grundlegende Weichenstellungen  11
1.2.1 Nicht-Kognitivismus – Kognitivismus  11
1.2.2 Relativismus – Absolutismus  15
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1.3 Metaethik – deskriptive Ethik – normative Ethik  15


1.4 Verschiedene Typen normativer Ethik  17
1.4.1 Strebensethiken – Sollensethiken  17
1.4.2 Verfahrensethiken – Prinzipienethiken  18
1.5 Komplementäre Zugänge  22
1.5.1 Teleologisches, deontologisches und hermeneutisches
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Normbegründungsprinzip  22
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1.5.2 Vorsatz – Norm(en) – Folge(n) – Haltung(en)  25


1.6 Wichtige Ergänzungen  30
1.6.1 Handeln durch Tun – Handeln durch Unterlassen  30
1.6.2 Prinzip der Doppelwirkung  32
1.6.3 Teleologische Vorzugsregeln  35
1.7 Übungsfall  36

2 Sozialethische Grundlagen  37
2.1 Gutes Leben – gerechtes Zusammenleben  37
2.2 Grundbegriffe  41
2.2.1 Personenprinzip  41
2.2.2 Freiheit und anthropologische Gleichheit  45
2.2.3 Gerechtigkeit  48
2.2.4 Solidaritätsprinzip  51
2.2.5 Subsidiaritätsprinzip  52
2.2.6 Gemeinwohlprinzip  54
2.3 Politische Ethik – Wirtschaftsethik – Gesellschaftsethik  55

Zweiter Hauptteil. Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung  57

3 Paradigmenwechsel in der Friedens- und Konfliktethik  57


3.1 Das naturrechtlich-christliche Verständnis  57
3.2 Das positivrechtlich-formale Verständnis  58
3.3 Das normativ-elementare Verständnis  59

5
4 Gerechtigkeitsgeleitetheit statt Hab- und Ruhmsucht
(Marcus Tullius Cicero)  61
5 Auf- und Absteigen im Hinblick auf Ordnung, Einheit und Frieden
(Aurelius Augustinus)  64
6 Innerchristliche Schutzpflicht (Thomas von Aquin)  68
7 Globale Schutzpflicht (Francisco de Vitoria)  73
8 Allgemeinverbindlich fundiertes Minimalrecht (Hugo Grotius)  78
9 Kriegsüberwindung in freiwilliger Friedensordnung (Immanuel Kant)  84
10 Institutionalisierte und zwangsbewährte Friedensordnung
(Luigi Taparelli d’Azeglio)  89

11 Die Ausformung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts  94


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11.1 Die Problemlage  94


11.1.1 Aggressive Konkurrenz  94
11.1.2 Ethische Aushöhlung  94
11.2 Die Friedenskonferenzen 1899 und 1907  96
11.3 Neuansätze nach den Weltkriegen  96
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Dritter Hauptteil. Synchroner Zugang – eine systematische Skizze  105


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12 Unvermeidbarkeit von Konflikten  105


12.1 Vorüberlegungen  105
12.1.1 Anthropologisches Fundament  105
12.1.2 Weder Pazifismus noch Bellizismus  107
12.2 Konflikte  107
12.2.1 Konfliktarten  107
12.2.2 Umgangsformen mit Konflikten  108

13 Parameter eines gerechten Friedens  111


13.1 Das Leitbild des gerechten Friedens  111
13.2 Ein Koordinatensystem als erster Zugang  112
13.2.1 Zusammengehörigkeit von inner- und zwischenstaatlichem Bereich  112
13.2.2 Negativer und positiver Friede  112
13.2.3 Ein Acht-Stufen-Modell  113
13.3 Vier formale Kriterien des Friedensbildens  117
13.4 Vier interdependente Säulen als materiale Kriterien des gerechten Friedens  118
13.4.1 Menschenrechte und Armutsbekämpfung (1. Säule)  119
13.4.2 Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (2. Säule)  120
13.4.3 Wirtschaftsbeziehungen (3. Säule)  121
13.4.4 Kooperation und rechtsförmige Konfliktlösung (4. Säule)  123
13.4.5 Synopse  126

6
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflikte  128
Daniel Peters

14.1 Empirischer Überblick über das globale Konfliktgeschehen  129


14.2 Theorien über die Entstehung gewaltsamer Konflikte  131
14.2.1 Ethnische Erklärungsansätze  131
14.2.2 Ökonomische Erklärungsansätze  132
14.2.3 Strukturelle Erklärungsansätze  134
14.3 Handlungsoptionen selbstreflexiver Konfliktvorbeugung  137
14.3.1 Maßnahmen der direkten Konfliktprävention  138
14.3.2 Strukturelle Konfliktprävention I: Staatliche Ebene  139
14.3.3 Strukturelle Konfliktprävention II: Globale Ebene  141
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15 Ius ad bellum / Ius in bello / Ius ex bello  144


15.1 Gewaltlegitimationskriterien  144
15.2 Ius ad bellum  145
15.3 Ius in bello  149
15.4 Ius ex bello  150
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16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema


der Friedensethik  153
Heinz-Gerhard Justenhoven

16.1 Gesellschaft – Recht – Institutionen  155


16.2 Das Dilemma des externen statebuilding  158
16.3 Konzept des liberalen statebuilding in Afghanistan  159
16.4 Statebuilding ohne gesellschaftliche Verwurzelung  160
16.5 Import leerer institutioneller Hüllen  160
16.6 Mangelnde Kohärenz und partikulare Interessen der externen Akteure  162
16.7 Widerstand gegen externes statebuilding  163
16.8 Friedensethisches Fazit  164

Vierter Hauptteil. Umgang mit exemplarischen Herausforderungen  166

17 Nukleare Abschreckung  166


17.1 Einleitung  166
17.2 Das ‚Ob‘ der Abschreckung  167
17.3 Das ‚Wie‘ der Abschreckung  169
17.4 Kooperative Lösungsversuche  170
17.5 Verschiebungen nach dem Kalten Krieg  170
17.6 Schlussreflexion  175

7
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und
Responsibility to Protect  180
18.1 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken  180
18.1.1 Beschränkung der Kriegsführungsgründe  180
18.1.2 Normativ rückgebundene Souveränität  180
18.1.3 Nicht-mandatierte militärische Interventionen  183
18.2 Die Responsibility to Protect  186
18.2.1 Der Entstehungsprozess der Responsibility to Protect  186
18.2.2 Die Responsibility to Protect im Überblick  190
18.3 Probleme der Responsibility to Protect  192

19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘  196


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Bernhard Koch

19.1 Michael Walzer und die „Theorie des gerechten Krieges“  196
19.2 Die ‚moralische Gleichstellung‘ der Kombattanten/Kombattantinnen  197
19.3 Die These der moralischen Asymmetrie  198
19.4 Kollektive Gewalt  200
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19.5 Individualismus versus Kollektivismus  201


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

19.6 Totalisierung des Krieges?  202


19.7 Weiterentwicklungen  203
19.8 ‚Revisionistische‘ Kriegsgründe  205
19.9 Staatliche und nicht-staatliche Konfliktparteien  206
19.10 Theoretischer Anspruch und moralische Lebenswirklichkeit  207

20 Operationell autonome Waffensysteme  209


20.1 Einordnende Überlegungen  209
20.1.1 Vorbemerkungen  209
20.1.2 Die zentralen Fragen  209
20.2 Teleologische Argumentation  212
20.3 Drei ethische Argumentationen im engeren Sinn  213
20.3.1 Einstiegsreflexion  213
20.3.2 Geltendes Recht als ethischer Wert  214
20.3.3 Töten durch operationell autonome Waffensysteme  217
20.3.4 Die Würde des Menschen  219

Schluss  222

Anhang. Fallbeispiel Intervention in Libyen  227

A.1 Der inner- und zwischenstaatliche Konflikt  227


A.2 Die multilaterale Intervention  229
A.3 Kriteriengeleitete Bewertung  233

Literaturverzeichnis  240

8


Vorwort

Wer die Bezeichnung Friedens- und Konfliktethik liest, mag sich die Frage stellen, wo und
wie diese zu verorten sei. Das lässt sich knapp erklären.
Sie bezieht sich auf den klassischen und historisch ältesten Bereich innerhalb der gegen-
wärtigen Ethik der Internationalen Beziehungen.1 Während diese sich heute in großer
Differenziertheit auf ihren drei Hauptfeldern bewaffnete Konflikte und Friedensordnung,
Elendsbekämpfung und Entwicklungsförderung sowie Flucht und geordnete Migration mit
vielfältigen Fragen politischer wie sozialer Gerechtigkeit auseinandersetzt, war von anti-
ken Wurzeln bis zu neuzeitlichen Entfaltungen der friedliche oder kriegerische Umgang
zwischen dem eigenen und fremden Gemeinwesen beziehungsweise zwischen einzelnen
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Gemeinwesen Gegenstand zunehmend komplexerer Reflexionen.


Bei vielen im Laufe jener Jahrhunderte auf diesem Feld hervorstechenden Denkern ste-
hen ihre diesbezüglichen Ausführungen im Zusammenhang eines Gesamtwerks, das auch
grundlegend Strukturen und Vollzüge im Inneren eines Gemeinwesens erörtert.2 Die durch
die Tradition gehende genealogische Blickrichtung legt daher nahe, dass auch die heutige
Ethik der Internationalen Beziehungen nicht als abgekapselte Sonderdisziplin zu sehen, son-
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dern – im Sinne eines ‚Ausweitungsverhältnisses‘ – eng mit der das innerstaatliche politische
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Handeln, dessen Institutionen und Ziele fokussierenden politischen Ethik verbunden ist.3
Wie stellt sich dieser Band zur Friedens- und Konfliktethik nun dar? Wir beginnen – im
ersten Hauptteil – mit ethischen und sozialethischen Grundlagen. Dann folgt der zweite
Hauptteil – das ist ein diachroner Anweg, ein geschichtliches Herangehen. Wir sehen uns
also an, was ausgewählte Denker in der Vergangenheit zu Frieden und Konflikt ethisch
erarbeitet haben. Denn ein Fehler, den wir stets vermeiden sollten, ist zu meinen, wir seien
die ersten denkenden Menschen auf dieser Welt. Daran anschließend geht es – im dritten
Hauptteil – weiter zu einem synchronen Zugang, einer systematischen Skizze dessen, was
heutzutage eine Konzeption für Friedens- und Konfliktethik sein kann. Im Rahmen unseres
Buches begrenzen wir uns dabei, den Duktus des zweiten Hauptteils fortsetzend, auf den
Bereich der politischen Ethik: Daher werden wir – ganz unbeschadet des Umstands, dass
das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure mit Blick auf Konfliktprävention und Kon-
fliktnachsorge eine wichtige Komponente ist – hier nicht auf zivilgesellschaftliche Ansätze
eingehen. Am Schluss steht im vierten Hauptteil der Umgang mit exemplarischen Heraus-
forderungen. Das ist gewissermaßen die wichtige und unverzichtbare ‚Coda‘. Wenn wir
nämlich eine positive, friedensorientierte Zielgröße haben, dann müssen wir uns in dem
Zusammenhang auch damit auseinandersetzen, wie wir mit bewaffneten Konflikten umge-
hen. Freilich sind sie in dieser Welt nicht wünschenswert – wir sind keine Bellizisten/Bel-
lizistinnen, wir sagen nicht, dass Krieg und Frieden gleichberechtigt wären –, aber es wird

1
Diese Bezeichnung wird hier gleichbedeutend verwendet mit ‚normativer politischer Philosophie der Inter-
nationalen Beziehungen‘.
2
Exemplarisch genannt seien die in ihren Auffassungen so unterschiedlichen Thomas von Aquin, Niccolò Mac-
chiavelli, Francisco Suárez, Thomas Hobbes, Immanuel Kant, Luigi Taparelli d’Azeglio.
3
Diese Bezeichnung wird hier gleichbedeutend verwendet mit ‚normativer politischer Philosophie‘. Politische
Ethik wird in einem weiten Sinne verstanden, nach dem sich ihr Reflexionsgegenstand auf politics, polity und
policy erstreckt; dasselbe Verständnis gilt – mutatis mutandis – für Ethik der Internationalen Beziehungen.

9
Vorwort

immer wieder zu bewaffneten Konflikten kommen. Und so friedlich wir auch sein mögen
und wollen, es ist nötig, sich damit auseinanderzusetzen, welche Verhaltensweisen im Fall
bewaffneten Konflikts die angemessenen sind. Wann ist Gewaltlosigkeit richtig und wann
ist es zulässig oder sogar geboten, mit Gegengewalt zu reagieren? Welche Maßstäbe gelten
für das Anwenden legitimer Gegengewalt? Das sind komplizierte Fragen, die wir am besten
erörtern können, wenn wir uns einzelne Problemfälle ansehen.

Mein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle Heinz-Gerhard Justenhoven, Bernhard Koch und
Daniel Peters dafür, dass sie je ein Kapitel aus ihren Forschungs- und Interessenbereichen
zu diesem Grundriss beigesteuert haben, sodass er eine ausgewogene Gesamtanlage fin-
den konnte. Ebenso danke ich aufrichtig den studentischen wie wissenschaftlichen Unter-
stützern/Unterstützerinnen4 sowie dem Verlag, die auf vielerlei Weise das Entstehen dieses
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Lehrbuchs ermöglicht haben.

Hamburg, Ende April 2022


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4
Geschlechtersensible Formulierungen folgen den diesbezüglichen Leitlinien der Gesellschaft für deutsche
Sprache. Für Bezeichnungen natürlicher Personen im Plural – insofern sie sich auf Gegenwartskontexte bezie-
hen – werden sie in diesem Band häufig, aber nicht ausschließlich verwendet.

10
Erster Hauptteil

Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

1 Ethische Grundlagen

1.1 Moral – Ethos – Ethik

Beginnen wir mit einer Frage: Was ist Moral – und was sind Ethos und Ethik? Wie lassen
sie sich unterscheiden? Der Vorschlag, den ich hierzu präsentiere, wird weithin geteilt. Aber
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wie fast alles in der Ethik ist er nicht unumstritten oder alternativlos. Das heißt, dass die
Begriffe Moral, Ethos und Ethik auch mit anderen Bedeutungen belegt sein können. Nichts-
destoweniger ist das, was ich hier nenne, durchaus mehrheitsfähig.5
Unter Moral werden die gelebten Sitten und Bräuche einer ganzen Gesellschaft verstan-
den. Ethos bezeichnet hingegen die spezifischen Sitten und Bräuche innerhalb einer Gruppe,
einer Berufsgruppe beispielsweise. So gibt es als ‚Berufsethos‘ ein medizinisches Ethos, ein
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soldatisches Ethos und viele mehr. Ethik ist schließlich die methodengeleitete Reflexion
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über Moral oder Ethos. Moral und Ethos bezeichnen also die gelebte Ebene, Ethik bezieht
sich auf die wissenschaftliche Ebene.

Wenn wir uns mit Friedens- und Konfliktethik beschäftigen, dann sollten wir versuchen, uns
diesem Bereich systematisch und allmählich anzunähern. Ich gehe dazu so vor, wie es uns in
Filmen hinsichtlich der Kameraeinstellung begegnen kann: Es beginnt mit dem Panorama,
geht über zur Totale, zur Halbtotale, zur halbnahen Einstellung, zur Naheinstellung, zur
Großaufnahme und womöglich bis hin zur Detailaufnahme. Wir beginnen hier also, im bild-
lichen Sinne, nicht mit der Detailaufnahme einer Nase, weil man dann recht orientierungslos
wäre. Fangen wir vielmehr mit einem ‚Panorama‘ an, das dadurch allerdings auch sehr ober-
flächlich ist. Wir gehen also zunächst nicht in die Tiefe, das geschieht später allmählich. Am
Anfang geht es hier vielmehr um einen orientierenden Überblick.

1.2 Grundlegende Weichenstellungen

1.2.1 Nicht-Kognitivismus – Kognitivismus

In diesem Sinne ist es wichtig zu wissen, dass es in der Ethik eine zentrale Grundunter-
scheidung gibt: nämlich zwischen Nicht-Kognitivismus und Kognitivismus. Was verbirgt
sich jeweils dahinter? Der Nicht-Kognitivismus behauptet, dass ethische Aussagen keine
Erkenntnis beinhalten und nicht argumentativ begründbar sind; dass sie also hinsichtlich

5
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Jean-Pierre Wils, „Ethik“, in Lexikon der Ethik, hrsg. von ders. und Christoph
Hübenthal, Paderborn 2006, 85–89; Walter Lesch, „Ethos“, in Lexikon der Ethik …, 92–95; Micha Werner,
„Moral“, in Lexikon der Ethik …, 240–248.

11
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

von Wahrheit und Geltung nicht diskursfähig sind. Der Kognitivismus vertritt genau das
Gegenteil: Er sagt, dass ethische Sätze durchaus Aussagen über Erkenntnisse sind, entwe-
der hinsichtlich von Tatsachen oder jedenfalls als argumentativ begründbare Behauptungen;
folglich sind sie diskursfähig. Ich kann über eine ethische Aussage dann mit jemand Ande-
rem entweder in einen Wahrheits- oder jedenfalls in einen Geltungsdiskurs eintreten.6
Um zu verstehen, worin diese unterschiedlichen Auffassungen wurzeln, muss man
sich Folgendes verdeutlichen: Sätze können in Sprache unterschiedlich verwendet werden
(= Sprechakte) – deskriptiv, evokativ oder expressiv.
Ein deskriptiver Satz trifft eine Aussage, ist eine Behauptung. Nehmen wir folgen-
den Satz: „Dieser Lamellenvorhang ist gebrochen weiß.“ Das ist ein deskriptiver Satz, er
beschreibt etwas, eine natürliche Tatsache. Und wir können darüber diskutieren, ob die aus-
gedrückte Erkenntnis wahr ist. Man kann zum Beispiel sagen: „Nein, dieser Lamellenvor-
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hang ist nicht gebrochen weiß, er ist gelb.“ Aussagen deskriptiver Sätze sind diskursfähig
und wir können sie als wahr oder unwahr ansehen. Ein evokativer oder ein expressiver
Satz betrifft hingegen etwas ganz anderes. Ein evokativer Satz beinhaltet einen Appell, eine
Aufforderung. Beispielsweise: „Lass uns einen Spaziergang machen!“ Dies drückt keine
Erkenntnis aus. Man kann in die Aufforderung einwilligen oder nicht („Bloß nicht!“), aber
nicht darüber diskutieren, ob ihr Inhalt wahr oder unwahr ist. Und ein expressiver Satz
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beinhaltet eine innere Empfindung, etwa eine Geschmacksempfindung: „Igitt, Fisch!“ Auch
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

das kann weder wahr noch unwahr sein. Man mag es teilen oder nicht („Fisch schmeckt doch
prima!“). Aber es lässt sich nicht darüber diskutieren, ob der Inhalt wahr oder unwahr ist.

Die entscheidende Frage ist nun, ob präskriptive Sätze – die Sätze, die in der Ethik ver-
wendet werden (sei es normativ: „X ist geboten“, „Y ist verboten“; sei es evaluativ: „Es ist
richtig, dass X“, „Es ist falsch, dass Y“) – als deskriptive, evokative oder expressive Sprech-
akte verstanden werden.
Wenn präskriptive Sätze als evokativen oder expressiven entsprechend angesehen
werden, so die Position des Nicht-Kognitivismus, sind sie – wie Aufforderungen oder
Geschmacksempfindungen – einem Wahrheits- oder Begründungsdiskurs nicht zugänglich.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Strömungen, die dies vertreten, recht stark. Wir können
hier knapp den Dezisionismus, den Emotivismus und den Appellativismus nennen:7
Der Dezisionismus geht davon aus, dass ein präskriptiver Satz bloß eine eigene Entschei-
dung zum Ausdruck bringt, was Andere auffordern soll, die gleiche Entscheidung zu treffen.
Das kann zum Beispiel so lauten: „Ich habe entschieden, nicht zu foltern; triff du dieselbe
Entscheidung!“ Umgekehrt wäre freilich ebenso möglich: „Ich habe entschieden zu foltern;
entscheide du auch so!“
Sehr ähnlich ist das bei den anderen beiden Strömungen. Für den Emotivismus ist ein
präskriptiver Satz lediglich der Ausdruck einer eigenen Empfindung. Korrekt würde er also
etwa lauten: „Ich finde Foltern empörend!“ oder ebenso „Ich finde Foltern faszinierend!“

6
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Edgar Morscher, „Kognitivismus/Nonkognitivismus“, in Handbuch Ethik, hrsg.
von Marcus Düwell [u. a.], Stuttgart 2002, 36–48; Thomas Schmidt, „Realismus/Intuitionismus/Naturalismus“,
in Handbuch Ethik …, 49–60 sowie ergänzend Markus Rüther, „Realismus vs. Antirealismus“, in Handbuch
Handlungstheorie, hrsg. von Michael Kühler und ders., Stuttgart 2016, 282–288.
7
Die diesbezügliche Erläuterung geht zurück auf Nikolaus Knoepffler, Angewandte Ethik, Köln 2010, 19–20.

12
1 Ethische Grundlagen

Der Appellativismus verbindet schließlich den evokativen und den expressiven Aspekt: Er
vertritt die Position, dass ein präskriptiver Satz eine eigene Empfindung ausdrückt und damit
zugleich Andere auffordert, entsprechend zu handeln. Dies ließe sich so formulieren: „Ich
missbillige Folter, unterlasse sie!“ oder genauso auch „Ich schätze Folter, wende sie an!“.

Solche Strömungen sind Anfang des 20. Jahrhunderts recht stark geworden, weil eine
bestimmte Art des Kognitivismus, der nicht-naturalistische Realismus, als nicht mehr über-
zeugend angesehen wurde. Dies ist kurz einzuordnen. Der Kognitivismus, der präskriptive
wie deskriptive Sätze als Behauptungen versteht, umfasst sehr unterschiedliche Arten nor-
mativer Ethiken, sie lassen sich in zwei ‚Großfamilien‘ zusammenfassen, den Realismus
und den Anti-Realismus.
Der Realismus geht davon aus, dass präskriptive Sätze wie deskriptive Sätze etwas über
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eine Tatsache aussagen. Innerhalb des Realismus sind allerdings wiederum zwei ‚Familien‘
zu unterscheiden.
Die erste sieht die moralischen Tatsachen, über die eine Behauptung getroffen wird, als
natürliche Tatsachen beziehungsweise als durch natürliche Tatsachen gebildet an (= natu-
ralistischer Realismus). Natürliche Tatsachen sind solche, die sich naturwissenschaftlich in
unserer Welt beobachten lassen. Nehmen wir das Beispiel von vorhin. „Dieser Lamellen-
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vorhang ist gebrochen weiß.“ Dieser Satz trifft eine Behauptung über eine natürliche Tatsa-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

che. Im naturalistischen Realismus können präskriptive Sätze auf Aussagen über natürliche
Größen reduziert werden; eine moralische Tatsache oder eine moralische Eigenschaft ist
beispielsweise auf eine biologische Eigenschaft reduzierbar. Das begegnet uns auch heute
noch – unter anderem in evolutionistischen Auffassungen von Ethik: Es ist eine sehr krude
Form, Ethik auf natürliche Tatsachen zu reduzieren. In einer solchen Sichtweise könnte unter
anderem dasjenige als richtig bezeichnet werden, was die Prokreation stärkt, und dasjenige
als falsch, was die Prokreation schwächt („Die auf Dauer angelegte Monogamie ist richtig,
weil sie der Arterhaltung zuträglich ist.“).
Für die zweite ‚Familie‘ innerhalb des Realismus sind moralische Tatsachen oder
moralische Eigenschaften objektive, eigenständig existierende, nicht-reduzierbare Größen
(= nicht-naturalistischer Realismus): Bekannte Varianten wären unter anderem, ‚Gutheit‘
oder einzelne ‚Werte‘ als solche anzusehen. Derartige Tatsachen oder Eigenschaften können
Menschen wahrnehmen oder spüren. Wir können also mit einer Art moralischem Empfin-
dungsvermögen eine ‚Intuition‘ von ‚Gutheit‘ oder von einzelnen ‚Werten‘ haben. Auch in
dieser ‚Familie‘ sind präskriptive Sätze deskriptiven gleichgestellt – bloß wird die Wahr-
heit oder Unwahrheit von deren Aussage eben nicht an der Übereinstimmung mit einer
natürlichen Tatsache, sondern anhand der Übereinstimmung mit moralischen Tatsachen oder
moralischen Eigenschaften als nicht-reduzierbaren Größen bestimmt („Einen Unschuldigen
direkt zu töten, ist falsch, weil es den Werten des Edlen und des Rechten widerspricht / weil
es den Unwert des Gemeinen und Unrechten verwirklicht.“). Genau gegen diesen nicht-
naturalistischen Realismus opponierten die genannten nicht-kognitivistischen Strömungen.

Demgegenüber hält die andere ‚Großfamilie‘ innerhalb des Kognitivismus, der Anti-Realis-
mus, zwar ebenfalls präskriptive Sätze wie deskriptive Sätze für Behauptungen. Er bezieht
sie jedoch auf keinerlei moralische Tatsachen, weder auf solche, die auf natürliche Tat-
sachen reduzierbar wären, noch auf solche, die eigenständig objektiv existieren. Vielmehr

13
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

bezieht er sie zum Beispiel entweder auf (zumeist intersubjektive) rationale Strukturen
oder auf (zumeist rationale) subjektive Präferenzen. Daher geht es bei präskriptiven Sät-
zen auch nicht um Wahrheit anhand von ‚Entsprechung‘, sondern um Geltung anhand von
‚Begründung‘. Dennoch können wir mit intersubjektiv-rationablen Sätzen argumentieren,
miteinander in einen intersubjektiv-rationablen Diskurs eintreten. Präskriptive Sätze sind
wie deskriptive Sätze also diskurs- und argumentationsfähig: nicht, weil sie auf Aussagen
über natürliche Tatsachen reduzierbar wären oder Aussagen über eigenständig existierende,
nicht-reduzierbare Tatsachen wären, sondern weil sie begründungsfähig sind. Vielfältig ist
allerdings, worauf ein solcher Begründungsdiskurs dann rekurriert. Zum Abschluss dieses
Punktes seien daher auch die beiden ‚Familien‘ genannt, die sich innerhalb des Anti-Realis-
mus finden.
Die erste ‚Familie‘ legt rationale Strukturen zugrunde, die oft intersubjektiv konstruiert
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werden (= Objektivismus). Dafür gibt es einige besonders prominente Beispiele: Da ist


zum Beispiel der Ansatz von John Rawls, der auf unter fairen und vernünftigen Personen
anzuerkennende Gründe abstellt; oder der Ansatz von Jürgen Habermas, der ein ideales
Normsetzungsverfahren entwirft, das bei gleichberechtigter Beteiligung aller die Zustim-
mung von allen im Hinblick auf die voraussichtlichen Folgen für einen jeden benötigt; und
der Ansatz von Immanuel Kant, der Moralität – im Sinne eines Wollen des Gesollten – als
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ein allgemeingültiges Faktum der Vernunft ansieht (siehe zu Rawls, Habermas und Kant
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Abschnitt 1.4.2). Es wird also auf sehr unterschiedliche Weisen versucht, die erwähnten
rationalen Strukturen aufzuzeigen beziehungsweise zu erreichen. Wenn wir das auf die
Frage willkürlicher Tötung beziehen, könnte man zu einem allgemeingültigen Verbot der
direkten Tötung Unschuldiger im Objektivismus folglich unter anderem gelangen mittels
Rawls’ hypothetischer Vereinbarung in einer Situation des Nichtwissens um die eigenen
zukünftigen Rollen, mittels Habermas’ herrschaftsfreien Diskurses oder mittels Kants (in
verschiedenen Weisen formulierten) kategorischen Imperativs.
Die zweite ‚Familie‘ legt für das Bestimmen dessen, was als richtig/geboten beziehungs-
weise falsch/verboten gilt, demgegenüber subjektive Präferenzen der Einzelnen zugrunde
(= Subjektivismus). In den bekanntesten Varianten geht es dabei um subjektive Präferenzen
rationaler Art, also um solche, die auch andere Personen im Licht der Rationalität anerken-
nen, nachvollziehen beziehungsweise teilen können. Besonders bedeutend ist dabei, die
Interessen und Belange der Einzelnen abzugrenzen und abzuwägen. Ein sehr schlichtes
Beispiel wäre, dass jeder Mensch absolut rational daran interessiert ist, nicht willkürlich
getötet zu werden. Folglich könnten wir uns darauf einigen, dass wir gegenseitig unser Recht
aufgeben, jeden jederzeit zu töten: Denn, was jeder Einzelne dadurch gewinnt, überwiegt
das, was jeder dafür aufgibt, erheblich. Dieses Beispiel enthält freilich noch keine norma-
tive Aussage darüber, wie wir uns Personen gegenüber verhalten, die aufgrund körperlichen
Unvermögens gar keine Möglichkeit hätten, für Andere eine tödliche Gefahr zu sein, und
daher auch nicht Teil des genannten Verzichts auf Gegenseitigkeit würden.
Kurz: Eine kognitivistische Position zu vertreten, ist Voraussetzung, um ethischen
Behauptungen Wahrheits- beziehungsweise Geltungsanspruch zuzusprechen, um prä-
skriptive Sätze als argumentations- und diskursfähig anzusehen. Dafür ist es aber keines-
wegs zwingend, gerade naturalistischer Realist zu sein (beziehungsweise entsprechend:
nicht-naturalistischer Realist, objektivistischer Anti-Realist oder subjektivistischer Anti-
Realist).

14
1 Ethische Grundlagen

1.2.2 Relativismus – Absolutismus

Hieran schließt sich eine weitere Frage an: Gelten solche Behauptungen stets nur für eine
bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum? Oder gibt es zumindest einige darunter, die das
immer und überall tun? Hierauf antworten strenger ethischer Relativismus / Partikularismus
und andererseits ethischer Absolutismus / Universalismus unterschiedlich.8
Der ethische Absolutismus vertritt nicht die Auffassung, dass alle ethischen Normen
immer und überall gelten, sondern dass es überhaupt möglich ist, einige ethische Normen
mit raum-, zeit-, kulturunabhängigem (universalem) Geltungsanspruch zu formulieren. Dies
wird allerdings, je nach ethischem Ansatz, mittels unterschiedlicher Prinzipien aufzuzeigen
versucht (siehe Abschnitt 1.5.1).
Der strenge ethische Relativismus verneint diese Möglichkeit dagegen. Ihm zufolge
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gibt es hinsichtlich der Moral keine ‚Objektivität‘ (objektive Wahrheit/objektive Geltung).


Seiner Auffassung nach hängen ‚richtig‘/‚geboten‘ beziehungsweise ‚falsch‘/‚verboten‘ von
den Gebräuchen und Traditionen in einer Gemeinschaft ab. Ein ethisches Urteil ist also
dann wahr beziehungsweise gilt dann, wenn es das in seinem jeweiligen Umfeld ‚Richtige‘/
‚Gebotene‘ ausdrückt. Eine solche streng relativistische Position zu vertreten, hat nicht zu
unterschätzende Konsequenzen – sowohl bei diachroner als auch bei synchroner Betrach-
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tung. Ihr zufolge könnte beispielsweise die Apartheid in Südafrika in der Vergangenheit
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

‚richtig‘ gewesen, derzeit aber gerade ‚falsch‘ sein – und in Zukunft? Oder es könnte zum
Beispiel aktuell auf einer Insel eine stabile Gesellschaft mit seit vielen Jahrhunderten glei-
chen und freien Bürgern/Bürgerinnen (A) geben und auf einer benachbarten Insel eine wirt-
schaftlich prosperierende Sklavenhaltergesellschaft mit ebenso langer Tradition (B). Ob die
Ablehnung von Sklaverei ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist, hinge dann davon ab, ob eine solche
Position in (A) oder (B) vertreten wird. Darüber hinaus käme den Gebräuchen und Tradi-
tionen der Gesellschaft (A) auch nicht mehr Überzeugungs- oder Prägekraft auf (B) zu als
umgekehrt.
Kurz: Eine ethisch absolutistische / universalistische Position einzunehmen, ist Voraus-
setzung, um einen allgemeinen Wahrheits- beziehungsweise Geltungsanspruch vertreten zu
können und so jedenfalls für einige Normen eine raum-, zeit-, kulturunabhängige Wahrheit
beziehungsweise Geltung zu beanspruchen.

1.3 Metaethik – deskriptive Ethik – normative Ethik

Kommen wir zu einer weiteren Unterscheidung: Wir müssen zwischen Metaethik, deskrip-
tiver Ethik und normativer Ethik differenzieren.9

8
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Klaus Peter Rippe, „Relativismus“, in Handbuch Ethik …, 481–486; Reiner Wim-
mer „Universalisierung“, in Handbuch Ethik …, 517–521; Christoph Hübenthal, „Relativismus“, in Lexikon
der Ethik …, 322–327 und Andreas Lob-Hüdepohl, „Universalität/Universalisierung“, in Lexikon der Ethik …,
381–387.
9
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige
Sekundärliteratur siehe Nico Scarano, „Metaethik – ein systematischer Überblick“, in Handbuch Ethik …, 25–35.

15
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Die Metaethik betrifft Fragen, wie wir sie bislang besprochen haben. Sie stellt sich auf
eine Metaebene und schaut, gewissermaßen, auf die normative Ebene ‚herunter‘, wobei sie
sich Problemen stellt wie: Was sind Sätze normativer Ethik?
• Sind das Sätze, die hinsichtlich der Wahrheit oder Geltung einer Behauptung argumen-
tationsfähig sind? Oder sind das nur Sätze, die einer Geschmacksempfindung oder einer
Aufforderung entsprechen?
• Sind das Sätze, die etwas über eine damit übereinstimmende Wirklichkeit aussagen – und
wenn ja: Von welcher Art ist diese Wirklichkeit dann? Oder sind das Sätze, bei denen
man nur ihre Geltung begründen kann?
• Sind das Sätze, die Glaubenszustände (so ist die Welt) zum Ausdruck bringen, die dafür
aber nicht das beinhalten, was uns motiviert, uns auch entsprechend zu verhalten? Oder
sind es Sätze, die Pro-Einstellungen (so sollte die Welt sein) zum Ausdruck bringen –
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also das, was uns motiviert, etwas zu tun, die sich dafür aber nicht auf etwas beziehen,
was mit einer Wirklichkeit übereinstimmt?
• Und schließlich stellt sich die Metaethik auch die Frage, wie sich Sätze der normativen
Ethik begründen lassen: Wie funktioniert eigentlich eine rationale Argumentation?

Metaethische Fragen sind wichtig, damit wir uns – in der eingangs verwendeten Metapher –
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unser Panorama vorstellen können. Nun lassen wir sie jedoch hinter uns und verengen unse-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ren Blick darauf, wie verschiedene Ansätze in der Ethik das Richtige/Falsche beziehungs-
weise Gebotene/Verbotene ermitteln.
Bevor wir uns damit der normativen Ethik zuwenden, sei noch kurz die deskriptive
Ethik erwähnt. Sie gehört nicht zu dem, was im engeren Sinne Ethik ist. Vielmehr besteht
die deskriptive Ethik in Beschreibungen, was an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten
Zeit, in einer bestimmten Kultur als sittlich richtig/falsch beziehungsweise geboten/verboten
gilt. Das entspricht dem, was beispielweise Ethnologen machen: „In der Gesellschaft A,
einer Kannibalengesellschaft, verspeisen die Dorfältesten Anfang jeden Jahres einen jungen
Mann oder eine junge Frau.“ Damit bewertet der Ethnologe nicht und schreibt auch nicht
vor: „Dieser Brauch ist richtig/falsch“ oder „Es ist geboten/verboten, einen jungen Mann
oder eine junge Frau zu Beginn eines jeden Jahres zu verspeisen.“ So stellt deskriptive Ethik
lediglich dar und erläutert, was in einem konkreten Lebensumfeld als richtig beziehungs-
weise geboten angesehen und wie dies begründet wird.
Das, was gemeinhin unter ‚Ethik‘ verstanden wird, ist jedoch vielmehr die soge-
nannte normative Ethik. Ganz generell können wir zunächst die allgemeine Ethik (auch
Fundamentalethik) und die spezielle Ethik (auch angewandte Ethik oder Bereichsethik)
unterscheiden. Die allgemeine Ethik betrachtet die für alle Bereiche der Ethik relevanten
Grundlagen, zum Beispiel Würde der Person, Freiheit, Gewissen, Entscheidung, Norm-
begründung, Haltungen (Tugenden), die menschliche Handlung sowie Verantwortung.
Die spezielle Ethik widmet sich den einschlägigen Fragen in den einzelnen Bereichen des
menschlichen Lebens. So wäre eine Frage der Medizinethik, ob und wann es richtig ist,
passive Sterbehilfe zu leisten. Eine Frage der Konfliktethik wäre, ob und wann es richtig ist,
Menschen, die unterdrückt werden, mit militärischen Mitteln zu Hilfe zu kommen. Solche
Dinge sind fast nie leicht zu beantworten. Nachdem ein grundsätzlicher Argumentations-
ansatz bestimmt worden ist, ist er in einem konkreten Fall anzuwenden – und dann gilt es
meist, anhand von Kriterien zu einer begründeten Antwort zu kommen. Genau das macht

16
1 Ethische Grundlagen

ethisches Urteilen im Wesentlichen aus: durch systematische Reflexion und Erörterung zu


einem Urteil zu gelangen.
Bleiben wir vorerst einmal bei der allgemeinen Ethik. Auf dieser Ebene mühen sich die
zahlreichen Typen normativer Ethik auf sehr verschiedene Arten und Weisen aufzuzeigen
und zu begründen, was richtig/falsch beziehungsweise geboten/verboten ist. Wir werden nun
exemplarisch auf bekannte Typen normativer Ethiken schauen, um bessere Orientierung im
Irrgarten der Ethik zu gewinnen – als Grundlage für die spätere Beschäftigung mit Friedens-
und Konfliktethik.

1.4 Verschiedene Typen normativer Ethik

1.4.1 Strebensethiken – Sollensethiken


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Da wir uns – hier wieder im Sinnbild der Kamera ausgedrückt – in einem allmählichen
Prozess des Heranzoomens befinden, ist zunächst zwischen sogenannten Strebens- und Sol-
lensethiken zu unterscheiden.10
Strebensethiken können wir auch Tugendethiken nennen. Solche Arten moralischer
Reflexion standen am Anfang aller Ethik, in der griechischen Antike. Der große Unter-
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schied zu den Sollensethiken ist, dass Strebensethiken auf der Grundlage eines bestimm-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ten Menschenbildes auf das Herausbilden und Verstetigen wünschenswerter Einstellungen


und Haltungen (Habitus) bei Individuen abstellen. Im Vordergrund steht dabei nicht, einen
akteurneutralen Handlungsmaßstab zu entfalten, auf den dann angesichts konkreter Situa-
tionen rekurriert werden könnte.
Welche Nach- und welche Vorteile haben derartige Strebensethiken? Ihr großer Nach-
teil ist, dass sie oft sehr voraussetzungsreich sind und beim Ermitteln des angesichts ganz
konkreter Fälle zu Tuenden/Unterlassenden meist keine einfachen, allgemein leicht nach-
vollziehbaren Argumente anführen. Aber ihr großer Vorteil ist, dass sie die Akteure als das
wahrnehmen, was sie tatsächlich sind: Diese sind nämlich weder Urheber einer isolierten
Einzelhandlung, noch eine bloße Aneinanderreihung von Einzelhandlungsurheberschaften.
Vielmehr handelt es sich bei ihnen um ein eigenständig zu betrachtendes Kontinuum in der
Zeit, um eine Person.
Strebensethiken orientieren sich an Fragen wie „Was ist ein guter Mensch (der ein gutes
Leben führt)?“, „Welche Eigenschaften und Haltungen soll er ausprägen und verstetigen?“
Damit nahm alle Ethik ihren Anfang, in der Neuzeit ist dies aber immer mehr in den Hin-
tergrund getreten. Durch neue Entwürfe und Ansätze erleben Strebensethiken jedoch seit
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine äußerst beachtliche Renaissance. Denn es hat
sich gezeigt, dass noch so differenzierte Sollensethiken allein zum einen keine jederzeit
hilfreiche Orientierung gewähren und zum anderen einige hinsichtlich des Akteurs wesent-
liche Aspekte nicht berücksichtigen. Es geht hinsichtlich von Sollensethik und Strebensethik

10
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, Freiburg i. Br. 2007, 46–60 sowie
knapper Thomas Schramme, „Tugendethik“, in Handbuch Angewandte Ethik, hrsg. von Ralf Stoecker [u. a.],
Stuttgart 2011, 49–53; Herlinde Pauer-Studer, „Tugendethik“, in Handbuch Philosophie und Ethik, Band 2:
Disziplinen und Themen, hrsg. von Julian Nida-Rümelin [u. a.], Paderborn 2015, 79–84.

17
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

daher auch nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-Auch: Es werden beide
benötigt.
Ein Beispiel liefert die Militärethik. Mit Blick auf Soldaten/Soldatinnen werden Tugen-
den wieder ausdrücklich fokussiert, weil man – so unverzichtbar klare Normen freilich
sind – festgestellt hat, nicht für alle möglichen Situationen und Entwicklungen das Erfor-
derliche regeln zu können, und zudem entscheidende Faktoren, die einen guten Soldaten
ausmachen, auf diese Weise auch gar nicht erfasst. Es ist es daher komplementär von großer
Bedeutung, jemanden auszubilden, der über erwünschte Verhaltensdispositionen verfügt:
Denn auch wenn diese keine ganz präzise, sondern nur eine ungefähre Orientierung geben,
können sie eine jede konkrete Einzelhandlungsurheberschaft mitprägen.
Sollensethiken zielen hingegen – in ihren unterschiedlichen Ausprägungen – in ers-
ter Linie darauf, uns in konkreten Situationen einem möglichst klaren Handlungsanspruch
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gegenüberzustellen anhand von Handlungsmaßstäben. Sollensethiken können auch Norm-


ethiken genannt werden, da in ihnen das Aufstellen und Begründen von Normen für unser
Handeln zentral ist. Die Ausdrücke Normethik und normative Ethik, die sehr ähnlich sind,
sind aber auseinanderzuhalten, da sie Unterschiedliches bezeichnen; Normethiken sind nur
ein Teil der normativen Ethik.
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1.4.2 Verfahrensethiken – Prinzipienethiken


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Derartige Sollensethiken, gibt es in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Eine erste, dies-


bezüglich grundlegende Unterscheidung ist jene zwischen Verfahrensethiken und Prinzipi-
enethiken. Sehen wir uns exemplarisch einige sehr bekannte Varianten von beiden an.11

Verfahrensethiken haben als Wesenskern, dass sie auf ein bestimmtes Verfahren abstellen,
durch das begründet wird, was richtig/falsch beziehungsweise geboten/verboten ist. Dabei
können wir Vertragstheorien und beispielsweise Jürgen Habermas’ Diskurstheorie unter-
scheiden. Vertragstheorien stellen nicht darauf ab zu definieren, was das Richtige und das
Falsche ist. Sie erklären vielmehr, warum wir dazu kommen, dies als richtig/falsch bezie-
hungsweise geboten/verboten zu bezeichnen. Habermas’ Diskurstheorie betrifft hingegen
beides: Der erstrebte Konsens in einem Diskurs unter Idealbedingungen umfasst hinsichtlich
des Richtigen und Falschen das Was und das Warum.

Sehen wir uns zunächst Beispiele für die beiden Hauptvarianten unter den Vertragstheorien
an, für den contractarianism und für den contractualism.

11
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige
Sekundärliteratur siehe Dieter Birnbacher, „Utilitarismus und Konsequentialismus“, in Handbuch Philosophie
und Ethik …, 52–59; Reinhard Brandt, „Kantische Deontologie“, in Handbuch Philosophie und Ethik …, 60–66;
Anton Leist, „Ethischer Kontraktualismus“, in Handbuch Philosophie und Ethik …, 66–74; Jürgen Habermas,
„Diskursethik“, in Handbuch Philosophie und Ethik …, 74–79. Ebenso Marcus Düwell, „Prinzipienethik“, in
Handbuch Angewandte Ethik …, 23–26; Micha Werner, „Verfahrensethik“, in Handbuch Angewandte Ethik …,
27–31; Herlinde Pauer-Studer, „Vertragstheoretische Ethik“, in Handbuch Angewandte Ethik …, 32–36; Jörg
Schroth, „Konsequentialistische Ethik“, in Handbuch Angewandte Ethik …, 37–43; Thomas Schmidt, „Deonto-
logische Ethik“, in Handbuch Angewandte Ethik …, 43–49.

18
1 Ethische Grundlagen

Dem contractarianism von Thomas Hobbes liegt die Annahme zugrunde, dass wir alle
rationale Egoisten sind und wir uns auf Gegenseitigkeit, zu unserem eigenen Nutzen, auf
bestimmtes Verhalten einigen.12 Die Reichweite für das begründete Gelten ethischer Normen
ist bei dieser Konzeption freilich noch sehr begrenzt. Wir könnten uns beispielsweise darauf
einigen – was auch so bei Hobbes zu lesen ist –, dass wir auf Gegenseitigkeit auf unser Recht
verzichten, Andere zu töten. Der Vorteil, den jeder Einzelne von uns dadurch erzielt, ist grö-
ßer als der Nachteil, den jeder Einzelne von uns dadurch erfährt: Wenn viele Personen einen
nicht mehr töten dürfen, überwiegt der eigene Gewinn an Sicherheit den eigenen Verlust an
Handlungsoptionen erkennbar. Aber was ist mit Personen, die beispielsweise aufgrund phy-
sischer oder psychischer Einschränkungen Andere gar nicht zu töten vermögen? Es bestünde
keine Veranlassung, sie in die vorgenannte Vereinbarung einzubeziehen: Sie würden nicht
Teil einer solchen Einigung auf Gegenseitigkeit.
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Deutlich anspruchsvoller und mit verallgemeinerter Reichweite begründeten Geltens


ethischer Normen ist der contractualism von John Rawls.13 Er geht davon aus, dass es – über
konkreten Eigennutz auf Gegenseitigkeit hinaus – intersubjektiv auch möglich ist, hinsicht-
lich dessen, was richtig und falsch ist, zu Begründungen zu gelangen, die für alle anerken-
nenswert sind; die Normbegründung also durch eine eigenständige Struktur zu leisten, die
aus unparteiisch-vernünftiger Perspektive überzeugend ist.
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Hierzu macht er ein Gedankenexperiment, das bekannt geworden ist: Ohne davon aus-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zugehen, dass es je tatsächlich dazu kommen würde, entwirft Rawls eine Situation, in der
Menschen sich auf die Ordnung jener Gesellschaft einigen sollen, die sie bilden werden,
ohne jedoch zu wissen, welche Rolle ihnen in besagter Gesellschaft zukommen wird. Sie
befinden sich als Faire und Vernünftige hinter dem „Schleier des Nichtwissens“. Unter die-
sen Rahmenbedingungen kämen die Beteiligten, Rawls zufolge, auf ihrer Suche nach einer
fairen Gesellschaftsordnung zu drei Grundsätzen, die gewährleisten sollen, dass diejenigen,
die die schwächsten Rollen einnähmen, möglichst gut gestellt würden. Erstens sollten für
alle die gleichen Freiheiten gelten, für niemanden größere und für niemanden geringere.
Zweitens dürfe es Ungleichheiten zwischen den Einzelnen geben, insofern diese für die
Schwächsten von Vorteil seien. Drittens sollten alle nach dem Eignungsprinzip die gleichen
Zugangs­chancen zu Ämtern und Positionen haben. Dahinter steht die Erwägung, dass es
vernünftiger sei, als Schwächster in einer freien Leistungsgesellschaft relativ bessere indivi-
duelle Lebensbedingungen zu haben als in einer egalitären Gesellschaft mit den Anderen auf
einer Stufe zu stehen, aber unter relativ schlechteren individuellen Bedingungen zu leben.
Die genannten Grundsätze stehen für Rawls in „lexikalischer Reihenfolge“: So könnten
Freiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden (das Einschränken einzelner
Freiheiten muss die Freiheiten insgesamt vergrößern …); Chancenungleichheit wäre erlaubt,
wenn dadurch die Schwächsten profitieren.
John Rawls’ Entwurf ist ein Beispiel für den contractualism. Es ist leicht erkennbar, dass
dieser zu ethisch anspruchsvolleren Ergebnissen führt: So hätten hinsichtlich eines – schon
beim contractarianism thematisierten – Tötungsverbots Unschuldiger gleichermaßen alle

12
Siehe Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates,
Berlin 2011, Kap. 13 und 14, 119–139.
13
Siehe John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 91996, Nr. 24, 159–166.

19
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Berücksichtigung zu finden und könnten keinerlei Ungleichheitserwägungen die Freiheit zu


Leben einschränken.
Gehen wir von hier aus noch einen Schritt weiter und sehen wir uns die Diskursethik von
Jürgen Habermas an: Hier sind, im Unterschied zu Vertragsethiken, hinsichtlich des Richti-
gen und Falschen sowohl das Was als auch das Warum Erörterungsgegenstand.14 Habermas
denkt seine Diskursethik nämlich auf ein Zusammenleben hin, in dem es viele unterschied-
liche kulturelle Hintergründe und praktisch keine geteilten Vorverständnisse eines guten
Lebens mehr gibt. Der von ihm konzipierte Ansatz soll es ermöglichen, zum für alle Akzep-
tabel-Verbindlichen zu gelangen. Ganz knapp ist die Grundaussage, dass „nur die Normen
[…] Gültigkeit beanspruchen [dürfen], die in praktischen Diskursen die Zustimmung aller
Beteiligten finden könnten“.15 Der Universalisierungsgrundsatz präzisiert dies weiter:
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Universalisierungsgrundsatz: Eine Norm ist genau dann gültig, wenn die voraussichtlichen Folgen
und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und Wert-
orientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos
akzeptiert werden können.16

Der Universalisierungsgrundsatz betrifft also den Inhalt dessen, was Geltung haben soll.
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Des Weiteren ist auch die Form des Diskurses selbst, des Argumentationsprozesses, näher
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zu bestimmen:

Argumentationsprozess: Niemand, der einen relevanten Beitrag machen könnte, darf von der Teil-
nahme ausgeschlossen werden. / Allen wird die gleiche Chance gegeben, Beiträge zu leisten. / Die
Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen. / Die Kommunikation muss derart frei von äußeren und
inneren Zwängen sein, dass die Ja-/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen
allein durch die Überzeugungskraft besserer Gründe motiviert sind.17

Dies sind für Habermas die vier wichtigsten Züge hinsichtlich der Art und Weise, wie ermittelt
wird, welche Normen Geltung haben. Für Habermas ist ein herrschaftsfreier Diskurs nötig.
Es sei noch auf eine Schwierigkeit der Diskursethik hingewiesen, die unmittelbar mit
ihrer Konzeption einhergeht: Sie hat keinerlei vorgegebene, unverfügbare Inhalte. Alles ist
gestaltungsoffen. Unabwägbare Güter oder Rechte gäbe es nicht von vornherein; unhinter-
gehbare Minimalbedingungen des Lebens müssten nicht zwingenderweise jedem Abwä-
gungsprozess entzogen sein: Es wäre durchaus denkbar, dass die Diskursbeteiligten hin-
sichtlich eines exklusiv teleologisch begründeten Normengefüges übereinkämen (siehe zur
Teleologie Abschnitt 1.5.1).

Wenden wir uns nach den Verfahrensethiken nun den Prinzipienethiken zu. Sie legen kein
hypothetisches Verfahren unter Beteiligten, sondern einen Grundsatz (oder einige Grund-

14
Siehe Jürgen Habermas, „Diskursethik“, in ders., Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Berlin,
2018, 53–125.
13

15
Jürgen Habermas, „Diskursethik“, in Handbuch Philosophie und Ethik …, 76.
16
Ebd., 76.
17
Ebd., 77.

20
1 Ethische Grundlagen

sätze) zugrunde, anhand dessen (derer) das Richtige/Falsche beziehungsweise Gebotene/


Verbotene ermittelt wird. Auch hierfür sehen wir exemplarisch auf zwei klassische Ansätze,
die Pflichtethik von Immanuel Kant und den Utilitarismus von Jeremy Bentham.

Für Kant ist Voraussetzung und Grundlage für das Vorhandensein von Moralität, dafür, ein
moralisches Wesen zu sein, die Auto-Nomie, die Selbst-Gesetzgebung.18 Davon ausgehend,
ruht Kants Pflichtethik auf den beiden Pfeilern, dass das, was jeder von uns anstrebt, ver-
allgemeinerungsfähig sein muss, sowie dass jeder Mensch ein Selbstzweck ist, der niemals
bloß zum Mittel werden darf. Den ersten Pfeiler fasst Kant in einer der Formulierungen des
kategorischen Imperativs wie folgt:

Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz-
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gebung gelten könne.19

Darin drückt Kant aus, dass das, was ich als auto-nomes Wesen tue, von einer Maxime
bestimmt sein muss. Eine Maxime ist eine persönliche Handlungsanleitung für eine
bestimmte Art von Handlungen – beispielsweise „An ein gegebenes Versprechen halte ich
mich“. Von dieser Maxime kann gleichzeitig gewollt werden, dass sie auch der Grundsatz
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für ein in entsprechender Hinsicht alle betreffendes moralisches Gesetz sein könnte. Kurz:
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Sie ist selbstwiderspruchsfrei.


Für den zweiten Pfeiler kann Folgendes herangezogen werden:

Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.20

Kant bringt damit zum Ausdruck, dass ein auto-nomes Wesen nicht für etwas anderes einge-
setzt beziehungsweise gegen etwas anderes aufgewogen werden darf – denn im Unterschied
zu allem anderen kommt ihm eine unaufwiegbare Würde zu und eben nicht ein bestimm-
barer Wert.
Die Kombination beider Pfeiler führt zu dem, was Kant das Reich der Zwecke nannte:
schlicht das moralische Zusammenleben von auto-nomen Wesen. Idealerweise sollten wir
also ein Reich der Zwecke darstellen.

Die andere klassische Prinzipienethik, auf die wir sehen, ist Benthams Utilitarismus.21 Er
vertrat eine noch sehr einfache Ausprägung. Bei Bentham ging es zunächst schlicht darum,
Freude zu maximieren (die durch Lust verursacht wird) und Leid zu minimieren (das durch
Schmerz verursacht wird). Etwas muss folglich dahingehend Nutzen bringen beziehungs-
weise eine Handlung muss derart erfolgen, dass es für die größtmögliche Personenzahl
Freude maximiert. Das ist eine Gesamtabwägung auf das vorhersehbare Ergebnis hin – und

18
Siehe Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften, Band IV, Berlin 1963,
385–463, erster und zweiter Abschnitt, 393–445.
19
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Gesammelte Schriften, Band V, Berlin 1963, 1–163, 30.
20
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten …, 429.
21
Siehe Jeremy Bentham, „Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung“, in Einführung
in die utilitaristische Ethik, hrsg. von Otfried Höffe, Tübingen 52013, 55–82.

21
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

ob eine Handlung richtig/falsch beziehungsweise geboten/verboten ist, hängt einzig von


dieser ab. Zu beachten ist diesbezüglich sowohl, dass ausschließlich subjektive Empfindun-
gen zugrunde gelegt werden, als auch, dass die Ausrichtung auf die Maximierung nahezu
jede Handlung defizitär sein lassen muss. Das war der Utilitarismus in seinen recht kruden
anfänglichen Grundzügen. Er hat sich in der Folgezeit erheblich ausdifferenziert und ver-
feinert. Eine bekannte Variante aus dem 20. Jahrhundert stammt von Peter Singer, der sich
auf – von allen vernünftigerweise teilbare – Präferenzen von Personen bezieht und dann auf
deren unparteiische Maximierung hinsichtlich der Personengesamtheit zielt.

1.5 Komplementäre Zugänge

1.5.1 Teleologisches, deontologisches und hermeneutisches


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Normbegründungsprinzip

Nach diesem exemplarischen Blick auf verschiedene Konzeptionen von Strebens- bezie-
hungsweise Sollensethiken seien die verschiedenen Normbegründungsprinzipien im
Zusammenhang betrachtet: Deontologie, Teleologie und Hermeneutik.
Es ist davon abzuraten, sich dazu verleiten zu lassen, einem Prinzipienmonismus das
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Wort zu reden. Ein solcher führt nämlich nicht dazu, dass Ethik durch eine einfachere, kla-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

rere Struktur eine höhere Wissenschaftlichkeit erreichen würde. Vielmehr haben alle drei
Prinzipien hinsichtlich des Begründens präskriptiver Aussagen je eigene Schwächen und
können sich daher gegenseitig gut ergänzen. So ist allerdings unweigerlich zu entscheiden,
wann auf welches Prinzip zu rekurrieren ist.22

Erstens ist da die Teleologie (von griechisch télos – Ziel).23 Sie ist das Prinzip, das hinter
dem Utilitarismus und allgemeiner hinter den konsequenzialistischen Ethiken steht. Hierbei
geht es darum zu überlegen, was mit Blick auf eine Handlung das durch sie größtmöglich
verwirklichbare vormoralische Gut ist. (Ein moralisches Gut ist eine menschliche Handlung
oder Haltung; das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit und so weiter sind demgegenüber
vormoralische Güter.) Hierzu werden Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen. Die
meisten ethischen Erwägungen, die wir vornehmen, folgen diesem Prinzip – vor allem bei
Entscheidungen (der Politik), die gesellschaftliche Fragen betreffen. Ein Atomkraftwerk zu
bauen, ist beispielsweise weder eine in sich verbotene, noch eine in sich gebotene Hand-
lung; vielmehr sind Vor- und Nachteile umfassend gegeneinander abzuwägen. Dabei kann
es durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Und wenn sich tatsächliche Gege-
benheiten ändern, können auch Abwägungen anders ausfallen und sich demzufolge das, was
richtig/falsch wäre, ebenfalls ändern. Im Feld teleologischer Normbegründung gibt der Ethi-
ker daher auch seine ‚Kompetenz‘ relativ schnell für zahlreiche Einzelaspekte an Experten/
Expertinnen ab, die die nötigen Erkenntnisse beibringen.

22
Für einen detaillierteren Zugang zu diesem Aspekt samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur
siehe Schockenhoff, Grundlegung der Ethik …, 444–447.
23
Für einen detaillierteren Zugang samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur siehe ebd., 376–
397.

22
1 Ethische Grundlagen

Kurz: Es geht um Normgeltung auf der Grundlage einer Folgenabwägung / einer Abwä-
gung der verwirklichten vormoralischen Güter und Übel. Was moralisch richtig/falsch
beziehungsweise geboten/verboten ist, hängt in der Teleologie vom vormoralisch Guten
ab. Oder anders gesagt: Das vormoralisch Gute bedingt das moralisch Richtige beziehungs-
weise Gebotene.
Die Teleologie, die die Hauptlast für unser ethisches Argumentieren trägt, hat jedoch
eine große Schwachstelle hinsichtlich der unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen des
Lebens, also der unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen für sittliche Freiheit (= Sicher-
heit von Leib und Leben sowie minimale Freiheit) und für das gemeinsame Zusammen-
leben (= Wahrhaftigkeit der Kommunikation). Richtet man sich einzig und allein nach der
Teleologie, kann man vertreten, fünf Menschenleben seien mehr wert als eins. Sollten dann
Besatzungstruppen willkürlich fünf Unschuldige zur Exekution bestimmen und ein Unbe-
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teiligter erhielte die Möglichkeit, einen von diesen zu töten und im Gegenzug dafür würden
dann alle Anderen laufen gelassen: Warum sollte er das nicht tun – es würden doch vier
Menschen davon sehr profitieren? Ein diesbezügliches Verbot lässt sich mit rein teleologi-
schem Herangehen zwar begründen, es ist aber umständlich und innerhalb teleologischer
Argumentationen stets angreifbar. Also ist die Teleologie zu ergänzen: Für diesen Bereich
können wir uns auf die deontologische Normbegründung stützen.
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Zweitens. Die Deontologie (von griechisch déon – Pflicht) stellt darauf ab, dass etwas als
solches zu tun ist und nicht von einem etwaigen Abwägungsprozess abhängt.24 Diese Art der
Normbegründung ist die geeignetste für einen zwar sehr kleinen, aber zugleich sehr wich-
tigen Bereich der Wirklichkeit: Es geht um das, was wir die unhintergehbaren Minimalvor-
aussetzungen des Lebens nennen, also die unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen unse-
rer sittlichen Freiheit (= Sicherheit für Leib und Leben sowie minimale Freiheit) und des
gemeinsamen Zusammenlebens (= Wahrhaftigkeit der Kommunikation). Dieser Kernbereich
ist im Wesentlichen abwägungsfest. Ein Beispiel: Es ist verboten, einen Unschuldigen direkt
(= absichtlich) zu töten. In dem Fall, dass Besatzungstruppen willkürlich fünf Unschuldige
zur Exekution bestimmen und ein Unbeteiligter die Möglichkeit erhält, einen von diesen zu
töten, und im Gegenzug dafür dann alle Anderen laufen gelassen würden, würde sich keine
Abwägungsfrage stellen. Warum? Weil sich für den Unbeteiligten die Handlungsoption,
einen Unschuldigen direkt (= absichtlich) zu töten, gar nicht erlaubterweise eröffnet. Noch
ein Beispiel: Ein Versprechen ist zu halten. Jemand könnte einem Anderen versprochen
haben, ihn wegen dessen Aberglauben hinsichtlich von Fotos auf einer gemeinsamen Reise
nicht zu fotografieren. Ihn zu fotografieren, auch wenn der Andere dann schläft und nichts
merken würde, fotografieren tatsächlich völlig ungefährlich ist und das Bild auch absolut
nicht weiterverbreitet würde – diesbezüglich würde sich eine Abwägungsfrage nicht stellen,
weil der Versprechende sein gegebenes Wort gar nicht erlaubterweise brechen darf.
Kurz: Hier geht es um eine unbedingte Begründung der Normgeltung. Was moralisch
gut/schlecht ist, hängt in der Deontologie vom moralisch Richtigen beziehungsweise Gebo-
tenen ab. Oder andersherum formuliert: Das moralisch Richtige/Falsche beziehungsweise
Gebotene/Verbotene bedingt das moralisch Gute/Schlechte.

24
Für einen detaillierteren Zugang samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur siehe ebd., 397–
422.

23
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Drittens. Vor allem im individualethischen Bereich leistet schließlich die Hermeneutik


(von griechisch hermēneúein – erklären/auslegen) einen wichtigen Beitrag.25 Anders als die
Deontologie fokussiert sie nicht die unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen, sondern die
anzustrebenden Vollendungsbedingungen des Lebens.
Der große Unterschied zwischen der hermeneutischen Normbegründung einerseits sowie
der Deontologie und der Teleologie andererseits ist, dass sie – im Sinne formulierter Wahr-
heits-/Geltungsansprüche – nicht zwingend argumentiert. Das ist wichtig. Deontologische
oder teleologische Argumente können zwingend formuliert sein: Indem also beispielsweise
jemand, der nicht zustimmt, eines Selbstwiderspruchs überführt werden kann oder indem die
angeführte Begründung so evident ist, dass jemandem, der nicht zustimmt, entgegengehalten
werden kann, nicht verstehen zu können (= Unvermögen) oder zu wollen (= Böswilligkeit).
Ein deontologisches Beispiel wäre, dass gegebene Versprechen zu halten sind. Ein teleolo-
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gisches Beispiel ist, dass eine Ärztin, die zu zwei Verwundeten kommt, die sie beide retten
kann, zunächst derjenigen zu helfen hat, die einen Unterschenkel verloren hat und zu ver-
bluten droht (betroffenes Gut: Leben) und nicht derjenigen, die einen Fußzeh verloren hat,
auch wenn dieser Zeh dann für immer verloren ist (betroffenes Gut: Fuß mit allen Zehen).
Teleologie und Deontologie sind nämlich sehr ‚voraussetzungsarm‘: Das Einzige, was dafür
benötigt wird, ist der Verstand.
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Die Hermeneutik ist hingegen ‚voraussetzungsreich‘, sie umfasst zahlreiche Vorannah-


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

men, die man – in rationabler, also vernunftgemäßer, vernunftzugänglicher Weise – zwar


teilen kann, aber eben nicht teilen muss. Wenn also im Rahmen hermeneutischer Norm-
begründung Fragen im Hintergrund stehen wie „Was ist ein guter Mensch?“, „Wie ist ein
entsprechend gelungenes Leben zu führen?“ „Wie sollte man sich, davon ausgehend, in
bestimmten Situationen verhalten?“, dann kann das eine rationable, also gerade nicht wider-
vernünftige Argumentation sein. Ein Anderer muss ihr aber keineswegs zwingend folgen,
wenn er die einfließenden Vorannahmen nicht teilt.

Weltanschauliche Kontextualität
An der Hermeneutik wird gut erkennbar, dass es keine ‚neutrale‘ Ethik gibt. Jede Ethik
hat eine weltanschauliche Hintergrundfärbung. Das ist auch kein Problem. Wichtig
ist nur, sich der Hintergrundfärbung bewusst zu sein und diese offenzulegen. Das ist
intellektuelle Redlichkeit. Vor diesem Hintergrund kann Diskurs frei stattfinden.
Im deontologischen und teleologischen Bereich fließt diese Hintergrundfärbung in recht
geringem Maße ein. In der Hermeneutik ist sie hingegen entscheidend. Wir sollten aber
auf keinen Fall darauf verzichten, uns mit den in ihren Bereich fallenden Fragen zu
beschäftigen – mit den Fragen, die die Vollendungsbedingungen des Lebens betreffen.
Es ist zentral, dass wir individuell eine robuste Vorstellung davon ausprägen, was wir für
ein gutes Leben halten und was nicht. Diese werden Sie, mit guten Argumenten, weiter-
zugeben versuchen; zugleich wissend, dass diese Argumente nicht zwingend sind: Der
Andere kann zu dem Ergebnis kommen „Ja, das finde ich überzeugend. Dem schließe
ich mich an. Und ich handle auch entsprechend.“ Oder auch: „Diese Grundannahmen,
die teile ich nicht. Dem kann ich mich nicht anschließen.“

25
Für einen detaillierteren Zugang samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur siehe ebd., 422–444.

24
1 Ethische Grundlagen

Ein Beispiel für eine hermeneutische Argumentation ist das Verbot der Selbsttötung bei Tho-
mas von Aquin. Er liefert drei Argumente: Erstens führt Thomas an, dass jedes Lebewesen
auf der Welt grundsätzlich leben und nicht sterben möchte. Derjenige, der sich selbst tötet,
will daher eigentlich auch nicht sein Leben zerstören, sondern vielmehr sein Leiden, seinen
Schmerz, seine Trauer beenden. Daher steht die Selbsttötung im Widerspruch zum prinzi-
piellen Lebensimpuls. Zweitens ist jeder Mensch in ein Beziehungsgeflecht eingebunden.
Jemand, der sich selbst tötet, kann dieses Beziehungsgeflecht massiv stören. Natürlich gibt
es Unterschiede. Bei einem verheirateten Familienvater mit drei minderjährigen Kindern,
der sich finanziell verspekuliert hat und sich selbst tötet, ist das anders als bei jemandem,
der sich in hohem Alter in einer schweren physischen Leidenssituation befindet. Drittens ist
dem Menschen das Leben von Gott geschenkt. Der Mensch kann nicht darüber entscheiden,
ob und wann er in das Leben kommt, und er darf nicht darüber entscheiden, ob und wann
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es endet. Vielmehr hat er das ihm gemachte Geschenk zwischen dem Anfang und dem Ende
anzunehmen und positiv zu gestalten.
Die drei von Thomas von Aquin vorgebrachten Argumente sind rationabel, also nicht
wider-vernünftig. Aber es ist keineswegs zwingend, ihnen zu folgen. Es kann nämlich sein,
dass jemand die einem der Argumente zugrunde liegende anthropologische Voraussetzung
nicht teilt. Wer beispielsweise die Existenz Gottes negiert, teilt die anthropologische Voraus-
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setzung des dritten Arguments nicht. Erschließt sich ihm demzufolge auch nicht die anthro­
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

pologische Sinneinsicht, gelangt er davon auch nicht zum Anerkennen des Geltens der Norm.
Wer aber eine anthropologische Voraussetzung nicht teilt, wem sich eine anthro­pologische
Sinneinsicht nicht erschließt und wer einem hermeneutischen Normbegründungsargument
deshalb nicht folgt, der muss keineswegs unvermögend (nicht verstehen können) oder bös-
willig (nicht verstehen wollen) sein.
Kurz: Die hermeneutische Normbegründung erfolgt in stets voranschreitender kreisender
Art – von der anthropologischen Sinneinsicht zur Anerkennung der Normgeltung.

1.5.2 Vorsatz – Norm(en) – Folge(n) – Haltung(en)

Nachdem wir uns eine grobe Orientierung innerhalb der normativen Ethik – das, was
gewöhnlich ‚Ethik‘ genannt wird – verschafft haben, ist es sinnvoll, diese mit einem Modell
abzuschließen. So lassen sich Handlungen in einer ausgewogenen Gesamtsicht bewerten:
argumentativ und unter Berücksichtigung verschiedener, auf ihre gegenseitige Ergänzung
angewiesene Aspekte.

Sozialethik oder Individualethik?


Friedens- und Konfliktethik ist in weiten Teilen Sozialethik, die Individualethik spielt
eine ergänzende Rolle, vor allem hinsichtlich auszuprägender Haltungen. Wir zielen
später also auf das Erarbeiten und Anwenden eines Handlungsmaßstabs für die Friedens-
ethik (etwa die Parameter eines gerechten Friedens) oder für die Konfliktethik (zum Bei-
spiel Kriterien legitimer Gewaltanwendung) – auf ein methodenfundiertes, rationables,
begründendes Argumentieren, das hinsichtlich bestimmter Situationen anhand eines
ausgefalteten Bewertungsmaßstabs das Getane evaluiert und das zu Tuende normiert.

25
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Handlungen gibt es viele verschiedene. Wir begehen jeden Tag unzählige: oft solche, die
belanglos sind, immer mal wieder solche mit einer gewissen Bedeutung und seltener wel-
che von großer Bedeutung. Wenn wir Handlungen bewerten wollen, sind wir gut beraten,
nicht auf Engführungen zu setzen. Vielmehr ist es angebracht, unter zumindest vier unter-
schiedlichen Aspekten auf eine Handlung zu sehen und dabei auf die jeweils einschlägigen
Prinzipien zu rekurrieren.26

Der erste Aspekt, unter dem wir eine Handlung betrachten können, ist der Vorsatz. Er ist
eine entscheidende Komponente einer menschlichen Handlung (ein Reflex ist keine solche)
sowie für ihre Bewertung: Worauf zielt sie unmittelbar, welches ‚Gut‘/‚Übel‘ wird realisiert
oder ausgedrückt? Vorsätzlich wäre, jemanden zur Maßregelung zu ohrfeigen, vorsatzlos
wäre hingegen, sich im Schlaf umzudrehen und dabei jemand Anderem die Hand ins Gesicht
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zu schlagen: Letzteres wäre moralisch weder ‚richtig‘ noch ‚falsch‘, erst recht nicht ‚gut‘
oder ‚schlecht‘.
Bei der Frage des Vorsatzes ist indes zu unterscheiden zwischen dem, was jemand in
einer Handlung direkt anstrebt (Absicht), und dem, was jemand bloß vorhersieht und billi-
gend in Kauf nimmt (sicheres Wissen) – beides reicht für Vorsätzlichkeit aus. Das kann auf
den ersten Blick etwas befremdlich wirken, ist aber für die differenzierte Erörterung heikler
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Grenzfälle ausgesprochen bedeutend.


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Der Vorsatz ist ferner von Motiven zu unterscheiden. Motive sind Gründe, aus denen her-
aus wir etwas tun oder unterlassen. Meist sind es verschiedene gleichzeitig. Einige Motive
können anerkennenswert sein, andere weniger und wieder andere sogar unlauter: Eine Frau
besucht regelmäßig ihre bettlägerigen Nachbarn, weil sie ihnen dadurch eine Freude macht. /
[…] und dadurch im Dorf gut dasteht. / […] und dadurch große Chancen hat, dass man sie
zur Ortsvorsteherin wählt.
Dass eine Mischmotivation besteht, kann sich, muss sich aber keineswegs bei der Bewer-
tung einer Handlung negativ auswirken. Entscheidend ist nämlich nicht, ob wir mischmo-
tiviert sind, sondern welches der handlungsleitende Vorsatz ist und ob das Ziel, auf das
dieser sich richtet, unbeschädigt bleibt: Die Frau aus dem genannten Beispiel steht durch
ihre Krankenbesuche womöglich wider Erwarten nicht gut da, sondern gilt als scheinheilig.
Sie besucht ihre bettlägerigen Nachbarn aber unverändert regelmäßig, um ihnen dadurch
eine Freude zu machen. / Sie wird doch nicht Ortsvorsteherin und stellt anschließend die
Krankenbesuche ein.

Kommen wir zu einem zweiten Aspekt, zur Norm. Normen können zu unterschiedlichen
Lebensbereichen gehören, beispielsweise soziale Normen (Bräuche, Gewohnheiten) oder
Rechtsnormen (Gesetz und Recht). Für uns geht es um ethische Normen: Wir können hier
am ehesten an Normen denken, wie sie etwa in Verfahrensethiken ermittelt werden könnten.
Solche Normen können auch mittlere moralische Regeln genannt werden: Sie stehen im
Abstraktionsgrad zwischen ethischen Prinzipien und konkreten Handlungen und können
auf bestimmte Typen von Handlungen angewandt werden. Sie sind sehr wichtig, weil sie
uns Handlungsorientierung geben und uns in zahlreichen Lebensvollzügen entlasten. Aller-

26
Für einen detaillierteren Zugang zu diesem Aspekt samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur siehe
David Fisher, Morality and War, Oxford 2011, 134–148.

26
1 Ethische Grundlagen

dings können Normen niemals alle Situationen erfassen, die eintreten können. Es kann also
geschehen, dass es zu ungewöhnlichen oder extremen Situationen kommt, die keine Norm
(mittlere moralische Regel) so vorhergesehen hat. Dann kann es in seltenen Extremfällen,
dazu kommen, dass es ethisch richtig ist, in einer Weise zu handeln, die von einer bekannten
Norm abweicht.

Es wäre unzureichend, eine Handlung nur nach Vorsatz und Normen zu beurteilen. So gilt
es als dritten Aspekt auch, die Folgen zu beachten. Die hierbei in den Blick zu nehmenden
Güter (zum Beispiel Gesundheit, Wohlstand, Sicherheit) und Übel (zum Beispiel Tod, Ver-
letzung, Mangel, Risiken), die eine Handlung hervorbringt, sind vormoralische Referenz-
größen. Abhängig von ihrer Gewichtung wird dann prospektiv oder retrospektiv etwas über
die moralische Qualität der Handlung ausgesagt. Das große Problem hinsichtlich der Folgen
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ist, dass sie potenziell unendlich sind. Wie können sie also in geeigneter Weise Beurteilungs-
bestandteil sein?
Im Fall von prospektiven Beurteilungen gilt es, die vernünftigerweise vorhersehbaren
Folgen zu berücksichtigen. In der Retrospektive sind für die Beurteilung der objektiven
Handlung (richtig/falsch) jene Folgen zu berücksichtigen, für die es einen relevanten Verur-
sachungszusammenhang gibt (kein gleichzeitiges oder hinzukommendes maßgebliches Ver-
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ursachen seitens Anderer / kein Zufall), beziehungsweise für die Beurteilung der subjektiven
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Handlung (gut/schlecht) jene Folgen, die vernünftigerweise vorhersehbar gewesen wären.


Es ist natürlich erfreulich, wenn eine Handlung unter gutem Vorsatz und Einhaltung der
Normen auch gute Folgen nach sich zieht. Einzelne unter diesen Aspekten können aber auch
einander entgegengesetzt sein: Eine Handlung, die von einem guten Vorsatz geleitet ist und
keiner Norm widerspricht, kann schlechte Folgen verursachen. / Eine Handlung, die von
einem schlechten Vorsatz geleitet ist und einer Norm widerspricht, kann gute Folgen ver-
ursachen. Damit eine Handlung richtig beziehungsweise geboten sein kann, darf aus keinem
Aspekt Gravierendes dagegensprechen: Defizite, die eine Handlung in einer Gesamtabwä-
gung falsch beziehungsweise verboten sein lassen, können daher durchaus lediglich unter
einem Aspekt erkennbar werden.

Der vierte und letzte Aspekt hebt hervor, dass, wenn eine Person handelt, dies keineswegs als
eine bloße Aneinanderreihung von Einzelhandlungen anzusehen ist. Vielmehr ist die Person
als Akteur in der und durch die Zeit hindurch ein ‚Selbst‘, das über verstetigte Verhaltens-
dispositionen verfügt. Wir können auch von Haltungen sprechen.
Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Akteur und Handlung voneinander abhän-
gen: Alle Handlungen, die jemand begeht, werden durch seine Haltungen mitgeprägt und
umgekehrt wirkt jede Handlung ihrerseits auch auf die Haltungen zurück. So begünstigen
Haltungen ihnen gemäße Handlungen und erschweren ihnen entgegenstehende; Handlungen
ihrerseits bestärken/festigen ihnen gemäße Haltungen und schwächen/erschüttern ihnen ent-
gegenstehende.
Ein paar einfache Beispiele: Eine freundliche Vorgesetzte ist darin begünstigt, eine kri-
tische Frage freundlich zu beantworten; als Misanthropin wäre sie dabei deutlich behin-
dert. Eine tapfere Beschäftigte ist darin begünstigt, im Falle einer Ungerechtigkeit für eine
Kollegin einzutreten; als ängstliche Person wäre sie dabei deutlich behindert. Eine Andere
bewusst zu deren Nachteil zu täuschen, wirkt auf eine redliche Geschäftsfrau aufwühlend

27
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

zurück; wäre sie unredlich, würde es bestärkend zurückwirken. Eine berechtigte scharfe
Zurechtweisung vorzunehmen, wirkt auf eine gütige Erziehungsberechtigte aufwühlend
zurück; wäre sie hartherzig, würde es bestärkend zurückwirken.
Nehmen wir, nach der kurzen Erörterung der vier Aspekte, noch eine Ergänzung vor,
damit die Zusammenhänge klarer werden.
Wir hatten unterschiedliche Typen von normativen Ethiken gestreift (siehe Abschnitte
1.4.1 und 1.4.2) sowie verschiedene Normbegründungsprinzipien (siehe Abschnitt 1.5.1).
Diese sind für einzelne der genannten Aspekte unterschiedlich hilfreich. In einer Synopse
lässt sich das veranschaulichen:
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Abbildung 1: Synopse verschiedener ethischer Zugänge Grafik: Christian Lau

Wie bei den Normbegründungsprinzipien betont, gilt in ähnlicher Weise auch für die ver-
schiedenen Typen normativer Ethiken, dass wir sie nicht als sich gegeneinander ausschlie-
ßend, sondern als sich gegenseitig ergänzend verstehen sollten. Es ist demgegenüber nicht
wünschenswert, einen der Zugänge der vorgenannten normativen Ethiken zu verabsolutie-
ren: Die positiv eingebrachten Stärken können dann in negative Engführungen umschlagen.27
Wenn wir zunächst auf den Vorsatz sehen, lässt sich erkennen, dass sich beispielsweise
die Pflichtethik Kants besonders gut eignet, um zu ermitteln, wie ein Vorsatz zu beurtei-

27
Eine kurze Erläuterung zu den hinsichtlich der negativen Engführungen verwendeten Adjektiven: Sie sind – in
Anlehnung an einige der wichtigsten neurotischen Stile (hysterisch, zwanghaft, schizoid, depressiv), die sich
von einem flexiblen und situationsangemessenen Wahrnehmen, Empfinden, Denken und Verhalten angesichts
von Problemen und Konflikten unterscheiden – die pointierte Zusammenfassung der besonderen Schwachstel-
len der einzelnen Typen normativer Ethiken, für den Fall, dass sie absolut gesetzt und zum einzigen Maßstab
gemacht werden.

28
1 Ethische Grundlagen

len ist, um von diesem Aspekt her eine Handlung zu bewerten: Ihren Beitrag nutzen wir
konstruk­tiv im Betrachten und Reflektieren des seitens des Akteurs Entworfenen. Im Falle
solch einer besonders den Vorsatz betonenden Pflichtethik wäre es aber problematisch, in
einer ‚hysterischen Gesinnungsethik‘ zu enden, die die moralische Qualität einer Handlung
einzig und allein am Erstrebten bemisst („Richtig/geboten ist eine Handlung, die von einer
guten Absicht geleitet ist!“). Denn es gibt viele Fälle, in denen die bloße gute Absicht für
eine richtige/gebotene Handlung bei Weitem nicht genügt.
Hinsichtlich der Normen liegt beispielsweise eine Vertragstheorie wie jene von Rawls
nahe, um zu ermitteln, zu welchen unparteiischen Übereinkünften man rationalerweise wohl
gelangt und wie eine bestimmte Handlung von dort aus zu bewerten ist: Ihren Beitrag nut-
zen wir konstruktiv im Betrachten und Reflektieren des Mitverwirklichens einer Ordnung
durch einen Akteur. Im Bereich solch einer die Norm in den Mittelpunkt stellenden Ver-
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tragstheorie wäre es hingegen defizitär, in eine ‚zwanghafte Gesetzesethik‘ abzurutschen,


die die moralische Qualität einer Handlung einzig und allein an der Normgemäßheit bemisst
(„Richtig/geboten ist eine Handlung, die der Norm entspricht!“). Es gibt nämlich besondere
Einzelfälle, in denen es gerade richtig/geboten ist, abweichend von allgemein formulierten
Normen zu handeln.
Was die Abwägung der Folgen angeht, ist offensichtlich, dass bezüglich dieses Aspekts
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der Konsequenzialismus seine Stärken einbringen kann, wie eine bestimmte Handlung von
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dort aus zu bewerten ist (Benthams Utilitarismus ist eine Ausprägung konsequenzialistischer
Ethiken; diejenige, die auf das Maximieren von Freude zielt): Ihren Beitrag nutzen wir
konstruk­tiv im Betrachten und Reflektieren des Erfolgs eines Akteurs. Hinsichtlich solch
eines die Folgen fokussierenden Konsequenzialismus wäre es demgegenüber gefährlich, in
eine ‚schizoide Erfolgsethik‘ abzugleiten, die die moralische Qualität einer Handlung einzig
und allein am Ergebnis der Güterabwägung bemisst („Richtig/geboten ist eine Handlung, die
zur bestmöglichen Güterabwägung führt!“). Denn es gibt eine Reihe grundsätzlicher Fälle,
in denen das bestmögliche Ergebnis der Güterabwägung gerade nicht durch eine richtige/
gebotene Handlung verwirklicht wird.
Was schließlich die Haltungen betrifft, sind vor allem Strebensethiken einschlägig, die
von einem zu verwirklichenden Menschenbild ausgehend dafür zu- und abträgliche Ver-
haltensdispositionen benennen, um von dort aus eine Handlung zu bewerten: Ihren Beitrag
nutzen wir konstruktiv im Betrachten und Reflektieren der Dispositionenentfaltung und -ver-
wirklichung bei einem Akteur. Was solche besonders auf die Haltungen sehende Tugend-
ethiken angeht, wäre es jedoch abträglich, in eine ‚depressive Schicksalsethik‘ abzudriften,
die die moralische Qualität einer Handlung einzig und allein am Verwirklichen einer Tugend
bemisst („Richtig/geboten ist eine Handlung, die Ausdruck einer Tugend ist!“). Es gibt näm-
lich durchaus Fälle, in denen das bloße Verwirklichen einer Tugend gerade nicht zu einer
richtigen/gebotenen Handlung führt.
Mit der hier skizzierten Auffassung sich gegenseitig ergänzender normativer Ethiken
lassen sich auch die drei unter Abschnitt 1.5.1 angesprochenen Normbegründungsprinzipien
verbinden. Denn bei der Pflichtethik geht es darum, ein unbedingtes Gelten anzuerkennen:

Die Bezeichnungen „hysterische Gesinnungsethik“, „zwanghafte Gesetzesethik“, „schizoide Erfolgsethik“ und


„depressive Schicksalsethik“ gehen zurück auf Wilhelm Korff, Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven
der Ethik, München 1985, 12–29.

29
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Hier steht das deontologische Prinzip im Hintergrund. Im Konsequenzialismus ist Gelten


auf der Grundlage einer Abwägung vormoralischer Güter und Übel zentral: Hier steht das
teleologische Prinzip im Hintergrund. Und was Tugendethiken betrifft, so geht es um eine
sich kontinuierlich vertiefende Geltung aus dem Wechselspiel von Verstehen (anthropologi-
sche Sinneinsicht) und demgemäßem Verwirklichen: Hier steht das hermeneutische Prinzip
im Hintergrund.
Der skizzierte Ansatz, Handlungen aus den sich einander ergänzenden Aspekten des Vor-
satzes, der Norm(en), der Folge(n) sowie der Haltung(en) zu beurteilen, ist ausgewogen und
heute weithin anerkannt. Das bedeutet jedoch auch, einen Prinzipienpluralismus zu akzep-
tieren. Dagegen ist dringend davon abzuraten, auf einen Prinzipienmonismus zu rekurrieren,
der zwar meist klarer und leichter zu ‚Ergebnissen‘ führt, die dann aber auch simplizistisch
und unangemessen zu sein pflegen.
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Dies alles im Hinterkopf, begleitet von dieser Art Gesamtmatrix ergibt sich bei der
Bewertung friedensethischer Fragen immer wieder, auf diese Ansätze angewiesen zu sein.
Vertiefen wir dies nun an drei Punkten.

1.6 Wichtige Ergänzungen


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1.6.1 Handeln durch Tun – Handeln durch Unterlassen


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Die große Frage ist, ob das Bewirken von etwas entgegen einer Nichtschädigungspflicht
(ich steche Ihnen ein Messer in den Rücken, und zwar entgegen meiner Nichtschädigungs-
pflicht), das Gleiche oder etwas anderes ist als das Geschehenlassen entgegen einer Hilfs-
pflicht (Sie liegen mit einem Messer im Rücken auf der Straße und verbluten, ich bin aber
in Eile und helfe Ihnen nicht, und zwar entgegen meiner Hilfspflicht). Ist das also das Glei-
che oder nicht? Sind Handeln durch Tun und Handeln durch Unterlassen gleichwertig oder
nicht? Das ist stark umstritten. Manche sagen, es gibt einen Unterschied, dass Handeln durch
Tun und Handeln durch Unterlassen verschieden sind. Das kommt in der Signifikanztheorie
zum Ausdruck. Andere sagen, dass es keinen Unterschied gibt, ausgedrückt in der Äqui-
valenztheorie.28

Den Unterschied zwischen Handeln durch Tun und Handeln durch Unterlassen kann man
unter bestimmten Aspekten nicht erfassen. Hier zwei Beispiele:
Wenn es nur nach den Folgen geht, rein konsequenzialistisch, dann ist es egal, ob ich
jemanden ersteche oder ob ich jemanden, dem ein Messer in den Rücken gestochen wurde,
verbluten lasse: Es gibt immer einen Toten.
Wenn es nur nach dem Vorsatz geht, rein pflichtethisch wie beispielsweise bei Kant (Die
Maxime deines Willens soll auch zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kön-
nen), dann würde man sagen, dass beide Verhaltensweisen zutiefst verwerflich sind: Beides
ist pflichtwidrig.

28
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Ralf Stoecker, „Tun, Unterlassen und das Prinzip der Doppelwirkung“, in Hand-
buch Angewandte Ethik …, 126–129. Von dort sind auch die angeführten Beispiele übernommen.

30
1 Ethische Grundlagen

Es gibt aber auch zwei Ansätze, um aufzuzeigen, dass ein Unterschied besteht.
Der erste Ansatz argumentiert anhand von Normen: Das Verletzen von negativen Rech-
ten ist anders zu beurteilen als das Missachten von positiven Rechten.
Was sind negative Rechte? Das sind sogenannte Abwehrrechte: Jemand hat das Recht
darauf, dass ihm etwas nicht passiert. Da gibt es beispielsweise das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit. Wenn ich da eindringe, dann sagt man, dass das schwerwiegen-
der ist, als wenn ich jemandem ein positives Recht, beispielsweise das Subsistenzrecht, vor-
enthalte – dass geholfen wird, wenn jemand verdurstet oder verhungert. Dieser Ansatz sagt,
wir könnten den Unterschied zwischen Handeln durch Tun und Handeln durch Unterlassen
am ehesten anhand des Unterschieds zwischen negativen Rechten – Abwehrrechten – und
positiven Rechten – Teilhaberechten oder Partizipationsrechten – aufzeigen.
Den zweiten Ansatz möchte ich anhand von zwei weiteren Beispielen erklären:
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• Ein Arzt kommt zu sechs Verletzten. Er sieht, dass er die Möglichkeit hat, sich entweder
einem zuzuwenden und ihn zu retten oder den anderen fünf und diese zu retten. Wenn er
sich dem einen zuwendet, sterben die anderen fünf. Wenn er sich den fünfen zuwendet,
stirbt der eine. Der Arzt entscheidet sich also, den fünf zu helfen und den einen sterben
zu lassen. Er unterlässt es, dem Sterbenden zu helfen. Der gleiche Fall lässt sich auch
ein bisschen anders darstellen. Jemand kommt zu sechs Verletzten und sieht: Da sind
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fünf Verletzte und wenn ich den sechsten ausschlachte, dann kann ich die anderen fünf
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

retten. Der Arzt schlachtet den einen aus und rettet dadurch die anderen fünf. Sehen Sie
einen Unterschied?
• Zwei Herren wollen gerne das Geld ihrer Neffen haben. Der eine Onkel geht ins Bad,
während sein Neffe badet, drückt ihn unter Wasser und ertränkt ihn. Der andere Herr
hat den gleichen Vorsatz, er will ebenfalls seinen Neffen töten, der im Bad ist. Er geht
dorthin, muss ihn aber nicht ertränken, weil der Neffe zuvor im Bad ausgerutscht ist und
sich den Kopf aufgeschlagen hat. Der zweite Onkel denkt sich, dass das sehr günstig ist,
da er ihn nicht unter Wasser drücken, sondern einfach verbluten lassen muss. Sehen Sie
einen Unterschied?

Worin unterscheiden sich die je zwei Varianten in den Beispielen des Arztes und der beiden
Onkel? Die Varianten, in denen jemand sterben gelassen wird und jemand ausgeschlachtet
wird oder die Varianten, in denen jemand ertränkt und jemand verbluten gelassen wird? Hier
lässt sich mit drei Aspekten argumentieren:
Erstens – hinsichtlich des Betroffenen – führt Handeln durch Tun zu einem sichereren
Ergebnis. Wenn jemand, wie im ersten Fall, ausgeschlachtet wird, ist er mit Sicherheit tot.
Wenn jemand nur zum Sterben liegen gelassen wird, gibt es zumindest noch die theoreti-
sche Möglichkeit, dass jemand Anderes ihn rettet. Ebenso im zweiten Beispiel: Wer ertränkt
wird, ist mit Sicherheit tot. Wer verbluten gelassen wird, für den besteht zumindest noch die
theoretische Möglichkeit, dass ihn jemand rettet. Es ist also sicherer, zu handeln durch Tun
als zu handeln durch Unterlassen. Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, dass es nicht
das Gleiche ist.
Zweitens – hinsichtlich des Handelnden – ist das Handeln durch Tun meistens aufwän-
diger als das durch Unterlassen. Jemanden nicht zu behandeln, während man fünf Andere
behandelt, ist weniger aufwändig, als einen auszuschlachten, um die anderen fünf zu retten.
Das Gleiche gilt für das Ertränken und das Verblutenlassen im zweiten Beispiel.

31
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Drittens – hinsichtlich des Dammbrucheffekts – ist Handeln durch Tun potenziell gefähr-
licher. Dammbruch meint, dass Andere im Fall des Nicht-Ahndens ein Handeln nachahmen.
Wenn man einen Arzt jemanden ausschlachten lässt, um fünf Leute zu retten, und sagt, das
könne man in Extremfällen schon so machen, kann das sehr viel problematischer werden,
wenn sich das wiederholt, als wenn ein Arzt nachgeahmt wird, der einen Einzelnen nicht
behandelt und sich um fünf Andere gekümmert hat. Das Gleiche gilt für das Ertränken und
das Verblutenlassen im zweiten Beispiel.
Alles zusammengenommen zeigt, dass es nicht einfach zu erklären ist, wo der Unterschied
zwischen Handeln durch Tun und Handeln durch Unterlassen liegt. Die genannten Argumente
sind durchaus nachvollziehbar. Aber es ist auch vorstellbar, dass dies eine offene Diskussion
ist: dass viele die Signifikanzthese vertreten und sagen, Handeln durch Tun und Handeln durch
Unterlassen seien nicht das Gleiche, da sei ein Unterschied, und zahlreiche Andere die Äqui-
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valenzthese vertreten und sagen, ein solcher Unterschied sei nicht klar darstellbar.
Es wird nicht selten sein, Handeln durch Tun und Handeln durch Unterlassen gegenüber-
stellen zu müssen.

1.6.2 Prinzip der Doppelwirkung


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Kommen wir zu Fällen, in denen es, unter anderem, genau darum geht, positive Rechte Ein-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zelner zu schützen – jedoch nicht um den Preis, gleichwertige(!) negative Rechte Anderer
zu verletzen. Hierauf bezieht sich das Prinzip der Doppelwirkung. Es ist wichtig, dies nicht
nur zu kennen, sondern auch zu beherrschen.29
Schauen wir hierzu auf die deontologische Normbegründung. Sie behauptet eine unbe-
dingte Normgeltung: Sei es aus Pflicht (vgl. kategorischer Imperativ) oder aus einem Über-
einkommen heraus (vgl. Personen sind miteinander in einen Diskurs eingetreten und haben
so Normen vereinbart) – eine Norm gilt unbedingt.
Die Deontologie entfaltet ihre Stärke hinsichtlich dessen beziehungsweise ihre beson-
dere Bedeutung für das, was wir die unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen sittlicher
Freiheit (Sicherheit für Leib und Leben sowie minimale Freiheit) und gemeinsamen Zusam-
menlebens (Wahrhaftigkeit der Kommunikation) nennen können: Sie konzentriert sich also
auf jenen Bereich, für den wir sagen, dass ohne ihn keine individuelle Existenz beziehungs-
weise kein gesellschaftliches Zusammenleben möglich ist. Das Problem mit der Deontologie
ist nun, dass es, wenn wir uns strikt an sie halten, auch zu sehr problematischen Ergebnissen
kommt. Deswegen gibt es das Prinzip der Doppelwirkung: ein Prinzip, das eine restriktive
Interpretation der deontologischen Normgeltung ermöglicht.

Was also ist nun das Prinzip der Doppelwirkung? Lassen Sie uns auch dies anhand von
Beispielen betrachten – konstruierten Fällen, Laborfällen, keinen lebensweltlichen Fällen:
• Es gibt ein Eisenbahngleis. Darauf sind fünf Personen angekettet. Das sind sie nicht,
weil sie sich etwas zuschulden hätten kommen lassen. Sie sind unschuldig und liegen
dort unfreiwillig. Es fährt ein Zug auf dem Gleis, der würde die fünf Personen überrollen
und töten. Vor den fünf Personen befindet sich eine Brücke. Auf dieser Brücke steht ein

29
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige
Sekundärliteratur siehe Schockenhoff, Grundlegung der Ethik …, 460–466; Fisher, Morality and War …, 86–93.

32
1 Ethische Grundlagen

dicker Mann und dieser dicke Mann steht auf einer Falltür. Er ist ebenfalls unschuldig
und nur zufällig dort. Sie stehen am Hebel der Falltür. Wenn Sie die Falltür öffnen und
der dicke Mann auf die Gleise fällt, hält er den Zug auf, dabei stirbt er allerdings sicher.
Die anderen fünf, die dahinter auf dem Gleis liegen, überleben dann jedoch.

Negatives (Lebens-)Recht steht positiven (Lebens-)Rechten gegenüber: Dürfen Sie also die
Falltür öffnen oder nicht? Sie dürfen die Falltür nicht öffnen, weil Sie dann das gleichwer-
tige(!) negative Recht des dicken Mannes verletzen würden. Und wenn Sie den Zug weiter-
fahren lassen, was machen Sie dann? Dann missachten Sie die positiven Rechte der fünf
Personen, die auf dem Gleis liegen. Sie dürfen die positiven Rechte dieser fünf Personen
allerdings nicht zu dem Preis schützen, dass Sie das gleichwertige negative Recht des einen
verletzen.
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Instrumentalisieren menschlichen Lebens


Worin läge eigentlich das Problem, wenn wir einen unschuldigen Menschen direkt töten
dürften, um damit Andere zu retten? Es gibt zwei Probleme – ein deontologisches und
ein konsequenzialistisches.
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Deontologisch (argumentativ stärker) geht die Unantastbarkeit der Würde des Menschen
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

verloren: Ein Mensch hat eine Würde, aber keinen Preis. Niemand ist gegen etwas auf-
rechenbar, durch etwas ersetzbar (vgl. Kant: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder
einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas
anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin
kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“).
Als Konsequenzialisten (argumentativ schwächer) könnten wir dagegen zwar zunächst
sagen, dass fünf gerettete Menschenleben besser als eines sind. So sei es richtig, den
dicken Mann durch die Falltür fallen zu lassen. Wenn wir dieses Handeln aber ver-
allgemeinern, würden wir konsequenzialistisch jedoch eine paranoide Gesellschaft
voraussehen können. Denn es gäbe keine Sicherheit für den Einzelnen und jeder müsste
im Wissen „leben“, theoretisch instrumentalisiert werden zu können. Das wäre wiederum
ein übergroßer Nachteil.

Kehren wir zurück zu unserem Beispiel. Wenn wir uns also entscheiden müssen, die Fall-
tür nicht zu öffnen, müssen wir es geschehen lassen, dass der Zug über fünf Personen rollt.
Gehen wir nun einen Schritt weiter. Wo bedarf das Prinzip, gleichwertige negative
Rechte nicht verletzen zu dürfen, um positive Rechte zu schützen einer einschränkenden
Auslegung? Diese ist, wie gesagt, das Prinzip der Doppelwirkung.
Unter der Voraussetzung zu sagen, dass wir negative Rechte nicht verletzen dürfen,
solange sie gleichrangig sind, um positive Rechte zu schützen, gibt es Situationen, in denen
eine Deontologie an ihre Grenzen kommt und in denen man sagen könnte, dass eine solche
Position unannehmbar ist. Solche Situationen können wir oft durch die restriktive Interpreta-
tion mittels des Prinzips der Doppelwirkung lösen. Ziehen wir auch hierfür ein Beispiel heran.
• Sie haben ein Eisenbahngleis. Darauf sind fünf Personen angekettet. Vor diesen fünf
Personen befindet sich dieses Mal keine Brücke, sondern eine Weiche. Von ihr geht ein
zweites Gleis aus. Auf diesem ist eine Person angekettet. Alle Personen sind unschuldig

33
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

und liegen unfreiwillig dort. Sie stehen an der Weiche und haben den Hebel der Weiche
in der Hand. Halten Sie es für richtig oder halten Sie es für falsch, die Weiche umzu-
stellen? Stellen Sie die Weiche nicht um, rollt der Zug über fünf Personen. Tun sie es,
überrollt der Zug eine Person.

Das ist nicht die gleiche Konstellation wie im Brückenbeispiel. Bei der Brücke wird der
dicke Mann zum Instrument. Sie instrumentalisieren ihn, um die anderen fünf zu retten
(= wenn ein Arzt Sie ausschlachtet mit Ihren gesunden Organen, werden Sie zum Instru-
ment, um Andere zu retten). Im Weichenbeispiel geht es hingegen um eine ganz bestimmte
Art von Rettungshandlungen, nämlich Rettungshandlungen, bei denen der Schaden, der ent-
steht, gerade nicht das beabsichtigte Mittel zur Rettung ist, sondern die vorausgesehene
negative gleichursprüngliche Folge der Rettungshandlung.
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Wo genau liegt der Unterschied? Warum ist der eine, der auf dem zweiten Gleis liegt und
überfahren wird, nicht ebenso ein beabsichtigtes Mittel wie der dicke Mann, der durch die
Falltür fallen gelassen wird?
Ein kleines Gedankenexperiment zur Erläuterung: Nehmen wir einmal an, ich würde
mich entscheiden, die Falltür zu öffnen, der dicke Mann bliebe aber in der Falltür stecken –
was passiert dann mit meiner beabsichtigten Rettungshandlung? Kann ich die fünf Personen
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retten oder nicht? Nein. Ich würde wohl sagen: „Mist, hat nicht geklappt.“ Nehmen wir nun
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

im zweiten Fall an, ich würde die Weiche umstellen und der eine auf dem zweiten Gleis
würde sich losketten und weglaufen – was passiert dann mit meiner beabsichtigten Ret-
tungshandlung? Kann ich die fünf retten oder nicht? Ja. Und ich würde wohl sagen: „Umso
besser.“ Daran können Sie erkennen, dass im Weichenbeispiel der Mensch auf dem zweiten
Gleis nicht das beabsichtigte Mittel meiner Rettungshandlung ist, sondern nur eine voraus-
gesehene negative gleichursprüngliche Folge meiner Rettungshandlung.
Das Prinzip der Doppelwirkung ist also für bestimmte Fallkonstellationen eine Ein-
schränkung des deontologischen Grundsatzes, niemals gleichwertige negative Rechte ver-
letzen zu dürfen, um positive Rechte Anderer zu schützen. Es gilt unter vier Bedingungen:
Erstens muss meine Rettungshandlung moralisch positiv sein.
Zweitens, darf nur die positive Hauptwirkung diejenige sein, die ich direkt erzielen
möchte, die ich beabsichtige. Die negative Nebenwirkung hingegen darf gerade nicht beab-
sichtigt, sondern nur (sicher) vorausgesehen sein; als solche strebe ich sie nicht an, lasse sie
aber zu. Der Unterschied zwischen Absicht und (sicherem) Wissen ist, dass ich im zweiten
Fall etwas, das ich voraussehe, zulasse (billigend in Kauf nehme).
Drittens muss meine Handlung sowohl für das Schützen des Gutes als auch für das
Verursachen des Schadens gleichursprünglich beziehungsweise gleich unmittelbar sein.
Meine Handlung bewirkt also direkt sowohl das Retten des Gutes als auch das Verursa-
chen des Schadens (das Umstellen der Weiche führt gleichursprünglich beziehungsweise
gleich unmittelbar zur Rettung der fünf Personen wie auch zum Überfahren des einen durch
den Zug): Das Verursachen des Schadens ist eine Nebenfolge, weil sich gleichursprüng-
lich beziehungsweise gleich unmittelbar mehrere Folgen ergeben (das Öffnen der Falltür
instrumentalisiert hingegen den einen, durch den es dann erst zur Rettung der fünf Personen
kommt).
Viertens darf der verursachte Schaden nicht außer Verhältnis zum geschützten Gut stehen.

34
1 Ethische Grundlagen

Noch einmal: Das Prinzip der Doppelwirkung ermöglicht in den genannten Fallkon-
stellationen eine einschränkende Interpretation des absoluten deontologischen Verbotes,
unschuldige Personen zu töten – gleichwertige negative Rechte zu verletzten –, um andere
Personen zu retten – positive Rechte zu schützen. Ansonsten käme man durch das unein-
geschränkte Anwenden jener deontologisch geltenden Norm zum Ausschluss solcher Ret-
tungshandlungen, was nahezu niemandem mehr vermittelbar wäre. Meine Auffassung ist,
dass wir einerseits unbedingt das deontologische Verbot benötigen, dass wir einen Men-
schen nicht zum Mittel machen dürfen, dass kein Unschuldiger direkt getötet werden darf,
um Andere zu retten. Andererseits müssen wir aber ein Prinzip haben, um dieses absolute
Verbot in den besagten Fallkonstellationen einzuschränken, um durch eine deontologische
Argumentation nicht zu Handlungsanweisungen zu kommen, die nahezu niemandem mehr
vermittelbar sind.
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Das Prinzip der Doppelwirkung ist also für die deontologische Perspektive unbedingt
nötig – wenn man einerseits am absoluten Tötungsverbot Unschuldiger festhalten, zugleich
aber in den genannten Fallkonstellationen Rettungshandlungen nicht ausschließen will.

Im humanitären Völkerrecht ist dies die Grundlage für die Figur des Kollateralopfers (das
Wort Kollateral-„Schaden“ sollte nur für Gegenstände verwendet werden). Gutes Recht,
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vernünftiges Recht baut immer auf Ethik auf: Das ethische Prinzip der Doppelwirkung ist
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

die Grundlage für die Rechtsfigur des Kollateralopfers.


Beispiel: Ein Panzer beschießt ein Dorf und tötet dortige Bewohner/-innen. Ein anfliegendes
Flugzeug kann den Panzer bekämpfen. In der Nähe des Panzers hält sich ein Hirtenjunge auf.
Beim Zerstören des Panzers käme er zu Tode. Darf der Panzer bekämpft werden oder nicht?

1.6.3 Teleologische Vorzugsregeln

Die Vorzugsregeln, die wir hier nur verweisend erwähnen, sind ebenfalls wichtig. Sie sind
eine Präzisierung des teleologischen Konsequenzialismus. Wenn wir konsequenzialistische
Abwägungen treffen, sollen wir das rational machen, also mit Gründen – mit Vorzugsregeln
innerhalb des teleologischen Konsequenzialismus. Dieter Witschen bereitet dies gut zugäng-
lich auf:30 Hier seien seine Punkte lediglich genannt.
Wenn wir eine Abwägung vornehmen – was ist die bessere Folge, was die schlechtere
– und davon ausgehend entscheiden, welche Handlungsweise geboten (normativ)/richtig
(evaluativ) beziehungsweise welche verboten/falsch ist – können wir nach drei Aspekten
unterscheiden: adressatenbezogen, für wen es sich um gute oder schlechte Folgen handelt;
inhaltsbezogen, um welche Werte es geht; und epistemisch, das heißt von den Erkenntnis-
möglichkeiten her.
Adressatenbezogen gelten als Vorzugsregeln insbesondere Gemeinwohl vor Einzelwohl
(Stichwort: Enteignung und Entschädigung bei einem Konflikt um gleichwertige Güter) /
Viele statt einiger Weniger / entscheidungstheoretische Präferierungen, wie das Maximin-
Prinzip / vorrangige Optionen, wie für besonders Benachteiligte.

30
Dieter Witschen, Was verdient moralisch den Vorzug? Ethisches Abwägen durch Präferenzregeln, Stuttgart
2017, 27–54.

35
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Inhaltsbezogen gelten als Vorzugregeln vornehmlich: moralische Werte vor nicht-mora-


lischen Werten (Stichwort: statt Unrecht tun, lieber Unrecht erleiden) / das minus malum /
Schadensprofilaxe vor Schadensreparatur / die Wertdringlichkeit / die Werthöhe / Prima-
facie-Pflichten (Stichwort: allgemeine Pflicht zur Gewaltlosigkeit, in begründeten Sonder-
fällen Pflicht zur legitimen Gewalt).
Epistemisch gelten als Vorzugsregeln vor allem: die Wahrscheinlichkeit / die Vorherseh-
barkeit / das Risiko / das Vorsichtsprinzip / der gemäßigte Tutiorismus (Stichwort: Zeitpunkt
des Beginns menschlichen Lebens) / der modus procedendi.

1.7 Übungsfall

Nehmen wir einen konkreten Fall. Setzen Sie sich damit auseinander, wenden Sie an, was
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hier besprochen ist, und finden Sie eine eigene argumentative Bewertung.
Die Terrorgruppe T hat in der Hamburger Innenstadt eine große B-Bombe mit hämor-
rhagischen Viren deponiert. Diese hätte eine massenvernichtende Wirkung entfalten können.
Der Polizei ist es gelungen, nach kürzester Zeit das Mitglied M dieser Gruppe zu verhaften.
Sie hat unverzüglich begonnen, M zu verhören, um herauszufinden, wo sich die besagte
Bombe befand. Es war erwiesen, dass M zu T gehörte, aber nicht, dass M auch wusste, wo
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sich die Bombe befand. Die Leitende Polizeidirektorin P – die sich in ihrem langen Dienst
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

den Ruf einer vorbildlichen Führungskraft erworben hatte – hat sich dann in Anbetracht der
Umstände nach einiger Zeit entschieden, persönlich M zu foltern, um zu erfahren, wo die
Gruppe ihre Bombe deponiert hatte.
Beurteilen Sie Ps Vorgehen. Betrachten Sie die Handlung des Folterns jeweils unter den
Aspekten des Vorsatzes Ps, der ethischen Norm(en), der Folge(n) und der Haltung(en) Ps,
um zu einer Gesamtbewertung zu gelangen.

Fünf vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

David Edmonds, Würden Sie den dicken Mann Töten? Das Trolley-Problem und was uns
Ihre Antwort über Richtig und Falsch verrät, Stuttgart 2015.
Wilhelm Korff, Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985,
12–29.
Dieter Witschen, Was verdient moralisch den Vorzug? Ethisches Abwägen durch Präferenz-
regeln, Stuttgart 2017, 109–143.
Als Standardwerke seien genannt Friedo Ricken, Allgemeine Ethik, Stuttgart 52013.
Michael Quante, Einführung in die allgemeine Ethik, Darmstadt 62017.

36
2 Sozialethische Grundlagen

2 Sozialethische Grundlagen

2.1 Gutes Leben – gerechtes Zusammenleben

Gehen wir nun einen Schritt weiter zur Sozialethik. Es gibt zwei Bereiche in der Ethik, die
nebeneinanderstehen, aufeinander angewiesen sind und sich ergänzen, aber unbedingt von-
einander zu unterscheiden sind: das gute Leben und das gerechte Zusammenleben.31

Das gute Leben (‚personale Sittlichkeit‘) ist jenes, das Sie einzeln führen. Und damit ist
nicht gemeint, dass es Ihnen gut geht, sondern dass Sie sich gut verhalten – gut sein und
es sich gut gehen lassen sind verschiedene Dinge. Beim guten Leben geht es um das gut
sein. Maßstab ist das Wohl der Person: mein Wohl, Ihr Wohl. Wie verhalte ich mich mir und
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Anderen gegenüber? Das ist vor allem der Bereich der Individualethik. Für das, was hier
besondere Bedeutung hat, könnte man auch das Kant’sche Wort „Tugendpflichten“ wählen,
allerdings wurde dies nach Kant wenig verwendet. Es ist aber dennoch hilfreich: Denn
zwischen gutem Leben und gerechtem Zusammenleben zu unterscheiden, hat den Ursprung
bei Kant. So geht die Unterscheidung zwischen Individualethik und Sozialethik letztlich auf
eine wichtige Erfahrung und Darstellung bei ihm zurück.
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Tugendpflichten beziehen sich auf das Wohlwollen und Wohltun (dass Sie beispielweise,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

eine Andere wertschätzende oder eine Anderen zugewandte Person sind). Es gibt sehr viele
Verhaltensweisen, die niemand einklagen kann – solche, die wir aus eigener Motivation her-
aus wollen. Weil wir sagen, dass sie für uns, aufgrund unseres Menschenbildes, das richtige
Verhalten sind. Das, was das gute Leben ausmacht, hat zwar bloß eine weiche Geltung – aus
eigener Motivation –, hat inhaltlich dafür aber eine große Tiefendimension: Es erfasst die
ganze individuelle Lebenseinstellung und -führung.

Das gerechte Zusammenleben (‚institutionelle Sittlichkeit‘) hingegen betrifft das Koexis-


tieren in einem Gemeinwesen. Maßstab ist das richtige Abwägen zwischen den berechtigten
Belangen und Interessen aller Beteiligten. Das ist vor allem der Bereich der Sozialethik,
ebenso der Rechtsethik. Für das, was hier besondere Bedeutung hat, könnten wir auch
„Rechtspflichten“ sagen. Dabei geht es nicht um Wohlwollen und Wohltun, sondern um
Gerechtigkeit – einen Bereich mit harter Geltung. Im Vordergrund steht, was wir einander
schuldig sind: Was jemand von uns verlangen kann, dass wir es tun. Die entsprechende Per-
son kann das aufgrund subjektiver Rechte, die sie hat, einfordern. Zum Beispiel aufgrund
von Eigentumsrechten, die zu respektieren sind. Das sind Rechtspflichten.
Inhaltlich verfügt dieser Bereich über eine ungleich geringere Tiefendimension, er hat
aber eine wesentlich größere Breite wegen der immer ausdifferenzierteren Zusammenhänge,
die zu ihm gehören. Es geht um all das in Staat und Gesellschaft, was aufgrund gegeneinan-
der abgewogener Ansprüche von Anderen verlangt werden kann. Gerechtigkeit kann ganz
unterschiedlich konzipiert sein, von der Minimalgerechtigkeit in einem liberalen Nacht-
wächterstaat bis zur umfangreichen sozialen Gerechtigkeit in einem Sozialstaat: Doch ganz

31
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Elke Mack, Gerechtigkeit und gutes Leben, Paderborn 2002, 25–62.

37
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

gleich, wie anspruchsvoll sie gefasst wird, das von ihr Erfass- und Regelbare bleibt hinsicht-
lich der Tiefendimension deutlich geringer als das, worauf sich das gute Leben erstreckt.

Selbststand ethischer Normen


Der Bereich des gerechten Zusammenlebens ist rechtlich fassbar. Dies ist durch unser
Rechtssystem leistbar. Wichtig ist: Was wir im Bereich des gerechten Zusammenlebens
in eine Rechtsform bringen, das können wir in eine Rechtsform bringen, müssen es aber
nicht: Die Existenz ethischer Normen in diesem Bereich ist davon unabhängig, bleibt
davon unberührt.
Wenn wir hier also über Sozialethik, genauer politische Ethik, genauer Friedens- und
Konfliktethik sprechen, dann können viele unserer Betrachtungsgegenstände auch in
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eine Rechtsform gebracht werden (das wäre wünschenswert): Die Existenz der ethischen
Normen ist darauf nicht angewiesen, sie gelten unabhängig davon.

An dieser Stelle sei noch ein wenig auf Tugend- und Rechtspflichten – die nicht schlicht
mit gutem Leben und gerechtem Zusammenleben gleichgesetzt werden können, da zur ganz
persönlichen Lebensführung auch Rechtspflichten gehören – eingegangen.32 Die erstgenann-
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ten, die Tugendpflichten, können wir – in einer Begrifflichkeit des neuzeitlichen Naturrechts,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

die Kant fortgeführt hat – unvollkommene Pflichten nennen. Unvollkommene Pflicht heißt,
dass jeder sie widerspruchsfrei wollen kann, aber nicht jeder sie wollen muss. Die zweit-
genannten, die Rechtspflichten, können wir vollkommene Pflichten nennen, weil jeder sie
widerspruchsfrei wollen kann, und sie auch wollen muss. Was ist damit gemeint? Pflichten,
die Rechtspflichten sind, sind so hinreichend bestimmt, dass sie eine konkrete Handlung
begründen können; die hinreichende Bestimmtheit kann sich ergeben aus institutionellen
Zusammenhängen (zum Beispiel Versprechen, Verträge, Zugehörigkeit zu oder Ämter in
Vereinigungen, Zugehörigkeit zu oder Ämter in Staaten) oder aus besonderen Lebenssi-
tuationen (beispielsweise einem Verblutenden, Ertrinkenden, Verdurstenden zu begegnen).
Pflichten, die Tugendpflichten sind, sind demgegenüber insofern unterbestimmt, dass sie
zwar eine Haltung begründen, nicht aber eine konkrete Handlung; vielmehr bleibt ein Ent-
scheidungsspielraum mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten: Notleidenden Menschen
helfen kann man etwa, indem man an ein Hilfswerk spendet, das syrische Bürgerkriegs-
flüchtlinge versorgt, oder indem man ehrenamtlich in einer Obdachlosenunterkunft des eige-
nen Wohnorts mitarbeitet oder indem man mit einem Freiwilligenprogramm einen Unter-
stützungsdienst in Malawi leistet oder …
Daraus folgen auch Konsequenzen für das Verhältnis von Rechts- und Tugendpflich-
ten zueinander. Dieses Zueinander hat beispielsweise der Moraltheologe Dieter Witschen
gut zugänglich dargelegt.33 Grundsätzlich hat eine Rechtspflicht Vorrang vor einer Tugend-
pflicht. Es sind diesbezüglich jedoch zwei Weisen zu unterscheiden: zum einen gemäß eines

32
Für einen detaillierteren Zugang zu diesem Thema samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur
siehe Wolfgang Kersting, „Pflichten, unvollkommene/vollkommene“, in Historisches Wörterbuch der Philo-
sophie, hrsg. von Joachim Ritter [u. a.] Band 7, Basel 1989, Spalten 433–439.
33
Dieter Witschen, „Rechtspflicht vor Tugendpflicht. Reflexionen zu einer Präferenzregel“, Salzburger Theolo-
gische Zeitschrift 7 (2003) 195–207 i. V. m. ders. „Supererogatorische Handlungen – eine normativ-ethische
Kategorie sui generis?“, Freiburger Zeitschrift für Theologie und Philosophie 46 (1999) 502–519.

38
2 Sozialethische Grundlagen

„Fundierungsverhältnisses“ und zum anderen gemäß eines „Konkurrenzverhältnisses“. Die


erste Weise bezieht sich auf all jene Fälle, in denen eine Rechts- und eine Tugendpflicht zwar
nicht gleichzeitig, aber nacheinander erbracht werden können. Dann gilt, dass eine missach-
tete Rechtspflicht nicht etwa durch eine befolgte Tugendpflicht ‚kompensiert‘ werden kann,
sondern vielmehr, dass die Rechtspflicht grundlegend zu beachten ist und nur davon aus-
gehend die Tugendpflicht erfüllt werden darf. (Ein Beispiel: Wer als Geschäftsführer eines
Wohlfahrtsverbands Gelder unterschlagen hat, darf dies nicht durch deutlich höhere Spenden
an ein Waisenhaus kompensieren; vielmehr wäre zunächst das Unterschlagene zu erstatten
und nur daran anschließend könnten etwaige Spenden erfolgen.) Die zweite Weise bezieht
sich auf all jene Fälle, in denen eine Rechts- und eine Tugendpflicht derart kollidieren, dass
ihnen nicht aufeinander aufbauend entsprochen, sondern dass nur die eine oder die andere
überhaupt beachtet werden kann. Dann gilt ebenfalls, dass das Befolgen der Rechtspflicht
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und das Befolgen der Tugendpflicht keine gleichberechtigten Alternativen sind, sondern
vielmehr, dass das Befolgen der Tugendpflicht zurücksteht. (Ein Beispiel:34 Stammzellen-
forschung soll unter anderem Therapiemöglichkeiten für schwerste Krankheiten eröffnen,
was für viele Menschen eine große Hilfe oder sogar lebensrettend werden könnte. Bei man-
chen Formen der Stammzellenforschung werden jedoch menschliche Embryonen ‚zerstört‘.
Gegenüber der Achtung dieses menschlichen Lebens hat das Mühen um Therapiemöglich-
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keiten zurückzustehen und es darf keine ‚verbrauchende‘ Stammzellenforschung erfolgen;


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

möglich und wünschenswert bleiben solche Arten der Stammzellenforschung, die keine
menschlichen Embryonen ‚zerstören‘.)

Kehren wir nun zurück zu gutem Leben und gerechtem Zusammenleben: Beide gehö-
ren zur Ethik. Sie sind zu unterscheiden, aber nicht voneinander zu spalten. Gutes Leben
und gerechtes Zusammenleben sind aufeinander angewiesen. Das gute Leben überbietet
dabei das gerechte Zusammenleben, das bloß gerechte Zusammenleben ist für ein erfüll-
tes Menschsein unzureichend. Die lebens- und persönlichkeitserfüllenden Dinge im Leben
können Sie nicht mittels der Gerechtigkeit erreichen. Doch das gerechte Zusammenleben
ist seinerseits die dafür unumgehbare Voraussetzung, die niemals aufgehoben werden kann.
Die Gerechtigkeit ist die conditio sine qua non, also die Voraussetzung, ohne die es das
gute Leben nicht geben kann. Das heißt also, dass das Gerechte deutlich weniger ist als das
Gute. Aber am Gerechten vorbei kann sich das Gute nicht verwirklichen: Der Ausgleich der
Ansprüche verschiedener Personen ist zu achten, das ist der Bereich der Sozialethik und der
Rechtsethik.
Die Idee, zwischen gutem Leben und gerechtem Zusammenleben zu differenzieren, ist
in der Ethik sehr wichtig.
Ich hatte einführend gesagt, dass Ethik in ihren Anfängen Strebensethik (Tugendethik)
war. Aristoteles etwa dachte auch über die Gerechtigkeit nach. Er kannte Gerechtigkeit als
Tugend, aber auch als einen ‚strukturellen Beziehungsbegriff‘, sodass es durchaus indi-
vidualethisch und sozialethisch unterschiedene Aspekte gab. Bis Kant hatte man über die
Gerechtigkeit jedoch vor allem als Tugend nachgedacht, als Teil des guten Lebens. Seit
Kant hat man über Gerechtigkeit dann hingegen besonders im Sinn des gerechten Zusam-

34
Dieses Beispiel setzt die Auffassung voraus, dass das unbedingt zu achtende Gut des menschlichen Lebens mit
dem Verschmelzen von Ei und Samenzelle beginnt.

39
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

menlebens sinniert: also nicht mehr als individuelle Tugend, sondern als ein sozialethisches
Prinzip oder als ein sozialethischer Wert.
Warum ist dies alles von so eminenter Wichtigkeit? Die Unterscheidung zwischen dem
guten Leben und dem gerechten Zusammenleben ist die Voraussetzung für jedes gelingende
moderne Gemeinwesen, für jedes Gemeinwesen mit pluralen Konzepten des Guten. Das
sind wir: Wir sind ein modernes Gemeinwesen mit pluralen Konzepten des Guten.
Was meine ich damit? Sehen wir uns hierzu einmal abweichende Varianten an. Zum
einen, dass wir eine einzige, eine monistische Vorstellung des Guten haben: die eine Vor-
stellung vom guten Leben, die alle zu teilen und zu erfüllen haben. Das wären Gemein-
wesen, wie es sie beispielsweise im christlichen Bereich im Mittelalter gegeben hat. Es
gab eine gemeinsame Religion, eine Vorstellung des Guten, und diese galt allen als eine
anzunehmende und umzusetzende. Das entspricht heute nicht mehr unserer Wirklichkeit.
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Es gibt aber durchaus noch Ideologien und Religionen, die diesem Ideal anhängen. In sol-
chen Gemeinwesen bekommen wir allerdings ein Problem, denn wir nehmen den Menschen
die Freiheit – gewissermaßen der eine Straßengraben, in den man fahren kann mit einer
monistischen Vorstellung des Guten. Eine andere Variante – wenn man so will, der andere
Straßengraben, in den man fahren kann – wäre eine Gesellschaft, die nur auf Gerechtigkeit
abzielt und überhaupt gar keine Vorstellungen des Guten mehr stützt und fördert. Eine quasi
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nur gerechte Gesellschaft, die nicht mehr das gelingende Leben im Blick hat, also welche
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Konzepte gelingenden Lebens es gibt, sie zulässt und sie – wobei das Gemeinwesen selbst
freilich neutral bleiben muss – auch stützt und begünstigt, endet in einer inhaltlichen Leere.
Beide Straßengräben werden befahren. Im Straßengraben eines nur gerechten Zusam-
menlebens, in dem plurale Konzeptionen des Guten kaum als Komponente unterstützt wer-
den, befinden sich zum Beispiel manche besonders säkulare europäische Staaten, in denen
die Einwohner/-innen nicht selten in eine erschreckende Sinnesleere fallen. Das ist auch das,
was uns aus manchen anderen Kulturen vorgeworfen wird: dass bei uns eine gewisse Sinn-
entleerung spürbar ist. Es ist freilich nicht die Aufgabe eines Gemeinwesens, Konzeptionen
des guten Lebens vorzugeben; ganz im Gegenteil – sie sind individuell und müssen in Frei-
heit gelebt werden, aber es ist sehr zuträglich, wenn sie in wahrnehmbarer Weise präsent
sind. Im anderen Straßengraben einer monistischen Vorstellung des guten Lebens befinden
sich beispielsweise manche kommunistischen oder islamischen Staaten, in denen andere
Weltanschauungen nicht akzeptiert oder sogar nicht toleriert werden.
Oder anders: Die Vereinigten Staaten von Amerika (USA), die in Kontinentaleuropa oft
kritisiert werden, sind uns in diesem Punkt ein ganzes Stück voraus. Dort gibt es eine für
alle geltende Konzeption des Gerechten und darin sehr viele, kraftvolle Konzeptionen des
Guten – und beides ist aufeinander angewiesen.
Das Fundament für ein gelingendes, sowohl sinnerfülltes als auch plurales Zusammen-
leben ist also die Unterscheidung zwischen dem guten Leben – das ist individualethisch, das
kann man wollen, muss es aber nicht wollen, das hat eine große Tiefendimension – und dem
gerechten Zusammenleben – das ist sozialethisch und zwingend, das ist inhaltlich wesent-
lich breiter, hat aber eine deutlich geringere Tiefendimension, da es sich nicht auf die innere
Lebenseinstellung und -führung der Menschen erstreckt.

40
2 Sozialethische Grundlagen

2.2 Grundbegriffe

Kommen wir zu den verschiedenen Prinzipien, auf denen eine Sozialethik aufbauen kann:
Das hier Skizzierte wurzelt in der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Raum der katho-
lischen Kirche immer weiter entfalteten Soziallehre. Da diese im Laufe der Jahrzehnte
international wirkmächtig geworden und vielseitig anschlussfähig ist, ist sie ein guter Ver-
stehenszugang: Demnach geht es um das Personenprinzip, das Solidaritätsprinzip, das Sub-
sidiaritätsprinzip und das Gemeinwohlprinzip. Ebenso sei hier auch auf Freiheit und Gerech-
tigkeit eingegangen, die aber im strengen Sinne nicht als sozialethische Prinzipien, sondern
als sozialethische Werte bezeichnet werden.

2.2.1 Personenprinzip
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Manchmal sagen die Leute, dass das Personenprinzip langweilig sei, da es jeder kenne.
Nichtsdestoweniger ist das Personenprinzip der entscheidende Punkt, auf dem alles andere
aufbaut. Wir haben schon vorgelegt durch die Diskussion von deontologischen und teleo-
logischen Normen: Man darf einen Menschen nicht instrumentalisieren, sondern – so sagte
es Kant – ein Mensch ist immer ein Zweck an sich. Was also ist das Personenprinzip?35
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Erstens sagt es aus, dass jeder Mensch eine Personenwürde hat – lediglich, weil er ein
Mensch ist, mehr ist nicht erforderlich. Diese Personenwürde ist zudem absolut unverfügbar.
Hierzu ein kleiner Ausschnitt aus Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten:

Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an
dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen
Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. […] Nun ist Moralität
die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil
nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist
Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.
[…] Und was ist es denn nun, was die sittlich gute Gesinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe
Ansprüche zu machen? Es ist nichts Geringeres als der Antheil, den sie dem vernünftigen Wesen
an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft und es hiedurch zum Gliede in einem möglichen
Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu es durch seine eigene Natur schon bestimmt war, als
Zweck an sich selbst und eben darum als gesetzgebend im Reiche der Zwecke, in Ansehung aller
Naturgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst giebt und nach welchen seine
Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich selbst unterwirft) gehören kön-
nen. […] Die Gesetzgebung selbst […], muß […] eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren
Werth, haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung

35
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Eberhard Schockenhoff, „Die Achtung der Menschenwürde in der technisch-wis-
senschaftlichen Zivilisation“, in Handbuch der katholischen Soziallehre, hrsg. von Anton Rauscher, Berlin
2008, 61–76; ergänzend Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn
1998, 183–193; Alois Baumgartner, „Personalität“, in Christliche Sozialethik, hrsg. von Marianne Heimbach-
Steins, Band 1: Grundlagen, Regensburg 2004, 265–269.

41
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

abgiebt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der
Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.36

Hier wird sehr schön deutlich, was Würde meint und was der Unterschied zwischen Würde
und Preis ist: Wenn ich sage, ein Mensch hat eine Würde, dann kann ich ihn nicht irgendwie
kaufen, gegen anderes aufwiegen oder gegen Andere abwägen. Er ist dem entzogen. Das ist
die Idee, die dahintersteckt. Des Weiteren zeigt der Textauszug, was für Kant die Vorausset-
zung dafür ist, dass jemand ein Zweck an sich ist: also ein Mensch, der nicht als Mittel ver-
wendet werden darf – kurz: dass jemand ein im kantischen Sinne auto-nomes Wesen ist. Ich
betone dies so, weil wir viel von Autonomie sprechen und damit heute etwas ganz anderes
meinen. Bei Kant ist Autonomie die Selbstgesetzgebung. Es beschreibt ein Wesen, das in der
Lage ist, nach Maximen zu handeln, die auch als Prinzip für eine allgemeine Gesetzgebung
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taugen würden: also nach dem kategorischen Imperativ.


Für transzendente, für religiöse Konzeptionen bietet sich an dieser Stelle zugegebener-
maßen eine einfachere Begründung: Das christliche Menschenbild sagt beispielsweise, dass
der Mensch von Gott geschaffen ist und er als von Gott Geschaffener unantastbar ist. Das
kann man so sehen; ich persönlich sehe das so. Aber das muss man natürlich nicht so sehen.
Wenn die absolute Unverfügbarkeit der Person rein immanent begründet werden soll, wird
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es indes schwieriger. Dann ist zum Beispiel die Auto-nomie eines Wesens als Begründung
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heranzuziehen. Kants Begründungsansatz ist ein guter, klassischer, immanent eine unbe-
dingte Würde des Menschen zu begründen. An verschiedenen Stellen gibt es dabei jedoch
Schwierigkeiten. Welche Schwäche etwa fällt rasch auf, wenn ich sage, dass ein mensch-
liches Wesen mit Würde, das niemals zum Mittel werden darf, sondern immer Zweck ist, ein
auto-nomes Wesen ist? Es ist das Problem mit Menschen, die nicht auto-nom sind, geistig
Behinderte, Babys, Demente.
Es gibt auch andere immanente Ansätze, die dieses besondere Problem ausschließen
können. Aber es bleibt natürlich stets die Schwäche, dass es sich um menschliche Setzungen
handelt, die theoretisch auch anders ausfallen, geändert werden könnten: Alle immanenten
Begründungen der Personenwürde sind daher im Letzten nicht so unantastbar wie trans-
zendente, bei denen dem Menschen die Verfügungsmacht über den Menschen entzogen
wird. Das ‚Prä‘ transzendenter Begründungen liegt in unserem konkreten Beispiel also in
einer unverfügbaren anthropologischen Setzung, die sich dann in die Vernunftargumentation
hinein auswirkt, aber nicht in einer anderen Form argumentierender Vernunft/vernünftiger
Argumentation selbst.
Etwas allgemeiner sei in diesem Zusammenhang zugleich betont, dass weder transzen-
dente Begründungen, wie sie hier im Blick sind, Glaube und Vernunft in ein Oppositions-
verhältnis zueinander bringen, noch dass immanente Begründungen im Verhältnis zu jenen
transzendenten zu völlig konträren Ergebnissen führen. Zum einen ist die Vernunft, derer
sich immanente wie transzendente Begründungen bedienen, dieselbe, wodurch sich große
Ähnlichkeiten ergeben. Zum anderen hinterfragen und läutern sich Glaube und Vernunft
jeweils gegenseitig und können so einander stärken: In einem derartigen Verständnis müssen
einerseits Glaubensaussagen Rationabilitätskriterien genügen (≠ widervernünftig sein) und

36
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten …, 434ff [Hervorh. M.S.].

42
2 Sozialethische Grundlagen

erhalten andererseits Vernunfterschließungen und -bestimmungen aus dem denkkonstituti-


ven Raum des Glaubens Ausgangselemente und Orientierungsmarken.

Zweitens gehört zum Personenprinzip, dass die Person sowohl der Ausgangspunkt als auch
der Maßstab für alle Gemeinwesen und Institutionen ist. Es lässt sich gut illustrieren,
was damit gemeint ist. Es gibt natürliche Bedürfnisse, die allen Menschen gemeinsam sind.
Im Laufe der Jahrhunderte hat es immer wieder Ansätze gegeben, diese zu konturieren: Die
je aus Aristoteles schöpfenden von Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert (inclinationes
naturales) sowie von Martha Nussbaum zu unserer Zeit (capability & capabilities) können
dafür als wirkmächtige Beispiele angeführt werden.37 Um jene natürlichen Bedürfnisse zu
decken, erst recht, um sie gut zu erfüllen, kommunizieren und kooperieren nun die Einzelnen
mit anderen Menschen. Zugleich ist bloß das glückselige Leben (sei es in nichtreligiösem,
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sei es in religiösem Verständnis) eines jeden von ihnen selbstreferenziell und um nichts
Weiteren willen erstrebenswert; alles andere ist hingegen nicht selbstreferenziell, sondern
nur insofern erstrebenswert, als es jenes begünstigt. Im Verlauf der Neuzeit ist dementspre-
chend das Verständnis immer deutlicher ausgeführt worden, dass das Zusammenleben in
Gruppen und Gemeinwesen – gleich welcher Komplexität – sowohl seinen Ausgangspunkt
als auch seinen Sinn und Zweck im bestmöglichen Gewähren der Lebensvoraussetzungen,
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im bestmöglichen Erfüllen der natürlichen Bedürfnisse der Individuen hat. Wir vertreten
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

heute, dass beispielsweise für die Bundesrepublik Deutschland, für die Freie und Hanse-
stadt Hamburg, für die Universität Hamburg der Grund ihres Daseins und der Maßstab ihres
Handelns immer die Person sein soll.
Mag dies auch banal sein, so ist es nichtsdestoweniger fundamental, sich zu verdeut-
lichen, dass kein Gemeinwesen, keine Institution um seiner/ihrer selbst willen besteht,
sondern um des bedürfnisgesicherten, voraussetzungsbegünstigten Lebens der Menschen
willen. Kurz: Könnte es ein Gemeinwesen ohne Menschen geben? Nein. Könnte es Men-
schen ohne Gemeinwesen geben? Ja. Sie hätten freilich kein gutes Zusammenleben, aber sie
könnten existieren. Es ist ein weichenstellendes Verständnis, dass jedes Gemeinwesen von
der Person her und für die Person existiert und nicht etwa umgekehrt.

Drittens gehört zu diesem Prinzip, dass sich aus der Personenwürde unbedingte – also
vom Vorliegen bestimmter Umstände unabhängig, das bedeutet ja das Wort unbedingt –
Menschenrechte oder Personenrechte ergeben. Sie hängen also beispielsweise nicht von
vorliegenden Befähigungen oder erbrachten Leistungen ab, sondern kommen einem/einer
jeden zu.
An ihnen lässt sich nun veranschaulichen, wo immanente Begründungsansätze Schwie-
rigkeiten bekommen können. Immanente Begründungsansätze stehen transzendenten
Begründungsansätzen gegenüber. Letztere sind religiöse Begründungsansätze, die auf eine
jenseitige, eine außerweltliche Größe ausgreifen. Immanente Begründungsansätze sind
solche, die rein diesseitig argumentieren, ohne eine außerweltliche Größe auskommen.
Ganz fundamental war ja schon die Frage angesprochen worden, worin die Personenwürde

37
Thomas von Aquin, Summa theologica, Band 13, Heidelberg 1977, q. 91 a. 1 und q. 94 a. 2, 19–22 und 71–76;
Martha Nussbaum, Fähigkeiten schaffen: Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität, Freiburg
i. Br. 22019, 26–52.

43
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

begründet ist, wer sie dem Menschen verleiht. Wenn wir uns darauf einigen und sagen, wir
geben allen Menschen Würde, dann könnten wir uns, rein vertragstheoretisch – erinnern Sie
sich an die Vertragstheorie – auch auf etwas anderes einigen: Worauf wir uns einigen, ist
unserer Verfügbarkeit nicht ganz entzogen.
Ihren Ausdruck findet die Personenwürde nun in unveräußerlichen Menschenrechten
oder Personenrechten. Nehmen wir der Einfachheit halber das grundlegendste Recht von
allen, das Lebensrecht. Wir können recht einsichtig erklären, warum es beispielsweise
gerade für uns, die wir diese Diskussion führen, sinnvoll ist, wenn wir gegenseitig auf ein
etwaiges Recht verzichten, uns einander das Leben zu nehmen.
Stellen Sie sich aber vor, dass wir eine repräsentative Gruppe gebildeter Personen darauf-
hin ansprechen, dass ein Großelternteil von uns seit zwei Jahren ohne Schmerzen zu Hause
im Bett liege und nichts mehr wahrnehme. Stellen Sie sich vor, wir fragten diese Personen
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dann, warum wir unseren Großelternteil nicht töten dürften, da er ja auch zu nichts mehr
nütze sei. Dann würden viele antworten, dass das wegen dessen Menschenwürde nicht gehe.
Aber wenn wir dann weiterfragten, worin diese Würde gründete, warum der Mensch sie
habe und vor allem wo sie beginne und wo sie ende – dann würden sich die ausfransenden
Grenzen immanenter Antworten zeigen. An den Rändern kann es nämlich, wenn wir zur
Begründung nicht auf eine transzendente Größe ausgreifen – wie gesagt, wir können Würde
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transzendent begründen, müssen es aber freilich nicht – schwierig werden. Denn solche – sei
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

es utilitaristisch, sei es deontologisch von Eigenschaften ausgehenden – immanenten Erwä-


gungen haben Probleme, ihre Auffassung zum Lebensrecht in Abgrenzung zu anderen als
die zwingend geltende auszuweisen, wenn es an das Ende des Lebens geht.
Am Anfang des Lebens ist es ebenfalls schwierig: Ab wann beginnt der Lebensschutz?
Ab der Geburt, ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat, ab dem dritten? Da gibt es viele
Ansätze und Argumente: Peter Singer, ein provozierend-scharfer Philosoph, hat das einmal
beispielsweise durchexerziert und hinsichtlich des Lebensbeginns präferenzutilitaristisch
argumentativ aufbereitet, ab wann der Lebensschutz eigentlich gelte.38 So wird Peter Singer
häufig als enfant terrible dargestellt, das ist er aber nicht. Seine Absicht war bloß, präferenz-
utilitaristisch klar darzustellen, ab welchem Zeitpunkt man einem Menschen nicht das Leben
nehmen könne. Er argumentiert hinsichtlich verschiedener Zeitspannen, beispielsweise
innerhalb der ersten drei Monate oder der ersten sechs Monate oder bis zur Geburt. Er setzt
sich auch mit dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mutter und nasciturus auseinander. Er
kommt zu dem Ergebnis, rein präferenzutilitaristisch, dass es kein Unterschied sei, ein Neu-
geborenes zu töten oder ein Fötus im dritten Lebensmonat. Achtung: Peter Singer sagt nicht,
es sei erwünscht, Neugeborene zu töten. Was er aufzeigen möchte, ist, dass ein Neugebo-
renes – wenn man präferenzutilitaristisch alle Argumente nebeneinanderstellt – nicht mehr
Rechte hat als ein Fötus, der noch im Mutterleib ist: Die Geburt selbst ist ein willkürlicher
Einschnitt, der beispielsweise über die Überlebensfähigkeit des Einzelnen nichts aussagt.
Oder warum sollten wir einem alten Menschen nicht ermöglichen, sich zu töten, der zum
Beispiel sagt: „Ich lebe hier vor mich hin, ich habe zwar keine Schmerzen, aber ich koste
nur noch Geld und am Leben habe ich auch gar keine Freude mehr?“ Für rein immanente
Begründungen ist es nicht möglich, ihre diesbezügliche Ablehnung in Abgrenzung zu ande-
ren Positionen als die zwingend geltende auszuweisen.

38
Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 32013, 224–279.

44
2 Sozialethische Grundlagen

Worauf ich mit diesen kurzen Fragen verweisen möchte, ist, dass immanente Argu-
mentationen gerade an den Grenzen des Lebens Schwierigkeiten haben, mit Blick auf die
von ihnen vorgenommene Würdebestimmung Lebensrecht letztgültig und unverfügbar zu
begründen. Es gibt sehr gute Ansätze, das ist keine Frage, aber letztlich bleiben sie – aus
meiner Sicht – den transzendenten Ansätzen gegenüber in den Grenzfragen hinsichtlich
des Lebensanfangs und -endes, sowie auch hinsichtlich der Selbsttötung diesbezüglich im
Nachteil.

2.2.2 Freiheit und anthropologische Gleichheit

In unmittelbarem Zusammenhang mit dem erörterten Personenprinzip stehen Freiheit und


anthropologische Gleichheit.
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Erstens wenden wir uns der Freiheit zu. Bei der Reflexion über die Freiheit werden in der
Regel verschiedene, aufeinander gründende Dimensionen unterschieden: So ließen sich
aus ethischer Perspektive die Handlungs-, die Willens- und die Wesensfreiheit anführen,
aus juristischer zumindest die äußere und die innere Freiheit.39 Wenn wir hier für unsere
Zwecke die Wesensfreiheit unberücksichtigt lassen, bleiben Willensfreiheit (oder innere
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Freiheit) und Handlungsfreiheit (oder äußere Freiheit) in den Blick zu nehmen: Wir legen
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

dazu einschlägige Ausführungen des Moraltheologen Eberhard Schockenhoff zugrunde und


verstehen mit ihm die erste als „positive Freiheit zum Besseren“ oder „Fähigkeit zur Selbst-
bestimmung“ und die zweite als „negative Freiheit von äußerem Zwang“ oder „Abwesenheit
von Fremdbestimmung“.40
Auf den ersten Blick wird im Gegenstandsbereich der Friedens- und Konfliktethik oft
die Handlungsfreiheit im Vordergrund stehen: Kann jemand jenes Handeln – gleich ob
durch Tun oder durch Unterlassen –, für das er oder sie sich entscheidet, verfolgen, ohne
von Anderen durch Zwangsmittel darin be- oder daran gehindert zu werden? In den Worten
des Verfassungsrechtlers Ferdinand Kirchhofs: „Gegenstand des aus der Menschenwürde
abgeleiteten Freiheitsrechts ist der Anspruch der einzelnen Person, in seiner Autonomie vom
Staat, von gesellschaftlichen Mächten, von anderen Menschen nicht verletzt zu werden.“41
Andererseits ist auch offensichtlich, dass niemand von uns über uneingeschränkte Hand-
lungsfreiheit verfügt. Zum einen, weil wir uns, schon durch das bloße Entfalten unser aller
jeweiliger Handlungsfreiheit gegenseitig beschränken – insbesondere angesichts der End-
lichkeit von Zeit, Raum und Ressourcen. Zum anderen, weil wir beispielsweise durch unsere
körperlichen Fähigkeiten, durch uns umgebende Rechtsvorschriften und gesellschaftliche
Bräuche sowie durch unseren Beruf oder Status, samt der damit einhergehenden Erwartun-
gen an uns, mehr oder weniger intensive Einschränkungen erfahren. Die in dieser Weise
konturierte, sich im weiten Bereich zwischen zwangsbewährter Unterdrückung und unum-
gänglichen Begrenzungen erstreckende Handlungsfreiheit ist jedoch keineswegs der Inbe-

39
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Eberhard Schockenhoff, Theologie der Freiheit, Freiburg i. Br. 2007, 107–127.
40
Ebd., 110 und 132.
41
Ferdinand Kirchhof, „Die Idee der Menschenrechte als Mitte der modernen Verfassungsstaaten“, in Conceptua-
lization of the Person in Social Sciences, hrsg. von Pontifical Academy of Social Sciences, Vatikanstadt 2006,
141–161, 152.

45
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

griff oder die Fülle der Freiheit: Sie ist vielmehr – je nach bevorzugter Metapher – bloß die
Ausdruckserscheinung oder das Mindestmaß menschlicher Freiheit und verweist auf das sie
Hervorbringende beziehungsweise auf ihre größere Verwirklichung.
Es ist für uns deshalb unverzichtbar, dass wir uns verdeutlichen, dass die Handlungsfrei-
heit in der Willensfreiheit gründet. Das Problem der Willensfreiheit ist in der Philosophie
sehr umfangreich und kontrovers diskutiert worden. Es wurde und wird diesbezüglich eine
große Bandbreite an Positionen vertreten: vom radikalen Determinismus,42 für den sämtliche
Wünsche und Überzeugungen aus vorangegangenen inneren oder äußeren Ursachen hervor-
gehen, also in einer Kausalkette stehen, bis hin zum radikalen Indeterminismus, der eine
absolute, in keiner Weise durch vorangegangene innere oder äußere Faktoren beeinflusste
Freiheit verlangt. Hier ist nicht der Ort, um auf diese schwierige und differenzierte Diskus-
sion einzugehen. Vielmehr genügt für unsere Zwecke, dass die genannten Extrempositionen
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der Komplexität des Beginnens einer menschlichen Handlung nicht gerecht werden und
keinen breiten Rückhalt haben. Wir können nämlich vielfältige charakterliche Prägungen
und emotionale Affekte anerkennen, die einschränkend für die absolute Freiheit unseres
Willens sind, und zugleich das Vorhandensein einer Willensfreiheit mit guten Gründen ver-
treten, insofern ein Handeln durch Tun oder Unterlassen bloß in maßgeblicher Weise auf die
praktische Vernunft sowie den Willen des Akteurs zurückgeht: „In seinem Vollsinn besagt
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das Vermögen, eine Handlung auszuführen, […] die Fähigkeit, etwas absichtlich und aus
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Gründen zu tun.“43 In solch rationalem Wollen, das in Erwägen und Reflektieren Distanz
schafft, kann nämlich ein personales Ich angemessen zum Vorschein kommen und mit einer
freien Urheberschaft solcher Art tritt die Akteurskausalität in den Fokus: Ein Begriff, der
verdeutlichen soll, dass eine Handlung zum einen Selbstausdruck des Akteurs ist – und nicht
etwas von ihm Abtrennbares – und zum anderen als ursprünglich in ihm entstandene in die
Welt tritt.
Freiheit ist die Möglichkeitsbedingung jeglicher Moralität: Nur hinsichtlich von Akteu-
ren, die frei handeln, kann sittlich Gutes und Schlechtes überhaupt aufgezeigt und zuge-
schrieben werden. Wir Menschen sind – wie gesagt, unter Berücksichtigung vieler Prä-
gungen und Begrenzungen – freie, also auto-nome, selbst-gesetzgebende Wesen; oder
zumindest: Wesen mit auto-nom, selbst-gesetzgebend ausgestaltbaren Spielräumen. Als
solche Wesen treffen wir intentionale Entscheidungen, nehmen freie Setzungen vor; und
für diese tragen wir dann zugleich die Verantwortung. Beides gehört fest zusammen: Wenn
wir für uns reklamieren, dass wir intentionale Entscheidungen treffen können, bedeutet das
auch, dass uns hinsichtlich der Konsequenzen eben dieser frei vorgenommenen Setzungen
von Anderen die Verantwortung zugeschrieben wird. Der Mensch, der zur Freiheit fähig ist,
der sich im Status der Freiheit befindet, hat folglich eine autonom-verantwortliche Stellung:
„Recht verstanden meint der ethische Sinn der Freiheit nichts anderes als die personale
Autonomie des Handelnden, die diesem erwächst, indem er für sein äußeres Tun, für die
Motive seines Willens und für seine gesamte Lebensführung Verantwortung trägt.“44

42
Insbesondere der Behaviorismus sowie Teile der Soziobiologie und Neurowissenschaften sind hier zu verorten.
43
Schockenhoff, Theologie der Freiheit …, 121.
44
Ebd., 107.

46
2 Sozialethische Grundlagen

An die Freiheit knüpft, wie bereits angeklungen, etwas an, das für die Friedens- und Kon-
fliktethik fundamental ist, aber leider oft übersehen wird:45 Wenn wir als freie Wesen han-
deln, dann haben wir alle viele verschiedene Belange und Interessen. Das ist ganz normal.
Vor diesem Hintergrund können natürlich auch Situationen eintreten, in denen die Belange
und Interessen verschiedener Personen gegenläufig sind. Es kommt zum Konflikt. Dass
es dazu kommt, ist kein Problem, es ist normal und kann auch durchaus weiterführend sein.
Konflikte gäbe es erst dann nicht mehr, wenn wir alle tot wären: Solange wir aber leben,
wird es Konflikte geben. Das Problem ist also nicht das Existieren von Konflikten, sondern
das Problem ist die Art und Weise, Konflikte zu lösen.
Dass sich aus Freiheit Konflikte ergeben, kann durchaus auch etwas Positives und Nütz-
liches sein, weil wir uns durch Konflikte weiterentwickeln. Wenn Konflikte also unver-
meidlich sind und die Lösung von Konflikten stattfinden soll, dann gibt es – neben der
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gütlichen Einigung, die potenziell diejenige ist, die am meisten weiterführt – im Endeffekt
zwei weitere Möglichkeiten, mit einem Konflikt umzugehen: rechtsförmig oder gewaltför-
mig.46 Rechtsförmige Entscheidung ist das, was innerstaatlich vor Gerichten geschieht (auf
internationaler Ebene ist die Gerichts- und Schiedsgerichtsbarkeit hingegen nur elementar
vorhanden). Auch dadurch können wir uns fortentwickeln. Ein gewaltförmiges Handhaben
wäre indes die schlechteste Variante.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Zweitens ist die anthropologische Gleichheit zu nennen. Der formale Gleichheitsgrundsatz


besagt, in aller Kürze, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln: Ungleiches
gleich und Gleiches ungleich zu behandeln, ist ein Verstoß gegen diesen Gleichheitsgrundsatz.
Wichtig ist nun, dass wir zum einen alle gleich und zum anderen alle ungleich sind.
Inwiefern sind wir gleich? Wir sind in dem Sinne anthropologisch gleich, dass wir alle zur
Spezies Mensch gehören. Anthropos heißt im Griechischen der Mensch. Das fokussiert die
unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen des Menschseins. Wir sind aber ungleich hin-
sichtlich unserer Individualität. Das fokussiert die Vollendungsbedingungen des Mensch-
seins. Dies zu unterscheiden ist wichtig: Wir sind zum einen gleich und zum anderen sind
wir ungleich. Wenn wir also Ungleichheit hinsichtlich der Spezies, hinsichtlich der unhin-
tergehbaren Minimalvoraussetzungen des Menschseins vertreten – denkbare Beispiele sind,
dass eine Schwarze weniger wert ist als eine Weiße, eine Frau weniger als ein Mann –,
dann verstoßen wir gegen das, was wir anthropologische Gleichheit nennen. Wenn wir hier
hingegen Gleichmacherei betreiben und alle in allem gleich behandeln würden, dann wür-
den wir gegen die Ungleichheit hinsichtlich der Individualität – etwa hinsichtlich Eignung,
Befähigung und Leistung – verstoßen, also hinsichtlich der Vollendungsbedingungen des
Menschseins.
Worauf sich anthropologische Gleichheit bezieht und worauf nicht, lässt sich noch weiter
beschreiben eingedenk dessen, was wir bereits zu Beginn der Einführung behandelt haben:
Man erinnere sich an die Unterschiede zwischen den deontologischen Minimalvorausset-
zungen und den hermeneutischen Vollendungsbedingungen des Menschseins zurück, an das
Bild von Teleologie, Deontologie und Hermeneutik. In dem Zusammenhang ging es um

45
Vgl. zum Folgenden Franz-Josef Overbeck, Konstruktive Konfliktkultur, Freiburg i. Br. 2019, 55–66.
46
‚Gewaltförmig‘ bezieht sich hier und im Folgenden auf direkte physische Gewalt; ‚gewaltförmiger Konflikt‘
bezieht sich dementsprechend auf einen Konflikt, in dem direkte physische Gewalt ausgeübt wird.

47
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

ethische Entwürfe, die man nachvollziehen kann, aber nicht nachvollziehen muss, die also
damit zu tun haben, jemanden von einem anthropologischen Verständnis zu überzeugen,
damit er von dieser Sinneinsicht zur Anerkennung der Normgeltung kommt: Das ist die
hermeneutische Schlussfigur. Analog hierzu, zum Unterschied zwischen deontologischer
und hermeneutischer Normgeltung, ist auch hinsichtlich der anthropologischen Gleichheit
zu unterscheiden. Wir Menschen sind alle anthropologisch gleich im Sinne der unhinter-
gehbaren Minimalvoraussetzungen des Menschseins; es darf niemand benachteiligt werden
aufgrund seiner genetischen Abstammung/ethnischen Zugehörigkeit, seines Geschlechtes,
seines Alters, seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, seiner sexuellen Orientierung
oder seiner Weltanschauung. Ganz anders ist das aber hinsichtlich der anthropologischen
Vollendungsbedingungen, also was wir für ein Verständnis davon haben können, was ein
vollendetes Leben ist. Hier kann es durchaus dazu kommen, dass es in verschiedenen Auf-
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fassungen vom Menschsein gründende unterschiedliche Positionen gibt, dass Gruppen bei-
spielsweise der Auffassung sind, dass es zu den anthropologischen Vollendungsbedingungen
gehöre, dass Mann und Frau sich gegenseitig ergänzen und eine Ehe daher nur gemischtge-
schlechtlich sein könne. Hinsichtlich solcher Vollendungsbedingungen ist es aber eben mög-
lich, dass andere Gruppen anderslautende Auffassungen haben und vor deren Hintergrund
vertreten, dass es eine Ehe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern ebenso geben könne.
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Wenn wir von anthropologischer Gleichheit sprechen, ist es also wichtig zu unterschei-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

den zwischen anthropologischen Minimalvoraussetzungen, die unhintergehbar sind und


unbedingte Geltung haben, und anthropologischen Vollendungsbedingungen, hinsichtlich
derer es plurale Auffassungen geben kann, die nicht alle zwingend zu übernehmen haben.

2.2.3 Gerechtigkeit

Fahren wir mit der Gerechtigkeit fort. Sie ist das Ziel allen Rechts, der Sinn und Zweck des
Rechts. Wie also kann man Gerechtigkeit auffassen? Das Verständnis von Gerechtigkeit
ist mindestens so umstritten wie jenes von Freiheit. Gerechtigkeit ist das Herzthema der
Rechtsethik und der normativen Ethik. Das heißt, dass es viele verschiedene Rechts- und
Gerechtigkeitskonzeptionen gibt. Meist sind sie recht umfangreich und komplex; selbst über
einzelne Gerechtigkeitsaspekte werden ganze Monografien geschrieben. So wird der Aspekt
der Generationengerechtigkeit – der umso relevanter wird, je mehr sich Konsequenzen von
Handlungen auf Folgegenerationen auswirken, der aber bereits in sich recht komplex ist
– hier nicht explizit aufgenommen. Im Folgenden sei lediglich, knapp zusammengefasst,
ein Konzept von synchron fokussierter Gerechtigkeit präsentiert. Es handelt sich dabei um
wichtiges ‚Handwerkszeug‘, welches später in anderer Form wiederzufinden sein wird.
Denn das, was wir jetzt in den Grundlagen besprechen, findet sich auch im internationalen
Bereich wieder, im zwischenstaatlichen Bereich, als Frieden.47

47
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Bernhard Sutor, „Kleine Politische Ethik“, in ders. und Wolfgang Sohst, Politi-
sche Ethik und Kollektive Verantwortung, Berlin 2015, 15–259, 106–129; Werner Veith, „Gerechtigkeit“, in
Christliche Sozialethik …, 315–326; Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, München 22011, 216–229; Arno
Anzenbacher, Christliche Sozialethik …, 221–224.

48
2 Sozialethische Grundlagen

Gerechtigkeit lässt sich als soziale und als politische Gerechtigkeit darstellen. Hier eine
kleine Verständnishilfe: Die politische Gerechtigkeit kann man sich als so etwas wie einen
gewährenden Rahmen für die soziale Gerechtigkeit vorstellen, als die Möglichkeitsbedin-
gung, quasi.
Politische Gerechtigkeit ist in einem groben Sinne, dass auf unserer anthropologischen
Gleichheit unsere Freiheiten ruhen, die zur gegenseitigen und auch allseitigen Sicherung
in gleicher Weise eingeschränkt werden. Ein kurzer Blick zurück auf die Fiktion von John
Rawls: Da ging es darum, dass Menschen sich, vor dem Schleier des Nichtwissens, auf
eine bestimmte Gesellschaftskonzeption einigen. Sie verzichten im gegenseitigen Einver-
nehmen auf bestimmte Freiheitsrechte, um für jeden unter ihnen und für alle das Beste zu
erreichen. Das ist gewissermaßen auch für uns die Grundlage unserer politischen Gerechtig-
keit: Wir verzichten auf bestimmte, absolute Freiheiten, und zwar auf Gegenseitigkeit. Aber
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wir behalten alle die gleichen Freiheiten: Aufgrund der anthropologischen Gleichheit kann
niemand mehr Freiheiten für sich in Anspruch nehmen als ein Anderer. Darauf bauen dann
in einem zweiten Schritt unsere Menschenrechte als sogenannte Gerechtigkeitsstrategien
auf – das sind allerdings eher minimalistische Rechte, die nicht sehr weit gehen. Das ist also
das Fundament dessen, was wir politische Gerechtigkeit nennen.
Innerhalb dieses ermöglichenden Rahmens, den ein freiheitlicher Rechtsstaat bietet und
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der nötig ist, da wir ohne ihn letztlich der Freiheit der Menschen nicht gerecht werden, wird
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

dann soziale Gerechtigkeit angezielt.


Anders als politische Gerechtigkeit ist soziale Gerechtigkeit nicht so sehr eine rechtlich-
politische, sondern eine sozio-ökonomische Gerechtigkeit. Sie geht davon aus, dass wir alle
die gleichen Chancen haben und die gleichen Ämter erreichen können sollen. Das können
wir auf viele verschiedene Arten darstellen. Einen Leitfaden dafür zeige ich hier, aber das ist
natürlich nicht die einzige mögliche Konzeption – es gibt auch andere Auffassungen, andere
Darstellungsmöglichkeiten.

Abbildung 2: Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit Grafik: Christian Lau

Soziale Gerechtigkeit besteht aus verschiedenen Teilen. Lassen Sie mich darstellen, was sich
dahinter alles verbirgt.
Nichts in unserem Leben ist statisch. Wir sind alle frei. Statisch sind wir erst dann, wenn
wir tot sind. Solange wir das nicht sind, ist alles in Bewegung. Deswegen ist der Zustand,
den wir – als Ziel und Sinn allen Rechts – als Gerechtigkeit verwirklichen wollen, ebenfalls

49
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

etwas, das sich ständig in Bewegung befindet. So können wir Gerechtigkeit niemals vollkom-
men verwirklichen: Es handelt sich vielmehr um einen Zustand, der immer in Bewegung ist.
Kommen wir zu den einzelnen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit. Eine ist die soge-
nannte Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa). Ich kaufe mir ein Mobiltelefon und gebe
der Händlerin dafür eine entsprechende Summe Geld.
Eine weitere Dimension ist die korrigierende Gerechtigkeit (iustitia correctiva). Diese
bezeichnet das Eingreifen des Gemeinwesens, wenn Tauschbeziehungen zum Beispiel sehr
asymmetrisch sind. Das Gesetz über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen wäre ein Bei-
spiel dafür. Es regelt, welche Inhalte für Allgemeine Geschäftsbedingungen zulässig sind:
Denn insbesondere zwischen Konzernen und Privatpersonen besteht eine sehr große Asym-
metrie, deren Folgen beim Zustandekommen eines Vertragsschlusses begrenzt werden sollen.
Eine dritte Dimension behandelt unseren Beitrag gegenüber dem Gemeinwesen. Zuvor
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hatte ich zwar recht verkürzt gesagt, dass der Staat für den Menschen da ist, nicht der
Mensch für den Staat. Das ist natürlich nicht ganz korrekt, denn jeder von uns hat sich auch
aktiv einzubringen. Das ist die beitragende Gerechtigkeit (iustitia legalis).
Eine vierte Dimension der sozialen Gerechtigkeit ist die Verteilungsgerechtigkeit (iusti-
tia distributiva): Das Gemeinwesen wendet sich uns allen zu. Diese entfaltet sich ihrerseits
in vier Elementen: der Bedarfsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Beteiligungsgerechtig-
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keit und Leistungsgerechtigkeit.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Die Bedarfsgerechtigkeit besagt, dass jemand, der sich in einer Schwächeposition befindet
– ganz gleich ob selbstverschuldet oder nicht –, nicht in die Situation kommen soll, nicht über
das Lebensnotwendige verfügen zu können. Ein Beispiel sind in Deutschland die Sozialleis-
tungen für Personen, die langzeitarbeitslos sind oder nur eine äußerst geringe Rente beziehen.
Die Chancengerechtigkeit bezieht sich darauf, dass wir unsere Anlagen und Begabungen
entfalten können. Wir haben unter Umständen ähnliche Anlagen und Begabungen, können
diese aber nur sehr unterschiedlich entfalten, weil wir in unterschiedlichen sozialen Milieus
und in unterschiedlichen Familien aufwachsen. Chancengerechtigkeit bedeutet, sich für alle
um die Möglichkeit zu bemühen, dass sie ihre Anlagen und Begabungen ähnlich gut entfal-
ten können. Es ist nicht möglich, das wirklich anzugleichen. Aber es ist möglich, Menschen
zu unterstützen und Unterschiede zu verringern.
Die Beteiligungsgerechtigkeit wiederum bezieht sich darauf, dass wir unsere Befähigun-
gen schließlich auch in das Gemeinwesen einbringen können. Wenn Menschen ausgebildet
sind, aber zugleich eine Massenarbeitslosigkeit herrscht, stehen viele am Rand und können
sich mit ihren entsprechenden Befähigungen nicht einbringen. Die Beteiligungsgerechtigkeit
zielt auf den Ausgleich dessen ab.
Das Anliegen der Leistungsgerechtigkeit schließlich ist, Menschen einen Anreiz zu geben,
dass jene, die etwas Herausstechendes leisten können, dies auch tun. Das Ziel ist, dass davon
wiederum alle profitieren. Es geht also darum, es attraktiv zu machen, Herausstechendes zu
leisten.
Es ist einsichtig, dass sich diese Elemente nicht in einen statischen Idealzustand bringen
lassen, sondern dass sie sich teils auch widersprechen. Bedarfsgerechtigkeit und Leistungs-
gerechtigkeit sollen sich beispielsweise gegenseitig einhegen und ausbalancieren. Wenn
ausschließlich Leistungsgerechtigkeit gilt, werden viele durch das Raster fallen. Wenn aus-
schließlich Bedarfsgerechtigkeit gilt, wird es dazu kommen, dass Leistungsträger/-innen
kaum interessiert sind, letztlich für alle vorteilhaft Herausstechendes beizutragen, wofür sie

50
2 Sozialethische Grundlagen

die besonderen Befähigungen hätten. Kurz: Es muss eine ständige Balance zwischen diesen
Elementen geben, dies wird niemals statisch erreicht. Das ist der entscheidende Punkt: Wer
das Ganze als eine ständig fluide Situation begreift, liegt damit gut.

2.2.4 Solidaritätsprinzip

Weiter geht es mit dem Solidaritätsprinzip. Genau wie das Subsidiaritäts- und das Gemein-
wohlprinzip hat es seine Grundlage und seine Bezugsgröße im Personenprinzip.48
Das Solidaritätsprinzip nimmt in den Blick, dass es zwar eine anthropologische Gleich-
heit gibt, unsere Lebensglücke aber durch äußere Umstände sehr unterschiedlich sein kön-
nen. Hierdurch stehen die Einen besser da, die Anderen schlechter. Davon ausgehend zielt
es auf einen teilweisen Ausgleich solcher Vorteile und Lasten, aber nicht in egalitaristischem
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Sinne, sondern mit Blick auf das Allgemeinwohl.


Denn das Solidaritätsprinzip gründet in der Achtung des Nächsten sowie im Anerken-
nen eines gegenseitigen Aufeinanderverwiesenseins. Es ist letztlich darin fundiert, dass
keiner von uns – egal wie gut, wie stark oder intelligent er ist – ohne die Gemeinschaft, ohne
die Sozialität das sein könnte, was er ist. Im Endeffekt ist Solidarität ein ‚Zurückzahlen‘
dessen, was wir von unserem Gemeinwesen erhalten. Exemplarisch können wir – staat-
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lich wie nicht-staatlich – von der Daseinsvorsorge über die Vermittlung von Bildung, das
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Nutzbarsein von wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen bis hin zum Angebot von
Kultur verweisen.
Zu unterscheiden sind unterschiedliche ‚Dimensionen‘ von Solidarität: Die zwischen
Einzelnen beziehungsweise zwischen Gruppen (diese beiden ‚Dimensionen‘ können wir
horizontale Solidarität nennen) sowie jene zwischen Einzelnen oder Gruppen auf der einen
Seite und der Gesamtheit auf der anderen Seite (diese Dimension sei vertikale Solidarität
genannt). An dieser Stelle geht es um die horizontale Solidarität, die vertikale erörtern wir
bei den Ausführungen zum Subsidiaritätsprinzip.
Das Solidaritätsprinzip bezieht sich nicht auf ‚egoistische‘ Solidarität. Ein Beispiel hier-
für seien Feuerwehrleute, die in jedem Einsatz alle füreinander einstehen: Eine solche durch-
aus gute, auf die eigene Gruppe begrenzte Solidarität ist eine vorteilssichernde, ‚egoistische‘
Solidarität. Wenn wir alle Feuerwehrleute wären und sagten, dass jeder für jeden einsteht,
dann würden wir alle davon profitieren. Ebenso können militärische Verteidigungsbündnisse
angeführt werden, in denen sich alle gegenseitig versichern, dass der Angriff auf einen Mit-
gliedstaat wie ein Angriff auf alle angesehen wird und zur kollektiven Verteidigung führt.
Es geht vielmehr um ‚altruistische‘ Solidarität – eine Solidarität, von der wir selbst direkt
nichts haben, die idealerweise aber mit Blick auf das Allgemeinwohl förderlich ist. Stellen
Sie sich beispielhaft vor, dass jemand einer wirklich bedürftigen Obdachlosen auf der Straße
fünf Euro gibt. Aller Voraussicht nach wird es nicht zur spiegelbildlichen Situation kommen,
in der die Geberin einen direkten Vorteil aus ihrem Handeln ziehen könnte. ‚Altruistische‘

48
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Kurt Bayertz, „Begriff und Problem der Solidarität“, in Solidarität: Begriff und
Problem, hrsg. von ders., Berlin 1998, 11–53, 11–15 und 34–51; Alois Baumgartner, „Solidarität“, in Christli-
che Sozialethik …, 283–292; Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Die Sozialprinzipien der Katholischen Soziallehre“,
in Handbuch der katholischen Soziallehre …, 143–163,150–156.

51
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

Solidarität bezieht sich – ohne Gegenseitigkeit zu bedingen – auf Schwächere, denen die
Unterstützung der Stärkeren zugutekommt. Eine solche Unterstützung könnte übrigens auch
in einem Verzicht zum Ausdruck kommen: Indem jemand bewusst auf eine Leistung oder
Zuwendung, die zwar in Anspruch genommen werden dürfte, auf die Andere aber mehr
angewiesen sind, zur Förderung des Allgemeinwohls verzichtet.
Solche ‚altruistische‘ Solidarität ist gestuft; es ließe sich das Bild von konzentrischen
Kreisen denken. Wir können sagen, ‚altruistische‘ Solidarität ist konzentrisch organisiert: Sie
nimmt immer weiter ab, je weiter wir uns von uns selbst entfernen. Hinsichtlich ihrer Ziel-
größe ist ‚altruistische‘ Solidarität aber nichtsdestoweniger universal. Wir sind lediglich –
durch die stärkere Intensität des Erfahrens gegenseitiger Verwiesenheit – in den uns näheren
Bereichen zu mehr ‚altruistischer‘ Solidarität bereit und befähigt. Je weiter Menschen von uns
entfernt sind, desto weniger: Hamburger Unternehmen spenden und Hamburger Bürger/-innen
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engagieren sich ehrenamtlich für ein Obdachlosenprojekt in ihrer Stadt. Was ist mit einer der-
artigen Solidarität auf nationaler Ebene? Im Hinblick auf Obdachlosenprojekte in sämtlichen
deutschen Städten wäre wohl für Hamburger Unternehmen und Bürger/-innen nicht derselbe
Maßstab anzulegen. Oder: Innerhalb der Bundesrepublik Deutschland – einem Bundesstaat
mit proportional aufgeteiltem Gesamtsteueraufkommen – gibt es einen dauerhaften Länder-
finanzausgleich. Ausgehend von der Finanzkraft eines Landes im Vergleich zur durchschnitt-
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lichen Finanzkraft aller Bundesländer werden Zu- oder Abschläge zu beziehungsweise von
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

dem dem jeweiligen Bundesland zustehenden Umsatzsteueranteil vorgenommen. Was ist mit
einer derartigen Solidarität auf europäischer Ebene? Innerhalb der Europäischen Union, wie
sie gegenwärtig verfasst ist – einem Staatenverbund, dem Finanzmittel in Gesamthöhe von
knapp 1,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens der einzelnen Mitgliedstaaten zufließen –,
ist für einen „Länder“-Finanzausgleich zwischen Deutschland und Frankreich, Italien und
so weiter nicht derselbe Maßstab anzusetzen; und die auf dieser Ebene jeweils auf schwere
Finanz- und Wirtschaftskrisen gegebenen Ad-hoc-Antworten wie Europäische Finanzstabili-
sierungsfazilität (2010)/Europäischer Stabilitätsmechanismus (2012) oder ‚Europäischer Wie-
deraufbaufonds‘ (2020) geben hiervon ein eindrückliches Zeugnis.
Abschließend ist wichtig, dass Solidarität nachhaltig sein muss. Es geht also gerade nicht
darum, bloß kurzfristig zu helfen. Diese Überzeugung entspricht dem heute gängigen Ansatz
der Entwicklungszusammenarbeit. Sie zielt auf Hilfe zur Selbsthilfe: beispielsweise nicht
bloß Wasser oder Grundnahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, sondern vielmehr beizu-
bringen, Brunnen zu bohren und Nahrungsmittel zu produzieren.

2.2.5 Subsidiaritätsprinzip

Kommen wir zum Subsidiaritätsprinzip. Es ist im Vergleich zum Solidaritätsprinzip wohl


weniger bekannt, aber ebenso wichtig. Es ist ein Strukturprinzip von Gemeinwesen – und
zwar von Gemeinwesen, die aus mehreren Ebenen aufgebaut sind.49
Das Subsidiaritätsprinzip hat eine negative Seite und eine positive Seite.

49
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik …, 210–221; Franz-Josef Bohrmann,
„Subsidiarität“, in Christliche Sozialethik …, 293–301; Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Die Sozialprinzipien der
Katholischen Soziallehre …“, 157–162.

52
2 Sozialethische Grundlagen

Die negative ist, dass sich die höhere Ebene nicht in die Kompetenzen der personennä-
heren Ebene einmischen soll. Wir können daher auch von einem Nichteimischungsprinzip
sprechen, das auf etwas ebenso Wichtiges zielt, und zwar auf die Eigenverantwortung. Die
personennäheren Größen sollen also nicht so weit wie möglich Aufgaben auf die nächst-
höhere Ebene abschieben, sondern diese Aufgaben vielmehr selbst so weit wie möglich
wahrnehmen.
Sehen wir zur positiven Seite. Das, was wir auch Unterstützungsprinzip nennen können,
besagt, dass die höhere Ebene der personennäheren Ebene Unterstützung zukommen lassen
soll. Das impliziert zudem immer einen Rückzug der höheren Ebene, wenn die personen-
nähere Ebene, die das Problem nicht so gut lösen konnte, später dazu doch in der Lage ist.
Anders gesagt: Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass Probleme dort zu lösen sind, wo
sie am personennächsten und wo sie hinsichtlich des Wohls der Person gut zu lösen
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sind. Deswegen ist es so wichtig, dass Solidaritätsprinzip, Subsidiaritätsprinzip und Gemein-


wohlprinzip im Personenprinzip gründen und darin ihre Bezugsgröße haben. Die Bundes-
republik Deutschland zum Beispiel ist subsidiär strukturiert und das ist eine große Stärke.
Praktisch betrachtet heißt das, mit der Problemlösung am besten in der Familie zu beginnen.
Wenn sich dort bestimmte Fragen nicht klären lassen, dann gibt es dafür eine nächsthöhere
Bezugsgröße – etwa eine zivilgesellschaftliche Gruppe, welche auch immer das sein mag.
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Dann folgt womöglich die Kommunalgemeinde, ein Zweckverband oder der Landkreis, eine
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

regionale öffentliche Anstalt/Körperschaft oder das Bundesland und so weiter. Betrachten


wir es nicht juristisch, da wäre zwischen Selbstverwaltung, mittelbarer und unmittelbarer
Staatsverwaltung zu unterscheiden, das lassen wir hier beiseite. Eine Kommunalgemeinde
könnte ein Seniorenheim betreiben, in dem Personen, die zu Hause nicht mehr betreut wer-
den können, gepflegt werden. Ein eigenes Krankenhaus kann jene Gemeinde aber wahr-
scheinlich nicht unterhalten, das könnte dann der Kreis übernehmen. Ein Kreis ist selbst
wiederum nicht in der Lage, ein Gefängnis zu unterhalten, das übernehmen dann die Bun-
desländer. Und so geht es immer weiter die Ebenen hoch. Der Katastrophenschutz ist bei-
spielswiese Landesangelegenheit, wenn aber eine zahlreiche Länder übergreifende Notlage
eintritt, ist es sinnvoll, dass die Zuständigkeit auf die Bundesebene übergeht.
Diese beiden Seiten, die negative Seite, die Nichteinmischung von oben nach unten,
und die positive Seite, die Unterstützung von oben nach unten, schützen beide Ebenen vor
Überforderung – die jeweils höhere und die jeweils niedrigere: Sie schützen vor der Überfor-
derung der unteren Ebene, die ein Problem nicht bewältigen könnte, und vor Überforderung
der oberen Ebene, die zentralistisch zu viele Fragen an sich zöge.
Man kann das Subsidiaritätsprinzip auch mit drei Begriffen noch anders darstellen. Sub-
sidiäre Kompetenz: Dies bedeutet, der personennäheren Ebene so viel wie möglich und der
personenferneren Ebene so viel wie nötig zuzuweisen. Subsidiäre Assistenz: Dies besagt,
dass der nächstniedrigeren Ebene zu helfen ist, damit sie ein Problem lösen kann. Und
sobald jene Ebene dazu in der Lage ist, greift drittens die subsidiäre Revision: dass sich
die personenfernere Ebene wieder zurückzieht. Manche Angelegenheiten können niedrigere
Ebenen niemals allein bearbeiten, dann bleiben sie freilich bei den höheren angesiedelt.
Solidaritätsprinzip und Subsidiaritätsprinzip sind Baugesetze unseres Gemeinwesens –
und beide sind strikt aufeinander angewiesen. Das Solidaritätsprinzip, Anderen zu helfen,
und das Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung so weit wie möglich wahrzunehmen,
gehören untrennbar zusammen.

53
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

2.2.6 Gemeinwohlprinzip

Kommen wir zum letzten Prinzip, dem Gemeinwohlprinzip. Das Gemeinwohl ist der Sinn
und Zweck des Gemeinwesens. Es klingt sehr banal. Doch manchmal ist es nicht ganz ein-
fach, Gerechtigkeit – so wie wir sie hier erklärt haben, mit politischer sowie sozialer Gerech-
tigkeit – und Gemeinwohlprinzip auseinanderzuhalten. Das Gemeinwohl als Dienstwert
ist Sinn und Zweck des Handelns des Gemeinwesens, also des politischen Handelns. Die
Gerechtigkeit ist Sinn und Zweck des Rechts. Das Gemeinwesen benötigt eine gerechtig-
keitsanzielende Rechtsordnung, um zum Beispiel das Gemeinwohl zu verwirklichen. Aber
eine gerechtigkeitsanzielende Rechtsordnung allein reicht für das Erreichen des Gemein-
wohls bei Weitem nicht aus. Das ist das Gleiche wie hinsichtlich des Verhältnisses von
Politik und Recht: Die Politik braucht das Recht, aber das Recht allein reicht nicht, um gute
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Politik zu machen, um für gute politische Ergebnisse zu sorgen.


Was also ist nun das Gemeinwohlprinzip? Es handelt sich um das am meisten hinter-
fragte von den hier vorgetragenen Prinzipien.50
Wichtig ist, dass Gemeinwohl hier das Gemeinwohl als Dienstwert meint, nicht das
Gemeingut. Gemeinwohl als Dienstwert heißt, dass das Gemeinwesen die Aufgabe hat, uns,
den Einwohnern/Einwohnerinnen, die Möglichkeitsbedingungen zu geben, ein gelungenes
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Leben führen zu können. Dass wir das tatsächlich tun, liegt hingegen vor allem in unserer
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Eigenverantwortung.
Ich betone das, weil in der christlichen Tradition unter Gemeinwohl häufig etwas anderes
verstanden wurde. Man stelle sich hierzu einmal vor, beispielsweise im Kalifat des 9. Jahr-
hunderts oder in einem der christlichen Gemeinwesen des 11. Jahrhunderts zu leben. An der
Spitze stand der Monarch, darunter fast ausschließlich Muslime beziehungsweise Christen.
Damals war der Monarch nicht nur für das gerechte Zusammenleben zuständig, sondern
auch für das gelungene Leben. Also auch dafür, dass jeder/jede ein gutes, tugendhaftes
Leben führt. Ist das nicht der Fall, ist es ebenso Angelegenheit des Monarchen, sich darum
zu kümmern. Das ist heute nicht mehr unser Verständnis und deswegen sprechen wir vom
Gemeinwohl nicht als Gemeingut: Das wäre die Wertsumme, als Zielgut, der Gesamtgesell-
schaft; alles, was für jeden Einzelnen von uns wertvoll ist und was wir zusammenzählen.
Das jedoch interessiert uns hier nicht, wir sprechen vom Gemeinwohl als Dienstwert.
Das heißt, dass der Staat uns die Mittel und die Chancen bereitzustellen hat – was wir als
Möglichkeitsbedingungen verstehen –, damit wir ein gelungenes und gutes Leben führen
können. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass das Gemeinwohl als Dienstwert, das zum
Beispiel ein Staat wie Mali heute bereitstellen kann, ein ganz anderes ist als jenes, das bei-
spielsweise Deutschland aktuell für seine Einwohner/-innen verwirklichen kann. Es handelt
sich also um ein Prinzip, dessen Ergebnisse sehr dynamisch sind.
Wie können wir das Gemeinwohl als Dienstwert nun einigermaßen konkretisieren? Es
gibt zwei Möglichkeiten es zu fassen, die recht einfach sind.

50
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Arno Anzenbacher, „Gemeinwohl“, in Neues Handbuch philosophischer Grund-
begriffe, Band I, Freiburg i. Br. 2011, 919–931; Werner Veith, „Gemeinwohl“, in Christliche Sozialethik …,
270–282; Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Die Sozialprinzipien der Katholischen Soziallehre …“, 143–150.

54
2 Sozialethische Grundlagen

Die eine lautet: innere Ordnung und Wohlfahrt sowie äußere Sicherheit. Die andere, die
ich deutlich präferiere, lautet: Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung und Daseinsvorsorge.
Mit der Erklärung der Zweiten erklärt sich Erstere auch.
Was also ist Rechtsetzung? Rechtsetzung ist das Erlassen von Gesetzen im materialen
Sinne (nicht nur von Gesetzen im formalen Sinne): von Verfassung, Gesetzen, Verordnun-
gen, Satzungen und so weiter. Das ist die Grundlage, auf der wir Konflikte lösen. Die Recht-
setzung ist eminent. Sie ist eine zentrale Funktion des Staates. Es gibt keinen Staat, der nicht
Recht setzen würde.
Doch wir haben alle nichts davon, wenn Recht gesetzt, aber nicht durchgesetzt wird:
Wenn wir beispielsweise Gesetze haben, die für einen Diebstahl Strafe androhen, aber nie-
mand tatsächlich Konsequenzen zu befürchten hätte, wenn er Diebstähle begeht. Recht ist
auch durchzusetzen, weil es ansonsten seiner regulatorischen und konfliktlösenden Funk-
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tion nicht entspricht und damit kein Recht ist. Dies geschieht – in letzter Konsequenz – auf
zweierlei Weisen: nach innen durch die Justiz, also durch Gerichte und Organe der Rechts-
pflege, und nach außen durch Streitkräfte, die von dort herrührende Brüche der Rechtsord-
nung abwehren.
Schließlich ist auf die Daseinsvorsorge zu sehen. Sie bezeichnet das Bereitstellen jener
Leistungen, von denen jeder Einzelne von uns abhängt, die zu gewährleisten wir aber nicht
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selbst als Einzelne in der Lage sind. Klassische Beispiele der Daseinsvorsorge sind Was-
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ser- und Energieversorgung, Verkehrswege, Gesundheit (Rettungswesen, Krankenhäuser),


Bildung (Schulen, Universitäten), Kultur (Theater, Museen).
Das ist eine Konturierungsmöglichkeit für Gemeinwohl als Dienstwert. Manche Län-
der erfüllen heute Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung oder Daseinsvorsorge auf niedrigem
Niveau – dort, so können wir sagen, ist Leben möglich, aber nicht gut. Andere verwirklichen
es aktuell auf deutlich höherem Niveau. Das Mühen eines Staates muss freilich sein, für die
Einwohner/-innen die bestmöglichen Bedingungen anzustreben. Das aber ist ein relatives
und stets dynamisches Ergebnis.

2.3 Politische Ethik – Wirtschaftsethik – Gesellschaftsethik

Am Ende dieses Kapitels und dieses Hauptteils seien noch kurz die Hauptreflexionsbereiche
der Sozialethik genannt: Diese Orientierung ist insofern wichtig, weil sie aufzeigt, dass die
Friedens- und Konfliktethik darin einen zwar auswirkungsreichen, aber dennoch nur klei-
nen Teil – im Zuge unserer Auseinandersetzung in erster Linie im Bereich der politischen
Ethik – ausmacht.51
Unser Gemeinwesen, die Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat, und ebenso auch
alle anderen Gemeinwesen sind in drei große Bereiche unterteilt: in die politische Ordnung,
die Wirtschaftsordnung und die zivilgesellschaftliche Ordnung.
Die politische Ordnung betrifft die Konkurrenz um Macht zur Gestaltung. Denn Macht ist
das Mittel, um die konkrete Form eines organisierten, gemeinwohlorientierten Zusammen-
lebens zu gestalten: Verschiedene Gruppen und Kräfte konkurrieren um die Macht im Staat,

51
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Arthur Fridolin Utz, Sozialethik, Band 3: Die soziale Ordnung, Bonn 1986, 21–54,
insbesondere 24–29.

55
Voraussetzungen – eine orientierende Verortung

in Institutionen, um mittels dieser gestalten zu können. Damit hängt die Frage zusammen, wie
die Bedingungen für dieses Konkurrieren zu regeln sind. Das ist das, womit sich die politi-
sche Ethik beschäftigt: Sie setzt sich damit auseinander, wie eine sittliche Ordnung für das
Erlangen und eine sittliche Weise für das Ausüben solcher Macht aussieht – eben nicht ein-
fach nach dem Recht des Stärkeren, sondern gemäß legitimer Konkurrenzbedingungen, nach
denen sich die Beteiligten in der Politik miteinander auseinandersetzen, um die Gestaltungs-
macht zu erhalten. In einer freiheitlichen Demokratie sind solche Konkurrenzbedingungen
meist gut ausgeformt. Zwar ist diese Form der Demokratie nicht die ideale Staatsform, aber
sie ist die am wenigsten schlechte, jedenfalls für uns innerhalb des jüdisch-christlichen Kul-
turraums. Es mag Gesellschaften in anderen Kulturräumen geben – und darüber müssen wir
ganz ernsthaft nachdenken –, die ihre eigenen Varianten finden müssen. Demokratien unserer
Prägung passen für sie vielleicht nicht: Sie müssen ihre eigene Form von Demokratie finden.
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Es geht jedoch stets um Abgrenzen von Freiheiten sowie Beteiligung: Menschen müssen auf-
grund prinzipiell gleicher Freiheiten Beteiligungsmöglichkeiten haben.
Kommen wir zur Wirtschaftsordnung. Sie betrifft die Produktion von materiellen Gütern
und das Bereitstellen von Leistungen mit Gewinnabsicht. Dies soll die Grundlage dafür sein,
dass uns allen materielle Wohlfahrt zuteil wird: dass wir alle über materielle Grundlagen
verfügen, um zumindest sicher überleben und möglichst auch komfortabel leben zu können.
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Die dazugehörige Wirtschaftsethik wiederum sieht auf die sittliche Ordnung für gewinnori-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

entierte/-s Produktion/Bereitstellen. Wirtschaftsethik erörtert, was gebotene und verbotene,


richtige und falsche Möglichkeiten sind, im Wirtschaftsverkehr miteinander umzugehen.
Schließlich gibt es die (zivil-)gesellschaftliche Ordnung. Das ist letztlich derjenige Bereich,
den wir nicht mehr positiv definieren können, sondern nur negativ-abgrenzend als das Verblei-
bende: zum Beispiel Familie, Bildung, Kultur oder Sport. Eine hierauf bezogene ‚Zivilgesell-
schaftsethik‘ oder Gesellschaftsethik im engeren Sinn hat sich als solche wenig ausgeprägt;
ihr Fokus liegt auf dem Bedenken einer sittlichen Ordnung für die geistige Entwicklung der
Gesellschaft an den beispielhaft genannten Orten Familie, Bildung, Kultur oder Sport.
Wenn wir nun über Friedens- und Konfliktethik sprechen, bewegen wir uns im Bereich
der politischen Ethik: Wir sehen auf einen Teil jener Ordnung, die die Konkurrenz um Macht
als Gestaltungsmittel und deren Ausüben nach innen und nach außen betrifft.

Fünf vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn 1998,


178–224.
Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.), Christliche Sozialethik, Band 1: Grundlagen, Regens-
burg 2004, 261–326.
Stephan Kirste, Rechtsphilosophie. Einführung, Baden-Baden 22020, 145–197.
Elke Mack, Gerechtigkeit und gutes Leben. Christliche Ethik im politischen Diskurs, Pader-
born 2002, 25–62 und 281–338.
Bernhard Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Grundlage der Christlichen
Gesellschaftslehre, Paderborn 21992, 19–113.

56
Zweiter Hauptteil

Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

3 Paradigmenwechsel in der Friedens- und Konfliktethik

Für die Friedens- und Konfliktethik werde ich an dieser Stelle einen großen Bogen schlagen.
Das ist mir wichtig, weil wir später viel über den bellum iustum sprechen werden. Und in
diesem Zusammenhang ist es wichtig, den ‚gerechten Krieg‘ einordnen zu können. Denn
allein der Ausdruck – ‚gerechter Krieg‘ – löst gerade in Deutschland, heftige Reaktionen
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aus, ist dieser doch in Deutschland sehr negativ konnotiert. Im angelsächsischen Raum, vor
allem in den USA, ist das anders: Dort wird der Ausdruck just war häufig verwendet.
Ich erläutere nun, warum das Konzept des bellum iustum ein wertvolles, ethisches ist
– und nicht mit der Verkürzung verwechselt werden sollte, die häufig in Deutschland mit
‚gerechtem Krieg‘ assoziiert wird und angesichts derer viele, zu Recht, ablehnend reagieren.
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3.1 Das naturrechtlich-christliche Verständnis


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Wie sah sie die ursprüngliche Ausrichtung christlicher Friedensethik mit ihren griechisch-
römischen Wurzeln aus? Welches war ihr urtümliches Verständnis? Es gründete auf der Vor-
stellung, dass es eine natürliche, in der Welt enthaltene Ordnung gibt. Heute ist das für uns
ein sehr fremder Gedanke. Bei der Auseinandersetzung mit Denkern vergangener Zeiten ist
es daher immer erforderlich, deren Entwürfe innerhalb ihres jeweiligen (geistes-)geschichtli-
chen Kontextes zu verstehen. Diese natürliche Ordnung also, von der die Friedensethik aus-
ging, ist eine gute Ordnung. Christliche Denker wie Augustinus etwa brachten den Aspekt
mit ein, dass diese natürliche Ordnung eine Schöpfungsordnung ist, also geschaffen von
dem einem Gott. Diese gute Ordnung der Welt muss der Mensch lediglich erkennen und
nachvollziehen. Friede ist für ihn „Ruhe in der Ordnung“.52 Also das, was gut geschaffen
ist, was ruhig und geordnet ist, das muss der Mensch bloß wahrnehmen und nachvollziehen.
Der nächste wichtige Aspekt ist – damit kommen wir nahe an das mittelalterliche Ver-
ständnis von Thomas von Aquin –, dass der jeweilige Herrscher eines Gemeinwesens eine
umfassende Verantwortung für die dort lebende Bevölkerung hatte. Was ist damit gemeint?
Umfassende Verantwortung heißt, dass der Herrscher für die Gerechtigkeit, aber eben auch
für das gute Leben der Einwohner/-innen zuständig ist. Das erinnert an die Unterschei-
dung zwischen dem gerechten Zusammenleben und dem guten Leben, also zwischen dem
inhaltlich Begrenzten mit harter Geltung und dem inhaltlich Tiefergehenden mit weicher
Geltung. Diese Unterscheidung machte erst Kant, vor ihm gab es sie in dieser Form nicht.
Dass die Bewohner/-innen ein gutes Leben führen, fiel im orbis christianus ebenfalls in die
Verantwortung des Oberhauptes eines Gemeinwesens – der auctoritas oder des Souveräns:
Das ist allerdings anachronistisch formuliert, weil dieser letzte Ausdruck zu jener Zeit noch
nicht verwendet wurde. Diese beiden Begriffe sind nun wichtig für das, was ich erläutern

52
Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat II, in deutscher Sprache von Carl Johann Perl, Paderborn 1979, 475.

57
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

möchte. Die auctoritas/der Souverän war nicht nur dafür zuständig, dass ein Gemeinwesen
von außen nicht angegriffen wurde, sondern auch für die Durchsetzung von Gerechtigkeit im
Sinne von Gerechtigkeitsmaßstäben, die in der Natur, in der Welt, in der Schöpfung Gottes
erkennbar sind. Das heißt, wenn jemand nicht entsprechend lebte, hatte der Herrscher sich
darum zu kümmern und die Person auf den rechten Weg zu bringen. Wer als Herrscher in
evidenter Weise nicht für Gerechtigkeit und gutes Leben in seinem Gemeinwesen sorgte,
entsprach nicht nur nicht seiner umfassenden Verantwortung, sondern die anderen Souve-
räne konnten ihn auch zur Rechenschaft ziehen.

3.2 Das positivrechtlich-formale Verständnis

Doch Paradigmen wechseln mit der Zeit. Einen solchen Wechsel brachte das Ende des Drei-
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ßigjährigen Kriegs mit dem Westfälischen Frieden. Er brachte mit einer sich moralischer
Aspekte enthaltenden Formalisierung etwas, das wir heute als Rückschritt deuten, für die
Menschen damals aber zunächst ein Fortschritt war. Im Dreißigjährigen Krieg waren die
Kriegsparteien bereit, sich zu bekämpfen bis zum Untergang, und sie haben sich gegenseitig
dämonisiert: Die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges hat zu einem Verständniswechsel
geführt. Das neue Verständnis ging von einer moralischen Entladung aus, die letztlich auch
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die Koexistenz der Religionen erlaubte. Dabei ging es nicht darum, Krieg zu entmoralisieren.
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Es ging um eine Formalisierung, um eine normative Ausdünnung von Souveränität und eine
moralische Entladung von Krieg:53 Dieses Verständnis führte zu einer rechtlichen Minimal-
ordnung, die dann jedoch im Laufe der Zeit ihrerseits wieder problematisch werden sollte.
Einerseits bedeutete diese rechtliche Minimalordnung, dass einzelne Staaten jetzt
in einem rein formalen Verständnis souverän waren. Andererseits bedeutete sie, dass der
Kriegsgegner ein bloßer Gegner im agonalen Sinne war, aber kein Dämon, der vom Ange-
sicht der Erde auszuradieren war.
Das Nebeneinander der Staaten, die Redefinition des Souveränitätsbegriffes bedeutete
auch, dass Souveränität nicht mehr Verantwortung für den Erhalt der natürlichen Ordnung,
für Gerechtigkeit und gutes Leben bedeutete. Der neue Konsens war: Souveränität ist die
territorial zu respektierende Kontrolle – also territoriale Integrität, nicht mehr. Anders
gewendet: Jeder Staat macht auf seinem Territorium, was er will – natürlich einschließlich
der Möglichkeit zur Selbstbindung an die jeweils eigenen sittlichen Grundsätze –, und ein
anderer Staat hat sich nicht einzumischen. Wer sich hingegen in das Geschehen auf dem
Territorium eines fremden Staats einmischt, verletzt dessen Souveränität.
Mit dieser Veränderung hinsichtlich des Inneren der Staaten ging auch eine Veränderung
nach außen einher. Staaten durften Krieg führen. Allerdings nicht um ethischer Anliegen
willen, um einer guten Ordnung willen. Vielmehr durften sie Krieg nach der rein forma-
len rechtlichen Frage führen, wer dazu befugt war, einen Krieg zu führen. Vom ‚gerechten
Grund‘ einen Krieg zu führen, war nichts übriggeblieben. Es stellte sich nur die Frage, wer
Krieg führen durfte: Krieg führen durfte nur das Oberhaupt eines souveränen Staats. So
wurde ein liberum ius ad bellum erkennbar, das freie Recht zum Krieg.

53
Weiterführend hierzu James Turner Johnson, „Religion, Violence, and Human Rights. Protection of Human
Rights as Justification for the Use of Armed Force“, Journal of Religious Ethics 41 (2013) 1–14, 4 und 11ff;
Dieter Baumann, Militärethik, Stuttgart 2007, 319f und 324f.

58
3 Paradigmenwechsel in der Friedens- und Konfliktethi

Dies war der erste Paradigmenwechsel – vom naturrechtlich-christlichen zum positiv-


rechtlich-formalen des Westfälischen Friedens: Ein Staat darf nach außen hin jemandem
Krieg erklären „als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mit-
tel“54 und nach innen tun und lassen, was er will. Es ist die moralische Entladung des Krie-
ges mit freiem Kriegsführungsrecht und die normative Ausdünnung der Souveränität bloß
zu territorial zu respektierender Kontrolle, zu territorialer Integrität. Wenn Deutsche heute
angesichts der Rede vom ‚gerechten Krieg‘ mit heftiger Ablehnung reagieren, dann legen
sie genau dieses Paradigma zugrunde, nicht das vorausgehende, welches man aber unbedingt
kennen muss: das Verständnis, das man beispielhaft bei Cicero, Augustinus, Thomas von
Aquin und Francisco de Vitoria findet und das ein ethisches ist.

3.3 Das normativ-elementare Verständnis


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Gegen Ende des Ersten Weltkriegs begann dann ein weiterer Paradigmenwechsel einzu-
setzen, der normativ wieder zu einem material anspruchsvolleren Verständnis führen sollte.
Nach der horrenden Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges hatte man nach einem System
gesucht, in dem Staaten zumindest agonal miteinander auskommen konnten: in einer Staa-
tenanarchie – mehr oder weniger leben wir heute noch ein einer solchen Anarchie. Doch
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dieses System stellte sich seinerseits am Ende des Ersten Weltkriegs als un-lebbar her-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

aus – dieses Mal vor allem durch den technischen Fortschritt und der neuen Dimension der
damit einhergehenden Zerstörungen. Besonders erwähnenswert ist der 1928 geschlossene
Briand-Kellogg-Pakt, in dem man übereinkam, den Krieg zu ächten. Und in der Charta der
Vereinten Nationen (VN-Charta) von 1945 findet sich das Gewaltverbot. Damit kommt eine
längere Entwicklung zum Abschluss: Alle Dispute sind ausschließlich friedlich beizulegen.
Zu Waffengewalt darf ein Staat nur noch dann legitim greifen, wenn er angegriffen wird
und sich verteidigen muss. Fortan durfte ein Staat nach außen hin also nicht mehr tun und
lassen, was er wollte.
Und der komplementäre Schritt dazu betraf die Dimension nach innen hin. Ein Staat
durfte auch nach innen hin nicht mehr tun und lassen, was er wollte. Souveränität bedeutete
eben nicht mehr bloß territorial zu respektierende Kontrolle, sondern auch die Rückbindung
an ein bestimmtes normatives Mindestmaß, das bei Unterschreitung zu einem Eingreifen
der internationalen Staatengemeinschaft führt. Dieses Verständnis war im Ansatz schon in
der 1945 verabschiedeten VN-Charta enthalten, stellte zu jener Zeit aber eher Überlegungen
dar, die noch nicht auf tatsächlicher Ebene unterfüttert waren. Es ist gut begründet, dass
die VN-Charta so zu lesen ist, dass ein Staat in seinem Inneren nicht tun und lassen kann,
was er will. Bis diese Überlegungen aber auch tatsächlich Wirkung entfalteten, hat es noch
sehr lange gedauert. Die ersten zaghaften Versuche in einem Land einzugreifen, in dem es
schwere innere Verwerfungen gab, gab es Ende der 1980er-Jahre. Der erste Fall, in dem
die internationale Staatengemeinschaft dann tatsächlich in eine auf das Innere eines Staates
beschränkte Situation eingegriffen hat, die sie als Gefährdung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit bezeichnete, war 1992 in Somalia.
Das ist also der zweite Paradigmenwechsel: Ein Staat darf nach außen und innen nicht
mehr tun und lassen, was er will.

54
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 181973, 674.

59
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Fassen wir zusammen. Erstens: Das ursprüngliche Konzept von Frieden und seiner Wieder-
herstellung im bellum iustum fußte auf dem Gedanken einer natürlichen, in der Welt ent-
haltenen Ordnung, die der Mensch lediglich erkennen und nachvollziehen musste, und jeder
Herrscher hatte die Pflicht, dafür Sorge zu tragen. Zweitens: Die Erfahrungen im Dreißig-
jährigen Krieg führten zu einem ersten Paradigmenwechsel – zu einer normativen Ausdün-
nung der Souveränität und einer moralischen Entladung des Kriegs aus guten Gründen, die
wiederum zu einer aushöhlenden Formalisierung von Krieg und Souveränität führten sowie
zu einer großen Freiheit von Staaten nach innen und außen. Drittens: Das 20. Jahrhundert
brachte einen zweiten Paradigmenwechsel – die Ächtung des Krieges und die normative
Rückbindung der Souveränität, die sich an ethischen Maßstäben messen lassen muss.
Hierin zeigt sich wieder eine gewisse Nähe zum ursprünglichen Verständnis. Aber es gibt
auch einen großen Unterschied: Wir gehen heute nicht mehr davon aus, dass es eine feste,
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natürliche Ordnung gibt, die der Mensch nur erkennen und nachvollziehen muss. In unse-
rem Zusammenhang heute spielt vielmehr der Menschenrechtsdiskurs eine zentrale Rolle
(aus heutiger kirchlicher Perspektive lassen sich Menschenrechte als Ausdruck der natür-
lichen Ordnung sehen). Aber der Menschenrechtsdiskurs ist ein minimalistischer. Zur Erin-
nerung: Es besteht ein Unterschied zwischen unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen des
Menschseins und den Vollendungsbedingungen des Menschseins. Nur die unhintergehbaren
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Minimalbedingungen sind für uns für die normativ rückgebundene Souveränität konstitutiv,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

die Vollendungsbedingungen des Menschseins sind es nicht.


Vor diesem großen Hintergrund ist es aus meiner Sicht begründet möglich, vom bellum
iustum als einem ethischen Konzept zu sprechen, das vom Entwurf einer Friedensordnung
ausgeht und über deren Wiederherstellen angesichts extremer Brüche reflektiert. Dies ver-
folgen wir nun zunächst anhand einer Reihe exemplarischer Denker nach: Um wichtige Ent-
wicklungsschritte beispielhaft aufzuzeigen, bieten sich die gewählten Autoren an, weil sie
– wenn auch teilweise stark verzögert – jeweils sehr wirkmächtig waren. Das abschließende
Kapitel dieses zweiten Hauptteils hingegen wird die differenzierte Ausformung, die in der
Moderne – nicht zuletzt völkerrechtlich – gewissermaßen als Ausfluss des Voranstehenden
erreicht wurde, wieder synoptisch darstellen.

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Heinz-Gerhard Justenhoven und William A. Barbieri (Hrsg.), From Just War to Modern
Peace Ethics, Berlin 2012.
Eberhard Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt,
Freiburg i. Br. 2018, 104–331.
Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden
2017, 191–339.

60
4 Gerechtigkeitsgeleitetheit statt Hab- und Ruhmsucht (Marcus Tullius Cicero)

4 Gerechtigkeitsgeleitetheit statt Hab- und Ruhmsucht


(Marcus Tullius Cicero)55

Zu Beginn unserer knappen Auseinandersetzung mit Überlegungen von Cicero (106 bis 43
vor Christus), die die ersten ausführlicheren hinsichtlich der Frage möglicher gerechter
Kriegsgründe waren, ist es hilfreich, auf Hintergründe im griechischen Gedankengut hin-
zuweisen.
Dazu sei eingangs Aristoteles angeführt, bei dem zuerst der Begriff des ‚gerechten Krie-
ges‘ erscheint. Der Krieg lässt sich unter drei systematischen Aspekten betrachten: dem
Gegner, den Gründen56 und der Kriegsführung.57 Allein aus dem ersten Aspekt heraus ent-
wickelte Aristoteles den Begriff des „φύσει δίκαιος […] πόλεμος“ (von Natur aus gerechten
Krieges).58 Hiernach war ein Krieg aus der Opposition zwischen Griechen und Barbaren
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heraus allein schon durch das Recht des überlegenen Volkes gerecht. Aristoteles ist demnach
zwar der Schöpfer des Begriffs des ‚gerechten Krieges‘, dieser trägt aber zunächst das Recht
des Überlegenen in sich und hat nichts mit seiner späteren Bedeutung zu tun.59
Die gerechten Gründe für einen Krieg finden sich vielmehr getrennt davon als ἀρχή
δικαία τοῦ πολέμου (gerechter Grund des Krieges), ein Krieg gegen Barbaren bedurfte ihrer
nicht: Sie umfassten Abwehr, Vergeltung und Strafe und bezogen sich, wie die Regeln zur
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Kriegsführung, auf den innergriechischen Bereich.60 In diesem wurde der Krieg nämlich wie
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ein Wettkampf gesehen, in dem es einen Gegner, aber keinen Feind gab; in ihm waren die
Götter Schiedsrichter/-innen, standen aber nicht auf einer Seite.61 Diese Begrenzung auf den
innergriechischen Bereich endete erst mit der philosophischen Schule der Stoa im 3. Jahr-
hundert vor Christus. Sie stellte die Verfassung der κοσμόπολις (weltbürgerlichen Gemein-
schaft) in den Vordergrund, die auf dem Vernunftgesetz beruhte: Aus diesem Grund galt sie
für alle Menschen. Folglich trat der φύσει δίκαιος πόλεμος in seiner vorstehend genannten
Form hinter den gerechten Kriegsgründen zurück.62
Erste ausführlichere Reflexionen, wenn auch nicht systematischer Art, zu einem in dieser
Weise gerechten Krieg entfaltete dann erst Cicero Mitte des 1. Jahrhunderts vor Christus. Er
schöpfte aus der Stoa, dem rituellen Fetialrecht, das einen festen Übergang zwischen Frie-
den und Krieg schaffte, und den römischen Militärschriftstellern.63 Letztere boten ihm die
Grundlage für Ausführungen zu Organisation sowie zur Art und Weise der Kriegsführung.
Anhand der ersten beiden Quellen bezog er sich sowohl auf den formalen wie materialen

55
Die folgenden Ausführungen sind eine durchgesehene und geringfügig erweiterte Fassung des diesbezüglichen
Abschnitts in Marco Schrage, Intervention in Libyen. Eine Bewertung der multilateralen militärischen Inter-
vention zu humanitären Zwecken aus Perspektive katholischer Friedensethik, Münster 2016, 222–224.
56
Im 20. Jahrhundert etabliert sich dafür der Ausdruck ius ad bellum, Martin Giese, Vom gerechten Krieg zu
humanitären Interventionen, München 2010, 5.
57
Im 20. Jahrhundert etabliert sich dafür der Ausdruck ius in bello; ebd.
58
Aristoteles, Politique. Livre I et II. Texte établi et traduit par Jean Aubonnet, Paris 1960, 1256b, 26.
59
Peter Schmidt, Bellum iustum: gerechter Krieg und Völkerrecht in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M.
2010, 88f.
60
Silvia Clavadetscher-Thürlemann, Polemos dikaios und bellum iustum, Zürich 1985, 125f.
61
Heinz-Günther Stobbe, Religion, Gewalt und Krieg, Stuttgart 2010, 108.
62
Schmidt, Bellum iustum: gerechter Krieg und Völkerrecht …, 90f.
63
Stobbe, Religion, Gewalt und Krieg …, 184ff; Clavadetscher-Thürlemann, Polemos dikaios und bellum ius-
tum …, 177.

61
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Aspekt der Kriegserklärung. Zum einen bedurfte es eines festen Ablaufs zur Kriegserklärung
und zum anderen war ein Krieg nur iustum, wenn eine iniuria vorlag.64 In dieser Auffassung,
dass Krieg in all seinen Aspekten davon bestimmt sein musste, dass er wesensgemäß nur
eine Abhilfemaßnahme hinsichtlich einer bestimmten iniuria war – indem er einzig auf die
Wiederherstellung der Gerechtigkeit zielte und zahlreichen darin begründeten Einschrän-
kungen unterlag –, drückten sich Hauptmotiv und Hauptansinnen Ciceros aus. Cicero war
davon überzeugt, dass das sittlich Gute (bonum honestum) und das Nützliche (bonum utile),
jedenfalls auf lange Sicht, übereinstimmen und dass dementsprechend sittlich schlechtes
Handeln stets in Schaden und Nachteil mündet: So sah er die Ursache für die anhaltenden
schweren Verwerfungen nach innen und außen, unter denen die späte römische Republik litt,
in all jenen Kriegen, die von ihren römischen Protagonisten bloß aus Hab- und Ruhmsucht
geführt worden waren. Dies war sein Hauptmotiv. Folglich wollte er ein gerechtigkeitsgelei-
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tetes Kriegsverständnis überzeugend darlegen, das streng begrenzend wirkte, damit führende
Politiker es zu ihrem Handlungsmaßstab machten und damit Verwerfungen nach innen wie
außen minimiert statt genährt würden. Das war sein Hauptansinnen.
Im Wesentlichen finden sich Ciceros einschlägige Ausführungen in seinen Werken De
officiis,65 De re publica66 und De legibus,67 wobei die diesbezüglichen Passagen der letzten
beiden nur durch spätantike Autorenzitate beziehungsweise in Fragmenten überliefert sind.68
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De re publica und De legibus legen den Schwerpunkt auf das gerechte Verhalten der auch
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

für die Alliierten verantwortlichen römischen Herrscher beziehungsweise der Statthalter in


den Provinzen; sie nennen aber keine Kriterien, die über die in den Ausführungen von De
Officiis behandelten hinausgehen.69 In diesem Werk stehen die einschlägigen Überlegungen
im Rahmen von Ciceros Darstellung der Tugend der Gerechtigkeit; dementsprechend rich-
ten sich seine Erwägungen auf ein gutes Verhalten der Verantwortlichen: Gerechtigkeit ist,
niemandem zu schaden sowie Schaden von sich und Anderen abzuwenden. Andersherum
gewendet gibt es für Cicero Ungerechtigkeit sowohl dadurch, dass jemand Anderen durch
Tun schadet als auch dadurch, dass jemand Schaden von Anvertrauten – trotz bestehender
Möglichkeit – durch Unterlassen nicht abwendet.
Ein Krieg ist daher nur gerecht, um einen Gegner zurückzudrängen oder um für Unrecht
zu strafen. Daraus hervorgehend sind die Kriterien für den gerechten Krieg hinsichtlich aller
Gegner: dass ein ungerechter, schädigender Akt gegen einen selbst oder Andere, die man zu
schützen im Stande ist, vorliegt; dass sodann zunächst eine friedliche Streitbeilegung ver-

64
Klaus M. Giradet, „Gerechter Krieg: von Ciceros Konzept des bellum iustum bis zur UNO-Charta“, in Res
Publica und Demokratie, hrsg. von Emanuel Richter [u. a.], Baden-Baden 2007, 191–221, 194 und 199.
65
Marcus Tullius Cicero, Vom rechten Handeln. Lateinisch und Deutsch, hrsg. und übers. von Karl Büchner,
München 42001, hier insbesondere 1. Buch 34–40, 30ff.
66
Marcus Tullius Cicero, Der Staat. Lateinisch und Deutsch, hrsg. und übers. von Karl Büchner, München 51993,
hier insbesondere 3. Buch 33–39, 204ff.
67
Marcus Tullius Cicero, De Legibus. Paradoxa Stoicorum. Lateinisch und Deutsch, hrsg., übers. und erl. von Rainer
Nickel, München 32004, hier insbesondere 3. Buch 6–11, 152ff.
68
Klaus M. Giradet, „Gerechter Krieg von Ciceros Konzept des bellum iustum bis zur UNO-Charta …“, 194.
69
Zur Analyse der vorstehend genannten Textpassagen (siehe Fn. 66 und 67) vgl. mit zahlreichen weiteren Nach-
weisen Andrea Keller, „Cicero: Just War in Classical Antiquity“, in From Just War to Modern Peace Ethics,
hrsg. von Heinz-Gerhard Justenhoven und William E. Barbieri, Berlin 2012, 9–29, 28, 22ff und 25ff. Diese
Zusammenfassung beruht auf den breiteren Ausführungen in der Monografie dies., Cicero und der gerechte
Krieg. Eine ethisch-staatsphilosophische Untersuchung, Stuttgart 2012, 134ff und 181ff.

62
4 Gerechtigkeitsgeleitetheit statt Hab- und Ruhmsucht (Marcus Tullius Cicero)

sucht wird; dass der Krieg angekündigt und erklärt wird; schließlich dass sein Ziel lediglich
die Wiederherstellung der Gerechtigkeit ist – sei es bezogen auf den Erhalt des eigenen, sei es
bezogen auf den Schutz eines verbündeten Gemeinwesens.70 Darüber hinaus gilt es beispiels-
weise den Gegner nach dem Sieg zu verschonen, vertrauenswürdig zu sein und während des
Kriegs nicht alle denkbaren Mittel einzusetzen.

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Andrea Keller, „Cicero: Just War in Classical Antiquity“, in From Just War to Modern Peace
Ethics, hrsg. von Heinz-Gerhard Justenhoven und William A. Barbieri, Berlin 2012, 9–29.
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Eberhard Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt,
Freiburg i. Br. 2018, 104–117.
Als Standardwerk sei genannt Andrea Keller, Cicero und der gerechte Krieg. Eine ethisch-
staatsphilosophische Untersuchung, Stuttgart 2012.
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

70
Zur Analyse der vorstehend genannten Textpassagen (siehe Fn. 65) vgl. mit zahlreichen weiteren Nachwei-
sen Andrea Keller, „Cicero: Just War in Classical Antiquity …“, 11ff beziehungsweise dies., Cicero und der
gerechte Krieg …, 45ff und 48ff.

63
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

5 Auf- und Absteigen im Hinblick auf Ordnung, Einheit und Frieden


(Aurelius Augustinus)71

Auf Ciceros Konzept griff später – keineswegs umdeutend oder missinterpretierend72 – auch
Augustinus (354–430) zurück. Er gilt weithin als jener wirkmächtige Vertreter der Bellum-
iustum-Tradition, mit dem sich dieses Verständnis im christlichen Denken zu etablieren
begann. Dies ist vor allem auf das Einfügen von Werkpassagen des Kirchenvaters in mittel-
alterliche kirchliche Arbeiten zurückzuführen, wie beispielsweise im Decretum Gratiani
oder in der Summa theologica des Thomas von Aquin. Fraglich ist jedoch, ob das aus diesem
Befund gefolgerte Bild richtig ist. Hat Augustinus eine christliche Lehre des gerechten Krie-
ges entwickelt und formuliert?
Die ausführlichste Stelle, in der sich Augustinus mit dem Krieg auseinandersetzte, ist
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das 19. Buch seines zwischen 413 und 426 entstandenen Spätwerks De Civitate Dei.73 Die
Gesamtschau seiner dortigen Erörterungen lässt klar erkennen, dass Krieg keineswegs eine
gleichberechtigte Alternative zum Frieden ist, sondern dass die gesamte Schöpfung auf den
Frieden ausgerichtet ist, auch wenn dieser in seiner vollendeten Form erst bei Gott zu errei-
chen ist.74 Auf dem diesseitigen Weg, sich auf jenen vollendeten Frieden zumindest zuzu-
bewegen, kann Krieg bloß ein in Kauf zu nehmendes Übel sein, um noch schlimmeres
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Unrecht zu überwinden, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft oder aussichtslos sind:75
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

„Sie aber sagen, daß der Weise lediglich gerechte Kriege führen wird. Ja, ist er, wenn er sich
seines Menschseins erinnert, deshalb nicht umso mehr zu beklagen, da er sich zu gerechten
Kriegen gezwungen sieht: […].“76
Das lässt sich leicht im Rahmen des grundlegenden und umfassenden Friedensverständ-
nisses des Augustinus verstehen. Alles, was aus Teilen besteht, tut dies durch Ordnung und
innere Einheit. Voraussetzung für Ordnung und innere Einheit ist der Friede zwischen den
Teilen. Dies ist sein metaphysisches Verständnis des Friedens: „Der Friede für alle Dinge
ist die Ruhe in der Ordnung.“77 In diesem metaphysischen Verständnis gibt es eine Hierar-
chie des Friedens: Je komplexer etwas wird, desto höher müssen seine innere Ordnung und
sein innerer Zusammenhalt sein. An der Spitze dieser Hierarchie steht Gott mit der höchsten
Form des Friedens. Alles, was aus Teilen besteht, kann sich nun auf Gott zubewegen oder

71
Die folgenden Ausführungen sind eine durchgesehene und geringfügig erweiterte Fassung des diesbezüglichen
Abschnitts in Schrage, Intervention in Libyen …, 224–228.
72
Klaus M. Giradet, „Gerechter Krieg: von Ciceros Konzept des bellum iustum bis zur UNO-Charta …“, 206f.
73
Aurelius Augustinus, La Città di Dio III, Rom 1991, hier insbesondere XIX 6, 7, 11, 12, 13, 17 und 27, 34ff,
42ff, 60ff und 84ff.
74
Zum positiven Anliegen der Konzeption Augustins siehe Timo J. Weissenberg, Die Friedenslehre des Augus-
tinus. Theologische Grundlegung und ethische Entfaltung, Stuttgart 2005, 247–251.
75
Zur möglichsten Beschränkung von Gewalt, zur Fokussierung des Schutzgutes auf ein Mindestmaß äußerer
Gerechtigkeit sowie zur Ausrichtung der Absicht auf die jenseitige Friedensordnung und die Besserung des
Sünders siehe ebd., 382–401.
76
Augustinus, Der Gottesstaat II …, 459 – „Sed sapiens, inquiunt, iusta bella gesturus est. Quasi non, si se homi-
nem meminit, multo magis dolebit iustorum necessitatem sibi extitisse bellorum, [...].“ Augustinus, La Città di
Dio III …, XIX 7, 36.
77
Augustinus, Der Gottesstaat II, in deutscher Sprache von Carl Johann Perl, Paderborn 1979, 473 und 475 –
„[…], pax omium rerum tranquillitas ordinis“. Augustinus, La Città di Dio III …, XIX 13, 50.

64
5 Auf- und Absteigen im Hinblick auf Ordnung, Einheit und Frieden (Aurelius Augustinus)

aber infolge eines Verlustes des inneren Friedens in kleinere Teile zerfallen – es löst sich
nicht gänzlich auf, steigt aber in der Hierarchie ab.78
In diesem Denken betrachtete Augustinus sowohl den einzelnen Menschen als auch die
menschliche Gemeinschaft: Beide streben auf ihre je eigene Weise nach immer höherer Ord-
nung, Einheit und Frieden, wobei die Vollendung jedoch jeweils nur im Jenseits, bei Gott,
erreicht werden kann.79 In der diesseitigen unvollkommenen Welt kann die Friedensordnung
angesichts der Sündenneigung der Menschen auch nicht einzig durch Liebe gewahrt und
entwickelt werden, deshalb ist sie teilweise mit Zwangsmitteln durchzusetzen.80 Kohärenter-
weise lehnte Augustinus die öffentliche Gewalt und den Soldatendienst für Christen nicht ab.
Idealerweise sollte er von tugendhaften Menschen versehen werden, die den Anordnungen
der Obrigkeit lediglich dann nicht folgen, wenn sie offensichtlich gegen Gottes Gebote ver-
stoßen: beispielsweise in einem ungerechten oder verbrecherischen Krieg.81
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Im Rahmen dieses Gesamtverständnisses gab es für Augustinus zwei akzeptierte Gründe


für einen Krieg. Ein Krieg konnte nur gerecht sein, wenn er – ausschließlich zur Zeit des
Alten Testaments – auf Gottes Befehl beruhte oder – seit der Zeit des Neuen Testaments
nurmehr – auf ein Unrecht reagierte. Der erste Fall war auf einige Kriege des Volkes Israel
begrenzt; diese Begründung konnte für die Zeit des Neuen Bundes nicht mehr herangezogen
werden.82 Der zweite Fall war auf die Wahrung eines zwischenstaatlichen Minimalstan-
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dards gerichtet: „[…], a war only qualifies as a just war if it is fought to restore a minimum
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

inter-state ,ordo‘.“83 Dieses Unrecht muss offensichtlich, erheblich und dauerhaft sein. Als
immenses muss es zum Krieg nötigen, wobei dieser die Ordnung freilich nicht stärker schä-
digen darf als die bestehende Störung. Augustinus ist überzeugt, dass kein Mensch in dieser
Welt frei von Eigenliebe und Leidenschaften ist, was aber nötig wäre, um Mischmotivatio-
nen beim Eintritt in einen Krieg zu vermeiden. Deshalb legte der Kirchenvater den Schwer-
punkt auf Absicht und Folgenabschätzung, denn „wo die Legitimität eines Krieges im Mit-
telpunkt der Argumentation steht, hegt Augustinus den Verdacht, dass die libido dominandi
des adamitischen Menschen nach Gründen sucht“.84
Die Frage der Legitimität von Interventionen zugunsten von Drittstaaten lässt sich nur
spekulativ durch systematische Auslegung von Ausführungen zu anderen Fragen beantwor-
ten, da sie für Augustinus nicht aktuell war.85 Jedenfalls muss der Grund für die Anwendung
von Waffengewalt immer schwerer werden, müssen Eingriffe also umso seltener werden, je
größer die Entfernung und je geringer die Verbindung zum Einzelnen wird.86

78
Johannes Brachtendorf, „Augustine: Peace Ethics and Peace Policy“, in From Just War to Modern Peace Ethics …,
49–70, 49f; der gesamte Beitrag umfasst zahlreiche Verweise auf verstreute Textstellen zu Krieg und Frieden.
79
Ebd., 50ff.
80
Ebd., 53ff.
81
Ebd., 63ff.
82
Ebd., 61ff; Weissenberg, Die Friedenslehre des Augustinus …, 449ff. Augustinus reagierte auf Tendenzen, Altes
und Neues Testament voneinander zu trennen: Sein Anliegen war einerseits, deren gegenseitiges Aufeinander-
bezogensein zu verteidigen, andererseits aber eine umfassende Dynamik der Weiterentwicklung und Vertiefung
aufzuzeigen.
83
Johannes Brachtendorf, „Augustine: Peace Ethics and Peace Policy …“, 57ff, hier 60.
84
Timo J. Weissenberg, Die Friedenslehre des Augustinus. Theologische Grundlegung und ethische Entfaltung,
Stuttgart 2005, 150ff, hier 163.
85
Sehr vorsichtig, einige Pro- und Contra-Argumente anführend ebd., 148f.
86
Ebd., 153.

65
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Wirkmächtig wurde Augustinus allerdings nicht durch seine vorstehend skizzierte Auf-
fassung, sondern durch in mittelalterlichen Werken zitierte Passagen aus verschiedenen sei-
ner Schriften. In der Summa theologica finden sich bei der Behandlung des gerechten Krie-
ges in II-II q. 40 a. 1 sieben Stück.87 Als Beispiele betrachtet Roland Kany vier von ihnen,
diese Zitate finden sich in ausführlicherer Form auch im Decretum Gratiani, Causa XXIII.88
Mit Blick auf den folgenden, Thomas von Aquin gewidmeten Abschnitt sollen an dieser
Stelle nicht die betreffenden Sätze, sondern ihr Kontext im Vordergrund stehen.
Um auszuführen, dass Krieg für Christen nicht an sich verboten ist, wurde ein Abschnitt
aus Brief 13889 herangezogen, den Augustinus 411/412 an Marcellinus geschrieben hat. In
diesem Schreiben an einen hohen christlichen Regierungsbeamten in Nordafrika gab er die-
sem nach der Plünderung Roms apologetische Argumente an die Hand, um in Gesprächen
widerlegen zu können, dass der Fall Roms eine Folge des zur Wehrlosigkeit führenden
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Annehmens der christlichen Religion gewesen sei.90 Die Ausrichtung der Christen auf den
Frieden und ihre friedfertige Haltung sind keineswegs gleichbedeutend damit, dem Ausbrei-
ten des Destruktiven von innen wie von außen her wehrlos zuzusehen.
Für die Frage, wer die Vollmacht hat, einen Krieg zu erklären, wurde ein Satz aus dem
22. Buch des von Augustinus zwischen 397 und 399 geschriebenen antimanichäischen Werk
Contra Faustum91 zitiert. Augustinus stellt sich gegen das Ansinnen, das Alte Testament als
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überholt beiseitezulegen. Deshalb verteidigte er Kriege des Alten Testaments gegen den Vor-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

wurf der Amoralität: Sie wurden von der Autorität Gottes befohlen. Derartige Kriege sind für
Augustinus nach der Vollendung der Offenbarung durch Jesus Christus jedoch nicht mehr
möglich: Nach der Naturordnung müssen Vollmacht und Entscheidung, Kriege zu führen,
nunmehr ausschließlich bei den Herrschern liegen, denn diese sind nach Röm 13,1.4 Diener
Gottes, sodass Gottes Autorität in ihnen zum Ausdruck kommt.92
Bei der Erörterung des gerechten Grundes wurde ein Satz aus dem 6. Buch der um 419
geschriebenen Quaestiones in Heptateuchum93 eingefügt. Augustinus rechtfertigte dort den
Einsatz eines Hinterhalts in einem alttestamentlichen Krieg, während des Einzugs des Vol-
kes Israel in das ihm versprochene Land, in Analogie zu geläufigen römischen Auffassun-
gen, die sehr nah an Ciceros Formulierungen liegen: In diesen spielt die Frage einer List für
die Gerechtigkeit eines Krieges keine Rolle, sondern vielmehr der Aspekt des Unrechts, das
bestraft wird.94 Augustinus’ Argumentation zielt darauf, dass unabhängig etwaiger Kriegs-
listen die Voraussetzung eines gerechten Krieges ist, dass entweder Gott ihn führt – was auf

87
Thomas von Aquin zitiert Augustinus im Gegenargument (sed contra), dreimal im Hauptteil (respondeo) sowie
in der Stellungnahme zum ersten, zweiten und dritten Einwand (ad primum, ad secundum, ad tertium). Eine
weitere Stelle im Hauptteil gilt heute als Falschzuschreibung.
88
Roland Kany, „Augustine’s Theology of Peace and the beginning of Christian Just War Theory“, in From Just
War to Modern Peace Ethics …, 31–47; der gesamte Beitrag umfasst zahlreiche Verweise auf verstreute Text-
stellen zu Krieg und Frieden.
89
Aurelius Augustinus, Le Lettere II, Rom 1971, hier insbesondere 138, 9–15, 178ff.
90
Roland Kany, „Augustine’s Theology of Peace and the beginning of Christian Just War Theory …“, 35ff.
91
Aurelius Augustinus, Contro Fausto Manicheo II, Rom, 2004, hier insbesondere XXII 70 und 74–77, 566ff
und 574ff.
92
Roland Kany, „Augustine’s Theology of Peace and the beginning of Christian Just War Theory …“, 39ff.
93
Aurelius Augustinus, Locuzioni e Questioni sull’Ettateuco II, Rom 1998, hier insbesondere VI 10, 1140f.
94
Roland Kany, „Augustine’s Theology of Peace and the beginning of Christian Just War Theory …“, 41ff.

66
5 Auf- und Absteigen im Hinblick auf Ordnung, Einheit und Frieden (Aurelius Augustinus)

die Zeit des Alten Testamentes begrenzt ist – oder der Krieg auf dem Ahnden eines Unrechts
und nicht auf einem anderen Grund beruht.
Hinsichtlich der rechten Absicht wurde schließlich erneut ein Satz aus dem 22. Buch
von Contra Faustum angeführt. Augustinus äußerte dort, dass beispielsweise Begierde zu
schaden, grausame Rache, Unversöhnlichkeit oder Herrschsucht jeden Krieg unrecht werden
lassen. Diese Ausführung steht im Einklang mit der in De Civitate Dei zum Ausdruck kom-
menden Überzeugung, dass jeder Krieg ein defizitärer Vorgang ist, der lediglich das kleinere,
in Kauf zu nehmende Übel sein kann und daher so weit wie möglich zu begrenzen ist.95
Nach diesem Überblick können wir wohl insgesamt festhalten, dass Augustinus nicht
der Begründer der Tradition des bellum iustum im christlichen Denken sein wollte und war.
Die im Mittelalter zusammengestellten und überlieferten Abschnitte entstammen vor allem
Werken mit der Intention, das Alte Testament oder das spätantike Christentum zu verteidi-
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gen. Erst durch ihr Herauslösen aus den Ursprungszusammenhängen und ihr Zusammenfüh-
ren haben sie einen neuen Gesamtsinn erhalten. Allerdings hat Augustinus innerhalb seines
Gesamtwerkes jene Elemente deutlich formuliert, mit denen später der gerechte Krieg in der
christlichen Tradition behandelt wurde – unter Rekurs auf die Autorität des Kirchenvaters.
Dabei hat Augustinus auch aus geläufigen römischen Auffassungen geschöpft.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Johannes Brachtendorf, „Augustine: Peace Ethics and Peace Policy“, in From Just War to
Modern Peace Ethics, hrsg. von Heinz-Gerhard Justenhoven und William A. Barbieri,
Berlin 2012, 49–70.
Roland Kany, „Augustine’s Theology of Peace and the Beginning of Christian Just War
Theory“, in From Just War to Modern Peace Ethics, hrsg. von Heinz-Gerhard Justenho-
ven und William A. Barbieri, Berlin 2012, 31–47.
Als Standardwerk sei genannt Timo J. Weissenberg, Die Friedenslehre des Augustinus.
Theologische Grundlagen und ethische Entfaltung, Stuttgart 2005.

95
Ebd., 44ff.

67
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

6 Innerchristliche Schutzpflicht (Thomas von Aquin)96

Durch die vorstehenden Ausführungen ist der Übergang zum Mittelalter schon bereitet. Die
folgenden Erörterungen sind komplementär zum vorstehenden Kapitel: Wir beschränken
uns also darauf, welche für uns interessanten Züge sich in der Systematisierung der ver-
streuten augustinischen Gedanken zum gerechten Krieg bei Thomas von Aquin (1225–1274)
zeigen. Seine differenzierte, mehrstufige, auf Gott hinführende und von ihm her zu erschlie-
ßende Konzeption des Gesetzes einschließlich der Aufgabe der Herrscher, für eine gute,
dem Gemeinwohl dienende Ordnung zu sorgen, sollen hier nicht eigens vertieft, sondern
nur soweit zum Verständnis erforderlich angesprochen werden; Gleiches gilt für sein – an
Augustinus anknüpfendes – Verständnis des Friedens, der im Übereinstimmen der Bestreben
in inneren wie in äußeren Relationen (= Gottes- beziehungsweise Nächstenliebe) auf das
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„wahre endgültige Gut“ hin besteht und in dieser Welt nur unvollkommen, in der jenseiti-
gen Gottesschau dann vollkommen erreicht werden kann.97 Ein Verweis auf den weiteren
geschichtlichen Kontext ist jedoch hilfreich.
Ab dem 11. Jahrhundert wurde die Auffassung deutlicher ausgearbeitet, dass der Papst
die höchste geistliche Instanz für alle Menschen war. Daraus folgte unter anderem, dass
er Schiedsgericht für die Streitbeilegung zwischen christlichen Fürsten sein sollte und zur
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Intervention anderer Fürsten anhalten durfte, falls einer in seinem Gebiet nicht auf das
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Gemeinwohl hinwirkte oder Verstöße gegen das Naturrecht zuließ.98


So erörterte Innozenz IV. Mitte des 13. Jahrhunderts, dass Christen Gebiete nicht erobern
durften, die Andersgläubige rechtmäßig erworben hatten, da alle Menschen, auch Ungläubige,
über ein Eigentums- und Selbstbestimmungsrecht verfügten. Allerdings galt ihm das Papstamt
als Letztinstanz auf dem Gebiet des kanonischen, des mosaischen wie auch des natürlichen
Rechts,99 sodass er bei Verstößen gegen jenes Recht, dem die Menschen eines jeweiligen
Gebiets unterstanden, gegen die dortigen Herrscher strafend vorgehen lassen konnte.100
Die Darlegung der Frage des gerechten Krieges bei Thomas von Aquin ist in der mittel-
alterlichen Theologie also nur eine unter mehreren gewesen, aber die auf lange Sicht wirk-
mächtigste. Die Behandlung des Krieges konzentriert sich bei ihm in Summa theologica II-II
q. 40 a. 1,101 wo er sehr knapp erörtert, welche drei Kriterien für den gerechten Krieg erfüllt
sein müssen: die Vollmacht des Fürsten, ein gerechter Grund und die rechte Absicht. Aller-
dings ist die Wiedergabe seiner Auffassung nur auf diesen ersten Blick einfacher als bei
Augustinus.

96
Die folgenden Ausführungen sind eine durchgesehene und geringfügig erweiterte Fassung des diesbezüglichen
Abschnitts in Schrage, Intervention in Libyen …, 229–234.
97
Summa theologica I-II qq. 90–108 sowie Summa theologica II-II q. 29. Zum Gesetz siehe Otto Hermann Pesch,
„Kommentar“, in Thomas von Aquin, Summa theologica. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Aus-
gabe, Band 13, Heidelberg 1977, 529–735, 543ff, insbesondere 561ff.
98
James Muldoon, „Forerunners of Humanitarian Intervention? From Canon Law to Francisco de Vitoria“, in
From Just War to Modern Peace Ethics …, 99–120, 105ff.
99
Das meint Christen, Juden und alle übrigen Menschen.
100
Dasselbe galt in heidnischen Gebieten zusätzlich bei Unterdrückung von Christen oder Unterbindung der Ver-
kündigung des Evangeliums; James Muldoon, „Forerunners of Humanitarian Intervention? …“, 111ff.
101
Thomas von Aquin, Summa theologica. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe, Band 17b, Hei-
delberg 1966, 82ff.

68
6 Innerchristliche Schutzpflicht (Thomas von Aquin

Im Rahmen der II-II behandelt Thomas zunächst für alle Menschen gültige konkrete
moraltheologische Fragen für eine christliche, also Gott und den Menschen zugewandte
Lebenspraxis, und zwar nacheinander anhand der drei theologischen und der vier Kardinal-
tugenden.102 Bei der Erörterung der einzelnen Tugenden werden zugehörige Gaben, ent-
gegenstehende Laster und förderliche Gebote mitbehandelt: Der Krieg findet sich bei den
der Tugend der Liebe103 entgegengesetzten Lastern104, innerhalb dieser genauer unter jenen,
die dem Frieden105 durch die Tat106 entgegenstehen. Im Rahmen dieser Gesamtanlage der
Summa theologica sind Thomas’ Ausführungen seinem Anliegen gemäß keinesfalls permis-
siv zu lesen, sondern als stets intrinsisch limitiertes Schutz- (‚Opfer‘) und Besserungsmühen
(‚Täter‘) zu verstehen. Bei Betrachtung und Auslegung seiner Antwort auf die Spezial-
frage, wann ein Krieg nun als Tat gegen den Frieden kein Laster wider die Liebe und
somit erlaubt ist, treten einige für unsere Zwecke aufschlussreiche komplexe Zusammen-
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hänge hervor.107 Sie eröffnen sich, wenn die Lektüre nicht von einem neuzeitlichen Staats-
verständnis bestimmt wird, sondern den Text in den Bezugsrahmen der damaligen Zeit stellt.
Dazu sei der Text des corpus articuli – in der von Gerhard Beestermöller überarbeiteten
Übersetzung – vorab wiedergegeben:
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Zu einem gerechten Krieg sind drei Dinge erforderlich: Erstens die Vollmacht des Fürsten, auf
dessen Befehl hin der Krieg zu führen ist. Denn es ist nicht Sache der Privatperson, einen Krieg
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zu veranlassen; weil sie ihr Recht vor dem Gericht des Vorgesetzten verfechten kann. Ebenfalls
weil es nicht Sache der Privatperson ist, die Menge zusammenzurufen, wie das im Krieg notwen-
dig ist. Da aber die Sorge für das Gemeinwesen der ganzen Christenheit den Fürsten anvertraut
ist, ist es auch ihre Sache, die öffentliche Ordnung in der Stadt oder im Königreich oder in der
ihnen unterworfenen Provinz zu schützen. Und wie sie diese erlaubterweise mit dem materialen
Schwert gegen ihresgleichen, die sich ihrerseits als Unruhestifter erweisen, verteidigen, indem sie
die Übeltäter bestrafen – gemäß Röm 13,4: ‚Nicht umsonst trägt sie (die Obrigkeit) das Schwert;
ist sie doch Gottes Dienerin, Vollstreckerin des Zorngerichts für den, der Schlechtes tut‘ – so ist
es auch ihre Aufgabe, mit dem Schwert des Krieges das Gemeinwesen gegen äußere Feinde zu
schützen. Deshalb wird den Fürsten im Psalm 82,4 gesagt: ‚Rettet den Armen und befreit den
Dürftigen aus der Hand des Sünders.‘ So sagt auch Augustinus: ‚Die dem Frieden der Sterblichen
angemessene Naturordnung fordert, dass die Vollmacht und der Beschluss, Krieg zu führen, bei
den Fürsten liege.‘ Zweitens wird ein gerechter Grund verlangt, damit nämlich jene, gegen die sich
der Kampf richtet, diese Bekämpfung einer Schuld wegen verdienen. Deshalb sagt Augustinus:
‚Unter gerechten Kriegen versteht man solche, durch welche Unrecht geahndet wird; so wenn ein

102
Zur Ethik in der Summa theologica vgl. Karl-Wilhelm Merks, „Thomas von Aquin“, in Christliche Ethik im
Porträt, hrsg. von Konrad Hilpert, Freiburg i. Br. 2012, 221–259, 233ff.
103
Summa theologica II-II, qq. 23–46.
104
Ebd., qq. 34–43.
105
Ebd., qq. 37–42.
106
Ebd., qq. 39–42.
107
Dazu soll im Weiteren einer von verbreiteten Auffassungen abweichenden, vor einigen Jahren vorgelegten
Interpretation gefolgt werden. Vgl. Gerhard Beestermöller, „‚Rettet den Armen und befreit den Dürftigen aus
der Hand des Sünders‘ (Ps 82,4): Thomas von Aquin und die humanitäre Intervention“, in Die Zukunft der
Familie und deren Gefährdungen. Norbert Glatzel zum 65. Geburtstag, hrsg. von Nils Goldschmidt [u. a.],
Münster 2002, 401–419, wo die einzelnen Schritte mit zahlreichen weiteren Nachweisen durch wörtliche und
systematische Auslegung begründet werden.

69
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Volk oder eine Stadt zu strafen ist, weil sie entweder versäumt haben, das zu ahnden, was von
ihren Bürgern frevelhaft verübt wurde, oder versäumt haben, das zurückzugeben, was ungerechter-
weise geraubt wurde.‘ Drittens wird verlangt, dass die Kriegführenden die rechte Absicht haben,
nämlich entweder das Gute zu mehren oder das Böse zu meiden. Deshalb sagt Augustinus: ‚Bei
den wahren Verehrern Gottes haben auch die Kriege Friedenscharakter bekommen, insofern sie
nicht aus Gier, sondern aus Eifer für den Frieden geführt werden, um die Bösen in die Schranken
zu weisen und die Guten zu unterstützen.‘ Es kann aber vorkommen, dass der Krieg wegen einer
verkehrten Absicht unerlaubt wird, obwohl die Vollmacht dessen, der ihn erklärt, rechtmäßig ist
und ein gerechter Grund vorliegt. Denn Augustinus sagt: ‚Die Sucht zu schaden, die Grausamkeit
des Rachedurstes, ein unversöhnter und unversöhnlicher Geist, die Wildheit des Gegenschlags, die
Gier nach Macht und was es sonst dergleichen geben mag, das alles wird in der Kriegführung mit
Recht als Schuld erklärt.‘108
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Hinsichtlich des ersten Kriteriums, der Frage der Vollmacht der Fürsten, ergibt das kon-
textualisierte Lesen der Ausführungen des Thomas von Aquin ein vielschichtiges Bild der
mittelalterlichen Welt.109 Die Fürsten der respublica fidelium sind in ihrer Kollektivität das
weltliche Schwert, das an das geistliche Oberhaupt rückgebunden bleibt. Gerechte Kriege
werden daher, mit ihren je spezifischen Beiträgen, „von der geistlichen und weltlichen
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Gewalt gemeinsam geführt […]“.110 Als diesem kollektiven weltlichen Schwert kommen den
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Fürsten drei Aufgaben zu. Erstens den orbis christianus territorial gegen äußere Angreifer
zu verteidigen. Zweitens den orbis christianus in seinem in der Gnadenordnung gründen-
den Bekenntnissinn gegen christliche Fürsten in seiner Mitte zu verteidigen, die Unrecht
tun: wenn sie beispielsweise als Tyrannen die Ordnung erschüttern. Die biblische Referenz-
stelle hierfür ist Röm 13,4. Drittens schließlich ihn, analog dazu ebenfalls in seinem in der
Gnadenordnung gründenden Bekenntnissinn, gegen heidnische Fürsten zu verteidigen, die

108
Ebd., 402, 408f, 412, 410f und 413 – „Respondeo dicendum quod ad hoc quod aliquod bellum sit iustum,
tria requiruntur. Primo quidem, auctoritas principis, cuius mandato bellum est gerendum. Non enim pertinet
ad personam privatam bellum movere, quia potest ius suum in iudicio superioris prosequi. Similiter etiam
quia convocare multitudinem, quod in bellis oportet fieri, non pertinet ad privatam personam. Cum autem
cura reipublicae commissa sit principibus, ad eos pertinet rem publicam civitatis vel regni seu provinciae sibi
subditae tueri. Et sicut licite defendunt eam materiali gladio contra interiores quidem perturbatores, dum
malefactores puniunt, secundum illud apostoli, ad Rom. XIII, non sine causa gladium portat, minister enim Dei
est, vindex in iram ei qui male agit; ita etiam gladio bellico ad eos pertinet rempublicam tueri ab exterioribus
hostibus. Unde et principibus dicitur in Psalm., eripite pauperem, et egenum de manu peccatoris liberate. Unde
Augustinus dicit, contra Faust., ordo naturalis, mortalium paci accommodatus, hoc poscit, ut suscipiendi belli
auctoritas atque consilium penes principes sit. Secundo, requiritur causa iusta, ut scilicet illi qui impugnantur
propter aliquam culpam impugnationem mereantur. Unde Augustinus dicit, in libro quaest., iusta bella solent
definiri quae ulciscuntur iniurias, si gens vel civitas plectenda est quae vel vindicare neglexerit quod a suis
improbe factum est, vel reddere quod per iniuriam ablatum est. Tertio, requiritur ut sit intentio bellantium recta,
qua scilicet intenditur vel ut bonum promoveatur, vel ut malum vitetur. Unde Augustinus, in libro de verbis
Dom., apud veros Dei cultores etiam illa bella pacata sunt quae non cupiditate aut crudelitate, sed pacis studio
geruntur, ut mali coerceantur et boni subleventur. Potest autem contingere quod etiam si sit legitima auctoritas
indicentis bellum et causa iusta, nihilominus propter pravam intentionem bellum reddatur illicitum. Dicit enim
Augustinus, in libro contra Faust., nocendi cupiditas, ulciscendi crudelitas, implacatus et implacabilis animus,
feritas rebellandi, libido dominandi, et si qua sunt similia, haec sunt quae in bellis iure culpantur.“, Thomas
von Aquin, Summa theologica …, Band 17b, II-II q. 40 a. 1 resp., 83ff [Hervorh. M. S.].
109
Gerhard Beestermöller, „‚Rettet den Armen und befreit den Dürftigen aus der Hand des Sünders‘ …“, 402ff.
110
Ebd., 408.

70
6 Innerchristliche Schutzpflicht (Thomas von Aquin

innerhalb ihres jeweiligen Herrschaftsgebiets lebenden Christen Unrecht zufügen: wenn sie
sie beispielsweise ihr Christsein nicht leben lassen. Die biblische Referenzstelle ist hierfür
Psalm 82,4. Privatpersonen dürfen demgegenüber keinen Krieg ausrufen, weil ein Krieg
„sowohl die Rechte des Einzelnen als auch die Einheit des Volkes“111 schützen muss: Der
Schutz der Rechte des Einzelnen liegt beim Fürsten, subsidiär bei anderen christlichen Fürs-
ten; die Wahrung der Einheit liegt ebenfalls bei demjenigen, der die Allgemeinheit vertritt
und dessen spezifische Aufgabe es ist, sie auf das Gemeinwohl hinzuordnen.
Was das zweite Kriterium betrifft, den gerechten Grund, so betont Thomas von Aquin,
dass zur Bekämpfung des Feindes über das Vorliegen eines objektiven Unrechts hinaus nicht
nur eine subjektive Schuldhaftigkeit des gegnerischen Fürsten, sondern auch eine solche
der konkret bekämpften gegnerischen Soldaten selbst verlangt ist. Diese ist allerdings dann
gegeben, wenn sie einem Fürsten treu bleiben und für ihn streiten, der – in auch für seine
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Untertanen offensichtlicher Weise – Unrecht gesetzt hat.112


Mit Blick auf das dritte Kriterium, die rechte Absicht, geht es um die Konkretion eines
Grundprinzips: dass das Gute gefördert und das Böse vermieden wird. Das ist, in der Hal-
tung des gerechten Zorns den Schutz der Bedrohten und, soweit möglich, die Besserung der
Bekämpften zu wollen. Wie weitreichend diese Maßnahmen sein dürfen, richtet sich dabei
danach, ob sie sich gegen Christen oder gegen solche richten, die den Glauben nie angenom-
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men haben: Gegenüber Christen gilt eine umfassende Strafgewalt, gegenüber allen Ande-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ren nur eine Gefahrenabwehr im Interesse der Bedrohten. Kriteriumsrelevant ist schließlich
nur die Intention der Gesamtverantwortlichen, nicht die der Ausführenden: Die schlechte
Absicht der ersten macht den Krieg ungerecht, jene der zweiten hingegen nicht.113
Die Gegenüberstellung von Thomas Ausführungen zum gerechten Grund und zur rech-
ten Absicht, lassen seine feinen, aber kohärenten Differenzierungen erkennen: Für das Vor-
liegen eines gerechten Grundes, eines zu bestrafenden schuldhaften Unrechts ist es relevant,
ob der ganz konkret bekämpfte gegnerische Soldat schuldig ist; denn die ‚Bestrafung‘ eines
nicht schuldhaft Handelnden führt nicht zu dessen Besserung. Umgekehrt ist es für das Vor-
liegen der rechten Absicht nicht relevant, ob jeder einzelne Soldat eine rechte Absicht hat;
denn die etwaige Boshaftigkeit einzelner mitwirkender Soldaten ist zwar zu ahnden, darf
aber nicht der Ausschlussgrund eines Schutz- und Besserungsvorhabens sein.
Verstreut finden sich in der Summa theologica hinsichtlich gewaltsamer Auseinanderset-
zungen auch jene drei Kriterien, die erst später systematisch in die Erörterung des gerechten
Krieges eingebunden werden sollten: dass es sich um das letzte Mittel handeln, dass Aus-
sicht auf Erfolg bestehen sowie dass das Vorgehen verhältnismäßig sein muss.114
Werden Thomas von Aquins knappe Ausführungen streng in den Rahmen der damaligen
Zeit gestellt, zeigt sich, dass sie eine für unsere Zwecke interessante Aussage treffen. Der
einzelne Christ ist von den christlichen Fürsten zu schützen: innerhalb christlichen Territo-
riums – maximalistisch – durch die umfängliche Sorge für die rechte Ordnung, außerhalb
christlichen Territoriums – minimalistisch – lediglich durch das Abwehren von schwerem

111
Ebd., 409.
112
Ebd., 410ff.
113
Ebd., 413ff.
114
So mit zahlreichen Verweisen auf verschiedene Stellen der Summa theologica Gerhard Beestermöller, Thomas von
Aquin und der gerechte Krieg. Friedensethik im theologischen Kontext der Summa Theologiae, Köln 1990, 130ff,
132f beziehungsweise 128f.

71
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Unrecht gegen ihn. Hierzu dürfen die christlichen Fürsten gegen schuldig gewordene christ-
liche wie heidnische Fürsten vorgehen.
Ergänzend sei noch sehr knapp ein zweiter Fall einer Tat gegen den Frieden, die kein
Laster wider die Liebe ist, angeführt, auf den Thomas wenig später, in q. 42 a. 2, eingeht: der
bewaffnete Widerstand gegen einen Tyrannen.115 Da derartiges Vorgehen aber scheitern oder
nach dem Sturz des Tyrannen in noch größeres Unheil münden kann, müssen bestimmte
Kriterien erfüllt sein. Ausgeschlossen sind Tyrannenmord oder anderes individuelles Vor-
gehen; möglich ist das Vorgehen seitens des Volkes, das seinen Herrscher bestimmen darf,
oder seitens eines übergeordneten Herrschers. Die Tyrannis muss exzessiv sein, ansonsten
ist es vorteilhafter, sie zu ertragen. Der Widerstand grenzt sich vom Aufruhr dadurch ab,
dass er sich zwar ebenfalls gegen einen rechtmäßigen Herrscher richtet, jedoch gegen einen
solchen, der das Gemeinwohl schädigt; anders als der Aufruhr zielt er dadurch selbst auf
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das Gemeinwohl. Es besteht Aussicht auf Erfolg. Es entstehen keine Schäden, die schwer-
wiegender sind als die bestehenden. Wenn alle diese Kriterien erfüllt sind, ist der bewaffnete
Widerstand erlaubt.116
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Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Gerhard Beestermöller, „‚Rettet den Armen und befreit den Dürftigen aus der Hand des
Sünders‘ (Ps 82,4): Thomas von Aquin und die humanitäre Intervention“, in Die Zukunft
der Familie und deren Gefährdungen. Norbert Glatzel zum 65. Geburtstag, hrsg. von
Nils Goldschmidt [u. a.], Münster 2002, 401–419.
Eberhard Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt,
Freiburg i. Br. 2018, 143–163.
Als Standardwerk sei genannt Gerhard Beestermöller, Thomas von Aquin und der gerechte
Krieg. Friedensethik im theologischen Kontext der Summa Theologiae, Köln 1990.

115
Summa theologica II-II, q. 42 a. 2 ad 3; hinsichtlich der (impliziten) Kriterien sind weitgehende Parallelen zum
Vorstehenden offensichtlich.
116
Zu Thomas von Aquins Lehre im Einzelnen Josef Spindelböck, Aktives Widerstandsrecht. Die Problematik der
sittlichen Legitimität von Gewalt in der Auseinandersetzung mit ungerechter staatlicher Macht, St. Ottilien
1994, 80ff; Juan González Morfín, La guerra cristera y su licitud moral. Una perspectiva desde la teologia
sobre la licitud de la resistencia armada, Rom 2004, 68ff.

72
7 Globale Schutzpflicht (Francisco de Vitoria

7 Globale Schutzpflicht (Francisco de Vitoria)117

In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts musste Papst Eugen IV. die im vorstehenden Kapi-
tel erörterten Fragen dann in einem neuen Kontext anwenden: Europa hatte begonnen, sich
in zuvor unbekannte, aber bewohnte Gegenden auszuweiten. So betonte er hinsichtlich der
Kanaren erstens die tradierte Auffassung Innozenz IV.118 und gewährte dem portugiesischen
König zweitens das Betreten des Gebiets sowohl mit Blick auf den Heilsgewinn für die Ein-
geborenen durch die Verkündigung des Evangeliums als auch mit Blick auf deren Schutz
durch die Portugiesen vor anderen, übelwollenden Fremden.119
Nach der Entdeckung und Kolonialisierung Amerikas – der Ausweitung des im Fall der
Kanaren angewandten Konzepts auf eine ungleich größere Ebene – stellte sich die von Tho-
mas von Aquin vorgenommene Reflexion mit neuer Dringlichkeit. So ging knapp 300 Jahre
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nach dem Aquinaten Francisco de Vitoria (1483–1546) die Fragen nach Krieg und Frieden
im Kontext der aufkommenden neuzeitlichen Staatenwelt deutlich detaillierter durch: Die
Reformation und die Abspaltung der Anglikaner hatten die geistliche Einheit aufgebrochen,
die Rivalität zwischen dem französischen König und dem Kaiser die weltliche. Die alte
Ordnung war überholt, eine neue Ordnung begann sich abzuzeichnen.120
Vitorias Leitperspektive war die eines Theologen, deshalb war die für ihn fundamentale
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Frage jene nach Menschsein, Menschenwürde und Heil der Indianer. Seine Ausführungen
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zum Krieg sind die Fortsetzung seiner Antworten auf die Frage nach der gemeinsamen
Grundlage und dem Verhältnis von ‚alter‘ und ‚neuer‘ Welt. Im Jahr 1539 hielt Vitoria
nämlich die beiden öffentlichen Vorlesungen De Indis recenter inventer, relectio prior sowie
De Indis, sive de Iure Belli hispanorum in Barbaros, relectio posterior. Die erste ist fast
dreimal so umfangreich wie die zweite: In jener setzte er sich zunächst damit auseinander,
welches rechtmäßige und welches nicht rechtmäßige Gründe dafür waren, dass die Indianer
unterworfen wurden; in dieser erörterte er anschließend allgemein, ob Christen Krieg führen
dürfen sowie wer, warum und wie.121
Vitoria hält aufgrund von Berichten fest, dass die Indianer die Fähigkeit haben, den
christlichen Glauben anzunehmen. Voraussetzung ist dafür, dass Gott ihnen die Fähigkeit
dazu gegeben hat. Daraus schließt Vitoria, dass die Gnade Gottes – im Glauben – die Natur
der Indianer nicht verändert, sondern in genau der gleichen Weise vollenden kann wie jene
der Europäer: Und in dieser für die Gnade offenen Natur ist die Würde der Indianer ebenso
wie die aller anderen Menschen grundgelegt. Aus der Menschenwürde wiederum gehen
grundlegende subjektive Rechte hervor und vor diesem Hintergrund erörterte Vitoria, wann
das Vorgehen der Spanier diese Rechte der Indianer verletzte.122

117
Die folgenden Ausführungen sind eine durchgesehene und geringfügig erweiterte Fassung des diesbezüglichen
Abschnitts in Schrage, Intervention in Libyen …, 234–240.
118
Siehe Kapitel 6.
119
James Muldoon, „Forerunners of Humanitarian Intervention? …“, 109f.
120
Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War as Defense of International Law“, in From Just
War to Modern Peace Ethics …, 121–135, 122f.
121
Der vollständige Titel der beiden Vorlesungen war De Indis recenter inventis, relectio prior sowie De Indis, sive
de Iure Belli hispanorum in Barbaros, relectio posterior, Schmidt, Bellum iustum: gerechter Krieg und Völker-
recht …, 149; Für den Text siehe Francisco de Vitoria, Vorlesungen II. Lateinisch-deutscher Text. Einführung,
Übersetzung und Anmerkungen von Joachim Stüben, Stuttgart 1997, 370–541 beziehungsweise 542–605.
122
Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War as Defense of International Law …“, 123ff.

73
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Er stellte zunächst anhand des Azteken- und des Inkareiches fest, dass die Indianer in der
Lage waren, komplexe und funktionierende Gemeinwesen zu errichten: „[…] sie [haben]
eine bestimmte Ordnung in ihren Angelegenheiten […], wenn sie auf der Grundlage einer
Ordnung bestehende Bürgergemeinden, klar festgelegte Ehen, Beamte, Herren, Gesetze […]
haben – all dies erfordert Vernunftgebrauch.“123 Diesbezüglich war ihnen also dieselbe Ver-
nunft zuteil wie den Europäern. Aus diesem Grund unterlagen sie auch nicht einer auf römi-
schem Recht oder dem Neuen Testament beruhenden weltweiten Souveränität des Kaisers
oder des Papstes und konnten nicht einfach unterworfen werden: „[…] die Barbaren [waren]
ohne Zweifel sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich ebenso wie die Christen
echte Herren […] und mit dem Rechtsgrund, daß sie keine echten Herren seien, [konnten]
weder Herrscher noch Privatleute ihrer Güter nicht beraubt werden […].“124
Vielmehr entsprach die – überall, wo Menschen lebten, erfolgende – Bildung hierar-
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chisch-geordneter und wehrfähig-schutzgewährender Gemeinwesen für Vitoria dem Natur-


recht: Und auf dieser Grundlage waren alle Staaten, die der Europäer und die der Indianer,
gleichberechtigt. In einer solchen ‚zwischenstaatlichen Gesellschaft‘ konnten die Europäer
nur aufgrund von – Indianern wie Europäern – gemeinsamen Rechten gegen die Indianerstaa-
ten Krieg führen. Dazu gehören für Vitoria das – naturrechtliche, da in allen Gemeinwesen
wiederfindbare – Recht der Reisefreiheit, das Recht an einem Ort zu bleiben, das Gastrecht
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oder das Recht, Handel zu treiben: Solches unter allen Völkern allein durch die natürliche
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Vernunft aufgestelltes Recht, nennt Vitoria ius gentium. Es ist insofern ein wenig umfang-
reicher als das Naturrecht, als dass es auch von diesem direkt abgeleitete Sätze umfasst.125
Drei Sachzusammenhänge können wir als Begründungen für einen Krieg gegen die Indi-
aner umreißen. Erstens: Wo ius gentium im obigen Sinne126 verletzt wird, gilt es zunächst,
eine friedliche Streitbeilegung zu suchen, danach aber ist eine gewaltsame Rechtsdurchset-
zung erlaubt.127 Zweitens haben die Spanier das Recht, den christlichen Glauben zu verkün-
den. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass nur die Verhinderung seiner freien Verkündung
in integrer Weise eine gewaltsame Rechtsdurchsetzung rechtfertigt, nachdem alle friedli-
chen Streitbeilegungsversuche fruchtlos geblieben sind: Die Nichtannahme des christlichen
Glaubens trotz seiner freien Verkündigung in integrer Weise – geschweige denn in selbst-
widersprüchlicher oder unglaubwürdiger Weise – ist dagegen keineswegs ein Kriegsgrund.128
Drittens dürfen die Spanier „Unschuldige vor einem ungerechtem Tod“ bewahren, beispiels-

123
Vitoria, Vorlesungen II …, 403 – „[…] habent ordinem aliquem in suis rebus, postquam habent civitates, quae
ordine constant, et habent matrimonia distincta, magistratus, dominos, leges […], quae omnia requirunt usum
rationis, […].“, Ebd., 402; Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War as Defense of Inter-
national Law …“, 126.
124
Vitoria, Vorlesungen II …, 403 – „[…] sine dubio barbari erant et publice et privatim ita veri domini sicut
Christiani nec hoc titulo potuerunt spoliari aut principes aut privati rebus suis, quod non essent veri domini.“,
Ebd., 402; James Muldoon, „Forerunners of Humanitarian Intervention? …“, 114ff.
125
Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War as Defense of International Law …“, 125ff.
126
„[Ius gentium] vel est ius naturale vel derivatur ex iure naturali: Quod naturalis ratio inter omnes gentes cons-
tituit, vocatur ius gentium.“, Vitoria, Vorlesungen II …, 460.
127
Vgl. den ersten Rechtsgrund der „rechtmäßigen Titel, aufgrund deren die Barbaren unter spanische Herrschaft
kommen konnten“, Vitoria, Vorlesungen II …, 460ff.
128
Vgl. den zweiten Rechtsgrund der „rechtmäßigen Titel, aufgrund deren die Barbaren unter spanische Herr-
schaft kommen konnten“ sowie den vierten Rechtsgrund der „unrechtmäßigen Titel, aufgrund deren die
Barbaren unter spanische Herrschaft kommen konnten“., ebd., 432ff. In diesem Zusammenhang seien der
Vollständigkeit halber auch der dritte und vierte Rechtsgrund der rechtmäßigen Titel erwähnt: Der Fall der

74
7 Globale Schutzpflicht (Francisco de Vitoria

weise bei Bräuchen von Menschenopfern – weil es sich dabei um Sünden von solcher Art
gegen das Naturrecht handelt, durch die Unschuldigen schweres Unrecht zugefügt wird:129
Die strafende Ordnungsfunktion, die innerhalb eines Gemeinwesens existiert, kommt für die
Ebene des ius gentium wegen des Fehlens einer universalen Gewalt nämlich den Fürsten zu.130
Zusammenfassend können wir festhalten, dass es sich eingedenk der vorausgegangenen und
den damaligen Zeitgenossen bekannten, rücksichtslosen spanischen Eroberungspolitik und
Zwangsmissionierung bei Vitorias Position um eine unabhängige und kritische handelt.131
Bevor wir zu den Kriterien für den gerechten Krieg kommen, sei noch eine wichtige Ent-
wicklung benannt. Der säkular-völkerrechtliche und der moraltheologisch-sittliche Aspekt
scheinen sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zu trennen und so Legalität und Legitimi-
tät potenziell auseinandertreten zu lassen, was später dann zur Möglichkeit eines rechtlich
gerechten Krieges auf beiden Seiten führen sollte. Bei Vitoria nun eröffnete sich, wegen der
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entfallenen einheitlichen politischen und geistlichen Instanz, bereits die Möglichkeit eines
subjektiv(!) auf beiden Seiten gerechten Krieges: „Vitoria realizes that diverging judgements
emerge from a different knowledge or interpretation of an issue or simply by an error“ –
diese Möglichkeit führt letztlich in die Aporie, was geschieht, wenn die sich fälschlicher-
weise für gerecht streitend haltende Seite siegt.132
Vor dem Hintergrund der skizzierten Ausführungen können wir nun die Kriterien des
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gerechten Krieges im für uns interessanten Zuschnitt zusammenfassen. Vitoria erweitert in


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

der zweiten seiner Vorlesungen unter vier Fragenbündeln die Systematisierung des Thomas
von Aquin: 1. Ob es Christen überhaupt erlaubt ist, Krieg zu führen, 2. wer die Befugnis hat,
Krieg zu erklären und zu führen, 3. welche Begründung, welchen Grund ein Krieg haben
kann, sowie am ausführlichsten, 4. was und wie viel in einem gerechten Krieg erlaubt ist.133
Krieg dürfen Christen lediglich führen, um Frieden und Sicherheit wiederherzustellen.
Dabei ist ein Doppeltes zu beachten. Zum einen sind Frieden und Sicherheit auf diesseitige
Gemeinwesen bezogen und keine metaphysischen Konzepte. Zum anderen erstrecken sie
sich auf das weltweite Miteinander: Dieses muss im Hinblick auf Frieden und Sicherheit
ebenfalls profitieren; ein Krieg darf also nicht geführt werden zum bloßen Nutzen von Frie-

zwangsweisen Rückbekehrung von Bekehrten sowie das Einsetzen eines christlichen Herrschers – an Stelle
eines ungläubigen – für eine zum großen Teil bereits bekehrte Bevölkerung; ebd., 478ff.
129
Vgl. den fünften Rechtsgrund der „rechtmäßigen Titel, aufgrund deren die Barbaren unter spanische Herrschaft
kommen konnten“. Hierbei handelt sich um ein präzisiertes Wiederaufgreifen des einst von Innozenz IV. auf-
gestellten Grundsatz: „Et quantum ad hoc habet verum illa opinio Innocentii […], quod pro peccatis contra
naturam possunt puniri – intelligendo, inquam, quando est in detrimentum innocentium, ut est hoc, quod facere
prohibentur, scilicet sacrificare innocentes et in esum convertere.“, ebd., 480f. Diesbezüglich nicht präzise
Norbert Brieskorn, „Francisco de Vitoria“, in Christliche Ethik im Porträt …, 309–336, 323f.
130
Vgl. in der zweiten Vorlesung den fünften Satz zur vierten Frage, Vitoria, Vorlesungen II …, 564ff; Heinz-Ger-
hard Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, Köln 1991, 71ff.
131
Kurt von Schuschnigg, „Der Beitrag der Spätscholastik zu unserem Völkerrecht“, in Miscellanea Taparelli.
Raccolta di studi in onore di Luigi Taparelli d’Azeglio SJ nel primo centenario dalla morte, hsrg. von Pontificia
Università Gregoriana, Rom 1964, 475–501, 480f; Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War
as Defense of International Law …“, 129ff mit weiteren Nachweisen.
132
Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War as Defense of International Law …“, 133f; Ders.,
Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden …, 121ff; Schmidt, Bellum iustum: gerechter Krieg und Völker-
recht …, 147.
133
Vitoria, Vorlesungen II …, Erste Frage, 544–549; Zweite Frage, 548–555; Dritte Frage, 556–561; Vierte Frage
(zweigeteilt), 560–603.

75
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

den und Sicherheit für ein einzelnes Gemeinwesen unter diesbezüglichen Nachteilen für die
weltweite Gemeinschaft.
Die rechte Autorität ist für ihn nunmehr einzig die vollendete Gemeinschaft, die kein
abhängiger Teil einer anderen ist: Als positives Beispiel nennt er das Königreich Kastilien
und Aragon, als negative Beispiele das Herzogtum Alba und die Grafschaft Benavent als
Teile des genannten Königreichs.134
Unbeschadet der Selbstverteidigung gegen einen gegenwärtigen rechtwidrigen Angriff
– die auch Individuen und unselbständigen Gemeinwesen angesichts eines Ausfalls der rech-
ten Autorität sowie dem Volk gegen einen Tyrannen zusteht – bleibt bei ihm als gerechter
Grund im Ausschlussverfahren lediglich das Vorliegen von Unrecht.135 Aus dem vierten
Fragenbündel sei präzisierend gleich mitbehandelt, dass für die drei Aspekte, unter denen
deshalb Krieg geführt werden darf – Selbstverteidigung, Wiedererlangen von Verlorenem/
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Entschädigung sowie Bestrafung –, nicht die gleichen Voraussetzungen gelten: Um jeman-


den zu bestrafen, muss er überdies auch nach sicherer Erkenntnis schuldig sein.136 Ebenfalls
sei hier die Sorgfaltspflicht miterwähnt. Für die Beteiligten gilt eine gestufte Sorgfaltspflicht
hinsichtlich der Prüfung, ob wirklich ein gerechter Grund vorliegt: für den König, der sich
eingehend zu beraten hat; für führende Ratgeber und Militärs, die den Grund selbst prüfen
müssen; für alle Anderen, die sich auf deren Urteil verlassen dürfen. Falls aber jemand,
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auch irrtümlich, vom Unrecht sicher überzeugt ist, darf er am Krieg nicht mitwirken, gleich
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

welcher Gruppe er angehört.137


Die rechte Absicht steht für Vitoria nicht im Vordergrund. Er bezeichnet aber als Ziel
eines Krieges, Frieden und Sicherheit sowie das, was für die Wahrung des öffentlichen
Wohls nötig ist. Seine Mühe verwendet er vielmehr darauf, die innere Haltung der rechten
Absicht anhand korrespondierender äußerer Verhaltensweisen zu präzisieren.138
Aus diesen zahlreichen Antworten auf das vierte Fragenbündel gehen drei zeitlose Prin-
zipien hervor. Krieg kann immer erst dann eine Option sein, wenn allen anderen Möglich-
keiten keine Aussicht auf Erfolg beigemessen werden kann.139 Weiter muss im Krieg jede
Handlung suffizient sein: Lediglich das soll getan werden, was zur Zielerreichung nötig ist,
also die jeweils mildestmögliche Variante gewählt werden.140 Schließlich müssen die Folgen

134
Ebd., 548ff, insbesondere 552; Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden …, 48ff; Schmidt,
Bellum iustum: gerechter Krieg und Völkerrecht …, 150;
135
Vitoria, Vorlesungen II …, 558ff.
136
Ebd., 564ff, 590ff; Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden …, 127ff.
137
Vitoria, Vorlesungen II …, 566ff; Schmidt, Bellum iustum: gerechter Krieg und Völkerrecht …, 151ff.
138
Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War as Defense of International Law …“, 134f;
Schmidt, Bellum iustum: gerechter Krieg und Völkerrecht …, 161ff mit einer sehr übersichtlichen Aufzählung.
139
Im konkreten Zusammenhang der Beratungspflicht des Herrschers heißt es beispielsweise: „Omnia enim
sapientem, […], verbis prius experiri oportet quam armis.“, Vitoria, Vorlesungen II …, 566; Justenhoven,
Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden …, 94f.
140
Im konkreten Zusammenhang der Bemächtigung feindlicher Güter heißt es beispielsweise: „Si bellum satis
commode geri potest non spoliando agricolas aut alios innocentes, non videtur, quod liceat eos spoliare“, oder
im konkreten Zusammenhang bei Besiegten die Herrscher zu wechseln: „Hoc non passim et ex quacumque
causa belli iusti licet facere. […] aliquando contingant legitimae causae vel ad mutandum principatum vel ad
mutandos principes, et hoc multitudine damnorum et iniuriarum, vel maxime quando aliter securitas et pax ab
hostibus obtineri non potest […].“, Vitoria, Vorlesungen II …, 586 und 600; Justenhoven, Francisco de Vitoria
zu Krieg und Frieden …, 131ff und 148ff.

76
7 Globale Schutzpflicht (Francisco de Vitoria

eines Krieges ausgewogen sein, er darf keinen größeren Schaden anrichten als den, den er
beseitigen soll.141
Francisco de Vitoria hat, auf den erwähnten Paradigmenwechsel der beginnenden Neu-
zeit reagierend, die tradierten Auffassungen zur Erlaubtheit des Krieges neu durchdacht.
Dafür hat er erstmals eine weltumspannende Gemeinschaft gleichberechtigter Rechtsträger
umrissen, freilich keine Gemeinschaft von Gleichentwickelten. Davon ausgehend hat er
die – besonders durch Thomas von Aquin bekannten – Kriterien des gerechten Krieges
ausgestaltet und aktualisiert. Von besonderer Bedeutung sind zum einen das Herausarbeiten
eines verteidigbaren ius gentium und zum anderen die Weiterentwicklung des – bereits bei
Thomas als Hilfe für Unrecht erleidende Christen vorkommenden – Interventionsmotivs
in Fällen der Einschränkung christlicher Religionsfreiheit sowie von Sünden gegen das
menschheitsumfassende Naturrecht.142
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Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Heinz-Gerhard Justenhoven, „Francisco de Vitoria: Just War as Defense of International


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Law“, in From Just War to Modern Peace Ethics, hrsg. von ders. und William A. Bar-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

bieri, Berlin 2012, 121–135.


Eberhard Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt,
Freiburg i. Br. 2018, 164–226.
Als Standardwerk sei genannt Heinz-Gerhard Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg
und Frieden, Köln 1991.

141
Im konkreten Zusammenhang der Tötung Unschuldiger bei der Erstürmung einer Burg oder Stadt heißt es bei-
spielsweise: „[…] oportet cavere, ne ex ipso bello sequantur maiora mala quam vitentur per ipsum bellum.“,
Vitoria, Vorlesungen II …, 584; Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden …, 87ff.
142
Eine im Verhältnis zu Thomas von Aquin deutlich weiterentwickelte Lehre zum bewaffneten Widerstand hat
Francisco de Vitoria weder in seinem Kommentar zur Summa theologica noch in seinen Vorlesungen ausgeführt.
Juan González Morfín, La guerra cristera y su licitud moral. Una perspectiva desde la teologia sobre la licitud
de la resistencia armada, Rom 2004, 73ff; Spindelböck, Aktives Widerstandsrecht …, 96ff.

77
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

8 Allgemeinverbindlich fundiertes Minimalrecht (Hugo Grotius)

Wenn wir uns nun Hugo Grotius (1583–1645) zuwenden, können wir uns auf seine erstmals
1625 erschienene Hauptarbeit De iure belli ac pacis libri tres konzentrieren. Denn dieses aus
drei Büchern – wir würden heute wohl eher von Hauptteilen sprechen – bestehende und das
Recht im Krieg und Frieden erörternde Werk hatte er als eine mit systematischem Anspruch
verfasste Gesamtdarstellung konzipiert.
Das erste Buch, welches das bei Weitem kürzeste ist, hat sowohl einführende wie grund-
legende Funktion. Es behandelt insbesondere das System der Rechte und die Fragen, ob
Kriege überhaupt geführt werden können sowie wer in diesem Fall dazu befugt ist, also das
Kriterium der rechten Autorität. Das zweite Buch, das ungefähr die Hälfte des Gesamtwerks
ausmacht, setzt sich mit dem ius ad bellum auseinander, und zwar vor allem mit dem Kri-
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terium des gerechten Grundes. Das dritte Buch, ungefähr ein Drittel des Gesamtwerks, ist
unterschiedlichsten Einzelfragen des ius in bello gewidmet; sein erstes Kapitel erörtert die
naturrechtlich erfassten Aspekte, alle weiteren dann zahlreiche Regelungen des Völkerrechts.
Auch wenn es in den allermeisten Passagen dieser Arbeit um den Krieg geht, ist der Titel
keineswegs deplatziert: Denn sowohl sein ureigenes Gesamtanliegen als auch jede in – nach
Grotius – gerechter Weise erfolgende Kriegsführung sind auf das Erreichen und Gewähren
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eines Friedenszustandes ausgerichtet.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Zudem ist der wichtigste Beitrag von Hugo Grotius wohl auch nicht in den sehr umfang-
reichen Erörterungen zum ius ad bellum und ius in bello zu sehen, sondern vielmehr in sei-
nem System der Rechte und seinem Verständnis des Naturrechts. Die von ihm diesbezüglich
vertretene Position ist zwar weder revolutionär noch innovativ; Grotius hat im Gegenteil
eine fest in der Tradition der vorangegangenen Jahrhunderte verwurzelte ‚Spätfom‘ bei-
gesteuert. Aber Zweierlei sticht heraus: zum einen sein wegweisendes Mühen, inmitten des
Dreißigjährigen Krieges, also in Zeiten, in denen sich die fundamentale Zersplitterung der
internationalen Gemeinschaft aufdrängte, das allen Akteuren Gemeinsame herauszuarbeiten
und zu verdeutlichen; zum anderen die Breite und der Umfang seines Herangehens.

Erstens. Sehen wir also auf sein System der Rechte und innerhalb dessen insbesondere auf
sein Naturrechtsverständnis.
Grotius Systematisierung kann unterschiedlich erschlossen werden. Es ließe sich ein-
gangs bei der Unterscheidung zwischen natürlichem Recht (ius naturale) und Willensrecht
(ius voluntarium) ansetzen; bei diesem wären weiterhin göttliches Willensrecht (ius divinum
voluntarium) und menschliches Willensrecht (ius humanum voluntarium) zu unterscheiden;
innerhalb des letzteren schließlich noch zwischenstaatliches Recht (ius gentium) und inner-
staatliches Recht (ius civile).143
Des Weiteren ist auch wichtig, dass Grotius kein einheitliches Verständnis von subjekti-
ven Rechten hatte; also von Rechten, die Personen zukommen können und deren Zielrich-

143
Alternativ könnte eingangs auch nach göttlichem Recht (ius divinum) und menschlichem Recht (ius humanum
voluntarium) differenziert werden: Das erste teilt sich in das mittels der bloßen Vernunft erkennbare natürliche
Recht (ius naturale) sowie in das erst in der Offenbarung zum Ausdruck kommende göttliche Willensrecht (ius
divinum voluntarium); das zweite teilt sich in das zwischenstaatliche Recht (ius gentium) und das innerstaat-
liche Recht (ius civile).

78
8 Allgemeinverbindlich fundiertes Minimalrecht (Hugo Grotius)

tung es ist, dass jemand das erlangt, was der Gerechtigkeit entspricht. Vielmehr unterschied
er ein engeres und ein weiteres Verständnis. Ein subjektives Recht im engeren Sinn ist für
ihn eines, das unmittelbar mit einer Pflicht eines Anderen korrespondiert. Erfüllt dieser seine
Verpflichtung nicht, kann das entsprechende Verhalten – anhand einer Rechtsordnung mit
äußerer Bindewirkung – von ihm in durchsetzbarer Weise verlangt werden: Ein solch voll-
kommenes Recht nennt er ‚Fähigkeit‘ (facultas) und die diesbezügliche Gerechtigkeit die
‚erfüllende‘ (iustitia expletrix). Ein Recht im weiteren Sinn ist für ihn eines, das sich auf die
richtige Bemessung von in Gruppen und Gemeinschaften zu Verteilendem – sei es Angeneh-
mes, sei es Schädigendes – bezieht und nicht in durchsetzbarer Weise verlangt werden kann:
Ein solch unvollkommenes Recht nennt er ‚Geeignetheit‘ (aptitudo) und die diesbezügliche
Gerechtigkeit die ‚zuteilende‘ (iustitia attributrix).144
Das große Vorhaben Hugo Grotius’ war nun die allgemeinverbindliche Fundierung von
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Recht. Hinsichtlich des ius naturale vertrat er zwar die Auffassung, dass es seinen letzten
(Existenz-)Grund in Gott hat. Er setzte aber zugleich alles daran, den Kurzschluss zu ver-
meiden, es direkt im göttlichen Willen zu verankern. Vielmehr ging es ihm darum zu zeigen,
dass zwar die Vorschriften des ius divinum voluntarium existieren und zu befolgen sind, aus-
schließlich weil Gott sie will, sie aber nicht von allen Menschen (an-)erkannt werden; dass
die Vorschriften des ius naturale hingegen in der rationalen Natur des Menschen verankert
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sind und darin einen für alle zugänglichen Geltungsgrund haben – auch für Menschen, die
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nicht religiös sind und den letzten Geltungsgrund des Naturrechts nicht erkennen.145 Daher
galt für Grotius „[d]as natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft“146, was für ihn genau den
Unterschied zwischen ius voluntarium divinum und ius naturale bezeichnet.
Die drei zentralen Eigenschaften des ius naturale sind Erkennbarkeit, Universalität und
Unveränderlichkeit. Die Erkennbarkeit besteht primär in jener a priori und sekundär in jener
a posteriori, insofern die Naturrechtsnormen jedem Menschen im Verstand als etwas Klares
erscheinen und insofern sie als etwas von allen Geteiltes festgestellt werden können, was
wiederum auf einen allgemeinen Geltungsgrund verweist. Um diese in der rationalen Natur
des Menschen beruhende Erkennbarkeit zu unterstreichen gilt: „[sie] würden auch Platz
greifen, selbst wenn man annähme, […], dass es keinen Gott gäbe […]“.147 Die Universali-
tät beruht im Letzten auf der allen Menschen gemeinsamen Abstammung, sodass alle die-
selbe rationale Natur teilen. Die Unveränderlichkeit schließlich ist die für Grotius wichtigste
Eigenschaft. Das ius naturale beruht auf der rationalen Natur des Menschen: Würde sich
diese verändern, wäre der Mensch nicht mehr Mensch. Der Mensch kann das Naturrecht
nicht verändern, „weil der niedriger Gestellte nicht das Gesetz des Oberen ändern kann (quia
inferior non potest mutare legem superioris)“,148 und auch Gott kann es nicht verändern, weil
Gott unveränderlich gerecht ist und nicht gegen etwas von ihm Geschaffenes und als gerecht

144
Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres. Lateinisch und Deutsch, hrsg. und übers. von Walter Schätzel,
Tübingen 1950, I,1,4–8.
145
Grotius identifiziert Natur mit Rationalität, Opera omnia theologica, Band III, 691, Rom. 2,27: „[...] per natu-
ram intelligitur rectus usus rationis [...]“. Zitiert nach Matija Berljak, Il diritto naturale e il suo rapporto con
la divinità in Ugo Grozio, Rom 1978.
146
Grotius, De iure belli ac pacis libri tres …, I,1,10.
147
Ebd., Prolegomena, 11.
148
Brief vom 18.5.1615 an seinen Bruder Wilhelm, Briefwisseling van Hugo Grotius, Band I, 400. Zitiert nach
Berljak, Il diritto naturale e il suo rapporto con la divinità …

79
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Aufgezeigtes verstoßen kann.149 Grotius geht es gerade nicht darum, das Naturrecht von Gott
zu lösen, sondern das Naturrecht von der Veränderbarkeit durch Gott zu lösen und eine für
alle Menschen in ihrer rationalen Natur erkennbare, allgemeinverbindliche Grundlage für
die Geltung des Rechts aufzuzeigen.
Schließlich ist auch darauf zu sehen, welchen minimalistischen Inhalt das Naturrecht bei
Grotius hat. Seine Regelungen bewegen sich sämtlich innerhalb des Bereichs der iustitia
expletrix. Sie betreffen zum einen, sich fremder Güter zu enthalten; wenn man etwas davon
in Besitz hat oder daraus Ertrag gewonnen hat, es zurückzugeben; gegebene Versprechen zu
halten; Ersatz für schuldhaft verursachte Schäden zu leisten; schuldangemessenes Bestrafen.
Zum anderen gehört die natürliche Frömmigkeit dazu – der Glaube an die Existenz des Gött-
lichen sowie an dessen Ursächlichkeit und Sorge für diese Welt.150
Betrachten wir ferner noch knapp, worauf Grotius das Völkerrecht zurückführte. Er
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benannte unterschiedliche Konzepte: zum einen solches Völkerrecht, das aus expliziten
oder impliziten Vereinbarungen hervorgeht; zum anderen solches, das aus einseitigen, nicht
aufeinander bezogenen, aber übereinstimmenden Verfügungen von Staaten hervorgeht. Das
erste kommt dem heutigen Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht nahe, das zweite
den allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Völkerrecht. Die Gesamtanlage des modernen Völ-
kerrechts ist bei ihm bereits erkennbar. Er leistet im Verlauf seiner Erörterung jedoch hin-
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sichtlich der vielen Einzelnormen des ius gentium keine kohärente Unterscheidung, wozu
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

diese jeweils gehören.


Von dem skizzierten Gesamtbild ausgehend, sei nochmals deutlich darauf hingewiesen,
dass für Grotius Naturrecht und Völkerrecht voneinander streng zu unterscheidende Rechts-
ordnungen sind – deren Inhalte sich beispielsweise im Bereich des Krieges idealerweise
zwar ergänzen, tatsächlich aber auch widersprechen können. Eingedenk dieses von ihm
vertreten Dualismus bedachte Grotius auch die Möglichkeit von Kollisionen. Das – mini-
malistische – Naturrecht bindet innerlich und äußerlich (moralische Normen sind ungleich
breiter und detaillierter und stehen auch nicht in Widerspruch zum Naturrecht, sie entfalten
jedoch bloß innere Bindewirkung, sodass sie nicht mit Zwang durchgesetzt werden können).
Das Völkerrecht entfaltet äußere Bindewirkung, die mit Zwang durchgesetzt werden kann.
Wenn nun Völkerrecht der natürlichen Gerechtigkeit widerspricht, was vornehmlich Fälle
betrifft, in denen es naturrechtlich Gebotenes verbietet beziehungsweise Verbotenes gebietet
(nicht aber Fälle, in denen es fortentwickelnd beziehungsweise ausgestaltend wirkt, indem
es naturrechtlich Erlaubtes ge- oder verbietet), bleibt es bei einer bloß äußeren Bindewir-
kung, ohne dass eine innere hinzukäme.

Zweitens. Wenden wir uns im Anschluss an diese Erläuterungen zum Grundlegenden jenen
Ausführungen Grotius’ zu, die in spezifischerer Weise die von der Bellum-iustum-Tradi-
tion erörterten Fragen betreffen. Von ihrer Systematik her verortet er sie im Bereich der
expletiven Gerechtigkeit. Die Erörterungen zu den überlieferten Kriterien sind auf alle drei

149
Bemerkenswert sind die Parallelen, die Grotius zwischen der Mathematik und dem Naturrecht zieht; bei-
spielsweise in Grotius, De iure belli ac pacis libri tres …, 1,10: „So wenig also Gott es bewirken kann, dass
zweimal zwei nicht vier sind, ebenso wenig kann er bewirken, dass das nach seiner Natur Schlechte nicht
schlecht sei.“ – „Sicut ergo ut bis duo non sint quattuor ne a Deo quidem potest effici, ita ne hoc quidem, ut
quod intrinseca ratione malum est, malum non sit.“
150
Ebd., Prolegomena, 8–10.

80
8 Allgemeinverbindlich fundiertes Minimalrecht (Hugo Grotius)

Bücher seines Hauptwerks verteilt. Im ersten Buch wird das Kriterium der rechten Autorität
besprochen. Voraussetzung für einen öffentlichen und förmlichen Krieg ist, dass er zwischen
Souveränen geführt und formell erklärt wird.151 Am Ende des ersten Buches – innerhalb der
Gesamtanlage des Werks kohärent verortet – geht Grotius auf die Frage des Widerstands-
rechts ein. Er erörtert zahlreiche Einzelkonstellationen und kommt zu einer insgesamt recht
weiten Auslegung: Insbesondere hält er dieses Recht sowohl für die Gesamtbevölkerung als
auch für Minderheiten für gegeben in den Fällen von Usurpation oder schwerer Angriffe
eines Herrschers gegen sie; also sowohl einem tyrannus in titulo als auch einem tyrannus in
regimine gegenüber.152
Die Erörterung des Kriteriums des gerechten Grundes füllt nahezu das gesamte zweite
Buch aus: Dieser unverhältnismäßige Umfang entsteht dadurch, dass in ihr auch eine grund-
legende Eigentumslehre enthalten ist. Grotius folgt hinsichtlich der Frage des gerechten
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Grundes jedenfalls einem recht originellen Zugang. Er setzt bei der Unterscheidung an,
ob ein Körper- oder Eigentumsschaden droht oder ob er bereits erfolgt ist; innerhalb die-
ses zweiten Falls sodann, ob Wiedergutmachung oder Bestrafung angestrebt wird. Dem-
entsprechend kennt er drei verschiedene Arten des Krieges: Den defensiven – wir würden
heute sagen: präemptiven(!) –, der sich gegen unmittelbar bevorstehende Angriffe wendet;
den erzwingenden, der auf Wiedererlangen von Verlorenem oder Entschädigung zielt; den
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bestrafenden.153 Dieser letzte kommt allerdings nicht bei jedem Unrecht in Betracht, son-
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dern nur in Fällen, die sehr schwerwiegend und ganz evident sind. Als Beispiele für der-
artige Naturrechtsverbrechen nennt er zum einen Kannibalismus oder Piraterie; das Retten
von schwer verfolgten Christen oder ganz allgemein von tyrannisch Unterdrückten gehört
ebenfalls hierzu – auch wenn in diesen beiden Konstellationen der Aspekt der Verteidigung
Anderer hervorsticht.154 Zum anderen nennt er Verbrechen gegen die natürliche Frömmigkeit
(im Sinne eines Glaubens an die Existenz des Göttlichen sowie an dessen Ursächlichkeit
und Sorge für diese Welt); das Nichtannehmen des Christentums ist jedoch keinesfalls ein
Kriegsgrund in diesem Sinne.155
Bezüglich der Entscheidungen zum Kriegseintritt erläutert Grotius anschließend ungleich
kürzer, in zwei Kapiteln, Fragen, die zu dem gehören, was wir rechte Absicht, letztes Mittel,
Suffizienz und Proportionalität nennen können.156 Zum Abschluss des zweiten Buches geht
er auf die Frage ein, welches Verhalten bei Untergebenen angemessen ist, wenn sie ange-
sichts einer Entscheidung, Krieg zu führen, ernste Zweifel haben, ob es sich dabei wirk-
lich um einen gerechten Krieg handelt oder nicht. Bei unausräumbarer Ungewissheit hat
der Einzelne das geringere unter den möglicherweise eintretenden Übeln zu wählen: also
Ungehorsam statt des Tötens Unschuldiger; dies gilt insbesondere im Fall eines aggressiven
Kriegs. Für Herrscher ist dann wiederum einschlägig, Ersatzleistungen in Form finanzieller
Beiträge zu fordern – Grotius empfiehlt sogar, dieses obrigkeitliche Vorgehen nicht auf situa-

151
Grotius, De iure belli ac pacis libri tres …, I, 3.
152
Ebd., I, 4, 8–18.
153
Ebd., II,1; II, 2; II, 20.
154
Ebd., II, 20, 40–43; II, 20, 49; II, 25, 8.
155
Ebd., II, 20, 44; II, 20, 48.
156
Ebd., II, 23 und II, 24.

81
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

tiv ernsthaft Zweifelnde zu begrenzen, sondern auch auf jene auszuweiten, die Waffendienst
prinzipiell ablehnen.157
Gegenstand des dritten Buchs sind unterschiedlichste Einzelfragen hinsichtlich der
Kriegsführung selbst. Diese ordnet Grotius in überwältigender Weise dem Bereich des Völ-
kerrechts zu. Das naturrechtlich Geregelte wird eingangs (gewissermaßen an der Übergangs-
stelle zwischen ius ad bellum und ius in bello) kompakt behandelt: Es bezieht sich zum
größten Teil auf die kommunikative Wahrhaftigkeit, auf Betrug, List und Lüge; hier seien
aus dem im ersten Kapitel Ausgeführten jedoch drei andere Punkte benannt. So wird die
Notwendigkeit einer kontinuierlichen Prüfung des bislang Erörterten aufgezeigt – im Ver-
lauf eines Krieges eintretende Ereignisse können es nämlich erforderlich machen, ganz neue
Situationen beurteilen oder vorgenommene Beurteilungen revidieren zu müssen. Ebenfalls
wird das Recht der Wahl suffizienter Mittel angeführt – also ein solches Vorgehen zu wäh-
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len, das geeignet und erforderlich ist, um ein beabsichtigtes Ziel zu erreichen. Ferner wird
die Figur des Kollateralopfers/-schadens beschrieben – als Unterscheidung zwischen den
beabsichtigten Folgen und den lediglich vorhergesehenen Folgen einschließlich des Gebots
hinsichtlich der letzten sehr restriktiv zu sein, jedenfalls aber ein Überwiegen der Übel aus-
zuschließen.158
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In Hugo Grotius monumentaler Gesamtdarstellung dürfte wohl insbesondere sein Mühen,


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in Zeiten fundamentaler Zersplitterung nach einem recht minimalistischen, unhintergehba-


ren Gemeinsamen zu suchen, das zu seiner Vertiefung oder Entfaltung für unterschiedliche
partikulare Rechtsordnungen offen ist, in zeitloser Weise wegweisend bleiben. Entgegen
gelegentlich vertretener Auffassung war Grotius keineswegs a-religiös oder gar anti-reli-
giös – dem Leben und Verwirklichen christlicher Partikularnormen maß er einen hohen Wert
zu. Vielmehr hat er die Tradition des Naturrechts in sehr konsequenter Weise aufgenom-
men, um auf das zustimmungsfähige Darlegen einer gemeinsamen ‚Sprache‘ abzustellen,
die allen Menschen bloß durch ihre Vernunftbegabung zugänglich ist. Grotius blieb dabei
dem europäischen Kulturraum und dessen Staatenwelt verhaftet. Deshalb sind sein Ansatz
und sein Vorgehen mit Blick auf die heutige plurikulturelle und weltweite Staatengemein-
schaft nicht in direkter Weise zu ‚kopieren‘, aber sie lassen sich doch ‚dekodieren‘ und
eingedenk der veränderten Rahmenbedingungen ‚rekodieren‘. Denn sein Hauptanliegen,
eine Rechtsgrundlage zu garantieren, die für alle rein immanent erkenn- und annehmbar ist,
ohne deshalb auf eine tiefere, aber eben nicht von allen zwingend zu teilende transzendente
Be-Gründung zu verzichten, ist genau jenes realistisch-dialogbereite Paradigma, in dem
auch die heutige Interaktion sehr unterschiedlicher Akteure hinsichtlich der Fundierung des
zwischenstaatlichen Miteinanders erfolgen sollte: Dabei gilt es einerseits, eine gemeinsame
Grundlage zu schaffen, auf der alle Beteiligten stehen können, und andererseits den globalen
Diskurs nicht durch einen Verzicht auf eigene Überzeugungen verflachen zu lassen, sondern
durch das Einbringen der eigenen, tieferen Überzeugungen zu bereichern und weiterzuent-
wickeln, ohne zugleich davon auszugehen, dass diese tieferen Überzeugungen allgemeine
Anerkennung finden müssten.

157
Ebd., II, 26, 3–6.
158
Ebd., III, 1, 2–4.

82
8 Allgemeinverbindlich fundiertes Minimalrecht (Hugo Grotius)

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Christoph Stumpf, „Hugo Grotius: Just War Thinking Between Theology and International
Law“, in From Just War to Modern Peace Ethics, hrsg. von Heinz-Gerhard Justenhoven
und William A. Barbieri, Berlin 2012, 197–216.
Stefan Kadelbach, Recht, Krieg und Frieden bei Hugo Grotius, Stuttgart 2017.
Als Standardwerk sei genannt Christoph Stumpf, The Grotian theology of international law.
Hugo Grotius and the international foundations of international relations, Berlin 2006.
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83
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

9 Kriegsüberwindung in freiwilliger Friedensordnung (Immanuel Kant)

Nachhaltig weiterführende Impulse hat Immanuel Kant (1724–1804) zur Friedens- und
Konfliktethik beigesteuert. Wenn wir auf seine diesbezüglich wichtigsten Ausführun-
gen eingehen, ist eingangs Zweierlei erwähnenswert. Zum einen haben die Schrift Zum
ewigen Frieden (ZeF)159 und mehr noch die einschlägigen Abschnitte der Metaphysik der
­Sitten–Rechtslehre (MdSR)160 einen – gerade im Vergleich zu Grotius’ Arbeit – recht kleinen
Umfang. Sie bieten vor allem prinzipielle Überlegungen und führen Detailregelungen wenig
aus. Zum anderen handelt es sich dabei um Spätwerke, die Kant in seinem letzten Lebens-
jahrzehnt geschrieben hat, 1795 und 1797. Sie sind damit in Jahren entstanden, in denen
die Koalitionskriege gegen das postrevolutionäre Frankreich begannen; und diese ließen,
insbesondere durch die levée en masse, zwischenstaatliche Konfrontationen im Vergleich zu
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den zahlreichen ‚Kabinettskriegen‘ der Jahrzehnte seit dem Westfälischen Frieden in eine
ganz andere Größenordnung treten.
In dieser Situation rezipiert Kant zwar die hergebrachten konfliktethischen Überlegungen,
nennt verschiedene Exponenten der Tradition des bellum iustum aber zugleich „lauter leidige
Tröster“.161 Er kommt nämlich – ohne ihnen persönlich unlautere Absichten zu unterstellen
– zu dem Schluss, dass all ihre Mühen und Ausführungen in keiner Weise geeignet seien, zwi-
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schenstaatliche Konflikte effektiv zu reduzieren oder gar zu einem verlässlichen Frieden zu


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führen. Vor diesem Hintergrund werden beim Erschließen seines Konzepts hinsichtlich seiner
skizzenhaften Erörterung der Aspekte des gerechten Kriegs – die er in „Recht zum Kriege“,
„Recht im Kriege“ und „Recht nach dem Kriege“ einteilt – unterschiedliche Interpretationen
vertreten: Teilt Kant den Ansatz der Tradition des bellum iustum oder schließt er ihn aus?
Weder noch: Das Besondere seines Entwurfs ist vielmehr sowohl das Benennen dessen, was
hinsichtlich des Alten gelten soll, als auch das anschließende Erörtern dessen, was hin-
sichtlich des darüber hinausgehenmüssenden Neuen zu gelten hat.
Um es zu erleichtern, dieses vom Alten zum Neuen überführen wollende Konzept nach-
zuvollziehen, greifen wir eingangs Kants im Ersten Zusatz von ZeF gebotene grobe Hin-
tergrundskizze auf. Knapp zusammengefasst vertritt er in ihr, dass die Menschen fast alle
Weltgegenden bewohnen können, auch sehr karge und unwirtliche Regionen. Im Laufe der
Zeit sind nun durch Verdrängen und Ausweichen sämtliche Bereiche besiedelt worden. Fer-
ner sind die einzelnen, größeren und kleineren Gruppen sowohl durch innere als auch durch
äußere Faktoren dazu gedrängt worden, geordnete Gemeinwesen auszubilden: von innen
heraus wegen der Koordinationsnotwendigkeit gegenläufiger Belange und von außen her
wegen des Schutzbedürfnisses vor Bedrohungen. Mit Blick auf die Individuen innerhalb
all dieser Gemeinwesen unterscheidet er überdies zwischen deren (äußerlichem) Verhalten
und deren (inneren) Einstellungen: Das Recht als zwangsbewährte, interne Ordnung der
Gemeinwesen bezieht sich auf und sanktioniert bloß das Erste, das Zweite ist der Bereich
der Moral. Abschließend hebt Kant hervor, dass einerseits zwar zwischen den Gemeinwesen

159
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Gesammelte Schriften, Band VIII, Berlin 1969, 341–386.
160
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Gesammelte
Schriften, Band VI, Berlin 1969, 203֪–372; dies sind „Das Völkerrecht“ (§§ 53 bis 61), 343–351, „Das Welt-
bürgerrecht“ (§62), 352–353, sowie der darauffolgende „Beschluss“, 354–355.
161
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden …, Zweiter Definitivartikel, 354–357.

84
9 Kriegsüberwindung in freiwilliger Friedensordnung (Immanuel Kant)

durch Handel ein reger Kontakt und Austausch besteht, dass andererseits aber sowohl die
erheblichen Kultur- und Sprachunterschiede zwischen ihnen als auch die schiere Extension
und Bürgerferne einen einheitlichen Weltstaat verhindern.
Diese Skizze im Hinterkopf behaltend, können wir uns Kants Konzept gut aneignen.
Der Schlüsselgedanke ist die Notwendigkeit des Übergangs von anarchischen Zuständen frei
waltender Interessen und Belange, von Zuständen freien Lauf habender Rivalitäten hin zu
geordneten Zuständen. Entscheidend ist nun, dass dies auf verschiedenen Ebenen und unter
verschiedenen Aspekten erfolgt. Auf der Ebene der Individuen in zweifacher Hinsicht: zum
einen hinsichtlich des äußeren Verhaltens – und zwar in einforderbarer, erzwingbarer Weise
vom „juridischen Naturzustand“ hin zum „rechtlichbürgerlichen (politischen) Zustand“, der
über Zwangsbefugnisse verfügt; sowie zum anderen hinsichtlich der inneren Überzeugungen
– und zwar in lediglich freiwilliger Weise vom „ethischen Naturzustand“ hin zum „ethisch-
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bürgerlichen Zustand“ ohne jegliche Zwangsbefugnisse.162 Während der rechtlichbürgerliche


Zustand nun explizit in partikularen Größen seine Konkretion findet, eben in den einzelnen
Gemeinwesen, zielt der „ethischbürgerliche Zustand“ auf eine globale Zielgröße und ist par-
tikular gerade noch nicht verwirklicht. Auf der Ebene der Gemeinwesen siedelt Kant dann
einen weiteren Übergang hinsichtlich des äußeren Verhaltens an – allerdings in freiwilliger
Weise vom „staatenrechtlichen Naturzustand“ hin zu einem „Friedensbund“ beziehungsweise
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einem „permanenten Staatenkongress“, ohne irgendwelche Zwangsbefugnisse. Dabei handelt


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es sich in auffälliger Weise um eine Mischform der beiden Übergänge auf der Ebene der
Individuen: Denn der Übergang auf Gemeinwesenebene führt zwar den rechtlichen Strang,
den Aspekt des äußeren Handelns fort, kann aber nur freiwillig erfolgen, bleibt ohne Zwangs-
befugnisse und zielt auf eine globale Größe. Deshalb ist die direkte Analogie zwischen Indi-
viduen, die zur Gemeinwesenbildung übergehen, und Gemeinwesen, die zur Friedensbund-
bildung übergehen, zu kurz gegriffen und entspricht gerade nicht Kants Konzept.
Wie umreißt er nun jene Bedingungen, die unmittelbar im damaligen Zeitgeschehen, im
„staatenrechtlichen Naturzustand“ gelten sollten?
Zum einen führt er für diesen Übergangszustand in MdSR in den drei sehr kompakten
§§ 56 bis 58 eine strenger gefasste Bellum-iustum-Konzeption an. Dabei sei – um Missver-
ständnisse zu vermeiden – nochmals betont, dass es sich für Kant beim staatenrechtlichen
Naturzustand im strengen Sinne um einen nicht-rechtlichen Zustand handelt, in dem das
Recht des Stärkeren gilt. Denn es ist gerade nicht möglich, Streitigkeiten erforderlichen-
falls prozessual beizulegen: Das ist trotz der von ihm verwendeten Ausdrücke „Recht zum
Kriege“, „Recht im Kriege“ und „Recht nach dem Kriege“ stets mitzubedenken. Hinsicht-
lich des ius ad bellum ist zwar nur eine Rechtsverletzung ein rechtmäßiger Grund; dies ist
bei ihm allerdings sehr weit gefasst, weil neben das Abwehren einer „tätigen Verletzung“163
auch der Schutz vor einer existenziellen Bedrohung tritt – beispielsweise durch Aufrüstung
oder Gebiets- und Einwohnerzuwachs – und somit die präventive Kriegsführung. Was das
ius in bello angeht, sind Straf-, Ausrottungs- und Unterjochungskriege als solche verboten
und in keinem Krieg darf ferner nach Prinzipien oder mit Mitteln gehandelt werden, die

162
Immanuel Kant, Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, Gesammelte Schriften, Band VI, Berlin
1969, 1–202, hier: Drittes Stück, Erste Abteilung, I. und II, 95–98.
163
Eine solche stellt auch das Ergreifen militärischer Mittel seitens des Gegners dar, ohne dass dieser zuvor ver-
sucht hätte, sich friedlicher Mittel zu bedienen.

85
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

es aufgrund ihrer vertrauensvernichtenden Effekte verunmöglichen, eines (fernen) Tages


vom staatenrechtlichen Naturzustand zur weltweiten Friedensordnung überzugehen. Das
im Friedensschluss zum Tragen kommende ius post bellum drückt nahezu nur das Recht des
Stärkeren aus; ausgeschlossen sind jedoch die Kolonisierung des unterlegenen Staates, die
Versklavung seiner Einwohner und die – nämlich einem Strafaspekt entsprechende – Erstat-
tung der Kriegskosten.
Zum anderen benennt er in den etwas ausführlicheren sechs Präliminarartikeln von ZeF
die Verbote von geheimen Vorbehalten in Friedensverträgen, von militärischen Interventio-
nen in anderen Staaten sowie von heimtückischen und vertrauenszerstörenden Verhaltens-
weisen, die Friedensschlüsse verunmöglichen: Diese drei Verbote gelten sofort und lassen
die genannten Praktiken illegal sein (leges strictae). Demgegenüber sollen die drei weiteren
Verbote gleichwie begründeten Erwerbens von Staaten, stehender Heere sowie von Kriegs-
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anleihen gewissermaßen mit einem Bestandsschutz in Kraft treten, sodass die bestehenden
Ausprägungen dieser Phänomene nicht sofort entfallen, sondern vielmehr aufgrund des Aus-
bleibens von neuen Fällen nach und nach auslaufen (leges latae): Es wäre nämlich geradezu
kontraproduktiv destabilisierend, fremdbeherrschte Völker ohne jegliche Vorbereitung der
Unabhängigkeit zu überlassen, sämtliche Berufssoldaten unverzüglich zu entlassen oder
aufgenommene Kredite nicht mehr zurückzuzahlen.
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Und wie konzipiert Kant demgegenüber die weltweite Friedensordnung, in die es


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überzugehen gilt? Hier liegt der quantitative Schwerpunkt seiner Ausführungen – nicht
so sehr in MdSR, aber eindeutig in ZeF hinsichtlich der dortigen drei Definitivartikel. Es
sei eingangs nochmals vergegenwärtigt, dass erst diese weltweite Friedensordnung einen
absolut-rechtlichen Zustand darstellt, in dem Rechtsverhältnisse nicht bloß vorübergehend
und unsicher (provisorisch), sondern dauerhaft und sicher (peremtorisch) sind. Sie setzt sich
aus drei Elementen zusammen: erstens republikanisch verfassten Gemeinwesen, zweitens
einem Friedensbund oder permanenten Staatenkongress sowie drittens einem Weltbürger-
recht. Bevor wir diese Elemente im Einzelnen konkretisieren, können wir, gewissermaßen,
‚vor die Klammer‘ ziehen, dass Kant den „Endzweck der Rechtslehre“ in der Friedensver-
wirklichung sieht – das höchste ‚politische‘ Gut ist für ihn dementsprechend der Friede als
rechtlich „gesicherter Zustand des Mein und Dein“: sei es innerstaatlich (wir könnten auch
zwischenbürgerlich sagen), sei es zwischenstaatlich.
Das erste Element unter dieser Perspektive sind republikanisch verfasste Gemeinwesen.
Konstitutiv dafür ist die Freiheit und Gleichheit aller Bürger sowie ihrer aller Abhängigkeit
von einer einzigen, gemeinsamen Gesetzgebung. Republikanisch bezieht Kant nicht auf die
Anzahl derer, die die „Herrschergewalt“ innehaben – eine Person (Autokratie), mehrere (Aris-
tokratie), alle (Demokratie) –, für ihn ist dies ein nachgeordneter Aspekt. Vielmehr stellt er
auf die Art der Ausübung dieser Herrschergewalt ab, auf die Gewaltenteilung, darauf dass die
Gesetzgebenden und die Ausführenden disjunkte Mengen sein müssen, um jeglicher Form
von Despotismus vorzubeugen. Wenn nun das Volk der Gesetzgeber ist, muss die ausfüh-
rende Gewalt zwingend in repräsentativer Form und nicht durch alle wahrgenommen werden.
Im Zusammenhang mit der Verfassung von Staaten ist unbedingt zu erwähnen, dass Kant
eigens auf solche Staaten eingeht, die – wenn man ihre Verhaltensmaßstäbe verallgemeinern
würde – den angestrebten Übergang zur Friedensordnung unmöglich machen würden: deren
„geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht
würde, kein Friedenszustand unter den Völkern möglich, sondern der Naturzustand ewig wer-

86
9 Kriegsüberwindung in freiwilliger Friedensordnung (Immanuel Kant)

den müsste.“ Zu solchen Staaten, die er „ungerechte Feinde“ nennt, zählt er in erster Linie Ver-
tragsbrecher. Gegen diese dürfen die anderen Staaten sich verteidigen und mit allen zulässigen
Mitteln vorgehen, zwar nicht um sie zu vernichten, wohl aber, um sie eine friedensbegüns-
tigende Verfassung annehmen zu lassen, eine die „der Neigung zum Kriege ungünstig“ ist.164
Das zweite Element ist ein Friedensbund oder permanenter Staatenkongress: Kant ver-
wendet für diese „Föderalität“ verschiedene Namen. Sämtliche untereinander gleiche Mit-
gliedstaaten schließen sich ihr freiwillig an und können sie auch wieder verlassen; die Föde-
ralität selbst verfügt über keine Zwangsbefugnisse. Da sie deshalb bezüglich der Staaten
gerade keine direkte Analogie zum rechtlichbürgerlichen (politischen) Zustand ist, bezeich-
net Kant sie ganz präzise als „das Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes“, als „das
negative Surrogat“ der „positiven Idee einer Weltrepublik.“
Ihr Ziel ist das Schaffen, Gelten- und Befolgenlassen von Völkerrecht (im Sinne eines für
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die Verhältnisse zwischen den Staaten geltenden Rechts), um die fortwährende Annäherung
und Interaktion der Mitgliedstaaten zu begünstigen. Erst dieses Völkerrecht ist insofern Recht
im eigentlichen Sinne als es für die Herrschaft des Rechts steht und nicht einer faktischen
Herrschaft der Stärke entspricht – wie dies ja noch beim „Recht zum Kriege“, „Recht im
Kriege“ und „Recht nach dem Kriege“ im staatenrechtlichen Naturzustand der Fall ist: Erst
dieses Völkerrecht ermöglicht Streitschlichtung im prozessualen Wege und damit die systemi-
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sche Überwindung des Krieges und nicht bloß konkrete Friedensschlüsse nach einem Krieg.
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Diese Föderalität kann allerdings nur freiwillig zustande kommen, deshalb ist sie kons-
titutiv darauf angewiesen, dass die Mächtigsten unter den Staaten dabei vorangehen und
so durch ihr Vorbild andere Staaten davon überzeugen, sich ebenfalls einzubringen. Aber
warum postuliert Kant auf den Zweck des ewigen Friedens hin nicht die positive Idee einer
Weltrepublik, sondern bloß deren negatives Surrogat? Die erste stellt er als bloße Behaup-
tung zwar auf, sie entspricht aber nicht einer in seinem Denksystem kohärent verwirklich-
baren Zielgröße. Dafür führt er insbesondere zwei Argumente an:165 Zum einen kann beim
forder- und erzwingbaren Bilden eines rechtlichbürgerlichen (politischen) Zustands mit
Zwangsbefugnis jeder, der daran nicht teilnehmen möchte, aus dieser Nachbarschaft fort-
ziehen und später jederzeit auch auswandern – Optionen, die für Kant Voraussetzung für das
Eröffnen der Möglichkeit eines solchen forder- und erzwingbaren Übergangs sind. Eben dies
ist für einen Staat auf dieser Welt aber nicht möglich: Er kann weder angesichts des Bildens
eines Weltstaats ‚umziehen‘, noch später aus diesem ‚auswandern‘. Zum anderen ist nur ein
freiwilliger Übergang zum ethischbürgerlichen Zustand ohne Zwangsbefugnis möglich, weil
er gerade aus auto-nomen, aus selbst-gesetzgebenden Subjekten hinsichtlich ihrer inneren
Überzeugungen konstituiert wird. Eben dies gilt auch für republikanische Staaten, aus denen
eine Föderalität wie auch ein etwaiger Weltstaat nur hervorgehen kann: Indem sie schon
einen Übergang zu einem rechtlichbürgerlichen (politischen) Zustand vollzogen haben, sind
sie bereits auto-nome Größen geworden, die hinsichtlich ihres Inneren gerade nicht mehr
gezwungen werden dürfen.

164
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe …, 349.
165
Das erste Argument nimmt einen Vergleich im Hinblick auf den Übergang vom juridischen Naturzustand zum
rechtlichbürgerlichen (politischen) Zustand vor und das zweite Argument einen Vergleich im Hinblick auf den
Übergang vom ethischen Naturzustand zum ethischbürgerlichen Zustand.

87
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Wenden wir uns schließlich dem dritten Element zu. Dem Weltbürgerrecht kommt eine
komplementäre, aber nichtsdestoweniger wichtige Rolle zu: Es ist nämlich – mit minimalis-
tischem Inhalt – auf der individuellen Ebene angesiedelt. Auf diese Weise eröffnet es allen
unmittelbar ein kosmopolitisches Reise- und Besuchsrecht – und damit insbesondere auch
das Recht, sich überall sowohl zu Austausch und Kommunikation als auch zu Handelszwe-
cken anzubieten. Hierdurch entsteht über die Zeit auch auf der Ebene der Individuen ein
weltweit immer dichteres Beziehungsgeflecht, ein immer stärkeres Gewebe. Das Weltbürger-
recht umfasst jedoch nicht etwaiges Ansiedeln oder Niederlassen, dies bleibt vielmehr nach
den je eigenen, örtlich geltenden Maßgaben auszuhandeln; damit bezog Kant unter anderem
Position gegen impertinent auftretende und selbstermächtigt besitzergreifende Handelsgesell-
schaften. Klassische Verstöße gegen ein solches Weltbürgerrecht sind dementsprechend die
Piraterie, das Versklaven von Gestrandeten oder das Ausplündern von Reisenden.
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Trotz der Knappheit seiner Ausführungen ist Kants Beitrag innerhalb unseres diachronen
Zugangs ein nachhaltig weiterführender Meilenstein. Skeptisch darf jedoch seine Auffas-
sung stimmen, dass Staaten im Friedensbund zu nichts gezwungen werden dürften: Während
der Verzicht auf militärische Zwangsmittel beispielsweise bei Nichtbefolgen von Urteils-
sprüchen oder Rechtsbrüchen in den meisten Fällen vernünftig sein dürfte, überzeugt der
Ausschluss nicht-militärischer Zwangsmittel nicht. Dass er – um die Möglichkeit des Über-
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gangs vom staatenrechtlichen Naturzustand zur weltweiten Friedensordnung nicht zu ver-


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

schließen – einzig den schlimmsten Auswüchsen, dem vertrauenszersetzenden Verhalten


„ungerechter Feinde“ nicht nur hinsichtlich seiner Symptome, sondern auch hinsichtlich
seiner Ursachen Einhalt zu gebieten gestattet hat, das allein ist für eine gerechte Friedens-
ordnung wohl keine ausreichende Befugnis.

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Thomas Mertens, „Kant and the Just War Tradition“, in From Just War to Modern Peace Ethics,
hrsg. von Heinz-Gerhard Justenhoven und William A. Barbieri, Berlin 2012, 231–247.
Philip J. Rossi SJ, „Kant’s Cosmopolitanism: Resource for Shaping a ‚Just Peace“, in From
Just War to Modern Peace Ethics, hrsg. von Heinz-Gerhard Justenhoven und William
A. Barbieri, Berlin 2012, 217–230.
Als Standardwerk sei genannt Gerhard Beestermöller, Die Völkerbundsidee. Leistungsfähig-
keit und Grenzen der Kriegsächtung durch Staatensolidarität, Stuttgart 1995.

88
10 Institutionalisierte und zwangsbewährte Friedensordnung (Luigi Taparelli d’Azeglio)

10 Institutionalisierte und zwangsbewährte Friedensordnung


(Luigi Taparelli d’Azeglio)

Die moderne kirchliche Lehre hat ganz stark Luigi Taparelli d’Azeglio geprägt, ein Denker,
der in Deutschland wenig bekannt ist. Er hat im 19. Jahrhundert gelebt und als Hauptwerk
eine Naturrechtslehre geschrieben.166
Taparelli d’Azeglio wurde 1793 geboren, hat also praktisch ab der französischen Revo-
lution gelebt, und ist 1862 verstorben. Er stammte aus einer piemonteser Adelsfamilie. Er
war Jesuit, hat Theologie studiert, sich dann aber vor allem mit Philosophie beschäftigt.
Innerhalb des Jesuitenordens hat er verschiedene bedeutende Aufgaben übernommen. Zum
Beispiel hat er fünf Jahre das Collegio Romano geleitet, die traditionsreiche Hochschule des
Heiligen Stuhls in Rom, sobald diese 1824 den Jesuiten wieder anvertraut war. Später wurde
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er dann als einer der Gründungsredakteure zur Civiltà Cattolica gerufen, als diese 1850
als den Jesuiten anvertraute „Kulturzeitschrift des Papstes“ für die Verbreitung kirchlicher
Positionen gegründet wurde.

Hier aber steht nicht Taparellis Biografie im Vordergrund, sondern sein Werk: Taparelli hat
eine zweibändige Naturrechtslehre geschrieben – sie hat den Titel Saggio teoretico di diritto
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naturale appoggiato sul fatto und ist ab den 1840er-Jahren in vier Auflagen ergänzt und
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

überarbeitet worden. Sie setzt sich mit den Fragen von Gesellschaft und Staat auseinander –
vor allem damit, wie ein Gemeinwesen entsteht, wie es aufgebaut sein und funktionieren
soll, knapp sogar, wie die internationale Zusammenarbeit entsteht, wie sie aufgebaut sein
und funktionieren soll. Inwiefern aber waren diese Ideen für spätere Zeiten maßgeblich?
Taparelli war ein typischer Jesuit. Er wusste genau, was er wollte, und hat versucht, dies
zielstrebig zu verwirklichen. Zugleich war er ein ruhiger Vertreter seiner Zunft, kein Heiß-
sporn oder Choleriker. Auf diese Art und Weise hat er recht viel erreicht.
Erstens. Taparelli hat sich als einer der Ersten für die Neoscholastik als den in der Katho-
lischen Kirche genutzten philosophischen Zugang eingesetzt. Und nachdem er damit 1825
begonnen hatte, kam es tatsächlich über verschiedene Etappen dazu, dass diese Art der Phi-
losophie 1878 zur offiziellen Philosophie der katholischen Kirche wurde. (Das liegt nun
wieder lange zurück. Heute ist die Neoscholastik nicht mehr die offizielle Philosophie der
katholischen Kirche, aber ab 1878 war sie es für mehrere Jahrzehnte.) Das ist das erste
Anzeichen dafür, dass das, was Taparelli vertrat, Einfluss ausübte.
Zweitens. In seiner großen Sozialethik ist unter anderem beachtlich, dass er sie von den
Fundamenten her aufbaut. Er beginnt mit dem Menschen: Wie ist der Mensch? Ein legt ein
anthropologisches Fundament – Anthropologie ist hier die philosophische Reflexion über
das Menschsein. Darauf setzt er auf. Wie entsteht ein Gemeinwesen, wie finden sich Indi-
viduen zusammen? Wie soll dieses Gemeinwesen dann verfasst sein? Wie soll die Leitung
funktionieren (das ist das, was er ‚politische Ordnung‘ nennt)? Wie soll sein Wirken seinen
Bürgern gegenüber sein (dies nennt er ‚zivile/bürgerliche Ordnung‘)? Schließlich gelangt
er zum Verhältnis zwischen den Gemeinwesen, zur Ethik der internationalen Beziehungen:
Wie sollen die Staaten unter- und miteinander agieren?

166
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige
Sekundärliteratur siehe Robert Jacquin, Taparelli, Paris 1943.

89
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Taparellis Sozialethik ist unter verschiedenen Gesichtspunkten pionierhaft:


• Zunächst kann der Aspekt des Subsidiaritätsprinzips genannt werden. Taparelli verwen-
det zwar noch nicht das Wort ‚Subsidiarität‘, sondern ‚Hypotaxis‘, weil er zumeist mit
griechischen Begriffen arbeitete, also Unter-Ordnung. Damit bezeichnete er, dass ein
Gemeinwesen aus verschiedenen eigenständigen Größen aufgebaut sein muss, die alle
ihre Berechtigung haben und sich aufeinander beziehen müssen. Das ist das Zueinander,
das wir heute beispielweise subsidiäre Kompetenz, subsidiäre Assistenz und subsidiäre
Revision nennen würden. Diese Punkte nimmt er bereits ausdrücklich in den Blick.
• Des Weiteren spielt der Aspekt des Solidaritätsprinzips bei ihm eine wichtige Rolle.
• Ebenso kann der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit angeführt werden, deren Wortschöp-
fer Taparelli sogar ist: jene Gerechtigkeit, die sich auf das Zueinander aller Teile eines
Gemeinwesens bezieht.
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Alles dies wurde später in der katholischen Soziallehre zentral. Wir können also sagen, dass
das, was Taparelli gedacht hat, im Sinne einer Einflussästhetik später durchaus relevant
war. Im Sinne einer Rezeptionsästhetik ist dies allerdings kaum möglich. Denn Päpste oder
bedeutende kirchliche Theologen haben nicht ausdrücklich Konzepte von ihm übernommen.
Zwar erwähnen Päpste die methodische und inhaltliche Vorbildlichkeit von Taparellis Werk,
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aber insgesamt müssen wir uns mit einer Einflussästhetik begnügen.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Kommen wir zum Analogieschluss. Wir können feststellen, dass das, was Taparelli für
die vorstehenden zentralen Themen – welche ist die offizielle Philosophie der katholischen
Kirche, welches sind die Grundzüge der katholischen Soziallehre – vertreten hat, großen
Einfluss entfaltete. Deshalb ist es nicht unplausibel, davon auszugehen, dass das, was er hin-
sichtlich der Ethik der internationalen Beziehungen skizziert hat, auch maßgebliche Blau-
pause war für das, was die katholische Kirche diesbezüglich später vertreten hat. Inhaltlich
sind die Übereinstimmungen jedenfalls frappierend.

Sehen wir uns also einmal Taparellis Skizze der internationalen Ordnung an.167 Zunächst
führt er an, dass es ein Fundament für diese Ordnung gebe, in Form einer Analogie zu
unserem individuellen Sein zueinander: Wie Individuen einander in der Haltung der Liebe
begegnen sollen, sollen auch die einzelnen Gemeinwesen das Wohl der Anderen wollen
(amore internazionale). Das ist aber lediglich das Fundament.
Auf dem Fundament bauen nun zwei Stufen auf: die natürliche universale Gesellschaft
und die partikulare universale Gesellschaft.
Nehmen wir zunächst die natürliche universale Gesellschaft in den Blick. Diese besteht
schlicht darin, dass die einzelnen Staaten alle nebeneinander existieren. Und wenn sie das
tun, haben sie auch Rechte und Pflichten untereinander – und zwar hinsichtlich des Friedens
und des Kriegs.
Wichtig ist hier, dass bei Taparelli der Frieden im Vordergrund steht. Die Regelbeziehung
ist der Frieden, die Ausnahme der Krieg. Das ist insofern betonenswert, weil wir heute ein

167
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Antonio Messineo, „Comunità mondiale e autorità mondiale“, in Miscellanea
Taparelli …, 273–297; Luciano Pereña, „La autoridad internacional en Taparelli“, in Miscellanea Taparelli …,
405–432; Kurt von Schuschnigg, „Der Beitrag der Spätscholastik zu unserem Völkerrecht …“, 475–501.

90
10 Institutionalisierte und zwangsbewährte Friedensordnung (Luigi Taparelli d’Azeglio)

ähnliches Regel-Ausnahme-Verständnis vertreten und dies damals keineswegs selbstver-


ständlich war. Es ist für Taparelli also nicht so, dass Frieden und Krieg gleichberechtigte
Zustände nebeneinander sind. Vielmehr haben die nebeneinander existierenden Staaten im
Frieden in erster Linie die (positive) Pflicht, das Gemeinwohl zu verwirklichen; im Krieg
haben sie in erster Linie die (negative) Pflicht, die Gerechtigkeit zu wahren:
• Während des Friedens hat man sich am materiellen Wohl oder am moralischen Wohl
zu orientieren. Das materielle Wohl teilt Taparelli wiederum ein in Territorien und in
Güter. Das ist für uns hier nicht weiter wichtig, es zeigt jedoch, wie strukturiert Tapa-
relli gedacht hat. Das moralische Wohl teilt er in die Orientierung eines Staates auf das
Gemeinwohl hin sowie zu erkennen, welche Haltung andere Staaten dem eigenen gegen-
über einnehmen. Staaten wiederum in genau diesen beiden Fragen zu helfen, ist Auf-
gabe der Diplomatie. Alles recht moderne Gedanken: dass man beispielsweise Staaten
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im Wege politischer Beziehungen zu erkennen hilft, was good governance sein könnte.
• Während des Kriegs gelten einige andere Regeln, nämlich solche, wie sie sich inhaltlich
auch schon bei Thomas von Aquin und vor allem Francisco de Vitoria finden. Taparelli
benennt und sortiert sie nur anders.
Ein Krieg muss erstens öffentlich sein, das heißt, dass nur eine öffentliche Autorität
Krieg erklären darf; denn Krieg muss auf das Gemeinwohl hin ausgerichtet sein.
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Krieg muss zweitens gerecht sein. Dies ist er im Fall der Verteidigung (defensiver Krieg)
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

und im Fall des Wiedererlangens von Verlorenem/Entschädigung sowie im Fall der


Bestrafung (aggressiver Krieg).
Drittens muss ein Krieg effektiv sein.
Viertens muss er hinsichtlich des Beginns, des Verlaufs und des Ziels gemäßigt sein. Das
heißt, dass er nur ultima ratio sein darf: dass er nach dem Diskriminierungsgrundsatz
sowie verhältnismäßig geführt werden muss und dass er der stetigen Bereitschaft zu ehr-
licher vertraglicher Einigung bedarf.

Diese Stufe, die natürliche universale Gesellschaft, soll sich zur nächsten weiterwickeln, zur
partikularen universalen Gesellschaft. Diese nennt Taparelli mit einer seiner zahlreichen
Wortneuschöpfungen Ethnarchie (Völker-Herrschaft).
Die Ethnarchie hat verschiedene Eigenschaften. Erstens entsteht sie nicht plötzlich. Die
Menschen leben Taparelli zufolge in Kontexten, die immer interdependenter werden. Zum
Beispiel hat er gesagt, die Vorstellung, dass die einzelnen Staaten vollkommen autark und
souverän seien, werde in der Zukunft immer weniger zutreffen. Gemeinwesen werden immer
mehr aufeinander angewiesen sein. Einerseits ergibt sich also ein natürlich notwendiges Zusam-
menwachsen. Für die Ethnarchie ist aber ein lediglich natürliches Zusammenwachsen nicht
ausreichend. Deswegen muss es andererseits auch noch eine Willensentscheidung geben. Das
ist eine Besonderheit der Ethnarchie: Sie hat eine natürliche und eine willentliche Grundlage.
Zweitens ist sie in ihrem Aufbau – ebenfalls Wortneuschöpfungen – hypotaktisch und
polyarchisch. Hypotaktisch heißt unter-geordnet, mit mehreren Ebenen: Ethnarchie, Einzel-
staaten und diese haben wiederum Untergliederungen. Die Ethnarchie darf die einzelnen
Staaten keinesfalls beseitigen oder ersetzen. Sie darf nicht zu einem Superstaat werden. Und
sie ist polyarchisch (viel-herrschaftlich). Die Herren der Ethnarchie sind die Einzelstaaten.
Sie schließen sich zusammen und bleiben gleichberechtigte Herren der Ethnarchie – in die-
ser Hinsicht ganz basisdemokratisch.

91
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Die so verstandene Ethnarchie soll über eine Legislative, eine Judikative und Militär
verfügen.
Die Legislatoren, die Gesetzgeber, sind die Einzelstaaten. Sie haben die Aufgabe, einen
Kodex des Völkerrechts zu erlassen. Daneben gibt es eine Judikative, die aber lediglich aus
einem Gerichtshof besteht. Allerdings soll, und das ist das Entscheidende daran, die Recht-
sprechung dieses Gerichts tatsächlich mit Zwangsmitteln durchsetzbar sein. Da Rechtspre-
chung ohne Rechtsdurchsetzung wenig wert ist, gibt es folglich auch ein Militär, das diese
Rechtsprechung erforderlichenfalls durchzusetzen hat.
Wie sich diese Institutionen konkret zusammensetzen sollen, darauf geht Taparelli nicht
ein. Ihm ist klar, dass das, worüber er etwa 1840 spricht, in die ferne Zukunft reicht, sodass
er institutionell nur einen Rahmen skizziert.
Was ist nun die Aufgabe der Ethnarchie? Zwei Dinge: die äußere Unabhängigkeit der
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Mitgliedstaaten zu schützen sowie deren innere Einheit zu wahren.


Hinsichtlich der äußeren Unabhängigkeit denkt Taparelli seiner Zeit durchaus voraus:
Äußere Unabhängigkeit bedeutet für ihn nicht nur territoriale Integrität, sondern auch, wirt-
schaftlich und kulturell nicht dominiert zu werden. Das umfasst die äußere Unabhängig-
keit, damit sich ein Mitglied in der Ethnarchie auch wirklich als freier souveräner Staat
einbringen kann.
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Hinsichtlich der inneren Einheit denkt Taparelli an die beiden Personen eines Gemein-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

wesens: Autorität und Untertanen. Dabei handelt es sich um abstrakte Größen. Taparelli sagt
beispielsweise nicht, die Monarchie sei die beste Staatsform. Auch nicht, dass es die Demo-
kratie sei. Auf diese Weise hat er sich zwischen die Stühle (der Monarchisten und der Revo-
lutionäre) gesetzt. Er wollte aber analytisch denken und hat es folglich keiner Gruppe recht
gemacht, die eine bestimmte Agenda verfolgte. Die Regierungsform kann für ihn – unter der
Voraussetzung, dass ein Volk gebildet und dazu in der Lage ist – auch eine demokratische
sein. In jedem Fall bedarf es für ein Gemeinwesen jedoch einer Autorität (eine Auffassung,
die klar durch das von ihm wieder propagierte scholastische Denken in ‚Form‘ und ‚Materie‘
geprägt ist): Ohne Autorität gibt es keinen Staat; die Autorität ist die ‚Form‘ des Staates;
ohne Autorität sind die Menschen nur eine ‚amorphe‘ Masse. Die wesensnotwendige innere
Einheit ist also für Taparelli die Einheit zwischen Autorität und Untertanen.
Das diesbezügliche Wirken der Ethnarchie fällt in zwei Bereiche: in jenen, der die Ver-
vollkommnung betrifft, und jenen, der die Gerechtigkeit betrifft. Im Bereich der Vervoll-
kommnung muss sich die Ethnarchie zurückhalten. Im Bereich der Gerechtigkeit kann die
Ethnarchie hingegen Zwang anwenden; allerdings nur bei Verstößen gegen Gerechtigkeit in
einem minimalistischen Sinn, bei gerechtigkeitswidrigen Exzessen.
Taparelli unterscheidet hinsichtlich der Vervollkommnung wiederum zwischen sittlichen
Fragen und materiellen Fragen. Hinsichtlich sittlicher Fragen soll sich die Ethnarchie ganz
heraushalten, weil die Einzelstaaten durchaus unterschiedliche Sitten haben und haben dür-
fen (diese Zurückhaltung würde erst dann enden, wenn sich die Staaten freiwillig dazu ent-
scheiden, ein Gemeinwesen zu gründen, das auch auf einer gemeinsamen Religion basiert;
da das nicht geschehen wird, hat sich die Ethnarchie in sittlichen Fragen aber zurückzu-
halten). Hinsichtlich der materiellen Fragen gilt, dass die Ethnarchie die Mitgliedstaaten
beraten darf, sogar beraten soll. Materiell meint, dass sich Staaten vor allem hinsichtlich der
wirtschaftlichen Lebensbedingungen gut entwickeln. Die einzelnen Staaten sind zu beraten
und zu unterstützen, aber die Entscheidungshoheit bleibt stets bei ihnen.

92
10 Institutionalisierte und zwangsbewährte Friedensordnung (Luigi Taparelli d’Azeglio)

Taparelli sieht auch eine Eingriffspflicht der Ethnarchie im Inneren der Mitgliedstaaten
vor: im Falle von gerechtigkeitswidrigen Exzessen, im Fall des Unterschreitens elementa-
rer Sittlichkeit, ohne welche ein Zusammenleben überhaupt nicht mehr möglich ist (eine
Denkfigur, die sehr auf die heutige Responsibility to Protect vorausweist). Das sind für
Taparelli zwei Fälle: die Vergewaltigung der Gewissen der Untertanen, Tyrannei, sowie das
Zusammenbrechen eines Gemeinwesens durch Aufruhr, Anarchie. Wenn dies eintritt, ist ein
menschliches Zusammenleben nicht mehr möglich, sodass es die Pflicht der Ethnarchie ist
einzugreifen, nicht nur ihr Recht.
Unbeschadet dieser Eingriffspflicht besteht Taparelli darauf, dass die Ethnarchie die Ein-
zelstaaten niemals ersetzt sowie dass die Mitgliedstaaten die Herren der Ethnarchie bleiben
und diese nur so lange zu respektieren haben, wie sie ihrem Zweck gerecht wird. Würde
sich die Ethnarchie ihrerseits in gerechtigkeitswidriger Weise entwickeln, wäre es nicht nur
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das Recht, sondern die Pflicht der Autorität eines Staates – die ja für das Wohl ihrer Bürger
zuständig ist –, die eigenen Einwohner zu schützen: So könnte es dazu kommen, dass ent-
weder die Mehrheit der Mitgliedstaaten übereinkommt, die Ethnarchie aufzulösen, oder
dass ein Mitgliedstaat austritt oder – wenn er weiterhin bedrängt wird – Widerstand leistet.
Ein letzter Punkt. Wenn die Ethnarchie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, bei
gerechtigkeitswidrigen Exzessen, bei einem Unterschreiten elementarer Sittlichkeit einzu-
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greifen, dürfen das dann auch einzelne Mitgliedstaaten? Diesbezüglich vertritt Taparelli,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

dass nur die Ethnarchie dieses Recht und diese Pflicht hat, Einzelstaaten nicht. Interventio-
nen durch Staaten kann es für ihn nur in zwei Fällen geben, nämlich wenn die legitime Auto-
rität eines Staates selbst darum bittet oder wenn es überhaupt niemanden mehr gibt, der um
Hilfe rufen könnte, die Autorität handlungsunfähig ist oder gar nicht mehr existiert. Denn
dann gibt es wahrscheinlich Bevölkerungsteile, die sich angesichts anarchischer Zustände
zumindest eine Minimalordnung wünschen. Sonst gibt es kein Interventionsrecht der einzel-
nen Staaten (eine der auch heute noch am meisten diskutierten Fragen in Völkerrecht und
Ethik der internationalen Beziehungen).

So viel zu Taparellis Entwurf: Den von diesem Jesuiten vertretenen sozialethischen Konzepten
entsprechen heute noch viele der Ausführungen der katholischen Soziallehre, die sich mit Leo
XIII. (1878–1903) zu entwickeln begonnen hat. Gehen wir nun einen Schritt weiter: Sehen wir
uns an, wie die Bellum-iustum-Tradition verfiel und wie es zu einem Neuanfang kam.

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Marco Schrage, „Luigi Taparellis naturrechtlicher Entwurf einer weltweiten Friedensord-


nung“, Theologie und Philosophie 94 (2019) 367–402.
Marco Schrage, „Luigi Taparelli als Vordenker der Friedensethik Leos XIII. und Benedikts
XV.“, in Dès les début. Die Friedensnote Papst Benedikt XV. von 1917, hrsg. von Birgit
Aschmann und Heinz-Gerhard Justenhoven, Paderborn 2019, 49–68.
Als Standardwerk sei genannt Pontificia Università Gregoriana (Hrsg.), Miscellanea Tapa-
relli. Raccolta di studi in onore di Luigi Taparelli d’Azeglio SJ nel primo centenario
dalla morte, Rom 1964.

93
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

11 Die Ausformung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts

Im dritten Kapitel hatten wir für die Friedens- und Konfliktethik einen großen Bogen skiz-
ziert. In den folgenden Kapiteln wurden wichtige Entwicklungsschritte dann anhand exem-
plarischer Denker nachgezeichnet. Am Ende dieses Parcours, im abschließenden Kapitel des
zweiten Hauptteils, soll hingegen nicht mehr ein einzelner Denker im Vordergrund stehen.
Vielmehr wird es schwerpunktmäßig um internationale Vereinbarungen, um völkerrechtli-
che Entwicklungen gehen: Denn darin haben die Erwägungen und Ausführungen zur Ethik
der internationalen Beziehungen, die im Laufe der Jahrhunderte vor allem Domäne von
Theoretikern gewesen waren, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann vor allem
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr ihre Gestalt in den internationalen
Beziehungen selbst angenommen.
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11.1 Die Problemlage

11.1.1 Aggressive Konkurrenz

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zerfiel die internationale Ordnung der postnapo-
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leonischen Restauration. Die europäischen Nationen fokussierten sich zunehmend auf sich
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

selbst und die sich neugründenden ‚Nationalstaaten‘, wie Deutschland und Italien, wollten
die von ihnen formulierten Ansprüche nicht mehr zurückstehen sehen gegenüber den Inte-
ressen der ‚Nationalstaaten‘ mit langer Historie, wie England und Frankreich. Die Haltung
aggressiver Konkurrenz zueinander verstärkte sich und die internationalen Beziehungen
stellten sich als eine zunehmend angespannte egoistische Rivalität dar.168

11.1.2 Ethische Aushöhlung

Parallel hierzu fand eine ethische Aushöhlung der Bellum-iustum-Tradition statt. Traditionell
war von Menschen gesetztes Recht, positives Recht, als anhand des Naturrechts bewert-
bar betrachtet worden – so konnte positives (gesetztes/erlassenes) Recht als ‚gerecht‘ oder
‚ungerecht‘ angesehen werden. Der Rechtspositivismus beschränkte demgegenüber die
Existenz von Recht auf das erlassene Recht und sprach dessen Bewerten anhand eines über-
positiven Rechts jede Berechtigung ab: Recht sei das, was erlassen werde, was nicht erlassen
werde, sei kein Recht; es gebe keine Maßgabe dafür, ob Recht, das erlassen werde, ‚gerech-
tes‘ Recht oder ‚ungerechtes‘ Recht sei.169
Rechtspositivistische Ansätze finden sich auch schon im 16. Jahrhundert bei Zeitgenos-
sen von Hugo Grotius, unter anderem bei Balthasar de Ayala, der beispielsweise gesagt hat,
dass hinsichtlich des zwischenstaatlichen Verkehrs nur das gelte, was als Recht von den
einzelnen Staaten gesetzt werde.

168
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Eberhard Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globali-
sierte Welt, Freiburg i. Br. 2018, 51–57.
169
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 236–239 und 282–285.

94
11 Die Ausformung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts

In der Zeit, mit der wir uns augenblicklich auseinandersetzen, vertrat der Rechtspositivist
Georg Jellinek um 1900 herum die Position, dass nur Akteure am Staatenverkehr teilneh-
men, die von den anderen Staaten anerkannt werden. Wer nicht anerkannt wird, nimmt nicht
teil (genau die Gegenposition zu dem, was einst beispielsweise Vitoria vertreten hatte, dass
die mittelamerikanischen Indianer ‚echte Herren‘ sind und wir ihren organsierten Zusam-
menlebensformen nicht Gemeinwesencharakter verleihen, sondern sie ihn aus sich heraus
haben und Teil der Völkerrechtsgemeinschaft sind). Ein solcher rechtspositivistischer Ansatz
hat zur ethischen Aushöhlung der Bellum-iustum-Tradition beigetragen: Für Konflikte mit
anerkannten Staaten sollten die Regeln aus der Bellum-iustum-Tradition gelten, aber bei der
Auseinandersetzung mit nicht-anerkannten Staaten nicht. Es konnte nun die Position geben,
dass die ‚Unzivilisierten‘ in Afrika oder Asien gar keine Staaten waren und im Krieg gegen
diese folglich auch nicht die bei der Auseinandersetzung mit anderen Staaten zu beachtenden
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Regeln einschlägig waren. So drifteten ein positiv-rechtliches Konzept und ein ethisches
Konzept auseinander.

Auch in der Theologie fand eine Aushöhlung statt – zugegebenermaßen etwas anderer Art:
Durch zunehmende Schematisierung kam es zu einer Schieflage hinsichtlich des bellum iustum.170
Die Bellum-iustum-Tradition stand stets vor der Herausforderung, dass sie zwischen
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Legitimation und Limitation changierte. Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin und Fran-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

cisco de Vitoria hatten zum Beispiel alle die Absicht der Limitation: Ihnen ging es nicht
darum, jemandem gute Gründe an die Hand zu geben, um Krieg zu führen. Sie wollten
vielmehr aufzeigen, dass es in den meisten Fällen, in denen Krieg geführt wird, illegitim
ist – unbeschadet dessen, dass es Extremsituationen gibt, in denen es legitim ist, sich gewalt-
förmiger Mittel zu bedienen.
Kompakte Werke mit einiger Verbreitung, etwa ein Lehrbuch von Jean- Pierre Gury von
1850,171 bewirkten durch extreme Vereinfachung im Grunde hingegen genau das Gegenteil.
Ein wenig zugespitzt wurden die Bellum-iustum-Kriterien zu einer Art Checkliste mittels
derer man entscheiden konnte, ob man Krieg führen dürfe oder nicht. Ein solches Verständ-
nis führte freilich eher zur Legitimation des Krieges als zu seiner Limitation.
Es gab auch andere bedenkliche Entwicklungen. Vitoria hatte beispielsweise die an hohe
Beamte/Generäle oder einfache Bürger/Soldaten zu stellenden Anforderungen bezüglich der
Pflicht, die hinsichtlich eines Krieges getroffenen Entscheidungen zu prüfen, unterschie-
den: Ein abgestuftes Verständnis, bei dem aber bei sicherer gegenteiliger Überzeugung das
Gewissensurteil zu befolgen war. Nun fand sich in moraltheologischen Ausführungen, bei-
spielsweise um 1900 bei Franz Adam Göpfert,172 dass der Soldat zu gehorchen und nicht
mehr zu überprüfen habe, was seine Vorgesetzten ihm befehlen.
Auch in der Theologie hatte sich also eine gewisse Schieflage ergeben, die die Bellum-
iustum-Tradition letztlich mit aushöhlte.

170
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 282–295.
171
Jean-Pierre Gury, Compendium theologiae moralis, Band 1, Lyon 1850, 273–276, insbesondere 273f.
172
Franz Adam Göpfert, Moraltheologie, Band 2, Paderborn 21900, 199.

95
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

11.2 Die Friedenskonferenzen 1899 und 1907

Eingedenk des angespannten egoistischen Nebeneinanders stellten die einzelnen Staa-


ten fest, dass sie sich in einer gefährlichen Situation befanden. Es kam zu Versuchen, das
Gewaltpotenzial, das sich aufgetürmt hatte, zu senken – jedenfalls hinsichtlich der sich
untereinander anerkennenden, vornehmlich europäischen Staaten.173
Zugleich wurden Kriege durch die technische Entwicklung zunehmend mechanisiert und
nahmen erheblich an Zerstörungswirkung zu: Der erste wirklich moderne Krieg, zumindest
hinsichtlich der Marine – hinsichtlich der Heere würde es erst später der Erste Weltkrieg
werden –, war wohl der amerikanische Bürgerkrieg. Die Zerstörungen nahmen neue Dimen-
sionen an. Die levée en masse gab es schon seit der Französischen Revolution; doch durch
ihre Kombination mit modernem Kriegsgerät hatten militärische Konfrontationen endgültig
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nichts mehr mit mittels Berufsheeren geführten Kabinettskriegen des 17. oder 18. Jahrhun-
derts zu tun.
Angesichts solcher Rahmenumstände wurde deutlich, dass man sich aufeinander zube-
wegen musste und dass die enorme Rüstungsspirale, die es damals schon gab, zu entschär-
fen war. So traf man sich schließlich auf Initiative Zar Nikolaus II. 1899 in Den Haag zu
einer Friedenskonferenz, für die wegweisende Ziele bestanden, die allerdings nicht erreicht
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wurden: erstens Abrüstung, zweitens eine verbindliche Schiedsgerichtsbarkeit und drittens


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

gemeinsame Regeln, was während eines Krieges erlaubt ist und was nicht.
Aus den ersten beiden Punkten wurde damals nichts. Man konnte sich nicht einigen,
gegenseitig abzurüsten, und zu einer Verpflichtung zur Schiedsgerichtsbarkeit kam es eben-
falls nicht. Immerhin verständigte man sich auf den Haager Schiedshof, den es heute noch
gibt: Er ist nichts anderes als eine lange Liste von Personen, die als Richter/-innen in einem
Schiedsfall infrage kommen.
Worauf man sich hingegen geeinigt hat, ist das Kodifizieren von Kriegsvölkerrecht
(heute: humanitärem Völkerrecht), und zwar in Form der Ersten Haager Landkriegsordnung
von 1899. Diese beschäftigte sich vor allem mit der Art und Weise der Kriegsführung: wel-
che Ziele man bekämpfen darf und welche nicht. Ein paar Jahre später wurde sie dann noch
einmal überarbeitet. Das Ergebnis ist die Zweite Haager Landkriegsordnung von 1907, die
bis heute in Kraft ist.

11.3 Neuansätze nach den Weltkriegen

Nach dem Ersten Weltkrieg, nachdem man gesehen hatte, dass das bestehende System nicht
vor einer kollektiven Katastrophe schützte, gab es einen neuen, wichtigen Ansatz. Er ging
davon aus, dass die Bellum-iustum-Tradition in ihrem Kern zwar durchaus sinnvoll ist, in
der damaligen Anwendung aber letztlich unlogisch und selbstwidersprüchlich war. Denn,
ein Kriterium, das in der Bellum-iustum-Tradition enthalten ist, konnte im modernen Krieg
per se nicht mehr erfüllt sein: die Verhältnismäßigkeit. So kam man zu dem Ergebnis, dass
dann, wenn die Bellum-iustum-Tradition als ethisches Konzept verstanden wird, in einem

173
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt sowie dem in Abschnitt 11.3 zu den Genfer Kon-
ventionen Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur siehe Hans-Peter Gasser [u. a.],
Humanitäres Völkerrecht, Zürich 32021, 20–27 und 47–85.

96
11 Die Ausformung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts

ethischen Sinne gelesen wird und nicht in einem verfallenen Sinne – bei dem es nicht vor-
ranging darum geht, was ein gerechter Krieg ist, sondern bloß wer einen Krieg erklären
darf – bestimmte Formen von Krieg nicht mehr möglich sind: die Formen des aggressi-
ven Kriegs – zum einen Wiedererlangen von Entwendetem/Entschädigung, zum anderen
Bestrafung. Das Einzige, was übrigbleiben kann, ist der defensive Krieg: die Verteidigung.
Ein Paradigmenwechsel, der sehr wichtig ist.

Sehen wir uns als Beispiel einmal Auszüge eines theologischen Gutachtens von 1931 an,
das deutsch- und französischsprachige katholische Theologen gemeinsam verfasst haben:174

Theologisches Gutachten
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über die sittliche Erlaubtheit des Krieges

Zur richtigen Beantwortung der Streitfrage, ob der Krieg erlaubt sei, müssen sowohl Tatsachen
als Grundsätze in Betracht gezogen werden. Tatsächlich bilden sich allenthalben internationale
Beziehungen; grundsätzlich muß der Zug zur Gemeinschaft als naturgegebene Eigenschaft eines
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jeden Staates angesehen werden. Dies ergibt sich von Tag zu Tag deutlicher. Ist doch, wenigstens
unter den Kulturstaaten, kein einziger mehr, der seinen Zweck verwirklichen, seine Pflichten erfül-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

len, seine Rechte verteidigen kann, ohne daß er einigermaßen sein eigenes Leben mit demjenigen
der anderen Völker in Verbindung und Einklang bringt. Daher darf man heute bei der Frage der
Erlaubtheit des Krieges nicht absehen von jener natürlichen Verbindung der Staaten, auf die der
ihnen eigene Zug zur Gemeinschaft hinzielt. Bei der Lösung dieser Frage muß man also berück-
sichtigen, welche rechtlichen und tatsächlichen Beziehungen zwischen den Staaten bestehen.
Zu einer Zeit, da der Gemeinschaft der Staaten eine rechtliche Grundlage fehlen würde, und des-
halb jeder Staat in seinem Handeln völlig unabhängig wäre, ließe sich denken, daß ein Krieg, der
von der obersten Gewalt irgendeines Staates erklärt wird, sofern die notwendigen Voraussetzungen
gegeben sind, als erlaubt angesehen werden könnte.
Die Abhandlungen der älteren Moraltheologen über den erlaubten Krieg faßten für gewöhnlich
diesen besonderen Fall eines Krieges ins Auge.
Wenn nun, dank der Entwicklung der internationalen Beziehungen und ihrer rechtlichen Rege-
lung, die naturgegebene Verbindung der Völker einen rechtlichen Ausdruck finden sollte, der mehr
der Vernunft entspricht, dann ist die Frage zu prüfen, inwieweit noch diese lediglich durch die
Umstände bedingte Erlaubtheit des Krieges bestehen bleiben könne.
Die Lösung der Frage setzt somit einen klaren Begriff darüber voraus:
1. w as man unter Souveränität des Staates zu verstehen habe, und
2. unter welchen Bedingungen der Staat, kraft seiner Souveränität, heute einen erlaubten
Krieg erklären könne.

Im ersten Punkt hinsichtlich der Souveränität wird vertreten, dass Souveränität niemals voll-
kommen uneingeschränkt ist – ein Verständnis von Souveränität, das dem heutigen einer
normativ rückgebundenen Souveränität nahekommt.

174
Zit. nach Hermann Hoffmann, Die Kirche und der Friede, Wien 1933, 194–201.

97
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

Der zweite Punkt betrifft die Erlaubtheit des Krieges.

2. Die Frage der Erlaubtheit des Krieges.

Seitdem es eine Mehrheit von Staaten oder überhaupt politisch gegliederten Gemeinschaften
gab und sich somit gegenseitige Beziehungen entwickelten, die zu einer engeren Verbindung der
Völker führten, betrachtete man gerne bei Streitfällen die Kriegserklärung als eine Anrufung des
letzten Rechtsmittels, durch das anerkanntermaßen eine neue rechtliche Lage geschaffen werden
sollte. Diese Auffassung vom Kriege galt tatsächlich unter den Kulturvölkern bis auf unsere Tage.
Um daher die Erlaubtheit dieser gesellschaftlichen Maßnahme zu prüfen, muß untersucht werden,
ob auf unserer Stufe der Entwicklung der Krieg unter den verschiedenen möglichen Rechts-
mitteln der Gesellschaft, dem Gesamtwohl und, in letzter Beziehung, den wahren Interessen
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der Menschheit entspricht.


Mit anderen Worten: die Frage, ob der Krieg erlaubt sei, muß heute Klärung finden in der Antwort,
die auf die folgenden zwei Fragen erteilt wird:
1. Kann ein Krieg, den irgendein Staat, kraft seiner eigenen Hoheit, erklärt, unter den heuti-
gen Umständen, als eine nach dem Naturgesetz berechtigte Maßnahme gelten?
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2. Unter welchen Umständen könnte im Falle einer berechtigten Notwehr ein Krieg zulässig
werden?
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Es wird klar, dass der unter 2.2 genannte Fall die Verteidigung ist, die weiterhin erlaubt
bleibt. Unter 2.1 ist hingegen der aggressive Krieg genannt, der verboten wird. Schauen wir
das einmal im Wortlaut an.

[2.1] Der Krieg auf Grund der Erklärung eines einzelnen Staates

Obwohl die Gemeinschaft der Staaten noch nicht jene Macht erlangt hat, die ihr sowohl nach
natürlichem als auch positivem Recht zukommen müßte, bleibt doch kein Zweifel, daß sie schon
weitgehend eine rechtliche Form angenommen hat und durch eine Reihe von rechtlichen und
politischen Abmachungen gestützt wird, die auf Herstellung einer internationalen Ordnung und
somit des Friedens abzielen.
Unter diesen Umständen könnte der Krieg, den ein Staat aus eigener Machtfülle erklärt, ohne vor-
her die bestehenden rechtlichen Instanzen zu befragen, kein rechtmäßiges Verfahren mehr sein.
Ein solcher Krieg würde zugleich dem öffentlichen Recht und dem Gewissen widersprechen. Er
würde schon in seinem Entstehen die allgemeine, das heißt die legale Gerechtigkeit verletzen,
die vom Staate fordert, daß er nicht nur den Rechtsansprüchen der anderen Staaten nicht zuwider
handelt, sondern daß er sein eigenes nationales Ziel dem umfassenden Ziel der Völkergemein-
schaft unterordnet.
Um so weniger könnte als gesellschaftliches Rechtsmittel gelten der moderne Krieg, das heißt das,
was wir heute unter Krieg verstehen und erleben.
Denn der moderne Krieg zieht nach sich durch seine Technisierung und Kraft der ihm eige-
nen Hemmungslosigkeit solch gewaltige materielle und geistige Schäden für den einzelnen,
die Familie, die Gesellschaft und sogar für die Religion, der moderne Krieg wird eine so
furchtbare Weltkatastrophe, daß er aufhört, ein seinem Zweck, der Erreichung von Ordnung
und Frieden, angemessenes Mittel zu sein.

98
11 Die Ausformung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts

Dieses Gutachten ist nur ein Beispiel für den genannten Paradigmenwechsel, der sich nach
dem Ersten Weltkrieg allmählich durchgesetzt hat: Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit
ist beim aggressiven Krieg nicht mehr erfüllt; daher kann es keinen der ethischen Lesart der
Bellum-iustum-Tradition entsprechenden aggressiven Krieg mehr geben.

Diese Auffassung schlägt sich auch in der Völkerbundsatzung von 1919 nieder.175 Darin
ist neben der Abrüstung (Artt. 8 und 9) die Einlasspflicht zu friedlicher Streitschlichtung
enthalten (Artt. 12 und 13, alternativ 15) und damit einhergehend die Einschränkung des
freien Kriegführungsrechts (Artt. 10 und 11). Kriegführungsrecht hieß ja im neuzeitlichen
Verständnis der Westfälischen Ordnung, dass nicht im Vordergrund stand, warum ein Krieg
erklärt werden darf, sondern wer ihn erklären darf:
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Artikel 11 I
Any war or threat of war, whether immediately affecting any of the Members of the League or not,
is hereby declared a matter of concern to the whole League, […].

Artikel 12 I
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The Members of the League […] agree in no case to resort to war until three months after the
award by the arbitrators or the judicial decision, or the report by the Council.
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Artikel 13 IV
The Members of the League agree that they will carry out in full good faith any award or decision
that may be rendered, and that they will not resort to war against a Member of the League which
complies therewith. […]

Das heißt: Wenn zwei Staaten einen Disput haben und das Schiedsgericht, hilfsweise der
Rat des Völkerbundes, diesen Disput schlichtet und eine Streitpartei sich diesem Urteil fügt,
darf die andere Streitpartei keinen Krieg führen – weil ja dem verpflichtend abzuwartenden
Spruch des Schiedsgerichts, alternativ des Rates des Völkerbundes, gefolgt wird.

Artikel 15 I-VI
If there should arise between Members of the League any dispute likely to lead to a rupture, which
is not submitted to arbitration or judicial settlement in accordance with Article 13, the Members
of the League agree that they will submit the matter to the Council. Any party to the dispute may
effect such submission by giving notice of the existence of the dispute to the Secretary General,
who will make all necessary arrangements for a full investigation and consideration thereof.
For this purpose the parties to the dispute will communicate to the Secretary General, as promptly
as possible, statements of their case with all the relevant facts and papers, and the Council may
forthwith direct the publication thereof.
The Council shall endeavour to effect a settlement of the dispute, and if such efforts are successful,
a statement shall be made public giving such facts and explanations regarding the dispute and the
terms of settlement thereof as the Council may deem appropriate.

175
Für einen detaillierteren Zugang zu den Ausführungen von der Satzung des Völkerbundes bis zur VN-Charta
siehe Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen 112020, 26–32.

99
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

If the dispute is not thus settled, the Council either unanimously or by a majority vote shall make
and publish a report containing a statement of the facts of the dispute and the recommendations
which are deemed just and proper in regard thereto.
Any Member of the League represented on the Council may make public a statement of the facts
of the dispute and of its conclusions regarding the same.
If a report by the Council is unanimously agreed to by the members thereof other than the Represen-
tatives of one or more of the parties to the dispute, the Members of the League agree that they will
not go to war with any party to the dispute which complies with the recommendations of the report.

Dieses Konstrukt hat indes eine entscheidende Schwäche: die Einstimmigkeit. Der Bericht
des Rates des Völkerbundes muss einstimmig angenommen werden.
Das Kriegführungsrecht ist also eingeschränkt, aber nicht ausgeschlossen. Unterwirft
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sich eine Streitpartei nicht dem Spruch vom Schiedsgericht oder Rat des Völkerbundes oder
ergeht der Spruch des Rates des Völkerbundes nicht einstimmig, kann weiterhin rechtmäßig
Krieg erklärt werden. Zudem hatte der Völkerbund keinerlei Durchsetzungsmöglichkeiten,
vielmehr war er schwach.

Einen entscheidenden Schritt weiter geht der äußerst kurze Briand-Kellogg-Pakt von 1928.
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Sein Inhalt ist die Ächtung des (aggressiven) Krieges. Diese Ächtung lässt lediglich noch
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

die Selbstverteidigung zu.

Artikel I
The High Contracting Parties solemly declare in the names of their respective peoples that they
condemn recourse to war for the solution of international controversies, and renounce it, as an
instrument of national policy in their relations with one another.

Artikel II
The High Contracting Parties agree that the settlement or solution of all disputes or conflicts of
whatever nature or of whatever origin they may be, which may arise among them, shall never be
sought except by pacific means.

Ein dritter Schritt war dann die VN-Charta von 1945. Darin gibt es nicht mehr nur eine
Einschränkung des freien Kriegführungsrechts, sondern es gibt das Gewaltverbot:

Artikel 2 IV
All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the
territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with
the Purposes of the United Nations.

Diese Regelung geht also wesentlich weiter als jene aus der Völkerbundsatzung: Letztere
war ein Anfang, ließ aber die Möglichkeit des Krieges noch offen.
Und da ist noch ein zweiter Punkt in der VN-Charta, auf den ich hinweisen möchte:
Schon 1945 wurde – komplementär zum Gewaltverbot – eine Balance zwischen inneren
Angelegenheiten und Angelegenheiten internationaler Sorge angelegt (Artt. 1 III und 2 VII).
Das entscheidende Konzept, das in der Charta so grundgelegt ist – für das man aber dann

100
11 Die Ausformung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts

noch über 40 Jahre gebraucht hat, bevor man es ganz zaghaft auch auf praktischer Ebene als
umsetzbar anzusehen begonnen hat –, ist das, was als innere Angelegenheiten eines Staates
gelten, einzuschränken und als Angelegenheiten internationaler Sorge zu betrachten, bei
denen eingegriffen werden kann, wenn elementare Menschenrechte verletzt werden.

Artikel 1 III
[The Purposes of the United Nations are: …] To achieve international co-operation in solving inter-
national problems of an economic, social, cultural, or humanitarian character, and in promoting
and encouraging respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction
as to race, sex, language, or religion; […].

Artikel 2 VII
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Nothing contained in the present Charter shall authorize the United Nations to intervene in matters
which are essentially within the domestic jurisdiction of any state or shall require the Members to
submit such matters to settlement under the present Charter; but this principle shall not prejudice
the application of enforcement measures under Chapter Vll.

Man achte auf den zweiten Halbsatz in Artikel 2 VII. Der kann – wie kluge Denker her-
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ausgearbeitet haben – überhaupt keinen anderen Anwendungsbereich haben, außer sich in


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Situationen einzumischen, die gegen Artikel 1 III verstoßen und innerhalb eines Landes
stattfinden.
Dass gegen einen internationalen Friedensbrecher nach Kapitel VII VN-Charta vorge-
gangen werden durfte, war offensichtlich: Es liegt ein Bruch des internationalen Friedens
vor. Die interessante Frage ist, wie es zu bewerten ist, wenn ein Staat nur innerhalb seines
Gebiets schwerste Rechtsbrüche begeht und diese schwersten Rechtsbrüche keine Auswir-
kung auf die Nachbarstaaten zu haben scheinen. Die Antwort, die wir heute geben, war
bereits 1945 vorgegeben – zugegebenermaßen nur in der Theorie.

Fahren wir mit den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg und Tokio fort.176 Was dort
passierte, war alles andere als selbstverständlich: Kriegsverbrecher jener Staaten, die den
Krieg verloren hatten, wurden nach Rechtsgrundsätzen verurteilt, die nicht von vornherein
offensichtlich waren – nämlich für Tatbestände wie Aggression, Kriegsverbrechen und Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit. Das Problem war, dass diese Tatbestände zum einen in
einzelnen Ländern nicht existiert hatten und zum anderen auf internationaler Ebene zwar
existiert hatten, aber nicht strafbewehrt waren. Grundsätzlich gilt schließlich: Nulla poena
sine lege (Keine Strafe ohne Gesetz). Durfte man sich also in die inneren Angelegenheiten
eines Staates einmischen? Und auf welcher Grundlage konnten solche Verurteilungen erfol-
gen? Damit musste man sich auseinandersetzen.
Dass man sich überhaupt eingemischt hat, war bereits ein Paradigmenwechsel. Schließ-
lich distanzierte man sich damit von der Vorstellung, dass jeder im Inneren eines Staates

176
Für einen detaillierteren Zugang zu den Ausführungen zu den Kriegsverbrecherprozessen siehe Gregor Kemper,
Der Weg nach Rom, Frankfurt a. M. 2004, 99–146 sowie knapper Gerhard Werle und Florian Jeßberger, Völker-
strafrecht, Tübingen 52020, 7–16.

101
Diachroner Anweg – Etappen der Entwicklung

tun und lassen kann, was er will. Allerdings galt es, ein in akzeptabler Weise nicht mehr
unterschreitbares Minimum erst noch zu konturieren.
Den Tatbestand der Aggression gab es. Hierfür ließ sich der Briand-Kellogg-Pakt heran-
ziehen. Es gab dafür jedoch keine Strafandrohung.
Des Weiteren gab es auch für Kriegsverbrechen Tatbestände – ebenfalls ohne Strafan-
drohung. Vor allem ist hier an die Zweite Haager Landkriegsordnung von 1907 zu denken.
Dagegen war zwar massiv verstoßen worden, dies war aber nicht strafbewehrt.
Drittens wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Blick genommen – das mit
Abstand schwierigste Unterfangen. Dafür gab es keinen Tatbestand. Also griff man darauf
zurück, dass es in nahezu allen Rechtstraditionen Tatbestände gab, die schwerste Verbrechen
gegen die Würde des Menschen unter Strafe stellten, beispielsweise das Töten Unschuldiger,
Folter oder Sklaverei. Darin erkannte man das Vorliegen allgemeiner Rechtsgrundsätze, die
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allen gegenüber Geltung haben (auch heute sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine der
vier Quellen des Völkerrechts; als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz könnte beispielsweise
Verjährung angeführt werden). Darauf hat man sich hinsichtlich der Tötung Unschuldiger,
Folter und Sklaverei bezogen.
Schließlich war die Frage der fehlenden Strafbewehrung anzugehen. Es gab die Tatbe-
stände, durch deren Erfüllung man einen Bruch der materialen Gerechtigkeit konstatierte.
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Aber es gab noch keine Strafandrohung. Es wurde also die Position vertreten, dass der
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Grundsatz Nulla poena sine lege als Schutz des Bürgers dem Staat gegenüber zu verstehen
ist, aber gerade nicht staatliches Unrecht eines Willkürstaats decken soll.
Somit ist in den Kriegsverbrecherprozessen insgesamt erkennbar, dass die absolut gel-
tende staatliche Souveränität aufgebrochen wurde.

Kommen wir zu einem letzten Punkt im Zusammenhang mit dem Neuansatz: zum humani-
tären Völkerrecht von 1949. Die vier Genfer Konventionen sind heute noch eine wichtige
Grundlage für das Verhalten in Konfliktfällen: Je eine bezieht sich auf die Verwundeten zu
Land, die Verwundeten zur See, die Gefangenen und die Zivilisten/Zivilistinnen. Die Kon-
ventionen führten etwas zusammen, das zuvor bereits gewachsen war.
Eine erste Konvention hinsichtlich der Verwundeten zu Land entstand 1864 in Genf und
wurde dort 1906 überarbeitet. Gut 30 Jahre später, 1899, folgte in Den Haag ein Überein-
kommen im Hinblick auf die Verwundeten zur See, 1907 wurde es ebenfalls in Den Haag
überarbeitet. Noch einmal 30 Jahre später wurde eine Vereinbarung über Gefangene getrof-
fen, sodass man auch mit ihnen nicht willkürlich umgehen durfte. Das war 1929 wieder in
Genf. So lagen 1949 also Regelungen für Verwundete zu Land, zur See sowie für Gefangene
vor, sie wurden lediglich neu gefasst. Ganz neu hinzu kam die vierte Genfer Konvention. Sie
betrifft den größten Teil aller Menschen, die Zivilisten/Zivilistinnen. Während sich also die
Haager Landkriegsordnung auf die Art und Weise der Kriegsführung konzentriert, fokussie-
ren die Genfer Konventionen den Schutz der Nicht-Schädigenden/Wehrlosen.

Damit sei der Überblick über den Neuansatz in der Bellum-iustum-Tradition abgeschlossen.
An seinem Ende zeigt sich, dass die Neuerungen auch ein neues, zentrales Problem auf-
brachten. Klassisch gab es drei Gründe, um Krieg erklären zu können: erstens Verteidigung,
zweitens Widererlangen von Verlorenem/Entschädigung sowie drittens Bestrafung. Nun
wurden die Kriegsgründe indes auf die Verteidigung eingeschränkt.

102
11 Die Ausformung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts

Das Widerstandsrecht eines Volkes/der Bevölkerung wurde bisher nicht erwähnt. Ganz
klassisch wurde im Umfeld der Bellum-iustum-Tradition, jedoch spätestens seit Thomas von
Aquin, die Frage behandelt, wann sich eine Bevölkerung gegen ihren eigenen Herrscher
verteidigen dürfe.

Legitimer Widerstand177
Thomas von Aquin fragt, worum es eigentlich geht: Was ist die Aufgabe der Autorität?
Seine Antwort: die gute Ordnung zu fördern, Gemeinwesen und Einwohner zu einer
stets höheren Ordnung/Vervollkommnung auf Gott hin zu führen. Wenn sich nun jemand
dagegen auflehnt, dann schädigt oder zerstört er als Aufrührer diese Entwicklung. Das
ist nicht erlaubt. Ein Tyrann aber, der die Ordnung selbst schädigt oder zerstört und
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gegen das Skizzierte verstößt, ist letztlich material keine Autorität, sondern höchstens
formal. Wer sich gegen eine solche Autorität erhebt, gilt nicht als Aufrührer. Der Auf-
rührer ist vielmehr derjenige, der sich gegen den legitimen Herrscher erhebt und alles
durcheinanderbringt. Wer sich aber gegen einen Tyrannen erhebt, ist vielmehr jemand,
der legitimen Widerstand leistet. Die Antwort von Thomas von Aquin ist somit einfach,
aber gut.
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Später hat es dann mehrere unterschiedliche Varianten gegeben.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Wir haben gesehen, dass Autorität material und formal zu unterscheiden ist. Der tyrannus
in regimine – der, der rechtmäßig Herrscher, dann aber in seiner Herrschaftsausübung
ungerecht wurde – ist beispielsweise formal rechtmäßiger Herrscher, aber material
illegitim. Der tyrannus in titulo – der, der sich angemaßt hat, Herrscher zu werden,
und zudem in seiner Herrschaftsausübung ungerecht ist – ist auch formal nicht recht-
mäßiger Herrscher. Vor diesem Hintergrund wurde die Frage legitimen Widerstands sehr
differenziert behandelt. Es gab solche, die sagten, dass das Volk sich gegen den tyrannus
in titulo erheben dürfe, aber nicht gegen den tyrannus in regimine. Andere waren der
Auffassung, dass sich das Volk auch gegen den tyrannus in regimine erheben dürfe
(hierzu zählt zum Beispiel Francisco Suárez). Wieder Andere schließlich meinten, das
Volk dürfe sich nicht einmal gegen einen tyrannus in titulo erheben (dazu etwa gehört
Alfons von Liguori).

Es liegt nahe, dass die dem legitimen Widerstand zugrunde gelegten Kriterien jenen der
Bellum-iustum-Tradition ähneln: Es muss ein sehr schwerwiegender Grund vorliegen, eine
exzessive Tyrannis, es muss Aussicht auf Erfolg bestehen und es darf kein größerer Schaden
entstehen als der bereits bestehende.

177
Für einen detaillierteren Zugang zu diesem Thema samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur
siehe Spindelböck, Aktives Widerstandsrecht …, 80–91, 99–101 und 124–128.

103
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Abbildung 3: Reduktion legitimer Kriegsführungsgründe Grafik: Christian Lau

Hieran zeigt sich nun auch das neu aufkommende Problem: Wenn die Kriegsführungsgründe
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eingeschränkt sind, können sich Situationen ergeben, in denen ein Staat seine Bevölkerung
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

derart stark unterdrückt, dass die Bevölkerung sich zwar legitim verteidigen könnte, ihr
aber keine Hilfe von außen zuteilwerden dürfte. Im klassischen Paradigma hatten benach-
barte Gemeinwesen noch unter dem Aspekt der Bestrafung gegen den betreffenden Tyrannen
vorgehen dürfen. Das aber war nun weggefallen. Vor diesem Hintergrund öffnete sich eine
Schutzlücke: Es gab eine unbefriedigende Situation hinsichtlich des Schutzes von Unter-
drückten – ein eigenes, wichtiges neues Problem.

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 21988, 591–637, 711–735


und 774–796.
Peter Schmidt, Bellum iustum: Gerechter Krieg und Völkerrecht in Geschichte und Gegen-
wart, Frankfurt a. M. 2010, 302–369.
Eberhard Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt,
Freiburg i. Br. 2018, 267–331.

104
Dritter Hauptteil

Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

An dieser Stelle gehen wir vom zweiten Hauptteil, unserem diachronen Anweg, zum dritten
Hauptteil über, einem synchronen Zugang.

12 Unvermeidbarkeit von Konflikten

Wenden wir uns darin zunächst knapp Konflikten in allgemeinem Sinne zu – nicht bloß
bewaffneten Konflikten – sowie den prinzipiellen Umgangsformen damit. Dabei sei betont,
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dass die hier in den Blick zu nehmenden Konflikte keineswegs – im denotativen Wortsinn –
‚a-sozial‘, sondern ‚sozial‘ sind; denn sie sind gerade nicht nicht-gemeinschaftlich, sondern
höchst-gemeinschaftlich: Ohne das Zusammenleben und -treffen verschiedener Personen
oder Gruppen gäbe es solche Konflikte nicht. Wer einsam auf einer Insel lebt, kann nicht mit
anderen Menschen in Konflikt geraten.
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12.1 Vorüberlegungen
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12.1.1 Anthropologisches Fundament

Sehen wir eingangs auf das anthropologische Fundament für unser konfliktuöses Miteinan-
der. Einen guten Ausgangspunkt bietet das Verständnis des Sozialethikers Wilhelm Korff.178
Ihm zufolge gibt es drei menschliche Grundhaltungen – Sich-Behaupten, Andere-Gebrau-
chen und Für-Andere-Sorgen. Die wichtigste unter ihnen ist, dass wir uns behaupten: Wir
müssen einen Selbststand haben; wir wollen nicht in einem Anderen aufgehen; wir wollen
als ein ‚Selbst‘ eine Person sein; wir müssen eine eigene Stärke haben, die konstitutiv ist.
Aus diesem Selbststand heraus gebrauchen wir Andere und sorgen für Andere. Die beiden
letzten gehören zusammen und beide, sowohl das Andere-Gebrauchen als auch das Für-
Andere-Sorgen, leben jeweils aus dem Selbststand.
Wenn wir Andere gebrauchen – anders ausgedrückt: wenn wir unsere eigenen Bedürf-
nisse erfüllen, das können Bedürfnisse jeglicher Art sein, materielle Bedürfnisse, emotionale
Bedürfnisse, alles, was wir uns vorstellen können –, gibt es ein ‚erfüllendes‘ Gebrauchen nur
bei gegenseitigem Selbststand: wenn also das, was wir vom Anderen begehren, von diesem
auch aus einer guten eigenen Festigkeit heraus erbracht wird; wenn der Andere bloß unser
Sklave ist, dann werden die meisten Bedürfnisse nicht wirklich erfüllt.
Das Für-Andere-Sorgen ist die Zuwendung und die Empathie. Das lebt ebenfalls – und
hiermit sind nicht nur private Beziehungen gemeint, das können auch Beziehungen in wei-
teren Kontexten sein – letztlich immer aus einem guten Selbststand. Jemand, der uns gänz-
lich ergeben ist, dessen Sorge für uns wird uns letztlich wahrscheinlich nicht erfüllen. Aber

178
Siehe Wilhelm Korff, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft, Freiburg i. Br.
2
1985, 78–101, insbesondere 91–101.

105
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

jemand, der einen starken Selbststand hat und sich aus diesem heraus aufrichtig um uns
kümmert, sich uns zuwendet, der wird uns aufbauen und stärken.
So leben wir Menschen in einer unaufhebbaren Spannung miteinander. Es kommt zwar
die Versuchung auf, diese Spannung aufzulösen. Aber sie kann nur entweder durch Aufgabe
des eigenen Selbststandes aufgelöst werden – besonders durch Resignation oder Regression.
Oder die Spannung kann dadurch aufgelöst werden, den Selbststand des Anderen zu unter-
drücken oder zu beseitigen. Vor beidem ist jedoch dringend zu warnen: Die Spannung ist
nicht in die eine oder die andere Richtung (destruktiv) aufzulösen, vielmehr ist sie auszu-
halten und (konstruktiv) zu gestalten.
Es lässt das Vorstehende nicht hinfällig werden, wenn wir des Weiteren festhalten, dass
der Mensch über Gewaltfähigkeit verfügt.179 Wenn wir diesbezüglich der eingängigen Sys-
tematisierung des Sozialethikers Volker Stümke folgen, so wurzelt diese in biologischen,
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gesellschaftlichen sowie in kulturellen Faktoren – also in ureigenen Verhaltensanlagen, in


Eigendynamiken konkreter Gruppen wie auch in umfassenderen Traditionen beziehungs-
weise Überzeugungen. Entsprechend ist es sinnvoll, zwischen Gewalt auf drei Ebenen zu
unterscheiden: auf individueller, gesellschaftlicher und kultureller Ebene. Dazu gehört das
Bewusstsein, dass Gewalt auf allen diesen Ebenen nicht bloß als ethisch negative zu bewerten
ist, sondern auch als geringeres Übel in Form von Gegengewalt und sogar als ethisch positive
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in Form menschlichen Strebens und Gestaltens. Beispiele für ethisch negativ zu bewertende
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Gewalt sind individuell die Körperverletzung oder gesellschaftlich das Ausgrenzen bestimm-
ter Personengruppen oder kulturell der Rassismus. Beispiele für Gegengewalt als geringe-
res Übel wären individuell die Nothilfe, gesellschaftlich Gesetze zugunsten benachteiligter
Personengruppen oder kulturell die Frauenquote. Beispiele für ethisch positiv zu bewertende
Gewalt sind individuell die Schaffenskraft gegen Widrigkeiten, gesellschaftlich das Einfüh-
ren der Schulpflicht oder kulturell das allmähliche Etablieren von Menschenrechten.
Andererseits gibt es beim Menschen auch eine Friedensfähigkeit.180 Wir sind neuro-
biologisch darauf ausgelegt, uns mit Anderen zu relationieren. Unter anderem können wir
Menschen – bei Soziopathen ist dies allerdings stark vermindert oder nicht vorhanden – uns
dank Spiegelneuronen in die Situation/Empfindungen Anderer hineinversetzen. Darüber hin-
aus können wir mit Anderen kooperieren, mit ihnen zusammenarbeiten. Selbst Kleinkinder
können das schon: Sie können aggressiv sein, aber auch kooperieren. Es ist also beides im
Menschen angelegt.
Im Zusammenhang der Friedensfähigkeit hat es eine breit angelegte Studie des deutsch-
britischen Soziologen Norbert Elias gegeben, die allerdings auf europäische Räume fokus-
sierte.181 Elias versuchte zu zeigen, wie die Menschen sich im Laufe von Jahrhunderten
immer weiter zivilisierten, ihre rohen Sitten ablegten. Das ist ein Prozess von Jahrhunderten,
aber alles in allem scheinen wir heute doch feiner und feinfühliger miteinander umzugehen
als zu früheren Zeiten. Unsere Neurobiologie und der Zivilisationsprozess sind also Zeichen
für unsere Friedensfähigkeit.

179
Siehe Volker Stümke, „Anthropologie der Gewalt“, in Handbuch militärische Berufsethik, Band 1: Grund-
lagen, hrsg. von Thomas Bohrmann [u. a.], Wiesbaden 2013, 123–138.
180
Für einen detaillierteren Zugang zu diesem Thema samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur
siehe Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, München 82014, 35–73 und 179–195.
181
Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, zwei
Bände, Bern 21969.

106
12 Unvermeidbarkeit von Konflikte

12.1.2 Weder Pazifismus noch Bellizismus

Das Leitbild des gerechten Friedens ist nun auf solche historisch-sozialen und kulturell-
sozialen Bedingungen ausgerichtet, die die menschliche Friedensfähigkeit begünstigen. Die
erwähnte Großstudie von Elias beleuchtet diese historisch-sozialen und kulturell-sozialen
Bedingungen im diachronen Durchgang durch die Jahrhunderte. Wir sehen uns dies nun syn-
chron systematisch an. Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage nach Gerechtigkeit: In
welchen Situationen gibt es Rahmenbedingungen, die die Friedensfähigkeit des Menschen
begünstigen?
Wichtig ist dabei zu verstehen, dass sich das Leitbild des gerechten Friedens vom Belli-
zismus wie auch vom Pazifismus in je einem zentralen Punkt unterscheidet.182
Der Bellizismus vertritt, dass es möglich ist, sich sowohl kriegerisch auseinanderzusetzen
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als auch friedlich. Teils wird sogar gesagt, dass Kriege schlicht nötig sind, damit der Mensch
sich als überlebens- und leistungsfähige Spezies behauptet. Das wäre ein klassisches bel-
lizistisches Herangehen. Mit dieser Position teilt das Leitbild des gerechten Friedens, dass
es gewaltförmige Mittel zur Konfliktlösung geben kann. Aber es unterscheidet sich von ihr
dadurch, dass es diese Mittel nicht positiv konnotiert; es bietet nicht einmal eine ‚normali-
sierende‘ Sicht auf solche gewaltförmigen Mittel.
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Der Unterschied zum Pazifismus – Pazifismus gibt es in vielen Varianten, von der Ableh-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nung jeglicher Gewaltanwendung (non-violence) bis hin zum Akzeptieren gewaltförmiger


Mittel im innerstaatlichen Bereich und deren Ausschließen lediglich auf zwischen-staat-
licher Ebene (war-pacifism) – im Sinne des Minimalkonsenses des Kriegspazifismus ist,
dass das Leitbild des gerechten Friedens gewaltförmige Mittel zur Konfliktlösung nicht
ausschließt. Mit dem Kriegspazifismus teilt es hingegen die Sicht, dass es sich dabei nicht
um gleichwertiges oder gar erwünschtes Vorgehen handelt

12.2 Konflikte

12.2.1 Konfliktarten

Was ist nun ein Konflikt? Und warum können Konflikte sogar wichtig sein? Es ist ein Auf-
einanderprallen von widersprechenden oder unvereinbaren Zielen oder Auffassungen, bei
denen es nicht gelingt, sie aufeinander abzustimmen oder sie miteinander zu harmonisieren.
Anders gesagt: Wir kommen mit irgendwelchen Belangen oder Auffassungen in Konkurrenz
zueinander und diese Belange oder Auffassungen können nicht gleichzeitig gelten. Dies
kann es auf allen Ebenen und in allen Bereichen geben – das heißt sowohl fundamental,
hinsichtlich unserer Weltanschauung und unserer Prinzipien, auf mittlerer Ebene hinsicht-
lich von Regeln und Normen, als auch im Alltäglichen hinsichtlich konkreter Einzelfälle.183

182
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? ..., 517–538.
183
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Roger Mielke, „Differenzierter Konsens? Das Leitbild des Gerechten Friedens
und seine umstrittene Anwendung“, in Gerechter Frieden als Orientierungswissen, hrsg. von Ines-Jacqueline
Werkner und Christina Schües, Wiesbaden 22018, 27–48, 28–37.

107
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Sehen wir uns alle drei Ebenen einmal knapp an. Ein Konflikt auf Ebene der Prinzipien
kann die Frage betreffen, ob alle Menschen die gleiche Würde haben und es diesbezüglich
keine Unterschiede innerhalb der Spezieszugehörigkeit gibt. Oder die Frage, ob wir Kon-
flikte rechtsförmig lösen wollen statt dadurch, wer der Stärkere ist. Auf diese Prinzipien
werden sich die meisten Menschen im westlichen Kulturkreis heute einigen.
Ein Konflikt auf Ebene der Regeln und Normen könnte die Frage der nicht mandatier-
ten militärischen Intervention zu humanitären Zwecken beziehungsweise die Schutzverant-
wortung betreffen. Nach rechtspositivistischer Völkerrechtsauffassung wäre diese verboten.
Nach an materialer Gerechtigkeit orientierter Rechtsethik ist das nicht immer so.
Und dann gibt es Konflikte in konkreten Fällen, das sind Konflikte epistemischer oder
evaluativer Art. Ein epistemischer Konflikt in einem konkreten Fall könnte die Frage sein,
ob jemand in Afghanistan als Kombattant oder als Nicht-Kombattant wahrgenommen wird
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(„Er hat keine Waffe!“ – „Er hat auf alle Fälle eine Waffe!“). Ein evaluativer Konflikt in
einem konkreten Fall könnte die Frage sein, ob jemand – bei gleicher Wahrnehmung der
Situation – als Kombattant oder als Nicht-Kombattant gilt (Ein Mann hat eine Waffe, trägt
aber keine Uniform: Beispielsweise in ländlichen Gegenden Afghanistans könnte es sich
durchaus auch um einen Bauern handeln.).
Konflikte gibt es zudem in allen sozialen Feldern. Da sind etwa die drei großen Bereiche,
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auf die sich die Sozialethik bezieht: Politik, Wirtschaft und die heute sehr facettenreiche
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Zivilgesellschaft. Konflikte kann es in der Zivilgesellschaft geben, Familienstreitigkeiten


und Rivalitäten in Vereinen zum Beispiel. Konflikte kann es in der Wirtschaft geben, etwa
um Produktentwicklungen oder Absatzmärkte. Schließlich kann es Konflikte in der Politik
geben, denken Sie an innerparteiliche Konkurrenz und den Wettbewerb zwischen demokra-
tischen Parteien sowohl mit Blick auf Wahlen als auch auf Rechtsetzungsprozesse.
Wir hatten es schon an anderer Stelle erwähnt: Dass es Konflikte gibt, ist normal. Keine
Konflikte gibt es erst dann, wenn wir alle tot sind. Das Problem ist nicht, dass Konflikte existie-
ren. Es ist vielmehr die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen und sie zu lösen versuchen.

12.2.2 Umgangsformen mit Konflikten

Welche Möglichkeiten des Umgangs mit Konflikten gibt es nun? Das Schlimmste ist der
Versuch, das Ausbrechen von Konflikten zu unterdrücken. Es führt sehr wahrscheinlich in
den Totalitarismus. Wer nämlich behauptet, es dürfe keine Konflikte geben, unterdrückt
zugleich die Möglichkeit, dass Menschen sich in Freiheit entfalten können. Dies ist also kein
gangbarer Weg. Was aber dann?
Vielmehr geht es um die Art und Weise, mit Konflikten umzugehen. Hierzu eröffnen
sich drei grundsätzliche Möglichkeiten: die gütliche Einigung, die rechtsförmige Entschei-
dung und das gewaltförmige Handhaben. Es sei auch noch einmal angemerkt, dass aus dem
Umstand, dass es Konflikte gibt, sogar etwas Positives und Nützliches hervorgehen kann,
dass wir uns durch einen Konflikt weiterentwickeln können. Das ist freilich nicht der Fall,
wenn man mit einem Konflikt auf gewaltförmige Weise umgeht. Aber durch eine gütliche
Einigung oder durch eine rechtsförmige Entscheidung entwickeln wir uns oft weiter.184

184
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Overbeck, Konstruktive Konfliktkultur …, 55–71.

108
12 Unvermeidbarkeit von Konflikte

Sehen wir zunächst auf Formen gütlicher Konfliktlösung. Da ist zum einen die
bekannte Variante des ‚teilenden‘ Kompromisses. Er ist möglich, wenn es um Belange und
Interessen geht, sowohl in der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Politik.
Allerdings eignen sich nicht alle Konflikte für einen solchen Kompromiss. Wenn es
zum Beispiel um den Anspruch der Wahrheit geht, vor allem weltanschaulicher Art, kann es
keine ‚teilenden‘ Kompromisse geben. Hier können wir nur versuchen, uns auszutauschen
und womöglich in der eigenen Erkenntnis zu wachsen. In aller Regel ist es gut, wenn Wahr-
heitskonflikte durch Toleranz gelöst werden, indem wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir
die andere Auffassung bestehen lassen können. Der Idealfall wäre darüber hinaus allerdings,
dass man an dem, was der Andere vertritt, für die je eigene Position etwas lernt: dass durch
das Verstehen des Anderen das je Eigene vertieft wird.
Dies führt zu einer weiteren Variante gütlicher Konfliktlösung. Denn warum kann aus
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Konflikten nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance hervorgehen? Wenn wir allein
auf einer Insel leben, dann werden wir uns nicht unbedingt viel weiterentwickeln. Wir Men-
schen entwickeln uns vielmehr durch Kooperation weiter, das ist sehr zu betonen. Aber wir
können uns auch durch das Aufeinandertreffen aggressiver Kräfte weiterentwickeln – weil
wir mit etwas konfrontiert werden und zu etwas gelangen, worauf wir selbst womöglich
nicht gekommen wären.
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Wichtig ist freilich, das destruktiv-negative Potenzial der Konflikte einzudämmen –


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

keine gewaltförmige Lösung – und das konstruktiv-positive Potenzial zu nutzen. Konflikt-


uöse Spannungen lassen sich in Idealfällen nämlich transformieren. Dies ist der Bereich, der
weit über Kompromiss und Toleranz hinausgeht – in den es aber lange nicht alle Konflikte
hinein aufzulösen gelingt.
Transformation von Konflikten funktioniert, indem man diese über den bisher in den
Blick genommenen Rahmen transzendiert. Das heißt, Konflikte nicht in den bisherigen
Begrenzungen zu denken, sondern darüber hinaus (man denke schlicht daran, neun Punkte
mit vier Linien zu verbinden, ohne dabei neu anzusetzen). Ein einfaches Beispiel ist die
Lösung eines Territorialkonflikts zwischen Peru und Ecuador. Beide Länder hatten Interesse
an einer Fläche, keines wollte nachgeben. Man errichtete letztlich einen kon-dominialen
Naturpark – einen Park, der zu beiden Ländern gehört. Es geht mir freilich nicht um den
konkreten Fall und seine Lösung, sondern um das Paradigma der Transformation. Wenn dies
tatsächlich umgesetzt werden kann, entstehen meist eine neue Art von Zusammenhalt und
vor allem Nachhaltigkeit – ein echter Fortschritt.
Wenn eine gütliche Einigung hinsichtlich des Abwägens von Belangen und Interessen
hingegen unmöglich ist, bleibt entweder rechtsförmige Entscheidung oder gewaltförmi-
ges Handhaben.
Die rechtsförmige Entscheidung ist das, was innerstaatlich durch die Rechtsprechung
auf der Grundlage eines an materialer Gerechtigkeit orientierten Rechtssystems geschieht:
Hierin drücken sich das Setzen und das Durchsetzen von Recht als zwei zentrale Aufgaben
jedes Staates aus.
Das gewaltförmige Handhaben mündet in der Dominanz des Stärkeren. Das führt meis-
tens genau zum Gegenteil dessen, was bei einer Konflikttransformation erreicht wird: Es gibt
keinerlei Zusammenhalt und irgendwann wird der Konflikt wieder aufbrechen. Und das ist
letztlich überhaupt nicht effektiv.

109
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Vier vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Sarah Jäger und Jean-Daniel Strub (Hrsg.), Gerechter Friede als politisch-ethisches Leitbild,
Wiesbaden 2018.
Wilhelm Korff, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft,
Freiburg i. Br. 21985, 78–101, insbesondere 91–101.
John Paul Lederach, The little book of conflict transformation, Intercourse/PA 2003.
Ines-Jacqueline Werkner und Christina Schües (Hrsg.), Gerechter Frieden als Orientie-
rungswissen, Wiesbaden 22018.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

110
13 Parameter eines gerechten Friedens

13 Parameter eines gerechten Friedens

13.1 Das Leitbild des gerechten Friedens

Verdeutlichen wir uns, aufbauend auf den vorstehenden allgemeinen Ausführungen, was
der Unterschied ist zwischen dem Paradigma des Leitbilds des gerechten Friedens – das das
unsere ist – und demjenigen der Geschichte: also der Bellum-iustum-Tradition. Was hat sich
grundlegend geändert, wenn wir über gerechten Frieden sprechen?
Erstens ging es in der Tradition des bellum iustum vor allem um das Ordnungsdenken –
hier können wir beispielhaft das metaphysische Ordnungskonzept von Augustinus anführen.
Im Leitbild des gerechten Friedens ist unsere Orientierungsgröße nicht mehr ein derartiges
Ordnungsdenken, weil wir nicht mehr auf diese Weise naturrechtlich denken, sondern unsere
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Orientierungsgröße ist das Bewahren von Menschenrechten. In einer religiösen Sichtweise


können wir zwar weiterhin sagen, dass Menschenrechte der vernunftgemäße Ausdruck einer
natürlichen Ordnung sind. Aber das Konzept der Menschenrechte kann man auch ohne reli-
giösen Unterbau vertreten: Es handelt sich also um eine gemeinsame Sprache, die zwar
religiös vertiefungsfähig ist, darauf aber nicht zwingend angewiesen ist.
Eine derartige Konzeption sollte nunmehr bekannt vorkommen. Hugo Grotius hatte in
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diesem Sinne hinsichtlich des Naturrechts argumentiert: Es ist offen für religiöse Fundie-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

rung, muss aber nicht religiös fundiert werden. Es hätte Bestand etsi Deus non daretur (auch
wenn es Gott nicht geben würde), da es allein schon durch die Einsicht der menschlichen
Vernunft tragfähig fundiert ist.
Zweitens ist als Unterschied hervorzuheben, dass hinsichtlich der legitimen Kriegs-
führungsgründe eine Verengung erfolgt ist – hierfür sei auf Abbildung 3 zu Verteidigung,
Widerstand, Wiedererlangen von Verlorenem/Entschädigung sowie Bestrafung verwiesen.
Es erfolgt also eine Verengung in ein defensives Paradigma. Die anderen Gründe werden
nicht mehr als legitim angesehen.
Allerdings bleibt das Leitbild des gerechten Friedens, das Ende der 1980er-Jahre im
kirchlichen Kontext aufgekommen ist, auf Kriterien legitimer Gewaltanwendung angewie-
sen, um sich mit Gewalt auseinanderzusetzen. Wenn wir bloß auf den Frieden als posi-
tive Zielgröße schauten, wir uns ausschließlich darauf konzentrierten zu überlegen, wie
wir gemeinsam Frieden realisieren können, dann würden wir stets in solchen Augenblicken
sprachlos werden, in denen schwerwiegende gewaltförmige Konflikte ausgebrochen sind.
Deshalb ist das Leitbild des gerechten Friedens – mit dem Ziel Frieden angesichts schwerster
Brüche wiederherzustellen – auch darauf angewiesen, aus der Tradition des bellum iustum
klugheitsgeleitete Reflexionskriterien hinsichtlich der Gewaltanwendung zu übernehmen.
Was wir heute haben, ist daher eine – in Kants Diktion – regulative Idee, also eine Idee,
auf die wir uns ausrichten und die unser Denken und Handeln formt; aber gleichzeitig bezie-
hen wir in diese Idee – und zwar im Hinblick auf etwaiges Überwinden schwerster entgegen-
gesetzter Brüche – auch Kriterien für die legitime Gewaltanwendung in Extremfällen ein.
Diese haben ihre Wurzeln in der klugheitsgeleiteten Reflexion der Bellum-iustum-Tradition.
Sie sind freilich nicht eins zu eins übernommen, sondern – im Sinne eines Dekodierens und
Rekodierens – angepasst.

111
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

13.2 Ein Koordinatensystem als erster Zugang

Wenden wir uns nun dem gerechten Frieden selbst zu. Hier ist es wichtig zu verstehen, dass
es sich dabei um ein Prozessmuster handelt. Es ist keine Gegebenheit, die – quasi binär –
vorhanden ist oder nicht. Vielmehr bewegt sich das Gestalten eines gerechten Friedens in
einem komplexen Geflecht. Man kann sich das recht gut wie ein Koordinatensystem vor-
stellen, mit einer horizontalen und einer vertikalen Achse.

13.2.1 Zusammengehörigkeit von inner- und zwischenstaatlichem Bereich

Zum einen kann Friede nämlich in einem horizontalen Sinne skaliert werden.185 Wenn wir
heute von Frieden sprechen, dann denken wir alle, oder zumindest viele von uns, zunächst an
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den zwischenstaatlichen Bereich. Dieses Verständnis hat sich allerdings erst seit gut 200 Jah-
ren verfestigt. Davor bezog sich das Verständnis von Frieden sowohl auf die Zustände
innerhalb eines Gemeinwesens als auch auf jene zwischen solchen. Als Beispiele seien der
mittelalterliche Begriff des Gottesfriedens oder der neuzeitliche Begriff des allgemeinen
Landfriedens angeführt. Damit waren nicht nur die Zustände zwischen einzelnen Gemein-
wesen gemeint, sondern auch Zustände innerhalb eines Gemeinwesens. Für den inneren
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Bereich hat sich spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein anderer Ausdruck durch-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

gesetzt, wir sprechen heute von öffentlicher Ordnung und Sicherheit. Doch das ist etwas,
das, wie gesagt, erst seit Ende des 18. Jahrhunderts gesichert ist. Vor diesem Hintergrund
haben wir eine Zweiteilung in unserem Kopf: Innerhalb der Bundesrepublik Deutschland
wollen wir öffentliche Sicherheit und Ordnung, im Verhältnis zu anderen Staaten wollen
wir in Frieden leben. Hier machen wir nun den Versuch, anders zu denken: Im Konzept des
gerechten Friedens sind der innerstaatliche und zwischenstaatliche Bereich im Zusammen-
hang zu sehen, weil es sich um verwobene, um interdependente Größen, handelt.

13.2.2 Negativer und positiver Friede

Zum anderen ist auch auf der Vertikalen die Vorstellung zu verorten, dass es unterschiedliche
Friedensarten gibt; beispielhaft seien negativer und positiver Friede genannt. Hierzu gibt es
ein Modell der Theologen Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter.186
Hiernach könnte der negative Friede die Abwesenheit von direkter physischer Gewalt
sein. Dieses Verständnis ist jedoch recht eng. Wenn körperliche Gewalt zwar abwesend ist,
aber zu jeder Zeit die Befürchtung begründet ist, dass direkte physische Gewalt ausbrechen
kann, ist das kein Friede. Das wäre lediglich ein Nicht-Krieg. Für einen negativen Frieden
ist darüber hinaus die Dauerhaftigkeit, die Erwartbarkeit nötig, dass keine direkte physische
Gewalt ausgeübt wird: Es herrscht also nicht nur kein Krieg, sondern es droht auch kei-
ner – wir erleben nicht nur keine direkte körperliche Gewalt, es droht uns auch keine. Das
ist schon weiter gefasst, bleibt aber nichtsdestoweniger ein recht minimalistisches Konzept.

185
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? ..., 509–512.
186
Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart 1990, 20–25.

112
13 Parameter eines gerechten Friedens

Daneben existiert das Konzept des positiven Friedens – begründet in der Auffassung,
dass bei der Rede von Friede und Sicherheit der Friede doch mehr sein sollte als eine mini-
malistische Größe. Was ist nun der positive Friede gegenüber dem negativen? Wie wir unter
negativem Frieden die Abwesenheit von direkter physischer Gewalt verstehen könnten, so
könnte positiver Friede die Abwesenheit von indirekter struktureller Gewalt sein. Das aller-
dings ginge deutlich zu weit. Schließlich ist strukturelle Gewalt recht undefiniert, unter
struktureller Gewalt können wir alle jederzeit leiden – in der Arbeitswelt, in Bildungsein-
richtungen und so weiter. Insofern ist das zu weit gefasst. Ein mögliches Verständnis von
positivem Frieden ist indes Not abzubauen, Gewalt zu vermeiden und Unfreiheit zu mindern.
Die beiden letzten Punkte lassen sogenannte Erstgenerationsrechte erkennen, das sind
Abwehrrechte. Der Abbau von Not beleuchtet hingegen einen Schwachpunkt in unserem
westlichen Denken: Auch wenn wir zwar vor Folter und Sklaverei sowie deren jeweiligen
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milderen Abwandlungen geschützt sind, dafür aber verhungern, ist uns letztlich nicht hin-
reichend geholfen. Daher gehört der Abbau von Not zwingend dazu, um über das Lebens-
notwendige zu verfügen. Hierin finden sich sogenannte Zweitgenerationsrechte wieder, das
sind Teilhaberechte.
Solche elementaren Erst- und Zweitgenerationsrechte fokussiert das Konzept der human
security, das für die Rede vom positiven Frieden daher einen hilfreichen Beitrag leistet.
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Was bedeutet das alles? Dass wir uns das Gestalten eines gerechten Friedens am besten
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

als anhand von Indikatoren skaliert erschließen können. Tatsächliche Gegebenheiten sind
nämlich stets fluide: Einmal bewegen wir uns eher im Bereich eines negativen Friedens, ein
andermal eher in dem eines positiven Friedens.

13.2.3 Ein Acht-Stufen-Modell

Sehen wir hinsichtlich dieser vertikalen Achse auch noch auf ein weiteres Modell, das sich
mit einem deskriptiven Schwerpunkt detaillierter artikuliert und damit eine gute Ergänzung
darstellt: Nach dem Politikwissenschaftler Pierre Allan entfaltet es sich in acht Stufen zwi-
schen zwei theoretischen Polen.187
Warum zwei Pole, die theoretische Größen betreffen? Allan bemängelt, dass Skalen
häufig die Extreme nicht erfassen: Daher vertritt er die Position, dass seine Skala mit dem
beginnen müsse, was nicht mehr menschlich ist, und ebenso mit dem enden müsse, was
nicht mehr menschlich ist. Nur dann sei wirklich alles erfasst, was dazwischen tatsächlich
existieren kann. Die beiden Pole betreffen uns nicht mehr als Menschen, es gibt in ihnen kein
moralisches und amoralisches Verhalten mehr: Die Total eradication of humankind ist eben
die Auslöschung der Menschheit und das Agape-Paradise (von griechisch agápē – Liebe) ist
das jenseitige Zusammensein, das das Diesseitige hinter sich gelassen hat. Deswegen sind es
zwei theoretische Größen; wir behandeln sie hier jedoch nicht weiter.
Bevor wir stattdessen auf die einzelnen Stufen eingehen, sind zwei kurze Vorbemerkungen
zu machen.
Zum einen unterscheidet Allan zwei grundsätzliche Prinzipien, anhand derer er seine
Skala aufbaut: das teleologische und das deontologische. Das teleologische Prinzip betrifft

187
Pierre Allan, „Measuring International Ethics: A Moral Scale of War, Peace, Justice, and Global Care“, in What
is a just peace, hrsg. von ders. und Alexis Keller, Oxford 2008, 90–129.

113
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

die Zahl der Menschen, für die es Sicherheit, Frieden, Zufriedenheit gibt. Das deontologi-
sche beleuchtet, in welchem Maße Menschen ihren Pflichten und Rechten nachkommen.
Zum anderen handelt es sich um eine idealisierte Skala. Allan stellt nicht in Abrede, dass
es in einer konkreten historischen Situation Konstellationen geben kann, die davon abwei-
chen: So könnte es beispielsweise sein, dass es eine bestimmte Art von ‚Just War‘ gibt, die
in einem ganz konkreten historischen Umstand tatsächlich besser ist als ein sehr ungerechter
‚Stable peace‘.
Sehen wir uns nun die acht Stufen zwischen den Polen an:
Genocide. Genozide, die unterste Stufe, sind sehr seltene, sehr extreme Ereignisse. Sie
sind äußerst ungewöhnlich, deswegen stechen sie – wenn sie stattfinden – auch derart hervor.
Das Vorhaben, ganze Menschengruppen zum Beispiel nach genetischer Abstammung/eth-
nischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, körperlichen und geistigen Fähigkeiten, sexueller
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Orientierung oder Weltanschauung – auszulöschen, ist nach Allan unter deontologischem


Aspekt besonders verurteilenswert. Damit bezieht er sich mit Blick auf Rechte/Pflichten
auf die Qualität des Handelns. Rein teleologisch – hier bezieht sich Allan auf die Zahl der
Betroffenen und auf die Reichweite des Handelns – kann es zwar Genozide an sehr klei-
nen Gruppen geben, bei denen wesentlich weniger Menschen sterben als in einem Krieg
zwischen Großmächten. Das deontologische Defizit wiegt aber derart schwer, dass in der
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Gesamtbewertung das Vorhaben, eine Gruppe von Menschen als ebensolche auszulöschen,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

der schlechtestmögliche Zustand ist, den es in dieser Welt geben kann.


War. Kommen wir zur zweiten Stufe, zum Krieg. Krieg in diesem Sinne ist ein regelloses
Töten, ein regelloses Zerstören und Vernichten. Exemplarisch könnte an die Kriege der alten
Assyrer gedacht werden, ein Volk, das im Altertum vom nördlichen Mesopotamien aus ein
Großreich errichtete und bekannt dafür war, mit dem Gegner gnadenlos umzugehen.
Non-war. ‚Non-war‘ meint nicht genau das gleiche, wie der Nicht-Krieg im zuvor
behandelten Modell (siehe Abschnitt 13.2.2). ‚Non-war‘ ist zwar ebenfalls insofern die
Kehrseite des Krieges, dass keine Kriegshandlungen stattfinden und dieser Zustand auch
schlicht dadurch enden kann, dass Mächte wieder in einen Krieg eintreten (eine Zeit lang
gibt es ‚Non-war‘, dann wieder Krieg). Es ist aber auch nicht so, dass ‚Non-war‘ ein ständi-
ger latenter Kriegszustand wäre. Vielmehr besteht die große Mehrheit der Zeiträume für die
jeweiligen menschlichen Gemeinwesen – wenn man die Geschichte langfristig betrachtet –
aus solchen, in denen keine Kriege stattfanden. Kriege wurden vielmehr deshalb besonders
hervorgehoben und beachtet, weil sie zeitlich-quantitativ tatsächlich Ausnahmen sind. Mit
Blick auf die Geschichte der Menschen stehen sich ‚Non-war‘ und Kriege also keineswegs
eins zu eins gegenüber; die große Mehrheit der Zeit haben die Menschen in dem gelebt, was
Allan ‚Non-war‘ nennt.
Wie kann es nun zu einem solchen ‚Non-war‘ kommen? Im Wesentlichen durch zwei
Situationen: entweder durch eine Hegemonialmacht, die ihren Nachbarn gegenüber domi-
nant auftritt – man denke da etwa an das römische Reich – oder durch ein Mächtegleichge-
wicht. Hier scheinen Pentarchien über längere Zeiten stabil sein zu können. Ein Beispiel ist
das ‚Englische Zeitalter‘ von 1815 bis 1918 mit den fünf Großmächten Vereinigtes König-
reich, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn und Preußen.
Just War. Hinsichtlich der nächsten Stufe – die den gerechtfertigt geführten, im Sinne
des legitim geführten Krieges betrifft – gilt es, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass die
meisten Kriege, die geführt wurden und werden, dem eben gerade nicht entsprechen. Aber

114
13 Parameter eines gerechten Friedens

es gibt theoretisch Situationen, in denen es legitim ist, einen Krieg zu führen, in sehr selte-
nen Fällen war dies in der Tat auch der Fall. Ein solcher Krieg hat den Kriterien des ius ad
bellum, des ius in bello und des ius ex bello zu entsprechen: also den Bedingungen, wann
man legitim in einen Krieg eintreten darf, was man während eines Krieges legitim tun darf
und wann man einen Krieg legitimerweise wieder beenden muss.188
Stable peace. Auf dem Weg vom ‚Just War‘ zum ‚Just Peace‘ befindet sich der stabile
Friede. Dies ist etwas anderes als ‚Non-war‘: Im stabilen Frieden ist zwar auch noch keine
Gerechtigkeit erreicht, aber es besteht eine belastbare Ordnung, sodass mit keinerlei Kriegs-
ausbruch zu rechnen ist. Hier einmal drei Beispiele für diesen Zustand, die sich jeweils auf
das Verhältnis von zwei Staaten zueinander beziehen:
• Zwei Staaten haben keine Möglichkeit, gegeneinander erfolgreich Krieg zu führen: Das
kommt einem stabilen Friedenszustand gleich, der nicht von Gerechtigkeit abhängt. Der-
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artiges wäre beispielsweise zwischen Portugal und Ecuador denkbar: Portugal hat nicht
die Militärmacht, Ecuador über See zu bezwingen, und Ecuador hat seinerseits nicht die
Militärmacht, um Portugal über See zu bezwingen. Es besteht ein stabiler Friede.
• Die Interessen zweier Staaten überschneiden sich nicht. Zwei Staaten sind vielleicht sehr
unterschiedlich, stehen aber in keinem Verhältnis von Konkurrenz zueinander – dies
tritt durch das Zusammenwachsen der Weltgemeinschaft natürlich immer mehr in den
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Hintergrund. Bezogen auf das 20. Jahrhundert könnte man hier beispielsweise an Island
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

und Thailand denken.


• Schließlich kann Zufriedenheit bestehen, weil es funktionierende Mechanismen gibt,
Konflikte beizulegen. Das ist der Fall, wenn für aufkommende Probleme eine verläss-
liche Art und Weise der Lösung besteht.

Just Peace. Gehen wir noch eine Stufe weiter in Richtung Gerechtigkeit. Dann kommen wir
zu dem, was Allan ‚Just Peace‘ nennt. Entscheidend ist hier der neue Aspekt, dass diesem
Zustand durch alle Beteiligten – das ist eine sehr wichtige Einschränkung im Gegensatz
zum sonst üblichen Gebrauch des Begriffs ‚gerechter Friede‘ – Gerechtigkeit zugesprochen
wird; Nicht-Beteiligte können unter ihm hingegen durchaus leiden. So könnte es beispiels-
weise ‚Just Peace‘ zwischen dem Vereinigten Königreich und Kanada geben, andere Länder
könnten dabei aber unter Beziehungen wirtschaftlicher Ausbeutung leiden.189
Oft finden Sie diesbezüglich die Ausdrücke ius ante bellum, wenn es darum geht zu ver-
hindern, dass es zu bewaffneten Konflikten kommt, oder ius post bellum, wenn es um den
Wiederaufbau nach einem bewaffneten Konflikt geht. Ius ante bellum: Wie kann ein beste-
hender Friedenszustand hinsichtlich der Gerechtigkeit so gestärkt werden, dass es nicht zum
gewaltförmigen Konflikt kommt? Gerechte Zustände verringern die Wahrscheinlichkeit des
Ausbrechens von Kriegen ganz erheblich. Ius post bellum: Wie kann man aus einem beende-
ten Kriegszustand wieder zu einem tragfähigen Frieden kommen? Unsere Friedenszustände
gehen nämlich sämtlich aus irgendwelchen Konfliktzuständen hervor. Im heutigen Deutsch-
land oder Italien standen beispielsweise verschiedene Gemeinwesen miteinander im Krieg.
Wir kommen also aus Kriegszuständen und befinden uns nunmehr seit etlichen Jahrzehnten

188
Wenn wir uns auf ein minimalistisches Verständnis konzentrieren, können wir in diesen drei Aspekten das sehen,
was der Bereich der Konfliktethik ist.
189
Das, was mit der ‚Just-Peace‘-Stufe beginnt, fällt jedenfalls in den Bereich der Friedensethik.

115
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

im Frieden: ‚Just Peace‘ wäre auf alle Fälle der innere Zustand von Bundesstaaten oder
Staatenverbünden, etwa innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zwischen Brandenburg
und Bayern, oder innerhalb der Europäischen Union zwischen Deutschland und Frankreich.
Positive peace. Kommen wir zum positiven Frieden. Hierbei handelt es sich um das Aus-
weiten von ‚Just Peace‘ auf die globale Gemeinschaft, also nicht bloß um einen gerechten
Frieden zwischen den Beteiligten, unter dem Andere eventuell leiden, sondern um einen
global gerechten Frieden.
Zum Aspekt der Globalität kommt hinzu, dass es hinsichtlich der Gerechtigkeit in beson-
derer Weise um soziale Gerechtigkeit geht. Man erinnere sich an Folgendes zurück: Poli-
tische Gerechtigkeit ist gewissermaßen der Rahmen für soziale Gerechtigkeit; und soziale
Gerechtigkeit zielt darauf, die Interessen und Belange der einzelnen Akteure – auf inter-
nationaler Ebene also auch der einzelnen Gemeinwesen untereinander – voneinander abzu-
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grenzen und gegeneinander abzuwägen.


Diese soziale Gerechtigkeit steht beim positiven Frieden stark im Vordergrund. Das
Modell des Moraltheologen Eberhard Schockenhoff beziehungsweise seine Parameter eines
gerechten Friedens, mit denen wir uns im Anschluss auseinandersetzen werden, ist eines, das
sehr differenziert genau darauf abzielt.
Global care. Die letzte Stufe geht über die Gerechtigkeit hinaus. Bei Kant ist uns die
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wichtige Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten begegnet. ‚Global care‘


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

betrifft das, was über die Gerechtigkeit hinausgeht – darüber, dem Anderen nicht zu scha-
den, Interessen und Belange voneinander abzugrenzen und gegeneinander abzuwägen. Wir
befinden uns vielmehr im Bereich der Tugendpflichten: Es geht hier darum, anderen Wohl zu
wollen und zu tun, ohne dass diese ihrerseits diesbezüglich einen Anspruch geltend machen
könnten. Das ist das, was idealerweise in einer Familie, einem Freundeskreis oder einem
guten sozialen Nahbereich gelebt wird. Es ist offensichtlich, dass dies weit über das Para-
digma sozialer Gerechtigkeit hinausschießt. Solches will Schockenhoff mit seinem Modell
vernünftigerweise auch gar nicht verwirklicht wissen. ‚Global care‘ ist nichts, was ein
Gemeinwesen oder die internationale Gemeinschaft direkt zu verwirklichen versuchen darf,
sondern vielmehr etwas, das auf die Beiträge Einzelner ebenso wie freiwilliger Vereinigun-
gen aus eigener innerer Sinneinsicht heraus angewiesen ist.

Stellen wir diese acht Stufen schließlich dem zuvor behandelten Modell von Reuter und
Huber gegenüber. Dabei wird ersichtlich, dass deren negativer und positiver Friede nicht
eins zu eins zugeordnet werden können: Das Verständnis von positivem Frieden steht wohl
zwischen Allans ‚Just Peace‘ und seinem ‚Positive peace‘: Der positive Friede bei Huber
und Reuter ist einerseits nämlich nicht bloß partikular, andererseits reicht für ihn aber schon
eine minimalistische soziale Gerechtigkeit aus. Das Verständnis von negativem Frieden bei
Huber und Reuter kommt Allans ‚Non-war‘ nahe, da Krieg zwar grundsätzlich möglich ist,
aber nicht herrscht und eben auch nicht jederzeit mit seinem Ausbruch zu rechnen ist, son-
dern ‚Non-war‘ ja gerade über längere Zeiten anhält.

116
13 Parameter eines gerechten Friedens

13.3 Vier formale Kriterien des Friedensbildens

Gehen wir jetzt einen Schritt weiter. Setzen wir uns, nach den Politikwissenschaftlern Pierre
Allan und Alexis Keller, mit formalen Kriterien des Friedensbildens auseinander.190 Wenn
wir über gerechten Frieden sprechen – und gerechter Friede ist ja ein Prozessmuster, sodass
er mal mehr, mal weniger realisiert ist –, dann müssen wir bedenken, was formale Kriterien
sind, die das Entstehen eines gerechten Friedens begünstigen. Allan und Keller nennen vier:
thin recognition, thick recognition, renouncement und rule.
Thin recognition. Die ‚dünne Anerkennung‘ des Anderen bedeutet, dass dieser ledig-
lich als Anderer anerkannt wird, nicht mehr: Der Andere ist eine ebenbürtige Person, die ich
akzeptiere. Ich denke mich aber nicht in sie hinein – welche weltanschauliche, kulturelle,
soziale und individuelle Prägung sie hat, warum sie sich auf bestimmte Weisen verhält und
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wie sie ihrerseits Verhaltensweisen rezipiert, was sie besonders verletzt und was sie dem-
gegenüber besonders aufbauen könnte.
Thick recognition. Um diese Fragen geht es hingegen bei der ‚starken Anerkennung‘.
Sie zielt darauf ab, die Grundlagen der Identität des Anderen zu verstehen. Das ist eine
erhebliche Veränderung. Die Grundlagen der Identität des Anderen zu verstehen, bedeu-
tet indes nicht, die eigenen Grundlagen aufzugeben. Vielmehr ist es dringend geboten, die
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Grundlagen der eigenen Identität ebenso zu verstehen: Tut man beides, kann es gelingen, zu
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

einer Übereinkunft zu kommen, die alle Beteiligten wirklich akzeptieren und mitgetragen.
Was leicht klingt, ist meist äußerst herausfordernd. Wenn wir etwa an Palästinenser und
Israelis denken, wäre die ‚dünne Anerkennung‘ des Anderen bei den meisten – wenn auch
bei Weitem nicht bei allen – wohl gegeben: Der Andere ist eine ebenbürtige menschliche
Person und als solche zu akzeptieren. Es kann aber zu keinem gerechten Frieden kommen,
weil nur sehr wenige mittels ‚starker Anerkennung‘ nachzuvollziehen in der Lage sind, was
für den Anderen von geringer Relevanz, was äußerstenfalls verzichtbar und was konstitutiv-
unaufgebbar ist.
Renouncement. Das dritte formale Kriterium ist der Verzicht. Jeder Kompromiss bein-
haltet Verzicht. Damit lässt sich vieles erreichen: „Wir verzichten auf den Anspruch auf
Rückkehr der Palästinenser nach Israel.“ – „Wir verzichten auf den Anspruch auf ein unge-
teiltes, zu Israel gehörendes Jerusalem.“ … Es geht hierbei jedoch um noch mehr. Besonders
wertvoll ist nämlich ein Verzicht, der nicht in einem direkten Leistungs-Gegenleistungs-Ver-
hältnis erfolgt. Das Verzichten auf etwas, das einem enorm wichtig ist, um zu einem trag-
fähigen Miteinander zu kommen, ‚katalysiert‘ – vorausgesetzt, dass der Andere erkennen
kann, was dies für den Verzichtenden wirklich bedeutet (thick recognition) – auf der Seite
des Anderen ebenfalls ein entsprechendes Verhalten, ohne es freilich zu garantieren.
Rule. Das letzte Kriterium betrifft den Umstand, dass zu dem, worauf sich die unmit-
telbar Beteiligten geeinigt haben, eine objektivierte Herangehensweise für alle ermöglicht
wird: Eine Normierung öffnet den Weg dafür.
Wer zu einem Ergebnis gelangt, muss es auch in eine Form bringen und diese muss
aus dem ‚Fundus‘ aller Beteiligten schöpfen. Durch eine solche Normierung kann für alle
nachvollziehbar werden, was in der Einigung hervorgebracht worden ist. Neben den Aspekt

190
Pierre Allan und Alexis Keller, „The Concept of a Just Peace, or Achieving Peace Through Recognition,
Renouncement, and Rule“, in What is a just peace …, 195–215.

117
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

einer auf diese Weise erfolgenden synchronen Verbreiterung tritt dann auch derjenige einer
diachronen Verstetigung: Das Hervorgebrachte ist in eigenständiger Weise über längere Zeit
zugänglich, es kann getragen und nachhaltig werden.

13.4 Vier interdependente Säulen als materiale Kriterien


des gerechten Friedens

So weit Allans und Kellers vier Kriterien der thin recognition, thick recognition, renoun-
cement und rule: formale Kriterien des Friedensbildens – formale Kriterien, die die Frage
beleuchten, wie wir das Entstehen eines gerechten Friedens begünstigen können. Was ein
gerechter Friede ist, wird durch formale Kriterien hingegen nicht ausgesagt; dazu bedarf es
materialer Kriterien. Wenden wir uns jetzt noch einmal in differenzierterer Weise inhalt-
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lichen Indikatoren für einen gerechten Frieden zu: Die dadurch gewonnenen materialen
Kriterien für einen gerechten Frieden werden für uns das Komplement zu den formalen sein.
Gerechter Friede ist, wie bereits erwähnt, ein Prozessmuster. Er ist zugleich eine regula-
tive Idee, an der wir uns ausrichten. Und wenn wir das tun (und sogar über sie hinausgehen
können; Pierre Allens ‚Global care‘ geht über die bloße Gerechtigkeit hinaus und betrifft –
in Kants Diktion – nicht Rechts- sondern Tugendpflichten), können wir uns mühen, sie
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anhand von Indikatoren immer mehr zu verwirklichen.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Wenn nun der Friede so etwas wie eine Frucht oder ein Werk der Gerechtigkeit ist,
dann sind politische und soziale Gerechtigkeit – man erinnere sich hier an die politische
Gerechtigkeit als ermöglichenden Rahmen für die soziale Gerechtigkeit sowie an deren
verschiedene Dimensionen – die Konsolidierungs- und Optimierungsbedingungen des Frie-
dens. Oder einfach gesagt: Je weiter wir uns der materialen Idee der Gerechtigkeit nähern,
desto mehr verwirklichen wir einen gerechten Frieden.
Das sehen wir uns
nun anhand eines Modells
an. Es geht auf Eberhard
Schockenhoff zurück und
beruht auf vier interdepen-
denten Säulen, ich habe es
hier minimal angepasst.191
Die zentrale Säule sind die
Menschenrechte und die
Armutsbekämpfung. Darum
herum gibt es drei weitere
Säulen. Anhand dieser ein-
zelnen Säulen können wir
Indikatoren für einen gerech-
ten Frieden ausmachen.

Abbildung 4: Materiale Kriterien des gerechten Friedens


Grafik: Christian Lau

191
Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? ..., 578–665.

118
13 Parameter eines gerechten Friedens

13.4.1 Menschenrechte und Armutsbekämpfung (1. Säule)

Hinsichtlich der ersten Säule „Menschenrechte und Armutsbekämpfung“ haben wir uns vor
Augen zu führen, dass die Worte Gerechtigkeit und Frieden nicht bloß mantraartig neben­
einander zu stellen sind, sondern dass Gerechtigkeit und Frieden sich gegenseitig begüns-
tigen. Dies ergibt sich dadurch, dass Freiheit von Angst und Not es erleichtert, friedliche
Lösungen für Konflikte zu finden. Andersherum gilt ebenfalls: Die Abwesenheit von gewalt-
fördernden Konflikten mindert die Angst und Not der Menschen.
Die erste Säule setzt also wenig voraus: Es handelt sich um elementare Erst- und Zweit-
generationsrechte. Erstgenerationsrechte sind liberale Abwehrrechte, Zweitgenerations-
rechte sind Teilhaberrechte. Dem entsprechen die Gewalt und Unfreiheit beziehungsweise die
Not, denen wir eingangs begegnet waren. Sie konturieren elementare Lebensbedingungen.
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Hervorzuheben ist weiterhin: zum einen, dass diese Säule die Gerechtigkeit in ihrer
elementaren Ausprägung fokussiert und dass es bei Unterschreiten einer zu konturierenden
Minimalgerechtigkeit zu einer subsidiären Eingriffspflicht der internationalen Staatenge-
meinschaft kommt; zum anderen ist zu sagen, dass zwischen innerer und äußerer Gerechtig-
keit ein Konnex besteht: Die innere Gerechtigkeit eines Staates korreliert stark mit seiner
Bereitschaft, gewaltfreie Konfliktlösungen im zwischenstaatlichen Bereich zu finden; sie
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begünstigt, dass dieser auch seine äußeren Konflikte friedlich löst. Es gibt zum Beispiel die
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

These, dass materiale Demokratien untereinander fast keine Kriege führen. Darauf kommen
wir später kurz zurück.
Schließlich ist es hilfreich, sich in dieser Säule den Weltfrieden als etwas letztlich
Unteilbares vorzustellen. Damit greifen wir schon ein bisschen vor, auf das, was wir bei der
Responsibility to Protect besprechen werden.
Den Weltfrieden in einem minimalistischen Verständnis, also im Sinne unhintergeh-
barer Minimalvoraussetzungen des Lebens, können wir in einigen wenigen, elementaren
Menschenrechten ausdrücken. Solche gelten als zwingendes, nicht abdingbares Recht (ius
cogens) sowie, und darauf kommt es hier an, als Verpflichtung allen gegenüber (Erga-
omnes-Pflichten). Das bedeutet, dass die Pflicht zur Rechtswahrung allen gegenüber besteht
und dass die Rechtsverletzung einem Rechtssubjekt gegenüber eine Rechtsverletzung allen
Rechtssubjekten gegenüber ist.
Dies können wir auf den Weltfrieden anwenden. Besonders anschaulich wird es durch
die Vorstellung, dass der Weltfrieden ein global common good ist, ein weltweites Gemeingut.
Auf echte Gemeingüter – keine Allmendegüter oder Clubgüter – können alle zugleich
zugreifen beziehungsweise davon profitieren. Das kann die Luft sein, das Straßen- und
Wegenetz oder ein Deich. Umgekehrt betreffen Beeinträchtigungen ebenfalls alle. So lässt
sich der Weltfriede als globales Gemeingut verstehen: Ist er an einer Stelle ernsthaft gestört,
ist er für alle beeinträchtigt.
So weit zur zentralen Säule „Menschenrechte und Armutsbekämpfung“. Kommen wir
jetzt zur zweiten Säule „Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“.

119
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

13.4.2 Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (2. Säule)

Rechtsstaatlichkeit umfasst etwa die Herrschaft des Rechts und die Gewaltenteilung. Diese
sind besonders wichtige Teile der Rechtsstaatlichkeit, es gehört jedoch noch zahlreiches
anderes dazu. Der Wesenskern von Rechtsstaatlichkeit sind Verlässlichkeit und gegenseitige
Kontrolle, also die Freiheit von Willkür und absoluter Macht.
Demokratie bedeutet, dass die Bürger/-innen – also diejenigen die in einem Staat die
Folgen von Entscheidungen zu tragen haben – auch diejenigen sind, die die Entscheidungen
treffen, die Entscheidungskompetenz haben. Das ist wichtig, weil es sowohl Vor- wie auch
Nachteile mit sich bringt.
Nehmen wir einen Vorteil in Hinblick auf Kriege: Wenn die Bevölkerung darüber ent-
scheidet, ob ein Krieg geführt wird oder nicht, dann wird Krieg seltener sein. Denn die
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Bevölkerung – die sämtliche negative Lasten zu tragen hat – wird diese Entscheidung selte-
ner fällen als ein Monarch oder eine oligarchische Gruppe. Denn diese geben die zu tragen-
den Lasten an Dritte ab; ausgedrückt in einer dem Schriftsteller Paul Valéry zugeschriebenen
Sentenz: „La guerre, un massacre de gens qui ne se connaissent pas, au profit de gens qui se
connaissent mais ne se massacrent pas.“
Mit der These, es habe seit dem 18. Jahrhundert keine Kriege mehr zwischen Demo-
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kratien gegeben, müssen wir allerdings etwas vorsichtig sein. Immerhin gab es im 19. Jahr-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

hundert den amerikanischen Bürgerkrieg, dann den Ersten Weltkrieg (Deutschland hatte
jedenfalls schon demokratische Elemente in seiner Verfassung), sowie später bewaffnete
Konflikte zwischen Indien und Pakistan (auch zumindest formale Demokratien). Das höhlt
die These zwar nicht aus. Aber es ist sicher besser zu sagen, dass materiale, nicht bloß for-
male Demokratien nahezu keine Kriege untereinander führen.
Ein Nachteil zeigt sich indes in Fragen, in denen fremden Menschen unter Inkaufnahme
von eigenen Lasten zu helfen ist, vor allem bei militärischen Interventionen zu humanitären
Zwecken. Eine demokratisch gewählte Regierung ist darauf angewiesen, dass ihr Handeln
innerstaatlichen Rückhalt hat. Hier zeigt sich eine besondere Herausforderung der Demo-
kratie: Das führt nämlich dazu, dass Regierungen etwas, das ethisch geboten ist, in eine
Form bringen, die das Vorhaben für die eigene Bevölkerung möglichst akzeptabel macht.
Dies kann dann dazu führen, dass eine solche Intervention letztlich nicht so erfolgt, wie sie
ethisch richtig wäre, sondern so, dass sie den bestmöglichen Rückhalt in der heimischen
Bevölkerung findet.
Das stellt uns vor zwei typische Probleme: vor die Externalisierung des Risikos und die
Eingriffsintensivierung. Das Risiko zu externalisieren, bedeutet, dass der Schutz der eigenen
Soldaten/Soldatinnen und das Minimieren des Risikos so weit priorisiert wird – um eigene
Verluste und damit einhergehend die Schwächung des Rückhalts in der eigenen Bevölkerung
zu vermeiden –, dass dadurch ein höheres Risiko für die örtliche Zivilbevölkerung entsteht.
Eingriffsintensivierung heißt, dass eine Intervention, die geboten ist, mit mehr Intensität
vorgenommen wird als erforderlich wäre. Warum? Weil sie so vermutlich schnell zu einem
erfolgreichen Ende kommt und erwartetem Widerstand im eigenen Land weniger Zeit bleibt,
eine handlungsgefährdende Schwächung des Rückhalts zu erreichen.
Dessen unbeschadet bleibt der Konnex zwischen innerer und äußerer Friedfertigkeit,
zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Inneren und der Bereitschaft zu friedlicher

120
13 Parameter eines gerechten Friedens

Konfliktlösung nach außen: Intern habitualisierte Prinzipien werden dann im Verhältnis nach
außen ebenfalls angewandt.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass ein Staat, der einen zuträglichen Beitrag
zur friedlichen zwischenstaatlichen Konfliktlösung leistet, nicht zwingend eine Demokratie
westlichen Zuschnitts sein muss. Freilich sind wir überzeugt, dass unsere Demokratieform
das richtige, ‚syllogistische‘ Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung ist. Es kann aber
auch andere Formen von Gemeinwesen geben, die elementaren Menschenrechten gerecht
werden und sich in ihrer Politik auf das Gemeinwohl ausrichten – man erinnere sich an das
Gemeinwohl, das, als Ziel der Politik, in Rechtssetzung, Rechtsdurchsetzung und Daseins-
vorsorge besteht. Diese sind in unserem westlichen Sinne zwar nicht demokratisch organi-
siert, sondern in anderer Weise hierarchisch verfasst. Dennoch sind sie von solcher Art, dass
die zugehörigen Individuen sich darin gut aufgehoben fühlen: Die Ethnien, Clans und loka-
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len Gemeinschaften in Mali sind beispielsweise nicht in unserem westlichen Sinne demo-
kratisch, trotzdem fühlen sich die Menschen darin besser aufgehoben als in ihrem formal
demokratischen Staat und seinen Untergliederungen.
Oder anders gesagt: Es kann auch achtbare, aber auf andere Weise hierarchisch organi-
sierte Gemeinwesen geben, die das Gemeinwohl in einer der jeweiligen Gesellschaft ent-
wicklungsgemäßen Weise besser verwirklichen, als es eine Demokratie westlichen Typs tun
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würde. Es ist wohl nicht abwegig, zu sagen, dass das bei Kant vorgezeichnete Ideal einer
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Demokratie auf der Grundlage gleicher Freiheiten zwar die geeignetste Form eines Gemein-
wesens für das Zusammenleben für Individuen ist, die den ‚ethischen Zustand‘ erreicht
haben. Allerdings gibt es auf dem langen Weg dorthin – positiv und nicht abschätzig ver-
standen – Entwicklungsphasen, in denen es mehr im Interesse der Menschen liegt bezie-
hungsweise gemeinwohlorientierter sein kann, in einem achtbaren, aber anders hierarchisch
organisierten Gemeinwesen zu leben als in einer Demokratie westlichen Typs. Da es sich
dabei um einen langsamen Prozess handelt, muss die Entscheidung über die geeignete Form
des eigenen Gemeinwesens eine selbstbestimmte sein – auch wenn von außen beraten und
geholfen werden kann.
Und es gibt noch einen Aspekt, der in diesem Zusammenhang zu beachten ist. Im Wesen
einer westlichen Demokratie liegt es, politische Konkurrenzsituationen auszulösen. Das ist
freilich kein grundsätzliches Problem. Es kann aber Situationen geben, in denen genau dies
für ein Gemeinwesen nicht förderlich, sondern abträglich ist. Voraussetzung für politische
Konkurrenz ist nämlich ein geteilter, einender, stabiler Rahmen, innerhalb dessen erst die
freiwerdenden Kräfte ‚konkurrierender Selbststände‘ fruchtbar werden können. In labilen
Staaten, die über kein solches Substrat verfügen, können freiwerdende Kräfte ‚konkurrie-
render Selbststände‘ hingegen sehr negative Effekte haben.

13.4.3 Wirtschaftsbeziehungen (3. Säule)

Gehen wir zur dritten Säule weiter, die sich auf die „Wirtschaftsbeziehungen“ bezieht. Das
meint, dass gerechter Friede nicht nur dadurch begünstigt ist, dass in einem Staat Menschen-
rechte und materieller Wohlstand in elementarer Weise verwirklicht sind und dass Rechts-
staatlichkeit und Demokratie gegeben sind. Vielmehr wird gerechter Friede auch dadurch
gestützt, dass die Staaten miteinander in intensive wirtschaftliche Austauschbeziehungen
treten, etwa den Handel. Darin ist ein Movens zu erkennen, das Bindungen begünstigt,

121
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

begründet und bestärkt. Dieses Movens ist allerdings unbedingt zu kanalisieren. Wenn
wir Handelsbeziehungen eingehen und diese allmählich intensivieren, führt dies – und hier
denke man an die Gedankengänge bei Kant und Taparelli – zu einem immer interdependen-
teren Ganzen (Gewebe).

Erforderlichkeit eines ordnungspolitischen Rahmens


Handel ist ein zu kanalisierendes Movens (vgl. iustitia correctiva), weil die bloße, freie
marktwirtschaftliche Entfaltung der Kräfte selbst nicht dazu führt, dass wir zu fried-
licheren Verhältnissen kommen.
Zumindest zweierlei ist dabei zu beachten. Zum einen werden Rahmenbedingungen
benötigt, die das jeweilige wirtschaftliche Eigeninteresse darauf lenken, Leistungen zu
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erbringen, die das Wohl Anderer befördern (etwa indem Aufsicht und Transparenz den
Anreiz darauf lenken, nicht mit für Andere gesundheitsschädlichen, sondern sicheren
Lebensmitteln Profit zu erzielen). Es handelt sich um Rahmenbedingungen, die das
Eigeninteresse des Einzelnen innerhalb wirtschaftlicher Beziehungen in etwas einfließen
lassen, das auch für den Anderen zuträglich ist.
Zum anderen werden extreme Machtgefälle in einer Marktwirtschaft nicht kleiner,
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sondern größer. Es braucht also Rahmenbedingungen, die solche Machtgefälle


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

begrenzen. Während es solche zum Beispiel im Inneren der Bundesrepublik Deutsch-


land oder der Europäischen Union durchaus gibt, etwa das AGB-Gesetz, sind sie welt-
weit praktisch inexistent. Ohne solche Rahmenbedingungen werden Schwache immer
schwächer und Starke immer stärker. Und ohne diesen Rahmen ist wirtschaftlicher
Austausch kein bindungsbegünstigendes Movens, das das Ausbrechen gewaltförmiger
Konflikte erschwert.

Das erwähnte immer interdependentere Ganze (Gewebe) erschwert es, dass gewaltförmige
Konflikte ausbrechen. Die ökonomische Ratio, das ökonomische Denken, das Gewinn
erzielen möchte, ist daran interessiert, dass gerade kein Krieg herrscht – ausgenommen
die Rüstungswirtschaft, deren Profit dadurch begünstigt wird, dass gewaltförmige Konflikte
bestehen. Für alle anderen Wirtschaftsfelder ist Krieg hingegen regelmäßig abträglich. In
einer ökonomischen Gesamtschau lässt sich somit festhalten, dass Kriege respektive gewalt-
förmige Konflikte eher abträglich sind. Die ökonomische Ratio ist daher friedensorientiert.
Kommen wir zurück zu dem Gedankengang, dass sich Friede und Menschenrechte
gegenseitig begünstigen: Friede und durch Fleiß/Eigenleistung erreichter Wohlstand begüns-
tigen sich ebenfalls gegenseitig. Fleiß/Eigenleistung, die Wohlstand erarbeiten, entziehen
einer häufigen Kriegsmotivation weitgehend den Boden, nämlich wirtschaftlich prekären
Lebensbedingungen. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht mehr in Konflikte miteinander
geraten, wenn es uns wirtschaftlich gut geht. Es kann nichtsdestoweniger Identitätskonflikte
oder Machtkonflikte geben. Wir können aber dennoch sagen, dass, wenn Fleiß/Eigenleis-
tung zu Wohlstand führen, eines der in der Geschichte prominenten Kriegsmotive massiv
an Relevanz verliert. Umgekehrt gilt das Gleiche: Friedliche Bedingungen schaffen einen
Rahmen, innerhalb dessen das Erwerben von Wohlstand durch Fleiß/Eigenleistung regel-
mäßig begünstigt ist.

122
13 Parameter eines gerechten Friedens

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass sich das Szenario des wirtschaftlichen
Zusammenwachsens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft respektive Europäischen
Gemeinschaft respektive Europäischen Union nicht naiv auf globale Ebene übertragen lässt:
Dafür sind alle geschichtlichen und gegenwärtigen wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb
der EWG/EG/EU klein im Vergleich zu den weltweit bestehenden Unterschieden. Zudem
sind die Transferleistungen und Kohäsionsbemühungen innerhalb Europas vielfach höher
als im globalen Rahmen.
Das ist die Herausforderung in unserem heutigen Weltwirtschaftssystem. Wir haben ext-
reme Ungleichheiten: Es gibt schon in einer Grobstruktur High income countries, Middle
income countries sowie Low income countries. Und es gibt kaum kanalisierende Rahmen-
bedingungen, die das wirtschaftliche Eigeninteresse auf Leistungen lenken, die das Wohl des
Anderen fördern und die massive Unterschiede eingrenzen.
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Es ist müßig zu sagen, dass in einer solchen Situation – in der beispielsweise Low income
countries Rohstoffe ausführen und im Gegenzug hochwertig verarbeitete Produkte aus High
income countries einführen – die Unterschiede zwischen Schwachen und Starken immer
größer werden.

13.4.4 Kooperation und rechtsförmige Konfliktlösung (4. Säule)


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Wenden wir uns der letzten Säule zu, „Kooperation und rechtsförmige Konfliktlösung“. Das
meint unser internationales System: Es gibt 195 Staaten, Tausende internationale Organi-
sationen (ohne die internationalen Nichtregierungsorganisationen) sowie sogenannte inter-
nationale Regime. Dabei handelt es sich um ein Gesamt von Konventionen und Prozeduren,
durch das Fragen auf bestimmten Gebieten geregelt werden: Das mit Abstand umfang-
reichste internationale Regime ist das der Menschenrechte.
Dieses Konglomerat von Staaten, Organisationen und Regimen können wir eine glo-
bal governance nennen, ein kooperativ verfasstes Miteinander der Staatengemeinschaft, in
dem zusammengearbeitet wird – allerdings nicht in streng strukturierter Art, sondern in einem
vielfältig wachsenden Sinne. Ein schönes Bild des Friedensforschers Georg Picht für dieses
kooperativ wachsende Miteinander ist die Artischocke: Die ‚globale Artischocke‘ wächst um
das Gesamt der Einzelstaaten herum – blattweise, unterschiedlich verortet, unterschiedlich
groß und unterschiedlich dick legen sich Organisationen und Regime darum. So entsteht ein
neues Ganzes. Die ‚globale Artischocke‘ bringt auch einen langsamen, graduellen Kompe-
tenz- und Souveränitätsübergang von den Einzelstaaten auf das neue Ganze zum Ausdruck.
Was wir anstreben können, ist keinesfalls ein Weltstaat – erinnern Sie sich an die Skizzen
von Kant und Taparelli –, sondern eine ‚globale Artischocke‘ multiformer und multizentrischer
Art mit vielen für partikulare Bereiche zuständigen Organisationen, verschiedenen für einzelne
Bereiche existierenden Regimen sowie einer Spitzenorganisation, die subsidiär und konföderal
ist. Föderal und konföderal sind nicht zu verwechseln, weil föderale Strukturen den Schwer-
punkt auf der Bundesebene haben, konföderale hingegen auf der Ebene der Mitgliedstaaten.
Der entscheidende Punkt in diesem Konglomerat ist jedoch, dass wir dazu kommen,
unweigerlich aufkommende Konflikte rechtsförmig zu lösen, nicht gewaltförmig handzu-
haben. Rechtsnormen zeichnen sich ethischen Normen gegenüber dadurch aus, dass sie
durchsetzbar sind. Im Völkerrecht gilt das allerdings nur eingeschränkt, daher gibt es auch
Stimmen, die das Völkerrecht nicht als Recht ansehen.

123
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Die erste Voraussetzung dafür, Konflikte rechtsförmig zu lösen, ist, dass es eine Recht-
sprechung gibt. Es muss Spruchkörper geben, die ein Recht, einen begründeten Anspruch,
sanktionieren können. Dabei ist nicht entscheidend, ob es sich um Schiedsgerichte oder
Gerichtshöfe handelt und ob sie jeweils regional oder global sind. Nach dem Bild der Arti-
schocke kann es jede Variante geben: beispielsweise für eine regionale Organisation einen
Gerichtshof, für ein globales Regime ein Schiedsgericht. Entscheidend ist etwas anderes:
dass die Rechtsprechung, gleich in welchem partikularen Bereich, nicht fakultativ, sondern
obligatorisch ist. Ein Konflikt, der besteht, ist obligatorisch einem Spruchkörper zu unter-
breiten und nicht bloß nach Belieben. Für den Internationalen Gerichtshof (IGH) ist das
heute beispielsweise nur dann der Fall, wenn die Konfliktparteien zuvor eine Unterwer-
fungserklärung abgegeben hatten, was die rechtsförmige Konfliktlösung durch den IGH
faktisch fakultativ bleiben lässt.
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Die zweite Voraussetzung ist noch anspruchsvoller. Die Spruchkörper brauchen auch
eine Rechtsdurchsetzungskompetenz. Innerhalb der Europäischen Union ist das beispiels-
weise gegeben: Der Europäische Gerichtshof kann rechtswidriges Verhalten der Mitglied-
staaten sanktionieren, besonders durch finanzielle Strafen.
An dieser Stelle – im Vergleich zum innerstaatlichen Bereich – ist jedoch eine Ein-
schränkung vorzunehmen: Soll ein solcher Spruchkörper im Extremfall auch Zwangsmittel
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gewaltförmiger Art anwenden können? Wenn wünschenswert ist, dass ein Spruchkörper
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zum Beispiel Geldstrafen und Sanktionen verhängen sowie Rechteverluste in internationalen


Organisationen aussprechen kann, ist es dann auch wünschenswert, dass er rechtskonformes
Verhalten auch mit gewaltförmigen Mitteln erzwingen kann? Praktisch wird man zwar fast
immer zu dem Ergebnis kommen, dass das einem Staat gegenüber gar nicht möglich ist.
Aber diese Frage ist auch theoretisch zu bedenken – und auf dieser Ebene ist zu erwägen,
welches das minus malum ist, also das kleinere Übel.
Kant und Taparelli geben unterschiedliche Antworten: Kant lehnte eine Zwangsbewäh-
rung insgesamt ab, da Republiken gegenüber einer weltweiten Zwangsordnung nicht – wie
Individuen einer Republik gegenüber – die Möglichkeit hätten auszuwandern und weil die
Friedensordnung zwischen Staaten nur aus deren intrinsischer Motivation heraus bestehen
könne. Taparelli befürwortet eine Zwangsbewährung, sogar mit gewaltförmigen Mitteln –
aber er sieht auch die Autoritäten der Mitgliedstaaten in der Pflicht, angesichts illegitimer
Handlungen der Ethnarchie aus dieser auszutreten beziehungsweise erforderlichenfalls
sogar Widerstand gegen sie zu leisten.
Dahinter steht die Wahl zwischen dem Risiko der Tyrannei und dem Risiko der Anarchie,
metaphorisch die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Als Gegensatz zum Spruchkörper
einer legitim agierenden internationalen Organisation, die einen Staat mit militärischen Mit-
teln zwingt, ist der Spruchkörper einer internationalen Organisation zu denken, deren Wirken
illegitim ist. Als Gegensatz zu einem Staat, der sich einem Rechtsspruch beugt, ist einer zu
denken, der ihm in keiner Weise folgt. Welches der beiden Szenarien ist das minus malum:
das Risiko einer Tyrannei oder das Risiko einer Anarchie? Hierzu kann man geteilter Ansicht
sein. Wir geben hier der Auffassung den Vorzug, dass internationale Spruchkörper zwar
Zwangsmittel anwenden können müssen, aber keine Zwangsmittel gewaltförmiger Art.

124
13 Parameter eines gerechten Friedens

Bedeutung von äußerem Zwang und innerer Überzeugung


Hinsichtlich der Abwägung, ob eher das Risiko in Kauf zu nehmen ist, dass sich ein
Staat einem Rechtsanspruch nicht beugt, oder eher das Risiko, dass ein Staat unrecht-
mäßig gebeugt wird, ist ergänzend mitzubedenken: „Das Wissen, um die dem Staat
eigene Erzwingungsgewalt kann die Rechtsbefolgung stabilisieren. Doch kommt der
eingespielten Loyalität ihr gegenüber, für ihr reibungsloses Funktionieren, die weit-
aus größere Bedeutung zu.“192 Was innerstaatlich gilt, wo ein Rechtsstaat schnell an
seine Grenzen kommen kann, wenn seine Ordnungskräfte regelmäßig und aufwändig
gewaltförmige Zwangsmittel anwenden müssen, gilt erst recht auf zwischenstaatlicher
Ebene. Deswegen ist davon auszugehen, dass mit der positiven Einstellung der Staaten
einer obligatorischen völkerrechtlichen Gerichts- oder Urteilsinstanz gegenüber allein
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sehr viel mehr gewonnen wäre als mit einer auch gewaltförmige Mittel umfassenden
Zwangsbefugnis für Rechtsstreitigkeiten auf internationaler Ebene.

Schließen wir mit zwei Sonderfällen. Bei internationalen Gerichtshöfen gibt es bislang zwei
Rechtsprechungsarten, die in das Innere der Staaten hineinwirken können: Menschenrechts-
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gerichtshöfe und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Der IGH schlichtet Konflikte
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zwischen Staaten; in den beiden vorgenannten Fällen können internationale Spruchkörper


hingegen subsidiär in das Innere eines Staates hineinwirken.
Mit Blick auf erlittene Menschenrechtsverletzungen in einem Staat, in dem die Euro-
päische Menschenrechtskonvention gilt, kann eine Einzelperson auch den Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof anrufen, nachdem der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist.
Dessen Urteil würde in das Innere des betroffenen Staates hineinwirken.
Dies ist auch bei Urteilen des IStGH der Fall. Wenn sich beispielsweise ein Politiker oder
hoher Staatsbeamter Völkerrechtsverbrechen schuldig gemacht hat und er in seinem Staat
dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird, kann der IStGH ihn belangen. Voraussetzung
ist dafür, dass eine Tat auf dem Gebiet oder durch einen Staatsangehörigen eines Mitglied-
staats beziehungsweise zustimmenden Staats erfolgt oder aber, dass der VN-Sicherheitsrat
ein bestimmtes Geschehen an den IStGH verweist.

192
Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? ..., 658.

125
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

13.4.5 Synopse

Sehen wir uns das – minimal angepasste – Modell von Eberhard Schockenhoff für den gerech-
ten Frieden noch einmal in einer Gesamtschau an.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

In der Mitte befindet sich die Säule „Menschenrechte und Armutsbekämpfung“. Warum
dort? Weil diese Säule das Gründende betrifft. Einerseits befindet sich diese Säule in einem
fundierenden Verhältnis zu den anderen Säulen, „Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“,
„Wirtschaftsbeziehungen“ sowie „Kooperation auf internationaler Ebene und rechtsförmige
Konfliktlösung“. Andererseits tritt eine subsidiäre Eingriffspflicht der internationalen Staa-
tengemeinschaft ein, wenn in dieser Säule ein Minimalstandard unterschritten wird.
Welche Aspekte von politischer Gerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit sind nun von
den einzelnen Säulen betroffen?
Hinsichtlich der ersten Säule haben wir elementare Menschenrechte, Abwehrrechte in
Bezug auf Gewalt und Unfreiheit, angesprochen: Das betrifft die politische Gerechtigkeit
auf nationaler Ebene wie auf internationaler Ebene. Ebenso haben wir die iustitia distribu-
tiva angesprochen (hier: Bedarfsgerechtigkeit), über das zum Überleben Nötige zu verfügen:
Das betrifft die soziale Gerechtigkeit auf nationaler wie auf internationaler Ebene.
Hinsichtlich der zweiten Säule haben wir Mitwirkungsrechte erwähnt: Das betrifft die
politische Gerechtigkeit auf nationaler Ebene.
Was die dritte Säule angeht, haben wir über die iustitia commutativa und die nötige,
aber fehlende iustitia correctiva gesprochen: Das betrifft die soziale Gerechtigkeit auf inter-
nationaler Ebene.
Bei der vierten Säule geht es erneut um so etwas wie Mitwirkungsrechte, da wir uns in
diesem Bereich aber in einem ‚ewigen Übergangszustand‘ befinden, ist es wahrscheinlich
treffender, von ‚emergierenden‘ Mitwirkungsrechten zu sprechen: Dies betrifft die politische
Gerechtigkeit auf internationaler Ebene.

126
13 Parameter eines gerechten Friedens

Fünf vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Pierre Allan und Alexis Keller (Hrsg.), What is a just peace?, Oxford 2008.
Sarah Jäger und Lothar Brock (Hrsg.), Frieden durch Recht – Anfragen an das liberale Modell,
Wiesbaden 2020.
Eberhard Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt,
Freiburg i. Br. 2018, 578–665.
Jean-Daniel Strub und Stefan Grotefeld (Hrsg.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus
und gerechtem Krieg, Stuttgart 2007, 145–237.
Ines-Jacqueline Werkner und Matthias Dembinski (Hrsg.), Gerechter Frieden jenseits des
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demokratischen Rechtsstaats, Wiesbaden 2019.


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127
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflikte

Daniel Peters

Bei kaum einem anderen Konzept, das sowohl von Friedens- und Konfliktforschenden als
auch innerhalb der internationalen Diplomatie kontinuierlich substanziell und affirmativ
diskutiert wird, fallen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei der Kon-
fliktprävention. Gewaltsame Konflikte vernichten Existenzen, destabilisieren Staaten und
ganze Regionen, sie zeitigen sogar negative Konsequenzen auf globaler Ebene (Terroris-
mus, organisierte Kriminalität, Migrations- und Fluchtbewegungen) und für nachfolgende
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Generationen (Zerstörung von Lebensgrundlagen, Traumata, erhöhtes Konfliktrisiko). Zwar


lassen sich die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten gewaltsamer Konflikte aufgrund
der Vielschichtigkeit und Komplexität der direkten und indirekten Folgen kollektiver Gewalt
nur rudimentär in ihrer Gesamtheit abschätzen. Gleichwohl ist es eine Binsenweisheit, dass
die Investitionen in die Verhinderung gewaltsamer Auseinandersetzungen nur einen Bruchteil
dessen ausmachen, was an Geldern und Ressourcen in Krisenbewältigung und den Wieder-
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aufbau konfliktbelasteter Staaten fließt. Diese Tatsache wiegt umso schwerer, als nach allge-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

mein gültiger Ansicht vorbeugendes Handeln gegenüber reaktiven Maßnahmen um ein Viel-
faches kosteneffizienter ist. Kurzum, nur weil (fast) alle Akteure sich darauf einigen können,
dass Konfliktvorbeugung ein notwendiges und sinnvolles Unterfangen darstellt, bedeutet dies
nicht, dass die Umsetzung des Konzepts zielstrebig und nachhaltig vorangetrieben würde,
oder dass überhaupt ein Konsens darüber bestünde, worin die Ursachen von Konflikten liegen
und welche Instrumente eine wirkungsvolle Implementierungsstrategie umfasst.
Die Auseinandersetzung mit dieser epistemischen Kontroverse über Konfliktursachen
und effektive Präventionsmaßnahmen durchzieht als roter Faden die nachfolgenden Aus-
führungen. In diesem Kapitel wird für eine selbstreflexive Konfliktvorbeugung argumentiert,
womit zum einen gemeint ist, dass sich Friedens- und Konfliktforschende ihre eigene Rolle
bei der Generierung von handlungsleitendem Wissen bewusst machen und diese kritisch
reflektieren müssen. Schließlich beeinflusst die Entscheidung darüber, welche Konflikttheo-
rie plausibel oder nützlich erscheint, den Inhalt und den Umfang des Werkzeugkastens zur
Vorbeugung gewaltsamer kollektiver Konfrontationen. Insofern sind Erkenntnisse über die
Entstehung von Konflikten und über die potenziellen Möglichkeiten zur externen Einwir-
kung von hoher Funktionalität, da sie politisches Handeln legitimieren und die begleitenden
Diskurse über Handlungsspielräume und Verantwortung prägen.
Zum anderen setzt selbstreflexive Konfliktvorbeugung bei der Überprüfung der Hand-
lungen von jenen externen staatlichen Akteuren an, die eine gewaltsame Konfrontation in
anderen Staaten verhindern möchten. Denn externe Akteure tragen auf vielfältige Weise
durch ihr Verhalten zur Entstehung und Intensivierung von Konflikten bei, beispielsweise
durch Rüstungsexporte, Strukturanpassungsprogramme oder eine unzureichende Regulie-
rung privater Akteure in einer globalisierten Weltwirtschaft. Mithin bleibt selbst bei Zugrun-
delegen der Prämisse, dass Konfliktprävention vorrangig eine Angelegenheit der von ver-
meintlich innerstaatlichen Konflikten betroffenen Länder sei, zu konstatieren, dass erstens
das eigene Verhalten leichter einer Veränderung zugänglich ist, als dies bei einer externen

128
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

Intervention der Fall ist. Zweitens ist die selbstreflexive Ausrichtung der Konfliktprävention
in der Forschung bislang unterrepräsentiert. Letztendlich wird, drittens, ein nachhaltiger
Frieden ohne eine Veränderung der globalen Rahmenbedingungen in den meisten Fällen nur
schwerlich zu erreichen sein. Demgemäß ist der eigene direkte Beitrag zu einem bestimmten
Konflikt und zu dem diesen begünstigenden globalen Kontext Ausgangspunkt selbstreflexi-
ver Konfliktvorbeugung:

Insofern beginnt Konfliktprävention im Grunde damit, die eigene Politik und jene internationaler
Institutionen auf mögliche konfliktanheizende Wirkungen zu überprüfen. Externe Akteure können
ungewollt zum Ausbruch eines Bürgerkrieges beitragen, zumindest konfliktverschärfend wirken.193

Die Entfaltung der Argumentation für eine selbstreflexive Konfliktvorbeugung erfolgt in drei
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Teilen: Zunächst gibt der erste Teil einen Überblick über das globale Konfliktgeschehen, um
das empirische Feld abzustecken, auf dem sich das Zusammenspiel von Theorie und Hand-
lungsoptionen entfaltet. Im zweiten Teil werden verschiedene Theorien vorgestellt, die den
Anspruch erheben, die Prävalenz und Permanenz gewaltsamer Konflikte zu erklären. Auf
dieser Grundlage werden im dritten Teil eine Reihe ausgewählter Instrumente für die Umset-
zung einer selbstreflexiven Konfliktvorbeugung vorgestellt und eingeordnet.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

14.1 Empirischer Überblick über das globale Konfliktgeschehen

Gewaltsame Konflikte und deren Verhinderung stellen innerhalb der internationalen Gesell-
schaft des 21. Jahrhunderts ein weit verbreitetes und virulentes Problemfeld dar. Trotz des
Aufrufs des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN), António Guterres, zu einer welt-
weiten Waffenruhe angesichts der COVID-Pandemie im April 2020 registrierte das Stock-
holm International Peace Research Institute für das Uppsala Conflict Database Program
(UCDP) im Jahr 2020 so viele Konflikte mit staatlicher Beteiligung wie niemals zuvor seit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs.194 Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als der VN-
Sicherheitsrat und die VN-Generalversammlung bereits im Jahr 2016 das Konzept des sus-
taining peace, das die Konfliktprävention bei der langfristigen Stabilisierung von Frieden
in den Fokus rückt, in einer ‚Zwillingsresolution‘ anerkannt und dabei die Bedeutung der
Beseitigung von tiefer liegenden, strukturellen Konfliktursachen (root causes) betont haben.195
Für die Einordnung des aktuellen globalen Konfliktgeschehens ist die quantitative Erfas-
sung staatsbasierter bewaffneter Konflikte allein jedoch nur von begrenzter Aussagekraft.
Darüber hinaus sollten die Opferzahlen, die Art der Konflikte und die Auswahlkriterien der
Forschungsinstitute mit in die Analyse einbezogen werden. Das UCDP hat für das Jahr 2020
insgesamt 167 Fälle organisierter Gewalt erfasst, darunter 56 mit staatlicher Beteiligung
(state-based armed conflicts), 72 Konflikte zwischen nichts-staatlichen Akteuren (non-state

193
Peter Rudolf, Bürgerkriege und Massenverbrechen verhindern – aber wie? Erträge der Forschung, Berlin 2015, 43.
194
Für diese und die nachfolgenden Daten vgl. Pettersson, Therése [u. a.], „Organized Violence 1989–2020, With
a Special Emphasis on Syria“, Journal of Peace Research 58 (2021) 809–825, hier 810 sowie United Nations
and World Bank, Pathways for Peace: Inclusive Approaches to Preventing Violent Conflict, Washington/DC
2018, 11–37.
195
Vgl. United Nations Security Council, Resolution 2282 (S/RES/2282), 27.4.2016 und United Nations General
Assembly, Review of the United Nations peacebuilding architecture (A/RES/70/262), 27.4.2016.

129
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

conflicts) und 39 einseitige Gewaltanwendungen gegen Zivilpersonen (one-sided violence).


Knapp 60 Prozent der 80.100 Opfer organisierter Gewalt verteilen sich auf die 56 Konflikte
mit staatlicher Beteiligung, ca. 30 Prozent gehen auf das Konto nichtstaatlicher Konflikte.
Insofern wird im Folgenden auch der Schwerpunkt auf die Verhinderung dieser Konfliktfor-
men und nicht auf die Prävention von Massenverbrechen gelegt, auf die die Responsibility
to Protect abzielt.
Für die Zwecke dieses Kapitels wird die Konfliktdefinition des UCDP verwendet, wonach
„[a]n armed conflict is a contested incompatibility that concerns government and/or territory
where the use of armed force between two parties, of which at least one is the government
of a state, results in at least 25 battle-relatetd deaths in one calendar year.“ Entsprechend
der Codierung des UCDP unterteilen sich state-based armed conflicts196 in zwischenstaat-
liche (3), innerstaatliche (28) und internationalisierte innerstaatliche Konflikte (25). Gerade
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die Verdreifachung internationalisierter innerstaatlicher Konflikte zwischen 2012 und 2021


bedeutet eine äußerst problematische Entwicklung, da sich sogenannte proxy wars oftmals
– vor allem aufgrund der komplexen Akteurskonstellation und divergierenden Interessen-
lagen – zu langwierigen gewaltsamen Auseinandersetzungen mit einer hohen Zahl an Opfern
verstetigen.197 Fast 90 Prozent der 49.300 Opfer in Konflikten mit staatlicher Beteiligung
gehen auf das Konto dieser Auseinandersetzungen. Zugleich sei angemerkt, dass die trans-
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und internationalen Dimensionen, der als innerstaatlich eingestuften Konflikte, oftmals nicht
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

hinreichend herausgearbeitet werden. Die Kategorisierung als „innerstaatlich“ ist aufgrund


von grenzüberschreitenden Interdependenzen in der Regel schlicht unhaltbar. Unabhängig
von der Vergrößerung des Anteils an internationalisierten innerstaatlichen Konflikten ist
eine Tendenz erkennbar, wonach bewaffnete Konflikte weltweit im Zeitverlauf immer län-
ger andauern und dementsprechend auch einer nachhaltigen Lösung schwerer zugänglich
sind. Gegenwärtig hält ein Friedensschluss im Durchschnitt nicht länger als sieben Jahre.
Zu Beginn der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts ereignet sich die Mehrzahl der gewalt-
samen Konflikte auf dem afrikanischen und auf dem asiatischen Kontinent. Betroffen sind
Staaten mit einem niedrigen oder mittleren Durchschnittseinkommen, die weit überwiegend
aufgrund ihrer Unfähigkeit zur Bereitstellung öffentlicher Güter der Sicherheit und Wohl-
fahrt als fragile, kollabierende oder gescheiterte Staaten klassifiziert werden können. Viele
Konflikte sind dabei nicht auf das Territorium eines Staates begrenzt, sondern strahlen auf
die benachbarten Gebiete aus. Bewaffnete innerstaatliche Auseinandersetzungen erhöhen
folglich auch das Konfliktrisiko in den Nachbarstaaten.
Natürlich ist die Gesamtheit aller gewaltsamen Todesopfer weltweit sehr viel höher,
als dies durch das UCDP oder vergleichbare Datenbanken ausgewiesen wird. Zum einen
beinhaltet das UCDP nur Konstellationen mit mindestens 25 Todesopfern innerhalb eines
Jahres und berücksichtigt dabei ausschließlich Fälle, die aufgrund der Quellenlage als
bestätigt gelten können. Zum anderen muss ein Gewaltakt einer bestimmten organisier-
ten Gruppe zugeordnet werden können. Interpersonale Gewaltakte, wie die jährlich knapp
16.000 Morde in den USA oder 178 Femizide in Deutschland 2020, fallen durch das Ana-

196
Department of Peace and Conflict Research, UCDP Definition, https://pcr.uu.se/research/ucdp/definitions/#toc-
jump_06957458577005393_9, abgerufen am 15.8.2021.
197
Vgl. stellvertretend Assaf Moghadam und Michel Wyss, „The Political Power of Proxies. Why Nonstate Actors
Use Local Surrogates“, in International Security 44 (2020) Nr. 4, 119–157.

130
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

lyseraster. Dies bedeutet zugleich, dass sich Gewaltprävention nicht in Konfliktprävention


erschöpft und dass jene Gesellschaften, in denen das UCDP keinen gewaltsamen Konflikt
registriert, nicht automatisch als friedlich oder gewaltarm eingestuft werden können. Viel-
mehr ist bereits die Definition von Begriffen wie „Konflikt“ oder „Gewalt“ ausschlaggebend
dafür, welchen Fragestellungen sich die Friedens- und Konfliktforschung überhaupt widmet.
Erst im Anschluss an diese Festlegungen, lassen sich jene Erkenntnisse über Ursachen und
Handlungsempfehlungen gewinnen und kritisch überprüfen, die – bezogen auf den konkre-
ten Untersuchungsgegenstand der gewaltsamen Konflikte – im Zentrum der beiden nach-
folgenden Teile stehen.

14.2 Theorien über die Entstehung gewaltsamer Konflikte


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Theoretische Überlegungen über die Ursachen von gewaltsamen Konflikten haben Auswir-
kungen auf die politische Praxis, denn die subjektive Wahrnehmung von Entstehungs- und
Eskalationsfaktoren ist entscheidend für die Darstellung der Konfliktgenese sowie der Hand-
lungsempfehlungen zur Prävention und De-Eskalation. Jenseits der Aussage, dass „theory
matters“ bleibt jedoch zu konstatieren, dass in der Forschung bislang kein Konsens darü-
ber hergestellt werden konnte, welche Faktoren notwendige und hinreichende Ursachen für
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gewaltsame Konflikte darstellen. Vielmehr weisen die konkurrierenden Erklärungsmuster


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

jeweils für sich genommen eine hohe Plausibilität auf und stehen, ungeachtet aller wissen-
schaftlichen und politischen Konjunkturen, relativ gleichrangig nebeneinander. Mit den im
Folgenden vorgestellten ethnischen, wirtschaftlichen und strukturellen Erklärungsansätzen
werden drei wirkmächtige theoretische Zugänge vorgestellt, die für die Auswahl der Maß-
nahmen zur selbstreflexiven Konfliktvorbeugung im dritten Teil von großer Relevanz sind.
Vorab sei bereits postuliert, dass keines der Explikationsmuster für sich allein genommen
eine generalisierende Erklärungskraft aufweist. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass
multikausale, kontextabhängige Erklärungsansätze sich am ehesten für eine gehaltvolle Ana-
lyse der Konfliktgenese eignen.198

14.2.1 Ethnische Erklärungsansätze

Nach dem Ende des Kalten Krieges mussten neue Ansätze zur Erläuterung und zum Ver-
ständnis vermeintlich innerstaatlicher Konflikte gefunden werden, die als ‚neue Kriege‘ fir-
mierten und einen immer größeren Anteil am globalen Konfliktgeschehen ausmachten. Wur-
den im Zeitalter der Bipolarität noch alle bewaffneten Auseinandersetzungen ideologisch
als Stellvertreterkriege innerhalb der Logik der Großmächterivalität interpretiert, so avan-

198
Für die Argumentation im zweiten Teil vgl. Katharina Pistor, Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum
und Ungleichheit schafft, Berlin 32021; Daniel Peters, Menschenrechtsschutz in der internationalen Gesell-
schaft. Extraterritoriale Staatenpflichten und Responsibility to Protect, Baden-Baden 2020, 251–269 und
307–331; Bhupinder Chimni, „Wesen und Merkmale des gegenwärtigen internationalen Rechts: das Zeitalter
des globalen Imperialismus (1985 bis heute)“, in Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, hrsg. von Karina
Theurer und Wolfgang Kaleck, Bonn 2020, 85–119; United Nations and World Bank, Pathways for Peace …,
109–130; Jolle Demmers, Theories of Violent Conflict. An Introduction, Abingdon 22017; Saskia Sassen, Aus-
grenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft, Frankfurt a. M. 22017; Peter Imbusch,
„Strukturelle Gewalt, Plädoyer für einen unterschätzten Begriff“, Mittelweg 36, 26 (2017) Nr. 3, 28–51.

131
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

cierte in den 1990er-Jahren das Paradigma des ethnic conflict zum prägenden Analyseraster.
Ausgangspunkt dieser Ansätze ist die Beschäftigung mit dem Ursprung und der Bedeutung
von sozialen Identitäten. Diese Identitäten entsprechen verschiedenen sozialen Kategorien
bezüglich des Berufs, der Klassenzugehörigkeit, des Familienstandes, der politischen Akti-
vitäten, der Religionszugehörigkeit und der Herkunft/Nationalität. Während einige dieser
auf begrenzter Mitgliedschaft und spezifischen Inhalten (Charakteristika/Rollenzuschrei-
bungen) beruhenden Dimensionen dynamisch und veränderbar sind, werden die Geschlech-
teridentität sowie die nationale und die ethnische Identität als eher statisch eingestuft.
Gerade dieser letzten, relativ konstanten Dimension wird aus mehrerlei Gründen eine
große Bedeutung bei der Entstehung, Verstetigung und Intensivierung von innerstaatlichen
Konflikten zugesprochen. Erstens sind die Herrschaftsstrukturen in vielen der relativ jungen
Staaten des Globalen Südens nach ethnischen Einteilungen geordnet und Machtteilungsar-
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rangements werden in der Regel zwischen den größten Volksgruppen vereinbart. Gemein-
schaften, die sich benachteiligt fühlen, könnten daher zu den Waffen greifen, um eine stär-
kere Teilhabe an der politischen und wirtschaftlichen Macht zu erzwingen. Zweitens stellen
Minderheiten häufig in bestimmten Teilen eines Landes die Mehrheit und beanspruchen für
dieses Territorium Autonomie von der Zentralregierung oder sogar vollständige staatliche
Souveränität. Diese Gebiete dienen dann als Ausgangspunkt und Rückzugsort für die gewalt-
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same Konfrontation mit der Zentralregierung. Drittens stellt ethnische Polarisierung für ver-
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schiedene Akteure eine politische Strategie dar: Anführer oder ‚Eliten‘ nutzen sie, um sich
Unterstützung und Loyalität zu sichern, während ‚die Masse‘ sie gemäß der Allianztheorie
instrumentalisiert, um beispielsweise lokale Rivalitäten und private Streitigkeiten blutig bei-
zulegen. Darüber hinaus ist Ethnizität und die Berufung auf eine genuine Kultur emotional
aufgeladen und geeignet, sinnstiftend zu wirken, die Gruppensolidarität zu stärken und die
jeweiligen Mitglieder zur Teilnahme an einer gewaltsamen Konfrontation zu mobilisieren.
Zugleich gilt, dass Ethnizität sozial konstruiert ist und dementsprechend auch dekonst-
ruiert werden kann, um die Funktionalität der Anwendung von Gewalt zu markieren, die in
der Durchsetzung partikularer Interessen durch die Vertiefung der Grenzziehungen zwischen
Gruppen besteht. Der enge Zusammenschluss ethnischer Gruppen ist oftmals nicht Ursache,
sondern Folge von Gewalt, da die Gruppe den Einzelnen Schutz bietet. Überdies bleibt fest-
zuhalten, dass ethnische Gruppen de facto keine homogenen Akteure darstellen.
Ethnische Ansätze hatten just in jenem Zeitraum Hochkonjunktur, in dem das durch den
Sieg des Liberalismus herbeigeführte ‚Ende der Geschichte‘ verkündet wurde und Staaten
des Globalen Nordens fallweise Humanitäre Interventionen als ordnungsstiftendes Instru-
ment einsetzten. Dabei wurde die Bedeutung des ethnischen Faktors besonders hervorgeho-
ben und die gewalttätigen Auseinandersetzungen als ‚barbarisch‘ und ‚atavistisch‘ beschrie-
ben, um so die selektive militärische Einmischung in innerstaatliche Konflikte moralisch
und politisch als zivilisierende Missionen im Kontext von Globalisierung und global gover-
nance legitimieren zu können.

14.2.2 Ökonomische Erklärungsansätze

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verlagerte sich der Fokus der Konfliktursachenforschung
von ethnischen und kulturalistischen Erklärungsmodellen auf ökonomische Ansätze. Der
Diskurs wurde maßgeblich entlang der Greed-versus-grievance-Dichotomie geführt. Das

132
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

Greed-Modell beschreibt Individuen als homo economicus, die sich rational für einen
gewaltsamen Konfliktaustrag entscheiden, wenn sie sich davon eine Maximierung ihres Nut-
zens erwarten. Bewaffnete Konflikte funktionieren hier als Markt, Rebellen tätigen durch
die Teilnahme an Kampfhandlungen eine riskante Investition, die sich durch die Plünderung
von Bodenschätzen und Rohstoffen rentieren kann.
Demgegenüber betonen jene, die das Grievance-Paradigma vertreten, dass das Ausmaß
der wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Gruppen einen entschei-
denden Indikator für den Ausbruch eines bewaffneten Konflikts abbildet. Wobei als Initia-
toren kollektiver Gewaltanwendung auch die privilegierten Bevölkerungsschichten infrage
kommen, die nicht bereit sind, ihren (relativen) Reichtum mit der breiten Masse zu teilen.
Die Wahrscheinlichkeit für eine gewaltsame Konfliktaustragung erhöht sich gemäß dem
Grievance-Erklärungsmuster, wenn die staatlichen Strukturen und Handlungsmöglichkeiten
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schwach und damit die Opportunitätskosten für die gewaltanwendenden Akteure niedrig sind:

Poverty, specifically as sensitized by relative deprivation, creates the conditions out of which
conflict can grow, state incapacity, from weakness through failure to outright collapse, creates the
conditions out of which poverty and deprivation can grow. The causal chain can apply to the entire
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state or to neglected regions, producing different types of conflict. […] The state weakness creates
an open space for those who would fill the vacuum; the deprivation gives them a cause to do so.199
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Während der analytische Mehrwert eines vorrangig auf individueller Gier basierenden
Argumentationsmusters vor allem aufgrund seines unterkomplexen Verständnisses mensch-
licher Rationalität und der Entpolitisierung gesellschaftlicher Konflikte in der Forschung
mehrheitlich angezweifelt wird, erfreut sich der maßgeblich von Paul Collier entwickelte
theoretische Zugang bei Fachpersonal von Regierungen und internationalen Organisationen
weiterhin großer Beliebtheit. Dies ist kein Zufall, schließlich entstand das Paradigma exakt
in der Phase, in der die negativen Wirkungen der von internationalen Finanzinstitutionen
auferlegten Strukturanpassungsprogramme auf die staatlichen Fähigkeiten zur Bereitstel-
lung öffentlicher Güter zunehmend kritisiert wurden. Insofern erlaubt es die Figur des ‚gie-
rigen‘ Rebellen, die Konfliktursachen auf die individuelle und auf die innerstaatliche Ebene
zu begrenzen und so strukturelle und politische Faktoren sowie die Handlungen externer
Akteure auszuklammern. Vielmehr wird die Einmischung, Kontrolle und Überwachung der
nationalen Regierungen und der lokalen Akteure durch Global-governance-Institutionen als
notwendig angesehen, um potenzielle, durch die Handlungen nutzenmaximierender Indi-
viduen verursachte Schäden zu minimieren und gleichzeitig eine gute Regierungsführung
(good governance) zu etablieren.
Hingegen wird die Aussagekraft jener Erklärungsmodelle, die die kollektiven Klagen
über gesellschaftliche Missstände (grievances) als zentrale Ursache für die Entstehung und
Radikalisierung innerstaatlicher Konflikte ausweisen, in der Forschung weithin anerkannt.
Relative Deprivation beziehungsweise die als solche empfundene horizontale wirtschaft-
liche Ungleichheit erhöht das Konfliktrisiko – dies gilt umso stärker, wenn sie intersektional
mit horizontalen Ungleichheiten auf sozialer, politischer und/oder kultureller Ebene verbun-

199
I. William Zartman, „Need, Creed and Greed in Intrastate Conflict“, in Rethinking the Economics of War: The Inter-
section of Need, Creed and Greed, hrsg. von Cynthia Arnson und ders., Washington/DC 2005, 256–284, hier 266f.

133
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

den ist. Gleichwohl ist zu beachten, dass multidimensionale horizontale Ungleichheiten und
Ausgrenzungserfahrungen zwar häufig sowohl die Hintergrundstruktur als auch eine moti-
vationale Grundlage innerstaatlicher Konflikte abbilden. Die Initiierung eines gewaltsamen
Aufstandes hängt jedoch von weiteren Faktoren wie der Größe der Gruppe, der Höhe des
Bruttoinlandsproduktes (BIP), den Bemühungen des Staates zur Abmilderung der Ungleich-
heiten sowie der Stärke des staatlichen Repressionsapparates ab. Im Gegensatz zu Colliers
akteurszentriertem Greed-Ansatz erlaubt es das Konstrukt der horizontalen Ungleichheit
indes, Gruppenprozesse und strukturelle Faktoren stärker in die Analyse miteinzubeziehen.
Letztere bilden den Kern struktureller Erklärungsansätze.

14.2.3 Strukturelle Erklärungsansätze


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Im Gegensatz zu akteurszentrierten Erklärungsansätzen wie der Elitentheorie, Theorien der


sozialen Identität oder dem Greed-Modell behaupten strukturelle Ansätze, dass menschliches
Handeln maßgeblich durch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrundbe-
dingungen ermöglicht, begründet und beschränkt wird. Insofern seien innergesellschaftliche
und grenzüberschreitende Strukturen – also die formellen und informellen Regeln, die das
gesellschaftliche Zusammenleben ordnen – entscheidend, um individuelles und kollektives
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Verhalten, wie das Initiieren eines gewaltsamen Konflikts oder die Teilnahme an diesem,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nachvollziehen zu können. Strukturelle Ansätze während des Kalten Krieges rekurrierten


schwerpunktmäßig auf den Großmächtegegensatz, der sich weltweit in Stellvertreterkriegen
manifestierte, oder auf kulturalistisch geprägte Annahmen über Mythen und Narrative, die
ethnische Gewalt legitimieren und als notwendig beziehungsweise unvermeidbar erscheinen
lassen. Daneben hat sich seit Ende der 1960er-Jahre mit Johan Galtungs Konzept der struk-
turellen Gewalt ein weiterer strukturalistischer Erklärungsansatz etabliert, dessen Innovation
darin bestand, dass der Ausbruch blutiger Konflikte auf die Gewalt innerhalb der Strukturen
zurückgeführt wird.
Strukturelle Gewalt in der Definition von Galtung ist ein Synonym für soziale Ungerech-
tigkeit und umfasst damit auch jene Formen des massenhaften Elends und Sterbens, die auf
Nahrungsunsicherheit, prekäre gesundheitliche Versorgung, mangelndem Zugang zu Was-
ser und so weiter zurückzuführen sind. Global betrachtet fordert strukturelle Gewalt mehr
Todesopfer, als dies durch die unmittelbare (direkte) Zufügung physischer Gewalt der Fall
ist. Die oben genannten Formen struktureller Gewalt sind nicht so deutlich erkennbar wie
physische Gewalthandlungen, sie wirken latent und längerfristig und können nicht eindeutig
auf einen Verursacher zurückgeführt werden. Da sie jedoch durch die Nichterfüllung selbst
der grundlegendsten Bedürfnisse einen vergleichbaren Effekt auf den menschlichen Körper
und die menschliche Psyche ausüben wie schwerste Akte direkter Gewaltanwendung, sind
sie für sich genommen als ein problematischer Zustand zu begreifen. Denn bei struktureller
Gewalt handelt es sich um vermeidbare Schädigungen, die auf die ungleiche Distribution
von Machtressourcen und Lebenschancen zurückzuführen sind – auf Systeme, die basale
Menschenrechte wie die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Nahrung, Wasser
und Gesundheit tangieren und für deren konkrete Ausgestaltung Menschen verantwortlich
sind. Zugleich begünstigen strukturelle Konfliktfaktoren auf vielfältige Weise das Ausüben
physischer Gewalt, sowohl kollektiv innerhalb von bewaffneten Konflikten als auch auf

134
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

interpersonaler Ebene (Morde, Femizide), da sie die Hintergrundstruktur oder den Nähr-
boden für diese sichtbareren Formen von Gewalt abbilden.
Besonders deutlich lassen sich diese Zusammenhänge anhand von Strukturanpassungs-
programmen und der Praxis des land grabbing veranschaulichen. Durch die vom Internatio-
nalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank verstärkt seit den 1980er-Jahren verordneten
Programme wurden Kreditnehmerländer verpflichtet, die Staatsausgaben zu senken, Arbeits-
und Finanzmärkte zu deregulieren, den Handel zu liberalisieren und staatliche Unternehmen
zu privatisieren. Unter anderem durch die Streichung von Lebensmittelsubventionen, die
Kürzung von Sozialausgaben, die Entlassung von Angestellten aus Staatsbetrieben sowie
die Senkung von Löhnen und die Anhebung von Verbrauchsteuern trugen diese Programme
in vielen Ländern dazu bei, Armut und Ungleichheit zu vertiefen und begünstigten damit
zugleich in mehrfacher Hinsicht den Ausbruch gewaltsamer Konflikte: Da die staatlichen
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Kapazitäten zur Bereitstellung öffentlicher Güter der Sicherheit und Wohlfahrt durch die
Einsparmaßnahmen reduziert wurden, stieg zum einen die aus der relativen Deprivation
resultierende Motivation zur Teilnahme an Protesten für einen anwachsenden Teil der Bevöl-
kerung. Zum anderen verstärkte oder schuf die Schwächung der Staatsgewalt die Gelegen-
heitsstrukturen für bewaffnete Aufstände, die nicht selten als Folge aus der sich wechsel-
seitig verstärkenden Eskalation von gesellschaftlichen Protesten und staatlicher Repression
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hervorgingen.
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Die seit der Jahrtausendwende zu beobachtende Ausweitung der Praxis des land grab-
bing, bei der ausländische Investoren fruchtbares Land kaufen oder pachten, um Agrar-
erzeugnisse für den Export anzubauen, ist auch auf die Effekte von Strukturanpassungs-
programmen zurückzuführen, die die finanziellen Handlungsspielräume der Regierungen
eingeschränkt und externen Akteuren (Staaten, internationalen Organisationen und Unter-
nehmen/Investoren) den Zugang zu den Volkswirtschaften der Schuldnerstaaten eröffnet
haben. Die Gesamtsumme der Anbauflächen, die weltweit an ausländische Investoren
übereignet wurden, beträgt laut der zivilgesellschaftlichen Initiative LandMatrix inzwi-
schen etwa 690.000 Quadratkilometer, also fast die doppelte Fläche der Bundesrepublik
Deutschland. Land grabbing findet weit überwiegend in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern statt, die ohnehin schon in drei von vier Fällen mehr Nahrungsmittel aus dem Ausland
beziehen, als sie in andere Länder exportieren. Ausländische Agrarinvestitionen können die
Ernährungsunsicherheit in den Zielstaaten verstärken und darüber hinaus zur Vertreibung
der angestammten Bevölkerung führen. Ernährungsunsicherheit hat für sich genommen
bereits diverse negative Effekte für die menschliche Existenz und die Entfaltung individuel-
ler Potenziale. Darüber hinaus kann sie zu politischer Instabilität und sogar zum Ausbruch
gewaltsamer Konflikte beitragen, wie die auf steigende Nahrungsmittelpreise zurückzufüh-
renden Hungerrevolten des Jahres 2008 in über 40 Staaten bestätigten.
Sowohl die Umstrukturierungsprogramme auf der Basis von Vorgaben internationaler
Finanzinstitutionen als auch die Akkumulation von Land durch ausländische Investoren
stellen laut Saskia Sassen Beispiele für komplexe Ausgrenzungsprozesse dar, die sich zu
einer brutalen Form des ‚Aussortierens‘ innerhalb der globalisierten Wirtschaftsordnung
des 21. Jahrhunderts summieren. Bei der Beantwortung der Frage, wie Komplexität diese
Brutalität hervorbringt, verweisen unter anderem Saskia Sassen und Katharina Pistor ganz
wesentlich auf das Instrument des Rechts, das strukturell die Entfesselung von Märkten, die

135
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Landnahme durch Investoren und den Rückbau der staatlichen Rahmenbedingungen ermög-
licht und forciert habe.
Am schärfsten werden die Entrechtlichung und Entpolitisierung durch das Recht wohl
von den Theoretikern/Theoretikerinnen dekolonialer Rechtskritiken vorgetragen. Aus dieser
Perspektive habe die internationale Rechtsetzung seit dem einsetzenden Imperialismus im
16. Jahrhundert die Funktion eines Werkzeugs zur Unterdrückung und Ausbeutung von sub-
alternen Gruppen des Globalen Südens erfüllt. Dieser Aufgabe komme das Recht auch im
Zeitalter der Globalisierung auf mannigfaltige Weise nach: So habe die Liberalisierung des
Kapitalverkehrs die weitgehend un- oder unterregulierte Vorherrschaft des internationalen
Finanzkapitals ermöglicht. Freihandels- und Investitionsschutzabkommen hätten (transna-
tionalen) Unternehmen den Status eines partiellen Völkerrechtssubjekts eingebracht, das
gegen Staaten vor internationalen Schiedsgerichten eigene Ansprüche durchsetzen könne,
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ohne selbst durch völkerrechtliche Pflichten belastet zu werden. Durch globales Recht
geschaffene und ermächtigte internationale Organisationen wie der IWF, die Weltbank oder
auch die Welthandelsorganisation (WTO) seien als zentraler Treiber der Handelsliberalisie-
rung in Erscheinung getreten, ohne dabei die Anliegen des Globalen Südens angemessen
zu berücksichtigen, wie das Scheitern der Doha-Entwicklungsrunde der WTO zuletzt nach-
drücklich gezeigt habe.
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Anknüpfend an die Diagnosen und Postulate der in diesem Abschnitt skizzierten struk-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

turellen Ansätze, ist es im Sinne einer selbstreflexiven Konfliktvorbeugung konstruktiv, die


Relevanz von Menschenrechtsverletzungen bei der Etablierung jener Hintergrundstrukturen
zu betonen, die den Ausbruch gewaltsamer Konflikte begünstigen – auch wenn es angesichts
der Komplexität der globalisierten Wirtschaft und des Geflechts globaler Ordnungspolitik
oftmals schwierig ist, konkrete Verantwortungsketten für die mit diesen Strukturen einher-
gehenden Menschenrechtsverletzungen zu rekonstruieren:

The fundamental contradictions in the structures of the modern state system, capitalism and global
governance produce incompetent states that cannot accommodate needs and demands from society.
This is the basic problem underlying contexts of instability and expulsion, which then translate into
identity conflicts, network wars and social control states.200

Zugleich sei darauf hingewiesen, dass strukturbasierte Ansätze nicht erklären können,
warum in dem einem Fall gesellschaftliche Konflikte einen gewaltsamen Verlauf nehmen
und in einem anderen Fall nicht. Strukturen allein können die Ursachen für die Entstehung
bewaffneter Konflikte nicht in ihrer Gesamtheit abbilden und erklären. Vielmehr ist es unab-
dingbar, das Wechselspiel zwischen Agierenden, die innerhalb von konkreten Regelungssys-
temen handeln, und den Strukturen, die die Handlungsspielräume der Individuen umreißen,
aber zugleich auch durch Letztere modifiziert werden können, auszuleuchten und zu inter-
pretieren. Darüber hinaus sollte die Integration struktureller Faktoren in die Konfliktanalyse
nicht dazu führen, dass sich machtvolle Agierende hinter diesen verstecken können, um die
Verantwortung für ihre eigenen Handlungen kleinzureden oder zu negieren. Die im zweiten
Teil entfaltete Trias an theoretischen Zugängen wird im Folgenden zur Bestandsaufnahme
verschiedener Handlungsoptionen einer selbstreflexiven Konfliktvorbeugung herangezogen.

200
Demmers, Theories of Violent Conflict …, 81.

136
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

14.3 Handlungsoptionen selbstreflexiver Konfliktvorbeugung

Aus diesem kursorischen Überblick über einige wirkmächtige Erklärungsansätze für die
Entstehung gewaltsamer Konflikte ergeben sich für die Zusammenstellung eines Inventars
an Handlungsoptionen der Konfliktprävention vor allem zwei wesentliche Kalamitäten:
Zum einen hat sich in der Konfliktforschung keine generalisierende Theorie herausgebil-
det, die auf jeden Konflikt anwendbar wäre und aus der entsprechende Handlungsanwei-
sungen für externe Akteure abgeleitet werden könnten. Die theoretischen Ansätze können
zwar zu umfassenden Ansätzen wie Azars Theorie langwieriger sozialer Konflikte oder das
von Ramsbotham, Woodhouse und Miall entwickelte interpretative Rahmenkonzept für
transnationale Konflikte verknüpft werden,201 jedoch müssen auch bei diesen elaborierten
Zugängen kontextsensitive Gewichtungen und Prioritätensetzungen vorgenommen werden.
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Insofern bleibt der Befund gültig, dass die Wahl des Erklärungsansatzes und die Priorisie-
rung bestimmter Konfliktfaktoren das Set an erfolgsversprechenden Maßnahmen zur Ver-
hinderung und Eindämmung eines gewaltsamen Konfliktaustrags entscheidend beeinflussen.
Solange diese Wahl anhand empirischer Daten und beobachtbarer Zusammenhänge begrün-
det wird, ist dieses Vorgehen vertretbar und im Grunde genommen sogar alternativlos. Im
Gegensatz dazu ist One-size-fits all-Ansätzen, die monokausale Ursachen und vermeintlich
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einfache Lösungswege postulieren, mit Skepsis zu begegnen, da sie der Diversität und Viel-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

schichtigkeit bewaffneter Konflikte nicht Rechnung tragen. So blenden akteurszentrierte


Ansätze, die sich auf die innerstaatlichen Gründe für Gewalt konzentrieren, die mannig-
faltigen strukturellen Wirkzusammenhänge auf regionaler und globaler Ebene aus, die die
Hintergrundbedingungen bewaffneter Konflikte maßgeblich mitgestalten.
Zweitens ist es eine Illusion, dass nur die tatsächlichen Konfliktursachen erkannt werden
müssten, um dann mit externen Maßnahmen einen Konfliktausbruch verhindern zu können.
Vielmehr zeigt die Forschung lediglich evidenzbasierte Korrelationen auf, vermeidet dabei
aber die Behauptung kausaler Zusammenhänge oder gar deterministischer Aussagen. Ent-
sprechend schwierig ist es, die Bedingungen für einen wahrscheinlichen Konfliktausbruch
benennen und den Entscheidungsträgern ein Set an wirkungsvollen Instrumentarien an die
Hand geben zu können. Letztendlich sind die Entstehungsvoraussetzungen gewaltsamer
Konflikte multikausal und komplex und die Interventionsmöglichkeiten externer Akteure
begrenzt. Angesichts der desaströsen Folgen gewaltsamer gesellschaftlicher Auseinander-
setzungen ist Untätigkeit jedoch keine gangbare Alternative. Stattdessen sollten externe
Akteure jene Handlungen stärker in den Fokus der Konfliktprävention rücken, durch die
sie selbst die Hintergrundstrukturen mitgestalten. Durch die stärkere Hinwendung zu einer
selbstreflexiven Konfliktvorbeugung, die davon ausgeht, dass es leichter ist, eigene Hand-
lungsmuster zu modifizieren als das Verhalten anderer Akteure von außen zu beeinflussen,
werden nicht mehr nur Symptome behandelt, sondern die Beseitigung der tieferliegenden
Ursachen von gewaltsamen Konflikten angestrebt.
Der Werkzeugkasten der Konfliktprävention wird generell nach direkten und strukturellen
Maßnahmen separiert, die auf verschiedenen Ebenen (Individuum, gesellschaftliche Grup-

201
Vgl. Oliver Ramsbotham [u. a.], Contemporary Conflict Resolution. The Prevention, management and trans-
formation of deadly conflicts, Cambridge 42016, 120–135; Edward Azar, The Management of Protracted Social
Conflict: Theory and Cases, Aldershot 1990.

137
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

pen, Staat, Region, global) Anwendung finden. Im Folgenden werden einige Instrumente der
Konfliktprävention vorgestellt, bei denen die Erwartung gerechtfertigt erscheint, dass sie
– zumal nach einer Neuausrichtung innerhalb eines reflexiven Konfliktpräventionsansatzes –
effektiv wirken. Im Rahmen der reflexiven Konfliktvorbeugung wird der Schwerpunkt auf
strukturelle Maßnahmen gelegt, deren Relevanz zwar deklaratorisch durch die Sustainable
Development Goals und das eingangs erwähnte Konzept des sustainig peace anerkannt wird,
deren Implementierung bislang jedoch nur unzureichend in Angriff genommen wurde.

14.3.1 Maßnahmen der direkten Konfliktprävention

Während strukturelle Konfliktprävention langfristig und kontinuierlich angelegt ist, um


Gewaltkonflikte gar nicht erst entstehen oder neu aufflammen zu lassen, zielt direkte Kon-
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fliktprävention auf die Verhinderung der gewaltsamen Eskalation manifester Krisensitua-


tionen ab. Dementsprechend werden die Maßnahmen direkter beziehungsweise operativer
Konfliktprävention kurzfristig appliziert und reichen von weniger invasiven Mitteln, wie
Mediation, Gewährung humanitärer Hilfe und der Setzung konditionierter Anreize, über
Sanktionen und die Unterstützung des gewaltlosen Widerstands bis hin zur Entsendung von
peacekeeper.202
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In der Forschungsliteratur wird die Wirksamkeit der externen Unterstützung von gewalt-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

losem Widerstand überwiegend positiv bewertet. Zum einen ist es unter dem Aspekt der
Konfliktprävention kontraproduktiv, bewaffnete Widerstandsgruppen zu unterstützen und
so weiter an der Eskalationsspirale zu drehen. Zum anderen sind die Erfolgschancen von
gewaltlosem Widerstand größer als bei bewaffneten Aufständen. Insofern kann die Unter-
stützung der gewaltfreien Widerstandsgruppen deeskalierend wirken, wohingegen gewalt-
same Umsturzversuche häufig in instabile Verhältnisse oder Bürgerkriege münden.
Hingegen ist die Effektivität von Sanktionen im Hinblick auf die Verhinderung von
Gewalthandlungen eher umstritten. Zwar können Sanktionen durchaus Wirksamkeit ent-
falten, wenn sie als ein Element einer langfristigen Konfliktlösungsstrategie frühzeitig von
möglichst vielen Staaten durchgesetzt werden und sie entweder auf einen eng umfassten
Personenkreis (zum Beispiel Reiseverbote, Einfrieren der Vermögen) oder auf ein Sach-
gebiet (zum Beispiel Waffenembargo) begrenzt sind. Allerdings können selbst ‚smarte‘
Sanktionen die Menschenrechtssituation in dem Zielland verschlechtern, wenn die sanktio-
nierten Akteure beispielsweise aufgrund der eingefrorenen Konten ihre Funktion innerhalb
der nationalen Wirtschaftskreisläufe nicht mehr wahrnehmen können oder wenn autokrati-
sche Herrscher die Sanktionierung als einseitige Parteinahme interpretieren, auf die sie mit
einer Intensivierung der Repressionen gegen die Bevölkerung reagieren, um potenzielle
Aufstände im Keim zu ersticken.
Unter den operativen Maßnahmen der Konfliktprävention sind die Friedenssicherungs-
einsätze der VN am kostspieligsten und aufwändigsten. Trotz einer gemischten Bilanz kann
auf sie als letztes Mittel nicht verzichtet werden, wenn es darum geht, gewaltsame Konflikte

202
Für die folgenden Ausführungen vgl. Peters, Menschenrechtsschutz in der internationalen Gesellschaft …,
220–227 und 234–248; Lisa Hultman [u. a.] Peacekeeping in the Midst of War, Oxford 2019, 91–101 und
121–131; Ramsbotham [u. a.], Contemporary Conflict Resolution …, 144–198; Rudolf, Bürgerkriege und Mas-
senverbrechen verhindern – aber wie? ..., 28–36.

138
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

zu verhindern oder einzudämmen. Die gewaltvorbeugende Entsendung der Präventivein-


satztruppe der VN nach Mazedonien im Jahr 1995 stellt jedoch eine absolute Ausnahme
dar, denn in aller Regel werden die peacekeeper entweder in einen laufenden oder in einen
gerade beendeten bewaffneten Konflikt entsandt. Unter der Voraussetzung, dass die Frie-
densmissionen angemessen ausgestattet werden, können sie durchaus auch zu diesen Zeit-
punkten gewaltverhindernde Effekte erzielen, indem peacekeeper beispielsweise als Puffer
zwischen den Konfliktparteien agieren, Zivilpersonen schützen und Konfliktparteien demo-
bilisieren oder indem die Polizeikomponente bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen
Sicherheit unterstützt und vertrauensbildende Maßnahmen zwischen der Zivilbevölkerung
und den lokalen Sicherheitskräften begleitet. Damit dies gelingt, müssen die Friedensmis-
sionen indes mit einem robusten Mandat versehen, mit angemessenen Ressourcen sowohl in
personeller als auch in materieller Hinsicht ausgestattet und mit der Zustimmung möglichst
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aller Konfliktparteien entsandt werden. Diese Bedingungen sind gegenwärtig bei verschie-
denen Missionen auf dem afrikanischen Kontinent nicht erfüllt, wobei zwei wesentliche
Probleme darin bestehen, dass die peacekeeper aufgrund des offensiven Vorgehens gegen
Rebellen und Terroristen selbst als Konfliktpartei wahrgenommen werden und die Staaten
des Globalen Nordens sich personell weitestgehend aus multilateralen Missionen der VN
zurückgezogen haben.
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Ein Großteil der Maßnahmen direkter Konfliktprävention konzentriert sich auf einige
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

wenige Konflikte, die sich entweder in direkter Nachbarschaft der Staaten des Globalen
Nordens ereignen oder in denen diese ihre eigenen vitalen Interessen tangiert sehen. Dieses
selektive Vorgehen – das auch auf das hier nicht weiter diskutierte Instrument der Mediation
zutrifft – ist aufgrund der begrenzten eigenen Ressourcen unvermeidlich. Dennoch muss das
Vorgehen von Staaten des Globalen Nordens schon dahingehend hinterfragt werden, ob die
zur Verfügung stehenden Mittel sinnvoll eingesetzt wurden und ob Mediationsbemühungen
sowie die Unterstützung gewaltfreier Widerstandsbewegungen und multilateraler Friedens-
missionen substanzieller und kontinuierlicher hätten verfolgt und ob die eigene Bindung an
multilaterale Sanktionen konsequenter hätte eingehalten werden können. Ähnlich gelagerte
Überlegungen sind im Folgenden auch für die Entwicklungszusammenarbeit als Maßnahme
der strukturellen Konfliktprävention auf staatlicher Ebene anzustellen.

14.3.2 Strukturelle Konfliktprävention I: Staatliche Ebene203

Externe Akteure nehmen über verschiedene Instrumente Einfluss auf die innerstaatlichen
Strukturen konfliktbelasteter Staaten, wobei unter Strukturen die gemeinschaftlichen Regeln
zu verstehen sind, über die Machtressourcen und Lebenschancen zugeordnet werden und
durch deren Beachtung sich das soziale System reproduziert. Eines dieser Instrumente ist
die Entwicklungszusammenarbeit, die zum einen eurozentristisch geprägt ist, da ihr die
Annahme zugrunde liegt, dass der ‚entwickelte‘ Norden über Problemlösungskompetenzen
verfügt, um die gesellschaftlichen Dysfunktionalitäten im ‚unterentwickelten‘ Süden zumin-
dest abzuschwächen. Dieses Ziel soll durch den Transfer von Wissen, Technologie und Kapi-
tal erreicht werden. Zum anderen ist die Entwicklungszusammenarbeit ein ­strategisches Feld

203
Für die nachfolgen Ausführungen vgl. United Nations and World Bank Group, Pathways for Peace …, 49–108;
Peter Rudolf, Bürgerkriege und Massenverbrechen verhindern – aber wie? ..., 28–42.

139
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Entsprechend vielfältig sind die Interessen
und Motive, die von der (geo-)politisch motivierten Unterstützung befreundeter Staaten über
die Begünstigung der eigenen Wirtschaft durch die Finanzierung von Projekten im Ausland
bis hin zur Förderung von Entwicklung und Menschenrechten und damit zur Beseitigung
von Konfliktursachen durch die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Zielstaaten rei-
chen und die sich insofern auch in der Auswahl der Partnerländer und der konkreten Projekte
vor Ort niederschlagen.
Entwicklungszusammenarbeit kann potenziell zumindest dann als Instrument der Kon-
fliktprävention wirken, wenn es gelingt, die Lebensverhältnisse im Partnerstaat zu verbes-
sern, wirtschaftliches Wachstum zu forcieren und bestehende Ungleichheiten zumindest
nicht weiter zu vergrößern. Durch die Zusage, 0,7 Prozent des BIP in die Entwicklungszu-
sammenarbeit und die Umsetzung nachhaltiger Entwicklungsprojekte zu investieren, könnte
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idealerweise eine graduelle Annäherung des wirtschaftlichen Niveaus im globalen Maßstab


erreicht werden. Demgegenüber steht der Befund, dass Entwicklungsgelder zu Verteilungs-
konflikten zwischen Eliten beitragen und zudem Anreize für Aufstände liefern können. Dies
ist vor allem dann der Fall, wenn die Projektgelder einen großen Anteil am BIP ausmachen
und/oder der Staat von diesen finanziellen Zuwendungen abhängig ist. Darüber hinaus sollte
nicht übersehen werden, dass die weltweiten Entwicklungsaufwendungen nur etwa 20 Pro-
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zent der Summe ausmachen, die in Form von Gewinnabflüssen, Zinsaufwendungen und
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Steuerflucht vom Globalen Süden in den Globalen Norden transferiert wird.


Dieser Befund führt zu einer weiteren Maßnahme der strukturellen Konfliktprävention,
nämlich der Gewährung von konditionierten Krediten. Wie bereits im zweiten Teil ausge-
führt, hat die konditionierte Kreditvergabe durch Internationale Finanzinstitute in mehreren
Staaten zu einer Kürzung von Sozialausgaben, einer Vertiefung der horizontalen Ungleich-
heit, der Schwächung der staatlichen Fähigkeit zur Bereitstellung von öffentlichen Gütern
und damit im Ergebnis zu einer Erhöhung des Konfliktrisikos beigetragen. Daraus ergeben
sich im Hinblick auf die Kreditvergabepraxis öffentlicher Institutionen dreierlei Konse-
quenzen: Erstens sollte die Konditionierung der Kreditvergabe nicht zu einem Rückschritt
bei der Gewährleistung grundlegender Menschenrechte führen, sondern deren progressive
Verwirklichung fördern. Zweitens muss bei der kreditfinanzierten Planung und Durchfüh-
rung von Infra­strukturprojekten darauf geachtet werden, dass weder Menschenrechte ver-
letzt noch Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen befeuert werden. Drittens ist es
unabdingbar, dass die institutionellen Gläubiger das Wohl der Schuldnerstaaten im Blick
behalten und deren Schuldenstand auf einem tragbaren Niveau halten, um so zu verhindern,
dass diese in die sogenannte conflict trap eines schier endlosen Kreislaufs aus sozioöko-
nomischen Problemen und kollektiver Gewalt geraten beziehungsweise in diesem Gewalt-
zyklus gefangen bleiben.
Angesichts des Umstands, dass etwa 90 Prozent der Staaten des Globalen Südens bereits
kritisch verschuldet sind, von denen sich knapp zwei Dutzend in einem teilweisen Zahlungs-
ausfall befinden, erscheint eine Entschuldungsinitiative, der sich sowohl multilaterale und
staatliche als auch private Gläubiger anschließen, unabdingbar. Kurzfristige Stundungen
der Kredite wie die Debt Service Suspension Initiative der G20 während der COVID-Pan-
demie verschaffen den begünstigten Staaten zwar vorübergehend kleinere finanzielle Spiel-
räume, sie sind jedoch nicht geeignet, das grundsätzliche Problem der Überschuldung zu
lösen. Solange viele Staaten des Globalen Südens mehr Geld für Kreditrückzahlungen als

140
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

für Sozialleistungen ausgeben, lassen sich strukturelle Konfliktursachen kaum mittels eige-
ner Ressourcen abmildern, sodass sowohl das Konfliktrisiko als auch die Abhängigkeit von
externer Hilfe hoch bleiben. Angesichts der oben genannten negativen (Neben-)Wirkungen,
die sowohl von der Entwicklungszusammenarbeit als auch von konditionierten Kreditzusa-
gen ausgehen können, erscheint es daher sinnvoll, externe Ressourcen in den Aufbau stabiler
Institutionen zu investieren, um langfristig die Abhängigkeit von externer Unterstützung zu
beseitigen oder zumindest zu verringern.
Dieses Ziel wird maßgeblich durch das postconflict-peacebuilding verfolgt. Aufgrund
der Tatsache, dass die Mehrzahl aller beendeten Konflikte innerhalb von fünf Jahren von
Neuem entflammt, bietet die Phase nach einem Konflikt zugleich ein entscheidendes Zeit-
fenster für die Verhinderung eines Rückfalls in den gewaltsamen Austragungsmodus. Da ein
weiteres Kapitel in diesem Buch der Konfliktnachsorge durch statebuilding gewidmet ist,
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mögen hier einige kursorische Anmerkungen genügen: Erstens verringert die Stationierung
einer multidimensionalen Friedensmission das Risiko eines erneuten Konflikts, entspre-
chend sollten die erforderlichen Ressourcen von der Staatengemeinschaft bereitgestellt und
von Beginn an die Notwendigkeit eines langfristigen Engagements anerkannt werden. Zwei-
tens müssen Friedensabkommen Machtteilungsarrangements beinhalten, die zu einer inklu-
siveren Gesellschaft führen und horizontale Ungleichheiten abschwächen. Da ein Großteil
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aller innerstaatlichen Konflikte entlang von ethnischen Konfliktlinien geführt wird, muss
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

bei der Inklusion gesellschaftlicher Gruppen die ethnische Kategorie angemessen berück-
sichtigt werden, wobei von Fall zu Fall die Gewährung regionaler Autonomie erforderlich
und vereinzelt sogar Sezessionen aufgrund künstlicher Grenzziehungen unausweichlich sein
werden. Um die Akzeptanz der Friedensvereinbarungen und die damit verbundenen Hoff-
nungen auf einen nachhaltigen Frieden zu erhöhen, ist die Teilung der politischen Macht an
Vereinbarungen zur militärischen, wirtschaftlichen und territorialen Machtaufspaltung zu
koppeln. Drittens ist die Reform des Sicherheitssektors entsprechend der Machtteilungs-
arrangements auszugestalten und das Prinzip der lokalen Eigenverantwortlichkeit bei allen
Implementierungsschritten als konstitutiv zu betrachten.

14.3.3 Strukturelle Konfliktprävention II: Globale Ebene204

Anhand der bisherigen Ausführungen über die Instrumente der selbstreflexiven Konfliktvor-
beugung ist bereits deutlich geworden, dass die staatliche und die globale Ebene miteinander
interagieren. Demgemäß werden direkte Maßnahmen wie die Entwicklungszusammenarbeit
oder auch die humanitäre Hilfe vor allem deshalb notwendig, weil Einwirkungsmöglich-
keiten auf der strukturellen Ebene entweder nicht ausreichend genutzt wurden oder – bei-
spielsweise in Form von Strukturanpassungsprogrammen und Freihandelsverträgen – nach-
teilige Effekte auf die konfliktbelasteten Staaten zeitigten. Dabei ist zu betonen, dass diese
Maßnahmen im Einklang mit dem zeitgenössischen internationalen Recht stehen. Wie in
Abschnitt 14.2.3 aufgezeigt, wurde aus der Perspektive dekolonialer Rechtskritik das inter-
nationale Recht maßgeblich durch die mächtige(-re-)n Staaten des Globalen Nordens ent-

204
Für die nachfolgenden Ausführungen vgl. Daniel Peters, „Internationaler Menschenrechtsschutz durch die
Wahrnehmung gestufter Verantwortungen. Verknüpfung der R2P mit der Zuschreibung extraterritorialer
Schutzpflichten“, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 26 (2019) Nr. 1, 28–58, hier 47–53.

141
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

wickelt und auch dazu eingesetzt, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu zementieren


und an neue globale Entwicklungen anzupassen. Dennoch sehen auch viele, die das inter-
nationale Rechtssystem kritisieren, das emanzipatorische Potenzial dieses Instruments, das
gemäß der Idee einer internationalen rule of law zur Stärkung und zum Schutz von subalter-
nen Gruppen eingesetzt werden kann:

Obwohl das internationale Recht einen imperialen Charakter aufweist, unterliegt es den Zwängen
der Logik des Territoriums, den kollektiv artikulierten Ansprüchen der Menschheit und den Kämp-
fen der transnationalen unterdrückten Klassen. Es sind unter anderem diese Faktoren, […] die der
Idee einer internationalen Rule of Law einen Sinn verleihen.205

Anwendungsfelder für eine Verrechtlichung grenzüberschreitender Beziehungen im Sinne


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einer internationalen rule of law gibt es reichlich, beispielsweise das Wirtschafts-, Han-
dels-, und Umweltrecht. Tatsächlich wurden und werden in diesen Bereichen bereits zahl-
reiche Vorstöße vorgenommen, das Instrument des Rechts als Vehikel zur Förderung einer
an der Förderung der Menschenrechte ausgerichteten gerechteren internationalen Ordnung
zu nutzen. So bildet der Grundsatz der besonderen und differenzierten Behandlung (special
and different treatment) im Hinblick auf einen besseren Marktzugang bei Beibehaltung der
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Schutzmöglichkeiten für den heimischen Markt das Kernanliegen der Entwicklungsländer


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

in der Doha-Entwicklungsrunde der Welthandelsorganisation. Diese Verhandlungsrunde


wurde 2001 eingeleitet und gilt, unter anderem aufgrund der kontinuierlichen Ablehnung
von Staaten des Globalen Nordens, einseitige Zugeständnisse zu machen, seit mehreren
Jahren als gescheitert. Die bisherigen Verhandlungsergebnisse sind im Hinblick auf die Prä-
vention gewaltsamer Konflikte unzureichend, da ohne eine Reform der Handelspolitik, die
den Entwicklungsländern gezielt Vorteile einräumt, keine Lösung der Verschuldungskrise zu
erwarten ist und somit die Fähigkeit zur Bereitstellung öffentlicher Güter stagniert oder wei-
ter abnimmt. Weitere rechtliche Instrumente, die Staaten aus dem Kreislauf fehlender Ent-
wicklungspotenziale und schwelender Konflikte herauslösen könnten, werden zwar in Form
von Kodifizierungsbestrebungen staatlicher Insolvenzverfahren und durch Entschuldungs-
programme, die neben staatlichen und multilateralen explizit auch private Gläubiger einbe-
ziehen, in den Diskursen über internationale Handels- und Finanzpolitik ventiliert. Jedoch
bleibt deren Anerkennung und Umsetzung vor allem aufgrund des anhaltenden Widerstands
der Gläubigerstaaten blockiert.
Seit der Rio-Erklärung von 1992 ist das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschied-
lichen Verantwortlichkeiten, wonach das Verursacherprinzip sowie die Reaktionsmöglich-
keiten und Adaptionskapazitäten der einzelnen Staaten in Bezug auf gegenwärtige und
zukünftige Klimaveränderungen bei der Lastenverteilung zur gemeinsamen Bewältigung
der intergenerationalen Aufgabe des Klimaschutzes maßgeblich zu berücksichtigen sind,
integraler Bestandteil des internationalen Umweltrechts. Das Prinzip wurde auch in Art. 2 II
des Übereinkommens von Paris (2015) aufgenommen. Zwar besteht ein genereller Konsens
in der Forschungsliteratur darüber, dass die bisherigen Auswirkungen der Klimakrise auf
das weltweite Konfliktgeschehen als eher gering einzustufen sind. Zugleich wird weithin
anerkannt, dass die prognostizierten massiven Klimaveränderungen in den kommenden

205
Chimni, „Wesen und Merkmale des internationalen Rechts …“, 114.

142
14 Selbstreflexive Vorbeugung bewaffneter Konflik

Jahrzehnten die Grundlagen der menschlichen Sicherheit und eines nachhaltigen Friedens
bedrohen. Vor diesem Hintergrund ist die Einhaltung der im Vergleich zu den Entwicklungs-
ländern substanzielleren Verpflichtungen für die Industriestaaten ebenso geboten, wie die
Unterstützung der Staaten des Globalen Südens durch finanzielle Hilfen, den Transfer von
Technologien und Wissen und den Ausbau von Kapazitäten zur Anpassung und zur Redu-
zierung der Treibhausgasemissionen (Mitigation).
Abschließend sei auf die Debatten über extraterritoriale Schutzpflichten für die Mit-
gliedstaaten internationaler Organisationen und für die Heimatstaaten transnationaler
Unternehmen verwiesen, bei denen jeweils die Verpflichtung zur Durchführung von men-
schenrechtlichen Wirkungsanalysen zum einen bei der Vergabe von Krediten und bei der
Durchführung kreditfinanzierter Infrastrukturprojekte sowie zum anderen in Bezug auf die
Praktiken transnationaler Unternehmen im Mittelpunkt steht. Während der Diskurs über die
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Schutzpflichten der Mitgliedstaaten internationaler Organisationen sich bislang ‚nur‘ in soft


law – Richtlinien ohne Rechtsfolgenseite – niedergeschlagen hat, ist der Abschluss eines
völkerrechtlichen Vertrags, der extraterritoriale menschenrechtliche Schutzpflichten für die
Heimatstaaten von Unternehmen fixiert, aufgrund der breiten Unterstützung durch Staa-
ten des Globalen Südens und zivilgesellschaftlicher Allianzen innerhalb der nächsten Jahre
nicht unwahrscheinlich. Diesbezügliche Verhandlungen werden seit 2014 innerhalb einer
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internationalen Arbeitsgruppe (Open-ended Intergovernmental Working Group, OEIGWG)


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

geführt, die im Oktober 2021 bereits den dritten Vertragsentwurf ausgiebig und kontrovers
diskutierte. Eine Verrechtlichung des Themenfeldes Unternehmen und Menschenrechte auf
globaler Ebene könnte dazu beitragen, Konfliktursachen zu reduzieren, die zum Beispiel mit
der Praxis des land grabbing, dem Abbau von Bodenschätzen und Rohstoffen sowie den
Arbeitsbedingungen in Sektoren wie der Textilindustrie in Zusammenhang stehen.
Die obige Zusammenstellung fördert im Wesentlichen zwei Befunde zutage: Zum einen
wurden die Instrumente zur Umsetzung einer internationalen rule of law – maßgenau und
problemadäquat zugeschnitten auf die oben skizzierten Themenfelder – bereits entwickelt.
Insofern scheint es zum anderen mehr der Mangel an politischem Willen und weniger die
Abwesenheit von geeigneten Ideen und konkreten Implementierungswerkzeugen zu sein,
der einer Ausweitung und Verfeinerung der strukturellen Konfliktprävention auf globaler
Ebene und damit auch der Verwirklichung eines selbstreflexiven Präventionsverständnisses
im Wege steht.

Vier vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Jolle Demmers, Theories of Violent Conflict. An Introduction, Abingdon ²2017.


Daniel Peters, Menschenrechtsschutz in der internationalen Gesellschaft. Extraterritoriale
Staatenpflichten und Responsibility to Protect, Baden-Baden 2020.
Oliver Ramsbotham, Tom Woodhouse und Hugh Miall, Contemporary Conflict Resolu-
tion. The Prevention, Management and Transformation of Deadly Conflicts, Cambridge
4
2016, 120–135.
Peter Rudolf, Bürgerkriege und Massenverbrechen verhindern – aber wie? Erträge der
Forschung, Berlin 2015.

143
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

15 Ius ad bellum / Ius in bello / Ius ex bello206

15.1 Gewaltlegitimationskriterien

Nun gilt es, noch einen Schritt weiterzugehen. Beim Leitbild des gerechten Friedens handelt
es sich um ein auf eine positive Zielgröße ausgerichtetes Konzept – das allerdings auch
Gewaltlegitimationskriterien für den Extremfall mitumfasst. Beide sind aufeinander ange-
wiesen. Sie sind zwar nicht mit der positiven Zielgröße gleichberechtigt, aber man kann
auch nicht auf Extremfallkriterien verzichten. Darin besteht der Unterschied zum Bellizis-
mus respektive zum Pazifismus.
Die Friedensethik richtet sich auf ein positives Leitbild aus. Sie zielt darauf, dass es mög-
lichst gar nicht erst zu bewaffneten Konflikten kommt. Wenn sie allerdings ausbrechen, gilt
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innerhalb des Leitbildes des gerechten Friedens, dass Gewalt nur noch im Falle der Vertei-
digung legitim ist, nicht mehr im Falle des Wiedererlangens von Verlorenem/Entschädigung
oder im Falle von Bestrafung.

Besonders umstrittene Fragen


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In diesem Zusammenhang hatten wir – vor dem Hintergrund, dass es klassisch und
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

auch gegenwärtig weithin anerkannt ist, dass sich ein unterdrücktes Volk in Extrem-
fällen gegen einen Tyrannen zur Wehr setzen darf – gesehen, dass hierdurch eine ethisch
unbefriedigende Schutzlücke entstanden ist: Dürfen Außenstehende Unterdrückte nicht
schützen? Die militärische Intervention zu humanitären Zwecken (die nicht verkürzt
humanitäre Intervention genannt werden sollte) ist eine der beiden Herausforderungen,
denen innerhalb dieses Paradigmas legitimer Verteidigung besondere Aufmerksamkeit
zuteilgeworden ist. Die andere ist das Dilemma der Abschreckung: Kann es ethisch
erlaubt sein, mit Waffen abzuschrecken, deren Einsatz ethisch verboten ist? Mit beiden
werden wir uns im vierten Hauptteil eigens auseinandersetzen.

Wenn wir von unserem friedensethischen Leitbild aus zu den Gewaltlegitimationskriterien


übergehen, können wir sie als Coda bezeichnen – als Schwanz/Anhang. Mein Plädoyer ist
diesbezüglich, die Konfliktethik minimalistisch zu konzipieren – oder anders ausgedrückt:
sie möglichst auf den Zeitraum zu konzentrieren, in dem eine Konfliktlösung mit militäri-
schen Mitteln erfolgt. Hierzu benötigen wir das ius ad bellum, das ius in bello und das ius
ex bello. Gerade Letzteres ist zu beachten, weil es nämlich selten explizit thematisiert wird.
Ausführlich sprechen wir zunächst über das ius ad bellum. Es ist auf die Frage ausge-
richtet, ob man in einen bewaffneten Konflikt eintritt oder nicht, und ist wohl das Kernge-
biet der Bellum-iustum-Tradition: Es betrifft einen Bereich kaum verrechtlichter politischer

206
Die Ausrücke ius ad bellum sowie ius in bello haben sich im 20. Jahrhundert etabliert, ius ex bello ist am
Anfang des 21. Jahrhunderts daneben getreten. Die verbreitete Verwendung der ersten beiden auch im gegen-
wärtigen wissenschaftlichen Schrifttum und ihre Griffigkeit sprechen dafür, sie zu nutzen, um je ein bestimmtes
Normenfeld zu bezeichnen. Es ist freilich sehr wichtig, sich dabei bewusst zu sein, dass insbesondere der Aus-
druck ius ad bellum einen Bereich betrifft, der sich im Laufe der Zeit wiederholt gewandelt hat (vgl. Zweiter
Hauptteil, insbesondere Kap. 3 und 11); hier ist damit folglich unser gegenwärtiges Verständnis gemeint, unter
welchen Voraussetzungen das Eintreten in einen bewaffneten Konflikt legitim ist.

144
15 Ius ad bellum / Ius in bello / Ius ex bello

Ethik. Auch heute handelt es sich bei diesbezüglichen Entscheidungen, seien sie von Staaten,
seien sie vom VN-Sicherheitsrat getroffen, um wenig reglementierte politische Erwägungen.
Das ius in bello, das den Verlauf des bewaffneten Konflikts selbst betrifft, ist ebenso Teil
der Ethik, allerdings zwischenzeitlich – man denke an die Friedenskonferenzen in Den Haag
und die Genfer Konventionen – ein stark verrechtlichter. Das heißt zwar nicht, dass die Ethik
in dieser Hinsicht nicht mehr gefragt ist, aber die rechtlichen Konventionen stehen auf poli-
tischer und militärischer Ebene im Vordergrund. Allerdings bleibt immer der rechtsethische
Kernauftrag, zu unterscheiden und zu benennen, welches Recht gilt und welches gelten sollte.
Das ius ex bello, auch ius ad terminationem belli genannt, betrifft schließlich den Aspekt,
wie man aus dem bewaffneten Konflikt wieder herauskommt. Wichtig ist, das ius ex bello
nicht mit dem ius post bellum zu verwechseln. Das ius post bellum wird einem häufiger
begegnen, da es wiederholt zwecks des nach bewaffneten Konflikten zumeist nötigen Wieder-
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aufbaus adressiert wird. Es ist aber wohl Peter Rudolf zuzustimmen, der scharfsinnig darauf
hinweist, dass dies nicht zur sinnvollerweise eng zu fassenden Ethik bewaffneter Konflikte
zu zählen ist, sondern vielmehr zur Friedensethik. In einer solch empfehlenswerten mini-
malistischen Sichtweise ist das ius ex bello das abschließende Pendant zum ius ad bellum.

15.2 Ius ad bellum


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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Wenden wir uns also zunächst den Kriterien des ius ad bellum zu. Es sind in der Regel sechs.
Wir werden zweimal auf das ius ad bellum zu sprechen kommen: jetzt erst einmal allgemein
und dann noch einmal in der speziellen Form für militärische Interventionen zu humanitären
Zwecken.207

Das erste Kriterium ist die „Zuständige Autorität“: Wer darf zu militärischen Mitteln grei-
fen? Das darf, gemäß Kapitel VII VN-Charta, der VN-Sicherheitsrat im Falle der Bedro-
hung oder des Bruchs des internationalen Friedens oder der internationalen Sicherheit; des
Weiteren darf dies zur individuellen oder kollektiven Verteidigung nur ein souveräner Staat,
kein unselbständiges Teilgebilde. Dieses Kriterium ist bei militärischen Interventionen zu
humanitären Zwecken ein aufwändig zu diskutierender Punkt, wenn keine Autorisierung des
VN-Sicherheitsrates vorliegt.

Das zweite Kriterium ist der „Gerechte Grund“. Das ist das sogenannte Schwellenkrite-
rium (threshold criterion). Es muss erfüllt sein, um überhaupt zu einer Situation zu kommen,
in der es zu einer legitimen Gewaltanwendung kommen kann. Systematisch ist es empfeh-
lenswert, bei Erfülltsein des Schwellenkriteriums vom Vorliegen einer Prima-facie-Pflicht
auszugehen. Diese entzieht einerseits das Handeln dem Bereich der bloßen Erlaubtheit, dem
freien Ermessen. Andererseits gilt sie nicht unbedingt, sondern lässt sich durch entgegen-
stehende Erwägungen ausschließen. Die Regierung eines Staates, der von außen angegriffen
wird, hat beispielsweise die Prima-facie-Pflicht die eigene Bevölkerung gegen den Angrei-
fer zu verteidigen. Dies ist im konkreten Fall nicht in ihr Belieben gestellt, es kann aber ent-
gegenstehende Erwägungen geben, die es richtig sein lassen, auf Gegenwehr zu verzichten.

207
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Brian Orend, The Morality of War, Peterborough 22013, 33–64.

145
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Unter den gerechten Grund fallen nach unserem heutigen Verständnis drei Fälle: die Vertei-
digung gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff, der Widerstand des Volkes gegen
eine extreme Tyrannei sowie die militärische Intervention vonseiten Dritter – unumstritten bei
Vorliegen eines Mandats seitens des VN-Sicherheitsrats, umstritten, wenn dies nicht vorliegt.
Erstens. Die Verteidigung bezieht sich auf den Fall eines gegenwärtigen rechtswidrigen
Angriffs. Mitumfasst ist die Verteidigung gegen einen mit moralischer Sicherheit unmittelbar
bevorstehenden Angriff (Präemption). Zum Beispiel können Militärflugzeuge (einschließ-
lich ihrer Flughäfen) eines anderen Staates bereits mit militärischen Mitteln bekämpft wer-
den, noch bevor diese zu ihrem ersten Angriffsflug starten. Die Interpretation von „unmittel-
bar bevorstehend“ ist allerdings sehr missbrauchsanfällig und sollte deshalb restriktiv sein.
Nicht abgedeckt ist hingegen die Prävention, die sich darauf richtet, eine Bedrohung oder
sogar bloß ein Risiko zu beseitigen. Zum Beispiel darf ein Staat nicht militärisch gegen sein
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feindlich gesonnenes Nachbarland vorgehen, weil dieses wirtschaftlich deutlich stärker ist
und aufrüstungsbedingt in wenigen Jahren militärisch nicht mehr abzuwehren wäre. So ist
die Präemption Teil der Verteidigung, die Prävention nicht.
Zweitens. Widerstand darf in zwei typischen Fällen geleistet werden. Zum einen kann
es legitimen Widerstand im Fall der schwerwiegenden Verletzung des Selbstbestimmungs-
rechts einer selbstbestimmungsfähigen Gruppe geben. Problem: Die Frage, ob es sich bei
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einer – etwa seit unvordenklicher Zeit innerhalb eines Staats lebenden – Gruppe um eine
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

selbstbestimmungsfähige handelt, lässt sich manchmal erst ex post beantworten. Eine bei-
spielsweise von einer Kolonialmacht brutal unterdrückte Gruppe, die eine eigene lange
selbständige Tradition hatte, kann hingegen ex ante als selbstbestimmungsfähig angesehen
werden. Wird eine solche selbstbestimmungsfähige Gruppe unterjocht, beherrscht oder aus-
gebeutet, kann sie sich darauf berufen, dass ihr Selbstbestimmungsrecht verletzt ist, und sich
von Unterjochung, Beherrschung oder Ausbeutung befreien.
Zum anderen kann es legitimen Widerstand bei extremer Tyrannei geben. Wenn Völker-
rechtsverbrechen (Völkermord, ethnische Säuberung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit
sowie Kriegsverbrechen in einer Verbreitung beziehungsweise Systematik, wie sie auch für
die Verbrechen gegen die Menschlichkeit erforderlich ist) verübt werden, kann die (auch
nicht selbstbestimmungsfähige) betroffene Bevölkerung gegen die sie begehenden Einheiten
und Strukturen Widerstand leisten.
Drittens. Eine militärische Intervention zu humanitären Zwecken darf vonseiten Dritter
in den beiden vorgenannten Fallkonstellationen erfolgen, in denen auch Widerstand geleis-
tet werden kann: unumstritten bei Vorliegen eines Mandats seitens des VN-Sicherheitsrats
auf der Grundlage seiner polizeiartigen Gewaltlegitimationsbefugnis, umstritten, ohne dass
dies vorliegt. Im letztgenannten Fall ist dann hinsichtlich der Begründung zu unterscheiden.
Im Hinblick auf Unterjochung, Beherrschung oder Ausbeutung einer selbstbestimmungs-
fähigen Gruppe handelt es sich um Nothilfe, im Hinblick auf extreme Tyrannei hingegen
nicht. Viele mögen dies behaupten, doch wäre dies – wegen der Asymmetrie zwischen nicht
selbstbestimmungsfähiger betroffener Bevölkerung und zu Hilfe eilenden Völkerrechtssub-
jekten – ein Ebenenbruch. Vielmehr handelt es sich um einen überpositiven Notstand, bei
dem zwei nicht gleichzeitig zu schützende Rechtsgüter gegeneinander abgewogen werden:
das Gewaltverbot und die elementaren Menschenrechte.
Es existiert auch noch eine ganz andere Fallkonstellation, in der eine Intervention legitim
sein kann: die sogenannte Gegenintervention. Grundsätzlich ist es nicht erlaubt, sich in einen

146
15 Ius ad bellum / Ius in bello / Ius ex bello

Bürgerkrieg einzumischen. Wenn allerdings bereits zugunsten einer Bürgerkriegspartei ein-


gegriffen wurde, kann eine Gegenintervention zugunsten der anderen Partei legitim sein –
nämlich gegen den erfolgten Rechtsbruch.
Wichtig ist schließlich, in Gemengelagen sorgfältig zu unterscheiden: Wenn es in einem
Bürgerkrieg zu Völkerrechtsverbrechen kommt, schließt das bloße Vorliegen einer Bürger-
kriegssituation nicht automatisch eine militärische Intervention zu humanitären Zwecken
nicht aus.

Das dritte Kriterium ist die „Rechte Absicht“. Sie ist nicht leicht präzise zu fassen. Insbeson-
dere müssen wir bedenken, dass es sich heute in aller Regel nicht um die Absicht eines einzel-
nen Entscheidungsträgers handelt, wie einst in Thomas von Aquins Ausführungen, sondern
um von einem politischen Führungskollektiv unterschiedlicher Größe diskursiv bestimmte
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Ziele: Im Mittelpunkt steht(stehen) also das(die) von diesem angestrebte(n) Ziel(e).


Dementsprechend sei also festgehalten, dass die rechte Absicht so zu verstehen ist,
dass sie auf das Beenden des gerechten Grundes ausgerichtet ist. Wer in einen durch einen
gerechten Grund ausgelösten bewaffneten Konflikt eintritt, dessen rechte Absicht muss sich
darauf richten, den bewaffneten Konflikt aufzuheben: Den gerechten Grund zu beenden, ist
das unmittelbare Ziel.
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Wir Menschen handeln allerdings nahezu immer mischmotiviert. Dies ist zu berücksich-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

tigen. Eine Mischmotivation als solche darf es zwar geben. Neben dem unmittelbaren Ziel
können durchaus auch andere Ziele mitverwirklicht werden. Allerdings dürfen mitverwirk-
lichte Ziele das unmittelbare Ziel nicht beschädigen. Ist das aber der Fall, ist das handlungs-
leitende Dominieren der rechten Absicht nicht mehr gegeben, vielmehr ist sie defizitär. Ist
das unmittelbare Ziel sogar aufgehoben, dann ist die rechte Absicht ausgeschlossen.
Hinsichtlich des unmittelbaren Ziels, auf das sich die rechte Absicht richtet, gibt es Evi-
denzindikatoren: Transparenz und Kollektivität. Das heißt, dass darüber gesprochen wird, auf
welches Ziel hin die Intervention erfolgt, und dass mehrere Akteure sie gemeinsam umsetzen.
Wichtig ist allerdings, dass sich die Evidenzindikatoren auf das unmittelbare Ziel beschrän-
ken. Mitverwirklichte Ziele und Mischmotivationen sind davon hingegen nicht erfasst.
Drei Beispiele: 1) In Staat A leiden und sterben Unschuldige durch Völkerrechtsverbre-
chen. Staat B greift dort ein. Nach sechs Monaten sind die Völkerrechtsverbrechen durch
eine den Gewaltlegitimationskriterien entsprechende Intervention beendet. Der Präsident
von Staat B wollte sich dadurch zugleich als fähiger Staatsmann beweisen und wird in der
anstehenden Wiederwahl bestätigt. 2) In Teilen von Staat A leiden und sterben Unschuldige
durch Völkerrechtsverbrechen. Staat B greift dort ein. Nach sechs Monaten sind die Völ-
kerrechtsverbrechen beendet. Der Eingriff wird aber noch zwei Monate lang weitergeführt,
um die Regierung von Staat A auszutauschen. In dieser Zeit leiden und sterben weitere
Unschuldige (das unmittelbare Ziel ist beschädigt; die rechte Absicht ist defizitär). 3) Staat B
versklavt die Bevölkerung in Staat A. Staat C greift ein, um die Versklavung durch Staat B
zu beenden und um die dortige Bevölkerung im eigenen Interesse als Sklaven/Sklavinnen zu
halten (das unmittelbare Ziel ist aufgehoben, die rechte Absicht ausgeschlossen).
Noch einmal in Kürze: Ist das unmittelbare Ziel unbeschädigt, ist das handlungsleitende
Dominieren der rechten Absicht gegeben. Ist das unmittelbare Ziel beschädigt, ist die rechte
Absicht defizitär; ist das unmittelbare Ziel sogar aufgehoben, ist die rechte Absicht ausge-
schlossen.

147
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Die rechte Absicht und die folgenden Kriterien verhalten sich zueinander gewissermaßen
wie Innen- und Außenseite: Defizite der rechten Absicht, erst recht ihr Ausschluss, schlagen
im Nichterfüllen einzelner nachfolgender Kriterien durch.

Das vierte Kriterium ist die Erschöpfung beziehungsweise Aussichtslosigkeit friedlicher


Mittel. Es bezieht sich darauf, nicht zeitlich, sondern logisch zu prüfen, ob sich das unmittel-
bare Ziel auch durch nicht-militärische Zwangsmittel erreichen ließe. Hierbei geht es nicht
darum, ein nicht-militärisches Zwangsmittel nach dem anderen erfolglos auszuprobieren (in
the long run, we are all dead). Vielmehr können einzelne nicht-militärische Zwangsmittel
sowohl im Nachhinein durch Erfahrung das unmittelbare Ziel nicht erreicht haben als auch
im Vorhinein auf der Grundlage einer vernünftigen Prüfung/Erwägung nicht in der Lage
sein, das unmittelbare Ziel zu erreichen.
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Eine an dieser Stelle einzuschiebende Prüfung nicht-militärischer Zwangsmittel erfolgt


innerhalb dieses vierten Punktes in Miniatur anhand der einschlägigen Kriterien (siehe
unten): Sind sie suffizient (= geeignet und erforderlich)? Sind sie proportional (= ange-
messen und keine Gesamtverschlechterung)? Sind sie noch nicht einmal geeignet, kann die
Prüfung militärischer Mittel fortgesetzt werden.
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Hinsichtlich des fünften und sechsten Kriteriums ist es hilfreich, vom Aufbau der in der
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

deutschen Rechtswissenschaft entwickelten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu profitieren


(Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn = Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessen-
heit). Das fünfte Kriterium ist die Suffizienz oder das mildeste sichere Mittel. Es geht um
Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Vorgehens.
Unter der Geeignetheit wird lediglich geprüft, ob mit einem bestimmten Mittel ein Ziel
überhaupt erreicht werden kann. Beispiel: Die luxemburgische Armee kann Völkerrechts-
verbrechen im Sudan nicht beenden und ist daher kein geeignetes Mittel.
Die Erforderlichkeit prüft, ob es im Hinblick auf Umfang, Dauer und Intensität mildere
Mittel gibt, die das unmittelbare Ziel ebenso sicher erreichen können. Beispiel: Um die Küs-
tenwache von Staat A auszuschalten, ist es nicht erforderlich, die Schiffe mittels taktischer
Nuklearwaffen zu versenken.

Das sechste Kriterium ist die Proportionalität oder die Verhältnismäßigkeit. Dieses Krite-
rium ist wohl das komplexeste. Dabei geht es um die Angemessenheit (= Verhältnismäßig-
keit im engeren Sinn) sowie um das Gegenüberstellen von Tun und Unterlassen.
Bei der Angemessenheit wird geprüft, ob – bei einem Vorgehen, das geeignet und erfor-
derlich ist, das also das mildeste mögliche ist, um das Ziel sicher zu erreichen – im Rahmen
einer Gesamtabwägung die direkten Belastungen für Opfer, unbeteiligte Dritte, die Kräfte
der Intervenienten sowie die gegnerischen Kombattanten/Kombattantinnen einerseits in
einem vernünftigen Verhältnis zum gerechten Grund, zu dem zu beendenden Übel anderer-
seits stehen. Diese Erörterung ist nicht binär, nicht schwarz oder weiß. Es handelt sich um
eine Argumentationsfrage, um eine Frage der Evidenz der vorgenommenen Überlegungen
im Hinblick auf erstrebenswerte Verhaltensweisen und gegeneinander abzuwägende Güter.
Beispiel: Der Völkermord an einer Gruppe von einer Million Menschen in einem Land
mit zehn Millionen Einwohnern/Einwohnerinnen wird anderes angemessen erscheinen las-
sen als die systematische Tötung Dutzender friedlicher Demonstranten/Demonstrantinnen

148
15 Ius ad bellum / Ius in bello / Ius ex bello

bei fortgesetzten Protesten von einer Million Menschen in demselben Land. Eine für das
Beenden der stattfindenden Völkerrechtsverbrechen geeignete und erforderliche militärische
Intervention zu humanitären Zwecken, die jeweils 100 Kollateralopfer, 50 Gefallene bei den
Intervenienten und 500 Tote bei den Konfliktgegnern verursachen würde, würde im Rahmen
einer Gesamtabwägung der beiden Fälle hinsichtlich der Angemessenheit unterschiedlich
beurteilt werden müssen.
Häufig wird in dieser Frage besonders vorsichtig formuliert, nämlich negativ: Es wird
nicht gesagt, etwas sei verhältnismäßig, sondern etwas sei nicht unverhältnismäßig.
Angemessenheit hinsichtlich der direkten Belastungen allein genügt aber noch nicht.
Das Tun und Unterlassen sind insgesamt gegenüberzustellen: Bei vernünftiger Betrachtung
muss klar erkennbar sein, dass das Tun zu keinem größeren Schaden als jenem führt, der bei
Unterlassen entstehen würde. So ist beispielsweise auch sehr sorgfältig zu bedenken, was
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durch das eigene Vorgehen kurzfristig und soweit möglich auch mittelfristig in der betreffen-
den Region geschehen würde: Eine geeignete, erforderliche und angemessene militärische
Intervention zu humanitären Zwecken in einem Land beziehungsweise eine Gegeninter-
vention in einem Bürgerkrieg könnte absehbar eine ganze Region durch mittelbare Aus-
wirkungen derart destabilisieren, dass ein noch größeres Übel entsteht als jenes, zu dem es
bei Unterlassen kommt.
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Wenn wir sowohl die Gesamtabwägung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung als


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

auch das Gegenüberstellen von Tun und Unterlassen ernst nehmen, ist die Konsequenz die
Einsicht, dass es manchmal Unrechtssituationen gibt, in denen Menschen vernünftig nicht
mit militärischen Mitteln zu helfen ist und es daher ethisch richtig ist, dem erfolgenden
Unrecht nicht mit militärischen Mitteln Einhalt zu gebieten.

15.3 Ius in bello

Kommen wir zu den Kriterien des ius in bello. Dies lässt sich kurzfassen: Das ius in bello ist
natürlich ein Bereich, den die Konfliktethik umfasst, mittlerweile gelten hier aber detaillierte
rechtliche Regelungen. Klassisch fallen zwei Kriterien unter das ius in bello.208
Erstens ist das der Diskriminationsgrundsatz demzufolge zwischen Kombattanten/
Kombattantinnen und Nicht-Kombattanten/-Kombattantinnen zu unterscheiden ist. Mit
einem Nicht-Kombattanten ist indes präziser ein „Nicht-Schädigender“ (in-nocens) gemeint.
Intendierte, direkte Ziele dürfen nur Kombattanten/Kombattantinnen sein, Nicht-Kombat-
tanten/-Kombattantinnen dürfen höchstens in vorhergesehener, indirekter Weise geschädigt
werden – erinnern Sie sich bitte an die verschiedenen Beispiele hinsichtlich des Prinzips
der doppelten Wirkung. Im Bereich der Konfliktethik (Revisionist Just War Theory) wird
die diesbezüglich gültige Rechtslage zunehmend angefragt: Ist es richtig, auf der Grundlage
des Prinzips der Diskrimination pauschal alle Militäruniformträger/-innen zu Kombattanten/
Kombattantinnen zu zählen? Wäre es nicht geboten, sich präziser an individuellen Kriterien
zu orientieren, beispielweise der von einer Person ausgehenden Bedrohung? Das sind klas-
sisch ethische Fragen, die sich damit beschäftigen, wie das Recht ‚ist‘ und wie es ‚sein soll‘.

208
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Richard Regan, Just War: Principles and Cases, Washington/DC 22011, 88–99.

149
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Zweitens ist das die Verhältnismäßigkeit (Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn =


Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit). Dass diese hier noch einmal erscheint,
soll nicht irritieren. Denn im ius ad bellum ging es in erster Linie um die politische und
die militärstrategische Ebene, im ius in bello dagegen um die operative und die taktische
Ebene. Ein weiterer Unterschied ist, dass beim Teilkriterium der Angemessenheit in bello
die direkten Belastungen für die gegnerischen Kombattanten/Kombattantinnen nicht in die
Gesamtabwägung einbezogen werden. Beispiel: Ein Panzer greift ein Dorf in Libyen an.
Ein Kampfhubschrauber kann den Panzer bekämpfen, allerdings befindet sich in der Nähe
des Panzers ein Hirtenjunge. Das Zerstören des Panzers mit Präzisionswaffen ist angesichts
voraussehbarer Kollateralopfer eine Überlegung der Verhältnismäßigkeit.

15.4 Ius ex bello


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Wenden wir uns abschließend den Kriterien des ius ex bello zu. Hierzu findet sich man recht
wenig in der Literatur; Darrel Moellendorf etwa hat dazu Beiträge geschrieben. Es handelt
sich um ein kluges Konzept.209
Das ius ex bello besteht aus zwei Phasen. Zunächst geht es darum, ob der bewaffnete
Konflikt beendet werden soll. Falls ja, ist die Frage, wie die Beendigung erfolgen soll.
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Die Frage, ob, kann man sich als Kehrseite zu den Kriterien des ius ad bellum vorstellen.
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

In diesem Zusammenhang sollte man sich vor Augen halten, dass sich das ius ad bellum kei-
neswegs ‚erübrigt‘, sobald der bewaffnete Konflikt begonnen hat. Vielmehr gilt es, dessen
Kriterien auch während des Konfliktverlaufs regelmäßig zu prüfen. So kann es sich durchaus
ergeben, dass sich die Gesamtsituation nach einer Woche, nach einem Monat, nach einem
Jahr so stark verändert hat, dass man auf der Ad-bellum-Ebene, nicht auf der In-bello-Ebene,
zu dem Ergebnis kommt, dass der bewaffnete Konflikt Einhalt finden muss. Aus dieser
kontinuierlichen Prüfung der Ad-bellum-Kriterien gehen Kriterien des ius ex bello hervor.
Hinsichtlich des gerechten Grundes gilt es also die Frage zu beantworten, ob er been-
det oder so weit wie möglich minimiert ist. Darüber hinaus sind im ius ex bello an dieser
Stelle auch extrapolierte Szenarien einer vernünftigen Betrachtung zu unterziehen. Was
würde geschehen, wenn das Engagement im bewaffneten Konflikt eingestellt wird? Ist klar
erkennbar, dass sich die aktuell noch bestehende Unrechtssituation prospektiv nicht wieder
verschlechtern oder das beendete, einst konfliktauslösende Unrecht prospektiv nicht erneut
aufkommen würde?
Die rechte Absicht ist, den gerechten Grund beenden oder zumindest so weit wie mög-
lich minimieren zu wollen.
An dieser Stelle erfolgt eine kleine Modifikation im Vergleich zum ius ad bellum. Statt
der Erschöpfung beziehungsweise Aussichtslosigkeit friedlicher Mittel geht es nun um die
Prüfung der Möglichkeit friedlicher Streitbeilegung. Wer sich im bewaffneten Konflikt
befindet, muss sich aufrichtig und kontinuierlich fragen, ob es möglich ist, mit dem Gegner
zu verhandeln und ständig für Friedensangebote der anderen Seite offen sein – sofern diese

209
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Darrel Moelledorf, „Two Doctrines of Jus ex Bello“, Ethics 125 (2015) 653–673
i. V. m. ders., „Jus ex Bello“, The Journal of Political Philosophy 16 (2008) 123–136.

150
15 Ius ad bellum / Ius in bello / Ius ex bello

aufrichtig sind. Für Scheinangebote, die nur auf strategische oder taktische Vorteile zielen,
gilt dies nicht. Die Schwierigkeit liegt darin, beides zu unterscheiden.
Die stete aktive Bereitschaft, den bewaffneten Konflikt friedlich beizulegen, entsteht aus
dem handlungsleitenden Dominieren der rechten Absicht, dass ein Bekämpfen des Gegners
‚um seiner selbst willen‘ ausschließt, insofern durch ein solches mitverwirklichtes Ziel das
unmittelbare Ziel, den gerechten Grund zu beenden, beschädigt würde.
Schließlich sind das mildeste sichere Mittel und die Angemessenheit (= Verhältnismä-
ßigkeit im engeren Sinn) zu prüfen. Hier kann sich erneut die sehr schmerzhafte Erkennt-
nis einstellen, die wir bereits kurz angesprochen haben: Das Ergebnis kann sein, dass der
bewaffnete Konflikt in ethisch richtiger Weise nicht mehr fortgesetzt werden kann, obwohl
der gerechte Grund immer noch besteht.
Hierzu ein Gedankenbeispiel: Der gerechte Grund wäre zwar gemäß der vernünfti-
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gen Gesamtabwägung zu Konfliktbeginn verhältnismäßig zu beenden gewesen. Doch der


bewaffnete Konflikt hat sich durch viele Situationsänderungen mittlerweile über Jahre hin-
gezogen. Den gerechten Grund im Rahmen einer vernünftigen Gesamtabwägung in der aktu-
ellen Situation zu beenden – bei der die Toten, Verletzten und Zerstörungen, die es schon
gegeben hat, natürlich keinesfalls als sunk costs vernachlässigt werden dürfen – ist nicht
mehr verhältnismäßig möglich.
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Ist dann die Frage, ob der bewaffnete Konflikt zu beenden ist, mit einem Ja beantwortet,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

sind die Umstände zu erörtern, wie er zu beenden ist.


Zunächst ist in gebotener Eile vorzugehen, also zielstrebig und ohne schuldhafte Ver-
zögerungen.
Nur für den Fall, dass der gerechte Grund nicht beendet werden konnte, sich aber in
der Suffizienz- oder Angemessenheitsprüfung ergeben hat, dass der bewaffnete Konflikt in
ethischer Weise nicht fortgeführt werden kann, kommt das Kriterium des Minimierens des
Ad-bellum-Unrechts zum Tragen. Da das Ad-bellum-Unrecht nicht beendet werden kann,
bleibt nur auf der Grundlage des bislang Erreichten darauf abzuzielen, es auch im Verhand-
lungsprozess noch weiter zu minimieren.
Sodann geht es auf dem Weg des Konfliktbeendens um das Minimieren der Übel, vor
allem hinsichtlich des Verlusts an Menschenleben, der Destabilisierung politisch-sozialer
Institutionen sowie des Zerstörens von Infrastruktur. Denn der sich an den bewaffneten
Konflikt anschließende Wiederaufbau ist auf so weit wie möglich arbeitsfähige Institutionen
und funktionierende Infrastruktur angewiesen.
Des Weiteren darf im Hinblick auf den Verhandlungsprozess keine militärische Ver-
besserung der Verhandlungsposition zum Zuge kommen. Damit ist gemeint, dass keiner
Konfliktpartei bloß aufgrund erzielter militärischer Erfolge eine Verbesserung ihrer Aus-
gangsposition in den Verhandlungen zugestanden wird, da der Maßstab des Beendigungs-
prozesses nicht von errungenen Positionen ausgehende relative Zugeständnisse sind, son-
dern das Beenden beziehungsweise Minimieren des konfliktauslösenden Unrechts. Dies
widerspricht auch der militärischen Logik, den Gegner etwa durch eine letzte erfolgreiche
Offensive in eine ‚ungünstigere‘ Verhandlungssituation zu drängen, um so, von solch relati-
ven Positionen ausgehend, ein ‚besseres‘ Verhandlungsergebnis zu ermöglichen.
Abschließend braucht es eine aufrichtige und ehrliche Verhandlungsführung.

151
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Michael Walzer, Just and unjust wars: A moral argument with historical illustrations, New
York/NY 52013.
Ines-Jacqueline Werkner und Torsten Mareis (Hrsg.), Rechtserhaltende Gewalt – eine ethi-
sche Verortung, Wiesbaden 2019.
Ines-Jacqueline Werkner und Peter Rudolf (Hrsg.), Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriterio-
logie, Wiesbaden 2019.
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152
16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema der Friedensethi

16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema


der Friedensethik210

Heinz-Gerhard Justenhoven

Mit dem Ende des Kalten Krieges sind die europäischen Staaten und die USA mit Russland
in eine Phase intensiverer Kooperation eingetreten. Der Systemantagonismus mit dem Kom-
munismus schien zugunsten der liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratie überwunden.
Auch Russland leitete unter Präsident Boris Jelzin demokratische und marktwirtschaftliche
Reformen ein. Marktwirtschaft und Demokratie wurden in den 1990er-Jahren nicht nur als
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politische Erfolgsrezepte für die postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas ange-
sehen, weltweit schien die Demokratisierungswelle unaufhaltsam.211 Aus dieser Euphorie
heraus wurde die These nicht weiter hinterfragt, dass auch Postkonfliktgesellschaften wie die
Balkanstaaten oder Afghanistan durch demokratische und marktwirtschaftliche Reformen in
eine stabile und friedlichere Zukunft geführt werden könnten. Im Gegenteil, die Stärkung
von Staatlichkeit durch den Aufbau staatlicher Institutionen wurde als politisch-konzeptio-
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nelle wie normative Antwort auf die Herausforderung fragiler oder zerfallener Staaten wie
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

beispielsweise Somalia, Bosnien, Kosovo, Demokratische Republik Kongo, Afghanistan,


Irak, Libyen oder Mali angesehen.
Diese fragilen oder zerfallenen Staaten stellen gerade aufgrund ihrer mangelnden Staat-
lichkeit für ihre eigenen Bürger/-innen wie für die umliegenden Staaten, gelegentlich auch
für die internationale Staatengemeinschaft, eine Gefahr dar, weil sie in diesem Machtva-
kuum Raum geben für diverse Sicherheitsrisiken. In Bosnien wie in Mali konnten sich beste-
hende Rivalitäten zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zum Beispiel um Acker- und
Weideland oder auch den Zugang zu den Ressourcen und die Machtverteilung im Staat in
gewaltförmige Konflikte entladen. Solche Konflikte können sich mit weiteren Konflikten
verbinden. In Somalia, Irak und Mali sind bereits länger bestehende ethnische Konflikte
durch islamistische Terrorgruppen ausgenutzt und ideologisch verstärkt worden. Für die
unterlegene Partei in einem innerstaatlichen ethnischen Konflikt bietet die Koalition mit
Dschihadisten die Möglichkeit, an Waffen und Kämpfer für die eigene Sache zu kommen.
Dies erlaubt dann der nun neu unterlegenen Partei, den Schutz der Armee oder externer
Akteure zu suchen: Der lokale ethnische Konflikt verbindet sich auf diese Weise mit einem
innerstaatlichen oder auch regionalen Kampf gegen islamistischen Terrorismus.
In der Demokratischen Republik Kongo, eines der ressourcenreichsten Länder der Erde,
hat der im Osten des Landes seit Jahrzehnten nichtexistierende Staat den Milizen auch aus
den umliegenden Ländern wie Ruanda und Uganda Raum gegeben, dort die Ressourcen
für die Kriege in ihren eigenen Ländern zu rauben – zum Schaden für die ostkongolesische

210
Der nachfolgende Text basiert auf meinem Artikel: Heinz-Gerhard Justenhoven, „Statebuilding – Widerspruch
zu politischer Selbstbestimmung?“, Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 58 (2017) 155–176.
211
Roland Paris, Wenn die Waffen schweigen, Friedenkonsolidierung nach innerstaatlichen Gewaltkonflikten,
Hamburg 2007, 45f.

153
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

Bevölkerung. Im Osten Kongos herrscht seit Jahrzehnten Krieg und Gewalt, Millionen Men-
schen sind Vertriebene im eigenen Land oder in den umliegenden Ländern.
Mangelnde Staatlichkeit und anarchische innerstaatliche Zustände leisten der Bildung
substaatlicher Gewaltherrschaft Vorschub: Häufig setzt sich derjenige durch, der einerseits
auf Geld und Waffen zurückgreifen kann, andererseits diese auch ruchlos einzusetzen bereit
ist. Diese sogenannten warlords oder Milizenführer sind beispielsweise in Bosnien, Afgha-
nistan als auch in Libyen und Mali zu Machtfaktoren geworden, mit denen sich externe
Akteure auseinandersetzen mussten, wenn sie die Rückkehr zu funktionierender Staatlich-
keit angehen wollten. Um finanzielle Ressourcen zu generieren, betreiben solche warlords
häufig Waffen-, Drogen- und Menschenhandel. Politische und kriminelle Strukturen verwe-
ben sich in Räumen mangelnder Staatlichkeit zu einem dichten transstaatlichen kriminellen
Netz, das weitere Staaten untergräbt und sich tendenziell ausbreitet. Das Finanzvolumen der
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illegalen Aktivitäten überschreitet das Steueraufkommen der meisten Staaten in der Region.
Das nachfolgende Schaubild verdeutlicht dies für Subsahara und Nordafrika.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Abbildung 5: Routen des Waffen-, Drogen- und Menschenhandels Quelle: www.rhipto.org

154
16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema der Friedensethi

Die Folge ist eine weitere Regression staatlicher Strukturen und Dienstleistungen. Beamte
werden durch Gewalt und mangelnde Bezahlung in korrupte Strukturen einbezogen, staatli-
che Institutionen weiter ausgehöhlt, Rechtlosigkeit, Privatjustiz und Anarchie greifen weiter
um sich. Es bildet sich ein Abwärtsstrudel aus weiter nachlassenden staatlichen Grund-
diensten in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit, Bildung und Wirtschaft mit der Folge
anwachsender Perspektivlosigkeit. Flucht und Migration von Millionen Menschen sind
Konsequenzen solcher Entwicklungen.
Weil fragile oder zerfallene Staatlichkeit nicht nur ein Sicherheitsrisiko für die betroffene
Bevölkerung darstellt, sondern als regionales, teilweise auch internationales Sicherheitsri-
siko angesehen wird, engagiert sich die internationale Gemeinschaft in der Rekonstruktion
von Staatlichkeit. Als systematisch angelegter Versuch mittels eines politischen Konzeptes
ist dies erstmals auf der Petersberger Konferenz im Dezember 2001 auf Initiative des deut-
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schen Außenministers Joschka Fischer unternommen worden. Die deutsche Regierung hatte
sich nach den Terroranschlägen von 9/11 bewusst nicht am militärischen Sturz der Taliban
in Afghanistan beteiligt, sondern stattdessen ein Konzept für den politischen Wiederaufbau
Afghanistans angestoßen.

16.1 Gesellschaft – Recht – Institutionen


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An dieser Stelle ist es angesagt, sich einmal darüber Gedanken zu machen, was in Afghanis-
tan, Bosnien, Kosovo und anderen Ortes aufgebaut werden sollte: Was kennzeichnet einen
demokratischen Staat und eine Marktwirtschaft in normativer Hinsicht? Im ersten Schritt
soll also über den demokratischen Staat nachgedacht werden, im zweiten Schritt über die
Rolle des Staates im Blick auf die Wirtschaft.
Ausgangspunkt einer jeden politischen Ethik ist die Tatsache, dass der Mensch ein sozia-
les Wesen ist. Aufgrund unserer Natur sind wir Menschen konstitutiv auf andere Menschen
angewiesen. Dies gilt – gerade am Beginn des Lebens und meist auch gegen Ende – als
Angewiesenheit für das physische Überleben. Es gilt weiterhin für die Herausbildung der
eigenen Identität, zu der die Entwicklung der Sprachfähigkeit und mit ihr der Denkfähigkeit
gehören. Alle heutigen Gesellschaften sind arbeitsteilig organisiert, Menschen existieren
in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander. Diese wechselseitige Abhängigkeit hat aber
auch ihre Gefährdungen, wie die Beispiele der zerfallenen Staaten zeigen: Menschen stellen
unter bestimmten Umständen füreinander die größte, auch das Leben bedrohende Gefahr
dar. Die politische Philosophie und Ethik reflektieren diesen Sachverhalt unter dem Stich-
wort des „Naturzustandes“. Als „Naturzustand“ wird ein archaisches Zusammenleben von
Menschen postuliert, in dem (noch) keine Regeln gelten. Jeder Mensch könnte seinen Wil-
lensdrang ungebremst ausleben, selbst um den Preis, Anderen damit zu schaden – auch sie
zu töten. Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat diese Erkenntnis auf dem Hintergrund
der Erfahrungen des englischen Bürgerkriegs gezogen. Hobbes zufolge herrscht im Natur-
zustand Anarchie, der Krieg aller gegen alle. Anders als Aristoteles glaubt Hobbes nicht,
dass der Mensch nach Gemeinschaft strebt. Vielmehr leben die Menschen nach Hobbes in
ständiger Furcht voreinander und in der Gefahr eines gewaltsamen Todes. Auch wenn der
Einzelne bereit wäre, seiner Vernunft und sittlichen Einsicht folgend den Mitmenschen nicht
zu schaden, könnte er Hobbes zufolge dies allein deshalb nicht, weil er sich nicht sicher sein
kann, ob sein Gegenüber dies auch täte (Gefangenendilemma). Im Interesse seiner Selbst-

155
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

erhaltung muss der Mensch also die bösartigen Absichten unterstellen und entsprechend
handeln. Nicht die Menschen sind nach Hobbes schlecht, aber die Lebensumstände lassen
ihnen keine andere Wahl. Der einzige Ausweg besteht nach Hobbes darin, dass sich mehrere
Menschen dazu entschließen, diesen Naturzustand zu verlassen und sich gemeinsam unter
Regeln zu stellen. Um den Regeln auch Gesetzeskraft mit der notwendigen Durchsetzungs-
gewalt zu verschaffen, begründet Hobbes in seinem staatspolitischen Werk 1651 den über-
mächtigen Staat, der jeden Widerstand gegen die Einhaltung des Gesetzes unterbinden kann,
den „Leviathan“.212 Hobbes liefert damit die philosophische Begründung für eine Mensch-
heitserfahrung: Es ist besser unter einem diktatorischen Regime in Sicherheit zu leben als
in Anarchie und Chaos. In der europäischen Neuzeit hat der liberale Staat auch faktisch
seine Wurzeln in einem autoritären Staat, dessen Kennzeichen die Fähigkeit ist, partikulare
Gewaltanwendung einzelner Aristokraten wie zum Beispiel die Fehde zu unterdrücken und
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eine autoritäre Form des minimalen Rechts durchzusetzen. Während die allgemeine Gewalt-
tätigkeit innerhalb der sich herausbildenden frühneuzeitlichen europäischen Staaten zurück-
ging, nahm als ihre Folge die innere Repression durch die staatliche Autorität zu.213
Die politische Freiheitsbewegung der Neuzeit wollte aber mehr. An der Entwicklung des
Menschenrechtsgedankens lässt sich aufzeigen, dass Sicherheit allein den meisten Menschen
nicht genügt, sondern dass sie für politische und soziale Rechte zu kämpfen bereit waren.
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Festmachen lässt sich dies paradigmatisch an der US-amerikanischen und der französischen
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Revolution des späten 18. Jahrhunderts wie auch an späteren vergleichbaren Aufständen.
Rechtsethisch geht es dabei um die Frage, wie die Freiheit des Einen mit der Freiheit des
Anderen in Einklang zu bringen sind: Wie können unausweichliche Freiheitseinschränkun-
gen zur Gewährleistung von Sicherheit einerseits und möglichst große Freiheitsgewährung
ohne unzulässige Beeinträchtigung der Sicherheit der Mitmenschen andererseits in Einklang
gebracht werden? Diese Debatte um Freiheit und Sicherheit ist angesichts des Terrorismus
oder der COVID-Pandemie so aktuell wie eh und je.
Die Grundüberlegung der politischen Philosophie, wie sie beispielsweise Otfried Höffe
vertritt, argumentiert wie folgt: Im eigenen Interesse sind die Menschen zu einem Verzicht
auf die „ungezügelte Freiheit“ verpflichtet, sich beispielsweise gegenseitig das Leben zu
nehmen. Als Ergebnis dieses Verzichts erhält jeder ein Mehr an gesicherter Freiheit. Die-
ser Verzicht gerät also jedem Einzelnen zum Vorteil. Er ist rational begründbar, weil alle
Beteiligten in einem gleichsam virtuellen Tausch Gleiches tauschen. Aufgrund der rationa-
len Begründbarkeit kann auch derjenige, der sich diesem Freiheitsverzicht widersetzt, dazu
gezwungen werden, ohne dass seine Freiheit verletzt wird. Die auf diese Weise erlangte
gesicherte Freiheit wird in den alltäglichen Konflikten durch an Gerechtigkeit orientierte
Regeln – das Recht – gewährleistet.214
Als Recht werden nun diejenigen Regeln des Zusammenlebens verstanden, auf die sich
die Rechtsgenossen/-genossinen verständigt haben; Mindestbedingung ist jeweils die Orien-
tierung an Gerechtigkeit. Es wäre also kein Recht im Sinne dieses Begriffes, wenn eine
Gruppe der Bevölkerung sich zulasten einer anderen Gruppe privilegiert, wie dies beispiels-

212
Hobbes, Leviathan …
213
Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von
den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, 351ff.
214
Vgl. Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 21994, 292–336.

156
16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema der Friedensethi

weise der Adel bis in die Moderne in Europa getan hat oder in Diktaturen die Herrschenden
sich Vorteile verschaffen oder in Apartheidstaaten rassistisch diskriminiert wird. Es kann
also nicht jede Regel zum Recht werden. Mit dem Bischof und Theologen Augustinus sei
darauf hingewiesen, dass jede Verbrecherbande nach Regeln lebt, aber diese Regeln sind
noch kein Recht.215 Damit eine Regel Recht wird, muss sie sich an Gerechtigkeit orientieren;
das heißt, sie muss sich am Prinzip der Gleichheit und Unparteilichkeit orientieren.
Wie kommt das Recht zustande? Historisch gesehen ist innerstaatliches Recht in Europa
in einem langen Prozess aus antiken Quellen (römisches Recht) und generationenübergrei-
fenden Erfahrungen gewachsen. Als Ort der Weiterentwicklung des innerstaatlichen Rechts
haben sich in der Moderne die Parlamente herauskristallisiert: Im öffentlichen Meinungs-
streit ringen die verschiedenen Repräsentanten und Positionen der Gesellschaft um einen
Kompromiss, der dann in Gesetzform gegossen wird. Dieses Ringen bildet einerseits den
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politischen Machtkampf zwischen verschiedenen Interessensgruppen ab. Andererseits


bewegt es sich im Rahmen der normativen Grundlagen der jeweiligen Gesellschaft, bildet
sie ab und verändert sie auch.216
Um dem Prinzip der Gleichheit Geltung zu verschaffen, bedarf es der Rechtsinstitutio-
nen, die Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung gewährleisten. Eine unabhängige Judika-
tive soll für die unparteiliche Anwendung der allgemeinen Rechtsregeln auf den Einzelfall
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sorgen und so Konflikte gewaltlos regeln helfen. Eine – ebenfalls unparteiliche – Durch-
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setzung des Rechts dient dazu, dass sich Starke und Mächtige nicht der Geltung des Rechts
entziehen können; dies ist in der europäischen Moderne Aufgabe von Justizwesen, Poli-
zei- und Ordnungsbehörden. Es ist offenkundig, dass an beiden Stellen (der Judikative wie
den genannten Bereichen der Exekutive) eine große Gefahr besteht, dass das Prinzip der
Unparteilichkeit durch Korruption unterlaufen wird und entsprechende Kontrollmechanis-
men eingebaut sein müssen.
An dieser Stelle sollen noch einmal das Charakteristikum und das Ineinandergreifen von
Gesellschaft, Recht und Institutionen herausgearbeitet werden. Die Gesellschaft in einem
demokratischen Rechtsstaat besteht aus Bürgern/Bürgerinnen, die um ihrer Freiheit willen
freiwillig einem begrenzten Freiheitsverzicht zustimmen, um gesicherte Freiheit zu erhal-
ten. Als soziale Wesen sind sie auf Gesellschaft angewiesen, fügen sich aber nicht einfach
in eine vorgegebene Ordnung ein, sondern gestalten diese mit: Die freien Bürger/-innen
regieren sich selbst! Der Prozess der Verständigung auf Rechtsregeln, unter denen die freien
Bürger/-innen leben, muss nach Verfahren und Inhalten auf dem Prinzip der Gleichheit (als
einem wesentlichen Gerechtigkeitsprinzip) fußen.217 Das bedeutet, dass prinzipiell alle Bür-
ger/-innen meist über Repräsentation an der Gestaltung der Rechtsordnung mitwirken. Dies
geschieht in Demokratien durch gewählte Abgeordnete in den Parlamenten. Sie sind der
Ort der (Weiter-)Entwicklung der Regeln des Zusammenlebens, zuoberst der Gesetze. Wie
bereits gesagt, kann nicht jede Regel zum Recht werden. In Deutschland bedeutet dies,
dass sich alle Gesetzesnovellen im Rahmen der Verfassung, insbesondere der ersten neun-
zehn Artikel, bewegen müssen. Aufgabe der Regierung ist die Durchführung des Willens

215
Aurelius Augustinus, De civitate dei, hrsg. von Christof Horn, Berlin 1997, IV, 4, 1.
216
Vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010.
217
Vgl. Gabriel Mons, „Gleichheit als Wesensmerkmal der Gerechtigkeit“, Archiv für Rechts- und Sozialphilo-
sophie 61 (1975) 485–495.

157
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

der Bevölkerung, indem erlassene Gesetze insbesondere mittels Verordnungen und Verwal-
tungsvorschriften für die staatlichen Institutionen der Exekutive umgesetzt werden.
Aufgabe der staatlichen Institutionen der Exekutive in diesem Geflecht ist die Aus-
führung und Überwachung sämtlicher Rechtsvorschriften: Die Bürger/-innen haben ihren
­Willen zur Gestaltung des Zusammenlebens in der Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht.
Dazu gehört auch, die ordnungspolitischen Voraussetzungen für ein sozial ausgewogenes
Wirtschaften herzustellen. Den in den Gesetzesnovellen zum Ausdruck gebrachte Bürger-
willen müssen die staatlichen Institutionen nun realisieren. Dies betrifft Bereiche wie die
wirtschaftliche und soziale Grundordnung, die Schaffung und Unterhaltung der Infrastruk-
tur, die Finanzierung über das Steuerwesen, das Gesundheits- und Bildungswesen, die Justiz
und Polizei, um nur die wichtigsten zu nennen. Sollen die staatlichen Institutionen ihre
Funktion übernehmen, den Gestaltungswillen der Bürger/-innen umzusetzen, muss eine ent-
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sprechende Kultur vorherrschen: Die Beamten/Beamtinnen müssen sich dem Gemeinwohl


verpflichtet wissen, nicht einem partikularen Vorteil einer Gruppe oder eines Interesses.
Auch hier gilt allerdings, dass Vertrauen auf die Tugendhaftigkeit – hier der Beamten/Beam-
tinnen – unerlässlich ist, andererseits in staatlichen Institutionen wie in allen Bereichen
menschlichen Zusammenlebens schwarze Schafe existieren und daher interne Kontrollme-
chanismen unvermeidbar sind. Dieses Ineinandergreifen einer Gesellschaft freier Bürger/-
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innen, einer an Gerechtigkeit orientierten Rechtsordnung und staatlicher Institutionen, die


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dem Bürgerwillen und damit dem Gemeinwohl verpflichtet sind, nennen wir einen demo-
kratischen Rechtsstaat; die (soziale) Marktwirtschaft ist ein Ausdruck und ökonomische
Basis dieser Staatsform.

16.2 Das Dilemma des externen statebuilding

Wo stehen wir nun in unseren Überlegungen zum statebuilding? Die externen Akteure ste-
hen mit ihrem Versuch, nach einem (Bürger-)Krieg einer Gesellschaft auf dem Weg in eine
friedliche Zukunft zu helfen, vor einem Dilemma, wie das Beispiel Bosnien-Herzegowina
gezeigt hat. Nach dem Daytoner Abkommen vom November 1995 haben insbesondere die
USA auf schnelle Wahlen gedrängt, damit eine demokratisch legitimierte Regierung die
Verantwortung übernehmen konnte. Im darauffolgenden Jahr hat die ethnisch gespaltene
Bevölkerung allerdings mit 67 bis 88 Prozent radikale nationalistische Vertreter der ver-
schiedenen Volksgruppen gewählt. Diese Radikalen verweigerten die Zusammenarbeit der
Kantone mit der – von der internationalen Gemeinschaft durchgesetzten – multiethnischen
Gesamtregierung. Die Staatengemeinschaft sah nun die reale Gefahr, dass der mühsam been-
dete Krieg zwischen den Volksgruppen wieder ausbrechen würde, sollten radikale nationa-
listische Politiker tatsächlich die Macht übernehmen – und annullierten das Wahlergebnis.
Die Bevölkerung hatte „falsch gewählt“. Die Bosnier hatten schlicht kein Vertrauen in die-
jenigen Politiker, die einen multiethnischen Gesamtstaat propagierten, und hielten sich lieber
an diejenigen Politiker, die die Interessen der Serben, Kroaten oder Bosniaken verteidigen
wollten. Demokratie und Marktwirtschaft leben vom Wettstreit und der Konkurrenz.218 Nun
hat sich allerdings gezeigt, dass die die Konflikte regulierenden Institutionen in Postkon-
fliktgesellschaften noch zu fragil und meist nicht in der Lage sind, die erhöhte Gewaltlatenz

218
Vgl. Overbeck, Konstruktive Konfliktkultur …, 67–71.

158
16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema der Friedensethi

von Nachkriegsgesellschaften, die der gewollte Wettstreit befeuert, einzuhegen. Sogenannte


„ethnische Unternehmer“ haben in der Nachkriegsgesellschaft Bosniens unter dem Deck-
mantel demokratischen Wettstreits ihre nationalistische Agenda betreiben können.219 Auch
die Auswüchse einer ungeregelten Marktwirtschaft können einen schwelenden innergesell-
schaftlichen Konflikt weiter befeuern. Die externen Akteure in Gestalt des ‚Hohen Repräsen-
tanten‘ der Staatengemeinschaft (OHR) sahen nur den Ausweg, die demokratische Unreife
des Volkes zu konstatieren.220 Fortan erhielt der OHR die Kompetenz, radikale Politiker ihres
Amtes zu entheben und das bosnische Volk sollte durch NGOs zur Demokratie erzogen wer-
den. Dieses Experiment ist bis heute gescheitert, da nationalistische Politiker nach wie vor
die Staatengemeinschaft für die ökonomische und soziale Misere Bosniens verantwortlich
machen können, anstatt selbst politische Lösungen anzubieten und verantworten zu müssen.
Politische Selbstbestimmung wurde durch externe Fremdbestimmung ersetzt, um der Gefahr
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eines erneuten Bürgerkrieges zu wehren.

16.3 Konzept des liberalen statebuilding in Afghanistan

In Afghanistan hat die internationale Staatengemeinschaft einen grundlegenderen Ansatz


gewählt. Nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs und fünf Jahren Terrorherrschaft der Taliban
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war aus dem einst blühenden westlich orientierten Kabul („Paris des Ostens“) eine Ruinen-
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landschaft geworden mit einer traumatisierten, verarmten und in Teilen verrohten Bevölke-
rung.
Staatliche Dienste und Institutionen existierten de facto nicht mehr, nach dem Krieg
gegen die Taliban herrschten in weiten Teilen des Landes warlords und Milizenführer.
Beginnend mit der Petersberger Afghanistankonferenz vom Dezember 2001 sollte der afgha-
nische Staat planvoll wiederaufgebaut werden: 60 Staaten engagierten sich zur Herstellung
von Sicherheit und staatlichen Grundfunktionen. Dabei wurde durchaus der Versuch unter-
nommen, die afghanische Gesellschaft mit Ausnahme der Taliban durch ihre – teils gewähl-
ten, teils traditionellen – Repräsentanten sowohl auf der Petersberger Konferenz als auch in
dem weiteren Prozess anschließend einzubinden. Die Loya Jirga (große Ratsversammlung)
wählte 2003 den Paschtunen Hamid Karzai, der bereits 2001 zum Präsidenten ernannt wor-
den war. Ein ganzes Bündel an Maßnahmen zum Aufbau des afghanischen Staates sollte
nun umgesetzt werden: Ausländische Armeen übernahmen die Aufgabe, ein Minimum an
Sicherheit für die Bevölkerung herzustellen und sukzessive eine afghanische Polizei und
Armee auszubilden, um diese Aufgabe anschließend in afghanische Hände zu übergeben.
Eine Reform des Justizwesens einschließlich einer neuen, westlichen (Menschenrechts-)
Standards entsprechenden Verfassung wurde genauso angegangen wie der Aufbau von Schu-
len und Universitäten, ein landesweites Gesundheitssystem, Infrastruktur und ökonomische
Reformen. In der Regel arbeiteten externe Berater in den Ministerien den jeweiligen afgha-
nischen Beamten zu.221 Von außen betrachtet musste das mit einem personellen und finan-
ziellen Aufwand ungekannten Ausmaßes umgesetzte Konzept Afghanistan in eine friedliche

219
Vgl. Susan Woodward, Balkan Tragedy. Chaos and Dissolution after the Cold War, Washington/DC 2000.
220
Vgl. Duncan Bullivant, Editorial: „Clearing the Bosnian Air“, Washington Post 6.10.1997.
221
Zum Überblick vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung, Dossier Afghanistan, https://www.bpb.de/themen/
migration-integration/laenderprofile/277554/afghanistan/, abgerufen am 27.2.2022.

159
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

und prosperierende Zukunft führen. Einige Zahlen wie sie die Gesundheitsversorgung, der
Rückgang der Kinder- und Müttersterblichkeit oder die Zahl der (Hoch-)Schulabsolventen/
-absolventinnen zeigen, sind in der Tat beeindruckend. Und doch gilt das statebuilding in
Afghanistan nicht als Erfolg, im Gegenteil. Was ist falsch gelaufen?

16.4 Statebuilding ohne gesellschaftliche Verwurzelung

Die wissenschaftliche Debatte ist uneins über die Gründe, aber es lässt sich doch festhal-
ten, dass es nicht eine Ursache, sondern wohl ein ganzes Bündel an Ursachen gibt. Für die
fundamentale Kritik steht David Chandler, der die Idee des liberalen statebuilding für im
Ansatz gescheitert hält.222 Andere Kritiker/-innen beziehen sich auf einzelne Maßnahmen
oder Mittel des statebuilding. Die fundamentale Kritik am Konzept des liberalen statebuild-
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ing arbeitet das Problem heraus, dass es nicht die afghanische Gesellschaft selbst ist, die
Recht und Institutionen hervorbringt, sondern dass Beides westliche Importe sind.223 So
ist die Präsidialverfassung mit der starken Figur des Präsidenten dem US-amerikanischen
und französischen Vorbild nachempfunden, aber untypisch für die afghanische politische
Geschichte. Afghanistan kennt im Gegenteil starke Regionen, in denen sich die verschiede-
nen afghanischen Volksgruppen und Stämme politisch organisieren und ein eher schwaches
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Zentrum, ab der Mitte des 18. Jahrhunderts durch den jeweiligen König repräsentiert.
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Ähnliches lässt sich über die meisten staatlichen Institutionen sagen. Sie sind in Idee und
Funktionieren dem westlichen politischen System nachgebildet; deutlich wird dies am Jus-
tizsystem. Ausgehend von der Würde des Individuums und grundlegenden Menschenrech-
ten ist eine Verfassung konzipiert worden, die mehr europäische als zentralasiatische Gene
in sich trägt. Von vielen Afghanen wird sie ebenso wie weitere Rechtstexte auch deshalb
abgelehnt, weil sie die Scharia zu wenig inkorporiert und als unislamisch diffamiert werden
konnte. Recht bedarf aber wie oben dargelegt, der Akzeptanz durch die Rechtsgenossen/
-genossinnen, soll es nicht diktatorisch durchgesetzt werden. Diese Akzeptanz erlangt eine
Rechtsordnung, wenn die Bevölkerung sie sich als Ausdruck politischer Selbstgestaltung zu
eigen machen kann (Prinzip ownership). Wenn die einheimische Idee des richtigen Zusam-
menlebens und das Recht, das dieses Zusammenleben regeln soll, auseinanderklaffen, fehlt
der Rechtsordnung die Akzeptanz. So ist die Marginalisierung der Justiz nicht verwunder-
lich. Die starke Zentralisierung, Afghanistan eher fremd, dürfte angesichts der ethnischen
und kulturellen Pluralität ein zusätzliches Problem darstellen. So treffen schon in der afgha-
nischen Gesellschaft beispielsweise mit den Menschenrechtsvorstellungen einer urbanen,
westlich orientierten Elite und traditionellen Stammesgesetzen wie dem Paschtunwali sehr
gegensätzliche Rechtskulturen aufeinander.

16.5 Import leerer institutioneller Hüllen

Hier zeigt sich auch ein grundlegendes Problem des externen liberalen statebuilding. Von
seiner Grundidee her ist eine Rechtsordnung Ergebnis des politischen Prozesses einer
Gesellschaft, in der sie durch den Streit der verschiedenen Positionen zu Regeln des Zusam-

222
Vgl. David Chandler, Peacebuilding. The twenty Years’ Crisis, 1997–2017. Cham 2017.
223
Vgl. Berit Bliesemann de Guevara und Florian P. Kühn, Illusion Statebuilding, Hamburg 2010.

160
16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema der Friedensethi

menlebens findet, unter die sich die Rechtsgenossen/-genossinnen fortan stellen. Wie die
europäische Geschichte hinlänglich gezeigt hat, kann dieser Prozess zum Beispiel als Kampf
um die Freiheit des Individuums über viele Generationen andauern. Die staatlichen Institu-
tionen sind der Durchführung der in der Rechtsordnung vereinbarten Regeln verpflichtet,
indem sie zum Beispiel eine bestimmte Steuergesetzgebung umsetzen oder vereinbarte sozi-
ale Leistungen erbringen. Nun hat die Staatengemeinschaft diesen gesellschaftspolitischen
Prozess aber umgangen und der afghanischen Gesellschaft Institutionen verordnet, die sich
in Europa und den USA bewährt haben. Man könnte im Bild zum Ausdruck bringen, dass die
externen Akteure die Hüllen staatlicher Institutionen in Afghanistan aufgebaut haben, diese
aber von innen und außen keine Bodenhaftung entwickelt haben:224 von innen nicht, weil die
dort arbeitenden Beamten keine echte (afghanische) Gemeinwohlverpflichtung entwickelt
haben, sondern eher den starken partikularen Interessen ihrer Ethnie oder ihres Stammes
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verpflichtet bleiben. Die grassierende Korruption muss wohl auch als Ausdruck dieser Hal-
tung verstanden werden. Nicht zuletzt Präsident Hamid Karzai und sein Umfeld haben von
diesem System profitiert, wie der Fall der 2012 verschwundenen 900 Millionen US-Dollar
der Kabul Bank als spektakulärstes Beispiel zeigt.225
Von außen haben diese Institutionen dort und deswegen kaum Akzeptanz gewinnen kön-
nen, wo sie die versprochenen staatlichen Grunddienste nicht erbringen. Zu Recht erwarten
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die Bürger/-innen vom Staat, dass er fundamentale Sicherheit bereitstellt und die Möglich-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

keit eröffnet, das tägliche Überleben zu erarbeiten. Es kommt ein weiteres Problem exter-
ner Intervention in fragile oder zerfallene Staaten hinzu. Gerade in der Anfangsphase kann
in Schlüsselbereichen nicht gewartet werden, bis staatliche Institutionen (neu) aufgebaut
worden sind. An ihre Stelle treten internationale (VN-)Agenturen oder andere Akteure und
leisten subsidiäre Hilfe. Während es im Gesundheitswesen oder im Bereich der Sicherheit
kaum Alternativen zu diesem Handeln gibt, führt es doch zur Entmündigung der betroffe-
nen Bevölkerung: Externe Akteure, häufig Regierungen anderer Länder, die ihren Bevölke-
rungen verantwortlich sind und nicht den Afghanen, treffen aber Entscheidungen, die das
politische Schicksal Afghanistans entscheiden. So sind Art und Umfang der in Afghanistan
stationierten deutschen Truppen allen politischen Behauptungen zum Trotz primär unter der
Rücksicht ausgewählt worden, ob und in welchem Umfang dies gegenüber der deutschen
Bevölkerung politisch zu vertreten ist. Etwas gemildert wird die unvermeidlich partikulare
Perspektive einer jeden Staatsregierung, wenn die Akteure ihre Beiträge konsequent unter
dem Dach der VN bündeln.
Gleichwohl bleibt das Problem bestehen, dass Institutionen und Regierungen, die nicht
aus dem Willen des Volkes entstanden sind und nicht primär dem Volk verpflichtet sind, ihre
Agenda von außen vorgesetzt bekommen. Das Beispiel der Steuern kann dies verdeutlichen.
Wenn das Volk Steuern zahlt und die Regierung damit von der Akzeptanz der Bevölkerung
und ihrer Bereitschaft Steuern zu zahlen abhängig ist, muss sie eine mehr an den Bedürf-
nissen der Bevölkerung orientierte Politik verfolgen, als wenn sie von ausländischem Geld
abhängig ist. Die afghanische Politik ist aber fast vollständig von ausländischen Geldgebern

224
Vgl. Chandler, Peacebuilding …, Cham 2017, 77.
225
Vgl. Thomas Ruttig, „The Other Side. Dimensions of the Afghan Insurgency: Causes, Actors and Approaches
to ‚Talks‘“, Afghanistan Analysts Network, 7.7.2009.

161
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

abhängig und folglich davon, die ihr von ihren ausländischen Geldgebern vorgegebene Poli-
tik zu verfolgen. Man nennt dieses Prinzip rent seeking.

16.6 Mangelnde Kohärenz und partikulare Interessen


der externen Akteure

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die intervenierenden Akteure, einzelne Staaten
zumeist, ihre je partikularen Interessen, Konzepte und politischen Erfahrungen mitbringen,
wenn sie sich an einem Statebuilding-Projekt beteiligen. Die Abstimmung unter den exter-
nen Akteuren, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln und konsequent zu verfolgen gelingt
nur teilweise. Bekannt ist der konzeptionelle Widerspruch zwischen dem Versuch der Staa-
tengemeinschaft in Afghanistan, durch militärische Präsenz Sicherheit für die Bevölkerung
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herzustellen und der parallel verlaufenen Jagd auf Al-Qaida-Terroristen. Die militärische
ISAF-Mission sollte Frieden gegen Störer erzwingen, so das Vertrauen der Bevölkerung
gewinnen und durch ein Gefühl wachsender Sicherheit einen normalen Alltag ermöglichen.
Demgegenüber führte die Jagd auf Al-Qaida-Terroristen, die in der Bevölkerung unterzu-
tauchen suchten, und das Verhalten der Special Forces, die ihnen nachspürten, dazu, genau
dieses Sicherheitsgefühl und diese Normalität zu unterminieren. Bekannt geworden sind
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nächtliche Razzien, das robuste Eindringen in Privathäuser und -wohnungen, die unter-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

schiedslose Tötung von Kämpfern und Zivilisten/Zivilistinnen und Folter von Verdächtigen.
In der Konsequenz sind vor allem NATO-Soldaten/-Soldatinnen als Besatzer und nicht als
Befrieder wahrgenommen worden.
Schärfer noch zeigt sich der konzeptionelle Widerspruch dort, wo massive Partikularin-
teressen der intervenierenden Akteure ins Spiel kommen und die Intention des statebuilding
konterkarieren. Am Beispiel Mali lässt sich dies anhand der Rolle Frankreichs erläutern.
Mali ist eine frühere französische Kolonie gewesen und gehört als Teil des Françafrique zur
traditionellen französischen Einflusszone in Westafrika. Die französische Politik nimmt bis
in die Gegenwart intensiven Einfluss in die malische Innenpolitik, Wirtschafts- und Finanz-
politik. Die Währung CFA steht als Synonym für die Abhängigkeit Malis wie weiterer west-
afrikanischer Länder von Frankreich. Auch die politische Elite des Landes ist tief mit Paris
verwoben. Allerdings wird die politische Elite Malis vor allem von der schwarzafrikani-
schen Bevölkerung des Südens um die Hauptstadt Bamako gebildet, die im Norden Malis
lebenden Tuareg sind darin praktisch nicht vertreten und spielen politisch eine wesentlich
untergeordnete Rolle. Dieses Faktum und der gescheiterte Versuch der Tuareg, nach dem
Ende der Kolonialzeit einen eigenen Staat zu bilden, haben den innermalischen Konflikt seit
Jahrzehnten mit befeuert. Weitere Konflikte in der ethnisch pluralen Gesellschaft kommen
hinzu. Der Gewaltkonflikt war 2012 in Nordmali von Tuaregvölkern erneut eskaliert und
sehr bald durch islamistische Djihadisten übernommen worden. Nach dem schnellen Ein-
greifen der französischen Armee – Frankreich verfügt über mehrere Militärbasen in West-
afrika – konnten die Djihadisten im Januar 2013 daran gehindert werden, in die Mitte und
den Süden Malis vorzudringen. Entgegen den Vereinbarungen, die staatliche Integrität Malis
wiederherzustellen, erlaubte Frankreich dem Tuaregbündnis MNLA die Kontrolle über den
Norden um die Stadt Kidall, um Unterstützung bei der Suche nach französischen Staatsbür-
gern in dem Gebiet zu erhalten.

162
16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema der Friedensethi

Im vorläufigen Friedensabkommen von Ouagadougou war 2013 die Einbeziehung aller


Bevölkerungsgruppen in den politischen Prozess vereinbart worden. Die Umsetzung hat
Frankreich gemeinsam mit der politischen Elite in Bamako zu unterbinden gewusst, da
beide Seiten kein Interesse an wirklichen politischen Veränderungen im Land haben. Frank-
reichs Wirtschaft profitiert genauso wie die Elite Bamakos von Wirtschaftsabkommen, die
französische Firmen beispielsweise bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugen. Konse-
quenterweise ist das Ziel eines „inklusiven politischen Dialogs“ auch bei den Friedensver-
handlungen in Algier 2015 fallen gelassen worden. Verhandlungspartner waren nun neben
der malischen Regierung und internationalen Akteuren diejenigen Milizen, die sicherheits-
relevant waren: Waffen zu tragen bedeutete politischen Einfluss auf die politische Gestalt zu
erhalten und bei der Verteilung der Pfründe Berücksichtigung zu finden. Dies hat zu einem
Anstieg der Milizen und der Gewalt in Nordmali geführt. Die Regierung hingegen sah sich
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weniger als Partei in einem Verhandlungsprozesses, sondern empfindet den Friedensvertrag


von Algier als von der internationalen Gemeinschaft aufgezwungen. Mali ist heute weiter
von einer Aussicht auf Frieden entfernt denn je, weil partikulare Interessen und nicht das
malische Gemeinwohl im Fokus der relevanten politischen Akteure gestanden haben.

16.7 Widerstand gegen externes statebuilding


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Nach fast 20 Jahren externem statebuilding, der mit einem personellen und materiellen Auf-
wand betrieben wurde, der seinesgleichen sucht, wächst in Afghanistan nicht die Zustimmung
in der afghanischen Bevölkerung, sondern der Widerstand. Der Grund dafür ist in dem Emp-
finden zu suchen, einer Besatzungsmacht und der von ihr abhängigen, unfähigen und kor-
rupten Regierung ausgeliefert zu sein. Matt Waldmann, 2011–12 UN Special Representative
for Afghanistan, hat Taliban-Kommandeure nach den Motiven für ihren Widerstand befragt.
Symptomatisch erscheint mir die nachfolgende Antwort eines Taliban-Kommandeurs:

I am a landowner and was working on the land. I was not a Talib. But some years ago American
Special Forces came and entered my home without my permission at night and killed my two sons,
my father, and two uncles without any reason. Another time they did the same thing in another
village in my district. When I saw their acts and knew they came only to kill us, not to help, I
started fighting against them. They forced me to fight them and I will continue to fight them so
long as they are in Afghanistan.226

Neben dem Gefühl, einer Besatzungsmacht ausgeliefert zu sein, spielt das Verhalten der – in
den Augen der afghanischen Bevölkerung von den externen Mächten abhängigen – Regie-
rung und ihrer regionalen und lokalen Vertreter eine entscheidende Rolle. Als krasses Beispiel
muss wohl das Verhalten von Hamid Karzai und seiner Familie gewertet werden. Als Süd-
Paschtune aus dem Popalazai-Stamm, der viele afghanische Könige gestellt hat und in hohem
Ansehen stand, wurde Karzais Regierung besonders von den übrigen paschtunischen Stäm-
men unterstützt. Allerdings hat Karzai mit seiner Klientelpolitik zugunsten seiner Familie,
seines Stammes oder von Freunden gewachsene Strukturen missachtet, die Berücksichtigung

226
Zitiert nach Matt Waldmann, „Dangerous Liasons with the Afghan Taliban: Feasibility and Risks of Negotia-
tions“, in Getting it Right in Afghanistan, hrsg. von Scott Smith [u. a.], Washington/DC 2013, 51–72, 54.

163
Synchroner Zugang – eine systematische Skizze

bei der Vergabe politischer Ämter erwarteten. Weiterhin sind Milliarden an Hilfszahlungen in
Prachtbauten in Kabul wie in den Golfstaaten sowie auf ausländischen Konten verschwun-
den, anstatt in den Bau von Infrastruktur, Krankenhäuser oder Schulen zu fließen. Um poli-
tischen Widerstand zu unterdrücken reichte es aus, Gegner als Taliban zu brandmarken und
ausländische Truppen zu seiner Vernichtung zu instrumentalisieren. Politischer Widerstand
konnte auf diese Weise in militärischen Aufstand eskalieren. Und die internationalen Akteure
haben dort, wo Klientelismus und Korruption offenkundig wurden, um des raschen Aufbaus
der afghanischen Institutionen willen weggeschaut und auf diese Weise mitgeholfen, die jun-
gen afghanischen Institutionen zu diskreditieren und unabsichtlich den Widerstand gegen den
afghanischen Staat und die externen Akteure befeuert. Der Zusammenbruch des Versuchs der
internationalen Akteure im August 2021, in Afghanistan einen demokratischen Rechtsstaat zu
errichten, ist angesichts dieses Befundes kaum noch überraschend.
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16.8 Friedensethisches Fazit

Versuchen wir abschließend ein Fazit aus friedensethischer Perspektive zu ziehen. Grund-
legend gilt es festzuhalten, dass der liberale, auf der Idee der Freiheit des Individuums
gegründete Rechtsstaat ein Produkt der europäisch-amerikanischen politischen Geschichte
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ist. Die Wechselseitigkeit von Gesellschaftsmodell, Rechtsverständnis und demokratischem


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Staat mit seinen Institutionen bedingt, dass statebuilding nicht in der Weise betrieben wer-
den kann, dass staatliche Institutionen und eine westlich geprägte Rechtsordnung ohne die
weiteren Voraussetzungen in einen divergenten sozio-kulturellen Raum transferiert werden
können. Das Beispiel Afghanistan hat auch gezeigt, wie sensibel eine Bevölkerung darauf
reagiert, wenn ihr Recht auf politische Selbstbestimmung von externen Akteuren aus guter
Absicht missachtet und ihr paternalistisch eine politische Ordnung vorgegeben wird. Im
Sinne des Subsidiaritätsprinzips müssen sich die externen Akteure auf eine Hebammen-
Rolle beschränken,227 um es der jeweiligen Gesellschaft zu ermöglichen, ownership an
ihrem Staatsmodell und den staatlichen Institutionen erwerben zu können.228 Die Prinzipien
der Partizipation und Nachhaltigkeit stellen weitere normative Maßstäbe dar, anhand derer
ethisch verantwortbares statebuilding gemessen werden kann. Schließlich muss Zeit als rele-
vanter Faktor in anderer Weise berücksichtigt werden als bisher. Die bisher in Blick genom-
menen Zeiträume von 10 bis 20 Jahren sind für erfolgreiches statebuilding insbesondere
dann zu knapp bemessen, wenn die betreffenden Gesellschaften keine auf Gleichheit basie-
rende partizipative politische Tradition entwickelt haben, um noch nicht von einer demokra-
tischen Tradition zu sprechen. Veränderungen der politischen Kultur, die Veränderungen des
sozialen Umgangs voraussetzen, bedürfen als Mentalitätswandel viel Zeit. Den prozessualen
Charakter einer graduellen Realisierung eines demokratischen, auf Menschenrechten auf-
bauenden politischen Systems in Ländern wie Bosnien oder Afghanistan zu berücksichtigen,
ist Voraussetzung für nachhaltiges statebuilding, gerade auch angesichts von Rückschlägen
oder Generationen übergreifenden Zeiträumen.

227
Vgl. auch Oliver P. Richmond und Roger Mac Ginty, „Peacebuilding and Legitimacy: Some Concluding
Thoughts“, in Local Legitimacy and Peacebuilding, hrsg. von ders. und Roger Mac Ginty, Edinburgh 2020,
261–285, 264f.
228
Vgl. Pol Bargués-Pedreny, Deferring Peace in International Statebuilding, Abingdon 2018, 138.

164
16 Nachsorge bewaffneter Konflikte durch statebuilding als Thema der Friedensethi

Vier vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

David Chandler (Hrsg.), Routledge handbook of international statebuilding, Abingdon 2013.


Roland Paris, Wenn die Waffen schweigen. Friedenskonsolidierung nach innerstaatlichen
Gewaltkonflikten, Hamburg 2007.
Elisa Randazzo, Beyond Liberal Peacebuilding. A Critical Exploration of the Local Turn,
Abingdon 2017.
Thomas Risse (Hrsg.), Governance Without a State? Policies and politics in areas of limited
statehood, New York/NY 2011.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

165
Vierter Hauptteil

Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

17 Nukleare Abschreckung

17.1 Einleitung

Im neuen Leitbild des gerechten Friedens, der Friedens- und Konfliktethik gibt es zwei
besonders komplexe Ius-ad-bellum-Fragen. Die eine ist die militärische Intervention zu
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humanitären Zwecken, die andere ist die nukleare Abschreckung – zwei ethische Dilem-
mata, die in unserem aktuellen Paradigma bestehen bleiben. Wenden wir uns zunächst der
nuklearen Abschreckung zu.
Diese ist ein Problemkomplex, der ethisch ebenso anspruchsvoll ist wie tatsächlich ver-
trackt, der hinsichtlich der Machtpolitik ebenso relevant ist wie hinsichtlich des Zerstörungs-
potenzials horrend.
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An seinem Ursprung standen, könnten wir etwas lakonisch sagen, fehlerhafte Einschät-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zungen und Abwägungen. Zum einen, dass das Dritte Reich kurz vor dem Abschluss der Ent-
wicklung der Atombombe stünde, sodass es unbedingt die Situation zu verhindern gelte, nach
deren Einsatzbereitschaft in ein Patt und einen Waffenstillstand mit dem Dritten Reich hinein-
gezwungen zu werden: Das Dritte Reich war am Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch noch
weit davon entfernt, eine Atombombe einsetzen zu können. Sowie zum anderen, dass beim
Beenden des Krieges gegen Japan durch nukleare Waffen die Vorteile die Nachteile insgesamt
überwiegen würden: Doch deren In-die-Welt-Treten sollte das globale Ökosystem, die interna-
tionalen Beziehungen und das Leben der Armen auf etliche Jahrzehnte hin erheblich belasten.
Was da entfesselt worden war, lässt sich rasch in Miniatur darstellen. Zunächst wiesen die
USA – gewissermaßen die Hiroshima- und Nagasaki-Strategie extrapolierend – ihren Atom-
waffen die Funktion zu, die nuklear nicht gerüstete, aber in Europa konventionell weit über-
legene Sowjetunion von Offensiven auf diesem Kontinent abzuschrecken. Ein solcher Ansatz
wurde untauglich, sobald auch die Sowjetunion über Kernwaffen verfügte; so rüsteten die
Westalliierten konventionell massiv auf und erweiterten zugleich das Spektrum einsetzbarer
Nuklearwaffen – die nun auf militärische Objekte statt auf Großstädte ausgerichtet waren –
vom Strategischen bis zum Taktischen erheblich, um im Konfrontationsfall über verschiedene
Eskalationsmöglichkeiten zu verfügen. Als die Sowjetunion schließlich ebenfalls über Inter-
kontinentalraketen sowie eine gesicherte Zweitschlagfähigkeit verfügte, wurde die skizzierte
Strategie um die Stufe der sogenannten gegenseitigen gesicherten Vernichtung ergänzt.
Vor diesem Hintergrund sollte die Haltung zum Dilemma nuklearer Abschreckung ein
Doppeltes vermeiden. Einerseits gutzuheißen, dass während des Zweiten Weltkriegs die
rivalisierenden Parteien überhaupt am Realisieren nuklearer Waffen gearbeitet haben: Dieses
‚Diabolische‘229 in die Welt zu setzen, konnte weder zu einem Gut noch zu etwas Indif-

229
Von griechisch diabállein – durcheinanderbringen. In der theologischen Reflexion ist der diábolos die Personi-
fikation des Durcheinanderbringens der guten göttlichen Schöpfung. In unserem Kontext soll die Wortwahl

166
17 Nukleare Abschreckung

ferentem führen, mit dem man dann ‚gut‘ hätte umgehen können. Und andererseits dem
unvermeidlich gewordenen Umgang mit diesem nunmehr in die Welt getretenen ‚Diaboli-
schen‘ durch Simplizismen entgehen zu wollen: Nur bei realistischem Wahrnehmen unserer
zersplittert-misstrauischen Staatenwelt kann er Schritt für Schritt zur bestmöglichen Übel-
minimierung führen.
Das Thema der nuklearen Abschreckung wurde in den 1950er-, 1960er-/70er- und
1980er-Jahren in einer unglaublichen Fülle wissenschaftlich erörtert. Hierzu findet sich
daher Literatur im Übermaß. Dabei bezog sich die zeitlich erste Phase vor allem darauf,
ob nukleare Abschreckung überhaupt erlaubt sei. Die zweite betraf insbesondere folgende
Frage: Wenn nukleare Abschreckung denn erlaubt ist, wie darf man abschrecken und welche
Dilemmata gibt es dabei? Die dritte Phase bis zum Ende des Kalten Krieges wollte schließ-
lich eine Lösung für die sich ausweglos darstellende Situation finden, indem man über die
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antagonistische Konstellation hinaus ging.


Der Natur der Sache nach ist die nukleare Abschreckung sehr eng mit globaler Macht-
politik verbunden. Nach dem Überwinden der alten Ost-West-Rivalität und dem Verbleiben
von hegemonialen USA trat sie zunächst ein wenig in den Hintergrund. Aber seit gut zehn
Jahren wird dem Thema im Zuge des Aufkommens einer neuen multipolaren Weltordnung
erneut mehr Bedeutung zugemessen und es erfährt wieder vielfältige Beschäftigung.
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Im Folgenden werden zunächst knapp zentrale Aspekte der drei genannten Phasen – die
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nicht streng konsekutiv, sondern eher sich überlappende Wellen sind – während des einstigen
bipolaren Gegenübers dargestellt (17.2, 17.3 und 17.4). Der Schwerpunkt liegt anschließend
auf der aktuellen Diskussion des Dilemmas nuklearer Abschreckung in der jetzigen multi-
polaren Konstellation (17.5) samt Schlussreflexion (17.6).

17.2 Das ‚Ob‘ der Abschreckung

Beginnen wir mit der ersten Phase des Ob der nuklearen Abschreckung unter zwei unter-
schiedlichen Perspektiven, die jeweils starke Wirkung entfalteten (Schwerpunkt in den
1950er-Jahren).230
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Just War Theory in den USA. Sie war freilich
vielgestaltig. Es gab und gibt nicht die Just War Theory, sondern eine große Bandbreite.
Aber die einflussreichste Variante – hier sei auf eine gelungene Darstellung der Just War
Theory in den USA von Robert Tucker hingewiesen231 – vertrat, dass es in der Verteidigung
legitim sei, so weit zu gehen, auch eine neue Ordnung zu verwirklichen. Anders gesagt: Es
dürfen auch Atomwaffen eingesetzt werden, um den Gegner so weit außer Gefecht zu setzen,
dass es danach möglich ist, auch eine neue Ordnung zu verwirklichen.
Wie weit man in der Verteidigung gehen darf, ist eine stets aktuelle Frage. Man wird
nicht sagen können, in der Verteidigung dürfe man den Gegner stets nur minimal zurück-
stoßen, sodass er kurzfristig abgewehrt ist. Aber man wird ebenso wenig sagen können,

aber bloß pointiert bezeichnen, dass die technische Funktionsgemäßheit einer jeden Nuklearwaffe eine groß-
zerstörerische/massenvernichtende ist.
230
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? ..., 335–355.
231
Robert Tucker, The just war. A study in contemporary American doctrine, Baltimore/MD 1960.

167
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

dass ein regime change immer ein legitimes Ziel sei. Weder das eine noch das andere ist
automatisch richtig, weder das eine noch das andere ist automatisch falsch: Es kommt stets
auf die konkreten Umstände an.
Die erwähnte Variante der Just War Theory war recht weitgehend, sodass in der Vertei-
digung eben auch tatsächlich das Ziel verfolgt werden konnte, eine neue Ordnung verwirk-
lichen zu wollen.
Werfen wir des Weiteren einen Blick auf die Moraltheologie in Deutschland. Hier gab es
angesichts der Herausforderung, ob atomare Abschreckung ein ethisches Mittel sein könne
oder nicht, grob drei Positionen. Dabei kommt der Theologie übrigens keine singuläre Stel-
lung zu, diese Grundzüge finden sich auch in anderen Disziplinen.
Manche Stimmen behaupteten, nukleare Abschreckung sei legitim und es dürften auch
Atomwaffen eingesetzt werden. Ein extremes Beispiel ist der Sozialethiker Gustav Gund-
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lach. Er vertrat die Ansicht, dass es im äußersten Fall erlaubt sei, mit Atomwaffen dem
Unrecht derart entgegenzutreten, dass die Ordnung verteidigt werde – auch wenn dabei alles
Leben auf der Welt ausgelöscht würde.232 Gundlach scheint sich diesbezüglich verrannt zu
haben. Aber für ihn war die Frage des Rechts zentral: Darf man unter Umständen bis zu dem
Punkt gehen, alles Leben auszulöschen, um dem Unrecht nicht den Raum zu lassen, sich zu
entfalten und um vor Gott die Gerechtigkeit zu verteidigen?
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Die Gegenposition vertrat, dass man Atomwaffen auf keinen Fall einsetzen dürfe und es
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

darüber hinaus – wenn man sie nicht einsetzen dürfe – auch nicht erlaubt sei, mit ihnen abzu-
schrecken. Wenn der Preis dafür sei, dass der Gegner einen überrenne, sei dies hinzunehmen.
Dazwischen gab es noch eine differenzierende Mittelposition. Diese stellte die Frage, ob
der Einsatz von strategischen Atomwaffen ethisch gerechtfertigt sei. Die Antwort war grund-
sätzlich ‚nein‘, weil diese Waffen im ius ad bellum gegen das Kriterium der Verhältnismäßig-
keit und im ius in bello gegen die Kriterien der Diskrimination und der Verhältnismäßigkeit
verstoßen (auf sogenannte taktische Atomwaffen kommen wir später noch kurz zu sprechen).
Hieraus ergibt sich ein Problem: Wenn es also ethisch nicht erlaubt ist, Atomwaffen
einzusetzen – kann es dann ethisch erlaubt sein, Atomwaffen zu besitzen und mit ihnen
dadurch zu drohen/abzuschrecken (dies greifen wir gleich noch einmal auf). Im Hintergrund
stand folgende Frage: Wenn mit Waffen dieser Art abgeschreckt wird, ist dann die Wahr-
scheinlichkeit, dass ein Krieg ausbricht, größer oder kleiner? Eine sehr schwer zu beantwor-
tende Frage. Angenommen es käme dazu, dass eine Seite nicht mehr über derartige Waffen
verfügt und die andere Seite nicht mehr durch Zerstörungsfurcht davon abgehalten wird,
ihre Expansionspläne zu verfolgen – dann ließe sich vermuten, dass das Ausbrechen eines
Krieges etwas wahrscheinlicher ist, weil dessen Kosten nun kalkulierbarer würden. Anders
gewendet: Wenn beide Seiten über abschreckende Atomwaffen verfügen, ist die Friedens-
wahrscheinlichkeit wohl größer. Folgt man dieser Argumentation, wäre damit aus ethischer
Sicht allerdings auch zwingend die gegenseitige Abrüstung verbunden, um das unumgeh-
bare Übel auf das Mindestmaß zu reduzieren.
Genau dies war beispielsweise der zäh errungene Kompromiss, den die katholische Kir-
che gefunden hat. Natürlich hat es Teile gegeben, die die erste oder zweite Position vertra-
ten. Die große Mehrheit hat sich aber dazwischen verortet und sowohl die Verwerflichkeit
des Einsatzes solcher Waffen eindeutig benannt als auch zugestanden, dass angesichts der

232
Gustav Gundlach, „Die Lehre Pius XII. vom modernen Krieg“, Stimmen der Zeit 164 (1958/59) 1–14.

168
17 Nukleare Abschreckung

bestehenden Situation ein Weg zu wählen sei, der die Kriegswahrscheinlichkeit minimiert.
Also: Atomwaffen zu besitzen und damit zu drohen, ist wegen der höheren Friedenswahr-
scheinlichkeit vorübergehend ethisch vertretbar, aber zwingend mit gemeinsamen Abrüs-
tungsbemühungen verbunden.

17.3 Das ‚Wie‘ der Abschreckung

Kommen wir zur langen Phase des Wie (Schwerpunkt in den 1960er-/70er-Jahren). Wie
soll Abschreckung stattfinden? Es geht um ein „Gleichgewicht als wechselseitige Verwund-
barkeit bei gleicher Risikoverteilung“. Die dahinterstehende Strategie wird im Englischen
mutually assured destruction (MAD) genannt. Sie hatte die Blickrichtung, Freiheit und
Gleichheit zu gewährleisten, und das innerhalb eines Rahmens von Frieden und Sicherheit.
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Aber es bleibt die Frage: Was für eine Art von Frieden kann das sein?233
Ein Gleichgewicht des Schreckens ist ein fragiler Zustand. Die Menschen leben nicht
in gefestigt friedlichen Verhältnissen, sie leben nicht in wirklich sicheren Verhältnissen. Sie
leben wohl – wenn wir uns des Modells von Pierre Allan bedienen – in einer Art ‚Non-war‘.
Was sind die wichtigen Dilemmata eines solchen Gleichgewichts des Schreckens?
Erste Frage: Was ist mit der Rationalität? Es gibt eine Rationalität, sich nicht anzugreifen,
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weil es die eigene Zerstörung bedeutet. Wir handeln jedoch manchmal nicht rational, es kann
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

auch Fehlkommunikation geben und wir können uns irren. Bei 100-prozentiger Rationalität
und Ausschluss von Missverständnissen würde ein solches Abschreckungsszenario gut funk-
tionieren. Doch bei uns gibt es regelmäßig Schwierigkeiten in der Kommunikation: Es gibt
beispielsweise häufig Probleme damit, das zu dekodieren, was ein Anderer tut und sagt. Das
kann natürlich auch bei der atomaren Abschreckung passieren: Eine Abschreckung intendie-
rende Handlung kann als eine einen Angriff intendierende Handlung wahrgenommen werden.
Zweite Frage: Ist drohen dasselbe ist wie einsetzen? Der zugrunde liegende Gedanke
ist, dass man differenzieren könne und dass Atomwaffen lediglich zu besitzen und so den
Eindruck zu erwecken, sie einsetzen zu können, nicht dasselbe sei, wie über die Intention
zu verfügen, sie auch einzusetzen. Jemand, der die Intention sicher ausschließt („Wir haben
zwar Atomwaffen, werden sie aber nicht einsetzen.“ oder „Wir haben zwar Atomwaffen,
halten sie aber nicht einsatzbereit.“) schreckt nicht mehr ab. Anders gewendet: Wer über
ein ‚scharfes Ende‘ verfügt, das ernst genommen werden soll, kommt nicht mehr umhin,
zumindest über die Intention zu verfügen, es im äußersten Notfall auch einsetzen zu können:
Es muss alles dafür vorbereitet sein und der Einsatz darf nicht sicher ausgeschlossen sein.
So kommen wir letztlich doch immer an den Punkt, es zwar als ethisch falsch zu bezeich-
nen, solche Waffen einzusetzen zu wollen, weil sie gegen Ad-bellum- und In-bello-Kriterien
verstoßen – dass aber die Bereitschaft dazu wohl die höchste Wahrscheinlichkeit bietet, den
Frieden zu bewahren. Hart formuliert: Es ist ethisch falsch, aber alternativlos.
Dritte Frage: Was ist mit taktischen Nuklearwaffen? Sie fußen auf der Idee, dass sich ihre
Wirkungen auf das Gefechtsfeld beschränken ließen. Das mag vielleicht funktionieren. Der ent-
scheidende Punkt ist aber: Wenn es nur um taktische Nuklearwaffen ginge und man nur über
sie verfügte, entfiele die Abschreckung der MAD-Strategie, das Gleichgewicht des Schreckens.

233
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Schockenhoff, Kein Ende der Gewalt? ..., 355–370.

169
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

17.4 Kooperative Lösungsversuche

Kommen wir zur dritten Phase (Schwerpunkt in den 1980er-Jahren): So ist man letztlich zu
dem Ergebnis gekommen, dass man militärisch zu keiner Lösung kommt, weil beide Seiten
so stark sind, dass sie sich gegenseitig zerstören können und dass man ethisch keine zufrie-
denstellende Antwort auf diese Situation findet. Was getan wird, ist letztlich falsch, aber es
gibt keine Alternative: Rüstet eine Seite vollständig ab, beginnt womöglich die andere einen
Krieg, weil dieser nun wieder kalkulierbar scheint.234
So ging man dazu über, die Konfliktkonstellation zu transzendieren, man ging quasi
darüber hinaus. Diese neuen Wege beziehen sich auf politische statt auf militärische Sicher-
heit. Man strebte eine gemeinsame Vertrauensbasis an und wollte gemeinsame Vereinba-
rungen treffen. Das Ziel war ein gemeinsames Sicherheitskonzept: nicht ‚meine‘ Sicherheit
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und ‚deine‘ Sicherheit, die sich gegenseitig gegenüberstehen und sich blockieren, sondern
‚unsere‘ Sicherheit – das Konzept der komparativen Gerechtigkeit. Das heißt, dass wir uns
in die je andere Seite hineinversetzen. Im Fall nuklearer Abschreckung bedeutet dies, bei-
spielweise im SDI-Programm sowohl die Erhöhung der eigenen Sicherheit zu erkennen
als auch die Verringerung der Sicherheit der anderen Seite, die ein Entfallen ihrer Zweit-
schlagkapazität wahrnimmt. Komparative Gerechtigkeit heißt also, das, was man tut, auch
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jeweils aus der Sicht des Anderen zu betrachten, und sich so auf eine größere gemeinsame
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Sicherheit zuzubewegen.
Ebenso wurde Frieden als rechtsförmige Konfliktlösung fokussiert. Dies bedeutet, dass
wir einerseits – wenn wir aus der nuklearen Abschreckung herauskommen – sicher nicht zu
einer Welt gelangen, die frei von Konflikten ist, es werden viele Konflikte bleiben. Anderer-
seits werden wir Konflikte aber eben auch nicht gewaltförmig lösen oder durch gegenseitig
angedrohte komplette Zerstörung einfrieren.
Abschließend kurz noch einmal zurück zur Position der einseitigen Abrüstung. Diese
hat es letztlich nicht geschafft, streng argumentativ darzulegen, dass ihr Herangehen die
Friedenswahrscheinlichkeit höher ausfallen lässt. Welche Wahrscheinlichkeit gibt es für
Freiheit und Gleichheit im Rahmen von Frieden und Sicherheit, wenn man im Sinne der
MAD-Strategie handelt? Und wie wahrscheinlich ist es, Freiheit und Gleichheit im Rahmen
von Frieden und Sicherheit genießen zu können, wenn man sich einseitig entwaffnet? Das
zugrunde liegende Problem ist, dass es nicht plausibilisierbar, dass es nicht argumentativ zu
zeigen ist, dass die – allein für den eine Entscheidung Treffenden hingegen stets wählbare –
prinzipielle Wehrlosigkeit in einer Konstellation vorzugswürdig ist, die Verantwortung für
Dritte umfasst – hier: einer Regierung für ihre Bevölkerung.

17.5 Verschiebungen nach dem Kalten Krieg

Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ist es gelungen, verschiedene Waffen zu ächten, die
unnötiges Leiden verursachen – weil sie keine entscheidenden Vorteile hinsichtlich der mili-
tärischen Notwendigkeit erbringen und dem Diskriminierungs- und/oder Verhältnismäßig-

234
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 370–386.

170
17 Nukleare Abschreckung

keitsgrundsatz nicht Rechnung tragen:235 beispielsweise Splitterbomben, Antipersonenminen


oder Streubomben. Es wurden auch Massenvernichtungswaffen verboten: biologische Waf-
fen Mitte der 1970er-Jahre und chemische Waffen Mitte der 1990er-Jahre. In diesen beiden
Fällen hatte die Staatengemeinschaft samt der Großmächte zu einem Konsens gefunden,
wegen der unkalkulierbaren Risiken im ersten Fall beziehungsweise wegen der allzu leich-
ten Verfügbarkeit im zweiten Fall.
Anders ist die Entwicklung im Fall von Atomwaffen verlaufen. Der 1970 in Kraft getre-
tene Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) unterschied zwischen Staa-
ten, die bereits offiziell über sie verfügten und solchen, die dies nicht taten: Während Staaten
der zweiten Gruppe diese Waffen verboten wurden, wurde die erste Staatengruppe zum
gemeinsamen Abrüsten verpflichtet. Allerdings vereinbarten die USA und die Sowjetunion
beziehungsweise Russland – die über mehr als 90 Prozent der Kernwaffen verfügten und
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verfügen – lediglich im Zeitfenster von 1987 (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty)


bis 2010 (New Strategic Arms Reduction Treaty) einige Reduzierungen vertraglich.
Doch die am Ende des Kalten Krieges in Gang gesetzte Dynamik kam im Laufe des
jungen 21. Jahrhunderts immer mehr zum Erliegen. Die im NVV einst vorgenommene
‚arbeitsteilige‘ Verpflichtung von Verzicht und Abrüstung war ihrem Wesen nach zeitlich
freilich asymmetrisch: Aber die dringende Erwartung von Seiten der nuklear nicht bewaffne-
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ten Staaten, dass die Nuklearmächte eine verantwortliche – also entschiedene und zugleich
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nicht stabilitätsgefährdende – Abrüstung engagiert verfolgten, wurde letztlich nicht erfüllt.


Vor dem Hintergrund dieser Unzufriedenheit mit dem zähen und wenig effektiven Abrüs-
tungsprozess der Vergangenheit katalysierte schließlich die sich in den 2010er-Jahren immer
mehr abzeichnende multipolare Ordnung samt neu zutage tretender Großmächterivalitäten
bei der großen Staatenmehrheit den Willen, nach beinahe 50 Jahren einen neuen, entschie-
deneren Schritt zu gehen.
Ein mehrjähriger Prozess, in den beispielsweise auch große Regierungskonferenzen
über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen einzuordnen sind, mündete 2017 in
die Erarbeitung des Entwurfs eines Vertrags über das Verbot von Kernwaffen. Schließlich
stimmten 122 Staaten im Juli 2017 in der VN-Generalversammlung für die Annahme dieses
Entwurfs. Jedoch beteiligten sich die Nuklearmächte sowie ihre Bündnispartner weder an
der Erarbeitung noch an der Abstimmung. Seitdem steht der Verbotsvertrag allen Staaten zur
Unterzeichnung und Ratifikation offen: Nach fünf Jahren haben ihn fast 90 unterzeichnet
und fast 60 ratifiziert. Drei Monate nach der 50. Ratifikation ist er im Januar 2021 in Kraft
getreten. Es ist jedoch höchst ungewöhnlich, einen völkerrechtlichen Vertrag – der ja auf die
freiwillige Annahme durch eine jede Vertragspartei angewiesen ist, um für diese Bindewir-
kung zu entfalten – gegen den Willen eines dafür ganz entscheidenden Teils der Staatenge-
meinschaft auf den Weg zu bringen. Seine Bedeutung ist daher weniger in den Folgen seiner
partiellen völkerrechtlichen Bindewirkungen zu suchen, sondern eher in seinen Folgen als
politisches (Hilflosigkeits- wie Entschiedenheits-)Signal. Deshalb ist es hilfreich, etwas
genauer in die gegenwärtig faktische wie ethische Gemengelage zu sehen.

235
Für einen detaillierteren Zugang zu diesem Thema samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur
siehe Hans-Joachim Heintze, „Die völkerrechtliche Dimension von Massenvernichtungswaffen und nuklearer
Abschreckung“, in Nukleare Abschreckung in friedensethischer Perspektive, hrsg. von Ines-Jacqueline Werk-
ner und Thomas Hoppe, Wiesbaden 2019, 125–142, 128–140.

171
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Erstens sei – erneut im Sinne eines exemplarisch-repräsentativen Zugangs – die auch


schon hinsichtlich ihrer Anfangszeit angeführte Reflexion in der katholischen und evan-
gelischen Kirche in Deutschland sowie die katholische Positionierung auf weltkirchlicher
Ebene aufgegriffen.
Die einst eingenommene ‚interims-ethische‘ Haltung wird insbesondere aufgrund der
Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte mit ihrem recht defizitären Abrüstungswillen und
-geschehen sowie aufgrund der sich anders konturierenden internationalen Situation als
immer weniger einschlägig aufgefasst. So wurde in beiden Kirchen zunehmend klarer arti-
kuliert, dass die erstrebte, schrittweise Überwindung der Abschreckung nicht im Verbot von
Nuklearwaffen münden solle, sondern durch deren Ächtung voranzubringen sei: In Deutsch-
land ist dies auf Seiten der evangelischen Kirche 2007 im Rahmen ihrer Friedensdenkschrift
grundgelegt236 sowie 2019 durch die EKD-Synode formuliert worden;237 ebenfalls 2019
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erfolgte dies aufseiten der katholischen Kirche ausführlicher durch die Kommission Justitia
et Pax im Papier Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung.238 Diese
Verschärfung zur Überwindung der Abschreckung ist spätestens seit 2014 auch in die päpst-
lichen Stellungnahmen durchgedrungen. Zunächst anlässlich von Konferenzen zu humanitä-
ren Auswirkungen von Atomwaffen in Wien sowie zur Abrüstung in Rom und dann, bislang
am ausführlichsten, im Zuge des Besuchs von Papst Franziskus in Nagasaki und Hiroshima
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Ende 2019:239 Mit Blick auf das gemeinsam und schrittweise zu realisierende Ziel einer
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

atomwaffenfreien Welt seien Besitz von Atomwaffen und nukleare Abschreckung illegitim.
Zweitens sei dieser Position die Auffassung gegenübergestellt, dass es in der gegen-
wärtigen Situation für die meisten jener Regierungen, deren Streitkräfte offiziell oder inof-
fiziell über Nuklearwaffen verfügen, unvernünftig sei und ihren eigenen Bevölkerungen
gegenüber, für deren Schutz sie zuständig sind, unverantwortlich, vollständig auf nukleare
Abschreckungsfähigkeit zu verzichten.240

236
Siehe Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen,
Gütersloh 2007, Nr. 162–164.
237
Siehe 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des
Friedens, Dresden 2019, Nr. 5.
238
Siehe Deutsche Kommission Justitia et Pax, Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung,
Bonn 2019.
239
„Eine Welt in Frieden und frei von Atomwaffen ist das Bestreben von Millionen von Männern und Frauen
überall auf der Erde. Dieses Ideal Wirklichkeit werden zu lassen erfordert die Beteiligung aller: Einzelne,
Religionsgemeinschaften, die Zivilgesellschaft, die Staaten im Besitz von Atomwaffen und atomwaffenfreie
Staaten, private und militärische Bereiche sowie die internationalen Organisationen. […] Wir dürfen nie
müde werden, unverzüglich dafür zu arbeiten und darauf Nachdruck zu legen, die wichtigsten internationalen
Rechtsmittel für die Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen, einschließlich des Atomwaffenver-
botsvertrags, zu unterstützen.“ Franziskus, Ansprache über Atomwaffen, Nagasaki 24.11.2019, https://www.
vatican.va/content/francesco/de/speeches/2019/november/documents/papa-francesco_20191124_messag-
gio-arminucleari-nagasaki.html, abgerufen am 27.2.2022 beziehungsweise „Der Einsatz von Atomenergie
zu Kriegszwecken ist unmoralisch, wie ebenso der Besitz von Atomwaffen unmoralisch ist, wie ich schon
vor zwei Jahren gesagt habe. […] Wie können wir Frieden anbieten, wenn wir beständig die Drohung eines
Atomkrieges als legitimes Mittel zur Konfliktlösung einsetzen?“ Franziskus, Ansprache beim Friedenstreffen,
Hiroshima 24.11.2019, https://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2019/november/documents/
papa-francesco_20191124_messaggio-incontropace-hiroshima.html, abgerufen am 27.2.2022.
240
Für einen detaillierteren Zugang zu diesem Thema samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärlite-
ratur siehe Konstantin Bogdanov, „Russische Kernwaffen“, Ethik und Militär 7 (2020) Nr. 1, 72–79; Sven
Bernhard Gareis, „Chinas Nuklearstrategie in einem geopolitischen Umfeld“, Ethik und Militär 7 (2020)

172
17 Nukleare Abschreckung

Dazu können verschiedene allgemeine Überlegungen vorgenommen werden. Zunächst


wäre es nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher, dass sich Konfliktparteien ohne
nukleare Abschreckung für eine Konfrontation mittels modernster konventioneller Waffen
entschieden, insofern sie ernsthafte Chancen dafür erkennen, sich nachhaltig durchsetzen zu
können; dies würde die Welt – beispielhaft seien nur Taiwan, die koreanische Halbinsel oder
die Kashmir-Region genannt – nicht friedlicher, sondern unfriedlicher werden lassen. Ferner
würde eine allseitige und vollständige nukleare Abrüstung katalysieren, dass sich nuklear
neu- beziehungsweise wiederbewaffnende autoritäre oder totalitäre Regime der internatio-
nalen Gemeinschaft gegenüber tyrannisch gebärden.
Über die vorstehenden Aspekte hinaus gibt es freilich auch hinsichtlich der einzelnen
Länder jeweils spezifische Argumente – beispielhaft seien dazu Eigenheiten Russlands,
Chinas und Frankreichs erwähnt. Russland wird aus westlicher Perspektive als aggressiv
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wahrgenommen: In eigener Wahrnehmung hält es sich hingegen NATO wie China gegen-
über für konventionell unterlegen, für nahezu vollständig eingekreist und mit seinen gewal-
tigen, kaum besiedelten Territorien für äußerst verwundbar. Die einzige Möglichkeit, die
Russland in dieser Situation sieht, um umgebende Mächte und Allianzen von Angriffen auf
sein Staatsgebiet abzuhalten, die es konventionell abzuwehren nicht in der Lage wäre, ist
die Abschreckung mittels nuklearer Erstschlagfähigkeit auf strategischer, vor allem aber
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auf der niederschwelligeren taktischen Ebene. China geht demgegenüber davon aus, dass
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

es konventionell auf seinem Hoheitsgebiet sowie in seiner unmittelbaren Nachbarschaft


nicht (ernsthaft) gefährdet ist und es sich hier jedem Opponenten erfolgreich entgegenstel-
len könnte. Daher hält es bislang ein eher kleines, landgestütztes Zweitschlagarsenal – als
strategische Minimalabschreckung – allein dafür vor, um nicht selbst Ziel eines etwaigen
nuklearen Erstschlags zu werden. Frankreich hält es schließlich angesichts nuklearer Waf-
fengleichheit zwischen den USA und Russland für risikobehaftet, dass die USA – um den
Preis, dann auch selbst schwerste Zerstörungen in Nordamerika zu erleiden – russische Nuk-
learangriffe auf Mittel- oder Westeuropa mit entsprechenden Gegenangriffen auf russisches
Territorium vergelten. Diesbezüglich bewahrt Frankreich daher eine – vom Umfang her der
chinesischen vergleichbare – eigenständige strategische Minimalabschreckung.
Nachdem wir diese beiden aktuell vertretenen, so unterschiedlichen Grundpositionen
– verkürzt können wir sie eine mehr rein moralische Prinzipien fokussierende und eine
mehr bestehende vormoralische Umstände fokussierende nennen241 – skizziert haben, sollen
Elemente eines Ansatzes angeführt werden, der das Formulieren ethischer Normen bezie-
hungsweise Handlungsorientierungen gleichzeitig in einschlägigen Prinzipien wie in tat-
sächlichen Gegebenheiten fundiert sieht. Welches sind also zentrale Elemente einer solchen
ethischen Reflexion?
Erstens handelt es sich bei diesbezüglichen Normen als konkreten Handlungsrichtlinien
nicht um reine, sondern um gemischte Normen – also nicht um solche, die nur eine Aussage
über das moralisch Richtige/Gebotene umfassen, sondern um solche, die sowohl aus einer
Aussage über das moralisch Richtige/Gebotene als auch aus einer Beurteilung empirischer

Nr. 1, 79–85; Wolfgang Richter, „Erweiterte nukleare Abschreckung und Teilhabe“, Ethik und Militär 7
(2020) Nr. 1, 44–55, 48.
241
Alternativ könnte man auch von einer deontologischen, das Gewicht mehr auf moralische Argumente, und einer
teleologischen, das Gewicht mehr auf empirische Argumente legenden Position sprechen.

173
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Tatsachen hervorgehen. Zweitens ist das Verhältnis zwischen solchen Normen, ethischen Prin-
zipien und tatsächlichen Gegebenheiten zu verdeutlichen. Hierfür sei auf ein einfaches Bild
zurückgegriffen. Normen als konkrete Handlungsrichtlinien können wir uns als Ellipsen mit
zwei Brennpunkten vorstellen: der aus (einschlägigen) ethischen Prinzipien hervorgehenden
moralischen Aussage sowie der Beurteilung der (einschlägigen) tatsächlichen Gegebenhei-
ten. Wenn wir annehmen, dass der Brennpunkt der moralischen Aussage wenig veränderlich
ist,242 gilt dies nicht für den anderen Brennpunkt. Demzufolge führen sowohl Veränderungen
der tatsächlichen Gegebenheiten selbst als auch Veränderungen ihrer Beurteilung zur Ände-
rung der dafür einschlägigen Normen. Mehr noch – es ist ein Spezifikum der Ethik, dass sie
eine vom Allgemeinen zum Konkreten hin abnehmende Gewissheit hat; im Bild: Je weiter
der Brennpunkt der Beurteilung empirischer Tatsachen im Konkreten angesiedelt ist, desto
leichter verändert er sich; auf je Konkreteres sich die Ellipse der Norm beziehen soll, desto
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leichter wird sie als einschlägige, zu befolgende Norm eine andere.243 Darin wird deutlich,
dass einer Norm gerade nicht Form oder Funktion von perspektivisch Anzustrebendem oder
Verhandlungsmaximalpositionen zukommt, sondern vielmehr die des aktuell Zugänglichen
und Einschlägigen. Drittens ist die Denkfigur der Komplementarität von bleibender Aktuali-
tät.244 Diese stellt sich dem durch das Bestehen der nuklearen Abschreckung entstandenen
Dilemma, transzendiert es aber auch über den Antagonismus miteinander unversöhnlicher
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Positionen hinaus: Und zwar dahingehend, dass die Nuklearwaffenbesitz und Abschreckung
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ablehnende und die Nuklearwaffenbesitz und Abschreckung erlaubende Position in asym-


metrischer Weise aufeinander angewiesen sind. Die erste ist der Sinnhaftigkeitsgrund für die
zweite, die zweite der Ermöglichungsgrund für die erste. Damit wird ausgedrückt, dass es
nur deshalb möglich ist, die zweite Position sinnvoll zu konzipieren, weil das Existieren der
ersten das dafür unverzichtbare maßgebliche Ideal wachhält; und dass es nur deshalb mög-
lich ist, die erste Position wirksam zu vertreten, weil das Existieren der zweiten den dafür
notwendigen freiheitlichen Entfaltungsraum eröffnet.245
Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass es für einen solchen Zugang heute
noch anspruchsvoller ist, ethische Normen beziehungsweise Handlungsorientierungen zur
nuklearen Abschreckung zu konturieren als in deren Anfangsphase. Dies liegt insbesondere
an drei Veränderungen bei den bestehenden Umständen.

242
Unterschiedliche Ethikentwürfe fassen ihre Prinzipien inhaltlich durchaus verschieden: Gemeinsam ist ihnen
jedoch, dass ‚ihre‘ je wenigen Prinzipien fundamental, sehr allgemein und stets gültig sind: Reine moralische
Normen wandeln sich daher nur wenig.
243
In einem alternativen Bild können wir Normen als konkrete Handlungsrichtlinien, gewissermaßen als ‚Binde-
glied‘ zwischen Prinzipien und tatsächlichen Gegebenheiten ansehen: Die beiden beschriebenen Eigenheiten
von Normen lassen sich auf diese Weise ebenfalls entsprechend veranschaulichen.
244
Siehe Ines-Jacqueline Werkner, „Zur Aktualität der Heidelberger Thesen“, Ethik und Militär 7 (2020) Nr. 1,
20–26, 21f.
245
In diesem Zusammenhang sei auch auf ein in diesem Umstand gründendes Paradox hingewiesen: Das zivil-
gesellschaftliche Engagement, das die diplomatischen Bemühungen flankiert, Besitz von Atomwaffen und
nukleare Abschreckung zu delegitimieren, wirkt auf Regierungen demokratischer und nicht-demokratischer
Staaten asymmetrisch. Es führt bei jenen ungleich stärker zu Rechtfertigungsdruck beziehungsweise Rück-
haltverlust und den damit einhergehenden Handlungseinschränkungen als bei diesen. Paradoxerweise können
so gerade die Führungen jener Mächte geschwächt werden, die noch am ehesten dafür in Betracht kämen,
für eine – das strukturelle Minimieren des Abschreckungsdilemmas bedenkende – nukleare Abrüstung unter
globalen, unparteiischen Wohlfahrtsüberlegungen einzutreten. Siehe Michael Rühle, „No Way Out“, Ethik und
Militär 7 (2020) Nr. 1, 65–71, 66f.

174
17 Nukleare Abschreckung

Erstens dominiert heute nicht mehr ein bipolarer Antagonismus zwischen West- und
Ostmächten die internationale Ordnung, sondern eine multipolare Rivalität zwischen USA,
China, der Europäischen Union, Indien und Russland. Dadurch eröffnen sich mehr Oppo-
sitions-Konstellationen. Zweitens ist neben die Vergeltungs-Abschreckung, in der strategi-
sche Nuklearwaffen als politische Abschreckungswaffen betrachtet wurden und werden, die
Kriegsführungs-Abschreckung getreten, in der man taktische Nuklearwaffen als für eine
mehrstufige Eskalation geeignete Kriegsführungswaffen ansieht.246 (In einer anderen Bild-
metapher könnten wir auch sagen, dass die Kriegsführungs-Abschreckung die Vergeltungs-
Abschreckung nach ‚unten‘ hin ergänzt.) Drittens hat eine ähnliche Auffächerung – dieses
Mal bildlich aber nach ‚oben‘ hin – auch hinsichtlich der Aufklärungskapazitäten sowie der
Angriffs- und Abwehrfähigkeiten stattgefunden. Während sich die USA und Russland nach
wie vor in einem MAD-Gleichgewicht gegenüberstehen, sehen die übrigen Atommächte
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ihre Zweitschlagfähigkeit zumindest dem Staatsgebiet der USA gegenüber als ernsthaft
infrage gestellt.

17.6 Schlussreflexion

Von diesem Blick auf ein hochumstrittenes Thema können wir nun als Kapitelabschluss zu
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einer Reflexion übergehen, die einen aus ethischer Perspektive gangbaren Weg grob umreißt.
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Die große Mehrheit der Nicht-Nuklearstaaten ist begründeterweise von der seit Abschluss
des NVV insgesamt recht defizitären nuklearen Abrüstung enttäuscht und kann legitimer-
weise politisch dafür eintreten, dass es diesbezüglich konkret zu einer Beschleunigung und
zu substanziellen Fortschritten kommt. Ebenso ist – auch wenn es auf das Dilemma der
nuklearen Abschreckung keine befriedigenden Antworten gibt – die Erwartung richtig, sich
redlich darum zu bemühen, die durch dieses Dilemma aufgeworfenen Probleme struktu-
rell zu minimieren. Insbesondere die durch taktische Atomwaffen erfolgte Vergrößerung
der ‚Einsatzbandbreite‘ sowie die kontinuierliche Verbesserung von Angriffs- und Vertei-
digungsfähigkeiten wirken heute aber kontraproduktiv auf das konkrete Verwirklichen von
Abrüstung wie auf das strukturelle Minimieren des Abschreckungsdilemmas.
Es stellt sich jedoch auch die Frage, welchen Fortschritt der gewählte Weg mittels des
Vertrags über das Verbot von Kernwaffen (insbesondere Art. 4 I und II) im Vergleich zum
NVV beim Verfolgen dieser beiden Ziele leistet, welchen Mehrwert er dafür hat?
Unstrittig dürfte sein, dass der Verbotsvertrag eine politische Willensbekundung ist.
Angesichts großer Unzufriedenheit drückt sie ebenso Entschiedenheit wie Hilflosigkeit aus.
Der Vertrag ist als solcher durchaus geeignet, auch innerhalb nuklear bewaffneter Staaten
zivilgesellschaftliche Unterstützung für sein politisches Anliegen zu generieren. Fraglich ist
hingegen, ob seine völkerrechtlich verbindlichen Folgen einen Mehrwert entfalten und noch
grundlegender, ob seine Hauptintention, das Etablieren einer ausnahmslosen Verbotsnorm,
rechtsethisch angemessen ist. Die erste Frage sei hier nur kurz angesprochen, auf die zweite
mehr Gewicht gelegt.

246
Moderne taktische Nuklearwaffen der NATO verfügen über eine variabel wählbare Sprengkraft von 0,3 bis
50 Kilotonnen. Die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben hatten, zum Vergleich, eine
Sprengkraft von 15 beziehungsweise 21 Kilotonnen.

175
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Die Frage ob die Rechtsfolgen des Vertrags einen Mehrwert entfalten, kann nach gegen-
wärtigem Stand nahezu verneint werden. Der IGH hat 1996 auf Bitten des VN-General-
sekretärs ein Gutachten zu Atomwaffen verfasst.247 Die zentrale Aussage lautet in dessen
Nr. 105 (2), dass es völkerrechtlich weder ausdrücklich erlaubt noch prinzipiell verboten
ist, mit Atomwaffen zu drohen oder diese einzusetzen, sowie dass für Drohen und Einsetzen
das humanitäre Völkerrecht gilt. Mit sieben zu sieben Stimmen gespalten war das Gericht
hinsichtlich der Frage, ob Drohen und Einsetzen generell gegen humanitäres Völkerrecht
verstoßen würden (ja; gemäß Vorsitzendenstimme) sowie ob ungeachtet dessen im Falle
staatlicher Existenzbedrohung (extreme circumstance of self-defence) Drohen und Einsetzen
erlaubt wären (nein; gemäß Vorsitzendenstimme). Der Rechtsauffassung dieses Gutachtens
kommt hohes Gewicht zu, völkerrechtlich ist es aber nicht bindend. Nichtsdestoweniger
kann darin ein Referenzpunkt hinsichtlich der gegenwärtigen Völkerrechtslage gesehen wer-
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den. Ein inhaltlich weitergehender, neuer völkerrechtlicher Vertrag entfaltet zwar rechtliche
Bindewirkung, jedoch nur für die ihm freiwillig beitretenden Vertragsparteien: Der Verbots-
vertrag begründet kein zwingendes, also von niemandem abdingbares Recht. Insofern ein
nuklear bewaffneter Staat ihm also nicht freiwillig beitritt – und konsequenterweise auch tat-
sächlich zu einem nuklear nicht bewaffneten Staat wird –, entstehen keinerlei über den status
quo hinausgehende Rechtsfolgen. Daher eröffnet sich durch den Verbotsvertrag lediglich die
Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Option, dass Nuklearmächte, die aus eigenem Entschluss keine solche mehr sein möchten,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zu diesem Zweck auch einem Rechtsrahmen beitreten.


Noch grundlegender ist allerdings die Frage, ob es rechtsethisch angemessen ist, eine
ausnahmslose Verbotsnorm zu etablieren. Um bei der Beantwortung dieser Frage möglichst
eine gute Orientierung zu behalten, nähern wir uns von ihrem großen Referenzrahmen her.
Die Grundspannung besteht auf der einen Seite zwischen dem Bewahren eines zumindest
gegenüber verständig, strategisch Agierenden verlässlichen ‚Non-war‘ (‚MAD-Friedens‘),
insbesondere zwischen konkurrierenden Großmächten – und auf der anderen Seite dem
Beseitigen des ‚MAD-bestimmungsgemäß‘ unzählige Unschuldige, schlimmstenfalls einen
Teil der Menschheit vernichten Sollenden. An dieser Grundspannung ist des Weiteren wich-
tig, dass weder die Nuklearwaffenbesitz und Abschreckung erlaubende noch die dies ableh-
nende Position argumentativ konsistent sind.248
In der ersten Position liegt ein auffälliger Bruch darin, dass sie behauptet, dass Nuklear-
waffen zur Abschreckung konfliktvölkerrechtskonform [sagen wir aus ethischer Perspektive
‚legitim‘] einsetzbar seien, zugleich aber auch, dass der Kern der Abschreckung das Hin-
nehmenmüssen eines unkalkulierbaren [sagen wir aus ethischer Perspektive ‚illegitimen‘]
Schadens sei. Die beiden Aussagen schließen sich gegenseitig aus: Legitime (konfliktvölker-
rechtskonforme) Drohung und Einsatz schließen den illegitimen (unkalkulierbaren) Schaden
aus und vice versa der illegitime (unkalkulierbare) Schaden legitime (konfliktvölkerrechts-
konforme) Drohung und Einsatz. In der zweiten Position liegt ein hervorzuhebender Bruch
hingegen darin, dass sie behauptet, dass Abschreckung nicht funktioniere, zugleich aber

247
International Court of Justice, Legality of the threat or use of nuclear weapons. Advisory opinion of 8 July 1996,
https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/95/095-19960708-ADV-01-00-EN.pdf, abgerufen am 27.2.2022.
248
Die folgende Überlegung geht zurück auf Peter Rudolf, „Zur Politik und Ethik nuklearer Abschreckung unter
veränderten internationalen Bedingungen“, in Nukleare Abschreckung in friedensethischer Perspektive …,
85–104, 93ff sowie Heinz Gärtner, „Der Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen und negative Sicherheits-
garantien“, in Nukleare Abschreckung in friedensethischer Perspektive …, 143–158, 151f.

176
17 Nukleare Abschreckung

auch, dass durch vielfältige Möglichkeiten des ‚Versagens/Irrtums‘ eine nukleare Katastro­
phe eintreten könne; Letzteres setzt allerdings voraus, dass es etwas gibt, das irgendwie
funktioniert, bis es zu einem ‚Versagen/Irrtum‘ kommt. Die beiden Behauptungen schlie-
ßen sich gegenseitig aus: Wenn ein Gleichgewicht des Schreckens nicht funktioniert, kann
es zu keinem ‚versagens-/irrtumsbedingten‘ Nuklearkrieg kommen; wenn es hingegen zu
einem ‚versagens-/irrtumsbedingten‘ Nuklearkrieg kommen kann, funktioniert bis dahin
ein Gleichgewicht des Schreckens. Beide Positionen sind also nicht nur in asymmetrischer
Weise auf die je andere angewiesen (siehe Abschnitt 17.5), sondern auch in sich brüchig.
Es ist deshalb nicht abwegig, die Grundspannung des großen Referenzrahmens nicht als
eine solche anzusehen, die in der Perspektive einer zeitlichen, linearen Entwicklung – ins-
besondere durch Erreichen ausreichend guten Willens bei allen Beteiligten – überwunden
werden könnte. Es handelt sich nicht um eine zeitlich-interimistische Konstellation, sondern
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um eine unaufhebbare Unvollkommenheit,249 die lediglich in beständigem Mühen struk-


turell minimiert werden kann.
Was dies für Normen beziehungsweise Handlungsorientierungen bedeutet, sei sowohl
anhand einer zwar durchaus möglichen, wenn auch jetzt nicht absehbaren internationalen
Ordnung umfassend kooperativer Art als auch anhand der gegenwärtig bestehenden Staaten-
ordnung skizziert.
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In einer Staatenordnung umfassend kooperativer Art würden die Einzelstaaten der inter-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nationalen Gemeinschaft solche Beziehungen zueinander unterhalten, dass sie nicht ernsthaft
das Eintreten von Konflikten bewaffneter Art annehmen und sich erst recht nicht in ihrer
Existenz durch andere bedroht fühlen. In einer derartigen Situation könnte die Staatenge-
meinschaft ein Gleichgewicht des Schreckens zwar überwinden, müsste aber dennoch eine
‚kollektive‘ Rückfallsicherung vorhalten (analog zur Figur spezieller Reservekapazitäten im
Rahmen innerstaatlicher Sicherheitsorgane). Diese müsste so beschaffen sein, dass sie einem
sich nuklear (wieder-)bewaffnenden autoritären oder totalitären Regime keinerlei Aussicht
eröffnet, sich der Staatengemeinschaft gegenüber in ernsthafter Weise tyrannisch gebärden zu
können. Sie dürfte aber natürlich auch keinem der an der Rückfallsicherung beteiligten Staa-
ten leichte Missbrauchsmöglichkeiten bieten. Es müsste also – beispielsweise im Nuklear-
arsenal, über das zwei Drittel der an der Rückfallsicherung Beteiligten verfügen – für jeden
Staat der Welt erkennbar sein, in sicherer Weise einen völlig inakzeptablen Schaden erleiden
zu können (gewissermaßen eine ‚eineinhalbfach zugesicherte kooperative Zerstörung‘). Und
es müsste zwar auf jeden an der ‚kollektiven‘ Rückfallsicherung Beteiligten ankommen, sie
dürfte aber nicht von einem Einzelnen abhängen. Dazu könnte beispielsweise ein halbes Dut-
zend großer und im Inneren stabiler Staaten, die explizit und allgemeinverbindlich festgelegt
werden, über je minimalistische (im Verhältnis zu den heutigen US-amerikanischen bezie-
hungsweise russischen Arsenalen geradezu winzige), rein strategische und nicht taktische
Nuklearwaffenkapazitäten verfügen. Darüber hinaus würden diese durch eine eigenständige,
internationale Organisation unabhängig und vollumfänglich überwacht. Demnach wäre im
Umfeld einer internationalen Ordnung umfassend kooperativer Art also eine allgemeinver-
bindliche Nuklearwaffenverbotsnorm mit doppelt minimalistischem (hinsichtlich der Akteure
wie der Arsenale) Ausnahmetatbestand angemessen, aber keine ausnahmslose Verbotsnorm.

249
In der Sprache christlicher Weltsicht könnte diese diesseitig unaufhebbare Unvollkommenheit als eschato-
logisch-interimistisch bezeichnet werden.

177
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Sehen wir – a maiore ad minus – nach einer Staatenordnung umfassend kooperativer Art
nun auf die gegenwärtig bestehende internationale Ordnung. In dieser Gesamtsituation kann
das Gleichgewicht des Schreckens noch nicht überwunden werden, es kann aber – über die
notwendige konkrete Abrüstung hinaus – strukturell minimiert werden. Kernelemente hier-
von wären erstens eine allgemeinverbindliche Verbotsnorm. Zweitens, dass damit für die
USA, China, Russland, einen gemeinsamen englisch-französischen Protagonisten, Indien und
Pakistan ein Ausnahmetatbestand verbunden wird, der sich auf das Potenzial strategischer
Minimalabschreckung erstreckt: Dieses müsste für jeden Staat der Welt erkennbar werden
lassen, in sicherer Weise einen völlig inakzeptablen Schaden erleiden zu können (sozusagen
eine ‚sechsfache, minimalsierte MAD‘) und durch die je anderen fünf Nuklearwaffenstaa-
ten vollumfänglich überwacht werden. Drittens, dass die vorhandenen Nuklearwaffen derart
sind, dass sie für eine strategisch-defensive Drohintention geeignet sind, aber keinesfalls
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für eine taktisch-offensive Gestaltungsfähigkeiten begleitende Drohintention. Viertens, dass


allseitige negative Sicherheitsgarantien gelten, dass also nur Staaten und deren Alliierte stra-
tegische Ziele sind, die selbst über Nuklearwaffen verfügen. Demnach wäre im Umfeld der
gegenwärtig bestehenden internationalen Staatenordnung also eine allgemeinverbindliche
Nuklearwaffenverbotsnorm mit einem für sechs namentlich genannte Staaten an gegenseitig
kontrollierte strategische Minimalabschreckung samt rigoroser Ziellandbeschränkung gebun-
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denen Ausnahmetatbestand angemessen, aber keine ausnahmslose Verbotsnorm.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen können wir, in umgekehrter Reihenfolge, auf
die beiden unsere Reflexion leitenden Fragen antworten. Erstens ist es rechtsethisch nicht
angemessen, eine ausnahmslose Verbotsnorm von Nuklearwaffenbesitz und Abschreckung
zu etablieren. Sie würde lediglich für die Nuklearmächte den derzeit bestehenden Bruch
zwischen Unerlaubtheit und Unumgänglichkeit der Drohung (illegitim, aber alternativlos)
vorverlagern zu einem Bruch zwischen Unerlaubtheit und Unumgänglichkeit des Besitzes
(illegitim, aber alternativlos). Und zweitens liegt der Mehrwert des Vertrags über das Verbot
von Kernwaffen darin, dass er als politische (Hilflosigkeits- wie Entschiedenheits-)Bekun-
dung einen Fortschrittsbeitrag leisten kann auf dem Weg des konkreten Verwirklichens von
Abrüstung wie des strukturellen Minimierens des Abschreckungsdilemmas. Ein solcher
Mehrwert und Fortschrittsbeitrag sind jedoch nicht hinsichtlich etwaiger völkerrechtlich
verbindlicher Folgen gegeben, die durch ihn entstehen können.
Nukleare Abschreckung sowohl konsequent als auch intellektuell redlich strukturell mini-
mieren zu wollen, bedeutet, sich mit einer komplexen Situation auseinanderzusetzen, die
nicht simplizistisch zum Besseren hin auflösbar ist – oder anschaulicher: sich auf einen Weg
zu begeben, dessen Ziel nur mitten aus einem tückischen Sumpf heraus erreichbar ist. Präg­
nant fasst dies eine Formulierung von Thomas Hoppe zusammen, sie sei das Schlusswort:

„Die ethische Kritik […] führt zu einer notwendigen Schärfung des Bewusstseins über diese Situ-
ation, kann aber ihrerseits nur Zielsetzungen und Kriterien für die Schaffung einer friedvolleren
Welt benennen, ohne die Aporien des gegenwärtigen Zustands aufheben oder verlässliche Wege
aus ihnen heraus weisen zu können, deren je eigene Risiken als hinnehmbar zu gelten hätten […].“250

250
Thomas Hoppe, „Nukleare Abschreckung in der Kritik politischer Ethik“, in Nukleare Abschreckung in frie-
densethischer Perspektive …, 159–177, 176f [Hervorh. M. S.].

178
17 Nukleare Abschreckung

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

James M. Acton, Deterrence during disarmament. Deep nuclear reductions and internatio-
nal security, Abingdon 2011.
Veronica Bock (Hrsg.), „Die Kernfrage: Nukleare Abrüstung im Fokus von Friedensethik
und Sicherheitspolitik“ [Themenheft], Ethik und Militär 7 (2020) Nr. 1.
Ines-Jacqueline Werkner und Thomas Hoppe (Hrsg.), Nukleare Abschreckung in friedens-
ethischer Perspektive, Wiesbaden 2019.
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179
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und


Responsibility to Protect

Kommen wir nun zur militärischen Intervention zu humanitären Zwecken und der Respon-
sibility to Protect (RtoP). Wir beginnen mit den theoretischen Zusammenhängen und sehen
dann auf einen konkreten Fall.251

18.1 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken

18.1.1 Beschränkung der Kriegsführungsgründe

Die Basis für alles Weitere ist der Wandel des Souveränitätsbegriffs: In der Westfälischen
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Ordnung galt als Souveränität eine territorial zu respektierende Kontrolle, was im Laufe
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer normativ rückgebunden Souveränität zu
werden begann. Souveränität als territorial zu respektierende Kontrolle bedeutete, lediglich
„sein“ Territorium nach außen hin zu schützen. Andere ging es nichts an, was in dessen
Inneren geschah. Zudem durften Staaten in der Westfälischen Ordnung – unter sehr wenig
einschränkenden Bedingungen – nach außen hin Krieg führen.
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Historische Unterschiede
Militärische Interventionen zu humanitären Zwecken sind zwar ein sehr aktuelles
Thema. Gerade in den vergangenen 30 Jahren hat es stark an Aufmerksamkeit gewonnen.
Doch Interventionen ähnlicher Art hat es bereits vorher gegeben, schon seit Anfang des
19. Jahrhunderts, etwa durch Frankreich oder England. Deren Verständnisrahmen war
indes anders: Sie wurden zum einen als „reines Recht“ angesehen, dem keinerlei Ver-
pflichtung entsprach, zum anderen wurde kein Individualrecht seitens Unterdrückter
auf Hilfe und Unterstützung bejaht. Vielmehr haben Staaten interveniert, wenn ihrer
Ansicht nach gegen ein zivilisatorisches Minimum verstoßen wurde, gegen Völkerrecht
als „kulturelle Errungenschaft“.

Dann folgte als erster Veränderungsschritt die Beschränkung der Kriegsführungsmöglichkeit


nach außen: zunächst durch die Völkerbundsatzung von 1919 und dann vor allem durch den
Briand-Kellogg-Pakt von 1928, der jeden Angriffskrieg ächtete, also Krieg als Mittel, um
eigene Interessen durchzusetzen.

18.1.2 Normativ rückgebundene Souveränität

Dann ist da der zweite Veränderungsschritt als Pendant nach innen: Allmählich galt es nicht
mehr einzig als Angelegenheit eines Staates, was in seinem Inneren geschah. So ist bereits
1945 in der VN-Charta – Art. 1 III in Verbindung mit Art. 2 VII, 2. Teilsatz – zu lesen, dass
der VN-Sicherheitsrat auch bei schwersten innerstaatlichen Rechtsbrüchen tätig werden

251
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in Abschnitt 18.1 Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekun-
därliteratur siehe Schrage, Intervention in Libyen …, 160–174.

180
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

kann. Im Jahr 1948 folgte die Völkermordkonvention als unmittelbarer Ausfluss des Zweiten
Weltkrieges: Vor jenem Hintergrund kam die internationale Staatengemeinschaft in einer nie
wieder erreichten Geschwindigkeit überein, Völkermord in Zukunft nicht mehr zu tolerie-
ren. Den Schluss machte das gesamte Menschenrechtsregime, das 1948 mit der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte seinen Anfang nahm und sich ab 1966 – zunächst mit dem
Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte sowie dem Internationalen Pakt
für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – auch durch völkerrechtlich bindende Ver-
träge weiterentwickelte. Hiernach ist es nicht mehr beliebig, was ein Staat in seinem Inneren
macht. Vielmehr werden immer mehr Verhaltensanforderungen vereinbart.
Zunächst war dies jedoch alles Theorie. Erst viel später haben die VN es auch praktisch
zu fundieren begonnen. Ein zaghafter Schritt etwa war gegen Ende des Kalten Krieges,
1988, die Resolution 43/131 der VN-Generalversammlung. Darin ging es lediglich darum,
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dass ein jeder Staat, in dem eine schwere Notlage besteht, nicht willkürlich transnationalen
Nichtregierungsorganisationen, die Hilfe leisten wollen, den Zutritt verwehrt. Zwei Jahre
später, 1990, ging man in der Resolution 45/100 der VN-Generalversammlung schon weiter:
Um Notleidenden in einem Staat zu helfen, dürfen humanitäre Korridore auch militärisch
gesichert werden. Im Nachgang der Befreiung Kuweits ging der VN-Sicherheitsrat erste
Schritte auf diesem Weg. Seine Resolution 688 hat 1991 das Vorstehende für die notleidende
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Bevölkerung im Irak verwirklicht. Da allerdings noch nicht zu militärischen Zwangsmitteln


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ermächtigt wurde, ließ sich das Vorhaben nur in der konkreten geschichtlichen Situation
umsetzen; zudem hatte man hinsichtlich der Bedrohung oder des Bruchs der internatio-
nalen Sicherheit noch an die grenzüberschreitenden Flüchtlingsbewegungen angeknüpft.
In der auf Somalia bezogenen Resolution 794 des VN-Sicherheitsrats erfolgten 1992 zwei
Fortentwicklungen: Erstens sah sie militärische Zwangsmittel vor. Zweitens engte man die
Kriterien, um einen Bruch der internationalen Sicherheit festzustellen, ein: Eine Notlage
muss sich nun nicht über die Grenzen eines Staates hinaus ausweiten. Vielmehr reicht auch
eine schwere Notlage innerhalb eines einzigen Staates, um dies als Bruch der internationalen
Sicherheit zu werten.

In der Ethik müssen wir uns zudem fragen, warum wir denn den Menschen überhaupt zu
Hilfe verpflichtet sind: Warum sollen wir ihnen helfen?
Nun, es gibt eine allgemeine Hilfspflicht – sei es als Tugendpflicht, sei es als Rechts-
pflicht: Wer einem Notleidenden zu moderaten eigenen Kosten helfen kann, der sollte das
tun (wobei kein Anspruch darauf besteht = Tugendpflicht) beziehungsweise der muss das
tun (und es besteht ein Anspruch darauf = Rechtspflicht).
Aber das ist für unsere Zwecke letztlich nicht präzise genug. Schließlich reduziert sich
die vorstehende Pflicht umso mehr, je höher für den Helfer das Risiko beziehungsweise die
Kosten steigen. Ein tragfähigerer Ansatzpunkt ist daher das Verständnis der humanitä-
ren Gemeinschaftsgüter, das heißt der (zumindest elementaren) Menschrechte als globa-
ler öffentlicher Güter (globaler Gemeingüter). Aus juristischer Sicht kann dies durch das
Verständnis von Erga-omnes-Pflichten ergänzt werden; darunter werden solche Pflichten
verstanden, bei denen im Falle einer konkreten Verletzung von jedem Glied einer Rechtsge-
meinschaft der Verstoß geltend gemacht werden kann. So wird eine Verletzung humanitärer
Gemeinschaftsgüter an einem Ort / ein partikularer Pflichtverstoß zu einer Verletzung, die
sich überall auswirkt, beziehungsweise zu einem Pflichtverstoß allen gegenüber. Anders

181
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

gesagt: Wenn in Staat X Völkerrechtsverbrechen begangen werden, dann ist es nicht nur so,
dass dort lebende Menschen einen Anspruch darauf haben, dass ihnen geholfen wird; viel-
mehr sind alle vom dortigen Geschehen selbst betroffen.
Es gibt jedoch ein großes Problem: Hinsichtlich der Erga-omnes-Pflichten existiert kein
allgemein anerkannter Katalog. Allerdings können wir einige Tatbestände nennen, von
denen einhellig anerkannt wird, dass sie dazuzählen: Völkermord, Sklaverei, Rassendiskri-
minierung, Tötung, Folter oder unmenschliche Behandlung. Daher ist es nicht unplausibel
und der Handhabbarkeit wegen auch sinnvoll, sich in analoger Weise(!) auf Vorschriften aus
dem Internationalen Strafrecht zu beziehen – etwa auf die Artt. 6, 7 und 8 des IStGH-Statuts
von 1998, um den Bereich von Verstößen gegen elementare Menschenrechte benennen zu
können: Dieses Statut hat international hohes Gewicht, auch wenn ihm bislang erst zwei
Drittel aller Staaten beigetreten sind und es China, Russland und die USA ablehnen. Zudem
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fließen in ihm verschiedene langfristige Entwicklungen zusammen.252

Schließen wir mit einem kleinen Gedankenexperiment. Das normativ rückgebundene Ver-
ständnis von Souveränität besagt, dass ein Staat von außen betrachtet über Legitimität ver-
fügt – ein universalistisches Konzept –, wenn er das unabdingbare Minimum, für das es
einen jeden Staat überhaupt gibt, gewährleistet (die innere Legitimität, ob ein Staat und sein
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Handeln in seiner Gesamtheit Anerkennung findet beziehungsweise anerkennungswürdig


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ist, ist sehr viel anspruchsvoller und ist auch nicht unter universalistischen Maßstäben zu
betrachten): überleben können in körperlicher Unversehrtheit und minimaler Freiheit.
Der Verlust der äußeren Legitimität eines Staates führt indirekt dazu, die äußere Legiti-
mität eines jeden Staates infrage zu stellen:
Nehmen wir an, dass in Staat X Völkerrechtsverbrechen geschehen. Die internationale
Staatengemeinschaft gibt zu verstehen, dass sie sich nicht dafür interessiert. Die Einwoh-
ner/-innen anderer Staaten müssten – in letzter gedanklicher Konsequenz – zu der Einsicht
gelangen, dass im eigenen Staat, in dem sie leben, auch keine Garantie besteht, in körper-
licher Unversehrtheit und minimaler Freiheit überleben zu können: Denn käme jener seiner
diesbezüglichen Pflicht nicht nach, würde die internationale Staatengemeinschaft ebenfalls
nicht zu Hilfe kommen. So würde das Grundvertrauen in den je eigenen Staat infrage gestellt.

Das Verständnis, das 1992 mit der Resolution 794 des VN-Sicherheitsrates erstmals zur
Geltung kam, ist heute gefestigte Überzeugung: Wenn sich ausschließlich im Inneren eines
Staates Völkerrechtsverbrechen ereignen, kann der VN-Sicherheitsrat einen Bruch der inter-
nationalen Sicherheit feststellen und Militärmaßnahmen beschließen. Genau das Gegenteil
gilt hinsichtlich militärischer Interventionen zu humanitären Zwecken ohne Mandat des VN-
Sicherheitsrats: Hier besteht große Uneinigkeit.

252
Für die Interpretation des IStGH-Statuts findet sich eine umfangreiche Kommentierung bei Otto Triffterer, Rome
Statute of the International Criminal Court, Baden-Baden 42021: Dort können Verständnisdetails und Abgrenzungs-
probleme gut nachgeschlagen werden.

182
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

18.1.3 Nicht-mandatierte militärische Interventionen

Liegt keine Ermächtigung des VN-Sicherheitsrates vor, kommt es zu einer Güterkollision:


zwischen dem Gut des Gewaltverbots und den humanitären Gemeinschaftsgütern, den
Menschenrechten als globalen öffentlichen Gütern. So kommt es entweder zum Bruch des
einen oder des anderen. Hierauf gibt es eine große Spannweite unterschiedlicher Antworten.

Beginnen wir mit vier unterschiedlichen völkerrechtlichen Auffassungen. Erstens gibt es


die positivistische Auffassung. Sie geht davon aus, dass die VN-Charta unverändert gilt. Ihr
zufolge ist jede nicht-mandatierte militärische Intervention, der Einsatz von Gewalt, ver-
boten. Diese Auffassung ist typisch für das kodifikationszentrierte, kontinentaleuropäische
Völkerrechtsverständnis. Zweitens gibt es eine Position, die vertritt, dass die angesproche-
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nen minimalen Anforderungen an die Souveränität erfüllt sein müssen, damit das Gewalt-
verbot gilt: Ist das nicht der Fall, gibt es keinen souveränen Staat, sodass auch das Gewalt-
verbot nicht gilt. Hierbei handelt es sich – um ein Bild von Georg Nolte zu variieren – um
eine sowohl nach oben als auch zu den Seiten hin offene Souveränität. Eine dritte Meinung
behauptet, dass das Gewaltverbot im Bereich der militärischen Intervention zu humanitären
Zwecken gewohnheitsrechtlich seine Gültigkeit verloren hat, weil, seitdem die VN-Charta
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gilt, in der internationalen Staatengemeinschaft immer wieder militärische Interventionen


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zu humanitären Zwecken stattgefunden haben. Viertens wird vertreten, dass das Gewaltver-
bot insgesamt seine Gültigkeit gewohnheitsrechtlich verloren, weil es seit 1945 zahlreiche
Kriege gegeben hat und die internationale Staatengemeinschaft sich wohl vom Gewaltverbot
abgewandt hat. Die beiden letztgenannten Auffassungen reflektieren ein gewohnheitsrecht-
lich (opinio iuris und consuetudo) geprägtes Völkerrechtsverständnis, wie es für den anglo-
phonen Sprachraum typisch ist.

In der Rechtsethik gäbe es nun zwei Möglichkeiten, die Kollision von Gewaltverbot und
Humanitären Gemeinschaftsgütern aufzulösen: die Nothilfe und den überpositiven Notstand.
Vom Heranziehen der Figur der Nothilfe sollte jedoch abgesehen werden. Dagegen spre-
chen nämlich drei unterschiedliche Überlegungen. Erstens verleihen Menschenrechtskon-
ventionen völkerrechtlich keine individuellen Rechte; zudem liegt ein Bruch hinsichtlich der
Rechtsebene vor, aus der heraus sich Notwehr beziehungsweise Nothilfe begründet: Indivi-
duen, die keine Völkerrechtssubjekte sind, wird von einem Völkerrechtssubjekt geholfen.
Zweitens ist die Nothilfe darin begründet, dass ein Angreifer durch seine Aggression seine
Immunität verliert. Dies lässt sich jedoch wegen ungleich komplexerer Vorgänge nicht direkt
von individuellen auf kollektive Abläufe übertragen. Drittens entsprechen sich auf innerstaat-
licher und völkerrechtlicher Ebene keineswegs die Effekte des Infragestellens des Bestehens
der Rechtsordnung sowie die nachträglichen Überprüfungsmöglichkeiten. Notwehr und
Nothilfe sind eine Ausnahme vom Gewaltmonopol: Sie dürfen zum einen das Bestehen des
Gewaltmonopols an sich nicht infrage stellen und müssen zum anderen hinsichtlich etwaigen
Missbrauchs überprüfbar sein. In einem gefestigten Rechtsstaat führt der Rückgriff auf Not-
wehr und Nothilfe weithin nicht zum Infragestellen des Gewaltmonopols, auf internationaler
Ebene hingegen sehr schnell. Und während innerstaatlich zum Beispiel Fälle möglicher Not-
wehrexzesse gerichtlich überprüfbar sind, ist das auf internationaler Ebene ganz und gar nicht
der Fall. So ist es risikoreich ist, auf die Figur der Nothilfe zurückzugreifen.

183
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Wenden wir uns der Variante des übergesetzlichen (überpositiven) Notstands zu. Des-
sen Ausgangspunkt ist, dass moralische Ordnung und Rechtsordnung zwar verschieden,
aber aufeinander angewiesen sind: Die moralische Ordnung und die Rechtsordnung exis-
tieren nebeneinander und überschneiden sich in Vielem auch – sie beziehen sich also auf
die gleichen Sachverhalte –, sind aber nicht ineinander verschmolzen: Wer in Deutschland
oder den USA einen Totschlag begeht, verletzt unterschiedliche nationale juristische Rechte
beziehungsweise verstößt gegen unterschiedliche nationale juristische Normen und verletzt
moralische Rechte beziehungsweise verstößt gegen moralische Normen.
Eine gute Rechtsordnung beruht auf einer moralischen Ordnung. Ändert sich eine mora-
lische Ordnung, und das tut sie – wenn auch langsam, aber sie tut es –, ist die Rechtsordnung
daran anzupassen. Das wird an Fällen erkennbar, in denen im Laufe der Zeit immer größere
Teile der Bevölkerung bestimmte Rechtsregelungen nicht mehr akzeptieren (in Deutsch-
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land ließe sich beispielsweise an die Regelungen hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Partner-


schaften, Abtreibungen oder assistiertem Suizid denken).
Wenn also eine Diskrepanz zwischen Rechtsordnung und moralischer Ordnung entsteht,
gibt es die Möglichkeit, die erste an die zweite anzupassen, denn eine gute Rechtsordnung
muss auf Dauer auf einem weithin akzeptierten moralischen Substrat ruhen. Es gibt aber
auch Situationen, in denen von einer solchen Anpassung dringend abzuraten ist: Das sind
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jene Fälle, in denen ein Anpassen der Rechtslage an das, was als moralisch richtig gilt,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

die Missbrauchsmöglichkeit zu einem viel zu hohen, unverantwortbaren Risiko führt. Dazu


zählen unilaterale militärische Interventionen zu humanitären Zwecken – also solche, die
nicht von den VN mandatiert sind: Die durch deren Legalisieren entstehende Missbrauchs-
gefahr würde – selbst wenn man es noch so genau zu regeln versuchen würde – zu enormen,
inakzeptablen Risiken führen. Diesbezüglich gilt, dass es Situationen gibt, in denen die
Spannungslage des Auseinanderfallens von Rechtsordnung und moralischer Ordnung aus-
zuhalten ist. Kommt es dann zu konkreten Situationen, in denen positive Rechtsordnung
und moralische Ordnung zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, hat in offensichtlichen
Extremfällen die moralische Ordnung den Vorrang beziehungsweise ist ihrem Ergebnis der
Vorzug zu geben: Solche ‚evidenten‘ Fälle (shocking the conscience of mankind) können
unilaterale militärische Interventionen zu humanitären Zwecken legitimieren. Dann würde
man auf die Figur des überpositiven Notstandes zurückgreifen, die durch Abwägung zwi-
schen dem Schutz zweier nicht gleichzeitig zu wahrender Güter zum Ergebnis kommt: Der
Bruch der humanitären Gemeinschaftsgüter ist in diesem Fall so extrem – shocking the
conscience of mankind –, dass er den Bruch des Gewaltverbots eindeutig überwiegt.

Einige Hinweise zu Artt. 6, 7 und 8 des IStGH-Statuts


Art. 6, Völkermord, entspricht Art. 2 der Völkermordkonvention von 1948, dieser
wurde kopiert. Man achte auf das letzte Wort in der ersten Zeile: Absicht. Genau dies
macht es so schwer, Völkermorde nachzuweisen. Menschen müssen nicht nur andere
töten, sondern sie müssen die Absicht haben, eine abgrenzbare Gruppe ganz oder teil-
weise zu eliminieren. Wichtig ist, dass auch die teilweise Zerstörung erfasst ist. Es sind
auch Situationen gemeint, in denen alle diejenigen eliminiert werden, die sich vor Ort
befinden: Deshalb konnten beispielsweise wegen der Ereignisse in Srebrenica Ver-
urteilungen wegen Völkermords erfolgen.

184
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

Ethnische Säuberung unterscheidet sich von Völkermord dadurch, dass Vertreibung


beabsichtigt ist.
Art. 7, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, erfasst Tatbestände, die Wurzeln in
den Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozessen haben. Hier kommt es auf die
beiden Worte „ausgedehnt“ und „systematisch“ im ersten Absatz an. Sie sind absolut
wichtig, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfassen keine Einzelfälle!
Ausgedehnt heißt, es muss eine bestimmte Anzahl erfüllt sein. Weithin unterscheidet
man zwischen mass scale, large scale und widespread. Mass scale wäre ein Geschehen
wie der Holocaust oder in Ruanda, large scale wären Zehntausende und Abertausende,
widespread heißt nur weit verbreitet. Es muss noch nicht einmal eine sehr hohe Zahl
sein, nur an verschiedenen Orten immer wieder vorkommen. Landläufig könnte man
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sagen: Die meisten haben schon davon gehört, dass es geschieht.


Oder die Verbrechen müssen systematisch geschehen. Das heißt, dass es sich nicht um
isolierte Einzelfälle handelt. Hier genügen zwar sehr wenige Fälle, aber es muss nach-
weisbar oder offensichtlich sein, dass dahinter ein Plan steckt, dass die Handlungen
nicht jeweils unabhängig voneinander geschehen sind.
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Art. 8, Kriegsverbrechen, ist die mit Abstand längste Liste. Hier gilt es auf die Buch-
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staben zu achten. Im zweiten Absatz beziehen sich die Buchstaben a) und b) auf inter-
nationale bewaffnete Konflikte. Dort gibt es die umfassendste Beschreibung von Hand-
lungen, die als Kriegsverbrechen gelten. Die Buchstaben c) und e) beziehen sich auf
nicht-internationale bewaffnete Konflikte. Hier gibt es etwas weniger Tatbestände, die
als Kriegsverbrechen zu bezeichnen sind. Die Buchstaben d) und f) beschreiben, dass
Situationen innerer Unruhen und Spannungen nicht erfasst sind:
d) P aragraph 2 (c) applies to armed conflicts not of an international character and
thus does not apply to situations of internal disturbances and tensions, such as
riots, isolated and sporadic acts of violence or other acts of a similar nature.
f) P
 aragraph 2 (e) applies to armed conflicts not of an international character and
thus does not apply to situations of internal disturbances and tensions, such as
riots, isolated and sporadic acts of violence or other acts of a similar nature. It
applies to armed conflicts that take place in the territory of a State when there
is protracted armed conflict between governmental authorities and organized
armed groups or between such groups.
Die Frage ist nun, wie sich innere Unruhen und Spannungen von nicht-internationalen
bewaffneten Konflikten abgrenzen lassen. Hierzu gibt es zwei voneinander abweichende
Definitionen. Eine findet sich im wiedergegebenen zweiten Satz des Art. 8 II f) des IStGH-
Statuts; in der deutschen Übersetzung: „[…] bewaffnete Konflikte, die im Hoheitsgebiet
eines Staates stattfinden, wenn zwischen den staatlichen Behörden und den organisierten
bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen ein lang anhaltender bewaffneter
Konflikt besteht“. Höhere Anforderungen stellt Art. 1 I des Zweiten Zusatzprotokolls zu
den Genfer Konventionen. Dieses geht nämlich auch davon aus, dass eine Gruppe, die
sich mit dem Staat im Konflikt befindet, eine territoriale Kontrolle ausübt und über eine
Verantwortungsstruktur verfügt; in der deutschen Übersetzung: „[…] im Hoheitsgebiet
einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften

185
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen […], die unter einer verantwortlichen
Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertrags-
partei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und
dieses Protokoll anzuwenden vermögen.“ Eine Abgrenzung ist also eine Argumentations-
und Interpretationsaufgabe ohne Schwarz-weiß-Übergang.

18.2 Die Responsibility to Protect

18.2.1 Der Entstehungsprozess der Responsibility to Protect

Schließlich wird das Konzept der Responsibility to Protect formuliert.253 Hierzu können wir
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an den Kosovo-Fall von 1999 zurückdenken. Im Anschluss an die diesbezüglich zwischen


Westen und Osten erneut zutage getretene Spaltung hat der damalige VN-Generalsekre-
tär Kofi Annan erkannt, dass es eines ganz neuen Ansatzes bedarf, wenn man gemeinsam
handlungsfähig werden möchte. Für Situationen schwerster Menschenrechtsverletzungen
sollte also ein gemeinsames Konzept erarbeitet werden. So hat im Jahr 2000, mit maßgeb-
licher finanzieller Unterstützung Kanadas, die zwölfköpfige International Commission on
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Intervention and State Souvereignty (ICISS) zu arbeiten begonnen. Sie ist das Thema sehr
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

grundsätzlich angegangen, vor allem aber transkulturell: Sie bestand zum einen aus zwölf
Personen, Wissenschaftlern und Politikern, die aus verschiedenen Kulturen und Rechtstra-
ditionen stammten, und zum anderen hat sie einen sehr aufwändigen Konsultationsprozess
in Asien, in Lateinamerika, in Afrika, in Europa durchgeführt. Beides war sehr wichtig,
schließlich sollte das Konzept weltweit Anerkennung und Unterstützung finden, in den ver-
schiedenen Kulturen und Rechtstraditionen.
Die ICISS hat ihr Ergebnis schließlich im Dezember 2001 im Bericht The Responsibility
to Protect veröffentlicht.254 Da gerade erst die Anschläge in New York verübt worden waren,
fand der Bericht zunächst weniger Beachtung.
Nichtsdestoweniger waren Prozess und Ergebnis wegweisend und die kanadische Regie-
rung hat sich auch im Weiteren sehr verdient gemacht, dieses Konzept zu fördern, es mit
ihren diplomatischen Mitteln zu verbreiten. Es ist leicht vorstellbar, dass es unterschiedliche
Sachverhalte sind, ob sich Wissenschaftler/-innen in diesem Bereich engagieren und einen
Bericht erarbeiten oder ob dies Akteure auf politischer Ebene aufgreifen und die Position im
politischen Diskurs vertreten. Die Kanadier haben das getan – und das konnten sie nur, weil
sie die dazu nötigen Mittel hatten: Ihre politische Agenda war, für dieses Konzept Akzeptanz
zu schaffen, dazu haben sie ihren diplomatischen Dienst weltweit eingesetzt. Es ist anerken-
nenswert, dass Kanada seine nationalen Ressourcen eingesetzt hat, um für ein Projekt, das
den VN wichtig ist, in der internationalen Staatengemeinschaft Unterstützung zu schaffen.

253
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Alex J. Bellamy, Global Politics and the Responsibility to Protect. From Words to
deeds, Abingdon 2011, 8–50.
254
International Commission on Intervention and State Sovereignty, The responsibility to protect. Report of the
International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001.

186
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

Welches sind nun die besonderen Impulse des Konzepts der ICISS? Es entstand vor dem
Hintergrund der Erfahrungen und des unversöhnlichen Streits der Kosovo-Krise. Wenn
solch eine verfahrene Situation zu lösen ist, ist es nötig, über den bestehenden Rahmen
hinaus zu denken, um zu einer Konfliktlösung zu kommen: Genau darum hat sich die ICISS
bemüht. Einer der führenden Wissenschaftler in diesem Bereich, Gareth Evans, hat dies in
vier Punkten zusammengefasst:
Erstens hat ein Perspektivwechsel stattgefunden und man hat bei der Hilfsbedürftig-
keit der Menschen angesetzt. Zweitens wurde ein normatives Verständnis von Souveränität
zugrunde gelegt: Hiernach ist Souveränität nicht einfach nur territorial zu respektierende
Kontrolle, sondern letztlich um des Menschen willen da. Darin besteht die normative Rück-
bindung. Souveränität steht Menschenrechten nicht entgegen, sondern besteht um ihrer wil-
len. Drittens galt es, das Blickfeld zu vergrößern. Es geht keineswegs bloß um akute Krisen,
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vielmehr um ein Ineinander von Prävention, Intervention und Nachsorge – um ein Inein-
ander von Friedens- und Konfliktethik. Die nötige Sorge beginnt lange vor einer Krise mit
Prävention, die der mit Abstand wichtigste Aspekt ist. Des Weiteren geht es um Nachsorge.
Wenn militärisches Intervenieren abgeschlossen ist, ist die erforderliche Sorge keineswegs
beendet. Vielmehr geht es dann darum, im Zusammenleben des betreffenden Gemeinwesens
immer mehr Gerechtigkeit zu verwirklichen. Kurz: Responsibility to Prevent, Responsibility
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to React und Responsibility to Rebuild gehören zusammen. Die Frage, ob ein Staat oder
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

die Staatengemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt militärisch eingreifen soll oder


nicht, ist nur ein Teil eines wesentlich umfassenderen Gesamtkonzepts. Viertens wurde her-
ausgestellt, dass es nötig ist, sich hinsichtlich der Entscheidungsfindung von Intransparenz
und Willkür zu distanzieren und eine intersubjektiv rationable Strukturierung einzuführen
– Argumentationskriterien.

Die ICISS war gezielt transkulturell zusammengesetzt. Sehen wir uns, dies mitbedenkend,
nun den Bericht in seinem Kapitel The Responsibility to React an. Ab Seite 32 finden sich
sechs Kriterien für militärische Interventionen. Das erste Kriterium ist die richtige Auto-
rität, Right Authority, der Abschnitt 4.17. Da es sich dabei innerhalb eines politischen Kon-
texts um die mit Abstand komplizierteste und auch heikelste Frage handelt, ist sie komplett
ausgegliedert und später, in einem eigenen Abschnitt, ausführlich behandelt worden. Wir
wissen ja, dass einige internationale Kräfte nur Interventionen wollen, die die VN auto-
risieren, und andere möchten, dass auch Interventionen legal sind, die nicht von den VN
autorisiert sind.
Als zweites Kriterium folgt der gerechte Grund, Just Cause. Wichtig ist, dass die ICISS
im Abschnitt 4.19 etwas umrissen hat, das später so nicht mehr Teil der RtoP war. Der
ICISS-Bericht stellt doch etwas anderes dar, als das, worüber wir heute sprechen, wenn wir
uns auf das Konzept der RtoP beziehen. Der ICISS-Bericht war eine sehr gute Grundlage.
Aber wenn wir heute über RtoP sprechen, können wir sie nicht direkt mit dem gleichsetzen,
was die ICISS damals präsentiert hat. Sehen wir einmal auf den besagten Abschnitt 4.19:

In the Commission’s view, military intervention for human protection purposes is justified in two
broad sets of circumstances, namely in order to halt or avert:
large scale loss of life, actual or apprehended, with genocidal intent or not, which is the product
either of deliberate state action, or state neglect or inability to act, or a failed state situation; or

187
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

large scale „ethnic cleansing“, actual or apprehended, whether carried out by killing, forced expul-
sion, acts of terror or rape.
If either or both of these conditions are satisfied, it is our view that the „just cause“ component of
the decision to intervene is amply satisfied.

Heute kann an den „large scale loss of life“ nicht mehr direkt angeknüpft werden. Denn
darunter fallen auch Situationen, die nach klassischem liberalem Verständnis – man denke an
die Abwehrrechte, die Erstgenerationsrechte – nicht erfasst wären. In Abschnitt 4.20 finden
sich dann unter den Aufzählungspunkten 5 und 6 die Begriffe „situations of state collapse“
und „overwhelming natural or environmental catastrophes“. Situationen also, die allein für
sich genommen im heutigen Konzept nicht unter die RtoP fallen.
Die ICISS hatte sie aber vorgesehen – und diese Auffassung wäre wohl auch die kohären-
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tere. Denn jede Friedensordnung, die über einen bloßen Nicht-Krieg hinausgehen möchte,
muss natürlich nicht nur Sicherheit für Leib und Leben sowie minimale Freiheit berücksich-
tigen, sondern auch elementare Überlebensbedürfnisse: Wer verhungert, hat wenig davon,
nicht getötet oder verschleppt zu werden. Dies hatte die ICISS damals mitberücksichtigt.
Wenn Massen von Menschen durch eine Flutkatastrophe obdachlos sind, zu verhungern
beginnen und dies der Regierung durchaus zupasskommt, weil sie diese Bevölkerungs-
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gruppe immer schon ‚loswerden‘ wollte, hätte das nach dem ICISS-Bericht auch das Krite-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

rium des gerechten Grundes erfüllt. Dies ist im heutigen Konzept hingegen nicht der Fall.
Ab Seite 35 in dem Bericht folgen unter der Überschrift Other Precautionary Crite-
ria die Kriterien Right Intention, Last Resort sowie Proportional Means und Reasonable
Prospects. Ein genauer Blick auf die letzten beiden lässt jedoch erkennen, dass die Verhält-
nismäßigkeitssystematik, die aus dem deutschen rechtswissenschaftlichen Kontext stammt
– Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit – wohl denkschärfer ist, als das, was die
ICISS hier vorgeschlagen hat. Sehen wir es uns im Einzelnen an. Unter Proportional Means
steht in Abschnitt 4.39:

The scale, duration and intensity of the planned military intervention should be the minimum
necessary to secure the humanitarian objective in question.

Dies entspricht der Teilüberlegung der Erforderlichkeit.


Unter Reasonable Prospects findet sich in Abschnitt 4.41:

Military action can only be justified if it stands a reasonable chance of success, that is, halting or
averting the atrocities or suffering that triggered the intervention in the first place.

Dies entspricht der Teilüberlegung der Geeignetheit. Es ist jedoch nicht logisch, die Geeig-
netheit nach der Erforderlichkeit zu prüfen. Es sollte von ‚gröberen‘ zu immer ‚feineren‘
Maßstäben gehen: Alles, was nicht geeignet ist, brauchen wir nicht auf seine Erforderlichkeit
hin zu prüfen; was hingegen grundsätzlich geeignet ist, muss deshalb nicht auch erforderlich
sein. Natürlich kann man derartige Erwägungen anders organisieren, wir sehen es beispiels-
weise im ICISS-Bericht, besonders präzise ist jedoch die aus dem deutschen rechtswissen-
schaftlichen Kontext stammende Verhältnismäßigkeitssystematik.
Gehen wir zum unmittelbar folgenden Satz in Abschnitt 4.41:

188
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

Military intervention is not justified if actual protection cannot be achieved, or if the consequences
of embarking upon the intervention are likely to be worse than if there is no action at all.

Während die erste Satzhälfte noch die Geeignetheit betrifft, bezieht sich die zweite Satz-
hälfte auf das Gegenüberstellen von Handeln durch Tun und Handeln durch Unterlassen: Es
darf kein größerer Schaden verursacht werden, im Vergleich zu jenem, den es bereits gibt.
Diese ‚Auffangüberlegung‘, die nach bestem Wissen und Gewissen auch mittelbares Han-
deln und indirekte Folgewirkungen zu berücksichtigen hat, ist für unmittelbares Handeln der
Intervenienten jedoch nicht hinreichend.
Unmittelbare Handlungen der Intervenienten müssen jedenfalls der Angemessenheit ent-
sprechen. Diese schwierigste Überlegung findet sich in 4.39 wieder:
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The means have to be commensurate with the ends, and in line with the magnitude of the original
provocation.

So steht die Angemessenheitsüberlegung zwar hinter der Teilüberlegung der Erforderlichkeit


und vor der ‚Auffangüberlegung‘ des Abwägens zwischen Handeln durch Tun und Handeln
durch Unterlassen. Ihr fehlt allerdings die wichtige Präzisierung, dass sie sich – hinsichtlich
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des zu erreichenden Zwecks – gerade auf die verursachten negativen Auswirkungen bezieht,
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

etwa zulasten Dritter: Unmittelbares Handeln der Intervenienten kann für sich durchaus
unangemessen sein, auch wenn es nicht zu einem größeren Schaden führt als jenem, der
bereits existiert.
Auffällig ist, dass die Ausführungen im ICISS-Bericht in dessen Kapitel The Responsibi-
lity to React insgesamt den Kriterien der Bellum-iustum-Tradition entsprechend organisiert
sind. Da die ICISS transkulturell zusammengesetzt war, handelt es sich dabei also nicht um
partikular christliches Gut, sondern vielmehr um eine transkulturell teilbare Argumenta-
tionsstruktur: Es geht schlicht um die Rationabilität einer differenzierten Handlungsanalyse
und -bewertung.

Nachdem nun die ICISS ihren Bericht erstellt und sich die kanadische Regierung sehr stark
dafür eingesetzt hatte, arbeitete im Jahr 2004 in den VN das High-Level Panel on Threats,
Challenges and Change. Es griff dieses Konzept auf und fügte es nur minimal verändert
in seinem umfangreichen Bericht ein. Vor allem wurden die Namen einiger Kriterien neu
formuliert, weil Ressentiments laut geworden waren, es seien bloß die christlichen Bellum-
iustum-Kriterien kopiert worden.

Der nächste Schritt erfolgte 2005 beim World Summit der VN. In dessen World Summit
Outcome Dokument (WSOD) befassen sich die Absätze 138 bis 140 mit dem, was man
die Responsibility to Protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and
crimes against humanity nennt. Hier erfolgte in der Tat eine größere Veränderung: Das Kon-
zept wurde stark vereinfacht. So ist die RtoP zwar tatsächlich Teil des WSOD, aber eben in
einer deutlich vereinfachten Form.
Die Staatengemeinschaft hält fest, dass Staaten die Verantwortung haben, ihre Bevölke-
rung zu schützen. Ist das nicht der Fall, steht die internationale Staatengemeinschaft bereit,
sich der Situation zuzuwenden. Von einer Interventionsverantwortung der internationalen

189
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Gemeinschaft hingegen ist nichts zu lesen. Vor allem sind auch keinerlei Kriterien aufge-
nommen worden; diese wollten weder die USA noch Russland noch China. Und schließ-
lich wurden die Tatbestände eingegrenzt: Es sind ausdrücklich nur Völkermord, ethnische
Säuberung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erfasst. Das ist eine
deutliche Änderung – sie entspricht dem Konzept klassischer liberaler Abwehrrechte. Liegt
keine der vorgenannten Rechtsverletzungen vor, betrifft der Fall auch nicht die RtoP.
Außerdem kam die Streitfrage bezüglich der Mandatierung hinzu: Darf nur mit Man-
datierung des VN-Sicherheitsrates eingegriffen werden oder auch ohne? Das war eines der
zentralen Probleme. Man hat dann eine Lösung gewählt, die es jedem ermöglicht, das hin-
einzulesen, was er hineinlesen möchte. Denn China, Russland und die USA waren in diesem
Punkt uneins. Die USA wollten das Konzept nur mittragen, wenn es nicht besagt, dass nicht-
mandatierte Interventionen illegal sind. Die Chinesen und Russen wiederum haben Wert
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darauf gelegt, dass für militärisches Intervenieren ein Mandat des VN-Sicherheitsrats nötig
ist. Als Lösung wurde die Frage der Gewaltanwendung in die Absätze 77 bis 80 vorgezogen,
sodass hinsichtlich der Absätze zur RtoP beide Lesarten möglich sind.
Insgesamt hat die RtoP in wenigen Jahren dennoch einen mehr als bemerkenswerten
Aufstieg erlebt: Das Konzept kam 2001 auf, die VN-Generalversammlung nahm es bereits
2005 an und der VN-Sicherheitsrat hat sich in den folgenden Jahren wiederholt darauf bezo-
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gen. Dies zeigt, dass es sich dabei um eine – für VN-Verhältnisse – rasante Entwicklung
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

handelt. Das hat es nur selten gegeben: Ein positives Beispiel ist die von Raphael Lemkin
initiierte Völkermordkonvention von 1948.

Nichtsdestoweniger hat die RtoP schwere Zeiten gesehen. Denn auf einmal war etwas ver-
abschiedet, was einige Verantwortliche als letztlich vielleicht doch ein wenig zu einengend
ansahen: eine Souveränität, die nicht mehr hermetisch ist, und im Falle von Völkerrechtsver-
brechen die Möglichkeit eröffnet, in einem Land einzugreifen. So traten Bedenkenträger auf
und haben versucht, das Verabschiedete zu relativieren, zu verzögern, zu marginalisieren.
Dies änderte sich erst 2008 durch das Einführen der Aufgabe eines Special Adviser for
the Responsibility to Protect: Dieser, Edward Luck, hat sich in den Folgejahren stark enga-
giert und ein Verständnis der RtoP vertreten, das heute weithin rezipiert ist – das sogenannte
Drei-Säulen-Modell: Es besagt, dass es erstens die originäre Verantwortlichkeit eines jeden
Einzelstaates gibt, und dass es subsidiär zweitens den Beistand der Staatengemeinschaft und
drittens die Reaktion der Staatengemeinschaft geben kann. Dieses Modell, auf das wir später
zurückkommen werden, ist auch heute gültig, und erschließt die RtoP als Konzept.

18.2.2 Die Responsibility to Protect im Überblick

Sehen wir nach diesem knappen diachronen Zugang nun auch synchron, also systematisch
auf die RtoP. Über sie bestehen durchaus unterschiedliche Meinungen, es ist also mit ver-
schiedenen Darstellungen zu rechnen.255

255
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Schrage, Intervention in Libyen …, 187–195.

190
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

Was ist heute der Kern der RtoP? Erstens ist das die Integration von Souveränität und
Menschenrechten. Beides existiert zum Schutz des Menschen. Daher widersprechen sich
Souveränität und Menschenrechte nicht: Es handelt sich um ein Ineinander und nicht um ein
Gegeneinander. Zweitens bezieht sich die RtoP auf den harten Kern der globalen öffentlichen
Güter. Die RtoP greift zwar weiter als die Völkermordkonvention (es geht auch um ethnische
Säuberungen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und systematische oder weitver-
breitete Kriegsverbrechen), erfasst aber keine weiteren Menschenrechtsverletzungen. Drit-
tens hat diese eng verstandene RtoP allerdings ein scharfes Ende und kann in letzter Kon-
sequenz auch zu militärischen Mitteln führen. Viertens handelt es sich um eine praktische
Verpflichtung, also nicht um ein Label, das bei einem konkreten Vorgang angebracht wird,
sondern um eine Grundhaltung, die die Staatengemeinschaft begleitet – ständig und überall
(ein Staat ist immer originär für die Sicherheit seiner Einwohner/-innen zuständig; die inter-
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nationale Staatengemeinschaft ist immer subsidiär zu Beistand und Reaktion verpflichtet).

Eine Streitfrage ist, was die RtoP völkerrechtlich ist: ein Prinzip, eine Norm im Entstehen oder
ein Konzept? Die differenziertesten Schilderungen besagen, sie sei das eine wie das andere:
• Wenn die RtoP – durch die erste Säule des Drei-Säulen-Modells – konstatiert, dass ein
Staat originär verantwortlich ist, seine Bevölkerung zu schützen, handelt es sich dabei
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um ein völkerrechtliches Prinzip. Das ist freilich nicht durch die RtoP neu entstanden;
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

in diesem Punkt bringt sie aber ein völkerrechtliches Prinzip zum Ausdruck.
• Unter dem Aspekt der subsidiären Reaktion der Staatengemeinschaft auch mit militäri-
schen Mitteln ist sie eine Norm im Entstehen des Völkergewohnheitsrechts (a fledgling
rule of international customary law). Diesbezüglich sind die verschiedenen Meinungen
zu erwähnen.
Vorab: Die erstmals 1992 in der Somalia-Resolution aufgekommene Interpretation von
Art. 39 der VN-Charta, dass auch bereits rein innerstaatliche Notlagen als Bruch oder
Bedrohung des internationalen Friedens oder der internationalen Sicherheit gelten kön-
nen, ist 2005 mit dem WSOD endgültig zum Abschluss gekommen.
Die ganz herrschende Meinung sagt, dass es zwar eine opinio iuris gibt, aber noch die
consuetudo fehlt, denn wir haben nur zwei Fälle für die consuetudo, die Resolutionen
des VN-Sicherheitsrates 1973 (Libyen) und 1975 (Elfenbeinküste) – und beide sind mit
Mängeln behaftet: 1973 ist nicht einstimmig beschlossen worden und 1975 ist nur eine
Bestärkung von bereits bestehenden Maßnahmen. So bejaht die ganz herrschende Mei-
nung lediglich eine opinio iuris. (Völkergewohnheitsrecht kann sich übrigens auch um
einen persistent objector herum entwickeln, sodass eine sehr kleine Staatengruppe die
für alle anderen einschlägige Normentstehung nicht aufhält; zudem hat ein persistent
objector die Pflicht, immer wieder auf seine Auffassung hinzuweisen.) Die Mindermei-
nung vertritt hingegen, dass in Resolution 1973 bereits der missing link zur consuetudo
zu sehen ist und somit eine Norm des Völkergewohnheitsrechts vorliegt.
• Und letztlich ist die RtoP auch ein Konzept. Als solches kann man sie auch als soft
law bezeichnen, als politische und moralische Verpflichtung ohne Rechtsfolgenseite. Die
Benennung als Konzept bezieht sich auf das Gesamtverständnis der RtoP gemäß dem
Drei-Säulen-Modell.

191
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Zusammenfassend lässt sich folgende knappe RtoP-Synopse festhalten:


Erstens wird ein normativ rückgebundenes Souveränitätsverständnis vertreten, das
jedoch nur zu den VN, aber nicht zu anderen Einzelstaaten hin durchlässig ist: in der grif-
figen Formulierung von Georg Nolte „eine nach oben, aber nicht zu den Seiten hin offene
Souveränität“.
Zweitens erfasst der Schutzbereich Völkermord, ethnische Säuberung, Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Das IStGH-Statut (Artt. 6, 7 und 8) ist diesbezüg-
lich wohl unter den handhabbaren Instrumenten jenes mit hohem internationalen Gewicht,
um den Umfang der vorgenannten Tatbestände zu bestimmen.
Drittens ist es das Verständnis des Drei-Säulen-Modells, dass jeder Staat erstens eine
originäre Schutzverantwortung hat. Und wer diese hat, verliert sie nie, auch nicht, wenn
andere subsidiär tätig werden (müssen) – Hilfe wird geleistet und, sobald möglich, auch
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wieder eingestellt. Der subsidiäre Beistand der internationalen Staatengemeinschaft besteht


zweitens aus vier Stufen:
1. Ermutigung, der Verantwortung aus der ersten Säule nachzukommen,
2. Hilfe, die Verantwortung aus der ersten Säule auszuüben,
3. Hilfe, die Schutzfähigkeit auszubauen, sowie
4. Hilfe für Staaten, die Gefahr laufen, Krisen ausbrechen zu sehen.
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Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Die subsidiäre Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft umfasst drittens schließ-


lich zwei Stufen:
1. friedliche Mittel zum Schutz der Bevölkerung und
2. – sozusagen das scharfe Ende – weitergehende Mittel.

Dabei sind die Säulen weder in einer Sequenz zu sehen, sondern sie gelten gleichzeitig, noch
bezieht sich die subsidiäre Reaktion nur auf militärische Mittel, sondern auch auf friedliche.

18.3 Probleme der Responsibility to Protect

Welche Probleme gibt es nun bei der RtoP? Sie können unterschiedlich sortiert werden,
aber im Wesentlichen gibt es vier große Baustellen: erstens das Problem der fehlenden Kri-
terien und der Selektivität von Interventionen. Zweitens, wie die VN die Kontrolle über
ein gegebenes Mandat behalten und wie mit dem großen Gefahrenpotenzial des regime
change umzugehen ist. Drittens, wie die VN mit Regionalorganisationen kooperieren kann.
Und viertens, wie Militär für solche Aufgaben befähigt werden kann. Letzteres ist keine
politische, sondern eine militärische Frage. Aber sie ist unglaublich wichtig, weil Soldaten/
Soldatinnen, die solche auf Schutz zielende Einsätze wahrnehmen, anders vorgehen sollen
als Soldaten/Soldatinnen, die in erster Linie einen militärischen Gegner besiegen sollen.256

Beginnen wir mit den Kriterien und der Selektivität. Klar ist, dass die RtoP, so wie es sie
heute gibt, einen großen Mangel leidet, weil die Akteure das, was getan wird, nicht inter-
subjektiv rationabel anhand von Kriterien aufzeigen müssen. Deshalb ist es schwieriger

256
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 195–210.

192
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

nachzuvollziehen, wie tragfähig die Position des einen oder des anderen Akteurs ist. In der
wissenschaftlichen Diskussion findet die Frage der Notwendigkeit der Kriterien weithin
Anerkennung. Kriterienkataloge gibt es verschiedene, sie sind im Einzelnen unterschiedlich
strukturiert, ähneln sich aber inhaltlich. Hier einige Hinweise dazu:
• Die Verbrechen gegen Leib und Leben sind die Konkretion des gerechten Grundes hin-
sichtlich militärischer Interventionen zu humanitären Zwecken.
• Bei der rechten Absicht sind drei Prinzipien von Michael Haspel mitzudenken:257 das
Konsistenzprinzip, das Kohärenzprinzip258 und das Kontinuitätsprinzip. Das Konsistenz-
prinzip besagt, dass immer auch zu beachten ist, ob das Handeln dessen, der eingreift, bei-
spielsweise dadurch inkonsistent ist, dass er die den gerechten Grund erfüllende Situation
selbst herbeigeführt hat. Das Kohärenzprinzip ist wichtig, weil es zu beachten nahelegt,
ob Intervenienten andere Fälle, die es gerade gibt, nach denselben Maßstäben beurteilen.
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Das heißt keinesfalls, dass in allen Fällen gleich gehandelt wird, sondern nur, dass nicht
willkürlich unterschiedlich gehandelt wird. Das Kontinuitätsprinzip bedingt, dass ein
Intervenient sich schon lange für das einsetzt, wofür er jetzt schützend einschreitet. Kon-
sistenzprinzip, Kohärenzprinzip und Kontinuitätsprinzip kommen Indizfunktion hinsicht-
lich des Erkennens der rechten Absicht und des Aufdeckens von Mischmotivationen zu.
• Dabei, die Ethizität einer militärischen Intervention zu humanitären Zwecken festzu-
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stellen, helfen ergänzend die Kriterien des Linderns humanitärer Notlagen sowie der
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Umstand, dass sich die angestrebte Friedensordnung als Verbesserung zur Vorkrisen-
situation ansehen lässt. Ersteres meint, dass, wer militärisch interveniert, um Menschen,
die leiden und sterben, zu helfen, nicht nur darauf zielen muss, die Bedrohung im Sinne
klassischer Abwehrrechte zu beenden, sondern auch darauf, das Überleben zu unterstüt-
zen. Das Zweite meint, dass – wenn die militärische Intervention abgeschlossen wird
und die Intervenienten gemäß ius ex bello ihre Maßnahmen beenden – den Einwohnern/
Einwohnerinnen nicht geholfen ist, wenn es ihnen anschließend genauso oder schlechter
geht als zu der Zeit vor der interventionsauslösenden Krise. Denn der auf die Interven-
tion folgende Zustand soll gerade nicht mehr so leicht in eine interventionsauslösende
Krise abgleiten können.

Eng mit den Kriterien ist die Frage der Selektivität verbunden. Selektivität betrifft nicht den
Umstand, dass in einzelnen Situationen unterschiedlich gehandelt wird – in der einen wird
eingegriffen, in einer anderen nicht. Selektivität meint Inkonsistenz in dem Sinne, dass nicht
aufgrund gleicher Anwendung der Kriterien unterschiedliche Handlungsweisen begründet
werden, sondern willkürlich. Es geht angesichts gleichen Unrechts nicht um gleiche Reak-
tionen (= das Wie), sondern um gleiche Aufmerksamkeit und Hinwendung (= das Dass), die
dann allen Umständen eines Einzelfalls Rechnung trägt und nur dadurch zu unterschied-
lichen Reaktionen gelangen darf. Größere Studien haben übrigens ergeben, dass auf inter-
nationaler Ebene nicht so selektiv gehandelt wird, wie oft dargestellt.259

257
Michael Haspel, „Humanitäre Intervention: ihre Beurteilung aus friedensethischer Sicht“, Amosinternational 2
(2008) Nr. 2, 11–19, 15ff.
258
Sachlich bezieht sich das Kohärenzprinzip von Michael Haspel auf das, was verbreiteterweise unter Selektivität
adressiert wird.
259
Siehe Martin Binder, „The Selective Enforcement of Human Rights? The International Response to Violent
Humanitarian Crises and Gross Violations of Human Rights in the Post-Cold-War Era“, WZB-Discussion

193
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Der zweite Problembereich betrifft die Fragen, wie der VN-Sicherheitsrat die Kontrolle
über eine Intervention wahren kann, sowie die eines etwaigen regime change. Das Pro-
blem hinsichtlich der Kontrolle ist, dass sich eine einmal unbefristet gegebene Ermächti-
gung nicht mehr zurückziehen lässt, falls einer der Intervenienten ein ständiges Mitglied
des VN-Sicherheitsrates ist. Deswegen sollten solche Mandatierungen zeitlich und räumlich
begrenzt werden. Zudem bedarf es unbedingt regelmäßiger direkter Berichte der militärstra-
tegischen Ebene an den VN-Sicherheitsrat. Realistisch mitzubedenken bleibt freilich, dass
die VN keine eigenen Truppen haben und deshalb stets auf das ‚Wohlwollen‘ der Truppen-
steller angewiesen sind.
Über die Frage des regime change ist sehr differenziert nachzudenken: Er ist weder
ausgeschlossen noch anzustreben. Vielmehr geht es um die rechte Absicht und vorhandene
Mischmotivationen. Es kann nur dann zu einem regime change kommen, wenn es sich um
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ein gemäß allen Kriterien, lege artis, durchgeführtes Eingreifen handelt und der Sturz des
Regimes lediglich eine Konsequenz eines solchen Beendens von Völkerrechtsverbrechen
ist. Und das ist so restriktiv wie nur irgend möglich auszulegen, denn ein regime change darf
nicht als eigenständig verfolgtes Ziel handlungsleitend werden.

Der dritte Bereich, in dem es Desiderata gibt, betrifft die Zusammenarbeit mit Regional-
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organisationen, speziell Organisationen kollektiver Sicherheit. Solche sind in unserer


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Welt zunehmend wichtig. In Europa wäre das zum Beispiel die Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit, in Afrika die Afrikanische Union, in Nordafrika und Westasien die
Arabische Liga und in Amerika die Organisationen Amerikanischer Staaten. Es ist wich-
tig, mit ihnen zusammenarbeiten, weil die VN sonst Gefahr liefe, vor Ort nicht die nötige
Legitimation und Unterstützung für eine Intervention zu haben. Das heißt, dass die VN sie
konsultieren müssen, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Die VN müssen fortlaufend
informieren, während sie handeln beziehungsweise die Mandatnehmer in ihrem Auftrag.
Und die VN müssen mit besagten Organisationen währenddessen auch kooperieren, um
durch gemeinsames Handeln stärker zu sein.

Und viertens ist die Befähigung des Militärs eine große Herausforderung: Dies betrifft
Doktrin, Einsatzregeln und Einsatzkräfte. Es gibt heute verschiedene Studien, die sich damit
auseinandersetzen, erwähnt sei beispielweise das Mass Atrociticy Response Operations: A
Military Planning Handbook der Harvard Kennedy School von 2010. Es wird nämlich viel
politisch und rechtlich reflektiert, wenn es aber um die konkrete Umsetzung geht, ist festzu-
stellen, dass auf dieser Ebene noch wenig realisiert worden ist. Es ist jedoch unabdingbar zu
wissen, was wir diesbezüglich machen und wie wir es machen: Es bedarf einer Doktrin für
militärische Interventionen zu humanitären Zwecken.
Bei ihnen handelt es sich nämlich um ein anderes Paradigma – es geht nicht um just
war, sondern um so etwas wie just policing. Das ist in seinem Ursprung nach übrigens ein
recht pazifistisches Konzept: Einige Friedenskirchen haben nämlich gesagt, dass sie zwar
das Just-war-Konzept ablehnen, für ein Just-policing-Konzept aber offen sind, da sie auch

Paper, (ohne Monat) 2007 sowie ders., „Humanitarian Crises and the International Politics of Selectivity“,
Human Rights Review 10 (2009) 327–348.

194
18 Militärische Intervention zu humanitären Zwecken und Responsibility to Protect

innerstaatlich polizeilichen Zwang akzeptieren. Aufgekommen ist diese Idee in den ersten
Jahren des 21. Jahrhunderts im katholisch-mennonitischen Dialog.
Anders als weithin unter just policing verstanden, meinen wir hier aber nicht das Anwen-
den von polizeilichen Mitteln, sondern stellen vielmehr darauf ab, dass internationale Ein-
sätze legitimer Autoritäten zur Beendigung von Rechtsbrüchen und zur Gefahrenabwehr
Operationen in polizeiartigem Paradigma entsprechen.
Aus einer solchen Perspektive ist just policing nicht naiv, sondern realitätsbezogen zu
denken. Polizeioperationen im Inland erfolgen mit einer sogenannten overwhelming force.
Daher sind Kollateralopfer bei einer Polizeioperation bei uns nicht erlaubt. Hierauf darf
Polizei auch nicht angewiesen sein: Der Kräfteunterschied wird so extrem gewählt, dass von
vornherein klar ist, dass die Gefährdungssituation/der Widerstand langsam aber kontrolliert
beendet/gebrochen werden kann.
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Derartiges ist auf internationaler Ebene jedoch nicht replizierbar – nicht einmal in einer
solchen ‚Bilderbuchinterventionssituation‘ wie in Libyen. Auch dort bestand nicht jener
extreme Kräfteunterschied, dass ein Ansatz im Bereich des Möglichen gewesen wäre, der
keinerlei Raum für Kollateralopfer eröffnet hätte. Das, worum es also geht, sind Operatio-
nen in polizeiartigem Paradigma mit militärischen Mitteln.
Zudem sind Soldaten/Soldatinnen keine Polizisten/Polizistinnen. Daher sind Einsatz-
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regeln zu erarbeiten und zu reflektieren sowie potenzielle Einsatzkräfte auszubilden und zu


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

trainieren.

Vier vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Hubertus Busche und Daniel Schubbe (Hrsg.), Die Humanitäre Intervention in der ethischen
Beurteilung, Tübingen 2013.
Ines-Jacqueline Werkner und Thilo Marauhn (Hrsg.), Die internationale Schutzverantwor-
tung im Lichte des gerechten Friedens, Wiesbaden 2019.
Veronique Zanetti, L’intervention humanitaire. Droits des individus, devoirs des états, Genf
2008.
Als Standardwerk sei genannt Alex J. Bellamy und Tim Dunne (Hrsg.), The Oxford Hand-
book of The Responsibility to Protect, Oxford 2016.

195
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘

Bernhard Koch

19.1 Michael Walzer und die „Theorie des gerechten Krieges“

Der Ausdruck „Theorie des gerechten Krieges“ erzeugt heute häufig schon affektive Ableh-
nung. Das ist verständlich, wenn man sich die Schrecken des Krieges bildlich vor Augen
hält: Kann man solche Schrecken mit Gerechtigkeit in Verbindung bringen? Was soll am
Schrecklichen noch gerecht sein können?
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So nachvollziehbar diese Anfragen auch sind, sie verkennen ein wenig die Motivation
hinter der Verwendung der Ausdrücke „gerechter Krieg“, „bellum iustum“, „just war“. Theo-
retikern/Theoretikerinnen des gerechten Krieges ging es nie darum, Krieg zu propagieren;
sie sind keine Bellizisten/Bellizistinnen, die auf die guten Wirkungen von Kriegen abstel-
len würden. Bellum-iustum-Theoretiker/-innen erkennen an, dass Kriege – zumindest prima
facie – immer zurückzuweisen sind. Im Gegensatz zu Pazifisten/Pazifistinnen jedoch sind
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sie offen dafür, dass bei einer triftigen Begründung Kriege unter Umständen gerechtfer-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

tigt sein können. Ein zentrales Rechtfertigungselement stellt dabei die Frage dar, ob sich
der mögliche Krieg auf gerechte Gründe stützen kann. Das hat dieser Denkrichtung ihren
Namen gegeben, aber die Frage der Gründe ist in der Tradition des Nachdenkens über den
gerechten Krieg sehr vielschichtig behandelt worden. Zudem sind Gründe im engeren Sinne
(„causae“) nur ein Rechtfertigungselement. Andere Rechtfertigungselemente wie die Frage,
wer überhaupt einen Krieg führen darf, also die Frage nach der Autorität, oder die Frage, ob
der erwogene Krieg überhaupt Aussicht auf Erfolg haben kann, kommen in dieser Tradition
ebenfalls in den Blick.
Das Nachdenken über den gerechten Krieg steht aber nicht nur in einer Opposition zum
Bellizismus und zum Pazifismus, sondern auch zu einer Betrachtung, die man „politischen
Realismus“ nennt. Der „Urtext“ des politischen Realismus ist in gewisser Weise Thukydides’
sogenannter „Melierdialog“ aus seinem umfassenden Geschichtswerk „Der Peloponnesische
Krieg“ (V 84-114).260 Im Kampf zwischen Athen und Sparta wollten die Bewohner der Insel
Melos neutral bleiben und verweigerten dementsprechend eine Parteinahme zugunsten der
Athener. Letztere drohten den Meliern daher die Eroberung ihrer Insel an und begründeten
dies vor deren Ratsversammlung. Sie „sind der Überzeugung, dass sie ihr Reich ausweiten
müssen, um zu verhindern, dass ihre bisherigen Eroberungen verloren gehen.“261 Melos als
neutrale Insel gewissermaßen entkommen zu lassen, würde ein Zeichen der Schwäche bei
anderen untergebenen Stadtstaaten setzen, woraufhin Rebellionen ausbrechen könnten und
Athens Dominanz in Gefahr stünde. So seien eben die Gesetze der Macht in den zwischen-
staatlichen Beziehungen: „Entweder man regiert oder man wird regiert.“262 Moralische oder
ethische Argumente haben hier keinen Raum. Es gelten die Gesetze der Realpolitik.

260
Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Auswahl. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2005, 52–73.
261
Michael Walzer, Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart 1982, 26.
262
Ebd., 26.

196
19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘

Der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer sieht in den Sechziger und Siebzi-
ger Jahren des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt in den Debatten, die die Blockkonfrontation
und den Vietnam-Krieg betreffen wieder solche realpolitischen Argumente dominieren. Die-
sem politischen Realismus, der die USA in aussichtlose und verheerende Kriege getrieben
hat, will er mit einer Wiederbelebung der „Theorie vom gerechten Krieg“ ein moralisch-
ethisches Begründungsmodell entgegensetzen. Die Theorie vom gerechten Krieg soll also
nicht permissiv (Erlaubnis gebend) wirken, sondern restriktiv (beschränkend): Es sollen die
Grenzen erlaubter Kriegsführung wieder an die ethische Betrachtung angebunden werden.
Sie sind enger als die Grenzen der realpolitischen Erwägung, sofern Realpolitik überhaupt
solche prinzipiellen Grenzen kennt. Dies ist das zentrale Anliegen seines Buchs von 1977
mit dem Titel „Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations“, das
bis dato in fünf Auflagen erschienen ist; die letzte im Jahr 2015 (Basic Books, New York).
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Eine deutsche Übersetzung erschien 1982 unter dem Titel „Gibt es den gerechten Krieg?“
bei Klett-Cotta in Stuttgart.
Walzers Buch hatte – nicht zuletzt wegen seines stets nach geschichtlichen Veranschau-
lichungen suchenden Stils – überragenden Einfluss auf die ethische Ausbildung in den
amerikanischen Streitkräften. Mit der Zeit entwickelte es sich auch in der akademischen
Landschaft zum Referenzwerk. Als Anfang des 21. Jahrhunderts immer mehr Kritik an
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bestimmten inhaltlichen Thesen Walzers aufkam, wurde sein Ansatz als der „traditionelle“
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

bezeichnet, demgegenüber die Kritiker/-innen eine Revision vornehmen wollten, was zur
Bezeichnung „Revisionistische Theorie des gerechtes Krieges“ für ihren Ansatz führte.

19.2 Die ‚moralische Gleichstellung‘ der Kombattanten/Kombattantinnen

Worum geht es in inhaltlicher Hinsicht? Michael Walzer behandelt in seinem Buch die Fel-
der moralischer Überlegungen, die man anstellen muss bei der Frage, ob ein Krieg überhaupt
erlaubt sein kann oder nicht (ius ad bellum) und beim Problem, welche Art und welches
Ausmaß von Gewalt in einem Krieg moralisch möglich ist (ius in bello). Zudem deutet er
auch Überlegungen an, wie nach einem Krieg zu verfahren sei (ius post bellum). Die Kritik
der Autoren/Autorinnen aus der Revisionistischen Theorie des gerechten Krieges bezieht
sich vorrangig auf das ius in bello. Allerdings hat dies Implikationen für Fragen des ius ad
bellum und des ius post bellum.
Walzer sagt in Übereinstimmung mit dem Humanitären Völkerrecht, dass Fragen des ius in
bello sachlich von Fragen des ius ad bellum abgelöst betrachtet werden müssen.263 Das heißt
konkret, dass die Erlaubnis264 zur Gewalt, die den Soldaten/Soldatinnen in einem bewaffneten
Konflikt zukommen kann, nicht davon abhängig ist, ob sie einer Konfliktpartei angehören,
die mit legitimen Gründen im Konflikt agiert oder die sich durch – beispielsweise illegitime
Aggression – ins Unrecht gesetzt hat. Wenn Soldaten/Soldatinnen der gegeneinander kämp-
fenden Konfliktparteien also nicht danach beurteilt werden sollen, ob ihre Partei (zum Beispiel

263
Ebd., 48; Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer inter-
nationaler bewaffneter Konflikte, 8.6.1977, https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1982/1362_1362_1362/de,
abgerufen am 27.2.2022, Präambel.
264
Es ist nicht unumstritten, ob Kombattanten die Erlaubnis haben, gegnerische Kombattanten zu töten, oder ob die
Tötung von gegnerischen Kombattanten durch Kombattanten lediglich straffrei bleibt.

197
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

ihr Staat) gerechtfertigter Weise im Krieg ist, dann folgt daraus, dass sie auf beiden Seiten die
gleichen Rechte und Pflichten haben, also moralisch gesehen gleichgestellt sind. Sie unterlie-
gen den gleichen Erlaubnissen und Restriktionen in ihrem soldatischen Handeln. Die zentrale
Restriktion bei der Gewaltanwendung ist nun, dass sich die Gewalt nur gegen andere Soldaten/
Soldatinnen („Kombattanten/Kombattantinnen“) richten darf, nicht hingegen gegen Zivilisten/
Zivilistinnen. Letztere können zwar von der Gewalt des Krieges betroffen sein, aber nur inso-
fern als sie bei erlaubten Angriffen auf Soldaten/Soldatinnen und militärische Ziele nebenbei
(„kollateral“) in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese „Kollateralschäden“ müssen gemes-
sen am Nutzen, den man aus dem Angriff auf das militärische Ziel gewinnt, verhältnismäßig
sein.265 Walzer zieht zur Beurteilung von Kollateralschäden das traditionelle katholische Prin-
zip des Handelns mit doppelter Wirkung heran, modifiziert aber an einer wichtigen Stelle: Es
bedürfe, so Walzer, einer doppelten guten Absicht: Zum einen soll nur ein legitimes Ziel, also
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ein gegnerischer Kombattant oder gegnerische militärische Einrichtungen, ins Visier genom-
men werden dürfen, zum anderen müsse man auch die Absicht haben, vorhersehbare Kollate-
ralschäden zu minimieren.266 Dafür müssen Soldaten/Soldatinnen auch besondere Risiken für
sich selbst akzeptieren. Die Gewalt im Krieg soll auf diejenigen begrenzt bleiben, die die Rolle
der Gewaltanwender im Krieg spielen. Ob sie zum Militärdienst eingezogen worden sind oder
sich freiwillig gemeldet haben, spielt hier keine Rolle.
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19.3 Die These der moralischen Asymmetrie

Wir haben also drei Thesen: (1) Das ius in bello ist vom ius ad bellum unabhängig; (2)
Zwischen den Kombattanten/Kombattantinnen der verschiedenen Konfliktparteien herrscht
moralische Gleichheit; (3) Nur Kombattanten/Kombattantinnen dürfen direkt angegriffen
werden (und militärische Einrichtungen), nicht aber Zivilisten/Zivilistinnen.
In einem bedeutenden Aufsatz aus dem Jahr 2004 hat sich der damals an der Rutgers
University und jetzt in Oxford lehrende Moralphilosoph Jeff McMahan gegen alle diese drei
Thesen gewendet:

In this article I will challenge all three foundational tenets of the traditional theory I have identi-
fied: (1) that the principles of jus in bello are independent of those of jus ad bellum, (2) that unjust
combatants can abide by the principles of jus in bello and do not act wrongly unless they fail to do
so, and (3) that combatants are permissible targets of attack while noncombatants are not.267

Die in dem Beitrag vorgelegte Kritik an Michael Walzers Ansatz und seinen zentralen ­Thesen
hat McMahan dann in weiteren Publikationen, insbesondere „Killing in War“ (Oxford 2009)
entfaltet und ausdifferenziert und damit eine Lawine von Debatten und akademischen Dis-
kussionen, Einzel- und Sammelpublikationen zum Thema losgetreten.268

265
Die entscheidende Textstelle im Humanitären Völkerrecht ist: Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen …,
Art. 51, Abs. 5b.
266
Vgl. Walzer, Gibt es den gerechten Krieg ..., 230.
267
Jeff McMahan, „The Ethics of Killing in War“, Ethics 114 (2004) 693–733, 694.
268
Einen guten und leicht zugänglichen Überblick bietet: Seth Lazar, „War“, The Stanford Encyclopedia of Philo-
sophy (Spring 2020 Edition), Edward N. Zalta (Hrsg.), https://plato.stanford.edu/archives/spr2020/entries/war,
abgerufen am 27.2.2022.

198
19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘

McMahan und die Revisionisten/Revisionistinnen nehmen für ihre Analyse als Aus-
gangspunkt die (fiktive) Situation einer zwischenmenschlichen Aggression. Stellen wir
uns vor, Adam greift Berta unrechtmäßiger Weise mit Gewalt an, die normalerweise zum
Tode von Berta führt (tödliche Gewalt). Wir würden selbstverständlich davon ausgehen,
dass Berta sich gegen Adam zur Wehr setzen darf; bei Bedrohung ihres eigenen Lebens
sogar ihrerseits mit Gewalt in einer Stärke, die das Leben von Adam gefährdet oder nimmt.
(McMahan und die Revisionisten/Revisionistinnen sind also keine Pazifisten/Pazifistinnen
oder Vertreter/-innen einer Position der unbedingten Gewaltfreiheit, sondern sie betrach-
ten ethisch begründbare Gewalt als zulässig.) Nun kann sich im Beispielfall natürlich auch
Adam gegen die Gegengewalt von Berta zur Wehr setzen, aber er ist dazu nicht berechtigt.
Sein unrechtmäßiger Angriff auf Berta hat erst Bertas Gewalt legitimiert; gegen die legiti-
mierte Gewalt kann nicht ihrerseits wiederum Gegengewalt legitimiert sein. Diese einfach
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aus unserem alltäglichen moralischen Bewusstsein genommenen Überzeugungen spielen


auch dann eine Rolle, wenn die abwehrende Gewalt nicht von Berta in einem Akt der Not-
wehr erfolgt, sondern von Chiara, einer dritten Person, in einem Akt der Nothilfe. Es ist nicht
notwendig, dass sich Berta selbst verteidigt – auch Chiara kann dies für sie tun, und sie sollte
es auch tun, wenn sie dazu beispielsweise besser in der Lage ist.
McMahan arbeitet hier in allen seinen Texten mit dem ins Deutsche schwer übersetzba-
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ren Begriff der „liability“ („Haftbarkeit“). Im natürlichen Zustand darf kein Mensch an Leib
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

und Leben angegriffen werden. Niemand ist von sich aus haftbar („liable“) für die Gewalt
eines Anderen. Allerdings zieht jemand, der für einen illegitimen Angriff verantwortlich
ist, so wie Adam in unserem Beispiel, sich diese Haftbarkeit zu. Weder Berta noch Chiara
tun Adam ein Unrecht an, wenn sie ihn in verteidigender Gewalt angreifen. Da Adam kein
Unrecht geschieht, haben Chiara und Berta ihre Immunität vor Gewalt bewahrt. Sie sind
nicht haftbar („liable“).
Jedoch kann es sogar bei solchen individuellen Angriffssituationen dazu kommen, dass
unbeteiligte Dritte von der Gewalt betroffen sind. Adams aggressive Gewalt kann auch noch
weitere Personen in Mitleidenschaft ziehen. Das ändert aber nichts daran, dass diese Gewalt-
handlungen einfach unrecht sind. Schwieriger ist es aber, wenn die verteidigende und darin
gerechtfertigte Gewalt unbeteiligte Personen schädigt. Zum Beispiel wäre es denkbar, dass
sich Berta nur mit einer Waffe zur Wehr setzen kann, die gleichzeitig mit Adam drei weitere,
unbeteiligte – und in diesem Sinne „unschuldige“ – Personen (darunter Daniel) tödlich tref-
fen würde. Auch McMahan zieht – wie Walzer – für die Beurteilung einer solchen Situation
das Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung heran: Berta müsste in ihrer Absicht die
Gewalt nur gegen Adam richten, und der kollaterale Schaden an den drei unbeteiligten Per-
sonen („bystanders“) darf nicht unverhältnismäßig sein gemessen an der positiven Wirkung
ihrer, Bertas, Handlung. Diese positive Wirkung liegt in der Rettung ihres eigenen Lebens.
Ein einzelnes Leben wiegt aber nicht den Tod von drei unschuldigen Personen auf. Mit
dieser hier zur Verfügung stehenden Waffe dürfte sich Berta nicht wehren, sondern müsste
– falls sie keine andere Verteidigungsmöglichkeit besitzt – ihren Tod in Kauf nehmen. Tut
sie es doch, verliert auch sie ihre Immunität und wird haftbar. Es könnte also Daniel legitim
einen Angriff auf Berta führen, um sein Leben und (oder) das der beiden weiteren unbetei-
ligten Personen zu retten.

199
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Bis hierher verstehen sich Jeff McMahans Überlegungen als eine Auslegung unseres
Moralbewusstseins in Situationen der individuellen Verteidigung. Aber nun wird dieses
Moralbewusstsein auf Situationen kollektiver Gewalt übertragen.

19.4 Kollektive Gewalt

Die individualistische Situation können wir uns nun so vorstellen, dass sie langsam um
andere Personen erweitert wird: Adam ist nicht allein, sondern hat Anselm bei sich. Sie
greifen zu zweit an und werden dadurch auch beide „haftbar“ beziehungsweise „legitim
angreifbar“. Vielleicht greifen sie auch nicht nur Berta, sondern gleichermaßen Beatrix,
Beate und Barbara an. Dann haben alle vier das moralische Recht, sich zu verteidigen. Es
bleibt aber immer die Asymmetrie, dass eine Gruppe, nämlich jene, von der die Aggression
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ausgeht, legitim angreifbar ist, während die sich verteidigende Gruppe ihre Immunität wahrt,
solange sie nicht – zum Beispiel durch unverhältnismäßige Kollateralschäden – sich selbst
legitim angreifbar macht.
Die Multiplikation der Akteure ändert nicht die moralischen Verhältnisse – auch dann
nicht, wenn es sich um hundert, tausend oder eine Million Menschen handelt, die invol-
viert sind. McMahan glaubt, so zeigen zu können, dass Walzers moralische Symmetriethese
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ebenso falsch ist wie die These der Unabhängigkeit des ius in bello vom ius ad bellum. Wenn
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Staat A illegitimer Weise Staat B angreift, dann dürfen die Soldaten/Soldatinnen von B sich
und ihre Landsleute verteidigen, ohne dass sie deshalb ihrerseits zu legitimen Angriffszie-
len würden. Die Soldaten/Soldatinnen von A hingegen haben kein Recht, Gewalt gegen die
nicht angreifbaren Bewohner/-innen von B anzuwenden. Weil A kein ius ad bellum gegen
B besitzt, haben auch die Kombattanten/Kombattantinnen von A kein ius in bello gegen die
Kombattanten/Kombattantinnen von B. Sie können sich also gar nicht an die Prinzipien des
ius in bello halten. Das ius in bello ist nicht unabhängig vom ius ad bellum, und eine mora-
lische Gleichheit der Kombattanten/Kombattantinnen gibt es ebenso wenig.
Warum aber bestreitet McMahan, dass Zivilisten/Zivilistinnen niemals angegriffen wer-
den dürften (These 3)? Dafür müssen wir näher auf seine Konzeption der Haftbarkeit sehen.
Er argumentiert,269 dass nur derjenige, der Verantwortung für eine Bedrohung trägt, auch die
Kosten tragen muss, die die bedrohliche Situation mit sich bringt („responsibility account
of permissible defense“). Nur wer für eine Bedrohung verantwortlich ist, kann haftbar sein,
was eben bedeutet, dass diese Person verteidigende Gegengewalt hinnehmen muss. Diese
Haftbarkeit ist jedoch keine totale Größe (null Haftbarkeit oder volle Haftbarkeit), sondern
eine graduelle, und sie ergibt sich aus mehreren Faktoren:

To what a person is liable are functions of, inter alia, the following elements: (1) The expected
wrongful harm that will occur unless the person is harmed. [...] An expected harm is the product
of a harm of a certain magnitude and the probability of its occurrence. (2) The degree of the per-
son’s causal contribution to the harm. (3) Whether the harm is foreseeable and, if so, whether the
person contributes to its occurrence intentionally, recklessly or negligently. (4) [...] to what extent
excusing conditions mitigate the degree of that responsibility. (5) Whether there are others who are

269
Jeff McMahan, „Self-Defense Against Morally Innocent Threats“, in Criminal Law Conversations, hrsg. von
Paul H. Robinson, Stephen Garvey und Kimberly Kessler Ferzan, Oxford 2011, 385–394, 392.

200
19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘

more responsible for the harm and if so by how much. (6) The extent to which the expected harm
can be expected to be reduced by harming the person.270

Nehmen wir den letzten von McMahan hier genannten Faktor. Er kommt dem gleich, was
man in der Tradition „Aussicht auf Erfolg“ genannt hat: Wenn eine Abwehrhandlung keine
Chance hat, das eigene Leben beispielsweise gegen einen illegitimen Angriff zu schützen,
dann ist die Abwehr nicht erlaubt. Für McMahan heißt dies dann sogar, dass der Angreifer
nicht haftbar ist, also nicht legitim in Notwehr angegriffen werden kann. Oder nehmen wir
das Verantwortlichkeitskriterium, wie es im fünften Faktor beschrieben worden ist: Nur für
illegitime Bedrohungen verantwortliche Personen sind legitim angreifbar. In manchen Fäl-
len kann dies heißen, dass die Person, die den Angriff tatsächlich ausführt, weniger angreif-
bar ist als jene Person, die die angreifende Person zum illegitimen Angriff verleitet. Dann
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sollte sich die abwehrende Gewalt, wenn sie mit Blick auf die Abwehr wirksam sein kann,
auch gegen die verantwortliche Person richten, nicht gegen den faktischen Angreifer. Für
McMahan kann das heißen, dass Soldaten/Soldatinnen weniger angreifbar sind als diejeni-
gen, die sie zum illegitimen Angriff bewogen haben – selbst, wenn diese Personen völker-
rechtlich als Zivilisten/Zivilistinnen einzuordnen sind.
McMahan ist also vorsichtig damit, Soldaten/Soldatinnen selbst bei ungerechtfertigter
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Weise kämpfenden Konfliktparteien so einfachhin zu legitimen Angriffszielen zu erklären.


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Das liegt auch daran, dass die Verantwortlichkeit einer Person für illegitimes Handeln durch
entschuldigende Gründe gemildert werden kann (Faktor 4). Nehmen wir an, dass Adam zu
seinem Angriff auf Berta erst durch den unerträglichen Druck, den Anton auf seine, Adams,
Familie ausübt, zum Angriff verleitet worden ist. Dann ist Adams Haftbarkeit deutlich ver-
mindert. Oder Adam wurde belogen, und er kennt die wirklich relevanten Umstände nicht,
sodass ihm das Unrecht seines Angriffs nicht bewusst ist. Adam könnte auch ein Kind sein, das
noch gar keine Verantwortungsfähigkeit besitzt. McMahan befürwortet daher auch eine sehr
restriktive Haltung zur Gewaltanwendung gegen Kindersoldaten. Weil sie kaum haftbar sind,
müssen sie auch dann geschont werden, wenn sie für eine ungerechte Kriegspartei kämpfen.

19.5 Individualismus versus Kollektivismus

Die Unterschiede zwischen Jeff McMahan und Michael Walzer finden sich nicht erst auf der
Ebene der normativen Positionen, sondern bereits in der Weise des methodischen Herangehens
an die Fragen einer Ethik der Gewalt. Während Michael Walzer versucht, politische Gewalt
(auch Kriege) von vorneherein unter der Prämisse der Kollektivität zu denken, nimmt Jeff
McMahan das Individuum zum normativen Ausgangspunkt. Dementsprechend wird heute
manchmal vom kollektivistischen und vom individualistischen Ansatz in der Ethik des bewaff-
neten Konflikts gesprochen.271 Für Walzer ist die politische Gemeinschaft das Erste: Die ein-
zelne Soldatin ist gewissermaßen nur die Repräsentantin der Gemeinschaft, die die Rolle der
Kämpferin übernimmt. Diese Sicht hat bereits Jean-Jacques Rousseau in seinem „Contrat
social“ vorgedacht.272 Für McMahan dagegen ist der einzelne Mensch das Erste: Als Soldat

270
Jeff McMahan, „Who is Morally Liable to be Killed in War?“, Analysis 71 (2011) 544–559, 548.
271
So zum Beispiel Lazar, „War …“
272
Jean-Jacques Rousseau, Sozialpolitische und Politische Schriften, München 1981, 276f.

201
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

führt er bestimmte Tätigkeiten aus, die andere Menschen – je nachdem legitimer Weise oder
illegitimer Weise – bedrohen. Aber auch als Zivilist kann ihm Verantwortung für die Bedro-
hung von Personen zukommen. Die Gemeinschaft ist die Akkumulation solcher Einzelperso-
nen. Methodisch ist dieser Ausgangspunkt dem Zugang von Hugo Grotius nicht unähnlich.
Walzer will mit der vorrangigen Begrenzung der Lasten der Kriegsgewalt auf die Sol-
daten/Soldatinnen die Gewaltsamkeit des Krieges mindern und einhegen. Dieses Bemühen
hat Vorläufer im mittelalterlichen Bemühen um „pax Dei“ (Gottesfrieden) und „treuga Dei“
(Waffenstillstand Gottes), als man bestimmte Personengruppen, zum Beispiel Kleriker, von
der Gewalt ausschloss oder für bestimmte Tage und Orte die Gewaltanwendung verbot.273
McMahan aber erachtet es als unfair, dass zwar einerseits Wehrpflichte legitim angreifbar
sein sollen, wenn ihr Staat (ihre politische Gemeinschaft) lediglich Ziel einer von außen
kommenden Aggression ist, während andererseits die möglicherweise zivilen Verantwortli-
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chen dieser Aggression als Zivilisten/Zivilistinnen zum geschützten Personenkreis gehören.


In der Tat hat McMahan wohl ein starkes intuitives moralisches Moment auf seiner Seite. Es
scheint gerechter zu sein, dass ein ziviler Rädelsführer einer illegitimen Aggression ange-
griffen wird als beispielsweise Soldaten/Soldatinnen, die in ihre Rolle hineinbefohlen oder
-gezwungen wurden. Selbst freiwillige Soldaten/Soldatinnen sind nicht haftbar für einen
Gegenangriff, wenn sie lediglich zu Unrecht angegriffene Personen verteidigen. Es ver-
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steht sich sehr schnell, dass McMahans individualistischer Ansatz die Praxis der gezielten
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Tötungen („targeted killings“) grundsätzlich unterstützt.274 Hier werden individuelle Perso-


nen aufgrund ihrer je individuellen Verantwortung für unrechte Gewalt bedroht und getötet,
was gerechter wirkt, als jemanden lediglich aufgrund seiner beruflichen Rolle ins Visier
zu nehmen. Aber ist es sinnvoll, den Maßstab für Gewalt nur bei der „Gerechtigkeit“ zu
nehmen, oder sollten nicht auch andere Gesichtspunkte, zum Beispiel so etwas wie „Ritter-
lichkeit“, eine Rolle spielen?275

19.6 Totalisierung des Krieges?

Die Revisionistische Theorie des gerechten Krieges zeigt nämlich eine problematische Seite:
So kann man argumentieren, dass insbesondere in demokratischen Staaten die Zivilbevölke-
rung doch eine nicht unerhebliche Verantwortung für das Handeln der Regierung trägt. Wenn
ein solcher Staat einen ungerechten Krieg führt, sind auch die Zivilisten/Zivilistinnen nicht
frei von jeglicher Haftbarkeit („liability“). Die einhegende Trennung von legitim angreif-
baren Personengruppen und unbedingt geschützten Personengruppen ist dann aufgehoben,
was eine prinzipielle Totalisierung des bewaffneten Konflikts ermöglichen könnte. Dieser
Vorwurf wurde bereits früh in der Debatte gegen McMahan und sein revisionistisches Lager

273
Zur Tradition des Nachdenkens über den gerechten Krieg vgl. Gregory Reichberg [u. a.] (Hrsg.), The Ethics of
War, Classic and Contemporary Readings, Malden/MA 2006; darin zur Treuga Dei 93–97.
274
Vgl. zu gezielten Tötungen: Bernhard Koch, „Targeted Killing. Grundzüge der moralphilosophischen Debatte
in der Gegenwart“, in Christliche Friedensethik vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, hrsg. von
Veronika Bock [u. a.], Münster 2015, 191–206.
275
Vgl. zu dieser Frage: Bernhard Koch, „‚God, how I hate the 20th century‘. Zur Ritterlichkeit als Mythos und
als ethische Tugend“, Ethik und Militär 8 (2021) Nr. 2, 34–41.

202
19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘

erhoben,276 worauf McMahan mit einer strengen Unterscheidung der Ebenen von Recht und
Moral antwortete: Moralisch könnten Zivilisten/Zivilistinnen legitim angreifbar sein, aber
das positive Humanitäre Völkerrecht hat gute Gründe (zum Beispiel die im Allgemeinen
geringe Haftbarkeit von Zivilisten/Zivilistinnen), Zivilpersonen von der – vorsätzlich ver-
ursachten – Gewaltwirkung auszunehmen und zu schonen.277 Im Sinne der Gewaltminimie-
rung muss hier das rechtliche Verbot die möglichweise moralisch bestehende Erlaubnis zu
bestimmten Angriffen auf Zivilisten/Zivilistinnen übertrumpfen.
Andere Einwände gegen die Revisionistische Theorie des gerechten Krieges betreffen
das Wissen um die legitimen Kriegsgründe bei den Soldaten/Soldatinnen. Walzer hatte vor-
gebracht, dass sich in der Moral des Krieges Soldaten/Soldatinnen als diejenigen, die die
konkreten Gewalthandlungen ausführen, zwar um das ius in bello besorgen müssen, dass
aber das ius ad bellum die Sorge und Zuständigkeit der politischen Führung sei.278 Eine
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solche Unterscheidung schützt die Soldaten/Soldatinnen vor der Überforderung, selbst die
Legitimität oder Illegitimität der Kriegsgründe beurteilen zu müssen. Walzer tritt auch hier
für eine rollenspezifische Arbeitsteilung ein: Politiker/-innen beurteilen die Frage der Gründe
zum Krieg; Soldaten/Soldatinnen müssen sich hier auf die Politiker/-innen verlassen können.
McMahan dagegen nimmt einen Gedanken auf, der im Konzept der „Inneren Führung“
in der deutschen Bundeswehr schon lange verankert ist: Die Soldatin oder der Soldat kann
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sich nicht einfach von der Last der Prüfung der Kriegsgründe freisprechen. Er oder sie muss
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

sich informieren und die Befehle, die er oder sie erhält, prüfen. Er oder sie muss sich selbst
die moralische Frage stellen, ob er oder sie sich am Militäreinsatz gerechtfertigter Weise
beteiligen dürfen. Die Revisionistische Theorie des gerechten Krieges ist nicht nur durch
innerphilosophische Debatten angeregt worden, sondern auch durch die politischen Ver-
hältnisse in der Zeit des beginnenden Afghanistan- und Irakkrieges von 2001 an. McMahan
wollte auch Soldaten/Soldatinnen signalisieren: Ihr seid auch verantwortlich für die Kämpfe,
in die Euch die politische Obrigkeit entsendet.279

19.7 Weiterentwicklungen

McMahan ist zwar der Anreger und in der ersten Zeit auch der Hauptvertreter der Revi-
sionistischen Theorie des gerechten Krieges gewesen, aber als Ethiker behandelt er viele
verschiedene Felder, und er hat sich in den letzten Jahren eher aus der „morality of war“
zurückgezogen. Andere Philosophen/Philosophinnen haben aber die Ursprungsidee, näm-
lich den normativen Individualismus und den Ausgangspunkt bei der individuellen Selbst-
verteidigung, aufgenommen und – zuweilen auch in andere Richtungen – weitergeführt.
Zwei wichtige Weichenstellungen, an denen Denker/-innen unterschiedliche Bahnen neh-
men, sollen hier vorgestellt sein: Die erste betrifft die Frage der Selbstverteidigung selbst.
McMahan unterstützt ein sehr restriktives Konzept, wenn er auf die Haftbarkeit einer Person
abstellt und diese an der moralischen Verantwortung festmacht. In vielen Fällen könnte dies

276
Vgl. Seth Lazar, „The Responsibility Dilemma for Killing in War: A Review Essay“, Philosophy & Public
Affairs 38 (2010) 180–213; Henry Shue, „Do We Need a Morality of War?“, in Just and Unjust Warriors. The
Moral and Legal Status of Soldiers, hrsg. von David Rodin und ders., Oxford 2008, 87–111.
277
Jeff McMahan, Kann Töten Gerecht sein? Krieg und Ethik, Darmstadt 2010, 199–208.
278
Vgl. Walzer, Gibt es den gerechten Krieg …, 73.
279
Vgl. McMahan, Kann Töten gerecht sein …, 5f.

203
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

bedeuten, dass das Opfer eines ungerechten Angriffs den Angriff hinnehmen muss, weil die
Person, die das Opfer zu Unrecht bedroht, selbst gar nicht für den Angriff verantwortlich
und damit haftbar ist. Das halten andere Moralphilosophen/-philosophinnen für widersinnig.
Einschlägig ist das – zugegeben recht kuriose – Gedankenexperiment eines dicken Mannes,
der von einer anderen Person so in einen schmalen Brunnenschacht geschubst wird, dass
er unten am Schachtende zwangsläufig eine dort befindliche Person töten wird. Stellen wir
uns vor – es muss ja noch kurioser werden –, die am Boden befindliche Person hätte die
Möglichkeit, mit einer Art Strahlenkanone den herabfallenden Mann zu vaporisieren, so
dass sie unbeschadet bleibt. Dürfte sie das? Manche Ethiker/Ethikerinnen meinen ja, man-
che verneinen.280 Die Befürworter/-innen stellen den Selbstschutz in den Mittelpunkt, die
Gegner/-innen machen darauf aufmerksam, dass der herabstürzende Mann nichts für die
Gefahr kann, die von ihm als physischem Objekt ausgeht. McMahan gehört zum Lager der
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Verneiner, wie wir gesehen haben. Der Schubser ist unter Umständen haftbar, nicht aber
die fallende Person. Wer allerdings den Selbstschutz über die Haftbarkeit der bedrohenden
Person stellt, kommt dann auch bei der Übertragung auf den Krieg zu anderen praktischen
Folgerungen. So kann es unter dieser Voraussetzung eben doch legitim sein, Kindersoldaten
anzugreifen oder sich gegen Soldaten/Soldatinnen zur Wehr zu setzen, von denen man weiß,
dass sie am Angriff ihrer Kriegspartei nicht mitwirken wollen, sich aber nicht entziehen
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können. Eine permissivere Notwehrkonzeption im Revisionismus erweitert dann auch die


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Erlaubnisgründe zum Angriff im ius in bello.


Die zweite Weichenstellung geht von der Problematik der Kollateralschäden aus. Neh-
men wir nochmals die Situation aus Abschnitt 19.3: Adam greift Berta an. Aber Berta kann
sich nur so verteidigen, dass sie Daniel, einen unbeteiligten Dritten, in Mitleidenschaft zie-
hen muss. Vorhersehbar wird Daniel eine schwere Verletzung am Auge davontragen. Da
es aber um Bertas Leben geht, könnte man den Schaden bei Daniel unter Umständen als
verhältnismäßig in Bezug auf den Nutzen der Abwehraktion einordnen und damit Bertas
selbstverteidigende Gewalt als gerechtfertigt ansehen. Nun kann man aber dagegenhalten,
dass Daniel seinerseits ja keine „Haftbarkeit“ zukommt, sodass er solche Gewalt, die ihm
schadet, akzeptieren müsste. Die Frage ist also, ob Daniel sich gegen Bertas Handeln zur
Wehr setzen darf. Was wiegt hier schwerer: die Rechtfertigung („justification“), die Berta für
ihr Handeln in Anspruch nehmen kann, oder die (hier fehlende) Haftbarkeit („liability“) auf
der Seite von Daniel? Die Antwort auf diese Frage ist wiederum nicht unbedeutend dafür,
was man als Handeln in einem Krieg für erlaubt hält. Es geht um die Frage, ob sich unschul-
dige Zivilisten/Zivilistinnen gegen Angreifer/-innen zur Wehr setzen dürfen, die zwar nicht
direkt sie selbst bedrohen, aber doch zivilen Schaden verursachen würden.281 Historisch
gewendet: Hätte sich während des Zweiten Weltkriegs die deutsche Zivilbevölkerung gegen
die ­alliierten Luftangriffe zur Wehr setzen dürfen? Und da sie selbst dazu nicht in der Lage
war, hätte es dann ein Anderer an ihrer statt tun dürfen? Wer dies bejaht, muss sich dann

280
Das Beispiel stammt von Judith Thomson, die die Nutzung der Strahlenkanone erlauben würde: Judith Jarvis
Thomson, „Self-Defense“, Philosophy & Public Affairs 20 (1991) 283–310.
281
Dieses Problem wurde insbesondere von Uwe Steinhoff in die Debatte eingebracht. Steinhoff gesteht den
Zivilisten/Zivilistinnen ein solches Abwehrrecht auch gegen Kombattanten/Kombattantinnen, deren Gewalt-
handeln gerechtfertigt ist, zu. Vgl. Uwe Steinhoff, „Rechte, gerechte Angreifbarkeit und die moralische Gleich-
heit von Kombattanten“, in Den Gegner schützen. Zu einer aktuellen Kontroverse in der Ethik des bewaffneten
Konflikts, hrsg. von Bernhard Koch, Baden-Baden 2014, 195–240, bes. 222ff.

204
19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘

fragen, ob nicht die deutsche Wehrmacht für die Zivilbevölkerung eine solche Verteidigung
übernehmen hätte können, sodass es am Ende doch auf zwei Konfliktparteien hinausliefe,
die beide Rechtfertigungsgründe für ihre jeweiligen Angriffe auf den Gegner hätten.
Diese Beispiele lassen sich verfeinern und analytisch sorgfältig durchspielen. Schwieri-
ger wird es, wenn inkommensurable Werte mit ins Spiel kommen, zum Beispiel der Schutz
von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten. Müssen Soldaten/Soldatinnen ihr Leben
gefährden, um kulturell bedeutsame Bauwerke nicht zu gefährden?282

19.8 ‚Revisionistische‘ Kriegsgründe

Die Revisionistische Theorie des gerechten Krieges betrifft, wie wir gesehen haben, aber
nicht nur isolierte Fragen des ius in bello. Indem sie ius ad bellum und ius in bello zusam-
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mennimmt, ist natürlich auch das erste Feld von großer Relevanz. Welche Umstände recht-
fertigen überhaupt den Eintritt in einen bewaffneten Konflikt? Michael Walzers Kollekti-
vismus kennt hier eine kollektivistische Antwort: Dort, wo eine politische Gemeinschaft
gefährdet ist, kann sie sich in einer gemeinschaftlichen Aktion zur Wehr setzen.283 Die Exis-
tenz der Gemeinschaft ist der Maßstab. Sie ist Walzer so wichtig, dass in bestimmten Fällen
für einen politischen Entscheider sogar die Übertretung der Kriegskonvention, also direkte
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Angriffe auf die Zivilbevölkerung, eine moralisch zwar heikle, aber doch nicht gänzlich
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

unmögliche Option darstellen kann. Walzer spricht hier vom „Äußersten Notfall“ („Supreme
Emergency“)284, aber dieses Element in Walzers’ Denken über die Moralität des Krieges
sollte ebenso wenig interessengeleitet missbraucht werden wie McMahans grundsätzliche
Möglichkeit, auch Zivilisten/Zivilistinnen als „haftbar“ anzusehen.
Für die Revisionisten/Revisionistinnen ist das Individuum der Ausgangspunkt: Dort, wo
Menschen als solche gefährdet sind, dürfen sie sich verteidigen oder dürfen – müssen? –
Dritte in einer Intervention verteidigend eingreifen. Die Oxforder Moralphilosophin Cécile
Fabre hat dementsprechend den Individualismus der Revisionistischen Theorie des gerech-
ten Krieges zu einer „kosmopolitischen“ Theorie des Krieges ausgearbeitet. Kosmopolitis-
mus bedeutet für sie nämlich die Auffassung, „dass [die einzelnen] Menschen die funda-
mentalen und primären loci der moralischen Besorgnis und des Respekts sind und gleichen
moralischen Wert haben. Kosmopolitismus ist daher individualistisch, egalitaristisch und
universal, und besteht darauf, dass politische Grenzen von einem moralischen Standpunkt
aus unerheblich sind.“285
Fabre führt den individualistischen Ansatz dementsprechend bereits für das ius ad bellum
aus: Individuelle Menschen dürfen sich natürlich aus freien Stücken zu Kollektiven zusam-
menschließen, sodass sie sich auch kollektiv verteidigen dürfen, wenn einzelne Menschen
aus dem Kollektiv oder das ganze Kollektiv angegriffen werden. Wenn das angegriffene Kol-
lektiv selbst die Verteidigung nicht leisten kann, weil es einem physisch überlegenen Angrei-
fer gegenübersteht, dann können auch dritte Parteien eingreifen: Eine solche Intervention

282
Vgl. Bernhard Koch, „Es geht nicht nur um Steine. Ist militärischer Schutz von Kulturgütern erlaubt oder gar
geboten?“, Herder Korrespondenz 70 (2016) Nr. 11, 38–42.
283
Vgl. Walzer, Gibt es den gerechten Krieg …, 89–119.
284
Michael Walzer, „Die Ethik der Kriegführung II. Ethik des Notfalls“, in Erklärte Kriege – Kriegserklärungen,
hrsg. von ders., Hamburg 2003, 62–81; Michael Walzer, Gibt es den gerechten Krieg …, 358–374.
285
Cécile Fabre, Cosmopolitan War, Oxford 2012, 16 (Übers. B. K.).

205
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

ist moralisch akzeptabel, wenn einzelne Menschen in ihren fundamentalen Rechten bedroht
sind. Fabre stellt daher auch die Frage nach der Legitimität von sogenannten „Subsistenz-
kriegen“ („subsistence wars“) in den Raum:286 Ist es konsequent zu sagen „Bei einem Angriff
auf mein Leben durch einen aggressiven Akt eines Angreifers darf ich mich mit Gewalt ver-
teidigen“, aber nicht gleichzeitig zu fragen: „Darf ich mich mit Gewalt verteidigen, wenn
mir die lebensnotwendigen Güter, wie zum Beispiel sauberes Wasser, vorenthalten werden?“
Freilich ist im zweiten Fall sehr viel schwerer zu bestimmen, wem welche Haftbarkeit für den
unerträglichen Zustand bei den Lebensumständen der bedrohten Person zukommt.
Da der Kosmopolitismus von einer moralischen Vorrangstellung des Individuums aus-
geht, sind alle Kollektive oder politische Gemeinschaften, auch Staaten, nur nachrangig
von moralischer Relevanz. Das hat Auswirkungen auf die Beurteilung von Bürgerkriegen
oder Sezessionskriegen.287 Grundsätzlich haben Menschen auch das Recht, ihre politische
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Gemeinschaft zu verlassen – und grundsätzlich dürfen sie das auch gemeinsam mit anderen
tun (Sezession). Freilich ist dabei zu fragen, ob sie dadurch eingegangene Verpflichtungen
verletzen oder sich einen Vorteil zu Lasten Anderer verschaffen.

19.9 Staatliche und nicht-staatliche Konfliktparteien


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Wenn wir uns Krieg als zwischenstaatlichen Krieg vorstellen, in dem die Armee von Staat
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

A gegen die Armee von Staat B kämpft, erscheint uns die Revisionistische Theorie des
gerechten Krieges sehr problematisch zu sein; schließlich macht sie es zur Voraussetzung,
dass man zwischen der „gerechten“ und der „ungerechten“ Kriegspartei unterscheiden kann
und dass die Kämpfer/-innen der gerechten Seite gar nicht legitim angreifbar sind, was die
Angreifbarkeit der Kämpfer/-innen der ungerechten Seite mitbegründet. Jede Kriegspartei
wird für sich die gerechten Kriegsgründe in Angriff nehmen und die andere(n) Partei(en)
als die ungerecht kämpfende(n) betrachten. Auch Zivilisten/Zivilistinnen auf der ungerech-
ten Seite könnten im Revisionismus legitim angreifbar sein, sodass auch hier wiederum
jede Kriegspartei für sich die Erlaubnis zum Angriff auf gegnerische Zivilisten/Zivilistin-
nen ableiten würde. Eine solche Ethik des Krieges würde die Gewalt nicht einhegen, so die
Befürchtung, sondern enorm verstärken. Wenn der Revisionismus dem „totalen Krieg“ so
sehr Vorschub leistet, warum hat er dann in der akademischen Welt dennoch viel Anklang
und Zustimmung gefunden?
Die Antwort liegt wohl darin, dass die Revisionistische Theorie des gerechten Krieges
zwei Momente aufnimmt, die in der Konfliktrealität unserer Zeit immer wichtiger werden
und die auch ineinandergreifen: a) ein systematisches Moment, und b) ein empirisches.
Das systematische Moment, das in der Ethik der internationalen Ordnung eine immer grö-
ßere, ja geradezu dominante Rolle einnimmt, ist der Individualismus, wie er ja auch in den
Konzeptionalisierungen der Menschenrechte prägend ist. Das traditionelle „westfälische“
Völkerrecht ist ein Recht der Staaten. Staaten sind (mit Ausnahme von IKRK, Heiliger
Stuhl und Malteserorden) die Subjekte des Völkerrechts. Auch das Humanitäre Völkerrecht
ruht auf so einer kollektiven Konzeption auf. Gegen das Humanitäre Völkerrecht verstoßen
Staaten, nicht einzelne Personen, zum Beispiel Soldaten/Soldatinnen. Allerdings ist diese

286
Ebd., 97–129.
287
Ebd., 130–165.

206
19 Die sogenannte ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘

Kollektivlogik im Völkerrecht in den vergangenen Jahrzehnten stark aufgebrochen, ja im


Grunde abgelöst worden. Mittlerweile werden immer häufiger auch individuelle Menschen
als Subjekte des Völkerrechts behandelt, sei es als Handelnde („Täter“), zum Beispiel bei
Kriegsverbrechen, die vor dem Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden, sei es als
Erleidende („Opfer“), wie eben Zivilisten/Zivilistinnen. Insbesondere die Dominanz des
menschenrechtlichen Denkens hat dem konzeptionellen Individualismus einen ganz großen
Schub gegeben.288 Die Revisionistische Theorie des gerechten Krieges ist diesen menschen-
rechtlichen Konzeptionalisierungen sehr nahe.
Das andere Moment wird durch das empirische Bild gegenwärtiger Konflikte geliefert:
Es kommt nur noch selten zu zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen im strengen Sinne.
Meistens kämpfen staatliche und nicht-staatliche Konfliktparteien (zum Beispiel terroristi-
sche Gruppen, Warlords, Söldner etc.) gegeneinander, auch wenn die nicht-staatlichen Kon-
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fliktparteien von Staaten unterstützt werden.289 Diese Konstellationen haben auch in der
Völkerrechtswissenschaft zu heftigen Debatten darüber geführt, wie eigentlich das positiv-
rechtliche ius in bello in solchen Fällen zu verstehen sei. Zudem begünstigen neue Waffen-
technologien wie ferngesteuerte Flugkörper („Drohnen“) den Individualismus und Praktiken
der Kriegsführung, die individuelle Personen ins Visier nehmen (zum Beispiel bei „gezielten
Tötungen“).290
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19.10 Theoretischer Anspruch und moralische Lebenswirklichkeit

Allerdings entkommt auch die Revisionistische Theorie des gerechten Krieges gewissen
innerethischen Schwierigkeiten nicht. Sie trägt beispielsweise dem Umstand der Kamerad-
schaft, in der man ja auch einen moralischen Wert sehen kann, nicht besonders Rechnung.
Ein „ungerechter Kombattant“ (also einer, der auf der ungerechten Seite kämpft) darf gar
nicht kämpfen, und er darf auch keine Hilfe erhalten. Wer ihm also kameradschaftlich bei-
steht, würde seinerseits wiederum eine mögliche Haftbarkeit auf sich ziehen. Auch rollen-
ethische Gesichtspunkte gehen in einem „reinen“ Revisionismus unter. Militärmediziner/-
innen sollten in dieser Sichtweise nur den „gerechten Kombattanten“ helfen, aber nicht
„ungerechte Kombattanten“, die verwundet wurden, wieder fit für den Kampf machen. Die
medizinethische Rolle von Ärzten/Ärztinnen und Sanitätern/Sanitäterinnen im bewaffneten
Konflikt sieht aber vor, dass Verwundeten aller Kriegsparteien nach den Gesichtspunkten
medizinischer Notwendigkeit geholfen wird.291 Es ist also wie auf vielen Feldern angewand-

288
Vgl. Christine Chinkin und Mary Kaldor, International Law and New Wars, Cambridge 2017, 265–284; David
Luban, „Military Necessity and the Cultures of Military Law“, Leiden Journal of International Law 26 (2013)
315–349.
289
Vgl. Bernhard Koch, „Hybride Ethik für hybride Kriege? Reichweite und Grenzen der sogenannten ‚revisionis-
tischen Theorie des gerechten Krieges‘“, in Krieg im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen,
hrsg. von Hans-Georg Ehrhart, Baden-Baden 2017, 88–113.
290
Vgl. Bernhard Koch, „Bewaffnete Drohnen und andere militärische Robotik. Ethische Betrachtungen“, in
Moderne Waffentechnologie. Hält das Recht Schritt?, hrsg. von Christof Gramm und Dieter Weingärtner,
Baden-Baden 2015, 32–56; Bernhard Koch, „Die ethische Debatte um den Einsatz von ferngesteuerten und
autonomen Waffensystemen“, in Unbemannte Waffen und ihre ethische Legitimierung, hrsg. von Ines-Jacque-
line Werkner und Marco Hofheinz, Wiesbaden 2019, 13–40.
291
Vgl. Michael L. Gross, Military Medical Ethics in Contemporary Armed Conflict. Mobilizing Medicine in the
Pursuit of Just War, Oxford 2021.

207
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

ter Ethik: Solche Konzepte bringen zwar analytische Aufklärung und Verständigung, aber
wenn man sie zu eindimensional als ethische Systematisierungen den Anwendungsfragen
zugrunde legt, entfernen sie sich von der moralischen Lebenswirklichkeit. Das geht dem
Utilitarismus oder dem Kantianismus nicht anders. Häufig muss zwischen der moralischen
Lebenswelt und der Welt der Prinzipien noch einmal ein „Überlegungsgleichgewicht“ (John
Rawls) geschaffen werden.292 Allerdings kommt heute eine solche Überlegung in Bezug
auf das Handeln im bewaffneten Konflikt ohne die Anregungen durch die Revisionisten/
Revisionistinnen nicht mehr aus.

Fünf vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:
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Bernhard Koch, „Diskussionen zum Kombattantenstatus in asymmetrischen Konflikten“, in


Handbuch Friedensethik, hrsg. von Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling, Wies-
baden 2017, 843–854.
Bernhard Koch, „Reflexionen zur ethischen Debatte um das ius in bello in der Gegenwart“,
in Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie, hrsg. von Ines-Jacqueline Werkner und
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Peter Rudolf, Wiesbaden 2018, 75–100.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Seth Lazar, „War‫“ׅ‬, in The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2020 Edition), hrsg.
von Edward N. Zalta, https://plato.stanford.edu/archives/spr2020/entries/war.
Als Standardwerke seien genannt Seth Lazar und Helen Frowe (Hrsg.), The Oxford Hand-
book of Ethics of War, Oxford 2018.
Gregory M. Reichberg [u. a.] (Hrsg.), The Ethics of War. Classic and Contemporary Rea-
dings, Malden/MA 2006.

292
Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit …, 68–70; John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998, 73.

208
20 Operationell autonome Waffensysteme

20 Operationell autonome Waffensysteme

Nach Betrachten der militärischen Intervention zu humanitären Zwecken – und auch mit
Blick darauf – ist das Thema der sogenannten operationell autonomen Waffensysteme zu dis-
kutieren. Hierfür ist auch die verkürzte Bezeichnung ‚autonome Waffensysteme‘ gebräuch-
lich. Hier sei aber bewusst die Wendung operationell autonom benutzt. Warum, wird später
zu erläutern sein. An dieser Stelle ist nur wichtig, dass sich der Ausdruck ‚autonome Waffen-
systeme‘ etabliert hat. Wer davon abweicht, muss dies begründen. Unter Umständen kann es
die Argumentation ein wenig erschweren.

20.1 Einordnende Überlegungen


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20.1.1 Vorbemerkungen

Steigen wir mit drei kurzen Vorbemerkungen ein.293 Operationell autonome Waffensysteme
sind in einem größeren Ganzen zu verstehen, nämlich im Zusammenhang mit Künstlicher
Intelligenz (KI) – ein Thema, das immer mehr an Relevanz gewinnt. Nicht nur bei Waffensys-
temen gibt es KI, sondern auch ganz woanders, etwa beim ‚autonomen Fahren‘. Das Thema
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KI wird sicher noch eines der ganz wesentlichen in den kommenden Jahrzehnten werden.
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Außerdem müssen wir uns, wenn wir über operationell autonome Waffensysteme sprechen,
immer vor Augen halten, dass es darum geht, den Bezug zu anderen Waffensystemen zu wahren.
Anders ausgedrückt: Bestimmte Fragen, die sich bezüglich operationell autonomer Waffensys-
teme stellen, die stellen sich natürlich auch für andere. Denn eine Rakete oder eine ferngesteu-
erte Drohne könnte uns unter Umständen vor genau die gleichen ethischen Probleme stellen.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das, was Menschen letztlich beunruhigt, nicht
ist, dass ein Roboter bestimmte Dinge ausführt. Simple Beispiele aus dem militärischen
Bereich: Vermutlich hätte niemand ein Problem damit, wenn die deutsche Marine ihre
Minensuche autonomisieren würde oder die Polizei oder das Heer dasselbe für die Bom-
benentschärfung betreiben würden. Das Beunruhigende ist vielmehr die Delegation der Ent-
scheidung zur Gewaltanwendung.
Knapp zusammengefasst lässt sich also systematisch unterscheiden zwischen gewaltfrei
und gewaltorientiert, zwischen defensiv und offensiv sowie zwischen gegen Sachen und
gegen Menschen gerichtet.

20.1.2 Die zentralen Fragen

Kommen wir jetzt zu diesbezüglichen Fragen, die im Mittelpunkt stehen.294


Erstens geht es nicht darum, eine neue Ethik zu erfinden, neue Kriterien und Prinzipien.
Es geht darum, mit unseren ethischen Überlegungen an Vorhandenem anzuknüpfen. Wir

293
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige
Sekundärliteratur siehe Bernhard Koch und Bernhard Rinke, Ethische Fragestellungen im Kontext autonomer
Waffensysteme, Hamburg 2021, 23–25.
294
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 25–35 und 140–144.

209
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

haben etwas Neues – nämlich die besagten Waffensysteme – und darauf müssen wir unsere
Kriterien und Prinzipien anwenden.
Beginnen wir damit, nach welchen Kriterien und Prinzipien operationell autonome Waf-
fensysteme eigentlich programmiert werden sollen: Was für ethische Kriterien und Prinzi-
pien gibt man in das System ein? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Bekommt
ein pflichtethischer Ansatz den Vorzug oder ein tugendethischer oder richtet man sich nach
geltenden Normen? Oder wäre es besser, auf eine konsequenzialistische Abwägung zu
fokussieren? Hierauf haben wir noch keine richtige Antwort.
Des Weiteren steht die Frage im Raum, was ein Leitfaden für das Erörtern ethischer
Fragen hinsichtlich operationell autonomer Waffensysteme sein könnte. Könnten das zum
Beispiel, wie das im englischsprachigen Raum bei Weitem der Fall ist, die Kriterien der Just
War Theory sein? Englischsprachige Abhandlungen über operationell autonome Waffen-
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systeme sind fast immer nach den just war criteria aufgebaut. Womöglich stellen diese Kri-
terien legitimer Gewaltanwendung einen geeigneten Leitfaden dar. Aber bestimmte Fragen
erfassen sie eben nicht.
Zweitens ist zu überlegen, welches die ethischen Probleme sind, die im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit stehen müssen. Das sind im Wesentlichen zwei.
Das eine betrifft die Frage eines KI-Wettrüstens. Man erinnere sich hier an die Dilem-
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mata im Zusammenhang mit der atomaren Abschreckung. Dort gab es das Problem, dass
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

man sich von dem Augenblick an, in dem diese Waffen existieren, nicht mehr so verhalten
kann, als ob es sie nicht gäbe. Wissen, das einmal da ist, lässt sich nicht wieder beseiti-
gen. Anders gesagt: Wenn alle eine atomare Nullrüstung verwirklichen, kann es jederzeit
irgendjemanden geben, der sich mit unabsehbaren Konsequenzen davon löst. Genau das
Gleiche ergibt sich auch hinsichtlich eines KI-Wettrüstens. Gibt es eines Tages beispiels-
weise Roboterarmeen, wird sich immer die Frage stellen, wie dem zu begegnen ist: Steigen
wir dort also mit ein oder versuchen wir, dem gemeinsam vorzubeugen? Diese Frage wird
ethisch intensiv diskutiert und man versucht gerade, solch eine Entwicklung gar nicht erst
aufkommen zu lassen, damit man möglichst nicht in eine Situation gerät wie hinsichtlich
des atomaren Wettrüstens.
Das andere Problem, das hinsichtlich operationell autonomer Waffensysteme im Fokus
steht, sind die sogenannten Ius-in-bello-Entscheidungen – der Diskriminations- und der Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatz.
Drittens gilt es zu überlegen, was hier mit ‚autonom‘ gemeint ist. Hier sei die Erklärung
gegeben, warum es vorzuziehen ist, von operationell autonomen Waffensystemen zu sprechen.
Wir hatten Kant erwähnt und sein Verständnis von Autonomie, nämlich Auto-Nomie als
Selbst-Gesetzgebung. Sie bedeutet auch gleichzeitig Sittlichkeit; bei Kant ist das Prinzip der
Autonomie auch das Prinzip der Sittlichkeit. Man schaue auf den kategorischen Imperativ:
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemei-
nen Gesetzgebung gelten könne.“295 Das ist das Prinzip der Autonomie und das Prinzip der
Sittlichkeit – wir alle partizipieren nur als sittlich Wollende an der gedachten allgemeinen
moralischen Gesetzgebung.
Seinen Grund hat dies darin, dass wir alle frei sind. Ohne dass wir frei wären, könnten
wir keine Intention haben, keinen Vorsatz. Und wir sind uns philosophisch darüber einig,

295
Kant, Kritik der praktischen Vernunft …, 30.

210
20 Operationell autonome Waffensysteme

dass eine menschliche Handlung eine Intention umfassen muss. (Einfaches Beispiel: Die
Ärztin schlägt einer Patientin mit einem Hämmerchen aufs Knie und das Bein zuckt nach
vorn. Das Zucken des Beines ist keine menschliche Handlung, es ist ein Reflex. Wenn
jemand aber die Ärztin von sich aus tritt, mit dem Vorsatz, sie fernzuhalten oder ihr wehzu-
tun, dann ist das eine menschliche Handlung.) Eine solche Intention ist eine freie Setzung:
Was wir tun, ist nicht bloß Ausfluss einer Abfolge von Kausalitäten, es ist nicht von Voran-
gegangenem determiniert. Nimmt jemand eine freie Setzung vor, können wir dieser Person
auch zuschreiben, dass sie die Handlungs- beziehungsweise Unterlassungsurheberschaft hat:
Es ist ‚ihre‘ Handlung, sie hat diese in Freiheit gesetzt. Schließlich können wir uns noch dar-
auf einigen, dass jemand für eine Handlungs- beziehungsweise Unterlassungsurheberschaft
Verantwortung trägt. Verantwortung ergibt sich allerdings nur aus Verantwortlichmachen,
Verantwortung ergibt sich nie im luftleeren Raum. Ein Mensch, der tatsächlich ganz allein
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irgendwo ohne Kontakte zu anderen personalen Wesen existiert, der könnte auch für nichts
Verantwortung haben, weil ihn niemand verantwortlich machen könnte.
Von diesen Gedanken hinsichtlich der sittlichen Autonomie ist die Autonomie im ope-
rationellen Sinne strikt zu unterscheiden. Autonomie im operationellen Sinne ist nämlich
nichts anderes als eine Abfolge auf Grundlage dessen, was vorab programmiert wurde.
Daran ändern auch Systeme nichts – zumindest heute, das kann sich in der Zukunft viel-
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leicht ändern –, die man als deep learning bezeichnet: Systeme, die in qualifizierter Weise
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

ihr Programm erweitern und ausdifferenzieren können. Der entscheidende Punkt ist, dass
sie nach heutigem Stand lediglich ihren Programmcode erweitern und ausdifferenzieren, sie
sind aber dennoch nicht in der Lage, eine freie Setzung vorzunehmen. Deswegen gibt es,
wenn man nicht bloß von operationell autonomen Waffensystemen sprechen möchte, auch
die mögliche Bezeichnung OARSletal (Operationell Autonomes Robotersystem; letal, weil
es tödliche Gewalt anwenden kann). Es sollte aber nicht naiv von ‚autonomen Waffensyste-
men‘ gesprochen werden. Autonom im sittlichen Sinn können wir Menschen sein. Das, was
heute für KI einschlägig ist, ist dass sie operationell autonom ist.
Gehen wir nochmal zurück zu Kant. Nehmen wir an, jemand handelt aus dem kate-
gorischen Imperativ heraus. Wenn er das tut, agiert er aus Pflicht. Er handelt gut, weil er
die Pflicht erkannt und ergriffen hat, und aus innerer Überzeugung heraus entsprechend
agiert: Genau das bedeutet handeln ‚aus Pflicht‘. Wenn ein Verhalten hingegen zwar äußer-
lich dem von der Pflicht Vorgegebenen entspricht, der Akteur die Pflicht aber innerlich nicht
erfasst, handelt diese Person lediglich ‚pflichtgemäß‘. (Einfaches Beispiel: Jemand fährt in
der Stadt nicht schneller als erlaubt, vor allem aber höchstens so schnell, dass er jederzeit
die Kontrolle hat und keinen anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet. Das ist Handeln ‚aus
Pflicht‘. Demgegenüber: Ob jemand andere Verkehrsteilnehmer/-innen gefährdet oder nicht,
interessiert ihn nicht einmal ansatzweise, aber er hält sich an alle Tempolimits, um keine
Verwarnung zu erhalten. Das wäre ‚pflichtgemäßes‘ Handeln.) Ein Roboter nun, der opera-
tionell autonom ist, handelt lediglich ‚pflichtgemäß‘, aber nicht ‚aus Pflicht‘.
Diejenigen, die sich gerne mit Sprache auseinandersetzen, können sich den Unterschied
auch gut anhand des linguistischen Unterschieds zwischen Semantik und Syntax verdeut-
lichen. Die Semantik betrifft die Bedeutung von Worten oder Sätzen, die Syntax die Abfolge
von Satzelementen. Es ist also eine ganz andere Sache, ob jemand die Bedeutung einer
ethischen Überlegung erfasst hat oder ob er lediglich Überlegungselemente in eine kor-
rekte Abfolge bringen kann. Die Bedeutung einer ethischen Überlegung zu erfassen, das

211
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

ist Semantik: Das ist das, was wir Menschen tun können. Überlegungselemente lediglich in
eine korrekte Abfolge zu bringen, das ist Syntax: Das ist das, was ein OARS leisten kann.
Vor diesem Hintergrund entspricht eine ‚Entscheidung‘ eines OARS auch keiner Entschei-
dung eines Menschen, keiner intentionalen Setzung.
Schließen wir mit einer rein hypothetischen Überlegung – es ist aktuell umstritten, ob das
folgende Szenario überhaupt möglich ist –, die spannende Fragen aufwirft. Was wäre, wenn
es eines Tages tatsächlich eine KI gäbe, die zu einer intentionalen, freien Setzung in der Lage
wäre? Die also frei wäre, eine Intention hätte, nicht mehr die Abfolge von Programmelemen-
ten wäre: Wie wäre ein solches Wesen zu behandeln? Wenn sie wirklich autonom wäre und
ihren freien Willen auch artikulieren könnte, wäre ihr dann nicht auch Würde zuzusprechen
– so wie uns? Wenn wir frei sind, können wir keinen von uns zum Sklaven eines Anderen
machen. Müsste das dann nicht auch für eine solche KI gelten? Daran anschließend – falls
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einer solchen KI Würde zukäme, insofern sie ein autonomes Wesen ist – würde sich auch die
Frage stellen, ab wann diese Würde beginnt und wann sie endet: Hätte eine solche KI vor
Ausprägung ihres freien Willens schon Würde und hätte sie diese auch noch, nachdem sie
einen freien Willen nicht mehr zu bilden in der Lage ist? Und damit einhergehend wäre die
parallele Fragestellung hinsichtlich des Menschen – wir hatten dies hinsichtlich von Säuglin-
gen, von geistig Behinderten und dementen Menschen ja schon kurz berührt – im Verhältnis
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dazu auch noch einmal präzise abzugrenzen. Zumindest aus christlicher Perspektive würde
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

man hinsichtlich des Menschen die Würde unverändert an die bloße Spezieszugehörigkeit
binden können.

Wenden wir uns nun vier verschiedenen Ansätzen zu, mit denen wir auf die Frage operatio-
nell autonomer Waffensysteme blicken können. Sie sind bereits bekannt, man denke an den
im ersten Hauptteil dieses Buches erwähnten Folter-Fall zurück: konsequenzialistischer, ver-
tragstheoretischer, pflichtethischer und tugendethischer Zugang. Diesen vierfachen Ansatz
nutzen wir jetzt erneut.

20.2 Teleologische Argumentation

Beginnen wir mit dem Konsequenzialismus. Dieser ist zwar sehr wichtig, hat aber ein gro-
ßes Problem: Er ist auf Expertenwissen außerhalb der Ethik angewiesen. Experten/Exper-
tinnen müssen zum Beispiel Prognosen erstellen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Fehl-
funktion eintritt oder wie groß der Umfang eines möglichen Schadens ist.296
Solche teleologischen Überlegungen und Argumentationen finden sich vor allem in
populären Debatten. Der Schwerpunkt des konsequenzialistischen Zugangs liegt außerhalb
der Ethik. Streng ethisch hilft er uns gar nicht so sehr weiter. Ein Ethiker kann zu Wertge-
sichtspunkten Stellung beziehen, zu Eintrittswahrscheinlichkeiten und Folgenausmaß kann
er aber nicht viel sagen. Diesbezüglich bleibt er auf Prognosen von Experten/Expertinnen
anderer Disziplinen angewiesen.

296
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Koch/Rinke, Ethische Fragestellungen im Kontext autonomer Waffensysteme …,
145–149 und 133–138.

212
20 Operationell autonome Waffensysteme

Im Umfeld teleologischer Argumentationen sind auch Reflexionen zu Risiken unter-


schiedlicher Missbrauchsvarianten anzusiedeln. Genannt werden kann zum einen das Proli-
ferationsrisiko, beispielsweise an terroristische Organisationen mittels technischer Kaperun-
gen. Noch wichtiger ist aber zum anderen innenpolitischer Missbrauch, insbesondere durch
autoritäre Regime: Anführen ließen sich diesbezüglich vor allem allgegenwärtige Überwa-
chung (China könnte einen ersten Ausblick darauf eröffnen), gezielte politische Morde (dies-
bezüglich wären russische oder saudi-arabische Praktiken extrapolierbar) oder womöglich
gar die Unterdrückung größerer oder kleinerer Teile der Bevölkerung (exemplarisch könnte
vielleicht an syrische Regierungstruppen gedacht werden, die sich nicht auf ausländische
Streitkräfte, sondern auf OARSletal stützen).
Teleologische Argumentationen hinsichtlich operationell autonomer Waffensysteme sind
sehr wichtig, aber sie sind nicht der einzige Ansatz. Der genuin ethische Bereich erstreckt
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sich auf die anderen Ansätze, auf Norm, Vorsatz und Haltung – oder anders ausgedrückt:
insbesondere auf die deontologischen und hermeneutischen Begründungsprinzipien.

20.3 Drei ethische Argumentationen im engeren Sinn

Gehen wir also zu den nicht-teleologischen Argumentationen, je eine aus dem Bereich der
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Vertragstheorie, der Pflichtethik und der Tugendethik.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

20.3.1 Einstiegsreflexion

Sehen wir uns vorab das Argument der Verantwortlichkeitslücke an. Es behauptet, dass ein
operationell autonomes Waffensystem eine Handlung vollziehen kann, für die dann niemand
Verantwortung trägt. Dazu lässt sich sowohl darauf abstellen, dass manche Handlungen
eines OARSletal denjenigen, die es in einen Einsatz schicken, nicht mehr zugeschrieben wer-
den könnten, als auch darauf, dass es sich beim vorausgehenden Bereitstellen eines OARSletal
um ein sehr komplexes Kooperationswerk handelt, sodass die einzelnen Beteiligten sich nur
den je beigetragenen kleinen Teil zurechnen lassen könnten.297
Die Rechtswissenschaft und die Ethik geben darauf unterschiedliche Antworten, denn
(haftungs-)rechtlich und sittlich stellt Verantwortung auf Unterschiedliches ab: Für das
Recht stehen verlässliche Regelungen hinsichtlich etwaiger Folgen im Vordergrund; für die
Ethik geht es in erster Linie um auf freie, individuelle Setzungen zurückführbare Schuld.
Das Argument der Verantwortlichkeitslücke ist aber weder rechtswissenschaftlich noch
ethisch durchschlagend.
Im Recht könnte nämlich für diejenigen, die ein OARSletal in einen Einsatz schicken,
an die Figur der Gefährdungshaftung (= über eine abstrakte Gefahr verfügen und sie nut-
zen) und für diejenigen, die ein OARSletal bereitstellen, an die Figur der Produzentenhaftung
(= belegbares Verschulden im Bereich des Herstellers) angeknüpft werden.
In der Ethik ist der Ansatz etwas anders. Hier ließe sich in ähnlicher Weise dem Ent-
stehen einer Verantwortlichkeitslücke durch eine Zuschreibung beziehungsweise eine Ver-

297
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 156–160; Reinhard Grünwald und Christoph Kehl, Autonome Waffensys-
teme, TAB Arbeitsbericht 187, Berlin 2020, 170–173.

213
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

antwortlichkeitsbeziehung vorbeugen: Auf diese Weise verantwortet beispielsweise eine


Tierhalterin auch das Handeln ihrer Tiere. Interessant ist aber erst die Folgerung: Wenn wir
uns in einer Situation befänden, in der das Setzen einer Verantwortlichkeitsbeziehung ganz
und gar willkürlich erschiene, dann würden wir nicht bloß zu dem Schluss kommen müssen,
dass diese Zuschreibung unangemessen wäre, sondern vielmehr, dass bereits das In-Gang-
Setzen eines solchen Prozesses unverantwortlich war. Anders formuliert: Wenn wir über-
legen, einen Prozess ablaufen zu lassen, an dessen Ende wir beim Setzen einer Verantwort-
lichkeitsbeziehung zur Einsicht gelangen müssten, dass das eine ganz und gar willkürliche
Zuschreibung wäre, dann wäre allein schon das In-Gang-setzen eines solchen Prozesses
unverantwortlich. Strenggenommen gibt es also auch dann keine Verantwortlichkeitslücke,
vielmehr knüpft die Verantwortlichkeit am In-Gang-Setzen eines derartigen Prozesses an.298
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20.3.2 Geltendes Recht als ethischer Wert

Sehen wir nun auf die erste Argumentation vertragstheoretischer Art, bei der es um die Frage
geht, inwiefern das geltende positive Recht ein ethischer Wert ist, den es zu beachten gilt.299
Positives Recht und Ethik sind nicht das Gleiche. Aber gutes positives Recht beruht
auf Ethik, beide schließen sich niemals gegenseitig aus: Wir alle haben sowohl moralische
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Rechte/Pflichten als auch positivrechtliche Rechte/Pflichten.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Inwiefern ist nun das Recht, das heute gilt, eigentlich ein ethischer Wert? Es gibt das
sogenannte Friedenssicherungsrecht und das Konfliktvölkerrecht, heute meist Humanitäres
Völkerrecht genannt – in der Ethik spricht man parallel von den Bereichen des ius ad bellum
und des ius in bello.

Das Friedenssicherungsrecht kann durch operationell autonome Waffensysteme heraus-


gefordert werden. Solche Waffen könnten dazu verleiten, dass Hürden und Hemmungen
aufweichen, die heute das Ausbrechen eines Krieges erschweren. Bildlich gesagt: Aktionen
mit militärischen Mitteln erfolgen ‚unterhalb des Radars‘. Das kann bei operationell auto-
nomen Waffensystemen ein Risiko sein. Erwägungen, die heute meist noch davon abhalten,
mit militärischen Mitteln einzugreifen, können mit Blick auf solche Waffensysteme anders
ausfallen. So könnten zum Beispiel chirurgische oder kleinste Militäroperationen durchge-
führt werden, die den Gegner nicht gleich dazu veranlassen, dass er einen Krieg ausbrechen
lässt. Verfügt er über gleichartige Waffensysteme, müsste man freilich mit spiegelbildli-
chen Maßnahmen rechnen: Verfügt der Gegner über solche Systeme nicht, kann es eben
zu einem Aufweichen der Hürden und Hemmungen im Bereich des Friedenssicherungs-
rechts kommen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Intensität militärischer Handlungen als

298
Warum aber wäre bereits das Aktivieren eines OARSletal unverantwortlich, das später auf dem Rückweg von
einem vorschriftskonform durchgeführten Einsatz durch eine Verkettung ganz unglücklicher Ereignisse ein
Massaker verursacht, das Zeugen eines Kindes, das sich später als Berufskiller verdingt, aber nicht? Das
Unterscheidungskriterium ist, ob der später eingetretene, illegitime Schaden bei vernünftiger Betrachtung ein
wesens-/zweckbezogen typischerweise zu bedenkender ist.
299
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Koch/Rinke, Ethische Fragestellungen im Kontext autonomer Waffensysteme …,
149–155 und 123–130; Robin Geiß, „Autonome Waffensysteme – ethische und völkerrechtliche Problemstel-
lungen“, in Unbemannte Waffen und ihre ethische Legitimierung …, 41–61, 44–52.

214
20 Operationell autonome Waffensysteme

auch hinsichtlich eines zunehmenden Verwischens der Abgrenzung zwischen den Kriegs-/
Konfliktzeiten und Friedenszeiten (bereits jetzt haben wir derartige Probleme hinsichtlich
der Terrorismusbekämpfung; beispielhaft können Sahel-Staaten wie Mali und Burkina Faso
angeführt werden).
Andererseits könnten solche operationell autonomen Waffensysteme militärische
Interventionen zu humanitären Zwecken auch erleichtern. Heute schrecken demokratisch
gewählte Regierungen manchmal vor gebotenen militärischen Interventionen zu humanitä-
ren Zwecken zurück, weil sie auf eine innere Legitimation für ihr Handeln angewiesen sind.
Daher ist beispielsweise die Bundesregierung – berechtigterweise, aber eben auch sehr auf-
fällig – fixiert darauf, dass es möglichst zu keinen eigenen Verlusten in Auslandseinsätzen
kommt. Wenn sich manche Interventionen schwerpunktmäßig mit operationell autonomen
Waffensystemen durchführen ließen, würde dies die Hürde der inneren Legitimation ver-
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ringern: OARSletal, die nicht zurückkehren, kosten kaum Wählerstimmen.


Diese beiden Aspekte stehen sich also gegenüber.

Sehen wir in das Konfliktvölkerrecht; die Probleme, die sich hier stellen, sind komplexer.
Im Konfliktvölkerrecht müssen wir den Diskriminationsgrundsatz und den Verhältnismäßig-
keitsgrundsatz im weiteren Sinne unterscheiden.
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Erstens. Hinsichtlich des Diskriminationsgrundsatzes sind zwei Teilüberlegungen vorzu-


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nehmen. Die erste besteht aus einer empirischen Frage und einer Kontextüberlegung.
Kann ein operationell autonomes Waffensystem zwischen Kombattanten/Kombattantin-
nen und Nicht-Kombattanten/-Kombattantinnen besser unterscheiden als der Mensch? Es
geht nicht darum, ob es das überhaupt kann oder ob es das perfekt leisten kann. Es geht ganz
konkret darum, ob es das besser kann als der Mensch. Kann das System es zwar nicht per-
fekt, aber besser als der Mensch, ist damit eine ganze Menge gewonnen. Kann das System
dies zwar überhaupt leisten, aber schlechter als der Mensch, dann ist nichts gewonnen. Das
ist eine empirische Frage, die kann der Ethiker nicht entscheiden.
Die Kontextüberlegung ist hingegen, ob ein operationell autonomes Waffensystem eine
solche Unterscheidung auch innerhalb einer Gesamtvorgehensweise vornehmen kann. Ein
Beispiel: Innerhalb einer komplexen Gesamtvorgehensweise gibt es legitime und illegitime
Ziele und sogenannte Dual-use-Objekte. Menschen können sich überlegen, inwiefern ein
Dual-use-Objekt eher zivil oder eher militärisch genutzt wird, in welchem Verhältnis beides
zueinandersteht. So etwas kann ein operationell autonomes Waffensystem letztlich nicht
erwägen; das wäre höchstens möglich, wenn es eine über einen freien Willen verfügende, zu
intentionalen, freien Setzungen fähige KI gäbe (vgl. hypotetische Überlegung unter 20.1.2).
Die zweite Teilüberlegung ist damit eng verbunden und betrifft die Situationsinterpreta-
tion auf das Recht hin. Jemand ist beispielsweise in Afghanistan als Unbewaffneter anschei-
nend auf dem Weg zu seinem Waffendepot – gilt er dann als Kombattant oder als Nicht-
Kombattant? Das ist eine Frage der Situationsinterpretation. Muss man warten, dass er seine
Waffen tatsächlich erreicht, um ihn bekämpfen zu können, oder nicht? So gibt es viele Fälle,
die nicht einfach schwarz-weiß abgrenzbar sind, sondern in denen ein Mensch sein Urteils-
vermögen anwenden muss. Genau das kann ein operationell autonomes Waffensystem nicht,
es kann eine unklare, grenzwertige Situation nicht auf das Recht hin interpretieren; also das,
was unser Urteilsvermögen leistet.

215
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Zweitens. Beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im weiteren Sinne müssen wir uns ver-


gegenwärtigen, dass nach der Geeignetheitsprüfung auch die Erforderlichkeit und die Ange-
messenheit zu bestimmen sind.
Das Teilkriterium der Erforderlichkeit, also das mildeste sichere Mittel zu wählen, zielt
darauf, eine Gefahr mit Blick auf diejenigen, von denen sie ausgeht, so schonend wie mög-
lich zu beenden. Es gilt also zunächst, dass für OARSletal in einem ganz konkreten Konflikt-
geschehen der Umfang nicht größer, die Dauer nicht länger und die Intensität nicht höher
sein dürfen als was für die eigenen Soldaten/Soldatinnen als Erforderlichkeit einschlägig
wäre. Darüber hinaus ist jedoch die für den Schutz der eigenen Soldaten/Soldatinnen gebo-
tene Risikominimierung anders zu beurteilen. Da operationell autonome Waffensysteme zum
einen kein schützenswertes Leben haben und zum anderen auch über eine höhere Wider-
standsfähigkeit verfügen könnten, können für sie in einem ganz konkreten Konfliktgesche-
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hen Vorgehensweisen als mildestes sicheres Mittel einschlägig sind, die für die eigenen Sol-
daten/Soldatinnen nicht in Betracht kommen: Deshalb kann die Anforderung, das mildeste
sichere Mittel zu wählen beim Einsatz von OARSletal, erheblich strenger, darf aber keinesfalls
anspruchsloser sein.
Was die Angemessenheit angeht, sind dabei Vorteile und Lasten zueinander ins Verhältnis
zu setzen. Im Konfliktvölkerrecht konkret formuliert: Kollateralopfer und Kollateralschäden
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sind erlaubt, wenn die verursachte Last nicht außer Verhältnis steht, also nicht exzessiv ist
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

im Vergleich zum militärisch erzielten Vorteil. Genau diese Angemessenheitsprüfung – ein


Zueinander-in-Verhältnis-Setzen von Vorteilen und Lasten, eine komplexe Gesamtabwä-
gung – kann und soll eine Maschine nicht leisten. Zum einen ist es nicht möglich, sämtliche
Wertungen für Güter, die betroffen werden können, vollständig zu operationalisieren, in
explizite Regeln zu überführen. Zum anderen ist auch ein bestmögliches Operationalisieren/
Explizieren nicht erstrebenswert, weil es sich um einen Rechenverlauf deterministischer Art
und nicht um eine Zweifeln oder Intuitionen ausgesetzte freie Willensentscheidung handelt.
Auch hier gibt es noch die zusätzliche Überlegung der Risikominimierung: Die grund-
sätzliche Frage ist, ob ein Soldat aufgrund seines Berufes die Pflicht hat, ein höheres Risiko
einzugehen im Verhältnis zu Zivilisten/Zivilistinnen der eigenen wie auch der gegnerischen
Seite? Dazu gibt es im Einzelnen verschiedene Auffassungen, tendenziell würde man aber ja
sagen. Die heikle Frage ist freilich, um wie viel das Risiko höher sein darf, denn es handelt
sich ja um ein Zueinander-in-Verhältnis-Setzen: Ein Selbstmordkommando zur Risikosen-
kung von Zivilisten/Zivilistinnen der gegnerischen Seite wird dieses Ja nicht umfassen. Auf
dieser grundsätzlichen Überzeugung baut das spezifische Argument bezüglich operationell
autonomer Waffensysteme auf. Diese senken das Risiko für die eigenen Soldaten/Soldatin-
nen, also die Wahrscheinlichkeit, zu Tode zu kommen oder verletzt zu werden. Wenn das
der Fall ist, dann muss der Einsatz von operationell autonomen Waffensystemen ebenfalls
dazu führen, dass sich das Risiko auch für die Nicht-Kombattanten/-Kombattantinnen vor
Ort verringert. Denn das, was zueinander in Verhältnis gesetzt wird, ist ja das Verwundungs-
und Tötungsrisiko von Kombattanten/Kombattantinnen und Nicht-Kombattanten/-Kombat-
tantinnen: OARSletal haben aber zum einen kein schützenswertes Leben und könnten zum
anderen auch über eine höhere Widerstandsfähigkeit verfügen. Wenn operationell autonome
Waffensysteme also zum Einsatz kommen, dann wird es meist so sein müssen, dass mit einer
zero expectation of civilian casualties gearbeitet wird. Denn wir dürfen nicht das Risiko für
die eigenen Soldaten/Soldatinnen reduzieren, dafür aber für Zivilisten/Zivilistinnen gleich

216
20 Operationell autonome Waffensysteme

lassen oder gar erhöhen. Denn beides hieße, eine Risikoverschiebung zu Lasten der Zivilis-
ten/Zivilistinnen vorzunehmen.
So weit unsere erste Argumentation vertragstheoretischer Art.

20.3.3 Töten durch operationell autonome Waffensysteme

Gehen wir nun einen Schritt weiter zu einer zweiten Argumentation, dieses Mal pflichtethi-
scher Art: Kann es nach ethischen Maßstäben überhaupt erlaubt sein, mit operationell
autonomen Waffensystemen zu töten?300 Der Gedankengang besteht aus zwei Teilüber-
legungen.
Die erste Teilüberlegung fokussiert einige erstrebenswerte Spezifika menschlicher Ent-
scheidungen mit Blick auf das Anwenden tödlicher Gewalt. Zunächst ist beim fließenden
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Übergang von der freien Willensentscheidung zur Verwirklichung einer Handlung wichtig,
sie beginnen aber eben auch unterlassen zu können. Deshalb soll die Anwendung tödlicher
Gewalt unmittelbar und nicht bloß mittelbar auf eine menschliche Entscheidung zurück-
gehen. Dies lässt sich in doppelter Weise flankieren. Zum einen nehmen Menschen – unbe-
schadet der Richtigkeit der in Abschnitt 20.3.1 vorgenommenen Reflexion – Verantwortung
im ethischen Sinne leichter an für etwas, das ihrem eigenen Handeln zeitlich nahe ist, als
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für etwas, das zu ihrem Handeln zeitlich weit entfernt ist.301 Zum anderen können Menschen
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

empathisch und barmherzig handeln, was gerade in besonders gelagerten Einzelfällen ein-
schlägig ist: Solches Handeln speist sich aus dem eigenen Wahrnehmen der Bedeutung von
menschlichem Leben samt des Sich-in-den-Anderen-hineinversetzen-könnens; darüber hin-
aus ist es oft nicht in dem Sinne verallgemeinerbar, dass alle in einem ganz konkreten Ein-
zelfall so und nicht anders gehandelt hätten. Es ist nicht erkennbar, dass der darin besonders
gut sichtbar werdenden Akteurskausalität ein Rechenverlauf deterministischer Art entspre-
chen könnte. Es würde sich vielmehr, um das in Abschnitt 20.1.2 Besprochene zugespitzt
aufzugreifen, um Tötungen ohne Freiheit und ohne Semantik handeln.
Für den Einstieg in die zweite Teilüberlegung wählen wir den allgemeinen Zugang der
Revisionist Just War Theory (RJWT). Die klassische Just War Theory geht von einer Kol-
lektivierung aus: Sie besagt, dass Nicht-Kombattanten/-Kombattantinnen nicht angegriffen
werden dürfen, Kombattanten/Kombattantinnen hingegen schon. Die RJWT stellt folgende
Frage: Ist das Recht, das wir haben, gerechtes Recht? Wäre nicht, hinsichtlich des Bekämp-
fens einer Person, an der individuell vom Einzelnen ausgehenden Bedrohung anzuknüpfen,
statt an der bloßen Gruppenzugehörigkeit? Das hieße, ein Soldat, der fern von der Front aus-
schließlich den Verkehr regelt, dürfte nicht angegriffen werden, weil von ihm keine Bedro-
hung ausgeht. Eine Fallschirmjägerkompanie aber, die dort übernachtet, um am nächsten
Morgen über ihrem Einsatzgebiet abzuspringen, würde im Rahmen der Präemption bereits
bekämpft werden können. Da wird man nicht darauf warten müssen, dass sie sich im Flug-
zeug über dem Einsatzgebiet befindet. Es geht der RJWT um das, was sie eine enge Ver-

300
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Koch/Rinke, Ethische Fragestellungen im Kontext autonomer Waffensysteme …,
123–130 und 160–165; Robin Geiß, „Autonome Waffensysteme – ethische und völkerrechtliche Problemstel-
lungen …“, 54–59.
301
Die Folgen des eigenen Fehlverhaltens in einer Krisensituation sind mit diesem unmittelbarer verbindbar als die
Folgen einer Fehlfunktion aufgrund einer unausgereiften Programmierung mit der eigenen Programmiertätigkeit.

217
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

hältnismäßigkeit nennt. Wenn wir von einer solchen ausgehen würden – ohne zu übersehen,
dass sich dadurch auch zahlreiche Folgeschwierigkeiten ergeben –, wäre die entscheidende
Frage, ab wann jemand eine Bedrohung darstellt und bekämpft werden darf. Es ist klar, dass
es diesbezüglich weite Graubereiche geben würde.
Auf diesem RJWT-Ansatz baut die Argumentation im Hinblick auf operationell auto-
nome Waffensysteme auf. Wir sind heute der Auffassung, dass es legitime Gewalt erstens
nur im verteidigenden Sinne gibt und sie zweitens verhältnismäßig sein muss. Konsequent
zu Ende gedacht bedeutet dies, dass ein operationell autonomes Waffensystem niemals einen
Menschen töten darf, insofern es sich dabei nicht um das äußerste Mittel handelt, um ein von
jenem bedrohtes Leben eines Dritten zu schützen.
Das bedeutet strengere Anforderungen, engere Grenzen der Gewaltanwendung für solche
operationell autonomen Waffensysteme beim Einsatz gegen Menschen; natürlich nicht beim
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Einsatz gegen andere Maschinen: Wenn sich beispielweise ein gegnerisches Waffensystem
im Anflug befindet, kann ein operationell autonomes Waffensystem es freilich außer Gefecht
setzen. Dies gilt für ein unbemanntes wie für ein bemanntes gegnerisches Waffensystem.
Lediglich einen gewissermaßen ‚ungeschützten‘ Kombattanten, beispielsweise einen Infan-
teristen, darf ein operationell autonomes Waffensystem nicht töten. Einzige Ausnahme: Es
ist in einem Nothilfefall das einzig mögliche Mittel, denn ein operationell autonomes Waf-
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fensystem darf Menschen verteidigen. In diesem Fall bezieht sich die Gewaltanwendung
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

nicht auf den Schutz des operationell autonomen Waffensystems selbst, sondern auf den
Schutz von bedrohten Menschenleben: Aber auch in solchen Situationen hätte es – ange-
sichts des Umstands, dass OARSletal selbst kein schützenswertes Leben haben und zudem
über eine höhere Widerstandsfähigkeit verfügen könnten – stets Priorität anzustreben, mit
einer overwhelming force solcher Art zu agieren, dass die Beseitigung der Gefahr auch ohne
Anwenden tödlicher Gewalt möglich wird. Sind Menschenleben jedoch nicht bedroht, darf
ein operationell autonomes Waffensystem keine tödliche Gewalt anwenden – Gewalt schon,
aber keine tödliche. Ein operationell autonomes Waffensystem dürfte jemanden dann also
außer Gefecht setzen, aber nicht töten.
Wenn wir beide Teilüberlegungen zusammenfassen, können wir sagen, dass bei der
Tötung eines Menschen durch ein OARSletal einige erstrebenswerte Spezifika menschlicher
Entscheidungen entfallen oder beeinträchtigt werden. Es handelt sich nämlich um aus der
Hand gegebene Tötungen ohne Freiheit und Semantik, für die es schwerer ist, die Verant-
wortung anzunehmen. Deshalb sollte durch operationell autonome Waffensysteme prinzi-
piell keine tödliche Gewalt unmittelbar gegen menschliche Kombattanten/Kombattantinnen
ausgeübt, sondern die je minimalnötige sowie angesichts der jeweils gefährdeten Güter ver-
hältnismäßige Gewalt angewendet werden: Tödliche Gewalt käme lediglich in Betracht,
wenn sie in einem Nothilfefall zugunsten des Lebens Dritter das einzig mögliche Mittel
wäre.302
So weit unsere zweite, deontologische Argumentation pflichtethischer Art.

302
Für den Fall, dass ein Verbot von OARSletal nicht verwirklicht wird, wäre es aus der vorstehenden Überlegung
heraus erstrebenswert, diese auf defensive Systeme zu beschränken und ihren Einsatz auf solche Räume ein-
zugrenzen, wo sie sich kaum unmittelbar gegen menschliche Kombattanten/Kombattantinnen, sondern nahezu
ausschließlich gegen hochentwickelte gegnerische Waffensysteme richten: also zum Beispiel im Weltraum
oder auf hoher See.

218
20 Operationell autonome Waffensysteme

20.3.4 Die Würde des Menschen

Schließen wir mit unserer dritten Argumentation, nunmehr tugendethischer Art. Sie bezieht
sich auf die Würde des Menschen.303 In ihrer Eigenschaft als hermeneutische Argumenta-
tion muss sie zwar rationabel/nachvollziehbar sein, ist aber nicht allein durch Vernunftargu-
mente zwingend: Wer der anthropologischen Sinneinsicht nicht zustimmt, wird die Geltung
der Argumentation nicht anerkennen.
Was also ist Würde? Im allgemeinsten Sinn ist Würde eine Seinsbestimmung, die Bestim-
mung einer bestimmten Art von Sein als anderem Sein gegenüber ausgezeichnet: Was Würde
hat, ist keine bloße Materie. Was Würde hat, hat keinen Preis und kann nicht durch anderes
ersetzt werden. Bei Kant ist die Autonomie, die Selbst-Gesetzgebung, die Grundlage für
Würde, im jüdisch-christlichen Verständnis ist die Grundlage, Abbild Gottes zu sein (dies
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umfasst alle, die zur Spezies Mensch gehören).


Die Anerkennung dieser Auszeichnung kann allerdings nur durch Menschen erfolgen.
Wir verleihen jedoch niemandem seine Würde, das wäre konstitutiv, das Einzige was wir mit
Würde tun können, ist sie anzuerkennen – oder nicht. Was bedeutet das im Umkehrschluss,
wenn die Anerkennung dieser Auszeichnung nur durch Menschen erfolgen kann? Es bedeu-
tet, dass ein Mensch, der von jeglicher Möglichkeit des Kontaktes mit anderen Menschen
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ausgeschlossen ist, letztlich eine Würdeanerkennungsvorenthaltung oder einen Würdean-


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

erkennungsentzug erleidet. Wenn man also einen Menschen hätte, der nur von Maschinen
umgeben wäre, dann könnte letztlich seine Würde nicht anerkannt werden. Das ist freilich
ein Gedankenspiel, aber ein wichtiges. Denn heruntergebrochen ergibt sich eine realisti-
schere Situation: Was würde dies für Menschen bedeuten, die gegen operationell autonome
Waffensysteme kämpfen?
Hier sei angemerkt, dass das Nachdenken über operationell autonome Waffensysteme weni-
ger dazu führen soll, binär zu denken (‚stimmt‘, ‚stimmt nicht‘; ‚richtig‘, ‚falsch‘), sondern
vielmehr in Form eines graduellen Denkens erhellende Extrapolationen vor Augen führen soll.
Erstens. Wenn die Anerkennung der Würde eines Menschen nur durch einen Menschen
erfolgen kann, dann heißt das, dass eine würdeanerkennende Tötung durch ein operationell
autonomes Waffensystem ausgeschlossen ist, weil es dem Gegenüber nicht das Menschsein/
die Würde des Menschen zuerkennen kann. Ein OARSletal kann nicht die Bedeutung eines
eigenen menschlichen Lebens wahrnehmen und hat dementsprechend auch nicht die Mög-
lichkeit, sich mittels Empathie in ein sein Leben verlierendes Gegenüber hineinzuversetzen,
gegen das es tödliche Gewalt anwendet – für eine würdeanerkennende Tötung ist das aber
unabdingbar. Anders ausgedrückt: Wenn eine legitime Tötung als absolute Minimalvoraus-
setzung hat, das Menschsein des Anderen/seine Menschenwürde anzuerkennen, dann ist
die Tötung durch ein operationell autonomes Waffensystem womöglich irgendwann einmal
legal, aber jedenfalls niemals legitim. Dass Menschen auch unabhängig vom Einsatz opera-
tionell autonomer Waffensysteme dehumanisiert und auch auf andere Weise ohne Anerken-
nung ihres Menschseins getötet werden, entkräftigt diese Argumentation nicht: Die Dehu-
manisierung in einer Weise legitimiert nämlich nicht die Dehumanisierung in einer anderen.

303
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Koch/Rinke, Ethische Fragestellungen im Kontext autonomer Waffensysteme …,
166–170 und 130–133.

219
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Zweitens. Es ist sowohl angemessen, die eigenen Soldaten/Soldatinnen gut zu schützen


als auch, dass diese in friedens- und konfliktethischem Sinne tugendhaft handeln. Beschrän-
ken wir uns hier hinsichtlich des ersten darauf, dass es legitim ist, solche Risiken, die Sol-
daten/Soldatinnen in einem Einsatz eingehen, durch einfachere wie komplexere Ausrüstung
zu verringern. Mit dem zweiten ist gemeint, dass Soldaten/Soldatinnen – eingedenk des
insbesondere im zweiten und dritten Hauptteil dieses Buches entfalteten friedens- und kon-
fliktethischen Ansatzes – einen bewaffneten Konflikt nicht um seiner selbst willen führen,
sondern immer nur als unvermeidliches geringeres Übel, durch welches schwerstes Unrecht
überwunden und Friedensaufbau wieder ermöglicht werden soll: folglich zwar mit hoher
Effektivität, aber eben zum Beispiel auch mit Empathie, Fairness und Barmherzigkeit.
Das Sicherheitsparadox kann die beiden vorstehend genannten Desiderata in eine immer
stärkere Opposition zueinander bringen. Das Sicherheitsparadox bezieht sich auf die Beob-
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achtung, dass ein in immer höherem Maße verwirklichter Sicherheitsstandard mit einem
ebenfalls wachsenden Unsicherheitsgefühl und Sicherheitsbedürfnis einhergeht, sodass
sich eine stets weiter voranschreitende Versicherheitlichung ergibt. Der ‚optimale‘ Schutz
für Soldaten/Soldatinnen ist der Natur der Sache entsprechend schwer vorstellbar, aber die
vollständige Übertragung sämtlicher Kampfhandlungen an OARSletal könnte dem vielleicht
nahekommen: In einem solchen Szenario ist jedoch das unabdingbare friedens- und konflikt-
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ethisch tugendhafte sich Einbringen von Soldaten/Soldatinnen in das Konfliktgeschehen


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

praktisch nicht mehr möglich. Ein friedens- und konfliktethisch tugendhaftes sich Einbrin-
gen von Soldaten/Soldatinnen bleibt unvermeidlich mit dem Inkaufnehmen nennenswerter
Risiken verbunden.
Eine vollumfänglich an OARSletal delegierte bewaffnete Konfliktführung kann nicht
erfolgen in der Haltung eines unvermeidlichen geringeren Übels, das darauf ausgerichtet
ist, wieder einen Friedensaufbau eröffnen zu sollen: Vielmehr wird der Konflikt lediglich
geführt als optimiertes Widerstandsbrechen aufgrund von Rechenverläufen deterministi-
scher Art. Angenommen also, zwei Parteien tragen einen bewaffneten Konflikt aus. Eine ist
exzellent ausgestattet und setzt in großem Umfang ihre OARSletal-Truppen ein, die andere ist
weniger modern ausgerüstet. Die OARSletal-Truppen bezwingen den Gegner. Nun stellt sich
das Problem – Friedensethik kann zwar einerseits nicht ohne Konfliktethik auskommen, aber
Konfliktethik muss andererseits von der Friedensethik eingerahmt sein –, dass wir, wenn
wir einen Konflikt in großem Umfang mit OARSletal-Truppen austragen, die Friedensethik
insofern vernachlässigen, als wir die rein militärische Auseinandersetzung zwar für uns ent-
scheiden können, wir aber dadurch keine Friedensmöglichkeit eröffnen. Friede setzt näm-
lich grundsätzlich die Anerkennung des Menschseins des Gegenübers voraus. Wenn eine
Konfliktpartei aber von operationell autonomen Waffensystemen besiegt worden ist, wurde
denjenigen, die auf jener Seite gekämpft haben, letztlich die Anerkennung ihrer Würde
vorenthalten. Mit der anderen Konfliktpartei einen Frieden anzubahnen, ist dann erheblich
erschwert – vor allem für die Besiegten, weil sie dehumanisiert und ihnen ihre Inferiorität
durch unbelebte Größen aufgezeigt wurde; aber potenziell auch für diejenigen, die gewon-
nen haben, weil sie in den maschinell ‚aus dem Feld Geräumten‘ in Verhandlungen kaum
Gleichwertige erkennen.
So weit unsere dritte, hermeneutische Argumentation tugendethischer Art.

220
20 Operationell autonome Waffensysteme

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


Erörterungen dieses Kapitels:

Bernhard Koch und Bernhard Rinke, Ethische Fragestellungen im Kontext autonomer Waf-
fensysteme, Hamburg 2021.
Alex Leveringhaus, Ethics and autonomous weapons, London 2016.
Ines-Jacqueline Werkner und Marco Hofheinz (Hrsg.), Unbemannte Waffen und ihre ethi-
sche Legitimierung, Wiesbaden 2019.
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221
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Schluss

Am Ende unserer vielen Erörterungen, Abgrenzungen und Abwägungen soll der Gang all
dieser Überlegungen nochmal zusammengefasst werden – und zwar unter dem Aspekt,
worum es in der Sinnspitze geht und wozu dieser Grundriss befähigen, bescheidener formu-
liert: auf welchen Weg dieser Grundriss führen soll.
Die vier Hauptteile bauten aufeinander auf und führten auf diese Weise je einen Schritt
weiter. Zugleich haben sie den Gegenstand, den sie behandelt haben, auch aus je größerer
Nähe in den Blick genommen – metaphorisch: von einer breiten, panoramaartigen Einstel-
lung im ersten Hauptteil bis hin zu nahen, detaillierten Aufnahmen im vierten.
Der erste Hauptteil hat insoweit das zugrunde liegende Fundament bereitgestellt, als er
die Bestandteile und das Funktionieren ethischen Argumentierens in sehr knapper Weise
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erörterte: hinsichtlich der allgemeinen Ethik wie der Sozialethik. Der zweite Hauptteil hat
verdeutlicht, dass die heutige Friedens- und Konfliktethik kein gegenwärtiges Produkt ex
nihilo ist, sondern wesentliche ihrer Teile aus einem langen historischen Prozess hervor-
gegangen ist, der kontinuierlich auf vorangegangenes Denken zurückgriff und sich dabei
immer weiter ausdifferenzierte. Der dritte und vierte Hauptteil widmeten sich der aktuellen
Friedens- und Konfliktethik: Dabei zog der dritte Hauptteil allgemeine Fragen gewisser-
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maßen ‚vor die Klammer‘, während der vierte besondere Fragen zum Inhalt hatte, anhand
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

exemplarischer Einzelprobleme mit hoher Relevanz.

Wenn wir uns die wichtigsten behandelten Fragen und Reflexionen jetzt noch einmal entlang
der einzelnen Kapitel vergegenwärtigen, entfaltet dies das vorstehend Gesagte. Das erste
und zweite Kapitel haben notwendige Voraussetzungen zum Erörterungsgegenstand gehabt.
Im ersten Kapitel haben wir uns grundlegenden Verständnissen von sowie Zugangs-
weisen in der allgemeinen Ethik genähert, um mit jenem ‚Instrumentarium‘ vertraut zu wer-
den, durch das ethische Argumentation überhaupt erst möglich wird und auf das wir dann
im weiteren Verlauf unseres friedens- und konfliktethischen Reflektierens zurückgegriffen
haben. Der Zielpunkt dieses Kapitels war, dass sich verschiedene ethische Ansätze nicht
ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen sowie dass sich ein angemessenes Beurteilen
von Handlungen demzufolge zumindest aus dem Berücksichtigen der vier Aspekte Vorsatz,
Norm(en), Haltung(en) und Folge(n) zusammensetzt.
Ein Zuschneiden auf den Bereich der Sozialethik, genauer der politischen Ethik, erfolgte
im zweiten Kapitel. Darin ging es insbesondere um die Verschiedenheit und die Komplemen-
tarität von gutem Leben und gerechtem Zusammenleben sowie um wichtige Grundbegriffe im
Hinblick auf das zweite. Im Blickpunkt befanden sich dabei zum einen die vier orientieren-
den Prinzipien Personen-, Solidaritäts-, Subsidiaritäts- und Gemeinwohlprinzip; zum anderen
Freiheit und anthropologische Gleichheit sowie politische und soziale Gerechtigkeit. Hier-
durch haben wir gewissermaßen jene normative Hintergrundfolie aufgespannt, vor der dann
die späteren Überlegungen insbesondere des dritten und vierten Hauptteils erfolgen sollten.
Daran anschließend haben das dritte bis elfte Kapitel auf eine andere Weise auf unsere
gegenwärtige friedens- und konfliktethische Argumentation zugeführt: Sie haben sich hin-
sichtlich der Beschäftigung mit Krieg und Frieden der historischen Entwicklung – insbe-
sondere in der christlichen Tradition – gewidmet, wobei das exemplarische Eingehen auf
die Überlegungen wirkmächtiger Denker im Mittelpunkt stand.

222
Schluss

Das dritte und elfte Kapitel rahmten dies gewissermaßen: Zu Beginn wurden zwei Para-
digmenwechsel hervorgehoben, die vom Dreißigjährigen Krieg beziehungsweise vom Ers-
ten Weltkrieg ihren Ausgang nahmen, sodass überblickshaft in das Aufeinanderfolgen eines
naturrechtlich-christlichen, eines positivrechtlich-formalen sowie eines normativ-elementa-
ren Verständnisses eingeführt wurde. Am Ende wurde demgegenüber aufgezeigt, wie die im
Laufe der Jahrhunderte entfalteten friedensethischen Entwürfe in der politischen wie recht-
lichen Sphäre der internationalen Beziehungen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts Gestalt anzunehmen begonnen haben.
Am Beispiel des Denkens von Marcus Tullius Cicero, Aurelius Augustinus, Thomas von
Aquin, Francisco de Vitoria, Hugo Grotius, Immanuel Kant und Luigi Taparelli d’Azeg-
lio illustrierten die Kapitel vier bis zehn wichtige Entfaltungsschritte in der einschlägigen
Reflexion. In der Spätphase der römischen Republik stellte Cicero – im Hinblick auf das
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Wohl sämtlicher Beteiligter – die Zentralität der Unterscheidung zwischen gerechtigkeits-


geleiteten, zuträglichen und selbstbezüglichen, abträglichen Motiven heraus und Augustinus
betonte in der Spätphase des römischen Imperiums jenes Grundverhältnis zwischen Frieden
und Krieg, dass es der Wachstumsprozess des Friedens ist, der beständig voranzubringen
ist, während Krieg nur ein angesichts extremen Unrechts zu dessen gezielten Überwinden
in Kauf zu nehmendes, geringeres Übel sein kann. Die Spitze der Friedensethik von Tho-
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mas war im Hochmittelalter das Herausarbeiten einer Schutzpflicht der christlichen Herr-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

scher auch für außerhalb des orbis christianus schwerstes Unrecht leidende Christen, ein
Gedankengang, den Vitoria dann zu Beginn der Neuzeit global ausweitete, auf die in einer
Rechtsgemeinschaft der Völker stehenden Herrscher sowie auf sämtliche Menschen. Dies
vertiefte Grotius inmitten des Dreißigjährigen Krieges und zielte in aufwändiger Weise auf
das Herausarbeiten eines ungeachtet aller religiösen und politischen Zersplitterung allge-
mein anerkennbar fundierten Minimalrechts. Um eine Friedensordnung verwirklichen zu
können, betonte Kant dann im 18. Jahrhundert die unumgehbare Notwendigkeit, auf der
Ebene der Staatengemeinschaft von der faktisch weiterhin bestehenden Staatenanarchie zu
einer echten Rechts-Ordnung übergehen zu müssen. Und Taparelli erweiterte dieses Kon-
zept und Desiderat im 19. Jahrhundert schließlich um den dafür unverzichtbaren Aspekt der
Institutionalisierung und Zwangsbewährung.
Das 12. bis 16. Kapitel haben sodann Frieden und bewaffneten Konflikt in unserer heuti-
gen Perspektive in den Blick genommen. Dabei kam es dem 12. Kapitel zu, eingangs zu ver-
deutlichen, dass nicht etwa der Umstand, dass Konflikte überhaupt existieren, das Problem
ist, sondern vielmehr die Art und Weise, wie wir diese zu lösen versuchen.
Verschiedene systematische Modelle von (bewaffneter Gewalt und) Frieden standen
im Mittelpunkt der 13. Kapitels: Von einem zweistufigen, über ein mehrstufiges bis hin zu
einem stufenlos zu- und abnehmenden, haben diese Modelle verdeutlicht, dass Friede nicht
schlicht ‚vorliegt‘ oder ‚nicht vorliegt‘, sondern vielmehr stets in größerem oder kleinerem
Maße verwirklicht ist; von der sehr bescheidenen Abwesenheit des Verletzens von mini-
maler Freiheit, Leib und Leben bis hin zu einem vieldimensional realisierten, inner- und
zwischenstaatlichen Gerechtigkeitsniveau.
Von diesem Leitbild kommend setzten sich die folgenden drei Kapitel in ineinander-
greifender Weise damit auseinander, wie das Ausbrechen bewaffneter Konflikte möglichst
verhindert werden kann, unter welchen Kriterien sie überhaupt geführt werden dürfen und
wie sich nach ihrer Beendigung der Friede nachhaltig wieder stärken lässt.

223
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Das 14. Kapitel behandelte Konfliktvorbeugung selbstreflexiver Art und verdeutlichte


dabei zum einen, dass ethnische, wirtschaftliche und strukturelle Konfliktursachentheorien
komplementär zu verstehen sind. Zum anderen hob es hervor, dass in der Konfliktpräven-
tion selbst, strukturelle Ansätze globaler und bilateraler Art sowie direkte Ansätze aufein-
ander verwiesen sind und dementsprechend eine mehrschichtige Herangehensweise unver-
zichtbar ist. Das im strengsten Sinne konfliktethische 15. Kapitel zeigte in der dreiteiligen
Form des ius ad bellum, ius in bello und ius ex bello, dass das mittlere Feld heute ein stark
verrechtlichtes ist und die diesbezügliche Konfliktethik heute einen eher rechtsethischen
Schwerpunkt haben kann. Die beiden anderen, sich spiegelbildlich gegenüberstehenden
Aspekte, betreffen hingegen politische Entscheidungsdomänen wenig verrechtlichter Art,
sodass dieses Herzstück der Konfliktethik auch in der Gegenwart einen politisch-ethischen
Schwerpunkt behält und ein intersubjektiv rationables, kriteriengeleitetes Strukturieren
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streitiger Argumentationen in diesem Bereich besonders wünschenswert ist. Das 16. Kapitel
zur Nachsorge bewaffneter Konflikte hatte den Zielpunkt, dass das kontinuierliche Begüns-
tigen und Befördern von gerechten Zuständen mittels des Entstehens oder Stärkens von
gemeinwohlorientierten Gemeinwesen nur tragfähig sein können, wenn dies die Selbst-
bestimmung respektiert und sozio-kulturell adäquat ist: also in Form geduldigster Hilfe zur
Selbsthilfe.
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Die letzten vier Kapitel haben je eine Herausforderung konkreter Art für die Friedens-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

und Konfliktethik in den Blick genommen: Die ersten beiden haben hinsichtlich bewaffneter
Konflikte ihren Schwerpunkt auf dem ‚Ob‘, die letzten beiden auf dem ‚Wie‘. Alle vier
zeichnen sich dadurch aus, dass ihr sowohl hohe Relevanz zukommt als auch, dass keine
einfachen Antworten auf sie hilfreich sind, sondern nur differenzierte weiterführen – mal
mehr, mal weniger.
Die nukleare Abschreckung war Gegenstand des 17. Kapitels, das darin mündete, es
ernst zu nehmen, dass ein Dilemma besteht sowie für die aus dem In-die-Welt-Treten von
Atomwaffen hervorgehende unaufhebbare Unvollkommenheit zwei strukturelle Minimie-
rungen zu konturieren: eine ideale im Hinblick auf eine Staatenordnung umfassend koope-
rativer Art sowie eine zwar in einer fernen, aber im nächsten Jahrhundert durchaus realisier-
baren Zukunft hinsichtlich der gegenwärtig bestehenden internationalen Staatenordnung.
Nicht minder komplex stellte sich die im 18. Kapitel behandelte militärische Intervention
zu humanitären Zwecken samt der RtoP dar. Der diesbezügliche Problemkern war, dass in
unserer internationalen Ordnung der Schutz von Unterdrückten vor schwersten Rechtsbrü-
chen im Extremfall durch Einsätze mit militärischen Mitteln erfolgt, es sich dabei innerhalb
der – in Form des VN-Sicherheitsrats handelnden – Gesamtheit der Staatengemeinschaft
aber gerade um polizeiartigem Paradigma entsprechende Eingriffe handelt: Deshalb ist es
einschlägig, dass einer Staatengruppe bei willkürlicher Handlungsunwilligkeit des VN-
Sicherheitsrats gegenüber von Shocking-the-conscience-of-mankind-Fällen nur mittels des
überpositiven Notstands eine umsichtige Einzelfallabwägung offen steht.
Das Thema des 19. Kapitels war die ‚revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘
und es fokussierte die vielgestaltige Opposition von normativem Kollektivismus – als tra-
dierter Konzeption – und normativem Individualismus – als paradigmatischer Neuerung – in
der Konfliktethik. Daran verdeutlichte es, dass Anliegen des neuen Ansatzes eingedenk der
immer mehr individualistische Aspekte inkorporierenden Völkerrechtsentwicklung sowie
der in den Vordergrund getretenen intrastaatlichen bewaffneten Konflikte berechtigterweise

224
Schluss

zwar als begrenzte Modifizierungen/Präzisierungen aufzugreifen sind, dass aber das Ver-
treten der individualistischen Konzeption in ihrer Reinform kein moralischer Gewinn ist.
Das abschließende 20. Kapitel reflektierte das nicht mehr allzu futuristische Thema der
operationell autonomen Waffensysteme. In diesem zeigte sich, dass teleologische Erwägun-
gen hinsichtlich der Legitimität der Anwendung tödlicher Gewalt durch solche Systeme zu
unterschiedlichen Ergebnissen gelangen können. Demgegenüber führten ein vertragstheo-
retischer (geltendes Recht als ethischer Wert), ein deontologischer (Töten durch OARSletal)
und ein hermeneutischer (Würde des Menschen) Ansatz in unterschiedlicher Strenge jeweils
zu deren Illegitimität.

Wir haben in diesem Kapitel noch einmal die Sinnspitze unseres friedens- und konflikt-
ethischen Grundrisses nachgezeichnet. Dieser Grundriss soll dazu befähigen, bescheide-
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ner formuliert: soll auf den Weg dahin führen, sich – sowohl mittels eines reflektierten
ethischen ‚Instrumentariums‘ als auch im wertschätzenden Bewusstsein des historischen
Fundaments, auf dem wir stehen – im Rahmen eines systematischen Modellentwurfs und
anhand exemplarisch besprochener Einzelprobleme eigene ausgewogen-angemessene Ant-
worten auf andere oder neue Herausforderungen erarbeiten zu können. Was ist diesbezüglich
abschließend zu sagen?
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In unserem, in diesem Buch vertretenen Verständnis ist Ethik – sowohl bezüglich des
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Verhaltens des Einzelnen als auch von Institutionen – eine unparteiische Wohlfahrtsüber-
legung im Hinblick auf die wie auf den Menschen, die ihre jeweiligen Argumente in inter-
subjektiv rationabler Weise darlegt. Ihre Aussagen sind umso sicherer, je abstrakter sie sind
und umso unsicherer, je konkreter sie sind. Sie kann auf die Komplexität vieler Fragen keine
‚eindeutigen‘ und erst recht keine ‚einfachen‘ Lösungen geben, sondern muss differenzierte
und in jedem Fall die zu bedenkenden Aspekte berücksichtigende Antworten geben.
Dadurch ist Ethik vor allem Zweierlei: Erstens ein präzises und sogfältiges Erkennen,
Abgrenzen und Wägen unterschiedlicher Belange und Interessen sowie zweitens eine Suche
nach der bestmöglichen Antwort in Bescheidenheit. Umgekehrt bedeutet dies, dass sim-
plizistische oder ideologische Zugänge zu unzureichenden Ergebnissen führen: Simplizis-
men verfehlen leicht nachvollziehbar das erste Wesensmerkmal und Ideologien das zweite,
bemühen diese sich doch vielmehr um Begründungen für vorab selbstüberzeugt festgelegte
Antworten.
Innerhalb besagten Rahmens ist der zentrale Verstehenszugang, der in diesem Buch
immer wieder betont wurde, das positive Begreifen und Ausfüllen des Spannungsverhält-
nisses zwischen unhintergehbarem Minimum und anzustrebendem Maximum: sowohl im
Hinblick auf das Verhältnis von Konflikt- und Friedensethik als auch hinsichtlich der Dyna-
mik der Friedensethik in sich selbst. Dies bezieht sich dann jeweils sowohl auf ein mehrstu-
figes Zueinander von – elementaren wie darauf aufbauenden – ‚Rechtspflichten‘ mit harter
Geltung als auch auf das Zueinander von ‚Rechtspflichten‘ und ‚Tugendpflichten‘, die dann
eine weiche Geltung haben.
Diese Unter- und Verschiedenheit sowie die damit fest verbundene Komplementarität
zu bejahen, eröffnet ein graduelles und dynamisches Grundgefüge (bildlich: unten fest ver-
ankert und nach oben wachstumsbegünstigend), das dem menschlichen Zusammenleben
und Leben am ehesten gerecht wird: zum einen die unhintergehbaren Minimalbedingungen
entschlossen schützend, zum anderen ebenso ambitioniert wie unverkrampft das mögliche

225
Umgang mit exemplarischen Herausforderungen

Mehr an Gerechtigkeit verwirklichend und zugleich zum verdienstlichen Mehr an Wohl-


wollen und Wohltun anregend. Umgekehrt bedeutet dies, dass relativistische Beliebigkeit
oder ‚Idolatrie der Gerechtigkeit‘ zu unzureichenden Ergebnissen führen: Relativistische
Beliebigkeit kann das erste nicht schützen und ‚Idolatrie der Gerechtigkeit‘ kann auf das
zweite in doppelter Weise kontraproduktiv wirken, indem sie sowohl erwartbares, allgemein
einforderbares Handeln überdehnt als auch anerkennenswürdiges, partikular überschießen-
des Handeln vernachlässigt.
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226
Anhang

Fallbeispiel Intervention in Libyen

Kehren wir zur RtoP zurück, konkret zur Intervention in Libyen. Insgesamt ein gutes Bei-
spiel für eine konfliktethische Falluntersuchung entlang der zum Leitbild des gerechten Frie-
dens gehörenden Gewaltlegitimationskriterien.

A.1 Der inner- und zwischenstaatliche Konflikt

Wie sieht Libyen aus und was ist in Libyen 2011 passiert?304 Beginnen wir damit, uns Land
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und Bevölkerung anzusehen. Libyen ist das trockenste Land Afrikas. 90 Prozent der Bevöl-
kerung leben an der Küste. Es gibt drei Besiedlungsregionen, die weit auseinander liegen
und sich historisch ganz unterschiedlich entwickelt haben. Zum einen ist da Tripolitanien
im Nordwesten, dort leben ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung. Dann die Cyrenaika im
Nordosten, wo etwa 30 Prozent der Bevölkerung leben, und schließlich der Fezzan im Süd-
westen mit rund 10 Prozent der Bevölkerung. Historisch hat sich Tripolitanien immer zum
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Westen hin orientiert, schon seit der Antike. Die Cyrenaika hat hingegen stets Richtung
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Ägypten geschaut. Zwischen Tripolitanien und der Cyrenaika liegen Hunderte Kilometer
Wüste, beide Regionen haben nichts miteinander zu tun gehabt. Und der Fezzan hat sich
geschichtlich gen Süden orientiert. Es gab allerdings schon sehr lange, schon zur Zeit der
Römer, Handel mit Tripolitanien. So sind die Garamanten als Bewohner des Fezzan, bei-
spielsweise auch in römischen Quellen überliefert: Handel wurde tatsächlich hier von Subsa-
hara-Afrika zur Mittelmeerküste durch die Wüste betrieben. Grundsätzlich jedoch hatten die
drei Besiedlungsregionen historisch wenig miteinander zu tun, sondern haben sich vielmehr
zu ihren Nachbarn im Westen, Osten und Süden hin orientiert.
In Libyen leben auch einige ethnische Minderheiten. Insbesondere die Berber im Nord-
westen, an der Küste in einigen kleinen Städten sowie im Nafusa-Gebirge, das Tripolitanien
nach Süden hin abgrenzt. Zur Familie der Berber gehören auch die namentlich bekanntes-
ten Stämme, die Tuareg. Sie leben vor allem im Südwesten. Teils sind die Tuareg autoch-
thon, teils sind sie während der Herrschaft Gaddafis gekommen, weil er eine für die Tua-
reg freundliche Politik verfolgte. Gaddafi war indes sehr berechnend und machte sich den
Umstand zunutze, dass die Tuareg in anderen Ländern häufig schlechte Lebensbedingungen
hatten – etwa im Niger und in Mali. Im Südosten leben des Weiteren die Tubu, ebenfalls
eine ethnische Minderheit.
Das einzig Verbindende zwischen den drei genannten Regionen wurde erst im 20. Jahr-
hundert entdeckt: Öl- und Gasfelder. Diese liegen teils im Westen, zwischen Tripolitanien
und dem Fezzan. Aber im Wesentlichen befinden sie sich in einem großen Dreieck zwischen
Tripolitanien und der Cyrenaika. Das ist mehr oder weniger das einzige gemeinsame Inter-
esse, das diese Besiedlungsregionen haben.

304
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe Schrage, Intervention in Libyen …, 39–44 und 79–100.

227
Fallbeispiel Intervention in Libyen

Zwar waren die drei Regionen schon vorher formal zusammengeführt worden – aller-
dings wirklich nur formal: Zum ersten Mal geschah dies 1835 im Zuge der zweiten Beset-
zung durch die Osmanen, die Tripolitanien und die Cyrenaika und ab 1842 auch den Fezzan
zusammen verwalteten. Ab 1911 folgten ihnen die Italiener. Sie verdrängten die Osmanen
und kolonisierten Libyen von der Küste her. Auch die Italiener verwalteten Libyen ein-
heitlich. Doch auch dies blieb nur ein äußerer Rahmen, die Bevölkerung entwickelte keine
innere Bindung zu dieser Verwaltungsgröße. Die Italiener brachten zahlreiche Siedler an die
Küsten. Trotzdem wurde die effektive Kontrolle nach Süden hin immer geringer, je weiter
man sich von der Küste entfernte. Im Jahr 1951 wurde Libyen dann erstmals ein unabhängi-
ger Staat, ein Königreich unter der Sanussi-Dynastie, die aus der Cyrenaika stammte. König
Idris hat sich jedoch eigentlich nie als König von Libyen gesehen: Er hat sich immer als aus
der Cyrenaika stammend verstanden und war dieser Größe verbunden. Schließlich folgte die
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Revolution 1969 unter Gaddafi. Er strebte eine kontrollierte direkte Volksherrschaft an, die
jedoch tatsächlich rasch zur Autokratie wurde. Das ist im Grunde schon die ganze politische
Geschichte dieses, minimalistisch gesagt, geografischen Konglomerats.

Dieser Hintergrund ist wichtig für das Verständnis dessen, was im Kontext der ‚Arabellion‘
in Libyen geschehen ist. Sehen wir uns also den Konflikt im Jahr 2011 an. Ich lege sche-
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matisch dar, wie dieser von ungefähr Mitte Februar bis Ende Oktober 2011 abgelaufen ist.
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Es sei eine Einteilung in fünf Phasen vorgeschlagen:305


Die erste Phase, die Ausbreitung des Aufstandes, umfasst die Zeit von Mitte Februar bis
Ende Februar 2011. Es gab bewaffneten Widerstand gegen die Regierung und dieser war
an drei Stellen so stark, dass die Regierung dort die Kontrolle verlor: in der Cyrenaika, im
Nafusa-Gebirge und in wenigen tripolitanischen Küstenstädten, vor allem in Misrata. Mit
Ausnahme von Misrata gelang es der Regierung, in den betroffenen tripolitanischen Küsten-
städten die Kontrolle zurückzuerlangen.
In dieser Zeit sind durch Regierungseinheiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit
erfolgt, beispielsweise Verschwindenlassen von Personen und gezielte Erschießungen. Hin-
sichtlich der Größenordnung betrafen die Erschießungen ungefähr 500 bis 700 Personen.
Dabei handelte es sich um Demonstranten/Demonstrantinnen, die meist mit einem direkten
Kopf- oder Halsschuss getötet wurden. Das Verschwindenlassen betraf rund 1300 Personen
in Bengasi, von ihnen sind knapp 300 nach dem Konflikt wieder aufgetaucht.
Dann begann ungefähr Ende Februar/Anfang März die zweite Phase, die Reaktion der
Regierung. Damit ist gemeint, dass es den Regierungstruppen wirklich gelungen ist, die Rebel-
len wieder zurückzudrängen. Mit dieser Phase begann auch der nicht-internationale bewaff-
nete Konflikt (erinnern Sie sich bitte an den Unterschied zwischen Aufständen/Tumulten sowie
einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt). Im Osten wurden die Rebellen bis kurz vor
Bengasi zurückgedrängt, das Nafusa-Gebirge wurde umstellt und belagert, Misrata eingekes-
selt. Die anderen tripolitanischen Küstenstädte, insbesondere Zawija, wurden zurückerobert
(was dort geschehen ist, wird wenig beachtet, ist aber entscheidend für die Bewertung der
Libyen-Krise). Durch Gaddafi-loyale Einheiten erfolgten in dieser zweiten Phase als Kriegs-

305
Wenn etwas zu systematisieren ist, ist dies in guter Bescheidenheit zu tun: Die Wirklichkeit ist immer komple-
xer. Um sich aber die Wirklichkeit anzueignen, kann es manchmal hilfreich und sogar berechtigt sein, etwas
zu schematisieren.

228
A.2 Die multilaterale Intervention

verbrechen gezielte sowie unterschiedslose Angriffe auf Zivilisten/Zivilistinnen und zivile


Objekte; des Weiteren willkürliche Festnahmen, Folter und Vergewaltigung, jeweils verbreitet
oder systematisch, also in einer Weise, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen.
Ab Mitte März folgte eine dritte Phase, der Beginn des internationalen bewaffneten
Konflikts. Sie begann mit dem Eingreifen internationaler Einheiten in dem Moment, in dem
Regierungstruppen nicht mehr weit von Bengasi entfernt waren und die Stadt kurz vor dem
Fall stand. Ab jetzt waren auch die Intervenienten Konfliktpartei. In dieser dritten Phase, die
wiederum rund zwei Wochen angedauert hat, gelang es sehr schnell, die Regierungstruppen
im Osten zurückzudrängen, ungefähr wieder zwischen die Städte Brega und Adschdabija
(tatsächlich gab es im Osten mehrere Verschiebungen der Frontverläufe, aber hier genügt
die vereinfachte Darstellung). Um das belagerte und stark bedrängte Misrata herum wurden
die Regierungstruppen angegriffen, ebenso am Nafusa-Gebirge.
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Nun schloss sich die Hauptphase des gesamten Konflikts an, die ungefähr Ende März/
Anfang April begann und sich bis zum Zusammenbruch der Gaddafi-loyalen Truppen, also bis
ungefähr Ende Juli zog: Diese vierte Phase war ein Patt, während dessen sich die Ringe um
Misrata und das Nafusa-Gebirge herum zunächst etwas verengten und dann wieder weiteten.
Welche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat es in der dritten
und vierten Konfliktphase gegeben? Durch Regierungseinheiten sehr häufig gezielte sowie
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unterschiedslose Angriffe auf Zivilisten/Zivilistinnen und zivile Objekte; sodann Verschwin-


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

denlassen von Personen und willkürliche Festnahmen, Folter und Vergewaltigung, jeweils
verbreitet oder systematisch.
Schließlich folgte ab Ende Juli/Anfang August die fünfte und letzte Phase: Zunächst
nahmen die Rebellen bis Ende August, also innerhalb eines Monats, den Westen ein. Tripolis
fiel am 25. August, praktisch ohne größere Kämpfe – für alle recht unerwartet. Bis Mitte
September, also in noch einmal zwei Wochen, nahmen die Rebellen dann auch den Süden
und den ganzen Osten ein. Zuletzt waren noch zwei Orte umkämpft: Bani Walid und Sirte.
Dort konnten sich Gaddafi-loyale Kräfte verschanzen und halten. Beide Orte fielen Mitte
Oktober, und zwar in blutigen Endkämpfen – das Gegenteil der Vorgänge in Tripolis.
In der fünften Phase sind auf beiden Seiten zahlreiche Völkerrechtsverbrechen erfolgt.
Auf der Seite der Regierungstruppen sind insbesondere Massenhinrichtungen von Gefange-
nen anzuführen, die im Verlauf des Rückzugs ausgeführt wurden. Auf der Seite der Rebellen
sind im Zuge ihres Vorrückens in einstmals von Regierungstruppen kontrollierte Gebiete
willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen von Personen, Folter und sexuelle
Gewalt, unterschiedslose Angriffe, Massenhinrichtungen begangen worden sowie gegen-
über von als Gaddafi-loyal angesehene Bevölkerungsgruppen und Orte Pogrome bezie-
hungsweis Umsiedlungen.

A.2 Die multilaterale Intervention

Wie gingen nun die internationalen Akteure vor?306 Beginnen wir mit dem VN-Sicherheits-
rat. Am 26. Februar hat er Resolution 1970 verabschiedet. Darin waren bereits sehr starke
Maßnahmen inbegriffen, gezielte Sanktionen: im Wesentlichen ein Waffenembargo, Reise-

306
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 101–155.

229
Fallbeispiel Intervention in Libyen

sanktionen und das Einfrieren von Guthaben. Zudem überwies der VN-Sicherheitsrat die
gesamte Situation in Libyen bereits an den internationalen Strafgerichtshof. Das ist nicht zu
unterschätzen, denn es führt dazu, eine politische Führung stärker zu isolieren.
Am 17. März, knappe drei Wochen später – das ist für VN-Verhältnisse geradezu ein
Zeitraffer, in dem sich die Ereignisse abspielten –, wurde Resolution 1973 verabschiedet. Sie
ermächtigte, gewaltförmige Mittel einzusetzen (die Formulierung lautet stets „alle nötigen
Mittel“). Nach der ‚Vorwarnung‘ durch Resolution 1970 hat Resolution 1973 im Wesent-
lichen drei Punkte festgelegt:
Erstens den Schutz von Zivilisten/Zivilistinnen und von diesen bewohnten Gebieten –
eine wichtige Formulierung, denn wenn nur Zivilisten/Zivilistinnen geschrieben worden
wäre, hätte es bei Gebieten, aus denen alle Zivilisten/Zivilistinnen bereits geflüchtet waren,
Unklarheiten geben können. Zweitens das Errichten einer Flugverbotszone und drittens das
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Verschärfen der Sanktionen. Hinsichtlich des Schutzes von Zivilisten/Zivilistinnen und von
diesen bewohnten Gebieten hatten diejenigen, die sich dieser Maßnahme anschlossen, ledig-
lich eine Anzeige- und Berichtspflicht. Sie mussten anzeigen, dass sie derartige Maßnahmen
überhaupt ergreifen wollten, und sie mussten regelmäßig über die umgesetzten Maßnahmen
berichten. Ausgeschlossen waren Besatzungstruppen: Besatzungstruppen meint nicht das-
selbe wie Bodentruppen. Wenn irgendwo Soldaten/Soldatinnen als Berater/-innen sind oder
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sich eine kleine Gruppe von Spezialkräften vor Ort befindet, sind das noch keine Besat-
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

zungstruppen. Besatzungstruppen müssen die effektive Kontrolle über ein Gebiet ausüben.
Manchmal wurde moniert, die westlichen Staaten hätten gegen das erteilte VN-Mandat ver-
stoßen, weil sie Bodentruppen nach Libyen entsandt hätten – dabei handelte es sich aller-
dings um Berater und kleine Gruppen von Spezialkräften.
Und wie sind die VN selbst weiter vorgegangen? Sie haben erstens vermittelt. Es gab
einen Sonderbeauftragten des VN-Generalsekretärs, Abdulilah al-Chatib. Er hat beständig
versucht, die Rebellen und Gaddafi in indirekte Gespräche miteinander zu bringen. Das war
mehr oder weniger eine mission impossible, aber er hat das mit sehr großer Zähigkeit getan
und ist auch verhältnismäßig weit gekommen. Er stand jedoch vor einem wesentlichen Pro-
blem. Ganz zu Beginn schlossen sich die Positionen der Rebellen und Gaddafis gegenseitig
aus. Die Rebellen wollten erst dann verhandeln, wenn Gaddafi zurücktrat. Das aber war
ausgeschlossen. Gaddafi wiederum wollte erst dann verhandeln, wenn die Intervenienten
die Luftangriffe einstellten. Das war ebenfalls ausgeschlossen. Abdulilah al-Chatib hat es
dennoch geschafft, die beiden Parteien über Monate hinweg immer weiter aneinander anzu-
nähern. Mitte Juli – also kurz vor dem Zusammenbruch der Gaddafi-loyalen Truppen – war
er so weit gekommen, dass Gaddafi zwar nicht zugestimmt hatte zurückzutreten. Er hatte
aber gesagt, beim Übergangsprozess nicht mitzuwirken. Der Übergangsprozess sollte von
einem fünfköpfigen Rat gestaltet werden. Zwei der Mitglieder sollten aus dem Osten und
zwei der Mitglieder aus dem Westen ernannt werden; diese vier sollten den Präsidenten des
Rates wählen.
Zweitens haben die VN humanitäre Hilfe geleistet und koordiniert. Das haben sie in
nachweisbarem und sehr großem Umfang getan, sowohl im Westen als auch im Osten.
Drittens haben sich die VN bereits während des militärischen Konflikts darauf vorberei-
tet, nach dessen Ende mit einer eigenen Mission Aufbauhilfe in Libyen zu leisten: UNSMIL.
Die haben sie gut vorbereitet und so konnte sie direkt in dem Augenblick beginnen, in dem
der militärische Konflikt beendet war.

230
A.2 Die multilaterale Intervention

Die Resolution 2009 und Resolution 2016 von Mitte September beziehungsweise Ende
Oktober sind nur noch insofern wichtig, dass am 16. September – nachdem die VN-Gene-
ralversammlung vormittags die Gaddafi-Gegner als legitime Vertreter Libyens anerkannt
hatte, sodass sie den Sitz Libyens in der VN-Generalversammlung einnehmen konnten – die
Sanktionen weitgehend aufgehoben wurden und UNSMIL anlief und dass am 27. Oktober
dann alle Maßnahmen, zu denen Resolution 1973 ermächtigt hatte, zum 31. Oktober für
beendet erklärt wurden.

Wie sah das Vorgehen der Kontaktgruppe als politischem Forum aus? Die Kontaktgruppe
bestand, mit einigen Unschärfen, aus jenen Staaten, die sich militärisch in Libyen enga-
giert haben. Sie wollten auch ein politisches Forum, um neben dem Schutz von Zivilisten/
Zivilistinnen vor allem zwei weitere Anliegen zu koordinieren: erstens Nothilfe zu leisten.
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Das haben sie getan, indem sie bestimmte systemische Ungleichheiten ausgeglichen haben,
die sich immer ergeben, wenn ein Land unter ein Embargo fällt. Es ist nämlich stets zu
bedenken, dass diejenigen, die nicht in der Regierung sind, überproportional benachteiligt
werden, weil sie über weniger Ressourcen verfügen. Das wurde ausgeglichen, indem die
Kontaktgruppe eine ‚Börse‘ ins Leben rief, in der jeder einstellen konnte, was er Libyen zur
Verfügung stellen könnte. Gingen dann Anfragen nach Medikamenten und anderen Hilfs-
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gütern ein, konnten Nachfrage und Verfügbarkeit zusammengebacht werden.


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Zweitens hat die Kontaktgruppe schon während des militärischen Konflikts den politi-
schen Neuanfang vorbereitet. Das war ein anderer Schwerpunkt, als ihn die VN mit UNS-
MIL für die Zeit nach dem militärischen Konflikt setzten. So hat die Kontaktgruppe während
des Konfliktes den Rat der Rebellen dabei unterstützt, eine Verfassung zu erarbeiten. Die
VN haben sich diesbezüglich herausgehalten. Die Kontaktgruppe hingegen vertrat die Posi-
tion, dass am Ende des militärischen Konflikts nicht bei null begonnen werden sollte. Viel-
mehr sollten bereits Grundlagen vorhanden sein, an die der selbstbestimmte Aufbau dann
anschließen konnte. Allerdings sind hier einige Unebenheiten zu beachten, wie sich später
bei der kriteriengeleiteten Prüfung zeigen wird.

Kommen wir abschließend zur militärischen Umsetzung der vom VN-Sicherheitsrat man-
datierten Intervention. Zunächst handelte es sich um Operationen einzelner Staaten: der
USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs. Nach zehn Tagen hat dann die NATO
mit ihren Strukturen und Stäben übernommen – unter deren Mitgliedsstaaten war dies sehr
umstritten. Wir können heute hierüber zwar von einer NATO-Operation sprechen. Aber wir
müssen uns dabei bewusst sein, dass nicht die NATO, sondern nationale Stäbe die ersten
Tage geleitet haben.
Der Operationsablauf insgesamt hatte drei Bestandteile. Der erste war, das Waffenem-
bargo durchzusetzen. Auf See konnte das versucht werden: Schiffe wurden per Funk kon-
taktet und im Verdachtsfall auch durchsucht. An den Binnengrenzen hingegen ließ sich dies
noch nicht einmal nominell umsetzen.
Der zweite Teil war, eine Flugverbotszone einzurichten, was rasch gelang. Hier ist auch
zwischen den ersten drei Tagen und dem anschließenden Verlauf zu unterscheiden. Anfangs
gab es eine etwa 72-stündige Phase, in der die gesamte Luftverteidigung und Luftwaffe
Libyens ausgeschaltet worden ist. Diese Phase übernahmen nahezu komplett die USA: Den
Großteil der hierfür eingesetzten Waffensysteme trugen die Amerikaner bei. Danach haben

231
Fallbeispiel Intervention in Libyen

sie begonnen, sich zurückzuziehen. Bei der Auseinandersetzung mit der Libyen-Intervention
zeigen sich rasch die frappierenden militärischen Kapazitätsunterschiede zwischen Ameri-
kanern und Europäern.
Der dritte Teil war, Zivilisten/Zivilistinnen und von diesen bewohnte Gebiete zu schützen
– die eigentliche Hauptaufgabe. Hierzu gibt es eine schwedische Studie, wann wo welche
Angriffe erfolgt sind. Sie zeigt: Die zeitliche und räumliche Verteilung sowie die Intensität der
Flugangriffe haben dem Verlauf und der Intensität des Kampfes am Boden entsprochen. Diese
räumliche wie zeitliche Korrelation gilt für taktische Ziele. Darüber hinaus hat es einige stra-
tegische Ziele gegeben, die davon unabhängig angegriffen wurden: Kommando- und Kommu-
nikationsstrukturen sowie große militärische Ressourcen, vor allem in Hun, Sirte und Tripolis.
Die Intervenienten hatten eine klare politische Maßgabe: zero expectation of civilian
casualties. Deswegen gab es einen dreistufigen Zielauswahlprozess. Zwei Drittel der ernst-
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haft infrage kommenden Ziele wurden nicht angegriffen. Man wollte lieber ein Ziel zu wenig
als eines zu viel zerstören. Des Weiteren wurde beispielsweise mit Waffen mit Zündungsver-
zögerung gearbeitet. Die Detonation geschieht erst innerhalb des tatsächlichen Ziels, sodass
außerhalb möglichst keine Schäden entstehen. Ebenso wurde oft nachts angegriffen, damit
das zufällige Verkehrsaufkommen minimiert war.
Sehen wir auch auf den Gesamtumfang. An der Operation waren ungefähr 250 Flug-
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zeuge beteiligt, sowohl in der nationalen Phase als auch in der NATO-Phase, ungefähr
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

20 Schiffe, 20 Hubschrauber und alles in allem rund 8000 Soldaten/Soldatinnen. Es hat


ungefähr 18.000 bewaffnete Flugbewegungen gegeben, davon waren 9700 für die Boden-
bekämpfung vorgesehen. Wichtig ist, dass ein Flug, der bewaffnet und für die Bodenbe-
kämpfung vorgesehen ist, nicht unbedingt auch einen Angriff ausführen muss. Im Rahmen
der 9700 Flugbewegungen, die auf die Bodenbekämpfung ausgerichtet waren, wurden 7600
Luft-Boden-Waffen eingesetzt (alles Präzisionswaffen) und 5900 Ziele zerstört. Ungefähr
ein Drittel dieser Ziele waren feste und zwei Drittel bewegliche Ziele. Das ist wichtig und
zeigt, dass man in der Mehrzahl Ziele angegriffen hat, die sich im Kampfgeschehen kurz-
fristig ergeben haben.
Dem Anspruch, dass es keine Kollateralopfer geben sollte, konnte man nicht 100-pro-
zentig entsprechen: Es hat Kollateralopfer gegeben. Der Vergleich der Berichte von Amnesty
International, Human Rights Watch und der VN-Überprüfungsmission weist zehn Fälle aus,
in denen es insgesamt 78 zivile Todesopfer gegeben hat. Diese zehn Fälle haben sich unge-
fähr zu einem Drittel in der dritten und vierten Konfliktphase und zu ungefähr zwei Dritteln
in der fünften Konfliktphase ereignet. Teils handelte es sich um Verwechselungen – etwa
die ersten beiden Male: Rebellen schossen aus ihren Wagen heraus mit Waffen und wurden
von Intervenienten bekämpft. In einem Fall gab es auch eine Waffenfehlfunktion. In den
anderen sieben Fällen handelte es sich um Fehlidentifikationen: Ein Objekt wurde als ein
militärisches Ziel identifiziert, tatsächlich hat sich aber nichts Militärisches darin befunden.
Zu den getöteten Kombattanten gibt es nur Schätzungszahlen und damit ist vorsich-
tig umzugehen: Es wurden ungefähr 4700 gefallene Aufständische gezählt, etwas weniger
gefallene Gaddafi-loyale Kämpfer sowie rund 2100 Vermisste. Dabei handelt es sich aller-
dings um Kombattanten. Wer nicht gezählt ist, und das ist immer mitzudenken, sind die
zivilen Opfer durch die Bodenkämpfe. Denn hier gab es ja auch Kollateralopfer. Sie sind
nicht durch die Zahlen gedeckt.

232
A.3 Kriteriengeleitete Bewertung

Man kann wohl sagen – da es nie eine größere militärische Operation ohne Kollateral-
opfer gegeben hat, und es wohl nie eine größere militärische Operation ohne Kollateralopfer
geben wird –, dass bei 5900 zerstörten Zielen die Zahl von zehn Fehlern/Unfällen nicht mehr
deutlich senkbar sein dürfte.

A.3 Kriteriengeleitete Bewertung

Kommen wir zur kriteriengeleiteten Bewertung der Intervention. Hinsichtlich der Krite-
rien können wir das allgemeiner im 15. Kapitel und spezieller im 18. Kapitel Ausgeführte
zugrunde legen. Eingedenk dessen kann für das erste und das dritte Kriterium am Ende ihrer
jeweiligen Erörterung auch – zwischen erfüllt und nicht erfüllt – eine graduelle Erfüllung
mit Defiziten konstatiert werden; alle übrigen Kriterien sind binär am Ende der jeweiligen
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Argumentation entweder erfüllt oder nicht erfüllt.307


Das erste Kriterium ist die zuständige Autorität. Es gab ein Mandat des VN-Sicher-
heitsrats. Selbst die kritischsten Bewertungen gehen nicht davon aus, dass es einen formalen
Verstoß gegen Völkerrecht (≈ Zustandekommen der Resolution) gegeben hat. Nichtsdesto-
weniger gibt es extrem kritische Beurteilungen. Sie sagen, es habe einen materialen Ver-
stoß gegen Völkerrecht (≈ Inhalt der Resolution) gegeben. Die überwältigende Mehrheit
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der Erörterungen sagt hingegen, das Völkerrecht wurde sowohl formal als auch material
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

respektiert (Legalität).
Wir sollten uns die Verabschiedung der Resolution aber auch hinsichtlich ihrer Legitimi-
tät ansehen. Sie war regional erbeten und mitgetragen: Die Arabische Liga hat dieses Mandat
erbeten und wollte, dass vor Ort eingegriffen wird. Dies war übrigens auch ausschlaggebend
dafür, dass sich die USA doch für einen Eingriff entschieden haben. Dies stärkt die Legitimität.
Dem gegenüber stehen drei Punkte – nicht in dem Sinne, dass das Kriterium der zustän-
digen Autorität nicht erfüllt wäre, sondern dass die Legitimität geschwächt ist.
Erstens hatten die VN kaum eigene Aufklärungskapazitäten. Das ist zu bemängeln, weil
sie dadurch auf die Aufklärungskapazitäten einzelner Mitgliedsstaaten angewiesen waren.
Das führte dazu, dass diejenigen, die entscheiden sollten, sich nicht in der gleichen Situation
befanden.
Zweitens gab es eine interpretationsweite und zudem zeitlich unbegrenzte Ermächtigung.
Das war deshalb problematisch, weil man sie – gegen ein ständiges Mitglied des VN-Sicher-
heitsrats – nicht mehr ‚aufheben‘ konnte.
Drittens haben die Afrikanische Union, Russland und China sehr selbstbezogen gehan-
delt. Russland und China etwa wussten genau, was bei derartigen Interventionen passiert,
und haben sich für die profilierungsfreudigste Variante entschieden: Sie hatten kein Interesse
an Gaddafi. Sie haben also nicht gegen die Resolution gestimmt, was gegen sie hätte ver-
wendet werden können. Als es aber zu ersten Kollateralopfern kam, haben sie sich sofort
distanziert. Diese Punkte schwächen die Legitimität.

Das zweite Kriterium sind schwere Verbrechen gegen Leib und Leben. Bei diesem
Schwellenkriterium ist zunächst zu betonen, dass sein Erfülltsein oder Nicht-Erfülltsein

307
Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Abschnitt Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlä-
gige Sekundärliteratur siehe ebd., 337–376.

233
Fallbeispiel Intervention in Libyen

nicht davon abhängt, ob eine Bürgerkriegssituation vorliegt oder nicht: Es wird abhängig
davon eingegriffen, ob schwere Verbrechen gegen Leib und Leben erfolgen (ob ein Bürger-
krieg vorliegt oder nicht, ist unabhängig davon, ob schwere Verbrechen gegen Leib und
Leben erfolgen, und ob schwere Verbrechen gegen Leib und Leben erfolgen oder nicht, ist
seinerseits unabhängig davon, ob ein Bürgerkrieg vorliegt).
Dieses Schwellenkriterium war bereits aufgrund dessen erfüllt, was bis Mitte März an
Völkerrechtsverbrechen begangen wurde. Zudem wurde begründeterweise erwartet, dass
sich das Geschehen massiv intensivieren würde, weil – und deswegen sind die Ereignisse
in den Küstenstädten wichtig, in denen die Regierung die Kontrolle zurückerlangt hatte –
Bengasi kurz vor der Einnahme stand und um ein Vielfaches größer ist als beispielsweise
Zawija, wo es zu umfangreichen Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit gekommen ist: Unter anderem wurden Verletzte aus Krankenhäusern abgeführt;
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Menschen, die Schussverletzungen aufwiesen wurden getötet; die Moschee wurde einge-
ebnet, in der sich der letzte Widerstand versammelt hatte. Insofern war es durchaus rational
darstellbar, dass sich die Situation mit der Einnahme von Bengasi nochmal deutlich ver-
schlechtert hätte. So lässt sich insgesamt sagen, dass die schweren Verbrechen gegen Leib
und Leben und damit das Schwellenkriterium erfüllt ist, das aus ethischer Perspektive eine
Prima-facie-Pflicht begründet.
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Gehen wir weiter zum dritten Kriterium, zur rechten Absicht. Dieses Kriterium ist problema-
tisch. Menschen – erst recht Gemeinwesen – handeln stets mischmotiviert: Die Frage ist also,
ob die Beendigungsabsicht die handlungsleitende Intention war oder nicht. Wurde dadurch das
unmittelbare Ziel, die schweren Verbrechen gegen Leib und Leben zu beenden, beschädigt?
Teilen wir es auf: Wie hat der VN-Sicherheitsrat gehandelt und wie die führenden Inter-
venienten? Für den VN-Sicherheitsrat können wir sagen, dass bei ihm die rechte Absicht
durchgehend handlungsleitend war. Bei den führenden Intervenienten ist hingegen zeitlich
zu differenzieren. Sehr kurz nachdem die Intervention begonnen hatte, hatten diese for-
muliert, dass Gaddafi gehen müsse. Ist dieses Anliegen schädlich oder nicht? Hier gilt es
zu unterscheiden. In der dritten und vierten Konfliktphase kommen wir zu einem anderen
Ergebnis als in der fünften. In den erstgenannten Phasen hat die Absicht, Gaddafi von der
Macht zu entfernen, die Beendigungsabsicht als handlungsleitende Intention nicht verdrängt.
In der fünften Phase hingegen – dies ist beim fünften und sechsten Kriterium ebenso – ist
relativ deutlich, dass das Beenden der schweren Verbrechen gegen Leib und Leben als hand-
lungsleitende Intention zu einem anderen Vorgehen geführt hätte als die Absicht, Gaddafi
von der Macht zu entfernen: Dass Letzteres handlungsleitend wurde, beschädigte das unmit-
telbare Ziel, schwere Verbrechen gegen Leib und Leben zu beenden. Somit lässt sich sagen,
dass die rechte Absicht in der dritten und vierten Konfliktphase gegeben, in der fünften
Phase hingegen defizitär war.
Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das Kriterium der rechten Absicht so
etwas wie die „Innenseite“ des Handelns ist, die folgenden Kriterien sind entsprechend so
etwas wie die „Außenseite“. Defizite bei der rechten Absicht, schlagen im Nichterfüllen
einzelner nachfolgender Kriterien durch.

Sehen wir auf das vierte Kriterium, die Erschöpfung beziehungsweise Aussichtslosigkeit
friedlicher Mittel. In Resolution 1970 war nach Kapitel VII der VN-Charta bereits ange-

234
A.3 Kriteriengeleitete Bewertung

droht worden, gewaltförmige Mittel anzuwenden: Es bedarf zunächst stets einer solchen
Androhung, bevor in einer folgenden Resolution zu ihnen ermächtigt wird.
Dass dieses Kriterium erfüllt war, lässt sich im Fall Libyen relativ klar bejahen. Gaddafi
verfügte über umfangreiche Geld- und Goldreserven. Auch noch so starke Sanktionen hätten
ihn nicht in eine Situation zwingen können, in der er Besoldungsmöglichkeit und Kontrolle
seiner Sicherheitskräfte verliert, zumindest nicht kurzfristig. Langfristig wäre das zwar kein
großes Problem gewesen: Libyen ist ein schwaches Land mit einer auf Ölexport beruhenden
Rentenökonomie, das dadurch sehr sanktionsanfällig ist. Kurzfristig war der nötige Effekt
aber nicht zu erzielen: Selbst bei kompletter Abriegelung des Landes samt Einfrieren sämt-
licher Auslandsguthaben gab es immense Barmittel vor Ort.
Insofern können wir das Kriterium der Erschöpfung beziehungsweise Aussichtslosigkeit
friedlicher Mittel als erfüllt ansehen.
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Kommen wir zum fünften Kriterium, zum mildesten sicheren Mittel. Hier unterscheiden
wir zwei Teilüberlegungen: Geeignetheit und Erforderlichkeit.
War das Vorgehen, das die Intervenienten gewählt haben, geeignet, die schweren Verbre-
chen gegen Leib und Leben zu beenden? Das lässt sich knapp beantworten. Libyen war ein
Bilderbuchszenario: Ein militärisch schwaches Land, ein weithin einsehbarer Wüstenstaat,
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dessen Bevölkerungszentren, Küstenstädte, von See aus leicht zugänglich sind. Innerhalb
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von drei Tagen konnten die Intervenienten – nach Ausschalten der gesamten libyschen Luft-
waffe und Luftabwehr – ungehindert in die Ereignisse am Boden eingreifen. Insofern war
das gewählte Vorgehen durchaus geeignet, schwere Verbrechen gegen Leib und Leben zu
beenden.
Aber waren die eingesetzten Mittel auch erforderlich? Diesbezüglich ist differenzierend
vorzugehen. Die dritte und vierte Konfliktphase lassen sich als defensive zusammenfassen:
Gebiete, die von Rebellen gehalten wurden, wurden verteidigt. Die fünfte Phase ist hingegen
als offensive zu bezeichnen: Damit ist gemeint, dass die Gaddafi-loyalen Kräfte zusammen-
brachen und Rebellen in Gebiete vorrückten, die von Gaddafi gehalten worden waren. Dies
ist ein wichtiger Unterschied.
Die Frage, ob das unmittelbare Vorgehen der Intervenienten in den erstgenannten Phasen
das mildestmögliche war, können wir auf Grundlage der angeführten schwedischen Studie
bejahen: Im Wesentlichen haben sie, dem Kampfgeschehen folgend, Angriffe Gaddafi-loya-
ler Verbände aufgehalten. Etwas schwieriger verhält es sich bezüglich der Frage, ob auch das
mittelbare Vorgehen der Intervenienten das mildestmögliche war: Sie haben nicht nur eigene
Angriffe unternommen, sondern sie haben auch die Rebellen selbst unterstützt – mit Schutz-
ausrüstung, Selbstverteidigungswaffen und Militärberatern. Hierzu lässt sich wie folgt argu-
mentieren: Eine Situation lässt sich niemals allein durch Luftangriffe klären. Es bedarf stets
einer Bodenkomponente. Diese kann entweder eine eigene der Intervenienten oder es kann
eine autochthone sein (wie etwa die Nordallianz in Afghanistan). Die zweite Variante wurde
auch in Libyen gewählt: In der Regel ist eine autochthone Bodenkomponente im Vergleich
dazu, fremde Interventionstruppen vor Ort kämpfen zu lassen, das mildere Mittel, weil dies
oft größere Akzeptanz findet als fremde Truppen. Allerdings birgt diese Variante ein großes
Risiko, falls die autochthone Bodenkomponente in eine Offensive übergehen kann. War es
also erforderlich, die Rebellen zu unterstützen, damit deren Gebiete nicht erobert würden?
Ja, denn so haben sie es geschafft, die Gaddafi-Truppen auf- und abzuhalten.

235
Fallbeispiel Intervention in Libyen

Wie ist das Vorgehen jedoch hinsichtlich der fünften Phase zu beurteilen? Hier eröff-
net sich eine diffizile, komplexe Argumentation, die erst im folgenden Kriterium, der Ver-
hältnismäßigkeit, abgeschlossen werden wird: Bezüglich der Erforderlichkeit kommt man
manchmal zu Ergebnissen, die sich erst unter dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit als
nicht vertretbar erweisen.
War es erforderlich, die Luftangriffe fortzusetzen und die Gaddafi-loyalen Truppen so
weit zu schwächen, dass sie unterliegen? Und war es erforderlich, die Rebellen in ihrer
Offensivphase weiterhin zu beraten und zu unterstützen, um die schweren Verbrechen
gegen Leib und Leben zu beenden? Hierzu müssen wir eine Gesamtbetrachtung vorneh-
men: Gaddafi können wir auf der Grundlage seines langfristigen Verhaltens beurteilen. Die
Geschichte seiner Herrschaft zeigt, dass er skrupellos war und auch genau das umsetzte,
was er zuvor angekündigt hatte. Zu Beginn dieses konkreten Konflikts hatte Gaddafi geäu-
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ßert, dass er ihn entweder gewinnen oder wie sein Großvater als Märtyrer sterben werde.
Genauso ist es gekommen. Gaddafi hat bis zum Äußersten gekämpft – in Sirte noch mit
den letzten Getreuen. Dann ist er in einem Konvoi geflohen. Nach dem Bombardement des
Konvois hat er sich auf einem Bauernhof verschanzt. Nachdem er auch von dort vertrieben
worden war, hat er sich sogar noch in der Kanalisation verteidigt. Schließlich wurde er nur
gefangen genommen, weil eine Handgranate, die einer seiner Mitkämpfer geworfen hatte,
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an einem Hindernis abprallte und zurückfiel und sich die Gaddafi-Entourage durch die
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

Explosion unter Schock befand. Bis zum Untergang hat Gaddafi nicht aufgegeben. Dieses
Ex-post-Wissen ließ sich vernünftigerweise auch ex ante extrapolieren: Das Wissen darum,
dass Gaddafi sein Ansinnen bis zum Schluss verfolgen würde, hat es erforderlich gemacht,
ihn von der Macht zu entfernen, um die schweren Verbrechen gegen Leib und Leben zu
beenden. Aber …

Dieses „Aber“ folgt nun im Rahmen des sechsten Kriteriums, der Verhältnismäßigkeit.
Bei deren Erörterung unterscheiden wir zwischen den Teilüberlegungen der Angemessen-
heit sowie des Gegenüberstellens von Tun und Unterlassen – hier konkret zwischen dem
unmittelbaren Vorgehen und dem mittelbaren Vorgehen der Intervenienten.
Hinsichtlich des unmittelbaren Vorgehens lässt sich sagen, dass die 24 beziehungsweise
54 Kollateralopfer, die es während der defensiven Phasen sowie der offensiven Phase gab,
im Rahmen einer Gesamtabwägung mit Tausenden von Menschen, die Opfer von Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen geworden sind, nicht außer Verhältnis
stehen. Sinnvollerweise ist auch darauf hinzuweisen, dass es in der fünften Konfliktphase
doppelt so viele Kollateralopfer bei halb so vielen Angriffen gab: Ab dem Augenblick, ab
dem ein Kampfgeschehen fluide wird, es umfangreicheres Vorrücken und Rückzüge gibt,
nehmen offensichtlich vor allem die Fehlidentifikationen zu. Zweifelsohne handelt es sich
um 78 Kollateralopfer zu viel. Doch im Rahmen einer Gesamtabwägung stehen sie nicht
außer Verhältnis, sodass die Teilüberlegung der Angemessenheit erfüllt ist.
Kommen wir zum mittelbaren Vorgehen. Hier wird es schwieriger. Schauen wir zunächst
auf das Gegenüberstellen von Tun und Unterlassen während der defensiven Phasen: Hat das
Unterstützen der Rebellen keine Verschlechterung der Gesamtsituation nach sich gezogen
im Vergleich dazu, dass man die Rebellen nicht unterstützt hätte? Dies lässt sich durch
ein kontrafaktisches Unterlassungsszenario gut beantworten: Hätte man die Rebellen nicht
unterstützt, dann hätte es zwei Möglichkeiten gegeben. Entweder es wäre genauso verlaufen

236
A.3 Kriteriengeleitete Bewertung

wie bei ihrer Unterstützung – es hätte zähe Kämpfe gegeben in Misrata, im Nafusa-Gebirge
sowie im Osten. Oder sie hätten verloren – das Gaddafi-Regime hätte den Osten erobert
(einschließlich zäher Kämpfe im dortigen Achdar-Gebirge) sowie Misrata und das Nafusa-
Gebirge. Im Vergleich beider Varianten war der Verlauf mit Unterstützen der Rebellen keine
Verschlechterung. So lässt sich sagen: Es ist klar erkennbar, dass Handeln durch Tun im Ver-
gleich zu Handeln durch Unterlassen zu keinem größeren Schaden geführt hat.
Und hat das Unterstützen der Rebellen während der offensiven Phase zu keiner Ver-
schlechterung der Gesamtsituation geführt im Vergleich dazu, dass man die Rebellen nicht
unterstützt hätte? War es besser, die Rebellen weiterhin bei ihrem Vorrücken aktiv zu unter-
stützen, oder wäre es besser gewesen, das zu unterlassen? Hier sind zwei Aspekte zu berück-
sichtigen (es gibt noch einen dritten, die Tuareg, aber den lassen wir in diesem kurzen Über-
blick unberücksichtigt).
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Der erste Aspekt ist die Intensivierung schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben.
Was ist beim Vorrücken der Rebellen und beim Rückzug der Regierungstruppen passiert?
Nichts Überraschendes: Die Regierungstruppen wandten eine ‚Taktik der verbrannten Erde‘
an, Gefangene wurden exekutiert – und die Rebellen haben sich revanchiert, es wurden
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der Kollaboration mit der
Gaddafi-Partei Verdächtigen begangen. Für die fünfte Phase gibt es somit erhebliche Zwei-
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fel daran, dass es durch die Unterstützung der Rebellen keineswegs zu einer Intensivierung
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben gekommen ist. Es ist also nicht klar erkennbar,
dass Handeln durch Tun im Vergleich zum Handeln durch Unterlassen zu keinem größeren
Schaden geführt hat. Da Handeln durch Tun nur dann richtig ist, wenn klar erkennbar ist,
dass es im Vergleich zu Handeln durch Unterlassen zu keinem größeren Schaden führt, ist
es im konkreten Fall unter diesem ersten Aspekt nicht richtig gewesen.
Das Zweite ist die Verlängerung des Begehens schwerer Verbrechen gegen Leib und
Leben. Das kontrafaktische Szenario wäre nicht gewesen, Libyen schlicht einer Teilung zu
überlassen. Es wäre gewesen, die Rebellen zwar nicht beim Vorrücken zu unterstützen, aber
sowohl sie als auch das Gaddafi-Regime, dessen militärisches Potenzial nahezu zusammen-
gebrochen war, unter Druck zu setzen, eine Verhandlungslösung zu verwirklichen. Auch
während einer Verhandlungsphase wäre es nicht zum Ende schwerer Verbrechen gegen Leib
und Leben gekommen. Die Gegenüberstellung sieht daher wie folgt aus:
Durch das Zusammenbrechen des Gaddafi-Regimes gab es keine Zentralregierung mehr,
sondern vielmehr ein fragmentiertes Gegeneinander aller gegen alle bei einer wirtschaftlich
auskömmlichen Situation. Denn Libyen ist durch seine Bodenschätze kein armes Land.
In dieser Situation ergab dies eine über den Oktober 2011 hinausgehende Instabilität, die
jahrelang anhält und in der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen
begangen werden. Im kontrafaktischen Szenario kann man – vor dem Hintergrund, dass
der Sonderbeauftragte al-Chatib im Juli so weit war, beide Konfliktparteien auf einen fünf-
köpfigen Präsidialrat hinzubewegen – rational vertreten, dass eine Verhandlungslösung sich
nicht länger hingezogen hätte als das fragmentierte Gegeneinander aller gegen alle bei einer
wirtschaftlich auskömmlichen Situation. Für die fünfte Phase bestehen also deutliche Zwei-
fel daran, dass es durch die Unterstützung der Rebellen nicht zu einer Verlängerung schwerer
Verbrechen gegen Leib und Leben gekommen ist: Es ist nicht klar erkennbar, dass Handeln
durch Tun im Vergleich zu Handeln durch Unterlassen zu keinem größeren Schaden geführt
hat. Da Handeln durch Tun nur dann richtig ist, wenn klar erkennbar ist, dass es im Vergleich

237
Fallbeispiel Intervention in Libyen

zu Handeln durch Unterlassen zu keiner Verschlechterung führt, ist es in unserem Fall auch
unter diesem zweiten Aspekt nicht richtig gewesen.
Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit wurde daher in der fünften Konfliktphase nicht erfüllt.

Blicken wir auf das siebte Kriterium, das Lindern humanitärer Notlagen. Hier lässt sich
recht problemlos sagen: Ja, es war erfüllt. Es wurde die Bevölkerung sowohl im Osten als
auch im Westen unterstützt: Als man nach der Intervention im Westen Libyens kontrolliert
hat, wurden noch große Vorräte an Medikamenten und Lebensmitteln gefunden.

Und nun das letzte Kriterium, die angestrebte Friedensordnung als Verbesserung im
Vergleich zur Vorkrisensituation.
Vorab sei gesagt, dass die grundsätzliche Ausrichtung der VN wie der führenden Inter-
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venienten diesbezüglich richtig gewesen ist. Denn sowohl die VN, die sich darauf eingestellt
hat, die Libyer nach der Intervention beim Aufbau zu unterstützen, als auch die führenden
Intervenienten, die versucht haben, sie während der Intervention für die Zukunft vorzu-
bereiten, blickten darauf, dass die zukünftige Friedensordnung eine Verbesserung im Ver-
gleich zur Vorkrisensituation sein sollte (also zur Situation, bevor es ab Februar 2011 zu den
schweren Verbrechen gegen Leib und Leben gekommen ist).
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Das entscheidende Problem offenbart sich, wenn man die beiden möglichen Varianten
Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

vergleicht, eine Friedensordnung zu verwirklichen. In dem einen Fall unterstützt man die
Libyer bei einem umfassenden Neuanfang von null. Im anderen Fall hilft man ihnen bei
einer inklusiven Verhandlungslösung. Das bedeutet, dass Rebellen und Gaddafi-Regime sich
einigen müssen.
Hier zeigt sich (wie auch schon beim sechsten Kriterium) die „Außenseite“ des beim
Kriterium der rechten Absicht benannten Defizits. Man denke daran, dass es zwar prinzipiell
zu einem regime change kommen kann – aber nur, wenn er eine bloße Konsequenz eines
allen Gewaltlegitimationskriterien entsprechenden Vorgehens ist. Die Intervenienten durften
die Rebellen also durchaus dabei unterstützen, sich darauf vorzubereiten, einen umfassenden
Neuanfang zu gestalten. Aber sie durften sie keineswegs ausschließlich darauf vorbereiten.
Des Weiteren: Zwischen einer inklusiven Verhandlungslösung und einem umfassenden
Neuanfang von null besteht immer eine Kapazitätslücke. Wer etwas von null aus aufbauen
möchte, benötigt wesentlich mehr Ressourcen und Unterstützungsleistung von außen, als
jemand, der auf einer inklusiven Verhandlungslösung aufbaut. Die VN, die einen solchen
umfassenden Neuanfang hätten unterstützen sollen, waren im Jahr 2011 nicht in der Lage,
ihn auch nur ansatzweise zu gewährleisten. Zum einen hatte man mit Libyen durchaus schon
einige Erfahrungen: 1951 war Libyen unabhängig geworden und war bereits von den VN
auf seine Unabhängigkeit vorbereitet worden. Damals hatte man – obwohl es keine Bürger-
kriegssituation gab – große Mühe und Not. Zum anderen ist bekannt, dass es in einem Land,
in dem es zu schweren Kämpfen gekommen sowie die öffentliche Ordnung zusammenge-
brochen ist und in dem es Rivalitäten zwischen einzelnen Gruppen gibt, sehr starke Trup-
penkontingente benötigt, um die Situation zu befrieden. Die derzeit größten VN-Missionen
zählen jeweils gut 20.000 Soldaten/Soldatinnen. Auch in Bosnien (SFOR) oder im Kosovo
(KFOR) hatte man beispielweise Zehntausende Soldaten/Soldatinnen zur Stabilisierung
stationiert. In diesem Umfang hätte für den Fall eines umfassenden Neuanfangs auch eine
Stabilisierungsmission in Libyen dimensioniert werden müssen. Im Jahr 2011 hätten die VN

238
A.3 Kriteriengeleitete Bewertung

diese aber nicht stellen können, denn die Truppen, die in Libyen hätten eingesetzt werden
können, waren nur ganz bestimmte Truppen: Truppen aus muslimischen Ländern – und viele
muslimische Länder, die traditionell große Truppenkontingente stellen, waren 2011 dazu
wegen der ‚Arabellion‘ nicht einmal ansatzweise in der Lage.
Halten wir also fest, dass das Kriterium der angestrebten Friedensordnung als Verbesse-
rung zur Vorkrisensituation durch die Variante eines umfassenden Neuanfangs nicht erfüllt
ist. Die führenden Intervenienten haben ausschließlich auf diesen Neuanfang gesetzt, aber
die VN waren 2011 objektiv nicht in der Lage, einen solchen Anfang von null angemessen
zu unterstützen. Somit ist das achte Kriterium nicht erfüllt.

Am Ende der kriteriengeleiteten Argumentation können wir unsere Ergebnisse pointiert


zusammenfassen: Die beiden Kriterien der zuständigen Autorität sowie der rechten Absicht
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weisen Defizite auf und die zwei Kriterien der Verhältnismäßigkeit sowie der angestrebten
Friedensordnung als Verbesserung zur Vorkrisensituation sind nicht erfüllt.

Drei vertiefende Literaturempfehlungen zu den


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Erörterungen dieses Kapitels:


Friedens- und Konfliktethik, 9783825259358, 2022

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