Sie sind auf Seite 1von 4

Die neue Kindheit - ihre Chancen und Gefahren!

Charmaine Liebertz

In: Textor, M.R. & Bostelmann, A. (2020). Das KiTa-Handbuch, URL:


https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/soziologie/934

Wie hat sich Kindheit verändert?

"Das gab es bei uns nicht!" Immer wenn Sie in die Versuchung kommen, diesen
Spruch zu äußern, dann bedenken Sie bitte: Jede heranwachsende Generation hat
ihre ganz spezifischen Chancen und Probleme. Die Lebensbedingungen der Kinder
haben sich heute allerdings so grundlegend verändert, dass zwischen
unserer alten und der neuen Kindheit kaum noch Gemeinsamkeiten bestehen.
Da hilft kein wehmütiger Blick in vergangene Zeiten. Vielmehr müssen wir die neue
Kindheitanalysieren und uns mit den aktuellen Zahlen auseinandersetzen (diese
Zahlen beziehen sich auf Kinder aus deutschen Großstädten und Ballungszentren):

• 25% Rechtschreib- und Leseschwäche


• 30% Wahrnehmungsdefizite
• 34% Sprachstörungen
• 35% Rechenschwäche
• 38% psychosomatische Erkrankungen

Hinter diesen erschreckenden Zahlen verbirgt sich das größte Problem der neuen
Kindheit: Die Unausgewogenheit. Wir bieten den Kindern:

• zu viele künstliche Welten; zu wenig reale Erfahrungsräume,


• zu viel Passivität, zu wenig Bewegung und Eigentätigkeit,
• zu viele Seh- und Hörreize, zu wenig andere Sinneseindrücke,
• zu viele Informationen aus zweiter Hand, d.h. aus den Medien, zu wenig
Primärerfahrungen aus der realen Welt,
• zu viel Konsum, zu wenig Kreativität.

In diese Falle der unausgewogenen Entwicklungskost geraten heute immer mehr


Kinder. Sie leiden an Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen,
klagen über Kopfschmerzen, Nervosität und Schlaflosigkeit. "Sie zahlen für die
fortgeschrittene Industrialisierung und Urbanisierung einen hohen Preis, der sich in
körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen ausdrückt", meint der Pädagoge
Klaus Hurrelmann (1990, S. 58).

In der neuen Kindheit spiegeln sich die Vor- und Nachteile unserer
Informationsgesellschaft wider. Unsere Kinder werden sich keine handgeschriebenen
Briefe mehr schicken, sie werden die Kurzsprache des Emails und Internets perfekt
beherrschen. Sie werden über weite Distanzen in kurzer Zeit mit dem globalen
Weltdorf multimedial vernetzt sein und mit Informationen aus den Medien überrollt
werden. Heute schon beträgt der durchschnittliche Fernsehkonsum von 4- bis 14-
Jährigen vier Stunden täglich! Und wer viel fernsieht, hat wenig Zeit für Gespräche.
In immer weniger Familien gibt es Gespräche, in denen Einschätzungen und
Meinungen über das reale Leben ausgetauscht werden. Eine neue Studie des
Familienministeriums meldet Erschreckendes: 3 Stunden und 35 Minuten sind Eltern
täglich mit ihren Kindern zusammen, davon eine Stunde vor dem Fernseher. Für
Gespräche bleiben täglich ganze 19 Minuten! Wen wundert's da noch, dass der
Anteil sprachgestörter Kinder im Alter von drei bis vier Jahren seit 1982 von 4% auf
heute 34% gestiegen ist?

Bei allem Fortschrittsglauben sollten wir daher nicht vergessen: Die Kinder dieser
Mediengeneration werden zwar mehr kommunizieren, aber sich immer weniger
begegnen! Sie werden im Computer- und Gameboyspiel unschlagbar sein, vereinzelt
in ihren Zimmern eine hochtechnisierte Scheinkommunikation führen - aber ihre
sozialen Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Mitverantwortung drohen dabei auf
der Strecke zu bleiben. Kommunikation und Begegnung, Information und Erfahrung,
Wissen und Fertigkeiten sind eben nicht das Gleiche!

Was brauchen unsere Kinder heute?

Immer mehr Kinder geraten unter den Anforderungen der Informationsgesellschaft


und den neuen Bedingungen ihrer Kindheit aus dem Gleichgewicht. Kindergarten
und Schule drohen zu Reparaturbetrieben zu werden. Viele Problemkinder werden in
den Therapiebereich abgedrängt. Und nun haben wir in Deutschland ein Heer von
Therapeuten, die mit den Defiziten der kindlichen Entwicklung vollauf beschäftigt
sind. Wäre es nicht effektiver, die Alarmglocken noch vor den Therapeuten läuten zu
hören?

Es ist höchste Zeit, dass Eltern und Pädagogen die Frage nach der Qualität des
Lernens in den Mittelpunkt ihres Interesses rücken! Zeitgemäßes, qualitativ
hochwertiges Lernen erreichen wir nur, wenn wir die Kinder fit machen für die neuen
Herausforderungen der Zeit. Aber welche Kenntnisse und Fähigkeiten benötigen sie
denn heute?

Unsere Gesellschaft wechselte am Ende des Jahrhunderts ihre ökonomischen und


technologischen Grundlagen. Der rasche Wechsel von der nationalen
Industriegesellschaft in die internationale Informationsgesellschaft, die anhaltende
Arbeitslosigkeit, die ständige Sorge um ausreichendes Wirtschaftswachstum, die
internationale Konkurrenz und die rasant wechselnden Berufsanforderungen
verunsichern die Menschen. Ihr Wohlstand wird nicht mehr davon abhängen, was sie
gelernt haben, sondern wie schnell und flexibel sie hinzu- und umlernen können. Der
soziale Erfolg wird nicht mehr nur davon abhängen, wie gut das staatliche
Sozialwesen funktioniert, sondern wie eigen- und mitverantwortlich jeder handelt und
denkt. Die neuen Schlüsselworte wie globaler Arbeitsmarkt und multikulturelle
Gesellschaft verdeutlichen, welch ein gehöriges Maß an Mobilität, Flexibilität,
Kreativität und Selbstständigkeit unsere Kinder in Zukunft benötigen.

In der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts werden nur selbstbestimmte, vielseitige und
flexible Menschen sich dauerhaft behaupten. Erst die maximale Ausschöpfung ihrer
Kreativitäts- und Denkreserven wird sie konkurrenzfähig machen. Intelligenz wird die
Währung der Zukunft und das trainierte Hirn zum Maßstab der Dinge werden. Schon
jetzt geben deutsche Firmen etwa 30 Milliarden Mark jährlich aus, um mehr aus den
Köpfen ihrer Mitarbeiter herauszuholen! Fähigkeiten wie Teamgeist, Eigen- und
Mitverantwortung sind heute gefragter denn je, Alleingänge und Ellbogenmentalität
dagegen unerwünscht. Denn Firmen, in denen Platzhirsche regieren, Mitarbeiter sich
auf Kosten anderer profilieren, Mobbing und Machtkämpfe an der Tagesordnung
sind, werden auf dem Markt nicht bestehen.

Und wir sollten eines nicht vergessen: Je stärker wir uns auf die Entfaltung der
eigenen Persönlichkeit und Leistung beschränken, um so egozentrischer und
einsamer werden wir. Ein Bildungssystem, das den Erfolg des Einzelnen über den
Mißerfolg der Anderen erstrahlen lässt, fördert nur die weitverbreitete Kultur des
Narzissmus.

Nur wenn wir Kinder aktiv in Entscheidungsprozesse einbeziehen, fördern wir ihre
soziale Kompetenz. Sie sollten Einsichten in Kommunikationsstrukturen gewinnen,
um Konflikte adäquat lösen zu können. Denn sie werden kaum noch feststehende
Normen finden, die ihnen angemessenes Verhalten in allen Lebenslagen vorgeben.
In unserer schnelllebigen Konsumwelt, in der es alles, nur keine fertigen Pakete
für richtiges Leben zu kaufen gibt, müssen Kinder lernen, ihre Ziele und Regeln
ständig neu auszuhandeln. Und sie müssen selbstbewusst genug sein, um dem
Einfluss des Zeitgeistes, der Medienflut, politischer und religiöser Manipulierung
einen eigenen kritischen Standpunkt entgegenzusetzen. Das heißt, sie müssen mehr
denn je Selbsteinschätzung und -verantwortung entwickeln, um den großen
Freiheitsgrad unserer Gesellschaft unbeschadet nutzen zu können.

Kurzum, wir brauchen heute Menschen, die trotz allem persönlichen Ehrgeiz und
beruflichem Erfolgsdenken tolerant, solidarisch und kritisch sind - Menschen, die Mut
zur Kreativität und zum Querdenken haben und die Lernen als lebenslangen Prozess
verstehen.

"Es geht um eine Persönlichkeitsbildung, die es möglich macht, unsere


Informationsgesellschaft engagiert mitzugestalten, und die uns wetterfest genug
macht, auch nach persönlichen Rückschlägen nicht zu resignieren, sondern nach
neuen Chancen zu suchen. Unter dieser Lebenskompetenz verstehe ich folgende
Eigenschaften: Selbstständigkeit und Bildungsfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft
und Verlässlichkeit, Kreativität, Wahrnehmungsfähigkeit und Urteilskraft, Toleranz,
Kultur- und Weltoffenheit. Aber auch ein In-sich-selbst-ruhen" (Herzog 1998).
Es ist ein ganzheitliches Menschenbild, das der Ex-Bundespräsident Roman Herzog
fordert. Es stellt hohe Anforderungen an Eltern, Erzieher und Lehrer. Höchste Zeit
also für den Abschied vom alten Pauksystem und für pädagogische Innovationen! Es
gilt nun, die Teamarbeit zu fördern und Lernmethoden einzusetzen,
die alle Fähigkeiten des Kindes erschließen. "Bildung kann nicht länger eine große
Sonderveranstaltung sein, die gewissermaßen vom Leben abgekoppelt ist" (Herzog
1998).

Denn Lernen ist heute mehr als nur der Erwerb von Wissen und Kulturtechniken. Die
Tatsache, dass Kinder sich eines Tages alle Informationen aus dem Internet in ihr
Gehirn herunterladen können, kann hilfreich und schädlich zugleich sein. Denn
unsere Gesellschaft verdoppelt ihre Wissensmenge alle fünf Jahre! Also ist die
Quantität von Informationen zweitrangig geworden. Die Qualität, mit ihnen
umzugehen und sie effektiv einzusetzen, ist heute für Kinder entscheidend!
"Die neuen Medien akkumulieren und servieren Millionen von
Informationsschnipseln. Wer Probleme lösen will, muss Ordnungen im
Informationsbrei schaffen. Und es muss die Kunst des Weglassens und des
Abschaltens gelernt werden. Kinder müssen lernen: Wie wähle ich Informationen
aus, wie organisiere und beurteile ich sie, wie komme ich zu Entscheidungen und
Lösungen?" (Herzog 1998).

Die Informationsgesellschaft hat eine neue Kindheit hervorgebracht, die wie nie zuvor
nach ganzheitlicher Erziehung lechzst. Kinder brauchen heute Lebensräume, in
denen das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Bewegen eine Einheit bilden. Es geht
um das Erziehen und Lernen mit allen Sinnen - mit Kopf, Herz und Hand! Wenn wir
alle bereit sind, den verlorenen Zusammenhang von Greifen und Begreifen, von
Wirken und Wirklichkeit wiederzuentdecken, dann werden wir die neue Kindheit als
Chance für eine Neubesinnung unserer Erziehung verstehen: Erziehungmuss heute
den Menschen in seiner Ganzheit verstehen, mit all seinen Anlagen und
Bedürfnissen, seinen Interessen und Gefühlen.

Literatur

Herzog, Roman: Erziehung im Informationszeitalter. Rede des Ex-Bundespräsidenten zur


Eröffnung des Paderborner Podiums im Heinz Nixdorf Museums-Forum am 9. Juni 1998.

Hurrelmann, Klaus: Familienstress, Schulstress, Freizeitstress. Gesundheitsförderung für


Kinder und Jugendliche. Weinheim 1990.

Autorin

Dr. Charmaine Liebertz


Gesellschaft für ganzheitliches Lernen e.V. Kön

Das könnte Ihnen auch gefallen