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de/fachartikel/bildung-erziehung-betreuung/127
Aus: Unsere Jugend 1999, 51 (12), S. 527-533; mit freundlicher Genehmigung des
Ernst Reinhardt Verlages, München/Basel
Wenn wir gefragt werden, was die Aufgaben des Kindergartens sind, so lautet die
Antwort meist: "Bildung, Erziehung und Betreuung" von Kindern (vgl. § 22
Abs. 3 SGB VIII). Sollen wir dann aber diese Begriffe erklären, tun wir uns schwer.
Tröstlich ist, dass auch die Wissenschaft keine exakte bzw. eindeutige Antwort parat
hat: Es gibt inzwischen Hunderte von Erziehungs- bzw. Bildungsbegriffen und -
theorien; den Begriff "Betreuung" suchen wir hingegen zumeist vergebens in
pädagogischen Wörterbüchern oder anderen wissenschaftlichen Publikationen. In den
letzten Jahrzehnten wurde oft sogar auf die Begriffe "Bildung" und "Erziehung"
verzichtet und stattdessen z.B. von "Sozialisation", "Enkulturation",
"Rollenübernahme" oder "Lernen" gesprochen.
Die ganze Bildungs- und Erziehungsdiskussion bezieht sich fast ausschließlich auf
Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene - mit der Bildung, Erziehung und
Betreuung von Kleinkindern beschäftigt sich kaum ein Pädagogikprofessor oder
Erziehungswissenschaftler. Ausnahmen wie Gerd Schäfer (1995) bestätigen die
Regel: "Bildungsprozesse werden immer noch für umso wichtiger eingeschätzt, je
höher die dabei 'vermittelten' Bildungsgüter auf unserer kulturellen Werteskala
stehen, je edler die moralischen Empfindungen erscheinen, die sie leiten, und je
vernünftiger sich die Personen geben, die gebildet werden. Die frühkindliche Bildung
findet demzufolge kaum ein politisches Interesse, keine wirksame Lobby und fehlt
deshalb weitgehend auch in den sozial- und humanwissenschaftlichen
Forschungsplänen" (S. 17).
Vor diesem Hintergrund dürfte verständlich sein, dass in diesem Artikel nur einige
Aspekte der Begriffe "Bildung", "Erziehung" und "Betreuung" herausgearbeitet
werden. Auf diese Weise soll der Einseitigkeit mancher Diskussionen
entgegengewirkt und die Komplexität dieser Begriffe verdeutlicht werden.
Bildung
Der Bildungsbegriff ist der deutschen Sprache eigentümlich - nur wenige weitere
Sprachen kennen noch die Unterscheidung von Bildung und Erziehung. So wird
beispielsweise im Lateinischen zwischen "educatio" (Aufzucht: Disziplinierung,
Zivilisierung) und "eruditio" (Entrohung: Kultivierung der Seele und des Geistes)
differenziert. Im Verlauf seiner Geschichte hat der Bildungsbegriff eine kaum noch
überschaubare Vielzahl von Bedeutungen erfahren; immer wieder wurden andere
Aspekte betont.
Der deutsche Bildungsbegriff entstand in der Mystik des 14. Jahrhunderts und wurde
von Gott her verstanden: als Aktualisierung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen,
als Wiedergebildetwerden in Gott, als Wiedervereinigung mit Gott aus Gottes Gnade.
Beispielsweise meinte Meister Eckhart (1260-1327) mit "Bilden" das "Einbilden"
des Bildes Gottes in die menschliche Seele. Heutige christliche Bildungsbegriffe
stehen noch ganz in dieser Tradition: "Der Mensch sei als Ebenbild Gottes
geschaffen, der Bildung falle die Aufgabe zu, dem Imago Dei zu seiner
Verwirklichung zu helfen ...; so wird Bildung zum religiösen Endzweck des
Menschen" (Xochellis 1973, S. 16).
Für Friedrich Fröbel (1782-1852) war der Mensch ein "göttliches Gewächs und der
Erzieher der Gärtner, der ihm Licht und Nahrung verschafft, das Wesentliche aber
seinen Lebenskräften überläßt" (Reble 1971, S. 223). Bildung erfolgt also weitgehend
durch Selbsttätigkeit, in der sich die inneren Kräfte des Menschen äußern und die
Welt gestalten, durch die aber zugleich von außen Kommendes verarbeitet und in
Inneres verwandelt wird. Dies geschieht auch im Spiel, das den Kindergartenalltag
prägen soll. "Weil hier aber die Welt eben in der Form des Spieles erfahren und das
Innere des Kindes in der Form des Spieles dargestellt wird, darum hat hier das Spiel
seinen tiefen Lebenssinn und seinen überragenden Erziehungswert" (Reble 1971, S.
227). Die Fröbelschen Spielgaben Ball, Kugel, Würfel, Walze, Bauklötzchen,
Legetäfelchen usw. sind Formen, an denen sich die Gestaltungskräfte des Kindes
entfalten können, durch die es aber zugleich Grundgesetzlichkeiten der Welt erfährt.
Auch nach Karl Marx (1808-1883) wird der Mensch erst durch Arbeit zum
Menschen; nur durch sie gestaltet er sich selbst und die Gesellschaft. Für ihn stand die
"polytechnische Bildung" im Vordergrund. Er forderte, dass Kinder und Jugendliche
in die wissenschaftlichen Grundlagen des Produktionsprozesses eingeführt, eine
allgemeine technische und ökonomische Grundbildung erhalten sowie die Produktion
kennen lernen sollten.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte die Bedeutung von Natur-,
Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften für den Einzelnen und die Gesellschaft
von der Pädagogik nicht länger ignoriert werden. So betonte beispielsweise Theodor
Litt (1880-1962), dass auch Naturwissenschaften, die Technik und die Arbeitswelt
bildende Mächte sind. Und für Georg Kerschensteiner (1854-1932) galt die
"Berufsbildung als Pforte zur Menschenbildung".
Ähnlich wie Fröbel betonte Maria Montessori (1870-1952) die Selbsttätigkeit und
Selbstbildung des Kleinkindes. Sie war überzeugt, dass das Kind einen "Bauplan der
Seele" in sich hat und sich diesem entsprechend entfalten soll. Dazu braucht es den
selbstbestimmten Umgang mit Dingen, durch die es seine Sinne schult und
Ordnungen (Längen, Gewichte, Klangstufen, Kategorien usw.) erkennt. Die
Erzieherin stellt solche Gegenstände - das Montessori-Material - zur Verfügung,
wobei sie sich an der in den "sensiblen Phasen" jeweils vorherrschenden Art von
Aufnahmebereitschaft orientiert. Sie ermöglicht die Selbstbildung des Kindes, indem
sie eine "vorbereitete Umgebung" schafft, das Kind beobachtet und begleitet.
Schon im Kindergarten ist Bildung etwas von außen und von innen kommendes, wie
folgendes Zitat von Gerd Schäfer (1995) verdeutlicht: "Vom Standpunkt der
Komplexität zeigt sich kindliche Bildung als ein vielperspektivisches Zusammenspiel
von Ereignissen der individuellen, inneren Welt sowie Prozessen der sozial geprägten
und objektivierbar gemachten äußeren Welt. Aus diesem Zusammenwirken innerer
und äußerer Prozesse gehen Handlungen, Denkweisen, Erfahrung oder Entwicklungen
hervor, die sowohl ihre innerpsychischen Anteile wie auch ihre außerpsychische
Herkunft nicht verleugnen" (S. 10).
Erziehung
Obwohl man auch vereinzelt von "Selbsterziehung" spricht, ist in der Regel mit
"Erziehung" das Handeln erwachsener Menschen an der jungen Generation gemeint.
Als "intentionale" Erziehung erfolgt sie absichtlich und direkt, anhand von
"Erziehungszielen" oder -leitbildern und mit Hilfe von "Erziehungsmitteln".
Beispielsweise schrieb Wolfgang Brezinka (1971): "Unter Erziehung werden soziale
Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen
Dispositionen anderer Menschen mit psychischen und (oder) sozial-kulturellen
Mitteln in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll
beurteilten Komponenten zu erhalten" (S. 613).
Erziehung richtet sich also auf die Persönlichkeit - als positiv beurteilte
Persönlichkeitseigenschaften sollen hervorgerufen, gefördert und stabilisiert werden,
während negativ bewertete Charakteristika beseitigt oder geschwächt werden sollen.
Das Gute soll unterstützt, schlechten Gewohnheiten und Einflüssen entgegengewirkt
werden. Laut Brezinka (1989) sind vor allem folgende Eigenschaften zu fördern:
Es ist offensichtlich, dass sich derartige Ziele nur dann erreichen lassen, wenn
Erzieherinnen einen entsprechenden Erziehungsstil praktizieren. Sie müssen sich
beispielsweise vor Überbehütung und Vernachlässigung, Verwöhnung und
Entbehrung, autoritärer und antiautoritärer Erziehung hüten. Zu den
Erziehungsmitteln, die Erzieherinnen einsetzen können, zählen z.B. Lob und Tadel,
Ge- und Verbote, Übung und Gewöhnung, Lohn und Strafe, rationale Argumentation
und Appelle an Einsicht und Vernunft. Otto Friedrich Bollnow betonte daneben die
"unstetigen Formen der Erziehung" wie Erweckung, Ermahnung, Besinnung,
Begegnung und Beratung, die beim Kind das Gefühl des personalen Betroffenseins
auslösen. Dadurch kann die Lebensführung des Kindes entscheidend beeinflusst
werden.
Von besonderer Bedeutung ist das "erzieherische Verhältnis" zwischen Erzieherin und
Kind. Herman Nohl (1879-1960) sprach hier vom "pädagogischen Bezug" und
bezeichnete damit eine Lebensgemeinschaft. Prägende Kräfte sind ihr Geist und ihre
Atmosphäre. Der pädagogische Bezug ist laut Nohl durch starke positive Emotionen
wie "Liebe", Zuneigung und Vertrauen bestimmt, aber auch durch Autorität und
Gehorsam. Die Person des Erziehers spielt laut Nohl eine besondere Rolle: Auch
seine Persönlichkeit, sein Charakter und sein Verhalten sollen erzieherisch wirken,
also vorbildlich sein und zur Nachahmung anregen (Modelllernen). Er muss dem
Kind Rechte und Freiräume zugestehen; er soll dieses nicht "prägen", sondern seine
Entwicklung "fördern". Deshalb benötigt der Erzieher "pädagogischen Takt" - aus der
Achtung des Eigenlebens, der Würde und der Spontaneität des Kindes heraus.
Deutlich wird, dass Erzieher immer mit dem Dilemma "Führen oder Wachsenlassen"
(Theodor Litt) konfrontiert sind.
Dies bedeutet auch, dass die Erzieherin die Gegenwart des Kindes achten muss,
obwohl alles pädagogische Tun die Zukunft im Auge hat. Schon Friedrich
Schleiermacher (1768-1834) nannte als allgemeine Maxime: "Das Kindsein muß das
Menschwerden nicht hindern, und das Menschwerden nicht das Kindsein" (zit. nach
Reble 1971, S. 208). Deshalb ist in der Kleinkinderziehung das Spiel von so großer
Bedeutung - es ist Gegenwart, es ist kindgemäß.
In den letzten Absätzen wurde schon angedeutet, dass Erziehung nicht nur intentional
(absichtlich, direkt) erfolgt, sondern auch "funktional", "indirekt" bzw. "mittelbar":
Die Lebensgemeinschaft, das soziale Milieu, die Gestaltung der Umwelt (z.B. Innen-
und Außenräume des Kindergartens), die Auswahl von Medien und Materialien, der
"erzieherische Raum", das bloße Sein der Erzieherin prägen die kindliche
Entwicklung. Die funktionale Erziehung ist eher die Regel; nur gelegentlich ist im
alltäglichen Umgang miteinander intentionale Erziehung nötig.
Betreuung
Wie bereits erwähnt, findet sich der Betreuungsbegriff nur selten in pädagogischen
Büchern und Lexika. Betreuung bedeutet, dass sich eine Person um eine andere
kümmert, die mit ihr in der Regel nicht verwandt ist. Sie sorgt sich um sie, hilft ihr
und zeigt Zuneigung. Die Erzieherin kümmert sich um die ihr anvertrauten Kinder
während der zumeist berufsbedingten Abwesenheit der Eltern. Der Betreuungsbegriff
umfasst m.E. drei ältere Begriffe, die heute nur noch selten gebraucht werden:
1. Pflege: Pflegen heißt, Kinder gut, sorgsam und schonend zu behandeln, ihr
körperliches Wohlbefinden sicher- oder wiederherzustellen. Die Erzieherin
achtet auf eine angemessene, saubere Bekleidung, eine ausreichende und
gesunde Ernährung, genügend Ruhephasen (Schlafzeiten), das Einhalten von
Hygieneregeln usw.
2. Schutz: Beschützen heißt, jemanden zu beschirmen, ihm Obhut zu geben, ihn
von Schädigungen körperlicher und seelischer Art zu bewahren, Gefahren
abzuwehren. So stellt die Erzieherin durch ihre Betreuung die körperliche
Unversehrtheit der Kinder sicher (Aufsichtspflicht).
3. Fürsorge: Damit ist die Verpflichtung gemeint, für das Wohl der Kinder Sorge
zu tragen und deren Interessen zu schützen, ihnen Zuwendung und Nestwärme
zu geben. Durch Fürsorge werden die materiellen und emotionellen
Voraussetzungen für ein gesundes Gedeihen in körperlicher und seelischer
Hinsicht geschaffen.
Kinder müssen sich im Kindergarten geborgen fühlen und sichere Bindungen an die
Erzieherinnen ausbilden können. Zu deren Aufgaben gehört die Befriedigung von
Grundbedürfnissen der Kinder, sofern diese während der Betreuungszeit auftreten:
von physiologischen Bedürfnissen wie Hunger, Durst und Schlaf, von
Sicherheitsbedürfnissen (nach Schutz, stabilen Beziehungen und Ordnung), von
Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und Liebe, von Bedürfnissen nach Wertschätzung
und solchen nach Selbstaktualisierung (vgl. Maslow 1970). Insbesondere die
Befriedigung der erstgenannten, grundlegenden Bedürfnisse ermöglichen erst eine
Erziehung und Bildung des Kindes.
Schlusswort
Durch Bildung, Erziehung und Betreuung - die in der Praxis untrennbar miteinander
verbunden sind - leistet der Kindergarten einen wichtigen Beitrag zur Enkulturation,
Sozialisation und Personalisation des Kindes. Er schafft - nach der Familie - die
Grundlagen für eine selbstbestimmte, eigenverantwortete Lebensführung und die
Ausbildung einer eigengeprägten Persönlichkeit. Zugleich bereitet der Kindergarten
auf das Leben in der Gesellschaft vor und befähigt zur Mitgestaltung des
Gemeinwesens und der Kultur.
Literatur
Brezinka, W.: Über Erziehungsbegriffe. Eine kritische Analye und ein
Explikationsvorschlag. Zeitschrift für Pädagogik 1971, 17, S. 567-615
Brezinka, W.: Erziehung in der Familie. Gute Beispiele und Wertüberzeugung sind
gefragt. Die politische Meinung 1989, 34, S. 47-51
Maslow, A.H.: Motivation and personality. New York: Harper & Row, 2. Aufl. 1970
Wehnes, F.-J.: Theorien der Bildung - Bildung als historisches und aktuelles Problem.
In: Roth, L. (Hg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. München:
Ehrenwirth 1991, S. 256-270
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