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Jo ha n n W o lfg a n g G o e t he

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Frühe Lyrik (-1776)

Prometheus Kehrt ich mein verirrtes Auge Ich sollte das Leben hassen,
[1773/74] Zur Sonne, als wenn drüber wär In Wüsten fliehen,
Bedecke deinen Himmel, Zeus, 25 Ein Ohr, zu hören meine Klage, Weil nicht alle Blütenträume reiften?
Mit Wolkendunst Ein Herz wie meins,
50 Hier sitz ich, forme Menschen
Und übe, dem Knaben gleich, Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Nach meinem Bilde,
Der Disteln köpft, Wer half mir Ein Geschlecht, das mir gleich sei:
5 An Eichen dich und Bergeshöhn: Wider der Titanen Übermut? Zu leiden, zu weinen,
Mußt mir meine Erde 30 Wer rettete vom Tode mich, Zu genießen und zu freuen sich,
Doch lassen stehn Von Sklaverei? 55 Und dein nicht zu achten,
Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Hast du nicht alles selbst vollendet, Wie ich!
Und meinen Herd, Heilig glühend Herz?
10 Um dessen Glut Und glühtest, jung und gut,
Du mich beneidest. 35 Betrogen, Rettungsdank
Ich kenne nichts Ärmeres Dem Schlafenden da droben?
Unter der Sonn als euch, Götter! Ich dich ehren? Wofür?
Ihr nähret kümmerlich Hast du die Schmerzen gelindert
15 Von Opfersteuern Je des Beladenen?
Und Gebetshauch 40 Hast du die Tränen gestillet
Eure Majestät Je des Geängsteten?
Und darbtet, wären Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Nicht Kinder und Bettler Die allmächtige Zeit
20 Hoffnungsvolle Toren. Und das ewige Schicksal,
Da ich ein Kind war, 45 Meine Herrn und deine?
Nicht wußte, wo aus noch ein, Wähntest du etwa,

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Goethe · Frühe Lyrik

Mailied (Maifest) Gesang und Luft, Heidenröslein


[1771] Und Morgenblumen [1771]

Wie herrlich leuchtet Den Himmelsduft, Sah ein Knab ein Röslein stehn,
Mir die Natur! Wie ich dich liebe Röslein auf der Heiden,
Wie glänzt die Sonne! 30 Mit warmem Blut, War so jung und morgenschön,
Wie lacht die Flur! Die du mir Jugend Lief er schnell, es nah zu sehn,
5 Es dringen Blüten Und Freud und Mut 5 Sahs mit vielen Freuden.
Aus jedem Zweig Röslein, Röslein, Röslein rot,
Zu neuen Liedern
Und tausend Stimmen Röslein auf der Heiden.
Und Tanzen gibst.
Aus dem Gesträuch, 35 Sei ewig glücklich, Knabe sprach: Ich breche dich,
Und Freud und Wonne Wie du mich liebst! Röslein auf der Heiden!
10 Aus jeder Brust. 10 Röslein sprach: Ich steche dich,
O Erd, o Sonne! Daß du ewig denkst an mich,
O Glück, o Lust! Und ich wills nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
O Lieb, o Liebe! Röslein auf der Heiden.
So golden schön
15 Wie Morgenwolken 15 Und der wilde Knabe brach
Auf jenen Höhn! - s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Du segnest herrlich Half ihm doch kein Weh und Ach,
Das frische Feld, Mußt es eben leiden.
Im Blütendampfe 20 Röslein, Röslein, Röslein rot,
20 Die volle Welt. Röslein auf der Heiden.
O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb ich dich!
Wie blinkt dein Auge!
Wie liebst du mich!

25 So liebt die Lerche

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Goethe · Frühe Lyrik

Seefahrt Und er scheint sich ihnen hinzugeben,


[1776] Strebet leise sie zu überlisten,
Lange Tag’ und Nächte stand mein Schiff Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Wege.
befrachtet; Aber aus der dumpfen, grauen Ferne
Günstger Winde harrend, saß mit treuen 30 Kündet leisewandelnd sich der Sturm an,
Freunden, Drückt die Vögel nieder aufs Gewässer,
5 Mir Geduld und guten Mut erzechend, Drückt der Menschen schwellend Herz darnieder,
Ich im Hafen. Und er kommt! Vor seinem starren Wüten
Und sie waren doppelt ungeduldig: Streckt der Schiffer klug die Segel nieder;
Gerne gönnen wir die schnellste Reise, 35 Mit dem angsterfüllten Balle spielen
Gern die hohe Fahrt dir. Güterfülle Wind und Wellen.
10 Wartet drüben in den Welten deiner, Und an jenem Ufer drüben stehen
Wird Rückkehrendem in unsern Armen Freund und Lieben, beben auf dem Festen:
Lieb und Preis dir. Ach, warum ist er nicht hier geblieben!
Und am frühen Morgen wards Getümmel, 40 Ach, der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke!
Und dem Schlaf entjauchzt uns der Matrose, Soll der Gute so zugrunde gehen?
15 Alles wimmelt, alles lebet, webet, Ach, er sollte! ach, er könnte! Götter!
Mit dem ersten Segenshauch zu schiffen. Doch er stehet männlich an dem Steuer:
Und die Segel blühen in dem Hauche, Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen,
Und die Sonne lockt mit Feuerliebe; 45 Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen!
Ziehn die Segel, ziehn die hohen Wolken, Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe
20 Jauchzen an dem Ufer alle Freunde Und vertrauet, scheiternd oder landend,
Hoffnungslieder nach, im Freudetaumel Seinen Göttern.
Reisefreuden wähnend wie des Einschiffsmorgens,
Wie der ersten hohen Sternennächte.

Aber gottgesandte Wechselwinde treiben


25 Seitwärts ihn der vorgesteckten Fahrt ab,

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