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270 Umstrittene Kirche

Kein Christentum ohne Kirche

Hat Jesus die Kirche gewollt?


Es ist nicht selbstverständlich, dass es die Kirche gibt. Ob Jesus überhaupt die Kirche gewolit hat
ad ob die Gruppe der Nachfolger Jesu Vorläufer der heutigen Kirche genannt werden darf, ist
umstritten. Bischof Wolfgang Huber, von 2003 bis 2010 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kin
che in Deutschland, setzt beim berühmten Satz des franzősischen Bibelwissenschaftlers Alfred F
Loisy (1857–1940) an: „Jesus predigte das Reich Gottes – then gekommen ist die Kirche." Karl Kardi-
katholischen Bischofskonfere
nal Lehmann, von 1987 bis 2008 Vorsitzender der deutso
widerspricht diesem Gegensatz.

Die Jesusbewegung und die Kirche


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Wolfgang Huber (* 1942)
„Jesus predigte das Reich Gottes – gekommen ist „Wer ist das, meine
die Kirche." Mit diesem berühmt gewordenenMutter und meind
Satz beschrieb der Franzose Loisy zu Beginn un- Brüder? Und er ließ
seres Jahrhunderts den Übergang von der Ver- seinen Blick unt
5 kündigung Jesu zur nachösterlichen Gemeinde.den Umsitzenden in
Er tat dies in durchaus wohlwollender Absicht.die Runde gehen und
Verstanden wurde Loisys Satz später allerdings sagte: Diese hier sind 35

oft als ein abfälliges Urteil über die Kirche: Wasmeine Mutter und meine Brüder! Wer den Willen
Jesu radikaler Reich-Gottes-Predigt blieb,Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und
10 war die Kirche als eine Institution, die sich auf Mutter (Markus 3,33f).
Dauer in dieser Welt einzurichten verstand. Eine Von dem „Wanderradikalismus“ der Jesusbe-
solche Einrichtung jedoch, die sich den Bedin- wegung zur „Kirche" ist es nicht einfach ein glei- U

gungen des Alltags fügte, war das Gegenteil der tender Übergang, sondern ein großer historische
außeralltäglichen Existenz, zu der Jesus seine Schritt. Von den neutestamentlichen Autoren hat
15 Jünger einlud. zweifellos Lukas das deutlichste Bewusstsein von
Dies ist allerdings an einer solchen kritischender geschichtlichen Zäsur, die mit dem Übergang
Aufnahme von Loisys Satz ohne Zweifel richtig: von der Jesusbewegung zur Kirche gegeben ist.
Als Jesus von Nazareth seine Jünger in die Nach- Jesus ist in der Kirche nicht leibhaftig anwesend,
folge berief, gründete er nicht die Kirche., Er for-sondern die Kirche lebt in der Gegenwart des
20 derte eine kleine Schar auf, alle GeborgenheitGeistes. Die Himmelfahrt einerseits, die Geist
hinter sich zu lassen und mit ihm umherzuzie- ausgießung an Phingsten andererseits markieren
hen: ohne Familie, ohne Besitz, ohne gesicherteden Einschnitt (vgl. Apostelgeschichte 1,4ff; U

Unterkunft. Resonanz und Unterstützung fanden2,1 f.). Auf die Zeit Jesu folgt die Zeit der Kirche.
Jesus und seine Jünger im Kreis der „Sympathi-Doch beide Zeiten sind miteinander verbu
25 santen“", die der Verkündigung Jesu GlaubenDenn die Kirche lebt in der Kraft des Geistes Jesu
schenkten, ohne ihre gewohnten Bindungen auf-die Gliedschaft in der Kirche wird ergriffen i
zugeben. Doch auch sie traten in einen neuen Le- Glauben an die durch Jesus, seinen Tod und seine55
benszusammenhang, wie Jesu Wort von den Auferstehung bewirkte Vergebung und in der
„wahren Verwandten“ unterstreicht: Taufe auf seinen Namen. [..)
Kein Christentum ohne Kirche 271

Die Kirche lebt aus der Kraft der Versöhnungs-


tat Gottes in Christus; sie lebt in der Kraft des Kirche voraus, Jesu Predigt und helfendes Han-
60 Geistes; und sie lebt in der Erwartung des wieder- der Kirche Tod
deln, sein und seine Auferweckung liegen
kommenden Herrn, in der Hoff ung auf die Volla ran. Und alsdie das sie begründende Geschehen
Geschichte des Christus folgt der
endung des Reiches Gottes. Diesem ihrem heils
75

Kirche nach. Denn auch die Kirche wird in die


geschichtlichen Ort gibt die Christenheit dadura
Ausdruck, dass sie von der Kirche im dritten Ar Herrschaft Christi aufgenommen werden und in
die vollendete Herrschaft Gottes eingehen (vgl.
kel ihresdesGlGlaubens
65 tiSprache aubensbekenntni ssesderredet:
ist der Ort In der1. Korinther 15,27E). Die Geschichte des Chris
Kirche zwi- tus ist schließlich aber in der Kirche gegenwärtig. 80

schen dem Bekenntnis zum Heiligen Geist undDer Geist bürgt für diese Gegenwart; deshalb
dem Harren auf die Wiederkunft Christi. Damitkann darum gebetet werden, dass er im Wort und
ist gesagt: Die Kirche hat teil an der Geschichtein den Zeichen von Taufe und Abendmahl wirk-
2o des Christus, der der Messias Israels und der Hei- sam ist. (1979)
land der Völker ist. Diese Geschichte geht der

Kirche ist Teil des Reiches Gottes


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Karl Kardinal Lehmann (* 1936)

Nicht die Kirche, sondern das Reich Gottes ist das Gottes sei - so s
letzte Ziel der Heilsgeschichte und die volkomme- sie - dann die „Kir-
ne Gestalt des Heils für Himmel und Erde. che“getreten. (...)
Manche setzen freilich zwischen der Gottes- Die Kirche ist dem-
5 reichpredigt Jesu und der Kirche einen totalen nach das Überbleib-
Unterschied, als ob beide Größen überhauptsel einer enttäuschten
nichts miteinander zu tun hätten. Die Wirklich- Hoff ung die d

keit des Reiches Gottes beziehe sich letztlich nur verunglückte Gestalt dessen, was Jesus eigentlich
auf eine endzeitliche Erfüllung. Jesu Verkündi- wollte. Wie kommt es denn überhaupt zu so et- 20
vie Kirche? TeSuIS Wollte Tsrael cammeln und
10 gung, dass die Herrschaft Gottes in der gegenwär-
tigen Zeit angebrochen sei, wäre dann nicht in für den Anbruch der Gottesherrschaft bereit ma
Erfüllung gegangen. An die Stelle der Herrschaftchen. (.)

Um diesen Prozess zu erhellen, beschreibt Kardinal Lehmann ausführlich mehrere Phasen und
Stufen, die hier nur in Stichworten angedeutet werder
Der umfassende Ruf Jesu: Gottes Liebe gilt für alle (Reine, Unreine, Juden, Nicht-Juden).
Die Einsetzung der zwölf Jünger: Jesus hat doch wohl ein Weiterbestehen des Jüngerkreises
über seinen Tod hinaus erwartet (vgl. Mk 14,25).
Die Hingabe seines Leibes und seiner ganzen Existenz im Abendmahl: Sein Tod für die Vielen
ist eine Voraussetzung für das Werden der Kirche.
Die Auferstehung Jesu Christi: Indem Jesus sich nach seinem Sieg im Tod seinen Jüngern of-
fenbart, richtet er die zerbrochene Gemeinschaft wieder auf.
Pfingsten: Durch die Aussendung des Geistes schafft Gott die Kirche. Pfingsten ist, will man
überhaupt einen „Termin“ angeben, das Geburtsfest der Kirche. Zum Begriff der Kirche gehört
darum, dass sie wesentlich Heidenkirche ist.
272 Umstrittene Kirche

Es darf nämlich auch keine Kluli gehen zwischen ist dieser freilich
Anfang vianders,
elmehralsgefillt und bewährt
die Erwartung dern
der Kirche und dem Reich Gottes. Die Herrschaftworden -—
Gottes wird jetzt schon mitten in der GeschichteMenschen sich ausdachte. Ohne den Karfreitag
Gegenwart: sichtbar, wenn auch noch nicht voll-als Krise und Bewährung der Sendung les
5
odet. Das Reich Gottes ist nicht etwas Frei-Christi kann es Kirche im strengen Sinn nicht ge-
schwebendes, sondern es wird im Blick auf dieben. Gott bekennt sich, wie die Ostererfahrung
Geschichte an das Volk Gottes gebunden. Dieund der Osterglaube bezeugen, zu diesem Ge-30
Gottesherrschaft kann nur dann in der Geschich-schick Jesu und seiner Botschaft. Die Kirche hat
te ankommen, wenn sie von Menschen angenom-ihre Warzeln im Sein und Handeln des irdischen
10 men wird. Die Zeit zwischen dem Kommen JesuJesus, Kirche im Vollsinn kann es aber erst geber
ad dem endgültigen Aufrichten der Gottesherr seit Jesus auferstanden ist. So ist die Kirche ein
schaft ist nicht einfach „leer", sondern als die Zeitdichtes, wirkliches Zeichen für die Gottesher
der Kirche hat sie einen eigenen heilsgeschichti-schaft, eine von Gott in die Geschichte gelegte
chen Sinn. Gott führt den mit Jesus eröffnetenSpur seines Reiches und ein Vortrupp der end-
15 Anfang seiner Gottesherrschaft fort, weil diese – zeitlichen Hoffnung für alle. In diesem Sinne hat
obwohl sie an ihn gebunden bleibt – nicht einfachdie Kirche teil an der verkündigten Nähe des Got-
in seiner Person aufgeht, sondern weil ihre Dyna- tesreiches, (1996)
mik auf die ganze Welt gerichtet ist. Dieser An-
1 Vergleichen Sie den Argumentationsgang von
fang der verkündigten Nähe der Gottesherrschaft Huber und Lehmann. Überprüfen Sie, inwieferi
20 ist durch den Tod Jesu nicht einfach zunichte hier ein Unterschied zwischen einer evangeli-
oder auf ein ganz anderes Gleis (erst das Reich schen und kotholischen Auffassung von Kirche
Gottes, dann die Kirche) umgelenkt worde sichtbar wird.
Durch die liebende Hingabe Jesu „für die Vielen"

Evangelischer Kirchentag: Alle zwei Jahre treffen sich etwa hunderttausend evangelische Christinnen und
Christen aus ganz Deutschland vier Tage lang, um sich über aktuelle soziale, politische und religiöse
Entwicklungen auszutauschen und Impulse für eine zeitgemäße Gestalt von Christ-Sein zu erhalte

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