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Kleine W egbegleitung
im orthodoxen Glauben
o Aschendorff
. Verlag
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Hilarion (Alfeyev)
Katechismus
Kleine Wegbegleitung
im orthodoxen Glauben
Für alle,
die sich au f die Taufe vorbereiten
die getauft sind, aber nicht vertraut mit dem Leben der Kirche
die den christlichen Glauben besser kennenlernen wollen
’js" Aschendorff
!5i_Verlag
Münster
2017
Vorwort
Ich glaube an den einen Gott, den Ich glaube an den einen Gott, den
allmächtigen Vater, Schöpfer des Him Vater, den Allherrscher, den Schöpfer
mels und der Erde, alles Sichtbaren des Himmels und der Erde, alles Sicht
und Unsichtbaren. baren und Unsichtbaren,
Und an den einen Herrn Jesus Chris und an den einen Herrn Jesus Chris
tus, Gottes einziggeborenen Sohn, Der tus, Gottes einziggezeugten Sohn, den
vom Vater gezeugt ist vor aller Zeit. aus dem Vater Gezeugten vor aller
Zeit,
Licht vom Lichte, wahrer Gott vom Licht vom Lichte, wahren Gott vom
wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen,
3 Es gibt für den deutschen Sprachraum bislang keine einheitliche Übersetzung der
orthodoxen Bekenntnistexte. Kürzlich hat die „Orthodoxe Bischofskonferenz in
Deutschland“ eine Übersetzungskommission eingesetzt und eine neue, kirchlich
autorisierte Übersetzung der Gottesdiensttexte vorgelegt, zu denen auch das
Glaubensbekenntnis gehört. Dieser Text ist in der rechten Spalte parallel zu einer
ebenfalls gebräuchlichen Übersetzung des Glaubensbekenntnisses abgedruckt.
|Anm. d. Übers.]
4 Teil I. Die Glaubenslehre
eines Wesens mit dem Vater, durch Den den dem Vater Wesenseinen, durch
alles erschaffen ist. den alles geworden ist,
Für uns Menschen und zu unserem den für uns Menschen und zu unserer
Heil ist Er vom Himmel herabgestiegen Errettung von den Himmeln Herab
und Fleisch geworden vom Heiligen gestiegenen und Fleischgewordenen
Geist und der Jungfrau Maria und ist aus dem Heiligen Geist und der Jung
Mensch geworden. frau Maria und Menschgewordenen,
Er wurde für uns gekreuzigt unter den fü r uns unter Pontius Pilatus
Pontius Pilatus, hat gelitten und ist Gekreuzigten, der gelitten hat und be
begraben worden, ist am dritten Tage graben worden ist, den am dritten Tage
auferstanden nach der Schrift. Auferstandenen gemäß den Schriften,
Er ist aufgefahren in den Himmel und den in die Himmel Au fgestiegenen und
sitzt zur Rechten des Vaters. zur Rechten des Vaters Sitzenden,
Er wird wiederkommen in Herrlichkeit, den mit Herrlichkeit Wiederkommen
zu richten die Lebenden und die Toten: den, zu richten die Lebenden und die
Seiner Herrschaft wird kein Ende sein. Toten, dessen Königtum ohne Ende
sein wird,
Und an den Heiligen Geist, den Herrn, und an den Heiligen Geist, den Herrn,
den Lebenschaffenden, Der vom Vater den Lebenschaffenden, den aus dem
ausgeht, Der mit dem Vater und dem Vater Hervorgehenden, den mit dem
Sohn zugleich angebetet und verliere Vater und dem Sohn Angebeteten und
licht wird, Der gesprochen hat durch Verherrlichten, der gesprochen hat
die Propheten. durch die Propheten,
Und an die eine, heilige, katholische an die eine, heilige, katholische und
und apostolische Kirche. apostolische Kirche.
Ich bekenne die eine Taufe zur Ver Ich bekenne die eine Taufe zur Ver
gebung der Sünden. gebung der Sünden.
Ich erwarte die A ufersteliung der Toten Ich erwarte die A ufersteliung der Toten
und das Leben der kommenden Welt. und das Leben der künftigen Welt.
Amen. Amen.
1.1. Der Glaube 5
1. Der Glaube
Der Glaube ist ein Feuer, das sich im Herzen des Menschen ent
zündet. Das Feuer des Glaubens hat im Laufe der lahrhunderte Men
schen zu Großtaten und heroischen Leistungen inspiriert. Der Glaube
begeisterte Menschen, die sich für ihre Überzeugungen einsetzten
und bereit waren, dafür ihr Leben zu geben. Der Glaube war die
geistliche Kraft, die den Märtyrern half, grausamste Leiden zu er
tragen, und er half denen, die zur Hinrichtung geführt wurden, die
letzten Minuten zu durchleben und der Todesstunde mit Würde zu
begegnen. Und dies geschah nicht nur in früheren Jahrhunderten,
sondern auch in jüngster Zeit, als gewaltige Kräfte und Mittel einge
setzt wurden, um den Glauben aus den Herzen der Menschen her
auszureißen, und als Glauhenszeugen physisch vernichtet wurden -
Geistliche, Mönche und Laien.
Der Glaube ist ein inneres Brennen und die Bereitschaft des
Menschen, all seine schöpferischen Kräfte, ja das ganze Leben dem
Dienst am höchsten Ideal zu widmen. Der Glaube hat Künstlern,
Architekten, Musikern, Dichtern, Schriftstellern geholfen, erhabene
und herrliche Kunstwerke zu schaffen. Der christliche Glaube hat
über viele Jahrhunderte das kulturelle Leben der Menschheit berei
chert, und zahlreiche herausragendc Kunstwerke wurden durch die
Ideale des Glaubens inspiriert.
Glaube - Gehorsam gegenüber Gott
Der Hebräerbrief gibt folgende Definition: „Glaube ist: Grundlage
dessen, was man erhofft, ein Zutagetreten von Tatsachen, die man
nicht sieht ... Aufgrund des Glaubens erkennen wir, dass die Welt
durch Gottes Wort erschaffen wurde und so aus Unsichtbarem das
Sichtbare entstanden ist“ (Hebr 11.1-3).6
Als Beispiel wird der biblische Stammvater Abraham angeführt:
„Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen
in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu
wissen, wohin er kommen würde. Aufgrund des Glaubens siedelte er
im verheißenen Land wie ein Fremder.... denn er erwartete die Stadt
mit den festen Grundmauern, die Gott Selbst geplant und gebaut hat
6 Für die Übersetzung der Worte aus der Bibel wird in der Regel die 2016 erschienene
neue „Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift“ verwendet. [Anm. d. Übers.]
1.1. Der Glaube 7
... Aufgrund des Glaubens hat Abraham den Isaak hingegeben, als er
auf die Probe gestellt w urde... Er war überzeugt, dass Gott sogar die
Macht hat, von den Toten zu erwecken“ (Hebr 11,8-10.17.19).
In der Bibel (Gen 22,2-12) wird berichtet, wie Gott dem hundert
jährigen Abraham und seiner unfruchtbaren Frau Sara verheißt,
ihnen einen Sohn zu schenken, wie die betagten Eheleute viele Jahre
auf die Erfüllung der Verheißung warten, wie der langersehnte Sohn
geboren wird und wie dann, als der Knabe heranwächst, Gott Abra
ham auf die Probe stellt und sagt: „Nimm deinen Sohn, deinen ein
zigen, den du liebst, Isaak; geh in das Land Morija und bring ihn dort
auf einem der Berge, den Ich dir nenne, zum Brandopfer dar.“ Als
Abraham diesen Befehl erhalten hat, macht er sich zusammen mit
Sohn und Dienern auf den Weg.
Am dritten Tag sieht er von Weitem den Ort, den Gott angegeben
hat, und sagt zu den Dienern: „Bleibt mit dem Esel hier. Ich und der
Knabe, wir wollen dorthin gehen und uns niederwerfen.“ Als Isaak
sieht, dass Abraham kein Opfertier mit sich genommen hat, fragt er
den Vater: „Hier sind Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das
Brandopfer?“ Abraham antwortet: „Gott wird sich das Lamm für das
Brandopfer ausersehen, mein Sohn.“
Schließlich gelangen Vater und Sohn zu dem von Gott angegebe
nen Ort. Abraham bindet Isaak, legt ihn auf die Opferstätte und
erhebt über ihm das Messer, um ihn zu erstechen. In diesem Augen
blick hört er die Stimme eines Engels: „Streck deine Hand nicht
gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß
ich, dass du Gott fürchtest; du hast Mir deinen Sohn, den einzigen,
nicht vorenthalten.“
Mit Recht wird Abraham „Vater aller Glaubenden“ genannt
(Röm 4,11). Der Beschreibung seines Lebens ist ein erheblicher Teil
des ersten Buchs der Bibel (Gen 11,26-25,9) gewidmet, wo er als
Vorbild unbedingter und ungeteilter Hingabe an Gott erscheint.
Durch sein Leben hat er gezeigt, was Glaube ist und wie der Glaube
sein soll. Glauben bedeutet vertrauen, lieben, gehorchen. Glaubende
vertrauen auf Gott mehr als auf sich selbst, sie lieben Gott mehr als
sich selbst und suchen Seinen Willen mehr als den eigenen Willen zu
erfüllen.
8 Teil I. Die Glaubenslehre
jüdischen Volkes, die auf den Seiten des Alten Testaments, im ersten
Teil der Bibel, Ausdruck findet.
Der Gott, über den das Alte Testament spricht, ist der eine und
einzige Gott: „Vor Mir wurde kein Gott erschaffen, und auch nach
Mir wird es keinen geben. Ich, Ich bin der Herr, und außer Mir gibt
es keinen Erlöser“ (]es 43,10-11). Das erste Gebot des mosaischen
Gesetzes lautet: „Ich bin der Herr, dein G o tt... Du sollst neben Mir
keine anderen Götter haben“ (Ex 20,2-3). Im Buch Deuteronomium
sagt Gott über Sich Selbst: „Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der
Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit
ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4-5).
Jesus hat immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig das
alttestamentliche Gebot der Verehrung des einen Gottes ist. Dem
Versucher antwortet er: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten
und Ihm allein dienen“ (Ml 4,10; l.k4,8). Auf die frage des Schriftge
lehrten: „Welches Gebot ist das erste von allen?“, antwortet Jesus
„Das erste ist: Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, ist ein einziger
Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem
Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner
ganzen Kraft“ (Mk 12,28-30).
Der Apostel Paulus sagt: Es gibt „keinen Gott außer dem einen.
Und selbst wenn es im Himmel oder auf der Erde sogenannte Götter
gibt .... so haben doch wir nur einen Gott, den Vater." Von Ihm
stammt alles und wir leben auf Ihn hin. Und einer ist der Herr: Jesus
Christus. Durch Ihn ist alles und wir sind durch Ihn“ (1 Kor 8,4-6).
Glaube an den einen Gott. Andere monotheistische Religionen sind das Judentum
und der Islam. Manchmal werden Christentum. Judentum und Islam als „abraha-
mitische Religionen" bezeichnet nach der biblischen Gestalt Abraham, der in allen
drei religiösen Traditionen verehrt wird.
13 Der Sinn dieser Worte ist folgender: Obwohl man verschiedene erdachte Wesen
im Himmel und von Menschen vergötterte Gegenstände auf Erden .Götter' nannte,
gibt es in Wirklichkeit nur einen einzigen Gott. Hier bezieht sich der Apostel auf
verschiedene formen des Polytheismus (aus dem Griechischen: itoXiic = „viel“
und frcöc = „Gott“) oder der heidnischen Vielgötterei. Zu den polytheistischen
Religionen zählten insbesondere die Religionen im antiken Griechenland und in
Rom. Bis heute bestehen solche polytheistischen Religionen wie Hinduismus,
Taoismus, Jainismus, Shintoismus und einige andere.
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 11
14 Bei der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wurde das Buch „Samuel“
in zwei Abschnitte geteilt, die 1. und 2. Buch der Könige genannt wurden; die
folgenden Bücher wurden als 3 Kön und 4 Kön in die Zählung eingereiht. Dieser
Bezeichnung folgen die orthodoxen Bibelausgaben. [Anm. d. Übers.]
15 Auch in der Zählung der Psalmen folgen die orthodoxen Bibelausgaben der grie
chischen Übersetzung (Septuaginta). Die im Westen übernommene hebräische
Zählung wird in Klammern hinzugefugt, damit die Angaben in jeder beliebigen
Bibelausgabe gefunden werden können. [Anm. d. Übers.]
12 Teil 1. Die Glaubenslehre
16 ln den Lehren Jesu Christi nach dem Matthäusevangelium findet sich die Zusam
menstellung „Himmlischer Vater" (immer mit dem Fünvort „euer” oder „Mein )
insgesamt zivanzigmal.
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 13
Heiligen Geist: „Die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Kinder
Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen,
so dass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den
Geist der Sohnschaft empfangen, in dem wir rufen: ,Abba, Vater!'17.
Der Geist selbst bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind“
(Rom 8,14-16).
Gottes Eigenschaften
Die Heilige Schrift bezeugt Gott als unergründlich: „O Tiefe des
Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie uner
gründlich sind Seine Entscheidungen, wie unerforschlich Seine Wege!
Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist Sein
Ratgeber gewesen?“ (Rom 11,33-34). Obwohl unbegreiflich in Seiner
Natur, hat Gott Sich im Laufe der Jahrhunderte den Menschen durch
Seine Werke offenbart, durch die Propheten und durch Seinen Ge
sandten Jesus Christus (Hebr 1,1-2; 3,1).
Nach dem Zeugnis der Schrift ist Gott unsichtbar. Im Alten
Testament sagt Gott zu Mose: „Du kannst Mein Angesicht nicht
schauen, denn kein Mensch kann Mich schauen und am Leben
bleiben“ (Ex 33,20). Das Neue Testament wurde jedoch zur Offenba
rung des unsichtbaren Gottes durch Seinen Sohn. Im Johannes
evangelium ist das Wesen dieser Offenbarung so ausgedrückt: „Nie
mand hat Gott je gesehen. Der einziggeborene Gott, Der im Schoße
des Vaters ist, Er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18).
Jesus Christus sagt: „Gott ist Geist“ (Joh 4,24). Gott hat also
keinen Leib, ist immateriell und nicht begrenzt durch Zeit und
Raum. Der heilige Filaret von Moskau schreibt: „Gott ist ewiger
Geist, allgütig, allwissend, allgerecht, allmächtig, allgegenwärtig,
unveränderlich, allgenügend'8, allselig“.19
Im Neuen Testament heißt es: „Gott ist Licht, und Finsternis ist
nicht in Ihm“ (1 Joh 1,5). Der Begriff „Licht“ ist hier metaphorisch
gebraucht. Licht symbolisiert das Gute, während Finsternis das Böse
symbolisiert. Es geht hier nicht um das Eicht, das wir mit dem physi
schen Sehen erfassen können. Nach den Worten des Apostels Paulus
ist Gott ein Gott, „Der in unzugänglichem Licht wohnt, Den kein
Mensch gesehen hat noch je zu sehen vermag" (1 Tim 6,16). Der
heilige Gregor von Nazianz (4. )h.) vergleicht Gott mit der Sonne:
„Gott ist das höchste Licht, unzugänglich, unaussprechlich, dem
Verstände unbegreiflich, in keinem Worte aussagbar, doch Er er
leuchtet jede Vernunftnatur, Er ist in der geistigen Welt das, was die
Sonne für die sinnliche Welt ist“.20
Das Neue Testament bezeugt: „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8.16) Er
hat nicht nur Liebe, die auf etwas Ihm Äußerliches gerichtet ist: Er ist
in Sich Selbst, in Seinem Sein, die Liebe. Zugleich erweist sich Seine
Liebe nach außen. Einer dieser Erweise der göttlichen Liebe ist die
Erschaffung der Welt und des Menschen.
Nicht alle glauben, dass das Weltall Gottes Schöpfung ist; einige
behaupten, es sei von selbst entstanden und werde von niemandem
regiert. Doch die Gegenwart des Schöpfers im Weltall erschließt sich
allen Menschen, denn „seit Erschaffung der Welt wird Seine unsicht
bare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft
wahrgenommen, Seine ewige Macht und Gottheit“ (Röm 1,20), und
durch den Glauben wird dieser Schöpfer anerkannt und verehrt.
Durch ihre Pracht und Vielgestaltigkeit bezeugt die Welt, dass sie
einen Schöpfer hat. Wie ein Gemälde, das nicht von selbst, ohne
einen Künstler, entstehen kann, so kann das Weltall nicht ohne
seinen Schöpfer entstehen. Wie eine Uhr nicht ohne den Uhrmacher
hervorgehracht wird und auch nicht geht, wenn sie nicht aufgezogen
wird, so kann das Weltall nicht bestehen ohne denjenigen, Der es
erschaffen hat und Der es regiert.
Warum hat Gott die Welt geschaffen? Die Antwort der christli
chen Theologie lautet: Der Grund für die Erschaffung der Welt war
Gottes Güte, der „es nicht genügte, sich nur in der Betrachtung ihrer
selbst zu bewegen, sondern der es ziemte, ihr Gut zu verströmen und
zu verbreiten“.22 Gott „begnügte sich nicht mit der Betrachtung
Seiner Selbst, sondern aus der überströmenden Fülle Seiner Güte
wollte Er gnädig, dass etwas entstehe, das sich Seiner Wohltaten
erfreut und an Seiner Güte teilhat“.23
Weil Er das absolut Gute ist, wollte Gott, dass Geschöpfe ent
stehen, die an dieser Güte teilhaben. Weil Er die Liebe ist, wollte Gott,
dass Seine Liebe sich auch auf die von Ihm geschaffene Welt erstreckt.
24 Das Wort „Engel“ kommt vom griechischen Wort äyyeXoc und bedeutet „Bote“.
25 Das griechische Wort für „Teufel“ heißt SidßoXoc und bedeutet „Verleumder“,
„Betrüger“. Das aramäische Wort „satana“ (vom hebräischen Wort „Satan“) be
deutet „Widersacher“.
18 Teil I. Die Glaubenslehre
Seiner Vorsehung schenkt Gott jedem Menschen das Leben und die
Bedingungen zur Entfaltung und zum geistlichen Wachstum, hilft
ihm in guten Werken und richtet das in der Welt vorhandene Böse
auf gute Folgen aus.
Die Vorsehung ist der Wille Gottes, der alles Bestehende lenkt.
Diese Vorsehung wirkt auf zweifache Weise, ln dem unbestreitbar
Guten verwirklicht sich Gottes Wille ungehindert. Wenn jedoch in
der Welt Böses geschieht, so nicht aufgrund des Willens Gottes,
sondern nur aufgrund Seiner Zulassung und weil Menschen die
Verwirklichung des Willens Gottes behindern.-6
Oft heißt es: „Alles ist Gottes Wille.“ Das ist nicht richtig. Gottes
W ille richtet sich nur auf das Gute, das Böse steht im Widerspruch
dazu. Indem der Mensch willentlich oder unwillentlich eine böse Tat
vollbringt, widersetzt er sich wissentlich oder unwissentlich dem
göttlichen Willen. Dabei wirkt die göttliche Vorsehung, indem Gott
sogar böse Taten der Menschen auf einen Nutzen auszurichten ver
mag.
Manchmal stellt sich die Frage: Warum straft Gott nicht die Sün
der, Verbrecher, Schurken? Warum lässt Er das Böse zu? Warum
erlaubt Er den Bösen, unter den Guten zu leben und ihre bösen
Taten auszuführen? Die Antwort liegt nicht darin, dass Gott das Böse
nicht bemerkt oder darüber hinwegsieht, sondern in Seiner Langmut.
In den Psalmen heißt es: „Der Herr ist barmherzig und gnädig, lang
mütig und reich an Huld. Er wird nicht immer rechten und nicht
ewig trägt Er nach. Er handelt an uns nicht nach unseren Sünden
und vergilt uns nicht nach unserer Schuld“ (Ps 102 [ 103],8-10).
Wenn Gott automatisch jegliches Auftreten des Bösen in der
menschlichen Natur unterbinden würde, dann müsste Er den Men
schen den freien Willen entziehen. Damit würden sich die Menschen
in Marionetten verwandeln und die menschliche Gesellschaft in ein
Puppentheater. Gott erwartet, dass der Mensch in jeder Phase seines
Lebens jeweils die Wahl zugunsten des Guten trifft - nicht aus
Zwang, sondern durch eine eigenständige freie Entscheidung. Das
Böse ist Gott immer zuwider, doch Gott unterbindet nicht immer das26
26 Johannes von Damaskus, Genaue Auslegung des orthodoxen Glaubens, II, 29.
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 19
Böse, denn Er achtet die Freiheit der Menschen und deren Recht zur
freien Wahl - ein Recht, mit dem Er selbst sie ausgestattet hat.
Gleichzeitig bleibt jedoch keine einzige böse Tat ohne Folgen,
und wenn ein Mensch sündigt und nicht bereut, wird er gewiss im
gegenwärtigen oder im künftigen Leben die Strafe zu tragen haben.
Im Alten Testament sagt Gott über Sich Selbst: „Der Herr ist der
Herr, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an
Huld und Treue. Er bewahrt tausend Generationen Huld, nimmt
Schuld, Frevel und Sünde weg, aber Er lässt nicht ungestraft“ (Ex
34,6-7).
Gott weiß alles: Vor Ihm ist nichts verborgen, Er sieht das Künf
tige wie das Gegenwärtige. Das bedeutet jedoch nicht, dass alles im
Leben eines Menschen von vornherein vorherbestimmt ist. Das
Christentum glaubt nicht an Vorherbestimmung, Verhängnis,
Schicksal. Gott sieht von vornherein alle Taten eines Menschen, die
guten wie die bösen. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch
angesichts der Wahl zwischen Gut und Böse zu dem einen oder dem
anderen vorherbestimmt ist; die Entscheidung hängt von seinem
freien Willen ab.
Aus der Verbindung des göttlichen Willens, der nur auf das Gute
ausgerichtet ist, mit dem Willen des Menschen, in dem Gut und Böse
oft miteinander verflochten sind, entsteht letztlich das Geschick jedes
Menschen. Gott kümmert sich um alle, und sogar Menschen, die sich
bewusst auf den Weg des Bösen begeben haben, verlässt Er in Seiner
Vorsehung nicht.
Weg zu gehen. Auf den Weg des Bösen versuchen der Teufel und
seine Helfershelfer, die Dämonen, den Menschen zu stoßen.
Im Alten Testament heißt es über diese beiden Wege: „Leben und
Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit
du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott,
höre auf Seine Stimme und halte an Ihm fest“ (Dtn 30,19-20). An
jeden Menschen, der in die Welt kommt, richtet Gott diesen Ruf. Die
Menschen aber, ein jeder für sich, wiederholen den Fehler von Adam
und Eva: Sie hören auf das, was ihnen der Feind des Menschenge
schlechts einflüstert, statt auf die Stimme Gottes zu hören.
Einige philosophische Strömungen leugnen die menschliche
Sündhaftigkeit. Ihrer Meinung nach ergeben sich alle Probleme der
Welt aus der Tatsache, dass die Menschen schlecht unterwiesen sind:
Wenn man ihnen erklärte, wo Gut und Böse liegen, dann würden sie
nur das Gute tun.27
ln der Sicht des Christentums ist das Böse jedoch in der Natur des
gefallenen Menschen verwurzelt, in seinem Herzen (Mk 7,21-22).
Nach Aussage des Apostels Paulus lebt die Sünde im Inneren des
Menschen: „Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse,
das ich nicht will, das vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich
nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der es bewirkt, sondern die in
mir wohnende Sünde“ (Rom 7,19-20). Die Überwindung der Sünde
in sich selbst, der Kampf mit ihren Erscheinungsformen, ist die
wichtigste moralische Aufgabe für jeden Christen. Doch in diesem
Kampf ist der Mensch nicht allein: Gott Selbst hilft ihm.
kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Und Feindschaft
setze Ich zwischen dir und der Frau, und zwischen deinem Samen
und ihrem Samen. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der
Ferse“ (Gen 3,14-15).
Evas „Same“, das heißt ihr direkter Nachkomme, der den Sieg
errang über den Teufel und das Böse und für immer die Menschheit
losgekauft hat „aus Sünde, Fluch und Tod“:s, ist Jesus Christus. In
der Erwartung Seines Kommens lebten Jahrhunderte lang Menschen
der Vorzeit, und Seine Ankunft sagten die Propheten voraus.
3. Jesus Christus
3.1. Menschensohn
Jesus Christus ist der bekannteste Mensch unter allen, die jemals auf
der Erde gelebt haben. Über keinen Menschen ist so viel geschrieben
und gesagt worden wie über Ihn. Ihm sind Bücher, Gemälde, Musik
stücke, Filme gewidmet, von ihm handeln Predigten, schreibt man
im Internet. Mehr noch, zu Seiner Ehre werden Kirchen gebaut, und
Seinen Namen tragen mehr als zwei Milliarden Menschen. Christen
sind die zahlenmäßig größte Glaubensgemeinschaft der Welt.
Die Evangelien
Die primäre Quelle unserer Kenntnis über ]esus Christus sind die
vier Evangelien nach Matthäus, Markus, l.ukas und lohanncs. Die
Evangelien sind Dokumente von Augenzeugen des irdischen Lebens
Jesu Christi oder gründen auf solchen Zeugnissen. Von allen Bü
chern der Bibel genießen gerade die Evangelien in der Kirche am
meisten Autorität und werden am meisten gelesen und verehrt. Das
Buch, das die vier Evangelien enthält, gehört unverzichtbar zum
Gottesdienst. Es wird den Gläubigen zur Verehrung gereicht, und sie
küssen es voller Andacht.
Aus diesem Buch wissen wir, dass Jesus Christus eine wirkliche
historische Persönlichkeit war, nicht eine ausgedachte literarische
Figur (wie dies einige Kritiker des Christentums in der Vergangen
heit darzustellen versuchten). Er wurde in einer bestimmten Epoche
geboren, als der römische Kaiser Octavianus Augustus und der jü
dische König Herodes der Große an der Macht waren. Der Ort Sei
ner Geburt war die Stadt Bethlehem (Mt 2,1; Lk 2,4-7), die zur Pro
vinz Judäa des damaligen Römischen Reiches gehörte.
„Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höch
sten wird dich überschatten“ (Lk 1,26-35).
Entsprechend dieser Verkündigung des Evangeliums heißt es im
Glaubensbekenntnis: Jesus Christus wurde geboren vom Heiligen
Geist und der Jungfrau Maria. Nach dem Glauben der Kirche war
Maria, obwohl sie mit Josef verlobt war, noch nicht mit ihm verhei
ratet und blieb Jungfrau. Die Kirche nennt sie die „allzeit Jungfräu
liche“, weil sie ihre Jungfräulichkeit für immer bewahrte.
Der Name „Jesus“, der dem Kind bei der Geburt gegeben wurde,
bedeutet, übersetzt aus dem Hebräischen: „Gott rettet“. Das grie
chische Wort „Christus“, das im Neuen Testament vielfach auf Jesus
bezogen wird, bedeutet „der Gesalbte“.'0 Es verweist auf die priester-
liche, prophetische und königliche Würde Jesu303132,aufSeine besondere
Sendung für das Volk Israel und für das gesamte Menschen
geschlecht.
Die Geburt Jesu Christi war von besonderen, übernatürlichen
Zeichen begleitet: Engel verkündeten den Hirten Seine Geburt (Lk
2,8-18), es kamen Sterndeuter aus dem Osten, geleitet durch einen
geheimnisvollen Stern, um Ihn anzubeten (Mt 2,1-12).
Am achten Tag nach Seiner Geburt wurde das Kind Jesus nach
dem jüdischen Gesetz beschnitten (Lk 2,21), und am vierzigsten Tag
brachten Maria und Josef Ihn zum Jerusalemer Tempel, „um Ihn
dem Herrn darzustellen“. Dort trafen sie Simeon, einen gerechten
Greis, der über Jesus voraussagte: Er wird „ein Licht zur Erleuchtung
der Heiden“ und Herrlichkeit für das Volk Israel sein (Lk 2,23-33).
30 „Christos“ ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes „Messias“ (loh
4,25).
31 Im alten Israel wurden Priester (Ex 28,41), Propheten (3 Kön [1 Kön] 19,16) und
Könige(l Kön [1 Sam] 10,1; 16,13u.a.)durch eine Salbung in den Dienst eingesetzt.
32 Tiberius regierte das Römische Reich vom 19. August des Jahres 14 bis zum 16.
März des Jahres 37. Das 15. Jahr seiner Regierung fiel in die Jahre 29/30.
24 Teil I. Die Glaubenslehre
sich Sein Ruf in ganz Syrien. Und man brachte alle Kranken mit den
verschiedensten Gebrechen und Leiden zu Ihm, Besessene, Mond
süchtige und Gelähmte, und Er heilte sie. Scharen von Menschen aus
Galiläa, der Dekapolis, aus Jerusalem und Judäa und aus dem Gebiet
jenseits des Jordan folgten Ihm nach“ (Mt 4,24-25). Mit der Zeit
nahm Sein Ruf noch zu, und einige der von Ihm geheilten Menschen,
unter ihnen auch Frauen, schlossen sich der Gruppe Seiner Jünger an
(Lk 8,2-3).
Die Berichte über die Wunder Jesu, die Er nach dem Aufbruch zu
Seinem Dienst wirkte, machen einen wesentlichen Teil der Verkün
digung der Evangelien aus. Insgesamt finden wir in den Evangelien
mehr als dreißig ausführliche Berichte über Jesu Wunder (abgesehen
von den kurzen Erwähnungen übernatürlicher Ereignissen verschie
dener Art, die Sein Leben und Seinen Dienst begleiten). Dazu gehö
ren: zahlreiche Heilungen, Dämonenaustreibungen aus Besessenen,
drei Totenerweckungen, einige Ereignisse, die Jesu Macht über die
Natur bezeugen (Er ging über das Wasser, stillte einen Sturm und
verfluchte einen Feigenbaum): einige andere übernatürliche Ereig
nisse (Er verwandelte Wasser in Wein, sättigte fünftausend Men
schen mit fünf Broten und siebentausend Menschen mit vier Broten;
zwei wunderbare Fischfänge).
Die Gesamtzahl der von Jesus gewirkten Wunder lässt sich nicht
genau angeben. Es mag sich um Hunderte, wenn nicht Tausende von
Heilungen handeln. Davon zeugen viele Stellen in den Evangelien,
aus denen hervorgeht, dass die von Ihm gewirkten Heilungen und
Dämonenaustreibungen geradezu ein Massenphänomen waren.”
gegriffen, entnommen dem täglichen heben oder der Welt der Natur.
Seine Rede war erleuchtet, voller Schönheit, poetisch.
Viele Seiner Lehren sind der Form nach Gleichnisse, kurze Er
zählungen, die mit Hilfe von Metaphern (Vergleichen) verschiedene
geistlich-sittliche Wahrheiten vermitteln. Die Evangelien enthalten
mehr als dreißig solcher Gleichnisse. Die Verwendung von Gleich
nissen als Grundform zur Weitergabe geistlich-sittlicher Wahrheiten
war so charakteristisch für Jesus, dass die Evangelisten eigens anmer
ken: „Dies alles sagte Jesus der Menschenmenge in Gleichnissen, und
ohne Gleichnisse redete Er nicht zu ihnen“ (Mt 13,34). „Durch viele
solche Gleichnisse verkündete Er ihnen das Wort, so wie sie es auf
nehmen konnten. Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen" (Mk 4,33-
34). Als Jesus aufhörte, in Gleichnissen zu sprechen, rief dies sogar
Verwunderung hervor: „Siehe, jetzt redest Du offen und sprichst
nicht mehr in Gleichnissen“ (Joh 16,29).
Den Schlüssel zum Verständnis der Gleichnisse bildet der Glaube.
Damit rücken die Gleichnisse Jesu in die Nähe Seiner Wunder. Vor
denen, deren Herz versteinert ist, die mit den Augen nicht sehen und
mit den Ohren nicht hören, bleibt der Sinn der Gleichnisse verbor
gen (Mt 13,13; Mk4,12; Lk8,10; Joh 12,40). Wie die Wunder Jesu die
Schriftgelehrten und Pharisäer nicht von der Wahrheit Seiner Lehre
überzeugten, so überzeugte auch Seine Lehre, in Gleichnissen darge
legt, sie nicht davon, dass Er der von Gott gesandte Messias ist. Um
gekehrt fanden durch den Glauben viele Zeugen der Wunder Jesu
und viele Hörer Seiner Gleichnisse zum Verständnis Seiner messia-
nischen Rolle.
Der unvergängliche Wert der Gleichnisse Jesu besteht darin, dass
sie dem Menschen helfen, Gott besser zu verstehen, Ihm zu nahen
und Ihn lieb zu gewinnen, ln den Gleichnissen wird Gott als souve
räner Herrscher dargestellt, Der die absolute Vollmacht über Seine
Untertanen besitzt. Er gibt einem jeden, soviel Er für nötig hält, und
dann fordert Er von jedem Rechenschaft über die Verwendung des
Empfangenen (Mt 25,14-30). Hart bestraft Er die, die Seinem Willen
widerstehen und Seine Anordnungen nicht ausführen (Mt 22,7).
Zugleich erweist Er Sich als langmütiger und barmherziger Vater,
bereit, den reuigen Sünder in die Arme zu schließen (Lk 15,20). Gott
1.3. Jesus Christus 29
liebt den Menschen als Seine Schöpfung und Sein Kind, und viele
Gleichnisse - jedes auf seine Weise - eröffnen diese Wahrheit.
Oie Gleichnisse sprechen außerdem über den einziggeborenen
Sohn Gottes. In ihnen wird Er nicht nur als weiser Lehrer aufgewie
sen, sondern auch als der Gute Hirt ((oh 10,1 -16), Der auf die Suche
nach dem verlorenen Schaf hinausgeht, es findet, aufSeinen Schul
tern trägt und sich über die Auffindung freut (Lk 15,4-6). Er er
schließt sich als Der, Den Gott in Seinen Weinberg gesandt hat, um
daraus Früchte zu erhalten, und Der dem Willen des Vaters um den
Preis des eigenen Lebens gehorsam ist (Mt 21,33-41).
Schließlich sprechen die Gleichnisse darüber, wie der Mensch das
Verhältnis zu seinem Nächsten gestalten soll. Er ist berufen zu ver
geben, wie der Vater des verlorenen Sohnes vergeben hat, wie Gott
Seinen Schuldnern vergibt (Mt 18,27). Er soll auf fremdes Unglück
so eingehen wie der barmherzige Samariter auf das Unglück des
Menschen, der in die Hände von Räubern gefallen war (Lk 10,30-37).
Er soll lieben wie derjenige, dem viel vergeben worden ist (Lk 7,41-
47). Die Menschen soll er mit den Augen Gottes betrachten und in
die Tiefen ihrer Seele schauen, um darin das Bild Gottes zu erkennen.
Das Himmelreich
Ein besonderes Thema der Lehre und der Gleichnisse Jesu ist das
Himmelreich oder das Reich Gottes. Jesus gibt an keiner Stelle eine
Definition des Himmelreichs, sondern offenbart dessen Wesen
durch eine ganze Reihe von Bildern, Vergleichen und Gleichnissen.
Seine Gleichnisse beginnt Er manchmal mit Fragen: „Wem ist das
Himmelreich ähnlich? Womit soll Ich es vergleichen?“ (Lk 13,18);
oder mit Antworten auf diese Fragen: „Das Himmelreich gleicht
einem Senfkorn ...; das Himmelreich gleicht dem Sauerteig ...; das
Himmelreich ist einem Schatz gleich ...; weiterhin gleicht das Him
melreich einem Kaufmann ...; weiterhin gleicht das Himmelreich
einem Fischernetz...“ (Mt 13,31.33.44.45.47).
In den Predigten Jesu Christi ist „das Himmelreich“ ein allumfas
sender Begriff: Es beschränkt sich weder auf Gegenwart noch Zu
kunft, weder auf die irdische Realität noch auf die Ewigkeit; es hat
weder konkrete irdische Züge noch einen konkreten sprachlichen
30 Teil /. Die Glaubenslehre
lus „das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23).
Es ist nicht nur ein Leben in Gott, sondern im eigentlichen Sinne ein
Leben in Christus Jesus - ewig nicht deshalb, weil es für die Men
schen nach dem Tod beginnt: Das ewige Leben beginnt bereits hier
mit dem Augenblick, in dem der Mensch zum Glauben an Jesus
Christus kommt und Sein Jünger wird, und es dauert in Ewigkeit.
Indem Er das Reich Gottes verkündet, offenbart Jesus den Men
schen Sich Selbst. Gleichzeitig eröffnet Er ihnen den Weg zu Gott.
Über Sich Selbst sagt Er: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das
Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch Mich“ (Joh 14,6).
Das Himmelreich lässt sich nicht von der Person Jesu trennen,
von Seinem Handeln, Seiner Verkündigung und Seinem Zeugnis.
Letztlich eröffnet sich das Himmelreich nicht so sehr durch die Leh
ren Jesu als vielmehr durch die Großtat der Erlösung, mit deren
Bericht jedes der Evangelien schließt.
]esus jedoch sagt: „Die Stunde kommt, zu der ihr weder auf die
sem Berg noch in jerusalent den Vater anbeten w erd et... Doch die
Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den
Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will
der Vater angebetet werden“ (]oh 4,21-23).
Die Anbetung Gottes, so lehrt Er, besteht nicht in der skrupulö
sen Erfüllung irgendeiner Summe von Vorschriften, selbst wenn sie
durch die Autorität Gottes geheiligt sind. Das Wesen des religiösen
Lebens besteht darin, das Himmelreich zu suchen. Auf dieses Haupt
ziel müssen alle Bestrebungen des Menschen ausgerichtet sein. Jesus
ruft zur Umkehr, zur inneren Wiedergeburt, die sich keineswegs auf
die Erfüllung bestimmter äußerer Vorschriften beschränkt.
Leute sagten: Das ist der Prophet [esus von Nazaret in Galiläa“ (Mt
21,6-11). Doch die Hohenpriester und die Pharisäer ordneten an,
„wenn jemand wisse, wo Er sich aufhält, soll er es melden, damit sie
Ihn festnehmen könnten“ (loh 11,57).
39 Davon wird in Teil III die Rede sein; siehe unten S. 152-162.
36 Teil I. Die Glaubenslehre
Mein Gebot: l-iebt einander, wie Ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34-
35; 15,9-10.12).
Diese Worte wurden das Vermächtnis, das Jesus bei seinem Ab
schied von der Welt allen künftigen Generationen Seiner länger
hinterließ.
40 Das Synhedrion war das höchste Gericht; es bestand aus dem Hohenpriester und
siebzig Richtern.
41 Judäa unterstand in damaliger Zeit einem römischen Statthalter, der das Amt
eines Präfekten ausübte (in späterer Zeit wurde dieses Amt mit dem Ausdruck
„Prokurator“ bezeichnet).
1.3. lesus Christus 37
Die Kirche glaubt, dass Jesus keinen Augenblick lang von Seinem
Vater verlassen war, doch um die Menschen zu erlösen, musste Er
schwere Leiden durchmachen, nicht nur physische, sondern auch
seelische. Jesus nahm freiwillig den Kelch des Leidens an und musste
ihn bis zur Neige austrinken. Am Grund menschlichen Leidens und
in der stärksten Prüfung, die einem Menschen zufallen kann, liegt die
Gottesverlassenheit - das Schweigen Gottes, Seine scheinbare Abwe
senheit.
In den Leiden Jesu am Kreuz hat sich im höchsten Maß Seine
Solidarität mit allen Leidenden erwiesen - dazu gehören auch die
jenigen, die im Leiden an der Gegenwart Gottes zweifeln, gegen Gott
klagen, murren und verzagen. Jesus klagt nicht und murrt nicht. Er
zweifelt nicht und schwankt nicht, doch Er spürt für Ihn unerträg
liche physische Schmerzen, die Seine moralische Qual vervielfachen,
die Er als Mensch erfährt, allein mit dem Schrecken der Agonie vor
dem Tod. Er ist nicht von Gott verlassen, doch Ihm ist auferlegt,
durch die Erfahrung der Gottverlassenheit zu gehen, „weil Er in
allem den Brüdern gleich werden musste, um ein barmherziger und
treuer Hoherpriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes zu
sühnen. Denn da Er gelitten hat und Selbst in Versuchung geführt
wurde, kann Er denen helfen, die versucht werden“ (Hebr 2,17-18).
Für Jesus blieb Gott Sein Vater selbst in dem Augenblick, als Er
den schwersten Versuchungen ausgesetzt war. Nach dem Zeugnis
des Evangelisten Lukas war das Letzte, was Jesus am Kreuz hervor
brachte, der Ruf: „Vater, in Deine Hände überliefere Ich Meinen
Geist“ (Lk 23,46). Mit diesen Worten hauchte Er den Geist aus.
Der Leib Jesu wurde vom Kreuz abgenommen und, gemäß dem
Brauch, in einer Höhle beigesetzt. Am Sabbattag, der mit dem jüdi
schen Paschafest zusammenfiel, blieb Sein Leib im Grab, und Frauen,
die Ihm nachgefolgt waren, „ruhten gemäß dem Gebot“ (Lk 23,56).
Die Auferstehung
Am frühen Morgen des ersten Tages der Woche kamen die Frauen
zum Grab Jesu, um Seinen Leib mit wohlriechenden Ölen zu salben.
Sie sahen, dass das Grab leer war, und Engel verkündeten ihnen:
Jesus ist auferstanden (Mt 28,2-7; Lk 24,4-7). Danach eilten zwei
38 Teil I. Die Glaubenslehre
Jünger, Petrus und Joliannes, zum Grab und sahen darin nur die
Grabtücher, die von Jesus zurückgeblieben waren (Joh 20,3-10).
Dann erschien der auferstandene Jesus Maria Magdalena42 unmittel
bar beim Grab (Mk 16,9; Joh 20,11-18), den anderen brauen, als sie
vom Grab weggingen (Mt 28,9-10), zwei Jüngern auf dem Weg nach
Emmaus (Mk 16,12-13), einer Gruppe von Jüngern (Mk 16,14; Lk
24,36-50; Joh 20,19-25). Nach acht Tagen erschien Jesus erneut den
Jüngern (Joh 20,26-29), und dann erschien Er noch mehrmals ver
schiedenen Gruppen Seiner Jünger (Joh 21,1-23; 1 Kor 15,5-7).
Schließlich erschien Er den Jüngern auf einem Berg in Galiläa. Er
sagte zu ihnen; „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf
Erden. Darum geht und macht alle Völker zu Meinen Jüngern; tauft
sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was Ich euch geboten habe!
Und siehe. Ich bin bei euch alle Tagen bis zum Ende der Welt“ (Mt
28,18-20). Danach wurde Er „in den Himmel aufgenommen und
setzte Sich zur Rechten Gottes“ (Mk 16,19).
Die Auferstehung Jesu Christi war die Hauptbotschaft, die
durch die Apostel - Jünger Jesu, die Er Selbst ausgewählt halte, um
Sein Werk fortzusetzen - in die ganze Welt getragen wurde. Sie war
das grundlegende Thema ihrer Predigt. Die Bedeutung dieser Tat
sache war so offensichtlich und unbedingt für die frühe Kirche, dass
der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Christen in Korinth
sagen konnte; „Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist unsere
Verkündigung leer, leer auch euer Glaube" (1 Kor 15,14).
Die Auferstehung Jesu Christi ist bis heute das Herz des christ
lichen Glaubens. Um dieses Ereignis findet die gesamte Theologie
der christlichen Kirche ihre Ausrichtung. Der ganze Jahreskreis der
Feste im liturgischen Kalender der Kirche ordnet sich der Auferste
hung Christi unter. Sie wird „das Fest aller Feste“ und „der Sieg aller
Siege“ genannt.
42 Maria Magdalena ist eine der Jüngerinnen Jesu Christi. Unter den Frauen, die Ihm
folgten, wird sie in den Evangelien am häufigsten erwähnt (Mt 27,56.61; 28,1; Mk
15,40.47; 16,1.9; Lk 8,2; 24,10; Joh 19,25; 20,1.11-18).
1.3. lesus Christus 39
3.2 Gottessohn
Für die christliche Kirche ist Jesus Christus nicht einfach ein
Mensch. Er ist der fleischgewordene Gott. Es ist dieser Glaube an
Jesus als Gott und Erlöser, der Christen von Nichtchristen unter
scheidet.
43 „... im Schoße des Vaters“ ist ein metaphorischer Ausdruck, der das Sein des
Sohnes im Vater mit dem Dasein des Kindes im Schoß der Mutter vergleicht.
40 Teil I. Die Glaubenslehre
ewige Sohn Gottes und der in der Zeit geborene Mensch Jesus ein
und dieselbe Person sind.
Sich: „Solange ihr das Licht habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne
des Lichts werdet“ ()oh 12,36).
Das Licht des Sohnes und das Licht des Vaters ist ein einziges
Göttliches Licht. Der heilige Filaret erläutert: „Wenn wir auf die
Sonne schauen, sehen wir Licht. Von diesem Licht entsteht das sicht
bare Licht im ganzen Umkreis der Sonne, und doch handelt es sich
in beiden Fällen um das eine, unteilbare Licht mit ein und derselben
Natur. Ähnlich ist der Vater ewiges Licht; aus Ihm geht der Sohn
Gottes hervor, Der ebenfalls ewiges Licht ist; doch Vater und Sohn
sind ein einziges ewiges Licht, unteilbar, eines göttlichen Wesens“.15
Die Erlösungslehre
Das Kommen Gottes in die Welt in menschlicher Gestalt ist ein
„großes Geheimnis der Frömmigkeit“ (1 Tim 3,16). Im Laufe der
Jahrhunderte haben Theologen sich bemüht, es zu enträtseln. Es
entstanden verschiedene Erlösungslehren, mit deren Hilfe man zu
erklären versuchte, was die Möglichkeit des menschlichen Geistes
übersteigt.
So stützten sich etwa einige Theologen auf den wörtlichen Sinn
des Wortes „Erlösung“ (Loskauf) und behaupteten, Christus habe
durch Seinen Tod die Menschheit vom Teufel losgekauft.“ Andere
sahen in einem solchen Handel eine Beleidigung Gottes und fragten
mit Recht: Wer ist der Teufel, dass er einen so hohen Preis für die
Erlösung der Menschheit fordern könnte?4647
Im vierten Jahrhundert wurde folgendes Verständnis der Erlö
sung vorgelegt: Der Mensch hat sich als Folge des Sündenfalls in die
Sklaverei des Teufels begeben; um ihn loszukaufen, musste dem
Teufel unbedingt ein Ausgleich gezahlt werden, ein Lösegeld. Als
Lösegeld wurde der Mensch Jesus Christus angeboten; der Teufel
nahm Ihn im Tausch für die Menschheit an, doch unter dem „Köder“
der menschlichen Natur verbarg sich der „Haken“ der Gottheit, die
der Teufel verschlang, aber nicht festzuhalten vermochte. So täuschte
Gott den Teufel.48 Diese ausdrucksvolle und geistreiche Deutung
mag in ihrer Zeit geeignet gewesen sein, das Verständnis der Erlö
sung zu erleichtern; für den modernen Menschen kann sie kaum zur
Einsicht in das Wesen der Erlösung beitragen.
Im lateinischen Westen entwickelte sich im Mittelalter eine Theo
rie, nach deren verkürzter Form das Kreuzesopfer des Sohnes Gottes
aus der Notwendigkeit hervorging, dem gerechten Urteil Gottes des
Vaters Genugtuung zu leisten. Das Wesen dieser Theorie liegt in
Folgendem: Die Menschen haben Gott durch ihre Sünden so sehr
erzürnt, und ihre Schuld vor Gott war so groß, dass sie durch keiner
lei Tugenden oder Verdienste in der Lage waren, sich bei Gott loszu
Das Heil
Aus diesen Worten folgt, dass Heil und ewiges Leben nur für diejeni
gen erreichbar sind, die an Christus glauben. Vor Seiner Himmel
fahrt sagt Jesus zu Seinen Jüngern: „Geht hinaus in die ganze Welt
und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! Wer glaubt
und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird ver
urteilt werden“ (Mk 16,15-16). Ohne Glauben an Jesus als Gott und
Heiland, ohne Annahme der Taufe und ein Leben nach Seinen Ge
boten ist das Heil nicht möglich.
„Heil“ ist ein sehr wichtiger Begriff der christlichen Theologie.
Die Fleischwerdung erfolgte nach dem Glaubensbekenntnis „für uns
Menschen und zu unserem Heil“. Zu diesem Ziel lebte der Sohn
Gottes auf Erden, tat Wunder, lehrte die Menschen, litt, starb und ist
von den Toten auferstanden. „Der Sohn Gottes wirkte unser Heil
durch Seine Lehre, Sein Lehen, Seinen Tod und Seine Auferstehung“,
sagt der heilige Filaret.50
Der Mensch kann nicht aus eigenen Kräften zum Heil gelangen:
Das ist eine der grundlegenden Annahmen der christlichen Theolo
gie. Um zum Heil zu gelangen und die Vereinigung mit Gott zu
erreichen, ist ein Heiland nötig. Hin solcher Heiland für das gesamte
Menschengeschlecht wurde Jesus Christus, der für die Menschen
gelitten hat und gestorben ist. Seine göttliche Gnade51 rettet jeden,
der an Ihn glaubt und nach Seinen Geboten lebt.
Als Antwort auf die Frage, „ob Christus für alle gelitten hat und
gestorben ist“, schreibt der heilige Filaret von Moskau: „Von Seiner
Seite hat Sich unser Herr Jesus Christus als Opfer für alle Menschen
dargebracht und für alle Gnade und Heil erwirkt. Doch genutzt wird
dies von denen, die ihrerseits freiwillig an Seinen Leiden teilnehmen
... Wir nehmen an den Leiden und am Tod Jesu Christi teil durch
einen lebendigen Herzensglauben, durch die Sakramente, in denen
die Kraft des heilbringenden Leidens und des Sterbens Jesu Christi
verborgen gegenwärtig ist, und schließlich durch die Kreuzigung des
Fleisches mit seinen Leidenschaften und Begierden“.52Auf die Frage,
„warum Leiden und Tod Jesu Christi für uns heilbringend sind“,
antwortet der Heilige: „Weil Er auferstanden ist und damit den
Grund gelegt hat für unsere selige Auferstehung“.53
Das Heil wird im Christentum nicht einfach in dem Sinne ver
standen, dass Gott den Menschen zu Hilfe kam. Gott handelt nicht
wie jemand, der einem Ertrinkenden einen Rettungsring zuwirft und
dann mitleidig zuschaut, wie dieser es schafft, aus dem Wasser zu
kommen. Er Selbst wirft sich in die sturmgepeitschten Wellen des
führung, damit für die ganze Menschheit das von Seinem einzig
geborenen Sohn angenommene Opfer Erlösung und Heil bringt.
31-46). Die Erwartung der Zweiten Ankunft Christi und des Jüng
sten Gerichts erfüllt das ganze Leben der frühchristlichen Kirche.
„Amen, komm, Herr Jesus!“ (Oftb 22,20): Mit diesem jubelnden Aus
ruf, der offenbar liturgischer Herkunft ist, endet das letzte Buch des
Neuen Testaments, die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes.
Für Christen ist die Zweite Ankunft des Erlösers kein Anlass zur
Furcht. Christen erwarten mit Freude den Tag, an dem „Gott alle
Tränen von ihren Augen abwischen wird: Der Tod nicht mehr sein,
keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal: Denn was früher war, ist
vergangen“ (Offb 21,4). Dann wird „als letzter Feind der Tod ver
nichtet“, und „Gott wird alles in allem sein“ (1 Kor 15, 26.28). Die
Zweite Ankunft Christi wird der endgültige Sieg Gottes über den
Teufel sein, der Sieg des Guten über das Böse. Auf dieses Ereignis
richten sich die geistlichen Augen der Christen.
Engel der Jungfrau Maria und sagt: „Der Heilige Geist wird auf Dich
herabkommen, und die Kraft des Höchsten wird Dich überschatten“
(Lk 1,35). Jesus wird geboren aus der Jungfrau und dem Heiligen
Geist (Mt 1,18-20). Der Vorläufer Jesu ist vom Mutterschoß an vom
Heiligen Geist erfüllt (Lk 1,15). Er sagt: Der nach ihm kommt, wird
taufen „mit dem Heiligen Geist und Feuer“ (Mt 3,11; Mk 1,8; Lk
3,16). Im Augenblick der Taufe Jesu kommt der Heilige Geist in
Gestalt einer Taube auf Ihn herab und ruht auf Ihm (Mt 3,16; Mk
1,10; Lk 3,22). Sogleich nach der Taufe wird Jesus vom Geist in die
Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden (Mt 4,1; Mk 1,12;
Lk 4,1).
ln Seiner Predigt spricht Jesus immer wieder über das Wirken des
Heiligen Geistes. Er sagt die Verfolgungseiner Jünger voraus, mahnt
sie jedoch, nicht im voraus Gedanken darüber zu verlieren, was sie
sagen sollen, denn nicht sie werden sprechen, sondern der Heilige
Geist(Mt 10,20; Mk 13,11; Lk 12,12). Jesus warnt,dass die Lästerung
des Heiligen Geistes dem Menschen weder in dieser noch in der
zukünftigen Welt vergeben wird (Mt 12,32; Mk 3,29; Lk 12,10).
Solange Jesus noch nicht verherrlicht war, war auf Seinen Jüngern
nocli nicht der Geist (Joh 7,39). Tod und Auferstehung Christi waren
die notwendige Bedingung, damit Seine Jünger den Heiligen Geist
empfangen konnten. Darüber spricht Christus mit Seinen Jüngern in
den Abschiedsreden, in denen die Sendung des Trösters eines der
Hauptthemen ist. „Und Ich werde den Vater bitten, und Er wird
euch einen anderen Tröster geben, Der für immer bei euch sein wird,
den Geist der Wahrheit“ (Joh 14,16-17). „Wenn der Tröster kommt,
Den Ich euch vom Vater aus senden werde, der Geist der Wahrheit,
Der vom Vater ausgeht, wird Er Zeugnis für Mich ablegen“ (Joh
15,26). „Wenn Er kommt, der Geist der Wahrheit, wird Er euch in
der ganzen Wahrheit leiten. Denn Er wird nicht aus Sich Selbst her
aus reden, sondern Er wird reden, was Er hört, und euch verkünden,
was kommen wird. Er wird Mich verherrlichen, denn Er wird von
dem, was Mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der
Vater hat, ist Mein; darum habe Ich gesagt, Er nimmt von dem, was
Mein ist, und wird es euch verkünden“ (Joh 16,13-15).
50 Teil I Pie Glaubenslehre
unterliegt und dass Sein Dienst durch Seine Jünger und diejenigen,
die Ihm nachfolgen, Fortsetzung findet. Christus, Der das lebendige
und wirksame Haupt der Kirche bleibt, leitet der Kirche durch den
Heiligen Geist. Den Heiligen Geist hat Jesus Christus Seiner Kirche
hinterlassen als den „anderen Tröster“; Er ist bei Seinen Jüngern für
immer (Joh 14,16) und „wird nicht aus Sich Selbst heraus reden“,
sondern im Namen Christi (Joh 16,13-14).
Während die Evangelien dem Bericht über den irdischen Dienst
Christi gewidmet sind, ist das Buch der Apostelgeschichte vor allem
ein Zeugnis über das Wirken des Heiligen Geistes in der von Jesus
Christus gegründeten Kirche. Das Wirken des Heiligen Geistes in
den Gläubigen wird in der Apostelgeschichte ausgedrückt als „vom
Heiligen Geist erfüllt werden“ (Apg 4,8; 4,31; 9,17; 13,9; 13,52) und
„den Heiligen Geist empfangen“ (Apg 8,15.17). Auch ist von der
„Herabkunft des Heiligen Geistes auf die zum Glauben Gekomme
nen“ (Apg 8,39; 10,44; 11,15) die Rede. Von der Herabkunft des
Heiligen Geistes war die Taufe begleitet: Als der Apostel Paulus in
Ephesus einer Gruppe von Jüngern gepredigt hatte, „wurden sie im
Namen des Herrn Jesus getauft, und als Paulus ihnen die Hände
auflegte, kam der Heilige Geist auf sie herab“ (Apg 19,6).
Nach dem Glauben der Kirche geschieht das Wirken des Heiligen
Geistes in allen heiligen Sakramenten. So werden etwa in der Litur
gie5“' Brot und Wein zu Leib und Blut Christi durch das Wirken des
Heiligen Geistes. Die Gnade des Heiligen Geistes macht Menschen
durch die Handauflegung des Bischofs zu geweihten Geistlichen.
Und jeder Mensch, der die Taufe empfängt, erhält auch „das Siegel
des Heiligen Geistes“ im Sakrament der Myronsalbung."
Die Kraft des Heiligen Geistes erwies sich im Leben vieler Heili
ger, von altersher bis heute. Ein großer russischer Heiliger, der heilige
Serafim von Sarov, erklärte dem Kaufmann Motovilov, der zu ihm
kam, das Ziel des christlichen Lebens sei der Erwerb des Heiligen
Geistes. Als Motovilov zu fragen begann, was dies bedeute, sah er,567
56 Zur Liturgie, der wichtigsten Form des Gottesdienstes der christlichen Kirche, bei
der Brot und Wein zu Leib und Blut Christi werden, vgl. unten S. 158-162.
57 Zu Taufe und Myronsalbung vgl. unten S. 66-78.
52 Teil I. Die Glaubenslehre
wie der Heilige vor seinen Augen verklärt wurde, ähnlich wie Jesus
Christus: Sein Gesicht leuchtete heller als die Sonne, und Wärme und
Wohlgeruch gingen von ihm aus. Sein Gespräch mit dem erstaunten
Besucher beendete der Heilige mit den Worten: „Gott verlangt den
rechten Glauben an Ihn und Seinen eingeborenen Sohn. Dafür gibt
Er im Übermaß reichlich die Gnade des Heiligen Geistes."
58 Jesus Christus lehrte, dass der Heilige Geist „vom Vater ausgeht" (Joh 15,26).
Entsprechend dieser Lehre verkündet das Glaubensbekenntnis, den Heiligen
Geist, „der vom Vater ausgeht“. Im lateinischen Westen verbreitete sich die Lehre,
der Heilige Geist gehe „vom Vater und vom Sohn“ aus.
54 Teil I. Die Glaubenslehre
6. Die Kirche
59 Diese Aussage stammt von dem heiligen Märtyrer Hilarion (Troitzki), der im Jahr
1929 Repressalien ausgesetzt war und umgebracht wurde.
56 Teil I. Die Glaubenslehre
Elija, wieder andere für leremia oder sonst einen Propheten.“ Jesus
fragte: „Ihr aber, für wen haltet ihr Mich?“ Petrus antwortete: „Du
bist Christus, der Sohn des Lebendigen Gottes“ Da sagte Jesus zu
ihm: „Selig bist du, Simon, Sohn des Johannes, denn nicht Fleisch
und Blut haben dir das offenbart, sondern Mein Vater im Himmel.
Und Ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich Meine
Kirche bauen, und die Tore zur Unterwelt werden sie nicht überwäl
tigen“ (Mt 16,13-18).
Dieser Bericht wurde in den christlichen Kirchen des Ostens und
des Westens unterschiedlich ausgelegt. Im Westen unterstrich man
die Rolle des Petrus als Haupt der Gemeinschaft der Apostel und als
Stellvertreter Christi auf Erden, der seinen Vorrang an die Bischöfe
von Rom weitergibt. Im Osten fand eine andere Deutung Verbrei
tung: Die Kirche ist auf den Glauben an die Gottheit Jesu Christi
gegründet, und die Worte des Petrus waren das Bekenntnis dazu. Der
Apostel Petrus selbst besteht in seinem Brief darauf, dass der Grund-
und Eckstein der Kirche nicht er, sondern Christus ist (1 Petr 2,4).
sich. Die Kirche hilft den Menschen, sich an den lebendigen Gott zu
binden und die trennende Kluft zu überwinden, die sie von Ihm
trennt. Sie entzündet die Herzen der Menschen mit dem Feuer, das
sie zu guten Werken und schöpferischen Leistungen zu begeistern
vermag.
Die Kirche ist notwendig, um die Welt zu verändern. Doch kein
einziger Mensch kann die Welt verändern, wenn er nicht zuvor sich
selbst verändert hat. Sehr oft würden wir gern die Menschen in unse
rer Umgebung verändern. Nicht selten fallen Familien gerade des
halb auseinander, weil die Ehepartner einander zu verändern ver
suchen, statt jeweils an sich selbst zu arbeiten: Der eine schlägt dem
anderen Rezepte vor, wie man besser werden kann, und im Ergebnis
fällt die Familie auseinander, weil die Familienmitglieder nicht in der
Lage sind, sich zu einigen.
Die Kirche hilft den Menschen, sich nicht als Individuen zu füh
len, berufen, die anderen zu verändern, sondern als Glieder einer
einzigen Gemeinschaft, in der unter dem Wirken des Heiligen Geis
tes jeder an sich selbst arbeitet und alle gemeinsam einander helfen,
sich nach dem Bild und Gleichnis Christi zu ändern. Beim Eintritt in
die Kirche wird der Mensch in einen mächtigen Strom hineinge
zogen, dessen Wasser ihn zum Ziel zu tragen beginnen, zur geist
lichen Vollkommenheit. Dabei verliert der Mensch keineswegs seine
Selbständigkeit und Freiheit, sondern erlangt im Gegenteil neue
Kräfte zur Entfaltung seines von Gott empfangenen geistlichen und
schöpferischen Potentials.
Leib Christi, und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm"' (1 Kor 12,12-
14.27).
Das Haupt des Leibes der Kirche ist Christus (Eph 4,15). Er
vereint in Sich die Lebenden wie auch die im Glauben Entschlafenen,
ln Ihm finden sie die Hauptquelle der Freude und Seligkeit.
vermittelt, die die Menschen kennen müssen, die Lehre über sicht
bare und unsichtbare, himmlische und irdische Dinge, die das ganze
Menschengeschlecht zum wahren Glauben führt, Vorgesetzte und
Untergebene, Gebildete und einfache Leute, und weil sie überall
jegliche Art von Sünden überwindet und heilt, die mit Leib und Seele
begangen werden; sie trägt in sich jede Gestalt der Vollkommenheit,
die in Taten, Worten und in allen geistlichen Gaben offenbar wird“.64
Die allumfassende Kirche besteht aus Lokalkirchen, von denen
jede wiederum in Diözesen (Eparchien) unterteilt ist, die von Bischö
fen geleitet werden. Die Diözesen sind aus Pfarreien zusammenge
setzt, das heißt aus kirchlichen Gemeinschaften, die durch Priester
geleitet werden.
Katholizität ist eine äußerst wichtige Eigenschaft der Kirche.65 Die
Kirche ist katholisch auf allen Ebenen ihrer Existenz - gesamtkirch
lich, lokalkirchlich, in der Diözese und in der Gemeinde. Auf der
gesamtkirchlichen und der lokalen Ebene ist die Katholizität der
Kirche sichergestellt durch die Einheit des Glaubens im gesamten
Episkopat, im Klerus und unter den Laien.66 Auf der lokalen Ebene
wird die Kirche durch die Versammlungen der Bischöfe geleitet, in
denen ein jeder in diesen Versammlungen nicht sich selbst repräsen
tiert, sondern seine kirchliche Gemeinschaft, einschließlich des Klerus
und des Volkes Gottes.
67 Die Mitglieder der Hierarchie genietien in der Kirche Autorität, doch keiner von
ihnen verfügt Uber Unfehlbarkeit. Jeder von ihnen kann sich als Mensch in irgend
etwas täuschen. Zur Korrektur solcher Fehler in der Kirche können verschiedene
Mittel angewandt werden: So kann zum Beispiel der Bischof einen Priester auf
seine Fehler hinweisen, und sollte dieser sich nicht bessern, kann er ihm eine
Strafe auferlegen; einen Bischof kann die höchste kirchliche Autorität (die Ver
sammlung der Bischöfe) strafen. Für die Untersuchung in Fällen schuldig gewor
dener Mitglieder der kirchlichen Hierarchie gibt es ein kirchliches Gericht.
1.6. Die Kirche 63
Kirche nicht zur Mutter hat, hat Gott nicht zum Vater“.70 Natürlich
sorgt Gott Sich um die Menschen innerhalb der Kirche wie auch
außerhalb der Kirche. Doch in der Kirche wirkt Er auf besondere
Weise mit den Menschen zusammen, und nur in der Kirche ist eine
wirkliche Vereinigung mit Ihm möglich. Diese erfolgt unter anderem
und vor allem durch die kirchlichen Sakramente.
70 Diese Worte entsprechen einer Formulierung aus der Schrift „Über die Einheit der
Kirche” des Bischofs und Märtyrers Cyprian von Karthago (3. Jh.): „Gott kann
nicht zum Vater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter hat“ (Teil I, Kap. 6).
71 „Heilige Väter" pflegt man die Theologen der alten Kirche zu nennen, die deren
dogmatische Lehre formuliert haben. Am produktivsten in der Formulierung
i
66 Teil I. Die Glaubenslehre
7. D ie T au fe
Als erstes muss man notwendig über die Taufe wissen: Sie ist nicht
nur ein Ritual. Die Taufe ist ein Sakrament. In der Sprache der
Kirche werden heilige Handlungen, in denen Gott durch den Priester
direkt auf den Menschen einwirkt und ihm Seine heilbringende
Gnade schenkt, „Sakramente“ oder „Mysterien“ genannt.
Die Taufe ist eines der sieben Sakramente der Kirche. Zu den
Sakramenten gehören neben der Taufe auch die Myronsalbung, die
Eucharistie, die Beichte, das Sakrament der Weihe, die Ehe und die
Heilige Ölung (Krankensalbung).7' Doch die Taufe ist das erste Sa
krament, mit dem das christliche Leben beginnt. Sie öffnet die Tore
dieser Lehre war die Epoche der alten Kirche (1. bis 3. Jh.) und die Epoche der
Ökumenischen Konzilien (4. bis 8. Jh.). In der Epoche der alten Kirche wurden die
Grundlagen für diese Lehre gelegt, und bei den sieben Ökumenischen Konzilien
wurde diese Lehre im Gegensatz zu entstandenen Häresien ausformuliert.
72 Bezüglich der Gemeinschaften, die aus der Einheit mit der Orthodoxie herausge
fallen sind, stellt die Russische Orthodoxe Kirche fest: „Die Orthodoxe Kirche
bekräftigt durch den Mund der heiligen Väter, dass die Rettung nur in der Kirche
Christi erlangt werden kann. Gleichzeitig aber betrachtete man die Gemeinschaf
ten, die aus der Einheit mit der Orthodoxie herausgefallen waren, niemals so, als
seien sie vollständig der Gnade Christi beraubt. Der Bruch der kirchlichen Gemein
schaft führt notwendig zur Schädigung des Gnadenlebens, doch nicht immer zu
dessen vollständigem Verlust in den abgetrennten Gemeinden. Hier liegt der Grund
für die Praxis, diejenigen, die aus andersglaubenden Gemeinschaften in die Ortho
doxe Kirche kommen, nicht unbedingt durch das Sakrament der Taufe aufzuneh
men. Ungeachtet der zerbrochenen Einheit bleibt eine gewisse unvollständige Ge
meinschaft bestehen, die als Unterpfand der Möglichkeit dient, zur Einheit in der
Kirche, in die katholische Fülle und Einheit zurückzukehren“ (Grundprinzipien
der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche zu Andersglaubenden 1.15).
73 Über die Myronsalbung wird in diesem Kapitel noch die Rede sein: siehe unten
S. 71 -78. Die weiteren Sakramente werden in den Abschnitten 8 und 9 von Teil III
über „Kirche und Gottesdienst“ behandelt: siehe unten S. 152-171.
/. 7. Die Taufe 67
Die Taufvorbereitung
Der Taufe ging immer eine Taufvorbereitung voraus, die Unter
weisung in den Wahrheiten des christlichen Glaubens. Sie konnte
mehr oder weniger lange dauern, von einigen Stunden oder einigen
Tagen bis zu einigen Wochen, Monaten oder Jahren.
ln der Apostelgeschichte wird von einem Eunuchen erzählt,
einem Hofbeamten der Königin von Äthiopien, der auf einem W a
gen fuhr und das Buch des Propheten Jesaja an der Stelle las, die vom
künftigen Messias handelt (Jes 53,7-8). Der Apostel Philippus lief zu
dem Wagen und fragte: „Verstehst du auch, was du liest?“ Der Hof
beamte antwortete: „Wie soll ich verstehen, wenn mich niemand
anleitet?“ Und erbat Philippus, sich neben ihn zu setzen. Da „öffnete
Philippus seinen Mund, und, ausgehend von diesem Schriftwort,
verkündete er ihm die frohe Botschaft von Jesus.“ Inzwischen kamen
sie zu einer Wasserstelle, und der Eunuch sagte: „Hier ist Wasser!
Was steht meiner Taufe noch im Weg?“ Philippus antwortete:
„Wenn du von ganzem Herzen glaubst, ist es möglich.“ Der Eunuch
sagte: „Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“ Diese
Worte waren das kurze Glaubensbekenntnis, das ausreichte, um die
Taufe zu empfangen. Der Apostel taufte den Eunuchen, und dann
kam der Heilige Geist auf ihn herab (Apg 8,27-39).
In unserer Zeit geht ebenfalls eine Taufvorbereitung der Taufe
voraus. Sehr wichtig ist, dass ein erwachsener Mensch bewusst zur
Taufe kommt und sie nicht einfach als Ritual betrachtet, an dem man
teilnehmen kann, ohne dessen Sinn zu verstehen. Eben deshalb ist
eine Vorbereitung notwendig.
1.7. Die Taufe 69
Wenn ein kleines Kind getauft wird, kann man von ihm natürlich
noch keinen bewussten Glauben verlangen. Ein solcher Glaube wird
jedoch von seinen Eltern und seinen Paten gefordert, den „Tauf
eltern“. Die Eltern müssen bereit sein, das Kind im Glauben zu erzie
hen, und die Paten erklären sich bereit, ihnen dabei zur Seite zu
stehen.
Taufe faktisch ihre Wirkung bei denjenigen verliert, die nicht in die
Kirche gehen, nicht beichten und nicht kommunizieren, ein un
christliches Leben führen und sich nicht bemühen, soweit wie mög
lich nach dem Evangelium zu leben.
ln der alten Kirche wurde die Taufe in der Regel an den großen
Festen gespendet, vor allem zu Ostern, und die vorösterliche Zeit war
die Zeit der Vorbereitung auf das Sakrament der Taufe. Aus dieser
alten Praxis sind im Gottesdienst der Großen Fastenzeit besondere
Gebete für diejenigen geblieben, die sich auf die Heilige Erleuchtung
vorbereiten, und in der Liturgie des Großen Samstag kleiden die
Priester sich gewöhnlich von dunklen in helle Gewänder um.
Heutzutage kann die Taufe nach Vereinbarung mit dem örtlichen
Priester an einem beliebigen Tag gespendet werden. Um getauft zu
werden oder um ein kleines Kind zu taufen, muss man zur Kirche
gehen und entweder mit dem Priester selbst sprechen oder mit
jemandem, der beim Kerzenverkauf tätig ist und die Anmeldungen
zur Feier der kirchlichen Sakramente annimmt. Sie können darüber
informieren, was man für die Feier der Sakramente bei sich haben
muss. Man muss sich rechtzeitig ein kleines Umhängekreuz und ein
weißes Taufkleid besorgen.
Der Täufling (oder im Fall der Taufe eines kleinen Kindes einer
der Eltern oder der Paten) muss das Glaubensbekenntnis kennen
und in der Lage zu sein, es zu sprechen und den Sinn des Vorgetra
genen zu verstehen.
Die Taufpaten
Taufpate („Taufvater“ oder „Taufmutter“) kann nur jemand sein,
der mit der Kirche verbunden ist: ein orthodoxer Christ, der regel
mäßig beichtet und die heilige Kommunion empfängt und sich
bemüht, gemäß dem Evangelium und gemäß der kirchlichen Lehre
zu leben. W er eine andere Religion bekennt oder einer anderen
christlichen Konfession angehört, und erst recht ein Nichtglauben
der, kann nicht Pate sein. Es ist also nicht angebracht, als Paten einen
„nicht praktizierenden“ orthodoxen Christen auszuwählen, das heißt
jemanden, der nur formal zur Orthodoxen Kirche gehört.
1.7. Die Taufe 71
spucken. Dieses alte Ritual ruft heute bei einigen ein Lächeln hervor,
es hat jedoch eine tiefe symbolische Bedeutung: Nachdem man dem
Satan entsagt hat, fordert man ihn heraus und erklärt offen, dass man
von diesem Augenblick an auf der Seite Gottes steht. Das christliche
Leben ist kein angenehmer Zeitvertreib, sondern ein geistlicher
Kampf, unter anderem mit dunklen und bösen Mächten. Der Apo
stel Paulus sagt: „Zieht an die Waffenrüstung Gottes, um den listigen
Anschlägen des Teufels zu widerstehen! Denn wir haben nicht gegen
Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte“
und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die
bösen Geister in den himmlischen Bereichen“ (Eph 6,11-12).
Durch den Empfang der Taufe und damit die Herausforderung
des Teufels empfängt der Mensch zugleich die Kraft der Gnade, die
es ihm im Weiteren erlaubt, das Böse in sich selbst zu überwinden
und die Versuchungen zu bestehen, die vom Teufel ausgehen. In den
Gebeten der Ordnung des Katechumenats wird betont, dass die
Macht des Teufels über den Menschen scheinbar und illusorisch ist:
Mit der Kraft der Gnade gerüstet, kann der Mensch mit Leichtigkeit
die Versuchungen bestehen.
77 Mit „Mächten" und „Gewalten“ sind hier die verschiedenen teuflischen Kräfte
gemeint.
74 Teil I Die Glaubenslehre
Die Taufe
Vor dem Eintauchen in das Wasser erfolgt die Salbung mit dem
geweihten Öl: Mit dem Kreuzzeichen werden Stirn, Augen, Ohren,
Nase, Mund, Brust, Hände und Füße des Täuflings gesalbt. Dann
taucht ihn der Priester dreimal im Wasser unter mit den Worten:
„Getauft wird der Diener/die Dienerin Gottes N.N. im Namen des
Vaters, Amen, und des Sohnes, Amen, und des Heiligen Geistes,
Amen.“ Dieser Augenblick macht eigentlich die Taufe aus.
Das Wasser bei der Taufe hat eine besondere Rolle: Als Symbol
der Reinheit und der Reinigung wäscht es den Leib des Menschen,
befreit zugleich seine Seele von Sünden und erneuert ihn im Geist. In
der Orthodoxen Kirche erfolgt die Taufe durch vollständiges Unter
tauchen. In Ausnahmefällen kann die Taufe durch Übergießen erfol
gen oder sogar (zum Beispiel wenn jemand schwer krank ist, im
Sterben liegt, an einen Apparat zur künstlichen Beatmung ange
schlossen ist usw.) durch Besprengung.79
Das Hinabsteigen in das Wasser symbolisiert den Tod, das Her
austreten aus dem Wasser die Auferstehung. In der Taufe werden die
Menschen nach der Lehre der Kirche von neuem geboren, „denn ihr
habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und habt den
neuen Menschen angezogen, der nach dem Bild seines Schöpfers
erneuert wird, um Ihn zu erkennen“ (Kol 3,9-10).
Die Myronsalbung
In der Orthodoxen Kirche ist das Sakrament der Taufe mit einem
weiteren Sakrament verbunden, der Myronsalbung („Firmung“). Sie
erfolgt sofort, nachdem der Getaufte aus dem Wasser herausgekom
men und in das weiße Gewand gekleidet ist, das ein Symbol der
Reinheit und der Erneuerung ist (nach der Tradition legt man dem
Neugetauften in diesem Moment das Umhängekreuz an).
Die Myronsalbung ist das Sakrament, in dem der Mensch das
„Siegel der Gabe des Heiligen Geistes“ empfängt. Indem er diese
Worte spricht, salbt der Priester dem Getauften Stirn, Augen, Ohren,
Nase, Mund, Brust, Hände und Füße mit dem geweihten Myron,
einer besonderen Mischung von wohlriechenden Ölen. Das Myron
wird unter unmittelbarer Aufsicht des Patriarchen (des Oberhauptes
der Lokalkirche) bereitet, von ihm an die Diözesen verteilt, und jede
Pfarrei empfängt es vom Bischof. Auf diese Weise wird durch das
vom Patriarchen geweihte Myron - neben dem Empfang der Gabe
79 Wurde die Taufe aus irgendeinem Grund vom Priester durch Übergießung oder
durch Besprengung gespendet, kann sie in der Folge nicht durch eine Taufe durch
Untertauchen „vollendet“ werden, denn die Taufe erfolgt nur einmal.
76 Teil I. Die Glaubenslehre
ben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus
durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde,
in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln. Wenn wir nämlich
mit der Gestalt Seines Todes verbunden wurden, dann werden wir es
auch mit Seiner Auferstehung sein. Wir wissen doch: Unser alter
Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte
Leib vernichtet werde, sodass wir nicht mehr Sklaven der Sünde sind.
Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind
wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit
Ihm leben werden. Wir wissen, das Christus, von den Toten auf
erweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über Ihn.
Denn durch Sein Sterben ist Er ein für alle Mal gestorben für die
Sünde, Sein Leben aber lebt Er für Gott. So begreift auch ihr euch als
Menschen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus
lesus" (Röm 6,3-11).
1>iese Lesung zeigt im Grunde den Ertrag aus dem Sakrament der
Taufe und eröffnet zugleich seinen tiefen Sinn. Im Licht der Worte
des Apostels Paulus wird die ganze Symbolik des Untertauchens in
das Wasser des Taufbeckens als Abbild des Todes des Herrn leben
dig. Dank der Taufe werden Leben, Tod und Auferstehung Christi
Teil der geistlichen Erfahrung eines Christen. Gleichzeitig unter
streicht der Apostel die sittliche Bedeutung der Taufe als Tod für die
Sünde und als „neues Leben“.
Nach der Apostel-Lesung folgt eine Lesung aus dem Evangelium,
die von dem Auftrag Jesu an Seine Jünger berichtet, im Namen des
Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen (Mt
28,16-20). Nach dem Zeugnis dieser Lesung ist das Sakrament der
Taufe von Gott eingesetzt. Zugleich erinnert sie an die ständige
Gegenwart Christi in der Kirche: „Siehe, Ich bin bei euch bis zum
Ende der Welt“ (Mt 28,20).
Die Lesung aus dem Evangelium stellt den sinnvollen Abschluss
des Sakraments der Taufe dar. In der heutigen Praxis folgen darauf
Riten, die in der alten Kirche am achten Tag nach der Taufe statt
fanden: die Abwaschung des Myron vom Leib des Getauften und das
Abschneiden einer Haarsträhne als Zeichen des Gehorsams gegen
über Gott. Es wird auch eine „Einführung in die Kirche“ vorgenom
78 Teil I. Die Glaubenslehre
men: Man führt (oder trägt) den Neugetauften an die Türen des
Altars, er küsst die Ikonen des Erlösers und der Gottesmutter. Neu-
getaufte Kinder männlichen Geschlechts bringt man in der Regel
zum Altar und trägt sie um den Altar herum.
Glauben an Christus ist die Macht des Todes überwunden, und der
Mensch, der dem Leib nach gestorben ist, lebt im Geist weiter. Er
geht über in eine für ihn bereitete andere, schönere und vollkomme
nere Welt, ln dieser Welt hat - mit den Worten des Glaubensbe
kenntnisses - die Herrschaft Christi „kein Ende“.
Doch nicht für alle ist das Los nach dem Tode von gleicher Art.
Das abschließende Urteil über die Seele jedes Menschen wird beim
Jüngsten Gericht gesprochen.
nommen; Ich war nackt und ihr habt Mir keine Kleidung gegeben;
Ich war krank und im Gefängnis und ihr habt Mich nicht besucht.“
Jesus schließt Seine Lehre mit den Worten; „Und sie werden Weg
gehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige
Leben“ (Mt 25,31-46).
Diese Lehre enthält den Kern der christlichen Vorstellung von
der Vergeltung nach dem Tod. Das Leben des Menschen in der
Ewigkeit ist die Fortsetzung seines Lebens auf der Erde: Wenn er
Gott hier geliebt und sich bemüht hat. Seine Gebote zu erfüllen und
Gutes zu tun, so wird er auch dort bei Gott sein. Wenn er auf der
Erde ein Gegner Gottes war und dem Teufel gedient hat, wird er in
der Ewigkeit nach dem Tod der Macht des Teufels verfallen sein.
Weil Gott nicht der Schöpfer des Bösen ist, ist er auch nicht der
Schöpfer der Hölle. Die Hölle schaffen mit ihren Taten der Teufel,
die Dämonen und diejenigen Menschen, die sich bewusst dem W il
len Gottes widersetzen und den Weg des Bösen statt des Guten wäh
len. Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Er
kenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Doch nicht alle Men
schen wollen das. Gott rettet die Menschen nicht mit Gewalt gegen
ihren Willen. Indem sie sich dem Willen Gottes und dem eigenen
Heil widersetzen, schaffen manche Menschen für sich und für ihre
Umgebung die Hölle, zunächst hier auf Erden, und dann setzt diese
Hölle sich für sie im kommenden Leben fort.
Durch Seine Auferstehung hat Christus den Tod besiegt und das
Tor zum ewigen Leben für alle Menschen ohne Ausnahme geöffnet.
Wenn nicht alle Menschen nach dem Tod in das Paradies gelangen,
so deshalb, weil nicht alle den Weg Gottes gewählt haben, den Weg
des Guten. Gott zwingt niemanden, weder in das Paradies noch in
die Hölle. Das Geschick eines Menschen nach dem Tod hängt von
seiner eigenen Wahl ab. Beim Jüngsten Gericht verkündet Gott
jedem Menschen das Urteil, doch dieses Urteil in der Ewigkeit be
stimmt der Mensch selbst voraus - durch seine Taten und seine
gesamte Lebensweise.
1.8. Die Auferstehung der Toten 81
Amen
Das Glaubensbekenntnis endet mit dem Wort „Amen“. Dieses alt
hebräische Wort bedeutet „wahrhaftig“. Es ist dem alttestament-
lichen Gottesdienst entnommen und erklingt häufig im christlichen
Gottesdienst. Mit dem Wort „Amen“ drücken Christen ihre Zu
stimmung zu dem Inhalt des Glaubensbekenntnisses aus.
***
Aufgabe
Kaufen Sie ein Neues Testament oder eine Bibel und lesen Sie zu Be
ginn das kürzeste der vier Evangelien, das Markusevangelium. Lassen
Sie sich nicht beirren, wenn Sie irgendetwas nicht verstehen: Was Sie
nicht gleich beim ersten Mal verstehen, werden Sie beim weiteren
Lesen verstehen. Das Wichtigste bei der ersten Lektüre ist, das Grund
gerüst der irdischen Geschichte Jesu Christi kennenzulernen, auf den
Klang Seiner Rede zu hören, au f Sein göttliches Angesicht zu schauen.
Wenn Seine Gestalt Sie anzieht und Sie Vertrauen zu Ihm gewinnen,
ergibt sich alles Übrige, sei es sogleich oder allmählich.
Teil II
Die christliche Lebensführung
1 Mit der orthodoxen Soziallehre kann man sich vertraut machen durch das Doku
ment Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche.
86 Teil II. Die christliche Lebensführung
1. Ich bin der Herr, dein G ott... Du sollst neben M ir keine anderen
Götter haben.
2. Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgend
etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser
unter der Erde. Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und
ihnen nicht dienen. Denn Ich bin der Herr, dein Gott, ein eifer
süchtiger Gott: Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern
heim bis zur dritten und vierten Generation, bei denen, die Mich
hassen; doch Ich erweise Tausenden Meine Huld bei denen, die
Mich lieben und Meine Gebote bewahren.
3. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrau
chen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der Seinen Namen
missbraucht.
4. Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaf
fen und all deine Arbeit tun. Der siebente Tag ist ein Ruhetag,
dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit
tun: du und dein Sohn und deine Tochter
5. Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem
Land, das der Herr, dein Gott, dir g ib t...
6. Du sollst nicht töten.
7. Du sollst nicht die Ehe brechen.
8. Du sollst nicht stehlen.
9. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
10. Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst
nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven
oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas,
das deinem Nächsten gehört (Ex 20,2-17).
II. I. Die Zehn tlebote des Allen Testaments 87
2. D ie Seligpreisungen
4 I'ilaret von Moskau, Katechismus; vgl. auch: Grundlagen der Sozialkonzeption der
Russischen Orthodoxen Kirche VIII.2: „Obwohl die Kirche im Krieg ein Übel
erkennt, verbietet sie ihren Kindern nicht, an kriegerischen Handlungen teilzu
nehmen, wenn es um die Verteidigung nahestehender Menschen und die Wieder
herstellung verletzter Gerechtigkeit geht“.
5 7,um Beispiel die Großmärtyrer Georg der Siegträger und Dimitrij von Thessalo
niki, die in den Verfolgungen zu Beginn des 4. Jahrhunderts gelitten haben; der
Märtyrer Johann der Krieger, der Ende des 4. Jahrhunderts lebte; die Mönche
Alexander Peresvet und Andrej Osljablja, die in der Schlacht von Kulikow im Jahr
1380 gefallen sind, und viele andere.
90 Teil II. Die christliche Lebensführung
Lebenshaltung und guten Taten, doch diese guten Taten darf er nicht
sich selbst als Verdienst anrechnen. Vielmehr soll er bedenken, dass
alles, was er auf geistiger oder materieller Ebene besitzt, von Gott
stammt. Demut ist dem Stolz entgegengesetzt (bei dem man von sich
selbst überzeugt ist und sich über andere erhebt), der eine Trenn
wand zwischen Mensch und Gott errichtet und eine Dissonanz in die
Beziehungen der Menschen untereinander bringt.
Die Seligpreisung der Trauernden weist darauf hin, dass ein
Christ fähig sein muss, geduldig Kummer zu ertragen, sich vor Un
glücken und Prüfungen nicht zu fürchten, im Leben nicht nur Freu
den und Vergnügungen zu suchen. In Prüflingen muss man die
Hand Gottes sehen können und im Gefühl der Gegenwart Gottes
Trost finden. Ein Christ weint nicht wegen einer Kränkung oder
Bosheit, nicht aus Verzagtheit oder Verzweiflung, sondern aus dem
Bewusstsein der eigenen Sünden (Tränen der Reue) oder aus Freude
über die Nähe Gottes (Tränen der Ergriffenheit).
Die Eigenschaft der Sanftmut ermöglicht es, innere seelische
Ruhe zu finden. Jesus sagt: „Kommt alle zu Mir, die ihr mühselig und
beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt Mein Joch auf euch
und lernt von Mir; denn Ich bin gütig und von Herzen demütig; und
ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn Mein Joch ist sanft und
Meine Last ist leicht“ (Mt 11,28-30). Der Erlöser hat Seine Jünger
berufen, Ihn als Vorbild der Sanftmut nachzuahmen. Und der Apo
stel Petrus wendet sich in seinem Brief wie folgt an die Frauen;
„Nicht auf äußeren Schmuck sollt ihr Wert legen, auf Haartracht,
Goldschmuck und prächtige Kleider, sondern was im Herzen verbor
gen ist, das sei euer unvergänglicher Schmuck: ein sanftes und ruhi
ges Wesen“ (1 Petr 3,3-4). Sanftmut ist das Anzeichen innerer Schön
heit, die in gleicher Weise Frauen und Männern nötig ist.
Christus gebietet zu hungern und zu dürsten nach Gerechtigkeit,
das heißt immer und in allem Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit zu
suchen. Im Alten Testament tritt die Gerechtigkeit als eine der Eigen
schaften Gottes Selbst hervor: Er ist gerecht (Ps 7,10). Die mensch
liche Gerechtigkeit ist ein Abbild dieser göttlichen Gerechtigkeit. Die
Gerechtigkeit Gottes ist überzeitlich und ewig, doch sie findet Aus
druck in den Geboten, die Gott den Menschen gab, die in der Zeit
92 Teil II. Die christliche Lebensführung
Während der Alte Bund den Mord als äußerste, extreme Erschei
nungsform von Bosheit, Feindschaft und Hass des Menschen verbie
tet, hat Jesus auf die Ursachen hingewiesen, die zum Mord führen
können. Der Mensch muss den Zorn in der eigenen Seele ausrotten
und sich der beleidigenden Worte gegenüber dem Nächsten enthal
ten, damit ein Konflikt nicht tragische Folgen nach sich zieht, son
dern dort gelöst wird, wo er entsteht: im eigenen Herzen.
Schwur und Lüge
Jesus tritt auf gegen Schwören und Lügen: „Ihr habt gehört, dass zu
den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören,
und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber
sage euch: Schwört überhaupt nicht... Hure Rede sei: la ja, nein nein;
was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen“ (Mt 5,33-37). Im Neuen
Testament wird der Teufel hinterlistig genannt, weil er Ursprung von
allem Bösen und jeder Sünde ist. Der Teufel ist auch der Stammvater
der Lüge. In dieser Welt steht die teuflische Lüge der Wahrheit
Gottes gegenüber. Der Mensch, der sich auf den Weg der Lüge be
gibt, tut damit dem Teufel einen Gefallen.
Kein Widerstand gegen das Böse mit Gewalt
Ein äußerst wichtiges Prinzip der christlichen Lebensführung ist in
den folgenden Worten der Bergpredigt formuliert: „Ihr habt gehört,
dass gesagt worden ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber
sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Wider
stand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann
halt ihm auch die andere hin! Und wenn dich einer vor Gericht
bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch
den Mantel! Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm
zu gehen, dann geh zwei mit ihm! Wer dich bittet, dem gib, und wer
von dir borgen will, den weise nicht ab“ (Mt 5,38-42).
Hier wendet Jesus sich gegen das Prinzip der Vergeltung mit
gleichem Maß, das vielen sittlichen Systemen zugrundeliegt. Dieses
Prinzip war wichtig zur Vorbeugung gegenüber unverhältnismäßiger
Rache in dem soziokulturellen Milieu, das im Alten Testament be
schrieben wird. Christus stellt jedoch ein neues Prinzip auf: M an soll
nicht Böses mit Bösem vergelten.
11.3. Altteslamentliche Gebote und christliche Lebensführung 95
Feindesliebe
Ein weiteres wichtiges Prinzip der christlichen Ethik ist in den fol
genden Worten des Erlösers formuliert: „Ihr habt gehört, dass gesagt
worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind has
sen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch
verfolgen... Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen
Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und
wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun
das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer Himm
lischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,43-47).
Dieser Aufruf Jesu hatte in dem Kontext, in dem er vorgebracht
wurde, eine soziale Dimension: Sich von der Vorstellung zu ver
abschieden, dass andere Völker Feinde des eigenen Volkes sind und
Heiden und Angehörige anderer Stämme gar Feinde Gottes, bedeu
tete für einen Juden, eines der wichtigsten Bestandteile seiner Identi
tät beraubt zu werden, auf die Gleichsetzung der Erwählung des
Volkes mit nationaler Selbstbestimmung zu verzichten.
96 Teil II. Die christliche Lebensführung
Liebe isl ein inneres Gefühl, sie hat nicht so sehr eine rationale als
vielmehr eine emotionale Grundlage. Daher ist es für den Menschen
sehr schwierig, sich zu veranlassen, jemanden zu lieben, sich zu
zwingen, die Feinde zu lieben, selbst wenn er mit dem Verstand
begreift, dass dies notwendig ist. Die Liebe zu den Feinden erlangt
man nicht auf dem Weg der Selbstbeeinflussung, nicht durch den
eigenen Entschluss, sich dem Nächsten gegenüber so und nicht
anders zu verhalten. Zur Erlangung der Feindesliebe ist unbedingt
Arbeit an sich selbst erforderlich, doch diese Arbeit allein reicht nicht
aus. Notwendig ist auch, dass es eine „begünstigende Umgebung“
gibt, wo der Mensch diese Eigenschaft in sich entwickeln kann. Diese
Umgebung ist die Kirche.
Die Prinzipien der Lebensführung, die Jesus formuliert hat, wir
ken vor allem innerhalb der Kirche, der Gemeinschaft Seiner Jünger.
Doch Christ muss man nicht nur in einer Umgebung Gleichgesinn
ter sein. Die christlichen Prinzipien der Lebensführung muss der
Christ auch in einer Umgebung von Menschen verwirklichen, denen
diese Prinzipien fremd sind.
Die Lehre von der Feindesliebe darf nicht als Aufruf verstanden
werden, sich der Verteidigung des Vaterlands oder der Verteidigung
der Wahrheit zu verweigern. Der heilige Filaret von Moskau schrieb:
„Flassl die Feinde Gottes, wehrt die Feinde des Vaterlandes ab, liebt
eure eigenen Feinde“.1'
6 Filaret von Moskau, Ansprache in der 19. Woche nach Pfingsten (gehalten zwi
schen 1806 und 1808).
98 Teil II. Die christliche Lebensführung
Denken. Das ist das wichtigste und erste (jebot. Ebenso wichtig ist
das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An
diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“
(Mt 22,35-40).
Beide Gebote sind aus dem Alten Testament übernommen (Dtn
6,5; Lev 19,18); in christlicher Perspektive erhalten sie jedoch einen
neuen Inhalt und eine neue Erfüllung. Im Alten Testament wurde
unter dem „Nächsten“ der Stammesgenosse verstanden, der Sohn
desselben Volkes. Indem lesus dieses Gebot zitiert, erweitert Er we
sentlich dessen Sinn. Unter dem Nächsten versteht Er jeden Men
schen, unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit.
Der Evangelist Markus, der diese Geschichte berichtet, envähnt
die Reaktion des Gesprächspartners lesu: „Der Schriftgelehrte sagte
zu Ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast Du gesagt: Er allein ist
der Herr, und es gibt keinen anderen außer Ihm, und Ihn mit ganzem
Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Näch
sten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und
anderen Opfer. Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte,
und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk 12,
28-34).
Der Gesprächspartner Jesu nimmt nicht zufällig Bezug auf den
Opferkult. Dieser Kult wurde im alten Israel zu der Zeit eingerichtet,
als das religiöse Leben vor allem in juridischen Kategorien verstan
den wurde. Sünde galt als Übertretung vor Gott, die es erforderlich
machte, Gott gnädig zu stimmen, und dazu diente das Opfer.
Als Ablösung des Opferkultes brachte Jesus eine neue Religion,
die von anderen Voraussetzungen ausgeht: Das Verhältnis zu Gott
soll in Seiner Sicht nicht auf dem Gefühl von Pflicht und Furcht
aufbauen, sondern auf Liebe und Vertrauen. Die Liebe zu Gott, die
das ganze Wesen des Menschen erfasst, einschließlich Herz, Seele
und Verstand, soll ihren Ausdruck nicht in der Opferdarbringung
finden, sondern in der Liebe zum Nächsten. Werke der Liebe und
des Erbarmens, nicht Brandopfer und religiöse Rituale, bezeichnet Er
als das grundlegende Kriterium, nach dem Gott beim Jüngsten G e
richt die Gerechten von den Sündern trennt, die Schafe von den
Böcken (Mt 25,31-46).
11.4. Gotteshebe und Nächstenliebe 99
ist Liebe. Darin offenbarte sich die Liebe Gottes unter uns, dass Gott
Seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch Ihn
leben“ (1 Joh 4,8-9). Durch Sein Leiden und Seinen Tod hat Jesus
gezeigt: „Da Er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte Er sie
bis zur Vollendung“ (loh 13,1). Seinen Jüngern gab Er beim Heiligen
Abendmahl das Gebot der Liebe als „neues Gebot“ (Joh 13,34).
Worin besteht dieses Neue? Christus ruft Seine Jünger dazu auf,
einander nicht mit der gewöhnlichen Liebe zu lieben, die auf Gegen
seitigkeit beruht, sondern mit der opferbereiten Liebe, die keine
Antwort der Liebe erwartet. In Seinen Worten ist nicht von einer
Liebe die Rede, die auf die gemeinsame Zugehörigkeit des Liebenden
und des Geliebten zu demselben Volk begrenzt ist. Es geht auch nicht
um die Liebe zwischen Menschen, die einander durch Blutsverwandt
schaft oder durch freundschaftliche Bande verpflichtet sind. In Jesu
Worten ist die Rede von einer qualitativ anderen Liebe: sie umfasst
und übersteigt alle erwähnten Aspekte der Liebe, weil sie einen über
natürlichen Charakter hat. Quelle dieser Liebe sind nicht mensch
liche Gefühle oder Emotionen. Ihre Quelle kann nur Gott Selbst sein.
Die christliche Lehre über die Liebe ist vollumfänglich nur in der
<irche verwirklicht. Gerade die Kirche ist der Raum, wo man beru-
en ist, die Liebe von Christus Selbst zu lernen. Doch die Liebe, zu
der die Christen berufen sind, darf sich nicht auf die Glieder der
Kirche beschränken. Sie muss alle ohne irgendeine Ausnahme um
fassen, selbst die persönlichen Feinde des konkreten Menschen. Für
den Christen gehört es sich nicht, die Menschen einzuteilen in
Freunde und Feinde, die Seinen und Fremde. Für ihn sind alle die
Seinen, Nächste und Verwandte. Und er ist berufen, jeden zu lieben,
unabhängig davon, ob er auf antwortende Liebe trifft oder nicht.
Sünde
In der christlichen Lebensführung hat der Begriff Sünde große Be
deutung. Sünde ist jede beliebige Abweichung des Menschen vom
gottgegebenen Sittengesetz, von dem Ziel, für das Gott ihn vorher
II.5. Sünde und Umkehr 101
Umkehr
Die Kirche ist berufen, den Menschen in Sünden nicht anzuklagen,
sondern ihm zu helfen, sich ihrer bewusst zu werden, und ihn zu
heilen. Das Heilmittel gegen die Sünde ist die Umkehr.
Es gibt keine Sünden, die nicht durch Umkehr geheilt werden
können. Der Herr Jesus Christus sagt: „Jede Sünde und Lästerung
wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den
Geist wird nicht vergeben werden“ (Mt 12,31). Unter der Lästerung
gegen den I ledigen Geist wird gewöhnlich die hartnäckige Ableh
nung des Willens Gottes verstanden, der bewusste Eintritt in den
Konflikt mit Gott, der Unwille, seine Sünden zu bereuen und sich zu
bessern.
Umkehr ist nicht dasselbe wie Reue. Reue als Bedauern über eine
begangene Sünde kann fruchtlos sein. Judas, der den Erlöser für drei
ßig Silberlinge verraten hat, bereute und gab das Geld den Hohen
priestern und Ältesten zurück mit den Worten: „Ich habe gesündigt,
ich habe unschuldiges Blut ausgeliefert“ (Mt 27,3-4). Dabei vollzog er
keine Umkehr, kehrte nicht in die Gemeinschaft der Jünger zurück,
sondern beging eine schwere Sünde, die seine Schuld nur noch grö
ßer machte: den Selbstmord. Im Gegensatz dazu hat Petrus, der
Christus verleugnet hatte, seine Verleugnung bitterlich beweint (Mt
26,69-75), seine Liebe zu Ihm bekannt und sie mit allem Heldenmut
in seinem darauffolgenden Leben und seinem Tod als Märtyrer
erwiesen (Joh 21,15-19).
Umkehr erschöpft sich nicht in der Feststellung des Faktums
einer sündhaften Tat und in der Reue darüber. Umkehr ist ein ganzer
104 Teil II. Die christliche Lehensführung
11 Das griechische Wort geiavoia bedeutet wörtlich eine Wandlung des Verstandes,
eine Veränderung der Denkform.
II. 5. Sunde und Umkehr 105
Der Herr Jesus Christus sagt über Sich Selbst: „Ich bin gekom
men, nicht um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten“
(Joh 12,47). Der Frau, die beim Ehebruch ertappt wurde, sagt Er:
„Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt?... Auch Ich
verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh
8,10-11). Als ein Pharisäer erwartet, dass Jesus die Frau, eine Sünde
rin, verurteilt, die Ihm Seine Füße mit kostbarem Öl salbt, sagt Jesus
anstelle einer Verurteilung zu ihr: „Deine Sünden sind dir vergeben
... Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden“ (Lk 7,48.50). Über
diejenigen, die sich aufgrund der Predigt des Täufers Johannes be
kehrt haben, sagte Jesus, an die Pharisäer gewandt: „Amen, Ich sage
euch: Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes
als ihr. Denn Johannes ist zu euch gekommen auf dem Weg der
Gerechtigkeit, und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und
Dirnen haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen, und doch habt ihr
nicht bereut und ihm nicht geglaubt“ (Mt 21,31-32).
schuldigen Gatten eine zweite Ehe erlaubt. Personen, deren Ehe zerbrochen ist
und aufgrund ihrer Schuld aufgelöst wurde, wird der Eintritt in eine zweite Ehe
nur gestattet unter der Bedingung der Buße und der Erfüllung einer Kirchenbuße
[Epitimie], auferlegt entsprechend den kanonischen Regeln. In den Ausnahme
fallen, in denen eine dritte Ehe zugelassen wird, wird die Dauer der Epitimie nach
den Regeln des heiligen Basilius des Großen verlängert.“ Unter „Epitimie“ versteht
man eine bestimmte Form der Bestrafung, die in jedem konkreten Fall von der
kirchlichen Autorität festgesetzt wird.
110 Teil II. Die christliche Lebensführung
dar, für die alle Beteiligten vor Gott die Verantwortung tragen.14 Die
Anwendung empfängnisverhütender Mittel, die eine abtreibende
Wirkung haben, ist ebenfalls eine schwere Sünde.15
ln der orthodoxen Überlieferung wird nur die Verbindung zwi
schen Mann und Frau als Ehe anerkannt; sie kommt aufgrund ge
genseitiger Liebe zustande, und eines ihrer Hauptziele ist die Geburt
und Erziehung von Kindern. Die „alternativen“ Formen des Zusam
menlebens, die in der heutigen Gesellschaft Verbreitung gefunden
haben, können nicht als Ehe angesehen werden und auch keinen
kirchlichen Segen erhalten.
7. Kindererziehung
In der alten Welt wurden Kinder nicht als vollwertige Glieder der
Gesellschaft angesehen. Das Christentum hat das Verhältnis zu Kin
dern von Grund auf verändert. Die heutigen Vorstellungen von der
Würde und den Rechten der Kinder, wie sie in einer zivilisierten
Gesellschaft festgeschrieben sind, haben ihre Grundlage im christ
lichen Verständnis.
14 Zur Haltung der Kirche gegenüber der Abtreibung vgl. Grundlagen der Sozial
konzeption der Russischen Orthodoxen Kirche XII.2.
15 In den Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche (XII.3)
heißt es: „Einige empfängnisverhütende Mittel besitzen praktisch eine abtreibende
Wirkung, die bereits in den frühesten Stadien das Leben des Embryo künstlich
beendet. Deshalb unterliegen diese Mittel dem fiir die Abtreibung geltenden
Urteil. Andere Mittel, die nicht mit dem Abbruch bereits beginnenden Lebens
verknüpft sind, dürfen keineswegs einer Abtreibung gleichgestellt werden. Wenn
christliche Ehegatten ihre Haltung zu den nicht-abtreibenden Mitteln der Emp
fängnisverhütungbestimmen, lassen sie sich von der Überzeugung leiten, dass die
Weitergabe des menschlichen Lebens eines der Hauptziele des von Gott gestifteten
Ehebundes ist (vgl. X.4). Der bewusste Verzicht auf Kinder aus egoistischen
Erwägungen entwertet die Ehe und ist eine unbestreitbare Sünde“.
11.7. Kindererzieliung 111
16 Kinder, die regelmäßig kommunizieren, reagieren in der Regel sehr positiv auf die
Atmosphäre der Kirche und auf das Sakrament selbst. Für Kinder hingegen, die
man nur selten zur Kommunion bringt, kann die Kommunion mit Stress verbun
den sein. Es ist sehr wichtig, dass die Atmosphäre des Kirchenraums und des
Gottesdienstes das Kind nicht erschrecken, sondern ihm im Gegenteil vertraut
und gewohnt sind.
11.7. Kindererzieliung 113
ren. Sie entwirft ein anderes Ideal, das Ideal eines Menschen, der auf
der Erde lebt, ohne sich von der Hektik und den vielen Sorgen der
irdischen Dinge verschlingen zu lassen, sondern der „das Reich
Gottes und Seine Gerechtigkeit“ sucht, an seinen Himmlischen Vater
denkt und nicht so sehr auf die eigenen Kräfte vertraut als vielmehr
auf die Vorsehung Gottes.
Jesus lehrt: „Geht durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und
breit der Weg, der ins Verderben fuhrt, und es sind viele, die auf ihm
gehen. Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben
führt, und es sind wenige, die ihn finden“ (Mt 7,13-14). Er warnt:
„Wehe der Welt wegen der Ärgernisse! Es muss zwar Ärgernisse
geben; doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt!
Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab
und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das
Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das
ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis
gibt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben zu
kommen, als mit zwei Augen in das Feuer der Hölle geworfen zu
werden“ (Mt 18,7-9).
Das christliche Leben ist ein Weg der geistlichen Selbstüber
windung und des Kampfes. In diesem Kampf steht der Mensch je
doch nicht allein. Gott Selbst hilft ihm, Versuchungen und Ärger
nisse zu überwinden, Laster in sich auszurotten und auf dem Weg
der Tugend zu gehen, wenn der Mensch sich an Ihn um Hilfe wendet
und sich an Sein Versprechen erinnert: „Bittet, und es wird euch
gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch
geöffnet! Denn wer bittet, der empfangt; wer sucht, der findet; und
wer anklopft, dem wird geöffnet“ (Mt 7,7-8).
»»»
Aufgabe
Lesen Sie das Evangelium nach Matthäus und richten Sie besondere
Aufmerksamkeit auf die Kapitel 5-7 (Bergpredigt). Vergleichen Sie Ihr
Leben mit der Lebensgestalt, die Christus gebietet. Stellen Sie sich die
Frage: Wollen Sie so leben, wie Er es geboten hat? Wenn ja, dann sind
Sie auf dem rechten Weg.
I
Teil III
Kirche und Gottesdienst
Die Engel
Im Gebet wenden Christen sich auch an die Engel.' Die kirchliche
Lehre teilt die Engelwelt in verschiedene Chöre ein, einschließlich
der Erzengel, der Seraphim und der Cherubim.1 Einige Engel sind
lank ihrer Erwähnung in der Bibel namentlich bekannt, z.B. Gabriel
nd Michael. Jedem Menschen ist von Geburt an ein Schutzengel
eigegeben, der ihm auf dem Weg zu Gott hilft und ihn vor dem
lösen bewahrt.
Die Heiligen
Christen beten zu den Heiligen. Zur Heiligkeit sind alle Christen
berufen, nur wenige aber erreichen sie, „denn viele sind berufen,
wenige aber auserwählt“ (Mt 22,14). Jemand fragte Jesus: „Herr, sind
es nur wenige, die gerettet werden?“ Jesus antwortete: „Bemüht euch
mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen: denn viele, sage
Ich euch, werden versuchen hineinzukommen, aber es wird ihnen
nicht gelingen“ (Lk 13,23-24).
Die Heiligen sind Menschen, die den „engen“ Weg ausgewählt
haben, der zum ewigen Leben führt. Sie sind auf diesem Weg bis zum
Ende gegangen und sind für Millionen von Christen Vorbilder zur
Nachahmung geworden. Durch ihr Leben und ihre Großtaten haben
sie gezeigt, dass Heiligkeit kein unerreichbares Ideal ist, sondern die
Norm, an der alle Glaubenden sich orientieren sollen. Doch ihre
Großtat haben die Heiligen nicht im Alleingang erreicht. Gott Selbst
hat ihnen geholfen. Auf die Frage „Wer kann dann noch gerettet
werden?“, antwortete der Herr: „Was für Menschen unmöglich ist,
ist für Gott möglich“ (Lk 18,26-27). Manchmal scheint es, als ob die
geistlich-sittlichen Forderungen des Christentums die menschlichen
Kräfte übersteigen. Wie die Heiligen zeigen, verhält es sich nicht so,
und wenn der Mensch nicht nur auf seine eigenen Kräfte hofft, son
dern an Gott glaubt und auf Seine Hilfe vertraut, dann gilt: „Alles
kann, wer glaubt“ (Mk 9,23).
Im kirchlichen Kalender werden die Heiligen in einige Gruppen
unterteilt, entsprechend ihrer Lebenszeit, den Taten, die sie voll
bracht haben, und der Würde, die sie innehatten. Man unterscheidet
Heilige der alttestamentlichen Kirche und Heilige, die in der Zeit des
Neuen Testaments erstrahlten.
Zur Zahl der alttestamentlichen Heiligen gehören vor allem die
Gerechten, von denen auf den Seiten der Bibel erzählt wird, etwa
Abraham, Isaak, Jakob, Mose, König David und einige andere. In der
christlichen Kirche werden die Propheten Elija und Elischa verehrt,
von denen die Bibel berichtet, und auch die Propheten, die Bücher
verfasst haben: Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel und die zwölf „klei
nen Propheten“. Die Kette der alttestamentlichen Heiligen endet mit
Johannes dem Täufer, der an der Schwelle zum Neuen Testament
steht und mit seinem Namen die Liste der christlichen Heiligen
eröffnet (man nennt ihn manchmal den letzten Propheten und den
ersten christlichen Märtyrer).
124 Teil III. Kirche und Gottesdienst
5 Die orthodoxe Tradition folgt den Textzeugnissen, die siebzig Jünger nennen,
während westkirchliche Bibelausgaben sich auf die Zeugnisse stützen, die von
zweiundsiebzig Jüngern sprechen. [Anm. d. Übers.)
III. I. Die Gottesmutter und die Heiligen 125
Kaiser Konstantin der Große (4. Jh.), der vor allem verehrt wird, weil
durch ihn die Kirche nach drei Jahrhunderten der Verfolgung die
Freiheit erlangt hat. Der heilige Großfürst Vladimir von Kiev wird
verehrt, weil er der Rus’8 die Taufe gebracht hat. Beide erwähnte
Heilige werden als „apostelgleich“ verehrt: Die Kirche vergleicht auf
diese Weise deren Großtat mit dem Dienst der Apostel.
Heilige Dulder werden Heilige genannt, die nicht das Martyrium
für Christus erlitten haben, Ihm jedoch durch das geduldige Ertragen
von Leiden und Tot ähnlich geworden sind. Zu der Gruppe der
Dulder werden insbesondere die heiligen getreuen Fürsten Boris und
Gleb (11. Jh.) gezählt. „Kaiserliche Dulder“ werden der letzte russi
sche Zar Nikolai II., seine Frau und seine Kinder genannt, die im
Jahre 1918 erschossen wurden.
In das Himmelreich gelangt, sind die Heiligen bei Gott in ewiger
Glückseligkeit. Doch sie vergessen nicht ihre irdischen Brüder und
Schwestern, hören deren Gebete, kommen ihnen zu Hilfe und treten
für sie vor Gott ein.
8 „Rus" ist eine historische Bezeichnung für einen Stamm oder ein Herrschafts
gebiet, aus dem die christlichen Slawen hervorgegangen sind und das etymolo
gisch die Wurzel des Namens „Russland“ bildet. Der Patriarch der Russischen
Orthodoxen Kirche trägt bis heute den Titel „Patriarch von Moskau und der
ganzen Rus". [Anm. d. Übers.]
III. 1. Die Gottesmutter und die Heiligen 127
Die Reliquien vieler Heiliger sind ganz erhalten und ruhen in den
Kirchen der Orte, an denen diese Heiligen ihr großartiges Leben
gelebt oder vollendet haben. Von einigen Reliquien werden Partikel
entnommen zur Weitergabe an andere Orte und Kirchen.
2. Das Gebet
Gebet ist vor allem Gemeinschaft mit Gott. Seiner Form nach ist das
Gebet ein Gespräch, eine Unterredung. Hs findet seinen Ausdruck in
worthafter Weise.
Gebet ist immer ein Dialog: Es umfasst nicht nur die Worte, die
der Glaubende an Gott richtet, sondern auch die Antwort Gottes.
Das Gebet ist keine Einbahnstraße, es ist die Bewegung von Gott und
Mensch aufeinander zu.
Auf Gott hören, Ihn als Vater empfinden, Seine Gegenwart im
eigenen Leben spüren - dies ist das eigentliche Ziel des Gebets. Die
Antwort Gottes auf das Gebet kann in ganz verschiedenen Formen
erfolgen, doch niemals bleibt ein aufrichtiges und von Herzen kom
mendes Gebet eines Christen ohne Antwort.
Dieses Gebet hat in der christlichen Kirche den Namen „Gebet des
Herrn“ erhalten.9 Es wird in allen grundlegenden Gottesdiensten
9 ln der linken Spalte ist die im Westen gebräuchliche Fassung des Gebetes abge
druckt, in der rechten Spalte die Übersetzung der „Orthodoxen Bischofskonferenz
in Deutschland“. In der westlichen Tradition wird oft der Lobpreis angefugt:
111.2. Das Gebe1 129
„Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“
| Anm. d. Obers.]. Beim Gebet durch einen orthodoxen Laien wird dieser Lobpreis
in der Regel weggelassen; beim Vortrag des Gebetes durch einen Priester lautet e r
„Denn Dein ist das Königtum und die Macht und die Herrlichkeit, des Vaters und
des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzt und immerdar und in die Ewigkeit der
Ewigkeit. Amen.“
130 Teil III Kirche und Gottesdienst
nach an der Stirn, der Brust und der rechten und linken Schulter.10
Unter besonderen Umständen kann man auch sitzend (z.B. in öffent
lichen Verkehrsmitteln) und sogar liegend beten (zum Beispiel wenn
jemand aus Krankheitsgründen an das Bett gefesselt ist). Dabei kann
man sich der äußeren Zeichen des Gebets sogar ganz enthalten und,
ohne den Mund zu öffnen, in seinem Inneren allein mit Verstand
und Herz beten.
Das lesusgebet
In der orthodoxen Überlieferung ist seit alten Zeiten das Jesusgebet
in Gebrauch. Es existiert in einer vollen Form: „Herr Jesus Christus,
Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder (Sünderin)“, wie auch in
abgekürzten Varianten, zum Beispiel: „Herr Jesus Christus, Sohn
Gottes, erbarme Dich meiner!“. „Sohn Gottes, erbarme Dich meiner!“
Ein solches Gebet, oder gar das noch kürzere „Herr erbarme Dich“
(wie es oft im Gottesdienst erklingt) kann man für sich Vorbringen.
Das ständige Vorbringen eines solchen Gebets verhilft dem Men
schen dazu, auch nicht für eine Minute Gott zu vergessen.
Der Apostel Paulus ruft uns auf: „Freut euch zu jeder Zeit. Betet
ohne Unterlass. Dankt für alles“ (1 Thess 5,16-18). In diesen Worten
ist das christliche Leben beschrieben: erstens als erfüllt von ständiger
Freude durch die Empfindung der Gegenwart Gottes; zweitens ist
der Christ dazu aufgerufen, ständig zu beten und nicht nur zeit
weise, und gerade dieses Ideal findet seine Erfüllung in der Praxis des
Jesusgebetes; drittens ist der Christ berufen, Gott für alles zu danken,
nicht nur für Glück, Erfolg und Freude, sondern auch für Kummer
und Leid, die Gott dem Menschen zur Erprobung seines Glaubens
und seiner Geduld sendet.
10 In der Tradition des alten Ritus, der in den altgläubigen Pfarreien innerhalb der
Orthodoxen Kirche verwendet wird, werden zwei Finger (Zeigefinger und Mittel
finger) zusammengelegt, während der Daumen sich zu Ringfinger und kleinem
Finger beugt.
111.2. Das Gebet 131
und Feindschaft. Sehr häufig denken die Menschen, dass man das
Böse nur im Gegenzug durch Böses besiegen kann. Christus lehrt
jedoch anderes: Auch das Gebet ist ein machtvolles Mittel, um über
das Böse zu siegen, ja dank dem Gebet für die Feinde kann man in
seinem Herzen Feindschaft und Hass gegen sie überwinden, und dies
ist bereits eine wichtige Etappe auf dem Weg zu Versöhnung.
Christen beten nicht nur für Lebende, sondern auch für die Ver
storbenen. Ein solches Gebet ist vor allem wichtig für diejenigen, die
bereits in die andere Welt hinübergegangen sind und deren Schicksal
nach dem Tod von Gott entschieden wird. Jeder Mensch auf dieser
Erde ist durch Bande der Verwandschaft, der Liebe, der Freundschaft
oder der beruflichen Gemeinschaft mit anderen Menschen verbun
den. Und wie wir mit den uns Nahestehenden im Leben mitfühlen,
so sollen wir mit ihnen auch mitfühlen, wenn sie von uns gehen.
Das Gebet für die Verstorbenen ist außerdem wichtig für uns
selbst, die wir noch auf dieser Erde Zurückbleiben. Es hilft uns, über
den Verlust eines nahen Menschen hinwegzukommen und die Ver
bindung mit ihm nicht zu verlieren, die in Fülle wiederhergestellt
werden wird, wenn wir selbst in die Ewigkeit hinübergehen.
falls nicht selten vom Abend bis zum Morgen hingezogen (Apg 20,
7-11). In den Worten des Erlösers geht es darum, im Gebet über
flüssige Worte zu vermeiden und sich auf das Wesentliche zu be
schränken.
Wenn der Herr daran erinnert, dass das Gebet nicht heuchlerisch
oder demonstrativ sein darf, verweist Er gleichzeitig auf die Allwissen
heit Gottes: Gott weiß im voraus alles, worum wir Ihn bitten könnten.
Das Wort „Kirche“ wird sowohl verwendet für die eine, heilige,
katholische und apostolische Kirche als auch für das konkrete Ge
bäude einer christlichen Kirche.
4. D as orthodoxe Gotteshaus
Die Ikonostase
Die Ikonostase ist eine Wand mit Ikonen. Die Ikonostasen haben
entweder eine oder mehrere „Reihen“. Eine einstöckige Ikonostase
besteht aus nur einer Reihe von Ikonen. In der Mitte findet sich die
„Königstür“, die außerhalb der Gottesdienste geschlossen bleibt und
zu bestimmten Momenten des Gottesdienstes geöffnet wird. Rechts
von der Königstür befindet sich eine Ikone |esu Christi, links eine
Ikone der Allerheiligsten Gottesmutter. Weiterhin können in dieser
Reihe (man nennt sie die „Ortsreihe“) die Ikone des Heiligen oder
des Festgeheimnisses angebracht sein, dem die Kirche geweiht ist,
sowie andere für diese Kirche bedeutsame Ikonen. Außer der „Kö
nigstür“ befinden sich in der unteren Reihe der Ikonostase die nörd
liche (links) und die südliche Tür (rechts). Sie dienen als Zugang zum
Altarraum während der Gottesdienste und darüber hinaus.
Wenn die Ikonostase mehrstöckig ist, können im zweiten Rang
der Erlöser, die Gottesmutter, Johannes der Vorläufer und die Apo
stel dargestellt sein (die sogenannte „Fürbittreihe“'2), im dritten Rang
grundlegende kirchliche Festtage („Festtagsreihe“), im vierten Rang
Propheten („Prophetenreihe“) und im fünften Rang alttestament-
liche Gerechte („Patriarchenreihe“).12
12 Nach dem griechischen Wort öäqotc, das „Fürbitte" bedeutet, bildet das Zentrum
dieser Reihe die „Deesis“. Mit diesem Wort wird eine Darstellung bezeichnet, in
deren Mitte der Erlöser steht, zur Rechten die Gottesmutter, zur Linken Johannes
der Täufer.
111.4. Das orthodoxe Gotteshaus 137
14 Die Stiftshütte (das Zeltheiligtum) war ein tragbares Heiligtum, das im alten Israel
bis zum Bau des Jerusalemer Tempels verwendet wurde.
II 1.5. Ikonen und Kreuz 139
Gott ist Seiner Natur nach Geist (Joh 4,24), und Er ist unsichtbar.
Das entscheidende Ereignis der christlichen Geschichte war jedoch
die Menschwerdung Gottes, das Kommen Gottes in die Welt im
menschlichen Fleisch, ln der Menschwerdung ist „das Wort Fleisch
geworden“ (Joh 1,14), und im Angesicht des Gottessohnes Jesus
Christus erblicken Menschen das geheimnisvolle und unsichtbare
Angesicht Gottes.
Auf genau dieser Wahrheit gründen Theorie und Praxis des
„Schreibens“ von Ikonen. Der unsichtbare Gott lässt sich nicht dar
stellen, doch kann man all das darstellen, was sich den Menschen in
sichtbarer Gestalt gezeigt hat. Folglich ist es möglich, Jesus Christus
und die Ereignisse seines Lebens abzubilden. Auf der Ikone der
Erscheinung des Herrn lässt sich der Heilige Geist so darstellen, wie
Erden Menschen erschien, als Jesus aus dem Wasser stieg: in Gestalt
einer Taube. Und man kann auf Ikonen die Gottesmutter abbilden,
die Heiligen, verschiedene Ereignisse der Heilsgeschichte und der
Geschichte der Kirche.
Die Ikonen Christi, der Gottesmutter, der Engel und der Heiligen
Die Ikonen Jesu Christi können zu verschiedenen Typen gehören.
A uf der Ikone „Erlöser und Allherrscher“ (Pantokrator) wird Jesus
Christus z.B. auf einem Thron sitzend und mit einem geöffneten
Buch in den Händen dargestellt. Die Ikone „Erlöser Immanuel“ zeigt
Ihn als Jüngling mit langem, gelocktem Haar. Auf der Ikone „Erlöser
inmitten der himmlischen Mächte“ wird Er auf einem Thron sitzend
dargestellt, umgeben von Engeln - Cherubim und Seraphim.
Die Ikonen der Gottesmutter haben ebenfalls unterschiedliche
Typen, mit oder ohne Kind. Auf den Ikonen des Typs „Zärtlichkeit“
15 Leonid Uspenskij, Die Theologie der Ikone in der Orthodoxen Kirche (russ.).
142 Teil 111. Kirche und Gottesdienst
16 Die betende Anrede an das Kreuz bedeutet keine Vergöttlichung des Kreuzes als
Gegenstand, sondern eine poetische Form der Verherrlichung des Erlösers, der
am Kreuz Sein Blut zur Erlösung der Welt vergossen hat.
17 Basilius der Große, Über den Heiligen Geist, 27.
144 Teil III. Kirche umI Gottesdienst
18 Das Rhason ist ein bodenlanges Gewand mit weilen Ärmeln für Mönche, Diakone,
Priester oder Bischöfe.
19 Die Panhagia (aus dem Griechischen, wörtlich übersetzt: „Allheilige") ist ein
Medaillon mit der Darstellung der Gottesmutter. Manchmal können auf der
Panhagia auch der Erlöser oder ein Heiliger dargestellt sein.
III.6. Die kirchlichen Festtage 145
Die Kirche hat ihren eigenen Kalender, der Feste und Gedenktage
der Heiligen umfasst. Jeder Tag des kirchlichen Kalenders ist der
Erinnerung an irgendein Ereignis oder eine Person gewidmet.
Israel - das Pascha, den Übergang vom Tod zum Leben, von der Zeit
zur Ewigkeit, von der Erde zum Himmel.
Das Datum des Osterfestes wird nach einem Prinzip berechnet,
das im 4. Jahrhundert formuliert worden ist: gewählt wird der erste
Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond. Ostern kann auf einen
beliebigen Tag innerhalb der 35 Tage vom 4. April bis zum 8. Mai
nach dem neuen Stil fallen.21
Vom Osterdatum her wird der Anfang des Großen Fastens be
rechnet. Es beginnt sieben Wochen vor dem Osterfest und endet am
Vorabend des Lazarussonntags, an dem der Auferweckung des Laza
rus durch den Erlöser gedacht wird (Joh 11,1-45). Dann folgt der
Festtag des Einzugs des Herrn in Jerusalem (eine Woche vor
Ostern), gewidmet dem feierlichen Einzug Jesu Christi in Jerusalem
vor Seinem letzten Paschamahl.
Dann schließt sich die Leidenswoche an, in deren Verlauf man
Tag für Tag (von Montag bis Donnerstag) der letzten Tage und
Stunden im irdischen Leben Jesu Christi, Seines Todes am Kreuz (am
Großen Freitag) sowie Seiner Grabesruhe (am Großen Samstag)
gedenkt. Im Gottesdienst des Großen Samstag wird der Übergang
von der Trauer der Karwoche zum österlichen Jubel vollzogen.
Vom Osterdatum her berechnet werden auch die Daten der Feste
Himmelfahrt Christi (am 40. Tag nach Ostern) zum Gedenken an
die Aufnahme Christi in den Himmel, und Pfingsten (50. Tag nach
Ostern) als Feier der Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Apostel.
21 Vom 22. März bis zum 25. April nach dem .alten Stil*.
148 Teil III. Kirche und Gottesdienst
Fastenzeiten
Manchen Festen gehen Fasttage voraus: dem Osterfest sieben Wo
chen des Großen Fastens und die Leidenswoche, dem Weihnachts
fest vierzig Tage des Weihnachtsfastens, der Entschlafung der Got
tesmutter zwei Wochen des Fastens. Das Apostelfasten (oder Petrus
fasten bzw. Petrus- und Paulusfasten) kann je nach Jahr verschieden
lang dauern: Es beginnt nach dem Mondkalender eine Woche nach
dem Pfingstfest und endet nach dem Sonnenkalender am Gedenktag
der Apostel Petrus und Paulus am 29. Juni/12. Juli.
Neben dem mehrtägigen Fasten gibt es einzelne Fasttage: Mitt
woch und Freitag im Laufe des ganzen Jahres23 sowie die Feste der
Erhöhung des Kreuzes des Herrn und der Enthauptung Johannes’
des Vorläufers (29. August/11. September).
Es gibt die strenge und die gewöhnliche Weise des Fastens: An
strengen Fasttagen darf man nur vegetarisch essen, an gewöhnlichen
Fasttagen ist es erlaubt, Fisch zu essen.
23 Mit Ausnahme der Wochen, die „fastenfrei“ genannt werden, in denen das Fasten
am Mittwoch und Freitag also entfallt.
150 Teil III. Kirche und Gottesdienst
Mit dem Segen des Priesters kann das Fasten für Kranke und für
schwangere Frauen sowie - aus triftigen Gründen - auch für andere
Personen gemildert werden.
24 Während das Wort „Liturgie“ in den Westkirchen als Oberbegriff für alle kirch
lichen Gottesdienste verwendet wird, ist es in der orthodoxen Tradition der
Eucharistiefeier Vorbehalten. [Anm. d. Übers.]
III.7. Der wöchentliche und der tägliche Gottesdienstkreis 151
25 Eine Störung bei einem oder mehreren Sinnesorganen ist jedoch kein Hindernis,
am Gottesdienst teilzunehmen. Zur Zeit werden spezielle Gottesdienstordnungen
für Blinde, Schwerhörige, Taubstumme usw. ausgearbeitet.
152 Teil III. Kirche uttd Gottesdienst
8. Die Eucharistie
Die Eucharistie ist das Hauptsakrament der Kirche. Man nennt sie
das „Sakrament der Sakramente“, denn sie ist das Herzstück des
kirchlichen Lebens, das Fundament, auf dem der Bau der Kirche
errichtet ist. Ohne Teilnahme an der Eucharistie ist die Erlösung des
Menschen, sein Eintritt in das ewige Leben, nicht möglich.
111.8. Die Eucharistie 153
Der Herr Jesus Christus Selbst sagt: „Ich bin das Brot des Lebens
... Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist.
Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das Ich
geben werde, ist Mein Fleisch für das Leben der W elt... Amen, amen,
Ich sage euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst
und Sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer
Mein Fleisch isst und Mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und Ich
werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn Mein Fleisch ist
wahrhaft eine Speise und Mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer
Mein Fleisch isst und Mein Blut trinkt, der bleibt in Mir und Ich
bleibe in ihm“ (Joh 6,48-56).
Die Eucharistie ist die Erneuerung und Fortführung des Abend
mahls, des letzten Mahles Jesu mit den Jüngern, bei dem Er ihnen
Seinen Leib und Sein Blut unter der Gestalt von Brot und Wein gab.
Nach der Auferstehung des Erlösers versammelten die Jünger sich
an jedem ersten Tag der Woche, um zu Seinem Gedächtnis das Brot
zu brechen. Das eucharistische Mahl begann am Abend und konnte
sich bis zum Morgen hinziehen (Apg 20,7-11). Das Mahl hatte einen
feierlichen, rituell-liturgischen Charakter. Sein Grundton war die
Danksagung. Während des Mahles wurden die Bücher des Alten
Testaments gelesen, diesbezügliche Lehren wurden vorgetragen (Apg
2,9.11), es erklangen „Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder“ (Kol
3,16). Die Eucharistie selbst, das Brotbrechen zum Gedächtnis an
Jesus Christus, fand am Ende des Mahles statt.
Mit der Zeit verwandelte sich die Eucharistie aus einem Mahl in
einen vollständigen Gottesdienst, der gemäß einer klar vorgeschriebe
nen liturgischen Ordnung gefeiert wurde. Der Mahlcharakter blieb im
Sakrament der Eucharistie bzw. in der Heiligen Kommunion erhalten.
Die Kirche glaubt, dass jedes Mal, wenn die Eucharistie gefeiert
wird, Christus Selbst ihr vorsteht. Denn Er ist der eigentlich Han
delnde in der Eucharistie, Der durch den Priester oder den Bischof
als Vorsteher der eucharistischen Versammlung wirkt.
An der Eucharistie wirkt die ganze kirchliche Gemeinschaft mit.
Die Eucharistie wird nicht durch den Priester fü r die Pfarreimit
glieder gewirkt: Sie ist das unblutige Opfer, das die ganze Gemeinde
mit dem Priester als Haupt Gott darbringt.
154 Teil III. Kirche und Gottesdienst
nen wir Gott gefallen, Sein Wohlwollen erbitten. Doch nur durch die
Kommunion, den Empfang der Heiligen Christusgeheimnisse, ver
einigen wir uns geistlich und physisch mit Ihm, nehmen Ihn in unser
Inneres auf, so dass sich unser Leib mit Seinem Leib vereinigt und in
unseren Adern Sein Blut zu fließen beginnt.
Nach der Lehre der Heiligen Väter werden die Gläubigen durch
die Kommunion mit Gott verwandt, sie vereinigen sich mit Ihm zu
einem einzigen Fleisch. Durch Seine Menschwerdung ist der Sohn
Gottes unser Bruder geworden, und wir werden Seine Geschwister
dank der Kommunion, indem wir durch Sein Fleisch mit Seiner
Gottheit verbunden werden: „Einst wurde Er verwandt mit uns dem
Fleische nach und ließ uns teilhaben an Seiner Gottheit. So ließ Er
alle mit Sich verwandt werden“, schreibt der heilige Symeon der
Neue Theologe (10711. Jh.). „Wie Eva aus dem Fleisch und aus der
Rippe Adams genommen war und sie beide ein Fleisch wurden (Gen
2,24), so schenkt auch Christus uns Sich Selbst im Empfang Seines
Fleisches“.27
An anderer Stelle schreibt der Heilige: „Du bist dem Fleische nach
mit uns verwandt, und wir sind Deiner Gottheit nach mit Dir ver
wandt ... Miteinander vereint, werden wir alle eine Wohnung, das
heißt wir alle sind Verwandte, wir alle sind Deine Geschwister... Du
bist bei uns jetzt und in Ewigkeit, und Du machst jeden zu einer
Wohnung und wohnst in allen... ein jeder von uns je einzeln mit Dir,
Erlöser, alles in Allem ... Und auf diese Weise werden alle Glieder
eines jeden von uns zu Gliedern Christi... und wir zusammen wer
den zu Göttern, die mit Gott sind“.28
Die neue Qualität des Daseins, die der Mensch auf den Höhen der
Heiligkeit unter dem Wirken der göttlichen Gnade erlangt, nennen
die Heiligen Väter Vergöttlichung, das heißt einen Zustand, in dem
der Mensch dank der Vereinigung mit Gott göttliche Eigenschaften
erwirbt. Eines der wirksamsten Mittel zur Erlangung dieses Zustan
des ist der Empfang der Heiligen Geheimnisse Christi.
30 „Beichtvater“ oder „geistlichen Vater“ nennt man den Priester, bei dem der ortho
doxe Gläubige regelmäßig beichtet und den er, wenn nötig, um Rat bittet. Jeder
Christ soll nach Möglichkeit einen Beichtvater haben.
158 Teil III. Kirche und Gottesdienst
31 Das hebräische Wort „Alleluia" bedeutet „Preiset Gott!“ und ging zusammen mit
dem Wort „Amen“ („wahrhaftig"), unüberselzt in den christlichen Gottesdienst ein.
II 1.8. Die Eucharistie 161
Die Kommunion
Der Ruf „Das Heilige den Heiligen“ erklingt unmittelbar, bevor die
Zelebranten im Altarraum zu kommunizieren beginnen. Es bedeutet,
dass die Heiligen Gaben nur für die „Heiligen“ bestimmt sind, also
für diejenigen, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind
und die Taufe empfangen haben. In der alten Kirche wurde der
162 Teil III. Kirche und Gottesdienst
32 Im Moment der Kommunion soll man nichts anderes sagen als den eigenen
Namen: etwa dem Priester danken, Fragen stellen usw. Man sollte sich nicht
bewegen und nicht versuchen, dem Priester zu „helfen“, indem man mit dem
Mund das Löffelchen mit der Kommunion erfasst. Man sollte gerade stehen und
sich nicht bewegen, den Mund weit öffnen und ihn sofort schließen, wenn der
Löffel in den Mund gelangt ist. Weder vor noch sofort nach der Kommunion sollte
man sich bekreuzigen, um nicht gegen den Kelch zu stoßen.
III. 9. Weitere Sakramente und Riten 163
Oben haben wir über drei Sakramente gesprochen: Im ersten Teil des
Katechismus über Taufe und Myronsalbung, im vorangehenden
Kapitel des dritten Teils über die Eucharistie. Nun bleibt uns, über
vier weitere Sakramenten zu sprechen sowie über einige kirchliche
Riten.
„Buße“ oder „Beichte" heißt das Sakrament, bei dem die Gläubigen
ihre Sünden bekennen und der Priester ihnen im Namen Gottes
Vergebung zuspricht.
Viele Menschen sehen ihre eigenen Sünden und Fehler gar nicht.
Die mangelnde Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung (bei
gleichzeitiger übermäßiger Aufmerksamkeit für die Fehler anderer
Menschen) ist eine weit verbreitete geistliche Krankheit. Der Herr
Jesus sagt dazu: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bru
ders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie
kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus dei
nem Auge herausziehen! - und siehe, in deinem Auge steckt ein
Balken! Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge,
dann kannst du Zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders
herauszuziehen!“ (Mt 7,3-5).
Diese Krankheit lässt sich durch die Buße heilen. Buße bedeutet
keine unangemessene Selbstverurteilung oder Selbstkasteiung, sie
erfordert einen nüchternen, gesunden, aber kritischen Blick auf sich
selbst. Ein solcher Blick ist ohne die Hilfe Gottes schwer zu erlangen.
Daher heißt es in einem der Gebete, die im Großen Fasten gebetet
werden: „Herr, gib mir, meine Sünden zu sehen und meinen Bruder
nicht zu verurteilen.“
Die eigenen Sünden und Fehler zu sehen, ist die wichtigste Vor
aussetzung für das Bußsakrament. Um seine Sünden zu erkennen,
muss man ständig das eigene Leben mit dem Evangelium verglei
chen, mit der Bergpredigt des Erlösers aus dem Matthäusevangelium
und mit Seinen übrigen Anweisungen. Im Lichte dieser Anweisun
164 Teil III. Kirche und Gottesdienst
gen wird wie in einem Spiegel alles sichtbar, worin der Mensch an
das sittliche Ideal „nicht heranreicht“.
Die Beichte kann geschehen, indem man sich in einem Gebet an
Gott wendet, oder in Form eines Gesprächs mit dem Priester. Wich
tig ist nicht die Form, sondern der Inhalt der Beichte. Man soll in der
Beichte nicht ausführlich von seinen begangenen Sünden erzählen
und die näheren Umstände und die verschiedenen Begleitfaktoren
darlegen. Man soll nicht über fremde Sünden reden oder sich über
andere Menschen beklagen. Man sollte die Beichte nicht in eine
F.rörterung von „Problemen“, Alltagsschwierigkeiten oder theologi
schen Fragen verwandeln. Die Beichte ist vor allem die Schilderung
der eigenen Fehler, Sünden und Laster. Voraussetzung für die Befrei
ung von ihnen und die Vergebung ist der starke Wunsch des Beich
tenden, sich von ihnen loszusagen oder zumindest gegen sie an
zukämpfen.
Sehr oft nennen Menschen, die immer wieder zur Beichte kom
men, ein und dieselben Sünden. Das bedeutet nicht, dass die Beichte
unnütz ist. Die Befreiung von den Sünden geschieht nicht automa
tisch. Sünden sind ja nichts anderes als geistliche Krankheiten. Wie
auch bei körperlichen Erkrankungen ist es hier sehr wichtig, die
richtige Diagnose zu stellen. Diese Diagnose stellt der Mensch sich in
der Beichte selbst, und der Priester hilft ihm dabei. Außerdem ist es
nicht weniger wichtig, die Symptome der Krankheit seiner Seele klar
darzulegen, damit der Arzt die richtigen geistlichen Heilmittel an
wenden kann. Was die Heilung angeht, so ist sie manchmal ein
langwieriger und schwieriger Prozess, der sich über viele Jahre hin
ziehen kann.
Je näher ein Mensch Gott ist, umso mehr spürt er seine Sündhaf
tigkeit und seine Unvollkommenheit, umso schärfer wird er sich der
eigenen Unzulänglichkeiten bewusst. Der Apostel Paulus hält sich
fiir den ersten unter den Sündern (1 Tim 1,15). Das Bußsakrament
führt den Menschen dazu, sich seiner eigenen Sündhaftigkeit tief
bewusst zu werden. Dabei beginnt man, in anderen Menschen immer
weniger die Unzulänglichkeiten zu sehen, und falls man sie sieht,
vermag man die Sünde vom Sünder und die Krankheit vom Kranken
zu unterscheiden.
II1.9. Weitere Sakramente und Riten 165
Das Sakrament der Ehe hat zwei Teile: die Verlobung und die
Krönung. Die Verlobung kann unabhängig von der Krönung erfol
gen oder unmittelbar vor ihr. Bei der Verlobung schwören die künf
tigen Eheleute einander die Treue, und der Priester betet, Gott möge
ihren Ehebund segnen.
Die Krönung selbst erinnert ihrer Struktur nach an die Göttliche
Liturgie. Das hängt damit zusammen, dass in der alten Kirche die
Eheschließung nicht selten während der Liturgie vorgenommen
wurde und bei der Feier des Sakraments die ganze kirchliche G e
meinschaft teilnahm (in der heutigen Praxis erfolgt die Krönung in
der Regel außerhalb der Liturgie, und anwesend sind die Verwandten
und Freunde des Bräutigams und der Braut). Im Ritus der Krönung
werden dem Bräutigam und der Braut Kronen auf den Kopf gesetzt,
und es werden unterschiedliche Gebete und Bitten gesprochen, die
den Sinn des Ehebundes enthüllen.
Dieser Sinn findet Ausdruck auch durch die Lesung eines Ab
schnitts aus dem Brief des Apostels Paulus an die Epheser, der fol
gende Worte enthält: „Einer ordne sich dem anderen unter in der
gemeinsamen Furcht Christi! Ihr Frauen euren Männern wie dem
Herrn: denn der Mann ist das Haupt der Frau wie auch Christus das
Haupt der Kirche ist. Er selbst ist der Retter des Leibes. Wie aber die
Kirche sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen in
allem den Männern unterordnen. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie
auch Christus die Kirche geliebt und Sich für sie hingegeben h a t...
Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie
ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst... Dies ist
ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche.
Indessen sollt auch ihr, jeder Einzelne, seine Frau lieben wie sich
selbst, die Frau aber ehre ihren Mann“ (Eph 5,21-33).
In diesen Worten darf man nicht lediglich den Ausdruck einer
alten patriarchalischen Ordnung sehen, derzufolge der Mann das
Haupt der Familie ist und die Frau eine untergeordnete Stellung
einnimmt. Der Akzent liegt vor allem auf der ehelichen Treue. Die
Liebe des Mannes zur Frau muss aufopfernd sein, er muss für sie
sorgen und sie lieben nach dem Bild der aufopfernden und selbst
losen Liebe Christi zur Kirche, und die Frau muss danach streben,
den Mann in nichts zu betrüben.
Die Lesung aus dem Evangelium schildert, wie Jesus bei der Hoch
zeit zu Kana in Galiläa Wasser in Wein verwandelt (Joh 2,1-11).
Dieser Abschnitt aus dem Evangelium unterstreicht den sakramen
talen Charakter der Ehe. In den Sakramenten werden materielle
Elemente durch die göttliche Gegenwart erfüllt, sie erlangen heil
bringende Eigenschaften durch Verwandlung unter der Wirkung des
Heiligen Geistes. Brot und Wein werden in Leib und Blut Christi
verwandelt, eine Mischung aus wohlriechenden Ölen wird zum
heiligen Myron, gewöhnliches Wasser wird zu Weihwasser. Zugleich
erfolgt im Sakrament eine Verwandlung dessen, der daran teilhat. In
der Taufe wird der Mensch aus einem alten in den neuen Menschen
umgewandelt, er wird von neuem geboren. In der Eucharistie wird er
in ein Glied des Leibes Christi verwandelt und mit Christus vereint.
In der Ehe erfolgt eine Verwandlung von zwei Menschen in „ein
Fleisch“ (Gen 2,24), in einen Leib, ein Übergang von der Verein
zelung zum Einssein. Diese Vereinigung geschieht in der Kraft der
gegenseitigen Liebe der Eheleute und durch die Wirkung der Gnade
Gottes.
Die Verwandlung von Wasser in Wein ist außerdem ein Symbol
der Umgestaltung des alltäglichen Lebens der Familie in ein Fest. Die
eheliche Gemeinschaft, durch Christus gesegnet, ist ein Bund, in dem
der Herr Selbst unsichtbar gegenwärtig ist, und soll ein ständiges Fest
werden, in dem die Eheleute einander das Angesicht Gottes offen
baren, eine unaufhörliche Verwandlung ihres gemeinsamen Alltags
lebens in ein Fest.
168 Teil III. Kirche und Gottesdienst
vollzogen werden, der dem Tode nahe ist - in der Hoffnung, dass
Gott ein Wunder wirkt und ihn ins Leben zurückkehren lässt. Doch
sie ist nicht das „letzte Weggeleit“, das für einen sterbenden Christen
in Beichte und Kommunion besteht.
35 Dazu gehört unter anderem auch die zweite Heirat des Weihekandidaten selbst
oder seiner Frau.
36 In der Russischen Orthodoxen Kirche sind alle Bischöfe Mönche.
170 Teil III. Kirche und Gottesdienst
Nach der Lehre der Kirche muss der Mensch den Tod nicht
fürchten, und wenn er stirbt, so bedeutet das nicht, dass man es vor
ihm verbergen darf. Ein Priester kann einem Sterbenden helfen,
würdig, furchtlos und ruhig seinem Ende zu begegnen, sein Gewis
sen durch die Beichte zu reinigen und Leib und Blut Christi vor dem
Übergang in die Ewigkeit zu empfangen.
Wenn der Mensch seinen Geist aufgibt, betet der Priester über
ihm besondere Gebete, und dann (in der Regel am dritten Tag) fin
det die Aussegnung des Verstorbenen statt. Dafür wird sein Leib in
die Kirche gebracht, und die Nahestehenden sind anwesend, um sich
von ihm zu verabschieden. Danach bringt man den Leib des Ver
storbenen zum Friedhof und übergibt ihn der Erde. Auch daran
nimmt der Priester teil.
Es gibt noch andere kirchliche Riten, verbunden mit verschiede
nen Ereignissen im Leben eines Menschen, zum Beispiel die Segnung
eines Hauses oder einer Wohnung, eines Autos oder eines anderen
Transportmittels, Gebete vor der Einschulung von Kindern, Moleben
um Gesundung, verschiedene Arten von Gebeten für die Verstorbe
nen. Diese Riten und heiligen Handlungen werden vom Priester auf
Bitten der Gläubigen durchgeführt. Durch sie werden verschiedene
Aspekte des menschlichen Lebens und Alltagsgegenstände von der
Kirche geweiht und gesegnet.
***
Aufgaben
Diese Worte können Ihnen zur Devise werden. Suchen Sie die Freu
de nicht dort, wo sie nicht ist: in Ablenkungen, im Geld, in Lastern
und Wollust. Suchen Sie die Freude dort, wo sie wirklich zu finden
ist: in Gott, der Quelle aller Freude und allen Glücks. Irdische Freu
den gehen rasch vorüber und enden, die Freude an Gott aber „nimmt
euch niemand“ (Joh 16,22).
Das I-eben in der Kirche befreit nicht von Problemen und Lei
den, gibt aber Kraft, ruhig und freudig Leiden zu ertragen, in der
Gewissheit, entstehende Probleme lösen zu können. Es bewirkt für
Sie nicht mehr Wohlergehen als bei anderen Menschen, aber es gibt
Ihrem ganzen Leben Sinn und Inhalt, einschließlich der Leiden, die
unausweichlich zum Los jedes Menschen gehören. An diesen Leiden
und Erprobungen zerbrechen Sie nicht, weil der feste Stab des Glau
bens Sie immer davor bewahrt, in Verzweiflung und Mutlosigkeit zu
geraten.
In einem schwierigen Augenblick kommt die Kirche immer zu
Hilfe. Die Kirche hilft Ihnen, Krankheiten, die Sie heimsuchen, ruhig
zu ertragen. Sie tröstet in der Trauer um einen nahestehenden Men
schen, der in die andere Welt hinübergegangen ist, und hilft, mit ihm
lebendig verbunden zu bleiben durch das Gebet und den Gedenk
gottesdienst für die Ruhe der Verstorbenen. Sie segnet Sie für jeden
guten Neubeginn. Sie stärkt im Tun des Guten. Sie lehrt Gefahren
und Versuchungen aufzudecken und Gutes von Bösem zu unter
scheiden.
Die Kirche ist fähig, Ihr ganzes Leben zu einem Fest zu verwan
deln, wenn Sie es wrollen. Vergessen Sie Gott nicht. Leben Sie in
Christus. Nähren Sie Ihre Seele von Seinem Leib und Blut, schöpfen
Sie aus Ihm segensreiche Kraft, lernen Sie von Ihm Weisheit, Geduld,
Demut, Sanftmut, Barmherzigkeit. Drängen Sie danach, Gutes zu tun
und gegen das Böse zu kämpfen. Seien Sie Christ oder Christin nicht
nur in Worten, sondern in der Tat.
Und der Flerr möge Ihnen immer zur Seite stehen!
Zur Entstehung des Katechism us 1
Metropolit Hilarion im Interview
1 Auszug aus einem Interview, das Metropolit Hilarion anlässlich seines 50. Ge
burtstags am 24. Juli 2016 in Moskau gab.
178 Zur Entstehung des Katechismus
Sie schreiben sehr gut kurze Texte über die Glaubenslehre - fü r Über
setzungen ins Englische benutzen wir ständig Ihre Bücher.
Übrigens schrieb ich dank der Tatsache, dass wir nicht zum Pan-
orthodoxen Konzil gegangen sind. Ich hatte zwei Wochen für den
Aufenthalt auf Kreta eingeplant, doch da wir die Entscheidung ge
troffen hatten, nicht dorthin zu reisen, hatte ich unerwartet ganze
zwei Wochen frei. Diese Zeit habe ich mit dem Katechismus ver
bracht: In drei Tagen habe ich ihn geschrieben und in einer Woche
überarbeitet.
Diese zwei Bücher haben einen verschiedenen Status. Das eine ist ein
gemeinschaftlich erarbeiteter Text, und ich hoffe, dass wir ihn in die
erforderliche Fassung bringen und die kirchliche Zustimmung für
diesen Text erhalten werden. Für das, was ich jetzt geschrieben habe,
trage ich als Autor die Verantwortung. Und ich hoffe, dass dieser
Katechismus Verwendung finden wird, unter anderem in Situatio
nen, wenn ein Mensch getauft werden will und sagt: „Gebt mir ein
Buch, damit ich es in drei bis vier Tagen lesen und mich vorbereiten
kann“. Zu diesem Zweck wurde das Buch geschrieben.
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates
der Universität Freiburg Schweiz
www.aschendorff-buchverlag.de
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die
der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der
Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenver
arbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, Vorbehalten. Die Vergü
tungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahr
genommen.
d
Inhalt
V O R W O R T ........................................................................................... 1
Teil I
DIE GLAUBENSLEHRE .................................3
1. Der G la u b e ...........................................................................................5
2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer...............................................9
3. Jesus C hristus................................................................................... 21
3.1 Menschensohn........................................................................ 22
3.2 G ottessohn.............................................................................. 39
4. Der Heilige G e is t.......................................................................... 48
5. Der Dreieine Gott ........................................................................ 52
6 . Die K irche....................................................................................... 55
Teil II
DIE CHRISTLICHE LEBEN SFÜ H RU N G ............. 84
1. Die Zehn Gebote des Alten Testaments................................... 86
2. Die Seligpreisungen....................................................................... 89
3. Alttestamentliche Gebote und christliche Lebensführung . . 93
4. Gottesliebe und Nächstenliebe .................................................... 97
5. Sünde und U m kehr....................................................................... 100
6. Christliches Leben in der F am ilie.............................................. 107
7. Kindererziehung ........................................................................... 110
8. Die Frau in der Kirche ................................................................ 114
9. Christliches Leben als Weg geistlicher Selbstüberwindung. 117
II Inhalt
Teil III
K IRCH E U N D G O T T E S D IE N S T ..................... 121
N A C H W O RT ......................................................................................... 173
g Jft Aschendorff
Verlag ISBN 978-3-402-12034-7 f
! IUI III llllllllllllllll 1111III