Sie sind auf Seite 1von 185

Metropolit Hilarion (Alfeyev)

Kleine W egbegleitung
im orthodoxen Glauben

o Aschendorff
. Verlag
- ■■

Hilarion (Alfeyev)

Katechismus
Kleine Wegbegleitung
im orthodoxen Glauben

Für alle,
die sich au f die Taufe vorbereiten
die getauft sind, aber nicht vertraut mit dem Leben der Kirche
die den christlichen Glauben besser kennenlernen wollen

Übersetzt von Peter Knauer SJ


Redaktionell bearbeitet von Barbara Hallensleben

’js" Aschendorff
!5i_Verlag
Münster
2017
Vorwort

Sie wollen getauft werden?


Sie wollen ein Kind taufen lassen?
Sie wurden als Säugling getauft, aber nicht im Glauben erzogen?
Sie gehen in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden, verstehen aber
die Bedeutung der Liturgie nicht?
Sie gehören der orthodoxen Kirche an, ohne zu wissen, was diese
Kirche lehrt?
Sie haben versucht, in der Bibel zu lesen, ihren Sinn aber nicht ver­
standen?
Sie besuchen die Kirche, haben aber noch nie gebeichtet?
Sie gehen zur Kirche, beichten und kommunizieren, verstehen aber
vieles nicht und möchten Ihre Kenntnisse vertiefen?
Sie zählen sich nicht zu den Christen, möchten aber Einblick in den
christlichen Glauben erhalten?
In jedem Falle ist dieses Buch für Sie gedacht.

Das Wort Katechismus kommt aus dem Griechischen und bedeutet:


Darlegung oder Unterweisung: Als Katechismus bezeichnet man ge­
wöhnlich ein Buch, das in knapper und leicht verständlicher Form
die grundlegenden Wahrheiten des christlichen Glaubens darstellt.
Ein Katechismus ist eine Wegbegleitung im Glauben. Er hat nicht die
Aufgabe, etwas zu beweisen, sondern will darlegen und erläutern.
Den berühmtesten Orthodoxen Katechismus verfasste der heilige
Filaret, ein herausragender Kirchenmann und Theologe, der von
1821 bis 1867 Metropolit von Moskau war. Sein Katechismus1behält
bis heute seine Bedeutung als angesehene, von der höchsten kirch­
lichen Autorität approbierte Darstellung der Grundlagen der ortho­
doxen Glaubenslehre.1

1 Filaret von Moskau, Ausführlicher christlicher Katechismus der rechtgläubigen,


katholischen, morgenländischen Kirche, hg. von Martin Tamcke, Berlin 2015
(erste russische Auflage 1823); zitiert als: Filaret von Moskau, Katechismus (ohne
Angabe von Seitenzahlen).
2 Vorwort

Seit der Herausgabe dieses Katechismus sind jedoch fast zwei­


hundert Jahre vergangen. Inzwischen hat sich die Denkweise der
Menschen grundlegend verändert. Einige Themen haben an Aktuali­
tät verloren. Gleichzeitig entstanden viele neue fragen, und Men­
schen suchen nach einfachen und klaren Antworten. Nicht zuletzt
sind neue, verbindliche kirchliche Texte erschienen, die es im 19.
Jahrhundert noch nicht gab, die aber heute vorliegen und nicht
außer Acht gelassen werden dürfen.2
Daher erscheinen selbstverständlich auch neue Katechismen,
ausführlich oder kurz, gemeinschaftlich oder von einem einzigen
Autor verfasst.
Der Katechismus, den Sie in Händen halten, stellt den Versuch
dar, über den orthodoxen Glauben nachzudenken und seine Grund­
lagen für unsere Zeitgenossen kurz darzulegen. Er besteht aus drei
Hauptteilen:
• Der erste Teil ist den grundlegenden Wahrheiten der Glaubens­
lehre der Orthodoxen Kirche gewidmet: Glaube, Gott, Jesus Chris­
tus, Heiliger Geist, Kirche, Taufe und Auferstehung der Toten.
• Der zweite Teil befasst sich mit Themen der christlichen Lebens­
führung: die Zehn Gebote im Allen Testament, die Seligpreisun­
gen der Bergpredigt Jesu Christi, Gottesliebe und Nächstenliebe,
Sünde und Umkehr, verschiedene Fragen des Familienlebens,
Kindererziehung, der Ort der Frau in der Kirche.
• Im dritten Teil geht es um Gebet und Gottesdienst, das Gottes­
haus und die Ikonen, den kirchlichen Kalender und kirchliche
Feste, die Göttliche Liturgie und andere Gottesdienste, Sakra­
mente und Riten.
Machen wir uns also auf den Weg! Diesen Weg gehen wir gemein­
sam, Sie und ich, der Verfasser dieses Buches, ein Bischof der Russi­
schen Orthodoxen Kirche.
Möge der Herr Jesus Christus Selbst
uns auf diesem Weg vorangehen.

2 Dazu gehören: Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche


(2000); Grundlegende Prinzipien der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche
zu Andersglaubenden (2000); Grundlegende Aussagen der Russischen Orthodoxen
Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen (2008).
Teil I
Die Glaubenslehre

Der christliche Glaube ist ein zusammenhängendes Ganzes, gegrün­


det auf den Lehren des Herrn Jesus Christus. Diese Lehre hat die
Kirche bedacht und dargelegt in der Sprache theologischer Defi­
nitionen oder Dogmen, wie die Wahrheiten der Glaubenslehre
genannt werden. Die Zustimmung zu ihnen ist eine unerlässliche
Bedingung für die Zugehörigkeit zur Kirche.
Wir werden uns mit den Grundlagen der christlichen Glaubens­
lehre vertraut machen, indem wir Schritt für Schritt dem Text des
Glaubensbekenntnisses folgen. Dieses Bekenntnis ist eine kurze
Darstellung der grundlegenden christlichen Dogmen. Es erhielt seine
endgültige Fassung im vierten Jahrhundert beim zweiten Ökume­
nischen Konzil von Konstantinopel.3

Ich glaube an den einen Gott, den Ich glaube an den einen Gott, den
allmächtigen Vater, Schöpfer des Him­ Vater, den Allherrscher, den Schöpfer
mels und der Erde, alles Sichtbaren des Himmels und der Erde, alles Sicht­
und Unsichtbaren. baren und Unsichtbaren,
Und an den einen Herrn Jesus Chris­ und an den einen Herrn Jesus Chris­
tus, Gottes einziggeborenen Sohn, Der tus, Gottes einziggezeugten Sohn, den
vom Vater gezeugt ist vor aller Zeit. aus dem Vater Gezeugten vor aller
Zeit,
Licht vom Lichte, wahrer Gott vom Licht vom Lichte, wahren Gott vom
wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen,

3 Es gibt für den deutschen Sprachraum bislang keine einheitliche Übersetzung der
orthodoxen Bekenntnistexte. Kürzlich hat die „Orthodoxe Bischofskonferenz in
Deutschland“ eine Übersetzungskommission eingesetzt und eine neue, kirchlich
autorisierte Übersetzung der Gottesdiensttexte vorgelegt, zu denen auch das
Glaubensbekenntnis gehört. Dieser Text ist in der rechten Spalte parallel zu einer
ebenfalls gebräuchlichen Übersetzung des Glaubensbekenntnisses abgedruckt.
|Anm. d. Übers.]
4 Teil I. Die Glaubenslehre

eines Wesens mit dem Vater, durch Den den dem Vater Wesenseinen, durch
alles erschaffen ist. den alles geworden ist,
Für uns Menschen und zu unserem den für uns Menschen und zu unserer
Heil ist Er vom Himmel herabgestiegen Errettung von den Himmeln Herab­
und Fleisch geworden vom Heiligen gestiegenen und Fleischgewordenen
Geist und der Jungfrau Maria und ist aus dem Heiligen Geist und der Jung­
Mensch geworden. frau Maria und Menschgewordenen,
Er wurde für uns gekreuzigt unter den fü r uns unter Pontius Pilatus
Pontius Pilatus, hat gelitten und ist Gekreuzigten, der gelitten hat und be­
begraben worden, ist am dritten Tage graben worden ist, den am dritten Tage
auferstanden nach der Schrift. Auferstandenen gemäß den Schriften,
Er ist aufgefahren in den Himmel und den in die Himmel Au fgestiegenen und
sitzt zur Rechten des Vaters. zur Rechten des Vaters Sitzenden,
Er wird wiederkommen in Herrlichkeit, den mit Herrlichkeit Wiederkommen­
zu richten die Lebenden und die Toten: den, zu richten die Lebenden und die
Seiner Herrschaft wird kein Ende sein. Toten, dessen Königtum ohne Ende
sein wird,
Und an den Heiligen Geist, den Herrn, und an den Heiligen Geist, den Herrn,
den Lebenschaffenden, Der vom Vater den Lebenschaffenden, den aus dem
ausgeht, Der mit dem Vater und dem Vater Hervorgehenden, den mit dem
Sohn zugleich angebetet und verliere Vater und dem Sohn Angebeteten und
licht wird, Der gesprochen hat durch Verherrlichten, der gesprochen hat
die Propheten. durch die Propheten,
Und an die eine, heilige, katholische an die eine, heilige, katholische und
und apostolische Kirche. apostolische Kirche.
Ich bekenne die eine Taufe zur Ver­ Ich bekenne die eine Taufe zur Ver­
gebung der Sünden. gebung der Sünden.
Ich erwarte die A ufersteliung der Toten Ich erwarte die A ufersteliung der Toten
und das Leben der kommenden Welt. und das Leben der künftigen Welt.
Amen. Amen.
1.1. Der Glaube 5

1. Der Glaube

Das Glaubensbekenntnis beginnt mit den Worten „Ich glaube“. Es


verweist auf den Glauben als Grundlage der Wechselbeziehung
zwischen Mensch und Gott.
Was ist Glaube?
Viele Menschen bezeichnen sich als Gläubige. Einige von ihnen
kennen die Grundlagen ihres Bekenntnisses nicht und können es
nicht von anderen Religionen unterscheiden. Einige sagen: „Ich gehe
nicht in die Kirche, aber Gott ist im Herzen bei mir.“ Fragt man
Menschen danach, wie sie sich Gott vorstellen, sind die Antworten
nicht selten vage: „Ich glaube an etwas Lichtes, Gutes“. „Ich glaube
an das Gute. Das Wichtigste ist doch, ein guter Mensch zu sein; ob
jemand in die Kirche geht oder nicht, ob man diese oder jene Riten
befolgt, spielt keine Rolle.“
Warum genügt es nicht, „Gott im Herzen zu haben“? Warum
genügt es nicht, an irgendein abstraktes und fernes gutes Prinzip zu
glauben? Weil der Glaube nicht einfach eine intellektuelle oder ratio­
nale Überzeugung von der Existenz Gottes ist, von der Existenz einer
anderen Welt oder höherer Mächte. Glaube ist eine Lebensform, die
in der Gemeinschaft mit Gott gründet. Glaube setzt eine persönliche
Begegnung des Menschen mit Gott voraus.
Der Weg zum Glauben ist ein geheimnisvoller und in vieler Hin­
sicht unerklärbarer Prozess. Nach Auffassung der christlichen Über­
lieferung gibt es jedoch in jeder menschlichen Seele eine religiöse
Empfindung. Für den lateinischen Schriftsteller Tertullian (2./3. Jh.)
ist die Seele „von Natur aus christlich“.4 Ein anderer westlicher
Autor, der heilige Augustinus (4. Jh.), schreibt: „Du hast uns auf
Dich hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in
Dir“.5 Jeder Mensch - so lässt sich sagen - hat eine innere Veranla­
gung zum Glauben, ein angeborenes Streben zu seinem Schöpfer.
Allerdings tritt das naturgegebene religiöse Empfinden nicht bei
jedem Menschen ausdrücklich hervor.

4 Tertullian, Apologeticum, 17.


5 Augustinus, Bekenntnisse, 1 ,1.
6 Teil I. Die Glaubenslehre

Der Glaube ist ein Feuer, das sich im Herzen des Menschen ent­
zündet. Das Feuer des Glaubens hat im Laufe der lahrhunderte Men­
schen zu Großtaten und heroischen Leistungen inspiriert. Der Glaube
begeisterte Menschen, die sich für ihre Überzeugungen einsetzten
und bereit waren, dafür ihr Leben zu geben. Der Glaube war die
geistliche Kraft, die den Märtyrern half, grausamste Leiden zu er­
tragen, und er half denen, die zur Hinrichtung geführt wurden, die
letzten Minuten zu durchleben und der Todesstunde mit Würde zu
begegnen. Und dies geschah nicht nur in früheren Jahrhunderten,
sondern auch in jüngster Zeit, als gewaltige Kräfte und Mittel einge­
setzt wurden, um den Glauben aus den Herzen der Menschen her­
auszureißen, und als Glauhenszeugen physisch vernichtet wurden -
Geistliche, Mönche und Laien.
Der Glaube ist ein inneres Brennen und die Bereitschaft des
Menschen, all seine schöpferischen Kräfte, ja das ganze Leben dem
Dienst am höchsten Ideal zu widmen. Der Glaube hat Künstlern,
Architekten, Musikern, Dichtern, Schriftstellern geholfen, erhabene
und herrliche Kunstwerke zu schaffen. Der christliche Glaube hat
über viele Jahrhunderte das kulturelle Leben der Menschheit berei­
chert, und zahlreiche herausragendc Kunstwerke wurden durch die
Ideale des Glaubens inspiriert.
Glaube - Gehorsam gegenüber Gott
Der Hebräerbrief gibt folgende Definition: „Glaube ist: Grundlage
dessen, was man erhofft, ein Zutagetreten von Tatsachen, die man
nicht sieht ... Aufgrund des Glaubens erkennen wir, dass die Welt
durch Gottes Wort erschaffen wurde und so aus Unsichtbarem das
Sichtbare entstanden ist“ (Hebr 11.1-3).6
Als Beispiel wird der biblische Stammvater Abraham angeführt:
„Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen
in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu
wissen, wohin er kommen würde. Aufgrund des Glaubens siedelte er
im verheißenen Land wie ein Fremder.... denn er erwartete die Stadt
mit den festen Grundmauern, die Gott Selbst geplant und gebaut hat

6 Für die Übersetzung der Worte aus der Bibel wird in der Regel die 2016 erschienene
neue „Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift“ verwendet. [Anm. d. Übers.]
1.1. Der Glaube 7

... Aufgrund des Glaubens hat Abraham den Isaak hingegeben, als er
auf die Probe gestellt w urde... Er war überzeugt, dass Gott sogar die
Macht hat, von den Toten zu erwecken“ (Hebr 11,8-10.17.19).
In der Bibel (Gen 22,2-12) wird berichtet, wie Gott dem hundert­
jährigen Abraham und seiner unfruchtbaren Frau Sara verheißt,
ihnen einen Sohn zu schenken, wie die betagten Eheleute viele Jahre
auf die Erfüllung der Verheißung warten, wie der langersehnte Sohn
geboren wird und wie dann, als der Knabe heranwächst, Gott Abra­
ham auf die Probe stellt und sagt: „Nimm deinen Sohn, deinen ein­
zigen, den du liebst, Isaak; geh in das Land Morija und bring ihn dort
auf einem der Berge, den Ich dir nenne, zum Brandopfer dar.“ Als
Abraham diesen Befehl erhalten hat, macht er sich zusammen mit
Sohn und Dienern auf den Weg.
Am dritten Tag sieht er von Weitem den Ort, den Gott angegeben
hat, und sagt zu den Dienern: „Bleibt mit dem Esel hier. Ich und der
Knabe, wir wollen dorthin gehen und uns niederwerfen.“ Als Isaak
sieht, dass Abraham kein Opfertier mit sich genommen hat, fragt er
den Vater: „Hier sind Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das
Brandopfer?“ Abraham antwortet: „Gott wird sich das Lamm für das
Brandopfer ausersehen, mein Sohn.“
Schließlich gelangen Vater und Sohn zu dem von Gott angegebe­
nen Ort. Abraham bindet Isaak, legt ihn auf die Opferstätte und
erhebt über ihm das Messer, um ihn zu erstechen. In diesem Augen­
blick hört er die Stimme eines Engels: „Streck deine Hand nicht
gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß
ich, dass du Gott fürchtest; du hast Mir deinen Sohn, den einzigen,
nicht vorenthalten.“
Mit Recht wird Abraham „Vater aller Glaubenden“ genannt
(Röm 4,11). Der Beschreibung seines Lebens ist ein erheblicher Teil
des ersten Buchs der Bibel (Gen 11,26-25,9) gewidmet, wo er als
Vorbild unbedingter und ungeteilter Hingabe an Gott erscheint.
Durch sein Leben hat er gezeigt, was Glaube ist und wie der Glaube
sein soll. Glauben bedeutet vertrauen, lieben, gehorchen. Glaubende
vertrauen auf Gott mehr als auf sich selbst, sie lieben Gott mehr als
sich selbst und suchen Seinen Willen mehr als den eigenen Willen zu
erfüllen.
8 Teil I. Die Glaubenslehre

Die Göttliche Offenbarung


Der christliche Glaube ist nicht Frucht menschlicher Kreativität oder
menschlicher Weisheit. Er gründet in der Göttlichen Offenbarung,
das heißt in dem, „was Gott selbst den Menschen offenbaren wollte,
damit sie in der rechten Weise und zu ihrem Heil an Ihn glauben
und Ihn würdig ehren können“.7
Das Wesen der Göttlichen Offenbarung ist im Hebräerbrief mit
folgenden Worten ausgedrückt: „Vielfältig und auf vielerlei Weise
hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; am
Ende dieser Tage hat Er zu uns gesprochen durch den Sohn" (Hehr
1,1-2). Gott hat sich den Menschen also allmählich und schrittweise
eröffnet. Der erste Schritt der Offenbarung Gottes erfolgte durch die
Propheten, der zweite durch Seinen Sohn )esus Christus.

Heilige Schrift und Heilige Überlieferung


Die zwei Schritte der Göttlichen Offenbarung finden Ausdruck in
der Heiligen Schrift der Christen, in der Bibel.89Sie hat zwei Teile:
das Alte und das Neue Testament.
Das Alte Testament besteht aus einer Sammlung von Büchern,
die der Geschichte der Menschheit seit der Erschaffung der Welt
sowie der Geschichte des auserwählten Volkes Israel gewidmet sind.
Einen bedeutenden Platz in dieser Sammlung nehmen die Bücher
der Propheten ein. Sie sagen unter anderem voraus, dass ein Erlöser
in die Welt kommen wird.
Das Neue Testament enthält vier Evangelien, die über Leben,
Leiden, Tod und Auferstehung (esu Christi berichten; das Buch der
Apostelgeschichte, das die Anfangszeit im Leben der christlichen
Kirche darstellt; die Briefe des heiligen Apostels Paulus, die ein brei­
tes Spektrum von Themen zu Theologie und christlicher Lebensfüh­
rung ansprechen; die katholischen Briefe'' heiliger Apostel, die sich

7 Filaret von Moskau. Katechismus.


8 Das Wort „Bibel“ stammt aus dem Lateinischen und ist dem griechischen Wort
ßißAia entlehnt, das „Bücher" bedeutet.
9 Die Bezeichnung „katholisch“ hat verschiedene Bedeutungen. Hier weist sie darauf
hin, dass diese Briefe sich nicht an einen bestimmten Menschen richten, sondern
an die ganze kirchliche Gemeinschaft.
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 9

mit einzelnen Aspekten des christlichen Glaubens und der christ­


lichen Lebensführung befassen; die Apokalypse, die von der Voll­
endung der Weltgeschichte und von der Zweiten Ankunft Christi
handelt.
Die Kirche bezeichnet alle Bücher der Heiligen Schrift als „gött­
lich inspiriert“ oder „von Gott eingegeben“. Ihre Verfasser waren
Menschen, doch sie schrieben unter der Einwirkung des Heiligen
Geistes101, unter Seiner Eingebung.
Die Heilige Schrift ist für die Christen die maßgebende und unbe­
streitbare Quelle des Glaubens. Die Heilige Schrift ist Teil der Über­
lieferung, und nur aus dem Inneren der Überlieferung kann sie
richtig interpretiert werden.
Unter der Heiligen Überlieferung versteht die Orthodoxe Kirche
die Glaubenslehre, die Sakramente oder Mysterien", die Riten, die
Bestimmungen der Lebensführung und die ganze Vielgestaltigkeit
geistlicher Erfahrung, die den Gläubigen von Generation zu Genera­
tion weitergegeben wird, in schriftlicher oder in mündlicher Form.

2. Der eine G ott - Vater und Schöpfer

Das Glaubensbekenntnis beginnt mit den Worten: Ich glaube an den


einen Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der
Erde, alles Sichtbaren und Unsichtbaren.

Gott ist einer


Hier wird vor allem das grundlegende Dogma des christlichen Glau­
bens betont: Es gibt nur einen Gott.
Das Christentum ist eine monotheistische Religion. Der Glaube
an den einen Gott12 ist im Christentum das Erbe der Religion des

10 Zum Heiligen Geist: siehe unten S. 48-52.


11 Das griechische Wort gvcmiQLOv bezeichnet in der Bibel im Singular das Heils­
geheimnis Gottes in Jesus Christus (Eph 1,9; 3,3-4). Im Westen wurde dieses Wort
mit „Sakrament“ übersetzt. Die Orthodoxe Theologie verwendet oft im Anklang an
das Griechische für die Sakramente den Ausdruck „Mysterien". [Anm. d. Übers.]
12 „Monotheismus“ (aus dem Griechischen: pövoc= einzig, und öedc = Gott) ist der
10 Teil I. Die Glaubenslehre

jüdischen Volkes, die auf den Seiten des Alten Testaments, im ersten
Teil der Bibel, Ausdruck findet.
Der Gott, über den das Alte Testament spricht, ist der eine und
einzige Gott: „Vor Mir wurde kein Gott erschaffen, und auch nach
Mir wird es keinen geben. Ich, Ich bin der Herr, und außer Mir gibt
es keinen Erlöser“ (]es 43,10-11). Das erste Gebot des mosaischen
Gesetzes lautet: „Ich bin der Herr, dein G o tt... Du sollst neben Mir
keine anderen Götter haben“ (Ex 20,2-3). Im Buch Deuteronomium
sagt Gott über Sich Selbst: „Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der
Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit
ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,4-5).
Jesus hat immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig das
alttestamentliche Gebot der Verehrung des einen Gottes ist. Dem
Versucher antwortet er: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten
und Ihm allein dienen“ (Ml 4,10; l.k4,8). Auf die frage des Schriftge­
lehrten: „Welches Gebot ist das erste von allen?“, antwortet Jesus
„Das erste ist: Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, ist ein einziger
Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem
Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner
ganzen Kraft“ (Mk 12,28-30).
Der Apostel Paulus sagt: Es gibt „keinen Gott außer dem einen.
Und selbst wenn es im Himmel oder auf der Erde sogenannte Götter
gibt .... so haben doch wir nur einen Gott, den Vater." Von Ihm
stammt alles und wir leben auf Ihn hin. Und einer ist der Herr: Jesus
Christus. Durch Ihn ist alles und wir sind durch Ihn“ (1 Kor 8,4-6).

Glaube an den einen Gott. Andere monotheistische Religionen sind das Judentum
und der Islam. Manchmal werden Christentum. Judentum und Islam als „abraha-
mitische Religionen" bezeichnet nach der biblischen Gestalt Abraham, der in allen
drei religiösen Traditionen verehrt wird.
13 Der Sinn dieser Worte ist folgender: Obwohl man verschiedene erdachte Wesen
im Himmel und von Menschen vergötterte Gegenstände auf Erden .Götter' nannte,
gibt es in Wirklichkeit nur einen einzigen Gott. Hier bezieht sich der Apostel auf
verschiedene formen des Polytheismus (aus dem Griechischen: itoXiic = „viel“
und frcöc = „Gott“) oder der heidnischen Vielgötterei. Zu den polytheistischen
Religionen zählten insbesondere die Religionen im antiken Griechenland und in
Rom. Bis heute bestehen solche polytheistischen Religionen wie Hinduismus,
Taoismus, Jainismus, Shintoismus und einige andere.
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 11

Das Verständnis Gottes im Alten Testament


Gott im Alten Testament ist keineswegs eine abstrakte und weit vom
Menschen entfernte unpersönliche Kraft. Er ist der lebendige Gott
(1 Kön [1 Sam]17,26.36; 4 [2]Kön 19,161J), Er ist immer lebendig
und tätig, „Siehe, Er schlummert nicht ein und schläft nicht“ (Ps 120
[121],4)'\ „Er wird nicht müde und matt“ des 40,28).
Gott im Alten Testament ist der heilige Gott (Jes 57,15), Sein
Name ist „heilig und furchtgebietend“ (Ps 110(1111,9; 98 [99],3). Er
wird „gut“ genannt (Ps 33 [34],9; 99 [100],5; 145 [144],9): Er ist das
absolut Gute, Quelle alles Guten und aller Heiligkeit.
Gott ist der „Richter der ganzen Erde“ (Gen 18,25); „Er hält
Gericht über alles Fleisch. Die Schuldigen liefert Er dem Schwert aus“
der 25,31). Er ist ein gerechter Richter, „ein Gott, der täglich strafen
kann“ (Ps 7,12); „Du hast Dich auf den Thron gesetzt als gerechter
Richter“ (Ps 9,5); „den einen erniedrigt, den anderen erhöht Er“ (Ps
74 [75],8); „Erhebe dich, Richter der Erde, vergilt den Stolzen ihr
Tun“ (Ps 93 (94],2).
In vielen alttestamentlichen Texten wird über Gott auf metapho­
rische Weise wie über ein dem Menschen ähnliches Wesen gespro­
chen, das ein Angesicht, Augen, Ohren, Hände, Beine, Atem hat. Es
heißt: Gott sieht, hört, spricht, geht, wendet Sich zu und wendet Sich
ab, erinnert Sich und vergisst, zürnt und besänftigt Sich, wundert
Sich, verabscheut, trauert, bereut.
Dieser metaphorischen Sprache liegt die Erfahrung der persönli­
chen Begegnung mit Gott zugrunde, das Empfinden Seiner ständigen
Teilnahme am Leben der Menschen. In früheren Zeiten spürten die
Menschen Gott an ihrer Seite - Er war ihr Herrscher und Wegbeglei­
ter, gegenwärtig in ihren Gottesdiensten und Festen, als Beistand im

14 Bei der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wurde das Buch „Samuel“
in zwei Abschnitte geteilt, die 1. und 2. Buch der Könige genannt wurden; die
folgenden Bücher wurden als 3 Kön und 4 Kön in die Zählung eingereiht. Dieser
Bezeichnung folgen die orthodoxen Bibelausgaben. [Anm. d. Übers.]
15 Auch in der Zählung der Psalmen folgen die orthodoxen Bibelausgaben der grie­
chischen Übersetzung (Septuaginta). Die im Westen übernommene hebräische
Zählung wird in Klammern hinzugefugt, damit die Angaben in jeder beliebigen
Bibelausgabe gefunden werden können. [Anm. d. Übers.]
12 Teil 1. Die Glaubenslehre

täglichen Leben. Ihre Erfahrung der Gemeinschaft mit Ihm suchten


sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auszudrücken,
indem sie menschliche Bilder und Begriffe verwendeten.

Dos Verständnis Gottes im Neuen Testament


Im Neuen Testament erweist sich Gott durch Jesus Christus vor
allem als unser Himmlischer Vater. Im Alten Testament wird der
Name „Vater“ manchmal für Gott verwendet (Jes 63,16), doch in
dem Sinne, dass Er der Vater des Volkes Israel war. Im Neuen Testa­
ment wird nachdrücklich und beständig die Vorstellung von Gott als
dem Vater aller Menschen vertreten.11’
Für jeden Menschen hat Gott einen Plan, und jeder Mensch ist
wertvoll in Seinen Augen. Für Gott gibt es keine überflüssigen Men­
schen und niemanden, der nicht Seiner Aufmerksamkeit und Liebe
wert ist. Gott denkt an jedes Seiner Geschöpfe: „Verkauft man nicht
zwei Spatzen für einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur
Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die
Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht: ihr seid
mehr wert als viele Spatzen“ (Ml 10,29).
Von Seinem Himmlischen Vater sagt Jesus: Er ist „barmherzig“
(Lk 6,36), „Er ist gütig auch gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lk
6,35), „Er lässt Seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und Er
lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45).
So gut ein Mensch auch sein mag - nie erreicht er Gottes Güte.
In diesem Sinne sagt Jesus: „Niemand ist gut außer der eine Gott“
(Mk 10,18; Mt 19,17). Zugleich ruft Er Seine Jünger dazu auf, Gott in
Seiner Vollkommenheit nachzuahmen (Mt 5,48) und daran zu den­
ken, dass die Barmherzigkeit sie Gott gleichförmig macht (Lk 6,36)
und die Friedenstifter zu Kindern Gottes werden (Mt 5,9).
Auf dem Fundament der Religion des Alten Testaments schuf
Jesus eine neue Religion, die alle Menschen zu Söhnen und Töchtern
Gottes macht. Die Annahme als Kinder Gottes erfolgt durch den16

16 ln den Lehren Jesu Christi nach dem Matthäusevangelium findet sich die Zusam­
menstellung „Himmlischer Vater" (immer mit dem Fünvort „euer” oder „Mein )
insgesamt zivanzigmal.
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 13

Heiligen Geist: „Die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Kinder
Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen,
so dass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den
Geist der Sohnschaft empfangen, in dem wir rufen: ,Abba, Vater!'17.
Der Geist selbst bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind“
(Rom 8,14-16).

Gottes Eigenschaften
Die Heilige Schrift bezeugt Gott als unergründlich: „O Tiefe des
Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie uner­
gründlich sind Seine Entscheidungen, wie unerforschlich Seine Wege!
Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist Sein
Ratgeber gewesen?“ (Rom 11,33-34). Obwohl unbegreiflich in Seiner
Natur, hat Gott Sich im Laufe der Jahrhunderte den Menschen durch
Seine Werke offenbart, durch die Propheten und durch Seinen Ge­
sandten Jesus Christus (Hebr 1,1-2; 3,1).
Nach dem Zeugnis der Schrift ist Gott unsichtbar. Im Alten
Testament sagt Gott zu Mose: „Du kannst Mein Angesicht nicht
schauen, denn kein Mensch kann Mich schauen und am Leben
bleiben“ (Ex 33,20). Das Neue Testament wurde jedoch zur Offenba­
rung des unsichtbaren Gottes durch Seinen Sohn. Im Johannes­
evangelium ist das Wesen dieser Offenbarung so ausgedrückt: „Nie­
mand hat Gott je gesehen. Der einziggeborene Gott, Der im Schoße
des Vaters ist, Er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18).
Jesus Christus sagt: „Gott ist Geist“ (Joh 4,24). Gott hat also
keinen Leib, ist immateriell und nicht begrenzt durch Zeit und
Raum. Der heilige Filaret von Moskau schreibt: „Gott ist ewiger
Geist, allgütig, allwissend, allgerecht, allmächtig, allgegenwärtig,
unveränderlich, allgenügend'8, allselig“.19
Im Neuen Testament heißt es: „Gott ist Licht, und Finsternis ist
nicht in Ihm“ (1 Joh 1,5). Der Begriff „Licht“ ist hier metaphorisch
gebraucht. Licht symbolisiert das Gute, während Finsternis das Böse

17 „Abba" ist ein aramäisches Wort und bedeutet „Vater".


18 D.h. sich selbst genügend, keinen Mangel leidend.
19 Filaret von Moskau, Katechismus.
14 Teil I. Die Glaubenslehre

symbolisiert. Es geht hier nicht um das Eicht, das wir mit dem physi­
schen Sehen erfassen können. Nach den Worten des Apostels Paulus
ist Gott ein Gott, „Der in unzugänglichem Licht wohnt, Den kein
Mensch gesehen hat noch je zu sehen vermag" (1 Tim 6,16). Der
heilige Gregor von Nazianz (4. )h.) vergleicht Gott mit der Sonne:
„Gott ist das höchste Licht, unzugänglich, unaussprechlich, dem
Verstände unbegreiflich, in keinem Worte aussagbar, doch Er er­
leuchtet jede Vernunftnatur, Er ist in der geistigen Welt das, was die
Sonne für die sinnliche Welt ist“.20
Das Neue Testament bezeugt: „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8.16) Er
hat nicht nur Liebe, die auf etwas Ihm Äußerliches gerichtet ist: Er ist
in Sich Selbst, in Seinem Sein, die Liebe. Zugleich erweist sich Seine
Liebe nach außen. Einer dieser Erweise der göttlichen Liebe ist die
Erschaffung der Welt und des Menschen.

Gott, der Schöpfer des Weltalls


Gott erschuf das Weltall in all seiner Vielgestaltigkeit und Schön­
heit. Sonne, Mond, Planeten, Sterne, Galaxien - der gesamte sicht­
bare Kosmos ist entstanden durch den einen, allmächtigen Gott, den
„Schöpfer des Himmels und der Erde, alles Sichtbaren und Unsicht­
baren“.
Gott erweist sich als Allherrscher, weil Er nicht nur das gesamte
Weltgebäude erschaffen hat, sondern cs auch in Seiner Hand hält,
das heißt es regiert und sich darum kümmert, es im Dasein erhält.
Die Welt besteht nur dank der Verbundenheit mit ihrem Schöpfer:
unabhängig von Gott, aus sich heraus, kann die Welt nicht existie­
ren. Das schöpferische Wort Gottes, das die Welt hervorgebracht hat,
ist nach einem bildhaften Vergleich des heilige Filaret von Moskau
eine diamantene Brücke, auf die alles Geschaffene gestellt ist und
steht, „darüber der Abgrund der göttlichen Unendlichkeit und dar­
unter der Abgrund der eigenen Nichtigkeit“.21

20 Gregor von Nazianz, Reden, 40, S.


21 Filaret von Moskau, Ansprache am Tag der Auffindung der Gebeine des heiligen
Alexej von Moskau, in: Ansprachen und Reden, Moskau 1877 |russ.], Band 2,
S. 436.
1.2. Der eine Colt - Vater und Schöpfer 15

Nicht alle glauben, dass das Weltall Gottes Schöpfung ist; einige
behaupten, es sei von selbst entstanden und werde von niemandem
regiert. Doch die Gegenwart des Schöpfers im Weltall erschließt sich
allen Menschen, denn „seit Erschaffung der Welt wird Seine unsicht­
bare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft
wahrgenommen, Seine ewige Macht und Gottheit“ (Röm 1,20), und
durch den Glauben wird dieser Schöpfer anerkannt und verehrt.
Durch ihre Pracht und Vielgestaltigkeit bezeugt die Welt, dass sie
einen Schöpfer hat. Wie ein Gemälde, das nicht von selbst, ohne
einen Künstler, entstehen kann, so kann das Weltall nicht ohne
seinen Schöpfer entstehen. Wie eine Uhr nicht ohne den Uhrmacher
hervorgehracht wird und auch nicht geht, wenn sie nicht aufgezogen
wird, so kann das Weltall nicht bestehen ohne denjenigen, Der es
erschaffen hat und Der es regiert.
Warum hat Gott die Welt geschaffen? Die Antwort der christli­
chen Theologie lautet: Der Grund für die Erschaffung der Welt war
Gottes Güte, der „es nicht genügte, sich nur in der Betrachtung ihrer
selbst zu bewegen, sondern der es ziemte, ihr Gut zu verströmen und
zu verbreiten“.22 Gott „begnügte sich nicht mit der Betrachtung
Seiner Selbst, sondern aus der überströmenden Fülle Seiner Güte
wollte Er gnädig, dass etwas entstehe, das sich Seiner Wohltaten
erfreut und an Seiner Güte teilhat“.23
Weil Er das absolut Gute ist, wollte Gott, dass Geschöpfe ent­
stehen, die an dieser Güte teilhaben. Weil Er die Liebe ist, wollte Gott,
dass Seine Liebe sich auch auf die von Ihm geschaffene Welt erstreckt.

Die Erschaffung der Welt und des Menschen


Von der Erschaffung der Welt und des Menschen wird in der Bibel
erzählt. Sie beginnt mit den Worten: „Im Anfang erschuf Gott Him­
mel und Erde“ (Gen 1,1). Im Weiteren wird berichtet, wie Gott das
Licht schuf und es von der Finsternis schied, wie Er den Himmel, das
Meer und das Land erschuf sowie Leuchten am Firmament des Him­
mels, Fische im Meer, Reptilien und Tiere auf der Erde, die Vögel

22 Gregor von Nazianz, Reden, 38,9.


23 Johannes von Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, II, 2.
16 Teil I. Die Glaubenslehre

unter dem Himmel (Gen 1,2-25). Schließlich „schuf Gott Menschen


nach Seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf Er ihn; als Mann und
Frau schuf Er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid
fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie euch“
(Gen 1,27-28).
Die Erzählung der Bibel über die sechs Tage der Schöpfung muss
man nicht buchstäblich verstehen, ln den Psalmen heißt es: „Tau­
send lahre sind in Deinen Augen wie der l ag, der gestern vergangen
ist“ (Ps 89 (901,5). Nach den Worten des Apostels Petrus „ist beim
Herrn ein Tag wie tausend )ahre, und tausend lahre sind wie ein
Tag“ (2 Petr 3,8). Die biblischen sechs Tage kann man als sechs auf­
einanderfolgende Schritte der Schöpfung verstehen, die sich allmäh­
lich entfaltet wie das großartige Gemälde eines bedeutenden Künst­
lers. Dabei kann jeder Schritt so lange dauern, wie es erforderlich war
- nicht unbedingt nur einzelne Kalendertage von vierundzwanzig
Stunden (zumal die Sonne erst am vierten Tag auftritt).
Die biblische Lehre von der Erschaffung des Menschen nach dem
Bild und Gleichnis Gottes bildet die Grundlage für das christliche
Verständnis des Menschen und seiner Bestimmung. Zum „Bild
Gottes“ gehören folgende Merkmale: Der Mensch ist ausgestattet mit
Vernunft, Willensfreiheit, mit einem schöpferischen Potential, mit
einem inneren, angeborenen Streben nach Gott als seinem Schöpfer.
Unter dem „Gleichnis“ wird gewöhnlich das Ziel verstanden, zu dem
der Mensch zu streben hat: Indem er Gott gehorcht und Seine Gesetze
befolgt, ist der Mensch berufen, Gott immer ähnlicher zu werden.
Gott ist die Liebe, und Er hat in den Menschen die Fähigkeit zur
Liebe gelegt. Indem Gott den Menschen als eheliches Paar geschaffen
und Mann und F'rau durch den Bund der Liebe vereint hat, hat Er
ihnen geboten, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Die Fortfüh­
rung des Lebens ist nicht möglich ohne Liebe. Der Mensch erblickt
das Licht der Welt als Frucht der Liebe zwischen Mann und Frau. Als
Kind zieht es ihn zu den Eltern, mit denen ihn Bande der Liebe ver­
einen. Noch ohne Sprechen gelernt zu haben, ist er bereits fähig zu
lieben. Als Erwachsener tritt er in den Bund der Ehe, und der Zyklus
des Lebens erneuert sich in seiner Nachkommenschaft. Auf diese
Weise wird die Liebe, zu der Gott die Menschen innerlich befähigt,
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 17

die treibende Kraft der menschlichen Geschichte: Durch die Liebe


wird das Leben von Generation zu Generation weitergegeben.

Die sichtbare und die unsichtbare Welt


Die Bibel lehrt, dass Gott neben der sichtbaren Welt auch die un­
sichtbare Welt erschaffen hat, in der die Engel weilen, die körperlose
Geister sind. In diese Welt gelangen nach dem Tod die Seelen der
Menschen.
Es gibt gute und böse Engel.21 Die guten Engel stehen im Dienste
Gottes, erfüllen ohne Widerspruch Seinen Willen und können eine
Mittlerrolle zwischen Gott und den Menschen ausüben. Böse Engel
sind diejenigen, die aufgrund ihres Stolzes von Gott abfielen und sich
Ihm widersetzten. Alle ihre Anstrengungen sind darauf gerichtet,
gegen den Willen Gottes anzugehen und die Menschen vom wahren
Glauben und von der Befolgung der göttlichen Gebote abzubringen.
Diese bösen Engel nennt man gefallene Engel oder Dämonen, ihr
Anführer ist der Teufel oder Satan.2425 Er ist als erster Gott entgegen­
getreten, riss eine Menge anderer Engel mit sich und hat die ersten
Menschen verführt, Adam und Eva, indem er ihnen in Gestalt einer
Schlange erschien und sie zum Ungehorsam gegen Gott verleitete
(Gen 3,1-15).
Gott ist nicht der Urheber des Bösen: Alles, was Er von An­
beginn geschaffen hat, war „sehr gut“ (Gen 1,31). Das Böse ist in die
Welt gekommen durch den freien Willen von Vernunftwesen, zuerst
des Teufels und der Dämonen, dann der Menschen. Das Böse exis­
tiert in der Welt nur, insofern es von Gott zugelassen ist, und nur in
den von Gott bestimmten Grenzen.

Die göttliche Vorsehung


Die Sorge Gottes für den Menschen und für die ganze Welt heißt in
der Sprache der christlichen Theologie göttliche Vorsehung. In

24 Das Wort „Engel“ kommt vom griechischen Wort äyyeXoc und bedeutet „Bote“.
25 Das griechische Wort für „Teufel“ heißt SidßoXoc und bedeutet „Verleumder“,
„Betrüger“. Das aramäische Wort „satana“ (vom hebräischen Wort „Satan“) be­
deutet „Widersacher“.
18 Teil I. Die Glaubenslehre

Seiner Vorsehung schenkt Gott jedem Menschen das Leben und die
Bedingungen zur Entfaltung und zum geistlichen Wachstum, hilft
ihm in guten Werken und richtet das in der Welt vorhandene Böse
auf gute Folgen aus.
Die Vorsehung ist der Wille Gottes, der alles Bestehende lenkt.
Diese Vorsehung wirkt auf zweifache Weise, ln dem unbestreitbar
Guten verwirklicht sich Gottes Wille ungehindert. Wenn jedoch in
der Welt Böses geschieht, so nicht aufgrund des Willens Gottes,
sondern nur aufgrund Seiner Zulassung und weil Menschen die
Verwirklichung des Willens Gottes behindern.-6
Oft heißt es: „Alles ist Gottes Wille.“ Das ist nicht richtig. Gottes
W ille richtet sich nur auf das Gute, das Böse steht im Widerspruch
dazu. Indem der Mensch willentlich oder unwillentlich eine böse Tat
vollbringt, widersetzt er sich wissentlich oder unwissentlich dem
göttlichen Willen. Dabei wirkt die göttliche Vorsehung, indem Gott
sogar böse Taten der Menschen auf einen Nutzen auszurichten ver­
mag.
Manchmal stellt sich die Frage: Warum straft Gott nicht die Sün­
der, Verbrecher, Schurken? Warum lässt Er das Böse zu? Warum
erlaubt Er den Bösen, unter den Guten zu leben und ihre bösen
Taten auszuführen? Die Antwort liegt nicht darin, dass Gott das Böse
nicht bemerkt oder darüber hinwegsieht, sondern in Seiner Langmut.
In den Psalmen heißt es: „Der Herr ist barmherzig und gnädig, lang­
mütig und reich an Huld. Er wird nicht immer rechten und nicht
ewig trägt Er nach. Er handelt an uns nicht nach unseren Sünden
und vergilt uns nicht nach unserer Schuld“ (Ps 102 [ 103],8-10).
Wenn Gott automatisch jegliches Auftreten des Bösen in der
menschlichen Natur unterbinden würde, dann müsste Er den Men­
schen den freien Willen entziehen. Damit würden sich die Menschen
in Marionetten verwandeln und die menschliche Gesellschaft in ein
Puppentheater. Gott erwartet, dass der Mensch in jeder Phase seines
Lebens jeweils die Wahl zugunsten des Guten trifft - nicht aus
Zwang, sondern durch eine eigenständige freie Entscheidung. Das
Böse ist Gott immer zuwider, doch Gott unterbindet nicht immer das26

26 Johannes von Damaskus, Genaue Auslegung des orthodoxen Glaubens, II, 29.
1.2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer 19

Böse, denn Er achtet die Freiheit der Menschen und deren Recht zur
freien Wahl - ein Recht, mit dem Er selbst sie ausgestattet hat.
Gleichzeitig bleibt jedoch keine einzige böse Tat ohne Folgen,
und wenn ein Mensch sündigt und nicht bereut, wird er gewiss im
gegenwärtigen oder im künftigen Leben die Strafe zu tragen haben.
Im Alten Testament sagt Gott über Sich Selbst: „Der Herr ist der
Herr, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an
Huld und Treue. Er bewahrt tausend Generationen Huld, nimmt
Schuld, Frevel und Sünde weg, aber Er lässt nicht ungestraft“ (Ex
34,6-7).
Gott weiß alles: Vor Ihm ist nichts verborgen, Er sieht das Künf­
tige wie das Gegenwärtige. Das bedeutet jedoch nicht, dass alles im
Leben eines Menschen von vornherein vorherbestimmt ist. Das
Christentum glaubt nicht an Vorherbestimmung, Verhängnis,
Schicksal. Gott sieht von vornherein alle Taten eines Menschen, die
guten wie die bösen. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch
angesichts der Wahl zwischen Gut und Böse zu dem einen oder dem
anderen vorherbestimmt ist; die Entscheidung hängt von seinem
freien Willen ab.
Aus der Verbindung des göttlichen Willens, der nur auf das Gute
ausgerichtet ist, mit dem Willen des Menschen, in dem Gut und Böse
oft miteinander verflochten sind, entsteht letztlich das Geschick jedes
Menschen. Gott kümmert sich um alle, und sogar Menschen, die sich
bewusst auf den Weg des Bösen begeben haben, verlässt Er in Seiner
Vorsehung nicht.

Die Folgen des Sünden falls


Als Folge ihres Ungehorsams und Sündenfalls wurden die ersten
Menschen aus dem Paradies vertrieben (Gen 3,24). Seither und bis
heute befinden sich die Menschen nicht in dem gleichen Zustand, in
dem sie von Gott erschaffen wurden, sondern in dem Zustand des
Sündenfalls. Durch den Ungehorsam der ersten Menschen gegen
Gott kam das Böse in die Welt, und seither stehen jedem Menschen
zwei Wege offen, der des Guten und der des Bösen. Auf den Weg des
Guten bringt Gott den Menschen, und die Engel helfen ihm, diesen
20 Teil I I>ic Glaubenslehre

Weg zu gehen. Auf den Weg des Bösen versuchen der Teufel und
seine Helfershelfer, die Dämonen, den Menschen zu stoßen.
Im Alten Testament heißt es über diese beiden Wege: „Leben und
Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit
du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott,
höre auf Seine Stimme und halte an Ihm fest“ (Dtn 30,19-20). An
jeden Menschen, der in die Welt kommt, richtet Gott diesen Ruf. Die
Menschen aber, ein jeder für sich, wiederholen den Fehler von Adam
und Eva: Sie hören auf das, was ihnen der Feind des Menschenge­
schlechts einflüstert, statt auf die Stimme Gottes zu hören.
Einige philosophische Strömungen leugnen die menschliche
Sündhaftigkeit. Ihrer Meinung nach ergeben sich alle Probleme der
Welt aus der Tatsache, dass die Menschen schlecht unterwiesen sind:
Wenn man ihnen erklärte, wo Gut und Böse liegen, dann würden sie
nur das Gute tun.27
ln der Sicht des Christentums ist das Böse jedoch in der Natur des
gefallenen Menschen verwurzelt, in seinem Herzen (Mk 7,21-22).
Nach Aussage des Apostels Paulus lebt die Sünde im Inneren des
Menschen: „Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse,
das ich nicht will, das vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich
nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der es bewirkt, sondern die in
mir wohnende Sünde“ (Rom 7,19-20). Die Überwindung der Sünde
in sich selbst, der Kampf mit ihren Erscheinungsformen, ist die
wichtigste moralische Aufgabe für jeden Christen. Doch in diesem
Kampf ist der Mensch nicht allein: Gott Selbst hilft ihm.

Die Erwartung des Erlösers


Gott kämpft immer um die Seele des Menschen, für seine Erlösung.
Die Menschen der Vorzeit wussten darum, und seit Adam lebten sie
in der Hoffnung, dass einer seiner Nachkommen das Böse und den
Teufel besiegt. Genau in diesem Sinne werden in der christlichen
Tradition die Worte Gottes an die Schlange verstanden, die Eva
verführt hatte: „Weil du dies getan hast, bist du verflucht vor allem
Vieh und vor allen Tieren des Feldes. Auf deinem Bauch sollst du

27 Von dieser Einstellung gingen die Philosophen der Aufklärungszeit aus.


1.3. Jesus Christus 21

kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Und Feindschaft
setze Ich zwischen dir und der Frau, und zwischen deinem Samen
und ihrem Samen. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der
Ferse“ (Gen 3,14-15).
Evas „Same“, das heißt ihr direkter Nachkomme, der den Sieg
errang über den Teufel und das Böse und für immer die Menschheit
losgekauft hat „aus Sünde, Fluch und Tod“:s, ist Jesus Christus. In
der Erwartung Seines Kommens lebten Jahrhunderte lang Menschen
der Vorzeit, und Seine Ankunft sagten die Propheten voraus.

3. Jesus Christus

Im Glaubensbekenntnis heißt es über Jesus Christus: Und an den


einen Herrn Jesus Christus, Gottes einziggeborenen Sohn, Der vom
Vater gezeugt ist vor aller Zeit. Licht vom Lichte, wahrer Gott vom
wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater,
durch Den alles erschaffen ist. Für uns Menschen und zu unserem Heil
ist Fr vom Himmel herabgestiegen und Fleisch geworden vom Heiligen
Geist und der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden. Er wurde für
uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben
worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift. Er ist aufge­
fahren in den Himmel und sitzt zur Rechten des Vaters. Er wird wie­
derkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten;
Seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Wer ist dieser Jesus Christus, und warum nimmt gerade Er den
zentralen Platz in der christlichen Religion ein? Warum ist gerade
Ihm mehr als die Hälfte des Glaubensbekenntnisses gewidmet? Was
wissen wir über Ihn und woher? Jesus nannte Sich Menschensohn
und Gottessohn (Joh 3,13-18).2829 Was bedeuten diese Benennungen?

28 Filaret von Moskau, Katechismus.


29 „Menschensohn“ ist die grundlegende Selbstbezeichnung Jesu Christi in den
Evangelien. Im hebräischen Sprachgebrauch bedeutet diese Bezeichnung einfach
„Mensch“.
22 Teil I Die Glaubenslehre

3.1. Menschensohn

Jesus Christus ist der bekannteste Mensch unter allen, die jemals auf
der Erde gelebt haben. Über keinen Menschen ist so viel geschrieben
und gesagt worden wie über Ihn. Ihm sind Bücher, Gemälde, Musik­
stücke, Filme gewidmet, von ihm handeln Predigten, schreibt man
im Internet. Mehr noch, zu Seiner Ehre werden Kirchen gebaut, und
Seinen Namen tragen mehr als zwei Milliarden Menschen. Christen
sind die zahlenmäßig größte Glaubensgemeinschaft der Welt.

Die Evangelien
Die primäre Quelle unserer Kenntnis über ]esus Christus sind die
vier Evangelien nach Matthäus, Markus, l.ukas und lohanncs. Die
Evangelien sind Dokumente von Augenzeugen des irdischen Lebens
Jesu Christi oder gründen auf solchen Zeugnissen. Von allen Bü­
chern der Bibel genießen gerade die Evangelien in der Kirche am
meisten Autorität und werden am meisten gelesen und verehrt. Das
Buch, das die vier Evangelien enthält, gehört unverzichtbar zum
Gottesdienst. Es wird den Gläubigen zur Verehrung gereicht, und sie
küssen es voller Andacht.
Aus diesem Buch wissen wir, dass Jesus Christus eine wirkliche
historische Persönlichkeit war, nicht eine ausgedachte literarische
Figur (wie dies einige Kritiker des Christentums in der Vergangen­
heit darzustellen versuchten). Er wurde in einer bestimmten Epoche
geboren, als der römische Kaiser Octavianus Augustus und der jü ­
dische König Herodes der Große an der Macht waren. Der Ort Sei­
ner Geburt war die Stadt Bethlehem (Mt 2,1; Lk 2,4-7), die zur Pro­
vinz Judäa des damaligen Römischen Reiches gehörte.

Die Geburt Jesu Christi


Jesus Christus wurde auf besondere, übernatürliche Weise geboren.
Seine Mutter war Maria, ein jüdisches Mädchen, verlobt mit einem
Mann namens Josef. Ihr erschien ein Engel und verkündete, sie
werde einen Sohn gebären, Sohn des Höchsten genannt, dessen
Herrschaft kein Ende haben werde. Maria fragte den Engel: „Wie soll
das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ Der Engel antwortete:
1.3. Jesus Christus 23

„Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höch­
sten wird dich überschatten“ (Lk 1,26-35).
Entsprechend dieser Verkündigung des Evangeliums heißt es im
Glaubensbekenntnis: Jesus Christus wurde geboren vom Heiligen
Geist und der Jungfrau Maria. Nach dem Glauben der Kirche war
Maria, obwohl sie mit Josef verlobt war, noch nicht mit ihm verhei­
ratet und blieb Jungfrau. Die Kirche nennt sie die „allzeit Jungfräu­
liche“, weil sie ihre Jungfräulichkeit für immer bewahrte.
Der Name „Jesus“, der dem Kind bei der Geburt gegeben wurde,
bedeutet, übersetzt aus dem Hebräischen: „Gott rettet“. Das grie­
chische Wort „Christus“, das im Neuen Testament vielfach auf Jesus
bezogen wird, bedeutet „der Gesalbte“.'0 Es verweist auf die priester-
liche, prophetische und königliche Würde Jesu303132,aufSeine besondere
Sendung für das Volk Israel und für das gesamte Menschen­
geschlecht.
Die Geburt Jesu Christi war von besonderen, übernatürlichen
Zeichen begleitet: Engel verkündeten den Hirten Seine Geburt (Lk
2,8-18), es kamen Sterndeuter aus dem Osten, geleitet durch einen
geheimnisvollen Stern, um Ihn anzubeten (Mt 2,1-12).
Am achten Tag nach Seiner Geburt wurde das Kind Jesus nach
dem jüdischen Gesetz beschnitten (Lk 2,21), und am vierzigsten Tag
brachten Maria und Josef Ihn zum Jerusalemer Tempel, „um Ihn
dem Herrn darzustellen“. Dort trafen sie Simeon, einen gerechten
Greis, der über Jesus voraussagte: Er wird „ein Licht zur Erleuchtung
der Heiden“ und Herrlichkeit für das Volk Israel sein (Lk 2,23-33).

Die Taufe Jesu und der Beginn Seiner Verkündigung


Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des römischen Kaisers Tiberius’2
trat an den Ufern des Jordan ein Prophet auf, der die Menschen zur
Umkehr aufrief und an ihnen den Ritus der Taufe vollzog durch

30 „Christos“ ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes „Messias“ (loh
4,25).
31 Im alten Israel wurden Priester (Ex 28,41), Propheten (3 Kön [1 Kön] 19,16) und
Könige(l Kön [1 Sam] 10,1; 16,13u.a.)durch eine Salbung in den Dienst eingesetzt.
32 Tiberius regierte das Römische Reich vom 19. August des Jahres 14 bis zum 16.
März des Jahres 37. Das 15. Jahr seiner Regierung fiel in die Jahre 29/30.
24 Teil I. Die Glaubenslehre

Eintauchen in das Wasser des Jordan zum Zeichen der Reinigung


von den Sünden. Dieser Prophet wird in der kirchlichen Überliefe­
rung Johannes der Täufer oder der Vorläufer Johannes genannt.
Von ihm zeugen alle vier Evangelien sowie andere historische Quel­
len (insbesondere Elavius Josephus, römischer Historiker jüdischer
Herkunft, der im ersten Jahrhundert lebte).
Zu dem Volk, das zu ihm kam, sagte Johannes: „Ich taufe euch
mit Wasser zur Umkehr. Der aber nach mir kommt, ist stärker als
ich, und ich bin es nicht wert, Ihm die Sandalen auszuziehen. Er wird
euch mit dem Heiligen Geist und mit Heuer taufen.“ Als Jesus an den
Jordan kam, um von Johannes getauft zu werden, versuchte dieser
zunächst, ihn zu hindern, und sagte: „Ich müsste von Dir getauft
werden, und Du kommst zu mir?“ Jesus antwortete: „Lasse es nur zu!
Denn so können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen.“ Da ließ Ihn
Johannes zur Taufe zu. Und als Jesus aus dem Wasser stieg, „öffnete
sich der Himmel, und Er sah Gottes Geist wie eine Taube auf Sich
herabkommen. Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach:
Dieser ist Mein geliebter Sohn, an dem Ich Mein Wohlgefallen habe“
(Mt 3,11-17; Mk 1,9-11; Lk 3,21-22). Zu dieser Zeit war Jesus etwa
dreißig Jahre alt.
Nachdem Er die Taufe empfangen hatte, begab Er sich in die
Wüste, wo Er vierzig Tage nichts aß. Dort versuchte Ihn der Teufel,
doch Er überwand alle Versuchungen und ging aus dem Kampf mit
dem Teufel als Sieger hervor (Mt 4,1-11; Mk 1,12-13; Lk 4,1-13).
Seine Verkündigung begann Jesus mit denselben Worten, mit
denen Johannes der Täufer sich an das Volk gewandt hatte: „Kehrt
um! Denn das Himmelreich ist nahe!“ (Mt 3,2; 4,17). Sehr bald sam­
melte sich um Jesus eine Gruppe von Jüngern und anderen, die Ihm
nachfolgten. Aus ihnen wählte Er die Zwölf aus, die Er Apostel nannte
(Lk 6,13). Große Volksmengen folgten Ihm nach, angezogen durch
Seine Lehren und Wunder.

Die Wunder Jesu Christi


Die Wunder sind derjenige Aspekt des Dienstes Jesu, der in Seinem
Leben größte Aufmerksamkeit in Seiner Umgebung hervorrief.
Bereits ganz am Anfang Seiner Verkündigung in Galiläa „verbreitete
1.3. Jesus Christus 25

sich Sein Ruf in ganz Syrien. Und man brachte alle Kranken mit den
verschiedensten Gebrechen und Leiden zu Ihm, Besessene, Mond­
süchtige und Gelähmte, und Er heilte sie. Scharen von Menschen aus
Galiläa, der Dekapolis, aus Jerusalem und Judäa und aus dem Gebiet
jenseits des Jordan folgten Ihm nach“ (Mt 4,24-25). Mit der Zeit
nahm Sein Ruf noch zu, und einige der von Ihm geheilten Menschen,
unter ihnen auch Frauen, schlossen sich der Gruppe Seiner Jünger an
(Lk 8,2-3).
Die Berichte über die Wunder Jesu, die Er nach dem Aufbruch zu
Seinem Dienst wirkte, machen einen wesentlichen Teil der Verkün­
digung der Evangelien aus. Insgesamt finden wir in den Evangelien
mehr als dreißig ausführliche Berichte über Jesu Wunder (abgesehen
von den kurzen Erwähnungen übernatürlicher Ereignissen verschie­
dener Art, die Sein Leben und Seinen Dienst begleiten). Dazu gehö­
ren: zahlreiche Heilungen, Dämonenaustreibungen aus Besessenen,
drei Totenerweckungen, einige Ereignisse, die Jesu Macht über die
Natur bezeugen (Er ging über das Wasser, stillte einen Sturm und
verfluchte einen Feigenbaum): einige andere übernatürliche Ereig­
nisse (Er verwandelte Wasser in Wein, sättigte fünftausend Men­
schen mit fünf Broten und siebentausend Menschen mit vier Broten;
zwei wunderbare Fischfänge).
Die Gesamtzahl der von Jesus gewirkten Wunder lässt sich nicht
genau angeben. Es mag sich um Hunderte, wenn nicht Tausende von
Heilungen handeln. Davon zeugen viele Stellen in den Evangelien,
aus denen hervorgeht, dass die von Ihm gewirkten Heilungen und
Dämonenaustreibungen geradezu ein Massenphänomen waren.”

Wunder und Glaube


Die Evangelien enthalten nicht eine einzige Episode, in der Jesus
jemandem die Heilung versagt hätte. Er weigerte sich jedoch, Wun­
der zu wirken, wenn man von Ihm Zeichen zum Erweis Seiner
Macht forderte. So wollte Er kein einziges der Wunder wirken, die
der Teufel von Ihm erwartete, als er Ihn in der Wüste versuchte. Er3

33 Vgl. Mt 4,23-24; 8,16-17; 9,35; 12,15; 14,35-36; 15,30-31; 19,2:21,14; Mk 1,32-34,


39; 3,10-11; 6,54-56; Lk 4,40-41; 6,17-19; 7,21; Joh 20,30.
26 Teil I. Die Glaubenslehre

verweigerte sich gegenüber den Pharisäern und Sadduzäern, die von


Ihm, „ein Zeichen vom Himmel“ erbaten (Mt 16,1-4; Mk 8,11-12).
Die Pharisäer forderten Wunder vorgeblich, um an Ihn zu glau­
ben. Doch nach der Lehre Jesu ist gerade der Glaube die unerläss­
liche Voraussetzung für das Wirken von Wundern. W under sind
Folge und nicht Grund des Glaubens. Zu Seinen Jüngern sagt Jesus;
„Wenn ihr Glauben habt wie ein Sentkorn, dann werdet ihr zu die­
sem Berg sagen; Rück von hier nach dort, und er wird wegrücken.
Nichts wird euch unmöglich sein“ (Mt 17,20). Für einen glaubenden
Menschen ist nichts unmöglich. Das Wunder kann eine Realität
seines Lebens sein, genauso offensichtlich und unbestreitbar wie
seine ganze Umwelt.
Jesus hat vielfach von den Geheilten Glauben gefordert oder ihren
Glauben auf die Probe gestellt. Blinde, die ihn um Heilung bitten,
fragt Er: „Glaubt ihr, dass Ich dies tun kann?“ (Mt 9,28). Ebenso oft
stellt Jesus die rettende Kraft des Glaubens bei einem Geheilten fest:
„Dein Glaube hat dich gerettet“ (Mt 9,22; Mk 10,52). „Frau, dein
Glaube ist groß. Es soll dir geschehen, wie du willst“ (Mt 15,28; Lk
7,50). „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden.
Du sollst von deinem Leiden geheilt sein“ (Mk 5,34; Lk 8,48). „Steh
auf und geh! Dein Glaube hat dich gerettet" (Lk 17,19). „Sei sehend!
Dein Glaube hat dich gerettet“ (Lk 18,42).
Nicht alle, die Jesus um Heilung baten, hatten einen starken
Glauben; einige schwankten und zweifelten, sie befanden sich noch
auf halbem Wege zwischen Unglauben und Glauben. Doch der Herr
half ihnen, im Glauben stark zu werden. Jemand brachte seinen Sohn
zu Ihm, der seit seiner Kindheit an schweren Anfällen litt, und sagte:
„Wenn Du etwas vermagst, erbarme Dich unser und hilf uns!“ Jesus
antwortete ihm: „Wenn du kannst? Alles kann, wer glaubt.“ Und der
Vater des Kindes rief aus: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk
9,17-27). Jesus heilte den Jungen von einer schweren Krankheit, und
gleichzeitig heilte Er dessen Vater von einem geistlichen Leiden, dem
Unglauben.
1.3. Jesus Christus 27

Die Verklärung des Herrn


Einen besonderen Platz unter den Wundern Jesu Christi nimmt die
Verklärung ein - als Jesus „Petrus, Jakobus und dessen Bruder Jo­
hannes beiseite nahm und sie auf einen hohen Berg führte. Und Er
wurde vor ihnen verklärt. Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und
Seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, es erschienen
ihnen Mose und Elija und redeten mit Jesus. Da sagte Petrus zu
Jesus: .Herr, cs ist gut, dass wir hier sind. Wenn Du willst, werde ich
hier drei Hütten bauen, eine für Dich, eine für Mose und eine für
Elija.' Noch während er redete, siehe, eine lichte Wolke überschattete
sie, und siehe, eine Stimme vom Himmel sprach: .Dieser ist Mein
geliebter Sohn, an dem Ich Wohlgefallen habe. Auf Ihn sollt ihr
hören" (Mt 17,1-5; M k9,l -7; Lk 9,28-35).
Durch dieses Wunder wurde den Jüngern Christi Seine Gottheit
offenbar, verborgen unter dem Schleier des menschlichen Leibes.
Auf besondere sichtbare Weise wurde die göttliche Herrlichkeit
offenbar, die in Jesus gegenwärtig war. Das Licht wurde offenbar, das
Jesus Seiner göttlichen Natur nach zukam.M
Nach der Lehre des heiligen Gregor Palamas (14. Jh.) war das
Licht, das die Jünger auf dem Berg der Verklärung schauten, nicht
das gewöhnliche physische Licht. Es war eine besondere göttliche
Wirkung, durch die Gott Seine Gegenwart offenbart. Das Göttliche
Licht wandelt und verklärt den Menschen, „und die es schauten,
sahen es nicht nur mit den sinnenhaften Augen, sondern gewandelt
durch die Kraft des Göttlichen Geistes“.'5

Die Gleichnisse Jesu Christi


Jesus tritt in den Evangelien als Lehrer auf, als Wanderprediger, der
von Stadt zu Stadt zieht und zu den Menschen über das Reich Gottes
spricht.343536 In Seinen Reden hat Jesus oft zu Bildern und Vergleichen

34 Zu den beiden Naturen Jesu Christi vgl. unten S. 40-41.


35 Gregor Palamas, 34. Unterredung: Über die Verklärung des Herrn.
36 Die biblischen Ausdrücke ßamXda toü 0eoü und ßaaiAeia rü v oüeavüv werden
hier mit den geläufigen Übersetzungen „Reich Gottes“ und „Himmelreich“ wie­
dergegeben. Wörtlicher übersetzt bedeuten sie „Königsherrschaft Gottes“ und
„Königsherrschaft der Himmel“. [Anm. d. Übers.]
I
28 Teil I. Die Glaubenslehre

gegriffen, entnommen dem täglichen heben oder der Welt der Natur.
Seine Rede war erleuchtet, voller Schönheit, poetisch.
Viele Seiner Lehren sind der Form nach Gleichnisse, kurze Er­
zählungen, die mit Hilfe von Metaphern (Vergleichen) verschiedene
geistlich-sittliche Wahrheiten vermitteln. Die Evangelien enthalten
mehr als dreißig solcher Gleichnisse. Die Verwendung von Gleich­
nissen als Grundform zur Weitergabe geistlich-sittlicher Wahrheiten
war so charakteristisch für Jesus, dass die Evangelisten eigens anmer­
ken: „Dies alles sagte Jesus der Menschenmenge in Gleichnissen, und
ohne Gleichnisse redete Er nicht zu ihnen“ (Mt 13,34). „Durch viele
solche Gleichnisse verkündete Er ihnen das Wort, so wie sie es auf­
nehmen konnten. Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen" (Mk 4,33-
34). Als Jesus aufhörte, in Gleichnissen zu sprechen, rief dies sogar
Verwunderung hervor: „Siehe, jetzt redest Du offen und sprichst
nicht mehr in Gleichnissen“ (Joh 16,29).
Den Schlüssel zum Verständnis der Gleichnisse bildet der Glaube.
Damit rücken die Gleichnisse Jesu in die Nähe Seiner Wunder. Vor
denen, deren Herz versteinert ist, die mit den Augen nicht sehen und
mit den Ohren nicht hören, bleibt der Sinn der Gleichnisse verbor­
gen (Mt 13,13; Mk4,12; Lk8,10; Joh 12,40). Wie die Wunder Jesu die
Schriftgelehrten und Pharisäer nicht von der Wahrheit Seiner Lehre
überzeugten, so überzeugte auch Seine Lehre, in Gleichnissen darge­
legt, sie nicht davon, dass Er der von Gott gesandte Messias ist. Um ­
gekehrt fanden durch den Glauben viele Zeugen der Wunder Jesu
und viele Hörer Seiner Gleichnisse zum Verständnis Seiner messia-
nischen Rolle.
Der unvergängliche Wert der Gleichnisse Jesu besteht darin, dass
sie dem Menschen helfen, Gott besser zu verstehen, Ihm zu nahen
und Ihn lieb zu gewinnen, ln den Gleichnissen wird Gott als souve­
räner Herrscher dargestellt, Der die absolute Vollmacht über Seine
Untertanen besitzt. Er gibt einem jeden, soviel Er für nötig hält, und
dann fordert Er von jedem Rechenschaft über die Verwendung des
Empfangenen (Mt 25,14-30). Hart bestraft Er die, die Seinem Willen
widerstehen und Seine Anordnungen nicht ausführen (Mt 22,7).
Zugleich erweist Er Sich als langmütiger und barmherziger Vater,
bereit, den reuigen Sünder in die Arme zu schließen (Lk 15,20). Gott
1.3. Jesus Christus 29

liebt den Menschen als Seine Schöpfung und Sein Kind, und viele
Gleichnisse - jedes auf seine Weise - eröffnen diese Wahrheit.
Oie Gleichnisse sprechen außerdem über den einziggeborenen
Sohn Gottes. In ihnen wird Er nicht nur als weiser Lehrer aufgewie­
sen, sondern auch als der Gute Hirt ((oh 10,1 -16), Der auf die Suche
nach dem verlorenen Schaf hinausgeht, es findet, aufSeinen Schul­
tern trägt und sich über die Auffindung freut (Lk 15,4-6). Er er­
schließt sich als Der, Den Gott in Seinen Weinberg gesandt hat, um
daraus Früchte zu erhalten, und Der dem Willen des Vaters um den
Preis des eigenen Lebens gehorsam ist (Mt 21,33-41).
Schließlich sprechen die Gleichnisse darüber, wie der Mensch das
Verhältnis zu seinem Nächsten gestalten soll. Er ist berufen zu ver­
geben, wie der Vater des verlorenen Sohnes vergeben hat, wie Gott
Seinen Schuldnern vergibt (Mt 18,27). Er soll auf fremdes Unglück
so eingehen wie der barmherzige Samariter auf das Unglück des
Menschen, der in die Hände von Räubern gefallen war (Lk 10,30-37).
Er soll lieben wie derjenige, dem viel vergeben worden ist (Lk 7,41-
47). Die Menschen soll er mit den Augen Gottes betrachten und in
die Tiefen ihrer Seele schauen, um darin das Bild Gottes zu erkennen.

Das Himmelreich
Ein besonderes Thema der Lehre und der Gleichnisse Jesu ist das
Himmelreich oder das Reich Gottes. Jesus gibt an keiner Stelle eine
Definition des Himmelreichs, sondern offenbart dessen Wesen
durch eine ganze Reihe von Bildern, Vergleichen und Gleichnissen.
Seine Gleichnisse beginnt Er manchmal mit Fragen: „Wem ist das
Himmelreich ähnlich? Womit soll Ich es vergleichen?“ (Lk 13,18);
oder mit Antworten auf diese Fragen: „Das Himmelreich gleicht
einem Senfkorn ...; das Himmelreich gleicht dem Sauerteig ...; das
Himmelreich ist einem Schatz gleich ...; weiterhin gleicht das Him­
melreich einem Kaufmann ...; weiterhin gleicht das Himmelreich
einem Fischernetz...“ (Mt 13,31.33.44.45.47).
In den Predigten Jesu Christi ist „das Himmelreich“ ein allumfas­
sender Begriff: Es beschränkt sich weder auf Gegenwart noch Zu­
kunft, weder auf die irdische Realität noch auf die Ewigkeit; es hat
weder konkrete irdische Züge noch einen konkreten sprachlichen
30 Teil /. Die Glaubenslehre

Ausdruck; es lässt sich weder in der Zeit noch im Raum lokalisieren;


es richtet sich nicht auf das Hiesige, Jetzige und Äußere, sondern auf
das Höchste, Kommende und Innere. Das Himmelreich ist eine
Wirklichkeit, die unsichtbar das menschliche Dasein und die
menschlichen Wechselbeziehungen erfüllt, es leuchtet durch ver­
schiedene Gegenstände, Ereignisse und Menschen in der Umgebung
hindurch, und es gibt all ihrem Leben Sinn und Grund.
Über das Himmelreich spricht Jesus wie über eine innere Erfah­
rung des Menschen. Einmal fragen ihn die Pharisäer: „Wann kommt
das Reich Gottes?“ Er antwortet: „Das Reich Gottes kommt nicht auf
wahrnehmbare Gestalt. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!
oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“
(Lk 17,21).
Indem Er den Beginn des Reiches Gottes verkündigt, eröffnet
Jesus den Menschen eine neue Qualität des Lebens, in dem Gott Sich
jetzt als der Mittelpunkt erweist. Doch die Botschaft Jesu über das
Reich Gottes beschränkt sich nicht auf die Berufung, Gott zu gehor-
chen. Sonst hätte sie sich nicht grundlegend von der Botschaft der
alttestamentlichen Propheten für die Menschen unterschieden. Auch
sie sprachen ja von der Notwendigkeit der Umkehr, von der Ver­
änderung der Denk- und Lebensweise, vom Wirken Gottes in der
Geschichte, von Seiner Gegenwart unter den Menschen. Auch der
Gott des Alten Testaments ist der Lebendige Gott, Der Seine Herr­
lichkeit in Blitz und Donner zeigt.
Die radikale Neuheit der Botschaft Jesu Christi besteht darin, dass
Er Selbst dieses Reich Gottes auf die Erde bringt. Und nicht nur das
Himmelreich: Er offenbart den Himmlischen Gott Selbst den Men­
schen auf Erden und zeigt ihnen das bislang unsichtbare und unbe­
kannte, verborgene und unzugängliche Angesicht Gottes.17 Das
Himmelreich ist nicht nur eine zukünftige Wirklichkeit, sondern
auch eine neue Dimension im Leben der Menschen hier und jetzt,
auf Erden und in der Zeit. Diese Dimension nennt der Apostel Pau-37

37 Der Ausdruck „Angesicht Gottes“ wird in diesem Katechismus im metaphori­


schen, übertragenen Sinne verwandt, ähnlich wie im Alten Testament von den
Händen, den Füßen und den Augen Gottes die Rede ist.
1.3. Jesus Christus 31

lus „das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23).
Es ist nicht nur ein Leben in Gott, sondern im eigentlichen Sinne ein
Leben in Christus Jesus - ewig nicht deshalb, weil es für die Men­
schen nach dem Tod beginnt: Das ewige Leben beginnt bereits hier
mit dem Augenblick, in dem der Mensch zum Glauben an Jesus
Christus kommt und Sein Jünger wird, und es dauert in Ewigkeit.
Indem Er das Reich Gottes verkündet, offenbart Jesus den Men­
schen Sich Selbst. Gleichzeitig eröffnet Er ihnen den Weg zu Gott.
Über Sich Selbst sagt Er: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das
Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch Mich“ (Joh 14,6).
Das Himmelreich lässt sich nicht von der Person Jesu trennen,
von Seinem Handeln, Seiner Verkündigung und Seinem Zeugnis.
Letztlich eröffnet sich das Himmelreich nicht so sehr durch die Leh­
ren Jesu als vielmehr durch die Großtat der Erlösung, mit deren
Bericht jedes der Evangelien schließt.

Die Widersacher Jesu


Allen vier Evangelien zufolge bestand zwischen Jesus und den Ver­
tretern der damaligen geistlichen Elite des Volkes Israel - Hohen­
priestern, Pharisäern und Schriftgclehrten - ein scharfer Gegensatz.
Er entstand bald nach Seinem Aufbruch zur Predigt, und mit der
Zeit vertiefte er sich immer mehr.
Im Streit zwischen Jesus und Seinen Gegnern ging es um das
Wesen des religiösen Lebens. Was ist Glaube? Welche Anbetung
fordert Gott? Schriftgelehrte und Pharisäer waren davon überzeugt,
dass der Glaube eine Gesamtheit von Regeln ist, die im geschriebe­
nen Gesetz und in der mündlichen Überlieferung festgehalten sind
und die der Mensch strikt zu befolgen hat. Doch weil es zu viele
Regeln gab, schufen die Pharisäer ein ganzes System von Ausnah­
men, die es ihnen erlaubten, diese Richtlinien zu übertreten. Nach
Überzeugung der Pharisäer konnte die Anbetung Gottes nur in Jeru­
salem geschehen, und nur das jüdische Volk war das auserwählte und
zur Erlösung vorherbestimmte Volk. Mit ihnen stritten die Samari­
ter, die der Auffassung waren, Gott sei nicht in Jerusalem, sondern
auf dem Berg Garizim anzubeten. Diese Streitigkeiten führten zuwei­
len zu bewaffneten Zusammenstößen und zu Mord und Totschlag.
I
32 Teil I. Die Glaubenslehre

]esus jedoch sagt: „Die Stunde kommt, zu der ihr weder auf die­
sem Berg noch in jerusalent den Vater anbeten w erd et... Doch die
Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den
Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will
der Vater angebetet werden“ (]oh 4,21-23).
Die Anbetung Gottes, so lehrt Er, besteht nicht in der skrupulö­
sen Erfüllung irgendeiner Summe von Vorschriften, selbst wenn sie
durch die Autorität Gottes geheiligt sind. Das Wesen des religiösen
Lebens besteht darin, das Himmelreich zu suchen. Auf dieses Haupt­
ziel müssen alle Bestrebungen des Menschen ausgerichtet sein. Jesus
ruft zur Umkehr, zur inneren Wiedergeburt, die sich keineswegs auf
die Erfüllung bestimmter äußerer Vorschriften beschränkt.

Das mosaische Gesetz und der Streit um den Sabbat


Nicht selten betraf der Streit zwischen Jesus und seinen Gegnern
konkrete Bestimmungen im mosaischen Gesetz.“ Eine der Anord­
nungen dieses Gesetzes besagt: „Gedenke des Sabbats: Halte ihn
heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und all deine Arbeit tun. Der
siebente Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott geweiht“ (Ex
20,8-10). Der Sinn dieses Gebotes besteht darin, dass der Mensch
einen der Wochentage, und zwar den Sabbat, Gott weiht und an
diesem Tag das irdische Tun und Arbeiten auf ein Minimum be­
schränkt. Doch die Pharisäer verwandelten dieses Gebot in kleinliche
Gesetzlichkeit: Sie legten die maximale Wegstrecke fest, die man am
Sabbat zu Fuß gehen darf, sowie eine Menge anderer Eingrenzungen
für den Sabbat. Durch sie konnte man nach Meinung der Pharisäer
Gott gefallen.
Jesus sagt jedoch: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der
Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). Was ein Mittel ist, soll nicht zum
Ziel gemacht werden. Äußere Vorschriften sind nur Mittel zur Errei­
chung innerer Ziele. Gerade auf diese Ziele war Seine Predigt ausge-38

38 „Mosaisches Gesetz“ nennt man gewöhnlich eine Sammlung von Bestimmungen


und Gesetzen, die im mosaischen Pentateuch enthalten sind, in den ersten fünf
Büchern der Bibel, insbesondere in den Büchern Exodus, Levitikus, Numeri und
Deuteronomium.
1.3. Jesus Christus 33

richtet. Er erlaubt Seinen Jüngern, die am Sabbat durch Kornfelder


gingen, Ähren zu pflücken und zu essen, während die Pharisäer dies
nicht erlaubten. Als Antwort auf die Empörung der Pharisäer sagt
Jesus über Sich Selbst: „Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat“
(Mt 12,1-8).
Viele Heilungen, die Jesus wirkte, geschahen am Sabbat, nicht
weil Er absichtlich gegen das Gebot der Sabbatruhe verstoßen wollte,
sondern weil Er am Sabbat in die Synagogen ging. Dort versammel­
ten sich Scharen von Menschen, und viele baten Ihn um Heilung.
Einmal heilte Er eine Frau, die seit achtzehn Jahren gekrümmt
ging und sich nicht aufrichten konnte. Der Synagogenvorsteher „war
empört darüber, dass Jesus am Sabbat heilte, und sagte zu den Leu­
ten: Sechs Tage sind zum Arbeiten da. Kommt also an diesen Tagen
und lasst euch heilen, nicht am Sabbat.“ Jesus erwiderte ihm: „Ihr
Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen
oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Diese Frau
aber, die eine Tochter Abrahams ist und die der Satan bereits seit
achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit
werden dürfen?“ (Lk 13,10-16).
Die Pharisäer meinten, das Gute könne nur nach Vorschrift getan
werden, und selbst die Ordnung für das Wirken von Wundern müsse
streng reglementiert werden. Für sie war das Gute kein Selbstzweck.
Die Hauptsache war das Ritual, die Beobachtung von Regeln, die
Erfüllung des mosaischen Gesetzes und der „Überlieferungen der
Alten“. Für Jesus stand im Zentrum der Aufmerksamkeit immer der
lebendige Mensch - der Mensch, der Ihm gerade auf dem Weg oder
im Haus oder in der Synagoge begegnete und der hier und jetzt Hilfe
benötigte, nicht irgendwann später. Wenn man sich an Ihn wandte,
wirkte Er die Heilung unverzüglich, und der Sabbat stellte dafür kein
Hindernis dar.

Streit über Reinheit und Unreinheit


Die Pharisäer betrachteten sich als „abgesondert“ von den gewöhn­
lichen Leuten (das Wort „Pharisäer“ bedeutet „der Abgesonderte“)
und meinten, eine besondere Nähe zu Gott zu besitzen. Die größte
Sorge bestand darin, sich durch den Kontakt mit einer unreinen
34 Teil I. Die Glaubenslehre

Sache oder Person nicht zu entweihen. Verzeichnisse unreiner Perso­


nen und Gegenstände sind im Alten Testament enthalten; zu diesen
Verzeichnissen fügten die Pharisäer zahlreiche nähere Einzelheiten
hinzu. Nach den Worten des Evangelisten „essen die Pharisäer wie
alle luden nur, wenn sie vorher mit einer Handvoll Wasser die Hände
gewaschen haben; so halten sie an der Überlieferung der Alten fest.
Auch wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vor­
her zu waschen. Noch viele andere überlieferte Vorschriften halten
sie ein, wie das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln“ (Mk
7,3-4).
Jesus aber lehrt, dass die Quelle des Schlechten und der Sünde
nicht außerhalb des Menschen liegt, sondern in seinem Inneren. Er
sagt: „Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann
ihn unrein machen, sondern was aus ihm herauskommt, das macht
ihn unrein ... Denn von innen, aus dem menschlichen Herzen, kom­
men die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch,
Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hoch­
mut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht
den Menschen unrein“ (Mk 7,15.21-22).
lesus war nachsichtig mit menschlichen Schwächen; Er verzieh
Prostituierten (I.k 7,36-50) und Ehebrechern (Joh 8,3-11), ließ sich
auf die Gemeinschaft mit Dirnen (Lk 7,36-50) und Ehebrecherinnen
(Joh 8,3-11) ein, aß mit Zöllnern und Sündern (Mt 9,11; Mk 2,16).
Doch gegenüber den Pharisäern war Er unerbittlich; Er beschuldigte
sie hart der Heuchelei, nannte sie „Schlangenbrut“, „Heuchler“,
„blinde Führer“, verglich sie mit getünchten Gräbern, die „von außen
schön aussehen, innen aber voll sind von Knochen der Toten und
aller Unreinheit“ (Mt 23,13-27).
Der Konflikt zwischen Jesus und den Pharisäern erreichte seinen
Höhepunkt, als Er den toten Lazarus auferweckte, der bereits vier
Tage in der Grabeshöhle gelegen hatte. Danach beschlossen die
Hohenpriester und die Pharisäer, Ihn zu töten (Joh 11,43-53). Diesen
Beschluss hatten sie bereits seit geraumer Zeit gefasst, aber eine
geeignete Gelegenheit ergab sich, als Jesus feierlich, auf einem jungen
Esel sitzend, unter begeisterten Rufen der Menge in Jerusalem ein­
zog. Da „erbebte die ganze Stadt, und man fragte: Wer ist Dieser? Die
1.3. Icsus Christus 35

Leute sagten: Das ist der Prophet [esus von Nazaret in Galiläa“ (Mt
21,6-11). Doch die Hohenpriester und die Pharisäer ordneten an,
„wenn jemand wisse, wo Er sich aufhält, soll er es melden, damit sie
Ihn festnehmen könnten“ (loh 11,57).

Das Heilige Abendmahl


In der Nacht vor Seiner Verhaftung hielt lesus zusammen mit den
Jüngern Sein letztes Mahl, das später das „Heilige Abendmahl“ ge­
nannt wurde. Wir wissen davon aus allen vier Evangelien.
Nach dem Bericht der Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas
war das Heilige Abendmahl ein Paschamahl. Darin „nahm Jesus das
Brot und sprach den Lobpreis; dann brach Er das Brot, reichte es
ihnen und sagte: Nehmt, das ist Mein Leib. Dann nahm Erden Kelch,
sprach das Dankgebet, gab ihn den Jüngern, und sie tranken alle
daraus. Und Er sagte zu ihnen: Das ist Mein Blut des Bundes, das für
viele vergossen wird. Amen, Ich sage euch: Ich werde nicht mehr von
der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem Ich von
Neuem davon trinke im Reich Gottes“ (Mt 26,6-29; Mk 14,22-25).
Den Jüngern gebot Er: „Tut dies zu Meinem Gedächtnis!“ (Lk 22,19).
Genau dieses Gebot liegt dem Sakrament der Eucharistie zu­
grunde, dem Hauptsakrament der Kirche.3’
Nach dem Johannesevangelium legte Jesus zu Beginn des Abends
das Obergewand ab, „goss Wasser in eine Schüssel und begann den
Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Tuch zu trocknen, mit
dem Er umgürtet war“ (Joh 13,4-5).
Danach legte Er ihnen Seine letzte Lehre vor; ein bedeutender
Teil davon ist der Liebe gewidmet: „Ich gebe euch ein neues Gebot:
Liebt einander! Wie Ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander
lieben! Daran werden alle erkennen, dass ihr Meine Jünger seid,
wenn ihr einander lieb t... Wie Mich der Vater geliebt hat, so habe
Ich euch geliebt. Bleibt in Meiner Liebe. Wenn ihr Meine Gebote
haltet, werdet ihr in Meiner Liebe bleiben, so wie Ich die Gebote
Meines Vaters gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe ... Das ist39

39 Davon wird in Teil III die Rede sein; siehe unten S. 152-162.
36 Teil I. Die Glaubenslehre

Mein Gebot: l-iebt einander, wie Ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34-
35; 15,9-10.12).
Diese Worte wurden das Vermächtnis, das Jesus bei seinem Ab­
schied von der Welt allen künftigen Generationen Seiner länger
hinterließ.

Leiden, Tod und Auferstehung


Viele Male hat jesus Seinen Tod vorausgesagt. Er wusste, dass Er in
diese Welt gekommen war, um „Sein Leben hin/.ugeben als Losegeld
für viele“ (Mt 20,28). Im Gehorsam gegenüber dem Willen Seines
Vaters ging Er in den Tod.
Als Mensch fürchtete Jesus den Tod. ln der Nacht vor der Verhaf­
tung sagte Er zu Seinen Jüngern: „Meine Seele ist zu l ode betrübt.
Bleibt hier und wacht mit Mir!“ Zu Seinem Vater betete Er: „Mein
Vater! Wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an Mir vorüber. Aber
nicht wie Ich will, sondern wie Du willst“ (Mt 26,38-39). Dabei „war
Sein Schweiß wie Blutstropfen, die zur Erde fielen" (l.k 22,44). So
nahm Er im Wissen um die Unabwendbarkeit des Todes ergeben
den Willen des Vaters an. Sein Gehorsam gegenüber dem Vater war
absolut. „Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum
Tod am Kreuz“ (Phil 2,8).
Jesus wurde vom Jüdischen Synhedrion“1zum Tode verurteilt und
nach dem Urteilsspruch des römischen Präfekten Pontius Pilatus4041
gekreuzigt. Vor Gericht suchte Er sich nicht zu rechtfertigen; schwei­
gend ertrug Er Anschuldigungen und Spott, war Verhöhnungen und
der Geißelung ausgesetzt.
Jesus wurde an das Kreuz geschlagen. Er starb unter schweren
Qualen. Als Ihn die römischen Soldaten an das Kreuz nagelten,
betete Er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“
(Lk 23,34). Am Kreuz rief Er zu Seinem Vater: „Mein Gott, Mein
Gott! Warum hast Du Mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34).

40 Das Synhedrion war das höchste Gericht; es bestand aus dem Hohenpriester und
siebzig Richtern.
41 Judäa unterstand in damaliger Zeit einem römischen Statthalter, der das Amt
eines Präfekten ausübte (in späterer Zeit wurde dieses Amt mit dem Ausdruck
„Prokurator“ bezeichnet).
1.3. lesus Christus 37

Die Kirche glaubt, dass Jesus keinen Augenblick lang von Seinem
Vater verlassen war, doch um die Menschen zu erlösen, musste Er
schwere Leiden durchmachen, nicht nur physische, sondern auch
seelische. Jesus nahm freiwillig den Kelch des Leidens an und musste
ihn bis zur Neige austrinken. Am Grund menschlichen Leidens und
in der stärksten Prüfung, die einem Menschen zufallen kann, liegt die
Gottesverlassenheit - das Schweigen Gottes, Seine scheinbare Abwe­
senheit.
In den Leiden Jesu am Kreuz hat sich im höchsten Maß Seine
Solidarität mit allen Leidenden erwiesen - dazu gehören auch die­
jenigen, die im Leiden an der Gegenwart Gottes zweifeln, gegen Gott
klagen, murren und verzagen. Jesus klagt nicht und murrt nicht. Er
zweifelt nicht und schwankt nicht, doch Er spürt für Ihn unerträg­
liche physische Schmerzen, die Seine moralische Qual vervielfachen,
die Er als Mensch erfährt, allein mit dem Schrecken der Agonie vor
dem Tod. Er ist nicht von Gott verlassen, doch Ihm ist auferlegt,
durch die Erfahrung der Gottverlassenheit zu gehen, „weil Er in
allem den Brüdern gleich werden musste, um ein barmherziger und
treuer Hoherpriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes zu
sühnen. Denn da Er gelitten hat und Selbst in Versuchung geführt
wurde, kann Er denen helfen, die versucht werden“ (Hebr 2,17-18).
Für Jesus blieb Gott Sein Vater selbst in dem Augenblick, als Er
den schwersten Versuchungen ausgesetzt war. Nach dem Zeugnis
des Evangelisten Lukas war das Letzte, was Jesus am Kreuz hervor­
brachte, der Ruf: „Vater, in Deine Hände überliefere Ich Meinen
Geist“ (Lk 23,46). Mit diesen Worten hauchte Er den Geist aus.
Der Leib Jesu wurde vom Kreuz abgenommen und, gemäß dem
Brauch, in einer Höhle beigesetzt. Am Sabbattag, der mit dem jüdi­
schen Paschafest zusammenfiel, blieb Sein Leib im Grab, und Frauen,
die Ihm nachgefolgt waren, „ruhten gemäß dem Gebot“ (Lk 23,56).

Die Auferstehung
Am frühen Morgen des ersten Tages der Woche kamen die Frauen
zum Grab Jesu, um Seinen Leib mit wohlriechenden Ölen zu salben.
Sie sahen, dass das Grab leer war, und Engel verkündeten ihnen:
Jesus ist auferstanden (Mt 28,2-7; Lk 24,4-7). Danach eilten zwei
38 Teil I. Die Glaubenslehre

Jünger, Petrus und Joliannes, zum Grab und sahen darin nur die
Grabtücher, die von Jesus zurückgeblieben waren (Joh 20,3-10).
Dann erschien der auferstandene Jesus Maria Magdalena42 unmittel­
bar beim Grab (Mk 16,9; Joh 20,11-18), den anderen brauen, als sie
vom Grab weggingen (Mt 28,9-10), zwei Jüngern auf dem Weg nach
Emmaus (Mk 16,12-13), einer Gruppe von Jüngern (Mk 16,14; Lk
24,36-50; Joh 20,19-25). Nach acht Tagen erschien Jesus erneut den
Jüngern (Joh 20,26-29), und dann erschien Er noch mehrmals ver­
schiedenen Gruppen Seiner Jünger (Joh 21,1-23; 1 Kor 15,5-7).
Schließlich erschien Er den Jüngern auf einem Berg in Galiläa. Er
sagte zu ihnen; „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf
Erden. Darum geht und macht alle Völker zu Meinen Jüngern; tauft
sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was Ich euch geboten habe!
Und siehe. Ich bin bei euch alle Tagen bis zum Ende der Welt“ (Mt
28,18-20). Danach wurde Er „in den Himmel aufgenommen und
setzte Sich zur Rechten Gottes“ (Mk 16,19).
Die Auferstehung Jesu Christi war die Hauptbotschaft, die
durch die Apostel - Jünger Jesu, die Er Selbst ausgewählt halte, um
Sein Werk fortzusetzen - in die ganze Welt getragen wurde. Sie war
das grundlegende Thema ihrer Predigt. Die Bedeutung dieser Tat­
sache war so offensichtlich und unbedingt für die frühe Kirche, dass
der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Christen in Korinth
sagen konnte; „Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist unsere
Verkündigung leer, leer auch euer Glaube" (1 Kor 15,14).
Die Auferstehung Jesu Christi ist bis heute das Herz des christ­
lichen Glaubens. Um dieses Ereignis findet die gesamte Theologie
der christlichen Kirche ihre Ausrichtung. Der ganze Jahreskreis der
Feste im liturgischen Kalender der Kirche ordnet sich der Auferste­
hung Christi unter. Sie wird „das Fest aller Feste“ und „der Sieg aller
Siege“ genannt.

42 Maria Magdalena ist eine der Jüngerinnen Jesu Christi. Unter den Frauen, die Ihm
folgten, wird sie in den Evangelien am häufigsten erwähnt (Mt 27,56.61; 28,1; Mk
15,40.47; 16,1.9; Lk 8,2; 24,10; Joh 19,25; 20,1.11-18).
1.3. lesus Christus 39

3.2 Gottessohn

Für die christliche Kirche ist Jesus Christus nicht einfach ein
Mensch. Er ist der fleischgewordene Gott. Es ist dieser Glaube an
Jesus als Gott und Erlöser, der Christen von Nichtchristen unter­
scheidet.

lesus - der einziggeborene Solw Gottes


Die Kirche glaubt, dass lesus Christus der einziggeborene Sohn
Gottes ist. Das Evangelium des Johannes beginnt mit folgenden
Worten: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und
das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch
das Wort geworden, und ohne Es wurde nichts, was geworden ist. In
Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und
das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat Es nicht
erfasst“ (loh 1,1-5). Unter dem „Wort“ ist hier „der einziggeborene
Sohn“ verstanden, „Der im Schoße des Vaters ist“'13und der Welt den
unsichtbaren Gott offenbart hat (Joh 1,18).
Nach dem Glaubensbekenntnis ist der Sohn Gottes „gezeugt,
nicht geschaffen“. Im Unterschied zu Menschen und Engeln ist Er
kein Geschöpf Gottes, sondern von Ewigkeit her in Einheit mit dem
Vater. Alle Geschöpfe Gottes sind ihrem Wesen nach von Gott ver­
schieden, während Er als Sohn Gottes „eines Wesens mit dem Vater“
ist; Vater und Sohn haben also eine einzige göttliche Wesenheit.
Seiner göttlichen Natur nach ist Er aus dem Vater geboren, doch
nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit. Der Sohn ist dem Vater
gleich und immer beim Vater. Es gab keinen Zeitpunkt, zu dem der
Vater ohne Sohn gewesen wäre. Als Mensch ist Er zu einem kon­
kreten historischen Zeitpunkt vom Heiligen Geist und der Jungfrau
Maria geboren.43

43 „... im Schoße des Vaters“ ist ein metaphorischer Ausdruck, der das Sein des
Sohnes im Vater mit dem Dasein des Kindes im Schoß der Mutter vergleicht.
40 Teil I. Die Glaubenslehre

Jesus - der Gottmensch


Der einziggeborene Sohn Gottes, unser Herr Jesus Christus, erweist
sich als Gottmensch, das heißt als Gott und Mensch zugleich. Er ist
nicht halb Mensch und halb Gott, sondern vollkommen Mensch und
vollkommen Gott.
Indem Er Mensch wurde, hat der Sohn Gottes die an Ihn Glau­
benden zu Kindern Seines Himmlischen Vaters gemacht und w'urde
unser Verwandter und Bruder."
ln Seiner Person vereinigt Jesus Christus Zeit und Ewigkeit, Ir­
disches und Himmlisches, Menschliches und Göttliches. Seiner
menschlichen Natur nach ist Er in allem uns gleich, außer der Sünde:
Wie andere Menschen aß und trank Er (Mt 9,10-13), wunderte sich
(Mt 8,10; Lk 7,9), wurde müde (Joh 4,6), schlief (Mt 8,24; Mk 4,38),
war zornig (Mk 3,5) und entrüstet (Mk 10,14), freute sich (Lk 10,21),
weinte (Joh 11,35), war betrübt, geriet in Furcht und Angst (Mt
26,37-38; Mk 14,33-34). Alle Erscheinungsformen Seiner mensch­
lichen Natur waren bei Ihm jedoch frei von sündhaften Anteilen.

Zwei Naturen in Christus


Zwei Naturen - die göttliche und die menschliche - sind in Jesus
Christus vereint: unvermischt, unveränderlich, ungetrennt, unteilbar.
Das bedeutet: Die zwei Naturen in Christus verschmelzen nicht
miteinander, als ob aus ihnen irgendeine neue Natur gebildet würde;
die eine Natur wird durch die andere nicht aufgesaugt; sie verändern
sich nicht bei der Vereinigung der einen mit der anderen. Gleich­
zeitig sind beide Naturen nicht voneinander geschieden und können
nicht voneinander getrennt werden, nachdem sie im Moment der
Empfängnis vom Heiligen Geist vereint wurden.
Jesus Christus ist eine einzige unteilbare Person, in der die gött­
liche und die menschliche Natur in harmonischer und unlöslicher
Gestalt miteinander vereint sind. Daher trennt die christliche Theo­
logie den ewigen Sohn Gottes nicht von dem in der Zeit geborenen
Menschen Jesus. Und obwohl die Jungfrau Maria Jesus auf mensch­
liche Weise geboren hat, wird sie Gottesgebärerin genannt, weil der

44 Symeon der Neue Theologe, Ethische Rede 13.


1.3. Jesus Christus 41

ewige Sohn Gottes und der in der Zeit geborene Mensch Jesus ein
und dieselbe Person sind.

Jesus - Herr und Gott


Die Kirche nennt Jesus Christus mit den gleichen Namen, mit denen
sie den Himmlischen Vater nennt: Herr und Gott. Zum ersten Mal
wurden diese zwei Namen durch den Apostel Thomas auf Jesus
bezogen. Er war bei der ersten Erscheinung des Auferstandenen vor
den Jüngern nicht anwesend. Als diese ihm erzählten, sie hätten den
Herrn gesehen, antwortete er: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an
Seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal
der Nägel und meine Hand nicht in Seine Seite lege, glaube ich
nicht.“ Acht Tage später kam Jesus, als alle Jünger versammelt waren,
und sagte zu Thomas: „Streck deinen Finger hierher aus und sieh
meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in Meine Seite, und
sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Thomas gab Ihm zur Antwort:
„Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,25-29).
Im Glaubensbekenntnis wird Jesus „der eine Herr" genannt und
„wahrer Gott vom wahren Gott“. Damit wird die gleiche Würde von
Vater und Sohn unterstrichen.
Die Worte des Glaubensbekenntnisses „durch Ihn ist alles er­
schaffen“ verweisen auf die Teilnahme des Gottessohnes, Der „das
Wort“ genannt wird, an der Erschaffung der Welt und des Menschen.
„Alles ist durch das Wort geworden, und ohne Es wurde nichts, was
geworden ist“, heißt es im Johannesevangelium (Joh 1,3). Der He­
bräerbrief spricht vom Sohn, durch den Gott „die Welt erschaffen
hat“ (Hebr 1,2). Die Kirche glaubt: Als Gott der Vater die Welt er­
schuf, war der Sohn bei Ihm und nahm am göttlichen Schöpfungs­
geschehen teil.

Jesus - Licht vom Licht


Im Glaubensbekenntnis heißt Jesus Christus „Licht vom Licht“. Gott
ist Licht (1 Joh 1,5), und auch Christus ist Licht. Auf Ihn bezieht sich
die Aussage im Evangelium: „Das wahre Licht, das jeden Menschen
erleuchtet, kam in die Welt“ (Joh 1,9). Jesus Selbst sagt zu den Jün­
gern: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). Zum Volk sagt Er über
42 Teil I. Die Glaubenslehre

Sich: „Solange ihr das Licht habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne
des Lichts werdet“ ()oh 12,36).
Das Licht des Sohnes und das Licht des Vaters ist ein einziges
Göttliches Licht. Der heilige Filaret erläutert: „Wenn wir auf die
Sonne schauen, sehen wir Licht. Von diesem Licht entsteht das sicht­
bare Licht im ganzen Umkreis der Sonne, und doch handelt es sich
in beiden Fällen um das eine, unteilbare Licht mit ein und derselben
Natur. Ähnlich ist der Vater ewiges Licht; aus Ihm geht der Sohn
Gottes hervor, Der ebenfalls ewiges Licht ist; doch Vater und Sohn
sind ein einziges ewiges Licht, unteilbar, eines göttlichen Wesens“.15

Jesus - Erlöser und Heiland


Die Kirche nennt Jesus Christus Erlöser und Heiland, weil Sein
Leiden und Tod erlösende Bedeutung haben. Der Apostel Petrus
schreibt: „Ihr wisst, dass ihr aus eurer nichtigen, von den Vätern
ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft
wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut
Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel. Er war schon vor Grund­
legung der Welt dazu ausersehen, und euretwegen ist Er am Ende der
Zeiten erschienen“ (1 Petr 1,18-20).
Der Apostel Paulus sagt im Römerbrief über Jesus Christus:
„Wegen unserer Verfehlungen wurde Er hingegeben, wegen unserer
Gerechtmachung wurde Er auferweckt“ (Röm 4,25). Weiter schreibt
er über den erlösenden Charakter Seines Todes: „Denn Christus ist,
als wir noch schwach waren, für die zu dieser Zeit noch Gottlosen
gestorben. Dabei wird nur schwerlich jemand für einen Gerechten
sterben; vielleicht wird er jedoch für einen guten Menschen sein Le­
ben wagen. Gott aber erweist Seine Liebe zu uns darin, dass Christus
für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Nachdem wir jetzt
durch Sein Blut gerecht gemacht sind, werden wir durch Ihn erst
recht vor dem Zorn gerettet werden. Da wir mit Gott versöhnt wur­
den durch den Tod Seines Sohnes, als wir noch Gottes Feinde waren,
werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden
durch Sein Leben“ (Röm 5,6-10).45

45 Filaret von Moskau, Katechismus.


1.3. Jesus Christus 43

Die Erlösungslehre
Das Kommen Gottes in die Welt in menschlicher Gestalt ist ein
„großes Geheimnis der Frömmigkeit“ (1 Tim 3,16). Im Laufe der
Jahrhunderte haben Theologen sich bemüht, es zu enträtseln. Es
entstanden verschiedene Erlösungslehren, mit deren Hilfe man zu
erklären versuchte, was die Möglichkeit des menschlichen Geistes
übersteigt.
So stützten sich etwa einige Theologen auf den wörtlichen Sinn
des Wortes „Erlösung“ (Loskauf) und behaupteten, Christus habe
durch Seinen Tod die Menschheit vom Teufel losgekauft.“ Andere
sahen in einem solchen Handel eine Beleidigung Gottes und fragten
mit Recht: Wer ist der Teufel, dass er einen so hohen Preis für die
Erlösung der Menschheit fordern könnte?4647
Im vierten Jahrhundert wurde folgendes Verständnis der Erlö­
sung vorgelegt: Der Mensch hat sich als Folge des Sündenfalls in die
Sklaverei des Teufels begeben; um ihn loszukaufen, musste dem
Teufel unbedingt ein Ausgleich gezahlt werden, ein Lösegeld. Als
Lösegeld wurde der Mensch Jesus Christus angeboten; der Teufel
nahm Ihn im Tausch für die Menschheit an, doch unter dem „Köder“
der menschlichen Natur verbarg sich der „Haken“ der Gottheit, die
der Teufel verschlang, aber nicht festzuhalten vermochte. So täuschte
Gott den Teufel.48 Diese ausdrucksvolle und geistreiche Deutung
mag in ihrer Zeit geeignet gewesen sein, das Verständnis der Erlö­
sung zu erleichtern; für den modernen Menschen kann sie kaum zur
Einsicht in das Wesen der Erlösung beitragen.
Im lateinischen Westen entwickelte sich im Mittelalter eine Theo­
rie, nach deren verkürzter Form das Kreuzesopfer des Sohnes Gottes
aus der Notwendigkeit hervorging, dem gerechten Urteil Gottes des
Vaters Genugtuung zu leisten. Das Wesen dieser Theorie liegt in
Folgendem: Die Menschen haben Gott durch ihre Sünden so sehr
erzürnt, und ihre Schuld vor Gott war so groß, dass sie durch keiner­
lei Tugenden oder Verdienste in der Lage waren, sich bei Gott loszu­

46 Origenes, Auslegung des Matthäusevangeliums, 16,8.


47 Gregor von Nazianz, Reden, 45,22.
48 Gregor von Nyssa, Große Katechese, 22-24.
44 Teil I. Die Glaubenslehre

kaufen. Um der Gerechtigkeit Gottes Genüge zu tun und Seinen


Zorn gegenüber der Menschheit zu tilgen, bedurfte es eines Opfers,
und dieses Opfer hat der Sohn Gottes dargebracht.
In der orthodoxen Tradition fand eine solche Behandlung der
Erlösung keine Annahme. Die Väter der Ostkirche sagten: Christus
hat Sich Selbst Gott dem Vater als Opfer dargebracht, nicht weil Gott
ein solches Opfer brauchte, sondern weil es für uns notwendig war:
„Damit wir zum Leben kommen, war es fü r uns notwendig, dass Gott
Mensch wurde und den Tod erlitt“.491-'ür uns also und nicht für Gott
den Vater war das Kreuzesopfer des Sohnes Gottes erforderlich.
Denn zu unserer Errettung war gerade ein solcher Gott notwendig,
nicht ein anderer: der gekreuzigte Gott.
Der Kreuzestod des Sohnes Gottes war die folge der Liebe Gottes
zu den Menschen: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass Er
Seinen einziggeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an Ihn
glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16).
Diese Worte eröffnen auch in ganzer fülle das „große Geheimnis“ der
fleischwerdung Gottes im Kreuzestod des Erlösers. Gott hat folglich
Seinen Sohn als Opfer dargebracht aus Liebe zur ganzen Welt, nicht
für irgendein einzelnes Volk oder irgendeine Gruppe von Menschen.

Das Heil
Aus diesen Worten folgt, dass Heil und ewiges Leben nur für diejeni­
gen erreichbar sind, die an Christus glauben. Vor Seiner Himmel­
fahrt sagt Jesus zu Seinen Jüngern: „Geht hinaus in die ganze Welt
und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! Wer glaubt
und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird ver­
urteilt werden“ (Mk 16,15-16). Ohne Glauben an Jesus als Gott und
Heiland, ohne Annahme der Taufe und ein Leben nach Seinen Ge­
boten ist das Heil nicht möglich.
„Heil“ ist ein sehr wichtiger Begriff der christlichen Theologie.
Die Fleischwerdung erfolgte nach dem Glaubensbekenntnis „für uns
Menschen und zu unserem Heil“. Zu diesem Ziel lebte der Sohn
Gottes auf Erden, tat Wunder, lehrte die Menschen, litt, starb und ist

49 Gregor von Nazianz, Reden, 45,28-29.


1.3. Jesus Christus 45

von den Toten auferstanden. „Der Sohn Gottes wirkte unser Heil
durch Seine Lehre, Sein Lehen, Seinen Tod und Seine Auferstehung“,
sagt der heilige Filaret.50
Der Mensch kann nicht aus eigenen Kräften zum Heil gelangen:
Das ist eine der grundlegenden Annahmen der christlichen Theolo­
gie. Um zum Heil zu gelangen und die Vereinigung mit Gott zu
erreichen, ist ein Heiland nötig. Hin solcher Heiland für das gesamte
Menschengeschlecht wurde Jesus Christus, der für die Menschen
gelitten hat und gestorben ist. Seine göttliche Gnade51 rettet jeden,
der an Ihn glaubt und nach Seinen Geboten lebt.
Als Antwort auf die Frage, „ob Christus für alle gelitten hat und
gestorben ist“, schreibt der heilige Filaret von Moskau: „Von Seiner
Seite hat Sich unser Herr Jesus Christus als Opfer für alle Menschen
dargebracht und für alle Gnade und Heil erwirkt. Doch genutzt wird
dies von denen, die ihrerseits freiwillig an Seinen Leiden teilnehmen
... Wir nehmen an den Leiden und am Tod Jesu Christi teil durch
einen lebendigen Herzensglauben, durch die Sakramente, in denen
die Kraft des heilbringenden Leidens und des Sterbens Jesu Christi
verborgen gegenwärtig ist, und schließlich durch die Kreuzigung des
Fleisches mit seinen Leidenschaften und Begierden“.52Auf die Frage,
„warum Leiden und Tod Jesu Christi für uns heilbringend sind“,
antwortet der Heilige: „Weil Er auferstanden ist und damit den
Grund gelegt hat für unsere selige Auferstehung“.53
Das Heil wird im Christentum nicht einfach in dem Sinne ver­
standen, dass Gott den Menschen zu Hilfe kam. Gott handelt nicht
wie jemand, der einem Ertrinkenden einen Rettungsring zuwirft und
dann mitleidig zuschaut, wie dieser es schafft, aus dem Wasser zu
kommen. Er Selbst wirft sich in die sturmgepeitschten Wellen des

50 Filaret von Moskau, Katechismus.


51 Unter „Gnade“ versteht die christliche Theologie eine besondere Kraft Gottes, die
auf den Menschen einwirkt und ihn zum Heil führt.
52 Der Ausdruck, „das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Begierden kreuzigen“
stammt vom Apostel Paulus (Gal 5,24). Gemeint ist der Kampf mit den Leiden­
schaften und sündigen Strebungen.
53 Filaret von Moskau. Katechismus.
46 Teil 1. Die Glaubenslehre

menschlichen Lebens, damit der Mensch sich an Ihm festhalten und


gerettet werden kann.
Das Christentum sagt den Menschen: Krgreift Gott, haltet euch
an Ihm fest, lasst Ihn nicht los, und ihr werdet niemals untergehen.
Gerade auf solche Weise hat Gott nicht nur aus der Ferne Mitleid
gehabt, sondern Er hat mit dem Menschen alles Leid und alle Prü­
fungen seines Lebens geteilt: So offenbart es der Gottmensch lesus
Christus den Menschen.

Das Opfer der Liebe


Eines der alttestamentlichen Vorbilder für das erlösende Opfer des
Sohnes Gottes ist die Geschichte von der Darbringung des Opfers
Abrahams.'''1In dieser Begebenheit werden Abraham wie auch Isaak
dargestellt als Menschen, die den Willen Gottes erfüllen. Wahrend
Abraham diesen Willen kennt, nimmt Isaak den Willen seines Vaters
vollständig an, obwohl das Vorgehen des Vaters in krassem Wider­
spruch zum gesunden Menschenverstand, zu den Normen der all­
gemeinmenschlichen Moral und zur traditionellen Familienordnung
steht. Wir hören keinerlei Protest aus Isaaks Mund, nur eine einzige
befremdete Frage. Auf dem Opferaltar liegt er schweigend, und was
geschieht, nimmt er als Gottes Willen an, der für ihn mit dem Willen
des Vaters zusammenfällt.
Auf welche Weise lässt sich diese biblische Begebenheit mit der
Geschichte von Leiden und Tod Jesu Christi in Beziehung setzen? ln
der Passionsgeschichte steht der Sohn Gottes vor uns. Der von An­
fang an weiß, dass Er gekommen ist, um geopfert zu werden „für die
Erlösung vieler“ (Mt 20,28; Mk 10,45). Er weiß, dass Er den Willen
des Vaters erfüllen soll, Der Ihn gesandt hat (Joh 4,34; 6,38). Sein
ganzes irdisches Leben stellt eine Bewegung auf die „Stunde“ hin dar,
um derentwillen Er in diese Welt gekommen ist (Joh 12,27). W äh­
rend jedoch in der alttestamentlichen Geschichte der Engel in letzter
Minute Abrahams Arm abwendet, den er als Vater gegen den Sohn
ausgestreckt hatte, ist das in der Geschichte des einziggeborenen
Sohnes Gottes nicht der Fall: Das Urteil des Vaters gelangt zur Aus-54

54 Zu Abraham als „Vater aller Glaubenden“ vgl. oben S. 6-7.


1.3. Jesus Christus 47

führung, damit für die ganze Menschheit das von Seinem einzig­
geborenen Sohn angenommene Opfer Erlösung und Heil bringt.

Eine neue Offenbarung über den Menschen und Gott


Die Menschwerdung Gottes, das irdische Leben Jesu Christi, Sein
Leiden und Tod waren eine neue Offenbarung über den Menschen.
Indern Er der Menschheit das Angesicht Gottes offenbarte, offenbarte
Jesus ihr zugleich das Angesicht des wahren Menschen. Er zeigte, wie
ein Mensch sein kann und sein soll. Für Christen ist Jesus Christus
das absolute Ideal geistlicher und sittlicher Vollkommenheit.
Leiden und Kreuzestod Jesus Christi waren eine neue Offenba­
rung über Gott. Sie zeigten das Angesicht Gottes auf eine Weise, wie
Menschen es niemals gesehen hatten. Gott, der Blut für die Men­
schen vergießt, leidet und unter schrecklichen Qualen am Kreuz
stirbt: einen solchen Gott lernte die Menschheit zum ersten Mal
kennen.
Der christliche Gott ist nicht der Gott, den die deistischen Philo­
sophen verkünden: der die Welt geschaffen und in ihr die Naturge­
setze aufgestellt hätte, der sich dann jedoch von der Welt entfernte
und sie ihrer Entwicklung gemäß diesen Gesetzen überlassen hätte.”
Er ist auch nicht einfach der Gott, Den das Alte Testament offenbart:
der sich aktiv in das menschliche Leben einmischt, Wunder und
Zeichen wirkt, dabei jedoch fern und unzugänglich bleibt, unerreich­
bar, unfassbar und unsichtbar, Der Furcht, Zittern und Schrecken
hervorruft. Die Christenheit enthüllt auf andere Weise denselben
Gott: Er schaut nicht auf die Leiden des Menschen aus himmlischen
Höhen, sondern begibt Sich Selbst in das Dickicht der menschlichen
Leiden, indem Er sie auf sich nimmt und für die Menschen stirbt.

Die Zweite Ankunft Christi


Noch zu Lebzeiten sagt Jesus den Jüngern voraus, Er werde am Ende
der Geschichte von Neuem in Seiner Herrlichkeit kommen, um
abschließend Gericht zu halten über einen jeden Menschen (Mt 25,5

55 Deisten nennt man gewöhnlich europäische Philosophen des 18./19. Jahrhun­


derts, die derartige Ansichten entwickelt haben.
48 Teil I. Die Glaubenslehre

31-46). Die Erwartung der Zweiten Ankunft Christi und des Jüng­
sten Gerichts erfüllt das ganze Leben der frühchristlichen Kirche.
„Amen, komm, Herr Jesus!“ (Oftb 22,20): Mit diesem jubelnden Aus­
ruf, der offenbar liturgischer Herkunft ist, endet das letzte Buch des
Neuen Testaments, die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes.
Für Christen ist die Zweite Ankunft des Erlösers kein Anlass zur
Furcht. Christen erwarten mit Freude den Tag, an dem „Gott alle
Tränen von ihren Augen abwischen wird: Der Tod nicht mehr sein,
keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal: Denn was früher war, ist
vergangen“ (Offb 21,4). Dann wird „als letzter Feind der Tod ver­
nichtet“, und „Gott wird alles in allem sein“ (1 Kor 15, 26.28). Die
Zweite Ankunft Christi wird der endgültige Sieg Gottes über den
Teufel sein, der Sieg des Guten über das Böse. Auf dieses Ereignis
richten sich die geistlichen Augen der Christen.

4. Der Heilige Geist

Im Glaubensbekenntnis heißt cs: Und an den Heiligen Ceisl, den


Herrn, den Lebenschaffenden, Der vom Vater ausgeht, Der mit dem
Vater und dem Sohn zugleich angebetet und verherrlicht wird, Der
gesprochen hat durch die Propheten. Diese Worte weisen daraufhin,
dass der Heilige Geist Gott ist, Den die Christen gemeinsam mit
Vater und Sohn verehren.

Gottes Geist in der Heiligen Schrift


Der Heilige Geist wird verschiedentlich bereits im Alten Testament
erwähnt. Bei der Erschaffung der Welt „schwebte Gottes Geist über
dem Wasser“ (Gen 1,2). Gottes Geist schuf den Menschen (Ijob
33,4), und der Mensch atmet Ihn ein (Ijob 27,3). Gottes Geist - oder
der Geist des Herrn - ist „der Geist der Weisheit und der Einsicht,
der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der
Furcht des Herrn“ (Jes 11,2).
Die eigentliche Offenbarung des Heiligen Geistes wurde das Neue
Testament. Im Laufe des irdischen Lebens Jesu Christi begleitet Ihn
ständig der Heilige Geist. Schon vor Seiner Geburt erscheint ein
1.4. Der Heilige Geist 49

Engel der Jungfrau Maria und sagt: „Der Heilige Geist wird auf Dich
herabkommen, und die Kraft des Höchsten wird Dich überschatten“
(Lk 1,35). Jesus wird geboren aus der Jungfrau und dem Heiligen
Geist (Mt 1,18-20). Der Vorläufer Jesu ist vom Mutterschoß an vom
Heiligen Geist erfüllt (Lk 1,15). Er sagt: Der nach ihm kommt, wird
taufen „mit dem Heiligen Geist und Feuer“ (Mt 3,11; Mk 1,8; Lk
3,16). Im Augenblick der Taufe Jesu kommt der Heilige Geist in
Gestalt einer Taube auf Ihn herab und ruht auf Ihm (Mt 3,16; Mk
1,10; Lk 3,22). Sogleich nach der Taufe wird Jesus vom Geist in die
Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden (Mt 4,1; Mk 1,12;
Lk 4,1).
ln Seiner Predigt spricht Jesus immer wieder über das Wirken des
Heiligen Geistes. Er sagt die Verfolgungseiner Jünger voraus, mahnt
sie jedoch, nicht im voraus Gedanken darüber zu verlieren, was sie
sagen sollen, denn nicht sie werden sprechen, sondern der Heilige
Geist(Mt 10,20; Mk 13,11; Lk 12,12). Jesus warnt,dass die Lästerung
des Heiligen Geistes dem Menschen weder in dieser noch in der
zukünftigen Welt vergeben wird (Mt 12,32; Mk 3,29; Lk 12,10).
Solange Jesus noch nicht verherrlicht war, war auf Seinen Jüngern
nocli nicht der Geist (Joh 7,39). Tod und Auferstehung Christi waren
die notwendige Bedingung, damit Seine Jünger den Heiligen Geist
empfangen konnten. Darüber spricht Christus mit Seinen Jüngern in
den Abschiedsreden, in denen die Sendung des Trösters eines der
Hauptthemen ist. „Und Ich werde den Vater bitten, und Er wird
euch einen anderen Tröster geben, Der für immer bei euch sein wird,
den Geist der Wahrheit“ (Joh 14,16-17). „Wenn der Tröster kommt,
Den Ich euch vom Vater aus senden werde, der Geist der Wahrheit,
Der vom Vater ausgeht, wird Er Zeugnis für Mich ablegen“ (Joh
15,26). „Wenn Er kommt, der Geist der Wahrheit, wird Er euch in
der ganzen Wahrheit leiten. Denn Er wird nicht aus Sich Selbst her­
aus reden, sondern Er wird reden, was Er hört, und euch verkünden,
was kommen wird. Er wird Mich verherrlichen, denn Er wird von
dem, was Mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der
Vater hat, ist Mein; darum habe Ich gesagt, Er nimmt von dem, was
Mein ist, und wird es euch verkünden“ (Joh 16,13-15).
50 Teil I Pie Glaubenslehre

Nach Seiner Auferstehung erscheint Jesus den Jüngern, und


durch Anhauchen sendet Kr ihnen den Heiligen Geist und spricht:
„Empfangt den Heiligen Geist. Denen ihr die Sünden erlasst, denen
sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten“ (Joh 20,22-
23). Zu dieser Zeit trug Er den lüngern auf: „Geht nicht weg von
Jerusalem, sondern wartet auf die Verheißung des Vaters, die ihr von
Mir vernommen habt! Denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr
aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft
werden ... Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf
euch herabkommen wird; und ihr werdet Meine Zeugen sein in
Jerusalem und in ganz Judäa und in Samarien und bis an die Gren­
zen der Erde“ (Apg 1,4-8).
Das von Jesus vorausgesagte Ereignis geschah am Pt'ingsttag, als
auf die Apostel Keuerzungen kamen, „und alle wurden vom J ledigen
Geist erfüllt und begannen in anderen Sprachen zu reden, wie der
Heilige Geist ihnen eingab.“ Der Apostel Petrus sagte darüber: „Israe­
liten, hört diese Worte: lesus, den Nazoräer, einen Mann, den Gott
vor euch beglaubigt hat durch Machttaten, Wunder und Zeichen, die
Er durch Ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst... Ihn habt
ihr durch die Hände von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und
umgebracht. Gott aber hat Ihn von den Wehen des Todes befreit und
auferweckt; denn es war unmöglich, dass Er vom Tod festgehalten
wurde... Zur Rechten Gottes erhöht, hat Er vom Vater den verheiße­
nen Heiligen Geist empfangen und Ihn ausgegossen, wie ihr seht und
hört.“ Als sie diese Worte hörten, „traf es sic mitten ins Herz, und sie
sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun,
Brüder? Petrus sagte zu ihnen: Kehrt um, und jeder von euch lasse
sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung der Sünden;
dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen“ (Apg
2,1-38).

Das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche


Mit Pfingsten begann die Sendung der christlichen Kirche, die bis
zum heutigen Tage andauert; in ihr wirkt der Heilige Geist weiterhin.
Gerade dieses Wirken des Heiligen Geistes wird in der Kirche als
Garantie dafür verstanden, dass die Lehre Christi keiner Entstellung
1.4. Der Heilige Ceisl 51

unterliegt und dass Sein Dienst durch Seine Jünger und diejenigen,
die Ihm nachfolgen, Fortsetzung findet. Christus, Der das lebendige
und wirksame Haupt der Kirche bleibt, leitet der Kirche durch den
Heiligen Geist. Den Heiligen Geist hat Jesus Christus Seiner Kirche
hinterlassen als den „anderen Tröster“; Er ist bei Seinen Jüngern für
immer (Joh 14,16) und „wird nicht aus Sich Selbst heraus reden“,
sondern im Namen Christi (Joh 16,13-14).
Während die Evangelien dem Bericht über den irdischen Dienst
Christi gewidmet sind, ist das Buch der Apostelgeschichte vor allem
ein Zeugnis über das Wirken des Heiligen Geistes in der von Jesus
Christus gegründeten Kirche. Das Wirken des Heiligen Geistes in
den Gläubigen wird in der Apostelgeschichte ausgedrückt als „vom
Heiligen Geist erfüllt werden“ (Apg 4,8; 4,31; 9,17; 13,9; 13,52) und
„den Heiligen Geist empfangen“ (Apg 8,15.17). Auch ist von der
„Herabkunft des Heiligen Geistes auf die zum Glauben Gekomme­
nen“ (Apg 8,39; 10,44; 11,15) die Rede. Von der Herabkunft des
Heiligen Geistes war die Taufe begleitet: Als der Apostel Paulus in
Ephesus einer Gruppe von Jüngern gepredigt hatte, „wurden sie im
Namen des Herrn Jesus getauft, und als Paulus ihnen die Hände
auflegte, kam der Heilige Geist auf sie herab“ (Apg 19,6).
Nach dem Glauben der Kirche geschieht das Wirken des Heiligen
Geistes in allen heiligen Sakramenten. So werden etwa in der Litur­
gie5“' Brot und Wein zu Leib und Blut Christi durch das Wirken des
Heiligen Geistes. Die Gnade des Heiligen Geistes macht Menschen
durch die Handauflegung des Bischofs zu geweihten Geistlichen.
Und jeder Mensch, der die Taufe empfängt, erhält auch „das Siegel
des Heiligen Geistes“ im Sakrament der Myronsalbung."
Die Kraft des Heiligen Geistes erwies sich im Leben vieler Heili­
ger, von altersher bis heute. Ein großer russischer Heiliger, der heilige
Serafim von Sarov, erklärte dem Kaufmann Motovilov, der zu ihm
kam, das Ziel des christlichen Lebens sei der Erwerb des Heiligen
Geistes. Als Motovilov zu fragen begann, was dies bedeute, sah er,567

56 Zur Liturgie, der wichtigsten Form des Gottesdienstes der christlichen Kirche, bei
der Brot und Wein zu Leib und Blut Christi werden, vgl. unten S. 158-162.
57 Zu Taufe und Myronsalbung vgl. unten S. 66-78.
52 Teil I. Die Glaubenslehre

wie der Heilige vor seinen Augen verklärt wurde, ähnlich wie Jesus
Christus: Sein Gesicht leuchtete heller als die Sonne, und Wärme und
Wohlgeruch gingen von ihm aus. Sein Gespräch mit dem erstaunten
Besucher beendete der Heilige mit den Worten: „Gott verlangt den
rechten Glauben an Ihn und Seinen eingeborenen Sohn. Dafür gibt
Er im Übermaß reichlich die Gnade des Heiligen Geistes."

5. Der Dreieine Gott

Vor Seiner Himmelfahrt hat Jesus den Jüngern aufgetragen, die


Menschen zu taufen „im Namen des Vaters und des Sohnes und des
Heiligen Geistes“ (Mt 28,19). Hier werden zum ersten Mal alle drei
Personen der Heiligsten Dreieinigkeit zusammen in einer knappen
Formel genannt. Doch schon früher waren Vater, Sohn und Heiliger
Geist den Menschen offenbar: in dem Augenblick, als Jesus von
Johannes getauft wurde. Damals erscholl die Stimme des Vaters, und
der Heilige Geist kam in Gestalt einer Taube auf den Sohn Gottes
herab.

Gott ist einer in drei Personen


Gott ist einer in drei Personen - diese Lehre ist von Gott offenbart.
Grundlage dieser Lehre sind die Stellen, an denen Jesus Christus
Seinen Vater und den Heiligen Geist erwähnt, besonders häufig im
Johannesevangelium. Beim Apostel Paulus begegnen wir ebenfalls
vielfachen Hinweisen auf die drei göttlichen Personen. Einer seiner
Briefe schließt mit den Worten: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus
und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei
mit euch allen“ (2 Kor 13,13).
Der Begriff „Dreieinigkeit“ ist im Neuen Testament nicht zu
finden. Er tauchte jedoch in der christlichen Theologie spätestens im
zweiten Jahrhundert auf und ging fest in das theologische Vokabular
der christlichen Kirche ein. Mit diesem Begriff wird der eine Gott
bezeichnet, der in drei Personen verehrt wird.
1.5. Der Dreieine Gott 53

Der Glaube an die Heiligste Dreieinigkeit schmälert in keiner


Weise den Monotheismus, den Glauben an den einen Gott. Drei­
einigkeit bedeutet nicht drei Götter, sondern den einen Gott. Eine
jede der Personen ist nicht ein Teil Gottes, sondern ganz Gott. So ist
der Vater Gott, der Sohn ist Gott, und auch der Heilige Geist ist Gott.
Gemeinsam sind sie der eine Gott.
Der Quellgrund der Gottheit in der Dreieinigkeit ist der Vater:
Aus Ihm ist der Sohn geboren und geht der Heilige Geist hervor.58
Die Geburt des Sohnes und der Hervorgang des Heiligen Geistes
sind keine Ereignisse innerhalb der Zeit: Es sind Eigentümlichkeiten
oder Beschaffenheiten des Sohnes und des Heiligen Geistes, die
Ihnen von Ewigkeit her zukommen. Nach dem Glauben der Kirche
hat Gott immer in drei Personen bestanden, nur wurde diese Wahr­
heit im Alten Testament noch nicht enthüllt. Jesus Christus hat den
Menschen diese Wahrheit offenbart.
Die drei Personen der Allcrheiligsten Dreieinigkeit sind ewig
verbunden im Bund der Liebe und in einem einzigen Erkennen und
Handeln. Zwischen Ihnen kann es weder Konflikt, Gegensatz noch
Uneinigkeit geben. Über Ihre gegenseitigen Beziehungen hat Jesus
Christus gesagt: „Amen, amen. Ich sage euch: Der Sohn kann nichts
von Sich aus tun, wenn Er es den Vater nicht tun sieht: Denn was Er
tut, das tut auch der Sohn. Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt
Ihm alles, was Er Selbst tut“ (Joh 5,19-20). Und über den Heiligen
Geist sagt Jesus: „Er wird Mich verherrlichen, denn Er wird von dem,
was Mein ist, nehmen und es euch verkünden“ (Joh 16,14-15).
Der Sohn Gottes ist „Fürsprecher beim Vater“ (1 Joh 2,1) für das
ganze Menschengeschlecht. Doch auch der Heilige Geist „tritt für
uns ein mit unaussprechlichen Seufzern... Er tritt so, wie Gott es will,
für die Heiligen ein“ (Röm 8,26-27).

58 Jesus Christus lehrte, dass der Heilige Geist „vom Vater ausgeht" (Joh 15,26).
Entsprechend dieser Lehre verkündet das Glaubensbekenntnis, den Heiligen
Geist, „der vom Vater ausgeht“. Im lateinischen Westen verbreitete sich die Lehre,
der Heilige Geist gehe „vom Vater und vom Sohn“ aus.
54 Teil I. Die Glaubenslehre

Das Gebet zu Vater, Sohn und Heiligem Geist


Im Gebet wenden die Gläubigen sich sowohl an den Vater als auch
an den Sohn und an den Heiligen Geist sowie auch an alle drei Perso­
nen zugleich.
Als Beispiel für das Gebet zum Vater dient das bereits erwähnte
Gebet „Vater unser“. Ein weiteres Beispiel sind die Gebete, die der
Priester in der Liturgie spricht; sie sind hauptsächlich an Gott den
Vater gerichtet.
Beispiele für Gebete, die an Jesus Christus gerichtet sind, sind
überaus zahlreich. Eines von ihnen ist das sogenannte Jesusgebet:
„Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich über mich Sünder/
Sünderin.“ An Jesus Christus sind viele Gebete gerichtet, die beim
Gottesdienst benutzt werden.
Beispiel für eine Anrede an den Heiligen Geist ist das Gebet, das
viele Christen zum Anfang jeder Tätigkeit sprechen:
Himmelskönig, Tröster, Geist der Wahrheit;
Der Du überall bist und alles erfüllst,
Schatz des Guten und Geber des Lebens,
komme und wohne in uns,
reinige uns von allem Bösen
und errette, Gütiger, unsere Seelen!
Ein Gebet zu den drei Personen der Allerheiligsten Dreieinigkeit ist
beispielsweise der alte Lobgesang, der in der Liturgie gebraucht wird
und in viele Gebetssammlungen eingegangen ist: „Heiliger Gott,
Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser!“ Wie
man annimmt, ist jede der drei Anreden an eine der Personen der
Allerheiligsten Dreieinigkeit gerichtet: die erste an den Vater, die
zweite an den Sohn, die dritte an den Heiligen Geist. Das ganze
Gebet ist jedoch zugleich an die eine und ungeteilte Dreieinigkeit
gerichtet. Ein ähnliches Gebet ist das folgende:
Allerheiligste Dreieinigkeit, erbarme Dich unser!
Herr, reinige uns von unseren Sünden!
Herrscher, verzeihe unsere Übertretungen!
Heiliger, besuche uns und heile unsere Schwächen
um Deines Namens willen!
1.6. Die Kirche 55

Hier ist „Herr“ an den Vater gerichtet, „Herrscher“ an den Sohn,


„Heiliger“ an den Heiligen Geist.

6. Die Kirche

Im Glaubensbekenntnis heißt es: Und an die eine, heilige, katholische


und apostolische Kirche.

Was ist die Kirche?


Die Kirche wahrt die Lehre Christi und setzt Sein Heilswerk fort. Sie
ist der O rt Seiner lebendigen Gegenwart, Ort der Begegnung zwi­
schen Ihm und denen, die Ihm nachfolgen. Christus zeigt Sich durch
die heutige Kirche den Glaubenden in derselben Fülle, in der Er Sich
Seinen Jüngern gezeigt hat. Seine Gegenwart hat sich nicht verrin­
gert, Seine Gnade hat sich nicht gemindert, Seine erlösende Kraft ist
nicht versiegt und hat nicht abgenommen.
Der Glaube an die Kirche ist eines der grundlegenden Dogmen
des Christentums. Es heißt auch: „Es gibt kein Christentum ohne
Kirche“.5’ Das Christentum ist ja nicht nur eine rationale Anerken­
nung von Wert und Bedeutung der Person und der Lehre Christi.
Das Christentum ist vor allem Mitgliedschaft in der Gemeinschaft
Seiner Jünger. Und diese Gemeinschaft ist die von Ihm gegründete
Kirche.
Das Christentum lässt sich weder auf eine Sittenlehre noch auf
Theologie noch auf den Gottesdienst zurückführen. Es ist auch nicht
die Gesamtheit des hier Aufgezählten. Das Christentum ist die Offen­
barung der Person des Gottmenschen Christus durch Seine Kirche.

Die Gründung der Kirche


Im Matthäusevangelium wird erzählt, wie Jesus einst Seine Jünger
fragte: „Für wen halten die Menschen den Menschensohn?“ Die
Jünger antworteten: „Die einen für Johannes den Täufer, andere für59

59 Diese Aussage stammt von dem heiligen Märtyrer Hilarion (Troitzki), der im Jahr
1929 Repressalien ausgesetzt war und umgebracht wurde.
56 Teil I. Die Glaubenslehre

Elija, wieder andere für leremia oder sonst einen Propheten.“ Jesus
fragte: „Ihr aber, für wen haltet ihr Mich?“ Petrus antwortete: „Du
bist Christus, der Sohn des Lebendigen Gottes“ Da sagte Jesus zu
ihm: „Selig bist du, Simon, Sohn des Johannes, denn nicht Fleisch
und Blut haben dir das offenbart, sondern Mein Vater im Himmel.
Und Ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich Meine
Kirche bauen, und die Tore zur Unterwelt werden sie nicht überwäl­
tigen“ (Mt 16,13-18).
Dieser Bericht wurde in den christlichen Kirchen des Ostens und
des Westens unterschiedlich ausgelegt. Im Westen unterstrich man
die Rolle des Petrus als Haupt der Gemeinschaft der Apostel und als
Stellvertreter Christi auf Erden, der seinen Vorrang an die Bischöfe
von Rom weitergibt. Im Osten fand eine andere Deutung Verbrei­
tung: Die Kirche ist auf den Glauben an die Gottheit Jesu Christi
gegründet, und die Worte des Petrus waren das Bekenntnis dazu. Der
Apostel Petrus selbst besteht in seinem Brief darauf, dass der Grund-
und Eckstein der Kirche nicht er, sondern Christus ist (1 Petr 2,4).

Wofür braucht es die Kirche?


Die Kirche ist vor allem notwendig, um die Menschen zu G ott zu
führen, ihnen den Himmlischen Vater zu enthüllen, sie mit Christus
zu vereinen, sie mit der Gnade des Heiligen Geistes zu nähren. Die
Kirche öffnet vor uns die Tiefe und Schönheit des Evangeliums und
hilft uns, die Gebote des Erlösers in Leben umzusetzen. Durch Taufe,
Eucharistie und die übrigen Sakramente gewährt die Kirche uns die
Teilhabe am Himmelreich, das sie zur Realität unseres Lebens wer­
den lässt. Dank der Kirche keimt dieses Reich Gottes in uns, ver­
gleichbar einem Senfkorn, das sich in einen gewaltigen Baum ver­
wandelt (Mt 13,31-32); vergleichbar dem Gärmittel im Teig, erfüllt
das Himmelreich unser Leben mit Inhalt und Sinn. Nicht zufällig
wird die Kirche als „Himmel auf Erden“ bezeichnet.
Die Kirche ist notwendig, damit sich durch die Gnade und Kraft
Gottes die Menschen zum Besseren ändern. Viele kommen zur
Kirche geistlich leer, verzweifelt, nicht fähig zu einem vollwertigen
menschlichen Leben. Dank der Teilnahme am Gottesdienst, am G e­
bet, an der Kommunion und den übrigen Sakramenten verändern sie
1.6. Die Kirche 57

sich. Die Kirche hilft den Menschen, sich an den lebendigen Gott zu
binden und die trennende Kluft zu überwinden, die sie von Ihm
trennt. Sie entzündet die Herzen der Menschen mit dem Feuer, das
sie zu guten Werken und schöpferischen Leistungen zu begeistern
vermag.
Die Kirche ist notwendig, um die Welt zu verändern. Doch kein
einziger Mensch kann die Welt verändern, wenn er nicht zuvor sich
selbst verändert hat. Sehr oft würden wir gern die Menschen in unse­
rer Umgebung verändern. Nicht selten fallen Familien gerade des­
halb auseinander, weil die Ehepartner einander zu verändern ver­
suchen, statt jeweils an sich selbst zu arbeiten: Der eine schlägt dem
anderen Rezepte vor, wie man besser werden kann, und im Ergebnis
fällt die Familie auseinander, weil die Familienmitglieder nicht in der
Lage sind, sich zu einigen.
Die Kirche hilft den Menschen, sich nicht als Individuen zu füh­
len, berufen, die anderen zu verändern, sondern als Glieder einer
einzigen Gemeinschaft, in der unter dem Wirken des Heiligen Geis­
tes jeder an sich selbst arbeitet und alle gemeinsam einander helfen,
sich nach dem Bild und Gleichnis Christi zu ändern. Beim Eintritt in
die Kirche wird der Mensch in einen mächtigen Strom hineinge­
zogen, dessen Wasser ihn zum Ziel zu tragen beginnen, zur geist­
lichen Vollkommenheit. Dabei verliert der Mensch keineswegs seine
Selbständigkeit und Freiheit, sondern erlangt im Gegenteil neue
Kräfte zur Entfaltung seines von Gott empfangenen geistlichen und
schöpferischen Potentials.

Die Kirche ist der Leib Christi


Der Apostel Paulus bestimmt die Kirche als Leib Christi (Kol 1,24),
als lebendigen Organismus, in dem jedes Glied seine Aufgabe hat,
seine Berufung und seinen Dienst (1 Kor 12,28-30). Mit den Worten
des Paulus: „Wie der Leib einer ist, doch viele Glieder hat, alle Glie­
der des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden
- so ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist wurden wir in
der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen... und alle wur­
den wir mit dem einen Geist getränkt. Auch der Leib besteht nicht
nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern... Ihr aber seid der
58 Teil I. Die Glaubenslehre

Leib Christi, und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm"' (1 Kor 12,12-
14.27).
Das Haupt des Leibes der Kirche ist Christus (Eph 4,15). Er
vereint in Sich die Lebenden wie auch die im Glauben Entschlafenen,
ln Ihm finden sie die Hauptquelle der Freude und Seligkeit.

Die zwei Naturen der Kirche


Die Kirche ist auf Erden gegründet, hat jedoch einen himmlischen
Ursprung. Ähnlich wie der Gründer der Kirche, Jesus Christus, zwei
Naturen hat, die göttliche und die menschliche, hat auch die Kirche
zwei Dimensionen: eine irdische und eine himmlische.
Die irdische Kirche stellt die „von Gott errichtete Gemeinschaft
von Menschen dar, die geeint sind durch den orthodoxen Glauben,
das göttliche Gesetz, die Hierarchie und die Sakramente“.“ Die
himmlische Kirche umfasst die Bewohner der geistlichen Welt: die
Engel, die Heiligen und alle, die im wahren Glauben verstorben sind.
Die irdische Kirche wird manchmal die „streitende Kirche“ ge­
nannt (das heißt: die sich im Kampf gegen das Böse dieser Welt
befindet) oder die „pilgernde Kirche“ (die auf dem Weg ist), und die
himmlische Kirche heißt „triumphierende Kirche“ (die das Ziel
bereits erreicht und den Sieg über das Böse erlangt hat).

Die Einheit der Kirche


Die Kirche ist eine, weil sie gegründet ist nach dem Bild des einen
Gottes. Sie ist eine einzige auf der ganzen Erde. Die Einheit der Kir­
che auf der ganzen Welt wird sichergestellt durch die Einheit des
Glaubens ihrer Glieder, durch die eine Eucharistie, an der sie alle
teilhaben.6061
Der Apostel Paulus vergleicht die Einheit der Kirche mit Christus
mit der Einheit von Frau und Mann. Er beschreibt auf metaphori­
sche Weise die Kirche als eine reine Jungfrau, die einem einzigen
Mann verlobt ist, Christus (2 Kor 11,2). Christus ist das Haupt der
Kirche und der Erlöser des Leibes. Et hat „die Kirche geliebt und Sich

60 Filaret von Moskau, Katechismus.


61 Zur Eucharistie vgl. unten S. 152-162.
1.6. Die Kirche 59

für sie hingegeben, um sie zu heiligen, da er sie gereinigt hat durch


das Wasserbad^ im Wort. So will Er die Kirche herrlich vor sich
hinstellen, ohne Flecken oder Falten oder andere Fehler; heilig soll
sie sein und makellos“. Die Kirche gehorcht Christus wie die Frau
dem Mann, und Christus nährt und wärmt sie, „denn wir sind Glie­
der Seines Leibes“ (Eph 5,22-30).

Die Heiligkeit der Kirche


Die Kirche ist heilig nach dem Bild Gottes, Der sie gegründet hat
und Der Seiner Natur nach heilig ist. Die Heiligkeit der Kirche wird
nicht gemindert durch die Sünden ihrer Glieder. Die Heiligkeit der
Kirche gründet keineswegs auf der Gesamtheit der Verdienste und
guten Werke ihrer irdischen Glieder, sondern auf der Heiligkeit Jesu
Christi, Dessen Leib sie ist.
Weil sie der Natur nach heilig ist, heiligt die Kirche all ihre Glie­
der. Diese Heiligung vollzieht sich durch die kirchlichen Sakramente,
unter ihnen die Beichte und die Kommunion. Im Sakrament der
Beichte bereut der Mensch seine Sünden vor Gott und erhält die Ver­
gebung Gottes; das verhilft dazu - wenn auch manchmal nicht sofort
-, sich von ihnen zu befreien. Und im Geheimnis der Eucharistie
empfängt der glaubende Mensch in seinem Inneren Christus Selbst
unter den Gestalten von Brot und Wein.
Jesus Christus sagte zu Seinen Jüngern: „Ihr seid das Salz der
Erde. Wenn das Salz seine Kraft verliert, womit kann man es salzig
machen? Es taugt zu nichts mehr, außer weggeworfen und von den
Leuten zertreten zu werden. Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt,
die auf der Höhe eines Berges liegt, kann nicht verborgen sein. Man
zündet auch nicht eine Leuchte an und stellt sie unter den Scheffel,
sondern auf einen Leuchter; dann leuchtet sie allen im Haus. So soll
euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten
sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,13-16).
Diese Worte enthalten einen Hinweis auf die Rolle der Christen
in der Welt. Ähnlich der Seele im Leib sollen sie das Leben der Welt
befruchten. Wie das Salz in der Nahrung sind sie berufen, das Leben62

62 Gemeint ist die Taufe.


60 Teil I. Die Glaubenslehre

der Menschen inhaltsreich zu machen, mit Sinn zu erfüllen, die


menschliche Gesellschaft vor Verderben und Zerstörung durch
Feindschaft, Hass, Konflikte und Rache zu bewahren. Die Gegenwart
der Kirche in der Welt als Gemeinschaft von Menschen, die berufen
sind, nach höheren moralischen Gesetzen zu leben, als sie in der
irdischen Gesetzgebung vorgeschrieben sind, soll die Welt von innen
verändern, sie zum Besseren wandeln, die Menschheit aut eine höhere
Ebene emporheben.
Christen sind berufen zu Heiligkeit und Vollkommenheit. Jesus
sagt: „Seid vollkommen, wie euer Himmlischer Vater vollkommen
ist!“ (Mt 5,48). Diese Aufforderung kann unerfüllbar erscheinen, weil
kein einziger Mensch absolute Vollkommenheit besitzt. Und tatsäch­
lich wäre er unvollkommen, wenn es nicht die Kirche gäbe. Da sie
heilig und vollkommen ist, heiligt und vervollkommnet sic ihre
Glieder. Und Christus, der ihr Haupt ist, führt persönlich ein jedes
ihrer Glieder, das danach verlangt, zur Heiligkeit und Vollkommen­
heit. Er hat nicht nur den Weg gewiesen, sondern führt diejenigen,
die Ihm nachfolgen, auf diesem Weg an.

Die Katholizität der Kirche


Die Kirche ist katholisch (oder, in wörtlicher Übersetzung aus dem
Griechischen: „allumfassend“, „die ganze Welt umspannend“6'), weil
sie auf der ganzen Welt verbreitet ist, offen für jeden Menschen,
unabhängig von seiner ethnischen Herkunft und seiner sozialen
Stellung. Der heilige Kyrill von Jerusalem schreibt: „Die Kirche heißt
katholisch, weil sie auf der ganzen Welt von einem Ende der Erde bis
zum anderen verbreitet ist, weil sie überall und in Fülle die Lehre63

63 Das griechische Wort KaOoXixij, das im Russischen durch coöopHaa = „gemein­


schaftlich“, „konziliar“ übersetzt wird, liegt dem Adjektiv „katholisch“ zugrunde,
das die Westkirche sich Vorbehalten hat, seit sie sich von der Ostkirche abgespal­
ten hat. Die Ostkirche bezieht diese Bezeichnung in ihrem ursprünglich grie­
chischen Klang auf sich selbst. Ihre grundlegende Selbstbezeichnung wurde
„orthodox“ = „rechtgläubig“. Nicht selten wurden jedoch in ein und derselben
Benennung beide Adjektive gebraucht. So hieß zum Beispiel die Russische Ortho­
doxe Kirche bis zur Revolution im Jahr 1917 offiziell „Russische Orthodoxe
Griechisch-Katholische Ostkirche“.
1.6. Die Kirche 61

vermittelt, die die Menschen kennen müssen, die Lehre über sicht­
bare und unsichtbare, himmlische und irdische Dinge, die das ganze
Menschengeschlecht zum wahren Glauben führt, Vorgesetzte und
Untergebene, Gebildete und einfache Leute, und weil sie überall
jegliche Art von Sünden überwindet und heilt, die mit Leib und Seele
begangen werden; sie trägt in sich jede Gestalt der Vollkommenheit,
die in Taten, Worten und in allen geistlichen Gaben offenbar wird“.64
Die allumfassende Kirche besteht aus Lokalkirchen, von denen
jede wiederum in Diözesen (Eparchien) unterteilt ist, die von Bischö­
fen geleitet werden. Die Diözesen sind aus Pfarreien zusammenge­
setzt, das heißt aus kirchlichen Gemeinschaften, die durch Priester
geleitet werden.
Katholizität ist eine äußerst wichtige Eigenschaft der Kirche.65 Die
Kirche ist katholisch auf allen Ebenen ihrer Existenz - gesamtkirch­
lich, lokalkirchlich, in der Diözese und in der Gemeinde. Auf der
gesamtkirchlichen und der lokalen Ebene ist die Katholizität der
Kirche sichergestellt durch die Einheit des Glaubens im gesamten
Episkopat, im Klerus und unter den Laien.66 Auf der lokalen Ebene
wird die Kirche durch die Versammlungen der Bischöfe geleitet, in
denen ein jeder in diesen Versammlungen nicht sich selbst repräsen­
tiert, sondern seine kirchliche Gemeinschaft, einschließlich des Klerus
und des Volkes Gottes.

64 Kyrill von Jerusalem, Vorbereitende Katechese, 18,23.


65 Der Ausdruck coöopHocTb, mit dem im Russischen das Wort „Katholizität"
wiedergegeben wird, kam durch die Slawophilen im 19. Jahrhundert in den theo­
logischen Gebrauch. Er verweist 1) auf den weltweiten Charakter der Kirche, ihre
Katholizität und Verbreitung auf dem gesamten Erdkreis; 2) auf die Fülle der
Kirchlichkeit auf allen Ebenen ihrer Existenz; 3) auf die Leitung durch die Ver­
sammlung (coßop) der Bischöfe.
66 Unter „Klerus“ versteht man gewöhnlich alle Mitglieder der Geistlichkeit außer
den Bischöfen (im heutigen Sprachgebrauch kann der Ausdruck „Klerus“ auch die
Bischöfe einbeziehen). „Laien" heißen die Glieder der Kirche, die keine sakramen­
tale Weihe und keine Mönchsweihe empfangen haben.
62 Teil I. Die Glaubenslehre

Die kirchliche Hierarchie


Glied der Kirche zu sein bedeutet, in Einheit mit der kirchlichen
Hierarchie zu stehen: mit den Bischöfen und Priestern, denen Gott
die Hirtensorge für Seine Schafe anvertraut hat.
Die kirchliche Hierarchie darf man nicht als eine Macht ver­
stehen, die über Gottes Erbe gesetzt ist, um darüber zu herrschen.
Dazu sagt der Apostel Petrus: „Eure Ältesten ermahne ich, als Mit­
ältester und Zeuge der Leiden Christi, der auch an der Herrlichkeit
teilhaben soll, die sich offenbaren wird: Weidet die euch anvertraute
Herde Gottes, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie Gott es will;
auch nicht aus Gewinnsucht, sondern mit Hingabe; seid nicht Be­
herrscher der Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde“ (1 Petr
5,1-3).
Bischöfe und Priester sind ebenso Glieder am Leib Christi wie die
Laien. Doch sic haben einen besonderen Dienst: Im Namen des
Volkes stehen sie vor Gott bei der Feier der Eucharistie, sic leiten die
Kirche in den ihnen zugewiesenen Grenzen, sie üben die Hirtensorge
über die ihnen anvertrauten Seelen aus. Deshalb ermahnt der Apostel
Paulus die Glaubenden zum Gehorsam gegenüber der kirchlichen
Hierarchie: „Gehorcht euren Vorstehern und ordnet euch ihnen
unter; denn sie wachen über eure Seelen!“ (Hebr 13,17).1’7
Die kirchliche Hierarchie umfasst drei Stufen: Bischöfe, Priester
und Diakone. Die Bischöfe sind die direkten Nachfolger der Apostel.
Für Priester und Diakone gilt das nicht. Die Priester erhalten das
Recht zu ihrem Dienst vom Bischof, über ihre priesterlichen Hand­
lungen hinaus, und spenden die Sakramente mit seiner Erlaubnis
und in seinem Namen. Die Diakone helfen Bischöfen und Priestern67

67 Die Mitglieder der Hierarchie genietien in der Kirche Autorität, doch keiner von
ihnen verfügt Uber Unfehlbarkeit. Jeder von ihnen kann sich als Mensch in irgend­
etwas täuschen. Zur Korrektur solcher Fehler in der Kirche können verschiedene
Mittel angewandt werden: So kann zum Beispiel der Bischof einen Priester auf
seine Fehler hinweisen, und sollte dieser sich nicht bessern, kann er ihm eine
Strafe auferlegen; einen Bischof kann die höchste kirchliche Autorität (die Ver­
sammlung der Bischöfe) strafen. Für die Untersuchung in Fällen schuldig gewor­
dener Mitglieder der kirchlichen Hierarchie gibt es ein kirchliches Gericht.
1.6. Die Kirche 63

bei der Durchführung ihrer spezifischen Aufgaben, die sie jedoch


nicht selbständig ausführen können.

Die Apostolizität der Kirche


Der heilige Irenaus von Lyon (2. Jh.) schreibt: „Man soll nicht bei
anderen die Wahrheit suchen, die leicht in der Kirche empfangen
werden kann. In ihr haben - wie ein Reicher in seiner Schatzkammer
- die Apostel in Fülle niedergelegt, was sich auf die Wahrheit bezieht,
leder, der danach verlangt, kann aus der Kirche das Wasser des
Lebens trinken“.68
Die Kirche ist apostolisch, weil sie Trägerin derjenigen Sendung
der Verkündigung und der Taufe ist, die der Herr Jesus Christus
Seinen Jüngern geboten hat (Mt 28,19).
Zwar ist Jesus Christus Selbst der Gründer der weltumspannen­
den Kirche, doch Gründer der ersten Ortskirchen waren die Apostel
oder ihre Nachfolger. In den ersten Jahren des Bestehens der Kirche
begannen die Apostel durch Handaullegung Älteste69 und Bischöfe
einzusetzen zur Leitung der Ortskirchen, die durch die apostolische
Verkündigung entstanden waren. So wurde der Anfang für die apo­
stolische Sukzession in der Kirche gelegt.
Die apostolische Sukzesssion der Hierarchie ist ein Schlüssel­
begriff der orthodoxen Lehre über die Kirche: Nur diejenige Kirche
ist wahre Kirche Christi, in der es eine ununterbrochene Sukzession
der Hierarchie gibt, die zu den Aposteln zurückreicht. Wenn eine
solche Sukzession fehlt oder auf irgendeine Weise unterbrochen
wurde, kann eine kirchliche Gemeinschaft nicht als die wahre ange­
sehen werden, ihre Hierarchie nicht als legitim und auch die Sakra­
mente nicht als gültig.
An der apostolischen Sukzession ist jedoch überhaupt nichts
automatisch oder magisch. Die Sukzession der Handauflegung ist
keine autonome Linie, die von der Kirche unabhängig wäre. Bischöfe
und Presbyter wurden von den Aposteln in Übereinstimmung mit

68 Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien, III, 4,1.


69 Das griechische npcoßuTspoc bedeutet „Ältester". So hießen in der Alten Kirche
die Priester.
64 Teil I. Die Glaubenslehre

der ganzen Kirche eingesetzt, und diese Übereinstimmung war kein


weniger wichtiger Faktor als das Vorliegen der ordnungsgemäßen
Handauflegung. Die Linie der apostolischen Sukzession besteht nur
innerhalb der Kirche: Außerhalb der Kirche verliert sie ihre Realität
und Bedeutung.
Die Kirche ist auch deshalb apostolisch, weil sie die apostolische
Lehre bewahrt und in der Welt verbreitet. Kein einziger Mensch hat
das Recht, diese Lehre zu ändern, die auf der Grundlage der Worte
Christi des Erlösers Selbst durch die Apostel formuliert wurde. Die
christliche Theologie kann sich entfalten und vervollkommnen, ihre
Grundlage ist jedoch immer die Lehre Christi, wie sie durch die
Apostel bewahrt und weitergegeben worden ist.

Die Kirche als fürsorgliche Maller


Die Kirche ist für einen Christen geistliche Mutter. Gebet und Sorge
der Kirche begleiten ihn im Laufe seines ganzen Lebensweges. Wenn
in einer christlichen Familie ein Kind geboren wird, bringt man es
zur Kirche, damit es die Taufe und die Myronsalbung empfängt.
Bereits als Kleinkind kann es das Sakrament der Kommunion emp­
fangen, und wenn es in das Vernunftalter eintritt, auch das Sakra­
ment der Beichte. Die Kirche heiligt mit ihrem Segen alle wichtigen
Ereignisse im Leben des Menschen, darunter auch den Eintritt in die
Ehe. Wenn ein Mensch krank ist, kommen Priester zu ihm, um das
Sakrament der Heiligen Ölung (Krankensalbung) zu spenden, und
die kirchliche Gemeinde betet für ihn in der Feier der Liturgie. Wenn
ein Mensch im Sterben liegt, kommt ein Priester zu ihm, um ihm die
letzte heilige Kommunion zu reichen und für ihn um einen friedvol­
len Heimgang aus dem irdischen Leben zu beten. Wenn ein Mensch
stirbt, begleitet die Kirche ihn auf seinem letzten Weg und vergisst
ihn danach nicht, sondern betet weiterhin darum, dass Gott ihm die
Seligkeit und das ewige Leben schenke.
Als fürsorgliche Mutter führt die Kirche den Christen durch das
irdische Leben und öffnet ihm die Tore zum Himmelreich. Nicht zu
Unrecht wurde bereits im Altertum das Prinzip formuliert: „Wer die
1.6. Die Kirche 65

Kirche nicht zur Mutter hat, hat Gott nicht zum Vater“.70 Natürlich
sorgt Gott Sich um die Menschen innerhalb der Kirche wie auch
außerhalb der Kirche. Doch in der Kirche wirkt Er auf besondere
Weise mit den Menschen zusammen, und nur in der Kirche ist eine
wirkliche Vereinigung mit Ihm möglich. Diese erfolgt unter anderem
und vor allem durch die kirchlichen Sakramente.

Glaube und Kirche. Die Orthodoxie


Glaube und Kirche sind eng miteinander verbunden. Im orthodoxen
Gottesdienst heißt es: „Dies ist der Glaube der Apostel, dies ist der
Glaube der Väter, dies ist der orthodoxe Glaube.“ Diese drei Bezeich­
nungen verweisen auf die wichtigste Eigentümlichkeit oder Bestim­
mung des christlichen Glaubens, und zugleich verweisen sie auf eine
Eigentümlichkeit der Kirche.
Der Ausdruck „orthodox“ wird unter anderem in Bezug auf den
Glauben wie auch in Bezug auf die Kirche verwendet. In der grie­
chischen Sprache ist er gebildet aus dem Eigenschaftswort ögdöq, das
„richtig, recht“ bedeutet, und dem Hauptwort 5ö^a, das die doppelte
Bedeutung „Auffassung“ und „Ruhm, Herrlichkeit“ hat. Eine wört­
liche Übersetzung des griechischen Wortes ÖQÖoSofia ist „richtige
Auffassung“ oder „richtige Lehre (über Gott)“. Doch die slawischen
Übersetzer zogen eine andere Variante für die Wiedergabe dieses
Wortes vor: „rechte Verherrlichung (Gottes)“. Dadurch wurde der
besondere, vorwiegend liturgische Charakter des Glaubensverständ­
nisses in der slawischen Tradition unterstrichen. Ein orthodoxer
Christ zu sein, bedeutet nicht nur, die rechte Auffassung über Gott
zu haben, sondern auch Ihn in rechter Weise zu verherrlichen.
Die orthodoxe Kirche ist die eine, heilige, katholische und aposto­
lische Kirche selbst, die Jesus Christus gegründet hat und von der im
Glaubensbekenntnis die Rede ist. Die Lehre Christi, Seiner Apostel
und der Heiligen Väter71 hat sie rein und unversehrt bewahrt.72

70 Diese Worte entsprechen einer Formulierung aus der Schrift „Über die Einheit der
Kirche” des Bischofs und Märtyrers Cyprian von Karthago (3. Jh.): „Gott kann
nicht zum Vater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter hat“ (Teil I, Kap. 6).
71 „Heilige Väter" pflegt man die Theologen der alten Kirche zu nennen, die deren
dogmatische Lehre formuliert haben. Am produktivsten in der Formulierung
i
66 Teil I. Die Glaubenslehre

7. D ie T au fe

Im Glaubensbekenntnis heißt es: Ich bekenne die eine Taufe zur


Vergebung der Sünden.

7.1 Die Taufe - Sakrament der Kirche

Als erstes muss man notwendig über die Taufe wissen: Sie ist nicht
nur ein Ritual. Die Taufe ist ein Sakrament. In der Sprache der
Kirche werden heilige Handlungen, in denen Gott durch den Priester
direkt auf den Menschen einwirkt und ihm Seine heilbringende
Gnade schenkt, „Sakramente“ oder „Mysterien“ genannt.
Die Taufe ist eines der sieben Sakramente der Kirche. Zu den
Sakramenten gehören neben der Taufe auch die Myronsalbung, die
Eucharistie, die Beichte, das Sakrament der Weihe, die Ehe und die
Heilige Ölung (Krankensalbung).7' Doch die Taufe ist das erste Sa­
krament, mit dem das christliche Leben beginnt. Sie öffnet die Tore

dieser Lehre war die Epoche der alten Kirche (1. bis 3. Jh.) und die Epoche der
Ökumenischen Konzilien (4. bis 8. Jh.). In der Epoche der alten Kirche wurden die
Grundlagen für diese Lehre gelegt, und bei den sieben Ökumenischen Konzilien
wurde diese Lehre im Gegensatz zu entstandenen Häresien ausformuliert.
72 Bezüglich der Gemeinschaften, die aus der Einheit mit der Orthodoxie herausge­
fallen sind, stellt die Russische Orthodoxe Kirche fest: „Die Orthodoxe Kirche
bekräftigt durch den Mund der heiligen Väter, dass die Rettung nur in der Kirche
Christi erlangt werden kann. Gleichzeitig aber betrachtete man die Gemeinschaf­
ten, die aus der Einheit mit der Orthodoxie herausgefallen waren, niemals so, als
seien sie vollständig der Gnade Christi beraubt. Der Bruch der kirchlichen Gemein­
schaft führt notwendig zur Schädigung des Gnadenlebens, doch nicht immer zu
dessen vollständigem Verlust in den abgetrennten Gemeinden. Hier liegt der Grund
für die Praxis, diejenigen, die aus andersglaubenden Gemeinschaften in die Ortho­
doxe Kirche kommen, nicht unbedingt durch das Sakrament der Taufe aufzuneh­
men. Ungeachtet der zerbrochenen Einheit bleibt eine gewisse unvollständige Ge­
meinschaft bestehen, die als Unterpfand der Möglichkeit dient, zur Einheit in der
Kirche, in die katholische Fülle und Einheit zurückzukehren“ (Grundprinzipien
der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche zu Andersglaubenden 1.15).
73 Über die Myronsalbung wird in diesem Kapitel noch die Rede sein: siehe unten
S. 71 -78. Die weiteren Sakramente werden in den Abschnitten 8 und 9 von Teil III
über „Kirche und Gottesdienst“ behandelt: siehe unten S. 152-171.
/. 7. Die Taufe 67

zur Kirche, gewährt Zutritt zu allen übrigen Sakramenten und macht


den Menschen zu einem Glied der Kirche.
Die Taufe ist die geistliche Geburt. Über sie sagte Jesus Selbst zu
Nikodemus, der zum Gespräch mit Ihm kam: „Amen, amen, ich sage
dir: Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich
Gottes nicht sehen.“ Nikodemus verstand die Worte des Erlösers
nicht und fragte: „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren
werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und
noch einmal geboren werden?“ Darauf antwortete Christus: „Amen,
amen. Ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem
Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eintreten. Was
aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, was aber aus dem Geist
geboren ist, das ist Geist“ (Job 3,3-6).
Die Taufe verbindet den Menschen mit Gott, gibt ihm Kraft, dem
Teufel zu widerstehen, auf christliche Weise zu leben. Die Taufe
befreit nicht von Krankheiten, aber sie hilft, die geistlichen Krankhei­
ten zu überwinden, die man in christlicher Sprache „Sünden“ nennt
und die sich negativ auf die ganze geistig-leibliche Verfassung des
Menschen auswirken. Viele Krankheiten sind direkte oder indirekte
Folgen einer sündhaften Lebensweise. Indem die Kirche dem Men­
schen hilft, sich von Sünden zu befreien, trägt sie zu seiner Heilung
bei und stärkt ihn dadurch zugleich geistig und auch leiblich.
Nach dem Glauben der Kirche werden im Sakrament der Taufe
dem Menschen alle Sünden vergeben. Was die Sünden angeht, die
man nach der Taufe begeht, so kann man im Sakrament der Buße
(Beichte) von ihnen gereinigt werden.74

Die Taufe im Neuen Testament


Historisch betrachtet ging der christlichen Taufe die Taufe des Jo­
hannes voraus (Mt 3,1-12; Mk 1,4-8; Lk 3,3-17). Ihrem Gehalt nach
war sie eine „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (Lk 3,3).
Nachdem Jesus von Johannes getauft worden war, „ging Er mit
Seinen Jüngern in das Land Judäa und lebte dort mit ihnen und
taufte“ (Joh 3,22). Nach kurzer Zeit übertrug Er Seinen Jüngern das

74 Zum Sakrament der Beichte vgl. unten in Teil III, S. 163-165.


J

68 Teil I. Die Glaubenslehre

Recht, Menschen zu taufen (Joh 4,2). Als Er in den Himmel aufge­


nommen wurde, gebot Er ihnen, alle Völker zu lehren und sie zu
taufen (Mt 28,19). Nach der direkten Anweisung Jesu begannen die
Jünger zu predigen und die zum Glauben Gekommenen durch die
Taufe in die Gemeinschaft aufzunehmen. Gerade die Taufe - das
Untertauchen im Wasser - wurde der Akt, durch den der Eintritt in
die Kirche bezeichnet wurde, und gerade die Taufe eröffnete den
Weg zur vollwertigen Teilnahme am kirchlichen Leben.

Die Taufvorbereitung
Der Taufe ging immer eine Taufvorbereitung voraus, die Unter­
weisung in den Wahrheiten des christlichen Glaubens. Sie konnte
mehr oder weniger lange dauern, von einigen Stunden oder einigen
Tagen bis zu einigen Wochen, Monaten oder Jahren.
ln der Apostelgeschichte wird von einem Eunuchen erzählt,
einem Hofbeamten der Königin von Äthiopien, der auf einem W a­
gen fuhr und das Buch des Propheten Jesaja an der Stelle las, die vom
künftigen Messias handelt (Jes 53,7-8). Der Apostel Philippus lief zu
dem Wagen und fragte: „Verstehst du auch, was du liest?“ Der Hof­
beamte antwortete: „Wie soll ich verstehen, wenn mich niemand
anleitet?“ Und erbat Philippus, sich neben ihn zu setzen. Da „öffnete
Philippus seinen Mund, und, ausgehend von diesem Schriftwort,
verkündete er ihm die frohe Botschaft von Jesus.“ Inzwischen kamen
sie zu einer Wasserstelle, und der Eunuch sagte: „Hier ist Wasser!
Was steht meiner Taufe noch im Weg?“ Philippus antwortete:
„Wenn du von ganzem Herzen glaubst, ist es möglich.“ Der Eunuch
sagte: „Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“ Diese
Worte waren das kurze Glaubensbekenntnis, das ausreichte, um die
Taufe zu empfangen. Der Apostel taufte den Eunuchen, und dann
kam der Heilige Geist auf ihn herab (Apg 8,27-39).
In unserer Zeit geht ebenfalls eine Taufvorbereitung der Taufe
voraus. Sehr wichtig ist, dass ein erwachsener Mensch bewusst zur
Taufe kommt und sie nicht einfach als Ritual betrachtet, an dem man
teilnehmen kann, ohne dessen Sinn zu verstehen. Eben deshalb ist
eine Vorbereitung notwendig.
1.7. Die Taufe 69

Wenn ein kleines Kind getauft wird, kann man von ihm natürlich
noch keinen bewussten Glauben verlangen. Ein solcher Glaube wird
jedoch von seinen Eltern und seinen Paten gefordert, den „Tauf­
eltern“. Die Eltern müssen bereit sein, das Kind im Glauben zu erzie­
hen, und die Paten erklären sich bereit, ihnen dabei zur Seite zu
stehen.

Die Taufe von Kleinkindern und von Erwachsenen


Die Taufe von Kleinkindern ist eine alte Praxis, die es in der Kirche
bereits seit apostolischen Zeiten gibt. Manchmal kann man die Mei­
nung hören, die Taufe sei eine Art Zwang gegenüber der Persönlich­
keit des Kindes. Das Kind solle erst heranwachsen und dann selbst
entscheiden, woran es glauben will. Das ist nicht richtig. Die Mutter
beginnt, das Kind an der Brust zu nähren, und wartet nicht, bis es
danach fragt. Und man schickt ein Kind in die Schule - nicht weil es
das will, sondern weil das „sein muss“. Von frühester Kindheit an
braucht der Mensch nicht nur physische Nahrung, sondern auch
geistliche Nahrung. Die Gnade Gottes beginnt auf das Kind ein­
zuwirken, bis es fähig wird, dies anzuerkennen. Ein Kind der heil­
samen Gegenwart der Gnade Gottes zu berauben, ist unvertretbar.
Es kommt vor, dass ein erwachsener Mensch nicht weiß, ob er
getauft ist oder nicht: Ihm scheint, dass man ihn in seiner Kindheit
getauft hat, aber er ist sich nicht sicher. In einem solchen Fall soll
man zum Priester gehen und mit ihm darüber sprechen. In der­
artigen Fällen wird die Taufe gespendet, aber zur Taufformel werden
in der Regel die Worte hinzugefügt:..... falls du nicht getauft bist“.
Wenn ein Mensch in seiner Kindheit getauft wurde, dann aber
viele Jahre ohne Glauben gelebt hat und jetzt zur Kirche zurückkehrt,
wird keine zweite Taufe gefeiert. Im Glaubensbekenntnis heißt es:
„Ich bekenne die eine Taufe.“ Damit wird die Einzigkeit und Nicht­
wiederholbarkeit des Sakraments der Taufe unterstrichen. Auch
wenn jemand aus der Kirche austritt, geht die Gnade dieser Taufe
nicht verloren, und wenn er in die Kirche zurückkehrt, erneuert sie
ihre Wirkung.
Die Taufe ist das göttliche Siegel, das sich durch nichts weg­
wischen lässt. Deshalb ist es sehr wichtig, daran zu erinnern, dass die
u
70 Teil I. Die Glaubenslehre

Taufe faktisch ihre Wirkung bei denjenigen verliert, die nicht in die
Kirche gehen, nicht beichten und nicht kommunizieren, ein un­
christliches Leben führen und sich nicht bemühen, soweit wie mög­
lich nach dem Evangelium zu leben.
ln der alten Kirche wurde die Taufe in der Regel an den großen
Festen gespendet, vor allem zu Ostern, und die vorösterliche Zeit war
die Zeit der Vorbereitung auf das Sakrament der Taufe. Aus dieser
alten Praxis sind im Gottesdienst der Großen Fastenzeit besondere
Gebete für diejenigen geblieben, die sich auf die Heilige Erleuchtung
vorbereiten, und in der Liturgie des Großen Samstag kleiden die
Priester sich gewöhnlich von dunklen in helle Gewänder um.
Heutzutage kann die Taufe nach Vereinbarung mit dem örtlichen
Priester an einem beliebigen Tag gespendet werden. Um getauft zu
werden oder um ein kleines Kind zu taufen, muss man zur Kirche
gehen und entweder mit dem Priester selbst sprechen oder mit
jemandem, der beim Kerzenverkauf tätig ist und die Anmeldungen
zur Feier der kirchlichen Sakramente annimmt. Sie können darüber
informieren, was man für die Feier der Sakramente bei sich haben
muss. Man muss sich rechtzeitig ein kleines Umhängekreuz und ein
weißes Taufkleid besorgen.
Der Täufling (oder im Fall der Taufe eines kleinen Kindes einer
der Eltern oder der Paten) muss das Glaubensbekenntnis kennen
und in der Lage zu sein, es zu sprechen und den Sinn des Vorgetra­
genen zu verstehen.

Die Taufpaten
Taufpate („Taufvater“ oder „Taufmutter“) kann nur jemand sein,
der mit der Kirche verbunden ist: ein orthodoxer Christ, der regel­
mäßig beichtet und die heilige Kommunion empfängt und sich
bemüht, gemäß dem Evangelium und gemäß der kirchlichen Lehre
zu leben. W er eine andere Religion bekennt oder einer anderen
christlichen Konfession angehört, und erst recht ein Nichtglauben­
der, kann nicht Pate sein. Es ist also nicht angebracht, als Paten einen
„nicht praktizierenden“ orthodoxen Christen auszuwählen, das heißt
jemanden, der nur formal zur Orthodoxen Kirche gehört.
1.7. Die Taufe 71

Es gibt keine Verpflichtung, zwei Paten zu haben; es genügt ein


einziger (und in diesem Fall soll er dasselbe Geschlecht haben wie der
Täufling).

Die Taufe ist der Beginn eines großen Weges


Man soll sich nicht nur deshalb taufen lassen, weil alle in der eigenen
Umgebung getauft sind, oder weil die Eltern es wünschen oder
Freunde dazu anraten. Ein kleines Kind soll nicht allein deshalb
getauft werden, damit es nicht krank wird, gut lernt und den Eltern
gehorcht. Die Taufe bezeichnet den Eintritt eines Menschen - sei er
erwachsen oder ein Kind - in die Kirche. Wer die Taufe empfängt,
wird Glied der Kirche mit allen daraus erwachsenden Rechten und
Pflichten.
Die Taufe ist ein besonderes Ereignis im Leben eines Menschen
und bedeutet nichts Geringeres als die Geburt in das Licht Gottes.
Der Tauftag ist ein Tag der Freude und des Gedenkens. Von diesem
Tag kann man mit den Worten des Psalms sagen: „Dies ist der Tag,
den der Herr gemacht hat; wir wollen jubeln und uns über ihn freuen“
(Ps 117 [118],24).
Man darf allerdings nicht meinen, wer die Taufe empfangen hat
oder schon als Kind getauft wurde, könne an diesem Punkt stehen­
bleiben. Im Gegenteil, in diesem Augenblick hat der Weg des christ­
lichen Lebens gerade erst begonnen. Und dieser Weg ist so lang wie
das ganze Leben. Mehr noch, er endet nicht mit dem Tod, sondern
setzt sich in Ewigkeit fort.

7.2 Die Feier von Taufe und Myronsalbung

In Übereinstimmung mit der Überlieferung der alten Kirche umfasst


die heutige Ordnung des Sakraments der Taufe zwei Teile, das Kate-
chumenat und die eigentliche Taufe, ünter dem Katechumenat
versteht man eine Reihe von Gebeten und heiligen Handlungen, die
der Taufe vorausgehen.75 Das Katechumenat kann unabhängig von

75 Gegebenenfalls bildet das Katechumenat den abschließenden Teil dessen, was in


der alten Kirche unter dem Begriff „Katechumenat“ verstanden wurde: der Vor­
bereitungsprozess für die Taufe.
72 Teil I. Die Glaubenslehre

der Taufe durchgeführt werden, doch praktisch geht es in der Regel


der Taufe unmittelbar voraus.

Der Beginn des Kalechumenats


Das Katechumenat beginnt dem Gebet, der Täufling möge erfüllt
werden mit Glaube, Hoffnung und Liebe. Während der Priester
dieses Gebet spricht, legt er dem Täufling die Hand auf. Weiter folgt
eine Reihe von Beschwörungen, das heißt Texte, die nicht an Gott,
sondern an den Teufel gerichtet sind: Der Priester fordert darin den
Teufel auf, den Täufling zu verlassen und ihn weiterhin nicht mehr
anzutasten. Nach den Beschwörungen folgen zwei an Gott gerichtete
Gebete: darin bittet der Priester Gott darum, unreine Geister aus
dem Täufling zu vertreiben, jede Wirkung des Teufels von ihm fern­
zuhalten, Satan unter seinen Füßen zu zermalmen, ihm den Sieg über
Satan und die anderen bösen Geister zu schenken, die inneren Augen
des Täuflings zu öffnen, ihn mit dem Licht des Evangeliums zu er­
leuchten, ihm einen Schutzengel beizugeben, der ihn von allem
teuflischen Wirken befreien soll.
Dann haucht der Priester in Kreuzesform über den Täufling und
richtet an Gott die Worte: „Vertreibe aus ihm jeden bösen und unrei­
nen Geist, der sich in seinem Herzen verborgen und eingenistet hat.“
Nach der Lehre Christi ist das Herz nicht nur Quelle des Guten, son­
dern auch des Bösen im Menschen (Mt 7,21-22), und deshalb muss
vor der Taufe das Herz durch Gottes Gnade gereinigt werden.

Dem Satan entsagen


Danach wird der Ritus der Entsagung an den Satan vollzogen. Der
Priester wendet den Täufling mit dem Gesicht nach Westen und
richtet an ihn die Frage: „Entsagst du dem Satan und allen seinen
Werken und allen seinen Engeln76 und all seinem Dienst und all
seinem Hochmut?“ Auf diese dreimal gestellte Frage antwortet der
Täufling dreimal: „Ich entsage!“ Auf die Frage: „Hast du dem Satan
entsagt?“, antwortet er dreimal: „Ich habe entsagt.“ Danach fordert
der Priester den Täufling auf, nach dem Satan zu blasen und zu

76 Es handelt sich um die gefallenen Engel, die Dämonen.


1.7. Die Taufe 73

spucken. Dieses alte Ritual ruft heute bei einigen ein Lächeln hervor,
es hat jedoch eine tiefe symbolische Bedeutung: Nachdem man dem
Satan entsagt hat, fordert man ihn heraus und erklärt offen, dass man
von diesem Augenblick an auf der Seite Gottes steht. Das christliche
Leben ist kein angenehmer Zeitvertreib, sondern ein geistlicher
Kampf, unter anderem mit dunklen und bösen Mächten. Der Apo­
stel Paulus sagt: „Zieht an die Waffenrüstung Gottes, um den listigen
Anschlägen des Teufels zu widerstehen! Denn wir haben nicht gegen
Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte“
und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die
bösen Geister in den himmlischen Bereichen“ (Eph 6,11-12).
Durch den Empfang der Taufe und damit die Herausforderung
des Teufels empfängt der Mensch zugleich die Kraft der Gnade, die
es ihm im Weiteren erlaubt, das Böse in sich selbst zu überwinden
und die Versuchungen zu bestehen, die vom Teufel ausgehen. In den
Gebeten der Ordnung des Katechumenats wird betont, dass die
Macht des Teufels über den Menschen scheinbar und illusorisch ist:
Mit der Kraft der Gnade gerüstet, kann der Mensch mit Leichtigkeit
die Versuchungen bestehen.

Die Verbindung mit Christus


Nachdem die Absage an den Satan vollzogen ist, wendet sich der
Täufling mit dem Gesicht nach Osten (also zum Altar) zur feierli­
chen Ausrufung seiner Verbindung mit Christus. Der Priester fragt
ihn dreimal: „Schließt du dich Christus an?“, worauf er jedesmal
antwortet: „Ich schließe mich Ihm an.“ Danach trägt der Täufling
(oder der Pate in seinem Namen) das Glaubensbekenntnis vor. An­
schließend fordert der Priester den Täufling auf, Gott anzubeten -
Vater und Sohn und Heiligen Geist und betet darum, dass Gott
ihn zum Sakrament der Taufe berufe. Damit ist der Ritus des Kate­
chumenats abgeschlossen.7

77 Mit „Mächten" und „Gewalten“ sind hier die verschiedenen teuflischen Kräfte
gemeint.
74 Teil I Die Glaubenslehre

Die Segnung des Wassers


Darauf folgt das Sakrament der Taufe selbst. Es beginnt mit Bitten
und Gebeten über das Wasser: es werde durch die Kraft, das Wirken
und die Gegenwart des Heiligen Geistes geheiligt; die Gnade der
Erlösung und der Segen des Jordan (des Flusses, in dem der Herr
getauft wurde) komme darauf herab; das reinigende Wirken der
Dreieinigkeit werde ihm gewährt; es möge die Kraft empfangen, die
Täuschungen aller sichtbaren und unsichtbaren Feinde zu vertrei­
ben. Hinzugefügt werden Gebete für die kirchliche Gemeinschaft
und für den Täufling: er möge des Reiches Gottes würdig werden; er
werde ein Kind des Lichtes und Erbe der ewigen Güter; er möge
teilhaben an Tod und Auferstehung Christi; bis zum Tag des Jüng­
sten Gerichts möge er das Kleid der Taufe bewahren und dem Heili­
gen Geist unbefleckt und untadelig anverlobt bleiben.
ln den Gebeten zur Heiligung des Wassers preist der Priester vor
allem Gott für Seine Größe und dankt Ihm für die Wohltaten am
Menschengeschlecht, deren größte das Kommen des Gottmenschen
Jesus Christus in die Welt war. Gedacht wird der Taufe Christi durch
Johannes. Der Priester bittet, die Gnade des Heiligen Geistes möge
'
herabkommen auf das Wasser und es machen „zum Wasser der
Erlösung, zum Wasser der Heiligung, zur Reinigung von Fleisch und
Geist, zur Lösung der Fesseln, zum Nachlass der Übertretungen, zur
Erleuchtung der Seele, zum Bad der Wiedergeburt, zur Erneuerung
des Geistes, zur Gabe der Kindschaft78, zum Kleid der Unverweslich-
keit, zur Quelle des Lebens.“

Die Taufe
Vor dem Eintauchen in das Wasser erfolgt die Salbung mit dem
geweihten Öl: Mit dem Kreuzzeichen werden Stirn, Augen, Ohren,
Nase, Mund, Brust, Hände und Füße des Täuflings gesalbt. Dann
taucht ihn der Priester dreimal im Wasser unter mit den Worten:
„Getauft wird der Diener/die Dienerin Gottes N.N. im Namen des
Vaters, Amen, und des Sohnes, Amen, und des Heiligen Geistes,
Amen.“ Dieser Augenblick macht eigentlich die Taufe aus.

78 Die Golteskindschaft wird durch das Sakrament der Taufe erlangt.


1.7. Die Taufe 75

Das Wasser bei der Taufe hat eine besondere Rolle: Als Symbol
der Reinheit und der Reinigung wäscht es den Leib des Menschen,
befreit zugleich seine Seele von Sünden und erneuert ihn im Geist. In
der Orthodoxen Kirche erfolgt die Taufe durch vollständiges Unter­
tauchen. In Ausnahmefällen kann die Taufe durch Übergießen erfol­
gen oder sogar (zum Beispiel wenn jemand schwer krank ist, im
Sterben liegt, an einen Apparat zur künstlichen Beatmung ange­
schlossen ist usw.) durch Besprengung.79
Das Hinabsteigen in das Wasser symbolisiert den Tod, das Her­
austreten aus dem Wasser die Auferstehung. In der Taufe werden die
Menschen nach der Lehre der Kirche von neuem geboren, „denn ihr
habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und habt den
neuen Menschen angezogen, der nach dem Bild seines Schöpfers
erneuert wird, um Ihn zu erkennen“ (Kol 3,9-10).

Die Myronsalbung
In der Orthodoxen Kirche ist das Sakrament der Taufe mit einem
weiteren Sakrament verbunden, der Myronsalbung („Firmung“). Sie
erfolgt sofort, nachdem der Getaufte aus dem Wasser herausgekom­
men und in das weiße Gewand gekleidet ist, das ein Symbol der
Reinheit und der Erneuerung ist (nach der Tradition legt man dem
Neugetauften in diesem Moment das Umhängekreuz an).
Die Myronsalbung ist das Sakrament, in dem der Mensch das
„Siegel der Gabe des Heiligen Geistes“ empfängt. Indem er diese
Worte spricht, salbt der Priester dem Getauften Stirn, Augen, Ohren,
Nase, Mund, Brust, Hände und Füße mit dem geweihten Myron,
einer besonderen Mischung von wohlriechenden Ölen. Das Myron
wird unter unmittelbarer Aufsicht des Patriarchen (des Oberhauptes
der Lokalkirche) bereitet, von ihm an die Diözesen verteilt, und jede
Pfarrei empfängt es vom Bischof. Auf diese Weise wird durch das
vom Patriarchen geweihte Myron - neben dem Empfang der Gabe

79 Wurde die Taufe aus irgendeinem Grund vom Priester durch Übergießung oder
durch Besprengung gespendet, kann sie in der Folge nicht durch eine Taufe durch
Untertauchen „vollendet“ werden, denn die Taufe erfolgt nur einmal.
76 Teil I. Die Glaubenslehre

des Heiligen Geistes - symbolisch auch die Verbindung zwischen Pa­


triarch, Bischof, Priestern und einem jeden Gläubigen ausgedrückt.
Die Salbung ist ein alter Brauch: Im Alten Testament salbten
Propheten die Könige zu Herrschern. Durch Salbung wurden die
Priester in ihren Dienst eingesetzt. Im Neuen Testament wurde das
erbliche levitische Priestertum1“1abgeschafft, und alle Christen wur­
den angesehen als „ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche
Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das Sein besonderes
Eigentum wurde“ (1 Petr 2,9). Entsprechend wurde auch der alte
Brauch der Salbung zum Königtum mit einem neuen Sinn versehen,
und die Salbung wurde zugänglich für alle, die Christus nachfolgen,
„Der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch Sein
Blut, Der uns zu Königen und zu Priestern gemacht hat für Gott,
Seinen Vater“ (Offb 1,5-6).
Jesus Christus vereint in Seiner Person den Dienst des Königs
und des Priesters, und denen, die Ihm nachfolgen, gibt er ebenfalls
die Macht, Könige und Priester sein. In diesem Sinne sind Christen
berufen, die sündigen Leidenschaften zu beherrschen, ihr Leben als
Dienst für Gott zu verstehen, Ihm mit Dank die Gaben zurückzuer-
itatten, die sie von Ihm empfangen haben.

raufprozession, Apostel-Lesung und Evangelium


Nach der Myronsalbung folgt ein dreifacher Umgang um das Tauf­
becken, an dem alle bei der Eeier des Sakraments Anwesenden teil­
nehmen: der Priester, der Neugetaufte und die Paten. Diese Gewohn­
heit ist aus den Zeiten bewahrt worden, als die Taufe am Vorabend
des Osterfestes erfolgte und die Getauften in weißen Gewändern
feierlich in die Kirche einzogen und von der kirchlichen Gemeinde
begrüßt wurden.
Weiterhin wird ein Text aus dem Brief des Apostels Paulus an die
Römer gelesen: „Wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden,
sind auf Seinen Tod getauft worden. Wir wurden ja mit Ihm begra-*

80 Lettisches Priestertum nennt man das alttestamentliche Priestertum: nach den


Vorschriften konnte nur ein Nachkomme des biblischen Stammes Levi Priester
werden. Das Priestertum wurde also vom Vater an den Sohn weitergegeben.
1.7. Die Taufe 77

ben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus
durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde,
in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln. Wenn wir nämlich
mit der Gestalt Seines Todes verbunden wurden, dann werden wir es
auch mit Seiner Auferstehung sein. Wir wissen doch: Unser alter
Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte
Leib vernichtet werde, sodass wir nicht mehr Sklaven der Sünde sind.
Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind
wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit
Ihm leben werden. Wir wissen, das Christus, von den Toten auf­
erweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über Ihn.
Denn durch Sein Sterben ist Er ein für alle Mal gestorben für die
Sünde, Sein Leben aber lebt Er für Gott. So begreift auch ihr euch als
Menschen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus
lesus" (Röm 6,3-11).
1>iese Lesung zeigt im Grunde den Ertrag aus dem Sakrament der
Taufe und eröffnet zugleich seinen tiefen Sinn. Im Licht der Worte
des Apostels Paulus wird die ganze Symbolik des Untertauchens in
das Wasser des Taufbeckens als Abbild des Todes des Herrn leben­
dig. Dank der Taufe werden Leben, Tod und Auferstehung Christi
Teil der geistlichen Erfahrung eines Christen. Gleichzeitig unter­
streicht der Apostel die sittliche Bedeutung der Taufe als Tod für die
Sünde und als „neues Leben“.
Nach der Apostel-Lesung folgt eine Lesung aus dem Evangelium,
die von dem Auftrag Jesu an Seine Jünger berichtet, im Namen des
Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen (Mt
28,16-20). Nach dem Zeugnis dieser Lesung ist das Sakrament der
Taufe von Gott eingesetzt. Zugleich erinnert sie an die ständige
Gegenwart Christi in der Kirche: „Siehe, Ich bin bei euch bis zum
Ende der Welt“ (Mt 28,20).
Die Lesung aus dem Evangelium stellt den sinnvollen Abschluss
des Sakraments der Taufe dar. In der heutigen Praxis folgen darauf
Riten, die in der alten Kirche am achten Tag nach der Taufe statt­
fanden: die Abwaschung des Myron vom Leib des Getauften und das
Abschneiden einer Haarsträhne als Zeichen des Gehorsams gegen­
über Gott. Es wird auch eine „Einführung in die Kirche“ vorgenom­
78 Teil I. Die Glaubenslehre

men: Man führt (oder trägt) den Neugetauften an die Türen des
Altars, er küsst die Ikonen des Erlösers und der Gottesmutter. Neu-
getaufte Kinder männlichen Geschlechts bringt man in der Regel
zum Altar und trägt sie um den Altar herum.

8. Die Auferstehung der Toten

Das Glaubensbekenntnis schließt mit den Worten: Ich erwarte die


Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. Amen.

Der Glaube an das Leben nach dem Tod


Alle bekannten alten religiösen Traditionen umfassen den Glauben
an das Leben nach dem Tod. Dieses Leben wird jedoch unterschied­
lich verstanden. So besteht zum Beispiel in einigen östlichen Religio­
nen die Vorstellung, dass die Seele nach ihrem Auszug aus dem einen
Leib in einen anderen wechseln kann, sogar aus dem Leib eines
Menschen in den Leib eines Tieres.
Das Christentum lehnt eine solche Vorstellung ab. In seiner Sicht
sind Seele und Leib im Menschen ein für allemal vereint. Doch im
Augenblick des Todes trennt sich die Seele vom Leib, um eine selb­
ständige Existenz in der anderen Welt zu beginnen.

Der Tod als Übergang zum ewigen Leben


Die Frage nach dem Sinn des Todes hat die Menschheit aller Zeiten
bewegt. Warum stirbt der Mensch? Warum kann man dem Tod
nicht entgehen? Ist Unsterblichkeit möglich? Das Christentum ant­
wortet auf diese Fragen so: Der Tod ist der Übergang zum ewigen
Leben, das für die Menschen, die Gott wohlgefällig gelebt haben,
besser als das gegenwärtige sein wird. Im gegenwärtigen Leben sind
Gut und Böse vermischt, unausweichlich sind Freuden von Leiden
begleitet. In der Ewigkeit wird das nicht so sein: Dort werden die
Gerechten das Angesicht Gottes schauen, sie werden leben in un­
aufhörlicher Freude und in Frieden
D er Mensch ist für die Unsterblichkeit geschaffen, und diese
Unsterblichkeit findet er dank des Glaubens an Christus. Durch den
1.8. Die Auferstehung der Toten 79

Glauben an Christus ist die Macht des Todes überwunden, und der
Mensch, der dem Leib nach gestorben ist, lebt im Geist weiter. Er
geht über in eine für ihn bereitete andere, schönere und vollkomme­
nere Welt, ln dieser Welt hat - mit den Worten des Glaubensbe­
kenntnisses - die Herrschaft Christi „kein Ende“.
Doch nicht für alle ist das Los nach dem Tode von gleicher Art.
Das abschließende Urteil über die Seele jedes Menschen wird beim
Jüngsten Gericht gesprochen.

Das Jüngste Gericht und die Vergeltung nach dem Tod


Kurz vor Seinem Tod trug der Herr Jesus Christus folgende Lehre
vor: „Wenn der Menschensohn in Seiner Herrlichkeit kommt und
alle Engel mit Ihm, dann wird Er sich auf den Thron Seiner Herrlich­
keit setzen. Und alle Völker werden vor Ihm versammelt werden,
und Er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von
den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu Seiner Rechten stellen,
die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen zu Seiner
Rechten sagen: Kommt her, die ihr von Meinem Vater gesegnet seid,
und empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt
für euch bestimmt ist. Denn Ich war hungrig und ihr habt Mir zu
essen gegeben; Ich war durstig und ihr habt Mir zu trinken gegeben;
Ich war fremd und ihr habt Mich aufgenommen; Ich war nackt und
ihr habt Mir Kleidung gegeben; Ich war krank und ihr habt Mich
besucht; Ich war im Gefängnis und ihr seid zu Mir gekommen. Dann
werden Ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir Dich
hungrig gesehen und Dir zu essen gegeben, oder durstig und Dir zu
trinken gegeben? Und wann haben wir Dich fremd gesehen und
aufgenommen, oder nackt und Dir Kleidung gegeben? Und wann
haben wir Dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu Dir
gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, Ich sage
euch: Was ihr für einen Meiner geringsten Brüder getan habt, das
habt ihr Mir getan. Dann wird Er zu denen auf der Linken sagen:
W eg von Mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel
und seine Engel bestimmt ist! Denn Ich war hungrig und ihr habt
Mir nichts zu essen gegeben; Ich war durstig und ihr habt Mir nichts
zu trinken gegeben; Ich war fremd und ihr habt Mich nicht aufge­
80 Teil 1. Die Glaubenslehre

nommen; Ich war nackt und ihr habt Mir keine Kleidung gegeben;
Ich war krank und im Gefängnis und ihr habt Mich nicht besucht.“
Jesus schließt Seine Lehre mit den Worten; „Und sie werden Weg­
gehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige
Leben“ (Mt 25,31-46).
Diese Lehre enthält den Kern der christlichen Vorstellung von
der Vergeltung nach dem Tod. Das Leben des Menschen in der
Ewigkeit ist die Fortsetzung seines Lebens auf der Erde: Wenn er
Gott hier geliebt und sich bemüht hat. Seine Gebote zu erfüllen und
Gutes zu tun, so wird er auch dort bei Gott sein. Wenn er auf der
Erde ein Gegner Gottes war und dem Teufel gedient hat, wird er in
der Ewigkeit nach dem Tod der Macht des Teufels verfallen sein.
Weil Gott nicht der Schöpfer des Bösen ist, ist er auch nicht der
Schöpfer der Hölle. Die Hölle schaffen mit ihren Taten der Teufel,
die Dämonen und diejenigen Menschen, die sich bewusst dem W il­
len Gottes widersetzen und den Weg des Bösen statt des Guten wäh­
len. Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Er­
kenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Doch nicht alle Men­
schen wollen das. Gott rettet die Menschen nicht mit Gewalt gegen
ihren Willen. Indem sie sich dem Willen Gottes und dem eigenen
Heil widersetzen, schaffen manche Menschen für sich und für ihre
Umgebung die Hölle, zunächst hier auf Erden, und dann setzt diese
Hölle sich für sie im kommenden Leben fort.
Durch Seine Auferstehung hat Christus den Tod besiegt und das
Tor zum ewigen Leben für alle Menschen ohne Ausnahme geöffnet.
Wenn nicht alle Menschen nach dem Tod in das Paradies gelangen,
so deshalb, weil nicht alle den Weg Gottes gewählt haben, den Weg
des Guten. Gott zwingt niemanden, weder in das Paradies noch in
die Hölle. Das Geschick eines Menschen nach dem Tod hängt von
seiner eigenen Wahl ab. Beim Jüngsten Gericht verkündet Gott
jedem Menschen das Urteil, doch dieses Urteil in der Ewigkeit be­
stimmt der Mensch selbst voraus - durch seine Taten und seine
gesamte Lebensweise.
1.8. Die Auferstehung der Toten 81

Der Glaube an die Auferstehung


Die Worte „ich erwarte die Auferstehung der Toten“ verweisen auf
die christliche Lehre, nach der alle Menschen auferstehen. Von
dieser Auferstehung sagt der Apostel Paulus: „Wie in Adam alle
sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht. Es gibt aber
eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus, dann folgen, wenn
Christus kommt, alle, die zu Ihm gehören. Danach kommt das Ende,
wenn Er jede Macht, Gewalt und Kraft entmachtet hat und Seine
Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt. Denn Er muss herrschen, bis
Gott Ihm alle Feinde unter Seine Füße gelegt hat. Der letzte Feind,
der entmachtet wird, ist der Tod“ (1 Kor 15,22-26).
Nach dem Glauben der Kirche erfolgt die allgemeine Auferste­
hung auf leibhaftige Weise: die Menschen werden im Fleisch auf­
erstehen. Bereits im Alten Testament sagte der gerechte Ijob: „Doch
ich weiß, mein Erlöser lebt, und Er wird am letzten Tag aus dem
Staub diese meine zerfetzte Haut aufrichten, und ich werde in mei­
nem Fleisch Gott schauen“ (Ijob 19,25-26). Im Buch des Propheten
Jesaja heißt es: „Deine Toten werden leben, meine Leichen stehen
auf. Wacht auf und jubelt, ihr Bewohner des Staubes! Denn ein Tau
von Lichtern ist Dein Tau, und die Erde gibt die Toten heraus“ (Jes
26,19). Im Buch des Propheten Ezechiel wird allegorisch ein Bild der
allgemeinen Auferstehung vorgestellt: Der Prophet sieht ein Feld, auf
dem eine Menge toter Knochen liegt, doch auf Befehl Gottes begin­
nen die Knochen sich miteinander zu verbinden, Sehnen und Fleisch
anzusetzen; schließlich haucht Gott ihnen den Lebensatem ein, und
sie kommen wieder zum Leben (Ez 37,1-11).
Wie wird der Leib der Auferstandenen beschaffen sein - gleich
wie jetzt oder anders? Eine genaue Antwort darauf gibt die christliche
Theologie nicht. Möglicherweise verändert sich der äußere Anblick
der Leiber, wie sich das Aussehen des auferstandenen Christus ver­
änderte, so dass Ihn selbst diejenigen, die Ihm am nächsten standen,
nicht sofort erkannten (Lk 24,16; Joh 20,15).
82 Teil I. Die Glaubenslehre

Der Sieg über den Tod


Christen brauchen den Tod nicht zu fürchten, denn sie wissen, dass
Christus den Tod besiegt hat. Diese Glaubensgewissheit findet in
den Worten des Osterhymnus Ausdruck:
Christus ist von den Toten erstanden:
überwunden hat Er den Tod durch den Tod,
und denen in den Gräbern hat Er das Leben geschenkt.
Christus klopft an die Tür des Herzens eines jeden Menschen, doch
nicht alle öffnen Ihm die Tür. Denen, die Seiner Verkündigung Folge
leisten, schenkt Er das Himmelreich und die Gemeinschaft mit Sei­
nem Vater: „Siehe, Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn einer
Meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde Ich eintreten
und Mahl mit ihm halten und er mit Mir. Wer siegt, der darf mit Mir
auf Meinem Thron sitzen, so wie auch Ich gesiegt habe und Mich mit
Meinem Vater aufSeinen Thron gesetzt habe“ (Oflb 3,20-21).

Amen
Das Glaubensbekenntnis endet mit dem Wort „Amen“. Dieses alt­
hebräische Wort bedeutet „wahrhaftig“. Es ist dem alttestament-
lichen Gottesdienst entnommen und erklingt häufig im christlichen
Gottesdienst. Mit dem Wort „Amen“ drücken Christen ihre Zu­
stimmung zu dem Inhalt des Glaubensbekenntnisses aus.

***
Aufgabe
Kaufen Sie ein Neues Testament oder eine Bibel und lesen Sie zu Be­
ginn das kürzeste der vier Evangelien, das Markusevangelium. Lassen
Sie sich nicht beirren, wenn Sie irgendetwas nicht verstehen: Was Sie
nicht gleich beim ersten Mal verstehen, werden Sie beim weiteren
Lesen verstehen. Das Wichtigste bei der ersten Lektüre ist, das Grund­
gerüst der irdischen Geschichte Jesu Christi kennenzulernen, auf den
Klang Seiner Rede zu hören, au f Sein göttliches Angesicht zu schauen.
Wenn Seine Gestalt Sie anzieht und Sie Vertrauen zu Ihm gewinnen,
ergibt sich alles Übrige, sei es sogleich oder allmählich.
Teil II
Die christliche Lebensführung

Keine einzige Persönlichkeit der Geschichte hatte solchen Einfluss


auf die geistig-sittliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft
wie Jesus Christus. Obwohl er keinerlei Züge eines Sozialreformers
aufwies, wurde Seine I.ehre im Laufe der Jahrhunderte zum Grund
für tiefe, radikale Veränderungen im gesamten Komplex der Bezie­
hungen unter den Menschen, nicht nur auf der Ebene der persönli­
chen Sittlichkeit, sondern auch auf sozialer Ebene.
Jesus rief nicht zur Abschaffung der Sklaverei auf, doch gerade
durch das christliche Verständnis von der naturgegebenen Gleichheit
unter den Menschen wurde die Sklaverei letztlich beseitigt. Er rief
nicht zum Wechsel des politischen Regimes oder zu einer Reform
des Rechtskodex auf, doch gerade durch das Christentum hat die
menschliche Gesellschaft diejenigen Rechtsverfahren geschaffen,
die heute grundlegend für die Lebenswirklichkeit vieler Staaten sind.
Jesus war kein Kämpfer für soziale Rechte, doch gerade auf der
christlichen Lehre beruht das Verständnis der Menschenrechte, das
Frauen und Kindern erlaubte, vollwertige Glieder der Gesellschaft zu
werden, und es ermöglichte, Ungleichheit in den gesellschaftlichen
Rechten sowie Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer
Nation oder Rasse und viele andere Mängel der Gesellschaftsord­
nung auszurotten, die für die alte Welt kennzeichnend waren.
Die Umgestaltung der Gesellschaft beginnt mit einer sittlichen
Umgestaltung der Person. Die alttestamentlichen Gesetze zielten
auf die Bewahrung der geistigen Gesundheit und Unversehrtheit des
Volkes Israel. Dafür konnte man notfalls einzelne Menschen opfern.
Bezeichnend ist die biblische Aussage: „Ein Unbeschnittener, eine
männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten
ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat mei­
nen Bund gebrochen“ (Gen 17,14). Übertreter der göttlichen Gesetze
mussten einfach abgetrennt, entfernt werden als überflüssiges und
gefährliches Element, das dem Volk im Ganzen schadet.
Teil II. Die christliche Lebensführung 85

Im Neuen Teslament wird jeder Mensch als wertvoll in Gottes


Augen dargestellt. Die sittlichen Ermahnungen Jesu Christi richten
sich nicht an ein bestimmtes Volk, sondern an die ganze Menschheit,
doch dabei wendet Er sich an den konkreten Menschen. Für das
Christentum gibt es keine überflüssigen Menschen, die man also um
des Wohls der anderen willen vernichten dürfte. Jede Seele ist kost­
bar, und selbst den hartnäckigen Übeltätern gibt Christus die Chance
zur Besserung. „Christus ist in die Welt gekommen, um die Sünder
zu retten“, betont der Apostel Paulus (1 Tim 1,15). Am Kreuz hat der
Herr dem reumütigen Verbrecher Verzeihung geschenkt (Lk 23,
40-43).
In Seinen Unterweisungen setzte Jesus sich nicht das Ziel, eine
erschöpfende Sammlung sittlicher Gesetze und Vorschriften zu
geben. Eine solche Sammlung versuchten die Pharisäer und Schrift­
gelehrten zu schaffen, Jesus hingegen war deren Einstellung zutiefst
fremd. Seine Lehren über sittliche Themen geben eine grundlegende
Richtung für die geistige Entwicklung des Menschen an, zielen jedoch
in keiner Weise darauf, dessen ganzes Leben zu reglementieren, ihm
die Freiheit zu nehmen. Im Gegenteil, sie schenken dem Menschen
die innere geistige Freiheit zurück, die er durch seine Versklavung an
Sünde und Leidenschaften verloren hat.
Viele sittliche und soziale Themen werden ausführlich in den
Briefen des Apostels Paulus und in den Werken der Heiligen Väter
behandelt, doch auch diese Autoren strebten nicht danach, eine er­
schöpfende Wegweisung für Christen in sittlichen Fragen zu geben.
ln diesem Abschnitt des Katechismus werden wir nicht auf The­
men der gesellschaftlichen Sittlichkeit eingehen. Wir begnügen uns
mit einigen Schlüsselprinzipien der persönlichen Lebensführung und
der Familienmoral, wie sie im Christentum verstanden werden.1

1 Mit der orthodoxen Soziallehre kann man sich vertraut machen durch das Doku­
ment Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche.
86 Teil II. Die christliche Lebensführung

1. Die Zehn G ebote des Alten Testam ents

Die christliche Lebensführung hat ihre Vorgeschichte im Alten Tes­


tament. Im Buch Exodus wird von den Zehn Geboten erzählt, die
Gott dem Volk Israel durch Mose gegeben hat:

1. Ich bin der Herr, dein G ott... Du sollst neben M ir keine anderen
Götter haben.
2. Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgend­
etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser
unter der Erde. Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und
ihnen nicht dienen. Denn Ich bin der Herr, dein Gott, ein eifer­
süchtiger Gott: Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern
heim bis zur dritten und vierten Generation, bei denen, die Mich
hassen; doch Ich erweise Tausenden Meine Huld bei denen, die
Mich lieben und Meine Gebote bewahren.
3. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrau­
chen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der Seinen Namen
missbraucht.
4. Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaf­
fen und all deine Arbeit tun. Der siebente Tag ist ein Ruhetag,
dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit
tun: du und dein Sohn und deine Tochter
5. Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem
Land, das der Herr, dein Gott, dir g ib t...
6. Du sollst nicht töten.
7. Du sollst nicht die Ehe brechen.
8. Du sollst nicht stehlen.
9. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
10. Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst
nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven
oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas,
das deinem Nächsten gehört (Ex 20,2-17).
II. I. Die Zehn tlebote des Allen Testaments 87

Diese Zehn Gebote bilden die Grundlage der alttestamentlichen


Sittlichkeit. Sie behalten ihre Bedeutung auch für das Christentum.
Das bezeugt das Gespräch Jesu mit dem reichen Jüngling, der „zu
Jesus kam und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige
Leben zu gewinnen? Er antwortete: Was fragst du Mich nach dem
Guten? Nur einer ist der Gute. Wenn du aber in das Leben eintreten
willst, halte die Gebote! Darauf fragte er Ihn: Welche? Jesus ant­
wortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du
sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben; ehre Vater
und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“
(Mt 19,16-19). Von den Zehn Geboten des Mose zitiert Jesus das
sechste, das siebente, das achte, das neunte und das fünfte und ver­
bindet mit ihnen das Gebot der Nächstenliebe.
Jesus schätzte die Gebote des Alten Testaments hoch, und den­
noch legte er denen, die Ihm nachfolgen, einen Weg vor, der nicht
einfach auf deren Erfüllung hinausläuft. Dies ist der Weg der geistli­
chen Vollkommenheit, auf den Er den reichen Jüngling hin wies und
den dieser nicht gehen wollte: „Wenn du vollkommen sein willst,
geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst
einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge Mir nach!“ (Mt
19,21). Der Weg, den Jesus vorlegt, verwirft nicht die mosaische
Gesetzgebung, führt den Menschen aber bedeutend weiter, zum
Gipfel der geistlichen Vollkommenheit.
Das Verhältnis Jesu zum mosaischen Gesetz wird noch vollstän­
diger in der Bergpredigt offenkundig. Dieses Verhältnis hat zwei
Seiten. Einerseits sagt er: „Denkt nicht, Ich sei gekommen, um das
Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um
aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, Ich sage euch: Bis Him­
mel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen aus dem
Gesetz vergehen, bevor nicht alles geschehen ist“ (Mt 5,17-18). Ande­
rerseits gibt gerade die Bergpredigt, wie wir gleich sehen werden,
davon Zeugnis, dass die Sittenlehre Christi weder eine Wiederholung
noch eine Erweiterung noch eine direkte Fortsetzung der alttesta­
mentlichen Sittlichkeit ist.
Das Alte Testament ist in der christlichen Bibel vollständig ent­
halten und behält seine Bedeutung als Göttliche Offenbarung, die der
88 Teil II. Die christliche Lebensführung

Menschheit in einer bestimmten Etappe ihrer Entwicklung gegeben


worden ist. Viele alttestamentliche Vorschriften zum sittlichen Leben
wurden jedoch in der christlichen Tradition überdacht, ergänzt und
erweitert, einige wurden geändert oder aufgehoben.
Zum Beispiel wurde das Gesetz über die Einhaltung der Sabbat­
ruhe, wie es im Alten Testament verstanden wurde, in der christ­
lichen Überlieferung faktisch abgeschafft. In der heutigen Zeit ist der
Sabbat im christlichen liturgischen Kalender ein besonderer Tag, an
dem man aller Entschlafenen gedenkt, und der Große Samstag (der
Tag, der dem Osterfest vorangeht) ist dem Gedächtnis der Grabes­
ruhe des Herrn Jesus Christus gewidmet, deren Vorbild das Ruhen
Gottes von allen Werken am siebenten Tag war. Der Tag, den die
Christen in besonderer Weise Gott weihen, ist jedoch der Sonntag.
Das Tötungsverbot behält im Christentum seine Bedeutung und
wird unter anderem auch auf diejenigen ausgeweitet, die sich aus
irgendwelchen Gründen den eigenen Tod wünschen. Selbsttötung ist
nach der Lehre der Kirche eine Todsünde.23Der Selbsttötung gleich­
gestellt ist die sogenannte aktive freiwillige Euthanasie, bei der ein
Mensch seinem Leben ein Ende setzt durch die Hände anderer.'
Die Kirche ruft immer zum Frieden auf und sieht den Krieg als
ein Übel an und die Tötung als Sünde und Verbrechen. Zugleich gilt
die Tötung eines Feindes im Krieg nicht als Mord, wenn es darum

2 Gemäß den Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche


(XII.8) wird „dem vorsätzlichen Selbstmörder, der .sich zu diesem Schritt aus
menschlicher Betroffenheit oder aus anderen, im Kleinmut wurzelnden Gründen
entschlossen hat", weder eine christliche Beerdigung noch ein liturgisches Gedächt­
nis zuteil... Sollte der Selbstmörder sich unbewusst das Leben genommen haben,
ohne im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein, d.h. in einem Anfall seelischer
Krankheit, wird das kirchliche Gebet für ihn zugelassen aufgrund der Untersu­
chung der Angelegenheit durch den zuständigen Bischof. Dabei ist unbedingt zu
berücksichtigen, dass an der Schuld des Selbstmörders nicht selten die Menschen
in seiner Umgebung teilhaben, die nicht imstande waren, tätiges Mitleid und
Barmherzigkeit zu zeigen. Die Kirche ruft zusammen mit dem Apostel Paulus
dazu auf: .Einer trage des anderen Last: so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen'
(Gal 6.2)".
3 Zur Haltung der Kirche zur Euthanasie vgl. Grundlagen der Sozialkonzeption der
Russischen Orthodoxen Kirche XII.8.
112 Die Seligpreisungen 89

geht, die eigene Heimat und nahestehende Menschen zu verteidigen.4


Der heroische Einsatz im Krieg wurde von der Kirche immer hoch
angesehen. Einige Krieger gehören zur Schar der Heiligen und wer­
den auf Ikonen mit Waffen in den Händen dargestellt.5A uf Krieger,
die ihr Leben für andere auf dem Schlachtfeld gegeben haben, bezieht
die Kirche das Wort, das Jesus über Sich Selbst gesagt hat: „Es gibt
keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde
hingibt“ (loh 15,13).
Das Gebot, die Eltern zu ehren, bleibt ebenfalls im Christentum
bestehen (Mt 15,3-6; 19,19; Lk 18,20). Gleichzeitig unterstreicht Jesus,
dass die Liebe zu Ihm höher steht als irgendwelche verwandtschaft­
lichen Bande. „Wer Vater und Mutter mehr liebt als Mich, ist Meiner
nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als Mich, ist Mei­
ner nicht wert“ (Mt 10,37). Die Situation der Wahl zwischen der
Liebe zu Christus und dem Gehorsam gegenüber den Eltern entsteht
dann, wenn die Eltern sich dem christlichen Glauben entgegenstellen
und ihre Kinder an der Nachfolge Christi zu hindern suchen.

2. D ie Seligpreisungen

Die Evangelien bewahren viele Lehren des Erlösers. Unter ihnen


nimmt die Bergpredigt (Mt 5-7) einen besonderen Platz ein. In ihr
legt Er das Sittengesetz dar, nach dem Er diejenigen, die Ihm nach-
folgcn, zu leben beruft.

4 I'ilaret von Moskau, Katechismus; vgl. auch: Grundlagen der Sozialkonzeption der
Russischen Orthodoxen Kirche VIII.2: „Obwohl die Kirche im Krieg ein Übel
erkennt, verbietet sie ihren Kindern nicht, an kriegerischen Handlungen teilzu­
nehmen, wenn es um die Verteidigung nahestehender Menschen und die Wieder­
herstellung verletzter Gerechtigkeit geht“.
5 7,um Beispiel die Großmärtyrer Georg der Siegträger und Dimitrij von Thessalo­
niki, die in den Verfolgungen zu Beginn des 4. Jahrhunderts gelitten haben; der
Märtyrer Johann der Krieger, der Ende des 4. Jahrhunderts lebte; die Mönche
Alexander Peresvet und Andrej Osljablja, die in der Schlacht von Kulikow im Jahr
1380 gefallen sind, und viele andere.
90 Teil II. Die christliche Lebensführung

Man kann in der Bergpredigt ein Selbstbildnis |esu sehen, inso­


fern Er darin diejenigen Prinzipien darlegt, die Er in Seinem eigenen
Leben verkörpert, die Eigenschaften, die Er Selbst besaß.
Die Predigt enthält eine Reihe von Seligpreisungen, in denen die
Quintessenz der geistlich-sittlichen Lehre Jesu Christi enthalten ist:

1. Selig die Annen im Geist, denn ihnen gehört das Himmelreich.


2. Selig die Trauernden, denn sic werden getröstet werden.
3. Selig die Sanften, denn sie werden das Land erben.
4. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie
werden gesättigt werden.
5. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.
6. Selig, die rein sind im Herzen, denn sie werden Gott schauen.
7. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt
werden.
8. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen
gehört das Himmelreich.
9. Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse
über euch redet um Meinetwillen.
10. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel
(Mt 5,3-12).

Dieser Text entkräftet vor allem die allgemein vertretenen Vorstel­


lungen über das Glück des Menschen. Menschen meinen, das Glück
hinge vom materiellen Wohlstand ab, vom Erfolg in der beruflichen
Tätigkeit, vom Wohlergehen in der Familie, von der Abwesenheit
von Problemen, Schwierigkeiten, Prüfungen und Kummer. Nach der
Lehre Jesu hängt das echte Glück (die Glückseligkeit) überhaupt
nicht von äußeren Faktoren ab. Es besteht im inneren Gut des Men­
schen, das er dank seiner eigenen Eigenschaften erlangt hat.
Die erste dieser Eigenschaften auf der Liste ist die Armut im
Geist. Darunter ist die Demut zu verstehen, ein besonderer innerer
geistiger Zustand, der aus dem Denken an Gott und dem Gefühl
Seiner Gegenwart hervorgeht. Demut ist durchaus kein Synonym für
Passivität oder Erniedrigung. Ein Christ ist berufen zu einer aktiven
11.2. Die Seligpreisungen 91

Lebenshaltung und guten Taten, doch diese guten Taten darf er nicht
sich selbst als Verdienst anrechnen. Vielmehr soll er bedenken, dass
alles, was er auf geistiger oder materieller Ebene besitzt, von Gott
stammt. Demut ist dem Stolz entgegengesetzt (bei dem man von sich
selbst überzeugt ist und sich über andere erhebt), der eine Trenn­
wand zwischen Mensch und Gott errichtet und eine Dissonanz in die
Beziehungen der Menschen untereinander bringt.
Die Seligpreisung der Trauernden weist darauf hin, dass ein
Christ fähig sein muss, geduldig Kummer zu ertragen, sich vor Un­
glücken und Prüfungen nicht zu fürchten, im Leben nicht nur Freu­
den und Vergnügungen zu suchen. In Prüflingen muss man die
Hand Gottes sehen können und im Gefühl der Gegenwart Gottes
Trost finden. Ein Christ weint nicht wegen einer Kränkung oder
Bosheit, nicht aus Verzagtheit oder Verzweiflung, sondern aus dem
Bewusstsein der eigenen Sünden (Tränen der Reue) oder aus Freude
über die Nähe Gottes (Tränen der Ergriffenheit).
Die Eigenschaft der Sanftmut ermöglicht es, innere seelische
Ruhe zu finden. Jesus sagt: „Kommt alle zu Mir, die ihr mühselig und
beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt Mein Joch auf euch
und lernt von Mir; denn Ich bin gütig und von Herzen demütig; und
ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn Mein Joch ist sanft und
Meine Last ist leicht“ (Mt 11,28-30). Der Erlöser hat Seine Jünger
berufen, Ihn als Vorbild der Sanftmut nachzuahmen. Und der Apo­
stel Petrus wendet sich in seinem Brief wie folgt an die Frauen;
„Nicht auf äußeren Schmuck sollt ihr Wert legen, auf Haartracht,
Goldschmuck und prächtige Kleider, sondern was im Herzen verbor­
gen ist, das sei euer unvergänglicher Schmuck: ein sanftes und ruhi­
ges Wesen“ (1 Petr 3,3-4). Sanftmut ist das Anzeichen innerer Schön­
heit, die in gleicher Weise Frauen und Männern nötig ist.
Christus gebietet zu hungern und zu dürsten nach Gerechtigkeit,
das heißt immer und in allem Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit zu
suchen. Im Alten Testament tritt die Gerechtigkeit als eine der Eigen­
schaften Gottes Selbst hervor: Er ist gerecht (Ps 7,10). Die mensch­
liche Gerechtigkeit ist ein Abbild dieser göttlichen Gerechtigkeit. Die
Gerechtigkeit Gottes ist überzeitlich und ewig, doch sie findet Aus­
druck in den Geboten, die Gott den Menschen gab, die in der Zeit
92 Teil II. Die christliche Lebensführung

leben. Diejenigen „hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“, die


eifrig danach streben, Gottes Gebote zu erfüllen, von ganzem Herzen
Gott suchen, die Quelle aller Gerechtigkeit, und die im Maße ihrer
Kräfte und der Stellung, die sie einnehmen, Gesetzlosigkeit bekämp­
fen und für die eintreten, denen Unrecht geschieht.
Der Christ soll barmherzig sein und auch darin dem Herrn ähn­
lich werden, der „barmherzig und gnädig“ ist (Ps 102 [ 103],8). Barm­
herzigkeit soll sich nicht nur in herzlicher Zuneigung erweisen,
sondern auch in konkreten Werken des Erbarmens - wie Christus sie
einem jeden beim Jüngsten Gericht in Erinnerung ruft: den Hun­
gernden speisen, dem Durstigen zu trinken geben, den Fremden
aufnehmen, den Nackten bekleiden, den Kranken oder Gefangenen
besuchen (Mt 25,35-36). Wie der Apostel Jakobus sagt, muss der
Glaube sich in guten Werken erweisen: „Denn wie der I.eib ohne den
Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot“ (Jak 2,26).
Reinheit des Herzens öffnet dem Menschen den Weg zur Schau
Gottes: Er ist Seiner Natur nach unsichtbar, offenbart sich jedoch
den Demütigen, den Sanften und denen, die reinen Herzens sind.
Die Reinheit des Herzens kann man nicht allein durch eigene An­
strengungen erlangen, sondern man braucht unbedingt Gottes Hilfe:
„Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, be­
ständigen Geist“ (Ps 50 [51], 12). Vom Menschen erwartet Gott Buße
und ein zerknirschtes Herz: „Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zer­
knirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst Du,
Gott, nicht verschmähen“ (Ps 50 [51],19).
Der Jünger Christi ist berufen, Frieden zu stiften, das heißt sei­
ner Umgebung Frieden zu bringen. Dazu muss er selbst inneren
Frieden besitzen und unerschütterliche Kraft des Geistes. Der heilige
Serafim von Sarov sagt: „Erwirb einen friedvollen Geist, und Tau­
sende um dich herum werden gerettet.“ Ein Friedenstifter hat in sich
selbst Frieden und vergilt nicht Böses mit Bösem. Wenn irgendwo
ein Konflikt ausbricht, setzt er alle Kräfte ein, ihn zu lösen.
Christus warnt Seine Jünger: Sie müssen sich auf Verfolgungen
einstellen. Im Laufe der Jahrhunderte brachen Verfolgungen unter­
schiedlicher Stärke über die Kirche herein. So war es in den ersten
drei Jahrhunderten ihrer Existenz, als die gesamte Macht der Straf­
II3 . Alttestamentliche Gebote und christliche Lebensführung 93

maschinerie des Römischen Reiches auf ihre Vernichtung aus war, so


war es auch im 20. Jahrhundert in der Sowjetunion, als die Kirche
scharfen Repressalien ausgesetzt war.
Aber auch in friedlichen und glücklichen Zeiten bedeutet Christ­
sein die Bereitschaft, die Verlockung „dieser Welt“ mit ihren Versu­
chungen und pervertierten Vorstellungen über Glück, über Moral,
über Gut und Böse zu verwerfen. Die Reihe der Seligpreisungen zur
Eröffnung der Bergpredigt zeigt, dass sich die christliche Lebensfüh­
rung nur in einigen Aspekten mit der sogenannten allgemeinmensch­
lichen Moral verbindet. Während die allgemeinmenschliche Moral
nur eine friedliche Koexistenz einander innerlich fremder Subjekte
sicherstellen will, richtet die christliche Lebensführung das Streben
des Menschen auf Heiligkeit und geistliche Vollkommenheit, die
geeignet ist, die Menschen mit den unauflöslichen Banden brüder­
licher Liebe zu verbinden, um „das Geheimnis Gottes zu erkennen,
das Christus ist“ (Kol 2,2).

3. Alttestam entliche Gebote und christliche Lebensführung

In der Bergpredigt hebt Christus den sittlichen Maßstab auf eine


erheblich höhere Ebene im Vergleich zu dem Maßstab, an dem sich
die alttestamentliche Sittlichkeit orientiert. Das sittliche Gesetz, das
Christus in der Bergpredigt verkündet, erfüllt auf wesentliche Weise
das mosaische Gesetz, wobei es in einigen Fällen dessen alttestament­
liche Auslegung korrigiert oder aufhebt.

Mord und Zorn


Jesus sagt zu den Jüngern. „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt
worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem
Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder
auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein, und wer zu seinem
Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates
verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du Narr!, soll dem Feuer der
Hölle verfallen sein“ (Mt 5,21-22).
94 Teil II. Die christliche Lebensführung

Während der Alte Bund den Mord als äußerste, extreme Erschei­
nungsform von Bosheit, Feindschaft und Hass des Menschen verbie­
tet, hat Jesus auf die Ursachen hingewiesen, die zum Mord führen
können. Der Mensch muss den Zorn in der eigenen Seele ausrotten
und sich der beleidigenden Worte gegenüber dem Nächsten enthal­
ten, damit ein Konflikt nicht tragische Folgen nach sich zieht, son­
dern dort gelöst wird, wo er entsteht: im eigenen Herzen.
Schwur und Lüge
Jesus tritt auf gegen Schwören und Lügen: „Ihr habt gehört, dass zu
den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören,
und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber
sage euch: Schwört überhaupt nicht... Hure Rede sei: la ja, nein nein;
was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen“ (Mt 5,33-37). Im Neuen
Testament wird der Teufel hinterlistig genannt, weil er Ursprung von
allem Bösen und jeder Sünde ist. Der Teufel ist auch der Stammvater
der Lüge. In dieser Welt steht die teuflische Lüge der Wahrheit
Gottes gegenüber. Der Mensch, der sich auf den Weg der Lüge be­
gibt, tut damit dem Teufel einen Gefallen.
Kein Widerstand gegen das Böse mit Gewalt
Ein äußerst wichtiges Prinzip der christlichen Lebensführung ist in
den folgenden Worten der Bergpredigt formuliert: „Ihr habt gehört,
dass gesagt worden ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber
sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Wider­
stand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann
halt ihm auch die andere hin! Und wenn dich einer vor Gericht
bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch
den Mantel! Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm
zu gehen, dann geh zwei mit ihm! Wer dich bittet, dem gib, und wer
von dir borgen will, den weise nicht ab“ (Mt 5,38-42).
Hier wendet Jesus sich gegen das Prinzip der Vergeltung mit
gleichem Maß, das vielen sittlichen Systemen zugrundeliegt. Dieses
Prinzip war wichtig zur Vorbeugung gegenüber unverhältnismäßiger
Rache in dem soziokulturellen Milieu, das im Alten Testament be­
schrieben wird. Christus stellt jedoch ein neues Prinzip auf: M an soll
nicht Böses mit Bösem vergelten.
11.3. Altteslamentliche Gebote und christliche Lebensführung 95

Warum gebietet Jesus, nicht Böses mit Bösem zu vergelten? Weil


das Böse nicht durch Böses geheilt wird, sondern durch das Gute.
Das Böse lässt sich nur mit Hilfe des Guten ausrotten. Im Konfliktfall
zwischen zwei Menschen erlangt, vom christlichen Standpunkt aus
betrachtet, nicht derjenige den sittlichen Sieg, dem es gelungen ist,
sich am Beleidiger zu rächen, sondern derjenige, der die Fortsetzung
des Konflikts verhindert hat, indem er Zugeständnisse gemacht hat,
etwa indem er seine Interessen zurückstellt. Im gesellschaftlichen Be­
wusstsein mag ein solcher Mensch als unterlegen angesehen werden,
doch sein persönlicher Sieg über das Böse hat für ihn größere Bedeu­
tung als seine Interessen, die dabei vielleicht geschmälert werden.
Das Prinzip, dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen, be­
deutet nicht Passivität angesichts der Täter in einer bösen Welt. Ein
Christ muss gegen das Böse in sich selbst kämpfen, dem Bösen auf
der Ebene seiner Familie, der Gesellschaft und des Staates wider­
stehen. Er ist berufen, zur Verteidigung von Geschädigten und Unter­
drückten aufzuslehen, das Vaterland im Fall der Gefahr zu schützen,
die Kirche gegen Beschimpfungen zu verteidigen.

Feindesliebe
Ein weiteres wichtiges Prinzip der christlichen Ethik ist in den fol­
genden Worten des Erlösers formuliert: „Ihr habt gehört, dass gesagt
worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind has­
sen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch
verfolgen... Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen
Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und
wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun
das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer Himm­
lischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,43-47).
Dieser Aufruf Jesu hatte in dem Kontext, in dem er vorgebracht
wurde, eine soziale Dimension: Sich von der Vorstellung zu ver­
abschieden, dass andere Völker Feinde des eigenen Volkes sind und
Heiden und Angehörige anderer Stämme gar Feinde Gottes, bedeu­
tete für einen Juden, eines der wichtigsten Bestandteile seiner Identi­
tät beraubt zu werden, auf die Gleichsetzung der Erwählung des
Volkes mit nationaler Selbstbestimmung zu verzichten.
96 Teil II. Die christliche Lebensführung

Durch Sein Gebot versucht Jesus vor allem, den Denkhorizont


der Hörer zu erweitern, sie verstehen zu lassen, dass Seine Lehre
universale Bedeutung hat. Jesus stellt die Feindesliebe der Nächsten­
liebe nicht entgegen: F.r erweitert den Begriff der „Nächsten“ auf die
Feinde. Die Grundidee Seiner Lehre lässt sich wie folgt wiedergeben:
Die Beziehung zu einem Menschen darf nicht von seiner Beziehung
zu uns abhängen. Liebe besteht nicht erst dann, wenn sie gegenseitig
ist. Das Gute kann nicht nur als Antwort erfolgen. Im Ausdruck der
Liebe und im Tun des Guten ist der Ghrist berufen, sich pro-aktiv zu
verhalten, nicht re aktiv. Er soll nicht einfach auf die Gefühle und
Handlungen anderer reagieren, sondern selbst zur Quelle der Liebe
und des Guten werden.
Genau diese Handlungsweise zeigt Jesus. Zu ihm strömten Tau­
sende von Menschen, und Er wandte sich ihnen zu, heilte ihre Krank­
heiten, ging auf ihre Nöte ein, erwies ihnen Liebe und Barmherzig­
keit, erwartete von ihnen weder antwortende Liebe noch Dankbar­
keit noch einen Lohn. Aus dem Bereich seiner Aufmerksamkeit und
Liebe wurde keine Art von Menschen ausgeschlossen, nicht einmal
Zöllner und Dirnen. Selbst Pharisäer und Gesetzeslehrer blieben
nicht ohne Seine Fürsorge: Streng und unversöhnlich verhielt Er sich
gegenüber dem Pharisäertum, indem Er dessen höchst abwegige
Verhaltensweisen aufdeckte. Jesus entzog sich jedoch nicht der Be­
gegnung mit Pharisäern, sondern antwortete auf ihre Fragen, be­
suchte ihre Häuser und saß mit ihnen an demselben Tisch. Was das
Gebot angeht, für Beleidiger und Verfolger zu beten, so hat Er es
buchstäblich erfüllt, indem Er am Kreuz für diejenigen betete, die ihn
gekreuzigt hatten (Lk 23,34).
Das Gebot der Feindesliebe lässt sich als Quintessenz der ganzen
christlichen Lebensführung bezeichnen. Wie in einem Brennpunkt
sind in ihm die übrigen Gebote Christi zusammengefasst. Gerade das
Gebot der Feindesliebe erneuert in entscheidender Weise die alttesta-
mentliche Vorstellung von Liebe, von Sittlichkeit, von den Kriterien,
nach denen das Verhältnis des Menschen zu seinem Nächsten zu
gestalten ist. Dieses Gebot legt die Grundlage für die neue Friedens­
ordnung, die in vollem Umfang nur in der Gemeinschaft der Jünger
Jesu, in der Kirche, verwirklicht werden kann.
11.4. Gottesliebe und Nächstenliebe 97

Liebe isl ein inneres Gefühl, sie hat nicht so sehr eine rationale als
vielmehr eine emotionale Grundlage. Daher ist es für den Menschen
sehr schwierig, sich zu veranlassen, jemanden zu lieben, sich zu
zwingen, die Feinde zu lieben, selbst wenn er mit dem Verstand
begreift, dass dies notwendig ist. Die Liebe zu den Feinden erlangt
man nicht auf dem Weg der Selbstbeeinflussung, nicht durch den
eigenen Entschluss, sich dem Nächsten gegenüber so und nicht
anders zu verhalten. Zur Erlangung der Feindesliebe ist unbedingt
Arbeit an sich selbst erforderlich, doch diese Arbeit allein reicht nicht
aus. Notwendig ist auch, dass es eine „begünstigende Umgebung“
gibt, wo der Mensch diese Eigenschaft in sich entwickeln kann. Diese
Umgebung ist die Kirche.
Die Prinzipien der Lebensführung, die Jesus formuliert hat, wir­
ken vor allem innerhalb der Kirche, der Gemeinschaft Seiner Jünger.
Doch Christ muss man nicht nur in einer Umgebung Gleichgesinn­
ter sein. Die christlichen Prinzipien der Lebensführung muss der
Christ auch in einer Umgebung von Menschen verwirklichen, denen
diese Prinzipien fremd sind.
Die Lehre von der Feindesliebe darf nicht als Aufruf verstanden
werden, sich der Verteidigung des Vaterlands oder der Verteidigung
der Wahrheit zu verweigern. Der heilige Filaret von Moskau schrieb:
„Flassl die Feinde Gottes, wehrt die Feinde des Vaterlandes ab, liebt
eure eigenen Feinde“.1'

4. Gottesliebe und Nächstenliebe

Die zwei Hauptgebote


Das Wesen des alttestamentlichen Gesetzes sieht Jesus in den beiden
Geboten, die Er im Gespräch mit dem Gesetzeslehrer zitiert, der sich
mit der Frage an Ihn wendet: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist
das wichtigste?“ Jesus antwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen 6

6 Filaret von Moskau, Ansprache in der 19. Woche nach Pfingsten (gehalten zwi­
schen 1806 und 1808).
98 Teil II. Die christliche Lebensführung

Denken. Das ist das wichtigste und erste (jebot. Ebenso wichtig ist
das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An
diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“
(Mt 22,35-40).
Beide Gebote sind aus dem Alten Testament übernommen (Dtn
6,5; Lev 19,18); in christlicher Perspektive erhalten sie jedoch einen
neuen Inhalt und eine neue Erfüllung. Im Alten Testament wurde
unter dem „Nächsten“ der Stammesgenosse verstanden, der Sohn
desselben Volkes. Indem lesus dieses Gebot zitiert, erweitert Er we­
sentlich dessen Sinn. Unter dem Nächsten versteht Er jeden Men­
schen, unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit.
Der Evangelist Markus, der diese Geschichte berichtet, envähnt
die Reaktion des Gesprächspartners lesu: „Der Schriftgelehrte sagte
zu Ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast Du gesagt: Er allein ist
der Herr, und es gibt keinen anderen außer Ihm, und Ihn mit ganzem
Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Näch­
sten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und
anderen Opfer. Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte,
und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk 12,
28-34).
Der Gesprächspartner Jesu nimmt nicht zufällig Bezug auf den
Opferkult. Dieser Kult wurde im alten Israel zu der Zeit eingerichtet,
als das religiöse Leben vor allem in juridischen Kategorien verstan­
den wurde. Sünde galt als Übertretung vor Gott, die es erforderlich
machte, Gott gnädig zu stimmen, und dazu diente das Opfer.
Als Ablösung des Opferkultes brachte Jesus eine neue Religion,
die von anderen Voraussetzungen ausgeht: Das Verhältnis zu Gott
soll in Seiner Sicht nicht auf dem Gefühl von Pflicht und Furcht
aufbauen, sondern auf Liebe und Vertrauen. Die Liebe zu Gott, die
das ganze Wesen des Menschen erfasst, einschließlich Herz, Seele
und Verstand, soll ihren Ausdruck nicht in der Opferdarbringung
finden, sondern in der Liebe zum Nächsten. Werke der Liebe und
des Erbarmens, nicht Brandopfer und religiöse Rituale, bezeichnet Er
als das grundlegende Kriterium, nach dem Gott beim Jüngsten G e­
richt die Gerechten von den Sündern trennt, die Schafe von den
Böcken (Mt 25,31-46).
11.4. Gotteshebe und Nächstenliebe 99

Der Gesetzeslehrer fragt Jesus nur nach dem einen, wichtigsten


Gebot, Jesus aber fügt in Seiner Antwort noch ein zweites hinzu. Für
Ihn stellen Gottesliebe und Nächstenliebe also ein einziges Doppel­
gebot dar: die eine Liebe ist nicht denkbar ohne die andere. Die Liebe
zu Gott findet ihren Ausdruck und ihre selbstverständliche Fortset­
zung in der Liebe zum Nächsten. Der Apostel Johannes erinnert
daran mit folgenden Worten: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!,
aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder
nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.
Und dieses Gebot haben wir von Ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen
Bruder lieben“ (1 Joh 4,20-21).

Das christliche Verständnis der Liebe


Das Alte Testament forderte dazu auf, seinen Nächsten „wie sich
selbst“ zu lieben, und diese Forderung war der Höhepunkt der alt-
testamentlichen Lebensführung. Insofern die Frage des Schriftge­
lehrten sich ausschließlich auf das mosaische Gesetz bezog, benannte
Jesus dieses Gebot als einen von zwei geistlich-sittlichen Höhepunk­
ten dieses Gesetzes. Ausgehend von der Tatsache, dass jeder Mensch
sich selbst liebt und sich selbst Gutes wünscht, formuliert Jesus in der
Bergpredigt die Regel, die das alttestamentliche Prinzip des Verhält­
nisses zum Nächsten zusammenfasst: „Alles, was ihr wollt, dass euch
die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und
die Propheten“ (Mt 7,12).
Doch in der eigenen Lehre Jesu über die Liebe ist eine andere
Stimme zu hören, erklingt eine andere Tonalität, als sie bestimmend
ist für die sittlichen Ermahnungen des mosaischen Gesetzes. Letzten
Endes ruft Jesus dazu auf, den Nächsten nicht wie sich selbst zu
lieben, sondern mehr als sich selbst. Er ruft den Menschen zu der
Bereitschaft auf, sein Leben für den Nächsten zu geben (Joh 15,13).
Das Leben hingeben um des anderen Menschen willen - so weit geht
die christliche Liebe.
Liebe ist der grundlegende Begriff christlicher Theologie und
christlicher Lebensführung. Häufig nennt man das Christentum die
Religion der Liebe und hat die zentrale Rolle im Blick, die darin die
Unterweisung über die Liebe spielt. Der Apostel Johannes sagt: „Gott
100 Teil II. Die christliche Lebensführung

ist Liebe. Darin offenbarte sich die Liebe Gottes unter uns, dass Gott
Seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch Ihn
leben“ (1 Joh 4,8-9). Durch Sein Leiden und Seinen Tod hat Jesus
gezeigt: „Da Er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte Er sie
bis zur Vollendung“ (loh 13,1). Seinen Jüngern gab Er beim Heiligen
Abendmahl das Gebot der Liebe als „neues Gebot“ (Joh 13,34).
Worin besteht dieses Neue? Christus ruft Seine Jünger dazu auf,
einander nicht mit der gewöhnlichen Liebe zu lieben, die auf Gegen­
seitigkeit beruht, sondern mit der opferbereiten Liebe, die keine
Antwort der Liebe erwartet. In Seinen Worten ist nicht von einer
Liebe die Rede, die auf die gemeinsame Zugehörigkeit des Liebenden
und des Geliebten zu demselben Volk begrenzt ist. Es geht auch nicht
um die Liebe zwischen Menschen, die einander durch Blutsverwandt­
schaft oder durch freundschaftliche Bande verpflichtet sind. In Jesu
Worten ist die Rede von einer qualitativ anderen Liebe: sie umfasst
und übersteigt alle erwähnten Aspekte der Liebe, weil sie einen über­
natürlichen Charakter hat. Quelle dieser Liebe sind nicht mensch­
liche Gefühle oder Emotionen. Ihre Quelle kann nur Gott Selbst sein.
Die christliche Lehre über die Liebe ist vollumfänglich nur in der
<irche verwirklicht. Gerade die Kirche ist der Raum, wo man beru-
en ist, die Liebe von Christus Selbst zu lernen. Doch die Liebe, zu
der die Christen berufen sind, darf sich nicht auf die Glieder der
Kirche beschränken. Sie muss alle ohne irgendeine Ausnahme um­
fassen, selbst die persönlichen Feinde des konkreten Menschen. Für
den Christen gehört es sich nicht, die Menschen einzuteilen in
Freunde und Feinde, die Seinen und Fremde. Für ihn sind alle die
Seinen, Nächste und Verwandte. Und er ist berufen, jeden zu lieben,
unabhängig davon, ob er auf antwortende Liebe trifft oder nicht.

5. Sünde und Um kehr

Sünde
In der christlichen Lebensführung hat der Begriff Sünde große Be­
deutung. Sünde ist jede beliebige Abweichung des Menschen vom
gottgegebenen Sittengesetz, von dem Ziel, für das Gott ihn vorher­
II.5. Sünde und Umkehr 101

bestimmt hat.78Das Wort „Sünde“ bezeichnet daher mehr als ein


Strafdelikt oder eine andere Verletzung der bürgerlichen Gesetz­
ordnung. Doch auch ein Gesetzesverstoß kann die von Gott gegebene
sittliche Ordnung verletzen und daher Sünde sein.
Die Sünde trennt den Menschen von Gott und führt zum geist­
lichen Tod. Nach den Worten des Apostels Jakobus „wird jeder von
seiner eigenen Begierde in Versuchung geführt, die ihn lockt und
fängt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie
die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod
hervor“ (Jak 1,14-15).
Die Sünden der Menschen sind vielfältig und lassen sich nicht
erschöpfend klassifizieren. In der frühchristlichen Literatur bestand
die Auffassung, dass alle Sünden sich auf acht grundlegende Sünden
zurückführen lassen, die aus sündigen Leidenschaften hervorgehen:
Gaumenlust, Unzucht, Geldgier, Zorn, Traurigkeit, Trägheit, Ruhm­
sucht, Stolz.“ ln der westlichen Tradition entwickelte sich eine Lehre,
nach der die Sünden eingeteilt werden in Todsünden, das heißt die
besonders schweren, und weniger schwere lässliche Sünden. Manch­
mal werden die Sünden in drei Kategorien eingeteilt: gegen Gott,
gegen den Nächsten, gegen sich selbst.
Hs gibt freiwillige und unfreiwillige Sünden. Eine freiwillige Sünde
wird vom Menschen bewusst begangen, wenn er versteht, dass eine
bestimmte Tat dem Gesetz Gottes zuwiderläuft und er sie dennoch
tut. Unfreiwillig nennt man eine Sünde, die vom Menschen ohne
seinen persönlichen Wunsch, gegen seinen Willen, begangen wird.
Christus sagt: „Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde“ (Joh
8,34). Die Sünde macht die Menschen zu ihren Sklaven, macht ab­
hängig von sündigen Gewohnheiten, Neigungen, „von der Begierde
des Fleisches, der Begierde der Augen, und dem Prahlen mit dem
Besitz“ (1 Joh 2,16).
In einem heutigen medizinischen Lexikon bedeutet der Begriff
„Abhängigkeit“ das zwanghafte Bedürfnis eines Menschen nach

7 Das griechische Wort apaQTta bedeutet wörtlich „Fehlschlag" (anfangs wurde es


fiir den Bogenschützen verwendet, der den Pfeil am Ziel vorbeischießt).
8 Johannes Klimakos, Über den Kampf gegen die acht Hauptlaster.
102 Teil II. Die christliche Lebensführung

etwas: Man spricht von der Abhängigkeit von Drogen, Alkohol,


Computerspielen usw. Einige Formen der Abhängigkeit sind verbun­
den mit psychischen Störungen; sehr oft liegt einer Abhängigkeit
jedoch die eingewurzelte Gewöhnung an die Sünde zugrunde. Alko­
holismus und Narkomanie sind z.B. in der Sicht der Kirche sündhaft,
denn sie können den Menschen bis zur vollständigen Zerstörung der
Person führen.1'
Verschiedene Formen der Abhängigkeit sind nicht selten mit­
einander verbunden: erfolgt die Befreiung von der einen Abhängig­
keit mit mechanischen Mitteln, kann das dazu führen, dass ein
Mensch in eine andere Abhängigkeit fällt. Ebenso sind auch Sünden
miteinander verbunden, und oft zieht eine Sünde eine andere nach
sich. Der Apostel Paulus betont z.B. die Verbindung zwischen über­
mäßigem Genuss von Alkohol und Unzucht (Eph 5,18). Der heilige
Cyprian von Karthago (3. Jh.) schreibt: „Ist die Geldgier überwun­
den, dann steht die Wollust auf; ist die Wollust besiegt, dann taucht
die Ruhmsucht auf; wenn die Ruhmsucht vernichtet ist, dann erbit­
tert uns der Zorn, spielt der Stolz sich auf, lockt die Trunksucht, die
Feindschaft untergräbt die Eintracht, und die Eifersucht macht die
Freundschaft zunichte“.910
Sünden kann man nicht ausschließlich auf dem Weg der eigenen
Willensanstrengungen oder durch Selbstbeeinflussung überwinden.
Im Kampf gegen die Sünden darf man nicht allein auf sich selbst
hoffen. Man muss Gottes Hilfe anrufen und Kraft aus dem Glauben
und der Heiligen Schrift schöpfen. Der Apostel Paulus sagt: „Steht
also da, eure Hüften umgürtet mit Wahrheit, angetan mit dem Brust­
panzer der Gerechtigkeit, die Füße beschuht mit der Bereitschaft für
das Evangelium des Friedens. Vor allem greift zum Schild des Glau­
bens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslö­
schen. Und nehme den Helm des Heils und das Schwert des Geistes,
das ist das Wort Gottes!“ (Eph 6,14-17).

9 Zur Haltung der Kirche gegenüber Alkoholismus und Drogenabhängigkeit vgl.


Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche X1.6.
10 Cyprian von Karthago, Über die Sterblichkeit.
II.5. Sünde und Umkehr 103

Im Christentum wird Sünde als eine Krankheit verstanden. Die


Sünde als geistliche Krankheit hat häufig körperliche Erkrankungen
als direkte Folge. Entsprechend wirkt sich geistliche Gesundung auf
den gesamten geistig-körperlichen Bestand eines Menschen aus.
Darauf weist der Herr Jesus Christus hin. als Er einen Gelähmten
heilt und zu ihm sagt: „Hab Vertrauen, mein Sohn, deine Sünden
sind dir vergeben“ (Mt 9,2). Einem anderen Gelähmten, der ihn um
Heilung bittet, sagt Jesus: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige
nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt!“ (Joh 5,14).

Umkehr
Die Kirche ist berufen, den Menschen in Sünden nicht anzuklagen,
sondern ihm zu helfen, sich ihrer bewusst zu werden, und ihn zu
heilen. Das Heilmittel gegen die Sünde ist die Umkehr.
Es gibt keine Sünden, die nicht durch Umkehr geheilt werden
können. Der Herr Jesus Christus sagt: „Jede Sünde und Lästerung
wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den
Geist wird nicht vergeben werden“ (Mt 12,31). Unter der Lästerung
gegen den I ledigen Geist wird gewöhnlich die hartnäckige Ableh­
nung des Willens Gottes verstanden, der bewusste Eintritt in den
Konflikt mit Gott, der Unwille, seine Sünden zu bereuen und sich zu
bessern.
Umkehr ist nicht dasselbe wie Reue. Reue als Bedauern über eine
begangene Sünde kann fruchtlos sein. Judas, der den Erlöser für drei­
ßig Silberlinge verraten hat, bereute und gab das Geld den Hohen­
priestern und Ältesten zurück mit den Worten: „Ich habe gesündigt,
ich habe unschuldiges Blut ausgeliefert“ (Mt 27,3-4). Dabei vollzog er
keine Umkehr, kehrte nicht in die Gemeinschaft der Jünger zurück,
sondern beging eine schwere Sünde, die seine Schuld nur noch grö­
ßer machte: den Selbstmord. Im Gegensatz dazu hat Petrus, der
Christus verleugnet hatte, seine Verleugnung bitterlich beweint (Mt
26,69-75), seine Liebe zu Ihm bekannt und sie mit allem Heldenmut
in seinem darauffolgenden Leben und seinem Tod als Märtyrer
erwiesen (Joh 21,15-19).
Umkehr erschöpft sich nicht in der Feststellung des Faktums
einer sündhaften Tat und in der Reue darüber. Umkehr ist ein ganzer
104 Teil II. Die christliche Lehensführung

geistlicher Komplex, der die tägliche Gewissenserforschung umfasst,


das Bedauern über die begangenen Sünden und die zugelassenen
sündhaften Gedanken, das Bestreben, soweit als möglich das ursäch­
liche Böse zu korrigieren, die beständige Arbeit an sich selbst mit
dem Ziel der geistlichen Selbstvervollkommnung. Umkehr zu leisten
bedeutet, seinen Verstand und seine Lebensweise zu ändern", sündige
Taten durch gegenteilige zu ersetzen, den christlichen Komplex sitt­
licher Werte anzunehmen, die Gebote Gottes zu erfüllen, unablässig
nach dem Guten zu streben, nicht nur in Taten, sondern auch in
Gedanken und Gefühlen.
Der Apostel Paulus ruft die Christen in Ephesus auf: „Legt den
alten Menschen des früheren Lebenswandels ab, der sich in den
Begierden des Trugs zugrunde richtet, und lasst euch erneuern durch
den Geist in eurem Denken! Zieht den neuen Menschen an, der nach
dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heilig­
keit“ (Kph 4,22-24). Die innere geistige Erneuerung durch die Um­
kehr führt zu einer vollkommenen sittlichen Wiedergeburt des Men­
schen.

'jotl vergibt die Sünden


>ie Umkehr lässt den Menschen zu Gott zurückkehren. Der jeden
/lenschen liebt und wartet, dass dieser sich von seiner sündhaften
Lebensweise abwendet und zu Ihm zurückkehrt. Im Alten Testament
sagt Gott: „Ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern
daran, dass ein Schuldiger sich abkehrt von seinem Weg und am
Leben bleibt“ (Ez 33,11).
Im Neuen Testament ist dem Thema der Umkehr das Gleichnis
vom verlorenen Sohn gewidmet, das Jesus auf dem Weg nach Jerusa­
lem vorträgt: „Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen
sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht! Da
teilte der Vater das Vermögen unter sie auf. Nach wenigen Tagen
packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land.
Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Ver-1

11 Das griechische Wort geiavoia bedeutet wörtlich eine Wandlung des Verstandes,
eine Veränderung der Denkform.
II. 5. Sunde und Umkehr 105

mögen. Als er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot


über jenes Land, und er begann Not zu leiden. Da ging er zu einem
Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs
Feld zum Schweinehüten. Er hätte gern seinen Hunger mit den Fut­
terschoten gestillt, die die Schweine fraßen; aber niemand gab ihm
davon. Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines
Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber komme hier vor Hunger
um. Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm
sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich ver­
sündigt: Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu
einem deiner Tagelöhner! Dann brach er auf und ging zu seinem
Vater. Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen, und er hatte
Mitleid mit ihm. Kr lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals
und küsste ihn. Da sagte der Sohn zu ihm: Vater, ich habe mich
gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr
wert, dein Sohn zu sein. Der Vater aber sagte zu seinen Knechten:
Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt einen Ring
an seine Hand und gebt ihm Sandalen an die Füße! Bringt das Mast­
kalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein. Denn
dieser, mein Sohn, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist
wiedergefunden worden“ (Lk 15,11-24).
In diesem Gleichnis wird die Umkehr als stufenweiser Prozess
dargestellt, der damit beginnt, dass der verlorene Sohn in sich geht,
sich an seinen Vater erinnert und beschließt, zu ihm zurückzukeh­
ren. Es bleibt nicht bei Worten, sondern er geht zu Taten über. Doch
die Hauptperson des Gleichnisses ist nicht der Sohn, sondern der
Vater, der Gott symbolisiert. Wenn der Mensch zu Gott zurückkehrt
und die Umkehr vollzieht, richtet Gott ihn nicht, sondern empfängt
ihn mit ausgebreiteten Armen.
Das Gleichnis zeigt, dass Umkehr immer eine Bewegung der
Begegnung zwischen Gott und Mensch ist. Der Vater im Gleichnis
wartet nicht einfach geduldig, bis der Sohn auf ihn zukommt; sobald
er ihn gesehen hat, läuft er ihm entgegen. Aus dem Mund des Vaters
ist kein einziges Wort der Verurteilung oder des Vorwurfs zu hören.
106 Teil II. Die christliche Lehensführung

Der Herr Jesus Christus sagt über Sich Selbst: „Ich bin gekom­
men, nicht um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten“
(Joh 12,47). Der Frau, die beim Ehebruch ertappt wurde, sagt Er:
„Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt?... Auch Ich
verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh
8,10-11). Als ein Pharisäer erwartet, dass Jesus die Frau, eine Sünde­
rin, verurteilt, die Ihm Seine Füße mit kostbarem Öl salbt, sagt Jesus
anstelle einer Verurteilung zu ihr: „Deine Sünden sind dir vergeben
... Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden“ (Lk 7,48.50). Über
diejenigen, die sich aufgrund der Predigt des Täufers Johannes be­
kehrt haben, sagte Jesus, an die Pharisäer gewandt: „Amen, Ich sage
euch: Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes
als ihr. Denn Johannes ist zu euch gekommen auf dem Weg der
Gerechtigkeit, und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und
Dirnen haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen, und doch habt ihr
nicht bereut und ihm nicht geglaubt“ (Mt 21,31-32).

Für die Umkehr ist es nie zu spiil


\r die Umkehr ist es niemals zu spät, und selbst der verstockteste
■brecher kann am Ende seines Lebens umkehren und Verzeihung
Gott erlangen. Dies zeigt das Beispiel des einsichtigen Schächers:
er zusammen mit Jesus gekreuzigt worden war, erkannte er die
ndhaftigkeit seines früheren Lebens und wandte sich an Ihn mit
den Worten: „Jesus, denk an mich, wenn Du in Dein Reich kommst.“
Darauf antwortete ihm Jesus: „Amen, Ich sage dir: Heute noch wirst
du mit Mir im Paradies sein“ (Lk 23,42-43).
Zugleich darf man die Umkehr niemals auf die Zukunft verschie­
ben, weil ja der Tod den Menschen plötzlich treffen kann. A uf die
Frage nach den Galiläern, die auf Befehl des Pilatus umgebracht
worden waren, antwortet Jesus: „Meint ihr, dass diese Galiläer grö­
ßere Sünder waren als alle anderen Galiläer, weil das mit ihnen ge­
schehen ist? Nein, sage Ich euch, vielmehr werdet ihr alle genauso
umkommen, wenn ihr nicht umkehrt“ (Lk 13,1-3).
Das Schicksal des Menschen in der Ewigkeit hängt davon ab, wie
er sein Leben auf Erden gelebt hat, wie er sein Verhältnis zu Gott
gestaltet hat. Im Unterschied zur bürgerlichen Gesetzgebung, die auf
11. fl. Christliches Lehen in der Familie 107

ein Verbrechen unbedingt eine entsprechende Strafe folgen lässt,


befreit Gott von der Strafe für die Sünden, wenn der Mensch sie
aufrichtig bereut, sich vom Weg des Bösen abwendet und sich auf
den Weg des Guten begibt.

6. Christliches Leben in der Familie

Christi Lehre über Ehe und Scheidung


In der Bergpredigt sagt Jesus: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden
ist: Du sollst nicht die F.he brechen! Ich aber sage euch: Jeder, der
eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon
Ehebruch mit ihr begangen ... Ferner ist gesagt worden: Wer seine
Frau aus der F.he entlässt, muss ihr eine Scheidungsurkunde geben.
Ich aber sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von
Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer eine Frau
heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch“ (Mt
5,27-32).
I lier weist der Erlöser zunächst auf die Ursachen hin, die zu einer
Sünde des Fleisches und zur Störung der ehelichen Treue führen
können. Diese Gründe haben ihre Wurzel im Herzen des Menschen,
in seinem hinterhältigen Blick, mit dem er sich nicht sattsehen kann
an fremden Frauen. Außerdem tritt der Herr als grundsätzlicher
Gegner der Scheidung auf und lässt eine Scheidung nur aus einem
einzigen Grund zu: bei Zerstörung der ehelichen Treue durch einen
der Ehegatten.
Einmal traten die Pharisäer an Jesus mit der Frage heran: „Darf
man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen?“
In Seiner Antwort nimmt Er auf die Erzählung der Bibel von der
Erschaffung des Menschen Bezug: „Habt ihr nicht gelesen, dass der
Schöpfer sie am Anfang als Mann und Frau schuf?“ Und Er zitiert
das Buch Genesis: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlas­
sen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch
sein (Gen 2,24). Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch
nicht trennen.“ Die Pharisäer ließen nicht nach, sondern fragten
weiter: „Wozu hat dann Mose vorgeschrieben, der Frau eine Schei­
108 Teil II. Die christliche Lebensführung

dungsurkunde zu geben und sie aus der Ehe zu entlassen?“ (Dtn


24,1). )esus antwortete: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose
euch gestattet, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war
das nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall
von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch“
(Mt 19,3-9).
Sogar den lüngern des Erlösers erscheint diese Einstellung als zu
hart (Mt 19,10). Die Kirche indessen bewahrt die I.ehre Christi so,
wie Er sie gelehrt hat. ln ihrem kanonischen Recht geht die Kirche
von der Auffassung der Einzigkeit und Unauflöslichkeit des ehe­
lichen Bundes aus. Eine Scheidung wird nur aus dem Grund zu­
gelassen, den der Erlöser angegeben hat, und auch aus einigen ande­
ren Gründen, die den Verbleib in der Ehe für einen oder beide Gat­
ten unmöglich machen.12
Eine zweite oder dritte Ehe wird nur im Falle des Todes eines der
Gatten oder unter anderen besonderen Umständen zugelassen, die
durch die kirchlichen Gesetze geregelt sind. Dabei ist für ein Mitglied
der Hierarchie die zweite Ehe unter keinen Umständen möglich.13

12 In den Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche (X.3)


wird unter den Gründen für eine Scheidung außer Ehebruch und dem Eintritt
eines der beiden Partner in eine neue Ehe die Trennung des Gatten oder der
Gattin von der Orthodoxie genannt, widernatürliche Veranlagungen, eine man­
gelnde Eignung für das eheliche Zusammenleben, die bereits vor der Ehe bestand
oder durch eine absichtliche Selbstverstümmelung entstanden ist. Erkrankung an
Lepra oder Syphilis, langes Verschollensein, Verurteilung zu einer Strafe in Ver­
bindung mit dem Verlust aller Rechte, unheilbare, schwere seelische Krankheit,
böswilliges Verlassen des einen Gatten durch den anderen, Aids-Erkrankung,
medizinisch festgestellter chronischer Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit,
Vollzug einer Abtreibung durch die Erau ohne Zustimmung des Mannes.
13 In den Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche (X.3)
wird unterstrichen, „dass eine Scheidung als letztes Mittel nur erfulgen darf, wenn
die Ehegatten Handlungen vollzogen haben, die von der Kirche als Anlass zur
Scheidung festgelegt wurden“. Wenn jedoch „die Zerrüttung der Ehe ein voll­
endetes Faktum ist, insbesondere wenn die Gatten getrennt leben und eine Wie­
derherstellung der Familie als unmöglich erachtet wird, wird ebenfalls aus pasto-
raler Nachsicht eine kirchliche Scheidung erlaubt. Die Kirche ermuntert keines­
wegs zu einer Wiederverheiratung. Dennoch wird nach einer Scheidung gemäß
kirchlichem Recht in Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht dem un-
11.6. Christliches Lehen in der Familie 109

Die Familie ist eine „kleine Kirche“


In der christlichen Tradition wird die Familie als „kleine Kirche“
aufgefasst. Diese Vorstellung gründet auf der Lehre des Apostels
Paulus, der die christlichen Familien seiner Zeit als „Hauskirche“
bezeichnet (Rom 16,4; 1 Kor 16,19; Kol 4,15). Im Kreis der Familie
sind die Christen verschiedener Generationen berufen, in der Praxis
das Ideal der Liebe zu erfüllen, das sie in der Kirche und durch die
Lesung der Heiligen Schrift erlernen. Die Gatten sind berufen, ihr
Familienleben auf dem festen Grund der Lebensführung gemäß dem
Evangelium aufzubauen.
Der christliche Ehebund ist ein Bund „im Herrn“. Der Apostel
Paulus schreibt: „lm Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann
noch den Mann ohne die Frau. Denn wie die Frau vom Mann
stammt, so kommt der Mann durch die Frau zur Welt; alles aber
stammt von Gott“ (1 Kor 11,11-12).
Eine besondere Gabe Gottes für jede Familie sind die Kinder. Im
Psalter heißt es darüber: „Siehe, ein Erbteil vom Herrn sind Kinder,
ein Lohn ist die Frucht des Leibes“ (Ps 126 (127),3). Die heutigen
Technologien, die unter dem Oberbegriff „Familienplanung“ zusam-
niengefasst werden, sind der christlichen Lebensführung fremd, die
davon ausgeht, dass eine Familie so viele Kinder haben soll, wie Gott
will.
Die christliche Lebensführung besteht auf dem absoluten Wert
jedes menschlichen Lebens und verbietet kategorisch Abtreibungen,
die dem Mord gleichgestellt werden. Das Recht auf Geburt ist ein
unabdingbares Recht eines jeden Menschen. Wen auch immer dieses
Rechtes zu berauben, stellt in der Sicht der Kirche eine schwere Sünde

schuldigen Gatten eine zweite Ehe erlaubt. Personen, deren Ehe zerbrochen ist
und aufgrund ihrer Schuld aufgelöst wurde, wird der Eintritt in eine zweite Ehe
nur gestattet unter der Bedingung der Buße und der Erfüllung einer Kirchenbuße
[Epitimie], auferlegt entsprechend den kanonischen Regeln. In den Ausnahme­
fallen, in denen eine dritte Ehe zugelassen wird, wird die Dauer der Epitimie nach
den Regeln des heiligen Basilius des Großen verlängert.“ Unter „Epitimie“ versteht
man eine bestimmte Form der Bestrafung, die in jedem konkreten Fall von der
kirchlichen Autorität festgesetzt wird.
110 Teil II. Die christliche Lebensführung

dar, für die alle Beteiligten vor Gott die Verantwortung tragen.14 Die
Anwendung empfängnisverhütender Mittel, die eine abtreibende
Wirkung haben, ist ebenfalls eine schwere Sünde.15
ln der orthodoxen Überlieferung wird nur die Verbindung zwi­
schen Mann und Frau als Ehe anerkannt; sie kommt aufgrund ge­
genseitiger Liebe zustande, und eines ihrer Hauptziele ist die Geburt
und Erziehung von Kindern. Die „alternativen“ Formen des Zusam­
menlebens, die in der heutigen Gesellschaft Verbreitung gefunden
haben, können nicht als Ehe angesehen werden und auch keinen
kirchlichen Segen erhalten.

7. Kindererziehung

In der alten Welt wurden Kinder nicht als vollwertige Glieder der
Gesellschaft angesehen. Das Christentum hat das Verhältnis zu Kin­
dern von Grund auf verändert. Die heutigen Vorstellungen von der
Würde und den Rechten der Kinder, wie sie in einer zivilisierten
Gesellschaft festgeschrieben sind, haben ihre Grundlage im christ­
lichen Verständnis.

| Christus und die Kinder


Jesus Christus hat gelehrt, Kindern mit besonderer Sorge und Auf­
merksamkeit zu begegnen: „Hütet euch davor, einen von diesen

14 Zur Haltung der Kirche gegenüber der Abtreibung vgl. Grundlagen der Sozial­
konzeption der Russischen Orthodoxen Kirche XII.2.
15 In den Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche (XII.3)
heißt es: „Einige empfängnisverhütende Mittel besitzen praktisch eine abtreibende
Wirkung, die bereits in den frühesten Stadien das Leben des Embryo künstlich
beendet. Deshalb unterliegen diese Mittel dem fiir die Abtreibung geltenden
Urteil. Andere Mittel, die nicht mit dem Abbruch bereits beginnenden Lebens
verknüpft sind, dürfen keineswegs einer Abtreibung gleichgestellt werden. Wenn
christliche Ehegatten ihre Haltung zu den nicht-abtreibenden Mitteln der Emp­
fängnisverhütungbestimmen, lassen sie sich von der Überzeugung leiten, dass die
Weitergabe des menschlichen Lebens eines der Hauptziele des von Gott gestifteten
Ehebundes ist (vgl. X.4). Der bewusste Verzicht auf Kinder aus egoistischen
Erwägungen entwertet die Ehe und ist eine unbestreitbare Sünde“.
11.7. Kindererzieliung 111

Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel


sehen stets das Angesicht Meines Himmlischen Vaters“ (Mt 18,10).
Die Evangelien enthalten folgende Episode aus dem Leben des
Erlösers: „Da brachte man Kinder zu Ihm, damit Er sie berühre. Die
Jünger aber wiesen die Leute zurecht. Als Jesus das sah, wurde Er
unwillig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu Mir kommen; hin­
dert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes.
Amen, Ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie
ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und Er nahm die Kinder in
Seine Arme; dann legte Er ihnen die Hände auf und segnete sie“ (Mk
10,13-16).
Eine weitere Episode ist nicht weniger charakteristisch: „In jener
Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist denn im
Himmelreich der Größte? Da rief Er ein Kind herbei, stellte es in ihre
Mitte und sagte: Amen, Ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und
werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hinein-
kommen. Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Him­
melreich der Größte. Und wer ein solches Kind in Meinem Namen
aufnimmt, der nimmt Mich auf. Wer einem von diesen Kleinen, die
an Mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein
Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres ver­
senkt würde. Wehe der Welt wegen der Ärgernisse! Es muss zwar
Ärgernisse geben; doch wehe dem Menschen, durch den das Ärger­
nis kommt!“ (Mt 18,1-7).
Mit diesen Worten weist der Herr daraufhin, dass in das Himmel­
reich die Bedeutung eines Menschen nach entgegengesetzten Krite­
rien als auf der Erde beurteilt wird. Als Beispiel wird ein Kind ange­
führt: Es entspricht in höherem Maße dem Ideal, das in der Berg­
predigt dargelegt wird, als ein erwachsener Mensch. Der Christ ist
berufen, Gott, seinem Vater, zu vertrauen, wie ein kleines Kind sei­
nen Eltern vertraut.
Der Erlöser erinnert auch an die Verantwortung der Erwachse­
nen für die Erziehung der Kinder. Kinder zu verführen ist eine sehr
schwere Sünde. Ärgernisse „muss es geben“, aber nicht, weil dies der
Wille Gottes ist, sondern weil in einer Welt, wo Gut und Böse mit­
einander verflochten sind, Ärgernisse wie das Unkraut auf ein und
112 Teil II. Die christliche Lebensführung

demselben Feld mit dem Weizen wachsen (Mt 13,24-30). Dennoch


lädt jeder, der Ärgernis sät, persönliche Verantwortung auf sich, die
unvergleichlich größer ist, wenn die sündige oder verführerische
Handlung oder auch verschiedene Formen der Verbreitung der
Sünde Kinder betreffen.

Die christliche Kindcrerziehung


Kindererziehung gründet nach der christlichen Überlieferung in
der Überzeugung, dass Kinder - nicht weniger als Erwachsene - der
Gnade Gottes bedürfen. Und die geistliche Entwicklung eines Kindes
ist nicht weniger wichtig als die physische. Deshalb führen christliche
Eltern von frühester Kindheit an ihre Kinder an die Kirche heran.
Nachdem sie ein Kind haben taufen lassen, ist das erste, was zu
tun ist, das Kind zur Kommunion zu bringen. Im Unterschied zu
einigen anderen christlichen Konfessionen, wo man meint, dass nur
Kinder im Vernunftalter kommunizieren dürfen, lässt die Orthodoxe
Kirche Säuglinge zur Kommunion zu, denn nach ihrer Überzeugung
wirkt die erlösende Gnade in diesen Kindern1'’, unabhängig davon,
ob diese rational erfassen, was um sie herum geschieht. Nach der
ersten Kommunion eines Kindes sollte es regelmäßig kommunizie­
ren, möglichst nicht seltener als jeden Sonntag, damit die Kommu­
nion für das Kind kein seltenes Ereignis wird.
In dem Maße, wie ein Kind sich dem Vernunftalter nähert, muss
man ihm anhand ganz einfacher Beispiele die Grundlagen des ortho­
doxen Glaubens erklären. Von frühestem Alter an soll ein Kind
wissen: Im Himmel gibt es einen Gott, Der es sieht und hört, und vor
allem: Der es liebt. Von frühester Kindheit an soll es auf den Ikonen
die Person Jesu Christi erkennen, die Mutter Gottes, die am meisten
verehrten Heiligen, und es soll verstehen, um wen es sich handelt.
Das Evangelium - wenn auch in angepasster Form - soll dem Kind 16

16 Kinder, die regelmäßig kommunizieren, reagieren in der Regel sehr positiv auf die
Atmosphäre der Kirche und auf das Sakrament selbst. Für Kinder hingegen, die
man nur selten zur Kommunion bringt, kann die Kommunion mit Stress verbun­
den sein. Es ist sehr wichtig, dass die Atmosphäre des Kirchenraums und des
Gottesdienstes das Kind nicht erschrecken, sondern ihm im Gegenteil vertraut
und gewohnt sind.
11.7. Kindererzieliung 113

von frühestem Alter an vorgelesen werden, damit es die Worte des


Erlösers tief in sein Bewusstsein aufnehmen kann. Es ist auch nütz­
lich, ihm die Leben der Heiligen und weitere christliche Literatur
vorzulesen.
Kinder, die im Glauben erzogen werden und die Kirche als ihre
geistliche Heimat ansehen, empfangen für ihr ganzes Leben eine
kraftvolle Impfung gegen Unglaube und Laster. Natürlich kann
selbst die vorbildlichste christliche Erziehung nicht hundertprozentig
garantieren, dass ein Mensch, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht,
die Kirche nicht verlässt. Doch werden auch in solchen Fällen die in
der Kindheit gelegten festen Grundlagen des Glaubens weiterhin in
der l iefe der Seele eines Menschen bewahrt bleiben - bis zu dem
Moment, an dem er, gleich dem verlorenen Sohn im Gleichnis des
Evangeliums (Lk 15,11-24), sich an seinen Himmlischen Vater er­
innert und zu Ihm zurückzukehren verlangt.
Die Kindererziehung in einer christlichen Familie muss auf Liebe
aufgebaut sein, nicht auf Zwang oder Nötigung. Ein Kind muss
lernen, frei und selbständig das Gute zu wählen und das Böse zu
verwerfen. Ein verbreiteter Fehler besteht darin, dem Kind das Bild
von einem Gott aufzudrängen, der für Ungehorsam gegenüber den
Eltern und andere Vergehen bestraft. Weit wichtiger ist es, das Kind
zu lehren, Gott zu lieben, Christus zu lieben und auch die Kirche.
Um dies zu erreichen, sollte unbedingt der ganze Komplex erzie­
herischer Methoden in der Familie auf Liebe aufgebaut sein. Ins­
besondere die Liebe - nicht nur aufgrund von Blutsverwandtschaft,
sondern als geistliche, in Gott gründende Liebe - soll alle Familien­
mitglieder zu einer einzigen „Hauskirche“ verbinden.
Die Briefe des Apostels Paulus enthalten einfache Ratschläge, die
sich auf das Familienleben und auf das Verhältnis zwischen Eltern
und Kindern beziehen: „Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem,
denn das ist dem Herrn wohlgefällig!“ (Kol 3,20). „Ihr Kinder, ge­
horcht euren Eltern im Herrn, denn das ist recht! Ehre deinen Vater
und deine Mutter: Das ist ein Hauptgebot mit einer Verheißung:
damit es dir wohl ergehe und du lange lebst auf der Erde. Und ihr
Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der
Zucht und Weisung des Herrn!“ (Eph 6,1-4).
114 Teil II. Die christliche Lebensführung

Diese Anweisungen stellen die Erziehungsform dar, die im Laufe


vieler Jahrhunderte bei verschiedenen Völkern bestand. Doch gegen­
wärtig werden sie in den Gesellschaftsordnungen, in denen an erster
Stelle Freiheit und Unabhängigkeit des Kindes von jeglichen äußeren
Faktoren steht, angefochten. Nicht selten wird Religion ausschließ­
lich als Mittel verstanden, um dem Kind irgendeine Weltanschauung
oder irgendeine moralische Richtlinie aufzuzwingen. Einige bestrei­
ten das Recht der Kirche bei der Erziehung der Kinder und meinen,
dies verletze deren Freiheit.
Das christliche Verständnis von Freiheit
Dabei ist Freiheit einer der Schlüsselbegriffe im Christentum. „Zur
Freiheit seid ihr berufen“, sagt der Apostel Paulus. Doch er fügt
hinzu: „Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch“
(Gal 5,13). Das Christentum versteht Freiheit nicht als Akt der Auf­
lehnung und als Befreiung von sittlichen Normen, sondern im Gegen­
teil als Verwurzelung im Guten und in der Erkenntnis der Wahrheit.
Christus sagte zu Seinen Jüngern: „Ihr werdet die Wahrheit erken­
nen, und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32). Die Erkennt­
nis der Wahrheit, die Verbundenheit mit Gott und mit der Kirche
behindern die Freiheit eines Kindes nicht, sondern geben ihm gerade
i diejenige geistliche Freiheit, die ihm in Kindheit und Jugend hilft,
verderblichen äußeren Einflüssen zu widerstehen und den inneren
Kompass zu bewahren, um nicht vom Weg des Guten abzuweichen.

8. Die Frau in der Kirche


Die christliche Lebensführung zeichnet sich in vielen Aspekten aus
durch ihre radikale Neuheit im Verhältnis zur alttestamentlichen
Moral wie überhaupt zu den Sitten, die in der alten Welt verbreitet
waren. Eines der leuchtendsten Beispiele ist das Verhältnis des
Christentums zur Frau.
Weit verbreitet ist die Auffassung, die Kirche schränke die Rolle
der Frau in Gesellschaft und Familie ein und sei auf den Erhalt einer
veralteten patriarchalen Ordnung aus. Derartige Vorwürfe an die
Adresse der Kirche sind ungerecht.
// 8. Die Frau in der Kirche 115

Gerade in der christlichen Überlieferung spielten Frauen von


Anfang an eine Rolle, die sie in bedeutsamem Maße den Männern
gleichstellt. Der Apostel Paulus schreibt: „Denn ihr alle, die ihr auf
Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr
Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau,
denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,27-28).

Christus und die Frauen


Neben den männlichen Jüngern folgten Jesus namentlich bekannte
Jüngerinnen: „Er wanderte von Stadt zu Stadt und von Dort zu Dorf
und verkündete das Evangelium vom Reich Gottes. Die Zwölf beglei­
teten Ihn und auch einige Frauen, die von bösen Geistern und von
Krankheiten geheilt worden waren: Maria, genannt Magdalena, aus
der sieben Dämonen ausgefahren waren, Johanna, die Frau des Chu-
zas, eines Beamten des Herodes, Susanna und viele andere. Sie unter­
stützten Jesus und die Jünger mit ihrem Vermögen“ (Lk 8,1-3).
In den Erzählungen des Evangeliums spielen Frauen eine wesent­
liche Rolle. Wir sehen Jesus im Gespräch mit der Samariterin (Joh
4,7-26), mit Marta und Maria (Lk 10,38-43, Joh 11,20-32), mit einer
Sünderin (Lk 7,48), mit einer beim Ehebruch ertappten Frau (Joh
8,10-11), mit einer Blutflüssigen (Mt 9,20-22), mit einer kanaanäi-
schen Frau (Mt 15,25-28), mit Maria Magdalena (Joh 20,14-17) und
mit anderen Frauen, die Ihm nachfolgten (Mt 28,9-10).
Frauengestalten, die Jesus nachfolgen, spielen eine wichtige Rolle
in den Erzählungen aller vier Evangelisten über Leiden und Tod
Christi und Seine Auferstehung. Während die Jünger Jesus „verließen
und flohen“ (Mt 26,56), als Er verhaftet wurde, folgten die Frauen
Ihm weiterhin. Sie standen beim Kreuz Jesu (Mt 27,55; Mk 15,40-41),
sie kamen am frühen Morgen des ersten Tages der Woche zu Seinem
Grab, um Seinen Leichnam mit wohlriechenden Ölen zu salben, und
sie wurden als erste gewürdigt, Ihn als Auferstandenen zu sehen (Mt
28,1-10; Mk 16,9-11; Lk 24,1-10; Joh 20,1-18). Gerade von den Jün­
gerinnen erfuhren die Jünger von Christi Auferstehung.
Nach der Auferstehung Christi verharrten die elf Apostel „ein­
mütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und Maria, der Mutter
Jesu, und Seinen Brüdern“ (Apg 1,14). Tod und Auferstehung Jesu
116 Teil II. Ihe christliche Lebensführung

verbanden diejenigen, die mit Ihm im Leben verbunden gewesen


waren, zu einer einzigen Gemeinschaft von etwa 120 Menschen (Apg
1,16). Zu ihr gehörten die Apostel, die leiblichen Verwandten Jesu
einschließlich Seiner Mutter und dieselbe Gruppe von Frauen, die
Ihm schon in Galiläa gedient hatten.
Alle Apostel Christi waren Männer, doch gab es in der Geschichte
der Kirche Frauen, die als „apostelgleich“ verehrt werden (zum Bei­
spiel die heilige Maria Magdalena; die heilige Nino, die Krleuchterin
Georgiens; die heilige Großfürstin Olga). Die apostolische Sukzession
der Hierarchie wurde im Laufe der Jahrhunderte nur in männlicher
Linie weitergegeben, und das Priestertum ist ein männlicher Dienst.
Doch dies bedeutet in keiner Weise eine Einschränkung der Frau. Es
geht nicht um unterschiedliche Rechte, sondern um unterschiedliche
Berufungen.

Der Dienst der Frau in der Kirche


Der Apostel Paulus merkt an: „Es gibt verschiedene Gnadengaben,
aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den
einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den
einen Gott. Er bewirkt alles in allen. Jedem aber wird die Offenba­
rung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.“ Und weiter
erwägt er, dass nicht alle in der Kirche ein und denselben Dienst
haben, sondern „Gott hat in der Kirche die einen erstens als Apostel
eingesetzt, zweitens als Propheten, drittens als Lehrer; ferner verlieh
Er die Kraft, Machttaten zu wirken, sodann die Gaben, Krankheiten
zu heilen, zu helfen, zu leiten, endlich die verschiedenen Arten von
Zungenrede.“ Der Apostel fragt: „Sind etwa alle Apostel, alle Prophe­
ten, alle Lehrer? Haben alle die Kraft, Machttaten zu wirken? Besit­
zen alle die Gabe, Krankheiten zu heilen? Reden alle in Zungen?
Können alle übersetzen?“ (1 Kor 12,4-7.28-30).
Der Dienst der Frauen hat seinen eigenen Platz in der Zahl der
Dienste, auf denen die Existenz des Leibes der Kirche gründet. Die
Frau kann nicht Bischof oder Priester sein, wohl aber Äbtissin eines
Klosters, sie kann einen Kirchenchor leiten, Theologieprofessorin
sein und andere wichtige Verpflichtungen auf sich nehmen, darunter
die Teilnahme an der kirchlichen Leitung.
11.9. Christliches Leben als Weggeistlicher Selbstüberwindung 117

Mutterschaft als einzigartige Berufung der Frau


Ebenso haben nach der I.ehre der Kirche auch in der Familie Männer
und Frauen nicht unterschiedliche Rechte, sondern unterschiedliche
Berufungen. Nur von der Frau heißt es, sie werde „dadurch gerettet
werden, dass sie Kinder zur Welt bringt“ (I Tim 2,15). Das Gebären
und die Erziehung von Kindern sind eine einzigartige Berufung der
Frau. Sicherlich wirkt daran auch der Mann mit, doch auf der Frau
ruht hier eine besondere Verantwortung. Nur die Frau kann Mutter
sein, und diese Berufung in der Familie kann niemand sonst wahr­
nehmen, wobei auch der Vater seine unersetzliche Berufung hat.
Über das Verhältnis der Kirche zur Frau kann man sich ein Urteil
bilden, wenn man sieht, wie hoch die Kirche die Gottesmutter ein-
stuft: Die Hochheilige Gottesmutter ist Mutter Christi und Mutter
der Kirche. In Ihrer Person verehrt die Kirche die Mutterschaft, die
eine unentziehbare Würde und ein Vorrecht der Frau ist.
Das Bild der Mutter mit dem Kind auf dem Arm, das sie zart mit
der Wange an ihre Wange schmiegt - dieses Ideal hält die Orthodoxe
Kirche jeder christlichen Frau vor Augen. Dieses Bild, das sich in
zahllosen Varianten in allen orthodoxen Gotteshäusern findet, ist
von erhabener geistlicher Anziehung und sittlicher Kraft. Und so­
lange die Kirche überhaupt existiert, wird sie die Frau an ihre haupt­
sächliche Berufung erinnern, die Berufung zu Mutterschaft und
Kindererziehung.17

9. Christliches Leben als W eg geistlicher Selbstüberwindung

In der Bergpredigt unterweist der Erlöser die Jünger: „Sammelt euch


nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören

17 Kinderlosigkeit wurde im Alten Testament als „Schmach unter den Menschen“


(Lk 1,25) angesehen: kinderlose Gattinnen betrachtete man als Sünderinnen, denen
Gott zur Strafe für ihre Sünden keine Nachkommenschaft geschenkt hat. Im
Christentum wird Kinderlosigkeit nicht als Strafe Gottes für Sünden angesehen,
und das physische Ungenügen eines oder beider Gatten zur Zeugung von Kindern
ist auf keine Weise ein Grund zur Scheidung. Kinderlose Ehepaare ruft die Kirche
auf, Kinder zu adoptieren.
118 Teil II. Die christliche Lebensführung

und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch


Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und
keine Diebe einbrechen und sie stehlen! Denn wo dein Schatz ist, da
ist auch dein Herz“ (Mt 6,19-21). Damit lehrt Jesus, sich weder an
materiellen Reichtum noch an die Stellung in der Gesellschaft zu
klammern noch an andere weltliche Güter, sondern immer das Him­
melreich zu suchen.
Der Erlöser spricht: „Niemand kann zwei Herren dienen; er wird
entweder den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird zu
dem einen halten und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott
dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24).'" Das Haschen nach irdischen
Gütern, die fieberhafte Suche nach Bereicherung ist mit dem Dienst
für Gott unvereinbar. An erster Stelle in der Hierarchie der Werte
muss Gott stehen; alle weiteren Güter können nur an zweiter Stelle
oder später folgen.
Indem Er seine Jünger unterwies, nicht in irdischen Sorgen unter­
zugehen, erinnert Jesus sie an die gültliche Vorsehung; „Seht euch
die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sam­
meln keine Vorräte in Scheunen; euer Himmlischer Vater ernährt
sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? ... Und was sorgt ihr euch
um eure Kleidung? Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen:
Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst
Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen ...
Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen?
Was sollen wirtrinken? Was sollen wiranziehen? Denn nach alldem
streben die Heiden. Euer Himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles
braucht. Sucht zuerst das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit; dann
wird euch alles andere dazugegeben“ (Mt 6,26-33).
Mit diesen Worten verbietet der Erlöser dem Menschen nicht zu
arbeiten und sich um den Unterhalt für sich und seine Kinder zu
sorgen: Er warnt vor der Versklavung an die Arbeit, vor deren Ver­
wandlung in einen Selbstzweck. Dem Christentum ist das Ideal eines
Menschen fremd, der selbstvergessen all seine Kräfte und seine Ge­
sundheit in irdischer Mühe einsetzt, ohne Ausweg in geistliche Sphä-18

18 „Mammon“ ist ein hebräisches Wort, das „Reichtum“ bedeutet.


II. 9. Christliches Lehen als Weg, geistlicher Selbstüberwindung 119

ren. Sie entwirft ein anderes Ideal, das Ideal eines Menschen, der auf
der Erde lebt, ohne sich von der Hektik und den vielen Sorgen der
irdischen Dinge verschlingen zu lassen, sondern der „das Reich
Gottes und Seine Gerechtigkeit“ sucht, an seinen Himmlischen Vater
denkt und nicht so sehr auf die eigenen Kräfte vertraut als vielmehr
auf die Vorsehung Gottes.
Jesus lehrt: „Geht durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und
breit der Weg, der ins Verderben fuhrt, und es sind viele, die auf ihm
gehen. Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben
führt, und es sind wenige, die ihn finden“ (Mt 7,13-14). Er warnt:
„Wehe der Welt wegen der Ärgernisse! Es muss zwar Ärgernisse
geben; doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt!
Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab
und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das
Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das
ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis
gibt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben zu
kommen, als mit zwei Augen in das Feuer der Hölle geworfen zu
werden“ (Mt 18,7-9).
Das christliche Leben ist ein Weg der geistlichen Selbstüber­
windung und des Kampfes. In diesem Kampf steht der Mensch je­
doch nicht allein. Gott Selbst hilft ihm, Versuchungen und Ärger­
nisse zu überwinden, Laster in sich auszurotten und auf dem Weg
der Tugend zu gehen, wenn der Mensch sich an Ihn um Hilfe wendet
und sich an Sein Versprechen erinnert: „Bittet, und es wird euch
gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch
geöffnet! Denn wer bittet, der empfangt; wer sucht, der findet; und
wer anklopft, dem wird geöffnet“ (Mt 7,7-8).

»»»
Aufgabe
Lesen Sie das Evangelium nach Matthäus und richten Sie besondere
Aufmerksamkeit auf die Kapitel 5-7 (Bergpredigt). Vergleichen Sie Ihr
Leben mit der Lebensgestalt, die Christus gebietet. Stellen Sie sich die
Frage: Wollen Sie so leben, wie Er es geboten hat? Wenn ja, dann sind
Sie auf dem rechten Weg.
I

Teil III
Kirche und Gottesdienst

Im ersten Teil dieses Katechismus haben wir darüber gesprochen,


dass die Kirche zwei Dimensionen hat, die irdische und die himm­
lische.' Zwischen ihnen besteht eine tiefe innere Einheit, wie zwi­
schen Seele und Leib im Menschen. Die himmlische, triumphierende
Kirche offenbart sich durch die irdische, pilgernde Kirche; das Leben
der Kirche auf Erden ist ein Abglanz und eine Ausweitung ihres
Lebens im Himmel. Das Himmelreich ist dank der Kirche bereits für
Menschen auf Erden eine Wirklichkeit.
Jetzt sprechen wir darüber, woraus die himmlische Kirche besteht
und wie die irdische Kirche aufgebaut ist. Wir legen das Minimum
dar, das jeder wissen muss, der den Weg des christlichen Lebens
einschlägt.

1. Die Gottesm utter und die Heiligen

Christen erweisen nicht nur Gott Verehrung, sondern auch den


Engeln und den Heiligen. Die Heiligen sind Menschen, die Gott
nicht einfach nur gefallen haben, sondern eine besondere geistliche
Vollkommenheit erreicht haben, die Heiligkeit genannt wird.
Die Gottesmutter
An erster Stelle in der Versammlung der Heiligen steht die Hochhei­
lige Gottesmutter. Die Kirche verehrt sie als „ehrwürdiger als die
Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim“, das
heißt sie überragt selbst die Engel unvergleichlich an Reinheit und
Heiligkeit.
In der Person der Gottesmutter machte die Menschheit sich auf,
um Gott zu begegnen, Der die Menschen erlösen wollte: Gott gab
den Menschen Seinen Sohn, und die Menschheit gab Gott die Frau,1

1 Siehe oben S. 58.


122 Teil III. Kirche und Gottesdienst

die im höchsten Maße heilig und vollkommen war. Darüber heißt es


in einem der Gesänge zum Fest der Geburt Jesu: „Was sollen wir Dir
darbringen, Christus, dafür dass Du um unseretwillcn auf der Erde
als Mensch erschienen bist? All Deine Geschöpfe bringen Dir etwas
dar, die Engel den Gesang, der Himmel den Stern, die Weisen die
Gaben, die Erde die Höhle, die Wüste die Futterkrippe - wir aber die
jungfräuliche Mutter“.
Viele kirchliche Festtage sind ihr gewidmet, und zu ihrer Ehre
sind zahllose Ikonen „geschrieben“234worden. Die Hochheilige Got­
tesmutter ist Fürsprecherin für das Menschengeschlecht bei ihrem
göttlichen Sohn. Bei jedem Gottesdienst werden ihr Gebete dar­
gebracht, und die Christen glauben, dass sie diese Gebete hört und
beantwortet.

Die Engel
Im Gebet wenden Christen sich auch an die Engel.' Die kirchliche
Lehre teilt die Engelwelt in verschiedene Chöre ein, einschließlich
der Erzengel, der Seraphim und der Cherubim.1 Einige Engel sind
lank ihrer Erwähnung in der Bibel namentlich bekannt, z.B. Gabriel
nd Michael. Jedem Menschen ist von Geburt an ein Schutzengel
eigegeben, der ihm auf dem Weg zu Gott hilft und ihn vor dem
lösen bewahrt.

Die Heiligen
Christen beten zu den Heiligen. Zur Heiligkeit sind alle Christen
berufen, nur wenige aber erreichen sie, „denn viele sind berufen,

2 Ikonen werden in orthodoxer Redeweise nicht „gemalt“, sondern „geschrieben“,


denn sie sind eine Form, um das „Wort Gottes“ sichtbar werden zu lassen. (Anm.
d. Übers.)
3 Von den Engeln war bereits die Rede oben auf S. 17.
4 Spätestens im 5. Jahrhundert entstand die Lehre, nach der die Engelwelt in neun
Chöre eingeteilt ist, die drei Hierarchien zu je drei Chören bilden. Die erste,
höchste und Gott am nächsten stehende Hierarchie bilden die Seraphim, die
Cherubim und die Throne: die zweite Hierarchie die Herrschaften, die Mächte
und die Gewalten: die dritte die Fürsten, die Erzengel und die Engel. Diese Lehre
wurde jedoch nie von der Kirche dogmatisiert.
III. I. Die Gottesmutter und die Heiligen 123

wenige aber auserwählt“ (Mt 22,14). Jemand fragte Jesus: „Herr, sind
es nur wenige, die gerettet werden?“ Jesus antwortete: „Bemüht euch
mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen: denn viele, sage
Ich euch, werden versuchen hineinzukommen, aber es wird ihnen
nicht gelingen“ (Lk 13,23-24).
Die Heiligen sind Menschen, die den „engen“ Weg ausgewählt
haben, der zum ewigen Leben führt. Sie sind auf diesem Weg bis zum
Ende gegangen und sind für Millionen von Christen Vorbilder zur
Nachahmung geworden. Durch ihr Leben und ihre Großtaten haben
sie gezeigt, dass Heiligkeit kein unerreichbares Ideal ist, sondern die
Norm, an der alle Glaubenden sich orientieren sollen. Doch ihre
Großtat haben die Heiligen nicht im Alleingang erreicht. Gott Selbst
hat ihnen geholfen. Auf die Frage „Wer kann dann noch gerettet
werden?“, antwortete der Herr: „Was für Menschen unmöglich ist,
ist für Gott möglich“ (Lk 18,26-27). Manchmal scheint es, als ob die
geistlich-sittlichen Forderungen des Christentums die menschlichen
Kräfte übersteigen. Wie die Heiligen zeigen, verhält es sich nicht so,
und wenn der Mensch nicht nur auf seine eigenen Kräfte hofft, son­
dern an Gott glaubt und auf Seine Hilfe vertraut, dann gilt: „Alles
kann, wer glaubt“ (Mk 9,23).
Im kirchlichen Kalender werden die Heiligen in einige Gruppen
unterteilt, entsprechend ihrer Lebenszeit, den Taten, die sie voll­
bracht haben, und der Würde, die sie innehatten. Man unterscheidet
Heilige der alttestamentlichen Kirche und Heilige, die in der Zeit des
Neuen Testaments erstrahlten.
Zur Zahl der alttestamentlichen Heiligen gehören vor allem die
Gerechten, von denen auf den Seiten der Bibel erzählt wird, etwa
Abraham, Isaak, Jakob, Mose, König David und einige andere. In der
christlichen Kirche werden die Propheten Elija und Elischa verehrt,
von denen die Bibel berichtet, und auch die Propheten, die Bücher
verfasst haben: Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel und die zwölf „klei­
nen Propheten“. Die Kette der alttestamentlichen Heiligen endet mit
Johannes dem Täufer, der an der Schwelle zum Neuen Testament
steht und mit seinem Namen die Liste der christlichen Heiligen
eröffnet (man nennt ihn manchmal den letzten Propheten und den
ersten christlichen Märtyrer).
124 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Die Kirche verehrt die Apostel, die unmittelbaren Jünger Christi,


die von Ihm Selbst zum Dienst erwählt worden sind. Nach den Evan­
gelien hat Jesus zwölf Apostel erwählt (Mt 10,1-5; Mk 3,13-19; Lk
6,13-16), dann weitere siebzig (Lk 10,1 ).5 Von den Zwölf wurde einer
zum Verräter, und nach der Auferstehung Christi wurde Matthias an
seiner Stelle gewählt (Apg 1,15-26). Später hat der Herr Selbst in
wunderbarer Weise Paulus zum Dienst berufen, der bis dahin ein
Verfolger der Kirche war (Apg 9,1-20). Die Apostel Petrus und Pau­
lus werden als „Apostelfürsten“ verehrt, die übrigen Apostel - aus
den Zwölf wie aus den Siebzig - genießen ebenfalls gesamtkirchliche
Verehrung. In besonderer Weise ehrt die Kirche die vier Evangelis­
ten: Matthäus und Johannes, die als Apostel zu den Zwölf gehörten,
und Lukas und Markus als Apostel aus den Siebzig.
Die Verehrung der Märtyrer ist in der Kirche seit ältester Zeit
bekannt. Viele Apostel, darunter Petrus und Paulus, haben ihr Leben
mit dem Märtyrertod beendet. Die ersten drei Jahrhunderte der
christlichen Kirche waren eine Epoche der Verfolgung, in denen das
heldenhafte Martyrium ein Massenphänomen darstellte. Verfolgun­
gen gegen die Kirche traten regelmäßig neu auf, und die neueste
Epoche, das 20. Jahrhundert, gab der Welt eine ganze Schar von
Märtyrern, die ihre Treue zu Christus unter schwersten Prüfungen
und Leiden bezeugten. Zur Zahl der Märtyrer gehören Georg der
Siegträger, Dimitrij von Thessaloniki, Peodor Tiron, deren Namen
viele Christen tragen.
Bekenner heißen diejenigen, die für Christus Qualen erlitten
haben und sie tapfer ertrugen, jedoch am Leben blieben und später
ihren eigenen Tod gestorben sind.
Eine eigene Bezeichnung als heilige Bischöfe tragen Heilige, die
eine hierarchische (bischöfliche) Würde innehatten. Zu ihrer Zahl
gehören insbesondere Nikolaus von Myra, auch Nikolaus der W un­
dertäter genannt, der im 4. Jahrhundert lebte, sowie seine Zeitgenos­
sen Athanasius von Alexandrien, Basilius der Große, Gregor von

5 Die orthodoxe Tradition folgt den Textzeugnissen, die siebzig Jünger nennen,
während westkirchliche Bibelausgaben sich auf die Zeugnisse stützen, die von
zweiundsiebzig Jüngern sprechen. [Anm. d. Übers.)
III. I. Die Gottesmutter und die Heiligen 125

Nazianz, Johannes Chrysostomus und viele andere Heilige in den


folgenden Jahrhunderten. Bischöfe und Priester, deren Leben mit
dem Martyrium geendet hat, werden Hieromärtyrer genannt.
Ehrwürdige nennt man Heilige, die Mönche waren und durch
ein heroisches Leben berühmt wurden, durch ihre Weitsicht und ihre
Wunder, aber auch durch andere geisüiche Gaben. Zu dieser Gruppe
gehören die Gründer des Mönchtums: Antonius, Pachomius, Maka-
rios und Hilarion, jeweils „der Große“ genannt, die im 4. Jahrhun­
dert lebten, sowie die Gründer des russischen Mönchtums Antonij
und Feodosij von Petschersk (11. Jh.) und Heilige späterer Zeit wie
Sergij von Radonezh, Serafim von Sarov und Siluan vom Berge Athos.
Diejenigen unter ihnen, die ihr Leben als Märtyrer beendet haben,
werden Ehrwürdige Märtyer genannt.
Narren in Christus oder „Glückselige“ nennt man Heilige, die in
ihrem Leben einen besonderen Heroismus gezeigt haben, indem sie
den Anschein der Torheit auf sich nahmen, um sich Kränkungen
und Schmähungen von Seiten der Menschen auszusetzen. Unter
diesem Anschein verbargen sich oft große geisüiche Gaben, darunter
die Gabe der Prophetie. Besonders bekannt wurde der byzantinische
Narr in Christus Andreas, mit dessen Namen die Einführung des
Festes „Schutz der Hochheiligen Gottesmutter“ verbunden ist.6 Der
bekannteste russische Narr in Christus ist Basilius der Glückselige,
dessen Namen die berühmte Kathedrale auf dem Roten Platz in
Moskau trägt. Großer Verehrung erfreut sich die glückselige Xenia
von St. Petersburg.7
Unter den Heiligen finden sich nicht wenige Zaren und Zarin­
nen und Ehepaare von Fürstinnen und Fürsten. Einige von ihnen
werden verehrt für ihre persönliche Heiligkeit, einige für die W ohl­
taten, die sie der Kirche erwiesen haben. Dazu gehört zum Beispiel

6 Zu diesem Fest vgl. unten S. 148.


7 Die Bezeichnung „glückselig" wird manchmal auch fiir Heilige verwandt, die nicht
„Narren in Christus“ waren, etwa fiir einige bekannte Theologen der Zeit der
Ökumenischen Konzilien (der glückselige Augustinus und der glückselige Hiero­
nymus im Westen, der glückselige Theodoret von Kyrrhos im Osten). „Glückselig“
nennt man auch die heilige Matrona von Moskau, für die das Narrentum in
Christus nicht bestimmend war.
126 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Kaiser Konstantin der Große (4. Jh.), der vor allem verehrt wird, weil
durch ihn die Kirche nach drei Jahrhunderten der Verfolgung die
Freiheit erlangt hat. Der heilige Großfürst Vladimir von Kiev wird
verehrt, weil er der Rus’8 die Taufe gebracht hat. Beide erwähnte
Heilige werden als „apostelgleich“ verehrt: Die Kirche vergleicht auf
diese Weise deren Großtat mit dem Dienst der Apostel.
Heilige Dulder werden Heilige genannt, die nicht das Martyrium
für Christus erlitten haben, Ihm jedoch durch das geduldige Ertragen
von Leiden und Tot ähnlich geworden sind. Zu der Gruppe der
Dulder werden insbesondere die heiligen getreuen Fürsten Boris und
Gleb (11. Jh.) gezählt. „Kaiserliche Dulder“ werden der letzte russi­
sche Zar Nikolai II., seine Frau und seine Kinder genannt, die im
Jahre 1918 erschossen wurden.
In das Himmelreich gelangt, sind die Heiligen bei Gott in ewiger
Glückseligkeit. Doch sie vergessen nicht ihre irdischen Brüder und
Schwestern, hören deren Gebete, kommen ihnen zu Hilfe und treten
für sie vor Gott ein.

Die Reliquien der Heiligen


Als Reliquien bezeichnet man die Gebeine von Heiligen. Nicht selten
bleiben die Leiber der Heiligen für viele Jahre oder sogar Jahrhunderte
unverwest (obwohl Unverwestheit keineswegs als notwendiges
Merkmal der Heiligkeit gilt, wie auch die Heiligkeit nicht unbedingt
die Unverwestheit zur Folge hat).
Die Reliquien der Heiligen werden unabhängig vom Grad ihrer
Erhaltung als heilig angesehen: Die Gläubigen küssen sie ehrerbietig
und bitten die Heiligen um Hilfe und Heilung in Krankheiten.
Grundlage für diese Verehrung ist der Glaube daran, dass die von
den Heiligen erlangte Gnade nicht nur deren Geist, sondern auch
den Leib erneuerte.

8 „Rus" ist eine historische Bezeichnung für einen Stamm oder ein Herrschafts­
gebiet, aus dem die christlichen Slawen hervorgegangen sind und das etymolo­
gisch die Wurzel des Namens „Russland“ bildet. Der Patriarch der Russischen
Orthodoxen Kirche trägt bis heute den Titel „Patriarch von Moskau und der
ganzen Rus". [Anm. d. Übers.]
III. 1. Die Gottesmutter und die Heiligen 127

Die Reliquien vieler Heiliger sind ganz erhalten und ruhen in den
Kirchen der Orte, an denen diese Heiligen ihr großartiges Leben
gelebt oder vollendet haben. Von einigen Reliquien werden Partikel
entnommen zur Weitergabe an andere Orte und Kirchen.

Der himmlische Patron


Bei der Taufe erhält der Mensch den Namen eines bestimmten Heili­
gen. In der Regel entspricht dieser Name seinem bürgerlichen Na­
men, doch in einigen Fällen kann man davon abweichen.
Der Heilige, dessen Name dem Menschen im Sakrament der Taufe
gegeben wurde, ist sein himmlischer Schutzpatron. Diesen Heiligen
darf man nicht mit dem Schutzengel verwechseln, den Gott Selbst
jedem Menschen zur Seite stellt. Der Gedenktag dieses Heiligen wird
manchmal in der Umgangssprache „Tag des Engels“ genannt, doch
der kirchliche Ausdruck lautet „Tag der Namensgebung“.

Die Verehrung der Heiligen in der Orthodoxen Kirche


Manchmal wirft man der Orthodoxen Kirche vor, sie verstehe die
Heiligen als Mittler zwischen den Menschen und Gott, während man
sich doch ohne Mittler an Gott wenden kann. Das sind natürlich
haltlose und unbegründete Vorwürfe. Die Kirche erkennt die un­
mittelbare Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott an. Mehr noch, sie
betrachtet diese Erfahrung als Grundlage des geistlichen Lebens eines
jeden Christen. Der wesentliche Teil der Gebete, die von orthodoxen
Christen in der Kirche oder zu Hause emporsteigen, sind an Gott
gerichtet. Doch dabei betet der Christ auch zur Gottesmutter und zu
den Heiligen.
Für den orthodoxen Christen sind die Heiligen lebendige Träger
des wahren Christentums, deren Leben als hohes sittliches Beispiel
dient. Außerdem glaubt die Kirche, dass die Heiligen auch nach dem
Tod weiterhin in ihr leben, und gerade in diesem Glauben an deren
lebendige Gegenwart gründet die betende Gemeinschaft mit ihnen.
128 Teil III. Kirche und Gottesdienst

2. Das Gebet

Gebet ist vor allem Gemeinschaft mit Gott. Seiner Form nach ist das
Gebet ein Gespräch, eine Unterredung. Hs findet seinen Ausdruck in
worthafter Weise.
Gebet ist immer ein Dialog: Es umfasst nicht nur die Worte, die
der Glaubende an Gott richtet, sondern auch die Antwort Gottes.
Das Gebet ist keine Einbahnstraße, es ist die Bewegung von Gott und
Mensch aufeinander zu.
Auf Gott hören, Ihn als Vater empfinden, Seine Gegenwart im
eigenen Leben spüren - dies ist das eigentliche Ziel des Gebets. Die
Antwort Gottes auf das Gebet kann in ganz verschiedenen Formen
erfolgen, doch niemals bleibt ein aufrichtiges und von Herzen kom­
mendes Gebet eines Christen ohne Antwort.

Das Gebet des Herrn


Jesus Christus lehrte Seine Jünger, Gott „Vater“ zu nennen und zu
Ihm mit folgenden Worten zu beten (vgl. Mt 6,9-13):
Vater unser im Himmel, Vater unser,
der Du bist in den Himmeln,
geheiligt werde Dein Name, geheiligt werde Dein Name,
Deine Reich komme. Dein Königtum komme,
Dein Wille geschehe, Dein Wille geschehe
wie im Himmel, so auf Erden. wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute. Unser notwendiges Brot gib uns heute
Und vergib uns unsere Schuld, und vergib uns unsere Schulden,
wie auch wir vergeben unseren wie auch wir vergeben unseren
Schuldigem. Schuldigem,
Undführe uns nicht in Versuchung, undführe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen. sondern erlöse uns von dem Bösen.

Dieses Gebet hat in der christlichen Kirche den Namen „Gebet des
Herrn“ erhalten.9 Es wird in allen grundlegenden Gottesdiensten

9 ln der linken Spalte ist die im Westen gebräuchliche Fassung des Gebetes abge­
druckt, in der rechten Spalte die Übersetzung der „Orthodoxen Bischofskonferenz
in Deutschland“. In der westlichen Tradition wird oft der Lobpreis angefugt:
111.2. Das Gebe1 129

gebetet (oder gesungen), und die Christen wenden sich in ihrem


Gebet zu Hause täglich mit diesen Worten an Gott.
Die ersten drei Bitten des Gebetes sind von dem Fürwort „Du“
geprägt, die folgenden drei Bitten von dem Fürwort „Wir“. Indem
wir uns an Gott den Vater wenden, bitten wir im Gebet des Herrn:
Sein Name, der seiner Natur nach heilig ist, möge unter uns geheiligt
(das heißt verherrlicht) werden. Sein Reich werde Wirklichkeit in
unserem Leben. Sein Wille möge unter uns erfüllt werden, wie er in
der Welt der F.ngel erfüllt wird. Wir bitten Gott um die notwendige
tägliche Nahrung, bitten um Vergebung der Sünden, Befreiung aus
Versuchungen und aus der Macht des Teufels.

Wie betet man richtig?


Manchmal sagen Menschen: „Ich bete nicht, weil ich nicht beten
kann.“ Oder: „Ich bete nicht, weil ich die kirchenslawische Sprache
nicht beherrsche.“ Doch um zu Gott zu beten, braucht man in Wirk­
lichkeit gar keine andere Sprache zu kennen als diejenige, in der wir
sprechen und denken. In der Tat wird in der Russischen Kirche für
den Gottesdienst eine besondere liturgische Sprache verwendet, doch
für das Gebet zu Hause ist das überhaupt nicht verpflichtend. Mit
Gott kann man in Verbindung treten wie mit Eltern, Kindern, Nahe­
stehenden, Freunden. Die Hauptsache ist, dass das Gebet aufrichtig
und ehrfürchtig ist und von Herzen kommt.
Beten kann man an jedem Ort und zu jeder Zeit. In der gewohn­
ten Umgebung zu Hause, aber auch in der Kirche betet ein Christ
stehend, den Blick auf Ikonen gerichtet. Das Gebet wird durch das
Kreuzzeichen begleitet. Dafür werden drei Finger der rechten Hand
(Daumen, Zeige- und Mittelfinger) miteinander verbunden, und
zwei (Ringfinger und kleiner Finger) werden zur Handfläche ge­
beugt, und der Betende berührt sich mit der rechten Hand der Reihe

„Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“
| Anm. d. Obers.]. Beim Gebet durch einen orthodoxen Laien wird dieser Lobpreis
in der Regel weggelassen; beim Vortrag des Gebetes durch einen Priester lautet e r
„Denn Dein ist das Königtum und die Macht und die Herrlichkeit, des Vaters und
des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzt und immerdar und in die Ewigkeit der
Ewigkeit. Amen.“
130 Teil III Kirche und Gottesdienst

nach an der Stirn, der Brust und der rechten und linken Schulter.10
Unter besonderen Umständen kann man auch sitzend (z.B. in öffent­
lichen Verkehrsmitteln) und sogar liegend beten (zum Beispiel wenn
jemand aus Krankheitsgründen an das Bett gefesselt ist). Dabei kann
man sich der äußeren Zeichen des Gebets sogar ganz enthalten und,
ohne den Mund zu öffnen, in seinem Inneren allein mit Verstand
und Herz beten.

Das lesusgebet
In der orthodoxen Überlieferung ist seit alten Zeiten das Jesusgebet
in Gebrauch. Es existiert in einer vollen Form: „Herr Jesus Christus,
Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder (Sünderin)“, wie auch in
abgekürzten Varianten, zum Beispiel: „Herr Jesus Christus, Sohn
Gottes, erbarme Dich meiner!“. „Sohn Gottes, erbarme Dich meiner!“
Ein solches Gebet, oder gar das noch kürzere „Herr erbarme Dich“
(wie es oft im Gottesdienst erklingt) kann man für sich Vorbringen.
Das ständige Vorbringen eines solchen Gebets verhilft dem Men­
schen dazu, auch nicht für eine Minute Gott zu vergessen.
Der Apostel Paulus ruft uns auf: „Freut euch zu jeder Zeit. Betet
ohne Unterlass. Dankt für alles“ (1 Thess 5,16-18). In diesen Worten
ist das christliche Leben beschrieben: erstens als erfüllt von ständiger
Freude durch die Empfindung der Gegenwart Gottes; zweitens ist
der Christ dazu aufgerufen, ständig zu beten und nicht nur zeit­
weise, und gerade dieses Ideal findet seine Erfüllung in der Praxis des
Jesusgebetes; drittens ist der Christ berufen, Gott für alles zu danken,
nicht nur für Glück, Erfolg und Freude, sondern auch für Kummer
und Leid, die Gott dem Menschen zur Erprobung seines Glaubens
und seiner Geduld sendet.

Dankgebet, Reuegebet und Bittgebet


Je nach seinem Inhalt kann das Gebet ein Dankgebet, ein Reuegebet
oder ein Bittgebet sein.

10 In der Tradition des alten Ritus, der in den altgläubigen Pfarreien innerhalb der
Orthodoxen Kirche verwendet wird, werden zwei Finger (Zeigefinger und Mittel­
finger) zusammengelegt, während der Daumen sich zu Ringfinger und kleinem
Finger beugt.
111.2. Das Gebet 131

Sehr oft schreibt der Mensch seinen eigenen Fähigkeiten und


Mühen die Erfolge zu, die er ohne Gottes Hilfe nicht erreicht hätte.
Häufig sieht er hinter den Ereignissen seines Lebens nicht Gott, Der
unablässig für ihn Sorge trägt. Es ist sehr wichtig, dass wir Gott für
Seine Wohltaten danken können und lernen, Seine Teilnahme an
unserem Leben zu sehen.
Viele Gebete, die von Heiligen verfasst worden sind, haben Buß­
charakter. Immer beim Schlafengehen ist ein Christ dazu aufgeru­
fen, sich an den vergangenen Tag zu erinnern und Gott um Ver­
gebung für die begangenen Fehler zu bitten. Bei der ersten passenden
Gelegenheit muss man diese Fehler in der Beichte bekennen.
Das Bittgebet kann einen höchst verschiedenen Inhalt haben.
Man kann für sich selbst bei Gott Hilfe erbitten für das geistliche
Leben, aber auch in materiellen Nöten verschiedener Art. Man
braucht sich nicht zu schämen, sich an Gott auch mit den unbedeu­
tendsten Bitten zu wenden. Das Gebet darf jedoch nicht nur als
Mittel zur Erreichung irgendwelcher materieller Güter angesehen
werden. Wichtig im Gebet ist nicht nur das unmittelbare Ergebnis im
Hinblick auf die Erreichung bestimmter Güter. Wichtig im Gebet ist
die Tatsache selbst, dass der Mensch vor Gott steht und Gemein­
schaft mit Gott hat.

Das Gebet fü r andere


Der Christ ist aufgerufen, nicht nur für sich selbst zu beten, sondern
auch für seine Nächsten: Eltern, Kinder, Verwandte, Nahestehende,
Arbeitskollegen, Vorgesetzte und Untergebene. Die Geschichte der
Kirche kennt viele Fälle, in denen das Gebet einer Mutter ihre Kinder
vor dem Tod bewahrt hat, in denen eine Frau ihren schwerkranken
Mann „zurückbeten“ konnte, den die Ärzte bereits aufgegeben hat­
ten. Das Gebet für Nahestehende ist ein wirkliches Mittel, ihnen
Hilfe zu erweisen, und eines der guten Werke ihnen gegenüber, die
vom Menschen keinerlei materiellen Aufwand fordern, sondern nur
eine gute, von Herzen kommende Zuwendung.
Jesus Christus ruft Seine Jünger auf, nicht nur für Nahestehende
zu beten, sondern auch für Beleidiger und Verfolger (Mt 5,43-44).
Das Gebet ist die universale Antwort auf menschliche Bosheit, Hass
132 Teil III Kirche und Gottesdienst

und Feindschaft. Sehr häufig denken die Menschen, dass man das
Böse nur im Gegenzug durch Böses besiegen kann. Christus lehrt
jedoch anderes: Auch das Gebet ist ein machtvolles Mittel, um über
das Böse zu siegen, ja dank dem Gebet für die Feinde kann man in
seinem Herzen Feindschaft und Hass gegen sie überwinden, und dies
ist bereits eine wichtige Etappe auf dem Weg zu Versöhnung.
Christen beten nicht nur für Lebende, sondern auch für die Ver­
storbenen. Ein solches Gebet ist vor allem wichtig für diejenigen, die
bereits in die andere Welt hinübergegangen sind und deren Schicksal
nach dem Tod von Gott entschieden wird. Jeder Mensch auf dieser
Erde ist durch Bande der Verwandschaft, der Liebe, der Freundschaft
oder der beruflichen Gemeinschaft mit anderen Menschen verbun­
den. Und wie wir mit den uns Nahestehenden im Leben mitfühlen,
so sollen wir mit ihnen auch mitfühlen, wenn sie von uns gehen.
Das Gebet für die Verstorbenen ist außerdem wichtig für uns
selbst, die wir noch auf dieser Erde Zurückbleiben. Es hilft uns, über
den Verlust eines nahen Menschen hinwegzukommen und die Ver­
bindung mit ihm nicht zu verlieren, die in Fülle wiederhergestellt
werden wird, wenn wir selbst in die Ewigkeit hinübergehen.

Das Gebet darf nicht zur Schau gestellt werden


Der Herr Jesus Christus sagt zu seinen Jüngern: „Wenn ihr betet,
macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in
die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten
gesehen werden. Amen, Ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits
erhalten. Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die
Tür zu; dann bete zu deinem Vater, Der im Verborgenen ist! Dein
Vater, Der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Wenn
ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie
werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie
sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr Ihn bittet“
(Mt 6,5-8).
Der Rat, im Gebet nicht viele Worte zu machen, bedeutet durch­
aus nicht, dass ein Gebet nicht lange dauern darf. Jesus Selbst hat
manchmal ganze Nächte im Gebet verbracht (Mt 18,22-25; Lk 6,12),
und die ersten christlichen Gebetsversammlungen haben sich eben­
II1.2. Das Gebet 133

falls nicht selten vom Abend bis zum Morgen hingezogen (Apg 20,
7-11). In den Worten des Erlösers geht es darum, im Gebet über­
flüssige Worte zu vermeiden und sich auf das Wesentliche zu be­
schränken.
Wenn der Herr daran erinnert, dass das Gebet nicht heuchlerisch
oder demonstrativ sein darf, verweist Er gleichzeitig auf die Allwissen­
heit Gottes: Gott weiß im voraus alles, worum wir Ihn bitten könnten.

Warum ist es notwendig zu beten?


Manchmal fragt man: Warum beten, wenn Gott ohnehin alles weiß,
was wir Ihm sagen wollen? Wir beten nicht, um Gott etwas mit­
zuteilen, das Er nicht weiß. Wir beten, um mit Ihm zu teilen, was für
uns wichtig oder schmerzlich ist. Und Gott hört immer unsere Bit­
ten. Das Leben eines Menschen umschließt nicht nur den Willen
Gottes, sondern auch das, was der Mensch selbst wünscht und von
Gott erbittet. Letzten Endes ist das Leben Frucht gemeinsamer Krea­
tivität von Mensch und Gott.
Das Ziel des Lebens eines Christen besteht darin, dass sein per­
sönlicher menschlicher Wille vollständig mit dem göttlichen Willen
vereint ist. Deshalb drückt die Bitte „Dein Wille geschehe“ die Hal­
tung aus, von der jegliches Gebet durchdrungen sein muss. Wir
können Gott um alles bitten, was wir wollen, doch letzten Endes
sollen wir uns dem Willen Gottes anvertrauen und daran denken,
dass Gott besser weiß als wir selbst, was für uns notwendig ist.
Gerade aus diesem Grunde empfängt der Mensch manchmal
nicht von Gott, um was er Ihn bittet. Wenn wir beten, das Erbetene
aber nicht empfangen, bedeutet das nicht, dass Gott uns nicht hört.
Er hört, entscheidet jedoch anders. Das Vertrauen auf Gott hilft uns
unter anderem, selbst das Schweigen Gottes zu ertragen, wenn es uns
so scheint, als wolle Gott uns nicht entgegenkommen. Wie Eltern, die
auf die Bitten ihrer Kinder hören, doch nicht immer darauf einge-
hen, so hört Gott uns immer, doch nicht immer antwortet Er genau
so, wie wir es erhoffen.
In der Gemeinschaft mit Gott müssen wir unter anderem für
Überraschungen wie auch für Enttäuschungen bereit sein. Grund
dieser Enttäuschungen ist jedoch nicht die Unfähigkeit Gottes, unsere
134 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Bitte zu erfüllen, sondern unsere Unlust zu verstehen: Wenn Gott


unsere Bitte nicht erfüllt hat, dann weil es so sein soll, und das bedeu­
tet: Es ist Sein heiliger Wille.

3. Das kirchliche Leben

Das Wort „Kirche“ wird sowohl verwendet für die eine, heilige,
katholische und apostolische Kirche als auch für das konkrete Ge­
bäude einer christlichen Kirche.

Das kirchliche Leben


Sehr häufig beschränkt sich die Vertrautheit der Menschen mit der
Kirche als Gotteshaus auf Besuche zu besonderen Ereignissen: zur
Taufe eines Kindes, zum Totengebet für einen verstorbenen Ver­
wandten, um ein Moleben" für einen Schwerkranken zu bestellen,
eine Kerze vor den Examina aufzustellen usw. All dies ist an und für
sich wichtig, doch die Teilnahme am kirchlichen Leben sollte sich
darin nicht erschöpfen.
Kirchliches Leben setzt die regelmäßige Teilnahme an den Gottes­
diensten und den Empfang der Heiligen Geheimnisse von Leib und
Blut Christi voraus, zumindest an den großen Festen und an den
Sonntagen. Das Leben eines orthodoxen Christen folgt nicht nur
dem Kalender weltlicher Feier- und Werktage, der Ereignisse des
persönlichen, beruflichen und familiären Lebens, sondern auch dem
kirchlichen Kalender. Und das Gotteshaus ist für ihn nicht einfach
ein Ort, auf den er ab und zu am Weg zur Arbeit oder von der Arbeit
flüchtig schaut oder wo er sich nur bei besonderen Anlässen zeigt. Es
ist vielmehr der Ort, zu dem er sich regelmäßig begibt, um Gott zu
begegnen und den Kontakt mit anderen Gliedern der kirchlichen
Gemeinschaft zu pflegen.1

11 „Moleben" ist die Bezeichnung für einen FUrbittgoltesdienst, der in Anliegen


einzelner Gläubiger gefeiert werden kann. [Anm. d. Übers.l
111.4. Das orthodoxe Gotteshaus 135

Liebe zum Gotteshaus


In den Psalmen heißt es: „Eines habe ich vom Herrn erfragt, dieses
erbitte ich: im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens;
die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und nachzusinnen in Sei­
nem heiligen Tempel“ (Ps 26 [27],4). Diese Worte drücken die Ge­
fühle der Seele aus, die Gott liebt und nach Gemeinschaft mit Ihm
trachtet.
Das Gotteshaus ist die Wohnstatt Gottes: „Der Herr ist in Sei­
nem heiligen Tempel“ (Hab 2,20). In das Gotteshaus geht man nicht,
weil es so „vorgeschrieben ist“ oder weil „es sich so gehört“. Weder
Christus noch die Kirche fordern irgendetwas von irgendjemandem.
Der natürliche Zustand der Seele eines Christen ist das Verlangen
nach dem Gotteshaus, die Liebe zum Gottesdienst und zum Gebet.
Ähnlich wie der alte Psalmsänger, der sagt: „Ich freute mich, als man
mir sagte: Zum Hause des Herrn wollen wir gehen“ (Ps 121 [122],1),
freut sich der Christ, wenn er den Ton der Glocke hört, die den
Beginn des kirchlichen Gottesdienstes verkündet, und gern legt er die
gewöhnlichen irdischen Dinge zur Seite, um in die Kirche zu gehen.

4. D as orthodoxe Gotteshaus

Das orthodoxe Gotteshaus ist der Ort, an dem der Gottesdienst


stattfindet, wo man sich mit Gott verbindet durch das Gebet und die
Sakramente der Kirche.

Architektonische Besonderheiten eines orthodoxen Gotteshauses


Die Kirchen sind aus Holz, aus Stein oder aus anderen Materialien
erbaut. Sie können sich im Aussehen stark voneinander unterschei­
den, doch die Architektur aller orthodoxen Kirchen hat etwas ge­
meinsam: Sie sind gekrönt mit einer Kuppel mit einem Kreuz (oder
mehreren Kuppeln und Kreuzen). Eine orthodoxe Kirche ist fast
immer von gewöhnlichen Gebäuden unterscheidbar, die nicht dem
Kult dienen. An manche Kirchen ist ein Glockenturm angebaut.
In allen orthodoxen Kirchen mit sehr seltenen Ausnahmen ist der
Altar nach Osten ausgerichtet. Das hat einen tiefen Sinn. D er Osten
136 Teil III. Kirche und Gottesdienst

symbolisiert Christus, der in den theologischen und liturgischen


Texten „Sonne der Gerechtigkeit“ genannt wird und „Aufgang aus
der Höhe“.
Im Inneren hat die Kirche in der Regel drei Teile: den Altarraum,
den eigentlichen Kirchenraum und den Vorraum. Manchmal ist der
Vorraum von dem Hauptteil der Kirche architektonisch nicht eigens
abgegrenzt. Hingegen ist der Übergang zwischen dem Altarraum
und dem übrigen Kirchenraum immer durch eine klare Unterteilung
gekennzeichnet, meistens in Horm einer Ikonostase.

Die Ikonostase
Die Ikonostase ist eine Wand mit Ikonen. Die Ikonostasen haben
entweder eine oder mehrere „Reihen“. Eine einstöckige Ikonostase
besteht aus nur einer Reihe von Ikonen. In der Mitte findet sich die
„Königstür“, die außerhalb der Gottesdienste geschlossen bleibt und
zu bestimmten Momenten des Gottesdienstes geöffnet wird. Rechts
von der Königstür befindet sich eine Ikone |esu Christi, links eine
Ikone der Allerheiligsten Gottesmutter. Weiterhin können in dieser
Reihe (man nennt sie die „Ortsreihe“) die Ikone des Heiligen oder
des Festgeheimnisses angebracht sein, dem die Kirche geweiht ist,
sowie andere für diese Kirche bedeutsame Ikonen. Außer der „Kö­
nigstür“ befinden sich in der unteren Reihe der Ikonostase die nörd­
liche (links) und die südliche Tür (rechts). Sie dienen als Zugang zum
Altarraum während der Gottesdienste und darüber hinaus.
Wenn die Ikonostase mehrstöckig ist, können im zweiten Rang
der Erlöser, die Gottesmutter, Johannes der Vorläufer und die Apo­
stel dargestellt sein (die sogenannte „Fürbittreihe“'2), im dritten Rang
grundlegende kirchliche Festtage („Festtagsreihe“), im vierten Rang
Propheten („Prophetenreihe“) und im fünften Rang alttestament-
liche Gerechte („Patriarchenreihe“).12

12 Nach dem griechischen Wort öäqotc, das „Fürbitte" bedeutet, bildet das Zentrum
dieser Reihe die „Deesis“. Mit diesem Wort wird eine Darstellung bezeichnet, in
deren Mitte der Erlöser steht, zur Rechten die Gottesmutter, zur Linken Johannes
der Täufer.
111.4. Das orthodoxe Gotteshaus 137

Die Thematik der Ikonen auf den Ikonostasen der verschiedenen


Kirchen variiert, doch insgesamt ist der Sinn der Ikonostase überall
derselbe: Die Ikonostase ist nicht einfach eine Abtrennung zwischen
dem Altarraum und dem eigentlichen Kirchenraum, sondern das
Fenster zur anderen Welt. Durch sie schauen auf uns aus der Ewig­
keit die Gesichter des Erlösers, der Gottesmutter und der Heiligen.

Der Altarraum und seine Bestandteile


Der Altarraum ist vor allem für die Hierarchen (Bischöfe, Priester,
Diakone) und die Kirchendiener (Leser, Hypodiakone, Altardiener)
bestimmt, die am Gottesdienst mitwirken. In den Altarraum dürfen
nur diejenigen Personen eintreten, die dafür den Segen haben. Den
Altar berühren oder vor ihm stehen dürfen jedoch nur Mitglieder der
Hierarchie.
Altar heißt der Tisch13, der in der Mitte des Altarraums steht. Vor
ihm steht der Priester während des Gottesdienstes, auf ihn werden
die Heiligen Gaben von Brot und Wein gelegt, die für die Eucharistie
bestimmt sind. Auf dem Altar liegt das Evangelienbuch, das zu be­
stimmten Momenten des Gottesdienstes aus dem Altarraum heraus­
getragen wird, damit die Gläubigen es verehren. Ebenfalls auf dem
Altar liegt das Antimins, ein spezielles Tuch, auf dem die Unter­
schrift des Bischofs steht (die Unterschrift bezeugt, dass diese Kirche
zu einer konkreten Diözese gehört und dass die Priester dieser Kir­
che den Segen des Bischofs für die Feier von Gottesdiensten haben).
Nach der Gewohnheit der Russischen Kirche ist in das Antimins ein
Teilchen der Reliquie eines Märtyrers odereines Heiligen eingenäht.
Das erinnert an die alte Tradition, die Liturgie auf den Gräbern der
Märtyrer zu feiern. Diese Tradition findet auch darin Ausdruck, dass
ein Teilchen der Reliquie eines Märtyrers oder eines Heiligen in den
Altar selbst bei dessen Weihe eingefügt wird.
Links vom Altar steht ein Rüsttisch, auf dem der Priester Brot
und Wein für die Eucharistie vorbereitet.
Hinter dem Altar (manchmal auf dem Altar) befindet sich ein
siebenarm iger Leuchter, ein Leuchter mit sieben Lampen. Er

13 Gewöhnlich in der Form eines Kubus oder eines Quaders.


138 Teil III. Kirche und Ciottesdienst

erinnert an eines der zur alttestamentlichen Stiftshütte gehörigen


Geräte (Ex 25,31 -37)u, das in der Folge auch zu einer der Gerätschaf­
ten des Jerusalemer Tempels wurde.

Der zentrale Teil des Gotteshauses


Vor der Ikonostase befindet sich die Solea, eine Erhöhung, auf die
während des Gottesdienstes die Hierarchen treten. Der Mittelteil der
Solea heißt Ambo; von hier aus trägt der Priester das Evangelium
vor. An den Rändern der Solea liegen die Chorräume (Kliros), wo
sich während des Gottesdienstes die Sänger aufstellen.
Die Wände der Kirche können mit Fresken geschmückt sein, auf
denen verschiedene Ereignisse der I leilsgeschichte des Alten und des
Neuen Testaments dargestellt sind, Szenen aus dem Leben der Heili­
gen oder Bilder der Heiligen. Das Thema der Fresken hat gewöhnlich
einen Bezug zu dem Ereignis oder dem Heiligen, dem die Kirche
geweiht ist. Die Darstellungen auf den Fresken sind wie auf der Iko­
nostase in Reihen angeordnet.
Neben dem zentralen Allarraum kann es in der Kirche seitliche
Altarräume geben, die entweder auf einer Linie mit dem Flaupt-
altarraum angeordnet sind oder als separate Räume innerhalb des
eigentlichen Kirchenraumes gestaltet sind. Manchmal spricht man
von Haupt- und Nebenaltären.
Die Architektur und die Innenausstattung der Kirche sollen den
Gläubigen an die unsichtbare Welt erinnern, die jenseits der Grenzen
der sichtbaren Welt liegt. In der Epoche, in der sich die christliche
Architektur und die liturgische Ästhetik entwickelten, konnten viele
Gläubige nicht lesen, und die Darstellungen an den Wänden und auf
den Ikonen wurden als „Evangelium für Analphabeten“ verstanden.
A uf sie konnte der Priester verweisen, wenn er über irgendeinen
Heiligen oder ein Ereignis der Heilsgeschichte predigte. Heute kön­
nen alle lesen, aber deshalb haben doch die heiligen Darstellungen in
der Kirche ihre Bedeutung nicht verloren.14

14 Die Stiftshütte (das Zeltheiligtum) war ein tragbares Heiligtum, das im alten Israel
bis zum Bau des Jerusalemer Tempels verwendet wurde.
II 1.5. Ikonen und Kreuz 139

5. Ikonen und Kreuz

Gott ist Seiner Natur nach Geist (Joh 4,24), und Er ist unsichtbar.
Das entscheidende Ereignis der christlichen Geschichte war jedoch
die Menschwerdung Gottes, das Kommen Gottes in die Welt im
menschlichen Fleisch, ln der Menschwerdung ist „das Wort Fleisch
geworden“ (Joh 1,14), und im Angesicht des Gottessohnes Jesus
Christus erblicken Menschen das geheimnisvolle und unsichtbare
Angesicht Gottes.
Auf genau dieser Wahrheit gründen Theorie und Praxis des
„Schreibens“ von Ikonen. Der unsichtbare Gott lässt sich nicht dar­
stellen, doch kann man all das darstellen, was sich den Menschen in
sichtbarer Gestalt gezeigt hat. Folglich ist es möglich, Jesus Christus
und die Ereignisse seines Lebens abzubilden. Auf der Ikone der
Erscheinung des Herrn lässt sich der Heilige Geist so darstellen, wie
Erden Menschen erschien, als Jesus aus dem Wasser stieg: in Gestalt
einer Taube. Und man kann auf Ikonen die Gottesmutter abbilden,
die Heiligen, verschiedene Ereignisse der Heilsgeschichte und der
Geschichte der Kirche.

Die Verehrung der Ikonen


In der Orthodoxen Kirche genießen die Ikonen besondere Vereh­
rung. Die Verehrung der Ikonen ist nicht nur eine fromme Tradition
- sie ist ein Dogma, dessen Verkündigung im achten Jahrhundert das
Ergebnis nach erbitterten Verfolgungen der Bilderverehrer durch die
Bilderstürmer darstellt. Indem die Kirche den Bildersturm als Häre­
sie verurteilte, hat sie die Praxis des Ikonenschreibens und der Iko­
nenverehrung, die in ihr seit frühesten Zeiten besteht, theologisch
durchdacht.
Die Verehrung der Ikonen hat nichts mit der Verehrung von
Götzenbildern gemein und ist auf keine Weise durch das zweite
Gebot des mosaischen Gesetzes verboten: „Du sollst Dir kein Kult­
bild machen“ (Ex 20,4). Dieses Gebot richtete sich gegen die V er­
ehrung falscher Götter, insofern es Menschen früherer Zeiten eigen
war, Tiere, Gebrauchsgegenstände oder Naturkräfte zu vergötzen
140 Teil III. Kirche und Gottesdienst

und sie wie Götter zu verehren. Christen hingegen verehren den


einen wahren Gott.
In ihrer Antwort auf die Angriffe der Bilderstürmer betonten die
Kirchenväter den Unterschied zwischen der Anbetung, die allein
Gott gebührt, und der Verehrung, die der Gottesmutter und den
Heiligen zukommt. Christen beten den einen Gott in der gepriesenen
Dreieinigkeit an. Die Heiligen verehren sie, vergötzen sie aber nicht
und beten sie auch nicht an wie Götter oder Götzen.
Die Verehrung der Ikonen drückt sich darin aus, dass die Gläubi­
gen vor ihnen beten, sich vor ihnen verneigen, sie küssen. Dabei
richten sich die Zeichen der Verehrung nicht auf das Brett mit den
Farben, sondern auf das, was dargestellt ist. Nach den Worten der
Kirchenväter „richtet sich die F.hre, die dem Bild erwiesen wird, auf
das Urbild“.

Die theologische, liturgische und sittliche Bedeutung der Ikone


Ikonen können sich dem Stil nach ganz wesentlich voneinander
unterscheiden, doch der Unterschied zwischen Ikonen insgesamt
und anderen Gemälden besteht darin, dass sie gemäß einem „Kanon“
geschrieben sind, einer Summe von Regeln, die im Laufe der Jahr­
hunderte unverändert geblieben sind.
Eine Ikone ist kein Porträt, sie zielt nicht darauf ab, die äußere
Gestalt eines bestimmten Heiligen genau wiederzugeben. Wir wissen
nicht, wie die Heiligen früherer Zeiten ausgesehen haben, wir haben
jedoch Fotografien von Menschen zur Verfügung, die in jüngster
Zeit von der Kirche als Heilige anerkannt wurden. Ein Vergleich der
Fotografie eines Heiligen mit seiner Ikone macht anschaulich, wie
der Ikonenschreiber bemüht ist, nur die allgemeinsten Charakter­
züge der Gestalt eines Heiligen zu wahren. Man kann ihn auf der
Ikone erkennen, doch er ist ein anderer: Seine Züge sind fein und
edel, ihm ist ein ikonenhaftes Angesicht gegeben.
Die Ikone zeigt den Menschen in seiner verklärten, vergöttlichten
Gestalt. „Eine Ikone ist das Bild eines Menschen, in dem wirklich die
leidenschaftliche Glut und die allheiligende Gnade des Heiligen
Geistes gegenwärtig ist. Deshalb wird sein Fleisch wesentlich anders
dargestellt als das gewöhnliche, vergängliche Fleisch eines Menschen.
111.5 Ikonen und Krem 141

Die Ikone ist eine nüchterne, auf geistlicher Erfahrung gegründete


und von jeder Übertreibung völlig freie Wiedergabe einer bestimm­
ten geistlichen Wirklichkeit. Wenn die Gnade den ganzen Menschen
heiligt, so dass seine gesamte geistlich-geistig-leibliche Wirklichkeit
vom Gebet ergriffen ist und sich im Göttlichen Licht befindet, dann
bildet die Ikone in sichtbarer Gestalt den Menschen ab, der eine
lebendige Ikone, ein Ebenbild Gottes ist“.15
Ihrer liturgischen Bedeutung nach gehört die Ikone unabdingbar
zum liturgischen Raum, der Kirche, sie ist ständiger Bestandteil des
Gottesdienstes. Jeder Ikone entspricht in der Regel ein bestimmter
kirchlicher Feiertag bzw. Gedächtnistag der Heiligen.
Eine Ikone trägt in sich einen tiefen sittlichen Gehalt. So dient
zum Beispiel das Bild der Allerheiligsten Dreieinigkeit - abgesehen
von dem symbolischen Verweis auf die Dreieinheit der göttlichen
Natur - für uns als wichtige Erinnerung an die geistliche Einheit, zu
der wir alle als Glieder der einen christlichen Kirche vom Erlöser
Selbst berufen sind. Und das Bild der Entschlafung der Hochheiligen
Gottesmutter verweist - abgesehen von der Verbindung mit einem
konkreten historischen Ereignis, das sich in einem bestimmten
kirchlichen Feiertag ausdrückt - darauf, dass im Christentum der
Tod als Übergang zum ewigen Leben verstanden wird, wo Christus
Selbst diejenigen erwartet, die an Ihn geglaubt und Seine Gebote
erfüllt haben.

Die Ikonen Christi, der Gottesmutter, der Engel und der Heiligen
Die Ikonen Jesu Christi können zu verschiedenen Typen gehören.
A uf der Ikone „Erlöser und Allherrscher“ (Pantokrator) wird Jesus
Christus z.B. auf einem Thron sitzend und mit einem geöffneten
Buch in den Händen dargestellt. Die Ikone „Erlöser Immanuel“ zeigt
Ihn als Jüngling mit langem, gelocktem Haar. Auf der Ikone „Erlöser
inmitten der himmlischen Mächte“ wird Er auf einem Thron sitzend
dargestellt, umgeben von Engeln - Cherubim und Seraphim.
Die Ikonen der Gottesmutter haben ebenfalls unterschiedliche
Typen, mit oder ohne Kind. Auf den Ikonen des Typs „Zärtlichkeit“

15 Leonid Uspenskij, Die Theologie der Ikone in der Orthodoxen Kirche (russ.).
142 Teil 111. Kirche und Gottesdienst

ist die Gottesmutter dargestellt in Dreivierteldrehung, und das Kind


schmiegt sich mit Seiner Wange an ihre Wange, ln dem Typ „Hodi-
gitria (Wegweiserin)“ werden sie und das Kind mit dem Gesicht zum
Betrachter dargestellt, und die Hand des Kindes ist in einer Segens­
geste erhoben. Auf der Ikone des Typs „Zeichen“ wird die Gottes­
mutter mit dem Gesicht zum Betrachter dargestellt, das Kind in einer
Aureole. Ohne Kind wird die Gottesmutter insbesondere dann dar­
gestellt, wenn ihre Ikone zum Bestand der Deesis-Reihe gehört.
Die Ikonen der Mutter Gottes unterscheiden sich außerdem nach
dem Ort ihres Ursprungs und ihrer Verehrung. Berühmt sind die
Ikonen von Vladimir, von Smolensk, von Kostroma, die Gottesmut­
ter von der Pforte (Iverskaya) und viele andere. Jede von ihnen hat
ihre Geschichte und wurde berühmt wegen zahlreicher Wundertaten.
Ein Engel wird auf einer Ikone in der Regel in der Gestalt eines
lünglings mit Flügeln dargestellt. Einige Chöre von Engeln werden in
der ikonographischen Tradition in besonderer Weise dargestellt: die
Cherubim mit vielen Augen, die Seraphim mit sechs Flügeln.
Von der Kirche verehrte Heilige werden ebenfalls auf Ikonen
dargestellt. Es gibt bestimmte Regeln, denen die Darstellung von
Heiligen zu folgen hat. So werden zum Beispiel kirchliche Würden­
träger in bischöflicher Kleidung dargestellt, Märtyrer mit dem Kreuz
in den Händen, Ehrwürdige im klösterlichen Gewand, Propheten mit
Schriftrollen in den Händen. Auf einer einzigen Ikone könne mehrere
Heilige dargestellt sein.
Einige Ikonen werden als wundertätig bezeichnet, da von ihnen
bestimmte Wunder ausgingen, z.B. zahlreiche Heilungen. Mit eini­
gen Ikonen verbinden sich Siege in Schlachten oder Rettung aus
Gefahr. Zu den wundertätigen Ikonen der Muttergottes gehören -
neben den bereits erwähnten - die Ikonen „Freude aller Betrübten“,
„Aufsuchung der Verlorenen“, „Unverhoffte Freude“ und viele an­
dere. Es gibt auch wundertätige Ikonen des Erlösers, der Engel und
der Heiligen.

Die Verehrung des Kreuzes


Einen besonderen Platz in der Orthodoxen Kirche nimmt die Ver­
ehrung des Kreuzes ein, das aus einem Werkzeug der Hinrichtung
111.5. Ikonen und Kreuz 143

zu einem Werkzeug der Versöhnung und zum Zeichen des Sieges


über den Tod geworden ist. Das Kreuz ist ein zentrales christliches
Symbol. Ihm erweist man Verehrung, man betet vor ihm, und ihm
wird wundertätige Kraft zugeschrieben.
Die Verehrung des Kreuzes hat eine viele Jahrhunderte alte theo­
logische Grundlage. Bereits in den Briefen des Apostels Paulus wird
wiederholt das Kreuz erwähnt. Die Verkündigung der Kreuzigung
des Erlösers nennt der Apostel das „Wort vom Kreuz“, „Torheit
denen, die verloren gehen; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes
Kraft“ (1 Kor 1,18). Von sich schreibt Paulus: „Ich will mich allein
des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, rühmen, durch das mir die
Welt gekreuzigt ist und ich der Welt“ (Gal 6,14). Nach der Lehre des
Apostels versöhnte Christus den Menschen „durch das Kreuz mit
Gott in einem einzigen Leib. Er hat in Seiner Person die Feindschaft
getötet“ (Eph 2,16). Bei all diesen und vielen anderen Gelegenheiten,
bei denen der Apostel in seinen Briefen vom Kreuz spricht, steht das
Kreuz als Synonym für die Kreuzigung, den Kreuzestod des Erlösers.
Einige Tage im Jahr widmet die orthodoxe Kirche der Verehrung
des Kreuzes: den Sonntag und die Woche der Kreuzverehrung (dritte
W oche des Großen Fastens), das Fest der Erhöhung des Kreuzes des
Herrn und noch einige andere Feste, die dem Kreuz geweiht sind.
Jeden Freitag und an den Tagen der Karwoche werden beim Gottes­
dienst Gebete gesprochen, die dem Kreuz Christi gelten. Viele Gebete,
die im Gottesdienst vorgetragen werden, richten sich nicht nur an
den am Kreuz hängenden Jesus, sondern auch an das Kreuz des
Herrn selbst.'6
Die Orthodoxe Kirche hat die alte Gewohnheit bewahrt, sich
beim Gottesdienst und beim Gebet zu Hause zu bekreuzigen. Diese
Gewohnheit ist ein fester Bestandteil der kirchlichen Überlieferung.1617
Die Gläubigen machen das Kreuzzeichen beim Gebet und auch vor
Beginn jeder Tätigkeit. Der Segen des Priesters erfolgt, indem er die

16 Die betende Anrede an das Kreuz bedeutet keine Vergöttlichung des Kreuzes als
Gegenstand, sondern eine poetische Form der Verherrlichung des Erlösers, der
am Kreuz Sein Blut zur Erlösung der Welt vergossen hat.
17 Basilius der Große, Über den Heiligen Geist, 27.
144 Teil III. Kirche umI Gottesdienst

Hinzutretenden mit dem Kreuzzeichen segnet. Die Wandlung von


Brot und Wein in Leib und Blut des Erlösers, die Weihe des Wassers
beim Sakrament der Taufe und viele andere der wichtigsten priester-
lichen Handlungen erfolgen unter ständiger Verwendung des Kreuz­
zeichens.
In der orthodoxen Tradition trifft man auf verschiedene Formen
der Kreuzesdarstellung. Weit verbreitet ist das einfache vierendige
Kreuz, das aus zwei Balken besteht: Ein solches Kreuz wurde in der
frühen Kirche am häufigsten benutzt. In der russischen Tradition
fand ein achtendiges Kreuz Verbreitung: Der obere Balken symboli­
siert die Tafel mit der Aufschrift „Jesus von Nazaret, König der
Juden“, der untere die Fußstütze des Erlösers. Manchmal wird ein
solches Kreuz auf „Ciolgota“ dargestellt, einer zweistufigen Erhöhung.
Darauf befinden sich zur Linken des Betrachters der Speer, mit dem
die Seite des Erlösers durchbohrt wurde, und zur Rechten das Schilf­
rohr mit dem Schwamm, den man an Seinen Mund führte. Neben
diesen symbolischen Darstellungen des Kreuzes in den Kirchen gibt
es nicht selten die „Kreuzigung“, die Darstellung des Erlösers am
Kreuz.
Jeder orthodoxe Christ trägt unter der Kleidung ein Umhänge­
kreuz. Die Priester in der Russischen Orthodoxen Kirche tragen das
Kreuz auf der Brust über ihrem Rhason.'8 Der Bischof trägt beim
Gottesdienst gleichzeitig mit der Panhagia1'' (Darstellung der Gottes­
mutter) ein Kreuz um den Hals. Kreuze befinden sich auf den Kup­
peln von Kirchen und Kapellen und auf den Gräbern orthodoxer
Christen. Gedächtniskreuze werden zur Verehrung durch die Gläu­
bigen im Freien aufgestellt, etwa an Orten von Massengräbern, zur
Erinnerung an eine Befreiung aus Gefahr, zur Erinnerung an eine
Kirche, die an dieser Stelle stand, oder als Zeichen, dass man dort
eine Kirche bauen wird.189

18 Das Rhason ist ein bodenlanges Gewand mit weilen Ärmeln für Mönche, Diakone,
Priester oder Bischöfe.
19 Die Panhagia (aus dem Griechischen, wörtlich übersetzt: „Allheilige") ist ein
Medaillon mit der Darstellung der Gottesmutter. Manchmal können auf der
Panhagia auch der Erlöser oder ein Heiliger dargestellt sein.
III.6. Die kirchlichen Festtage 145

Die Verehrung des Kreuzes blieb im Laufe der Jahrhunderte ein


fester Bestandteil im Leben der Orthodoxen Kirche. Die Verehrung
des Kreuzes ist untrennbar verbunden mit der Verehrung des ge­
kreuzigten Herrn und Krlösers, und in den liturgischen Texten sind
die Themen Kreuz, Passion, Kreuzigung und Auferstehung eng
miteinander verflochten.
Christi Kreuz ist die Quelle der Heilung, es vertreibt Dämonen,
durch das Kreuz wird dem Gläubigen der Segen Gottes zuteil. Doch
die Kraft, die durch das Kreuz wirkt, ist keine irgendwie automati­
sche Kraft, die dem Kreuz als solchem innewohnt, sondern sie geht
vom Herrn Selbst aus. Die Erlösung, die vom Kreuz ausgeht, hat
ihren Grund nicht im Kreuz an sich, sondern darin, dass an ihm der
Erlöser der Welt, der Herr Jesus Christus, gekreuzigt wurde.

6. Die kirchlichen Festtage

Die Kirche hat ihren eigenen Kalender, der Feste und Gedenktage
der Heiligen umfasst. Jeder Tag des kirchlichen Kalenders ist der
Erinnerung an irgendein Ereignis oder eine Person gewidmet.

Die Festtage im kirchlichen Kalender


Der kirchliche Kalender ist so aufgebaut, dass alle Hauptereignisse
des irdischen Lebens Jesu Christi durch eine Reihe von Herrenfesten
im Laufe des Jahres vor unser geistliches Auge gelangen. Außerdem
ist jeder Tag der Erinnerung an einen bestimmten Heiligen gewid­
met, sei es aus älterer oder aus jüngerer Zeit.
Es gibt unbewegliche und bewegliche Feste. Die unbeweglichen
Feste fallen alljährlich auf ein und dasselbe Datum. Die beweglichen
werden jedes Jahr an verschiedenen Tagen gefeiert. Der Kreis der
unbeweglichen Feste richtet sich nach dem Sonnenkalender, die
beweglichen Feste nach dem Osterdatum.
Einige Feste werden als Hochfeste bezeichnet. Zu ihrer Zahl
gehören neben Ostern zwölf Feste:
146 Teil 111. Kirche und Gottesdienst

Geburt der Hochheiligen Gottesmutter (8721. September’0)


Erhöhung des Kreuzes des Herrn (14727. September)
Einführung der Hochheiligen Gottesmutter in den Tempel
(21. November/4. Dezember)
Christi Geburt (25. Dezember/7. Januar)
Taufe des Herrn (6719. Januar)
Darstellung des Herrn im Tempel (2715. Februar)
Verkündigung an die Hochheilige Gottesmutter (25. März/7. April)
Einzug des Herrn in Jerusalem
Himmelfahrt des Herrn
Pfingsten
Verklärung des Herrn (6719. August)
Entschlafung der Hochheiligen Gottesmutter (15728. August).

Die beweglichen Feste


Das wichtigste bewegliche Fest im Kirchenjahr ist die Auferstehung
Christi. Zur Erinnerung daran, dass die Auferstehung des Erlösers
am Tag des jüdischen Paschafestes geschah, nennt man dieses Fest in
der christlichen Tradition ebenfalls „Pascha“. Das Ereignis, zu dessen
Ehre der alte Festtag festgesetzt wurde - der Auszug des Volkes Israel
aus Ägypten - wurde in der christlichen Tradition neu verstanden als
Vorbild der Auferstehung Christi. Durch die Auferstehung voll­
ziehen die zum Glauben an Jesus Christus Gekommenen - das neue20

20 Einige orthodoxe Kirchen verwenden als kirchlichen Kalender den „julianischen


Kalender". Das erste der beiden angeführten Daten folgt dem julianischen Kalen­
der („alter Stil“) und entspricht den westkirchlichen Festtagen; das zweite Datum
folgt dem gregorianischen Kalender („neuer Stil“) und zeigt an, wann das Fest
dem zivilen Kalender nach gefeiert wird, wenn die Kirche den julianischen Kalen­
der verwendet |Anm. d. Übers.l. Der gregorianische Kalender wurde vom römi­
schen Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 eingeführt und löste den zuvor geltenden
julianischen Kalenders ab, den der römische Diktator Julius Caesar im Jahr 45 v.
Chr. eingeführt hatte. Im 22. Jahrhundert wird die Differenz zwischen dem alten
und dem neuen Stil, der zur Zeit 13 Tage beträgt, sich um einen Tag erhöhen. Bei
der Umrechnung in den neuen Stil ändern sich dann auch die zivilen Daten der
beweglichen Feste, die nach dem alten Stil gefeiert werden.
I
111.6. Die kirchlichen Festlage 147

Israel - das Pascha, den Übergang vom Tod zum Leben, von der Zeit
zur Ewigkeit, von der Erde zum Himmel.
Das Datum des Osterfestes wird nach einem Prinzip berechnet,
das im 4. Jahrhundert formuliert worden ist: gewählt wird der erste
Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond. Ostern kann auf einen
beliebigen Tag innerhalb der 35 Tage vom 4. April bis zum 8. Mai
nach dem neuen Stil fallen.21
Vom Osterdatum her wird der Anfang des Großen Fastens be­
rechnet. Es beginnt sieben Wochen vor dem Osterfest und endet am
Vorabend des Lazarussonntags, an dem der Auferweckung des Laza­
rus durch den Erlöser gedacht wird (Joh 11,1-45). Dann folgt der
Festtag des Einzugs des Herrn in Jerusalem (eine Woche vor
Ostern), gewidmet dem feierlichen Einzug Jesu Christi in Jerusalem
vor Seinem letzten Paschamahl.
Dann schließt sich die Leidenswoche an, in deren Verlauf man
Tag für Tag (von Montag bis Donnerstag) der letzten Tage und
Stunden im irdischen Leben Jesu Christi, Seines Todes am Kreuz (am
Großen Freitag) sowie Seiner Grabesruhe (am Großen Samstag)
gedenkt. Im Gottesdienst des Großen Samstag wird der Übergang
von der Trauer der Karwoche zum österlichen Jubel vollzogen.
Vom Osterdatum her berechnet werden auch die Daten der Feste
Himmelfahrt Christi (am 40. Tag nach Ostern) zum Gedenken an
die Aufnahme Christi in den Himmel, und Pfingsten (50. Tag nach
Ostern) als Feier der Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Apostel.

Die unbeweglichen Feste


Das Hauptfest unter den unbeweglichen Festen des Kirchenjahres ist
die Geburt Christi. Es erinnert daran, dass der Herr Jesus Christus
in Seiner Geburt aus der Jungfrau Maria zur Welt gekommen ist.
Acht Tage nach Weihnachten wird zu Ehren des Ereignisses, das
acht Tage nach der Geburt des Erlösers in Bethlehem stattfand (Lk
2,21), die Beschneidung des Herrn gefeiert.

21 Vom 22. März bis zum 25. April nach dem .alten Stil*.
148 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Vierzig Tagen nach Weihnachten wird die Begegnung des Herrn


im Tempel gefeiert, zum Gedenken daran, dass das Jesuskind in den
Jerusalemer Tempel gebracht wurde (Lk 2,22-38). Die Begegnung
des Herrn ist zugleich ein Fest des Herrn und der Gottesmutter.
Das Fest der Verkündigung der Hochheiligen Gottesmutter
wird neun Monate vor der Geburt Christi gefeiert. Es erinnert daran,
wie der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria erschien und ihr ver­
kündete, aus ihr werde Christus geboren (Lk 1,26-38).
Das Fest der Verklärung des Herrn ist dem Ereignis gewidmet,
das in drei Evangelien beschrieben wird: Jesus wurde vor den Augen
der Jünger verklärt, und Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne.”
Zu den Festen der Gottesmutter gehören außer der Verkündi­
gung und der Begegnung im Tempel auch die Geburt der Hochhei­
ligen Gottesmutter, die Einführung der Hochheiligen Gottesm ut­
ter in den Tempel und die Entschlafung der Hochheiligen Gottes­
mutter.
Das Fest Schutz der Hochheiligen Gottesmutter (1./14. Okto­
ber) gehört zu den Hochfesten, aber nicht zu dem Kreis der zwölf
Hauptfeste. Dieses Fest ist der Erscheinung der Gottesmutter in der
Blachernen-Kirche in Konstantinopel geweiht. Zeuge der Erschei­
nung war der Narr in Christus Andreas, der dem zum Gottesdienst
versammelten Volk davon erzählte.
Da das Kirchenjahr im September beginnt und im August endet,
ist die Geburt der Gottesmutter das erste Hochfest des Jahres und
ihre Entschlafung das letzte.
Zu den zwölf Herrenfesten gehört neben den bereits genannten
die Erhöhung des Kreuzes des Herrn, Dieses Fest wurde zur Erin­
nerung an die Auffindung des Kreuzes des Herrn durch die apostel­
gleiche Kaiserin Helena im 4. Jahrhundert eingeführt.
Gedenktage der Heiligen sind alle Tage des Kirchenjahres außer
den unbeweglichen großen Herrenfesten. Der Gedenktag einiger
besonders verehrter Heiliger - zum Beispiel Nikolaus der Wundertä­
ter (6./19. Dezember und 9./22. Mai) - wird mit besonderer Festlich­
keit auf gesamtkirchlicher Ebene gefeiert. Außerdem können ein 2

22 Zu diesem Ereignis vgl. oben S. 27.


111.6. Die kirchlichen Festlage 149

konkretes Land, eine Region, eine Diözese, ja einzelne Pfarreien ihre


besonders verehrten Heiligen haben.
Wenn eine Kirche einem bestimmten Heiligen geweiht ist, wird
der Gedenktag dieses Heiligen Altarfest genannt. Ist die Kirche
einem bestimmten Fest geweiht, gilt dieses Fest ebenfalls als Altar­
fest. Wenn es in einer Kirche mehrere Nebenaltäre gibt, die ver­
schiedenen Heiligen oder Festtagen geweiht sind, dann hat diese
Kirche mehrere Altarfeste.
Die kirchlichen Festtage unterscheiden sich von weltlichen, inso­
fern sie nicht so sehr Anlass bieten zu reichlichem und gutem Essen
als vielmehr zu geistlicher Freude, die sich darin ausdrückt, dass die
Gläubigen an diesem Tag zur Kirche gehen und sich mit Christus im
Sakrament der Kommunion vereinigen. Zugleich gilt: Falls das Fasten
die Einhaltung bestimmter Beschränkungen in den Speisen verlangt,
heben die Festtage in der Mehrzahl der Fälle diese Vorschriften auf.

Fastenzeiten
Manchen Festen gehen Fasttage voraus: dem Osterfest sieben Wo­
chen des Großen Fastens und die Leidenswoche, dem Weihnachts­
fest vierzig Tage des Weihnachtsfastens, der Entschlafung der Got­
tesmutter zwei Wochen des Fastens. Das Apostelfasten (oder Petrus­
fasten bzw. Petrus- und Paulusfasten) kann je nach Jahr verschieden
lang dauern: Es beginnt nach dem Mondkalender eine Woche nach
dem Pfingstfest und endet nach dem Sonnenkalender am Gedenktag
der Apostel Petrus und Paulus am 29. Juni/12. Juli.
Neben dem mehrtägigen Fasten gibt es einzelne Fasttage: Mitt­
woch und Freitag im Laufe des ganzen Jahres23 sowie die Feste der
Erhöhung des Kreuzes des Herrn und der Enthauptung Johannes’
des Vorläufers (29. August/11. September).
Es gibt die strenge und die gewöhnliche Weise des Fastens: An
strengen Fasttagen darf man nur vegetarisch essen, an gewöhnlichen
Fasttagen ist es erlaubt, Fisch zu essen.

23 Mit Ausnahme der Wochen, die „fastenfrei“ genannt werden, in denen das Fasten
am Mittwoch und Freitag also entfallt.
150 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Mit dem Segen des Priesters kann das Fasten für Kranke und für
schwangere Frauen sowie - aus triftigen Gründen - auch für andere
Personen gemildert werden.

7. Der wöchentliche und der tägliche Gottesdienstkreis

Neben dem jährlichen Gottesdienstkreis, der die kirchlichen Festtage


umfasst, gibt es auch einen wöchentlichen und einen täglichen Got­
tesdienstkreis.

Der wöchentliche Gottesdienstkreis


Die Gottesdienste an den sieben Wochentagen heißen der sieben­
tägige Kreis. Jeder Tag ist einem bestimmten Thema gewidmet. Der
Gottesdienst am Sonntag gedenkt der Auferstehung Christi. Der
Sonntag wird als erster und wichtigster Tag der liturgischen Woche
angesehen: er ist immer ein Festtag. Am Montag gedenkt die Kirche
der heiligen Engel, am Dienstag Johannes des Vorläufers, am Mitt­
woch und am Freitag der Kreuzigung Jesu Christi (aus diesem Grund
sind Mittwoch und Freitag Fasttage - am Mittwoch willigte Judas in
den Verrat Jesu ein, und am Freitag wurde Jesus gekreuzigt), am
Donnerstag wird der Apostel und des heiligen Nikolaus gedacht, am
Samstag aller Verstorbenen.

Der Tageskreis des Gottesdienstes


Tageskreis des Gottesdienstes nennt man die kirchlichen Gebets­
zeiten im Verlaufe des Tages: Abendgebet, Nachtgebet, Mitternachts­
gebet, Morgengebet, Stundengebet (erste, dritte, sechste und neunte
Stunde) und Liturgie.21 Abendgebet und Morgengebet werden am
Vorabend von Sonntagen miteinander zu einem einzigen Gottes­
dienst verbunden, den man als Nachtwache bezeichnet. In der alten
Kirche dauerte die Nachtwache die ganze Nacht hindurch, in der24

24 Während das Wort „Liturgie“ in den Westkirchen als Oberbegriff für alle kirch­
lichen Gottesdienste verwendet wird, ist es in der orthodoxen Tradition der
Eucharistiefeier Vorbehalten. [Anm. d. Übers.]
III.7. Der wöchentliche und der tägliche Gottesdienstkreis 151

heutigen Pfarreipraxis beginnt und endet sie am Abend. Das erste


kleine Stundengebet wird gewöhnlich mit dem Morgengebet verbun­
den, die dritte und sechste Stunde werden vor der Liturgie gebetet,
die neunte geht dem Abendgebet voraus.
ln allen kirchlichen Gebetszeiten werden Psalmen aus dem alt-
testamentlichen Psalter gebetet, ln diesem Buch gibt es 150 Psalmen.
Sie alle sollen der Ordnung nach im Laufe einer Woche in der Kirche
vorgetragen werden (während des Großen Fastens zweimal in der
Woche). Die Grundlage für den Gottesdienst von Abendgebet, Mor­
gengebet und den kleinen Stundengebeten bilden eigens für diese
Gebetszeiten ausgewählte Psalmen. Außerdem gehören zu diesen
Gebetszeiten Gesänge, die von christlichen Autoren (überwiegend
aus dem ersten Jahrtausend) für die kirchlichen Feste und Gedenk­
tage der Heiligen verfasst wurden.

Besonderheiten des orthodoxen Gottesdienstes


Alle F.lcmenle des orthodoxen Gottesdienstes - die Kirchenarchitek­
tur, Ikonen und Wandfresken, Kirchengerät, Lesung und Gesang,
feierliche Prozessionen, Glockenklang - sollen die Gläubigen nicht
etwa in ihrer Aufmerksamkeit ablenken, sondern sie im Gegenteil in
ihrer Gebetshaltung stärken, sie einbeziehen in den Lobpreis Gottes,
an dem nach der Lehre der Kirche nicht nur die Kirche auf Erden,
sondern auch die himmlische Kirche mitwirkt, nicht nur die Men­
schen, sondern auch die Engel.
Am Gottesdienst nimmt der Mensch mit all seinen Sinnen teil.
Einbezogen sind vor allem Gehör und Gesichtssinn, aber auch der
Tastsinn (durch die Berührung der Ikonen und heiligen Geräte), der
Geruchssinn (durch die Verwendung von Weihrauch und die Benut­
zung wohlriechender Duftstoffe) und der Geschmackssinn (bei der
Kommunion, beim Schmecken des geweihten Brotes oder beim
Trinken des Weihwassers).25

25 Eine Störung bei einem oder mehreren Sinnesorganen ist jedoch kein Hindernis,
am Gottesdienst teilzunehmen. Zur Zeit werden spezielle Gottesdienstordnungen
für Blinde, Schwerhörige, Taubstumme usw. ausgearbeitet.
152 Teil III. Kirche uttd Gottesdienst

Ein typisches Merkmal des orthodoxen Gottesdienstes besteht


darin, dass er ohne Unterbrechung vollzogen wird. Ohne Pause
folgen aufeinander Psalmen, Fürbitten des Diakons, der Gesang des
Chors, Gebete und Rufe des Priesters. Der gesamte Gottesdienst
verläuft in einem Atem als ein einziges, sich ununterbrochen entfal­
tendes Mysterium. In den byzantinischen Gottesdiensttexten, gesät­
tigt mit tiefem theologischem Gehalt, wechseln Psalmen, die einst in
der althebräischen Sprache in einer anderen Epoche und einer ande­
ren Tonalität verfasst wurden, Lesungen aus der Heiligen Schrift und
die Betrachtung des Priesters über diese Lesungen in der Predigt
einander ab.
Der Gottesdienst findet in den meisten Kirchen der Russischen
Orthodoxen Kirche in der kirchenslawischen Sprache statt. In eini­
gen Ländern wird der Gottesdienst in den Landessprachen gehalten
(in Moldawien auf Moldawisch, in Japan auf Japanisch usw.).

8. Die Eucharistie

Der Hauptgottesdienst des Tageskreises ist die Göttliche Liturgie, in


der das Hauptsakrament der Kirche gefeiert wird: die Eucharistie.
Das griechische Wort „Liturgie“ bedeutet wörtlich „gemeinsame
Angelegenheit“. Mit diesem Wort wird von altersher ein Gottes­
dienst bezeichnet, in dem in Erinnerung an das Heilige Abendmahl
das Brot gebrochen wurde.
Das Wort „Eucharistie“ bedeutet „Danksagung“; es verweist auf
den überwiegend dankenden Charakter der Gebete, die Priester und
Volk bei diesem Gottesdienst emporsenden.

8.1 Die Eucharistie - Daseinsgrundlage der Kirche

Die Eucharistie ist das Hauptsakrament der Kirche. Man nennt sie
das „Sakrament der Sakramente“, denn sie ist das Herzstück des
kirchlichen Lebens, das Fundament, auf dem der Bau der Kirche
errichtet ist. Ohne Teilnahme an der Eucharistie ist die Erlösung des
Menschen, sein Eintritt in das ewige Leben, nicht möglich.
111.8. Die Eucharistie 153

Der Herr Jesus Christus Selbst sagt: „Ich bin das Brot des Lebens
... Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist.
Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das Ich
geben werde, ist Mein Fleisch für das Leben der W elt... Amen, amen,
Ich sage euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst
und Sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer
Mein Fleisch isst und Mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und Ich
werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn Mein Fleisch ist
wahrhaft eine Speise und Mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer
Mein Fleisch isst und Mein Blut trinkt, der bleibt in Mir und Ich
bleibe in ihm“ (Joh 6,48-56).
Die Eucharistie ist die Erneuerung und Fortführung des Abend­
mahls, des letzten Mahles Jesu mit den Jüngern, bei dem Er ihnen
Seinen Leib und Sein Blut unter der Gestalt von Brot und Wein gab.
Nach der Auferstehung des Erlösers versammelten die Jünger sich
an jedem ersten Tag der Woche, um zu Seinem Gedächtnis das Brot
zu brechen. Das eucharistische Mahl begann am Abend und konnte
sich bis zum Morgen hinziehen (Apg 20,7-11). Das Mahl hatte einen
feierlichen, rituell-liturgischen Charakter. Sein Grundton war die
Danksagung. Während des Mahles wurden die Bücher des Alten
Testaments gelesen, diesbezügliche Lehren wurden vorgetragen (Apg
2,9.11), es erklangen „Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder“ (Kol
3,16). Die Eucharistie selbst, das Brotbrechen zum Gedächtnis an
Jesus Christus, fand am Ende des Mahles statt.
Mit der Zeit verwandelte sich die Eucharistie aus einem Mahl in
einen vollständigen Gottesdienst, der gemäß einer klar vorgeschriebe­
nen liturgischen Ordnung gefeiert wurde. Der Mahlcharakter blieb im
Sakrament der Eucharistie bzw. in der Heiligen Kommunion erhalten.
Die Kirche glaubt, dass jedes Mal, wenn die Eucharistie gefeiert
wird, Christus Selbst ihr vorsteht. Denn Er ist der eigentlich Han­
delnde in der Eucharistie, Der durch den Priester oder den Bischof
als Vorsteher der eucharistischen Versammlung wirkt.
An der Eucharistie wirkt die ganze kirchliche Gemeinschaft mit.
Die Eucharistie wird nicht durch den Priester fü r die Pfarreimit­
glieder gewirkt: Sie ist das unblutige Opfer, das die ganze Gemeinde
mit dem Priester als Haupt Gott darbringt.
154 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Brot und Wein in der Eucharistie


Was geschieht mit Brot und Wein in der Eucharistie? Durch das
Gebet des Priesters und der ganzen kirchlichen Gemeinschaft kommt
der Heilige Geist auf sie herab, und sie werden Leib und Blut Christi.
Der Glaube daran, dass die eucharistischen Gaben von Brot und
Wein nach der Wandlung26 real und nicht symbolisch zu Leib und
Blut Christi geworden sind, war von Anfang an Glaube der Kirche.
In der Orthodoxen Kirche wird dieser Glaube heilig gehalten. Nach
der Wandlung behalten Brot und Wein ihre äußere Gestalt und ihre
physischen Eigenschaften, doch ihrem Wesen nach sind sie Leib und
Blut des Erlösers geworden. Man nennt sic die „Heiligen Geheim­
nisse“ oder die „Heiligen Gaben“ und unterstreicht damit, dass sie
das wichtigste Heiligtum der Kirche sind, die kostbare und geheim­
nisvolle Gabe Gottes an die Menschen.

Die Vereinigung mit Gott durch die Kommunion


Beim Heiligen Abendmahl sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Ich bin
der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Joh 15,5). Durch den Glauben an
Jesus Christus als Gott und Erlöser, durch den Empfang Seines Lei­
bes und Blutes, durch die Teilnahme am Leben der von Ihm begrün­
deten Kirche, durch die Erfüllung Seiner Gebote eröffnet sich für den
Menschen die Möglichkeit einer besonderen, übernatürlichen Ver­
einigung mit Christus: Wie die Rebe mit dem Weinstock, so kann er
mit Christus verbunden sein und sich von Ihm nähren durch die
lebenspendenden Säfte, die selbst einer verdorrten und abgestorbe­
nen Rebe Leben zurückzugeben vermögen.
Indem der Glaubende die Heiligen Christusgeheimnisse emp­
fängt, nimmt er Gott Selbst in sich auf. Leib und Blut des Sohnes
Gottes gehen in Leib und Blut des Menschen ein. Dadurch wird die
gänzliche und vollständige Vereinigung des Menschen mit Gott
bezeichnet, die mit keinerlei anderen Mitteln erlangt werden kann.
Durch das Gebet können wir mit Gott verbunden sein, Ihm unser
Herz öffnen und auf Seine Antwort hören. Durch gute Werke kön­

26 Der kirchenslawische Ausdruck für „Wandlung“ bedeutet wörtlich „Änderung“,


„Verwandlung“ von etwas in etwas anderes.
II 1.8. Die Eucharistie 155

nen wir Gott gefallen, Sein Wohlwollen erbitten. Doch nur durch die
Kommunion, den Empfang der Heiligen Christusgeheimnisse, ver­
einigen wir uns geistlich und physisch mit Ihm, nehmen Ihn in unser
Inneres auf, so dass sich unser Leib mit Seinem Leib vereinigt und in
unseren Adern Sein Blut zu fließen beginnt.
Nach der Lehre der Heiligen Väter werden die Gläubigen durch
die Kommunion mit Gott verwandt, sie vereinigen sich mit Ihm zu
einem einzigen Fleisch. Durch Seine Menschwerdung ist der Sohn
Gottes unser Bruder geworden, und wir werden Seine Geschwister
dank der Kommunion, indem wir durch Sein Fleisch mit Seiner
Gottheit verbunden werden: „Einst wurde Er verwandt mit uns dem
Fleische nach und ließ uns teilhaben an Seiner Gottheit. So ließ Er
alle mit Sich verwandt werden“, schreibt der heilige Symeon der
Neue Theologe (10711. Jh.). „Wie Eva aus dem Fleisch und aus der
Rippe Adams genommen war und sie beide ein Fleisch wurden (Gen
2,24), so schenkt auch Christus uns Sich Selbst im Empfang Seines
Fleisches“.27
An anderer Stelle schreibt der Heilige: „Du bist dem Fleische nach
mit uns verwandt, und wir sind Deiner Gottheit nach mit Dir ver­
wandt ... Miteinander vereint, werden wir alle eine Wohnung, das
heißt wir alle sind Verwandte, wir alle sind Deine Geschwister... Du
bist bei uns jetzt und in Ewigkeit, und Du machst jeden zu einer
Wohnung und wohnst in allen... ein jeder von uns je einzeln mit Dir,
Erlöser, alles in Allem ... Und auf diese Weise werden alle Glieder
eines jeden von uns zu Gliedern Christi... und wir zusammen wer­
den zu Göttern, die mit Gott sind“.28
Die neue Qualität des Daseins, die der Mensch auf den Höhen der
Heiligkeit unter dem Wirken der göttlichen Gnade erlangt, nennen
die Heiligen Väter Vergöttlichung, das heißt einen Zustand, in dem
der Mensch dank der Vereinigung mit Gott göttliche Eigenschaften
erwirbt. Eines der wirksamsten Mittel zur Erlangung dieses Zustan­
des ist der Empfang der Heiligen Geheimnisse Christi.

27 Symeon der Neue Theologe, Sittliche Reden, 1,6.


28 Symeon der Neue Theologe, Hymnen, 58.
156 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Durch die Kommunion steigt Gott, Der im Himmel ist, nicht


einfach aus dem Himmel zur Erde herab, sondern nimmt Wohnung
in Leib und Herz des Menschen, beginnt in ihm zu leben, indem Er
ihn von innen her heiligt und erleuchtet, seine menschliche Natur
verklärt und ihn mit Seiner lebenspendenden Gegenwart nährt.
Der heilige Johannes Chrysostomus (4. Jh.) schreibt über das Blut
Christi, das die Gläubigen in der Kommunion empfangen: „Dieses
Blut schenkt uns eine blühende und königliche Gestalt, es erzeugt
unvorstellbare Schönheit und lässt den Adel der Seele nicht welken,
indem es diese unaufhörlich tränkt und nährt... Dieses Blut, würdig
empfangen, entfernt und verjagt weit von uns die Dämonen und ruft
die Engel und den Herrscher der Engel zu uns herbei. Die Dämonen
laufen von dort weg, wo sie das Blut des Herrschers sehen, und die
Engel strömen herbei. Am Kreuz vergossen, durchströmte dieses Blut
den ganzen Kosmos ... Dieses Blut ist die Erlösung unserer Seelen:
Von ihm wird die Seele durchdrungen, von ihm geschmückt, von
ihm entflammt. Es macht unseren Verstand lichter als Feuer. Es
macht unsere Seele reiner als Gold. Dieses Blut wurde vergossen und
hat den Himmel für uns erreichbar gemacht“."

Die Vorbereitung auf die Kommunion


Für das Sakrament der Kommunion muss man sich unbedingt vor­
bereiten. Daran erinnert bereits der Apostel Paulus: „Wer unwürdig
von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich
schuldig am Leib und am Blut des Herrn. Jeder soll sich selbst prü­
fen: erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken.
Denn wer davon isst und trinkt, ohne den Leib zu unterscheiden, der
zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt“ (1 Kor 11,27-29).
Um sich würdig auf die Kommunion vorzubereiten, gibt es be­
stimmte über Jahrhunderte gewachsene Regeln. Vor allem darf man
am Morgen vor der Kommunion weder essen noch trinken. Außer­
dem ist es üblich, vor der Kommunion (an demselben Tag oder am
Vortag) zu beichten, um die Seele von Sünden zu reinigen und vom
Herrn Vergebung zu erlangen. Die Gläubigen sind eingeladen, am29

29 Johannes Chrysostomus, Predigten Uber das Johannesevangelium, 46,3.


111.8. Die Eucharistie 157

Vortag der Liturgie, in der sie kommunizieren wollen, am Abend­


gottesdienst teilzunehmen und zu Hause die „Vorbereitung auf die
Heilige Kommunion“ zu beten, eine Reihe von Gebeten, die im
„Orthodoxen Gebetbuch“ abgedruckt sind. Viele Christen fasten vor
der Kommunion einen Tag oder mehrere Tage.
Die genannten Regeln können mit dem Segen des Priesters in
besonderen Fällen gemildert oder sogar völlig aufgehoben werden,
zum Beispiel im Falle schwerer Krankheit. Die christliche Kirche hat
kein rechnerisches Verhältnis zum religiösen Leben, wie es für die
Pharisäer zur Zeit [esu charakteristisch war: Erfülle eine bestimmte
Anzahl von Regeln - und du wirst Gott gefallen. Das Wichtigste bei
der Vorbereitung auf die Kommunion besteht in der Erinnerung,
dass Gott auf das Herz des Menschen schaut, auf seine innere Verfas­
sung. F.r erwartet von uns Liebe zu Ihm, nicht nur die mechanische
Erfüllung bestimmter Regeln. „Mein Sohn, gib Mir dein Herz!“
spricht die biblische Weisheit (Spr 23,26), in der Gott personifiziert
ist. Die bestehende Praxis der Vorbereitung auf die Kommunion ist
kein Selbstzweck. Sie ist darauf ausgerichtet, dem Menschen zu hel­
fen, die gebührende Haltung zu finden, Seele und Herz zu reinigen
für den würdigen Empfang der Heiligen Geheimnisse.

Wie häufig soll man kommunizieren?


In der alten Kirche kommunizierten die Gläubigen bei jeder Eucha­
ristiefeier. Die Vorstellung, dass ein getaufter Christ zur Liturgie geht
und ihr beiwohnt, dabei aber nicht kommuniziert, gab es überhaupt
nicht. Zu bestimmten Zeiten und in einigen Ländern bildete sich die
Praxis der seltenen Kommunion heraus, unter anderem wegen der
strengen Regeln für die Vorbereitung. Heute kommunizieren viele
Gläubige jeden Sonntag und an allen großen Festtagen. Dabei kann
jeder Gläubige individuelle Regeln für die Vorbereitung zum Sakra­
ment mit seinem Beichtvater30 oder mit dem Priester der Pfarrei
besprechen.

30 „Beichtvater“ oder „geistlichen Vater“ nennt man den Priester, bei dem der ortho­
doxe Gläubige regelmäßig beichtet und den er, wenn nötig, um Rat bittet. Jeder
Christ soll nach Möglichkeit einen Beichtvater haben.
158 Teil III. Kirche und Gottesdienst

8.2 Die Feier der Göttlichen Liturgie

In der Orthodoxen Kirche werden drei Vorlagen für die Göttliche


Liturgie benutzt: die Liturgie von Basilius dem Großen, die Liturgie
von Johannes Chrysostomus und die Liturgie der Vorgeweihten
Gaben. Die Liturgie von Basilius dem Großen wird zehnmal im Jahr
gefeiert: an den Vorabenden des Weihnachtsfestes und der Taufe des
Herrn, am Gedenktag des heiligen Basilius des Großen, an den Sonn­
tagen des Großen Fastens, am Großen Donnerstag und am Großen
Samstag. An den übrigen Tagen des Jahres, mit Ausnahme der W o­
chentage des Großen Fastens, wird die Liturgie von Johannes Chry­
sostomus gefeiert. Jeweils am Mittwoch und Freitag des Großen
Fastens wird die Liturgie der Vorgeweihten Gaben gefeiert. Jeweils
am Montag, Dienstag und Donnerstag des Großen Fastens wird gar
keine Liturgie gefeiert.
Die Liturgien von Basilius dem Großen und von Johannes Chry­
sostomus unterscheiden sich nur in Umfang und Inhalt der Gebete,
die der Priester vor dem Altar betet. Da in der heutigen Praxis diese
Gebete nicht für alle hörbar gebetet werden, ist der Unterschied
zwischen beiden Typen der Liturgie für einfache Gläubige kaum zu
bemerken. In der Liturgie der Vorgeweihten Gaben wird im Unter­
schied zu den Liturgien von Basilius dem Großen und Johannes
Chrysostomus das Sakrament der Eucharistie nicht gefeiert. Die
Gläubigen empfangen die Heiligen Gaben, die in der vorausgehen­
den vollen Liturgie, bei der die Eucharistie gefeiert wurde, vorbereitet
wurden.
Die Göttliche Liturgie (im Weiteren geht es nur um die Liturgien
von Basilius dem Großen und Johannes Chrysostomus) beginnt mit
der Proskomidie (vom griechischen Wort für „Darbringung“), die
vom Priester im Altarraum vollzogen wird. Dabei werden Brot und
Wein für die Eucharistie vorbereitet, begleitet von dafür eigens ge­
wählten Gebeten.
Die eigentliche Liturgie umfasst zwei Teile: die Liturgie der Kate-
chumenen und die Liturgie der Gläubigen. In der alten Kirche durf­
ten dem ersten Teil die Katechumenen beiwohnen, das heißt diejeni­
gen, die sich auf den Empfang der Taufe vorbereiteten und das Kate-
II 1.8. Die Eucharistie 159

chumenat durchliefen. Sie mussten bei dem Ruf „Alle Katechume-


nen, geht hinaus“ den Kirchenraum verlassen, und es blieben nur die
„Gläubigen“ (die Getauften) in der Kirche, die dann am Sakrament
der Eucharistie teilnahmen und die Kommunion empfingen.

Die Liturgie der Katechumenen


Die Liturgie der Katechumenen hat vor allem belehrenden Charak­
ter. Sie beginnt mit dem Ruf: „Gepriesen sei das Reich des Vaters
und des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzt und immerdar und
von Ewigkeit zu Ewigkeit“, gefolgt von der Großen Ektenie, einer
Reihe von Fürbitten für die Welt, für die Kirche, für die bürgerlichen
und geistlichen Autoritäten, für das Gotteshaus und die darin mit
Glauben und Andacht eintreten, um gutes Wetter und darum, dass
die Gnade Gottes den Gläubigen helfe und sie bewahre. Dann folgen
die Psalmen 102[ 103] und 145[146j und der Gesang „Einziggeborener
Sohn“, in dem die Kirche sich an Jesus Christus als das Wort Gottes
wendet, das Mensch geworden ist „zu unserem Heil“. Gesungen
werden die Seligpreisungen des Evangeliums (Mt 5,3-12), an die sich
der Kleine Einzug anschließt, in dem das Evangelienbuch feierlich
hereingetragen wird.
Nach dem Gesang des Trishagion („Dreimal-Heilig“: „Heiliger
Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser“)
folgen die Lesungen aus dem „Apostel“ genannten Lesungsbuch (das
die Apostelgeschichte, die Briefe des Apostels Paulus und die katho­
lischen Briefe umfasst) und das Evangelium. Daran schließen sich
Ektenien an, eine Reihe von Fürbitten, die vom Priester im Altar­
raum gebetet werden. Die Liturgie der Katechumenen schließt mit
dem Ruf: „Alle Katechumenen, geht hinaus!“

Die Liturgie der Gläubigen


Anschließend beginnt ohne Unterbrechung die Liturgie der Gläubi­
gen. Es findet der Große Einzug statt, in dem die Heiligen Gaben aus
dem Altarraum herausgebracht und dann wieder hineingetragen und
auf den Altar gelegt werden: Brot und Wein, die für die Eucharistie
vorbereitet wurden.
160 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Während des Großen Einzugs wird der Cherubimgesang gesun­


gen, der lautet: „Die wir die Cherubim im Mysterium abbilden und
der lebenschaffenden Dreieinigkeit den Hymnus des Dreimal-Heilig
singen, lasst uns nun ablegen alle irdischen Sorgen, damit wir emp­
fangen den König des Alls, der unsichtbar geleitet wird von den
Chören der Engel. Alleluia'V Der Text des Cherubimgesangs drückt
den Glauben der Kirche aus, dass am Gottesdienst, der von Men­
schen auf Erden gefeiert wird, gemeinsam mit ihnen auch die Engel
teilnehmen.
Auf den Großen Einzug folgt noch eine Reihe von Bittgebeten.
Dann wird das Glaubensbekenntnis gebetet: In der heutigen Praxis
der Russischen Kirche wird es vom ganzen Volk gesungen. Das
feierliche laute Vortragen des Glaubensbekenntnisses vor dem Be­
ginn der Eucharistie bezeugt, dass aus der Sicht der Kirche der rechte
Glaube und das Bekenntnis der grundlegenden Dogmen der Kirche
unerlässliche Bedingung für die Vereinigung mit Gott sind.

Der eucharistische Kanon


Der Hauptteil die Liturgie - die Eucharistie - beginnt mit einem
Segen, der in den Worten des Apostels gründet: „Die Gnade unseres
Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes des Vaters und die G e­
meinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen“ (vgl. 2 Kor 13,13).
Nach diesem Segen, auf den der Chor antwortet: „Und mit deinem
Geiste“, folgen die alten liturgischen Rufe: „Erheben wir die Herzen“
und „Lasst uns danken dem Herrn“.
Das Gebet der Danksagung, eucharistischer Kanon genannt,
wird während des Chorgesangs vom Priester im Altarraum gebetet.
Dieses Gebet (das in der Liturgie von Basilius dem Großen bedeu­
tend ausführlicher ist als in der Liturgie von Johannes Chrysostomus,
inhaltlich jedoch in beiden Liturgien ähnlich) umschließt den Dank
an Gott: weil Er, der Unsichtbare, Unbegreifliche und Unerreichbare,
die Welt und den Menschen geschaffen hat; weil Er sich nach dem
Sündenfall der Menschen nicht von ihnen abwandte, sondern Sich31

31 Das hebräische Wort „Alleluia" bedeutet „Preiset Gott!“ und ging zusammen mit
dem Wort „Amen“ („wahrhaftig"), unüberselzt in den christlichen Gottesdienst ein.
II 1.8. Die Eucharistie 161

ihnen offenbarte, indem Er Propheten und Lehrer zu ihnen sandte;


insbesondere weil Er den Menschen Seinen Sohn gesandt hat, „damit
jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben
hat“ (Joh 3,16). Gedacht wird der grundlegenden Ereignisse des
Lebens und des Erlösungswerkes des Herrn Jesus Christus - von
Geburt, Kreuzestod, Auferstehung und Himmelfahrt bis zur Zweiten
Ankunft (so verbindet das Gebet Vergangenheit und Zukunft). Ge­
dacht wird des Heiligen Abendmahls, in dem Jesus den Jüngern
Seinen Leib und Sein Blut geschenkt hat.
Den grundlegenden Teil des Gebetes spricht der Priester so, dass
man ihn nur im Altarraum hört. Dann ruft er für alle hörbar die
Worte aus, die Jesus beim Abendmahl gesprochen hat: „Nehmt und
esst, das ist Mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung
der Sünden.“ „Trinkt alle daraus, das ist mein Blut des Neuen Bun­
des, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der
Sünden.“ Nach diesen Worten betet der Priester, der Heilige Geist
möge auf die Gläubigen und auf die Heiligen Gaben herabkommen
und sie zu Leib und Blut Christi machen.
Von diesem Augenblick an liegen auf dem Altar nicht mehr Brot
und Wein, sondern Leib und Blut des Erlösers.
Nun beginnt die Vorbereitung auf die Kommunion: Es erklingen
entsprechende Gebete und Gesänge, auf die das Gebet des „Vater
unser“ folgt. Dieses Gebet vor der Kommunion zu verrichten, hat
einen besonderen Sinn, weil es die Worte enthält: „Unser tägliches
Brot gib uns heute.“ ln diesem Fall wird unter dem „täglichen Brot“
nicht die alltägliche Nahrung verstanden, sondern das Brot, das nach
den Worten des Erlösers „vom Himmel herabkommt und der Welt
das Leben gibt“ (Joh 6,33).

Die Kommunion
Der Ruf „Das Heilige den Heiligen“ erklingt unmittelbar, bevor die
Zelebranten im Altarraum zu kommunizieren beginnen. Es bedeutet,
dass die Heiligen Gaben nur für die „Heiligen“ bestimmt sind, also
für diejenigen, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind
und die Taufe empfangen haben. In der alten Kirche wurde der
162 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Begriff „Heilige“ auf alle Christen bezogen; in unserer Zeit erinnert


er an die Berufung zur Heiligkeit, die alle Christen haben.
Nach der Kommunion der Zelebranten wird die Königstür ge­
öffnet, und der Kelch mit Leib und Blut Christi wird für die Kommu­
nion der Gläubigen hinausgetragen. Jeder tritt andächtig zum Kelch
hinzu, die Arme in Kreuzesform über der Brust verschränkt, nennt
laut seinen Namen und öffnet den Mund, damit der Priester das
Löffelchen mit einem Teilchen des Leibes Christi und einer kleinen
Menge des Blutes Christi hineingeben kann.” Danach küsst der
Kommunizierende den unteren Rand des Kelches und tritt zur Seite,
um warmes Wasser zur Kommunion nachzutrinken.
Die Liturgie endet mit feierlichen Dankgeheten und -gesängen
und mit dem Ruf „In Frieden lasst uns gehen" (als Hinweis darauf,
dass diejenigen, die die Kommunion empfangen haben, das Gottes­
haus im Zustand des inneren seelischen Friedens verlassen sollen)
sowie mit dem Segen des Priesters. Zum Abschluss der Liturgie
küssen die Gläubigen das Kreuz.
Leib und Blut Christi sind ein großes Heilsgeheimnis. Man muss
mit ihm andächtig und voller Ehrfurcht umgehen. Nach der Kom­
munion ist es nicht gut, sofort in Eile zu verfallen und zu gewöhn­
lichen Angelegenheiten zurückzukehren. Es ist wichtig, so lange wie
möglich den inneren Frieden zu bewahren, in den der Mensch durch
die Vereinigung mit Gott eintritt. Im Idealfäll sollte ein Christ diesen
seelischen Frieden überhaupt nie verlieren und sich darum mühen,
dass Gottes Heiligkeit nicht durch irgendwelche bösen oder sündhaf­
ten Taten gekränkt wird - im Wissen, dass Gott nicht von außen auf
ihn schaut, sondern durch das Sakrament der Kommunion in seinem
Inneren lebt.32

32 Im Moment der Kommunion soll man nichts anderes sagen als den eigenen
Namen: etwa dem Priester danken, Fragen stellen usw. Man sollte sich nicht
bewegen und nicht versuchen, dem Priester zu „helfen“, indem man mit dem
Mund das Löffelchen mit der Kommunion erfasst. Man sollte gerade stehen und
sich nicht bewegen, den Mund weit öffnen und ihn sofort schließen, wenn der
Löffel in den Mund gelangt ist. Weder vor noch sofort nach der Kommunion sollte
man sich bekreuzigen, um nicht gegen den Kelch zu stoßen.
III. 9. Weitere Sakramente und Riten 163

9. W eitere Sakram ente und Riten

Oben haben wir über drei Sakramente gesprochen: Im ersten Teil des
Katechismus über Taufe und Myronsalbung, im vorangehenden
Kapitel des dritten Teils über die Eucharistie. Nun bleibt uns, über
vier weitere Sakramenten zu sprechen sowie über einige kirchliche
Riten.

9.1 Die Beichte

„Buße“ oder „Beichte" heißt das Sakrament, bei dem die Gläubigen
ihre Sünden bekennen und der Priester ihnen im Namen Gottes
Vergebung zuspricht.
Viele Menschen sehen ihre eigenen Sünden und Fehler gar nicht.
Die mangelnde Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung (bei
gleichzeitiger übermäßiger Aufmerksamkeit für die Fehler anderer
Menschen) ist eine weit verbreitete geistliche Krankheit. Der Herr
Jesus sagt dazu: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bru­
ders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie
kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus dei­
nem Auge herausziehen! - und siehe, in deinem Auge steckt ein
Balken! Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge,
dann kannst du Zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders
herauszuziehen!“ (Mt 7,3-5).
Diese Krankheit lässt sich durch die Buße heilen. Buße bedeutet
keine unangemessene Selbstverurteilung oder Selbstkasteiung, sie
erfordert einen nüchternen, gesunden, aber kritischen Blick auf sich
selbst. Ein solcher Blick ist ohne die Hilfe Gottes schwer zu erlangen.
Daher heißt es in einem der Gebete, die im Großen Fasten gebetet
werden: „Herr, gib mir, meine Sünden zu sehen und meinen Bruder
nicht zu verurteilen.“
Die eigenen Sünden und Fehler zu sehen, ist die wichtigste Vor­
aussetzung für das Bußsakrament. Um seine Sünden zu erkennen,
muss man ständig das eigene Leben mit dem Evangelium verglei­
chen, mit der Bergpredigt des Erlösers aus dem Matthäusevangelium
und mit Seinen übrigen Anweisungen. Im Lichte dieser Anweisun­
164 Teil III. Kirche und Gottesdienst

gen wird wie in einem Spiegel alles sichtbar, worin der Mensch an
das sittliche Ideal „nicht heranreicht“.
Die Beichte kann geschehen, indem man sich in einem Gebet an
Gott wendet, oder in Form eines Gesprächs mit dem Priester. Wich­
tig ist nicht die Form, sondern der Inhalt der Beichte. Man soll in der
Beichte nicht ausführlich von seinen begangenen Sünden erzählen
und die näheren Umstände und die verschiedenen Begleitfaktoren
darlegen. Man soll nicht über fremde Sünden reden oder sich über
andere Menschen beklagen. Man sollte die Beichte nicht in eine
F.rörterung von „Problemen“, Alltagsschwierigkeiten oder theologi­
schen Fragen verwandeln. Die Beichte ist vor allem die Schilderung
der eigenen Fehler, Sünden und Laster. Voraussetzung für die Befrei­
ung von ihnen und die Vergebung ist der starke Wunsch des Beich­
tenden, sich von ihnen loszusagen oder zumindest gegen sie an­
zukämpfen.
Sehr oft nennen Menschen, die immer wieder zur Beichte kom­
men, ein und dieselben Sünden. Das bedeutet nicht, dass die Beichte
unnütz ist. Die Befreiung von den Sünden geschieht nicht automa­
tisch. Sünden sind ja nichts anderes als geistliche Krankheiten. Wie
auch bei körperlichen Erkrankungen ist es hier sehr wichtig, die
richtige Diagnose zu stellen. Diese Diagnose stellt der Mensch sich in
der Beichte selbst, und der Priester hilft ihm dabei. Außerdem ist es
nicht weniger wichtig, die Symptome der Krankheit seiner Seele klar
darzulegen, damit der Arzt die richtigen geistlichen Heilmittel an­
wenden kann. Was die Heilung angeht, so ist sie manchmal ein
langwieriger und schwieriger Prozess, der sich über viele Jahre hin­
ziehen kann.
Je näher ein Mensch Gott ist, umso mehr spürt er seine Sündhaf­
tigkeit und seine Unvollkommenheit, umso schärfer wird er sich der
eigenen Unzulänglichkeiten bewusst. Der Apostel Paulus hält sich
fiir den ersten unter den Sündern (1 Tim 1,15). Das Bußsakrament
führt den Menschen dazu, sich seiner eigenen Sündhaftigkeit tief
bewusst zu werden. Dabei beginnt man, in anderen Menschen immer
weniger die Unzulänglichkeiten zu sehen, und falls man sie sieht,
vermag man die Sünde vom Sünder und die Krankheit vom Kranken
zu unterscheiden.
II1.9. Weitere Sakramente und Riten 165

Das Bußsakrament bedeutet eine Umwandlung der Werte, eine


grundlegende Veränderung des Blicks auf sich selbst und die Men­
schen in der Umgebung. Echte Reue fuhrt weder zu Mutlosigkeit
noch zu Verzweiflung. Im Gegenteil, sie vermag tiefe innere Freude
mit sich zu bringen, ähnlich der Freude, die ein Mensch erfährt, der
nach langer, schwerer Krankheit wieder gesund wird.
Die Beichte schließt, indem der Priester über den Büßer die Worte
des Lossprechungsgebetes spricht, in dem es heißt, dass der Herr ihm
alle Sünden vergibt. Die Wirksamkeit dieses Gebetes setzt unbedingt
die Aufrichtigkeit des Büßers voraus. Wenn jemand, der zur Beichte
kommt, aus falscher Scham oder irgendwelchen anderen Erwägun­
gen dem Priester bestimmte Sünden verschweigt, empfängt er keine
Verzeihung von Gott, und das Sakrament der geistlichen Heilung
geschieht nicht.

9.2 Die Ehe

Ehesakrament oder Krönung wird die Handlung des Priesters ge­


nannt, die sich auf Personen bezieht, die in den Ehebund treten.
Nach der Lehre der Kirche ist „die Ehe das Sakrament, in dem in
einem freien Versprechen gegenseitiger Treue durch Bräutigam und
Braut vor dem Priester und der Kirche ihr Ehebund nach dem Bild
des geistlichen Bundes zwischen Christus und der Kirche gesegnet
und die Gnade frommer Einmütigkeit für die rechtmäßige Geburt
und die christliche Erziehung von Kindern geschenkt wird“ .33
In Übereinstimmung mit den alten kirchlichen Kanones können
zum Sakrament der Ehe nur Personen orthodoxen Bekenntnisses
zugelassen werden.34

33 Filaret von Moskau, Katechismus.


34 Gleichzeitig heißt es in den Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Ortho­
doxen Kirche (X.2): „Aus Erwägungen pastoraler .Ökonomie' hält die Russische
Orthodoxe Kirche - wie in der Vergangenheit, so auch heute - die Eheschließung
zwischen orthodoxen Christen einerseits und Katholiken, Angehörigen der Orien­
talischen Orthodoxen Kirchen und Protestanten andererseits, die sich zum Glau­
ben an die Dreieinigkeit Gottes bekennen, für möglich unter der Bedingung, dass
die Ehe in der Orthodoxen Kirche gesegnet wird und die Kinder im orthodoxen
166 Teil III. Kirche und Gottesdienst

Das Sakrament der Ehe hat zwei Teile: die Verlobung und die
Krönung. Die Verlobung kann unabhängig von der Krönung erfol­
gen oder unmittelbar vor ihr. Bei der Verlobung schwören die künf­
tigen Eheleute einander die Treue, und der Priester betet, Gott möge
ihren Ehebund segnen.
Die Krönung selbst erinnert ihrer Struktur nach an die Göttliche
Liturgie. Das hängt damit zusammen, dass in der alten Kirche die
Eheschließung nicht selten während der Liturgie vorgenommen
wurde und bei der Feier des Sakraments die ganze kirchliche G e­
meinschaft teilnahm (in der heutigen Praxis erfolgt die Krönung in
der Regel außerhalb der Liturgie, und anwesend sind die Verwandten
und Freunde des Bräutigams und der Braut). Im Ritus der Krönung
werden dem Bräutigam und der Braut Kronen auf den Kopf gesetzt,
und es werden unterschiedliche Gebete und Bitten gesprochen, die
den Sinn des Ehebundes enthüllen.
Dieser Sinn findet Ausdruck auch durch die Lesung eines Ab­
schnitts aus dem Brief des Apostels Paulus an die Epheser, der fol­
gende Worte enthält: „Einer ordne sich dem anderen unter in der
gemeinsamen Furcht Christi! Ihr Frauen euren Männern wie dem
Herrn: denn der Mann ist das Haupt der Frau wie auch Christus das
Haupt der Kirche ist. Er selbst ist der Retter des Leibes. Wie aber die
Kirche sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen in
allem den Männern unterordnen. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie
auch Christus die Kirche geliebt und Sich für sie hingegeben h a t...
Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie
ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst... Dies ist
ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche.
Indessen sollt auch ihr, jeder Einzelne, seine Frau lieben wie sich
selbst, die Frau aber ehre ihren Mann“ (Eph 5,21-33).
In diesen Worten darf man nicht lediglich den Ausdruck einer
alten patriarchalischen Ordnung sehen, derzufolge der Mann das

Glauben erzogen werden“. Im Hinblick auf Ehen zwischen Orthodoxen und


Nichlchristen heißt es in demselben Dokument, dass die Kirche deren Eheschlie­
ßung nicht segnet, sie jedoch „gleichzeitig als rechtmäßig anerkennt und nicht der
Auffassung ist, dass die Ehegatten in unzüchtiger Weise Zusammenleben.“
II1.9. Weitere Sakramente und Riten 167

Haupt der Familie ist und die Frau eine untergeordnete Stellung
einnimmt. Der Akzent liegt vor allem auf der ehelichen Treue. Die
Liebe des Mannes zur Frau muss aufopfernd sein, er muss für sie
sorgen und sie lieben nach dem Bild der aufopfernden und selbst­
losen Liebe Christi zur Kirche, und die Frau muss danach streben,
den Mann in nichts zu betrüben.
Die Lesung aus dem Evangelium schildert, wie Jesus bei der Hoch­
zeit zu Kana in Galiläa Wasser in Wein verwandelt (Joh 2,1-11).
Dieser Abschnitt aus dem Evangelium unterstreicht den sakramen­
talen Charakter der Ehe. In den Sakramenten werden materielle
Elemente durch die göttliche Gegenwart erfüllt, sie erlangen heil­
bringende Eigenschaften durch Verwandlung unter der Wirkung des
Heiligen Geistes. Brot und Wein werden in Leib und Blut Christi
verwandelt, eine Mischung aus wohlriechenden Ölen wird zum
heiligen Myron, gewöhnliches Wasser wird zu Weihwasser. Zugleich
erfolgt im Sakrament eine Verwandlung dessen, der daran teilhat. In
der Taufe wird der Mensch aus einem alten in den neuen Menschen
umgewandelt, er wird von neuem geboren. In der Eucharistie wird er
in ein Glied des Leibes Christi verwandelt und mit Christus vereint.
In der Ehe erfolgt eine Verwandlung von zwei Menschen in „ein
Fleisch“ (Gen 2,24), in einen Leib, ein Übergang von der Verein­
zelung zum Einssein. Diese Vereinigung geschieht in der Kraft der
gegenseitigen Liebe der Eheleute und durch die Wirkung der Gnade
Gottes.
Die Verwandlung von Wasser in Wein ist außerdem ein Symbol
der Umgestaltung des alltäglichen Lebens der Familie in ein Fest. Die
eheliche Gemeinschaft, durch Christus gesegnet, ist ein Bund, in dem
der Herr Selbst unsichtbar gegenwärtig ist, und soll ein ständiges Fest
werden, in dem die Eheleute einander das Angesicht Gottes offen­
baren, eine unaufhörliche Verwandlung ihres gemeinsamen Alltags­
lebens in ein Fest.
168 Teil III. Kirche und Gottesdienst

9.3 Die Heilige Ölung

Sakrament der Heiligen Ölung (Krankensalbung) wird eine priester-


liche Handlung genannt, die an schwer kranken Menschen vollzogen
wird.
Im Brief des Apostels Jakobus heißt es: „Ist einer unter euch
krank, dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen
Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl
salben. Das gläubige Gebet wird den Kranken retten, und der Herr
wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden begangen hat, werden sie
ihm vergeben“ (Jak 5,14-15).
Diese Worte spiegeln die Praxis der alten Kirche wider, und dem­
entsprechend setzt das Sakrament der Heiligen Ölung die Teilnahme
mehrerer Priester voraus (nach der kirchlichen Ordnung sind es
sieben). Sie kommen zu dem Kranken, sprechen über ihn Gebete um
Heilung und salben ihn mit dem geweihten Öl. Dabei werden A b­
schnitte aus den Apostelbriefen und den Evangelien gelesen.
In vielen Pfarreien gibt es die Praxis der „gemeinsamen Heiligen
Ölung“. Sie wird im Gotteshaus von mehreren Priestern an allen
vollzogen, die es wünschen (sie müssen nicht unbedingt schwer
krank sein).
Im Sakrament der Heiligen Ölung beten die Priester nicht nur um
Heilung für den Kranken, sondern auch um Vergebung seiner Sün­
den. Es besteht die Auffassung, dass in der Heiligen Ölung vergessene
Sünden vergeben werden und das Sakrament auf diese Weise eine
gewisse Ergänzung der Beichte ist. Diese Auffassung ist falsch. Beichte
und Heilige Ölung sind zwei verschiedene Sakramente. Ziel des
Bußsakramentes ist die Heilung von geistlichen Krankheiten (Sün­
den), Ziel der Heiligen Ölung ist die Heilung von physischen Leiden.
Zugleich gilt: Insofern das eine Sakrament mit dem anderen eng
verbunden ist und körperliche Heilung nicht ohne geistliche Heilung
geschehen kann, umfasst die Ordnung der Heiligen Ölung nicht nur
Gebete um Gesundung, sondern auch um Vergebung der Sünden.
Die früher verbreitete Auffassung von der Heiligen Ölung als
einer Art Ritual vor dem Tod muss ebenfalls als falsch betrachtet
werden. Das Sakrament kann tatsächlich auch an einem Menschen
111.9. Weitere Sakramente und Riten 169

vollzogen werden, der dem Tode nahe ist - in der Hoffnung, dass
Gott ein Wunder wirkt und ihn ins Leben zurückkehren lässt. Doch
sie ist nicht das „letzte Weggeleit“, das für einen sterbenden Christen
in Beichte und Kommunion besteht.

9.4 Das Sakrament der Weihe

Im Verständnis des Sakraments der Weihe (Handauflegung) sind


drei heilige Handlungen miteinander verbunden, die nur durch
Bischöfe ausgeführt werden: die Handauflegung für den Rang des
Diakons, des Priesters und des Bischofs. Die beiden ersten werden
von einem einzigen Bischof ausgeführt, die dritte von einer Ver­
sammlung von Bischöfen (nicht weniger als zwei oder drei). Alle
diese heiligen Handlungen erfolgen während der Liturgie und finden
mit besonderer Feierlichkeit statt. Dabei werden Gebete und For­
meln gesprochen, die besagen, dass die göttliche Gnade, die stets die
menschliche Schwachheit heilt und seine Armseligkeit ergänzt, die­
sen Menschen zu diesem bestimmten Dienst bestellen möge.
Die Kirche glaubt, dass Gott Selbst einen Menschen zum hierar­
chischen Dienst bestellt und Seine Gnade über ihn ausgießt durch
die Handauflegung des Bischofs bzw. der Bischöfe.
Der hierarchische Dienst kann in der Orthodoxen Kirche nur
durch eine Person männlichen Geschlechts ausgeübt werden, die
über die entsprechenden Eigenschaften und eine theologische Aus­
bildung verfügt und keine kirchenrechtlichen Hindernisse für die
Handauflegung aufweist.55 Diakon und Priester können verheiratet
sein, jedoch können sie nur bis zur Handauflegung eine Ehe schlie­
ßen. Die Bischöfe werden aus den unverheirateten Geistlichen ge­
wählt.3536

35 Dazu gehört unter anderem auch die zweite Heirat des Weihekandidaten selbst
oder seiner Frau.
36 In der Russischen Orthodoxen Kirche sind alle Bischöfe Mönche.
170 Teil III. Kirche und Gottesdienst

9.5 Kirchliche Riten

Eine ganze Reihe von heiligen Handlungen zählt man üblicherweise


zu den kirchlichen Riten. Der Unterschied zwischen einem Sakra­
ment und einem Ritus bezieht sich nicht auf den Kern des christ­
lichen Glaubens. Dieser Unterschied ist historisch bedingt und hat
sich erst recht spät herausgestellt. Das gesamte kirchliche Leben hat
sakramentalen Charakter, und viele heilige Handlungen, die nicht
zur Ordnung der Sakramente gehören, weisen doch charakteristische
Züge der Sakramente auf.
Zum Beispiel ist die Mönchsweihe ein Ritus, der in Struktur und
Inhalt an den Ritus der Taufe erinnert. Mönche sind Menschen, die
der Welt entsagen und das Gelübde der Ehelosigkeit, der Besitzlosig­
keit und des Gehorsams gegenüber der Kirche ablegen. Sie sind zum
Gebet und zu einer asketischen Lebensform berufen. Der Eintritt in
das Mönchtum erfolgt durch einen Ritus, in dessen Verlauf der
Mensch einen neuen Namen erhält, seine bürgerliche Kleidung wird
ihm genommen, und ihm wird ein besonderes Mönchsgewand ange­
legt, ihm werden alle früheren Sünden vergeben, und er wird zum
Glied der monastischen Gemeinschaft.
Der Ritus der Wasserweihe, der am Fest der l aufe des Herrn
vollzogen wird, erinnert inhaltlich an die Eucharistie. Durch das
Gebet des Priesters und der Gemeinde kommt der Heilige Geist auf
das Wasser herab und verwandelt es in ein großes Heilszeichen, das
die Gläubigen mit Andacht trinken zur Reinigung und Heiligung
von Seele und Leib und mit dem sie ihre Häuser besprengen.
Große Bedeutung haben die Riten, die mit Sterben und Tod zu
tun haben. Die Kirche wendet sich mit besonderer Aufmerksam­
keit den Sterbenden zu und umgibt sie mit Fürsorge. Es ist sehr
wichtig, dass zu einem Sterbenden, solange er noch bei Bewusstsein
ist, ein Priester gerufen wird, der seine Beichte hört und ihm die
Kommunion reicht. Oft schieben die Verwandten es bis zur letzten
Minute auf, den Priester zu rufen, um den Sterbenden nicht durch
den Gedanken an den Tod zu „entmutigen“. Dieses Verhalten ist
nicht richtig und sogar gotteslästerlich, weil Sterbende manchmal das
letzte Weggeleit verlieren.
III.9. Weitere Sakramente und Riten 171

Nach der Lehre der Kirche muss der Mensch den Tod nicht
fürchten, und wenn er stirbt, so bedeutet das nicht, dass man es vor
ihm verbergen darf. Ein Priester kann einem Sterbenden helfen,
würdig, furchtlos und ruhig seinem Ende zu begegnen, sein Gewis­
sen durch die Beichte zu reinigen und Leib und Blut Christi vor dem
Übergang in die Ewigkeit zu empfangen.
Wenn der Mensch seinen Geist aufgibt, betet der Priester über
ihm besondere Gebete, und dann (in der Regel am dritten Tag) fin­
det die Aussegnung des Verstorbenen statt. Dafür wird sein Leib in
die Kirche gebracht, und die Nahestehenden sind anwesend, um sich
von ihm zu verabschieden. Danach bringt man den Leib des Ver­
storbenen zum Friedhof und übergibt ihn der Erde. Auch daran
nimmt der Priester teil.
Es gibt noch andere kirchliche Riten, verbunden mit verschiede­
nen Ereignissen im Leben eines Menschen, zum Beispiel die Segnung
eines Hauses oder einer Wohnung, eines Autos oder eines anderen
Transportmittels, Gebete vor der Einschulung von Kindern, Moleben
um Gesundung, verschiedene Arten von Gebeten für die Verstorbe­
nen. Diese Riten und heiligen Handlungen werden vom Priester auf
Bitten der Gläubigen durchgeführt. Durch sie werden verschiedene
Aspekte des menschlichen Lebens und Alltagsgegenstände von der
Kirche geweiht und gesegnet.

***
Aufgaben

Lesen Sie das Johannesevangelium. Versuchen Sie, sich selbst diese


Fragen zu beantworten: Sind Sie bereit, Jesus Christus als Gott und
Erlöser anzunehmen? Wollen Sie die Liebe lernen, zu der Er berufen
hat? Wollen Sie ein vollwertiges Mitglied in der Gemeinschaft Seiner
Jünger werden ?
Lesen Sie das Glaubensbekenntnis und lernen Sie es auswendig.
Lesen Sie das Vater unser und lernen Sie es auswendig.
Wenn Sie diesen Katechismus mit dem Ziel gelesen haben, Ihre Kennt­
nis des orthodoxen Glaubens zu vertiefen, gehen Sie zum Nachwort
über.
Wenn Sie noch nicht getauft sind und den Wunsch haben, getauft zu
werden, oder wenn Sie ein Kind taufen lassen wollen, sprechen Sie mit
dem Priester über einen Termin fü r die Feier der Taufe. Lesen Sie das
Nachwort, nachdem Sie das Sakrament der Taufe empfangen haben.
Nachwort
Christ zu sein, bedeutet nicht nur, das Glaubensbekenntnis zu ken­
nen und regelmäßig zur Kirche zu gehen, zu beichten und die Kom ­
munion zu empfangen, sondern auch christlich zu leben. Christlich
zu leben bedeutet, nicht nach den Standards „dieser Welt“ zu leben,
sondern nach anderen Regeln und Gesetzen. Dies setzt die Bereit­
schatt voraus, gegen den Strom zu schwimmen, es erfordert geist­
lichen Heroismus und in Situationen direkter Verfolgung Bekenner­
mut bis zum Martyrium. Jesus ging als erster auf diesem Weg voraus
und hat Seine Jünger keinen anderen Weg gelehrt.
Bemühen Sie sich, jeden Tag das Evangelium zu lesen, kapitel­
weise, nach Perikopen1, oder wenigstens einige Zeilen. Legen Sie das
Evangelium auf einen sichtbaren Platz (auf den Arbeitstisch, auf den
Nachttisch am Bett) und wenden Sie sich ihm so häufig wie möglich
zu. Durch dieses Lesen wird Christus unsichtbar in Ihrem Leben
gegenwärtig sein, Seine lebendige Stimme wird in Ihren Ohren klin­
gen und in Ihrem Herzen Nachhall finden. Das Evangelium ist eine
Schule des geistlichen Lebens. Selbst wenn Sie eine bestimmte bibli­
sche Erzählung bereits viele Male gelesen haben und fast auswendig
können, kann sie sich unerwartet auf neue Weise für Sie erschließen.
Ich möchte Ihnen einen Rat geben, der auf der Erfahrung vieler
Menschen beruht: Wenn Sie eine vollständige Bibel haben, versu­
chen Sie nicht, sie sofort ganz zu lesen. Beginnen Sie mit dem Neuen
Testament: Lesen Sie am Anfang nur die vier Evangelien, dann ver­
suchen Sie, das Buch der Apostelgeschichte zu lesen und die katho­
lischen Briefe (v.a. den Jakobusbrief, den ersten und zweiten Petrus­
brief, die drei Johannesbriefe). Bevor Sie die Briefe des Apostels
Paulus lesen, wenden Sie sich dem Alten Testament zu und lesen Sie
aus ihm die ersten zwei Bücher: Genesis und Exodus. Dann kehren
Sie zu den Evangelien zurück und lesen Sie sie erneut, und danach
erst gehen Sie zu den Paulusbriefen über.

1 Heutige Evangelienausgaben sind in Kapitel eingeteilt, Ausgaben für den Gebrauch


im Gottesdienst in „Perikopen“, d.h. in kleinere Abschnitte, die jeweils ein Thema
behandeln.
174 Nachwort

Das Lesen in dieser Ordnung hilft Ihnen, sich an die Bibel zu


gewöhnen, ihren inneren Rhythmus zu spüren, die Wechselbezie­
hung zwischen Altem und Neuem Testament zu erfassen. Im Weite­
ren sind Sie bereits in der Lage, Ihren Weg durch die Bibel selbstän­
dig zu finden und die Bücher auszuwählen, die Sie interessieren.
Bemühen Sie sich, jeden Tag im Psalter zu lesen, selbst wenn es
nur ein Psalm oder einige wenige Psalmen sind.-1 In diesem bibli­
schen Buch sind die unterschiedlichsten Gebete enthalten - trauernde
und freudige, kurze und lange. Das ganze Spektrum von Gebets­
erfahrungen drückt sich in den Psalmen aus. In welcher geistlichen,
emotionalen oder physischen Situation der Mensch sich auch befin­
det - immer stößt er darin auf etwas, das für ihn passt.
Jeden l ag sollten Sie mit einem Gebet beginnen und mit einem
Gebet beenden. Nutzen Sie dafür das „Orthodoxe Gebetbuch“. Es
enthält Morgen- und Abendgebete, besondere Gebete vor und nach
der Kommunion und auch andere Gebete für unterschiedliche
Lebenssituationen. Begnügen Sie sich nicht nur mit Gebeten, die in
einem Buch gedruckt stehen. Vergessen Sie nicht, mit Ihren eigenen
Worten zu beten. Neben dem persönlichen Gebet ist das Gebet in der
Familie wichtig: Es stärkt die Familie als ein Ganzes und hilft ihren
Gliedern, sich als „Hauskirche“ zu fühlen.
Wenn Sie verheiratet sind, Ihr Ehemann oder Ihre Ehefrau sich
aber noch nicht dem Glauben und der Kirche angeschlossen hat,
dann denken Sie daran: „Der ungläubige Mann ist durch die Frau
geheiligt, und die ungläubige Frau ist durch den Bruder geheiligt“
(1 Kor 7,14). Versuchen Sie nicht, Ihre Nächsten dazu zu bringen, an
Gott zu glauben, ziehen Sie sie nicht mit Gewalt zur Kirche, versu­
chen Sie nicht, sie mit Ermahnungen oder Vorwürfen zu überzeu­
gen. Leben Sie einfach christlich, tun Sie Gutes, gehen Sie zur Kirche,
teilen Sie mit Ihren Nächsten die Gnade, an der Sie dort Anteil
haben, und die anderen werden selbst zum Glauben und zur Kirche

2 In orthodoxen kirchlichen Ausgaben ist der Psalter in 20 Kathismata (aus dem


Griechischen; wörtlich „Sitzungen“) eingeteilt. Viele Gläubige folgen der Regel, ein
Kathisma pro Tag zu lesen.
Nachwort 175

hingezogen werden, wenn sie sehen, welchen wohltuenden Einfluss


der Glaube auf Sie hat.
Teilen Sie alles, was Sie erfahren, mit Ihren Kindern. Fürchten Sie
nicht, dass die Kinder irgendetwas noch nicht verstehen können oder
sich erschrecken, wenn sie mit dem Glauben und der Kirche in Be­
rührung kommen. Nichts als Gewinn werden sie von der Teilnahme
am kirchlichen Leben haben. Ihr ganzes späteres Leben lang werden
sie Ihnen dankbar dafür sein, dass Sie sie im Glauben erzogen und
ihnen das Wichtigste geschenkt haben: Gott.
Gehen Sie nach Möglichkeit nicht weniger als einmal pro W o­
che zum Gottesdienst in die Kirche und versäumen Sie nicht die
größeren kirchlichen Feste. Befassen Sie sich mit dem Gottesdienst,
bemühen Sie sich, in seinen Sinn einzudringen, lassen Sie sich nicht
abschrecken, wenn die kirchliche Sprache schwer verständlich er­
scheint. Möge die Kirche ein geistliches Zuhause für Sie und Ihre
Familie sein.
Versuchen Sie regelmäßig zu beichten und zu kommunizieren.
Reinigen Sie Seele und Herz von dem angesammelten Bösen, fürch­
ten Sie sich nicht, die Seele vor Gott und dem Priester zu eröffnen.
Mit Gottesfurcht und Glaube treten Sie hinzu zum Kelch der Heili­
gen Kommunion, und nehmen Sie Gott Selbst in Ihr Inneres auf.
Halten Sie Leib und Blut Christi heilig. Irdische Sorgen und Unruhen
sollten nicht das einzigartige, erschütternde Gefühl der Nähe Gottes
überlagern, das aus der heiligen Kommunion hervorgeht.
Halten Sie die Fastenzeiten ein, die von der Kirche festgesetzt
sind, soweit Ihre Kräfte es gestatten. Die Kirche hat sie nicht festge­
setzt, um es Ihnen schwer zu machen oder Sie zu plagen, sondern für
Ihre physische und geistliche Gesundheit. Denken Sie aber stets
daran, dass weder die Beobachtung des Fastens in sich noch die
Verbesserung der Gesundheit Selbstzweck sind. Das Wichtige ist
diejenige geistliche Gesundheit, die durch nichts ersetzt oder kom­
pensiert werden kann. Auf ihre Erlangung ist der ganze Komplex des
kirchlichen Lebens, einschließlich der Fastenzeiten, ausgerichtet.
Das kirchliche Leben soll nicht Last, sondern Freude sein. Er­
innern Sie sich je neu an die Worte des Apostels Paulus: „Freut euch
allezeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles!“ (1 Thess 5,16-18).
176 Nachwort

Diese Worte können Ihnen zur Devise werden. Suchen Sie die Freu­
de nicht dort, wo sie nicht ist: in Ablenkungen, im Geld, in Lastern
und Wollust. Suchen Sie die Freude dort, wo sie wirklich zu finden
ist: in Gott, der Quelle aller Freude und allen Glücks. Irdische Freu­
den gehen rasch vorüber und enden, die Freude an Gott aber „nimmt
euch niemand“ (Joh 16,22).
Das I-eben in der Kirche befreit nicht von Problemen und Lei­
den, gibt aber Kraft, ruhig und freudig Leiden zu ertragen, in der
Gewissheit, entstehende Probleme lösen zu können. Es bewirkt für
Sie nicht mehr Wohlergehen als bei anderen Menschen, aber es gibt
Ihrem ganzen Leben Sinn und Inhalt, einschließlich der Leiden, die
unausweichlich zum Los jedes Menschen gehören. An diesen Leiden
und Erprobungen zerbrechen Sie nicht, weil der feste Stab des Glau­
bens Sie immer davor bewahrt, in Verzweiflung und Mutlosigkeit zu
geraten.
In einem schwierigen Augenblick kommt die Kirche immer zu
Hilfe. Die Kirche hilft Ihnen, Krankheiten, die Sie heimsuchen, ruhig
zu ertragen. Sie tröstet in der Trauer um einen nahestehenden Men­
schen, der in die andere Welt hinübergegangen ist, und hilft, mit ihm
lebendig verbunden zu bleiben durch das Gebet und den Gedenk­
gottesdienst für die Ruhe der Verstorbenen. Sie segnet Sie für jeden
guten Neubeginn. Sie stärkt im Tun des Guten. Sie lehrt Gefahren
und Versuchungen aufzudecken und Gutes von Bösem zu unter­
scheiden.
Die Kirche ist fähig, Ihr ganzes Leben zu einem Fest zu verwan­
deln, wenn Sie es wrollen. Vergessen Sie Gott nicht. Leben Sie in
Christus. Nähren Sie Ihre Seele von Seinem Leib und Blut, schöpfen
Sie aus Ihm segensreiche Kraft, lernen Sie von Ihm Weisheit, Geduld,
Demut, Sanftmut, Barmherzigkeit. Drängen Sie danach, Gutes zu tun
und gegen das Böse zu kämpfen. Seien Sie Christ oder Christin nicht
nur in Worten, sondern in der Tat.
Und der Flerr möge Ihnen immer zur Seite stehen!
Zur Entstehung des Katechism us 1
Metropolit Hilarion im Interview

Worin unterscheidet sich Ihr Katechismus von demjenigen, den die


Synodale Biblisch-Theologische Kommission unter Ihrer Leitung er­
arbeitet? Warum brauchte es einen weiteren Katechismus?

In der Synodalen Biblisch-Theologischen Kommission schreiben wir


seit vielen Jahren einen umfangreichen Katechismus. Die Idee be­
stand darin, ein grundlegendes Werk zu verfassen, das eine aus­
führliche Darlegung des orthodoxen Glaubens enthält. Die Aufgabe
wurde mir übertragen, als ich noch nicht Vorsitzender der Kommis­
sion war, die damals von Metropolit Filaret von Minsk geleitet wurde.
Es wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, wir begannen zunächst den
Inhalt des Katechismus zu diskutieren, dann haben wir das Konzept
festgelegt, und schließlich wurde eine Gruppe von Autoren ausge­
wählt.
Leider haben einige der Autoren so geschrieben, dass wir die
Früchte ihrer Arbeit nicht verwenden konnten. Manche Abschnitte
mussten wir ein zweites oder drittes Mal vergeben. Nach einigen
Jahren intensiver Arbeit hatten wir schließlich einen Text, den wir in
Plenarsitzungen zu diskutieren begannen, und wir sammelten Stel­
lungnahmen der Mitglieder der Theologischen Kommission. Endlich
stellten wir den Text der Kirchenleitung zur Verfügung. Zur Zeit ist
der Text mit der Bitte um Stellungnahmen versandt, und die ersten
Reaktionen sind bereits eingetroffen.
Vor einigen Tagen habe ich einen Brief von einem ehrwürdigen
Mitglied der Flierarchie erhalten, der eine Stellungnahme zum Text
unseres Katechismus beilegt, ausgearbeitet in seiner Diözese. Diese
Stellungnahme enthält viel Lob, doch es heißt auch, der Katechismus
sei zu lang, enthalte zu viele unnötige Einzelheiten - und der Kate­
chismus solle kürzer sein.

1 Auszug aus einem Interview, das Metropolit Hilarion anlässlich seines 50. Ge­
burtstags am 24. Juli 2016 in Moskau gab.
178 Zur Entstehung des Katechismus

Als wir die Konzeption dieses Katechismus erarbeiteten, bestand


unsere Idee darin, ein großes Buch zu schreiben, das im einzelnen
über die Lehren der Orthodoxen Kirche, über Kirche und Gottes­
dienst sowie über das sittliche Leben spricht. Doch jetzt, nachdem
wir dieses große Buch mit Hilfe erheblicher gemeinschaftlicher An­
strengungen geschrieben haben, sagt man uns: „Aber wir brauchen
ein kleines Buch. Gebt uns ein Buch, das wir einem Menschen geben
können, der getauft werden will, so dass er innerhalb von drei Tagen
alles lesen kann, was er wissen muss.“
Um ehrlich zu sein, hat mich diese Stellungnahme provoziert. Und
zwar so sehr, dass ich mich an meinen Computer gesetzt und meinen
eigenen Katechismus geschrieben habe - den Katechismus, den man
einem Menschen vor der Taufe geben kann. Ich wollte, dass man ihn
in drei Tagen durchlesen kann. Auch ich habe ihn in drei Tagen
geschrieben - in einem großen Atemzug der Inspiration. Dann, um
ehrlich zu sein, musste vieles umgeschrieben, klarer formuliert und
nachgebessert werden, doch der anfängliche Text war sehr rasch
geschrieben. In diesem Katechismus habe ich mich bemüht, die
Grundlagen des orthodoxen Glaubens so verständlich und einfach
wie nur möglich darzulegen, die Lehre über die Kirche und ihren
Gottesdienst zu erläutern und über die Grundlagen der christlichen
Lebensführung zu sprechen.

Sie schreiben sehr gut kurze Texte über die Glaubenslehre - fü r Über­
setzungen ins Englische benutzen wir ständig Ihre Bücher.

Hier war das Wichtigste, nichts Überflüssiges zu schreiben. Ständig


musste ich mich beschränken, denn natürlich kann man zu jedem
Thema mehr sagen, doch ich versetzte mich in den Menschen hinein,
der getauft werden will: Was muss man diesem Menschen geben,
damit er etwas über den orthodoxen Glauben erfahrt? Als Ergebnis
entstand ein Katechismus für diejenigen, die sich auf die Taufe vor­
bereiten, und für diejenigen, die irgendwann einmal getauft wurden,
aber nicht kirchlich sozialisiert sind, und für alle, die mehr über
ihren Glauben wissen wollen.
Zur Entstehung des Katechismus 179

Übrigens schrieb ich dank der Tatsache, dass wir nicht zum Pan-
orthodoxen Konzil gegangen sind. Ich hatte zwei Wochen für den
Aufenthalt auf Kreta eingeplant, doch da wir die Entscheidung ge­
troffen hatten, nicht dorthin zu reisen, hatte ich unerwartet ganze
zwei Wochen frei. Diese Zeit habe ich mit dem Katechismus ver­
bracht: In drei Tagen habe ich ihn geschrieben und in einer Woche
überarbeitet.

Wird es also künftig zwei Katechismen in der Kirche geben: einen


ausführlichen großen Katechismus und einen Band fü r Anfänger?

Diese zwei Bücher haben einen verschiedenen Status. Das eine ist ein
gemeinschaftlich erarbeiteter Text, und ich hoffe, dass wir ihn in die
erforderliche Fassung bringen und die kirchliche Zustimmung für
diesen Text erhalten werden. Für das, was ich jetzt geschrieben habe,
trage ich als Autor die Verantwortung. Und ich hoffe, dass dieser
Katechismus Verwendung finden wird, unter anderem in Situatio­
nen, wenn ein Mensch getauft werden will und sagt: „Gebt mir ein
Buch, damit ich es in drei bis vier Tagen lesen und mich vorbereiten
kann“. Zu diesem Zweck wurde das Buch geschrieben.
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates
der Universität Freiburg Schweiz

Satz: Institut für ökum enische Studien der Universität Freiburg/Schweiz

© 2017 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

www.aschendorff-buchverlag.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die
der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der
Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenver­
arbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, Vorbehalten. Die Vergü­
tungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahr­
genommen.

Printed in Germany 2017


Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier©
ISBN 978-3-402-12034-7

d
Inhalt

V O R W O R T ........................................................................................... 1

Teil I
DIE GLAUBENSLEHRE .................................3

1. Der G la u b e ...........................................................................................5
2. Der eine Gott - Vater und Schöpfer...............................................9
3. Jesus C hristus................................................................................... 21
3.1 Menschensohn........................................................................ 22
3.2 G ottessohn.............................................................................. 39
4. Der Heilige G e is t.......................................................................... 48
5. Der Dreieine Gott ........................................................................ 52
6 . Die K irche....................................................................................... 55

7. Die Taufe ....................................................................................... 66


7.1 Die Taufe - Sakrament der K irch e................................... 66
7.2 Die Feier von Taufe und M yronsalbung........................... 71
8 . Die Auferstehung der Toten ....................................................... 78

Teil II
DIE CHRISTLICHE LEBEN SFÜ H RU N G ............. 84
1. Die Zehn Gebote des Alten Testaments................................... 86
2. Die Seligpreisungen....................................................................... 89
3. Alttestamentliche Gebote und christliche Lebensführung . . 93
4. Gottesliebe und Nächstenliebe .................................................... 97
5. Sünde und U m kehr....................................................................... 100
6. Christliches Leben in der F am ilie.............................................. 107
7. Kindererziehung ........................................................................... 110
8. Die Frau in der Kirche ................................................................ 114
9. Christliches Leben als Weg geistlicher Selbstüberwindung. 117
II Inhalt

Teil III
K IRCH E U N D G O T T E S D IE N S T ..................... 121

1. Die Gottesmutter und die H eiligen .............................................. 121


2. Das G e b e t ............................................................................................ 128
3. Das kirchliche L e b e n ........................................................................ 134
4. Das orthodoxe G o ttesh a u s............................................................. 135
5. Ikonen und K r e u z ............................................................................. 139
6. Die kirchlichen F e stta g e ................................................................. 145
7. Der wöchentliche und der tägliche G o ttesd ien stk reis......... 150
8. Die Eucharistie................................................................................... 152
8.1 Die Eucharistie - Daseinsgrundlage der K ir c h e ............ 152
8.2 Die Feier der Göttlichen Liturgie ...................................... 158
9. Weitere Sakramente und R it e n .................................................... 163
9.1 Die B e ich te ................................................................................ 163
9.2 Die E h e ....................................................................................... 165
9.3 Die Heilige Ö lu n g ................................................................... 168
9.4 Das Sakrament der W e ih e ................................................... 169
9.5 Kirchliche R iten ....................................................................... 170

N A C H W O RT ......................................................................................... 173

Zur Entstehung des Katechism us.................................................. 177


ft.i; S ilÄ
iRl.'W St'.!5 R ): 's (im (?)jjh <\i:l■!St;J
jjij «ftsKii;:-.!

^SätöSJf Jj Jfi ßLtt TÜ&Ti! iMj öj .Cw."

(iftV(i)f S(ijt■IS^f i gi i ^l l i mf edbS: i $ . t ■


piE tätte(^ © riöäSl^ ii 0 X: l i t e r t «'<• ,i>!M*« v ® h 8 '-■.r
ta>ij ?: .1K^tsjfSftw Tifr a») ffril i i; « r (S)x4 $ Sk«'*;«»?

(^ x R a is^ ife stf' StäsR ,

Der Autor: Metropolit Hilarion (Alfeyev), geb. 19 6 6 , Leiter des


Außenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche, Dr. phil. (Oxford),
Dr. theol. (Institut St. Serge, Paris), Habilitation für das Fach
Dogmatik 20 0 5 an der Theologischen Fakultät der Universität
Fribourg Schweiz, seit 2 0 11 dort Titularprofessor.
Autor zahlreicher Bücher und Komponist sakraler Musik.
(Foto: Anna Danilova)

g Jft Aschendorff
Verlag ISBN 978-3-402-12034-7 f
! IUI III llllllllllllllll 1111III

Das könnte Ihnen auch gefallen