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Wilfrid Coenen

Manuelle Medizin bei Säuglingen und Kindern


Entwicklungsneurologie – Klinik – Therapeutische Konzepte
Wilfrid Coenen

Manuelle Medizin bei


Säuglingen und Kindern
Entwicklungsneurologie – Klinik –
Therapeutische Konzepte

Mit den Geleitworten von


Professor T. Graf-Baumann und Dr. H.-D. Neumann

Mit 303 Abbildungen

1 23
Dr. med. Wilfrid Coenen
1 Schäfersteig 29
78048 Villingen

2
Geleitwortverfasser:
Professor. Dr. Toni Graf-Baumann
3 Schillerstr. 14
D-79331 Teningen

4 T 07641-92240
F 07641-922410
M 01 71 17 50 350
5 Graf-Baumann@t-online.de

Dr. Heinz-Dieter Neumann


6 Schänzelstr. 8 B
77815 Bühl

7
8
Ê Sagen Sie uns Ihre Meinung zum Buch: www.springer.de/978-3-642-01432-1
9
ISBN-13 978-3-642-01432-1
10 Springer Medizin Verlag Heidelberg

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20
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Projektmanagement: Claudia Bauer, Heidelberg
Lektorat: Maria Schreier, Heidelberg
Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin
Satz: medionet Publishing Services Ltd., Berlin

SPIN: 12650903

Gedruckt auf säurefreiem Papier 22/2122/cb – 5 4 3 2 1 0


Für Annemarie
VII

Geleitwort

Es gehört zu den vornehmsten Pflichten eines Arztes, sich ein Leben lang weiterzubilden und seine Kenntnisse
zum Wohle der sich ihm anvertrauenden Patienten zu erweitern.
Wilfrid Coenen ist über mehrere Jahrzehnte erfolgreich in eigener orthopädischer Fachpraxis tätig. Er erwarb
sich einen besonderen Ruf als Manualmediziner und Atlastherapeut. Sein besonderes Interesse galt der Behand-
lung von Kindern.
Neben (oder trotz)) seiner großen Praxis bildete er sich ständig weiter, entwickelte eigene Gedanken, publi-
zierte sie in Fachzeitschriften und trug sie auf wissenschaftlichen Kongressen vor. Er gründete das Institut für
Manualmedizin und Entwicklungstherapie (IMMET) in Villingen, um das von ihm erarbeitete Wissen und seine
Erfahrungen in Kursen weiterzugeben.
Wilfrid Coenen legt jetzt im diesem lang erwarteten Buch eine umfassende Zusammenschau des Wissens um
die physiologische und pathologische Entwicklung des Kindes und eine Reihe von Krankheitsbildern vor. Was
man sich sonst aus vielen Veröffentlichungen oder Büchern zusammensuchen muss, ist hier übersichtlich und
schlüssig wie aus einem Guss dargestellt.
Coenen schlägt Brücken von der Neurophysiologie und Entwicklungsphysiologie zur Pädiatrie, zur Ortho-
pädie und zur Manuellen Medizin. Nach einer eingehenden Schilderung des Basiswissens werden Diagnose und
Therapie der verschiedenen klinischen Bilder ausführlich dargestellt. Dabei hebt er besonders die entwicklungs-
neurologische Bedeutung segmentaler Wirbelsäulendysfunktionen im frühen Kindesalter mit ihren Folgen für
Raumwahrnehmung, Bewegungsentwicklung und kognitive Prozesse hervor, die mit den Techniken der Manuel-
len Medizin erkannt und behandelt werden.
Eine reiche Bebilderung des Textes trägt wesentlich zur Verlebendigung des Stoffes bei.
Das Buch wendet sich an Ärzte und Physiotherapeuten, auch ohne manualmedizinische Vorkenntnisse. Es
gehört – nach eingehendem Studium – auf den Schreibtisch jedes Arztes, der sich mit der Untersuchung und
Behandlung von Kindern befasst – und in die Hände des Physiotherapeuten gleichermaßen.

Bühl, im Herbst 2009


Dr. med. Heinz-Dieter Neumann
Ehem. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM)
Ehem. Präsident der Internationalen Gesellschaft für Manuelle Medizin (FIMM)
IX

Geleitwort

Dieses Buch ist längst überfällig, doch es zu schreiben, ist es ein fast heroisch zu nennendes Unterfangen. Dem
Autor musste es gelingen, sehr viele und auch heute noch teilweise kontrovers diskutierte Aspekte mit dem in Kli-
nik und Wissenschaft anerkannten Grundwissen der Grundlagenforschung, Biomechanik und Neurophysiologie
unter den berühmten »Hut« zu bekommen.
Basierend auf einer hervorragend gelungenen Einführung in die zentrale Repräsentation des Raumes, über
die normale Entwicklung des Säuglings, hin zu den Prinzipien der Wahrnehmung und Körperkontrolle, entwi-
ckelt der Autor ein Verständnis, das weit über die elementaren Regeln der Manuellen Medizin hinausgeht. Aber
erst durch diesen »Bogen« eröffnet sich dem Leser, gleich, welcher medizinischen Disziplin er angehört, ein Ver-
ständnis für die kindlichen Funktionsstörungen, die einer besonderen manualmedizinischen Diagnostik und The-
rapie zugänglich sind.
Manche Teilaspekte dieser äußerst umfangreichen medizinischen Problematik wurden bereits von einigen
Autoren thematisiert und in Fachbüchern und nennenswerten wie auch unsäglichen Beiträgen in wissenschaft-
lichen Zeitschriften veröffentlicht.
Auch Wilfrid Coenen hat vieles, was sein neues Buch beinhaltet, nicht allein, sozusagen im stillen Kämmerlein
seiner auf Säuglinge und Kinder spezialisierten orthopädischen Praxis entwickelt, sondern in Zusammenarbeit mit
zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus der Manuellen Medizin, der Neuropädiatrie u.a.m.
Aber ihm ist es gelungen, eine im klinischen Alltag umsetzbare Ordnung in die Vielfalt der Fragestellungen zu
bringen, bis hin zu Vorlagen für Befundbögen, die es jedem auf diesem Gebiet Tätigen ermöglichen, eine bestens
dokumentierte Verlaufsbeschreibung zu nutzen, was ja gerade in der Entwicklung des funktionsgestörten Säug-
lings von größter Bedeutung ist.
Ich habe Wilfrid Coenen und viele seiner Mit- oder Mit-ihm-Streiter über die letzten Jahrzehnte begleitet.
In der eigens gegründeten Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin bei Kindern und Atlastherapie (ÄMKA) spielt
Wilfrid Coenen eine herausragende Rolle, gerade, was die Ordnungsfragen in diesem schwierigen medizinischen
Umfeld betrifft. Denn es gilt ja auch, den betroffenen Eltern nachvollziehbar und immer wieder ein Stück weit die
Angst vor dem Schicksal des eigenen Kindes zu nehmen und ihnen die Zusammenhänge zwischen der Funktions-
störung und dem therapeutischen Ansatz zu erklären.
Es wäre wünschenswert, dass mit Erscheinen dieses Buches auch Universitätspädiater bzw. Neuropädiater
beginnen, sich ernsthaft mit dieser Materie auseinanderzusetzen und das Thema »Manuelle Medizin bei Säuglin-
gen und Kindern« nicht automatisch ignorieren.
Hoffnungsvoll ist die Tatsache, dass Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin mittlerweile Fortbildungskurse
in manueller und osteopathischer Säuglings- und Kinderbehandlung wahrnehmen, u.a. am Kinderzentrum Ruhr-
gebiet der Universitätsklinik Bochum.
Zum Wohle der Säuglinge, Kinder und ihrer Eltern sei diesem Buch eine größtmögliche Verbreitung
gewünscht.
Dem Springer-Verlag sei gedankt, dass er dieses Buch verlegt. Ich bin froh über dessen Erscheinen und dank-
bar, dass ich das Geleitwort schreiben durfte.

Prof. Dr. Toni Graf-Baumann Teningen, den 01.09.2009

Geschäftsführer Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes, Deutsche Schmerzgesellschaft (DGSS/DSG)
Hauptgeschäftsführer Deutsche Gesellschaft für Muskulo-Skeletale Medizin (DGMSM)
Akademischer Beirat Deutsche Akademie für Angewandte Sportmedizin (DAASM)
Member FIFA Sportsmedical Committee
Mitglied der Sportmedizinischen Kommission des Deutschen Fußballbundes (DFB)
Vorsitzender des Stiftungsrates der Athenaeum-Stiftung Dr. Dietrich Götze
Chefredakteur des Hessischen Ärzteblattes (Landesärztekammer Hessen)
XI

Vorwort

Die Anwendung manualmedizinischer Konzepte bei Säuglingen und Kindern ist nicht nur aus schmerztherapeu-
tischer Sicht von Bedeutung, sondern eröffnet vor allem neue Möglichkeiten in der Behandlung sensomotorischer
Störungen. Über die biomechanische Betrachtungsweise hinaus sind reversible Funktionsstörungen des Bewe-
gungssystems in der frühkindlichen Phase auch aus entwicklungsneurologischer Sicht zu bewerten mit entspre-
chenden Konsequenzen für die Prognose und die therapeutische Zielsetzung.
Dieses Buch will die dazu erforderlichen Grundkenntnisse vermitteln und die neuro-physiologischen Zusam-
menhänge deutlich machen. Es bietet ausführliche Anleitungen zur Beurteilung und Behandlung von Kindern mit
peripheren und zentralen Bewegungsstörungen, muskuloskelettalen Schmerzen und Wirbelsäulendeformitäten.
Darüber hinaus soll es das systematische Erlernen der diagnostischen und therapeutischen Techniken unterstüt-
zen und als Nachschlagewerk für die Praxis beim Umgang mit kindlichen Patienten dienen.
Das Buch wendet sich nicht nur an manualmedizinisch tätige Ärzte, sondern auch an Pädiater, Orthopäden,
Allgemeinmediziner, Physiotherapeuten und interessierte Laien. Nicht zuletzt soll es dazu beitragen, der mitunter
kontroversen Diskussion zum Thema »Manualtherapie bei Kindern« eine sachliche Grundlage zu bieten.

Allen, die zum Gelingen des Buches beigetragen haben, sei hier herzlich gedankt: Herrn Dr. Heinz-Dieter Neu-
mann für sein Geleitwort, seine fachlichen Ratschläge und seine Ermutigung, dieses Buch zu schreiben. Herrn
Prof. Toni Graf-Baumann für sein Geleitwort und die tatkräftige Unterstützung bei der Verlagssuche und dem
Springer-Verlag für die gute und freundliche Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank geht an meine Frau: für die
sachlichen Hinweise, die kritische Durchsicht des Manuskriptes und vor allem für die Geduld und Nachsicht, die
ihr bei der Entstehung dieses Buches abverlangt wurden.

Wilfrid Coenen
Villingen, im Juli 2009
XIII

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

2 Zentrale Repräsentation des Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5


2.1 Die Sonderstellung des Menschen in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.2 Neurophysiologische Aspekte der Bewegungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

3 Die normale Entwicklung des Säuglings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15


3.1 Körperkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.2 Neuromotorische Untersuchung des Säuglings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3.3 Der Tragling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3.4 General Movements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.5 Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
3.6 Kinderneurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3.7 Überblick über die sensomotorische Entwicklung des Kindes vom 15. Lebensmonat bis zum 6. Lebensjahr 39
3.8 Entwicklung von Mentalität und Psyche im Gestaltwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

4 Wahrnehmung und Körperkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41


4.1 Sensorik: Leitfunktion der Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
4.2 Propriozeption und autochthone Rückenmuskeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
4.3 Die Kopfgelenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
4.4 Die Iliosakralgelenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.5 Die übrigen Schlüsselregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

5 Die Blockierung: pathophysiologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59


5.1 Neurophysiologisches Denkmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

6 Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63


6.1 Der »schiefe Säugling« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
6.2 Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
6.3 Abgrenzung des TAS von infantiler Zerebralparese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

7 Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89


7.1 Atlastherapie nach Arlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
7.2 Chirotherapeutische Manipulation bei Säuglingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
7.3 Myofasziale Lösetechniken, mobilisierende Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
7.4 Manuelle Behandlung des Kopfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
7.5 Unspezifische exterozeptiv-propriozeptive Stimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

8 Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123


8.1 Verhaltensmerkmale, klinische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
8.2 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
8.3 Therapie der sensomotorischen Dyskybernese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
8.4 Unentbehrliche Amphetamine? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
8.5 Der motokybernetische Test (MKT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

9 Die infantile Zerebralparese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145


9.1 Kulturhistorische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
9.2 Frühkindliche Hirnschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
XIV Inhaltsverzeichnis

9.3 Klinisches Bild der IZP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149


1 9.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
9.5 Manualmedizinische Behandlung: Impulstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
2 9.6 Manuelle Weichteiltechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
9.7 Manuelle Medizin und neuromuskuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

3 10 Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175


10.1 Muskuloskelettale Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
4 10.2 Posttraumatische Zustände mit funktionell bedingten neurologischen Symptomen . . . . . . . . . . . . . . . 181
10.3 Prävention und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
5
11 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
6
12 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
12.1 Anamnesebogen für Säuglinge und Kleinkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
7 12.2 Grobmotorische Entwicklung vom 1. bis 12. Lebensmonat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
12.3 Entwicklung der Handmotorik vom 1. bis 12. Lebensmonat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
8 12.4 Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
12.5 Anamnesebogen für Vorschul- und Schulkinder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
9 12.6 Motokybernetischer Test (MKT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
10
11
12
13
14
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16
17
18
19
20
XV

Vita

Dr. Wilfrid Coenen


4 Seit 1978 als niedergelassener Orthopäde in Villingen / Schwarzwald tätig
4 Ausbildung in Chirotherapie bei Karl Sell und Hans Peter Bischoff, Atlastherapieausbildung bei Albert
Arlen, Ausbildung in osteopathischen Behandlungstechniken bei Bob Ward, Philipp Greenman und
Johannes Fossgren
4 1990 Vorstellung des entwicklungsneurologisch-manualmedizinischen Therapiekonzeptes für Säuglinge und
Kinder mit sensomotorischen Störungen auf der Jahrestagung der Societé Médicale Internationale de Méde-
cine Métamérique
4 Seit 1994 Kurslehrer der Ärztegesellschaft für Manuelle Kinderbehandlung und Atlastherapie (ÄMKA)
4 1995 Gründung des Fortbildungs-Institutes für Manualmedizin und Entwicklungstherapie (IMMET) zusam-
men mit Ärzten und Physiotherapeuten
4 Seit 2004 kooperierender Kurslehrer für Manuelle Medizin bei Kindern beim Dr. Karl-Sell-Ärzteseminar
(MWE)
4 Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft für Manuelle Kinderbehandlung und Atlastherapie (ÄMKA) e.V. von
1993 bis 2007
4 Zahlreiche Publikationen und Buchbeiträge zum Thema Manuelle Medizin bei Kindern
1 1

Einführung

» Obwohl es viele Namen gibt, so sind die Künste nicht ge- wissenschaftlichen Maßstäben gelehrt und ist seit 1976 aner-
trennt, und ein Wissen ist nicht von dem anderen geschieden; kannte vertragsärztliche Behandlungsart. Unter dem Oberbe-
«
denn eines ist in allem. Paracelsus griff Manuelle Medizin werden hierzulande Chirotherapie als
rein ärtzlicher Heileingriff, Manuelle Therapie als physiothe-
Als unveräußerlicher Bestandteil aller Kulturen ist die Medi- rapeutisches Verfahren sowie sog. osteopathische Behand-
zin von jeher Wandlungen und Veränderungen unterwor- lungstechniken zusammengefasst.
fen in Abhängigkeit von den Bedürfnissen der verschiedenen
Gesellschaften, deren Erkenntnisfähigkeit und Weltbild. In
gleicher Weise wandelten sich im Laufe der Geschichte auch Ein neurophysiologisches Konzept
das Bild des Arztes, seine Aufgabengebiete sowie seine metho- Die traditionelle Aufgabe der Manuellen Medizin ist die
dischen und wissenschaftlichen Paradigmen. Erkennung und Behandlung reversibler Funktionsstörungen
Als im 19. Jahrhundert die Medizin Gegenstand systema- des Haltungs- und Bewegungssystems. Nach heutigem Wis-
tischer naturwissenschaftlicher Forschung wurde, konnte sie sensstand äußert sich die Pathophysiologie einer reversiblen
bereits auf einen reichhaltigen Schatz überlieferten Wissens Dysfunktion nicht nur in einer gelenkmechanischen Störung,
zurückgreifen, zusammengetragen von unterschiedlichen sondern ist vor allem durch eine neurologische Komponen-
medizinischen Schulen verschiedener Epochen und Kultur- te gekennzeichnet mit Auswirkungen auf myofasziale, vege-
kreise. Darin enthalten waren auch wertvolle Elemente der tative, viszerale und zentralnervöse Funktionen (Wolff 1996).
Volksmedizin, die von nicht studierten Heilkundigen seit Subjektiv geben sich segmentale oder peripher-artiku-
alter Zeit ausgeübt und weitergegeben wurden. Die naturwis- läre Dysfunktionen als akute oder auch chronisch rezidivie-
senschaftliche Medizin machte sich zur Aufgabe, das Vorge- rende Schmerzzustände am Bewegungsapparat zu erkennen,
fundene auf seine wissenschaftliche Substanz zu prüfen und bevorzugt an der Wirbelsäule, verbunden mit Bewegungs-
von spekulativem oder okkultistischem Beiwerk zu reinigen. und Belastungseinschränkungen. Die wissenschaftlichen
Dabei konnte auch auf die Erfahrungen von Badern, Wun- Grundlagen der Manuellen Medizin wurden vorwiegend
därzten, Kräuterkundigen und dergleichen zurückgegriffen nach schmerztherapeutischen und rehabilitationsmedizi-
werden, um sie für die moderne wissenschaftliche Medizin nischen Gesichtspunkten erarbeitet, nicht zuletzt auch wegen
nutzbar zu machen. der volkswirtschaftlichen Bedeutung schmerzhafter Wirbel-
Die Behandlung von Schmerzzuständen an Wirbelsäu- säulenerkrankungen und ihrer hohen Inzidenz in den Indus-
le und Gliedmaßen mittels spezieller Handgriffe ist ebenfalls trieländern (Wolff, Neumann, Sell, Bischoff, Dvořák, Lewit,
eine uralte Methode, eine Volkskunst, die traditionell von Gutmann, Sachse, Frisch, Psczolla, Janda, Stoddart, Tilscher,
Laienbehandlern mit der kernigen Berufsbezeichnung »Kno- Eder, Kapandji, Frölich, Baumgartner u.a.m.). So ist es zu
chensetzer« durchgeführt wurde. erklären, dass sich die manualmedizinischen Untersuchungs-
Recht spät erst weckte diese Methode das Interesse der und Behandlungsmethoden vorwiegend aus den Erfah-
Mediziner. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen Ärztegrup- rungen mit erwachsenen Patienten entwickelten.
pen in Europa und Amerika mit der systematischen Erfor- Wie sich herausstellte, sind diese Techniken allerdings
schung dieser Behandlungstechniken, um sie auf eine natur- nicht ohne Weiteres auf Säuglinge und Kinder übertragbar.
wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Was sich anfangs als Auch im Kindesalter gibt es durchaus Schmerzzustände, die
etwas grobschlächtige Renkerei von Chiropraktikern präsen- auf segmentale Dysfunktionen des Achsenorgans zurück-
tierte, … »entwickelte sich in ärztlicher Hand bald zu einer zuführen sind: beispielsweise der akute Tortikollis, der sog.
umfassenden funktionellen Betrachtungsweise, zur Manuel- Schulkopfschmerz, bestimmte Koxalgien, funktionelle Knie-
len Medizin. Sie fügt sich nahtlos in die bereits vorhandenen beschwerden, um nur einige zu nennen. Je jünger jedoch das
wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse ein«, schrieb Kind ist, und je weniger es seinen Schmerz benennen kann,
H.-D. Neumann in seinem erstmals 1983 erschienenen Buch desto mehr verstecken sich diese Schmerzzustände hinter
»Manuelle Medizin«. Aus der ungezielten, mitunter gewalt- anderen Symptombildern. Daraus ergeben sich zusätzliche
samen Chiropraxis entwickelte sich die gezielte, exakt seg- diagnostische Gesichtspunkte und gänzlich neue therapeu-
mental durchgeführte Chirotherapie. tische Zielvorstellungen. Die Manuelle Medizin bei Kindern
Diese Methode, wegen ihrer Wirkungsweise auch »unblu- musste daher eigene Wege gehen, um von der schmerzthera-
tige Chirurgie« genannt (Lewit 1997), wird an den Schulen der peutischen Indikation mit überwiegend gelenkmechanischer
Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) nach Betrachtungsweise zu einer eigenständigen neurophysiolo-
2 Kapitel 1 · Einführung

gischen Konzeption mit entwicklungsneurologischer Indi- kürzt KISS (Biedermann 1991, 1993), davon ausgehend, dass
1 kation zu gelangen, ohne dabei den methodischen und wis- sog. Symmetriestörungen bei Säuglingen und Kindern stets
senschaftlichen Boden der etablierten Manuellen Medizin zu auf eine Funktionsstörung der Kopfgelenke zurückzuführen
2 verlassen. sind. Da diese pathogenetische Einengung nicht unproble-
matisch ist, wurde dasselbe Symptombild von anderen Auto-
ren neutral als Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS) bezeich-
3 Manuelle Medizin und net (Coenen, Lohse-Busch, Riedel, Kemlein). Lohse-Busch
Entwicklungsneurologie und Kraemer veröffentlichten 1994 eine Zwischenbilanz des
4 In seiner 1983 erschienenen Monographie »Die sogenann-
te Säuglingsskoliose« erwähnte H. Mau im Zusammenhang
Arbeitskreises »Manuelle Medizin bei Kindern«, der 1991 auf
Anregung der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin
mit ätiologischen und pathogenetischen Hypothesen den (DGMM) gegründet worden war.
5 »interessanten Hinweis« von Gutmann auf eine traumatische Weitere Publikationen über die Möglichkeiten der Manu-
Störung in der Okzipitozervikalregion als Auslösefaktor der ellen Medizin bei bewegungsgestörten Säuglingen, infantilen
6 frühkindlichen Skoliose. Gutmann hatte dies 1968 publiziert Zerebralparesen, sensomotorischen Integrationstörungen
und einen Symptomenkomplex mit Kopfschiefhaltung, Kopf- und neuromuskulären Erkrankungen folgten (Biedermann
halteschwäche, gestörter Körperhaltung, motorischer Unru- 1995, Biedermann und Koch 1996, Biedermann 1999, Coe-
7 he usw. beschrieben und nannte ihn zervikal-dienzephal- nen 1995, 1996, 1998, 2000, 2001, 2002, 2004, 2006, Lohse-
statisches Syndrom. Seine Beobachtungen wurden zwar zur Busch u. Kraemer 1996, 2000, Fischer u. Sachs 1997, Riedel
Kenntnis genommen, aber nicht weiter diskutiert. Buchmann 2000, 2001). Baumann stellte 1997 die Ergebnisse einer kon-
8 (1983, 1988) griff den Gedanken später wieder auf und berich- trollierten Studie vor, in der die Wirksamkeit manualmedizi-
tete über die Zusammenhänge zwischen motorischer Ent- nischer Behandlung bei Zerebralparesen nachgewiesen wur-
9 wicklung und Wirbelsäulenfunktionsstörungen sowie funkti- de.
onellen Kopfgelenksstörungen bei Neugeborenen.
Arlen veröffentlichte 1985 erste Ergebnisse über reversi- > Wichtig
10 ble Veränderungen von Hirnstammpotenzialen nach Atlas- Nach allen bisherigen Erfahrungen besteht die Bedeu-
therapie bei zerviko-enzephalen Syndromen. Diese Untersu- tung der Manuellen Medizin bei Kindern vor allem in der
11 chungen waren allerdings nicht an Säuglingen oder Kindern entwicklungsneurologischen Indikation (Coenen 2001).
vorgenommen worden. (Arlen hatte mit seiner Therapieme-
thode keine Erfahrungen in der Behandlung von Kindern
12 und Säuglingen.) 1987 berichtete Gutmann über das Atlas- Wissenschaft und Erfahrung
blockierungssyndrom des Säuglings und Kleinkindes und Der Physiker H. Pietschmann beschrieb in seinem Buch »Das
13 nannte es zervikal-dienzephal-kinesiologisches Syndrom; er Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters« zwei Straßen
erläuterte zudem ausführlich die klinische und neurologische der Erkenntnis, von denen die eine zu dem führt, was richtig
Symptomatik. ist, die andere zu dem, was wahr ist.
14 Weitere Publikationen anderer Autoren folgten: 1989
erschien die Monographie von Buchmann und Bülow über » Richtig ist, was bewiesen werden kann, wahr ist demgegen-
15 die asymmetrische frühkindliche Kopfgelenksbeweglichkeit, über nur eine konkrete gelebte Situation, die wegen ihrer Ein-
ein Jahr später berichtete Schick über die Atlasblockierung «
maligkeit nun grade unbewiesen bleiben muss. (Pietsch-
des Säuglings und das zervikal-dienzephal-kinesiologische mann 1990)
16 Syndrom und Biedermann über die kopfgelenksinduzierte
Symmetriestörung bei Kleinkindern. Es geht hier um die unterschiedlichen Ansätze von Wissen-
17 Coenen publizierte 1992 die Ergebnisse einer prospek- schaft und Erfahrung – zwei Prinzipien, die einander mit-
tiven Studie an 38 Säuglingen mit sog. Schräglagesyndrom unter misstrauen, obwohl sie letztlich nur verschiedene
und neuromotorischer Entwicklungsverzögerung sowie an Erkenntnisformen der gleichen Wirklichkeit sind. In kaum
18 31 Schulkindern mit Störungen der Körperkontrolle und einer anderen Disziplin stehen Wissenschaft und Erfahrung
Bewegungskoordination, die alle mittels Atlastherapie nach in einer so engen Wechselbeziehung zueinander wie in der
19 Arlen behandelt worden waren. Neben der manuellen seg- Medizin. Beim Versuch, beides zu trennen, läuft der Empi-
mentalen Funktionsdiagnostik wurden in dieser Studie syste- riker Gefahr, sich in Spekulationen zu versteigen, der puri-
matisch standardisierte Untersuchungskriterien angewen- stische Wissenschaftler dagegen wird – wie Chargaff (1980)
20 det und zur manualmedizinischen Beurteilung der Säuglinge das formuliert – den Blick für das Ganze verlieren, da er sich
zusätzlich die neurokinesiologische Diagnostik nach Vojta nur mit wägbaren Teilaspekten der Fragestellung beschäf-
erstmals unter dem Aspekt peripherer Dysfunktionen einge- tigt.
setzt. Die Medizingeschichte hat gezeigt, dass die Erfahrung
Biedermann, Gutmanns Schüler, führte die Arbeit sei- in aller Regel der wissenschaftlichen Aufarbeitung voraus-
nes Lehrers nach dessen Tod mit Publikationen über Sym- geht. Dies trifft besonders für Heilmethoden zu, deren Wirk-
metriestörungen bei Kleinkindern fort, wobei er für die etwas samkeit durch die Resultate schon lange evident ist, bevor
umständliche Bezeichnung von Gutmann einen neuen Begriff die Wissenschaft es mit ihren eigenen Methoden zu bewei-
prägte, die kopfgelenksinduzierte Symmetriestörung, abge- sen vermag. Der bekannte Satz von de Montaigne »Die Mut-
1 · Einführung
3 1
ter der Heilerfolge heißt Empirie« hat seine Gültigkeit nicht
verloren.
Manuelle Medizin ist Erfahrungsheilkunde, was sie mit
anderen schulmedizinischen Disziplinen gemeinsam hat.
Und Erfahrungsheilkunde besteht in der Verarbeitung von
Erkenntnissen, die durch reproduzierbare Beobachtungen
am Patienten gewonnen wurden. Die Medizin ist ohne For-
schung nicht denkbar, sie ist aber vor allem auch eine Kunst
und nicht nur reine Naturwissenschaft.
In diesem Sinne will dieses Buch dem Leser einen Über-
blick über die theoretischen und praktischen Grundla-
gen der Manuellen Medizin bei Kindern verschaffen: Neben
Basiswissen werden Erfahrungen weitergegeben, wie sie in
über zwei Jahrzehnten im täglichen Umgang mit bewegungs-
gestörten Kindern gesammelt wurden. Wo es möglich ist, sol-
len die klinischen Beobachtungen durch wissenschaftliche
Erkenntnisse der medizinischen Grundlagenforschung plau-
sibel gemacht werden.
5 2

Zentrale Repräsentation des Raumes

2.1 Die Sonderstellung des Menschen 2.2 Neurophysiologische Aspekte


in der Natur – 5 der Bewegungsentwicklung – 7
2.1.1 Raumorientierung und Gestaltwahrnehmung –6 2.2.1 Sensomotorik – 7
2.1.2 Denken: Probeweises Handeln 2.2.2 Das Sensorsystem – 11
im vorgestellten Raum – 6
2.1.3 Zentrale Datenverarbeitung – 7

2.1 Die Sonderstellung des Menschen in ne Sinne ihn als solchen ausweisen. Ein »Mängelwesen« sei
der Natur er nur in dem Sinne, dass er zum Überleben Kultur benötige:
Kleidung, Behausung, Feuer, Waffen usw.
Leben, so heißt es, ist Bewegung. Bewegung geschieht in der
Ordnung von Raum und Zeit. In den einzelnen Phasen der » Der körperliche Generalist … ist dazu mit einem hochentwi-
frühkindlichen Entwicklung werden die Funktionen dieses ckelten ZNS ausgerüstet, das Informationen speichern und in-
raum-zeitlichen Prinzips sichtbar; ihre Kenntnis ist sowohl für telligent verarbeiten kann, und das vor allem über Strukturen
das Verständnis der physiologischen Entwicklungsabläufe als verfügt, die es ihm erlauben, Sprache zu erwerben und sich mit
auch der pathologischen Abweichungen unentbehrlich. Die Hilfe dieser Wortsprache über Vergangenes, Zukünftiges und
Differenzierung der raum-zeitlichen Bewegungsfunktionen «
Abwesendes zu unterhalten. (Eibl-Eibesfeldt 2000)
ist Voraussetzung für die Entfaltung jener Fähigkeiten, denen
der Mensch seine Sonderstellung in der Natur verdankt: ange- Eibl-Eibesfeldt (2000) erwähnt in diesem Zusammenhang
fangen von der Körperbewegung in aufrechter Haltung und einen von Lorenz (1943) beschriebenen fiktiven Wettkampf
der Verfeinerung des Handgeschicks über die Entwicklung (. Abb. 2.1):
von Begriffen und Wortsprache bis hin zum schöpferischen Ein dreiundzwanzigjähriger Büroangestellter, normal
und geistigen Gestalten in Wissenschaft und Kunst. entwickelt, durchschnittlich gesund, aber keineswegs Sport-
Stammesgeschichtlich begann dieser Sonderweg des ler, tritt gegen Vertreter beliebiger Arten aus dem Tierreich
Menschen mit einem in der Phylogenese einzigartigen Akt, in folgenden Disziplinen an: 100 Meter sprinten, mit Kopf-
der den Menschen buchstäblich über die anderen Lebewesen sprung in einen See springen, aus 4 Metern Tiefe gezielt drei
erhebt: Die Aufrichtung des Körpers gegen die Schwerkraft Gegenstände hochtauchen, ca. 100 Meter zum anderen Ufer
zum zweibeinigen Stand und die Fähigkeit zur räumlichen schwimmen, an einem Seil von 5 Metern hochklettern und
Bewegung in dieser aufrechten Körperhaltung. Dadurch anschließend 10 km gehen.
verbesserte sich das Gesichtsfeld des Menschen, zusätzlich In Spezialdisziplinen sind viele Tiere dem Menschen
begünstigt durch die freie Beweglichkeit des Kopfes gegenü- überlegen: Die Gazelle läuft schneller, der Delphin schwimmt
ber dem Rumpf, wie sie in dieser Weise von Vierbeinern nicht schneller, der Affe klettert besser. Dennoch wird kein Tier
erreicht wird. Vor allem aber befreite diese aufrechte Kör- imstande sein, den Büroangestellten in diesem Sechskampf
perhaltung die Hände von den Aufgaben der Stützleistung zu besiegen.
und Fortbewegung. Erst dadurch konnten sie sich zu einem
Werkzeug entwickeln, das mit seinen sensorischen, sensiblen
und feinmotorischen Fähigkeiten in der Natur einmalig ist.
Ermöglicht wurden diese Errungenschaften durch die Ent-
wicklung des Neokortex und bestimmter anatomischer Son-
derkonstruktionen, von denen in späteren Kapiteln noch die
Rede sein wird.

k Der Mensch – ein Generalist


Mit der Vielseitigkeit seiner körperlichen Ausstattung erweist
sich der Mensch den Tieren überlegen, die nur in einzelnen
Leistungen hoch spezialisiert sind. Eibl-Eibesfeldt (2000) »Habt ihr die Regeln kapiert?«
bezeichnet den Menschen mit seiner Fähigkeit zur vielsei-
tigen Anpassung als Generalist und fügt hinzu, dass auch sei- . Abb. 2.1 Vor dem Wettkampf
6 Kapitel 2 · Zentrale Repräsentation des Raumes

Ob ein Neugeborenes tatsächlich zum Generalist heran- vorstellung bzw. Raumorientierung und Sprachentwicklung
1 reift, wie es im Bauplan des zentralen Nervensystems vor- sieht auch Heeschen (1988), der Sprachmuster von Natur-
gesehen ist, hängt wesentlich vom ungestörten Verlauf der völkern untersuchte. Nach seiner Annahme diente die Spra-
2 frühkindlichen Entwicklung ab, in der sich die basalen Funk-
tionen der Körperkontrolle und des Handgeschicks heraus-
che ursprünglich der Orientierung und wurde erst in zweiter
Linie zur sozialen Interaktion herangezogen.
bilden.
3 > Wichtig
Bewegung geht also einher mit der Raumvorstellung
2.1.1 Raumorientierung und
4 Gestaltwahrnehmung
und ist Voraussetzung für den Denkvorgang, dem ein
gezieltes Handeln folgt.

5 Die individuelle menschliche Entwicklung besteht in der


ununterbrochenen Abfolge von Erkenntnisleistungen, deren 2.1.2 Denken: Probeweises Handeln im
Anordnung und Inhalt das Ergebnis entwicklungsgeschicht- vorgestellten Raum
6 licher Anpassung ist. In seiner natürlichen Erkenntnistheo-
rie beschreibt K. Lorenz (1986) die Anschauung von Raum Aus Verhaltensbeobachtungen von Menschenaffen ist
7 und Zeit als fundamentale Erkenntnisleistung – ein Aspekt, bekannt, dass sie »ohne einen Muskel – es seien denn die
der auch für das Verständnis der Pathophysiologie kindlicher Augenmuskeln – zu bewegen, im rein vorgestellten Raum
Bewegungsstörungen von großer Bedeutung ist. Lorenz geht probeweise Handlungen vollziehen können« (Lorenz 1943).
8 davon aus, dass das begriffliche Denken des Menschen durch Auf diese Weise ist der Affe imstande, eine Aufgabe zu lösen,
eine Integration mehrerer vorher schon existenter Erkennt- die z.B. in der Beschaffung schwer erreichbarer Nahrung
9 nisleistungen zustande kommt. besteht.
Im Experiment soll ein Orang-Utan eine Banane holen,
10 » Unter diesen ist die Fähigkeit der Raumvorstellung als Ers- die in einer Ecke des Raumes an einem Faden hängt und so
te zu nennen. Die Anschauungsformen von Raum und Zeit angebracht ist, dass der Affe sie aus eigenem Vermögen nicht
sind … in Wirklichkeit nur eine, nämlich die Anschauungsfor- erreichen kann. Als Hilfsmittel steht ihm nur eine Kiste zur
11 «
men von Bewegung in Raum und Zeit. (Lorenz 1986) Verfügung, die aber in der diametral gegenüberliegenden
Ecke des Raumes steht. Der Affe sitzt da und lässt seine Bli-
Dies schließt als unverzichtbare kognitive Leistung die cke ratlos zwischen der links unten stehenden Kiste und der
12 gezielte Willkürbewegung mit ihrer sensorischen Rückkop- rechts oben hängenden Banane wandern. Er findet keine
pelung ein! Eine weitere artspezifische Erkenntnisleistung, Lösung, wendet sich ab, tut uninteressiert. Nach kurzer Zeit
13 die ebenso wie das begriffliche Denken auf der Raumvor- aber widmet er der Versuchsanordnung wieder seine Auf-
stellung gründet, ist die Gestaltwahrnehmung zusammen merksamkeit: Jetzt gehen seine Augen zur Kiste, von da zu
mit dem explorativen Verhalten, dem fühlenden Untersu- der Stelle am Fußboden unter der Banane, von dort hoch zur
14 chen von Umweltdingen (. Abb. 3.15–3.18). Mit diesen bei- verlockenden Frucht, wieder senkrecht herunter zum Boden
den Leistungen vollzog sich nach Lorenz (1986) entwick- und von dort zurück zur Kiste. Dann erfolgt plötzlich der
15 lungsgeschichtlich der erste Brückenschlag vom Greifen zum erhellende Einfall: Er nimmt die Kiste, schiebt sie unter die
Be-greifen, und er führt weiter aus, dass begriffliches Den- Banane und holt sie sich. Der ganze Vorgang spielte sich in
ken und Entwicklung der Wortsprache Hand in Hand gehen. wenigen Sekunden ab.
16 In . Abb. 2.2 ist die Abfolge von Erkenntnisleistungen sche- Dieses Beispiel zeigt, dass die Vorstellung einer räum-
matisch dargestellt. Den Zusammenhang zwischen Raum- lichen Beziehung der Dinge zueinander und die daraus gezo-
17 genen Schlußfolgerungen dem Denkvorgang entsprechen.
Lorenz bezeichnet das Denken als probeweises Handeln im
vorgestellten Raum, das jeder Problemlösung vorausgeht.
18 Begriffliches Denken
Wortsprache
Beispiel
19 Zum »probeweisen Handeln im vorgestellten Raum« eine eige-
ne Beobachtung: Im Freibad strebt ein kleiner Junge von ein-
Abstrahierung der Gestaltwahrnehmung einhalb Jahren dem Planschbecken zu, in der einen Hand ein
20 Eimerchen, in der anderen eine Schaufel. Am Rande des Beckens
bleibt er stehen, denn es führen drei Stufen hinunter, und es ist
Exploration von Umweltdingen kein Geländer zum Festhalten da. Der Junge lässt Eimerchen
und Schaufel los und krabbelt auf allen Vieren rückwärts die
Stufen hinab. Da steht er unten, aber ohne sein Spielzeug, das
Vorstellung von raum-zeitlicher er von dort nicht erreichen kann. Er klettert zurück, nimmt sei-
Bewegung ne Spielsachen wieder auf und versucht ein zweites Mal, damit
ins Wasser zu steigen, vergeblich. Also legt er alles wieder ab,
. Abb. 2.2 Abfolge von Erkenntnisleistungen krabbelt ins Becken hinunter – und steht wieder mit leeren Hän-
2.2 · Neurophysiologische Aspekte der Bewegungsentwicklung
7 2
den da. Nun klettert er abermals zurück, steht einige Augenbli- Ungeachtet der String-Theorie der modernen Physik, die mit
cke unbeweglich da, während sein Blick vom Wasser zur Treppe einer Vielzahl von Dimensionen arbeitet, gilt für die entwick-
geht, von dort zu seinen Spielsachen, den gleichen Weg wieder lungsgeschichtlich erworbene neurophysiologische Ausstat-
zurück, einmal, zweimal: Dann nimmt er Eimerchen und Schau- tung des Menschen, für sein Wahrnehmungssystem und sei-
fel in die Hand, wirft sie im Bogen ins Planschbecken, krabbelt ne motorischen Möglichkeiten unverändert die Gesetzmä-
hinterher und hantiert nun zufrieden mit seinen Spielsachen. ßigkeit des dreidimensionalen, des »euklidischen« Raumes.
Nach diesem Maßstab sind sowohl die normale frühkindliche
> Wichtig Entwicklung zu beurteilen als auch Normabweichungen und
Die Definition des Denkens als probeweises Handeln im Störungen dieses Entwicklungsprozesses und letztlich auch –
vorgestellten Raum ist von größter Wichtigkeit für das unter Berücksichtigung der pathogenetischen Faktoren – die
Verständnis bestimmter Störungsbilder im Kindesalter, therapeutische Zielsetzung.
bei denen motorische Auffälligkeiten und Störungen der
Raumorientierung mit kognitiven Störungen einherge-
hen, ohne dass die Intelligenz gemindert ist. 2.2 Neurophysiologische Aspekte der
Bewegungsentwicklung
2.1.3 Zentrale Datenverarbeitung 2.2.1 Sensomotorik

Das Programm der frühkindlichen Entwicklung besteht in Der Begriff Sensomotorik bezeichnet den ununterbrochenen
der Ausbildung der Steuerungsvorgänge für die Aufrichtung Prozess der Aufnahme und Verarbeitung biologischer Daten
des Körpers gegen die Schwerkraft und die räumlichen Bewe- zur Durchführung motorischer Leistung. Er veranschau-
gungen in dieser Körperhaltung. Die Anschauungsformen licht in prägnanter Kürze das Rückkoppelungsprinzip von
von Raum und Zeit stehen dem Kind dabei a priori zur Ver- Sinneswahrnehmung und Muskelleistung für Haltung und
fügung, als artspezifische Gegebenheit, erworben durch evo- Bewegung: Eine stütz- oder zielmotorische Aktion ist ohne
lutionäre Anpassung. Diese apriorische Gegebenheit ist sub- vorausgegangene Sinneswahrnehmung nicht möglich, ande-
stanziell vorhanden in Anatomie und Physiologie der Sin- rerseits stellt jede gezielte Bewegung über die damit verbun-
nesorgane und deren Verschaltung über das periphere und dene Rückmeldung eine kognitive Funktion an sich dar (Effe-
zentrale Nervensystem mit den arthromuskulären Strukturen renzkopie nach v. Holst 1977). Auf diesem Reafferenzprinzip
des Bewegungsapparates. Es handelt sich hier um ein enorm beruht die sensomotorische Steuerung, deren Differenzie-
lernfähiges System, in dem die organische Reifung zentral- rung und Feinabstimmung wesentlicher Inhalt der frühkind-
nervöser Strukturen einhergeht mit der Differenzierung der lichen Entwicklung ist.
Wahrnehmungsverarbeitung in den Sinnesorganen, die für Es sind die ersten 12–15 Lebensmonate, in denen das Kind
die Steuerung von Körperhaltung und Bewegung verantwort- seine basalen sensomotorischen Programme entwickelt. Sie
lich sind. Sehen und Hören vermitteln eine räumliche Vor- erlauben ihm, sich gegen die Schwerkraft zum zweibeinigen
stellung vom näheren und weiteren Umfeld, mit den Hautre- Stand aufzurichten und sich in dieser Körperhaltung fortzu-
zeptoren wird die unmittelbare Umgebung erfasst, Labyrinth- bewegen, den Kopf ohne Mitbewegung des Rumpfes im Raum
organ und Propriozeptoren liefern das Bild von Stellung und einzustellen und die Hände zu immer differenzierteren fein-
Bewegung des Körpers im Raum und der Stellung von Kopf, motorischen Leistungen einzusetzen; eng damit verknüpft ist
Rumpf und Extremitäten zueinander. Lorenz ist der Mei- die Entwicklung des sozialen und emotionalen Verhaltens.
nung, dass diese Sinnesorgane »… der Anschauungsform des Diese Fähigkeiten bilden das Fundament der weiteren früh-
dreidimensionalen euklidischen Raumes zugrunde liegen, ja, kindlichen Entwicklung bis zum Abschluss der Markreifung
dass sie in gewissem Sinne diese Anschauungsformen sind« gegen Ende des 4. Lebensjahres.
(Lorenz 1983).
Orthograde Körperkontrolle und Raumorientierung sind > Wichtig
das Ergebnis der Verarbeitung biologischer Daten aus den Alle diese Leistungen – Bewegung, Körperkontrolle, die
Sinnesorganen. Die Sensorik hat als programmierendes Ele- erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Umwelt und
ment damit den Hauptanteil an Haltungs- und Bewegungslei- die Entfaltung höherer Erkenntnisfunktionen – sind das
stung (Janda 1993), während motorische Zentren und Bewe- Ergebnis von Datenverarbeitung.
gungsapparat die Befehlsempfänger und Ausführungsorgane
darstellen (7 Kap. 4.1, Sensorik: Leitfunktion der Motorik). Information und Steuerung
Die Verwendung von Denkmodellen der Informationstheo-
> Wichtig rie und der Kybernetik in der Medizin kann dazu beitragen,
Schwerkraftbewältigung und Raumorientierung bilden die äußerst komplexen und differenzierten zentralnervösen
das gesetzmäßige neurophysiologische Ziel der früh- Zusammenhänge verständlich darzustellen und transpa-
kindlichen Entwicklung. Dieser Grundsatz beherrscht die rent zu machen. H.-D. Wolff (1996) betont in seinem lesens-
Ausbildung und Differenzierung der Stütz- und Zielmo- werten Buch »Neurophysiologische Aspekte des Bewegungs-
torik, der Körperkontrolle und des Handgeschicks. systems«, dass die Anwendung dieser Denkkategorien für das
Verständnis der Funktion des Nervensystems »von gar nicht
8 Kapitel 2 · Zentrale Repräsentation des Raumes

. Abb. 2.3
1 Kodierung Dekodierung Grundschema der Infor-
mationsübertragung
Informations- Sender Übertragungskanal Empfänger Informations-
quelle verbraucher
2
3 abzusehendem Nutzen« sei und misst der Systemtheorie als ser Aufgabe sind verschiedene Elemente erforderlich, die in
dritter Kategorie die gleiche Bedeutung bei. 7 Übersicht 2.1 aufgeführt sind.
4 Die Informationstheorie beschäftigt sich mit den Gesetz-
mäßigkeiten, nach denen eine Information vollständig und
unverfälscht von der Quelle über einen »Kanal« zum Emp- Übersicht 2.1 Steuerungselemente eines
5 fänger gelangt. Ein solcher Vorgang spielt sich stets nach dem Regelkreises
in . Abb. 2.3 dargestellten Grundschema ab, das auch auf 5 Regelgröße: Die zu regelnde Größe (z.B. Temperatur)
die neurophysiologischen Regelvorgänge angewandt werden 5 Fühler: Messvorrichtung, registriert den Istwert und
6 kann: Von der Informationsquelle gelangt die Information gibt ihn kodiert weiter
an einen Sender, wird dort in bestimmte, z.B. elektromagne- 5 Istwert: Wert der Regelgröße, der vom Fühler aktuell
7 tische Signale verschlüsselt, in dieser verschlüsselten Form gemessen wird
über einen Übertragungskanal an den Empfänger weiterge- 5 Sollwert: Wert der Regelgröße, der konstant gehalten
reicht, dort entschlüsselt und kann so vom Informationsver- werden soll
8 braucher verstanden werden. 5 Störgröße: Bewirkt eine Abweichung der Regelgröße
vom Sollwert
9 Beispiel 5 Regler: Versteht die Information des Istwertes und ver-
Wolff erläutert dieses Prinzip anschaulich am Beispiel des Fest- gleicht sie mit dem Sollwert
5 Stellgröße: Steuerungsanweisung aus dem Regler an
10 netz-Telefonierens zweier Verliebter:
Der junge Mann ruft seine Liebste an. Er ist die Informations- das Stellelement
quelle, das Mikrofon in seinem Telefonhörer der Sender, der die 5 Stellelement: Stellt auf Befehl des Reglers den Soll-
11 gesprochenen Worte in elektrische Impulse verschlüsselt; die wert wieder her
Telefonleitung erfüllt die Aufgabe des Übertragungskanals die-
ser elektrische Impulse und endet im Lautsprecher des Telefo-
12 napparates der Angebeteten. In diesem Lautsprecher werden Beispiel
die elektrischen Signale entschlüsselt, in menschliche Sprache Zur Verdeutlichung führt Wolff (1996) ein alltägliches Beispiel
13 zurückverwandelt und von der jungen Dame als sog. Informa- an: Im Kühlschrank soll eine konstante Temperatur herrschen.
tionsverbraucherin verstanden. (Dieser informationstechni- Die Temperatur ist die Regelgröße, die vom Fühler gemessen
sche Vorgang bleibt übrigens völlig unberührt vom Inhalt der wird. Dieser gemessene Istwert wird in elektrische Impulse ver-
14 gesprochenen Worte und ebenso von den autonomen Reaktio- schlüsselt, gelangt über einen Übertragungskanal (elektrische
nen der beiden Gesprächspartner: Herzklopfen, Erröten usw.) Leitung) an den Regler, nämlich den Thermostat. Der vergleicht
15 den eingegangenen Istwert mit dem Sollwert und aktiviert bei
> Wichtig Abweichung über eine Steuerungsanweisung (Stellgröße) die
Der Transport von Information geschieht immer mit- Kühlmaschine, das Stellelement. Die Maschine arbeitet so lange,
16 hilfe von Verschlüsselung (Kodierung). Diese Regel gilt bis der Sollwert wieder erreicht ist.
ebenso für die Reizleitung im Nervensystem, in dem
17 elektrische Impulsfolgen (Aktionspotenziale) zur Nach- Vergleichbares spielt sich beim Muskeleigenreflex (MER)
richtenübermittlung verwendet werden. ab. Es handelt sich hier um einen monosynaptischen Reflex,
da die Informationsverarbeitung nur über eine Synap-
18 Kybernetik se geregelt wird, über die motorische Vorderhornzelle. Die-
Kybernetik (griech. κυβερνησις, Steuerung) ist die Lehre von se Synapse repräsentiert in diesem Steuerungskreis den Reg-
19 den Steuerungs- und Regelvorgängen. Geistiger Vater die- ler. Beim MER wird die Ruhespannung des Muskels wieder-
ser Lehre ist Norbert Wiener (1948), der auch die Systemthe- hergestellt, die durch Einwirkung von außen verändert wur-
orie formulierte. Bernhard Hassenstein (1977) entwickelte de (. Abb. 2.5).
20 die Kybernetik weiter, indem er sie auf biologische Vorgän-
ge übertrug. Die terminologischen Grundbegriffe der Kyber- Patellasehnenreflex
netik lassen sich – in Anlehnung an die Darstellungen Wolffs Der Schlag mit dem Reflexhammer auf die Patellasehne bewirkt
(1996) – am Beispiel des Regelkreis-Blockschemas erläutern einen Dehnreiz auf die Muskelspindeln des Quadrizeps. Die
(. Abb. 2.4). Information »Dehnreiz« wird vom Spindelrezeptor in Aktions-
Von einem Regelkreis ist die Rede, wenn in einem System potenziale (AP) verschlüsselt und über rasch leitende afferente
ein Wert bzw. eine bestimmte physikalische oder biologische Ia-Fasern direkt auf die motorische Vorderhornzelle (Motoneu-
Größe gegen Veränderungen durch innere oder äußere Ein- ron) im Rückenmark transportiert. Treffen dort genügend Akti-
flüsse konstant gehalten werden soll. Für die Steuerung die- onspotenziale ein, kommt es zur Entladung des Motoneurons.
2.2 · Neurophysiologische Aspekte der Bewegungsentwicklung
9 2
. Abb. 2.4 Blockschaltbild eines Regelkreises
Sollwert (modifiziert nach Hassenstein 1977)
Übertragungskanal Übertragungskanal
efferent afferent

Stellgröße
Regler
Fühler
Rezeptor
Sensor

Stellelement Regelgröße Störgröße

Dehnreiz Wie beim Kühlsystem im Eisschrank handelt es sich auch


beim monosynaptischen Dehnreflex um einen Haltereg-
ler, in dem ein bestimmter Wert konstant gehalten werden
soll. Eigentlich scheint ein solcher Reflex für sich genommen
Muskelspindel nicht allzu viel zu taugen, sieht man von seiner Beliebtheit als
Erklärungsmodell für das Rückkoppelungsprinzip ab, denn
er ist als Halteregler in keiner Weise anpassungsfähig: Eine
komplexe, differenzierte zielmotorische Leistung ist mit die-
Entdehnung der
afferente Ia-Faser sem starren Reflexschema nicht möglich. Allerdings spielt er
Muskelspindel
AP eine nicht unbedeutende Rolle bei der Stützmotorik (s.u.).
Ruhedehnung
Das Nervensystem verfügt jedoch mit der Gammasch-
leife über eine einfach anmutende, jedoch äußerst komplex
AP agierende Vorrichtung, die aus der starren Haltereglung eine
Muskel- Motoneuron
kontraktion efferentes Motoaxon RM stufenlos verstellbare Folgereglung macht. Mit dieser Gam-
maschleife wird der »monosynaptische Dehnreflex trotz des
. Abb. 2.5 Monosynaptischer Muskeleigenreflex einfachen Bauplans zu einem der wichtigsten Reflexe der
Motorik« (Schmidt 1983).

Die AP gelangen über efferente Motoaxone an die motorischen k Gammaschleife


Endplatten; dort wird über Freisetzen von Azetylcholin eine Die Gammaschleife ist gekoppelt an die Funktion der Muskel-
Muskelkontraktion erreicht, also eine »Entdehnung«: Die Ruhe- spindel: Die durch Dehnreiz auf die Muskelspindel aktivierten
spannung des Muskels ist wiederhergestellt. Potenziale gelangen – wie oben beschrieben – über afferente
Regelgröße ist in diesem Modell die Länge des Muskels. Der Fasern zu den motorischen Vorderhornzellen und verteilen
Fühler (Rezeptor oder Sensor) wird von der Muskelspindel sich dort auf α- und γ-Motoneurone. Von α-Motoneuronen
repräsentiert, die sowohl die aktuelle Länge als auch jede Län- ziehen efferente Fasern (α-Motoaxone) zu den motorischen
genänderung des Muskels misst, also den Istwert, während die Endplatten der Arbeitsmuskelfasern, von γ-Motoneuronen
Ruhedehnung des Muskels den Sollwert darstellt. Regler ist die efferente Fasern (γ-Motoaxone) zu den Polen der Muskelspin-
motorische Vorderhornzelle (Motoneuron), die ihre Informa- deln (. Abb. 2.6). Auf solche Weise kann über die Gammasch-
tionen (AP) über afferente Ia-Fasern erhält und über efferente leife eine Kontraktion der Muskelspindel erfolgen: Dank des
Fasern (α- und γ-Motoaxone) weitergibt (Übertragungskanäle). besonderen Aufbaus der Spindelfasern führt diese Kontrakti-
Das Stellelement ist der Skelettmuskel selbst, der über diesen on zu einem Dehnreiz auf den innerhalb der Muskelspindel
Regelkreis in seinem Spannungszustand reguliert wird. gelegenen Rezeptor, auch wenn keine passive Dehnung von
außen erfolgt. Diese spinal-segmental geschaltete Gamma-
> Wichtig schleife ist allerdings nicht autonom, sondern wird von zen-
Das Prinzip eines Regelkreises beruht auf der Rückkop- tralen Arealen gesteuert. Die Empfindlichkeit des Spindelre-
pelung (»feedback control«). Alle biologischen Prozesse zeptors kann hierdurch beliebig verändert werden.
funktionieren nach diesem Prinzip, dessen Kenntnis für
das Verständnis der manualmedizinischen Diagnostik
und Therapie unentbehrlich ist.
10 Kapitel 2 · Zentrale Repräsentation des Raumes

zentrale Efferenz zentrale Afferenz


1
Muskelpol
2
Äquatorial-
3 anteil

4 γ- Motoneuron Muskelpol

5 Ia-Fasern

α- Motoneuron A B C
6 Spindelrezeptor
. Abb. 2.7 a-c Schematische Darstellung der Muskelspindel. a Ru-
hedehnung. b Passive Längsdehnung der Muskelspindel und des anu-
7 lospiralen Rezeptors (Äquatorialanteil). c Längsdehnung des anulos-
MEP piralen Rezeptors durch intrafusale Kontraktion der Muskelpole. Spin-
8 Skelettmuskel dellänge bleibt unverändert

. Abb. 2.6 Gammaschleife


9
k Aufbau und Funktion der Muskelspindel solche, in denen die Kerne kettenartig hintereinander aufge-
10 Muskelspindeln bestehen aus sehr dünnen, 4–7 mm lan- reiht sind, die sog. Kernkettenfasern.
gen spindelförmigen Muskelbündeln, die parallel zu den Kernsackfasern sind über schnelle leitende afferente Ia-
11 Fasern des Arbeitsmuskels angeordnet sind. Der Auf- Fasern mit großen α-Motoneuronen im Vorderhorn verbun-
bau stellt sich in starker Vereinfachung so dar: Die Mus- den und induzieren phasische Muskelleistung. Von Kern-
kelspindel besteht aus zahlreichen Fasern, die an beiden kettenfasern ziehen langsam leitende II-Fasen zu kleineren
12 Enden (Polen) einen muskulären Anteil und in der Mitte α-Motoneuronen. Sie sind verantwortlich für tonische Mus-
zwischen beiden Polen einen dehnbaren, spiraligen Anteil kelleistung.
13 aufweisen, die sog. Äquatorialregion, auch anulospira-
ler Rezeptor genannt. Von diesem Äquatorialanteil ziehen Informationsverarbeitendes dynamisches
afferente Fasern in Richtung Rückenmark, an den musku- System
14 lären Polen landen die efferenten γ-Motoaxone. Durch eine Informationstheorie und Kybernetik fügen sich mit der Sys-
zentral gesteuerte Erregung kann es zu einer Kontrakti- temtheorie zu einem Gesamtdenkmodell zusammen, mit
15 on der Muskelspindelpole kommen (intrafusale Kontrak- dem biologische Vorgänge erfassbar gemacht und beschrie-
tion, . Abb. 2.7 c), wodurch der Äquatorialanteil mit sei- ben werden können. Nach Wiener (1948) ist jedes agieren-
nem spiraligen Rezeptor gedehnt wird, ohne dass sich die de und reagierende System auf die Elementarkategorien –
16 eigentliche Länge der Muskelspindel (wie z.B. beim pas- Materie, Energie, Steuerung und Zeit – zurückzuführen.
siven Dehnreiz) geändert hat. Beide Vorgänge, Muskeldeh- Übertragen auf das Bewegungssystem ergibt sich folgendes
17 nung und intrafusale Kontraktion, können sich gegenseitig Bild:
ergänzen oder abschwächen. Zwischen maximaler Aktivie- 1. Materie: Knochen, Knorpel, Kapseln, Bänder, Synovial-
rung und völliger Inaktivierung kann durch entsprechend flüssigkeit usw.
18 abgestimmte intrafusale Kontraktion eine stufenlose Ein- 2. Energie: Muskulatur mit Muskelfasern und -spindeln,
stellung der Rezeptorreizschwelle erreicht werden. Über Faszien, Sehnen, energieliefernde Mikrostrukturen.
19 die Koppelung mit der Alphamotorik sind auf diese Weise 3. Steuerung: Summe der neurophysiologischen Verbund-
komplexe und differenzierte motorische Leistungen mög- systeme einschließlich der darin transportierten und
lich (. Abb. 2.7). verrechneten Informationen und der sich daraus erge-
20 benden Leistungen.
> Wichtig 4. Zeit: Zeit vom Beginn der Funktionsfähigkeit bis zu
Die Alpha-Gamma-Koppelung spielt in der Anwendung deren Erlöschen: Erfahrungen der Vergangenheit wer-
manualmedizinischer Behandlungstechniken eine äu- den für die Zukunft nutzbar gemacht.
ßerst wichtige Rolle.
Fazit
In jedem Arbeitsmuskel finden sich zwei Formen von Mus- Für das Bewegungssystem ergibt sich daraus, dass Funktion
kelspindeln: Solche mit sackartiger Anhäufung von Zellker- nicht nur in Gelenkmechanik und Muskelaktivität besteht, son-
nen im anulospiralen Rezeptor, Kernsackfasern genannt, und dern »die intakte, gemeinsame und zielorientierte Leistung aller
2.2 · Neurophysiologische Aspekte der Bewegungsentwicklung
11 2
Systemteile in der Zeit« umfasst (Wolff 1996). In diesem Sinne ist k Sehnenrezeptoren
das Bewegungssystem als informationsverarbeitendes dyna- Sehnenrezeptoren sind die Golgi-Sehnenorgane: Sie liegen
misches System zu verstehen (Wolff 1996). am Übergang der Muskelfaser in die Sehne und zeichnen sich
durch eine hohe Empfindlichkeit aus. Ein Sehnenorgan kann
durch die Kontraktion einer einzelnen motorischen Einheit
2.2.2 Das Sensorsystem aktiviert werden (Illert 1995). Diese Rezeptoren messen die
Spannung des Muskels und hemmen die Alphamotoneurone,
Die Erkennung und Behandlung von Funktionsstörungen wenn die Muskelspannung zu stark ist. Sie wirken insofern
des Bewegungssystems mit Mitteln der Manuellen Medizin antagonistisch zu den Muskelspindeln. Auf diese Weise wer-
geschieht unter Ausnutzung der informationstheoretischen den – ebenfalls über ein Rückkoppelungssystem – Gewebelä-
und kybernetischen Gesetzmäßigkeiten des zentralen Ner- sionen vermieden.
vensystems. Ziel ist die Beseitigung von Störfaktoren, die in
den sensomotorischen Regelkreis eingreifen und zu einer k Gelenkrezeptoren
Beeinträchtigung der Haltungs- und Bewegungsqualität mit Gelenkrezeptoren, auch Mechanorezeptoren genannt, messen
allen sich daraus ergebenden Konsequenzen führen. Aus ana- die Spannung der Gelenkkapsel, wirken hemmend auf Nozi-
tomischen Gründen kann auf unblutigem therapeutischem zeptoren, beeinflussen reflektorisch-tonisch die Motoneu-
Wege nur über ein einziges Steuerungselement des Regel- rone der Skelettmuskeln, der Augen und des Kauapparates.
kreises auf dieses System zugegriffen werden: über den Fühler Es gibt verschiedene Typen von Mechanorezeptoren – auch
bzw. Sensor. Alle anderen Elemente, die afferenten und effe- im Fasziengewebe – mit unterschiedlicher Leitungsempfind-
renten Leitungsbahnen, spinale und supraspinale Neurone lichkeit und unterschiedlicher Funktion, was bei bestimmten
usw. sind nicht unmittelbar erreichbar. manualmedizinischen Techniken therapeutisch genutzt wird
Das Sensorsystem ist daher für den Manualmediziner (7 Kap. 7.3, Myofasziale Lösetechniken).
von außerordentlicher Bedeutung: Über die Sensoren regis-
triert das Nervensystem die Vorgänge im Organismus und k Nozizeptoren
in der Umwelt (7 Abschn. 2.1.3, Zentrale Datenverarbeitung). Nozizeptoren nennt man solche Sensoren, die auf gewebe-
Die Sensoren, auch Rezeptoren genannt, verarbeiten Wahr- schädigende (thermische, chemische, mechanische) Reize
nehmungsinformationen über reagieren und Schmerzempfindung vermitteln. Diese Nozi-
4 die weitere Umgebung (Auge, Ohr → Telerezeptoren), zeptoren üben ferner einen Einfluss auf die Motoneurone
4 die nähere Umwelt (Körperoberfläche, Haut → Extero- der Augen, des Kauapparates und der Wirbelsäulenmuskula-
oder Kutanozeptoren), tur aus; zudem beeinflussen sie reflektorisch-tonisierend das
4 die Stellung und Lage des Körpers im Raum (Labyrinth, Gammasystem und andere ZNS-Funktionen. Die Empfind-
Muskel-, Sehnen-, Gelenksensoren → Propriozeptoren), lichkeitsschwelle dieser Nozizeptoren ist nicht konstant und
4 Vorgänge in den inneren Organen → Viszero- oder Ente- unterliegt unterschiedlichen Einflüssen; eine Erkenntnis, die
rozeptoren. von praktischer therapeutischer Bedeutung ist. Nozizeptoren
kommen in fast allen Körpergeweben vor, ausgenommen im
Die Propriozeptoren dienen ferner dem Kraftsinn (Abschät- Hirngewebe und im Leberparenchym.
zen von Gewichten) und der Wahrnehmung der Bewegung
des Körpers und einzelner Körperteile (Kinästhesie). Sensomotorische Steuerung
Die sensorischen Leistungen des Vestibularapparates, der
Tipp Propriozeptoren und auch der Exterozeptoren sind Voraus-
setzung für das Zustandekommen von Motorik. Nach Janda
Für den Manualmediziner interessant sind (1993) hat die Sensorik als programmierendes Element den
4 die Exterozeptoren, Hauptanteil an Haltungs- und Bewegungsleistungen, wäh-
4 die Rezeptoren des Labyrinthorgans und rend die motorischen Rindenzentren und auch die peri-
4 die Propriozeptoren. pheren motorischen Einheiten den Effektor darstellen.
Eine besondere und sehr wichtige Rolle spielt eine Son-
derform von Sensoren: die Nozizeptoren, die unter Definition
anderem für die Schmerzübertragung verantwortlich Als Sensorik bezeichnen wir die Integration und Verarbei-
sind, aber auch die Funktion der Propriozeptoren behin- tung aller Sinnesinformationen aus dem Rezeptorsystem,
dern können. unter Motorik verstehen wir die integrierte Haltungs- und
Bewegungsleistung des menschlichen Körpers, eingeteilt
in Stütz- und Zielmotorik.
k Muskelspindel
Auf die Muskelspindel als dem Rezeptor bzw. Regler des Ske-
lettmuskels wurde bereits näher eingegangen. Es handelt sich k Stützmotorik
um einen sehr schnell adaptierenden Rezeptor, der Länge Die Stützmotorik sichert die Haltung des Körpers in Ausei-
und Längenänderung des Muskels misst und der Modulation nandersetzung mit der Schwerkraft. Kennzeichnend ist die
durch die Gammaschleife unterliegt. dauernde, vorwiegend isometrische Kontraktion der Hal-
12 Kapitel 2 · Zentrale Repräsentation des Raumes

temuskulatur, auch posturale Muskulatur genannt. Diese Treten an den rezeptortragenden Strukturen des Nackens
1 Haltemuskeln spielen in der neuromotorischen Reifung des funktionelle Störungen auf, sog. segmentale Dysfunktionen
Kindes eine besondere Rolle, denn sie entwickeln sich zeitlich oder Blockierungen, so kann diese Tonusregulation beein-
2 vor den anderen Muskelarten und »stehen in der Differenzie-
rung der Skelettmuskulatur an erster Stelle« (David 1982). Die
trächtigt werden mit störender Auswirkung auf die Körper-
kontrolle und die neuromotorische Entwicklung. Davon wird
Alpha-Gamma-Koppelung des Muskeleigenreflexes (mono- später noch die Rede sein.
3 synaptischer Dehnreflex) ist ein entscheidendes funktionelles
Element der Stützmotorik, da der Körper mithilfe dieses j Stellrektionen

4 Antischwerkraftreflexes aufrecht gehalten wird. Die Stützmo-


torik wiederum ist Basisfunktion der differenzierten, varian-
Stellreaktionen verteidigen die eingenommene Körperhal-
tung gegen Störgrößen und richten den Körper gegen die
tenreichen Zielmotorik. Schwerkraft auf. Die Labyrinthstellreaktionen besorgen die
5 aufrechte Einstellung des Kopfes bei wechselnder Körperla-
k Zielmotorik ge (Kippreaktion, schiefe Ebene, Vierfüßerstand). Halsstell-
6 Die Zielmotorik, früher Willkürmotorik genannt, ist gekenn- reaktionen hingegen stellen den Körper nach einer vorgege-
zeichnet durch willkürlich ausgelöste Bewegungen unter- benen (Kopf-)Haltung ein, zu beobachten z.B., wenn sich der
schiedlicher Geschwindigkeit, meist vom »angulären Säugling mit ca. 6 Monaten vom Rücken auf den Bauch dreht,
7 Muster«, d.h. mit Beugebewegung der Gelenke. Sie dient der wobei die Rumpfrotation der Kopfdrehung folgt.
bewussten Ausführung von Bewegungen, im Gegensatz zur
Stützmotorik, die unbewusst funktioniert, gewissermaßen j Statokinetische Reaktionen
8 »automatisiert«. Die in der Zielmotorik eingesetzten Mus- Diagnostisch interessant ist eine weitere Gruppe von Refle-
keln, auch phasische Muskeln genannt, sind wegen des gerin- xen, die statokinetischen Reaktionen. Sie sind Antwort auf
9 gen Myoglobingehalts blasser als die posturalen Muskeln und einen Beschleunigungsreiz und führen aus einer Bewegung
entwickeln sich ontogenetisch auch später als diese. Während zu einer Bewegung, steuern z.B. die Gleichgewichtskontrol-
posturale Muskeln unter bestimmten Umständen zur Ver- le beim Springen, Laufen, Radfahren usw. Beliebt bei Neuro-
10 kürzung neigen, atrophieren phasische Muskeln bei unzurei- physiologen ist das Beispiel der Katze, die sich im freien Fall
chender oder fehlender Aktivierung. so dreht, dass sie immer auf den Füßen landet. Der Säugling
11 zeigt in Abhängigkeit vom sensomotorischen Entwicklungs-
k Halte- und Stellreaktionen stand typische Bewegungsantworten beim Prüfen statokine-
Die Differenzierung der stützmotorischen Programme tischer Reaktionen. Dazu zählen die Abhangversuche nach
12 bestimmt das Bild der frühkindlichen Entwicklung und fin- Collis und Peiper-Isbert sowie die Vojtareaktion.
det ihren Ausdruck in den Halte- und Stellreaktionen. Die
13 Prüfung dieser Reaktionen erlaubt eine klinische Beurtei- k Wirkungsweise der posturalen Reaktionen
lung des Entwicklungsstandes und die Aufdeckung von Stö- Die Wirkungsweise der posturalen Reaktionen lässt sich
rungen. experimentell demonstrieren (Schmidt et al. 1983): Führt man
14 bei einem Versuchstier eine Dezerebration durch, d.h., ent-
j Haltereaktionen fernt man das Gehirn an der Grenze zwischen Brücke und
15 Haltereaktionen stabilisieren die einmal eingenommene Kör- Mittelhirn, so entsteht sofort eine maximale Streckung aller
perhaltung gegen den Einfluss der Schwerkraft und steu- vier Extremitäten, die sog. Dezerebrationsstarre (. Abb. 2.8).
ern die Tonusverteilung zwischen den verschiedenen Mus- Wird ein dezerebriertes Tier auf alle Viere hingestellt, so
16 keln. Von besonderem Interesse aus manualmedizinischer bleibt es stehen, da die Gelenke nicht einknicken. Das heißt:
Sicht sind die tonischen Nackenreflexe. Sie werden gelenkt Medulla und Pons enthalten motorische Zentren, die über die
17 aus den Propriozeptoren des Nackens und den Rezeptoren Steuerung des Muskeltonus bewirken, dass die Extremitäten
in den Bogengängen und dem Vestibulum des Labyrinths. das Körpergewicht tragen. Wird das dezerebrierte Tier nun
Durch diese Reflexe wird die Körperhaltung entsprechend umgestoßen, so kann es sich nicht wieder aufrichten.
18 der Kopfstellung auf nachfolgende Körperbewegungen vor- Entfernt man dagegen das Gehirn oberhalb des Mittel-
bereitet (Illert 1995). hirns, so dass Mesenzephalon, Pons und Medulla erhalten
19 bleiben, verbessern sich schlagartig die motorischen Fähig-
Beispiel keiten: Die Streckstarre fällt weg und das Mittelhirntier kann
Bei jungen Säuglingen lässt sich dies am symmetrischen toni- sich wieder selbstständig in die normale Körperhaltung auf-
20 schen Nackenreflex (STNR) beobachten: Die passive Extension stellen.
des Kopfes führt zu einer Tonusminderung der Beine und Stre-
ckung der Arme, passive Flexion des Kopfes führt zum umge- Fazit
kehrten Effekt. Diese Reaktion ist normalerweise nur im frühen Die motorische Leistung des dezerebrierten Tieres entspricht
Säuglingsalter sichtbar. Unter pathologischen Bedingungen wie den Haltereaktionen, die motorische Leistung des Mittelhirn-
der infantilen Zerebralparese persistiert dieser tonische Reflex tieres entspricht den Stellreaktionen.
mit entsprechenden Nachteilen für das Haltungsmuster.
Die motorischen Zentren des Hirnstamms sind also an der
Steuerung der Stützmotorik entscheidend beteiligt. Über
2.2 · Neurophysiologische Aspekte der Bewegungsentwicklung
13 2
absteigende (efferente) Bahnen hat der Hirnstamm ohne
»Umweg« über Zwischenneurone einen direkten, also mono-
synaptischen Zugriff auf die Motoneurone der posturalen
Rumpf- und Extremitätenmuskulatur. Ebenso projizieren
propriozeptive Afferenzen aus den Nackenmuskeln direkt
zum Vestibulariskerngebiet im Hirnstamm.
Haltereaktionen sind tonische Reaktionen, die nur im
Säuglingsalter in bestimmten Entwicklungsphasen zu sicht-
baren Bewegungen führen. Später werden sie differenzierten
Bewegungsschablonen untergeordnet und sind unter physi-
ologischen Bedingungen nicht mehr sichtbar. Sie lassen sich
3 beim Erwachsenen nur noch im EMG als Änderung der Mus-
kelspannung nachweisen.
Besser zu erkennen ist die Wirkung der Stellreaktionen
auch bei alltäglichen Bewegungen, z.B. beim Aufrichten aus
der liegenden in die aufrechte Körperhaltung. Diese Bewe-
2
gung erfolgt immer in einer bestimmten Reihenfolge: Zuerst
wird über die Meldung aus dem Labyrinth der Kopf in die
Normalstellung gebracht (Labyrinthstellreflex). Die Aufrich-
Stammhirn tung des Kopfes z.B. aus der Rückenlage verändert die Stel-
1 lung des Kopfes zum übrigen Körper, was durch die Rezep-
toren der Nackenmuskeln angezeigt wird. Die Afferenzen aus
den Nackenrezeptoren bewirken dann, dass der Rumpf dem
Kopf in die Normalstellung folgt (Schmidt 1983).

> Wichtig
Die Einleitung der Aufrichtungsbewegung erfolgt von
kranial nach kaudal. Diese Gesetzmäßigkeit ist auch in
. Abb. 2.8 Stammhirn. 1 Medulla. 2 Pons. 3 Mittelhirn (Mesenze-
den einzelnen Phasen der posturalen Entwicklung des
phalon)
Säuglings zu beobachten.
15 3

Die normale Entwicklung des Säuglings

3.1 Körperkontrolle – 15 3.5 Neurokinesiologische


3.1.1 Entwicklungsschritte in Bauch- und Untersuchung nach Vojta – 28
Rückenlage – 16 3.5.1 Reaktionen – 29
3.1.2 Entwicklung der Handmotorik – 20 3.5.2 Fehlerquellen – 34
3.1.3 Zeitliche Gliederung der Entwicklung 3.5.3 Bewertung der Reaktionen – 35
im 1. Lebensjahr – 21 3.5.4 Beispiele für abnormale Reaktionen
(modifiziert nach Vojta) – 35
3.2 Neuromotorische Untersuchung 3.5.5 Wie sind abnormale Reaktionen zu deuten? – 36
des Säuglings – 22
3.2.1 Autonome Massenbewegungen – 22 3.6 Kinderneurologische Untersuchung – 36
3.2.2 Frühkindliche Reaktionen – 23 3.6.1 Muskeleigenreflexe – 37
3.6.2 Pyramidenzeichen – 37
3.6.3 Phasische Streckreaktionen der Extremitäten – 37
3.3 Der Tragling – 25
3.6.4 Tonische Streckreaktionen
3.3.1 Physiologische Frühgeburt – 27
der unteren Extremitäten – 38

3.4 General Movements – 27


3.4.1 Qualitative Beurteilung der autonomen 3.7 Überblick über die sensomotorische
frühkindlichen Massenbewegungen – 27
Entwicklung des Kindes vom 15. Lebens-
3.4.2 Computergestütztes Analyseverfahren – 28
monat bis zum 6. Lebensjahr – 39

3.8 Entwicklung von Mentalität und


Psyche im Gestaltwandel – 40

3.1 Körperkontrolle > Wichtig


Die Aufrichtung in den zweibeinigen Stand unter Ein-
In der frühkindlichen Entwicklung erfolgt die Ausbildung der satz der tonischen und phasischen Gleichgewichtsreakti-
Steuerungsprogramme für die Körperkontrolle nach einem onen (Halte- und Stellreaktionen) gehört zu den bestge-
genetisch festgelegten, artspezifischen Bauplan des zentralen sicherten Funktionen des zentralen Nervensystems.
Nervensystems. Mit dem Abschluss der Markreifung gegen
Ende des 4. Lebensjahres endet die frühkindliche Phase. Die Der Aufrichtevorgang währt etwa ein Jahr (Bobath und Bobath
eindrucksvollsten Veränderungen sind jedoch in den ersten 1977, Zukunft-Huber 1990). Er verläuft nach Gesetzmäßig-
12–15 Lebensmonaten zu beobachten, in denen das Kind keiten, deren Kenntnis auch für die therapeutische Vorge-
mit der Fähigkeit zum aufrechten Gang den dreidimensio- hensweise bedeutsam ist, wenn eine Störung der sensomoto-
nalen Raum erobert. Dieser wichtigste Schritt in der postu- rischen Entwicklung vorliegt (7 Kap. 12, Anamnesebogen für
ralen Entwicklung ist das Ergebnis einer permanenten Ver- Säuglinge und Kleinkinder, Befundbögen für die grob- und
arbeitung von Wahrnehmungsinformationen aus dem senso- handmotorische Entwicklung vom 1. bis 12. Lebensmonat).
rischen Apparat des Bewegungssystems. Grundsätzlich erfolgt die Körperaufrichtung in der gesetz-
Knapp formuliert, lautet das Ziel der sensomotorischen mäßigen Reihenfolge von kranial nach kaudal (. Abb. 3.1).
Entwicklung des Säuglings für
4 die Grobmotorik: Aufrichten des Körpers aus der Hori- > Wichtig
zontalen gegen die Schwerkraft zum zweibeinigen Stand Bei der Aufrichtung gilt die Reihenfolge: Kopfkontrolle
und Fortbewegung in aufrechter Haltung, → Rumpfkontrolle und Extremitätensteuerung!
4 das Handgeschick: Öffnen der gefausteten Hände und
Entwicklung differenzierter feinmotorischer Manipula- Die Reihenfolge gilt jedoch nicht im Sinne einer zeitlichen
tionen. Abfolge, sondern als hierarchische Ordnung: Die Kopfkon-
16 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

1
2
1 2 3 4 5 6

3
4
5
6
7 8 9 10 11 12
7
. Abb. 3.1 Aufrichtungsentwicklung. Obere Reihe 1.–6. Lebensmonat. Untere Reihe 7.–12. Lebensmonat
8
9
10
11 . Abb. 3.2 Neugeborenes . Abb. 3.3 In der 4. Lebenswoche

12
trolle führt die Aufrichtungsentwicklung an. Rumpf- und Rückenlage: Lockere Fechterhaltung (Pseudo-ATNR) bei
13 Extremitätenkontrolle entstehen zwar zeitgleich mit der Drehung des Kopfes.
Kopfkontrolle, können sich aber nicht unabhängig davon ent- Autonome Bewegungen sind räkelnd bis zappelnd.
wickeln. Dieser Grundsatz wird bei der Behandlung bewe- Keine Willkürmotorik.
14 gungsgestörter Kindern mitunter missachtet, was sich im the- Faustschluss der Hände geringer, Hand kann sich öffnen.
rapeutischen Ergebnis niederschlägt.
15 j 12. Woche bzw. Ende des 3. Lebensmonats
(. Abb. 3.5)
3.1.1 Entwicklungsschritte in Bauch- und Bauchlage: Der Kopf kann aus dem Unterarmstütz angeho-
16 Rückenlage ben und seitlich gedreht werden. Die Aufrichtebewegung
erfolgt bis zum zervikothorakalen Übergang, der Kopf kann
17 j Neugeborenes (. Abb. 3.2) gegen die Schwerkraft stabilisiert werden.
Kann aus der Bauchlage den Kopf zu beiden Seiten drehen, Rückenlage: Die Hände können zur Körpermitte zusam-
um die Atemwege freizuhalten. mengeführt werden; das Kind spielt mit den Händen vor dem
18 Die Hände sind gefaustet, kräftiger Greifreflex. Gesicht.
Ellenbogen, Hüft- und Kniegelenke sind gebeugt, die Der Kopf wird beim passiven Hochziehen (Traktionsver-
19 Füßchen in Hackenfußhaltung. such) gehalten.
Ausgeprägtes Beugemuster. Hüft- und Kniegelenke sind locker gebeugt, die Fußsoh-
len einander zugekehrt.
20 j 4. Lebenswoche (. Abb. 3.3)
In Bauchlage noch sichtliches Beugemuster der oberen und j Ende des 4. Lebensmonats (. Abb. 3.6)
unteren Extremitäten. Bauchlage: Aus dem Unterarmstütz kann das Kind einen Arm
Der Kopf kann kurz angehoben werden. anheben und sich mit dem anderen abstützen. Das Gleichge-
Die Hände sind zur Faust geschlossen. wicht kann zur Seite verlagert werden.
Rückenlage: Das Kind greift mit den Händen und supi-
j 8. Lebenswoche (. Abb. 3.4) nierten Füßen vor dem Körper in der Traglingsposition und
Bauchlage: Beugehaltung der Extremitäten gemindert, kurzes greift nach Spielzeug.
Stützen auf die seitlich abgelegten Unterarme.
3.1 · Körperkontrolle
17 3

. Abb. 3.6
Ende des 4. Lebensmonats

. Abb. 3.4
In der 8. Lebenswoche

. Abb. 3.7
Ende des 5. Lebens-
monats

j Ende des 5. Lebensmonats (. Abb. 3.7)


Bauchlage: Abstützen mit vor dem Körper gestreckten Armen.
Becken und Oberschenkel liegen auf, die Unterschenkel sind
locker gebeugt.
Rückenlage: Das Kind entdeckt seine Füße, betastet die
Oberschenkel. Beginnt mit dem Wechselspiel der Hände und
nimmt Spielzeug von der einen in die andere Hand.

j Ende des 6. Lebensmonats (. Abb. 3.8)


Bauchlage: Aufrichtung von Kopf und Rumpf aus dem Hand-
. Abb. 3.5 stütz. Die Aufrichtung gelingt bis zum lumbosakralen Über-
Ende des 3. Lebensmonats gang. Die Hände sind geöffnet, die Ellenbogen gestreckt.
18 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

1
2
3
4
5
6
7 . Abb. 3.10 Ende des 8. Lebensmonats

8
9 . Abb. 3.8 Ende des 6. Lebensmonats

10
11
12
13
14
15
16
17 . Abb. 3.11
Ende des 9. Lebens-
18 monats

19
Rückenlage: Das Kind rollt sich vom Rücken auf den
Bauch im typischen Muster; es bewegt dabei die Beine in
20 Schrittstellung.
. Abb. 3.9 Das Kind greift nun mit einer Hand über die Körpermit-
Ende des 7. Lebensmonats te zur Gegenseite zu einem Spielzeug.

j Ende des 7. Lebensmonats (. Abb. 3.9)


Bauchlage: Das Kind kann im Handstütz das Becken von der
Unterlage abheben, so dass die Oberschenkel aufliegen.
Rückenlage: Es steckt die Füße in den Mund, übt Auge-
Hand-Mund-Fuß-Zusammenspiel.
3.1 · Körperkontrolle
19 3

. Abb. 3.12 Ende des 10. Lebensmonats

. Abb. 3.13 Ende des 11. Lebensmonats

j Ende des 8. Lebensmonats (. Abb. 3.10) j Ende des 10. Lebensmonats (. Abb. 3.12)
Bauchlage: Das Kind geht in den Hand-Knie-Stütz; die Arme Bauchlage: Das Kind schaukelt im Vierfüßerstand auf der
sind vorgestreckt, Hüften und Knie deutlich flektiert. Es dreht Stelle, erste Krabbelversuche.
sich nun vom Bauch auf den Rücken. Es spielt in Seitenlage Es zieht sich an Gegenständen hoch und kann mit Halt
mit Abstützen auf einem Ellenbogen (Gartenzwerghaltung). stehen.
Es setzt sich aus dem Vierfüßerstand in den Seitsitz.
j Ende des 9. Lebensmonats (. Abb. 3.11) Die Hände können jetzt bewusst geöffnet werden, um
Bauchlage: Das Kind beginnt reziprok zu robben und richtet Gegenstände loszulassen, wegzuwerfen.
sich aus dem Kniestand an der Wand hoch.
Rückenlage: Wird vorwiegend zum Schlafen eingenom- j Ende des 11. Lebensmonats (. Abb. 3.13)
men. Das Kind spielt weniger in Rückenlage. Reziprokes Vierfüßerkrabbeln.
Freies Sitzen.
Seitliches Laufen an der Wand (Reelingsläufer).
20 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

1
2
3 a

4
5
. Abb. 3.15 a-c
6 Handmotorik a eines Neu-
geborenen, b am Ende des
7 b c
1. Lebensmonats, c am Ende
des 2. Lebensmonats

. Abb. 3.14 Ab Ende des 12. Lebensmonats


8
9 j Ab Ende des 12. Lebensmonats (. Abb. 3.14) j 3. bis 7. Lebensmonat (. Abb. 3.16)
Das Kind steht frei und versucht die ersten Schritte. Mit 3–4 Monaten (. Abb. 3.16 a) kann das Kind die Hän-
Es krabbelt Stufen hoch. de vor der Körpermitte zusammenbringen; es spielt mit den
10 Händen vor dem Mund und greift nach Spielzeug.
Am Ende des 5. Monats (. Abb. 3.16 b) beginnt das Wech-
11 3.1.2 Entwicklung der Handmotorik selspiel der Hände: Ein Gegenstand wird mit beiden Händen
gefasst und von einer in die andere Hand gegeben.
Der Prozess der explorativen Gestaltwahrnehmung von Im 6.–7. Monat (. Abb. 3.16 c) kann das Kind über die
12 Umweltdingen (7 Kap. 2.1.1, Raumorientierung und Gestalt- Körpermitte hinweg seitlich nach Spielzeug greifen, zeitgleich
wahrnehmung) vollzieht sich in einer typischen Hand-Mund- mit der Drehung vom Rücken auf den Bauch.
13 Koordination: Das Greifen und Betasten von Gegenständen,
die dann in den Mund gesteckt werden, vermittelt Kenntnisse j 8. bis 10. Lebensmonat (. Abb. 3.17)
über Form, Konsistenz, Material, Temperatur und Geschmack Das Greifen über den Kopf nach oben gelingt am Ende des
14 des Gegenstandes. Die Ausbildung der Hand- und Fingermo- 8. Monats (. Abb. 3.17 a). Nach Vojta wird damit die feinmo-
torik verläuft gleichzeitig mit Entwicklung der Grobmoto- torische Differenzierung eingeleitet. Das gezielte Öffnen der
15 rik, also der Körperaufrichtung. Die folgenden Abbildungen Hand und Wegwerfen von Gegenständen wird am Ende des
(. Abb. 3.15–3.18) zeigen eine zusammenfassende Darstel- 9. Monats (. Abb. 3.17 b) beharrlich geübt, was den Bezugs-
lung der wichtigsten handmotorischen Entwicklungsschritte personen mitunter viel Geduld abfordert. Am Ende des
16 (s. auch 7 Kap. 12, orientierende Befundbögen für die grob- 10. Monats (. Abb. 3.17 c) können kleine oder flache Gegen-
und handmotorische Entwicklung vom 1. bis 12. Lebensmo- stände im Schlüsselgriff gefasst werden, d.h. zwischen Dau-
17 nat). menkuppe und Mittelglied des gebeugten Zeigefingers.

j Neugeborenes bis Ende des 1. Lebensmonats j Ende des 11./12. Monats (. Abb. 3.18)
18 (. Abb. 3.15) Der Pinzettengriff, auch Spitzgriff genannt (. Abb. 3.18 a),
Die Hände des Neugeborenen (. Abb. 3.15 a) sind gefaustet, gelingt am Ende des 11. Monats: Sehr kleine Gegenstände wie
19 meist mit eingeschlagenem Daumen, dem sog. Schlupfdau- Krümel, kleine Körner usw. können mit den Spitzen von Dau-
men. Bei Berühren der Handinnenfläche kommt es zu einem men und Zeigefinger gefasst werden.
so kräftigen Greifreflex, dass sich das Kind damit hochzie- Eine weitere Steigerung des Handgeschicks ist am Ende
20 hen lässt. Dieses reflektorische Zugreifen wird nach und nach des 12. Monats (. Abb. 3.18 b, c) zu beobachten: Zwei Gegen-
geringer und sollte im 3. Trimenon weitgehend überwunden stände, z.B. Bauklötzchen, werden mit einer Hand gefasst und
sein. gehalten.
Am Ende des 1. Lebensmonats (. Abb. 3.15 b) ist die
Hand weiterhin gefaustet, öffnet sich aber gegen Ende des
2. Monats (. Abb. 3.15 c) für kurze Zeit.
3.1 · Körperkontrolle
21 3
3.1.3 Zeitliche Gliederung der Entwicklung
im 1. Lebensjahr

Die neuromotorische Entwicklung des Säuglings ist ein konti-


nuierlicher Prozess, der in der Entfaltung der posturalen und
phasischen Motorik eine annähernd konstante Gliederung
aufweist. Vereinfacht ausgedrückt: Im dreimonatigen Rhyth-
mus erreicht der Säugling die jeweils nächsthöhere Stufe der
a b
Aufrichtung gegen die Schwerkraft und auch der Fortbewe-
gung. Die Einteilung der Säuglingsentwicklung in Trime-
. Abb. 3.16 a-c
na geschieht also nicht aus algebraischen Gründen; vielmehr
Handmotorik a im 3./4. Le- entspricht sie einer variablen entwicklungsneurologischen
bensmonat, b am Ende des Gesetzmäßigkeit und erlaubt mit ziemlicher Zuverlässigkeit
5. Lebensmonats, eine Beurteilung der normalen sensomotorischen Säuglings-
c c im 6./7. Lebensmonat entwicklung. 7 Übersicht 3.1 kann als Orientierungshilfe für
die tägliche Praxis dienen (. Abb. 3.19).

Übersicht 3.1 Sensomotorische


Säuglingsentwicklung
1. Am Ende des 1. Trimenons, also mit 3 Monaten, ist
das Kind meist in der Lage, den Kopf aus dem Unter-
armstütz anzuheben und geradeaus zu schauen. In
a Rückenlage werden die Hände zur Körpermitte zusam-
men geführt (medianisiert).
Merkworte: Unterarmstütz, Medianisierung der Hän-
de (. Abb. 3.19 a).
2. Am Ende des 2. Trimenons (6 Monate) geht das Kind
in den Handstütz und richtet Kopf und Rumpf auf mit
Stützpunkt am Becken. Es dreht sich vom Rücken auf
den Bauch, wobei der Rumpf der Kopfdrehung folgt.
Merkworte: Handstütz, Drehen Rücken/Bauch
(. Abb. 3.19 b).
3. Am Ende des 3. Trimenons (9 Monate) kann sich das
Kind vom Bauch auf den Rücken drehen (8. Monat!); es
beginnt zu robben, kann sich gezielt fortbewegen. Aus
der Bauchlage richtet es sich zum Kniestand auf.
b c Merkworte: Robben, Kniestand, Drehen Bauch/
Rücken (. Abb. 3.19 c).
. Abb. 3.17 a-c Handmotorik a am Ende des 8. Lebensmonats, 4. Am Ende des 4. Trimenons (12 Monate) kann das
b am Ende des 9. Lebensmonats, c am Ende des 10. Lebensmonats
Kind (meist) frei stehen oder schon die ersten Schritte
machen. Es beginnt, bäuchlings treppauf zu krabbeln.
Das Vierfüßerkrabbeln beherrscht es meist schon seit
einigen Wochen.
Merkworte: Vierfüßerkrabbeln, Stehen, Gehen
(. Abb. 3.19 d).

a
> Wichtig
c
Eine 4- bis 6-wöchige zeitliche Streubreite im Erreichen
der jeweiligen grob- und feinmotorischen Fähigkeiten
kann als physiologisch angesehen werden. Größere Ver-
zögerungen sind dann verdächtig, wenn andere Auffäl-
ligkeiten hinzukommen.
. Abb. 3.18 a-c
Handmotorik a am Ende des 11. Lebensmo-
nats: Pinzettengriff, b, c am Ende des 12. Le-
b bensmonats
22 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

3.2 Neuromotorische Untersuchung des


1 Säuglings

2 Wie der Perserkönig sein Leben rettete


Im ersten Buch seines Geschichtswerkes berichtet Herodot
3 vom Mederkönig Astyages, dem Traumdeuter vorausgesagt
hatten, sein Enkel werde ihn dereinst vom Thron stoßen. Eini-
3 Monate
4 a ge Zeit nach dieser Prophezeiung brachte seine Tochter einen
Sohn zur Welt und Astyages befahl seinem Kanzler Harpagos,
das Kind beiseite zu nehmen und zu töten. Der führte den Be-
5 fehl aber nicht aus, sondern brachte den Knaben in Sicherheit,
nach Herodot aus politischen Erwägungen. Viel netter aber ist
die Darstellung in der Sage: Da heißt es, als man Harpagos das
6 Kind übergab, habe es ihn angelächelt, und Harpagos brachte
es nicht übers Herz, ihm etwas anzutun; es wurde heimlich ei-
nem Hirten gegeben, bei dem es aufwuchs. Das Kind war Ky-
7 ros, der spätere Perserkönig.

6 Monate
8 b
Diese Erzählung beschreibt eine Universalie menschlichen
Verhaltens, die unabhängig ist von Epoche und Kultur: Das
9 Lächeln eines Säuglings und sein äußeres Erscheinungs-
bild, das Kindchenschema (Lorenz 1943), löst beim Betrach-
ter stets eine aggressionsfreie, freundliche Zuwendung aus.
10 In der Ethologie wird die emotionale Reaktion auf das Kind-
chenschema nicht als erlerntes, sondern als angeborenes
11 Verhalten aufgefasst, das offenbar im Dienste der Arterhal-
c 9 Monate tung steht.
12 » Der Versuch, unsere starken emotionellen Reaktionen auf
Kindchenmerkmale lerntheoretisch nach den üblichen Mecha-
13 nismen der Andressur zu erklären, stößt auf Schwierigkeiten.
Das Kind bezahlt nämlich für geleistete Dienste einzig und al-
lein mit seiner Herzigkeit. Im Übrigen ist sein Verhalten eher
14 belastend und störend. Es schreit, ist unsauber und macht un-
«
endlich viel Mühe. (Eibl-Eibesfeldt 1997)
15
d 12 Monate
16 3.2.1 Autonome Massenbewegungen
. Abb. 3.19 a-d Haltungs- und Bewegungsmuster des Säuglings
17 vom 1.–4. Trimenon
Das Kindchenschema beschränkt sich nicht auf die morpho-
logischen Merkmale, sondern wird auch mitbestimmt durch
die spontanen Bewegungsmuster des Kindes. Schon die auto-
18 nomen, unwillkürlichen Räkel- und Zappelbewegungen im
frühen Säuglingsalter wirken auf den Betrachter anziehend
19 und niedlich, fügen sich also auch in das Kindchenschema ein
mit entsprechender emotionaler Reaktion beim Betrachter.
Diese primitiven Bewegungsschablonen des gesunden
20 Neugeborenen mit unkontrollierten Massenbewegungen
werden aus stammesgeschichtlich alten Hirnteilen gesteuert
(Stammhirn, Dienzephalon). Bald nach der Geburt überneh-
men phylogenetisch jüngere Hirnareale (vor allem Großhirn-
zentren) das Regiment; die Primitivschablonen werden über
die supraspinale Kontrolle allmählich abgebaut und zuneh-
mend durch selektive willkürliche Motorik ersetzt. Dieser
Prozess ist im Alter von etwa 4 Monaten abgeschlossen.
3.2 · Neuromotorische Untersuchung des Säuglings
23 3
Allerdings zeigt ein Säugling mit neuromotorischer Stö- j Babkin-Reaktion (. Abb. 3.20)
rung schon im frühen Lebensstadium eine Abweichung Bei Druck mit der Daumenkuppe in die Hohlhand des Säug-
von diesem typischen Bewegungsmuster, das offenbar vom lings kommt es zu einer reflektorischen Mundöffnung (und
Betrachter intuitiv erfasst wird und bei der Bezugsperson natürlich zum Handgreifreflex).
nicht nur freundliche Zuwendung, sondern auch Befrem- Waltezeit: 0–4 Wochen.
den und Besorgnis auslöst. Mütter haben für solche Abwei-
chungen oft ein feines Gespür. j Magnetreflex (. Abb. 3.21)
Rückenlage, Hüften und Knie sind gebeugt: Die Daumen des
> Wichtig Untersuchers werden auf die Fußsohlen gedrückt und lang-
Die qualitative Beurteilung der Primitivbewegungen sam zurückgezogen. Der Kontakt zwischen Finger und Fuß-
des jungen Säuglings ist daher ein wichtiger Bestand- sohle bleibt erhalten; Streckbewegung des Beins, als werde es
teil der klinischen Untersuchung. Dazu gehört neben der von einem Magnet gezogen.
Prüfung der sog. frühkindlichen Reaktionen auch die Waltezeit: 4–6 (8) Wochen.
Beurteilung der autonomen Massenbewegungen, der
General Movements, sowie die Prüfung der Lage- und j Schreitreaktion (. Abb. 3.22)
Stellreaktionen. Wegen ihrer Bedeutung für die Früh- Das Kind wird mit beiden Händen am Rumpf vertikal gehal-
erkennung einer sensomotorischen Störung sollen die- ten. Die Fußsohle eines Beins wird auf die Unterlage gedrückt:
se drei Untersuchungsverfahren im Einzelnen bespro- Bei Berührung der Unterlage beugt sich das Bein, das ande-
chen werden. re wird gleichzeitig gestreckt, berührt die Unterlage und wird

3.2.2 Frühkindliche Reaktionen

Das gesunde Neugeborene und der junge Säugling reagie-


ren auf Fremdberührungen und Änderungen der Körperlage
während der ersten Lebenswochen in typischer Weise. Die-
se Reaktionen sind Ausdruck einer Unreife des Gehirns und
zeigen unterschiedlich lange physiologische Waltezeiten: Die
meisten Reaktionen sind 4–8 Wochen auslösbar, einige bis zu
4 Monaten und der Hand- und Fußgreifreflex schließlich bis
zu 6 bzw. 12 Monaten.

> Wichtig
Als abnormal zu werten sind
5 eine fehlende Reaktion,
5 eine deutliche Latenzzeit und vor allem
5 ein Persistieren frühkindlicher Reaktionen
weit über die normale Waltezeit hinaus, denn diese ist
verdächtig auf eine zentrale Bewegungsstörung. So kön-
nen z.B. . Abb. 3.20 Babkin-Reaktion
5 Elemente des ATNR,
5 Babkin- und Moro-Reaktion sowie
5 phasische und tonische Streckreaktionen usw.
als Ausdruck einer kortikospinalen Störung mitunter
über Jahre nachweisbar sein.

k Prüfung der frühkindlichen Reaktionen


Die Prüfung der nachfolgend erläuterten frühkindlichen
Reaktionen (. Abb. 3.20–3.30) ist wenig zeitaufwendig und
sollte bei keiner Säuglingsuntersuchung in den ersten 3 Mona-
ten fehlen (Bernbeck und Sinios 1975, Prechtl 1977, Flehmig
1983, Frankenburg, Thornton und Cohrs 1996).

j Suchreflex (Rooting-Reaktion) (ohne Abb.)


Bei Berührung eines Mundwinkels wendet der Säugling den
Kopf in Richtung des Reizes (ohne Abbildung).
Waltezeit: 0–3 Monate. . Abb. 3.21 Magnetreflex
24 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

. Abb. 3.22
1 Schreitreaktion . Abb. 3.24
Galantreaktion

2
3
4
5
6 . Abb. 3.25
Moro-Reaktion

7 . Abb. 3.23
Steigreaktion
8
9
10
11
12
13
14
gebeugt, das zuvor gebeugte andere Bein streckt sich usw. Es j Moro-Reaktion (. Abb. 3.25)
15 entsteht der Eindruck des Schreitens. Das Kind wird unter dem Rücken in der Schwebe gehal-
Waltezeit: 4–6 (8) Wochen. ten; die Hand des Untersuchers stützt den Kopf. Eine leichte
Abwärtsbewegung der unter dem Kopf liegenden Hand löst
16 j Placing-Reaktion (Steigreaktion) (. Abb. 3.23) folgende Reaktion aus:
Das Kind wird am Rumpf gehalten, mit den Füßchen unter- 4 1. Phase: Rasche Abduktion und Streckung der Arme,
17 halb der Tischkante. Langsames Anheben des Kindes; der Öffnen der Hände, oft auch Öffnen des Mundes.
Fußrücken berührt die Tischunterkante, der Fuß »steigt« 4 2. Phase: Die Arme werden in Form einer Umklamme-
über die Kante hinweg im Sinne einer Steigreaktion. rungsbewegung nach vorne geführt, der Mund schließt
18 Waltezeit: 4–6 (8) Wochen. sich.

19 j Galant-Reaktion (. Abb. 3.24) Waltezeit: In voller Ausprägung ca. 6 Wochen, dann allmäh-
Kind unter dem Bauch horizontal in der Schwebe halten. Mit lich Abschwächung.
dem Finger werden die paravertebralen Hautpartien vom
20 unteren Schulterblattwinkel bis zum Kreuz-Lenden-Über- ! Ab dem 4. Lebensmonat ist die Moro-Reaktion patho-
gang bestrichen: Konkavbewegung der WS auf der stimu- logisch!
lierten Seite, leichte gleichgerichtete Kopfdrehung, lockere
Streckung der gleichseitigen Arme und Beine, Beugung der j Bauer-Reaktion (. Abb. 3.26)
gegenseitigen Extremitäten. Der Po wird hochgezogen. Kind liegt in Bauchlage. Der Untersucher drückt mit dem
Waltezeit: 4 Monate. Daumen abwechselnd auf beide Fußsohlen. Kind führt alter-
nierende Beugebewegungen der Beine aus, es scheint »zu
kriechen«.
Waltezeit: Bis 3./4. Monat.
3.3 · Der Tragling
25 3
. Abb. 3.29
Glabellareflex

. Abb. 3.26 Bauer-Reaktion

. Abb. 3.27
Fechterhaltung

. Abb. 3.28 a, b
a Handgreifreflex, . Abb. 3.30 Halsstellreaktion
b Fußgreifreflex

a b

j Fechterhaltung (sog. ATNR) (. Abb. 3.27) j Glabellareflex (. Abb. 3.29)


Kind liegt in Rückenlage. Der Untersucher dreht mit einer Das Kind schließt die Augen bei Druck auf die Mitte der Stirn.
Hand den Kopf des Kindes passiv zur Seite, die andere Hand Nachweis von Fazialisparesen!
liegt haltend auf der Brust des Kindes: Die Extremitäten der Waltezeit: 4–6 (8) Wochen.
Gesichtsseite strecken sich, die der Hinterkopfseite beugen
sich. j Halsstellreaktion (. Abb. 3.30)
Waltezeit: Das Kind liegt in Rückenlage. Der Untersucher dreht den
4 Als lockere Form bei aktiver Kopfdrehung des Kindes in Kopf des Kindes langsam zur Seite: Der gesamte Körper dreht
Rückenlage 4–6 (8) Wochen. sich mit, das Kind dreht en bloc.
4 Als tonisch fixierte Form ab Geburt pathologisch! Waltezeit: 4–6 (8) Wochen.

j Hand- und Fußgreifreflex (. Abb. 3.28)


Physiologisch ist 3.3 Der Tragling
4 der Handgreifreflex (. Abb. 3.28 a) vom 3.–6. Monat,
4 der Fußgreifreflex (. Abb. 3.28 b) bis ca. 10./12. Monat Lange Zeit herrschte die Ansicht, der menschliche Säugling
(plantigrades Stehen). sei ein Nesthocker, da er erst etwa ein Jahr nach der Geburt
frei auf zwei Beinen gehen kann, lange Zeit nicht imstande
Abnormale Antworten bei Hand- und Fußgreifreflex sind: ist, sich selbständig Nahrung zu beschaffen und zuzuführen
4 Die Reaktion beginnt erst nach einer Latenzzeit. und außerdem Jahre braucht, bis er sich ohne Fremdhilfe mit
4 Wechselnde Intensität oder wechselnde Latenz. der Umwelt erfolgreich auseinandersetzen kann. Hassenstein
(2001) weist allerdings darauf hin, dass dem menschlichen
Neugeborenen die typischen Kennzeichen des Nestho-
26 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

ckers fehlen: Die geschlossenen Augenlider und Gehörgän- . Abb. 3.31


1 ge (im Gegensatz zu neugeborenen Katzen und Hunden, Säugling im Trage-
tuch, nach europäi-
die zu den Nesthockern zählen). Das Nesthockerstadium,
scher Art vorne ge-
2 so Hassenstein, absolviere der Säugling im Mutterleib: Vom
3.–5. Embryonalmonat sind die Augenlider geschlossen, um
tragen

sich dann bereits zu öffnen. Ein Nestflüchter sei das Neuge-


3 borene natürlich auch nicht, einmal wegen des späten Gehbe-
ginns, zum anderen, weil bei Nestflüchtern die Beine vor der
4 Geburt verhältnismäßig schnell wachsen, beim Menschen
hingegen recht langsam.
Nach Hassenstein (2001) ist das menschliche Neuge-
5 borene biologisch gesehen ein Tragling! Dafür spricht vor
allem der Handgreifreflex, der dem Neugeborenen trotz noch
6 unentwickelter Motorik erlaubt, sich sozusagen aus eige-
ner Kraft einige Sekunden freischwebend festzuhalten. Eine
solche Fähigkeit ist weder von Nesthockern noch -flüch-
7 tern bekannt, sondern typisch für Tierjunge, die sich an der
Mutter festklammern (Affen, Menschenaffen, Fledermäuse,
baumkletternde Beuteltiere).
8 Die Traglingsnatur des Säuglings bestätigen auch ana-
tomische Hinweise: In Rückenlage sind Hüft- und Kniege-
9 lenke gebeugt, die Hüften locker abduziert, die Fußsohlen
einander zugewendet, mitunter sich berührend. Der Säug-
ling nimmt etwa ab dem 3. Lebensmonat die Haltung ein, die
10 kennzeichnend ist für Traglingsjunge, die sich mit Händen . Abb. 3.32
und Füßen an der Mutter festklammern (. Abb. 3.5, 3.6). Da Junge Afrikanerin
11 sich der Säugling im Gegensatz zu Tierjungen jedoch nicht mit Kind
auf Dauer festhalten kann, ist der Greifreflex als ein Rudiment
aus Urzeiten anzusehen. Die beschriebene Traglingshaltung
12 weicht etwa ab dem 3. Trimenon einer zunehmenden Stre-
ckung der Extremitäten als Voraussetzung für die Aufrich-
13 tung zum Stand und freien Gehen.

Tipp
14
Die bei jungen Eltern beliebten Tragetücher für Säug-
15 linge halten das Kind in dieser Traglingsposition sicher
am Körper der Mutter oder des Vaters und finden ihre
Vorbilder in vielen Naturvölkern. Der enge Körperkon-
16 takt und die Bewegungen des elterlichen Körpers stel-
len einen nicht zu unterschätzenden Reiz für die Aus-
17 bildung der extero- und propriozeptiven Sensorik und
damit für die Entwicklung der räumlichen Wahrneh-
mung dar (. Abb. 3.31, 3.32).
18
In seinem Buch »Verhaltensbiologie des Kindes« weist Has- dem Rücken getragen werden: Sie weinen nicht, auch wenn sie
19 senstein in diesem Zusammenhang auf einen weiteren durch die körperliche Arbeit ihrer Mutter heftigsten Bewegun-
bedeutsamen Aspekt hin: «
gen ausgesetzt sind, ja, sie wachen davon nicht einmal auf.
(Hassenstein 2001)
20 » Bewegtwerden heißt, nicht verlassen zu sein. Rhythmi-
sches Bewegen des Säuglings kann Unruhe oder Weinen ver- Fazit
mindern oder gar beschwichtigen. Dies hängt allem Anschein Die Verwendung eines Tragetuchs für Säuglinge ist aus ver-
damit zusammen, dass das Bewegtwerden zur Normalsitua- schiedenen Gründen eine vernünftige Maßnahme und sollte
tion des Traglings gehört, der von seiner Mutter, während sie nicht als Modeerscheinung abgetan werden. Befürchtungen,
sich fortbewegt, mit sich getragen wird. … Bewegt werden ist diese Trageposition schade der kindlichen Wirbelsäule, haben
ein Anwesenheitszeichen seitens des betreuenden Erwachse- sich als reine Spekulation erwiesen und halten der kritischen
nen. … Hierzu passt auch eine Beobachtung an Säuglingen, Überprüfung nicht stand.
die von ihren Müttern, während sie körperlich arbeiten, auf
3.4 · General Movements
27 3
3.3.1 Physiologische Frühgeburt werden, da zielmotorische Elemente fehlen. Der Biologe und
Ethologe Heinz F.R. Prechtl (1990) konnte nachweisen, dass
In den ersten 12 Lebenswochen zeigt der Säugling einige Ver- auch diese General Movements eine bestimmte Gesetzmä-
haltensbesonderheiten, die ihn von seinen Traglingsgenos- ßigkeit aufweisen. Er entwickelte ein Verfahren zur qualita-
sen aus dem Tierreich unterscheiden und deren Bedeutung tiven Beurteilung frühkindlicher Bewegungsmuster, das auch
noch nicht vollständig erfasst ist (Hassenstein 2001): schon bei Frühgeborenen eine Unterscheidung zwischen nor-
4 Der Säugling kann den Kopf nicht heben und nicht auf malen und unphysiologischen Bewegungen ermöglicht und
allen Vieren krabbeln, wozu neugeborene Affen imstan- prognostische Schlüsse hinsichtlich der Entwicklung einer
de sind. Bewegungsstörung erlaubt. Voraussetzung für die Objektivi-
4 Der Säugling vollführt Schreitbewegungen (Schreitre- tät der Bewertung ist neben entsprechender Erfahrung vor
flex, Steigreflex), verliert diese Fähigkeit jedoch nach allem die konsequente Ausschaltung der emotionalen Reakti-
wenigen Wochen, um sie erst nach vielen Monaten beim on auf das Kindchenschema.
freien Gehen als Willkürleistung zurückzuerhalten. Fötale Bewegungen sind bereits 7–8 Wochen nach der
4 Die Moro-Reaktion, also das Ausbreiten der Arme, letzten Menstruation sichtbar. Es sind Komplexbewegungen,
Spreizen der Finger, Strecken der Beine und die nachfol- die einige Sekunden bis Minuten andauern. Sie ändern ihre
gende Umklammerungsbewegung der Arme verschwin- Qualität im Laufe der Schwangerschaft bis zur Geburt.
det mit 12–14 Wochen. Erst viel später tauchen diese
Bewegungen als Willkürleistung wieder auf. k Phasen der General Movements
4 Das soziale Lächeln erscheint erst mit ca. 3 Monaten, Die Beurteilung der General Movements (GM) ist in den
obwohl es zu Lebensbeginn besonders wichtig wäre. ersten 3–4 Monaten nach der Geburt möglich, bevor die Will-
(Der nachmalige Perserkönig Kyros dürfte also schon ein kürmotorik diese autonomen Bewegungen ablöst. In dieser
Vierteljahr alt gewesen sein, als ihm der Garaus gemacht frühen Säuglingsphase zeigt das Kind andauernd wechseln-
werden sollte.) de motorische Muster, wobei es auf ein ständig variierendes
4 Im Gegensatz zu Tieren kann sich das menschliche Neu- Repertoire komplexer Bewegungen zurückgreift. Typisches
geborene bei Abkühlung nicht durch Kältezittern selbst Merkmal ist die Gleichzeitigkeit von komplexen, variablen
Wärme zuführen. Diese Fähigkeit erscheint gewöhnlich und flüssigen Bewegungen. Prechtl (1990) teilt die GM in drei
erst mit 2–3 Monaten. Phasen ein, die in 7 Übersicht 3.2 zusammengefasst sind.

Prechtl (1984, 1987) deutet diese Merkwürdigkeiten so: Der


ursprüngliche Geburtstermin des Urmenschen hat sich im Übersicht 3.2 Phasen der General Movements
Laufe der Entwicklungsgeschichte – infolge Bildung des 1. Frühgeborenenphase (»preterm GM«): 36.–
Neokortex und Größenzunahme des Kopfes – um etwa 38. Woche p.m. (post menstruationem)
2–3 Monate vorverlagert, während das Verhalten den alten 2. Räkelphase (»writhing age«): 38.–46./48. Woche p.m.,
Zeitplan beibehielt. Schreitreflex und Moro-Reaktion wären also etwa von Geburt bis zur 8. Lebenswoche bzw.
demnach vorgeburtliches Verhalten, denn nach der Geburt zum 2. Lebensmonat
haben sie keinen Sinn. So erlaubt der Schreitreflex dem Fötus 3. Zappelphase (»fidgety age«): 46./48.–56./58. Woche,
eine aktive Lageänderung im Uterus (Prechtl), und mit der also etwa vom 3. bis 4½. Lebensmonat
Moro-Reaktion kann er sich bei schnellen Lageänderungen
der Mutter im Uterus »festkeilen«, um sich gegen die Frucht-
wasserbewegung zu stabilisieren (Langreder 1949). k Bewertung der General Movements
Dies entspricht auch der Deutung von Portmann (1969), Die Bewertung orientiert sich an folgenden Kriterien:
der den menschlichen Säugling als physiologische Frühge- 4 Als normal in jeder dieser drei Phasen werden variable,
burt bezeichnet, da er 2–3 Monate früher geboren werde als es komplexe und fließende Bewegungen angesehen.
dem Reifezustand seines sonstigen Verhaltens gemäß ist. Als 4 Abnormal sind stereotype, eintönige, spärliche, abrupte,
Ursache nimmt Portmann dafür den schnell zunehmenden starre, steife Bewegungen.
Kopfumfang des Säuglings an.
Aus diesen Beurteilungskriterien ergibt sich eine Qualitäts-
skala, die von »normal« über »suboptimal« bis zu »auffällig«
3.4 General Movements und »eindeutig abnormal« reicht.
Anhand ausgedehnter Längs- und Querschnittsunter-
3.4.1 Qualitative Beurteilung der suchungen konnten Hadders-Algra, Prechtl et al. (1992) zei-
autonomen frühkindlichen gen, dass die Beurteilung der General Movements mit hoher
Massenbewegungen Genauigkeit eine Vorhersage der sensomotorischen Ent-
wicklung ermöglicht. Von besonderer prognostischer Bedeu-
Wie die frühkindlichen Reaktionen sind auch die generalisier- tung erwies sich dabei das Zappelalter (»fidgety age«):
ten autonomen Massenbewegungen des jungen Säuglings, die 4 Eindeutig abnormale GM im Zappelalter bedeuten ein
General Movements, Zeichen einer Unreife des Gehirns und hohes Risiko hinsichtlich der Entwicklung einer infan-
dürfen offenbar auch als vorgeburtliches Verhalten gedeutet tilen Zerebralparese.
28 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

4 Auffällige GM im Zappelalter zeigen eine verzögerte


1 neuromotorische Entwicklung oder münden unbehan-
delt später in eine sog. sensomotorische Dyskybernese
2 (7 Kap. 8).

Tipp
3
Eigene Erfahrungen mit dieser Beurteilungsmethode
bestätigen, dass es sich hier um ein aussagefähiges Ver-
4 fahren handelt, das in der prognostischen Auskunft sehr
zuverlässig ist. Leider ist die Methode wegen bestimm-
. Abb. 3.33 Säugling mit aufgeklebten Lichtmarkern. Quelle: Dipl.-
5 ter Schwierigkeiten noch wenig verbreitet: Zum einen
Ing. F. Heinze
ist sie zeitaufwändiger als die herkömmlichen neurolo-
gischen Säuglingsuntersuchungen, zum anderen ver-
6 langt sie als rein qualitatives Verfahren ein hohes Maß
an Erfahrung, die nur durch regelmäßige Anwendung
7 der Methode zu erwerben ist.1

8
3.4.2 Computergestütztes Analyseverfahren
9
Inzwischen werden auch bildgebende Analyseverfahren zur
räumlichen Erfassung und computergestützten Berechnung
10 der General Movements entwickelt, die eine erhöhte Objek-
tivität erwarten lassen, da sie unabhängig von der Erfahrung
11 des Untersuchers arbeiten können. a
Das am Helmholtz-Institut für Biomedizinische Tech-
nik der RWTH Aachen entwickelte Verfahren geht folgen-
12 dermaßen vor: Dem Baby werden kugelförmige, Infrarotlicht
reflektierende Marker auf Kopf, Rumpf und Extremitäten auf-
13 geklebt. Mehrere Kameras registrieren die spontanen Bewe-
gungen des Kindes, wobei die mitbewegten Leuchtmarker
eine »Lichtbahn« von einem Kamerabild zum anderen ziehen.
14 Im Computer werden diese Lichtbahnen in dreidimensionale
Bewegungen umgerechnet und können dadurch typischen
15 Bewegungsmustern zugeordnet werden (. Abb. 3.33). Das
Ziel ist es, eine quantitative, graphisch darstellbare Aussage
über die Qualität der ausgeführten Bewegung zu erhalten.
16 In . Abb. 3.34 sind z.B. die Bewegungsbahnen des rechten
Fußes eines 3 Wochen alten gesunden Säuglings (. Abb. 3.34 a)
b
17 und eines gleichaltrigen Säuglings mit eindeutig abnormalen
autonomen Bewegungen als Hinweis auf eine infantile Zere-
. Abb. 3.34 a, b Bewegungsmuster a eines gesunden Babys, b bei
bralparese (. Abb. 3.34 b) dargestellt. Das gesunde Kind nutzt
18 den gesamten zur Verfügung stehenden Bewegungsraum aus,
einem Baby mit IZP. Quelle: Dipl.-Ing. F. Heinze

während die Bewegungsbahnen des betroffenen Kindes weit-


19 gehend in einer Ebene verlaufen. tere Entwicklung der Methode lässt jedoch angesichts des
In einer Pilotstudie konnten Meinecke et al. (2006) mit technischen Konzepts eine deutlich höhere prognostische
diesem Verfahren bei 73% der untersuchten Säuglinge eine Genauigkeit und Differenzierung der Beurteilungskriterien
20 korrekte Zuordnung in »gesund« oder »betroffen« erzielen, erwarten.
eine Quote, die für die klinische Anwendung allerdings noch
nicht ausreicht. Auch bleibt die Einteilung in »gesund« und
»betroffen« noch deutlich hinter den Parametern der quali- 3.5 Neurokinesiologische Untersuchung
tativen Beurteilung der General Movements zurück. Die wei- nach Vojta

1 Informationen zur Ausbildung in Assessment of General Move- Für Körperkontrolle und Gleichgewichtssteuerung steht
ments bei Prof. M. Hadders-Algra, Universitätsklinik Groningen, dem Organismus eine Vielzahl unbewusst ablaufender
Hanzeplein 1, NL - 9713 GZ Groningen Reaktionen zur Verfügung. Die Halte- und Stellreaktionen
3.5 · Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta
29 3
(7 Kap. 2.2.2.1) lassen sich im Säuglingsalter als sichtbare
Bewegungen auslösen, bis sie bei zunehmender ZNS-Reifung
von differenzierten Mustern überlagert werden, ohne ihre
stützmotorische Bedeutung einzubüßen. Gleiches gilt auch
für die statokinetischen Reaktionen: Sie sind eine Bewe-
gungsantwort auf plötzliche, rasche Lageänderungen des
Körpers im Raum und steuern die Gleichgewichtskontrolle
bei komplexen und dynamischen Körperbewegungen (z.B.
Rennen, Springen, Herumbalgen, Turnen, Radfahren, Ski-
fahren usw.).
Die Prüfung der Stell- und statokinetischen Reaktionen
erfolgt im Rahmen der neurokinesiologischen Untersu-
chung nach Vojta, dem wohl verbreitetsten Screeningverfah-
ren im Säuglingsalter (Vojta 1988). Der große Verdienst des
Neurologen und Neuropädiaters Václav Vojta ist die systema-
. Abb. 3.35 Traktionsversuch 1.–6. Woche: Der Kopf hängt schlaff
tische entwicklungsneurologische Analyse dieser Reaktionen
nach hinten. Die Beine sind gebeugt und leicht abduziert
und die Standardisierung ihrer Bewertung. Vojta hat mit die-
sem Verfahren die entwicklungsneurologische Diagnostik
entscheidend bereichert (7 Kap. 12.4, Befundbogen).
Alle diese Reaktionen zeigen die Gesetzmäßigkeiten der
in den motorischen Zentren des Hirnstamms integrierten
tonischen und phasischen Handlungsabläufe. Dabei wei-
sen die Bewegungsantworten des Säuglings typische Muster
auf, entsprechend dem jeweiligen Reifeszustand des ZNS. Die
Bewegungsmuster lassen sich auch hier nach Trimena eintei-
len (. Abb. 3.19), zeigen jedoch stets gleitende, sich mitunter
überlappende Übergangsmuster.

3.5.1 Reaktionen

Die neurokinesiologische Untersuchung des Säuglings


umfasst die Prüfung der Lage- und Stellreaktionen sowie der
statokinetischen Reaktionen, zusammengefasst in 7 Über- . Abb. 3.36 Traktionsversuch 7. Woche–3. Monat: Zunehmende
sicht 3.3. Beugung des Kopfes. Etwa ab dem 3. Lebensmonat kann der Kopf ge-
halten werden, ohne nach hinten zu sinken. Beugung des Rumpfes
und der Beine
Übersicht 3.3 Neurokinesiologische
Reaktionsprüfung
Nach Vojta werden sieben Reaktionen geprüft:
1. Traktion
2. Axillarhang
3. Reaktionen nach Landau
4. Reaktionen nach Vojta
5. Collis vertikal
6. Collis horizontal
7. Reaktionen nach Peiper-Isbert (Vojta 1988, Ambühl-
Stamm 1999)

k 1. Traktionsreaktion (. Abb. 3.35–3.39)


j Durchführung
Das Kind liegt in Rückenlage, Kopf in Mittelstellung, Blick-
kontakt. Der Zeigefinger des Untersuchers wird von ulnar in
die Hand des Kindes gelegt, wodurch der Greifreflex ausgelöst
wird; Daumen und Mittelfinger umfassen den distalen Unter- . Abb. 3.37 Traktionsversuch 4.–6./7. Monat: Das Kinn wird an die
arm. Das Kind wird nun langsam etwa 45° hochgezogen. Brust gezogen, die Beine sind bis zum Bauch gebeugt
30 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

. Abb. 3.40 Axillarhänge-


1 reaktion 1. Woche–3. Monat:
Kopf ist vorgeneigt, Beine sind
in mittlerer (inerter) Beuge-
2 haltung

3
4
5
. Abb. 3.38 Traktionsversuch 7.–9. Monat: Die Beugebewegung
6 von Kopf, Rumpf und Beinen lässt nach, die Knie sind halb gestreckt.
Der Schwerpunkt liegt im Gesäß

7
8 . Abb. 3.41 Axillarhänge-
reaktion 3.–7. Monat: Beine
(und Arme) sind zum Körper
9 herangezogen (Beugesyner-
gie), Kopf ist aufrecht

10
11
12
. Abb. 3.39 Traktionsversuch 9.–14. Monat: Das Kind zieht sich ak-
13 tiv hoch, Kopf wird in der Körperlinie gehalten, Beine sind abduziert,
die Knie locker gestreckt
14
j Bewertung
15 Beurteilt werden die Reaktionen von Kopf, Rumpf und Extre-
mitäten. Entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe wer-
den mehrere Phasen unterschieden.
16 . Abb. 3.42 Axillarhänge-
reaktion ab 8. Monat: Nach-
k 2. Axillarhängereaktion (. Abb. 3.40–3.42)
lassen der Beugehaltung und
17 j Durchführung
Übergang in lockere Streck-
Das Kind wird aus der Bauchlage hochgehoben und senk- haltung, Füße sind in Dorsa-
recht mit dem Kopf nach oben am Rumpf gehalten, Rücken
18 zum Untersucher.
lextension oder Neutralstel-
lung (Stehbereitschaft)

19 j Bewertung
Beurteilt wird vor allem die Haltung des Kopfes und der Bei-
ne. Es werden drei Phasen unterschieden.
20
k 3. Landaureaktion (. Abb. 3.43–3.46)
j Durchführung
Das Kind wird auf der flachen Hand des Untersuchers liegend
unter dem Bauch in horizontaler Lage gehalten.

j Bewertung
Beurteilt wird die Haltung von Kopf, Rumpf und Extremi-
täten.
3.5 · Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta
31 3

. Abb. 3.43 Landaureaktion 1.–6. Woche: Kopf ist leicht gesenkt, . Abb. 3.45 Landaureaktion ab 6. Monat: Nacken und Rumpf sind
Rumpf leicht gebeugt, Arme und Beine in lockerer Beugehaltung, symmetrisch gestreckt, Beine sind leicht abduziert, im Knie rechtwink-
Hände locker geöffnet lig gebeugt, lockere Armhaltung

. Abb. 3.44 Landaureaktion 7. Woche–3. Monat: Nacken ist bis zur . Abb. 3.46 Landaureaktion ab 8. Monat: Lockere Streckhaltung in
Schulterlinie gestreckt, Rumpf, Arme und Beine sind locker gebeugt Hüft- und Kniegelenken, die Rumpfstreckung ist vollzogen. Bei passi-
ver Beugung des Kopfes Flexion der Hüften, Knie gestreckt

k 4. Vojtareaktion (. Abb. 3.47–3.51) k 6. Horizontale Abhangreaktion nach Collis


j Durchführung (. Abb. 3.54–3.58)
Ausgangsposition ist die Bauchlage. Das Kind wird am Rumpf j Durchführung
hochgehoben und in vertikale Haltung gebracht, Rücken zum Das Kind wird an Oberarm und gleichseitigem Oberschen-
Untersucher; dann erfolgt ein plötzliches Seitkippen in die kel gefasst und mit raschem Hochheben in der Seitenlage frei
Horizontale. Die Hände sollen vor Ausführung der Reaktion gehalten.
geöffnet sein. Die Bewegungsantwort erfolgt je nach Entwick-
lungsstand in 5 Phasen. j Bewertung
Beurteilt werden im Augenblick des Hochhebens der freige-
k 5. Vertikale Kopfabhangreaktion nach Collis lassene Arm und das freigelassene Bein. Fünf Phasen sind zu
(. Abb. 3.52, 3.53) beobachten.
j Durchführung
Das auf dem Rücken liegende Kind wird an einem Ober-
schenkel gefasst und mit einer raschen Bewegung kopfunter
in die Vertikale gehoben.

j Bewertung
Beurteilt wird das freigelassene Bein. Unterschieden werden
zwei Phasen.
32 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

1
2
3
4
5
. Abb. 3.47 Vojtareaktion 1.–10. Woche: Moro-artige Bewegung
der Arme, oberes Bein in Hüft- und Kniegelenk gebeugt, Dorsalexten-
6 sion im oberen Sprunggelenk, Fuß proniert, Zehen gespreizt . Abb. 3.50 Vojtareaktion 7.–14. Monat: Arme locker gebeugt
oder locker vor- und abgestreckt, Beine deutlich vorgestreckt, Füße in
7 leichter Dorsalextension, Zehen in Mittelstellung

8
9
10
11
12
. Abb. 3.48 Vojtareaktion 11.–20. Woche: Arme abduziert, Hände
13 locker geöffnet, Beine locker gebeugt, Füße leicht supiniert, Zehen in
Neutralstellung
. Abb. 3.51 Vojtareaktion 9.–14. (17.) Monat: Abstrecken der oben
14 liegenden Extremitäten, Füße dorsalflektiert, der unten liegende Fuß
sucht Kontakt mit der Unterlage. Blick geradeaus, Kopf, Nacken und
15 Rumpf bilden einen nach oben konkaven Bogen

. Abb. 3.52 Collis-vertikal-


16 Reaktion 1. Woche–6./7. Mo-
nat: Das freie Bein wird in Hüf-
17 te, Knie und Sprunggelenk ge-
beugt

18
19
20
. Abb. 3.49 Vojtareaktion 4½–7 Monate: Extremitäten locker ge-
beugt, Hände offen oder halb geschlossen, Füße meist supiniert und
dorsalextendiert, Zehen in Neutralstellung oder in lockerer Beugung
3.5 · Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta
33 3
. Abb. 3.53 Collis-vertikal-Reaktion
ab 7. Monat: Das freie Bein wird im Hüft-
gelenk gebeugt, im Kniegelenk locker
gestreckt

. Abb. 3.56 Collis-horizontal-Reaktion 4.–6. Monat: Das Kind kann


sich mit dem freien Arm abstützen, freies Bein gebeugt

. Abb. 3.57 Collis-horizontal-Reaktion 8.–10. Monat: Abduktion


des freien Beins im Hüftgelenk, Abstützen auf dem Fußaußenrand,
ggf. auf dem ganzen Fuß

. Abb. 3.54 Collis-horizontal-Reaktion 1.–9. Woche: Moro-artiges


Abstrecken des freien Arms, freies Bein gebeugt

. Abb. 3.58 Collis-horizontal-Reaktion 9./10.–12. Monat: Abstützen


. Abb. 3.55 Collis-horizontal-Reaktion 7. Woche–3. Monat: Lockere des freien Beins mit der ganzen Fußsohle und des gestreckten freien
Beugung des freien Arms, Flexion des freien Beins Arms mit der flachen Hand. Phase der Stehbereitschaft
34 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

k 7. Kopfabhangversuch nach Peiper-Isbert 3.5.2 Fehlerquellen


1 (. Abb. 3.59–3.62)
j Durchführung Die neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta lässt sich
2 In den ersten 4–6 Monaten wird die Reaktion aus der Rücken-
lage ausgeführt, um wegen der physiologischen ventralen
rasch durchführen, sie ist reproduzierbar und in hohem Maße
informativ. Nach dem 18. Lebensmonat verliert sie jedoch
Beckenkippung einen zu starken Dehnreiz auf die Hüftge- ihre Aussagefähigkeit, laut Vojta (1997) wegen willkürmoto-
3 lenke zu vermeiden. Etwa ab dem 6. Monat erfolgt die Reak- rischer Begleitbewegungen des Kindes. Allerdings verlangt
tion aus der Bauchlage; Kopf in Mittelstellung, Hände geöff- die Bewertung einige Übung und Erfahrung, da bei fehler-
4 net. Das Kind wird an beiden Oberschenkeln gefasst und mit
einer raschen Bewegung kopfunter in die Vertikale gebracht.
hafter Durchführung die Gefahr falsch-positiver oder falsch-
negativer Befundauswertung besteht.
Die häufigsten Fehlerquellen werden kurz in 7 Über-
5 j Bewertung sicht 3.4 skizziert.
Beurteilt wird die Haltung von Kopf, Rumpf, Armen und
6 Händen. Vier Phasen werden beurteilt.

7
. Abb. 3.61 Peiper-Isbert-
8 Reaktion 7./9.–12. Monat: Ar-
me hochgestreckt, Nacken und
9 Rumpf durchgehend gestreckt
(Kopfsprunghaltung), Hände ge-
öffnet
10
11
12
13
14 . Abb. 3.59 Peiper-Isbert-Reaktion 1. Woche bis 3. Monat: Aus-
fahrende Seitwärtsstreckung der Arme, Hände geöffnet, Nacken ge-
15 streckt, Becken-Bein-Übergang flektiert

16 . Abb. 3.60 Peiper-Isbert- . Abb. 3.62 Peiper-Isbert-Re-


Reaktion 4.–6. Monat: Arme aktion ab 9. Monat: Das Kind ver-
17 seitwärts halbhoch gestreckt,
Hände geöffnet, Nacken und
sucht sich aktiv am Untersucher
festzuhalten und hochzuziehen
Rumpf bis zum dorsolumba-
18 len Übergang gestreckt. Flexi-
on im Becken-Bein-Übergang
geringer
19
20
3.5 · Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta
35 3

Tipp
Übersicht 3.4 Fehlermöglichkeiten bei der
Reaktionsprüfung Bei der Reaktionsbewertung ist auf Seitendifferenz zu
5 Beim Traktionsversuch soll der Rumpf nur bis zu achten – entweder im Sinne einer zeitlichen Entwick-
einem Winkel von 45° angehoben werden, nicht bis lungsdifferenz (z.B. rechte Seite: Normalreaktion des
zum Sitzen; ebenso ist die Berührung des Handrü- 4. Trimenons, linke Seite: Normalreaktion des 2. oder
ckens zu vermeiden. 3. Trimenons) oder als einseitig abnormale Reaktion
5 Beim Axillarhang soll das Kind nicht in den Achsel- bei normalem Muster der Gegenseite. Dasselbe gilt für
höhlen hängen; die paravertebralen Rückenmuskeln einen unterschiedlichen Entwicklungsstand zwischen
dürfen nicht mit den Daumen berührt werden. Dies oberen und unteren Extremitäten oder Schulter- und
gilt auch für die Vojtareaktion. Beckengürtel.
5 Bei der Vojtareaktion soll das Kind nicht über die Hori-
zontale hinaus gekippt werden, und die Hände des
Kindes müssen vor Durchführung der Untersuchung
geöffnet werden. 3.5.4 Beispiele für abnormale Reaktionen
5 Dies gilt auch für die Peiper-Isbert-Reaktion und die (modifiziert nach Vojta)
unten liegende Hand bei der horizontalen Abhangre-
aktion nach Collis. j Traktionsreaktion
Für alle Reaktionen gilt, dass die Bewertung im Augen- Massive Abspreizung der Oberschenkel bei gebeugten Bei-
blick der Durchführung erfolgt und nicht erst nach einigen nen, steifes Strecken eines oder beider Beine in Adduktion,
Sekunden. Innenrotation und/oder Überkreuzen der Beine, Spitzfußhal-
tung, opisthotone Rumpfhaltung, überschießendes Anheben
der gestreckten Beine.

3.5.3 Bewertung der Reaktionen j Axillarhängereaktion


Steife Streckung der Beine, parallel oder überkreuzend,
Die neurokinesiologische Diagnostik nach Vojta gibt in Ver- Innenrotation, Spitzfüße, einseitige konstante Streckhaltung.
bindung mit der Beurteilung der posturalen Entwicklung aus
Bauch- und Rückenlage (7 Abschn. 3.1.1) Auskunft über den j Landaureaktion
sensomotorischen Entwicklungsstand des Säuglings. Hin- Asymmetrische Haltung des Kopfes, Schulterretraktion,
zu kommen bei jungen Säuglingen die Bewertung der früh- Rumpfkonvexität, Opisthotonus mit Retraktion der abdu-
kindlichen Reaktionen (7 Abschn. 3.2.2) und ggf. der General zierten Arme, starre Beistreckung, Rumpfhypotonie, fehlende
Movements (7 Abschn. 3.4). Kopfkontrolle.
Bei der Interpretation der neurokinesiologischen Reakti-
onen werden typische qualitative Kriterien beachtet: j Vojtareaktion
4 Zeigen alle sieben Reaktionen unter Berücksichtigung Steife Beugehaltung des oberen Armes mit Fausten, steife
der Übergangsformen und einer physiologischen Streu- Streckhaltung des oberen Armes mit Schulterretraktion, star-
breite von ca. 4–6 Wochen altersentsprechende Muster re Streckung des oberen Beines in Innenrotation, verzöger-
von Kopf, Rumpf und Extremitäten, geht man von einem te Beugung des oben liegenden Beines, Gesicht bodenwärts
Normalbefund aus. gedreht, Hypotonie des Rumpfes.
4 Als auffällig oder abnormal gelten:
5 Starre Streckung/Beugung der Extremitäten, j Collis vertikal
5 persistierendes stereotypes Fausten, Steife Streckung des freien Beines, Spitzfußhaltung. Initiale
5 Schulterretraktion, Streckung des freien Beines, kurz danach in Beugung über-
5 Opisthotonus, gehend.
5 Innenrotation und Spitzfußstellung eines Beins/bei-
der Beine, j Collis horizontal
5 asymmetrische Haltung von Kopf und Rumpf, Starre Streckung und Spitzfuß des freien Beines, steife Stre-
5 fehlende Kopfkontrolle, ckung des freien Armes, Fausten. Zähe Streck-Beuge-Bewe-
5 Hypotonie des Rumpfes usw. gung des freien Beines, Zehenspreizung, kreisende Bewegung
im oberen Sprunggelenk, Krallen der Zehen, steife Beugung
im Ellenbogengelenk des freien Armes, Schulterretraktion.

j Peiper-Isbert-Reaktion
Starres Vor- oder Hochstrecken der Arme mit Fausten, Opist-
hotonus, konstante Beugehaltung eines Arms bzw. beider
Arme (Henkelhaltung), asymmetrische Kopf- oder Rumpf-
haltung.
36 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

3.5.5 Wie sind abnormale Reaktionen zu Diese Einteilung von Vojta ist nicht unproblematisch. Als
1 deuten? sog. Arbeitsdiagnose verleitet sie gerne dazu, bei mehreren
abnormalen Lagereaktionen von spastischer Bedrohung zu
2 Die physiologischen Halte- und Stellreaktionen sind ebenso
wie die statokinetischen Reaktionen die Antwort auf afferente
sprechen. Das führt nicht selten zu dem Trugschluss, man
könne mit entsprechender Behandlung eine solche spastische
Signale, die durch die Lageänderung des Körpers im Raum Bedrohung abwenden. Dies ist mit großer Wahrscheinlich-
3 ausgelöst werden und wesentlich aus dem Labyrinth und den keit nicht der Fall: Die Spastik bei infantiler Zerebralparese
Somatosensoren stammen. Die labyrinthären Signale, zustän- ist Zeichen einer Läsion des ersten Motoneurons, einer Pyra-
4 dig für die räumliche Kopforientierung, werden in verschie-
denen Stammhirnkernen ergänzt durch Informationen aus
midenbahnschädigung. Eine Spastik ist jedoch keine primä-
re Erkrankung, sondern »Folge der mangelhaften phylogene-
den Halspropriozeptoren, in denen die Haltung des Kopfes tisch-reflexhaften Bewegungsvoraussetzungen« (Feldkamp
5 gegenüber dem Rumpf registriert wird. Hinzu kommen pro- 1996) – oder anders ausgedrückt: Folgekomplikation der zere-
priozeptive Signale aus der autochthonen Rückenmuskulatur bralen Läsion mit Störung oder Versagen der supraspinalen
6 und den Extremitätengelenken. Aus dieser Gesamtinforma- Kontrolle. Untergegangene Motoneuronen können auch heu-
tion berechnet das ZNS die Gesamtkörperhaltung und steu- te noch nicht ersetzt werden, trotz einiger Fortschritte in der
ert so über motorische Zentren diejenigen Bewegungsmu- Stammzellenforschung. Das bedeutet, wenn eine Schädigung
7 ster, die dem jeweiligen zentralnervösen Reifezustand des kortikospinaler Strukturen vorliegt, wird sich nach einer
Säuglings entsprechen; letztlich mit dem Ziel, das Gleich- entsprechenden Latenzzeit eine mehr oder weniger ausge-
gewicht zu sichern, die Bewegung zu kontrollieren und die prägte Spastik entwickeln. Eine spastische Bedrohung kann
8 bewusste Wahrnehmung der Körperhaltung zu ermöglichen also wohl kaum abgewendet werden. Wenn sich dennoch
(Illert 1995). nach anfänglich abnormaler Lagereflexologie und auch deut-
9 Störungen der typischen Bewegungsmuster können ihre licher klinischer Symptomatik unter entsprechender Behand-
Ursache sowohl im afferenten wie im efferenten System des lung keine Spastik entwickelt und das Kind in seiner senso-
sensomotorischen Regelkreises haben: Abnormale Reakti- motorischen Entwicklung die erhofften Fortschritte macht,
10 onen bei der neurokinesiologischen Diagnostik sind also kei- muss sehr genau geprüft werden, ob überhaupt eine zere-
neswegs immer nur verdächtig auf eine zerebrale Läsion, wie brale Läsion vorlag oder ob eine Spastik womöglich von vor-
11 oft angenommen wird, sondern treten ebenso bei reversiblen neherein gar nicht zu erwarten war. Denn in solchen Fällen
Funktionsstörungen sensorisch agierender Strukturen der könnte es sich auch um das peripher-dysfunktionelle Syn-
Wirbelsäule und der Extremitäten auf. Beispiele sind drom handeln mit den oben erwähnten segmentalen Funk-
12 4 die iliosakrale Dysfunktion (Segmentblockierung) mit tionsstörungen (Blockierungen) an den sensorischen Schlüs-
Streckung von Hüft- und Kniegelenk der betroffenen selregionen des Achsenorgans, dessen Symptome nicht selten
13 Seite bei der Collis-vertikal-Reaktion, mit einer spastischen Bedrohung verwechselt werden. Die
4 die Schulterretraktion und Ellenbogenstreckung bei seg- Begriffe spastische, athetotische oder ataktische Bedrohung
mentaler Funktionsstörung des zervikothorakalen Über- sind daher problematisch und sollten nur mit großer Vorsicht
14 gangs, verwendet werden, damit die Wirkung von Therapiekonzep-
4 die Rumpfskoliose bei der Peiper-Isbert-Reaktion und ten nicht überschätzt wird. Denn wenn auch aufgrund des
15 seitendifferente Bewegungsantworten bei den Reakti- großen Neuronenüberschusses beim jungen Säugling eine
onen nach Vojta und Collis horizontal bei der sog. Kopf- beachtliche Kompensationsfähigkeit zentralnervöser Stö-
gelenksblockierung. rungen unterstellt werden darf, bleibt der Neuronentod auf-
16 grund einer Hirnläsion letztlich irreversibel.
Fazit
17 Das bedeutet: Abnormale Reaktionen bei der neurokinesiologi-
schen Diagnostik sind unspezifischer Ausdruck einer Störung 3.6 Kinderneurologische Untersuchung
der sensomotorischen Steuerung. Über die Ursache sagen sie
18 nichts aus. Zu einer entwicklungsneurologischen Diagnostik gehört die
Prüfung
19 Vojta sprach bei abnormalen Lagereaktionen von einer zen- 4 der Muskeleigenreflexe,
tralen Koordinationsstörung (ZKS), die er in vier Gruppen 4 der sog. Pyramidenzeichen sowie
einteilte: 4 der phasischen und tonischen Streckreaktionen.
20 1. 1–3 abnormale Lagereaktionen entsprechen dabei einer
leichtesten ZKS. Der Zeitaufwand ist minimal, der Informationsgewinn erheb-
2. 4–5 abnormale Lagereaktionen gelten als leichte ZKS. lich.
3. 6–7 abnormale Lagereaktionen (!) als mittelschwere
ZKS.
4. Eine schwere ZKS liegt demnach vor, wenn alle Lage-
reaktionen abnormal sind und zusätzlich ein patholo-
gischer Muskeltonus besteht (hyperton oder hypoton).
3.6 · Kinderneurologische Untersuchung
37 3
3.6.1 Muskeleigenreflexe Pathologische Antwort: Dorsalextension der Großzehe,
Spreizen aller Zehen in Spitzfußsstellung.
Muskeleigenreflexe (MER) sind propriozeptive, segmental
gebundene Reflexe und in der normalen Entwicklung stets j Rossolimo-Reflex
vorhanden. Auslösung: Kurzes, schnelles Beklopfen der Zehenkuppen
der 2. bis 4. Zehe am frei hängenden Fuß ohne Berühren des
j MER der oberen Extremität Fußrückens.
4 Segment C5–C6: Pathologische Antwort: Plantarflexion der Zehen nur
5 Bizepssehnenreflex (BSR) und im Grundgelenk, Streckung in den Mittel- und Endgelenken.
5 Radiusperiostreflex (RPR). (Im Gegensatz dazu kommt es beim plantaren Greifreflex zur
4 Segment C6–C7: Beugung in allen Zehengelenken!)
5 Trizepssehnenreflex (TSR); bei Neugeborenen wegen
des physiologischen Beugemusters meist nicht aus- ! Positive Pyramidenzeichen sind Hinweise auf eine Stö-
lösbar. rung des kortikospinalen Systems!

j MER der unteren Extremität


4 Segment L2–L4: 3.6.3 Phasische Streckreaktionen der
5 Patellasehnenreflex (PSR). Extremitäten
4 Segment L5–S2:
5 Achillessehnenreflex (ASR) und j Handwurzelreflex (. Abb. 3.63)
5 Fußsohlenreflex (FSR). Auslösung: Beklopfen der Handwurzel in Richtung Ellenbo-
gen bei maximal dorsalextendiertem Handgelenk, Ellenbo-
j Adduktoren-Reflex gen gebeugt.
Ein Schlag auf den Adduktorenansatz (Condylus medialis Pathologische Antwort: Phasische (schnellende) Stre-
femoris) füht zur Adduktion des Beins. Eine gekreuzte Ant- ckung im Ellbogengelenk mit Fingerbeugung.
wort weist auf eine pathologische Steigerung der Eigenreflexe
hin. j Fersenreflex (. Abb. 3.64)
Auslösung: Beklopfen der Ferse bei maximaler Dorsalexten-
sion des Fußes und Beugung im Kniegelenk.
3.6.2 Pyramidenzeichen Pathologische Antwort: Phasische (schnellende) Stre-
ckung in Hüft- und Kniegelenk, ggf. Beugung der Zehen.
j Babinski-Reflex
Auslösung: Bestreichen der lateralen Fußsohle von der Ferse > Wichtig
in Richtung Kleinzehenballen. Fersen- und Handwurzelreflex sind, sofern auslösbar,
Normale Antwort: Plantarflexion der Zehen und des Vor- Zeichen einer Störung der kortikospinalen Regulation
fußes und ständige Begleiter der infantilen Spastik. In diesem
Pathologische Antwort: Dorsalextension der Großze- Fall ist die phasische Reaktion kräftig, die Bewegung
he bzw. Spreizen aller Zehen, Dorsalextension und Pronati-
on des Fußes.

j Roche-Reflex
Auslösung: Bestreichen des Fußaußenrandes von der Ferse in
Richtung Kleinzehe.
Antwort und Deutung wie bei Babinski-Reflex.

j Chaddock-Reflex
Auslösung: Bestreichen der Haut um den Außenknöchel von
dorsal nach ventral.
Pathologische Antwort: Spreizen der Zehen oder nur
Dorsalextension der Großzehe.

j Oppenheim-Reflex
Auslösung: Starkes Bestreichen des Schienbeins vom Knie
nach distal.
Pathologische Antwort: Wie bei Babinski-Reflex.

j Gordon-Reflex
Auslösung: Zusammenpressen der Wadenmuskeln. . Abb. 3.63 Handwurzelreflex
38 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

1
2
3
4
5
6
7 . Abb. 3.64 Fersenreflex . Abb. 3.65 Suprapubischer Streckreflex: einseitig abnormale Re-
aktion

8 schnellend. Bei segmentalen Dysfunktionen (vor allem


in der Beckenregion) können phasische Streckreaktio-
9 nen beobachtet werden, die sich qualitativ von der Re-
aktion beim Spastiker unterscheiden: Sie sind schwä-

10 cher, mehr zuckend als schnellend und verschwinden


nach manualmedizinischer Beseitigung der segmenta-
len Störung.
11
3.6.4 Tonische Streckreaktionen der unteren
12 Extremitäten

13 j Suprapubischer Streckreflex (. Abb. 3.65)


Ausführung: Kopf in Mittelstellung, Fingerdruck auf die Mit-
te der Symphyse.
14 Pathologische Antwort: Stereotype Streckung eines Beins
bzw. beider Beine (meist in Innenrotation und Adduktion,
15 Spitzfußhaltung und Zehenspreizung). . Abb. 3.66 Normale Reaktion bei Prüfen des gekreuzten Streck-
reflexes
j Gekreuzter Streckreflex (. Abb. 3.66)
16 Ausführung: Beugung des Knies und Druck des Hüftkopfes
über den Oberschenkel in die Hüftpfanne bei leichter Adduk- j Fußklonus
17 tion des Oberschenkels. (Intakte Hüftgelenkverhältnisse Auslösung: Kind in Rückenlage, Knie leicht gebeugt. Der Fuß
vorausgesetzt!) wird über kurze, rhythmische Bewegungen in die Dorsalex-
Pathologische Antwort: Streckung des anderen Beins tension gebracht.
18 (meist in Innenrotation, Adduktion, Spitzfußhaltung und ggf. Pathologische Antwort: Alternierende dorsoplantare
Zehenspreizung). Zitterbewegung (Klonus) des Fußes im oberen Sprungelenk
19 mit einer Frequenz von ca. 4–6 Bewegungen/Sekunde, Dauer
> Wichtig mindestens 3 Sekunden.
Die beschriebenen tonischen Streckreaktionen sind in
20 den ersten 4–6 Lebenswochen physiologisch, danach > Wichtig
sollten sie verschwinden. Bei der Spastik sind sie regel- Ein auslösbarer Fußklonus ist ein sicheres Zeichen der
mäßig vorhanden. Bei segmentalen Dysfunktionen der infantilen Spastik oder einer sonstigen Störung des kor-
Iliosakralgelenke können einseitige tonische Streckre- tikospinalen Systems.
aktionen beobachtet werden, die nach Beseitigung der
segmentalen Störung verschwinden.
3.7 · Überblick über die sensomotorische Entwicklung des Kindes vom 15. Lebensmonat bis zum 6. Lebensjahr
39 3
3.7 Überblick über die sensomotorische k 3 Jahre
Entwicklung des Kindes vom Alle Kinder sollten jetzt für einen Moment auf einem Bein
15. Lebensmonat bis zum stehen und Dreirad fahren können. Viele Kinder beherr-
6. Lebensjahr schen den Schlusssprung über ca. 20 cm. Das Treppaufsteigen
gelingt ohne Halt und mit Fußwechsel, abwärts wird häufig
k 15 Monate noch nachgestellt, vielfach aber auch ohne Festhalten (Stufen-
Das Kind spielt mit dem Ball; es kann mit dem Fuß dagegen höhe!). Das Kind baut Türme mit 9–10 Würfeln und Brücken
stoßen, sich bücken und aufrichten. Es beginnt rückwärts zu aus 3–4 Würfeln nach Vormachen, mit 3½ Jahren auch nach
laufen. Mit Hilfe kann es aus der Tasse trinken, den Löffel hal- Vorlage. Es kann einen Kreis nachahmen und kann sich aus-
ten, aber nicht alleine gebrauchen. Beim Ankleiden hilft es ziehen, wenn die Knöpfe geöffnet sind. Es geht aufs Töpfchen
durch Hochhalten der Arme. oder auf die Toilette. Es gesellt sich zu anderen Kindern zum
Spiel, begreift, dass Spielzeug und Essen mit anderen zu teilen
k 18 Monate ist. Es kann mit Gabel und Löffel essen. Seinen Sprachschatz
Das Kind läuft sicher; es beginnt, Treppen hinaufzugehen. Es hat es um Drei-Wort-Sätze erweitert, es spricht mit der Pup-
kann einen Turm mit 3 Würfeln nach Vormachen bauen. Es pe oder dem Teddy, befolgt einen Doppelauftrag und erkennt
zeigt auf Aufforderung Haare, Augen und Nase; es kann Klei- auch Orte wieder.
dungsstücke allein ausziehen. Den Löffel kann es jetzt fassen
und Essen zum Mund führen, auch kann es eine Tasse hoch- k 4 Jahre
heben und mit beiden Händen halten. Es läuft rückwärts, Das Kind kann ohne Stolpern und Hinfallen über eine län-
wirft einen Ball über Kopf. gere Strecke rennen, es kann einige Sprünge auf einem Bein
Das Kind reagiert nun auf seinen Namen und blickt zu durchführen, ca. 3–5 Sekunden auf einem Bein stehen und im
einer genannten Person, kennt Eltern und Geschwister. Es Zehen-Hacken-Gang vorwärts gehen. Treppabsteigen ohne
befolgt die Aufforderung »Komm her zu mir«. Es schaut Bil- Halt und mit Fußwechsel gelingt ohne Schwierigkeiten, das
derbücher an und betrachtet sich selbst im Spiegel. In diesem Kind geht balancesicher, kann punktuell beidbeinig hüpfen
Alter kann es auch 2 Worte und 2 Tierlaute nachahmen, einen und schafft auch mehrere fortlaufende Schlusssprünge (Häs-
Wunsch äußern und auch feste Nahrung kauen. chen-hüpf-Sprung). Freies Stehen auf einem Stuhl und beid-
beiniges Abspringen aus dieser Höhe ist möglich, ebenso das
k 2 Jahre balancesichere Fahren mit dem Laufrad.
Das Kind beginnt nun, Dreirad zu fahren, kann evtl. einen Das Kind kann einen Ball auffangen und zurückwerfen,
kurzen Moment auf einem Bein stehen, baut einen Turm mit wobei es dabei den »Basketballwurf« in Pronation der Hän-
8 Klötzchen, zeichnet vertikale Linien und ahmt kreisför- de durchführt. Das Rückwerfen mit supinierten Händen von
miges Gekritzel nach. Der Löffel wird jetzt sicher gebraucht, unten nach oben gelingt meist noch nicht. Es kann sich an-
es trinkt aus der Tasse ohne zu verschütten und kann die Tas- und auskleiden, aber noch nicht Schuhe binden oder am
se wieder zurückstellen. Schuhe und Mütze will es nun sel- Rücken knöpfen. Die Sprache ist vollständig und verständ-
ber anziehen. Es verwendet 5 Worte, benennt 4 Dinge, zeigt lich, es kennt seinen Namen und oft auch die Adresse und
benannte Körperteile. kann 4 Grundfarben benennen. Es schneidet mit der Schere,
Mit 2½ Jahren beherrschen viele Kinder den Beidbein- wäscht und trocknet die Hände, und es zeichnet nach Vorla-
sprung am Boden. Treppabgehen gelingt nachgestellt und mit ge ein Kreuz nach.
Festhalten am Geländer. Treppaufsteigen kann es meist schon
ohne Halt, noch nachgestellt, gelegentlich aber auch mit Fuß- k 5 Jahre
wechsel. Das Kind kann nun 5–10 Sekunden abwechslungsweise auf
Die zu Beginn erläuterte natürliche Erkenntnistheorie dem einem und dem anderen Bein stehen, es fängt einen
(7 Kap. 2.1.1, Raumorientierung und Gestaltwahrnehmung) aufgeprallten Ball und beherrscht den Zehen-Hacken-Gang
nennt die Exploration von Umweltdingen als Voraussetzung rückwärts. Viele Kinder (ca. 40–50%) können den Hampel-
für die Abstraktion der Gestaltwahrnehmung, aus der sich mannsprung nach Vormachen imitieren und schaffen auch
wiederum Wortsprache und begriffliches Denken entwickeln. einen Purzelbaum, einige schaffen auch den Hopserlauf. Das
Die Darlegungen der handmotorischen Entwicklung zeigen Einbeinhüpfen mit gleichzeitigem Hochwerfen und Auffan-
die typischen Merkmale der manuellen Gestaltwahrnehmung gen eines Balles gelingt vielfach noch nicht.
(7 Abschn. 3.1.2, Entwicklung der Handmotorik) und veran- Mit 5 Jahren können sich die Kinder ohne Hilfe anklei-
schaulichen die zunehmende Differenzierung der feinmoto- den, Hände und Gesicht waschen und abtrocknen. Sie ken-
rischen Fähigkeiten des Kindes. Die enge zeitliche Koppelung nen Name, Adresse und häufig auch den Geburtstag. Die
von Sprachentwicklung und Werkzeuggebrauch wird beson- Sprache ist fließend. Das Bauen einer dreistufigen Treppe mit
ders deutlich, wenn es im Alter von 2–4 Jahren zum Wachs- 6 Würfeln gelingt nach entsprechender Vorlage, desgleichen
tumsschub der linken Hemisphäre kommt, »der eng mit dem das Zählen der 5 Finger an einer Hand.
Erwerb komplizierten Werkzeuggebrauchs und der Spra- Mit 5 Jahren ist die Feinmotorik so weit entwickelt, dass
chentwicklung einhergeht« (Birbaumer, Schmidt 1995). das Kind mit der Schreibschrift (= gebundene Schrift) begin-
nen kann.
40 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings

k 6 Jahre gefolgt von der 1. Trotzphase. Auch die Entfaltung der schöp-
1 Die grob- und feinmotorische Entwicklung ist voll ausdiffe- ferischen Phantasie im Rollenspiel, Malen, Kneten, Bauen
renziert, das Kind ist schulfähig. und in selbsterfundenen Spielen gehört in diese Altersphase.
2 k 1. Streckphase
3.8 Entwicklung von Mentalität und Mit Beginn der 1. Streckphase im 5. Lebensjahr ist die Fein-
3 Psyche im Gestaltwandel motorik meist so weit entwickelt, dass das Kind die gebun-
dene Schrift ausführen kann. Angeblich kann auch ein hoch-
4 In der Entwicklung des Kindes geht die Differenzierung der
sensomotorischen Programme für die Stütz- und Zielmotorik
begabtes Wunderkind bis zum 5. Lebensjahr nur in Block-
schrift schreiben.
einher mit der Organreifung und einem gesetzmäßig ablau- Mit 6 Jahren wird die Phantasiewelt zunehmend der
5 fenden Gestaltwandel, in dem sich Fülleperioden und Streck- realen Welt angepasst. Die Fein- und Grobmotorik ausdiffe-
phasen abwechseln, dem jeweiligen Lebensalter in . Tab. 3.1 renziert, das Kind ist schulreif.
6 zugeordnet. Gleichzeitig entfalten sich die emotionalen und
seelischen Verhaltensweisen sowie die intellektuellen Fähig- k 2. Füllephase
keiten (7 Kap. 12.5, Anamnesebogen für Vorschul- und Schul- Am Übergang in die 2. Fülleperiode steht die Entfaltung intel-
7 kinder). lektueller Fähigkeiten. Das 7-jährige Kind ist nun imstande,
Während das Neugeborene und der junge Säugling ihre seine Konzentrationsfähigkeit auf 30 Minuten zu steigern.
Unlust durch Schreien und die Zufriedenheit durch Schla- Neben der Schriftsymbolik, die dem gesprochenen Wort
8 fen mitteilen, erscheint mit dem sozialen Lächeln etwa im Dauer verleiht, lernt es in den darauffolgenden Jahren, mit
3. Lebensmonat die erste differenzierte Gefühlsäußerung. Rechnen und Algebra auch eine Ordnung der quantiativen
9 Im Laufe der folgenden Monate lernt das Kind zunehmend Verhältnisse zu gestalten.
Gefühle wie Vergnügtheit, Zufriedenheit, Schreck oder Furcht Gegen Ende der 2. Fülleperiode mit etwa 10 Jahren und
zu äußern und auch Zuneigung oder Abwendung deutlich zu im Übergang zur 2. Streckphase tritt ein verstärktes soziales
10 machen. In diesem Alter sollen sich auch bedingte seelische Empfinden hervor: Der Anschluss an eine Gruppe Gleichge-
Reflexe ausbilden, wobei emotionale Erlebnisse mit gleich- sinnter wird gesucht, Gruppenspiele werden gegenüber Ein-
11 zeitig auftretenden, vom Erlebnis unabhängigen Sinnesrei- zelspielen bevorzugt. In der Folgezeit entfaltet sich zuneh-
zen verknüpft werden, was nach Ansicht von Kinderpsycho- mend die Fähigkeit zur Abstraktion: Fächer wie Naturkun-
logen viele unverständliche abnorme Reaktionen im späteren de, Geographie und Geschichte ermöglichen dem Kind das
12 Leben erklären soll (Lutz 1972). Denken in Vorstellungen ohne gegenwärtig greifbare Wirk-
Greifen und optisches Fixieren sind die Mittel der explo- lichkeit.
13 rativen Gestaltwahrnehmung (7 Kap. 2.1.1, Raumorientie- Dieses Alter ist gekennzeichnet von einer zunehmenden
rung und Gestaltwahrnehmung) und Voraussetzung für die Selbstständigkeit und dem Verzicht auf die primäre Hilfe
nächsthöhere Erkenntnisfunktion, dem Abstrahieren der durch die Eltern.
14 Gestaltwahrnehmung durch Benennen. Es wurde bereits dar-
gelegt, dass diese sprachliche Zuordnung der Umweltdinge k 2. Streckphase
15 die erste Stufe zur Entwicklung der Wortsprache und zum Mit Beginn der 2. Streckphase entwickelt sich ein ernsthaftes
diskursiven Denken ist. Interesse an der Welt und ihren Problemen (Zeit der sog.
reflektiven Realität). Präpubertät und Pubertät sind wegen
16 k 1. Fülleperiode typischer orthopädischer Krankheitsbilder wie Adoleszen-
Das Ende der 1. Fülleperiode deutet sich im ersten Fragealter tenkyphose, Skoliose usw. von klinischem Interesse. Die
17 (Was ist das?) etwa im 3. Lebensjahr an. In der Übergangspha- 2. Streckphase fällt zusammen mit dem Ende der Kindheit.
se von der 1. Fülleperiode zur 1. Streckphase schließt sich etwa
im 3.–4. Lebensjahr das zweite Fragealter an (Warum?), dicht
18
19 . Tab. 3.1 Gestaltwandel mit Wechsel zwischen Fülleperio-
den und Streckphasen

20 Lebensalter Fülleperioden/Streckphasen

1.–4. Lebensjahr 1. Fülleperiode

5.–7. Lebensjahr 1. Streckphase

8.–10. Lebensjahr 2. Fülleperiode

11.–15. Lebensjahr 2. Streckphase

15.–20. Lebensjahr 3. Fülleperiode


41 4

Wahrnehmung und Körperkontrolle

4.1 Sensorik: Leitfunktion der Motorik – 41 4.3.7 Halspropriozeptoren und Kopfkontrolle – 52


4.3.8 Die Kopfkontrolle führt die
posturale Entwicklung an – 53
4.2 Propriozeption und autochthone
Rückenmuskeln – 42
4.2.1 Propriozeptoren – 42 4.4 Die Iliosakralgelenke – 54
4.2.2 Autochthone Innervation der Rückenstrecker – 42 4.4.1 Sonderkonstruktion ISG – 54
4.2.3 Propriozeptive Signalanlage – 44 4.4.2 ISG-Mobilität – 55
4.2.4 Komplexes Verbundsystem – 46 4.4.3 Myofasziale Verknüpfung – 56
4.4.4 ISG und Propriozeption – 56

4.3 Die Kopfgelenke – 47


4.3.1 Bewegungsmuster – 47 4.5 Die übrigen Schlüsselregionen – 56
4.3.2 Physiologische Form- und 4.5.1 Zervikothorakaler Übergang und
Stellungsasymmetrien – 48 mittlere BWS – 56
4.3.3 Embryologische Aspekte – 49 4.5.2 Dorsolumbaler Übergang – 57
4.3.4 Atlaskippung und Zwangsrotation des Axis – 50 4.5.3 »Bahnhöfe« und Vernetzungsorte – 58
4.3.5 Muskeln für sensorische und
motorische Aufgaben – 50 4.6 Zusammenfassung – 58
4.3.6 Mathematik im Stammhirn – 51

4.1 Sensorik: Leitfunktion der Motorik spinale Interneurone und α- und γ-Motoneurone (. Abb. 4.1).
Eine besondere Stellung nimmt der Motokortex ein: Er steht
Haltung und Bewegung des Menschen sind das sichtbare am Übergang von Programm und Ausführung und erreicht
Ergebnis eines komplexen zentralnervösen Steuerungspro- die motorischen Zentren im Rückenmark sowohl über den
zesses, an dessen Anfang die Verarbeitung von Wahrneh-
mungsinformationen steht.
Sinnesreiz
In den Gleichgewichtssensoren des Labyrinthorgans (Wahrnehmung)
sowie den propriozeptiven Sensoren von Muskeln, Sehnen
und Gelenkkapseln werden die Stellung des Kopfes im Raum,
seine Position zum Rumpf, die räumliche Stellung des Kör-
pers und die Winkelstellung der Extremitäten registriert,
unterstützt durch das Richtungssehen und Richtungshören
Sensor
Informationsaufnahme
(7 Kap. 2.2, Neurophysiologische Aspekte der Bewegungs-
entwicklung). Aus der Summe dieser Informationen ergibt
sich die Planung und Ausführung der stütz- und zielmoto-
rischen Leistung (. Abb. 4.1, 7 Kap. 2.2.2, Das Sensorsystem). Bewegungsentwurf
Motorische Planung:
Dieses stark vereinfachte Schema soll die zentrale Bedeutung Leistung subkortikale Motivationsareale
Skelettmuskulatur Assoziativer Kortex
der Sensorik für die Entstehung motorischer Leistung veran-
schaulichen: Sensorische Daten gelangen zu verschiedenen,
untereinander verbundenen spinalen und supraspinalen
Zentren. Dort findet eine komplexe Verrechnung der biolo- Ausführung: Programm:
Hirnstamm
gischen Daten statt, deren Ergebnis die Muskelleistung und Spinale Interneurone Basalkerne
damit eine neue sensorische Situation ist. α- und γ- - Thalamus
Motoneurone Kleinhirn
Die von den Sensoren aufgenommenen Sinnesreize wer- Motorischer Kortex
den in verschlüsselter Form (. Abb. 2.3) als Wahrnehmungs-
information über afferente Bahnen zentralwärts geleitet und . Abb. 4.1 Blockschema der sensomotorischen Steuerung (modifi-
erreichen zahlreiche Areale und Kerngebiete im Gehirn sowie ziert nach R.F. Schmidt 1983)
42 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

Hirnstamm als auch ohne Umschaltung direkt über den Trac-


1 tus corticospinalis (Schmidt 1983). Übersicht 4.1 Sensorische Schlüsselregionen
Dass Sinnesreize die Vorbedingung von Muskelarbeit in der Reihenfolge ihrer neuromotorischen
Bedeutung
2 sind, lässt sich schon an den General Movements des jun-
gen Säuglings beobachten (7 Kap. 3.4, General Movements). 5 Zervikookzipitaler Übergang (Kopfgelenke)
Obwohl die Bewegungen unkontrolliert sind und keiner- 5 Iliosakralgelenke
3 lei stütz- oder zielmotorische Funktion haben, treten sie nur 5 Zervikothorakaler Übergang und Segmente Th5/6
beim wachen Säugling auf, nicht dagegen im Schlaf. Die Ver- 5 Dorsolumbaler Übergang

4 arbeitung von Wahrnehmungsinformationen in motorische


Leistung setzt also grundsätzlich auch Vigilanz voraus. (Das
weiß jeder, der einmal bei einer langweiligen Vorlesung ein- Diese Regionen entsprechen im Wesentlichen den Übergän-
5 schlief und vom Stuhl zu rutschen drohte, weil die stützmoto- gen von einem beweglicheren zu einem festeren Wirbelsäu-
rische Kontrolle versagte.) lenabschnitt und gelten als besonders anfällig für statische
6 und funktionelle Störungen (Bischoff 1994). Die Übergangs-
Fazit zonen der Wirbelsäule wie auch Aufbau und Funktion der
Aus diesen Gegebenheiten lässt sich Folgendes ableiten: autochthonen Rückenmuskeln werden nachfolgend im Ein-
7 4 Die Sensorik hat die Leitfunktion der Haltungs- und zelnen erläutert.
Bewegungsleistung. Sie entwirft das Programm und ist
8 die Voraussetzung für Planung und Ausführung der Moto-
rik. 4.2.2 Autochthone Innervation der
4 Die Qualität der motorischen Leistung korreliert mit der Rückenstrecker
9 Präzision der Verschlüsselung von Sinnesreizen im Sen-
sororgan. Eine Funktionseinbuße des Sensors hat dem- Der kräftige Muskelstrang zu beiden Seiten der Dornfortsatz-
reihe wird aufgrund seiner Funktion bekanntlich als M. erec-
10 nach unmittelbaren Einfluss auf das motorische Resultat.
4 Die Behandlung einer motorischen Störung gelingt über tor spinae bezeichnet. Dieser tiefe Rückenstrecker besteht in
eine Beeinflussung der propriozeptiven Wahrnehmungs- Wirklichkeit aus zahlreichen kleinen Einzelmuskeln, die sich
11 verarbeitung. vor allem im lumbalen Anteil schwer voneinander abgrenzen
lassen und deren Benennung nach Funktion und Verlauf der
Muskelzüge erfolgt. Eine abgrenzbare Gliederung in einzel-
12 4.2 Propriozeption und autochthone ne Muskeln ist erst im Nacken möglich, was mit der differen-
Rückenmuskeln zierten Bewegung von Kopf und Hals erklärt wird.
13 Der M. erector spinae hat sich »ortsständig« (autochthon)
4.2.1 Propriozeptoren aus dorsalen Myotomen entwickelt und zeigt in seinen tie-
fen Schichten noch eine metamere Gliederung, wo man von
14 Propriozeptoren sind in unterschiedlicher Dichte über das Wirbel zu Wirbel ziehende Muskelzüge antrifft. Die gesamte
ganze Bewegungssystem verteilt. autochthone Rückenmuskulatur wird entsprechend ihrer
15 Sie können über die Sensoren tragenden Strukturen embryonalen Herkunft aus den Rami dorsales der Spinalner-
(Muskeln, Sehnen und Gelenkkapseln) unmittelbar erreicht ven C1–S3 innerviert.
und therapeutisch beeinflusst werden. In den oberflächlichen Schichten sind die Muskelzüge
16 Bei der sensomotorischen Entwicklung des Säuglings länger und überspringen mehrere Wirbel und Wirbelgrup-
(7 Kap. 3.1, Körperkontrolle) spielen die Propriozeptoren der pen. »Auf diese Weise werden größere Bereiche der Wirbel-
17 autochthon innervierten Rückenmuskulatur von Beginn an säule von zusammenhängenden Muskelzügen überspannt
eine entscheidende Rolle. Verlauf und räumliche Anordnung und zu einer einheitlichen Funktion zusammengefasst« (Putz
der einzelnen Muskelzüge in Verbindung mit den knöcher- 1994).
18 nen und ligamentären Strukturen des Achsenorgans bilden Der Erektor spinae lässt sich in zwei Anteile gliedern,
die Grundlage für die Beobachtung, dass bestimmte Wirbel- 4 den oberflächlich gelegenen lateralen Trakt und
19 säulenabschnitte offenbar eine besondere sensorische Bedeu- 4 den tiefer gelegenen medialen Trakt.
tung für die Aufrichteentwicklung des Säuglings haben. Diese
Wirbelsäulenabschnitte werden als sensorische Schlüsselre- Die wesentlichen und für unser Thema bedeutsamen Merk-
20 gionen (Coenen 2001) bezeichnet und sind in 7 Übersicht 4.1 male der beiden Trakte seien hier kurz erläutert. Eine detail-
zusammengefasst. lierte Beschreibung ist der einschlägigen Fachliteratur zu ent-
nehmen (z.B. Benninghoff, Anatomie Band 1, 1994).

k Lateraler Trakt (. Abb. 4.2)


Folgende Muskeln bilden das laterale Bündel des M. erector
spinae:
4 M. iliocostalis,
4 M. longissimus,
4.2 · Propriozeption und autochthone Rückenmuskeln
43 4
. Abb. 4.2 Autochthone Rücken-
muskeln, lateraler Trakt

M. splenius capitis

M. splenius cervicis M. splenius capitis

M. longissimus M. splenius cervicis

M. iliocostalis M. iliocostalis

4 Mm. splenius cervicis und capitis, Der M. longissimus entspringt ebenfalls am Sakrum und
4 Mm. levatores costarum. zieht wie der Iliocostalis in drei Abschnitten nach kranial. Der
thorakale Teil reicht bis zur 1. Rippe, der zervikale Teil inse-
Der M. iliocostalis ist der am weitesten lateral gelegene Mus- riert an den Querfortsätzen des 2.–5. Halswirbels, und der
kel. Er entspringt am Darmbeinkamm und Sakrum und zieht M. longissimus capitis setzt am Proc. mastoideus des Os tem-
in einem lumbalen, thorakalen und zervikalen Abschnitt porale an.
nach kranial. Er inseriert an allen Rippen und den Querfort- Der dritte Muskel des lateralen Traktes besteht aus zwei
sätzen des 6.–4. Halswirbelkörpers. Portionen, dem
44 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

4 M. splenius cervicis, der von den Dornfortsätzen der Querfortsätzen der oberen 5 Brustwirbel und der unteren
1 oberen 5–6 Brustwirbel entspringt und an den Querfort- 5 Halswirbel und inseriert am Schädel an der Linea nuchae
sätzen von Atlas und Axis inseriert, intermedia.
2 4 M. splenius capitis mit Ursprung an den Dornfortsätzen
der oberen 3 Brustwirbel und unteren 4 Halswirbel und k Subokzipitale Muskeln (. Abb. 4.4)
Ansatz am Proc. mastoideus. Eine Sonderstellung nehmen die sog. subokzipitalen Mus-
3 keln ein,
> Wichtig 4 M. rectus capitis posterior maior,
5 M. iliocostalis und M. longissimus verbinden Ilium 4 M. rectus capitis posterior minor,
4 und Sakrum mit der Halswirbelsäule und dem Schä- 4 M. obliquus capitis superior und
del. 4 M. obliquus capitis inferior.
5 5 Der M. splenius verbindet die mittlere und obere
BWS mit Atlas, Axis und Schädel. Sie bilden ein dreidimensionales Netz, das Okziput, Atlas
6 und Axis miteinander verbindet und zu einer funktionellen
Ebenfalls zum lateralen Trakt zählen die Mm. levatores Einheit zusammenfügt. Auch diese subokzipitalen Muskeln
costarum. Sie liegen unter den erwähnten langen Rücken- werden autochthon aus dem R. dorsalis des ersten Spinal-
7 muskeln, entspringen von den Querfortsätzen des 7. Hals- nervs innerviert, dem N. suboccipitalis. Der N. suboccipita-
wirbels und des 1.–11. Brustwirbels und ziehen zur nächst- lis führt nur motorische Fasern, da der erste Spinalnerv selbst
unteren Rippe (Angulus costae). Sie wirken mit beim Drehen keine sensorischen Anteile besitzt, bis auf sehr kleine für die
8 der Wirbelsäule. Dura mater am Foramen magnum. Das bedeutet, dass senso-
rische Afferenzen aus dem oberen Kopfgelenk über C2 ver-
9 k Medialer Trakt (. Abb. 4.3) schaltet werden, über den N. occipitalis maior. Anders aus-
In der von Dornfortsatz und Wirbelbogen gebildeten Rinne gedrückt: Propriozeptive Afferenzen aus dem oberen und
liegt der mediale Trakt. Er lässt sich in ein Geradsystem und unteren Kopfgelenk haben ihre Zellkerne im Ganglion spi-
10 ein Schrägsystem unterteilen. nale von C2. Dieser Umstand könnte als Erklärung für die
Zum Geradsystem gehören die folgenden Muskeln: Schmerzausdehnung bzw. Berührungsempfindlichkeit bei
11 4 Mm. interspinales, einer Kopfgelenksblockierung im Säuglingsalter herangezo-
4 Mm. intertransversarii und gen werden, die entsprechend dem Innervationsgebiet des
4 M. spinalis. N. occipitalis maior den dorsalen Kopfanteil bis zur Schei-
12 telhöhe betreffen kann (7 Kap. 7.4, Manuelle Behandlung des
Die Mm. interspinales und intertransversarii sind kleine Kopfes, . Abb. 7.42).
13 Muskeln, die die Spitzen der Dornfortsätze und Querfort-
sätze an Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule verbinden.
An der Brustwirbelsäule fehlen sie meistens. Der dritte Mus- 4.2.3 Propriozeptive Signalanlage
14 kel des Geradsystems ist der M. spinalis. Er zieht seitlich von
Dornfortsatz zu Dornfortsatz an Brust- und Halswirbelsäule. Die motorische Aufgabe der autochthonen Rückenmusku-
15 Das Schrägsystem besteht aus folgenden Muskeln: latur erklärt sich aus Lage und Verlauf der Muskelzüge: Sie
4 Mm. rotatores breves et longi, wirken auf Wirbelsäule und Rumpf streckend, seitneigend
4 M. multifidus, und drehend, unterstützt von den oberflächlichen Rücken-
16 4 M. semispinalis (gliedert sich in einen Brust-, Hals- und muskeln und im antagonistischen oder auch synergistischen
Kopfteil: M. semispinalis thoracis, cervicis und capitis). Zusammenspiel mit der ventralen Thorax- und Bauchmus-
17 kulatur. Sie sind ferner entscheidend an der freien Bewegung
Die Mm. rotatores (. Abb. 4.3) sind vorwiegend an der Brust- des Kopfes beteiligt, zusammen mit den nicht autochthon
wirbelsäule zu finden. Sie entspringen von den Querfortsät- innervierten seitlichen und ventralen Halsmuskeln.
18 zen und ziehen zum nächsthöheren und übernächsten Dorn-
fortsatz. k Besonderheiten der tiefen Rückenmuskulatur
19 Ein auffallender Muskel ist der Multifidus (. Abb. 4.2, 4.3). Allerdings weisen die tiefen Rückenmuskeln einige Beson-
Er zieht in zahlreichen kleinen, schräg verlaufenden Muskel- derheiten auf, die sie von den übrigen Rumpfmuskeln unter-
bündeln vom Sakrum bis zum Axis. Die Muskelbündel ent- scheiden und die sowohl aus manualmedizinischer als auch
20 springen an Querfortsätzen und inserieren an höheren Dorn- aus entwicklungsneurologischer Sicht von Bedeutung sind:
fortsätzen, dabei 2–4 Wirbel überspringend. 4 Aufgrund der autochthonen Innervation durch die seg-
Der letzte im Schrägsystemverbund ist der M. semispina- mental angeordneten Rami dorsales der Spinalner-
lis (. Abb.4.3). Brust- und Halsteil entspringen an den Quer- ven kann ein autochthoner Muskel aus mehreren Seg-
fortsätzen aller Brustwirbel und inserieren an den Dorn- menten innerviert werden. Dies ist auch von klinischem
fortsätzen der oberen 6 Brustwirbel und unteren 4 Halswir- Interesse: Nozireaktive Veränderungen bei segmen-
bel (thorakaler Teil) sowie an den Dornfortsätzen der oberen taler Dysfunktion (sog. Blockierung) finden sich stets
HWS bis zum Axis (zervikaler Teil). Der sehr kräftige Kopf- auch in der autochthonen Muskulatur, sei es an HWS,
teil (M. semispinalis capitis) schließlich entspringt von den BWS oder LWS. Die segmentale Zuordnung der von Karl
4.2 · Propriozeption und autochthone Rückenmuskeln
45 4
. Abb. 4.3 Autochthone Rückenmuskeln, medialer Trakt

M. semispinalis
capitis und
cervicis

M. spinalis
Mm. interspinales

M. multifidus

Mm. rotatores

Mm. intertransversarii
46 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

. Abb. 4.4 Subokzipitale Muskeln


1 M. rectus capitis
posterior minor
M. splenius capitis (res.)

M. obliquus capitis M. ssemispinalis capitis


2 superior
M. rectus capitis
Membrana atlantooccipitalis
posterior
posterior major
Sulcus arteriae vertebralis des
3 Tubercukum posterius
des Arcus posterior
Arcus posterior atlantis
atlantis Processus spinalis des Axis

4 M. obliquus capitis inferior M. longissimus capitis


Mm. intertransversarii
5 posteriores mediales cervicis M. semispinalis cervicis

6 Sell (Bischoff 1994) beschriebenen okzipitalen Irritati- kerung im Becken und die an ihr wirkenden Muskeln mit
onspunkte in den Ansatzgebieten der Mm. semispinalis einem Schiffsmast und dessen Verspannungen. Diesen Mast-
7 capitis und splenius capitis konnte von Grim und Christ baum müsse man sich allerdings (entsprechend dem Aufbau
(1993) neuroanatomisch nachgewiesen werden. der Wirbelsäule aus Wirbeln und Zwischenwirbelscheiben)
4 Die zu beiden Seiten der Dornfortsatzreihe angeord- mehrgliedrig und in sich beweglich vorstellen.
8 neten dicken Muskelstränge des Erector spinae sind in
ihrer Gesamtheit von einer derben Faszie umgeben, der » Die Muskeln stellen bei diesem Vergleich aktive Verspan-
9 Fascia throracolumbalis. Sie bildet mit den knöcher- nungszüge dar, die an den Wirbelfortsätzen (Rahen des Schiffs-
nen Rinnen seitlich der Dornfortsätze auf beiden Seiten mastes) angreifen. Wenn sich alle Seilzüge am Schiffsmast im
einen osteofibrösen Kanal. Die in diesem Kanal verlau-
10 fenden autochthonen Muskelzüge weisen im Gegensatz
Zustand der Ruhe befinden (= Ruhetonus der Muskulatur), so
ist das System im Gleichgewicht. Wird aber ein Seilzug verkürzt
zu allen anderen Skelettmuskeln an Brust- und Lenden- (= Kontraktion eines Muskels oder eines Muskelzugs), so müs-
11 wirbelsäule keine trennenden Faszien auf. Sie sind daher sen zur Erhaltung des Gleichgewichtes alle anderen Seilzüge
in diesen Abschnitten anatomisch nur schwer zu isolie- (= Muskeln) verstellt werden. Jede Änderung eines Gliedes in-
ren. nerhalb des Systems »Rückenmuskulatur-Becken-Wirbelsäu-
12 4 Vor allem die Muskeln des medialen Traktes zeigen eine le-Rippen« bedingt eine Neuregulierung aller übrigen Antei-
hohe Dichte von Muskelspindeln. Nach Zenker (1994) «
le. (Putz 1994)
13 verfügen die Mm. rotatores und der M. multifidus über
10-mal mehr Spindelrezeptoren als die übrigen Rücken- Solche Überlegungen lassen sich nicht nur auf die physio-
muskeln. Aber auch der zum lateralen Trakt zählende logischen Leistungen der tiefen Rückenmuskulatur anwen-
14 M. longissimus capitis mit Ansatz am Mastoid verfügt den, sondern auch ohne Weiteres auf pathologische Situa-
nach Voss (1971) über 63,3 Muskelspindeln pro Gramm/ tionen übertragen: Die nozizeptive Tonusänderung eines
15 Muskeln, womit er die auch nicht schlecht ausgestatteten autochthon innervierten Muskels bei einer segmentalen Dys-
einzelnen Muskeln der Hand deutlich übertrifft. Die funktion bzw. Blockierung wird sich sofort dem ganzen auto-
höchste Spindeldichte findet man allerdings in den sub- chthonen System mitteilen und auch andere Regionen an der
16 okzipitalen Muskeln mit bis zu 312 Muskelspindeln pro Störung beteiligen. Dass dies tatsächlich der Fall ist, weiß der
Gramm/Muskel (Christ 1993). Zweifellos haben auch die Manualmediziner aus dem klinischen Alltag. Bei einer Funk-
17 anderen kurzen metameren Muskeln, die sich zwischen tionsstörung der Kopfgelenke oder der Iliosakralgelenke wird
Dornfortsätzen und Querfortsätzen schräg oder longi- man stets auch segmentale Störungen an anderen Wirbelsäu-
tudinal spannen (Mm. rotatores, Mm. intertransversarii, lenabschnitten finden, und zwar meist an solchen, die als sen-
18 Mm. interspinales), überwiegend sensorische und weni- sorische Schlüsselregionen bezeichnet wurden (s.o.) und die
ger motorische Funktion. weitgehend mit den Übergangszonen der Wirbelsäule über-
19 einstimmen. Die jeweils dazwischen liegenden Abschnitte
Fazit sind in ihrer muskulären Balance im Gesamten gestört, mit
Neben ihren motorischen Aufgaben wirkt die autochthone entsprechenden Folgen für die motorische Steuerung von
20 Muskulatur also vor allem auch als propriozeptives Wahrneh- Kopf und Rumpf.
mungsorgan.
> Wichtig
In den . Abb. 3.2 –3.14 wird deutlich, dass den Über-
4.2.4 Komplexes Verbundsystem gangsregionen der Wirbelsäule bei der Entwicklung
der Rumpfaufrichtung, der Bewegung des Rumpfes ge-
Die besondere Wirkungsweise der autochthonen Rückenmus- genüber dem Becken, dem Aufrichten des Körpers zum
kulatur auf das Achsenskelett wird von Putz (1994) anschau- Stand und dem freien Gehen eine wesentliche funktio-
lich beschrieben. Er vergleicht die Wirbelsäule, ihre Veran- nelle Bedeutung zukommt. Segmentale Dysfunktionen
4.3 · Die Kopfgelenke
47 4
in diesen Wirbelsäulenabschnitten mit Einschränkung
der segmentalen Beweglichkeit und nozizeptiver Tonus-
veränderung der Muskulatur sind stets eine Quelle ver-
änderter Propriozeption und beeinträchtigen die postu-
ralen Steuerungsvorgänge im Säuglingsalter. Die Besei-
tigung der Störung mit manualmedizinischen Behand-
lungstechniken führt in aller Regel zu einer eindrucks-
vollen Besserung der sensomotorischen Fähigkeiten.

Fazit
Die dichte Besiedelung der tiefen Rückenmuskeln mit prop-
riozeptiven Sensoren und die subtile komplexe Reaktions-
weise dieses Muskelverbundes auf Tonusänderungen einzel-
ner Abschnitte (Putz 1994) begründet die Sonderstellung des
M. erector spinae innerhalb der gesamten Rumpfmuskulatur.

. Abb. 4.5 Oberes und unteres Kopfgelenk, Ansicht von ventral


4.3 Die Kopfgelenke

Zu den anatomischen Sonderkonstruktionen des Menschen,


auf die in 7 Kapitel 2 hingewiesen wurde, zählen neben der
doppelten S-Form der Wirbelsäule und der Spezialform des
menschlichen Beckens vor allem die Strukturen des zervi-
kookzipitalen Übergangs mit den Segmenten C0/C1/C2,
im deutschen Sprachgebrauch kurz Kopfgelenke genannt
(. Abb. 4.5). Über keine Wirbelsäulenregion wurde aus
manualmedizinischer Sicht so viel geschrieben und diskutiert
wie über die Kopfgelenke. Auf diesen zweifellos sehr interes-
santen Diskurs kann hier nicht näher eingegangen werden, da
es den Rahmen dieses Kompendiums sprengen würde. Viel-
mehr sollen die für unser Thema wichtigsten Aspekte zusam-
mengefasst werden.
a
Der zervikookzipitale Übergang nimmt sowohl entwick-
lungsgeschichtlich und embryologisch als auch neuroanato-
misch und neurophysiologisch eine Sonderstellung gegenüber
den anderen Wirbelsäulenabschnitten ein (Wolff 1988, Hülse,
Neuhuber, Wolff 2005). Vor allem aber haben die Strukturen
der Kopfgelenke einen entscheidenden Einfluss auf die neu-
romotorische Entwicklung des Säuglings: Sie sind zuständig
für Körperkontrolle, Gleichgewichtsreaktionen und Raumo-
rientierung.
Es leuchtet daher ein, dass diese zervikookzipitale Über-
gangsregion in der Behandlung kindlicher Bewegungsstö-
b
rungen eine zentrale Rolle spielt.
. Abb. 4.6 a, b Bewegungsrichtungen in den Kopfgelenken. a Sa-
gittalflexion im oberen und Rotation im unteren Kopfgelenk. b Late-
4.3.1 Bewegungsmuster ralflexion im oberen und unteren Kopfgelenk

Die Morphologie der Gelenkverbindung von Okziput, Atlas


und Axis beim Menschen ist das Ergebnis der phylogene- Anordnung und Ausgestaltung der artikulierenden Gelenk-
tischen Anpassung an den aufrechten Gang und ermögli- flächen von Okziput und Atlas bedingen die Hauptbewe-
cht die artspezifische Bewegung des Kopfes gegenüber dem gungsrichtung im oberen Kopfgelenk: Vor- und Rückneige,
Rumpf. auch Nutation und Gegennutation genannt (lat. nutus, Kopf-
Die Bewegungsmuster zwischen nicken) (. Abb. 4.6 a).
4 Okziput und Atlas (oberes Kopfgelenk) sowie Die Angaben über das Ausmaß der einzelnen Bewegungs-
4 Atlas und Axis (unteres Kopfgelenk) richtungen in oberem und unterem Kopfgelenk stimmen bei
unterscheiden sich in charakteristischer Weise. den einzelnen Autoren allerdings nicht in allem überein.
48 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

Nach Kapandji (1970) gelingt die Nutation um 10°, die anatomischer Merkmale und klinischer Beobachtungen darf
1 Gegennutation um 25°, das entspricht einer Gesamtbewe- davon ausgegangen werden, dass die Hauptbewegungsrich-
gung von 35°. Dvořák gibt für Nutation und Gegennutation tungen der Kopfgelenke beim Säugling und Kleinkind mit
2 ein Gesamtbewegungsausmaß von 8–13° an. Rotation und
Seitneige im oberen Kopfgelenk wird von beiden Autoren mit
denen des Erwachsenen übereinstimmen.

4–5° angenommen.
3 Auch beim Atlantoaxialgelenk gehen die Angaben der 4.3.2 Physiologische Form- und
Autoren auseinander. Im unteren Kopfgelenk besteht die Stellungsasymmetrien
4 Hauptbewegung in der Rotation, während Flexion, Extensi-
on und Seitneige nur wenige Grade betragen. Kapandji (1970) Atlas und Axis unterscheiden sich durch ihre äußere Form
gibt für die Rotation 25° zu jeder Seite an. Dvořák hingegen deutlich von den übrigen Wirbelkörpern. Der Atlas hat im
5 konnte mittels funktioneller Computertomographie Rotati- Laufe der Phylogenese einen Teil seines Wirbelkörpers nach
onsausschläge von durchschnittlich 43° zu jeder Seite ermit- kaudal an den Axis abgegeben; dieser Teil verschmolz mit dem
6 teln, was auch der klinischen Erfahrung entspricht. Axis und wurde zum Dens axis. Die äußere Form des ring-
Neuhuber (2005) schreibt zu diesem Thema: förmigen Atlas ist geprägt von den beiden Massae laterales
mit ihren nach medial abfallenden oberen und ansteigenden
7 » Bewegungen in den Kopfgelenken können zwar in Einzel- unteren Gelenkflächen. Der Dens axis artikuliert ventral mit
komponenten zerlegt, diese jedoch vom Individuum praktisch dem vorderen Atlasbogen, also dem »Rest« des ehemaligen
Atlaskörpers aus entwicklungsgeschichtlicher Vorzeit, wäh-
8 nicht isoliert ausgeführt werden. Die Sagittalflexion wird im
oberen und unteren Kopfgelenk zu etwa gleichen Teilen aus- rend die Gelenkflächen der nach lateral abfallenden »Axis-
geführt (je etwa 20–35°), während die Rotation fast ausschließ- schultern« mit den unteren Gelenkflächen der Massae late-
9 lich im unteren Kopfgelenk erfolgt (nach jeder Seite etwa 45°). rales atlantis artikulieren. Oberes und unteres Kopfgelenk
Eine Lateralflexion ist sowohl im oberen als auch im unte- sind bandgesichert durch das Lig. transversum atlantis und
dessen longitudinale Verstärkungszüge, das Lig. apicis dentis,
10 ren Kopfgelenk möglich, insgesamt etwa 10–15°, wobei eine
Zwangsrotation des Atlas um einige Grade erfolgt. « ferner durch die Ligg. alaria, das Lig. flavum, das Lig. nuchae
sowie durch die vordere und hintere Membrana occipitalis.
11 Diese bei Lateralflexion einsetzende geringe Atlas-Zwangsro- (An dieser Stelle sei auf die hervorragenden Monographien
tation ist ebenso wie die deutlich größere Zwangsrotation des von J. Lang verwiesen: Klinische Anatomie der Halswirbel-
Axis palpatorisch feststellbar (. Abb. 4.6 b). säule [1991] und Klinische Anatomie des Kopfes [1981].)
12 Die überwiegend sagittale Bewegung im oberen Kopfge- Von Bedeutung für die klinische Beurteilung und vor
lenk ergibt sich aus der Gestaltung der artikulierenden Gelenk- allem für die therapeutische Schlussfolgerung ist der Umstand,
13 flächen zwischen Okziputkondylus (konvex) und Massa late- dass an den knöchernen und gelenkigen Strukturen der Kopf-
ralis atlantis (konkav). Im unteren Kopfgelenk hingegen sind gelenke eine Vielzahl von morphologischen Varianten beo-
die Gelenkflächen von Atlas und Axis konvex, weswegen hier bachtet werden kann. Dazu gehören seitendifferente Aus-
14 die Rotation die Hauptbewegung darstellt (. Abb. 4.7). formungen der Atlasquerfortsätze, der Massae laterales, der
Es muss betont werden, dass alle diese Bewegungsunter- Okziputkondylen, der Axisschultern usw. mit entsprechender
15 suchungen an Erwachsenen durchgeführt wurden. Aufgrund Stellungsasymmetrie der Gelenkpartner. Diese Rechts-Links-
Asymmetrien sind von Missbildungen und Segmentations-
störungen zu unterscheiden und lassen sich bei allen Verte-
16 braten beobachten (Capdevilla et al. 2000), ohne dass ihnen
ein pathologischer Wert beizumessen ist. Sie sind schon in
17 sehr frühen Stadien der Embryonalentwicklung nachweisbar
(Christ 2001). Unter diesem Aspekt sind auch die häufigen
Canalis hypoglossalis
Stellungsasymmetrien zwischen Okziputkondylen, Atlas und
18 Axis zu betrachten, die sich röntgenmorphologisch von ech-
Articulatio atlanto- ten traumatischen oder entzündlichen Subluxationen und
occipitalis
19 A. vertebralis
Luxationen unterscheiden (. Abb. 4.8).
Die von manchen Manualmedizinern immer noch ver-
Pediculus arcus atlantis
fochtene Ansicht, dass es sich bei solchen Asymmetrien stets
20 Articulatio atlanto- um einen pathologischen Zustand handelt, zum Beispiel um
axialis lateralis mit
Gelenkfalten, erweitert
eine Verschiebung des Atlas, ist nach heutiger Kenntnis nicht
haltbar (. Abb. 4.8).
Axis Eine anlagebedingte asymmetrische Ausformung der
Okziputkondylen (. Abb. 4.9) erlaubt schlechthin keine sym-
metrische, auf die mediane Längsachse bezogene Stellung des
. Abb. 4.7 Paramedianer Sagittalschnitt durch die Kopfgelenke. Atlas. Solche anatomischen Varianten, die mitunter heredi-
Konvex-konkave Gelenkflächen im oberen Kopfgelenk, konvex-konve- tär gehäuft beobachtet werden, haben keine primäre patho-
xe Gelenkflächen im unteren Kopfgelenk logische Bedeutung. Zu diskutieren ist allenfalls, ob Stellung-
4.3 · Die Kopfgelenke
49 4



Somiten
1–5

zervikookzip.
Übergang
⎩ Basooccipitale

Atlas
6 (hypochordale
Spange)
7
Axis
8

C3
. Abb. 4.8 Linkslateralposition des Atlas im a.-p.-Bild als physiolo-
gische Stellungsvariante . Abb. 4.10 Schematische Gegenüberstellung der Somiten und
endgültigen Skelettanteile (modifiziert nach Christ 1990)

. Abb. 4.9
Die ersten fünf Somiten verschmelzen zu einem segmentü-
Anomalie des rech-
ten Condylus occipi- bergreifenden Blastem, dem Basiokzipitale. Sie werden also
talis: Asymmetrische in den Kopf miteinbezogen. Sechster bis achter Somit bilden
Ausformung mit Ein- Atlas und Axis. Der zervikookzipitale Übergang liegt somit
engung des Fora- zwischen dem 5. und 6. Somiten (. Abb. 4.10).
men magnum In der frühen Wirbelkörperentwicklung sind zwei Anla-
gen vorhanden, die durch Verschmelzung den ganzen Wir-
belkörper bilden. Die größere, ventral gelegene Anlage ist das
Hypozentrum, die kaudal gelegene das Pleurozentrum. In
der Entwicklung von Atlas und Axis passiert nun Folgendes:
Das Pleurozentrum von C1 verwächst nicht mit dem Hypo-
zentrum von C1, sondern mit dem Pleurozentrum von C2.
Der Dens axis entsteht also nicht, wie früher angenommen,
aus dem ganzen Wirbelkörper des Atlas, sondern nur aus des-
sen Pleurozentrum. Aus dem Hypozentrum von C1, der sog.
hypochordalen Spange, entwickelt sich der vordere Atlasbo-
sasymmetrien dieser Art das Auftreten von Funktionsstö- gen (. Abb. 4.10).
rungen begünstigen. Valide Daten dazu fehlen jedoch.
> Wichtig
In der Embryologie gilt der zervikookzipitale Übergang
4.3.3 Embryologische Aspekte als vitales Zentrum: Hier sind die ersten intraembryona-
len Gefäßsprossungen nachweisbar, und hier sind die le-
In der embryologischen Entwicklung stellen die Kopfgelenke benswichtigen Zentren für Atmung und Kreislauf lokali-
den ältesten Teil des Achsenskeletts dar. Die Wirbelsäule ent- siert (Christ 1990).
wickelt sich embryonal aus dem Mesoderm. Gekennzeich-
net ist die Frühentwicklung des Rückens durch das Auftreten Aus den okzipitalen Somiten bildet sich auch die
segmentaler Bauelemente, der sog. Somiten, die sich in der 4 subokzipitale Muskulatur,
4. Embryonalwoche aus der Segmentplatte des Mesoderms 4 Zungenmuskulatur,
abgliedern. Dabei entstehen die ersten Somiten im Hinter- 4 Kehlkopfmuskulatur und
hauptsgebiet, die letzten in der Steißbeinregion. Der Rumpf 4 infrahyale Muskulatur.
wächst also appositionell von kranial nach kaudal. Bemer-
kenswert ist, dass dieses Wachstum im zervikookzipitalen Das Anlagematerial des zervikookzipitalen Übergangs ist
Übergang seinen Ausgang nimmt; anders ausgedrückt: Die zudem beteiligt an der
Entwicklung des Körpers beginnt im kraniozervikalen Über- 4 Septierung der Ausflussbahnen des Herzens,
gangsgebiet (Christ 1990, 1993, Christ und Wilting 1992): Vom 4 Bildung der Bursa submembranacea,
kraniozervikalen Übergang aus werden zuerst fünf okzipitale 4 Bildung des intramuralen Nervenplexus des Magen-
Somiten gebildet, dann acht zervikale, zwölf thorakale, fünf Darm-Traktes,
lumbale, fünf sakrale und acht bis zehn kokzygeale Somiten. 4 Bildung des Urogenitalsystems.
50 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

Christ (1993) kommt zu der Feststellung, »dass der sich selbst alaria: Die Flügelbänder begrenzen die Rotation der oberen
1 in kranio-kaudale Richtung entwickelnde Hals aufgrund der Halswirbelsäule bei Drehung um die vertikale Achse. Bei rei-
zeitlich und räumlich fassbaren Entwicklungsereignisse die ner Seitneige kommt es sofort zur Anspannung des kontralate-
2 Basis für die sich weiter kaudal anschließenden Körperseg-
mente darstellt«.
ralen Flügelbandes, wodurch nach Werne (1957) die Drehung
des Axis bewirkt wird. Lewit (1997) hingegen hält die gelen-
kige Verbindung von C2 und C3 für die Ursache der Axisro-
3 tation. Wie dem auch sei: Ein Fehlen dieser Zwangsrotation
4.3.4 Atlaskippung und Zwangsrotation des des 2. Halswirbelkörpers bei Seitneigen des Kopfes ist Hin-
Axis
4 weis auf eine funktionelle oder strukturelle Störung im Seg-
ment C1/2 oder C2/3. Da der 2. Halswirbelkörper über einen
Atlas und Axis weisen bei ihren Vorzugsbewegungen fol- prominenten Dornfortsatz verfügt, lässt sich die Zwangsrota-
5 gende Eigentümlichkeiten auf: Die seitliche Röntgenaufnah- tion palpatorisch gut bestimmen.
me der Halswirbelsäule in Nutation (Nickbewegung) zeigt
6 eine Annäherung des hinteren Atlasbogens an das Okziput,
obwohl man bei dieser Bewegung eher das Gegenteil erwar- 4.3.5 Muskeln für sensorische und
ten würde (. Abb. 4.11). Diese Kippung des Atlas wird nach motorische Aufgaben
7 Lewit (1997) durch Schwerpunktverlagerung des Kopfes nach
ventral und die damit verbundene Druckzunahme der Okzi- Die Kopfgelenke und die nachfolgenden Halswirbel tragen
putkondylen auf die vorderen Anteile der Atlasgelenkflächen den Kopf und ermöglichen ihm, sich ohne Mitbewegung des
8 bewirkt. Dies ist eine gelenkmechanische Deutung, die aller- Rumpfes in allen Raumrichtungen beliebig einzustellen. An
dings nicht das häufige Fehlen der Atlaskippung z.B. bei einer diesem großen Bewegungsumfang ist eine Vielzahl von Mus-
9 funktionellen Pathologie der Kopfgelenke erklärt. Zu disku- keln beteiligt, deren Hauptanteil im Nacken liegt. Verschie-
tieren wäre daher auch eine Beteiligung der subokzipitalen dene dieser Muskeln erfüllen sensorische Aufgaben und ste-
Muskeln an dieser physiologischen Atlaskippung, die als hen im Dienst der Gleichgewichtssteuerung.
10 Schutzmechanismus für das obere Halsmark gedeutet wer-
den könnte.
11
k Kopfdrehung um die vertikale Achse
Bei Drehen des Kopfes um die vertikale Achse (. Abb. 4.12 a)
12 kommt es zunächst zu einer Rotation von Kopf und Atlas um
den Zahn des Axis ohne Mitdrehung des Axis selbst. An der
13 Rotation beteiligt sich dieser erst ab ca. 20° Drehung, gemein-
sam mit der Kette der nachfolgenden Halswirbel.
14 k Seitneigung des Kopfes
Wird der Kopf jedoch aus der Mittelstellung ohne Drehung
15 zur Seite geneigt (. Abb. 4.12 b), kommt es sofort zur Mitro-
tation des Axis zur Neigeseite. Diese Zwangsrotation des Axis
entsteht nach Werne (1957) durch die Anordnung der Ligg.
16 a
. Abb. 4.11
17 Ventrale Kippbewe-
gung des Atlas bei
Nickbewegung des
18 Kopfes. Vermehr-
te Anteflexion des
19 Atlas

20

. Abb. 4.12 a, b a Kopfdrehung um die vertikale Achse. b Kopfseit-


neige nach rechts. Der Axis rotiert nach rechts, sein Dornfortsatz so-
mit zur Gegenseite
4.3 · Die Kopfgelenke
51 4
An Okziput und Mastoid, Atlas und Axis inserieren nicht Die Nackenrezeptoren spielen eine entscheidende Rolle
weniger als 22 Muskeln unterschiedlicher Länge und Stärke, bei der Stellungskontrolle von Kopf, Körper, Extremitäten und
von denen allein 18 Muskeln autochthon innerviert sind. Sie Augen. Man geht heute davon aus, dass die für die Raumori-
erhalten also die motorische und sensible Innervation über entierung bedeutsamen Wahrnehmungsinformationen über
den R. dorsalis des Spinalnervs der einzelnen Segmente. Aus- die Stellung des Kopfes relativ zum Rumpf aus muskulären
nahmen sind Rezeptoren stammen und nicht aus den Gelenkkapseln, wie
4 der absteigende Trapeziusast, früher angenommen. Nach heutiger Ansicht sind es die Mus-
4 der M. sternocleidomastoideus, kelspindeln, die über die Stellung der Gelenke informieren
4 der M. levator scapulae und und vor allem bei langsamen Bewegungen dem Vestibularap-
4 der M. scalenus medius. parat überlegen sind, was die Feinregistrierung der Kopfbe-
wegung und -stellung betrifft (Taylor 1992). Gelenksensoren
Zenker (1988) geht davon aus, dass die »grobe Arbeit« bei sprechen eher auf endgradige, möglicherweise schmerzhafte
Positionsänderungen des Kopfes überwiegend von den kräf- Bewegungen an (Proske et al. 1988).
tigen, oberflächlichen Hals- und Nackenmuskeln geleistet
wird, während die tiefen, kurzen Muskeln wegen ihres Reich-
tums an Rezeptoren vorwiegend als Messfühler zur genauen 4.3.6 Mathematik im Stammhirn
Bestimmung der Kopfposition agieren, also rein sensorische
Aufgaben erfüllen. Gemeint sind hier die subokzipitalen Nach Hassenstein (1977, 1988) führt das Gehirn bei der Steu-
Muskeln, die von allen Muskeln des Bewegungssystems die erung des Gleichgewichts eine mathematische Operation
höchste Spindeldichte aufweisen. Die räumliche Anordnung durch: Aus den oberen Halssegmenten (C2–C4) ziehen pro-
der Muskeln zwischen Okziput, Atlas und Axis (. Abb. 4.13) priozeptive Afferenzen direkt (monosynaptisch) zum Vesti-
ermöglicht die Registrierung feinster Stellungsänderungen bulariskerngebiet im Stammhirn. Dort kommt es zur kom-
zwischen Kopf und oberer Halswirbelsäule. Die propriozep- binierten Verrechnung mit Informationen zur Stellung des
tive Bedeutung dieser Muskeln ist evident. Kopfes im Raum aus dem Labyrinth, ergänzt durch visu-
An Atlas und Axis inserieren neben den vier subokzipi- elle und akustische Daten, die das labyrinthäre Messergeb-
talen Muskeln noch weitere fünf autochthone Muskeln: nis bestätigen. Die Informationen der Nackenrezeptoren
4 M. longissimus cervicis, bestätigen diese Messung jedoch nicht! Denn da die postu-
4 M. splenius cervicis, ralen Gleichgewichtsreaktionen der Wirbelsäule und Extre-
4 M. spinalis cervicis, mitäten dazu dienen, den Rumpf im Raum zu stabilisieren
4 M. semispinalis cervicis und und nicht den Kopf, der sich frei bewegen will, muss das von
4 M. multifidus (cervicis). den Nackenpropriozeptoren gelieferte Messergebnis über die
Winkelstellung »Kopf zu Rumpf« vom okulolabyrinthären
In Muskeln, Bändern und Gelenkverbindungen der zervi- Ergebnis subtrahiert werden. Hassenstein (1988) fasst diesen
kalen Übergangsregion finden sich auch Lamellenkörperchen Vorgang der Information über die Raumlage des Körpers in
und andere Mechanosensoren, deren Beteiligung an der Pro- nachfolgende Formel.
priozeption noch nicht geklärt ist (Neuhuber, Bankoul 1992).
> Wichtig
W (Körper) = W (Kopf) – W (Winkel Kopf/Rumpf)
5 W (Körper) steht für die Wahrnehmung der Raumla-
M. rectus capitis
posterior minor ge des Körpers,
5 W (Kopf) für die Wahrnehmung aus Labyrinth, Augen
M. obliquus capitis
superior und Ohren,
5 W (Winkel Kopf/Rumpf) für die Information aus den
M. rectus capitis Nackenrezeptoren.
posterior major

a M. obliquus capitis Beispiel


inferior
Dazu ein einfaches Beispiel: Die Aufgabe lautet, den Kopf 30° aus
der Lotrechten zur Seite abweichen zu lassen. Wird die gefor-
M. obliquus capitis derte Seitabweichung durch einfaches Seitneigen des Kopfes
superior
durchgeführt, bleibt der Rumpf stabil. Erfolgt diese Seitabwei-
M. rectus capitis chung jedoch ohne Winkeländerung zwischen Kopf und Rumpf,
posterior minor
indem sich der ganze Körper zur Seite neigt, wird noch vor Errei-
M. rectus capitis chen der 30°-Abweichung eine abstützende Schrittbewegung
posterior major
zur Neigeseite durchgeführt, um einen Sturz zu vermeiden.
b M. obliquus capitis
inferior

. Abb. 4.13 Halbschematische Darstellung der subokzipitalen


Muskeln, dorsale und seitliche Ansicht (Coenen 1999)
52 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

4.3.7 Halspropriozeptoren und > Wichtig


1 Kopfkontrolle Segmentale Dysfunktionen an der oberen Halswirbel-
säule führen beim Säugling zu einer anhaltenden Tonu-
2 Das unreife Gehirn des Neugeborenen ist nicht in der Lage,
diese mathematische Operation zur Steuerung der Körpe-
sasymmetrie, die Kopf, Rumpf und Extremitäten erfasst:
Es entsteht das Bild des »schiefen Säuglings«, das unter
raufrichtung und des Gleichgewichts durchzuführen. Mit dem Begriff Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS) noch ein-
3 zunehmender Reifung des ZNS steigt auch die Fähigkeit, gehend besprochen wird. Es sei an dieser Stelle jedoch
periphere Wahrnehmungsreize zentral zu verarbeiten und in bereits darauf hingewiesen, dass nicht nur segmentale
4 zunehmend differenzierte stütz- und zielmotorische Leistung
umzuwandeln. Das Anheben des Kopfes aus dem Unterarm-
Dysfunktionen der oberen Halswirbelsäule Einfluss auf
den Muskeltonus nehmen können, sondern auch Stö-
stütz gegen Ende des 3./spätestens des 4. Monats ist der erste rungen an anderen Wirbelsäulenabschnitten, allen vor-
5 sichtbare Schritt im Aufrichtungsprozess: Gestützt auf sei- an die Iliosakralgelenke.
ne Unterarme, kann das Kind den Kopf im Nacken so rekli-
6 nieren, dass die Augen geradeaus schauen (. Abb. 4.14). Der
Kopf ist lotrecht zur Schwerkraft eingestellt. Es ist kein Zufall,
dass diese Leistung mit dem Ende der »phsyiologischen Früh-
7 geburtlichkeit« im 3. Lebensmonat zusammenfällt.
Dass am Aufrichtungsprozess die Kopfgelenke und
Nackenrezeptoren in entscheidendem Maße beteiligt sind,
8 zeigt die Bewegungsantwort bei Prüfen der Labyrinthstellre-
aktion (LSR) am Ende des 1. Trimenons: Der Säugling ist jetzt
9 imstande, bei langsamer Seitkippung des am Becken gefassten
Körpers den Kopf orthograd einzustellen, so dass Mund und
Augen in der Horizontalen bleiben und der Rumpf sich in
10 einer harmonischen Seitausbiegung zur Kippseite stabilisiert.
Die Bewegungsantwort muss zu beiden Seiten gleich ausfal-
11 len (. Abb. 4.15 a, b). Bei dieser Reaktion wird die Stellung
des Rumpfes zum Kopf verändert, der sich dank labyrinthä-
rer Informationen senkrecht zur Schwerkraft einstellt und zu
12 einer prompten Tonusänderung der Rumpfmuskulatur führt.
Bereits 1924 schreibt Magnus, dass es möglich sei, durch
13 Stellungsänderungen des Kopfes die Tonusverteilung in der
gesamten Körpermuskulatur zu ändern. Er bezeichnet die-
se Wirkung als das »Ergebnis kombinierter Reflexe, die von
14 den Labyrinthen und Halsrezeptoren ihren Ausgang neh- a
men« (Magnus 1924). Beim gesunden Säugling im 2. Trime-
15 non lässt sich dies bei spontanen oder passiv induzierten Stel-
lungsänderungen des Kopfes beobachten: Die Kopfdrehung
zur Seite (. Abb. 4.16) bewirkt allenfalls eine lockere Konve-
16 xität des Rumpfes zur Gesichtsseite; bei Seitneige des Kopfes
kommt es zu einer Konkavität des Rumpfes zur Neigeseite
17 (. Abb. 4.17).

18
19
20

b
. Abb. 4.14 Kopfhaltung im Unterarmstütz. Gut zu sehen ist das
Relief der autochthon innervierten langen Rückenstrecker . Abb. 4.15 a, b Seitengleiche Kippreaktion (= frontale LSR)
4.3 · Die Kopfgelenke
53 4
4.3.8 Die Kopfkontrolle führt die posturale
Entwicklung an

In der normalen Entwicklung des Säuglings werden die ein-


zelnen Stufen der Körperaufrichtung stets über die Kopf-
kontrolle bzw. die Nackenrezeptoren eingeleitet, wobei die-
se Stufen ungefähr im Dreimonatsrhythmus erreicht wer-
den (7 Kap. 3.1.3, Zeitliche Gliederung der Entwicklung im
1. Lebensjahr, . Abb. 3.19):
4 Erste Stufe ist das Anheben des Kopfes aus dem Unter-
armstütz am Ende des 3. Monats.
4 Mit etwa 6 Monaten können Kopf und Rumpf bereits bis
zum lumbosakralen Übergang aus dem Handstütz auf-
gerichtet werden. Gleichzeitig beginnt das Kind, sich
vom Rücken auf den Bauch zu rollen. Die Bewegung
wird über die Kopfrotation eingeleitet und läuft in einem
typischen, stereotypen Muster ab: Kopfdrehung, Beu-
gung des hinterhauptseitigen Hüft- und Kniegelenks und
Rotation des Beckens zur Gesichtsseite; erst danach folgt
der Schultergürtel und vollendet die Drehung auf den
Bauch (. Abb. 4.18).

! Eine Funktionsblockierung der oberen Halswirbelsäule


lässt dieses Muster nicht zu!
. Abb. 4.16 Kopfdrehung mit lockerer Konvexität des Rumpfes zur
Gesichtsseite Tipp

Die Reihenfolge Kopf – Becken – Schultergürtel ist


nicht umkehrbar. → Physiotherapeutische Bemühungen,
beim Säugling eine ausbleibende oder verzögerte Dre-
hung vom Rücken auf den Bauch durch passive Rotati-
onsbewegungen des Beckens oder Schultergürtels zu
beheben, werden bei gleichzeitiger Störung der Kopfge-
lenksfunktion nicht von Erfolg gekrönt sein.

4 Drei Monate später, mit etwa 9 Monaten, kann das Kind


Kopf und Rumpf aus dem Kniestand an Gegenständen
aufrichten; außerdem bewegt es sich durch Robben vor-
wärts (. Abb. 3.19).
4 Das Vierfüßerkrabbeln mit ca. 11 Monaten ist ein wei-
terer wichtiger Schritt in der Entwicklung der Tonus-
steuerung, an der die Nackenrezeptoren wieder ent-
scheidenden Anteil haben: Lassen sich beim Unterarm-
(3 Monate) und Handstütz (6 Monate) noch Muster des
symmetrischen tonischen Nackenreflexes (STNR) erken-
nen, so kann dieser Reflex beim Vierfüßerkrabbeln die
Tonusregulation nicht mehr beherrschen, da eine rezi-
proke Krabbelbewegung der Arme und Beine mit aufge-
richtetem Kopf sonst nicht möglich wäre (. Abb. 4.19).

Wegen ihres Einflusses auf die Entwicklung der Stütz- und


Zielmotorik ist die obere Halswirbelsäule mitsamt den Kopf-
gelenken therapeutisch von eminenter Bedeutung, gefolgt
. Abb. 4.17 Kopfseitneige mit Konkavität des Rumpfes zur Neige- von den muskulären und artikulären Strukturen der übrigen
seite Wirbelsäule, die neben ihren motorischen Aufgaben eben-
falls wichtige Daten zur Körperkontrolle liefern.
54 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

4.4 Die Iliosakralgelenke


1
Die gelenkigen Verbindungen zwischen Sakrum und den bei-
2 den Ossa iliaca werden im deutschsprachigen Raum als Iliosa-
kralgelenke (ISG) bezeichnet, in der internationalen Nomen-
klatur als Sakroiliakalgelenke (SIG).
3 Trotz ihrer großen funktionellen Bedeutung wird den ISG
in der Fachliteratur nicht die gleiche Aufmerksamkeit gewid-
4 met wie den Kopfgelenken. Ein Grund dürfte die höhere Vul-
nerabilität der oberen Halswirbelsäule bzw. der Kopfgelenke
sein mit all den bekannten neurologischen, juristischen und
5 a
versicherungsrechtlichen Konsequenzen. Der Anteil von
Beckenringaffektionen an der Chronifizierung unterschied-
6 licher Schmerzzustände des Bewegungssystems ist jedoch
deutlich größer als allgemein angenommen wird. Bischoff
(1994) weist auf die Rolle der ISG für die Gesamtstatik der
7 Wirbelsäule hin und geht ausführlich aus schmerztherapeu-
tischer Sicht auf die klinische Bedeutung funktioneller Stö-
rungen des Beckenringes ein. Auch die Manuelle Medizin
8 bei Kindern kennt diesen schmerztherapeutischen Aspekt:
Plötzliches Hinken bei Kleinkindern, Hüftschmerzen im Vor-
9 schul- und Schulalter mit negativem sonographischem und
radiologischem Hüftgelenkbefund und auch mancher sog.
Wachstumsschmerz haben ihre Ursache sehr häufig in einer
10 b
ISG-Blockierung.
Beim Säugling steht allerdings der entwicklungsneu-
11 rologische Gesichtspunkt im Vordergrund: Ebenso wie die
Kopfgelenkstrukturen sind auch die arthromuskulären Struk-
turen des Beckenringes, kurz ISG genannt, an der Steuerung
12 des Tonus der Rückenmuskulatur beteiligt. Beim neuromo-
torisch unausgereiften Säugling lässt sich dies an einer Ände-
13 rung der Stellreaktionen nach Behandlung einer segmentalen
ISG-Dysfunktion demonstrieren.
14
4.4.1 Sonderkonstruktion ISG
c
15
. Abb. 4.18 a-c Physiologisches Bewegungsmuster beim Drehen Das menschliche Becken, bestehend aus dem Sakrum und
vom Rücken auf den Bauch. a Kopfrotation in Bewegungsrichtung. den beiden Hüftbeinen, stellt ebenso wie die Kopfgelenke eine
16 Beugung im hinterhauptseitigen Hüftgelenk, beginnende Beckendre- artspezifische Sonderkonstruktion dar. Form und Stellung des
hung. b Der Schultergürtel folgt der Drehung von Kopf und Becken.
Beckenringes sind die phylogenetische Antwort auf den auf-
c Drehung ist vollendet
17 rechten, zweibeinigen Gang und bestätigen die enge Bezie-
hung zwischen Form und Funktion: Um den Rumpf auf den
unteren Extremitäten beim zweibeinigen Gang zu stabilisie-
18 ren, musste das Becken im Laufe der Entwicklungsgeschich-
te kürzer und breiter werden als dies z.B. bei den Primaten
19 der Fall ist. Die aufrechte Körperhaltung bedingt zudem eine
Schwerpunktverlagerung des Rumpfes nach dorsal in Rich-
tung Sakrum. Die dadurch entstehende vermehrte Axialbela-
20 stung wird durch die doppelte S-Form der Wirbelsäule ausge-
glichen, unterstützt durch eine »gewisse Nachgiebigkeit« des
Beckens (Putz 1994).
Das ISG des Säuglings stimmt in seiner artikulären
Anordnung noch weitgehend mit dem ISG vierfüßiger Tiere
überein, da die iliosakralen Gelenkflächen noch in derselben
Ebene liegen wie die Facettengelenke der Wirbelsäule (Win-
kel 1992). Mit der Aufrichtung zum Stand und der zweibei-
. Abb. 4.19 Vierfüßerkrabbeln nigen Fortbewegung tritt eine Änderung ein: Das Sakrum
4.4 · Die Iliosakralgelenke
55 4
wird breiter, und die Gelenkflächen von Sakrum und Ilium
formen sich in ihre endgültige Gestalt aus. Diese Verände-
rungen entstehen nach Solonen (1957) durch die mit dem auf-
rechten Gang verbundenen mechanischen Faktoren wie Kör-
pergewicht, Druckeinwirkung auf die Oberschenkelknochen
und Zugbelastung auf die Symphyse. Die zwischen Ilium und
Sakrum auftretende Torsion beim Gehen übt ferner einen
direkten Einfluss auf die Gestalt des ISG aus.
a b

4.4.2 ISG-Mobilität

Die Biomechanik des Beckens wird nicht nur durch die Beweg-
lichkeit der ISG bestimmt, sondern durch die Funktionsge-
meinschaft aus dem 5. Lendenwirbelkörper, dem Kreuzbein
und den beiden Hüftbeinen. Der 5. Lendenwirbelkörper ist
über eine Bandscheibe und die intervertebralen Gelenkstruk- c d
turen mit dem Sakrum verbunden, über das Lig. iliolumba-
le mit den Ossa iliaca. ISG und Symphyse bilden die amphia-
rthrotische Verbindung des Beckenringes. Dieses Funktions-
gefüge führt passive Bewegungen über verschiedene Achsen
aus, die allerdings in der Literatur nicht einheitlich dargestellt
werden (Sutter 1977, Lavignole 1983, Frisch 1996).

> Wichtig
In der klinischen Anwendung arbeitet man aus didakti-
e f
schen Gründen mit virtuellen Achsen (Neumann 2003):
5 Nutation und Gegennutation des Sakrums gesche- . Abb. 4.20 a-f Bewegungsmuster von Sakrum und Ilium. a Be-
hen über eine transversale Achse. wegungsachsen des Sakrums. b Nutationsbewegung des Sakrums.
5 Die Rotation des Sakrums bewegt sich um je eine c Upslip: Kranialstauchung des (rechten) Iliums. d Downslip: Kaudal-
rechte und linke diagonale Achse. stauchnung des (rechten) Iliums. e Outflare und Inflare: Auffaltung
5 Die gegenläufige Ante- und Retroflexion der Ossa ili- des rechten Iliums und Zufaltung des linken Iliums. f Beckenverwrin-
gung: Rechtes Ilium in Dorsalposition (posterior) gegenüber dem lin-
aca über eine transversale Achse.
ken Ilium (anterior). An der Beckenverwringung ist stets das Sakrum
Hinzu kommt die Vorstellung von einer longitudina-
mit einer Rotation über die rechte oder linke diagonale Achse betei-
len Gleitbewegung zwischen Sakrum und Ilium (Upslip, ligt (a)
Downslip) sowie Auffaltung bzw. Zufaltung der Ossa ilia-
ca (Outflare, Inflare) (. Abb. 4.20).

Neumann (2003) beschreibt das Bewegungsmuster der knö- sinkt dann kontinuierlich ab, um mit der Pubertät die Beweg-
chernen Elemente des Beckenringes beim Gehen: Dabei lichkeit des adulten ISG zu erreichen.
rotieren – kurz gefasst – die Ossa iliaca gegenläufig um eine Die komplexe Bewegung des Beckenringes beim Gehen
transversale Achse, während das Sakrum in Abhängigkeit und die mitunter auffälligen Stellungsasymmetrien der ein-
von der Standbeinseite um eine rechte oder linke diagonale zelnen Beckenteile bei Dysfunktionen können allerdings
Achse rotiert. Wahrscheinlich kommt es beim Gehen zusätz- nicht alleine auf das Bewegungsspiel in ISG und Symphyse
lich auch zu feinen Auf- und Zufaltbewegungen der Ossa ili- zurückgeführt werden. Offenbar spielt auch die Eigenelastizi-
aca und möglicherweise auch zu minimalen longitudinalen tät der knöchernen Anteile für die Gesamtmobilität eine Rol-
Gleitbewegungen in den ISG. le. Dos Winkel (1992) fand bei adulten Becken eine Verbie-
Insgesamt sind allerdings die Bewegungsausschlä- gung des Os sacrum (Basis gegenüber Spitze) von 5–10 mm
ge in den ISG recht gering: Für Nutation und Gegennutati- und Frigerio et al. (1974) eine Verformung des Iliums um
on des Sakrums gegenüber den Ossa iliaca um eine transver- mehrere Millimeter. Berücksichtigt man die Hebel- und Zug-
sale Achse werden Werte zwischen 0,4–4,3° angegeben; die kräfte der zahlreichen am Becken angehefteten abdominalen,
Durchschnittswerte liegen bei 2° (Egund et al. 1978, Winkel lumbalen, pelvinen und kruralen Muskelgruppen und die mit
1992, Kissling und Michel 1997). In den ISG findet also – im ihnen verwobenen Bandstrukturen und Faszienzüge, dann ist
Gegensatz zur Ansicht mancher Chirurgen – durchaus eine eine physiologische Eigenelastizität und »Nachgiebigkeit« des
Bewegung statt, wenn auch beim Erwachsenen nur in gerin- Beckenringes unverzichtbar für Haltungs- und Bewegungs-
gem Umfang. Beim Säugling ist die ISG-Mobilität im Ver- leistung (. Abb. 4.21).
gleich zum Erwachsenen etwa 15% höher (Brooke 1924). Sie
56 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

. Abb. 4.21 > Wichtig


1 Geh-Akt. Gegenläu-
Bemerkenswert ist, dass das ISG-Blockierungsmuster
fige Rotationsbe-
beim Säugling sehr oft den Phasen des Gehzyklus ent-
wegung von Schul-
2 ter- und Beckengür-
spricht: Beckentorsion mit gegenläufiger Iliumstellung
und Rotation des Sakrums um eine diagonale Achse.
tel. Schrittabhängige
Torsionsbewegung Dies bekräftigt die Vermutung, dass nicht eine mecha-
3 des Beckenringes nische, sondern eine muskulär-reflektorische und damit
sensorisch relevante Komponente den wesentlichen An-
4 teil an einer ISG-Dysfunktion im Säuglingsalter hat.

5 4.4.4 ISG und Propriozeption

6 Die Innervation der dorsalen ISG-Anteile erfolgt aus dem


R. dorsalis von S1 (Kissling und Michel 1997). Die Rami dor-
sales aus S2 und S4 führen Äste zum dorsalen Bandapparat
7 und zu den Ligg. sacrotuberalia und sacrospinalia. Hervorzu-
heben ist das Vorhandensein zahlreicher dicker, markhaltiger
Axone, die auf die spezialisierte Propriozeption im Bandap-
8 parat und in den autochthonen Muskeln hinweisen, die an
Sakrum und Ilium entspringen.
9 Die Bedeutung dieser Propriozeption für Gleichge-
wicht und Körperkontrolle wird vor allem dann deutlich,
wenn sie aufgrund einer sog. ISG-Blockierung gestört ist: Die
10 bekannten Folgen sind bei älteren Kindern und Erwachse-
nen z.B. Haltungs- und Bewegungsasymmetrie des Rumpfes,
11 Gangstörung, auch Unsicherheit beim Einbeinstand usw.
Beim Säugling äußert sich die gestörte Propriozeption hin-
gegen in passiver und aktiver Bewegungseinschränkung des
12 Hüftgelenks der blockierten Seite, in Stellungsasymmetrie des
Beckens, Haltungsasymmetrie des Rumpfes, in einer Beein-
13 4.4.3 Myofasziale Verknüpfung trächtigung der Rumpfaufrichtung aus der Bauchlage und der
Drehung des Beckens gegenüber dem Rumpf. Vor allem aber
Aufgrund der klinischen Erfahrungen ist davon auszuge- kommt es zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Tonusa-
14 hen, dass die gelenkmechanische Komponente bei sogenann- symmetrie der autochthonen Rückenmuskulatur. Dass nicht
ten ISG-Blockierungen hinter der pathologichen Bedeutung die gestörte Gelenkmechanik des ISG, sondern die gestörte
15 der muskulären und faszialen Funktionsstörung zurück- Propriozeption den Hauptanteil an der Pathologie einer ISG-
steht. Die enge anatomische Verknüpfung des M. erector spi- Blockierung im Säuglingsalter hat, zeigt sich an der reprodu-
nae mit der Glutealmuskulatur über Verbindungen zwischen zierbaren Besserung der posturalen und statomotorischen
16 Fascia thoracolumbalis und Fascia glutea wurde von Winkel Reaktionen nach erfolgreicher manueller Behandlung. Dieser
(1992) beschrieben. Unter anderem fand er Verbindungen des Effekt lässt sich rein gelenkmechanisch nicht erklären.
17 M. gluteus maximus mit den tiefen Anteilen der Ligg. sacroi-
liaca, ferner zweiseitige Verbindungen des M. piriformis und
auch des M. biceps femoris mit dem Lig. sacrotuberale. 4.5 Die übrigen Schlüsselregionen
18
Tipp 4.5.1 Zervikothorakaler Übergang und
19 Die Behandlung des Lig. sacrotuberale hat sich bei the-
mittlere BWS
rapieresistenten Schmerzzuständen und Blockierungs- Kopfgelenke und ISG bilden gewissermaßen den oberen und
20 rezidiven als sehr wirksam erwiesen. unteren Pol des Sensororgans »Wirbelsäule«. Die dazwi-
schen liegenden Schlüsselregionen erhalten ihre sensorische
Asymmetrien der Beckenbeweglichkeit sind ein typisches Bedeutung aus bestimmten anatomischen und biomecha-
Merkmal der ISG-Dysfunktion. Vleeming et al. (1998) stellen nischen Merkmalen: Während die Gelenkfortsätze der HWS
fest, dass solche Asymmetrien weitgehend auf das Konto der in der Transversalebene nach ventral geneigt sind, ändern sie
Beckenmuskulatur gehen; so könne schon nur eine einseitige in der BWS die Richtung und sind mehr frontal gestellt und
Verspannung des M. piriformis bereits eine klinisch und radi- leicht konvex gekrümmt. Im zervikothorakalen Übergang
ologisch sichtbare schiefe Verziehung des Beckenringes, eine findet also ein Wechsel in Ausmaß und Richtung der Bewe-
Verwringung, erzeugen (Beck-Föhn 1999). gung statt. Ebenso ist hier der Scheitelpunkt der Wendezo-
4.5 · Die übrigen Schlüsselregionen
57 4
ne gegenläufiger Rotationsbewegungen von Kopf- und Schul-
tergürtel angesiedelt. In Verbindung mit der HWS-Extensi-
on ermöglicht dieses Rotationsmuster dem Säugling am Ende
des 1. Trimenons die Aufrichtung des Kopfes und die Blick-
wendebewegung aus dem Unterarmstütz. Am zervikotho-
rakalen Übergang liegen ferner der Ansatz des M. longissi-
mus thoracis und der Ursprung von M. spinalis cervicis und
M. splenius capitis; diese Muskeln gehören alle zum Verbund-
system des autochthon innervierten M. erector spinae.
Gleiches gilt für die zervikalen und kranialen Züge des
M. splenius und des M. longissimus sowie für den M. semi- a
spinalis capitis, die ihr Ursprungsgebiet jeweils über den zer-
vikothorakalen Übergang hinaus ausdehnen. Sie reichen von
den Dorn- und Querfortsätzen des 5. und 6. Brustwirbelkör-
pers bis zum Proc. mastoideus, dem Querfortsatz des Axis
und dem Okziput. Alle diese Muskeln wirken bei beidsei-
tiger Innervation streckend auf Kopf, Halswirbelsäule und
obere Brustwirbelsäule, bei einseitiger Innervation seitbeu-
gend und drehend. Sie sind die Hauptakteure bei der Aufrich-
tung des Kopfes aus dem Unterarmstütz am Ende des 1. Tri-
menons, während die kurzen Muskeln des medialen Traktes
den entscheidenden sensorischen Anteil an dieser Lei- . Abb. 4.22 a, b
stung haben: allen voran die subokzipitalen Muskeln, gefolgt a Bewegungsmuster beim
von den Mm. rotatores, Teilen des M. multifidus und den Überrollen. b Im 90° ge-
Mm. interspinales und intertransversarii. Der M. longissimus drehten Bild scheint das
capitis mit seinem hohen Anteil an Muskelspindeln ist dabei Kind zu springen bzw. mit
ebenfalls zu nennen. dem rechten Bein zu ki-
cken. Gegenläufige Rotati-
on von Schultern und Be-
Exkurs: Autochthone Muskulatur cken entsprechend dem
Für die Interaktion dieser autochthonen Muskeln bietet sich reziproken Muster beim
b
folgende Erklärung an: Dickkalibrige (propriozeptive) zervi- Gehen
kale Afferenzen steigen kranialwärts bis zur kaudalen Brücke
auf und nach kaudal weit bis in thorakale Rückenmark hin-
ab, wo sie mit thorakalen Afferenzen zusammenlaufen. Krani-
al kommt es zur Konvergenz zervikaler Afferenzen mit primä- Die Drehung des Säuglings vom Rücken auf den Bauch ist ein
ren Hirnnervenafferenzen, vor allem denjenigen des Trigemi- Beispiel für dieses Bewegungsmuster, das die physiologische
nus und Vagus (Neuhuber 1998). Daraus ließe sich eine plau- Rumpfrotation mit diagonaler Arm-Bein-Bewegung beim
sible neuroanatomische Erklärung für die funktionelle Koppe- Gehvorgang bahnt (. Abb. 4.22) und eigentlich die frühkind-
lung von Kopfgelenken, zervikothorakalem Übergang und den liche Voraussetzung für das freie Gehen darstellt.
Segementen Th5/6 beim Transport sensorischer Informatio- Vier autochthone Muskeln haben ihr Ursprungsgebiet im
nen ableiten.
dorsolumbalen Übergang:
4 M. spinalis thoracis,
4 M. semispinalis thoracis,
4 M. semispinalis cervicis und
4.5.2 Dorsolumbaler Übergang 4 M. iliocostalis thoracis.

Auch der dorsolumbale Übergang spielt als Schlüsselregion Sie verbinden im Einzelnen den dorsolumbalen Übergang
bei der sensomotorischen Entwicklung des Säuglings eine mit der oberen Brustwirbelsäule, den oberen Rippen und der
bedeutende Rolle. Die frontal ausgerichteten und konvex unteren Halswirbelsäule. Sie wirken ebenfalls streckend auf
ausgeformten Gelenkfortsätze der Brustwirbelsäule weichen HWS und BWS sowie seitneigend und drehend. Für die Auf-
einer mehr sagittalen Stellung der leicht konkav geformten richtung des Rumpfes in den Handstütz am Ende des 2. Tri-
Gelenkfortsätze der Lendenwirbelsäule. Der dorsolumba- menons sind sie ebenso unentbehrlich wie für die zur glei-
le Übergang gehört zur Wendezone der gegenläufigen Bewe- chen Zeit erfolgende Drehung vom Rücken auf den Bauch,
gung von Rumpf und Beckengürtel. Da die Rotationsbewe- gemeinsam mit den vom Sakrum entspringenden Mm. ilio-
gung im Segment Th12/L1 gering ist, erstreckt sich die Wende- costales, longissimi und multifidi. Die drei letztgenannten
zone über mehrere dorsale und lumbale Segmente, begünstigt Muskelzüge verbinden das Sakrum mit dem zervikookzipi-
durch die größere Drehbeweglichkeit im (funktionell schon talen Übergang, dem Os temporale (Proc. mastoideus) und
zum Becken gehörenden) Lumbosakralgelenk (Putz 2003). dem Axis.
58 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle

> Wichtig rischen Schlüsselregionen, können über eine fehler-


1 Es muss betont werden, dass keiner der hier genannten hafte Wahrnehmungsverarbeitung die Ausbildung der
Muskeln für sich allein aktiv werden kann, sondern nur Fähigkeit zur raum-zeitlichen Bewegung und den darauf
2 im Verbund mit der gesamten autochthonen Muskula-
tur, die stets im antagonistischen oder synergistischen
aufbauenden Erkenntnisfunktionen nachhaltig beein-
trächtigen (7 Kap. 2.1.1, Raumorientierung und Gestalt-
Zusammenspiel mit der übrigen Rumpfmukulatur steht. wahrnehmung). Dies gilt für Kinder mit intakter Hirn-
3 Die autochthone Muskulatur spielt jedoch wegen ihres funktion ebenso wie für Kinder mit infantiler Zerebral-
Aufbaus und vor allem wegen ihrer exklusiven Innerva- parese, bei denen »banale« Wirbelsäulenblockierungen
4 tion eine besondere Rolle, zum einen in allen Phasen der
posturalen Entwicklung, zum anderen als sensomoto-
die Entfaltung der verbliebenen motorischen Restfunk-
tionen behindern und somit den gesamten Verlauf nach-
risch bedeutsamer Tatort von segmentalen Dysfunktio- teilig beeinflussen.
5 nen, den sog. Blockierungen (s.u.).
→ Fazit: Die Verbesserung der Wahrnehmungsverarbeitung
6 durch Beseitigung peripherer segmentaler Dysfunktionen
4.5.3 »Bahnhöfe« und Vernetzungsorte hat unmittelbaren Einfluss auf die Qualität der Haltungs- und
Bewegungsleistung.
7 Segmentale Dysfunktionen an den sensorischen Schlüssel-
regionen treten kaum isoliert auf. Bei einer Kopfgelenksblo-
ckierung wird man regelmäßig eine Dysfunktion an den ISG
8 und meist auch an den anderen genannten Abschnitten fin-
den. Sensorische Schlüsselregionen sind sie deshalb, weil Blo-
9 ckierungen in diesen Segmenten beim Säugling die Aufrich-
teentwicklung aus der Bauchlage verhindern, weniger aus
mechanischen Gründen, sondern weil die nozizeptiv besetz-
10 ten Propriozeptoren des Achsenorgans die Programmierung
dieser motorischen Leistung beeinträchtigen. Diese Feststel-
11 lung wird durch die motorische Antwort nach manualmedi-
zinischer Beseitigung der segmentalen Dysfunktion an den
Schlüsselregionen bestätigt.
12 Schon Karl Sell, Gründer des Ärzteseminars Neutrauch-
burg und Urvater der MWE, kannte die Bedeutung die-
13 ser Wirbelsäulenabschnitte und bezeichnete sie als »Bahn-
höfe, weil dort alles ankommt«. Plato und Kopp (1996) wei-
sen darauf hin, dass es sich bei diesen Regionen um quer zur
14 Körperachse liegende Strukturen handelt: Schädelbasis mit
Kopfgelenken, obere Thoraxapertur, Diaphragma abdomi-
15 nalis, Beckenring und Beckenboden. Die Autoren postulie-
ren aus schmerztherapeutischer Sicht eine Vernetzung mit
anderen somatischen und nicht-somatischen Ebenen: Bewe-
16 gungs- und Gefäßsystem, viszerale Ebene sowie Psyche und
Umfeld. Sie kommen ebenfalls zu der Feststellung, dass sich
17 therapeutisches Handeln in diesen Abschnitten als besonders
wirksam erwiesen hat.
18
4.6 Zusammenfassung
19
4 Die Entwicklung der Körperkontrolle und des Hand-
geschicks ist das Ergebnis von Datenverarbeitung aus
20 unterschiedlichen Wahrnehmungsmodalitäten, von
denen die Propriozeption wohl die wichtigste Rolle
spielt.
4 Eine störungsfreie Funktion der Wirbelsäule und der
autochthonen Rückenmuskulatur ist für die sensomoto-
rische Entwicklung des Kindes unverzichtbare Voraus-
setzung:
4 Segmentale Dysfunktionen (Blockierungen) an den
Strukturen des Achsenorgans, vor allem an den senso-
59 5

Die Blockierung: pathophysiologische Aspekte

5.1 Neurophysiologisches Denkmodell – 59


5.1.1 Nozizeptorenaktivität – 60
5.1.2 Dysfunktion der metameren Strukturen – 61
5.1.3 Pathologie des Spindelrezeptors – 61
5.1.4 Manualmedizinische Diagnostik – 62

5.1 Neurophysiologisches Denkmodell Zwei grundsätzliche Aspekte bestimmen das Bild der
Blockierung,
An jeder gelenkigen Verbindung des Körpers, jedem Bewe- 4 der mechanische Aspekt und
gungselement können funktionelle Störungen auftreten, die 4 der neurophysiologische Aspekt.
gewöhnlich zunächst reversibel sind. Typische Symptome
sind Bewegungseinschränkung und Schmerzen, auch Kraft- Die mechanische Komponente äußert sich in einem gestörten
verlust und Störung der Körperkontrolle. Besonders die seg- Bewegungsspiel des Gelenks (»joint play«), das dann kli-
mentalen Dysfunktionen der Wirbelsäule sind von Bedeu- nische Bedeutung erlangt, wenn »es von neurophysiolo-
tung: nicht nur, weil sie die klassische Indikation für eine gischen Reaktionen begleitet wird« (Wolff 1996).
manualmedizinische Intervention darstellen, sondern vor Zu neurophysiologischen Reaktionen zählen:
allem wegen der entwicklungsneurologischen Konsequenzen 4 Spontanschmerzen und/oder haltungs- und bewegungs-
und wegen ihres Einflusses auf die sensomotorische Steue- abhängige Schmerzen,
rung. 4 erniedrigte nozizeptive Reizschwelle der segmental zuge-
Die Pathophysiologie einer segmentalen Wirbelsäulen- ordneten Strukturen,
dysfunktion ist sehr komplex und noch nicht in allen Einzel- 4 veränderter segmentaler Muskeltonus und veränderte
heiten geklärt. Sicher ist, dass es sich dabei nicht um die Sub- myofasziale Viskoelastizität,
luxation eines Wirbelgelenks handelt, wie früher angenom- 4 Störung vegetativer Reaktionen auf segmentaler Ebene,
men. Es handelt sich auch nicht um einen eingeklemmten 4 Störung zentraler Steuerungsvorgänge.
Nerv und schon gar nicht um einen ausgerenkten oder,
schlimmer noch, einen »herausgesprungenen« Wirbel, wie Diese Symptome treten in unterschiedlicher Intensität und
dies von medizinischen Laien gerne formuliert wird – eine wechselnder Zusammensetzung auf. Vegetative Zeichen wer-
Diktion, der sich ein Manualmediziner unbedingt verweigern den nicht immer sichtbar, auch die Schmerzintensität variiert
muss, wenn er ernst genommen werden will. mitunter beträchtlich. Obligatorisch ist die erniedrigte nozi-
Im internationalen Sprachgebrauch wird die reversible zeptive Reizschwelle im Segment und der pathologisch verän-
Funktionsstörung an einem Wirbelsäulengelenk als segmen- derte segmentale Muskeltonus, der vor allem bei Kindern ein
tale peripher-artikuläre Dysfunktion bezeichnet (Neumann zuverlässiges diagnostisches Kriterium ist, wenn das gestörte
2003), eine sicherlich korrekte, aber etwas umständliche Gelenkspiel infolge mangelnder Kooperationsfähigkeit nicht
Bezeichnung. Wesentlich anschaulicher ist der im Deut- sicher erfasst werden kann.
schen übliche Begriff Blockierung, sofern er nicht wie früher In Abgrenzung zum neuralgischen Schmerz als Fol-
rein mechanisch verstanden wird, sondern die Steuerung des ge einer Affektion der afferenten sensiblen Leitungsbahnen
gesamten Regelsystems auf der segmental-spinalen Reflexe- (z.B. bei Wurzelkompression) wird der bei einer Blockierung
bene einschließlich der vertikalen zentralnervösen Verschal- auftretende Schmerz als Rezeptorenschmerz bezeichnet,
tungen miteinbezieht. In seinem didaktischen Denkmodell hervorgerufen durch die adäquate Reizung eines sensiblen
zur Manuellen Medizin bietet Neumann (2003) eine sehr Rezeptors, eben des Nozizeptors. Dieser Rezeptorenschmerz
anschauliche Darstellung der Doppelfunktion des Wirbelbo- wird gewöhnlich am Ort des Nozizeptorenreizes empfunden,
gengelenks als Teil des Bewegungssystems und als Teil eines kann aber als fortgeleiteter Schmerz (»referred pain«) auch
nervös-reflektorischen Regelkreises. in nicht unmittelbar betroffenen Strukturen gespürt werden.
Hierfür wird auch das Fasziensytem verantwortlich gemacht,
k Symptombild einer Blockierung das alle Elemente des Bewegungsapparates ohne Unterbre-
Im Vordergrund des therapeutischen Interesses stehen die chung miteinander verbindet und auch die Beziehungen zu
reversiblen hypomobilen Funktionsstörungen. den inneren Organen herstellt.
60 Kapitel 5 · Die Blockierung: pathophysiologische Aspekte

5.1.1 Nozizeptorenaktivität platte der autochthonen segmentalen Muskulatur als auch an


1 die Endpole der darin enthaltenen Muskelspindel, wo es zur
In den heute vertretenen Arbeitshypothesen zur Entstehung intrafusalen Kontraktion kommt. Auf diese Weise entsteht
2 einer Blockierung geht man von einer Störung der nervös-
reflektorischen Steuerung des Wirbelgelenks und seiner
eine reflektorische Tonuserhöhung des segmental zugeord-
neten Muskels, die so lange bestehen bleibt, wie der nozizep-
Begleitstrukturen aus (Wolff 1996, Dvořák et. al. 1997, Neu- tive Einstrom andauert (. Abb. 5.1).
3 mann 2003). Dabei wird die Nozizeptorenaktivität im betrof-
fenen Segment als wesentlicher pathogenetischer Faktor k Reflektorische Tonuserhöhung

4 angesehen (Wolff 1983, 1996, Coenen 2001, Locher 2003):


Werden zum Beispiel die Nozizeptoren eines Wirbelge-
Diese Nozireaktion im Rahmen einer Segmentblockierung
ist als umschriebene Muskelhärte tastbar und entspricht dem
lenks durch eine Noxe aktiviert (Trauma, mechanische Ursa- Irritationspunkt (Bischoff 1983). Das Gelenkspiel des betrof-
5 chen, Degeneration, anhaltende muskuläre Dysbalance bei fenen Wirbels ist in einer bestimmten Bewegungsrichtung ein-
Fehl- oder Schonhaltung usw.), gelangen die nozizeptiven geschränkt, meist in einer Kombination von Rotation, Sagit-
6 Signale über langsam leitende, dünnkalibrige noziafferente tal- und Seitflexion, während die Bewegung in die jeweilige
Nervenfasern zu einer spezifischen Hinterhornzelle, dem Gegenrichtung frei ist. Dieses Prinzip von gesperrter und frei-
Wide-Dynamic-Range-Neuron (WDR-Neuron). Bei Erre- er Richtung ist charakteristisch für eine Blockierung, ebenso
7 gung des WDR-Neurons durch überschwellige nozizeptive die Minderung der segmentalen Muskelhärte bei Bewegung in
Reizanflutung werden Aktionspotenziale sowohl zentralwärts die freie Richtung und Zunahme bei Annäherung an die Bewe-
in Richtung Großhirn (Schmerzwahrnehmung) geleitet als gungsbarriere. Der pathologisch erhöhte Muskeltonus geht
8 auch über axonale Kollateralen auf die α- und γ-Motoneurone stets auch mit einer Absenkung der lokalen Schmerzschwel-
im Rückenmarksvorderhorn. Von dort gelangen sie über effe- le einher, weswegen man am betroffenen Muskel gewöhnlich
9 rente α- und γ-Motoaxone sowohl an die motorische End- eine deutliche Druckschmerzhaftigkeit findet und häufig auch
einen Spontanschmerz bei Bewegung oder Belastung.
Den Einfluss pathologischer Vorgänge im Organismus
10 Kortex auf die γ-Motoneurone beschreibt Wolff (1983) am Beispiel
Hirnstamm, Zerebellum, Thalamus
der Bauchdeckenabwehrspannung bei der Appendizitis:
11 Nozizeptive Afferenzen aus dem entzündeten Appendix wir-
zentrale Efferenz zentrale Afferenz Noxe ken depolarisierend auf die γ-Motoneurone der segmentalen
(“Blockierung“) spinalen Ebene. Es kommt zu einer anhaltenden intrafusalen
12 nozizeptive Kontraktion des Spindelrezeptors und aufgrund der Aktivie-
Afferenz rung v.a. der sekundären II-Afferenzen zu einem erhöhten
13 Ruhetonus der Bauchmuskulatur.

> Wichtig
14 Unabhängig von diesen spinalen reflektorischen Vor-
Wide -dynamic-
range Neuron gängen wird die Basisaktivität der γ-Motoneurone von
15 zerebralen Zentren gesteuert. Von hier aus erfolgt die
Ia-Faser Anpassung und Modulation des Grundtonus der Musku-
latur gemäß den Erfordernissen des Organismus in Aus-
16 α- und γ- Motoneurone einandersetzung mit der Umwelt.
Spindelrezeptor

17 Dabei haben neben Schwerkraftbewältigung und Bewegungs-


steuerung auch die affektive Gesamtgestaltung der Person
sowie emotionale und milieubedingte Faktoren Einfluss auf
18 das Gammasystem. Sensible, seelisch labile und ängstliche
Skelettmuskel
Menschen oder Menschen mit hoher beruflicher Belastung
19 . Abb. 5.1 Verknüpfung des nozizeptiven Systems mit der weisen oft einen erhöhten Grundtonus der Skelettmuskula-
γ-Schleife: Aktivierung der Nozizeptoren des Wirbelgelenks C1/C2. tur auf, wodurch sich die Symptome einer Blockierung ver-
Nozizeptive Signale gelangen über dünnkalibrige, langsam leitende stärken können oder auch therapieresistent bleiben. Bei sol-
20 afferente Nervenfasern zum Wide-dynamic-range-neuron im Rücken- chen Patienten kann die Basisiaktivität der γ-Motoneurone
markshinterhorn. Von hier aus werden Aktionspotenziale zentralwärts auch im Schlaf erhöht sein. Dies wird dem limbischen System
geleitet (bewusste Schmerzwahrnehmung) und gelangen gleichzei-
angelastet, in welchem das affektive Verhalten und die Ver-
tig zu den α- und γ-Motoneuronen im Rückenmarksvorderhorn. Bei
arbeitung psychischer Einflüsse mit der somatomotorischen
überschwelligem Reiz kommt es dort zur Entladung von AP, die fort-
geleitet über efferente α- und γ-Motoaxone sowohl eine Kontrakti-
Steuerung gekoppelt werden. Der Erholungswert des Schlafes
on des autochthonen segmentalen Muskels als auch eine intrafusalen wird hierdurch beeinträchtigt mit der Folge morgendlicher
Kontraktion der dazugehörigen Muskelspindeln bewirken. Über die Muskelverspannung und Tagesmüdigkeit.
γ-Schleife wird die Tonuserhöhung des Muskels aufrechterhalten, so- Andererseits kann die Empfindlichkeit des Gamma-
lange der nozizeptive Einstrom andauert systems aus diagnostischen Gründen künstlich verändert
5.1 · Neurophysiologisches Denkmodell
61 5
werden, wie die erhöhte Aktivität der Muskeleigenreflexe 5.1.3 Pathologie des Spindelrezeptors
beim Jendrassik-Handgriff zeigt.
Der entwicklungsneurologische Aspekt einer Segmentblo-
ckierung der Wirbelsäule soll am Verhalten der Muskelspin-
5.1.2 Dysfunktion der metameren del unter pathologischen Bedingungen kurz erläutert wer-
Strukturen den.
In dem hier skizzierten Blockierungsschema (. Abb. 5.1)
Neben der zentralnervösen Steuerung der Muskelanspan- ist der nozizeptive Zustand des Spindelrezeptors wegen sei-
nung wird der Tonus der Muskulatur auch von physika- ner Bedeutung für die Propriozeption und die sensomoto-
lischen Eigenschaften des Bindegewebes mitgestaltet, der Vis- rische Steuerung von besonderem klinischen Interesse. Der
koleastizität der Faszie. Dieser viskoelastische Tonus ent- Aufbau der Muskelspindel und ihre Koppelung an die α- und
steht durch den osmotischen Druck des Gewebes und durch γ-Motorik weisen die Besonderheit dieses Rezeptors aus, der
die Eigenelastizität des dreidimensional scherengitterartig Fühler und Regler in einem ist.
angeordneten Bindegewebes. Hinzu kommt die Vorspan- Der bei einer Blockierung tastbare und meist druck-
nung der Faszie, offenbar aktiv gesteuert über glatte Muskel- schmerzhafte umschriebene Hartspann in der betroffenen
zellen, die zwischen den kollagenen Fibrillenbündeln zu fin- Muskulatur geht immer auch mit einer tonischen Anspan-
den sind (Staubesand, Li 1996). nung der Muskelspindel einher (s. Erläuterung in . Abb. 5.1).
Die enge anatomische und funktionelle Verknüpfung von In diesem Zustand sind die intrafusalen Muskelfasern nozi-
Faszie und Muskel hat zur Folge, dass sowohl bei einer seg- zeptiv besetzt und nicht in der Lage, adäquate propriozeptive
mentalen Blockierung als auch bei anderen pathologischen Daten zu liefern, da die Fähigkeit des Rezeptors zur stufen-
Zuständen des Bewegungssystems die Viskoelastizität des losen Längenanpassung beeinträchtigt bzw. aufgehoben ist.
Fasziengewebes verändert ist. Der Nachweis gelingt hier Die fortgeleiteten sensorischen Signale sind fehlerhaft. Ver-
ebenfalls über manuelle Untersuchungstechniken. fälschte propriozeptive Daten beeinträchtigen die zentrale
Die vegetative Begleitsymptomatik einer Blockierung Wahrnehmungsverarbeitung mit entsprechenden Folgen für
wird durch die sympathische Systemaktivierung erklärt das stütz- und zielmotorische Ergebnis.
(Locher 2003): Vom WDR-Neuron ziehen kollaterale Axone Die mitunter vertretene Ansicht, es gäbe in den Nacken-
zu den sympathischen Ursprungsneuronen im Seitenhorn- muskeln bzw. an den Kopfgelenken kein γ-System, »lässt
komplex des Rückenmarks, wo der nozizeptive Zustrom die sich auf die Schwierigkeiten zurückführen, Eigenreflexe der
Dysregulation im sympathischen System bewirkt. Auch die Nackenmuskeln isoliert darzustellen. Natürlich gibt es ein
muskulären, gelenkigen, ligamentären und kutanen Struk- γ-System in den Nackenmuskeln« (Neuhuber 2008). Spin-
turen des kraniozervikalen Übergangs, der in der Manuel- delreflexe aus Nackenmuskeln werden vor allem in »zervi-
len Medizin bei Kindern von großer klinischer Bedeutung ist, ko-kollische und vestibulo-kollische Reflexe eingespeist«. Die
werden vom sympathischen Nervensystem aus den Halsgan- direkte, homolateral verlaufende Projektion zum Verstibu-
glien des Grenzstrangs versorgt (Neuhuber 2005). Zielorgane lariskernkomplex ist besonders ausgeprägt bei (propriozep-
der postganglionären Neurone sind die Blutgefäße (vor allem tiven) Afferenzen aus den Segmenten C2 und C3, was für das
der Skelettmuskulatur), Schweißdrüsen und auch die Mm. Verständnis der klinischen Symptomatik einer zervikookzipi-
arrectores pilorum. Möglicherweise nehmen sympathische talen Dysfunktion im Säuglingsalter von Wichtigkeit ist.
Neurone auch trophischen Einfluss auf Bindegewebestruk- Aus didaktischen Gründen wird hier die gestörte Wahr-
turen (7 Kap. 7.3, Myofasziale Lösetechniken). nehmungsverarbeitung am Beispiel der Propriozeption dar-
gestellt. Tatsächlich beeinträchtigt eine segmentale Dysfunk-
Fazit tion gewöhnlich auch die Exterozeption, die Sensorik der
Diese Darstellungen zeigen, dass bei einer segmentalen Dys- zugeordneten Hautareale und je nach Lokalisation der Blo-
funktion der Wirbelsäule, einer Blockierung, die metameren ckierung mitunter auch die Funktion innerer Organe. Die
Strukturen des betroffenen Segments an der Pathologie betei- gestörte Propriozeption ist jedoch der entscheidende ent-
ligt sind: wicklungsneurologische Aspekt. Zur Pathologie der informa-
4 Haut, tionsverarbeitenden dynamischen Systeme schreibt Wolff:
4 Unterhautbindegewebe,
4 Faszie, » Falsche oder verfälschte Informationen können falsche Ver-
4 Muskel, rechnungsergebnisse und damit falsche Efferenzen zur Fol-
4 Gelenkkapsel, ge haben. – Im Gegensatz zur linearen Proportionalität von Ur-
4 Nervenleitung und sache und Wirkung in der Physik spielen hier Schwellen und
4 Gefäßfunktion. Schwingungsbreiten, d.h. stochastische Verhaltensweisen ei-
In der Sprache der Systemtheorie (7 Kap. 2.2, Neurophysiologi- ne charakteristische Rolle … Im klinischen Klartext heißt das:
sche Aspekte der Bewegungsentwicklung) bedeutet dies: Die Wenn die Möglichkeiten der Kompensation erschöpft sind, be-
Elementarkategorien – Materie, Energie und Steuerung – sind «
ginnt die Pathologie. (Wolff 1996)
in ihrem zeitlichen Ablauf gestört oder – wenn man so will – blo-
ckiert! Grob vereinfacht zeigt das klinische Bild einer Blockierung
im Kindesalter somit zwei typische Merkmale:
62 Kapitel 5 · Die Blockierung: pathophysiologische Aspekte

1. Schmerz und Bewegungseinschränkung. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Irritationspunktdi-
1 2. Störung der sensomotorischen Steuerung aufgrund ver- agnostik vor allem bei Kleinkindern und Säuglingen die
änderter Propriozeption, ggf. Störung vegetativer Funk- genaueren Informationen über eine segmentale Dysfunkti-
2 tionen. on liefern, da die typische Beweglichkeitsprüfung eines Wir-
belkörpers bzw. Wirbelsäulenabschnitts aufgrund fehlender
Welche der beiden Komponenten im Vordergrund steht, Kooperation des Kindes oder wegen Widerstand gegen die
3 hängt entscheidend vom Alter des Kindes und vom Zeitpunkt Untersuchung unzuverlässig oder gar nicht möglich ist. Sol-
des Eintretens der Störung ab: che Schwierigkeiten fallen bei der Irritationspunktdiagnostik
4 In der frühkindlichen Phase, das heißt, von der Schwan-
4 gerschaft bis zum Abschluss der Markreifung am Ende
deutlich weniger ins Gewicht.

des 4. Lebensjahres, wird eine Störung der propriozep- > Wichtig


5 tiven Wahrnehmungsverarbeitung andere Folgen haben Als Grundsatz der manualmedizinischen Diagnostik
als jenseits des 4./5. Lebensjahres. Das bedeutet, je jünger bei Kindern gilt: Unabhängig vom Alter des Kindes und
6 das Kind bei Eintritt der Störung ist, desto nachteiliger von der Lokalisation der primären segmentalen Störung
ist der Einfluss auf die neuromotorische Entwicklung. müssen stets auch die Übergangszonen der Wirbelsäu-
Denn neben der Markreifung und Organdifferenzierung le, die sensorischen Schlüsselregionen, untersucht und
7 seines Zentralnervensystems ist der Säugling zur Entfal- ggf. behandelt werden.
tung der stütz- und zielmotorischen Programme auch
auf eine einwandfreie, unverfälschte Wahrnehmungsver- Denn jede anfänglich segmental begrenzte Blockierung wirkt
8 arbeitung angewiesen. Es wurde bereits dargelegt, dass sich auf das gesamte System der autochthonen Muskulatur
eine unvollständige Ausbildung stützmotorischer Reakti- aus (7 Kap. 4.2.3, Propriozeptive Signalanlage) und beteiligt
9 onen aufgrund gestörter Propriozeption die Entwicklung diese Wirbelsäulenzonen, die »Bahnhöfe und Vernetzungs-
des normalen Bewegungsrepertoires erheblich beein- orte«, am pathologischen Geschehen (7 Kap. 4.5.3, »Bahn-
trächtigt. höfe« und Vernetzungsorte).
10 4 Ab dem 5.–6. Lebensjahr, also nach Abschluss der grob- Die Missachtung dieser Regel ist oft Ursache unzurei-
und feinmotorischen Entwicklung, äußern sich Blo- chender Therapieergebnisse und therapieresistenter Blockie-
11 ckierungen an Wirbelsäule und Extremitäten meist als rungen!
schmerzhafte Bewegungseinschränkung, sofern die sen-
somotorische Entwicklung bis dahin ungestört verlau-
12 fen ist. Die Gefahr einer nachhaltigen Beeinträchtigung
der Programmierung basaler motorischer Muster durch
13 reversible segmentale Dysfunktionen besteht in diesem
Alter kaum noch.
14 Bei diesen Feststellungen wird grundsätzlich davon aus-
gegangen, dass die Organstrukturen des ZNS intakt sind.
15 Kinder mit infantiler Zerebralparese erfordern eine ande-
re Betrachtungsweise. Im vorausgegangenen Kapitel wurde
allerdings bereits angedeutet, dass periphere Blockierungen
16 auch bei diesem neurologischen Krankheitsbild die Sympto-
matik mit beeinflussen und einen wichtigen therapeutischen
17 Ansatz bieten.

18 5.1.4 Manualmedizinische Diagnostik

19 Für die Durchführung der segmentalen Untersuchung im


Kindesalter gelten zunächst die gleichen Grundsätze und
Vorgehensweisen wie bei Erwachsenen. Es sei hier auf die
20 einschlägige Literatur verwiesen (Bischoff 1994, Bischoff und
Moll 2007, Dvořák 1997, Frisch 1998, Lewit 1997, Neumann
1983, 2003, Sachse u. Schildt-Rudloff 1992). Abweichungen
von den bekannten Untersuchungstechniken gelten vor allem
für Säuglinge, worauf in 7 Kapitel 6.2 ausführlich eingegan-
gen wird.
63 6

Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

6.1 Der »schiefe Säugling« – 63 6.2.2 Orthopädischer Status – 76


6.1.1 Klinische Zeichen des Tonusasymmetrie- 6.2.3 Frühkindliche Reaktionen und General
Syndroms (TAS) – 64 Movements – 76
6.1.2 Physiologische Haltungsasymmetrie – 65 6.2.4 Labyrinthstellreaktion, Halsstellreaktion und
6.1.3 Differenzialdiagnosen der Seitneigetest – 77
Symmetriestörungen – 67 6.2.5 Manualmedizinische Exploration der
6.1.4 Spastische Bedrohung? – 67 sensorischen Schlüsselregionen – 78
6.1.5 Dysfunktion der Kopfgelenke – 68 6.2.6 Myofasziale Diagnostik – 82
6.1.6 Reflektorische Tonussteuerung – 69 6.2.7 Neurologische Untersuchung – 83
6.1.7 Verrechnungsfehler und 6.2.8 Neurokinesiologische Untersuchung
Labyrinthstellreaktion – 71 nach Vojta – 83
6.1.8 Segmentale Dysfunktion der Wirbelsäule: 6.2.9 Bestimmung des Entwicklungsalters
Entwicklungsneurologischer Störfaktor – 72 im Vergleich zum chronologischen Alter – 84
6.1.9 Schädelasymmetrie – 73 6.2.10 Röntgenuntersuchung – 86
6.1.10 Pathogenetische Überlegungen – 73
6.1.11 Problemlösung Sectio? – 74 6.3 Abgrenzung des TAS von infantiler
Zerebralparese – 86
6.2 Manualmedizinische und neurologische
Standarddiagnostik – 75
6.2.1 Beurteilung der Kopf- und Körperhaltung in Rücken-
und Bauchlage – 75

Schmerztherapie, Traumatologie und Rehabilitation sind die 6.1 Der »schiefe Säugling«
klassischen Indikationsgebiete der Manuellen Medizin. Dies
gilt traditionell für erwachsene Patienten, hat seine Gültigkeit
aber auch im Kindesalter. Exkurs: Die Anfänge des TAS
Im Jahr 1744 erschien im Verlag Johann Andreas Rüdiger zu
> Wichtig Berlin die deutsche Fassung eines Buches von Niclas Andry un-
Die entwicklungsneurologische Indikation hingegen ter dem feierlichen Titel »Orthopädie oder die Kunst, bey den
steht nicht in der manualmedizinischen Tradition, son- Kindern die Ungestalt des Leibes zu verhüten und zu verbes-
dern stellt eine Neuentwicklung im Gesamtkonzept der sern, alles durch solche Mittel, welche in der Väter und Mütter
Manuellen Medizin dar und eröffnet den Zugang zur Be- und aller der Personen Vermögen sind, welche Kinder zu er-
ziehen haben«. In diesem umfangreichen und mit zahlreichen
handlung von Kindern mit sensomotorischen Störungen
Kupferstichen illustrierten Werk ist auch ein schief auf dem Rü-
verschiedener Ursache.
cken liegender Säugling dargestellt, zu dessen Behandlung
Andry empfiehlt, man möge »zu ausgestopften Schnürleibern
Als entwicklungsneurologische Indikation zur Anwendung Zuflucht nehmen«, ein Gedanke, dem Lübbe (1977) rund zwei-
der Manuellen Medizin gelten die sensomotorische Dysky- hundert Jahre später mit seinem Lagerungsleibchen eine hu-
bernese (SMD) des Vorschul- und Schulkindes (7 Kap. 8), manere Form verlieh. Das Erscheinungsbild des schiefen Säug-
die infantile Zerebralparese (7 Kap. 9) und das mit TAS abge- lings ist also in der Medizin schon seit langer Zeit bekannt, wie
kürzte dysfunktionelle Tonusasymmetrie-Syndrom, auch auch Votivfiguren und Skulpturen aus unterschiedlichen Kul-
KISS genannt, das in diesem Kapitel eingehend besprochen turkreisen mit Darstellung von Schiefhals oder Rumpfskolio-
wird. se bezeugen.
6
64 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

se, motorische Unruhe und Störung des Allgemeinbefindens.


1 Verschiedene Vorschläge zur Prophylaxe und Behandlung Er legte dar, dass die Symptome durch eine manualmedizi-
der Schräglagedeformität (Gladel 1963, Beckmann 1963), des nische Behandlung rasch behoben werden konnten.
Schräglagesyndroms (Gladel 1970) oder der sog. Säuglings-
2 skoliose (Mau 1982, 1986) sind in der Monographie »Die sog.
Auch andere Autoren berichteten über vergleichbare
Beobachtungen bei der Behandlung des »schiefen Säuglings«
Säuglingsskoliose und ihre krankengymnastische Behand-
lung« von Mau und Gabe (1986) zusammengefasst. Mau führt (Buchmann 1988, Biedermann 1991, Schick 1991, Coenen
3 darin auch das von ihm erstmals 1962 beschriebene Siebener- 1992); alle beschreiben einen pathologischen Befund an der
Syndrom an, das im Zusammenhang mit der sog. Säuglings- oberen Halswirbelsäule bzw. der Okzipitozervikalregion. Bie-
4 skoliose zu beobachten sei, mit folgenden Symptomen:
5 Dorsalskoliose,
dermann (1991) bezeichnet den Symptomenkomplex im Hin-
blick auf die Stellungsasymmetrie des Atlas gegenüber den
5 Hackenfüße, Okziputkondylen im a.-p.-Röntgenbild als kopfgelenksindu-
5 5 Beckenasymmetrie, zierte Symmetriestörung, abgekürzt KISS. Für Coenen ste-
5 Hinterhauptsabflachung, hen die neuromotorischen und entwicklungsneurologischen
5 Kopfschiefhaltung,
6 Aspekte des Symptomenbildes im Vordergrund, das daher
5 Hüftabspreizhemmung mit Pfannendysplasie,
5 lumbodorsale Kyphose.
aufgrund der typischen klinischen Zeichen als Tonusasym-
Mau hält die Symptomatik für die Folge einer einseitigen Ge- metrie-Syndrom bezeichnet wird. Den Begriff »Tonusasym-
7 wohnheitshaltung und empfiehlt zur Vorbeugung die Bauch- metrie« hatte Buchmann 1983 im Zusammenhang mit Atlas-
lage, die damals noch nicht mit dem plötzlichen Kindstod in blockierungen bei Säuglingen verwendet.
8 Verbindung gebracht wurde. Gladel (1963) weist auf die par-
allele ovaläre Verformung des Schädels hin, mit gleichseitiger
Abflachung von Hinterhaupt und dorsalem Thorax, ferner auf 6.1.1 Klinische Zeichen des
9 einen Tiefstand der Glutealfalte auf der Auflageseite, während Tonusasymmetrie-Syndroms (TAS)
Beckmann (1963) einen Hochstand des Beckens samt Gluteal-
falte beschreibt.
Das TAS des Säuglings ist eine frühkindliche Bewegungsstö-
10 rung ohne zerebrale Beteiligung. Pathogenetisch ist das TAS
als dysfunktionelles Syndrom zu verstehen aufgrund rever-
11 Ob nun Siebener-Syndrom, Schräglagedeformität oder sog. sibler segmentaler Funktionsstörungen an den sensorischen
Säuglingsskoliose: Die Symptome ähneln einander in einer Schlüsselregionen des Achsenorgans.
Weise, die vermuten lässt, dass es sich um verschiedene Das TAS zeigt je nach Schwere und Dauer der patholo-
12 Betrachtungsweisen desselben Erscheinungsbildes handelt, gischen Veränderungen unterschiedlich ausgeprägte vegeta-
wobei von den meisten Autoren vor allem die orthopädischen tive und klinische Symptome. Die häufigsten sind in 7 Über-
13 Symptome betont werden. sicht 6.1 aufgeführt (Coenen 1992, 1996), wobei im Einzelfall
Der frühere Verdacht, dass die sog. Säuglingsskoliose keineswegs alle dieser Zeichen vorhanden sein müssen:
Vorstufe einer idiopathischen Skoliose sei, wurde schon vor
14 längerer Zeit entkräftet (James 1951, Scott und Morgan 1955,
Lloyd-Roberts und Pilcher 1965). Mau (1982, 1986) weist auf Übersicht 6.1 Vegetative und klinische Symptome
15 die hohe Spontanheilungsrate der sog. Säuglingsskoliose bzw. des TAS
1. Verhaltensauffälligkeiten (anamnestische Angaben)
Schräglageskoliose hin. Die Abgrenzung gegen die relativ sel-
tene und prognostisch ungünstige infantile progrediente Sko- 5 Unruhe, Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus
16 liose ist nach Mau schon frühzeitig mit der Bestimmung des 5 Störung der Nahrungsaufnahme (häufiges Erbre-
Rippen-Wirbelkörper-Winkels nach Metha (1972) möglich. chen, Saug- und Trinkschwäche)
5 Stillen nur an einer Seite möglich
17 Dies bestätigt auch Hefti (1997), der als Ursache der Säug-
5 Schreckhaftigkeit, Lärmempfindlichkeit
lingsskoliose eine Persistenz des asymmetrischen tonischen
Nackenreflexes (ATNR) annimmt, ohne allerdings darauf 5 Abneigung gegen Bauchlage (seltener gegen
18 einzugehen, warum dieser Reflex persistieren solle. Er hält Rückenlage)
die Prognose der Säuglingsskoliose ebenfalls für gut und 5 In Rückenlage Überstreckung von Kopf/Rumpf
19 führt aus, dass fast alle diese Verkrümmungen im Laufe des (opisthotone Haltung)
5 Seitendifferente Bewegungsmuster der Extremi-
1. Lebensjahres wieder verschwinden. Diese Feststellung kann
aufgrund eigener Erfahrungen zwar in vielen Fällen bestätigt täten
20 werden, aber es fragt sich, ob die Säuglingsskoliose überhaupt 5 Schreikind
ein eigenständiges Krankheitsbild ist, (Mau spricht nicht ohne 5 »Unhandliches«, unschmiegsames Kind
Grund stets von der sog. Säuglingsskoliose), oder ob sie nicht 5 Teilnahmslosigkeit
als vorübergehendes Begleitsymptom einer anders gearteten 2. Orthopädische Symptome
Pathologie gedeutet werden muss. 5 Kopfschiefhaltung
Gutmann (1968, 1987) ging von einer »traumatischen 5 Schädelasymmetrie/Gesichtsskoliose
Störung im Okzipitozervikalbereich« als Auslösefaktor der 5 Rumpfskoliose
Symptomatik des Schräglagesyndroms aus, gekennzeichnet 6
durch Kopfschiefhaltung, Kopfhalteschwäche, Rumpfskolio-
6.1 · Der »schiefe Säugling
65 6
als unschmiegsam, schreckhaft oder auch aggressiv beschrie-
5 Ggf. dorsale Thoraxasymmetrie ben, ebenso oft wird von einer starken Berührungsempfind-
5 Beckenasymmetrie (Schräglagebecken) lichkeit an Kopf und Nacken berichtet: Beim An- und Auszie-
5 (Einseitige) Einschränkung der Hüftgelenkbeweg- hen schreien die Kinder, wehren sich gegen anliegende Kopf-
lichkeit (auch ohne Hüftdyplasie) bedeckung und machen auch der Physiotherapeutin, die in
5 Fußfehlhaltungen (z.B. Hackenfüße, »windschie- der Kopf-Nacken-Region behandeln will, das Leben schwer.
fe Fußhaltung« mit Vorfußadduktion der einen Sei- Auch sträuben sich die meisten TAS-Kinder gegen die Bauch-
te und Abduktion der Gegenseite, hypermobiler lage und tun ihr Unbehagen durch eindringliches Schreien
Knickfuß u.Ä.) kund. Solche Verhaltensauffälligkeiten sind als Schmerzsi-
3. Neuromotorische Zeichen gnale und als Hinweis auf eine Funktionsstörung der Kopf-
5 Asymmetrische muskuläre Tonussteuerung gelenke mit Beteiligung der übrigen Schlüsselregionen zu
5 Haltungsstereotypien der Extremitäten (Schlupf- deuten. In einigen Fällen können die Schmerzen so heftig
daumen, Hyperpronation/-supination der Unterar- sein, dass die Kinder stundenlang ununterbrochen schreien
me, Fausten, Haltungsasymmetrie der Beine etc.) und durch nichts zu beruhigen sind. Diese Schreikinder las-
5 Einseitige Bewegungspräferenz sen ihre hilflosen Eltern mitunter verzweifeln und jeder The-
5 Seitendifferente Labyrinth- und Halsstellreaktionen rapeut, der Säuglinge behandelt, kennt ähnlich bewegende
5 Persistierende Primitivreflexe (TLR, STNR, ATNR- Beispiele, wie sie Kemlein (2002) beschrieben hat. Es ist
Äquivalente) daher zu fordern, dass bei jedem Schreikind nach Ausschluss
5 Abnormale, meist seitendifferente neurokinesiolo- organischer Ursachen und somatischer Störungen auch eine
gische Reaktionen nach Vojta manualmedizinische Diagnostik erfolgt, bevor eine Psycho-
5 Intermittierende, lageabhängige opisthotone therapie zur Behandlung einer unterstellten Störung der Mut-
Kopfhaltung ter-Kind-Beziehung eingeleitet wird. Sollte als Ursache der
4. Manualmedizinische Zeichen Schreiattacken eine zervikookzipitale Dysfunktion ermittelt
5 Segmentale Dysfunktion (Blockierung) an den werden können, besteht gute Aussicht auf rasche Befundbes-
sensorischen Schlüsselregionen der Wirbelsäule serung durch Einsatz einer risikolosen manualmedizinischen
(Kopfgelenke oder obere HWS und ISG fast immer Behandlungstechnik.
betroffen) Andererseits wäre es völlig verfehlt, bei jedem Schreikind
5 Dysfunktion der Extremitätengelenkbewegungen ursächlich eine Kopfgelenksblockierung anzunehmen, wie
(Ellenbogen, Hüfte, Knie mit Patella, Tibiofibular- dies in populärwissenschaftlichen Beiträgen gerne behauptet
und Talonavikulargelenk) wird. Eine gründliche manualmedizinische Untersuchung
5 Störung der myofaszialen Viskoelastizität an Kopf, (7 Abschn. 6.2, Standarddiagnostik) trägt dazu bei, solche
Rumpf und Extremitäten Fehleinschätzungen zu vermeiden.

> Wichtig 6.1.2 Physiologische Haltungsasymmetrie


Viele der hier angeführten Zeichen sind unspezifisch: Ei-
ne Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus oder der Nah- Frühkindliche Haltungsasymmetrien sind als physiolo-
rungsaufnahme kann selbstverständlich verschiedene gische Varianten sehr häufig, wenn nicht sogar die Regel und
andere Gründe haben; dasselbe gilt für die übrigen an- dürfen daher nicht in jedem Fall als pathologisch angesehen
geführten Verhaltensauffälligkeiten und natürlich auch werden. So fanden Ginsburg et al. (1980) bei Neugeborenen
für die sog. Schreikinder. Erst aus dem Gesamtbild der eine deutliche Präferenz der Kopfwenderichtung, wobei etwa
anamnestischen Angaben und der klinischen Sympto- zwei Drittel der Kinder den Kopf nach rechts drehen. Daher
me lässt sich erkennen, ob es sich hier um die typischen tragen Mütter von Rechtsdrehern das Kind stets auf der lin-
Zeichen eines TAS aufgrund funktioneller Störungen be- ken Seite (. Abb. 6.1), während Linksdreher rechts getragen
stimmter Wirbelsäulenabschnitte handelt. werden. Dass etwa 80% der Mütter in allen Kulturkreisen
das Kind auf der linken Seite tragen, hatte Salk bereits 1973
k Verhaltensauffälligkeiten festgestellt und dies als Ausdruck einer intrauterinen Prä-
Etwa zwei Drittel der Mütter, die ihr Baby wegen einer Hal- gung auf den mütterlichen Herzschlag gedeutet. Das Über-
tungs- und Bewegungsasymmetrie vorstellen, berichten über wiegen der Rechtshändigkeit in allen Kulturen wird ebenfalls
Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes wie Saugschwäche als Grund für diese Tragegewohnheit angeführt. Salk (1973)
mit ausgedehnten Stillzeiten, häufiges Erbrechen, nächtliche wies jedoch nach, dass auch Linkshänderinnen ihr Kind links
Unruhe, kurze Schlafphasen und heftiges Schreien beim Hin- tragen. Eibl-Eibesfeldt (1997), der die Herzschlaghypothe-
legen ins Bettchen, das die Mutter oft nur beruhigen kann, se von Salk für etwas weit hergeholt hält, nimmt an, dass es
wenn sie mit dem Kind im Arm umhergeht. Auch lassen sich sich bei dieser Tragegewohnheit um eine Universalie han-
viele dieser Kinder immer nur an derselben Brust stillen und delt, und dass die Kopfwendepräferenz des Säuglings darü-
wehren sich gegen das Anlegen auf der anderen Seite. Manche ber entscheidet, auf welcher Seite die Mutter das Kind trägt.
Mütter müssen eine bestimmte Haltung einnehmen, damit Er weist in diesem Zusammenhang auch auf die von Grüsser
das Stillen überhaupt möglich ist. Die Kinder werden häufig (1983) durchgeführte Untersuchung von Kunstwerken und
66 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

. Abb. 6.1 Fazit


1 Rund 80% der Müt-
Persistiert die Kopf-Rumpf-Asymmetrie über den 3./4. Monat
ter in allen Kultur-
hinaus, oder tritt sie erst nach einer freien Latenzzeit von
kreisen tragen das
2 Kind auf der linken
8–12 Wochen auf und ist zudem mit neuromotorischen Auffäl-
ligkeiten verbunden, so besteht der Verdacht auf ein TAS, das
Seite
mit klinischer Diagnostik gesichert werden muss (7 Kap. 6.2,
3 Standarddiagnostik). Hierbei ist das prognostisch günstigere
TAS unbedingt von einer zerebralen Störung abzugrenzen.
4 TAS und Hüftdysplasie
Typisch für ein TAS sind diejenigen orthopädischen Sym-
5 ptome, die mit den Merkmalen der prognostisch günstigen
sog. Säuglingsskoliose weitgehend übereinstimmen. Aller-
6 dings tritt die von Gladel, Lübbe, Beckmann, Mau und ande-
ren Autoren beschriebene Hüftgelenksdysplasie beim TAS
nicht häufiger auf als bei Kindern ohne TAS (oder KISS). Der
7 klinische Befund mit
4 Hüftabspreizhemmung,
4 Asymmetrie der Glutealfalte,
8 4 Oberschenkelverkürzung usw.
Photographien hin. (Die zahlreichen abendländischen Dar- war früher vor der Sonographie-Ära hochverdächtig auf eine
9 stellungen der Madonna mit Kind bestätigen diese Beobach- Hüftdysplasie. Derselbe Befund findet sich aber auch bei TAS-
tungen ebenfalls, wobei es auch einige Ausnahmen gibt. Eine Kindern mit sonographisch einwandfreien Hüftgelenken und
der berühmtesten ist Raphaels Sixtinische Madonna, die das entspricht den typischen Symptomen einer ISG-Blockierung
10 Kind auf der rechten Seite trägt). im Säuglingsalter (s.u.).
Buchmann und Bülow (1989) fanden bei Neugeborenen
11 eine häufige Haltungsasymmetrie des Kopfes. Sie deuten dies Schiefhals
als altersspezifischen Ausdruck menschlicher Lateralität und Die Kopfschiefhaltung beim TAS zeigt in den meisten Fällen
halten es gleichzeitig für den funktionellen Hintergrund der folgendes Muster:
12 Kopfvorzugshaltung nach rechts. Eine geburtstraumatische 4 Neigung des Kopfes zur einen Seite und Rotation des
Ursache schließen sie aus. Allerdings berichten sie auch von Kopfes zur Gegenseite, oft kombiniert mit mehr oder
13 funktionellen Kopfgelenksstörungen bei Neugeborenen im weniger ausgeprägter
Sinne einer einseitigen Einschränkung der Seitnickbewe- 4 Gesichtsskoliose und Schädelasymmetrie.
gung, die vielfach spontan verschwinden, bei Persistenz aber
14 die »allgemeine motorische Entwicklung des Säuglings und Dasselbe Muster findet man auch beim sog. angebore-
Kleinkindes … in erheblichem Maße« stören können (Buch- nen muskulären Schiefhals mit isolierter Verkürzung des
15 mann und Bülow 1983). M. sternocleidomastoideus, mitunter auch bei kongenita-
Asymmetrische Haltungspräferenzen von Kopf und len ossären Fehlbildungen oder neurogenen Erkrankungen
Rumpf können in den ersten 8–10 Lebenswochen noch als (s.u.). Die Kopfschiefhaltung bei Kopfgelenksblockierung im
16 physiologisch angesehen werden und verschwinden meist Rahmen eines TAS hat ihre Ursache allerdings in einer kom-
spontan; ebenso auch eine einseitig positive Halsstellreaktion plexen nozizeptiv entstandenen Dysbalance der segmentalen
17 mit en-bloc-Rotation des Rumpfes bei passiver Kopfrotation Muskulatur im Sinne einer (schmerzbedingten?) Schonhal-
(7 Kap. 3.2, Neuromotorische Untersuchung des Säuglings). tung, wobei vor allem die subokzipitalen Muskeln betroffen
Erst bei eindeutigem segmentalem Befund z.B. an den sind. Man findet konkavseitig gelegentlich eine Verkürzung
18 Kopfgelenken, kombiniert mit der seitlichen Halsmuskulatur, besonders der Mm. scaleni,
4 Verhaltensauffälligkeiten, während der M. sternocleidomastoideus beim TAS wenig
19 4 ggf. Schädelasymmetrien, oder gar nicht betroffen ist und seine physiologische Kon-
4 lage- bzw. bewegungsabhängiger Schmerzprovokation, sistenz bewahrt. Im Unterschied dazu besteht beim konge-
4 auffälligen frühkindlichen Reaktionen, nitalen muskulären Schiefhals immer eine isolierte Verkür-
20 4 suboptimalen oder auffälligen General Movements usw. zung des M. sternocleidomastoideus mit eindeutiger patho-
kann in diesem Alter von einer pathologischen Ursache logischer Strukturveränderung, während die übrige seitliche
des Asymmetrieverhaltens ausgegangen und eine Behand- Halsmuskulatur erst viel später bei Persistenz des Schiefhalses
lung erforderlich werden (Coenen 1992, 1996b, 1998c, 2001a, sekundär kontrakt wird.
2001c, 2003, 2004).
Ähnlich sehen es Buchmann et al. (1992), die eine Bewe-
gungsasymmetrie der Kopfgelenke in Kombination mit wei-
teren Zeichen als behandlungsbedürftig betrachten.
6.1 · Der »schiefe Säugling
67 6

Tipp men keine manualmedizinische Indikation darstellt. Ange-


sichts der Tatsache, dass sich eine große Zahl dieser konge-
Natürlich kann ein angeborener muskulärer Schief- nitalen muskulären Schiefhälse innerhalb des 1. Lebensjahres
hals auch mit einer segmentalen Kopfgelenksdysfunk- zurückbildet, sollte man mit optimistischen Erfolgsmel-
tion verbunden sein, die selbstverständlich zu behan- dungen nach Manualtherapie oder Physiotherapie zurück-
deln ist! Die neuromotorischen Zeichen eines TAS sind haltend sein (Morrison et al. 1982, Canale et al. 1982).
jedoch nicht typisch für den sog. kongenitalen muskulä-
ren Schiefhals.
6.1.3 Differenzialdiagnosen der
Symmetriestörungen
Als Ursache des kongenitalen muskulären Schiefhalses wird
allgemein immer noch ein Geburtstrauma angenommen, da Beispiele für Symmetriestörungen im Säuglingsalter, die kei-
der Muskel anfänglich eine umschriebene Verdickung auf- ne primäre manualmedizinische Indikation darstellen, sind
weist, die gerne als traumatisch bedingtes Hämatom gedeutet in 7 Übersicht 6.2 zusammengefasst.
wird. Allerdings folgt diesem Hämatom nie eine Hämatom-
verfärbung; auch fand man histologisch in resiziertem Mus-
kelgewebe nie Hämosiderinablagerungen, wie dies nach einer Übersicht 6.2 Differenzialdiagnosen bei
Einblutung ins Muskelgewebe stets der Fall ist (Tachdijan Symmetriestörungen
1990). Zudem führt ein intramurales Hämatom gewöhnlich 5 Kongenitale Skoliose (z.B. bei Wirbelmissbildung)
nicht zu einer anhaltenden Muskelverkürzung mit fibrösem 5 Andere ossäre Fehlbildungen der Wirbelsäule (Seg-
Umbau des Gewebes. Muss ein muskulärer Schiefhals auf- mentationsstörungen, Klippel-Feil-Syndrom, Missbil-
grund persistierender Verkürzung des Sternokleidomastoide- dungsskoliose usw.)
us später operativ behandelt werden, so erweist sich das Mus- 5 Kongenitaler muskulärer Schiefhals
kelgewebe intraoperativ als ausgeprägt narbig verändert. Als 5 Lähmungsskoliose
Ursache wird daher ein intrauterines Kompartmentsyndrom 5 Wirbelsäulendeformitäten bei Systemerkrankungen
angenommen. Ein solchermaßen veränderter Muskel unter- (Neurofibromatose, Marfan-Syndrom usw.)
scheidet sich in seiner Struktur eindeutig von einem spastisch 5 Kraniosynostose
verkürzten Muskel, der auch bei hochgradiger Verkürzung 5 Tumoren (hintere Schädelgrube, HWS, Thorax, Abdo-
intraoperativ als vitales, normales Muskelgewebe imponiert men)
(Martin 2008). 5 Unspezifische oder spezifische Entzündungen der
HWS (z.B. Grisel-Syndrom, Tuberkulose usw.)
k Manualmedizinische Indikation? 5 Entzündliche Erkrankungen des Brust- und Bauchrau-
Ätiologie und Pathogenese des kongenitalen muskulären mes
Schiefhalses mit pathologischer Veränderung des M. sterno- 5 Alternierende Hemiplegie/hemiplegische Migräne
cleidomastoideus sind nach wie vor unklar, desgleichen auch 5 Extrapyramidalmotorische Störungen
die Herkunft der initialen, als Hämatom fehlgedeuteten Ver- 5 Physiologische, genetisch bedingte Stellungsvarianten
dickung des Muskels. Ebenso unklar ist, warum ein Großteil des kraniozervikalen Übergangs
der bei Geburt nachweisbaren Verkürzungen des M. sterno-
cleidomastoideus im Laufe der folgenden 6–8 Monate rest- Jedes der hier aufgeführten Krankheitsbilder kann mit seg-
los verschwindet, unabhängig davon, ob mit Salbeneinrei- mentalen Dysfunktionen der Wirbelsäule verbunden sein,
bung, Krankengymnastik, Manualtherapie oder überhaupt die zur Verbesserung der klinischen Symptomatik manual-
nicht behandelt wurde. Ein kleiner Teil trotzt allerdings allen medizinisch behandelt werden müssen, sofern keine Kontra-
Behandlungsversuchen und muss im 2. oder 3. Lebensjahr indikation besteht, ohne freilich ursächlichen Einfluss neh-
operiert werden, um eine Progredienz der Gesichtsskoliose, men zu können.
Schädelasymmetrie und der HWS-Funktionseinschränkung
zu verhindern. Ein ebenfalls kleiner Teil scheint sich unter
der Behandlung zu bessern oder ist von vornherein gar nicht 6.1.4 Spastische Bedrohung?
auffällig, um dann im Alter von 4–5 Jahren oder auch spä-
ter einen muskulären Schiefhals zu entwickeln, der sich kon- Die als neuromotorische Zeichen beschriebenen Symptome
servativer Therapie widersetzt. In solchen Fällen handelt es wie
sich fast ausnahmslos um eine isolierte Verkürzung des klavi- 4 opisthotone Haltung,
kulären Anteils des M. sternocleidomastoideus, der im Säug- 4 abnormale Lagereaktionen nach Vojta,
lingsalter unauffällig blieb, da ein verkürzter klavikulärer 4 persistierende Primitivreflexe usw.
Anteil durch die Schulterstellung kompensiert bzw. kaschiert lassen an eine zerebrale Störung denken, an eine sog. spa-
werden kann (Martin 2008). stische Bedrohung.
Mit diesen Feststellungen soll klargemacht werden, dass
die Verkürzung und fibröse Degeneration des M. sternocle-
idomastoideus beim muskulären Schiefhals für sich genom-
68 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

Tipp
1
Diese Zeichen sind jedoch nicht spezifisch für zentra-
le Störungen, sondern unabhängig von der Ursache
2 zunächst nur Ausdruck einer unvollkommenen oder
gestörten sensomotorischen Steuerung.
3
4 Beim unausgereiften ZNS des Säuglings können segmentale
Dysfunktionen an bestimmten Wirbelsäulenabschnitten auf-
grund inadäquater propriozeptiver Wahrnehmungsinfor-
5 mationen das motorische Muster in der Weise beeinflussen,
dass beispielsweise Primitivreflexe über ihre Waltezeit hinaus
6 sichtbar werden, wenn der nozizeptive Einstrom aus dem
blockierten Segment aktiviert wird. Das kann durch Ände-
rung der Körperlage geschehen oder durch Bewegung des
7 dysfunktionellen Segments in die gesperrte, die nozizeptive
Richtung.
8 > Wichtig
Beim TAS wird es – im Gegensatz zur zerebralen Störung
9 – immer eine Körperhaltung und eine segmentale Bewe-
gungsrichtung geben, in der die pathologische neuro-

10 motorische Reaktion ausbleibt: Die freie Richtung, die


der Gewohnheitshaltung entspricht, und die offensicht-
lich eine Schonhaltung zur Vermeidung des Rezeptoren-
11 schmerzes ist (7 Kap. 5.1, Neurophysiologisches Denk-
modell). . Abb. 6.2 5-monatiger Säugling. Tonusasymmetrie-Syndrom
12 Die Summe der neuromotorischen Auffälligkeiten beim TAS
(TAS) bei Kopfgelenks- und ISG-Blockierung: Kopf nach rechts ge-
neigt, nach links rotiert, linkskonvexe Rumpfhaltung
ist mitunter beeindruckend und kann schon dazu verführen,
13 von einer spastischen Bedrohung zu sprechen. Entsprechend
groß ist dann die Freude, wenn durch eine Therapie die ver- wobei diese Komponenten unterschiedlich ausgeprägt sein
mutete Spastik abgewendet werden konnte. Was davon zu können. Bei diesen Kindern lässt sich eine einseitige segmen-
14 halten ist, wurde in 7 Kapitel 3.5 erläutert. tale muskuläre Tonuserhöhung, eine Nozireaktion in Höhe
Die Prüfung und Beurteilung der angeführten neuromo- der Segmente C0/C1, C1/C2 oder C2/C3 tasten; oft ist auch
15 torischen Zeichen reicht alleine nicht aus, um ein dysfunk- mehr als ein Segment betroffen. Der Rumpf ist konvex in
tionelles TAS von einer zerebralen Störung zu unterschei- Richtung der Kopfdrehung gebogen (wird gerne als persistie-
den. Dazu ist neben der qualitativen Beurteilung die Prü- render ATNR bezeichnet, obwohl beim TAS nie eine tonische
16 fung weiterer klinischer Kriterien erforderlich. Darauf wird Fixierung vorliegt).
bei Beschreibung der einzelnen Untersuchungsschritte aus-
17 führlich eingegangen. k Passive Rotation des Kopfes
Bei passiver Rotation des Kopfes in die blockierte Richtung
kommt es bei Erreichen der Blockierungsbarriere zur Mitdre-
18 6.1.5 Dysfunktion der Kopfgelenke hung des Rumpfes.

19 Der Einfluss segmentaler Dysfunktionen auf die sensomoto- ! Diese Halsstellreaktion ist spätestens ab dem 3. Monat
rische Entwicklung lässt sich am Beispiel der Kopfgelenks- pathologisch!
blockierung des Säuglings gut beobachten (. Abb. 6.2).
20 Ältere Säuglinge mit Kopfgelenksblockierung drehen oft
k Schonhaltung in Rückenlage nicht en bloc, sondern zeigen als Ausgleichsbewegung eine
In Rückenlage hält der Säugling den Kopf in einer Schonhal- Reklination des Kopfes mit Schulterretraktion sowie Stre-
tung, um unangenehmem Empfinden oder offenkundigem ckung und Innenrotation der Beine.
Schmerz im blockierten Segment auszuweichen. Häufigstes
Muster ist, wie schon erwähnt, > Wichtig
4 die Kopfneigung zur einen Seite und Typisch für das TAS ist, dass diese beschriebenen Reakti-
4 Kopfdrehung zur Gegenseite, onen bei passiver Kopfdrehung in die freie Richtung er-
wartungsgemäß ausbleiben (. Abb. 6.3).
6.1 · Der »schiefe Säugling
69 6
k Passive Kopfseitneige
Ähnlich verhält es sich bei der passiven Seitneige des Köpf-
chens in die blockierte Richtung. Die Seitneigebewegung ist
eingeschränkt; bei Erreichen der Barriere dreht sich der Kör-
per im Ganzen um eine sagittale Achse mit Drehpunkt ober-
halb des Nabels. Nach Lewit (1977, 1997) weist eine Einschrän-
kung der Seitnickbewegung auf eine Blockierung im unteren
Kopfgelenk hin, also Atlas gegen Axis (. Abb. 6.4).

Tipp

Im Untersuchungsprogramm des TAS wird der Rotati-


onstest als Halsstellreaktion (HSR) bezeichnet, der Seit-
neigetest mit SNT abgekürzt.

k Überstreckung
Ein ebenfalls typisches, wenn auch weniger häufiges Muster
ist die Überstreckung, bestehend aus Retroflexion des Kopfes
bei gleichzeitiger stereotyper Rotation und Hyperextensi-
on des Rumpfes mit Konvexität zur Seite der Kopfdrehung
(. Abb. 6.5), von Biedermann als KISS II bezeichnet. Die seg-
mentale Untersuchung ergibt bei diesem Bild häufig eine obe-
re Kopfgelenksblockierung C0/1 mit eingeschränkter oder
a aufgehobener passiver Nutationsbewegung im Atlantookzi-
pitalgelenk. Ob die meist vorhandene stereotype Kopfrota-
tion auf eine Beteiligung des unteren Kopfgelenks C1/2 hin-
weist, lässt sich klinisch nicht immer sicher erfassen. Eine
eingeschränkte passive Seitneige des Kopfes spräche dafür.
Das Bild der Überstreckung erinnert an den Opisthotonus
bei schwerer Zerebralparese (. Abb. 6.6), die mittels ent-
sprechender klinischer Untersuchungen auf jeden Fall aus-
zuschließen ist. Abzugrenzen ist dieses Bild auch von einer
kongenitalen oder entzündlich bedingten Tracheomalazie,
bei der das Kind zur Erleichterung der Respiration den Kopf
rekliniert. Ebenso ist an eine Pierre-Robin-Sequenz mit Glos-
soptose zu denken.

6.1.6 Reflektorische Tonussteuerung

Die Rumpfkonvexität, die das auf dem Rücken liegen-


de TAS-Kind bei der Schonhaltung des Köpfchens zeigt, ist
keine »echte« Skoliose, sondern Ausdruck der von Mag-
nus (1924) beschriebenen, durch Stellungsänderung des
Kopfes bewirkten Tonusverteilung der Körpermuskulatur
(. Abb. 4.16, 4.17). Diese von der Kopfstellung abhängige
muskuläre Tonusverteilung ist grundsätzlich physiologisch
und stellt eine wichtige Funktion der Körperkontrolle dar.
b Beim Säugling im 1. und 2. Trimenon führt diese Körperstell-
reaktion, deren Rezeptoren in den Halsmuskeln liegen, bei
. Abb. 6.3 a, b HSR bei 4 Monate altem Jungen. a Bei passiver Ro- Drehen des Kopfes noch zu einer sichtbaren Stellungsände-
tation des Kopfes in die blockierte Richtung nach links kommt es zur rung des Rumpfes im Sinne einer C-förmigen Ausbiegung.
Rotation des Rumpfes en bloc. b Bei Kopfdrehung in die freie Rich- Im weiteren Verlauf der sensomotorischen Entwicklung wird
tung uneingeschränkte Beweglichkeit von Kopf und HWS ohne Mit- diese Reaktion in übergeordnete zielmotorische Muster inte-
bewegung des Rumpfes griert und dadurch zunehmend unsichtbar, ohne allerdings
zu verschwinden.
70 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 . Abb. 6.5 3½ Monate alter Säugling mit TAS bei oberer und un-
a terer Kopfgelenksblockierung. Überstreckung von Kopf und Rumpf,
nicht fixierte Fechterhaltung der Arme, reziproke Bewegungen der
11 Beine. Keine Pyramidenzeichen, keine tonischen oder phasischen
Streckreaktionen. Im weiteren Verlauf unter manualmedizinischer Be-
handlung Normalisierung des Befundes
12
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14
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18
19
20 b

. Abb. 6.4 a, b Seitneigetest bei 4 Monate altem Säugling. a Die


passive Seitneigebewegung nach links ist eingeschränkt, der Rumpf
dreht sich im Ganzen um eine sagittale Achse mit. b Bei passiver Seit- . Abb. 6.6 7 Monate alter Säugling. Opisthotonus bei schwerer
neige nach rechts freie Beweglichkeit ohne Mitbewegung des Rump- frühkindlicher Hirnschädigung mit Reklination und Rechtsrotation
fes des Kopfes. Strecktonus der unteren Extremitäten, positive Pyrami-
denzeichen, positive tonische und phasische Streckreaktionen. Im Ge-
gensatz zum TAS ist hier die Überstreckung weitgehend tonisch fixiert
6.1 · Der »schiefe Säugling
71 6
Anschauliches Beispiel für den Fortbestand der Reaktion
ist die Kopfbewegung zur Einleitung des Drehens vom Rücken
auf den Bauch im Alter von ca. 6 Monaten (. Abb. 4.18). Tat-
sächlich bleibt die Reaktion, wie die anderen Stellreaktionen
auch, als nicht sichtbare basale Funktion der Körperkontrol-
le lebenslang erhalten, wie sich im Erwachsenenalter z.B. mit-
tels Einbeinstand bei gleichzeitiger Kopfrotation oder mit
dem isometrischen Beinabduktionstest demonstrieren lässt
(7 Kap. 10.1.4, Kopfschmerzen).

> Wichtig
Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeit hat die blockierungs-
bedingte stereotype Kopfhaltung beim TAS eine ein-
seitige muskuläre Tonusverteilung mit skoliotischer
Rumpfausbiegung zur Folge.

Dieses Bild der Säuglingsskoliose, das beim Säugling mit TAS


in den ersten beiden Trimena mitunter recht eindrucksvoll
ist, kann sich aus den genannten Gründen im Laufe der fol-
genden Monate – auch ohne Behandlung – abmildern oder
scheinbar verschwinden, womit die Vorstellung von der guten a
Prognose und der spontanen Heilungstendenz der Säug-
lingsskoliose betätigt wäre. Jedoch wird die Prüfung statoki-
netischer Reaktionen und die Beurteilung des Entwicklungs-
standes von Körperkontrolle und Handgeschick zeigen, dass
die segmentalen Blockierungen weiterhin die propriozeptive
Informationsverarbeitung beeinträchtigen, erkennbar an sei-
tendifferenten, abnormalen Bewegungsantworten bei plötz-
licher räumlicher Lageänderung des Körpers, an unphysiolo-
gischen spontanen Bewegungsmustern und am Rückstand in
der neuromotorischen Entwicklung.

6.1.7 Verrechnungsfehler und


Labyrinthstellreaktion

Im Erklärungsmodell der Blockierung (. Abb. 5.1) gelangen


aus den nozizeptiv besetzten Spindelrezeptoren des betrof-
fenen Segments inadäquate propriozeptive Signale nach zen-
tral. Die im Gehirn ablaufende »mathematische Operation«
(Hassenstein 1977) zur Steuerung der Körperkontrolle stützt
sich sozusagen auf falsche Daten, mit der Folge eines abnor-
malen motorischen Ergebnisses. b

k Test: Frontale Labyrinthstellreaktion . Abb. 6.7 a, b 3 Monate altes Mädchen. a Abnormale LSR nach
Mit einem einfachen Test lässt sich dies überprüfen: Wird das links mit seitlichem Wegkippen von Kopf und Rumpf. b Bei der LSR
nach rechts kein Abkippen des Rumpfes, Aufrichtung jedoch unvoll-
exakt am Becken gehaltene Kind (mit dem Rücken zum Unter-
ständig, Schulterkulisse nicht horizontal
sucher!) in einer langsamen Bewegung zur Seite gekippt, so
bringt es ab dem 3. bis 4. Lebensmonat durch eine kompen-
satorische Biegung des Rumpfes den Kopf in die orthograde, > Wichtig
vertikale Position, so dass Mund und Augenachsen horizon- Bei segmentaler Dysfunktion der Kopfgelenke kippen
tal stehen (. Abb. 4.15 a, b). Kopf und Rumpf bei Prüfen der LSR zu einer Seite ab, in
Dieser Test wird Seitkippreaktion oder frontale Laby- der Regel zur Gegenseite der Dysfunktion: Kopfgelenks-
rinthstellreaktion (LSR) genannt und ist ein Beispiel für die blockierung rechts, Abkippung nach links und umge-
gemeinsame Datenverrechnung aus Labyrinth und Nacken- kehrt (. Abb. 6.7).
rezeptoren zur Steuerung der räumlichen Körperkontrolle
(Coenen 1992, 1996, 2004). Dieser Test wird häufig mit der Vojta-Reaktion verwech-
selt oder als modifizierter Vojta-Reflex bezeichnet. Beides ist
72 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

falsch und hätte den energischen Widerspruch von Vojta her-


1 vorgerufen. Die LSR ist, wie der Name schon sagt, eine Stell-
reaktion. Sie hat die Stellung des Kopfes im Raum und die sich
2 daraus ergebende Rumpfstellung zum Inhalt. Um die Korre-
spondenz zwischen Nackenrezeptoren und Labyrinth sicht-
bar zu machen, muss die Seitkippbewegung entsprechend
3 langsam durchgeführt werden. Auch darf das Kind nicht am
Rumpf, sondern muss streng am Becken gehalten werden.
4 Die Vojta-Reaktion hingegen ist als statokinetische Reak-
tion zu werten (Schmitt 1983, 1985, 1995) (7 Kap. 2.2, Neuro-
physiologische Aspekte der Bewegungsentwicklung), bei der
5 eine rasche räumliche Lageänderung des am Rumpf gehal-
tenen Kindes durchgeführt wird und zu einer typischen, vom
6 sensomotorischen Entwicklungszustand abhängigen Bewe-
gungsantwort von Kopf, Rumpf und Extremitäten führt.

7 ! LSR und Vojta-Reaktion sind in Ausführung und Aussage


grundverschieden (Coenen 2004)!
8 Die LSR ist nicht spezifisch für die Kopfgelenke oder die
Halswirbelsäule, sondern kann auch bei primären Funktions-
9 störungen an anderen Wirbelsäulensegmenten bis hin zum
ISG pathologisch ausfallen (Coenen 1996, 2004). Zwar gibt
es keinen direkt geschalteten Reflexbogen vom ISG nach zen-
10 tral, doch lässt sich dieses Phänomen, nämlich die Normali-
sierung einer zuvor asymmetrischen LSR durch ISG-Mani-
11 pulation, gut durch die sensorische Aktivität der autochtho-
nen Rückenmuskeln erklären (7 Kap. 4.2, Propriozeption und
autochthone Rückenmuskeln). Vor allem der in der Lum-
12 bosakralregion besonders ausgeprägt entwickelte M. multi-
fidus bietet »in Zusammenarbeit mit den Gelenk-, Bänder-
13 und Sehnenrezeptoren ein dichtes Rezeptorenmuster, über . Abb. 6.8 4½-monatiger Säugling mit TAS. In Bauchlage keine
das gebündelte Informationen schnell zum Zerebellum und Kopfaufrichtung, kein Unterarmstütz. Okzipitaler Haarabrieb, Schädel-
zum Großhirn gelangen können« (Flöel 1998). Von dort wer- saymmetrie
14 den die bekannten Reflexschaltungen zum Hirnstamm und
Rückenmark genutzt. Auf das Vorkommen dicker, markhal-
15 tiger und vorwiegend propriozeptiv agierender Axone im
ISG-Bandapparat wurde in 7 Kap. 4.4 hingewiesen.
16
6.1.8 Segmentale Dysfunktion
17 der Wirbelsäule:
Entwicklungsneurologischer
Störfaktor
18
Es wurde darauf hingewiesen, dass die meisten Säuglinge mit
19 TAS die Rückenlage bevorzugen und die Bauchlage ableh- . Abb. 6.9 6-monatiger Junge mit TAS. Fehlende Kopfkontrol-
nen. Offensichtlich ist die blockierungsbedingte Schonhal- le und fehlender Unterarmstütz in Bauchlage. Dies entspricht in die-
tung für das Kind in Rückenlage angenehmer als in Bauch- ser Körperposition einem Entwicklungsrückstand von mehr als 3 Mo-
20 lage. Ein gesunder Säugling kann etwa ab dem 3. Lebensmo- naten
nat aus der Bauchlage in den Unterarmstütz gehen und den
Kopf orthograd anheben, wozu er die autochthone Rücken-
muskulatur, namentlich die Nackenextensoren bis zur mitt- sprechender Beeinträchtigung der Propriozeption, vermut-
leren BWS aktiviert. lich verbunden mit Schmerzen. Unterarmstütz und Anhe-
Wird hingegen ein Säugling mit TAS auf den Bauch ben des Kopfes sind nicht möglich, das Kind versucht sich in
gelegt, kommt es über die reflektorische Tonussteigerung der ein Schonmuster zu begeben und gibt durch Schreien zu ver-
autochthonen Rückenmuskulatur zur einer nozizeptiven Rei- stehen, dass es in eine andere Lage gebracht werden möchte
zanflutung aus den dysfunktionellen Segmenten mit ent- (. Abb. 6.8, 6.9).
6.1 · Der »schiefe Säugling
73 6
> Wichtig . Abb. 6.10
Schädeldeformität
In der Bauchlage offenbart sich die periphere segmen-
bei TAS: Abflachung
tale Dysfunktion der Wirbelsäule als entwicklungsneuro-
der linksseitigen Ok-
logischer Störfaktor, ohne dass zerebrale Strukturen ge-
ziputkontur, Vorwöl-
schädigt sind. bung des linken Os
temporale und leich-
ter frontaler Vor-
6.1.9 Schädelasymmetrie schub links

Ein kennzeichnendes Merkmal des TAS ist die rautenför-


mige Schädelasymmetrie, die in unterschiedlicher Ausprä-
gung auftreten kann: Typisch ist die Abflachung des Okziputs
und der mehr oder weniger deutlicheVorschub des gleichsei-
tigen Stirnbeins auf der Seite, zu der das Kind den Kopf dreht
(. Abb. 6.10). Entsprechend der häufigen TAS-typischen
Kopfhaltung (Rotation zur einen Seite, Seitneige zur Gegen-
seite) besteht gleichzeitig eine mehr oder weniger ausgeprägte
Gesichtsskoliose mit Konvexität zur Rotationsseite, die sich
in der Konvexität des Rumpfes fortsetzt. Das Muster dieser
Schädelasymmetrie lässt sich aus der Einwirkung der Schwer-
kraft auf die plastisch noch sehr verformbaren Schädelstruk-
turen des Säuglings mit den weit offenen Schädelnähten und
den papierdünnen Knochenanlagen ableiten; die ungleiche
Tonusverteilung der an oberer Halswirbelsäule und Kopf
ansetzenden autochthonen Muskulatur könnte dabei aber
ebenfalls eine Rolle spielen. Dieses Bild des Schädel-Par-
allelogramms ist so charakteristisch für das TAS, dass jede
Abweichung von diesem Muster auf eine andere Ursache ver-
dächtig ist. Vor allem ist an eine Kraniosynostose zu denken,
die prognostisch anders einzuschätzen ist und auch andere
therapeutische Konsequenzen hat.

6.1.10 Pathogenetische Überlegungen

Die Entstehungsweise des TAS ist noch nicht eindeutig


geklärt; verschiedene Hypothesen stehen zur Diskussion:
4 Zwangshaltung im Uterus,
4 geburtstraumatische Schäden,
4 sog. Lagerungsfehler und
4 evt. genetische Disposition. . Abb. 6.11 Sonogramm eines 5 Monate alten Fetus. Das Kind
zeigte bei Geburt eine rautenförmige Schädeldeformität und entwi-
Routinemäßige Sonographien während der Schwangerschaft ckelte eine TAS-Symptomatik. Nach Aussage der Mutter verharrte das
lassen mitunter erkennen, dass der Fetus gegen Ende der Tra- Kind seit dem 5. Schwangerschaftsmonat in der dargestellten Position
gezeit, mitunter auch schon früher, in unveränderter Position
verharrt und das Köpfchen »im Becken eingeklemmt ist«, wie
es die Mütter oft formulieren. Diese Fälle sind aber nicht häu- Schädelknochen nicht »in ihrer normalen Position« befin-
fig genug, um als regelhafte Ursache des TAS verdächtigt zu den. Sie beschreibt ferner ähnliche Symptome, wie sie oben
werden (. Abb. 6.11). unter Verhaltensauffälligkeiten aufgeführt sind und berich-
tet über gute Erfolge nach osteopathischer Behandlung. Es
k Hypothesen für die Entstehung eines TAS ist allerdings schwer vorstellbar, dass 88% der Neugebore-
Großen Zuspruch findet bei Ärzten und Physiotherapeuten nen auch tatsächlich behandlungsbedürftig sind. Die Anga-
hingegen die geburtstraumatische Hypothese, nicht zuletzt ben Frymanns über die Häufigkeit der Cranial faults liegen
aufgrund der Publikationen von Viola Frymann, die vom in der gleichen Größenordnung wie die von Ginsburg et al.
»Trauma der Geburt« spricht. Frymann (1976) untersuchte (1984) über die Kopfwendepräferenz und die von Buchmann
1200 Neugeborene auf krankhafte Veränderungen des Schä- und Bülow (1983) beschriebenen physiologischen Haltung-
dels und stellte bei 88% der Kinder ein Cranial fault fest, was sasymmetrien (s.o.). Vermutlich handelt es sich bei diesen
im osteopathischen Sprachgebrauch bedeutet, das sich die Befunden um einen Zustand, der bei Neugeborenen zunächst
74 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

als normal angesehen werden kann, primär keinen patholo- 6.1.11 Problemlösung Sectio?
1 gischen Wert besitzt und in aller Regel von alleine verschwin-
det dank der Selbstheilungskräfte, die im Laufe der Evolu- Dass Schwangerschaft und Geburt mit einem Risiko für Mut-
2 tion erworben wurden und dazu beitragen, das Überleben
der Spezies »Mensch« zu sichern. Die Quote der tatsächlich
ter und Kind verbunden sind, ist unbestritten. Nicht nur die
hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit früherer Zeiten, als
behandlungsbedürftigen Neugeborenen, bei denen aufgrund man von Sterilität und Asepsis noch nichts wusste, legt davon
3 des klinischen Bildes mit eindeutigem manualmedizinischen Zeugnis ab. Auch heute ist eine Geburt durch eine Vielzahl
und neuromotorischen Befund sowie vegetativen Symptomen möglicher Komplikationen immer noch risikobehaftet. Frag-
4 eine spontane Besserung nicht zu erwarten ist, dürfte erheb-
lich niedriger liegen.
lich ist allerdings, ob schon die normale Geburt bei kunst-
gerecht durchgeführter Geburtshilfe immer und in jedem
Ganz anders sieht das Kurrek (1987). Er hält den Geburts- Fall als pathologischer Vorgang und als Schadensereignis für
5 vorgang sogar für eine »evolutionsbedingte Pathologie«. Jedes das Kind betrachtet werden muss. Die Menschheitsgeschich-
intrauterin gesunde, ausgetragene Kind, so Kurrek, sei durch te und die drohende Übervölkerung der Erde sprechen eher
6 den normalen Geburtsvorgang dem Risiko eines »gedeckten dagegen.
Schädel-Hirn-Traumas« ausgesetzt. Viel zu wenig werde die Um die »Gefahrenzone des natürlichen Geburtsmecha-
Ausbildung des sog. Geburtsknies berücksichtigt, wenn der nismus« zu umgehen, empfiehlt Kurrek (1987) die geplante
7 Kopf auf dem Beckenboden angelangt ist, um dann unter Schnittentbindung. Damit könne unfassbares Leid verhin-
ernormen Presswehen herausgedrückt zu werden. Hierbei dert und die neonatale Sterblichkeit gesenkt werden. Nach
werde der Atlas »bis zur Luxation gegen die Schädelbasis bei allgemeiner Ansicht ist die Sectio für Mutter und Kind scho-
8 gleichzeitiger Abschnürung der A. vertebralis verdreht«. Die nender als die normale Geburt. Offenbar wird aber die Ent-
Druckbelastung des kindlichen Köpfchens durch jede Wehe stehung eines TAS durch die Schnittentbindung nicht verhin-
9 betrage 5–10 kg, potenziert durch den Kristeller-Handgriff. dert. Vielmehr beträgt nach eigenen Erhebungen der Anteil
Das Resultat seien Quetschungen ganzer Nervenzellgruppen, der TAS-Kinder, die durch Sectio entbunden wurden, annä-
irreversible Durchblutungsstörungen und ausgedehnte sub- hernd 40%, und es scheint, als sei die Tendenz in den letzten
10 durale und intraventrikuläre Hämatome. Daraus ergebe sich Jahren steigend.
ein Kausalzusammenhang mit einem »ganzen Spektrum ner- Drei Viertel der TAS-Kinder weisen Auffälligkeiten in
11 valer Symptomenkomplexe«, zu dem unter anderem auch der der prä- und perinatalen Anamnese auf. Dazu zählen:
plötzliche Kindstod (SIDS) und die frühkindlichen Hirnschä- 4 Schwangerschaftsdiabetes,
den gezählt werden. 4 Gestose,
12 Auch Ratner (1990) geht davon aus, dass der Geburts- 4 Pyelonephritis,
vorgang aus mechanischen Gründen eine große Belastung 4 vorzeitige Wehen,
13 für das Kind darstellt, und dass Schäden schon bei physi- 4 Blutungen,
ologischen Geburten drohen. Hierbei sei das Nervensy- 4 Plazentainsuffizienz,
stem besonders häufig betroffen, sowohl aufgrund zere- 4 Wehenschwäche,
14 braler Hämorrhagien als auch durch Geburtsverletzungen 4 prolongierter Geburtsverlauf,
der Halswirbelsäule. Dabei kommt es nach Ratner infol- 4 Nabelschnurumschlingung,
15 ge ischämischer Veränderungen zu sekundären Spätfolgen, 4 passagere Asphyxie usw.
zu denen neben der Amyotrophie des Schultergürtels, vas-
kulären Kopfschmerzen, einem myatonischen Syndrom und Eine Sectioanamnese ist mit 40% häufiger als die Vakuumex-
16 transitorischen Störungen des Hirnblutkreislaufes auch noch traktion mit 24%; Zangengeburten rangieren mit 5% weit hin-
die neurogene Kurzsichtigkeit, die Hüftluxation und skolio- ten. Auch Gesichts- und Stirnlagen (»Sterngucker«) kommen
17 tische Deformitäten der Wirbelsäule gezählt werden. Ratner nicht so oft vor, wie man bei der Annahme einer stets mecha-
ist der Ansicht, dass die meisten geburtstraumatischen Schä- nisch bedingten Ursache des TAS vermuten sollte. Auffallend
digungen auf der zervikalen Ebene kaum beachtet werden ist allerdings, dass bei über 70% der Kinder eine abnormale
18 und der Pathologe die Nervenschädigungen deswegen nicht APGAR-Benotung dokumentiert ist, mit leichten bis mittel-
findet, weil er nicht danach sucht, wenn das Kind »an einer schweren Abweichungen von der Norm. Die Angaben über
19 anderen Ursache« verstorben ist. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sind annä-
Auch Iliaeva, Weiers und Graf-Baumann (2002) weisen hernd gleich häufig, so dass die geburtstraumatische Hypo-
auf die Bedeutung pathogenetischer Faktoren während der these als alleinige ursächliche Erklärung zu überdenken ist.
20 Geburt hin, wie Kompression des Kopfes und der Halswir- Als postnatale Ursache des TAS wird oft ein sog. Lage-
belsäule sowie gewaltsame longitudinale Traktion der Wir- rungsfehler angenommen. Möglicherweise wird aber die
belsäule. Mit bildgebenden Verfahren ließen sich bei Kom- Ursache mit der Wirkung verwechselt, denn keine Mutter
plikationen in der Neugeborenenperiode oft Rückenmarks- wird einen gesunden Säugling von sich aus nur auf eine Sei-
läsionen, meningeale und ligamentäre Verletzungen mit te legen. Vielmehr wird eine Wirbelsäulenblockierung den
Symptomen nachweisen, die dem Bild der infantilen Zere- Säugling veranlassen, sich die ihm genehme Lage zu suchen,
bralparese gleichkämen. und sich gegen eine erzwungene Änderung so lautstark zu
wehren, dass kaum eine Mutter widerstehen wird.
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
75 6
Die Vermutung einer genetischen Disposition als Mitver- mental-spinalen Reflexebene einschließlich der vertikalen
ursacher des TAS stützt sich auf die Beobachtung, dass anato- zentralnervösen Verschaltungen verstanden (7 Kap. 5.1, Neu-
mische Varianten des zervikookzipitalen Übergangs familiär rophysiologisches Denkmodell).
gehäuft auftreten und die Entstehung segmentaler Dysfunk-
tionen begünstigen können. Das scheint weitaus häufiger der
Fall zu sein als bisher angenommen wurde. Valide Daten dazu 6.2.1 Beurteilung der Kopf- und
fehlen jedoch. Körperhaltung in Rücken- und
Bauchlage
Fazit
Eine einheitliche Ursache des TAS konnte bisher nicht über- In Bauch- wie in Rückenlage werden beurteilt:
zeugend ermittelt werden. Vieles spricht dafür, dass pränatale 4 Kopf- und Rumpfhaltung,
Erkrankungen und geburtstraumatische Ereignisse ursächlich 4 Gesichts- und Schädelform,
bedeutsam sind, in verschiedenen Fällen aber auch genetische 4 Haltung und Stellung der Extremitäten,
Faktoren eine Rolle spielen. 4 Blickwenderichtung,
4 Atembewegung des Abdomens,
4 Augenstellung (Strabismus),
6.2 Manualmedizinische und 4 Mundstellung (Fazialis) usw.
neurologische Standarddiagnostik
Als pathologische Befunde können z.B. dokumentiert wer-
Die Mehrdeutigkeit der klinischen Zeichen eines TAS erfor- den:
dert ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen. Ein aus 4 Einseitige Rotation und Neigehaltung des Kopfes,
10 einzelnen Untersuchungsschritten bestehendes Konzept 4 fehlende oder unzureichende Kopfaufrichtung und
wird seit Langem in den von der Ärztegesellschaft für Manu- Stützreaktion aus der Bauchlage,
elle Kinderbehandlung und Atlastherapie (ÄMKA e.V.) veran- 4 Rumpfskoliose,
stalteten Fortbildungskursen für Manuelle Medizin bei Kin- 4 eingeschlagener Daumen,
dern gelehrt und hat sich in der vorliegenden didaktischen 4 vermehrtes Fausten,
Gliederung bewährt (Coenen 1992, 1996b). Dieses nach sei- 4 Asymmetrie der Hüftkonturen,
nem Entstehungsort Villinger Schema genannte Untersu- 4 asymmetrische Haltung der Beine und Füße,
chungsprogramm (Coenen 2004), dargestellt in 7 Über- 4 Hinweise auf persistierende Primitivreflexe,
sicht 6.3, ermöglicht eine Klassifikation und prognostische 4 symmetrische oder asymmetrische Störung des Muskel-
Einschätzung des Krankheitsbildes und erlaubt die unmittel- tonus.
bare Umsetzung in therapeutisches Handeln.
Bei der Beurteilung müssen physiologische Varianten von
pathologischen Befunden unterschieden werden: Jun-
Übersicht 6.3 Untersuchungsprogramm bei ge Säuglinge weisen bei passiver oder aktiver Rotation des
Säuglingen: Villinger Schema Kopfes häufig die sog. Fechterhaltung auf, mit Streckung der
1. Beurteilung der Kopf- und Körperhaltung in Rücken- gesichtsseitigen und Beugung der hinterhauptseitigen Extre-
und Bauchlage mitäten. Es handelt sich hierbei nicht, wie allgemein ange-
2. Orthopädischer Status nommen, um den sog. asymmetrischen tonischen Nackenre-
3. Frühkindliche Reaktionen (1.–8. Woche), ggf. Beurtei- flex (ATNR), weil die Fechterhaltung nicht tonisch fixiert ist,
lung der General Movements bis zur 56./58. Woche im Gegensatz zu Kindern mit ausgeprägten zerebralen Bewe-
4. Labyrinthstellreaktion (LSR), Halsstellreaktion (HSR), gungsstörungen, die in einem tonischen Muster verharren.
Seitneigetest (SNT)
5. Manualmedizinische Exploration der sensorischen > Wichtig
Schlüsselregionen Die physiologische Fechterhaltung verliert sich gegen
6. Myofasziale (ostheopatische) Diagnostik von Kopf, Ende der 8.–10. Woche, kann aber auch unter norma-
Rumpf und Extremitäten len Bedingungen als sporadisches Hintergrundsmus-
7. Neurologische Untersuchung ter noch bis zum 4./5. Monat beobachtet werden. Persis-
8. Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta tiert die Fechterhaltung als kopfwendeabhängiges Mus-
9. Bestimmung des Entwicklungsalters im Vergleich zum ter über längere Zeit, ist dies ein Hinweis auf sensomoto-
chronologischen Alter (Körperkontrolle, Handmotorik) rische Reifungsverzögerung ohne Beweis für eine zereb-
10. Röntgenuntersuchung des zervikookzipitalen Über- rale Ursache.
gangs

Die einzelnen Untersuchungsschritte werden im Folgenden


eingehend erläutert. Dabei wird der Begriff Blockierung im
Sinne einer Steuerungsstörung des Regelsystems auf der seg-
76 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

6.2.2 Orthopädischer Status k Phasen der General Movements


1 Die autonomen Massenbewegungen des Säuglings (Gene-
Gefahndet wird nach Achsenfehlstellungen der Wirbelsäu- ral Movements) sind höchstens bis zu 4½ Monaten nach
2 le oder Fehlbildungen an Kopf, Rumpf und Extremitäten.
Die Mobilität der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte und
der Geburt diagnostisch zu verwerten. Danach werden die-
se Primitivbewegungen zunehmend von selektiven und ziel-
der Extremitäten wird untersucht, der Muskeltonus geprüft. motorischen Mustern abgelöst und sind nicht mehr beur-
3 Gesucht wird nach muskulären Kontrakturen (Sternokleido- teilbar. Die einzelnen Phasen und die Beurteilungskriterien
mastoideus, Hüftadduktoren, Knieflexoren usw.), Formfeh- der General Movements sind in 7 Kapitel 3.4 beschrieben. Sie
4 lern des Skelettsystems und krankhaften Veränderungen an
den Gelenken:
seien hier kurz wiederholt:
4 Frühgeborenenphase (»preterm general movements«):
4 Schädel: Form, Asymmetrie evt. einseitig, rautenförmig, 36.–38. Woche post menstruationem.
5 V.a. Kraniosynostose. 4 Räkelphase (»writhing age«): etwa ab Geburt bis
4 Gesichtsdeformität: Dysmorphie, Gesichtsskoliose. 8. Lebenswoche (2. Monat).
4 Kongenitaler muskulärer Schiefhals. 4 Zappelphase (»fidgety age«): etwa 3.–4½. Lebensmonat.
6 4 Schulterkulisse: Symmetrisch, asymmetrisch, V.a. Fehl-
bildung. Die Beurteilungsskala für die General Movements umfasst
7 4 Obere Extremitäten: Seitengleich ausgebildet, Gelenkbe- vier Kategorien:
weglichkeit, Fehl- oder Missbildungen, Bewegungs-/Hal- 4 normal,
tungsasymmetrien, Paresen, Fausten. 4 suboptimal,
8 4 Wirbelsäule: Passive Beweglichkeit, Rippenbuckel, Tho- 4 auffällig,
raxdeformität, V.a. Fehlbildung. 4 eindeutig abnormal.
9 4 Becken: Form und Stellung: Schräglagebecken, Asym-
metrie. Für die Einschätzung der sensomotorischen Situation sind
4 Hüftgelenke: Passive und spontane Beweglichkeit, Sono- die Bewegungsmuster des Zappelalters im 3.–4½. Lebens-
10 graphiebefund! monat besonders aussagefähig. Ein Kind, dessen generali-
4 Untere Extremitäten: Gelenkbeweglichkeit, Beinlän- sierte Motorik in diesem Alter eindeutig abnormal ist, entwi-
11 gendifferenz, Fehl-/Missbildungen, Fußfehlhaltungen ckelt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine zerebrale Bewe-
wie Hackenfüße, »windschiefe Fußhaltung« mit Vorfuß- gungsstörung.
adduktion auf der einen und Vorfußabduktion auf der
12 anderen Seite, hypermobiler Knickfuß u.Ä. > Wichtig
TAS-Kinder zeigen nach eigenen Untersuchungen am
13 Tipp häufigsten ein auffälliges Bewegungsmuster, selten ein
suboptimales und nie ein normales oder eindeutig ab-
Bei Säuglingen mit TAS findet man nicht selten eine normales Muster.
14 Gleitstörung der Patella sowie ein Bewegungsdefizit
im Ellenbogen- oder Kniegelenk, überwiegend auf der k Untersuchung der General Movements
15 Konkavseite der Rumpfskoliose. Bei der Videodokumentation der GM sind bestimmte Unter-
suchungsbedingungen zu beachten, um einen verwertbaren
Befund zu erhalten:
16 4 Das Kind liegt auf dem Rücken auf einer weichen Decke,
6.2.3 Frühkindliche Reaktionen und General nur mit Windel oder Body bekleidet.
17 Movements 4 Es muss ruhig und wach sein! Ein schlafendes Kind
zeigt keine autonomen generalisierten Bewegungen,
In 7 Kapitel 3.2 wurde das motorische Verhalten junger Säug- und Schreien macht die Beurteilung der GM unmöglich.
18 linge auf Fremdberührung und Änderung der Körperlage Eine günstige Zeit ist 2–3 Stunden nach der Mahlzeit.
eingehend erläutert. Diese frühkindlichen Reaktionen sind 4 Auf ausgeglichene Temperatur ist zu achten, das Kind
19 beim gesunden Säugling in den ersten Lebenswochen auslös- muss sich wohlfühlen.
bar, wobei die physiologische Waltezeit je nach Reaktion zwi- 4 Die Kamera (Stativ) wird am Fußende des Kindes positi-
schen vier, sechs und acht Wochen liegt. oniert. Totalaufnahme: Köpfchen oben, Füßchen unten.
20 Keine seitliche Aufnahme. Alle Bewegungen müssen
> Wichtig erfasst werden. Dauer der Filmaufnahme mindestens
Ein Persistieren der frühkindlichen Reaktionen weit über 10 Minuten!
den 3. Lebensmonat hinaus ist ebenso auffällig wie das 4 Ablenkendes Spielzeug ist zu entfernen, mit dem Kind
Fehlen der Reaktionen oder ein Auslösen mit verlänger- soll während der Aufnahme nicht gesprochen oder
ter Latenzzeit. geschäkert werden. Anwesende Personen sollen sich im
Hintergrund aufhalten.
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
77 6
Die Videodokumentation der GM unter Praxisbedingungen Untersucher zugewandt. Beurteilt wird ab dem 3. Lebens-
kann aus zeitlichen, räumlichen und personellen Gründen monat die Aufrichtung des Rumpfes und die Einstellung des
auf Schwierigkeiten stoßen. Um auf diese sehr wertvolle und Kopfes im Raum:
aussagekräftige Untersuchung nicht verzichten zu müssen, 4 Normal ist eine lotrechte Einstellung des Kopfes mit
hat es sich bewährt, die Videoaufnahme mit entsprechender horizontaler Mundstellung und harmonischer Aus-
Anleitung für die Untersuchung an die Eltern zur häuslichen gleichskonvexität des Rumpfes zur jeweiligen Kippseite.
Durchführung zu delegieren. Die Beurteilung kann dann 4 Abnormal ist das einseitige oder doppelseitige Abkippen
durch den Arzt außerhalb des Praxisbetriebs erfolgen. des Rumpfes spätestens ab dem 4. Lebensmonat.
Allerdings ist die Bewertung der General Movements Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese Reakti-
etwas anspruchsvoller als die Videodokumentation. Es bedarf on nicht spezifisch ist für die Kopfgelenke oder die Halswir-
einer entsprechenden Ausbildung und intensiven Übungs- belsäule, sondern auch bei primären Funktionsstörungen an
phase, um zu einer sicheren Diagnose zu kommen. Ohne anderen Wirbelsäulensegmenten bis hin zum ISG patholo-
Zweifel stellt diese Methode aber einen wichtigen Fortschritt gisch ausfallen kann.
bei der Früherkennung zerebraler Bewegungsstörungen dar.
> Wichtig
Eine abnormale LSR jenseits des 3./spätestens 4. Monats
6.2.4 Labyrinthstellreaktion, ist immer ein Hinweis auf eine markante Pathologie im
Halsstellreaktion und Seitneigetest sensorischen Apparat der autochthonen Muskulatur.

Diese drei Reaktionen (7 Abschn. 6.1.5, Dysfunktion der Bei älteren, vorbehandelten Säuglingen mit TAS kann es
Kopfgelenke, und 7 Abschn. 6.1.7, Verrechnungsfehler und vorkommen, dass die LSR normal erscheint, weil der Rumpf
Labyrinthstellreaktion) sind bei jeder Säuglingsuntersuchung nicht zur Seite abkippt. Man findet aber in diesen Fällen eine
obligatorisch. Seitendifferenz in der Kopf-Rumpf-Stabilisierung bei der
Seitkippbewegung als Hinweis auf eine noch bestehende dys-
k Labyrinthstellreaktion (LSR) (. Abb. 6.12) funktionelle Situation.
Der senkrecht, exakt am Becken gehaltene Säugling wird in
einer langsamen Bewegung zur rechten und anschließend Tipp
zur linken Seite gekippt. Der Rücken des Kindes ist dem
Es sei daran erinnert, dass es sich bei der LSR um eine
eigenständige Reaktion handelt, die sich in Durchfüh-
rung und Beurteilung eindeutig von der Vojta-Reaktion
unterscheidet.

k Halsstellreaktion (HSR) (. Abb. 6.13)


Der Kopf des auf dem Rücken liegenden Säuglings wird lang-
sam passiv zur einen, dann zur anderen Seite rotiert:
4 Bei jungen Säuglingen in den ersten 4–6 Wochen kann es
zu einer en-bloc-Rotation des ganzen Körpers bei pas-
siver Drehung des Kopfes kommen, die auch seitendif-
ferent sein kann, als singuläres Zeichen jedoch nicht
pathologisch zu werten ist.
4 Ab dem 3. Lebensmonat sollte die passive Rotation des
Kopfes zu beiden Seiten ohne Mitbewegen des Körpers
normalerweise möglich sein; gestattet ist eine leichte
Rumpfkonvexität zur Gesichtseite.
4 Abnormal ist eine einseitige oder auch doppelseitige
Mitrotation des Rumpfes.
4 Bei älteren Säuglingen besteht die abnormale Antwort
bei Rotation in Richtung der Blockierungsbarriere viel-
fach in einer Extension des Rumpfes mit Schulterretrak-
tion, Abduktion der Arme sowie Streckung, Adduktion
und Innenrotation der Beine, oft mit Spitzfußhaltung.

. Abb. 6.12 Korrekte Durchführung der Labyrinthstellreaktion. Das Dieser Kopfrotationstest wird zuerst in Mittelstellung der
Kind wird mit dem Rücken zum Untersucher am Becken gefasst und Halswirbelsäule, dann in maximaler Flexion und Reklination
in einer langsamen Bewegung zur rechten und linken Seite gekippt. der HWS durchgeführt. Dadurch ist die annähernde Höhen-
Das Bild zeigt eine abnormale LSR nach rechts bestimmung einer segmentalen Dysfunktion möglich:
78 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

4 In Flexion werden die Segmente C0–C3 geprüft,


1 4 in Neutralstellung die gesamte HWS und
4 in Reklination, bei verriegelten Kopfgelenken, die Seg-
2 mente der unteren HWS und des zervikodorsalen Über-
gangs.

3 Diese Untersuchung dient also sowohl der Beweglichkeits-


prüfung der Halswirbelsäule als auch der Beurteilung der von
4 den Nackenrezeptoren induzierten Bewegungsantwort des
Körpers.

5 > Wichtig
Eine einseitig abnormale Halsstellreaktion spricht für ei-
6 ne segmentale Dysfunktion, eine doppelseitig positive
Reaktion verbunden mit einschießender Erhöhung des
Muskeltonus deutet eher auf eine zentrale Störung hin.
7
k Seitneigetest (SNT)
Wie bei der vorigen Reaktion wird beim Seitneigetest des
8 Kopfes sowohl die Beweglichkeit der Halswirbelsäule als auch
die Bewegungsantwort von Rumpf und Extremitäten beur-
9 teilt (. Abb. 6.4 a, b):
4 Physiologisch ist bei passiver Seitneige des Kopfes eine
a leichte Rumpfkonvexität zur Gegenseite bei lockerer
10 Extremitätenhaltung.
4 Abnormal ist neben der eingeschränkten Seitneigebewe-
11 gung ein ausweichendes Mitdrehen des Rumpfes um die
sagittale (supraumbilikale) Achse.
12 > Wichtig
Die Einschränkung des passiven Seitnickens weist auf
13 eine Blockierung von Atlas gegen Axis hin.

Tipp
14
Die folgenden drei Tests bieten als orientierende Unter-
15 suchung ein hohes Maß an Information bei geringstem
Zeitaufwand:
4 die Labyrinthstellreaktion (LSR),
16 4 die Halsstellreaktion (HSR) und
4 der Seitneigetest (SNT).
17
18 6.2.5 Manualmedizinische Exploration der
sensorischen Schlüsselregionen
19
b Die anatomischen und neurophysiologischen Merkmale der
sensorischen Schlüsselregionen wurden in den 7 Kapiteln 4.3–
20 . Abb. 6.13 a, b Prüfen des HSR in Flexion des Kopfes bei 6-mona- 4.5 beschrieben. Die Untersuchung dieser Zonen im Säug-
tigem Säugling. a Regelrechte Reaktion bei Kopfdrehung nach rechts. lingsalter orientiert sich an den Grundsätzen und Techniken
b Abnormale Reaktion bei Kopfdrehung nach links mit Abduktion der der Chirodiagnostik, weicht aber in der Vorgehensweise in
Arme, Streckung und Adduktion der Beine. Eine Rumpfextension wird einigen Punkten von der herkömmlichen manuellen Unter-
hier durch die Kopfflexion verhindert suchungsmethode ab, da die körperliche Beschaffenheit eines
Säuglings nicht mit der eines älteren Kindes oder Erwach-
senen vergleichbar ist. Hinzu kommt, dass viele Säuglinge
ihre Abneigung gegen die manualmedizinische Diagnos-
tik unverhohlen zum Ausdruck bringen und es an der wün-
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
79 6
schenswerten Kooperation fehlen lassen. Die exakte Beweg- Dies gelingt meist erst nach der Aufrichtung des Köpers
lichkeitsprüfung eines Wirbelsäulensegments ist daher nicht zum zweibeinigen Stand.
immer einfach und oft gar nicht möglich. Aus diesem Grun-
de empfiehlt sich beim Säugling die Untersuchung nozireak- j Palpation
tiver Gewebeveränderungen im Sinne einer Irritationspunkt- Genauer ist die Palpation der paravertebralen Irritations-
diagnostik, der sich auch ein widerspenstiger Säugling nur punkte in der Rinne zwischen M. semispinalis capitis und
schwer entziehen kann. M. splenius capitis (. Abb. 6.15). Zur Bestimmung der Seg-
menthöhe wird der Dornfortsatz des Axis aufgesucht, der
k Kopfgelenke (. Abb. 6.14, 6.15) beim Säugling allerdings noch nicht die komfortable Größe
j Beweglichkeitsprüfung hat wie beim Klein- oder Schulkind. Vom Dornfortsatz glei-
Zur Untersuchung des oberen Kopfgelenks liegt das Kind tet der palpierende Finger seitwärts bis zur Rinne zwischen
auf dem Rücken, den Hinterkopf in eine Hand des Untersu- Semispinalis capitis und Splenius capitis und sucht nach
chers gebettet (. Abb. 6.14). Die andere Hand des Untersu- nozireaktiver Gewebeveränderung, die in der tiefen auto-
chers liegt auf Scheitel- und Stirnbein und führt eine sachte chthonen Muskulatur gefunden wird. In Höhe von C2 wird es
Nutationsbewegung des Köpfchens aus: sich dabei um den M. obliquus capitis inferior handeln, des-
4 Normal ist ein weiches Federn. sen Nozireaktion bei passiver Seitneige in die freie Richtung
4 Bei Blockierung ist die Federung aufgehoben, oder das abnimmt und sich bei Neigen zur Blockierungsseite verstärkt.
Kind geht (aus Abwehr oder schmerzbedingt) in die Der M. obliquus capitis inferior ist als Angehöriger der sub-
Reklination. okzipitalen Muskelgruppe besonders dicht mit Spindelrezep-
toren besetzt und spielt eine wichtige Rolle bei der Steuerung
Von einer Prüfung der Schlussrotation des Atlas ist beim der muskulären Tonus und der posturalen Reaktionen.
Säugling abzuraten, da dies vom Kind sehr oft als unange- Die paravertebrale Palpation der übrigen HWS-Seg-
nehm empfunden und mit heftiger Abwehr beantwortet wird. mente erfolgt in der gleichen Weise. In Rückenlage des Kin-
Auch ist der Informationsgewinn nicht größer als bei Palpa- des lassen sich die seitlichen Halsmuskeln gut tasten und auf
tion der Atlasquerfortsätze in Neutralstellung des Kopfes. ihre Gewebebeschaffenheit untersuchen. Bei länger beste-
Dabei lässt sich die Federung des Atlas mit leichten passiven hendem TAS können die Mm. scaleni verkürzt sein, mitun-
Seitnickbewegungen meist gut bestimmen. ter auch der M. splenius capitis. Der palpatorische Gewebebe-
Die Beweglichkeit des unteren Kopfgelenks wird, wie fund entspricht dem einer myofaszialen »Strammung«. Der
beim HSR beschrieben, mittels Rotation in maximaler HWS- M. sternocleidomastoideus ist dabei meist unauffällig. Im
Flexion und durch passive Seitneigebewegung geprüft. Eine Gegensatz dazu ist beim kongenitalen muskulären Schief-
Kopfgelenksblockierung führt zu nozizeptiven Gewebere- hals der Sternokleidomastoideus nach dem 1. Trimenon fast
aktionen im betroffenen Segment: immer fibrös verändert, strangartig verkürzt und lässt die pal-
4 Das Weichteilgewebe über dem blockierungsseitigen patorischen Gewebeeigenschaften vermissen, die ein reflekto-
Atlasquerfortsatz ist induriert, verquollen und gewöhn- risch oder haltungsbedingt verkürzter Muskel aufweist. Die-
lich stark berührungsempfindlich. Die Federung ist auf- se palpatorischen Gewebeunterschiede sind differenzialdia-
gehoben, der Querfortsatz erscheint prominent im Ver- gnostisch von Bedeutung (7 Kap. 6.1.2.2, Schiefhals).
gleich zur Gegenseite.
4 Der okzipitale Ansatz des M. semispinalis capitis ist auf > Wichtig
der Blockierungsseite induriert, wobei sich die klas- Beim TAS spielen sich die HWS-Blockierungen überwie-
sischen Sell-Irritationspunkte mit segmentaler Höhen- gend in den Segmenten C0–C3 ab.
bestimmung beim Säugling noch nicht abgrenzen lassen:

. Abb. 6.14 Prüfen der Nutation im oberen Kopfgelenk . Abb. 6.15 Palpatorische Untersuchung der Zervikookzipitalre-
gion
80 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

k Zervikodorsaler Übergang (. Abb. 6.16)


1 j Beweglichkeitsprüfung
Das Kind liegt in Rückenlage. Zur Rotationsprüfung der
2 unteren HWS und des zervikodorsalen Übergangs bis Th3
wird der Kopf maximal rekliniert. In dieser Position sind die
Kopfgelenke durch Anspannen der Ligg. alaria verriegelt und
3 von der Rotation weitgehend abgekoppelt:
4 Eine seitendifferente Rotation deutet auf eine Blockie-
4 rung hin.
4 Bei hartem Bewegungsanschlag ist auch an eine struk-
turelle Störung oder Fehlbildung zu denken.
5
j Palpation

6 Bei segmentaler Blockierung zeigt die paravertebrale Palpati-


on den typischen Irritationspunkt, dessen nozireaktives Ver-
halten durch Seitneigebewegung des Kopfes ermittelt wird.
7 Freie und blockierte Richtung lassen sich auf diese Weise gut
bestimmen. . Abb. 6.16 Orientierende palpatorische Untersuchung des zer-
vikookzipitalen Übergangs auf segmentale Induration
8 > Wichtig
In HWS und zervikodorsalem Übergang rotieren die
9 Wirbelkörper in Richtung der Seitneige, die Dornfortsät-
ze gleiten dementsprechend zur Gegenseite, was bei der

10 Manipulation des zervikothorakalen Übergangs genutzt


werden kann (s.u.).

11 k 1. Rippe
j Beweglichkeitsprüfung
Prüfen des Vorlaufphänomens: Das Kind ist im gehaltenen
12 Sitz oder sitzt rittlings auf einem Bein des Untersuchers. Der
Untersucher legt seine Daumenkuppen ca. 2–3 cm zu beiden
13 Seiten des 1. BWK auf, und eine Hilfsperson hebt die Arme
des Säuglings vor dem Körper (nicht seitlich!) hoch:
4 Normalerweise bleiben beide Daumen in gleicher Höhe.
14 4 Tiefergleiten eines Daumens deutet auf eine Blockierung
der 1. Rippe hin.
15 . Abb. 6.17 Irritationspunktdiagnostik an der BWS
j Palpation
Die Palpation der 1. Rippe am Vorderrand des absteigenden
16 Trapeziusastes muss vorsichtig und zart erfolgen. Eine Blo- j Palpation
ckierung äußert sich meist in einer ausgeprägten und sehr Es folgt die paravertebrale Palpation der blockierungsver-
17 druckdolenten Induration des Gewebes über dem 1. Kosto- dächtigen Segmente. Das Verhalten nozireaktiver Gewebein-
transversalgelenk. Durch passive Seitneige des Kopfes im durationen wird über den Querfortsatz der Gegenseite und
Seitenvergleich lässt sich das Verhalten der nozireaktiven den Dornfortsatz geprüft:
18 Gewebsveränderung prüfen. 4 Ventralisierung des Querfortsatzes auf der Gegenseite
der Nozireaktion (Irritationspunkt) bewirkt eine Rotati-
19 k Brustwirbelsäule (. Abb. 6.17) on des Wirbels zur Seite der Nozireaktion,
j Prüfen der Kiblerfalten 4 Querschub des Dornfortsatzes zur Seite des Irritati-
Das Kind liegt auf dem Bauch in leichter BWS-Kyphosierung onspunktes bewirkt eine Rotation zur Gegenseite der
20 (weiches Kissen, passive Inklination des Kopfes durch Hilfs- Nozireaktion.
person). Als orientierender Test werden die Haut-Unterhaut-
Dermatome durch sanftes, vorsichtiges Abrollen der Kibler- Auf diese Weise lässt sich eine Rotationseinschränkung und
falten von kaudal nach kranial geprüft. Segmentale Dysfunk- damit der therapeutische Querfortsatz leicht ermitteln. Eine
tionen äußern sich auch in diesem Alter bereits als metamere Prüfung der Nozireaktion in Flexion und Extension ist beim
Haut-Unterhaut-Strammung. Säugling meist nicht exakt durchführbar und für die Ermitt-
lung der therapeutischen Richtung entbehrlich.
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
81 6

Tipp j Beweglichkeitsprüfung
Die manuelle Untersuchung der ISG beginnt mit der Palpa-
Säuglinge, die eine Untersuchung in dieser Lage nicht tion und dem Höhenvergleich der ventralen oberen Darm-
zulassen, kann der Untersucher an eine Schulter leh- beinstacheln zum Ausschluss einer Beckenverwringung.
nen (Kyphosierung) und das Untersuchungsmanöver Dazu muss das auf dem Rücken liegende Kind gerade ausge-
mit den Mittelfingern durchführen (. Abb. 6.17). richtet werden.

> Wichtig
k Dorsolumbaler Übergang (. Abb. 6.18) Stehen die ventralen Darmbeinstacheln unterschiedlich
j Beweglichkeitsprüfung hoch, und findet man dorsalseitig das umgekehrte Mus-
Das Kind liegt in Rückenlage. Die Rotationsbewegung im ter, so liegt eine Beckenverwringung vor, die beim Säug-
dorsolumbalen Übergang wird durch Drehen des Beckens ling regelmäßig mit einer ISG-Blockierung einhergeht.
um die Längsachse gegenüber dem fixierten Rumpf (vorsich-
tig!) geprüft. Bei Blockierung im Gebiet des dorsolumbalen Es folgt die vergleichende Beweglichkeitsprüfung der Hüft-
Übergangs ist eine seitendifferente Rotationsbewegung des gelenke in Rückenlage des Kindes: Abduktion, Adduktion,
Beckens gegenüber dem Rumpf zu erwarten. Freie und blo- Beuge-Adduktion des Beins zur Gegenschulter, Innen- und
ckierte Richtung werden bestimmt. Außenrotation, Extension und Flexion jeweils im Seitenver-
gleich. Bewegungseinschränkungen in einem Hüftgelenk bei
j Palpation sonographisch intakter Hüfte deuten auf eine iliosakrale Dys-
In Bauchlage erfolgen die Prüfung der Kiblerfalten und der funktion hin. Ein häufiges Muster ist
paravertebralen Irritationspunkte sowie die Ermittlung des 4 die eingeschränkte Beuge-Adduktion zur Gegenschulter
therapeutischen Querfortsatzes (wie bei der BWS beschrie- (Lig. sacrotuberale?),
ben). 4 eine Abspreizhemmung und
4 die Einschränkung einer Rotationsbewegung (Innen-
k Iliosakralgelenke (. Abb. 6.19, 6.20) oder Außendrehung),
Die Inspektion der Beckenkonturen in Rücken- und Bauch- aber auch andere Kombinationen sind möglich (. Abb. 6.19).
lage erfolgte bereits unter Punkt 1 des Untersuchungspro- In Bauchlage des Kindes wird die Beweglichkeit des Ili-
gramms (7 Abschn. 6.2.1). ums gegenüber dem Sakrum mit dem Federungstest über

. Abb. 6.18 Prüfen der Beweglichkeit im dorsolumbalen Übergang . Abb. 6.19 a, b Linksseitige ISG-Blockierung bei 5-monatigem
durch Rotation des Beckens gegenüber dem Rumpf im Seitenver- Säugling mit Einschränkung der Abduktion und Außenrotation im lin-
gleich. Bei segmentaler Dysfunktion seitendifferente Beweglichkeit ken Hüftgelenk
82 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

die gekreuzten Daumen geprüft. Es sei daran erinnert, dass


1 die iliosakralen Gelenkflächen des Säuglings noch in dersel-
ben Ebene liegen wie die weitgehend sagittal ausgerichteten
2 Facettengelenke der LWS (7 Kap. 4.4, Iliosakralgelenke)). Dies
und die weitgehend knorpelige Anlage der artikulierenden
Flächen erklärt die physiologische Hypermobilität des Säug-
3 lings-ISG. Eine iliosakrale Funktionsstörung verrät sich im
Seitenvergleich durch ein einseitig vermindertes Federn. Auf
4 der blockierten Seite kann eine Konturabflachung der Glute-
almuskulatur beobachtet werden.

5 Tipp

Die Prüfung der Hüftgelenkbeweglichkeit und der Fede-


6 rungstest dienen der Seitenbestimmung der ISG-Blo- . Abb. 6.20 ISG-Irritationspunkdiagnostik. Der linke Mittelfinger
ckierung. Für eine gezielte Therapie ist allerdings die palpiert eine Nozireaktion am Hinterrand des M. gluteus medius links;
7 segmentale Funktionsdiagnostik mithilfe der Irritations- gleichzeitig übt der rechte Daumen einen ventralisierenden Druck auf
punkte erforderlich. den oberen Sakrumpol in Höhe S1 aus. Der palpierende Mittelfinger
prüft dabei das Verhalten der Nozireaktion
8
j Palpation
9 Die Untersuchung der Irritationspunkte erfordert beim 6.2.6 Myofasziale Diagnostik
Säugling wegen der kleinen anatomischen Verhältnisse und
des Abwehrverhaltens des Kindes einige Übung. Der Vorgang Ein Tonusasymmetrie-Syndrom aufgrund segmentaler peri-
10 wird erleichtert, wenn das Kind mit dem Becken auf der Kan- pherer Funktionsstörungen zeigt ebenso eine gestörte myo-
te eines festen Schaumstoffkissens gelagert wird, so dass die fasziale Viskoelastizität wie ein Kind mit zerebraler Bewe-
11 Hüften gebeugt sind und das Köpfchen von einer Hilfsperson gungsstörung. Untersucht werden daher
in Mittelstellung und leichter Inklination gehalten wird. 4 die epikraniellen fibromuskulären Strukturen des Schä-
Palpiert wird die Glutealmuskulatur, gesucht wird nach dels auf Strammung und Lockerung (. Abb. 6.21),
12 nozireaktiven Gewebeveränderungen: 4 der Zustand der Schädelnähte und Fontikuli,
4 Blockierungen in Höhe S1 zeigen beim Säugling einen 4 die Form und Stellung der Knochenplatten des Gehirn-
13 fingerkuppengroßen, eher flächigen Irritationspunkt am schädels,
dorsalen Rand des M. gluteus medius etwa 1–1½ Dau- 4 die myofaszialen Strukturen der Übergangsregionen des
menbreite lateral des ISG-Spalts und distal der Crista ili- Achsenorgans und des abdominalem Diaphragmas in
14 aca. Verbindung mit der Fascia thoracolumbalis.
4 Der Irritationspunkt für S3 liegt weiter medial und
15 etwa 3–4 Querfinger distal der Spina dorsalis und ist als Aufschlussreich kann auch bei Säuglingen mit Gedeihstö-
umschriebene, spindelförmige Verhärtung leichter zu rungen die Untersuchung des Abdomens sein, wobei sich
tasten als der S1-Punkt (. Abb. 6.20). (Die Distanzanga- umschriebene Indurationen in Höhe des Pylorus, der Car-
16 ben sind nur ungefähr und hängen sowohl von der Grö- dia, der iliozökalen Klappe usw. finden lassen, ebenso auch an
ße des Kindes als natürlich auch von der Daumen- und den ligamentären Verbindungen des Beckens (. Abb. 6.22).
17 Fingerbreite des Untersuchers ab.) Ein dysfunktionelles Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS), das
bereits längere Zeit besteht, zeigt regelmäßig auch myofaszi-
j Technik ale und funktionelle Befunde am femuropatellaren Gleitlager,
18 Hat man einen Irritationspunkt gefunden, bleibt der palpie- dem proximalen Tibiofibulargelenk sowie den Talonavikular-
rende Finger mit gleichbleibendem sanftem Druck auf die- gelenken.
19 sem Punkt und prüft dessen Verhalten (Verstärkung oder
Abschwächung), indem das Kleinfingergrundglied (oder der Tipp
Hypothenar) der anderen Hand einen tangential kranialisie-
20 renden und dann kaudalisierenden Schub über die blockie- Kenntnisse in osteopathischer Untersuchungstech-
rungsseitige Sakrumhälfte ausübt und dies als Gegenprobe nik und die Fähigkeit zur palpatorischen Unterschei-
auf der anderen Seite wiederholt. Anschließend wird an bei- dung der verschiedenen Gewebearten sowie der subti-
den Sakrumhälften mit Daumen oder Mittefinger in Höhe len Untersuchung der Gewebereaktionen werden vor-
von S1 und S3 ein ventralisierender Druck ausgeübt und die ausgesetzt.
Reaktion des Irritationspunktes beurteilt. Auf diese Wei-
se lässt sich mit der Bestimmung des Blockierungsmusters
gleichzeitig das therapeutische Vorgehen festlegen, nämlich
die Manipulation in die freie Richtung.
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
83 6

Übersicht 6.4 Hinweise auf eine kortikospinale


Störung
5 Beim Handwurzel- und Fersenreflex ist auf die Quali-
tät der phasischen Reaktion zu achten:
5 Eine stoßende, schnellende Bewegung ist typisch
für eine zerebrale Bewegungsstörung und bleibt
ein ständiger Begleiter.
5 Ein kurzes Zucken kann im Rahmen einer Blockie-
rung im zervikodorsalen Übergang oder ISG auf-
treten und darf nicht als Zeichen einer spastischen
Bedrohung angesehen werden, denn es verschwin-
det bald nach Beseitigung der segmentalen Funk-
tionsstörung.
5 Eindeutig positive Pyramidenzeichen sind ein Hin-
. Abb. 6.21 Palpatorische Untersuchung der epikraniellen Weich- weis auf eine kortikospinale Störung.
teilstrukturen und Schädelnähte 5 Beim Säugling ist der Rossolimo-Reflex laut Vojta
besonders aussagefähig, da er im Falle einer zerebra-
len Störung immer positiv ist und sich zuverlässig aus-
lösen lässt. Zur richtigen Durchführung und vor allem
zur richtigen Interpretation sei auf 7 Kapitel 3.6 ver-
wiesen
5 Ein weiteres sicheres Zeichen der infantilen Spastik
bzw. einer kortikospinalen Störung ist der Fußklonus,
der über eine kurze, rhythmische Bewegung des Fußes
in Dorsalextension bei leichter Kniebeugung durch-
geführt wird. Der Klonus zeigt sich als serielle, rasch
ablaufende Plantarflexionsbewegung des Fußes über
mindestens drei Sekunden. Mitunter tritt er auch bei
Auslösen des Achillessehnen- oder Fußsohlenrefle-
xes auf.
5 Ebenfalls hinweisend auf eine zentrale Störung ist ein
Handgreifreflex, der weit über das 2. Trimenon hin-
aus persistiert, desgleichen der Babkin-Reflex: Bei
Fingerdruck in die palmare Handfläche kommt es zu
Öffnen des Mundes. Diese Reaktion ist in den ers-
ten 4–8 Lebenswochen noch physiologisch, bei älte-
ren Säuglingen jenseits des 3. Lebensmonats jedoch
als Hinweis auf eine kortikospinale Störung anzuse-
hen (7 Kap. 3.2, Neuromotorische Untersuchung des
Säuglings).
. Abb. 6.22 Übersicht über myofasziale Störungszonen des Abdo-
mens und Lokalisation artikulärer Dysfunktionen

6.2.8 Neurokinesiologische Untersuchung


6.2.7 Neurologische Untersuchung nach Vojta

Muskeleigenreflexe, Pyramidenzeichen sowie phasische und Durchführung, Bewertung und Deutung der Lage- und sta-
tonische Streckreaktionen wurden in 7 Kapitel 3.6 einge- tokinetischen Reaktionen nach Vojta wurden in 7 Kapitel 3.5
hend erläutert. Während die Muskeleigenreflexe bei Anspan- ausführlich abgehandelt. Der richtige Umgang mit dieser
nen oder Abwehr des Kindes nicht immer zuverlässig ausge- sehr wertvollen Untersuchungsmethode und ihre korrekte
löst werden können, macht die Prüfung der phasischen und klinische Einordnung lassen sich nur durch die konsequente
tonischen Streckreaktionen gewöhnlich keine Schwierig- Anwendung am Patienten erlernen. Dies ist die wohl wich-
keiten. Ihre Aussagekraft ist nicht hoch genug einzuschät- tigste Voraussetzung, um falsch-positive oder falsch-negati-
zen, und sie sollen daher bei keiner Untersuchung fehlen. In ve Befundauswertungen mit entsprechenden prognostischen
7 Übersicht 6.4 werden die Hinweise auf eine kortikospina- und therapeutischen Fehlschlüssen zu vermeiden. Dass diese
le Störung nochmals verdeutlicht. Die Durchführung ist ein- Gefahr besteht, zeigt die Diskussion um die spastische Bedro-
fach, der Zeitaufwand ist denkbar gering. hung. Abnormale Lagereaktionen sind Hinweise auf eine
84 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

1
2
3
4
5
6
7
8 a b

9 . Abb. 6.23 a, b Kontrolluntersuchung nach »ausbehandeltem« KISS-Syndrom bei 8 Monate altem Jungen. a Bei der Vojta-Reaktion nach
rechts fehlende Rumpfstabilisierung, Anteversion der linken Schulter, Streckung des linken (oben liegenden) und Beugung des rechten (unten

10 liegenden) Beins als Hinweis auf eine unvollständige sensomotorische Integration. Der Rumpf zeigt Tendenz zum Abkippen nach rechts. b Die
Vojta-Reaktion nach links ist altersgerecht entsprechend dem 3. Trimenon

11
gestörte sensomotorische Steuerung, nicht mehr und auch 6.2.9 Bestimmung des Entwicklungsalters
nicht weniger. Die Ursache muss mithilfe weiterer Untersu- im Vergleich zum chronologischen
12 chungen gefunden werden. Alter
Die Prüfung der statokinetischen Reaktionen (. Abb. 6.23)
13 hat sich in der Kontrolle des Therapieergebnisses bewährt, Aus der Summe der erhobenen Befunde lässt sich beim Säug-
besonders bei TAS-Kindern: Der therapeutische Erfolg bei ling der Reifezustand des ZNS bestimmen und der Istzustand
einem Kind mit TAS darf nicht allein daran gemessen wer- mit dem Sollzustand des chronologischen Alters vergleichen
14 den, ob es den Kopf gerade hält und zu beiden Seiten bewegt, (7 Kap. 3.1, Körperkontrolle). Die synoptische Darstellung
nicht mehr als Schrei- oder Spuck-Kind gilt usw. Vielmehr der einzelnen normalen Entwicklungsschritte in Rücken-
15 müssen auch die unwillkürlichen Reaktionen des Kindes bei und Bauchlage vom 1. bis zum 12. Lebensmonat (. Abb. 6.24)
plötzlicher Lageänderung des Körpers im Raum auf ihre erleichtert den Vergleich zwischen Entwicklungsalter und
Qualität, auf Seitengleichheit und auf die Übereinstimmung chronologischem Alter. Dabei ist eine Streubreite von etwa
16 mit dem chronologischen Alter geprüft werden: Man wird 6 Wochen als normal anzusehen.
dann oft feststellen können, dass bei einem scheinbar aus-
17 geheilten TAS einseitig abnormale Bewegungsantworten zu Tipp
finden sind oder solche, die 1–2 Trimena hinter dem physi-
ologischen Alter zurück sind, während der Befund auf der Zusammen mit der neurokinesiologischen Diagnostik
18 Gegenseite normal ist. Das zeigt, dass die sensomotorische ermöglichen die neurologischen Untersuchungen und
Basis für die Körperkontrolle dynamischer Bewegungslei- die Beurteilung der General Movements eine Abgren-
19 stungen wie Rennen, Springen, Turnen usw. noch nicht kor- zung zerebral bedingter Störungen von einer peripher-
dysfunktionellen Pathologie wie z.B. dem TAS.
rekt und seitengleich entwickelt ist. Solche Kinder müssen
kontrolliert, auf Blockierungsrezidive untersucht und ent-
20 sprechend behandelt werden, um eine seitengleiche senso- Während die Reifeverzögerung bei zerebralen Störungen in
motorische Integration zu erreichen. der Regel alle Qualitäten erfasst, zeigen TAS-Kinder ein dis-
soziiertes Muster. Dies wird besonders in Bauchlage des
Kindes deutlich: In Rückenlage kann ein TAS-Kind nach
manueller Behandlung ein dem chronologischen Alter ent-
sprechendes Bewegungs- und Haltungsmuster von Kopf,
Rumpf und Extremitäten zeigen, in Bauchlage hingegen tre-
ten abnormale Haltungsschablonen oder zeitlich verzöger-
te Muster in Erscheinung (. Abb. 6.25). Dies betrifft z.B. die
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
85 6
. Abb. 6.24 Chronologischer Verlauf der Säug-
lingsentwicklung mit Darstellung der typischen
Ngb. posturalen Muster in Bauch- und Rückenlage

10

11

12
86 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)

1
2
3
4
5
6 . Abb. 6.26 a.-p.-Röntgenaufnahme des zervikookzipitalen Über-
gangs eines 4-monatigen Säuglings

7 . Abb. 6.25 5 Monate alter Säugling mit TAS. In Bauchlage abnor-


male Haltungsschablone und fehlender Unterarmstütz entsprechend
8 einem posturalen Entwicklungsrückstand von ca. 8 Wochen

9 Qualität der Kopfkontrolle oder die Fähigkeit des Kindes, in tumorösen Prozessen oder von Segmentationsstörungen,
den Unterarm- oder Handstütz zu gehen. Hinzu kommt die Fehl- und Missbildungen. Sie ist vor allem aus therapeu-
bereits beschriebene Seitendifferenz oder zeitliche Dissoziati- tischer Sicht erforderlich, da sie Auskunft gibt über die indi-
10 on bei der neurokinesiologischen Untersuchung. Die sorgfäl- viduelle räumliche Stellung des Atlas gegenüber den Okzi-
tige Beachtung dieser Kriterien erleichtert die Wahl des Zeit- putkondylen. Diese Kenntnis ist für die Durchführung der
11 punktes, wann eine Therapie beendet werden kann. Atlastherapie unentbehrlich, denn aus dem Röntgenbild wird
die therapeutische Impulsrichtung ermittelt. Insofern stellt
die a.-p.-Aufnahme von Atlas und Okziputkondylen eine der
12 6.2.10 Röntgenuntersuchung wenigen Röntgenuntersuchungen dar, die auch aus therapeu-
tischen Gründen durchgeführt wird (7 Kap. 7.1, Atlasthera-
13 Ein pathologischer Befund an der oberen Halswirbelsäu- pie nach Arlen).
le bzw. an der zervikookzipitalen Übergangsregion, der mit
neuromotorischen Symptomen einhergeht, erfordert auch Fazit: Zeitnot?
14 beim Säugling eine radiologische Untersuchung. Ob immer Die ausführlichen Erläuterungen zum Untersuchungsprogramm
eine Standardaufnahme der Halswirbelsäule in 2 Ebenen Villinger Schema können den Eindruck erwecken, als handele
15 erforderlich ist, wird kontrovers diskutiert. Aufgrund eige- es sich um einen äußerst zeitaufwändigen Vorgang, der in der
ner Erfahrungen ist es gerechtfertigt, zur Minimierung der manualmedizinischen Praxis nicht durchführbar sei. Dieser Ein-
(ohnehin sehr geringen) Strahlenbelastung zunächst nur eine druck täuscht. Bei ausreichender Erfahrung in manualmedizini-
16 eng eingeblendete anterior-posteriore Zielaufnahme des zer- scher und entwicklungsneurologischer Diagnostik und wenn
vikookzipitalen Übergangs anzufertigen, auf denen die knö- man geeignete Dokumentationsvorlagen verwendet, ist der
17 chernen Strukturen der oberen HWS und die basalen Okzi- Zeitaufwand für dieses Programm gering, der Informationsge-
putanteile dargestellt sind (. Abb. 6.26). Wenn die Analyse halt dafür sehr hoch.
der lege artis durchgeführten a.-p.-Röntgenaufnahme kei-
18 nen Hinweis auf eine pathologische Veränderung zeigt und
die klinische Symptomatik nicht von den typischen Zeichen 6.3 Abgrenzung des TAS von infantiler
19 eines TAS abweicht, kann aus Strahlenschutzgründen in der Zerebralparese
Regel auf eine seitliche Aufnahme verzichtet werden. Weicht
die klinische Symptomatik allerdings von den typischen TAS- Das TAS entsteht aus segmentalen Dysfunktionen (Blockie-
20 Symptomen ab, muss an eine andere Ursache der Haltungs- rungen) bestimmter Wirbelsäulenabschnitte mit Beeinträch-
und Bewegungsasymmetrie gedacht werden (Klippel-Feil- tigung der propriozeptiven und exterozeptiven Sensorik und
Syndrom, Tumor o.Ä.) In diesem Falle wird man sich nicht der Folge einer gestörten sensomotorischen Entwicklung. Im
mit der eingeblendeten a.-p.-Aufnahme des zervikookzipi- Gegensatz dazu ist die zerebrale Bewegungsstörung Aus-
talen Übergangs begnügen können, sondern eine Standar- druck einer irreversiblen Schädigung von Hirnsubstanz,
daufnahme der HWS in 2 Ebenen anfertigen und ggfs. eine deren Ausmaß das klinische Bild der sensomotorischen
weitere Diagnostik veranlassen. Funktionsausfälle bestimmt. Diese Unterscheidung ist für die
Die a.-p.-Aufnahme des zervikookzipitalen Übergangs prognostische Einschätzung und die therapeutische Zielset-
dient nicht nur dem Ausschluss von entzündlichen und zung von Bedeutung.
6.3 · Abgrenzung des TAS von infantiler Zerebralparese
87 6
Verschiedene neurologische Zeichen bei bewegungs- Die Abgrenzung eines TAS von einer zentralen Störung
auffälligen Säuglingen können in gleicher Weise sowohl im geschieht nach qualitativen Kriterien und objektiven Zei-
Frühstadium einer infantilen Zerebralparese als auch bei chen:
einer peripher-dysfunktionellen Pathologie wie dem TAS 4 Zeigt ein TAS-Kind eine Überstreckung von Kopf und
beobachtet werden. Gemeinsame Symptome sind in 7 Über- Rumpf, so kann es gewöhnlich phasische, diagonale und
sicht 6.5 aufgeführt. gegenläufige Bewegungen der Extremitäten vollführen,
während die opisthotone Haltung bei zerebraler Läsi-
on tonisch fixiert ist und die Extremitäten nur spärliche,
Übersicht 6.5 Symptome bei TAS und tonisch gesteuerte und meist gleichläufige Bewegungen
Frühsymptome bei IZP zustande bringen.
5 Abnormale Lage- und Stellreaktionen 4 Beim TAS fehlen die tonischen und phasischen Streck-
5 Abnormale Haltungs- und Bewegungsmuster von reaktionen. Die bei Segmentblockierungen gelegentlich
Kopf, Rumpf und Extremitäten auslösbaren Handwurzel- oder Fersenreflexe sind nur
5 Einschießender oder anhaltender Strecktonus mit angedeutet und vorübergehend vorhanden und unter-
opisthotoner Kopf-Rumpf-Haltung (Überstreckung) scheiden sich qualitativ eindeutig von den phasischen
5 Persistierende frühkindliche Reaktionen Streckreaktionen bei frühkindlicher Hirnschädigung. In
5 Persistierende Primitivreflexe diesem Falle sind sie bereits im Frühstadium unzweideu-
5 Einseitig persistierender Palmarreflex tig, voll ausgeprägt und stets auslösbar.
5 Pathologische Halsstellreflexe mit tonischen Begleitre-
aktionen usw. In . Tab. 6.1 sind die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale
zwischen TAS und der Frühsymptomatik einer tetrapare-
tischen zerebralen Bewegungsstörung zusammengefasst.
Beispiel
Ein sensomotorisch retardiertes, 4-monatiges Kind zeigt eine
stereotype einseitige Kopf- und Rumpfhaltung, asymmetrische
Bewegungsmuster und auffällige statokinetische Reaktionen,
einen intermittierenden Strecktonus sowie Schulterretraktion
und Beinstreckung mit Spitzfußhaltung beim HSR zu einer Sei-
te. In Bauchlage kann es nicht in den Unterarmstütz gehen und
den Kopf anheben. Es ist aber imstande, in Rückenlage die Hän-
de vor der Körpermitte zusammenzuführen oder die Füße beim
Hochgehobenwerden in Kletterhaltung zu bringen. Dieses Kind
hat mit großer Sicherheit keine zentrale Störung.

. Tab. 6.1 Unterscheidung zwischen TAS und zerebraler Bewegungsstörung

Peripher-dysfunktionelles Syndrom (TAS) Zerebrale Bewegungsstörung

General Movements suboptimal bis auffällig General Movements eindeutig abnormal

Überstreckung nicht tonisch fixiert, phasische Begleitmuster Überstreckung als Opisthotonus (= tonisch fixiert)

Medianisierung der Hände (= Zusammenführen vor der Körpermitte) Henkelhaltung der Arme, tonische Schulterretraktion

Greifen nach Gegenständen, Führen zum Mund Kein Greifen, kein Zusammenführen der Hände zur Körpermitte

Pseudo-ATNR ohne tonische Fixierung von Rumpf und Extremitäten ATNR tonisch fixiert

Supination/Kletterstellung der Füße Füße in Spitzfußhaltung, Beine meist gestreckt, überkreuzt

Soziales Lächeln Kein soziales Lächeln (oder deutlich verspätet)

Keine tonischen Streckreaktionen. Phasische Streckreaktionen Tonische Streckreaktionen voll ausgeprägt, phasische Streck-
fakultativ schwach auslösbar, reversibel, zuckend (kein Stoßen) reaktionen schnellend, stoßend

Neurokinesiologische Reaktionen meist nur einseitig abnormal oder Neurokinesiologische Reaktionen als Gesamtmuster abnormal
zeitlich zurück

Keine Pyramidenzeichen Positive Pyramidenzeichen (z.B. Rossolimo!)


89 7

Manualmedizinische Behandlung
im Säuglingsalter

7.1 Atlastherapie nach Arlen – 90 7.3 Myofasziale Lösetechniken,


7.1.1 Am Anfang stand ein Irrtum – 90 mobilisierende Positionierung – 107
7.1.2 Neurologische Krankheitsbilder – 91 7.3.1 Aktive Kontraktion der Faszie – 108
7.1.3 Frühkindliche Röntgenmorphologie – 91 7.3.2 Mechanorezeptoren der Faszie – 108
7.1.4 Kopfhaltung und Atlasstellung – 93 7.3.3 Myofascial Release – 108
7.1.5 Symmetrie, ein zuverlässiges Prinzip? – 94
7.1.6 KISS oder KUSS? – 95 7.4 Manuelle Behandlung des Kopfes – 113
7.1.7 Atlastherapie beim Säugling – 95 7.4.1 Trigemino-zervikale Konvergenz – 113
7.4.2 Therapeutische Möglichkeiten – 113
7.2 Chirotherapeutische Manipulation
bei Säuglingen – 100 7.5 Unspezifische exterozeptiv-
7.2.1 Zervikookzipitaler Übergang – 101 propriozeptive Stimulation – 120
7.2.2 Zervikodorsaler Übergang – 102 7.5.1 Wahrnehmungsverarbeitung und Vigilanz – 120
7.2.3 1. Rippe – 103 7.5.2 Körperstimulation – 120
7.2.4 BWS und dorsolumbaler Übergang – 103
7.2.5 Iliosakralgelenke und
lumbosakraler Übergang – 105

Die im Folgenden beschriebenen säuglingsgerechten Behand-


lungstechniken können sowohl beim TAS als auch bei der IZP 5 Seitengleiche, altersentsprechende Haltungs- und
eingesetzt werden. Der Unterschied besteht in der therapeu- Bewegungsmuster in Rückenlage und Bauchlage
tischen Zielsetzung. 5 Normale statokinetische Reaktionen
Beim TAS handelt es sich um eine funktionelle Patho- 5 Übereinstimmung von chronologischem Alter und
logie im afferenten Teil des sensomotorischen Systems. Entwicklungsalter
Unbehandelt besteht die Gefahr einer unvollständigen bzw.
fehlerhaften Programmierung der raum-zeitlichen Bewe-
gungsfunktion, die als fundamentale Erkenntnisleistung im Im Gegensatz zum TAS ist eine infantile Zerebralparese (IZP)
gesamten körperlich-geistigen Entwicklungsprozess betrach- nicht heilbar, da untergegangenes Hirngewebe sich nicht
tet wird. Bei gezielter manualmedizinischer Behandlung des regeneriert oder ersetzt werden kann. Mit einem manualme-
TAS ist die Prognose bezüglich einer normalen sensomo- dizinischen Therapiekonzept lassen sich allerdings auch bei
torischen Entwicklung einschließlich der darauf aufbauen- zerebralen Bewegungsstörungen intakte Funktionen erhal-
den Erkenntnisfunktionen günstig. Die Therapieziele sind in ten und brachliegende Fähigkeiten zur Entfaltung bringen.
7 Übersicht 7.1 formuliert. Pathogenese und Klinik der IZP sowie die therapeutische
Zielsetzung werden in 7 Kapitel 9 abgehandelt.
Für sensomotorische Störungen im Säuglingsalter ste-
Übersicht 7.1 Therapieziele bei TAS hen folgende manualmedizinische Verfahren zur Verfügung,
5 Seitengleiche Labyrinthstellreaktion (LSR) aufgelistet in 7 Übersicht 7.2.
5 Normalisierung der Kopfkontrolle bei räumlicher Lage-
änderung des Körpers
5 Normalisierung der Kopf- und Rumpfhaltung sowie Übersicht. 7.2 Manualmedizinische Verfahren bei
der Kopfform sensomotorischen Störungen
5 Normalisierung der HWS-Beweglichkeit (HSR, SNT) 5 Atlastherapie (Arlen)
5 Normalisierung der General Movements (Alter) 5 Chirotherapeutische segmentale Manipulation
5 Beseitigung von Schmerzen und evtl. vegetativen 5 Myofasziale (osteopathische) Behandlungsformen
Symptomen 5 Mobilisierende und stimulierende Weichteiltechniken
6
90 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

Diese manualmedizinischen Verfahren wirken unterschied-


1 lich auf die Steuerung des Bewegungssystems und können Der Effekt war beeindruckend: Kopf- und Nackenschmer-
sich daher nicht gegenseitig ersetzen. Aber sie wirken, wie zen verschwanden, desgleichen die vegetativen und neuro-
logischen Begleitsymptome eines zervikozephalen Syndroms
2 die Erfahrung gezeigt hat, synergistisch und bilden daher in
ihrer Gesamtheit das therapeutische Grundkonzept bei sen-
nach HWS-Trauma wie Konzentrationsstörung, Schwindel,
Leistungsabfall, Übelkeit und dergleichen (Arlen und Wacken-
somotorischen Störungen verschiedener Genese. In der »Hie- heim 1979).
3 rarchie« der Wirksamkeit nimmt die Atlastherapie den ersten Um die gelungene Stellungskorrektur des Atlas zu doku-
Platz ein, gefolgt von den manipulativen und osteopathischen mentieren, fertigte Arlen Röntgenkontrollaufnahmen des zer-
4 Konzepten und ergänzt durch mobilisierende und stimulie-
rende Weichteiltechniken.
vikookzipitalen Übergangs an und musste zu seiner Überra-
schung feststellen, dass trotz eindrucksvoller Therapieergeb-
Bei Dysfunktionen an Wirbelsäule und Extremitäten nisse die Stellung des 1. Halswirbelkörpers unverändert war.
5 kann die Wirkung der Atlastherapie auf die sensomotorische Die Frage, ob der gleiche Therapieeffekt erreicht werden
Steuerung in Ausprägung und Nachhaltigkeit beeinträchtigt kann, wenn der Fingerstoßimpuls in die andere, die Asymme-
trie verstärkende Richtung erfolgt, fand eine rasche Antwort
6 werden durch die gelenkmechanischen Störungen der Wir-
in einem fehlenden Therapieeffekt oder in einer Verschlechte-
belsäule und Tonusveränderungen der Organ übergreifenden rung der Symptomatik, die mitunter recht eindrucksvoll war.
Faszienzüge des Bewegungssystems. In dem Fall ist der Ein- Arlen konnte daraus die bis heute gültige Regel ableiten:
7 satz der anderen Behandlungsformen unentbehrlich für das 5 Der gewünschte Behandlungseffekt wird nur erreicht,
Erreichen des therapeutischen Ziels. wenn der therapeutische Fingerstoßimpuls in die virtu-
8 elle rotatorische oder translatorische Stellungssymmet-
rie des Atlas erfolgt, wie sie aus dem Röntgenbild ermit-
7.1 Atlastherapie nach Arlen telt wird (Arlen 1985).
9 Der neurophysiologische Hintergrund dieser Erfahrung ist bis-
Der direkte Zugriff auf die Wahrnehmungsrezeptoren der lang nicht eindeutig geklärt, die Richtigkeit der Regel bestätigt
sich aber ex iuvantibus.
Kopfgelenkregion durch die sog. Atlastherapie ermöglicht
10 eine Beeinflussung des sensorischen Informationsmusters,
Zur Festlegung der Atlasstellung gegenüber den Okziput-
kondylen und damit zur Bestimmung der therapeutischen
wie sie in dieser Form mit den übrigen manuellen und neu- Impulsrichtung beschrieb Arlen eine differenzierte Analyse
11 rophysiologischen Behandlungstechniken nicht erreicht wer- des a.-p.-Röntgenbildes der oberen Halswirbelsäule. Auf diese
den kann. Diese Impulstechnik ist daher das wohl wirksamste Weise lässt sich anhand morphologischer Merkmale die Stel-
Behandlungsverfahren bei neuromotorischen Störungen
12 insgesamt. Hinzu kommt, dass die Atlastherapie nicht mit
lung des Atlas in der transversalen, sagittalen und longitudi-
nalen Ebene bestimmen. Darüber hinaus entwickelte er eine
behandlungstypischen Risiken behaftet ist, wie sie z.B. der biometrische Röntgenfunktionsdiagnostik der Halswirbelsäule
13 chiropraktischen Manipulation an der Halswirbelsäule ange- zur röntgenologischen Beurteilung des zervikobrachialen und
lastet werden. Die Atlastherapie kann daher unter Beachtung zervikozephalen Syndroms (Arlen 1979, Arlen et al. 1990), die
vor allem für die Gutachtertätigkeit gedacht ist.
der Kontraindikationen gefahrlos und auch wiederholt bei
14 Säuglingen eingesetzt werden. Voraussetzung für eine wirk-
same und risikolose Anwendung dieser scheinbar einfachen
15 Methode ist allerdings eine grundlegende Ausbildung in Dia-
gnostik und Behandlungstechnik.
16
7.1.1 Am Anfang stand ein Irrtum
17
Exkurs: Entwicklung der Atlastherapie
18 Der elsässische Arzt Dr. Albert Arlen (. Abb. 7.1) entwickelte
in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine von ihm als Atl-
19 astherapie bezeichnete manuelle Technik zur Behandlung der
oberen Halswirbelsäule. Ausgangspunkt seiner Methode war
die Beobachtung, dass bei Patienten mit Kopf- und Nacken-
20 schmerzen oder nach HWS-Traumen der Atlas im Röntgen-
bild gegenüber den Okziputkondylen seitlich oder rotatorisch
»verschoben« schien, also eine asymmetrische Stellung des At-
las vorlag. Folgerichtig versuchte Arlen, den Atlas wieder in die
Neutralstellung zu bringen, zu symmetrisieren. Dazu übte er
mit der Mittelfingerkuppe einen kurzen, kräftigen Stoß auf den
Atlasquerfortsatz in Richtung der gedachten Symmetrie aus.

6
. Abb. 7.1 Dr. Albert Arlen (1925–1992)
7.1 · Atlastherapie nach Arlen
91 7
7.1.2 Neurologische Krankheitsbilder

Arlens besonderes Interesse galt dem Krankheitsbild der


Multiplen Sklerose (MS). Aufgrund ermutigender Behand-
lungserfolge durch Atlastherapie war er der Hoffnung, mit
seiner Therapiemethode einen entscheidenden Einfluss auf
das Krankheitsbild nehmen zu können oder sogar eine Hei-
lung zu erreichen (Arlen 1989). Trotz eindeutiger Befundbes-
serungen unter Atlastherapie blieb diese Hoffnung jedoch
unerfüllt; wohl nicht zuletzt, weil es sich bei der MS um ein
ursächlich ungeklärtes progredientes Leiden handelt, des-
sen Verlauf im Einzelfall nicht vorhersehbar ist. Bei neuro-
logischen Ausfallserscheinungen als Folge einer einmal abge-
laufenen Schädigung hingegen wie beispielsweise der Polio- . Abb. 7.2 a.-p.-Röntgenaufnahme des zerviko-okzipitalen Über-
myelitis oder zerebralen Läsionen (Lohse-Busch et al. 1992) gangs bei einem 5-monatigen Säugling. Unvollständige Ossifikation
stellt die Atlastherapie einen wichtigen therapeutischen Fort- der Okziputkondylen (K), der Massae laterales atlantis (A) und des Axis
schritt dar. Dies gilt ebenfalls für die neurologischen Sym- (Ax): Abrundung der Okziputkondylen, vergrößerter Abstand zwi-
ptome eines zervikozephalen Syndroms nach Halswirbelsäu- schen Kondylen- und Atlasgelenkfläche, kamelhöckerartige Darstel-
lentrauma, bei dem die Atlastherapie im Gegensatz zur her- lung des Dens axis
kömmlichen Chirotherapie bereits beim Auftreten der ersten
Symptome frühzeitig eingesetzt werden kann, sofern keine
unfallbedingten oder anderweitigen Kontraindikationen vor-
liegen. Reversible Veränderungen von Hirnstammpotenzia-
len nach Atlastherapie bei zervikozephalem Syndrom wurden
nachgewiesen (Arlen et al. 1985), ebenso die Veränderung von
Muskelfunktion und motorischen Mustern (Lohse-Busch
und Janda 1991).
Des Weiteren erwies sich die Wirksamkeit der Atlasthera-
pie unter anderem bei zervikogener Hörstörung (Hülse 1994),
bei zervikogenem Schwindel (Hülse 1988, 2005, Hülse und
Hölzl 2000, Seifert 1987) und auch in der Schmerztharapie bei
Herpes zoster (Plato 1989).
Mit der Behandlung von Kindern und Säuglingen hat sich
Arlen dagegen nie beschäftigt. Lohse-Busch (1990, 1992, 1996)
behandelte mit der Arlen-Methode unterschiedliche neuro-
muskuläre Erkrankungen bei Heranwachsenden und jun-
gen Erwachsenen sowie Kinder mit zerebralen Bewegungs-
störungen. Coenen, angeregt durch die Arbeit Gutmanns, . Abb. 7.3 7-monatiger Säugling. Röntgenaufnahme des zerviko-
setzte die Atlastherapie erstmals systematisch bei bewegungs- okzipitalen Übergangs seitlich. Knochenkern des vorderen Atlasbo-
gestörten Säuglingen sowie bei Vorschul- und Schulkindern gens gut dargestellt
mit sensomotorischer Integrationsstörung ein (Coenen 1990)
und beschrieb ein standardisiertes Untersuchungsprogramm
für Säuglinge (Coenen 1992, 1996b, 2004) (7 Kap. 6.2, Stan- nur an den keilförmigen Knochenkernen der Massae late-
darddiagnostik) sowie einen qualitativen Test zur Einschät- rales zu erkennen, während vorderer und hinterer Atlasbo-
zung sensomotorischer Störungen bei Schulkindern (Coenen gen noch knorpelig angelegt und daher meist unsichtbar sind
1992, 1996a, 2002) (7 Kap. 8.5, Motokybernetischer Test). (. Abb. 7.2).
Der Knochenkern des vorderen Atlasbogens, der sich
embryologisch aus der hypochordalen Spange entwickelt und
7.1.3 Frühkindliche Röntgenmorphologie in der Regel zwischen dem 6.–11. Lebensmonat erscheint,
kann im seitlichen Röntgenbild mitunter schon in den
Wie im Villinger Schema aufgeführt, ist für die Atlasthera- ersten Lebenswochen sichtbar sein, in anderen, selteneren
pie beim Säugling eine Röntgenuntersuchung des zerviko- Fällen aber auch erst nach dem 2. Lebensjahr erscheinen
okzipitalen Übergangs zur Bestimmung der therapeutischen (. Abb. 7.3). Verwechselungen mit einer Bogenaplasie sind
Impulsrichtung erforderlich (Coenen und Milbradt 1998). im letzteren Fall nicht selten.
Eine anterior-posteriore Röntgenaufnahme zeigt die Mor- Ebenfalls Anlass zu Fehlinterpretationen bietet bei
phologie des unausgereiften Skeletts, das noch in großen Tei- älteren Säuglingen und Kleinkindern eine verzögerte Ossi-
len knorpelig angelegt ist und individuell unterschiedliche fikation des vorderen Atlasbogens mit den seitlichen Atlas-
Ossifikationsstadien aufweist. So ist der Atlas gewöhnlich massen, was im Röntgenbild als vertikale Aufhellung impo-
92 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

1
IKB
2 HK
VK VK
HK

3
. Abb. 7.5 Tunnelmodell: Die Okziputbasis mit ihren Kondylen
4 stellt ein tunnelähnliches Gebilde dar: Die Seitenwände werden von
den nach ventral konvergierenden Kondylen gebildet, überdacht vom
. Abb. 7.4 Röntgendetailaufnahme des zervikookzipitalen Über- Okziput mit dem (nicht sichtbaren!) Foramen magnum. Der Unterrand
5 gangs (4½-monatiger Säugling). Altersphysiologisch noch unvollstän- des Clivus, der zwischen den ventralen Enden der Kondylen verläuft
dige Ossifikation des Axiskörpers und des Dens axis (VK vorderer Kondylenpfeiler), bildet die meist bogenförmige inter-
kondyläre Brücke (IKB). Die dorsalen Enden der Kondylen (HK hinte-
6 rer Kondylenpfeiler) sind im Röntgenbild plattennah und daher dicht
niert und gelegentlich als Spaltbildung oder gar als Bogen- markiert (Coenen 1998)
7 fraktur fehlgedeutet wird. Gleiches gilt für die Knorpelfugen
zwischen den einzelnen noch nicht verknöcherten Kompo-
nenten von Dens axis und Axiskörper, die vor allem bei Axis-
8 rotation ein verwirrendes Bild bieten können.
In der embryologischen Entwicklung gehen Axiskör-
9 per und Dens axis aus 2½ Somiten hervor, wobei der Dens
aus dem Pleurozentrum von C1 (dem eigentlichen Atlas-
körper) und dem Proatlas entsteht, der kranialen Hälfte des
10 6. Somiten. Dieser Proatlas, der die Densspitze bildet, verknö-
chert später als die übrigen Densanteile. Daher stellt sich der
11 Dens axis im a.-p.-Röntgenbild des Säuglings oft als kamel-
höckerartiger Stumpf dar. Und schließlich ist auch noch die
transitorische Bandscheibe zwischen Axiskörper und Dens
12 an der Bildung des 2. Halswirbelkörpers beteiligt, der mit sei- . Abb. 7.6 Röntgendetailaufnahme des zervikookzipitalen Über-
nen verschiedenen Wachstumsfugen beim Säugling radiolo- gangs (Säugling). Analog zum Tunnelmodell sind die diagnostisch
13 gisch ein »fragmentiertes« Bild bieten kann (. Abb. 7.4). wichtigen Strukturen gekennzeichnet. IKB interkondyläre Brücke, HK
Die von Arlen angegebenen röntgenologischen Kriterien hinterer Kondylenpfeiler, VK vorderer Kondylenpfeiler, A seitliche At-
für die Bestimmung der Atlasstellung gegenüber den Okzi- lasmassen
14 putkondylen gelten für das ausgereifte Skelett des Erwachse-
nen. Auf Säuglinge sind sie nicht ohne Weiteres übertragbar,
15 da die keilförmigen Ossifikationskerne der Massae laterales ist plattennah und als dichte, meist gut konturierte keilför-
nicht identisch sind mit der tatsächlichen, noch weitgehend mige oder ovale Verschattung erkennbar (hinterer Kondylen-
knorpeligen Form des Atlas. Das gilt auch für die Okziput- pfeiler), während das vordere Kondylenende plattenfern als
16 kondylen, die sich beim Säugling oft abgerundet und stumpf kleine Kante am interkondylären Bogen erscheint (vorderer
darstellen und die markante mediokaudale Kontur vermissen Kondylenpfeiler) (Coenen und Milbradt 1998).
17 lassen.
Fazit
Tipp Bei der Beurteilung der Atlas-a.-p.-Röntgenaufnahme des Säug-
18 lings erleichtert das Tunnelmodell die Identifizierung der zer-
Für die röntgenologische Stellungsdiagnostik des Atlas vikookzipitalen Strukturen zur Bestimmung der Atlasposition
19 und die Bestimmung des Gelenkflächenkontakts zwi-
schen Atlas und Okziputkondylen können nur die sicht-
gegenüber den Okziputkondylen.

baren knöchernen Anteile herangezogen werden. Geometrische Hilfslinien


20 Für die Durchführung der Atlastherapie wird üblicherweise
Zum besseren Verständnis der Röntgenmorphologie des zer- die Stellung des Atlas gegenüber den Okziputkondylen in der
vikookzipitalen Übergangs sei daran erinnert, dass es sich frontalen Ebene beurteilt, wobei diese Stellung an den Kon-
hier um die flächige Summationsaufnahme einer dreidimen- taktflächen der Gelenkpartner abgelesen wird.
sionalen skelettären Struktur handelt. Das Okziput mit sei- Zur geometrischen Bestimmung der Atlasposition hat
nen Kondylen stellt dabei ein tunnelähnliches Gebilde dar sich das Einzeichnen von Hilfslinien auf dem Röntgenbild
(. Abb. 7.5, 7.6), dessen Seitenwände die konvergierend ver- bewährt (. Abb. 7.7): Senkrecht zur Grundlinie 1 werden Pfei-
laufenden Kondylen formen, während Okziput und Foramen lerlinie 2 und Atlaslinie 3 eingezeichnet. Aus dem Abstand von
magnum das Dach bilden. Die hintere Kondylenbegrenzung Linie 2 zu Linie 3 ergibt sich die Kontaktfläche 4 und damit im
7.1 · Atlastherapie nach Arlen
93 7
5 3 2 2 35

1 1

-4- -4-

. Abb. 7.7 Geometrische Hilfslinien. 1 Grundlinie: Horizontale Ver-


bindung der Unterkanten der hinteren Kondylenpfeiler. 2 Pfeilerlinie: . Abb. 7.8 Atlas-a.-p.-Bild eines 3-monatigen Säuglings. Linkslate-
Lot auf die Grundlinie entlang der medialen Begrenzung des hinteren ralposition des Atlas mit gleichzeitiger Anteriorstellung links, erkenn-
Kondylenpfeilers. 3 Atlaslinie: Lot auf die Grundlinie entlang der late- bar am sog. Becherrand (BR): Gemeint ist die obere mediale Begren-
ralen Kante der Massa lateralis atlantis. 4 Kontaktfläche zwischen At- zung (Pfeil) der seitlichen Atlasmasse, die durch das Ventralgleiten des
lasgelenkfläche und Kondylengelenkfläche. 5 Laterale Grenzlinie: Lot Atlas sichtbar wird, vergleichbar dem oberen Rand eines von der Seite
auf die Grundlinie durch den lateralen Kondylusrand betrachteten, leicht schräg gehaltenen Bechers

Seitenvergleich die Position des Atlas zum Okziput. Die late- 7.1.4 Kopfhaltung und Atlasstellung
rale Grenzlinie 5 kann als zusätzliche Hilfslinie herangezogen
werden: Je größer der Abstand zwischen Linie 2 und Linie 3 Ein sehr häufiger Röntgenbefund bei TAS-Kindern ist die
(= Kontaktfläche), desto kleiner sind die Abstände zwischen Lateralposition des Atlas zur Konvexseite der Kopfschiefhal-
Linie 3 und Linie 5 bzw. umgekehrt. tung: So steht z.B. bei Linksneigehaltung des Kopfes der Atlas
rechtslateral. Gewöhnlich korreliert dieser Befund mit der
j Lateralposition des Atlas Seite der Kopfdrehung.
Eine im Seitenvergleich größere Kontaktfläche bedeutet, dass Nach biomechanischem Verständnis liegen die Verhält-
der Atlas zu dieser Seite gegenüber dem Okziput in einer nisse allerdings genau umgekehrt: Bei Seitneige des Kopfes
Lateralposition steht. gleitet der Atlas normalerweise in Richtung der Seitneigung,
steht also konkavseitig. Der Axis rotiert in die gleiche Rich-
j Anteriore Atlasstellung tung, sein Dornfortsatz dementsprechend in die Gegenrich-
Ebenso häufig wie eine Lateralstellung des Atlas gegenüber tung (Lewit 1997, Jirout 1990, Gutmann u. Biedermann 1984).
dem Okziput ist die Rotationsstellung um die mediane oder Diese Erkenntnisse wurden mittels Funktionsröntgenaufnah-
paramediane vertikale Achse. Vielfach sind Lateralität und men bei unausgewählten erwachsenen Probanden gewon-
Rotation kombiniert. Eine Rotation zeigt sich in einer (meist) nen. Biedermann (1999), der eine große Anzahl von Säug-
einseitigen Anteriorposition des Atlas (. Abb. 7.8), erkenn- lings-Röntgenbildern auswertete, ist allerdings der Ansicht,
bar dass diese Regel auf Säuglinge nicht anzuwenden sei, sondern
4 am »Becherrand«, der die kraniale Gelenkfläche dass bei Seitneigung des Kopfes im Säuglingsalter der Atlas in
begrenzt, die konvexseitige Richtung gleite. Dieser Bewegungsmecha-
4 ggf. an einer flacheren Keilform der anterior stehenden nismus dient nach seiner Auffassung »dem Schutz der großen
Massa lateralis und Leitungsbahnen«. Auch Sacher (2008) hält diese »paradoxe
4 am mehr kranialwärts gebogenen Verlauf des Querfort- Atlaslateralisation« zur Konvexseite beim Säugling für den
satzes. Regelfall und führt als Ursache eine »physiologische Hypo-
plasie« der Okziputkondylen an, mit Abflachung des fronta-
Manchmal wird bei sehr deutlicher Anteriorposition auch len Kondylengelenkwinkels. Es ist allerdings fraglich, ob die
das Foramen transversarium sichtbar. aus dem Röntgenbild des Säuglings ermittelten Kondylenwin-
kel der tatsächlichen Neigung der Gelenkwinkel entsprechen,
j Posteriore Atlasstellung denn die Form der knorpeligen Anteile der noch unvollstän-
Eine posteriore Atlasstellung lässt sich beim Säugling röntge- dig ossifizierten Okziputkondylen lässt sich nicht unbedingt
nologisch kaum von einer Neutralstellung abgrenzen, ist aber aus der bereits sichtbaren knöchernen Anlage erkennen.
therapeutisch auch ohne Bedeutung. Ferner ist zu bedenken, dass diese Röntgenbefunde
regelmäßig bei Säuglingen erhoben werden, die Dysfunkti-
onen der oberen Halswirbelsäule aufweisen und eine nor-
male Beweglichkeit von Atlas und Axis daher nicht voraus-
gesetzt werden kann. Vielmehr darf vermutet werden, dass
die blockierungsbedingte Tonusveränderung der an Atlas
94 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

und Axis ansetzenden Muskeln (immerhin 15 Muskeln an ralisation durch eine segmentale Funktionsstörung mitbe-
1 der Zahl, 12 davon autochthon innerviert) an einer konvex- stimmt und eventuell verstärkt wird. Dass bei erfolgreicher
seitigen Fixierung des Atlas entscheidend beteiligt sind und Behandlung von TAS-Kindern vermutlich keine Symmetri-
2 auch die Axisstellung beeinflussen: Denn in dieser Situati-
on steht der Axis nicht, wie zu erwarten wäre, zur Konkav-
sierung des Atlas erfolgte, zeigte sich schon in verschiedenen
Fällen, als bei denselben Kindern im Schulalter aus anderen
seite rotiert, sondern meist neutral, da seine Zwangsrotation Gründen (Trauma, Kopfschmerzen o.Ä.) erneut ein Röntgen-
3 zur Neigeseite durch die beim TAS regelmäßig vorhandene bild des zervikookzipitalen Übergangs angefertigt wurde, das
Kopfdrehung zur Konvexseite ausgeglichen wird. Überhaupt dieselbe Atlasposition zeigte wie im Säuglingsalter. Ebenso
4 spielt die segmentale und auf das Segment einwirkende Mus-
kulatur, die nach eigener Anschauung bei sensomotorischen
trifft man immer wieder auf eine familiäre Häufung gleich-
förmiger asymmetrischer Relationen zwischen Okziput und
Störungen das entscheidende pathologische Agens ist, in den Atlas. Rätsel geben allerdings jene Ausnahmen auf, bei denen
5 bisher zu diesem Thema erschienen Beiträgen kaum eine Rol- tatsächlich eine Positionsänderung des Atlas nachweisbar ist.
le zugunsten einer rein röntgenologisch-gelenkmechanischen Ob diese Ausnahmen eine Regel bestätigen, muss noch wei-
6 Betrachtungsweise. ter erforscht werden.
Valide Daten zu den Röntgenbefunden symptomloser Ist die strikte Forderung nach anatomischer Symmetrie
Säuglinge mit ungestörter Kopfgelenksfunktion liegen nicht realistisch?
7 vor und sind aus naheliegenden ethischen Gründen auch in
Zukunft nicht zu erwarten. Dies räumen auch Biedermann
(1999) und Sacher (2008) ein und halten weitere Untersu- 7.1.5 Symmetrie, ein zuverlässiges Prinzip?
8 chungen zu dieser Frage für erforderlich.
Die Symmetrie gilt als fundamentales Prinzip in Natur- und
9 Fazit Geisteswissenschaften sowie in der Kunst (Hahn 1989). Auch
Man darf davon ausgehen, dass bei TAS-Kindern die Lateralpo- die Biologie sieht in der Symmetrie das wesentliche Bauprin-
zip der Lebewesen, bezogen auf Form, Körperbau und Bewe-
10 sition des Atlas zur Gegenseite der Kopfseitneigung nicht einer
altersgemäßen physiologischen Gelenkmechanik entspricht, gung. Abweichungen von diesem Grundsatz, wie es sich z.B.
Die Seitneigung des Kopfes ist nämlich der klinische Befund. der Plattfisch erlaubt, werden als Kuriosität geduldet. Selbst-
11 Das Röntgenbild aber wird in Neutralstellung des Kopfes ange- verständlich zeigen auch die Vertebraten (und somit der
fertigt, nicht in Seitneigung. Die röntgenologisch dokumentier- Mensch) in ihrem metameren Körperbau das phylogene-
te Lateralposition des Atlas ist demnach unabhängig von der tische Merkmal der Symmetrie. Im Gegensatz zu Mathematik,
12 Neigeposition des Kopfes vorhanden. Über Serien von Funkti- Physik und auch Philosophie nehmen es biologische Systeme
onsaufnahmen der Halswirbelsäule in Seitneigung und Rotati- allerdings mit der Symmetrie nicht so genau, wie man anneh-
13 on, wie sie von Erwachsenen vorliegen, verfügen wir bei Säug- men sollte. Denn eine Rechts-Links-Asymmetrie ist im Kör-
lingen nicht. perbau der Vertebraten wohl eher die Regel als die Ausnah-
me (Burdine et al. 2000, Capdevilla et al. 2000, Hamada et al.
14 k Folgerungen für die Therapie 2002). Nach Christ und Huang
Aus der Lateralposition des Atlas, die bei vielen TAS-Kindern
15 nachweisbar ist, werden unterschiedliche therapeutische Fol- » … gehen alle Strukturen der Wirbelsäule aus paarigen Anla-
gerungen gezogen. Biedermann (1999) sieht darin die Not- gen hervor … Die Blasteme beider Seiten entwickeln sich nach
wendigkeit, den Atlas mit der von ihm bevorzugten Tech- einem weitgehend identischen Differenzierungsprogramm. Bei
16 nik zu »symmetrisieren«, d.h., in eine symmetrische Stellung genauer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass sowohl bei
zu den Okziputkondylen zu bringen. Ob die Atlasstellungs- den Wirbeln wie bei den Muskeln bilaterale Asymmetrien auf-
17 korrektur geglückt ist, wird aus dem therapeutischen Effekt treten … In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Genpro-
geschlossen wie z.B. Normalisierung der Kopf- und Rumpf- dukte identifiziert worden, die schon im frühen Embryonalsta-
haltung, des Muskeltonus, des Schlafverhaltens usw. Reprä- dium asymmetrische Expressionsmuster aufweisen … Die Ge-
18 sentative Röntgenkontrollserien von Säuglingen unmittelbar ne der Rechts-Links-Asymmetrie werden in medio-lateraler
nach erfolgter Therapie, die eine Symmetrisierung des Atlas Richtung angeschaltet und einige ihrer Genprodukte sind auch
19 dokumentieren, sind bisher nicht bekannt und aus ethischen im paraxialen Mesoderm, dem Anlagematerial der Wirbelsäule
Gründen auch nicht vertretbar. «
und der Skelettmuskulatur, nachweisbar. (Christ und Huang
Nach eigener Anschauung wird mit der Atlas-Impulsbe- 2005)
20 handlung jedoch keine Positionsänderung der Gelenkpartner
des atlantookzipitalen Übergangs angestrebt, eine Ansicht, die Diese Feststellung ist von einiger Bedeutung für die Bewer-
auch Sacher (2005) vertritt. Vielmehr ist die Lateralposition tung des a.-p.-Röntgenbildes des zervikookzipitalen Über-
des Atlas als eine physiologische, wohl auch genetisch beein- gangs und für die therapeutische Zielsetzung bei einem
flusste Stellungsvariante anzusehen, die möglicherweise das TAS: Eine genetisch bedingte asymmetrische Ausformung
Auftreten von segmentalen Dysfunktionen begünstigt. Rönt- der Okziputkondylen oder des Atlasringes (Lang 1981, 1991)
genbefunde mit vollkommen symmetrischen Gelenkverhält- lässt eine symmetrische Stellung dieser beiden Skelettanteile
nissen sind in der ärztlichen Praxis nur selten zu sehen. Zu zueinander nicht erwarten. Röntgonologisch dokumentierte
diskutieren ist, ob beim Säugling das Ausmaß dieser Late- Asymmetrien der zervikookzipitalen Strukturen im Sinne
7.1 · Atlastherapie nach Arlen
95 7
einer lateralen oder rotatorischen Stellungsabweichung des
Atlas gegenüber den Okziputkondylen sind – zumindest in
der ärztlichen Praxis – bedeutend häufiger anzutreffen als
völlig symmetrische Konstellationen. Arlen hatte dies schon
frühzeitig erkannt, Krämer und Patris (1989) wiesen es nach.
Auch Anatomen und Archäologen ist eine asymmetrische
Ausgestaltung der einzelnen Skelettelemente schon lange ver-
traut.

> Wichtig
Der atlastherapeutische Impuls hat also nicht die Sym-
metrisierung des Atlas zum Ziel, die bei anlagebeding-
ter Asymmetrie nur mit einer traumatisierenden Gewalt
zu erreichen wäre, sondern neben der Beseitigung einer
gelenkmechanischen Blockierung vor allem die Ände-
rung des nozizeptiv veränderten propriozeptiven Mus-
. Abb. 7.9 Griffanlage zur HIO- (Hole in One-)Technik beim Er-
ters der oberen Halswirbelsäule.
wachsenen

Aus den vorhergehenden Kapiteln dürfte klargeworden sein,


dass dies die Voraussetzung für eine Normalisierung der sen-
somotorischen Steuerung ist. Die Atlasstellung im Röntgen-
bild zeigt lediglich die therapeutische Impulsrichtung an. In
diesem Sinne ist der Atlas selbst gewissermaßen als skelet-
tärer »Hebel« zu betrachten, der den Zugang zum zervikook-
zipitalen Rezeptorenfeld ermöglicht.

7.1.6 KISS oder KUSS?

Biedermann (1991, 1993, 1999) verwendet für das TAS-Sym-


ptombild den Begriff kopfgelenksinduzierte Symmetriestö-
rung (KISS), wobei er von einer traumatisch oder zwangsla-
gebedingt entstandenen Verschiebung des Atlas in die Late-
ralität ausgeht. Über den Begriff KISS wird immer wieder
diskutiert, nicht nur wegen einer gewissen semantischen
Leichtfertigkeit, sondern vor allem wegen der pathogene-
tischen Einengung auf die Kopfgelenke und des mechani- . Abb. 7.10 Modifizierte HIO-Technik beim Säugling nach Gut-
stischen Denkansatzes. Zwar sind die Kopfgelenke beim TAS mann
stets in irgendeiner Weise mitbetroffen (7 Kap. 4.5.3, »Bahn-
höfe« und Vernetzungsorte), aber nicht immer Sitz der pri-
mären Pathologie. Dysfunktionen bei C2/3 findet man nicht nach Arlen: Bei der Gutmann-Technik liegt das Kind auf dem
viel seltener als solche an den oberen und unteren Kopfge- Rücken. Der Therapeut sucht mit dem Zeigefingergrund-
lenken. Auch Funktionsstörungen des Beckenringes kön- glied Kontakt am Querfortsatz C1 zwischen Okziput und
nen beim Säugling ein TAS hervorrufen mit Beteiligung der dem Querfortsatz C2. Aus dieser Position erfolgt ein medi-
übrigen Schlüsselregionen; und mitunter findet man die pri- anwärts gerichteter Stoßimpuls. Die Behandlung einer rota-
märe Pathologie auch im zervikodorsalen Übergang. In sol- torischen Komponente der Atlasposition ist auf diese Weise
chen Fällen wird scherzhafterweise von KUSS gesprochen, der kaum möglich (. Abb. 7.10).
kopfgelenksunabhängigen Symmetriestörung.

k Modifizierte HIO-Methode nach Gutmann 7.1.7 Atlastherapie beim Säugling


Die von Gutmann (1968, 1987) für Säuglinge angegebene, von
der HIO-Methode (. Abb. 7.9) abgeleitete und auch von Bie- Zur Durchführung der Atlastherapie sitzt das Kind im Reitsitz
dermann verwendete Therapietechnik folgt den Vorstellungen auf einem Bein der Hilfsperson mit dem Rücken zum Thera-
einer aktiven Symmetrisierung des Atlas (HIO: Abkürzung peuten (. Abb. 7.11). Die Hilfsperson fixiert Arme und Rumpf
für Hole in One, ein Meisterschlag beim Golf). in aufrechter Position des Kindes, damit Kopf und Körper lot-
Sowohl in diesem Punkt als auch in der technischen recht eingestellt sind.
Durchführung unterscheidet sich die Gutmann-Methode Diese aus langjähriger Erfahrung entstandene Ausgangs-
wesentlich von der für Säuglinge modifizierten Atlastherapie position bietet folgende Vorteile:
96 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

Gutmann (1968, 1987) bezeichnete seine Technik als


1 »Schlag ins Vegetativum«. Koch (2006) berichtet über vege-
tative Begleitreaktionen nach Behandlung der Kopfgelenke
2 mit der Gutmann-Technik:
4 Hautrötung im Kopfbereich (Flush),
4 vermehrtes Schwitzen, aber auch
3 4 Apnoe,
4 Bradykardie,
4 Überstreckung von Kopf und Rumpf oder
4 4 Tonusverlust der autochthonen Muskulatur.

5 Flush und vermehrtes Schwitzen werden auch nach Atlas-


therapie beobachtet, die anderen Reaktionen hingegen nicht.
6 Eigene monitorierte Untersuchungen bei Säuglingen und
Erwachsenen ließen keine signifikante Änderung der Aus-
gangsparameter von SpO2, Herzfrequenz und EKG erken-
7 nen; gelegentlich kam es zu einem kurzfristigen, nicht signi-
fikanten Anstieg des SpO2, nie aber zu einem Abfall. Ebenso
wurden nach Atlastherapie weder Bradykardie noch Apnoe
8 beobachtet. Schwerst mehrfach behinderte Kinder mit Dau-
ermonitoring wegen respiratorischer Insuffizienz tolerierten
9 . Abb. 7.11 Ausgangsstellung und Griffanlage der Atlastherapie
die Atlastherapie nebenwirkungsfrei. Dieser Unterschied zwi-
beim Säugling. Der Atlasquerfortsatz liegt unter der Mittelfingerkup- schen Atlastherapie und Gutmann-Technik hinsichtlich der
vegetativen Begleitreaktionen erklärt sich möglicherweise aus
10 pe, über die nach kurzer Vorspannung der therapeutische Impuls er-
folgt der Durchführung: Die Übertragung des therapeutischen
Impulses geschieht bei der Atlastherapie über die Mittelfin-
11 gerkuppe, die nicht nur dicht mit Sensoren für das Berüh-
4 Der Atlasquerfortsatz lässt sich mit der Mittelfingerkup- rungsempfinden und den Drucksinn ausgestattet ist, sondern
pe zuverlässiger tasten und abgrenzen als im Liegen. auch eine kleinere und daher zielgenauere Kontaktfläche bie-
12 4 Ein häufig indizierter Impuls über die Ventralseite des tet. Der Impuls überträgt sich somit exakt auf den Atlasquer-
Atlasquerfortsatzes bei sog. Anteriorstellung ist durch- fortsatz und erreicht direkt die Rezeptoren in der subokzipi-
13 führbar, während er beim liegenden Kind nicht mög- talen Muskulatur. Das Zeigefingergrundglied hingegen ist
lich ist. weniger sensibel ausgestattet und erfasst bei der Gutmann-
Technik je nach Fingervolumen des Therapeuten mehr Struk-
14 Tipp turen des zervikookzipitalen Übergangs als nur den Atlas-
querfortsatz. Wie unten näher ausgeführt wird, ist auch die
15 Bei der Palpation des Atlasquerfortsatzes ist zu
bedenken, dass der Proc. mastoideus in den ersten
Krafteinwirkung größer als bei der Atlastherapie, da ja eine
Symmetrisierung des Atlas angestrebt wird.
8–10 Lebensmonaten noch nicht ausgebildet ist und als
16 Orientierungshilfe ausfällt. Wegen der physiologischen
Streckhaltung der HWS im Säuglingsalter ist der Quer- Exkurs: Einfach-HIO
17 fortsatz C1 daher relativ weit kaudal und meist etwas
dorsaler als erwartet zu tasten.
Der Vollständigkeit halber und um Missverständnissen vorzu-
beugen, sei hier die von Bischoff (1994, 2007) beschriebene
vereinfachte Einfingertechnik am Atlasquerfortsatz erwähnt,
18 Schulkinder und Erwachsene sitzen zur Durchführung der
auch als Einfach-HIO bezeichnet. Ein Röntgenbild oder eine
klinische Stellungsdiagnostik ist bei dieser Behandlung nicht
Atlastherapie auf einem der Körpergröße entsprechend ein- erforderlich. Mit der vereinfachten Einfingertechnik, die ein-
19 gestellten Hocker. Die Griffanlage ist dieselbe wie beim Säug- seitig oder simultan beidseitig durchgeführt wird, kann nach
ling. Bischoff ein »allgemein entspannender Effekt« erreicht wer-
den, weswegen sie besonders für den Anfänger geeignet sei.
20 Begleitreaktionen Bischoff betont, dass die von Arlen gelehrte »weitergehen-
Die Besserung nach Atlastherapie bezüglich de Technik eine wertvolle Ergänzung für Manualmediziner mit
abgeschlossener Ausbildung« darstellt.
4 Haltung und Beweglichkeit von Kopf und Rumpf,
Es bedarf wohl keiner weiteren Begründung, dass diese
4 Tonussteuerung,
vereinfachte Einfingertechnik für die Therapie neurologischer
4 Schlafverhalten, Erkrankungen und erst recht für die Behandlung von Säuglin-
4 Schreiattacken usw. gen gänzlich ungeeignet ist.
entspricht dem Therapieeffekt, der auch mit der Gutmann-
Technik erreicht wird. Ein Unterschied besteht wohl in
bestimmten vegetativen Begleitreaktionen.
7.1 · Atlastherapie nach Arlen
97 7
Kontraindikationen Das Belichtungsfeld wird auf 6×8 cm eingeblendet. Der
Im Gegensatz zur klassischen Manipulation der Kopfgelenke Zentralstrahl ist senkrecht auf die Kassettenmitte gerich-
mit Traktion, Rotation und Flexion bzw. Extension der HWS tet und soll knapp oberhalb des Mundwinkels in Richtung
gibt es bei der lege artis durchgeführten Atlastherapie ad des tastbaren Okziputunterrandes verlaufen. Der Kopf des
modum Arlen keine behandlungstypischen Komplikationen. Kindes muss vom Arzt oder der Röntgenassistentin in der
Kontraindiziert ist die Atlastherapie bei gewünschten Position gehalten werden. Ein schreiendes Kind
4 zervikalen und medullären neoplatischen Prozessen, erleichtert die Aufnahme, da der Mund geöffnet sein muss.
4 spezifischen und unspezifischen Entzündungen (z.B. Bei unzureichend geöffnetem Mund kann ein Spatel zur Hil-
Grisel-Syndrom, 7 Kap. 10.1.7), fe genommen werden.
4 Wirbelkörperfrakturen und Luxationen traumatischer Verwendet werden kontrastarme Filme für die Kassetten-
Genese und größe 13×18 mit Verstärkerfolie 400 oder 800.
4 frischen Verletzungen der Schädelbasis.
> Wichtig
Als relative Kontraindikationen können komplexe, Segment Für die Atlastherapie verwertbar ist eine Aufnahme, auf
übergreifende Missbildungen und Segmentationsstörungen der sich folgende Strukturen exakt abgrenzen lassen
sowie eine Arnold-Chiari-Malformation in Frage kommen. (. Abb. 7.2, 7.6, 7.8):
5 Okziputkondylen,
Methodische Bedingungen 5 seitliche Atlasmassen und
Für die Wirksamkeit der Atlastherapie müssen die in 7 Über- 5 atlantookzipitale Gelenkflächen.
sicht 7.3 hervorgehobenen Voraussetzungen erfüllt werden.
Die übrigen mitdargestellten knöchernen Strukturen sind für
die Ausschlussdiagnostik pathologischer Veränderungen von
Übersicht 7.3 Voraussetzungen für eine wirksame Bedeutung, nicht für die Durchführung der Atlastherapie.
Atlastherapie (Atlastherapeuten, die eine Röntgenuntersuchung der Kopf-
1. Korrekte Impulsrichtung gelenke mangels eigener technischer Ausstattung an den Radi-
2. Einwandfreie Impulstechnik ologen delegieren müssen, sei empfohlen, eine a.-p.-Röntgen-
3. Alters- und befundabhängige Impulsdosierung aufnahme der Schädelbasis zu verlangen. So kann erwartet
werden, dass die für die Beurteilung unentbehrlichen Okzi-
putkondylen mit abgebildet sind.)
k 1. Korrekte Impulsrichtung – korrekte Röntgentech- Bei der seitlichen Aufnahme der Kopfgelenke liegt das
nik Kind auf einer Seite mit leicht rekliniertem Kopf, Schulter
Aus der Analyse der Röntgenaufnahme des zervikookzipi- und Arme werden von einer Hilfsperson fixiert. Der Zentral-
talen Übergangs im anterior-posterioren Strahlengang ergibt strahl wird auf einen Punkt unmittelbar unterhalb des Ohr-
sich die therapeutisch wirksame Atlasimpulsrichtung. läppchens gerichtet.

j Röntgentechnik j Verzichtbare Röntgenaufnahme?


Zur Anfertigung des Röntgenbildes wird das Kind auf den Obwohl entsprechende Untersuchungen laufen, wurden bis-
Rücken gelagert. Die Augen des Kindes sollten mit einer her noch keine zuverlässigen klinischen Zeichen oder Kri-
Bleibrille bzw. einem Bleiband und der Körper mit einer Blei- terien gefunden, mit deren Hilfe sich die therapeutische
schürze abgedeckt werden (. Abb. 7.12). Impulsrichtung besser bestimmen lässt als aus dem Röntgen-
bild. Die palpatorische Atlasstellungsdiagnostik ist mit einer
so hohen Fehlerquote belastet, dass sie zur sicheren Festle-
gung der Therapierichtung untauglich ist. Ebenso wenig hat
sich beim Säugling bisher die Zuverlässigkeit des von Gar-
ten (2007) vorgeschlagenen manuellen Muskeltests (nach
Goodheart) sowie die Prüfung der Muskeleigenreflexe erwie-
sen, die auf der Behandlungsseite hypoton sein sollen. (Der
manuelle Muskeltest lässt sich beim Säugling zudem nur als
sog. Surrogattest durchführen, dessen Aussagekraft ziemlich
zweifelhaft ist.)

j Impulsrichtung
Leider ist kein sicherer Verlass auf die Regel, dass bei der
überwiegenden Anzahl der TAS-Kinder der Atlas lateral zur
Konvexseite der Kopfhaltung steht und daher von dieser
Seite ein Lateralimpuls erfolgen muss. Denn bei sorgfältiger
. Abb. 7.12 Lagerung des Kindes zur Röntgenuntersuchung des Röntgenbildanalyse wird man feststellen, dass in vielen Fällen
zervikookzipitalen Übergangs, Abdeckung der Augen mit Bleiband der Atlas konvexseitig auf dem Okziputkondylus nach ventral
98 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

»geglitten« scheint, also anterior steht (mit oder ohne gleich-


1 zeitige Lateralposition) und der wirksame Impuls gewöhnlich
von anterior und nicht von lateral angezeigt ist.
2 Hinweise auf eine einseitige Anteriorposition des Atlas
sind auch dann von Bedeutung, wenn der Atlas im Röntgen-
bild neutral steht, was mitunter vorkommt; wenn also weder
3 eine Lateralposition zur Konvex- noch zur Konkavseite der
Kopfhaltung erkennbar ist. Sofern das Röntgenbild eine Ante-
4 riorposition erkennen lässt, wird der Therapieimpuls von der
anterioren Seite geführt. Eine Neutralstellung ist dann anzu-
nehmen, wenn die Kontaktflächen, ermittelt mit den Hilfsli-
5 nien 2 und 3, im Seitenvergleich eine Differenz von weniger
als 1 mm aufweisen.
In den nicht so häufigen Fällen, in denen der Atlas auf . Abb. 7.13 a.-p.-Röntgenaufnahme der Kopfgelenke (7-jähriger
6 der Konkavseite der Kopfhaltung lateral steht, auf der Kon- Junge): Der Atlas steht links lateral und beidseits anterior. Der Axis ist
jedoch nach rechts rotiert, sein Dornfortsatz daher nach links gedreht.
vexseite jedoch anterior, ist der Impuls von der Anteriorseite
Klinisch bestehen multisegmentale Blockierungen C1/2, Th1, Th4, L1
7 erfahrungsgemäß der wirksame. und S3 sowie eine deutliche Beckentorsion mit variabler Beinlängen-
Die Kontrolle der korrekten Impulsrichtung erfolgt differenz
unmittelbar nach dem Impuls durch Prüfen der Labyrinth-
8 stellreaktion (LSR). Diese Reaktion ist ein recht zuverlässiger
Indikator für einen therapeutisch wirksamen Atlasimpuls, bild sowohl von der Kopfhaltung beeinflusst als auch von der
9 da eine zuvor einseitig abnormale LSR sofort nach erfolgtem Balance der autochthonen Rückenmuskeln und der Becken-
Impuls eindeutig besser oder gar seitengleich normal sein stellung. So kann es im Rahmen einer Blockierung oder auch
sollte. multipler segmentaler Dysfunktionen vorkommen, dass der
10 Axis bei einer Lateralposition des Atlas nicht, wie zu erwar-
Tipp ten, in die gleiche Richtung rotiert, der Dornfortsatz also in
11 die Gegenrichtung abweicht, sondern der Axis neutral steht
In den Fällen, in denen die abnormale LSR unverän- oder gar in die Gegenrichtung dreht (. Abb. 7.13).
dert bleibt, wurde entweder die therapeutisch wirksa-
12 me Impulsrichtung über den Atlasquerfortsatz verfehlt > Wichtig
oder die primäre Störung, die das TAS verursacht, liegt in Über den M. multifidus und den M. longissimus cervicis,
13 einem weiter kaudal gelegenen Wirbelsäulenabschnitt
(s.o.), der dann gezielt manuell behandelt werden muss
beide autochthon innerviert, besteht eine direkte Ver-
bindung zwischen Sakrum und Axis. Dies könnte erklä-
(7 Abschn. 7.2, Chirotherapeutische Manipulation bei ren, warum eine iliosakrale Dysfunktion so häufig mit
14 Säuglingen). einer Axisrotation und einer unteren Kopfgelenksblo-
ckierung einhergeht.
15 Die Normalisierung der LSR ist das erste Therapieziel, das
angestrebt wird. Wird es nicht erreicht, werden sich auch die k 2. Einwandfreie Impulstechnik
anderen therapeutischen Zielforderungen kaum erfüllen las- Die exakte palpatorische Identifizierung des Atlasquerfort-
16 sen. Wenn es erreicht ist, bedeutet das allerdings nicht, dass satzes ist eine unverzichtbare Voraussetzung für eine ein-
die Therapie schon beendet werden kann. Die Gründe dafür wandfreie Impulstechnik. Dem Ungeübten kann dies je nach
17 werden in 7 Abschn. 7.1.7.5, Wunderheilungen sind nicht die Ausformung des Querfortsatzes und den Stellungsvarianten
Regel, erläutert. des Atlas mitunter Schwierigkeiten bereiten.
Bei Blockierungen im Segment C2/3 kann es angezeigt Der Impuls auf den Atlasquerfortsatz erfolgt über die
18 sein, aus gelenkmechanischen Gründen zusätzlich zum Atla- Mittelfingerkuppe in leichter Flexion des Mittel- und Endge-
simpuls einen Rotationsimpuls über den Dornfortsatz C2 zu lenks und leichter Extension im Mittelfingergrundgelenk und
19 geben. Dabei wird die Impulsrichtung aus dem Verhalten der im Handgelenk. Diese Gelenkkette wird durch isometrische
Nozireaktion im blockierten Segment ermittelt, was durch Kokontraktion der Unterarmextensoren und -flexoren in
vergleichendes passives Seitneigen des Kopfes in beide Rich- Beugestellung des Ellenbogengelenks stabilisiert, Schulterge-
20 tungen bei gleichzeitiger Palpation der nozireaktiven Gewe- lenk in Neutralstellung. Aus dieser Haltung wird nach kurzer
beinduration geschieht. Der Rotationsimpuls über den Axis- Vorspannung ein ultrakurzer Fingerstoßimpuls in die ermit-
Dornfortsatz erfolgt dabei in die freie Richtung, die gewöhn- telte therapeutische Richtung auf den Atlasquerfortsatz gege-
lich schon aus der klinischen Kopfneigehaltung erkennbar ist. ben. Die Vorspannung, auch Tiefenkontakt genannt, darf
Das Röntgenbild, angefertigt in Neutralstellung des Kopfes, nicht zu stark sein und sollte nicht viel länger als 1 sec dauern.
liefert hingegen keine zuverlässigen Informationen zum Eine zu kräftige und zu lange Vorspannung kann für den Pati-
Impuls über den Axis. Denn während der Atlas selbst nur enten sehr unangenehm sein. Die Impulsschnelligkeit sollte
wenig Lateralflexion und kaum Rotation ausführen kann, 1/20 sec betragen. Stärke und Dauer der Vorspannung sowie
wird die Position des rotationsfreudigen Axis im Röntgen- die Impulsschnelligkeit müssen am Impulssimulator geübt
7.1 · Atlastherapie nach Arlen
99 7

. Abb. 7.14 Impulssimulator (Fa. MABRA, Mönchweiler). Der


Übungsimpuls wird auf einen mit Leder gepolsterten Metallstift (Pfeil)
ausgeübt. Ein Sensor registriert Kraft und Schnelligkeit des Impulses.
Mittels elektronischer Datenverarbeitung werden die Messwerte als
Kurve auf dem Bildschirm des angeschlossenen Rechners sichtbar ge-
macht. Die Bildschirmdarstellung ist je nach gewünschtem Kraftauf-
wand in Maximalwerte von 4 kp, 8 kp und 16 kp einstellbar

werden, bevor die Atlastherapie am Patienten eingesetzt wird


(. Abb. 7.14).

k 3. Dosierung der Impulsstärke


Die Dosierung der Impulsstärke richtet sich nach Alter, . Abb. 7.15 Monitorbild einer Übungsserie am Simulator mit Im-
Geschlecht und Konstitution des Patienten. Es versteht sich pulsstärken zwischen 1,3–2,3 kp. Schnelligkeit jeweils 1/20 Sekunde
(Maximalkrafteinstellung des Simulators 4 kp)
von selbst, dass bei Säuglingen eine deutlich geringere Kraft
eingesetzt wird als bei Schulkindern und Erwachsenen.
Das Einüben der Impulsdosierung geschieht mithil-
fe des Impulssimulators unter Echtzeit-Monitorkontrol-
le (. Abb. 7.15, 7.16). Die Impulsstärken für Säuglinge sol-
len 2 kp (ca. 20 Newton) gewöhnlich nicht überschreiten, bei
Schulkindern reichen Impulse von 4 kp (ca. 40 N) in aller
Regel zum Erreichen des gewünschten Therapieeffekts aus.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die am Atlasquerfortsatz
ankommende Impulsstärke wegen der Dämpfung durch den
darüberliegenden Weichteilmantel um einiges geringer ist
als die am Simulator gemessenen Kräfte. Koch (2006) gibt
für seine von Gutmann abgeleitete Behandlungstechnik bei
Säuglingen durchschnittliche Impulsstärken von 50 N (5,1 kp)
an, offenbar geleitet von dem Bestreben, den Atlas zu sym-
metrisieren. Solche Kräfte sind beim Säugling nicht erfor-
derlich und begünstigen eher das Auftreten unerwünschter
Begleitreaktionen, wovon schon die Rede war. Der entschei- . Abb. 7.16 Bildschirmausdruck einer Übungsserie am Impuls-
dende Parameter ist die Schnelligkeit, mit welcher der Impuls simulator mit Impulsstärken zwischen 40–140 Newton (Maximal-
gesetzt wird. Ein starker, aber zu langsamer Impuls verfehlt krafteinstellung des Simulators 16 kp)
gewöhnlich das Therapieziel und belästigt den Patienten.

Kontrolluntersuchung Bei TAS-Kindern erfolgt die Kontrolle abhängig vom


Säuglinge, bei denen die Atlastherapie durchgeführt wurde, Vorbefund nach 2–3 Wochen. In dieser Zeit sollte möglichst
müssen in jedem Fall vom behandelnden Arzt kontrolliert keine krankengymnastische Behandlung erfolgen (von oste-
und nachuntersucht werden. Die telefonische Nachfrage nach opathischen oder kraniosakralen Techniken abgesehen), da
dem Wohlergehen des Kindes reicht nicht aus. es bei bestimmten physiotherapeutischen Ausgangspositi-
100 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

onen oder passiv angebahnten Bewegungsmustern zu Blo- auf den Rücken und sonstigen Differenzen zwischen chro-
1 ckierungsrezidiven kommen kann. nologischem Alter und Entwicklungsalter. So wird bei man-
Man darf davon ausgehen, dass sich in einem nozizep- chen Kindern beim Traktionsversuch noch eine unvollstän-
2 tiv besetzten Wirbelsäulensegment neuroplastische Vor-
gänge abspielen, wenn die Blockierung vor der manualme-
dig entwickelte Kopfkontrolle gegen die Schwerkraft deut-
lich, obwohl Haltung und Kopfbeweglichkeit in Rückenlage
dizinischen Intervention bereits längere Zeit bestanden hat. normal erscheinen. Außerdem sollten sich nach der Behand-
3 Daher droht über das Spinal memory auch nach erfolg- lung bei Säuglingen bis zu 4½ Monaten die General Move-
reicher manueller Behandlung immer die Gefahr eines Rezi- ments mindestens um eine Kategorie gebessert haben, was
4 divs, wenn das ursprüngliche Blockierungsmuster reakti-
viert wird. Dies kann z.B. im Rahmen der Vojta-Therapie
nach einer oder zwei Behandlungen nicht immer der Fall sein
muss. Und schließlich findet man immer wieder noch Nor-
beim Anbahnen des Reflexumdrehens durch passive Kopfro- mabweichungen beim Prüfen der statokinetischen Reakti-
5 tation in die ursprünglich blockierte Richtung über die sog. onen entweder als einseitig abnormale Bewegungsantworten
Barriere hinaus eintreten oder auch bei der Ausgangsstellung oder im Sinne einer seitendifferenten zeitlichen Entwicklung
6 zum Reflexkriechen, wenn zuvor eine ISG-Blockierung mit (7 Kap. 3.5.3, Bewertung der Reaktionen). Die Bewertung der
Beckentorsion behandelt wurde. Ebenso birgt das im Rah- neurokinesiologischen Reaktionen nach Vojta ist daher für
men mancher Bobath-Therapien beliebte Rotieren des kind- die Verlaufskontrolle unverzichtbar, da sich hieraus oft schon
7 lichen Beckengürtels gegenüber dem Rumpf zum Anbah- frühzeitig das stützmotorische Verhalten und die Qualität
nen des Überrollens vom Rücken auf den Bauch ein hohes komplexer Bewegungsabläufe im Vorschul- und Schulalter
Rezidivrisiko für Blockierung im dorsolumbalen Übergang prognostizieren lässt.
8 und den ISG. Diese Übung ist ohnehin nicht sinnvoll, da das
gewünschte Bewegungsmuster durch die Kopfrotation einge- Fazit
9 leitet wird und nicht durch die Beckendrehung. Eine ISG-Blo- Man wird bei genauem Hinsehen vielfach feststellen müs-
ckierung wird allerdings auch bei regelrechter Kopfkontrol- sen, dass nach der ersten Behandlung nicht alle Therapieziele
le das Überrollen verhindern (. Abb. 4.18, 7 Kap. 4.3, Kopf-
10 gelenke). Bobath- und Vojta-Therapeutinnen mit fundierten
erreicht sind, trotz Beseitigung der gelenkmechanischen Blo-
ckierungskomponente an den Kopfgelenken und Abklingen
Kenntnissen in manualmedizinischer Diagnostik können der Schmerzreaktionen. Die Behandlung kann daher noch nicht
11 solche Situationen allerdings abklären und bei ihrer Therapie beendet werden. Bei diesen Kindern wird in jedem Fall eine wei-
berücksichtigen (Coenen 1995). tere Atlastherapie durchgeführt. Eventuelle myofasziale Dysba-
lancen und Blockierungsrezidive an den WS-Schlüsselregionen
12 Wunderheilungen sind nicht die Regel werden mit geeigneten Techniken behandelt, und nach etwa
Zu Beginn dieses Kapitels wurde die Zielsetzung der TAS- 3 Wochen wird das Kind erneut kontrolliert.
13 Behandlung formuliert. Nach diesen Maßgaben hat die ärzt- Die Behandlung und Kontrolle eines TAS kann erst dann been-
liche Kontrolluntersuchung zu erfolgen, wobei alle patholo- det werden, wenn alle Kriterien der normalen sensomotori-
gischen Merkmale zu überprüfen sind, die bei der Erstunter- schen Entwicklung erfüllt sind.
14 suchung nach dem Villinger Schema festgestellt wurden.
Sehr viele TAS-Kinder zeigen bei der Kontrolle nach der
15 ersten Behandlung bereits 7.2 Chirotherapeutische Manipulation
4 eine seitengleiche Labyrinthstellreaktion, bei Säuglingen
4 eine Normalisierung der Kopf- und Rumpfhaltung,
16 4 eine normale aktive und passive Halswirbelsäulenbeweg- Neben der Atlastherapie stehen für die Behandlung segmen-
lichkeit, taler Dysfunktionen im Säuglingsalter chirotherapeutische
17 4 ein verbessertes Schlaf- und Fütterungsverhalten und Manipulationen, myofasziale bzw. osteopathische Verfahren
4 ein Abklingen der Schmerzreaktionen mit Minderung sowie mobilisierende Positionierungstechniken zur Verfü-
evtl. Schreiattacken. gung
18 Chirotherapeutische Manipulation und myofasziale
Alle diese Symptome waren für die Eltern beunruhigend und Weichteiltechniken ergänzen einander. Von der Manipulati-
19 haben sich nun zu deren Beglückung in kurzer Zeit gebes- on kann ein unmittelbares Einwirken auf das propriozeptive
sert. Nicht wenige Therapeuten geben sich mit diesem Resul- Afferenzmuster erwartet werden, während die weichen Tech-
tat zufrieden und erklären die Behandlung für beendet. niken besonders die Funktion fibromuskulärer Strukturen
20 Bei eingehender Untersuchung wird man jedoch bei beeinflussen. In der Säuglingsbehandlung hat es sich daher
nicht wenigen dieser Kinder noch Hinweise auf eine man- bewährt, beide Methoden zu kombinieren. So wird eine chiro-
gelhafte sensomotorische Steuerung finden. Dies zeigt sich therapeutische Manipulation durch vorausgegangene Weich-
besonders gerne im stützmotorischen Verhalten des Kindes teilbehandlung gebahnt und in ihrer Durchführung deutlich
in Bauchlage – beispielsweise in Form asymmetrischer Hal- erleichtert mit allen Vorteilen für den erstrebten Therapieef-
tungsmuster, die in Rückenlage nicht mehr sichtbar sind – fekt.
oder in einer Verzögerung der altersgemäßen Aufrichtebewe- Nächst der Atlastherapie ist die manipulative Behand-
gung in den Unterarm- oder Handstütz, in fehlendem Über- lung von Blockierungen der sensorischen Schlüsselregi-
rollen vom Rücken auf den Bauch oder später vom Bauch onen das wichtigste manualmedizinische Verfahren bei sen-
7.2 · Chirotherapeutische Manipulation bei Säuglingen
101 7
somotorischen Störungen. Die Bedeutung dieser Schlüsselre-
gionen für die sensomotorische Programmierung wurde in
den 7 Kapiteln 4.4 und 4.5 ausführlich erläutert. Daraus wird
deutlich, dass die segmentale Manipulation beim Säugling
das Auslöschen der Nozireaktion im blockierten Segment als
Voraussetzung für eine ungestörte Propriozeption zum Ziel
hat, nicht aber unbedingt eine mechanische Stellungsände-
rung des Wirbelkörpers.

Tipp

Das bei vielen Chirotherapeuten so beliebte Knackphä-


nomen lässt sich beim Säugling an bestimmten Wirbel-
säulenabschnitten zwar nicht immer verhindern, ist aber
keineswegs ein Beweis für eine gelungene Manipulati-
on und sollte zugunsten einer sachten Vorgehenswei-
se auch nicht angestrebt werden. Entscheidend für den
Erfolg ist auch hier die Zielgenauigkeit und Schnelligkeit
des mit geringstem Krafteinsatz gegebenen manipula-
tiven Impulses.
a

> Wichtig
Der Manipulationsimpuls erfolgt beim Säugling immer
in die freie Richtung, die aus der Irritationspunktdiag-
nostik ermittelt wurde. Und es gilt auch dabei das ehr-
würdige Gesetz der »drei K’s« – kurzer Weg, kurze Zeit,
kleine Kraft.

k Kontraindikationen
Die in der manualmedizinischen Literatur angeführten Kon-
traindikationen für chirotherapeutische Manipulationen
(Bischoff 1994, Bischoff und Moll 2007) gelten auch für Säug-
linge und Kinder, soweit die Krankheitsbilder auf dieses Alter
übertragbar sind. Dies gilt z.B. für
4 spezifische und unspezifische Spondylitiden,
4 Tumoren,
4 akute Entzündungen,
4 frische Wirbelsäulen- oder Gelenktraumen und
4 frisch operierte Patienten.

Auch das Fehlen einer eindeutig bestimmbaren freien Rich-


tung stellt eine manualtherapeutische Kontraindikation dar. b

> Wichtig . Abb. 7.17 a, b Recoil C0/C1. a 1. Phase, b 2. Phase


Grundvoraussetzungen für die chirotherapeutische Ma-
nipulation bei Säuglingen sind die abgeschlossene Aus-
bildung in Manueller Medizin gemäß der Weiterbil- j Diagnostik (7 Kap. 6.2, Punkt 5)
dungsordnung der Bundesärztekammer und solide Er- Palpatorische Untersuchung des zervikookzipitalen Über-
fahrungen in der Anwendung diese Therapiemethode. gangs auf nozireaktive Veränderungen:
4 Induration Kiefer-Mastoid-Winkel und/oder aufstei-
gender Mandibulaast dorsal.
7.2.1 Zervikookzipitaler Übergang 4 Induration über Atlasquerfortsatz mit starker Berüh-
rungsempfindlichkeit.
k 1. Recoil C0/C1 (Rückschnelltechnik) (. Abb. 7.17) 4 Eingeschränkte Nutationsbewegung im Atlantookzipi-
j Indikation talgelenk.
Obere Kopfgelenksblockierung. 4 Induration an den okzipitalen Ansätzen der autochtho-
nen Muskeln (Semispinalis, Splenius capitis).
102 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

1
2
3
4
5
6
a
7
8 . Abb. 7.18 Traktionsimpuls C0/C1

9 j Behandlungstechnik
Das Kind liegt in Rückenlage. Das Köpfchen des Kindes ruht
auf dem Zeigefingergrundglied des Therapeuten, das sich
10 median am Okziputunterrand anmodelliert. Mit der ande-
ren Hand umfasst der Therapeut die Stirn des Kindes und übt
11 für 2–3 sec einen zunehmenden sagittalen Druck in Richtung
des Zeigefingergrundglieds aus (1. Phase, . Abb. 7.17 a), nach
etwa 3 sec schnellt die obere Hand von der Stirn des Kindes
12 weg (2. Phase, . Abb. 7.17 b).

13 k 2. Traktionsimpuls C0/C1 (. Abb. 7.18) b


j Behandlungstechnik
Das Kind sitzt rittlings auf einem Bein der Hilfs- oder Bezugs- . Abb. 7.19 a, b Griffanlage a vorne, b hinten
14 person (größere Kinder sitzen auf einem hochgedrehten
Hocker), mit dem Rücken zum Therapeuten. Der Traktion- j Heteronyme Impulstechnik
15 simpuls erfolgt über das Okziput in Höhe der Mastoidanla- Ziel des Impulses ist die Rotation des blockierten Wirbelkör-
ge. Mit der radialen Kante der Zeigefingergrundphalanx führt pers in die freie Richtung.
der Therapeut aus gutem Tiefenkontakt eine kurze supinato-
16 rische Bewegung der Hand aus. Die Manipulation muss tro- Beispiel
cken, kurz und exakt in kranialer Richtung erfolgen. Die Nozireaktion (Irritationspunkt) paraspinal links bei Th1. Zunah-
17 andere Hand hält dagegen, um eine Seitkippung des Kopfes me der nozireaktiven Induration bei Linksneige des Kopfes und
zu verhindern. damit bei Linksrotation des Wirbelkörpers Th1, Abnahme der
Nozireaktion bei Rotation von Th1 in die Gegenrichtung durch
18 Rechtsneige des Kopfes. Die Rechtsrotation entspricht somit der
7.2.2 Zervikodorsaler Übergang freien Richtung. (Die Rotationsprüfung kann auch über Dorn-
19 und Querfortsatz von Th1 erfolgen, wie in 7 Abschn. 6.2.5, BWS,
k Rotationsmobilisation (. Abb. 7.19) beschrieben.)
j Diagnostik (7 Kap. 6.2, Punkt 5)
20 4 Rotationstest in maximaler HWS-Extension (Kopfge- Das Kind sitzt rittlings auf einem Bein der Bezugsperson (BP),
lenke dabei durch angespannte Ligg. alaria fixiert). mit dem Rücken zum Therapeuten. Der Daumen des Thera-
4 Paraspinale Palpation der Querfortsätze (Induration). peuten wird von der nicht blockierten Seite her an den Dorn-
4 Prüfen der Rotation (z.B. von Th1) über den Dornfort- fortsatz anmodelliert (in unserem Beispiel also von rechts),
satz mit Seitneigebewegung des Kopfes bei gleichzeitiger so dass die Volarseite des Daumens etwa oberhalb der Spina
Palpation der paraspinalen Induration (Irritationspunkt- scapulae liegt. Die Langfinger derselben Hand fassen gleich-
diagnostik). zeitig vorne den Patientenarm der Gegenseite (blockierte
Seite) und führen eine gut fixierte Adduktion des Arms zur
Gegenschulter durch. Die andere Hand des Therapeuten
7.2 · Chirotherapeutische Manipulation bei Säuglingen
103 7
umfasst den Kopf des Kindes von der Gegenseite, so dass vom Ellenbogen her den Arm einschließlich Schulter krani-
Kinn und Wange des Kindes in der Hohlhand liegen. Dabei alwärts, bis eine Vorspannung erreicht ist. Aus dieser Positi-
wird eine leichte Drehung des Kopfes zur blockierten Seite on erfolgt der Impuls nach kranial über den Ellenbogen. Der
hin durchgeführt. Aus dieser Stellung führt der Therapeut mit Daumen am Vorderrand des absteigenden Trapeziusastes hält
dem Daumen über den Dornfortsatz des blockierten Wirbels dagegen, ohne Druck auf die 1. Rippe auszuüben.
einen Rotationsimpuls in die freie Richtung aus: Impulsrich-
tung über den Dornfortsatz nach links, dadurch Rotation Tipp
des Wirbels nach rechts. Der gehaltene Kopf darf dabei nicht
herumgerissen werden, sondern sollte in der leicht rotierten Der Impuls muss schnell, trocken und über einen ganz
Stellung bleiben. kurzen Weg ausgeführt werden! Die Technik sollte zügig
und sehr vorsichtig erfolgen, da ein zu langer Druck
oder ein zu grober Impuls unerwünschte vaskuläre und
7.2.3 1. Rippe vegetative Nebenwirkungen haben könnte.

k Manipulation der 1. Rippe (. Abb. 7.20)


j Diagnostik (7 Kap. 6.2, Punkt 5)
4 Passive Seitneige des Kopfes bei gleichzeitiger Palpation 7.2.4 BWS und dorsolumbaler Übergang
der Skaleni.
4 Palpation der 1. Rippe am Vorderrand des Trapezius k 1. Unspezifische Mobilisation der intervertebralen
(Ramus descendens) im Vergleich zur Gegenseite. und kostotransversalen Gelenke
4 Induration, Hochstand der 1. Rippe? j Technik
Das Kind liegt in Bauchlage, wenn möglich, leicht kyphosiert.
Tipp Die Hände des Therapeuten umfassen den Thorax des Kindes
von ventral. Beide Daumen führen entlang der BWS eine syn-
Die Palpation muss sehr zart und zügig erfolgen, da chrone, sanft ventralisierende Bewegung von median nach
das blockierte Gewebe in Höhe der 1. Rippe oft sehr lateral im Verlauf der Interkostalräume aus, kaudal begin-
schmerzempfindlich ist! nend. Es wird nicht mit Tiefenkontakt gearbeitet; die Dau-
men sind weiter lateral platziert. Die Bewegung muss langsam
und zart, gewissermaßen »liebkosend« durchgeführt werden
j Impulstechnik (Beruhigungsgriff ).
Das Kind sitzt rittlings auf einem Bein der BP, mit dem
Rücken zum Therapeuten. Der Therapeut legt die Endpha- Tipp
lanx seines homolateralen Daumens auf den Vorderrand des
absteigenden Trapeziusastes über der blockierten 1. Rippe Es empfiehlt sich, diese sanfte unspezifische Mobilisati-
und nimmt vorsichtig sanften Tiefenkontakt auf. Gleichzeitig onstechnik vor der gezielten segmentalen Manipulation
greift die andere Hand des Therapeuten von vorne den Ellen- durchzuführen. Die gezielte Behandlung über den the-
bogen des Kindes, beugt ihn um etwa 100° (Unterarm des rapeutischen Querfortsatz wird dadurch erleichtert.
Kindes liegt in der Hohlhand des Therapeuten) und schiebt

! Bei allen ventralisierenden Griffen sollen die Finger an


der Thoraxvorderseite keinen komprimierenden Gegen-
druck ausüben!

k 2. Ventralisationsgriff an der BWS (. Abb. 7.21, 7.22)


j Diagnostik (7 Kap. 6.2, Punkt 5)
4 Palpation segmentaler Indurationen (Irritationspunkte,
Nozireaktionen) paravertebral und kostotransversal.
4 Bestimmen der freien Richtung und des therapeutischen
Querfortsatzes durch ventralisierenden Druck auf den
Querfortsatz bzw. Rotationsdruck über den Dornfort-
satz.

j Impulstechnik
Das Kind liegt in Bauchlage, leicht kyphosiert. Die Hände des
Therapeuten umfassen von ventral den Thorax des Kindes.
Eine Daumenkuppe liegt paravertebral auf dem therapeu-
tischen Querfortsatz, die andere als Gegenhalt ein Segment
. Abb. 7.20 Manipulation der 1. Rippe tiefer oder höher auf der Gegenseite. In der Ausatmungspha-
104 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

se des Kindes erfolgt aus gehaltenem Tiefenkontakt ein ultra-


1 kurzer Impuls auf den therapeutischen Querfortsatz in ven-
traler Richtung, wobei der manipulierende Daumen leicht
2 nach lateral gleitet, bei gleichzeitigem Gegenhalt durch den
anderen Daumen.

3 Tipp

Für den Fall, dass Säuglinge die Behandlung in Bauch-


4 lage nicht akzeptieren, kann der Therapeut das Kind im
Sitz an seine Schulter lehnen und die Manipulation auf
5 diese Weise durchführen (. Abb. 7.22).

6 k 3. Impulstechnik am dorsolumbalen Übergang


(. Abb. 7.23)
7 . Abb. 7.21 Griffanlage bei Impulsmanipulation (Pfeil)
Blockierungen des dorsolumbalen Übergangs sind oft das
»Echo« einer ISG-Blockierung, die auf jeden Fall vorher
behandelt werden muss. Besteht die dorsolumbale Blockie-
8 rung weiter, wird folgendermaßen vorgegangen.

9 j Diagnostik (7 Kap. 6.2, Punkt 5)


Das Kind liegt in Rückenlage.
4 Prüfen der Rotationsbewegung im dorsolumbalen Über-
10 gang durch Drehen des Beckens um die Längsachse
gegenüber dem fixierten Rumpf (vorsichtig!).
11 4 Bestimmung der freien Bewegungsrichtung und des the-
rapeutischen Querfortsatzes (Irritationspunkdiagnostik).
12 j Impulstechnik
Das Kind liegt in Seitenlage, die freie Beckenseite liegt oben,
13 das Gesicht dem Therapeuten zugewandt. Die beckennahe
Hand des Therapeuten umfasst das Ilium von ventral, so dass
der Daumenballen etwa auf der Spina ventralis liegt, und führt
14 es sachte nach dorsal. Gleichzeitig nimmt der Mittelfinger der
kopfnahen Hand Kontakt mit dem therapeutischen Querfort-
15 satz des blockierten Segments auf, geschient durch die paral-
. Abb. 7.22 Alternative Ausgangsstellung für Säuglinge, die eine lel angelegten Zeige- und Ringfinger. Dabei liegt die Hohl-
Behandlung in Bauchlage nicht akzeptieren hand breitflächig auf dem lateralen Thoraxanteil, der sachte
16 nach ventral geführt wird, bis aus dieser gegenläufigen Bewe-
gung eine Vorspannung in die freie Richtung erreicht ist. Aus
17 dieser Vorspannung, bei breitflächiger Auflage der Langfinger
und Tiefenkontakt des Mittelfingers, wird ein kurzer Rotati-
onsimpuls auf den therapeutischen Querfortsatz gegeben.
18 Der Impuls kann auch als Hakelzug über den Dornfortsatz in
die freie Richtung erfolgen.
19
! Ein Durchreißen ist vor allem bei Säuglingen hochris-
kant. Außerdem ist eine zu starke oder zu schwache Vor-
20 spannung zu vermeiden!

Tipp

Zur Vorbereitung der Manipulation (oder als Alter-


native zum Impuls) kann die myofasziale Behand-
. Abb. 7.23 Impulstechnik am dorsolumbalen Übergang lung der Fascia thoracolumbalis angewandt werden,
ggf. ergänzt durch eine zarte, repititive Mobilisation
(7 Abschn. 7.3, Myofasziale Lösetechniken).
7.2 · Chirotherapeutische Manipulation bei Säuglingen
105 7
7.2.5 Iliosakralgelenke und lumbosakraler
Übergang

j Diagnostik (7 Kap. 6.2, Punkt 5)


4 Neurokinesiologische Untersuchung.
4 Bewegungsprüfung der Hüftgelenke in allen Ebenen.
4 Inspektion der Ossa iliaca von ventral (Torsion, Outflare,
Inflare) und dorsal (Upslip, Downslip).
4 Irritationspunktdiagnostik am Gluteus medius und
maximus bzw. Piriformis,
4 Federungstest usw.

k 1. Unspezifische Manipulation der ISG über das Tuber


ossis ischii (modifiziert nach SCHOTT) (. Abb. 7.24)

j Impulstechnik
Das Kind liegt in Bauchlage. Der Therapeut steht auf der
nicht blockierten Seite und modelliert den Daumenballen
bzw. Daumen (je nach Größenverhältnissen) der fußnahen
Hand von medial an das Tuber ossis ischii der blockierten,
also der gegenüberliegenden Seite. Die andere Hand umfasst
Rumpf und Becken des Kindes von dorsal und führt eine
sanfte Schaukelbewegung um die Längsachse aus. Nach etwa
3–4 Schaukelbewegungen gibt der Therapeut in dem Moment,
in dem er das Becken zu sich hin bewegt, mit dem Daumen-
. Abb. 7.24 Manipulation über das Tuber ossis ischii
ballen (bzw. Daumen) einen manipulativen Impuls nach late-
ral. Anschließend wird das Therapieergebnis kontrolliert.

Tipp

Die Kontaktaufnahme mit dem Tuber darf nicht zu stark


sein und nicht zu lange dauern, da sonst ein Periost-
schmerz ausgelöst wird!

k 2. Ventralisierender Impuls über den oberen oder


unteren Sakrumpol (. Abb. 7.25)

j Indikation
Nozireaktion des oberen (oder unteren) Sakrumpols nach
dorsal (= Dorsalisierungsempfindlichkeit).

j Impulstechnik . Abb. 7.25 Ventralisierender Impuls über den oberen/unteren Sa-


Das Kind liegt in Bauchlage, der Therapeut steht am Fußen- krumpol
de. Die Volarseite des Daumenendglieds der kontralateralen
Hand wird ähnlich wie beim Federungstest auf den zu ven-
tralisierenden Sakrumpol gelegt; der Daumen der homolate-
ralen (blockierungsseitigen) Hand wird kreuzförmig über das
Endglied des anderen Daumens gelegt. Aus guter Vorspan-
nung erfolgt ein kurzer, trockener ventralisierender Impuls.

k 3. Ventralisierender Impuls über den unteren


Sakrumpol (. Abb. 7.26)
j Indikation
Nozireaktion bei S3 nach dorsal (= Dorsalisierungsempfind-
lichkeit).

. Abb. 7.26 Ventralisierender Impuls über den unteren Sakrumpol


106 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

j Impulstechnik Tipp
1 Das Kind liegt in Bauchlage, der Therapeut steht auf der nicht
blockierten Seite. Die fußnahe Hand des Therapeuten umfasst 4 Normale Hüftgelenkverhältnisse sind Vorausset-
zung!
2 von ventral das Ilium der blockierten Seite (Gegenhalt). Der
Hypothenar der kopfnahen Hand modelliert sich so exakt wie 4 Bei unruhigen Kindern kann es notwendig sein,
möglich auf den unteren Sakrumpol in Höhe S3 an. (Die Kon- beide Beinchen zu halten bzw. die Knie in der
3 taktaufnahme mit dem Os pisiforme wird von Säuglingen oft beschriebenen Weise zu umfassen, damit das
als schmerzhaft empfunden!) Aus exakter Vorspannung, die Becken fixiert werden kann und der Tiefenkontakt
nicht verloren geht.
4 mit der einen Hand über das Ilium und mit der anderen über
S3 ausgeführt wird, erfolgt ein kurzer manipulativer ventrali- 4 Das bei diesem Griff oft zu registrierende
sierender Impuls über S3. Knackphänomen lässt sich durch die Positionie-
5 rung der unten liegenden Hand sehr gut orten.
k 4. Ventralisierender Multangulumschub auf S1 oder
S3 aus Rückenlage (. Abb. 7.27)
6 j Indikation k 5. Kranialisierender Schub über eine Sakrumhälf-
Dorsalisierungs-Nozireaktion bei S1 oder S3. te mit Kaudalisierung des Iliums (modifizierter Panther-
7 sprung) (. Abb. 7.28)
j Technik
Das Kind liegt in Rückenlage, der Therapeut steht am Fußen- j Indikation
8 de. Die kontralaterale (nicht blockierungsseitige) Hand hebt Kaudalisierungs-Nozireaktion bei S1 oder S3, Kranialisie-
das Becken am blockierungsseitigen, im Hüftgelenk recht- rungs-Nozireaktion des gleichseitigen Iliums.
9 winklig gebeugten Oberschenkel von der Unterlage ab. Das
Multangulum majus der homolateralen (blockierungssei- j Technik
tigen) Hand wird so exakt wie möglich an den zu ventralisie- Das Kind liegt in Bauchlage auf der Behandlungsliege, der
10 renden Sakrumpol anmodelliert. Der Therapeut umfasst nun Therapeut steht am Fußende. Der Hypothenar der kontrala-
mit der kontralateralen Hand das Knie des blockierungssei- teralen Hand wird exakt über der blockierten Sakrumhälfte
11 tigen Beins und übt über den leicht abduzierten Oberschen- in Höhe S3 (Angulus sacri) anmodelliert. Der Therapeut fasst
kel eine Vorspannung nach dorsal auf das blockierungsseitige mit der homolateralen Hand den blockierungsseitigen Ober-
Os ilium aus, wobei das Multangulum in Tiefenkontakt mit schenkel und übt einen gegenhaltenden, leicht kaudalisie-
12 dem zu ventralisierenden Sakrumpol bleibt. Aus dieser Vor- renden Zug aus. Aus optimaler Vorspannung erfolgt ein tro-
spannung wird über den blockierungsseitigen Oberschenkel ckener kranialisierender Impuls über die blockierte Sakrum-
13 ein axial (nach dorsal) gerichteter Impuls ausgeübt. Gleich- hälfte bei gleichzeitigem kaudalisierendem Gegenhalt am
zeitig erfolgt dabei ein intensiver propriozeptiver Reiz auf das Oberschenkel. Die Intaktheit des Hüftgelenks wird dabei
Hüftgelenk. vorausgesetzt (Sonografie!).
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. Abb. 7.27 Ventralisierender Multangulumschub auf S1 oder S3 . Abb. 7.28 Modifizierter Panthersprung
aus Rückenlage
7.3 · Myofasziale Lösetechniken, mobilisierende Positionierung
107 7
k 6. Kranialisierung des Sakrums, Kaudalisierung des
Iliums aus Seitlage (geeignet für ältere Säuglinge und Klein-
kinder) (. Abb. 7.29)
j Technik
Das Kind liegt auf der gesunden Seite, die blockierte Seite liegt
oben, das Gesicht ist dem Therapeuten zugewandt. Die kopf-
nahe Hand des Therapeuten modelliert sich unter ausgiebiger
Mitnahme von Weichteilen an der Crista iliaca von kranial
an, während der Hypothenar der fußnahen Hand sich tan-
gential über dem blockierten Sakrum in Höhe S3 anmodel-
liert. Nach kranialisierender Vorspannung mit der Sakrum-
hand und kaudalisierender Vorspannung der Iliumhand wird
nun ein kurzer manipulativer Impuls über das Sakrum nach
kranial bei kaudalisierendem Gegenhalt am Ilium ausgeübt.

k 7. Kaudalisierender Schub über das Sakrum


(Schergriff ) (. Abb. 7.30)
. Abb. 7.29 Kranialisierung des Sakrums, Kaudalisierung des Ili-
j Indikation
ums aus Seitlage
Kranialisierungsempfindlichkeit einer Sakrumhälfte.

j Technik
Das Kind liegt in Bauchlage auf dem Behandlungstisch, der
Therapeut steht seitlich. Der Hypothenar der einen Hand
wird tangential auf die nicht blockierte Sakrumhälfte gelegt
und übt einen kranialisierenden Gegenhalt aus. Die ande-
re Hand wird parallel dazu auf der blockierten Sakrumhälfte
positioniert und übt eine kaudalisierende Vorspannung aus.
Aus optimaler Vorspannung gibt der Therapeut dann mit die-
ser Hand einen kaudalisierenden Impuls über den Angulus
sacri. Die Impulsrichtung sollte streng tangential verlaufen.

k 8. Kaudalisierungsschub über das Sakrum aus Seitla-


ge (. Abb. 7.31)
j Indikation
. Abb. 7.30 Kaudalisierungsschub mit Schergriff Kranialisierungsempfindlichkeit einer Sakrumhälfte.

j Technik
Das Kind liegt in Seitlage (sog. Päckchenstellung) ohne Tor-
sion des Rumpfes, die blockierte Seite liegt oben. Der The-
rapeut legt den Hypothenar der fußnahen Hand tangenti-
al über die blockierte Sakrumhälfte, mit der anderen Hand
fixiert er die Beine in Hüftbeugung und hält gleichzeitig die
Arme des Kindes. Aus gut gehaltener Vorspannung erfolgt
mit dem Hypothenar ein manipulativer Impuls über die blo-
ckierte Sakrumhälfte nach kaudal.

7.3 Myofasziale Lösetechniken,


mobilisierende Positionierung

Die Behandlung bindegewebiger Strukturen ist in der Manu-


. Abb. 7.31 Kaudalisierungsmanipulation über das Sakrum ellen Medizin von großer Bedeutung. Neben Knochen,
Knorpel und Muskeln repräsentiert das Bindegewebe eine
Hauptstruktur des Körpers. Embryonal aus dem Mesen-
chym entstanden, kommt es in unterschiedlicher Menge und
Zusammensetzung überall im Körper vor: Es erfüllt in sei-
ner Halte- und Bindefunktion mechanische Aufgaben, ist
beteiligt am Wasserhaushalt, dem Stoffaustausch und der
108 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

Immunabwehr, bildet das Stroma von Organen, dient als holt. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Faszie um ein
1 »Kabelkanal« für Nerven und Gefäße in Sehnen, Drüsen und sehr reaktionsfähiges Gewebe, das eine differenzierte mikro-
Skelettmuskulatur und nicht zuletzt als Gleitfläche für Mus- skopische Feinstruktur aufweist: In der Kollagenfasertextur
2 kelgewebe. sind ein dichtes Kapillarnetz und zahlreiche vegetative Ner-
ven nachweisbar; darüber hinaus fanden Staubesand und Li
k Bindegewebe (1996) vereinzelte, aber regelmäßig angeordnete glatte Mus-
3 Bestandteile des Bindegewebes sind die extrazelluläre Matrix, kelzellen zwischen den kollagenen Fibrillenbündeln, die über
bestehend aus kollagenen und elastischen Fasern sowie der vegetative Innervation eine aktive Vorspannung der scheren-
4 Grundsubstanz, und die spezifische Zelle (Fibroblast), die
alle Komponenten der Fasern und der Grundsubstanz syn-
gitterartig angeordneten Faszie bewirken können. Eine aktive
Kontraktibilität der Faszie wurde von Yahia et al. (1993) nach
thetisiert: passiver Streckung der Fascia thoracolumbalis bei Leichen
5 4 Elastische Bindegewebsfasern findet man unter ande- beobachtet. Schleip (2003) weist darauf hin, dass aufgrund
rem in Arterien, in der Lunge, im elastischen Knorpel, in der scherengitterartigen Textur der Muskelfaszie auch schon
6 Lig. flavum und Lig. nuchae. eine relativ geringe Anzahl glatter Muskelzellen imstande ist,
4 Kollagene Fasern sind wesentlicher Bestandteil der Fas- eine Faszienkontraktion zu bewirken, da die morphologische
zien; sie sind mechanisch sehr widerstandsfähig und Bauweise einer glatten Muskelzelle Kontraktionen mit kleiner
7 zugfest und kaum dehnbar. Bei Überdehnung von mehr Amplitude und großer Kraft ermöglicht.
als 5–10% der Gesamtlänge kommt es zu einer irrever-
siblen Längenänderung oder zum Zerreißen der Fasern
8 (Drenckhahn u. Kugler 1994). 7.3.2 Mechanorezeptoren der Faszie
4 Fasziengewebe ist im Körper ubiquitär vorhanden. Son-
9 derformen bilden die Aponeurosen als Zwischenform Im Hinblick auf die Wirkungsweise myofaszialer bzw. oste-
von Sehne und Faszie, die Retinacula als bandartige Ver- opathischer Behandlungstechniken hält Schleip die dichte
dickung der Gliederfaszie, die Membranae interosseae Besiedlung der Faszie mit Mechanorezeptoren für bedeut-
10 an Unterarm und Unterschenkel und nicht zuletzt die sam, deren manuelle Stimulation zu lokalen Tonusände-
Dura mater, die ebenfalls ein faszienähnliches Gewebe rungen der quergestreiften Muskelfasern führen. Neben Gol-
11 darstellt. gi- und Pacini-Rezeptoren sind im Fasziengewebe auch Ruf-
fini-Sensoren und am häufigsten die sog. interstitiellen
k Muskelfaszien Mechanorezeptoren vertreten, von denen etwa die Hälfte
12 Für unser Thema von besonderem Interesse sind die Mus- eine niedrige Reizschwelle aufweist und auch auf geringfü-
kelfaszien, die an allen Skelettmuskeln anzutreffen sind, mit gige Druckeinwirkung anspricht. Ruffini-Rezeptoren haben
13 Ausnahme der mimischen Muskulatur, des Platysmas und ebenfalls eine geringe Reizschwelle, adaptieren sehr langsam
der tiefen autochthonen Rückenmuskeln. und sprechen besonders auf tangentiale Dehnung an, wie sie
Faszie und Skelettmuskulatur sind funktionell und ana- z.B. beim myofaszialen Lösen (Myofascial Release) einge-
14 tomisch eng miteinander verknüpft: Primär- und Sekundär- setzt wird. Nach van den Berg und Capri (1999) führt die Rei-
bündel jedes Muskels sind jeweils von feinem Bindegewe- zung der Ruffini-Rezeptoren zu einer Senkung der Sympathi-
15 be umgeben, dem Perimysium. Die Summe der Primär- und kusaktivität und damit zu einer Tonusminderung der Faszie.
Sekundärbündel bildet den gesamten Muskel, das Muskelin- Schleip (2003) sieht darin eine mögliche Ursache für das Phä-
dividuum, das wiederum von einer Bindegewebshülle umge- nomen des »Wegschmelzens« myofaszialer Gewebestram-
16 ben ist, der Muskelfaszie (Spezialfaszie). mung bei Anwendung des Myofascial Release nach Ward
Von den Spezialfaszien des Muskels sind die wesentlich und ähnlichen osteopathischen Techniken. Aufgrund des
17 kräftigeren Gliederfaszien zu unterscheiden, die röhrenför- reichhaltigen Vorkommens von sympathischen Nervenendi-
mig die gesamte Extremitätenmuskulatur umschließen und gungen in den Faszien sieht Schleip die Faszien als »Außen-
die Muskelmasse von der äußeren Haut trennen. Mit der stellen des autonomen Nervensystems«. In diesem Sinne bie-
18 Gliederfaszie in enger Verbindung stehen die intermusku- ten die Faszienstrukturen auch einen therapeutischen Zugang
laren Septen an den Extremitäten. Sie ziehen von der Glie- zum Vegetativum.
19 derfaszie bis zum Knochen und bilden sog. Faszienlogen. Diese Darlegungen machen viele klinische Phänomene
Bei infantilen Zerebralparesen zeigen sie typische Verände- im Zusammenhang mit einer manuellen Faszienbehandlung
rungen und sind therapeutisch von Bedeutung. plausibel, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
20 Auf die herkömmlichen Denkmodelle zur Wirkungsweise
der Osteopathie soll hier nicht näher eingegangen werden.
7.3.1 Aktive Kontraktion der Faszie

Die Muskelfaszie besteht aus straffen Kollagenfasern, die sich 7.3.3 Myofascial Release
scherengitterartig überkreuzen, um sich der Formänderung
des Muskels anpassen zu können. Die frühere Vorstellung In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Robert
eines »Faszienstrumpfes«, der wie ein Trikotschlauch über Ward, Professor an der Michigan State University, eine osteo-
den Muskel gezogen ist, gilt schon seit Längerem als über- pathische Therapiemethode, die er Myofascial Release nann-
7.3 · Myofasziale Lösetechniken, mobilisierende Positionierung
109 7
te. Die Behandlungsprinzipien dieses Konzepts lassen sich in
entsprechend abgewandelter Form auch bei Säuglingen wir-
kungsvoll anwenden, obwohl Ward nach eigenem Bekunden
selbst keine Erfahrung mit Säuglingen und Kleinkindern hat-
te.

> Wichtig
Grundsatz der Untersuchung ist kurz gefasst das palpa-
torische Aufsuchen der dreidimensionalen Strammung
und Lockerung des myofaszialen Gewebes.

Mittels dieser Technik wird die Gewebereaktion bei Druck,


Zug und Verwringung untersucht, die mit geringstem Kraft-
aufwand ausgeübt werden. Beurteilt wird
4 die Hauttemperatur,
a
4 Schmerzreaktionen,
4 die Gewebskonsistenz und
4 das Gleitverhalten des Gewebes.

Je sachter die Vorgehensweise, desto eher wird man den aktu-


ellen Zustand des myofaszialen Gewebes und die von Ward
beschriebene inhärente Gewebebewegung (»inherent tissue
motion«) spüren. Wer mit zu viel Druck und Zug arbeitet,
wird diese Behandlungsform nicht wirksam einsetzen kön-
nen. Solide Grundkenntnisse in der myofaszialen bzw. oste-
opathischen Untersuchungstechnik sind daher Vorausset-
zung.

k Kontraindikationen
Relative Kontraindikationen sind
4 frische Verletzungen,
4 akute fiebrige Infekte, b
4 entzündliche Gelenk- und Weichteilprozesse,
4 Tumoren usw. . Abb. 7.32 a, b MFL des zervikookzipitalen Übergangs a beim
Säugling, b beim älteren Kind
Behandlungstechniken für die sensorischen
Schlüsselregionen
Im Folgenden werden ausgesuchte Behandlungstechniken Finger-Haltung erfolgt eine sachte Traktion longitudinal, die
der sensorischen Schlüsselregionen vorgestellt, die in der bis zum Gewebegleiten gehalten wird (. Abb. 7.32 a).
ärztlichen Praxis mit vertretbarem Zeitaufwand in Verbin- Vorgehen bei älteren Kindern (diese Griffanlage wird
dung mit Atlastherapie und segmentaler Manipulation ein- von Säuglingen meist nicht toleriert): Der Therapeut beugt
gesetzt werden können. (Die osteopathischen Griffbezeich- die Fingerkuppen beider Hände hakenförmig und legt sie
nungen sind in Klammern kursiv angegeben). Behandlungs- nebeneinander vertikal am zervikookzipitalen Übergang an.
typische Risiken der myofaszialen Lösetechniken sind nicht Diese Position wird gehalten, bis eine Entspannung spürbar
bekannt. wird. Die Fingerkuppen sinken bei zunehmender Entspan-
nung immer mehr in die subokzipitale Muskulatur ein. Dann
k 1. Myofasziales Lösen (MFL) des zervikookzipi- erfolgt ein sanfter Zug nach kranial. Die sanfte Traktion wird
talen Übergangs (Dura-Release/Cranial Base Release) fortgeführt bis zum »Schmelzen« des Semispinalis capitis, der
(. Abb. 7.32) subokzipitalen Muskeln und ggf. der langen Rückenstrecker
Vorgehen beim Säugling: Das Kind liegt in Rückenlage, der (. Abb. 7.32 b).
Therapeut sitzt am Kopfende und legt die Hände schalenför-
mig am Kopf des Kindes an. Ring- und Mittelfinger liegen k 2. Schnullergriff zur HWS-Mobilisation (modifizierte
beidseits quer in Höhe C1 und C2. Mit dem Mittelfinger tastet V-Spreiz-Technik der Sutura coronalis) (. Abb. 7.33)
der Therapeut den Axisdornfortsatz, mit dem Ringfinger den Der Therapeut übt mit seiner Mittelfingerkuppe (Hand-
Unterrand des Okziputs. Aus dieser Handposition wird das schuh!) einen sanften Druck auf den harten Gaumen des Kin-
dysfunktionelle Gewebeverhalten ermittelt und die Barriere des aus. Die andere Hand fasst das Köpfchen in seiner Schief-
aufgesucht. Es folgt das transversale Lösen über die Finger- haltung (Seitneige und/oder Rotation). Beim Säugling kommt
beeren, bis das Gewebe »schmilzt«. Aus der gleichen Hand- es meist sofort zum Saugreflex. Das Köpfchen wird dann ganz
110 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

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. Abb. 7.34 MFL der zervikodorsalen Übergangsregion
7
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. Abb. 7.33 Schnullergriff zur Mobilisation der HWS bzw. des zer-
9 vikookzipitalen Übergangs

10 sachte und vorsichtig an die Barriere herangeführt. Nie darü-


ber hinaus! Und nicht drängeln! Unter ständigem Nuckeln
11 des Kindes kann das Köpfchen nach und nach zwanglos in
die Neutralstellung und aus dieser auch in die Gegenrichtung
geführt werden. Die therapeutische Wirkung kann verstärkt
12 werden, indem über den Scheitel des Kindes eine sanfte axi-
ale Kompression der HWS ausgeführt und der Kopf auf diese
13 Weise an die Barriere herangeführt wird (nicht abgebildet).

Tipp
14 a
Dieser Griff ist sehr geeignet bei »schiefen Säuglingen«
15 (Kopfschiefhaltung bei TAS).

16 k 3. Myofasziales Lösen im zerviko-kosto-thorakalen


Bereich (. Abb. 7.34)
17 Das Kind sitzt rittlings auf einem Bein der BP, der Therapeut
ist hinter dem Patienten. Er legt seine Daumen über die Kosto-
transversalgelenke der ersten Rippen von dorsal, den Zeige-
18 oder Mittelfinger ventral subklavikulär an. Soweit es die Grö-
ße des Kindes erlaubt, werden die Hände dabei auf den abstei-
19 genden Trapeziusast gelegt. Aus dieser Handposition erfolgt
ein sachter Lateralzug bis an die Barriere und nach Eintreten
des Lösens dann eine gegenläufige Torsionsbewegung (Aus-
20 wringbewegung) in die freie Richtung bis zur Barriere.
b
k 4. Myofasziales Lösen des Zwerchfells (»Nierenwär-
mer«) (. Abb. 7.35) . Abb. 7.35 a, b MFL des Zwerchfells. a Ansicht der Handposition
Das Kind liegt in Rückenlage. Der Therapeut umfasst mit von ventral, b seitliche Ansicht der Handposition
beiden Händen die Dorsolumbalregion des Kindes von dor-
sal, die Daumen werden beidseitig ventral an den unteren
Rippenbogen angelegt. Auf diese Weise werden die ventra-
len und über die Fascia thoracolumbalis auch die dorsalen
7.3 · Myofasziale Lösetechniken, mobilisierende Positionierung
111 7
Anteile des Diaphragmas erfasst. Nun folgt das Prüfen auf
Strammung und Lockerung des Gewebes mit Händen (dor-
sal) und Daumen (ventral), das Ermitteln der Barriere und
der freien Richtung. Die behandelnden Hände folgen sachte
der Gewebebewegung bis zum Halt, verharren dort bis zum
»Schmelzen« des Gewebes.

Tipp

Die Behandlung muss äußerst zart durchgeführt wer-


den, da die Region des unteren Rippenbogens beim
Säugling oft sehr empfindlich ist!

. Abb. 7.36 MFL des thorakolumbalen Übergangs aus der Bauch-


k 5. Myofasziales Lösen des dorsolumbalen Übergangs lage
(Fascia thoracolumbalis) (. Abb. 7.36, 7.37)
Die behandelnden Hände werden schmetterlingsförmig
beidseits der Mittellinie auf die Dorsolumbalregion gelegt,
die Daumen parallel zur Wirbelsäule, etwa in Höhe der
Kostotransversalgelenke. Der Therapeut führt mit beiden
Händen einen lateralen Zug aus; die Haut zwischen den
Daumen darf etwas weiß werden. Bei Eintreten des Gewe-
belösens werden sachte, rotierende Bewegungen der Hän-
de nach kranial und kaudal entsprechend dem Gewebeglei-
ten durchgeführt.

Tipp

4 Der Griff eignet sich vor allem für ältere Kinder.


4 Bei Spastikern sollte er im Therapieprogramm nie
fehlen. Toleriert ein spastisches Kind die Bauchla-
ge nicht, kann der Griff im Sitzen durchgeführt wer-
den.
4 Säuglinge wehren sich oft gegen die Bauchlage.
In solchen Fällen wird das Kind an die Schulter der
Begleitperson gelehnt, oder der Therapeut setzt
es rittlings auf seinen Oberschenkel, so dass es sich
am Behandlungstisch abstützen kann.
. Abb. 7.37 MFL des thorakolumbalen Übergangs aus dem Reitsitz
Die Fascia thoracolumbalis vereinigt sich lateralwärts mit der
Fascia transversalis, die bereits zu den Faszien des Bauches
gehört. Sie bedeckt die Innenfläche der Bauchmuskulatur und
das innere Blatt der Rektusscheide sowie die Ventralseite des
M. quadratus lumborum, des M. psoas und die Abdominal-
fläche des Zwerchfells. Mit der Behandlung des dorsolumba-
len Übergangs werden also auch indirekt abdominale und
pelvine myofasziale Strukturen erreicht.

> Wichtig
Der dorsolumbale Übergang gilt im Myofascial-Release-
Konzept als unspezifischer Point of entry.

k 6. Myofasziales Lösen des ISG mit Gebetsgriff


(. Abb. 7.38)
Das Kind liegt in Bauchlage. Der Therapeut prüft Strammung
und Lockerung (= Bestimmen der freien und gehemmten
Geweberichtung) über beiden Iliosakralgelenken. Dem
Befund entsprechend legt er den Hypothenar der einen Hand . Abb. 7.38 MFL der ISG mit Gebetsgriff
112 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

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. Abb. 7.40 Mobilisierende Positionierung des dorsolumbalen
6 Übergangs durch Halten in gegenläufiger Rotation von Rumpf und
Becken in der freien Richtung
a
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11
12
13 b

14 . Abb. 7.39 a, b Mobilisierende Positionierung des zervikookzipita-


len Übergangs: a Ausgangsposition des Kopfes in Schonhaltung und
leichter Reklination. b Schrittweises Heranführen an die Barriere, bis
15 die freie Beweglichkeit erreicht ist . Abb. 7.41 Mobilisierende Positionierung bei Beckentorsion

16 tangential auf die Sakrumhälfte der funktionsgestörten Seite, nachgibt, und dann weiterführen zur nächsten Barriere, bis
den Hypothenar der anderen Hand entweder auf die nicht blo- zur freien Beweglichkeit (. Abb. 7.39 b).
17 ckierte Sakrumhälfte oder auf das Ilium der blockierten Seite,
so wie die myofasziale Diagnostik es verlangt. Dann führt er k 8. Mobilisierende Positionierung des dorsolumbalen
mit beiden Kleinfingerballen eine parallel gegenläufige Bewe- Übergangs beim Säugling (. Abb. 7.40)
18 gung in die freie Richtung durch oder in die gehemmte Rich- Das Kind liegt in Rückenlage. Der Therapeut prüft die
tung unter Respektierung der Barriere (nicht drängeln!), bis Rotation im dorsolumbalen Übergang durch Drehen des
19 das Gewebe »schmilzt«. Beckens um die Längsachse gegenüber dem fixierten Rumpf
(7 Kap. 6.2, Punkt 5). Ist z.B. die Drehung des Beckens nach
k 7. Mobilisierende Positionierung des zervikook- links eingeschränkt, bedeutet dies eine eingeschränkte Rum-
20 zipitalen Übergangs (Bahnung durch Blickwendung) pfrotation nach rechts im dorsolumbalen Übergang. Da die
(. Abb. 7.39) Therapie in die freie Richtung erfolgt, wird in diesem Beispiel
Das Kind liegt in Rückenlage. Das Köpfchen wird zunächst das Kind auf die blockierte Seite gelegt, so dass also die nicht
in der vom Kind spontan eingenommenen Schonposition in blockierte rechte Seite oben liegt.
leichter Reklination gehalten (. Abb. 7.39 a). Dann erfolgt ein Die beckennahe Hand des Therapeuten umfasst das Ili-
vorsichtiges Heranführen in Richtung der Barriere, gebahnt um von ventral, der Daumenballen liegt etwa auf der Spi-
(fazilitiert) durch »Blickfang« in die freie Richtung. Das na ventralis, und führt es sachte nach hinten (in diesem Fal-
Mobilisieren geht schrittweise, mit rechtzeitigem Halt vor der le nach rechts hinten). Die kopfnahe Hand umfasst Schulter
Barriere (nicht drängeln!), dort verharren, bis das Gewebe und Oberkörper und dreht sie sachte nach vorne (hier also
7.4 · Manuelle Behandlung des Kopfes
113 7
im Sinne einer Linksrotation) bis zum Gewebehalt, der nicht
überschritten werden darf. Diese Position wird ca. 30–45 sec
V1
gehalten, anschließend wird die Rumpfrotation überprüft.
occ.
k 9. Mobilisierende Positionierung bei Beckentorsion major
(. Abb. 7.41) V2
Das Kind liegt in Rückenlage. Bestimmt wird das Becken-
torsionsmuster. Das Bein der anterior stehenden (nach ven-
tral rotierten) Iliumseite wird im Hüftgelenk bis zur Barri-
ere gebeugt, das Bein der posterior stehenden (nach dor- V3
sal rotierten) Iliumseite wird bis zum Erreichen der Barriere occ.
minor
im Hüftgelenk gestreckt. Die Positionierung erfolgt hier also
nicht in die freie, sondern in die gesperrte Richtung. Diese
auric. m.
Position wird ca. 30–45 sec gehalten und das Ergebnis über-
prüft.

7.4 Manuelle Behandlung des Kopfes


7.4.1 Trigemino-zervikale Konvergenz

Sensomotorische Störungen im Säuglingsalter mit multiseg-


. Abb. 7.42 Die Kinn-Ohr-Scheitel-Linie trennt das Trigeminusareal
mentalen Blockierungen der Wirbelsäule gehen regelmäßig
(V1, V2, V3) von dem des N. occipitalis maior und dem Plexus cervica-
mit einer Tonusdysbalance der fibromuskulären Weichteil-
lis (= N. occipitalis minor und N. auricularis magnus) (modifiziert nach
strukturen des Kopfes einher, der sog. Kopfschwarte, oft in Forssmann und Heym 1985)
Verbindung mit
4 Gesichtsskoliose,
4 Schädelasymmetrie und von Primärafferenzen zervikaler Segmente mit jenen von
4 Berührungsempfindlichkeit vwgd. der okzipitalen Par- Hirnnerven«. Neuhuber bezeichnet den Nucleus cervicalis
tien. centralis als »prominentes Endigungsgebiet für Spindelaffe-
renzen im oberen Halsmark«. Seine auf- und absteigenden
Eine Erklärung für diese Beobachtung können die neuro- Verbindungen zum Kleinhirn, zum Vestibulariskernkom-
anatomischen Besonderheiten des epikraniellen Weichtei- plex und zu den Bogengängen machen ihn zu einer wich-
lmantels bieten, wobei vor allem die Konvergenz trigemi- tigen »Integrationsstelle labyrinthärer und halspropriozep-
naler und zervikaler Afferenzen eine wichtige Rolle spielt: tiver Daten zur Körperstellung«.
Im Übergangsgebiet von Kopf und Hals treffen die Inner- Die sensorischen Trigeminuskerne als Endigungsgebiet
vationsgebiete von Hirn- und Spinalnerven aufeinander. von Trigeminusafferenzen erstrecken sich vom Mesenzepha-
Nach Neuhuber (1998) trennt die Kinn-Ohr-Scheitel-Linie lon bis ins weit ins Halsmark. Der kaudale dieser Kerne ist
das Trigeminusareal vom N.-occipitalis-maior-Areal (dorsa- vor allem für die Verarbeitung von nozizeptiven Afferenzen
ler Ast aus C2) und dem Areal der Hautäste des Plexus cer- zuständig: Zu ihm gelangen auch exterozeptive, also aus der
vicalis (C2–C4). Im Bereich des äußeren Ohrs sind zusätz- Haut des Halsbereiches stammende Afferenzen, so dass auch
lich der N. facialis und der N. vagus an der Hautinnervation hier eine »zervikotrigeminale Konvergenz stattfinden kann«
beteiligt (. Abb. 7.42). Endigungsgebiete primärer Hirnner- (Neuhuber 1998.)
venafferenzen, vor allem des Trigeminus und des Vagus, rei- Nach dem gleichen Muster spielt sich auch die Konver-
chen weit ins zervikale Rückenmark. Die zervikalen Rezep- genz von Afferenzen aus dem N. hypoglossus (innerviert
toren wiederum sind maßgeblich beteiligt an der Kontrolle Zungen- und Mundbodenmuskulatur), dem N. facialis und
der Kopf-, Körper-, Extremitäten- und Augenstellung, wobei N. vagus mit trigeminalen und zervikalen Afferenzen ab.
die wesentlichen Informationen über die Gelenkstellung aus
den Muskelspindeln stammen. Diese Nackenpropriozeptoren
sind bei langsamen Kopfbewegungen dem Vestibularapparat 7.4.2 Therapeutische Möglichkeiten
bei der Detektion von Kopfbewegung und -stellung überle-
gen (Taylor 1992). Die Rezeptoren der Gelenkkapseln dage- Wie können diese Zusammenhänge unter therapeutischen
gen sprechen laut Proske et al. (1988) eher auf endgradige Gesichtspunkten betrachtet werden?
Bewegungen an (7 Kap. 4.3, Kopfgelenke). Die sensible Innervation des Gesichts und der sog. Kopf-
Zervikale Afferenzen reichen weit ins Thorakalmark schwarte, auch Skalp genannt, wird bis zur Kinn-Ohr-Schei-
hinunter und steigen bis zu Kerngebieten des Hirnstamms tel-Linie vom Trigeminus besorgt. Dorsal dieser Linie sind
auf. Hieraus ergeben sich nach Neuhuber (1998) »enorme die Nn. occipitalis maior und minor für die sensible Innerva-
Möglichkeiten der Interaktion im Sinne einer Konvergenz tion zuständig (. Abb. 7.42).
114 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

Venter frontalis des . Abb. 7.43 M. epicranius. 1 Galea aponeurotica. 2


Galea aponeurotica
1 M. occipitofrontalis M. temporoparietalis Venter frontalis des M. occipitofrontalis. 3 M. temporo-
parietalis. 4 Venter occipitalis des M. occipitofrontalis
M. procerus M. auricularis superior
2 M. depressor Venter occipitalis
supercilii des
3 M. occipito-
frontalis
M. corrugator
supercilii
4
5 M. nasalis
M. levator M. auricularis
labii
6 superioris
anterior
M. auricularis
alaeque
nasi posterior
7 M. levator Pars
palpebralis M. orbi-
M. levator cularis
angularis oris Pars oculi
8 M. Pars
orbitalis
orbi- labialis
cularis Pars Fascia parotidea
9 oris marginalis Fascia masseteria
M. zygomaticus minor
M. zygomaticus major
10 M. mentalis M. risorius
M. depressor Platysma
labii inferioris M. depressor
11 anguli oris

12 Die Kopfschwarte besteht aus Haut und Unterhaut, die von dort zu entsprechenden Kerngebieten im ZNS (Christ
fest mit einer Muskel-Sehnen-Platte verwachsen sind, dem 1998).
13 M. epicranius, der Schädeldach, Stirn und seitliche Schädel- Es besteht also kein monosynaptischer Reflexbogen wie
wand überzieht und motorisch vom N. facialis innerviert beim Skelettmuskel, sondern eine Verschaltung von Spindel-
wird (. Abb. 7.43). Untergliedert ist der M. epicranius in afferenzen aus fazialisinnervierter Muskulatur mit dem Tri-
14 4 den M. occipitofrontalis, bestehend aus Venter frontalis geminus im Sinne einer trigemino-fazialen Kommunikation
und Venter occipitalis, (Baumel et al. 1988).
15 4 den M. temporoparietalis und
4 die Galea aponeurotica, Fazit
eine straffe fibröse Sehnenplatte zwischen den beiden Bäu- Aufgrund der Interaktion verschiedener Hirnnerven und zervi-
16 chen des M. occipitofrontalis und dem M. temporoparietalis kaler Afferenzen, die sich in den epikraniellen Weichteilstruktu-
(Schmidt 1994). ren abspielt, ist es erlaubt, bestimmte Reaktionen, die bei einer
17 Die Galea aponeurotica liegt mit einer gut durchblu- osteopathischen Behandlung des Schädels beobachtet wer-
teten, lockeren Bindegewebeschicht dem Periost des Schä- den können, unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten
dels auf und ist unter physiologischen Bedingungen aktiv als dies gewöhnlich geschieht.
18 und passiv gut beweglich. Die fibromuskuläre Schicht des
M. epicranius umgibt das Schädeldach mit seinen Knochen- k Kraniosakrale Osteopathie
19 platten (Os frontale, parietale, temporale, occipitale) wie Das Denkmodell der kraniosakralen Osteopathie z.B.
eine Haube. Eine direkte Verbindung der Strukturen des geht – kurz gefasst – von pathologischen Veränderungen an
M. epicranius zum ZNS ergibt sich aus der sensiblen Inner- den Schädelnähten aus im Sinne einer Einschränkung der
20 vation durch den Trigeminus und der motorischen Innerva- Mikrobewegung zwischen den Schädelnähten oder Ver-
tion durch den N. facialis: Denn da die muskulären Anteile schiebung der Knochenplatten des Schädels gegeneinander,
des motorisch vom Fazialis innervierten M. epicranius wie dies beim Säugling mitunter vorkommen kann.
ebenso mit Muskelspindeln versehen sind wie die übrige Folge sind nach dieser Vorstellung eine Verspannung der
Skelettmuskulatur, reagieren sie auf nozizeptive Afferenzen zerebralen und spinalen Dura, der intrakraniellen Memb-
ebenfalls mit einer Tonusänderung. Die afferenten Nerven- ranen (Falx cerebri, Tentorium cerebelli) sowie eine Stö-
fasern aus den Muskelspindeln des M. epicranius (und auch rung des kraniosakralen Rhythmus, der nicht auf den Schä-
der mimischen Muskulatur) gelangen über periphere Ana- del begrenzt, sondern ebenso am Sakrum und auch an den
stomosen zu ihren Perikaryen im Trigeminusganglion und Extremitäten spürbar ist. Sutherland (1993) bezeichnet ihn als
7.4 · Manuelle Behandlung des Kopfes
115 7
»primary respiratory mechanism« im Sinne einer Gewebeat- und des medialen Längsbündels ist verantwortlich für Wohl-
mung, Ward (2003) hingegen schlicht als inhärente Gewebe- befinden, Friedfertigkeit und Ruhe (Olds und Milner 1954).
bewegung, eine »inherent tissue motion«. Aufgrund der Verbindung des Septum pellucidum mit dem
Werden die Schädelnähte nach diesem Denkmodell nun Hirnstamm ist eine Kommunikation mit trigeminalen Affe-
mittels osteopathischer Behandlung von ihren Restriktionen renzen denkbar. Auch andere vegetative Erscheinungen bei
befreit, »verschobene Schädelknochen« (Upledger 1996) an manueller Behandlung des Schädels wie Wärmegefühl, ver-
ihren Platz gebracht, Dura und Membranen entspannt, klin- tiefte Bauchatmung und dergleichen lassen sich über eine tri-
gen die Schmerzen ab, die Beweglichkeit der Wirbelsäule bes- geminovagale Konvergenz erklären. Diese Phänomene sind
sert sich, desgleichen der Schlaf-Wach-Rhythmus; der Patient vergleichbar mit einer Tonus- und Schmerzminderung nozi-
fühlt sich ruhig und entspannt. Diese Erscheinungen lassen zeptiv veränderter Weichteilstrukturen der oberen Halswir-
sich beim Erwachsenen ebenso beobachten wie beim Säug- belsäule durch Behandlung der myofaszialen Strukturen.
ling.
In zahlreichen Büchern zur kraniosakralen Osteopathie Trigemino-faziale Kommunikation und
werden diese erfreulichen Behandlungseffekte auch mit der autonome Reaktionen
Wiederherstellung einer harmonischen Eigenbewegung des Die mimische Muskulatur, sensibel vom N. trigeminus und
knöchernen Schädels begründet, wie es Sutherland (1939) motorisch vom N. facialis innerviert, bietet ein anschauliches
beschrieb, der die kraniosakrale Osteopathie in den 30er Jah- Beispiel für den Einfluss der trigemino-fazialen Kommunika-
ren des 20. Jahrhunderts entwickelte. tion auf das limbische System und autonome Körperreakti-
Dieses Phänomen des kraniosakralen Rhythmus wird onen, wie ein Versuch von Levenson et al. (1990) zeigt.
unterschiedlich bewertet und kontrovers diskutiert. Mei-
nungsverschiedenheiten bestehen weniger über die zwei- Beispiel
fellose Existenz dieser tastbaren inhärenten rhythmischen In einer Studie wurden Personen angewiesen, bestimmte
Bewegung als vielmehr über deren Herkunft, Ursache und Gesichtsmuskeln zu kontrahieren, die für bestimmte Gesichts-
therapeutische Bedeutung. Fest steht, dass sich dieser Rhyth- ausdrücke typisch sind. Die Versuchspersonen hatten jedoch
mus bisher dem wissenschaftlichen Nachweis entzogen hat nicht die Aufgabe, einen Ausdruck zu mimen oder nachzuah-
(Heymann und Kohrs 2006, Buchmann 2007). men. Für den Gesichtsausdruck Ärger wurden die Probanden
aufgefordert: »Augenbrauen zusammen- und nach unten zie-
Tipp hen, obere Augenlider heben, Unterlippe nach oben drücken
und die Lippen zusammenpressen!« Der Versuchsleiter war
Unabhängig davon hat sich die kraniosakrale Osteopa- nicht im gleichen Raum wie die Versuchspersonen; er beobach-
thie als sehr wirksame Behandlungsmethode erwiesen, tete den Vorgang auf einem Bildschirm und gab Anweisungen
und es steht inzwischen eine umfangreiche Literatur über ein Kommunikationssystem. Auf diese Weise wurden ver-
zu diesem Therapieverfahren zur Verfügung, wobei die schiedene Gesichtsausdrücke für Ärger, Trauer, Angst, Freude,
Dynamik der Schädelbewegungen und ihre Auswirkun- Ekel und Überraschung induziert. Die autonomen Reaktionen
gen auf die Dura und intrakranielle Membranen die the- wie Pulsfrequenz, Hautleitwiderstand, Fingertemperatur und
oretische Grundlage bilden. Muskeltonus entsprachen in statistisch gesicherter Weise jenen,
die für diese Ausdrücke normalerweise typisch sind (Eckman et
Es gibt eine Reihe von Denkmodellen zur kraniosakralen al. 1983). Die Versuchspersonen, die nach ihren Gefühlen bei die-
Osteopathie. Bei keinem ist allerdings von der neuroanato- sem Versuch gefragt wurden, gaben statistisch gesichert an, sie
misch ungewöhnlich differenziert aufgebauten Kopfschwar- hätten Gefühlslagen erlebt, die dem Gesichtsausdruck entspra-
te die Rede. Dabei ist es diese Struktur, die unmittelbar und chen. Dabei wusste keiner der Personen, worum es eigentlich
direkt unter den behandelnden Händen liegt und auf feinste bei diesem Versuch ging (Eibl-Eibesfeldt 1997).
Reize reagiert. Die beschriebenen therapeutischen Reakti-
onen lassen sich ohne Weiteres auch über eine Beseitigung Fazit
pathologischer, dysfunktionell entstandener Tonusverän- Wenn durch willkürliche Kontraktion der mimischen Muskulatur
derungen der oberen Halswirbelsäule und der Kopfschwar- die Stimmung beeinflussbar ist, wäre es denkbar, dass auch mit
te erklären, wie sie bei der Anwendung myofaszialer Tech- manueller Behandlung der epikraniellen Weichteilstrukturen
niken an anderen Körperregionen bekannt sind. Ward (1997) Ähnliches erreicht werden kann, unter Ausnutzung der trigemi-
bezeichnete daher die Schädeltechniken der kraniosakralen no-zervikalen Konvergenz und der trigemino-fazialen Kom-
Osteopathie als Myofascial Release am Kopf. munikation. Das könnte die Vorstellung des Sutherland-Denk-
Der Trigeminus, dessen Kerne bis zum Mesenzephalon modells von der Behandlung des Keilbeins und der sphenoba-
hinaufreichen, kommt dabei als Vermittler der Ruhe und silären Synchondrose (SSB) eventuell in einem anderen Licht
Entspannung infrage: Eccles (1989) beschreibt »gute Ver- erscheinen lassen.
bindungen« der Kerne des Septum pellucidum zum Hirn-
stamm mit der Möglichkeit, »allgemeine Körperreaktionen Keilbein und sphenobasilären Synchondrose (SSB) nehmen
auszulösen«. Das Septum pellucidum ist Teil des limbischen im Konzept der kraniosakralen Osteopathie bekanntlich eine
Systems, das für die Gestaltung des affektiven Gesamtver- Schlüsselstellung ein: Beim klassischen Griff zur Behand-
haltens verantwortlich ist. Die Zone des Septum pellucidum lung des Os sphenoidale umfassen die Hände das Okziput,
116 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

Myofasziale Lösetechniken am Kopf


1 Aus dem umfangreichen kraniosakralen Therapieprogramm
wird im Folgenden eine gezielte Auswahl von Behandlungs-
2 formen am Schädel beschrieben, deren Anwendung sich in
der Praxis in Verbindung mit der Atlastherapie als sehr wirk-
sam erwiesen hat. Auf die Behandlung der Diaphragmen und
3 des Sakrums, die ebenfalls zur kraniosakralen Osteopathie
gehört, wird hier nicht eingegangen, da analoge myofasziale
4 und manipulative Techniken bereits besprochen wurden. In
7 Übersicht 7.4 sind Indikationen, Ziele und Vorgehensweise
der myofaszialen Lösetechniken auf einen Blick zusammen-
5 gefasst.

6 Übersicht 7.4 Myofasziale Lösetechniken am Kopf


Indikationen
7 . Abb. 7.44 Seitliche Ansicht des Schädels. Die gestrichelte Linie 5 Schädelasymmetrie bei Säuglingen und Kleinkindern,
(Pfeil) markiert den Abstand des Os zygomaticum (orange) von der 5 Dysbalance der epikraniellen Strukturen (z.B. bei dys-
Ala maior sphenoidalis (gelb) funktionellem Syndrom),
8 5 funktionelle Kiefergelenksstörungen,
und die Daumen werden am Hinterrand des Os zygomati- 5 Störungen der Mundmotorik,
9 cum auf die Alae maiores des Os sphenoidale gelegt, um dort 5 Kopfschmerzen,
mit sehr zartem Gewebekontakt therapeutisch tätig zu wer- 5 Schreikinder (bei TAS).
den. Zwischen Daumen und den Keilbeinflügeln liegt beim Ziele
10 Erwachsenen allerdings eine Distanz von mehr als 2 cm 5 Beseitigung nozizeptiver Gewebeveränderungen,
(. Abb. 7.44) – beim Neugeborenen sind es immerhin noch 5 Spannungsausgleich der epikraniellen Weichteilstruk-
11 etwa 7–8 mm, die mit dem doppelfiedrigen M. tempora- turen,
lis ausgefüllt ist, der motorisch und sensibel vom Trigemi- 5 Verbesserung vegetativer Funktionen (Schlaf, Nah-
nus innerviert und von der sehr kräftigen, doppelt lami- rungsaufnahme usw.),
12 nierten Fascia temporalis bedeckt wird. Die Fascia tempo- 5 Verbesserung von Mundmotorik und Saugverhalten,
ralis setzt mit ihrer Lamina superficialis an der Außenseite 5 Stimmungsausgleich, Beruhigung.
13 des Jochbogens an, die Lamina profunda an der Innensei- Vorgehensweise
te dieses Knochens und bildet somit eine recht feste Mem- Je nach Größe des Kindes werden mit den Fingerkuppen,
bran, die den M. temporalis und die darunterliegende Ala
14 maior des Sphenoids überspannt. Es ist daher zu diskutieren,
den Langfingern oder der ganzen Hand die Spannung und
das Gleiten der epikraniellen Weichteilstrukturen im Okzi-
ob die großen Keilbeinflügel am lebenden Objekt, also am pital-, Parietal-, Temporal- und Frontalbereich beurteilt,
15 nicht skelettierten Schädel, bei der äußerst zarten therapeu- nach den Kriterien
tischen Kontaktaufnahme mit den Daumenkuppen tatsäch- 5 Strammung – Lockerung,
lich erreicht und bewegt werden können, oder ob der thera- 5 Barriere – freie Richtung.
16 peutische Effekt einschließlich der Änderung des inhärenten Aus diesem Befund ergibt sich die Therapie, indem man
Geweberhythmus vielleicht auch über die Hirnnerven inner- dem Gewebe in die freie Richtung folgt, bis es »anhält«.
17 vierten Weichteilstrukturen zustande kommt. Selbst eine Dort verharren und fühlen, ob und wann das Gewebe wei-
weitaus größere Kraft, als sie bei der kraniosakralen Therapie tergleitet, dann sachte folgen bis zum nächsten Halt.
eingesetzt wird, würde sich zuerst auf das Muskel- und Fas-
18 ziengewebe übertragen und die dort angesiedelten Sensoren
Der Palpationsdruck sollte äußerst zart und sanft sein,
nach der Maßgabe: Gewebe nicht beschleunigen, nicht
aktivieren. Gleiches könnte auch für die Behandlung gelten, überholen wollen, nicht am Halt drängeln!
19 mit der die extrakraniale Dura erreicht werden soll. Dass die
Dura mit den bekannten Techniken Duraschlauchzug, Dura-
röhrenschaukel (Liem 2001) usw. therapeutisch erfasst wird, An den therapeutischen Handpositionen der nachfolgend
20 ist anzunehmen (Hack et al. 1995). Immer aber wirken die- beschriebenen Lösetechniken Punkt 2–6 ist erkennbar, dass
se Techniken auch auf die autochthone Rückenmuskulatur, hier simultan die Strukturen erfasst werden, die vom Trige-
deren komplexe neurophysiologische Reaktionsweise mögli- minus und vom N. occipitalis maior bzw. minor innerviert
cherweise ausreicht, um die therapeutischen Effekte der kra- sind.
niosakralen Osteopathie zu erklären.
Diese kritischen Überlegungen sollen nicht den Wert die-
ser sehr wirksamen manuellen Behandlungsmethode in Fra-
ge stellen, sondern Anreiz geben, das herkömmliche Denk-
modell neu zu diskutieren.
7.4 · Manuelle Behandlung des Kopfes
117 7
k 1. Myofasziales Lösen (MFL) okzipital (sog. Derotation
der Squama occipitalis) (. Abb. 7.45)
Erfasste Strukturen
Venter occipitalis des M. frontooccipitalis, Ansatz der Nacken-
muskeln.
Durchführung
Das Kind liegt in Rückenlage. Der Kopf wird in die Innenflä-
che der einen Hand gebettet, darunter wird die andere Hand
so positioniert, dass Zeige-, Mittel- und Ringfinger am Okzi-
putunterrand liegen. Aus sanftem Gewebekontakt erfolgt das
Prüfen auf Strammung und Lockerung in der üblichen Weise.
Die palpierenden Hände bewegen sich dorthin, wo das Gewe-
be »hinziehen« möchte und folgen diesem bis zum Halt. Dort
wird bis zum »Schmelzen des Gewebes« verharrt.

k 2. MFL temporookzipital (sog. infratentorielle Memb-


ranbehandlung) (. Abb. 7.46) . Abb. 7.45 MFL des M. epicranius, okzipitaler Anteil
Erfasste Strukturen
Temporaler Anteil der Galea aponeurotica, Venter dorsalis
des M. frontooccipitalis, okzipitale Muskelansätze
Durchführung
Beide Handinnenflächen des Therapeuten umfassen das
Okziput des Kindes; die Daumen liegen beidseits über dem
mittleren Anteil des M. temporalis, die Fingerkuppen im zer-
vikookzipitalen Übergang. Prüfen der epikraniellen Struk-
turen auf Strammung und Lockerung durch feine Rotations-
und Scherbewegungen der Hände mit minimalem Druckkon-
takt zum Gewebe. Nach Ermitteln der freien und blockierten
Richtung dem Gewebezug entsprechend der oben beschrie-
benen myofaszialen Lösetechnik folgen.

k 3. MFL fronto-parieto-okzipital (sog. Release der Falx


cerebri und der intrakranialen Dura (. Abb. 7.47)
Erfasste Strukturen
Frontaler, parietaler, und okzipitaler Anteil der Galea apo- . Abb. 7.46 MFL des M. epicranius, temporaler und okzipitaler An-
neurotica bzw. des M. epicranius, okzipitale Nackenmus- teil
kelansätze.
Durchführung
Das Kind liegt in Rückenlage. Der Hinterkopf des Kindes liegt
in der Innenfläche der einen Therapeutenhand, die somit das
Innervationsgebiet des N. occipitalis maior umfasst; die ande-
re Hand legt sich haubenförmig auf Scheitel und Stirn ent-
sprechend dem sensiblen Innervationsgebiet des N. trigemi-
nus. Das diagnostische und therapeutische Vorgehen erfolgt
entsprechend der myofaszialen Lösetechnik.

k 4. MFL temporo-parieto-okzipital (sog. supratentori-


elle Membranbehandlung) (. Abb. 7.48)
Erfasste Strukturen
Galea aponeurotica im Übergangsgebiet der sensiblen Inner-
vation, Pars temporoparietalis und occipitalis des M. epicra-
nius.
Durchführung
Das Kind liegt in Rückenlage. Der Hinterkopf des Kindes liegt . Abb. 7.47 MFL fronto-parieto-okzipital
in der Hohlhand des Therapeuten. Die andere Hand umfasst
mit Daumen und Mittelfinger das Scheitel- und Schläfenbein
etwa an der Grenze zwischen dem sensiblen Innervationsge-
biet von N. trigeminus und N. occipitalis maior (Ohr-Schei-
118 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

1
2
3
4
5
6
7 . Abb. 7.48 MFL temporo-parieto-okzipital im Übergangsgebiet
der sensiblen Innervation des M. epicranius

8 . Abb. 7.49 MFL des M. temporalis mit Gabelgriff


tel-Linie). Prüfen des epikraniellen Gewebetonus auf Stram-
9 mung und Lockerung und therapeutisches Vorgehen entspre-
chend der myofaszialen Lösetechnik.
10 Tipp

11 Dieser sehr wirksame und leicht durchzuführende Griff


sollte bei keiner Säuglingsbehandlung fehlen.

12
k 5. MFL des M. temporalis mit Gabelgriff (sog. Behand-
13 lung der sphenobasilären Synchondrose) (. Abb. 7.49)
Erfasste Strukturen
Vorderrand des M. temporalis mit Fascia temporalis, okzipi-
14 taler Anteil des M. epicranius, okzipitale Nackenmuskelan-
sätze.
15 Durchführung
Das Kind liegt in Rückenlage. Die eine Hand des Therapeuten
umfasst den Hinterkopf des Kindes, Daumen und Mittel-
16 finger der anderen Hand umfassen von vorne den ventra-
len Anteil des M. temporalis hinter dem Os zygomaticum
17 bzw. dem seitlichen Orbitarand. Prüfen auf Strammung und . Abb. 7.50 MFL von M. temporoparietalis und M. temporalis im
Lockerung mit der einen Hand bzw. mit Daumen und Mittel- Innervationsgrenzgebiet von Trigeminus und N. occipitalis minor
finger der anderen. Begleiten des Gewebes ohne Drängeln bis
18 zum »Wegschmelzen«.
lis minor. Dem Befund gemäß erfolgt das myofasziale Lösen.
19 k 6. MFL von M. temporoparietalis (epicranii) und Für die Palpation des unterhalb der Galea aponeurotica lie-
M. temporalis, mittlerer und dorsaler Anteil (. Abb. 7.50) genden M. temporalis wird der Gewebekontakt geringfügig
Erfasste Strukturen verstärkt; therapeutisch wird in gleicher Weise verfahren.
20 Galea aponeurotica mit M. temporoparietalis an der Über-
gangszone der sensiblen Innervation, M. temporalis (Pars k 7. MFL des M. temporoparietalis mit Ohrzugtechnik
media und Pars dorsalis). (Oberlehrergriff ) (sog. Dekompression der Ossa temporalia)
Durchführung (. Abb. 7.51)
Die Langfinger beider Hände des Therapeuten liegen auf den Erfasste Strukturen
Schläfen des Kindes in Höhe der Ohren. Mit äußerst sach- Periaurikulärer Anteil der Galea aponeurotica mit M. tem-
tem Kontakt wird das fibromuskuläre Gewebe auf Stram- poroparietalis. An der sensiblen Innervation im Bereich des
mung und Lockerung untersucht, auch hier im Grenzgebiet äußeren Ohrs sind neben dem Trigeminus auch der N. vagus
der sensiblen Innervation von Trigeminus und N. occipita- und N. facialis beteiligt.
7.4 · Manuelle Behandlung des Kopfes
119 7

. Abb. 7.51 MFL des M. temporoparietalis mit Ohrzugtechnik

Durchführung
Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger werden die Ohrmu-
scheln des Kindes gefasst, und mittels sachter, langsamer
Bewegungen der Ohrmuschel nach hinten-seitlich, kranial . Abb. 7.52 MFL des frontalen M.-occipitofrontalis-epicranii-Bau-
und kaudal werden freie und blockierte Richtung ermittelt. ches mit Galea aponeurotica
Bei Erreichen des Gewebestopps werden die Ohren gehalten,
bis sich das Gewebe löst (»Wegschmelzen«). Nach erneutem
Prüfen von Strammung und Lockerung wird die Prozedur
ggf. wiederholt.

k 8. MFL des frontalen M.-occipitofrontalis-epicranii-


Bauches (sog. Behandlung des Sinus sagittalis superior)
(. Abb. 7.52)
Erfasste Strukturen
Frontaler Bauch des M. occipitofrontalis mit ventralem Anteil
der Galea aponeurotica.
Durchführung
Die Fingerkuppen beider Hände des Therapeuten werden zu
beiden Seiten der Medianlinie auf die Stirn des Kindes gelegt.
Die Prüfung von Strammung und Lockerung erfolgt mit sach-
tem Gewebekontakt durch langsames seitliches und gegen-
läufiges Verschieben des Gewebes. Behandelt wird, indem die
Fingerkuppen dem Gewebe in Richtung der Strammung fol-
gen und beim Gewebehalt verharren, bis das »Wegschmel-
zen« eintritt.

Kopforthese bei Schädelasymmetrie


Eine Schädelasymmetrie als Begleiterscheinung des TAS
. Abb. 7.53 Schädeldeformität bei TAS: Okziput rechts abgeflacht,
(7 Kap. 6.1, Der »schiefe Säugling«) kann sich mitunter den
parietotemporale Prominenz rechts, Vorschub des Os frontale rechts
manualmedizinisch-osteopathischen Bemühungen widerset-
zen, wenn die Deformität ein bestimmtes Maß überschreitet
und die Behandlung nicht früh genug begonnen wurde, das
heißt spätestens im 2. Trimenon. keine Besserungstendenz, sinken die Chancen einer manuel-
Typisch für die funktionelle, nicht kraniosynostotisch len Behandlung der Plagiozephalie.
fixierte Plagiozephalie ist die rautenförmige Deformität des In solchen Fällen hat sich die dynamische Orthesen-
Schädels, das sog. Parallelogramm (. Abb. 7.53) mit behandlung mit einem individuell gefertigten Kopfband
4 einseitiger Abflachung des Okziputs und Vorschub des bewährt. Das Prinzip dieser Orthese ist einfach und besteht
gleichseitigen Stirnbeinanteils, in einer – materialbedingt dynamischen – Druckausü-
4 Prominenz des Okziputs und Abflachung des Stirnbeins bung auf die prominenten Stellen des Schädels, während
auf der Gegenseite. über den abgeflachten Stellen Platz gegeben wird (Blecher
und Howaldt 1998). Bei eigenen mit dem Gießener Orthe-
Überschreitet diese Deformität ein gewisses Maß, d.h., beträgt senmodell behandelten Patienten wurden sehr gute Ergeb-
der Niveauunterschied zwischen beiden Stirnbeinhälften nisse erzielt (. Abb. 7.54), auch in den Fällen, bei denen die
mehr als 2 cm und zeigt sich in den ersten beiden Trimena Behandlung erst im Alter von 8/9 Monaten begonnen werden
120 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter

über afferente Bahnen den spezifischen (primären) Projek-


1 tionsfeldern im Gehirn zugeleitet. Die Dekodierung zusam-
mengehörender Reizmuster der gleichen Sinnesmodalität
2 geschieht in den sekundären, die Vernetzung mit anderen
Sinnesmodalitäten in den tertiären Projektionsfeldern (Forss-
mann und Heym 1985).
3 Neben der spezifischen ist die unspezifische Projektion
von entscheidender Bedeutung: Von allen Reizen, gleich wel-
4 cher Sinnesmodalität, werden Aktionspotenziale an die For-
matio reticularis und an Thalamuskerne abgezweigt. Dort
bewirken sie die Wachheit (Vigilanz), die für bewusste Wahr-
5 nehmung benötigt wird. Die Reizleitung ist unspezifisch, da
die genannten Erregungszentren nicht nach Rezeptormodali-
6 tät unterscheiden.

> Wichtig
7 Vigilanz und bewusste Wahrnehmung entstehen aus
dem Zusammenspiel von spezifischen und unspezifi-
8 schen Afferenzen (Schlack 1996).

Afferenzen aus dem Propriozeptoren- und Exterozeptoren-


9 a System haben an der Aktivierung dieses Weckeffekts einen
entscheidenden Anteil. Diese neurophysiologische Tatsache
lässt sich therapeutisch ausnutzen, indem der Behandlungs-
10 vorgang durch unspezifische proprio- und exterozeptive Sti-
mulation ein- und ggf. auch ausgeleitet wird.
11
> Wichtig
Bei Kindern mit einem TAS findet man nicht selten auf-
12 grund der gestörten räumlichen Wahrnehmung eine
mehr oder minder deutliche Beeinträchtigung der Vigi-
13 lanz. Bei Kindern mit zerebraler Bewegungsstörung ist
es die Regel.

14 Entscheidend für den gewünschten Erfolg ist allerdings, dass


die Qualität der Reizapplikation der individuellen Reaktion
15 b
des Kindes angepasst wird. Das Kind muss Aufmerksamkeit
und Wohlbehagen signalisieren. Deswegen ist die ständige
Kontrolle der kindlichen Mimik und des Verhaltens unent-
16 . Abb. 7.54 a, b Kopforthese (Gießener Modell) aus styroporähnli-
behrlich: Ein zu schwacher Reiz wird vom Kind kaum beant-
chem Material bei 6-monatigem Kind mit Schädeldeformität vom Pa-
rallelogramm-Typ und linkskonvexer Gesichtsskoliose. In Abbildung b wortet, ein zu starker Reiz löst Abwehr und Unmut aus. Beide
17 ist der entlastete linksseitige Okziputanteil erkennbar Reizformen sind nicht geeignet, um vom Kind therapeutisch
verarbeitet zu werden.
18 konnte. Alle Fälle waren andernorts vergeblich osteopathisch
behandelt worden. Trotz des etwas martialischen Anblicks 7.5.2 Körperstimulation
19 wird die Orthese von den Kindern gut toleriert.
Bekannte Methoden der Körperstimulation bei Säuglingen
sind
20 7.5 Unspezifische exterozeptiv- 4 sanfte Ölmassagen,
propriozeptive Stimulation 4 taktile Reize über Hände und Füße mit Körperpflegelo-
tion,
7.5.1 Wahrnehmungsverarbeitung und 4 sanftes Kneten der Extremitäten,
Vigilanz 4 Schaukeln etc. (Ayres 1984).

Wie in 7 Kapitel 2.2 ausführlich dargelegt, bedeutet Wahr- Eine weitere Technik, das Pritschen, hat sich bewährt, da es
nehmung die Umwandlung physikalischer Reize in zentral- ohne Zubehör überall durchführbar und bei den Kindern sehr
nervöse Erregung. Die kodierten Reizinformationen werden beliebt ist. (Der Ausdruck »Pritschen« ist aus der Gewohnheit
7.5 · Unspezifische exterozeptiv-propriozeptive Stimulation
121 7
von Kasperle abgeleitet, Bösewichte wie Krokodil, Teufel oder
Räuber mit einer Papp-Pritsche zu vertreiben. Das dabei ent-
stehende Geräusch gleicht dem therapeutischen Pritschen.)

k Pritschen (. Abb. 7.55–7.57)


Diese Stimulationsstechnik zur Vigilanzsteigerung ist tech-
nisch sehr einfach und kann auch von den Eltern praktiziert
werden.

j Indikation/Kontraindikation
Indikation für das Pritschen sind alle Formen von sensomo-
torischen Störungen. Allgemeine Kontraindikationen sind
4 erosive Hautveränderungen,
4 entzündliche Gelenk- oder Weichteilprozesse,
4 akute Infekte,
4 lokale Neoplasien,
4 schwer reduzierter Allgemeinzustand und
4 schwere Formen der respiratorischen Insuffizienz.
. Abb. 7.55 Pritschen: Hand-Finger-Haltung in Ausgangs- und Auf-
j Anwendungsgebiete treffphase

Behandelt werden grundsätzlich Fußsohle und Handinnen-


fläche. Je nach Befund und Reaktion des Kindes können
zusätzlich folgende Gebiete behandelt werden:
4 Sprunggelenksregion,
4 Unterschenkel (Innen- und Außenseite),
4 peripatelläre Region und distaler Oberschenkel,
4 Tensor fasciae latae und kleine Glutäen,
4 Schulterkulisse.

j Dosierung
Entscheidend für die Verarbeitung der sensorischen Stimu-
li ist die Dosierung der Impulsstärke und Impulsfrequenz.
Man appliziert nie mehr als 3–5 »Pritscher« in Folge und beo-
bachtet danach genau Reaktion und Mimik des Kindes:
4 Ein aufmerksamer, zufriedener, auch belustigter
Gesichtsausdruck ist positiv (. Abb. 7.57). Dann kann
die Pritschfolge von 3–5 Stimuli wiederholt und die . Abb. 7.56 Pritschen der Fußsohle
Reaktion erneut beobachtet werden. Das wird so lange
fortgesetzt, bis das Kind ein Ende signalisiert (oder der
Therapeut ermüdet).
4 Ein Wegziehen von Arm oder Bein, Wegdrehen des Kör-
pers, Maunzen oder Weinen bedeuten, dass das Prit-
schen als unangenehm empfunden wird und die Stimu-
lation zu stark ist.
4 Eine fehlende oder gelangweilte Reaktion zeigt eine zu
schwache Stimulation an!

j Pritschtechnik
Die Hand des Therapeuten ist im Handgelenk leicht dorsale-
xtendiert (auf keinen Fall volarflektiert) und locker geöffnet,
die Finger sind locker gespreizt wie ein halb offener Fächer.
Aus dieser Haltung erfolgt ein lässiger, lockerer Schlag aus
dem Handgelenk (nicht aus dem Ellenbogengelenk!) auf die
Fußsohle oder Handinnenfläche mit der Ulnarseite des Klein-
fingerendglieds als Auftreffpunkt, wobei sich die fächerartig
geöffneten Finger schließen (. Abb. 7.55). Nach dem Auftref- . Abb. 7.57 Beispiel einer positiven Reaktion auf die Stimulati-
fen erfolgt ein sofortiges Zurückschnellen. Die korrekte Aus- on der Fußsohle: Die Mimik des Kindes zeigt, dass die Information an-
führung lässt sich am »Pritschlaut« erkennen. kommt
123 8

Sensomotorische Dyskybernese
im Vorschul- und Schulalter

8.1 Verhaltensmerkmale, 8.2.7 SMD: Eine entwicklungsneurologische Störung – 132


klinische Zeichen – 123 8.2.8 Differenzialdiagnose – 133
8.1.1 Faulpelze und »affektive Irre« – 123
8.1.2 Die Ritalin-Offenbarung – 124 8.3 Therapie der sensomotorischen
8.1.3 Artspezifische Erkenntnisleistungen – 124 Dyskybernese – 133
8.1.4 Sensomotorische Fehlsteuerung – 124 8.3.1 Schlüsselregion Kopfgelenke – 133
8.1.5 Vordiagnosen – 125 8.3.2 Körperkontrolle und Orthographie – 134
8.1.6 Auffälligkeiten in der Vorgeschichte – 125 8.3.3 Sensomotorische Fehlsteuerung:
8.1.7 Prügelknabe oder Zappelphilipp – 125 Die primäre Störung – 135
8.1.8 Stumme Eigenbrötler, lärmende Angeber – 126

8.4 Unentbehrliche Amphetamine? – 137


8.2 Diagnostik – 126 8.4.1 Katalog-Diagnose – 137
8.2.1 Qualitativer Bewegungstest – 126 8.4.2 Wirkung und Nebenwirkung von
8.2.2 Anhaltspunkte für Vorschulkinder – 127 Methylphenidat – 137
8.2.3 Bedeutung der Nackenrezeptoren – 130 8.4.3 Ethische Verpflichtung – 138
8.2.4 Manualmedizinische Untersuchung – 130
8.2.5 Blickmotorische Störung – 131
8.5 Der motokybernetische Test (MKT) – 139
8.2.6 Wahrnehmungschaos – 132

Auf verschiedenen Einzelgebieten wird die Medizin heute


als exakte Wissenschaft betrieben, vor allem dort, wo sie mit Exkurs:
messbaren Größen zu tun hat. Jedoch ist es mit den geltenden Hyperaktivität erlangt Krankheitsstatus
wissenschaftlichen Paradigmen bis heute nicht möglich, den Das Störungsbild der Hyperaktivität beherrscht schon seit lan-
Menschen in der Gesamtheit seiner körperlichen, seelischen ger Zeit die interdisziplinäre Diskussion. Einst als Unart oder
nervöse Konstitution bezeichnet, erlangte es bereits in der
und geistigen Ausgestaltung zu erfassen. Inkommensurable
Mitte des 19. Jahrhunderts Krankheitsstatus. Maudsley (1867)
oder quantitativ nicht darstellbare krankhafte Erscheinungen
ordnete die Störung als »affektives oder moralisches Irresein«
können die nosologische Zuordnung erheblich erschwe- ein, Beard (1869) prägte den Begriff der Neurasthenie, der in
ren, wobei es in den verschiedenen medizinischen Fachrich- der Fachwelt große Verbreitung fand und sich lange halten
tungen nicht selten zu einer völlig unterschiedlichen Bewer- konnte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen
tung derselben Phänomene kommt. Publikationen zum Thema hyperkinetisches Syndrom, auch
wurde unter der Annahme eines maskierten frühkindlichen
Hirnschadens die Bezeichnung Minimal Brain Disorder vorge-
8.1 Verhaltensmerkmale, klinische stellt, später hieß es Minimal Brain Dysfunction. Etwa zur glei-
Zeichen chen Zeit tauchten vor allem im physiotherapeutischen, pädia-
trischen und orthopädischen Sprachgebrauch die Begriffe Mi-
nimal Cerebral Palsy (MCP) und Minimal Cerebral Dysfunc-
Als Beispiel sei ein Krankheitsbild angeführt, das im Laufe
tion (MCD) auf, während Kinderpsychiater die Bezeichnung
der Zeit unterschiedliche Bezeichnungen, pathologische Ein- psychoorganisches Syndrom (POS) bevorzugen. Viele dieser
schätzungen und therapeutische Ansätze erlebt hat. Kinder zeigten neben hypo- oder hyperaktiven Verhaltensauf-
fälligkeiten und sog. kognitiven Teilleistungsstörungen vor al-
lem auch Störungen in der Bewegungskoordination. Als man
8.1.1 Faulpelze und »affektive Irre« erkannte, dass eine zerebrale Schädigung als Ursache dieser
Störung nicht sicher nachweisbar ist, verwendete man auch
Die Rede ist von Kindern mit sog. Aufmerksamkeitsdefizit, von die Bezeichnungen sensomotorische Integrationsstörung
denen ein Teil hypoaktiv, lerngestört und angeblich leistungs- oder psychomotorische Retardierung und verordnete zur Be-
handlung Krankengymnastik und Ergotherapie. Die hyperakti-
unwillig ist, der andere Teil ebenfalls lerngestört und angeblich
ven Kinder erhielten vielfach zusätzlich eine kinderpsychiatri-
leistungsunwillig, aber hyperaktiv und infolgedessen erheblich
sche Behandlung.
»strapaziöser« für die Umgebung als die erste Gruppe.
124 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

8.1.2 Die Ritalin-Offenbarung Mit der Benennung und Bezeichnung der wahrgenom-
1 menen Umweltdinge vollzieht sich die Abstrahierung der
Allmählich trat die Bedeutung der motorischen Normabwei- Gestaltwahrnehmung und damit nach Lorenz (1986) »der
2 chungen in den Hintergrund zugunsten des Aufmerksam-
keitsdefizits als einem charakteristischen Merkmal hyper-
Schritt vom Greifen zum Begreifen«, einhergehend mit der
Entwicklung der Wortsprache. Die Vorstellung einer räum-
aktiver Kinder. Aus dem Amerikanischen wurde der Begriff lichen Beziehung der Umweltdinge zueinander ist, eben-
3 Attention Deficit Disorder (ADD) für diese Kinder übernom- so wie die Wortsprache, ein Element des diskursiven Den-
men und mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) über- kens als der beherrschenden artspezifischen Erkenntnis-
4 setzt. Die Leitsymptome (Hüther 2003) hierbei sind:
4 Impulskontrollstörung,
leistung des Menschen. Stütz- und Zielmotorik stellen in
diesem Sinne bereits kognitive Leistungen an sich dar, auf
4 Aufmerksamkeitsdefizit und denen die nachfolgenden höheren Erkenntnisfunktionen
5 4 Hyperaktivität. basieren (7 Kap. 2.1, Die Sonderstellung des menschen in
der Natur).
6 Als sich dann zeigte, dass die ADS-Kinder auf scheinbar
einfache und effektive Weise mit dem Amphetaminderivat
Ritalin behandelt werden können, wurden nach einiger Zeit 8.1.4 Sensomotorische Fehlsteuerung
7 auch Kinder in die Ritalin-Indikation aufgenommen, die
zwar unaufmerksam, aber keineswegs hyperaktiv waren, Bei funktionellen Störungen der Wahrnehmungssensoren
viele sogar eher hypoaktiv. Seither unterscheidet man zwi- des Achsenorgans, wie sie beispielsweise bei einer sog. seg-
8 schen ADHS für die Hyperaktiven und dem schlichten ADS mentalen Dysfunktion (Blockierung) auftreten, sind die
für die Nicht-Hyperaktiven, was dem Ritalin®-Umsatz ver- Informationen zu Stellung und Bewegung des Körpers im
9 ständlicherweise zugute kommt. Eine einheitliche Ätiolo- Raum fehlerhaft oder unvollständig. Die Folgen für die
gie dieses rätselhaften, vielschichtigen Störungsbildes wur- posturale Entwicklung wurden am Beispiel des TAS erläu-
de bisher allerdings nicht ermittelt. Auch die bei Eltern tert. Bewegungsqualität und Raumorientierung sind das
10 und Pädagogen beliebte monokausalistische Hypothese Ergebnis der sensorischen Programmierung in der früh-
einer genetisch regulierten Störung im Neurotransmitter- kindlichen Lebensphase. Dies bedeutet: Eine chronische
11 stoff wechsel ist nicht hinreichend belegt. Vielmehr muss Störung der propriozeptiven Wahrnehmungsverarbeitung,
unter Berücksichtigung der nicht hyperaktiven ADS-Kin- wie sie z.B. bei fortbestehender oder rezidivierender Kopf-
der, die sehr oft auch bewegungsauffällig sind, von sehr gelenksblockierung vorliegt, ist im motorischen Muster
12 unterschiedlichen Ursachen ausgegangen werden. Neben integriert. Dauer, Ausprägung und Lokalisation der Störung
sozialen und emotionalen Faktoren sowie pädagogischen entscheiden darüber, in welchem Ausmaß die sensomoto-
13 Missständen spielen in bestimmten Fällen auch funkti- rische Steuerung betroffen ist. Auch scheint der Zeitpunkt
onell-somatische Vorgänge eine Rolle, die einen manual- bedeutsam zu sein, in dem sich die Störung ereignet. Denn
medizinischen Therapieansatz bieten. In den folgenden je jünger das Kind ist, desto weniger determinierte senso-
14 Abschnitten soll dargelegt werden, welche klinische Sym- motorische Programme liegen vor, und desto nachteiliger
ptomatik diese Kinder kennzeichnet, wie sie von anderen werden sich fehlerhafte sensorische Daten auf die Bewe-
15 Ursachen abgegrenzt und als manualmedizinische Indika- gungsentwicklung auswirken.
tion erkannt werden kann. Bei den meisten Kindern, die von dieser Störung betrof-
fen sind – es sind überwiegend Jungen – finden sich keine
16 Hinweise auf eine zerebrale Schädigung, denn es handelt
8.1.3 Artspezifische Erkenntnisleistungen sich bei der sensomotorischen Fehlsteuerung um die Folgen
17 einer peripheren, im sensorischen Apparat des ZNS entstan-
Als basale Funktion der sensomotorischen Entwicklung denen Dysfunktion. Die Frühsymptome dieser sensomoto-
wurde die Verarbeitung der Information von raum-zeit- rischen Dyskybernese (SMD) sind daher auch oft uncharak-
18 licher Bewegung genannt. Der Begriff Information ist hier teristisch und lassen sich im frühen Kleinkindalter auf den
im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen: Informatio bedeu- ersten Blick nicht immer von altersphysiologischen Norm-
19 tet im Lateinischen »Vorstellung« (von etwas) und lässt sich varianten abgrenzen. Diese Kinder lernen zwar auch zu ste-
auch mit Wahrnehmung oder Anschauungsform übersetzen. hen, frei zu gehen und Treppen zu steigen, aber meist verspä-
Die Vorstellung von Bewegung in Raum und Zeit ist identisch tet und in einer verminderten motorischen Qualität. Mütter
20 mit der Funktion der Sinnesorgane, d.h. der Telerezeptoren, haben oft ein gutes Gespür dafür, dass mit ihrem Kind etwas
Extorozeptoren und Propriozeptoren einschließlich Labyrin- nicht stimmt, stoßen aber ärztlicherseits häufig auf Unver-
thorgan (7 Kap. 2.2, Neurophysiologische Aspekte der Bewe- ständnis. Auffällig werden diese Kinder, wenn sie an Gleich-
gungsentwicklung). Diese von den Sinnesorganen vermittelte altrigen gemessen werden oder sich bestimmten Normen
Anschauungsform (Lorenz 1986) von Stellung und Bewe- fügen müssen, im Kindergarten oder spätestens in der Schu-
gung des Körpers im Raum bestimmt das stütz- und zielmo- le (Coenen 1996a, 2002).
torische Resultat und ist Voraussetzung für die explorative Der Begriff sensomotorische Dyskybernese wurde erst-
Gestaltwahrnehmung der Umwelt durch Hören, Sehen, Füh- mals Anfang der 90er-Jahre vorgestellt (Coenen 1990, 1992).
len und Betasten. Er soll die peripher-dysfunktionelle Ursache dieses Krank-
8.1 · Verhaltensmerkmale, klinische Zeichen
125 8
heitsbildes hervorheben, gegen die früheren Bezeichnungen Tipp
minimale zerebrale Dysfunktion (MCD) bzw. minimale Zere-
bralparese (MCP) abgrenzen und verdeutlichen, dass Verhal- Bei der gezielten Befragung und Schilderung der Defizi-
tensstörungen, kognitive Einschränkungen und bestimmte te des Kindes durch die Eltern sollte das Kind nach Mög-
Sprachentwicklungsstörungen Symptome einer propriozep- lichkeit nicht im gleichen Raum zugegen sein, da es sich
tiven Fehlprogrammierung sein können, meist wohl als Fol- bei der Beschreibung seiner körperlichen Unzulänglich-
ge einer segmentalen Dysfunktion der oberen Halswirbelsäu- keit bloßgestellt und herabgesetzt fühlt.
le mit Beteiligung der Halspropriozeptoren.

In der Vorgeschichte des Kindes können oft schon Auffäl-


8.1.5 Vordiagnosen ligkeiten im Säuglingsalter auf die Entwicklung einer SMD
hinweisen, wenn beispielsweise das Kind als übererreg-
Unter bestimmten Voraussetzungen ist die SMD eine Indi- barer Schreihals oder als auffallend braves Kind beschrie-
kation zur manualmedizinischen Intervention. Da die Sym- ben wird , wenn Schlafstörungen bestanden haben, mit häu-
ptome der SMD oft als »schlechte Angewohnheit« betrachtet figem nächtlichen Erwachen und unstillbarem Schreien, fer-
werden oder sich hinter Vordiagnosen verbergen, ist neben ner Trink- und Saugschwäche, Abneigung gegen Bauchlage
der ausführlichen anamnestischen Exploration und der kör- und dergleichen mehr. Bei mehr als zwei Drittel der Kinder
perlichen Untersuchung immer eine qualitative Beurteilung wird eine Schräglage im Säuglingsalter ermittelt, ferner ein
der Haltungs- und Bewegungsleistung erforderlich. deutlich verspätetes Drehen vom Rücken auf den Bauch und
Vor- oder Überweisungsdiagnosen, mit denen die Kin- umgekehrt, verspätetes Sitzen, kein Vierfüßerkrabbeln und
der vorgestellt werden, sind meist orthopädischer Art, oft ein verzögerter Gehbeginn.
verbunden mit der Forderung nach Einlagenversorgung
oder der Verordnung von Krankengymnastik. Die häufigsten
Überweisungsdiagnosen sind: 8.1.7 Prügelknabe oder Zappelphilipp
4 Haltungsschaden,
4 Knick-Senk-Füße, In der weiteren Entwicklung zeigen SMD-Kinder Defizite in
4 Gangstörung, der Köperkontrolle, der Konzentrationsfähigkeit, im Spiel-
4 Bindegewebsschwäche und und sozialen Verhalten, bei den schulischen Leistungen und
4 körperliche Ungeschicklichkeit, Trainingsmangel. nicht selten auch in der Sprachentwicklung. Bei der ananme-
stischen Befragung schildern die Eltern Beobachtungen, die
Bei diesen Diagnosen handelt es sich nicht um eindeutig defi- für die meisten SMD-Kinder zutreffen und sich im Einzelfall
nierte Krankheitsbilder, sondern um die Beschreibung von nur durch Nuancen unterscheiden.
Auffälligkeiten, die auch als Symptome anders gearteter Stö-
rungen beobachtet werden. Es verbirgt sich aber z.B. hinter k Kleinkind- und Vorschulalter
einem sog. Haltungsverfall im Matthiaß-Test sehr oft eine So wird im Kleinkind- und Vorschulalter ein staksiges oder
Störung der sensomotorischen Steuerung, die mit entspre- schlurfiges, mitunter torkelndes Gangbild beobachtet mit
chenden Testverfahren nachweisbar ist (s.u.). Ebenso stellt Stolpern, Anstoßen an Möbelstücken und Türrahmen, ver-
der erworbene Knick-Senk-Fuß, der die funktionelle Prüfung bunden mit häufigen Stürzen. Oft besteht wegen mangel-
nicht besteht (Coenen 1979), keine eigenständige Pathologie hafter Stützreaktionen beim Hinfallen eine erhöhte Verlet-
dar, sondern weist ebenfalls auf eine propriozeptive Fehl- zungsgefahr. Beim Schaukeln, Wippen und Klettern zeigen
programmierung hin. Ein solcher Fuß lässt sich daher von die Kinder ein übervorsichtiges und ängstliches Verhalten.
schlichten supinierenden Einlagen nicht beeindrucken, ohne Sie lernen verspätet (mitunter auch gar nicht) Roller- und
entsprechende Begleittherapie auch nicht von sog. proprio- Radfahren, können nicht balancesicher auf einem niedrigen
zeptiven Einlagen. Mäuerchen oder Bordstein gehen, nicht Seilspringen, keine
Hüpfspiele machen, keinen Ball fangen. Bei vielen SMD-Kin-
dern besteht auch bei geringen Höhen eine Höhenangst, z.B.
8.1.6 Auffälligkeiten in der Vorgeschichte beim Stehen auf einem Stuhl oder einer Treppenstufe, mitun-
ter sogar beim Liegen auf einer Untersuchungsliege, die frei
Eine ausführliche anamnestische Exploration zum sozialen im Raum steht.
Verhalten des Kindes, zum Spielverhalten und zum Verlauf Die Kinder werden als begrenzt belastungsfähig beschrie-
der sensomotorischen Entwicklung ist für die Erkennung ben, als körperlich und geistig wenig ausdauernd. Es fehlt
einer SMD unentbehrlich (7 Kap. 12.5, Anamnesebogen für ihnen an Durchsetzungsvermögen, sie können mit anderen
Vorschul- und Schulkinder). gleichaltrigen Kindern nicht mithalten, ziehen stets den Kür-
zeren, lassen sich an die Wand drücken und werden oft von
anderen Kindern geschlagen, ohne sich zu wehren. Sie son-
dern sich ab, sind schüchtern, wirken abwesend, verträumt
und uninteressiert, entwickeln keine Eigeninitiative. Auch
vertragen sie keine umtriebigen und lebhaften Freunde, spie-
126 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

len lieber allein oder mit einem älteren Kind. Oft ist zu hören, ren, Distanzlosigkeit, destruktives Spielverhalten und Aggres-
1 sie seien empfindlich und klagsam, lange beleidigt, nicht zum sivität.
Einlenken bereit und weinerlich. Flehmig (1996) hat typische Verhaltensmerkmale der
2 Andere Kinder wiederum zeigen das gegenteilige Ver-
halten: Ungeduld und Reizbarkeit, schnelles Ausrasten,
Selbsteinschätzung von SMD-Kindern beschrieben, ferner
Auffälligkeiten bei der Konfliktbewältigung und Störungen
wenn etwas nicht nach dem eigenen Willen geht, sprunghafte des Zeitgefühls: Die Kinder haben kein Gefühl für zeitliche
3 Hyperaktivität, Zappeligkeit, Jähzorn und Wutanfälle. Nach (und räumliche!) Distanz, die Speicherung im Ultrakurzzeit-
der elterlichen Beschreibung fallen diese Kinder oft durch und Kurzzeitgedächtnis für auditive und visuelle Informati-
4 schlecht dosierte, überschießende Bewegungen auf, sie fügen
anderen Kindern Schmerzen zu, ohne es zu merken oder zu
onen ist schlecht. Die Konzentrationsstörung wird zusätz-
lich von der Situation bestimmt: Die Kinder sind ablenkbar,
wollen, sind selbst aber wenig schmerzempfindlich. Sie kön- wenn mehr als eine Person im Raum ist, brauchen aber Nähe,
5 nen sich minutenlang im Kreis drehen, ohne schwindelig zu Beachtung und mitunter direkte Ansprache, müssen dabei
werden, fahren auf dem Spielplatz wie wild Karussell, zeigen angefasst werden. Auch können sie sich nicht konzentrieren,
6 eine schlechte Risikoeinschätzung und kennen ihre körper- wenn im Raum geredet wird, was Flehmig als Cocktailparty-
lichen Grenzen nicht. effekt bezeichnet.
Ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Ursachen, Bemerkenswert ist das gehäufte Vorkommen einer
7 die für ein solches Verhalten in Frage kommen, werden solche Sprachentwicklungsverzögerung bei SMD-Kindern. Vali-
Kinder heutzutage mit dem Etikett ADHS versehen. de Daten zur Prävalenz liegen bisher nicht vor, doch kann
man davon ausgehen, dass etwa die Hälfte der SMD-Kinder
8 k Schulalter in unterschiedlicher Form und Ausprägung davon betrof-
Im Schulalter fallen SMD-Kinder auf durch leichte Ablenk- fen ist. Als Ursache nimmt Hülse (2001) eine Persistenz der
9 barkeit und Konzentrationsstörungen, schnellen Leistungs- oralen Reflexe des Säuglings an wie Saugreflex, Schluckre-
abfall, Versagen beim Schulsport, Nervosität und Vergesslich- flex, Rooting-Reflex, Beißreflex und Würgreflex. Auch Fal-
keit sowie durch sog. Teilleistungsstörungen, vor allem als kenau (1989) sieht darin eine Dyspraxie der oralen Motorik
10 Lese-Rechtschreib-Schwäche. Die Handschrift ist schlecht, als Folge einer Kopfgelenksdysfunktion. Tatsächlich kom-
feinmotorische Aufgaben beim textilen Werken oder im men mundmotorische Störungen bei SMD-Kindern mit
11 Kunstunterricht machen große Schwierigkeiten. Es werden Sprachentwicklungsverzögerung nicht selten vor, sind jedoch
Zahlen- oder Buchstabenfolgen verwechselt. Die Hausaufga- nicht regelmäßig vorhanden. In diesen Fällen lässt sich die
ben können nur mit Fremdhilfe bewältigt werden und zie- Sprachentwicklungsverzögerung möglicherweise auch mit
12 hen sich sehr lange hin. Bei den Hyperaktiven, die unter den erkenntnistheoretischen Überlegungen erklären, wie bei
SMD-Kindern allerdings die Minderheit bilden, kommen der Skizzierung der artspezifischen Erkenntnisleistungen zu
13 meist noch erhebliche disziplinarische Schwierigkeiten hin- Anfang des Kapitels erwähnt.
zu.
14 8.2 Diagnostik
8.1.8 Stumme Eigenbrötler, lärmende
15 Angeber Um festzustellen, ob bei einem Kind mit den oben beschrie-
benen Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten eine manu-
Die ständige Frustration dieser Kinder durch das Erleben der almedizinische Behandlung indiziert ist, muss neben der
16 eigenen Schwäche und des eigenen Unvermögens im Ver- manuellen Untersuchung und der neurologischen Basisdi-
gleich zu anderen Kindern, ferner die ständige Kritik seitens agnostik eine Beurteilung der Köperkontrolle und Bewe-
17 der Erwachsenen, der Leistungsdruck und nicht zuletzt auch gungsqualität durchgeführt werden. Dazu wird bei Kin-
der Spott, dem diese Kinder ausgesetzt sind, führt in sehr vie- dern zwischen 5½ und 11 Jahren der motokybernetische Test
len Fällen zu einer Störung des emotionalen Verhaltens. Dies (MKT) eingesetzt (7 Abschn. 8.5).
18 äußert sich in gestörtem Selbstwertgefühl, Wertlosigkeitsvor-
stellungen, Antriebsarmut, auch Reizbarkeit und Aggressi-
19 vität sowie in somatischen Symptomen wie Schlafstörung, 8.2.1 Qualitativer Bewegungstest
Appetitverlust oder auch gesteigerter Esslust. Sehr oft beste-
hen soziale Kontaktstörungen: Scheu vor Erwachsenen, Der MKT besteht aus 16 Aufgaben zur Prüfung der Gleich-
20 Fremden und Gleichaltrigen, Verweigern von Gruppenkon- gewichtssteuerung, Bewegungsplanung, Bewegungsdosie-
takt und Vermeiden von Blickkontakt. In Gegenwart ande- rung sowie der Koordination und Feinabstimmung komple-
rer Personen zeigen die Kinder Verlegenheitsbewegungen xer Bewegungsmuster. Wegen des spielerischen Charakters
und Gehemmtheit. Und immer wieder trifft man auch auf ein dieses Testes empfiehlt es sich, die Untersuchung des Kindes
mutistisches Verhalten (Coenen 2002). mit dem motokybernetischen Test zu beginnen (7 Kap. 12.6,
Diese Merkmale treffen vorwiegend auf die hypoaktiven Befundbogen). In 7 Übersicht 8.1 sind die 16 Testaufgaben
SMD-Kinder zu, während die Hyperaktiven eher bestrebt des MKT zusammengefasst.
sind, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken durch albernes,
angeberisches und lärmendes Gebaren, Herumkommandie-
8.2 · Diagnostik
127 8
wand bei der Kontrolle ist also gering, der Informationsge-
Übersicht 8.1 Motokybernetischer Test (MKT) winn hoch. Ist das Ende der Behandlung abzusehen, kann der
Testaufgaben: Test im Gesamten wiederholt werden. In 7 Abschn. 8.5 sind
1. Langsitz Untersuchungsbedingungen, Testmaterial, Bewertungsmu-
2. Hochklettern und Abspringen von hüfthoher Liege ster und Auswertung des MKT zusammenfassend beschrie-
3. Einbeinstand auf festem Untergrund ben.
4. Einbeinstand auf weichem Untergrund (Schaumstoff-
kissen)
5. Einbeinstand mit Auffangen und Rückwurf eines Balls 8.2.2 Anhaltspunkte für Vorschulkinder
6. Einbeinhüpfen
7. Einbeinhüpfen mit Hochwerfen und Auffangen eines Für Kleinkinder und Vorschulkinder von 2–5 Jahren steht
Balls wegen meist fehlender Bereitschaft des Kindes zu aktiver
8. Hampelmannsprung Beteiligung kein vergleichbares qualitatives oder quantita-
9. Schersprung tives Testverfahren zur Verfügung. 5-Jährige sind zwar oft
10. Einbeinstand auf einem Therapiekreisel bereit, Aufgaben aus dem MKT durchzuführen, doch ist die
11. Purzelbaum Streubreite der physiologischen Normvarianten bei den abge-
12. Seitliches Überhüpfen fragten Bewegungsmustern im Gegensatz zu 5½-Jährigen
13. Fersengang vor- und rückwärts noch so groß, dass sich eine qualitative Beurteilung nicht
14. Hopserlauf zuverlässig durchführen lässt.
15. Seiltänzergang auf ausgelegtem Seil Bei den 2- bis 5-jährigen Kindern werden daher stan-
16. Drehtest dardisierte Entwicklungsskalen eingesetzt (Denverskalen,
Münchener funktionelle Entwicklungsskalen, Wiener Ent-
wicklungstest u.Ä.). Zur groben Orientierung hat sich in der
Die einzelnen Aufgaben des MKT werden nach der Qua- Praxis die Anwendung des Entwicklungsgitters nach Kipha-
lität ihrer Durchführung beurteilt und in einer Skala von rd bewährt, das in einem im Praxisbetrieb vertretbaren Zeit-
0–3 Minuspunkten benotet. Auf diese Weise lässt sich nach rahmen eine ausreichende Übersicht über den Entwicklungs-
eigenen Erfahrungen das Ausmaß der Störung detaillierter stand des Kindes bis zum 4. Lebensjahr bietet (Kalbe 1981).
beurteilen als mit einer rein quantitativen Methode (z.B. Ein Überblick über die sensomotorische Entwicklung des
Körperkoordinationstest für Kinder (KTK) nach Kipha- Kindes vom 15. Lebensmonat bis zum 6. Lebensjahr ist in
rd und Schilling.) Aus der Gesamtsumme der Punkte wird 7 Kapitel 3.7 aufgeführt.
unter Berücksichtigung des Lebensalters die stütz- und ziel- Motorische Leistungen wie Treppensteigen, Hüpfen und
motorische Leistung ermittelt und in Qualitätskategorien Stehen auf einem Bein zeigen in der Entwicklung des Klein-
(. Tab. 8.1) erfasst. kindes einen typischen zeitlichen Ablauf, der zur groben Ori-
entierung in . Tab. 8.2 zusammengefasst ist.
> Wichtig Weitere Anhaltspunkte für die neuromotorische Beur-
Die Indikation zur manualmedizinischen Behandlung ist teilung in diesem »schwierigen Alter« können die grobmo-
für die Störungskategorien III–VI gegeben. torischen Fähigkeiten sein, über die ein gesundes 4-jäh-
riges Kind in jedem Fall verfügen muss, zusammengefasst in
Zur Verlaufskontrolle wird der MKT auszugsweise einge- 7 Übersicht 8.2.
setzt, indem bei der Kontrolluntersuchung die Aufgaben mit
den schlechtesten Punktwerten kontrolliert werden. Das
sind gewöhnlich nicht mehr als 4–6 Aufgaben. Der Zeitauf- Übersicht 8.2 Neuromotorische
Beurteilungskriterien für ein 4-jähriges Kind
5 Balancesicheres Gehen
5 Beidbeiniges Hüpfen am Boden
. Tab. 8.1 Qualitätskategorien für die Auswertung des MKT 5 15–20 Meter rennen ohne Stolpern und Hinfallen
5 Schlusssprung von einer Treppenstufe
Störungsgrad Störungsausmaß 5 Dreirad- und Gokartfahren
I Normal 5 Treppaufgehen mit Fußwechsel und ohne Festhalten
5 Einbeinstand für 2–3 Sekunden
II Kontrollbedürftig 5 Hüpfer auf einem Bein
III Leichte Störung 5 Schlusssprung von Couch oder Stuhl
5 Freies Stehen auf einem Stuhl
IV Deutliche Störung 5 Mehrere fortlaufende Schlusssprünge (Häschen-hüpf-
Spiel)
V Ausgeprägte Störung
5 Treppabsteigen mit Fußwechsel und ohne Festhalten
VI Hochgradige Störung,
Verdacht auf zerebrale Ursache
128 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

. Tab. 8.2 Motorische Leistungen des Kleinkindes


1
Alter (Jahre) Treppensteigen Springen/Einbeinstand
2 1¾ Jahre Treppauf mit Geländer, Fuß wird nachgestellt

2¼ Jahre Frei treppauf, Fuß wird nachgestellt.


3 Treppab mit Geländer, Fuß wird nachgestellt

2½ Jahre Beidbeinsprung am Boden


4
2¾ Jahre Frei treppauf, Fuß wird nachgestellt

5 3 Jahre Anlaufsprung über Strich, Beidbeinsprung von einer Stufe

3½ Jahre Frei treppauf mit Fußwechsel


6 3¾ Jahre Einbeinstand auf einem Bein für 2 sec, ein Hüpfer auf einem Bein,
fünf fortlaufende Schlusssprünge
7 4 Jahre Frei treppab mit Fußwechsel

8 Ein zuverlässiger Indikator für die Abstimmung labyrinthä- gewidmet. Wir dürfen aber aufgrund klinischer Beobach-
rer, visueller und halspropriozeptiver Wahrnehmungsdaten tungen nach spezieller Behandlung der Zervikookzipital-
9 ist die Fähigkeit des Treppabsteigens mit Fußwechsel und region davon ausgehen, dass die Propriozeptoren der oberen
ohne Festhalten, wozu ein Kind mit 3½ Jahren, spätestens HWS einen ganz wesentlichen Anteil am Bewegungsmuster
mit 4 Jahren in der Lage sein sollte. Bei vielen SMD-Kindern des Treppabsteigens und damit auch an der Gastroknemius-
10 entwickelt sich diese Fähigkeit aufgrund einer persistierenden aktivierung haben. Denn die manualmedizinische Behand-
Funktionsstörung der oberen Halswirbelsäule erst mit deut- lung der zervikookzipitalen Übergangsregion bei SMD-Kin-
11 licher zeitlicher Verzögerung und qualitativer Einschränkung dern führt regelmäßig zu einer Verbesserung der motorischen
(Coenen 2006). Steuerung beim Treppabgehen. Plausible Erklärungen für die-
se Beobachtungen könnten in den Arbeiten von Christ (1993),
12 Treppabsteigen Hassenstein (1988), Neuhuber (1998, 2005), Taylor(1992),
Melvill Jones und Watt (1971b) untersuchten die Reakti- Zenker(1988) zu finden sein.
13 on des Gastroknemius beim Treppabgehen und stellten fest, Das Treppabsteigen stellt besondere Anforderungen an
dass die mittels EMG gemessene Kontraktion des Gastrokne- die räumliche Orientierung und das Gleichgewichtssystem:
mius 135 ms vor der Bodenberührung des Fußes einsetzte Beim Abwärtsschreiten von Treppenstufen werden norma-
14 (. Abb. 8.1). Bei einem größeren Abwärtsschritt (höhere Stu- lerweise die Augen nach vorne-unten gerichtet und der Kopf
fen) setzte die Gastroknemiusaktivierung früher ein, d.h. in daher leicht inkliniert (. Abb. 8.2). Beim Versuch, den Kopf
15 einem größeren Abstand zur Auftrittsfläche; zudem war die dabei in den Nacken zulegen, verlangsamt sich die Schrittbe-
Kontraktion stärker. Die Wadenmuskeln kontrahieren sich wegung entscheidend und die Hand geht zum Geländer: nicht
also in Erwartung der bevorstehenden Belastung. nur, weil die visuelle Kontrolle der Treppenbeschaffenheit
16 Die Autoren gehen davon aus, dass beim Treppabsteigen wegfällt, sondern auch, weil die Nackenrezeptoren Signale
durch die Abwärtsbewegung des Kopfes das Statolithenorgan senden, die für diesen Bewegungsvorgang nicht zweckmäßig
17 des Labyrinths bzw. der vestibuläre Rezeptorenmechanismus sind. (Bei einem Blick auf die Hassenstein-Formel zur Raum-
aktiviert wird, wodurch über retikulospinale und vestibuläre lage des Körpers leuchtet dies ein.)
Bahnen die Kontraktion des Gastroknemius veranlasst wer- Man beobachtet also das Zusammenspiel von drei
18 de. Möglicherweise werde die motorische Rinde auch durch wesentlichen Sinnesmodalitäten, die im Dienste der Gleich-
visuelle Afferenzen angeregt. Der visuelle Faktor wurde im gewichtssteuerung stehen:
19 Experiment anhand der Auswirkung eines unerwarteten 4 die visuelle Kontrolle von Länge und Steilheit der Trep-
freien Falls untersucht, indem durch Verbinden der Augen pe,
die visuelle Kontrolle ausgeschaltet worden war: Dabei setzte 4 die Messung der damit verbundenen Vorneigehaltung
20 bei den Versuchspersonen das Gastroknemius-EMG mit des Kopfes durch die Halspropriozeptoren und
einer Latenzzeit von ca. 74 ms vor dem Bodenkontakt ein, 4 die Wahrnehmung der vertikalen Abwärtsbewegung des
zu spät, um auch bei Fallstrecken von weniger als 15 cm den Körpers über das Labyrinthorgan.
Aufprall abzufedern; die Versuchspersonen prallten mit der
Ferse auf. Ähnliche Untersuchungen wie beim Treppabsteigen stellten
Bei diesen Überlegungen spielten die Nackenpropiozep- Melvill Jones und Watt (1971a) zur Muskelsteuerung beim
toren für die Autoren keine Rolle. Zu der Zeit, als die Arbeit Einbeinhüpfen an (. Abb. 8.3). Sie gehen davon aus, dass die
erschien, wurde dem Rezeptorsystem der oberen Halswir- Hüpffrequenz das Ergebnis der Muskelaktivierung durch drei
belsäule allerdings auch noch keine große Aufmerksamkeit Faktoren ist:
8.2 · Diagnostik
129 8
. Abb. 8.1
Fuß- und Beinstellung
beim Treppabsteigen

. Abb. 8.2 Kopfhaltung und Blickrichtung beim Treppabsteigen

. Abb. 8.3 a, b 7-jähriger Junge mit senso-


motorischer Dyskybernese. a Qualität des Ein-
beinhüpfens entsprechend Störungsgrad 2 im
motokybernetischen Test (MKT). b Punktuel-
les Hüpfen nicht durchführbar, ungewolltes Ver-
lassen des Kreises nach zwei angestrengten
Sprüngen

a b

4 der erwartete Zeitpunkt der Landung, Der funktionale Streckreflex


4 der funktionale Streckreflex (FSR), mit dem der nächste Im Hinblick auf klinische Beobachtungen bei der Behand-
Hüpfer beginnt, und lung von Kindern mit sensomotorischer Dyskybernese ist der
4 die vestibuläre Reaktion auf das Einsetzen der Schwere- von Chan et al. (1971, 1983) beschriebene funktionale Streck-
losigkeit zu Beginn der Hüpfphase. reflex (FSR) von Interesse, der bei verschiedenen Aufgaben
des motokybernetischen Tests wirksam wird, nämlich beim
Herabspringen, Einbeinhüpfen (. Abb. 8.3), Hampelmann-
130 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

sprung, Schersprung, Hopserlauf und beim seitlichen Über- Tipp


1 hüpfen: Eine plötzliche Dorsalflexion des Fußes bewirkt
nicht nur die spinale Reflexkontraktion des Gastroknemius Störungen der Körperkontrolle und Raumorientierung
bei Kindern ab 5½ Jahren lassen sich mit dem motoky-
2 im Sinne eines monosynaptischen Reflexes, sondern außer-
dem eine weitaus stärkere und verzögerte Kontraktion, den bernetischen Test aufdecken und klassifizieren.
funktionalen Streckreflex (FSR). Während die Latenzzeit des
3 monosynaptischen Reflexes bei 37 ms liegt, wurden für den
FSR 108 ms gemessen. Es wird davon ausgegangen, dass der
8.2.4 Manualmedizinische Untersuchung
4 FSR im Sinne einer Servoschleifensteuerung durch höhere
Ebenen funktioniert, indem die plötzliche Dehnung des Gas-
troknemius einen afferenten Input zu den höheren Zentren Begonnen wird mit einer orientierenden Segmentdiagnostik
5 (Groß- und Kleinhirn) und wieder zurück bewirkt. Die- durch sanftes Prüfen der Kiblerfalten an Lenden- und Brust-
ser Servomechanismus wird von Wiesendanger und Miles wirbelsäule. Schmerzhafte Kiblerfalten sollten nach erfolg-
6 (1982) so erklärt: reicher Behandlung verschwunden sein (. Abb. 8.4). Es folgt
die gezielte manuelle Diagnostik der schmerzhaften Seg-
» Das Prinzip des Servomechanismus besteht darin, dass die mente, der Wirbelsäulenübergangszonen und der Extremi-
7 tatsächliche Ausführung einer Bewegung ständig gemessen tätengelenke.
und mit der beabsichtigten oder gewünschten Ausführung Die Untersuchung der Kopfgelenke wird in üblicher Wei-
se mit Prüfen der segmentalen Beweglichkeit und der pal-
8 verglichen wird. Eine Abweichung zwischen tatsächlicher und
gewünschter Bewegung führt zu einer entsprechenden Fehler- patorischen Untersuchung der autochthonen Muskulatur
meldung, die ihrerseits ein Steuersignal auslöst, durch das der durchgeführt.
9 «
Fehler automatisch kompensiert wird. (Wiesendanger und Sehr häufig findet man bei der SMD ein asymmetrisches
Miles 1982) Relief des M. semispinalis capitis, mitunter auch des M. sple-
nius capitis mit einseitiger Tonusminderung des Muskels und
10 Wie bei allen anderen autonomen oder gezielten moto- kräftiger Tonisierung der Gegenseite. Vermutlich ist dies als
rischen Leistungen steht auch beim funktionalen Streckre- Ausdruck einer persistierenden Kopfgelenksdysfunktion
11 flex das sensorische Geschehen am Anfang. Voraussetzung zu deuten, oft ohne signifikante Bewegungseinschränkung
für den regelrechten Ablauf des FSR ist die ungestörte Wahr- wie beispielsweise bei einer akuten Blockierung. Es lassen
nehmungsrezeption an den propriozeptiven Schaltstellen, die sich aber regelmäßig einseitige Nozireaktionen bzw. Irritati-
12 der Reflex durchläuft. onspunkte in der tiefen autochthonen Muskulatur nachwei-
sen, wenn in Höhe der Segmente C0–C3 in der Rinne zwi-
13 schen M. semispinalis und M. splenius capitis palpiert wird
8.2.3 Bedeutung der Nackenrezeptoren (. Abb. 8.5).
Auf der gleichen Seite zeigt sich ferner ein umschriebener
14 Treppabsteigen, Einbeinhüpfen und vergleichbare moto- Druckpunkt am oberen Ende der Incisura mastoidea, oft von
rische Aufgaben des motokybernetischen Tests veranschauli- sulziger Gewebekonsistenz. Dvořák weist einem knapp late-
15 chen die funktionelle Verkettung von labyrinthären und visu- ral der Incisura mastoidea nachweisbarem Druckpunkt die
ellen Informationen mit den propriozeptiven Daten aus der Bezeichnung C0 zu, ein medial davon gelegener Punkt wird C1
Peripherie, also aus Muskel-, Sehnen- und Gelenkrezeptoren benannt (Dvořák und Dvořák 1990) (. Abb. 8.6). Der Atlas-
16 der Extremitäten, des Rumpfes und vor allem der Nackenre- querfortsatz dieser Seite ist gewöhnlich druckempfindlich.
gion. Ein 5-jähriges Kind, das neben anderen Auffälligkeiten
17 nicht auf einem Bein stehen kann, noch nicht frei und mit
Fußwechsel treppab gehen kann, keinen Hüpfer auf einem
Bein zustande bringt usw., verhält sich ähnlich wie jene Ver-
18 suchsperson, deren visuelle Kontrolle beim Abwärtsschrei-
ten ausgeschaltet wurde, mit dem Unterschied, dass das Kind
19 die visuelle Kontrolle einsetzt. Man darf also annehmen, dass
die Ursache der gestörten Körperkontrolle in einem anderen
System zu suchen ist, in einem System, das sensorische Daten
20 zu Körperlage und räumlicher Bewegung liefert. Dass dieses
System offenbar in entscheidendem Maße von den Nacken-
rezeptoren mitbestimmt wird, lässt sich aus der Wirkung der
manuellen Behandlung des zervikookzipitalen Übergangs
schließen.

. Abb. 8.4 Prüfen der Kiblerfalten


8.2 · Diagnostik
131 8
Erwartungsgemäß beteiligen sich die sensorischen
Schlüsselregionen ebenfalls am pathologischen Geschehen.
Von Bedeutung sind besonders Funktionsstörungen des
Beckenringes und der ISG, da die Bewegungssteuerung der
unteren Extremitäten dadurch beeinträchtigt wird. Bei sei-
tendifferenter Qualität des Einbeinhüpfens im MKT muss
daher immer auch nach pelvinen Funktionsstörungen sowie
Blockierungen des gleichseitigen proximalen Tibiofibular-
und Talonavikulargelenks gesucht werden.

8.2.5 Blickmotorische Störung

Eine segmentale Dysfunktion der oberen Halswirbelsäu-


le beeinträchtigt nicht nur die propriozeptive Datenverar-
beitung, sondern kann auch Einfluss auf die Augenmoto-
. Abb. 8.5 Palpation der Nozireaktionen in der tiefen autochtho-
rik und das räumliche Sehen haben. Das lässt sich oft schon
nen Nackenmuskulatur
in der 5. MKT-Aufgabe (Auffangen des Balls im Einbein-
stand) am fehlenden visuellen Fixieren des heranfliegenden
Balls und der schlecht dosierten Auffangbewegung beobach-
C1 C0 ten. Die funktionelle Verknüpfung zwischen Augenmus-
keln und Kopfgelenksstrukturen wurde von Hassenstein
(1977) im Nick-Lese-Versuch anschaulich dargestellt. Zenker
(1988) weist auf die Bedeutung primärer Afferenzen aus dem
Nackenbereich für das Gleichgewicht, für die tonischen Hals-
reflexe und die zervikookulären Reflexe hin. Auch Neuhuber
(1998, 2005) beschreibt Verbindungen zervikaler Afferenzen
zum okulomotorischen Apparat. Bein-Wierzbinski, Scheune-
mann und Sepke (2008) fanden einen Zusammenhang zwi-
schen Kopfgelenksdysfunktion und blickmotorischen Stö-
rungen bei Kindern mit Schulschwierigkeiten.

Untersuchung des binokularen Sehens


Mit einfachen orientierenden Tests können Augenmotorik
und binokulares Sehen geprüft werden.

k 1. Hirschbergtest
j Durchführung
Der Testperson wird ein Lichtstrahl auf die Nasenspitze
a gerichtet, mit der Aufforderung, genau auf das Licht zu bli-
cken.

j Deutung
4 Normalbefund: Zentrierte Lichtreflexe in der Mitte der
Pupillen.
4 Pathologisch: Asymmetrie der Reflexe, d.h., am fixie-
renden Auge erscheint der Reflex in Pupillenmitte, am
anderen Auge aus der Mitte verschoben (Strabismus,
funktionelle Schwachsichtigkeit bzw. Amblyopie?).

k 2. Konvergenztest
j Durchführung
Eine Bleistiftspitze wird langsam in Augenhöhe bis knapp an
die Nasenwurzel geführt.
b
j Deutung
. Abb. 8.6 a, b a Schema der Druckpunktlage. b Palpation der 4 Normalbefund: Konvergenz bis zur Nasenwurzel kon-
Mastoidkerbe stant.
132 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

4 Pathologisch: Sakkadieren eines Auges; ein Auge lang- Kindern mit einer Dysfunktion der oberen Halswirbel-
1 samer oder Stillstand. Divergenz eines Auges. Stehen- säule, die seit der frühkindlichen Phase persistiert, steht die
bleiben beider Augen auf der Wegstrecke der Bleistift- Fähigkeit der unbewussten, automatisch ablaufenden Raum-
2 spitze oder Divergieren beider Augen auf der Wegstre-
cke.
vorstellung nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, da
ihre Eigenwahrnehmung auf fehlerhaften Daten beruht. Die
von den Eltern der Kinder regelmäßig beschriebenen Auf-
3 k 3. Reflektierte Konvergenz fälligkeiten des Bewegungsmusters, des Verhaltens und der
j Durchführung Lernfähigkeit lassen sich damit erklären.
4 Die Testperson schaut in die Ferne. Die Bleistiftspitze wird in
Augenhöhe knapp vor die Nasenspitze gehalten. Auf das vom
Ein solches Kind muss ständig bewusst planen, um sich
räumlich und in Begegnung mit seiner Umwelt zurechtzufin-
Untersucher gesprochene Kommando »Jetzt!« müssen beide den. Es ist damit sehr rasch überfordert, wirkt daher oft ver-
5 Augen der Testperson sofort auf die Bleistiftspitze gerichtet langsamt, entwickelt Vermeidungsstrategien und verweigert
werden. sich gegenüber Anforderungen, die mehrere aufeinander-
6 folgende Handlungen erfordern. Oft ist es lärmempfindlich,
j Deutung wird in lauter oder lebhafter Umgebung schnell unsicher, weil
4 Normal: Sofortige beidseitige Konvergenz. es mehrere gleichzeitige Sinneseindrücke nicht nach ihrer
7 4 Pathologisch: Fehlende Konvergenz eines Auges, Ste- augenblicklichen Bedeutung ordnen kann. Es kann sich daher
henbleiben eines Auges oder Divergieren. Bei widerspre- auch schlecht konzentrieren und ermüdet rasch. Neue, unge-
chendem Befund zwischen Test 2 und 3 besteht V.a. Kon- wohnte Situationen ängstigen das Kind, ebenso auch Begeg-
8 vergenzstörung beidseits. nungen mit fremden Menschen oder Tieren. Die Bewälti-
gung des Alltags ist für das Kind stets aufs Neue eine mühse-
9 k 4. Abdecktest (Cover-Test) lige Aufgabe. Es erlebt daher seine Umwelt als unverständlich
j Durchführung/Deutung und rätselhaft, oft auch als bedrohlich. In bestimmter Wei-
Die Bleistiftspitze wird in 20 cm Abstand in Augenhöhe gehal- se fühlt es sich nicht dazugehörig und nicht angenommen,
10 ten, die Testperson blickt auf die Bleistiftspitze. Der Untersu- zumal oft auch ständig an ihm herumgenörgelt wird. Ent-
cher deckt mehrmals abwechselnd ein Auge der Testperson sprechend ist sein Verhalten: Es zieht sich zurück, ist kontakt-
11 zu. Beim Aufdecken (immer nach oben aufdecken) muss das scheu, ängstlich, antriebsarm und freudlos. Manche Kinder
jeweilige Auge unbewegt bleiben. Bei Korrekturbewegung reagieren auch mit verzweifelten Wutanfällen, sind überdreht
des Auges oder Divergenz besteht V.a. Heterophorie. und aggressiv. Wie das Verhalten auch sein mag, ob gehemmt,
12 Der Test ist vor allem bei Kindern immer dann durchzu- ängstlich oder aggressiv: Diese Kinder sind nicht glücklich.
führen, wenn Test 2 und 3 unauffällig waren, um ein latentes Dass dem Denkvorgang ein »probeweises Handeln im
13 Schielen aufzudecken. vorgestellten Raum« zugrunde liegt, wurde am Beispiel des
Orang-Utans, der die Banane zu fassen bekam, und des klei-
Tipp nen Jungen am Planschbecken erläutert (7 Kap. 2.1.2). In die-
14 sem Sinne lässt sich eine gestörte Raumvorstellung als Erklä-
Die der groben Orientierung dienenden Tests sind rung für kognitive Störungen anführen, wie sie im Rahmen
15 wenig zeitaufwendig, verlangen aber vom Kind eine
entsprechende Kooperationsbereitschaft und Konzen-
einer SMD regelmäßig zu beobachten sind.

tration. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben,


16 wie bei Kleinkindern und auch hyperaktiven Kindern zu 8.2.7 SMD: Eine entwicklungsneurologische
erwarten ist, hat sich der in der Kinderophthalmologie Störung
17 eingesetzte Lang-Stereotest II zur Prüfung des Binoku-
larsehens bewährt. Die Diagnose SMD und die Indikation zur manualmedizi-
nischen Behandlung ergeben sich aus dem Nachweis einer
18 Die Erfahrung, dass eine blickmotorische Störung als Folge persistierenden Kopfgelenksblockierung und einer Störung
einer Kopfgelenksblockierung durch Atlastherapie gebessert der Körperkontrolle und Bewegungskoordination.
19 wird, konnte inzwischen in einer kontrollierten Studie bestä- Die Behandlung erfolgt ausschließlich mit dem Ziel einer
tigt werden (Bein-Wierzbinski, Scheunemann, Sepke 2008). 4 Verbesserung der propriozeptiven Wahrnehmungsver-
arbeitung und
20 4 Verbesserung der Haltungs- und Bewegungssteuerung.
8.2.6 Wahrnehmungschaos
! Aufmerksamkeitsdefizit, Teilleistungsstörungen und Ver-
Das automatisch vorhandene, nicht bewusst gesteuerte Ver- haltensstörungen sind regelmäßige, aber nicht spezifi-
ständnis für die räumliche Beziehung der Dinge zueinander sche Begleitsymptome der SMD und stellen für sich ge-
ist eine entscheidende Funktion der Körperkontrolle. Der nommen keine manualmedizinische Behandlungsindi-
Anteil halspropriozeptiver Signale an dieser Funktion ist in kation dar. Die Manipulation der Kopfgelenke bei mo-
den 7 Kapiteln 4.3 und 5 erläutert und in der Hassenstein-For- torisch und manualmedizinisch unauffälligen ADHS-Kin-
mel zusammengefasst. dern oder Legasthenikern ist daher unangebracht.
8.3 · Therapie der sensomotorischen Dyskybernese
133 8
8.2.8 Differenzialdiagnose

Zur Abgrenzung der SMD von neuromuskulären Erkran-


kungen ist eine neurologische Basisdiagnostik angezeigt, mit
Prüfen
4 der Muskeleigenreflexe,
4 der Fremdreflexe,
4 der Pyramidenzeichen,
4 der Diadochokinese und
4 der Koordination.

In Verdachtsfällen muss eine neuropädiatrische Untersu-


chung erfolgen.
Da in sehr seltenen Fällen eine sensomotorische Fehlsteu-
erung auch Hinweis auf die Frühmanifestation einer infan-
tilen Multiplen Sklerose sein kann (Kuhnen et al. 1998), ist die
routinemäßige Prüfung der Bauchhautreflexe obligatorisch.

! Bei Vorschulkindern kann das Initialstadium einer pro-


gressiven Muskeldystrophie den Symptomen der SMD
. Abb. 8.7 Handposition bei Durchführung der Atlastherapie. Der
ähneln. Ein wichtiges differenzialdiagnostisches Zeichen
Impuls erfolgt über die Mittelfingerkuppe
ist die Unfähigkeit des Muskeldystrophie-Kindes, trepp-
auf zu steigen, während Treppabsteigen gewöhnlich kei-
ne Mühe macht. Bei SMD-Kindern ist dies genau umge-
kehrt!

8.3 Therapie der sensomotorischen


Dyskybernese

Gemeinsames Merkmal aller Kinder mit SMD ist die gestörte


Eigenwahrnehmung und Bewegungskoordination. Behand-
lungsziel ist daher die Verbesserung der stütz- und zielmoto-
rischen Steuerung über eine Änderung des propriozeptiven
Afferenzmusters.

8.3.1 Schlüsselregion Kopfgelenke . Abb. 8.8 a.-p.-Röntgenaufnahme des zervikookzipitalen Über-


gangs. Der Atlas steht in Anteriorposition und linkslateral
k Atlastherapie nach Arlen
Therapie der Wahl ist die Atlastherapie nach Arlen, die ohne
behandlungstypisches Risiko auch über einen längeren Zeit-
raum regelmäßig eingesetzt werden kann (. Abb. 8.7). Die
zusätzliche Behandlung segmentaler Dysfunktionen an den
übrigen Wirbelsäulenabschnitten und den sensorischen
Schlüsselregionen erfolgt nach den Grundsätzen, die in den
vorigen Kapiteln beschrieben wurden.
Für die Durchführung der Atlastherapie ist eine Röntgen-
aufnahme des zervikookzipitalen Übergangs im a.-p.- Strah-
lengang erforderlich (. Abb. 8.8). Anhand des Röntgenbildes
wird die therapeutische Impulsrichtung ermittelt. Impulsstär-
ken von 30–40 Newton (gemessen am Simulator) reichen zur
Erzielung einer therapeutischen Wirkung aus.
Die Wirkung der Atlastherapie kann durch eine vorher-
gehende myofasziale Lösebehandlung des zervikookzipitalen
Übergangs gebahnt werden (. Abb. 8.9).
Unmittelbar nach dem therapeutischen Atlasimpuls wird . Abb. 8.9 Myofasziales Lösen des zervikookzipitalen Übergangs
dessen Wirkung durch Kontrolle (»cranial base release«)
134 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

4 der Kiblerfalten, soziale Verhalten als auch die kognitiven Fähigkeiten, norma-
1 4 des Einbeinstandes, le Intelligenz vorausgesetzt. Mitteilungen darüber kommen
4 des Hampelmannsprungs gewöhnlich spontan von den Eltern: Sie berichten, ihr Kind
2 und ggf. auch weiterer MKT-Aufgaben überprüft.
Nach der ersten Behandlungssitzung erfolgt nach etwa
sei selbstbewusster, spielfreudiger, munterer, beginne sich
durchzusetzen, entwickle eigene Ideen und suche Gruppen-
2–3 Wochen eine Kontrolluntersuchung. Dabei werden die kontakt. Als besonderen Gewinn bewerten die Eltern die Ver-
3 im MKT schlecht benoteten Aufgaben erneut bewertet und besserung der schulischen Leistung, der Konzentrationsfä-
je nach Befund eine weitere Behandlungssitzung durchge- higkeit und der Aufmerksamkeit. Diese Verbesserungen wer-
4 führt. Dies wird wiederholt, bis eine Verbesserung im MKT
um mehr als eine Kategorie erreicht wird.
den auch immer wieder zeitgleich mit der Atlastherapie von
Logopädinnen und Ergotherapeutinnen bestätigt.
In einer prospektiven Studie (Coenen 2002) wurde die
5 durchschnittliche Punktezahl der videodokumentierten
MKTs bei 183 unausgewählten Fällen (124 Jungen, 59 Mäd- 8.3.2 Körperkontrolle und Orthographie
6 chen), gestaffelt nach Störungskategorien vor und nach The-
rapie, ermittelt. Das Ergebnis wird in . Tab. 8.3 aufgezeigt. An zwei Beispielen soll der Zusammenhang zwischen Ver-
Die Ausprägung der Störung im Ausgangsbefund ent- besserung der räumlichen Körperkontrolle und der kogni-
7 scheidet über das Endergebnis. Eine ausgeprägte sensomoto- tiven Leistungen beschrieben werden.
rische Störung der Kategorie V wird kaum die Kategorie II
oder I erreichen. Deutlich besser sind da die Aussichten in Fallbeispiel 1
8 Kategorie IV, sofern die Therapie im Alter von 6 oder 7 Jah- Ein 7½-jähriger Junge wurde wegen auffälligem Gangbild
ren beginnt. In Kategorie III wird regelmäßig der Normalbe- und körperlicher Ungeschicklichkeit vorgestellt. Auf Befra-
9 fund erreicht. gen werden Konzentrationsstörungen im Unterricht und eine
Eine Verbesserung im MKT kann übrigens nicht dadurch Lese-Rechtschreib-Schwäche angegeben. Die Handschrift sei
erreicht werden, dass die defizitären Bewegungsaufgaben
10 vom Kind daheim auf elterliche Anordnung geübt werden.
schlecht.
Im MKT erreichte das Kind die Kategorie IV (= deutliche Störung);
Dies muss den Eltern eindringlich klargemacht werden. Es ist es fanden sich Hinweise auf eine persistierende Kopfgelenksblo-
11 ein traditioneller pädagogischer Fehler, mit einem Kind gera- ckierung. Nach einer atlastherapeutisch/manualmedizinischen
de die motorischen oder kognitiven Leistungen zu »trainie- Serie mit 10 Behandlungssitzungen im Laufe von 5½ Monaten
ren«, bei denen es die größten Mängel aufweist oder die es wurde das Therapieziel erreicht; im abschließenden motokyber-
12 überhaupt nicht beherrscht. Das gilt für motorische Muster netischen Test erreichte das Kind die Kategorie II.
ebenso wie für Deutschdiktate. Es kann auf diese Weise kaum Bei der letzten Konsultation legte die Mutter unaufgefordert die
13 zu anderen Resultaten kommen, da sich durch die zusätz- Diktathefte Ihres Sohnes vor. Das Diktat kurz vor Beginn der Atl-
lichen Übungs- oder Lerneinheiten an der gestörten Wahr- astherapieserie hatte folgenden Text (. Abb. 8.10):
nehmungsverarbeitung nichts ändert und die Frustation und
14 Verzweiflung der Kinder nur gesteigert wird. Bessert sich » Am Sonntag hat der Herbst begonnen. Die Blätter wer-
unter der manualmedizinischen Behandlung die Wahrneh- den immer bunter. Manche werden braun, andere be-
15 mungsverarbeitung, ist dies auch ohne zusätzliches Training kommen eine gelbe oder rote Farbe. Viele sind schon vom
an einer zunehmenden Normalisierung der Bewegungskoor- Baum gefallen.«
dination im MKT erkennbar. Bei feinmotorischen Defiziten
16 kann eine Ergotherapie und bei Sprachentwicklungsstörungen
eine logopädische Behandlung sinnvoll sein. Auf jeden Fall ist
17 darauf zu achten, dem Kind genügend zeitliche Freiräume zu
lassen und nicht jedes Teildefizit mit einer speziellen Förde-
rungsmethode zu bedenken. Die Erfahrung mit SMD-Kin-
18 dern hat nämlich gezeigt, dass sich mit einer Verbesserung
der basalen stütz- und zielmotorischen Funktionen auch die
19 übrigen Leistungsdefizite ausgleichen. Dies betrifft sowohl das

20 . Tab. 8.3 Durchschnittlich erreichte Punktezahl im MKT vor


und nach der Therapie

Störungsgrad Vor der Therapie Nach der Therapie

Kategorie III 10,4 3,8

Kategorie IV 20,2 8,9


. Abb. 8.10 Diktat eines 7-jährigen Jungen vor Beginn der Atlas-
Kategorie V 29,0 16
therapie
8.3 · Therapie der sensomotorischen Dyskybernese
135 8
Die Version des Jungen lautete:

» Am Somtag hat Hele. Manre wer Bar, andere gelbe oder


Farde. Vale si scho. «

Wenige Tage vor dem nächsten Diktat am 10.10.1996 erhielt der


Junge die erste Atlastherapie. Das Ergebnis ist in . Abb. 8.11
dargestellt: Die Schrift war besser, die Worte trotz einer Rei-
he von Fehlern verständlich. Etwa 4 Wochen später schrieb er
bereits ein Diktat mit 3 Fehlern und deutlich verbesserter Hand-
schrift (. Abb. 8.12). Der Lehrer kommentierte, das »Üben« habe
sich gelohnt. Dazu sei gesagt, dass bei dem Jungen ein halbes
Jahr vor Beginn der Atlastherapie eine Lernförderung begonn-
nen und regelmäßig durchgeführt worden war, die nach Anga-
ben der Mutter kaum eine Verbesserung der Lese-Rechtschreib-
Schwäche erbrachte, wie das Diktat vor Therapiebeginn bestä-
tigt.
Die Verbesserung in der Bewegungssteuerung und in den schu-
lischen Leistungen war anhaltend, das Kind wurde noch 2-mal
in halbjährigen Abständen kontrolliert, ohne dass eine Behand-
lung erforderlich war.
. Abb. 8.11 Diktat desselben Kindes wenige Tage nach der ersten
Fallbeispiel 2 Atlastherapie
Ein 9-jähriger adipöser Junge wurde zu Beginn des 4. Schuljah-
res wegen Haltungsschwäche, Gangstörung und Knick-Senk-
Füßen vorgestellt. Er sei bewegungsfaul und ein Stubenhocker,
berichtete die Mutter, außerdem schlecht in der Schule, vor
allem in Deutsch.
Der MKT ergab eine deutliche Störung entsprechend Katego-
rie IV, der Kopfgelenksbefund war typisch. Im letzten Diktat des
3. Schuljahres, d.h. vor Beginn der Behandlung, hatte es der Jun-
ge auf 16 Fehler gebracht, mit der Note 5–6 (. Abb. 8.13). Nach
zwei atlastherapeutischen Sitzung schrieb er bereits das erste
Diktat im neuen Schuljahr mit nur 3 Rechtschreibfehlern und
erhielt eine Zwei (. Abb. 8.14). Nach Aussage der Mutter war
er bereits nach der ersten Behandlung imstande, mit dem Line-
al gerade Linien zu ziehen, was ihm zuvor nicht gelungen war.
(Eine zusätzliche Lernförderung fand nicht statt.)
Bei diesem Kind verbesserten sich die motorischen Defizite
nach 9 Sitzungen im Verlauf von 5 Monaten um mehr als eine
MKT-Kategorie – damit war das Therapieziel erreicht. Auch bei
diesem Kind waren die Verbesserungen in der Motorik und den
schulischen Leistungen anhaltend.

In der Vergangenheit konnten bei zahllosen SMD-Kindern


mit der Atlastherapie nach Arlen vergleichbare Ergebnisse
erzielt werden. Der Einfluss der Behandlung auf die Ortho-
graphie dürfte nicht zuletzt auf die Verbesserung der Blick- . Abb. 8.12 Drei Fehler im Diktat desselben Kindes 4 Wochen nach
motorik zurückzuführen sein. Bein-Wierzbinski (2008) weist Beginn der Atlastherapie
darauf hin, dass bei Kindern mit zervikookzipitaler Dysfunk-
tion isolierte Augenbewegungen nur mit unwillkürlichen
Blicksprüngen möglich seien. Das bedeute, dass sie mit den 8.3.3 Sensomotorische Fehlsteuerung:
Augen immer wieder »gestückelte Informationen über ihre Die primäre Störung
Umwelt« bekommen und viele Informationen fehlen. Da
die Rechtschreibung unmittelbar mit dem visuell Erfassten Eine Verbesserung der Vigilanz, des affektiven Verhaltens
zusammenhänge, führten lückenhafte visuelle Wahrneh- und der kognitiven Leistungen tritt bei der SMD gewöhnlich
mungen dazu, »fehlende Bereiche aus der Phantasie heraus schon nach 1–2 atlastherapeutisch-manualmedizinischen Sit-
zu ersetzen«. zungen ein. Auch die Motorik spricht in vielen Fällen prompt
136 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

1
2
3
4
5
6
7
8
9
. Abb. 8.13 Diktat eines 9-Jährigen vor Beginn der Atlastherapie

10
. Abb. 8.14 Derselbe Junge: Diktat
11 nach 2 Atlastherapiesitzungen

12
13
14
15
16
17
18
19
20
auf die Behandlung der zervikookzipitalen Rezeptoren an, erwarten, denn ein fehlerhaftes oder pathologisches Bewe-
erkennbar z.B. an einer Verbesserung des Einbeinstandes gungsmuster, das schon seit langer Zeit besteht und neuro-
oder der Koordination beim Hampelmannsprung unmittel- plastisch im ZNS etabliert ist, lässt sich nicht in Kürze umpro-
bar nach dem therapeutischen Atlasimpuls. grammieren. Mehrere Behandlungssitzungen sind daher
Allerdings zeigt die Erfahrung, dass dieser Effekt meist erforderlich. Gelegentlich kann auch die Behandlungsdau-
nicht von Dauer ist, sondern nach durchschnittlich 3 Wochen er durch Blockierungsrezidive nach banalen Unfällen oder
wieder deutlich nachlässt, zu Beginn der Behandlung mit- interkurrenten Erkrankungen prolongiert sein.
unter auch früher. Dies ist im Grunde auch nicht anders zu
8.4 · Unentbehrliche Amphetamine
137 8
> Wichtig 8.4.1 Katalog-Diagnose
Es gilt das oben formulierte Therapieziel: Die Behand-
lung wird beendet, wenn eine Verbesserung der Bewe- ADS und ADHS sind Umschreibungen für ein Phänomen,
gungsqualität um mehr als eine Störungskategorie im dem unterschiedliche Ursachen und pathologische Wer-
MKT erreicht wurde und das Kind über einen Zeitraum tungen zugrunde liegen und dessen Erforschung bei Weitem
von 6 Monaten rezidivfrei ist. Erst wenn dies erreicht ist, noch nicht abgeschlossen ist. Im Gegensatz zur landläufigen
wird auch die Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten Meinung gibt es bislang keinen eindeutigen Test zur Feststel-
und des Verhaltens von Dauer sein. lung eines AD(H)S. Stattdessen wird zur Diagnosestellung ein
Katalog von Kriterien verwendet, auf den sich Kinder- und
Das therapeutische Bestreben, bestmögliche sensomotorische Jugendpsychiater geeinigt haben. Wenn diese Kriterien, die
Muster zu bahnen, hat auch einen humanitären Aspekt. Es sich auf Beobachtungen und Verhaltensweisen stützen, weit-
erleichtert den Kindern die Bewältigung des Alltags, stärkt gehend erfüllt sind, wird die Diagnose gestellt. Hüther (2003)
ihr Selbstbewusstsein und fördert ihren Lebensmut, während weist darauf hin, dass hier eine riesige Grauzone besteht, und
sie sonst wegen ihrer Ungeschicklichkeit und scheinbaren dass die Abgrenzung eines noch normalen vom schon patho-
Unfähigkeit den verständnislosen, mitunter unbarmherzigen logischen Verhalten mit diesem Katalog nicht möglich ist.
Reaktionen ihrer Umgebung ausgesetzt sind. Henderson et Auch handele es sich bei diesen Kriterien im Grunde um ein
al. (1991) kommen zu dem Ergebnis, dass körperlich unge- typisches kindliches Verhalten, das nur besonders stark und
schickte Kinder auch im Erwachsenenalter unbeholfen blei- unkontrolliert ausgeprägt sei. Noch schärfer kritisiert Matt-
ben und aufgrund eines gestörten Selbstwertgefühls zahl- ner die nach seiner Ansicht pseudo-objektive Kategorisie-
reiche soziale und emotionale Konflikte erleben. rung des AD(H)S als psychische Störung:
Bewegungsstörung, Verhaltensauffälligkeit und Auf-
merksamkeitsdefizit bei einer SMD sind also verschiedene » Hier wird wohl eher dem herrschenden Zeitgeist und der
Ausdrucksformen ein und desselben Störungsbildes. In den jeweiligen »Psycho-Mode« bzw. den gewohnheitsmäßigen
meisten dieser Fälle besteht kein Anlass, eine Verhaltensauf- Denk- und Handlungsgewissheiten von Klinikern gefolgt, die
fälligkeit regelmäßig als milieubedingte Störung einzustufen gewissermaßen per Abstimmung darüber entscheiden, was
und einer Verhaltens- oder Familientherapie zuzuführen, vor «
als psychisch gesund oder pathologisch zu beurteilen ist, …
allem dann, wenn im gleichen Familienmilieu Geschwister (Mattner 2003)
heranwachsen, die sich völlig unauffällig entwickeln. Auch ist
es wohl nicht gerechtfertigt, sog. Teilleistungsstörungen stets Mit einer »Psycho-Mode« ließe sich ja leben, wenn sie nicht
als pädagogisches oder sogar charakterliches Problem anzu- mit der flächendeckenden Verordnung eines Medikamentes
sehen (»der könnte, wenn er wollte«) und diese Störung mit verbunden wäre, dessen Langzeitfolgen überhaupt noch nicht
zusätzlichen Übungsstunden im betreffenden Fach verbes- abgeschätzt werden können. Nach der Pressemitteilung Nr. 12
sern zu wollen. des Bundesministers für Gesundheit vom 15.8.2001 stieg die
Ohne Zweifel gibt es eine Vielzahl milieubedingter Ver- Verordnung von Ritalin von 1990–2001 um mehr als das
haltensstörungen, für die der Psychologe oder Sozialpädagoge 60-fache – und steigt unaufhörlich weiter. Da sich die promp-
zuständig ist. Auch Lernstörungen, die sich nicht im Zusam- te Wirkung des Ritalins hinsichtlich Verhalten und Konzen-
menhang mit einer Störung der Körperkontrolle zeigen, müs- trationsfähigkeit herumgesprochen hat und die Diagnose-
sen mit speziellen pädagogischen Konzepten gefördert wer- stellung eines AD(H)S inzwischen offenbar zur Allgemein-
den. Diese Kinder weisen aber gewöhnlich nicht die typischen bildung gehört, wird die Indikation zur Ritalin-Behandlung
Symptome einer SMD auf. Sobald aber Verhaltensstörungen mittlerweile bereits von nervenschwachen Lehrerinnen und
oder sog. Aufmerksamkeitsdefizite mit einer Beeinträchti- überforderten Erzieherinnen gestellt. Auch sind Haus- und
gung der Raumorientierung und Körperkontrolle verbunden Kinderärzte laut Pressemittelung des Gesundheitsministers
sind, sollten diese Auffälligkeiten zunächst als symptomatisch vom 15.8.2001 deutlich weniger zurückhaltend mit der Rita-
eingeschätzt und die Kinder einer entsprechenden Diagnos- lin-Verordnung als Kinder- und Jugendpsychiater.
tik zugeführt werden. Dazu steht für Schulkinder der motoky-
bernetische Test in Verbindung mit der manualmedizinischen
Untersuchung zur Verfügung, für Vorschulkinder das Ent- 8.4.2 Wirkung und Nebenwirkung von
wicklungsgitter und standardisierte Skalen. Methylphenidat

Neben Ritalin ist seit Langem auch das pharmakologisch


8.4 Unentbehrliche Amphetamine? identische Konkurrenzpräparat Medikinet im Handel. Rita-
lin ist ebenso wie Medikinet ein Amphetaminderivat mit der
Die Ritalin-Diskussion ist noch nicht beendet. Die oft ver- pharmakologischen Bezeichnung Methylphenidat. Es unter-
blüffende Wirkung von Methylphenidat auf scheinbar unbe- liegt als Psychostimulanz dem Betäubungsmittelgesetz. In der
einflussbare affektive und kognitive Störungen im Kindesalter WHO-Klassifikation von 1971 ist Methylphenidat in die Kate-
begünstigt eine zunehmend liberale ärztliche Verordnungs- gorie 2 der Convention for Psychotopic Drugs wegen Miss-
weise bei dieser Psychodroge und drängt die Bedenken wegen brauchsgefahr zusammen mit Morphium, Kodein und Koka-
unkalkulierbarer Spätfolgen in den Hintergrund. in aufgeführt.
138 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

k Wirkung von Ritalin ser Argumentation werden allerdings geflissentlich gut doku-
1 Ritalin hält wach, optimiert die Aufmerksamkeit, verbessert mentierte Untersuchungsergebnisse übersehen, die belegen,
die Selbstkontrolle, verändert Wahrnehmung und Erlebnis- dass die bei AD(H)S-Kindern so geschätzte »paradoxe« Wir-
2 weise durch Dämpfung der psychophysischen Reaktionen.
Körperliche Leistungsreserven lassen sich über die Leistungs-
kung von Methylphenidat ebenso auch bei nicht betroffenen,
sog. normalen Kindern eintritt, desgleichen auch bei Erwach-
grenzen hinaus ausschöpfen. Warum das Psychostimulanz senen (Klicpera 1982). Der Mainzer Biochemiker und Alzhei-
3 Methylphenidat bei hyperaktiven Kindern allerdings eine mer-Forscher Christian Behl warnt im Feuilleton der FAZ
beruhigende Wirkung hat, ist bis heute ungeklärt. vom 10. September 2008 vor der »Überschwemmung des
4 Unter der Behandlung mit Ritalin bessern sich Konzen-
tration und Verhalten bei 10–20% der hyperaktiven Kinder.
gesunden Gehirns« mit Psychopharmaka, wobei er ausdrück-
lich auch Methylphenidat erwähnt. Wörtlich heißt es:
Bei 30–50% verbessert sich zwar die Konzentrationsleistung,
5 nicht jedoch das Verhalten. Bei steigender Dosierung kommt » Die Signalübertragung im Gehirn verläuft in alle Richtun-
es zur Verschlechterung der Symptomatik. Bei 10–30% der gen. Das Gehirn ist kein elektronischer Schaltkasten, dem man
6 hyperaktiven Kinder verschlechtern sich alle Symptome: einfach eine Verstärkerplatine vorschalten kann. Im Laufe der
Konzentration, Hyperaktivität, Impulsivität, Aggressivität Evolution hat sich mit der synaptischen Plastizität ein eigener
(Kinze 1994, zitiert nach D. Mattner). potenter Mechanismus entwickelt, der sich langfristig sicher
7 Die Nebenwirkungen von Ritalin und vergleichbaren nicht überlisten lässt … Selbst wenn der Anwender subjek-
Amphetaminderivaten sind unter anderem: tiv sein Ziel einmalig erreicht, sind negative Auswirkungen wie
4 Appetitmangel,
8 4 Gewichtsverlust,
Gehirnschäden, Persönlichkeitsveränderungen sowie langfristi-
«
ge gesellschaftliche Folgen zu erwarten. (Behl 2008)
4 Einschlafstörungen,
9 4 reizbare oder depressive Verstimmung,
4 psychotische Erscheinungsformen,
4 Verlangsamung des Längenwachstums, 8.4.3 Ethische Verpflichtung
10 4 selten auch Epilepsie,
4 schwere Tic-Erkrankungen und Wie in diesem Kapitel dargelegt, sind Konzentrationsstö-
11 4 im späteren Lebensalter Parkinsonsyndrom (Bachmann rungen und auffälliges Verhalten bei einer nicht unerheb-
1993, Kinze 1994, Tischler 2001, Hüther u. Bonney 2002). lichen Zahl von Kindern im Vorschul- und Schulalter Begleit-
symptome einer larvierten sensomotorischen Störung, die
12 Im Arznei-Telegramm 65/2000 wurde auf den bedenklichen unter Verzicht auf Medikamente mit speziellen manualme-
Anstieg der Verordnung von Ritalin und Medikinet hinge- dizinischen Maßnahmen erfolgreich behandelt werden kann.
13 wiesen. Auch seien die Langzeitfolgen einer Behandlung Es handelt sich bei dieser Störung in den meisten Fällen ver-
von Kindern mit diesen psychostimulierenden Präparaten mutlich nicht um die Folge einer frühkindlichen Hirnschä-
unbekannt und es müsse aufgrund neuerer Untersuchungen digung, sondern um frühkindlich erworbene Dysfunktionen
14 angenommen werden, dass eine jahrelange Einnahme dieser an bestimmten sensorischen Schlüsselregionen des Ach-
Medikamente den Ausbruch einer parkinsonartigen Erkran- senorgans, wobei vornehmlich der zervikookzipitale Über-
15 kung im späteren Lebensalter zur Folge haben könne. gang betroffen ist. Dieses als sensomotorische Dyskyberne-
Eine amerikanische Vergleichsstudie über die Wirksam- se (SMD) bezeichnete und mehrfach beschriebene Störungs-
keit von Ritalin und Kokain kam zu dem Ergebnis, dass Koka- bild (Coenen 1990, 1992, 1996a, 2002, 2006) spielt in der
16 in als eine der aufputschendsten und suchterzeugendsten AD(H)S-Diskussion bisher kaum eine Rolle und ist vorwie-
Missbrauchdrogen eine sehr ähnliche pharmakologische Wir- gend bei Manualmedizinern und Physiotherapeuten bekannt.
17 kung wie Ritalin hat. Ritalin ist das in den USA am häufigsten Biedermann (1999) entwickelte eigene Vorstellungen zu die-
verschriebene Psychopharmakon für Kinder (DeGrandpre sem Thema und wählte für die Störung die Bezeichnung
2002)1. KIDD (kopfgelenksinduzierte Dyspraxie und Dyskalkulie).
18 Die unscharfe Definition der AD(H)S-Pathologie verlei- Der Sportwissenschaftler Lensing-Conrady (2003) weist auf
tet dazu, die Indikation zur Methylphenidat-Behandlung ex die Bedeutung der Gleichgewichtswahrnehmung als Motor
19 iuvantibus zu stellen. Gerechtfertigt wird diese Vorgehens- für Entwicklung und Lernen hin, ein Denkansatz, wie er der
weise von den Befürwortern mit der paradoxen Wirkung SMD von Anfang an zu Grunde liegt. Lensing-Conrady ver-
von Ritalin bzw. Medikinet, da hyperaktive Kinder durch die- wendet allerdings an Stelle des Terminus AD(H)S den Begriff
20 se Psychostimulanzien ja ruhiger werden, was als Beweis für ADL-Symptom, d.h. Aus-dem-Lot-Symptom.
defizitäre zerebrale Funktionsweisen angesehen wird. Bei die- »Es ist unerheblich«, schreibt die Kinder- und Jugend-
psychiaterin Ruf-Bächtiger, »ob man die Bezeichnung POS,
MCD, umschriebene Entwicklungsstörung oder eine der
1 Der Ritalin-Produzent Novartis beantragte bei der WHO eine
Reklassifizierung von Methylphenidat von Klasse 2 in Klasse 3, was
vielen anderen Umschreibungen wählt, wesentlich ist, dass
abgelehnt wurde. Es wurde daraufhin bekannt, dass Novartis über sich alle Fachleute bewusst werden, dass sie diesen Kindern
1 Million Dollar an eine amerikanische Elternorganisation (CADD) gegenüber eine ethische Verpflichtung haben« (Ruf-Bächtiger
spendete, damit diese sich für eine Steigerung der Ritalinprodukti- 1995)
on einsetze (Tischler 2001, zitiert nach Mattner).
8.5 · Der motokybernetische Test (MKT)
139 8
8.5 Der motokybernetische Test (MKT) 4 Festes Schaumstoffkissen, ca. 35×24×10 cm
4 Therapiekreisel (Durchmesser der Standfläche 40 cm,
Zur qualitativen Beurteilung der Gleichgewichts- und Bewe- Höhe ca. 9–10 cm)
gungssteuerung wird der motokybernetische Test eingesetzt, 4 Langes Seil, ca. 5 m lang (z.B. Gardinenschnur)
bestehend aus 16 verschiedenen grobmotorischen Aufgaben 4 Kurzes Seil, ca. 1 m lang
(7 Kap. 12.6, Befundbogen), die dem spontanen Spielverhal- 4 Schmale Faltgymnastikmatte o.Ä
ten normal entwickelter Kinder entsprechen (Coenen 1990, 4 Stoppuhr
1992, 1996a, 2002, 2006).
Ferner sollte eine höhenverstellbare Untersuchungsliege zur
Tipp Verfügung stehen.

Der Test kann bei Kindern ab 5½ Jahren eingesetzt wer- k Testaufgaben und Bewertungsmuster
den. Die einzelnen Aufgaben des MKT wurden bereits in 7 Über-
sicht 8.1 (7 Abschn. 8.2.1) genannt. Hier seinen sie zur schnel-
leren Übersicht nochmals der Reihenfolge nach aufgelistet,
k Punktebewertung bevor auf die Durchführung und Punktebewertung einge-
Die Bewertung jeder einzelnen Aufgabe erfolgt nach einem gangen wird:
Minuspunkt-System von 0 bis 3: 1. Langsitz
0 = Normalbefund 2. Hochklettern und Abspringen von hüfthoher Liege
1 = leichte Normabweichung 3. Einbeinstand auf festem Untergrund
2 = deutliche Normabweichung 4. Einbeinstand auf weichem Untergrund (Schaumstoff-
3 = erhebliche Normabweichung kissen)
5. Einbeinstand mit Auffangen und Rückwurf eines Balls
Aus der Gesamtsumme der Punkte wird unter Berücksich- 6. Einbeinhüpfen
tigung des Lebensalters die Qualität der stütz- und zielmo- 7. Einbeinhüpfen mit Hochwerfen und Auffangen eines
torischen Leistung ermittelt, eingeteilt in sechs Kategorien Balls
(s.u.). 8. Hampelmannsprung
Die Beurteilung von Aufgabe 16 erfolgt nach Sekunden 9. Schersprung
und wird nicht in die Gesamtpunktesumme einbezogen. 10. Einbeinstand auf einem Therapiekreisel
11. Purzelbaum
k Untersuchungsbedingungen 12. Seitliches Überhüpfen
4 Ausreichend großer Raum, in dem das Kind die ein- 13. Fersengang vor- und rückwärts
zelnen Übungen ohne Verletzungsgefahr durchführen 14. Hopserlauf
kann. 15. Seiltänzergang auf ausgelegtem Seil
4 Zweckmäßige Kleidung: Geeignet sind Sport- oder 16. Drehtest
Turnhosen, anliegendes T-Shirt oder freier Oberkörper; (17. Zusätzlicher Test: »Männchen, Baum, Haus«)
barfuß oder mit Strümpfen.
4 Bezugspersonen: Eltern, Geschwister usw. sollten nach
Möglichkeit nicht im Testraum anwesend sein, da dies
wegen unvermeidbarer Interaktion die Leistung des Kin-
des beeinträchtigt. Dies gilt nicht für anwesende Fremd-
personen (Arzt, Arzthelferin o.Ä.).
4 Testatmosphäre: Sie muss entspannt und ruhig sein
und der Gefühlslage des Kindes entgegenkommen. Jede
durchgeführte Aufgabe ist unabhängig von ihrer Quali-
tät ohne Überschwang, aber uneingeschränkt zu loben.
Eine Bloßstellung des Kindes ist unbedingt zu ver-
meiden. Spürt der Untersucher, dass das Kind mit der
Durchführung einer Aufgabe zögert, weil es sie nicht
bewältigen kann, darf der Untersucher das Kind ermu-
tigen, nicht aber auf der Durchführung bestehen und
muss rechtzeitig darauf verzichten. Die Aufgabe wird
dann mit 3 Minuspunkten bewertet.

k Testmaterial (. Abb. 8.15)


4 Schaumstoffball von 16 cm Durchmesser und 18 g
Gewicht (optimale Maßeinheiten für die Testdurchfüh- . Abb. 8.15 Testmaterialien: Ball, Therapiekreisel, Gymnastikmatte,
rung) langes und kurzes Seil, Stoppuhr (nicht abgebildet)
140 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

j 1. Langsitz j Punktebewertung
1 j Durchführung 0 = Oberkörper ruhig aufrecht, Arme locker herabhängend,
Das Kind sitzt mit gestreckten Beinen auf der Untersuchungs- Spielbein sagittal angehoben oder in leichter Außendre-
2 liege, die Hände liegen auf den Oberschenkeln, der Rumpf ist
aufgerichtet.
hung. Eine initiale Balencebewegung ist gestattet.
1 = Assoziierte Bewegungen der oberen Extremitäten
(Abspreizen der Arme, Drehen der Hände). Spielbein
3 j Punktebewertung adduziert, deutliche Balancebewegungen von Standbein
0 = Wirbelsäule gerade: BWS und HWS gestreckt. Physio- und Oberkörper. Initial mehrfaches Absetzen des Spiel-
4 logische kompensatorische Kyphosierung der LWS. Der
Kopf ist über dem Beckenschwerpunkt zentiert.
beins.
2 = Einbeinstand erst nach einigen Versuchen kurzzeitig
1 = BWS und LWS kyphotisch, HWS lordotisch. Beine noch möglich. Ausgeprägte assoziierte Bewegungen der oberen
5 gestreckt. Kopf zentriert oder gering nach ventral (kom- Extremitäten und der Mimik. Ausfahrende Balancebewe-
pensatorisch) oder dorsal dezentriert. gungen, haltsuchend.
2 = Totalkyphose von BWS und LWS. HWS-Hyperlordose. 3 = Vergeblicher Versuch, taumelt dabei, fällt mitunter hin.
6 Knie sind nur noch mit Mühe gestreckt. Kopf- und Ober- Oder: Aufgabe wird verweigert.
körperschwerpunkt leicht nach dorsal verlagert.
7 3 = Dezentrierung des Oberkörpers nach dorsal. Ausgeprägte j 4. Einbeinstand auf weichem Untergrund
BWS- und LWS-Kyphose sowie HWS-Hyperlordose. Die j Durchführung
Knie können nicht in Streckung gehalten werden, gele- Das Kind steht barfuß auf einem ca. 10 cm hohen, festen
8 gentlich Abkippen des Oberkörpers nach hinten. Schaumstoffkissen und führt die Aufgabe wie unter Punkt 3
durch. Auch hier wird das schlechtere Resultat bewertet, die
9 j 2. Hochklettern und Abspringen von hüfthoher Liege Seite dokumentiert. (Diese Aufgabe stellt höhere Anforde-
j Durchführung rungen an die stützmotorische Koordination als der Einbein-
Die Untersuchungsliege wird in Höhe des kindlichen Tro- stand auf festem Untergrund).
10 chanters eingestellt. Das Kind wird aufgefordert, so schnell
wie möglich mehrmals hintereinander auf die Liege hochzu- j Punktebewertung
11 steigen und herabzuspringen. 0= Wie Aufgabe 3; dazu feinschlägige Balancebewegungen
von Standbein und Spielbein statthaft.
j Punktebewertung 1= Wie Aufgabe 3; dazu Balancebewegungen deutlicher, auch
12 0 = Behendes Hochklettern auf die Liege und weiche, leichte, mit Einsatz der Arme, gelegentlich ausgleichendes Hüp-
elastische Landung beim Abspringen. Arme sind dabei in fen, auch mehrfaches Absetzen des Spielbeins.
13 lockerer Abduktion. Leichtes Touchieren des Bodens mit 2= Wie Aufgabe 3; dazu oft Abknicken im Standbeinknie,
den Händen gestattet. häufiges Absetzen des Spielbeins, Umkippen und Abstüt-
1 = Eckiges, plump wirkendes Erklettern der Liege, Landung zen mit den Händen.
14 beim Absprung hart, auch mit Abkippen nach vorne oder 3= Wie Aufgabe 3.
hinten, Abstützen am Boden. Wiederholung des Manö-
15 vers umständlich mit Umwegen und Tippelschritten. j 5. Einbeinstand mit Auffangen und Rückwurf eines
2 = Umständliches, mühsames Erklettern der Liege, Landung Schaumstoffballs
beim Abspringen hart, steif, laut, mit starren Knien. Auch j Durchführung
16 heftiges Abstützen mit den Händen und Aufprallen mit Einbeinstand auf festem Untergrund wie unter Punkt 3
den Knien. Wiederholung des Manövers umständlich, beschrieben. Der Untersucher steht etwa 1,5–2 m vom Kind
17 zögerlich, mühsam. entfernt und wirft ihm bogenförmig einen Schaumstoffball
3 = Erklettern der Liege erst nach einigen Versuchen oder mit aus beiden supinierten Händen zu. Das Kind soll den Ball
Fremdhilfe mühsam möglich. Zögern beim Abspringen, im Einbeinstand auffangen und in gleicher Weise mit beiden
18 starres Herunterplumpsen mit Sturz nach vorne aufgrund supinierten Händen zurückwerfen.
verzögerter Abstützreaktion. Oder: Übung wird verwei-
19 gert. j Punktebewertung
0 = Einbeinstand ist sicher und ruhig. Sicheres Auffangen des
j 3. Einbeinstand auf festem Untergrund Balls und beidhändiger zielgenauer Rückwurf aus supi-
20 j Durchführung nierter Haltung. Ein 8- bis 10-maliges Wiederholen des
Das Kind steht barfuß auf festem Untergrund (Boden). Es Manövers ohne Absetzen des Beins ist möglich.
soll ein Bein hochheben und ca. 10 sec ruhig stehen bleiben. 1 = Einbeinstand ist unruhig, unsicher. Der Ball wird meist an
Das Manöver wird mit dem anderen Bein wiederholt. Das der Brust aufgenommen und mit einer Hand oder beid-
schlechtere Resultat wird bewertet, die Seite dokumentiert. händig in pronierter Handhaltung zugeworfen. Nach 2 bis
4 Ballwechseln Absetzen des Spielbeins.
2 = Einbeinstand ist erst nach mehrfachem Absetzen des Spiel-
beins möglich. Der Ball wird ungezielt gegrapscht oder
8.5 · Der motokybernetische Test (MKT)
141 8
verfehlt. Rückwurf in pronierter Handhaltung, Absetzen herumtänzelt. Kein Hochwerfen, kein Auffangen. Oder:
des Spielbeins nach jedem Rückwurf. Aufgabe nicht erhaltbar oder wird verweigert.
3 = Einbeinstand ist nicht durchführbar, es ist nur kurzes
Anheben des Spielbeins möglich. Der Ball wird verfehlt. j 8. Hampelmannsprung
Ein Rückwurf zum Untersucher gelingt nicht, der Ball j Durchführung
wird mit pronierter Handhaltung ungezielt zu Boden Der Untersucher macht dem Kind die Aufgabe vor: Aus
geworfen. Oder: Aufgabe wird verweigert. geschlossenen Beinen und herabhängenden Armen erfolgt ein
Sprung mit Abspreizen der Beine und Hochheben der Arme
j 6. Einbeinhüpfen über den Kopf. Anschließend aus dieser Position Sprung mit
j Durchführung Schließen der Beine und Anlegen der Arme an den Körper.
Das Kind soll (barfuß oder in Strümpfen) mindestens 10-mal Dies soll 10-mal hintereinander durchgeführt werden. Falsch
auf der gleichen Stelle auf einem Bein hüpfen, ohne sich dabei ist eine Ausgangsposition mit geschlossenen Beinen und über
zu drehen. Hüpfen durch den Raum ist nicht verwertbar. Es dem Kopf gehobenen Armen (sog. Kleinkindmuster).
werden beide Beine geprüft, das schlechtere Resultat wird
gewertet, die Seite dokumentiert. j Punktebewertung
0 = Gleichmäßige und synchrone Bewegungen der Arme und
j Punktebewertung Beine über die gesamte Bewegungsbahn. Bewegungen
0 = Ruhiges, geschmeidiges, leichtes und punktuelles Hüpfen. von Armen und Beinen geschmeidig, locker, nicht stamp-
Oberkörper aufrecht, lockere Armbewegung. Das Bewe- fend oder klatschend. Punktuelles Hüpfen, Knie beim
gungsbild ist anmutig und wirkt unangestrengt. Aufspringen in gegrätschter Beinhaltung leicht innenro-
1 = Hastiges Hüpfen. Das Spielbein ist ab- oder adduziert, der tiert.
Oberkörper etwas vorgeneigt. Assoziierte Bewegungen 1 = Plumpe, stampfende, angestrengte Sprünge, abgesetzt,
der oberen Extremitäten und der Mimik. Kein punktu- nicht flüssig. Nach wenigen Sprüngen im korrekten Muster
elles Hüpfen, ständig wechselnder Landeplatz. Drehen stolpriger Übergang ins Kleinkindmuster. Oder: Hastige,
des Körpers um die eigene Achse. klatschende, stampfende Bewegungen, auch asynchron
2 = Kurze, angestrengte, hastige Hüpfer. Das Spielbein ist ab- mit Wechsel ins Kleinkindmuster. Kein punktuelles Hüp-
oder adduziert, das Sprungbein innenrotiert, die Ellen- fen, Anstrengungskeuchen. Beine beim gegrätschten Auf-
bogen gebeugt. Ausgeprägte assoziierte Bewegungen der kommen in Froschhaltung (Knie schauen nach außen).
oberen Extremitäten. Punktuelles Hüpfen nicht möglich. 2 = Pause nach jedem Bewegungsteil, nächste Bewegung
Nur wenige zusammenhängende Sprünge durchführbar. immer neu planend. Kein punktuelles Hüpfen. Arm- und
3 = Kein Hüpfen möglich, allenfalls kurzer Zehenstand. Oder: Beinbewegungen asynchron. Kein Einhalten des Bewe-
Aufgabe nicht durchführbar oder wird verweigert. gungsmusters. Stößt beim Springen häufig an Möbel
(Stuhl, Tisch, Liege). Bringt keine 10 Sprünge zustande.
j 7. Einbeinhüpfen mit Hochwerfen und Auffangen 3 = Kind tut so, als verstehe es nicht, worum es geht. Auch
eines Schaumstoffballs nach Vormachen wird das Muster nicht begriffen. Gele-
j Durchführung gentlich werden 1–2 missglückte Sprünge gezeigt, mit
Das Kind soll wie in Übung 6 auf einem Bein hüpfen und großen Pausen dazwischen. Oder: Aufgabe nicht erhalt-
dabei einen Schaumstoffball senkrecht hochwerfen und wie- bar oder wird verweigert.
der auffangen. Die Schwierigkeit der Übung besteht in der
Differenz zwischen Hüpf- und Wurffrequenz, verbunden mit j 9. Schersprung
Reklination des Kopfes und Fangbewegung der Arme. j Durchführung
Das Kind springt 10-mal in Schrittform auf der gleichen Stel-
j Punktebewertung le, so dass abwechselnd gleichzeitig das eine Bein nach vorne
0 = Ruhiges, geschmeidiges Hüpfen, der Blick wird zum Ball und das andere nach hinten gesetzt wird.
gerichtet. Der Ball wird 50–100 cm über Kopfhöhe senk-
recht hochgeworfen und sicher aufgefangen. Eine Fang- j Punktebewertung
korrektur bei Abweichen des Balls von der Wurflinie ist 0 = Sprungbewegung leicht, locker, mit synchroner diagona-
ohne Absetzen des Spielbeins möglich. ler Arm-Bein-Bewegung, gleichmäßig, auf der Stelle blei-
1 = Einbeinhüpfen hastig, nicht punktuell. Der Ball wird bend (punktuell).
nur bis zur Gesichtshöhe geworfen, mit starren Arm- 1 = Hastig, steifbeinig, stampfend, nach 5–7 Sprüngen Balan-
bewegungen gefangen. Ball fällt nach 1–2 Versuchen zu ce suchend, kein punktuelles Springen. Armbewegungen
Boden. flatternd, nicht diagonal.
2 = Angestrengte, hastige oder verzögerte Hüpfbewegung. 2 = Mühsam, steif, asynchron. Rumpfrotation in Richtung des
Der Ball wird nicht losgelassen oder kann nicht senkrecht vorgesetzten Beins. Schnell ermüdend, taumelnd, Balan-
hochgeworden werden. Ein Auffangen des Balls gelingt ceschwierigkeiten. Kein punktuelles Springen.
nicht. Die Wurfhöhe ist niedrig, meist unter Kopfhöhe. 3 = Begreift das Bewegungsmuster nicht. Übung nicht erhalt-
3 = Kein Einbeinhüpfen möglich. Wippbewegung in den bar oder wird verweigert.
Knien, durch die der Ball 1- bis 2-mal auf den Händen
142 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

j 10. Einbeinstand auf dem Therapiekreisel j Punktebewertung


1 j Durchführung 0 = Lockere, harmonische, beidbeinige Sprünge mit nur
Das Kind soll barfuß oder in Strümpfen mit einem Fuß den geringen Distanzvariationen. Physiologische Gegenrota-
2 Therapiekreisel betreten und versuchen, im Einbeinstand zu
balancieren.
tion des Oberkörpers bei lockerer Armhaltung. Gleich-
mäßiger Sprungtakt. 10 fehlerfreie Sprünge sind möglich.
1 = Sprünge abgehackt, Distanz ständig variierend. Ungleich-
3 j Punktebewertung mäßiger Sprungtakt, zwischendurch Nachstellschritte.
0 = Der Fuß wird gezielt auf das Zentrum des Kreisels gesetzt, Anstrengungskeuchen. Berühren und Verschieben der
4 ggf. einige kurze Bodenkontakte mit dem Spielbein, bis
ein ruhiger, aufrechter Einbeinstand über ca. 10 sec mög-
Schnur.
2 = Sprungbewegung mühselig, nach jedem Sprung pausie-
lich ist. rend. Große Distanzvariation. Fehlender Sprungtakt, kein
5 1 = Unzweckmäßiges Besteigen des Kreisels von der Peri- beidbeiniges Hüpfen. Übergang in andere Sprungmuster,
pherie, mehrfaches Absetzen des Spielbeins erforderlich. ständiges Berühren und Verschieben des Seils.
6 Stand auf dem Kreisel unsicher. Deutliche Balancebewe- 3 = Nur 1–3 Sprünge in abnormaler Qualität möglich. Oder:
gungen und Rudern mit den Armen. Ein ruhiger Stand Übung nicht durchführbar oder wird verweigert.
über 10 sec ist nicht erreichbar.
7 2 = Erhebliche Schwierigkeiten beim Besteigen des Kreisels, j 13. Fersengang vor- und rückwärts
nur kurzes Loslösen des Spielbeins vom Boden. Einbein- j Durchführung
stand allenfalls für 2–3 sec möglich, mit deutlichen assozi- Das Kind geht auf den Fersen zunächst ca. 20 Schritte vor-
8 ierten Bewegungen der oberen Extremitäten. Ungezielte wärts, dann ca. 20 Schritte rückwärts.
Ausgleichsbewegungen des Oberkörpers, fehlende Balan-
9 ce und Sturz zu Boden. j Punktebewertung
3 = Übung nicht erhaltbar oder wird verweigert. 0 = Knie gestreckt, Oberkörper aufrecht, Arme und Hände
locker herabhängend. Leichte assoziierte Bewegungen der
10 j 11. Purzelbaum Hände erlaubt. Schritte gleichmäßig. Beim Rückwärtsge-
j Durchführung hen leichte Vorneige des Oberkörpers.
11 Das Kind führt eine Rolle vorwärts auf einer auf dem Boden 1 = Skandierendes, eckiges, hastiges Gangbild. Oberkörper
liegenden Gymnastikmatte aus. Beurteilt werden Ausgangs- vorgeneigt, Füße supiniert, Knie unvollständig gestreckt.
position, Abrollbewegung und Abrollrichtung. Assoziierte Hand-Finger-Bewegungen.
12 2 = Deutliche Vorneige des Oberkörpers. Nur wenige Schritte
j Punktebewertung möglich, mühsam, hastig, stampfend und verkrampft.
13 0 = Vierfüßerhocksitz als Ausgangsstellung. Bodenkontakt Balance suchend, zwischendurch Pausen und Zeichen der
des Kopfes im hinteren Scheitelanteil am Übergang zum Anstrengung. Knie und Hüften gebeugt, Füße supiniert.
Hinterkopf. Abrollen über die durchgehend gebeugte Verkrampfte Arm-Hand-Finger-Haltung.
14 BWS, Landung im Hockstand. Die Abrollbewegung 3 = Steigerung von Punkt 2. Oder: Übung nicht durchführbar
erfolgt in der Längsachse der Matte. bzw. wird verweigert.
15 1 = Vierfüßerhocksitz als Ausgangsposition. Bodenkontakt
des Kopfes im mittleren oder vorderen Scheitelanteil, j 14. Hopserlauf
unzureichende Flexion der Wirbelsäule und steifnackiges j Durchführung
16 Abrollen. Nicht selten seitliches Abweichen aus der Roll- Mit Hopserlauf ist jenes flüssige, fröhliche Hüpfen gemeint,
richtung. Meist keine Landung im Hockstand oder Vier- das dem alternierenden fliegenden Galoppwechsel beim
17 füßerhocksitz. Dressurreiten ähnelt. Es muss für diese Aufgabe genügend
2 = Ausgangsposition: Rumpfbeuge oder Kniestand. Boden- Raum zur Verfügung stehen. Der Untersucher macht dem
kontakt des Kopfes an Stirn-Haar-Grenze. Unzurei- Kind den Hopserlauf vor.
18 chende Flexion der Wirbelsäule, daher seitliches Weg-
rollen oder harte, gelegentlich schmerzhafte Landung auf j Punktebewertung
19 dem Rücken. 0 = Leichtes, flüssiges, lockeres Hopser-Hüpfen mit diago-
3 = Unzweckmäßige Startposition ohne Vorstellung von der nalen Bewegungen von Armen und Beinen, anmutiger
zu bewältigenden Aufgabe. Abrollbewegung nicht durch- Anblick.
20 führbar. Oder: Aufgabe wird verweigert. 1 = Einbeinhüpfphase verkürzt. Rotation des Beckens,
Absprungbein wird bei der Landung zurückgesetzt.
j 12. Seitliches Überhüpfen Bewegungen eckig und verkrampft, nicht automatisiert.
j Durchführung Oft Übergang ins Galoppieren.
Das Kind soll 10-mal über eine 80–100 cm lange, auf dem 2 = Keine Vorstellung vom Bewegungsmuster: Eckiges Galop-
Boden liegende Schnur seitlich hin und her hüpfen, ohne die pieren oder große Sprünge vorwärts ohne Hopser, gleich-
Schnur dabei zu berühren. Der Untersucher macht dem Kind sinnige Armbewegung, Hüftrotation. Ständige Neupla-
die Übung vor. nung der Bewegung mit Pausen zwischen den einzel-
8.5 · Der motokybernetische Test (MKT)
143 8
nen Sprüngen. Bewegungen verkrampft, stampfend oder Seil. Eine Kompensation des Schwindels ≤ 5 sec ist abnormal
zapplig. und spricht für eine hohe vestibuläre Reizschwelle. Dieser
3 = Keine Vorstellung vom Bewegungsmuster: Ausholender Befund ist häufig bei hyperaktiven Kindern zu beobachten.
Vorwärtsschritt, kein Hüpfen, kein Laufen. Oder: Aufga- Eine Kompensationszeit des Drehschwindels von ≥ 30 sec ist
be wird verweigert. auffällig, ab 40 sec eindeutig abnormal und findet sich häu-
fig bei hypokativen Kindern mit deutlicher Bewegungsauffäl-
j 15. Seiltänzergang ligkeit.
j Durchführung
Das 5 m lange Seil wird kreis- oder ovalförmig auf den Boden Tipp
gelegt. Das Kind soll (barfuß oder in Strümpfen) im Uhrzei-
gersinn auf dem Seil entlanggehen, bis zum Ausgangspunkt; Bei diesem Test erfolgt keine Minuspunktbewertung.
dabei den einen Fuß genau vor dem anderen absetzen. Der Zeitmesswert des Drehtests wird also nicht in die
Gesamtsumme der Minuspunkte einbezogen.
j Punktebewertung
0 = Sichere, kurze Schritte, ein Fuß vor den anderen setzend.
Arme locker herabhängend oder leicht abduziert. Ober-
körper aufrecht, Balancebewegung kurz und zweckmä-
ßig. . Tab. 8.4 Einteilung der Störungskategorien und Punkte-
1 = Schritte nicht in der Linie, Schritte zu groß, kein Fuß-vor- zahlen nach Lebensalter
Fuß-Schreiten. Deutliche Ausgleichsbewegung des Ober-
körpers und assoziierte Hand-Finger-Bewegungen bei Alter (Jahre) Kategorien I–VI Punkteeinteilung
abduzierten oder fuchtelnden Armen. Schrittbewegung
5½ Jahre I 0–9
nicht flüssig, häufig seitlich absetzend. II 10–14
2 = Deutliche Balanceschwierigkeiten. Füße können nicht in III 15–20
der Linie aufgesetzt werden, ständiges seitliches Abset- IV 21–30
zen. Ruderbewegung mit den Armen, Ausgleichsbewe- V 31–39
gung mit dem Oberkörper, mitunter Abstützen an der VI ab 40
Wand oder an Gegenständen. Ausgeprägte assoziierte
6 Jahre I 0–7
Bewegungen der Finger und der Hände. Vorgestreckter
II 8–11
Kopf, HWS hyperlordotisch. III 12–17
3 = Steigerung der abnormalen Merkmale von 2. Oder: Übung IV 18–27
nicht durchführbar oder wird verweigert. V 29–37
VI ab 38
Tipp
7 Jahre I 0–5
Anmerkung zur Punktebewertung der II 6–9
Aufgaben 1–15 III 10–16
Übergänge zwischen den einzelnen Minuspunktbe- IV 17–26
V 27–35
wertungen sind möglich: Eine mit 0 bewertete Übung
VI ab 36
kann auch Merkmale der nächstschlechteren Bewer-
tung aufweisen, ohne diese Kriterien voll zu erfüllen. In 8 Jahre I 0–3
diesem Fall wird ein halber Minuspunkt gegeben (z.B. II 4–7
0,5 statt 0). Das gleiche gilt für die nächstfolgenden Stu- III 8–14
fen 1 bis 3. IV 15–24
V 25–34
VI ab 35

j 16. Drehtest mit anschließendem Seiltänzergang 9 und I 0–2


j Durchführung 10 Jahre II 3–5
III 6–12
Das Kind wird vom Untersucher relativ rasch 10-mal nach
IV 13–21
rechts um die eigene Achse gedreht (ggf. auf einem Dreh-
V 22–30
stuhl). Das Kind muss dann sofort den Seiltänzergang auf VI ab 31
dem am Boden liegenden Seil im Uhrzeigersinn durchfüh-
ren. 11 und I 0–1
12 Jahre II 2–3
j Bewertung III 4–9
IV 10–16
Geprüft wird die Dauer des Schwindels in Sekunden (Stopp-
V 17–23
uhr). Normalerweise ist der Drehschwindel nach 10–15, spä-
VI ab 24
testens 20 sec vorbei, erkennbar am sicheren Gehen über das
144 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter

j 17. Zusätzlicher Test: »Männchen, Baum, Haus«


1 Eine weitere Aufgabe ohne Punktebewertung ist das Malen
eines Bildes mit einem Männchen, einem Baum und einem
2 Haus. Es werden Bunt- oder Filzstifte in verschiedenen Far-
ben und ein weißes DIN-A4-Blatt zur Verfügung gestellt.
Beobachtet wird die Auswahl der Stifte (mehrfarbig, ein-
3 farbig oder schwarz), die Stifthaltung, Körperhaltung und
Mimik des Kindes und die Gestaltung des Bildes, z.B.:
4 Hat das Männchen ein Gesicht?
4 4 Hat es Rumpf, Arme und Beine?
4 Wie viele Finger hat es?
5 4 Ist ein Kopffüßler? usw.
4 Wie sieht der Baum aus?
4 Hat er Äste, Blätter, Früchte?
6 4 Ist er kleiner oder größer als das Männchen?
4 Welche Farbe haben Stamm, Äste und Blätter?
7 4 Hat das Haus ein Spitzdach, einen Schornstein?
4 Steht der senkrecht oder schräg auf dem Spitzdach?
4 Hat das Haus Fenster?
8 4 Ist die Tür im Erdgeschoss angesiedelt? usw.

9 Das Bild soll vor Behandlungsbeginn einen Eindruck vom


Vorstellungs- und Gestaltungsvermögen des Kindes ver-
mitteln, das dem jeweiligen Alter des Kindes entspricht, und
10 nach Abschluss der Therapie als Vergleichsobjekt beim Wie-
derholen der Aufgabe dienen.
11
k Testauswertung
Aus der Punktesumme der Aufgaben 1–15 wird die Qualität
12 der sensomotorischen Steuerung ermittelt und in Abhängig-
keit vom Alter in sechs Kategorien (. Tab. 8.1) eingeteilt:
13 4 I = normal
4 II = suboptimal, kontrollbedürftig
4 III = leichte Störung
14 4 IV = deutliche Störung
4 V = ausgeprägte Störung
15 4 VI = hochgradige Störung, Verdacht auf zerebrale Ursa-
che
16 In . Tab. 8.4 sind Störungskategorien und Punktezahlen in
Verbindung mit dem Lebensalter aufgeführt.
17
> Wichtig
Bei Einstufung in die Kategorien III–VI besteht die Indi-
18 kation zur manualmedizinischen Behandlung mit Atlas-
therapie und ggf. ergänzenden Techniken an den senso-
19 rischen Schlüsselregionen.

20
145 9

Die infantile Zerebralparese

9.1 Kulturhistorische Aspekte – 145 9.5 Manualmedizinische Behandlung:


9.1.1 Soziale Randstellung – 145 Impulstechniken – 161
9.1.2 Krücken und Quengelschienen – 146 9.5.1 Atlastherapie – 161
9.5.2 Manipulationstechniken an der HWS – 162
9.2 Frühkindliche Hirnschädigung – 146 9.5.3 Manipulationstechniken an der BWS – 163
9.2.1 Supraspinale Kontrolle: Ergebnis 9.5.4 Behandlung des dorsolumbalen Übergangs – 165
der ZNS-Reifung – 148 9.5.5 Manipulation der Iliosakralgelenke – 166

9.3 Klinisches Bild der IZP – 149 9.6 Manuelle Weichteiltechniken – 167
9.6.1 Pritschen – 167
9.3.1 Spastik – 149
9.6.2 Myofasziales Lösen – 167
9.3.2 Zentrale Hypotonie – 155
9.6.3 Mobilisierende Weichteiltechniken – 168
9.3.3 Anfallsleiden – 155
9.3.4 Orthopädische Komplikationen – 156
9.7 Manuelle Medizin und neuromuskuläre
9.4 Diagnostik – 157 Erkrankungen – 173
9.7.1 Neuromuskuläre Erkrankungen – 173
9.4.1 Kommunikation zwischen Arzt und Kind – 157
9.7.2 Wirkung der Manuellen Medizin bei
9.4.2 Klinische Zeichen – 158
neuromuskulären Erkrankungen – 173
9.4.3 Bewertungskriterien – 158
9.4.4 Dokumentation des spastischen
Muskeltonus – 160
9.4.5 Therapieziele – 160

9.1 Kulturhistorische Aspekte 9.1.1 Soziale Randstellung

Im Eingangsmonolog von Shakespeares Drama »König


Exkurs: Richard III.« schildert der bösartige Herzog von Gloster und
Die infantile Zerebralparese in der Kunst spätere König Richard in sarkastischer Weise die Ursache sei-
Zu den ältesten Krankheitsbildern der Medizingeschichte ge- ner Körperbehinderung, vermutlich eine Hemiparese nach
hört die infantile Zerebralparese. Das äußere Erscheinungs- Frühgeburt und perinataler Asphyxie:
bild dieser motorischen Störung beschäftigte zu allen Zeiten
die Phantasie der Menschen und inspirierte bildende Kunst
und Dichtung: Eine altägyptische Darstellung aus dem 14. vor-
» … Ich, um dieses schöne Ebenmaß verkürzt,
von der Natur um Bildung falsch betrogen,
christlichen Jahrhundert zeigt eine männliche Person mit
entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
rechtsseitiger Hemiparese und Spitzfuß, gestützt auf einen
in diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Stab. Auf einem Gemälde von Mathias Grünewald (1485–1530)
ist St. Cyriacus dargestellt, der eine Königstochter heilt, deren
gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
äußeres Erscheinungsbild auf eine spastische Tetraparese hin- dass Hunde bellen, hink ich wo vorbei.
deutet. Vom Spanier Ribera (1593–1652) stammt das Gemälde Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,
»Le pied pot«, zu sehen im Louvre. Es stellt einen Knaben mit weiß keine Lust, die Zeit mir zu verkürzen,
den typischen Merkmalen einer rechtsseitigen spastischen He- als meinen Schatten in der Sonne spähn’
miparese dar (Valentin 1961). und meine eigne Missgestalt erörtern …«
In der Missgestaltung und sozialen Randstellung des macht-
gierigen Richard sieht Shakespeare einen Grund für dessen
abartige Persönlichkeitsentwicklung:
146 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

» … und darum, weil ich nicht als ein Verliebter


1 kann kürzen diese fein beredten Tage, an John Little (1810–1894), der als Erster die zerebrale Ursache
bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden … « dieser Lähmungsform erkannte und von der spinalen Form un-
terschied, der Poliomyelitis, an deren Folgen er selbst litt. Little
2 In diesen Sätzen wird ein uraltes Vorurteil sichtbar, das
beschrieb Zusammenhänge zwischen Schwangerschafts-
und Geburtskomplikationen und dem Auftreten spasti-
abnorme Körpermerkmale mit negativen, auch unheimlichen scher Lähmungen und nahm zerebrale Blutungen oder eine
3 Wesenszügen verbindet. So beschreibt schon Homer im zwei- perinatale Asphyxie als Ursache der Spastizität an.
ten Gesang der Ilias den Nörgler Thersites als Aufgrund seiner ausführlichen Arbeiten wurde das Krank-
4 heitsbild der infantilen Zerebralparese lange Zeit als Morbus
» … schielend und lahm am anderen Fuß und die Schultern Little bezeichnet und als zerebrale Kinderlähmung abge-
höckrig, gegen die Brust ihm geengt; und oben erhub sich grenzt von der infektionsbedingten Poliomyelitis, der spina-
5 spitz sein Haupt, auf dem Scheitel mit dünnlicher Wolle besät … « len Kinderlähmung mit ihren charakteristischen schlaffen Läh-
mungen.
Während von Strümpell bereits 1884 die Poliomyelitis als
6 Der bedauernswerte Thersites wird dann auch wegen Nörge-
Infektionskrankheit erkannte, erfolgte eine differenzierte und
lei von Odysseus tüchtig verprügelt, sehr zur Erheiterung der systematische Klassifizierung der IZP in ihren unterschiedli-
anderen Griechen. chen Formen und klinischen Erscheinungsbildern vorwiegend
7 Vorurteile und gefühlloses Verhalten gegenüber körper- erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
lich benachteiligten Menschen haben die Jahrhunderte offen-
bar überdauert, wie die Erfahrung auch heute noch lehrt.
8 Die Bezeichnung infantile Zerebralparese (IZP) ist ein Über-
begriff für unterschiedliche Formen von sensomotorischen
9 9.1.2 Krücken und Quengelschienen Störungen, die auf eine Schädigung zerebraler Strukturen in
der frühkindlichen Phase zurückzuführen sind. Frühkindlich
steht für die Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum
10 Exkurs: Ende der Markreifung im 4. Lebensjahr. Die Spastic Socie-
Frühe medizinische Versorgung ty definierte 1966 in Berlin die IZP als »eine bleibende, aber
11 Die medizinische Versorgung der Zerebralparesen beschränk- nicht unveränderbare Haltungs- und Bewegungsstörung
te sich lange Zeit auf Hilfsmittel und Schienen, für deren Her- infolge einer prä-, peri- oder postnatalen zerebralen Funkti-
stellung Stellmacher, Schreiner oder Schmiede zuständig wa- onsstörung, die eingetreten ist, bevor das Gehirn seine Rei-
12 ren. In der Manessischen Handschrift wird der geistliche Chor- fung und Entwicklung abgeschlossen hat«.
herr Hesso von Reinach (1234–1276) dargestellt, wir er Blin- Eine Schädigung des unausgereiften Gehirns führt
13 de und auf Achselkrücken gestützte Lahme in sein Haus führt
(. Abb. 9.1). Unter ihnen ist eine Frau mit der typischen Hand-
nicht nur zum Verlust bereits erworbener sensomotorischer
haltung einer spastischen Parese sowie ein Mann, der auf allen
14 Vieren daherkommt, wobei er sich mit den Händen auf zwei
schemelartige, dreibeinige Ständer stützt, die schon eine ent-
fernte Ähnlichkeit mit den heute verwendeten 4-Punkte-Geh-
15 stützen aufweisen.
Mechanisch anspruchsvoll gebaute Quengelschienen zur
Behandlung von Gelenkkontrakturen wurden 1530 in dem
16 Buch »Wundartzney« vorgestellt (Valentin 1961) und erschei-
nen auch 1666 bei Johannes Scultetus in seinem umfangrei-
17 chen Werk »Wund-Arzneyisches Zeug-Hauß«.

18
9.2 Frühkindliche Hirnschädigung
19
Exkurs:
20 Orthopäden beschrieben als Erste
das Störungsbild
Niclas Andry (1744), der den Begriff Orthopädie prägte, be-
schreibt Gelenk- und Wirbelsäulendeformitäten, die dem Bild
der spastischen Lähmung entsprechen.
. Abb. 9.1 Manessische Handschrift. Ausschnitt aus Tafel 39, Herr
Es waren dann auch zuerst Orthopäden, die sich systema-
Hesso von Reinach: Darstellung von Blinden und Lahmen mit den da-
tisch mit diesem Krankheitsbild auseinandersetzten. Allen vor
mals üblichen Gehhilfen. Die Handhaltung der Person in der Mitte
6 deutet auf eine spastische Hemiparese hin. Bei dem Mann im Vierfüß-
lergang könnte es sich um Poliofolgen handeln
9.2 · Frühkindliche Hirnschädigung
147 9

a b

c d

e f
. Abb. 9.2 a-f Topik der pathologischen Anatomie bei IZP (halbschematisch, modifiziert nach Zülch 1982). a Schädigung bei spastischer Di-
parese, Hände kaum betroffen. b Porenzaphalie, Schädigung bei spastischer Hemiparese. c Schädigung der Basalganglien durch Kernikterus als
Ursache der reinen Athetose. d Periventrikuläre Leukomalazie (Marklagerzysten) als Folge einer pränatalen Hypoxie. Je nach Lokalisation und
Ausdehnung unterschiedliche motorische Ausfälle (spastische Di- oder Tetraparese). e Gesamtschädigung des Gehirns durch lange andauernde
Asphyxie. Schädigungsbild bei schwerer (athetoider) Tetraspastik mit hochgradiger Wahrnehmungsstörung und Epilepsie. f Hydrocephalus oc-
clusus, Liquorabflussbehinderung z.B. durch Fehlbildung, Thrombus oder Tumor

Funktionen, sondern beeinträchtigt auch die Aneignung kindlichen Schädigung der Fall ist. Dieser Unterschied ist
der noch zu erwartenden Fähigkeiten. Dies ist der Unter- für Prognose und therapeutische Zielsetzung von Bedeu-
schied zu einer Schädigung der ausgereiften Erwachsenen- tung.
gehirns, bei dem es zum Verlust bereits erworbener Fähig- Perinatale Schadensereignisse wurden früher als häufigste
keiten kommt und daher Funktionsausfälle durch Rückgriff Ursache der IZP angesehen. Seit Längerem ist aber bekannt,
auf intakte Strukturen und sensomotorische Programme dass pränatal entstandene Schädigungen mindestens ebenso
besser kompensiert werden können als dies bei einer früh- häufig sind:
148 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

4 Aus pränatalen Ursachen entstehen besonders häu- Basisaktivität. Es kommt zur Dysregulation des Muskeltonus
1 fig spastische Tetraparesen, hypotone Lähmungsformen in unterschiedlicher Form und Ausprägung. Die Bewegungs-
und Ataxien, sei es als Folge angeborener Fehlbildungen abläufe weichen in Ausmaß und Tempo vom Normalen ab,
2 oder anoxischer Schäden.
4 Perinatale Schädigungen führen gehäuft zu spastischen
wobei die Skala von abrupten, ausfahrenden Bewegungen bis
zu spärlichen, mühsamen und zähflüssigen Abläufen reicht.
Di- und Hemiparesen, wohl auch zu Mischformen von Beeinträchtigt sind – abhängig vom Ausmaß der Hirnschä-
3 Spastik und Athetose. digung – die Graduierung von Bewegungen und die Durch-
führung selektiver, variierender und komplexer Bewegungs-
4 Auch wurde beobachtet, dass sich Perinatalschäden oft auf
pränatale Vorschäden aufpfropfen (Feldkamp und Matthiaß
formen. Die Hauptmerkmale der abnormalen Bewegungs-
muster aufgrund einer gestörten supraspinalen Kontrolle
1988), im Sinne einer Noxenkette (Kalbe 1981). Das bedeutet, sind in 7 Übersicht 9.1 zusammengefasst.
5 dass die meisten frühkindlichen Hirnschädigungen zu etwa
gleichen Teilen prä- und perinatal entstehen. Die Häufigkeit
postnatal entstandener Hirnschädigungen wird mit ca. 10% Übersicht 9.1 Hauptmerkmale abnormaler
6 angegeben, wobei vor allem infektiöse, enzephalitische und Bewegungsmuster
traumatische Ursachen in Frage kommen (. Abb. 9.2). 1. Eintönigkeit der Bewegung
7 Als Schädigungsursache wird der Hypoxie bzw. Asphy- 2. Mangel an Variation
xie die größte Bedeutung beigemessen, entstanden durch Blu- 3. Einfluss tonischer Primitivschablonen
tungen während der Gravidität, durch Sauerstoffmangel des 4. Synergistische Massenbewegungen
8 mütterlichen Blutes infolge Anämie, Herzvitium, Nephropa-
thie, Eklampsie usw. Auch Plazentainfarkte, vorzeitige Pla- Neben der sensomotorischen Pathologie und den daraus
9 zentalösung und prolongierte Geburt mit Dauerpresswe- entstehenden orthopädischen Komplikationen zeigen sehr
hen werden angeführt, ebenso arterielle Embolien und ande- viele IZP-Kinder Begleitstörungen, die in einem ursäch-
re Erkrankungen des mütterlichen Kreislaufes (Zülch 1982). lichen Zusammenhang mit der Hirnschädigung stehen: Die
10 Toxische Schäden durch Alkoholgenuss, Nikotin, Drogen deutliche Störung der Wahrnehmungsverarbeitung führt bei
usw. können im Embryonalstadium Missbildungen verursa- etwa drei Vierteln der IZP-Kinder zu Intelligenzdefiziten. Ein
11 chen, ebenso Röntgenstrahleneinwirkung und Virusinfekti- Drittel leidet an zentralen Krämpfen, etwa die Hälfte an Seh-
onen, während andere Erreger wie beispielsweise Toxoplas- störungen und Störungen der Sprachentwicklung. Bei zwei
men, Listerien und Spirochäten vorwiegend in der fetalen Dritteln der Kinder finden sich zudem Störungen der Ober-
12 Phase schädigend wirken (Flamm 1959). Genetische Ursa- flächen- und Tiefensensibilität, vegetative Störungen und
chen sind hingegen selten. Verhaltensstörungen (. Abb. 9.3).
13 Feldkamp (1996) betont die Bedeutung einer gestörten
Wahrnehmungsverarbeitung für die motorische Entwick-
9.2.1 Supraspinale Kontrolle: Ergebnis der lung. So könne sich ein 3-jähriges Kind mit der Wahrneh-
14 ZNS-Reifung mungsreife eines Halbjährigen auch nur wie ein Halbjäh-
riges bewegen. Die neurophysiologischen Hintergründe die-
15 Im frühen Stadium der neuromotorischen Entwicklung ser Feststellung wurden in 7 Kapitel 4.1 erläutert.
beherrschen primitive Bewegungsschablonen aus stammes-
geschichtlich alten Hirnteilen (Stammhirn, Pallidum) das
16 motorische Bild. Diese als General Movements bezeichne-
ten unkontrollierten Massenbewegungen werden nach und Zentrale
17 nach von phylogenetisch jüngeren Hirnteilen beherrscht und Läsion
dank der supraspinalen Kontrolle zunehmend durch selek-
tive Motorik ersetzt; gleichzeitig entwickeln sich die Automa-
18 tismen zur posturalen Kontrolle (7 Kap. 3.1–3.4).
Die supraspinale Kontrolle, auch als inhibitorische Kon-
19 trolle bezeichnet, versetzt das Kind zunehmend in die Lage,
gezielte Einzelbewegungen auszuführen, ohne dass es zu Mit- Bewegungsstörung
Anfallsleiden
bewegungen ganzer Körperregionen kommt (Kalbe 1981).
20 Sie ermöglicht eine differenzierte Tonussteuerung der Ske-
lettmuskulatur mit artspezifischer Bewegungsleistung. Der
Grundtonus der Skelettmuskulatur wird allerdings nicht nur Wahrnehmungsstörung
von zerebralen Zentren gestaltet, auch die spinalen Motoneu-
rone sind daran beteiligt. Dieser spinal gesteuerte Tonus wird
orthopädische mentale
von verschiedenen Hirnzentren moduliert und in den Dienst Komplikationen Retardierung
der Stütz- und Zielmotorik gestellt.
Schädigungen des Gehirns beeinträchtigen die supraspi- . Abb. 9.3 Schematische Darstellung der Auswirkungen einer früh-
nale Kontrolle und damit auch die Modulation der spinalen kindlichen Hirnschädigung (modifiziert nach Kalbe 1981)
9.3 · Klinisches Bild der IZP
149 9
9.3 Klinisches Bild der IZP Phänomen (Feldkamp 1996), das keineswegs von Anfang an
vorhanden ist, sondern erst zeitverzögert als sekundäre Kom-
Die nosologische Zuordnung einer IZP erfolgt gewöhnlich plikation auftritt. So können in manchen Fällen sogar 2–3 Jah-
nach zwei Kriterien, re vergehen, bis sich aus einer hypotonen Übergangsform eine
4 der Verteilung der Tonusstörung und spastische Bewegungsstörung entwickelt. Es ist daher sehr
4 der Art der Tonusstörung. fraglich, ob die einschießenden hypertonen Streckreaktionen
schwer hirngeschädigter Säuglinge schon als Spastik bezeichnet
k Verteilung der Tonusstörung werden dürfen, da es sich dabei um tonische Stammhirnreflexe
Je nach Lokalisation und Ausmaß der Schädigung sind die handelt. Kennzeichen der Spastik ist hingegen die andauernde
einzelnen Köperregionen in unterschiedlicher Weise betrof- abnorme muskuläre Tonuserhöhung mit einem Ungleichge-
fen. Die Parese der Extremitäten, das eindrucksvollste Merk- wicht von Beugern und Streckern an Rumpf und Extremitäten,
mal der IZP, ist das Leitkriterium bei der Klassifizierung der mit deutlichem Überwiegen der Beugemuskeln.
Verteilung einer Tonusstörung. Man unterscheidet drei For- Feldkamp betont, dass die Spastik kein Primärsymptom
men, die in . Tab. 9.1 erläutert werden. sei, sondern Folge der mangelhaften phylogenetisch-refl-
exhaften Bewegungsvoraussetzungen. Die pathologischen
k Art der Tonusstörung Kokontraktionen von Agonist und Antagonist seien Bestand-
Hier wird zwischen spastischen, athetoiden, hypotonen und teil der pathologischen Reflexmotorik, es handele sich um
ataktischen Formen unterschieden. Mitunter treffen bei ausgebreitete totale Haltungsschablonen.
einem Krankheitsbild mehrere Komponenten zusammen,
man spricht dann von Mischformen. Die Benennung des Stö- » Der pathologischen Tonussteigerung des Spastikers liegen
rungsbildes richtet sich nach der vorherrschenden, am stärk- Defekte in höheren motorischen Gehirnregionen zugrunde,
sten ausgeprägten Komponente. die zur Dyskoordination und Enthemmung niederer Strukturen
führen. Dabei scheint dem Gammasystem eine wesentliche Be-
deutung zuzukommen. Diese ist Grundlage für die gesteiger-
9.3.1 Spastik ten Dehnungsreaktionen des Spastikers, die sich in den patho-
logisch gesteigerten Muskeleigenreflexen und den Kloni sowie
Spastik bedeutet eine muskuläre Tonuserhöhung im Sinne in dem sogenannten Taschenmesser-Phänomen der Beine äu-
einer federnden Spannungserhöhung des Muskels, die bei «
ßern. (Feldkamp 1996)
rascher oder brüsker Dehnung schlagartig zunimmt. Die spa-
stischen Bewegungen sind eingeschränkt, mühsam, zäh und In 7 Übersicht 9.2 sind die typischen Zeichen für eine spa-
laufen in spärlichen Schablonen ab. Zülch (1982) bezeichnet stische Zerebralparese zusammengefasst. Die Ausprägung
die Spastik als »tonisch ausgewalzte Dauersynergie«. des pathologischen Reflexgeschehens hängt naturgemäß von
Allerdings ist die Spastik keine eigenständige Erkran- der Schwere der Gehirnschädigung ab.
kung, sondern Symptom einer Schädigung kortikospinaler
Strukturen (Pyramidenbahnläsion). Globale Streck-Beuge-
Schablonen und tonische Reflexaktivität, die schon im Früh- Übersicht 9.2 Typische Zeichen einer Spastik
stadium das Vollbild einer zerebralen Parse bestimmen kön- 1. Persistierende Primitivreflexe
nen, werden überwiegend aus ersatzmotorischen Stammhirn- 5 TNR (tonischer Labyrinthreflex): Bei schwerer Tet-
zentren gesteuert und sind nicht als Spastik zu deuten. Denn raparese bewirkt dieser in Rückenlage ein totales
bei der Spastik des Muskels handelt es sich um ein spinales Streckmuster (Opisthotonus), in Bauchlage ein glo-
bales Beugemuster.
5 ATNR (asymmetrisch-tonischer Nackenreflex):
. Tab. 9.1 Einteilung der spastischen Zerebralparesen Durch Kopfdrehung kommt es zu Streckung der
gesichtsseitigen Extremitäten und Hyperextension
Form Verteilung der Tonusstörung der Halswirbelsäule (7 Kap. 3.2).
5 STNR (symmetrisch-tonischer Nackenreflex): In
Tetraparese Betroffen sind Arme und Beine, meist
Abhängigkeit von der Kopfstellung (Flexion, Exten-
seitendifferent
sion) löst dieser stereotype Streck-Beuge-Reaktio-
Diparese Betroffen sind vorwiegend die Beine, die nen von Armen und Beinen aus (7 Kap. 2.3).
Arme hingegen weniger stark oder kaum. 2. Weitere klinische Zeichen
Genaugenommen handelt es sich bei der 5 Pathologische Steigerung der Muskeleigenreflexe
Diparese um eine beinbetonte Tetraparese. 5 Nicht erschöpfbare Kloni
Eine echte Diparese oder Diplegie ist Folge 5 Positive Pyramidenzeichen
einer spinalen Läsion (z.B. thorakales oder
5 Positive phasische und tonische Streckreaktio-
lumbales Querschnittssyndrom)
nen (können schon frühzeitig eine zerebrale Bewe-
Hemiparese Parese einer Körperseite, wobei Arme und gungsstörung ankündigen, lange bevor sich eine
Beine unterschiedlich stark betroffen sein Spastik entwickelt, 7 Kap. 3.6)
können
150 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

Die Prognose hinsichtlich der Haltungsentwicklung und der


1 Fähigkeit zur Fortbewegung ist hauptsächlich abhängig vom
Verteilungsmuster der spastischen Tonusstörung und somit
2 von der Schwere der Schädigung. Bei der Tetraparese sind
nicht nur Arme und Beine von der Störung betroffen, son-
dern auch Kopf und Rumpf. Eine fehlende oder gestörte
3 Kopfkontrolle bewirkt zwangsläufig auch eine unzureichende
Rumpfkontrolle. Unter diesem Gesichtspunkt ist die gestörte
4 Kopfkontrolle eine entscheidende pathologische Komponen-
te der IZP, auch wenn das äußere Erscheinungsbild von den
abnormen Haltungs- und Bewegungsschablonen der Extre-
5 mitäten beherrscht wird (7 Kap. 3.1, Körperkontrolle).

Tetraparese
6 Bei Kindern, die das Vollbild einer Tetraparese zeigen, sind
Störungen der Kopfkontrolle und pathologische Reflexakti-
7 vitäten meist so ausgeprägt, dass die Fähigkeit zur selbststän-
digen Fortbewegung nicht erreicht wird.
Abhängig vom Schweregrad unterscheiden Ferrari et al.
8 (1998) die in 7 Übersicht 9.3 aufgelisteten Formen der Tetra-
parese.
9
Übersicht 9.3 Formen der Tetraparese
10 . Abb. 9.4 7-jähriger Junge mit akinetischer Tetraparese. Tonisch fi-
1. Akinetische Tetraparese
xierter ATNR, beidseitige Hüftluxation, Spitzfüße, zentrales Krampflei-
2. Tetraparese mit horizontaler Antigravität den (BNS), Nystagmus
11 3.
4.
Tetraparese mit subkortikalen Automatismen
Tetraparese mit vertikaler Antigravität
5. »Geschickte« Tetraparese de und Semiflexion des adduzierten Beins. Mitunter sind
12 Schreitbewegungen der Beine möglich, die Greiffunktion der
Hände ist erheblich beeinträchtigt oder fehlt, Manipulationen
13 k 1. Akinetische Tetraparese (. Abb. 9.4) sind nicht möglich. Im Sitzen zeigt sich das typische Beuge-
Schwerste Form der Tetraparese mit völlig fehlender Kopf- muster von Kopf, Rumpf und Extremitäten. Mundmotorische
und Rumpfkontrolle. Die Kinder sind meist in einem Störungen kommen ebenfalls vor, auch zentrale Krämpfe.
14 tonischen Beugemuster fixiert, zeigen keine Stützreakti- Eine Sprachentwicklung fehlt.
onen, keine Fortbewegungsmuster. Sie entwickeln schwere
15 Wirbelsäulendeformitäten (Kyphoskoliose), Beckenverwrin- k 3. Tetraparese mit subkortikalen Automatismen
gung mit »Windschlagdeformität« und ein- oder beidseitiger (. Abb. 9.5)
Hüftluxation, schwere Fußdeformitäten in Valgopronati- Mit dorsaler Unterstützung unter den Achseln können die
16 on, seltener in Varosupination, und Deformitäten der Hand- Kinder dieser tetraparetischen Form einige reziproke, meist
und Fingergelenke mit fehlender Greiffunktion. Regelmä- überschießende Schrittbewegungen durchführen: Die Bei-
17 ßig besteht eine Störung der Mundmotorik mit Hypersaliva- ne sind dabei flektiert, adduziert und innenrotiert, die Füße
tion und fehlendem Spracherwerb, fehlendem Kauvermögen meist in Spitzfuß-Valgus-Stellung. Die Fortbewegung am
und Schluckstörungen, desgleichen Störungen der Augen- Boden gelingt gelegentlich mit dem »Häschenhüpfen«. Im
18 motorik wie Strabismus, Nystagmus usw. Und in vielen Fäl- Sitzen kann der TLR überwunden werden, der Kopf wird
len besteht als besonders gravierende Komplikation ein zen- gehalten und kann Blickwendungen durchführen. Die Greif-
19 trales Krampfleiden. funktion der Hände ist als Hammer- oder Schlüsselgriff vor-
handen, Manipulationen sind in begrenztem Maße möglich.
k 2. Tetraparese mit horizontaler Antigravität Sprachentwicklung und kognitive Leistungsfähigkeit sind
20 Mit Antigravität ist hier die Schwerkraftbewältigung gemeint. spärlich, mundmotorische Störungen und zentrale Anfalls-
Diese Kinder sind imstande, aus Bauchlage den Kopf zu rekli- leiden seltener.
nieren und anzuheben. Diese Leistung entspricht der eines
gesunden Säuglings von etwa 6–8 Wochen. Der Unterarm- k 4. Tetraparese mit vertikaler Antigravität
stütz wird jedoch nicht erreicht; die Arme liegen mit pro- In Bauchlage wird der Kopf aus dem Unterarmstütz angeho-
nierten Unterarmen und Semiflexion der Ellenbogen seitlich ben, im Sitzen dominiert das Beugemuster mit Totalkyphose
am Körper an. In Rückenlage dominiert der tonische Laby- des Rumpfes und ausreichender Kopfkontrolle. Greifen und
rinthreflex (TLR) mit Reklination des Kopfes und geöffnetem Manipulieren sind im Sitzen möglich, die Hand kann voll-
Mund, »Henkelhaltung« der Arme, Volarflexion der Hän- ständig geöffnet werden.
9.3 · Klinisches Bild der IZP
151 9

. Abb. 9.5 9-jähriger Junge mit spastischer Tetraparese. In Rücken- . Abb. 9.6 7-jähriger Junge mit sog. geschickter rechtsbetonter Te-
lage »Windschlaghaltung« der Beine, Hüftgelenke intakt. Mit Unter- traparese. Es besteht ein deutlicher, teilkontrakter Pes equino-varus-
stützung unter den Achseln sind einige ausfahrende, überkreuzende adductus rechts mit mäßiger Coxa antetorta und beidseits zentrier-
Schreitbewegungen möglich. Im NF-Walker kann sich der Junge ohne ten Hüftgelenken, ferner eine mäßige Muskelatrophie des rechten Un-
Fremdunterstützung über eine kleine Strecke fortbewegen terschenkels (hier durch das vorschwingende linke Bein perspekti-
visch verstärkt). Der Junge war mit 5½ Jahren noch nicht in der Lage,
sich selbstständig zum Stand aufzurichten. Unter regelmäßiger ma-
nualmedizinischer Behandlung erlernte er das freie Gehen innerhalb
von 11 Monaten

Dank der ausreichenden Kopfkontrolle und Handfunk- Diparese


tion kann sich das Kind an Gegenständen zum Stand hoch- Bei der Diparese sind hauptsächlich die Beine betroffen,
ziehen und mit Halt stehen, später auch mit ventraler Abstüt- die Arme hingegen weniger oder kaum. Dennoch haben
zung durch eine Hilfsperson oder mit geeignetem Hilfsmittel die meisten Diparetiker gute Aussichten, das Gehen zu ler-
gehen. Dabei sind die Füße meist in Spitzfuß- und Valgus- nen. Je weniger Arme und Hände betroffen sind, desto gerin-
abductus-Stellung, die Füße schleifen am Boden. Die Stabili- ger ist auch das Ausmaß der sensomotorischen Störung ins-
sierung im Stand und im Gehen ist unzureichend. gesamt. Als Faustregel mag gelten: Die Qualität der Hand-
motorik entscheidet darüber, ob ein diparetisches Kind lernt,
k 5. Die »geschickte« Tetraparese (. Abb. 9.6) sich selbstständig fortzubewegen, und ob es dazu Armstüt-
Die Kopfkontrolle ist befriedigend bis gut, damit auch die zen benötigt oder ohne Stützhilfe gehen kann Aus diesem
Rumpfstabilität. Auch das Handgeschick ist soweit entwi- Unterschied resultieren verschiedene Bewegungsmuster der
ckelt, dass die Hände nicht andauernd zu Stützfunktionen Arme und Beine sowie typische Fußstellungen, z.B. der häu-
eingesetzt werden müssen. Sprache und Mundmotorik sind fige Pes valgo-planus-abductus (. Abb. 9.7). Funktionell gün-
nur wenig gestört, desgleichen die geistige Entwicklung. Die stig scheint der Pes equinus des Spitzfußläufers zu sein, der
Kinder können längere Strecken selbständig gehen, meist mit sich vielfach ohne Stützhilfen fortbewegen kann.
adduzierten und innenrotierten Oberschenkeln und in Equi- Ferrari (1998) unterscheidet die in 7 Übersicht 9.4 aufge-
no-valgus-abductus-Stellung der Füße, seltener in Spitz-/ listeten Formen der spastischen Diparese.
Klumpfuß-Haltung. Die Stützreaktionen sind nicht immer
zuverlässig, auf Stützhilfen können diese Kinder oft nicht ver-
zichten. Übersicht 9.4 Formen der spastischen Diparese
Die »geschickte« Tetraparese ist eine Übergangsform zur 1. Propulsive Form
spastischen Diparese. 2. Enger-Rock-Gang
3. Seiltänzer
4. Der Verwegene
152 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
. Abb. 9.7 6-jähriges Mädchen mit spastischer Diparese. Befriedi- . Abb. 9.8 12-jähriges Mädchen mit spastischer Diparese. Fortbe-
13 gende Entwicklung der Handmotorik (das Kind hat gelernt zu schrei- wegung im Hockergang mit Kniereiben. Pes valgo-planus-abductus
ben). Typische X-Bein-Haltung mit Adduktion und Innenrotation der beidseits. Gehhilfen für den stabilen Stand sind unentbehrlich
14 Oberschenkel. Spitzfußstellung links, rechts wird ein plantigrader Auf-
tritt erreicht. Gehen mit Vier-Punkte-Stützen möglich, leichter Hocker-
gang
15
k 1. Propulsive Form k 4. Der Verwegene
16 Mit und ohne Beanspruchung orthopädischer Armstützen. Diese Diplegiker erreichen frühzeitig ein freies Gangbild und
Kennzeichnend ist die Vorneige des Oberkörpers mit vor- laufen vorwiegend auf den Fußspitzen. Sie verfügen über gute
17 gestreckten Armen und die leichte Neigung des Kopfes beim Stützreaktionen.
Gehen.
Tipp
18 k 2. Enger-Rock-Gang
Wird in Italien zweifellos besser verstanden als hierzulan- Im Gegensatz zu tetraparetischen Kindern zeigen Dipa-
19 de, wo man schlicht vom Kniereiben oder Kreuzgang spricht. retiker eine ausreichend bis gute Bildungsfähigkeit.
Gehhilfen, sofern notwendig, dienen eher der Raumori-
entierung als der Abstützung, da sie kaum belastet werden Die Bezeichnungen Ferraris für die einzelnen Formen der
20 (. Abb. 9.8). Tetra- und Diparese mögen etwas künstlich wirken, ihre
Beschreibung ist jedoch treffend. Die Einteilung in verschie-
k 3. Seiltänzer dene Schweregrade hat dabei vor allem prognostische Bedeu-
Damit sind jene Patienten gemeint, die mit Gehhilfen beson- tung und kann bei der Planung operativer Eingriffe eine Rol-
ders schnell laufen können, sich beim Gehen nur selten auf le spielen. Wesentliche Unterschiede in den Grundsätzen der
die Stöcke stützen und sie vorwiegend zum Stehen benut- konservativen therapeutischen Vorgehensweise, speziell der
zen. manualmedizinischen, ergeben sich daraus nicht.
9.3 · Klinisches Bild der IZP
153 9
Hemiparese Nach Ansicht Ferraris ist bei der pränatalen Form der Arm
Hemiparetische Kinder erreichen immer das freie Gehen und meist weniger betroffen als das Bein, im Gegensatz zur peri-
sind in der Regel normal bildungsfähig. Das klinische Bild natalen Form. Auch seien die Kinder meist geschickter beim
kann sich bei leichten Fällen im Frühstadium verstecken. Ver- Manipulieren und sicherer beim Gehen und Laufen als bei
dächtig, aber nicht pathognomonisch ist im Säuglingsalter die der perinatalen Form, die nach seiner Ansicht häufig mit Epi-
motorische Vernachlässigung eines Arms und des gleichsei- lepsie, Unaufmerksamkeit und Dyspraxie kombiniert sind.
tigen Beins. Die Diagnose lässt sich vor Gehbeginn, der meist Die hypoxisch oder traumatisch entstandene postnatale oder
verzögert ist, aus dem pathologischen Reflexverhalten stellen, erworbene Form ähnelt nach seiner Darstellung mehr der
wobei die phasischen und tonischen Streckreaktionen offen- Hemiplegie eines Erwachsenen als der pränatalen Form.
bar am empfindlichsten sind. Ein weiteres Frühzeichen ist die . Tabelle 9.2 gibt nochmals eine zusammenfassende Cha-
Tonusveränderung des M. gastrocnemius der betroffenen Sei- rakterisierung der spastischen Tonuserhöhungen.
te: Palpatorisch imponiert der Muskelbauch etwas verkürzt, er
fühlt sich im Vergleich zur gesunden Seite ledern an, die Dor- k Ersatzmotorik
salextension im oberen Sprunggelenk des paretischen Beins Bei den beschriebenen spastischen Bewegungsstörungen
ist im Seitenvergleich eingeschränkt. Bei Gehbeginn zeigt das handelt es sich immer um eine sog. Ersatzmotorik, die sich
Kind ein typisches Gangbild mit Schrittverkürzung auf der nach der Zerstörung der Pyramidenbahn bildet. Es müssen
gestörten Seite und fehlendem oder verzögertem Fersenkon- also Leitungsbahnen vorhanden sein, die aus einem anderen,
takt. Die Händigkeit entwickelt sich frühzeitig zur gesunden archaischen motorischen Apparat stammen, der jetzt für die
Seite bei eindeutiger Vernachlässigung der betroffenen Sei- zielmotorischen Bewegungen als Ersatz zur Verfügung gestellt
te. Nach Feldkamp (1996) ist bei der spastischen Hemipare- wird. Man nimmt an, dass diese Bewegungen von phylogene-
se der Arm der gestörten Seite oft stärker betroffen als das tisch älteren, subkortikal-spinal gelegenen Systemen inner-
gleichseitige Bein. Der Arm zeigt ein Beugemuster von Ellen- viert werden (Thom 1982).
bogen und Handgelenk, der Daumen ist gebeugt und addu- Typisch für Ersatzmuster sind bei Ausfall der Pyrami-
ziert, die Finger sind flektiert oder zeigen eine schwanenhal- denbahnen die Massensynergien, die z.B. beim Hemipareti-
sähnliche Stellung, mitunter auch Pfötchenstellung oder eine
Reptilhaltung (. Abb. 9.9). Die Streckung im Hüftgelenk der
betroffenen Seite ist eingeschränkt. Häufig besteht ein Spitz-
. Tab. 9.2 Charakterisierung der spastischen Tonuserhö-
fuß in Kombination mit einer Klumphaltung oder Knickfuß- hungen
stellung. Das Längenwachstum der betroffenen Extremitäten
bleibt geringfügig hinter dem der Gegenseite zurück. Gele- Ausprägung Erscheinungsbild
gentlich kann die Hemispastik mit einer athetoiden Kompo- der Spastik
nente kombiniert sein, die sich besonders an der Arm- und
Spastische 5 Muskulärer Hypertonus
Handhaltung zeigt.
Tetraparese 5 Bewegungsarmut
Ferrari unterscheidet drei Formen der Hemiparese, 5 Globale Beuge-Streck-Muster
zusammengefasst in 7 Übersicht 9.5. 5 Schlechte Kopf-Rumpf-Kontrolle
5 Meist gehunfähig

Übersicht 9.5 Formen der Hemiparese Spastische 5 Distal betonter Hypertonus (Arme nur
5 Angeborene Form Diparese leicht betroffen, für Gehhilfen zuverläs-
5 Perinatale Form sig einsetzbar)
5 Postnatale oder erworbene Form 5 Beuge-Adduktions-Innenrotations-Stel-
lung der Hüften, Knieflexion
5 Oft Equino-valgus-Stellung der Füße
oder Spitzfußläufer
5 Patienten kommen fast immer irgend-
wann zum Gehen

Spastische 5 Betroffene Seite erscheint verkrampft


Hemiparese 5 Schrittverkürzung der betroffenen Seite
5 Betroffene Hüfte gebeugt, wenig Bewe-
gung in den Gelenken der paretischen
Seite
5 Spitzfuß (häufig in Valgus- oder Varus-
position)
5 Assoziierte Reaktionen der betroffenen
Hand bei Einsatz der gesunden Hand
(Fausten, Schlupfdaumen, Reptilhal-
tung usw.)
5 Das freie Gehen wird immer erreicht,
. Abb. 9.9 Reptilhaltung der linken Hand bei spastischer Hemipa-
wenn auch meist zeitverzögert
rese
154 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

ker auch willkürlich eingesetzt werden können. Diese Syner- k 1. Dystone Athetose
1 gien laufen immer global nach dem Alles-oder-Nichts-Gesetz Die grotesken, asymmetrisch ablaufenden Bewegungen die-
ab. Das bedeutet, die einzelnen Segmente der Bewegungsket- ser Form gehen einher mit einer Kokontraktion von Ago-
2 te sind von Anfang an synergistisch gekoppelt:
4 Die Beugung der betroffenen Hüfte führt gleichzeitig zu
nisten und Antagonisten. Trotz der schweren Fehlhaltung
und abnormen Bewegungen von Kopf und Rumpf kommen
einer Kniebeugung und zu einer mäßigen Dorsalextensi- die Kinder motorisch relativ zurecht, erreichen vielfach sogar
3 on des Fußes bei gleichzeitiger Supination. den freien Gang und sind zu erstaunlichen intellektuellen
4 Typisch beim Faustschluss sind die gleichzeitige Dorsa- und schöpferischen Leistungen fähig.
4 lextension im pronierten Handgelenk, die Beugung im
Ellenbogen und die Abduktion des Oberarms. k 2. Choreoathetose
4 Bei passiver Volarflexion im Handgelenk kommt es zu Eine Athetose ist häufig kombiniert mit einer choreatischen
5 Adduktion des Oberarms, Senken der Schulter und Stre- Dyskinesie: Diese Form ist gekennzeichnet durch unwillkür-
ckung in den Fingergelenken. liche, rasche, kurz andauernde und hyperkinetische Muskel-
6 kontraktionen mit charakteristischer Beteiligung der Zun-
Tipp genmuskulatur. Diese als Choreoathetose bezeichnete Misch-
form ist durch bizarre, kaum zu imitierende und vorwiegend
7 Eine Öffnung der Hand ist beim hemiparetischen und peripher ablaufende Bewegungen gekennzeichnet. Die Pati-
tetraparetischen Kind vielfach nur mittels einer passiv enten kommen oft nicht zur vollen Körperaufrichtung, die
durchgeführten Volarflexion im Handgelenk zu errei- Fortbewegung erfolgt dann im Häschensprung oder durch
8 chen. Abstoßen aus der Rückenlage.

9 k 3. Spannungsathetose
Athetose Eine häufige Ausprägungsform wird als Spannungsathetose
Der Begriff Athetose bezeichnet eine Dyskinesie mit der bezeichnet, sie ist gleichzeitig auch die schwerste. Die Bewe-
10 Unfähigkeit, eine feste, stabile Stellung einzunehmen (abge- gung wird vorwiegend von tonischen Reflexautomatismen
leitet von griech. áthetos, ohne geregelte Stellung). Es handelt beherrscht, die Kopf- und Rumpfkontrolle ist entsprechend
11 sich um den Ausdruck einer Störung des extrapyramidalmo- schlecht. Die Kinder zeigen häufig einen Wechsel von starker
torischen Systems (EPMS). Streckstarre und vollständigem Haltungsverlust.
Das klinische Bild der Athetose ist gekennzeichnet durch Reine Athetosen ohne spastische oder ataktische Kompo-
12 wilde Haltungsstörungen, übersteigerte Ausdrucksbewe- nenten sind sehr selten geworden. Sie entwickelten sich frü-
gungen und ausgeprägte assoziierte Bewegungen bei Will- her als Folge einer isolierten Schädigung der Basalganglien
13 kürmotorik. Manche Formen zeigen langsame, wurmför- (Kernikterus) bei Rhesusinkompatibilität. Athetosen treten
mige Muskelkontraktionen, die sich wellenartig von Muskel gewöhnlich als Mischformen auf, bevorzugt mit spastischer
zu Muskel ausbreiten. Die Athetose tritt immer als tetrapa- Komponente. Da in den meisten Fällen die Spastik dominiert,
14 retische Form auf, wobei die Störung der Kopf- und Rumpf- spricht man von athetoider (Tetra-)Spastik, die eine beson-
kontrolle besonders eindrucksvoll ist. Beim Hantieren kommt ders ungünstige Form darstellt (. Abb. 9.10).
15 es zu ausfahrenden, schlecht gezielten Bewegungen der Hän-
de und Verzögerung des gezielten Loslassens von Gegen- k Extrapyramidale Bahnen vs. Pyramidenbahnen
ständen. Die dyskinetischen Bewegungsabläufe sind nicht zu Die Zentralen des extrapyramidalmotorischen Systems
16 unterdrücken, die mimischen Ausdrucksbewegungen mit- (EPMS) sind die Stammganglien: Nucleus caudatus und
unter bis zum Grotesken gesteigert. Die Intelligenz ist meist Putamen, die zusammen das Corpus striatum bilden; fer-
17 wenig oder gar nicht beeinträchtigt. Auch führt die Atheto- ner das Pallidum, der Nucleus subthalamicus und die Sub-
se in ihrer reinen Form selten zu Kontrakturen der Gelenke. stantia nigra. Die Strukturen und Faserzüge dieses Systems
Typisch ist eine deutliche Steigerung der Eigenreflexe; bei der gehören nicht zu den Pyramidenbahnen, mischen aber über-
18 reinen Athetose fehlen die Pyramidenzeichen. all mit, da sie Verbindungen zu fast allen Strukturen des ZNS
In 7 Übersicht 9.6 sind die Formen der athetotischen aufnehmen. Kortikospinales und extrapyramidalmotorisches
19 Dyskinesie dargestellt. System sind morphologisch und funktionell eng miteinander
verknüpft. Beide benutzen den Regelkreis des Rückenmarks
als gemeinsame Endstrecke (Forssmann und Heym 1985).
20 Übersicht 9.6 Formen der athetotischen Trotz der engen Verknüpfung erfüllen beide Systeme
Dyskinesie unterschiedliche Aufgaben:
1. Dystone Athetose 4 Die Pyramidenbahnen enden überwiegend an
2. Choreoathetose α-Motoneuronen und leiten motorische Impulse, die
3. Spannungsathetose kortikal bewusst intendiert sind, zur kontralateralen
Muskulatur. Das kortikospinale System (Pyramiden-
bahnsystem) dient somit der willkürlichen oder korti-
kalen Motorik, kurz der Zielmotorik.
9.3 · Klinisches Bild der IZP
155 9
Rahmen einer IZP nicht als eigenständiges Krankheitsbild
auf, sondern als Begleitsymptome, meist in tetraparetischer
Form. Sie sind Hinweise auf eine zusätzliche Kleinhirnschä-
digung.
Degenerative Veränderungen oder Missbildungen des
Kleinhirns zeigen ihre eigene klinische Symptomatik und
werden gewöhnlich nicht als infantile Zerebralparese klas-
sifiziert. Dazu gehören z.B. die autosomal-rezessiv vererbte
Friedreich-Ataxie und das Joubert-Boltshauser-Syndrom,
charakterisiert durch eine Hypoplasie oder Aplasie des Ver-
mis cerebelli.

9.3.2 Zentrale Hypotonie

Neugeborene mit infantiler Zerebralparese zeigen vielfach


einen in Ruhe deutlich herabgesetzten muskulären Tonus,
der lange Zeit persistiert und die Entwicklung der posturalen
Programme verhindert. Aus dieser Hypotonie als Übergangs-
form entwickelt sich je nach Art der Schädigung früher oder
später eine spastische oder athetotische, meist gemischte Stö-
rung der muskulären Tonussteuerung. Eine solche Hypoto-
nie kann in einigen Fällen 2–3 Jahre bestehen, bevor sie in das
endgültige pathologische Zustandsbild übergeht. Je länger die
. Abb. 9.10 12-jähriger Junge mit schwerer choreoathetotischer hypotone Phase dauert, desto ausgeprägter ist gewöhnlich das
Tetraspastik. Beugekontrakturen an den Ellenbogen-, Hüft- und Knie- endgültige Krankheitsbild.
gelenken, kontrakte Knick-Hacken-Füße, fehlende Handmotorik, feh-
Die zentrale Hypotonie ist allerdings kein typisches Zei-
lende Kopf- und Rumpfkontrolle
chen für eine infantile Zerebralparese, da sich auch Stoff-
wechselstörungen oder myogene und degenerativ neurogene
4 Das EPMS erregt bevorzugt die γ-Motoneurone, beein- Erkrankungen dahinter verbergen können. Eine muskuläre
flusst also die Spindelmotorik und dient der Steuerung Schlaffheit mit Froschhaltung der Arme und Beine kann z.B.
von Haltefunktionen (Stützmotorik). Es ist maßgebend auch auf eine infantile spinale Muskelatrophie Werdnig-Hoff-
für Begleitbewegungen der Mimik und Extremitäten mann hinweisen. Jede persistierende Hypotonie muss daher
zuständig, z.B. beim Sprechen, ferner für erlernte Bewe- einer gezielten neuropädiatrischen Diagnostik zugeführt wer-
gungen wie Tanzen, Radfahren und Spielen eines Musik- den. In vielen Fällen lässt sich jedoch die Ursache der Hypo-
instruments. tonie nicht finden. Man spricht dann auch allgemein von zen-
traler Hypotonie, die gewöhnlich mit erheblicher geistiger
Die EPMS-Zentren sind über Rückkoppelungsschleifen Behinderung und schwer gestörter Kopf- und Rumpfkontrol-
untereinander verbunden. Aufsteigende Systeme können le einhergeht.
in diesen Schaltkreis eingreifen, absteigende Rückenmarks-
bahnen können hier beginnen. In den Schaltplan ist auch
die Großhirnrinde miteinbezogen. Die Verschaltung mit der 9.3.3 Anfallsleiden
hier beginnenden Pyramidenbahn kann damit als die wich-
tigste aller Efferenzen des extrapyramidalen Systems aufge- Das Auftreten zentraler Krämpfe ist eine schwerwie-
fasst werden (Forssmann und Heym 1985). gende Komplikation der frühkindlichen Hirnschädigung
(. Abb. 9.11). Die Angaben über die Häufigkeit schwanken
> Wichtig zwischen 22% (Skatvedt 1958) und 45% (Kirman 1956). Kal-
Das äußerst vielseitige klinische Bild der infantilen Zere- be (1981) geht davon aus, dass etwa ein Drittel der IZP-Kinder
bralparese erklärt sich durch die Verknüpfung des kor- ein Anfallsleiden entwickeln. Bei gutem Ansprechen auf eine
tikospinalen und extrapyramidalen Systems, die bei ei- antikonvulsive medikamentöse Behandlung können phy-
ner Zerebralläsion in unterschiedlicher Weise betroffen siotherapeutische und manualmedizinische Behandlungs-
sind. formen erfolgreich eingesetzt werden. In schweren Fällen ist
das Anfallsleiden medikamentös allerdings nicht oder nicht
Ataxie hinreichend beherrschbar, was die Wirksamkeit physiothe-
Wenig gesteuerte, fahrige, eckige Bewegungen aufgrund rapeutischer und manualmedizinischer Bemühungen erheb-
gestörter Bewegungskoordination und Bewegungsdosierung lich mindern kann. Dies gilt auch für Kinder, deren Vigilanz
sind kennzeichnend für eine Ataxie. Das Gangbild ist tor- und Reaktionsfähigkeit durch hoch dosierte antiepileptische
kelig, meist besteht ein Intentionstremor. Ataxien treten im Medikamente beeinträchtigt ist.
156 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

1
2
3
4
5
6
7
8
9 a b

10 . Abb. 9.11 a, b Schädel-MRT eines 6 Wochen alten Mädchens. Angeborene Porenzephalie linkshemisphäral unter Einbeziehung der Stamm-
ganglien: Das Kind entwickelte im weiteren Verlauf eine rechtsbetonte Tetraspastik mit mundmotorischer Störung und ausgeprägter Störung
der Hör- und Sehfähigkeit sowie medikamentös schwer einstellbare zentrale Krämpfe. Ferner besteht ein Diabetes mellitus
11
12 9.3.4 Orthopädische Komplikationen > Wichtig
Eine Luxation der Hüften kündigt sich an, wenn die Hüft-
13 Die pathologische muskuläre Tonusveränderung bei IZP vor gelenke bei flektierten Knien weniger als 45° abspreiz-
allem in ihrer spastischen Form führt je nach Ausprägung bar sind und eine Torsion des Beckens vorliegt. Die
der Schädigung zu verschiedenen orthopädischen Kompli- Hauptübeltäter bei Entstehen der Hüftluxation sind die
14 kationen. Hinzu kommt, dass Skelettreifung und Knochen- ischiokruralen Muskeln, deren Tonussteigerung in erster
wachstum von der zerebralen Läsion nicht direkt betroffen Linie verantwortlich ist für die Adduktionshaltung des
15 sind und ein Missverhältnis zwischen dem skelettären Län- Beins, während die eingelenkigen Adduktoren erst se-
genwachstum und der Anpassungsfähigkeit der spastisch kundär verkürzen.
beherrschten fibromuskulären Strukturen besteht. Typische Dies ist sowohl für die konservative Behandlung als auch
16 Veränderungen sind: für die operative Planung von Wichtigkeit.
4 Fehlstellungen der Extremitäten mit
17 4 Kontrakturen der Gelenke, k Prognose
4 Hüftgelenksluxation und Noch vor 50 Jahren war die Lebenserwartung von IZP-Kin-
4 Wirbelsäulenskoliose. dern wegen der hohen Anfälligkeit für bakterielle und virale
18 Infekte, Ernährungsstörungen und der unzureichenden
Die Luxation eines oder beider Hüftgelenke stellt dabei die Behandlungsmöglichkeiten zentraler Anfälle deutlich gemin-
19 schwerste Komplikation dar, da sie immer mit einer Torsi- dert. Das hat sich inzwischen durch verbesserte Behandlungs-
on und Rotation des Beckens verbunden ist und zwangsläu- möglichkeiten wesentlich geändert.
fig zu einer skoliotischen Deformität der Wirbelsäule führt Grundsätzlich hängt die Prognose einer IZP von der
20 (. Abb. 9.12, 9.13). Die Tatsache, dass ein gehfähiges IZP- Schwere der Hirnschädigung und eventueller Begleiterkran-
Kind viel seltener eine Skoliose und eine Hüftluxation ent- kungen ab wie Epilepsie, Missbildungen, Seh- oder Hörschä-
wickelt als ein nicht gehfähiges Kind, erklärt sich nicht aus den und nicht zuletzt von der Qualität der Behandlung.
der Gewichtsübernahme, wie vielfach angenommen, sondern Vieles spricht dafür, dass der frühzeitige Behandlungs-
einfach aus der Ausprägung der zerebralen Bewegungsstö- beginn einen entscheidenden Anteil an der Prognose der
rung. Hüftluxationen treten deswegen überwiegend bei tetra- zerebralen Bewegungsstörung hat. Während die neurophy-
paretischen Kindern auf. siologischen krankengymnastischen Methoden nach Bobath
und Vojta schon seit Langem in der Frühbehandlung einge-
setzt werden, sind die Möglichkeiten einer frühzeitig einset-
9.4 · Diagnostik
157 9

. Abb. 9.12 8-jähriges Kind mit infantiler Zerebralparese. Neuroge-


ne Skoliose mit Thoraxdeformität und ausgeprägtem Rippenbuckel

. Abb. 9.14 Komplexe Hirnmissbildung im MRT. Trotz der auffal-


lenden morphologischen Veränderungen erreichte das Kind die Geh-
fähigkeit mit ataktischem Bewegungsmuster. Die geistige Entwick-
lung ist retardiert

9.4.1 Kommunikation zwischen Arzt und


Kind

Die Art und Weise, wie der Arzt mit einem zerebralpare-
tischen Kind Kontakt aufnimmt, entscheidet darüber, ob
eine vertrauensvolle Grundlage für eine erfolgreiche manu-
elle Behandlung geschaffen wird. Es ist ein verbreiteter Irr-
tum anzunehmen, ein schwerbehindertes Kind sei nicht in
der Lage, zu begreifen, was mit seiner Person zu tun hat und
was in seiner Umgebung vorgeht. Eine solche Einschätzung
. Abb. 9.13 Dasselbe Kind wie in Abb. 9.12. Hüftgelenksdysplasie verleitet dazu, das Kind als nicht kommunikationsfähiges
beidseits. Hüftluxation links, Subluxation rechts Therapieobjekt zu betrachten und über seinen Kopf hin-
weg die diagnostischen und therapeutischen Vorgehenswei-
sen stellvertretend den Eltern zu erklären. Das Kind aber ist
zenden manualmedizinischen Therapie noch nicht hinrei- die Hauptperson, und es sollte daher eine Selbstverständlich-
chend genutzt. keit sein, dass sich der Arzt bei der ersten Begegnung dem
Kind vorstellt und ihm mit einfachen Worten jeden Untersu-
chungs- und Behandlungsschritt erläutert. Schwerbehinderte
9.4 Diagnostik Kinder kommunizieren nonverbal mit Mimik und besonders
mit ihrer ausdrucksvollen Augensprache. Authentische Dol-
Mit modernen bildgebenden Verfahren wie Sonographie, metscherinnen sind die Mütter.
MRT und CT lässt sich die Morphologie frühkindlicher Hirn- Jüngere Kinder, die mit vorausgegangenen Thera-
schädigungen in vielen Fällen bereits frühzeitig erfassen. pieformen negative Erfahrungen gemacht haben, reagieren
Die organpathologischen Veränderungen korrelie- beim ersten Kontakt nicht selten mit heftiger Abwehr und
ren aber nicht immer mit Schwere und Ausprägung der kli- mit Schreien. Man lasse sich dadurch nicht beirren. Das Kind
nischen Symptomatik (. Abb. 9.14), weswegen die körper- wird bald feststellen, dass die manualmedizinische Behand-
liche Untersuchung eines bewegungsgestörten Kindes an lung keine Schmerzen bereitet und ihm auch keine eigenen
ersten Stelle steht. Anstrengungen abverlangt.
158 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

9.4.2 Klinische Zeichen


1 Übersicht 9.8 Beurteilungskriterien für eine
Die Frühdiagnostik einer IZP und die Abgrenzung gegenüber zentrale Bewegungsstörung
1. Rückenlage
2 nicht zerebral bedingten Bewegungsstörungen kann Schwie-
rigkeiten bereiten. Aus der Summe der klinischen Symptome 2. Bauchlage
lässt sich jedoch in den meisten Fällen die Diagnose einer 3. Drehen (seitliches Überrollen)
3 frühkindlichen Hirnschädigung innerhalb der ersten beiden 4. Hochziehen zum Sitz
Trimena stellen (7 Kap. 6.2, Standarddiagnostik), auch wenn 5. Sitzen
6. Hochziehen zum Stand
4 es zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich ist, die Form der
zerebralen Bewegungsstörung wie Spastik, Athetose usw. zu 7. Stehen
bestimmen (. Abb. 9.15). In 7 Übersicht 9.7 sind aussagefä- 8. Gehfähigkeit
5 hige Frühzeichen einer IZP und zusätzliche Verdachtshinwei- 9. Greifen
se auf eine IZP zusammengefasst. 10. Sehen und Hören
11. Orthopädischer Befund
6 12. Neurologische Untersuchung
Übersicht 9.7 Hinweise auf eine IZP
7 Frühzeichen einer IZP
5 Eindeutig abnormale General Movements in der Zap- k 1. Rückenlage
pelphase (»fidgity age«, 7 Kap. 3.4) Beurteilt werden Haltung und Stellung von Kopf, Rumpf und
8 5 Ein über den 3. Monat hinaus persistierender Rossoli- Extremitäten.
mo-Reflex, ein anderes Pyramidenzeichen oder Fuß- 4 Ist das Kind in der Lage, aktiv den Kopf aus der Rücken-
9 klonus (7 Kap. 3.6) lage anzuheben?
5 Eindeutig positive tonische und phasische Streckreak- 4 Wie sind Muskeltonus und motorische Spontanaktivi-
tionen jenseits der 10.–12. Lebenswoche (7 Kap. 3.6) tät beschaffen?
10 5 Eindeutig abnormale Bewegungsantworten aller neu- 4 Besteht ein Opisthotonus in Rückenlage?
rokinesiologischen Reaktionen nach Vojta (7 Kap. 3.5) 4 Zeigen sich Asymmetrien in Haltung und Bewegung?
11 über das 1. Trimenon hinaus
5 Fixierter Opisthotonus (tonisch fixierte Überstreckung) k 2. Bauchlage
5 Tonisch fixierter ATNR. Beurteilt werden ebenfalls Haltung und Stellung von Kopf,
12 Die beiden letztgenannten Punkte sind Zeichen einer Rumpf und Extremitäten.
schweren zentralen Schädigung. 4 Ist ein aktives Kopfheben aus Bauchlage, Unterarm- oder
13 Verdachtshinweise auf eine IZP Handstütz möglich?
5 Froschhaltung der Arme und Beine in Rückenlage (DD: 4 Kann das Kind aus der Bauchlage in den Vierfüßerstand
spinale Muskelatrophie, Stoffwechselerkrankung u.Ä.) kommen?
14 5 Fehlende Kopfkontrolle in allen Körperhaltungen und 4 Kann es sich durch Robben (= Kriechen) oder Krabbeln
muskulärer Hypotonus jenseits des 3. Lebensmonats (= Vierfüßergang) fortbewegen?
15 (DD: spinale Muskelatrophie, Stoffwechselerkrankung
u.Ä.)
5 Kein Greifen, kein Zusammenführen der Hände zur
16 Körpermitte ab dem 2. Trimenon
5 Persistierende Schulterretraktion mit Henkelhaltung
17 der Arme
5 Füße in Spitzfußhaltung, Beine meist gestreckt und
überkreuzt
18 5 Fehlendes soziales Lächeln

19
9.4.3 Bewertungskriterien
20
Jenseits des Säuglingsalters, mitunter auch schon gegen Ende
des 1. Lebensjahres, wird die Form der zerebralen Bewegungs-
störung als Spastik, Athetose, Mischform usw. erkennbar. Zur
Einschätzung der Prognose und zur Bestimmung des Thera-
pieziels sind neben Form und Verteilung der Lähmung wei- . Abb. 9.15 Sieben Monate alter Säugling, Frühmanifestation einer
tere Beurteilungskriterien erforderlich, die in 7 Übersicht 9.8 schweren frühkindlichen Hirnschädigung. Opisthotonus, Strecktonus
skizziert werden. der unteren Extremitäten, Faustschluss, Volarflexion der rechten Hand
9.4 · Diagnostik
159 9
k 3. Drehen (seitliches Überrollen) den. Bei der Beurteilung des Gangbilds ist die Stellung der
Das aktive Drehen vom Rücken auf den Bauch ist eine Lei- Extremitäten, des Rumpfes, die Kopfhaltung und die Form
stung, die der Säugling mit 6 Monaten beherrscht; mit der Fortbewegung zu bewerten: spastisch, ataktisch, dyskine-
8 Monaten kann er sich vom Bauch auf den Rücken dre- tisch usw. Ebenso ist die Qualität der Stützreaktionen bei
hen. Bei der spastischen Tetraparese ist diese Fähigkeit meist plötzlichen Hindernissen von Bedeutung.
in hohem Maße beeinträchtigt oder nicht vorhanden. Beur-
teilt wird, ob beim passiven Drehen eine Rotationsbewegung > Wichtig
des Oberkörpers gegenüber dem Becken im dorsolumbalen Hat ein zerebralparetisches Kind das selbständige Gehen
Übergang erfolgt, oder ob die Bewegung in einem starren, bis zum 8. Lebensjahr nicht gelernt, ist für den weite-
globalen Muster abläuft, das pflegerisch erhebliche Schwie- ren Verlauf mit dieser motorischen Leistung nicht mehr
rigkeiten bereiten kann. zu rechnen.
Ist das Kind imstande, sich aktiv vom Rücken auf den
Bauch oder umgekehrt vom Bauch auf den Rücken zu drehen, k 9. Greifen
wird beurteilt, wie das Kind die Bewegung ausführt: Spielt es Hand- und Fingerstellung werden beurteilt und dokumen-
sich im physiologischen Muster ab (. Abb. 4.18), was nur in tiert.
leichten Fällen zu erwarten ist, oder werden Ersatzstrategien 4 Ist die Hand geöffnet oder gefaustet?
eingesetzt? Auch für die Qualität des aktiven Überrollens ist 4 Ist der Daumen unter den Langfingern eingeklemmt
die Beweglichkeit im dorsolumbalen Übergang von Wichtig- (Schlupfdaumen)?
keit. 4 Ist ein Greifen möglich?
4 Wie erfolgt der Greifvorgang: als Hammergriff, Zangen-
k 4. Hochziehen zum Sitz griff, Schlüsselgriff oder Pinzettengriff?
4 Kann sich das Kind selbstständig hinsetzen?
4 Erfolgt die Aufrichtung zum Sitz aus Rücken- oder Sei- k 10. Sehen und Hören
tenlage? 4 Reagiert das Kind auf Ansprache und auf seine Umge-
4 Wie sind Kopfkontrolle und Haltung der Beine? bung?
4 Wie werden Arme und Hände beim Hochziehen zum 4 Wie ist die Kontaktaufnahme?
Sitz eingesetzt? 4 Reagiert es auf optische Reize?
4 Wird eine Seite bevorzugt? 4 Kann das Kind fixieren?
4 Besteht ein Strabismus, ein Nystagmus?
k 5. Sitzen
4 Kann das Kind frei und ohne Abstützen sitzen und dabei k 11. Orthopädischer Befund
die Hände gebrauchen, oder muss es gestützt bzw. in der Lokalisation und Ausprägung orthopädischer Komplikati-
Sitzschale fixiert werden? onen werden bestimmt von der Schwere der Hirnschädigung
4 Wie sind Kopfkontrolle und Stellung von Rumpf und sowie von Art und Verteilung der Tonusstörung. Zu doku-
Extremitäten? mentieren sind:
4 Ist eine freie Kopfbewegung möglich? 4 Gelenkkontrakturen an den Extremitäten,
4 Beinachsenfehlstellungen,
k 6. Hochziehen zum Stand 4 neurogene Hand- oder Fußdeformitäten,
4 Ist das Kind in der Lage, sich selbstständig aufzurichten? 4 Muskel- oder Sehnenverkürzungen,
4 Muss es sich dabei an Gegenständen abstützen? 4 Hüftsubluxation oder -luxation,
4 Erfolgt die Aufrichtung über den Kniestand, aus dem 4 Beckenfehlstellungen,
Bärenstand oder über das STNR-Muster? 4 Wirbelsäulendeformitäten: Skoliose oder Kyphose,
4 viskoelastische Veränderungen an Muskel- und Fas-
k 7. Stehen zienstrukturen (sind aufgrund der spastisch erhöhten
4 Ist das Kind stehfähig? Wenn ja, kann es frei und ohne Kokontraktion von Agonisten und Antagonisten regel-
Unterstützung stehen oder muss es sich abstützen? mäßig vorhanden).
Benötigt es ein Hilfsmittel?
4 Wie sind Haltung und Stellung der Extremitäten, Kopf- k 12. Neurologische Untersuchung
kontrolle und Abstützmuster? Sie umfasst die Prüfung von
4 Eigen- und Fremdreflexen,
k 8. Gehfähigkeit 4 phasischen und tonischen Streckreaktionen,
Bei gehfähigen IZP-Kindern ist zu unterscheiden, ob sie sich 4 Fußklonus und
ohne Hilfsmittel frei fortbewegen können oder auf Hilfsmit- 4 Pyramidenzeichen (7 Kap. 3.6).
tel wie Unterarmgehstöcke, Vier-Punkt-Gehstöcke, Rolla-
tor oder vergleichbare Gehhilfen angewiesen sind. Ein Kind,
das von einer Hilfsperson am Rumpf gehalten Schreitbewe-
gungen vollführt, jedoch außerstande ist, sich mit Hilfsmit-
teln fortzubewegen, kann nicht als gehfähig betrachtet wer-
160 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

9.4.4 Dokumentation des spastischen


1 Muskeltonus . Tab. 9.3 Ashworth-Skala

Grad der Muskeltonus


2 Einstufung und Dokumentation des spastischen Muskeltonus
orientieren sich an der modifizierten Ashworth-Skala, wie in
Tonus-
regulation
. Tab. 9.3 aufgezeigt.
3 0 Nomaler Tonus; keine Tonuserhöhung in Ruhe
und bei aktiver/passiver Bewegung
Tipp
4 Ein validiertes Verfahren zur Klassifikation der grob-
1 Leichte Tonuserhöhung; kurzes Gegenspannen
in Beugung und Streckung
motorischen Fähigkeiten von IZP-Kindern ist der Gross
5 Motor Function Measure Test. Nach einem standardi- 1–2 Leichte Tonuserhöhung; kurzes Gegenspannen
und leichter Widerstand bei wiederholter
sierten Schema werden dabei die Funktionen der Kör-
perkontrolle im Liegen, Sitzen, Knien, Krabbeln, Stehen, Bewegung
6 Gehen, Rennen und Springen bewertet und auf die- 2 Särkere Gegenspannung; Bewegungsumfang
se Weise der Grad der motorischen Störung ermittelt. nicht eingeschränkt
7 Der Zeitaufwand liegt bei 45–60 Minuten, weswegen
3 Erheblich gesteigerter Muskeltonus; passives
der Test lizenzierten klinischen und physiotherapeuti-
Bewegen erschwert
schen Einrichtungen vorbehalten bleibt. Für die tägliche
8 manualmedizinische Praxis ist er nicht geeignet. 4 Stark erhöhter Muskeltonus mit rigider Streck-
oder Beugestellung der Extremitäten
9
9.4.5 Therapieziele ge des Kindes und für die Interaktion mit der Bezugsperson.
10 So kann z.B. schon die verbesserte Kooperation des Kindes
Der Untergang von Neuronenverbänden als Primärpatholo- beim Transfer vom Bett in den Rollstuhl eine außerordent-
11 gie der IZP ist ein einmaliges Ereignis und nicht reversibel. liche Erleichterung für die Pflegeperson bedeuten; ebenso
Wenn die Diagnose einer IZP einmal feststeht, darf man die eine Steigerung der Vigilanz, die für die emotionale Bezie-
Eltern nicht darüber im Unklaren lassen, dass eine vollstän- hung des Kindes zu Eltern und Geschwistern von Bedeutung
12 dige Heilung mit den heutigen therapeutischen Mitteln nicht ist.
möglich ist. Die Entwicklung eines IZP-Kindes ist abhängig
13 von Ausmaß und Schwere der zerebralen Läsion, aber auch > Wichtig
von einer individuell abgestimmten entwicklungsneurolo- Die Gesetzmäßigkeiten der normalen motorischen Ent-
gischen Behandlung, bei der neben physiotherapeutischen wicklung (7 Kap. 3.1 und 4.1) gelten auch in der manu-
14 Maßnahmen vor allem manualmedizinische Therapieformen almedizinischen Behandlung neuromotorischer Störun-
eine wichtige Rolle spielen. gen als Richtlinien: An erster Stelle steht die Verbesse-
15 rung der Kopfkontrolle als Voraussetzung für die Stabi-
> Wichtig lisierung des Rumpfes und die Steuerung der Extremitä-
Ziele der konservativen Behandlung sind die Verbesse- ten. Die Verbesserung der Kopfkontrolle fördert zudem
16 rung der Stütz- und Zielmotorik und das Erreichen der die Vigilanz und damit die Verarbeitung von Sinnesein-
nächsthöheren sensomotorischen Stufe, des Weiteren drücken.
17 der Erhalt der erworbenen Fähigkeiten bis zum Wachs-
tumsabschluss. Die Beseitigung segmentaler Dysfunktionen, den sog. Blo-
ckierungen, schafft die Voraussetzung für eine physiolo-
18 Die beschriebenen Schweregrade der Tetra- und Dipa- gische propriozeptive Wahrnehmungsverarbeitung zur Steu-
rese dienen dabei als Orientierung. Das Behandlungs- erung der Körperkontrolle. Damit wird gleichzeitig auch
19 ziel bei hemi- und diparetischen Kindern ist zum Beispiel den krankengymnastischen Methoden der Weg gebahnt, da
– in Abhängigkeit von der Schwere der Störung – das frü- sowohl die Therapie nach Bobath als auch nach Vojta jeweils
hestmögliche Erreichen des selbstständigen Gehens und das auf ihre Weise ein komplexes Angebot propriozeptiver und
20 Vermeiden orthopädischer Komplikationen, die zu Verlust exterozeptiver Reize enthält, deren therapeutische Verwer-
bzw. Verschlechterung des Erreichten führen. Für tetrapare- tung allerdings die ungestörte Aufnahme und Verarbeitung
tische Kinder kann die nächsthöhere sensomotorische Stufe am Sensor voraussetzt. Segmentale Dysfunktionen mit ihrer
beispielsweise die Fähigkeit sein, sich aktiv vom Rücken auf hohen Rezidivneigung bei IZP-Kindern stellen daher grund-
den Bauch zu drehen, sich zum Sitz/zum Stand hochzuzie- sätzlich ein Therapiehindernis für physio- und ergotherapeu-
hen oder frei und ohne Unterstützung zu sitzen, die Hände tische Bemühungen dar.
für einfache Verrichtungen einzusetzen usw. Bei schwersten Zusammenfassend sind in 7 Übersicht 9.9 die Therapie-
tetraparetischen Formen werden nur geringe Fortschritte zu ziele bei der IZP tabellarisch aufgelistet.
erzielen sein; sie haben aber durchaus Bedeutung für die Pfle-
9.5 · Manualmedizinische Behandlung: Impulstechniken
161 9
sein, z.B. bei Verschlechterung der Spastizität im Rahmen
Übersicht 9.9 Therapieziele bei der IZP eines Wachstumsschubes, zur Vorbeugung einer struktu-
5 Verbesserung der Kopfkontrolle einschließlich Verbes- rellen Muskelkontraktur, zur Vermeidung bzw. zum Aufschie-
serung der Vigilanz ben eines operativen Eingriffs und zur Behandlung spastisch
5 Stabilisierung der Rumpfkontrolle bedingter Gelenkfehlstellungen (z.B. Spitzfuß, Beugefehlstel-
5 Funktionsverbesserung der sensorischen Schlüsselre- lung an Ellenbogen- oder Kniegelenk).
gionen Je nach Befund und Ausprägung der Störung wird das
5 Vorbeugen von Gelenkkontrakturen, neurogenen manualmedizinische Therapieprogramm in 1- bis 3-wöchigen
Hüftluxationen und Skoliose Abständen wiederholt. In schweren Fällen kann anfangs eine
5 Anbahnen der Gehfähigkeit (bei Hemi- und Diparese, tägliche Behandlung über 5–10 Tage angezeigt sein.
ggf. bei der »geschickten« Tetraparese)
5 Verbesserung der Pflegefähigkeit und Förderung der k Serielle Blockbehandlung
Eigenständigkeit (schwere Formen der Tetraspastik) Eine sinnvolle Erweiterung dieses Behandlungskonzeptes
5 Förderung der Handmotorik bildet die von Lohse-Busch et al. (1997) und Riedel (2001)
5 Vermeiden bzw. Aufschieben von operativen Eingrif- beschriebene Komplexbehandlung, bei der neben den oben
fen genannten Verfahren zusätzlich
4 Laufbandbehandlung,
4 Bewegungsübungen im warmen Wasser,
4 Ergotherapie,
9.5 Manualmedizinische Behandlung: 4 niedrigenergetische Stoßwellen (Lohse-Busch 2001) und
Impulstechniken ein
4 seitenalternierendes, apparativ gesteuertes Vibrations-
Die pathologische Tonusregulation bei der IZP – ob spa- training
stischer, athetotischer oder hypotoner Art – bewirkt abnor- zur Behandlung funktionsgestörter Muskeln zum Einsatz
male Haltungs- und Bewegungsschablonen, die segmentale kommen. Diese Komplextherapie wird als 2-wöchige seriel-
Dysfunktionen als weitere Quelle veränderter Propriozepti- le Blockbehandlung in einer entsprechend ausgestatteten Ein-
on zur Folge haben. Betroffen sind hiervon vor allem die sen- richtung durchgeführt. Nach Angaben der Autoren besteht in
sorischen Schlüsselregionen der Wirbelsäule. Der patho- dem 2-wöchigen Zeitraum die Chance einer neuroplastischen
logische Muskeltonus geht zudem mit einer Änderung der Verfestigung der verbesserten Bewegungsfähigkeit, die über
physikalischen Eigenschaften der Weichteilstrukturen des einen längeren Zeitraum anhalte.
Bewegungsapparates einher, was sich in Gelenkkontrakturen Martin (2004) berichtete über die Möglichkeiten der
und einer gestörten myofaszialen Viskoelastizität äußert. frühzeitigen postoperativen manualmedizinischen Behand-
lung von IZP-Kindern, mit der eine deutliche Erleichterung
k Manualmedizinische Techniken der postoperativen Mobilisation erreicht wird.
Um eine verbesserte Beweglichkeit und Körperkontrolle des
Patienten zu erreichen, müssen also die peripheren Ursachen
der pathologischen Propriozeption beseitigt und die Voraus- 9.5.1 Atlastherapie
setzungen für eine verbesserte Wahrnehmungsverarbeitung
geschaffen werden. Zum Einsatz kommen die in 7 Über- Die Atlastherapie wird auch bei einem IZP-Kind in aufrecht
sicht 9.10 aufgeführten Techniken. sitzender Haltung durchgeführt: Das Kind sitzt entweder
selbstständig oder mit Fremdunterstützung auf der Untersu-
chungsliege mit herabhängenden Beinen, oder es wird einer
Übersicht 9.10 Impulstechniken Hilfsperson rittlings auf das Knie gesetzt. Es wurde bereits
5 Atlastherapie nach Arlen (7 Kap. 9.5.1) darauf hingewiesen, dass diese Position eine zielgenaue Pal-
5 Segmentale chirotherapeutische Manipulationen an pation des Atlas und vor allen Dingen Impulse von anteri-
den or ermöglicht (. Abb. 9.16). Die therapeutische Impulsrich-
5 sensorischen Schlüsselregionen und tung wird aus dem a.-p.-Röntgenbild des zervikookzipitalen
5 dysfunkionellen Segmenten der Wirbelsäule und Übergangs aus der Stellung des Atlas gegenüber den Okziput-
Extremitäten (7 Kap. 9.5.2–9.5.5) kondylen in der üblichen Weise ermittelt. Vor Ausführen des
5 Manuelle Weichteiltechniken (7 Kap. 9.6) atlastherapeutischen Impulses erfolgt eine orientierende Seg-
mentdiagnostik:
4 Prüfen der Kiblerfalten,
k Begleitende Therapien 4 manuelle Untersuchung der
Das manualmedizinische Programm (Coenen 1998b) wird 5 auffälligen Segmente und
ergänzt durch sensomotorische Krankengymnastik nach 5 sensorischen Schlüsselregionen.
Bobath, Vojta, Kabat oder durch konduktive Förderung nach
Petö sowie durch eine individuelle Hilfsmittelversorgung.
Hilfreich kann der zusätzliche Einsatz von Botulinumtoxin A
162 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

Tipp
1
Die Palpation des Atlasquerfortsatzes sowie die Prüfung
der Irritations- und okzipitalen Signalpunkte muss vor-
2 sichtig erfolgen, um eine Abwehrhaltung und damit
eine unerwünschte muskuläre Tonuserhöhung zu ver-
3 meiden.

4
9.5.2 Manipulationstechniken an der HWS
5
Bei der manuellen segmentalen Diagnostik ist die sog. Irrita-
tionspunktdiagnostik den anderen Verfahren überlegen, weil
6 sie weitgehend unabhängig von der Kooperation des Kindes
durchgeführt werden kann. Vor allem bei tetraparetischen
7 Kindern mit der pathologischen muskulären Tonusgestaltung
und eingeschränkten Kooperationsfähigkeit lässt sich die
klassische segmentale Bewegungsprüfung nicht zuverlässig
8 durchführen. Aus dem gleichen Grund sind die chirothera-
peutischen Griffansätze dem Krankheitsbild anzupassen und
9 kindgerecht zu modifizieren. Die bei IZP-Kindern weit ver-
breitete Abneigung gegen die Bauchlage erfordert Behand-
lungstechniken, die aus Rücken- oder Seitlage oder auch im
10 Sitzen durchgeführt werden. . Abb. 9.16 12-jähriger Junge mit spastischer Tetraparese. Hand-
Zur Behandlung des zervikookzipitalen Übergangs (C0/ position bei der Atlastherapie am sitzenden Kind
11 C1) am liegenden Kind kann die Recoil-Technik eingesetzt
werden, wie sie in 7 Kapitel 7.2 beim Säugling beschrieben ist.
12 Recoil-Technik C0/C1 (. Abb. 9.17)
j Diagnostik
13 4 Palpatorische Untersuchung des zervikookzipitalen
Übergangs auf nozireaktive Veränderungen,
4 eingeschrängte Nutationsbewegung im Atlantookzipi-
14 talgelenk,
4 positiver C0-Signalpunkt am oberen Ende der Incisura
15 mastoidea (. Abb. 8.3 a),
4 Induration an den okzipitalen Ansätzen der autochtho-
nen Muskeln.
16
j Technik
17 Der Therapeut modelliert das Zeigefingergrundglied der a
einen Hand zwischen Okziputunterrand und Dornfortsatz C2
mit gutem Tiefenkontakt an. Die andere Hand übt von der
18 Stirn her einen beherzt zunehmenden senkrechten Druck
in Richtung seiner unter dem Okziput liegenden Hand aus
19 (. Abb. 9.17 a) und lässt nach 2–3 sec die obere Hand von der
Stirn wegschnellen (. Abb. 9.17 b). Diese Rückschnelltechnik
ist risikolos und wird vom Kind gut toleriert.
20
Vertikalimpuls über C0/C1 (. Abb. 9.18)
j Diagnostik
Wie bei der Recoil-Technik C0/C1.

j Technik
Der Vertikalimpuls über das obere Kopfgelenk C0/C1 erfolgt b
über den Okziputunterrand in Höhe der Mastoidanlage mit
der radialen Kante der Zeigefingergrundphalanx. Über den . Abb. 9.17 a, b Recoil-Technik C0/C1
9.5 · Manualmedizinische Behandlung: Impulstechniken
163 9

. Abb. 9.18 Vertikalimpuls über C0/C1 . Abb. 9.19 Rotationsmanipulation der HWS am sitzenden Kind

Ellenbogenhang wird eine sachte Traktion des Kopfes durch- renden Hand modelliert sich fest in den hinteren Rotations-
geführt, der therapeutische Vertikalimpuls erfolgt über die quadranten des blockierten Segments ein, nimmt Tiefenkon-
radiale Seite der Zeigefingergrundphalanx durch eine ultra- takt und eine rotatorische Vorspannung in die freie Richtung
kurze, supinatorische Bewegung der Hand. Die Hand bewegt auf, die langsam und sachte zu erfolgen hat. Der Kopf ist zur
sich dabei nicht nach kranial. Der Ellenbogenhang muss sanft rotationsempfindlichen Seite leicht flektiert und zur Gegen-
und »liebkosend« angelegt werden. Ein zu rasches Vorgehen seite leicht rotiert. Es erfolgt ein Probezug in typischer Weise,
führt zu einer Abwehrhaltung mit schlagartiger Tonussteige- bei dem auf Abwehrreaktionen oder muskuläre Spannungs-
rung der Muskulatur. Dem Kind muss Zeit gegeben werden, erhöhung vonseiten des Patienten geachtet wird. Bleiben die-
sich in den haltenden Arm des Therapeuten einzuschmiegen. se Reaktionen aus, wird aus gutem Tiefenkontakt und sachter
Es wird ein Probezug durchgeführt und die Reaktion des Kin- Vorspannung der kurze und trockene manipulative Impuls
des beobachtet. ausgeführt. Um die rotatorische Vorspannung zu halten, wird
mit »Blickfang« gearbeitet: Eine Hilfsperson lenkt den Blick
Tipp des Patienten durch Ansprache oder einen optischen Reiz in
die Richtung der rotatorischen Vorspannung.
Das gleiche Vorgehen gilt für die Manipulation der HWS
im Sitzen, wenn die Manipulation am liegenden Kind
Schwierigkeiten bereitet. 9.5.3 Manipulationstechniken an der BWS

Die Abneigung des tetraspastischen Kindes gegen die Bauch-


Rotationsmanipulation der HWS am sitzenden lage macht es erforderlich, Manipulationen an der BWS aus
Kind (. Abb. 9.19) der Rückenlage durchzuführen. Hier hat sich der Pistolen-
j Diagnostik griff bewährt, bei dem über die Mittelfingermittelphalanx ein
4 Prüfen des segmentalen Bewegungsspiels, soweit vom Schub am therapeutischen Querfortsatz ausgeübt wird.
Kind zugelassen,
4 Palpation des segmentalen Irritationspunktes, BWS-Manipulation (»Pistolengriff«)
4 Bestimmen der freien und der blockierten Richtung. (. Abb. 9.20)
j Diagnostik
j Technik 4 Prüfen der Kiblerfalten am sitzenden Kind zur orientie-
Rotationsmanipulation aus dem hinteren Rotationsqua- renden Segmentdiagnostik.
dranten mit Ellenbogenhang. Der Therapeut steht hinter 4 Bei einem größeren Kind ab ca. 6 Jahren werden die
dem Patienten, der Ellenbogenhang wird wie beim Vertika- Arme, soweit möglich, in Pharaonenhaltung vor der
limpuls angelegt, der Patient lehnt sich am Therapeuten an. Brust gekreuzt. Der Therapeut steht hinter dem auf der
Die Radialkante des Zeigefingergrundglieds der manipulie- Untersuchungsliege sitzenden Kind. Mit einem Arm
164 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

BWS-Manipulation mit Hilfsperson und


1 »Rettungsgriff« (. Abb. 9.21)
Bei kleinen Kindern unter 3 Jahren lässt sich der Pistolengriff
2 wegen der Größenverhältnisse oft nicht anwenden. In die-
sen Fällen lehnt eine Hilfsperson das am Rumpf gefasste Kind
an ihre Schultern; der Therapeut sitzt hinter dem Kind und
3 umfasst dessen Thorax mit beiden Händen, so dass die Dau-
men paravertebral liegen. Ein Daumen nimmt am therapeu-
4 tischen Querfortsatz Tiefenkontakt auf, der andere Daumen
wird als Gegenhalt auf den Querfortsatz des nächstunteren
Segments positioniert. In der Ausatmungsphase des Kindes
5 erfolgt aus gehaltenem Tiefenkontakt ein ultrakurzer Impuls
auf den therapeutischen Querfortsatz in ventraler Richtung,
6 wobei der manipulierende Daumen leicht nach lateral glei-
. Abb. 9.20 Manipulation der BWS mit Pistolengriff
tet, bei gleichzeitigem Gegenhalt durch den anderen Daumen
(. Abb. 9.21 a). Erfordern es die Größenverhältnisse, so legt
7 der Therapeut das Kind mit dem Gesicht zu sich an die eige-
umfasst er von vorne dessen Schultern und sucht mit
dem Mittelfinger der anderen Hand Segment für Seg-
8 ment die paravertebrale (autochthone) Muskulatur nach
Nozireaktionen (Irritationspunkten) ab.
9 4 Zur Bestimmung der freien Richtung und des therapeu-
tischen Querfortsatzes bewegt der Therapeut mit dem
die Schulter umfassenden Arm den Oberkörper des Kin-
10 des in Flexion, Extension, Lateralflexion und Rotation
unter gleichbleibender Palpation des Irritationspunktes.
11 4 Ist das Manöver bei starker Spastizität nicht exakt durch-
führbar, erfolgt die Ermittlung des zu therapeutischen
Querfortsatzes durch die manuell geführte Rotation des
12 blockierten Wirbels über den zugehörigen Dornfortsatz
in Richtung Nozireaktion und durch ventral gerichteten a
13 Druck auf den Querfortsatz der Gegenseite. Das Kind
wird dabei von einer Hilfsperson gehalten.
4 Kleinkinder sitzen rittlings auf einem Bein der Hilfs-
14 person. Die Bestimmung des therapeutischen Quer-
fortsatzes erfolgt – wie oben beschrieben – durch Rota-
15 tion des blockierten Wirbels über den Dornfortsatz in
Richtung des Irritationspunktes und einen nach ventral
gerichteten Druck auf den gegenseitigen Querfortsatz.
16
j Technik
17 Das Kind liegt auf dem Rücken, die Arme werden in Phara-
onenhaltung vor der Brust überkreuzt. Der Therapeut steht
auf der Gegenseite der Blockierung, seitlich, mit dem Gesicht
18 zum Kopfende der Behandlungsliege. Er formt die tischna-
he Hand zu einer »Pistole«, indem der Daumen abgespreizt,
19 Zeigefinger gestreckt und Mittel-, Ring- und Kleinfinger
gebeugt werden (zum eigenen Schutz kann eine Mullbinde
umfasst werden). Mit der tischfernen Hand umfasst der The-
20 rapeut den Kopf des Patienten und führt eine Beugung von
Kopf, HWS und oberer BWS durch, während die Mittelfin-
germittelphalanx der Pistolenhand auf den therapeutischen
Querfortsatz gelegt wird und Tiefenkontakt aufnimmt. In
der Ausatmungsphase des Kindes übt der Therapeut mit sei-
nem Thorax einen kurzen Druck auf die überkreuzten Arme b
des Kindes in Richtung der manipulierenden Hand aus, bei
gehaltener Flexion des kindlichen Kopfes. Der Impuls muss . Abb. 9.21 a, b Manipulation der BWS. a Kind von Hilfsperson ge-
aus Tiefenkontakt heraus kommen und ultrakurz sein. halten, b Rettungsgriff
9.5 · Manualmedizinische Behandlung: Impulstechniken
165 9
ne Schulter (Rettungsgriff ) und führt die Manipulation mit von ventral und führt es sachte nach dorsal bis zum Wider-
den Mittelfingerkuppen oder ggf. mit dem Hypothenar durch stand. Gleichzeitig wird der Rumpf mit der kopfnahen Hand
(. Abb. 9.21 b). samt Unterarm sachte in die Gegenrichtung geführt. Diese
Position wird ca. 90 sec gehalten.

9.5.4 Behandlung des dorsolumbalen > Wichtig


Übergangs Die Mobilisation wird grundsätzlich beidseits durchge-
führt!
Das selbstständige Drehen vom Rücken auf den Bauch und
umgekehrt setzt eine ungestörte Beweglichkeit im dorsolum- Segmentale Manipulation im dorsolumbalen
balen Übergang voraus. Bei der Tetraspastik ist diese Beweg- Übergang (. Abb. 9.23)
lichkeit in der Regel erheblich eingeschränkt oder aufgehoben. j Diagnostik
Die Pflege vor allem größerer Kinder wird dadurch erheblich 4 Prüfen der Rotationsbeweglichkeit des Rumpfes gegen-
erschwert. Eine Verbesserung der dorsolumbalen Beweglich- über dem Becken am sitzenden Kind oder in Seitenlage
keit wird durch mobilisierende Positionierung (. Abb. 9.22) (wie oben beschrieben),
und segmentale Manipulation erreicht (. Abb. 9.23). 4 Prüfen der Kiblerfalten,
4 Segmentdiagnostik wie beschrieben, Bestimmen des the-
Mobilisierende Positionierung des rapeutischen Querfortsatzes.
dorsolumbalen Übergangs (. Abb. 9.22)
j Diagnostik j Technik
4 Prüfen der dorsolumbalen Beweglichkeit aus Seitenla- Das Kind liegt in Seitenlage, die blockierte Seite liegt oben.
ge durch gegenläufige Bewegung des Beckens gegenüber Der Therapeut schiebt wie bei der mobilisierenden Positio-
dem Rumpf, nierung das Becken des Kindes sachte nach dorsal, bis die
4 Prüfen der Kiblerfalten. Bewegung am Dornfortsatz des kaudalen Partners des zu
mobilisierenden Segments ankommt. Der Unterarm der
j Technik manipulierenden Hand liegt auf der Dorsalseite des Thorax
Das Kind liegt in Seitenlage, das Gesicht zum Therapeuten als Gegenhalt. Aus guter Vorspannung erfolgt über den thera-
gewandt. Der Therapeut umfasst mit der fußnahen Hand das peutischen Querfortsatz oder den dazugehörigen Dornfort-
Becken des Kindes in Höhe der Spina ilica anterior superior satz mittels Hakelzug der manipulierende Impuls.

Tipp

Diese gegenläufige Technik lässt sich bei Spastikern


leichter durchführen als die klassische Rotationstechnik.

. Abb. 9.22 Mobilisierende Positionierung des dorsolumbalen . Abb. 9.23 Segmentale Manipulation im dorsolumbalen Über-
Übergangs gang
166 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

9.5.5 Manipulation der Iliosakralgelenke


1
Bei IZP-Kindern mit ausreichender Beweglichkeit im dorso-
2 lumbalen Übergang können am Iliosakralgelenk die manipu-
lativen Techniken aus der Seitenlage ad modum MWE durch-
geführt werden. Als Beispiel wird der ventralisierende Schub
3 am Os sacrum in Höhe S3 beschrieben (. Abb. 9.24). Wei-
tere Einzelheiten zu den ISG-Techniken sind der einschlä-
4 gigen Literatur zu entnehmen (Bischoff 1994, Bischoff und
Moll 2007).

5 Ventralisierender Schub am Os sacrum in Höhe


S3 (. Abb. 9.24)
j Diagnostik . Abb. 9.24 Ventralisierender Schub am Os sacrum in Höhe S3
6 4 Federungstest über dem ISG,
4 Prüfen der Abduktion, Innenrotation und Beugeadduk-
7 tion in den Hüftgelenken,
4 Vorlaufphänomen im Sitzen (soweit prüfbar),
4 Nachweis eines Irritationspunktes S1 bei ventralisie-
8 rungsempfindlichem S1.

9 j Technik
Das Kind liegt auf der Seite, das ventralisierungsempfind-
liche S1 liegt oben, Kopfteil der Behandlungsliege hochge-
10 stellt. Das oben liegende Bein des Kindes wird in Hüft- und
Kniegelenk gebeugt und ohne Rotationsvorspannung an den
11 Oberschenkeln des Therapeuten angelegt und dort fixiert. Die
fußnahe Hand des Therapeuten modelliert sich mit dem The-
nar in Höhe S3 der oben liegenden Sakrumseite an, die kopf-
12 nahe Hand fixiert den Oberkörper des Kindes an der Schul- . Abb. 9.25 Recoil-Technik am ISG aus Rückenlage

ter. Aus gutem Tiefenkontakt übt die auf S3 liegende Hand


13 einen exakt von dorsal kommenden ventralisierenden Impuls
auf S3 aus. Recoil-Technik am ISG aus Rückenlage
(. Abb. 9.25)
14 Ventralisierender Schub am Os ilium mit j Diagnostik
»Erlösergriff« 4 Federungstest über dem ISG,
15 In gleicher Weise wie beim ventralisierenden Schub über S3 4 Prüfen der Abduktion, Innenrotation und Beugeadduk-
wird der ventralisierende Schub am Os ilium, der sog. Erlö- tion in den Hüftgelenken,
sergriff durchgeführt, allerdings mit dem Unterschied, dass 4 Nachweis eines Irritationspunktes S1 oder S3,
16 beim Erlösergriff aus einer Rotationsvorspannung gearbeitet 4 Vorlaufphänomen im Sitzen (soweit prüfbar).
wird (ohne Abb.).
17 j Technik
Tipp Der Therapeut steht auf der Gegenseite des dysfunktionalen
ISG. Die fußnahe Hand umfasst das Becken blockierungssei-
18 Tetraspastische Kinder, bei denen eine ISG-Manipulati- tig von dorsal bis zur Mittellinie, so dass das ISG über der
on in Bauch- oder Seitenlage aufgrund der Schwere der Hand liegt. Mit der kopfnahen Hand übt der Therapeut über
19 Tonusstörung nicht exakt durchführbar ist, können in
Rückenlage mit der Rückschlagtechnik (Recoil) behan-
die Spina iliaca anterior superior über 3 sec einen zuneh-
menden sagittal gerichteten Druck aus und lässt dann die
delt werden. Hand zurückschnellen. Aus der gleichen Handposition kann
20 durch Federung des Iliums der Therapieeffekt überprüft wer-
den. Das Manöver kann ggf. bei unzureichendem Therapieef-
fekt wiederholt werden.
9.6 · Manuelle Weichteiltechniken
167 9
9.6 Manuelle Weichteiltechniken Myofasziales Lösen der Membrana interossea
j Indikationen
Die Weichteiltechniken, die sich bei der Behandlung infan- 4 Fehlstellungen, Kontrakturen oder Funktionsstörungen
tiler Zerebralparesen bewährt haben, sind in 7 Übersicht 9.11 von Hand- oder Ellenbogengelenk bei IZP,
zusammengefasst. 4 Fußfehlstellungen (Pes plano-valgus-abductus, Pes equi-
no-varus-adductus, Tibiarotationsfehler etc.) bei IZP
oder vergleichbaren neuromuskulären Störungen,
Übersicht 9.11 Manuelle Weichteiltechniken 4 posttraumatische Sprunggelenk-, Fuß- oder Knie-
5 Propriozeptiv-exterozeptive Stimulation (Pritschen) beschwerden,
5 Myofasziales Lösen 4 Funktionsstörungen des oberen/unteren Sprunggelenks
5 Wechselrhythmische Druckmassage an oder des proximimalen/distalen Tibiofibulargelenks,
5 der Plantar- und Palmaraponeurose 4 Streck- oder Beugehemmung im Kniegelenk nach Dis-
5 den Faszienlogen der oberen/unteren Extremitäten torsion usw.
5 Reziproke Detonisierung der Extremitätenmuskeln
k 1. Myofasziales Lösen der Membrana interossea ante-
brachii (. Abb. 9.26)
j Technik
9.6.1 Pritschen Prüfen von Strammung und Lockerung zwischen Radius und
Ulna in longitudinaler Richtung, wobei die Hände des The-
Die bewusste Verarbeitung von Wahrnehmungsinformati- rapeuten proximal am Olekranon und distal am Radiussty-
onen setzt Vigilanz voraus. Dies gilt für optische und aku- loid ansetzen. Nach Bestimmen der therapeutischen Rich-
stische Sinneswahrnehmungen ebenso wie für taktile (extero- tung erfolgt ein sachtes Heranführen des Gewebes bis an die
zeptive) und propriozeptive Reize. Die unspezifische propri- Barriere, dann ein schrittweises Lösen der Membrana inte-
ozeptiv-exterozeptive Stimulation mittels Pritschen wurde in rossea durch gegenläufiges longitudinales Halten an Radius
7 Kapitel 7.5 ausführlich beschrieben. Die Technik ist leicht und Ulna.
erlernbar und kann gefahrlos auch von Eltern und Betreuern
durchgeführt werden. Bei IZP-Kindern ist sie ebenso beliebt k 2. Myofasziales Lösen der Membrana interossea cruris
wie bei Säuglingen, korrekte Durchführung und genaue Beo- (. Abb. 9.27)
bachtung der Reaktion des Kindes vorausgesetzt. j Technik
Die manualmedizinische Behandlung eines IZP-Kindes Prinzip wie bei der Membrana interossea antebrachii. Je nach
sollte mit dem Pritschen eingeleitet werden. Dadurch kann Untersuchungsbefund legt der Therapeut seine Hände entwe-
bei richtiger Anwendung die Spannung des Kindes gemin- der proximal am medialen Tibiakopf und distal am Außen-
dert und die Wirkung der spezifischen Techniken gebahnt knöchel an (. Abb. 9.27 a) oder proximal am Caput fibulae
werden. und distal am Innenknöchel (. Abb. 9.27 b). Auch hier erfolgt
das Lösen der Membrana interossea schrittweise von Barrie-
re zu Barriere durch gegenläufiges Halten an Tibia und Fibu-
9.6.2 Myofasziales Lösen la, bis das Gewebe »wegschmilzt«.

Die tonische Dauerkontraktion der Muskulatur bei spa-


stischer IZP und eintönige, variantenarme Bewegungen ver-
ändern die physikalischen Eigenschaften der Weichteilstruk-
turen und beeinträchtigen die physiologische myofasziale Vis-
koelastizität. Am Rumpf sind vor allem die thorakolumbale
und die subskapuläre Faszie betroffen, ferner das Diaphrag-
ma abdominale, die retrosternale Faszie und die transversa-
le Bauchfaszie, auch viszerale Strukturen mit enstprechenden
vegetativen Begleiterscheinungen. Bei diesen haben sich vor
allem das Myofascial Release nach Ward oder vergleichbare
osteopathische Techniken bewährt. Beispiele für myofasziale
Lösetechniken wurden bereits in den 7 Kapiteln 7.3 und 7.4
eingehend erörtert; sie lassen sich in gleicher Weise auch bei
IZP-Patienten anwenden. Ergänzend dazu werden einige wei-
tere Techniken beschrieben, die sich bei der Behandlung von
IZP-Patienten als wirksam erwiesen haben.

. Abb. 9.26 Myofasziales Lösen der Membrana interossea antebra-


chii (Medizinwelten)
168 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

Myofasziales Lösen von Beckenring und


1 Lig. inguinale (. Abb. 9.28)
j Indikationen
2 4 Beckenverwringung (bei IZP, TAS, Skoliose, nach Trau-
ma),
4 iliosakrale und/oder symphyseale Dysfunktion,
3 4 lumbosakrale Schmerzen,
4 pseudoradikuläre Symptomatik.
4 j Technik
Der Patient liegt in Rückenlage. Der Therapeut legt seine
5 a
Hände auf die Ventralseite der Ossa iliaca, so dass der vorde-
re obere Darmbeinstachel etwa an der Medialseite des The-
6 nars anliegt. Prüfen von Strammung und Lockerung in Ver-
laufsrichtung des Lig. inguinale und mit gegenläufiger (wrin-
gender) Bewegung in sagittaler Richtung (. Abb. 9.28). Die
7 Behandlung erfolgt bei diesem Griff grundsätzlich in die freie
Richtung, also weg von der Barriere. Andernfalls kann es zu
Beschwerden kommen, z.B. Dysästhesien und Schmerzpro-
8 jektion in die untere Extremität.

9 Myofasziales Lösen des Lig. sacrotuberale


(unilateral) (. Abb. 9.29)
j Indikationen
10 4 Beckentorsion,
4 Hüft-(sub)luxation bei IZP,
11 4 »Windschlagdeformität« der Hüftgelenke,
4 neurogene Skoliose mit Beckenverwringung,
4 therapieresistentes ISG-Syndrom,
12 4 Kokzygodynie.

13 j Technik
Aufsuchen des Lig. sacrotuberale, Prüfen von Strammung
und Lockerung im Seitenvergleich. Der Therapeut legt beide
14 b Daumen auf das Lig. sacrotuberale der Strammungsseite und
hält aus Tiefenkontakt eine divergierende Spannung, bis sich
15 . Abb. 9.27 a, b Myofasziales Lösen der Membrana interossea cru-
ris (Medizinwelten)
die Strammung löst.

Tipp
16
Der Griff ist zu Beginn meist schmerzhaft. Die Stram-
17 mung des Bandes löst sich gewöhnlich nach 30–60 sec,
gleichzeitig geht der Schmerz zurück.

18
19 9.6.3 Mobilisierende Weichteiltechniken

Neben dem myofaszialen Lösen haben sich mobilisierende


20 Weichteiltechniken bewährt, z.B. die Mobilisation der Skapu-
la zur Verbesserung der Schulterbeweglichkeit bei erhöhtem
Strecktonus (. Abb. 9.30) oder die repetitive Mobilisation von
proximalem Tibiofibulargelenk, Chopartgelenk usw.

. Abb. 9.28 Myofasziales Lösen des Beckenringes


9.6 · Manuelle Weichteiltechniken
169 9

. Abb. 9.29 MFL des Lig. sacrotuberale . Abb. 9.31 Wechselrhythmische Druckmassage plantar

. Abb. 9.32 Aszendierende WDM über dem Septum intermuscula-


re zwischen M. tibialis anterior und Peroneusgruppe. In gleicher Wei-
. Abb. 9.30 Manuelle Mobilisation der Skapula se wird entlang den Faszienlogen zwischen Extensoren, Flexoren und
Pronatoren verfahren

Wechselrhythmische Druckmassage (WDM) und palmaren Propriozeptoren wird zusätzlich eine Steige-
(. Abb. 9.31–9.35) rung der Vigilanz erreicht.
An den Extremitäten entwickelt der Faszien-Muskel-Ver-
bund als Folge des pathologischen Muskeltonus und feh- j Technik
lender physiologischer Bewegungsmuster eine leder- Das Kind liegt in Rückenlage, das Bein außenrotiert. Mit den
ne Konsistenz; es kommt zur Verfilzung der Muskellogen, Daumenkuppen wird ein schrittweiser, wechselseitiger Druck
Intermuskularsepten und der Plantarfaszie, oft auch der auf die Fußsohlenweichteile ausgeübt, auf die mediale, medi-
Palmaraponeurose. Diese Veränderungen der viskoelas- ane und laterale Fläche, beginnend an den Zehen in Richtung
tischen Gewebeeigenschaften sind Wegbereiter der gefürch- der Ferse (. Abb. 9.31).
teten Gelenkkontrakturen, denen mit wechselrhythmischer Die Behandlung der intermuskulären Septen und der
Druckmassage und reziproker Detonisierung begegnet Gliederfaszie des Unterschenkels wird ebenfalls aus der
werden kann. Rückenlage durchgeführt (. Abb. 9.32), die Behandlung der
Die wechselrhythmische Druckmassage ist eine einfache medialen Partien des Unterschenkels erfolgt in Außendre-
Technik und besteht in einem aszendierenden, schrittwei- hung des Beins und leichter Beugung in Hüft- und Kniege-
sen Wechseldruck auf das Fasziengewebe der Fußsohle und lenk.
die Fazienlogen der Extremitäten. Das Prinzip wird anhand Gleiches Vorgehen auf der Dorsalseite des Oberschen-
einiger Beispiele dargestellt (. Abb. 9.31–9.33). Bewirkt wird kels (sofern entsprechende Lagerung möglich) zwischen
mit dieser Technik eine Lockerung und Entfilzung der fibro- medialer und lateraler Portion der Ischiokruralmuskulatur
muskulären Strukturen; durch die Stimulation der plantaren sowie zwischen M. biceps femoris und M. vastus lateralis. Die
170 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

Reziproke Detonisierung bei spastischem


1 Muskeltonus (. Abb. 9.36)

2 Exkurs:
Herkömmliche Dehntechniken sind
bei einer IZP nicht geeignet
3 Die in der Sport- und Rehabilitationsmedizin übliche Behand-
lung verkürzter Muskeln besteht im passiven Aufdehnen des
Muskels, vielfach nach vorausgegangener isometrischer Mus-
4 kelkontraktion im Sinne der postisometrischen Relaxation
(PIR). Dieses Prinzip ist bei zerebraler Spastik allerdings nicht
5 anwendbar, da der Spastiker eine isoliert gesteuerte isometri-
sche Muskelkontraktion ohne begleitende Bewegungsassozia-
tion nicht zustande bringt. Deswegen beschränkt man sich bei
. Abb. 9.33 WDM an der Medialseite des Oberschenkels zwischen
6 Vastus medialis und Adduktoren (Membrana vastoadductoria)
der krankengymnastischen Behandlung von IZP-Kindern ge-
wöhnlich auf das einfache passive Aufdehnen des spastisch
verkürzten Muskels.
7 Bei kritischer Prüfung lässt sich allerdings nicht überse-
hen, dass die mit dieser herkömmlichen Technik erzielten Er-
gebnisse nicht überzeugend, vor allem nicht anhaltend sind.
8 Ein Grund mag darin zu suchen sein, dass Behandlungsfor-
men, die bei neurologisch gesunden Patienten eingesetzt wer-
9 den, nicht ohne Weiteres auf spastische Zerebralparesen über-
tragen werden können. Selbstverständlich wird auch ein spas-
tischer Muskel bei sanfter, langsam durchgeführter Dehnung
10 bis zu einem gewissen Grad nachgeben und ein Spitzfuß oder
eine Flexionsfehlstellung an Knie bzw. Ellenbogen zum Teil
ausgeglichen werden können. Die Viskoelastizität des Muskel-
11 Faszien-Verbundes profitiert davon allerdings nicht, auch nicht
bei regelmäßiger Wiederholung der Behandlung.

12
Unter physiologischen Umständen ist die Dehnung der adä-
13 quate sensorische Reiz für den anulospiralen Rezeptor der
Muskelspindel. Dieser Dehnreiz führt stets zu einer Kontrak-
tion des Muskels und ist ein entscheidender Automatismus
14 zur Schwerkraftbewältigung. Die reafferente zielmotorische
. Abb. 9.34 Behandlung der Palmaraponeurose
und reflektorische Steuerung der Muskelkontraktion erfolgt
15 auf spinaler und supraspinaler Ebene über den Servomecha-
nismus der α-γ-Koppelung. In allen Sehnen sind Golgi-Seh-
WDM zwischen M. rectus femoris und M. vastus intermedi- nenorgane als Kraftmesser angesiedelt, die über die Verarbei-
16 us kann schmerzhaft sein und muss daher entsprechend sach- tung der Muskelspannung hemmend auf die Agonisten und
te erfolgen (. Abb. 9.33). erregend auf die Antagonisten wirken (Illert 1995, Rüdel 1995)
17 und somit an der Steuerung der Schwerkraftbewältigung
j Alternativtechnik beteiligt sind.
Lässt sich die WDM wegen eines starren Faustschlusses mit Bei der zerebralen Spastik allerdings besteht über die
18 dorsalextendiertem Handgelenk nicht durchführen, kann gesteigerte spinale Reflexaktivität eine Depolarisierung
folgende Technik eingesetzt werden: des Ruhepotenzials der Motoneurone mit einer massiven
19 Der Therapeut führt das Handgelenk des Kindes in die Verstärkung des Muskeldehnreflexes (Illert 1995). Wird nun
Volarflexion, wodurch sich die Faust öffnet. Er fasst die Lang- ein spastischer Muskels noch passiv gedehnt (z.B. durch
finger und biegt sie sachte dorsalwärts. Mit dem Daumen Streckung eines gebeugten Gelenks), kommt es durch die
20 der anderen Hand erfolgt ein volares Ausstreichen aller fünf damit verbundene weitere Dehnung der Spindelrezeptoren
Handstrahlen, beginnend an der Handwurzel und endend an zu einer zusätzlichen Spannungserhöhung des Muskels. Die
der Finger- bzw. Daumenkuppe, die dabei soweit wie möglich, Hemmung aus den Sehnenorganen verhindert zwar ein
aber ohne Gewalt, dorsalextendiert wird (. Abb. 9.34, 9.35 a). Überschießen der Kontraktion und damit die Gefahr einer
Anschließend werden die kurzen Handmuskeln zwischen Gewebeläsion, reicht aber nicht zur Detonisierung des Mus-
Daumen und Zeigefinger des Therapeuten durch sacht rei- kels aus. Bei sehr langsam ausgeführter Bewegung lässt sich
bende Bewegungen stimuliert (. Abb. 9.35 b, c). ein spastisch gebeugtes Gelenk zwar mitunter strecken, aber
meist nur bis zu dem Punkt, an dem der tonische Wider-
stand bei weiterer Streckung zunimmt. Eine Minderung der
9.6 · Manuelle Weichteiltechniken
171 9
Muskelspannung und anhaltende Verbesserung der pas- Ruhepotenzial von 7,5 mV zeigten eine Aktivitätsminde-
siven Gelenkbeweglichkeit lässt sich auf diese Weise nicht rung durch reziproke Detonisierung auf Werte zwischen 2,0–
erreichen. 2,5 mV (Coenen 2002).
Die Situation ändert sich, wenn selektiv die Sehne
gespannt, der Muskel jedoch manuell entspannt wird und k Behandlungstechnik (. Abb. 9.36)
keine passive Änderung der Gelenkstellung erfolgt. Es hat Die Sehne des zu behandelnden Muskels wird an ihren beiden
sich gezeigt, dass sich bei dieser Technik das Gelenk aktiv aus Enden palpiert, d.h. an der Insertionsstelle und am Übergang
seiner Fehlstellung bewegt, offenbar über die Aktivierung des in die Muskelstruktur. Das Insertionsende z.B. der Achilles-
Antagonisten bei gleichzeitiger Entspannung des Agonisten. oder Semimembranosussehne wird sanft zwischen Mittel-
Mit dieser reziproken neuromuskulären Steuerung wird die und Ringfingerkuppen gehalten, das Ende am muskulären
Spannung des Muskels gemindert, er wird detonisiert. Elek- Übergang ebenfalls sanft auf die volaren Mittel- und Ringfin-
tromyographische Ableitungen von Summenpotenzialen aus gerflächen der anderen Hand »aufgeladen« (. Abb. 9.36 a, b).
dem M. gastrocnemius bei spastischer Diparese mit einem Je nach Lokalisation können auch beide Daumenkuppen ange-
legt werden (. Abb. 9.36 c). Das Gelenk steht in entspannter
Stellung, ohne passive Vordehnung der ansetzenden Musku-
. Abb. 9.35 a-c latur! Nun erfolgt ein äußerst sachter Zug über die Mittel-
a Dehnung der Palma-
raponeurose. b, c Sti-
mulation der kurzen
Handmuskeln

b
b

c . Abb. 9.36 a-c Reziproke Detonisierung. Griffanlage a M. gastroc-


nemius, b M. semimembranosus, c M. biceps brachii und M. brachialis
172 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

und Ringfinger beider Hände im Sinne eines Anspannens der > Wichtig
1 Sehne. Dabei schiebt die proximale Hand den Muskel ganz Eine regelmäßige, möglichst täglich durchgeführte re-
leicht zusammen, »entspannt« also die Muskelspindeln, wäh- ziproke Detonisierung kann bereits nach relativ kurzer
2 rend die Sehne ganz zart gespannt wird. Nach etwa 20–30 sec
lässt die muskuläre Spannung nach, das Gelenk bewegt sich
Zeit zu einer deutlichen Verbesserung der passiven Ge-
lenkbeweglichkeit führen, verbunden mit einer verbes-
ohne passiven Nachdruck in die Korrekturrichtung. serten Viskoelastizität des Muskel-Faszien-Verbundes.
3 Die Deutung dieses reproduzierbaren Effektes ist hypo- 5 Weiche Kontrakturen lassen sich effektiver behan-
thetisch. Die Golgi-Sehnenorgane haben eine hohe Emp- deln als mit der herkömmlichen Dehntechnik oder
4 findlichkeit: Ein Sehnenrezeptor kann durch die Kontraktion
einer einzelnen motorischen Einheit aktiviert werden (Illert
auch mit dem myofaszialen Lösen.
5 Sog. harte, fixierte Kontrakturen, die eine Operati-
1995). Die pathologische Tonuserhöhung des spastischen onsindikation darstellen, sind mit dieser Methode
5 Muskels ist daher immer auch mit einer Aktivierung von nicht zu beeinflussen.
Golgi-Sehnenorganen verbunden, deren Reizschwelle analog
zum spastischen Tonus erniedrigt ist. Vermutlich sind aber k Elternanleitung
6 auch weitere Mechanosensoren an der Entstehung des Thera- Die Eltern von Kindern mit spastischer IZP können zu die-
pieeffektes beteiligt (7 Kap. 7.3, Myofasziale Lösetechniken). ser Behandlungstechnik angeleitet werden, um sie selbstän-
7 dig am Kind durchzuführen. Entscheidend für den Erfolg ist,
Tipp dass die Behandlung täglich erfolgt, nach Möglichkeit mehr-
mals. Der Zeitaufwand pro Muskel liegt bei 1–1½ Minuten!
8 Die reziproke Detonisierung gelingt nur, wenn sie mit Voraussetzung einer wirksamen Behandlung ist ein entspan-
geringster Kraft durchgeführt wird. Jeder Versuch, den ntes Kind, das möglichst nicht redet oder zappelt und nicht
9 Vorgang durch Vermehrung der Spannung zu beschleu- abgelenkt wird.
nigen, ist zum Scheitern verurteilt. Auf der Sehne darf
nicht mehr Spannung lasten, als würde man ein Stück k Fehlerquellen
10 Bindfaden an beiden Enden halten und so straffen, dass Das Behandlungsprinzip ist im Grunde einfach, auch die
dieser gerade eben nicht durchhängt. Durchführung. Gelingt die Behandlung nicht, so liegt das
11 wahrscheinlich nicht an der Methode, sondern am Thera-
Es wäre zu untersuchen, ob interstitielle Mechanosensoren, peuten!
Ruffini-Sensoren oder andere Sensoren dabei eine Rolle spie-
12 len, und in welcher Weise die niedrige Reizschwelle der Gol- > Wichtig
gi-Sehnenorgane an diesem reflektorischen Geschehen betei- Die häufigsten Ursachen für eine fehlende Wirkung
13 ligt ist. Eine Deutung könnte sein, dass bei der pathologischen sind:
Vorspannung der Sehne nur noch ein geringer Zugreiz aus- 5 Zu starker Zug an der Sehne, zu fester Kontakt mit
reicht, um die Hemmung des Muskels auszulösen. dem Gewebe,
14 5 falsche Griffanlage,
k Anwendungsgebiete 5 unruhiges oder abgelenktes Kind,
15 Geeignet ist die reziproke Detonisierung vor allem für 5 fehlende Geduld des Behandlers (!),
schmalbasig inserierende Muskeln. 5 falsche Indikation (harte Kontraktur, knöcherne De-
4 Gastroknemius bzw. Trizeps surae, formität).
16 4 Peroneus longus und brevis,
4 Tibialis anterior und posterior, k Zusammenfassung
17 4 Ischiokruralen (allen voran der Semimembranosus), Fazit
4 Rektus femoris, Langjährige Erfahrungen mit dieser Behandlungsform haben
4 Bizeps brachii, gezeigt, dass bei regelmäßiger Durchführung durch Eltern und
18 4 Brachialis und Therapeuten Gelenkkontrakturen vermieden und vorhandene
4 Karpalextensoren. gemildert bzw. verbessert werden können. Die Behandlung ist
19 effektiv, wenig zeitaufwendig und schmerzfrei. Bei unsachge-
Tipp mäßer Anwendung ist sie zwar wirkungslos, eine Schädigung
ist jedoch nicht zu befürchten.
20 Langsehnige Muskeln sind therapeutisch leichter
zugänglich als kurzsehnige oder tief liegende Muskeln.

Weniger gut einzusetzen ist diese Technik bei breitbasig


oder membranös ansetzenden Muskeln, wie sie vorwiegend
am Rumpf vorkommen. Für diese Muskeln empfiehlt sich das
Myofascial Release.
9.7 · Manuelle Medizin und neuromuskuläre Erkrankungen
173 9
9.7 Manuelle Medizin und Myotonien
neuromuskuläre Erkrankungen Zum Formenkreis neuromuskulärer Erkrankungen sind auch
die Myotonien zu rechnen, die ihre Bezeichnung der typischen
Unter dem Begriff neuromuskuläre Erkrankungen wird eine myotonen Reaktion verdanken: Bei Beklopfen eines Muskels
Vielzahl von Krankheitsbildern zusammengefasst, die auf- mit dem Reflexhammer entstehen mehrere Sekunden anhal-
grund neurogener oder myogener Störungen zu einer Mus- tende Kontraktionen der stimulierten Muskelbündel, die als
kelschwäche bzw. einem Muskelschwund führen. Delle oder Furche im Muskelrelief erscheinen. Als Beispiele
seien genannt
4 die Myotonia congenita Thomsen und
9.7.1 Neuromuskuläre Erkrankungen 4 die Paramyotonia congenita Eulenburg,
beides seltene autosomal-dominat vererbte Krankheiten,
Progressive Muskeldystrophien über die keine ausreichenden manualmedizinischen Erfah-
Bei der progressiven Muskeldystrophie handelt es sich um rungen vorliegen.
eine Stoffwechselstörung des Muskels, die in unterschied- Häufiger ist die ebenfalls autosomal-dominant vererbte
licher Form auftreten kann. Die häufigste und prognostisch Dystrophia myotonica Curschmann-Steinert, die sich oft
ungünstigste ist die geschlechtsgebunden-rezessiv vererbte erst im Erwachsenenalter bemerkbar macht und durch distal
maligne Form der Duchenne-Dystrophie, die bekanntlich beginnende Muskelatrophien und -schwächen gekennzeich-
nur Knaben befällt und meist im Alter zwischen 2–6 Jahren net ist. Im weiteren Verlauf treten myotone Reaktionen der
manifest wird. Typisch für diese Krankheit ist eine hochgra- Muskeln auf, ferner Komplikationen wie Katarakt, Hörstö-
dige Erhöhung der Kreatinkinasewerte im Serum. Weitere rungen, endokrine und kardiale Störungen. Mit regelmä-
Erscheinungen der progressiven Muskeldystrophie sind die ßiger manualmedizinischer Behandlung, wobei die Atlasthe-
prognostisch günstigere Rumpfgürtelform und die fazio-ska- rapie nach Arlen einmal mehr die zentrale Rolle spielt, kann
pulo-humerale Form. nach bisherigen Erfahrungen die Haltungs- und Bewegungs-
Frühsymptom der Muskeldystrophie ist neben einer Ver- leistung dieser Patienten über einen längeren Zeitraum sta-
langsamung der sensomotorischen Entwicklung eine auffal- bil gehalten und der Zeitpunkt einer Rollstuhlversorgung
lende Muskelschwäche auch bei kleinen Anstrengungen, z.B. hinausgeschoben werden. Hierbei handelt es sich allerdings
beim Treppaufsteigen. Die Schwäche der Kniestrecker ver- um kasuistische Beobachtungen. Systematische Untersu-
anlasst die Patienten, sich beim Aufstehen mithilfe der Arme chungen an einer ausreichend großen manualmedizinisch
an den eigenen Beinen hochzustemmen (Gower-Zeichen). behandelten Patientenklientel mit myotoner Dystrophie Cur-
Durch die Schwäche der Gesäßmuskeln entsteht ein wat- schmann-Steinert liegen bisher nicht vor.
schelnder, entenartiger Gang mit positivem Trendelenburg- Im weitesten Sinne kann auch die Friedreich-Ataxie zu
Zeichen. Kinder mit Duchenne-Dystrophie sterben in der den neuromuskulären Erkrankungen gezählt werden. Die-
Regel zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr. se autosomal-rezessiv vererbte Heredoataxie entsteht durch
progressive Degeneration der spinozerebellären und kortiko-
Spinale Muskelatrophie spinalen Bahnen.
Im Gegensatz zur Muskeldystrophie entsteht der Muskel-
schwund bei der spinalen Muskelatrophie Werdnig-Hoff-
mann aufgrund einer progredienten Degeneration der moto- 9.7.2 Wirkung der Manuellen Medizin bei
rischen Vorderhornzellen. Dadurch werden zerebrale moto- neuromuskulären Erkrankungen
rische Efferenzen nicht an die Muskulatur weitergeleitet.
Die akute infantile Form der Werdnig-Hoffmann- Bei allen diesen Krankheitsbildern kommt es aufgrund der
Muskelatrophie ist prognostisch ungünstig. Sie wird meist beeinträchtigten Muskelfunktion zu jeweils typischen Hal-
innerhalb der ersten 6 Lebensmonate manifest. Die Kinder tungs- und Bewegungsstörungen mit den Folgen, die auch
sind hypoton, liegen mit angewinkelten Armen und schlaff bei der IZP beschrieben wurden, nämlich peripher-segmen-
gespreizten Beinen, zeigen wenig Spontanbewegung, mitun- tale Dysfunktionen und Störungen der myofaszialen Viskoe-
ter kommen Schluck-, Kau- und Sprechstörungen dazu. Der lastizität sowie der vegetativen Funktionen.
Tod tritt meist innerhalb der ersten 3 Lebensjahre ein. Lohse-Busch (1990) beschrieb erstmals in einer Pilot-
Bei der intermediären Form der spinalen Muskelatrophie studie symptomatische Verbesserungen der Muskelfunkti-
ist die Progredienz des Leidens langsamer. Mitunter können on bei neuromuskulären Erkrankungen durch Atlastherapie
die Kinder das freie Sitzen erlernen, erlangen jedoch nie die nach Arlen. Die Anwendung des für die IZP beschriebenen
freie Gehfähigkeit. Sekundäre Komplikationen sind Deformi- Behandlungskonzeptes, bestehend aus
täten der Extremitäten und der Wirbelsäule, auch Hüftluxati- 4 Atlastherapie,
onen. Die Lebenserwartung ist eingeschränkt, die Menschen 4 myofaszialen Lösetechniken und
sterben in der Regel vor dem 20. Lebensjahr. 4 segmentaler chirotherapeutischer Manipulation,
Einen gutartigen Verlauf nimmt gewöhnlich die pseudo- hat sich als Palliativbehandlung bei neuromuskulären Erkran-
myopathische spinale Muskelatrophie Kugelberg-Welander. kungen inzwischen bewährt, wie eigene Erfahrungen mit ver-
schiedenen Formen dieses Leidens bestätigen.
174 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese

Die ungünstige Prognose einer Duchenne-Muskeldys-


1 trophie und der infantilen oder intermediären spinalen Mus-
kelatrophie Werdnig-Hoffmann kann mit der manualmedizi-
2 nischen Behandlung nicht beeinflusst werden. Eine Behand-
lung macht es jedoch möglich, den Krankheitszustand
erheblich zu erleichtern. Das betrifft sowohl die Haltungs-
3 und Bewegungsleistung, die sich durch regelmäßige Atlas-
therapie verbessert und meist lange erhalten werden kann, als
4 auch die Schmerzen, die in der Endphase einer Duchenne-
Muskeldystrophie und vielfach auch bei der Werdnig-Hoff-
mann-Muskelatrophie auftreten und vor allem die Wirbel-
5 säule betreffen. Grundsätzlich muss allerdings bei der Indika-
tionsstellung zur manualmedizinischen Intervention auf die
6 »enge Begrenzung der erstrebten Rehabilitationseffekte hin-
gewiesen werden, um keine falschen Hoffnungen zu wecken«
(Lohse-Busch 1996).
7 Bei den prognostisch günstigeren Formen (Beckengür-
telform der Muskeldystrohpie oder Muskelatrophie Kugel-
berg-Welander usw.) kann bei regelmäßiger manualmedi-
8 zinischer Behandlung vor allem bei jüngeren Patienten eine
anhaltende Verbesserung der Haltungs- und Bewegungslei-
9 stung erreicht werden.
Lohse-Busch (1990) kommt zu der Auffassung, dass alle
neuromuskulären Krankheitsbilder prinzipiell gleichsinnig
10 auf die Atlastherapie reagieren. Die symptomatischen Ver-
besserungen hängen nach seiner Darstellung »vom patho-
11 logischen Potenzial der genetisch programmierten Noxe und
ihren Folgeerscheinungen im Sinne eines Noxenpools des ein-
zelnen Patienten ab«. Die quantitativen Möglichkeiten reflex-
12 therapeutischer Einwirkungen seien a priori immer gleich,
der Noxenpool hingegen quantitativ und qualitativ höchst
13 variabel. Ausmaß und Dauer der Funktionsverbesserungen
werden nach Lohse-Busch von den »Relationen dieser beiden
Antagonisten …« bestimmt.
14
15
16
17
18
19
20
175 10

Weitere Anwendungsgebiete der


Manuellen Medizin bei Kindern

10.1 Muskuloskelettale Schmerzen – 175 10.2 Posttraumatische Zustände mit


10.1.1 Nacken- und Rückenschmerzen – 175 funktionell bedingten
10.1.2 Referred pain – 176 neurologischen Symptomen – 181
10.1.3 Koxalgie und symptomatische 10.2.1 Schädelprellung und Commotio cerebri – 181
ISG-Blockierung – 176 10.2.2 Zervikozephales Syndrom im Kindesalter – 182
10.1.4 Kopfschmerzen – 177 10.2.3 Segmentblockierungen bei
10.1.5 Die kindliche Migräne – 179 peripheren Nervenläsionen – 184
10.1.6 Akuter Tortikollis – 179
10.1.7 Grisel-Syndrom – 180 10.3 Prävention und Rehabilitation – 185
10.3.1 Haltungsfehler und Adoleszentenkyphose – 185
10.3.2 Idiopathische Adoleszentenskoliose – 186

Die folgenden Beispiele geben eine Übersicht über häufig im 10.1.1 Nacken- und Rückenschmerzen
Kindesalter auftretende Krankheitsbilder, die manualmedizi-
nisch behandelt werden können, sofern es sich um eine rein Bis zum Wachstumsabschluss erlebt das Kind einen gesetz-
funktionelle Störung handelt. Es versteht sich von selbst, dass mäßig ablaufenden Gestaltwandel im Wechsel von Füllepe-
in jedem Fall zuvor organische, entzündliche und tumoröse rioden und Streckphasen. Dieser Reifungsprozess des Bewe-
Prozesse als auslösende Ursache ausgeschlossen werden müs- gungssystems mit den sich stetig ändernden Größen- und
sen. Belastungsverhältnissen erfordert eine ständige funktionelle
Abstimmung zwischen Muskulatur, Bindegewebe, Gelenk-
verbindungen und Skelettstrukturen, wodurch das System
10.1 Muskuloskelettale Schmerzen in besonderer Weise störanfällig wird. Nacken- und Rücken-
schmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind daher keine
In 7 Übersicht 10.1 sind Krankheitsbilder zusammengefasst, Seltenheit. Ob sie allerdings an Häufigkeit zunehmen, wie in
die mit muskuloskelettale Schmerzen einhergehen. der Laienpresse immer wieder berichtet wird, lässt sich nicht
feststellen, da valide Daten und entsprechende Vergleichsstu-
dien fehlen. Auch die Angaben zur Prävalenz von Rücken-
Übersicht 10.1 Muskuloskelettale Schmerzen schmerzen bei Kindern sind uneinheitlich und schwanken
5 Segmentale Blockierungen der WS mit Nacken- und zwischen 7,8% und 51,2% (Balague et al. 1992, Ebrall 1994,
Rückenschmerzen Sponseller 1994, Toussier 1994, Friederich u. Hefti 1996).
5 Brachialgie bei Blockierung der unteren HWS, der Zu den häufigsten Ursachen von Rückenschmerzen im
1. Rippe oder oberen BWS Wachstumsalter zählen die reversiblen segmentalen Blockie-
5 Gonalgie: reflektorisch bei Blockierung der mittleren rungen der Wirbelsäule. Sie können spontan im zeitlichen
LWS und Beckentorsion mit peripatellärem Schmerz- Zusammenhang mit Wachstumsschüben auftreten, auch nach
syndrom, tibiofibularer Blockierung usw. sportlicher Betätigung, körperlicher Belastung und banalen
5 Koxalgie: ISG- Blockierung bei Beckenfehlstatik, symp- Traumen. Oft ist jedoch kein auslösender Faktor zu ermitteln.
tomatische ISG-Blockierung bei Coxitis fugax, Morbus Die Schmerzen sind gewöhnlich stellungs- und belastungs-
Perthes, Hüftdysplasie abhängig, z.B. beim Sitzen, Stehen oder Bücken. Sie min-
5 Funktionelle Kopfschmerzen bei Dysfunktion der Kopf- dern sich oft bei normaler körperlicher Bewegung und klin-
gelenke gen unter Bettruhe gewöhnlich ab. Nächtliche Beschwerden
5 Schulkopfschmerz als Blockierungsfolge sind aber nicht ausgeschlossen. Nach
5 Komplementär bei kindlicher Migräne Wolff (1979, 1996) handelt es sich bei dieser Art von Rücken-
5 Akuter Tortikollis (Kontraindikation: Grisel-Syndrom) schmerzen um einen nozizeptiven Rezeptorenschmerz.
176 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

10.1.2 Referred pain k ISG-Blockierung


1 Eine ISG-Blockierung muss nicht immer mit Schmerzen ver-
Auch im Kindesalter werden bei Wirbelgelenkblockierungen bunden sein. Besonders bei Kleinkindern kann ein plötzlich
2 segmentale Schmerzprojektion und pseudoradikuläre
Begleitsymptome (»referred pain«) beobachtet.
aufgetretenes Hinken oder ein unrundes Gangbild beobach-
tet werden, ohne richtungsweisende Anamnese, auch fehlen
oft Schmerzäußerungen. Die Symptomatik erscheint rätsel-
3 k Segmentale Störungen im zervikodorsalen Übergang haft, die bildgebende Diagnostik bleibt stumm, Coxitis fugax,
Segmentale Störungen im zervikodorsalen Übergang können aspetische Knochennekrosen, entzündliche Prozesse, knö-
4 brachialgiforme Schmerzen hervorrufen mit entsprechender
Funktionseinschränkung der Schulter oder des Arms. Gele-
cherne Verletzungen an den unteren Extremitäten usw. wer-
den ausgeschlossen, und dennoch bleibt der Befund unverän-
gentlich wird in diesem Zusammenhang auch ein Schreib- dert. Hier wird man in aller Regel bei der manuellen Unter-
5 krampf beschrieben. suchung eine ISG-Blockierung finden, möglicherweise als
Folge eines unbemerkten Traumas (Sturz aufs Gesäß, ver-
k Blockierung im dorsolumbalen Übergang fehlte Treppenstufe, missglückte Sprunglandung o.Ä.). Mit
6 Bei Schmerzen, die in Unterbauch und Leistengegend aus- einer unspektakulären manualmedizinischen Intervention
strahlen, und einer deutlichen Druckdolenz an der Innenseite lässt sich die Störung schlagartig beheben.
7 der homolateralen Spina iliaca anterior superior ist an eine
Blockierung im dorsolumbalen Übergang zu denken.
10.1.3 Koxalgie und symptomatische ISG-
8 k Dysfunktionen in den Segmenten L2–L4 Blockierung
Dysfunktionen in den Segmenten L2–L4 sind häufig für
9 Knieschmerzen verantwortlich im Sinne des peripatellären Üblicherweise wird der Schmerz bei einer ISG-Blockierung
Schmerzsyndroms. Hier findet man – neben dem wenig aus- als Kreuzschmerz, häufig aber auch als Hüftschmerz beschrie-
sagefähigen Patelladruckschmerz, dem immer schmerzhaften ben. Differenzialdiagnostisch ist daher zu klären, ob krank-
10 Zohlen-Zeichen und anderen bekannten Patella-Zeichen – hafte Veränderungen im Hüftgelenk Ursache der Schmerzen
schmerzhafte Kiblerfalten an der Lateroventralseite des Ober- und Auslöser der ISG-Blockierung sind. Nozizeptive Affe-
11 schenkels entsprechend den Dermatomen L3 und L4, außer- renzen aus entzündlichen oder tumorösen Prozessen des
dem typische Schmerzdruckpunkte an den medialen und Hüftgelenks führen stets zu einer Störung der neuroreflekto-
lateralen Anteilen der Kniegelenkkapsel sowie im Muskel- rischen Steuerung des Beckenrings mit erniedrigter nozizep-
12 Sehnen-Übergang des Quadrizeps femoris, oft auch eine iso- tiver Reizschwelle, Bewegungsasymmetrie des Beckenrings
lierte Verkürzung des vom N. femoralis innervierten M. rec- und reflektorischem Muskelhartspann, wobei hauptsächlich
13 tus femoris. der M. piriformis betroffen ist (Christ 2001). Die Beckenring-
Bei anhaltenden Knieschmerzen im Kindes- und Jugend- dysfunktion ist am Schmerzgeschehen entscheidend betei-
alter ist eine Röntgenuntersuchung angezeigt: Auszuschlie- ligt.
14 ßen sind ossäre Tumoren, Osteochondrosis dissecans, asep-
tische Knochennekrosen (Morbus Larsen, Morbus Schlatter) Manualmedizinische Behandlung
15 usw. Ebenso darf bei akuten oder länger andauernden Knie- Sofern keine Kontraindikationen vorliegen (akute Epiphyse-
schmerzen eine Untersuchung der Hüftgelenke nicht feh- olysis capitis femoris, bakterielle Entzündung, Tumor, son-
len, da sich ein Morbus Perthes und auch die Epiphyseoly- stiger osteolytischer Prozess, Wurzelkompression usw.), ist
16 sis capitis femoris in projizierten Knieschmerzen manifestie- auch bei symptomatischen ISG-Blockierungen eine manual-
ren kann. medizinsche Behandlung angezeigt, nicht nur aus schmerz-
17 therapeutischen Gründen, wie z.B. bei der Coxitis fugax, son-
k Dysfunktionen in der Lenden-Becken-Region dern auch zur Verbesserung der biomechanischen Situation.
Auch funktionelle Störungen in der Lenden-Becken-Region, Dies trifft beispielsweise auf die ISG-Begleitblockierungen
18 der wohl häufigsten Lokalisation kindlicher Rückenschmerzen, beim Morbus Perthes zu und vor allem auf die dysplastischen
projizieren nicht selten Schmerzen in Ober- und Unterschen- Säuglingshüften: Die Hüftdysplasie des Säuglings ist regel-
19 kel, Knie- oder Sprunggelenk. Sogar neurologische Ausfälle mäßig mit einer ISG-Blockierung vergesellschaftet, die einen
als Folge einer Beckenringfunktionsstörung sind beschrieben entscheidenden Anteil am Bewegungsdefizit des betroffenen
mit sensiblen Ausfällen (vor allem im Innervationsgebiet des Hüftgelenks hat.
20 N. cutaneus femoris lateralis), belastungs- oder schmerzab- Seifert (1984, 1997) fand bei 202 Säuglingen mit Hüftdys-
hängigem Kraftdefizit eines Muskels mit plötzlichem Einkni- plasie in 190 Fällen eine ISG- Blockierung und konnte nach-
cken (»giving way«), Instabilität im Sprunggelenk und sogar weisen, dass bei den Kindern, die bei gleichem Sonographie-
Fußheberschwäche aufgrund reflektorischer Einschnürung befund zusätzlich zur obligatorischen Spreiztherapie eine
eines peripheren Nervs (Beck-Föhn 1999). manualmedizinische Behandlung erhielten, die Spreizthera-
Charakteristisch für Beckenringdysfunktionen im Kin- pie nach durchschnittlich 6 Wochen beendet werden konnte.
desalter ist die Beckenfehlstatik mit variabler Beinlängendif- In der nur mit Spreizschiene behandelten Kontrollgruppe hin-
ferenz und Beckenverwringung. Auch nach Stellungsasym- gegen dauerte die Behandlung durchschnittlich 11 Wochen.
metrien der Ossa iliaca ist zu suchen (. Abb. 10.23, 10.24). Diese Beobachtung stimmt mit eigenen Erfahrungen über-
10.1 · Muskuloskelettale Schmerzen
177 10
ein. Als Erklärung wäre die Wechselbeziehung von Form und bei Rotation zur Seite des abduzierten Beins auf, besteht der
Funktion zu diskutieren, bezogen auf die Hüftgelenkspfanne Verdacht auf eine funktionelle Störung der Halspropriozep-
als struktureller Bestandteil der Funktionseinheit »Becken«. toren.

j Abdecktest (Cover-Test)
10.1.4 Kopfschmerzen Ein weiterer aufschlussreicher Test ist die orientierende
Untersuchung der Blickachsen bzw. der Augenmuskelfunk-
Hinter dem Symptom Kopfschmerz können sich im Kindes- tion mit dem Abdecktest (Cover-Test), der in 7 Kapitel 8.2.5.1
alter unterschiedliche Erkrankungen verbergen. Auszuschlie- beschrieben ist. Besteht ein latentes Schielen und ist darin die
ßen sind stets raumfordernde und entzündliche Prozesse, Ursache der Kopfgelenksblockierung zu vermuten, muss eine
Gefäßaffektionen und intrakranielle Blutungen, Störung der augenfachärztliche Untersuchung folgen. Ist hingegen die
Liquorzirkulation, Intoxikation und Traumafolge, ebenso Kopfgelenksblockierung für die Heterophorie verantwort-
eine ophthalmologische und vasomotorische Genese. lich, ist zu erwarten, dass sich der Augenbefund unter der
Segmentale Dysfunktionen der oberen Halswirbel- manualmedizinischen Behandlung bessert.
säule zählen zu den häufigsten Ursachen kindlicher Kopf-
schmerzen, wobei die Entstehungsweise dieser Störung im Radiologische Besonderheiten
Einzelfall kaum zu ermitteln ist. Meistens treten die Beschwer- Aus den Standardröntgenaufnahmen der Halswirbelsäule
den im Laufe des Tages auf und bessern sich oft unter Bewe- lässt sich in aller Regel die Ursache der Kopfschmerzen nicht
gung und nach Bettruhe. Das Schmerzmuster ist nicht ein- ableiten. In der seitlichen Funktionsaufnahme, angefertigt in
heitlich. Überwiegend werden die Schmerzen im Hinterkopf Flexion des zervikookzipitalen Übergangs, zeigt sich allen-
lokalisiert oder als Halbseitenkopfschmerz beschrieben, viel- falls als Ausdruck der Kyphosierungsblockierung ein Fehlen
fach mit Ausstrahlung in die Augen. Schreiben und Lesen der physiologischen anteflektierten Atlaskippung (7 Kap. 4.3,
kann die Symptomatik verstärken oder hervorrufen, weswe- Die Kopfgelenke).
gen gerne vom Schulkopfschmerz gesprochen wird. Aller- Andere Befunde bei dieser Funktionsaufnahme können
dings ist das Beschwerdebild durchaus auch im Vorschulal- im Kindesalter diagnostische Schwierigkeiten bereiten und
ter anzutreffen. mitunter pathologische Veränderungen vortäuschen: Ein
kraniales Klaffen des atlantodentalen Gelenkspaltes im Sinne
Manualmedizinische Untersuchung einer V-förmigen Erweiterung (. Abb. 10.1) lässt an eine
j Palpation Läsion des Lig. transversum denken, vor allem bei vorausge-
Bei der manuellen Untersuchung der Kopfgelenke findet gangenem Trauma.
man regelmäßig eine segmentale Dysfunktion vom Kypho-
sierungsmuster: Es besteht eine palpable Nozireaktion in der k V-förmiger atlantodentaler Gelenkspalt
tiefen autochthonen Muskulatur, die bei Vorneige des Kopfes Bohrer, Klein und Martin (1985) fanden in einem Kollektiv von
zunimmt, ebenso der Palpationsschmerz. Gleiches geschieht 300 Patienten mit akutem HWS-Trauma 26 Fälle mit V-för-
bei Seitflexion in Richtung der Blockierungsbarriere bzw. migem atlantodentalem Gelenkspalt. Bei diesen Patienten
der Nozireaktion. Die Extension der Halswirbelsäule durch betrug der Abstand zwischen Dens und vorderem Atlasbogen
Rückneigen des Kopfes mindert die Nozireaktion oder lässt in Flexion 4 mm und weniger, in 6 Fällen wurde ein Abstand
sie verschwinden; für die Seitneige in die Gegenrichtung der von bis zu 7 mm gefunden. Es handelte sich bei diesen 6 Pati-
Blockierung gilt dasselbe. enten um Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 18 Jahren.
Sie wurden nach der Erstuntersuchung über ein Jahr lang kli-
j Einbeinstand nisch beobachtet und zeigten keine Auffälligkeiten. Als Nor-
Als weiteres klinisches Zeichen ist der Einbeinstand auf der malwerte geben die Autoren eine atlantodentale Gelenkspalt-
Seite der Nozireaktion in der Regel unsicherer als auf der weite in Flexion von 3 mm für Erwachsene und 5 mm für
Gegenseite. Die Prüfung des Einbeinstandes erfolgt zunächst Kinder an. Diese Differenz wird mit der Lockerheit des kind-
mit offenen Augen. Besteht dabei keine Seitendifferenz, wird lichen Lig. transversum und der unvollständigen Ossifikation
der Test mit geschlossenen Augen durchgeführt, gegebenen- des Knochenknorpelkomplexes begründet. Bohrer et al. wei-
falls als zusätzliche Schwierigkeit mit Drehung des Kopfes. sen darauf hin, dass viele Autoren, die Normalwerte für den
atlantodentalen Gelenkspalt anführen, nicht den Messpunkt
j Isometrischer Beinabduktionstest an der Rückseite des vorderen Atlasbogens angeben und ver-
Auch die von Magnus (1924) beschriebene Tonusverteilung muten, dass sie ihre Messungen von dessen unterer Begren-
der Körpermuskulatur in Abhängigkeit von der Kopfstellung zung aus durchführen. Andere Autoren, die vom Mittelpunkt
wird diagnostisch beim isometrischen Beinabduktionsstest der Hinterseite des vorderen Atlasbogens messen, finden bei
genutzt: Rotiert eine auf dem Rücken liegende Person den Kindern mehr unterschiedliche Werte als bei Messungen vom
Kopf zu einer Seite, so wird sie bei intakten Kopfgelenken eine unteren Punkt aus.
isometrische Abduktion des gestreckten gleichseitigen Beins Nicht selten findet sich ein V-förmiger atlantodentaler
durchführen können. Wird der Kopf zur Gegenseite rotiert, Gelenkspalt bei Kindern aufgrund einer Abschrägung der
ist eine isometrische Abduktion dieses Beins nicht möglich Vorderseite des Dens, der eine mehr konische Form aufweist
oder erheblich abgeschwächt. Tritt diese Schwächung bereits (. Abb. 10.1). In solchen Fällen ist der Messwert für den atlan-
178 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

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9 . Abb. 10.1 Seitliche Flexionsaufnahme der oberen HWS bei 9-jäh- . Abb. 10.2 Seitliche Aufnahme der HWS in Nutation des Kopf-
rigem Kind mit Kopfschmerzen. V-förmiger atlantodentaler Gelenk- es bei 6-jährigem Kind. Pseudosubluxation des Axis gegenüber C3.
10 spalt, konische Densform. Keine neurologischen Symptome, kein
Trauma
Die Dornfortsatz-Kortikalisstruktur C2 liegt auf der Verbindungslinie
von C1 und C3 (Schwischuk-Linie)

11
todentalen Gelenkspalt normal, wenn er vom unteren Punkt
12 gemessen wird und fällt entsprechend größer aus, wenn er
von der Mitte oder dem Oberrand des Atlasbogens bestimmt
13 wird. Die meisten der von Bohrer et al. (1985) angeführten
Patienten mit V-förmigem atlantodentalem Gelenkspalt,
Erwachsene wie Kinder, wiesen eine solche Abschrägung
14 des Dens auf. Bei keinem dieser Patienten bestanden signi-
fikante akute Symptome oder andere radiologische Normab-
15 weichungen, weswegen die Autoren nicht traumatische, ent-
wicklungsbedingte Gründe als Ursache des V-förmigen atlan-
todentalen Gelenkspalts annehmen.
16 Nach eigenen Erfahrungen ist dieses radiologische Phä-
nomen auch bei Kindern zu beobachten, die eine Blockie-
17 rung der oberen HWS ohne Traumaanamnese aufweisen
und auch neurologisch unauffällig sind. Ob vor einer manu-
ellen Behandlung eine weiterführende bildgebende Diagnos-
18 tik erfolgen soll, muss von Fall zu Fall entschieden werden.
Bei vorausgegangenem HWS-Trauma ist eine solche Unter-
19 suchung allerdings ratsam.

k Pseudosubluxation des Axis


20 Eine andere radiologische Erscheinung im Kindesalter ist die . Abb. 10.3 Flexionsaufnahme der HWS eines 9-jährigen Jungen.
Pseudosubluxation des Axis, ein Befund, der auch schon als Zustand nach Beschleunigungstrauma der HWS bei Autounfall (seit-
»Genickbruch« fehlgedeutet wurde. In der seitlichen Flexi- licher Frontalzusammenstoß). Subluxation C2/3: Kortikaliskontur des
onsaufnahme der Halswirbelsäule bzw. bei Nickhaltung des Dornfortsatzes von C2 überschreitet die Schwischuk-Linie. Keine neu-
Kopfes zeigt sich ein Ventralgleiten des Axis gegenüber C3 rologischen Ausfälle, im MRT kein Hinweis auf medulläre Kompression
(. Abb. 10.2).
Cattel und Filtzer (1965) geben an, dass 46% der Kin-
der bis zum Alter von 7 Jahren eine anteroposteriore Beweg-
lichkeit des Axis gegenüber C3 von 3 mm und mehr aufwei-
10.1 · Muskuloskelettale Schmerzen
179 10
sen. Bei 18% der Kinder über 8 Jahren ist dieser Befund eben-
falls anzutreffen. Um im Einzelfall festzustellen, ob es sich um
einen physiologischen oder schon pathologischen Befund
handelt, nutzt man die Schwischuk-Linie: die Verbindungs-
linie der Dornfortsatz-Kortikalisstruktur von C1 und C3
(. Abb. 10.2), der sich normalerweise der Bogen von C2 bis
auf 1 mm nähern bzw. sie berühren darf. Ein Überschreiten
dieser Linie durch die C2-Bogenstruktur von 2 mm und mehr
spricht für eine pathologische Situation (. Abb. 10.3). Diese
Regel gilt für Kinder bis zu 14 Jahren (Exner 1990).

10.1.5 Die kindliche Migräne

Die kindliche Migräne ist keine primäre Indikation für


eine manualmedizinische Intervention. Viele Migräne-
kinder scheinen jedoch aufgrund der starken Schmerzen
symptomatische Kopfgelenksblockierungen zu entwickeln,
die im Sinne eines Circulus vitiosus an der Unterhaltung
der Schmerzsymptomatik maßgeblich mitwirken. Offen-
bar ist eine segmentale Dysfunktion der oberen HWS auch
als anfallsauslösender Faktor einzuschätzen. Die Erfahrung
hat nämlich gezeigt, dass bei solchen Kindern die Behand- . Abb. 10.4 Akuter Tortikollis bei 4-jährigem Mädchen, aufgetreten
lung der Kopfgelenke mittels Atlastherapie nach Arlen in 3 Tage nach Adenektomie. Anamnese und klinischer Befund sprechen
der Lage ist, die Anfallshäufigkeit zu senken, Intensität und für ein Grisel-Syndrom. Unter antibiotischer und analgetischer Be-
Dauer der Attacken zu mindern und die schmerzfreien handlung sowie Ruhigstellung der HWS mit weichem Schanzverband
Intervalle deutlich zu verlängern. Als adjuvante Therapie hat spontane Besserung binnen 4 Tagen
diese manuelle Behandlungsform daher auch bei der kind-
lichen Migräne ihren Wert.

10.1.6 Akuter Tortikollis

Eine typische Erscheinung des Vorschul- und Schulalters ist


der akute Schiefhals, auch paroxysmaler Tortikollis genannt.
Er tritt meist morgens nach dem Aufstehen bei einer banalen
Bewegung auf (Bücken, Zähneputzen, Tasse zum Mund füh-
ren o.Ä.). Kennzeichnend ist der plötzlich einschießende
Schmerz im Nacken, der das Kind zu einer analgetischen
Kopfschonhaltung zwingt: Neigung zu einer Seite und Rota-
tion zur Gegenseite.

Manualmedizinische Behandlung
Die Indikation zu einer manuellen Behandlung ist mit sehr
großer Vorsicht zu stellen. Eine chirotherapeutische Mani- . Abb. 10.5 Das a.-p.-Röntgenbild des zervikookzipitalen Über-
pulation ist nur dann erlaubt, wenn eindeutig eine aktiv und gangs des in Abb. 10.4 dargestellten Kindes zeigt neben der Linksnei-
passiv freie Bewegungsrichtung ermittelt werden kann (was ge des Kopfes eine Linkslateralposition des Atlas sowie eine Gefügelo-
in solchen Fällen selten der Fall sein wird), ferner wenn das ckerung des rechten Atlantookzipitalgelenks bei deutlicher Rotations-
Röntgenbild unauffällig ist, die Entzündungsparameter nega- stellung des Axis. Eine Luxation liegt nicht vor
tiv sind und anamnestisch kein Nasen-Rachen-Infekt oder
ein HNO-ärztlicher Eingriff vorausging.

! Ist der Schiefhals schmerzbedingt völlig fixiert, verbie- ist gestattet. Unter Gabe von Analgetika und mit ruhigstel-
tet sich eine Manipulation, da ein Grisel-Syndrom (s.u.) lendem Halsverband klingen die Schmerzen in aller Regel
anzunehmen ist! nach 3–4 Tagen ab (. Abb. 10.4, 10.5). Besteht die schmerz-
hafte Fixierung der Halswirbelsäule länger, ist eine weiter-
Ein Versuch mit sanften myofaszialen Weichteiltechniken führende bildgebende Diagnostik zum Ausschluss einer
und entspannender Positionierung zur Schmerzminderung atlantoaxialen Subluxation oder Luxation angezeigt.
180 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

10.1.7 Grisel-Syndrom
1
Entzündungen im Nasen-Rachen-Raum oder vorausgegan-
2 gene HNO-ärztliche Eingriffe gelten als Ursache des vom
französischen Arzt P. Grisel beschriebenen akuten bzw. par-
oxysmalen Schiefhalses, synonym auch als Torticollis atlan-
3 toepistrophealis bezeichnet. Auslöser soll eine auf lympha-
tischem Weg fortgeleitete Entzündung der atlantoaxialen
4 Gelenkstrukturen sein mit Lockerung des Kapsel-Band-
Apparates und daraus entstehender atlantoaxialer Rotations-
subluxation. Hefti (1998) weist darauf hin, dass im Bereich des
5 atlantoaxialen Gelenks ein System von lymphovenösen Ana-
stomosen in den epiduralen Sinus existiert, das für die Drai-
6 nage von septischen Exsudaten bei peripharyngealen Ent-
zündungen verantwortlich sei. Letztlich ist die Entstehung
des Grisel-Syndroms jedoch noch nicht vollständig geklärt,
7 da es auch ohne Begleitinfekte oder chirurgische Anamnese . Abb. 10.6 6,4-jähriges Mädchen mit Grisel-Syndrom und seit
6 Wochen bestehendem Schiefhals. Das a.-p.-Röntgenbild des zer-
auftreten kann.
vikookzipitalen Übergangs zeigt eine Ventralluxation des Atlas über
Typisch ist die klinische Symptomatik:
8 4 der hochgradig schmerzhaft fixierte Schiefhals, der eine
die linksseitige Axischulter. Manualtherapeutisches Vorgehen ist abso-
lut kontraindiziert!
passive Beweglichkeitsprüfung oft unmöglich macht,
9 4 ein extremer Muskelhartspann und
4 evtl. vergrößerte Halslymphknoten. des linken Iliums sowie Upslip links. Neurologische Ausfälle sind

10 Die Standardröntgenaufnahme der Halswirbelsäule zeigt


nicht nachweisbar. Subjektiv wird ein linksseitiger Schläfenkopf-
schmerz angegeben sowie starke Schmerzhaftigkeit im Nacken
meist nicht mehr als eine ausgeprägte Seitflexion des Kopfes, bei Drehbewegung des Kopfes.
11 da die Atlantoaxialgelenke bei dieser Einstellung und infolge Auf den andernorts angefertigten Röntgenaufnahmen der Hals-
der Kopfschonhaltung in der Regel nicht vollständig abgebil- wirbelsäule war die obere HWS nicht erkennbar. Es wurde daher
det sind. Erst die Zielaufnahme der Kopfgelenke ermöglicht eine Zielaufnahme des oberen und unteren Kopfgelenks durch-
12 eine Beurteilung der Stellung von Atlas und Axis. Sollte eine geführt, die eine Luxation des Atlas gegenüber dem Axis zeig-
solche Röntgenaufnahme nicht durchführbar sein, muss bei te (. Abb. 10.6).
13 Persistenz der Symptomatik ein MRT zum Ausschluss einer Am gleichen Tag erfolgte die Einweisung in eine Spezialklinik.
atlantoaxialen Subluxation oder Luxation veranlasst werden. Die dort durchgeführte Computertomographie des kraniozer-
Wichtig ist in jedem Fall die frühzeitige Diagnose, um vikalen Übergangs zeigte entsprechend dem Röntgenbefund
14 eine adäquate Therapie einzuleiten und einen Verlauf wie in eine Ventralluxation der linksseitigen Facies articularis des Atlas
nachfolgend beschriebenem Fall zu vermeiden. gegenüber dem Axis. Das Angio-CT zeigte in Höhe der Luxa-
15 tion C1 gegenüber C2 eine Elongation der A. vertebralis ohne
Fallbeispiel erkennbares Dissekat.
Patientin. 6,4-jähriges Mädchen. Therapie. Die Therapie bestand in Reposition der Rotationslu-
16 Vorgeschichte. Morgens beim Strumpfanziehen plötzlich ein- xation C1/2 in Narkose und anschließender Extension in einem
schießender Schmerz im Nacken mit schmerzbedingter Kopf- Halo-Body-Jacket, das 3 Monate getragen werden sollte.
17 schiefhaltung. Beweglichkeit der Halswirbelsäule völlig aufge- Die 6-wöchige Schmerzkarriere des Kindes und die lang anhal-
hoben. Wegen anhaltender starker Schmerzen wird der Kinder- tende vitale Bedrohung durch die atlantoaxiale Luxation hät-
arzt aufgesucht, der einen akuten Tortikollis diagnostiziert und ten bei frühzeitiger bildgebender Diagnostik verhindert wer-
18 eine osteopathische Therapie veranlasst. Nach 12 Behandlun- den können.
gen leichte Minderung der Kopfschiefhaltung, keine Normali-
19 sierung. 6 Wochen nach Auftreten des Schiefhalses Vorstellung Manualmedizinische Behandlung
zur orthopädischen Untersuchung. ! Das Grisel-Syndrom stellt eine absolute Kontraindikati-
Befund. 6,4-jähriges, kooperatives und freundlich zugewand- on für die chirotherapeutische Manipulation dar, da die
20 tes Mädchen. Der Kopf wird in Rechtsrotation und Linksneige Gefahr schwerer neurologischer Schäden besteht, im
gehalten. Palpatorisch ausgeprägte Rotationsfehlstellung des schlimmsten Fall mit tödlichem Ausgang.
1. Halswirbelkörpers gegenüber dem Axis, reflektorische Ver-
kürzung des linken Sternokleidomastoideus. Die Bewegungs- Die Behandlung richtet sich nach der klinischen Sym-
prüfung der oberen Halswirbelsäule ist offensichtlich äußerst ptomatik und dem röntgenologischen sowie kernspinto-
schmerzhaft, die Rotation nicht durchführbar, Inklination und mographischen bzw. computertomographischen Befund
Reklination sind hochgradig eingeschränkt. Es finden sich (. Abb. 10.7). Sie umfasst neben der Gabe eines Analgeti-
Begleitblockierungen bei Th5/6 links sowie eine Beckentorsi- kums und ggf. Antibiotikums sowie der Ruhigstellung der
on mit segmentaler Dysfunktion bei S1 links, Anteriorposition Halswirbelsäule mittels Schanzverband in bestimmten Fäl-
10.2 · Posttraumatische Zustände mit funktionell bedingten neurologischen Symptomen
181 10
10.2 Posttraumatische Zustände
mit funktionell bedingten
neurologischen Symptomen

Weichteilverletzungen der Halswirbelsäule überwiegen auch


bei Kindern deutlich gegenüber knöchernen Läsionen. Die
Gewalteinwirkung einer abrupten Beschleunigung des Ober-
körpers überträgt sich aufgrund der Masseträgheit des Kopfes
stets auf die Halswirbelsäule. Gleiches gilt auch für Aufprall-
oder Kollisionstraumen des Schädels, wobei gewöhnlich kein
direkter traumatischer Kontakt zur Halswirbelsäule stattfin-
det, dort aber Scher- und Traktionskräfte wirksam werden.
Unabhängig von der traumatischen Impulsrichtung sind
die Strukturen der zervikookzipitalen Übergangsregion bei
direkter und indirekter Gewalteinwirkung bevorzugt betrof-
fen (Saternus 1997). Dies überrascht nicht angesichts eines
Kopfgewichts von 3,8–4,1 kg bei Männern und 3,2–3,6 kg bei
Frauen (Clemens 2005). Entsprechende Daten für Kinder
fehlen. Da bei Kindern der Kopf im Verhältnis zum Rumpf
relativ größer ist als beim Erwachsenen und dies umso mehr,
je jünger das Kind ist, darf auch unter Berücksichtigung der
kindlichen Körperkonstitution von einer erhöhten Verlet-
a
zungsanfälligkeit des zervikookzipitalen Übergangs im Kin-
desalter ausgegangen werden.

10.2.1 Schädelprellung und Commotio


cerebri

Die grazile Konfiguration der kindlichen Halswirbelsäule


und ihres Weichteilmantels erklärt, warum Dysfunktionen
der Kopfgelenke schon nach Bagatellverletzungen auftre-
ten können, die beim Erwachsenen meist ohne Folgen blei-
ben: verunglückter Purzelbaum, ungeschickte Rolle rück-
wärts, unglücklicher Kopfsprung ins Wasser, »Schwitzka-
sten« und dergleichen mehr. Erst recht ist dies nach stärkeren
Traumen zu erwarten wie der Commotio cerebri, die stets
b mit einem Aufpralltrauma des Schädels einhergeht und als
Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades eingestuft wird (. Abb. 10.8).
. Abb. 10.7 a, b Grisel-Syndrom. 3D-CT der oberen Halswirbelsäu- Typische Zeichen der Kommotio sind bekanntlich
le: Luxation des Atlas gegenüber dem Axis 4 eine retrograde, evtl. auch anterograde Amnesie,
4 Übelkeit und oft Erbrechen sowie meist
4 eine kurze oder bis zu 5 Minuten andauernde Bewusst-
len auch eine Traktionsbehandlung mit Halo-Fixateur und/ losigkeit.
oder die operative Reposition des Altas. Sehr selten ist eine
Arthrodese erforderlich. Ein neurologisch fassbares Korrelat fehlt bezeichnender-
weise; binnen einer Woche sollen die Symptome vollständig
Tipp abklingen.
In manchen Fällen tritt jedoch ein sog. postkommotio-
Verdächtig auf ein Grisel-Syndrom mit Subluxation nelles Syndrom mit Kopf- und Nackenschmerzen, nicht sel-
oder Luxation ist jeder akute Tortikollis, der unter Ruhig- ten auch mit Schwindel auf, ohne nachweisbare neurologische
stellung und Analgetikagabe nicht spätestens binnen oder hirnorganische Ursache. Solche Symptome weisen auf
einer Woche abgeheilt ist. eine Kopfgelenksblockierung hin, wie sie nach solchen Trau-
men zu erwarten ist.
Eine manualmedizinische Behandlung mit geeig-
neten, kindgerechten Techniken bringt in aller Regel rasche
Beschwerdefreiheit und macht eine medikamentöse Schmerz-
therapie oft entbehrlich.
182 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

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6
. Abb. 10.8 Sturz auf den Hinterkopf. Durch den Aufprall und die
dadurch imduzierte Anteflexion des Kopfes wirken sowohl sagittal
7 gerichtete Scherkräfte als auch longitudinale Traktionskräfte auf die
Strukturen des atlantookzipitalen Übergangs ein. Gleiches gilt bei
seitlichem oder frontalem Aufprall entsprechend der Impulsrichtung
8
9 10.2.2 Zervikozephales Syndrom im
Kindesalter
10 . Abb. 10.9 Fehlende Kippung des Atlas in Nickstellung des Kopf-
Als Folge einer Stauchung, Distorsion oder Beschleunigungs- es nach Akzelerationstrauma der HWS bei 10-jährigem Mädchen als
verletzung der kindlichen Halswirbelsäule kann sich ein zer- Hinweis auf eine mögliche strukturelle oder funktionelle Kopfgelenks-
11 vikozephales Syndrom entwickeln, bei dem Kopfschmerzen, läsion
Nackenschmerzen, Schwindel und Konzentrationsstörung
im Vordergrund stehen. Verschiedene weitere Symptome
12 können in unterschiedlicher Intensität und Kombination auf- mentale Funktionsstörungen finden mit den typischen Merk-
treten: malen des gestörten Gelenkspiels, Irritationspunkten, myofas-
13 4 Kopfschmerzen, zialen Veränderungen usw. (7 Kap. 5.1, Neurophysiologisches
4 Nackenschmerzen, Denkmodell). Am häufigsten sind nach solchen Traumen die
4 Schwindel, Kopfgelenke betroffen (Saternus 1997), deren Bedeutung für
14 4 Leistungsabfall, Körperkontrolle und Gleichgewicht bereits ausführlich dar-
4 Konzentrationsstörung, gelegt wurde (7 Kap. 4.3, Die Kopfgelenke).
15 4 Übelkeit, Als röntgenologisches Korrelat einer Kopfgelenksblo-
4 Ohrgeräusche, ckierung zeigt sich häufig eine fehlende Kippung (Antefle-
4 Sehstörung, xion) des 1. Halswirbelkörpers zum Okziput (. Abb. 10.9).
16 4 Schlafstörung,
4 Alpträume, Manualmedizinische Untersuchung
17 4 Gangstörung, Die bei einem HWS-Beschleunigungstrauma durch Heckkol-
4 Stimmungsschwankungen (Weinerlichkeit, Reizbarkeit). lision erzwungene massive Reklination des Kopfes bewirkt
ferner eine Distraktion
18 Sind bei dieser Klinik mit bildgebenden Verfahren keine knö- 4 der Kiefer- und Mundbodenmusulatur,
chernen oder ligamentären Verletzungen nachweisbar, wird 4 der ventralen Halsmuskeln und
19 eine traumatisch bedingte Instabilität ausgeschlossen und ist 4 der Mm. sternocleidomastoidei
auch die neurologische Untersuchung ohne organisch fass- mit pathologischer Veränderung der myofaszialen Viskoelas-
baren Befund, dann wird die Symptomatik eines zervikoze- tizität. Diese Strukturen sind daher zu untersuchen und ent-
20 phalen Syndroms schon im Kindesalter gerne als Psychore- sprechend zu behandeln (Erdmann 1973, Henning 1997).
aktion auf das erlittene Trauma gedeutet und eine Psycho-
therapie eingeleitet, in die bei mangelndem therapeutischem j Inspektion/Palpation
Fortschritt mitunter die ganze Familie einbezogen wird. Diese Bei der Untersuchung eines Kindes mit zervikozephalem
Umwege lassen sich vermeiden, wenn die Halswirbelsäule Syndrom und Kopfgelenksblockierung findet man häu-
nicht nur nach Röntgenbild, Computertomogramm und den fig ein seitendifferentes Relief des M. semispinalis capitis:
Bewegungsmesswerten der Neutral-Null-Methode beurteilt Auf der einen Seite zeigt sich ein kräftig tonisierter Muskel,
wird, sondern eine genaue manualmedizinische Untersu- auf der Gegenseite ein abgeflachter Muskelbauch mit deut-
chung erfolgt. Man wird in solchen Fällen gewöhnlich seg- licher Tonusminderung. Die Palpation der gehemmten Seite
10.2 · Posttraumatische Zustände mit funktionell bedingten neurologischen Symptomen
183 10
lässt die nozireaktiven Veränderungen erkennen, die für eine
Kopfgelenksblockierung typisch sind: Man findet eine spin- Exkurs:
delförmige, umschriebene und druckschmerzhafte Mus- Eine Fülle sekundärer Verbindungen
kelhärte in der tiefen subokzipitalen Muskulatur, wobei der Neuhuber (1998, 2005) erwähnt im Zusammenhang mit der
M. obliquus capitis inferior regelmäßig betroffen ist. direkten Projektion zervikaler propriozeptiver Afferenzen
ins Vestibulariskerngebiet eine Fülle sekundärer Verbindun-
gen, unter anderem zum okulomotorischen Apparat, was den
Tipp
Einfluss der Kopfgelenksstrukturen auf Blickbewegungsstö-
Diese muskuläre Nozireaktion ändert ihre Konsistenz rungen nach Schleudertrauma erklären kann. Auch die trige-
minozervikale Konvergenz wird als Erklärungsweg für Kopf-
und Schmerzhaftigkeit in Abhängigkeit von der Kopf-
schmerzen bei funktioneller Kopfgelenksstörung genannt.
stellung und signalisiert so die freie und blockierte
Ebenso lässt die direkte Verbindung zervikaler propriozepti-
Richtung, damit gleichzeitig auch das gestörte Gelenk- ver Afferenzen zum Kochleariskern Hörstörungen und Ohrge-
spiel. räusche als Symptom einer Kopfgelenksblockierung plausibel
werden. Die vegetativen und affektiven Symptome bei kra-
niozervikaler Funktionsstörung werden nach Neuhuber über
j Einbeinstand die Verbindung von Halsafferenzen und trigeminalen Afferen-
zen mit dem limbischen System und dienzephalen Kerngebie-
Als einfacher Test zur Kontrolle der Gleichgewichtsteuerung
ten erklärt.
wird auch hier der Einbeinstand geprüft: Keidel et al. (1998) sehen in der traumabedingten Verän-
4 mit offenen und geschlossenen Augen, derung von Erregungsmustern serotonerger, noradrenerger
4 in Neutralstellung, und dopaminerger Bahnen einen Zusammenhang mit Kon-
4 in Rotation und Seitneige des Kopfes. zentrations- und Gedächtnisstörungen, Stimmungsschwan-
kungen, Schmerzerleben usw.
Bei einer Kopfgelenksblockierung im Rahmen eines zerviko- Frey (1997) betont, dass die posttraumatischen klinischen
zephalen Syndroms wird der Test in der Regel seitendifferent Symptome einer HWS-Verletzung beim Erwachsenen sich
ausfallen, das heißt: Auf der blockierten Seite ist der Einbein- nicht von der nicht traumatisch ausgelösten Symptomkombi-
nation unterscheiden. Dies gilt für das Kindesalter nur mit Ein-
stand deutlich unsicherer oder nicht durchführbar. Es sollte
schränkung, da die Symptomatik auch vom Alter des Kindes
nach erfolgreicher manueller Behandlung sofort eine deut-
und dem Reifezustand des ZNS mitbestimmt wird.
liche Besserung nachweisbar sein.

Tipp
Manualmedizinische Behandlung
Der Test scheint bei rein funktionellen Störungen aussa- Mit den Möglichkeiten der Manuellen Medizin lassen sich
gefähiger zu sein als der Romberg-Versuch. die Symptome des posttraumatischen zervikozephalen Syn-
droms gut beeinflussen (Gorman 1995, v. Heymann 1999,
Hülse und Hölzl 2000). Bei Kindern hat sich die Altastherapie
j Abdecktest (Cover-Test) nach Arlen als besonders wirksam erwiesen.
Bei Sehstörungen wie Verschwommensehen, Augenbrennen,
flüchtige Doppelbilder u.Ä. lässt sich mit dem Abdecktest ! Klassische chirotherapeutische Manipulationen an der
(Cover-Test) ein latentes Schielen (Heterophorie) nachwei- oberen HWS sind innerhalb der ersten 6 Wochen nach
sen, meist im Sinne einer Konvergenzschwäche. Die Durch- dem Unfallereignis kontraindiziert!
führung des Tests wurde in 7 Kapitel 8.2 beschrieben.
Sie werden bei Kindern ohnehin nur ungern eingesetzt und
j Blinder Fleck sind auch entbehrlich, da die Atlastherapie nicht nur frei von
Auch die Untersuchung des sog. blinden Flecks (Mariotte- behandlungstypischen Risiken ist, sondern in ihrer Wirkung
Versuch) bei Sehstörung und Schwindel als Symptom eines auf die zervikookzipitalen Rezeptoren und auf zentrale Steu-
zervikozephalen Syndroms zeigt regelmäßig eine (einsei- erungsvorgänge von keiner anderen Technik übertroffen
tige oder asymmetrische) Vergrößerung des physiologischen wird. Auch die alleinige Osteopathie oder Kraniosakralthe-
Skotoms, das sich nach erfolgreicher Behandlung rasch ver- rapie erreicht bei dieser Indikation meist nicht die Wirkung
kleinert. Nach Hülse (2005), der ausführlich darüber berich- der Atlastherapie, stellt aber eine wirksame Ergänzung der
tet, gibt es bisher keine Erklärung für dieses Phänomen. Behandlung dar. Im Gegensatz zur klassischen Chirotherapie
Ob mit dem Mariotte-Versuch auch eine Seitenbestim- können Atlastherapie und osteopathische Techniken bereits
mung der Kopfgelenksblockierung bestimmt werden kann, unmittelbar nach dem Unfallereignis eingesetzt werden, was
ist noch unklar. die Rehabilitationszeit mitunter eindrucksvoll verkürzt.
Grundsätzlich gilt auch bei diesem Symptombild des zer-
vikozephalen Syndroms, dass die gesamte Wirbelsäule und
dabei besonders die Übergangszonen aus den bereits darge-
legten Gründen manualmedizinisch untersucht und entspre-
chend behandelt werden müssen.
184 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

k Prognose bekommen, da frische Plexusläsionen post partum traditio-


1 Die Prognose des funktionellen zervikozephalen Syndroms nell zuerst einer Physiotherapie zugeführt werden.
im Kindesalter ist nach eigenen Erfahrungen offenbar gün- Bei der manualmedizinischen Untersuchung eines Kindes
2 stiger als bei Erwachsenen, bei denen sich häufiger eine Chro-
nifizierung der Symptomatik zu entwickeln scheint als bei
mit Armplexusparese wird man feststellen, dass sich die Blo-
ckierungen nicht auf die Segmente der neurogenen Läsion
Kindern. beschränken, also etwa C4–C6 und/oder C7–Th1, sondern
3 auch darüber und darunter liegende Wirbelsäulenabschnitte
mit erfasst sind.
10.2.3 Segmentblockierungen bei peripheren
4 Nervenläsionen
Exkurs:
Embryologische Entwicklung des Armes
5 Lähmungen als Folge peripherer Nervenläsionen im Säug-
Embryologisch entwickelt sich der Arm in Höhe der unteren
lings- und Kindesalter begünstigen aufgrund des abnormalen
Halssegmente, während der Schultergürtel dem Brustkorb zu-
6 Bewegungsmusters des betroffenen Körperteils die Entste- geordnet wird. Nach Christ (1993) wird daraus verständlich,
hung segmentaler Dysfunktionen, wodurch die bestehende dass die Muskeln des Armes funktionell über die Halswirbel-
Funktionseinschränkung zusätzlich verstärkt wird. Mit der säule bis zum Hinterhaupt reichen: So bestehen beispielswei-
7 manualmedizinischen Beseitigung der segmentalen Blockie- se durch die kräftigen Ursprungszacken des M. levator scapu-
rungen gelingt es, vorhandene motorische Restfunktionen zu lae, innerviert aus C4/C5, Verbindungen zwischen Schulter-
erhalten oder überhaupt erst zu aktivieren. gürtel und der oberen Halswirbelsäule. Entsprechend findet
8 man bei der Armplexusparese Blockierungen vom zerviko-
Nervenläsionen am Arm okzipitalen Übergang über die mittlere HWS und den zerviko-
9 k Armplexusparese thorakalen Übergang bis zu den Segmenten Th3–Th5, wobei
die ebenfalls aus C4/C5 innervierten Rhomboidei an der Pa-
Eine der häufigsten peripheren Lähmungen im Kindesalter
thologie mitbeteiligt sind. Die funktionelle Verknüpfung zwi-
ist die Armplexusparese, oft geburtstraumatisch entstanden,
10 aber auch als Folge von Sport- oder Fahrradunfällen.
schen Schultergürtel, dorsolumbalem Übergang und Becken-
ring wird von Ursprüngen und Ansatz des M. latissimus dor-
si hergestellt, der über die Fascia thoracolumbalis zudem eine
11 k Obere Plexusparese direkte Verbindung zur autochthonen Rückenmuskulatur auf-
Die obere Plexusläsion (C4–C6), auch Erb-Lähmung genannt, nimmt. Man findet also auch bei der Armplexusparese die sen-
betrifft die Schulter- und Oberarmmuskulatur sowie proxi- sorischen Schlüsselregionen betroffen.
12 male Unterarmmuskeln mit folgenden Funktionseinbußen:
Ante- und Retroflexion sowie Abduktion und Außenrotation
13 im Schultergelenk, Beugung und Streckung im Ellenbogenge- k Symptombild (. Abb. 10.10)
lenk und die Supination des Unterarms. Zusätzlich wird die Symptomatik verstärkt durch sekundäre
Veränderungen an den metameren Strukturen der betrof-
14 k Untere Plexusparese fenen Segmente (7 Kap. 5.1, Neurophysiologisches Denkmo-
Bei der unteren Plexusparese (C7/C8–Th1), der Klumpke- dell), wobei die Störung der viskoelastischen Eigenschaften
15 Lähmung, ist vor allem die Unterarm- und Fingermotorik myofaszialer Strukturen Wegbereiter von Funktionsverlust
betroffen. Die Armlähmungen zeigen in ihrer Ausprägung und Kontrakturen ist.
große individuelle Unterschiede, nur selten besteht eine kom- Typische klinische Merkmale sind:
16 plette Parese. 4 Immobilität der Skapula,
4 pathologische Strammung der Membrana interossea
17 Manualmedizinische Behandlung antebrachii,
Die diagnostischen und therapeutischen Grundsätze bei 4 Verkürzung des absteigenden Trapeziusastes und
peripheren Nervenläsionen werden am Beispiel der Armple- 4 Rigidität der periartikulären Kapsel-Band-Strukturen an
18 xusparese dargestellt. Schulter und Ellenbogen.
Nicht wenige geburtstraumatisch bedingte Plexusläsi-
19 onen heilen spontan aus (Baumann 1983), so dass über die Neben der Manipulation der funktionsgestörten Wirbelge-
Wirkung einer frühzeitig einsetzenden Behandlung keine lenke müssen daher auch Weichteilmobilisation und myofas-
sichere Aussage getroffen werden kann. Sinnvoll ist die Früh- ziale Lösetechnik zum Einsatz kommen.
20 behandlung auf jeden Fall, da das zur Plexusläsion führende Die hier am Beispiel der Armplexusparese dargestell-
geburtstraumatische Ereignis immer auch reversible segmen- ten diagnostischen und therapeutischen Grundsätze gel-
tale Dysfunktionen an HWS und BWS hervorruft und eine ten natürlich auch für andere periphere Nervenläsionen. So
manualmedizinische Behandlung in jedem Fall angezeigt bietet beispielsweise die im Kindesalter nicht seltene trau-
ist. (Auf die manuellen Behandlungstechniken bei Säuglin- matische Fibularisläsion das Bild eines aufsteigenden dys-
gen wurde in 7 Kapitel 7 ausführlich eingegangen.) Allerdings funktionellen Verkettungssyndroms, das die sensorischen
wird der Manualmediziner Armplexusparesen überwie- Schlüsselregionen ebenso miteinbezieht wie die myofaszialen
gend bei älteren Kinder jenseits des Säuglingsalters zu sehen Strukturen der unteren Extremität einschließlich Beckenring
– und darüber hinaus.
10.3 · Prävention und Rehabilitation
185 10

. Abb. 10.10 9-jähriger Junge mit oberer Plexusparese links. Hoch-


stand der lateralisierten Skapula. Verkürzung von Pektoralis und ab-
steigendem Trapeziusast mit vermehrter BWS-Kyphosierung, Beuge-
kontraktur des Ellenbogengelenks. Multisegmentale Dysfunktionen

10.3 Prävention und Rehabilitation

Reversible Funktionsstörungen des Achsenorgans begün-


stigen als pathogenetischer Teilfaktor die Progredienz ver-
tebraler Formfehler. In der Prävention und Rehabilitation
von Wachstumsstörungen und strukturellen Fehlformen der
Wirbelsäule leisten die diagnostischen und therapeutischen
Methoden der Manuellen Medizin daher ihren Beitrag.

10.3.1 Haltungsfehler und


Adoleszentenkyphose b

Haltungsfehler . Abb. 10.11 a, b a 7-jähriges, neuromotorisch normal entwickel-


Kaum ein Begriff des medizinischen Sprachgebrauchs wird tes Mädchen. Korrekt zentrierte Haltung im Stand mit herabhängen-
so uneinheitlich verstanden und großzügig verwendet wie den Armen. b Bei waagerecht vorgehaltenen Armen Schwerpunkt-
die Bezeichnung Haltungsfehler. Eltern, Pädagogen, Schu- verlagerung des Rumpfes nach dorsal, die über 30 sec unverändert
bleibt. Altersphysiologischer Befund!
lärzte, Pädiater und Orthopäden haben jeweils eine andere
Betrachtungsweise dieses Erscheinungsbildes, unter dem
je nach Standpunkt physiologische Stellungstypen der Wir- pointierte und differenzierte Weise zu diesem Thema äußert
belsäule, nicht fixierte Haltungsvarianten, Adoleszentenky- und hinsichtlich nicht fixierter Haltungsvarianten vor »Über-
phose, sog. Haltungsverfall bei sensomotorischen Störungen, diagnostik« und »Übertherapie« warnt (. Abb. 10.11).
genetisch bedingte Formabweichungen und auch die Null-
Bock-Attitüde des pubertierenden Sprösslings abgehandelt k Manualmedizinische Behandlung
werden. Diese Definitionsfrage soll hier nicht weiter vertieft Während traditionell eine krankengymnastische Behandlung
werden; vielmehr sei auf die Ausführungen von Hefti (1998) oder sog. Haltungsturnen zur Kräftigung der Muskulatur hal-
verwiesen, der sich in seinem Buch »Kinderorthopädie in der tungsschwacher Kinder empfohlen wird (Matthiaß 1957, Jent-
Praxis« unter der Überschrift »Kann man Nußgipfel gerade schura 1977, Henke 1982, Keim 1982), hält Hefti solche Maß-
biegen? – oder Wie krumm darf der Rücken sein?« auf sehr nahmen für überflüssig, da wirkungslos. Er führt aus, dass
186 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

Haltung mit körperlicher Aktivität zusammenhängt. Aktivi- änderungen der Wirbelkörper mit Randleistenstörung und
1 tät aber könne dem Kind nicht von außen eingeflößt werden, ventraler Höhenminderung bei gleichzeitiger Wachstumsak-
sondern müsse vom Kind bzw. Jugendlichen selbst ausgeführt zeleration hohe Anforderungen an die statisch-dynamische
2 werden, wobei die Motivation des Kindes das Entscheidende
sei. Physiotherapie sei keine attraktive Art von Aktivität. Dies
Leistungsfähigkeit des Rückens. Intermittierende Rücken-
schmerzen vor allem nach körperlicher Belastung oder im
ist eine Einschätzung, die den eigenen Erfahrungen vollstän- Rahmen eines Wachstumsschubes sind daher keineswegs sel-
3 dig entspricht und zu der jeder Arzt, der Haltungsturnen oder ten und stets mit segmentalen Blockierungen und schmerz-
Physiotherapie verordnet, ebenfalls kommen kann, wenn er haft erhöhtem Muskeltonus verbunden. Dabei sind wiede-
4 die Ergebnisse physiotherapeutischer Behandlungsserien bei
sog. haltungsschwachen Kindern kritisch überprüft. In glei-
rum bevorzugt die Übergangszonen der Wirbelsäule betrof-
fen, worauf schon Henke (1992) hingewiesen hat.
cher Weise sind natürlich auch die Techniken der Manuellen
5 Medizin ungeeignet, um eine nicht fixierte Haltungsvariante k Manualmedizinische Behandlung bei Schmerzen
zu beeinflussen. Therapie der Wahl für die Adoleszentenkyphose ist die
6 gezielte chirotherapeutische Manipulation aller betrof-
Adoleszentenkyphose fenen Segmente einschließlich Beckenring, ggf. kombiniert
Anders verhält es sich mit fixierten Fehlformen der Wirbel- mit myofaszialen oder muskelenergetischen Behandlungs-
7 säule. Am auffälligsten und wohl auch häufigsten ist die Ado- techniken. Mit diesen Maßnahmen lassen sich nicht nur die
leszentenkyphose, im Schwarzwald auch herzlos »Schnitzbu- Beschwerden rasch beseitigen, sondern es bleibt auch die
ckel« genannt in Anspielung auf ein körperliches Merkmal Funktionsfähigkeit der noch nicht fixierten Wirbelsäulenab-
8 der einheimischen Holzschnitzer (. Abb. 10.12). Eine dauer- schnitte durch gezielte Beseitigung der Lordosierungshem-
haft schlechte Haltung mit vorfallenden Schultern und man- mung erhalten. Hier liegt die rehabilitative und gleichzeitig
9 gelnder Rumpfaufrichtung kann die Entwicklung und Fixie- präventive Bedeutung manualmedizinischer Maßnahmen,
rung einer Adoleszentenkyphose begünstigen; meist spielen da die Progredienz der Kyphose auf diese Weise beeinflusst
jedoch auch hereditäre Faktoren eine Rolle. Gewöhnlich zeigt werden kann, auch wenn die Formveränderung des Wirbel-
10 das Röntgenbild die Zeichen einer juvenilen Ossifikationsstö- körpers damit nicht erfasst wird. Zur Therapie gehört ferner
rung an Deckplatten und Ringapophysen im Sinne des Mor- Krankengymnastik mit Anleitung zur Dehnung verkürzter
11 bus Scheuermann. Muskelgruppen und Training der Rückenmuskulatur. Die
Die Entwicklung einer Adoleszentenkyphose fällt stets in Bedeutung spontaner körperlicher Aktivität wurde bereits
die 2. Streckphase. Daher stellen die zunehmenden Formver- erwähnt.
12
Exkurs: Flachrücken
13 Eine entsprechende Therapie gilt natürlich auch für den Flach-
rücken. Diese Wirbelsäulenform bietet im Wachstumsalter
14 kaum Anlass zu Kritik, da sie eine aufrechte und somit gute
Haltung vortäuscht. Aus orthopädischer Sicht gilt der Flach-
rücken allerdings wegen der Abflachung der physiologi-
15 schen Krümmungen und des dadurch bedingten Verlustes der
Dämpfungseigenschaften als besonders störanfällig. Nach
Hefti kommen lumbale Bandscheibenschäden beim Flachrü-
16 cken als Spätfolgen häufiger vor als bei anderen Rückenfor-
men. Henke (1982) kommt bei einer Gegenüberstellung von
17 200 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen und 100 Rü-
ckengesunden allerdings zu einem Ergebnis, das den bisheri-
gen Vorstellungen vom pathologischen Potenzial des Flachrü-
18 ckens zu widersprechen scheint: 70% der Schmerzgruppe wie-
sen eine abnorme Kyphosierung auf, während in der Kontroll-
gruppe 70% eine normale Rückenform hatten. Rund-Hohl-Rü-
19 cken waren in der Schmerzgruppe 5-mal häufiger als bei Rü-
ckengesunden, totale Rundrücken sogar 10-mal häufiger. Im
Gegensatz dazu kamen Flachrücken bei den Gesunden dop-
20 pelt so häufig vor wie in der Schmerzgruppe!

10.3.2 Idiopathische Adoleszentenskoliose

Die idiopathische Skoliose ist eine so eindrucksvolle Wir-


belsäulenpathologie, dass sie eigentlich eine Fundgrube für
. Abb. 10.12 Rund-Hohl-Rücken bei Morbus Scheuermann den Manualmediziner sein sollte. Es gibt jedoch verhältnis-
10.3 · Prävention und Rehabilitation
187 10
mäßig wenig Literatur zu diesem Thema aus manualmedizi- k Beckenverwringung
nischer Feder. Am ausführlichsten dürfte sich Tomaschew- Auf die zahlreichen Hypothesen zur bislang ungeklärten Äti-
ski (1983, 1986, 1993, 1994) mit dieser Frage beschäftigt haben. ologie der Skoliose wird hier nicht eingegangen. Da die Ursa-
Tomaschewski untersuchte an einem großen Kollektiv Sko- che dieser rätselhaften Wirbelsäulenverkrümmung nach wie
liosekinder auf segmentale Dysfunktionen, fand Blockie- vor verborgen ist, gilt das Interesse pathogenetischen Fak-
rungen vorwiegend in den Übergangszonen der Wirbelsäule toren, die einen manualtherapeutischen Ansatz bieten. Dabei
und konnte über gute Resultate nach manualmedizinischer fällt neben den markanten skoliotischen Veränderungen des
Behandlung berichten (1983, 1986). Mit der umschriebenen Rumpfes die stets vorhandene Fehlstatik des Beckens als
Abflachung der harmonischen Wirbelsäulenkyphose in der pathognomonisches Merkmal auf. Diese Fehlstatik besteht
Päckchenstellung (. Abb. 10.13, 10.14) beschrieb Toma- fast immer in einer Verwringung der einzelnen Beckenteile
schewski ein sicheres Frühzeichen für die Entwicklung einer zueinander. Die Bedeutung des Beckens als Basis des Rumpfes
idiopathischen Skoliose (1993, 1994). und der Wirbelsäule wurde in 7 Kapitel 4.4 dargelegt.
Meißner (1992, 1996) berichtete in einer Pilotstudie über Durch die Torsion des Beckens wird ein Beckenschief-
gute Ergebnisse bei 50 Skoliosekindern, die mit Atlasthera- stand vorgetäuscht, da der Beckenkamm des nach ventral
pie nach Arlen und chirotherapeutischer Manipulation funk- rotierten Iliums höher tritt, der nach dorsal rotierte Partner
tionsgestörter Wirbelsäulensegmente (überwiegend an den hingegen tiefer (. Abb. 10.15); das Sakrum rotiert dabei um
Übergangszonen!) behandelt wurden. eine diagonale Achse. Bei zunehmender Ventralstellung des
Iliums kann sich das Muster der Beckenkammhöhe umkeh-
ren. Eine Beinlängendifferenz lässt sich daher aus der Bestim-
mung der Beckenkammhöhe nicht ableiten, selbst wenn die
Beinlängen in Rückenlage unterschiedlich lang erscheinen.
Denn beim Aufrichten aus der Rückenlage zum Sitz kommt
es gewöhnlich zu einer Änderung dieser Beinlängendifferenz,
entweder als Minderung, als Ausgleich oder sogar als Umkehr
der Längendifferenz. Dieses Phänomen, das dem Manualme-
diziner unter der Bezeichnung variable Beinlängendifferenz
bestens bekannt ist, sollte selbstverständlich nicht mit einer
Schuhsohlenerhöhung behandelt werden (. Abb. 10.16).

. Abb. 10.13 Päckchenstellung nach Tomaschewski. Normaler Be-


fund mit harmonischer Kyphosierung von BWS und LWS

. Abb. 10.15 Seitliches Schema der iliakalen Beckentorsion. Nor-


. Abb. 10.14 Dorsolumbale Skoliose von 10°Cobb mit Abflachung malstellung (schwarze Linie), Ventralposition (dunkelblaue Linie), Dor-
der harmonischen BWS-LWS-Kyphose in Päckchenstellung (Pfeil) salposition (hellblaue Linie)
188 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

Fazit Tipp
1 Eine Beckentorsion im Rahmen der idiopathischen Skoliose ist
regelmäßig auch mit einer segmentalen Dysfunktion lumbo- Eine Korsettbehandlung ist übrigens nicht in der Lage,
die Beckentorsion wirksam zu beeinflussen, was mögli-
2 sakral oder iliosakral verbunden. Langjährige Beobachtungen
konnten zeigen, dass eine Verschlechterung des lumbalen oder cherweise eine Ursache für die häufigen Korrekturver-
thorakalen Rotationsindexes (Götze 1975) oder des Skoliometer- luste nach Abschulung des Korsetts sein könnte.
3 wertes als Progredienzzeichen stets auch mit einer Zunahme
der Beckentorsion einhergeht. Es scheint daher gerechtfertigt,
k Kraniomandibuläre Dysfunktion und Bewegungs-
4 die Beckentorsion als pathogenetischen, die Progredienz der
Krümmung begünstigenden Faktor zu verdächtigen. system
Im Gegensatz zur Beckenverwringung, die als klinisches
5 k Kopfgelenke – Schlüsselregionen – Becken Merkmal der Skoliose sozusagen ins Auge springt, offen-
Auf eine Verwringung der Rumpfbasis muss das kom- bart sich eine andere pathologische Komponente nur nach
6 plexe Verbundsystem von Achsenskelett und autochtho- gezielter Funktionsdiagnostik. Die Rede ist von der kranio-
ner Rückenmuskulatur stets in seiner Gesamtheit reagieren mandibulären Dysfunktion, die vermutlich einen maßgeb-
(7 Kap. 4.2, Propriozeption und autochthone Rückenmus- lichen Anteil an der Ausgestaltung und Progredienz einer
7 keln). Daher sind die Kopfgelenke regelmäßig im Sinne einer Skoliose hat. Wie das zusammenhängt, ist im Einzelnen
segmentalen Dysfunktion mitbetroffen, nachfolgend auch die noch nicht geklärt. Dass der Zusammenhang besteht, bestä-
übrigen sensorischen Schlüsselregionen. Mit der Beckenver- tigt die klinische Erfahrung: Orthopäden beobachten z.B.
8 wringung korreliert häufig eine Rotationsstellung des Axis. eine Zunahme der skoliotischen Krümmung im Zusammen-
Ob eine Stellungsasymmetrie des Atlas gegenüber den Okzi- hang mit kieferorthopädischen Maßnahmen, Kieferorthopä-
9 putkondylen ebenfalls als pathogenetischer Faktor angese- den wiederum sehen sich oft zu einer Passformkorrektur von
hen werden kann, ist zweifelhaft, da solche Stellungsasym- Zahnspangen veranlasst, wenn die Skoliose mit einem Kor-
metrien als physiologische Varianten häufig vorkommen. sett versorgt wird. Auf ein bemerkenswertes Phänomen wei-
10 Auf jeden Fall sind der obere und der untere Pol der Wir- sen Kopp und Plato (2003) hin, die eine Änderung der drei-
belsäule mit geeigneten Techniken zu behandeln, wobei sich dimensionalen Lage des Unterkiefers relativ zum Oberkiefer
11 an den Kopfgelenken einmal mehr die Atlastherapie bewährt durch Atlastherapie nachweisen konnten. Das Ausmaß der
hat, am Becken der modifizierte Drei-Punkte-Griff (s.u.), ggf. Lageveränderung betrug im Mittel bis zu 1 mm und ließ sich
vorbereitet durch myofasziale oder muskelenergetische Tech- mittels Modellanalyse im Artikulator darstellen.
12 niken. Diese Vorgehensweise erleichtert die Behandlung an
den übrigen dazwischenliegenden Segmenten entscheidend. Tipp
13 Auf diese Weise kann der Rotationsindex thorakal und lum-
Nicht selten wird auch beobachtet, dass eine Skoliose in
bal in einer Sitzung durchschnittlich um 2 mm verbessert
werden, was etwa 3° auf dem Skoliometer entspricht. Nach zeitlichem Zusammenhang mit dem Beginn einer kie-
14 Götze (1975) besteht eine lineare Korrelation zwischen Krüm- ferorthopädischen Behandlung (Brackets, aktive Plat-
mungswinkel nach Cobb und dem Rotationsindex. Aufgrund ten u.Ä.) auftritt; systematische Studien dazu fehlen bis-
15 der Pathodynamik einer Skoliose sind Rezidive der Segment- her. Als besonders fatal für die Progredienz einer Skolio-
se hat sich ein unter kieferorthopädischer Behandlung
blockierungen und der Beckentorsion zu erwarten, weswegen
regelmäßig kontrolliert und behandelt werden muss, ergänzt auftretender anteriorer Vorkontakt erwiesen, der unbe-
16 durch geeignete Physiotherapie (z.B. Methode nach Lehnert- dingt zu beseitigen ist.
Schroth). Die Behandlungsintervalle liegen je nach Progredi-
17 enz zwischen 2–4 Wochen.
k Funktionsdiagnostische Zeichen
Einen Zusammenhang zwischen kraniomandibulärem
18 System und Bewegungssystem zeigt auch das reproduzier-
bare Phänomen der variablen Beinlängendifferenz, das
19 im Falle einer kraniomandibulären Dysfunktion z.B. durch
maximale Interkuspidation, aktive Positionsänderung des
Unterkiefers oder sonstigen Stress auf das Kausystem her-
20 vorgerufen werden kann, in Schwebelage des Kiefer hinge-
gen nicht nachweisbar ist. Um die variable Beinlängendiffe-
renz als Ausdruck einer kraniomandibulären Funktionsstö-
rung werten zu können, muss selbstverständlich eine evtl.
Beckenringdysfunktion zuvor ausgeschlossen bzw. behan-
delt werden.
Aussagefähig, und möglicherweise auch selektiver als
. Abb. 10.16 Beckenschiefstand aufgrund einer Beckenverwrin- die variable Beinlängendifferenz oder vergleichbare Tests,
gung mit Ventralposition des rechten Iliums ist die Prüfung der isometrischen Kontraktionsfähigkeit
10.3 · Prävention und Rehabilitation
189 10
eines geeigneten Skelettmuskels (z.B. M. deltoideus, M. rec- Ferner existiert bekanntlich eine Konvergenz trigeminaler
tus femoris, M. latissimus dorsi usw.) entsprechend dem von und zervikaler Afferenzen (7 Kap. 7.4, Manuelle Behandlung
Goodheart angegebenen Muskelfunktionstest: Bei unge- des Kopfes), die deutlich über die Steuerung des Kauvorgangs
störter Funktion des Kiefersystems ist der Proband imstande, hinausgeht: Dickkalibrige, vorwiegend propriozeptive zer-
bei gleichzeitigem Stress ins kraniomandibuläre System (wie vikale Afferenzen reichen weit ins Thorakalmark hinab und
oben beschrieben) eine isometrische Kontraktion des Test- steigen bis zur kaudalen Brücke auf. Kerngebiete des Hirn-
muskels gegen Widerstand durchzuführen. Liegt eine Dys- stamms werden so direkt von dickkalibrigen Halsafferenzen
funktion vor (z.B. okklusaler Fehlkontakt, artikuläre Störung, erreicht. Endigungsgebiete primärer Hirnnervenafferenzen,
inadäquate kieferorthopädische Versorgung) ist der Proband vor allem des Trigeminus, steigen weit ins zervikale Rücken-
bei Stressprovokation kurzfristig nicht fähig, die isometrische mark ab (Neuhuber 1998).
Kontraktion gegen Widerstand zu halten. Bei der Durchfüh-
rung dieses im Grunde einfachen Muskeltests sind verschie- » Dadurch ergeben sich enorme Möglichkeiten der Interakti-
dene Dinge zu beachten, damit der Test zuverlässig gewer- on im Sinne einer Konvergenz zervikaler Segmente mit jenen
tet werden kann. Zu Einzelheiten sei auf die Darstellungen von Hirnnerven an sekundären Neuronen, die wiederum Aus-
in der einschlägigen Literatur verwiesen (Gerz 1996, Ramšak gangspunkt für lokale Reflexverschaltungen sowie auf- und
und Gerz 2001, Garten 2004). «
absteigende Bahnen darstellen. (Neuhuber 1998)

Tipp Bedenkt man in diesem Zusammenhang die anatomischen


und funktionellen Besonderheiten der autochthonen
Diese Methode eignet sich sehr gut zur Überprüfung Rückenmuskulatur, die vom Okziput bis zum Sakrum reicht
des Einflusses einer kieferorthopädischen Behandlung und über die Fascia thoracolumbalis Verbindung zu myofas-
auf die idiopathische Skoliose und bietet die Möglich- zialen Strukturen des Bauchraumes und Beckens aufnimmt
keit, die Ursache einer für die Krümmung nachteiligen (7 Kap. 7.3.3.1, Punkt 5), so erscheint eine Wechselbeziehung
Wirkung durch das kieferorthopädische Gerät zu ermit- zwischen kraniomandibulärem System und Achsenorgan kei-
teln und eine entsprechende Korrektur zu veranlassen. neswegs abwegig (7 Kap. 4.2, Propriozeption und autochthone
Rückenmuskeln).

> Wichtig
Grundsätzlich gilt, dass sich die Kieferorthopädie den
Zielen einer Skoliosebehandlung unterordnen muss,
denn die körperliche Beeinträchtigung durch eine Sko-
liose ist erheblich schwerwiegender als eine (mitun-
ter nur kosmetisch bedeutsame) Zahnfehlstellung. Zu- 1
dem ist längst bekannt, dass eine Kieferregulation auch
nach Abschluss des Wachstums erfolgreich durchge-
führt werden kann, während eine Skoliosetherapie kei-
nen Aufschub duldet.

k Innervation der Kau-, Zungenbein- und Nacken-


muskeln
Bei der Wechselwirkung zwischen kraniomandibulärer Dys-
funktion und Skoliose spielt möglicherweise die Innervation
der beteiligten Strukturen eine Rolle: Die Kaumuskeln werden 5 2
sensibel und motorisch vom 3. Trigeminusast, dem N. mandi-
bularis, innerviert; ebenso der M. mylohyoideus und der vor- 7 4
dere Bauch des M. digastricus, Muskeln, die bei feststehen-
dem Zungenbein an der Öffnung des Kiefers beteiligt sind.
An der Mundbewegung ist auch die Nackenmuskulatur betei- 4
ligt, die z.B. beim festen Zubeißen das größere Drehmoment
des Vorderschädels durch Kontraktion ausgleicht (Schmidt 3
1994). Das bedeutet: Muskelschlingen aus Kaumuskeln, Zun-
8
genbeinmuskeln und Nackenmuskeln werden beim Kauvor-
6
gang aktiviert (. Abb. 10.17).

» Diese muskuläre Koordination wird nicht zuletzt durch Ver- . Abb. 10.17 Muskelschlingen aus Kaumuskeln, Zungenbeinmus-
mittlung trigeminaler Spindelafferenzen aus Kaumuskeln … an keln und Nackenmuskeln. 1 M. temporalis. 2 M. masseter. 3 M. mylo-
den motorischen Apparat des zervikalen Rückenmarks ermög- hyoideus. 4 M. digastricus. 5 M. stylohyoideus. 6 infrahyale Muskula-
«
licht. (Neuhuber 2005) tur. 7 Nackenmuskulatur. 8 prävertebrale Muskeln
190 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie rechts. Leichte Gesichtsasymmetrie. Kraniomandibuläre Dys-


1 Die ersten Hinweise auf eine sich entwickelnde idiopathische funktion: mit muskulärer Dysbalance, Trigger-Punkten in der
Adoleszentenskoliose zeigen sich meist im Alter zwischen linksseitigen Kaumuskulatur und Dyschronie der Kieferbewe-
2 10–12 Jahren; dieser Zeitraum entspricht der 2. Wechselgebis-
speriode mit Verlust der Milchmolaren und Milcheckzähne,
gung. Abschwächung der isometrischen Testmuskelkontrakti-
on (M. rectus femoris) bei maximaler Okklusion und Translata-
Durchbruch der Prämolaren, der bleibenden Eckzähne und tion der Mandibula nach rechts. Röntgenologisch rechtskonve-
3 der bleibenden zweiten Molaren. Damit ist die Aktivität im xe thorakale Krümmung von 21°Cobb und linkskonvexe lumbale
kraniomandibulären System nicht beendet, denn in den dar- Krümmung von 23°Cobb (. Abb. 10.18 a). Wegen des Alters der
4 auffolgenden Jahren kommt es, abgesehen vom Durchbruch
der dritten Molaren, zu einem deutlichen Wachstums des
Patientin, des noch zu erwartenden Wachstums und des Rönt-
genbefundes wurde die Versorgung mit einem Chêneau-Kor-
Schädels und des Kiefers, dem sich die Zähne durch Verschie- sett erwogen, was die Patientin jedoch strikt ablehnte.
5 ben oder auch Rotieren anpassen. In diesem Alter, das mit der Therapie. Versorgung mit Bionator. Regelmäßige manualmedi-
2. Streckphase zusammenfällt, ist die Skoliose gewöhnlich am zinische Behandlung in 3- bis 4-wöchigen Abständen mit Atlas-
6 stärksten progredient. therapie, Manipulation der segmentalen Blockierungen und der
Nun ist die Entwicklung vom Milchgebiss zum blei- Beckenverwringung, vorbereitet durch Muskelenergietechnik.
benden Gebiss sowie das Wachstum von Kiefer und Schädel Myofascial Release der Schlüsselregionen, des zervikookkzipita-
7 natürlich kein Grund für die Entstehung einer Skoliose, da len Übergangs und der Kiefergelenke. Zusätzlich Krankengym-
jeder heranwachsende Mensch diesen Prozess durchmacht, nastik nach Lehnert-Schroth unter Anleitung in 3- bis 4-wöchi-
während die Prävalenz der Skoliose mit durchschnittlich 4%
8 angenommen wird (Harms 2007). Erst bei Zusammentref-
gen Abständen. Keine häusliche Gymnastik. Regelmäßige Über-
prüfung der Bionatorfunktion.
fen verschiedener Faktoren könnte eine kraniomandibuläre Im Alter von 14½ Jahren bei nachlassendem Therapieeifer vor-
9 Dysfunktion vor allem bei inadäquater kieferorthopädischer übergehende Verschlechterung des Rotationsindexes und
Versorgung die Entstehung und Progredienz einer Skoliose zunehmende Dezentrierung des Rumpfes. Nach Intensivierung
begünstigen. Als pathogenetische Faktoren werden disku-
10 tiert (Hefti 1998):
der Therapie und Bionator-Neuversorgung im weiteren Verlauf

4 Pubertärer Wachstumsschub,
11 4 erhöhtes somatotropes Hormon,
4 genetische Disposition usw.

12 Bemerkenswert ist, dass die Skoliose bei Tieren unbekannt


ist. Die Sonderkonstruktion der menschlichen Wirbelsäule
13 und die aufrechte Körperhaltung sind also offenbar Voraus-
setzungen für die Entwicklung einer Skoliose. Dies ist eine
Erkenntnis, die mit den Besonderheiten der sensomoto-
14 rischen Steuerungselemente des Achsenorgans und der Kon-
vergenz mit Hirnnervenafferenzen in Einklang steht.
15 Bei diesen Überlegungen handelt es sich nicht um eine
neue Hypothese zur Entstehungsweise der idiopathischen
Skoliose, sondern lediglich um klinische Beobachtungen, die
16 über einen langen Zeitraum an zahlreichen idiopathischen
Adoleszentenskoliosen gemacht werden konnten, und die
17 Hinweise auf regelhaft auftretende Zusammenhänge erlau-
ben. Für den Manualmediziner ergeben sich daraus diagnos-
tische und therapeutische Folgerungen, die bei konsequenter
18 Anwendung und interdisziplinärer Kooperation mit dem
Zahnmediziner oder Kieferorthopäden den Verlauf einer idi-
19 opathischen Skoliose günstig beeinflussen können und nicht
selten dazu beitragen, eine Korsettbehandlung unnötig zu
machen.
20 a b
Fallbeispiel
. Abb. 10.18 a, b 13-jähriges Mädchen mit S-förmiger idiopathi-
Patientin. 13-jähriges Mädchen mit S-förmiger idiopathischer
scher Skoliose. a Bei Behandlungsbeginn thorakale Krümmung von
Skoliose.
21°Cobb, lumbale Krümmung von 23°Cobb. Interdisziplinäre Therapie
Klinischer Befund. Rippenbuckel rechts mit Rotationsindex von mit manualmedizinischer Behandlung, Krankengymnastik nach Leh-
0,11, Lendenwulst links mit Rotationsindex von 0,1. Vertieftes nert-Schroth und kieferorthopädischer Versorgung (Bionator). b Pa-
Taillendreieck rechts. Beckenverwringung mit Anteriorposition tientin bei Wachstumsabschluss mit 16 Jahren. Besserung der Krüm-
des rechten Iliums und Kaudalposition des Os pubis rechts. Seg- mung: thorakal auf 12°Cobb, lumbal auf 15°Cobb. Wirbelsäule klinisch
mentale Dysfunktion S1 rechts, L2/3 rechts, Th4 links und C2/3 zentriert
10.3 · Prävention und Rehabilitation
191 10
Befundbesserung auf den Status quo ante. Therapiedisziplin im nachweisen lässt. Die Manipulation von iliosakralen Blockie-
weiteren Verlauf sehr gut. rungen wird durch die vorherige Behandlung des Muskels
Wachstumsabschluss mit 16 Jahren. Die abschließende Rönt- erleichtert. Bewährt hat sich die von Janda (1990) angegebene
genuntersuchung zeigt eine Besserung der Krümmung: thora- Behandlungstechnik.
kal auf 12°Cobb, lumbal auf 15°Cobb. Klinisch ist die Wirbelsäule
zentriert (. Abb. 10.18 b). j Technik
Der Patient liegt in Rückenlage. Der Therapeut steht auf der
Manualtherapeutisches Konzept Seite des zu behandelnden M. psoas maior. Mit den Finger-
Das manualmedizinische Therapiekonzept wird am Beispiel kuppen beider Hände sinkt der Therapeut am seitlichen Rand
der Adolezentenskoliose vorgestellt. Für die selteneren juve- des M. rectus abdominis nach mediodorsal in die Tiefe des
nilen und infantilen Skoliosen gelten die gleichen Behand- Abdomens, wo paravertebral ein meist sehr druckschmerz-
lungsgrundsätze. hafter Trigger-Punkt im M. psoas maior getastet wird. Zur
Die idiopathische Skoliose bietet dem Manualmediziner sicheren Identifizierung des Muskels kann der Patient eine
ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Beugebewegung im Hüftgelenk ausführen, die zu einer sofor-
Vorgehensweise bei der Untersuchung und Behandlung tigen Spannungserhöhung des Muskels führt. Der Therapeut
dieses klassischen orthopädischen Krankheitsbildes. Das in übt einen gleichbleibenden Druck auf den verkürzten Muskel
7 Übersicht 10.2 dargestellte manualtherapeutische Sieben- bzw. den Trigger-Punkt aus, während der Patient langsame
Punkte-Programm hat sich bewährt und kann als Orientie- Beuge-Streck-Bewegungen im Hüftgelenk ausführt. Nach
rung dienen. etwa 30 sec beginnt die Muskelspannung »wegzuschmelzen«,
und der anfänglich starke Druckschmerz verschwindet.

Übersicht. 10.2 Manualtherapeutisches Sieben- k Drei-Punkte-Detorsionsgriff am Becken (. Abb. 10.20)


Punkte-Programm Neben den bekannten Deblockierungstechniken am ISG, auf
1. Atlastherapie die hier nicht näher eingegangen wird, hat sich der modi-
2. Manipulation segmentaler Wirbelsäulendysfunktionen fizierte Drei-Punkte-Griff nach Sell zur Behandlung der
(einschl. Übergangszonen) Beckentorsion bewährt, die immer mit einer segmentalen
3. Detonisierung des M. psoas maior Dysfunktion verbunden ist und ein stereotypes Blockierungs-
4. Behandlung der Beckenfehlstatik durch Muskelener- muster zeigt. Die Griffdurchführung ergibt sich aus der Irri-
gietechnik tationspunktdiagnostik für S1 oder S3 (Bischoff 1994) und –
5. Myofasziales Lösen der Fascia thoracolumbalis in Abweichung vom klassischen Griff – aus der Stellung der
6. Drei-Punkte-Detorsionsgriff am Becken Ossa iliaca in der transversalen Achse (. Abb. 4.20 f).
7. Myofasziales Lösen und/oder Manipulation der Kiefer-
gelenke j Grifftechnik
Der Patient liegt in Bauchlage. Der Therapeut modelliert sein
dem Patienten zugewandtes Knie (hier rechtes Knie) mit dem
Atlastherapie (Punkt 1), chirotherapeutische Manipulation medialen Gelenkspalt dem unteren Sakrumpol (S3) an, des-
und myofasziale Lösetechniken (Punkte 2, 5, 7) wurden in sen Ventralisierung bei der Irritationspunktdiagnostik zum
den vorherigen Kapiteln eingehend besprochen. Nach den Verschwinden der Nozireaktion führt. (Daher stellt sich der
gleichen Behandlungsprinzipien wird auch bei der Skoliose Therapeut auf die Gegenseite dieses Sakrumpols, mit dem
vorgegangen. Eine ausführlichere Darstellung verlangt Gesicht zum Kopfende.) Mit einer Hand umfasst der The-
4 die Behandlung der Beckenfehlstatik mittels Drei- rapeut von ventral das nach anterior rotierte Ilium (hier das
Punkte-Griff (Punkt 6),
4 die Detonisierung des M. psoas maior (Punkt 3) und
4 die Muskelenergietechnik (Punkt 4).

Dabei wird besonders auf die Beckenverwringung und auf


dysfunktionelle Muster des Beckenrings eingegangen.

k Detonisierung des M. psoas maior (. Abb. 10.19)


Bei Vorliegen einer Beckenverwringung trifft man gewöhn-
lich auf eine Tonuserhöhung und meist auch erhebliche
Druckschmerzhaftigkeit des M. iliopsoas, der von Travell
und Simons (2000) wegen seiner Beteiligung an verschie-
denen regionalen und fortgeleiteten Schmerzuständen als
»versteckter Tunichtgut« bezeichnet wird. Auch bei sym-
ptomloser Beckentorsion im Rahmen einer Skoliose ist die-
ser Muskel betroffen, wobei sich vor allem im M. psoas maior
regelmäßig eine druckdolente, wulstförmige Muskelhärte . Abb. 10.19 Trigger-Punkt-Behandlung des M. psoas maior
192 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

funktionellen Stellungen des Sakrums wird hier verzichtet,


1 da die chirotherapeutischen Techniken am Sakrum einfacher
und effektiver sind als die Muskelenergietechnik.
2
Übersicht 10.3 Beckenfunktionsstörungen
3 5 Os pubis kaudal/kranial: Kongruenzstörung der Sym-
physe (. Abb. 10.21)
5 Upslip/Downslip des Os ilium: Stauchung des Os ili-
4 um gegenüber dem Os sacrum nach kranial oder kau-
dal (. Abb. 10.22)
5 5 Inflare/Outflare des Os ilium: Zu- oder Auffaltung des
Os ilium im Sinne einer Stellungsasymmetrie in der
Frontalebene (. Abb. 10.23)
6 5 Ilium posterior/anterior: Torsionstellung des Ossa ilia-
ca in der transversalen Achse (. Abb. 10.24)
7
j Untersuchung des Beckens
8 1. Prüfen des Vorlaufphänomens bei S1 und S3 im Sitzen. (In
dieser Position sind die Ischiokruralmuskeln entspannt.)
9 2. Inspektion/Palpation. Lagerung des Patienten auf dem
Rücken, Rumpf und Beine sind durchgehend gerade. Der
Therapeut steht seitlich der Untersuchungsliege und zwar auf
10 der Seite seines dominanten Auges (wichtig für die exakte
räumliche Erfassung der Befunde!), mit dem Rücken zum
. Abb. 10.20 Drei-Punkte-Griff am Becken
11 Fußende.

rechte!) in Höhe des vorderen Darmbeinstachels und übt eine


12 Vorspannung nach dorsal aus. Seine andere Hand modelliert
er an der gleichnamigen Spina iliaca posterior superior an mit
13 Vorspannung nach ventral. Aus gehaltener Vorspannung an
beiden Ossa iliaca und am unterem Sakrumpol (S3) wird ein
synchroner Impuls gegeben auf
14 a. S3 nach ventral (mit dem Knie),
b. ventral stehendes Ilium nach dorsal (mit der rechten
15 Hand),
c. dorsal stehendes Ilium nach ventral (mit der linken
Hand).
16 . Abb. 10.21 Os pubis kaudal rechts, kranial links
Die Schwierigkeit besteht in der synchronen Ausführung der
17 drei Bewegungskomponenten. Die Wirkung bei gelungener
Manipulation ist überzeugend!
18 k Muskelenergietechnik am Becken
Zur Vorbereitung des sehr effektiven Drei-Punkte-Griffs hat
19 es sich bewährt, bei einer rigiden dreidimensionalen Becken-
fehlstatik, gekennzeichnet durch
4 Torsion des Beckenrings,
20 4 Kongruenzstörung der Symphyse und
4 frontaler Stellungsasymmetrie der Darmbeinschaufeln,
die von F. Mitchell entwickelte und von Neumann (1985) vor-
gestellte Muscle Energy Technique am Becken einzusetzen.
Die chirotherapeutische Manipulation wird dadurch deutlich
erleichtert.
Nachfolgend werden Untersuchung und Behandlungs-
techniken der in 7 Übersicht 10.3 aufgeführten Beckenfunk-
tionsstörungen beschrieben. Auf die Beschreibung der dys- . Abb. 10.22 Upslip rechts bzw. Downslip links
10.3 · Prävention und Rehabilitation
193 10
2a. Begonnen wird mit der Palpation des Symphyseno- 2c. Anschließend wechselt der Patient in Bauchlage. Mit den
berrandes an den Tubercula ossis pubis: Ulnarkanten der Daumenendglieder werden nun die Sitz-
4 Stehen beide Tubercula in gleicher Höhe? beinhöcker palpiert und auf Gleichstand geprüft:
4 Weist die Symphyse eine Stufe auf, d.h., steht eine Seite 4 Hochstand bedeutet Upslip,
kaudal, die andere kranial? 4 Tiefstand bedeutet Downslip.

2b. Danach folgt die palpatorische und visuelle Beurteilung > Wichtig
der oberen vorderen Darmbeinstacheln: Die Benennung der Dysfunktion (Inflare/Outflare, Ups-
4 Stehen beide Spinae in gleicher Höhe und in gleichem lip/Downslip usw.) richtet sich nach der Seite des positi-
Abstand von der Mittellinie? ven Vorlaufphänomens.
4 Steht eine Spina näher zur Mittellinie (Inflare) oder wei-
ter davon entfernt (Outflare)? j Behandlungstechniken
4 Steht eine Spina höher (posterior) oder tiefer (anterior) j 1. Rechtes Os pubis steht kaudal (. Abb. 10.25)
als auf der Gegenseite im Sinne einer gegenläufigen Tor- Befund. Vorlaufphänomen rechts ist positv: Das rechte Tuber-
sion? culum ossis pubis steht tiefer als das linke.
Technik. Der Patient liegt in Rückenlage. Der Thera-
peut, auf der Gegenseite der Dysfunktion stehend, fasst mit
der tischfernen Hand das flektierte Knie der dysfunktio-
nellen Seite und beugt das gleichseitige Hüftgelenk, bis die
Bewegung am Tuber ossis ischii ankommt. Die andere Hand
umfasst dabei die Spina iliaca superior posterior mit Mittel-/
Ringfinger und Handballen beidseits des Tubers. Der Pati-
ent soll das Hüftgelenk mit geringem Krafteinsatz ca. 6 sec
gegen isometrischen Widerstand strecken und dann entspan-
nen. Nach 10 sec Pause wird das Hüftgelenk erneut bis an die
nächste Barriere gebeugt, wieder Strecken der Hüfte gegen
Widerstand, entspannen etc. Das isometrische Anspannen
soll 3- bis 5-mal wiederholt werden.

j 2. Linkes Os pubis steht kranial (. Abb. 10.26)


Befund. Vorlaufphänomen links ist positiv. Das linke Tuber-
culum ossis pubis steht höher als das rechte.
Technik. Der Patient liegt in Rückenlage, der Therapeut
steht auf der Seite der Dysfunktion. Die tischnahe Hand des
. Abb. 10.23 Outflare rechts, Inflare links Therapeuten liegt auf der Spina iliaca anterior superior der
Gegenseite, die andere fasst von ventral den Oberschenkel
der funktionsgestörten Seite (den Unterschenkel des Pati-
enten hält der Therapeut locker zwischen seinen Beinen
fest) und führt eine sachte Streckung im Hüftgelenk durch.

. Abb. 10.25 Muskelenergietechnik (MET) bei Tiefstand des Os pu-


. Abb. 10.24 Torsion: Ilium rechts posterior, Ilium links anterior bis rechts
194 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

1
2
3
4
5
6
. Abb. 10.26 Muskelenergietechnik (MET) bei Hochstand des Os . Abb. 10.27 Behandlung eines Upslip durch Traktionsimpuls
7 pubis rechts

Die Barriere ist erreicht, wenn die Bewegung an der gegen-


8 seitigen Spina iliaca anterior superior ankommt. Der Pati-
ent beugt nun aktiv mit geringer Kraft sein Hüftgelenk in
9 leichter Adduktion gegen den Widerstand der Therapeuten-
hand: isometrische Anspannung 5–6 sec, Entspannung ca.
10 sec. Danach erneutes Herangehen an die Barriere und etwa
10 3-malige Wiederholung des Manövers. Befundkontrolle, ggf.
Wiederholung des Vorgehens.
11
j 3. Upslip rechts (Hochstand des rechten Iliums)
(. Abb. 10.27)
12 Befund. Vorlaufphänomen rechts ist positiv: Tuber ossis ischii
steht rechts höher als links.
13 Technik. Der Patient liegt in Bauchlage. Der Therapeut
steht am Fußende des Patienten und umfasst das Sprungge- . Abb. 10.28 MET bei Downslip
lenk des betroffenen Beins. Das Bein des Patienten wird im
14 Hüftgelenk leicht abduziert, extendiert und innenrotiert. Der rale (. Abb. 9.29) bahnt diese Technik. Die Abbildung zeigt
Therapeut übt einen langsamen beständigen Zug am Bein eine modifizierte Griffanlage, da die klassische MET-Technik
15 aus, um die Vorspannung aus Hüfte und Knie zu nehmen. nicht kindentsprechend ist.
Aus dem gehaltenen Zug erfolgt ein ultrakurzer Traktionsim-
puls in Längsrichtung, ggf. gebahnt durch einen synchronen j 5. Inflare links (Zufaltung des linken Iliums)
16 Hustenstoß des Patienten. (. Abb. 10.29)
Befund. Vorlaufphänomen links ist positiv: Abstand des vor-
17 Tipp deren oberen Darmbeinstachels von der Mittellinie ist links
kleiner als rechts.
Es handelt sich eher um eine Manipulation als um Mus- Technik. Der Patient liegt in Rückenlage. Der Therapeut
18 kelenergietechnik! steht auf der Blockierungsseite und umfasst mit der kopfna-
hen Hand die Spina iliaca anterior superior der Gegenseite.
19 Die Hüfte der dysfunktionellen Seite wird soweit gebeugt,
j 3. Downslip rechts (Tiefstand des rechten Iliums) außenrotiert und abduziert, bis die Bewegung an der gegen-
(. Abb. 10.28) seitigen Spina iliaca anterior superior ankommt. (Variante:
20 Befund. Vorlaufphänomen rechts ist positiv: Tuber ossis ischii Der Therapeut umfasst das Sprunggelenk des abduzierten
steht rechts tiefer als links. Beins; Unterarm liegt auf dem Unterschenkel des Patienten,
Technik. Der Patient liegt auf der nicht blockierten Seite. Ellenbogen am Knie.) Nun adduziert der Patient mit gerin-
Die fußnahe Hand des Therapeuten modelliert sich am Tuber ger Kraft den Oberschenkel gegen den Widerstand des The-
ossis ischii der blockierten Seite an, die kopfnahe fixiert den rapeuten mit Hand oder Ellenbogen. Die isometrische
Körper an der Schulter. Der Therapeut übt mit der fußna- Anspannung soll 5–6 sec andauern, danach 10 sec vollstän-
hen Hand einen permanenten kopfwärts gerichteten Druck dige Entspannung. Dann die nächste Barriere ermitteln und
aus und bringt das Ilium zusammen mit der Atembewegung das Manöver etwa 3- bis 4-mal wiederholen, abschließend
nach kranial. Eine zuvorige Behandlung des Lig. sacrotube- Befundkontrolle.
10.3 · Prävention und Rehabilitation
195 10

. Abb. 10.29 MET bei Inflare des Os ilium . Abb. 10.30 MET bei Outflare des Os ilium

Zur Beendigung des Vorgangs wird das Bein unter bei-


behaltener Abduktion und Außenrotation im Hüftgelenk
gestreckt und in die Normalposition zurückgebracht.

j 6. Outflare links (Auffaltung des linken Iliums)


(. Abb. 10.30)
Befund. Vorlaufphänomen links ist positiv: Abstand des vor-
deren oberen Darmbeinstachels zur Mittellinie ist links grö-
ßer als rechts.
Technik. Der Patient liegt in Rückenlage; der Thera-
peut steht auf der Blockierungsseite. Die Fingerspitzen sei-
ner kopfnahen Hand umfassen hakelförmig den oberen
hinteren Darmbeinstachel der gleichen Seite und ziehen
diesen zu sich hin. In Beugestellung von Hüft- und Kniege-
lenk (Fußsohle aufgestellt) wird der Oberschenkel des Pati-
enten im Hüftgelenk adduziert, bis die Bewegung am Ilium . Abb. 10.31 MET bei Beckentorsion mit Posteriorstellung des Ili-
ankommt. Der Patient führt mit geringer Kraft eine isome- ums
trische Abduktion des Oberschenkels gegen die Hand des
Therapeuten durch: 5–6 sec anspannen, 10 sec vollständig
entspannen. Dem 3- bis 4-maligen Wiederholen schließt j 8. Beckentorsion: Rechtes Ilium nach anterior
sich eine Kontrolle an. (. Abb. 10.32)
Befund. Vorlaufphänomen rechts ist positiv: Der rechte vor-
j 7. Beckentorsion: Rechtes Ilium nach posterior dere obere Darmbeinstachel steht tiefer als der linke.
(. Abb. 10.31) Technik. Der Patient liegt auf der nicht blockierten Seite,
Befund. Vorlaufphänomen rechts ist positiv: Der rechte vor- den Blick zum Therapeuten gewandt. Die tischnahe Hand des
dere obere Darmbeinstachel steht höher als der linke. Therapeuten palpiert die Spina iliaca posterior superior der
Technik. Der Patient liegt in Rückenlage. Der Therapeut blockierten Seite, die tischferne Hand umfasst das blockie-
steht auf der Blockierungsseite und umfasst mit der tischna- rungsseitige Knie des Patienten und beugt bei flektiertem Knie
hen Hand die Spina iliaca anterior superior der Gegenseite. das Hüftgelenk soweit, bis die Bewegung am Ilium ankommt,
Die andere Hand greift von ventral das rechte Bein des Pati- tastbar an der Spina iliaca posterior superior. Unterschen-
enten am Oberschenkel und lässt es in leichter Innenrotation kel und Fuß des Patienten lehnen sich dabei an der Hüfte des
zwischen seinen eigenen Beinen so weit bodenwärts sinken, Behandlers. Aus dieser Stellung führt der Patient mit gerin-
bis die Bewegung an der gegenseitigen Spina ilica anterior ger Kraft eine isometrische Streckbewegung im Hüftgelenk
superior ankommt. Der Patient spannt 5–6 sec isometrisch durch, gegen den Widerstand des Behandlers. Dauer 5–6 sec,
gegen den Widerstand des Therapeuten in Hüftbeugung an. dann entspannen. Nach 10 sec erneutes Heranführen an die
Es folgt die vollständige Entspannung für 10 sec und das Barriere. Das Manöver wird 3- bis 4-mal wiederholt.
Ermitteln der nächsten Barriere bei insgesamt 3- bis 4 Wie-
derholungen.
196 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

1 Übersicht 10.4 Anwendungsfehler bei der


Muskelenergietechnik
Von Seiten des Therapeuten:
2 5 Zu harsches Angehen an die pathologische Barriere.
Richtig ist: Sachte an die Barriere »anschmiegen«.
3 5 Ausmaß und Richtung der isometrischen Kraft und
Gegenkraft sind fehlerhaft. Der Krafteinsatz muss
gering sein (50 Gramm!).
4 5 Zu kurze Pause zwischen den Anspannungen, zu
rasches Vorgehen!
5 Ein ausbleibender Therapieeffekt sollte nicht der Methode
angelastet werden, sondern der Durchführung.

6 Von Seiten des Patienten:


5 Zu großer Krafteinsatz.
5 Falsche Gegendruckrichtung.
7 . Abb. 10.32 MET bei Beckentorsion mit Anteriorstellung des Ili-
ums
5 Zu schnelles und ruckartiges Nachlassen der Anspan-
nung. Der Behandlungsablauf sollte ruhig, konzent-
8 j Allgemeine Vorgehensweise
riert und fließend sein, ohne Zucken und Zappeln.

! Regeln für die Vorgehensweise


9 5 Bei Dysfunktionen des Beckens immer mit der Be- Bei Anwendung des Sieben-Punkte-Programms in der manu-
handlung des Os pubis beginnen! ellen Skoliosetherapie muss nach jeder Behandlungssitzung
5 Slip-Blockierungen immer vor den Flare-Blockierun- das Ergebnis überprüft werden: Die Überprüfung beinhal-
10 gen behandeln! tet die Kontrolle der behandelten Segmente, der Beckenstatik
5 Inflare-/Outflare-Dysfunktionen können die erfolg- und des Rotationsindexes oder Skoliometerwertes sowie die
11 reiche Behandlung einer Beckentorsion (Ilium anteri- Überprüfung der Kieferfunktion, z.B. mittels isometrischem
or/posterior) verhindern. Daher immer vor der Torsi- Muskelfunktionstest nach Goodheart. Bei kraniomandibu-
on behandeln! lären Störfaktoren ist eine Intervention beim Kieferorthopä-
12 den oder Zahnarzt geboten.
In 7 Übersicht 10.4 werden die am häufigsten gemachten
13 Fehler bei der Anwendung der Muskelenergietechnik auf
einen Blick zusammengefasst.
14
15
16
17
18
19
20
197 11

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06.-08. Juni 1997
205 12

Anhang1

12.1 Anamnesebogen für Säuglinge und 12.4 Neurokinesiologische Untersuchung


Kleinkinder – 206 nach Vojta – 209

12.2 Grobmotorische Entwicklung 12.5 Anamnesebogen für Vorschul- und


vom 1. bis 12. Lebensmonat – 207 Schulkinder – 210

12.3 Entwicklung der Handmotorik 12.6 Motokybernetischer Test (MKT) – 211


vom 1. bis 12. Lebensmonat – 208

1 Sie finden alle im Anhang gezeigten Befundbögen als Internet-


Downloads unter www.springer.com/978-3-642-01432-1
206 Kapitel 12 · Anhang

12.1 Anamnesebogen für Säuglinge und Kleinkinder


1
2
© Dr. Wilfr
f id Coenen

3
Anamnesebogen für Säuglinge und Kleinkinder
4
5 Name, Vorn
r ame: Geburtsdatu
t m: Alter in Mo /J:

6
Überweisender Arzt: Kinderarzt:
7
8 Schwangerschaftsverlauf: normal Komp
m likationen (Welche? Zu welchem Zeitpunkt? Wie behandelt?):

9
10 Geburt: termingerechtt vorzeitig: ...........Wochen. Frühg
r eburt.. ................... SSW Spontangeburt Sectio Saugglocke Zange
Apgar......../........../............. Kompm likationen:
11
12
13 Alter(M) 3 Monate 6 Monate 8 Monate 9 Monate 11 Monate > 12 Mo.

14
15 Unterarm- Medianis. Hand- Drehen Drehen Robben 4–Füßer-
r fr
f eies ffreies
stü
t tz stü
t tz R/B B/R krabb
a eln Sitzen Gehen

16
17 Fragen an die Eltern
Weshalb stellen Sie Ihr Kind vor? Bitte beschreiben Sie:
18 t Welche Auffälligkeiten bestehen?
t Wann wurden diese Auffälligkeiten erstmals beobachtet und von wem?
19 t Nimmt Ihr Kind Medikamente? Welche? In welcher Dosierung?
t Welche Untersuchungen wurden bisher durchgeführt? (Befundberichte bitte
20 beifügen.)
t Wird Ihr Kind behandelt? Nach welcher Methode? Wer führt die Therapie durch?
Anhang
207 12
12.2 Grobmotorische Entwicklung vom 1. bis 12. Lebensmonat

Ngb

10

11

12
208 Kapitel 12 · Anhang

12.3 Entwicklung der Handmotorik vom 1. bis 12. Lebensmonat


1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Anhang
209 12
12.4 Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta

Name geb. am Alter Trimenon


Vorname Erstuntersuchung 0 Kontrolle 0 Datum

1. Trimenon 2. Trimenon 3. Trimenon 4. Trimenon

Traktion

Axillar-
hang

Landau

Vojta

Collis
vertikal

Collis
horizontal

Peiper-
Isbert
210 Kapitel 12 · Anhang

12.5 Anamnesebogen für Vorschul- und Schulkinder


1
2 © Dr. Wilfr
f id Coenen

3
Anamnesebogen für Vorschul- und Schulkinder
4
Name, Vorn
r ame: Geburtsdatu
t m: Alter in Jahren:
5
6 Überweisender Arzt: Kinderarzt:

7
Schwangerschaftsverlauf: normal Komp
m likationen (Welche? Zu welchem Zeitpunkt? Wie behandelt?):

8
9 Geburt: termingerechtt vorzeitig: .......Wochen. Frühgeburt.........
r .........SSW, Spontangeburtt Sectio Saugglocke Zange
Apgar......../........../..........
/ ... Komp
m likationen:

10
11
Motorische Entwicklung im Säuglingsalter: normal?.......... verlangsamt?.........................................
Gewohnheitshaltung von Kopf und/ d oder Rump m f? f Welcher Art?...........................................................
12 ...................................................................................................................................................... ...........
Vierfüßerkrabbeln? ............. Wann?..............(.Mo.) Gehbeginn?............................( Mo.)
13
Treppensteigen aufwärts: mit Halten und nachgestellt: Frei und nachgestellt: Mit Halten und
Fußwechsel Frei mit Fußwechsel (Bemerkungen:)
14 Treppensteigen abwärts: mit Halten und nachgestellt Frei und nachgestellt Mit Halten und
Fußwechsel Frei mit Fußwechsel (Bemerkungen:)
15 Rollerfahren:.............. Radfahren:..................... Klettern:.................
Karussellfahren:................................................................. Rennen:.........................................................
Spielverhalten:
16
17 Fragen an die Eltern
Bitte beschreiben Sie knapp:
Welche Auffälligkeiten bestehen bei Ihrem Kind bzgl.
18 t

t Grobmotorik,
t Feinmotorik,
19 t Bewegungskoordination,
t Konzentrationfähigkeit,
20 t sozialem Verhalten,
t schulischer Leistung etc.?
t Nimmt Ihr Kind Medikamente?
t Wurden andernorts Untersuchungen durchgeführt? Mit welchem Ergebnis?
t Wird Ihr Kind behandelt? Mit welcher Methode? Wer führt die Behandlung durch?
Anhang
211 12
12.6 Motokybernetischer Test (MKT)

MKT. Name Geb Dat Alter (J)


Punkte

1. Langsitz

2. Hochklettern und Abspringen von hüfthoher


Liege

3. Einbeinstand auf festem Untergrund

4. Einbeinstand auf weichem Untergrund


(Schaumstoffkissen)

5. Einbeinstand mit Auffangen und Rückwurf


eines Balls

6. Einbeinhüpfen

7. Einbeinhüpfen mit Hochwerfen und


Auffangen eines Balls

8. Hampe
m lmannsprung

9. Schersprung

10. Einbeiniger Stand auf einem Therapiekreisel

11. Purzelbaum

12. Seitliches Überhüpfen

13. Fersengang vor- und rückwärts

14. Hopserlauf

15. Seiltänzergang auf ausgelegtem


m Seil

16. Drehtest

Summe / Kategorie
213 A–F

Stichwortverzeichnis

Symbole B D
Haltungs- und Bewegungsmuster Babinski-Reflex 37 Detonisierung des M. psoas major 191
– Bauchlage 158 Babkin-Reaktion 23, 83 Dezerebration 12
– Drehen (seitliches Überrollen) 159 Bauer-Reaktion 24 Diparese 149, 151
– Gehfähigkeit 159 Becken – der Verwegene 152
– Greifen 159 – Behandlungstechniken 193 – Enger-Rock-Gang 152
– Hochziehen zum Sitz 159 – Biomechanik 55 – propulsive Form 152
– Hochziehen zum Stand 159 – mobilisierende Positionierung beim – Seiltänzer 152
– Sitzen 159 Säugling 113 dorsolumbaler Übergang
– Stehen 159 – Untersuchung 192 – chirotherapeutische Manipulation beim
»Männchen, Baum, Haus« 144 Beckenfehlstatik 176, 192 Säugling 103
Beckenfunktionsstörungen 192 – Manipulationstechniken 165
A Beckentorsion 187 – mobilisierende Positionierung beim
Beckenverwringung 81, 176, 187, 188 Säugling 112
Abdecktest (Cover-Test) 132, 177, 183
Beinabduktionstest 177 – myofasziales Lösen beim Säugling 111
ADL-Symptom 138
Beinlängendifferenz 176, 187, 188 Dorsolumbaler Übergang
Adoleszentenkyphose 186
Bestimmung des Entwicklungsalters 84 – manualmedizinische Untersuchung 81
Adoleszentenskoliose
Bewegungskoordination 133 – sensomotorische Schlüsselregion 57
– Diagnostik/Therapie 190
Bewegungsmuster Drehtest 143
– idiopathische 186
– abnormale 148
– manualtherapeutisches Konzept 191
Bewegungssystem 10, 42, 188 E
Amphetamine 137
Bindegewebe 107
Anfallsleiden 155 Eigenwahrnehmung 133
binokulares Sehen 131
Ashworth-Skala 160 Einbeinhüpfen 141
Blickbewegungsstörungen 183
Ataxie 155 – Hochwerfen und Auffangen eines
Blickmotorische Störung 131
Athetose 154 Schaumstoffballs 141
Blinder Fleck 183
– Choreoathetose 154 Einbeinstand 177, 183
Blockierung 75
– dystone Form 154 – Auffangen und Rückwurf eines Schaum-
– Blockierungsschema 61
– Spannungsathetose 154 stoffballs 140
– Dysfunktion der metameren Strukturen
Atlaskippung 50 – auf festem Untergrund 140
61
Atlasstellung 92, 93 – auf weichem Untergrund 140
– Merkmale 61
Atlasstellungsdiagnostik – Therapiekreisel 142
– neurophysiologisches Denkmodell 59
– palpatorische 97 Enterozeptoren 11
– Nozizeptorenaktivität 60
– röntgenologische 97 Entwicklungsgitter nach Kiphard 127
– Pathologie des Spindelrezeptors 61
Atlastherapie 90, 116, 161 entwicklungsneurologische Untersuchung
– pathophysiologische Aspekte 59
– Impulsrichtung 97 36
– Symptombild 59
– Impulsstärke 99 Erste Rippe
Bobath-Therapie 160
– Impulstechnik 98 – chirotherapeutische Manipulation beim
Brustwirbelsäule
Atlastherapie beim Säugling 95 Säugling 103
– manualmedizinische Untersuchung 80
– Durchführung 95 – manualmedizinische Untersuchung 80
BWS
– Kontraindikationen 97 Exterozeptoren 11
– chirotherapeutische Manipulation 103
– Kontrolluntersuchung 99 extrapyramidalmotorisches System (EPMS)
– Manipulationstechniken 163
– methodische Bedingungen 97 154
BWS-Manipulation
– Nebenwirkungen 96
– Pistolengriff 163
Atlastherapie nach Arlen 90, 133 F
– Rettungsgriff 164
Aufmerksamkeitsdefizit 123, 137
BWS, mittlere Fallbeispiele 180, 190
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
– sensomotorische Schlüsselregion 56 Fascia thoracolumbalis 46, 111
– ADHS (Hyperaktive) 124
Fechterhaltung 75
– ADS (Nicht-Hyperaktive) 124
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) 124 C Fechterhaltung (ATNR) 25
Federungstest 81
Aufrichtungsbewegung 13 Chaddock-Reflex 37
Fersengang 142
Aufrichtungsentwicklung 16, 42 Chirotherapie 1
Fersenreflex 37, 83
Augenmotorik 131 Commotio cerebri 181
Flachrücken 186
autochthone Rückenmuskulatur 42 Coxitis fugax 176
fortgeleiteter Schmerz (referred pain) 59, 176
– komplexes Verbundsystem 46
Friedreich-Ataxie 173
Axillarhängereaktion 30, 35
frontale Labyrinthstellreaktion (Seitkippre-
aktion) 71
214 Sachwortverzeichnis

Frühdiagnostik 158 I kopfgelenksinduzierte Symmetriestörung


1 Frühgeborenenphase 27
Iliosakralgelenke 54
(KISS) 95
Frühkindliche Reaktionen 23, 76 kopfgelenksunabhängige Symmetriestörung
– Bewegungsausschlag 55
funktionaler Streckreflex (FSR) 129 (KUSS) 95
2 Fußgreifreflex 25
– Blockierung 54, 56
– chirotherapeutische Manipulation beim
Kopfhaltung 93
Fußklonus 38, 83 Kopfkontrolle 35, 52, 53
Säugling 105
Kopfschmerzen 177
3 G
– manualmedizinische Untersuchung 81
Kopf- und Körperhaltung in Rücken-/Bauch-
– Mobilität 55
lage 75
Galant-Reaktion 24 – myofasziales Lösen beim Säugling 111
4 Gekreuzter Streckreflex 38 – myofasziale Verknüpfung 56
Körperaufrichtung 53
Körperkontrolle 15, 53
Gelenkrezeptoren 11 – Propriozeption 56
Körperstimulation bei Säuglingen 120
General Movements 27, 76 – Sonderkonstruktion 54
5 – computergestützte Analyseverfahren 28 – Stellungsasymmetrien 55
kortikospinale Störung 23, 83
Koxalgie 176
– qualitative Beurteilung 27 Ilioskralgelenke
Kranialisierung des Sakrums, Kaudalisierung
6 General Movements (autonome Massenbe-
wegungen) 22
– Blockierungsmuster beim Säugling 56
Impulstechnik am dorsolumbalen Übergang
des Iliums 107
Kraniomandibuläre Dysfunktion 188
geometrische Hilfslinien 92 104
Kutanozeptoren 11
7 Glabellareflex 25
Gleichgewichtsreaktionen 51
Impulstechniken 161
infantile Zerebralparese (IZP) 145
Gleichgewichtssteuerung 50, 128, 183 Innervation der Rückenstrecker 42 L
8 Glutealmuskulatur 82 Irritationspunktdiagnostik 62, 79, 102, 162 Labyrinthstellreaktion 77
Gordon-Reflex 37 Irritationspunkte 130 Labyrinthstellreaktion (LSR) 52
Grisel-Syndrom 67, 97, 180 ISG-Blockierung 104, 176 Landaureaktion 30, 35
9 Grobmotorik 15, 20, 127 IZP Langsitz 140
Gross Motor Function Measure Test 160 – Begleitstörungen 148 Lese-Rechtschreib-Schwäche 126, 134
Gutmann-Technik 95, 96 – Diagnostik 157 lumbosakraler Übergang
10 – Ersatzmotorik 153 – chirotherapeutische Manipulation beim
– Frühkindliche Hirnschädigung 146 Säugling 105
H
11 Halspropriozeptoren 52
– Klinisches Bild 149
– Klinische Zeichen 158
Halsstellreaktion 25 M
– manualmedizinische Behandlung 161
12 Halsstellreaktionen 77
Haltemuskulatur (posturale Muskulatur) 11
– Neurologische Untersuchung 159
Magnetreflex 23
Manipulationstechniken
– orthopädische Komplikationen 156
Haltereaktionen (tonische Reaktionen) 12 – Kontraindikationen 101
– Orthopädischer Befund 159
13 Haltungsfehler 185
Haltungs- und Bewegungsmuster
– Sehen und Hören 159
Manuelle Medizin 1
– Entwicklungsneurologie 2
– Supraspinale Kontrolle 148
– Rückenlage 158 – neurophysiologisches Konzept 1
– Therapieziele 160
14 Hampelmannsprung 141 Manuelle Therapie 1
Handgeschick 15 Mariotte-Versuch 183
Handgreifreflex 25, 83 K mentale Entwicklung 40
15 Handwurzelreflex 37, 83 Kaudalisierender Schub über das Sakrum M. erector spinae 42, 56, 57
Hassenstein-Formel 51 107 – lateraler Trakt 42
Hautinnervation 113 Kaudalisierungsschub über das Sakrum aus – medialer Trakt 44
16 Hemiparese 149, 153 Seitlage 107 metamere Strukturen 61
Herpes zoster 91 Kaumuskulatur 189 Methylphenidat 137
17 Heterophorie 132
HIO-Methode 95
Kiblerfalten 130, 161
kindliche Migräne 179
– Wirkung/Nebenwirkung 137
MFL des frontalen M.-occipitofrontalis-epi-
Hirschbergtest 131 Knackphänomen 101, 106 cranii-Bauches 119
18 Hochklettern und Abspringen von hüfthoher Knieschmerzen 176 MFL des M. temporalis 118
Liege 140 kongenitaler muskulärer Schiefhals 66, 79 MFL des M. temporoparietalis 118
Hopserlauf 142 Kontrakturen 172 MFL des M. temporoparietalis mit Ohrzug-
19 Horizontale Abhangreaktion nach Collis 31, Konvergenztest 131 technik 118
35 Kopfabhangversuch nach Peiper-Isbert 34, MFL fronto-parieto-okzipital (Release der Falx
Hüftdysplasie 176 35 cerebri 117
20 Hüftgelenke Kopfgelenke 47 MFL okzipital (Derotation der Squama occi-
– manualmedizinische Untersuchung 81 – Bewegungsmuster 47 pitalis) 117
Hüftgelenksluxation 156 – embryologische Aspekte 49 MFL temporookzipital (infratentorielle Mem-
HWS – manualmedizinische Untersuchung 79 branbehandlung 117
– Manipulationstechniken 162 – Muskeln für sensorische und motorische MFL temporo-parieto-okzipital (supratentori-
– myofasziales Lösen beim Säugling 109 Aufgaben 50 elle Membranbehandlung) 117
– segmentale Dysfunktion 52 – physiologische Stellungsasymmetrien 48 mimische Muskulatur 115
hyperkinetisches Syndrom 123 kopfgelenksinduzierte Dyspraxie und Dyskal- minimale zerebrale Dysfunktion (MCD) 125
kulie (KIDD) 138 minimale Zerebralparese (MCP) 125
Sachwortverzeichnis
215 G–S
Mobilisierende Positionierung 165 O – Myofasziale Lösetechniken 107
Morbus Perthes 176 – myofasziale Lösetechniken am Kopf 116
Opisthotonus 35, 87, 149
Morbus Scheuermann 186 – Myofasziales Lösen an den Schlüsselregi-
Oppenheim-Reflex 37
Moro-Reaktion 24 onen 109
Orthopädischer Status 76
motokybernetischer Test (MKT) 126, 139 – Röntgenmorphologie 91
osteopathische Behandlungstechniken 1
M. piriformis 176 – Therapieziele 89
M. sternocleidomastoideus 66, 79 – Unspezifische exterozeptiv-propriozeptive
Multiple Sklerose 91 P Stimulation 120
Muskeleigenreflexe (MER) 37 peripher-dysfunktionelles Syndrom 36 Säuglingsskoliose 64
Muskelenergietechnik 191 periphere Nervenläsionen 184 Schädelasymmetrie
– am Becken 192 Periphere Nervenläsionen – Kopforthese 119
– Anwendungsfehler 196 – Armplexusparese 184 Schädelprellung 181
Muskelfaszien 108 – obere Plexusparese 184 Schersprung 141
– aktive Kontraktion 108 – untere Plexusparese 184 Schlussrotation des Atlas 79
– Mechanorezeptoren 108 phasische Muskeln 12 Schräglagesyndrom 64
– Myofascial Release 108 Phasische Streckreaktionen der Extremitäten Schreikind 65, 116
Muskelfunktionstest nach Goodheart 189 37 Schreitreaktion 23
Muskelleistung Placing-Reaktion (Steigreaktion) 24 Schulkopfschmerz 177
– phasische 10 Plagiozephalie 119 segmentale Dysfunktion 46
– tonische 10 Plexus cervicalis 113 segmentale Dysfunktionen 59
Muskelspindel 10, 11 Poliomyelitis 91 Segmentale Dysfunktionen 58
Muskeltonus 52, 59, 60, 148, 160 Posttraumatische Zustände 181 segmentale peripher-artikuläre Dysfunktion
Muskuloskelettale Schmerzen 175 posturale Entwicklung 53 59
– manualmedizinische Behandlung 176 Prävention 185 segmentale Wirbelsäulendysfunktion
Myofasziales Lösen Primitivreflexe 149 – Pathophysiologie 59
– Gewebereaktion 109 Pritschen 121 Segmentdiagnostik 130, 161
Myotonien 173 Progressive Muskeldystrophie 173 Sehnenrezeptoren 11
Propriozeption 42 Seiltänzergang 143
N – Propriozeptive Signalanlage 44 Seitliches Überhüpfen 142
Propriozeptoren 11, 42 Seitneigetest 78
Nackenrezeptoren 51, 53
psychomotorische Retardierung 123 Sensomotorik
Nackenschmerzen 175
psychoorganisches Syndrom (POS) 123 – informationsverarbeitendes dynamisches
Neurasthenie 123
Purzelbaum 142 System 10
neurokinesiologische Untersuchung nach
Pyramidenbahnen 154 sensomotorische Dyskybernese
Vojta
Pyramidenbahnläsion 149 – Bedeutung der Nackenrezeptoren 130
– abnormale Reaktionen 35
Pyramidenzeichen 37, 83 – Diagnostik 126
– Bewertung der Reaktionen 35
– Differenzialdiagnosen 133
– Fehlerquellen 34
– entwicklungsneurologische Störung 132
– Interpretation abnormaler Reaktionen 36 Q – Erkenntnisleistungen 124
Neurokinesiologische Untersuchung nach Quengelschienen 146 – Fallbeispiele 134, 135
Vojta 83
– Hyperaktivität 123
neurologische Basisdiagnostik 133
Neurologische Untersuchung 83
R – Hypoaktivität 123
Räkelphase 27 – Katalog-Diagnose 137
neuromotorische Entwicklung 21
Recoil-Technik 101, 162 – klinische Zeichen 123
Neuromotorische Untersuchung des Säug-
Reflektierte Konvergenz 132 – Körperkontrolle und Orthographie 134
lings 22
Rehabilitation 185 – manualmedizinische Untersuchung 130
neuromotorische Zeichen 67
Rezeptoren 11 – Ritalin-Offenbarung 124
neuromuskuläre Erkrankungen 173
Rezeptorenschmerz 59, 68, 175 – sensomotorische Fehlsteuerung 124
N. facialis 113, 115
Ritalin 124, 138 – sensomotorische Fehlsteuerung als pri-
N. hypoglossus 113
Roche-Reflex 37 märe Störung 135
N. occipitalis major 44, 113
Rossolimo-Reflex 37, 83 – Therapie 133
normale Entwicklung des Säuglings 15
Rotationsmanipulation 163 – Verhaltensauffälligkeiten 125
– Entwicklungsschritte in Bauch-/Rücken-
Rotationsmobilisation 102 – Vordiagnosen 125
lage 16
Rückenschmerzen 175 – Wahrnehmungschaos 132
– Entwicklungsstufen im 1. Lebensjahr 21
Sensomotorische Dyskybernese 123
– Handmotorik 20
sensomotorische Entwicklung 21
Nozizeptoren 11 S – Entwicklungsschritte vom 15. Lebensmo-
N. suboccipitalis 44 Säuglingsbehandlung nat bis zum 6. Lebensjahr 39
N. trigeminus 113, 115 – chirotherapeutische Manipulation 100 sensomotorische Integrationsstörung 123
N. vagus 113 – Kraniosakrale Osteopathie 114 sensomotorische Steuerung 11
– Manualmedizinische Behandlungstech- sensomotorische Störungen
niken 89 – manualmedizinische Verfahren 89
– Manuelle Behandlung des Kopfes 113 sensorische Schlüsselregionen 42
– mobilisierende Positionierung 107 – segmentale Dysfunktionen 58
216 Sachwortverzeichnis

Sensorsystem 11 U
1 Siebener-Syndrom 64
Unspezifische Manipulation der ISG über das
Sieben-Punkte-Programm 191
Tuber ossis ischii 105
Spastik 36, 38, 149
2 – klinische Zeichen 149
Unspezifische Mobilisation der intervertebra-
len und kostotransversalen Gelenke 103
spastische Bedrohung 36
Spinale Muskelatrophie 173
3 Sprachentwicklung 126 V
statokinetische Reaktionen 12 Ventralisationsgriff an der BWS 103
4 Stellreaktionen 12
Streckphasen 40
Ventralisierender Impuls über den oberen
oder unteren Sakrumpol 105
Stützmotorik 11, 53, 155 Ventralisierender Impuls über den unteren
5 subokzipitale Muskeln 44, 51, 96
Suchreflex (Rooting-Reaktion) 23
Sakrumpol 105
Ventralisierender Multangulumschub auf S1
Suprapubischer Streckreflex 38 oder S3 106
6 Symmetrie 94 Verhaltensauffälligkeiten 65
Symmetriestörung 67 Vertikale Kopfabhangreaktion nach Collis
Systemtheorie 10, 61 31, 35
7 Vertikalimpuls 162
T Vigilanz 42, 120, 135
8 Teilleistungsstörungen 126
Villinger Schema 75, 100
Viszerozeptoren 11
Telerezeptoren 11
Vojtareaktion 31, 35
Tetraparese 149, 150
9 – akinetische 150
Vojta-Reaktion 71
Vojta-Therapie 160
– geschickte 151
Vorlaufphänomen 80, 192
– mit horizontaler Antigravität 150
10 – mit subkortikalen Automatismen 150
– mit vertikaler Antigravität 150 W
11 Tonusasymmetrie-Syndrom
– Abgrenzung zu IZP 86
Wahrnehmungsinformationen 51
Wahrnehmungsverarbeitung 61, 120
– der schiefe Säugling 63 Wirbelkörperentwicklung 49
12 – Differenzialdiagnosen 67
– Dysfunktion der Kopfgelenke 68
– Hüftdysplasie 66
Z
13 – klinische Zeichen 64 Zappelphase 27
– Labyrinthstellreaktion 71 zentrale Bewegungsstörung 158
– manualmedizinische und neurologische Zentrale Hypotonie 155
14 Standarddiagnostik 75 zentrale Koordinationsstörung 36
– pathogenetische Überlegungen 73 Zervikodorsaler Übergang
– chirotherapeutische Manipulation beim
15 – pathologische Haltungsasymmetrie 66
– physiologische Haltungsasymmetrie 65 Säugling 102
– Problemlösung Sectio 74 – manualmedizinische Untersuchung 80
16 – reflektorische Tonussteuerung 69 zervikodorsale Übergangsregion
– myofasziales Lösen beim Säugling 110
– Schädelasymmetrie 73
– Schiefhals 66 zervikogene Hörstörung 91
17 – Segmentale Dysfunktion der Wirbelsäule zervikogener Schwindel 91
zervikookzipitaler Übergang 49
72
– spastische Bedrohung 67 – mobilisierende Positionierung beim
18 – Verhaltensauffälligkeiten 65 Säugling 112
Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS) 52, 63 Zervikookzipitaler Übergang
– chirotherapeutische Manipulation beim
19 Tonuserhöhung 60
Tonusstörung 149 Säugling 101
Tortikollis, akuter 179 – Myofasziales Lösen beim Säugling 109
Zervikothorakaler Übergang
20 Tragling 25
– sensomotorische Schlüsselregion 56
Traktionsimpuls 102
Traktionsreaktion 35 zervikozephales Syndrom 91
traumatische Fibularisläsion 184 Zervikozephales Syndrom 182
Treppabsteigen 128 Zielmotorik 12, 53, 154
trigemino-faziale Kommunikation 115 Zwangsrotation des Axis 50
trigemino-zervikale Konvergenz 113 Zwerchfell
Tunnelmodell 92 – myofasziales Lösen beim Säugling 110

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