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Dr. med. Wilfrid Coenen
1 Schäfersteig 29
78048 Villingen
2
Geleitwortverfasser:
Professor. Dr. Toni Graf-Baumann
3 Schillerstr. 14
D-79331 Teningen
4 T 07641-92240
F 07641-922410
M 01 71 17 50 350
5 Graf-Baumann@t-online.de
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8
Ê Sagen Sie uns Ihre Meinung zum Buch: www.springer.de/978-3-642-01432-1
9
ISBN-13 978-3-642-01432-1
10 Springer Medizin Verlag Heidelberg
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sung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheber-
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springer.de
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© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010
17 Printed in Germany
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betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
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Planung: Marga Botsch, Heidelberg
Projektmanagement: Claudia Bauer, Heidelberg
Lektorat: Maria Schreier, Heidelberg
Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin
Satz: medionet Publishing Services Ltd., Berlin
SPIN: 12650903
Geleitwort
Es gehört zu den vornehmsten Pflichten eines Arztes, sich ein Leben lang weiterzubilden und seine Kenntnisse
zum Wohle der sich ihm anvertrauenden Patienten zu erweitern.
Wilfrid Coenen ist über mehrere Jahrzehnte erfolgreich in eigener orthopädischer Fachpraxis tätig. Er erwarb
sich einen besonderen Ruf als Manualmediziner und Atlastherapeut. Sein besonderes Interesse galt der Behand-
lung von Kindern.
Neben (oder trotz)) seiner großen Praxis bildete er sich ständig weiter, entwickelte eigene Gedanken, publi-
zierte sie in Fachzeitschriften und trug sie auf wissenschaftlichen Kongressen vor. Er gründete das Institut für
Manualmedizin und Entwicklungstherapie (IMMET) in Villingen, um das von ihm erarbeitete Wissen und seine
Erfahrungen in Kursen weiterzugeben.
Wilfrid Coenen legt jetzt im diesem lang erwarteten Buch eine umfassende Zusammenschau des Wissens um
die physiologische und pathologische Entwicklung des Kindes und eine Reihe von Krankheitsbildern vor. Was
man sich sonst aus vielen Veröffentlichungen oder Büchern zusammensuchen muss, ist hier übersichtlich und
schlüssig wie aus einem Guss dargestellt.
Coenen schlägt Brücken von der Neurophysiologie und Entwicklungsphysiologie zur Pädiatrie, zur Ortho-
pädie und zur Manuellen Medizin. Nach einer eingehenden Schilderung des Basiswissens werden Diagnose und
Therapie der verschiedenen klinischen Bilder ausführlich dargestellt. Dabei hebt er besonders die entwicklungs-
neurologische Bedeutung segmentaler Wirbelsäulendysfunktionen im frühen Kindesalter mit ihren Folgen für
Raumwahrnehmung, Bewegungsentwicklung und kognitive Prozesse hervor, die mit den Techniken der Manuel-
len Medizin erkannt und behandelt werden.
Eine reiche Bebilderung des Textes trägt wesentlich zur Verlebendigung des Stoffes bei.
Das Buch wendet sich an Ärzte und Physiotherapeuten, auch ohne manualmedizinische Vorkenntnisse. Es
gehört – nach eingehendem Studium – auf den Schreibtisch jedes Arztes, der sich mit der Untersuchung und
Behandlung von Kindern befasst – und in die Hände des Physiotherapeuten gleichermaßen.
Geleitwort
Dieses Buch ist längst überfällig, doch es zu schreiben, ist es ein fast heroisch zu nennendes Unterfangen. Dem
Autor musste es gelingen, sehr viele und auch heute noch teilweise kontrovers diskutierte Aspekte mit dem in Kli-
nik und Wissenschaft anerkannten Grundwissen der Grundlagenforschung, Biomechanik und Neurophysiologie
unter den berühmten »Hut« zu bekommen.
Basierend auf einer hervorragend gelungenen Einführung in die zentrale Repräsentation des Raumes, über
die normale Entwicklung des Säuglings, hin zu den Prinzipien der Wahrnehmung und Körperkontrolle, entwi-
ckelt der Autor ein Verständnis, das weit über die elementaren Regeln der Manuellen Medizin hinausgeht. Aber
erst durch diesen »Bogen« eröffnet sich dem Leser, gleich, welcher medizinischen Disziplin er angehört, ein Ver-
ständnis für die kindlichen Funktionsstörungen, die einer besonderen manualmedizinischen Diagnostik und The-
rapie zugänglich sind.
Manche Teilaspekte dieser äußerst umfangreichen medizinischen Problematik wurden bereits von einigen
Autoren thematisiert und in Fachbüchern und nennenswerten wie auch unsäglichen Beiträgen in wissenschaft-
lichen Zeitschriften veröffentlicht.
Auch Wilfrid Coenen hat vieles, was sein neues Buch beinhaltet, nicht allein, sozusagen im stillen Kämmerlein
seiner auf Säuglinge und Kinder spezialisierten orthopädischen Praxis entwickelt, sondern in Zusammenarbeit mit
zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus der Manuellen Medizin, der Neuropädiatrie u.a.m.
Aber ihm ist es gelungen, eine im klinischen Alltag umsetzbare Ordnung in die Vielfalt der Fragestellungen zu
bringen, bis hin zu Vorlagen für Befundbögen, die es jedem auf diesem Gebiet Tätigen ermöglichen, eine bestens
dokumentierte Verlaufsbeschreibung zu nutzen, was ja gerade in der Entwicklung des funktionsgestörten Säug-
lings von größter Bedeutung ist.
Ich habe Wilfrid Coenen und viele seiner Mit- oder Mit-ihm-Streiter über die letzten Jahrzehnte begleitet.
In der eigens gegründeten Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin bei Kindern und Atlastherapie (ÄMKA) spielt
Wilfrid Coenen eine herausragende Rolle, gerade, was die Ordnungsfragen in diesem schwierigen medizinischen
Umfeld betrifft. Denn es gilt ja auch, den betroffenen Eltern nachvollziehbar und immer wieder ein Stück weit die
Angst vor dem Schicksal des eigenen Kindes zu nehmen und ihnen die Zusammenhänge zwischen der Funktions-
störung und dem therapeutischen Ansatz zu erklären.
Es wäre wünschenswert, dass mit Erscheinen dieses Buches auch Universitätspädiater bzw. Neuropädiater
beginnen, sich ernsthaft mit dieser Materie auseinanderzusetzen und das Thema »Manuelle Medizin bei Säuglin-
gen und Kindern« nicht automatisch ignorieren.
Hoffnungsvoll ist die Tatsache, dass Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin mittlerweile Fortbildungskurse
in manueller und osteopathischer Säuglings- und Kinderbehandlung wahrnehmen, u.a. am Kinderzentrum Ruhr-
gebiet der Universitätsklinik Bochum.
Zum Wohle der Säuglinge, Kinder und ihrer Eltern sei diesem Buch eine größtmögliche Verbreitung
gewünscht.
Dem Springer-Verlag sei gedankt, dass er dieses Buch verlegt. Ich bin froh über dessen Erscheinen und dank-
bar, dass ich das Geleitwort schreiben durfte.
Geschäftsführer Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes, Deutsche Schmerzgesellschaft (DGSS/DSG)
Hauptgeschäftsführer Deutsche Gesellschaft für Muskulo-Skeletale Medizin (DGMSM)
Akademischer Beirat Deutsche Akademie für Angewandte Sportmedizin (DAASM)
Member FIFA Sportsmedical Committee
Mitglied der Sportmedizinischen Kommission des Deutschen Fußballbundes (DFB)
Vorsitzender des Stiftungsrates der Athenaeum-Stiftung Dr. Dietrich Götze
Chefredakteur des Hessischen Ärzteblattes (Landesärztekammer Hessen)
XI
Vorwort
Die Anwendung manualmedizinischer Konzepte bei Säuglingen und Kindern ist nicht nur aus schmerztherapeu-
tischer Sicht von Bedeutung, sondern eröffnet vor allem neue Möglichkeiten in der Behandlung sensomotorischer
Störungen. Über die biomechanische Betrachtungsweise hinaus sind reversible Funktionsstörungen des Bewe-
gungssystems in der frühkindlichen Phase auch aus entwicklungsneurologischer Sicht zu bewerten mit entspre-
chenden Konsequenzen für die Prognose und die therapeutische Zielsetzung.
Dieses Buch will die dazu erforderlichen Grundkenntnisse vermitteln und die neuro-physiologischen Zusam-
menhänge deutlich machen. Es bietet ausführliche Anleitungen zur Beurteilung und Behandlung von Kindern mit
peripheren und zentralen Bewegungsstörungen, muskuloskelettalen Schmerzen und Wirbelsäulendeformitäten.
Darüber hinaus soll es das systematische Erlernen der diagnostischen und therapeutischen Techniken unterstüt-
zen und als Nachschlagewerk für die Praxis beim Umgang mit kindlichen Patienten dienen.
Das Buch wendet sich nicht nur an manualmedizinisch tätige Ärzte, sondern auch an Pädiater, Orthopäden,
Allgemeinmediziner, Physiotherapeuten und interessierte Laien. Nicht zuletzt soll es dazu beitragen, der mitunter
kontroversen Diskussion zum Thema »Manualtherapie bei Kindern« eine sachliche Grundlage zu bieten.
Allen, die zum Gelingen des Buches beigetragen haben, sei hier herzlich gedankt: Herrn Dr. Heinz-Dieter Neu-
mann für sein Geleitwort, seine fachlichen Ratschläge und seine Ermutigung, dieses Buch zu schreiben. Herrn
Prof. Toni Graf-Baumann für sein Geleitwort und die tatkräftige Unterstützung bei der Verlagssuche und dem
Springer-Verlag für die gute und freundliche Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank geht an meine Frau: für die
sachlichen Hinweise, die kritische Durchsicht des Manuskriptes und vor allem für die Geduld und Nachsicht, die
ihr bei der Entstehung dieses Buches abverlangt wurden.
Wilfrid Coenen
Villingen, im Juli 2009
XIII
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
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11
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19
20
XV
Vita
Einführung
» Obwohl es viele Namen gibt, so sind die Künste nicht ge- wissenschaftlichen Maßstäben gelehrt und ist seit 1976 aner-
trennt, und ein Wissen ist nicht von dem anderen geschieden; kannte vertragsärztliche Behandlungsart. Unter dem Oberbe-
«
denn eines ist in allem. Paracelsus griff Manuelle Medizin werden hierzulande Chirotherapie als
rein ärtzlicher Heileingriff, Manuelle Therapie als physiothe-
Als unveräußerlicher Bestandteil aller Kulturen ist die Medi- rapeutisches Verfahren sowie sog. osteopathische Behand-
zin von jeher Wandlungen und Veränderungen unterwor- lungstechniken zusammengefasst.
fen in Abhängigkeit von den Bedürfnissen der verschiedenen
Gesellschaften, deren Erkenntnisfähigkeit und Weltbild. In
gleicher Weise wandelten sich im Laufe der Geschichte auch Ein neurophysiologisches Konzept
das Bild des Arztes, seine Aufgabengebiete sowie seine metho- Die traditionelle Aufgabe der Manuellen Medizin ist die
dischen und wissenschaftlichen Paradigmen. Erkennung und Behandlung reversibler Funktionsstörungen
Als im 19. Jahrhundert die Medizin Gegenstand systema- des Haltungs- und Bewegungssystems. Nach heutigem Wis-
tischer naturwissenschaftlicher Forschung wurde, konnte sie sensstand äußert sich die Pathophysiologie einer reversiblen
bereits auf einen reichhaltigen Schatz überlieferten Wissens Dysfunktion nicht nur in einer gelenkmechanischen Störung,
zurückgreifen, zusammengetragen von unterschiedlichen sondern ist vor allem durch eine neurologische Komponen-
medizinischen Schulen verschiedener Epochen und Kultur- te gekennzeichnet mit Auswirkungen auf myofasziale, vege-
kreise. Darin enthalten waren auch wertvolle Elemente der tative, viszerale und zentralnervöse Funktionen (Wolff 1996).
Volksmedizin, die von nicht studierten Heilkundigen seit Subjektiv geben sich segmentale oder peripher-artiku-
alter Zeit ausgeübt und weitergegeben wurden. Die naturwis- läre Dysfunktionen als akute oder auch chronisch rezidivie-
senschaftliche Medizin machte sich zur Aufgabe, das Vorge- rende Schmerzzustände am Bewegungsapparat zu erkennen,
fundene auf seine wissenschaftliche Substanz zu prüfen und bevorzugt an der Wirbelsäule, verbunden mit Bewegungs-
von spekulativem oder okkultistischem Beiwerk zu reinigen. und Belastungseinschränkungen. Die wissenschaftlichen
Dabei konnte auch auf die Erfahrungen von Badern, Wun- Grundlagen der Manuellen Medizin wurden vorwiegend
därzten, Kräuterkundigen und dergleichen zurückgegriffen nach schmerztherapeutischen und rehabilitationsmedizi-
werden, um sie für die moderne wissenschaftliche Medizin nischen Gesichtspunkten erarbeitet, nicht zuletzt auch wegen
nutzbar zu machen. der volkswirtschaftlichen Bedeutung schmerzhafter Wirbel-
Die Behandlung von Schmerzzuständen an Wirbelsäu- säulenerkrankungen und ihrer hohen Inzidenz in den Indus-
le und Gliedmaßen mittels spezieller Handgriffe ist ebenfalls trieländern (Wolff, Neumann, Sell, Bischoff, Dvořák, Lewit,
eine uralte Methode, eine Volkskunst, die traditionell von Gutmann, Sachse, Frisch, Psczolla, Janda, Stoddart, Tilscher,
Laienbehandlern mit der kernigen Berufsbezeichnung »Kno- Eder, Kapandji, Frölich, Baumgartner u.a.m.). So ist es zu
chensetzer« durchgeführt wurde. erklären, dass sich die manualmedizinischen Untersuchungs-
Recht spät erst weckte diese Methode das Interesse der und Behandlungsmethoden vorwiegend aus den Erfah-
Mediziner. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen Ärztegrup- rungen mit erwachsenen Patienten entwickelten.
pen in Europa und Amerika mit der systematischen Erfor- Wie sich herausstellte, sind diese Techniken allerdings
schung dieser Behandlungstechniken, um sie auf eine natur- nicht ohne Weiteres auf Säuglinge und Kinder übertragbar.
wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Was sich anfangs als Auch im Kindesalter gibt es durchaus Schmerzzustände, die
etwas grobschlächtige Renkerei von Chiropraktikern präsen- auf segmentale Dysfunktionen des Achsenorgans zurück-
tierte, … »entwickelte sich in ärztlicher Hand bald zu einer zuführen sind: beispielsweise der akute Tortikollis, der sog.
umfassenden funktionellen Betrachtungsweise, zur Manuel- Schulkopfschmerz, bestimmte Koxalgien, funktionelle Knie-
len Medizin. Sie fügt sich nahtlos in die bereits vorhandenen beschwerden, um nur einige zu nennen. Je jünger jedoch das
wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse ein«, schrieb Kind ist, und je weniger es seinen Schmerz benennen kann,
H.-D. Neumann in seinem erstmals 1983 erschienenen Buch desto mehr verstecken sich diese Schmerzzustände hinter
»Manuelle Medizin«. Aus der ungezielten, mitunter gewalt- anderen Symptombildern. Daraus ergeben sich zusätzliche
samen Chiropraxis entwickelte sich die gezielte, exakt seg- diagnostische Gesichtspunkte und gänzlich neue therapeu-
mental durchgeführte Chirotherapie. tische Zielvorstellungen. Die Manuelle Medizin bei Kindern
Diese Methode, wegen ihrer Wirkungsweise auch »unblu- musste daher eigene Wege gehen, um von der schmerzthera-
tige Chirurgie« genannt (Lewit 1997), wird an den Schulen der peutischen Indikation mit überwiegend gelenkmechanischer
Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) nach Betrachtungsweise zu einer eigenständigen neurophysiolo-
2 Kapitel 1 · Einführung
gischen Konzeption mit entwicklungsneurologischer Indi- kürzt KISS (Biedermann 1991, 1993), davon ausgehend, dass
1 kation zu gelangen, ohne dabei den methodischen und wis- sog. Symmetriestörungen bei Säuglingen und Kindern stets
senschaftlichen Boden der etablierten Manuellen Medizin zu auf eine Funktionsstörung der Kopfgelenke zurückzuführen
2 verlassen. sind. Da diese pathogenetische Einengung nicht unproble-
matisch ist, wurde dasselbe Symptombild von anderen Auto-
ren neutral als Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS) bezeich-
3 Manuelle Medizin und net (Coenen, Lohse-Busch, Riedel, Kemlein). Lohse-Busch
Entwicklungsneurologie und Kraemer veröffentlichten 1994 eine Zwischenbilanz des
4 In seiner 1983 erschienenen Monographie »Die sogenann-
te Säuglingsskoliose« erwähnte H. Mau im Zusammenhang
Arbeitskreises »Manuelle Medizin bei Kindern«, der 1991 auf
Anregung der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin
mit ätiologischen und pathogenetischen Hypothesen den (DGMM) gegründet worden war.
5 »interessanten Hinweis« von Gutmann auf eine traumatische Weitere Publikationen über die Möglichkeiten der Manu-
Störung in der Okzipitozervikalregion als Auslösefaktor der ellen Medizin bei bewegungsgestörten Säuglingen, infantilen
6 frühkindlichen Skoliose. Gutmann hatte dies 1968 publiziert Zerebralparesen, sensomotorischen Integrationstörungen
und einen Symptomenkomplex mit Kopfschiefhaltung, Kopf- und neuromuskulären Erkrankungen folgten (Biedermann
halteschwäche, gestörter Körperhaltung, motorischer Unru- 1995, Biedermann und Koch 1996, Biedermann 1999, Coe-
7 he usw. beschrieben und nannte ihn zervikal-dienzephal- nen 1995, 1996, 1998, 2000, 2001, 2002, 2004, 2006, Lohse-
statisches Syndrom. Seine Beobachtungen wurden zwar zur Busch u. Kraemer 1996, 2000, Fischer u. Sachs 1997, Riedel
Kenntnis genommen, aber nicht weiter diskutiert. Buchmann 2000, 2001). Baumann stellte 1997 die Ergebnisse einer kon-
8 (1983, 1988) griff den Gedanken später wieder auf und berich- trollierten Studie vor, in der die Wirksamkeit manualmedizi-
tete über die Zusammenhänge zwischen motorischer Ent- nischer Behandlung bei Zerebralparesen nachgewiesen wur-
9 wicklung und Wirbelsäulenfunktionsstörungen sowie funkti- de.
onellen Kopfgelenksstörungen bei Neugeborenen.
Arlen veröffentlichte 1985 erste Ergebnisse über reversi- > Wichtig
10 ble Veränderungen von Hirnstammpotenzialen nach Atlas- Nach allen bisherigen Erfahrungen besteht die Bedeu-
therapie bei zerviko-enzephalen Syndromen. Diese Untersu- tung der Manuellen Medizin bei Kindern vor allem in der
11 chungen waren allerdings nicht an Säuglingen oder Kindern entwicklungsneurologischen Indikation (Coenen 2001).
vorgenommen worden. (Arlen hatte mit seiner Therapieme-
thode keine Erfahrungen in der Behandlung von Kindern
12 und Säuglingen.) 1987 berichtete Gutmann über das Atlas- Wissenschaft und Erfahrung
blockierungssyndrom des Säuglings und Kleinkindes und Der Physiker H. Pietschmann beschrieb in seinem Buch »Das
13 nannte es zervikal-dienzephal-kinesiologisches Syndrom; er Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters« zwei Straßen
erläuterte zudem ausführlich die klinische und neurologische der Erkenntnis, von denen die eine zu dem führt, was richtig
Symptomatik. ist, die andere zu dem, was wahr ist.
14 Weitere Publikationen anderer Autoren folgten: 1989
erschien die Monographie von Buchmann und Bülow über » Richtig ist, was bewiesen werden kann, wahr ist demgegen-
15 die asymmetrische frühkindliche Kopfgelenksbeweglichkeit, über nur eine konkrete gelebte Situation, die wegen ihrer Ein-
ein Jahr später berichtete Schick über die Atlasblockierung «
maligkeit nun grade unbewiesen bleiben muss. (Pietsch-
des Säuglings und das zervikal-dienzephal-kinesiologische mann 1990)
16 Syndrom und Biedermann über die kopfgelenksinduzierte
Symmetriestörung bei Kleinkindern. Es geht hier um die unterschiedlichen Ansätze von Wissen-
17 Coenen publizierte 1992 die Ergebnisse einer prospek- schaft und Erfahrung – zwei Prinzipien, die einander mit-
tiven Studie an 38 Säuglingen mit sog. Schräglagesyndrom unter misstrauen, obwohl sie letztlich nur verschiedene
und neuromotorischer Entwicklungsverzögerung sowie an Erkenntnisformen der gleichen Wirklichkeit sind. In kaum
18 31 Schulkindern mit Störungen der Körperkontrolle und einer anderen Disziplin stehen Wissenschaft und Erfahrung
Bewegungskoordination, die alle mittels Atlastherapie nach in einer so engen Wechselbeziehung zueinander wie in der
19 Arlen behandelt worden waren. Neben der manuellen seg- Medizin. Beim Versuch, beides zu trennen, läuft der Empi-
mentalen Funktionsdiagnostik wurden in dieser Studie syste- riker Gefahr, sich in Spekulationen zu versteigen, der puri-
matisch standardisierte Untersuchungskriterien angewen- stische Wissenschaftler dagegen wird – wie Chargaff (1980)
20 det und zur manualmedizinischen Beurteilung der Säuglinge das formuliert – den Blick für das Ganze verlieren, da er sich
zusätzlich die neurokinesiologische Diagnostik nach Vojta nur mit wägbaren Teilaspekten der Fragestellung beschäf-
erstmals unter dem Aspekt peripherer Dysfunktionen einge- tigt.
setzt. Die Medizingeschichte hat gezeigt, dass die Erfahrung
Biedermann, Gutmanns Schüler, führte die Arbeit sei- in aller Regel der wissenschaftlichen Aufarbeitung voraus-
nes Lehrers nach dessen Tod mit Publikationen über Sym- geht. Dies trifft besonders für Heilmethoden zu, deren Wirk-
metriestörungen bei Kleinkindern fort, wobei er für die etwas samkeit durch die Resultate schon lange evident ist, bevor
umständliche Bezeichnung von Gutmann einen neuen Begriff die Wissenschaft es mit ihren eigenen Methoden zu bewei-
prägte, die kopfgelenksinduzierte Symmetriestörung, abge- sen vermag. Der bekannte Satz von de Montaigne »Die Mut-
1 · Einführung
3 1
ter der Heilerfolge heißt Empirie« hat seine Gültigkeit nicht
verloren.
Manuelle Medizin ist Erfahrungsheilkunde, was sie mit
anderen schulmedizinischen Disziplinen gemeinsam hat.
Und Erfahrungsheilkunde besteht in der Verarbeitung von
Erkenntnissen, die durch reproduzierbare Beobachtungen
am Patienten gewonnen wurden. Die Medizin ist ohne For-
schung nicht denkbar, sie ist aber vor allem auch eine Kunst
und nicht nur reine Naturwissenschaft.
In diesem Sinne will dieses Buch dem Leser einen Über-
blick über die theoretischen und praktischen Grundla-
gen der Manuellen Medizin bei Kindern verschaffen: Neben
Basiswissen werden Erfahrungen weitergegeben, wie sie in
über zwei Jahrzehnten im täglichen Umgang mit bewegungs-
gestörten Kindern gesammelt wurden. Wo es möglich ist, sol-
len die klinischen Beobachtungen durch wissenschaftliche
Erkenntnisse der medizinischen Grundlagenforschung plau-
sibel gemacht werden.
5 2
2.1 Die Sonderstellung des Menschen in ne Sinne ihn als solchen ausweisen. Ein »Mängelwesen« sei
der Natur er nur in dem Sinne, dass er zum Überleben Kultur benötige:
Kleidung, Behausung, Feuer, Waffen usw.
Leben, so heißt es, ist Bewegung. Bewegung geschieht in der
Ordnung von Raum und Zeit. In den einzelnen Phasen der » Der körperliche Generalist … ist dazu mit einem hochentwi-
frühkindlichen Entwicklung werden die Funktionen dieses ckelten ZNS ausgerüstet, das Informationen speichern und in-
raum-zeitlichen Prinzips sichtbar; ihre Kenntnis ist sowohl für telligent verarbeiten kann, und das vor allem über Strukturen
das Verständnis der physiologischen Entwicklungsabläufe als verfügt, die es ihm erlauben, Sprache zu erwerben und sich mit
auch der pathologischen Abweichungen unentbehrlich. Die Hilfe dieser Wortsprache über Vergangenes, Zukünftiges und
Differenzierung der raum-zeitlichen Bewegungsfunktionen «
Abwesendes zu unterhalten. (Eibl-Eibesfeldt 2000)
ist Voraussetzung für die Entfaltung jener Fähigkeiten, denen
der Mensch seine Sonderstellung in der Natur verdankt: ange- Eibl-Eibesfeldt (2000) erwähnt in diesem Zusammenhang
fangen von der Körperbewegung in aufrechter Haltung und einen von Lorenz (1943) beschriebenen fiktiven Wettkampf
der Verfeinerung des Handgeschicks über die Entwicklung (. Abb. 2.1):
von Begriffen und Wortsprache bis hin zum schöpferischen Ein dreiundzwanzigjähriger Büroangestellter, normal
und geistigen Gestalten in Wissenschaft und Kunst. entwickelt, durchschnittlich gesund, aber keineswegs Sport-
Stammesgeschichtlich begann dieser Sonderweg des ler, tritt gegen Vertreter beliebiger Arten aus dem Tierreich
Menschen mit einem in der Phylogenese einzigartigen Akt, in folgenden Disziplinen an: 100 Meter sprinten, mit Kopf-
der den Menschen buchstäblich über die anderen Lebewesen sprung in einen See springen, aus 4 Metern Tiefe gezielt drei
erhebt: Die Aufrichtung des Körpers gegen die Schwerkraft Gegenstände hochtauchen, ca. 100 Meter zum anderen Ufer
zum zweibeinigen Stand und die Fähigkeit zur räumlichen schwimmen, an einem Seil von 5 Metern hochklettern und
Bewegung in dieser aufrechten Körperhaltung. Dadurch anschließend 10 km gehen.
verbesserte sich das Gesichtsfeld des Menschen, zusätzlich In Spezialdisziplinen sind viele Tiere dem Menschen
begünstigt durch die freie Beweglichkeit des Kopfes gegenü- überlegen: Die Gazelle läuft schneller, der Delphin schwimmt
ber dem Rumpf, wie sie in dieser Weise von Vierbeinern nicht schneller, der Affe klettert besser. Dennoch wird kein Tier
erreicht wird. Vor allem aber befreite diese aufrechte Kör- imstande sein, den Büroangestellten in diesem Sechskampf
perhaltung die Hände von den Aufgaben der Stützleistung zu besiegen.
und Fortbewegung. Erst dadurch konnten sie sich zu einem
Werkzeug entwickeln, das mit seinen sensorischen, sensiblen
und feinmotorischen Fähigkeiten in der Natur einmalig ist.
Ermöglicht wurden diese Errungenschaften durch die Ent-
wicklung des Neokortex und bestimmter anatomischer Son-
derkonstruktionen, von denen in späteren Kapiteln noch die
Rede sein wird.
Ob ein Neugeborenes tatsächlich zum Generalist heran- vorstellung bzw. Raumorientierung und Sprachentwicklung
1 reift, wie es im Bauplan des zentralen Nervensystems vor- sieht auch Heeschen (1988), der Sprachmuster von Natur-
gesehen ist, hängt wesentlich vom ungestörten Verlauf der völkern untersuchte. Nach seiner Annahme diente die Spra-
2 frühkindlichen Entwicklung ab, in der sich die basalen Funk-
tionen der Körperkontrolle und des Handgeschicks heraus-
che ursprünglich der Orientierung und wurde erst in zweiter
Linie zur sozialen Interaktion herangezogen.
bilden.
3 > Wichtig
Bewegung geht also einher mit der Raumvorstellung
2.1.1 Raumorientierung und
4 Gestaltwahrnehmung
und ist Voraussetzung für den Denkvorgang, dem ein
gezieltes Handeln folgt.
Das Programm der frühkindlichen Entwicklung besteht in Der Begriff Sensomotorik bezeichnet den ununterbrochenen
der Ausbildung der Steuerungsvorgänge für die Aufrichtung Prozess der Aufnahme und Verarbeitung biologischer Daten
des Körpers gegen die Schwerkraft und die räumlichen Bewe- zur Durchführung motorischer Leistung. Er veranschau-
gungen in dieser Körperhaltung. Die Anschauungsformen licht in prägnanter Kürze das Rückkoppelungsprinzip von
von Raum und Zeit stehen dem Kind dabei a priori zur Ver- Sinneswahrnehmung und Muskelleistung für Haltung und
fügung, als artspezifische Gegebenheit, erworben durch evo- Bewegung: Eine stütz- oder zielmotorische Aktion ist ohne
lutionäre Anpassung. Diese apriorische Gegebenheit ist sub- vorausgegangene Sinneswahrnehmung nicht möglich, ande-
stanziell vorhanden in Anatomie und Physiologie der Sin- rerseits stellt jede gezielte Bewegung über die damit verbun-
nesorgane und deren Verschaltung über das periphere und dene Rückmeldung eine kognitive Funktion an sich dar (Effe-
zentrale Nervensystem mit den arthromuskulären Strukturen renzkopie nach v. Holst 1977). Auf diesem Reafferenzprinzip
des Bewegungsapparates. Es handelt sich hier um ein enorm beruht die sensomotorische Steuerung, deren Differenzie-
lernfähiges System, in dem die organische Reifung zentral- rung und Feinabstimmung wesentlicher Inhalt der frühkind-
nervöser Strukturen einhergeht mit der Differenzierung der lichen Entwicklung ist.
Wahrnehmungsverarbeitung in den Sinnesorganen, die für Es sind die ersten 12–15 Lebensmonate, in denen das Kind
die Steuerung von Körperhaltung und Bewegung verantwort- seine basalen sensomotorischen Programme entwickelt. Sie
lich sind. Sehen und Hören vermitteln eine räumliche Vor- erlauben ihm, sich gegen die Schwerkraft zum zweibeinigen
stellung vom näheren und weiteren Umfeld, mit den Hautre- Stand aufzurichten und sich in dieser Körperhaltung fortzu-
zeptoren wird die unmittelbare Umgebung erfasst, Labyrinth- bewegen, den Kopf ohne Mitbewegung des Rumpfes im Raum
organ und Propriozeptoren liefern das Bild von Stellung und einzustellen und die Hände zu immer differenzierteren fein-
Bewegung des Körpers im Raum und der Stellung von Kopf, motorischen Leistungen einzusetzen; eng damit verknüpft ist
Rumpf und Extremitäten zueinander. Lorenz ist der Mei- die Entwicklung des sozialen und emotionalen Verhaltens.
nung, dass diese Sinnesorgane »… der Anschauungsform des Diese Fähigkeiten bilden das Fundament der weiteren früh-
dreidimensionalen euklidischen Raumes zugrunde liegen, ja, kindlichen Entwicklung bis zum Abschluss der Markreifung
dass sie in gewissem Sinne diese Anschauungsformen sind« gegen Ende des 4. Lebensjahres.
(Lorenz 1983).
Orthograde Körperkontrolle und Raumorientierung sind > Wichtig
das Ergebnis der Verarbeitung biologischer Daten aus den Alle diese Leistungen – Bewegung, Körperkontrolle, die
Sinnesorganen. Die Sensorik hat als programmierendes Ele- erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Umwelt und
ment damit den Hauptanteil an Haltungs- und Bewegungslei- die Entfaltung höherer Erkenntnisfunktionen – sind das
stung (Janda 1993), während motorische Zentren und Bewe- Ergebnis von Datenverarbeitung.
gungsapparat die Befehlsempfänger und Ausführungsorgane
darstellen (7 Kap. 4.1, Sensorik: Leitfunktion der Motorik). Information und Steuerung
Die Verwendung von Denkmodellen der Informationstheo-
> Wichtig rie und der Kybernetik in der Medizin kann dazu beitragen,
Schwerkraftbewältigung und Raumorientierung bilden die äußerst komplexen und differenzierten zentralnervösen
das gesetzmäßige neurophysiologische Ziel der früh- Zusammenhänge verständlich darzustellen und transpa-
kindlichen Entwicklung. Dieser Grundsatz beherrscht die rent zu machen. H.-D. Wolff (1996) betont in seinem lesens-
Ausbildung und Differenzierung der Stütz- und Zielmo- werten Buch »Neurophysiologische Aspekte des Bewegungs-
torik, der Körperkontrolle und des Handgeschicks. systems«, dass die Anwendung dieser Denkkategorien für das
Verständnis der Funktion des Nervensystems »von gar nicht
8 Kapitel 2 · Zentrale Repräsentation des Raumes
. Abb. 2.3
1 Kodierung Dekodierung Grundschema der Infor-
mationsübertragung
Informations- Sender Übertragungskanal Empfänger Informations-
quelle verbraucher
2
3 abzusehendem Nutzen« sei und misst der Systemtheorie als ser Aufgabe sind verschiedene Elemente erforderlich, die in
dritter Kategorie die gleiche Bedeutung bei. 7 Übersicht 2.1 aufgeführt sind.
4 Die Informationstheorie beschäftigt sich mit den Gesetz-
mäßigkeiten, nach denen eine Information vollständig und
unverfälscht von der Quelle über einen »Kanal« zum Emp- Übersicht 2.1 Steuerungselemente eines
5 fänger gelangt. Ein solcher Vorgang spielt sich stets nach dem Regelkreises
in . Abb. 2.3 dargestellten Grundschema ab, das auch auf 5 Regelgröße: Die zu regelnde Größe (z.B. Temperatur)
die neurophysiologischen Regelvorgänge angewandt werden 5 Fühler: Messvorrichtung, registriert den Istwert und
6 kann: Von der Informationsquelle gelangt die Information gibt ihn kodiert weiter
an einen Sender, wird dort in bestimmte, z.B. elektromagne- 5 Istwert: Wert der Regelgröße, der vom Fühler aktuell
7 tische Signale verschlüsselt, in dieser verschlüsselten Form gemessen wird
über einen Übertragungskanal an den Empfänger weiterge- 5 Sollwert: Wert der Regelgröße, der konstant gehalten
reicht, dort entschlüsselt und kann so vom Informationsver- werden soll
8 braucher verstanden werden. 5 Störgröße: Bewirkt eine Abweichung der Regelgröße
vom Sollwert
9 Beispiel 5 Regler: Versteht die Information des Istwertes und ver-
Wolff erläutert dieses Prinzip anschaulich am Beispiel des Fest- gleicht sie mit dem Sollwert
5 Stellgröße: Steuerungsanweisung aus dem Regler an
10 netz-Telefonierens zweier Verliebter:
Der junge Mann ruft seine Liebste an. Er ist die Informations- das Stellelement
quelle, das Mikrofon in seinem Telefonhörer der Sender, der die 5 Stellelement: Stellt auf Befehl des Reglers den Soll-
11 gesprochenen Worte in elektrische Impulse verschlüsselt; die wert wieder her
Telefonleitung erfüllt die Aufgabe des Übertragungskanals die-
ser elektrische Impulse und endet im Lautsprecher des Telefo-
12 napparates der Angebeteten. In diesem Lautsprecher werden Beispiel
die elektrischen Signale entschlüsselt, in menschliche Sprache Zur Verdeutlichung führt Wolff (1996) ein alltägliches Beispiel
13 zurückverwandelt und von der jungen Dame als sog. Informa- an: Im Kühlschrank soll eine konstante Temperatur herrschen.
tionsverbraucherin verstanden. (Dieser informationstechni- Die Temperatur ist die Regelgröße, die vom Fühler gemessen
sche Vorgang bleibt übrigens völlig unberührt vom Inhalt der wird. Dieser gemessene Istwert wird in elektrische Impulse ver-
14 gesprochenen Worte und ebenso von den autonomen Reaktio- schlüsselt, gelangt über einen Übertragungskanal (elektrische
nen der beiden Gesprächspartner: Herzklopfen, Erröten usw.) Leitung) an den Regler, nämlich den Thermostat. Der vergleicht
15 den eingegangenen Istwert mit dem Sollwert und aktiviert bei
> Wichtig Abweichung über eine Steuerungsanweisung (Stellgröße) die
Der Transport von Information geschieht immer mit- Kühlmaschine, das Stellelement. Die Maschine arbeitet so lange,
16 hilfe von Verschlüsselung (Kodierung). Diese Regel gilt bis der Sollwert wieder erreicht ist.
ebenso für die Reizleitung im Nervensystem, in dem
17 elektrische Impulsfolgen (Aktionspotenziale) zur Nach- Vergleichbares spielt sich beim Muskeleigenreflex (MER)
richtenübermittlung verwendet werden. ab. Es handelt sich hier um einen monosynaptischen Reflex,
da die Informationsverarbeitung nur über eine Synap-
18 Kybernetik se geregelt wird, über die motorische Vorderhornzelle. Die-
Kybernetik (griech. κυβερνησις, Steuerung) ist die Lehre von se Synapse repräsentiert in diesem Steuerungskreis den Reg-
19 den Steuerungs- und Regelvorgängen. Geistiger Vater die- ler. Beim MER wird die Ruhespannung des Muskels wieder-
ser Lehre ist Norbert Wiener (1948), der auch die Systemthe- hergestellt, die durch Einwirkung von außen verändert wur-
orie formulierte. Bernhard Hassenstein (1977) entwickelte de (. Abb. 2.5).
20 die Kybernetik weiter, indem er sie auf biologische Vorgän-
ge übertrug. Die terminologischen Grundbegriffe der Kyber- Patellasehnenreflex
netik lassen sich – in Anlehnung an die Darstellungen Wolffs Der Schlag mit dem Reflexhammer auf die Patellasehne bewirkt
(1996) – am Beispiel des Regelkreis-Blockschemas erläutern einen Dehnreiz auf die Muskelspindeln des Quadrizeps. Die
(. Abb. 2.4). Information »Dehnreiz« wird vom Spindelrezeptor in Aktions-
Von einem Regelkreis ist die Rede, wenn in einem System potenziale (AP) verschlüsselt und über rasch leitende afferente
ein Wert bzw. eine bestimmte physikalische oder biologische Ia-Fasern direkt auf die motorische Vorderhornzelle (Motoneu-
Größe gegen Veränderungen durch innere oder äußere Ein- ron) im Rückenmark transportiert. Treffen dort genügend Akti-
flüsse konstant gehalten werden soll. Für die Steuerung die- onspotenziale ein, kommt es zur Entladung des Motoneurons.
2.2 · Neurophysiologische Aspekte der Bewegungsentwicklung
9 2
. Abb. 2.4 Blockschaltbild eines Regelkreises
Sollwert (modifiziert nach Hassenstein 1977)
Übertragungskanal Übertragungskanal
efferent afferent
Stellgröße
Regler
Fühler
Rezeptor
Sensor
4 γ- Motoneuron Muskelpol
5 Ia-Fasern
α- Motoneuron A B C
6 Spindelrezeptor
. Abb. 2.7 a-c Schematische Darstellung der Muskelspindel. a Ru-
hedehnung. b Passive Längsdehnung der Muskelspindel und des anu-
7 lospiralen Rezeptors (Äquatorialanteil). c Längsdehnung des anulos-
MEP piralen Rezeptors durch intrafusale Kontraktion der Muskelpole. Spin-
8 Skelettmuskel dellänge bleibt unverändert
temuskulatur, auch posturale Muskulatur genannt. Diese Treten an den rezeptortragenden Strukturen des Nackens
1 Haltemuskeln spielen in der neuromotorischen Reifung des funktionelle Störungen auf, sog. segmentale Dysfunktionen
Kindes eine besondere Rolle, denn sie entwickeln sich zeitlich oder Blockierungen, so kann diese Tonusregulation beein-
2 vor den anderen Muskelarten und »stehen in der Differenzie-
rung der Skelettmuskulatur an erster Stelle« (David 1982). Die
trächtigt werden mit störender Auswirkung auf die Körper-
kontrolle und die neuromotorische Entwicklung. Davon wird
Alpha-Gamma-Koppelung des Muskeleigenreflexes (mono- später noch die Rede sein.
3 synaptischer Dehnreflex) ist ein entscheidendes funktionelles
Element der Stützmotorik, da der Körper mithilfe dieses j Stellrektionen
> Wichtig
Die Einleitung der Aufrichtungsbewegung erfolgt von
kranial nach kaudal. Diese Gesetzmäßigkeit ist auch in
. Abb. 2.8 Stammhirn. 1 Medulla. 2 Pons. 3 Mittelhirn (Mesenze-
den einzelnen Phasen der posturalen Entwicklung des
phalon)
Säuglings zu beobachten.
15 3
1
2
1 2 3 4 5 6
3
4
5
6
7 8 9 10 11 12
7
. Abb. 3.1 Aufrichtungsentwicklung. Obere Reihe 1.–6. Lebensmonat. Untere Reihe 7.–12. Lebensmonat
8
9
10
11 . Abb. 3.2 Neugeborenes . Abb. 3.3 In der 4. Lebenswoche
12
trolle führt die Aufrichtungsentwicklung an. Rumpf- und Rückenlage: Lockere Fechterhaltung (Pseudo-ATNR) bei
13 Extremitätenkontrolle entstehen zwar zeitgleich mit der Drehung des Kopfes.
Kopfkontrolle, können sich aber nicht unabhängig davon ent- Autonome Bewegungen sind räkelnd bis zappelnd.
wickeln. Dieser Grundsatz wird bei der Behandlung bewe- Keine Willkürmotorik.
14 gungsgestörter Kindern mitunter missachtet, was sich im the- Faustschluss der Hände geringer, Hand kann sich öffnen.
rapeutischen Ergebnis niederschlägt.
15 j 12. Woche bzw. Ende des 3. Lebensmonats
(. Abb. 3.5)
3.1.1 Entwicklungsschritte in Bauch- und Bauchlage: Der Kopf kann aus dem Unterarmstütz angeho-
16 Rückenlage ben und seitlich gedreht werden. Die Aufrichtebewegung
erfolgt bis zum zervikothorakalen Übergang, der Kopf kann
17 j Neugeborenes (. Abb. 3.2) gegen die Schwerkraft stabilisiert werden.
Kann aus der Bauchlage den Kopf zu beiden Seiten drehen, Rückenlage: Die Hände können zur Körpermitte zusam-
um die Atemwege freizuhalten. mengeführt werden; das Kind spielt mit den Händen vor dem
18 Die Hände sind gefaustet, kräftiger Greifreflex. Gesicht.
Ellenbogen, Hüft- und Kniegelenke sind gebeugt, die Der Kopf wird beim passiven Hochziehen (Traktionsver-
19 Füßchen in Hackenfußhaltung. such) gehalten.
Ausgeprägtes Beugemuster. Hüft- und Kniegelenke sind locker gebeugt, die Fußsoh-
len einander zugekehrt.
20 j 4. Lebenswoche (. Abb. 3.3)
In Bauchlage noch sichtliches Beugemuster der oberen und j Ende des 4. Lebensmonats (. Abb. 3.6)
unteren Extremitäten. Bauchlage: Aus dem Unterarmstütz kann das Kind einen Arm
Der Kopf kann kurz angehoben werden. anheben und sich mit dem anderen abstützen. Das Gleichge-
Die Hände sind zur Faust geschlossen. wicht kann zur Seite verlagert werden.
Rückenlage: Das Kind greift mit den Händen und supi-
j 8. Lebenswoche (. Abb. 3.4) nierten Füßen vor dem Körper in der Traglingsposition und
Bauchlage: Beugehaltung der Extremitäten gemindert, kurzes greift nach Spielzeug.
Stützen auf die seitlich abgelegten Unterarme.
3.1 · Körperkontrolle
17 3
. Abb. 3.6
Ende des 4. Lebensmonats
. Abb. 3.4
In der 8. Lebenswoche
. Abb. 3.7
Ende des 5. Lebens-
monats
1
2
3
4
5
6
7 . Abb. 3.10 Ende des 8. Lebensmonats
8
9 . Abb. 3.8 Ende des 6. Lebensmonats
10
11
12
13
14
15
16
17 . Abb. 3.11
Ende des 9. Lebens-
18 monats
19
Rückenlage: Das Kind rollt sich vom Rücken auf den
Bauch im typischen Muster; es bewegt dabei die Beine in
20 Schrittstellung.
. Abb. 3.9 Das Kind greift nun mit einer Hand über die Körpermit-
Ende des 7. Lebensmonats te zur Gegenseite zu einem Spielzeug.
j Ende des 8. Lebensmonats (. Abb. 3.10) j Ende des 10. Lebensmonats (. Abb. 3.12)
Bauchlage: Das Kind geht in den Hand-Knie-Stütz; die Arme Bauchlage: Das Kind schaukelt im Vierfüßerstand auf der
sind vorgestreckt, Hüften und Knie deutlich flektiert. Es dreht Stelle, erste Krabbelversuche.
sich nun vom Bauch auf den Rücken. Es spielt in Seitenlage Es zieht sich an Gegenständen hoch und kann mit Halt
mit Abstützen auf einem Ellenbogen (Gartenzwerghaltung). stehen.
Es setzt sich aus dem Vierfüßerstand in den Seitsitz.
j Ende des 9. Lebensmonats (. Abb. 3.11) Die Hände können jetzt bewusst geöffnet werden, um
Bauchlage: Das Kind beginnt reziprok zu robben und richtet Gegenstände loszulassen, wegzuwerfen.
sich aus dem Kniestand an der Wand hoch.
Rückenlage: Wird vorwiegend zum Schlafen eingenom- j Ende des 11. Lebensmonats (. Abb. 3.13)
men. Das Kind spielt weniger in Rückenlage. Reziprokes Vierfüßerkrabbeln.
Freies Sitzen.
Seitliches Laufen an der Wand (Reelingsläufer).
20 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings
1
2
3 a
4
5
. Abb. 3.15 a-c
6 Handmotorik a eines Neu-
geborenen, b am Ende des
7 b c
1. Lebensmonats, c am Ende
des 2. Lebensmonats
j Neugeborenes bis Ende des 1. Lebensmonats j Ende des 11./12. Monats (. Abb. 3.18)
18 (. Abb. 3.15) Der Pinzettengriff, auch Spitzgriff genannt (. Abb. 3.18 a),
Die Hände des Neugeborenen (. Abb. 3.15 a) sind gefaustet, gelingt am Ende des 11. Monats: Sehr kleine Gegenstände wie
19 meist mit eingeschlagenem Daumen, dem sog. Schlupfdau- Krümel, kleine Körner usw. können mit den Spitzen von Dau-
men. Bei Berühren der Handinnenfläche kommt es zu einem men und Zeigefinger gefasst werden.
so kräftigen Greifreflex, dass sich das Kind damit hochzie- Eine weitere Steigerung des Handgeschicks ist am Ende
20 hen lässt. Dieses reflektorische Zugreifen wird nach und nach des 12. Monats (. Abb. 3.18 b, c) zu beobachten: Zwei Gegen-
geringer und sollte im 3. Trimenon weitgehend überwunden stände, z.B. Bauklötzchen, werden mit einer Hand gefasst und
sein. gehalten.
Am Ende des 1. Lebensmonats (. Abb. 3.15 b) ist die
Hand weiterhin gefaustet, öffnet sich aber gegen Ende des
2. Monats (. Abb. 3.15 c) für kurze Zeit.
3.1 · Körperkontrolle
21 3
3.1.3 Zeitliche Gliederung der Entwicklung
im 1. Lebensjahr
a
> Wichtig
c
Eine 4- bis 6-wöchige zeitliche Streubreite im Erreichen
der jeweiligen grob- und feinmotorischen Fähigkeiten
kann als physiologisch angesehen werden. Größere Ver-
zögerungen sind dann verdächtig, wenn andere Auffäl-
ligkeiten hinzukommen.
. Abb. 3.18 a-c
Handmotorik a am Ende des 11. Lebensmo-
nats: Pinzettengriff, b, c am Ende des 12. Le-
b bensmonats
22 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings
6 Monate
8 b
Diese Erzählung beschreibt eine Universalie menschlichen
Verhaltens, die unabhängig ist von Epoche und Kultur: Das
9 Lächeln eines Säuglings und sein äußeres Erscheinungs-
bild, das Kindchenschema (Lorenz 1943), löst beim Betrach-
ter stets eine aggressionsfreie, freundliche Zuwendung aus.
10 In der Ethologie wird die emotionale Reaktion auf das Kind-
chenschema nicht als erlerntes, sondern als angeborenes
11 Verhalten aufgefasst, das offenbar im Dienste der Arterhal-
c 9 Monate tung steht.
12 » Der Versuch, unsere starken emotionellen Reaktionen auf
Kindchenmerkmale lerntheoretisch nach den üblichen Mecha-
13 nismen der Andressur zu erklären, stößt auf Schwierigkeiten.
Das Kind bezahlt nämlich für geleistete Dienste einzig und al-
lein mit seiner Herzigkeit. Im Übrigen ist sein Verhalten eher
14 belastend und störend. Es schreit, ist unsauber und macht un-
«
endlich viel Mühe. (Eibl-Eibesfeldt 1997)
15
d 12 Monate
16 3.2.1 Autonome Massenbewegungen
. Abb. 3.19 a-d Haltungs- und Bewegungsmuster des Säuglings
17 vom 1.–4. Trimenon
Das Kindchenschema beschränkt sich nicht auf die morpho-
logischen Merkmale, sondern wird auch mitbestimmt durch
die spontanen Bewegungsmuster des Kindes. Schon die auto-
18 nomen, unwillkürlichen Räkel- und Zappelbewegungen im
frühen Säuglingsalter wirken auf den Betrachter anziehend
19 und niedlich, fügen sich also auch in das Kindchenschema ein
mit entsprechender emotionaler Reaktion beim Betrachter.
Diese primitiven Bewegungsschablonen des gesunden
20 Neugeborenen mit unkontrollierten Massenbewegungen
werden aus stammesgeschichtlich alten Hirnteilen gesteuert
(Stammhirn, Dienzephalon). Bald nach der Geburt überneh-
men phylogenetisch jüngere Hirnareale (vor allem Großhirn-
zentren) das Regiment; die Primitivschablonen werden über
die supraspinale Kontrolle allmählich abgebaut und zuneh-
mend durch selektive willkürliche Motorik ersetzt. Dieser
Prozess ist im Alter von etwa 4 Monaten abgeschlossen.
3.2 · Neuromotorische Untersuchung des Säuglings
23 3
Allerdings zeigt ein Säugling mit neuromotorischer Stö- j Babkin-Reaktion (. Abb. 3.20)
rung schon im frühen Lebensstadium eine Abweichung Bei Druck mit der Daumenkuppe in die Hohlhand des Säug-
von diesem typischen Bewegungsmuster, das offenbar vom lings kommt es zu einer reflektorischen Mundöffnung (und
Betrachter intuitiv erfasst wird und bei der Bezugsperson natürlich zum Handgreifreflex).
nicht nur freundliche Zuwendung, sondern auch Befrem- Waltezeit: 0–4 Wochen.
den und Besorgnis auslöst. Mütter haben für solche Abwei-
chungen oft ein feines Gespür. j Magnetreflex (. Abb. 3.21)
Rückenlage, Hüften und Knie sind gebeugt: Die Daumen des
> Wichtig Untersuchers werden auf die Fußsohlen gedrückt und lang-
Die qualitative Beurteilung der Primitivbewegungen sam zurückgezogen. Der Kontakt zwischen Finger und Fuß-
des jungen Säuglings ist daher ein wichtiger Bestand- sohle bleibt erhalten; Streckbewegung des Beins, als werde es
teil der klinischen Untersuchung. Dazu gehört neben der von einem Magnet gezogen.
Prüfung der sog. frühkindlichen Reaktionen auch die Waltezeit: 4–6 (8) Wochen.
Beurteilung der autonomen Massenbewegungen, der
General Movements, sowie die Prüfung der Lage- und j Schreitreaktion (. Abb. 3.22)
Stellreaktionen. Wegen ihrer Bedeutung für die Früh- Das Kind wird mit beiden Händen am Rumpf vertikal gehal-
erkennung einer sensomotorischen Störung sollen die- ten. Die Fußsohle eines Beins wird auf die Unterlage gedrückt:
se drei Untersuchungsverfahren im Einzelnen bespro- Bei Berührung der Unterlage beugt sich das Bein, das ande-
chen werden. re wird gleichzeitig gestreckt, berührt die Unterlage und wird
> Wichtig
Als abnormal zu werten sind
5 eine fehlende Reaktion,
5 eine deutliche Latenzzeit und vor allem
5 ein Persistieren frühkindlicher Reaktionen
weit über die normale Waltezeit hinaus, denn diese ist
verdächtig auf eine zentrale Bewegungsstörung. So kön-
nen z.B. . Abb. 3.20 Babkin-Reaktion
5 Elemente des ATNR,
5 Babkin- und Moro-Reaktion sowie
5 phasische und tonische Streckreaktionen usw.
als Ausdruck einer kortikospinalen Störung mitunter
über Jahre nachweisbar sein.
. Abb. 3.22
1 Schreitreaktion . Abb. 3.24
Galantreaktion
2
3
4
5
6 . Abb. 3.25
Moro-Reaktion
7 . Abb. 3.23
Steigreaktion
8
9
10
11
12
13
14
gebeugt, das zuvor gebeugte andere Bein streckt sich usw. Es j Moro-Reaktion (. Abb. 3.25)
15 entsteht der Eindruck des Schreitens. Das Kind wird unter dem Rücken in der Schwebe gehal-
Waltezeit: 4–6 (8) Wochen. ten; die Hand des Untersuchers stützt den Kopf. Eine leichte
Abwärtsbewegung der unter dem Kopf liegenden Hand löst
16 j Placing-Reaktion (Steigreaktion) (. Abb. 3.23) folgende Reaktion aus:
Das Kind wird am Rumpf gehalten, mit den Füßchen unter- 4 1. Phase: Rasche Abduktion und Streckung der Arme,
17 halb der Tischkante. Langsames Anheben des Kindes; der Öffnen der Hände, oft auch Öffnen des Mundes.
Fußrücken berührt die Tischunterkante, der Fuß »steigt« 4 2. Phase: Die Arme werden in Form einer Umklamme-
über die Kante hinweg im Sinne einer Steigreaktion. rungsbewegung nach vorne geführt, der Mund schließt
18 Waltezeit: 4–6 (8) Wochen. sich.
19 j Galant-Reaktion (. Abb. 3.24) Waltezeit: In voller Ausprägung ca. 6 Wochen, dann allmäh-
Kind unter dem Bauch horizontal in der Schwebe halten. Mit lich Abschwächung.
dem Finger werden die paravertebralen Hautpartien vom
20 unteren Schulterblattwinkel bis zum Kreuz-Lenden-Über- ! Ab dem 4. Lebensmonat ist die Moro-Reaktion patho-
gang bestrichen: Konkavbewegung der WS auf der stimu- logisch!
lierten Seite, leichte gleichgerichtete Kopfdrehung, lockere
Streckung der gleichseitigen Arme und Beine, Beugung der j Bauer-Reaktion (. Abb. 3.26)
gegenseitigen Extremitäten. Der Po wird hochgezogen. Kind liegt in Bauchlage. Der Untersucher drückt mit dem
Waltezeit: 4 Monate. Daumen abwechselnd auf beide Fußsohlen. Kind führt alter-
nierende Beugebewegungen der Beine aus, es scheint »zu
kriechen«.
Waltezeit: Bis 3./4. Monat.
3.3 · Der Tragling
25 3
. Abb. 3.29
Glabellareflex
. Abb. 3.27
Fechterhaltung
. Abb. 3.28 a, b
a Handgreifreflex, . Abb. 3.30 Halsstellreaktion
b Fußgreifreflex
a b
Tipp
14
Die bei jungen Eltern beliebten Tragetücher für Säug-
15 linge halten das Kind in dieser Traglingsposition sicher
am Körper der Mutter oder des Vaters und finden ihre
Vorbilder in vielen Naturvölkern. Der enge Körperkon-
16 takt und die Bewegungen des elterlichen Körpers stel-
len einen nicht zu unterschätzenden Reiz für die Aus-
17 bildung der extero- und propriozeptiven Sensorik und
damit für die Entwicklung der räumlichen Wahrneh-
mung dar (. Abb. 3.31, 3.32).
18
In seinem Buch »Verhaltensbiologie des Kindes« weist Has- dem Rücken getragen werden: Sie weinen nicht, auch wenn sie
19 senstein in diesem Zusammenhang auf einen weiteren durch die körperliche Arbeit ihrer Mutter heftigsten Bewegun-
bedeutsamen Aspekt hin: «
gen ausgesetzt sind, ja, sie wachen davon nicht einmal auf.
(Hassenstein 2001)
20 » Bewegtwerden heißt, nicht verlassen zu sein. Rhythmi-
sches Bewegen des Säuglings kann Unruhe oder Weinen ver- Fazit
mindern oder gar beschwichtigen. Dies hängt allem Anschein Die Verwendung eines Tragetuchs für Säuglinge ist aus ver-
damit zusammen, dass das Bewegtwerden zur Normalsitua- schiedenen Gründen eine vernünftige Maßnahme und sollte
tion des Traglings gehört, der von seiner Mutter, während sie nicht als Modeerscheinung abgetan werden. Befürchtungen,
sich fortbewegt, mit sich getragen wird. … Bewegt werden ist diese Trageposition schade der kindlichen Wirbelsäule, haben
ein Anwesenheitszeichen seitens des betreuenden Erwachse- sich als reine Spekulation erwiesen und halten der kritischen
nen. … Hierzu passt auch eine Beobachtung an Säuglingen, Überprüfung nicht stand.
die von ihren Müttern, während sie körperlich arbeiten, auf
3.4 · General Movements
27 3
3.3.1 Physiologische Frühgeburt werden, da zielmotorische Elemente fehlen. Der Biologe und
Ethologe Heinz F.R. Prechtl (1990) konnte nachweisen, dass
In den ersten 12 Lebenswochen zeigt der Säugling einige Ver- auch diese General Movements eine bestimmte Gesetzmä-
haltensbesonderheiten, die ihn von seinen Traglingsgenos- ßigkeit aufweisen. Er entwickelte ein Verfahren zur qualita-
sen aus dem Tierreich unterscheiden und deren Bedeutung tiven Beurteilung frühkindlicher Bewegungsmuster, das auch
noch nicht vollständig erfasst ist (Hassenstein 2001): schon bei Frühgeborenen eine Unterscheidung zwischen nor-
4 Der Säugling kann den Kopf nicht heben und nicht auf malen und unphysiologischen Bewegungen ermöglicht und
allen Vieren krabbeln, wozu neugeborene Affen imstan- prognostische Schlüsse hinsichtlich der Entwicklung einer
de sind. Bewegungsstörung erlaubt. Voraussetzung für die Objektivi-
4 Der Säugling vollführt Schreitbewegungen (Schreitre- tät der Bewertung ist neben entsprechender Erfahrung vor
flex, Steigreflex), verliert diese Fähigkeit jedoch nach allem die konsequente Ausschaltung der emotionalen Reakti-
wenigen Wochen, um sie erst nach vielen Monaten beim on auf das Kindchenschema.
freien Gehen als Willkürleistung zurückzuerhalten. Fötale Bewegungen sind bereits 7–8 Wochen nach der
4 Die Moro-Reaktion, also das Ausbreiten der Arme, letzten Menstruation sichtbar. Es sind Komplexbewegungen,
Spreizen der Finger, Strecken der Beine und die nachfol- die einige Sekunden bis Minuten andauern. Sie ändern ihre
gende Umklammerungsbewegung der Arme verschwin- Qualität im Laufe der Schwangerschaft bis zur Geburt.
det mit 12–14 Wochen. Erst viel später tauchen diese
Bewegungen als Willkürleistung wieder auf. k Phasen der General Movements
4 Das soziale Lächeln erscheint erst mit ca. 3 Monaten, Die Beurteilung der General Movements (GM) ist in den
obwohl es zu Lebensbeginn besonders wichtig wäre. ersten 3–4 Monaten nach der Geburt möglich, bevor die Will-
(Der nachmalige Perserkönig Kyros dürfte also schon ein kürmotorik diese autonomen Bewegungen ablöst. In dieser
Vierteljahr alt gewesen sein, als ihm der Garaus gemacht frühen Säuglingsphase zeigt das Kind andauernd wechseln-
werden sollte.) de motorische Muster, wobei es auf ein ständig variierendes
4 Im Gegensatz zu Tieren kann sich das menschliche Neu- Repertoire komplexer Bewegungen zurückgreift. Typisches
geborene bei Abkühlung nicht durch Kältezittern selbst Merkmal ist die Gleichzeitigkeit von komplexen, variablen
Wärme zuführen. Diese Fähigkeit erscheint gewöhnlich und flüssigen Bewegungen. Prechtl (1990) teilt die GM in drei
erst mit 2–3 Monaten. Phasen ein, die in 7 Übersicht 3.2 zusammengefasst sind.
Tipp
3
Eigene Erfahrungen mit dieser Beurteilungsmethode
bestätigen, dass es sich hier um ein aussagefähiges Ver-
4 fahren handelt, das in der prognostischen Auskunft sehr
zuverlässig ist. Leider ist die Methode wegen bestimm-
. Abb. 3.33 Säugling mit aufgeklebten Lichtmarkern. Quelle: Dipl.-
5 ter Schwierigkeiten noch wenig verbreitet: Zum einen
Ing. F. Heinze
ist sie zeitaufwändiger als die herkömmlichen neurolo-
gischen Säuglingsuntersuchungen, zum anderen ver-
6 langt sie als rein qualitatives Verfahren ein hohes Maß
an Erfahrung, die nur durch regelmäßige Anwendung
7 der Methode zu erwerben ist.1
8
3.4.2 Computergestütztes Analyseverfahren
9
Inzwischen werden auch bildgebende Analyseverfahren zur
räumlichen Erfassung und computergestützten Berechnung
10 der General Movements entwickelt, die eine erhöhte Objek-
tivität erwarten lassen, da sie unabhängig von der Erfahrung
11 des Untersuchers arbeiten können. a
Das am Helmholtz-Institut für Biomedizinische Tech-
nik der RWTH Aachen entwickelte Verfahren geht folgen-
12 dermaßen vor: Dem Baby werden kugelförmige, Infrarotlicht
reflektierende Marker auf Kopf, Rumpf und Extremitäten auf-
13 geklebt. Mehrere Kameras registrieren die spontanen Bewe-
gungen des Kindes, wobei die mitbewegten Leuchtmarker
eine »Lichtbahn« von einem Kamerabild zum anderen ziehen.
14 Im Computer werden diese Lichtbahnen in dreidimensionale
Bewegungen umgerechnet und können dadurch typischen
15 Bewegungsmustern zugeordnet werden (. Abb. 3.33). Das
Ziel ist es, eine quantitative, graphisch darstellbare Aussage
über die Qualität der ausgeführten Bewegung zu erhalten.
16 In . Abb. 3.34 sind z.B. die Bewegungsbahnen des rechten
Fußes eines 3 Wochen alten gesunden Säuglings (. Abb. 3.34 a)
b
17 und eines gleichaltrigen Säuglings mit eindeutig abnormalen
autonomen Bewegungen als Hinweis auf eine infantile Zere-
. Abb. 3.34 a, b Bewegungsmuster a eines gesunden Babys, b bei
bralparese (. Abb. 3.34 b) dargestellt. Das gesunde Kind nutzt
18 den gesamten zur Verfügung stehenden Bewegungsraum aus,
einem Baby mit IZP. Quelle: Dipl.-Ing. F. Heinze
1 Informationen zur Ausbildung in Assessment of General Move- Für Körperkontrolle und Gleichgewichtssteuerung steht
ments bei Prof. M. Hadders-Algra, Universitätsklinik Groningen, dem Organismus eine Vielzahl unbewusst ablaufender
Hanzeplein 1, NL - 9713 GZ Groningen Reaktionen zur Verfügung. Die Halte- und Stellreaktionen
3.5 · Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta
29 3
(7 Kap. 2.2.2.1) lassen sich im Säuglingsalter als sichtbare
Bewegungen auslösen, bis sie bei zunehmender ZNS-Reifung
von differenzierten Mustern überlagert werden, ohne ihre
stützmotorische Bedeutung einzubüßen. Gleiches gilt auch
für die statokinetischen Reaktionen: Sie sind eine Bewe-
gungsantwort auf plötzliche, rasche Lageänderungen des
Körpers im Raum und steuern die Gleichgewichtskontrolle
bei komplexen und dynamischen Körperbewegungen (z.B.
Rennen, Springen, Herumbalgen, Turnen, Radfahren, Ski-
fahren usw.).
Die Prüfung der Stell- und statokinetischen Reaktionen
erfolgt im Rahmen der neurokinesiologischen Untersu-
chung nach Vojta, dem wohl verbreitetsten Screeningverfah-
ren im Säuglingsalter (Vojta 1988). Der große Verdienst des
Neurologen und Neuropädiaters Václav Vojta ist die systema-
. Abb. 3.35 Traktionsversuch 1.–6. Woche: Der Kopf hängt schlaff
tische entwicklungsneurologische Analyse dieser Reaktionen
nach hinten. Die Beine sind gebeugt und leicht abduziert
und die Standardisierung ihrer Bewertung. Vojta hat mit die-
sem Verfahren die entwicklungsneurologische Diagnostik
entscheidend bereichert (7 Kap. 12.4, Befundbogen).
Alle diese Reaktionen zeigen die Gesetzmäßigkeiten der
in den motorischen Zentren des Hirnstamms integrierten
tonischen und phasischen Handlungsabläufe. Dabei wei-
sen die Bewegungsantworten des Säuglings typische Muster
auf, entsprechend dem jeweiligen Reifeszustand des ZNS. Die
Bewegungsmuster lassen sich auch hier nach Trimena eintei-
len (. Abb. 3.19), zeigen jedoch stets gleitende, sich mitunter
überlappende Übergangsmuster.
3.5.1 Reaktionen
3
4
5
. Abb. 3.38 Traktionsversuch 7.–9. Monat: Die Beugebewegung
6 von Kopf, Rumpf und Beinen lässt nach, die Knie sind halb gestreckt.
Der Schwerpunkt liegt im Gesäß
7
8 . Abb. 3.41 Axillarhänge-
reaktion 3.–7. Monat: Beine
(und Arme) sind zum Körper
9 herangezogen (Beugesyner-
gie), Kopf ist aufrecht
10
11
12
. Abb. 3.39 Traktionsversuch 9.–14. Monat: Das Kind zieht sich ak-
13 tiv hoch, Kopf wird in der Körperlinie gehalten, Beine sind abduziert,
die Knie locker gestreckt
14
j Bewertung
15 Beurteilt werden die Reaktionen von Kopf, Rumpf und Extre-
mitäten. Entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe wer-
den mehrere Phasen unterschieden.
16 . Abb. 3.42 Axillarhänge-
reaktion ab 8. Monat: Nach-
k 2. Axillarhängereaktion (. Abb. 3.40–3.42)
lassen der Beugehaltung und
17 j Durchführung
Übergang in lockere Streck-
Das Kind wird aus der Bauchlage hochgehoben und senk- haltung, Füße sind in Dorsa-
recht mit dem Kopf nach oben am Rumpf gehalten, Rücken
18 zum Untersucher.
lextension oder Neutralstel-
lung (Stehbereitschaft)
19 j Bewertung
Beurteilt wird vor allem die Haltung des Kopfes und der Bei-
ne. Es werden drei Phasen unterschieden.
20
k 3. Landaureaktion (. Abb. 3.43–3.46)
j Durchführung
Das Kind wird auf der flachen Hand des Untersuchers liegend
unter dem Bauch in horizontaler Lage gehalten.
j Bewertung
Beurteilt wird die Haltung von Kopf, Rumpf und Extremi-
täten.
3.5 · Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta
31 3
. Abb. 3.43 Landaureaktion 1.–6. Woche: Kopf ist leicht gesenkt, . Abb. 3.45 Landaureaktion ab 6. Monat: Nacken und Rumpf sind
Rumpf leicht gebeugt, Arme und Beine in lockerer Beugehaltung, symmetrisch gestreckt, Beine sind leicht abduziert, im Knie rechtwink-
Hände locker geöffnet lig gebeugt, lockere Armhaltung
. Abb. 3.44 Landaureaktion 7. Woche–3. Monat: Nacken ist bis zur . Abb. 3.46 Landaureaktion ab 8. Monat: Lockere Streckhaltung in
Schulterlinie gestreckt, Rumpf, Arme und Beine sind locker gebeugt Hüft- und Kniegelenken, die Rumpfstreckung ist vollzogen. Bei passi-
ver Beugung des Kopfes Flexion der Hüften, Knie gestreckt
j Bewertung
Beurteilt wird das freigelassene Bein. Unterschieden werden
zwei Phasen.
32 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings
1
2
3
4
5
. Abb. 3.47 Vojtareaktion 1.–10. Woche: Moro-artige Bewegung
der Arme, oberes Bein in Hüft- und Kniegelenk gebeugt, Dorsalexten-
6 sion im oberen Sprunggelenk, Fuß proniert, Zehen gespreizt . Abb. 3.50 Vojtareaktion 7.–14. Monat: Arme locker gebeugt
oder locker vor- und abgestreckt, Beine deutlich vorgestreckt, Füße in
7 leichter Dorsalextension, Zehen in Mittelstellung
8
9
10
11
12
. Abb. 3.48 Vojtareaktion 11.–20. Woche: Arme abduziert, Hände
13 locker geöffnet, Beine locker gebeugt, Füße leicht supiniert, Zehen in
Neutralstellung
. Abb. 3.51 Vojtareaktion 9.–14. (17.) Monat: Abstrecken der oben
14 liegenden Extremitäten, Füße dorsalflektiert, der unten liegende Fuß
sucht Kontakt mit der Unterlage. Blick geradeaus, Kopf, Nacken und
15 Rumpf bilden einen nach oben konkaven Bogen
18
19
20
. Abb. 3.49 Vojtareaktion 4½–7 Monate: Extremitäten locker ge-
beugt, Hände offen oder halb geschlossen, Füße meist supiniert und
dorsalextendiert, Zehen in Neutralstellung oder in lockerer Beugung
3.5 · Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta
33 3
. Abb. 3.53 Collis-vertikal-Reaktion
ab 7. Monat: Das freie Bein wird im Hüft-
gelenk gebeugt, im Kniegelenk locker
gestreckt
7
. Abb. 3.61 Peiper-Isbert-
8 Reaktion 7./9.–12. Monat: Ar-
me hochgestreckt, Nacken und
9 Rumpf durchgehend gestreckt
(Kopfsprunghaltung), Hände ge-
öffnet
10
11
12
13
14 . Abb. 3.59 Peiper-Isbert-Reaktion 1. Woche bis 3. Monat: Aus-
fahrende Seitwärtsstreckung der Arme, Hände geöffnet, Nacken ge-
15 streckt, Becken-Bein-Übergang flektiert
Tipp
Übersicht 3.4 Fehlermöglichkeiten bei der
Reaktionsprüfung Bei der Reaktionsbewertung ist auf Seitendifferenz zu
5 Beim Traktionsversuch soll der Rumpf nur bis zu achten – entweder im Sinne einer zeitlichen Entwick-
einem Winkel von 45° angehoben werden, nicht bis lungsdifferenz (z.B. rechte Seite: Normalreaktion des
zum Sitzen; ebenso ist die Berührung des Handrü- 4. Trimenons, linke Seite: Normalreaktion des 2. oder
ckens zu vermeiden. 3. Trimenons) oder als einseitig abnormale Reaktion
5 Beim Axillarhang soll das Kind nicht in den Achsel- bei normalem Muster der Gegenseite. Dasselbe gilt für
höhlen hängen; die paravertebralen Rückenmuskeln einen unterschiedlichen Entwicklungsstand zwischen
dürfen nicht mit den Daumen berührt werden. Dies oberen und unteren Extremitäten oder Schulter- und
gilt auch für die Vojtareaktion. Beckengürtel.
5 Bei der Vojtareaktion soll das Kind nicht über die Hori-
zontale hinaus gekippt werden, und die Hände des
Kindes müssen vor Durchführung der Untersuchung
geöffnet werden. 3.5.4 Beispiele für abnormale Reaktionen
5 Dies gilt auch für die Peiper-Isbert-Reaktion und die (modifiziert nach Vojta)
unten liegende Hand bei der horizontalen Abhangre-
aktion nach Collis. j Traktionsreaktion
Für alle Reaktionen gilt, dass die Bewertung im Augen- Massive Abspreizung der Oberschenkel bei gebeugten Bei-
blick der Durchführung erfolgt und nicht erst nach einigen nen, steifes Strecken eines oder beider Beine in Adduktion,
Sekunden. Innenrotation und/oder Überkreuzen der Beine, Spitzfußhal-
tung, opisthotone Rumpfhaltung, überschießendes Anheben
der gestreckten Beine.
j Peiper-Isbert-Reaktion
Starres Vor- oder Hochstrecken der Arme mit Fausten, Opist-
hotonus, konstante Beugehaltung eines Arms bzw. beider
Arme (Henkelhaltung), asymmetrische Kopf- oder Rumpf-
haltung.
36 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings
3.5.5 Wie sind abnormale Reaktionen zu Diese Einteilung von Vojta ist nicht unproblematisch. Als
1 deuten? sog. Arbeitsdiagnose verleitet sie gerne dazu, bei mehreren
abnormalen Lagereaktionen von spastischer Bedrohung zu
2 Die physiologischen Halte- und Stellreaktionen sind ebenso
wie die statokinetischen Reaktionen die Antwort auf afferente
sprechen. Das führt nicht selten zu dem Trugschluss, man
könne mit entsprechender Behandlung eine solche spastische
Signale, die durch die Lageänderung des Körpers im Raum Bedrohung abwenden. Dies ist mit großer Wahrscheinlich-
3 ausgelöst werden und wesentlich aus dem Labyrinth und den keit nicht der Fall: Die Spastik bei infantiler Zerebralparese
Somatosensoren stammen. Die labyrinthären Signale, zustän- ist Zeichen einer Läsion des ersten Motoneurons, einer Pyra-
4 dig für die räumliche Kopforientierung, werden in verschie-
denen Stammhirnkernen ergänzt durch Informationen aus
midenbahnschädigung. Eine Spastik ist jedoch keine primä-
re Erkrankung, sondern »Folge der mangelhaften phylogene-
den Halspropriozeptoren, in denen die Haltung des Kopfes tisch-reflexhaften Bewegungsvoraussetzungen« (Feldkamp
5 gegenüber dem Rumpf registriert wird. Hinzu kommen pro- 1996) – oder anders ausgedrückt: Folgekomplikation der zere-
priozeptive Signale aus der autochthonen Rückenmuskulatur bralen Läsion mit Störung oder Versagen der supraspinalen
6 und den Extremitätengelenken. Aus dieser Gesamtinforma- Kontrolle. Untergegangene Motoneuronen können auch heu-
tion berechnet das ZNS die Gesamtkörperhaltung und steu- te noch nicht ersetzt werden, trotz einiger Fortschritte in der
ert so über motorische Zentren diejenigen Bewegungsmu- Stammzellenforschung. Das bedeutet, wenn eine Schädigung
7 ster, die dem jeweiligen zentralnervösen Reifezustand des kortikospinaler Strukturen vorliegt, wird sich nach einer
Säuglings entsprechen; letztlich mit dem Ziel, das Gleich- entsprechenden Latenzzeit eine mehr oder weniger ausge-
gewicht zu sichern, die Bewegung zu kontrollieren und die prägte Spastik entwickeln. Eine spastische Bedrohung kann
8 bewusste Wahrnehmung der Körperhaltung zu ermöglichen also wohl kaum abgewendet werden. Wenn sich dennoch
(Illert 1995). nach anfänglich abnormaler Lagereflexologie und auch deut-
9 Störungen der typischen Bewegungsmuster können ihre licher klinischer Symptomatik unter entsprechender Behand-
Ursache sowohl im afferenten wie im efferenten System des lung keine Spastik entwickelt und das Kind in seiner senso-
sensomotorischen Regelkreises haben: Abnormale Reakti- motorischen Entwicklung die erhofften Fortschritte macht,
10 onen bei der neurokinesiologischen Diagnostik sind also kei- muss sehr genau geprüft werden, ob überhaupt eine zere-
neswegs immer nur verdächtig auf eine zerebrale Läsion, wie brale Läsion vorlag oder ob eine Spastik womöglich von vor-
11 oft angenommen wird, sondern treten ebenso bei reversiblen neherein gar nicht zu erwarten war. Denn in solchen Fällen
Funktionsstörungen sensorisch agierender Strukturen der könnte es sich auch um das peripher-dysfunktionelle Syn-
Wirbelsäule und der Extremitäten auf. Beispiele sind drom handeln mit den oben erwähnten segmentalen Funk-
12 4 die iliosakrale Dysfunktion (Segmentblockierung) mit tionsstörungen (Blockierungen) an den sensorischen Schlüs-
Streckung von Hüft- und Kniegelenk der betroffenen selregionen des Achsenorgans, dessen Symptome nicht selten
13 Seite bei der Collis-vertikal-Reaktion, mit einer spastischen Bedrohung verwechselt werden. Die
4 die Schulterretraktion und Ellenbogenstreckung bei seg- Begriffe spastische, athetotische oder ataktische Bedrohung
mentaler Funktionsstörung des zervikothorakalen Über- sind daher problematisch und sollten nur mit großer Vorsicht
14 gangs, verwendet werden, damit die Wirkung von Therapiekonzep-
4 die Rumpfskoliose bei der Peiper-Isbert-Reaktion und ten nicht überschätzt wird. Denn wenn auch aufgrund des
15 seitendifferente Bewegungsantworten bei den Reakti- großen Neuronenüberschusses beim jungen Säugling eine
onen nach Vojta und Collis horizontal bei der sog. Kopf- beachtliche Kompensationsfähigkeit zentralnervöser Stö-
gelenksblockierung. rungen unterstellt werden darf, bleibt der Neuronentod auf-
16 grund einer Hirnläsion letztlich irreversibel.
Fazit
17 Das bedeutet: Abnormale Reaktionen bei der neurokinesiologi-
schen Diagnostik sind unspezifischer Ausdruck einer Störung 3.6 Kinderneurologische Untersuchung
der sensomotorischen Steuerung. Über die Ursache sagen sie
18 nichts aus. Zu einer entwicklungsneurologischen Diagnostik gehört die
Prüfung
19 Vojta sprach bei abnormalen Lagereaktionen von einer zen- 4 der Muskeleigenreflexe,
tralen Koordinationsstörung (ZKS), die er in vier Gruppen 4 der sog. Pyramidenzeichen sowie
einteilte: 4 der phasischen und tonischen Streckreaktionen.
20 1. 1–3 abnormale Lagereaktionen entsprechen dabei einer
leichtesten ZKS. Der Zeitaufwand ist minimal, der Informationsgewinn erheb-
2. 4–5 abnormale Lagereaktionen gelten als leichte ZKS. lich.
3. 6–7 abnormale Lagereaktionen (!) als mittelschwere
ZKS.
4. Eine schwere ZKS liegt demnach vor, wenn alle Lage-
reaktionen abnormal sind und zusätzlich ein patholo-
gischer Muskeltonus besteht (hyperton oder hypoton).
3.6 · Kinderneurologische Untersuchung
37 3
3.6.1 Muskeleigenreflexe Pathologische Antwort: Dorsalextension der Großzehe,
Spreizen aller Zehen in Spitzfußsstellung.
Muskeleigenreflexe (MER) sind propriozeptive, segmental
gebundene Reflexe und in der normalen Entwicklung stets j Rossolimo-Reflex
vorhanden. Auslösung: Kurzes, schnelles Beklopfen der Zehenkuppen
der 2. bis 4. Zehe am frei hängenden Fuß ohne Berühren des
j MER der oberen Extremität Fußrückens.
4 Segment C5–C6: Pathologische Antwort: Plantarflexion der Zehen nur
5 Bizepssehnenreflex (BSR) und im Grundgelenk, Streckung in den Mittel- und Endgelenken.
5 Radiusperiostreflex (RPR). (Im Gegensatz dazu kommt es beim plantaren Greifreflex zur
4 Segment C6–C7: Beugung in allen Zehengelenken!)
5 Trizepssehnenreflex (TSR); bei Neugeborenen wegen
des physiologischen Beugemusters meist nicht aus- ! Positive Pyramidenzeichen sind Hinweise auf eine Stö-
lösbar. rung des kortikospinalen Systems!
j Roche-Reflex
Auslösung: Bestreichen des Fußaußenrandes von der Ferse in
Richtung Kleinzehe.
Antwort und Deutung wie bei Babinski-Reflex.
j Chaddock-Reflex
Auslösung: Bestreichen der Haut um den Außenknöchel von
dorsal nach ventral.
Pathologische Antwort: Spreizen der Zehen oder nur
Dorsalextension der Großzehe.
j Oppenheim-Reflex
Auslösung: Starkes Bestreichen des Schienbeins vom Knie
nach distal.
Pathologische Antwort: Wie bei Babinski-Reflex.
j Gordon-Reflex
Auslösung: Zusammenpressen der Wadenmuskeln. . Abb. 3.63 Handwurzelreflex
38 Kapitel 3 · Die normale Entwicklung des Säuglings
1
2
3
4
5
6
7 . Abb. 3.64 Fersenreflex . Abb. 3.65 Suprapubischer Streckreflex: einseitig abnormale Re-
aktion
k 6 Jahre gefolgt von der 1. Trotzphase. Auch die Entfaltung der schöp-
1 Die grob- und feinmotorische Entwicklung ist voll ausdiffe- ferischen Phantasie im Rollenspiel, Malen, Kneten, Bauen
renziert, das Kind ist schulfähig. und in selbsterfundenen Spielen gehört in diese Altersphase.
2 k 1. Streckphase
3.8 Entwicklung von Mentalität und Mit Beginn der 1. Streckphase im 5. Lebensjahr ist die Fein-
3 Psyche im Gestaltwandel motorik meist so weit entwickelt, dass das Kind die gebun-
dene Schrift ausführen kann. Angeblich kann auch ein hoch-
4 In der Entwicklung des Kindes geht die Differenzierung der
sensomotorischen Programme für die Stütz- und Zielmotorik
begabtes Wunderkind bis zum 5. Lebensjahr nur in Block-
schrift schreiben.
einher mit der Organreifung und einem gesetzmäßig ablau- Mit 6 Jahren wird die Phantasiewelt zunehmend der
5 fenden Gestaltwandel, in dem sich Fülleperioden und Streck- realen Welt angepasst. Die Fein- und Grobmotorik ausdiffe-
phasen abwechseln, dem jeweiligen Lebensalter in . Tab. 3.1 renziert, das Kind ist schulreif.
6 zugeordnet. Gleichzeitig entfalten sich die emotionalen und
seelischen Verhaltensweisen sowie die intellektuellen Fähig- k 2. Füllephase
keiten (7 Kap. 12.5, Anamnesebogen für Vorschul- und Schul- Am Übergang in die 2. Fülleperiode steht die Entfaltung intel-
7 kinder). lektueller Fähigkeiten. Das 7-jährige Kind ist nun imstande,
Während das Neugeborene und der junge Säugling ihre seine Konzentrationsfähigkeit auf 30 Minuten zu steigern.
Unlust durch Schreien und die Zufriedenheit durch Schla- Neben der Schriftsymbolik, die dem gesprochenen Wort
8 fen mitteilen, erscheint mit dem sozialen Lächeln etwa im Dauer verleiht, lernt es in den darauffolgenden Jahren, mit
3. Lebensmonat die erste differenzierte Gefühlsäußerung. Rechnen und Algebra auch eine Ordnung der quantiativen
9 Im Laufe der folgenden Monate lernt das Kind zunehmend Verhältnisse zu gestalten.
Gefühle wie Vergnügtheit, Zufriedenheit, Schreck oder Furcht Gegen Ende der 2. Fülleperiode mit etwa 10 Jahren und
zu äußern und auch Zuneigung oder Abwendung deutlich zu im Übergang zur 2. Streckphase tritt ein verstärktes soziales
10 machen. In diesem Alter sollen sich auch bedingte seelische Empfinden hervor: Der Anschluss an eine Gruppe Gleichge-
Reflexe ausbilden, wobei emotionale Erlebnisse mit gleich- sinnter wird gesucht, Gruppenspiele werden gegenüber Ein-
11 zeitig auftretenden, vom Erlebnis unabhängigen Sinnesrei- zelspielen bevorzugt. In der Folgezeit entfaltet sich zuneh-
zen verknüpft werden, was nach Ansicht von Kinderpsycho- mend die Fähigkeit zur Abstraktion: Fächer wie Naturkun-
logen viele unverständliche abnorme Reaktionen im späteren de, Geographie und Geschichte ermöglichen dem Kind das
12 Leben erklären soll (Lutz 1972). Denken in Vorstellungen ohne gegenwärtig greifbare Wirk-
Greifen und optisches Fixieren sind die Mittel der explo- lichkeit.
13 rativen Gestaltwahrnehmung (7 Kap. 2.1.1, Raumorientie- Dieses Alter ist gekennzeichnet von einer zunehmenden
rung und Gestaltwahrnehmung) und Voraussetzung für die Selbstständigkeit und dem Verzicht auf die primäre Hilfe
nächsthöhere Erkenntnisfunktion, dem Abstrahieren der durch die Eltern.
14 Gestaltwahrnehmung durch Benennen. Es wurde bereits dar-
gelegt, dass diese sprachliche Zuordnung der Umweltdinge k 2. Streckphase
15 die erste Stufe zur Entwicklung der Wortsprache und zum Mit Beginn der 2. Streckphase entwickelt sich ein ernsthaftes
diskursiven Denken ist. Interesse an der Welt und ihren Problemen (Zeit der sog.
reflektiven Realität). Präpubertät und Pubertät sind wegen
16 k 1. Fülleperiode typischer orthopädischer Krankheitsbilder wie Adoleszen-
Das Ende der 1. Fülleperiode deutet sich im ersten Fragealter tenkyphose, Skoliose usw. von klinischem Interesse. Die
17 (Was ist das?) etwa im 3. Lebensjahr an. In der Übergangspha- 2. Streckphase fällt zusammen mit dem Ende der Kindheit.
se von der 1. Fülleperiode zur 1. Streckphase schließt sich etwa
im 3.–4. Lebensjahr das zweite Fragealter an (Warum?), dicht
18
19 . Tab. 3.1 Gestaltwandel mit Wechsel zwischen Fülleperio-
den und Streckphasen
20 Lebensalter Fülleperioden/Streckphasen
4.1 Sensorik: Leitfunktion der Motorik spinale Interneurone und α- und γ-Motoneurone (. Abb. 4.1).
Eine besondere Stellung nimmt der Motokortex ein: Er steht
Haltung und Bewegung des Menschen sind das sichtbare am Übergang von Programm und Ausführung und erreicht
Ergebnis eines komplexen zentralnervösen Steuerungspro- die motorischen Zentren im Rückenmark sowohl über den
zesses, an dessen Anfang die Verarbeitung von Wahrneh-
mungsinformationen steht.
Sinnesreiz
In den Gleichgewichtssensoren des Labyrinthorgans (Wahrnehmung)
sowie den propriozeptiven Sensoren von Muskeln, Sehnen
und Gelenkkapseln werden die Stellung des Kopfes im Raum,
seine Position zum Rumpf, die räumliche Stellung des Kör-
pers und die Winkelstellung der Extremitäten registriert,
unterstützt durch das Richtungssehen und Richtungshören
Sensor
Informationsaufnahme
(7 Kap. 2.2, Neurophysiologische Aspekte der Bewegungs-
entwicklung). Aus der Summe dieser Informationen ergibt
sich die Planung und Ausführung der stütz- und zielmoto-
rischen Leistung (. Abb. 4.1, 7 Kap. 2.2.2, Das Sensorsystem). Bewegungsentwurf
Motorische Planung:
Dieses stark vereinfachte Schema soll die zentrale Bedeutung Leistung subkortikale Motivationsareale
Skelettmuskulatur Assoziativer Kortex
der Sensorik für die Entstehung motorischer Leistung veran-
schaulichen: Sensorische Daten gelangen zu verschiedenen,
untereinander verbundenen spinalen und supraspinalen
Zentren. Dort findet eine komplexe Verrechnung der biolo- Ausführung: Programm:
Hirnstamm
gischen Daten statt, deren Ergebnis die Muskelleistung und Spinale Interneurone Basalkerne
damit eine neue sensorische Situation ist. α- und γ- - Thalamus
Motoneurone Kleinhirn
Die von den Sensoren aufgenommenen Sinnesreize wer- Motorischer Kortex
den in verschlüsselter Form (. Abb. 2.3) als Wahrnehmungs-
information über afferente Bahnen zentralwärts geleitet und . Abb. 4.1 Blockschema der sensomotorischen Steuerung (modifi-
erreichen zahlreiche Areale und Kerngebiete im Gehirn sowie ziert nach R.F. Schmidt 1983)
42 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle
M. splenius capitis
M. iliocostalis M. iliocostalis
4 Mm. splenius cervicis und capitis, Der M. longissimus entspringt ebenfalls am Sakrum und
4 Mm. levatores costarum. zieht wie der Iliocostalis in drei Abschnitten nach kranial. Der
thorakale Teil reicht bis zur 1. Rippe, der zervikale Teil inse-
Der M. iliocostalis ist der am weitesten lateral gelegene Mus- riert an den Querfortsätzen des 2.–5. Halswirbels, und der
kel. Er entspringt am Darmbeinkamm und Sakrum und zieht M. longissimus capitis setzt am Proc. mastoideus des Os tem-
in einem lumbalen, thorakalen und zervikalen Abschnitt porale an.
nach kranial. Er inseriert an allen Rippen und den Querfort- Der dritte Muskel des lateralen Traktes besteht aus zwei
sätzen des 6.–4. Halswirbelkörpers. Portionen, dem
44 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle
4 M. splenius cervicis, der von den Dornfortsätzen der Querfortsätzen der oberen 5 Brustwirbel und der unteren
1 oberen 5–6 Brustwirbel entspringt und an den Querfort- 5 Halswirbel und inseriert am Schädel an der Linea nuchae
sätzen von Atlas und Axis inseriert, intermedia.
2 4 M. splenius capitis mit Ursprung an den Dornfortsätzen
der oberen 3 Brustwirbel und unteren 4 Halswirbel und k Subokzipitale Muskeln (. Abb. 4.4)
Ansatz am Proc. mastoideus. Eine Sonderstellung nehmen die sog. subokzipitalen Mus-
3 keln ein,
> Wichtig 4 M. rectus capitis posterior maior,
5 M. iliocostalis und M. longissimus verbinden Ilium 4 M. rectus capitis posterior minor,
4 und Sakrum mit der Halswirbelsäule und dem Schä- 4 M. obliquus capitis superior und
del. 4 M. obliquus capitis inferior.
5 5 Der M. splenius verbindet die mittlere und obere
BWS mit Atlas, Axis und Schädel. Sie bilden ein dreidimensionales Netz, das Okziput, Atlas
6 und Axis miteinander verbindet und zu einer funktionellen
Ebenfalls zum lateralen Trakt zählen die Mm. levatores Einheit zusammenfügt. Auch diese subokzipitalen Muskeln
costarum. Sie liegen unter den erwähnten langen Rücken- werden autochthon aus dem R. dorsalis des ersten Spinal-
7 muskeln, entspringen von den Querfortsätzen des 7. Hals- nervs innerviert, dem N. suboccipitalis. Der N. suboccipita-
wirbels und des 1.–11. Brustwirbels und ziehen zur nächst- lis führt nur motorische Fasern, da der erste Spinalnerv selbst
unteren Rippe (Angulus costae). Sie wirken mit beim Drehen keine sensorischen Anteile besitzt, bis auf sehr kleine für die
8 der Wirbelsäule. Dura mater am Foramen magnum. Das bedeutet, dass senso-
rische Afferenzen aus dem oberen Kopfgelenk über C2 ver-
9 k Medialer Trakt (. Abb. 4.3) schaltet werden, über den N. occipitalis maior. Anders aus-
In der von Dornfortsatz und Wirbelbogen gebildeten Rinne gedrückt: Propriozeptive Afferenzen aus dem oberen und
liegt der mediale Trakt. Er lässt sich in ein Geradsystem und unteren Kopfgelenk haben ihre Zellkerne im Ganglion spi-
10 ein Schrägsystem unterteilen. nale von C2. Dieser Umstand könnte als Erklärung für die
Zum Geradsystem gehören die folgenden Muskeln: Schmerzausdehnung bzw. Berührungsempfindlichkeit bei
11 4 Mm. interspinales, einer Kopfgelenksblockierung im Säuglingsalter herangezo-
4 Mm. intertransversarii und gen werden, die entsprechend dem Innervationsgebiet des
4 M. spinalis. N. occipitalis maior den dorsalen Kopfanteil bis zur Schei-
12 telhöhe betreffen kann (7 Kap. 7.4, Manuelle Behandlung des
Die Mm. interspinales und intertransversarii sind kleine Kopfes, . Abb. 7.42).
13 Muskeln, die die Spitzen der Dornfortsätze und Querfort-
sätze an Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule verbinden.
An der Brustwirbelsäule fehlen sie meistens. Der dritte Mus- 4.2.3 Propriozeptive Signalanlage
14 kel des Geradsystems ist der M. spinalis. Er zieht seitlich von
Dornfortsatz zu Dornfortsatz an Brust- und Halswirbelsäule. Die motorische Aufgabe der autochthonen Rückenmusku-
15 Das Schrägsystem besteht aus folgenden Muskeln: latur erklärt sich aus Lage und Verlauf der Muskelzüge: Sie
4 Mm. rotatores breves et longi, wirken auf Wirbelsäule und Rumpf streckend, seitneigend
4 M. multifidus, und drehend, unterstützt von den oberflächlichen Rücken-
16 4 M. semispinalis (gliedert sich in einen Brust-, Hals- und muskeln und im antagonistischen oder auch synergistischen
Kopfteil: M. semispinalis thoracis, cervicis und capitis). Zusammenspiel mit der ventralen Thorax- und Bauchmus-
17 kulatur. Sie sind ferner entscheidend an der freien Bewegung
Die Mm. rotatores (. Abb. 4.3) sind vorwiegend an der Brust- des Kopfes beteiligt, zusammen mit den nicht autochthon
wirbelsäule zu finden. Sie entspringen von den Querfortsät- innervierten seitlichen und ventralen Halsmuskeln.
18 zen und ziehen zum nächsthöheren und übernächsten Dorn-
fortsatz. k Besonderheiten der tiefen Rückenmuskulatur
19 Ein auffallender Muskel ist der Multifidus (. Abb. 4.2, 4.3). Allerdings weisen die tiefen Rückenmuskeln einige Beson-
Er zieht in zahlreichen kleinen, schräg verlaufenden Muskel- derheiten auf, die sie von den übrigen Rumpfmuskeln unter-
bündeln vom Sakrum bis zum Axis. Die Muskelbündel ent- scheiden und die sowohl aus manualmedizinischer als auch
20 springen an Querfortsätzen und inserieren an höheren Dorn- aus entwicklungsneurologischer Sicht von Bedeutung sind:
fortsätzen, dabei 2–4 Wirbel überspringend. 4 Aufgrund der autochthonen Innervation durch die seg-
Der letzte im Schrägsystemverbund ist der M. semispina- mental angeordneten Rami dorsales der Spinalner-
lis (. Abb.4.3). Brust- und Halsteil entspringen an den Quer- ven kann ein autochthoner Muskel aus mehreren Seg-
fortsätzen aller Brustwirbel und inserieren an den Dorn- menten innerviert werden. Dies ist auch von klinischem
fortsätzen der oberen 6 Brustwirbel und unteren 4 Halswir- Interesse: Nozireaktive Veränderungen bei segmen-
bel (thorakaler Teil) sowie an den Dornfortsätzen der oberen taler Dysfunktion (sog. Blockierung) finden sich stets
HWS bis zum Axis (zervikaler Teil). Der sehr kräftige Kopf- auch in der autochthonen Muskulatur, sei es an HWS,
teil (M. semispinalis capitis) schließlich entspringt von den BWS oder LWS. Die segmentale Zuordnung der von Karl
4.2 · Propriozeption und autochthone Rückenmuskeln
45 4
. Abb. 4.3 Autochthone Rückenmuskeln, medialer Trakt
M. semispinalis
capitis und
cervicis
M. spinalis
Mm. interspinales
M. multifidus
Mm. rotatores
Mm. intertransversarii
46 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle
6 Sell (Bischoff 1994) beschriebenen okzipitalen Irritati- kerung im Becken und die an ihr wirkenden Muskeln mit
onspunkte in den Ansatzgebieten der Mm. semispinalis einem Schiffsmast und dessen Verspannungen. Diesen Mast-
7 capitis und splenius capitis konnte von Grim und Christ baum müsse man sich allerdings (entsprechend dem Aufbau
(1993) neuroanatomisch nachgewiesen werden. der Wirbelsäule aus Wirbeln und Zwischenwirbelscheiben)
4 Die zu beiden Seiten der Dornfortsatzreihe angeord- mehrgliedrig und in sich beweglich vorstellen.
8 neten dicken Muskelstränge des Erector spinae sind in
ihrer Gesamtheit von einer derben Faszie umgeben, der » Die Muskeln stellen bei diesem Vergleich aktive Verspan-
9 Fascia throracolumbalis. Sie bildet mit den knöcher- nungszüge dar, die an den Wirbelfortsätzen (Rahen des Schiffs-
nen Rinnen seitlich der Dornfortsätze auf beiden Seiten mastes) angreifen. Wenn sich alle Seilzüge am Schiffsmast im
einen osteofibrösen Kanal. Die in diesem Kanal verlau-
10 fenden autochthonen Muskelzüge weisen im Gegensatz
Zustand der Ruhe befinden (= Ruhetonus der Muskulatur), so
ist das System im Gleichgewicht. Wird aber ein Seilzug verkürzt
zu allen anderen Skelettmuskeln an Brust- und Lenden- (= Kontraktion eines Muskels oder eines Muskelzugs), so müs-
11 wirbelsäule keine trennenden Faszien auf. Sie sind daher sen zur Erhaltung des Gleichgewichtes alle anderen Seilzüge
in diesen Abschnitten anatomisch nur schwer zu isolie- (= Muskeln) verstellt werden. Jede Änderung eines Gliedes in-
ren. nerhalb des Systems »Rückenmuskulatur-Becken-Wirbelsäu-
12 4 Vor allem die Muskeln des medialen Traktes zeigen eine le-Rippen« bedingt eine Neuregulierung aller übrigen Antei-
hohe Dichte von Muskelspindeln. Nach Zenker (1994) «
le. (Putz 1994)
13 verfügen die Mm. rotatores und der M. multifidus über
10-mal mehr Spindelrezeptoren als die übrigen Rücken- Solche Überlegungen lassen sich nicht nur auf die physio-
muskeln. Aber auch der zum lateralen Trakt zählende logischen Leistungen der tiefen Rückenmuskulatur anwen-
14 M. longissimus capitis mit Ansatz am Mastoid verfügt den, sondern auch ohne Weiteres auf pathologische Situa-
nach Voss (1971) über 63,3 Muskelspindeln pro Gramm/ tionen übertragen: Die nozizeptive Tonusänderung eines
15 Muskeln, womit er die auch nicht schlecht ausgestatteten autochthon innervierten Muskels bei einer segmentalen Dys-
einzelnen Muskeln der Hand deutlich übertrifft. Die funktion bzw. Blockierung wird sich sofort dem ganzen auto-
höchste Spindeldichte findet man allerdings in den sub- chthonen System mitteilen und auch andere Regionen an der
16 okzipitalen Muskeln mit bis zu 312 Muskelspindeln pro Störung beteiligen. Dass dies tatsächlich der Fall ist, weiß der
Gramm/Muskel (Christ 1993). Zweifellos haben auch die Manualmediziner aus dem klinischen Alltag. Bei einer Funk-
17 anderen kurzen metameren Muskeln, die sich zwischen tionsstörung der Kopfgelenke oder der Iliosakralgelenke wird
Dornfortsätzen und Querfortsätzen schräg oder longi- man stets auch segmentale Störungen an anderen Wirbelsäu-
tudinal spannen (Mm. rotatores, Mm. intertransversarii, lenabschnitten finden, und zwar meist an solchen, die als sen-
18 Mm. interspinales), überwiegend sensorische und weni- sorische Schlüsselregionen bezeichnet wurden (s.o.) und die
ger motorische Funktion. weitgehend mit den Übergangszonen der Wirbelsäule über-
19 einstimmen. Die jeweils dazwischen liegenden Abschnitte
Fazit sind in ihrer muskulären Balance im Gesamten gestört, mit
Neben ihren motorischen Aufgaben wirkt die autochthone entsprechenden Folgen für die motorische Steuerung von
20 Muskulatur also vor allem auch als propriozeptives Wahrneh- Kopf und Rumpf.
mungsorgan.
> Wichtig
In den . Abb. 3.2 –3.14 wird deutlich, dass den Über-
4.2.4 Komplexes Verbundsystem gangsregionen der Wirbelsäule bei der Entwicklung
der Rumpfaufrichtung, der Bewegung des Rumpfes ge-
Die besondere Wirkungsweise der autochthonen Rückenmus- genüber dem Becken, dem Aufrichten des Körpers zum
kulatur auf das Achsenskelett wird von Putz (1994) anschau- Stand und dem freien Gehen eine wesentliche funktio-
lich beschrieben. Er vergleicht die Wirbelsäule, ihre Veran- nelle Bedeutung zukommt. Segmentale Dysfunktionen
4.3 · Die Kopfgelenke
47 4
in diesen Wirbelsäulenabschnitten mit Einschränkung
der segmentalen Beweglichkeit und nozizeptiver Tonus-
veränderung der Muskulatur sind stets eine Quelle ver-
änderter Propriozeption und beeinträchtigen die postu-
ralen Steuerungsvorgänge im Säuglingsalter. Die Besei-
tigung der Störung mit manualmedizinischen Behand-
lungstechniken führt in aller Regel zu einer eindrucks-
vollen Besserung der sensomotorischen Fähigkeiten.
Fazit
Die dichte Besiedelung der tiefen Rückenmuskeln mit prop-
riozeptiven Sensoren und die subtile komplexe Reaktions-
weise dieses Muskelverbundes auf Tonusänderungen einzel-
ner Abschnitte (Putz 1994) begründet die Sonderstellung des
M. erector spinae innerhalb der gesamten Rumpfmuskulatur.
Nach Kapandji (1970) gelingt die Nutation um 10°, die anatomischer Merkmale und klinischer Beobachtungen darf
1 Gegennutation um 25°, das entspricht einer Gesamtbewe- davon ausgegangen werden, dass die Hauptbewegungsrich-
gung von 35°. Dvořák gibt für Nutation und Gegennutation tungen der Kopfgelenke beim Säugling und Kleinkind mit
2 ein Gesamtbewegungsausmaß von 8–13° an. Rotation und
Seitneige im oberen Kopfgelenk wird von beiden Autoren mit
denen des Erwachsenen übereinstimmen.
4–5° angenommen.
3 Auch beim Atlantoaxialgelenk gehen die Angaben der 4.3.2 Physiologische Form- und
Autoren auseinander. Im unteren Kopfgelenk besteht die Stellungsasymmetrien
4 Hauptbewegung in der Rotation, während Flexion, Extensi-
on und Seitneige nur wenige Grade betragen. Kapandji (1970) Atlas und Axis unterscheiden sich durch ihre äußere Form
gibt für die Rotation 25° zu jeder Seite an. Dvořák hingegen deutlich von den übrigen Wirbelkörpern. Der Atlas hat im
5 konnte mittels funktioneller Computertomographie Rotati- Laufe der Phylogenese einen Teil seines Wirbelkörpers nach
onsausschläge von durchschnittlich 43° zu jeder Seite ermit- kaudal an den Axis abgegeben; dieser Teil verschmolz mit dem
6 teln, was auch der klinischen Erfahrung entspricht. Axis und wurde zum Dens axis. Die äußere Form des ring-
Neuhuber (2005) schreibt zu diesem Thema: förmigen Atlas ist geprägt von den beiden Massae laterales
mit ihren nach medial abfallenden oberen und ansteigenden
7 » Bewegungen in den Kopfgelenken können zwar in Einzel- unteren Gelenkflächen. Der Dens axis artikuliert ventral mit
komponenten zerlegt, diese jedoch vom Individuum praktisch dem vorderen Atlasbogen, also dem »Rest« des ehemaligen
Atlaskörpers aus entwicklungsgeschichtlicher Vorzeit, wäh-
8 nicht isoliert ausgeführt werden. Die Sagittalflexion wird im
oberen und unteren Kopfgelenk zu etwa gleichen Teilen aus- rend die Gelenkflächen der nach lateral abfallenden »Axis-
geführt (je etwa 20–35°), während die Rotation fast ausschließ- schultern« mit den unteren Gelenkflächen der Massae late-
9 lich im unteren Kopfgelenk erfolgt (nach jeder Seite etwa 45°). rales atlantis artikulieren. Oberes und unteres Kopfgelenk
Eine Lateralflexion ist sowohl im oberen als auch im unte- sind bandgesichert durch das Lig. transversum atlantis und
dessen longitudinale Verstärkungszüge, das Lig. apicis dentis,
10 ren Kopfgelenk möglich, insgesamt etwa 10–15°, wobei eine
Zwangsrotation des Atlas um einige Grade erfolgt. « ferner durch die Ligg. alaria, das Lig. flavum, das Lig. nuchae
sowie durch die vordere und hintere Membrana occipitalis.
11 Diese bei Lateralflexion einsetzende geringe Atlas-Zwangsro- (An dieser Stelle sei auf die hervorragenden Monographien
tation ist ebenso wie die deutlich größere Zwangsrotation des von J. Lang verwiesen: Klinische Anatomie der Halswirbel-
Axis palpatorisch feststellbar (. Abb. 4.6 b). säule [1991] und Klinische Anatomie des Kopfes [1981].)
12 Die überwiegend sagittale Bewegung im oberen Kopfge- Von Bedeutung für die klinische Beurteilung und vor
lenk ergibt sich aus der Gestaltung der artikulierenden Gelenk- allem für die therapeutische Schlussfolgerung ist der Umstand,
13 flächen zwischen Okziputkondylus (konvex) und Massa late- dass an den knöchernen und gelenkigen Strukturen der Kopf-
ralis atlantis (konkav). Im unteren Kopfgelenk hingegen sind gelenke eine Vielzahl von morphologischen Varianten beo-
die Gelenkflächen von Atlas und Axis konvex, weswegen hier bachtet werden kann. Dazu gehören seitendifferente Aus-
14 die Rotation die Hauptbewegung darstellt (. Abb. 4.7). formungen der Atlasquerfortsätze, der Massae laterales, der
Es muss betont werden, dass alle diese Bewegungsunter- Okziputkondylen, der Axisschultern usw. mit entsprechender
15 suchungen an Erwachsenen durchgeführt wurden. Aufgrund Stellungsasymmetrie der Gelenkpartner. Diese Rechts-Links-
Asymmetrien sind von Missbildungen und Segmentations-
störungen zu unterscheiden und lassen sich bei allen Verte-
16 braten beobachten (Capdevilla et al. 2000), ohne dass ihnen
ein pathologischer Wert beizumessen ist. Sie sind schon in
17 sehr frühen Stadien der Embryonalentwicklung nachweisbar
(Christ 2001). Unter diesem Aspekt sind auch die häufigen
Canalis hypoglossalis
Stellungsasymmetrien zwischen Okziputkondylen, Atlas und
18 Axis zu betrachten, die sich röntgenmorphologisch von ech-
Articulatio atlanto- ten traumatischen oder entzündlichen Subluxationen und
occipitalis
19 A. vertebralis
Luxationen unterscheiden (. Abb. 4.8).
Die von manchen Manualmedizinern immer noch ver-
Pediculus arcus atlantis
fochtene Ansicht, dass es sich bei solchen Asymmetrien stets
20 Articulatio atlanto- um einen pathologischen Zustand handelt, zum Beispiel um
axialis lateralis mit
Gelenkfalten, erweitert
eine Verschiebung des Atlas, ist nach heutiger Kenntnis nicht
haltbar (. Abb. 4.8).
Axis Eine anlagebedingte asymmetrische Ausformung der
Okziputkondylen (. Abb. 4.9) erlaubt schlechthin keine sym-
metrische, auf die mediane Längsachse bezogene Stellung des
. Abb. 4.7 Paramedianer Sagittalschnitt durch die Kopfgelenke. Atlas. Solche anatomischen Varianten, die mitunter heredi-
Konvex-konkave Gelenkflächen im oberen Kopfgelenk, konvex-konve- tär gehäuft beobachtet werden, haben keine primäre patho-
xe Gelenkflächen im unteren Kopfgelenk logische Bedeutung. Zu diskutieren ist allenfalls, ob Stellung-
4.3 · Die Kopfgelenke
49 4
⎧
⎨
Somiten
1–5
zervikookzip.
Übergang
⎩ Basooccipitale
Atlas
6 (hypochordale
Spange)
7
Axis
8
C3
. Abb. 4.8 Linkslateralposition des Atlas im a.-p.-Bild als physiolo-
gische Stellungsvariante . Abb. 4.10 Schematische Gegenüberstellung der Somiten und
endgültigen Skelettanteile (modifiziert nach Christ 1990)
. Abb. 4.9
Die ersten fünf Somiten verschmelzen zu einem segmentü-
Anomalie des rech-
ten Condylus occipi- bergreifenden Blastem, dem Basiokzipitale. Sie werden also
talis: Asymmetrische in den Kopf miteinbezogen. Sechster bis achter Somit bilden
Ausformung mit Ein- Atlas und Axis. Der zervikookzipitale Übergang liegt somit
engung des Fora- zwischen dem 5. und 6. Somiten (. Abb. 4.10).
men magnum In der frühen Wirbelkörperentwicklung sind zwei Anla-
gen vorhanden, die durch Verschmelzung den ganzen Wir-
belkörper bilden. Die größere, ventral gelegene Anlage ist das
Hypozentrum, die kaudal gelegene das Pleurozentrum. In
der Entwicklung von Atlas und Axis passiert nun Folgendes:
Das Pleurozentrum von C1 verwächst nicht mit dem Hypo-
zentrum von C1, sondern mit dem Pleurozentrum von C2.
Der Dens axis entsteht also nicht, wie früher angenommen,
aus dem ganzen Wirbelkörper des Atlas, sondern nur aus des-
sen Pleurozentrum. Aus dem Hypozentrum von C1, der sog.
hypochordalen Spange, entwickelt sich der vordere Atlasbo-
sasymmetrien dieser Art das Auftreten von Funktionsstö- gen (. Abb. 4.10).
rungen begünstigen. Valide Daten dazu fehlen jedoch.
> Wichtig
In der Embryologie gilt der zervikookzipitale Übergang
4.3.3 Embryologische Aspekte als vitales Zentrum: Hier sind die ersten intraembryona-
len Gefäßsprossungen nachweisbar, und hier sind die le-
In der embryologischen Entwicklung stellen die Kopfgelenke benswichtigen Zentren für Atmung und Kreislauf lokali-
den ältesten Teil des Achsenskeletts dar. Die Wirbelsäule ent- siert (Christ 1990).
wickelt sich embryonal aus dem Mesoderm. Gekennzeich-
net ist die Frühentwicklung des Rückens durch das Auftreten Aus den okzipitalen Somiten bildet sich auch die
segmentaler Bauelemente, der sog. Somiten, die sich in der 4 subokzipitale Muskulatur,
4. Embryonalwoche aus der Segmentplatte des Mesoderms 4 Zungenmuskulatur,
abgliedern. Dabei entstehen die ersten Somiten im Hinter- 4 Kehlkopfmuskulatur und
hauptsgebiet, die letzten in der Steißbeinregion. Der Rumpf 4 infrahyale Muskulatur.
wächst also appositionell von kranial nach kaudal. Bemer-
kenswert ist, dass dieses Wachstum im zervikookzipitalen Das Anlagematerial des zervikookzipitalen Übergangs ist
Übergang seinen Ausgang nimmt; anders ausgedrückt: Die zudem beteiligt an der
Entwicklung des Körpers beginnt im kraniozervikalen Über- 4 Septierung der Ausflussbahnen des Herzens,
gangsgebiet (Christ 1990, 1993, Christ und Wilting 1992): Vom 4 Bildung der Bursa submembranacea,
kraniozervikalen Übergang aus werden zuerst fünf okzipitale 4 Bildung des intramuralen Nervenplexus des Magen-
Somiten gebildet, dann acht zervikale, zwölf thorakale, fünf Darm-Traktes,
lumbale, fünf sakrale und acht bis zehn kokzygeale Somiten. 4 Bildung des Urogenitalsystems.
50 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle
Christ (1993) kommt zu der Feststellung, »dass der sich selbst alaria: Die Flügelbänder begrenzen die Rotation der oberen
1 in kranio-kaudale Richtung entwickelnde Hals aufgrund der Halswirbelsäule bei Drehung um die vertikale Achse. Bei rei-
zeitlich und räumlich fassbaren Entwicklungsereignisse die ner Seitneige kommt es sofort zur Anspannung des kontralate-
2 Basis für die sich weiter kaudal anschließenden Körperseg-
mente darstellt«.
ralen Flügelbandes, wodurch nach Werne (1957) die Drehung
des Axis bewirkt wird. Lewit (1997) hingegen hält die gelen-
kige Verbindung von C2 und C3 für die Ursache der Axisro-
3 tation. Wie dem auch sei: Ein Fehlen dieser Zwangsrotation
4.3.4 Atlaskippung und Zwangsrotation des des 2. Halswirbelkörpers bei Seitneigen des Kopfes ist Hin-
Axis
4 weis auf eine funktionelle oder strukturelle Störung im Seg-
ment C1/2 oder C2/3. Da der 2. Halswirbelkörper über einen
Atlas und Axis weisen bei ihren Vorzugsbewegungen fol- prominenten Dornfortsatz verfügt, lässt sich die Zwangsrota-
5 gende Eigentümlichkeiten auf: Die seitliche Röntgenaufnah- tion palpatorisch gut bestimmen.
me der Halswirbelsäule in Nutation (Nickbewegung) zeigt
6 eine Annäherung des hinteren Atlasbogens an das Okziput,
obwohl man bei dieser Bewegung eher das Gegenteil erwar- 4.3.5 Muskeln für sensorische und
ten würde (. Abb. 4.11). Diese Kippung des Atlas wird nach motorische Aufgaben
7 Lewit (1997) durch Schwerpunktverlagerung des Kopfes nach
ventral und die damit verbundene Druckzunahme der Okzi- Die Kopfgelenke und die nachfolgenden Halswirbel tragen
putkondylen auf die vorderen Anteile der Atlasgelenkflächen den Kopf und ermöglichen ihm, sich ohne Mitbewegung des
8 bewirkt. Dies ist eine gelenkmechanische Deutung, die aller- Rumpfes in allen Raumrichtungen beliebig einzustellen. An
dings nicht das häufige Fehlen der Atlaskippung z.B. bei einer diesem großen Bewegungsumfang ist eine Vielzahl von Mus-
9 funktionellen Pathologie der Kopfgelenke erklärt. Zu disku- keln beteiligt, deren Hauptanteil im Nacken liegt. Verschie-
tieren wäre daher auch eine Beteiligung der subokzipitalen dene dieser Muskeln erfüllen sensorische Aufgaben und ste-
Muskeln an dieser physiologischen Atlaskippung, die als hen im Dienst der Gleichgewichtssteuerung.
10 Schutzmechanismus für das obere Halsmark gedeutet wer-
den könnte.
11
k Kopfdrehung um die vertikale Achse
Bei Drehen des Kopfes um die vertikale Achse (. Abb. 4.12 a)
12 kommt es zunächst zu einer Rotation von Kopf und Atlas um
den Zahn des Axis ohne Mitdrehung des Axis selbst. An der
13 Rotation beteiligt sich dieser erst ab ca. 20° Drehung, gemein-
sam mit der Kette der nachfolgenden Halswirbel.
14 k Seitneigung des Kopfes
Wird der Kopf jedoch aus der Mittelstellung ohne Drehung
15 zur Seite geneigt (. Abb. 4.12 b), kommt es sofort zur Mitro-
tation des Axis zur Neigeseite. Diese Zwangsrotation des Axis
entsteht nach Werne (1957) durch die Anordnung der Ligg.
16 a
. Abb. 4.11
17 Ventrale Kippbewe-
gung des Atlas bei
Nickbewegung des
18 Kopfes. Vermehr-
te Anteflexion des
19 Atlas
20
18
19
20
b
. Abb. 4.14 Kopfhaltung im Unterarmstütz. Gut zu sehen ist das
Relief der autochthon innervierten langen Rückenstrecker . Abb. 4.15 a, b Seitengleiche Kippreaktion (= frontale LSR)
4.3 · Die Kopfgelenke
53 4
4.3.8 Die Kopfkontrolle führt die posturale
Entwicklung an
4.4.2 ISG-Mobilität
Die Biomechanik des Beckens wird nicht nur durch die Beweg-
lichkeit der ISG bestimmt, sondern durch die Funktionsge-
meinschaft aus dem 5. Lendenwirbelkörper, dem Kreuzbein
und den beiden Hüftbeinen. Der 5. Lendenwirbelkörper ist
über eine Bandscheibe und die intervertebralen Gelenkstruk- c d
turen mit dem Sakrum verbunden, über das Lig. iliolumba-
le mit den Ossa iliaca. ISG und Symphyse bilden die amphia-
rthrotische Verbindung des Beckenringes. Dieses Funktions-
gefüge führt passive Bewegungen über verschiedene Achsen
aus, die allerdings in der Literatur nicht einheitlich dargestellt
werden (Sutter 1977, Lavignole 1983, Frisch 1996).
> Wichtig
In der klinischen Anwendung arbeitet man aus didakti-
e f
schen Gründen mit virtuellen Achsen (Neumann 2003):
5 Nutation und Gegennutation des Sakrums gesche- . Abb. 4.20 a-f Bewegungsmuster von Sakrum und Ilium. a Be-
hen über eine transversale Achse. wegungsachsen des Sakrums. b Nutationsbewegung des Sakrums.
5 Die Rotation des Sakrums bewegt sich um je eine c Upslip: Kranialstauchung des (rechten) Iliums. d Downslip: Kaudal-
rechte und linke diagonale Achse. stauchnung des (rechten) Iliums. e Outflare und Inflare: Auffaltung
5 Die gegenläufige Ante- und Retroflexion der Ossa ili- des rechten Iliums und Zufaltung des linken Iliums. f Beckenverwrin-
gung: Rechtes Ilium in Dorsalposition (posterior) gegenüber dem lin-
aca über eine transversale Achse.
ken Ilium (anterior). An der Beckenverwringung ist stets das Sakrum
Hinzu kommt die Vorstellung von einer longitudina-
mit einer Rotation über die rechte oder linke diagonale Achse betei-
len Gleitbewegung zwischen Sakrum und Ilium (Upslip, ligt (a)
Downslip) sowie Auffaltung bzw. Zufaltung der Ossa ilia-
ca (Outflare, Inflare) (. Abb. 4.20).
Neumann (2003) beschreibt das Bewegungsmuster der knö- sinkt dann kontinuierlich ab, um mit der Pubertät die Beweg-
chernen Elemente des Beckenringes beim Gehen: Dabei lichkeit des adulten ISG zu erreichen.
rotieren – kurz gefasst – die Ossa iliaca gegenläufig um eine Die komplexe Bewegung des Beckenringes beim Gehen
transversale Achse, während das Sakrum in Abhängigkeit und die mitunter auffälligen Stellungsasymmetrien der ein-
von der Standbeinseite um eine rechte oder linke diagonale zelnen Beckenteile bei Dysfunktionen können allerdings
Achse rotiert. Wahrscheinlich kommt es beim Gehen zusätz- nicht alleine auf das Bewegungsspiel in ISG und Symphyse
lich auch zu feinen Auf- und Zufaltbewegungen der Ossa ili- zurückgeführt werden. Offenbar spielt auch die Eigenelastizi-
aca und möglicherweise auch zu minimalen longitudinalen tät der knöchernen Anteile für die Gesamtmobilität eine Rol-
Gleitbewegungen in den ISG. le. Dos Winkel (1992) fand bei adulten Becken eine Verbie-
Insgesamt sind allerdings die Bewegungsausschlä- gung des Os sacrum (Basis gegenüber Spitze) von 5–10 mm
ge in den ISG recht gering: Für Nutation und Gegennutati- und Frigerio et al. (1974) eine Verformung des Iliums um
on des Sakrums gegenüber den Ossa iliaca um eine transver- mehrere Millimeter. Berücksichtigt man die Hebel- und Zug-
sale Achse werden Werte zwischen 0,4–4,3° angegeben; die kräfte der zahlreichen am Becken angehefteten abdominalen,
Durchschnittswerte liegen bei 2° (Egund et al. 1978, Winkel lumbalen, pelvinen und kruralen Muskelgruppen und die mit
1992, Kissling und Michel 1997). In den ISG findet also – im ihnen verwobenen Bandstrukturen und Faszienzüge, dann ist
Gegensatz zur Ansicht mancher Chirurgen – durchaus eine eine physiologische Eigenelastizität und »Nachgiebigkeit« des
Bewegung statt, wenn auch beim Erwachsenen nur in gerin- Beckenringes unverzichtbar für Haltungs- und Bewegungs-
gem Umfang. Beim Säugling ist die ISG-Mobilität im Ver- leistung (. Abb. 4.21).
gleich zum Erwachsenen etwa 15% höher (Brooke 1924). Sie
56 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle
Auch der dorsolumbale Übergang spielt als Schlüsselregion Sie verbinden im Einzelnen den dorsolumbalen Übergang
bei der sensomotorischen Entwicklung des Säuglings eine mit der oberen Brustwirbelsäule, den oberen Rippen und der
bedeutende Rolle. Die frontal ausgerichteten und konvex unteren Halswirbelsäule. Sie wirken ebenfalls streckend auf
ausgeformten Gelenkfortsätze der Brustwirbelsäule weichen HWS und BWS sowie seitneigend und drehend. Für die Auf-
einer mehr sagittalen Stellung der leicht konkav geformten richtung des Rumpfes in den Handstütz am Ende des 2. Tri-
Gelenkfortsätze der Lendenwirbelsäule. Der dorsolumba- menons sind sie ebenso unentbehrlich wie für die zur glei-
le Übergang gehört zur Wendezone der gegenläufigen Bewe- chen Zeit erfolgende Drehung vom Rücken auf den Bauch,
gung von Rumpf und Beckengürtel. Da die Rotationsbewe- gemeinsam mit den vom Sakrum entspringenden Mm. ilio-
gung im Segment Th12/L1 gering ist, erstreckt sich die Wende- costales, longissimi und multifidi. Die drei letztgenannten
zone über mehrere dorsale und lumbale Segmente, begünstigt Muskelzüge verbinden das Sakrum mit dem zervikookzipi-
durch die größere Drehbeweglichkeit im (funktionell schon talen Übergang, dem Os temporale (Proc. mastoideus) und
zum Becken gehörenden) Lumbosakralgelenk (Putz 2003). dem Axis.
58 Kapitel 4 · Wahrnehmung und Körperkontrolle
5.1 Neurophysiologisches Denkmodell Zwei grundsätzliche Aspekte bestimmen das Bild der
Blockierung,
An jeder gelenkigen Verbindung des Körpers, jedem Bewe- 4 der mechanische Aspekt und
gungselement können funktionelle Störungen auftreten, die 4 der neurophysiologische Aspekt.
gewöhnlich zunächst reversibel sind. Typische Symptome
sind Bewegungseinschränkung und Schmerzen, auch Kraft- Die mechanische Komponente äußert sich in einem gestörten
verlust und Störung der Körperkontrolle. Besonders die seg- Bewegungsspiel des Gelenks (»joint play«), das dann kli-
mentalen Dysfunktionen der Wirbelsäule sind von Bedeu- nische Bedeutung erlangt, wenn »es von neurophysiolo-
tung: nicht nur, weil sie die klassische Indikation für eine gischen Reaktionen begleitet wird« (Wolff 1996).
manualmedizinische Intervention darstellen, sondern vor Zu neurophysiologischen Reaktionen zählen:
allem wegen der entwicklungsneurologischen Konsequenzen 4 Spontanschmerzen und/oder haltungs- und bewegungs-
und wegen ihres Einflusses auf die sensomotorische Steue- abhängige Schmerzen,
rung. 4 erniedrigte nozizeptive Reizschwelle der segmental zuge-
Die Pathophysiologie einer segmentalen Wirbelsäulen- ordneten Strukturen,
dysfunktion ist sehr komplex und noch nicht in allen Einzel- 4 veränderter segmentaler Muskeltonus und veränderte
heiten geklärt. Sicher ist, dass es sich dabei nicht um die Sub- myofasziale Viskoelastizität,
luxation eines Wirbelgelenks handelt, wie früher angenom- 4 Störung vegetativer Reaktionen auf segmentaler Ebene,
men. Es handelt sich auch nicht um einen eingeklemmten 4 Störung zentraler Steuerungsvorgänge.
Nerv und schon gar nicht um einen ausgerenkten oder,
schlimmer noch, einen »herausgesprungenen« Wirbel, wie Diese Symptome treten in unterschiedlicher Intensität und
dies von medizinischen Laien gerne formuliert wird – eine wechselnder Zusammensetzung auf. Vegetative Zeichen wer-
Diktion, der sich ein Manualmediziner unbedingt verweigern den nicht immer sichtbar, auch die Schmerzintensität variiert
muss, wenn er ernst genommen werden will. mitunter beträchtlich. Obligatorisch ist die erniedrigte nozi-
Im internationalen Sprachgebrauch wird die reversible zeptive Reizschwelle im Segment und der pathologisch verän-
Funktionsstörung an einem Wirbelsäulengelenk als segmen- derte segmentale Muskeltonus, der vor allem bei Kindern ein
tale peripher-artikuläre Dysfunktion bezeichnet (Neumann zuverlässiges diagnostisches Kriterium ist, wenn das gestörte
2003), eine sicherlich korrekte, aber etwas umständliche Gelenkspiel infolge mangelnder Kooperationsfähigkeit nicht
Bezeichnung. Wesentlich anschaulicher ist der im Deut- sicher erfasst werden kann.
schen übliche Begriff Blockierung, sofern er nicht wie früher In Abgrenzung zum neuralgischen Schmerz als Fol-
rein mechanisch verstanden wird, sondern die Steuerung des ge einer Affektion der afferenten sensiblen Leitungsbahnen
gesamten Regelsystems auf der segmental-spinalen Reflexe- (z.B. bei Wurzelkompression) wird der bei einer Blockierung
bene einschließlich der vertikalen zentralnervösen Verschal- auftretende Schmerz als Rezeptorenschmerz bezeichnet,
tungen miteinbezieht. In seinem didaktischen Denkmodell hervorgerufen durch die adäquate Reizung eines sensiblen
zur Manuellen Medizin bietet Neumann (2003) eine sehr Rezeptors, eben des Nozizeptors. Dieser Rezeptorenschmerz
anschauliche Darstellung der Doppelfunktion des Wirbelbo- wird gewöhnlich am Ort des Nozizeptorenreizes empfunden,
gengelenks als Teil des Bewegungssystems und als Teil eines kann aber als fortgeleiteter Schmerz (»referred pain«) auch
nervös-reflektorischen Regelkreises. in nicht unmittelbar betroffenen Strukturen gespürt werden.
Hierfür wird auch das Fasziensytem verantwortlich gemacht,
k Symptombild einer Blockierung das alle Elemente des Bewegungsapparates ohne Unterbre-
Im Vordergrund des therapeutischen Interesses stehen die chung miteinander verbindet und auch die Beziehungen zu
reversiblen hypomobilen Funktionsstörungen. den inneren Organen herstellt.
60 Kapitel 5 · Die Blockierung: pathophysiologische Aspekte
> Wichtig
14 Unabhängig von diesen spinalen reflektorischen Vor-
Wide -dynamic-
range Neuron gängen wird die Basisaktivität der γ-Motoneurone von
15 zerebralen Zentren gesteuert. Von hier aus erfolgt die
Ia-Faser Anpassung und Modulation des Grundtonus der Musku-
latur gemäß den Erfordernissen des Organismus in Aus-
16 α- und γ- Motoneurone einandersetzung mit der Umwelt.
Spindelrezeptor
1. Schmerz und Bewegungseinschränkung. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Irritationspunktdi-
1 2. Störung der sensomotorischen Steuerung aufgrund ver- agnostik vor allem bei Kleinkindern und Säuglingen die
änderter Propriozeption, ggf. Störung vegetativer Funk- genaueren Informationen über eine segmentale Dysfunkti-
2 tionen. on liefern, da die typische Beweglichkeitsprüfung eines Wir-
belkörpers bzw. Wirbelsäulenabschnitts aufgrund fehlender
Welche der beiden Komponenten im Vordergrund steht, Kooperation des Kindes oder wegen Widerstand gegen die
3 hängt entscheidend vom Alter des Kindes und vom Zeitpunkt Untersuchung unzuverlässig oder gar nicht möglich ist. Sol-
des Eintretens der Störung ab: che Schwierigkeiten fallen bei der Irritationspunktdiagnostik
4 In der frühkindlichen Phase, das heißt, von der Schwan-
4 gerschaft bis zum Abschluss der Markreifung am Ende
deutlich weniger ins Gewicht.
Schmerztherapie, Traumatologie und Rehabilitation sind die 6.1 Der »schiefe Säugling«
klassischen Indikationsgebiete der Manuellen Medizin. Dies
gilt traditionell für erwachsene Patienten, hat seine Gültigkeit
aber auch im Kindesalter. Exkurs: Die Anfänge des TAS
Im Jahr 1744 erschien im Verlag Johann Andreas Rüdiger zu
> Wichtig Berlin die deutsche Fassung eines Buches von Niclas Andry un-
Die entwicklungsneurologische Indikation hingegen ter dem feierlichen Titel »Orthopädie oder die Kunst, bey den
steht nicht in der manualmedizinischen Tradition, son- Kindern die Ungestalt des Leibes zu verhüten und zu verbes-
dern stellt eine Neuentwicklung im Gesamtkonzept der sern, alles durch solche Mittel, welche in der Väter und Mütter
Manuellen Medizin dar und eröffnet den Zugang zur Be- und aller der Personen Vermögen sind, welche Kinder zu er-
ziehen haben«. In diesem umfangreichen und mit zahlreichen
handlung von Kindern mit sensomotorischen Störungen
Kupferstichen illustrierten Werk ist auch ein schief auf dem Rü-
verschiedener Ursache.
cken liegender Säugling dargestellt, zu dessen Behandlung
Andry empfiehlt, man möge »zu ausgestopften Schnürleibern
Als entwicklungsneurologische Indikation zur Anwendung Zuflucht nehmen«, ein Gedanke, dem Lübbe (1977) rund zwei-
der Manuellen Medizin gelten die sensomotorische Dysky- hundert Jahre später mit seinem Lagerungsleibchen eine hu-
bernese (SMD) des Vorschul- und Schulkindes (7 Kap. 8), manere Form verlieh. Das Erscheinungsbild des schiefen Säug-
die infantile Zerebralparese (7 Kap. 9) und das mit TAS abge- lings ist also in der Medizin schon seit langer Zeit bekannt, wie
kürzte dysfunktionelle Tonusasymmetrie-Syndrom, auch auch Votivfiguren und Skulpturen aus unterschiedlichen Kul-
KISS genannt, das in diesem Kapitel eingehend besprochen turkreisen mit Darstellung von Schiefhals oder Rumpfskolio-
wird. se bezeugen.
6
64 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)
Tipp
1
Diese Zeichen sind jedoch nicht spezifisch für zentra-
le Störungen, sondern unabhängig von der Ursache
2 zunächst nur Ausdruck einer unvollkommenen oder
gestörten sensomotorischen Steuerung.
3
4 Beim unausgereiften ZNS des Säuglings können segmentale
Dysfunktionen an bestimmten Wirbelsäulenabschnitten auf-
grund inadäquater propriozeptiver Wahrnehmungsinfor-
5 mationen das motorische Muster in der Weise beeinflussen,
dass beispielsweise Primitivreflexe über ihre Waltezeit hinaus
6 sichtbar werden, wenn der nozizeptive Einstrom aus dem
blockierten Segment aktiviert wird. Das kann durch Ände-
rung der Körperlage geschehen oder durch Bewegung des
7 dysfunktionellen Segments in die gesperrte, die nozizeptive
Richtung.
8 > Wichtig
Beim TAS wird es – im Gegensatz zur zerebralen Störung
9 – immer eine Körperhaltung und eine segmentale Bewe-
gungsrichtung geben, in der die pathologische neuro-
19 Der Einfluss segmentaler Dysfunktionen auf die sensomoto- ! Diese Halsstellreaktion ist spätestens ab dem 3. Monat
rische Entwicklung lässt sich am Beispiel der Kopfgelenks- pathologisch!
blockierung des Säuglings gut beobachten (. Abb. 6.2).
20 Ältere Säuglinge mit Kopfgelenksblockierung drehen oft
k Schonhaltung in Rückenlage nicht en bloc, sondern zeigen als Ausgleichsbewegung eine
In Rückenlage hält der Säugling den Kopf in einer Schonhal- Reklination des Kopfes mit Schulterretraktion sowie Stre-
tung, um unangenehmem Empfinden oder offenkundigem ckung und Innenrotation der Beine.
Schmerz im blockierten Segment auszuweichen. Häufigstes
Muster ist, wie schon erwähnt, > Wichtig
4 die Kopfneigung zur einen Seite und Typisch für das TAS ist, dass diese beschriebenen Reakti-
4 Kopfdrehung zur Gegenseite, onen bei passiver Kopfdrehung in die freie Richtung er-
wartungsgemäß ausbleiben (. Abb. 6.3).
6.1 · Der »schiefe Säugling
69 6
k Passive Kopfseitneige
Ähnlich verhält es sich bei der passiven Seitneige des Köpf-
chens in die blockierte Richtung. Die Seitneigebewegung ist
eingeschränkt; bei Erreichen der Barriere dreht sich der Kör-
per im Ganzen um eine sagittale Achse mit Drehpunkt ober-
halb des Nabels. Nach Lewit (1977, 1997) weist eine Einschrän-
kung der Seitnickbewegung auf eine Blockierung im unteren
Kopfgelenk hin, also Atlas gegen Axis (. Abb. 6.4).
Tipp
k Überstreckung
Ein ebenfalls typisches, wenn auch weniger häufiges Muster
ist die Überstreckung, bestehend aus Retroflexion des Kopfes
bei gleichzeitiger stereotyper Rotation und Hyperextensi-
on des Rumpfes mit Konvexität zur Seite der Kopfdrehung
(. Abb. 6.5), von Biedermann als KISS II bezeichnet. Die seg-
mentale Untersuchung ergibt bei diesem Bild häufig eine obe-
re Kopfgelenksblockierung C0/1 mit eingeschränkter oder
a aufgehobener passiver Nutationsbewegung im Atlantookzi-
pitalgelenk. Ob die meist vorhandene stereotype Kopfrota-
tion auf eine Beteiligung des unteren Kopfgelenks C1/2 hin-
weist, lässt sich klinisch nicht immer sicher erfassen. Eine
eingeschränkte passive Seitneige des Kopfes spräche dafür.
Das Bild der Überstreckung erinnert an den Opisthotonus
bei schwerer Zerebralparese (. Abb. 6.6), die mittels ent-
sprechender klinischer Untersuchungen auf jeden Fall aus-
zuschließen ist. Abzugrenzen ist dieses Bild auch von einer
kongenitalen oder entzündlich bedingten Tracheomalazie,
bei der das Kind zur Erleichterung der Respiration den Kopf
rekliniert. Ebenso ist an eine Pierre-Robin-Sequenz mit Glos-
soptose zu denken.
1
2
3
4
5
6
7
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9
10 . Abb. 6.5 3½ Monate alter Säugling mit TAS bei oberer und un-
a terer Kopfgelenksblockierung. Überstreckung von Kopf und Rumpf,
nicht fixierte Fechterhaltung der Arme, reziproke Bewegungen der
11 Beine. Keine Pyramidenzeichen, keine tonischen oder phasischen
Streckreaktionen. Im weiteren Verlauf unter manualmedizinischer Be-
handlung Normalisierung des Befundes
12
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18
19
20 b
> Wichtig
Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeit hat die blockierungs-
bedingte stereotype Kopfhaltung beim TAS eine ein-
seitige muskuläre Tonusverteilung mit skoliotischer
Rumpfausbiegung zur Folge.
k Test: Frontale Labyrinthstellreaktion . Abb. 6.7 a, b 3 Monate altes Mädchen. a Abnormale LSR nach
Mit einem einfachen Test lässt sich dies überprüfen: Wird das links mit seitlichem Wegkippen von Kopf und Rumpf. b Bei der LSR
nach rechts kein Abkippen des Rumpfes, Aufrichtung jedoch unvoll-
exakt am Becken gehaltene Kind (mit dem Rücken zum Unter-
ständig, Schulterkulisse nicht horizontal
sucher!) in einer langsamen Bewegung zur Seite gekippt, so
bringt es ab dem 3. bis 4. Lebensmonat durch eine kompen-
satorische Biegung des Rumpfes den Kopf in die orthograde, > Wichtig
vertikale Position, so dass Mund und Augenachsen horizon- Bei segmentaler Dysfunktion der Kopfgelenke kippen
tal stehen (. Abb. 4.15 a, b). Kopf und Rumpf bei Prüfen der LSR zu einer Seite ab, in
Dieser Test wird Seitkippreaktion oder frontale Laby- der Regel zur Gegenseite der Dysfunktion: Kopfgelenks-
rinthstellreaktion (LSR) genannt und ist ein Beispiel für die blockierung rechts, Abkippung nach links und umge-
gemeinsame Datenverrechnung aus Labyrinth und Nacken- kehrt (. Abb. 6.7).
rezeptoren zur Steuerung der räumlichen Körperkontrolle
(Coenen 1992, 1996, 2004). Dieser Test wird häufig mit der Vojta-Reaktion verwech-
selt oder als modifizierter Vojta-Reflex bezeichnet. Beides ist
72 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)
als normal angesehen werden kann, primär keinen patholo- 6.1.11 Problemlösung Sectio?
1 gischen Wert besitzt und in aller Regel von alleine verschwin-
det dank der Selbstheilungskräfte, die im Laufe der Evolu- Dass Schwangerschaft und Geburt mit einem Risiko für Mut-
2 tion erworben wurden und dazu beitragen, das Überleben
der Spezies »Mensch« zu sichern. Die Quote der tatsächlich
ter und Kind verbunden sind, ist unbestritten. Nicht nur die
hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit früherer Zeiten, als
behandlungsbedürftigen Neugeborenen, bei denen aufgrund man von Sterilität und Asepsis noch nichts wusste, legt davon
3 des klinischen Bildes mit eindeutigem manualmedizinischen Zeugnis ab. Auch heute ist eine Geburt durch eine Vielzahl
und neuromotorischen Befund sowie vegetativen Symptomen möglicher Komplikationen immer noch risikobehaftet. Frag-
4 eine spontane Besserung nicht zu erwarten ist, dürfte erheb-
lich niedriger liegen.
lich ist allerdings, ob schon die normale Geburt bei kunst-
gerecht durchgeführter Geburtshilfe immer und in jedem
Ganz anders sieht das Kurrek (1987). Er hält den Geburts- Fall als pathologischer Vorgang und als Schadensereignis für
5 vorgang sogar für eine »evolutionsbedingte Pathologie«. Jedes das Kind betrachtet werden muss. Die Menschheitsgeschich-
intrauterin gesunde, ausgetragene Kind, so Kurrek, sei durch te und die drohende Übervölkerung der Erde sprechen eher
6 den normalen Geburtsvorgang dem Risiko eines »gedeckten dagegen.
Schädel-Hirn-Traumas« ausgesetzt. Viel zu wenig werde die Um die »Gefahrenzone des natürlichen Geburtsmecha-
Ausbildung des sog. Geburtsknies berücksichtigt, wenn der nismus« zu umgehen, empfiehlt Kurrek (1987) die geplante
7 Kopf auf dem Beckenboden angelangt ist, um dann unter Schnittentbindung. Damit könne unfassbares Leid verhin-
ernormen Presswehen herausgedrückt zu werden. Hierbei dert und die neonatale Sterblichkeit gesenkt werden. Nach
werde der Atlas »bis zur Luxation gegen die Schädelbasis bei allgemeiner Ansicht ist die Sectio für Mutter und Kind scho-
8 gleichzeitiger Abschnürung der A. vertebralis verdreht«. Die nender als die normale Geburt. Offenbar wird aber die Ent-
Druckbelastung des kindlichen Köpfchens durch jede Wehe stehung eines TAS durch die Schnittentbindung nicht verhin-
9 betrage 5–10 kg, potenziert durch den Kristeller-Handgriff. dert. Vielmehr beträgt nach eigenen Erhebungen der Anteil
Das Resultat seien Quetschungen ganzer Nervenzellgruppen, der TAS-Kinder, die durch Sectio entbunden wurden, annä-
irreversible Durchblutungsstörungen und ausgedehnte sub- hernd 40%, und es scheint, als sei die Tendenz in den letzten
10 durale und intraventrikuläre Hämatome. Daraus ergebe sich Jahren steigend.
ein Kausalzusammenhang mit einem »ganzen Spektrum ner- Drei Viertel der TAS-Kinder weisen Auffälligkeiten in
11 valer Symptomenkomplexe«, zu dem unter anderem auch der der prä- und perinatalen Anamnese auf. Dazu zählen:
plötzliche Kindstod (SIDS) und die frühkindlichen Hirnschä- 4 Schwangerschaftsdiabetes,
den gezählt werden. 4 Gestose,
12 Auch Ratner (1990) geht davon aus, dass der Geburts- 4 Pyelonephritis,
vorgang aus mechanischen Gründen eine große Belastung 4 vorzeitige Wehen,
13 für das Kind darstellt, und dass Schäden schon bei physi- 4 Blutungen,
ologischen Geburten drohen. Hierbei sei das Nervensy- 4 Plazentainsuffizienz,
stem besonders häufig betroffen, sowohl aufgrund zere- 4 Wehenschwäche,
14 braler Hämorrhagien als auch durch Geburtsverletzungen 4 prolongierter Geburtsverlauf,
der Halswirbelsäule. Dabei kommt es nach Ratner infol- 4 Nabelschnurumschlingung,
15 ge ischämischer Veränderungen zu sekundären Spätfolgen, 4 passagere Asphyxie usw.
zu denen neben der Amyotrophie des Schultergürtels, vas-
kulären Kopfschmerzen, einem myatonischen Syndrom und Eine Sectioanamnese ist mit 40% häufiger als die Vakuumex-
16 transitorischen Störungen des Hirnblutkreislaufes auch noch traktion mit 24%; Zangengeburten rangieren mit 5% weit hin-
die neurogene Kurzsichtigkeit, die Hüftluxation und skolio- ten. Auch Gesichts- und Stirnlagen (»Sterngucker«) kommen
17 tische Deformitäten der Wirbelsäule gezählt werden. Ratner nicht so oft vor, wie man bei der Annahme einer stets mecha-
ist der Ansicht, dass die meisten geburtstraumatischen Schä- nisch bedingten Ursache des TAS vermuten sollte. Auffallend
digungen auf der zervikalen Ebene kaum beachtet werden ist allerdings, dass bei über 70% der Kinder eine abnormale
18 und der Pathologe die Nervenschädigungen deswegen nicht APGAR-Benotung dokumentiert ist, mit leichten bis mittel-
findet, weil er nicht danach sucht, wenn das Kind »an einer schweren Abweichungen von der Norm. Die Angaben über
19 anderen Ursache« verstorben ist. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sind annä-
Auch Iliaeva, Weiers und Graf-Baumann (2002) weisen hernd gleich häufig, so dass die geburtstraumatische Hypo-
auf die Bedeutung pathogenetischer Faktoren während der these als alleinige ursächliche Erklärung zu überdenken ist.
20 Geburt hin, wie Kompression des Kopfes und der Halswir- Als postnatale Ursache des TAS wird oft ein sog. Lage-
belsäule sowie gewaltsame longitudinale Traktion der Wir- rungsfehler angenommen. Möglicherweise wird aber die
belsäule. Mit bildgebenden Verfahren ließen sich bei Kom- Ursache mit der Wirkung verwechselt, denn keine Mutter
plikationen in der Neugeborenenperiode oft Rückenmarks- wird einen gesunden Säugling von sich aus nur auf eine Sei-
läsionen, meningeale und ligamentäre Verletzungen mit te legen. Vielmehr wird eine Wirbelsäulenblockierung den
Symptomen nachweisen, die dem Bild der infantilen Zere- Säugling veranlassen, sich die ihm genehme Lage zu suchen,
bralparese gleichkämen. und sich gegen eine erzwungene Änderung so lautstark zu
wehren, dass kaum eine Mutter widerstehen wird.
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
75 6
Die Vermutung einer genetischen Disposition als Mitver- mental-spinalen Reflexebene einschließlich der vertikalen
ursacher des TAS stützt sich auf die Beobachtung, dass anato- zentralnervösen Verschaltungen verstanden (7 Kap. 5.1, Neu-
mische Varianten des zervikookzipitalen Übergangs familiär rophysiologisches Denkmodell).
gehäuft auftreten und die Entstehung segmentaler Dysfunk-
tionen begünstigen können. Das scheint weitaus häufiger der
Fall zu sein als bisher angenommen wurde. Valide Daten dazu 6.2.1 Beurteilung der Kopf- und
fehlen jedoch. Körperhaltung in Rücken- und
Bauchlage
Fazit
Eine einheitliche Ursache des TAS konnte bisher nicht über- In Bauch- wie in Rückenlage werden beurteilt:
zeugend ermittelt werden. Vieles spricht dafür, dass pränatale 4 Kopf- und Rumpfhaltung,
Erkrankungen und geburtstraumatische Ereignisse ursächlich 4 Gesichts- und Schädelform,
bedeutsam sind, in verschiedenen Fällen aber auch genetische 4 Haltung und Stellung der Extremitäten,
Faktoren eine Rolle spielen. 4 Blickwenderichtung,
4 Atembewegung des Abdomens,
4 Augenstellung (Strabismus),
6.2 Manualmedizinische und 4 Mundstellung (Fazialis) usw.
neurologische Standarddiagnostik
Als pathologische Befunde können z.B. dokumentiert wer-
Die Mehrdeutigkeit der klinischen Zeichen eines TAS erfor- den:
dert ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen. Ein aus 4 Einseitige Rotation und Neigehaltung des Kopfes,
10 einzelnen Untersuchungsschritten bestehendes Konzept 4 fehlende oder unzureichende Kopfaufrichtung und
wird seit Langem in den von der Ärztegesellschaft für Manu- Stützreaktion aus der Bauchlage,
elle Kinderbehandlung und Atlastherapie (ÄMKA e.V.) veran- 4 Rumpfskoliose,
stalteten Fortbildungskursen für Manuelle Medizin bei Kin- 4 eingeschlagener Daumen,
dern gelehrt und hat sich in der vorliegenden didaktischen 4 vermehrtes Fausten,
Gliederung bewährt (Coenen 1992, 1996b). Dieses nach sei- 4 Asymmetrie der Hüftkonturen,
nem Entstehungsort Villinger Schema genannte Untersu- 4 asymmetrische Haltung der Beine und Füße,
chungsprogramm (Coenen 2004), dargestellt in 7 Über- 4 Hinweise auf persistierende Primitivreflexe,
sicht 6.3, ermöglicht eine Klassifikation und prognostische 4 symmetrische oder asymmetrische Störung des Muskel-
Einschätzung des Krankheitsbildes und erlaubt die unmittel- tonus.
bare Umsetzung in therapeutisches Handeln.
Bei der Beurteilung müssen physiologische Varianten von
pathologischen Befunden unterschieden werden: Jun-
Übersicht 6.3 Untersuchungsprogramm bei ge Säuglinge weisen bei passiver oder aktiver Rotation des
Säuglingen: Villinger Schema Kopfes häufig die sog. Fechterhaltung auf, mit Streckung der
1. Beurteilung der Kopf- und Körperhaltung in Rücken- gesichtsseitigen und Beugung der hinterhauptseitigen Extre-
und Bauchlage mitäten. Es handelt sich hierbei nicht, wie allgemein ange-
2. Orthopädischer Status nommen, um den sog. asymmetrischen tonischen Nackenre-
3. Frühkindliche Reaktionen (1.–8. Woche), ggf. Beurtei- flex (ATNR), weil die Fechterhaltung nicht tonisch fixiert ist,
lung der General Movements bis zur 56./58. Woche im Gegensatz zu Kindern mit ausgeprägten zerebralen Bewe-
4. Labyrinthstellreaktion (LSR), Halsstellreaktion (HSR), gungsstörungen, die in einem tonischen Muster verharren.
Seitneigetest (SNT)
5. Manualmedizinische Exploration der sensorischen > Wichtig
Schlüsselregionen Die physiologische Fechterhaltung verliert sich gegen
6. Myofasziale (ostheopatische) Diagnostik von Kopf, Ende der 8.–10. Woche, kann aber auch unter norma-
Rumpf und Extremitäten len Bedingungen als sporadisches Hintergrundsmus-
7. Neurologische Untersuchung ter noch bis zum 4./5. Monat beobachtet werden. Persis-
8. Neurokinesiologische Untersuchung nach Vojta tiert die Fechterhaltung als kopfwendeabhängiges Mus-
9. Bestimmung des Entwicklungsalters im Vergleich zum ter über längere Zeit, ist dies ein Hinweis auf sensomoto-
chronologischen Alter (Körperkontrolle, Handmotorik) rische Reifungsverzögerung ohne Beweis für eine zereb-
10. Röntgenuntersuchung des zervikookzipitalen Über- rale Ursache.
gangs
Diese drei Reaktionen (7 Abschn. 6.1.5, Dysfunktion der Bei älteren, vorbehandelten Säuglingen mit TAS kann es
Kopfgelenke, und 7 Abschn. 6.1.7, Verrechnungsfehler und vorkommen, dass die LSR normal erscheint, weil der Rumpf
Labyrinthstellreaktion) sind bei jeder Säuglingsuntersuchung nicht zur Seite abkippt. Man findet aber in diesen Fällen eine
obligatorisch. Seitendifferenz in der Kopf-Rumpf-Stabilisierung bei der
Seitkippbewegung als Hinweis auf eine noch bestehende dys-
k Labyrinthstellreaktion (LSR) (. Abb. 6.12) funktionelle Situation.
Der senkrecht, exakt am Becken gehaltene Säugling wird in
einer langsamen Bewegung zur rechten und anschließend Tipp
zur linken Seite gekippt. Der Rücken des Kindes ist dem
Es sei daran erinnert, dass es sich bei der LSR um eine
eigenständige Reaktion handelt, die sich in Durchfüh-
rung und Beurteilung eindeutig von der Vojta-Reaktion
unterscheidet.
. Abb. 6.12 Korrekte Durchführung der Labyrinthstellreaktion. Das Dieser Kopfrotationstest wird zuerst in Mittelstellung der
Kind wird mit dem Rücken zum Untersucher am Becken gefasst und Halswirbelsäule, dann in maximaler Flexion und Reklination
in einer langsamen Bewegung zur rechten und linken Seite gekippt. der HWS durchgeführt. Dadurch ist die annähernde Höhen-
Das Bild zeigt eine abnormale LSR nach rechts bestimmung einer segmentalen Dysfunktion möglich:
78 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)
5 > Wichtig
Eine einseitig abnormale Halsstellreaktion spricht für ei-
6 ne segmentale Dysfunktion, eine doppelseitig positive
Reaktion verbunden mit einschießender Erhöhung des
Muskeltonus deutet eher auf eine zentrale Störung hin.
7
k Seitneigetest (SNT)
Wie bei der vorigen Reaktion wird beim Seitneigetest des
8 Kopfes sowohl die Beweglichkeit der Halswirbelsäule als auch
die Bewegungsantwort von Rumpf und Extremitäten beur-
9 teilt (. Abb. 6.4 a, b):
4 Physiologisch ist bei passiver Seitneige des Kopfes eine
a leichte Rumpfkonvexität zur Gegenseite bei lockerer
10 Extremitätenhaltung.
4 Abnormal ist neben der eingeschränkten Seitneigebewe-
11 gung ein ausweichendes Mitdrehen des Rumpfes um die
sagittale (supraumbilikale) Achse.
12 > Wichtig
Die Einschränkung des passiven Seitnickens weist auf
13 eine Blockierung von Atlas gegen Axis hin.
Tipp
14
Die folgenden drei Tests bieten als orientierende Unter-
15 suchung ein hohes Maß an Information bei geringstem
Zeitaufwand:
4 die Labyrinthstellreaktion (LSR),
16 4 die Halsstellreaktion (HSR) und
4 der Seitneigetest (SNT).
17
18 6.2.5 Manualmedizinische Exploration der
sensorischen Schlüsselregionen
19
b Die anatomischen und neurophysiologischen Merkmale der
sensorischen Schlüsselregionen wurden in den 7 Kapiteln 4.3–
20 . Abb. 6.13 a, b Prüfen des HSR in Flexion des Kopfes bei 6-mona- 4.5 beschrieben. Die Untersuchung dieser Zonen im Säug-
tigem Säugling. a Regelrechte Reaktion bei Kopfdrehung nach rechts. lingsalter orientiert sich an den Grundsätzen und Techniken
b Abnormale Reaktion bei Kopfdrehung nach links mit Abduktion der der Chirodiagnostik, weicht aber in der Vorgehensweise in
Arme, Streckung und Adduktion der Beine. Eine Rumpfextension wird einigen Punkten von der herkömmlichen manuellen Unter-
hier durch die Kopfflexion verhindert suchungsmethode ab, da die körperliche Beschaffenheit eines
Säuglings nicht mit der eines älteren Kindes oder Erwach-
senen vergleichbar ist. Hinzu kommt, dass viele Säuglinge
ihre Abneigung gegen die manualmedizinische Diagnos-
tik unverhohlen zum Ausdruck bringen und es an der wün-
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
79 6
schenswerten Kooperation fehlen lassen. Die exakte Beweg- Dies gelingt meist erst nach der Aufrichtung des Köpers
lichkeitsprüfung eines Wirbelsäulensegments ist daher nicht zum zweibeinigen Stand.
immer einfach und oft gar nicht möglich. Aus diesem Grun-
de empfiehlt sich beim Säugling die Untersuchung nozireak- j Palpation
tiver Gewebeveränderungen im Sinne einer Irritationspunkt- Genauer ist die Palpation der paravertebralen Irritations-
diagnostik, der sich auch ein widerspenstiger Säugling nur punkte in der Rinne zwischen M. semispinalis capitis und
schwer entziehen kann. M. splenius capitis (. Abb. 6.15). Zur Bestimmung der Seg-
menthöhe wird der Dornfortsatz des Axis aufgesucht, der
k Kopfgelenke (. Abb. 6.14, 6.15) beim Säugling allerdings noch nicht die komfortable Größe
j Beweglichkeitsprüfung hat wie beim Klein- oder Schulkind. Vom Dornfortsatz glei-
Zur Untersuchung des oberen Kopfgelenks liegt das Kind tet der palpierende Finger seitwärts bis zur Rinne zwischen
auf dem Rücken, den Hinterkopf in eine Hand des Untersu- Semispinalis capitis und Splenius capitis und sucht nach
chers gebettet (. Abb. 6.14). Die andere Hand des Untersu- nozireaktiver Gewebeveränderung, die in der tiefen auto-
chers liegt auf Scheitel- und Stirnbein und führt eine sachte chthonen Muskulatur gefunden wird. In Höhe von C2 wird es
Nutationsbewegung des Köpfchens aus: sich dabei um den M. obliquus capitis inferior handeln, des-
4 Normal ist ein weiches Federn. sen Nozireaktion bei passiver Seitneige in die freie Richtung
4 Bei Blockierung ist die Federung aufgehoben, oder das abnimmt und sich bei Neigen zur Blockierungsseite verstärkt.
Kind geht (aus Abwehr oder schmerzbedingt) in die Der M. obliquus capitis inferior ist als Angehöriger der sub-
Reklination. okzipitalen Muskelgruppe besonders dicht mit Spindelrezep-
toren besetzt und spielt eine wichtige Rolle bei der Steuerung
Von einer Prüfung der Schlussrotation des Atlas ist beim der muskulären Tonus und der posturalen Reaktionen.
Säugling abzuraten, da dies vom Kind sehr oft als unange- Die paravertebrale Palpation der übrigen HWS-Seg-
nehm empfunden und mit heftiger Abwehr beantwortet wird. mente erfolgt in der gleichen Weise. In Rückenlage des Kin-
Auch ist der Informationsgewinn nicht größer als bei Palpa- des lassen sich die seitlichen Halsmuskeln gut tasten und auf
tion der Atlasquerfortsätze in Neutralstellung des Kopfes. ihre Gewebebeschaffenheit untersuchen. Bei länger beste-
Dabei lässt sich die Federung des Atlas mit leichten passiven hendem TAS können die Mm. scaleni verkürzt sein, mitun-
Seitnickbewegungen meist gut bestimmen. ter auch der M. splenius capitis. Der palpatorische Gewebebe-
Die Beweglichkeit des unteren Kopfgelenks wird, wie fund entspricht dem einer myofaszialen »Strammung«. Der
beim HSR beschrieben, mittels Rotation in maximaler HWS- M. sternocleidomastoideus ist dabei meist unauffällig. Im
Flexion und durch passive Seitneigebewegung geprüft. Eine Gegensatz dazu ist beim kongenitalen muskulären Schief-
Kopfgelenksblockierung führt zu nozizeptiven Gewebere- hals der Sternokleidomastoideus nach dem 1. Trimenon fast
aktionen im betroffenen Segment: immer fibrös verändert, strangartig verkürzt und lässt die pal-
4 Das Weichteilgewebe über dem blockierungsseitigen patorischen Gewebeeigenschaften vermissen, die ein reflekto-
Atlasquerfortsatz ist induriert, verquollen und gewöhn- risch oder haltungsbedingt verkürzter Muskel aufweist. Die-
lich stark berührungsempfindlich. Die Federung ist auf- se palpatorischen Gewebeunterschiede sind differenzialdia-
gehoben, der Querfortsatz erscheint prominent im Ver- gnostisch von Bedeutung (7 Kap. 6.1.2.2, Schiefhals).
gleich zur Gegenseite.
4 Der okzipitale Ansatz des M. semispinalis capitis ist auf > Wichtig
der Blockierungsseite induriert, wobei sich die klas- Beim TAS spielen sich die HWS-Blockierungen überwie-
sischen Sell-Irritationspunkte mit segmentaler Höhen- gend in den Segmenten C0–C3 ab.
bestimmung beim Säugling noch nicht abgrenzen lassen:
. Abb. 6.14 Prüfen der Nutation im oberen Kopfgelenk . Abb. 6.15 Palpatorische Untersuchung der Zervikookzipitalre-
gion
80 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)
11 k 1. Rippe
j Beweglichkeitsprüfung
Prüfen des Vorlaufphänomens: Das Kind ist im gehaltenen
12 Sitz oder sitzt rittlings auf einem Bein des Untersuchers. Der
Untersucher legt seine Daumenkuppen ca. 2–3 cm zu beiden
13 Seiten des 1. BWK auf, und eine Hilfsperson hebt die Arme
des Säuglings vor dem Körper (nicht seitlich!) hoch:
4 Normalerweise bleiben beide Daumen in gleicher Höhe.
14 4 Tiefergleiten eines Daumens deutet auf eine Blockierung
der 1. Rippe hin.
15 . Abb. 6.17 Irritationspunktdiagnostik an der BWS
j Palpation
Die Palpation der 1. Rippe am Vorderrand des absteigenden
16 Trapeziusastes muss vorsichtig und zart erfolgen. Eine Blo- j Palpation
ckierung äußert sich meist in einer ausgeprägten und sehr Es folgt die paravertebrale Palpation der blockierungsver-
17 druckdolenten Induration des Gewebes über dem 1. Kosto- dächtigen Segmente. Das Verhalten nozireaktiver Gewebein-
transversalgelenk. Durch passive Seitneige des Kopfes im durationen wird über den Querfortsatz der Gegenseite und
Seitenvergleich lässt sich das Verhalten der nozireaktiven den Dornfortsatz geprüft:
18 Gewebsveränderung prüfen. 4 Ventralisierung des Querfortsatzes auf der Gegenseite
der Nozireaktion (Irritationspunkt) bewirkt eine Rotati-
19 k Brustwirbelsäule (. Abb. 6.17) on des Wirbels zur Seite der Nozireaktion,
j Prüfen der Kiblerfalten 4 Querschub des Dornfortsatzes zur Seite des Irritati-
Das Kind liegt auf dem Bauch in leichter BWS-Kyphosierung onspunktes bewirkt eine Rotation zur Gegenseite der
20 (weiches Kissen, passive Inklination des Kopfes durch Hilfs- Nozireaktion.
person). Als orientierender Test werden die Haut-Unterhaut-
Dermatome durch sanftes, vorsichtiges Abrollen der Kibler- Auf diese Weise lässt sich eine Rotationseinschränkung und
falten von kaudal nach kranial geprüft. Segmentale Dysfunk- damit der therapeutische Querfortsatz leicht ermitteln. Eine
tionen äußern sich auch in diesem Alter bereits als metamere Prüfung der Nozireaktion in Flexion und Extension ist beim
Haut-Unterhaut-Strammung. Säugling meist nicht exakt durchführbar und für die Ermitt-
lung der therapeutischen Richtung entbehrlich.
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
81 6
Tipp j Beweglichkeitsprüfung
Die manuelle Untersuchung der ISG beginnt mit der Palpa-
Säuglinge, die eine Untersuchung in dieser Lage nicht tion und dem Höhenvergleich der ventralen oberen Darm-
zulassen, kann der Untersucher an eine Schulter leh- beinstacheln zum Ausschluss einer Beckenverwringung.
nen (Kyphosierung) und das Untersuchungsmanöver Dazu muss das auf dem Rücken liegende Kind gerade ausge-
mit den Mittelfingern durchführen (. Abb. 6.17). richtet werden.
> Wichtig
k Dorsolumbaler Übergang (. Abb. 6.18) Stehen die ventralen Darmbeinstacheln unterschiedlich
j Beweglichkeitsprüfung hoch, und findet man dorsalseitig das umgekehrte Mus-
Das Kind liegt in Rückenlage. Die Rotationsbewegung im ter, so liegt eine Beckenverwringung vor, die beim Säug-
dorsolumbalen Übergang wird durch Drehen des Beckens ling regelmäßig mit einer ISG-Blockierung einhergeht.
um die Längsachse gegenüber dem fixierten Rumpf (vorsich-
tig!) geprüft. Bei Blockierung im Gebiet des dorsolumbalen Es folgt die vergleichende Beweglichkeitsprüfung der Hüft-
Übergangs ist eine seitendifferente Rotationsbewegung des gelenke in Rückenlage des Kindes: Abduktion, Adduktion,
Beckens gegenüber dem Rumpf zu erwarten. Freie und blo- Beuge-Adduktion des Beins zur Gegenschulter, Innen- und
ckierte Richtung werden bestimmt. Außenrotation, Extension und Flexion jeweils im Seitenver-
gleich. Bewegungseinschränkungen in einem Hüftgelenk bei
j Palpation sonographisch intakter Hüfte deuten auf eine iliosakrale Dys-
In Bauchlage erfolgen die Prüfung der Kiblerfalten und der funktion hin. Ein häufiges Muster ist
paravertebralen Irritationspunkte sowie die Ermittlung des 4 die eingeschränkte Beuge-Adduktion zur Gegenschulter
therapeutischen Querfortsatzes (wie bei der BWS beschrie- (Lig. sacrotuberale?),
ben). 4 eine Abspreizhemmung und
4 die Einschränkung einer Rotationsbewegung (Innen-
k Iliosakralgelenke (. Abb. 6.19, 6.20) oder Außendrehung),
Die Inspektion der Beckenkonturen in Rücken- und Bauch- aber auch andere Kombinationen sind möglich (. Abb. 6.19).
lage erfolgte bereits unter Punkt 1 des Untersuchungspro- In Bauchlage des Kindes wird die Beweglichkeit des Ili-
gramms (7 Abschn. 6.2.1). ums gegenüber dem Sakrum mit dem Federungstest über
. Abb. 6.18 Prüfen der Beweglichkeit im dorsolumbalen Übergang . Abb. 6.19 a, b Linksseitige ISG-Blockierung bei 5-monatigem
durch Rotation des Beckens gegenüber dem Rumpf im Seitenver- Säugling mit Einschränkung der Abduktion und Außenrotation im lin-
gleich. Bei segmentaler Dysfunktion seitendifferente Beweglichkeit ken Hüftgelenk
82 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)
5 Tipp
Muskeleigenreflexe, Pyramidenzeichen sowie phasische und Durchführung, Bewertung und Deutung der Lage- und sta-
tonische Streckreaktionen wurden in 7 Kapitel 3.6 einge- tokinetischen Reaktionen nach Vojta wurden in 7 Kapitel 3.5
hend erläutert. Während die Muskeleigenreflexe bei Anspan- ausführlich abgehandelt. Der richtige Umgang mit dieser
nen oder Abwehr des Kindes nicht immer zuverlässig ausge- sehr wertvollen Untersuchungsmethode und ihre korrekte
löst werden können, macht die Prüfung der phasischen und klinische Einordnung lassen sich nur durch die konsequente
tonischen Streckreaktionen gewöhnlich keine Schwierig- Anwendung am Patienten erlernen. Dies ist die wohl wich-
keiten. Ihre Aussagekraft ist nicht hoch genug einzuschät- tigste Voraussetzung, um falsch-positive oder falsch-negati-
zen, und sie sollen daher bei keiner Untersuchung fehlen. In ve Befundauswertungen mit entsprechenden prognostischen
7 Übersicht 6.4 werden die Hinweise auf eine kortikospina- und therapeutischen Fehlschlüssen zu vermeiden. Dass diese
le Störung nochmals verdeutlicht. Die Durchführung ist ein- Gefahr besteht, zeigt die Diskussion um die spastische Bedro-
fach, der Zeitaufwand ist denkbar gering. hung. Abnormale Lagereaktionen sind Hinweise auf eine
84 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)
1
2
3
4
5
6
7
8 a b
9 . Abb. 6.23 a, b Kontrolluntersuchung nach »ausbehandeltem« KISS-Syndrom bei 8 Monate altem Jungen. a Bei der Vojta-Reaktion nach
rechts fehlende Rumpfstabilisierung, Anteversion der linken Schulter, Streckung des linken (oben liegenden) und Beugung des rechten (unten
10 liegenden) Beins als Hinweis auf eine unvollständige sensomotorische Integration. Der Rumpf zeigt Tendenz zum Abkippen nach rechts. b Die
Vojta-Reaktion nach links ist altersgerecht entsprechend dem 3. Trimenon
11
gestörte sensomotorische Steuerung, nicht mehr und auch 6.2.9 Bestimmung des Entwicklungsalters
nicht weniger. Die Ursache muss mithilfe weiterer Untersu- im Vergleich zum chronologischen
12 chungen gefunden werden. Alter
Die Prüfung der statokinetischen Reaktionen (. Abb. 6.23)
13 hat sich in der Kontrolle des Therapieergebnisses bewährt, Aus der Summe der erhobenen Befunde lässt sich beim Säug-
besonders bei TAS-Kindern: Der therapeutische Erfolg bei ling der Reifezustand des ZNS bestimmen und der Istzustand
einem Kind mit TAS darf nicht allein daran gemessen wer- mit dem Sollzustand des chronologischen Alters vergleichen
14 den, ob es den Kopf gerade hält und zu beiden Seiten bewegt, (7 Kap. 3.1, Körperkontrolle). Die synoptische Darstellung
nicht mehr als Schrei- oder Spuck-Kind gilt usw. Vielmehr der einzelnen normalen Entwicklungsschritte in Rücken-
15 müssen auch die unwillkürlichen Reaktionen des Kindes bei und Bauchlage vom 1. bis zum 12. Lebensmonat (. Abb. 6.24)
plötzlicher Lageänderung des Körpers im Raum auf ihre erleichtert den Vergleich zwischen Entwicklungsalter und
Qualität, auf Seitengleichheit und auf die Übereinstimmung chronologischem Alter. Dabei ist eine Streubreite von etwa
16 mit dem chronologischen Alter geprüft werden: Man wird 6 Wochen als normal anzusehen.
dann oft feststellen können, dass bei einem scheinbar aus-
17 geheilten TAS einseitig abnormale Bewegungsantworten zu Tipp
finden sind oder solche, die 1–2 Trimena hinter dem physi-
ologischen Alter zurück sind, während der Befund auf der Zusammen mit der neurokinesiologischen Diagnostik
18 Gegenseite normal ist. Das zeigt, dass die sensomotorische ermöglichen die neurologischen Untersuchungen und
Basis für die Körperkontrolle dynamischer Bewegungslei- die Beurteilung der General Movements eine Abgren-
19 stungen wie Rennen, Springen, Turnen usw. noch nicht kor- zung zerebral bedingter Störungen von einer peripher-
dysfunktionellen Pathologie wie z.B. dem TAS.
rekt und seitengleich entwickelt ist. Solche Kinder müssen
kontrolliert, auf Blockierungsrezidive untersucht und ent-
20 sprechend behandelt werden, um eine seitengleiche senso- Während die Reifeverzögerung bei zerebralen Störungen in
motorische Integration zu erreichen. der Regel alle Qualitäten erfasst, zeigen TAS-Kinder ein dis-
soziiertes Muster. Dies wird besonders in Bauchlage des
Kindes deutlich: In Rückenlage kann ein TAS-Kind nach
manueller Behandlung ein dem chronologischen Alter ent-
sprechendes Bewegungs- und Haltungsmuster von Kopf,
Rumpf und Extremitäten zeigen, in Bauchlage hingegen tre-
ten abnormale Haltungsschablonen oder zeitlich verzöger-
te Muster in Erscheinung (. Abb. 6.25). Dies betrifft z.B. die
6.2 · Manualmedizinische und neurologische Standarddiagnostik
85 6
. Abb. 6.24 Chronologischer Verlauf der Säug-
lingsentwicklung mit Darstellung der typischen
Ngb. posturalen Muster in Bauch- und Rückenlage
10
11
12
86 Kapitel 6 · Das Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS)
1
2
3
4
5
6 . Abb. 6.26 a.-p.-Röntgenaufnahme des zervikookzipitalen Über-
gangs eines 4-monatigen Säuglings
9 Qualität der Kopfkontrolle oder die Fähigkeit des Kindes, in tumorösen Prozessen oder von Segmentationsstörungen,
den Unterarm- oder Handstütz zu gehen. Hinzu kommt die Fehl- und Missbildungen. Sie ist vor allem aus therapeu-
bereits beschriebene Seitendifferenz oder zeitliche Dissoziati- tischer Sicht erforderlich, da sie Auskunft gibt über die indi-
10 on bei der neurokinesiologischen Untersuchung. Die sorgfäl- viduelle räumliche Stellung des Atlas gegenüber den Okzi-
tige Beachtung dieser Kriterien erleichtert die Wahl des Zeit- putkondylen. Diese Kenntnis ist für die Durchführung der
11 punktes, wann eine Therapie beendet werden kann. Atlastherapie unentbehrlich, denn aus dem Röntgenbild wird
die therapeutische Impulsrichtung ermittelt. Insofern stellt
die a.-p.-Aufnahme von Atlas und Okziputkondylen eine der
12 6.2.10 Röntgenuntersuchung wenigen Röntgenuntersuchungen dar, die auch aus therapeu-
tischen Gründen durchgeführt wird (7 Kap. 7.1, Atlasthera-
13 Ein pathologischer Befund an der oberen Halswirbelsäu- pie nach Arlen).
le bzw. an der zervikookzipitalen Übergangsregion, der mit
neuromotorischen Symptomen einhergeht, erfordert auch Fazit: Zeitnot?
14 beim Säugling eine radiologische Untersuchung. Ob immer Die ausführlichen Erläuterungen zum Untersuchungsprogramm
eine Standardaufnahme der Halswirbelsäule in 2 Ebenen Villinger Schema können den Eindruck erwecken, als handele
15 erforderlich ist, wird kontrovers diskutiert. Aufgrund eige- es sich um einen äußerst zeitaufwändigen Vorgang, der in der
ner Erfahrungen ist es gerechtfertigt, zur Minimierung der manualmedizinischen Praxis nicht durchführbar sei. Dieser Ein-
(ohnehin sehr geringen) Strahlenbelastung zunächst nur eine druck täuscht. Bei ausreichender Erfahrung in manualmedizini-
16 eng eingeblendete anterior-posteriore Zielaufnahme des zer- scher und entwicklungsneurologischer Diagnostik und wenn
vikookzipitalen Übergangs anzufertigen, auf denen die knö- man geeignete Dokumentationsvorlagen verwendet, ist der
17 chernen Strukturen der oberen HWS und die basalen Okzi- Zeitaufwand für dieses Programm gering, der Informationsge-
putanteile dargestellt sind (. Abb. 6.26). Wenn die Analyse halt dafür sehr hoch.
der lege artis durchgeführten a.-p.-Röntgenaufnahme kei-
18 nen Hinweis auf eine pathologische Veränderung zeigt und
die klinische Symptomatik nicht von den typischen Zeichen 6.3 Abgrenzung des TAS von infantiler
19 eines TAS abweicht, kann aus Strahlenschutzgründen in der Zerebralparese
Regel auf eine seitliche Aufnahme verzichtet werden. Weicht
die klinische Symptomatik allerdings von den typischen TAS- Das TAS entsteht aus segmentalen Dysfunktionen (Blockie-
20 Symptomen ab, muss an eine andere Ursache der Haltungs- rungen) bestimmter Wirbelsäulenabschnitte mit Beeinträch-
und Bewegungsasymmetrie gedacht werden (Klippel-Feil- tigung der propriozeptiven und exterozeptiven Sensorik und
Syndrom, Tumor o.Ä.) In diesem Falle wird man sich nicht der Folge einer gestörten sensomotorischen Entwicklung. Im
mit der eingeblendeten a.-p.-Aufnahme des zervikookzipi- Gegensatz dazu ist die zerebrale Bewegungsstörung Aus-
talen Übergangs begnügen können, sondern eine Standar- druck einer irreversiblen Schädigung von Hirnsubstanz,
daufnahme der HWS in 2 Ebenen anfertigen und ggfs. eine deren Ausmaß das klinische Bild der sensomotorischen
weitere Diagnostik veranlassen. Funktionsausfälle bestimmt. Diese Unterscheidung ist für die
Die a.-p.-Aufnahme des zervikookzipitalen Übergangs prognostische Einschätzung und die therapeutische Zielset-
dient nicht nur dem Ausschluss von entzündlichen und zung von Bedeutung.
6.3 · Abgrenzung des TAS von infantiler Zerebralparese
87 6
Verschiedene neurologische Zeichen bei bewegungs- Die Abgrenzung eines TAS von einer zentralen Störung
auffälligen Säuglingen können in gleicher Weise sowohl im geschieht nach qualitativen Kriterien und objektiven Zei-
Frühstadium einer infantilen Zerebralparese als auch bei chen:
einer peripher-dysfunktionellen Pathologie wie dem TAS 4 Zeigt ein TAS-Kind eine Überstreckung von Kopf und
beobachtet werden. Gemeinsame Symptome sind in 7 Über- Rumpf, so kann es gewöhnlich phasische, diagonale und
sicht 6.5 aufgeführt. gegenläufige Bewegungen der Extremitäten vollführen,
während die opisthotone Haltung bei zerebraler Läsi-
on tonisch fixiert ist und die Extremitäten nur spärliche,
Übersicht 6.5 Symptome bei TAS und tonisch gesteuerte und meist gleichläufige Bewegungen
Frühsymptome bei IZP zustande bringen.
5 Abnormale Lage- und Stellreaktionen 4 Beim TAS fehlen die tonischen und phasischen Streck-
5 Abnormale Haltungs- und Bewegungsmuster von reaktionen. Die bei Segmentblockierungen gelegentlich
Kopf, Rumpf und Extremitäten auslösbaren Handwurzel- oder Fersenreflexe sind nur
5 Einschießender oder anhaltender Strecktonus mit angedeutet und vorübergehend vorhanden und unter-
opisthotoner Kopf-Rumpf-Haltung (Überstreckung) scheiden sich qualitativ eindeutig von den phasischen
5 Persistierende frühkindliche Reaktionen Streckreaktionen bei frühkindlicher Hirnschädigung. In
5 Persistierende Primitivreflexe diesem Falle sind sie bereits im Frühstadium unzweideu-
5 Einseitig persistierender Palmarreflex tig, voll ausgeprägt und stets auslösbar.
5 Pathologische Halsstellreflexe mit tonischen Begleitre-
aktionen usw. In . Tab. 6.1 sind die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale
zwischen TAS und der Frühsymptomatik einer tetrapare-
tischen zerebralen Bewegungsstörung zusammengefasst.
Beispiel
Ein sensomotorisch retardiertes, 4-monatiges Kind zeigt eine
stereotype einseitige Kopf- und Rumpfhaltung, asymmetrische
Bewegungsmuster und auffällige statokinetische Reaktionen,
einen intermittierenden Strecktonus sowie Schulterretraktion
und Beinstreckung mit Spitzfußhaltung beim HSR zu einer Sei-
te. In Bauchlage kann es nicht in den Unterarmstütz gehen und
den Kopf anheben. Es ist aber imstande, in Rückenlage die Hän-
de vor der Körpermitte zusammenzuführen oder die Füße beim
Hochgehobenwerden in Kletterhaltung zu bringen. Dieses Kind
hat mit großer Sicherheit keine zentrale Störung.
Überstreckung nicht tonisch fixiert, phasische Begleitmuster Überstreckung als Opisthotonus (= tonisch fixiert)
Medianisierung der Hände (= Zusammenführen vor der Körpermitte) Henkelhaltung der Arme, tonische Schulterretraktion
Greifen nach Gegenständen, Führen zum Mund Kein Greifen, kein Zusammenführen der Hände zur Körpermitte
Pseudo-ATNR ohne tonische Fixierung von Rumpf und Extremitäten ATNR tonisch fixiert
Keine tonischen Streckreaktionen. Phasische Streckreaktionen Tonische Streckreaktionen voll ausgeprägt, phasische Streck-
fakultativ schwach auslösbar, reversibel, zuckend (kein Stoßen) reaktionen schnellend, stoßend
Neurokinesiologische Reaktionen meist nur einseitig abnormal oder Neurokinesiologische Reaktionen als Gesamtmuster abnormal
zeitlich zurück
Manualmedizinische Behandlung
im Säuglingsalter
6
. Abb. 7.1 Dr. Albert Arlen (1925–1992)
7.1 · Atlastherapie nach Arlen
91 7
7.1.2 Neurologische Krankheitsbilder
1
IKB
2 HK
VK VK
HK
3
. Abb. 7.5 Tunnelmodell: Die Okziputbasis mit ihren Kondylen
4 stellt ein tunnelähnliches Gebilde dar: Die Seitenwände werden von
den nach ventral konvergierenden Kondylen gebildet, überdacht vom
. Abb. 7.4 Röntgendetailaufnahme des zervikookzipitalen Über- Okziput mit dem (nicht sichtbaren!) Foramen magnum. Der Unterrand
5 gangs (4½-monatiger Säugling). Altersphysiologisch noch unvollstän- des Clivus, der zwischen den ventralen Enden der Kondylen verläuft
dige Ossifikation des Axiskörpers und des Dens axis (VK vorderer Kondylenpfeiler), bildet die meist bogenförmige inter-
kondyläre Brücke (IKB). Die dorsalen Enden der Kondylen (HK hinte-
6 rer Kondylenpfeiler) sind im Röntgenbild plattennah und daher dicht
niert und gelegentlich als Spaltbildung oder gar als Bogen- markiert (Coenen 1998)
7 fraktur fehlgedeutet wird. Gleiches gilt für die Knorpelfugen
zwischen den einzelnen noch nicht verknöcherten Kompo-
nenten von Dens axis und Axiskörper, die vor allem bei Axis-
8 rotation ein verwirrendes Bild bieten können.
In der embryologischen Entwicklung gehen Axiskör-
9 per und Dens axis aus 2½ Somiten hervor, wobei der Dens
aus dem Pleurozentrum von C1 (dem eigentlichen Atlas-
körper) und dem Proatlas entsteht, der kranialen Hälfte des
10 6. Somiten. Dieser Proatlas, der die Densspitze bildet, verknö-
chert später als die übrigen Densanteile. Daher stellt sich der
11 Dens axis im a.-p.-Röntgenbild des Säuglings oft als kamel-
höckerartiger Stumpf dar. Und schließlich ist auch noch die
transitorische Bandscheibe zwischen Axiskörper und Dens
12 an der Bildung des 2. Halswirbelkörpers beteiligt, der mit sei- . Abb. 7.6 Röntgendetailaufnahme des zervikookzipitalen Über-
nen verschiedenen Wachstumsfugen beim Säugling radiolo- gangs (Säugling). Analog zum Tunnelmodell sind die diagnostisch
13 gisch ein »fragmentiertes« Bild bieten kann (. Abb. 7.4). wichtigen Strukturen gekennzeichnet. IKB interkondyläre Brücke, HK
Die von Arlen angegebenen röntgenologischen Kriterien hinterer Kondylenpfeiler, VK vorderer Kondylenpfeiler, A seitliche At-
für die Bestimmung der Atlasstellung gegenüber den Okzi- lasmassen
14 putkondylen gelten für das ausgereifte Skelett des Erwachse-
nen. Auf Säuglinge sind sie nicht ohne Weiteres übertragbar,
15 da die keilförmigen Ossifikationskerne der Massae laterales ist plattennah und als dichte, meist gut konturierte keilför-
nicht identisch sind mit der tatsächlichen, noch weitgehend mige oder ovale Verschattung erkennbar (hinterer Kondylen-
knorpeligen Form des Atlas. Das gilt auch für die Okziput- pfeiler), während das vordere Kondylenende plattenfern als
16 kondylen, die sich beim Säugling oft abgerundet und stumpf kleine Kante am interkondylären Bogen erscheint (vorderer
darstellen und die markante mediokaudale Kontur vermissen Kondylenpfeiler) (Coenen und Milbradt 1998).
17 lassen.
Fazit
Tipp Bei der Beurteilung der Atlas-a.-p.-Röntgenaufnahme des Säug-
18 lings erleichtert das Tunnelmodell die Identifizierung der zer-
Für die röntgenologische Stellungsdiagnostik des Atlas vikookzipitalen Strukturen zur Bestimmung der Atlasposition
19 und die Bestimmung des Gelenkflächenkontakts zwi-
schen Atlas und Okziputkondylen können nur die sicht-
gegenüber den Okziputkondylen.
1 1
-4- -4-
Seitenvergleich die Position des Atlas zum Okziput. Die late- 7.1.4 Kopfhaltung und Atlasstellung
rale Grenzlinie 5 kann als zusätzliche Hilfslinie herangezogen
werden: Je größer der Abstand zwischen Linie 2 und Linie 3 Ein sehr häufiger Röntgenbefund bei TAS-Kindern ist die
(= Kontaktfläche), desto kleiner sind die Abstände zwischen Lateralposition des Atlas zur Konvexseite der Kopfschiefhal-
Linie 3 und Linie 5 bzw. umgekehrt. tung: So steht z.B. bei Linksneigehaltung des Kopfes der Atlas
rechtslateral. Gewöhnlich korreliert dieser Befund mit der
j Lateralposition des Atlas Seite der Kopfdrehung.
Eine im Seitenvergleich größere Kontaktfläche bedeutet, dass Nach biomechanischem Verständnis liegen die Verhält-
der Atlas zu dieser Seite gegenüber dem Okziput in einer nisse allerdings genau umgekehrt: Bei Seitneige des Kopfes
Lateralposition steht. gleitet der Atlas normalerweise in Richtung der Seitneigung,
steht also konkavseitig. Der Axis rotiert in die gleiche Rich-
j Anteriore Atlasstellung tung, sein Dornfortsatz dementsprechend in die Gegenrich-
Ebenso häufig wie eine Lateralstellung des Atlas gegenüber tung (Lewit 1997, Jirout 1990, Gutmann u. Biedermann 1984).
dem Okziput ist die Rotationsstellung um die mediane oder Diese Erkenntnisse wurden mittels Funktionsröntgenaufnah-
paramediane vertikale Achse. Vielfach sind Lateralität und men bei unausgewählten erwachsenen Probanden gewon-
Rotation kombiniert. Eine Rotation zeigt sich in einer (meist) nen. Biedermann (1999), der eine große Anzahl von Säug-
einseitigen Anteriorposition des Atlas (. Abb. 7.8), erkenn- lings-Röntgenbildern auswertete, ist allerdings der Ansicht,
bar dass diese Regel auf Säuglinge nicht anzuwenden sei, sondern
4 am »Becherrand«, der die kraniale Gelenkfläche dass bei Seitneigung des Kopfes im Säuglingsalter der Atlas in
begrenzt, die konvexseitige Richtung gleite. Dieser Bewegungsmecha-
4 ggf. an einer flacheren Keilform der anterior stehenden nismus dient nach seiner Auffassung »dem Schutz der großen
Massa lateralis und Leitungsbahnen«. Auch Sacher (2008) hält diese »paradoxe
4 am mehr kranialwärts gebogenen Verlauf des Querfort- Atlaslateralisation« zur Konvexseite beim Säugling für den
satzes. Regelfall und führt als Ursache eine »physiologische Hypo-
plasie« der Okziputkondylen an, mit Abflachung des fronta-
Manchmal wird bei sehr deutlicher Anteriorposition auch len Kondylengelenkwinkels. Es ist allerdings fraglich, ob die
das Foramen transversarium sichtbar. aus dem Röntgenbild des Säuglings ermittelten Kondylenwin-
kel der tatsächlichen Neigung der Gelenkwinkel entsprechen,
j Posteriore Atlasstellung denn die Form der knorpeligen Anteile der noch unvollstän-
Eine posteriore Atlasstellung lässt sich beim Säugling röntge- dig ossifizierten Okziputkondylen lässt sich nicht unbedingt
nologisch kaum von einer Neutralstellung abgrenzen, ist aber aus der bereits sichtbaren knöchernen Anlage erkennen.
therapeutisch auch ohne Bedeutung. Ferner ist zu bedenken, dass diese Röntgenbefunde
regelmäßig bei Säuglingen erhoben werden, die Dysfunkti-
onen der oberen Halswirbelsäule aufweisen und eine nor-
male Beweglichkeit von Atlas und Axis daher nicht voraus-
gesetzt werden kann. Vielmehr darf vermutet werden, dass
die blockierungsbedingte Tonusveränderung der an Atlas
94 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter
und Axis ansetzenden Muskeln (immerhin 15 Muskeln an ralisation durch eine segmentale Funktionsstörung mitbe-
1 der Zahl, 12 davon autochthon innerviert) an einer konvex- stimmt und eventuell verstärkt wird. Dass bei erfolgreicher
seitigen Fixierung des Atlas entscheidend beteiligt sind und Behandlung von TAS-Kindern vermutlich keine Symmetri-
2 auch die Axisstellung beeinflussen: Denn in dieser Situati-
on steht der Axis nicht, wie zu erwarten wäre, zur Konkav-
sierung des Atlas erfolgte, zeigte sich schon in verschiedenen
Fällen, als bei denselben Kindern im Schulalter aus anderen
seite rotiert, sondern meist neutral, da seine Zwangsrotation Gründen (Trauma, Kopfschmerzen o.Ä.) erneut ein Röntgen-
3 zur Neigeseite durch die beim TAS regelmäßig vorhandene bild des zervikookzipitalen Übergangs angefertigt wurde, das
Kopfdrehung zur Konvexseite ausgeglichen wird. Überhaupt dieselbe Atlasposition zeigte wie im Säuglingsalter. Ebenso
4 spielt die segmentale und auf das Segment einwirkende Mus-
kulatur, die nach eigener Anschauung bei sensomotorischen
trifft man immer wieder auf eine familiäre Häufung gleich-
förmiger asymmetrischer Relationen zwischen Okziput und
Störungen das entscheidende pathologische Agens ist, in den Atlas. Rätsel geben allerdings jene Ausnahmen auf, bei denen
5 bisher zu diesem Thema erschienen Beiträgen kaum eine Rol- tatsächlich eine Positionsänderung des Atlas nachweisbar ist.
le zugunsten einer rein röntgenologisch-gelenkmechanischen Ob diese Ausnahmen eine Regel bestätigen, muss noch wei-
6 Betrachtungsweise. ter erforscht werden.
Valide Daten zu den Röntgenbefunden symptomloser Ist die strikte Forderung nach anatomischer Symmetrie
Säuglinge mit ungestörter Kopfgelenksfunktion liegen nicht realistisch?
7 vor und sind aus naheliegenden ethischen Gründen auch in
Zukunft nicht zu erwarten. Dies räumen auch Biedermann
(1999) und Sacher (2008) ein und halten weitere Untersu- 7.1.5 Symmetrie, ein zuverlässiges Prinzip?
8 chungen zu dieser Frage für erforderlich.
Die Symmetrie gilt als fundamentales Prinzip in Natur- und
9 Fazit Geisteswissenschaften sowie in der Kunst (Hahn 1989). Auch
Man darf davon ausgehen, dass bei TAS-Kindern die Lateralpo- die Biologie sieht in der Symmetrie das wesentliche Bauprin-
zip der Lebewesen, bezogen auf Form, Körperbau und Bewe-
10 sition des Atlas zur Gegenseite der Kopfseitneigung nicht einer
altersgemäßen physiologischen Gelenkmechanik entspricht, gung. Abweichungen von diesem Grundsatz, wie es sich z.B.
Die Seitneigung des Kopfes ist nämlich der klinische Befund. der Plattfisch erlaubt, werden als Kuriosität geduldet. Selbst-
11 Das Röntgenbild aber wird in Neutralstellung des Kopfes ange- verständlich zeigen auch die Vertebraten (und somit der
fertigt, nicht in Seitneigung. Die röntgenologisch dokumentier- Mensch) in ihrem metameren Körperbau das phylogene-
te Lateralposition des Atlas ist demnach unabhängig von der tische Merkmal der Symmetrie. Im Gegensatz zu Mathematik,
12 Neigeposition des Kopfes vorhanden. Über Serien von Funkti- Physik und auch Philosophie nehmen es biologische Systeme
onsaufnahmen der Halswirbelsäule in Seitneigung und Rotati- allerdings mit der Symmetrie nicht so genau, wie man anneh-
13 on, wie sie von Erwachsenen vorliegen, verfügen wir bei Säug- men sollte. Denn eine Rechts-Links-Asymmetrie ist im Kör-
lingen nicht. perbau der Vertebraten wohl eher die Regel als die Ausnah-
me (Burdine et al. 2000, Capdevilla et al. 2000, Hamada et al.
14 k Folgerungen für die Therapie 2002). Nach Christ und Huang
Aus der Lateralposition des Atlas, die bei vielen TAS-Kindern
15 nachweisbar ist, werden unterschiedliche therapeutische Fol- » … gehen alle Strukturen der Wirbelsäule aus paarigen Anla-
gerungen gezogen. Biedermann (1999) sieht darin die Not- gen hervor … Die Blasteme beider Seiten entwickeln sich nach
wendigkeit, den Atlas mit der von ihm bevorzugten Tech- einem weitgehend identischen Differenzierungsprogramm. Bei
16 nik zu »symmetrisieren«, d.h., in eine symmetrische Stellung genauer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass sowohl bei
zu den Okziputkondylen zu bringen. Ob die Atlasstellungs- den Wirbeln wie bei den Muskeln bilaterale Asymmetrien auf-
17 korrektur geglückt ist, wird aus dem therapeutischen Effekt treten … In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Genpro-
geschlossen wie z.B. Normalisierung der Kopf- und Rumpf- dukte identifiziert worden, die schon im frühen Embryonalsta-
haltung, des Muskeltonus, des Schlafverhaltens usw. Reprä- dium asymmetrische Expressionsmuster aufweisen … Die Ge-
18 sentative Röntgenkontrollserien von Säuglingen unmittelbar ne der Rechts-Links-Asymmetrie werden in medio-lateraler
nach erfolgter Therapie, die eine Symmetrisierung des Atlas Richtung angeschaltet und einige ihrer Genprodukte sind auch
19 dokumentieren, sind bisher nicht bekannt und aus ethischen im paraxialen Mesoderm, dem Anlagematerial der Wirbelsäule
Gründen auch nicht vertretbar. «
und der Skelettmuskulatur, nachweisbar. (Christ und Huang
Nach eigener Anschauung wird mit der Atlas-Impulsbe- 2005)
20 handlung jedoch keine Positionsänderung der Gelenkpartner
des atlantookzipitalen Übergangs angestrebt, eine Ansicht, die Diese Feststellung ist von einiger Bedeutung für die Bewer-
auch Sacher (2005) vertritt. Vielmehr ist die Lateralposition tung des a.-p.-Röntgenbildes des zervikookzipitalen Über-
des Atlas als eine physiologische, wohl auch genetisch beein- gangs und für die therapeutische Zielsetzung bei einem
flusste Stellungsvariante anzusehen, die möglicherweise das TAS: Eine genetisch bedingte asymmetrische Ausformung
Auftreten von segmentalen Dysfunktionen begünstigt. Rönt- der Okziputkondylen oder des Atlasringes (Lang 1981, 1991)
genbefunde mit vollkommen symmetrischen Gelenkverhält- lässt eine symmetrische Stellung dieser beiden Skelettanteile
nissen sind in der ärztlichen Praxis nur selten zu sehen. Zu zueinander nicht erwarten. Röntgonologisch dokumentierte
diskutieren ist, ob beim Säugling das Ausmaß dieser Late- Asymmetrien der zervikookzipitalen Strukturen im Sinne
7.1 · Atlastherapie nach Arlen
95 7
einer lateralen oder rotatorischen Stellungsabweichung des
Atlas gegenüber den Okziputkondylen sind – zumindest in
der ärztlichen Praxis – bedeutend häufiger anzutreffen als
völlig symmetrische Konstellationen. Arlen hatte dies schon
frühzeitig erkannt, Krämer und Patris (1989) wiesen es nach.
Auch Anatomen und Archäologen ist eine asymmetrische
Ausgestaltung der einzelnen Skelettelemente schon lange ver-
traut.
> Wichtig
Der atlastherapeutische Impuls hat also nicht die Sym-
metrisierung des Atlas zum Ziel, die bei anlagebeding-
ter Asymmetrie nur mit einer traumatisierenden Gewalt
zu erreichen wäre, sondern neben der Beseitigung einer
gelenkmechanischen Blockierung vor allem die Ände-
rung des nozizeptiv veränderten propriozeptiven Mus-
. Abb. 7.9 Griffanlage zur HIO- (Hole in One-)Technik beim Er-
ters der oberen Halswirbelsäule.
wachsenen
j Impulsrichtung
Leider ist kein sicherer Verlass auf die Regel, dass bei der
überwiegenden Anzahl der TAS-Kinder der Atlas lateral zur
Konvexseite der Kopfhaltung steht und daher von dieser
Seite ein Lateralimpuls erfolgen muss. Denn bei sorgfältiger
. Abb. 7.12 Lagerung des Kindes zur Röntgenuntersuchung des Röntgenbildanalyse wird man feststellen, dass in vielen Fällen
zervikookzipitalen Übergangs, Abdeckung der Augen mit Bleiband der Atlas konvexseitig auf dem Okziputkondylus nach ventral
98 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter
onen oder passiv angebahnten Bewegungsmustern zu Blo- auf den Rücken und sonstigen Differenzen zwischen chro-
1 ckierungsrezidiven kommen kann. nologischem Alter und Entwicklungsalter. So wird bei man-
Man darf davon ausgehen, dass sich in einem nozizep- chen Kindern beim Traktionsversuch noch eine unvollstän-
2 tiv besetzten Wirbelsäulensegment neuroplastische Vor-
gänge abspielen, wenn die Blockierung vor der manualme-
dig entwickelte Kopfkontrolle gegen die Schwerkraft deut-
lich, obwohl Haltung und Kopfbeweglichkeit in Rückenlage
dizinischen Intervention bereits längere Zeit bestanden hat. normal erscheinen. Außerdem sollten sich nach der Behand-
3 Daher droht über das Spinal memory auch nach erfolg- lung bei Säuglingen bis zu 4½ Monaten die General Move-
reicher manueller Behandlung immer die Gefahr eines Rezi- ments mindestens um eine Kategorie gebessert haben, was
4 divs, wenn das ursprüngliche Blockierungsmuster reakti-
viert wird. Dies kann z.B. im Rahmen der Vojta-Therapie
nach einer oder zwei Behandlungen nicht immer der Fall sein
muss. Und schließlich findet man immer wieder noch Nor-
beim Anbahnen des Reflexumdrehens durch passive Kopfro- mabweichungen beim Prüfen der statokinetischen Reakti-
5 tation in die ursprünglich blockierte Richtung über die sog. onen entweder als einseitig abnormale Bewegungsantworten
Barriere hinaus eintreten oder auch bei der Ausgangsstellung oder im Sinne einer seitendifferenten zeitlichen Entwicklung
6 zum Reflexkriechen, wenn zuvor eine ISG-Blockierung mit (7 Kap. 3.5.3, Bewertung der Reaktionen). Die Bewertung der
Beckentorsion behandelt wurde. Ebenso birgt das im Rah- neurokinesiologischen Reaktionen nach Vojta ist daher für
men mancher Bobath-Therapien beliebte Rotieren des kind- die Verlaufskontrolle unverzichtbar, da sich hieraus oft schon
7 lichen Beckengürtels gegenüber dem Rumpf zum Anbah- frühzeitig das stützmotorische Verhalten und die Qualität
nen des Überrollens vom Rücken auf den Bauch ein hohes komplexer Bewegungsabläufe im Vorschul- und Schulalter
Rezidivrisiko für Blockierung im dorsolumbalen Übergang prognostizieren lässt.
8 und den ISG. Diese Übung ist ohnehin nicht sinnvoll, da das
gewünschte Bewegungsmuster durch die Kopfrotation einge- Fazit
9 leitet wird und nicht durch die Beckendrehung. Eine ISG-Blo- Man wird bei genauem Hinsehen vielfach feststellen müs-
ckierung wird allerdings auch bei regelrechter Kopfkontrol- sen, dass nach der ersten Behandlung nicht alle Therapieziele
le das Überrollen verhindern (. Abb. 4.18, 7 Kap. 4.3, Kopf-
10 gelenke). Bobath- und Vojta-Therapeutinnen mit fundierten
erreicht sind, trotz Beseitigung der gelenkmechanischen Blo-
ckierungskomponente an den Kopfgelenken und Abklingen
Kenntnissen in manualmedizinischer Diagnostik können der Schmerzreaktionen. Die Behandlung kann daher noch nicht
11 solche Situationen allerdings abklären und bei ihrer Therapie beendet werden. Bei diesen Kindern wird in jedem Fall eine wei-
berücksichtigen (Coenen 1995). tere Atlastherapie durchgeführt. Eventuelle myofasziale Dysba-
lancen und Blockierungsrezidive an den WS-Schlüsselregionen
12 Wunderheilungen sind nicht die Regel werden mit geeigneten Techniken behandelt, und nach etwa
Zu Beginn dieses Kapitels wurde die Zielsetzung der TAS- 3 Wochen wird das Kind erneut kontrolliert.
13 Behandlung formuliert. Nach diesen Maßgaben hat die ärzt- Die Behandlung und Kontrolle eines TAS kann erst dann been-
liche Kontrolluntersuchung zu erfolgen, wobei alle patholo- det werden, wenn alle Kriterien der normalen sensomotori-
gischen Merkmale zu überprüfen sind, die bei der Erstunter- schen Entwicklung erfüllt sind.
14 suchung nach dem Villinger Schema festgestellt wurden.
Sehr viele TAS-Kinder zeigen bei der Kontrolle nach der
15 ersten Behandlung bereits 7.2 Chirotherapeutische Manipulation
4 eine seitengleiche Labyrinthstellreaktion, bei Säuglingen
4 eine Normalisierung der Kopf- und Rumpfhaltung,
16 4 eine normale aktive und passive Halswirbelsäulenbeweg- Neben der Atlastherapie stehen für die Behandlung segmen-
lichkeit, taler Dysfunktionen im Säuglingsalter chirotherapeutische
17 4 ein verbessertes Schlaf- und Fütterungsverhalten und Manipulationen, myofasziale bzw. osteopathische Verfahren
4 ein Abklingen der Schmerzreaktionen mit Minderung sowie mobilisierende Positionierungstechniken zur Verfü-
evtl. Schreiattacken. gung
18 Chirotherapeutische Manipulation und myofasziale
Alle diese Symptome waren für die Eltern beunruhigend und Weichteiltechniken ergänzen einander. Von der Manipulati-
19 haben sich nun zu deren Beglückung in kurzer Zeit gebes- on kann ein unmittelbares Einwirken auf das propriozeptive
sert. Nicht wenige Therapeuten geben sich mit diesem Resul- Afferenzmuster erwartet werden, während die weichen Tech-
tat zufrieden und erklären die Behandlung für beendet. niken besonders die Funktion fibromuskulärer Strukturen
20 Bei eingehender Untersuchung wird man jedoch bei beeinflussen. In der Säuglingsbehandlung hat es sich daher
nicht wenigen dieser Kinder noch Hinweise auf eine man- bewährt, beide Methoden zu kombinieren. So wird eine chiro-
gelhafte sensomotorische Steuerung finden. Dies zeigt sich therapeutische Manipulation durch vorausgegangene Weich-
besonders gerne im stützmotorischen Verhalten des Kindes teilbehandlung gebahnt und in ihrer Durchführung deutlich
in Bauchlage – beispielsweise in Form asymmetrischer Hal- erleichtert mit allen Vorteilen für den erstrebten Therapieef-
tungsmuster, die in Rückenlage nicht mehr sichtbar sind – fekt.
oder in einer Verzögerung der altersgemäßen Aufrichtebewe- Nächst der Atlastherapie ist die manipulative Behand-
gung in den Unterarm- oder Handstütz, in fehlendem Über- lung von Blockierungen der sensorischen Schlüsselregi-
rollen vom Rücken auf den Bauch oder später vom Bauch onen das wichtigste manualmedizinische Verfahren bei sen-
7.2 · Chirotherapeutische Manipulation bei Säuglingen
101 7
somotorischen Störungen. Die Bedeutung dieser Schlüsselre-
gionen für die sensomotorische Programmierung wurde in
den 7 Kapiteln 4.4 und 4.5 ausführlich erläutert. Daraus wird
deutlich, dass die segmentale Manipulation beim Säugling
das Auslöschen der Nozireaktion im blockierten Segment als
Voraussetzung für eine ungestörte Propriozeption zum Ziel
hat, nicht aber unbedingt eine mechanische Stellungsände-
rung des Wirbelkörpers.
Tipp
> Wichtig
Der Manipulationsimpuls erfolgt beim Säugling immer
in die freie Richtung, die aus der Irritationspunktdiag-
nostik ermittelt wurde. Und es gilt auch dabei das ehr-
würdige Gesetz der »drei K’s« – kurzer Weg, kurze Zeit,
kleine Kraft.
k Kontraindikationen
Die in der manualmedizinischen Literatur angeführten Kon-
traindikationen für chirotherapeutische Manipulationen
(Bischoff 1994, Bischoff und Moll 2007) gelten auch für Säug-
linge und Kinder, soweit die Krankheitsbilder auf dieses Alter
übertragbar sind. Dies gilt z.B. für
4 spezifische und unspezifische Spondylitiden,
4 Tumoren,
4 akute Entzündungen,
4 frische Wirbelsäulen- oder Gelenktraumen und
4 frisch operierte Patienten.
1
2
3
4
5
6
a
7
8 . Abb. 7.18 Traktionsimpuls C0/C1
9 j Behandlungstechnik
Das Kind liegt in Rückenlage. Das Köpfchen des Kindes ruht
auf dem Zeigefingergrundglied des Therapeuten, das sich
10 median am Okziputunterrand anmodelliert. Mit der ande-
ren Hand umfasst der Therapeut die Stirn des Kindes und übt
11 für 2–3 sec einen zunehmenden sagittalen Druck in Richtung
des Zeigefingergrundglieds aus (1. Phase, . Abb. 7.17 a), nach
etwa 3 sec schnellt die obere Hand von der Stirn des Kindes
12 weg (2. Phase, . Abb. 7.17 b).
j Impulstechnik
Das Kind liegt in Bauchlage, leicht kyphosiert. Die Hände des
Therapeuten umfassen von ventral den Thorax des Kindes.
Eine Daumenkuppe liegt paravertebral auf dem therapeu-
tischen Querfortsatz, die andere als Gegenhalt ein Segment
. Abb. 7.20 Manipulation der 1. Rippe tiefer oder höher auf der Gegenseite. In der Ausatmungspha-
104 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter
3 Tipp
Tipp
j Impulstechnik
Das Kind liegt in Bauchlage. Der Therapeut steht auf der
nicht blockierten Seite und modelliert den Daumenballen
bzw. Daumen (je nach Größenverhältnissen) der fußnahen
Hand von medial an das Tuber ossis ischii der blockierten,
also der gegenüberliegenden Seite. Die andere Hand umfasst
Rumpf und Becken des Kindes von dorsal und führt eine
sanfte Schaukelbewegung um die Längsachse aus. Nach etwa
3–4 Schaukelbewegungen gibt der Therapeut in dem Moment,
in dem er das Becken zu sich hin bewegt, mit dem Daumen-
. Abb. 7.24 Manipulation über das Tuber ossis ischii
ballen (bzw. Daumen) einen manipulativen Impuls nach late-
ral. Anschließend wird das Therapieergebnis kontrolliert.
Tipp
j Indikation
Nozireaktion des oberen (oder unteren) Sakrumpols nach
dorsal (= Dorsalisierungsempfindlichkeit).
j Impulstechnik Tipp
1 Das Kind liegt in Bauchlage, der Therapeut steht auf der nicht
blockierten Seite. Die fußnahe Hand des Therapeuten umfasst 4 Normale Hüftgelenkverhältnisse sind Vorausset-
zung!
2 von ventral das Ilium der blockierten Seite (Gegenhalt). Der
Hypothenar der kopfnahen Hand modelliert sich so exakt wie 4 Bei unruhigen Kindern kann es notwendig sein,
möglich auf den unteren Sakrumpol in Höhe S3 an. (Die Kon- beide Beinchen zu halten bzw. die Knie in der
3 taktaufnahme mit dem Os pisiforme wird von Säuglingen oft beschriebenen Weise zu umfassen, damit das
als schmerzhaft empfunden!) Aus exakter Vorspannung, die Becken fixiert werden kann und der Tiefenkontakt
nicht verloren geht.
4 mit der einen Hand über das Ilium und mit der anderen über
S3 ausgeführt wird, erfolgt ein kurzer manipulativer ventrali- 4 Das bei diesem Griff oft zu registrierende
sierender Impuls über S3. Knackphänomen lässt sich durch die Positionie-
5 rung der unten liegenden Hand sehr gut orten.
k 4. Ventralisierender Multangulumschub auf S1 oder
S3 aus Rückenlage (. Abb. 7.27)
6 j Indikation k 5. Kranialisierender Schub über eine Sakrumhälf-
Dorsalisierungs-Nozireaktion bei S1 oder S3. te mit Kaudalisierung des Iliums (modifizierter Panther-
7 sprung) (. Abb. 7.28)
j Technik
Das Kind liegt in Rückenlage, der Therapeut steht am Fußen- j Indikation
8 de. Die kontralaterale (nicht blockierungsseitige) Hand hebt Kaudalisierungs-Nozireaktion bei S1 oder S3, Kranialisie-
das Becken am blockierungsseitigen, im Hüftgelenk recht- rungs-Nozireaktion des gleichseitigen Iliums.
9 winklig gebeugten Oberschenkel von der Unterlage ab. Das
Multangulum majus der homolateralen (blockierungssei- j Technik
tigen) Hand wird so exakt wie möglich an den zu ventralisie- Das Kind liegt in Bauchlage auf der Behandlungsliege, der
10 renden Sakrumpol anmodelliert. Der Therapeut umfasst nun Therapeut steht am Fußende. Der Hypothenar der kontrala-
mit der kontralateralen Hand das Knie des blockierungssei- teralen Hand wird exakt über der blockierten Sakrumhälfte
11 tigen Beins und übt über den leicht abduzierten Oberschen- in Höhe S3 (Angulus sacri) anmodelliert. Der Therapeut fasst
kel eine Vorspannung nach dorsal auf das blockierungsseitige mit der homolateralen Hand den blockierungsseitigen Ober-
Os ilium aus, wobei das Multangulum in Tiefenkontakt mit schenkel und übt einen gegenhaltenden, leicht kaudalisie-
12 dem zu ventralisierenden Sakrumpol bleibt. Aus dieser Vor- renden Zug aus. Aus optimaler Vorspannung erfolgt ein tro-
spannung wird über den blockierungsseitigen Oberschenkel ckener kranialisierender Impuls über die blockierte Sakrum-
13 ein axial (nach dorsal) gerichteter Impuls ausgeübt. Gleich- hälfte bei gleichzeitigem kaudalisierendem Gegenhalt am
zeitig erfolgt dabei ein intensiver propriozeptiver Reiz auf das Oberschenkel. Die Intaktheit des Hüftgelenks wird dabei
Hüftgelenk. vorausgesetzt (Sonografie!).
14
15
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18
19
20
. Abb. 7.27 Ventralisierender Multangulumschub auf S1 oder S3 . Abb. 7.28 Modifizierter Panthersprung
aus Rückenlage
7.3 · Myofasziale Lösetechniken, mobilisierende Positionierung
107 7
k 6. Kranialisierung des Sakrums, Kaudalisierung des
Iliums aus Seitlage (geeignet für ältere Säuglinge und Klein-
kinder) (. Abb. 7.29)
j Technik
Das Kind liegt auf der gesunden Seite, die blockierte Seite liegt
oben, das Gesicht ist dem Therapeuten zugewandt. Die kopf-
nahe Hand des Therapeuten modelliert sich unter ausgiebiger
Mitnahme von Weichteilen an der Crista iliaca von kranial
an, während der Hypothenar der fußnahen Hand sich tan-
gential über dem blockierten Sakrum in Höhe S3 anmodel-
liert. Nach kranialisierender Vorspannung mit der Sakrum-
hand und kaudalisierender Vorspannung der Iliumhand wird
nun ein kurzer manipulativer Impuls über das Sakrum nach
kranial bei kaudalisierendem Gegenhalt am Ilium ausgeübt.
j Technik
Das Kind liegt in Bauchlage auf dem Behandlungstisch, der
Therapeut steht seitlich. Der Hypothenar der einen Hand
wird tangential auf die nicht blockierte Sakrumhälfte gelegt
und übt einen kranialisierenden Gegenhalt aus. Die ande-
re Hand wird parallel dazu auf der blockierten Sakrumhälfte
positioniert und übt eine kaudalisierende Vorspannung aus.
Aus optimaler Vorspannung gibt der Therapeut dann mit die-
ser Hand einen kaudalisierenden Impuls über den Angulus
sacri. Die Impulsrichtung sollte streng tangential verlaufen.
j Technik
Das Kind liegt in Seitlage (sog. Päckchenstellung) ohne Tor-
sion des Rumpfes, die blockierte Seite liegt oben. Der The-
rapeut legt den Hypothenar der fußnahen Hand tangenti-
al über die blockierte Sakrumhälfte, mit der anderen Hand
fixiert er die Beine in Hüftbeugung und hält gleichzeitig die
Arme des Kindes. Aus gut gehaltener Vorspannung erfolgt
mit dem Hypothenar ein manipulativer Impuls über die blo-
ckierte Sakrumhälfte nach kaudal.
Immunabwehr, bildet das Stroma von Organen, dient als holt. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Faszie um ein
1 »Kabelkanal« für Nerven und Gefäße in Sehnen, Drüsen und sehr reaktionsfähiges Gewebe, das eine differenzierte mikro-
Skelettmuskulatur und nicht zuletzt als Gleitfläche für Mus- skopische Feinstruktur aufweist: In der Kollagenfasertextur
2 kelgewebe. sind ein dichtes Kapillarnetz und zahlreiche vegetative Ner-
ven nachweisbar; darüber hinaus fanden Staubesand und Li
k Bindegewebe (1996) vereinzelte, aber regelmäßig angeordnete glatte Mus-
3 Bestandteile des Bindegewebes sind die extrazelluläre Matrix, kelzellen zwischen den kollagenen Fibrillenbündeln, die über
bestehend aus kollagenen und elastischen Fasern sowie der vegetative Innervation eine aktive Vorspannung der scheren-
4 Grundsubstanz, und die spezifische Zelle (Fibroblast), die
alle Komponenten der Fasern und der Grundsubstanz syn-
gitterartig angeordneten Faszie bewirken können. Eine aktive
Kontraktibilität der Faszie wurde von Yahia et al. (1993) nach
thetisiert: passiver Streckung der Fascia thoracolumbalis bei Leichen
5 4 Elastische Bindegewebsfasern findet man unter ande- beobachtet. Schleip (2003) weist darauf hin, dass aufgrund
rem in Arterien, in der Lunge, im elastischen Knorpel, in der scherengitterartigen Textur der Muskelfaszie auch schon
6 Lig. flavum und Lig. nuchae. eine relativ geringe Anzahl glatter Muskelzellen imstande ist,
4 Kollagene Fasern sind wesentlicher Bestandteil der Fas- eine Faszienkontraktion zu bewirken, da die morphologische
zien; sie sind mechanisch sehr widerstandsfähig und Bauweise einer glatten Muskelzelle Kontraktionen mit kleiner
7 zugfest und kaum dehnbar. Bei Überdehnung von mehr Amplitude und großer Kraft ermöglicht.
als 5–10% der Gesamtlänge kommt es zu einer irrever-
siblen Längenänderung oder zum Zerreißen der Fasern
8 (Drenckhahn u. Kugler 1994). 7.3.2 Mechanorezeptoren der Faszie
4 Fasziengewebe ist im Körper ubiquitär vorhanden. Son-
9 derformen bilden die Aponeurosen als Zwischenform Im Hinblick auf die Wirkungsweise myofaszialer bzw. oste-
von Sehne und Faszie, die Retinacula als bandartige Ver- opathischer Behandlungstechniken hält Schleip die dichte
dickung der Gliederfaszie, die Membranae interosseae Besiedlung der Faszie mit Mechanorezeptoren für bedeut-
10 an Unterarm und Unterschenkel und nicht zuletzt die sam, deren manuelle Stimulation zu lokalen Tonusände-
Dura mater, die ebenfalls ein faszienähnliches Gewebe rungen der quergestreiften Muskelfasern führen. Neben Gol-
11 darstellt. gi- und Pacini-Rezeptoren sind im Fasziengewebe auch Ruf-
fini-Sensoren und am häufigsten die sog. interstitiellen
k Muskelfaszien Mechanorezeptoren vertreten, von denen etwa die Hälfte
12 Für unser Thema von besonderem Interesse sind die Mus- eine niedrige Reizschwelle aufweist und auch auf geringfü-
kelfaszien, die an allen Skelettmuskeln anzutreffen sind, mit gige Druckeinwirkung anspricht. Ruffini-Rezeptoren haben
13 Ausnahme der mimischen Muskulatur, des Platysmas und ebenfalls eine geringe Reizschwelle, adaptieren sehr langsam
der tiefen autochthonen Rückenmuskeln. und sprechen besonders auf tangentiale Dehnung an, wie sie
Faszie und Skelettmuskulatur sind funktionell und ana- z.B. beim myofaszialen Lösen (Myofascial Release) einge-
14 tomisch eng miteinander verknüpft: Primär- und Sekundär- setzt wird. Nach van den Berg und Capri (1999) führt die Rei-
bündel jedes Muskels sind jeweils von feinem Bindegewe- zung der Ruffini-Rezeptoren zu einer Senkung der Sympathi-
15 be umgeben, dem Perimysium. Die Summe der Primär- und kusaktivität und damit zu einer Tonusminderung der Faszie.
Sekundärbündel bildet den gesamten Muskel, das Muskelin- Schleip (2003) sieht darin eine mögliche Ursache für das Phä-
dividuum, das wiederum von einer Bindegewebshülle umge- nomen des »Wegschmelzens« myofaszialer Gewebestram-
16 ben ist, der Muskelfaszie (Spezialfaszie). mung bei Anwendung des Myofascial Release nach Ward
Von den Spezialfaszien des Muskels sind die wesentlich und ähnlichen osteopathischen Techniken. Aufgrund des
17 kräftigeren Gliederfaszien zu unterscheiden, die röhrenför- reichhaltigen Vorkommens von sympathischen Nervenendi-
mig die gesamte Extremitätenmuskulatur umschließen und gungen in den Faszien sieht Schleip die Faszien als »Außen-
die Muskelmasse von der äußeren Haut trennen. Mit der stellen des autonomen Nervensystems«. In diesem Sinne bie-
18 Gliederfaszie in enger Verbindung stehen die intermusku- ten die Faszienstrukturen auch einen therapeutischen Zugang
laren Septen an den Extremitäten. Sie ziehen von der Glie- zum Vegetativum.
19 derfaszie bis zum Knochen und bilden sog. Faszienlogen. Diese Darlegungen machen viele klinische Phänomene
Bei infantilen Zerebralparesen zeigen sie typische Verände- im Zusammenhang mit einer manuellen Faszienbehandlung
rungen und sind therapeutisch von Bedeutung. plausibel, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
20 Auf die herkömmlichen Denkmodelle zur Wirkungsweise
der Osteopathie soll hier nicht näher eingegangen werden.
7.3.1 Aktive Kontraktion der Faszie
Die Muskelfaszie besteht aus straffen Kollagenfasern, die sich 7.3.3 Myofascial Release
scherengitterartig überkreuzen, um sich der Formänderung
des Muskels anpassen zu können. Die frühere Vorstellung In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Robert
eines »Faszienstrumpfes«, der wie ein Trikotschlauch über Ward, Professor an der Michigan State University, eine osteo-
den Muskel gezogen ist, gilt schon seit Längerem als über- pathische Therapiemethode, die er Myofascial Release nann-
7.3 · Myofasziale Lösetechniken, mobilisierende Positionierung
109 7
te. Die Behandlungsprinzipien dieses Konzepts lassen sich in
entsprechend abgewandelter Form auch bei Säuglingen wir-
kungsvoll anwenden, obwohl Ward nach eigenem Bekunden
selbst keine Erfahrung mit Säuglingen und Kleinkindern hat-
te.
> Wichtig
Grundsatz der Untersuchung ist kurz gefasst das palpa-
torische Aufsuchen der dreidimensionalen Strammung
und Lockerung des myofaszialen Gewebes.
k Kontraindikationen
Relative Kontraindikationen sind
4 frische Verletzungen,
4 akute fiebrige Infekte, b
4 entzündliche Gelenk- und Weichteilprozesse,
4 Tumoren usw. . Abb. 7.32 a, b MFL des zervikookzipitalen Übergangs a beim
Säugling, b beim älteren Kind
Behandlungstechniken für die sensorischen
Schlüsselregionen
Im Folgenden werden ausgesuchte Behandlungstechniken Finger-Haltung erfolgt eine sachte Traktion longitudinal, die
der sensorischen Schlüsselregionen vorgestellt, die in der bis zum Gewebegleiten gehalten wird (. Abb. 7.32 a).
ärztlichen Praxis mit vertretbarem Zeitaufwand in Verbin- Vorgehen bei älteren Kindern (diese Griffanlage wird
dung mit Atlastherapie und segmentaler Manipulation ein- von Säuglingen meist nicht toleriert): Der Therapeut beugt
gesetzt werden können. (Die osteopathischen Griffbezeich- die Fingerkuppen beider Hände hakenförmig und legt sie
nungen sind in Klammern kursiv angegeben). Behandlungs- nebeneinander vertikal am zervikookzipitalen Übergang an.
typische Risiken der myofaszialen Lösetechniken sind nicht Diese Position wird gehalten, bis eine Entspannung spürbar
bekannt. wird. Die Fingerkuppen sinken bei zunehmender Entspan-
nung immer mehr in die subokzipitale Muskulatur ein. Dann
k 1. Myofasziales Lösen (MFL) des zervikookzipi- erfolgt ein sanfter Zug nach kranial. Die sanfte Traktion wird
talen Übergangs (Dura-Release/Cranial Base Release) fortgeführt bis zum »Schmelzen« des Semispinalis capitis, der
(. Abb. 7.32) subokzipitalen Muskeln und ggf. der langen Rückenstrecker
Vorgehen beim Säugling: Das Kind liegt in Rückenlage, der (. Abb. 7.32 b).
Therapeut sitzt am Kopfende und legt die Hände schalenför-
mig am Kopf des Kindes an. Ring- und Mittelfinger liegen k 2. Schnullergriff zur HWS-Mobilisation (modifizierte
beidseits quer in Höhe C1 und C2. Mit dem Mittelfinger tastet V-Spreiz-Technik der Sutura coronalis) (. Abb. 7.33)
der Therapeut den Axisdornfortsatz, mit dem Ringfinger den Der Therapeut übt mit seiner Mittelfingerkuppe (Hand-
Unterrand des Okziputs. Aus dieser Handposition wird das schuh!) einen sanften Druck auf den harten Gaumen des Kin-
dysfunktionelle Gewebeverhalten ermittelt und die Barriere des aus. Die andere Hand fasst das Köpfchen in seiner Schief-
aufgesucht. Es folgt das transversale Lösen über die Finger- haltung (Seitneige und/oder Rotation). Beim Säugling kommt
beeren, bis das Gewebe »schmilzt«. Aus der gleichen Hand- es meist sofort zum Saugreflex. Das Köpfchen wird dann ganz
110 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter
1
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5
6
. Abb. 7.34 MFL der zervikodorsalen Übergangsregion
7
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. Abb. 7.33 Schnullergriff zur Mobilisation der HWS bzw. des zer-
9 vikookzipitalen Übergangs
Tipp
14 a
Dieser Griff ist sehr geeignet bei »schiefen Säuglingen«
15 (Kopfschiefhaltung bei TAS).
Tipp
Tipp
> Wichtig
Der dorsolumbale Übergang gilt im Myofascial-Release-
Konzept als unspezifischer Point of entry.
1
2
3
4
5
. Abb. 7.40 Mobilisierende Positionierung des dorsolumbalen
6 Übergangs durch Halten in gegenläufiger Rotation von Rumpf und
Becken in der freien Richtung
a
7
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9
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11
12
13 b
16 tangential auf die Sakrumhälfte der funktionsgestörten Seite, nachgibt, und dann weiterführen zur nächsten Barriere, bis
den Hypothenar der anderen Hand entweder auf die nicht blo- zur freien Beweglichkeit (. Abb. 7.39 b).
17 ckierte Sakrumhälfte oder auf das Ilium der blockierten Seite,
so wie die myofasziale Diagnostik es verlangt. Dann führt er k 8. Mobilisierende Positionierung des dorsolumbalen
mit beiden Kleinfingerballen eine parallel gegenläufige Bewe- Übergangs beim Säugling (. Abb. 7.40)
18 gung in die freie Richtung durch oder in die gehemmte Rich- Das Kind liegt in Rückenlage. Der Therapeut prüft die
tung unter Respektierung der Barriere (nicht drängeln!), bis Rotation im dorsolumbalen Übergang durch Drehen des
19 das Gewebe »schmilzt«. Beckens um die Längsachse gegenüber dem fixierten Rumpf
(7 Kap. 6.2, Punkt 5). Ist z.B. die Drehung des Beckens nach
k 7. Mobilisierende Positionierung des zervikook- links eingeschränkt, bedeutet dies eine eingeschränkte Rum-
20 zipitalen Übergangs (Bahnung durch Blickwendung) pfrotation nach rechts im dorsolumbalen Übergang. Da die
(. Abb. 7.39) Therapie in die freie Richtung erfolgt, wird in diesem Beispiel
Das Kind liegt in Rückenlage. Das Köpfchen wird zunächst das Kind auf die blockierte Seite gelegt, so dass also die nicht
in der vom Kind spontan eingenommenen Schonposition in blockierte rechte Seite oben liegt.
leichter Reklination gehalten (. Abb. 7.39 a). Dann erfolgt ein Die beckennahe Hand des Therapeuten umfasst das Ili-
vorsichtiges Heranführen in Richtung der Barriere, gebahnt um von ventral, der Daumenballen liegt etwa auf der Spi-
(fazilitiert) durch »Blickfang« in die freie Richtung. Das na ventralis, und führt es sachte nach hinten (in diesem Fal-
Mobilisieren geht schrittweise, mit rechtzeitigem Halt vor der le nach rechts hinten). Die kopfnahe Hand umfasst Schulter
Barriere (nicht drängeln!), dort verharren, bis das Gewebe und Oberkörper und dreht sie sachte nach vorne (hier also
7.4 · Manuelle Behandlung des Kopfes
113 7
im Sinne einer Linksrotation) bis zum Gewebehalt, der nicht
überschritten werden darf. Diese Position wird ca. 30–45 sec
V1
gehalten, anschließend wird die Rumpfrotation überprüft.
occ.
k 9. Mobilisierende Positionierung bei Beckentorsion major
(. Abb. 7.41) V2
Das Kind liegt in Rückenlage. Bestimmt wird das Becken-
torsionsmuster. Das Bein der anterior stehenden (nach ven-
tral rotierten) Iliumseite wird im Hüftgelenk bis zur Barri-
ere gebeugt, das Bein der posterior stehenden (nach dor- V3
sal rotierten) Iliumseite wird bis zum Erreichen der Barriere occ.
minor
im Hüftgelenk gestreckt. Die Positionierung erfolgt hier also
nicht in die freie, sondern in die gesperrte Richtung. Diese
auric. m.
Position wird ca. 30–45 sec gehalten und das Ergebnis über-
prüft.
12 Die Kopfschwarte besteht aus Haut und Unterhaut, die von dort zu entsprechenden Kerngebieten im ZNS (Christ
fest mit einer Muskel-Sehnen-Platte verwachsen sind, dem 1998).
13 M. epicranius, der Schädeldach, Stirn und seitliche Schädel- Es besteht also kein monosynaptischer Reflexbogen wie
wand überzieht und motorisch vom N. facialis innerviert beim Skelettmuskel, sondern eine Verschaltung von Spindel-
wird (. Abb. 7.43). Untergliedert ist der M. epicranius in afferenzen aus fazialisinnervierter Muskulatur mit dem Tri-
14 4 den M. occipitofrontalis, bestehend aus Venter frontalis geminus im Sinne einer trigemino-fazialen Kommunikation
und Venter occipitalis, (Baumel et al. 1988).
15 4 den M. temporoparietalis und
4 die Galea aponeurotica, Fazit
eine straffe fibröse Sehnenplatte zwischen den beiden Bäu- Aufgrund der Interaktion verschiedener Hirnnerven und zervi-
16 chen des M. occipitofrontalis und dem M. temporoparietalis kaler Afferenzen, die sich in den epikraniellen Weichteilstruktu-
(Schmidt 1994). ren abspielt, ist es erlaubt, bestimmte Reaktionen, die bei einer
17 Die Galea aponeurotica liegt mit einer gut durchblu- osteopathischen Behandlung des Schädels beobachtet wer-
teten, lockeren Bindegewebeschicht dem Periost des Schä- den können, unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten
dels auf und ist unter physiologischen Bedingungen aktiv als dies gewöhnlich geschieht.
18 und passiv gut beweglich. Die fibromuskuläre Schicht des
M. epicranius umgibt das Schädeldach mit seinen Knochen- k Kraniosakrale Osteopathie
19 platten (Os frontale, parietale, temporale, occipitale) wie Das Denkmodell der kraniosakralen Osteopathie z.B.
eine Haube. Eine direkte Verbindung der Strukturen des geht – kurz gefasst – von pathologischen Veränderungen an
M. epicranius zum ZNS ergibt sich aus der sensiblen Inner- den Schädelnähten aus im Sinne einer Einschränkung der
20 vation durch den Trigeminus und der motorischen Innerva- Mikrobewegung zwischen den Schädelnähten oder Ver-
tion durch den N. facialis: Denn da die muskulären Anteile schiebung der Knochenplatten des Schädels gegeneinander,
des motorisch vom Fazialis innervierten M. epicranius wie dies beim Säugling mitunter vorkommen kann.
ebenso mit Muskelspindeln versehen sind wie die übrige Folge sind nach dieser Vorstellung eine Verspannung der
Skelettmuskulatur, reagieren sie auf nozizeptive Afferenzen zerebralen und spinalen Dura, der intrakraniellen Memb-
ebenfalls mit einer Tonusänderung. Die afferenten Nerven- ranen (Falx cerebri, Tentorium cerebelli) sowie eine Stö-
fasern aus den Muskelspindeln des M. epicranius (und auch rung des kraniosakralen Rhythmus, der nicht auf den Schä-
der mimischen Muskulatur) gelangen über periphere Ana- del begrenzt, sondern ebenso am Sakrum und auch an den
stomosen zu ihren Perikaryen im Trigeminusganglion und Extremitäten spürbar ist. Sutherland (1993) bezeichnet ihn als
7.4 · Manuelle Behandlung des Kopfes
115 7
»primary respiratory mechanism« im Sinne einer Gewebeat- und des medialen Längsbündels ist verantwortlich für Wohl-
mung, Ward (2003) hingegen schlicht als inhärente Gewebe- befinden, Friedfertigkeit und Ruhe (Olds und Milner 1954).
bewegung, eine »inherent tissue motion«. Aufgrund der Verbindung des Septum pellucidum mit dem
Werden die Schädelnähte nach diesem Denkmodell nun Hirnstamm ist eine Kommunikation mit trigeminalen Affe-
mittels osteopathischer Behandlung von ihren Restriktionen renzen denkbar. Auch andere vegetative Erscheinungen bei
befreit, »verschobene Schädelknochen« (Upledger 1996) an manueller Behandlung des Schädels wie Wärmegefühl, ver-
ihren Platz gebracht, Dura und Membranen entspannt, klin- tiefte Bauchatmung und dergleichen lassen sich über eine tri-
gen die Schmerzen ab, die Beweglichkeit der Wirbelsäule bes- geminovagale Konvergenz erklären. Diese Phänomene sind
sert sich, desgleichen der Schlaf-Wach-Rhythmus; der Patient vergleichbar mit einer Tonus- und Schmerzminderung nozi-
fühlt sich ruhig und entspannt. Diese Erscheinungen lassen zeptiv veränderter Weichteilstrukturen der oberen Halswir-
sich beim Erwachsenen ebenso beobachten wie beim Säug- belsäule durch Behandlung der myofaszialen Strukturen.
ling.
In zahlreichen Büchern zur kraniosakralen Osteopathie Trigemino-faziale Kommunikation und
werden diese erfreulichen Behandlungseffekte auch mit der autonome Reaktionen
Wiederherstellung einer harmonischen Eigenbewegung des Die mimische Muskulatur, sensibel vom N. trigeminus und
knöchernen Schädels begründet, wie es Sutherland (1939) motorisch vom N. facialis innerviert, bietet ein anschauliches
beschrieb, der die kraniosakrale Osteopathie in den 30er Jah- Beispiel für den Einfluss der trigemino-fazialen Kommunika-
ren des 20. Jahrhunderts entwickelte. tion auf das limbische System und autonome Körperreakti-
Dieses Phänomen des kraniosakralen Rhythmus wird onen, wie ein Versuch von Levenson et al. (1990) zeigt.
unterschiedlich bewertet und kontrovers diskutiert. Mei-
nungsverschiedenheiten bestehen weniger über die zwei- Beispiel
fellose Existenz dieser tastbaren inhärenten rhythmischen In einer Studie wurden Personen angewiesen, bestimmte
Bewegung als vielmehr über deren Herkunft, Ursache und Gesichtsmuskeln zu kontrahieren, die für bestimmte Gesichts-
therapeutische Bedeutung. Fest steht, dass sich dieser Rhyth- ausdrücke typisch sind. Die Versuchspersonen hatten jedoch
mus bisher dem wissenschaftlichen Nachweis entzogen hat nicht die Aufgabe, einen Ausdruck zu mimen oder nachzuah-
(Heymann und Kohrs 2006, Buchmann 2007). men. Für den Gesichtsausdruck Ärger wurden die Probanden
aufgefordert: »Augenbrauen zusammen- und nach unten zie-
Tipp hen, obere Augenlider heben, Unterlippe nach oben drücken
und die Lippen zusammenpressen!« Der Versuchsleiter war
Unabhängig davon hat sich die kraniosakrale Osteopa- nicht im gleichen Raum wie die Versuchspersonen; er beobach-
thie als sehr wirksame Behandlungsmethode erwiesen, tete den Vorgang auf einem Bildschirm und gab Anweisungen
und es steht inzwischen eine umfangreiche Literatur über ein Kommunikationssystem. Auf diese Weise wurden ver-
zu diesem Therapieverfahren zur Verfügung, wobei die schiedene Gesichtsausdrücke für Ärger, Trauer, Angst, Freude,
Dynamik der Schädelbewegungen und ihre Auswirkun- Ekel und Überraschung induziert. Die autonomen Reaktionen
gen auf die Dura und intrakranielle Membranen die the- wie Pulsfrequenz, Hautleitwiderstand, Fingertemperatur und
oretische Grundlage bilden. Muskeltonus entsprachen in statistisch gesicherter Weise jenen,
die für diese Ausdrücke normalerweise typisch sind (Eckman et
Es gibt eine Reihe von Denkmodellen zur kraniosakralen al. 1983). Die Versuchspersonen, die nach ihren Gefühlen bei die-
Osteopathie. Bei keinem ist allerdings von der neuroanato- sem Versuch gefragt wurden, gaben statistisch gesichert an, sie
misch ungewöhnlich differenziert aufgebauten Kopfschwar- hätten Gefühlslagen erlebt, die dem Gesichtsausdruck entspra-
te die Rede. Dabei ist es diese Struktur, die unmittelbar und chen. Dabei wusste keiner der Personen, worum es eigentlich
direkt unter den behandelnden Händen liegt und auf feinste bei diesem Versuch ging (Eibl-Eibesfeldt 1997).
Reize reagiert. Die beschriebenen therapeutischen Reakti-
onen lassen sich ohne Weiteres auch über eine Beseitigung Fazit
pathologischer, dysfunktionell entstandener Tonusverän- Wenn durch willkürliche Kontraktion der mimischen Muskulatur
derungen der oberen Halswirbelsäule und der Kopfschwar- die Stimmung beeinflussbar ist, wäre es denkbar, dass auch mit
te erklären, wie sie bei der Anwendung myofaszialer Tech- manueller Behandlung der epikraniellen Weichteilstrukturen
niken an anderen Körperregionen bekannt sind. Ward (1997) Ähnliches erreicht werden kann, unter Ausnutzung der trigemi-
bezeichnete daher die Schädeltechniken der kraniosakralen no-zervikalen Konvergenz und der trigemino-fazialen Kom-
Osteopathie als Myofascial Release am Kopf. munikation. Das könnte die Vorstellung des Sutherland-Denk-
Der Trigeminus, dessen Kerne bis zum Mesenzephalon modells von der Behandlung des Keilbeins und der sphenoba-
hinaufreichen, kommt dabei als Vermittler der Ruhe und silären Synchondrose (SSB) eventuell in einem anderen Licht
Entspannung infrage: Eccles (1989) beschreibt »gute Ver- erscheinen lassen.
bindungen« der Kerne des Septum pellucidum zum Hirn-
stamm mit der Möglichkeit, »allgemeine Körperreaktionen Keilbein und sphenobasilären Synchondrose (SSB) nehmen
auszulösen«. Das Septum pellucidum ist Teil des limbischen im Konzept der kraniosakralen Osteopathie bekanntlich eine
Systems, das für die Gestaltung des affektiven Gesamtver- Schlüsselstellung ein: Beim klassischen Griff zur Behand-
haltens verantwortlich ist. Die Zone des Septum pellucidum lung des Os sphenoidale umfassen die Hände das Okziput,
116 Kapitel 7 · Manualmedizinische Behandlung im Säuglingsalter
1
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5
6
7 . Abb. 7.48 MFL temporo-parieto-okzipital im Übergangsgebiet
der sensiblen Innervation des M. epicranius
12
k 5. MFL des M. temporalis mit Gabelgriff (sog. Behand-
13 lung der sphenobasilären Synchondrose) (. Abb. 7.49)
Erfasste Strukturen
Vorderrand des M. temporalis mit Fascia temporalis, okzipi-
14 taler Anteil des M. epicranius, okzipitale Nackenmuskelan-
sätze.
15 Durchführung
Das Kind liegt in Rückenlage. Die eine Hand des Therapeuten
umfasst den Hinterkopf des Kindes, Daumen und Mittel-
16 finger der anderen Hand umfassen von vorne den ventra-
len Anteil des M. temporalis hinter dem Os zygomaticum
17 bzw. dem seitlichen Orbitarand. Prüfen auf Strammung und . Abb. 7.50 MFL von M. temporoparietalis und M. temporalis im
Lockerung mit der einen Hand bzw. mit Daumen und Mittel- Innervationsgrenzgebiet von Trigeminus und N. occipitalis minor
finger der anderen. Begleiten des Gewebes ohne Drängeln bis
18 zum »Wegschmelzen«.
lis minor. Dem Befund gemäß erfolgt das myofasziale Lösen.
19 k 6. MFL von M. temporoparietalis (epicranii) und Für die Palpation des unterhalb der Galea aponeurotica lie-
M. temporalis, mittlerer und dorsaler Anteil (. Abb. 7.50) genden M. temporalis wird der Gewebekontakt geringfügig
Erfasste Strukturen verstärkt; therapeutisch wird in gleicher Weise verfahren.
20 Galea aponeurotica mit M. temporoparietalis an der Über-
gangszone der sensiblen Innervation, M. temporalis (Pars k 7. MFL des M. temporoparietalis mit Ohrzugtechnik
media und Pars dorsalis). (Oberlehrergriff ) (sog. Dekompression der Ossa temporalia)
Durchführung (. Abb. 7.51)
Die Langfinger beider Hände des Therapeuten liegen auf den Erfasste Strukturen
Schläfen des Kindes in Höhe der Ohren. Mit äußerst sach- Periaurikulärer Anteil der Galea aponeurotica mit M. tem-
tem Kontakt wird das fibromuskuläre Gewebe auf Stram- poroparietalis. An der sensiblen Innervation im Bereich des
mung und Lockerung untersucht, auch hier im Grenzgebiet äußeren Ohrs sind neben dem Trigeminus auch der N. vagus
der sensiblen Innervation von Trigeminus und N. occipita- und N. facialis beteiligt.
7.4 · Manuelle Behandlung des Kopfes
119 7
Durchführung
Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger werden die Ohrmu-
scheln des Kindes gefasst, und mittels sachter, langsamer
Bewegungen der Ohrmuschel nach hinten-seitlich, kranial . Abb. 7.52 MFL des frontalen M.-occipitofrontalis-epicranii-Bau-
und kaudal werden freie und blockierte Richtung ermittelt. ches mit Galea aponeurotica
Bei Erreichen des Gewebestopps werden die Ohren gehalten,
bis sich das Gewebe löst (»Wegschmelzen«). Nach erneutem
Prüfen von Strammung und Lockerung wird die Prozedur
ggf. wiederholt.
> Wichtig
7 Vigilanz und bewusste Wahrnehmung entstehen aus
dem Zusammenspiel von spezifischen und unspezifi-
8 schen Afferenzen (Schlack 1996).
Wie in 7 Kapitel 2.2 ausführlich dargelegt, bedeutet Wahr- Eine weitere Technik, das Pritschen, hat sich bewährt, da es
nehmung die Umwandlung physikalischer Reize in zentral- ohne Zubehör überall durchführbar und bei den Kindern sehr
nervöse Erregung. Die kodierten Reizinformationen werden beliebt ist. (Der Ausdruck »Pritschen« ist aus der Gewohnheit
7.5 · Unspezifische exterozeptiv-propriozeptive Stimulation
121 7
von Kasperle abgeleitet, Bösewichte wie Krokodil, Teufel oder
Räuber mit einer Papp-Pritsche zu vertreiben. Das dabei ent-
stehende Geräusch gleicht dem therapeutischen Pritschen.)
j Indikation/Kontraindikation
Indikation für das Pritschen sind alle Formen von sensomo-
torischen Störungen. Allgemeine Kontraindikationen sind
4 erosive Hautveränderungen,
4 entzündliche Gelenk- oder Weichteilprozesse,
4 akute Infekte,
4 lokale Neoplasien,
4 schwer reduzierter Allgemeinzustand und
4 schwere Formen der respiratorischen Insuffizienz.
. Abb. 7.55 Pritschen: Hand-Finger-Haltung in Ausgangs- und Auf-
j Anwendungsgebiete treffphase
j Dosierung
Entscheidend für die Verarbeitung der sensorischen Stimu-
li ist die Dosierung der Impulsstärke und Impulsfrequenz.
Man appliziert nie mehr als 3–5 »Pritscher« in Folge und beo-
bachtet danach genau Reaktion und Mimik des Kindes:
4 Ein aufmerksamer, zufriedener, auch belustigter
Gesichtsausdruck ist positiv (. Abb. 7.57). Dann kann
die Pritschfolge von 3–5 Stimuli wiederholt und die . Abb. 7.56 Pritschen der Fußsohle
Reaktion erneut beobachtet werden. Das wird so lange
fortgesetzt, bis das Kind ein Ende signalisiert (oder der
Therapeut ermüdet).
4 Ein Wegziehen von Arm oder Bein, Wegdrehen des Kör-
pers, Maunzen oder Weinen bedeuten, dass das Prit-
schen als unangenehm empfunden wird und die Stimu-
lation zu stark ist.
4 Eine fehlende oder gelangweilte Reaktion zeigt eine zu
schwache Stimulation an!
j Pritschtechnik
Die Hand des Therapeuten ist im Handgelenk leicht dorsale-
xtendiert (auf keinen Fall volarflektiert) und locker geöffnet,
die Finger sind locker gespreizt wie ein halb offener Fächer.
Aus dieser Haltung erfolgt ein lässiger, lockerer Schlag aus
dem Handgelenk (nicht aus dem Ellenbogengelenk!) auf die
Fußsohle oder Handinnenfläche mit der Ulnarseite des Klein-
fingerendglieds als Auftreffpunkt, wobei sich die fächerartig
geöffneten Finger schließen (. Abb. 7.55). Nach dem Auftref- . Abb. 7.57 Beispiel einer positiven Reaktion auf die Stimulati-
fen erfolgt ein sofortiges Zurückschnellen. Die korrekte Aus- on der Fußsohle: Die Mimik des Kindes zeigt, dass die Information an-
führung lässt sich am »Pritschlaut« erkennen. kommt
123 8
Sensomotorische Dyskybernese
im Vorschul- und Schulalter
8.1.2 Die Ritalin-Offenbarung Mit der Benennung und Bezeichnung der wahrgenom-
1 menen Umweltdinge vollzieht sich die Abstrahierung der
Allmählich trat die Bedeutung der motorischen Normabwei- Gestaltwahrnehmung und damit nach Lorenz (1986) »der
2 chungen in den Hintergrund zugunsten des Aufmerksam-
keitsdefizits als einem charakteristischen Merkmal hyper-
Schritt vom Greifen zum Begreifen«, einhergehend mit der
Entwicklung der Wortsprache. Die Vorstellung einer räum-
aktiver Kinder. Aus dem Amerikanischen wurde der Begriff lichen Beziehung der Umweltdinge zueinander ist, eben-
3 Attention Deficit Disorder (ADD) für diese Kinder übernom- so wie die Wortsprache, ein Element des diskursiven Den-
men und mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) über- kens als der beherrschenden artspezifischen Erkenntnis-
4 setzt. Die Leitsymptome (Hüther 2003) hierbei sind:
4 Impulskontrollstörung,
leistung des Menschen. Stütz- und Zielmotorik stellen in
diesem Sinne bereits kognitive Leistungen an sich dar, auf
4 Aufmerksamkeitsdefizit und denen die nachfolgenden höheren Erkenntnisfunktionen
5 4 Hyperaktivität. basieren (7 Kap. 2.1, Die Sonderstellung des menschen in
der Natur).
6 Als sich dann zeigte, dass die ADS-Kinder auf scheinbar
einfache und effektive Weise mit dem Amphetaminderivat
Ritalin behandelt werden können, wurden nach einiger Zeit 8.1.4 Sensomotorische Fehlsteuerung
7 auch Kinder in die Ritalin-Indikation aufgenommen, die
zwar unaufmerksam, aber keineswegs hyperaktiv waren, Bei funktionellen Störungen der Wahrnehmungssensoren
viele sogar eher hypoaktiv. Seither unterscheidet man zwi- des Achsenorgans, wie sie beispielsweise bei einer sog. seg-
8 schen ADHS für die Hyperaktiven und dem schlichten ADS mentalen Dysfunktion (Blockierung) auftreten, sind die
für die Nicht-Hyperaktiven, was dem Ritalin®-Umsatz ver- Informationen zu Stellung und Bewegung des Körpers im
9 ständlicherweise zugute kommt. Eine einheitliche Ätiolo- Raum fehlerhaft oder unvollständig. Die Folgen für die
gie dieses rätselhaften, vielschichtigen Störungsbildes wur- posturale Entwicklung wurden am Beispiel des TAS erläu-
de bisher allerdings nicht ermittelt. Auch die bei Eltern tert. Bewegungsqualität und Raumorientierung sind das
10 und Pädagogen beliebte monokausalistische Hypothese Ergebnis der sensorischen Programmierung in der früh-
einer genetisch regulierten Störung im Neurotransmitter- kindlichen Lebensphase. Dies bedeutet: Eine chronische
11 stoff wechsel ist nicht hinreichend belegt. Vielmehr muss Störung der propriozeptiven Wahrnehmungsverarbeitung,
unter Berücksichtigung der nicht hyperaktiven ADS-Kin- wie sie z.B. bei fortbestehender oder rezidivierender Kopf-
der, die sehr oft auch bewegungsauffällig sind, von sehr gelenksblockierung vorliegt, ist im motorischen Muster
12 unterschiedlichen Ursachen ausgegangen werden. Neben integriert. Dauer, Ausprägung und Lokalisation der Störung
sozialen und emotionalen Faktoren sowie pädagogischen entscheiden darüber, in welchem Ausmaß die sensomoto-
13 Missständen spielen in bestimmten Fällen auch funkti- rische Steuerung betroffen ist. Auch scheint der Zeitpunkt
onell-somatische Vorgänge eine Rolle, die einen manual- bedeutsam zu sein, in dem sich die Störung ereignet. Denn
medizinischen Therapieansatz bieten. In den folgenden je jünger das Kind ist, desto weniger determinierte senso-
14 Abschnitten soll dargelegt werden, welche klinische Sym- motorische Programme liegen vor, und desto nachteiliger
ptomatik diese Kinder kennzeichnet, wie sie von anderen werden sich fehlerhafte sensorische Daten auf die Bewe-
15 Ursachen abgegrenzt und als manualmedizinische Indika- gungsentwicklung auswirken.
tion erkannt werden kann. Bei den meisten Kindern, die von dieser Störung betrof-
fen sind – es sind überwiegend Jungen – finden sich keine
16 Hinweise auf eine zerebrale Schädigung, denn es handelt
8.1.3 Artspezifische Erkenntnisleistungen sich bei der sensomotorischen Fehlsteuerung um die Folgen
17 einer peripheren, im sensorischen Apparat des ZNS entstan-
Als basale Funktion der sensomotorischen Entwicklung denen Dysfunktion. Die Frühsymptome dieser sensomoto-
wurde die Verarbeitung der Information von raum-zeit- rischen Dyskybernese (SMD) sind daher auch oft uncharak-
18 licher Bewegung genannt. Der Begriff Information ist hier teristisch und lassen sich im frühen Kleinkindalter auf den
im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen: Informatio bedeu- ersten Blick nicht immer von altersphysiologischen Norm-
19 tet im Lateinischen »Vorstellung« (von etwas) und lässt sich varianten abgrenzen. Diese Kinder lernen zwar auch zu ste-
auch mit Wahrnehmung oder Anschauungsform übersetzen. hen, frei zu gehen und Treppen zu steigen, aber meist verspä-
Die Vorstellung von Bewegung in Raum und Zeit ist identisch tet und in einer verminderten motorischen Qualität. Mütter
20 mit der Funktion der Sinnesorgane, d.h. der Telerezeptoren, haben oft ein gutes Gespür dafür, dass mit ihrem Kind etwas
Extorozeptoren und Propriozeptoren einschließlich Labyrin- nicht stimmt, stoßen aber ärztlicherseits häufig auf Unver-
thorgan (7 Kap. 2.2, Neurophysiologische Aspekte der Bewe- ständnis. Auffällig werden diese Kinder, wenn sie an Gleich-
gungsentwicklung). Diese von den Sinnesorganen vermittelte altrigen gemessen werden oder sich bestimmten Normen
Anschauungsform (Lorenz 1986) von Stellung und Bewe- fügen müssen, im Kindergarten oder spätestens in der Schu-
gung des Körpers im Raum bestimmt das stütz- und zielmo- le (Coenen 1996a, 2002).
torische Resultat und ist Voraussetzung für die explorative Der Begriff sensomotorische Dyskybernese wurde erst-
Gestaltwahrnehmung der Umwelt durch Hören, Sehen, Füh- mals Anfang der 90er-Jahre vorgestellt (Coenen 1990, 1992).
len und Betasten. Er soll die peripher-dysfunktionelle Ursache dieses Krank-
8.1 · Verhaltensmerkmale, klinische Zeichen
125 8
heitsbildes hervorheben, gegen die früheren Bezeichnungen Tipp
minimale zerebrale Dysfunktion (MCD) bzw. minimale Zere-
bralparese (MCP) abgrenzen und verdeutlichen, dass Verhal- Bei der gezielten Befragung und Schilderung der Defizi-
tensstörungen, kognitive Einschränkungen und bestimmte te des Kindes durch die Eltern sollte das Kind nach Mög-
Sprachentwicklungsstörungen Symptome einer propriozep- lichkeit nicht im gleichen Raum zugegen sein, da es sich
tiven Fehlprogrammierung sein können, meist wohl als Fol- bei der Beschreibung seiner körperlichen Unzulänglich-
ge einer segmentalen Dysfunktion der oberen Halswirbelsäu- keit bloßgestellt und herabgesetzt fühlt.
le mit Beteiligung der Halspropriozeptoren.
len lieber allein oder mit einem älteren Kind. Oft ist zu hören, ren, Distanzlosigkeit, destruktives Spielverhalten und Aggres-
1 sie seien empfindlich und klagsam, lange beleidigt, nicht zum sivität.
Einlenken bereit und weinerlich. Flehmig (1996) hat typische Verhaltensmerkmale der
2 Andere Kinder wiederum zeigen das gegenteilige Ver-
halten: Ungeduld und Reizbarkeit, schnelles Ausrasten,
Selbsteinschätzung von SMD-Kindern beschrieben, ferner
Auffälligkeiten bei der Konfliktbewältigung und Störungen
wenn etwas nicht nach dem eigenen Willen geht, sprunghafte des Zeitgefühls: Die Kinder haben kein Gefühl für zeitliche
3 Hyperaktivität, Zappeligkeit, Jähzorn und Wutanfälle. Nach (und räumliche!) Distanz, die Speicherung im Ultrakurzzeit-
der elterlichen Beschreibung fallen diese Kinder oft durch und Kurzzeitgedächtnis für auditive und visuelle Informati-
4 schlecht dosierte, überschießende Bewegungen auf, sie fügen
anderen Kindern Schmerzen zu, ohne es zu merken oder zu
onen ist schlecht. Die Konzentrationsstörung wird zusätz-
lich von der Situation bestimmt: Die Kinder sind ablenkbar,
wollen, sind selbst aber wenig schmerzempfindlich. Sie kön- wenn mehr als eine Person im Raum ist, brauchen aber Nähe,
5 nen sich minutenlang im Kreis drehen, ohne schwindelig zu Beachtung und mitunter direkte Ansprache, müssen dabei
werden, fahren auf dem Spielplatz wie wild Karussell, zeigen angefasst werden. Auch können sie sich nicht konzentrieren,
6 eine schlechte Risikoeinschätzung und kennen ihre körper- wenn im Raum geredet wird, was Flehmig als Cocktailparty-
lichen Grenzen nicht. effekt bezeichnet.
Ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Ursachen, Bemerkenswert ist das gehäufte Vorkommen einer
7 die für ein solches Verhalten in Frage kommen, werden solche Sprachentwicklungsverzögerung bei SMD-Kindern. Vali-
Kinder heutzutage mit dem Etikett ADHS versehen. de Daten zur Prävalenz liegen bisher nicht vor, doch kann
man davon ausgehen, dass etwa die Hälfte der SMD-Kinder
8 k Schulalter in unterschiedlicher Form und Ausprägung davon betrof-
Im Schulalter fallen SMD-Kinder auf durch leichte Ablenk- fen ist. Als Ursache nimmt Hülse (2001) eine Persistenz der
9 barkeit und Konzentrationsstörungen, schnellen Leistungs- oralen Reflexe des Säuglings an wie Saugreflex, Schluckre-
abfall, Versagen beim Schulsport, Nervosität und Vergesslich- flex, Rooting-Reflex, Beißreflex und Würgreflex. Auch Fal-
keit sowie durch sog. Teilleistungsstörungen, vor allem als kenau (1989) sieht darin eine Dyspraxie der oralen Motorik
10 Lese-Rechtschreib-Schwäche. Die Handschrift ist schlecht, als Folge einer Kopfgelenksdysfunktion. Tatsächlich kom-
feinmotorische Aufgaben beim textilen Werken oder im men mundmotorische Störungen bei SMD-Kindern mit
11 Kunstunterricht machen große Schwierigkeiten. Es werden Sprachentwicklungsverzögerung nicht selten vor, sind jedoch
Zahlen- oder Buchstabenfolgen verwechselt. Die Hausaufga- nicht regelmäßig vorhanden. In diesen Fällen lässt sich die
ben können nur mit Fremdhilfe bewältigt werden und zie- Sprachentwicklungsverzögerung möglicherweise auch mit
12 hen sich sehr lange hin. Bei den Hyperaktiven, die unter den erkenntnistheoretischen Überlegungen erklären, wie bei
SMD-Kindern allerdings die Minderheit bilden, kommen der Skizzierung der artspezifischen Erkenntnisleistungen zu
13 meist noch erhebliche disziplinarische Schwierigkeiten hin- Anfang des Kapitels erwähnt.
zu.
14 8.2 Diagnostik
8.1.8 Stumme Eigenbrötler, lärmende
15 Angeber Um festzustellen, ob bei einem Kind mit den oben beschrie-
benen Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten eine manu-
Die ständige Frustration dieser Kinder durch das Erleben der almedizinische Behandlung indiziert ist, muss neben der
16 eigenen Schwäche und des eigenen Unvermögens im Ver- manuellen Untersuchung und der neurologischen Basisdi-
gleich zu anderen Kindern, ferner die ständige Kritik seitens agnostik eine Beurteilung der Köperkontrolle und Bewe-
17 der Erwachsenen, der Leistungsdruck und nicht zuletzt auch gungsqualität durchgeführt werden. Dazu wird bei Kin-
der Spott, dem diese Kinder ausgesetzt sind, führt in sehr vie- dern zwischen 5½ und 11 Jahren der motokybernetische Test
len Fällen zu einer Störung des emotionalen Verhaltens. Dies (MKT) eingesetzt (7 Abschn. 8.5).
18 äußert sich in gestörtem Selbstwertgefühl, Wertlosigkeitsvor-
stellungen, Antriebsarmut, auch Reizbarkeit und Aggressi-
19 vität sowie in somatischen Symptomen wie Schlafstörung, 8.2.1 Qualitativer Bewegungstest
Appetitverlust oder auch gesteigerter Esslust. Sehr oft beste-
hen soziale Kontaktstörungen: Scheu vor Erwachsenen, Der MKT besteht aus 16 Aufgaben zur Prüfung der Gleich-
20 Fremden und Gleichaltrigen, Verweigern von Gruppenkon- gewichtssteuerung, Bewegungsplanung, Bewegungsdosie-
takt und Vermeiden von Blickkontakt. In Gegenwart ande- rung sowie der Koordination und Feinabstimmung komple-
rer Personen zeigen die Kinder Verlegenheitsbewegungen xer Bewegungsmuster. Wegen des spielerischen Charakters
und Gehemmtheit. Und immer wieder trifft man auch auf ein dieses Testes empfiehlt es sich, die Untersuchung des Kindes
mutistisches Verhalten (Coenen 2002). mit dem motokybernetischen Test zu beginnen (7 Kap. 12.6,
Diese Merkmale treffen vorwiegend auf die hypoaktiven Befundbogen). In 7 Übersicht 8.1 sind die 16 Testaufgaben
SMD-Kinder zu, während die Hyperaktiven eher bestrebt des MKT zusammengefasst.
sind, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken durch albernes,
angeberisches und lärmendes Gebaren, Herumkommandie-
8.2 · Diagnostik
127 8
wand bei der Kontrolle ist also gering, der Informationsge-
Übersicht 8.1 Motokybernetischer Test (MKT) winn hoch. Ist das Ende der Behandlung abzusehen, kann der
Testaufgaben: Test im Gesamten wiederholt werden. In 7 Abschn. 8.5 sind
1. Langsitz Untersuchungsbedingungen, Testmaterial, Bewertungsmu-
2. Hochklettern und Abspringen von hüfthoher Liege ster und Auswertung des MKT zusammenfassend beschrie-
3. Einbeinstand auf festem Untergrund ben.
4. Einbeinstand auf weichem Untergrund (Schaumstoff-
kissen)
5. Einbeinstand mit Auffangen und Rückwurf eines Balls 8.2.2 Anhaltspunkte für Vorschulkinder
6. Einbeinhüpfen
7. Einbeinhüpfen mit Hochwerfen und Auffangen eines Für Kleinkinder und Vorschulkinder von 2–5 Jahren steht
Balls wegen meist fehlender Bereitschaft des Kindes zu aktiver
8. Hampelmannsprung Beteiligung kein vergleichbares qualitatives oder quantita-
9. Schersprung tives Testverfahren zur Verfügung. 5-Jährige sind zwar oft
10. Einbeinstand auf einem Therapiekreisel bereit, Aufgaben aus dem MKT durchzuführen, doch ist die
11. Purzelbaum Streubreite der physiologischen Normvarianten bei den abge-
12. Seitliches Überhüpfen fragten Bewegungsmustern im Gegensatz zu 5½-Jährigen
13. Fersengang vor- und rückwärts noch so groß, dass sich eine qualitative Beurteilung nicht
14. Hopserlauf zuverlässig durchführen lässt.
15. Seiltänzergang auf ausgelegtem Seil Bei den 2- bis 5-jährigen Kindern werden daher stan-
16. Drehtest dardisierte Entwicklungsskalen eingesetzt (Denverskalen,
Münchener funktionelle Entwicklungsskalen, Wiener Ent-
wicklungstest u.Ä.). Zur groben Orientierung hat sich in der
Die einzelnen Aufgaben des MKT werden nach der Qua- Praxis die Anwendung des Entwicklungsgitters nach Kipha-
lität ihrer Durchführung beurteilt und in einer Skala von rd bewährt, das in einem im Praxisbetrieb vertretbaren Zeit-
0–3 Minuspunkten benotet. Auf diese Weise lässt sich nach rahmen eine ausreichende Übersicht über den Entwicklungs-
eigenen Erfahrungen das Ausmaß der Störung detaillierter stand des Kindes bis zum 4. Lebensjahr bietet (Kalbe 1981).
beurteilen als mit einer rein quantitativen Methode (z.B. Ein Überblick über die sensomotorische Entwicklung des
Körperkoordinationstest für Kinder (KTK) nach Kipha- Kindes vom 15. Lebensmonat bis zum 6. Lebensjahr ist in
rd und Schilling.) Aus der Gesamtsumme der Punkte wird 7 Kapitel 3.7 aufgeführt.
unter Berücksichtigung des Lebensalters die stütz- und ziel- Motorische Leistungen wie Treppensteigen, Hüpfen und
motorische Leistung ermittelt und in Qualitätskategorien Stehen auf einem Bein zeigen in der Entwicklung des Klein-
(. Tab. 8.1) erfasst. kindes einen typischen zeitlichen Ablauf, der zur groben Ori-
entierung in . Tab. 8.2 zusammengefasst ist.
> Wichtig Weitere Anhaltspunkte für die neuromotorische Beur-
Die Indikation zur manualmedizinischen Behandlung ist teilung in diesem »schwierigen Alter« können die grobmo-
für die Störungskategorien III–VI gegeben. torischen Fähigkeiten sein, über die ein gesundes 4-jäh-
riges Kind in jedem Fall verfügen muss, zusammengefasst in
Zur Verlaufskontrolle wird der MKT auszugsweise einge- 7 Übersicht 8.2.
setzt, indem bei der Kontrolluntersuchung die Aufgaben mit
den schlechtesten Punktwerten kontrolliert werden. Das
sind gewöhnlich nicht mehr als 4–6 Aufgaben. Der Zeitauf- Übersicht 8.2 Neuromotorische
Beurteilungskriterien für ein 4-jähriges Kind
5 Balancesicheres Gehen
5 Beidbeiniges Hüpfen am Boden
. Tab. 8.1 Qualitätskategorien für die Auswertung des MKT 5 15–20 Meter rennen ohne Stolpern und Hinfallen
5 Schlusssprung von einer Treppenstufe
Störungsgrad Störungsausmaß 5 Dreirad- und Gokartfahren
I Normal 5 Treppaufgehen mit Fußwechsel und ohne Festhalten
5 Einbeinstand für 2–3 Sekunden
II Kontrollbedürftig 5 Hüpfer auf einem Bein
III Leichte Störung 5 Schlusssprung von Couch oder Stuhl
5 Freies Stehen auf einem Stuhl
IV Deutliche Störung 5 Mehrere fortlaufende Schlusssprünge (Häschen-hüpf-
Spiel)
V Ausgeprägte Störung
5 Treppabsteigen mit Fußwechsel und ohne Festhalten
VI Hochgradige Störung,
Verdacht auf zerebrale Ursache
128 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter
8 Ein zuverlässiger Indikator für die Abstimmung labyrinthä- gewidmet. Wir dürfen aber aufgrund klinischer Beobach-
rer, visueller und halspropriozeptiver Wahrnehmungsdaten tungen nach spezieller Behandlung der Zervikookzipital-
9 ist die Fähigkeit des Treppabsteigens mit Fußwechsel und region davon ausgehen, dass die Propriozeptoren der oberen
ohne Festhalten, wozu ein Kind mit 3½ Jahren, spätestens HWS einen ganz wesentlichen Anteil am Bewegungsmuster
mit 4 Jahren in der Lage sein sollte. Bei vielen SMD-Kindern des Treppabsteigens und damit auch an der Gastroknemius-
10 entwickelt sich diese Fähigkeit aufgrund einer persistierenden aktivierung haben. Denn die manualmedizinische Behand-
Funktionsstörung der oberen Halswirbelsäule erst mit deut- lung der zervikookzipitalen Übergangsregion bei SMD-Kin-
11 licher zeitlicher Verzögerung und qualitativer Einschränkung dern führt regelmäßig zu einer Verbesserung der motorischen
(Coenen 2006). Steuerung beim Treppabgehen. Plausible Erklärungen für die-
se Beobachtungen könnten in den Arbeiten von Christ (1993),
12 Treppabsteigen Hassenstein (1988), Neuhuber (1998, 2005), Taylor(1992),
Melvill Jones und Watt (1971b) untersuchten die Reakti- Zenker(1988) zu finden sein.
13 on des Gastroknemius beim Treppabgehen und stellten fest, Das Treppabsteigen stellt besondere Anforderungen an
dass die mittels EMG gemessene Kontraktion des Gastrokne- die räumliche Orientierung und das Gleichgewichtssystem:
mius 135 ms vor der Bodenberührung des Fußes einsetzte Beim Abwärtsschreiten von Treppenstufen werden norma-
14 (. Abb. 8.1). Bei einem größeren Abwärtsschritt (höhere Stu- lerweise die Augen nach vorne-unten gerichtet und der Kopf
fen) setzte die Gastroknemiusaktivierung früher ein, d.h. in daher leicht inkliniert (. Abb. 8.2). Beim Versuch, den Kopf
15 einem größeren Abstand zur Auftrittsfläche; zudem war die dabei in den Nacken zulegen, verlangsamt sich die Schrittbe-
Kontraktion stärker. Die Wadenmuskeln kontrahieren sich wegung entscheidend und die Hand geht zum Geländer: nicht
also in Erwartung der bevorstehenden Belastung. nur, weil die visuelle Kontrolle der Treppenbeschaffenheit
16 Die Autoren gehen davon aus, dass beim Treppabsteigen wegfällt, sondern auch, weil die Nackenrezeptoren Signale
durch die Abwärtsbewegung des Kopfes das Statolithenorgan senden, die für diesen Bewegungsvorgang nicht zweckmäßig
17 des Labyrinths bzw. der vestibuläre Rezeptorenmechanismus sind. (Bei einem Blick auf die Hassenstein-Formel zur Raum-
aktiviert wird, wodurch über retikulospinale und vestibuläre lage des Körpers leuchtet dies ein.)
Bahnen die Kontraktion des Gastroknemius veranlasst wer- Man beobachtet also das Zusammenspiel von drei
18 de. Möglicherweise werde die motorische Rinde auch durch wesentlichen Sinnesmodalitäten, die im Dienste der Gleich-
visuelle Afferenzen angeregt. Der visuelle Faktor wurde im gewichtssteuerung stehen:
19 Experiment anhand der Auswirkung eines unerwarteten 4 die visuelle Kontrolle von Länge und Steilheit der Trep-
freien Falls untersucht, indem durch Verbinden der Augen pe,
die visuelle Kontrolle ausgeschaltet worden war: Dabei setzte 4 die Messung der damit verbundenen Vorneigehaltung
20 bei den Versuchspersonen das Gastroknemius-EMG mit des Kopfes durch die Halspropriozeptoren und
einer Latenzzeit von ca. 74 ms vor dem Bodenkontakt ein, 4 die Wahrnehmung der vertikalen Abwärtsbewegung des
zu spät, um auch bei Fallstrecken von weniger als 15 cm den Körpers über das Labyrinthorgan.
Aufprall abzufedern; die Versuchspersonen prallten mit der
Ferse auf. Ähnliche Untersuchungen wie beim Treppabsteigen stellten
Bei diesen Überlegungen spielten die Nackenpropiozep- Melvill Jones und Watt (1971a) zur Muskelsteuerung beim
toren für die Autoren keine Rolle. Zu der Zeit, als die Arbeit Einbeinhüpfen an (. Abb. 8.3). Sie gehen davon aus, dass die
erschien, wurde dem Rezeptorsystem der oberen Halswir- Hüpffrequenz das Ergebnis der Muskelaktivierung durch drei
belsäule allerdings auch noch keine große Aufmerksamkeit Faktoren ist:
8.2 · Diagnostik
129 8
. Abb. 8.1
Fuß- und Beinstellung
beim Treppabsteigen
a b
k 1. Hirschbergtest
j Durchführung
Der Testperson wird ein Lichtstrahl auf die Nasenspitze
a gerichtet, mit der Aufforderung, genau auf das Licht zu bli-
cken.
j Deutung
4 Normalbefund: Zentrierte Lichtreflexe in der Mitte der
Pupillen.
4 Pathologisch: Asymmetrie der Reflexe, d.h., am fixie-
renden Auge erscheint der Reflex in Pupillenmitte, am
anderen Auge aus der Mitte verschoben (Strabismus,
funktionelle Schwachsichtigkeit bzw. Amblyopie?).
k 2. Konvergenztest
j Durchführung
Eine Bleistiftspitze wird langsam in Augenhöhe bis knapp an
die Nasenwurzel geführt.
b
j Deutung
. Abb. 8.6 a, b a Schema der Druckpunktlage. b Palpation der 4 Normalbefund: Konvergenz bis zur Nasenwurzel kon-
Mastoidkerbe stant.
132 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter
4 Pathologisch: Sakkadieren eines Auges; ein Auge lang- Kindern mit einer Dysfunktion der oberen Halswirbel-
1 samer oder Stillstand. Divergenz eines Auges. Stehen- säule, die seit der frühkindlichen Phase persistiert, steht die
bleiben beider Augen auf der Wegstrecke der Bleistift- Fähigkeit der unbewussten, automatisch ablaufenden Raum-
2 spitze oder Divergieren beider Augen auf der Wegstre-
cke.
vorstellung nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, da
ihre Eigenwahrnehmung auf fehlerhaften Daten beruht. Die
von den Eltern der Kinder regelmäßig beschriebenen Auf-
3 k 3. Reflektierte Konvergenz fälligkeiten des Bewegungsmusters, des Verhaltens und der
j Durchführung Lernfähigkeit lassen sich damit erklären.
4 Die Testperson schaut in die Ferne. Die Bleistiftspitze wird in
Augenhöhe knapp vor die Nasenspitze gehalten. Auf das vom
Ein solches Kind muss ständig bewusst planen, um sich
räumlich und in Begegnung mit seiner Umwelt zurechtzufin-
Untersucher gesprochene Kommando »Jetzt!« müssen beide den. Es ist damit sehr rasch überfordert, wirkt daher oft ver-
5 Augen der Testperson sofort auf die Bleistiftspitze gerichtet langsamt, entwickelt Vermeidungsstrategien und verweigert
werden. sich gegenüber Anforderungen, die mehrere aufeinander-
6 folgende Handlungen erfordern. Oft ist es lärmempfindlich,
j Deutung wird in lauter oder lebhafter Umgebung schnell unsicher, weil
4 Normal: Sofortige beidseitige Konvergenz. es mehrere gleichzeitige Sinneseindrücke nicht nach ihrer
7 4 Pathologisch: Fehlende Konvergenz eines Auges, Ste- augenblicklichen Bedeutung ordnen kann. Es kann sich daher
henbleiben eines Auges oder Divergieren. Bei widerspre- auch schlecht konzentrieren und ermüdet rasch. Neue, unge-
chendem Befund zwischen Test 2 und 3 besteht V.a. Kon- wohnte Situationen ängstigen das Kind, ebenso auch Begeg-
8 vergenzstörung beidseits. nungen mit fremden Menschen oder Tieren. Die Bewälti-
gung des Alltags ist für das Kind stets aufs Neue eine mühse-
9 k 4. Abdecktest (Cover-Test) lige Aufgabe. Es erlebt daher seine Umwelt als unverständlich
j Durchführung/Deutung und rätselhaft, oft auch als bedrohlich. In bestimmter Wei-
Die Bleistiftspitze wird in 20 cm Abstand in Augenhöhe gehal- se fühlt es sich nicht dazugehörig und nicht angenommen,
10 ten, die Testperson blickt auf die Bleistiftspitze. Der Untersu- zumal oft auch ständig an ihm herumgenörgelt wird. Ent-
cher deckt mehrmals abwechselnd ein Auge der Testperson sprechend ist sein Verhalten: Es zieht sich zurück, ist kontakt-
11 zu. Beim Aufdecken (immer nach oben aufdecken) muss das scheu, ängstlich, antriebsarm und freudlos. Manche Kinder
jeweilige Auge unbewegt bleiben. Bei Korrekturbewegung reagieren auch mit verzweifelten Wutanfällen, sind überdreht
des Auges oder Divergenz besteht V.a. Heterophorie. und aggressiv. Wie das Verhalten auch sein mag, ob gehemmt,
12 Der Test ist vor allem bei Kindern immer dann durchzu- ängstlich oder aggressiv: Diese Kinder sind nicht glücklich.
führen, wenn Test 2 und 3 unauffällig waren, um ein latentes Dass dem Denkvorgang ein »probeweises Handeln im
13 Schielen aufzudecken. vorgestellten Raum« zugrunde liegt, wurde am Beispiel des
Orang-Utans, der die Banane zu fassen bekam, und des klei-
Tipp nen Jungen am Planschbecken erläutert (7 Kap. 2.1.2). In die-
14 sem Sinne lässt sich eine gestörte Raumvorstellung als Erklä-
Die der groben Orientierung dienenden Tests sind rung für kognitive Störungen anführen, wie sie im Rahmen
15 wenig zeitaufwendig, verlangen aber vom Kind eine
entsprechende Kooperationsbereitschaft und Konzen-
einer SMD regelmäßig zu beobachten sind.
4 der Kiblerfalten, soziale Verhalten als auch die kognitiven Fähigkeiten, norma-
1 4 des Einbeinstandes, le Intelligenz vorausgesetzt. Mitteilungen darüber kommen
4 des Hampelmannsprungs gewöhnlich spontan von den Eltern: Sie berichten, ihr Kind
2 und ggf. auch weiterer MKT-Aufgaben überprüft.
Nach der ersten Behandlungssitzung erfolgt nach etwa
sei selbstbewusster, spielfreudiger, munterer, beginne sich
durchzusetzen, entwickle eigene Ideen und suche Gruppen-
2–3 Wochen eine Kontrolluntersuchung. Dabei werden die kontakt. Als besonderen Gewinn bewerten die Eltern die Ver-
3 im MKT schlecht benoteten Aufgaben erneut bewertet und besserung der schulischen Leistung, der Konzentrationsfä-
je nach Befund eine weitere Behandlungssitzung durchge- higkeit und der Aufmerksamkeit. Diese Verbesserungen wer-
4 führt. Dies wird wiederholt, bis eine Verbesserung im MKT
um mehr als eine Kategorie erreicht wird.
den auch immer wieder zeitgleich mit der Atlastherapie von
Logopädinnen und Ergotherapeutinnen bestätigt.
In einer prospektiven Studie (Coenen 2002) wurde die
5 durchschnittliche Punktezahl der videodokumentierten
MKTs bei 183 unausgewählten Fällen (124 Jungen, 59 Mäd- 8.3.2 Körperkontrolle und Orthographie
6 chen), gestaffelt nach Störungskategorien vor und nach The-
rapie, ermittelt. Das Ergebnis wird in . Tab. 8.3 aufgezeigt. An zwei Beispielen soll der Zusammenhang zwischen Ver-
Die Ausprägung der Störung im Ausgangsbefund ent- besserung der räumlichen Körperkontrolle und der kogni-
7 scheidet über das Endergebnis. Eine ausgeprägte sensomoto- tiven Leistungen beschrieben werden.
rische Störung der Kategorie V wird kaum die Kategorie II
oder I erreichen. Deutlich besser sind da die Aussichten in Fallbeispiel 1
8 Kategorie IV, sofern die Therapie im Alter von 6 oder 7 Jah- Ein 7½-jähriger Junge wurde wegen auffälligem Gangbild
ren beginnt. In Kategorie III wird regelmäßig der Normalbe- und körperlicher Ungeschicklichkeit vorgestellt. Auf Befra-
9 fund erreicht. gen werden Konzentrationsstörungen im Unterricht und eine
Eine Verbesserung im MKT kann übrigens nicht dadurch Lese-Rechtschreib-Schwäche angegeben. Die Handschrift sei
erreicht werden, dass die defizitären Bewegungsaufgaben
10 vom Kind daheim auf elterliche Anordnung geübt werden.
schlecht.
Im MKT erreichte das Kind die Kategorie IV (= deutliche Störung);
Dies muss den Eltern eindringlich klargemacht werden. Es ist es fanden sich Hinweise auf eine persistierende Kopfgelenksblo-
11 ein traditioneller pädagogischer Fehler, mit einem Kind gera- ckierung. Nach einer atlastherapeutisch/manualmedizinischen
de die motorischen oder kognitiven Leistungen zu »trainie- Serie mit 10 Behandlungssitzungen im Laufe von 5½ Monaten
ren«, bei denen es die größten Mängel aufweist oder die es wurde das Therapieziel erreicht; im abschließenden motokyber-
12 überhaupt nicht beherrscht. Das gilt für motorische Muster netischen Test erreichte das Kind die Kategorie II.
ebenso wie für Deutschdiktate. Es kann auf diese Weise kaum Bei der letzten Konsultation legte die Mutter unaufgefordert die
13 zu anderen Resultaten kommen, da sich durch die zusätz- Diktathefte Ihres Sohnes vor. Das Diktat kurz vor Beginn der Atl-
lichen Übungs- oder Lerneinheiten an der gestörten Wahr- astherapieserie hatte folgenden Text (. Abb. 8.10):
nehmungsverarbeitung nichts ändert und die Frustation und
14 Verzweiflung der Kinder nur gesteigert wird. Bessert sich » Am Sonntag hat der Herbst begonnen. Die Blätter wer-
unter der manualmedizinischen Behandlung die Wahrneh- den immer bunter. Manche werden braun, andere be-
15 mungsverarbeitung, ist dies auch ohne zusätzliches Training kommen eine gelbe oder rote Farbe. Viele sind schon vom
an einer zunehmenden Normalisierung der Bewegungskoor- Baum gefallen.«
dination im MKT erkennbar. Bei feinmotorischen Defiziten
16 kann eine Ergotherapie und bei Sprachentwicklungsstörungen
eine logopädische Behandlung sinnvoll sein. Auf jeden Fall ist
17 darauf zu achten, dem Kind genügend zeitliche Freiräume zu
lassen und nicht jedes Teildefizit mit einer speziellen Förde-
rungsmethode zu bedenken. Die Erfahrung mit SMD-Kin-
18 dern hat nämlich gezeigt, dass sich mit einer Verbesserung
der basalen stütz- und zielmotorischen Funktionen auch die
19 übrigen Leistungsdefizite ausgleichen. Dies betrifft sowohl das
1
2
3
4
5
6
7
8
9
. Abb. 8.13 Diktat eines 9-Jährigen vor Beginn der Atlastherapie
10
. Abb. 8.14 Derselbe Junge: Diktat
11 nach 2 Atlastherapiesitzungen
12
13
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15
16
17
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19
20
auf die Behandlung der zervikookzipitalen Rezeptoren an, erwarten, denn ein fehlerhaftes oder pathologisches Bewe-
erkennbar z.B. an einer Verbesserung des Einbeinstandes gungsmuster, das schon seit langer Zeit besteht und neuro-
oder der Koordination beim Hampelmannsprung unmittel- plastisch im ZNS etabliert ist, lässt sich nicht in Kürze umpro-
bar nach dem therapeutischen Atlasimpuls. grammieren. Mehrere Behandlungssitzungen sind daher
Allerdings zeigt die Erfahrung, dass dieser Effekt meist erforderlich. Gelegentlich kann auch die Behandlungsdau-
nicht von Dauer ist, sondern nach durchschnittlich 3 Wochen er durch Blockierungsrezidive nach banalen Unfällen oder
wieder deutlich nachlässt, zu Beginn der Behandlung mit- interkurrenten Erkrankungen prolongiert sein.
unter auch früher. Dies ist im Grunde auch nicht anders zu
8.4 · Unentbehrliche Amphetamine
137 8
> Wichtig 8.4.1 Katalog-Diagnose
Es gilt das oben formulierte Therapieziel: Die Behand-
lung wird beendet, wenn eine Verbesserung der Bewe- ADS und ADHS sind Umschreibungen für ein Phänomen,
gungsqualität um mehr als eine Störungskategorie im dem unterschiedliche Ursachen und pathologische Wer-
MKT erreicht wurde und das Kind über einen Zeitraum tungen zugrunde liegen und dessen Erforschung bei Weitem
von 6 Monaten rezidivfrei ist. Erst wenn dies erreicht ist, noch nicht abgeschlossen ist. Im Gegensatz zur landläufigen
wird auch die Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten Meinung gibt es bislang keinen eindeutigen Test zur Feststel-
und des Verhaltens von Dauer sein. lung eines AD(H)S. Stattdessen wird zur Diagnosestellung ein
Katalog von Kriterien verwendet, auf den sich Kinder- und
Das therapeutische Bestreben, bestmögliche sensomotorische Jugendpsychiater geeinigt haben. Wenn diese Kriterien, die
Muster zu bahnen, hat auch einen humanitären Aspekt. Es sich auf Beobachtungen und Verhaltensweisen stützen, weit-
erleichtert den Kindern die Bewältigung des Alltags, stärkt gehend erfüllt sind, wird die Diagnose gestellt. Hüther (2003)
ihr Selbstbewusstsein und fördert ihren Lebensmut, während weist darauf hin, dass hier eine riesige Grauzone besteht, und
sie sonst wegen ihrer Ungeschicklichkeit und scheinbaren dass die Abgrenzung eines noch normalen vom schon patho-
Unfähigkeit den verständnislosen, mitunter unbarmherzigen logischen Verhalten mit diesem Katalog nicht möglich ist.
Reaktionen ihrer Umgebung ausgesetzt sind. Henderson et Auch handele es sich bei diesen Kriterien im Grunde um ein
al. (1991) kommen zu dem Ergebnis, dass körperlich unge- typisches kindliches Verhalten, das nur besonders stark und
schickte Kinder auch im Erwachsenenalter unbeholfen blei- unkontrolliert ausgeprägt sei. Noch schärfer kritisiert Matt-
ben und aufgrund eines gestörten Selbstwertgefühls zahl- ner die nach seiner Ansicht pseudo-objektive Kategorisie-
reiche soziale und emotionale Konflikte erleben. rung des AD(H)S als psychische Störung:
Bewegungsstörung, Verhaltensauffälligkeit und Auf-
merksamkeitsdefizit bei einer SMD sind also verschiedene » Hier wird wohl eher dem herrschenden Zeitgeist und der
Ausdrucksformen ein und desselben Störungsbildes. In den jeweiligen »Psycho-Mode« bzw. den gewohnheitsmäßigen
meisten dieser Fälle besteht kein Anlass, eine Verhaltensauf- Denk- und Handlungsgewissheiten von Klinikern gefolgt, die
fälligkeit regelmäßig als milieubedingte Störung einzustufen gewissermaßen per Abstimmung darüber entscheiden, was
und einer Verhaltens- oder Familientherapie zuzuführen, vor «
als psychisch gesund oder pathologisch zu beurteilen ist, …
allem dann, wenn im gleichen Familienmilieu Geschwister (Mattner 2003)
heranwachsen, die sich völlig unauffällig entwickeln. Auch ist
es wohl nicht gerechtfertigt, sog. Teilleistungsstörungen stets Mit einer »Psycho-Mode« ließe sich ja leben, wenn sie nicht
als pädagogisches oder sogar charakterliches Problem anzu- mit der flächendeckenden Verordnung eines Medikamentes
sehen (»der könnte, wenn er wollte«) und diese Störung mit verbunden wäre, dessen Langzeitfolgen überhaupt noch nicht
zusätzlichen Übungsstunden im betreffenden Fach verbes- abgeschätzt werden können. Nach der Pressemitteilung Nr. 12
sern zu wollen. des Bundesministers für Gesundheit vom 15.8.2001 stieg die
Ohne Zweifel gibt es eine Vielzahl milieubedingter Ver- Verordnung von Ritalin von 1990–2001 um mehr als das
haltensstörungen, für die der Psychologe oder Sozialpädagoge 60-fache – und steigt unaufhörlich weiter. Da sich die promp-
zuständig ist. Auch Lernstörungen, die sich nicht im Zusam- te Wirkung des Ritalins hinsichtlich Verhalten und Konzen-
menhang mit einer Störung der Körperkontrolle zeigen, müs- trationsfähigkeit herumgesprochen hat und die Diagnose-
sen mit speziellen pädagogischen Konzepten gefördert wer- stellung eines AD(H)S inzwischen offenbar zur Allgemein-
den. Diese Kinder weisen aber gewöhnlich nicht die typischen bildung gehört, wird die Indikation zur Ritalin-Behandlung
Symptome einer SMD auf. Sobald aber Verhaltensstörungen mittlerweile bereits von nervenschwachen Lehrerinnen und
oder sog. Aufmerksamkeitsdefizite mit einer Beeinträchti- überforderten Erzieherinnen gestellt. Auch sind Haus- und
gung der Raumorientierung und Körperkontrolle verbunden Kinderärzte laut Pressemittelung des Gesundheitsministers
sind, sollten diese Auffälligkeiten zunächst als symptomatisch vom 15.8.2001 deutlich weniger zurückhaltend mit der Rita-
eingeschätzt und die Kinder einer entsprechenden Diagnos- lin-Verordnung als Kinder- und Jugendpsychiater.
tik zugeführt werden. Dazu steht für Schulkinder der motoky-
bernetische Test in Verbindung mit der manualmedizinischen
Untersuchung zur Verfügung, für Vorschulkinder das Ent- 8.4.2 Wirkung und Nebenwirkung von
wicklungsgitter und standardisierte Skalen. Methylphenidat
k Wirkung von Ritalin ser Argumentation werden allerdings geflissentlich gut doku-
1 Ritalin hält wach, optimiert die Aufmerksamkeit, verbessert mentierte Untersuchungsergebnisse übersehen, die belegen,
die Selbstkontrolle, verändert Wahrnehmung und Erlebnis- dass die bei AD(H)S-Kindern so geschätzte »paradoxe« Wir-
2 weise durch Dämpfung der psychophysischen Reaktionen.
Körperliche Leistungsreserven lassen sich über die Leistungs-
kung von Methylphenidat ebenso auch bei nicht betroffenen,
sog. normalen Kindern eintritt, desgleichen auch bei Erwach-
grenzen hinaus ausschöpfen. Warum das Psychostimulanz senen (Klicpera 1982). Der Mainzer Biochemiker und Alzhei-
3 Methylphenidat bei hyperaktiven Kindern allerdings eine mer-Forscher Christian Behl warnt im Feuilleton der FAZ
beruhigende Wirkung hat, ist bis heute ungeklärt. vom 10. September 2008 vor der »Überschwemmung des
4 Unter der Behandlung mit Ritalin bessern sich Konzen-
tration und Verhalten bei 10–20% der hyperaktiven Kinder.
gesunden Gehirns« mit Psychopharmaka, wobei er ausdrück-
lich auch Methylphenidat erwähnt. Wörtlich heißt es:
Bei 30–50% verbessert sich zwar die Konzentrationsleistung,
5 nicht jedoch das Verhalten. Bei steigender Dosierung kommt » Die Signalübertragung im Gehirn verläuft in alle Richtun-
es zur Verschlechterung der Symptomatik. Bei 10–30% der gen. Das Gehirn ist kein elektronischer Schaltkasten, dem man
6 hyperaktiven Kinder verschlechtern sich alle Symptome: einfach eine Verstärkerplatine vorschalten kann. Im Laufe der
Konzentration, Hyperaktivität, Impulsivität, Aggressivität Evolution hat sich mit der synaptischen Plastizität ein eigener
(Kinze 1994, zitiert nach D. Mattner). potenter Mechanismus entwickelt, der sich langfristig sicher
7 Die Nebenwirkungen von Ritalin und vergleichbaren nicht überlisten lässt … Selbst wenn der Anwender subjek-
Amphetaminderivaten sind unter anderem: tiv sein Ziel einmalig erreicht, sind negative Auswirkungen wie
4 Appetitmangel,
8 4 Gewichtsverlust,
Gehirnschäden, Persönlichkeitsveränderungen sowie langfristi-
«
ge gesellschaftliche Folgen zu erwarten. (Behl 2008)
4 Einschlafstörungen,
9 4 reizbare oder depressive Verstimmung,
4 psychotische Erscheinungsformen,
4 Verlangsamung des Längenwachstums, 8.4.3 Ethische Verpflichtung
10 4 selten auch Epilepsie,
4 schwere Tic-Erkrankungen und Wie in diesem Kapitel dargelegt, sind Konzentrationsstö-
11 4 im späteren Lebensalter Parkinsonsyndrom (Bachmann rungen und auffälliges Verhalten bei einer nicht unerheb-
1993, Kinze 1994, Tischler 2001, Hüther u. Bonney 2002). lichen Zahl von Kindern im Vorschul- und Schulalter Begleit-
symptome einer larvierten sensomotorischen Störung, die
12 Im Arznei-Telegramm 65/2000 wurde auf den bedenklichen unter Verzicht auf Medikamente mit speziellen manualme-
Anstieg der Verordnung von Ritalin und Medikinet hinge- dizinischen Maßnahmen erfolgreich behandelt werden kann.
13 wiesen. Auch seien die Langzeitfolgen einer Behandlung Es handelt sich bei dieser Störung in den meisten Fällen ver-
von Kindern mit diesen psychostimulierenden Präparaten mutlich nicht um die Folge einer frühkindlichen Hirnschä-
unbekannt und es müsse aufgrund neuerer Untersuchungen digung, sondern um frühkindlich erworbene Dysfunktionen
14 angenommen werden, dass eine jahrelange Einnahme dieser an bestimmten sensorischen Schlüsselregionen des Ach-
Medikamente den Ausbruch einer parkinsonartigen Erkran- senorgans, wobei vornehmlich der zervikookzipitale Über-
15 kung im späteren Lebensalter zur Folge haben könne. gang betroffen ist. Dieses als sensomotorische Dyskyberne-
Eine amerikanische Vergleichsstudie über die Wirksam- se (SMD) bezeichnete und mehrfach beschriebene Störungs-
keit von Ritalin und Kokain kam zu dem Ergebnis, dass Koka- bild (Coenen 1990, 1992, 1996a, 2002, 2006) spielt in der
16 in als eine der aufputschendsten und suchterzeugendsten AD(H)S-Diskussion bisher kaum eine Rolle und ist vorwie-
Missbrauchdrogen eine sehr ähnliche pharmakologische Wir- gend bei Manualmedizinern und Physiotherapeuten bekannt.
17 kung wie Ritalin hat. Ritalin ist das in den USA am häufigsten Biedermann (1999) entwickelte eigene Vorstellungen zu die-
verschriebene Psychopharmakon für Kinder (DeGrandpre sem Thema und wählte für die Störung die Bezeichnung
2002)1. KIDD (kopfgelenksinduzierte Dyspraxie und Dyskalkulie).
18 Die unscharfe Definition der AD(H)S-Pathologie verlei- Der Sportwissenschaftler Lensing-Conrady (2003) weist auf
tet dazu, die Indikation zur Methylphenidat-Behandlung ex die Bedeutung der Gleichgewichtswahrnehmung als Motor
19 iuvantibus zu stellen. Gerechtfertigt wird diese Vorgehens- für Entwicklung und Lernen hin, ein Denkansatz, wie er der
weise von den Befürwortern mit der paradoxen Wirkung SMD von Anfang an zu Grunde liegt. Lensing-Conrady ver-
von Ritalin bzw. Medikinet, da hyperaktive Kinder durch die- wendet allerdings an Stelle des Terminus AD(H)S den Begriff
20 se Psychostimulanzien ja ruhiger werden, was als Beweis für ADL-Symptom, d.h. Aus-dem-Lot-Symptom.
defizitäre zerebrale Funktionsweisen angesehen wird. Bei die- »Es ist unerheblich«, schreibt die Kinder- und Jugend-
psychiaterin Ruf-Bächtiger, »ob man die Bezeichnung POS,
MCD, umschriebene Entwicklungsstörung oder eine der
1 Der Ritalin-Produzent Novartis beantragte bei der WHO eine
Reklassifizierung von Methylphenidat von Klasse 2 in Klasse 3, was
vielen anderen Umschreibungen wählt, wesentlich ist, dass
abgelehnt wurde. Es wurde daraufhin bekannt, dass Novartis über sich alle Fachleute bewusst werden, dass sie diesen Kindern
1 Million Dollar an eine amerikanische Elternorganisation (CADD) gegenüber eine ethische Verpflichtung haben« (Ruf-Bächtiger
spendete, damit diese sich für eine Steigerung der Ritalinprodukti- 1995)
on einsetze (Tischler 2001, zitiert nach Mattner).
8.5 · Der motokybernetische Test (MKT)
139 8
8.5 Der motokybernetische Test (MKT) 4 Festes Schaumstoffkissen, ca. 35×24×10 cm
4 Therapiekreisel (Durchmesser der Standfläche 40 cm,
Zur qualitativen Beurteilung der Gleichgewichts- und Bewe- Höhe ca. 9–10 cm)
gungssteuerung wird der motokybernetische Test eingesetzt, 4 Langes Seil, ca. 5 m lang (z.B. Gardinenschnur)
bestehend aus 16 verschiedenen grobmotorischen Aufgaben 4 Kurzes Seil, ca. 1 m lang
(7 Kap. 12.6, Befundbogen), die dem spontanen Spielverhal- 4 Schmale Faltgymnastikmatte o.Ä
ten normal entwickelter Kinder entsprechen (Coenen 1990, 4 Stoppuhr
1992, 1996a, 2002, 2006).
Ferner sollte eine höhenverstellbare Untersuchungsliege zur
Tipp Verfügung stehen.
Der Test kann bei Kindern ab 5½ Jahren eingesetzt wer- k Testaufgaben und Bewertungsmuster
den. Die einzelnen Aufgaben des MKT wurden bereits in 7 Über-
sicht 8.1 (7 Abschn. 8.2.1) genannt. Hier seinen sie zur schnel-
leren Übersicht nochmals der Reihenfolge nach aufgelistet,
k Punktebewertung bevor auf die Durchführung und Punktebewertung einge-
Die Bewertung jeder einzelnen Aufgabe erfolgt nach einem gangen wird:
Minuspunkt-System von 0 bis 3: 1. Langsitz
0 = Normalbefund 2. Hochklettern und Abspringen von hüfthoher Liege
1 = leichte Normabweichung 3. Einbeinstand auf festem Untergrund
2 = deutliche Normabweichung 4. Einbeinstand auf weichem Untergrund (Schaumstoff-
3 = erhebliche Normabweichung kissen)
5. Einbeinstand mit Auffangen und Rückwurf eines Balls
Aus der Gesamtsumme der Punkte wird unter Berücksich- 6. Einbeinhüpfen
tigung des Lebensalters die Qualität der stütz- und zielmo- 7. Einbeinhüpfen mit Hochwerfen und Auffangen eines
torischen Leistung ermittelt, eingeteilt in sechs Kategorien Balls
(s.u.). 8. Hampelmannsprung
Die Beurteilung von Aufgabe 16 erfolgt nach Sekunden 9. Schersprung
und wird nicht in die Gesamtpunktesumme einbezogen. 10. Einbeinstand auf einem Therapiekreisel
11. Purzelbaum
k Untersuchungsbedingungen 12. Seitliches Überhüpfen
4 Ausreichend großer Raum, in dem das Kind die ein- 13. Fersengang vor- und rückwärts
zelnen Übungen ohne Verletzungsgefahr durchführen 14. Hopserlauf
kann. 15. Seiltänzergang auf ausgelegtem Seil
4 Zweckmäßige Kleidung: Geeignet sind Sport- oder 16. Drehtest
Turnhosen, anliegendes T-Shirt oder freier Oberkörper; (17. Zusätzlicher Test: »Männchen, Baum, Haus«)
barfuß oder mit Strümpfen.
4 Bezugspersonen: Eltern, Geschwister usw. sollten nach
Möglichkeit nicht im Testraum anwesend sein, da dies
wegen unvermeidbarer Interaktion die Leistung des Kin-
des beeinträchtigt. Dies gilt nicht für anwesende Fremd-
personen (Arzt, Arzthelferin o.Ä.).
4 Testatmosphäre: Sie muss entspannt und ruhig sein
und der Gefühlslage des Kindes entgegenkommen. Jede
durchgeführte Aufgabe ist unabhängig von ihrer Quali-
tät ohne Überschwang, aber uneingeschränkt zu loben.
Eine Bloßstellung des Kindes ist unbedingt zu ver-
meiden. Spürt der Untersucher, dass das Kind mit der
Durchführung einer Aufgabe zögert, weil es sie nicht
bewältigen kann, darf der Untersucher das Kind ermu-
tigen, nicht aber auf der Durchführung bestehen und
muss rechtzeitig darauf verzichten. Die Aufgabe wird
dann mit 3 Minuspunkten bewertet.
j 1. Langsitz j Punktebewertung
1 j Durchführung 0 = Oberkörper ruhig aufrecht, Arme locker herabhängend,
Das Kind sitzt mit gestreckten Beinen auf der Untersuchungs- Spielbein sagittal angehoben oder in leichter Außendre-
2 liege, die Hände liegen auf den Oberschenkeln, der Rumpf ist
aufgerichtet.
hung. Eine initiale Balencebewegung ist gestattet.
1 = Assoziierte Bewegungen der oberen Extremitäten
(Abspreizen der Arme, Drehen der Hände). Spielbein
3 j Punktebewertung adduziert, deutliche Balancebewegungen von Standbein
0 = Wirbelsäule gerade: BWS und HWS gestreckt. Physio- und Oberkörper. Initial mehrfaches Absetzen des Spiel-
4 logische kompensatorische Kyphosierung der LWS. Der
Kopf ist über dem Beckenschwerpunkt zentiert.
beins.
2 = Einbeinstand erst nach einigen Versuchen kurzzeitig
1 = BWS und LWS kyphotisch, HWS lordotisch. Beine noch möglich. Ausgeprägte assoziierte Bewegungen der oberen
5 gestreckt. Kopf zentriert oder gering nach ventral (kom- Extremitäten und der Mimik. Ausfahrende Balancebewe-
pensatorisch) oder dorsal dezentriert. gungen, haltsuchend.
2 = Totalkyphose von BWS und LWS. HWS-Hyperlordose. 3 = Vergeblicher Versuch, taumelt dabei, fällt mitunter hin.
6 Knie sind nur noch mit Mühe gestreckt. Kopf- und Ober- Oder: Aufgabe wird verweigert.
körperschwerpunkt leicht nach dorsal verlagert.
7 3 = Dezentrierung des Oberkörpers nach dorsal. Ausgeprägte j 4. Einbeinstand auf weichem Untergrund
BWS- und LWS-Kyphose sowie HWS-Hyperlordose. Die j Durchführung
Knie können nicht in Streckung gehalten werden, gele- Das Kind steht barfuß auf einem ca. 10 cm hohen, festen
8 gentlich Abkippen des Oberkörpers nach hinten. Schaumstoffkissen und führt die Aufgabe wie unter Punkt 3
durch. Auch hier wird das schlechtere Resultat bewertet, die
9 j 2. Hochklettern und Abspringen von hüfthoher Liege Seite dokumentiert. (Diese Aufgabe stellt höhere Anforde-
j Durchführung rungen an die stützmotorische Koordination als der Einbein-
Die Untersuchungsliege wird in Höhe des kindlichen Tro- stand auf festem Untergrund).
10 chanters eingestellt. Das Kind wird aufgefordert, so schnell
wie möglich mehrmals hintereinander auf die Liege hochzu- j Punktebewertung
11 steigen und herabzuspringen. 0= Wie Aufgabe 3; dazu feinschlägige Balancebewegungen
von Standbein und Spielbein statthaft.
j Punktebewertung 1= Wie Aufgabe 3; dazu Balancebewegungen deutlicher, auch
12 0 = Behendes Hochklettern auf die Liege und weiche, leichte, mit Einsatz der Arme, gelegentlich ausgleichendes Hüp-
elastische Landung beim Abspringen. Arme sind dabei in fen, auch mehrfaches Absetzen des Spielbeins.
13 lockerer Abduktion. Leichtes Touchieren des Bodens mit 2= Wie Aufgabe 3; dazu oft Abknicken im Standbeinknie,
den Händen gestattet. häufiges Absetzen des Spielbeins, Umkippen und Abstüt-
1 = Eckiges, plump wirkendes Erklettern der Liege, Landung zen mit den Händen.
14 beim Absprung hart, auch mit Abkippen nach vorne oder 3= Wie Aufgabe 3.
hinten, Abstützen am Boden. Wiederholung des Manö-
15 vers umständlich mit Umwegen und Tippelschritten. j 5. Einbeinstand mit Auffangen und Rückwurf eines
2 = Umständliches, mühsames Erklettern der Liege, Landung Schaumstoffballs
beim Abspringen hart, steif, laut, mit starren Knien. Auch j Durchführung
16 heftiges Abstützen mit den Händen und Aufprallen mit Einbeinstand auf festem Untergrund wie unter Punkt 3
den Knien. Wiederholung des Manövers umständlich, beschrieben. Der Untersucher steht etwa 1,5–2 m vom Kind
17 zögerlich, mühsam. entfernt und wirft ihm bogenförmig einen Schaumstoffball
3 = Erklettern der Liege erst nach einigen Versuchen oder mit aus beiden supinierten Händen zu. Das Kind soll den Ball
Fremdhilfe mühsam möglich. Zögern beim Abspringen, im Einbeinstand auffangen und in gleicher Weise mit beiden
18 starres Herunterplumpsen mit Sturz nach vorne aufgrund supinierten Händen zurückwerfen.
verzögerter Abstützreaktion. Oder: Übung wird verwei-
19 gert. j Punktebewertung
0 = Einbeinstand ist sicher und ruhig. Sicheres Auffangen des
j 3. Einbeinstand auf festem Untergrund Balls und beidhändiger zielgenauer Rückwurf aus supi-
20 j Durchführung nierter Haltung. Ein 8- bis 10-maliges Wiederholen des
Das Kind steht barfuß auf festem Untergrund (Boden). Es Manövers ohne Absetzen des Beins ist möglich.
soll ein Bein hochheben und ca. 10 sec ruhig stehen bleiben. 1 = Einbeinstand ist unruhig, unsicher. Der Ball wird meist an
Das Manöver wird mit dem anderen Bein wiederholt. Das der Brust aufgenommen und mit einer Hand oder beid-
schlechtere Resultat wird bewertet, die Seite dokumentiert. händig in pronierter Handhaltung zugeworfen. Nach 2 bis
4 Ballwechseln Absetzen des Spielbeins.
2 = Einbeinstand ist erst nach mehrfachem Absetzen des Spiel-
beins möglich. Der Ball wird ungezielt gegrapscht oder
8.5 · Der motokybernetische Test (MKT)
141 8
verfehlt. Rückwurf in pronierter Handhaltung, Absetzen herumtänzelt. Kein Hochwerfen, kein Auffangen. Oder:
des Spielbeins nach jedem Rückwurf. Aufgabe nicht erhaltbar oder wird verweigert.
3 = Einbeinstand ist nicht durchführbar, es ist nur kurzes
Anheben des Spielbeins möglich. Der Ball wird verfehlt. j 8. Hampelmannsprung
Ein Rückwurf zum Untersucher gelingt nicht, der Ball j Durchführung
wird mit pronierter Handhaltung ungezielt zu Boden Der Untersucher macht dem Kind die Aufgabe vor: Aus
geworfen. Oder: Aufgabe wird verweigert. geschlossenen Beinen und herabhängenden Armen erfolgt ein
Sprung mit Abspreizen der Beine und Hochheben der Arme
j 6. Einbeinhüpfen über den Kopf. Anschließend aus dieser Position Sprung mit
j Durchführung Schließen der Beine und Anlegen der Arme an den Körper.
Das Kind soll (barfuß oder in Strümpfen) mindestens 10-mal Dies soll 10-mal hintereinander durchgeführt werden. Falsch
auf der gleichen Stelle auf einem Bein hüpfen, ohne sich dabei ist eine Ausgangsposition mit geschlossenen Beinen und über
zu drehen. Hüpfen durch den Raum ist nicht verwertbar. Es dem Kopf gehobenen Armen (sog. Kleinkindmuster).
werden beide Beine geprüft, das schlechtere Resultat wird
gewertet, die Seite dokumentiert. j Punktebewertung
0 = Gleichmäßige und synchrone Bewegungen der Arme und
j Punktebewertung Beine über die gesamte Bewegungsbahn. Bewegungen
0 = Ruhiges, geschmeidiges, leichtes und punktuelles Hüpfen. von Armen und Beinen geschmeidig, locker, nicht stamp-
Oberkörper aufrecht, lockere Armbewegung. Das Bewe- fend oder klatschend. Punktuelles Hüpfen, Knie beim
gungsbild ist anmutig und wirkt unangestrengt. Aufspringen in gegrätschter Beinhaltung leicht innenro-
1 = Hastiges Hüpfen. Das Spielbein ist ab- oder adduziert, der tiert.
Oberkörper etwas vorgeneigt. Assoziierte Bewegungen 1 = Plumpe, stampfende, angestrengte Sprünge, abgesetzt,
der oberen Extremitäten und der Mimik. Kein punktu- nicht flüssig. Nach wenigen Sprüngen im korrekten Muster
elles Hüpfen, ständig wechselnder Landeplatz. Drehen stolpriger Übergang ins Kleinkindmuster. Oder: Hastige,
des Körpers um die eigene Achse. klatschende, stampfende Bewegungen, auch asynchron
2 = Kurze, angestrengte, hastige Hüpfer. Das Spielbein ist ab- mit Wechsel ins Kleinkindmuster. Kein punktuelles Hüp-
oder adduziert, das Sprungbein innenrotiert, die Ellen- fen, Anstrengungskeuchen. Beine beim gegrätschten Auf-
bogen gebeugt. Ausgeprägte assoziierte Bewegungen der kommen in Froschhaltung (Knie schauen nach außen).
oberen Extremitäten. Punktuelles Hüpfen nicht möglich. 2 = Pause nach jedem Bewegungsteil, nächste Bewegung
Nur wenige zusammenhängende Sprünge durchführbar. immer neu planend. Kein punktuelles Hüpfen. Arm- und
3 = Kein Hüpfen möglich, allenfalls kurzer Zehenstand. Oder: Beinbewegungen asynchron. Kein Einhalten des Bewe-
Aufgabe nicht durchführbar oder wird verweigert. gungsmusters. Stößt beim Springen häufig an Möbel
(Stuhl, Tisch, Liege). Bringt keine 10 Sprünge zustande.
j 7. Einbeinhüpfen mit Hochwerfen und Auffangen 3 = Kind tut so, als verstehe es nicht, worum es geht. Auch
eines Schaumstoffballs nach Vormachen wird das Muster nicht begriffen. Gele-
j Durchführung gentlich werden 1–2 missglückte Sprünge gezeigt, mit
Das Kind soll wie in Übung 6 auf einem Bein hüpfen und großen Pausen dazwischen. Oder: Aufgabe nicht erhalt-
dabei einen Schaumstoffball senkrecht hochwerfen und wie- bar oder wird verweigert.
der auffangen. Die Schwierigkeit der Übung besteht in der
Differenz zwischen Hüpf- und Wurffrequenz, verbunden mit j 9. Schersprung
Reklination des Kopfes und Fangbewegung der Arme. j Durchführung
Das Kind springt 10-mal in Schrittform auf der gleichen Stel-
j Punktebewertung le, so dass abwechselnd gleichzeitig das eine Bein nach vorne
0 = Ruhiges, geschmeidiges Hüpfen, der Blick wird zum Ball und das andere nach hinten gesetzt wird.
gerichtet. Der Ball wird 50–100 cm über Kopfhöhe senk-
recht hochgeworfen und sicher aufgefangen. Eine Fang- j Punktebewertung
korrektur bei Abweichen des Balls von der Wurflinie ist 0 = Sprungbewegung leicht, locker, mit synchroner diagona-
ohne Absetzen des Spielbeins möglich. ler Arm-Bein-Bewegung, gleichmäßig, auf der Stelle blei-
1 = Einbeinhüpfen hastig, nicht punktuell. Der Ball wird bend (punktuell).
nur bis zur Gesichtshöhe geworfen, mit starren Arm- 1 = Hastig, steifbeinig, stampfend, nach 5–7 Sprüngen Balan-
bewegungen gefangen. Ball fällt nach 1–2 Versuchen zu ce suchend, kein punktuelles Springen. Armbewegungen
Boden. flatternd, nicht diagonal.
2 = Angestrengte, hastige oder verzögerte Hüpfbewegung. 2 = Mühsam, steif, asynchron. Rumpfrotation in Richtung des
Der Ball wird nicht losgelassen oder kann nicht senkrecht vorgesetzten Beins. Schnell ermüdend, taumelnd, Balan-
hochgeworden werden. Ein Auffangen des Balls gelingt ceschwierigkeiten. Kein punktuelles Springen.
nicht. Die Wurfhöhe ist niedrig, meist unter Kopfhöhe. 3 = Begreift das Bewegungsmuster nicht. Übung nicht erhalt-
3 = Kein Einbeinhüpfen möglich. Wippbewegung in den bar oder wird verweigert.
Knien, durch die der Ball 1- bis 2-mal auf den Händen
142 Kapitel 8 · Sensomotorische Dyskybernese im Vorschul- und Schulalter
20
145 9
9.3 Klinisches Bild der IZP – 149 9.6 Manuelle Weichteiltechniken – 167
9.6.1 Pritschen – 167
9.3.1 Spastik – 149
9.6.2 Myofasziales Lösen – 167
9.3.2 Zentrale Hypotonie – 155
9.6.3 Mobilisierende Weichteiltechniken – 168
9.3.3 Anfallsleiden – 155
9.3.4 Orthopädische Komplikationen – 156
9.7 Manuelle Medizin und neuromuskuläre
9.4 Diagnostik – 157 Erkrankungen – 173
9.7.1 Neuromuskuläre Erkrankungen – 173
9.4.1 Kommunikation zwischen Arzt und Kind – 157
9.7.2 Wirkung der Manuellen Medizin bei
9.4.2 Klinische Zeichen – 158
neuromuskulären Erkrankungen – 173
9.4.3 Bewertungskriterien – 158
9.4.4 Dokumentation des spastischen
Muskeltonus – 160
9.4.5 Therapieziele – 160
18
9.2 Frühkindliche Hirnschädigung
19
Exkurs:
20 Orthopäden beschrieben als Erste
das Störungsbild
Niclas Andry (1744), der den Begriff Orthopädie prägte, be-
schreibt Gelenk- und Wirbelsäulendeformitäten, die dem Bild
der spastischen Lähmung entsprechen.
. Abb. 9.1 Manessische Handschrift. Ausschnitt aus Tafel 39, Herr
Es waren dann auch zuerst Orthopäden, die sich systema-
Hesso von Reinach: Darstellung von Blinden und Lahmen mit den da-
tisch mit diesem Krankheitsbild auseinandersetzten. Allen vor
mals üblichen Gehhilfen. Die Handhaltung der Person in der Mitte
6 deutet auf eine spastische Hemiparese hin. Bei dem Mann im Vierfüß-
lergang könnte es sich um Poliofolgen handeln
9.2 · Frühkindliche Hirnschädigung
147 9
a b
c d
e f
. Abb. 9.2 a-f Topik der pathologischen Anatomie bei IZP (halbschematisch, modifiziert nach Zülch 1982). a Schädigung bei spastischer Di-
parese, Hände kaum betroffen. b Porenzaphalie, Schädigung bei spastischer Hemiparese. c Schädigung der Basalganglien durch Kernikterus als
Ursache der reinen Athetose. d Periventrikuläre Leukomalazie (Marklagerzysten) als Folge einer pränatalen Hypoxie. Je nach Lokalisation und
Ausdehnung unterschiedliche motorische Ausfälle (spastische Di- oder Tetraparese). e Gesamtschädigung des Gehirns durch lange andauernde
Asphyxie. Schädigungsbild bei schwerer (athetoider) Tetraspastik mit hochgradiger Wahrnehmungsstörung und Epilepsie. f Hydrocephalus oc-
clusus, Liquorabflussbehinderung z.B. durch Fehlbildung, Thrombus oder Tumor
Funktionen, sondern beeinträchtigt auch die Aneignung kindlichen Schädigung der Fall ist. Dieser Unterschied ist
der noch zu erwartenden Fähigkeiten. Dies ist der Unter- für Prognose und therapeutische Zielsetzung von Bedeu-
schied zu einer Schädigung der ausgereiften Erwachsenen- tung.
gehirns, bei dem es zum Verlust bereits erworbener Fähig- Perinatale Schadensereignisse wurden früher als häufigste
keiten kommt und daher Funktionsausfälle durch Rückgriff Ursache der IZP angesehen. Seit Längerem ist aber bekannt,
auf intakte Strukturen und sensomotorische Programme dass pränatal entstandene Schädigungen mindestens ebenso
besser kompensiert werden können als dies bei einer früh- häufig sind:
148 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese
4 Aus pränatalen Ursachen entstehen besonders häu- Basisaktivität. Es kommt zur Dysregulation des Muskeltonus
1 fig spastische Tetraparesen, hypotone Lähmungsformen in unterschiedlicher Form und Ausprägung. Die Bewegungs-
und Ataxien, sei es als Folge angeborener Fehlbildungen abläufe weichen in Ausmaß und Tempo vom Normalen ab,
2 oder anoxischer Schäden.
4 Perinatale Schädigungen führen gehäuft zu spastischen
wobei die Skala von abrupten, ausfahrenden Bewegungen bis
zu spärlichen, mühsamen und zähflüssigen Abläufen reicht.
Di- und Hemiparesen, wohl auch zu Mischformen von Beeinträchtigt sind – abhängig vom Ausmaß der Hirnschä-
3 Spastik und Athetose. digung – die Graduierung von Bewegungen und die Durch-
führung selektiver, variierender und komplexer Bewegungs-
4 Auch wurde beobachtet, dass sich Perinatalschäden oft auf
pränatale Vorschäden aufpfropfen (Feldkamp und Matthiaß
formen. Die Hauptmerkmale der abnormalen Bewegungs-
muster aufgrund einer gestörten supraspinalen Kontrolle
1988), im Sinne einer Noxenkette (Kalbe 1981). Das bedeutet, sind in 7 Übersicht 9.1 zusammengefasst.
5 dass die meisten frühkindlichen Hirnschädigungen zu etwa
gleichen Teilen prä- und perinatal entstehen. Die Häufigkeit
postnatal entstandener Hirnschädigungen wird mit ca. 10% Übersicht 9.1 Hauptmerkmale abnormaler
6 angegeben, wobei vor allem infektiöse, enzephalitische und Bewegungsmuster
traumatische Ursachen in Frage kommen (. Abb. 9.2). 1. Eintönigkeit der Bewegung
7 Als Schädigungsursache wird der Hypoxie bzw. Asphy- 2. Mangel an Variation
xie die größte Bedeutung beigemessen, entstanden durch Blu- 3. Einfluss tonischer Primitivschablonen
tungen während der Gravidität, durch Sauerstoffmangel des 4. Synergistische Massenbewegungen
8 mütterlichen Blutes infolge Anämie, Herzvitium, Nephropa-
thie, Eklampsie usw. Auch Plazentainfarkte, vorzeitige Pla- Neben der sensomotorischen Pathologie und den daraus
9 zentalösung und prolongierte Geburt mit Dauerpresswe- entstehenden orthopädischen Komplikationen zeigen sehr
hen werden angeführt, ebenso arterielle Embolien und ande- viele IZP-Kinder Begleitstörungen, die in einem ursäch-
re Erkrankungen des mütterlichen Kreislaufes (Zülch 1982). lichen Zusammenhang mit der Hirnschädigung stehen: Die
10 Toxische Schäden durch Alkoholgenuss, Nikotin, Drogen deutliche Störung der Wahrnehmungsverarbeitung führt bei
usw. können im Embryonalstadium Missbildungen verursa- etwa drei Vierteln der IZP-Kinder zu Intelligenzdefiziten. Ein
11 chen, ebenso Röntgenstrahleneinwirkung und Virusinfekti- Drittel leidet an zentralen Krämpfen, etwa die Hälfte an Seh-
onen, während andere Erreger wie beispielsweise Toxoplas- störungen und Störungen der Sprachentwicklung. Bei zwei
men, Listerien und Spirochäten vorwiegend in der fetalen Dritteln der Kinder finden sich zudem Störungen der Ober-
12 Phase schädigend wirken (Flamm 1959). Genetische Ursa- flächen- und Tiefensensibilität, vegetative Störungen und
chen sind hingegen selten. Verhaltensstörungen (. Abb. 9.3).
13 Feldkamp (1996) betont die Bedeutung einer gestörten
Wahrnehmungsverarbeitung für die motorische Entwick-
9.2.1 Supraspinale Kontrolle: Ergebnis der lung. So könne sich ein 3-jähriges Kind mit der Wahrneh-
14 ZNS-Reifung mungsreife eines Halbjährigen auch nur wie ein Halbjäh-
riges bewegen. Die neurophysiologischen Hintergründe die-
15 Im frühen Stadium der neuromotorischen Entwicklung ser Feststellung wurden in 7 Kapitel 4.1 erläutert.
beherrschen primitive Bewegungsschablonen aus stammes-
geschichtlich alten Hirnteilen (Stammhirn, Pallidum) das
16 motorische Bild. Diese als General Movements bezeichne-
ten unkontrollierten Massenbewegungen werden nach und Zentrale
17 nach von phylogenetisch jüngeren Hirnteilen beherrscht und Läsion
dank der supraspinalen Kontrolle zunehmend durch selek-
tive Motorik ersetzt; gleichzeitig entwickeln sich die Automa-
18 tismen zur posturalen Kontrolle (7 Kap. 3.1–3.4).
Die supraspinale Kontrolle, auch als inhibitorische Kon-
19 trolle bezeichnet, versetzt das Kind zunehmend in die Lage,
gezielte Einzelbewegungen auszuführen, ohne dass es zu Mit- Bewegungsstörung
Anfallsleiden
bewegungen ganzer Körperregionen kommt (Kalbe 1981).
20 Sie ermöglicht eine differenzierte Tonussteuerung der Ske-
lettmuskulatur mit artspezifischer Bewegungsleistung. Der
Grundtonus der Skelettmuskulatur wird allerdings nicht nur Wahrnehmungsstörung
von zerebralen Zentren gestaltet, auch die spinalen Motoneu-
rone sind daran beteiligt. Dieser spinal gesteuerte Tonus wird
orthopädische mentale
von verschiedenen Hirnzentren moduliert und in den Dienst Komplikationen Retardierung
der Stütz- und Zielmotorik gestellt.
Schädigungen des Gehirns beeinträchtigen die supraspi- . Abb. 9.3 Schematische Darstellung der Auswirkungen einer früh-
nale Kontrolle und damit auch die Modulation der spinalen kindlichen Hirnschädigung (modifiziert nach Kalbe 1981)
9.3 · Klinisches Bild der IZP
149 9
9.3 Klinisches Bild der IZP Phänomen (Feldkamp 1996), das keineswegs von Anfang an
vorhanden ist, sondern erst zeitverzögert als sekundäre Kom-
Die nosologische Zuordnung einer IZP erfolgt gewöhnlich plikation auftritt. So können in manchen Fällen sogar 2–3 Jah-
nach zwei Kriterien, re vergehen, bis sich aus einer hypotonen Übergangsform eine
4 der Verteilung der Tonusstörung und spastische Bewegungsstörung entwickelt. Es ist daher sehr
4 der Art der Tonusstörung. fraglich, ob die einschießenden hypertonen Streckreaktionen
schwer hirngeschädigter Säuglinge schon als Spastik bezeichnet
k Verteilung der Tonusstörung werden dürfen, da es sich dabei um tonische Stammhirnreflexe
Je nach Lokalisation und Ausmaß der Schädigung sind die handelt. Kennzeichen der Spastik ist hingegen die andauernde
einzelnen Köperregionen in unterschiedlicher Weise betrof- abnorme muskuläre Tonuserhöhung mit einem Ungleichge-
fen. Die Parese der Extremitäten, das eindrucksvollste Merk- wicht von Beugern und Streckern an Rumpf und Extremitäten,
mal der IZP, ist das Leitkriterium bei der Klassifizierung der mit deutlichem Überwiegen der Beugemuskeln.
Verteilung einer Tonusstörung. Man unterscheidet drei For- Feldkamp betont, dass die Spastik kein Primärsymptom
men, die in . Tab. 9.1 erläutert werden. sei, sondern Folge der mangelhaften phylogenetisch-refl-
exhaften Bewegungsvoraussetzungen. Die pathologischen
k Art der Tonusstörung Kokontraktionen von Agonist und Antagonist seien Bestand-
Hier wird zwischen spastischen, athetoiden, hypotonen und teil der pathologischen Reflexmotorik, es handele sich um
ataktischen Formen unterschieden. Mitunter treffen bei ausgebreitete totale Haltungsschablonen.
einem Krankheitsbild mehrere Komponenten zusammen,
man spricht dann von Mischformen. Die Benennung des Stö- » Der pathologischen Tonussteigerung des Spastikers liegen
rungsbildes richtet sich nach der vorherrschenden, am stärk- Defekte in höheren motorischen Gehirnregionen zugrunde,
sten ausgeprägten Komponente. die zur Dyskoordination und Enthemmung niederer Strukturen
führen. Dabei scheint dem Gammasystem eine wesentliche Be-
deutung zuzukommen. Diese ist Grundlage für die gesteiger-
9.3.1 Spastik ten Dehnungsreaktionen des Spastikers, die sich in den patho-
logisch gesteigerten Muskeleigenreflexen und den Kloni sowie
Spastik bedeutet eine muskuläre Tonuserhöhung im Sinne in dem sogenannten Taschenmesser-Phänomen der Beine äu-
einer federnden Spannungserhöhung des Muskels, die bei «
ßern. (Feldkamp 1996)
rascher oder brüsker Dehnung schlagartig zunimmt. Die spa-
stischen Bewegungen sind eingeschränkt, mühsam, zäh und In 7 Übersicht 9.2 sind die typischen Zeichen für eine spa-
laufen in spärlichen Schablonen ab. Zülch (1982) bezeichnet stische Zerebralparese zusammengefasst. Die Ausprägung
die Spastik als »tonisch ausgewalzte Dauersynergie«. des pathologischen Reflexgeschehens hängt naturgemäß von
Allerdings ist die Spastik keine eigenständige Erkran- der Schwere der Gehirnschädigung ab.
kung, sondern Symptom einer Schädigung kortikospinaler
Strukturen (Pyramidenbahnläsion). Globale Streck-Beuge-
Schablonen und tonische Reflexaktivität, die schon im Früh- Übersicht 9.2 Typische Zeichen einer Spastik
stadium das Vollbild einer zerebralen Parse bestimmen kön- 1. Persistierende Primitivreflexe
nen, werden überwiegend aus ersatzmotorischen Stammhirn- 5 TNR (tonischer Labyrinthreflex): Bei schwerer Tet-
zentren gesteuert und sind nicht als Spastik zu deuten. Denn raparese bewirkt dieser in Rückenlage ein totales
bei der Spastik des Muskels handelt es sich um ein spinales Streckmuster (Opisthotonus), in Bauchlage ein glo-
bales Beugemuster.
5 ATNR (asymmetrisch-tonischer Nackenreflex):
. Tab. 9.1 Einteilung der spastischen Zerebralparesen Durch Kopfdrehung kommt es zu Streckung der
gesichtsseitigen Extremitäten und Hyperextension
Form Verteilung der Tonusstörung der Halswirbelsäule (7 Kap. 3.2).
5 STNR (symmetrisch-tonischer Nackenreflex): In
Tetraparese Betroffen sind Arme und Beine, meist
Abhängigkeit von der Kopfstellung (Flexion, Exten-
seitendifferent
sion) löst dieser stereotype Streck-Beuge-Reaktio-
Diparese Betroffen sind vorwiegend die Beine, die nen von Armen und Beinen aus (7 Kap. 2.3).
Arme hingegen weniger stark oder kaum. 2. Weitere klinische Zeichen
Genaugenommen handelt es sich bei der 5 Pathologische Steigerung der Muskeleigenreflexe
Diparese um eine beinbetonte Tetraparese. 5 Nicht erschöpfbare Kloni
Eine echte Diparese oder Diplegie ist Folge 5 Positive Pyramidenzeichen
einer spinalen Läsion (z.B. thorakales oder
5 Positive phasische und tonische Streckreaktio-
lumbales Querschnittssyndrom)
nen (können schon frühzeitig eine zerebrale Bewe-
Hemiparese Parese einer Körperseite, wobei Arme und gungsstörung ankündigen, lange bevor sich eine
Beine unterschiedlich stark betroffen sein Spastik entwickelt, 7 Kap. 3.6)
können
150 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese
Tetraparese
6 Bei Kindern, die das Vollbild einer Tetraparese zeigen, sind
Störungen der Kopfkontrolle und pathologische Reflexakti-
7 vitäten meist so ausgeprägt, dass die Fähigkeit zur selbststän-
digen Fortbewegung nicht erreicht wird.
Abhängig vom Schweregrad unterscheiden Ferrari et al.
8 (1998) die in 7 Übersicht 9.3 aufgelisteten Formen der Tetra-
parese.
9
Übersicht 9.3 Formen der Tetraparese
10 . Abb. 9.4 7-jähriger Junge mit akinetischer Tetraparese. Tonisch fi-
1. Akinetische Tetraparese
xierter ATNR, beidseitige Hüftluxation, Spitzfüße, zentrales Krampflei-
2. Tetraparese mit horizontaler Antigravität den (BNS), Nystagmus
11 3.
4.
Tetraparese mit subkortikalen Automatismen
Tetraparese mit vertikaler Antigravität
5. »Geschickte« Tetraparese de und Semiflexion des adduzierten Beins. Mitunter sind
12 Schreitbewegungen der Beine möglich, die Greiffunktion der
Hände ist erheblich beeinträchtigt oder fehlt, Manipulationen
13 k 1. Akinetische Tetraparese (. Abb. 9.4) sind nicht möglich. Im Sitzen zeigt sich das typische Beuge-
Schwerste Form der Tetraparese mit völlig fehlender Kopf- muster von Kopf, Rumpf und Extremitäten. Mundmotorische
und Rumpfkontrolle. Die Kinder sind meist in einem Störungen kommen ebenfalls vor, auch zentrale Krämpfe.
14 tonischen Beugemuster fixiert, zeigen keine Stützreakti- Eine Sprachentwicklung fehlt.
onen, keine Fortbewegungsmuster. Sie entwickeln schwere
15 Wirbelsäulendeformitäten (Kyphoskoliose), Beckenverwrin- k 3. Tetraparese mit subkortikalen Automatismen
gung mit »Windschlagdeformität« und ein- oder beidseitiger (. Abb. 9.5)
Hüftluxation, schwere Fußdeformitäten in Valgopronati- Mit dorsaler Unterstützung unter den Achseln können die
16 on, seltener in Varosupination, und Deformitäten der Hand- Kinder dieser tetraparetischen Form einige reziproke, meist
und Fingergelenke mit fehlender Greiffunktion. Regelmä- überschießende Schrittbewegungen durchführen: Die Bei-
17 ßig besteht eine Störung der Mundmotorik mit Hypersaliva- ne sind dabei flektiert, adduziert und innenrotiert, die Füße
tion und fehlendem Spracherwerb, fehlendem Kauvermögen meist in Spitzfuß-Valgus-Stellung. Die Fortbewegung am
und Schluckstörungen, desgleichen Störungen der Augen- Boden gelingt gelegentlich mit dem »Häschenhüpfen«. Im
18 motorik wie Strabismus, Nystagmus usw. Und in vielen Fäl- Sitzen kann der TLR überwunden werden, der Kopf wird
len besteht als besonders gravierende Komplikation ein zen- gehalten und kann Blickwendungen durchführen. Die Greif-
19 trales Krampfleiden. funktion der Hände ist als Hammer- oder Schlüsselgriff vor-
handen, Manipulationen sind in begrenztem Maße möglich.
k 2. Tetraparese mit horizontaler Antigravität Sprachentwicklung und kognitive Leistungsfähigkeit sind
20 Mit Antigravität ist hier die Schwerkraftbewältigung gemeint. spärlich, mundmotorische Störungen und zentrale Anfalls-
Diese Kinder sind imstande, aus Bauchlage den Kopf zu rekli- leiden seltener.
nieren und anzuheben. Diese Leistung entspricht der eines
gesunden Säuglings von etwa 6–8 Wochen. Der Unterarm- k 4. Tetraparese mit vertikaler Antigravität
stütz wird jedoch nicht erreicht; die Arme liegen mit pro- In Bauchlage wird der Kopf aus dem Unterarmstütz angeho-
nierten Unterarmen und Semiflexion der Ellenbogen seitlich ben, im Sitzen dominiert das Beugemuster mit Totalkyphose
am Körper an. In Rückenlage dominiert der tonische Laby- des Rumpfes und ausreichender Kopfkontrolle. Greifen und
rinthreflex (TLR) mit Reklination des Kopfes und geöffnetem Manipulieren sind im Sitzen möglich, die Hand kann voll-
Mund, »Henkelhaltung« der Arme, Volarflexion der Hän- ständig geöffnet werden.
9.3 · Klinisches Bild der IZP
151 9
. Abb. 9.5 9-jähriger Junge mit spastischer Tetraparese. In Rücken- . Abb. 9.6 7-jähriger Junge mit sog. geschickter rechtsbetonter Te-
lage »Windschlaghaltung« der Beine, Hüftgelenke intakt. Mit Unter- traparese. Es besteht ein deutlicher, teilkontrakter Pes equino-varus-
stützung unter den Achseln sind einige ausfahrende, überkreuzende adductus rechts mit mäßiger Coxa antetorta und beidseits zentrier-
Schreitbewegungen möglich. Im NF-Walker kann sich der Junge ohne ten Hüftgelenken, ferner eine mäßige Muskelatrophie des rechten Un-
Fremdunterstützung über eine kleine Strecke fortbewegen terschenkels (hier durch das vorschwingende linke Bein perspekti-
visch verstärkt). Der Junge war mit 5½ Jahren noch nicht in der Lage,
sich selbstständig zum Stand aufzurichten. Unter regelmäßiger ma-
nualmedizinischer Behandlung erlernte er das freie Gehen innerhalb
von 11 Monaten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
. Abb. 9.7 6-jähriges Mädchen mit spastischer Diparese. Befriedi- . Abb. 9.8 12-jähriges Mädchen mit spastischer Diparese. Fortbe-
13 gende Entwicklung der Handmotorik (das Kind hat gelernt zu schrei- wegung im Hockergang mit Kniereiben. Pes valgo-planus-abductus
ben). Typische X-Bein-Haltung mit Adduktion und Innenrotation der beidseits. Gehhilfen für den stabilen Stand sind unentbehrlich
14 Oberschenkel. Spitzfußstellung links, rechts wird ein plantigrader Auf-
tritt erreicht. Gehen mit Vier-Punkte-Stützen möglich, leichter Hocker-
gang
15
k 1. Propulsive Form k 4. Der Verwegene
16 Mit und ohne Beanspruchung orthopädischer Armstützen. Diese Diplegiker erreichen frühzeitig ein freies Gangbild und
Kennzeichnend ist die Vorneige des Oberkörpers mit vor- laufen vorwiegend auf den Fußspitzen. Sie verfügen über gute
17 gestreckten Armen und die leichte Neigung des Kopfes beim Stützreaktionen.
Gehen.
Tipp
18 k 2. Enger-Rock-Gang
Wird in Italien zweifellos besser verstanden als hierzulan- Im Gegensatz zu tetraparetischen Kindern zeigen Dipa-
19 de, wo man schlicht vom Kniereiben oder Kreuzgang spricht. retiker eine ausreichend bis gute Bildungsfähigkeit.
Gehhilfen, sofern notwendig, dienen eher der Raumori-
entierung als der Abstützung, da sie kaum belastet werden Die Bezeichnungen Ferraris für die einzelnen Formen der
20 (. Abb. 9.8). Tetra- und Diparese mögen etwas künstlich wirken, ihre
Beschreibung ist jedoch treffend. Die Einteilung in verschie-
k 3. Seiltänzer dene Schweregrade hat dabei vor allem prognostische Bedeu-
Damit sind jene Patienten gemeint, die mit Gehhilfen beson- tung und kann bei der Planung operativer Eingriffe eine Rol-
ders schnell laufen können, sich beim Gehen nur selten auf le spielen. Wesentliche Unterschiede in den Grundsätzen der
die Stöcke stützen und sie vorwiegend zum Stehen benut- konservativen therapeutischen Vorgehensweise, speziell der
zen. manualmedizinischen, ergeben sich daraus nicht.
9.3 · Klinisches Bild der IZP
153 9
Hemiparese Nach Ansicht Ferraris ist bei der pränatalen Form der Arm
Hemiparetische Kinder erreichen immer das freie Gehen und meist weniger betroffen als das Bein, im Gegensatz zur peri-
sind in der Regel normal bildungsfähig. Das klinische Bild natalen Form. Auch seien die Kinder meist geschickter beim
kann sich bei leichten Fällen im Frühstadium verstecken. Ver- Manipulieren und sicherer beim Gehen und Laufen als bei
dächtig, aber nicht pathognomonisch ist im Säuglingsalter die der perinatalen Form, die nach seiner Ansicht häufig mit Epi-
motorische Vernachlässigung eines Arms und des gleichsei- lepsie, Unaufmerksamkeit und Dyspraxie kombiniert sind.
tigen Beins. Die Diagnose lässt sich vor Gehbeginn, der meist Die hypoxisch oder traumatisch entstandene postnatale oder
verzögert ist, aus dem pathologischen Reflexverhalten stellen, erworbene Form ähnelt nach seiner Darstellung mehr der
wobei die phasischen und tonischen Streckreaktionen offen- Hemiplegie eines Erwachsenen als der pränatalen Form.
bar am empfindlichsten sind. Ein weiteres Frühzeichen ist die . Tabelle 9.2 gibt nochmals eine zusammenfassende Cha-
Tonusveränderung des M. gastrocnemius der betroffenen Sei- rakterisierung der spastischen Tonuserhöhungen.
te: Palpatorisch imponiert der Muskelbauch etwas verkürzt, er
fühlt sich im Vergleich zur gesunden Seite ledern an, die Dor- k Ersatzmotorik
salextension im oberen Sprunggelenk des paretischen Beins Bei den beschriebenen spastischen Bewegungsstörungen
ist im Seitenvergleich eingeschränkt. Bei Gehbeginn zeigt das handelt es sich immer um eine sog. Ersatzmotorik, die sich
Kind ein typisches Gangbild mit Schrittverkürzung auf der nach der Zerstörung der Pyramidenbahn bildet. Es müssen
gestörten Seite und fehlendem oder verzögertem Fersenkon- also Leitungsbahnen vorhanden sein, die aus einem anderen,
takt. Die Händigkeit entwickelt sich frühzeitig zur gesunden archaischen motorischen Apparat stammen, der jetzt für die
Seite bei eindeutiger Vernachlässigung der betroffenen Sei- zielmotorischen Bewegungen als Ersatz zur Verfügung gestellt
te. Nach Feldkamp (1996) ist bei der spastischen Hemipare- wird. Man nimmt an, dass diese Bewegungen von phylogene-
se der Arm der gestörten Seite oft stärker betroffen als das tisch älteren, subkortikal-spinal gelegenen Systemen inner-
gleichseitige Bein. Der Arm zeigt ein Beugemuster von Ellen- viert werden (Thom 1982).
bogen und Handgelenk, der Daumen ist gebeugt und addu- Typisch für Ersatzmuster sind bei Ausfall der Pyrami-
ziert, die Finger sind flektiert oder zeigen eine schwanenhal- denbahnen die Massensynergien, die z.B. beim Hemipareti-
sähnliche Stellung, mitunter auch Pfötchenstellung oder eine
Reptilhaltung (. Abb. 9.9). Die Streckung im Hüftgelenk der
betroffenen Seite ist eingeschränkt. Häufig besteht ein Spitz-
. Tab. 9.2 Charakterisierung der spastischen Tonuserhö-
fuß in Kombination mit einer Klumphaltung oder Knickfuß- hungen
stellung. Das Längenwachstum der betroffenen Extremitäten
bleibt geringfügig hinter dem der Gegenseite zurück. Gele- Ausprägung Erscheinungsbild
gentlich kann die Hemispastik mit einer athetoiden Kompo- der Spastik
nente kombiniert sein, die sich besonders an der Arm- und
Spastische 5 Muskulärer Hypertonus
Handhaltung zeigt.
Tetraparese 5 Bewegungsarmut
Ferrari unterscheidet drei Formen der Hemiparese, 5 Globale Beuge-Streck-Muster
zusammengefasst in 7 Übersicht 9.5. 5 Schlechte Kopf-Rumpf-Kontrolle
5 Meist gehunfähig
Übersicht 9.5 Formen der Hemiparese Spastische 5 Distal betonter Hypertonus (Arme nur
5 Angeborene Form Diparese leicht betroffen, für Gehhilfen zuverläs-
5 Perinatale Form sig einsetzbar)
5 Postnatale oder erworbene Form 5 Beuge-Adduktions-Innenrotations-Stel-
lung der Hüften, Knieflexion
5 Oft Equino-valgus-Stellung der Füße
oder Spitzfußläufer
5 Patienten kommen fast immer irgend-
wann zum Gehen
ker auch willkürlich eingesetzt werden können. Diese Syner- k 1. Dystone Athetose
1 gien laufen immer global nach dem Alles-oder-Nichts-Gesetz Die grotesken, asymmetrisch ablaufenden Bewegungen die-
ab. Das bedeutet, die einzelnen Segmente der Bewegungsket- ser Form gehen einher mit einer Kokontraktion von Ago-
2 te sind von Anfang an synergistisch gekoppelt:
4 Die Beugung der betroffenen Hüfte führt gleichzeitig zu
nisten und Antagonisten. Trotz der schweren Fehlhaltung
und abnormen Bewegungen von Kopf und Rumpf kommen
einer Kniebeugung und zu einer mäßigen Dorsalextensi- die Kinder motorisch relativ zurecht, erreichen vielfach sogar
3 on des Fußes bei gleichzeitiger Supination. den freien Gang und sind zu erstaunlichen intellektuellen
4 Typisch beim Faustschluss sind die gleichzeitige Dorsa- und schöpferischen Leistungen fähig.
4 lextension im pronierten Handgelenk, die Beugung im
Ellenbogen und die Abduktion des Oberarms. k 2. Choreoathetose
4 Bei passiver Volarflexion im Handgelenk kommt es zu Eine Athetose ist häufig kombiniert mit einer choreatischen
5 Adduktion des Oberarms, Senken der Schulter und Stre- Dyskinesie: Diese Form ist gekennzeichnet durch unwillkür-
ckung in den Fingergelenken. liche, rasche, kurz andauernde und hyperkinetische Muskel-
6 kontraktionen mit charakteristischer Beteiligung der Zun-
Tipp genmuskulatur. Diese als Choreoathetose bezeichnete Misch-
form ist durch bizarre, kaum zu imitierende und vorwiegend
7 Eine Öffnung der Hand ist beim hemiparetischen und peripher ablaufende Bewegungen gekennzeichnet. Die Pati-
tetraparetischen Kind vielfach nur mittels einer passiv enten kommen oft nicht zur vollen Körperaufrichtung, die
durchgeführten Volarflexion im Handgelenk zu errei- Fortbewegung erfolgt dann im Häschensprung oder durch
8 chen. Abstoßen aus der Rückenlage.
9 k 3. Spannungsathetose
Athetose Eine häufige Ausprägungsform wird als Spannungsathetose
Der Begriff Athetose bezeichnet eine Dyskinesie mit der bezeichnet, sie ist gleichzeitig auch die schwerste. Die Bewe-
10 Unfähigkeit, eine feste, stabile Stellung einzunehmen (abge- gung wird vorwiegend von tonischen Reflexautomatismen
leitet von griech. áthetos, ohne geregelte Stellung). Es handelt beherrscht, die Kopf- und Rumpfkontrolle ist entsprechend
11 sich um den Ausdruck einer Störung des extrapyramidalmo- schlecht. Die Kinder zeigen häufig einen Wechsel von starker
torischen Systems (EPMS). Streckstarre und vollständigem Haltungsverlust.
Das klinische Bild der Athetose ist gekennzeichnet durch Reine Athetosen ohne spastische oder ataktische Kompo-
12 wilde Haltungsstörungen, übersteigerte Ausdrucksbewe- nenten sind sehr selten geworden. Sie entwickelten sich frü-
gungen und ausgeprägte assoziierte Bewegungen bei Will- her als Folge einer isolierten Schädigung der Basalganglien
13 kürmotorik. Manche Formen zeigen langsame, wurmför- (Kernikterus) bei Rhesusinkompatibilität. Athetosen treten
mige Muskelkontraktionen, die sich wellenartig von Muskel gewöhnlich als Mischformen auf, bevorzugt mit spastischer
zu Muskel ausbreiten. Die Athetose tritt immer als tetrapa- Komponente. Da in den meisten Fällen die Spastik dominiert,
14 retische Form auf, wobei die Störung der Kopf- und Rumpf- spricht man von athetoider (Tetra-)Spastik, die eine beson-
kontrolle besonders eindrucksvoll ist. Beim Hantieren kommt ders ungünstige Form darstellt (. Abb. 9.10).
15 es zu ausfahrenden, schlecht gezielten Bewegungen der Hän-
de und Verzögerung des gezielten Loslassens von Gegen- k Extrapyramidale Bahnen vs. Pyramidenbahnen
ständen. Die dyskinetischen Bewegungsabläufe sind nicht zu Die Zentralen des extrapyramidalmotorischen Systems
16 unterdrücken, die mimischen Ausdrucksbewegungen mit- (EPMS) sind die Stammganglien: Nucleus caudatus und
unter bis zum Grotesken gesteigert. Die Intelligenz ist meist Putamen, die zusammen das Corpus striatum bilden; fer-
17 wenig oder gar nicht beeinträchtigt. Auch führt die Atheto- ner das Pallidum, der Nucleus subthalamicus und die Sub-
se in ihrer reinen Form selten zu Kontrakturen der Gelenke. stantia nigra. Die Strukturen und Faserzüge dieses Systems
Typisch ist eine deutliche Steigerung der Eigenreflexe; bei der gehören nicht zu den Pyramidenbahnen, mischen aber über-
18 reinen Athetose fehlen die Pyramidenzeichen. all mit, da sie Verbindungen zu fast allen Strukturen des ZNS
In 7 Übersicht 9.6 sind die Formen der athetotischen aufnehmen. Kortikospinales und extrapyramidalmotorisches
19 Dyskinesie dargestellt. System sind morphologisch und funktionell eng miteinander
verknüpft. Beide benutzen den Regelkreis des Rückenmarks
als gemeinsame Endstrecke (Forssmann und Heym 1985).
20 Übersicht 9.6 Formen der athetotischen Trotz der engen Verknüpfung erfüllen beide Systeme
Dyskinesie unterschiedliche Aufgaben:
1. Dystone Athetose 4 Die Pyramidenbahnen enden überwiegend an
2. Choreoathetose α-Motoneuronen und leiten motorische Impulse, die
3. Spannungsathetose kortikal bewusst intendiert sind, zur kontralateralen
Muskulatur. Das kortikospinale System (Pyramiden-
bahnsystem) dient somit der willkürlichen oder korti-
kalen Motorik, kurz der Zielmotorik.
9.3 · Klinisches Bild der IZP
155 9
Rahmen einer IZP nicht als eigenständiges Krankheitsbild
auf, sondern als Begleitsymptome, meist in tetraparetischer
Form. Sie sind Hinweise auf eine zusätzliche Kleinhirnschä-
digung.
Degenerative Veränderungen oder Missbildungen des
Kleinhirns zeigen ihre eigene klinische Symptomatik und
werden gewöhnlich nicht als infantile Zerebralparese klas-
sifiziert. Dazu gehören z.B. die autosomal-rezessiv vererbte
Friedreich-Ataxie und das Joubert-Boltshauser-Syndrom,
charakterisiert durch eine Hypoplasie oder Aplasie des Ver-
mis cerebelli.
1
2
3
4
5
6
7
8
9 a b
10 . Abb. 9.11 a, b Schädel-MRT eines 6 Wochen alten Mädchens. Angeborene Porenzephalie linkshemisphäral unter Einbeziehung der Stamm-
ganglien: Das Kind entwickelte im weiteren Verlauf eine rechtsbetonte Tetraspastik mit mundmotorischer Störung und ausgeprägter Störung
der Hör- und Sehfähigkeit sowie medikamentös schwer einstellbare zentrale Krämpfe. Ferner besteht ein Diabetes mellitus
11
12 9.3.4 Orthopädische Komplikationen > Wichtig
Eine Luxation der Hüften kündigt sich an, wenn die Hüft-
13 Die pathologische muskuläre Tonusveränderung bei IZP vor gelenke bei flektierten Knien weniger als 45° abspreiz-
allem in ihrer spastischen Form führt je nach Ausprägung bar sind und eine Torsion des Beckens vorliegt. Die
der Schädigung zu verschiedenen orthopädischen Kompli- Hauptübeltäter bei Entstehen der Hüftluxation sind die
14 kationen. Hinzu kommt, dass Skelettreifung und Knochen- ischiokruralen Muskeln, deren Tonussteigerung in erster
wachstum von der zerebralen Läsion nicht direkt betroffen Linie verantwortlich ist für die Adduktionshaltung des
15 sind und ein Missverhältnis zwischen dem skelettären Län- Beins, während die eingelenkigen Adduktoren erst se-
genwachstum und der Anpassungsfähigkeit der spastisch kundär verkürzen.
beherrschten fibromuskulären Strukturen besteht. Typische Dies ist sowohl für die konservative Behandlung als auch
16 Veränderungen sind: für die operative Planung von Wichtigkeit.
4 Fehlstellungen der Extremitäten mit
17 4 Kontrakturen der Gelenke, k Prognose
4 Hüftgelenksluxation und Noch vor 50 Jahren war die Lebenserwartung von IZP-Kin-
4 Wirbelsäulenskoliose. dern wegen der hohen Anfälligkeit für bakterielle und virale
18 Infekte, Ernährungsstörungen und der unzureichenden
Die Luxation eines oder beider Hüftgelenke stellt dabei die Behandlungsmöglichkeiten zentraler Anfälle deutlich gemin-
19 schwerste Komplikation dar, da sie immer mit einer Torsi- dert. Das hat sich inzwischen durch verbesserte Behandlungs-
on und Rotation des Beckens verbunden ist und zwangsläu- möglichkeiten wesentlich geändert.
fig zu einer skoliotischen Deformität der Wirbelsäule führt Grundsätzlich hängt die Prognose einer IZP von der
20 (. Abb. 9.12, 9.13). Die Tatsache, dass ein gehfähiges IZP- Schwere der Hirnschädigung und eventueller Begleiterkran-
Kind viel seltener eine Skoliose und eine Hüftluxation ent- kungen ab wie Epilepsie, Missbildungen, Seh- oder Hörschä-
wickelt als ein nicht gehfähiges Kind, erklärt sich nicht aus den und nicht zuletzt von der Qualität der Behandlung.
der Gewichtsübernahme, wie vielfach angenommen, sondern Vieles spricht dafür, dass der frühzeitige Behandlungs-
einfach aus der Ausprägung der zerebralen Bewegungsstö- beginn einen entscheidenden Anteil an der Prognose der
rung. Hüftluxationen treten deswegen überwiegend bei tetra- zerebralen Bewegungsstörung hat. Während die neurophy-
paretischen Kindern auf. siologischen krankengymnastischen Methoden nach Bobath
und Vojta schon seit Langem in der Frühbehandlung einge-
setzt werden, sind die Möglichkeiten einer frühzeitig einset-
9.4 · Diagnostik
157 9
Die Art und Weise, wie der Arzt mit einem zerebralpare-
tischen Kind Kontakt aufnimmt, entscheidet darüber, ob
eine vertrauensvolle Grundlage für eine erfolgreiche manu-
elle Behandlung geschaffen wird. Es ist ein verbreiteter Irr-
tum anzunehmen, ein schwerbehindertes Kind sei nicht in
der Lage, zu begreifen, was mit seiner Person zu tun hat und
was in seiner Umgebung vorgeht. Eine solche Einschätzung
. Abb. 9.13 Dasselbe Kind wie in Abb. 9.12. Hüftgelenksdysplasie verleitet dazu, das Kind als nicht kommunikationsfähiges
beidseits. Hüftluxation links, Subluxation rechts Therapieobjekt zu betrachten und über seinen Kopf hin-
weg die diagnostischen und therapeutischen Vorgehenswei-
sen stellvertretend den Eltern zu erklären. Das Kind aber ist
zenden manualmedizinischen Therapie noch nicht hinrei- die Hauptperson, und es sollte daher eine Selbstverständlich-
chend genutzt. keit sein, dass sich der Arzt bei der ersten Begegnung dem
Kind vorstellt und ihm mit einfachen Worten jeden Untersu-
chungs- und Behandlungsschritt erläutert. Schwerbehinderte
9.4 Diagnostik Kinder kommunizieren nonverbal mit Mimik und besonders
mit ihrer ausdrucksvollen Augensprache. Authentische Dol-
Mit modernen bildgebenden Verfahren wie Sonographie, metscherinnen sind die Mütter.
MRT und CT lässt sich die Morphologie frühkindlicher Hirn- Jüngere Kinder, die mit vorausgegangenen Thera-
schädigungen in vielen Fällen bereits frühzeitig erfassen. pieformen negative Erfahrungen gemacht haben, reagieren
Die organpathologischen Veränderungen korrelie- beim ersten Kontakt nicht selten mit heftiger Abwehr und
ren aber nicht immer mit Schwere und Ausprägung der kli- mit Schreien. Man lasse sich dadurch nicht beirren. Das Kind
nischen Symptomatik (. Abb. 9.14), weswegen die körper- wird bald feststellen, dass die manualmedizinische Behand-
liche Untersuchung eines bewegungsgestörten Kindes an lung keine Schmerzen bereitet und ihm auch keine eigenen
ersten Stelle steht. Anstrengungen abverlangt.
158 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese
19
9.4.3 Bewertungskriterien
20
Jenseits des Säuglingsalters, mitunter auch schon gegen Ende
des 1. Lebensjahres, wird die Form der zerebralen Bewegungs-
störung als Spastik, Athetose, Mischform usw. erkennbar. Zur
Einschätzung der Prognose und zur Bestimmung des Thera-
pieziels sind neben Form und Verteilung der Lähmung wei- . Abb. 9.15 Sieben Monate alter Säugling, Frühmanifestation einer
tere Beurteilungskriterien erforderlich, die in 7 Übersicht 9.8 schweren frühkindlichen Hirnschädigung. Opisthotonus, Strecktonus
skizziert werden. der unteren Extremitäten, Faustschluss, Volarflexion der rechten Hand
9.4 · Diagnostik
159 9
k 3. Drehen (seitliches Überrollen) den. Bei der Beurteilung des Gangbilds ist die Stellung der
Das aktive Drehen vom Rücken auf den Bauch ist eine Lei- Extremitäten, des Rumpfes, die Kopfhaltung und die Form
stung, die der Säugling mit 6 Monaten beherrscht; mit der Fortbewegung zu bewerten: spastisch, ataktisch, dyskine-
8 Monaten kann er sich vom Bauch auf den Rücken dre- tisch usw. Ebenso ist die Qualität der Stützreaktionen bei
hen. Bei der spastischen Tetraparese ist diese Fähigkeit meist plötzlichen Hindernissen von Bedeutung.
in hohem Maße beeinträchtigt oder nicht vorhanden. Beur-
teilt wird, ob beim passiven Drehen eine Rotationsbewegung > Wichtig
des Oberkörpers gegenüber dem Becken im dorsolumbalen Hat ein zerebralparetisches Kind das selbständige Gehen
Übergang erfolgt, oder ob die Bewegung in einem starren, bis zum 8. Lebensjahr nicht gelernt, ist für den weite-
globalen Muster abläuft, das pflegerisch erhebliche Schwie- ren Verlauf mit dieser motorischen Leistung nicht mehr
rigkeiten bereiten kann. zu rechnen.
Ist das Kind imstande, sich aktiv vom Rücken auf den
Bauch oder umgekehrt vom Bauch auf den Rücken zu drehen, k 9. Greifen
wird beurteilt, wie das Kind die Bewegung ausführt: Spielt es Hand- und Fingerstellung werden beurteilt und dokumen-
sich im physiologischen Muster ab (. Abb. 4.18), was nur in tiert.
leichten Fällen zu erwarten ist, oder werden Ersatzstrategien 4 Ist die Hand geöffnet oder gefaustet?
eingesetzt? Auch für die Qualität des aktiven Überrollens ist 4 Ist der Daumen unter den Langfingern eingeklemmt
die Beweglichkeit im dorsolumbalen Übergang von Wichtig- (Schlupfdaumen)?
keit. 4 Ist ein Greifen möglich?
4 Wie erfolgt der Greifvorgang: als Hammergriff, Zangen-
k 4. Hochziehen zum Sitz griff, Schlüsselgriff oder Pinzettengriff?
4 Kann sich das Kind selbstständig hinsetzen?
4 Erfolgt die Aufrichtung zum Sitz aus Rücken- oder Sei- k 10. Sehen und Hören
tenlage? 4 Reagiert das Kind auf Ansprache und auf seine Umge-
4 Wie sind Kopfkontrolle und Haltung der Beine? bung?
4 Wie werden Arme und Hände beim Hochziehen zum 4 Wie ist die Kontaktaufnahme?
Sitz eingesetzt? 4 Reagiert es auf optische Reize?
4 Wird eine Seite bevorzugt? 4 Kann das Kind fixieren?
4 Besteht ein Strabismus, ein Nystagmus?
k 5. Sitzen
4 Kann das Kind frei und ohne Abstützen sitzen und dabei k 11. Orthopädischer Befund
die Hände gebrauchen, oder muss es gestützt bzw. in der Lokalisation und Ausprägung orthopädischer Komplikati-
Sitzschale fixiert werden? onen werden bestimmt von der Schwere der Hirnschädigung
4 Wie sind Kopfkontrolle und Stellung von Rumpf und sowie von Art und Verteilung der Tonusstörung. Zu doku-
Extremitäten? mentieren sind:
4 Ist eine freie Kopfbewegung möglich? 4 Gelenkkontrakturen an den Extremitäten,
4 Beinachsenfehlstellungen,
k 6. Hochziehen zum Stand 4 neurogene Hand- oder Fußdeformitäten,
4 Ist das Kind in der Lage, sich selbstständig aufzurichten? 4 Muskel- oder Sehnenverkürzungen,
4 Muss es sich dabei an Gegenständen abstützen? 4 Hüftsubluxation oder -luxation,
4 Erfolgt die Aufrichtung über den Kniestand, aus dem 4 Beckenfehlstellungen,
Bärenstand oder über das STNR-Muster? 4 Wirbelsäulendeformitäten: Skoliose oder Kyphose,
4 viskoelastische Veränderungen an Muskel- und Fas-
k 7. Stehen zienstrukturen (sind aufgrund der spastisch erhöhten
4 Ist das Kind stehfähig? Wenn ja, kann es frei und ohne Kokontraktion von Agonisten und Antagonisten regel-
Unterstützung stehen oder muss es sich abstützen? mäßig vorhanden).
Benötigt es ein Hilfsmittel?
4 Wie sind Haltung und Stellung der Extremitäten, Kopf- k 12. Neurologische Untersuchung
kontrolle und Abstützmuster? Sie umfasst die Prüfung von
4 Eigen- und Fremdreflexen,
k 8. Gehfähigkeit 4 phasischen und tonischen Streckreaktionen,
Bei gehfähigen IZP-Kindern ist zu unterscheiden, ob sie sich 4 Fußklonus und
ohne Hilfsmittel frei fortbewegen können oder auf Hilfsmit- 4 Pyramidenzeichen (7 Kap. 3.6).
tel wie Unterarmgehstöcke, Vier-Punkt-Gehstöcke, Rolla-
tor oder vergleichbare Gehhilfen angewiesen sind. Ein Kind,
das von einer Hilfsperson am Rumpf gehalten Schreitbewe-
gungen vollführt, jedoch außerstande ist, sich mit Hilfsmit-
teln fortzubewegen, kann nicht als gehfähig betrachtet wer-
160 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese
Tipp
1
Die Palpation des Atlasquerfortsatzes sowie die Prüfung
der Irritations- und okzipitalen Signalpunkte muss vor-
2 sichtig erfolgen, um eine Abwehrhaltung und damit
eine unerwünschte muskuläre Tonuserhöhung zu ver-
3 meiden.
4
9.5.2 Manipulationstechniken an der HWS
5
Bei der manuellen segmentalen Diagnostik ist die sog. Irrita-
tionspunktdiagnostik den anderen Verfahren überlegen, weil
6 sie weitgehend unabhängig von der Kooperation des Kindes
durchgeführt werden kann. Vor allem bei tetraparetischen
7 Kindern mit der pathologischen muskulären Tonusgestaltung
und eingeschränkten Kooperationsfähigkeit lässt sich die
klassische segmentale Bewegungsprüfung nicht zuverlässig
8 durchführen. Aus dem gleichen Grund sind die chirothera-
peutischen Griffansätze dem Krankheitsbild anzupassen und
9 kindgerecht zu modifizieren. Die bei IZP-Kindern weit ver-
breitete Abneigung gegen die Bauchlage erfordert Behand-
lungstechniken, die aus Rücken- oder Seitlage oder auch im
10 Sitzen durchgeführt werden. . Abb. 9.16 12-jähriger Junge mit spastischer Tetraparese. Hand-
Zur Behandlung des zervikookzipitalen Übergangs (C0/ position bei der Atlastherapie am sitzenden Kind
11 C1) am liegenden Kind kann die Recoil-Technik eingesetzt
werden, wie sie in 7 Kapitel 7.2 beim Säugling beschrieben ist.
12 Recoil-Technik C0/C1 (. Abb. 9.17)
j Diagnostik
13 4 Palpatorische Untersuchung des zervikookzipitalen
Übergangs auf nozireaktive Veränderungen,
4 eingeschrängte Nutationsbewegung im Atlantookzipi-
14 talgelenk,
4 positiver C0-Signalpunkt am oberen Ende der Incisura
15 mastoidea (. Abb. 8.3 a),
4 Induration an den okzipitalen Ansätzen der autochtho-
nen Muskeln.
16
j Technik
17 Der Therapeut modelliert das Zeigefingergrundglied der a
einen Hand zwischen Okziputunterrand und Dornfortsatz C2
mit gutem Tiefenkontakt an. Die andere Hand übt von der
18 Stirn her einen beherzt zunehmenden senkrechten Druck
in Richtung seiner unter dem Okziput liegenden Hand aus
19 (. Abb. 9.17 a) und lässt nach 2–3 sec die obere Hand von der
Stirn wegschnellen (. Abb. 9.17 b). Diese Rückschnelltechnik
ist risikolos und wird vom Kind gut toleriert.
20
Vertikalimpuls über C0/C1 (. Abb. 9.18)
j Diagnostik
Wie bei der Recoil-Technik C0/C1.
j Technik
Der Vertikalimpuls über das obere Kopfgelenk C0/C1 erfolgt b
über den Okziputunterrand in Höhe der Mastoidanlage mit
der radialen Kante der Zeigefingergrundphalanx. Über den . Abb. 9.17 a, b Recoil-Technik C0/C1
9.5 · Manualmedizinische Behandlung: Impulstechniken
163 9
. Abb. 9.18 Vertikalimpuls über C0/C1 . Abb. 9.19 Rotationsmanipulation der HWS am sitzenden Kind
Ellenbogenhang wird eine sachte Traktion des Kopfes durch- renden Hand modelliert sich fest in den hinteren Rotations-
geführt, der therapeutische Vertikalimpuls erfolgt über die quadranten des blockierten Segments ein, nimmt Tiefenkon-
radiale Seite der Zeigefingergrundphalanx durch eine ultra- takt und eine rotatorische Vorspannung in die freie Richtung
kurze, supinatorische Bewegung der Hand. Die Hand bewegt auf, die langsam und sachte zu erfolgen hat. Der Kopf ist zur
sich dabei nicht nach kranial. Der Ellenbogenhang muss sanft rotationsempfindlichen Seite leicht flektiert und zur Gegen-
und »liebkosend« angelegt werden. Ein zu rasches Vorgehen seite leicht rotiert. Es erfolgt ein Probezug in typischer Weise,
führt zu einer Abwehrhaltung mit schlagartiger Tonussteige- bei dem auf Abwehrreaktionen oder muskuläre Spannungs-
rung der Muskulatur. Dem Kind muss Zeit gegeben werden, erhöhung vonseiten des Patienten geachtet wird. Bleiben die-
sich in den haltenden Arm des Therapeuten einzuschmiegen. se Reaktionen aus, wird aus gutem Tiefenkontakt und sachter
Es wird ein Probezug durchgeführt und die Reaktion des Kin- Vorspannung der kurze und trockene manipulative Impuls
des beobachtet. ausgeführt. Um die rotatorische Vorspannung zu halten, wird
mit »Blickfang« gearbeitet: Eine Hilfsperson lenkt den Blick
Tipp des Patienten durch Ansprache oder einen optischen Reiz in
die Richtung der rotatorischen Vorspannung.
Das gleiche Vorgehen gilt für die Manipulation der HWS
im Sitzen, wenn die Manipulation am liegenden Kind
Schwierigkeiten bereitet. 9.5.3 Manipulationstechniken an der BWS
Tipp
. Abb. 9.22 Mobilisierende Positionierung des dorsolumbalen . Abb. 9.23 Segmentale Manipulation im dorsolumbalen Über-
Übergangs gang
166 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese
9 j Technik
Das Kind liegt auf der Seite, das ventralisierungsempfind-
liche S1 liegt oben, Kopfteil der Behandlungsliege hochge-
10 stellt. Das oben liegende Bein des Kindes wird in Hüft- und
Kniegelenk gebeugt und ohne Rotationsvorspannung an den
11 Oberschenkeln des Therapeuten angelegt und dort fixiert. Die
fußnahe Hand des Therapeuten modelliert sich mit dem The-
nar in Höhe S3 der oben liegenden Sakrumseite an, die kopf-
12 nahe Hand fixiert den Oberkörper des Kindes an der Schul- . Abb. 9.25 Recoil-Technik am ISG aus Rückenlage
13 j Technik
Aufsuchen des Lig. sacrotuberale, Prüfen von Strammung
und Lockerung im Seitenvergleich. Der Therapeut legt beide
14 b Daumen auf das Lig. sacrotuberale der Strammungsseite und
hält aus Tiefenkontakt eine divergierende Spannung, bis sich
15 . Abb. 9.27 a, b Myofasziales Lösen der Membrana interossea cru-
ris (Medizinwelten)
die Strammung löst.
Tipp
16
Der Griff ist zu Beginn meist schmerzhaft. Die Stram-
17 mung des Bandes löst sich gewöhnlich nach 30–60 sec,
gleichzeitig geht der Schmerz zurück.
18
19 9.6.3 Mobilisierende Weichteiltechniken
. Abb. 9.29 MFL des Lig. sacrotuberale . Abb. 9.31 Wechselrhythmische Druckmassage plantar
Wechselrhythmische Druckmassage (WDM) und palmaren Propriozeptoren wird zusätzlich eine Steige-
(. Abb. 9.31–9.35) rung der Vigilanz erreicht.
An den Extremitäten entwickelt der Faszien-Muskel-Ver-
bund als Folge des pathologischen Muskeltonus und feh- j Technik
lender physiologischer Bewegungsmuster eine leder- Das Kind liegt in Rückenlage, das Bein außenrotiert. Mit den
ne Konsistenz; es kommt zur Verfilzung der Muskellogen, Daumenkuppen wird ein schrittweiser, wechselseitiger Druck
Intermuskularsepten und der Plantarfaszie, oft auch der auf die Fußsohlenweichteile ausgeübt, auf die mediale, medi-
Palmaraponeurose. Diese Veränderungen der viskoelas- ane und laterale Fläche, beginnend an den Zehen in Richtung
tischen Gewebeeigenschaften sind Wegbereiter der gefürch- der Ferse (. Abb. 9.31).
teten Gelenkkontrakturen, denen mit wechselrhythmischer Die Behandlung der intermuskulären Septen und der
Druckmassage und reziproker Detonisierung begegnet Gliederfaszie des Unterschenkels wird ebenfalls aus der
werden kann. Rückenlage durchgeführt (. Abb. 9.32), die Behandlung der
Die wechselrhythmische Druckmassage ist eine einfache medialen Partien des Unterschenkels erfolgt in Außendre-
Technik und besteht in einem aszendierenden, schrittwei- hung des Beins und leichter Beugung in Hüft- und Kniege-
sen Wechseldruck auf das Fasziengewebe der Fußsohle und lenk.
die Fazienlogen der Extremitäten. Das Prinzip wird anhand Gleiches Vorgehen auf der Dorsalseite des Oberschen-
einiger Beispiele dargestellt (. Abb. 9.31–9.33). Bewirkt wird kels (sofern entsprechende Lagerung möglich) zwischen
mit dieser Technik eine Lockerung und Entfilzung der fibro- medialer und lateraler Portion der Ischiokruralmuskulatur
muskulären Strukturen; durch die Stimulation der plantaren sowie zwischen M. biceps femoris und M. vastus lateralis. Die
170 Kapitel 9 · Die infantile Zerebralparese
2 Exkurs:
Herkömmliche Dehntechniken sind
bei einer IZP nicht geeignet
3 Die in der Sport- und Rehabilitationsmedizin übliche Behand-
lung verkürzter Muskeln besteht im passiven Aufdehnen des
Muskels, vielfach nach vorausgegangener isometrischer Mus-
4 kelkontraktion im Sinne der postisometrischen Relaxation
(PIR). Dieses Prinzip ist bei zerebraler Spastik allerdings nicht
5 anwendbar, da der Spastiker eine isoliert gesteuerte isometri-
sche Muskelkontraktion ohne begleitende Bewegungsassozia-
tion nicht zustande bringt. Deswegen beschränkt man sich bei
. Abb. 9.33 WDM an der Medialseite des Oberschenkels zwischen
6 Vastus medialis und Adduktoren (Membrana vastoadductoria)
der krankengymnastischen Behandlung von IZP-Kindern ge-
wöhnlich auf das einfache passive Aufdehnen des spastisch
verkürzten Muskels.
7 Bei kritischer Prüfung lässt sich allerdings nicht überse-
hen, dass die mit dieser herkömmlichen Technik erzielten Er-
gebnisse nicht überzeugend, vor allem nicht anhaltend sind.
8 Ein Grund mag darin zu suchen sein, dass Behandlungsfor-
men, die bei neurologisch gesunden Patienten eingesetzt wer-
9 den, nicht ohne Weiteres auf spastische Zerebralparesen über-
tragen werden können. Selbstverständlich wird auch ein spas-
tischer Muskel bei sanfter, langsam durchgeführter Dehnung
10 bis zu einem gewissen Grad nachgeben und ein Spitzfuß oder
eine Flexionsfehlstellung an Knie bzw. Ellenbogen zum Teil
ausgeglichen werden können. Die Viskoelastizität des Muskel-
11 Faszien-Verbundes profitiert davon allerdings nicht, auch nicht
bei regelmäßiger Wiederholung der Behandlung.
12
Unter physiologischen Umständen ist die Dehnung der adä-
13 quate sensorische Reiz für den anulospiralen Rezeptor der
Muskelspindel. Dieser Dehnreiz führt stets zu einer Kontrak-
tion des Muskels und ist ein entscheidender Automatismus
14 zur Schwerkraftbewältigung. Die reafferente zielmotorische
. Abb. 9.34 Behandlung der Palmaraponeurose
und reflektorische Steuerung der Muskelkontraktion erfolgt
15 auf spinaler und supraspinaler Ebene über den Servomecha-
nismus der α-γ-Koppelung. In allen Sehnen sind Golgi-Seh-
WDM zwischen M. rectus femoris und M. vastus intermedi- nenorgane als Kraftmesser angesiedelt, die über die Verarbei-
16 us kann schmerzhaft sein und muss daher entsprechend sach- tung der Muskelspannung hemmend auf die Agonisten und
te erfolgen (. Abb. 9.33). erregend auf die Antagonisten wirken (Illert 1995, Rüdel 1995)
17 und somit an der Steuerung der Schwerkraftbewältigung
j Alternativtechnik beteiligt sind.
Lässt sich die WDM wegen eines starren Faustschlusses mit Bei der zerebralen Spastik allerdings besteht über die
18 dorsalextendiertem Handgelenk nicht durchführen, kann gesteigerte spinale Reflexaktivität eine Depolarisierung
folgende Technik eingesetzt werden: des Ruhepotenzials der Motoneurone mit einer massiven
19 Der Therapeut führt das Handgelenk des Kindes in die Verstärkung des Muskeldehnreflexes (Illert 1995). Wird nun
Volarflexion, wodurch sich die Faust öffnet. Er fasst die Lang- ein spastischer Muskels noch passiv gedehnt (z.B. durch
finger und biegt sie sachte dorsalwärts. Mit dem Daumen Streckung eines gebeugten Gelenks), kommt es durch die
20 der anderen Hand erfolgt ein volares Ausstreichen aller fünf damit verbundene weitere Dehnung der Spindelrezeptoren
Handstrahlen, beginnend an der Handwurzel und endend an zu einer zusätzlichen Spannungserhöhung des Muskels. Die
der Finger- bzw. Daumenkuppe, die dabei soweit wie möglich, Hemmung aus den Sehnenorganen verhindert zwar ein
aber ohne Gewalt, dorsalextendiert wird (. Abb. 9.34, 9.35 a). Überschießen der Kontraktion und damit die Gefahr einer
Anschließend werden die kurzen Handmuskeln zwischen Gewebeläsion, reicht aber nicht zur Detonisierung des Mus-
Daumen und Zeigefinger des Therapeuten durch sacht rei- kels aus. Bei sehr langsam ausgeführter Bewegung lässt sich
bende Bewegungen stimuliert (. Abb. 9.35 b, c). ein spastisch gebeugtes Gelenk zwar mitunter strecken, aber
meist nur bis zu dem Punkt, an dem der tonische Wider-
stand bei weiterer Streckung zunimmt. Eine Minderung der
9.6 · Manuelle Weichteiltechniken
171 9
Muskelspannung und anhaltende Verbesserung der pas- Ruhepotenzial von 7,5 mV zeigten eine Aktivitätsminde-
siven Gelenkbeweglichkeit lässt sich auf diese Weise nicht rung durch reziproke Detonisierung auf Werte zwischen 2,0–
erreichen. 2,5 mV (Coenen 2002).
Die Situation ändert sich, wenn selektiv die Sehne
gespannt, der Muskel jedoch manuell entspannt wird und k Behandlungstechnik (. Abb. 9.36)
keine passive Änderung der Gelenkstellung erfolgt. Es hat Die Sehne des zu behandelnden Muskels wird an ihren beiden
sich gezeigt, dass sich bei dieser Technik das Gelenk aktiv aus Enden palpiert, d.h. an der Insertionsstelle und am Übergang
seiner Fehlstellung bewegt, offenbar über die Aktivierung des in die Muskelstruktur. Das Insertionsende z.B. der Achilles-
Antagonisten bei gleichzeitiger Entspannung des Agonisten. oder Semimembranosussehne wird sanft zwischen Mittel-
Mit dieser reziproken neuromuskulären Steuerung wird die und Ringfingerkuppen gehalten, das Ende am muskulären
Spannung des Muskels gemindert, er wird detonisiert. Elek- Übergang ebenfalls sanft auf die volaren Mittel- und Ringfin-
tromyographische Ableitungen von Summenpotenzialen aus gerflächen der anderen Hand »aufgeladen« (. Abb. 9.36 a, b).
dem M. gastrocnemius bei spastischer Diparese mit einem Je nach Lokalisation können auch beide Daumenkuppen ange-
legt werden (. Abb. 9.36 c). Das Gelenk steht in entspannter
Stellung, ohne passive Vordehnung der ansetzenden Musku-
. Abb. 9.35 a-c latur! Nun erfolgt ein äußerst sachter Zug über die Mittel-
a Dehnung der Palma-
raponeurose. b, c Sti-
mulation der kurzen
Handmuskeln
b
b
und Ringfinger beider Hände im Sinne eines Anspannens der > Wichtig
1 Sehne. Dabei schiebt die proximale Hand den Muskel ganz Eine regelmäßige, möglichst täglich durchgeführte re-
leicht zusammen, »entspannt« also die Muskelspindeln, wäh- ziproke Detonisierung kann bereits nach relativ kurzer
2 rend die Sehne ganz zart gespannt wird. Nach etwa 20–30 sec
lässt die muskuläre Spannung nach, das Gelenk bewegt sich
Zeit zu einer deutlichen Verbesserung der passiven Ge-
lenkbeweglichkeit führen, verbunden mit einer verbes-
ohne passiven Nachdruck in die Korrekturrichtung. serten Viskoelastizität des Muskel-Faszien-Verbundes.
3 Die Deutung dieses reproduzierbaren Effektes ist hypo- 5 Weiche Kontrakturen lassen sich effektiver behan-
thetisch. Die Golgi-Sehnenorgane haben eine hohe Emp- deln als mit der herkömmlichen Dehntechnik oder
4 findlichkeit: Ein Sehnenrezeptor kann durch die Kontraktion
einer einzelnen motorischen Einheit aktiviert werden (Illert
auch mit dem myofaszialen Lösen.
5 Sog. harte, fixierte Kontrakturen, die eine Operati-
1995). Die pathologische Tonuserhöhung des spastischen onsindikation darstellen, sind mit dieser Methode
5 Muskels ist daher immer auch mit einer Aktivierung von nicht zu beeinflussen.
Golgi-Sehnenorganen verbunden, deren Reizschwelle analog
zum spastischen Tonus erniedrigt ist. Vermutlich sind aber k Elternanleitung
6 auch weitere Mechanosensoren an der Entstehung des Thera- Die Eltern von Kindern mit spastischer IZP können zu die-
pieeffektes beteiligt (7 Kap. 7.3, Myofasziale Lösetechniken). ser Behandlungstechnik angeleitet werden, um sie selbstän-
7 dig am Kind durchzuführen. Entscheidend für den Erfolg ist,
Tipp dass die Behandlung täglich erfolgt, nach Möglichkeit mehr-
mals. Der Zeitaufwand pro Muskel liegt bei 1–1½ Minuten!
8 Die reziproke Detonisierung gelingt nur, wenn sie mit Voraussetzung einer wirksamen Behandlung ist ein entspan-
geringster Kraft durchgeführt wird. Jeder Versuch, den ntes Kind, das möglichst nicht redet oder zappelt und nicht
9 Vorgang durch Vermehrung der Spannung zu beschleu- abgelenkt wird.
nigen, ist zum Scheitern verurteilt. Auf der Sehne darf
nicht mehr Spannung lasten, als würde man ein Stück k Fehlerquellen
10 Bindfaden an beiden Enden halten und so straffen, dass Das Behandlungsprinzip ist im Grunde einfach, auch die
dieser gerade eben nicht durchhängt. Durchführung. Gelingt die Behandlung nicht, so liegt das
11 wahrscheinlich nicht an der Methode, sondern am Thera-
Es wäre zu untersuchen, ob interstitielle Mechanosensoren, peuten!
Ruffini-Sensoren oder andere Sensoren dabei eine Rolle spie-
12 len, und in welcher Weise die niedrige Reizschwelle der Gol- > Wichtig
gi-Sehnenorgane an diesem reflektorischen Geschehen betei- Die häufigsten Ursachen für eine fehlende Wirkung
13 ligt ist. Eine Deutung könnte sein, dass bei der pathologischen sind:
Vorspannung der Sehne nur noch ein geringer Zugreiz aus- 5 Zu starker Zug an der Sehne, zu fester Kontakt mit
reicht, um die Hemmung des Muskels auszulösen. dem Gewebe,
14 5 falsche Griffanlage,
k Anwendungsgebiete 5 unruhiges oder abgelenktes Kind,
15 Geeignet ist die reziproke Detonisierung vor allem für 5 fehlende Geduld des Behandlers (!),
schmalbasig inserierende Muskeln. 5 falsche Indikation (harte Kontraktur, knöcherne De-
4 Gastroknemius bzw. Trizeps surae, formität).
16 4 Peroneus longus und brevis,
4 Tibialis anterior und posterior, k Zusammenfassung
17 4 Ischiokruralen (allen voran der Semimembranosus), Fazit
4 Rektus femoris, Langjährige Erfahrungen mit dieser Behandlungsform haben
4 Bizeps brachii, gezeigt, dass bei regelmäßiger Durchführung durch Eltern und
18 4 Brachialis und Therapeuten Gelenkkontrakturen vermieden und vorhandene
4 Karpalextensoren. gemildert bzw. verbessert werden können. Die Behandlung ist
19 effektiv, wenig zeitaufwendig und schmerzfrei. Bei unsachge-
Tipp mäßer Anwendung ist sie zwar wirkungslos, eine Schädigung
ist jedoch nicht zu befürchten.
20 Langsehnige Muskeln sind therapeutisch leichter
zugänglich als kurzsehnige oder tief liegende Muskeln.
Die folgenden Beispiele geben eine Übersicht über häufig im 10.1.1 Nacken- und Rückenschmerzen
Kindesalter auftretende Krankheitsbilder, die manualmedizi-
nisch behandelt werden können, sofern es sich um eine rein Bis zum Wachstumsabschluss erlebt das Kind einen gesetz-
funktionelle Störung handelt. Es versteht sich von selbst, dass mäßig ablaufenden Gestaltwandel im Wechsel von Füllepe-
in jedem Fall zuvor organische, entzündliche und tumoröse rioden und Streckphasen. Dieser Reifungsprozess des Bewe-
Prozesse als auslösende Ursache ausgeschlossen werden müs- gungssystems mit den sich stetig ändernden Größen- und
sen. Belastungsverhältnissen erfordert eine ständige funktionelle
Abstimmung zwischen Muskulatur, Bindegewebe, Gelenk-
verbindungen und Skelettstrukturen, wodurch das System
10.1 Muskuloskelettale Schmerzen in besonderer Weise störanfällig wird. Nacken- und Rücken-
schmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind daher keine
In 7 Übersicht 10.1 sind Krankheitsbilder zusammengefasst, Seltenheit. Ob sie allerdings an Häufigkeit zunehmen, wie in
die mit muskuloskelettale Schmerzen einhergehen. der Laienpresse immer wieder berichtet wird, lässt sich nicht
feststellen, da valide Daten und entsprechende Vergleichsstu-
dien fehlen. Auch die Angaben zur Prävalenz von Rücken-
Übersicht 10.1 Muskuloskelettale Schmerzen schmerzen bei Kindern sind uneinheitlich und schwanken
5 Segmentale Blockierungen der WS mit Nacken- und zwischen 7,8% und 51,2% (Balague et al. 1992, Ebrall 1994,
Rückenschmerzen Sponseller 1994, Toussier 1994, Friederich u. Hefti 1996).
5 Brachialgie bei Blockierung der unteren HWS, der Zu den häufigsten Ursachen von Rückenschmerzen im
1. Rippe oder oberen BWS Wachstumsalter zählen die reversiblen segmentalen Blockie-
5 Gonalgie: reflektorisch bei Blockierung der mittleren rungen der Wirbelsäule. Sie können spontan im zeitlichen
LWS und Beckentorsion mit peripatellärem Schmerz- Zusammenhang mit Wachstumsschüben auftreten, auch nach
syndrom, tibiofibularer Blockierung usw. sportlicher Betätigung, körperlicher Belastung und banalen
5 Koxalgie: ISG- Blockierung bei Beckenfehlstatik, symp- Traumen. Oft ist jedoch kein auslösender Faktor zu ermitteln.
tomatische ISG-Blockierung bei Coxitis fugax, Morbus Die Schmerzen sind gewöhnlich stellungs- und belastungs-
Perthes, Hüftdysplasie abhängig, z.B. beim Sitzen, Stehen oder Bücken. Sie min-
5 Funktionelle Kopfschmerzen bei Dysfunktion der Kopf- dern sich oft bei normaler körperlicher Bewegung und klin-
gelenke gen unter Bettruhe gewöhnlich ab. Nächtliche Beschwerden
5 Schulkopfschmerz als Blockierungsfolge sind aber nicht ausgeschlossen. Nach
5 Komplementär bei kindlicher Migräne Wolff (1979, 1996) handelt es sich bei dieser Art von Rücken-
5 Akuter Tortikollis (Kontraindikation: Grisel-Syndrom) schmerzen um einen nozizeptiven Rezeptorenschmerz.
176 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern
j Abdecktest (Cover-Test)
10.1.4 Kopfschmerzen Ein weiterer aufschlussreicher Test ist die orientierende
Untersuchung der Blickachsen bzw. der Augenmuskelfunk-
Hinter dem Symptom Kopfschmerz können sich im Kindes- tion mit dem Abdecktest (Cover-Test), der in 7 Kapitel 8.2.5.1
alter unterschiedliche Erkrankungen verbergen. Auszuschlie- beschrieben ist. Besteht ein latentes Schielen und ist darin die
ßen sind stets raumfordernde und entzündliche Prozesse, Ursache der Kopfgelenksblockierung zu vermuten, muss eine
Gefäßaffektionen und intrakranielle Blutungen, Störung der augenfachärztliche Untersuchung folgen. Ist hingegen die
Liquorzirkulation, Intoxikation und Traumafolge, ebenso Kopfgelenksblockierung für die Heterophorie verantwort-
eine ophthalmologische und vasomotorische Genese. lich, ist zu erwarten, dass sich der Augenbefund unter der
Segmentale Dysfunktionen der oberen Halswirbel- manualmedizinischen Behandlung bessert.
säule zählen zu den häufigsten Ursachen kindlicher Kopf-
schmerzen, wobei die Entstehungsweise dieser Störung im Radiologische Besonderheiten
Einzelfall kaum zu ermitteln ist. Meistens treten die Beschwer- Aus den Standardröntgenaufnahmen der Halswirbelsäule
den im Laufe des Tages auf und bessern sich oft unter Bewe- lässt sich in aller Regel die Ursache der Kopfschmerzen nicht
gung und nach Bettruhe. Das Schmerzmuster ist nicht ein- ableiten. In der seitlichen Funktionsaufnahme, angefertigt in
heitlich. Überwiegend werden die Schmerzen im Hinterkopf Flexion des zervikookzipitalen Übergangs, zeigt sich allen-
lokalisiert oder als Halbseitenkopfschmerz beschrieben, viel- falls als Ausdruck der Kyphosierungsblockierung ein Fehlen
fach mit Ausstrahlung in die Augen. Schreiben und Lesen der physiologischen anteflektierten Atlaskippung (7 Kap. 4.3,
kann die Symptomatik verstärken oder hervorrufen, weswe- Die Kopfgelenke).
gen gerne vom Schulkopfschmerz gesprochen wird. Aller- Andere Befunde bei dieser Funktionsaufnahme können
dings ist das Beschwerdebild durchaus auch im Vorschulal- im Kindesalter diagnostische Schwierigkeiten bereiten und
ter anzutreffen. mitunter pathologische Veränderungen vortäuschen: Ein
kraniales Klaffen des atlantodentalen Gelenkspaltes im Sinne
Manualmedizinische Untersuchung einer V-förmigen Erweiterung (. Abb. 10.1) lässt an eine
j Palpation Läsion des Lig. transversum denken, vor allem bei vorausge-
Bei der manuellen Untersuchung der Kopfgelenke findet gangenem Trauma.
man regelmäßig eine segmentale Dysfunktion vom Kypho-
sierungsmuster: Es besteht eine palpable Nozireaktion in der k V-förmiger atlantodentaler Gelenkspalt
tiefen autochthonen Muskulatur, die bei Vorneige des Kopfes Bohrer, Klein und Martin (1985) fanden in einem Kollektiv von
zunimmt, ebenso der Palpationsschmerz. Gleiches geschieht 300 Patienten mit akutem HWS-Trauma 26 Fälle mit V-för-
bei Seitflexion in Richtung der Blockierungsbarriere bzw. migem atlantodentalem Gelenkspalt. Bei diesen Patienten
der Nozireaktion. Die Extension der Halswirbelsäule durch betrug der Abstand zwischen Dens und vorderem Atlasbogen
Rückneigen des Kopfes mindert die Nozireaktion oder lässt in Flexion 4 mm und weniger, in 6 Fällen wurde ein Abstand
sie verschwinden; für die Seitneige in die Gegenrichtung der von bis zu 7 mm gefunden. Es handelte sich bei diesen 6 Pati-
Blockierung gilt dasselbe. enten um Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 18 Jahren.
Sie wurden nach der Erstuntersuchung über ein Jahr lang kli-
j Einbeinstand nisch beobachtet und zeigten keine Auffälligkeiten. Als Nor-
Als weiteres klinisches Zeichen ist der Einbeinstand auf der malwerte geben die Autoren eine atlantodentale Gelenkspalt-
Seite der Nozireaktion in der Regel unsicherer als auf der weite in Flexion von 3 mm für Erwachsene und 5 mm für
Gegenseite. Die Prüfung des Einbeinstandes erfolgt zunächst Kinder an. Diese Differenz wird mit der Lockerheit des kind-
mit offenen Augen. Besteht dabei keine Seitendifferenz, wird lichen Lig. transversum und der unvollständigen Ossifikation
der Test mit geschlossenen Augen durchgeführt, gegebenen- des Knochenknorpelkomplexes begründet. Bohrer et al. wei-
falls als zusätzliche Schwierigkeit mit Drehung des Kopfes. sen darauf hin, dass viele Autoren, die Normalwerte für den
atlantodentalen Gelenkspalt anführen, nicht den Messpunkt
j Isometrischer Beinabduktionstest an der Rückseite des vorderen Atlasbogens angeben und ver-
Auch die von Magnus (1924) beschriebene Tonusverteilung muten, dass sie ihre Messungen von dessen unterer Begren-
der Körpermuskulatur in Abhängigkeit von der Kopfstellung zung aus durchführen. Andere Autoren, die vom Mittelpunkt
wird diagnostisch beim isometrischen Beinabduktionsstest der Hinterseite des vorderen Atlasbogens messen, finden bei
genutzt: Rotiert eine auf dem Rücken liegende Person den Kindern mehr unterschiedliche Werte als bei Messungen vom
Kopf zu einer Seite, so wird sie bei intakten Kopfgelenken eine unteren Punkt aus.
isometrische Abduktion des gestreckten gleichseitigen Beins Nicht selten findet sich ein V-förmiger atlantodentaler
durchführen können. Wird der Kopf zur Gegenseite rotiert, Gelenkspalt bei Kindern aufgrund einer Abschrägung der
ist eine isometrische Abduktion dieses Beins nicht möglich Vorderseite des Dens, der eine mehr konische Form aufweist
oder erheblich abgeschwächt. Tritt diese Schwächung bereits (. Abb. 10.1). In solchen Fällen ist der Messwert für den atlan-
178 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern
1
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7
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9 . Abb. 10.1 Seitliche Flexionsaufnahme der oberen HWS bei 9-jäh- . Abb. 10.2 Seitliche Aufnahme der HWS in Nutation des Kopf-
rigem Kind mit Kopfschmerzen. V-förmiger atlantodentaler Gelenk- es bei 6-jährigem Kind. Pseudosubluxation des Axis gegenüber C3.
10 spalt, konische Densform. Keine neurologischen Symptome, kein
Trauma
Die Dornfortsatz-Kortikalisstruktur C2 liegt auf der Verbindungslinie
von C1 und C3 (Schwischuk-Linie)
11
todentalen Gelenkspalt normal, wenn er vom unteren Punkt
12 gemessen wird und fällt entsprechend größer aus, wenn er
von der Mitte oder dem Oberrand des Atlasbogens bestimmt
13 wird. Die meisten der von Bohrer et al. (1985) angeführten
Patienten mit V-förmigem atlantodentalem Gelenkspalt,
Erwachsene wie Kinder, wiesen eine solche Abschrägung
14 des Dens auf. Bei keinem dieser Patienten bestanden signi-
fikante akute Symptome oder andere radiologische Normab-
15 weichungen, weswegen die Autoren nicht traumatische, ent-
wicklungsbedingte Gründe als Ursache des V-förmigen atlan-
todentalen Gelenkspalts annehmen.
16 Nach eigenen Erfahrungen ist dieses radiologische Phä-
nomen auch bei Kindern zu beobachten, die eine Blockie-
17 rung der oberen HWS ohne Traumaanamnese aufweisen
und auch neurologisch unauffällig sind. Ob vor einer manu-
ellen Behandlung eine weiterführende bildgebende Diagnos-
18 tik erfolgen soll, muss von Fall zu Fall entschieden werden.
Bei vorausgegangenem HWS-Trauma ist eine solche Unter-
19 suchung allerdings ratsam.
Manualmedizinische Behandlung
Die Indikation zu einer manuellen Behandlung ist mit sehr
großer Vorsicht zu stellen. Eine chirotherapeutische Mani- . Abb. 10.5 Das a.-p.-Röntgenbild des zervikookzipitalen Über-
pulation ist nur dann erlaubt, wenn eindeutig eine aktiv und gangs des in Abb. 10.4 dargestellten Kindes zeigt neben der Linksnei-
passiv freie Bewegungsrichtung ermittelt werden kann (was ge des Kopfes eine Linkslateralposition des Atlas sowie eine Gefügelo-
in solchen Fällen selten der Fall sein wird), ferner wenn das ckerung des rechten Atlantookzipitalgelenks bei deutlicher Rotations-
Röntgenbild unauffällig ist, die Entzündungsparameter nega- stellung des Axis. Eine Luxation liegt nicht vor
tiv sind und anamnestisch kein Nasen-Rachen-Infekt oder
ein HNO-ärztlicher Eingriff vorausging.
! Ist der Schiefhals schmerzbedingt völlig fixiert, verbie- ist gestattet. Unter Gabe von Analgetika und mit ruhigstel-
tet sich eine Manipulation, da ein Grisel-Syndrom (s.u.) lendem Halsverband klingen die Schmerzen in aller Regel
anzunehmen ist! nach 3–4 Tagen ab (. Abb. 10.4, 10.5). Besteht die schmerz-
hafte Fixierung der Halswirbelsäule länger, ist eine weiter-
Ein Versuch mit sanften myofaszialen Weichteiltechniken führende bildgebende Diagnostik zum Ausschluss einer
und entspannender Positionierung zur Schmerzminderung atlantoaxialen Subluxation oder Luxation angezeigt.
180 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern
10.1.7 Grisel-Syndrom
1
Entzündungen im Nasen-Rachen-Raum oder vorausgegan-
2 gene HNO-ärztliche Eingriffe gelten als Ursache des vom
französischen Arzt P. Grisel beschriebenen akuten bzw. par-
oxysmalen Schiefhalses, synonym auch als Torticollis atlan-
3 toepistrophealis bezeichnet. Auslöser soll eine auf lympha-
tischem Weg fortgeleitete Entzündung der atlantoaxialen
4 Gelenkstrukturen sein mit Lockerung des Kapsel-Band-
Apparates und daraus entstehender atlantoaxialer Rotations-
subluxation. Hefti (1998) weist darauf hin, dass im Bereich des
5 atlantoaxialen Gelenks ein System von lymphovenösen Ana-
stomosen in den epiduralen Sinus existiert, das für die Drai-
6 nage von septischen Exsudaten bei peripharyngealen Ent-
zündungen verantwortlich sei. Letztlich ist die Entstehung
des Grisel-Syndroms jedoch noch nicht vollständig geklärt,
7 da es auch ohne Begleitinfekte oder chirurgische Anamnese . Abb. 10.6 6,4-jähriges Mädchen mit Grisel-Syndrom und seit
6 Wochen bestehendem Schiefhals. Das a.-p.-Röntgenbild des zer-
auftreten kann.
vikookzipitalen Übergangs zeigt eine Ventralluxation des Atlas über
Typisch ist die klinische Symptomatik:
8 4 der hochgradig schmerzhaft fixierte Schiefhals, der eine
die linksseitige Axischulter. Manualtherapeutisches Vorgehen ist abso-
lut kontraindiziert!
passive Beweglichkeitsprüfung oft unmöglich macht,
9 4 ein extremer Muskelhartspann und
4 evtl. vergrößerte Halslymphknoten. des linken Iliums sowie Upslip links. Neurologische Ausfälle sind
1
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4
5
6
. Abb. 10.8 Sturz auf den Hinterkopf. Durch den Aufprall und die
dadurch imduzierte Anteflexion des Kopfes wirken sowohl sagittal
7 gerichtete Scherkräfte als auch longitudinale Traktionskräfte auf die
Strukturen des atlantookzipitalen Übergangs ein. Gleiches gilt bei
seitlichem oder frontalem Aufprall entsprechend der Impulsrichtung
8
9 10.2.2 Zervikozephales Syndrom im
Kindesalter
10 . Abb. 10.9 Fehlende Kippung des Atlas in Nickstellung des Kopf-
Als Folge einer Stauchung, Distorsion oder Beschleunigungs- es nach Akzelerationstrauma der HWS bei 10-jährigem Mädchen als
verletzung der kindlichen Halswirbelsäule kann sich ein zer- Hinweis auf eine mögliche strukturelle oder funktionelle Kopfgelenks-
11 vikozephales Syndrom entwickeln, bei dem Kopfschmerzen, läsion
Nackenschmerzen, Schwindel und Konzentrationsstörung
im Vordergrund stehen. Verschiedene weitere Symptome
12 können in unterschiedlicher Intensität und Kombination auf- mentale Funktionsstörungen finden mit den typischen Merk-
treten: malen des gestörten Gelenkspiels, Irritationspunkten, myofas-
13 4 Kopfschmerzen, zialen Veränderungen usw. (7 Kap. 5.1, Neurophysiologisches
4 Nackenschmerzen, Denkmodell). Am häufigsten sind nach solchen Traumen die
4 Schwindel, Kopfgelenke betroffen (Saternus 1997), deren Bedeutung für
14 4 Leistungsabfall, Körperkontrolle und Gleichgewicht bereits ausführlich dar-
4 Konzentrationsstörung, gelegt wurde (7 Kap. 4.3, Die Kopfgelenke).
15 4 Übelkeit, Als röntgenologisches Korrelat einer Kopfgelenksblo-
4 Ohrgeräusche, ckierung zeigt sich häufig eine fehlende Kippung (Antefle-
4 Sehstörung, xion) des 1. Halswirbelkörpers zum Okziput (. Abb. 10.9).
16 4 Schlafstörung,
4 Alpträume, Manualmedizinische Untersuchung
17 4 Gangstörung, Die bei einem HWS-Beschleunigungstrauma durch Heckkol-
4 Stimmungsschwankungen (Weinerlichkeit, Reizbarkeit). lision erzwungene massive Reklination des Kopfes bewirkt
ferner eine Distraktion
18 Sind bei dieser Klinik mit bildgebenden Verfahren keine knö- 4 der Kiefer- und Mundbodenmusulatur,
chernen oder ligamentären Verletzungen nachweisbar, wird 4 der ventralen Halsmuskeln und
19 eine traumatisch bedingte Instabilität ausgeschlossen und ist 4 der Mm. sternocleidomastoidei
auch die neurologische Untersuchung ohne organisch fass- mit pathologischer Veränderung der myofaszialen Viskoelas-
baren Befund, dann wird die Symptomatik eines zervikoze- tizität. Diese Strukturen sind daher zu untersuchen und ent-
20 phalen Syndroms schon im Kindesalter gerne als Psychore- sprechend zu behandeln (Erdmann 1973, Henning 1997).
aktion auf das erlittene Trauma gedeutet und eine Psycho-
therapie eingeleitet, in die bei mangelndem therapeutischem j Inspektion/Palpation
Fortschritt mitunter die ganze Familie einbezogen wird. Diese Bei der Untersuchung eines Kindes mit zervikozephalem
Umwege lassen sich vermeiden, wenn die Halswirbelsäule Syndrom und Kopfgelenksblockierung findet man häu-
nicht nur nach Röntgenbild, Computertomogramm und den fig ein seitendifferentes Relief des M. semispinalis capitis:
Bewegungsmesswerten der Neutral-Null-Methode beurteilt Auf der einen Seite zeigt sich ein kräftig tonisierter Muskel,
wird, sondern eine genaue manualmedizinische Untersu- auf der Gegenseite ein abgeflachter Muskelbauch mit deut-
chung erfolgt. Man wird in solchen Fällen gewöhnlich seg- licher Tonusminderung. Die Palpation der gehemmten Seite
10.2 · Posttraumatische Zustände mit funktionell bedingten neurologischen Symptomen
183 10
lässt die nozireaktiven Veränderungen erkennen, die für eine
Kopfgelenksblockierung typisch sind: Man findet eine spin- Exkurs:
delförmige, umschriebene und druckschmerzhafte Mus- Eine Fülle sekundärer Verbindungen
kelhärte in der tiefen subokzipitalen Muskulatur, wobei der Neuhuber (1998, 2005) erwähnt im Zusammenhang mit der
M. obliquus capitis inferior regelmäßig betroffen ist. direkten Projektion zervikaler propriozeptiver Afferenzen
ins Vestibulariskerngebiet eine Fülle sekundärer Verbindun-
gen, unter anderem zum okulomotorischen Apparat, was den
Tipp
Einfluss der Kopfgelenksstrukturen auf Blickbewegungsstö-
Diese muskuläre Nozireaktion ändert ihre Konsistenz rungen nach Schleudertrauma erklären kann. Auch die trige-
minozervikale Konvergenz wird als Erklärungsweg für Kopf-
und Schmerzhaftigkeit in Abhängigkeit von der Kopf-
schmerzen bei funktioneller Kopfgelenksstörung genannt.
stellung und signalisiert so die freie und blockierte
Ebenso lässt die direkte Verbindung zervikaler propriozepti-
Richtung, damit gleichzeitig auch das gestörte Gelenk- ver Afferenzen zum Kochleariskern Hörstörungen und Ohrge-
spiel. räusche als Symptom einer Kopfgelenksblockierung plausibel
werden. Die vegetativen und affektiven Symptome bei kra-
niozervikaler Funktionsstörung werden nach Neuhuber über
j Einbeinstand die Verbindung von Halsafferenzen und trigeminalen Afferen-
zen mit dem limbischen System und dienzephalen Kerngebie-
Als einfacher Test zur Kontrolle der Gleichgewichtsteuerung
ten erklärt.
wird auch hier der Einbeinstand geprüft: Keidel et al. (1998) sehen in der traumabedingten Verän-
4 mit offenen und geschlossenen Augen, derung von Erregungsmustern serotonerger, noradrenerger
4 in Neutralstellung, und dopaminerger Bahnen einen Zusammenhang mit Kon-
4 in Rotation und Seitneige des Kopfes. zentrations- und Gedächtnisstörungen, Stimmungsschwan-
kungen, Schmerzerleben usw.
Bei einer Kopfgelenksblockierung im Rahmen eines zerviko- Frey (1997) betont, dass die posttraumatischen klinischen
zephalen Syndroms wird der Test in der Regel seitendifferent Symptome einer HWS-Verletzung beim Erwachsenen sich
ausfallen, das heißt: Auf der blockierten Seite ist der Einbein- nicht von der nicht traumatisch ausgelösten Symptomkombi-
nation unterscheiden. Dies gilt für das Kindesalter nur mit Ein-
stand deutlich unsicherer oder nicht durchführbar. Es sollte
schränkung, da die Symptomatik auch vom Alter des Kindes
nach erfolgreicher manueller Behandlung sofort eine deut-
und dem Reifezustand des ZNS mitbestimmt wird.
liche Besserung nachweisbar sein.
Tipp
Manualmedizinische Behandlung
Der Test scheint bei rein funktionellen Störungen aussa- Mit den Möglichkeiten der Manuellen Medizin lassen sich
gefähiger zu sein als der Romberg-Versuch. die Symptome des posttraumatischen zervikozephalen Syn-
droms gut beeinflussen (Gorman 1995, v. Heymann 1999,
Hülse und Hölzl 2000). Bei Kindern hat sich die Altastherapie
j Abdecktest (Cover-Test) nach Arlen als besonders wirksam erwiesen.
Bei Sehstörungen wie Verschwommensehen, Augenbrennen,
flüchtige Doppelbilder u.Ä. lässt sich mit dem Abdecktest ! Klassische chirotherapeutische Manipulationen an der
(Cover-Test) ein latentes Schielen (Heterophorie) nachwei- oberen HWS sind innerhalb der ersten 6 Wochen nach
sen, meist im Sinne einer Konvergenzschwäche. Die Durch- dem Unfallereignis kontraindiziert!
führung des Tests wurde in 7 Kapitel 8.2 beschrieben.
Sie werden bei Kindern ohnehin nur ungern eingesetzt und
j Blinder Fleck sind auch entbehrlich, da die Atlastherapie nicht nur frei von
Auch die Untersuchung des sog. blinden Flecks (Mariotte- behandlungstypischen Risiken ist, sondern in ihrer Wirkung
Versuch) bei Sehstörung und Schwindel als Symptom eines auf die zervikookzipitalen Rezeptoren und auf zentrale Steu-
zervikozephalen Syndroms zeigt regelmäßig eine (einsei- erungsvorgänge von keiner anderen Technik übertroffen
tige oder asymmetrische) Vergrößerung des physiologischen wird. Auch die alleinige Osteopathie oder Kraniosakralthe-
Skotoms, das sich nach erfolgreicher Behandlung rasch ver- rapie erreicht bei dieser Indikation meist nicht die Wirkung
kleinert. Nach Hülse (2005), der ausführlich darüber berich- der Atlastherapie, stellt aber eine wirksame Ergänzung der
tet, gibt es bisher keine Erklärung für dieses Phänomen. Behandlung dar. Im Gegensatz zur klassischen Chirotherapie
Ob mit dem Mariotte-Versuch auch eine Seitenbestim- können Atlastherapie und osteopathische Techniken bereits
mung der Kopfgelenksblockierung bestimmt werden kann, unmittelbar nach dem Unfallereignis eingesetzt werden, was
ist noch unklar. die Rehabilitationszeit mitunter eindrucksvoll verkürzt.
Grundsätzlich gilt auch bei diesem Symptombild des zer-
vikozephalen Syndroms, dass die gesamte Wirbelsäule und
dabei besonders die Übergangszonen aus den bereits darge-
legten Gründen manualmedizinisch untersucht und entspre-
chend behandelt werden müssen.
184 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern
Haltung mit körperlicher Aktivität zusammenhängt. Aktivi- änderungen der Wirbelkörper mit Randleistenstörung und
1 tät aber könne dem Kind nicht von außen eingeflößt werden, ventraler Höhenminderung bei gleichzeitiger Wachstumsak-
sondern müsse vom Kind bzw. Jugendlichen selbst ausgeführt zeleration hohe Anforderungen an die statisch-dynamische
2 werden, wobei die Motivation des Kindes das Entscheidende
sei. Physiotherapie sei keine attraktive Art von Aktivität. Dies
Leistungsfähigkeit des Rückens. Intermittierende Rücken-
schmerzen vor allem nach körperlicher Belastung oder im
ist eine Einschätzung, die den eigenen Erfahrungen vollstän- Rahmen eines Wachstumsschubes sind daher keineswegs sel-
3 dig entspricht und zu der jeder Arzt, der Haltungsturnen oder ten und stets mit segmentalen Blockierungen und schmerz-
Physiotherapie verordnet, ebenfalls kommen kann, wenn er haft erhöhtem Muskeltonus verbunden. Dabei sind wiede-
4 die Ergebnisse physiotherapeutischer Behandlungsserien bei
sog. haltungsschwachen Kindern kritisch überprüft. In glei-
rum bevorzugt die Übergangszonen der Wirbelsäule betrof-
fen, worauf schon Henke (1992) hingewiesen hat.
cher Weise sind natürlich auch die Techniken der Manuellen
5 Medizin ungeeignet, um eine nicht fixierte Haltungsvariante k Manualmedizinische Behandlung bei Schmerzen
zu beeinflussen. Therapie der Wahl für die Adoleszentenkyphose ist die
6 gezielte chirotherapeutische Manipulation aller betrof-
Adoleszentenkyphose fenen Segmente einschließlich Beckenring, ggf. kombiniert
Anders verhält es sich mit fixierten Fehlformen der Wirbel- mit myofaszialen oder muskelenergetischen Behandlungs-
7 säule. Am auffälligsten und wohl auch häufigsten ist die Ado- techniken. Mit diesen Maßnahmen lassen sich nicht nur die
leszentenkyphose, im Schwarzwald auch herzlos »Schnitzbu- Beschwerden rasch beseitigen, sondern es bleibt auch die
ckel« genannt in Anspielung auf ein körperliches Merkmal Funktionsfähigkeit der noch nicht fixierten Wirbelsäulenab-
8 der einheimischen Holzschnitzer (. Abb. 10.12). Eine dauer- schnitte durch gezielte Beseitigung der Lordosierungshem-
haft schlechte Haltung mit vorfallenden Schultern und man- mung erhalten. Hier liegt die rehabilitative und gleichzeitig
9 gelnder Rumpfaufrichtung kann die Entwicklung und Fixie- präventive Bedeutung manualmedizinischer Maßnahmen,
rung einer Adoleszentenkyphose begünstigen; meist spielen da die Progredienz der Kyphose auf diese Weise beeinflusst
jedoch auch hereditäre Faktoren eine Rolle. Gewöhnlich zeigt werden kann, auch wenn die Formveränderung des Wirbel-
10 das Röntgenbild die Zeichen einer juvenilen Ossifikationsstö- körpers damit nicht erfasst wird. Zur Therapie gehört ferner
rung an Deckplatten und Ringapophysen im Sinne des Mor- Krankengymnastik mit Anleitung zur Dehnung verkürzter
11 bus Scheuermann. Muskelgruppen und Training der Rückenmuskulatur. Die
Die Entwicklung einer Adoleszentenkyphose fällt stets in Bedeutung spontaner körperlicher Aktivität wurde bereits
die 2. Streckphase. Daher stellen die zunehmenden Formver- erwähnt.
12
Exkurs: Flachrücken
13 Eine entsprechende Therapie gilt natürlich auch für den Flach-
rücken. Diese Wirbelsäulenform bietet im Wachstumsalter
14 kaum Anlass zu Kritik, da sie eine aufrechte und somit gute
Haltung vortäuscht. Aus orthopädischer Sicht gilt der Flach-
rücken allerdings wegen der Abflachung der physiologi-
15 schen Krümmungen und des dadurch bedingten Verlustes der
Dämpfungseigenschaften als besonders störanfällig. Nach
Hefti kommen lumbale Bandscheibenschäden beim Flachrü-
16 cken als Spätfolgen häufiger vor als bei anderen Rückenfor-
men. Henke (1982) kommt bei einer Gegenüberstellung von
17 200 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen und 100 Rü-
ckengesunden allerdings zu einem Ergebnis, das den bisheri-
gen Vorstellungen vom pathologischen Potenzial des Flachrü-
18 ckens zu widersprechen scheint: 70% der Schmerzgruppe wie-
sen eine abnorme Kyphosierung auf, während in der Kontroll-
gruppe 70% eine normale Rückenform hatten. Rund-Hohl-Rü-
19 cken waren in der Schmerzgruppe 5-mal häufiger als bei Rü-
ckengesunden, totale Rundrücken sogar 10-mal häufiger. Im
Gegensatz dazu kamen Flachrücken bei den Gesunden dop-
20 pelt so häufig vor wie in der Schmerzgruppe!
Fazit Tipp
1 Eine Beckentorsion im Rahmen der idiopathischen Skoliose ist
regelmäßig auch mit einer segmentalen Dysfunktion lumbo- Eine Korsettbehandlung ist übrigens nicht in der Lage,
die Beckentorsion wirksam zu beeinflussen, was mögli-
2 sakral oder iliosakral verbunden. Langjährige Beobachtungen
konnten zeigen, dass eine Verschlechterung des lumbalen oder cherweise eine Ursache für die häufigen Korrekturver-
thorakalen Rotationsindexes (Götze 1975) oder des Skoliometer- luste nach Abschulung des Korsetts sein könnte.
3 wertes als Progredienzzeichen stets auch mit einer Zunahme
der Beckentorsion einhergeht. Es scheint daher gerechtfertigt,
k Kraniomandibuläre Dysfunktion und Bewegungs-
4 die Beckentorsion als pathogenetischen, die Progredienz der
Krümmung begünstigenden Faktor zu verdächtigen. system
Im Gegensatz zur Beckenverwringung, die als klinisches
5 k Kopfgelenke – Schlüsselregionen – Becken Merkmal der Skoliose sozusagen ins Auge springt, offen-
Auf eine Verwringung der Rumpfbasis muss das kom- bart sich eine andere pathologische Komponente nur nach
6 plexe Verbundsystem von Achsenskelett und autochtho- gezielter Funktionsdiagnostik. Die Rede ist von der kranio-
ner Rückenmuskulatur stets in seiner Gesamtheit reagieren mandibulären Dysfunktion, die vermutlich einen maßgeb-
(7 Kap. 4.2, Propriozeption und autochthone Rückenmus- lichen Anteil an der Ausgestaltung und Progredienz einer
7 keln). Daher sind die Kopfgelenke regelmäßig im Sinne einer Skoliose hat. Wie das zusammenhängt, ist im Einzelnen
segmentalen Dysfunktion mitbetroffen, nachfolgend auch die noch nicht geklärt. Dass der Zusammenhang besteht, bestä-
übrigen sensorischen Schlüsselregionen. Mit der Beckenver- tigt die klinische Erfahrung: Orthopäden beobachten z.B.
8 wringung korreliert häufig eine Rotationsstellung des Axis. eine Zunahme der skoliotischen Krümmung im Zusammen-
Ob eine Stellungsasymmetrie des Atlas gegenüber den Okzi- hang mit kieferorthopädischen Maßnahmen, Kieferorthopä-
9 putkondylen ebenfalls als pathogenetischer Faktor angese- den wiederum sehen sich oft zu einer Passformkorrektur von
hen werden kann, ist zweifelhaft, da solche Stellungsasym- Zahnspangen veranlasst, wenn die Skoliose mit einem Kor-
metrien als physiologische Varianten häufig vorkommen. sett versorgt wird. Auf ein bemerkenswertes Phänomen wei-
10 Auf jeden Fall sind der obere und der untere Pol der Wir- sen Kopp und Plato (2003) hin, die eine Änderung der drei-
belsäule mit geeigneten Techniken zu behandeln, wobei sich dimensionalen Lage des Unterkiefers relativ zum Oberkiefer
11 an den Kopfgelenken einmal mehr die Atlastherapie bewährt durch Atlastherapie nachweisen konnten. Das Ausmaß der
hat, am Becken der modifizierte Drei-Punkte-Griff (s.u.), ggf. Lageveränderung betrug im Mittel bis zu 1 mm und ließ sich
vorbereitet durch myofasziale oder muskelenergetische Tech- mittels Modellanalyse im Artikulator darstellen.
12 niken. Diese Vorgehensweise erleichtert die Behandlung an
den übrigen dazwischenliegenden Segmenten entscheidend. Tipp
13 Auf diese Weise kann der Rotationsindex thorakal und lum-
Nicht selten wird auch beobachtet, dass eine Skoliose in
bal in einer Sitzung durchschnittlich um 2 mm verbessert
werden, was etwa 3° auf dem Skoliometer entspricht. Nach zeitlichem Zusammenhang mit dem Beginn einer kie-
14 Götze (1975) besteht eine lineare Korrelation zwischen Krüm- ferorthopädischen Behandlung (Brackets, aktive Plat-
mungswinkel nach Cobb und dem Rotationsindex. Aufgrund ten u.Ä.) auftritt; systematische Studien dazu fehlen bis-
15 der Pathodynamik einer Skoliose sind Rezidive der Segment- her. Als besonders fatal für die Progredienz einer Skolio-
se hat sich ein unter kieferorthopädischer Behandlung
blockierungen und der Beckentorsion zu erwarten, weswegen
regelmäßig kontrolliert und behandelt werden muss, ergänzt auftretender anteriorer Vorkontakt erwiesen, der unbe-
16 durch geeignete Physiotherapie (z.B. Methode nach Lehnert- dingt zu beseitigen ist.
Schroth). Die Behandlungsintervalle liegen je nach Progredi-
17 enz zwischen 2–4 Wochen.
k Funktionsdiagnostische Zeichen
Einen Zusammenhang zwischen kraniomandibulärem
18 System und Bewegungssystem zeigt auch das reproduzier-
bare Phänomen der variablen Beinlängendifferenz, das
19 im Falle einer kraniomandibulären Dysfunktion z.B. durch
maximale Interkuspidation, aktive Positionsänderung des
Unterkiefers oder sonstigen Stress auf das Kausystem her-
20 vorgerufen werden kann, in Schwebelage des Kiefer hinge-
gen nicht nachweisbar ist. Um die variable Beinlängendiffe-
renz als Ausdruck einer kraniomandibulären Funktionsstö-
rung werten zu können, muss selbstverständlich eine evtl.
Beckenringdysfunktion zuvor ausgeschlossen bzw. behan-
delt werden.
Aussagefähig, und möglicherweise auch selektiver als
. Abb. 10.16 Beckenschiefstand aufgrund einer Beckenverwrin- die variable Beinlängendifferenz oder vergleichbare Tests,
gung mit Ventralposition des rechten Iliums ist die Prüfung der isometrischen Kontraktionsfähigkeit
10.3 · Prävention und Rehabilitation
189 10
eines geeigneten Skelettmuskels (z.B. M. deltoideus, M. rec- Ferner existiert bekanntlich eine Konvergenz trigeminaler
tus femoris, M. latissimus dorsi usw.) entsprechend dem von und zervikaler Afferenzen (7 Kap. 7.4, Manuelle Behandlung
Goodheart angegebenen Muskelfunktionstest: Bei unge- des Kopfes), die deutlich über die Steuerung des Kauvorgangs
störter Funktion des Kiefersystems ist der Proband imstande, hinausgeht: Dickkalibrige, vorwiegend propriozeptive zer-
bei gleichzeitigem Stress ins kraniomandibuläre System (wie vikale Afferenzen reichen weit ins Thorakalmark hinab und
oben beschrieben) eine isometrische Kontraktion des Test- steigen bis zur kaudalen Brücke auf. Kerngebiete des Hirn-
muskels gegen Widerstand durchzuführen. Liegt eine Dys- stamms werden so direkt von dickkalibrigen Halsafferenzen
funktion vor (z.B. okklusaler Fehlkontakt, artikuläre Störung, erreicht. Endigungsgebiete primärer Hirnnervenafferenzen,
inadäquate kieferorthopädische Versorgung) ist der Proband vor allem des Trigeminus, steigen weit ins zervikale Rücken-
bei Stressprovokation kurzfristig nicht fähig, die isometrische mark ab (Neuhuber 1998).
Kontraktion gegen Widerstand zu halten. Bei der Durchfüh-
rung dieses im Grunde einfachen Muskeltests sind verschie- » Dadurch ergeben sich enorme Möglichkeiten der Interakti-
dene Dinge zu beachten, damit der Test zuverlässig gewer- on im Sinne einer Konvergenz zervikaler Segmente mit jenen
tet werden kann. Zu Einzelheiten sei auf die Darstellungen von Hirnnerven an sekundären Neuronen, die wiederum Aus-
in der einschlägigen Literatur verwiesen (Gerz 1996, Ramšak gangspunkt für lokale Reflexverschaltungen sowie auf- und
und Gerz 2001, Garten 2004). «
absteigende Bahnen darstellen. (Neuhuber 1998)
> Wichtig
Grundsätzlich gilt, dass sich die Kieferorthopädie den
Zielen einer Skoliosebehandlung unterordnen muss,
denn die körperliche Beeinträchtigung durch eine Sko-
liose ist erheblich schwerwiegender als eine (mitun-
ter nur kosmetisch bedeutsame) Zahnfehlstellung. Zu- 1
dem ist längst bekannt, dass eine Kieferregulation auch
nach Abschluss des Wachstums erfolgreich durchge-
führt werden kann, während eine Skoliosetherapie kei-
nen Aufschub duldet.
» Diese muskuläre Koordination wird nicht zuletzt durch Ver- . Abb. 10.17 Muskelschlingen aus Kaumuskeln, Zungenbeinmus-
mittlung trigeminaler Spindelafferenzen aus Kaumuskeln … an keln und Nackenmuskeln. 1 M. temporalis. 2 M. masseter. 3 M. mylo-
den motorischen Apparat des zervikalen Rückenmarks ermög- hyoideus. 4 M. digastricus. 5 M. stylohyoideus. 6 infrahyale Muskula-
«
licht. (Neuhuber 2005) tur. 7 Nackenmuskulatur. 8 prävertebrale Muskeln
190 Kapitel 10 · Weitere Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern
4 Pubertärer Wachstumsschub,
11 4 erhöhtes somatotropes Hormon,
4 genetische Disposition usw.
2b. Danach folgt die palpatorische und visuelle Beurteilung > Wichtig
der oberen vorderen Darmbeinstacheln: Die Benennung der Dysfunktion (Inflare/Outflare, Ups-
4 Stehen beide Spinae in gleicher Höhe und in gleichem lip/Downslip usw.) richtet sich nach der Seite des positi-
Abstand von der Mittellinie? ven Vorlaufphänomens.
4 Steht eine Spina näher zur Mittellinie (Inflare) oder wei-
ter davon entfernt (Outflare)? j Behandlungstechniken
4 Steht eine Spina höher (posterior) oder tiefer (anterior) j 1. Rechtes Os pubis steht kaudal (. Abb. 10.25)
als auf der Gegenseite im Sinne einer gegenläufigen Tor- Befund. Vorlaufphänomen rechts ist positv: Das rechte Tuber-
sion? culum ossis pubis steht tiefer als das linke.
Technik. Der Patient liegt in Rückenlage. Der Thera-
peut, auf der Gegenseite der Dysfunktion stehend, fasst mit
der tischfernen Hand das flektierte Knie der dysfunktio-
nellen Seite und beugt das gleichseitige Hüftgelenk, bis die
Bewegung am Tuber ossis ischii ankommt. Die andere Hand
umfasst dabei die Spina iliaca superior posterior mit Mittel-/
Ringfinger und Handballen beidseits des Tubers. Der Pati-
ent soll das Hüftgelenk mit geringem Krafteinsatz ca. 6 sec
gegen isometrischen Widerstand strecken und dann entspan-
nen. Nach 10 sec Pause wird das Hüftgelenk erneut bis an die
nächste Barriere gebeugt, wieder Strecken der Hüfte gegen
Widerstand, entspannen etc. Das isometrische Anspannen
soll 3- bis 5-mal wiederholt werden.
1
2
3
4
5
6
. Abb. 10.26 Muskelenergietechnik (MET) bei Hochstand des Os . Abb. 10.27 Behandlung eines Upslip durch Traktionsimpuls
7 pubis rechts
. Abb. 10.29 MET bei Inflare des Os ilium . Abb. 10.30 MET bei Outflare des Os ilium
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Vojta V (1997) Persönliche Mitteilung
Voss H (1971) Tabelle der absoluten und relativen Muskelspindelzah-
len der menschlichen Skelettmuskulatur. Anat. Anz. M. 129: 562–
572
Ward R (1997) Persönliche Mitteilung im Rahmen der Baden-Baden-
er Fortbildung für Manuelle Medizin. Baden Baden – Lichtenthal
06.-08. Juni 1997
205 12
Anhang1
3
Anamnesebogen für Säuglinge und Kleinkinder
4
5 Name, Vorn
r ame: Geburtsdatu
t m: Alter in Mo /J:
6
Überweisender Arzt: Kinderarzt:
7
8 Schwangerschaftsverlauf: normal Komp
m likationen (Welche? Zu welchem Zeitpunkt? Wie behandelt?):
9
10 Geburt: termingerechtt vorzeitig: ...........Wochen. Frühg
r eburt.. ................... SSW Spontangeburt Sectio Saugglocke Zange
Apgar......../........../............. Kompm likationen:
11
12
13 Alter(M) 3 Monate 6 Monate 8 Monate 9 Monate 11 Monate > 12 Mo.
14
15 Unterarm- Medianis. Hand- Drehen Drehen Robben 4–Füßer-
r fr
f eies ffreies
stü
t tz stü
t tz R/B B/R krabb
a eln Sitzen Gehen
16
17 Fragen an die Eltern
Weshalb stellen Sie Ihr Kind vor? Bitte beschreiben Sie:
18 t Welche Auffälligkeiten bestehen?
t Wann wurden diese Auffälligkeiten erstmals beobachtet und von wem?
19 t Nimmt Ihr Kind Medikamente? Welche? In welcher Dosierung?
t Welche Untersuchungen wurden bisher durchgeführt? (Befundberichte bitte
20 beifügen.)
t Wird Ihr Kind behandelt? Nach welcher Methode? Wer führt die Therapie durch?
Anhang
207 12
12.2 Grobmotorische Entwicklung vom 1. bis 12. Lebensmonat
Ngb
10
11
12
208 Kapitel 12 · Anhang
Traktion
Axillar-
hang
Landau
Vojta
Collis
vertikal
Collis
horizontal
Peiper-
Isbert
210 Kapitel 12 · Anhang
3
Anamnesebogen für Vorschul- und Schulkinder
4
Name, Vorn
r ame: Geburtsdatu
t m: Alter in Jahren:
5
6 Überweisender Arzt: Kinderarzt:
7
Schwangerschaftsverlauf: normal Komp
m likationen (Welche? Zu welchem Zeitpunkt? Wie behandelt?):
8
9 Geburt: termingerechtt vorzeitig: .......Wochen. Frühgeburt.........
r .........SSW, Spontangeburtt Sectio Saugglocke Zange
Apgar......../........../..........
/ ... Komp
m likationen:
10
11
Motorische Entwicklung im Säuglingsalter: normal?.......... verlangsamt?.........................................
Gewohnheitshaltung von Kopf und/ d oder Rump m f? f Welcher Art?...........................................................
12 ...................................................................................................................................................... ...........
Vierfüßerkrabbeln? ............. Wann?..............(.Mo.) Gehbeginn?............................( Mo.)
13
Treppensteigen aufwärts: mit Halten und nachgestellt: Frei und nachgestellt: Mit Halten und
Fußwechsel Frei mit Fußwechsel (Bemerkungen:)
14 Treppensteigen abwärts: mit Halten und nachgestellt Frei und nachgestellt Mit Halten und
Fußwechsel Frei mit Fußwechsel (Bemerkungen:)
15 Rollerfahren:.............. Radfahren:..................... Klettern:.................
Karussellfahren:................................................................. Rennen:.........................................................
Spielverhalten:
16
17 Fragen an die Eltern
Bitte beschreiben Sie knapp:
Welche Auffälligkeiten bestehen bei Ihrem Kind bzgl.
18 t
t Grobmotorik,
t Feinmotorik,
19 t Bewegungskoordination,
t Konzentrationfähigkeit,
20 t sozialem Verhalten,
t schulischer Leistung etc.?
t Nimmt Ihr Kind Medikamente?
t Wurden andernorts Untersuchungen durchgeführt? Mit welchem Ergebnis?
t Wird Ihr Kind behandelt? Mit welcher Methode? Wer führt die Behandlung durch?
Anhang
211 12
12.6 Motokybernetischer Test (MKT)
1. Langsitz
6. Einbeinhüpfen
8. Hampe
m lmannsprung
9. Schersprung
11. Purzelbaum
14. Hopserlauf
16. Drehtest
Summe / Kategorie
213 A–F
Stichwortverzeichnis
Symbole B D
Haltungs- und Bewegungsmuster Babinski-Reflex 37 Detonisierung des M. psoas major 191
– Bauchlage 158 Babkin-Reaktion 23, 83 Dezerebration 12
– Drehen (seitliches Überrollen) 159 Bauer-Reaktion 24 Diparese 149, 151
– Gehfähigkeit 159 Becken – der Verwegene 152
– Greifen 159 – Behandlungstechniken 193 – Enger-Rock-Gang 152
– Hochziehen zum Sitz 159 – Biomechanik 55 – propulsive Form 152
– Hochziehen zum Stand 159 – mobilisierende Positionierung beim – Seiltänzer 152
– Sitzen 159 Säugling 113 dorsolumbaler Übergang
– Stehen 159 – Untersuchung 192 – chirotherapeutische Manipulation beim
»Männchen, Baum, Haus« 144 Beckenfehlstatik 176, 192 Säugling 103
Beckenfunktionsstörungen 192 – Manipulationstechniken 165
A Beckentorsion 187 – mobilisierende Positionierung beim
Beckenverwringung 81, 176, 187, 188 Säugling 112
Abdecktest (Cover-Test) 132, 177, 183
Beinabduktionstest 177 – myofasziales Lösen beim Säugling 111
ADL-Symptom 138
Beinlängendifferenz 176, 187, 188 Dorsolumbaler Übergang
Adoleszentenkyphose 186
Bestimmung des Entwicklungsalters 84 – manualmedizinische Untersuchung 81
Adoleszentenskoliose
Bewegungskoordination 133 – sensomotorische Schlüsselregion 57
– Diagnostik/Therapie 190
Bewegungsmuster Drehtest 143
– idiopathische 186
– abnormale 148
– manualtherapeutisches Konzept 191
Bewegungssystem 10, 42, 188 E
Amphetamine 137
Bindegewebe 107
Anfallsleiden 155 Eigenwahrnehmung 133
binokulares Sehen 131
Ashworth-Skala 160 Einbeinhüpfen 141
Blickbewegungsstörungen 183
Ataxie 155 – Hochwerfen und Auffangen eines
Blickmotorische Störung 131
Athetose 154 Schaumstoffballs 141
Blinder Fleck 183
– Choreoathetose 154 Einbeinstand 177, 183
Blockierung 75
– dystone Form 154 – Auffangen und Rückwurf eines Schaum-
– Blockierungsschema 61
– Spannungsathetose 154 stoffballs 140
– Dysfunktion der metameren Strukturen
Atlaskippung 50 – auf festem Untergrund 140
61
Atlasstellung 92, 93 – auf weichem Untergrund 140
– Merkmale 61
Atlasstellungsdiagnostik – Therapiekreisel 142
– neurophysiologisches Denkmodell 59
– palpatorische 97 Enterozeptoren 11
– Nozizeptorenaktivität 60
– röntgenologische 97 Entwicklungsgitter nach Kiphard 127
– Pathologie des Spindelrezeptors 61
Atlastherapie 90, 116, 161 entwicklungsneurologische Untersuchung
– pathophysiologische Aspekte 59
– Impulsrichtung 97 36
– Symptombild 59
– Impulsstärke 99 Erste Rippe
Bobath-Therapie 160
– Impulstechnik 98 – chirotherapeutische Manipulation beim
Brustwirbelsäule
Atlastherapie beim Säugling 95 Säugling 103
– manualmedizinische Untersuchung 80
– Durchführung 95 – manualmedizinische Untersuchung 80
BWS
– Kontraindikationen 97 Exterozeptoren 11
– chirotherapeutische Manipulation 103
– Kontrolluntersuchung 99 extrapyramidalmotorisches System (EPMS)
– Manipulationstechniken 163
– methodische Bedingungen 97 154
BWS-Manipulation
– Nebenwirkungen 96
– Pistolengriff 163
Atlastherapie nach Arlen 90, 133 F
– Rettungsgriff 164
Aufmerksamkeitsdefizit 123, 137
BWS, mittlere Fallbeispiele 180, 190
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
– sensomotorische Schlüsselregion 56 Fascia thoracolumbalis 46, 111
– ADHS (Hyperaktive) 124
Fechterhaltung 75
– ADS (Nicht-Hyperaktive) 124
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) 124 C Fechterhaltung (ATNR) 25
Federungstest 81
Aufrichtungsbewegung 13 Chaddock-Reflex 37
Fersengang 142
Aufrichtungsentwicklung 16, 42 Chirotherapie 1
Fersenreflex 37, 83
Augenmotorik 131 Commotio cerebri 181
Flachrücken 186
autochthone Rückenmuskulatur 42 Coxitis fugax 176
fortgeleiteter Schmerz (referred pain) 59, 176
– komplexes Verbundsystem 46
Friedreich-Ataxie 173
Axillarhängereaktion 30, 35
frontale Labyrinthstellreaktion (Seitkippre-
aktion) 71
214 Sachwortverzeichnis
Sensorsystem 11 U
1 Siebener-Syndrom 64
Unspezifische Manipulation der ISG über das
Sieben-Punkte-Programm 191
Tuber ossis ischii 105
Spastik 36, 38, 149
2 – klinische Zeichen 149
Unspezifische Mobilisation der intervertebra-
len und kostotransversalen Gelenke 103
spastische Bedrohung 36
Spinale Muskelatrophie 173
3 Sprachentwicklung 126 V
statokinetische Reaktionen 12 Ventralisationsgriff an der BWS 103
4 Stellreaktionen 12
Streckphasen 40
Ventralisierender Impuls über den oberen
oder unteren Sakrumpol 105
Stützmotorik 11, 53, 155 Ventralisierender Impuls über den unteren
5 subokzipitale Muskeln 44, 51, 96
Suchreflex (Rooting-Reaktion) 23
Sakrumpol 105
Ventralisierender Multangulumschub auf S1
Suprapubischer Streckreflex 38 oder S3 106
6 Symmetrie 94 Verhaltensauffälligkeiten 65
Symmetriestörung 67 Vertikale Kopfabhangreaktion nach Collis
Systemtheorie 10, 61 31, 35
7 Vertikalimpuls 162
T Vigilanz 42, 120, 135
8 Teilleistungsstörungen 126
Villinger Schema 75, 100
Viszerozeptoren 11
Telerezeptoren 11
Vojtareaktion 31, 35
Tetraparese 149, 150
9 – akinetische 150
Vojta-Reaktion 71
Vojta-Therapie 160
– geschickte 151
Vorlaufphänomen 80, 192
– mit horizontaler Antigravität 150
10 – mit subkortikalen Automatismen 150
– mit vertikaler Antigravität 150 W
11 Tonusasymmetrie-Syndrom
– Abgrenzung zu IZP 86
Wahrnehmungsinformationen 51
Wahrnehmungsverarbeitung 61, 120
– der schiefe Säugling 63 Wirbelkörperentwicklung 49
12 – Differenzialdiagnosen 67
– Dysfunktion der Kopfgelenke 68
– Hüftdysplasie 66
Z
13 – klinische Zeichen 64 Zappelphase 27
– Labyrinthstellreaktion 71 zentrale Bewegungsstörung 158
– manualmedizinische und neurologische Zentrale Hypotonie 155
14 Standarddiagnostik 75 zentrale Koordinationsstörung 36
– pathogenetische Überlegungen 73 Zervikodorsaler Übergang
– chirotherapeutische Manipulation beim
15 – pathologische Haltungsasymmetrie 66
– physiologische Haltungsasymmetrie 65 Säugling 102
– Problemlösung Sectio 74 – manualmedizinische Untersuchung 80
16 – reflektorische Tonussteuerung 69 zervikodorsale Übergangsregion
– myofasziales Lösen beim Säugling 110
– Schädelasymmetrie 73
– Schiefhals 66 zervikogene Hörstörung 91
17 – Segmentale Dysfunktion der Wirbelsäule zervikogener Schwindel 91
zervikookzipitaler Übergang 49
72
– spastische Bedrohung 67 – mobilisierende Positionierung beim
18 – Verhaltensauffälligkeiten 65 Säugling 112
Tonusasymmetrie-Syndrom (TAS) 52, 63 Zervikookzipitaler Übergang
– chirotherapeutische Manipulation beim
19 Tonuserhöhung 60
Tonusstörung 149 Säugling 101
Tortikollis, akuter 179 – Myofasziales Lösen beim Säugling 109
Zervikothorakaler Übergang
20 Tragling 25
– sensomotorische Schlüsselregion 56
Traktionsimpuls 102
Traktionsreaktion 35 zervikozephales Syndrom 91
traumatische Fibularisläsion 184 Zervikozephales Syndrom 182
Treppabsteigen 128 Zielmotorik 12, 53, 154
trigemino-faziale Kommunikation 115 Zwangsrotation des Axis 50
trigemino-zervikale Konvergenz 113 Zwerchfell
Tunnelmodell 92 – myofasziales Lösen beim Säugling 110