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Facharztprüfung
Allgemeinmedizin
in Fällen, Fragen und Antworten
5. Auflage
ISBN 978-3-437-23325-8
eISBN 978-3-437-17029-4
Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr.
Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen
eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Waren
namen handelt.
17 18 19 20 21 5 4 3 2 1
Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline
Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint.
emer. Prof. Dr. med. Vittoria Braun Prof. Dr. med. Detmar Jobst
Fachärztin für Allgemeinmedizin Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren,
Charité – Universitätsmedizin Berlin Suchtmedizin
Campus Charité Mitte Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität,
Charitéplatz 1 Institut für Hausarztmedizin
10117 Berlin Universitätsklinikum Bonn
Sigmund-Freud-Str. 25
Prof. Dr. med. Jean-François Chenot, MPH 53127 Bonn
Facharzt für Allgemeinmedizin
Universitätsmedizin Greifswald Prof. Dr. med. Andreas Klement
Institut für Community Medicine, Facharzt für Allgemeinmedizin und Chirurgie
Abteilung Allgemeinmedizin Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Fleischmannstr. 42 Medizinische Fakultät, Sektion Allgemeinmedizin
17475 Greifswald Magdeburger Str. 8
06112 Halle/Saale
Dr. med. Jürgen Conze
Facharzt für Dermatologie, Dr. med. Michael Küster
Facharzt für Arbeitsmedizin Facharzt für Innere Medizin und Allgemeinmedizin,
Morsbacher Str. 17 Facharzt für Anästhesiologie
52146 Würselen Spezielle Schmerzmedizin und Palliativmedizin
Regionales Schmerz- und Palliativzentrum
Dr. med. Stephan Fuchs Weißdornweg 4–6
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 53177 Bonn-Bad Godesberg
Sektion Allgemeinmedizin
Magdeburger Straße 8 Dr. med. Karl Graf La Rosée
06112 Halle (Saale) Facharzt für Innere Medizin, Zusatzbezeichnung
Kardiologie
Dr. med. Bernd Hemming, MPH Kardiologische Gemeinschaftspraxis
Facharzt für Allgemeinmedizin Baumschulallee 1
Am Steinwerth 14 53115 Bonn
47269 Duisburg
VIII Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. med. Peter Maisel PD Dr. med. Guido Schmiemann, MPH
Facharzt für Allgemeinmedizin, Palliativmedizin Universität Bremen
Westfälische Wilhelms-Universität Münster Institut für Public Health und Pflegeforschung
Centrum für Allgemeinmedizin der Medizinischen Grazer Str. 4
Fakultät 28359 Bremen
Malmedyweg 17–19
48149 Münster Jeannine Schübel
Fachärztin für Allgemeinmedizin
Dr. med. Martin Mücke Technische Universität Dresden
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus Dresden
Universitätsklinikum Bonn, Institute für Bereich Allgemeinmedizin
Allgemeinmedizin und Palliativmedizin sowie Fetscherstraße 74
Zentrum für Seltene Erkrankungen Bonn (ZSEB) 01307 Dresden
Sigmund-Freud-Str. 25
53127 Bonn Dr. med. Bernd Sonntag
Facharzt für Psychotherapeutische Medizin,
Dr. med. Ulrich Nühlen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Facharzt für Allgemeinmedizin, Diabetologe Universitätsklinik Köln
Diabetologische Schwerpunktpraxis Dres. Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
Gumprich, Nühlen und Rave Kerpener Str. 62
Alter Markt 10 50924 Köln
42275 Wuppertal
Prof. Dr. med. Jens-Martin Träder
Dr. med. Uwe Popert Facharzt für Allgemeinmedizin und Umweltmedizin
Arzt für Allgemeinmedizin Universität zu Lübeck
Goethestr. 70 Institut für Allgemeinmedizin
34119 Kassel Peter-Monnik-Weg 3
23562 Lübeck
Dr. med. Klaus Rave
Facharzt für Innere Medizin, Nephrologe, Dr. med. Peter Velling
Diabetologe, Ernährungsmedizin Facharzt für Innere Medizin
Diabetologische Schwerpunktpraxis Dres. Gumprich, Medizinisches Versorgungszentrum der
Nühlen und Rave Evangelischen Lungenklinik Berlin
Alter Markt 10 Bergmannstraße 5
42275 Wuppertal 10961 Berlin
1
1.6 Grenzen und Sektoren hausärztlicher Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.1 Fachdefinition
H.-H. Abholz
1
Allgemeinmedizin versteht sich als Grundbetreuung aller Patienten mit körperlichen und seelischen Gesund-
heitsstörungen in der Notfall-, Akut- sowie Langzeitversorgung und beinhaltet wesentliche Bereiche der Prä-
vention und Rehabilitation. Die Arbeitsweise von Allgemeinärzten berücksichtigt somatische, psychosoziale,
soziokulturelle und ökologische Aspekte. Dabei würdigt man die Krankheitskonzepte, die Geschichte und das
Umfeld der Patienten. Arbeitsgrundlagen sind die auf Dauer angelegten Arzt-Patient-Beziehungen und die
erlebte Anamnese, die auf breiter Zuständigkeit und Kontinuität in der Versorgung beruhen. Die Allgemein-
medizin ist weiter gekennzeichnet durch den Umgang mit den epidemiologischen Besonderheiten des unse-
lektierten Patientenkollektivs und den daraus folgenden speziellen Bedingungen der Entscheidungsfindung:
abwartendes Offenhalten der Diagnose unter Berücksichtigung abwendbar gefährlicher Verläufe (gemäß De-
finition der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, DEGAM).
A N M E R K U N G E N ( I N A N L E H N U N G A N D I E D E G A M -
DEFINITION DES FACHES)
a. Allgemeinmedizin beinhaltet als Arbeitsbereich die Grundversorgung aller häufigeren körperlichen und seeli-
schen Gesundheitsstörungen in der Notfall-, Akut- und Langzeitbetreuung sowie wesentliche Bereiche der medizi-
nischen Prävention. Die Breite der Versorgungsaufgaben stellt hohe Anforderungen an uns Allgemeinärzte, bedeu-
tet aber auch stets interessantes Arbeiten und lebenslanges Lernen.
b. Die allgemeinmedizinische Arbeitsweise interpretiert Symptome und Befunde aus der Kenntnis der Patienten,
d. h. der Befunde und Vorbefunde, ihres Krankheitskonzepts, ihrer Familie und ihrer Geschichte heraus (= herme-
neutisches Fallverständnis), d. h., sie berücksichtigt neben den medizinischen und psychischen besonders auch so-
ziokulturelle Aspekte des Krankseins.
c. Arbeitsgrundlagen sind eine kontinuierliche, entwickelte Arzt-Patient-Beziehung und die erlebte Anamnese ein-
schließlich gemeinsamer (Therapie-)Entscheidungen und gemeinsamer Festlegungen von Zielen.
d. Arbeitsziele allgemeinmedizinischer Versorgung sind sowohl eine qualitativ hochwertige Versorgung als auch
der Schutz des Patienten und der Gesellschaft vor Überversorgung, aber auch Unter- und Fehlversorgung. Erstge-
nanntes wird durch die typische epidemiologische Gegebenheit des Arbeitens im Niedrig-Prävalenz-Bereich beson-
ders wichtig.
e. Der Arbeitsauftrag geht in der Allgemeinmedizin immer vom individuellen Patienten aus und lässt dessen Be-
dürfnisse und Krankheitskonzepte im Behandlungsprozess berücksichtigen. Public Health und gesundheitspoliti-
sche sowie Kostenaspekte spielen eine nachgeordnete, dennoch wichtige Rolle.
f. Die allgemeinmedizinische hausärztliche Koordinationsfunktion setzt eine gute eigene Orientierung voraus, um
Patienten zu einer adäquaten Lösung eines Gesundheitsproblems zu verhelfen. Sie beinhaltet eine Arbeits-
kooperation mit Spezialisten (anderen Fachärzten) und anderen Gesundheitsberufen. Der Allgemeinarzt muss
dabei zu einer Entscheidungsfindung durch Zusammenführen der Befunde und deren Bewertung kommen.
1.2 Merkmale hausärztlicher Medizin 3
LITERATUR
Antonovsky A. Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag, 1997.
DEGAM, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Definition „Allgemeinmedizin“, Beschluss der
Jahreshauptversammlung, Koblenz 2002. www.degam.de
Qualitätssicherungsrichtlinien der KBV gemäß § 135 Abs. 3 SGB V. Dtsch Arztebl 1993 (90): C1045–1048. 1
Schüffel W, Brucks U, Johnen R et al. (Hrsg). Handbuch der Salutogenese. Wiesbaden: Ullstein Medical, 1998.
FALLBERICHT
Sie betreuen eine jetzt 65-jährige Patientin seit ca. 20 Jahren. Die Patientin leidet an einer koronaren Herzerkrankung, an
Beschwerden im Rahmen eines varikösen Symptomenkomplexes und an Rückenschmerzen bei lumbalem Radikulärsyn-
drom. Sie sorgt und zermürbt sich wegen des langfristig arbeitslosen Sohns, hat chronische Schlafstörungen und ärgert
sich über die häufige Lieblosigkeit und den Egoismus ihres behinderten Mannes, den sie über Jahre versorgt. Vor 15
Jahren haben Sie miterlebt, dass die Mutter der Patientin an einem metastasierenden Kolonkarzinom unter schwerwie-
genden Umständen verstarb.
Versuchen Sie bitte, an diesem Patientenbeispiel einige typische Merkmale hausärztlicher Medizin zu
charakterisieren.
An dem beschriebenen Patientenbeispiel sind folgende Merkmale der allgemeinmedizinischen Definition
festzumachen:
• Die Patientin wird über 20 Jahre hinweg betreut. Die Langzeitversorgung ist ein typisches Charakteristi-
kum allgemeinärztlicher Betreuung.
• Die Kenntnis der Familienanamnese bezüglich des Kolonkarzinoms der Mutter, ihre Versorgung und
Sterbebegleitung sind eindringlich erlebte Bestandteile der Anamnese für den Hausarzt, die ihn befähigt,
für die evtl. krebsdisponierte Tochter eine angemessene Prävention zu betreiben.
• Auch das Erfordernis, der Multimorbidität der Patientin gerecht zu werden, ist hausarztgemäß. Bei Diag-
nostik, Therapie und Rehabilitation der beschriebenen Krankheitsbilder sind die familiären Möglichkei-
ten – z. B. die Betreuung des behinderten Mannes – zu berücksichtigen.
• Die Einbeziehung familiärer Begebenheiten, in diesem Fall die Sorge wegen der Arbeitslosigkeit des Soh-
nes, ist gleichermaßen charakteristisch für das allgemeinmedizinische Fachgebiet und erfordert psycho-
soziale Kompetenz.
• Die nunmehr bestehenden akuten Herzbeschwerden der Patientin verlangen Fähigkeiten in der Akutver-
sorgung. Es ist abzuwägen, ob abwartendes Offenhalten der Beschwerden zulässig oder ein gefährlicher
Verlauf abzuwenden ist.
• Zusätzlich kommt hier eventuell die Koordinations- und Integrationsfunktion des Allgemeinarztes zum
Tragen, in diesem speziellen Fall die Überweisung zum Kardiologen, der über alle bisherigen Befunde
einschließlich der individuellen Patientensituation zu informieren ist.
Welche weiteren typischen Funktionen des Facharztes für Allgemeinmedizin kennen Sie?
• Die primärärztliche Lotsen- und Steuerfunktion, insbesondere die angemessene und gegenüber Patient
und Gesellschaft verantwortliche Stufendiagnostik und -therapie unter Einbeziehung von Fachspezialisten,
• die Betreuung des Patienten auch im häuslichen Umfeld (Hausbesuch),
• die Gesundheitsbildungsfunktion, insbesondere die Gesundheitsberatung und -förderung für den Einzel-
nen wie auch in der Gemeinde.
4 1 Grundlagen und Konzepte der Allgemeinmedizin
FALLBERICHT
Eine 21-jährige Patientin kommt in den letzten drei Monaten immer wieder mit den verschiedensten Beschwerden in die
Praxis (z. B. Kopfschmerzen, Schwindel, Leibschmerzen). Die junge Frau ist nach einer guten Abschlussprüfung als Erzie-
herin seit sechs Monaten arbeitslos, wohnt noch bei der Mutter, die Juraprofessorin ist und einen hohen Leistungsan-
1 spruch hat. In der Abendsprechstunde kommt die Patientin stöhnend und weinend, auf die Mutter gestützt, in die Praxis
und klagt über starke Leibschmerzen.
Erklären Sie an diesem Beispiel die für das Handeln in der Allgemeinmedizin typischen
Entscheidungsfindungen „abwartendes Offenhalten“ und „abwendbar gefährlicher Verlauf“.
Hinsichtlich des eventuellen Bestehens eines akuten Abdomens ist mit einer gezielten Anamnese, einer kör-
perlichen Untersuchung einschließlich Temperaturmessung (axillar und rektal) und einer Leukozyten- und
Urinstatus-Bestimmung festzustellen, ob eine akute Erkrankung (z. B. eine akute Appendizitis) vorliegt und
weitere sofortige Maßnahmen wie eine stationäre Einweisung erforderlich sind (abwendbar gefährlicher
Verlauf). Gegebenenfalls sind eine gynäkologische Vorstellung und eine Oberbauchsonografie zu veranlas-
sen.
Ergeben Befragung und Untersuchung keinen Hinweis auf ein akutes Geschehen, sind bei der Patientin
vorerst keine weiteren diagnostischen Maßnahmen durchzuführen (abwartendes Offenhalten). Handlungs-
bedarf besteht in der symptomatischen Linderung der Beschwerden und der Beruhigung der Patientin. Sie
erhält einen Kontrolltermin für den nächsten Tag, falls sich die Schmerzen nicht bessern.
Ihre frustrierenden Bemühungen um einen Arbeitsplatz und das Anspruchsverhalten der Mutter signali-
sieren, dass auch eine psychische Problematik bestehen kann. Es sollte ggf. ein problemzentriertes Gespräch
geführt werden.
Wie lautet der Patientenauftrag, wenn sich ein Patient in unsere Behandlung begibt?
„Tue das Beste für mich!“ Wir sind also aufgefordert, „das Beste“ für den Patienten herauszufinden und da-
nach zu handeln. Dabei ist der Patient nicht auf die evidenzbasierte Begründung einer bestimmten Behand-
lung, sondern i. d. R. nur auf deren Erfolg orientiert. Dies hat man sich z. B. beim Einsatz von Placebo-Medi-
zin vor Augen zu halten: Wenn etwas hilft, dann kümmert es den Patienten meist nicht, ob es rationaler
Therapie entspricht. Uns Ärzte beunruhigt allerdings eine solche Situation. Nehmen wir den Patientenauftrag
ernst, müssen wir unsere Beunruhigung ertragen. Es geht um seine Gesundung, nicht um unser Wohlbefin-
den. Wir haben allerdings zu beachten, ob eine Behandlung mehr schadet als hilft.
Was sind die vier Prinzipien, die üblicherweise in der Medizin-Ethik Anwendung finden?
• Gutes für den Patienten tun (Benevolence)
• nichts Schlechtes gegen den Patienten tun (Non-Malevolence)
• Gerechtigkeit in der Versorgung walten lassen
• Autonomie des Patienten achten
dessen Ende eine Entscheidung steht. Es muss für die Beteiligten klar sein, welchem der im Konflikt stehen-
den Prinzipien aus welchem Grund der Vorrang gegeben wird.
In der Versorgung geraten die ethischen Prinzipien häufig in Widerspruch zueinander und zu faktischen 1
Arbeitsvorgaben oder Ansprüchen der Patienten oder anderer Personen/Institutionen. Dies geschieht
z. B. aus einer Rechtslage, einem Versicherungsvertragsverhältnis oder einem Vorsorge-Programm
heraus. Hier drei Beispiele.
• Polioimpfung: Da weltweit bis 2010 fast keine Polioerkrankungen mehr auftraten und in Europa dies
schon seit Mitte der 90er Jahre so war, wurde das eigentlich niedrige Impfrisiko für den Einzelnen nun als
sehr relevant bewertet. Dieser Umstand hat seit 1998 in Deutschland zu einem Stopp der oralen Leben-
dimpfungen und zum Übergang auf einen Totimpfstoff geführt. In manchen Entwicklungsländern blieb
es aus epidemiologischen Gründen dagegen meist bei der oralen Impfung bis 2016.
• Mammografie-Screening: Ein Screening-Programm auf freiwilliger Teilnahmebasis ist effektiv, wenn ei-
ne hohe Beteiligung gewährleistet ist. Ein bevölkerungsbezogener Nutzen kann realisiert werden, wenn
ca. 80 % aller Frauen in bestimmten Altersgruppen teilnehmen. Für die einzelne teilnehmende Frau im
Alter zwischen 50 und 69 Jahren ist der Nutzen im Sinne des verhinderten Todesfalls durch ein Mamma-
karzinom hingegen sehr gering: Er beträgt etwa 1 : 2.000 in zehn Jahren. Wenn allerdings dieses Verhält-
nis hochgerechnet wird auf zehn Millionen Teilnehmerinnen der angesprochenen Altersgruppe zwischen
50 und 69 Jahren, werden ca. 5.000 Todesfälle auf zehn Jahre hierzulande verhindert. Wir erfüllen mit
dem Rat zu einem Screening-Programm also zunächst einen bevölkerungsmedizinischen Auftrag der Ge-
sellschaft. Ob die einzelne Frau dies für sich als wichtig ansieht, muss sie nach verständlicher Aufklärung
über die Zahlen selbst entscheiden. Ethisch nicht legitimiert wäre hingegen zu unterstellen, dass der Nut-
zen für sie selbstredend vorhanden ist.
• Ein Ehemann möchte seine Frau vor der ganzen Wahrheit über ihr Krebsleiden schützen. Sie als betreuen-
der Hausarzt sind derselben Ansicht und klären nur den Ehemann vollständig auf. Durch das damit zu-
standekommende ausweichende Verhalten von Ehemann und Arzt beginnt die Ehefrau die Wahrheit zu
spüren, die aber von Beiden verneint wird. Sie fühlt sich isoliert.
Maßgebliche Richtlinien für die hausärztliche Tätigkeit erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss Ärzte/
Krankenkassen. Welche dieser Richtlinien kennen Sie?
Richtlinien des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen bestehen u. a. zu folgenden ärztlichen Arbeitsberei-
1 chen: Arbeitsunfähigkeit, Arzneimittel, Bedarfsplanung, Gesundheitsuntersuchung, häusliche Krankenpfle-
ge, Heil- und Hilfsmittel, Jugendgesundheitsuntersuchung, Krankenhauspflege, Krankentransport, Krebs-
früherkennung, künstliche Befruchtung, Mutterschaft, Psychotherapie, Empfängnisregelung und Schwan-
gerschaftsabbruch, Soziotherapie, Qualitätsbeurteilungsrichtlinien.
Nennen Sie weitere Ordnungen, Satzungen, Vereinbarungen, Verträge und andere Regularien, die Ihre
hausärztliche Tätigkeit in der Praxis regeln.
• ärztliche Berufsordnung
• Weiterbildungsordnung
• Notfalldienstordnung
• Honorarverteilungsvertrag
• Satzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
• Vertrag über die hausärztliche Versorgung
• Hausarztzentrierte Verträge (HzV) gemäß § 73 SGBV
• Vertrag über den Datenaustausch
• Impfstoffvereinbarung
• Prüfvereinbarung zur Überwachung und Prüfung der Wirtschaftlichkeit
• Diabetes-Vereinbarung zum Disease-Management-Programm
• Psychotherapie-Vereinbarung
LITERATUR
www.aezq.de/aezq/publikationen/nvl (hier passwordfrei: „Versorgungsleitlinien“)
www.degam.de/leitlinien-51.html (hier passwordfrei: „Leitlinien“)
Gágyor I, Abholz HH. Ethische Fragen und Konflikte in der Allgemeinmedizin. In: Kochen MM. Allgemeinmedizin und Famili-
enmedizin. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2012: 600–605.
Maio G. Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin: Ein Lehrbuch. Stuttgart: Schattauer, 2011 (dort insbes. Kap. III)
Welche Einschränkung bei der Anwendung des hermeneutischen Fallverständnisses gibt es?
Mangelnde Exploration oder Kenntnis des Patienten durch den Arzt sowie schlechte medizinische Fach-
kenntnisse.
8 1 Grundlagen und Konzepte der Allgemeinmedizin
FALLBERICHT
Ein 82-jähriger Patient, dessen Ehefrau vor einem Jahr nach etwa einjährigem Krankenlager verstorben ist, kommt wie-
derholt zu Ihnen mit hartnäckigen Schmerzen im Bereich des unteren Rückens mit Ausstrahlung ins linke Knie. Bisher
hatte der Patient Sie nur selten aufgesucht: Eine leichte Herzinsuffizienz und eine geringgradige Hypertonie waren mit
1 einem Diuretikum gut eingestellt.
Bei der aktuellen körperlichen Untersuchung bestehen keine neurologischen Auffälligkeiten bei negativem Lasègue-Test
und negativer Schmerztestung im Hüftrotationsversuch, jedoch deutliche Bewegungseinschränkung der LWS. Die Be-
handlung mit Paracetamol, Diclofenac und einem Muskelrelaxans war erfolglos. Damit würde eine weiterführende Diag-
nostik anstehen, um Knochenmetastasen, einen zu engen Spinalkanal etc. abzuklären.
Sie wissen aber, da Sie den Patienten lange kennen, dass er seit etwa einem Vierteljahr eine Freundin hat, die etwa 80 km
entfernt wohnt. Es scheint sowohl ein Schuldgefühl seiner verstorbenen Frau gegenüber zu bestehen als auch eine
sexuell-erotische Überforderung bei gleichzeitiger Sehnsucht nach einer Beziehung zur Freundin vorzuliegen.
FALLBERICHT
Eine 42-jährige Patientin kommt immer wieder mit funktionellen Störungen in die Praxis. Sie ist Lehrerin, hat ihre Tochter
aus erster Ehe groß gezogen. Sie erlebt ihren jetzigen Partner seit einiger Zeit als „lieblos“ und leidet dabei zunehmend
unter Phasen von Traurigkeit, Leere und Antriebslosigkeit. Sie erkennt, dass sie etwas in ihrer Ehe oder gar mit ihrem
Leben ändern muss, findet aber keinen Zugang dazu. Eine dann begonnene Therapie mit einem Antidepressivum scheint
erfolgreich zu sein: Zumindest treten die Phasen von Traurigkeit in den Hintergrund, sie zeigt auch weniger funktionelle
Beschwerden und kommt nur noch alle sechs Wochen wie bestellt in die Sprechstunde.
FALLBERICHT
Ein 58-jähriger Arbeiter im Braunkohletagebau will aufgrund zahlreicher, wenn auch nicht sehr einschränkender Krank-
heitsepisoden eines LWS-Syndroms und einer Hypertonie berentet werden. Der Patient, den Sie lange kennen, meint, er
habe nun lange genug geschuftet – und andere würden ja auch berentet. Der Betrieb will Übergangsgeld bis zum Errei-
chen des 60. Lebensjahrs zahlen, wenn er sich jetzt berenten lässt. Ihm wird vom Betriebsarzt gesagt, er müsse sich al-
lerdings zum „Durchkommen der Rente“ kontinuierlich krankschreiben lassen, weil eine Arbeitsfähigkeit im Widerspruch
zu der angestrebten Berentung stünde.
FALLBERICHT
Eine 44-jährige Modeverkäuferin, die jede Erkrankung als Kränkung zu erleben scheint, kommt mit Husten zu Ihnen. Die
Anamnese und die körperliche Untersuchung deuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Virusbronchitis hin. Sie teilen
der Patientin mit, dass zwei Tage Arbeitsunfähigkeit und damit Ruhe vernünftig seien. Als Sie ihr die Arbeitsunfähigkeits-
bescheinigung aushändigen, fragt sie nach einem Medikament. Sie bekräftigen, die Erkrankung sei zwar lästig, aber
harmlos. Sie erklären ihr, sie solle ausreichend trinken, sich schonen und ruhen, ein Medikament brauche sie aber nicht.
Die Patientin scheint weiterhin unzufrieden und murmelt etwas wie: „Aber irgendetwas muss ich doch tun.“ Sie gehen
darauf ein und verordnen ihr ein Mukolytikum.
LITERATUR
Antonovsky A. Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag, 1997.
Schüffel W, Brucks U, Johnen R et al. (Hrsg). Handbuch der Salutogenese. Wiesbaden: Ullstein Medical, 1998.
Wilm S, Abholz HH. Chronisches Kranksein (Kap. 17.4. bis 17.6). In: Kochen MM. Allgemeinmedizin und Familienmedizin.
Stuttgart: Thieme, 2012.
FALLBERICHT
Eine 65-jährige Biologin, die vor kurzem in den Ruhestand ging, klagt zunehmend über Kopfschmerzen, länger bestehen-
de Schlafstörungen, Unruhe und schnelle Erschöpfung. Sie erlebten die Patientin bisher als starke und ausgeglichene Frau
in stabilen beruflichen und familiären Verhältnissen. Seit der Heirat des Sohnes vor zwei Jahren brach der Kontakt nahezu
ab, die Schwiegertochter lässt nur selten Treffen zu. Der 1½-jährige Enkel wächst auf, ohne dass die Patientin eine rechte
Beziehung zu ihm herstellen kann.
Erläutern Sie den Begriff der Salutogenese und beschreiben Sie ihre wichtigsten Inhalte.
Der Begriff der Salutogenese stammt von Aaron Antonovsky, einem israelischen Wissenschaftler des letzten
Jahrhunderts, der als Medizinsoziologe herausfand, dass eine Gruppe von Frauen, die den unvorstellbaren
Horror in Konzentrationslagern überlebt hatten, sich dennoch bei physischer und psychischer Gesundheit
befand. Entgegen dem üblichen pathogenetischen Forschungsansatz in der Medizin versuchte er herauszu-
finden, warum Menschen gesund bleiben. Als Kern der Antwort auf die salutogenetische Frage formulierte er
das Konzept des Kohärenzgefühls (sense of coherence = SOC).
Das Kohärenzgefühl umfasst eine relativ stabile Handlungsorientierung, die sich aus der Möglichkeit er-
gibt, bestimmte Lebenserfahrungen gemacht zu haben, und besteht aus folgenden drei Komponenten:
• einer konsistenten, in sich stimmigen Umwelt, in der man Regelmäßigkeiten entdecken und Spielräume
ausloten kann (weder monoton noch chaotisch). Dies macht die Welt verständlicher („comprehensibility“),
1.6 Grenzen und Sektoren hausärztlicher Medizin 11
• einem Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Erholung. Die Anforderungen des täglichen Lebens blei-
ben bewältigbar, woraus das Gefühl der Handhabbarkeit der verfügbaren Ressourcen („managebility“)
resultiert,
• der Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die für die Gruppe oder Gesellschaft, in der man lebt, wichtig 1
sind. Es ist möglich und sinnvoll sich zu engagieren, woraus sich die Erfahrung der Sinnhaftigkeit oder
Bedeutsamkeit („meaning fullness“) ergibt.
Wie ist das Konzept auf die Problematik der Patientin zu übertragen? Was ist Ihre Aufgabe als Arzt?
Bekannt ist vom SOC (messbar nach dem Fragebogen zur Lebensorientierung von Antonovsky), dass er rela-
tiv stabil ist und sich auch nach schwerwiegenden Ereignissen wieder einstellt. Der Arzt sollte sich ausrei-
chend Zeit für die Patientin nehmen und einfühlsam über die Bewältigung der schwierigen Lebenssituation
sprechen.
Im Verlauf ist zu empfehlen, die Patientin durch motivierende Gesprächsführung (nach Miller und Roll-
nick) zu entlasten und ihre Bereitschaft zu fördern, die veränderten Familienverhältnisse zu akzeptieren,
vermehrt ihr eigenes Leben und das ihres Ehemanns in den Mittelpunkt zu rücken, sie auf salutogene Res-
sourcen aufmerksam zu machen, z. B. durch tägliche Spaziergänge und Entspannungsverfahren die Schlaf-
störungen zu reduzieren, in Kontakten mit Freunden fröhlich und entspannt zu sein, ihrem Mal-Hobby wie-
der nachzugehen und die Möglichkeiten auszuloten, das Verhältnis zur Schwiegertochter zu verbessern.
Berufliche Kooperationen im ambulanten „Sektor“ sind vielfältiger geworden. Warum? Nennen Sie
einige Formen der Zusammenarbeit.
Durch die Neufassung der ärztlichen Berufsordnung 2005 und das Inkrafttreten eines geänderten Vertrags-
arztrechts 2007 können nunmehr ärztliche und nichtärztliche Berufe gemeinsam in einer medizinischen Be-
rufsausübungsgemeinschaft tätig werden. Die Fachrichtungen sind frei kombinierbar. Ebenfalls sind privat-
rechtliche Ärztegesellschaften in Form einer juristischen Person möglich. Die Leitung einer solchen Gemein-
schaft kann auch ein Nicht-Arzt innehaben.
Niedergelassene Ärzte können an zwei weiteren Orten, auch über die Kammergrenzen hinaus, tätig sein.
Ärzte können im Angestelltenverhältnis und parallel als Freiberufler arbeiten. Die Anstellung kann in einer
Praxis oder durch andere Arbeitgeber erfolgen, z. B. durch die Träger der Sozialarbeit (Caritas, Diakonie,
Arbeiterwohlfahrt, DRK etc.) oder in einem medizinischen Versorgungszentrum (MVZ).
Was ist ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ)? Welche Vorteile, welche Nachteile hat ein MVZ?
Es handelt sich um eine mögliche Form der oben dargestellten Zusammenarbeit. Die Mitarbeiter in einem
MVZ sind in der Regel Angestellte der Trägerorganisation, z. B. einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder
einer GmbH, bisweilen an ein Krankenhaus angegliedert. Hier fungiert das MVZ als Poliklinik (Ambulanz)
mehrerer Fachrichtungen und kann sowohl die krankenhauseigenen Ambulanzen entlasten oder ersetzen,
die ambulante prä- und poststationäre Versorgung übernehmen als auch ambulante Eingriffe durchführen
bzw. die Indikation für einen stationären Aufenthalt stellen.
Durch die Zentralisierung können erhebliche Betriebskosten gegenüber einer Einzelpraxis und durch die
ambulante Behandlung gegenüber dem stationären Sektor eingespart werden. Die sektorale Trennung der
stationären und der ambulanten Versorgung ist bei einem Sitz am Krankenhaus de facto aufgehoben, nicht
jedoch die getrennte Vergütungssystematik.
Zur Bildung eines MVZ ist mindestens ein Kassenarztsitz erforderlich, der im MVZ aufgeht. Die angestell-
ten Ärzte verlieren meist ihren freiberuflichen Status, beziehen ihr Gehalt aber noch über die kassenärztliche
Vereinigung, d. h. sie tragen das betriebswirtschaftliche Risiko teilweise selbst und sind zudem – je nach
Vertragsgestaltung – kündbar. Auch angestellte Krankhausärzte können parallel im MVZ tätig werden. MVZ
sind eine Konkurrenz für Haus- und Fachärzte, da sie Öffnungszeiten und fachliche Spektren anbieten, die
niedergelassene selbstständige Ärzte in der Regel nicht erreichen.
MVZ etablieren sich zunehmend auch in der Fläche, d. h. auf dem Land, obwohl sie, ähnlich wie Einkaufs-
zentren, längere Anfahrtswege mit sich bringen. Sie sind weniger geeignet für Fächer mit starker Arztbin-
dung, z. B. für die Psychotherapie oder die hausärztliche Versorgung.
1.6 Grenzen und Sektoren hausärztlicher Medizin 13
Als niedergelassener Kassenarzt sind Sie Mitglied der kassenärztlichen Vereinigungen (KV) Ihres Bezirks.
Was sind die Aufgaben einer KV? Was änderte sich durch die Gesetzgebung?
Kassenärztliche Vereinigungen waren bisher Anstalten des öffentlichen Rechts mit Alleinvertretungsan-
spruch zur Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung, der Einhaltung hierfür erarbeiteter Regeln 1
sowie der planvollen und gerechten Verteilung der Einnahmen aus Versichertengeldern der Krankenkassen
an die Vertragsärzte. Außerdem hatten die KVen zusammen mit den Ärztekammern auf die Qualität kassen-
ärztlicher Tätigkeit zu achten und schlossen für die durch sie vertretenen Kassenärzte (Einheits-)Verträge
mit den Krankenkassen ab.
Die Gesetzgebung erlaubt nun Einzelverträge von Krankenkassen mit Ärzten oder Ärztegruppen zur
Wahrnehmung bestimmter Aufgaben, z. B. im Bereich der Prävention, Palliativmedizin oder für Risikoein-
griffe ohne Beteiligung der KVen.
Bitte erläutern Sie, warum die gesetzliche Trennung in Hausarzt- und spezialisierte Facharztfunktionen in
Deutschland nicht einem Primärarztprinzip wie in Holland entspricht.
• Der direkte Zugang zum fachärztlichen Spezialisten bleibt auch für gesetzlich Versicherte weiterhin
möglich.
• Die Hausarztseite setzt sich aus Allgemeinärzten, hausärztlichen Internisten und Kinderärzten
zusammen.
• Patienten können längerfristig von Spezialisten betreut werden. Die Regel in einem Primärarztsystem
lautet hingegen: „Zugang zum Spezialisten nur über den Hausarzt, Rückgabe des Patienten an den Haus-
arzt nach erfülltem Auftrag“.
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Abeilles, votre maître est mort,
Je vous porte le deuil ...