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Praxisleitfaden Ärztlicher

Bereitschaftsdienst: Mit Zugang zur


Medizinwelt (Klinikleitfaden) 4th Edition
Fobbe
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Praxisleitfaden
Ärztlicher
Bereitschafts­
dienst
4. Auflage

Herausgeber:
Gabriele Fobbe, Essen/Soest
Martina Heßbrügge, Essen
Dr. med. Hermann C. Römer, Essen

Weitere Autoren: Dr. med. Wolfgang Beyer, Essen; Dr. med. Anne Breetholt, Ochtrup;
Dr. med. Dorothea Dehnen, Essen; Dr. med. Stefan Esser, Essen; Andreas Fidrich, Essen;
Dr. med. Christoph Gerhard, Oberhausen; Dr. med. Michael Masrour, Mülheim an
der Ruhr; Dr. med. Stefanie Merse, Essen; Dr. med. Harald Messner, Wuppertal;
Sandra Niggemeier, Essen; Dr. med. Denise Rosenberger, Bochum-Wiemelhausen;
Dr. med. Christian Schleuss, Hagen; Dr. med. Edgar Strauch, Leipzig; Dr. med Eva Strüwer,
Dorsten; ­Christine Wienstroth, Wuppertal

Herausgeber der 3. Auflage:


Prof. Dr. med. Martin Hermann †, Sprockhövel
Prof. Dr. Thomas Quellmann, Hagen
Hackerbrücke 6, 80335 München, Deutschland, E-Mail: medizin@elsevier.de
Wir freuen uns über Ihr Feedback und Ihre Anregungen: books.cs.muc@elsevier.com

ISBN 978-3-437-22422-5
e-ISBN 978-3-437-17331-8

Alle Rechte vorbehalten


4. Auflage 2017
© Elsevier GmbH, Deutschland

Wichtiger Hinweis für den Benutzer


Die Erkenntnisse in der Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Er-
fahrungen. Herausgeber und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die
in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosie-
rung und unerwünschter Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den
Nutzer dieses Werkes aber nicht von der Verpflichtung, anhand der Beipackzettel zu verschreibender
Präparate zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Buch abweichen und
seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.
Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Ver-
lag keine Gewähr.
Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus
dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich
um einen freien Warennamen handelt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und
strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch
maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint.

Begründer der Reihe: Dr. Arne Schäffler, Ulrich Renz


Planung: Petra Schwarz, München
Projektmanagement: Sibylle Hartl, Valley
Redaktion: Michaela Mohr, Michael Kraft, mimo-booxx|textwerk., Augsburg
Herstellung: Sibylle Hartl, Valley; Johannes Kressirer, München
Satz: abavo GmbH, Buchloe
Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm
Fotos/Zeichnungen: s. Abbildungsnachweis
Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm
Titelfotografie: @ AdobeStock.com / fotomek

Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de und www.elsevier.com


Vorwort
In dringenden Fällen und außerhalb der Sprechzeiten – gibt es den ärztlichen Be-
reitschaftsdienst!
Der neue Praxisleitfaden gibt einen Überblick über die Akutversorgung der wich-
tigsten Behandlungsanlässe im Notdienst.
Die leitliniengerechte Überarbeitung der Spezialkapitel durch erfahrene ambulant
tätige Fachärzte zeigt Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung im Dienst auf
und gibt Anleitung für professionelles Schnittstellenmanagement bei notwendiger
Weiterbehandlung.
Besonders jüngeren Kollegen im Dienst wird die ärztliche Entscheidungsfindung
im Umgang mit akut Kranken und chronisch Kranken unter Berücksichtigung
des abwendbaren gefährlichen Verlaufs und einer Überversorgung erleichtert.
Entstanden ist ein Leitfaden von großer Praxisnähe, basierend auf fachärztlicher
Erfahrung und evidenzbasierter Medizin, geeignet zum schnellen Nachschlagen,
aber auch zur gezielten Vorbereitung auf den womöglich ersten oder unausweich-
lich nächsten Bereitschaftsdienst.
Bei der Aktualisierung der Kapitel begegneten wir Szenen aus dem eigenen Dienst.
Viel wichtiger aber begegneten wir an vielen Stellen unseren beiden Kollegen und
früheren Herausgebern Martin Hermann und Thomas Quellmann. Ihre Freude an
der Medizin und ihr unermüdliches Interesse, ihr Wissen und ihre Erfahrung kol-
legial weiterzugeben, finden sich auch in der Neuauflage.
Über Kritiken, Anregungen und Vorschläge zu unserem Buch würden wir uns
sehr freuen.
Unser herzlicher Dank gilt ebenso dem Elsevier-Verlag für die Neugestaltung des
Praxisleitfadens. Ein ganz besonderer Dank gilt Frau Sibylle Hartl, der Lektorin
des Verlages, die uns in allen Bereichen bei der Herausgabe professionell unter-
stützt hat.
Und nun wünschen wir einen ruhigen – oder besser, einen erfolgreichen Dienst!

Essen, im Frühjahr 2017 Die Herausgeber

Gabriele Fobbe
Martina Heßbrügge
Hermann C. Römer
© Medienzentrum Universitätsklinik Essen
Autorenverzeichnis
Herausgeber
Gabriele Fobbe, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Duisburg-Essen,
Pelmanstr. 81, 45131 Essen;
Gemeinschaftspraxis, Heinrich-Wilhelm-Str. 16, 59494 Soest
Martina Heßbrügge, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Duisburg-
Essen, Pelmanstr. 81, 45131 Essen;
Anästhesie-Centrum, Steeler Str. 402, 45138 Essen
Dr. med. Hermann C. Römer, Institut für Allgemeinmedizin der Universität
Duisburg-Essen, Pelmanstr. 81, 45131 Essen;
Gemeinschaftspraxis am Karlsplatz, Altenessener Str. 442, 45329 Essen

Autoren
Dr. med. Wolfgang Beyer, Hautarztpraxis, Karlstr. 1–3, 45329 Essen
Dr. med. Anne Breetholt, Marktplatz 1, 48607 Ochtrup
Dr. med. Dorothea Dehnen, Waldsaum 17, 45134 Essen
Dr. med. Stefan Esser, Klinik für Dermatologie und Venerologie, Universitätskli-
nikum Essen, Hufelandstr. 55, 45122 Essen
Andreas Fidrich, Bardelebenstr. 20, 45147 Essen
Dr. med. Christoph Gerhard, Mülheimer Str. 83, 46045 Oberhausen
Dr. med. Michael Masrour, Sanddornweg 31, 45481 Mülheim an der Ruhr
Dr. med. Stefanie Merse, Universitätsklinikum Essen, Virchowstr. 183, 45147 Essen
Dr. med. Harald Messner, Brändströmstr. 13, 42289 Wuppertal
Sandra Niggemeier, Altenessener Str. 446, 45329 Essen
Dr. med. Denise Rosenberger, Bürkle de la Camp-Platz 2, 44789 Bochum-Wie-
melhausen
Dr. med. Christian Schleuss, Tillmannsstr. 2, 58135 Hagen
Dr. med. Edgar Strauch, Katzstr. 16, 04289 Leipzig
Dr. med Eva Strüwer, Am Deich 43, 46282 Dorsten
Christine Wienstroth, Sudhoffstr. 29, 42283 Wuppertal

Nach der 3. Auflage ausgeschiedene Autoren


Prof. Dr. med. Thomas Dirschka, Wuppertal (▶ Kapitel Hautprobleme im Bereit-
schaftsdienst)
Prof. Dr. med. Martin Hermann†, Sprockhövel (▶ Kapitel Organisation des Bereit-
schaftsdienstes/Geriatrische Patienten im Bereitschaftsdienst/Illegale/Untersu-
chungstechniken/Pleurapunktion bei Spannungspneumothorax/Notfallmanage-
ment/Missbrauch und Misshandlung/Schlafstörungen/Diabetes mellitus/Patien-
ten mit Antikoagulanzien/Multiple Sklerose/Palliativmedizin im Bereitschafts-
dienst/Grundsätze der Schmerztherapie/Abrechnung und Dokumentation)
Prof. Dr. Thomas Quellmann, Hagen (▶ Kapitel Blasenkatheter/Pleurapunktion
bei Erguss/Leitsymptome/Blutungen/HNO-Notfälle/Ophthalmologische Notfäl-
le/Urologische Notfälle/Gynäkologische Notfälle/Vergiftungen und Ingestionen)
Prof. Dr. med. Stefan Gesenhues, Ochtrup (▶ Kapitel Schmerztherapie)
Dr. med. Heinz-Christian Wilkens, Sittensen (▶ Kapitel Gesprächsführung)
Dr. med. Klaus-Peter Wilkens, Dollern (▶ Kapitel Zahnärztliche und gesichtschir-
urgische Notfälle)
Bedienungsanleitung
Der Klinikleitfaden ist ein Kitteltaschenbuch. Das Motto lautet: Kurz, präzise und
praxisnah. Medizinisches Wissen wird komprimiert dargestellt. Im Zentrum ste-
hen die Probleme des klinischen Alltags. Auf theoretische Grundlagen wie Patho-
physiologie oder allgemeine Pharmakologie wird daher weitgehend verzichtet.
• Vorangestellt: Tipps für die tägliche Arbeit und Arbeitstechniken.
• Im Zentrum: Fachwissen nach Krankheitsbildern bzw. Organsystemen ge-
ordnet – wie es dem klinischen Alltag entspricht.
• Zum Schluss: Praktische Zusatzinformationen.
Wie in einem medizinischen Lexikon werden gebräuchliche Abkürzungen ver-
wendet, die im Abkürzungsverzeichnis erklärt werden.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden viele Querverweise eingefügt. Sie
sind mit einem Pfeil gekennzeichnet.

Wichtige Zusatzinformationen sowie Tipps

Notfälle und Notfallmaßnahmen

Warnhinweise

Internetadressen: Alle Websites wurden vor Redaktionsschluss im Oktober 2016


geprüft. Das Internet unterliegt einem stetigen Wandel – sollte eine Adresse nicht
mehr aktuell sein, empfiehlt sich der Versuch über eine übergeordnete Adresse
(Anhänge nach dem „/“ weglassen) oder eine Suchmaschine. Der Verlag über-
nimmt für Aktualität und Inhalt der angegebenen Websites keine Gewähr.
Die angegebenen Arbeitsanweisungen ersetzen weder Anleitung noch Super­vi­
sion durch erfahrene Kollegen. Insbesondere sollten Arzneimitteldosierungen
und andere Therapierichtlinien überprüft werden – klinische Erfahrung kann
durch keine noch so sorgfältig verfasste Publikation ersetzt werden.
Abbildungsnachweis
Der Verweis auf die jeweilige Abbildungsquelle befindet sich bei allen Abbildun-
gen im Werk am Ende des Legendentextes in eckigen Klammern.
A300 Reihe Klinik- und Praxisleitfaden, Elsevier/Urban & Fischer
A300–106 Henriette Rintelen, Velbert, in Verbindung mit der Reihe Klinik-
und Praxisleitfaden, Elsevier GmbH
A300–157 Susanne Adler, Lübeck, in Verbindung mit der Reihe Klinik- und
Praxisleitfaden, Elsevier GmbH
A300–183 Eckhard Weimer, Aachen, in Verbindung mit der Reihe Klinik-
und Praxisleitfaden, Elsevier GmbH
A300–190 Gerda Raichle, Ulm, in Verbindung mit der Reihe Klinik- und
Praxisleitfaden, Elsevier GmbH
A300–215 S. Weinert-Spieß, Neu-Ulm, in Verbindung mit der Reihe Pflege
konkret, Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, München
F781–005 Maconochie, I. K.: Lebensrettende Maßnahmen bei Kindern
(„paediatric life support“); In: Notfall & Rettungsmedizin, Sprin-
ger, Dec 2015, Vol. 18, Issue 8, p. 932–963; © German Resuscita-
tion Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council (ARC)
2015
F781–006 Soar, J., et al.: Erweiterte Reanimationsmaßnahmen für Erwach-
sene („adult advanced life support“); In: Notfall und Rettungs-
medizin, Springer, Dec 2015, Vol. 18, Issue 8, p. 770–832; © Ger-
man Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation
Council (ARC) 2015
F781–007 Truhlář, A., et al.: Kreislaufstillstand in besonderen Situationen;
Kapitel 4 der Leitlinien zur Reanimation 2015 des European Re-
suscitation Council; In: Notfall und Rettungsmedizin, Springer,
Jan 2015, Vol. 18, Issue 8, p. 833–903; © German Resuscitation
Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council (ARC) 2015
L106 Henriette Rintelen, Velbert
L139 Dieter Brokate, Hamburg
L157 Susanne Adler, Lübeck
L190 Gerda Raichle, Ulm
P234 Andreas Fidrich, Essen
T849 Universitätsklinikum Essen
T850 Institut für Rechtsmedizin, Prof. Bajanowski; Dr. Trübner, Uni-
versitätsklinikum Essen
W181 Kassenärztliche Bundesvereinigung, Köln
W188 Bundesdruckerei, Berlin
W203 World Health Organization Genf (WHO)
W257 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), juristische Person des
öffentlichen Rechts, Siegburg
W329 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Köln
W876 Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Berlin
Abkürzungsverzeichnis
Symbole
® Handelsname
↔ normal (im Normbereich)
↑ hoch, erhöht
⇈ stark erhöht
↓ tief, erniedrigt
⇊ stark erniedrigt
(▶) siehe (Verweis)
→ vgl. mit, daraus folgt

A
A.(a.) Arterie(n)
Abb. Abbildung
ACE Angiotensin Converting Enzyme
ACTH adrenokortikotropes Hormon
ADH antidiuretisches Hormon
AED automatisierte externe Defibrillation
AH Arzthelferin
AIDS Acquired Immune Deficiency Syndrome
AK Antikörper
amb. ambulant
Amp. Ampulle
ant. anterior
ANV akutes Nierenversagen
AOK Allgemeine Ortskrankenkasse
a. p. anterior-posterior
ART antiretrovirale Therapie
art. arteriell
ASR Achillessehnenreflex
ASS Acetylsalicylsäure
AsylbLG Asylbewerberleistungsgesetz
AsylVfG Asylverfahrensgesetz
Ätiol. Ätiologie
AU Arbeitsunfähigkeit
AVK arterielle Verschlusskrankheit
AZ Allgemeinzustand

B
bakt. bakteriell
BB Blutbild
bds. beidseits, bilateral
BE Base Excess
bes. besonders
BG Berufsgenossenschaft
BGA Blutgasanalyse
BLS Basic Life Support (Basismaßnahmen der Reanimation)
BSR Bizepssehnenreflex
BtM Betäubungsmittel
X   Abkürzungsverzeichnis 

BtMVV Betäubungsmittelverschreibungsverordnung
BWK Brustwirbelkörper
BWS Brustwirbelsäule
BZ Blutzucker
bzw. beziehungsweise

C
Ca Karzinom
ca. circa
CCT kraniale Computertomografie
Ch. Charrière
CHE Cholinesterase
chron. chronisch
Cl Chlorid
CMV Zytomegalievirus
COLD Chronic Obstructive Lung Disease
CO Kohlenmonoxid
CO2 Kohlendioxid
CPR kardiopulmonale Reanimation
CT Computertomogramm
CVI chronisch venöse Insuffizienz
°C Grad Celsius

D
d dies (Tag)
DD Differenzialdiagnose
D-Arzt Durchgangsarzt
desc. Descendens
d. h. das heißt
Diab. mell. Diabetes mellitus
Diagn. Diagnostik
diast. diastolisch
DIC disseminierte intravasale Koagulopathie
DK Dauerkatheter
DLRG Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V.
DOAK direkte orale Antikoagulanzien
Dos. Dosierung
DPT Diphtherie/Pertussis/Tetanus
Drg. Dragee/-s
DS Druckschmerz

E
EBM einheitlicher Bewertungsmaßstab
EBV Epstein-Barr-Virus
E. coli Escherichia coli
EHEC enterohämorraghische Escherichia coli
EKG Elektrokardiogramm/Elektrokardiografie
EL Esslöffel
ERCP endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikografie
Erkr. Erkrankung
Erw. Erwachsener
    
Abkürzungsverzeichnis XI

etc. et cetera
EU Extrauteringravidität
evtl. eventuell

F
FA Facharzt
FGM Female Genital Mutilation
FSME Frühsommermeningoenzephalitis

G
G Gauge
ggf. ggf.
GIT Gastrointestinaltrakt
GOÄ Gebührenordnung für Ärzte
gyn. gynäkologisch

H
h Stunde
HA Hausarzt
HBV Hepatitis-B-Virus
HF Herzfrequenz
HG Handgelenk/-e
HHV humanes Herpesvirus
HIT Heparin-induzierte Thrombozytopenie
HNO Hals-Nasen-Ohren
HOPS hirnorganisches Psychosyndrom
HRST Herzrhythmusstörungen
HT Herzton
HWI Harnwegsinfektion
HWK Halswirbelkörper
HWS Halswirbelsäule

I
i. c. intrakutan
ID Innendurchmesser
i. d. R. in der Regel
ICR Interkostalraum
IE Internationale Einheit
IfSG Infektionsschutzgesetz
IgE Immunglobulin E
i. m. intramuskulär
Ind. Indikation
inf. inferior
inkl. inklusive
insbes. insbesondere
Insuff. Insuffizienz
ITP idiopathische thrombozytopenische Purpura
IUP Intrauterinpessar
i. v. intravenös
XII   Abkürzungsverzeichnis 

J
J Joule
J. Jahr(e)

K
K Kalium
Kap. Kapitel
KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung
KG Körpergewicht
/kg KG pro Kilogramm Körpergewicht
KHK koronare Herzkrankheit
KI Kontraindikation(en)
KK Krankenkasse
KO Komplikation
kons. konservativ
Konz. Konzentration
Kps. Kapsel
KRINKO Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprophylaxe des
Robert Koch-Instituts
KTW Krankentransportwagen
KV Kassenärztliche Vereinigung
KW Kohlenwasserstoff/e

L
l Liter
L1–L5 Lumbalsegment 1–5
LA Lokalanästhesie
li links
Lj./LJ. Lebensjahr
Lk/LK Lymphknoten
LP Liquorpunktion
Lsg. Lösung
LWK Lendenwirbelkörper
LWS Lendenwirbelsäule

M
M., Mm. Musculus, Musculi
MAO Monoaminooxidase
max. maximal
MCL Medioklavikularlinie
MCP Metoclopramid
MER Muskeleigenreflexe
mg Milligramm
min. minimal
Min. Minute
mind. mindestens
Mio. Millionen
mittl. mittlere
ML Messlöffel
ml Milliliter
 Abkürzungsverzeichnis XIII
   

Mon. Monat(e)
MRT Magnetresonanztomografie
MS multiple Sklerose

N
N., Nn. Nervus, Nervi
NaCl Natriumchlorid
NAP Nervenaustrittspunkte
NAW Notarztwagen
neg. negativ
NEF Notarzteinsatzfahrzeug
Neugeb. Neugeborenes
NHL Non-Hodgkin-Lymphom
NLG Nervenleitgeschwindigkeit
NMH niedermolekulares Heparin
NNH Nasennebenhöhlen
NNR Nebennierenrinde
NRTI Nukleosid-Reverse-Transkriptase-Inhibitor
NSAID nichtsteroidale Antirheumatika/Antiphlogistika
NW Nebenwirkung

O
o. Ä. oder Ähnliches
OAD orale/s Antidiabetikum/a
o. B. ohne Besonderheit
ÖGD Ösophagogastroduodenoskopie
OP Operation
OS Oberschenkel
OSG Oberes Sprunggelenk

P
p. a. posterior-anterior
Päd. Pädiatrie
Pat. Patient/Patientin/Patienten/Patientinnen
pAVK periphere arterielle Verschlusskrankheit
PEG perkutane endoskopische Gastrostomie
p. i. post ingestionem
PID Präimplantationsdiagnostik
P. m. Punctum maximum
PNP Polyneuropathie
p. o. per os
Polio Poliomyelitis
PRIND Prolonged Reversible Ischaemic Neurologic Deficit
PSR Patellarsehnenreflex

R
RA rheumatoide Arthritis
re. rechts
Re- Wiederholung
respir. respiratorisch
rez. rezidivierend
XIV   Abkürzungsverzeichnis 

RG Rasselgeräusch
Rö Röntgen
Rp. Rezept
RPR Radiusperiostreflex
RR Blutdruck nach Riva-Rocci
RSV Respiratory-Syncytial-Virus
RTH Rettungshubschrauber
RTW Rettungswagen

S
S. Seite
s. c. subkutan
s Sekunde(n)
S1–S5 Sakralsegment 1–5
SAB Subarachnoidalblutung
SAPV spezialisierte Palliativversorgung
Säugl. Säugling/-e
SHT Schädel-Hirn-Trauma
SIDS Sudden Infant Death Syndrome
SI-Gelenk Sakroiliakalgelenk
s. o. siehe oben
SSW Schwangerschaftswoche
stgl. seitengleich
s. u. siehe unten
sup. superior
Sy. Symptom
Syn. Synonym
Syndr. Syndrom
syst. systolisch

T
T3 Trijodthyronin
T4 Thyroxin (vierfach jodiert)
Tab. Tabelle
tgl. täglich
Tbc Tuberkulose
Tbl. Tablette/-n
TEN toxisch epidermale Nekrolyse
TF Trommelfell/-e
Ther. Therapie
THW Technisches Hilfswerk
TIA transitorische ischämische Attacke
TL Teelöffel
Tr. Tropfen
TTS transdermales therapeutisches System (transdermales [Wirkstoff-]
Pflaster)
TU Tumor
TVT tiefe Venenthrombose
 Abkürzungsverzeichnis XV
   

U
u. a. und andere
US Unterschenkel

V
V. a. Verdacht auf
v. a. vor allem
VES ventrikuläre Extrasystole
VF Kammerflimmern
vgl. vergleiche
VP Vitalitätsprobe
Vit. Vitamin
VSM Vena saphena magna
VSP Vena saphena parva
VT Kammertachykardie

W
Wo. Woche(n)
WPW Wolff-Parkinson-White-Syndrom

Z
z. B. zum Beispiel
Ziff. Ziffer
Z. n. Zustand nach
ZNS zentrales Nervensystem
z. T. zum Teil
ZVD zentraler Venendruck
ZVK zentraler Venenkatheter
1 Tipps für den Bereitschaftsdienst
Andreas Fidrich, Hermann C. Römer und Christine Wienstroth

1.1 Organisation des 1.3.4 Sterben und Tod


­Bereitschaftsdienstes Andreas Fidrich und
Andreas Fidrich und Hermann C. Römer 19
Hermann C. Römer 2 1.4 Juristische Aspekte
1.1.1 Grundsätzliches 2 Andreas Fidrich und
1.1.2 Organisation der eigenen Hermann C. Römer 21
Praxis 1.4.1 Rechtliche Grundlagen des
Hermann C. Römer 3 Bereitschaftsdienstes 21
1.1.3 Die Bereitschaftstasche 1.4.2 Zwangseinweisung 22
Andreas Fidrich und 1.4.3 Palliativmedizinische
Hermann C. Römer 5 Aspekte 23
1.2 Zusammenarbeit mit anderen 1.4.4 Leichenschau 25
­Organisationen 1.5 Formulare
Andreas Fidrich und Andreas Fidrich und
Hermann C. Römer 10 Hermann C. Römer 29
1.2.1 Rettungsdienst 10 1.5.1 Die Chipkarte 29
1.2.2 Krankenhäuser 11 1.5.2 Notfallschein
1.2.3 Fachärzte 11 Muster 19 a–c 29
1.2.4 Pflegedienste 12 1.5.3 Rezepte 31
1.2.5 Alten- und Pflegeheime 12 1.5.4 Krankenhauseinweisung
1.2.6 Notapotheken 12 (Muster 2) 33
1.3 Besondere Patientengruppen 1.5.5 Transportschein
Andreas Fidrich, (Muster 4) 33
Hermann C. Römer und 1.5.6 Arbeitsunfähigkeitsbeschei-
Christine Wienstroth 13 nigung (Muster 1) 33
1.3.1 Patienten fremder Kulturkreise 1.5.7 Ärztliche Unfallmeldung F1050
Andreas Fidrich und an die Berufsgenossen-
Hermann C. Römer 13 schaften 34
1.3.2 Asylbewerber und Flüchtlinge 1.5.8 Bescheinigung der
Andreas Fidrich und ­Haftfähigkeit 36
Hermann C. Römer 15 1.5.9 Totenschein 36
1.3.3 Obdachlose und
wohnungslose Patienten
Christine Wienstroth 17
2 1 Tipps für den Bereitschaftsdienst 

1.1 Organisation des Bereitschaftsdienstes


Andreas Fidrich und Hermann C. Römer
1
1.1.1 Grundsätzliches
Ob an Werktagen, außerhalb der täglichen Praxissprechzeiten oder an Sonn- und
Feiertagen, Patienten suchen zu jeder Tages- und Nachtzeit ärztlichen Rat und
Behandlung. Die kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) als Dachorganisation
und ihre kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) müssen diesen Bedarf, dem So-
zialgesetzbuch (SGB V, § 75, Abs. 1) entsprechend, decken und die vertragsärztli-
che Versorgung auch zu sprechstundenfreien Zeiten sicherstellen (Notdienst). Bei
der örtlichen Umsetzung der Organisation ergeben sich aufgrund unterschiedli-
cher Infrastrukturen individuelle Unterschiede. Grundsätzlich kann der Bereit-
schaftsdienst in Fahr- und Sitzdienst unterteilt werden. Die Zuweisung erfolgt
über die Telefonzentrale.

Der ärztliche Notdienst wird in der Bevölkerung häufig mit dem Notarzt-
dienst gleichgesetzt. Die notärztliche Versorgung im Rahmen des Rettungs-
dienstes obliegt jedoch nicht der KBV (▶ 1.2.1).

Organisation des Bereitschaftsdienstes durch die Kassenärztliche Vereinigung oder


die Ärztekammer eher in Städten:
• Dienstplanschema: Es wird für die beteiligten niedergelassenen Ärzte bzw.
deren Vertreter von der KV ein Dienstplan erstellt. Festlegung i. d. R. quar-
talsweise, z. T. auch jährlich.
• Alarmierung: Seit 2015 ist der ärztliche Notdienst unter der kostenfreien und
bundeseinheitlichen Rufnummer 116 117 erreichbar. In einigen Regionen
bietet die KV eine „Notfalldienst-App“ für Mobilgeräte an (z. B. KV Westfa-
len-Lippe). Allgemeine Informationen der KBV können Patienten unter
www.116117info.de erhalten. In Berlin, Bayern und Frankfurt am Main steht
der Notdienst derzeit durchgehend zur Verfügung.
• Beförderungsmittel: Taxi oder eigener Pkw, z. T. besondere Notdienstfahr-
zeuge.
Organisation des Bereitschaftsdienstes durch die beteiligten Ärzte Eher in ländli-
chen Regionen; i. d. R. Zusammenschluss der Ärzte zu Notdienstringen, um die
zeitliche Belastung zu minimieren.
• Zumeist ebenfalls Dienstplanschema: Erstellung durch Notdienstring; Veröf-
fentlichung in der örtlichen Presse.
• Alarmierung: Der Bereitschaftsdienst muss jederzeit erreichbar sein; wie er
dies organisiert, bleibt ihm selbst überlassen (▶ 1.1.2).
Fahrdienst Hausbesuchstätigkeit mit ständigem Kontakt zur Telefonzentrale.
Einige ländliche Modelle decken hierbei auch Aufgaben des Rettungsdienstes mit
ab.
Sitzdienst Notfallsprechstunde in einer Praxis bzw. in Notfallpraxen im Stadt-
zentrum oder in räumlicher Anbindung an ein Krankenhaus. Es stehen evtl. diag-
nostische Geräte (vom EKG bis zur Röntgeneinrichtung) zur Verfügung, auf die
der Fahrdienst i. d. R. nicht zurückgreifen kann. In den Städten existieren meist
auch spezielle gebietsärztliche Bereitschaftsdienste, z. B. Augen-, HNO-, Kinder-
ärzte.
 1.1 Organisation des Bereitschaftsdienstes 3

Telefonzentrale Zentrale Stelle zur Annahme der Notrufe. In Städten meist von
KV und Kammer mit Arzthelferinnen, teilweise auch mit Ärzten besetzte Einrich-
tung, die die Pat. je nach Erkr. in die Praxen verteilt oder den Fahrdienst steuert.
1
1.1.2 Organisation der eigenen Praxis
Hermann C. Römer

Qualifikation von Arzt und Hilfskraft für den Bereitschaftsdienst


• Arzt Generell erfüllt jeder niedergelassene Arzt die Voraussetzungen für die
Teilnahme am Bereitschaftsdienst. Möglichkeiten, sich auf den ärztlichen
Bereitschaftsdienst vorzubereiten:
– Zusatzbezeichnung „Arzt im Rettungsdienst“.
– Teilnahme am Bereitschaftsdienst bei erfahrenem Kollegen (Ausbildung
in der KV-Vorbereitungszeit intensiv nutzen!).
– Hospitation auf NEF oder Intensivstation (nur bedingt geeignet!).
– Studium entsprechender Literatur (Praxisleitfaden Ärztlicher Bereit-
schaftsdienst).
• Hilfskraft Sie muss nicht unbedingt die Qualifikation eines medizinischen
Assistenzberufs (Arzthelferin, MTA, Krankenschwester) besitzen, sollte je-
doch:
– Über medizinisches Basiswissen verfügen.
– In medizinischen Notfallsituationen ruhig und überlegt handeln können.
– Die Grundregeln des Notfallmanagements beherrschen (Wer? Wo? Was?
Wie viel?).
– Die Dringlichkeit der Hilfsanforderung richtig einschätzen.
– Kenntnisse über die Struktur des örtlichen Rettungssystems besitzen.
– Die Therapiemöglichkeiten von Arzt und Praxis kennen.
– Über Ortskenntnisse verfügen.
– Einfühlungsvermögen im kommunikativen Umgang zeigen (z. B. Patien-
tenberuhigung).
Erreichbarkeit Es besteht die Verpflichtung der Durchführung des ärztlichen
Bereitschaftsdienstes vom Praxisort aus. Eine durchgehende telefonische Erreich-
barkeit muss sichergestellt werden. Der Hinweis auf die notärztliche Hilfsmög-
lichkeit durch einen Ansagetext auf dem Anrufbeantworter allein ist nicht ausrei-
chend!

Die Erreichbarkeit über das Mobiltelefon ist nicht überall störungsfrei ge-
währleistet! Im Zweifelsfall wird das dem Arzt angelastet.

Möglichkeiten, die Erreichbarkeit während des Bereitschaftsdienstes zu si-


chern:
• Besetzung des Praxistelefons durch eine Arzthelferin oder eine andere kom-
petente Hilfskraft, welche wiederum mit dem Bereitschaftsarzt in direkter
Verbindung steht.
• Anrufweiterschaltung auf ein Mobiltelefon (in Arzthand).
Im Gegensatz zum Notarzt gibt es für den ärztlichen Bereitschaftsdienst keine ge-
setzlich festgelegte „Hilfsfrist“. Die Alarmierungszeiten hängen von Entfernun-
gen, Straßenzustand und Witterung ab. Der Arzt im Bereitschaftsdienst ist ganz
normaler Verkehrsteilnehmer, er darf keine Sonder- und Wegerechte in Anspruch
nehmen.
4 1 Tipps für den Bereitschaftsdienst 

Sprechzeiten Neben der Versorgung von Notfallpatienten zu Hause, soll der Be-
reitschaftsdienst für Pat. (in weniger dringenden Fällen) auch in seiner Praxis er-
reichbar sein. Hier haben sich sogenannte „Kernsprechzeiten“ zwei- oder dreimal
1 täglich bewährt, die in der örtlichen Presse bekannt gemacht werden. Dies ermög-
licht ein effektives und sinnvolles Zeitmanagement.
Ergänzung der Praxisausstattung Im ländlichen Bereich mit einiger Entfernung
zum nächsten Krankenhaus wären folgende Diagnose- und Therapiemöglichkei-
ten ideal:
• Otoskop, „kleines Labor“ (Blut und Urin), EKG (12-Kanal-Ableitung), Ultra-
schallgerät (zur Untersuchung des Abdomens und des Urogenitaltrakts).
• Materialien zur Versorgung geringfügiger Verletzungen (inkl. Möglichkeit
zur Wundnaht in Lokalanästhesie; aktive und passive Tetanusimpfung), An-
lage von Druckverbänden.
• Set zur Katheterisierung der Harnblase.
• Instrumente zur Entfernung von Fremdkörpern (z. B. Pinzette).
• Subkutane, intramuskuläre und intravenöse Injektionen, Infusionen.
• Möglichkeit der Erstversorgung lebensbedrohlicher Zustände (Notfallkoffer,
▶ 1.1.3).
• Ein AED (automatisierter externer Defibrillator, ▶ 3.5.1).
Labor und apparative Diagnostik im Bereitschaftsdienst Jeder Bereitschaftsarzt
wird die Möglichkeiten nutzen, die ihm im Augenblick der Inanspruchnahme zur
Verfügung stehen. Je mehr das sind, desto größer ist die Bandbreite der laborche-
mischen Diagnostik und Ausschlussdiagnostik. Grenzen nach oben gibt es nicht.
Der Arzt „im Fahrdienst“ kann meist schon aus Platz- und Gewichtsgründen kei-
ne größeren Geräte mit sich herumtragen.

Mindestanforderung für den ärztlichen Bereitschaftsdienst ist die Möglich-


keit der Blutzuckeranalyse. Als Ergänzung zur Blutzuckerbestimmung sind
sinnvoll:
• Urinstix: weitere Differenzierung von Erkr. des Urogenitaltrakts.
• EKG: Objektivierung von Herzrhythmusstörungen und zur Überwa-
chung.
• „Trockenchemie“-Labor (z. B. Reflotron®): gezielte Bestimmung weite-
rer Blutparameter wie „Herz-/Leberenzyme“, Retentionswerte der Nie-
re, Harnsäure, Amylase, Hb.
• Sonografiegerät: Abklärung abdomineller oder urogenitaler Beschwer-
den.

Alle apparativen und labortechnischen Möglichkeiten ersetzen keinesfalls


eine gründliche Anamnese und körperliche Untersuchung! Im Zweifelsfall
sollte immer der klinische Verdacht das weitere Handeln des Arztes bestim-
men!
 1.1 Organisation des Bereitschaftsdienstes 5

1.1.3 Die Bereitschaftstasche
Andreas Fidrich und Hermann C. Römer
1
Eine gut organisierte Notfalltasche ist Grundvoraussetzung für den Bereitschafts-
dienst (▶ Tab. 1.1). Für Ausrüstung und mitgeführte Medikamente gibt es derzeit
keine verbindlichen Vorgaben. Ob Koffer (z. B. Soehngen EUROMED), Rucksack
(Pax® Notfall-Rucksack P5/11 L) oder Tasche (z. B. Pax® Arzt-Tasche L), die Wahl
kann nach persönlichen Vorlieben getroffen werden.
Diagnostik und Therapie
Für die Basisdiagnostik und -therapie sollte eine einheitliche Grundausstattung
vorgehalten werden. Thematisch separierte Taschen (z. B. Infusions-/Blutentnah-
mepaket) erlauben im Notfall eine bessere Übersicht und schnellere Auffindung
aller Materialeien. Innerhalb der Praxis müssen regelmäßige Kontrollintervalle
und deren Umfänge festgelegt werden. Diese müssen die Überprüfung auf Funk-
tionstüchtigkeit, Vollständigkeit und Verfallsdaten beinhalten. Kontrollen sollten
anhand einer Checkliste dokumentiert werden. Zur Aufbewahrung von Doku-
menten eignen sich separate Dokumentenfächer oder -mappen.
Im Folgenden ist exemplarisch eine Ausstattung nach o. g. Gesichtspunkten auf-
geführt. Der dargestellte Inhalt ist lediglich eine Empfehlung und erhebt keinen
Anspruch auf Vollständigkeit. Individuelle Vorlieben finden keine Berücksichti-
gung.

Die Reanimationspflichtigkeit eines Patienten stellt im Bereitschaftsdienst


eine absolute Ausnahmesituation dar. Bei der Durchführung der kardiopul-
monalen Reanimation in der Anfangsphase ist es von besonderer Bedeu-
tung, einen suffizienten Kreislauf durch effiziente Thoraxkompressionen
aufzubauen; diese können durch Beatmungen ergänzt werden. Das Legen
eines intravenösen Zugangs, eine Medikamentengabe und die definitive
Atemwegssicherung haben i. d. R. eine geringe Bedeutung. Der Bereitschafts-
dienst sollte sich deshalb bis zum Eintreffen des Rettungsdienstpersonals auf
ein effektiven Basic-Life-Support (BLS) gemäß Empfehlungen des European
Resuscitation Council (ERC, Leitlinien 2015, ▶ 3.4.1) beschränken!

Die endotracheale Intubation gilt als Goldstandard einer definitiven Atem-


wegssicherung. In den meisten Fällen des Bereitschaftsdienstes ist sie jedoch
nicht zwingend notwendig, so ist z. B. bei der Reanimation eine suffiziente
Beutel-Masken-Beatmung ausreichend. Die Intubation sollte deshalb Ärzten
mit Erfahrung und regelmäßiger Durchführung vorbehalten bleiben (Anäs-
thesisten und erfahrene Notärzte).

Medikamente
Es ist sinnvoll, die Auswahl und die Anzahl der Medikamente anhand der am
häufigsten auftretenden, regionalen Leitsymptome und Erkrankungen im Bereit-
schaftsdienst zu bemessen. Unökonomischer Medikamentenverfall kann so ver-
hindert werden. Um eine unbeabsichtigte Beschädigung zu vermeiden, können
Medikamente in einem bruchfesten Ampullarium mitgeführt werden.
Im Folgenden ist eine Auswahl von Notfallmedikamenten aufgeführt. Spezielle
Medikamente können entsprechend persönlicher Erfahrungen angepasst werden
(▶ Tab. 1.2).
1
6 1
Tab. 1.1  Grundausstattung Bereitschaftstasche
Diagnostik Atemwege • Mundspatel (einzeln verpackt!)
• Stethoskop
• Pulsoxymeter
Kreislauf Blutdruckmessgerät (normal, groß)
Neurologie • Diagnostikleuchte
• Reflexhammer
• Bluzuckermessgerät
Sonstiges • Otoskop, Einwegtrichter
• Fieberthermometer
• Stimmgabel (Rydel Seiffer)
Maßband 1,5 m
Therapie Paket „Atemwege“ (blau) • Oropharyngealtubus (Guedel, Gr. 2, 3, 4)
• Nasopharyngealtubus (Wendl, CH 18, 20, 24)
Tipps für den Bereitschaftsdienst 

• Beatmungsbeutel, Reservoirbeutel
• Beatmungsmaske (Gr. 3, 4, 5)
• Larynxtubus-Set (Gr. 3, 4, 5)
Paket „i. v. Zugang/Blutentnahme“ (rot) • Stauschlauch
• Hautdesinfektion
• Einwegtupfer (unsteril)
• Zugang i. v. (je 5 Stk.: 22 G, 20 G, 18 G)
• Mandrin (je 5 Stk.: 22 G, 20 G, 18 G)
• Pflaster
• Butterfly-Kanülen (5 Stk.)
• Spritzen (2 × 20 ml, 5 × 10 ml, 10 × 5 ml, 5 × 2 ml)
• Kanülen
• Monovetten (3× Serum, 3× Citrat, 3× EDTA)
Paket „Trauma/Wunden“ (grün) • Schleimhaut-/Wunddesinfektion 
• Wundschnellverband (1 Rolle)
• Sterile Kompressen (5 Stk.)
• Mullbinden (5 Stk.)
• Dreiecktuch (1 Stk.)
• Sam-Splint®-Schiene
• Pflasterstreifen (z. B. Leukosilk®)
• Steristripes (5 Pack.)
• Transparentverband Rolle 10 × 10 cm
• Cool-Pack (2 Stk.)
• Verband- und Kleiderschere
• Fadenziehset (1 Stk.)
• Einwegpinzette (2 Stk.)
• Einwegskalpell (2 Stk.)
• Sterile Einweghandschuhe
• Hydrogel-/Schaumstoff-Wundauflage (4 Stk.).
Sonstiges • Einmalhandschuhe
• Rettungsdecke
• Infusionsbesteck (5 Stk.)
• NaCl 250 ml (2 Stk.)
• Glukose 20 % 250 ml (1 Stk.)
• Müllbeutel für Abfälle
• Spitzabwurf
• Einwegmundstücke für Dosieraerosole
Dokumentation Allgemein • Transportscheine
• Einweisungsscheine
• Kassenrezepte
• Privatrezepte
• Notfallbehandlungsscheine
• Kartenlesegerät
• Notizblock, Kugelschreiber
• Diktiergerät
Todesfall • Totenscheine
• Kontaktnummern Notfallseelsorge
1.1 Organisation des Bereitschaftsdienstes 7

1
1
8 1
Tab. 1.2  Medikamente Bereitschaftstasche
Einsatzgebiet Wirkstoff Handelsname (Bsp.) Darreichung Applikation Einsatzgebiet
Atemwege Salbutamol SalbuHexal® 0,1 mg/Hub inhal. Bronchiale Obstruktion
Reproterol Bronchospasmin® 0,09 mg/Amp. à 1 ml i. v. Bronchiale Obstruktion
Dexamethason Fortecortin® 8 mg/Amp. i. v. Bronchiale Entzündungsreaktion
Herz-Kreislauf Amiodaron Cordarex® 150 mg/Amp. à 3 ml i. v. Herz-Kreislauf-Stillstand, Rhythmusstörungen
Urapidil Ebrantil® 100 mg/Amp. à 10 ml i. v. Hypertensive Krise/Notfall
Methyldopa Presinol® 250 mg/Tbl. p. o. Schwangerschaftshypertonie
Atropin Atropinsulfat® 0,5 mg/Amp. à 1 ml i. v. Bradykardie, AV-Block
Cafedrin + Akrinor® 200/10 mg/Amp. i. m., i. v. Hypotonie (nicht bei absol. Vol.-Mangel)
­Theodrenalin
Furosemid Lasix® 20 mg/Amp. à 2 ml i. v. Ödeme
Tipps für den Bereitschaftsdienst 

Glyceroltrinitrat Nitrolingual® 0,4 mg/Hub s. l. Angina pectoris, Hypertonie (off label use)
NaCl 0,9 % – 250/500 ml/Infusion i. v. Infusionstherapie
Glucose 20 % – 500 ml/Infusion i. v. Infusionstherapie, Hypoglykämie
Psychiatrie/ Haloperidol Haldol® 5 mg/Amp. à 1 ml i. v. Akute Psychose
Neurologie Promethazin Atosil® 50 mg/Amp. à 2 ml i. v. Unruhezustände, Angst, Aggressivität (Allergie,
Übelkeit)
Acetylsalicylsäure Aspirin® 500 mg Trockensubst. i. v. Schmerzen, Migräne
+ 5 ml Aqua dest.
Analgesie Paracetamol Perfalgan® 10 mg/ml Inf.-Lsg. Schmerzen, Fieber
Diclofenac Diclac® 75 mg/Amp. à 2 ml i. v. Akuter Gichtanfall, rheumatische Beschwerden,
Neuralgien
Metamizol Novalgin® 1000 mg/Amp. i. v. Schmerzen, Koliken, therapieresist. Migränean-
fall, Fieber
Morphin MSI Mundipharma® 20 mg/Amp. à 1 ml i. v. Schwere Schmerzzustände

Sedierung Midazolam Dormicum® 5 ml/Amp. à 5 ml i. v. Sedierung, Krampfanfall
Lorazepam Tavor Expidet® 2,5 mg/Tbl. p. o., bukk. Angstzustände, Status epilepticus, Schlafstörun-
gen (kurzfristig!)
Diazepam Diazepam ratio® 5/10 mg/Rektaltube rektal Krampfanfälle, Fieberkrampf, Status epilepticus
Antikoagulati- Acetylsalicylsäure Aspirin® 500 mg Trockensubst. i. v. Myokardinfarkt
on + 5 ml Aqua dest.
Heparin Heparin-Calcium-ra- 5000 IE/Amp. à 0,2 ml i. v. Lungenembolie, Myokardinfarkt, Thrombose
tioph.®
Anaphylaxie Adrenalin Suprarenin® 1 mg/Amp. à 1 ml o. i. v., i. m., inhal. Herz-Kreislauf-Stillstand, Anaphylaxie
25 mg/25 ml
Dimetinden Fenistil® 4 mg/Amp. à 4 ml i. v. Allergische Reaktion
Prednisolon Solu-Decortin® 250 mg/Amp. i. v. Allergische Reaktion
Prednisolon Rectodelt® 100 mg/Supp. rektal Allergische Reaktion
GI-Trakt Butylscopolamin Buscopan® 20 mg/Amp. à 1 ml i. v. Spasmen der glatten Muskulatur (Magen, Darm,
Gallen- und Harnwege, weibl. Genitalorgane)
Pantoprazol Pantozol® 40 mg/Amp. i. v. Ulcus duodeni/ventriculi, Refluxösophagitis
Dimenhydrinat Vomex A® 62 mg/Amp. à 10 ml i. v. Schwindel, Übelkeit/Erbrechen, Reisekrankheit
Pädiatrie Ibuprofen Nurofen® Saft 100/200/5 ml p. o. Fieber, Schmerzen
Antidote Flumazenil Anexate® 1 mg/Amp. à 10 ml i. v. Benzodiazepinintoxikation
Naloxon Naloxon® 0,4 mg/Amp. à 4 ml i. v. Opiatintoxikation
Phytomedanion Konakion® 10 mg/Amp. à 1 ml i. v. Unstillbare Blutungen durch Vit.-K-Antagonisten
(Vit. K1)
1.1 Organisation des Bereitschaftsdienstes 9

1
10 1 Tipps für den Bereitschaftsdienst 

1.2 Zusammenarbeit mit anderen


1 ­Organisationen
Andreas Fidrich und Hermann C. Römer

1.2.1 Rettungsdienst
Träger des Rettungsdienstes in Deutschland sind Kreise und kreisfreie Städte (z. B.
NRW), in ländlichen Bereichen auch Hilfsorganisationen (z. B. BaWü). Regelungen zu
Organisation und Durchführung sind in regionalen Rettungsgesetzen geregelt (z. B.
RettG NRW). Der Rettungsdienst umfasst grundsätzlich die Durchführung des Kran-
kentransports und der Notfallrettung. Die Koordination erfolgt über eine zentrale
Rettungsleitstelle. Zusätzlich zu medizinischen Rettungsmitteln kann über die Leitstel-
le auch technische Hilfe angefordert werden (Feuerwehr, Technisches Hilfswerk).
Folgende Rettungsmittel lassen sich unterscheiden:
• Krankentransportwagen (KTW): Krankentransport ohne vitale Gefährdung.
• Rettungswagen (RTW): dringender Notfalltransport, Überwachungsbedarf
ohne die Notwendigkeit einer ärztlichen Begleitung.
• Notarzteinsatzfahrzeug (NEF): Notarztzubringer im „Rendezvous-System“
bei Notwendigkeit einer ärztlichen Begleitung, mit vitaler Gefährdung.
• Rettungshubschrauber (RTH): Notfalltransport mit Arztbegleitung über
weite Strecken (z. B. in Verbrennungszentren), Träger sind u. a. DRF, ADAC
und die Bundeswehr.
Die Auswahl des Rettungsmittels erfolgt i. d. R. durch die Leitstelle entsprechend
der Notfallsituation. Deshalb ist es wichtig, möglichst genaue Angaben zum Zu-
stand des Patienten zu machen. Sie können der Leitstelle eine Empfehlung des
Rettungsmittels aufgrund der Einschätzung vor Ort mitteilen, letztlich wird diese
aber nach dem örtlichen Indikationskatalog für den Notarzteinsatz entscheiden.
Einen Überblick gibt ▶ Tab. 1.3.

Tab. 1.3  Indikationskatalog Notarzteinsatz (BÄK, Stand: 22.2.2013)


Funktion Zustand Beispiel

Bewusstsein Reagiert nicht oder nicht Schädel-Hirn-Trauma (SHT), Schlag-


­adäquat auf Ansprechen anfall, Vergiftungen, Krampfanfall,
und Rütteln Koma

Atmung Keine normale Atmung, aus- Asthmaanfall, Lungenödem, Aspira-


geprägte oder zunehmende tion
Atemnot, Atemstillstand

Herz/Kreislauf Akuter Brustschmerz, aus­ Herzinfarkt, Angina pectoris, akutes


geprägte oder zunehmende Koronarsyndrom (ACS), Herzrhyth-
Kreislaufinsuffizienz, Kreis- musstörungen, hypertone Krise,
laufstillstand Schock

Sonstige Schä- Schwere Verletzung, schwe- Thorax-/Bauchtrauma, SHT, größere


digungen mit re Blutung, starke akute Amputationen, Ösophagusvarizen-
Wirkung auf Schmerzen, akute Lähmun- blutung, Verbrennungen, Frakturen
die Vital­funk­ gen mit deutlicher Fehlstellung, Pfäh-
tio­nen lungsverletzungen, Vergiftungen,
Schlaganfall

Schmerz Akute starke und/oder zu- Trauma, Herzinfarkt, Kolik


nehmende Schmerzen
 1.2 Zusammenarbeit mit anderen ­Organisationen 11

Transportorganisation Ehe man einen Transport anfordert, muss klar sein, in


welche Fachabteilung der Pat. gebracht werden soll und ob eine ärztliche Beglei-
tung erforderlich ist. Letztendlich entscheidet die Leitstelle oder die Besatzung des
Rettungsmittels über das Zielkrankenhaus. Entweder aufgrund der benötigten
1
Fachabteilung oder regionaler Zuständigkeitsbereiche der Kliniken.

Grundsätzlich obliegt die Verantwortung für den Patienten dem einweisen-


den Arzt bis zur definitiven Übergabe an die Besatzung des Rettungsmittels!
Eine Notfalleinweisung und einen Transportschein auszustellen und den
Patienten in der Akutsituation allein zu lassen, ist keine Option!

Transport agitierter/aggressiver Patienten Die Frage, ob ein agitierter und/oder


aggressiver Pat. vor Transportbeginn sediert werden sollte, kann nur im Einzelfall
entschieden werden.
• Vorteil: Transport ist für den Pat. u. das Begleitpersonal angenehmer, weil
stressärmer.
• Nachteil: Symptomatik wird durch Medikation so verändert, dass das ärztli-
che Personal in der Klinik kein realistisches Bild mehr vom „Ausgangszu-
stand“ des Pat. erhält u. so zu anderen Schlussfolgerungen kommen kann als
der Bereitschaftsdienst.

• Eine Sedierung gegen den Willen des Pat. sollte nicht ohne entsprechen-
de richterliche Beschlüsse vorgenommen werden!
• Wird im Rahmen einer Zwangseinweisung (▶ 1.4.2) der Transport vom
Pat. verweigert, ist es ratsam, dass der Bereitschaftsdienst über die Ret-
tungsleitstelle (Einsatzzentrale des RTW/NAW) „Amtshilfe“ durch die
Polizei anfordert.

1.2.2 Krankenhäuser
Entscheidend für die Zuweisung sind Entfernung und Ausstattung der umliegen-
den Krankenhäuser. Insbesondere:
• Vorhandene Fachabteilungen.
• Blut-, Serum- und Medikamentendepots.
• Behandlungs- und Operationsmöglichkeiten.
• Intensivbehandlungsplätze.
Pat. beim zuständigen Klinikarzt anmelden und ihn informieren über vorgefun-
dene Situation, Krankengeschichte, Medikation, eingeleitete Erstmaßnahmen.

1.2.3 Fachärzte
In einigen Bezirken gibt es spezielle Bereitschaftsdienste für einzelne Fachrichtun-
gen z. B.:
• Augenärztlicher Bereitschaftsdienst.
• Kinderärztlicher Bereitschaftsdienst.
• Zahnärztlicher Bereitschaftsdienst.
• HNO-ärztlicher Bereitschaftsdienst.
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„Lassen’s mich aus!“ wehrte ihm Sophie mit unverhohlenem
Abscheu. „Reden’s anständig mit mir!“
„Ja ... Frau Sophie. Gern!“ sagte der Kaufmann leise. „Aber
zuerst setzen’s Ihnen da neben mir her. Da ... ganz nahe!“
Er deutete mit seinem dicken, wulstigen Zeigefinger auf ein Sofa,
das an der Wand stand, und setzte sich dann selber in recht
gemütlicher und ungenierter Weise darauf.
„Wollen’s Ihnen nit niedersetzen, Frau Sophie?“ meinte Johannes
Patscheider über eine Weile, als Sophie noch immer zögerte.
„Nein!“ sagte Sophie abweisend.
„Nit?“ Der Kaufmann zog bedauernd seine Brauen hoch. „Das tut
mir aber leid, weil wir sonst noch ein bissele miteinander
unterhandeln hätten können.“
„Das können wir so auch!“ stieß Sophie atemlos vor innerer
Erregung hervor.
„Nein, das können wir nit!“ erklärte der Patscheider bestimmt.
Er saß auf dem Sofa, und mit beiden Händen stützte er sich auf
den weichen Polstersitz. Mit lauernden Blicken sah er auf Sophie,
sah ihre zitternde Erregung und sah den inneren Kampf, der sich in
ihrem Gesicht widerspiegelte. Aber er hatte kein Mitleid mit ihr. Er
weidete sich an ihrer Angst. Und dieses Gefühl steigerte seine
Begierde nach ihr. Warum sollte er sie nicht besitzen? War der Preis,
den er ihr bot, nicht hoch genug für eine Nacht? Eine Nacht nur ...
aber die wollte er genießen.
„Wir hätten sonst vielleicht davon reden können ... daß ich als
Gründer ... mit einem Kapital von Fünfzigtausend ...“ fuhr der
Kaufmann langsam fort.
„Wollten Sie das ... Herr Patscheider?“ brachte Sophie aufgeregt
hervor.
„Es ist möglich ...“ erwiderte der Patscheider mit ruhiger,
langsamer Stimme. „Wenn nämlich gewisse Vorbedingungen erfüllt
werden.“ Er sah sie frech und herausfordernd an.
„Und ...“ stieß Sophie keuchend hervor, „die sind?“
„Wollen Sie Ihnen nit doch jetzt ein bissel da neben mir hersetzen
... Sophie?“ fragte er über eine Weile.
Die beiden hatten sich wie ebenbürtige Gegner mit ihren Blicken
gemessen. Sie verstanden einander ohne Rede.
„Nun ... wird’s bald?“ fragte der Patscheider dann nach einer
großen Pause, während der sich Sophie nicht von ihrem Platz
gerührt hatte ... „Oder soll ich die schöne Frau zu mir herholen?“
Langsam und mit gesenkten Blicken kam Sophie näher. Schritt
für Schritt. Sie wußte, daß es jetzt kein Entrinnen gab.
Johannes Patscheider erhob sich und ging ihr entgegen. Und
dann umfing er sie mit gieriger Hast und sog sich an ihren Lippen
fest.
Mit beiden Fäusten stieß ihn Sophie von sich fort.
„Ich will nicht!“ schrie sie, sich leidenschaftlich gegen ihn zur
Wehr setzend. „Ich will nicht!“
„Nicht?“
„Nein!“ Sie stampfte mit dem Fuß in ohnmächtiger Wut.
Der Patscheider hielt sie mit beiden Armen fest umklammert.
„Eine Nacht ... Sophie ...“ flüsterte er heiser. „Eine einzige Nacht
...“
„Schuft!“ fauchte sie ihn wie eine Wildkatz an. „Ich bring’ dich um,
wenn du dein Wort nit hältst!“
„Ich halt’ mein Wort. Aber zuerst der Preis!“
Wie mit Eisenklammern hielt sie der Mann in seinen Armen. Sie
fühlte seinen heißen, erregten Atem, und sie dachte an Felix, dem
sie dieses Opfer bringen mußte.
Eine Nacht ... eine einzige Nacht nur ... Dann war’s vorbei ... Die
Qual überwunden ... Sie konnte wieder glücklich sein ...
„Ja!“ stieß sie zitternd hervor und wand sich verzweifelt unter
seinen Küssen.
„Lass’ dich küssen ... Weib ...“ sagte der Patscheider zynisch.
„Ich zahl’ gut ... es ist nix umsonst!“
Wie von Sinnen eilte Sophie Rapp aus dem Hause des
Kaufmanns. Sie irrte durch ganz entlegene Gassen, hinüber nach
Hötting, dem Walde zu ... Sie konnte jetzt nicht unter Menschen
gehen mit dieser flammenden Röte der Scham in den Wangen.
Jeder würde ihr die Entehrung und Schande vom Gesicht ablesen
können ... Sie mußte fort ... allein sein ... konnte niemanden sehen ...
bis alles vorbei war ...

* *
*

Einige Tage war Sophie jetzt nicht zu Felix gekommen. Sie


schrieb ihm auch nicht und ließ nichts hören von sich. Da kam Felix
Altwirth von banger Sorge getrieben zu ihr.
„Sophie ... Liebste ... Einzige ...“ sagte er zärtlich, als sie allein
waren. „Hab’ ich dir weh getan? Hab’ ich dich beleidigt? Bist du
krank gewesen?“ Ganz unglücklich sah der Maler drein, als er leise
und sanft ihr immer wieder liebkosend über die heiße Stirn fuhr.
„Ich hatte Kopfschmerzen,“ sagte Sophie ausweichend und
vermied es, Felix in die Augen zu sehen. Seine warme Zärtlichkeit
tat ihrer wunden, zertretenen Seele ungemein wohl. Sie lehnte sich
in ihrem Schaukelstuhl zurück und schloß die Augen.
Sophie sah elend aus. Tatsächlich krank. Sie hatte auch ihr
inneres Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden. Immer von
neuem tauchten die schrecklichen Stunden in ihrer Erinnerung auf.
Es war ein Glück, daß Doktor Rapp für einige Zeit hatte verreisen
müssen. So brauchte sie diesem wenigstens keine Komödie
vorzuspielen. Und bis er kam, so hoffte sie, würde sie wohl wieder
ganz hergestellt sein.
Sie fühlte sich jetzt, da Felix sie mit seiner achtungsvollen Liebe
umgab, bereits wohler. Sie lachte ihn an und plauderte mit ihm, und
er mußte ihr erzählen, was er geschaffen hatte, seit sie sich nicht
sahen.
Wie eine lange Zeit der Trennung kam es den beiden jetzt vor.
Und Felix gestand ihr, wie er von Stunde zu Stunde auf sie gewartet
und geharrt hatte, und wie er schließlich so unruhig wurde, daß er
diesen Besuch bei ihr wagte.
„Bei hellichtem Tag!“ neckte er sie. „Da bin ich ganz fremd bei dir.
Gelt, Schatz?“
„Ja!“ sagte Sophie trocken.
„Na ... Schatz ... was hast du denn?“ fragte Felix verwundert.
„Nichts!“ Sophie schüttelte den Kopf und wiegte sich schaukelnd
in dem Stuhl. Sie hatte ein ungewöhnlich ernstes Gesicht.
„Doch!“ beharrte Felix. „Du hast etwas. Du ...“
„Ach ...“ sagte Sophie ausweichend, „es ist mir nit ganz recht,
daß du zu mir gekommen bist.“
„Wegen deinem Mann?“
„Ja! Du weißt ja ... daß er jetzt so eigen ist ... so mißtrauisch. Ich
möcht’ ihn erst wieder ruhiger werden lassen ... dann ...“
„Ja ... aber er ist ja jetzt gar nicht da?“ fragte Felix verständnislos.
„Nein! Aber wenn er’s erfährt?“
„Ach Kind ... du bist krank. Beim hellichten Tag! Was ist denn
dabei?“
„Nix. Aber du sollst jetzt doch lieber gehen!“ drängte Sophie.
„Also geh’ ich halt gehorsamst!“ sagte Felix. „Aber ... dann mußt
du morgen zu mir kommen. Willst du?“
„Ja ... Felix ...“ Sie hielt ihm ihren Mund entgegen und küßte ihn
innig.
„Aber Kind ... du weinst ja?“ rief Felix erstaunt. „Was ist denn?“
Nun weinte Sophie wirklich. Ein kurzes, leidenschaftliches
Schluchzen.
„Kind ... Sophie ... Schatz!“ tröstete sie Felix zärtlich. „Was ist dir
denn widerfahren? Schau, sag’ mir’s doch! Quält er dich recht ...
dein Mann?“
Sophie schüttelte den Kopf. „Nein!“ stieß sie hervor.
„Nicht? Ja, weshalb weinst du denn dann?“
Da barg Sophie ihren Kopf wie Schutz suchend an der Brust des
Geliebten und schluchzte laut auf in wildem Schmerz. Und je länger
sie weinte, desto gefaßter wurde sie. Felix beschwichtigte sie, wie
man ein Kind zu trösten sucht.
Als sie ruhiger geworden war, frug er sie ernst: „Er quält dich also
doch ... nicht wahr?“
Sophie nickte. Sie war froh, daß er die Lüge glaubte. Und dann
war es ihr leid um den Gatten, den sie verleumdet hatte. — — —
Mit keinem Wort hatte Sophie dem Maler von dem
Zustandekommen der Nationalgalerie sprechen können. Erst viel
später, als die Sache schon nahe vor der Veröffentlichung war, sagte
sie es ihm ...
„Und das sagst du mir erst jetzt, Sophie?“ frug Felix verwundert.
„Du hast mich ja nimmer g’fragt drum!“ gab sie ihm lustig zur
Antwort.
„Ich sah, daß du nicht wohl warst, und da nahm ich mir vor ...
dich nicht auch noch zu quälen. Die Sache schien dich doch
aufzuregen.“
„Jetzt ist’s überstanden!“ sagte Sophie ruhig. „Gott sei Dank!“
„Und der Patscheider?“
Alle Farbe wich bei der Nennung dieses Namens aus ihrem
Gesicht.
„Der Patscheider zeichnet als Gründer Fünfzigtausend!“ sprach
sie ruhig.
„Ja ... Sophie ... Sophele!“ In einer wahren Ekstase des Glückes
drückte sie Felix an sich. „Du bist ja eine Zauberin! Wie hast du nur
das zustande gebracht?“
Sanft löste sich Sophie aus den Armen des Geliebten und sah
ihn mit ernsten Augen an. Dann nahm sie seinen Kopf in ihre Hände
und küßte ihn lange und küßte ihn innig.
„Sophie ...“
„Wenn ich dich nit so gern hätt’ ...“ hauchte Sophie.
Aber nie erfuhr Felix Altwirth von dem Opfer, das Sophie Rapp
um seinetwillen gebracht hatte.
Neunzehntes Kapitel.

I n dem Festsaal beim „Weißen Hahn“ tagte heute die


Versammlung zur Gründung einer Tiroler Nationalgalerie in
Innsbruck.
Johannes Patscheider hatte Wort gehalten. Mit seiner ganzen
Persönlichkeit stand er für die Sache ein. Vertrat sie mit Macht und
Energie und tat alles, um den großen Plan zur baldigen Ausführung
zu bringen. Für den heutigen Abend hatte er alle jene Männer
eingeladen, die Namen, Rang und Titel besaßen und die er für das
Gelingen des Werkes zu gewinnen hoffte.
Es war eine stattliche Anzahl von Herren, die der Aufforderung
des angesehenen Bürgers Folge geleistet hatten. Herren aus allen
Ständen. Hohe Beamte, Honoratioren, Professoren und Künstler des
Landes.
Felix Altwirth war ebenfalls anwesend. Zwischen ihm und dem
Kaufmann Patscheider hatte eine förmliche Versöhnung
stattgefunden. Felix Altwirth war einmal zu Patscheider gegangen
und hatte dort seine Karte hinterlassen. Das war alles gewesen.
Gesprochen hatten sich die beiden nicht bis zum heutigen Abend.
Und auch jetzt war die Unterredung kühl und kurz gewesen.
Doktor Rapp hatte dieselbe herbeigeführt und war Zeuge, wie die
beiden Männer einander die Hände schüttelten. Es war eine so
frostige Begegnung, wie der Rechtsanwalt sie nur selten gesehen
hatte. Felix Altwirth dankte dem Kaufmann für sein
Entgegenkommen und rühmte seine Großmut, die er durch die
Stiftung einer so hohen Summe bewiesen habe.
Johannes Patscheider wehrte mit kurzen, fast schroffen Worten
ab. „Ihnen zulieb hab’ ich’s nit getan, Herr Altwirth!“ sagte er mit
seiner lauten Stimme, so daß es alle, die es wollten, hören konnten.
„Also brauchen’s mir auch nit zu danken!“ Dann wandte er sich
unvermittelt von dem Maler ab und sprach mit einigen Herren, die
hinzugekommen waren.
Simon Tiefenbrunner trippelte unruhig im Saale umher. Trippelte
von einer Herrengruppe zur andern und hielt sich dann wieder in der
Nähe von Felix auf, der abwechselnd mit Doktor Storf und Doktor
Valentin Rapp sprach.
Ängstlich wartete der Apotheker auf einen günstigen Augenblick,
um sich an Felix heranzumachen. Dabei rieb er sich unausgesetzt
die Hände, verbeugte sich geschäftig vor diesen und jenen
Bekannten und schielte dann wieder über seinen Zwicker hinweg zu
Felix Altwirth hinüber.
Frau Therese Tiefenbrunner hatte dem Gatten den strengen
Auftrag erteilt, noch heute abend eine Versöhnung mit Felix
anzubahnen. „Weißt, Simon, jetzt wo der Felix, unser Neffe, so
berühmt wird, jetzt geht das nicht mehr, daß wir in Feindschaft von
ihm getrennt leben. Jetzt müssen wir uns schon mit ihm aussöhnen!“
hatte sie gesagt.
„Ja ... aber ...“ wandte der kleine Mann zaghaft ein, „eigentlich
muß das doch vom Felix ausgehen. Er hat uns doch beleidigt!“
„Er hat uns nit beleidigt, Simon! Da tust du dich wieder einmal
täuschen!“ hatte die Gattin ganz energisch erwidert. „Das war sie ...
die Frau ... die Person ... die ...“
„Alsdann muß die kommen ...“
„Nein, Simon! Das tut die nit! Da kennst du sie schlecht. Wir
müssen halt denken ... das G’scheitere gibt nach! Und du schaust
heut’ auf den Abend, daß du den Felix allein erwischen tust, und
sagst ihm, ich lass’ ihn schön grüßen, und er kann schon einmal auf
ein’ Kaffee kommen, wenn er mag!“
„Und wenn er nit mag?“ fragte der Apotheker.
Da wurde Frau Therese ungeduldig. „Ich weiß nit, Simon, wie du
mir heut’ vorkommst!“ meinte sie vorwurfsvoll. „Red’ halt zuerst
einmal mit ihm! Und wenn er nit kommt ... dann soll er’s bleiben
lassen! Es ist mir ja nur wegen die Leut’, daß die Feindschaft ein
Ende hat. Und daß man, wenn man dem Felix einmal am Weg
begegnet, doch auch stehen bleiben kann bei ihm. Damit man sieht,
daß man doch verwandt ist mit ihm.“
Das waren allerdings Argumente, die der Apotheker
Tiefenbrunner einsehen mußte, ob er wollte oder nicht. Deshalb
schlich er jetzt auch immer um die Gruppe herum, die sich nach und
nach um Felix Altwirth gebildet hatte, und wartete eine Gelegenheit
ab, um sich dem Doktor Storf zu nähern. Denn dieser sollte als ein
alter Freund von Felix die Versöhnung zwischen Onkel und Neffen
herbeiführen. So hatte es sich Simon Tiefenbrunner ausgedacht.
Der Saal füllte sich mit immer neuen Leuten. Es herrschte trotz
der vorgerückten Jahreszeit eine Bruthitze in dem Raum. Ein Gewirr
von Stimmen, ein Lachen und Plaudern von vielen Männern und
mehr oder minder erwartungsvolle Gesichter. In der Mitte des Saales
war eine kleine Tribüne errichtet. Von hier aus sollte Johannes
Patscheider eine Ansprache halten, der dann die Gründung des
Vereins zur Erbauung einer Tiroler Nationalgalerie folgen sollte.
Simon Tiefenbrunner glaubte jetzt den richtigen Moment
gekommen, um sich mit seinem Anliegen an Doktor Storf zu
wenden. „Einen Augenblick, Herr Doktor!“ Der Apotheker sagte es
leise und zupfte den Arzt am Ärmel.
„Herr Tiefenbrunner?“ Doktor Storf sah erstaunt auf den
Apotheker herab, der in einiger Verlegenheit vor ihm stand. Die
beiden Herrn entfernten sich, um dann gleich darauf gemeinsam zu
Felix zurückzukommen.
„Du, Felix!“ sagte Max Storf. „Schau, wen ich dir da bring’!“
„Ach, Onkel Tiefenbrunner!“ Ehrlich erfreut bot der Maler dem
alten Herrn seine Hand. „Das ist schön, daß du auch gekommen
bist. Willst du auch Mitglied werden, und trittst du als Gründer bei?“
Als wenn es zwischen ihnen nie eine Mißhelligkeit gegeben hätte, so
unbefangen sprach Felix mit dem Apotheker.
„Ja, freilich! Natürlich!“ versicherte Simon Tiefenbrunner eifrig.
Der kleine Mann freute sich innig darüber, daß Felix ihm die
Versöhnung so leicht gemacht hatte. „Bei so was muß man schon
mittun!“ sagte er mit wichtigem Gesicht. „Ein paar Tausender lassen
wir da schon springen. Ich und die Tant’!“
„Das ist recht, Onkel! Es ist wirklich ein edler und vornehmer
Zweck!“ sagte Felix mit leuchtenden Augen.
Da trat mit einem Male Ruhe ein im Saal. Das Stimmengewirr
verflüchtigte sich. Die Gruppen lösten sich, gingen auseinander und
nahmen in den Sesselreihen Platz.
Johannes Patscheider hatte jetzt die Rednerbühne betreten und
stand droben, groß, wuchtig und knochig. Er machte einen
schlichten Eindruck, und schlicht und einfach waren die Worte, die er
sprach.
Der Kaufmann sprach von Kunst und Wissenschaft, sprach vom
Aufblühen eines Landes und seinem Gedeihen, und wie es
Ehrenpflicht eines jeden einzelnen sei, der sein Land wahrhaft liebe,
die Kunst im Lande zu fördern ... „Darum, meine Herrn, habe ich Sie
heute zu dieser Versammlung geladen, damit wir uns gemeinsam
zusammentun und vereinigen zu einer großen Tat. Die Idee ist nicht
meinem Gehirn entsprungen. Das wissen Sie alle, meine Herren.
Dieses Verdienst gebührt einem Künstler, unserem lieben und
verehrten Landsmann und Mitbürger Felix Altwirth. Und wir freuen
uns, daß es ein Innsbrucker war, der mit diesem großen Gedanken,
mit dieser ausdrücklichen Forderung an uns herangetreten ist. Denn
es ist ein Bedürfnis im Land. Innsbruck, diese Perle der Städte,
unsere liebe Heimatstadt, an der wir alle, ich möchte sagen, mit
verehrungsvoller Liebe und Hingabe hängen, diese moderne,
aufstrebende Stadt, die alles besitzt, was man in dem Rahmen einer
solchen Stadt erwarten darf, diese Stadt hat noch nicht jenes
erhabene Bauwerk aufzuweisen, in dem die bildende Kunst eine
dauernde Heimstätte finden kann. Wir wollen uns das ehrlich
eingestehen, meine Herren. Es i s t ein Mangel. In eine Stadt von
dem Range, in dem die Landeshauptstadt steht, gehört ein
Gebäude, das nur dem Zweck der schönen Künste gewidmet ist.
Daß das nicht schon besteht, ist ein Vorwurf. Ein Vorwurf für uns
alle. Ich nehme mich davon nicht aus. Seit mir aber die Augen
geöffnet worden sind, will ich meinen Fehler gutmachen nach
Kräften. Die Landeshauptstadt soll allen Städten der Provinz als ein
leuchtendes Beispiel vorangehen. Sie soll der Mittelpunkt werden
eines geistigen Lebens. Der Mittelpunkt eines Kunstlebens, das in
Wirklichkeit im Land existiert, dem aber nur die Führer gefehlt
haben. Das, meine Herren, ist der Zweck, warum wir uns
entschlossen haben, eine Tiroler Nationalgalerie zu gründen. Je
größer in einem Volke die Kultur entwickelt ist, desto größer geht
sein Streben und sein Sinn nach Kunst. Es ist eine heilige Pflicht für
uns, daß wir dieses Streben fördern, nach Kräften fördern. Wir
wollen der Welt zeigen, daß nicht nur die Großstädte dazu berechtigt
sind, das Kunstleben als ihr Eigentum zu betrachten. Jede Stadt der
Provinz hat ein Recht dazu, einen maßgebenden Einfluß auf diesem
Gebiete auszuüben. Daß dieses oft nicht geschieht, ist eine Schuld
und entspringt einem mangelnden Verständnis. Wir wollen keine
solche Schuld auf uns laden. Als erste wollen wir dem Lande
vorangehen, wollen zeigen, was wir können. Fördernd wollen wir
eintreten in das Kunstleben unserer Stadt, und wir wollen unsern
Nachkommen, unsern Kindern und Kindeskindern beweisen, daß wir
nicht nur im politischen und nationalen Sinn verstanden haben zu
wirken und zu handeln, daß wir nicht aufgegangen sind im
kleinlichen Parteihader, sondern daß wir stets zusammengehalten
haben wie ein Mann, wenn es galt, für unsere schöne, liebe
Vaterstadt Großes zu schaffen, sie als erste einzureihen in das
Kulturleben der Gegenwart. Und deshalb, meine Herren, weiß ich,
daß ich keine Fehlbitte getan habe. Alle, wie wir da sind, werden wir
beisteuern für den erhabenen Zweck, auf daß er gelinge zum
Ruhme und zur Ehre der Stadt! Ich glaube aus aller Herzen zu
sprechen, wenn ich Sie auffordere, mit mir einzustimmen in den
begeisterten Ruf: Innsbruck, das berggekrönte Juwel des Landes ...
lebe hoch ... hoch ... hoch!“
Ein brausender Jubel hallte durch den großen Saal. Von allen
Seiten wurde Johannes Patscheider umringt und beglückwünscht.
Allen schüttelte er die Hand. Auch dem Maler Altwirth, der sich kaum
fassen konnte vor Freude und Glück ...
Der alte Rat Leonhard war gleichfalls bei der Rede des
Kaufmanns im Saale anwesend und hatte andächtig zugehört. Recht
andächtig. Den Kopf auf die eine Seite geneigt, die Hände fest in der
Tasche, als müsse er das Geld, das er da drinnen trug, vor einem
unvorhergesehenen räuberischen Überfall beschützen, so stand der
alte Herr da und sah mit stechenden, scharfen Blicken zu dem
Redner hinüber.
Als der jubelnde Beifall verrauscht war und die näheren
Beratungen begannen, da machte sich der alte Herr aus dem Staub,
so schnell er konnte, und ging hinüber ins Herrenstübel, wo Frau
Maria Buchmayr einsam und verlassen saß.
„Schon da, Herr Rat?“ fragte die Wirtin etwas erstaunt. „Hat’s
Ihnen nit g’fallen drüben?“
„Naa!“ sagte der alte Herr energisch. „Gar nit!“
„Hat denn der Patscheider nit schön g’redet?“ forschte die Wirtin
neugierig.
„Der hat mir zu schön g’red’t, Frau Buchmayr. Zu schön, sag’ ich
Ihnen!“ Der alte Herr hob warnend seinen knochigen Zeigefinger.
„Das ist nit alles echt ... wenn einer so schön red’t. Sagen’s ... ich
hab’s g’sagt, Frau Buchmayr! Nit alles echt ... nit alles echt!“ nickte
er dann noch ein paarmal bekräftigend vor sich hin ...
Als die Herren später in der Nacht auseinandergingen, drückte
der Doktor Rapp dem Patscheider warm die Hand. „Sie sind doch a
ganzer Kerl, Patscheider!“ lobte der Rechtsanwalt. „Das muß Ihnen
der Neid lassen. Ich sag’s nit gern. Das wissen’s ja!“ setzte er
scherzend hinzu.
Johannes Patscheider brach in ein dröhnendes Gelächter aus
und klopfte dem Rechtsanwalt gönnerhaft auf die Schulter. „Ha! Ha!
Ha! Ha! Herr Doktor, das geben’s gut! Ausgezeichnet! Und weil’s von
Ihnen kommt, das Lob, drum freut’s mich um so mehr. Übrigens ...“
der Patscheider sah den Rechtsanwalt einen Augenblick von der
Seite her lauernd an, „das Hauptlob verdient Ihre Frau. Nit ich!“
Es war etwas in dem Blick Johannes Patscheiders, das dem
Rechtsanwalt mißfiel.
„Ja, meine Frau! Da haben’s recht!“ stimmte er bei. „Wenn die
sich was in den Kopf setzt, dann muß sie’s auch erreichen.“
„Um jeden Preis!“ sagte der Kaufmann wie für sich.
Die beiden Herren waren ein Stück des Weges miteinander
gegangen. Durch die Lauben bis zum Burggraben, da, wo die breite
Museumsstraße in den Burggraben mündet. Der Mond stand im
vollen Zeichen und sandte sein mildes Licht über die Innsbrucker
Altstadt. Lachte freundlich herunter vom sternenbesäten, glitzernden
und funkelnden Nachthimmel auf die düstere, alte
Franziskanerkirche mit ihrem zum adeligen Damenstift und zur
Hofburg führenden angebauten Torbogen und erhellte mit kaltem,
frostigem Glanz die leicht beschneiten Bergspitzen der Nordkette.
Valentin Rapp fühlte ein inneres Unbehagen, als er neben
Johannes Patscheider in erzwungen gemächlichem Gang
einherschritt. Er war froh, daß sich ihre Wege nun trennten.
„Grüßen’s mir die Frau recht schön, Herr Doktor!“ sagte der
Patscheider, da sie voneinander Abschied nahmen.
„Danke, Herr Patscheider!“ erwiderte Doktor Rapp trocken. Es
störte ihn abermals etwas im Tonfall des andern. Was war es nur?
War er schon so nervös geworden in den letzten Monaten, daß er
überall Arges witterte?
„Sie, Herr Doktor ...“ Johannes Patscheider hielt die Hand des
Rechtsanwaltes einen Augenblick in der seinen.
„Ja?“
„Wir sind, solang’ wir’s denken, doch immer Gegner gewesen. Nit
wahr?“ sagte der Kaufmann.
„Freilich!“ gab der Advokat zu. „Und wollen’s auch bleiben!
Hoffentlich noch recht lange!“ sprach er mit etwas erkünstelter
Heiterkeit.
„Das hab’ ich aber nit sagen wollen!“ erwiderte der Patscheider.
„Ich hab’ g’meint ... wir könnten uns versöhnen ... ausgleichen ...“
„Ich mich mit Ihnen?“ Jetzt lachte Doktor Rapp wirklich herzlich
heraus. „Solang’ ich leb’, nit! Das ist g’wiß!“ sagte er lustig. „Wenn
Sie mich in den letzten Jahren auch heruntergedrückt haben ... es
dauert nimmer lang ... dann spiel’ ich wieder die erste Geig’n!“
drohte er übermütig.
„So?“ Der Patscheider warf einen derart stechenden Blick auf
seinen Gegner, dem er an Körpergröße um Kopfeslänge überlegen
war, daß es dem Rechtsanwalt fast wehe tat. „Meinen’s, daß Sie das
je erreichen, Herr Doktor?“ fragte der Kaufmann herausfordernd.
„Natürlich! Das werden wir schon sehen! Ich hab’ ja nix gegen
Ihnen persönlich einzuwenden, Herr Patscheider ... aber wenn Sie
noch weiter da regieren wie bisher ...“
„Aber Sie regieren nit! Das weiß ich!“ sagte Johannes
Patscheider brutal.
„Lassen wir’s drauf ankommen, Herr Patscheider!“ forderte ihn
der Rechtsanwalt kampfeslustig heraus.
„Ich rat’s Ihnen nit!“ sprach der Kaufmann drohend. „Bleiben’s
lieber der ... der Sie sind ... und grüßen’s mir Ihre Frau!“
„Zum Donnerwetter noch amal!“ entfuhr es dem Rechtsanwalt
jetzt zornig. „Was haben’s denn immer mit meiner Frau?“
„Was soll ich denn haben?“ tat der Patscheider unschuldig.
„Einen Gruß schick’ ich ihr. Ist das vielleicht dem Herrn Gemahl nit
recht?“
„Recht oder nit recht!“ erklärte Doktor Rapp mit Bestimmtheit.
„Jedenfalls verbiet’ ich mir den Ton, den Sie da anschlagen, Herr
Patscheider!“
„So sind’s doch nit so aufgeregt, Herr Doktor!“ beruhigte ihn der
Patscheider in seinen sanftesten Tönen. „Man möcht’ schon meinen
... Sie wären auf mich eifersüchtig?“
„Ich ... auf Ihnen!“ Der Rechtsanwalt lachte ein lautes, hartes,
gezwungenes Lachen, das durch die öde, menschenleere Straße
unangenehm widerhallte.
„Haben auch keine Ursache, Herr Doktor! Nicht im mindesten
Ursache ... versichere ich Ihnen!“ beruhigte ihn der Patscheider, und
seine Stimme hatte für das gereizte Ohr des Advokaten einen
widerlich speckigen Klang. Es war ihm, als entspränge dieser Ton
einem Gefühl gesättigten Genusses ...
Den Rechtsanwalt Valentin Rapp trieb die Unruhe der Eifersucht
durch die mondhelle, klare Oktobernacht. Mit heißem,
blutüberfülltem Kopf ging er, so rasch er konnte, dem Rennweg zu.
Ein kalter Wind fächelte erquickende Kühle um seine glühende Stirn.
Was hatte der Patscheider nur? Hatte er ...? Sollte Sophie ...?
Doktor Rapp wagte diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken.
Er ging immer hastiger und aufgeregter den breiten Weg entlang,
der zum Inn hinüberführte. Dann folgte er dem Lauf des Flusses bis
hinunter zur Kettenbrücke.
Welkes Laub raschelte müde unter seinen festen Tritten ...
stöhnte auf wie im letzten Todeskampf ... und leise plätscherten die
Wellen des Flusses. Silbern und hell und gleißend sah das Wasser
aus in dem Mondlicht ... so gleißend und lockend ... wie das Weib
des Rechtsanwalts.
Immer wieder mußte Valentin Rapp an Sophie denken. Mußte an
sie denken ... wie sie ihn geliebt und umschmeichelt hatte all die
Jahre seiner Ehe. Wenn sie gelogen hätte ... Wenn es wahr wäre,
daß Sophie ihn betrog ... wenn ...
Und wieder konnte Doktor Rapp den Gedanken nicht fassen.
Eine fürchterliche Wut war über den Mann gekommen. Ein Zorn und
eine Empörung, die ihn zu allem fähig machten.
Doktor Rapp wußte jetzt nur das eine ... er durfte nicht nach
Hause gehen ... jetzt nicht. Erst mußte er ruhig werden und wieder
klar denken können.
Es dauerte ein paar Stunden, bis der Rechtsanwalt sein Heim am
Saggen betreten konnte.
Lautlos und sachte gab er den Schlüssel ins Schloß, und leise
wie ein Verbrecher schlich er sich in seine Wohnung.
Ganz sachte ... unhörbar ... ohne Laut ... Sie durfte ihn nicht
entdecken ... die Ehebrecherin.
Wie eine fixe Idee hatte es den Mann befallen. In seiner erregten
Phantasie stellte er sich vor, daß er sein Weib noch in dieser Nacht
mit einem Buhlen überraschen müsse.
Und wenn? ...
Dann würde er sie erwürgen ... mit seinen beiden Händen. Das
wußte er.
Vorsichtig, Fuß an Fuß setzend, schlich er sich von Zimmer zu
Zimmer, überall hin ... ohne Licht. Bis er vor ihrem Bett stand ... ganz
nahe ... dann lauschte er. Lauschte mit eingezogenem Atem. Und
konnte nichts hören ... gar nichts.
Vielleicht war sie gar nicht da ... war fort ... fort ... bei ...
Der Rechtsanwalt mußte sich bei diesem Gedanken den Kopf
halten und stöhnte laut auf vor innerer Qual ...
Dieses Stöhnen beunruhigte die Träume des schlafenden
Weibes. Sie reckte sich und seufzte tief ... wie von einem Alp
bedrückt.
Nun wußte Valentin Rapp, daß sie da war. Dies brachte ihn
wieder zu ruhiger Überlegung. Mechanisch tastete er sich zum
Schalter der elektrischen Lampe und drehte auf.
Der plötzliche Lichtschein weckte die Frau aus ihrem Schlaf.
Verwundert schlug sie die Augen auf.
„Du ... Valentin!“ Sie lachte müde und schlaftrunken. „Bist jetzt
erst kommen?“ frug sie leise.
Valentin Rapp gab keine Antwort. Er starrte wie hypnotisiert auf
das in weißen Kissen ruhende Weib, das schon wieder sachte
eingeschlafen war.
Eine große, mit gelbem Seidenschirm verhängte Ampel warf
einen feinen Schein auf die schlafende Frau. Sophie Rapp lag da mit
geschlossenen Augen und hatte den einen Arm über ihren Kopf
geschlungen. Der Arm war entblößt, und mit ihm war ein Teil ihres
Nackens sichtbar. Das Licht der Ampel vertiefte die Farbe ihrer
bräunlichen Haut und ließ sie glatt und glänzend erscheinen wie
Atlas. Das dunkle, aufgelöste Haar fiel ihr auf die halbentblößten
Schultern, und ein weicher, friedsam ruhiger Zug lag auf dem sonst
so lebhaften Gesicht. Die vollen üppigen Lippen waren leicht
geöffnet, als sehnten sie sich nach Küssen, die sie der Müdigkeit
und dem Schlaf entreißen sollten.
Als ob er sein Weib noch nie im sanften Schlummer gesehen
hätte, so fest und eindringlich betrachtete Valentin Rapp jetzt die
Schlafende.
Es war ein kleiner, intimer Raum, in dem das Ehepaar schlief.
Geschnitzte Zirmholzmöbel in gotischem Stil waren in dem Zimmer.
Ein großer, hellgelber Baldachin breitete sich an der Zimmerdecke
über den beiden, knapp aneinandergestellten Betten. Dünn und zart
rieselten feine weiße Spitzenvorhänge zu beiden Seiten der Betten
herab, die in der Mitte des Zimmers standen. Ihnen gegenüber
führten zwei hohe, breite Fenster ins Freie. Jetzt waren sie mit
weißen Spitzenvorhängen auf gelbem Grund verhüllt.
Bei Tag hatte man von diesen Fenstern eine herrliche Aussicht
auf das Vorgebirge der Nordkette. Sah den breiten Innfluß und die
sacht ansteigenden Wiesen und Wälder. Sah aus dunklem
Baumgrün den spitzen, zierlichen Turm der Weiherburg und sah die
großen und kleinen Villen, die verstreut an dem Bergabhang
lagerten. Und weiter wanderte der Blick bis zu dem stattlichen Dorfe
Mühlau ...
Noch immer stand Valentin Rapp regungslos am Bett seines
Weibes und versuchte, in ihren Zügen zu lesen.
Und wieder schlug Sophie ihre dunklen Augen auf und sah jetzt
mit schelmischem Lächeln zu dem Gatten empor.
„Gehst heut’ nimmer schlafen?“ frug sie ihn dann. Es lag ein
wohlig müder Ton in ihrer Stimme.
„Ja!“ Valentin Rapp sagte es kurz und rauh. Dann trat er ganz
nahe an sie heran und fragte barsch: „Sophie ... was ist’s mit dir und
dem Patscheider?“
Als wenn eine Viper sie gestochen hätte, so jäh schnellte das
Weib bei der Nennung dieses Namens aus ihrer ruhigen Lage
empor.
„W—w—a—a—s hast g’sagt?“ Sie starrte ihn mit weit
aufgerissenen, entsetzten Augen an.
Valentin Rapp biß die Zähne aufeinander, um seine Frau nicht
anzufallen. Aber er ballte seine Fäuste krampfhaft ... bereit, sie wie
die Krallen eines wilden Tieres dem Weib ins Fleisch zu setzen.
„Was hast du mit dem Patscheider g’habt?“ frug er mit fester,
gebieterischer Stimme.
„Der Patscheider ...“ Sophie hielt sich den Arm vor die Stirn wie
ein Kind, das Züchtigung fürchtet, und sah flehend zu dem Gatten
auf.
„Red’ ... Weib? Was ist?“ fuhr sie der Rechtsanwalt an. Nur mit
dem Aufgebot seiner ganzen Kraft konnte er noch an sich halten.
„Ich ... ich versteh’ ... dich nit!“ stotterte Sophie angsterfüllt. „Ich
... ich ...“
„Also war’s etwas ... red’?“
Der Zweifel, der in dieser Frage lag, gab Sophie einen Schimmer
von Hoffnung. Er wußte es also nicht bestimmt. Da konnte sie
leugnen. Mußte lügen ... um seinetwillen und um ihretwillen.
„Wie du mich erschreckt hast ... Valentin ...“ sagte sie jetzt leise.
Es lag ein fast kindlich weicher, rührender Ton in ihrer Stimme. „So
mitten in der Nacht ... und aus dem Schlaf heraus ... Und so grob
bist mit mir, Valentin!“ klagte sie leise und legte sich wieder in ihre
Kissen zurück. Ein krampfhaftes Zucken bebte um ihre Lippen.
„Du sollst mir antworten!“ sagte Valentin Rapp fest. Er war jetzt
doch unwillkürlich milder geworden in seinem Ton.
„Manndi ...“ Sophie tastete mit leicht zitternden Händen nach der
Hand des Gatten. „Wie kannst du mich nur so etwas Dummes
fragen!“ sprach sie mit sanftem Vorwurf.
„Der Patscheider ...“
„Komm ... Mannderl ... laß den Patscheider! I will nix mehr hören
von ihm! Es tut mir weh!“ sagte Sophie weinerlich. Und sie heuchelte
nicht. Es tat ihr weh, diesen Namen zu hören.
„Er hat von dir geredet ...“ stieß Valentin Rapp hervor.
„Der Schuft!“ schimpfte sie und krümmte sich wie im Ekel
zusammen.
Mit unsicherem Blick sah Valentin Rapp auf sein Weib. Daß sie
mit so ehrlichem Abscheu von dem Patscheider sprach, beruhigte
ihn.
„Also ... war nix ...?“ frug er nach einer kleinen Pause.
Sophie schüttelte den Kopf. „Nein!“ sagte sie gepreßt.
„Ist’s wahr?“ Mit festem Blick sah er der Frau in die Augen. Sie
hielt den Blick aus.
„Ja!“ sagte sie laut und bestimmt.
„Dann hat er mich bloß ärgern wollen ... der Schuft!“ machte der
Rechtsanwalt erleichtert.
„Freilich, das wird’s sein!“ gab Sophie mit tonloser Stimme zu.
„Nur ärgern!“
„Das will ich ihm aber ankreiden ... dem ...“ drohte Valentin Rapp
empört.
Frau Sophie Rapp hatte noch lange zu tun, um das Klopfen ihres
Herzens zu beruhigen. Sie mußte ruhig werden ... so ruhig, daß sie
mit Leichtigkeit auch die letzten Zweifel aus der Seele des Gatten
verscheuchen konnte.

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