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Das Unbekannte Bornland

Eine Ergänzung zur offiziellen DSA-Regionalbeschreibung

Von Natalia Melnikova a.k.a. DSAmania

Mit Dank an meine Freunde und Mitspieler Arne, Ben, Bernhard und Regine,
die diese Spielhilfe mit ihrem Feedback und Vorschlägen besser gemacht haben!

P. Suchodolsky, „Ein Mittag im Dorf. Das Dorf Schelny in der Kaluschskaya Gubernija des Mosalky Ujesd“, 1864.
Vorwort
Ich bin Russin. Und ein großer DSA-Fan. Leider aber bisher kein Bornland-Fan. Warum? Weil ich meine, dass diesem Setting etwas
Exotisches fehlt, etwas das es anders macht, als ein Mittelreich mit Schnee und Leibeigenen. Dabei ließe sich gerade mit Inspirationen
aus den slawischen Ländern so viel mehr Lokalkolorit einbringen. In der Spielhilfe „Das Land des Schwarzen Bären“ findet man
unter den „Empfehlungen zur Vertiefung des regionalen Flairs“ etliche Bücher von russischen Autoren bzw. Bücher und Filme, die
sich mit Russland befassen. Dabei findet man im Text der eigentlichen Spielhilfe zu wenige Einflüsse von eben diesen Quellen.
Deshalb diese Fan-Spielhilfe, die du gerade liest. Sie ist als eine Ergänzung zum Kanon zu verstehen, die mehr zu gerade jenem
regionalen Flair beitragen soll, welches sich sonst ein geneigter Meister mühsam erarbeiten müsste. Als Quellen nutze ich hierfür
Volksmärchen, die Geschichten von Gogol und Pushkin und auch auf viele Gemälde, die das Lokalkolorit besser vermitteln, als man
es je beschreiben könnte, und schließlich auf meinen automatischen Vorteil (zwinker, zwinker) - die eigene “Kulturkunde”.
Im Mittelpunkt steht vor allem das Leben des einfachen Volkes und Adels auf dem Land, denn gerade in der Provinz entfalten sich
die traditionellen Lebensarten am ehesten. Ich hoffe, dass diese Texte und Bilder deiner Spielrunde helfen, das Bornland so nah und
eigentümlich zu erleben, wie nie zuvor.

Natalia Melnikova a.k.a. DSAmania


November 2015

Die sehen nicht alle gleich aus


Bronnjar ist nicht gleich Bronnjar, und Leibeigene ist nicht gleich Leibeigene. Auch unter Bronnjaren gibt es Unterschiede bei ihrem
Vermögen und Lebensstandard, und auch im Bornland, wie in jedem anderen Land, gehören die wenigsten zur Elite, die das
allgemein bekannte Bild der in Pelze gekleideten, selbstgefälligen Herren prägt. Vielmehr besteht der Großteil der Bronnjaren aus
solchen mit mittlerem und kleinem Vermögen, wobei Vermögen stets über die Anzahl der Leibeigenen gemessen wird. Zur
„Mittelschicht“ gehören Familien, die über zwischen 200 und 1000 „Seelen“ gebieten, bei unter 200 Hundert Seelen gilt das
Vermögen schon als „bescheiden“, manch einer besitzt „nur“ ein paar Dutzend und eine Handvoll „Seelen“. Abhängig davon, wie
viele Leibeigene eine Familie besitzt, bestimmt sich auch der Lebensstil der Herren, der von recht einfachen „bäuerlichen“
Verhältnissen bis zum unglaublichen Luxus reichen kann.
Ähnlich sind nicht alle Bauern bitterarm. Zwar hat niemand ein einfaches Leben; ihr Wohlergeben hängt maßgeblich von der
Gesinnung ihrer Herren ab, was nicht immer in direkter Relation zu dessen Reichtum steht, ja sogar oft ein umgekehrtes Verhältnis
aufweist. Die „armen“ Bonnjaren sind nämlich ihren Dienern viel näher: Sie müssen selbst Teil der notwendigen Arbeiten
übernehmen, sich intensiver mit dem Haushalt und dem Hof befassen, und sich mit ihren Leuten unmittelbar auseinander setzen. In
so einer Situation entsteht zwischen den Herren und den Leibeigenen eine andere Beziehung als in reichen Häusern, mit ihren
Verwaltern und mehreren Hierarchiestufen. Selbst wenn das Machtgefüge immer noch asymmetrisch ist, tendieren die „armen“
Bronnjaren eher dazu, ihre Bauern und Diener als Menschen wahrzunehmen und menschlich mit ihnen umzugehen und folglich
Abgaben in vernünftigen Maßen zu fordern.
Zusätzlich hängt die Lebensqualität beider Bevölkerungsgruppen davon ab, inwieweit ein Bronnjar vom Geschäftssinn gesegnet ist.
Manche verstehen es, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten optimal zu organisieren und zu fördern, was sowohl zur Ausbeutung der
Arbeiter als auch zum beiderseitigen Profit führen kann. Andere wiederum verlassen sich komplett auf Verwalter, die auch entweder
skrupellos ihre Herren über den Tisch ziehen und in den Bankrott führen oder gewissenhaft und rücksichtsvoll arbeiten.

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Von Bauernkate und Herrensitz
Das Bornland ist ein Land, welches reich an Holz ist, und so sieht man es in Verwendung, wohin das Auge reicht. Kleine sewerische
Städte können komplett aus Blockhäusern bestehen; für Dörfer gilt das sowieso. Die Anwesen von Bronnjaren weisen je nach
Geldbeutel des Besitzers mehr Vielfältigkeit auf.

Ein typisches Bauernhaus hat einen rechteckigen Grundriss, oft


in Verbindung mit einem kleineren Anbau, genannt Seni, der als
Windfang, Lagerraum und manchmal als Schlafzimmer
fungiert. Die vorherrschende Bauweise ist die des Blockhauses.
Zur besseren Isolierung werden die Zwischenräume der
Baumstämme mit allerlei Materialien aus der Natur verputzt
(z.B. Moos, Lehm, Tierhaare, Pflanzenfasern etc.). Für
zusätzliche Isolierung sorgen oft an die Mauern angehäufte
Erdwälle, die außen angebracht werden. Auf diesen werden
auch die sogenannten Sawalinka platziert, Holzbänke, die
tagsüber bei den Alten und des Nachts bei Pärchen sehr beliebt
sind. Das Dach ist mit Stroh bedeckt, oder auch komplett aus
Holz gemacht, hat aber auf jeden Fall eine hohe Spitze, die oft
mit einer Holz- oder Messingfigur dekoriert wird (beliebt sind
vor allem Tier-Figuren). Im Falle eines Holzdachs werden die
Stirnseiten der Dachschrägen linker und rechter Hand des
Giebels gern mit Holzschnitzereien verziert, die je nach
Kunstfertigkeit des Handwerkers, bzw. Geldbörse des Inhabers,
recht filigran sein können. Mit solchen Schnitzereien ziert man
auch gerne die Fenster. Getüncht oder gestrichen wird hier so M. Erassi, „Ein russisches Dorf“, 1860-er
gut wie nie.

Die Anwesen der Bronnjaren (Ussadba) stellen eine kleine eigene


Welt dar, wo alte Familientraditionen herrschen, eingespielte
Abläufe den Tag regeln und jedes Detail eine Bedeutung hat.
Oft abseits von Ortschaften und stark befahrenen Wegen
gelegen, ist das Anwesen nur über eine spezielle Zufahrtsallee
erreichbar. An deren Ende betritt der Besucher durch ein Tor
oder einen kunstvollen Bogen einen großzügigen Vorhof, wo
man sein Gefährt bzw. das Reittier abstellen kann. Im Zentrum
fällt der Blick auf das Herrenhaus, manchmal flankiert von
Nutzgebäuden oder Flügeln. Die Fassade ist mit Schnitzereien,
Säulen oder Skulpturen verziert, der Eingang oft als ein Portal
hervorgehoben. Oft haben die Häuser nur einen Grundgeschoss,
in manchen Fällen ein oder zwei Stockwerke.
Hinter dem Haus befindet sich ein Park, der je nach Vorlieben
der Besitzer mit symmetrischer Regelmäßigkeit oder charmanter
Natürlichkeit gestaltet sein kann. Man trotzt dem harschen Klima
mit Orangerien und Treibhäusern, pflanzt Haine und ganze
Wäldchen an, legt kleine Weiher an, versteckt romantische
W. Polenow, „Omas Garten“, 1878 Lauben und Bänke. Hier findet man außerdem oft Zweckbauten
für die Hobbys der Besitzer vor (Freilufttheater,
Hundezwinger…). Obligatorisch ist eine Terrasse auf der Park-
Seite des Hauses.

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Eigener Herd ist Goldes Wert
Der Wohnraum ist für gewöhnlich in Viertel oder “Ecken” eingeteilt, selbst wenn selten eine eigentliche Raumteilung vorhanden ist.
Eine symbolische, aber wichtige Grenze bildet ein Balken (Matka) der zur Abstützung des Dachs oben angebracht ist (es gibt keine
Zwischendecken) und den Raum in zwei Hälften teilt - die “öffentliche” und die “private”. Ein höflicher Gast tritt niemals ohne
Einladung hinter die Matka in den “privaten” Bereich.
Das Herzstück des Hauses ist stets der große Steinofen, die
Petschka, die ungefähr einen Viertel des gesamten Raums
einnimmt und meist links oder rechts vom Eingang platziert ist.
Die Petschka ist fest eingebaut und dient unterschiedlichen
Zwecken. Darin backt und kocht man, darauf schläft man, und
wenn man das Innere mal gut putzt, den Boden mit Stroh
auslegt und heizt, dann kann man hineinkriechen und dort
regelrecht saunieren. Außerdem hat die Petschka auf der Seite
mehrere kleine Öffnungen (die Petschurka / Petschurki), die der
Erwärmung oder Aufbewahrung von Geschirr dienen, und
Haken, an denen man Kleidung zum Trocknen aufhängen
kann. Das Gute an der Petschka ist, dass man sie nur einmal am
Tag - in der Früh - heizen muss, danach bleibt sie den ganzen
Tag warm und spendet Wärme für das ganze Haus . Der
Schlafplatz auf der Petschka - die Leschanka - ist meist den
ältesten und jüngsten Familienmitgliedern vorbehalten. Da nur
wenige Familien sich einen Schornstein leisten, sorgt die
Petschka auch für Qualm und verrußte Wände.
An der Stirnseite der Petschka, in der sich die Ofenöffnung
befindet, hat man das “Kücheneck”, wo man Geschirr, Koch-
und Putzuntensilien aufbewahrt. Hier kocht man, spült das
Geschirr und wäscht sich selber. Dieser Bereich gilt als
“schmutzig” und wird gerne mit einem bunten Vorhang vom
Rest des Raums abgegrenzt. Gleichzeitig steht dieses Eck im
Ruf, Fabelwesen anzulocken, weil sich der Zugang zum Keller
oft dort befindet.
W. Malischew, “Die Küche”, 19. Jh.
Schräg gegenüber der Petschka, im Eck zwischen der Fassade-
und einer Seitenwand gibt es das “schöne Eck”. Hier befindet
sich ein Schrein, meist Travia oder Peraine geweiht, dem jeder
eingeladene Gast sich als erstes zuwenden sollte. Außerdem
steht hier ein großer Tisch, an dem die Familie speist. Dieses
Eck wird gerne mit Bildern und anderen hübschen
Gegenständen geschmückt, und hier werden die wertvollsten
Besitztümer des Haushalts aufbewahrt und zur Schau gestellt.
Das letzte verbliebene Eck dient als Arbeitsbereich und
“Wohnraum” der Hausherren. Dort hat man ein karges Bett,
unter dem man oft einen Kasten mit unterschiedlichem
Kleinwerkzeug aufbewahrt.
Entlang der Wände, an denen sonst nichts steht, gibt es Bänke,
die auch als Schlafplatz dienen. Darüber montiert man Regale
und Haken, wo man seine Besitztümer aufbewahren kann.
Ansonsten gibt es im Haus Stühle und Hocker, die man wegen
ihrer Handlichkeit schätzt. Von der Seite der Petschka bis zur
nächsten Wand ist oft ein Regal (die Polati) angebracht, welches
außer zur Aufbewahrung von Habseligkeiten, auch gerne
I. Kulikow, „Eines Winterabends“, 1907
Kindern und Katzen als Aussichtspunkt dient.

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Die Ussadba – eine eigene kleine Welt
Bei der Einrichtung des Inneren der Ussadba ist natürlich die
Größe des Geldbeutels des Besitzers maßgeblich. Hier ist alles
denkbar: von recht einfach eingerichteten, bäuerlich
anmutenden Räumlichkeiten bis zu großen, mit Gold und edlen
Stoffen dekorierten Sälen, die den Großstadtpalästen in nichts
nachstehen oder diese sogar übertreffen.
Üblich ist jedoch allen die Teilung in öffentliche und private
Räume. Kleinere Häuser werden dabei oft deutlich in zwei
Hälften eingeteilt, rechts und links vom Eingang, wohingegen bei
größeren Anwesen der Grundriss verspielter ausfällt. Als
öffentlich gelten solche Räume wie Vorraum, Empfangssalon,
Speiseraum und Tanzsaal, wobei in manchen Häusern ein
Raum mehreren Zwecken dient, und es in anderen dafür für
den gleichen Zweck mehrere Räume gibt. Zum privaten Teil
des Anwesens zählen alle Haushaltseinrichtungen sowie
Schlafräume, eine Kapelle oder ein Schrein der favorisierten
Gottheit, Kinderspiel- und Unterrichtszimmer, sowie ein
Familienwohnzimmer und das Kabinett der Hausherren.
Eine Ussadba hat ihren eigenen Lebensrhythmus, der
S. Schukowsky, “Vergangenheit. Ein Zimmer im alten Haus”, 1912
Tagesablauf ist nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich
geregelt. L. Premazzi, „Das Anwesen Baron A. L. A. Rakowitsch, „Ein Interieur“, 1845
Stieglitz‘. Das Esszimmer “, 1870
Nach dem Aufstehen und einem leichten Frühstück im Kreis
der Familie zieht sich jedes Familienmitglied in seinen
Arbeitsbereich zurück. Während Kinder von ihren Erziehern
Unterricht bekommen, empfangen Familienoberhäupter
Bittsteller, Verwalter, Boten, usw. in ihrem jeweiligen Kabinett.
Dieser Raum ist meist spärlich und funktional eingerichtet, mit
schlichten Möbeln, Regalen und einer Standuhr. Hier arbeitet
man bis zum Mittagsessen.
Im Speiseraum sind Wandmalereien, verzierte Decken sowie große Portraits der Vorfahren zu sehen. Auf eleganten Gestellen werden
teures Geschirr oder anderweitige Kollektionen der Familie ausgestellt. Ansonsten gibt es hier keine Möbel außer den notwendigen –
den maximal komfortablen Stühlen und dem Tisch. Das Mittagsmahl fällt opulent aus und kann bis zur drei Stunden dauern. Danach
ist ein kurzer Mittagsschlaf beliebt, sowie Spaziergänge im Park, Lesen, Sticken oder andere ruhige Tätigkeiten.
Steht am Abend kein Besuch an, versammelt sich die Familie nachmittags im gemütlichen Wohnzimmer. Hier liest man aus Büchern
oder Zeitungen vor, musiziert und philosophiert. In bescheidenen Haushalten wird abends nur dieses Zimmer beheizt und
beleuchtet, und nach einem leichten Abendessen geht man früh ins Bett.
Manchmal aber empfängt man nachmittags schon Gäste. Für kleine, ungezwungene Runden wird der sogenannte Salon benutzt bzw.,
so dieser nicht vorhanden, wiederum das Wohnzimmer. Diesen Raum dürfen nur Personen betreten, die mit der Familie gut
befreundet und vertraut sind. Mit vielen Sitzmöglichkeiten, Musikinstrumenten, Dekorationsgegenständen, einem Spieltisch und
gemütlichen Sitzecken lädt dieses Zimmer zu einem netten Beisammensein ein.
Ganz anders wirkt der repräsentative Hauptsaal (auch Saala genannt). Aufwendige Beleuchtung, vergoldete Verzierungen, Tapeten
und schwere Vorhänge aus edlen Stoffen und eine große Abbildung einer Gottheit oder des aktuellen Herrschers schaffen hier eine
gehobene, Respekt einflößende Atmosphäre. Möbel gibt es hier wenige: meist nur elegante Sitzmöglichkeiten und kleine Beistelltische
entlang der Wände oder im Kreis arrangiert. In der Zeit zwischen großen Empfängen wird dieser Raum nicht benutzt und sogar
gemieden, denn, kalt und verhüllt, lädt er nicht zum Verweilen ein.
Das Schlafzimmer ist meist mit aufwendigen Drapierungen aus edlen Stoffen dekoriert, ein Baldachinbett gehört ebenso dazu. Neben
dem Bett stehen kleine Nachttische, auf welchen Abendlektüre aufbewahrt oder ein kleines Teeservice für eine oder zwei Personen
gedeckt wird. Bevor man ins Bett geht, betet man zu „seiner“ Gottheit, von der eine wertvolle Abbildung in einem teuren und reicht
verziertem Goldrahmen an der Wand hängt.
Des Weiteren mag es zusätzliche Räume geben, wie eine Bibliothek, eine Bildergalerie, ein Museum, ein Theater, einen Konzertsaal,
ein repräsentatives Kabinett oder sogar ein repräsentatives Schlafzimmer und dergleichen mehr.

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Das Leben in der Kommune
Da das Leben in Bornland für die einfachen Leute ein Überlebungskampf ist, sind die Leute hier aufeinander angewiesen.
Individualisten gibt es hier selten, eher fühlt sich ein Dorf für seine Bewohner wie eine erweiterte Familie an. Man lebt eng
beieinander, jeder ist für alle sichtbar, und ist sehr tief und fest in die Gemeinde eingebunden. Die soziale Struktur spielt dabei
zwangsläufig eine große Rolle beim Aufrechterhalten der Ordnung. Andererseits wird jedes Unrecht und jede Streitigkeit quasi
multipliziert. So können sich unversöhnliche Meinungslager und Feindschaften ausbilden, die Generationen überleben. Stark
ausgeprägt ist die Unterscheidung zwischen zur Gemeinde Zugehörigen und Fremden. Wer ein Fremder ist, hat nicht die gleichen
Rechte wie die eigenen Mitglieder und kann so z.B. selbstverständlich bestohlen werden. Merkwürdig ist die Beziehung zum „eigenen“
Bronnjar. Einerseits gehört es zum schlechten Ton, diesen vor Fremden zu beschimpfen – und sei er noch so verhasst, denn „man soll
den Müll nicht aus der Hütte tragen“. Andererseits wird er selbst als Fremder wahrgenommen, und bei jeder Gelegenheit von seinen
Verwaltern und Bauern übervorteilt.

Das Leben im Sommer


So schwer man es sich vorstellen mag, so herrscht im Bornland
doch nicht immer Winter. Die Sommer mögen kurz sein, aber
es gibt sie, und das Leben geht im Bornland auch dann weiter.
Oder vielmehr: gerade dann. Denn in den fünf kurzen warmen
Monden muss man alles erledigen wofür ein mittelreichischer
Bauer bis zu acht Monde Zeit hat. Man steht vor Sonnenaufgang
auf, arbeitet bis zum Umfallen im Feld und übernachtet nicht
selten auch dort. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder auch in
dem Feld geboren werden, und dann geht die Mutter
unmittelbar weiter an die Arbeit. Auf die Allerjüngsten passen
ihre Geschwister auf, allerdings müssen Kinder schon ab dem
Alter von etwa 8 Jahren bei der Feldarbeit auch schon mit
anpacken. Freie Tage gibt es in dieser Zeit kaum, sondern nur
wenige Feste, die man dann mit Gusto und großer Hingabe zu K. Makowsky, „Das Mittagessen der Bauern im Feld“, 1871

feiern versteht (mehr dazu weiter unten).


Für den Adel ist der Sommer ein Anlass, aus der Stadt in ihre
Anwesen auf dem Land umzuziehen und das Leben maßgeblich
auf die Terrasse und in den Garten zu verlagern. Ausgedehnte
Spaziergänge, Jagd-, Bade- und Picknick-Ausflüge, sowie der
abendliche Tee auf der Terrasse mit Nachbarn gehören zu dem
typischen Tagesablauf der Bronnjaren.

Das Leben im Winter


Während der langen kalten Monde geht es im Dorf gemütlicher
zu. Die intensive Arbeit im Feld wird durch handwerkliche
Tätigkeiten ersetzt: von Ausbessern der Möbel in der Stube bis
hin zum Schnitzen von neuem Geschirr, Nähen und Ausbessern
der Kleidung, Spinnen, etc. Trotzdem bleibt einem relativ viel
Zeit übrig, denn es wird früh dunkel und spät hell, Licht ist W. Maksimow, „Alles vorbei“, 1889

teuer, und so kann in diesen Stunden schlecht produktiv sein.


Die Lieblingsbeschäftigung in dieser Zeit ist es, auf der warmen
Petschka zu liegen und im Licht einer einzigen Kerze
Geschichten zu erzählen. Man hofft auf die Gnade und der Hilfe
die Götter zu hoffen, um zu überwintern. Manchmal reichen die
kargen Vorräte nicht aus, und dann kratzen Mensch und Vieh an
der Hungergrenze und können am Ende des Winters kaum
stehen.
Der Adel frönt in dieser Jahreszeit insbesondere Bällen,
gegenseitigen Besuchen, ausführlicher Korrespondenz und
Ausfahrten in den Kaleschkas. B. Kustodijew, „Maslennitsa“, 1916

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Tracht
Die traditionelle bornische Frauenkleidung besteht aus einer
Bluse, deren Ausschnitt höchstens bis zum Schlüsselbein reicht,
mit weiten, an den Handgelenken gerafften Ärmeln, die im
unteren Drittel gerne mit allerlei floralen- und geometrischen
Mustern bestickt werden. Über der Bluse trägt Frau einen
Sarafan, ein nicht-talliertes, ärmelloses und knöchellanges Kleid
auf breiten Schultergurten. Kunstvoll verzierte Bordüren und
Stickereien verzieren das Kleid an den Schultergurten, sowie an
der oberen und unteren Kante. Die Blusen sind für gewöhnlich
weiß, während für die Kleider kräftige Farben und dicke, starke
Stoffe verwendet werden. Rot und Weiß gelten dabei als
Festtagsfarben. Außerdem beliebt sind große, bunte rechteckige
Schals, die man sich, als Dreieck gefaltet, über die Schulter oder
über den Kopf wirft und bindet. Auf dem Kopf trägt eine
verheiratete Frau eine Haube, die ihr Haar komplett bedeckt,
während junge Frauen ihre Haare in einen oder zwei Zöpfe
flechten, die dann manchmal um den Kopf herum gelegt
werden. An den Festtagen tragen Frauen am Kopf das
Kokoschnik, ein Schmuckstück, das das Gesicht der Frau wie
ein Nimbus in einer halbrunden, gespitzten oder zylindrischen
Form umgibt. Es wird aus dickem Papier oder Stoff gemacht
und reich verziert: mit Perlen, Blumen, Goldfäden, Glas und
dergleichen mehr. Bei verheirateten Frauen hat die Haube, auf
der das Kokoschnik sitzt, hinten geschlossen zu sein, bei
Unveheirateten ist sie offen. Sie wird mit einem Band am
Nacken befestigt.
Einfacher und gewöhnlicher sieht dagegen die Männertracht
aus. Man trägt über der Hose ein Hemd, das bis zur Mitte der
Schenkel reicht, meist weiß, blau oder rot, und mit einem engen
S. Solomko, „Eine wichtige Frage“, ?
Gürtel zusammen gehalten. Oft hat so ein Hemd ein
Stehkragen, von dem auf die Brust ein Schnitt gemacht wird,
und der mit einem Knopf oder Band zusammen gehalten wird.
Hemden werden am Kragen, am Ende der Ärmel und am
unteren Saum verziert. Dazu kommt oft ein Kaftan, ein
mantelartiges Kleidungsstück, dass viele Varianten aufweist: es
kann weit oder eng geschnitten sein, knie- oder knöchellang sein,
weite oder enge Ärmel haben, mit Kragen oder ohne… Gemein
ist allen ein relativ tiefer Ausschnitt, der das darunter getragene
verzierte Hemd zur Schau stellen soll, sowie der mit Häkchen
zusammengehaltene Stumpfstoß vorne. Die Kaftane sind meist
grau oder blau, mit einem andersfarbigen, breitem Gürtel
(Kuschak).
An den Füßen tragen beide Geschlechter selbstgemachte
Bastschuhe (Lapti).
In den kälteren Jahreszeiten kleiden sich beide Geschlechter in
den Sipun, einen Mantel, der oft gar keine Knöpfe oder
Häckchen hat, sondern nur mit einem Gürtel zusammen
gehalten wird. Wer es sich leisten kann, hat einen Tulup - einen
Mantel mit Pelzbesatz (Schaf- oder Hasenfell) und mit einem
breiten Umlegekragen.
Die Kleidung des Adels folgt im Wesentlichen der traditionellen
Tracht, wenn auch dabei selbstverständlich viel wertvollere
Stoffe und reichere Stickereien verwendet werden. Je tiefer man
in die bornische Provinz eindringt, desto eher sieht man
altertümliche Elemente in der bronnjarschen Kleidung. Manche
verwenden dabei schlichte Farben und feine Stoffe, wohingegen
andere mit ihrem Reichtum protzen und auf Brokat, Gold und
Edelsteine setzen. Im Winter hat man Anlass, einen edlen
Pelzmantel zu tragen, das Statussymbol schlechthin. R. Lefèvre, „Fürstin M.F. Barjatinskaja mit Tochter Olga“, 1817

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Feste, Bräuche, Aberglaube
Egal ob im Sommer oder im Winter, am Hof der Bronnjaren
oder im armen Haus ihrer Bauern gibt es eine Konstante: Tee.
Ohne Tee ist das Leben in Bornland undenkbar. Gut situierte
Bornländer trinken echten Tee aus den Tulamidenlanden,
ansonsten tun es auch Kräuter- und insbesondere Beerentees.
Gerne kommen Leute extra zum Tee zu Besuch oder die ganze
Familie setzt sich abends zum Tee und einem gemütlichen
Plausch hin. Selbstverständlich haben die Reichen dafür viel
mehr Zeit und Gelegenheit, auch fällt die Tischbedeckung bei
ihnen opulenter aus. Auf jeden Fall gibt es aber Baranki -
trockene Brotkringel, die man zum Aufweichen in den Tee
tunkt. Wer es sich leisten kann, bietet Kekse oder Kuchen an
und reicht Butter, Honig oder diverse Marmeladen dazu. Ein
glänzender Samowar steht dabei auch auf dem Tisch oder in der
Nähe. Den heißen Tee schlürft man aus der Untertasse, indem
man diese geschickt auf Fingerspitzen zum Mund führt. A. Morosow, “Beim Teetrinken”, 1904 K. Makowsky, „Beim Teerinken“, 1914

Eine zweite Konstante ist das bornische Badehaus, die Banja -


ein Platz von fast sakraler Bedeutung im Leben der Bornländer.
Wie ein bornisches Haus besteht auch die Banja aus einem
rechteckigem Raum und einem kleinen Windfang davor. Sie hat
keinen Luftabzug außer einem kleinen Loch im Dach und einer
angelehnten Tür. Geheizt wird in einer offenen Feuerstelle mit
Laubholz, meist Birke. Nach der Heizung muss die Banja etwas
“ruhen”, danach wird auf die Feuerstelle kochendes Wasser
gekippt. Im resultierenden Dampf sauniert man. Dabei peitscht
man sich selbst oder gegenseitig mit Birkenzweigen – unbedingt
mit Blättern daran. Anschließend, im Freien, gießt man kaltes
Wasser über sich oder springt in ein Eisloch.
Auf Fremde kann dieser Vorgang wie eine Tortur wirken, doch
Bornländer schätzen und lieben den Badehausbesuch.
Auch der Adel ist sich dafür nicht zu fein, obwohl die
W. Tichonow „In der Banja“, 1916
Räumlichkeiten natürlich einen ganz anderen optischen
Eindruck machen. Oft findet man einen luxuriös eingerichteten
Ruheraum vor, wo man zwischen den Banja-Gängen speist, trinkt
und wichtige Verhandlungen führt. Speziell dafür abgestelltes
Personal kümmert sich um die richtige Banja-Temperatur,
bedient die Herrschaften und sorgt dafür, dass sie ordentlich
gepeitscht werden.
Dabei ist Banja nicht nur ein Ort, wo man sauber wird, sondern
auch eine medizinische Einrichtung. Dank dem im Holz
enthaltenen Teer entsteht in der Banja eine keimfreie
Umgebung, weshalb hier oft Kinder geboren werden. Die Banja-
Luft „schmeckt“ zwar bitter, reinigt dafür auch gründlich die
Atemwege, was bei einigen Krankheiten helfen kann. Manche
Heiler schwören außerdem auf diverse Kräuteraufgüsse.
F. Schurawlew, „Ein Junggesellinnenabschied in der Banja“, 1885

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Feste, Bräuche, Aberglaube
Hochzeit
Im Travia, nach der Erntezeit, ist die beste Zeit fürs Heiraten, denn man hat endlich Zeit für all die notwendigen Rituale und
Vorbereitungen. Diese Traditionen sind in Bornland stark verwurzelt, und werden auch vom Adel rigoros befolgt.
Eine Hochzeit ist ein langer Prozess, in dem eine besonders wichtige Rolle den Mittelleuten zukommt. Denn man wirbt nicht für sich
selbst, man entscheidet nicht einmal für sich selbst, wen man ehelichen möchte. Hier haben die Eltern das Sagen, die ihren Kindern
im heiratsfähigen Alter (ab 14 Jahren) einen passenden Gatten aussuchen. Im Falle der Leibeigenen entscheidet oft der Bronnjar
höchstpersönlich, wer mit wem verheiratet werden soll, um möglichst nützlichen Nachwuchs zu produzieren. In diesem Fall geht man
ohne viel Zimperlichkeit vor; die Eltern der jungen Leute werden einfach informiert und dürfen sich der Entscheidung nicht
widersetzen. Manch einer Bronnjar ist da aber „fahrlässiger“ und lässt seine Leute ihre Geschicke selbst regeln.
Maßgeblich für die Auswahl der Brautleute unter dem einfachen Volk ist wie arbeitsfähig, kräftig, gesund und fromm der/die
Betreffende ist. Beim Adel gelten selbstverständlich andere Kriterien: der Ruf und der Stand der Familie, Größe des Mitgiftes und
Aussichten auf Erbe, das Äußere, sowie persönliche Tugenden wie Belesenheit oder Tapferkeit, Heldentaten und Ruhm.

Ist die Wahl getroffen, wird ein Mittelmann oder eine Mittelfrau
beauftragt, die ausgesuchte Familie zu besuchen, um sich diskret
von ihrer Stimmungslage und ihren Interessen ein Bild zu
machen. Wenn man einen gemeinsamen Nenner findet, folgt
ein Besuch der Mutter des Bräutigams oder ihrer
Vertrauensperson im Haus der Braut. Dabei wird sich nochmal
vergewissert, ob die Braut, die man in seine Familie aufnehmen
soll, die ersehnten Qualitäten mitbringt. Wenn sich danach alle
beteiligten Erwachsenen einig sind, dass ihre Kinder ein gutes
Paar abgeben werden, folgt Sgowor: die ganze Bräutigams-
Familie kommt und speist mit den Eltern der Braut, die Braut
darf sich aber nicht zeigen. Hier wird Klartext geredet: Mitgift,
Geschenke an die Brautleute, Hochzeits-Budget, Zeitplan und
ähnliches wird besprochen. Erst dann beginnen die
Vorbereitungen auf die eigentliche Hochzeit.
Am Tag der Hochzeit wird das Eigentum der Braut ins Haus
des Bräutigams verbracht. Der Braut wird von ihren
Freundinnen ihr mädchenhafter Zopf gelöst, und die Haare K. Makoswsky, „Vor der Trauung“, 1884
werden unter einer Haube untergebracht. Ihr Hochzeitskleid ist
ein roter, bestickter Sarafan und ein opulent verzierter
Kokoschnik. Danach wird die Braut vom Bräutigam und
seinem Tross abgeholt und entweder in den Tempel zur
Trauung, oder in Ermangelung dessen, direkt ins eigene Haus
gebracht. Dort wird das Paar von seinen Eltern mit einem
runden Kuchen (Karawai) begrüßt. Die Brautleute sollen das
Karawai in 2 Teile brechen; wer dabei das größere Stück
abbricht, hat später in der Familie das Sagen, so der Glaube.
Es folgt eine ausgelassene Feier, während der die Gäste Speis
und Trank frönen, tanzen und singen. Das Brautpaar hat dabei
artig an der Stirnseite des Tisches zu sitzen, nichts zu essen und
sich auf Aufforderung zu küssen. Den Höhepunkt erreicht die
Feier, wenn man das Paar in ihr Schlafzimmer (was bei Bauern
oft der Anbau am Haus oder ein abgetrennter Bereich der
Wohnstube heißt) führt, ihnen zu essen gibt und sie dann A. Korsuchin, “Ein Junggeselinnenabschied”, 1889
alleine lässt.

9
Feste, Bräuche, Aberglaube
Erster Praios
Die Sommersonnenwende ist der Höhepunkt der warmen
Jahreszeit und gilt unter Bornländern als eine der wichtigsten
Zeiten des Jahres. Es ist in der Nacht auf den Ersten Praios
verboten, auch nur zu dösen, denn allerlei magisches Gesindel
werden in dieser Nacht besonders aktiv und man kann ihnen
schlafend leicht zu Opfer fallen. Ab Mitternacht feiert man das
Wiedererwachen der Welt nach den düsteren Namenlosen
Tagen. Es gilt, sich von den alten Sünden zu reinigen, in dem
man in Reigen um riesige Feuer tanzt und über sie hinweg
springt. Bei Sonnenaufgang breitet man auf den Wiesen H. Semiradsky, „Die Nach vor Iwan Kupala“, 1880-er
Bettlaken aus, damit sie vom Tau durchtränkt werden, um sie
später auszuwringen und das so gewonnene Wasser in kleinen
Gefäßen aufzubewahren und sich damit die Hände und Gesicht
zu waschen, denn es heißt, dass dieses Wasser vor bösen
Erwachen des Hausgeistes
Geistern schützt. Ebenso Teil des Reinigungsrituals ist das (1. Peraine)
frühmorgendliche Baden. Tagsüber läuft man aber Gefahr,
noch mehrfach wieder nass zu werden. Es ist unter den Der Hausgeist erwacht von einem langen Winterschlaf und ist
Jugendlichen Brauch, andere Leute mit dreckigem oder erst einmal missgelaunt und muffig. Er gähnt, murrt und wirft
schlammigen Wasser zu übergießen, denn: wer sich öfter Sachen um. Man versucht, ihn zu besänftigen, indem man ihm
wäscht, wird auch in der Seele reiner. Am Abend geht es mit einen Teller mit leckerem Essen und einen Becher mit Milch
einer ausgelassenen Feier weiter. bereitstellt und indem man lustige Spiele und Streiche treibt.

Beginn und Ende der Erntezeit Fest der Freuden


Die erste Garbe einer Erntezeit bringt man in feierlicher Anfang und Begrüßung des Sommers. Die Häuser versinken in
Stimmung und von Liedern begleitet nach Hause ins schöne grünen Dekorationen aus Zweigen von Birke, Eiche und Ahorn,
Eck. Diese wird, mit Blumen und Gräsern dekoriert, neben sowie Feldgräsern und -blumen. Die Leute ziehen ihre besten,
dem Schrein platziert, denn es heißt, dass sie dem ganzen und oft extra dafür angefertigten, roten Gewänder an. Junge
Haushalt Wohlstand bringt. Leute flechten opulente Blumenkränze, die sie dann nach
Sonnenuntergang, von Liedern begleitet, auf den Flüssen und
Seen treiben lassen. Tagsüber wird überall gesungen, getanzt und
Tag der Jagd gefeiert.

An diesem Tag ist das Adelsprivileg der Jagd aufgehoben, und


jedermann darf jagen. Es ist dabei üblich, in den Dörfern nichts
zu essen, bis der erste Jäger mit Beute zurückkehrt. Tagsüber
geht man in die örtlichen Tempel, betet, und badet in
Eislöchern. Weiter geht es mit Umzügen von Maskierten,
Aufführungen der Spielleute und sonstiger leichter
Unterhaltung. Am Abend zieht die Jugend durch das Dorf uns
singt scherzhafte Lieder, Koljadki, wofür man sie reichlich mit
süßem Gebäck oder anderem Essbaren belohnt.

K. Trutowsky, „Koljadki in Kleinrussland“, 864 P. Suchodolsky, “Pfingsten”, 1884

10
Feste, Bräuche, Aberglaube
Feenwesen oder Ammenmärchen?
An die Existenz dieser Wesen glauben die meisten Bauern. Der Adel mag daran zweifeln und sie als “Ammenmärchen” abtun, doch
liegt es in der Hand des Meisters, deren Wahrheitsgehalt festzulegen bzw. auch andere Wesen zu erfinden. Ihre Namen können von
ihrem typischen Wohnort oder der “Zuständigkeit” abgeleitet werden, indem man die Endungen -ka oder -nik hinzufügt, und für
Plural zusätzlich die Endung -i.

Domowik ist ein sehr kleiner (1 bis 1,5 Spann großer), alter, Vodjanik ist ein Geist, der in Teichen und in Sumpflöchern lebt
buckeliger Mann. Er ist sehr haarig, hat einen langen Bart, und nach dem Leben der Menschen trachtet. Er erscheint als ein
Haare an den Ohren und sogar an Handflächen. Es gibt ihn in nackter und mit Schlamm bedeckter Mann mit grünem Haar
fast jedem Haus; er wohnt in gemütlichen dunklen Eckchen wie und Bart.
hinter der Petschka, hinter Truhen, im Eck oder im
Schornstein. Er ist mürrisch, aber nicht böse, und mag es, wenn Rusalka ist eine ertrunkene junge Frau. Fern der Zivilisation in
ein Haus gut geführt wird, und hilft gerne dabei, indem er passt Flüssen und Seen leben Rusalki in Scharen und gelten manchmal
auf das Vieh auf und beschützt die Hausbewohner vor bösen als die Töchter von dem Vodjanik. Rusalki haben eine sehr
Geistern. Was ihm nicht gefällt, ist wenn die Hausbewohner blasse Haut, weiß-grünliche lange Haare und tragen weiße lange
faulenzen oder miteinander streiten: dann klappert er mit den Kleider. Sie sind traurig und einsam und sehnen sich nach der
Türen, zwickt die Schlafenden, was schmerzhafte blaue Flecken Gesellschaft von jungen Männern, denn es gibt nur weibliche
hinterlässt, schreit in der Nacht oder verursacht gar kleine Feuer. Rusalki. Sie singen schöne Lieder und können so Männer ins
Eine Familie tut gut daran, sich mit dem Hausgeist gut zu Wasser locken, wo diese nicht mehr raus kommen.
stellen. Wenn man umzieht (was selten genug vorkommt), will
man den Hausgeist mitnehmen. Dafür stellt man einen Korb
mit stark gesalzenem Brot ins Zentrum des Raums und ruft nach
dem Hausgeist, dass er bitte mitkommen soll. Doch zeigen wird
sich der Geist nie; nur Kinder und Tiere können ihn manchmal
sehen, wenn er mit ihnen spielt.

Kikimora ist eine kleine Frau, mit einem winzigen Kopf wie eine
Nuss, und dünnem Körper, der an einen Ast erinnert. Sie gilt als
die Ehefrau des Hausgeists, ist meist unsichtbar und wird nur
nachts aktiv. Sie mag es, zu weben und setzt sich nachts auch
gern an die Spindel, dann bringt sie aber öfter alle Fäden
durcheinander, als dass sie etwas Gutes leistet. Ansonsten spielt
sie nur kleine harmlose Streiche, außer wenn jemand ihren
Unmut: dann wird sie diesem Menschen Alpträume schicken,
I. Kramskoy, „Rusalki“, 1871
die genau auf seine Ängste abgestimmt sind. Wenn man sie
sieht, ist das meist ein schlechtes Omen: sieht man sie beim
weben, wird ein Familienmitglied bald sterben; sieht man sie Antschutka ist ein kleiner Moorwicht; immer sehr dreckig und
weinen, passiert ein anderes Unglück. lästig.

Bannik ist ein kleiner dünner Mann mit einem langen Bart. Er Auuka ist ein Waldkobold, ein kleiner, dicker Mann mit
trägt keine Kleidung, aber sein Körper ist komplett mit alten, Pausbacken. Er mag es, insbesondere im Winter Leute zu
herabgefallenen Birkenblättern bedeckt. Er wohnt in der Banja, verwirren, in dem er von allen möglichen Seiten als Echo ruft.
und wäscht sich mit dreckigem Wasser. Da er keinen Alkohol
mag, verabscheut er Leute, die in “seiner Banja” trinken: diesen Polewik ist ein Wicht der Felder, ein kleines, krummbeiniges
jagt er gerne einen gehörigen Schrecken ein. Wer es all zu bunt rothaariges Wesen mit einem spitzen Schwanz, das mit
treibt, wird von ihm in der Banja bis hin zum Ersticken unglaublicher Geschwindigkeit über die Felder rennt. Wer sich
eingesperrt, oder wird mit kochendem Wasser übergossen. Am mit ihm gut stellt, für den passt es auf das Feld auf. Wenn er auf
meisten hasst Bannik schwangere Frauen, deshalb darf keine einen Menschen böse ist, schickt er ihm/ihr einen Hitzschlag.
jemals in der Banja alleine gelassen werden.

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Persönlichkeiten aus dem Volk

I. Repin, “Schriftstellerin T. L. Schepkina-Kupernik”, 1914 I. Repin, „Musorgsky“, 1881 F. Sitschkow, „Mascha“, ?

Ganna war einmal ein hübsches Mädchen, die Petro ist der 50-jährige Dorfvorsteher, verwitwet. Oksana ist die hübsche Tochter des hiesigen
sich den wohlhabendsten Burschen zum Der Höhepunkt seines Lebens war, als er vor 30 Dorfvorstehers, gerade einmal 17 Jahre alt.
Heiraten aussuchen konnte. Immer auf ihr Jahren den Bronnjaren nach Festum begleiten Sie ist verwöhnt, selbstverliebt, aber leider
eigenes komfortables Leben bedacht, konnte durfte. Seitdem erzählt er immer die gleichen auch ziemlich charmant. Oksana genießt ihre
sie es sich sehr schön einrichten. Nach dem Geschichten von dieser Reise und hält sich für Macht über die Dorfjungen; keinem erlaubt
Tod ihres Gatten sieht sie sich nun nach dem einen richtigen Kosmopoliten. sie allerdings mehr als ein Händehalten oder
nächsten spendablen Gönner um. Mittlerweile einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mikitko
ist Ganna um die 40, etwas beleibter und nicht findet sie lustig, zieht ihn aber nicht als einen
mehr die Schönste, und trotzdem verfallen ihr möglichen Gatten in Erwägung.
die erwachsenen Dorfmänner. Etliche machen
ihr schöne Augen und statten ihr Besuche ab,
und jeder denkt er wäre der einzige Günstling.
Dies ist nicht nur ihrem naturgegebenem
Talent zu verdanken, sondern auch ihrer
Ausbildung zur Schönen der Nacht. Im Dorf
munkelt man, dass Ganna sich in eine Katze
verwandeln kann (tatsächlich lebt ihr
wohlgenährter getigerter Vertrauter Wasko bei
ihr) und nachts auf einem Besen fliegt. Die
meisten Leute halten diese Gerüchte für
Geschwätz der neidischen Weiber.

Jagischna ist eine alte Rabenhexe und


Oberhaupt des hiesigen Zirkel. Sie wohnt tief
im Wald in einer einsamen Hütte. Sie ist
launisch, schnell gereizt, und liefert der
Dorfbevölkerung aus die Umgebung Stoff für
die abendlichen Schauergeschichten: wenn die
Kinder nicht brav seien, werde Jagischna sie
holen und fressen! Doch wenn man aus einer
schwierigen Lage nicht mehr weiter weiß, sei es
eine schwere Krankheit, eine Herzens- oder
Geschäftsangelegenheit, nimmt man den I. Repin, „Ein Weißrusse“, 1892 W. Polenow, “Geschichtenerzähler Nikita Borgdanow”, 1876
langen Weg auf sich, um die Alte (heimlich!)
aufzusuchen. Die Hexe lässt ihre Arbeit teuer Mikitko ist Gannas schweigsamer, hünenhafter Daanje ist ein ehemaliger Abenteurer und
bezahlen, dabei nimmt sie kein Geld entgegen und unbedarfter Sohn. Er ist ein netter Kerl, ein einer der wenigen freien Bauern in der
sondern unterschiedliche Güter des täglichen exzellenter Schmied und Amateurmaler – sogar Gegend. Er wohnt alleine, hütet im Sommer
Bedarfs oder fordert eine Gegenleistung. Sie ein ziemlich guter. Mikitko ist der schönen das Vieh und im Winter die Petschka, frönt
mag es, die Leute herum zu scheuchen und Oksana hoffnungslos verfallen und versucht ihre dem Trunke und stattet Ganna ab und an
eine düstere Aura zu bewahren. Ihr Gunst mit Geschenken zu gewinnen, verfällt in einen Besuch ab. Er ist ein Kenner unzähliger
Fluginstrument ist ein Fass, ihr Vertrauter – ein ihrer Anwesenheit jedoch in Verlegenheit Märchen und Legenden und ein Erzähler vor
großer Rabe namens Kuzja. den Göttern.

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Persönlichkeiten aus dem Adel

I. Bugajewsky-Blagodarny, „W. Borowikowsky“, 1825 W. Borowikowsky, „Fürstin M. I. Dolgorukaja“, 1811 R. Nikitin, „Baronin M.J. Stroganowa“, 1721-1724

Grigorjan Muromske ist ein aufgeweckter, wenn Mondina Gerrano ist die jüngste Tochter eines Darja Salderken ist dank ihrem Vermögen
auch nicht vom Geschäftssinn gesegneter horasischen Beamten, die auf eine Anzeige im eine einflussreiche und respektierte
Bronnjar, der versucht, auf seinem sewerischen Aventurischen Boten reagierte und sich auf die Bronnjarin. Sie ist nicht sonderlich gebildet,
Gut so etwas wie ein horasisches Palazzo Stelle “einer Gouvernante in einem wohlhabenden dafür verwöhnt und süchtig nach allen
aufzubauen. Er verschwendet unglaubliche sewerischem Haus” bewarb. Inzwischen langweilt möglichen Genüssen und Amüsements. Oft
Summen für Luxusgüter, Pferde, horasiche sich die 40-jährige fürchterlich unter “diesen werden ihre Nachbaren Ziele ihrer „lustigen
Baumeister und Handwerker, die er extra Barbaren” und wartet nur darauf, dass sie mit Einfälle“, jedoch wagt nie jemand eine
anreisen lässt, und ist daher hoch verschuldet. ihrem Angesparten endlich wieder fortreisen kann. Einladung in ihr Haus abzulehnen. Sie ist an
Seine einzige Tochter, Lysminja, wird von einer allgemeine Unterwürfigkeit gewöhnt und
Horasierin ausgebildet und betreut. Bei seinen duldet keine Widerworte. Jeder
Bauern gilt er als verschroben, aber harmlos. Gefühlsregung und jedem Begehren lässt sie
freien Lauf.

W. Borowikowsky, „M.I. Lopuchina“, 1795 A. Wenezianow, „Eine Bäuerin der Twerskaja Gubernija“, 1840 K. Makowsky, „Ein Selbstportrait“, 1860

Lysminja Muromske ist ein gut aussehendes Nastja ist die Magd und gleichzeitig die beste Miljan Walsareff ist eine von Romantik
Mädchen romantischer Gesinnung. Sie weiß Freundin Lysminjas. Sie zählt ganze 20 Sommer, umgebene Gestalt. Einst wagte er es, die
viel vom Leben außerhalb des heimischen und ist immer für einen lustigen Streich oder eine Zuneigung von Darja Salderken nicht zu
Anwesens - aus Romanen. Sie ist neugierig und Liebelei bereit. erwidern, woraufhin diese Rache schwor und
abenteuerlustig, und mag es, lange Gespräche ihm im Zuge einer juristischen Schwindelei das
mit ihrer Magd, Nastja, zu führen. Manchmal geerbte Landgut weg nahm. Miljan steckte
zieht sie sich ein einfaches Gewand des daraufhin sein Familiennest in Brand, scharte
Bauernmädchens an und unternimmt lange eine Bande aus seinen ehemaligen Leibeigenen
Spaziergänge durch den Wald. um sich und macht seitdem die örtlichen
Straßen unsicher, wobei sein besonderes
Augenmerk auf den Lieferanten, Bediensteten
und Gästen seiner Widersacherin liegt.

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Inpirationen

K. Makowsky, „Vor dem Gewitter fliehende Kinder“, 1872 F. Wassiljew, „Ein Dorf“, 1869

A. Korsuchin, „Rückkehr aus der Stadt“, 1870 I. Kulikow, „In einem Bauernhaus“, 1904

W. Polenow, “Winter. Imotschenzi.” 1880 I. Kulikow, „Die Familie eines Försters“, 1909

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Inspirationen

A. Korsuchin, „Ein Sonntag“, 1884 F. Schurawlew, „Bojarischnja“, 1896

A. Wenezianow, „Die Frau vom Maler, M. Wenezianowa,


K. Brjullow, „A. A. Perowsky“, 1836 I. Repin, „Protodiakon“, 1877 in russischer Tracht“, 1828

S. Iwanow, “Ankunft des Woiwoda”, 1909 G. Sedow, „Zar Aleksej Michailowitsch wählt seine Braut“, 1882

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Quellen der genutzen Grafiken:


Das Schwarze Auge - Fanpaket
Nandurion-Fanpaket / Verena Schneider

Alle Gemälde sind gemeinfrei.

I. Gorjuschkin-Sorokopudow, „Alte Rus“, ?

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