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INTERVIEW ZUM MENSCHENHANDEL IN DER EU:

SKLAVENARBEIT AUCH IN DEUTSCHLAND

Rund 880.000 Menschen arbeiten in Europa als Sklaven, 270.000 davon werden sexuell
ausgebeutet. Das geht aus einem Bericht der EU hervor.
Auch in Deutschland sei Sklaverei an der Tagesordnung, vor allem auf dem Bau, sagt
der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft.

Menschenhandel und Sklavenarbeit sind offenbar auch in Europa ein einträgliches Geschäft.
Zu der Erkenntnis kommt der Sonderausschuss für organisierte Kriminalität, Korruption und
Geldwäsche (CRIM), der im März 2015 im EU-Parlament seine Arbeit aufnahm. Auf 25
Milliarden Euro schätzen die Experten die Einnahmen, die Menschenhändler und Arbeitgeber
mit den billigen Arbeitskräften erzielen. Der EU-Bericht kritisiert auch, dass zwar alle EU-
Mitgliedstaaten von dem Problem betroffen sind, doch längst nicht alle von ihnen die
internationalen Vereinbarungen unterzeichnet haben, die zur Bekämpfung des
Menschenhandels beitragen würden.

Jörg Radek

Sklavenarbeit in Europa nehme erschreckende Ausmaße an, sagt Jörg Radek,


stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) mit Sitz in
Berlin und Düsseldorf. Er fordert ein Sofortprogramm der Bundesregierung zur
Bekämpfung internationaler Verbrecherorganisationen, die in Europa Arbeitskräfte
ausbeuten und versklaven.

WDR.de: Dass Frauen zum Beispiel nach Deutschland verschleppt (затягивать)


werden und hier zur Prostitution gezwungen werden, ist ein bekanntes Problem.
In welchen Bereichen findet man die restlichen 600.000 Zwangsarbeiter?

Jörg Radek: In Deutschland vor allem im Baugewerbe – in Form regelrechter


Arbeitskolonnen –, aber auch auf Schlachthöfen (скотобойня), in der Gastronomie, im
Hotelgewerbe oder der Reinigungsbranche.

WDR.de: Wie kommen sie nach Deutschland?


Radek: Da gibt es gut organisierte Banden und Organisationen, die Hand in Hand
arbeiten: Eine rekrutiert die Arbeitskräfte zum Beispiel im osteuropäischen Raum. Das
sind Menschen, für die die Wohlstandsgesellschaft Deutschland in jedem Fall mehr
bietet als ihr Leben in Armut in Bulgarien oder anderen Balkanländern. Sie bekommen
gefälschte Papiere und werden hier weiter an Arbeitgeber vermittelt.

WDR.de: Unter welchen Bedingungen leben und arbeiten diese Menschen?

Radek: Oft bekommen sie nicht mehr als drei oder vier Euro pro Stunde, haben
keinerlei Absicherung. Baukolonnen hausen oft in Wohncontainern direkt auf der
Großbaustelle. Das fällt erstmal gar nicht auf.

WDR.de: Es heißt aber doch immer, Schwarzarbeiter im großen Stil zu


beschäftigen – gerade auf dem Bau –, sei in Deutschland wegen strengerer
Kontrollen gar nicht mehr so einfach möglich.

Radek: Die Kontrollen sind schon effektiver geworden, ja. Trotzdem ist die
Dunkelziffer immer noch sehr hoch. Man kann davon ausgehen, dass auf vielen
größeren Baustellen viele Leute unter ausbeuterischen Verhältnissen schwarz arbeiten.
Oft wissen die Generalunternehmer großer Bauprojekte gar nichts davon, dass auf ihrer
Baustelle Sklaven beschäftigt werden. Sie schließen legale Verträge ab mit
Personalfirmen und bekommen gar nicht mit, dass diese Firmen Schwarzarbeiter aus
dem Ausland rekrutieren. Laut CRIM-Bericht arbeiten europaweit 3.600 kriminelle
Organisationen auf diese Weise.

WDR.de: Diese Leute haben sich immerhin in ihrer Heimat mal freiwillig
anheuern (принимать на работу) lassen, um in Deutschland zu arbeiten. Der EU-
Bericht spricht aber von Sklaverei. Wie definieren Sie Sklaverei in diesem
Zusammenhang?

Radek: Wenn jemand, der in seinem Herkunftsland unter vollkommen desolaten


(безнадёжный) Umständen lebt und dann mit Zukunftsversprechen für eine berufliche
Tätigkeit gelockt wird, die sich als nicht zutreffend (соответствующий) herausstellen.
Wenn er dann, hier angekommen, Bedingungen akzeptieren muss, unter denen kein
Inländer arbeiten oder wohnen würde. Wenn der Arbeitgeber sagt, Du kannst ja gehen,
aber genau weiß, dass für den Betroffenen, wie man so sagt, der Tod immer noch besser
wäre, als in sein Herkunftsland zurückzukehren. Das hat dann mit Freiwilligkeit nichts
mehr zu tun.
WDR.de: Warum ist es so schwierig, Menschenhandel und Sklavenarbeit
einzudämmen (ограничить)?

Radek: Zum einen gibt es ein strukturelles Problem bei der Zusammenarbeit aller
Beteiligten: Nicht nur die Bundespolizei und der Zoll decken Sklavenarbeit auf. Auch
Abteilungen wie Gewerbeaufsicht, die Gesundheitsämter oder die Arbeitsämter haben
mit dem Problem zu tun. Wenn sich ein illegal arbeitender Mensch verletzt und ärztlich
behandelt werden muss, wird offenbar, dass er keine Papiere hat. Diese Information
wird aber möglicherweise nicht weitergegeben. Arbeitsämter forschen nicht nach,
warum so viele Jobs, die offenbar vorhanden sind, dort nicht gemeldet werden. All
diese Erkenntnisse und Daten werden nicht systematisch zusammengeführt. Außerdem
fehlt Personal. An vorderster Front im Einsatz ist der Zoll, der aber wiederum keinen
Polizeicharakter hat. Dort fehlt es einerseits an Personal, andererseits sind die Beamten
nicht ausreichend ausgestattet.

WDR.de: Inwiefern? (Насколько?)

Radek: Wenn die Kollegen vom Zoll auf Baustellen gehen, wo systematisch
Sklavenarbeit betrieben wird, begeben sie sich oft in hochkriminelles Milieu. Dort
halten sich Menschen auf, um deren Existenz es geht und andere, die damit viel Geld
verdienen. Da wird möglicherweise auch gekämpft – und die Zollbeamten sind
waffentechnisch nicht genügend ausgerüstet, um für ihre persönliche Sicherheit sorgen
zu können.

WDR.de: Was müsste geschehen?

Radek: Vor allem müsste der Zoll zu einer Bundesfinanzpolizei umstrukturiert werden.
Es müsste Möglichkeiten geben, den Versklavten aus ihrer Situation zu helfen:
Entweder durch Abschiebung, oder, indem man ihnen zur Legalität verhilft. Bei den
beteiligten Behörden müsste das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass sie mit
ihrer Arbeit ebenfalls im Deliktfeld tätig sind. Sie alle müssten stärker miteinander
verknüpft werden, um ihre Daten und Erfahrungen austauschen zu können.

Das Interview führte Nina Magoley

Aufgaben

1. Lesen Sie das Interview und referieren Sie es.


Menschenhandel und Sklavenarbeit stellen offenbar auch in Europa ein einträgliches
Geschäft vor. Die Einnahmen, die Menschenhändler und Arbeitgeber mit den billigen
Arbeitskräften erzielen, schätzen die Experten auf 25 Milliarden Euro. Dieses Problem
bezieht sich auf alle EU-Länder. Sklavenarbeit in Europa nimmt erschreckende
Ausmaße an. Viele Leute werden nach Deutschland verschleppt. Sie arbeiten im
Bereich der Prostitution vor allem, dann folgt Baugewerbe. Die Zwangsarbeiter
kommen nach Deutschland dank gut organisierten Banden und Organisationen. Sie
leben in schrecklichen Bedingungen und verdienen wenig Geld. Die Kontrollen sind
schon effektiver geworden. Trotzdem ist die Dunkelziffer immer noch sehr hoch. Es ist
schwierig, Menschenhandel und Sklavenarbeit einzudämmen, weil es ein
strukturelles Problem bei der Zusammenarbeit aller Beteiligten gibt. Radek meint, dass
Zoll und Polizei stärker miteinander verknüpft werden, um ihre Daten und Erfahrungen
austauschen zu können.

2. Formulieren Sie zwei–drei Fragen, die Sie an den stellvertretenden


Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei stellen würden.

Ist es möglich in Zukunft vollkommen dieses Problem loszuwerden? Welche


Maßnahmen müssen getroffen werden?

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