Sie sind auf Seite 1von 468

Glück.

Ein interdisziplinäres
Handbuch

Dieter Thomä
Christoph Henning
Olivia Mitscherlich-Schönherr
(Hrsg.)
Herausgegeben von
Dieter Thomä,
Christoph Henning
Glück
und Olivia Mitscherlich-
Schönherr
Ein interdisziplinäres
Handbuch

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Der Herausgeber
Dieter Thomä ist Professor für Philosophie an der
Universität St. Gallen; bei J.B. Metzler ist erschienen:
»Heidegger-Handbuch«, 2003 (Hg.).
Christoph Henning ist Dr. phil. und Leiter eines
Forschungsprojekts an der Universität St. Gallen.
Olivia Mitscherlich-Schönherr ist Dr. phil.
und Koordinatorin des Graduiertenkollegs
»Lebensformen und Lebenswissen«
an der Universität Potsdam.

Bibliografische Information der Deutschen National-


bibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
© 2011 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
ISBN 978-3-476-02285-1
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2011
ISBN 978-3-476-00372-0 (eBook) www.metzlerverlag.de
DOI 10.1007/978-3-476-00372-0 info@metzlerverlag.de

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist


urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne
Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
V

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 4. Glück bei Augustinus und im


Neuplatonismus (Christoph Horn) . . . . . 132
I. Semantik des Glücks . . . . . . . . . . . . . 11 5. Figuren des Glücks in der griechischen
1. Glück im Griechischen (Jörg Lauster) . . 11 Literatur (Arbogast Schmitt) . . . . . . . . . . . 135
2. Glück im Lateinischen (Jörg Lauster) . . . 12
3. Glück im Deutschen (Jochen Hörisch) . . 13
4. Glück im Englischen (Jana Gohrisch) . . . 15 IV. Glück im Mittelalter
5. Glück im Französischen und in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . 141
(Vincent Kaufmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
6. Glück im Russischen (Ulrich Schmid) . . 17 1 Glück in der Scholastik (Jörg Lauster) . . 141
7. Glück im Arabischen (Reinhard Schulze) 19 2. Glück in der Philosophie der Renaissance
8. Glück im Hebräischen und der Frühen Neuzeit
(Karl Erich Grözinger) . . . . . . . . . . . . . . . . 20 (Dieter Thomä) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
9. Glück im Persischen (Ludwig Paul) . . . . 22 3. Glück und Kalkülisierung
10. Glück im Chinesischen (Peter Schnyder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
(Helwig Schmidt-Glintzer) . . . . . . . . . . . . 23 4. Glück bei Spinoza (Gunnar Hindrichs) 154
5. Figuren des Glücks in der Alltagskultur
des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
II. Systematik des Glücksdenkens . . . 25 (Bea Lundt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
1. Glück zwischen Sinnlichkeit und Geist
(Annemarie Pieper) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2. Glück in Arbeit und Muße V. Glück im 18. und 19. Jahr-
(Christoph Henning) . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 hundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
3. Glück und Moralität (Dieter Sturma) . . . 42 1. Glück in der britischen Moralphilosophie
4. Glück und Schönheit (Christoph Menke) 51 des 18. und 19. Jahrhunderts
5. Glück und Sinn (Michael Hampe) . . . . . . 56 (Michael Schefczyk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
6. Glück und Zeit 2. Glück, Revolution und revolutionäres
(Olivia Mitscherlich-Schönherr) . . . . . . . . 63 Denken im 18. Jahrhundert
7. Glück, Schicksal, Zufall (Dieter Thomä) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
(Olivia Mitscherlich-Schönherr) . . . . . . . . 75 3. Glück bei Kant
8. Glück in der Liebe (Dieter Thomä) . . . . . 84 (Olivia Mitscherlich-Schönherr) . . . . . . . . 183
9. Glück in Gesellschaft und Politik 4. Glück im Deutschen Idealismus
(Christoph Henning) . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (Olivia Mitscherlich-Schönherr) . . . . . . . . 188
10. Glück im Sport (Volker Schürmann) . . . . 103 5. Glück im Junghegelianismus
11. Glück in der Utopie (Dieter Thomä) . . . . 109 (Volker Schürmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
6. Glück bei Schopenhauer und Kierkegaard
Die Geschichte des Glücks (Tilo Wesche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
III. Glück in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . 117 7. Glück bei Nietzsche
(Werner Stegmaier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
1. Glück bei Platon (Christoph Horn) . . . . . 117 8. Figuren des Glücks in der frühen Moderne
2. Glück bei Aristoteles (Christoph Horn) 121 (László F. Földényi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
3. Glück im Hellenismus 9. Figuren des Glücks in der Romantik
(Christoph Horn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 (Jochen Hörisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
VI Inhaltsverzeichnis

10. Figuren des Glücks im Märchen VII. Glück in den Religionen . . . . . . . . . . 335
(Heinz Rölleke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
11. Figuren des Glücks im französischen 1. Glück im Taoismus und Konfuzianis-
Roman des 19. Jahrhunderts mus I (Helwig Schmidt-Glintzer) . . . . . . . 335
(Vincent Kaufmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Glück im Taoismus und Konfuzianis-
12. Figuren des Glücks in der deutschen mus II (Christoph Harbsmeier) . . . . . . . . 338
Erzählprosa des 19. Jahrhunderts 3. Glück im Hinduismus
(Alan Corkhill) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 (Bernhard Irrgang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
13. Figuren des Glücks im englischen und 4. Glück im Buddhismus
amerikanischen Roman des (Michael von Brück) . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
19. Jahrhunderts (Jana Gohrisch) . . . . . . 238 5. Glück im Judentum
14. Figuren des Glücks im russischen Roman (Karl Erich Grözinger) . . . . . . . . . . . . . . . . 346
des 19. Jahrhunderts (Ulrich Schmid) . . . 243 6. Glück im Christentum (Saskia Wendel) 351
7. Glück im Islam (Reinhard Schulze) . . . . . 357

VI. Glück im 20. und 21. Jahr-


hundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 VIII. Aktuelle Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . 363

1. Glück in der klassischen Soziologie 1. Glück der Tiere


(Amalia Barboza) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (Françoise Wemelsfelder) . . . . . . . . . . . . . . 363
2. Glück im Pragmatismus 2. Glück durch Biotechnik?
(Christoph Henning) . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 (Dietmar Mieth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
3. Glück bei Wittgenstein und im 3. Glück in den Neurowissenschaften
Wiener Kreis (Matthias Kroß) . . . . . . . . . 263 (Grit Hein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
4. Glück in den zwanziger Jahren 4. Glück in der Psychopharmakologie
(Hans Ulrich Gumbrecht) . . . . . . . . . . . . . 266 (Stephan Schleim) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
5. Glück in der Philosophischen Anthro- 5. Glück in der Sozialpsychologie
pologie und im Existentialismus (Monika Bullinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
(Matthias Schloßberger) . . . . . . . . . . . . . . 272 6. Glück als subjektives Wohlbefinden
6. Glück in der Psychoanalyse (Ruut Veenhoven) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
(Morris Vollmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 7. Glück und Wirtschaft (Luigino Bruni) . . 404
7. Glück in der Kritischen Theorie 8. Glück in der Organisationstheorie
(Christoph Henning) . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 (Chris Steyaert und Florian Schulz) . . . . . 411
8. Glück bei Foucault, Deleuze und Guattari 9. Glück in der Soziologie des Konsums
(Katrin Meyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 (Dominik Schrage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
9. Theorien des guten Lebens in der neueren 10. Glück und Architektur (Markus Dauss) 421
(vorwiegend) analytischen Philosophie 11. Glück in der Pädagogik
(Holmer Steinfath) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 (Jürgen Oelkers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
10. Glück in Theorien der Lebenskunst 12. Glück in der Theologie I
(Ferdinand Fellmann) . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (Peter Schallenberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
11. Figuren des Glücks in aktuellen 13. Glück in der Theologie II (Jörg Lauster) 439
Lebenshilferatgebern
(Stefanie Duttweiler) . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
12. Figuren des Glücks in der frühen Pop- IX. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
musik (Diedrich Diederichsen) . . . . . . . . 313
13. Figuren des Glücks im Film 1. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
(Jens Eder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 2. Bildquellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 447
14. Figuren des Glücks in der zeitgenössischen 3. Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . 447
Kunst (Karen van den Berg) . . . . . . . . . . . 326 4. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
1

Einleitung

288 Vorstellungen vom Glück Hartnäckig, geradezu unverwüstlich ist das Glück.
Auf ein Handbuch zum Glück, das dieser Tatsache
Dass es möglich sei, »ohne Glück auszukommen«, Rechnung trägt, lässt sich deshalb auch jene überra-
hielt John Stuart Mill für ganz unbestreitbar: »Un- schende Pointe beziehen, mit der Robert Spaemann
freiwillig kommen« nämlich – so meinte er – »neun- sein Buch Glück und Wohlwollen eröffnet hat: dass es
zehn Zwanzigstel der Menschheit ohne Glück aus« nämlich »hoffentlich nichts grundsätzlich Neues«
(1861/1985, 28). Folgt man vorläufig dieser Auskunft, enthalte (1989, 9). Träte dieses Handbuch mit dem
so ist das Glück ein Sonderfall des Lebens, der nur Anspruch auf, ein frisches, besseres Glück im Ange-
manchen zuteil wird oder nur manchmal eintritt. bot zu haben, dann hieße dies, dass man an dem
Schnell ergibt sich daraus der Ratschlag, man möge Glück, wie es Jahrtausende lang erfahren worden ist,
um das Glück nicht so viel Aufhebens machen, es sei vorbeiginge oder dass man annähme, die Menschen
nur eine Zutat, eine Zugabe, an die man erst einen hätten sich beim Glück Jahrtausende lang getäuscht.
Gedanken verlieren sollte, wenn für das eigentlich Angesichts der langen Geschichte des Glücks wirkt
Wichtige gesorgt ist. Frei nach Bertolt Brecht wäre die Absicht, mit Aplomb ›innovativ‹ zu sein, gera-
demnach zu sagen, erst komme »das Fressen«, dann dezu lächerlich. Doch mit Robert Spaemann meinen
das Glück (bei Brecht war es »die Moral«; vgl. Brecht die Herausgeber dieses Handbuchs, dass das Glück
1967, Bd. 2, 457). Hätten sich die Herausgeber dieses »von Zeit zu Zeit neu gedacht werden [muss], weil
Handbuchs mit diesem Bescheid, mit einem solchen die realen Bedingungen und die zur Verfügung ste-
›Sahnehäubchen‹-Glück abgefunden, dann wäre die henden Begriffe für unsere Selbstverständigung sich
Arbeit daran nie und nimmer begonnen worden. wandeln« (1989, 9). Dies allerdings ist eine reiz- und
Wir hätten, kurz gesagt, Besseres zu tun gehabt. anspruchsvolle Aufgabe.
Wer sich mit dem Glück befasst, spürt den Stachel Auffällig am Glück ist eine Doppelung von Halt-
bedrückender Lebensverhältnisse, bedrohlicher Zu- barkeit und Wandlungsfähigkeit: Man trifft einer-
kunftsaussichten oder vernichtender Kriege. Das seits auf weithin geteilte Intuitionen darüber, auf
Nachdenken über das Glück ist auch von dem welche Glücksquellen es vor allem ankomme (z. B.
Schmerz, den dieser Stachel auslöst, gezeichnet. Gesundheit, Arbeit, Familie, Sicherheit, Geld); ande-
Doch weder geht es beim Glück nur um äußere Le- rerseits sieht man, wie das Glück Kapriolen schlägt,
bensumstände, noch ist es das Privileg einer Minder- wie Individuen die verschiedensten Arten des Zeit-
heit von Begüterten. Alle Menschen streben nach vertreibs und der Lebensführung für ihr Glück re-
Glück, erklärte Aristoteles im 5. Jahrhundert v. Chr. klamieren.
am Beginn seiner Nikomachischen Ethik (NE 1095a). Nicht nur können die Zeitumstände das Glück
Man darf hinzufügen: Ihr Streben richtet sich nicht begünstigen oder gefährden, nicht nur können sich
auf etwas, das ihnen fern und nur vom Hörensagen meine Glücksvorstellungen von denen anderer
bekannt ist; sie befinden sich nicht in einem Tal der Menschen unterscheiden, ich kann sie überdies im
Ahnungslosen, vielmehr können sie sich auf das Lauf des Lebens verändern. Schon Aristoteles hat
Glück nur beziehen, weil sie Vorstellungen davon darauf hingewiesen, dass das Glücksstreben der
mitbringen. Sogar unter bedrückendsten Lebensum- Menschen dem Wandel ausgesetzt ist: Nach dem
ständen muss man vom Glück nicht abgeschnitten Glück gefragt, nennt Aristoteles zufolge »jeder et-
sein. Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen, die was anderes […] und oft auch ein und derselbe Ver-
autobiographische Geschichte eines Jungen, der schiedenes: wenn er krank ist, die Gesundheit, wenn
Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, hat die Le- er arm ist, den Reichtum« (NE 1035a). Einige Jahr-
ser nicht zuletzt deshalb so erschüttert und berührt, hunderte nach Aristoteles berichtet Augustinus, dass
weil er vom Glück auch »bei den Schornsteinen« der römische Philosoph Marcus Terentius Varro 288
handelte (1975/1996, 287). verschiedene Bestimmungen des Glücks gezählt
2 Einleitung

habe (vgl. Augustinus 1978, Bd. 2, 517 ff.: De civitate über« (Mt 12,34) steht Friedrich Schillers Vers
dei XIX, 1–3). »Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele
Die Frage nach dem Glück hat die Philosophie nicht mehr« gegenüber (Schiller 1987, 313; Her-
von der griechischen Antike bis zur Gegenwart be- vorhg. orig.). Man sollte sich aber davor hüten, in
schäftigt; die theoretische Aufmerksamkeit, die dem dieser Gegenüberstellung einen tragischen Konflikt
Glück zuteil wurde, hat sich über die Jahrhunderte zu sehen und sich im Unaussprechlichen zu suhlen.
hinweg auf hohem Niveau bewegt, freilich auch ge- Schließlich ist es nicht verwunderlich, dass man sich
schwankt; von früh an hat sich in das Nachdenken mit dem Reden schwer tut, wenn berührt wird, was
über das Glück die Vielfalt eingeschlichen. Diese einen im Innersten angeht, antreibt, umtreibt. In der
Vielfalt spiegelt sich nicht nur in der Philosophie Herausforderung, im besonderen Anspruch, den das
selbst, sondern in einem breiten Spektrum von Fel- Glück an die Sprache stellt, darf man geradezu des-
dern, Fächern und Disziplinen. Neben der Philoso- sen Gütesiegel sehen.
phie stehen die Politik, die in Theorie und Praxis Zum Glück gehört, dass man es zur Sprache bringt,
seit jeher direkt oder indirekt aufs Glück zielt, und dass man es mit der Sprache gewissermaßen um-
die Religion, die das Glück mit der Glückseligkeit zu garnt, mit-teilt und mit anderen teilt. Stumm vor
überbieten und in ihre Heilsversprechen zu inte- Glück zu sein, ist jedenfalls nicht abendfüllend und
grieren sucht. Mit der Differenzierung des Fächer- wirkt, auf Dauer gestellt, alles andere als lebensfroh.
kanons in der Moderne sind die Beiträge zahlrei- Man darf sagen, dass das Benennen, Reflektieren,
cher Disziplinen zu diesem Reigen hinzugekom- Besprechen und Beschwören des Glücks, ob es sach-
men. lich, stammelnd oder hymnisch ausfällt, zu ihm
Eine Einführung zu einer Sammlung stoischer selbst dazugehört. Es wird auf diese Weise in seinen
Texte zur Philosophie des Glücks aus dem Jahr 1987 Formen und Facetten zum Ausdruck gebracht, ent-
beginnt mit den Sätzen: »Glück hat Konjunktur. Seit faltet und bewahrt.
den siebziger Jahren hat das Thema in Literatur, Phi- Ein Glücksforscher muss deshalb anders vorgehen
losophie und einigen Fachwissenschaften ein er- als ein Insektenforscher. Seine Bemühungen, etwas
staunlich großes Interesse auf sich gezogen« (Nickel über das Glück herauszufinden, treffen auf einen
1987, 7). Die letzten Jahrzehnte haben nun so etwas Gegenstand, der gewissermaßen Geschichten im Ge-
wie eine Hochkonjunktur der Glücksforschung ge- päck hat, Interpretationen beibringt und tief in kul-
bracht, die vor allem von Psychologie, Ökonomie, turelle Praxen eingebettet ist. Zur Reflexion auf das
empirischer Sozialforschung, Neuro- und Biowis- Glück treten die Formen und Figuren des Glücks, die
senschaften angetrieben worden ist. Mancherorts das Leben immer schon mitbringt. Das Sprechen
gibt es »Glück« sogar schon als Unterrichtsfach an über das Glück findet nicht immer schon im abge-
Schulen (Fritz-Schubert 2008). Darüber hinaus er- zirkelten Raum der Theorie statt. Deshalb wird in
lebt man derzeit eine regelrechte Schwemme von diesem Handbuch die Präsentation von Forschungs-
Ratgeberbüchern aller Art; eine amerikanische Au- ergebnissen und Theorien kombiniert mit der Dar-
torin stürmte kürzlich mit ihrem Happiness Project, stellung des Glücks, wie es im Alltag, in Literatur und
einem Erfahrungsbericht von einem einjährigen Kultur anzutreffen ist. Der Glücksforscher tritt nicht
Selbstversuch zur Glückssteigerung, die Bestseller- in künstlicher Isolation auf, er bewegt sich vielmehr
listen (Rubin 2009). Das Glück ist in aller Munde. im Getümmel des gelebten Lebens.
Aber wie lässt sich überhaupt davon reden?
Glück zwischen äußeren Umständen
Stumm vor Glück? und individuellen Befindlichkeiten
Wer glücklich ist, dem kann es die Sprache verschla- Wenn man mit dem Sprechen über das Glück seine
gen; von einem solchen Menschen heißt es dann, er liebe Not hat, dann liegt es nahe, Zuflucht bei denje-
sei ›stumm vor Glück‹. Wer das Glück auszusprechen nigen zu suchen, die in der Sprache eher zu Hause
versucht, mag die Erfahrung machen, dass das Wort sind: bei den Dichtern. »Wieder ein Glük ist erlebt«,
vor dem Erlebten verblasst und das Glück ›zerredet‹ so beginnt »Stutgard«, eine der schönsten Hymnen
wird. Der Wunsch, sich mitzuteilen, ringt mit dem Friedrich Hölderlins (zit. in originaler Schreibweise
Gefühl, dass beim Reden etwas verlorengeht. Dem nach Hölderlin 1992, 384). Die Fortsetzung der
Bibel-Wort »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund Hymne liest sich dann wie ein einziges großes Aufat-
Einleitung 3

men, das von dem Bezug des Glücks auf überwunde- tungen verwiesen. Auch unter denjenigen, die den
nes Leid zeugt: Äußerlichkeiten des Lebens Bedeutung beimessen,
verschließen sich nur wenige der Einsicht, dass es
Die gefährliche Dürre geneset, beim Glück auf die Sicht derjenigen ankomme, de-
Und die Schärfe des Lichts senget die Blüthe nicht nen es zuteil wird. In der Tat wirkte es befremdlich,
mehr. wenn man anderen Menschen auf den Kopf zusagte,
Offen steht jezt wieder ein Saal, und gesund ist der
dass sie unter den gegebenen Umständen glücklich
Garten,
oder unglücklich zu sein hätten. Ohne deren Selbst-
Und von Reegen erfrischt rauschet das glänzende
auskunft kommt das Reden und Nachdenken über
Thal,
das Glück nicht aus. Die aufwändigste Erkundung
Hoch von Gewächsen, es schwellen die Bäch’ und alle
gebundnen dieser subjektiven Einschätzungen ist von dem von
Fittige wagen sich wieder ins Reich des Gesangs. Ronald Inglehart und Christian Welzel verantworte-
Voll ist die Luft von Fröhlichen jezt und die Stadt ten World Values Survey geleistet worden, der 2010/
und der Hain ist, 11 in die sechste Runde der Datenerhebungen geht
Rings von zufriedenen Kindern des Himmels erfüllt. und inzwischen auf eine dreißigjährige Geschichte
Gerne begegnen sie sich, und irren untereinander, zurückblicken kann (vgl. Inglehart u. a. 2008; Welzel/
Sorgenlos, und es scheint keines zu wenig, zu viel. Inglehart 2010). Die empirische Forschung zum
»subjective well-being« begnügt sich freilich nicht
In Hölderlins Gedicht ist das »Erleben« des Glücks mit der Selbstauskunft der Betroffenen, sondern geht
aufs Schönste verwiesen auf das, was den Menschen darüber hinaus Bezügen zu ökonomischen, sozialen,
umgibt und von ihm erfahren wird. Was – im Glücks- kulturellen sowie auch biologischen Faktoren nach
fall! – als Harmonie erfahren wird, tritt jedoch oft im (zum Stand der Forschung vgl. Brockmann/Delhey
Leben und unweigerlich auch in der Analyse ausei- 2010).
nander. Äußere Umstände und innere Befindlich- Ob und wie äußere Umstände und innere Befind-
keiten treten auseinander – und werden auch in der lichkeiten aufeinander bezogen sind, inwieweit sich
Analyse getrennt betrachtet. Das Nachdenken über das Glück einem solchen Zusammenspiel verdankt –
das Glück wird hin- und hergerissen. dies ist seit jeher umstritten. Viele bewegen sich auf
Auf der einen Seite wird geltend gemacht, dass äu- diesem Streitplatz: Manche meinen, das wahre Glück
ßere Umstände für das Glück von Belang seien. So (oder die Glückseligkeit) sei von äußeren Lebens-
steht hinter Mills eingangs zitierter Behauptung, dass umständen sowieso ganz unabhängig; manche ent-
der großen Mehrheit der Menschen das Glück ab- wickeln Strategien, mit denen man sich um des Glü-
gehe, eine Klage über glücksfeindliche Zeitumstände. ckes willen gegen die Wechselfälle des Lebens wapp-
Mill stützt sein Urteil auf äußere, äußerlich beob- net; manche stürzen sich um des Glückes willen auf
achtbare Lebensverhältnisse – konkret: auf die Mas- die Welt, setzen sich ihr aus oder geben sich ihr hin;
senarmut und den erbärmlichen Arbeitsalltag in der manche meinen genau bestimmen zu können, auf
immer reicher werdenden Industriegesellschaft sei- welche äußeren Güter das Glück angewiesen ist. Um
ner Zeit. Er gehört damit in eine lange, alles andere des Einklangs von Wunsch und Wirklichkeit willen
als einheitliche Reihe von Philosophen und Wissen- haben etwa hellenistische wie auch zeitgenössische
schaftlern, die das Glück gewissermaßen von außen Lehren der Lebenskunst Haltungen empfohlen, mit
einkreisen, also Umstände zu identifizieren versu- denen man auch noch leidvolle Widerfahrnisse hin-
chen, welche es begünstigen oder aber beschädigen; zunehmen und zu bejahen vermag. Vertreter theolo-
diese Reihe reicht von Aristoteles bis zu den Ökono- gischer und geschichtsphilosophischer Ansätze ha-
men des 21. Jahrhunderts. Mindestens zeitweise ben zu zeigen versucht, wie die Versöhnung der indi-
herrschte bei letzteren die Auffassung vor, das Glück viduellen Wünsche und der Wirklichkeit als ein sich
lasse sich direkt aus der vorhandenen Gütermenge, geschichtlich verwirklichendes Heilsgeschehen be-
vom erreichten Wohlstand ableiten. Weit haben sie griffen werden kann. Empirische Sozialforscher mei-
sich damit, was äußere Glücksumstände betrifft, nen Hinweise geben zu können, mit welchen politi-
von Hölderlins »Garten«, »Thal«, »Stadt« und »Hain« schen Strategien sich das Wohlbefinden der Bevöl-
entfernt. kerung steigern lasse. In dieser Einleitung kann es
Auf der anderen Seite sieht man sich auf die einzel- nur darum gehen, auf die Bandbreite der auf diesem
nen Menschen, ihre Wünsche, Hoffnungen und Hal- Streitplatz vertretenen Positionen hinzuweisen, nicht
4 Einleitung

darum, diesen Streit zu schlichten oder zu entschei- life is to skate well on them […]. Since our office is
den. with moments, let us husband them«, schreibt Ralph
Waldo Emerson Mitte des 19. Jahrhunderts (1983,
Glück und Zeit 478 f.). Das Glück eines gelingenden Lebens erhebt
dagegen den Anspruch auf Dauer. In ein solches sich
Wieder ein Glück sei »erlebt«, so hieß es bei Hölder- rundendes Leben sollen sich auch Phasen des
lin. Wer nach dem Glück sucht, findet es demnach Schmerzes intergrieren lassen. In Kunst und Leben
nicht wie eine Blume am Weg. Das Glück ist nichts hat diese Unterscheidung zwischen Moment und
Gegebenes, Greifbares; es wird eben – »erlebt«. Aber Dauer zahllose Spuren hinterlassen; in der nüchter-
wie? Nicht nur eröffnet sich – wie gesehen – ein nen Sprache der empirischen Glücksforschung spie-
Streitplatz zwischen äußeren Umständen und inne- gelt sie sich in der Unterscheidung zwischen den
ren Befindlichkeiten; auch wenn man darauf ver- »moment-to-moment measures of hedonic experi-
zichtet, eine Front zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ zu ence« (Schwarz/Strack 1999, 66) und dem Glück als
eröffnen, auch wenn man sich einfach ans Erleben integraler »life-satisfaction«. Im Hintergrund der Er-
hält, brechen Unterschiede auf zwischen verschiede- füllung im Moment ebenso wie der Verstetigung des
nen Formen des Glücks. Lebensglücks finden sich auch dunkle Töne – näm-
Besonders deutlich zeigen sich diese Unterschiede, lich das Hadern mit der Endlichkeit des Lebens:
wenn man das Verhältnis des Glücks zur Zeit in den »Das Picken der Totenuhr in unserer Brust ist lang-
Blick nimmt. Beim Erleben des Glücks öffnet sich – sam, und jeder Tropfen Blut mißt seine Zeit, und un-
kurz gesagt – eine Zeitschere. Die Erfahrungen grei- ser Leben ist ein schleichend Fieber« – so heißt es in
fen aus auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Georg Büchners 1826 entstandenem Schauspiel Le-
sie schillern zwischen Moment und Dauer. Die Men- once und Lena (1971, 101).
schen streben nach Glück oder werden von ihm Augenblick und Dauer sind klar von einander un-
überrascht wie von einem »Dieb in der Nacht« (1. terschieden, und doch haben sie etwas gemeinsam.
Thess 5.2), schwelgen im Hochgefühl des Glücks, ge- Sie sind nämlich gleichermaßen weit entfernt von
nießen den erfüllten Moment, sorgen sich um des- anders gearteten Zeiterfahrungen, die beim Glück
sen Flüchtigkeit, versuchen, das Glück herbeizure- doch auch machtvoll ins Spiel kommen. In diesen
den oder festzuhalten, richten sich in ihm ein, wollen Zeiterfahrungen rückt eine zweite Unterscheidung
bei ihm heimisch werden, müssen es verlorengeben, ins Blickfeld: die Spannung zwischen Vorher und
vermissen es oder trauern ihm nach. Nachher, Gestern und Morgen. Hier werden der Vor-
Auch wenn man sich nicht an äußeren Umstän- griff auf das Glück, die gespannte Erwartung, die
den festhält, sondern auf das Erleben zurückgeht, feste Absicht ebenso ausgelebt wie die schöne Erin-
kann man dem Streit um das Glück nicht entkom- nerung, von der es in einer Notiz Jean Pauls aus dem
men. Man betritt vielmehr einen eigenen Schau- und Jahr 1812 heißt, sie sei »das einzige Paradies, aus wel-
Streitplatz, auf dem zur Debatte steht, wie sich chem wir nicht getrieben werden können« (Jean Paul
Glückserfahrungen in zeitlicher Hinsicht voneinan- 1978, 820).
der unterscheiden und abgrenzen lassen. Wiederum »Wieder ein Glük ist erlebt« – diese Hölderlin-
kann es in dieser Einleitung nicht darum gehen, Zeile verweist also auch auf zeitliche Dimensionen
diese Varianten des Glücks auf den Prüfstand zu stel- des Erlebens, die in verschiedene Richtungen ausein-
len, sondern nur darum, ihre Hauptmerkmale ins anderstreben. Zum Glück gehört ein Drama, in dem
Licht zu rücken. Zwei Unterscheidungen sind beson- Moment und Dauer, der Lebens-Wandel mit Verän-
ders zu beachten. derungen zum Besseren und Schlechteren aneinan-
Die erste Unterscheidung bezieht sich auf den Un- dergeraten.
terschied von Moment und Dauer oder zwischen ei-
nem episodischen und einem holistischen Glück. In Glück und Handeln
unterschiedlicher Weise wird das Verhältnis des epi-
sodischen Glücks zur Zeit umschrieben. Es heißt, Dass die Zeit tief in unsere Glückserfahrungen hin-
dem Glücklichen schlage keine Stunde, er könne die eingewoben ist, wird nicht zuletzt an jener Formel
Zeit einfach vergessen oder sich dem Schwung des deutlich, die von Aristoteles geprägt und später dann
Lebens hingeben: »To fill the hour, – that is happi- von Thomas Jefferson und vielen anderen aufgegrif-
ness […]. We live amid surfaces, and the true art of fen worden ist: der Formel vom Streben nach dem
Einleitung 5

Glück. In diesem Streben wird die Zeit in einer be- struktion der »Maschine Mensch« (La Mettrie
stimmten Hinsicht in Anspruch genommen. Wer 1748/1990); sie setzte vor allem auf die Verbesserung
strebt, ist unterwegs, gespannt, aktiv. Zum Streben der materiellen Ausstattung des Lebens. Populär war
nach Glück gehört eine Zeiterfahrung, die sich in ei- diese Idee in der Hochphase der modernen Indus-
nem Leben, das intentional verfasst und praktisch triegesellschaft; sie zog freilich seinerzeit auch schon
veranlagt ist, entfaltet. Kritik auf sich. Exemplarisch kommt dies an gegen-
Gelegentlich sagt man von einem Menschen, er sätzlichen Aussagen zweier Schlüsselfiguren jener
›gehe seiner Wege‹ oder ›lebe sein Leben‹. Verbun- Zeit, eines Industriellen und eines Soziologen, zum
den ist damit die Vorstellung, dass er dieses Leben Ausdruck. Werner von Siemens sagte 1886: »[Wir]
nicht nur erträgt oder an sich vorbeigehen lässt, son- wollen […] uns nicht irre machen lassen in unserem
dern es ›führt‹. Ihm mag dies angesichts äußerer Be- Glauben, daß unsere Forschungs- und Erfindungstä-
dingungen mehr oder weniger gut gelingen. Dies än- tigkeit die Menschheit höheren Kulturstufen zuführt,
dert nichts an der Tatsache, dass hier ein Handelnder sie veredelt und idealen Bestrebungen zugänglicher
auftritt, der sich aktiv um sein Glück bemüht. Wie- macht, daß das hereinbrechende naturwissenschaft-
der sieht man sich dabei mit Differenzen und Dis- liche Zeitalter ihre Lebensnot, ihr Siechtum min-
krepanzen konfrontiert, man gerät auf einen neuen dern, ihren Lebensgenuß erhöhen, sie besser, glückli-
Schauplatz, auf dem Deutungen miteinander ringen, cher und mit ihrem Geschick zufriedener machen
die das Glück in ein Verhältnis zum Handeln setzen. wird« (zit. nach Hermann 1990, 313). Bei Max Weber
Das Glück, das als Ziel des Handelns bestimmt heißt es dagegen: »Daß man […] in naivem Opti-
wird, funktioniert auf unorthodoxe Weise – anders mismus die Wissenschaft, das heißt: die auf sie ge-
z. B. als jene Ziele, die man in ein Navigationssystem gründete Technik der Beherrschung des Lebens, als
eingibt und bei getreuer Befolgung des richtigen We- Weg zum Glück gefeiert hat, – dies darf ich wohl […]
ges erreicht. Das Glück lässt sich nicht in gleicher ganz beiseite lassen. Wer glaubt daran? – außer eini-
Weise angeben, eingeben und erreichen wie ein Ort; gen großen Kindern auf dem Katheder oder den Re-
es stellt sich vielmehr ein, es wird einem Menschen daktionsstuben?« (Weber 1919/1988, 598; Hervorhg.
zuteil. Manche meinen, man habe auf das Glück zu orig.)
warten wie auf ein Geschenk; Martin Seel (1995, 91) Wenn man sich von der Vorstellung der Machbar-
hat den eigentümlich indirekten Charakter des keit kollektiven Glücks verabschiedet, dann bleibt
Glücks als Lebensziel so zum Ausdruck gebracht, die Option, die Lebens-›Führung‹, den praktischen
dass das Tun des Menschen dabei immer nur ein Ausgriff auf das Glück auf die Vorstellung individu-
»Zutun« bleibe. eller Machbarkeit zuzuspitzen. Demnach überlässt
Der praktische Aus- und Zugriff auf das Glück man das Glück dem Belieben der Betroffenen, die zu
tritt jedoch nicht nur in der bescheidenen Form auf, ›Machern‹ avancieren und ein Leben führen, das ih-
man könne sich tätig um es bemühen, um wenigs- nen zusagt. Zu der vom politischen Liberalismus er-
tens einen Zipfel des Glücks zu erhaschen. Man trifft hobenen Forderung, man solle den Menschen ihr in-
nicht nur auf mehr oder minder zielführende Inten- dividuelles Streben nach Glück freistellen, gesellt
tionen, sondern auch auf die Ambition, Schmied des sich demnach die vom wirtschaftlichen Liberalismus
eigenen Glückes zu sein. Mag sich das Glück als Ziel propagierte Karriere des »self-made man«. Zu ihm
des Handelns auch unorthodox verhalten, so ist doch gehört ein Idealbild des Lebens, in dem sich die
die Versuchung groß, das Streben nach Glück durch Wirklichkeit wunschgemäß einrichten lässt, und
die Idee von der Machbarkeit des Glücks zu überbie- eine Vorstellung vom Glück, die in der Erfüllung von
ten. Eine Umsetzung dieser Idee ist von verschiede- Wünschen und der Befriedigung von Bedürfnissen
nen Seiten her betrieben worden: Einmal ging es um gipfelt. Oscar Wilde hat gegen diese Vorstellung eine
das Glück des Kollektivs, einmal um das Glück des seiner geschliffensten Pointen gesetzt: »In this world
Individuums. there are only two tragedies. One is not getting what
Bereits im 18. Jahrhundert fand etwa die Vorstel- one wants, and the other is getting it« (1892/1997,
lung zahlreiche Anhänger, dass sich das Glück der 519).
Menschen steigern lasse, indem man ein Verfahren Weder im Privatleben noch in der Politik findet
zur optimalen Auskostung der Lüste entwickle. Die die Vorstellung großen Anklang, man könne in be-
Idee von der Machbarkeit des kollektiven Glücks be- engenden Beziehungen oder Verhältnissen glücklich
schränkte sich aber nicht auf Erkundungen zur Kon- werden. Eines der verstörendsten Ergebnisse der
6 Einleitung

Glücksforschung besagt aber, dass Menschen von ih- der Meinungen oder Ideologien. Wer Pluralität ach-
rer Freiheit überfordert sein können. Sie wirken ori- tet, muss doch nicht zu dem Schluss kommen, dass
entierungslos, wenn es nichts mehr gibt, woran sie das Nachdenken über das Glück angesichts einer
sich halten könnten oder wenn ihnen keine Grenzen Vielzahl von Meinungen zur Beliebigkeit verurteilt
gesetzt werden. So hat auch der politische Liberalis- sei.
mus in seiner langen Geschichte das Bewusstsein Neben die Absicht, das Glück zu einer Nebensache
vom Voraussetzungsreichtum menschlicher Frei- der Philosophie zu erklären, tritt die Absicht, das
heitserfahrungen geschärft. Erkundet werden hier Glück zu einer Nebensache des Lebens zu erklären.
immer auch die Möglichkeiten und Grenzen einer Diese Absicht ist – wie die erste – eng mit dem Den-
Verfügung des Menschen über das eigene Leben und ken Immanuel Kants verbunden. Zwar waren schon
über das eigene Glück. immer – fern von Kant – Plädoyers zu hören, wo-
nach das Glück ins zweite Glied zu rücken sei; erin-
Glück als Nebensache? nert sei daran, dass es im Verhaltenskodex des Adli-
gen oder des Kriegers ein Schattendasein führt. Er-
In dem Maße, wie die Individuen ihrem Glück – man innert sei auch daran, was Konsul Buddenbrook zu
denke nur an die Formel vom »pursuit of happiness« seiner Tochter Tony sagt, als sie sich gegen die Heirat
– eifrig nachstrebten, geriet es als Gegenstand philo- mit Grünlich sträubt: »Wir sind, meine liebe Tochter,
sophischen Nachdenkens ins Hintertreffen. Ange- nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Au-
sichts der notorischen Vielfalt von Glücksvorstellun- gen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück
gen meinte man gewissermaßen zwei Fliegen mit ei- halten […], und wir wir wären, so wie wir sind, nicht
ner Klappe zu schlagen, indem man die Philosophen denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns voran-
von der Zuständigkeit für das Glück entband und gingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits
diese großzügig den Betroffenen selbst übertrug. mit Strenge und ohne nach rechts oder links zu bli-
Hinter der Einladung, jeder möge nach seiner Fas- cken einer erprobten und ehrwürdigen Überliefe-
son glücklich werden, stand in der Regel die Auffas- rung folgten« (Mann 1901/1972, 101 f.; Hervorhg.
sung, der Mensch sei zwar vielleicht nicht der ›Ma- orig.). Immanuel Kant zeichnet sich nun aber da-
cher‹ seines Glücks, aber allemal dessen höchster durch aus, dass er für die Zurückstellung des Glücks
und einziger Richter. Die Mehrung des Glücks war höchste moralische Gründe geltend macht. Er tritt
in aller Munde, aber die Philosophen wurden wort- mit der These hervor, dass die Freiheit und nicht das
karg, wenn es darum ging zu erklären, was das ei- Glück den obersten Maßstab philosophischer Ethik
gentlich hieß. ausmache. Verwiesen wird von ihm auf die Selbstbe-
Heute verbindet sich die Wertschätzung des indi- hauptung des Menschen als eines vernunftgeleiteten
vidualisierten Glücks mit einem Vorbehalt gegen all- Wesens und auf die gerechte Einrichtung der Gesell-
gemeine Erörterungen oder normative Festlegungen schaft. Damit hat Kant wenigstens in der deutsch-
und begnügt sich mit einem Forschungsprogramm, sprachigen Moralphilosophie dafür gesorgt, dass das
das beim »subjective well-being« ansetzt und sich Glück nach 1800 weniger systematische Beachtung
auf die empirische Erhebung von Daten, die auf gefunden hat als zuvor.
Selbstauskünften beruhen, konzentriert. Tatsächlich In der von Kant angestoßenen Diskussion geht es
kommt es beim Glück – wie bereits betont – auf den nicht nur um die Frage nach dem Stellenwert des
Vorbehalt des Betroffenen und das Auge des Be- Glücks, sondern – eher versteckt – auch um die
trachters an; theoretische Zurückhaltung passt zu ei- Frage, was denn mit dem – auf- oder abgewerteten –
ner der Toleranz verpflichteten und von Individuali- Glück überhaupt gemeint sein soll. Dass hinter dem
sierung geprägten Gesellschaft. Und doch drängt normativen Urteil über das Glück eine deskriptive
sich hier der Einwand der methodischen Naivität auf Herausforderung steckt, wird schlagartig deutlich,
(vgl. Thomä 2003, 156–169, 224–233): Wenn Indivi- wenn man zum Vergleich kurz auf die antike Philo-
duen, was ihr Glück betrifft, als Richter in eigener sophie zurückblickt. Sie müsste auf Kants Unter-
Sache auftreten, so bewegen sie sich bei ihrer Urteils- scheidung zwischen dem Glück und den Forderun-
findung in historischen und sozialen Kontexten, gen der Moral mit Unverständnis reagieren – und
über die sie nicht erhaben sind, sie sind angewiesen zwar deshalb, weil ihr zufolge das glückliche und
auf Deutungsmuster und Sprachspiele, die sie mit »gute Leben« die Orientierung am moralisch »Gu-
anderen teilen, stehen unter dem Einfluss herrschen- ten« einbezieht. Die moralische Orientierung ergibt
Einleitung 7

sich hier nicht im Zuge einer Abgrenzung gegen das sich auf ein falsches Glück zu werfen. Verbreitet ist
Glück, sondern im Zuge einer Differenzierung ver- etwa die oft mit warnendem Zeigefinger befohlene
schiedener Formen des Glücks. Nach dieser – auch oder empfohlene Abgrenzung des Glücks von purer
von der modernen Tugendethik vertretenen – Auf- Sinneslust.
fassung wird das Glück gerade dem Tugendhaften Längst scheint das Glück wieder aus der Defensive
zuteil. herausgekommen zu sein – und zwar in der Philoso-
Der Einwand, dass das Glück nicht darin aufgehe, phie, in diversen Wissenschaften wie auch in der Po-
Gutes zu tun, liegt freilich nahe. Man hat der Entmo- litik, in Kultur und Alltag. Es zeigt sich mit unter-
ralisierung des Glücks eine befreiende Wirkung zu- schiedlichen Facetten – als Linderung von Leid,
geschrieben und darauf verwiesen, dass dem Tu- sinnliche Erfahrung, Lust, Genuss, Freude, Selbstver-
gendhaften doch diverse Genüsse des Lebens entge- gessenheit, Selbstbestimmung, Zufriedenheit, Frie-
hen könnten. Wenn man den Glücksbegriff nicht den, Harmonie, Versöhnung, Wohlbefinden, Ge-
tugendhaft auflädt, dann muss man auch feststellen meinwohl, Wohlfahrt, Zufallsglück etc. Man darf es
– wie insbesondere Kant nicht müde wird zu beto- geradezu als Beleg für die Popularität des Glücks
nen –, dass gar dem »Bösen« Glück zuteil werden werten, dass manche inzwischen schon des allgegen-
kann. Wenn das Glück von Kant und seinen Nach- wärtigen Glücks überdrüssig sind – wie etwa Pascal
folgern von der Moral abgerückt wird, dann besteht Bruckner, der mit der »permanenten Euphorie«
der nächste Schritt darin, es auf den Wunsch zu re- (2000) seiner Zeitgenossen hadert und darüber klagt,
duzieren, dass man ›es sich gut gehen lassen‹ oder zum Glück »verdammt« zu sein (2001), oder wie Eric
›sich einmal richtig verwöhnen lassen‹ wolle. Wilson, der in Against Happiness (2008) die Schat-
Diese Entmoralisierung enthält sozialen Zünd- tenseiten der grassierenden guten Laune besichtigt
stoff: Es stellt sich hier die Frage nach dem Verhältnis (vgl. auch Ehrenreich 2009). Wenn wir die Zeichen
zwischen dem individuellen (nicht notwendiger- richtig deuten, so gehört zu der neuen Aufmerksam-
weise egoistischen) und dem gemeinschaftlichen keit, die dem Glück zuteil wird, aber weniger die tri-
Glück, zwischen dem Wohlbefinden des Einzelnen umphalistische Pose, dass man das Glück nun auf
und der allgemeinen Wohlfahrt. Hinter dem Wohl- seine Seite gebracht habe; eher trifft man auf eine
fahrtsbegriff steckt in der Tat eine zwar vielleicht bü- komplexe Mischung einer stärkeren Beachtung äu-
rokratisch verdeckte und verzerrte, aber doch bis ßerer Hindernisse und Anreize, schleichender Ver-
heute lebendige Absicht auf eine glücksförderliche unsicherung und hochfliegender Hoffnungen.
Gestaltung des sozialen Lebens. So ist es auch kein Auf ein in erster Linie ökonomisch bestimmtes
Wunder, dass das Land Bhutan seit einigen Jahren Wohlleben lässt sich das Glück nicht reduzieren. An
Furore damit machen kann, regelmäßig das »Gross entlegener Stelle hat der Schriftsteller John Ruskin
National Happiness« zu messen (Hirata 2005). Mitte des 19. Jahrhunderts Einspruch dagegen ange-
In der deutschsprachigen Philosophie nach Kant meldet, das Glück gegenüber den großen Aufgaben,
taugte das Glück freilich weniger als eigenes Thema welchen sich Menschen in besonderen Situationen
denn vielmehr als Gelegenheit zu abfälligen Bemer- gegenübersehen, abzuwerten. Ruskin macht den
kungen über andere; so wird Hermann Cohen das überraschenden Vorschlag, den Heroismus, der übli-
Urteil über die Zionisten »Die Kerls wollen glücklich cherweise in solchen besonderen Situationen zum
sein« zugeschrieben (Rosenzweig 1924, LX), und Einsatz kommt, für die Suche nach Glück zurückzu-
Friedrich Nietzsche machte sich mit dem Bonmot gewinnen, die selbst etwas Besonderes sei und
»Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Eng- höchste Aufmerksamkeit verlange: »To be heroic in
länder thut das« (1889/1988, 61; Hervorhg. orig.) danger is little […]. To be heroic in change and sway
über die englischen Utilitaristen lustig. Dies hinderte of fortune is little […]. But to be heroic in happiness;
Nietzsche allerdings nicht daran, sich durchaus auch to bear yourselves gravely and righteously in the
auf ein Glück zu berufen, das der (›englischen‹) Lo- dazzling of the sunshine of morning […]; this is the
gik der Bedürfnisbefriedigung enthoben war. Hier difficult fortitude« (1866/1895, 166 f.). Ehe man sich
wie auch sonst oft ist also der Angriff auf das (eine) versieht, steht man damit auch wieder der Frage ge-
Glück mit der Verteidigung des (anderen) Glücks genüber, die die philosophische Ethik im Anschluss
verbunden. So warnen auch diejenigen, die sich der an Aristoteles für mehr als zwei Jahrtausende be-
Verdrängung des Glücks oder dem »Verrat der schäftigt hat: Was will ich eigentlich, wenn ich glück-
Freude« (Scheler 1922/1963) entgegenstellen, davor, lich sein will?
8 Einleitung

Aufbau des Handbuchs rende Hinweise vgl. z. B. Bargatzky 2002; Kohl


2008).
Dieses Handbuch soll eine Bestandsaufnahme der Zum zweiten war es die Absicht der Herausgeber,
Philosophie des Glücks und der Glücksforschung den theoretischen Diskurs nicht isoliert vorzufüh-
bieten, die mit gehöriger historischer Tiefe und fach- ren, sondern die Glücksforscher – wie bereits er-
licher Breite vorgeht. Versammelt werden Gedanken wähnt – mitten im Getümmel zu zeigen. Deshalb
und Befunde aus verschiedenen Jahrtausenden und schließen diejenigen Teile des Bandes, die den ver-
Weltteilen, zusammengeführt werden Ergebnisse di- schiedenen Phasen der Geschichte des Glücksden-
verser Disziplinen – auch solcher, die sich gewöhn- kens gewidmet sind, jeweils mit Ausblicken auf »Fi-
lich gern aus dem Wege gehen. Dabei ist es nach un- guren des Glücks«, wie sie in der Alltagskultur, der
serer Ansicht von Vorteil, dass wir uns als Her- Literatur oder der Kunst anzutreffen sind. Mit der
ausgeber nicht nur unterschiedlichen Strömungen in platonisch-aristotelischen Annahme im Rücken,
der Philosophie, sondern auch unterschiedlichen dass dem Menschen in geistiger Tätigkeit die höchste
Auffassungen des Glücks verpflichtet fühlen. Wir Form des Glücks zuteil werde, hätte man sich auch
hoffen auf diese Weise, einen möglichst breiten Blick stolz mit einer rein theoretischen Behandlung des
auf das Phänomen des Glücks und seiner theoreti- Glücksthemas begnügen können. Solange aber Gott-
schen Behandlung eröffnen zu können. fried Benns (1975, 140) Verdacht nicht ausgeräumt
Den Erläuterungen zum Aufbau muss eine Bitte ist, dass es sich beim »Geist« um das »Gegenglück«
um verständnisvolles Wohlwollen, eine captatio be- handle, ist es wohl ratsam, sich beim Glück nicht auf
nevolentiae vorausgeschickt werden; sie ist in diesem den Geist allein zu verlassen. – Nun zum Aufbau im
Fall weitaus ernster gemeint als bei vielen anderen Einzelnen:
Gelegenheiten, bei denen betont wird, man habe Für die Glücksforschung muss relevant sein, in
nicht schlechterdings jede Information, die der Sa- welcher Sprache vom Glück geredet wird. Deshalb
che dienlich wäre, in die Darstellung einbeziehen bietet Teil I des Handbuchs Informationen zur Se-
können. Das Glück ist ein Menschheitsthema, das so mantik des Glücks in verschiedenen Sprachen. Da
weit ausgreift, dass man von diesem Handbuch auch z. B. schon innerhalb der romanischen Sprachen bei
sagen könnte, es müsste darin eigentlich um alles ge- der Bezeichnung des Glücks erstaunliche Divergen-
hen, ums ›Große Ganze‹ und auch um das Kleinste. zen zu beobachten sind, stellt sich hier die schmerzli-
Angesichts dieser Ausgangslage bleibt nur die Bitte, che Vermutung ein, dass die vielen Sprachen, die
dass man dieses Handbuch nicht daraufhin durchse- nicht eigens behandelt werden konnten, noch viele
hen möge, was darin fehle, sondern sich an das halte, semantische Kleinodien bergen.
was sich darin findet. Die Herausgeber haben sich In Teil II des Handbuchs wird die doppelte Per-
die zahlreichen Entscheidungen, in denen jeweils spektive von äußeren Umständen und inneren Be-
eine Antwort auf die Frage In or Out? gefunden wer- findlichkeiten entfaltet, auf die bereits eingegangen
den musste, nicht leicht gemacht. Diese Entschei- worden ist. Das Glück wird Personen zuteil, die in ei-
dungen können hier nicht im Einzelnen angeführt ner Welt leben; demnach gilt es deren Eigenart zu
werden. Zwei zentrale Anliegen, aus denen sich teil- beschreiben – also etwa ihre Geistigkeit und Sinn-
weise die Kriterien der Auswahl ergeben, sollen aber lichkeit, ihre Zeitlichkeit, ihre Sinnhaftigkeit –, zu-
benannt werden. gleich geht es darum, die Personen in ihrem Kontext
Zum ersten war es die erklärte Absicht, ein inter- zu verorten, der von liebenden Beziehungen zu an-
disziplinäres Handbuch vorzulegen; daraus ergibt deren bis zur politischen Ordnung reicht. Die äu-
sich, dass hier nicht nur ein philosophischer Über- ßerste Ambition dieses Weltbezugs des Glücksden-
blick geboten, sondern verschiedenen Disziplinen kens kommt darin zum Ausdruck, dass man der
breiter Raum eingeräumt wird. Unweigerlich wird Welt, in der man sich befindet, eine ganz andere,
damit der Spielraum für andere Öffnungen des The- glücklichere Welt als Utopie entgegenhält.
mas geschmälert. Deshalb wurde entschieden, eine Die Teile III bis VI des Handbuchs bieten einen
andere verlockende Perspektive, die diesem Buch Überblick über die Geschichte des Glücksdenkens,
etwa den Untertitel »Ein interkulturelles Hand- wie es vor allem von der Philosophie vorangetrieben
buch« beschert hätte, weniger umfangreich zur Ent- worden ist. Die Darstellung folgt einer groben Glie-
faltung kommen zu lassen, als die Herausgeber derung in Antike (III.), Mittelalter und Frühe Neu-
selbst sich dies wünschen würden (für weiterfüh- zeit (IV.), 18. und 19. (V.) sowie 20. und 21. Jahrhun-
Einleitung 9

dert (VI.). Die Darstellung bleibt weitgehend fokus- mit sich bringt, und auf die besonderen Wünsche der
siert auf die abendländische oder westliche Tradition, Herausgeber einzulassen. Reiner Ansén, Akos Doma
sie weitet sich aber insofern aus, als am Ende jedes und Sophie Rudolph haben Übersetzungen beige-
dieser Teile in der bereits beschriebenen Weise auch steuert. Das Team vom Fachbereich Philosophie der
»Figuren des Glücks« jenseits der Theorie Berück- Universität St. Gallen hat nach Kräften mitgeholfen:
sichtigung finden. Die Darstellung reicht deshalb Barbara Jungclaus hat wie immer mit einer wunder-
nicht nur von Platon und Aristoteles bis zu Deleuze baren Mischung aus Zuverlässigkeit und Zuversicht
und Bernard Williams, sondern auch von Homer ein schier unüberschaubares Bündel von Fäden
und Euripides bis zu Jeff Koons und Rainer Werner kunstvoll zusammengehalten; Till Wagner hat mit
Fassbinder. Akribie und Energie äußerst aufwändige redaktio-
In Teil VII des Handbuchs soll wenigstens eine nelle Arbeiten übernommen; Michael Festl und
Grundlage für jene weitergehenden Interessen gebo- Christoph Paret haben bei der Schlussredaktion en-
ten werden, die sich stärker auf die interkulturellen gagiert mitgewirkt. Die Universität St. Gallen hat mit
Dimensionen des Glücks richten. Geleitet von der dem Forschungszentrum SCALA (St. Gallen Centre
Annahme, dass für die kulturellen Ausprägungen des for Ageing, Welfare, and Labour Market Analysis) die
Glücks die Religion eine wichtige Quelle darstellt, Arbeit an diesem Handbuch finanziell und organisa-
riskiert dieser Teil einen vergleichenden Blick auf die torisch stark unterstützt. Einem der Herausgeber ge-
großen Weltreligionen. währte das Wissenschaftskolleg zu Berlin ein Jahr
Teil VIII schließlich soll ein Panorama der zeitge- lang (2009/10) auf großzügigste Weise Freiraum zur
nössischen Diskussionen über das Glück bieten, wie Forschung, ein anderer wird vom Schweizerischen
sie in ganz verschiedenen Disziplinen geführt wer- Nationalfonds (SNF) gefördert. All diesen Personen
den. Die Psychologie ist hier ebenso vertreten wie und Institutionen sind die Herausgeber nicht nur zu
die Konsumsoziologie und die empirische Sozialfor- Dank verpflichtet, sie sprechen diesen Dank viel-
schung, der Bogen reicht von den Bio- und Neuro- mehr freudig aus. – Für empirische Untersuchungen
wissenschaften zur Pädagogik, von der Ökonomie darüber, ob die Herausgabe eines Glücks-Handbuchs
zur Theologie, von der Organisations- zur Architek- glücklich macht, stellen sich die Betroffenen auf An-
turtheorie. frage gerne zur Verfügung.
Dieses Handbuch soll einen Beitrag dazu leisten,
dass der Reichtum an Einsichten, den das Nachden-
Literatur
ken über das Glück in seiner Geschichte hervorge-
bracht hat, für die aktuellen Diskussionen fruchtbar Im Anhang dieses Handbuchs findet sich ein Literatur-
gemacht werden kann; es versucht überdies dazu verzeichnis mit Lektüreempfehlungen zu klassischen
beizutragen, dass diese Diskussionen nicht in abge- Texten und Hinweisen auf Publikationen, die sich als
schlossenen Zirkeln, sondern über Fachgrenzen hin- Überblicks- und Einführungswerken bewährt haben
weg geführt werden. Wenn diese Absichten sich er- oder den aktuellen Diskussionsstand in einzelnen Dis-
füllen würden, dann allerdings wäre dies – ein ziplinen wiedergeben. Im Folgenden beschränken wir
Glücksfall. uns auf Angaben zu den in dieser Einleitung zitierten
Texten.

Dank Aristoteles: Nikomachische Ethik [NE]. Hamburg 1985.


Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. München 1978.
Dieses Handbuch ist – nach dem Heidegger-Hand-
Bargatzky, Thomas: Contemplativus in Actione. Glücks-
buch von 2003 – das zweite Handbuch, bei dem der vorstellungen im Kulturvergleich. In: Alfred Belle-
Hauptherausgeber mit Ute Hechtfischer vom Metz- baum (Hg.): Glücksforschung. Eine Bestandsauf-
ler Verlag zusammenarbeitet. Für die gute Koopera- nahme. Konstanz 2002, 95–107.
tion sei hier herzlich gedankt. Den vielen Autorinnen Benn, Gottfried: Gesammelte Werke, Bd. 1. München
und Autoren, die aus verschiedenen Ländern und in 1975.
verschiedenen Sprachen Beiträge geliefert haben, Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden.
danken wir dafür, dass sie mit ihrer wissenschaftli- Frankfurt a. M. 1967.
chen Erfahrung dieses Projekt möglich gemacht ha- Brockmann, Hilke/Delhey, Jan (Hg.): The Dynamics of
ben – und dass sie bereit waren, sich auf die besonde- Happiness. Special Issue. Social Indicators Research
ren Rahmenbedingungen, die ein solches Handbuch 97 (2010).
10 Einleitung

Bruckner, Pascal: L’euphorie perpétuelle. Essai sur le de- Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung [1889]. In:
voir de bonheur. Paris 2000. Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe.
–: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Ber- München/Berlin/New York 1988, Bd. 6, 55–161.
lin 2001. Rosenzweig, Franz: Einleitung. In: Hermann Cohen: Jü-
Büchner, Georg: Werke und Briefe. München 1971. dische Schriften, Bd. I. Berlin 1924, XIII–LXIV.
Ehrenreich, Barbara: Smile or Die. How Positive Thin- Rubin, Gretchen: The Happiness Project: Or, Why I
king Fooled America and the World. London 2009. Spent a Year Trying to Sing in the Morning, Clean My
Emerson, Ralph Waldo: Essays & Lectures. New York Closets, Fight Right, Read Aristotle, and Generally
1983. Have More Fun. New York 2009.
Fritz-Schubert, Ernst: Schulfach Glück. Wie ein neues Ruskin, John: The Crown of Wild Olive. Four Lectures
Fach die Schule verändert. Freiburg 2008. on Industry and War [1866]. Orpington/London
Hermann, Armin: »Auf eine höhere Stufe des Daseins 1895.
erheben« – Naturwissenschaft und Technik. In: Au- Scheler, Max: Vom Verrat der Freude [1922]. In: Ders.:
gust Nitzschke u. a. (Hg.): Jahrhundertwende. Der Gesammelte Werke, Bd. 6: Schriften zur Soziologie
Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Bd. 1. Reinbek und Weltanschauungslehre. Bern/München 19632,
1990, 312–336. 73–76.
Hirata, Johannes: How Should Happiness Guide Policy? Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, 1. Bd. München
Why Gross National Happiness Is not Opposed to 1987.
Democracy. In: Journal of Bhutan Studies 12 (2005), Schwarz, Norbert/Strack, Fritz: Reports of Subjective
1–22. Well-Being. Judgmental Processes and Their Metho-
Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, 1. Bd. München dological Implications. In: Daniel Kahneman u. a.
1992. (Hg.): Well-Being. The Foundations of Hedonic Psy-
Inglehart, Ronald/Foa, Roberto/Peterson, Christopher/ chology. New York 1999, 61–84.
Welzel, Christian: Development, Freedom and Rising Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frank-
Happiness: A Global Perspective 1981–2006. In: Per- furt a. M. 1995.
spectives on Psychological Science 3/4 (2008), 264– Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Stuttgart
85. 1989.
Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung II, Bd. 3. Mün- Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt
chen 1978. a. M. 2003.
Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen [1975]. Ber- Weber, Max: Wissenschaft als Beruf [1919]. In: Ders.:
lin 1996. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübin-
Kohl, Karl-Heinz: Der glückliche Wilde. Imagination gen 1988, 582–613.
oder Realität? In: Heinrich Meier (Hg.): Über das Welzel, Christian/Inglehart, Ronald: Values, Agency, and
Glück. Ein Symposium. München/Zürich 2008, 119– Well-Being: A Human Development Model. In: So-
148. cial Indicators Research 97/1 (2010), 43–63.
La Mettrie, Julian Offray de: L’homme machine [1748]. Wilde, Oscar: Lady Windermere’s Fan [1892]. In: Ders.:
Die Maschine Mensch. Hamburg 1990. The Collected Works. Ware, Hertfordshire 1997, 483–
Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie 531.
[1901]. Frankfurt a. M. 1972. Wilson, Eric: Against Happiness. In Praise of Melan-
Mill, John Stuart: Der Utilitarismus [1861]. Stuttgart choly. New York 2008.
1985. Dieter Thomä, Christoph Henning
Nickel, Rainer: Einführung. In: Epiktet/Teles/Musonius: und Olivia Mitscherlich-Schönherr
Wege zum Glück (Hg. Rainer Nickel). Zürich/Mün-
chen 1987, 7–15.
11

I. Semantik des Glücks

1. Glück im Griechischen Autoren wie Aristoteles finden sich beide Ausdrücke


gleichwertig.
Eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Begriffen
Glück ist nicht in Worte zu fassen. Dementsprechend zieht erst der jüdisch-christliche Sprachgebrauch.
vielgestaltig sind die sprachlichen Annäherungen an Die Septuaginta, die aus hellenistisch-römischer Zeit
das Glück bei den Griechen. Die Umschreibungen stammende Übersetzung des Alten Testaments ins
kreisen vorrangig um die Silbe εὖ (›gut‹). Glück kann Griechische, verwendet das Wort εὐδαιμονία nicht.
sprachlich als ein gutes Schicksal, in der aristoteli- Das Neue Testament übernimmt diesen exklusiven
schen Formulierung als das ›gut leben und das gut Vorbehalt. Die griechischen Texte der Bibel reden
handeln‹, τὸ εὖ ζῆν καὶ τὸ εὖ πράττειν oder in der damit an keiner einzigen Stelle vom Glück mit dem
stoischen Wendung als ein guter Gang des Lebens, Wort, in dem sich antike Glückstheorien sprachlich
εὔροια βίοῦ, beschrieben werden (vgl. Spaemann verdichten. Umso bemerkenswerter ist die Beobach-
1974, 683 ff.). Die Zentralperspektive des Glücks ist tung, dass neben anderen Verweisen an prominenter
in diesen Wendungen das Gute. Glück ist das, was ei- Stelle μακάριος zur Verwendung kommt. Die Selig-
nen Bezug zum Guten hat. Damit zeichnet sich preisungen Jesu in der Bergpredigt gebrauchen es
schon in der sprachlichen Artikulation eine inhaltli- durchgängig als Leitmotiv (Mt 5,3–10). Philologisch
che Positionierung ab. Das Glück ist nicht so sehr in wäre es vollkommen zulässig von den Glücklichprei-
äußeren Zuständen wie Besitz oder Reichtum zu er- sungen Jesu zu sprechen. Es deutet einiges darauf
blicken, sondern in einer seelischen Verfasstheit, die hin, dass die Vorbehalte im Judentum und im Chris-
in einer Verbindung zum Guten steht. tentum gegen den Begriff der εὐδαιμονία auf die da-
Sprachlicher Kulminationspunkt für die Beschrei- rin konzeptionell angelegte Rückführung des Glücks
bungen des Glücks, die auf das Gute zielen, ist der auf den guten Dämon zurückgehen. Nicht das Glück
Begriff εὐδαιμονία (eudaimonia). Die Abkehr von ei- an sich wird damit also theologisch verurteilt, son-
ner rein äußerlichen Auffassung des Glücks setzt dern ein ›heidnisches‹ Verständnis, das andere Quel-
sich in diesem Artikulationswechsel definitiv durch. len als Gott allein als Ursachen des Glücks anzuneh-
Nach dem Begriff der eudaimonia ist glücklich, »wer men erlaubt. Der Begriff μακάριος erscheint darin
in sich einen guten Dämon zum Führer hat« (Spae- offensichtlich unverfänglicher.
mann 1974, 680 mit Verweis auf die ›etymologi-
schen‹ Erklärungen bei Euripides und Aristoteles). Literatur
Sitz des Dämons ist die Seele, womit auf der sprach-
Frisk, Hjalmar: Griechisches etymologisches Wörter-
lichen Ebene die Verinnerlichung des Glücks vollzo-
buch. Heidelberg 1961.
gen wird.
Spaemann, Robert: Glück, Glückseligkeit. In: Joachim
Neben dem konzeptionell aufgeladenen ›Kunstbe-
Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philo-
griff‹ εὐδαιμονία hält sich auch die ältere Bezeich- sophie. Bd. 3. Darmstadt 1974, 679–707.
nung μακάριος für den Glücklichen bzw. μακαριότης Jörg Lauster
für die Glückseligkeit durch. Die Etymologie ist nicht
zu klären. Versuche, es auf μακρός (›groß‹) zu bezie-
hen oder es als Lehnwort aus dem Ägyptischen ab-
zuleiten, haben sich nicht durchgesetzt (vgl. Frisk
1961, 162). Es gibt Indizien, die dafür sprechen, mit
μακαριότης eher einen Zustand zu beschreiben, der
den Göttern vorbehalten ist, während die εὐδαιμονία
vorzugsweise das Glück der Menschen bezeichnet.
Doch zwingend ist diese Unterscheidung nicht. Bei
12 I. Semantik des Glücks

2. Glück im Lateinischen antiken Eudämonismus. Freilich ist hier Vorsicht vor


einer allzu pauschalen Anwendung dieser Unter-
scheidung geboten. Thomas von Aquin beispiels-
Im Lateinischen kristallisieren sich zur Umschrei- weise entfaltet seine bemerkenswerte und folgenrei-
bung des Glücks drei Begriffe heraus. Entgegen der che Glückslehre unter dem Begriff der beatitudo und
ansonsten zu beobachtenden Latinisierung von Kon- bemüht sich dennoch um einen Ausgleich mit Aris-
zepten der griechischen Philosophie, finden sich toteles. Wenn Autoren der Renaissance wie Marsilio
keine Versuche für eudaimonia ein lateinisches Äqui- Ficino und andere in ihren lateinischen Traktaten
valent auszubilden. Beatus und davon abgeleitet bea- über das Glück ausdrücklich auf den Begriff der feli-
titudo sind von unsicherer etymologischer Herkunft citas zurückgreifen, so ist dies durchaus auch ein
und bezeichnen in ihrer ursprünglichen Bedeutung sprachlicher Indikator für den Versuch, das christli-
den Zustand, mit Glücksgütern gesegnet und be- che Glück mit dem antiken Eudämonismus zu ver-
schenkt zu sein (Walde/Hofmann 1938, 101). Felix söhnen.
und davon abgeleitet felicitas sind vermutlich auf
fēlāre, fēcundus bzw. fētus zurückzuführen und füh- Literatur
ren damit in ursprüngliche Bedeutungskonnotatio-
Spaemann, Robert: Glück, Glückseligkeit. In: Joachim
nen wie ›säugen‹, ›befruchtet‹, ›trächtig‹ (474 f.). In-
Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philo-
haltlich ist es also im Wesentlichen das Phänomen
sophie. Bd. 3. Darmstadt 1974, 679–707.
der Fruchtbarkeit, das mit dem Glück assoziiert wird.
Walde, Alois/Hofmann, Johann Baptist: Lateinisches
Drittens verselbständigt sich die mythologische Be- Etymologisches Wörterbuch. 3., neubearb. Auflage
zeichnung der Göttin Fortuna, das lateinische Äqui- von J.B. Hofmann. Heidelberg 1938.
valent zur griechischen Göttin Tyche, zum eigen- Jörg Lauster
ständigen Begriff für Glück. Im Lateinischen wird
damit die Bedeutung des Zufallsglücks auf der
sprachlichen Ebene in einen eigenen Rang erhoben.
Die romanischen Sprachen folgen darin ihren latei-
nischen Wurzeln. Das Deutsche kennt bekanntlich
diese Unterscheidung nicht und verwendet den Be-
griff ›Glück‹ äquivok für die Gunst des Zufalls einer-
seits und das Glück als inneren Zustand bzw. Resul-
tat menschlicher Bemühung. Diese Bedeutungsebe-
nen decken im Lateinischen die Begriffe beatitudo
und felicitas ab. Beide Begriffe können synonym ver-
wendet werden, jedoch setzt sich felicitas als Über-
setzungswort für das griechische eudaimonia durch
(vgl. Spaemann 1974, 691).
Dieser Umstand hat Autoren der lateinischen
Christenheit dazu motiviert, die sprachliche Unter-
scheidung in ein von Gott geschenktes einerseits und
ein heidnisches Glück andererseits, wie sie sich in
der jüdisch-christlichen Verwendung von makarioi
und eudaimonia findet, auch im Lateinischen abzu-
bilden. Wenngleich die Unterscheidung nicht mit
der gleichen Strenge wie im Griechischen durchge-
führt wird, zeichnet sich mehr und mehr vor allem
im mittelalterlichen Sprachgebrauch ab, beatitudo
zur Bezeichnung des wahren und ewigen christli-
chen Glücks heranzuziehen, während felicitas eher
für das heidnische, irdische Glück steht. In Rech-
nung zu stellen ist die damit offensichtlich durchaus
auch mitbeabsichtigte Abgrenzung vom Konzept des
13

3. Glück im Deutschen personalen Wendungen sind beim deutschen Wort


»Erfolg« nicht möglich; das selten verwendete und
mittlerweile anachronistische deutsche Verb »erfol-
»Da haben Sie aber noch einmal Glück gehabt«, kann gen« meint die sachlich zwingende Folge (y erfolgt
der Chirurg zum Unfallopfer sagen, das mit knapper aus x) und nicht ein Ereignis, das den Intentionen ei-
Not und schwer verletzt dem Tod entkommen ist. ner Person zurechenbar ist. Auch das deutsche Verb
Glücklich wie ein frisch Verliebter oder beschwingt- »glücken« hat einen eigentümlichen Status. Es ver-
beglückt wie ein Operettenbesucher, der sich von weist auf eine transsubjektive Macht, die dennoch
den Versen »Glücklich ist, wer vergisst, was doch ein Subjekt betrifft, begünstigt, beglückt.
nicht zu ändern ist« begeistern lässt, wird sich der so Die Herkunft des Substantivs »Glück« wie des
Angeredete nicht fühlen. Die deutsche Sprache ver- Verbs »glücken« ist – entgegen der hübschen For-
fügt nicht über große Differenzierungsmöglichkei- mulierung im Glücksartikel aus Adelungs Wörter-
ten, wenn es um Bezeichnungen für Glückserfah- buch (Adelung 1774–1786/1811, Bd. 2, 728): »Die
rungen geht. Anders als das Altgriechische, das zwi- Bemühungen der Wortforscher sind bey diesem
schen τέχνη (téchne), εὐδαιμονία (eudaimonia) und Worte bisher nicht glücklich gewesen« – etymolo-
μακαριότης (makariotes), das Lateinische, das zwi- gisch so eindeutig wie semantisch vielsagend. Das
schen fortuna, felicitas und beatitudo, das Französi- neuhochdeutsche Wort »Glück« – so heißt es im ent-
sche, das zwischen chance, bonheur, félicité, fortune sprechenden Artikel des Grimmschen Wörterbuchs
und béatitude oder gar das Englische, das zwischen – »tritt erst spät auf: mhd. gelücke n., selten lück n.,
luck, happiness, felicity, chance, bliss und beatitude mnl. ghelucke, geluc n., lucke, luc n., mnd. gelucke,
unterscheidet, kennt das Deutsche nur das eine Wort lucke n., daraus entlehnt afries. luck n., mittelengl.
»Glück«, um körperlich-sinnliche oder sinnerfüllte, lukke, luk (15. Jahrhundert), engl. luck, spätanord.
intensiv-glühende oder transzendenzlastige, zufällig lukke, lykka f. (14. Jahrhundert), ädän. lykkæ, lukkæ
sich einstellende oder durch eigenes Streben errun- f., dän. lykke f., mittelschwed. lykka, löcka f., schwed.
gene Glückszustände zu benennen. lycka f.«
Man muss kein Philologe sein, um deutsche Son- »Lücke« ist das nächstverwandte Wort zu »Glück«.
derwege der Theorieentwicklung und der vortheo- Das gilt auch für das Englische: »luck« und »lag« ge-
retischen Entfaltung von Problemen und Motiven hören zusammen. Das Verb »glücken« verweist wie
(auch, keineswegs nur) auf semantische und formale das verwandte »gelingen« (und wie das engl. Verb
Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache zurück- »to lock« bzw. das Substantiv »locker«) auf ein Ver-
zuführen. Dies lässt sich auch an den spezifisch schließen, Ausfüllen und Erfüllen von »Lücken«. Das
deutschsprachigen Valenzen des Glücksbegriffs und Grimmsche Wörterbuch läuft zu fast schon obsessi-
des Glücksverständnisses verdeutlichen. Auffallend ver Form auf, wenn es darum geht, diesen Zusam-
ist beim Vergleich des deutschen Wortes »Glück« mit menhang von »Glück« und (erfüllter) »Lücke« her-
Glücksworten in anderen Sprachen neben seiner dif- auszustellen. Es verweist auf den Zusammenhang
ferenzarmen semantischen Weite, dass das deutsche des deutschen Wortes »Glück« »mit der idg. wurzel
Substantiv eine Verb-Entsprechung hat: »glücken«. leug- ›biegen‹, aus der sich über die bedeutung ›zubie-
Das Verb »glücken« und das etymologisch ver- gen, zuziehen‹ die germ. sippe ›schlieszen, öffnen‹ ent-
wandte (dazu gleich mehr) »gelingen« aber wird im wickelt hat: got. galūkan ›schlieszen, einschlieszen‹,
Deutschen zumeist nicht dem oder einem Men- uslūkan ›aufschlieszen‹, ahd. lūhhan ›schlieszen‹,
schen, sondern einem »es« zugeordnet. Sachliche antlūhhan ›aufschlieszen‹, as. bilūkan ›verschlieszen‹,
Wendungen wie »es gelang«, »das Unternehmen antlūkan ›erschlieszen, öffnen‹, mnl. lūken ›schlieszen,
glückte«, »es gelang Felix, dies oder jenes zu errei- decken, aufschlieszen, sich schlieszen‹, ags. lūcan
chen« sind im Deutschen geläufiger als die perso- ›schlieszen, beenden, öffnen‹, anord. lūka ›schlieszen,
nenbezogene Dativ-Formulierung. Sätze wie »Felix aufschlieszen, beendigen‹; dazu mit ablaut got. usluks
glückte das Examen« sind grammatisch möglich, ›öffnung‹, ahd. loh, loch ›verschlusz, höhle, öffnung‹,
aber stilistisch fragwürdig. Andere europäische Spra- ags. loc ›verschlusz, riegel, gefängnis‹, anord. lok
chen kennen Substantiv-Verb-Entsprechungen beim ›schlusz, deckel, ende‹, loka ›türschlosz‹, ahd. lucka,
Wort »Erfolg«; jemand kann reüssieren (franz. réus- mhd. lucke, lücke ›lücke, loch‹; daneben germ. *lukjan,
sir) und in dieser oder jener Sphäre erfolgreich sein anord. lykja, schwed. lykja, dän. lukke ›schlieszen, ver-
(engl. success: »Felicitas succeeded in …«). Solche schlieszen‹; die bedeutung ›biegen, krümmen‹ liegt zu-
14 I. Semantik des Glücks

grunde ahd. loc, as. afries. lok, ags. loce, anord. lokkr In der philosophischen Diskussion wird eine wei-
›locke‹ und anord. lykkja ›biegung, krümmung, tere Besonderheit an der deutschen Unterscheidung
schlinge eines taus‹« (Grimm 1854–1960/1991, Bd. 8, des »Glückhabens« und des »Glücklichseins« betont.
226). In diesen beiden Wendungen wird das deutsche
Die enge Verwandtschaft von »Glück« und (ver- Wort »Glück« nämlich für zwei Sachverhalte be-
schlossener bzw. ausgefüllter) »Lücke« legt nicht nur nutzt, für die die meisten anderen europäischen
drastische Männerwitze nahe; sie lädt auch zu mehr Sprachen zwei Worte – etwa eutychia und eudaimo-
oder weniger tiefsinnigen Gedanken darüber ein, nia, fortuna und beatitudo, luck und happiness oder
dass Glückserfahrungen ohne vorangegangene Lü- chance und bonheur – kennen. Dabei bezeichnet das
cken- und Mangelerfahrungen nicht zu haben sind. Glück, das man hat, – im Sinne der fortuna – das zu-
Kein geringerer als Goethe hat diesem Motiv virtuos fällige Geschehen, das dem Menschen von außen
Gestalt verliehen, als er in vielen Wendungen seines willfährt. Das »Glücklichsein« meint demgegenüber
1795 erschienenen Bildungsromans Wilhelm Meis- – im Sinne der beatitudo – den subjektiven Zustand
ters Lehrjahre mit der Affinität von Lücke und Glück des glücklichen Menschen.
spielte. Macht Wilhelm Meister, dessen Sohn den
sprechenden Namen Felix trägt und der einer ein Literatur
wenig zu weisen Frau namens Makarie begegnet,
Adelung, Johann-Christoph: Grammatisch-kritisches
doch immer wieder Erfahrungen wie diese: »Er
Wörterbuch der hochdeutschen Mundart [1774–
machte sich Hoffnung, daß ihm das Glück wie vor-
1786]. Wien 1811.
her auch künftig beistehen […] und die Lücke seiner
Goethe, Johann Wolfgang von: Berliner Ausgabe [BA]
Kasse wieder auffüllen« werde (Goethe 1968, HA, in 22 Bänden (Hg. Siegfried Seidel). Berlin 1960 ff.
Bd. 7, 238). Dass Lücken die Bedingung der Möglich- –: Werke. Hamburger Ausgabe [HA] in 14 Bänden.
keit von Glück sind, war ein von der Semantik der Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen
deutschen Sprache nahegelegtes, aber eben auch versehen von Erich Trunz. Hamburg 1948 ff.
sachlich belastbares Denkmotiv, das Goethes Werk Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörter-
leitmotivisch durchzieht. Nur zwei lückenhafte Bei- buch [1854–1960]. München 1991.
spiele: Faust spricht die goldenen, an Motive aus Pla- Jochen Hörisch
tons Symposion gemahnende Worte: »So tauml’ ich
von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß ver-
schmacht ich nach Begierde« – woraufhin flugs Me-
phisto auftritt (Goethe 1957, HA, Bd. 3, 104). Sprich-
wörtlich geworden ist und häufig falsch zitiert wird
Goethes späte gereimte Sentenz »Alles in der Welt
läßt sich ertragen, / Nur nicht eine Reihe von schö-
nen [bzw. glücklichen; d. Verf.] Tagen« (Goethe 1960,
BA, Bd. 1, 440).
Ohne die Lücken, ohne die Entsagungserfahrun-
gen, ohne die zahlreichen Mängel, die unser Leben
prägen, ist Glück nicht zu haben. Dennoch ist wah-
res Glück unendlich mehr als ein bloßer Lückenbü-
ßer. Die deutsche Sprache hält für die Wiedergabe
dieser Erfahrung subtile Ausdrucksmöglichkeiten
bereit. Denn sie kennt Steigerungsformeln des
Glücks bzw. des Glückszustands: Glück haben ist we-
niger als glücklich sein; glückselig sein ist fast schon
zu viel des Guten – also ein latenter Pleonasmus. Sein
Gebrauch sollte zu denken geben: Ob es möglich ist,
selig, aber nicht glücklich zu sein? Offenbar schwingt
im deutschen Wort »Glück« bzw. »glücklich« ein
Moment mit, das ein enthusiastisches Verhältnis
zum Innerweltlichen signalisiert.
15

4. Glück im Englischen Etymologisch leiten sich happiness und happy von


hap her, das als happ im Altnordischen für ›Zufall‹
steht, von wo es über das Alt- und Mittelenglische
Die drei in allen regionalen Varietäten der Weltspra- ins moderne Englisch gelangte, wo es (allerdings sel-
che Englisch am häufigsten verwendeten Substan- ten gebraucht) noch immer ›Zufall‹ und ›zufälliges
tive zur Bezeichnung von ›Glück‹ als Glückserleben Ereignis‹ bedeutet. Hap lebt auch im Verb to happen
und Lebensglück sind happiness, (good) luck und fort, das ›geschehen, sich (zufällig) ereignen‹ bedeu-
(good) fortune sowie die abgeleiteten Adjektive tet.
happy, lucky und fortunate. Synonymwörterbücher Während in der sprachgeschichtlichen Entwick-
listen unter happiness eine Reihe von Wohlbe- lung von happiness das Moment des Zufalls durch
findensgefühlen wie z. B. pleasure (›Vergnügen‹, die Betonung des menschlichen Wollens und Füh-
›Freude‹), delight (›Entzücken‹), felicity (gehoben für lens zurückgedrängt wurde, dominiert es die Bedeu-
›Glückseligkeit‹), joy/fulness (›Freude‹) oder cheer- tung von luck, für das u. a. fortune, chance, destiny,
fulness (›Fröhlichkeit‹) sowie blessedness, beatitude fate (meist negativ gebraucht) und (nur im amerika-
(beide meinen stilistisch erhöhte Glückseligkeit mit nischen Englisch) happenchance als Synonyme ste-
religiöser Konnotation; letzterer Begriff, wie auch hen. Luck bedeutet ›Schicksal, Geschick, Zufall‹ und
bliss, mit ›himmlisch‹ assoziiert) und bliss (›Selig- kann (wie fortune) sowohl als good luck (›Glück‹)
keit‹, ›Wonne‹), deren jeweilige Aspekte von hap- oder bad luck (›Unglück, Pech‹), d. h. als glückliche
piness auf zentrale Momente der dominanten oder unglückliche Fügung des Schicksals, auftreten.
Glücksauffassungen verweisen. So fällt bei blessed- Lucky und fortunate haben jedoch nur die positive
ness und beatitude vor allem die bis ins 19. Jahrhun- Bedeutung ›glücklich‹. Etymologisch entstand luck
dert wichtige und heute noch gelegentlich anzutref- durch Lautschwund aus dem Niederdeutschen geluk
fende religiös-moralphilosophische Komponente ins zu luk (vgl. das deutsche ›Glück‹). Zusätzlich zu luck
Auge. Dagegen betonen die neueren Wörterbücher kennt das Englische mit good/bad fortune noch ein
für happiness die emotionalen Nuancen des indivi- weiteres, (über das Französische) aus dem Lateini-
duellen Glückserlebens. schen entlehntes Wort für ›un/glücklicher Zufall‹
Das Standardwörterbuch Oxford English Diction- und ›un/günstiger Umstand‹ als einzelnes Gesche-
ary (OED) erläutert »happiness« (1) als »glückliche hen. Des Weiteren führt das OED unter fortune die
Fügung im Leben« und (2) als einen »angenehmen von Erfolg, d. h. von Wohlstand und Besitz definierte
seelisch-geistigen Zustand«, der aus Erfolg oder dem Stellung des Einzelnen auf, die sich in Formulierun-
Erreichen dessen, was als gut empfunden wird, resul- gen wie to make one’s fortune (›sein Glück, d. h. ein
tiert. Aus dem heutigen Sprachgebrauch hat die Lin- Vermögen machen‹) niederschlägt. Kulturgeschicht-
guistin Anna Wierzbicka ein »Szenario« von »happi- lich mag man hier das puritanisch-kalvinistische
ness« destilliert, das die individuelle Komponente des Erbe des anglo-amerikanischen Bürgertums durch-
Begriffs (vgl. »the pursuit of happiness« in der ameri- scheinen sehen, das verstärkt seit dem 17. Jahrhun-
kanischen Unabhängigkeitserklärung) herausstellt dert beiderseits des Atlantiks Reichtum als Zeichen
(Wierzbicka 1999, 51 ff.). Gegenüber dem Substantiv von Glück und damit der Gnadenwahl Gottes inter-
ist das oft in Redewendungen verwendete Adjektiv pretierte.
happy semantisch schwächer (54). Es drückt meist
kein tiefes Glücksgefühl aus, sondern lediglich die Zu- Literatur
friedenheit mit etwas Gutem, wie in being happy with
Gohrisch, Jana: Bürgerliche Gefühlsdispositionen in der
im Sinne von »zufrieden oder einverstanden sein«
englischen Prosa des 19. Jahrhunderts. Heidelberg
(52 f.). Wierzbicka sieht diesen Prozess der Bedeu-
2005.
tungserweiterung und damit verbundenen Intensi-
Oxford English Dictionary Online [OED]. Oxford
tätsabschwächung als Teil einer generellen Dämpfung 2009.
der Gefühle in der modernen englischsprachigen Ge- Wierzbicka, Anna: Emotion across Languages and Cul-
fühlskultur. Diese wird (besonders in den USA) von tures. Diversity and Universals. Cambridge 1999.
massenhaft verbreiteten Gefühlsanleitungen zu posi- Jana Gohrisch
tive thinking, cheerfulness und fun dominiert (54),
kann aber in ihrer Genese bereits im 19. Jahrhundert
beobachtet werden (Gohrisch 2005, 120 ff.).
16 I. Semantik des Glücks

5. Glück im Französischen Würfel oder Knöchel, die bei Glücksspielen gewor-


fen werden.
Das Wort fortune bezeichnet heutzutage das Glück
Der Begriff bonheur geht auf das französische Wort als materiellen Wohlstand, eine Sache, die man zu
heur zurück, das heute nicht mehr in Gebrauch ist, ernst nimmt, um sie mit Würfeln aufs Spiel zu setzen
im klassischen Französisch des 18. Jahrhundert je- und zu riskieren, dass sie sich in ihr Gegenteil wen-
doch geläufig war. Das Wort heur selbst ist aufgrund det. Für die Moderne ist das Glück (bonheur) weni-
normaler phonetischer Evolution aus dem vulgärla- ger Zufall und mehr aktive Bedürfnisbefriedigung,
teinischen agura hervorgegangen, eine Alteration während zumindest bis zum Ende des Mittelalters,
des Wortes augura im klassischen Latein mit der Be- konform zur christlichen Doktrin aber auch zum an-
deutung ›(gutes oder schlechtes) Vorzeichen‹. Der tiken Stoizismus oder sogar zum Epikureismus, all-
Begriff heur ist daher als solcher ambivalent und ver- gemein davon ausgegangen wird, dass die Erfüllung
weist auf eine Situation, die als günstig oder ungüns- der Begierden nicht prinzipiell glücklich macht,
tig wahrgenommen wird, analog zu seinen Äquiva- wenn sie nicht sogar ins Unglück führt. Die erfüllten
lenten im Englischen (happiness, abgeleitet von hap- oder zu erfüllenden Wünsche sind eine eher mo-
pen, im Sinne von zufälligem Geschehen) oder im derne Vorstellung vom Glück.
Deutschen (›Glück‹, abgeleitet von ›gelingen‹). Wie In dem Maße, wie es die Frucht des Zufalls ist, ist
auch andere Sprachen, so erträgt die moderne fran- auch das Glück (bonheur) in der Geschichte der fran-
zösische Sprache diese Ambivalenz nicht und behält zösischen Sprache seinem Wesen nach zunächst un-
nur die Ableitungen bonheur und malheur bei, die beständig. Die Wechselfälle des Lebens können es je-
den Vorteil haben, eindeutig zu sein. den Moment in Unglück verwandeln – wie es der bis
Es ist bedauerlich, dass diese Ambivalenz aus heute im Französischen gebrauchte Ausdruck la roue
dem durch die Sprache vermittelten Wissen ver- de la fortune (dt. ›das Rad des Schicksals‹) suggeriert.
schwunden ist, denn dadurch haben wir vergessen, Ist es überhaupt möglich, dieser Instabilität zu ent-
dass das Glück sich nicht (immer) programmieren kommen, ist es möglich, sich das Glück (bonheur) in
lässt, dass es lange Zeit eine Frage von Glück einem stabilen Zustand vorzustellen? Möglicher-
(chance) oder Pech (malchance) war, wobei der Zu- weise schon, aber das anhaltende Glück heißt na-
fall eine grosse Rolle spielte. Das legt auch die Ety- mentlich félicité oder béatitude. Die beiden Worte
mologie des mit dem »bonheur« am engsten ver- haben deutlich religiöse Konnotationen, die nahele-
wandten Begriffes nahe, der jedoch heute nicht gen, dass es nicht ratsam ist, den Weg der Bedürfnis-
mehr im Sinne von Glück gebraucht wird, sondern befriedigung zu gehen, um den einen oder anderen
materiellen Wohlstand bezeichnet: fortune. Der aus Zustand zu erreichen. Trotz einer gemeinsamen
der lateinischen Wurzel fors (›Zufall‹) hervorgegan- Wurzel mit fellare (›lutschen‹) und seiner Herkunft
gene Ausdruck war früher ebenfalls zweideutig, von felix (›fruchtbar‹), ist es in erster Linie der Ver-
weshalb es ihn zu präzisieren galt als bonne oder zicht auf das Verlangen, der in den als félicité be-
mauvaise fortune. Jemand der fortuné ist, ist also ur- zeichneten Zustand intensiven Glücks führt. Viel-
sprünglich nicht reich, sondern jemand, der Glück leicht gerade weil dieser Verzicht nicht mehr aktuell
hatte. ist, hat das Wort bonheur den Ausdruck félicité zum
Die Entwicklung der französischen Sprache trennt Verschwinden gebracht. Was den Terminus der béa-
das Glück mit dem Ausdruck bonheur daher von sei- titude angeht, so bezeichnet er das vollkommene
ner Verbindung mit dem Zufall (hasard) und der Fü- Glück, das die Auserwählten geniessen: die Seligen
gung (chance), während das Deutsche beispielsweise (béats) sind glücklich (heureux), aber von einem
mit dem Begriff »Glück« nur über ein einziges Wort überirdischen Glück beseelt, das per Definition nicht
verfügt, um bonheur (›Glück‹) und chance (›glückli- von dieser Welt ist – unglücklicherweise.
che Fügung‹) auszudrücken. Das Wort chance ist ur-
sprünglich auch ambivalent, bevor es sich in chance Literatur
(›Glück‹) und malchance (›Pech‹) differenziert und Dictionnaire étymologique de la langue française (Hg.
verweist zudem tautologisch auf den Zufall, der die Oscar Bloch/Walther von Wartburg). Paris 2002.
glückliche Fügung zur Folge hat. Das Wort chance Nouveau Dictionnaire étymologique et historique (Hg.
stammt vom Lateinischen cadere (›werfen‹) ab, auf- Albert Dauzat/Jean Dubois/Henri Mitterrand). Paris
grund von Metonymie evoziert es daher auch die 1988.
6. Glück im Russischen 17

Le Robert. Dictionnaire historique de la langue fran-


çaise (Hg. Alain Rey). Paris 1998.
6. Glück im Russischen
Le trésor de la langue française informatisé [TLFI].
http://atilf.atilf.fr/tlf.htm. Das russische Wort für Glück sčast’e leitet sich ety-
Vincent Kaufmann mologisch aus der Zusammensetzung der indoger-
(aus dem Französischen übersetzt von Sophie Rudolph) manischen Wurzel su- (›gut‹) und des gemeinslavi-
schen Worts für ›Teil‹ (čęstь) ab. Semantisch steht
sčast’e in der Nähe von učast’ (›Schicksal‹) (Vasmer
1958). Glück bedeutet also ein »felizitäres Gut«, das
sich unter bestimmten Bedingungen einstellt
(Borkačev 2001, 50). Glück fällt dem Menschen zu,
man muss sich für diese Gratifikation deshalb sogar
»ein wenig schämen« (Zaliznjak/Levontina/Šmelev
2005, 167). Die Redewendung ›ich habe Glück ge-
habt‹ wird auf Russisch jedoch lexikalisch nicht mit
dem Etymon sčast’e, sondern bezeichnenderweise
mit einer Passivkonstruktion des Verbs vezti (›etwas
mit einem Transportmittel erhalten‹) realisiert. Die
Google-Taste I’m Feeling Lucky trägt in der russi-
schen Version deshalb die Bezeichnung Mne povezet!
(›Mir wird es gebracht werden!‹). Schließlich gibt es
das Adverb avos’ (›auf gut Glück‹), das auch in einer
ironisch substantivierten Form vorkommt: Avos’ka
bezeichnete während der Sowjetzeit ein platzsparen-
des Einkaufsnetz, das man immer bei sich trug, um
glückliche Zufallsfunde nach Hause tragen zu kön-
nen.
Die russische Sprache unterscheidet mithin bei
den Glücksbezeichnungen zwischen einer Qualität,
die eine biographische Situation über längere Zeit
auszeichnen kann, und dem konkreten Einzelfall,
der ein gutes Ereignis meint. Glück ist in beiden Fäl-
len kontingent. Es gibt im Russischen kein Äquiva-
lent zum deutschen Sprichwort ›Jeder ist seines Glü-
ckes Schmied‹. Im Gegenteil: Die russische Volks-
weisheit warnt davor, dass sich das zwanghafte
Verfolgen des Glücks in der Regel in sein Gegenteil
verkehrt: ›Das Glück suchen heißt vor ihm davonzu-
laufen‹, ›Im Traume Glück, im Wachen Elend‹, ›Das
Glück ist keine Kuh: Man kann es nicht melken‹.
Die meisten Sprichwörter unterstreichen das
Wechselhafte des Glücks, auf das man sich nicht ver-
lassen kann: »Das Glück schüttelt sich aus und trifft
einen Zufälligen« (Dal’ 1984, I, 41–57). Auf die War-
nung vor dem Unglück trifft man viel häufiger als auf
eine Glückserwartung. Diese Besonderheit lässt sich
mit der konfessionellen Prägung der russischen Men-
talität durch die orthodoxe Kirche erklären. Die irdi-
sche Existenz ist ein Jammertal, das der Mensch
durchschreiten muss, um der himmlischen Herrlich-
keit teilhaftig zu werden. Das Ziel religiöser Rituale in
18 I. Semantik des Glücks

der russisch-orthodoxen Kirche besteht nicht in der Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
Erlangung individuellen Glücks, sondern in der An- scheinen sich die Glücksvorstellungen in Russland
näherung des menschlichen Leidens an die Passion radikal gewandelt zu haben. In einer Umfrage aus
Christi (Bremer 2007, 187). Der Weg zur Seligkeit dem Jahr 2003 nennen 16 Prozent der Respondenten
führt also nicht über die Einübung in das Glück, son- als höchste Glücksvorstellung die materielle Verbes-
dern gerade über die Annahme des Unglücks, weil serung ihrer Lebensbedingungen, 15 Prozent hoffen
nur hier eine imitatio Christi möglich ist. Bis heute auf das Wohlergehen ihrer Familie, 11 Prozent wün-
bildet Glück keinen zentralen Wert in der russischen schen sich Frieden für die Menschen, 9 Prozent
Orthodoxie. Die im Jahr 2000 verabschiedete Sozial- möchten ein eigenes Haus, 7 Prozent sehnen sich
doktrin der russisch-orthodoxen Kirche verwendet nach einer guten Arbeit und 5 Prozent halten Ge-
diesen Begriff nur beiläufig und oft in negativem sundheit für das wichtigste Gut. Der Dienst an der
Kontext: »Materielle Güter können den Menschen Gemeinschaft ist mithin in den Hintergrund getre-
nicht glücklich machen« (Thesing/Uertz 2001, 50). ten und hat dezidiert individuellen Glücksvorstel-
In der Sowjetkultur lässt sich vor allem in der Sta- lungen Platz gemacht, die sicher auch als Kompensa-
linzeit eine Emphase des ›Glücks‹ feststellen. Im Jahr tion für jahrzehntelange Entbehrungen im Konsum-
1935 gab Stalin die Parole aus: »Das Leben ist besser bereich verstanden werden müssen (O čem my
geworden, Genossen. Das Leben ist froher gewor- mečtaem 2003).
den« (Stalin 1976, 24–33). Ihr institutionelles Pen-
dant fand das neue gesellschaftliche Glück in der Literatur
Stalinverfassung von 1936, die auf dem Papier einen
Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija [BSĖ]. Bd. 41. Moskau
umfassenden Katalog bürgerlicher Freiheitsrechte
1956.
garantierte und zahlreiche soziale Sicherheiten im
Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija [BSĖ]. Bd. 25. Moskau
Sinne der Glücksförderung vorsah. Genau zur selben
1976.
Zeit erreichte aber der Große Terror in der Sowjet- Borkačev, Sergej: Koncept sčast’ja. Ponjatijnyj i obraznyj
union seinen Höhepunkt (Schlögel 2008, 21). Die komponenty. In: Izvestija Akademii Nauk. Serija lite-
prekäre Wirklichkeit wurde auf fast gespenstische ratury i jazyka 60/6 (2001), 47–58.
Weise durch die offizielle Propaganda konterkariert, Bremer, Thomas: Kreuz und Kreml. Kleine Geschichte
die den Sowjetbürgern ein glückliches Leben in ei- der orthodoxen Kirche in Russland. Freiburg/Basel/
nem idealen Staat suggerierte. El Lissitsky gestaltete Wien 2007.
in der Zeitschrift Die UdSSR im Bau (9–12/1937) Dal’, Vladimir (Hg.): Poslovicy russkogo naroda. 2 Bde.
eine vierfache Sondernummer, in der er die Stalin- Moskau 1984.
verfassung als Bilderalbum vorstellte. Die letzte Col- O čem my mečtaem? 13.2.2003, http://bd.fom.ru/re-
lage zeigt strahlende Frauen, Männer und Kinder port/map/dd030636.
unter dem Staatswappen der Sowjetunion. Quer Schlögel, Karl: Terror und Traum. Moskau 1937. Mün-
über die Festszene wölbt sich die Losung: »Die Stalin- chen 2008.
verfassung ist das Glück des Sowjetvolks«. Stalin, Josif W.: Rede auf der ersten Unionsberatung der
Die Glücksdefinition des sowjetischen Herr- Stachanowleute. 17. November 1935. In: J.W. Stalin:
schaftsdiskurses fand mit einiger Verspätung auch Werke. Bd. XIV. Dortmund 1976, 24–33.
Eingang in die Lexika. Während die Große Sowjeten- Thesing, Josef/Uertz, Rudolf: Die Grundlagen der Sozi-
zyklopädie des Jahres 1946 noch keinen Eintrag un- aldoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Sankt
Augustin 2001.
ter »Glück« aufweist, behauptet die nächste Auflage
Vasmer, Max: Russisches Etymologisches Wörterbuch.
zehn Jahre später, das Glück des Menschen könne
Heidelberg 1958.
keinesfalls für eine Einzelexistenz errungen werden,
Zaliznjak, Anna/I.B. Levontina, Irina/Šmelev, Aleksej:
sondern liege in der »Vereinigung mit dem Volk«,
Ključevye idei russkoj jazykovoj kartiny mira. Mos-
»im Kampf für eine bessere Zukunft« (BSĖ 1956, kau 2005.
XLI, 381). Vom selben Tenor getragen ist auch das Ulrich Schmid
Lemma »Glück« in der Breschnjew-Sowjetenzyklo-
pädie: »Das Glück besteht im bewussten Dienst am
Volk, im Kampf für die Umgestaltung der Gesell-
schaft, für die Verwirklichung des Kommunismus«
(BSĖ 1976, XXV, 130).
19

7. Glück im Arabischen auch der aus dem Persischen entlehnte, ursprünglich


wohl aramäische Begriff bakht (vielleicht verwandt
mit akkadisch pa/ikhâtî »Distrikt«), mit dem eben-
Das Begriffsfeld, das im Deutschen durch das Wort falls das gute wie das böse Geschick bezeichnet wer-
»Glück« zusammengefasst wird, wird im Arabischen den konnte. Eine schon vorislamisch belegte Rede-
in sehr unterschiedlicher Weise lexikalisiert. Vier se- wendung aqbala ‘alayhi d-dahr (wörtlich: ›die Schick-
mantische Felder lassen sich identifizieren. salszeit trat an ihn heran‹) wurde als iqbāl abstrahiert
Erstens: Der seit dem 8. Jahrhundert verwendete und zum Ausdruck irdischen Glücks, der vor allem
Begriff sa‘âda (s. Kap. I.9) bezeichnet die Nominali- als Lehnsbegriff eqbāl im Persischen gängig ist (s.
sierung eines Zustandes der Freude (sa‘d, synonym Kap. I.9).
yumn) und ist sachlich mehr oder weniger identisch Drittens: Im Kontext monotheistischer Religio-
mit dem griechischen Begriff eudaimonia. Er refe- nen wurde das gute Glück im Arabischen auch als
riert auf die vita beata, also auf das eigentliche Le- Segen Gottes erachtet. Glücklich sein bedeutet also
bensziel des Menschen. Als Antonym dieses Begriffs auch gesegnet, d. h. selig zu sein (vgl. hebräisch ôsher,
wird meist shaqâwa oder shaqwa (›Elend‹, synonym das aber auch profanen ›Reichtum‹ bezeichnet; s.
nahs) benutzt. Kap. I.8). Glück war demnach ein ›guter Segen‹, be-
Zweitens: Der schicksalsbestimmte glückliche Er- ziehungsweise ein Gut, das den glücklichen Zustand
folg erscheint im Arabischen gemeinhin als hazz. der über irdisches Leiden und Mühen erhabenen
Das Wort meint ursprünglich das Los oder das Ge- Götter bezeichnete. Im Griechischen (s. Kap. I.1)
schick (tychē, fors), das jemandem ereilen kann und stehen die makarioi für diejenigen, bei denen ein
das gute (husn al-hazz) wie schlechte Qualität (su’ al- ›Hervorgehoben gegenüber anderen‹ vorliegt, resp.
hazz) annehmen kann. Auch im Arabischen scheint für ›die Gesegneten‹ und ›Seligen‹ (vgl. u. a. Mat-
Glück so ursprünglich auf das schicksalhafte Ge- thäus 5.3 ff., in der Vulgata die beati, hebräisch
schehen zu verweisen, das als zugeteilt erachtet ashrêy, also die mit der makaria beziehungsweise
wurde. Die gleiche Bedeutung hat das ältere arabi- dem esher Gottes gesegneten Menschen, vgl. Ps 1.1).
sche Wort jadd, das wie sein hebräischer Vetter gad Diesen makarioi entspricht in den christlich-arabi-
(vgl. Gen. 49,19) wohl unter hellenistischem Einfluss schen Texten der aus dem Syrisch-Aramäischen
ähnlich wie griechisch tychē wirkte. In vorislami- entlehnte Begriff tûbâ (im Kontext syr. tûbhihôn),
scher Zeit bedeutete das Wort sa‘d wie hazz eher das der lexikalisch auf das Gute verweist. Im Koran steht
Geschick, das auch astrologisch auf die Planeten Ju- sinnverwandt die Wurzel s‘d (»Segen«). Die passivi-
piter und Venus (as-sa‘dân, wie griechisch tychai) be- sche Benennung sa‘îd (Koran 11,105) bedeutet
zogen sein konnte. Zugleich waren die Begriffe sa‘d wörtlich ›der von/mit Sa’d Gesegnete‹ und ent-
und jadd Namen für Idole (Fahd 1968). In einem spricht ziemlich genau dem deutschen Adjektiv ›se-
vorislamischen Gedicht heißt es: »Wir kamen zu lig‹. Mit der passiven Verbalform su‘idû (Koran
Sa‘d, auf dass er uns vereine, doch Sa‘d entzweite uns, 11,108 »Diejenigen aber, die selig sind, werden im
so wollten wir mit Sa‘d nichts zu tun haben. Ist Sa‘d Paradies sein und darin weilen«) werden ›diejeni-
denn nichts anderes als ein Fels in der Wüste des gen, die mit Sa‘d gesegnet wurden‹ bezeichnet. Sie
Landes, wo weder die Fehl- noch die Rechtleitung stehen in Opposition zu den ›Elenden‹ (shaqîy). Der
erfleht werden können?« (Ibn al-Kalbî 1923, 23 f.). In vorislamische Idolbegriff Sa‘d ist so zu einem Segen
der vorislamischen Poesie konnte auch der Idolname Gottes geworden, der aber nicht identisch ist mit
Jadd in Form eines passivischen Attributs (jadîd) dem Segen aus Gottes Gnade (biblisch berakha, ara-
verwendet werden und ›den vom Geschick Beglück- bisch baraka). Vielmehr setzt die sa‘d-Segnung die
ten‹ bezeichnen. Dieses Attribut ist in islamischer Befolgung von Gottes Geboten (ähnlich wie biblisch
Zeit nicht mehr überliefert. Koranisch ist nur einmal ashrêy) voraus. Anders als im Persischen wurden
noch von Jadd die Rede und zwar als Name für Gott: arabische Begriffe, die auf göttliche Prädestination
»Und (mir ist eingegeben worden, dass die Dschinn verweisen (qada’, qadr), nicht zu Synomymen für
sagten): ›Unser Herr, der Inbegriff von Glück (und göttliche Glücksegnungen.
Segen), ist erhaben (wörtlich: Das Glück unseres Viertens: Eine spezielle Lexikalisierung des Glücks
Herrn ist erhaben). Er hat sich weder Gefährtin noch bot das Wort ghibta, das eigentlich einen neidlosen
ein Kind (oder: Kinder) zugelegt.‹« (Koran 72,3). Seit Wunsch nach Freude und Zufriedenheit bezeichnet;
dem frühen 8. Jahrhundert findet sich im Arabischen der Begriff wurde von hasad (›Neid‹) deutlich diffe-
20 I. Semantik des Glücks

renziert und bezeichnete wie später auch sa’d einen 8. Glück im Hebräischen
Seelenzustand.
Diese vier Bedeutungsfelder konturieren einen
arabischen Glücksbegriff, der den Seelenzustand Das Glück des Menschen wird in der Religion Alt-
desjenigen bezeichnet, der durch Gott gesegnet ist, israels und des Judentums stets auf Gott zurückge-
der das Lebensziel erkannt hat oder der sich eines führt, wiewohl in biblischer Zeit auch das Tun des
guten Geschicks erfreuen kann. Terminologisch hat Menschen als ursächlich für sein Ergehen betrachtet
sich nur der Begriff sa’âda durchsetzen können, dies wurde, wie man noch in der Mischna lesen kann:
wohl deshalb, weil er schon früh in den theologi- »wer auch nur ein Gebot erfüllt, dem wird Gutes wi-
schen Sprachgebrauch (vor allem in der Sunna) und derfahren und dessen Leben wird lange währen«
auch als Übersetzung des griechischen Begriffs eu- (Mischna, Kidduschin 1,10).
daimonia in philosophischen Texten Verwendung Es gibt keine Fortuna oder Heimarmene oder
fand. Zugleich drückt der Begriff sa’âda wie seine eine andere Glücksgottheit neben dem Gott Israels.
Verwendung als Lehnswort im Persischen in der Von dieser theologisch ausgerichteten Grundstruk-
Moderne auch die subjektiven, episodischen Eigen- tur gibt es nur eine einzige, wenn auch allgegenwär-
bewertungen des Einzelnen aus (›Empfindungs- tige Ausnahme, die in der talmudischen Spätantike
glück‹). angelegt und seit dem Mittelalter verbreitet ist, näm-
lich den Glauben an den ›guten Stern‹, Massal tov,
Literatur jiddisch Masseltov, oder einfach Massal (Massel). Der
Gegensatz dazu ist, jiddisch ausgesprochen, das
Der Koran (Übers. Rudi Paret). Stuttgart 1966.
Schlimm-Massel, der deutsche ›Schlammassel‹. Mas-
Ibn al-Kalbî: kitâb al-asnâm [Das Buch der Idole]. Kairo
sal ist der Stern, der Schicksalsstern, insbesondere
1923.
die Sterne des Zodiak. Im Talmud liest man noch das
Fahd, Toufic: Le Panthéon de l’Arabie centrale à la veille
de l’Hégire. Paris 1968. widersprüchliche Nebeneinander »Israel unterliegt
Reinhard Schulze keinem Glücksstern« und »der Glücksstern macht
weise, der Glücksstern macht reich, und auch Israel
unterliegt dem Glücksstern« (Babylonischer Talmud,
Schabbat 156a). Im mittelalterlichen Hebräisch wird
Massal(tov) zum Begriff für das irdische Glück
schlechthin, allerdings mit der Maßgabe, dass Gottes
Macht stets höher als die des Glückssterns ist.
In der Hebräischen Bibel gibt es kein eigenes
Wort für Glück. Das von Gott geschenkte ›Glück‹
wird hier und auch noch danach zuallererst als ›das
Gute‹ (tov, tova) beschrieben. Dazu gehört der Scha-
lom, weiter, dass Gott des Menschen Weg gelingen
lässt (hizliach), Segen gibt (Beracha), auch die Befrie-
digung, ›satt an göttlicher Huld‹ (Seva’ Razon), wird
genannt. Ein oft verwendetes Bild für das Glück ist
das sichere Sitzen unter dem Weinstock und dem
Feigenbaum (1 Kön 5,5). Verbreitet ist die Glücklich-
preisung mit der Interjektion ‘aschre (›heil!‹, ›glück-
lich!‹). Glücklich gepriesen wird, wer am Quell der
Weisheit ist, wer auf Gott harrt, die Gebote hält, Ge-
rechtigkeit übt, nicht im Kreis der Frevler weilt, die
Tugenden übt, die tüchtige Hausfrau und Hiob vor
seinem Unglück, das von Gott erwählte Volk, der,
dem die Schuld vergeben wurde, aber auch der, den
Gott züchtigt. Häufig wird die Glücklichpreisung in
der apokryphen Literatur verwendet für den, der
eine weise Frau hat, der seine Zunge hütet, der kei-
8. Glück im Hebräischen 21

nem Unwürdigen dienen muss (Sirach 25, 8–10) und Even-Schoschan, Abraham: Ha-Millon he-hadasch. 3
dergleichen. Bde. Jerusalem 1972.
Erst das mittelalterliche Hebräisch bildet aus zwei Klatzkin, Jakob: Thesaurus philosophicus linguae He-
oben genannten Wurzeln abstrakte nun ausschließ- braicae et veteris et recentioris [1928]. 4 Bde. Hildes-
lich das ›Glück‹ bezeichnende Nomina, nämlich aus heim 2004.
der Preis-Interjektion (‘aschre) das Nomen ‘Oscher Mischna: Mischnajot. Die sechs Ordnungen der
und aus dem Verbum des Gelingenlassens das No- Mischna (Übers. Ascher Sammter). Basel 1968.
men Hazlacha. Die materielle Bedeutung dieses so Talmud: Der Babylonische Talmud (Übers. Lazarus
Goldschmidt). 12 Bde. Berlin 1930–1936.
benannten Glücks wird indessen sehr unterschied-
Karl Erich Grözinger
lich beschrieben, wie ja auch das deutsche Wort
›Glück‹ sehr unterschiedliche und oft gegensätzliche
Deutungen erfährt. Beide Nomina benennen im mit-
telalterlichen wie im modernen Hebräisch das ir-
disch-materielle Glück, aber auch das Gelingen und
die glückhafte Vollendung des menschlichen Lebens
im Jenseits. In der mittelalterlichen Philosophie ist
bevorzugt die Hazlacha (›Glückseligkeit‹), aber auch
der ‘Oscher der Terminus zur Bezeichnung des im
Jenseits erhofften Heils, das heißt der Unsterblich-
keit und Gottesgegenwart. R. Jizchak Ben Abraham
(Hizzuk Emuna/Stärkung des Glaubens, 16. Jahrhun-
dert, I. 18) definiert: »Das wahrhafte Glück (‘Oscher)
ist die Glückseligkeit (Hazlacha) und die Erlösung
(Teschu’a) der Seele« (Klatzkin 1928/2004, Bd. 1, 75).
Das moderne Hebräisch gibt seinen Definitionen
der Glücksbegriffe auch die psychologische Kompo-
nente hinzu. Das renommierte Wörterbuch von
Even-Schoschan (I, 88) gibt z. B. für ‘Oscher folgende
Erklärung: »Ruhe, Massal tov, allgemeines Gefühl
des Angenehmen, das aus dem Gelingen (Hazlacha)
und großer Zufriedenheit fließt.« Die hebräische
Wikipedia zählt Zufriedenheit und Lebensfreude als
seelischen Zustand hinzu, nennt auch äußerliche
Ausdrucksformen von ‘Oscher, wie ›Lachen‹, ›Hoff-
nung‹, ›Ruhe‹ und ›Begeisterung‹, oder kurz: ›Frei-
heit vom Leiden‹. Der Begriff Hazlacha steht demge-
genüber jetzt mehr für den ›Erfolg‹ der menschli-
chen Bemühungen, wobei auch hier individuelle
Maßstäbe, seien sie materieller oder spiritueller Art,
das Entscheidende sind. Ein üblicher Wunsch für das
irdische Wohlergehen ist in der Moderne: ‘Oscher
we-’Oscher, ›Glück und Reichtum‹, eine Zusammen-
stellung die sich schon in hellenistischer Zeit findet.

Literatur
Ben Abraham, Jizchak (aus Troki): Befestigung im Glau-
ben (Hg. D. Deutsch). Sohrau/Breslau 1873.
Ben Jehuda, Eliezer: Gesamtwörterbuch der alt- und
neuhebräischen Sprache. 8 Bde. New York/London/
Jerusalem 1940–1959.
22 I. Semantik des Glücks

9. Glück im Persischen an baht. Auch im islamischen Iran wird das Glück als

von oben kommend verstanden, so z. B. in dem
schicksalsbeladenen Nationalepos Šāhnāme (10./11.
Im heutigen Persisch dienen vor allem die Wörter Jahrhundert): (ke) tō nīkbahtī ze yazdān šenās/madār
hošbaht »glücklich« (bzw. das Abstraktum hošbahtī΄ az tan-e xwīš hargez sepās »erkenne du das Glück
»Glück«)
 und šāns »Glück« dazu, die Begrifflichkeit
  (als etwas) von Gott/danke niemals dir selbst«
des Glücks wiederzugeben. Dabei drückt hošbaht ei- (Ferdousī 1386/2007, Bd. 4, 165). Trotzdem besteht
nen in der Regel länger andauernden inneren   Zu- weiterhin für den Einzelnen ein Spielraum, sein eige-
stand aus (hošbaht am »ich bin glücklich«), šāns hin- nes Glück zu fördern, so schreibt z. B. der Dichter
gegen eher die punktuelle
 Erfahrung des »Zufalls- Rūdakī (10. Jahrhundert): nīkbaht ān kas ke dād o
glücks« (šāns āvardam »ich habe Glück gehabt«, behord/šūrbaht ān-k-ū nahord o nadād »glücklich
wörtlich »ich habe die Chance gebracht/bekom-  jener, der gab und nahm
(ist)  (d. h. verbrauchte)/un-
men«). glücklich jener, der nicht nahm und nicht gab (d. h.
Während šāns aus französisch chance entlehnt der knauserte)« (Rūdakī 1341/1962, 495). Das Ge-
wurde (im späten 19. Jahrhundert, als Französisch dankengut bei Ferdousī und Rūdakī steht in Konti-
die Sprache europäischer Bildung im Iran war), be- nuität zu mittelpersisch-zoroastrischen Glücksvor-
steht hošbaht aus den persischen Wörtern hoš »gut« stellungen, kann aber auch aus islamischen Verhält-
 t »Schicksal«,
und bah  
ist also ein Kompositum im nissen abgeleitet werden.
 »gutes Schicksal (habend)«. Baht wie-
Sinne von In der klassisch-persischen Literatur treten ver-
derum ist ein zentraler Begriff in der Geschichte  ira- mehrt Wörter arabischer Herkunft für »Schicksal«
nischer Schicksals- und Glücksvorstellungen, die wie qażā-o-qadar oder taqdīr, oder für »Glück«
stets eng miteinander verbunden waren. Es ist von eqbāl, neben persische Wörter wie baht oder sar-
h
der indogermanischen Verbwurzel *b ag »als Anteil nevešt »Schicksal«, letzteres eigentlich »(auf den)
bekommen« abgeleitet. In altiranischer Zeit wurde Kopf-geschrieben«. Außerdem können Wörter wie
hiervon das Partizip bahta- »zugewiesen/Anteil« ge- zamān »Zeit« oder ahtar »Stern« in der Dichtung
bildet und auch bereits  im Sinne von »Schicksal« metaphorisch im Sinne  von »Schicksal« verwendet
verwendet. Im Mittelpersischen (3.–7. Jahrhundert) werden, auch in Zusammensetzungen wie nīk-ahtar
blieb baht ein zentraler Begriff für das »Schicksal«, 
»glücklich«. Weniger zufälliges Glück als vielmehr
das nach zoroastrischer Lehre dem Menschen prä- innere und dauerhafte Aspekte des Glücksempfin-
destiniert ist, ohne ihn jedoch von der Verantwor- dens gibt sacādat (s. Kap. I.7) »Glückseligkeit« wie-
tung für sein Handeln zu entbinden (Shaked 1989; der. Zu betonen ist, dass die Worte arabischer Her-
der Begriff ist auch ins Arabische übernommen wor- kunft im Wortschatz des Persischen volles Heim-
den; s. Kap. I.7). recht erlangt haben und, jedenfalls bis zum 20.
Im Mittelpersischen treten neben baht weitere Jahrhundert, von den meisten Iranern in keiner
Worte für »Schicksal« oder »Glück«. So ǧahišn Weise als fremd empfunden werden.
»Schicksal«, das in Kombination mit hu- »gut« in ei- Wie erwähnt, lautet im modernen Persisch des 20.
ner Passage der Ratschlagsammlung Ayādgār ī Wu- und 21. Jahrhunderts der zentrale Ausdruck für
zurgmihr das Schicksalhafte unverdienten Glücks »glücklich« hošbaht , mit hoš für klassisch-persisch
wiedergibt: Čē škeft-tar? Dānāg ī wad-ǧahišn. Čē abd- nīk. Mit dem Adjektiv
 bad »schlecht« kombiniert, er-
tar? Dušāgāh ī hu-ǧahišn »Was ist bemerkenswerter? gibt sich badbaht »unglücklich«. Nach dem Muster
Ein Kluger, der Pech hat. Was ist wundersamer? Ein von hoš-/badbah  t kann auch šāns »Glück« mit hoš
Dummer, der (trotzdem) Glück hat« (Jamasp-Asana  
oder bad kombiniert 
werden. Im Vergleich zu šāns
1897–1913, 100–101). Weitere mittelpersische Ad- āvardam »ich habe (einmal) Glück gehabt« drückt
jektive wie hunsand »zufrieden« oder farroh »geseg- etwa hoš-šāns am ein wiederholtes Zufallsglück aus
net« können auch »glücklich« bedeuten, die genauen  von »ich bin ein Glückspilz«, oder aber das
im Sinne
semantischen Grenzen sind hier nicht immer ein- Nicht-Eintreten eines Unglücks: hoš-šāns am ke
fach zu ziehen. tas.ādof nakardam »ich habe Glück, dass ich keinen
Im Neupersischen (ab dem 10. Jahrhundert) bleibt Unfall gebaut habe« (šāns »Glück« wird hier quasi zu
baht ein zentraler Terminus für »Schicksal«. In der einem Schicksalswort ›neutralisiert‹).

klassischen Literatur des 10. bis 15. Jahrhunderts tritt Wie im Mittelpersischen, gilt auch für das Neu-
für die Bedeutung »glücklich« das Adjektiv nīk »gut« persische, dass die Grenzen zwischen »Glück« und
10. Glück im Chinesischen 23

ähnlichen Empfindungen wie »Zufriedenheit« nicht 10. Glück im Chinesischen


immer eindeutig zu ziehen sind. So lässt sich der
deutsche Satz »ich empfinde Glück« im heuti-
gen Persischen wiedergeben mit: eh.sās-e reżāyat Das Begriffsfeld von Glück im Chinesischen umfasst
mīkonam, d. h. eigentlich: »ich empfinde Zufrieden- sowohl den stets positiven Begriff fu und meint das
heit«. erreichte Glück nicht nur materiell, sondern auch so-
Zusammenfassend erscheint als wichtiges Merk- zial. Dem Begriff der Fortuna entspricht das xing,
mal des persischen Ausdrucks von »Glück« dessen das unerwartete Glück, der Glückszufall. Qing ist der
enge lexikalisch-semantische Verbindung mit dem- ›glückliche Ausgang‹, aber auch der Glückwunsch.
jenigen des »Schicksals«. Formal entsteht durch diese Die Ausdrücke qi und xiang meinen eine Glückver-
Verbindung ein Paradigma von Glücksausdrücken, heißung oder auch ein gutes Omen. Andauernde Be-
das durch Kombination von Grundworten mit den glückung wird mit le zum Ausdruck gebracht. Dann
Adjektiven hoš und bad verschiedene Ausprägungen gibt es den glücklichen Ausgang sowie Glücksverhei-

und Abstufungen von »Glück« und »Unglück« zu- ßungen oder Glück verheißende Omina. Bei einem
lässt. Die ›Schicksalsnähe‹ des persischen Ausdrucks Denker der klassischen Periode, Han Feizi, heißt es
für »Glück« bedeutet nicht, dass bei hošbaht nicht im 20. Kapitel des gleichnamigen Werkes, das für das
auch andere Aspekte wie etwa der des  materiellen
 Denken der Zeit repräsentativ ist: »Gesundheit und
Wohlstands mitschwingen können; jedoch sind diese langes Leben, Reichtum und Ansehen, das nennt
weniger im Begrifflichen mit angelegt als etwa bei man Glück« (Han Feizi 1974, 341). Und schon in ei-
italienisch fortuna »Glück/Vermögen« (fare fortuna, nem sehr früh datierten Text, dem Hongfan aus der
auch im Deutschen »sein Glück machen«). Bemer- Zeit um 1050 v. Chr., wird das fünffache Glück
kenswert für den Ausdruck von »Glück« im Persi- (wufu) bestimmt als »Langes Leben – Wohlstand
schen ist auch die rezente Entlehnung von šāns aus und Reichtum – Frieden und Wohlergehen – Liebe
dem Französischen. zur Tugend – Tod nach erfülltem Leben« (Karlgren
1950, 35). Einerseits wurde solcherart Glück als Lohn
Literatur für tugendhaften Wandel gedeutet. Daneben gab es
aber auch die Vorstellung von schicksalhaft Verhäng-
Ferdousī, Abolqāsem: Šāhnāme (Hg. Ǧalāl Hāleqī
˘ tem (ming). Wichtig aber ist, dass sich die Verknüp-
Mot.laq). Bd. 1–8. Tehrān 1386/2007.
fung von individuellen Tugenden und gemeinschaft-
Jamasp-Asana, Jamaspji Minocheherji (Hg.): Pahlavi
lichem Wohlergehen nahezu überall findet. Natür-
Texts. Bd. I–II. Bombay 1897–1913.
Rūdakī, Abū cAbdollāh Ǧacfar ebn Moh.ammad: lich gab es immer auch die hedonistische Haltung,
Moh.īt.-e zendegī va ah.vāl va ašcār-e Rūdakī (Hg. Sacīd wie sie – vermutlich mehr als Provokation denn als
Nafīsī). Tehrān 1341/1962. Programm – bei Zhuangzi formuliert wird (Zhu-
Shaked, Shaul: Bakt. ii. The concept. In: Encyclopaedia angzi HYI 46/18/2; nach Unger 2002, 12).
ˉ Aus allen Richtungen hat China versucht, sein
Iranica (Hg. Ehsan Yarshater). Bd. III. London/New
York 1989, 537–538. Glück zu machen: mit Hilfe der Unsterblichkeits-
Ludwig Paul droge von den Penglai-Inseln im Östlichen Meer,
durch Handel und durch Heilsversprechungen der
göttlichen Königinmutter des Westens (Xiwang mu),
einer tatsächlich nach westlichem Vorbild geformten
Gottheit (Knauer 2006). Solange die Deutungshori-
zonte nicht strittig waren, konnten Glücksbedingun-
gen mit einem hohen Maß an Verbindlichkeit for-
muliert werden. Xingyun oder yunqi waren ange-
messene Bezeichnungen für Glück im Sinne eines
glückhaften Verlaufs. Chenggong benannte dann eher
den Erfolg, während xingfu Glück im Sinne des
Wohlstand und des Wohlergehens benennt. Kuaile
wiederum ist die subjektiv erlebte Freude, so wie sie
in vielfältiger Weise auch in der Literatur zum Aus-
druck kommt – etwa im Miterleben der Freude der
24 I. Semantik des Glücks

Fische nach dem Gleichnis des Zhuangzi (Wilhelm/ Kern, Iso: Das Wichtigste im Leben. Wang Yangming
Dschuang Dsï 1951, 134). So fällt einem Glück zu, es (1472–1529) und seine Nachfolger über die »Ver-
ist ein wunschloses Glück (Möller 2002, 77). So sehr wirklichung des ursprünglichen Wissens«. Basel
alles Glücksstreben auf die Zukunft gerichtet war, so 2010.
wussten alle Weisheitslehren doch um die Vergeb- Knauer, Elfriede R.: The Queen Mother of the West. A
lichkeit solchen Strebens, und man orientierte sich Study of the Influence of Western Prototypes on the
an dem Satz bei Zhuangzi »Höchstes Glück ist Ab- Iconography of the Taoist Deity. In: Victor H. Mair
wesenheit des Glücks« (Wilhelm/Dschuang Dsï (Hg.): Contact and Exchange in the Ancient World.
Honolulu 2006, 62–115.
1951, 136). Diesem taoistischen Glücksbegriff, wie er
Möller, Hans-Georg: In der Mitte des Kreises. Daoisti-
von Zhuangzi vertreten wird, stand die buddhisti-
sches Denken. Frankfurt a. M. 2002.
sche Welthaltung nahe, die nicht erwartet, sondern
Schmidt-Glintzer, Helwig: Wohlstand, Glück und langes
akzeptiert, was der Fall ist. In den geistigen Neuauf- Leben. Chinas Götter und die Ordnung im Reich der
brüchen des 15. und 16. Jahrhunderts knüpfte man Mitte. Frankfurt a. M. 2009.
daran an und suchte wie Wang Yangming (1472– –: Vom gelungenen Leben der Vielen. Das Glück der
1529) in der Selbstreflexion die »Verwirklichung des Massen und das Leiden des Einzelnen in China. In:
ursprünglichen Wissens« (Kern 2010). Venanz Schubert (Hg.): Aus dem Ursprung leben. Le-
benskunst – neu bedacht. St. Ottilien 1997, 171- 197.
Unger, Ulrich: Das Glück der alten Chinesen. In: mi-
Literatur
nima sinica 1 (2002), 1–26.
Han Feizi: Jishi. Shanghai 1974. Wilhelm, Richard/Dschuang Dsï: Das Wahre Buch vom
Karlgren, Bernhard: The Book of Documents. Stock- Südlichen Blütenland. Düsseldorf 1951.
holm 1950. Helwig Schmidt-Glintzer
25

II. Systematik des Glücksdenkens

1. Glück zwischen Sinnlich- lungenen, im Ganzen geglückten Selbst- und Seins-


vollzug festgemacht, in welchem die Bedürfnisse von
keit und Geist. Von der Kopf, Herz und Bauch gleichermaßen gestillt sind.
Lust zur geistigen Ekstase Das Spiel bindet rationale, emotionale und affektive
Antriebskräfte in einen kreativen Prozess ein, der
und zurück Glück als Befreiung von Zwängen und Restriktionen
jeglicher Art erleben lässt.
Die Palette des Glücks erlaubt viele Farbmischun-
Die Koppelung der Begriffe ›Mensch‹ gen zwischen purer Sinnlichkeit und reiner Geistig-
und ›Glück‹ keit, zwischen schierer Lust und spirituellen Freu-
den. Wie sich jemand sein Glück ausmalt, hängt von
Die Definition des Glücks hängt eng mit der des seinen individuellen Vorlieben und den Zielvorga-
Menschen zusammen. Die klassische Bestimmung ben seines persönlichen Lebensentwurfs ab. Exis-
des Begriffs homo als animal rationale begründet tenzphilosophische Denker haben dem Rechnung
den Vorrang des Menschen vor nicht menschlichen getragen, indem sie anstelle von Glücksdiskursen die
Lebewesen mit der Fähigkeit des Denkens. Wenn es Selbstdarstellung typisierter Individuen ins Zentrum
zutrifft, dass alle Menschen nach Glück streben rückten.
(Freud 1930/1976, 433 in Anlehnung an Aristoteles:
Nikomachische Ethik, 1095a 15 ff.), dann muss das Das Glück des erotischen Genusses
Glück eines der Vernunft verpflichteten Wesens ei-
nen Bezug zu dessen Rationalität aufweisen. An- So hat Søren Kierkegaard in Entweder/Oder (1843/
dernfalls würde Glück der Animalität zugeschlagen 1964; s. Kap. V.5) einen jungen Mann namens Johan-
und wäre dann nichts spezifisch Menschliches. Lässt nes geschildert, der Buch führt über seine Verfüh-
man hingegen nur die Befriedigung der Vernunftan- rungsstrategien und die damit verbundenen Erfolge.
sprüche als Glück gelten, wird die Sinnlichkeit – und Er manipuliert das von ihm begehrte Mädchen so,
mit ihr das gesamte Spektrum von Lustempfindun- dass es sich selbst in der Rolle der Verführerin wähnt
gen und Genussfreuden – als Glückserzeuger ausge- und sich ihm freiwillig hingibt, ohne zu ahnen, dass
schlossen. jeder Schritt, den es tut, von seinem Liebhaber minu-
Die meisten Definitionen des Begriffs ›Mensch‹ tiös geplant ist.
zerteilen das menschliche Wesen in unterschiedlich Das Glück, dem Johannes sich verschrieben hat,
bewertete Gegensätze, von denen nur einer des ›wah- ist ästhetischer Natur in der doppelten Bedeutung
ren‹ Glücks teilhaftig sein kann, wohingegen der an- des griechischen Wortes aisthesis, das einerseits den
dere ins Unglück führt. So wird aus der Perspektive sinnlichen, andererseits den künstlerischen Aspekt
des Menschen als sozialem Wesen (zoon politikon) einer Sache betont. Das Glück des Verführers liegt
das Ich als Egoist verdächtigt, das nur auf sein indivi- entsprechend im Genuss, dessen sinnliche Qualität
duelles Glück aus ist. Homo faber und homo oecono- dadurch intensiviert wird, dass er nicht einfach eine
micus wiederum blenden moralische und altruisti- Frau nach der anderen sexuell konsumiert, sondern
sche Lebensformen aus ihrem Glücksverständnis das Mädchen in einem Prozess der Erotisierung wie
aus, indem sie Machbarkeitsstrategien und Nutzen- ein Kunstwerk gestaltet, bis sein Begehren dem des
kalküle als die einzigen Glückserzeuger behaupten. Verführers an überwältigender und zugleich kon-
Demgegenüber betonen ganzheitliche Definitionen trollierter Leidenschaftlichkeit in nichts nachsteht.
des Menschen – wie homo sapiens und homo ludens »Mein Inneres erbraust gleich einem aufgerührten
– das Zusammenspiel aller menschlichen Strebever- Meere im Sturme der Leidenschaft«, notiert Johan-
mögen. Entsprechend wird dann das Glück am ge- nes in seinem Tagebuch, fügt aber wenig später
26 II. Systematik des Glücksdenkens

hinzu: »Man muss sich begrenzen, dies ist eine Spannungsfeld, sondern in den Netzen zwischen-
Hauptbedingung alles Genusses« (Kierkegaard 1843/ menschlicher Beziehungen insgesamt unterschwel-
1964, 349). Die Kunst der Begrenzung besteht darin, lig wirksam ist, selbst dort, wo man sie kaum vermu-
dass sie die bloße Fleischeslust in echten Genuss ver- tet. Einer altruistischen Einstellung zum Beispiel
wandelt. Indem der Verführer sein unmittelbares Be- schreibt man eine Hintanstellung der eigenen Be-
gehren taktisch ausbremst, verzögert er die Befriedi- dürfnisse und damit einen Verzicht auf deren Befrie-
gung seiner Wünsche, schiebt sie hinaus bis zu dem digung zu. Altruistisch handelt, wer vorrangig nicht
Zeitpunkt, an dem seine erotisierenden Strategien den persönlichen Genuss im Auge hat, sondern
ihr Ziel erreicht haben und er aus dem jungen Mäd- die verzweifelte Lage von Unglücklichen verbessern
chen eine ihm ebenbürtige, gleichermaßen genussfä- möchte, und sei es auf Kosten des eigenen Glücks.
hige Liebesgespielin gemacht hat: »ein Mädchen ver- Aber vielleicht haben die Utilitaristen ja Recht, wenn
führen ist keine Kunst, aber eine finden, die es wert sie unterstellen, dass auch der Altruist nicht selbstlos
ist, verführt zu werden, das ist Glück« (360). handelt, sondern sich durch fremdes Unglück in sei-
Das Glück des ästhetischen Genusses begleitet die nem Selbstgenuss beeinträchtigt sieht.
Planung und Durchführung des erotischen Experi- Bezüglich des Genussglücks ist zweierlei festzu-
ments mit der, »die es wert ist«. Die Kreativität, die halten: (1) Die ästhetische Lebensform ist weit ent-
Johannes als künstlerischer Gestalter der seelischen fernt von jenem Glück der Schweine, von dem John
Regungen des Mädchens entfaltet, bestätigt ihn als Stuart Mill meinte, dass es den Menschen als Geist-
erotischen Könner, und als solchen genießt er sich. wesen unterfordere (Mill 1863/1976, 18). Wem »ganz
Mündet seine Verführungskunst schließlich in der kannibalisch wohl« ist »als wie fünfhundert Säuen«
Vereinigung mit dem von ihm manipulierten Mäd- (Goethe: Faust), dem fehlt aus ästhetischer Sicht der
chen, besteht sein eigentliches Glück wiederum im Sinn für das Schöne und Erotische. Genuss ist nicht
Selbstgenuss. Verführer und Verführte begegnen sich pure Sinnlichkeit, sondern künstlerische Formge-
zwar hinsichtlich des Erotischen auf gleicher Augen- bung und Gestaltung der sinnlichen Antriebe.
höhe, was bereits für die Qualität des Genusses (2) Die ästhetische Lebensform ist keineswegs aso-
spricht, weil beide gleichermaßen auf ihre Kosten zial. Obwohl der Selbstgenuss ihr Ziel ist, spielt das
kommen. Doch das geheime Wissen darum, dass das Wir für das Ich eine entscheidende Rolle. Um sich
Mädchen sein Geschöpf ist, das erotisch erschlossen möglichst ungehindert selbst genießen zu können,
zu haben sein Verdienst ist, erhöht für ihn die Quali- trägt das Ich unter Berücksichtigung der Tatsache,
tät des Genusses und macht sein Glück perfekt. Ein dass es als Individuum unter anderen Individuen
Glück, das auch im Nachhinein immer wieder abge- lebt, das Seine zu den Rahmenbedingungen bei, die
rufen werden kann, wenn Johannes den Verlauf der auch dem Wir einen Spielraum eröffnen für das Stre-
Verführung noch einmal Schritt für Schritt Revue ben nach Genuss. Kritik am Genussglück, das die äs-
passieren lässt und sich in der Erinnerung immer thetische Lebensform auf ihr Panier geschrieben hat,
wieder an der Kunstfertigkeit seiner Trickspiele er- kann demnach weder an der Vernachlässigung geis-
götzt, die ihn zum ersehnten Genuss geführt haben. tiger Herausforderungen festgemacht werden noch
Er fühlt sich wie Gott, der den Menschen nach sei- an mangelnder sozialer Kompetenz. Derartige Ein-
nem Ebenbild erschaffen hat. wände stellen sich erst nach einem Perspektiven-
wechsel ein, der es erlaubt, das Ästhetische moralisch
Das Genussglück aus ästhetischer zu bewerten.
Kierkegaard hat als Gegenspieler der Vertreter des
und ethischer Perspektive
ästhetischen Genussglücks die Figur des Gerichts-
Man kann den Selbstbespiegelungen dieses Verfüh- rats Wilhelm konzipiert, der als Ethiker dem sozial
rers eine gewisse Frivolität nicht absprechen. Aber verträglichen Glück den Vorrang vor dem selbstbe-
dass der Genuss als die von ihm favorisierte Spielart zogenen individuellen Glück zuerkennt. Man soll
des Glücks eine besondere Attraktivität besitzt, lässt das Glück der anderen nicht zur Steigerung des eige-
sich nicht bezweifeln. Diese Form des Selbstgenus- nen Wohlbefindens, sondern um des Wohlbefindens
ses, die ihre höchste Qualität durch Einbeziehung der anderen willen zu befördern suchen. Aus der
des Genusses anderer erlangt, wobei deren Genuss- ethischen Perspektive gibt es kein Sowohl/Als auch,
fähigkeit erst hergestellt werden muss, hat eine sondern nur ein striktes Entweder/Oder. Entspre-
glückserzeugende Kraft, die nicht nur im erotischen chend wird das Genussglück mit der Begründung
1. Glück zwischen Sinnlichkeit und Geist. Von der Lust zur geistigen Ekstase und zurück 27

verworfen, dass im Streben nach Genuss alles instru- Glück und Gegenglück
mentalisiert wird, auch die Mitmenschen würden
auf ihre Funktion als Genussmittel oder Genussver- Aus der Körperperspektive betrachtet überzeugt die
stärker reduziert, selbst wenn dies in gegenseitigem ästhetische Lebensform naturgemäß mehr als die
Einvernehmen geschieht. ethische, weil die sinnliche Komponente nicht ein-
Spielt man die Ethik gegen die Ästhetik aus, wird fach für irrelevant erklärt und das natürliche Streben
ein anderer Typus von Handlungen als glücksrele- nach Glück nicht wie in manchen Moralkonzeptio-
vant ausgezeichnet, nämlich jener, der unter morali- nen verteufelt wird, sondern der Genuss durch äs-
schen Kategorien als ›gut‹ gilt. Seit Platons Dialog thetische Zurichtung verfeinert und angereichert
Symposion wurden die Anti-Hedonisten nicht müde, wird. Nicht die Moral setzt dieser künstlerischen Ge-
den sinnlichen Genuss als untermenschlich zu gei- staltung Grenzen, sondern die individuelle Auslo-
ßeln und die wahre Erotik in den Kopf zu verlegen, tung der richtigen Mitte zwischen einem Zuviel und
dessen Denkbemühungen sie als die eigentliche einem Zuwenig an Genuss. Die Hedonisten, allen
Quelle des Glücks propagierten. Ein rein geistiges voran Epikur, haben deshalb das Maß ins Zentrum
Glück, das ohne jede sinnliche Komponente erlebt ihrer Glückslehre gerückt, was von ihren Gegnern
wird, hat Aristoteles ins Bild des sich in ewiger Selig- gern übersehen wurde. Ein Genuss, der leiden macht,
keit umkreisenden Gottes gefasst, der jenseits von sei es aufgrund seines Übermaßes, sei es aufgrund
Ästhetik und Ethik im Vollzug der theoria sich selbst seiner Dürftigkeit, ist dem Glück abträglich (vgl. Pie-
ununterbrochen als schlechthin vollkommenes We- per 2007, 42 ff.). Aufgrund der Verschiedenheit der
sen aktualisiert. Welch ein Kontrast zu jenem kurzen, Menschen und ihrer Lebensumstände verbietet sich
noch dazu in einer abstoßenden Umgebung genos- eine allgemeine Festlegung des Maßes, das jedes In-
senen Glück, das Bertolt Brecht seinen Glücksgott dividuum auf eigene Faust im Selbstexperiment er-
als Wollust besingen lässt. »Als die Braut ihr Bier ge- mitteln muss.
trunken / Gingen wir hinaus. Der Hof lag nächtlich. / Es bleibt jedoch zweifelhaft, wie die Moral, wenn
Hinterm Abtritt hat’s gestunken / Doch die Wollust der von ihr reklamierte unbedingte Vorrang vor al-
war beträchtlich« (Brecht 1967, 890). Ob Menschen len außermoralischen Anforderungen an menschli-
wirklich etwa durch Meditation oder intellektuelle ches Handeln bestritten wird, ihre Ansprüche auf
Selbstanschauung vollständig von ihrer Sinnlichkeit dem Feld der Ästhetik geltend machen kann, nach-
absehen können und dabei ein spiritualisiertes Glück dem ihre Angriffe auf die Sinnlichkeit ebenso ge-
erleben, ist eine Frage, die weder die Ästhetik noch scheitert sind wie der Versuch, das Genussglück un-
die Ethik beantworten kann. ter der Hand in ein unsinnliches, geistiges Glück um-
Die anti-hedonistische Diffamierung des Ästheti- zutaufen. Eine solche Irreführung vermag den
schen hat jedenfalls Kritiker auf den Plan gerufen, Körper nicht zu täuschen, denn ein von allen sinnli-
Friedrich Schiller etwa, der sich gegen Kants These chen Elementen gereinigtes Glück verdient diesen
verwahrte, dass die Pflicht grundsätzlich den Vor- Namen nicht mehr. Gottfried Benn hat deshalb in
rang vor der Neigung habe, weshalb eine Pflicht, die seinem Gedicht Einsamer nie (2006, 281) vom »Ge-
man gern erfüllt, die Handlung von vornherein mo- genglück« des Geistes gesprochen. Der Mensch ver-
ralisch abwerte. Schiller wollte die Moral der Ästhe- einsamt, wenn er nicht mehr fähig ist, das bunte
tik nicht über-, sondern untergeordnet wissen. Der Herbstlaub, »die Seen hell, die Himmel weich« als
Spieltrieb sollte jene Kreativität freisetzen, die den seiner »Gärten Lust« wahrzunehmen, weil er den
Einzelnen befähigt, ganz Mensch zu sein: sich als Geist zum Sieger über die Sinne erklärt hat. »Wo al-
ganzer Mensch zu entwickeln (Schiller 1795/1975, les sich durch Glück beweist / und tauscht den Blick
63). Der im Ganzen geglückte Mensch ist Lebens- und tauscht die Ringe / im Weingeruch, im Rausch
künstler, der es versteht, die sinnlichen Antriebe sei- der Dinge -: / dienst du dem Gegenglück, dem Geist.«
ner Natur mit den moralischen Ansprüchen seiner Das Glück hat seine Wurzel in der Kommunikation
Vernunft so in Einklang zu bringen, dass eine Art der Sinne mit den Dingen, in der Vermählung des
Wechselstrom entsteht, in dessen Spannungsfeld das körperlichen Sensoriums mit der Natur. Das Wort
Individuum sich immer wieder neu gestaltet. Für ›Glück‹ hat daher seine Berechtigung nur im Zusam-
Schiller ist die Alternative von Ästhetik und Ethik menhang mit diesem Vorgang der Vereinigung und
kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als auch. Verschmelzung von Sinnlichkeit und allem den Sin-
nen Zugänglichen im Genuss. Der Diener des Geis-
28 II. Systematik des Glücksdenkens

tes hingegen muss sich mit einem Gegenglück be- von Kopf, Herz und Bauch geteilten Willen zur Ge-
gnügen, das ihn einsam macht, weil es ihn von der rechtigkeit kooperativ erbracht wird. Da diese Leis-
Welt der Sinne isoliert. Getrennt von sich selbst als tung andererseits aber zugleich auch Resultat spezi-
Genusswesen, das sich die Welt mittels der Sinne ein- eller Tugenden ist, wird das organische Glück im
verleibt, erfindet er sich ein anderes, abstraktes Vollzug gelingenden Lebens nicht nur als gemein-
Glück, das er dem sinnlichen Glück entgegensetzt, same Erfahrung geteilt, sondern auch von Kopf, Herz
ein Anti-Glück, das jedoch allein den Geist entzückt. und Bauch verschieden als je eigene Form von
Wenn Glück und Gegenglück sich gegenseitig aus- Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung erlebt.
schließen, ist die Folge eine Spaltung des Menschen, Platon hat seiner Staatsutopie in der Politeia diese
der sich als Sinnenwesen zum Genuss und als Geist- Dreigliederung des Körpers zugrunde gelegt (Po-
wesen zu unsinnlichen Freuden hingezogen fühlt. liteia 438d ff.; s. Kap. III.1), indem er das Modell ei-
Um eine innere Zerrissenheit zu vermeiden, braucht nes Dreiständestaats entwickelt, dessen »Kopf« die
es ein Medium, das dem Geist das Glück schmack- Philosophenkönige sein sollen, die in langjähriger
haft macht und den Sinnen einen Eindruck davon wissenschaftlicher Ausbildung darauf vorbereitet
vermittelt, dass auch das Gegenglück Genussqualität werden, die Polis weise zu regieren. Das »Herz« be-
besitzt. Ob das Ästhetische im Sinne Schillers als ein steht aus den Soldaten, die mit Mut und Tapferkeit
solches Medium geeignet ist, lässt sich erst entschei- für den Schutz der Polis verantwortlich sind. Den
den, wenn geklärt ist, welche Glücksutopien aus dem »Bauch« schließlich bilden die Bauern und Hand-
Blickwinkel der verschiedenen Körperregionen ent- werker, die sich mit Augenmaß und Besonnenheit
worfen wurden und inwieweit sie miteinander ver- um die Versorgung der Bürger mit Nahrungsmitteln
träglich gemacht werden können. Dass dies prinzipi- und Gerätschaften zu kümmern haben. Indem jeder
ell möglich ist, ›beweist‹ in der Tat, wie Benn konsta- Stand auf bestmögliche Weise das Seine zum Funk-
tiert, die Alltagserfahrung, denn wer sich im Zustand tionieren des Staatskörpers beiträgt, ist er zugleich
des Glücks befindet, ist außerstande, es zu lokalisie- Produzent und Genießer des kollektiven Glücks.
ren. Glückserlebnisse gehen einem – wie die Liebe – Doch bei Platon lässt sich bereits ein Störfaktor aus-
durch und durch. Der Mensch ist als ganzer vom machen, der in späteren Glücksutopien noch deutli-
Glück durchdrungen, er spürt es von Kopf bis Fuß, cher das Scheitern einer idealen, im Ganzen geglück-
auch wenn sich dies je nach Mentalität unterschied- ten Staatsform vorprogrammiert. Obwohl in Platons
lich äußert: Die Skala der Glücksgefühle reicht vom Modell alle drei Stände gleich notwendig sind und
stillen Genießen bis zum ekstatischen Freudentau- das Prinzip der Gerechtigkeit jedes Mitglied der Po-
mel. lis als gleichwertigen Bürger deklariert, wird der
Wert des Einzelnen doch je nach Standeszugehörig-
Das Glück von Kopf, Herz und Bauch keit unterschiedlich beziffert. Dem »Kopf« wird
Gold, dem »Herz« Silber und dem »Bauch« Erz als
Betrachtet man die Körperregionen zunächst einmal Kennzeichen seiner Natur zugewiesen. Diese Hierar-
getrennt voneinander, kann man Kopf, Herz und chisierung hat zur Folge, dass das Militär einerseits,
Bauch eine je eigene Vorstellung vom Glück zuord- die Bauern und Handwerker andererseits als Men-
nen, die seit Platon mit bestimmten Tugenden ver- schen zweiter und dritter Klasse angesehen werden,
knüpft und damit von vornherein moralisch unter- was eine empfindliche Störung des Selbstwertgefühls
füttert ist. Das Glück des Kopfes ist die Weisheit, das und eine entsprechende Glückseinbuße nach sich
Glück des Herzens die Tapferkeit, das Glück des Bau- ziehen dürfte.
ches die Besonnenheit. Die vierte Kardinaltugend,
die Gerechtigkeit, wird allen drei Körperzonen als Das Unglück der Einseitigkeit
gleichsam organsoziale Pflicht auferlegt, insofern sie
jeden Körperteil daran erinnert, dass er im Verbund Wenn man die Spielarten des Glücks voneinander
mit den anderen das Seine zum Gelingen des ganzen trennt, hat dies verheerende Folgen für den Einzel-
Organismus beitragen muss, er also nur unter stän- nen und die Gemeinschaft, wie Jonathan Swift dies in
diger Rücksicht auf die jeweils anderen Glücksbe- seinem Roman Gullivers Reisen prototypisch aufzeigt.
strebungen nach Weisheit, Tapferkeit oder Beson- Er beschreibt darin eindimensionale Lebensformen,
nenheit streben darf. Das Glück ist demzufolge ei- die aus der Bevorzugung einer bestimmten Körper-
nerseits eine Gemeinschaftsleistung, die durch den zone als Glücksquelle hervorgehen. In Lilliput, dem
1. Glück zwischen Sinnlichkeit und Geist. Von der Lust zur geistigen Ekstase und zurück 29

Zwergenland, hat der Bauch das Sagen. Die Lilliputa- der einen oder anderen Lebensform aufgezeigt. Die
ner haben ein kindliches Gemüt, erfreuen sich an ein- Festlegung des Glücks auf eine bestimmte – genuss-
fältigen Vergnügungen und unterwerfen sich kritik- süchtige, sentimentale oder intellektuelle – Qualität
los den unsinnigsten Sitten und Gebräuchen. Die mündet in den Terrorismus. Der ›Terror des Kopfes‹
Förderung von Geistesgaben lehnen sie ab, weil diese manifestiert sich in der Maxime des Fanatikers, der
für das Allgemeinwohl schädlich seien, insofern sie es in einer ungerechten Welt nicht aushält und nur
die Ungleichheit unter den Menschen vergrößern. glücklich ist, wenn er sich die Ausrottung einer kor-
Der Durchschnitt gilt als das Maß aller Dinge und als rupten Menschheit ausmalt: fiat iustitia, pereat mun-
Garant für den sozialen Frieden. In Brobdingnag, dem dus. Bei Swift deutet sich diese Folge des verabsolu-
Reich der Riesen, regiert das Herz. Sie sind ein gut- tierten Verstandes- und Vernunftglücks in den men-
mütiges Volk, dessen Mitglieder zwar tollpatschig schenverachtenden Praktiken an, mit welchen die
und grobschlächtig miteinander verkehren, sich da- Laputier das Leben derer vernichten, die sich ihnen
bei aber im Unterschied zu den Lilliputanern mehr nicht unterwerfen, und die Houynhnhnms die ver-
vom common sense als von einer primitiven Sinnlich- wahrlosten Yahoos behandeln, die sie wegen ihres
keit leiten lassen. Gleichwohl legen auch die Riesen unerträglichen Gestanks zu vernichten gedenken.
keinen Wert auf Bildung und Wissenschaft und su- Der ›Terror des Herzens‹ schaltet im Überschwang
chen ihr Glück in einer einfachen Menschlichkeit, die der Gefühlsduselei jeden mäßigenden Einfluss des
sich der Goldenen Regel verschrieben hat, nieman- Kopfes aus und vernachlässigt die Ansprüche des
dem absichtlich Leid zuzufügen. Bauches. Die ungeschlachten Riesen von Brobding-
Die Herrschaft des Kopfes hat Swift am Beispiel nag haben kein Gespür für das Kleine, Zarte, Zer-
zweier Länder geschildert, in denen einerseits der brechliche. Die schiere Größe beglückt sie und macht
Verstand, andererseits die Vernunft das Glück be- sie unempfindlich gegen all das, was ihren zermal-
stimmt. Laputa, die fliegende Insel, ist die Heimat menden Füßen und klobigen Händen zum Opfer
der Wissenschaftler, die ihr ganzes Glück in Mathe- fällt. Der ›Terror des Bauches‹ hingegen zerlegt alles
matik, Musik und Astronomie finden. Sie gehen in Große in Genussquanten, was die Verkleinerung und
ihrer Forschung so auf, dass »Aufwecker« sie zur »Verzwergung« (Nietzsche) des Menschlichen nach
Kommunikation und Interaktion zwingen müssen. sich zieht. Die Unersättlichkeit der Begierden zwingt
Die Theorielastigkeit der Laputier hat dazu geführt, zu immer absurderen Bemühungen um Glücksquel-
dass sie zu praktischen Verrichtungen nicht mehr fä- len, und wer nicht mithält, wird gnadenlos ausge-
hig sind, die Häuser schief stehen und die Ackerbö- merzt.
den verwahrlosen. Deshalb benötigen sie alles zu ih-
rem Lebensunterhalt Notwendige von den unter ih- Ganzheitliches Glück
nen auf der Erde lebenden Festlandbewohnern, die
sie bei Ungehorsam mit ihrer fliegenden Insel durch Kopf, Herz und Bauch können demnach weder ge-
andauernden Schattenwurf der Sonne und des Re- trennt voneinander noch unter Ausschluss der je-
gens berauben. Im Land der Houyhnhnms schließ- weils anderen Körperregionen glücklich sein, son-
lich hat sich die reine Vernunft in den Köpfen der dern nur im Verbund miteinander. Rein geistigen
edlen Pferde materialisiert, die sämtliche Gefühle in Freuden geht echte Genussqualität ebenso ab wie
sich abgetötet haben und auf der Basis von Anstand, puren emotionalen Wonnen und dem Rausch der
Höflichkeit und gegenseitigem Wohlwollen mitein- Sinne. Denn die jeweilige Spielart des Glücks ist er-
ander verkehren. Durch und durch tugendhaft sehen kauft mit dem Unglück der zu kurz gekommenen
sie ihr Glück in einem von Begierden freien Leben, oder unterdrückten Körperteile. Niemand hat dies
dessen Wert einzig durch die Yahoos beeinträchtigt anschaulicher dargelegt als Nietzsche. »Wir sind
ist, stinkende, verkommene Exemplare der alten keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Re-
Menschheit, die ihr Glück im gierigen Verschlingen gistrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden«,
alles Essbaren und in zügelloser Sexualität suchen. hält er den Asketen entgegen (Nietzsche KSA 3, 349;
In den von Swift beschriebenen Lebensformen s. Kap. V.7). Ohne einen »fröhlichen Unterleib« (KSA
werden einerseits die zwischen primitiver Fleisches- 6, 303) nistet sich das Ressentiment im Herzen ein
lust und abgeklärter Geisteseuphorie angesiedelten und vergiftet den Kopf mit Rachegedanken. Der An-
Glücksvorstellungen anschaulich dargestellt und an- stoß zur Reinigung vom Gift des Neides muss vom
dererseits die Konsequenzen einer Verabsolutierung Kopf ausgehen, der den ganzen Körper befreien will.
30 II. Systematik des Glücksdenkens

»Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie bel- den Berggipfel sind seine Körperkräfte in vollem
len vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle Ge- Einsatz, inspiriert durch den Entschluss, das Steine-
fängnisse zu lösen trachtet« (KSA 4, 53). Wenn dem wälzen als selbst gewählte Aufgabe zu betreiben.
Geist die Loslösung von der Körperfeindlichkeit der Während des Abstiegs, der »Stunde des Bewusst-
asketischen Ideologie gelingt, wächst er sich von der seins« (Camus 1942/2000, 157), denkt Sisyphos über
kleinen zur »großen Vernunft« aus, die Nietzsche als sich nach. Er hat die Götter aus seinem Weltbild ver-
Leib bezeichnet (39). Die verleiblichte Vernunft hat bannt und mit ihnen die Vorstellung eines Sünden-
ihren Sitz nicht mehr nur im Kopf, sondern im ge- falls als eines selbst verschuldeten Unglücks elimi-
samten Organismus, dessen Selbstregulierungspro- niert. So sieht er sich nicht mehr im Strafvollzug der
zesse den Leib als ein geglücktes Ganzes konstituie- Götter, sondern als Herr über sein Schicksal. »Darin
ren. Dieses Ganze ist jedoch nicht Produkt eines besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein
Harmoniestrebens, vielmehr rivalisieren Kopf, Herz Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache« (159).
und Bauch miteinander und steigern ihre Kräfte im Das Glück des Sisyphos besteht darin, dass er auto-
Wettbewerb mit ihren Kontrahenten. Die große Ver- nom geworden ist, sich unabhängig gemacht hat von
nunft stachelt diesen Wettbewerb mit unterschiedli- Fremdbestimmungen aller Art. Dieser Entschluss
chen Anreizen an und sorgt zugleich durch Mäßi- öffnet seine Sinne und sein Herz, die angesichts der
gungsmaßnahmen dafür, dass keine unzulässigen im göttlichen Strafkonzept vorgesehenen sinnlosen
Übergriffe auf die Kompetenzbereiche der Rivalen Schufterei nur Einöde wahrnahmen und Trauer
erfolgen oder sie sich gegenseitig schwächen. Denn empfanden. Der selbstbestimmte Sisyphos hingegen
so kritikwürdig für Nietzsche der Asket als Unter- entdeckt wieder die Schönheit des Universums. Seine
drücker von Emotionen und Affekten ist, so verächt- Sinne nehmen Kontakt mit der Natur auf, und sein
lich ist für ihn der Typus des letzten Menschen, der Herz wendet sich dem Stein wie einem Bruder zu,
zu nichts mehr Lust hat und jegliche Anstrengung mit dem er sich gegen das Schicksal verbündet. »Wir
vermeidet. »›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Men-
die letzten Menschen und blinzeln« (19). Dieses laue schen vorstellen« (160).
Glück, das sich in einem »Lüstchen für den Tag« und
einem »Lüstchen für die Nacht« erschöpft (20), stellt Die Einbildungskraft als Glücks-
sich als Folge einer Erschlaffung ein, die ihrerseits
komponistin
das Resultat eines entgleisten Stoffwechsels zwischen
Kopf, Herz und Bauch ist. Der Gesichtssinn nimmt Das Glück, so hat sich gezeigt, ist nur vollkommen,
nur noch das Naheliegende wahr, denn er leidet un- wenn Kopf, Herz und Bauch intellektuell, emotional
ter Myopie, der Blinzelkrankheit. Entsprechend ha- und affektiv mit im Spiel sind. Die Moral scheidet
ben sich auch der Intellekt und die Eingeweide ans dabei als Drahtzieher aus, da sie verallgemeinert,
›Blinzeln‹ gewöhnt, der gesamte Organismus wird evaluiert und hierarchisiert. Das Glück hingegen ist
kurzsichtig und gibt sich in träger, behäbiger Selbst- individuell, und alle seine Spielarten sind gleichbe-
bezogenheit mit einem Glück zufrieden, das ohne rechtigt und gleichwertig, auch wenn der Schwer-
Anstrengung und ohne Risiko erhältlich ist. Dieses punkt je nach Lust und Laune und den als Glücksgü-
um die Dimension der Weitsicht und Fernziele ver- ter erstrebten ›Dingen‹ mal mehr auf einem munte-
kürzte Glück lässt die Menschen stagnieren, anstatt ren Kopf, mal mehr auf einem heiteren Herzen oder
sie dazu anzustacheln, mit sich zu experimentieren, einem fröhlichen Unterleib liegen mag. Entschei-
sich immer wieder neu zu entwerfen und in einem dend ist dabei der Umstand, dass sämtliche Glücks-
fortgesetzten Prozess der Selbstüberwindung ein bestrebungen mit im Spiel bleiben und auf ihre Weise
Glück zu erfahren, das aus dem gelingenden Leben zum Genuss beitragen, in den sie sich teilen. Der
erwächst. Die erbrachten Leistungen bestätigen ein Mensch ist nur da ganz glücklich, wo er spielt. Spie-
Können: Wer ständig über sich hinaus strebt, wird len heißt: sich selbst zu einem schönen Ganzen for-
seiner selbst immer mächtiger. men und in dieser ästhetischen Selbstgestaltung die
Diese Erfahrung muss auch Sisyphos gemacht ha- Rolle des Komponisten der Einbildungskraft als je-
ben, von dem Albert Camus sagt, er sei ein glückli- nem Vernunftvermögen zu überlassen, das geistige
cher Mann. Trotz der vergeblichen Plackerei mit dem und sinnliche Versatzstücke zwanglos miteinander
Felsbrocken kommt bei Sisyphos kein Teil seiner vereint. Das spielerisch durch die Einbildungskraft
selbst zu kurz. Beim Hinaufwuchten des Steins auf erzeugte Glück versetzt das Gemüt in Schwingung
1. Glück zwischen Sinnlichkeit und Geist. Von der Lust zur geistigen Ekstase und zurück 31

und besänftigt die moralische Vernunft, während es Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studi-
zugleich die Gefühle elektrisiert. Aus der Perspektive enausgabe [KSA]. 15 Bde. München 1980.
der Moral betrachtet befindet sich der glückliche Pieper, Annemarie: Glückssache. Die Kunst, gut zu le-
Mensch in einem Zustand interesselosen, zweck- ben. München 42007.
freien Wohlgefallens (Kant 1983, V, 288, 319), unter Platon: Politeia. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt
emotionalem und affektivem Gesichtspunkt genießt a. M./Leipzig 1991, Bd. V, 9–787.
er sein Dasein »zitternd vor bunter Seligkeit« (Nietz- Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des
sche, KSA 6, 291). Menschen [1795]. Stuttgart 1975.
Swift, Jonathan: Gullivers Reisen [1726]. Frankfurt a. M.
Die Einbildungskraft, die bei Kant ݊sthetische
1974.
Vernunft‹, bei Schiller ›Spieltrieb‹, bei Nietzsche
Annemarie Pieper
›große Vernunft des Leibes‹ heißt, kann an keiner
Körperregion festgemacht werden, muss aber gleich-
sam alle sämtliche Körpersprachen beherrschen, um
die rationalen, emotionalen und affektiven Glücks-
ansprüche als solche registrieren und aufeinander
abstimmen zu können. Es ist ihre Aufgabe, ein für
Kopf, Herz und Bauch verträgliches Glückskonzept
zu entwickeln und für dieses bei jedem ›Organ‹ in
seiner Sprache zu werben. Trotzdem ist die Einbil-
dungskraft kein eigenständiges Strebevermögen, das
den Betätigungen von Kopf, Herz und Bauch über-
geordnet wäre. Vielmehr erweist sie sich, mit Kier-
kegaards Worten, in dem Dreierverbund als dasje-
nige »an dem Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu
sich selbst verhält« (Kierkegaard 1849/1957, 8). Die
Einbildungskraft ist das ›Zwischen‹ der Beziehung
einer sich zur Leiblichkeit entfaltenden Körperlich-
keit und Geistigkeit. Dieses ›Zwischen‹ als reflexives,
emotionales und affektives Sichverhalten ineins er-
zeugt Glück: Glück als Begleitmoment eines mo-
mentweise oder auch dauerhaft erfüllten Begehrens
und erfolgreichen Strebens.

Literatur
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. München 1972.
Benn, Gottfried: Gedichte in der Fassung der Erstdru-
cke. Frankfurt a. M. 2006.
Brecht, Bertolt: Drittes Lied des Glücksgotts. In: Ders.:
Gesammelte Werke, Bd. 10. Frankfurt a. M. 1967, 890.
Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos [1942]. Rein-
bek 2000.
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur [1930].
In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Frankfurt a. M.
5
1976, 419–506.
Kant, Immanuel: Werke in 6 Bänden (Hg. Wilhelm
Weischedel). Darmstadt 1983.
Kierkegaard, Søren: Entweder/Oder. 1. Teil [1843]. Düs-
seldorf 1964.
–: Die Krankheit zum Tode [1849]. Düsseldorf 1957.
Mill, John Stuart: Der Utilitarismus [1863]. Stuttgart
1976.
32 II. Systematik des Glücksdenkens

2. Glück in Arbeit und Muße. Komplexität des Phänomens verfehlen würde. Um


hier nicht vorschnell zu ›versöhnen‹, gilt es daher zu
Das Spektrum der differenzieren. In der Folge wird zuerst die klassische
Tätigkeiten vom Denken Konstellation nachgezeichnet, in der drei verschie-
dene Tätigkeitsformen unterschieden werden, die
zum Feiern durch Muße im weiteren Sinne (als Freiheit von Ar-
beit) möglich werden: als Erholung in Genuss und
Spiel, als interaktive – meist politische – Tätigkeit
Das menschliche Leben ist zeitlich erstreckt. Das und als Kontemplation bzw. Bildung. Danach wird
fängt im Alltäglichen an: Ein gewöhnlicher Tag teilt die moderne Konstellation betrachtet, in der die öko-
sich in aller Regel in Phasen des Schlafs, der Tätigkeit nomische Arbeit eine beherrschende Stellung er-
für den Lebenserwerb oder vergleichbarer Pflichten langte. Da sich dadurch das ganze Koordinatensys-
und der freien Zeit. Unerlässlich für ein glückendes tem verschoben hat, steht – wie sich zeigen wird
Leben ist es, eine Balance zwischen diesen Elemen- – eine Rückbesinnung auf Glück aus anderen Tätig-
ten zu erzielen (Negt 2001, 153; vgl. Frambach 1999, keitsformen in kritischer Spannung zur Konstella-
261). Andernfalls wäre die innere Ausgeglichenheit – tion der Moderne. Abschließend wird eigens das
schlimmstenfalls die Gesundheit – gefährdet. Das ist Glück des Festes betrachtet, da hier verschiedene
das Einfachste, was darüber zu sagen ist; und obwohl Weisen der Muße zusammenwirken.
es so einfach ist, verweisen die zunehmenden ›burn-
outs‹ unserer Zeit bei gleichzeitig hohen Arbeitslo- Der antike Denkrahmen
senzahlen darauf hin, dass diese Harmonie keines-
wegs die Regel ist (Rau u. a. 2010). Doch jede Phase Denkt der moderne Zeitgenosse bei »Tätigkeit und
hat auch ihre eigenen Formen von Glück und Muße« zuerst an »Arbeit und Freizeit« (Habermas
Unglück: Das geschäftige Tagwerk kann sowohl als 1958/1970), so ist das nicht falsch, aber nur eine der
Mühsal und Plage wie als Beglückung erfahren wer- historischen Varianten des Themas. Entlohnte Ar-
den, freie Zeit kann verschieden genutzt werden und beit macht heute einen Großteil der Tätigkeiten aus
ebenfalls beglückenden wie belastenden Charakter und prägt auch Phasen der Nichtarbeit, sofern sie
haben, und der Schlaf ermöglicht die projektive der Vorbereitung auf sie (Ausbildung), der Erholung
Phantasie des Wunsch- wie des Alptraums. Als freies von ihr (Urlaub und Rente) oder der Verarbeitung
Spiel der Kräfte (etwa der ›produktiven Einbildungs- ihres Fehlens gilt (Arbeitslosigkeit). Doch das war
kraft‹) ist selbst er streng genommen nicht als Untä- nicht immer so. Forschungen der ökonomischen
tigkeit zu deuten – so spricht man ja von der ›Verar- Anthropologie zufolge verwendeten unsere ältesten
beitung‹ von Konflikten im Traum (s. Kap. VI.6). Vorfahren nur wenig Zeit – keine zwanzig Wochen-
Nun leben Menschen immer schon in sozialen Si- stunden – auf die nötige Versorgung (Sahlins 1972,
tuationen – alles was sie tun, tun sie in einer be- 15 ff.). Die restliche Zeit war der Entspannung und
stimmten sozialen Lage, und das beeinflusst die In- dem gemeinsamen Lebensvollzug gewidmet. Dieser
terpretation ihres Tuns. Das führt für die Sozialphi- Selbstgenuss, der ja schon bei Tieren vorkommt (s.
losophie zu zwei Problemen: Diese Lage mitsamt Kap. VIII.1), hat seit je Phantasien von den »glückli-
ihrer Weltdeutung kann mit anderen politischen chen Wilden« angeregt (Kohl 2008). Auch die Glücks-
Lagern und Weltdeutungen im Konflikt stehen, so philosophie der Antike wurde in einem historischen
dass es zu widersprüchlichen Deutungen des Tuns Kontext artikuliert, in dem ›Arbeit‹ (gr. ponos) im
kommt. Und zweitens gibt es einen historischen Sinne der Produktion des zum Leben Nötigen nicht
Wandel der sozialen Lage und der kulturellen Deu- im Fokus philosophischen Nachdenkens stand.
tungsmuster. Auch dies führt zu unverträglichen Diese wurde von Menschen ohne Bürgerstatus er-
Ansichten über Handlungsweisen. Deutungen des bracht (Frauen, Sklaven und Handwerkern), die
Glücks in Tätigkeit und Muße sind also nicht im durch Arbeit gar nicht ihr ›Glück‹ machen konnten –
anthropologischen oder handlungstheoretischen und darum lange aus der philosophischen Betrach-
Rundumschlag zu haben, da jede ›reine‹ Handlungs- tung herausfielen. Denn gerade die fehlende Muße
theorie, die von den konkreten Situationen abzuse- (allgemein als Nicht-Arbeiten-Müssen verstanden)
hen trachtet und suggeriert, die Widersprüche zu war der Grund, ihnen den Bürgerstatus und damit
glätten, eine Sicht gegen andere stellt und damit die den Zugang zum politisch verstandenen Glück zu
2. Glück in Arbeit und Muße. Das Spektrum der Tätigkeiten vom Denken zum Feiern 33

verweigern (Aristoteles: Politik [Pol.] 1319a 1, 1328b (NE 1077a 18; heute würden wir von ›Grundlagen-
34). Dieser Umstand hatte seine Konsequenzen: forschung‹ sprechen). Im christlichen Kontext er-
Produktive Arbeit wurde in der Folge meist nega- streckte sie sich auch auf geistliche Inhalte bis hin
tiv gedeutet, als Last, Mühsal oder gar als Fluch (Gen zur Mystik (Vickers 1991; Claussen 2005, 162 ff.).
3, 17 f.; Conze 1972; Aßländer 2005, 27 ff.). Eine Rati- Darunter zu fassen ist schließlich auch die Selbstbe-
onalisierung dessen war Aristoteles’ Unterscheidung trachtung und Besinnung. Ernsthaftes Nachdenken
zwischen selbstzweckhaftem Tun (gr. praxis) und verschafft jedenfalls eine eigene Art von Glück (Pie-
dem Hervorbringen (poiesis), das seinen Zweck, das per 1957/1999; s. Kap. II.1 und VI.7) und gehört da-
Produkt, außer sich habe und darum weniger wert her zu einem guten Leben hinzu. Diese Tätigkeit ei-
sei (Aristoteles: Nikomachische Ethik [NE] 1094a genen Rechts muss nicht über den Umweg ökono-
1 ff.) – selbst dann, wenn sie nicht von Sklaven, son- mischen Nutzens legitimiert werden.
dern von Handwerkern (»Banausen«) oder Künst- Zusammenfassend gesagt: Unterschieden wird zu-
lern vollbracht wird. ›Tätigkeit‹ meinte daher, soweit nächst zwischen unfreier Arbeit und den eigentlich
sie als Quelle des Glücks in Betracht kam, andere Tä- glücksrelevanten Tätigkeiten, die sämtlich Muße im
tigkeiten. Welche Art von Glück wird diesen nicht- Sinne der Freiheit von Arbeitszwängen voraussetzen.
arbeitsförmigen Tätigkeiten zugeschrieben? Innerhalb dieser Tätigkeiten gibt es drei Formen:
Aristoteles versteht Glück als den Vollzug eines Erstens die Erholung in Spiel und Genuss, worunter
gelingenden Lebens im Ganzen (gr. eudaimonia; s. auch der Kunstgenuss fällt. Dies ist, streng genom-
Kap. III.2). Dazu sind verschiedene Elemente wich- men, keine Untätigkeit wie etwa der moderne Fern-
tig: zunächst grundlegende ›Glücksgüter‹ wie Ge- sehkonsum, denn diese Genüsse sind mit geselligen
sundheit, gute Freunde und ein mittlerer Wohlstand. Tätigkeiten (Rede, Spiel etc.) verbunden und setzen
Dies ist also keine ›asketische‹ Konzeption, denn der Bildung voraus. Zweitens gibt es die praktisch-politi-
Genuss (nicht nur von gutem Essen und Trinken, sche Betätigung und drittens die theoretische Be-
sondern auch von schöner Kunst und freundschaft- trachtung und Bildung (das Fest, das unten eigens
lichen Gesprächen) gehört hinzu. Nur gibt es noch behandelt wird, enthält Elemente aller drei Formen
andere, wertvollere Praxen als diese, etwa die Tätig- und steht daher quer zu dieser Unterscheidung).
keit für das Gemeinwohl. Diese ist gleich doppelt auf Nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als schlös-
Glück bezogen: zum einen instrumentell, da sie zum sen sich die ›höheren‹ Tätigkeiten (Politik und Kon-
Blühen der Gemeinschaft beiträgt (zur autarkeia Pol. templation) gegenseitig aus, so dass es dann um die
1252b 27), zum anderen, weil das individuelle Glück Frage ginge, welche die ›beste‹ Form sei. Im Grunde
der Tugend (arete) bedarf. Da diese eine »Tätigkeit sind sie aufeinander verwiesen. Zwar nennt Aristote-
der Seele« ist, sind tugendhafte Tätigkeiten wie die les die theoria als höchste Form, weil sie »um ihrer
politische auch intrinsisch glücksfördernd (»Denn selbst willen geliebt« wird (NE 1177b 1). Sie sei dem
die Glückseligkeit ist Tätigkeit«; Pol. 1325a 33). Diese Glück am nächsten (Pol. 1334a 14) und trage »Lust,
Hochschätzung der politischen Tätigkeit für das wahres Glück und seliges Leben in sich selbst« (Pol.
Glück sowohl der Individuen wie der Gemeinschaf- 1338a 2). Doch ist der Mensch für Aristoteles kein
ten hatte einen starken Einfluss auf die republikani- reines Denken, sondern ein Wesen mit vielen Ab-
sche Tradition (Arendt 1958/1967, § 27; Pocock hängigkeiten (NE 1096a 35; 1102a 15 und öfter). Die
1975; s. Kap. II.9). Neuere Untersuchungen über Ef- Kontemplation steht daher in einer fruchtbaren
fekte der Basisdemokratie auf das Wohlbefinden der Wechselbeziehung mit der praktisch-politischen Tä-
Bürger wollen sogar empirische Bestätigungen für tigkeit: Einerseits hat die theoria den Effekt, autono-
diese Verbindung finden (Frey/Stutzer 2000, 133 ff.). miefähige Menschen zu ›bilden‹, ohne welche eine
Ein politisches Engagement ist allerdings von politische Selbstgesetzgebung undenkbar bliebe – sie
günstigen Rahmenbedingungen abhängig. Unter an- ist also funktional für die Politik. Für das glücksrele-
deren historischen Bedingungen haben etwa Epikur vante Setzen von Handlungszwecken ist es erforder-
oder Seneca (De otio) den Rückzug vom politischen lich, über die eigenen Zwecke und ihre Verortung in
Leben in den Vordergrund gestellt. Prinzipiell kann der Welt zu reflektieren. Noch John Locke wollte aus
ja auch die vita contemplativa ein langfristiges Glück diesem Grund arbeitende Menschen aus der Politik
verschaffen, vielleicht sogar ein höheres. Diese kon- fernhalten (»For the Labourer’s share, being seldom
templative Lebensform reichte bei Aristoteles von more than a bare subsistence, never allows that body
der Philosophie bis zur Betrachtung des Kosmos of men time or opportunity to raise their thoughts
34 II. Systematik des Glücksdenkens

above that«, Locke 1691/1823, 71; vgl. Peters 1997). im hohen Maße selbstzweckhaft. Die Kontemplation
Andererseits ist ein glückssensibles politisches Han- steht bei Aristoteles noch höher, weil sie gar keine
deln an einer Förderung der theoria interessiert: Es äußerlichen Zwecke mehr hat, sondern nur noch
ist eine politische Aufgabe, die Menschen zur Fähig- sich selbst bezweckt. Doch ist sie nicht nur dadurch
keit zu erziehen, »edle Muße zu pflegen« (Pol. 1334a glücksrelevant; es ist gerade die Erkenntnis eines
10). Das Glück der Theorie braucht die Praxis und Zwecks jenseits der eigenen Zwecksetzungskompe-
das Glück der Praxis braucht die Theorie. tenz (etwa der Harmonie des Universums, oder spä-
Wie ließe sich diese antike Denkweise systemati- ter der Leiden Christi), die an der Kontemplation be-
sieren? Eine ›Tätigkeit‹ sei verstanden als körperli- glückt (das kommt dem ästhetischen Glück der Be-
che Aktivität mit dem Ziel einer Veränderung, das ist trachtung von Schönheit nahe, welche Kant später
schon im Sandkasten beim Bauen von Sandburgen als zweckfreie Zweckmäßigkeit bestimmte; s. Kap.
so. Menschengemachte Veränderungen haben einen II.4).
Zweck, daher lassen sich Tätigkeiten am besten in
ihrem Bezug zum Zweckbegriff unterscheiden. Für Die Konstellation der Moderne
Aristoteles ist eine Tätigkeit dem Glück umso för-
derlicher, je mehr die Tätigkeit den Zweck in sich In der Moderne hat sich die Bewertung bedeutend
selbst hat (NE 1098a 16) – moderner gesprochen: je verschoben. Das Arbeiten wurde als Glücksquelle sui
mehr der Tätige den Zweck selbst setzt (oder sich zu- generis entdeckt (vgl. Carlyle 1843, III.11: »Glücklich
mindest mit ihm zu identifizieren vermag) und der, der seinen Beruf erkannt hat, er verlange nach
durch das Tun auch erreicht. So wird die Hierarchie keinem anderen Glück. Er hat seine Arbeit und Le-
der Tätigkeiten leicht verständlich: Die Genussfixie- bensaufgabe und wird ihnen obliegen«; vgl. Lange
rung des ›Geldmenschen‹ ist dem Glück nicht för- 1996; Engler 2005, 55 f.). Verschiedene Verlagerun-
derlich, weil sie ihren Zweck niemals erreicht – er ist gen des Glückshorizontes in den Jahrhunderten zwi-
prinzipiell unerfüllbar, da sich monetärer Gewinn schen Antike und Moderne haben zu einer solchen
immer weiter steigern lässt (NE 1096a 7; vgl. Grone- Verschiebung geführt: eine nach unten in die Nütz-
meyer 2007; s. Kap. VIII.7). Hervorbringende Tätig- lichkeit, eine nach oben in die Glückseligkeit und
keiten (poiesis), die die Form eines Stoffes verändern eine hin zum Ideal der Formbarkeit des Subjekts und
(das klassische Beispiel ist die Bildhauerei), haben seiner Welt.
ihren Zweck laut Aristoteles außer sich und machen Erstens wollte die Neuzeit angesichts des Pluralis-
daher ebenfalls nicht oder nur indirekt (über den äu- mus der Weltanschauungen im Interesse der Tole-
ßeren Zweck) glücklich. Modern reformuliert: ›Pro- ranz keine allgemeinverbindlichen Aussagen über
duktive‹ Tätigkeit kann nur Glück bringen, wenn der das Glück mehr machen. Der holistische Eudaimo-
Tätige selbst ›kreativ‹ ist, also über Zwecke und Mit- nismus »zerfaserte«, Konzeptionen des Guten wur-
tel des Hervorbringens bestimmt. Über diesen Um- den schon bei Locke der Privatsphäre überantwortet
weg kann auch produktive Arbeit selbstzweckhaft (McMahon 2006, 186 f.). Die neuen Exaktheitsideale
sein – das mag bei modernen Künstlern oder selb- und die Ausdifferenzierung der Wissenschaften er-
ständigen Ingenieuren so sein, es war aber bei Skla- schwerten Aussagen über derart Ungreifbares wie
ven gerade nicht so. (Freude an produktiver Tätig- die ›Person‹ und das ›ganze Leben‹ zusätzlich (ein
keit im instrumentellen Sinne, etwa an den Gütern, Fluchtbereich für Konzeptionen des ›ganzen Men-
steht in dieser Konstellation nicht im Vordergrund, schen‹ wurde u. a. bei Schiller die Ästhetik; s. Kap.
das ändert sich erst in der Neuzeit.) II.4). Als Jeremy Bentham das Glück zur Grundlage
Praktische Tätigkeiten hingegen haben ihren seines Utilitarismus machte (s. Kap. V.1), konnte er
Zweck in sich selbst. Schon beim scheinbar zweck- nur noch auf dessen Atome zurückgreifen, nämlich
freien Spaziergang ist das so: Man erfährt dabei eine momentane Gefühle von Lust und Schmerz. Im Ef-
Erholung (die Konstitution verändert sich) und da- fekt dieser Entteleologisierung schwenkte der Blick
mit die Erfüllung eines selbstgesetzten Zwecks. weg von den Zielen, hin zum Prozess (oder mit Ernst
Umso mehr ist das bei offen zweckhaften Tätigkei- Cassirer 1910: von der Substanz zur Funktion). Die-
ten der Fall: Veränderung zum Guten ist der Zweck ses neue Denken konnte nun der Tätigkeit selbst, ob
der politischen Aktivität. Da sie auf das Glück des die Ziele in oder außer ihr liegen, einen positiven
Einzelnen und der Gemeinschaft zielt (NE 1094b 7), psychologischen Effekt zuschreiben (»work is rewar-
die aber durch diese Tätigkeiten erst entstehen, ist sie ding in itself«, Lane 1992, 43).
2. Glück in Arbeit und Muße. Das Spektrum der Tätigkeiten vom Denken zum Feiern 35

Zweitens hat die religiöse Aufladung des Glücks- das Finden (z. B. neuer Erdteile oder neuer Elemente)
denkens im Christentum gegenläufig dazu geführt, und Erfinden (z. B. neuer Produkte und Produkti-
dass ein gelingendes Leben als bloß vorläufig einge- onstechniken) höher bewertet. Diese wirkmächtige
schätzt und für die höhere Glückseligkeit ›verpfän- Vorstellung, Glück in einer Umgestaltung der Welt
det‹ werden konnte. Es mochte aus dieser Sicht – ob- durch Technik und rationale Planung zu erlangen,
zwar nicht zwingend – rational scheinen, das ir- war so neuartig, dass man mit Recht von einer ›Neu-
dische Glück zugunsten der ›ewigen Seligkeit‹ zeit‹ spricht. Die ihr eigene Betonung des techni-
(Augustinus) hintanzustellen. Diese ließ sich im Pro- schen Fortschritts findet sich deutlich etwa bei Fran-
testantismus allerdings durch Werke gerade nicht er- cis Bacon (1561–1626; vgl. Präuer 1997, 265 ff.;
langen. Wo das Heil derart unsicher geworden war, Frambach 1999, 75 ff.; s. Kap. II.11 und VIII.2) und
versuchte man sich dessen – Max Webers Analyse zieht sich von hier bis zu Autoren wie Thorstein
zufolge – mittels der Arbeit zu vergewissern (s. Kap. Veblen (1857–1929; vgl. Frambach 1999, 202 ff.) und
VI.1): Gelingende Werke wurden lediglich als Anzei- Henry Ford (1863–1947), ja selbst noch in den Sozi-
chen für eine (bereits erfolgte) Gnadenwahl gedeu- alismus hinein.
tet, aber das genügte, um der Arbeit eine neuartige Ein Hervorbringen kann also glücksrelevant sein,
Wertigkeit zu geben. Berufsarbeit war in diesem wenn das Subjekt selbst über Zwecke und Mittel der
Rahmen nicht unmittelbar selbst Glück, ein solches Veränderung bestimmt (zur Freude an den Resulta-
wurde nicht einmal angestrebt (im Irdischen ten des Handelns s. Kap. VIII.7 und VIII.9). In der
herrschte eher ein Geist der Askese). Doch da Arbeit modernen Realität kann dieses neue Ideal eines
auf diese Weise einmal in den Lebensmittelpunkt ge- Glücks durch selbstbestimmtes Produzieren aller-
rückt war, mussten sich in der Folge alltägliche dings nicht ohne weiteres empirisch ›aufgefunden‹
Glückserfahrungen einfach deswegen verstärkt in werden, denn Tätigkeiten vollziehen sich nicht im
diesem Sektor abspielen, weil er mehr und mehr das luftleeren Raum der Handlungstheorie. Sie sind stets
Leben bestimmt – und das bis heute. Denn obwohl eingebettet in konkrete Situationen (soziale Struktu-
»die religiöse Wurzel langsam abstarb« (Weber ren, historische Situationen und kulturelle Deutun-
1904–05/1988, 197), hat sich diese Arbeitsethik er- gen). In der Moderne gibt es nun eine spezielle und
halten: »Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir sehr machtvolle soziale Form: die kapitalistische
müssen es sein« (203). Produktionsweise, die auf der Erzeugung von Ge-
Drittens wurde produktives Hervorbringen mit winn auf der Grundlage des Kaufs und Verkaufs von
dem ausgehenden Mittelalter allmählich immer hö- Arbeitskraft beruht. Das kreative Ideal findet sich in
her geschätzt. Die Entteleologisierung des Denkens der kapitalistischen Konstellation auf zwei verschie-
›entgrenzte‹ es gewissermaßen und musste es folg- denen Seiten wieder: auf der einen Seite als kreatives
lich nicht länger als bloßes Kopieren eines Urbildes Unternehmertum, auf der anderen als abhängige
zurücksetzen. Es konnte als kreative Neuschöpfung Lohnarbeit (dazwischen gibt es Mischformen, etwa
und Umgestaltung der Welt begriffen werden. Diese Staatsangestellte, die von Umverteilungen leben;
Umwertung im Schöpfungsbegriff vollzog sich in doch da auch sie letztlich ihre Arbeitskraft verkau-
der Renaissance auf vermittelte Weise: Pico della Mi- fen, seien sie hier vernachlässigt).
randola etwa, der den Menschen als »Former und Auf Seiten des Unternehmertums sieht eine Ver-
Bildner« seiner selbst bestimmte (»quasi […] plastes wirklichung des Ideals leicht aus: Jemand hat eine
et fictor«, Pico 1486/2009, 8; s. Kap. IV.2), bewertete kreative Idee, setzt sie um – und kann als glücklich
Kreation als Veränderung einer Form positiv. Das gelten, wenn er sein selbstgesetztes Ziel erreicht hat.
bezog sich jedoch nicht unmittelbar auf ein Erzeu- Nicht zuletzt weil dies so einfach aussieht, hat das
gen von Dingen (wie in der handwerklichen Arbeit), Ideal des Unternehmerischen immer mehr an Ein-
sondern auf eine Selbstschöpfung des Menschen als fluss gewonnen (Bröckling 2007). Soweit es einen re-
Gattung oder als Individuum – und diese vollzog alen Weg aufzeigt, sein Glück zu machen, ist dieses
sich zunächst in Tätigkeiten, die eher den alten For- Ideal unproblematisch. Problematisch wird es je-
men der Muße zuzurechnen sind (etwa einer mora- doch durch zwei große Einschränkungen: Zum ei-
lischen Praxis wie bei Pico, der Wissenschaft wie bei nen benötigt man eine Kapitalbasis, über die die
Bacon oder der »Selbstkreation« durch philosophi- meisten Menschen allerdings nicht verfügen (deswe-
sches Schreiben wie bei Montaigne; Schelkshorn gen arbeiten sie ja). Zum anderen ist selbst der Un-
2009, 183 f., 374 ff., 456 ff.). Zugleich wurde aber auch ternehmer nicht frei in der Wahl seiner Zwecke: Er
36 II. Systematik des Glücksdenkens

bleibt ›abhängig‹ von den Vorlieben der Konsumen- sprochen, Selbstachtung und soziale Anerkennung
ten und den Launen des Marktes. Nicht zuletzt John zu transportieren (Schlothfeldt 1999; Sichler 2006,
Dewey hat sich daher gerade im Interesse der Kreati- 294 ff.) und darüber vermittelt zu einem Glücksfak-
vität kritisch gegenüber dem Kapitalismus geäußert tor zu werden. In der Tat ist das möglich, doch es ver-
(»the acquisitive instincts of man were exaggerated dankt sich eher besonderen Erfolgen und einem so-
at the expense of the creative«, Dewey 1920/1950, zialem Aufstieg, und das ist nicht in allen Jobs realis-
144; s. Kap. VI.2). tisch. Auch hier bleibt eine Ambivalenz: Anerken-
Und wie steht es mit dem Glück in der Arbeit? An- nung und Achtung lassen sich zwar durch Lohnarbeit
ders als sich dies ›Agrarier‹ wie Thomas Jefferson (s. erzielen – aber auch durch andere Tätigkeiten (das
Kap. V.2) gewünscht hätten, bedeutet ›Arbeit‹ hier gilt für Reichtum und Flow-Erfahrungen ähnlich).
nicht länger heroische Kultivierung des eigenen Lan- Viele Formen abhängiger Arbeit haben hingegen
des, idyllisches Kleinunternehmertum oder selbst- dunkle Seiten (Missachtung, Ausbeutung, Entfrem-
ständiges Handwerk (Sennett 2008). Vielmehr geht dung; vgl. Henning 2007) und vermitteln daher we-
es für die meisten Menschen um den Verkauf ihrer nig Anerkennung – Arbeitsbeziehungen sind meist
Arbeitskraft – um Lohnarbeit also. Diese ist in west- asymmetrische Machtbeziehungen, und in erster Li-
lichen Gesellschaften noch immer die dominante nie geht es um Geld (»In advanced industrial econo-
Tätigkeit. Mit ihr gehen neue Formen des Glücks mies, work is not designed for the purpose of con-
und Unglücks sowie andere Einschätzungen der veying internal goods. It is designed, of course, for
Muße einher. Um welche Formen handelt es sich? productivity and profit«, Muirhead 2004, 157).
Vom Glück des Arbeitsprozesses war bereits die Da die meisten Menschen auf Lohnarbeit ange-
Rede: Arbeit kann in einen selbstvergessenen vitalen wiesen sind, bringt Arbeitslosigkeit oft Unglück mit
›Flow‹ versetzen (Csikszentmihalyi 1992; s. Kap. sich, zumindest solange sie als Abwesenheit von et-
VIII.8). Man könnte vom Glück des Gelingens spre- was begriffen und behandelt wird (das standardi-
chen (»Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte sierte Glück von Haus, Auto und Rente ist ja in der
nach meinem Werke!«, Nietzsche 1883–85/1999, Tat von ihr bedroht). Doch wäre es voreilig, das
408). Dieses ist umso leichter zugänglich, je mehr der Glück primär auf Seiten der abhängigen Arbeit zu
Arbeitende selbst über den Vorgang entscheiden und suchen (und aus diesem Grund etwa Arbeitslosigkeit
über das Produkt verfügen kann. In abhängiger Ar- mit viel Geld politisch zu bekämpfen). Sind nicht,
beit ist das nicht ausgeschlossen, aber selten. In ›fle- zumindest wenn es um Glück geht, auch andere Tä-
xibilisierter‹ Arbeit mag es wahrscheinlicher sein, tigkeiten denkbar? Denkbar sind sie, doch das setzt
doch um einen hohen Preis: Der Freiheitsgewinn eine Neubewertung solcher Tätigkeiten voraus, die
subjektivierter Arbeitsformen – ob echt oder schein- einer gewissen Freiheit von Arbeitszwängen bedür-
bar – führt zu einer steigenden Selbstausbeutung fen. Das ist allerdings weniger eine private als viel-
und kann daher ›burnouts‹ beschleunigen (Schrenk mehr eine politische Frage. Muße (»einziges Frag-
2007). Damit wird Kreativität ambivalent. ment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Pa-
Weiterhin macht sich der ökonomische Effekt be- radies blieb«, Schlegel 1799/1999, 37) muss nicht als
merkbar: Wird Reichtum (engl. wealth) als Glück be- defizienter Modus von Lohnarbeit begriffen werden.
griffen, wie im Kontext der politischen Ökonomie Sie könnte auch zur Ermöglichung freierer – und da-
lange der Fall (Wells 1932), so erzeugt Arbeit Glück mit glücksrelevanter – Tätigkeitsformen dienen
in diesem Sinne – leider oft nicht primär für die Ar- (Gorz 2000; Henning 2009a).
beitenden. Die Arbeiterbewegung artikulierte daher Darunter ist, um ein Missverständnis auszuräu-
ihrerseits eine Glücksphilosophie, die sich für eine men, nicht ›Faulheit‹ zu verstehen (zur Unterschei-
gerechtere Verteilung der Arbeitsfrüchte und der dung bloßer und »freier Muße« Schopenhauer
freien Zeit einsetzte (s. Kap. II.9). Auch hier gibt es 1851/1988, 336). Der falsche Antagonismus von Ar-
also eine Ambivalenz: Definiert man den Wert der beit und Faulheit denkt noch im Raster der Arbeits-
Arbeit primär über Geld, ist kaum zu übersehen, gesellschaft, in der die notwendige Erholung zuguns-
dass dies aus unternehmerischer Perspektive zu ten anderer Formen der Muße in den Vordergrund
Lohnsenkungen, Arbeitszeitverlängerungen oder gerückt ist (Negt 2001, 457). Urlaub und Wochenen-
Verlagerung von Produktionsstätten führt (und zwar den unterbrechen den Arbeitsalltag dort nur spora-
umso eher, je höher die Löhne sind). disch, sie dienen der Wiederherstellung der Arbeits-
Weiter wird der Lohnarbeit der Effekt zuge- kraft und sind primär als Zerstreuung gedacht
2. Glück in Arbeit und Muße. Das Spektrum der Tätigkeiten vom Denken zum Feiern 37

(»Vom Reiche Eden blieben nur mehr die Bars«, the im Gedicht Gefunden von 1813 pointierte (»Ich
Gruber 1986). Zwar bergen Zerstreuungen eigene ging im Walde / So für mich hin / Und nichts zu su-
Glückserfahrungen (etwa im Sport; s. Kap. II.10), im chen / Das war mein Sinn«). Gute Ideen werden am
Rausch, im Abenteuerurlaub oder in den Entdeckun- Schreibtisch ja nur ausgearbeitet; gefasst werden sie
gen großstädtischer Flaneurs, die Georg Simmel und in den meisten Fällen eher in der ungezwungenen
Walter Benjamin beschreiben). Doch solange sie auf Begegnung und Selbstbegegnung – am Tresen, im
Arbeit als ihr Anderes bezogen bleiben, gehorchen Kino oder auf dem Sofa (Bon Scott sang daher: »do-
sie zunehmend dem Leistungsethos: Es gilt, mög- ing nothing means a lot to me«). Daher auch die kre-
lichst viel in möglichst kurzer Zeit zu »erledigen« ative oder ›Künstlerpause‹, die für privilegierte Men-
(Roberts 2006). Erholung gilt als unproduktiv, sie schen früher in ausgedehnten Bildungsreisen und
soll daher wenigstens »Erlebnisse« produzieren heute im ›Sabbatical‹ institutionalisiert worden ist.
(Schulze 2005). Sogar der feierlich begangene Sonn- Rückt man also vom engen ökonomischen Blick-
tag, der einmal der ›Sammlung‹ diente (s.u. zum winkel ab, sind andere Tätigkeiten weder für die In-
Fest), ist ein Fremdkörper geworden und muss neuen dividuen noch für die Gesellschaft ›unproduktiv‹.
Ladenschlussgesetzen weichen. Die Entwertung der Ob kreative Erholung, politisches oder soziales En-
freien Zeit hat mit dieser Fixierung allein auf (Lohn-) gagement, Bildung und Kontemplation oder Praxen
Arbeit zu tun, erst dadurch kommt es zu dem fal- von Spiel und Genuss: All dies muss nicht auf dem
schen Dualismus, in dem man entweder arbeitet Markt feilgeboten werden, um glücklich zu machen,
oder – faulenzt. es kann auch in »Eigenarbeit« (Bergman 2004; z. B.
Anders denken ließe sich Erholung, wenn man sie Kunst, Kochen oder Reparaturen), direkt für andere
nicht als Funktion für die Arbeit, sondern als Eigen- (in Pflege oder Politik) oder jenseits aller Zwecke
wert begreift. Deutlich wird dies zum Beispiel in der (wie in der Kontemplation) geschehen. Nur wenige
Anekdote, in der ein Tourist einen dösenden Fischer Ökonomen hatten ein Sensorium für diesen anderen
zum Arbeiten anhält, weil ihn das reich machen Reichtum – das Glück durch Tätigkeiten jenseits der
könnte: »›dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen Arbeit. Zu ihnen gehören John Stuart Mill, der die
sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Herrschaft der Lohnarbeit über die Menschen zu-
Meer blicken.‹ ›Aber das tu’ ich ja schon jetzt‹, sagt rückdrängen wollte, um ihnen mehr Gelegenheit zu
der Fischer, ›ich sitze beruhigt am Hafen und döse, geben, in Freiheit die schönen Seiten des Lebens zu
nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört‹« (Böll kultivieren (»to cultivate freely the graces of life«,
1963/1994). Um ein solch eigenwertiges Glück Mill 1848/1977, § 1457; Henning 2009b), sowie sein
wusste schon Adam Smith: »the beggar, who suns Zeitgenosse Karl Marx, der diesen anderen Reich-
himself by the side of the highway, possesses that se- tum (»Aber free time, disposable time, ist der Reich-
curity which kings are fighting for« (Smith tum selbst«, Marx MEW 26.3, 253) als menschliche
1759/2006, 182; vgl. auch Russell 1935/1989). Fehlt Entwicklung begriff (»Die Ersparung von Arbeits-
der Sinn für dieses Glück, kann es zu einer aufrei- zeit gleich Vermehren der freien Zeit, d. h. Zeit für
benden Geschäftigkeit kommen, welche die Men- die volle Entwicklung des Individuums«, MEW 42,
schen ihrem eudämonistisch verstandenen Glück 607; Henning 2009c). Arbeit kann glücklich machen,
gerade nicht näher bringt. Noch Nietzsche polemi- aber das ist nicht alles. Und diese Möglichkeit eines
sierte in diesem Sinne gegen die Faulheit der Täti- anderen Glücks durch Freiheit von Arbeits- und
gen: »Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele Konsumzwängen ist, wie angedeutet, kein nur priva-
des Tätigen liegt, verhindert den Menschen, das Was- tes Thema, sondern auch Gegenstand politischer
ser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen« Überlegungen (s. Kap. II.9). Solche werden seit Rous-
(Nietzsche 1878/1999, § 286; s. Kap. V.7; vgl. Kästner seau von der Tradition kritischer Theorien weiterge-
1946: »doch wer schuftet ist ein Schuft«). führt, heute etwa in Komsumkritik (s. Kap. VIII.9)
Systematisch lässt sich das wie folgt einholen: Ein und Zeittheorie (Rosa 2005; s. Kap. II.6 und VI.7).
glückendes Leben ist auf Sinn bezogen (Schmid
2007, 45 ff.; s. Kap. II.5), und der lässt sich weder pro- Das Fest
duzieren oder kaufen, noch lässt er sich politisch
oder theoretisch erzwingen – er muss »gefunden« Damit ist noch nicht alles über Glück in Arbeit und
werden, und das bedarf der zweckfreien Muße. Fin- Muße gesagt. Es gilt noch die Sonder- und Zwischen-
den tut der am leichtesten, der nicht sucht, wie Goe- form von Feier und Fest zu betrachten (vgl. im Über-
38 II. Systematik des Glücksdenkens

blick Haug/Warning 1989; Maurer 2004 sowie die schlagen, sich selbst im Tanz vergessen etc. Doch
Bibliographie bei Knödler 2001, 327 ff.). Eine Zwi- diese nur scheinbar ungeordneten dionysischen Pra-
schenform ist das Feiern, weil sich in ihm Elemente xen bleiben kulturell auf das bezogen, wovon sie sich
aller drei Formen der Muße wiederfinden (Erholung abheben: das Alltagsleben, die normale Ordnung.
und Spiel, politisches und soziales Handeln sowie Auch dieser höherstufige Bezug auf Ordnung kann
Kontemplation). Und eine Sonderform ist es erstens, Glücksgefühle stiften und zwar verschiedene.
weil Zwecke hier weniger – wie in der produktiven Zunächst sieht es so aus, als sei ein Fest das ›ganz
Arbeit oder im politischen Handeln – gesetzt, son- Andere‹, welches eine Lust des Übertretens nach sich
dern vielmehr, eher wie in der Kontemplation, in ziehen kann. Im Feiern wird beispielsweise ein ande-
meist ritualisierter Form erfahren, eben ›zelebriert‹ rer Zeitrahmen betreten: So wird durch die zyklische
werden und zweitens, weil Menschen dies nur zu- Wiederkehr von Festen ein größerer Zusammen-
sammen tun können. Auch wenn es nicht die Regel hang hergestellt und die Vergänglichkeit des Alltägli-
ist: Man kann in großer Einsamkeit sowohl regieren chen zumindest symbolisch transzendiert (eine Art
und produzieren wie meditieren oder vegetieren. ewiger Wiederkehr des Gleichen; vgl. Halbwachs
Daher stammt vielleicht das Pathos, mit dem Scho- 1950/1991), wofür in der Regel auch spezielle Räume
penhauer das Glück der »höheren Muße« auf die we- vorgesehen sind (›Heterotopien‹, etwa Tempel,
nigen Individuen mit »großen Geistesgaben« be- Festräume und -Gelände, Stadien etc.; s. Kap. VIII.10)
schränken wollte (zu denen er sich natürlich selbst – und falls nicht, dann ist zumindest der soziale
zählte; Schopenhauer 1851/1988, 339). Alleine feiern Raum, das Raumbewusstsein verändert.
kann man jedoch nicht, was alleinstehenden Men- Auf der einen Seite stellt diese Gegenwelt die nor-
schen etwa zu Weihnachten viel Kummer bereiten male Ordnung auf den Kopf. Darin kann man bei
kann. größeren Festen dieser Art durchaus etwas Umstürz-
Es gibt innerhalb der Feier, dieser Sonderform von lerisches oder gar Eschatologisches erblicken (»Die
Nichtarbeit, erneut unterschiedliche Facetten von letzten werden die ersten sein«, Mt 19,30; vgl. Cox
Glück. Daher empfiehlt sich auch hier eine differen- 1969). Doch aufmerksamen Beobachtern ist nicht
zierte Betrachtung der drei Formen der Muße. entgangen, dass auf der anderen Seite gerade eine ri-
Ein erster Charakter des Feierns, den man vegeta- tualisierte symbolische Umkehrung Herrschaft auch
tiv nennen könnte, ist mit Erholung und Spiel ver- stabilisieren kann: die Freiheit, einmal im Jahr ›de-
bunden, mit Regeneration der Kräfte sowie mit dem nen da oben‹ die Meinung sagen oder den ›Marsch
Herauslassen dessen, was im Alltag bedrängt und be- blasen‹ zu können (man denke noch an den Kölner
drückt. Nicht umsonst spricht man vom ›Ausgelas- Karneval), kann mit dieser Ordnung auch versöh-
sen-sein‹ (was schon im älteren Wort ›Ekstase‹ nen. Selbst dies hat aber seine guten Seiten: Diese
steckt). Roger Caillois sah im »Exzess« sogar das We- symbolisch-experimentelle Umkehrung der Ord-
sen des Festes (Caillois 1939). Diese beglückende nung kann zur probeweisen Aneignung neuer Rol-
Ausgelassenheit beginnt im Kleinen mit dem abend- len ermuntern, wie sie von G. H. Mead gefordert
lichen Kneipengang, der in manchen Kulturen im wurde, oder einen symbolischen Neuanfang der so-
Tanz auf den Tischen gipfeln kann; sie findet sich zialen Beziehungen ermöglichen (was insbesondere
aber auch in dionysischen Praxen der Antike (in den in der Renaissancekultur eine Rolle gespielt hat; s.
Worten von Salomon Gessner: »du bist bekränzt, Kap. IV.5).
schnell hebe den Schlauch mir auf die Schulter« Negativ zu Buche schlägt allerdings Folgendes:
1772/1973, 58; vgl. Baeumer 2006), in den Bacchana- Solche kollektiven »Exzesse« können sich schnell ge-
lien in Rom, in mittelalterlichen Karnevalsspekta- gen andere richten. »Opfer« sind mit ausgelassenen
keln (Mezger 1991) oder heute auf Jahrmärkten, bei Festen nicht nur kontingenterweise verbunden, son-
Fußballspielen, Rockkonzerten oder street parades. dern gehörten – glaubt man René Girard (1972/1994)
Was macht daran eigentlich glücklich? Im Vorder- – zumindest in frühen Kulturen zur Feier dazu. Noch
grund steht zunächst die organische Ebene, also der in späteren Kulturen dienten öffentliche Hinrichtun-
Körper (worauf vor allem Bachtin 1965 hinwies). gen nicht nur der Bestrafung, sondern auch der
Daher gehören Essen, Trinken und Bewegung meist Volksbelustigung. Die von Norbert Elias beschrie-
zum Feiern dazu: Man tut, was man sonst nicht tun bene ›Zivilisierung‹ hat sich also auch auf die Fest-
darf: albern, tanzen, lachen, schreien, sich wild anzie- kultur erstreckt, und das betrifft vor allem diese leib-
hen und geben, vielleicht auch sich küssen oder liche Ebene des Feierns (das Blutopfer wird zu Wein,
2. Glück in Arbeit und Muße. Das Spektrum der Tätigkeiten vom Denken zum Feiern 39

in der Walpurgisnacht verbrennt man eine Hexe aus dem reißenden Strom der geschäftigen Zeit, das ist
Stroh etc.). Auch wenn beispielsweise der Kreis um die Funktion des Sonntags« (Bollnow 1972, 220; vgl.
Stefan George ältere Formen des Feierns privatim zu Marquard 2003, 194 ff.).
reetablieren versucht hat – es blieb die Ausnahme, Will man die verschiedenen Feste, die auf diese
und dem ist nicht nachzutrauern. zweite – kontemplative – Art gelesen werden kön-
Wie gerade die Ethnologie gezeigt hat, gibt es bei nen, vorsichtig unter einen Hut bringen, könnte man
vielen Festen, selbst und gerade dann, wenn es nach sagen, dass Sinn hier nicht so sehr gefunden als viel-
außen hin wild zugeht, zweitens eine Ebene der Kon- mehr verstetigt wird (man weiß ja meist schon vor-
templation (auch sie ist ja eine Form der Muße). Der her, was gefeiert wird). Es beginnt, wie immer, im
Anlass des Feierns ist in vielen Fällen ein Andenken Kleinen: Beglückend an einer Geburtstagsfeier ist,
an etwas vordem Geschehenes, das erinnert oder ri- dass die Menschen, die mit uns feiern, uns damit in
tuell wiederaufgeführt wird. Angefangen vom Jubi- unserem Dasein und Sosein bestätigen. In diesem
läum oder Geburtstag bis hin zur rituellen Reinsze- Fall sind wir selbst der Zweck, mit dem die anderen
nierung kosmischer oder welthistorischer Ereignisse einverstanden sind. Der festlich begangene Hoch-
geht es dabei um eine sinnhafte Vergegenwärtigung zeitstag vollzieht dasselbe innerhalb einer Bezie-
(man denke etwa an das jüdische Laubhüttenfest, an hung, und ein Gottesdienst will es für das Verhältnis
Weihnachten – das Fest der Freude –, an das Abend- des Schöpfers zu seinen Geschöpfen tun. Auch dies
mahl oder Nationalfeiertage). Nietzsche spricht vom geschieht in Gemeinschaft: vor Gott und der Ge-
»Element des Erkennens«, das durch den »Sonntag meinde wird getauft, getraut und beerdigt (Walter
der Freiheit« zugänglich wird (Nietzsche 1878/1999, Otto etwa sprach von »göttlich-menschlicher Ge-
§ 291). Parallel zur theoria geht es in dieser Dimen- meinschaft«, nach Knödler 2001, 122).
sion des Feierns um eine Art Einsicht: Zelebriert Damit ist bereits die dritte Dimension des Festes
wird so etwas wie der Sinn eines (oder gar allen) Ge- berührt, die sich dem politischen Handeln paralleli-
schehens. Dafür bedarf es eigener Tätigkeiten und sieren lässt. Was in solchen Momenten bewusst wer-
Künste (manchmal daher auch ganzer Berufsstände, den kann oder rituell vergegenwärtigt wird (die in-
der ›Zeremonienmeister‹). Die Rhetorik beispiels- terne Struktur des menschlichen Lebens, seine Stel-
weise schult nicht nur für politische Überzeugungs- lung im Kosmos oder zu Gott, die Lage der Nation
arbeit, sondern ebenso für die Festrede; und selbst etc.), geht im Prinzip alle an. Es wird daher auch von
das gesellige Erzählen von Begebenheit oder Witzen allen bedacht oder, wie es leiblich-praktisch heißt,
kann kultiviert werden (Arend u. a. 2008). begangen. Feiern ist also ein zentraler Modus der
Auch hier kann gefragt werden: Was ist an der Vergemeinschaftung (Durkheim 1912/1981; s. Kap.
kontemplativ-erkenntnishaften Dimension des Fei- VI.1). Dazu braucht es eigentlich, wie bereits Rous-
erns eigentlich beglückend? In gewisser Weise ist das seau in seinem Brief an D’Alembert formuliert hat,
selbsterklärend: Festliche Begegnung oder geistliche kaum eines äußeren Anlasses (»In frischer Luft
Einkehr sind an sich selbst beglückende Momente und unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln
(»Höhepunkt des Daseins«, Bollnow 1972, 232). Ne- und dem Gefühl eures Glücks euch überlassen […]
ben der Begegnung mit den Anderen oder dem Pflanzt einen Baum auf, versammelt das Volk, und
»Heiligen« als solchem, was immer es im Einzelnen ihr werdet ein Fest haben«, Rousseau 1758/1989,
sei, entstehen Glücksgefühle im Fest aber auch durch 462). Das berührt auf den ersten Blick die Zweckfrei-
Erzeugung und Verstärkung von Gefühlen des Ein- heit des Spiels, also der ersten Form von Muße (vgl.
gebundenseins, des Einklangs und Einverständnis- Schürmann 2003).
ses mit den anderen und mit der Welt (vgl. Pieper Allerdings hat das scheinbar zweckfreie festliche
1963/1999). Das Glück, das mit solchen Stunden ein- Zusammenkommen dennoch eine unleugbare Funk-
hergeht (traditionell wurden sogar mehrere Tage mit tion, nämlich die Bildung und Verstärkung sozialer
Feiern verbracht), ist also sowohl intrinsisch beglü- Bande. Nationalfeiern etwa sind Akte des gemeinsa-
ckend wie von hohem Wert für das alltägliche Leben men Wollens, in denen die Nation in gewissem Sinne
– und damit auch indirekt glücksfördernd. Wenn wir Ja zu sich selbst sagt – oder, um auch die kleinen An-
durch Feste zur ›Besinnung‹ kommen, kann dies ein lässe nicht aus den Augen zu verlieren: in Betriebs-
geläutertes Selbstverständnis zur Folge haben und so feiern die Belegschaft, in Familienfeiern die Familie,
insgesamt zu einer glücklicheren Lebensführung bei Straßenfesten die Nachbarn etc. Das kann sehr
verhelfen. »So immer wieder zurückzutreten aus wohl Ausdruck einer kollektiven Selbstbestimmung
40 II. Systematik des Glücksdenkens

sein; man denke nur an die Feierkultur der Arbeiter- in einem Fest keines der drei Elemente fehlen darf:
bewegung oder an die Straßenparaden der Schwu- Ein gelungenes Fest sollte Momente von befreiter
lenbewegung. Körperlichkeit und geistiger Stimmigkeit, aber auch
Bei Nationalfeiern – auch republikanischen (Bax- von praktischer Selbstbestimmung enthalten.
man 1989) – kommt allerdings noch etwas anderes
hinzu: Diese soziale Funktion einer Feier kann näm-
Literatur
lich auch eigens zum Zweck der Feier gemacht wer-
den. Anders gesagt: Die festliche Selbstthematisie- Arend, Stefanie u. a. (Hg.): Anthropologie und Mediali-
rung einer Gemeinschaft lässt sich auch politisch tät des Komischen im 17. Jahrhundert (1570–1730).
nutzen. Nicht erst Rousseau war ja bewusst, dass sich Amsterdam 2008.
die politischen Gefühle einer Nation durch Feste be- Arendt, Hannah: Vita Activa oder vom tätigen Leben
einflussen und lenken lassen (vgl. bereits Aristoteles [1958]. München 1967.
NE 1160a 19; Pol. 1321a 35 f.). Je organisierter ein Aristoteles: Nikomachische Ethik [NE]. Hamburg 1995.
Fest ist, desto größer der Spielraum für eine Lenkung –: Politik [Pol.]. Hamburg 1981.
des Kollektivs durch die inhaltliche Gestaltung des Aßländer, Michael: Von der vita activa zur industriellen
Festes – zumal wenn sie nur einer kleinen, ›geweih- Wertschöpfung. Eine Sozial- und Wirtschaftsge-
schichte menschlicher Arbeit. Marburg 2005.
ten‹ Zahl von Menschen obliegt (woraus nicht
Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt: Volkskultur
zuletzt die Kirchen lange Zeit eine ungeheure politi-
als Gegenkultur [1965]. Frankfurt a. M. 1995.
sche Macht zogen). Ein Blick auf die Fackelaufmär-
Baeumer, Max: Dionysos und das Dionysische in der
sche der 1930er Jahre oder Filme von Leni Riefen-
antiken und deutschen Literatur. Darmstadt 2006.
stahl zeigt, dass hier ein Problem lauert: Volksbeglü- Baxmann, Inge: Die Feste der Französischen Revolu-
ckung von oben kann auch entmündigen. ›Kraft tion. Inszenierung von Gesellschaft als Nation. Wein-
durch Freude‹ ist dafür sprichwörtlich geworden, heim 1989.
und genau darauf zielte Adornos Kritik an der ›Kul- Bergman, Frithjof: Neue Arbeit, neue Kultur. Freiamt
turindustrie‹ ab. Hier berührt sich das Glück der 2004.
temporären Selbstaufgabe auf unglückliche Weise Böll, Heinrich: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
mit dem Verlangen anderer, Menschen zu steuern, [1963]. In: Ders.: Romane und Erzählungen 1961–
und zwar möglichst viele. 1970. Köln 1994, 267–269.
Ob und inwieweit bestimmte Feste Beispiele dafür Bollnow, Otto F.: Neue Geborgenheit. Das Problem einer
sind, ist in der Forschung umstritten (so wurde in Überwindung des Existentialismus. Stuttgart 1972.
jüngster Zeit die römische Losung ›Brot und Spiele‹ Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Sozio-
weniger als Abfütterung des Mobs denn als bewuss- logie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.
tes politisch-religiöses Ritual der Bürger gedeutet; 2007.
vgl. Rawson 1991, 508). Die Gefahr einer solchen Caillois, Roger: L’homme et le sacré. Paris 1939.
Herrschaftsverstetigung durch allzu billige Vergnü- Carlyle, Thomas: Past and Present. London 1843.
gungen besteht allerdings trotzdem. Das zeigt sich, Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff.
wie immer, schon im Kleinen, wie verschiedene Untersuchung über die Grundfragen der Erkenntnis-
kritik. Berlin 1910.
Filme über katastrophische Familienfeiern veran-
Claussen, Johann Hinrich: Glück und Gegenglück. Phi-
schaulichen (etwa Lars von Triers Das Fest von 1998).
losophische und theologische Variationen über einen
Gerettet wird die Handlung in solchen Filme dann,
alltäglichen Begriff. Tübingen 2005.
wenn es gelingt, aus dem prekär werdenden festli-
Conze, Werner: Arbeit/Arbeiter. In: Ders. u. a. (Hg.): Ge-
chen Modus in ein direkt ›politisches‹ Verständi- schichtliche Grundbegriffe I. Stuttgart 1972, 154–
gungshandeln umzuschalten (wie es in Richard 242.
Brooks’ Cat on a hot tin roof von 1958 oder in Stanley Cox, Harvey: Das Fest der Narren. Das Gelächter ist der
Kramers Guess who’s coming for dinner von 1967 Hoffnung letzte Waffe. Stuttgart/Berlin 1969.
meisterhaft gezeigt wird). Dass dies möglich ist, zeigt Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow: Das Geheimnis des
darum nochmals auf, dass Feste diese politische Di- Glücks. Stuttgart 1992.
mension immer schon haben. Dewey, John. Reconstruction in Philosophy [1920]. New
Wenn das Fest also Ähnlichkeiten zu allen Ele- York 1950.
menten der Muße hat, dann könnte eine Glücksethik Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiö-
des Festes vielleicht in der Forderung bestehen, dass sen Lebens [1912]. Frankfurt a. M. 2005.
2. Glück in Arbeit und Muße. Das Spektrum der Tätigkeiten vom Denken zum Feiern 41

Engler, Wolfgang: Bürger ohne Arbeit. Für eine radikale Lane, Robert E.: Work as ›Disutility‹ and Money as ›Hap-
Neugestaltung der Gesellschaft. Berlin 2005. piness‹: Cultural Origins of a Basic Market Error. In:
Frambach, Hans: Arbeit im ökonomischen Denken. Journal of Socio-Economics 21.1 (1992), 43–64.
Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der An- Lange, Ernst Michael: Glück, Sinn und Arbeit. In:
tike bis zur Gegenwart. Marburg 1999. Rechtsphilosophische Hefte 5 (1996), 57–72.
Frey, Bruno/Stutzer, Alois: Happiness Prospers in De- Locke, John: Some Considerations of the Consequences
mocracy. In: Journal of Happiness Studies 1 (2000), of the Lowering the Interest, and Raising the Value of
79–102. Money [1691]. In: Ders.: Works in Ten Volumes. Vol.
Gessner, Salomon: Idyllen [1772]. Kritische Ausgabe. V. London 1823, 1–116.
Stuttgart 1973. Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Philosophi-
Girard, René: Das Heilige und die Gewalt [1972]. Frank- sche Essays. Stuttgart 2003.
furt a. M. 1994. Marx, Karl: Marx-Engels-Werke [MEW]. 42 Bde. Berlin
Gorz, André: Arbeit zwischen Misere und Utopie. 1956 ff.
Frankfurt a. M. 2000. Maurer, Michael (Hg.): Das Fest: Beiträge zu seiner The-
Gronemeyer, Matthias: Profitstreben als Tugend? Zur orie und Systematik. Köln 2004.
Politischen Ökonomie bei Aristoteles. Marburg 2007. McMahon, Darrin M.: Happiness: A History. New York
Gruber, Reinhard: Manifest der Faulheit [1986]. In: Ger- 2006.
hard Senft (Hg.): Verweilen im Augenblick. Texte Mezger, Werner: Narrenidee und Fastnachtsbrauch.
zum Lob der Faulheit, gegen Arbeitsethos und Leis- Studien zum Fortleben des Mittelalters in der euro-
tungszwang. Wien 1995, 125–129. päischen Festkultur. Konstanz 1991.
Habermas, Jürgen: Soziologische Notizen zum Verhält- Mill, John Stuart: Principles of Political Economy
nis von Arbeit und Freizeit [1958]. In: Ders.: Arbeit, [1848]. Collected Works 2/3. Toronto 1977.
Erkenntnis, Fortschritt. Aufsätze 1954–1970. Amster- Muirhead, Russell: Just Work. Cambridge, MA 2004.
dam 1970, 56–74. Negt, Oskar: Arbeit und menschliche Würde. Göttingen
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis [1950]. 2001.
Frankfurt a. M. 1991. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches
Haug, Walter/Warning, Rainer (Hg.): Das Fest. Poetik I [1878]. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe.
und Hermeneutik XIV. München 1989. Bd. 2. München 1999.
Henning, Christoph: Verdinglichung als Schlüsselbe- –: Also sprach Zarathustra [1883–85]. Sämtliche Werke.
griff Kritischer Theorie. Zur Antikritik an Axel Hon- Kritische Studienausgabe. Bd. 4. München 1999.
neths Rekonstruktion. In: Berliner Debatte Initial 6 Peters, Jörg T.: Der Arbeitsbegriff bei John Locke. Müns-
(2007), 98–114. ter 1997.
–: Liberalism, Perfectionism and Workfare. In: Work Pico della Mirandola, Giovanni: De hominis dignitatae/
and Social Justice. Analyse und Kritik 39.1 (2009), Über die Würde des Menschen [1486]. Stuttgart 2009.
159–180 [2009a]. Pieper, Josef: Glück und Kontemplation [1957]. In:
–: John Stuart Mill: Ein Perfektionist? Moralischer Fort- Ders.: Werke 6. Hamburg 1999, 152–216.
schritt und Philosophie der Arbeit bei einem Klassi- –: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes
ker des Liberalismus. St. Gallen, Scala Working Paper [1963]. In: Ders.: Werke 6. Hamburg 1999, 217–285.
18 (2009) [2009b]. Pocock, John G.A.: The Machiavellian Moment. Floren-
–: Was bleibt von der Marxschen Philosophie? Zu Marx’ tine Political Thought and the Atlantic Republican
moralischem Perfektionismus. In: Beatrix Bouvier Tradition. Princeton 1975.
u. a. (Hg.): Was bleibt? Karl Marx heute. Trier 2009, Präuer, Andreas: Zwischen Schicksal und Chance. Ar-
175–198 [2009c]. beit und Arbeitsbegriff in Großbrittanien im 17. und
Kästner, Erich: Bürger, schont eure Anlagen. In: Ders.: 18. Jahrhundert auf der Hintergrund der »Utopia«
Bei Durchsicht meiner Bücher. Eine Auswahl aus vier des Thomas More. Berlin 1997.
Versbänden. Zürich 1946, 95 f. Rau, Renate u. a.: Untersuchung arbeitsbedingter Ursa-
Knödler, Alfred: Das Denken des Festes: Das Fest des chen für das Auftreten von depressiven Störungen.
Denkens. Heideggers seinsgeschichtliche Wesensbe- Dortmund u. a. 2010. Online: www.vkm-baden.de/
stimmung des Festes im Ausgang und Abstoß von der arbeitssicherheit/depression.pdf (Zugriff 1.10.2010).
Tradition. Berlin 2001. Rawson, Elizabeth: Roman Culture and Society. Collec-
Kohl, Karl-Heinz: Der glückliche Wilde. Realität oder ted Papers. Oxford 1991.
Imagination? In: Heinrich Meier (Hg.): Über das Roberts, Kenneth: Leisure in Contemporary Society.
Glück. Ein Symposion. München 2008, 119–148. Wallingford 2006.
42 II. Systematik des Glücksdenkens

Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der


Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005.
3. Glück und Moralität.
Rousseau, Jean-Jacques: Brief an D’Alembert über das Zusammenhänge,
Schauspiel [1758]. In: Ders.: Schriften. Bd. 1. Mün-
chen 1989, 333–474.
Verbindungen
Russell, Bertrand: Lob des Müßiggangs [1935] und an- und Abgrenzungen
dere Essays. Wien/Hamburg 1989.
Sahlins, Marshall David: Stone Age Economics. Chicago
1972. Systematische Einleitung
Schelkshorn, Hans: Entgrenzungen. Ein europäischer
Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Mo-
Das Verhältnis der Begriffe des Glücks und der Mo-
derne. Weilerswist 2009.
Schlegel, Friedrich: Lucinde [1799]. Stuttgart 1999.
ralität ist im Verlauf der Geschichte der Philosophie
Schlothfeldt, Stephan: Arbeitslosigkeit als sozialethi- gleichermaßen von Entsprechungen und Gegensät-
sches Problem. Freiburg/München 1999. zen bestimmt. Für diesen Sachverhalt sind sowohl
Schmid, Wilhelm: Glück. Alles, was sie darüber wissen semantische als auch systematische Gründe verant-
müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Le- wortlich. Während Glück an die subjektive Per-
ben ist. Frankfurt a. M./Leipzig 2007. spektive von Personen gebunden ist, bedeutet Mora-
Schopenhauer, Arthur: Aphorismen zur Lebensweisheit lität Empfänglichkeit für berechtigte Ansprüche
[1851]. In: Ders.: Werke. Bd. IV. Zürich 1988, 311– anderer Personen. In moralischen Einstellungen
483. überwiegt das Eigeninteresse gegenüber den Interes-
Schrenk, Jakob: Die Kunst der Selbstausbeutung. Wie sen anderer Personen nicht schon deshalb, weil es
wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen. Köln das Interesse der reflektierenden Person ist. Zudem
2007. impliziert Moralität Handlungsfähigkeit und Ein-
Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursozio- flussnahme. Diese praktischen Möglichkeiten schei-
logie der Gegenwart. Frankfurt a. M. 22005. nen im Fall des Glücks nicht in gleicher Weise gege-
Schürmann, Volker: Muße. Bielefeld 2003. ben zu sein. Vor allem aus der Sicht der modernen
Seneca: De Otio/Über die Muße. In: Ders.: Philosophi- Philosophie wird Glück eher gefunden und ist kei-
sche Schriften 2. Darmstadt 1971, 79–100. neswegs die unmittelbare Folge moralischer Bildung.
Sennett, Richard: Handwerk. Berlin 2008. Doch Glück und Moralität teilen die Eigenschaft des
Sichler, Ralph: Autonomie in der Arbeitswelt. Göttingen
Unverfügbaren. Personen haben keinen direkten
2006.
Einfluss darauf, dass sich Glück einstellt und sie kön-
Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments [1759].
nen genauso wenig beeinflussen, ob bestimmte Ein-
Mineola, NY 2006.
Vickers, Brian (Hg.): Arbeit, Muße, Meditation. Studies
stellungen und Verhaltensweisen als moralisch gut
in the Vita activa and Vita contemplativa. Zürich gelten können oder nicht.
1991. Die Semantik des Ausdrucks ›Glück‹ ist viel-
Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist schichtig (s. Kap. I.3). Sie bezieht sich auf den glück-
des Kapitalismus [1904–05]. In: Ders.: Gesammelte lichen Zufall, den erfüllten Augenblick und das dau-
Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1988, erhaft geglückte Leben wie auf Aspekte von Schick-
1–206. sal und Sinn des Lebens (s. Kap. II.6–7). An dem
Wells, H.G.: The Work, Wealth and Happiness of Man- deutschen Ausdruck ›Glück‹ wird diese Komplexität
kind. London 1932. nicht ohne weiteres kenntlich, weil er in den meisten
Christoph Henning Verwendungsweisen die Differenz zwischen Glück
und Schicksal bzw. glücklichem Zufall überdeckt, für
den in anderen Sprachen verschiedene Ausdrücke
aufgeboten werden. Die naheliegende Annahme,
dass man es bei der Frage nach dem Glück mit einer
lebenspraktisch konkreten Aufgabenstellung zu tun
habe, erweist sich als voreilig. Die Frage nach dem
Glück ist eine genuin philosophische Frage, mit der
Üblichkeiten der alltäglichen Lebenswelt überschrit-
ten werden. Von moralphilosophischem Interesse ist
3. Glück und Moralität. Zusammenhänge, Verbindungen und Abgrenzungen 43

vor allem, inwiefern wir es beim Glück mit subjekti- Die Theorie des dauerhaft geglückten
ven oder objektiven bzw. nicht von psychischen Be- Lebens
findlichkeiten abhängigen Bestimmungen zu tun ha-
ben und in welcher Hinsicht die jeweiligen Glücks- Platon und Aristoteles haben klassische Theorien
zustände beeinflussbar oder nicht beeinflussbar sind. des guten und gelungenen Lebens vorgelegt, die zwar
Für die ethische Bewertung ist es von entscheiden- unterschiedlich akzentuiert sind, aber darin überein-
der Bedeutung, auf welches Glücksmoment sich Per- stimmen, dass Glück (eudaimonia) und Moralität
sonen in ihren moralischen Einstellungen beziehen. nicht voneinander zu trennen sind (s. Kap. III.1–2).
Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob es sich da- Sie haben sich dabei mit skeptischen Vorbehalten
bei um eigene Lebensregeln, die ich bewertend ge- auseinanderzusetzen, nach denen moralisches Ver-
stalte, oder um ein vorgegebenes Schicksal handelt, halten einem glücklichen Leben abträglich sei. In der
zu dem ich eine moralische Haltung entwickle. Politeia setzt Platon den skeptischen Einwänden eine
Schon in der Antike setzten sich Platon, Aristote- Konzeption entgegen, nach der moralisches Verhal-
les und die hellenistischen Schulen intensiv mit der ten im Allgemeinen und die Ausübung von Gerech-
Problemstellung auseinander, ob Glück Ausdruck tigkeit im Besonderen für den Handelnden an sich
objektiver Lebensumstände oder lediglich Ausdruck wertvoll seien. Wer sich dagegen an den vermeintlich
subjektiver Einstellungen ist, und sie beziehen dabei nützlichen Folgen orientiere – wie etwa Gyges, der
immer auch die moralische Perspektive mit ein. Die mit Hilfe eines magischen Rings zu Macht und
antike Ethik untersucht Glück in der Regel vor dem Reichtum kommt (Politeia II, 357a ff.) –, begreife
Hintergrund der Frage, was als ein gutes Leben gel- nicht, worin das höchste Gut bestehe. Gyges könne
ten könne. Sie geht dabei den verschiedenen Mög- nicht als gerechter und auch nicht als glücklicher
lichkeiten nach, dass das gute Leben das glückliche Mensch beschrieben werden. Sein Erfolg habe nichts
Leben, das glückliche Leben das gute Leben, das mit rechtfertigungsfähigen Lebenszielen zu tun. Pla-
Glück ein Aspekt des guten Lebens und schließlich ton setzt das philosophische bzw. moralische Glücks-
das Gute ein Aspekt des glücklichen Lebens sein verständnis von alltäglichen Glücksvorstellungen ab,
kann. die in der Scheinwelt äußerlicher Güter verbleiben.
Während in der klassischen Antike auf vielfältige Das moralisch Gute ist für ihn auch das, was für den
Weise Vorstellungen entwickelt worden sind, wie ausgeglichenen Zustand der Seele und ein geglücktes
Glück und tugendhaftes Verhalten miteinander in Leben konstitutiv ist. Nur der Mensch, der in diesem
Einklang gebracht werden können, setzen mit der Sinne auf moralisch gute Weise lebe, könne glücklich
Philosophie der Neuzeit Reflexionsprozesse ein, die sein (Politeia I, 353e f.).
ein Entsprechungsverhältnis von Glück und Morali- Bei Aristoteles ist Glück als sich selbst genügendes
tät als problematisch erscheinen lassen. In moder- Ziel (telos) allen menschlichen Handelns das höchste
nen Theorien ist es mittlerweile nicht unüblich, den Gut (Nikomachische Ethik I, 1097a ff.), das nur mit
Glücksbegriff von normativen Bestimmungen gänz- einer der Tugend entsprechenden Tätigkeit der Seele
lich freizuhalten. erreicht werden könne. Es ist dementsprechend ein
In der Philosophiegeschichte lassen sich fünf sys- voraussetzungsreicher und auf Dauer angelegter
tematische Zugänge zum Verhältnis von Glück und Zustand, der nur im Rahmen moralischer Bildung
Moralität identifizieren: (1) die Theorie des dauer- erreichbar ist. Die aristotelische Theorie des gelun-
haft geglückten Lebens, (2) die Theorie des Glücks genen Lebens bindet Glück insofern fest an die
eines in sich ruhenden Bewusstseins, (3) die Theorie humane Lebensform. Tiere sind danach keine
des hedonistischen Glücks, (4) die Theorie des mo- glücksfähigen Wesen, weil sie die moralischen Fähig-
ralisch ernsthaften und glückswürdigen Lebens so- keiten der Menschen nicht teilen.
wie (5) die moderne Theorie des glücklichen und Aristoteles zufolge sind vernünftige Individuen
authentischen Augenblicks. Im Hinblick auf das Ver- für moralische Bildung und Tugenden empfäng-
hältnis von Glück und Moralität werden dabei so- lich, das bedeute aber nicht, dass das eigene Glück
wohl Abhängigkeits- wie Unabhängigkeitsthesen vollständig in ihrer Hand liege. Im Leben gebe es
vertreten. viele Wendungen des Zufalls, und selbst im Verlauf
eines langen glücklichen Lebens könne zum Ende
noch schweres Unglück eintreten (s. Kap. II.6). Ei-
nen Menschen, der etwa wie Priamus spät vom Un-
44 II. Systematik des Glücksdenkens

heil getroffen werde, bezeichne niemand als glück- Seneca hat den stoischen Ansatz dahingehend zu-
lich. sammengefasst, dass derjenige glücklich genannt
Bei der Festlegung dessen, was als geglücktes Le- werden könne, der aufgrund seiner Vernunft weder
ben betrachtet werden kann, bezieht Aristoteles weit begehrt noch fürchtet. Den Zugang zum Glück
ausgreifende zeitliche Perspektiven mit ein, die über macht er von der Fähigkeit zum selbstthematisieren-
den physischen Tod der jeweiligen Individuen hin- den Bewusstsein abhängig, denn auch Steine und
ausgehen. Denn auch für Verstorbene ließen sich wie Tiere seien frei von Furcht und Traurigkeit, ohne
für ahnungslose Lebende Umstände denken, die ih- dass wir deshalb bereit wären, sie glücklich zu nen-
nen zuträglich oder abträglich seien, ohne dass sie nen. Das Glück des Menschen liege in einem Leben,
ein ausdrückliches Bewusstsein davon hätten – etwa das in klarem Bewusstsein der eigenen Natur und si-
im Fall von persönlichen Ehrungen und Diffamie- cherer Vernunftausübung geführt werde. Die Stoa
rungen oder dem Glück und Unglück von Verwand- stellt in diesem Zusammenhang besonders die kon-
ten. Wenn das geglückte Leben von den moralischen stitutive Funktion des Bewusstseins und Urteilens
Fähigkeiten und Handlungen des jeweiligen Akteurs heraus. Urteilskraft und die richtige Verfassung des
abhängt, dürften aber eigentlich postmortale Zu- Bewusstseins seien das höchste Gut, und in sicherem
stände bei der Bewertung nicht miteinbezogen wer- Urteilen liege entsprechend der Grund des Glücks
den. (Seneca: De vita beata, § 5).
Die klassische Vorstellung vom geglückten Leben Eine Besonderheit des stoischen Ansatzes liegt in
geht von einem dauerhaften Zustand aus, für den dem normativen Konzept der Übereinstimmung mit
moralisches Verhalten als eine spezifisch menschli- der eigenen Natur. Zu den spezifischen Eigenschaf-
che Fähigkeit konstitutiv ist. Was als Glück gelten ten der menschlichen Lebensform gehöre die Ver-
kann, hängt sowohl Platon als auch Aristoteles zu- nunft, die der Natur nicht entgegengesetzt sei, son-
folge nicht von subjektiven Empfindungen oder Ein- dern ihr Wesen ausdrücke. Seneca empfiehlt, die Na-
schätzungen ab, sondern ist objektiv rekonstruierbar. tur lebenspraktisch als Führerin einzusetzen, weil sie
Platon und Aristoteles setzen in ihren ethischen die Vernunft achte und um Rat frage. Zu den natur-
Überlegungen bei dem dauerhaften Glückszustand gemäßen Verhaltensweisen der menschlichen Le-
an. Das menschliche Leben könne als gelungen gel- bensform gehöre vor allem die Anwendung von Tu-
ten, wenn Tugenden das ganze Leben lang die Tätig- genden im Sinne der Praxis der Vernunft, die allein
keiten der Seele bestimmten. So wie eine Schwalbe im Stande sei, ein glückliches Leben zu gewährleis-
und ein Tag noch keinen Sommer mache, so mache ten (De vita beata, § 16). Von der Ausrichtung am
auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden spezifisch Naturgemäßen der menschlichen Lebens-
glücklich (Nikomachische Ethik I, 1098). form erwartet die Stoa insgesamt das Zustandekom-
men einer Balance zwischen schicksalsindifferentem
Die Theorie des Glücks eines in sich Selbst- und Weltverstehen (§ 3). Die Grundbegriffe
der stoischen Konzeption des in sich ruhenden Le-
ruhenden Bewusstseins
bens sind Glück (eudaimonia), Unabhängigkeit (aut-
Die Stoa entwickelt eine Theorie vom Glück als ei- arkeia) und Seelenruhe (ataraxia), die in ihrem se-
nem in sich ruhenden Bewusstsein. Sie orientiert sich mantischen Gehalt wechselweise aufeinander bezo-
dabei an platonischen und aristotelischen Motiven gen werden. Anders als Aristoteles ist die Stoa nicht
(s. Kap. III.3). Das gilt vor allem für Überlegungen bereit, in ihrer Vorstellung vom Glück dem Schicksal
zur psychischen Ausgeglichenheit und zur Selbstge- einen Ort einzuräumen. Seneca fordert ausdrücklich
nügsamkeit (autarkeia), die in eine eigen geartete die Verachtung des Schicksals.
Glückskonzeption überführt werden. Die Stoiker Die stoischen Vorstellungen zum Verhältnis von
verbinden tugendethische Bestimmungen mit einer Glück und Moralität erschließen die normativen
spezifischen Form von ethischem Naturalismus. Sie Vorgaben der zweiten Natur des Menschen. Für die
streben in allen ihren philosophiegeschichtlichen Stoa ist Glück der gute Gang des Lebens, der dadurch
Phasen Seelenruhe (ataraxia) in der Gestalt der Un- zustande kommt, dass die Menschen sich ihrer ers-
abhängigkeit von den Wechselfällen des Schicksals ten und zweiten Natur gemäß verhalten (secundum
an (s. Kap. II.7). Lebenspraktisch soll das auf dem naturam vivere), was ihr zufolge immer auch morali-
Wege des Beherrschens der eigenen Affekte durch sche Einstellungen und Verhaltensweisen ein-
die Vernunft vollzogen werden. schließt.
3. Glück und Moralität. Zusammenhänge, Verbindungen und Abgrenzungen 45

Insgesamt sind die Ansätze, welche die Abhängig- Bei Epikur zeigt sich eine Reihe von Parallelen zu
keit von Glück und Moralität unterstellen, dadurch den platonischen, aristotelischen und stoischen
gekennzeichnet, dass sie sich nicht an den Resultaten Glückskonzeptionen. Wie Platon und die Stoa strebt
oder dem Erfolg von Handlungen orientieren. Diese er eine Revision der menschlichen Lebensführung
seien bei der Lebensführung in Rechnung zu stellen an, um eine Seelenruhe zu ermöglichen, welche die
und könnten durchaus als Gut gelten, ihnen komme schädliche Begierde und die Angst vor dem Tod
aber keine konstitutive Bedeutung für das Glück zu überwindet. Im Unterschied zu nachfolgenden Ver-
(De vita beata, § 21). Als notwendige Bestimmung tretern des hedonistischen Ansatzes sieht er durch-
des Glücks gilt das bewusste Erleben. Ein glückliches aus einen Zusammenhang von Tugend und einem
Leben könne sich nur in selbstreferenziellen Haltun- lustvollen Leben. Epikur deutet diesen Zusammen-
gen und Zuständen einstellen. hang aber in dem Sinne, dass Tugenden mit dem
lustvollen Leben von Natur aus verbunden seien und
Die Theorie des hedonistischen Glücks billigt im Unterschied zu den anderen hellenisti-
schen Schulen dem einzelnen Menschen zu, die
Eine Unabhängigkeitsthese wird in der Theorie des letzte Beurteilungsinstanz seines Lebens zu sein.
hedonistischen Glücks vertreten. Diese wendet sich Normative Vorgaben für die Lebensführung, wie sie
ausdrücklich gegen die platonischen, aristotelischen für die Tugendethik kennzeichnend sind, lehnt Epi-
und stoischen Bestimmungen des Verhältnisses von kur ab. Gleichwohl verbindet er mit seinem Ansatz
Glück und Moralität. Sie bemüht sich darum, ihre lebenspraktische Revisionen im Hinblick auf einen
Vorstellungen vom guten bzw. gelungenen Leben gelungenen Umgang mit der eigenen Endlichkeit
nicht mit ethischen Vorgaben zu belasten. Entspre- bzw. Vergänglichkeit, die nicht als Schrecken, son-
chend sucht sie nicht nach normativen Garantien, dern als Quelle der Lust begriffen werden müsse (An
sondern macht Glück von der Weise abhängig, in der Menoikeus, § 124 f.).
es gelingt, ein hohes Maß an lustvollen Zuständen zu Der Gedanke des Vorrangs des individuellen
erleben. Standpunkts bei der Bestimmung des Verhältnisses
Der hedonistische Ansatz geht auf Epikur zurück von Glück und Moralität findet in der Zeit der Auf-
(s. Kap. III.3), wird in der Philosophie der Neuzeit klärung eine weitere Zuspitzung bei Julien Offray de
transformiert und zunehmend mit moralitätskriti- La Mettrie (s. Kap. V.2), der seine Konzeption von
schen Intentionen versehen. Bei der Entfaltung sei- Glück im Rahmen einer direkten Auseinanderset-
ner Glückskonzeption orientiert sich Epikur wie die zung mit dem stoischen Ansatz entfaltet. Er weist mit
Stoa an der Seelenruhe, die er als unmittelbar von großer Entschiedenheit die stoische Vorstellung von
körperlichen Bedingungen abhängig begreift. Er ist der Seelenruhe zurück, weil sie die Menschen von
davon überzeugt, dass Glück nur aus angenehmen wahren Quellen des Glücks abschneide. Menschen
Empfindungszuständen hervorgehen könne. Ein seien in erster Linie empfindungsfähige Wesen, de-
glückliches Leben lasse sich letztlich auf körperliche nen Reflexion, Bildung, Moralität und gesellschaftli-
Gesundheit und seelische Ausgeglichenheit zurück- che Konventionen äußerlich seien. Glück hänge des-
führen (Epikur: An Menoikeus, § 128). Auch Epikur halb von der jeweiligen organischen Beschaffenheit
geht von einem wechselseitigen Bedingungsverhält- und der damit verbundenen Empfindungsfähigkeit
nis zwischen Selbstgenügsamkeit und Seelenruhe ab. Aufgrund der Dominanz der Empfindungen fän-
aus. Seine lebenspraktischen Empfehlungen richten den Individuen auf ganz unterschiedliche Weise Zu-
sich aber nach einem auf das beste Verhältnis zwi- gänge zum Glück. Es seien diejenigen zu beneiden,
schen möglicher Lust und vermeidbarer Unlust ab- die aufgrund ihrer natürlichen Verfassung sich nur
zielenden hedonistischen Kalkül, das später im Utili- ihrem Empfinden zu überlassen brauchten. Wegen
tarismus in den moralpsychologischen Mittelpunkt der Abhängigkeit aller Bestimmungen menschlichen
rückt (s. Kap. V.1). Epikurs Hedonismus hat die Ge- Lebens von der jeweiligen Empfindungsfähigkeit
stalt einer Klugheitslehre. Sie strebt keinen Lustge- seien sie Begünstigte der Natur. Dagegen könnten
winn um jeden Preis an. Vielmehr stellt sie in ihrem Reflexion oder die Tugenden das Glück selbst unter
Kalkül die Unlust in Rechnung, die unter Umstän- guten Bedingungen allenfalls steigern (La Mettrie
den als Folge von lustvollen Zuständen des gelebten 1748/1975, §§ 38 ff.). An das Faktum der Endlichkeit
Augenblicks auftreten und damit die hedonistische und Empfindungsabhängigkeit menschlichen Le-
Bilanz insgesamt negativ belasten kann. bens reichten sie aber nicht heran. Die wesentliche
46 II. Systematik des Glücksdenkens

Bedingung des Glücks sei die Empfindung, die über Die Theorie des moralisch ernsthaften
das individuelle Leben niemals hinausgehe. Es gebe und glückswürdigen Lebens
nur jeweils ein Leben und ein Glück (§ 61).
Ähnlich wie die Stoa bestimmt die hedonistische Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Johann
Theorie Erleben als notwendige Bedingung von per- Gottlieb Fichte entwickeln eine Theorie des mora-
sönlichem Glück. Allerdings ist sie im Unterschied lisch ernsthaften und glückswürdigen Lebens. Ohne
zu jener durch einen sensualistischen Grundzug ge- in Abrede zu stellen, dass Personen in den Verläufen
kennzeichnet, der menschliches Leben als wesent- ihres Alltagslebens von Neigungen, Affekten und In-
lich individuell und empfindungsgeleitet ausweist. teressen geprägt werden, halten sie auch im Rahmen
Deshalb kann ihr zufolge Moralität lebenspraktisch der Theorie des Glücks an den eigen gearteten Ge-
keine dem persönlichen Glück förderliche norma- setzmäßigkeiten der Moralität fest. Das, was im ei-
tive Kraft entfalten. Die Position des hedonistischen gentlichen Sinne geboten sei, werde nicht von jewei-
Ursprungs allen Glücks vertritt entsprechend eine ligen lebenspraktischen Befindlichkeiten definiert,
Unabhängigkeitsthese, die Glück konsequent von sondern vom moralischen Gesetz. Entsprechend ge-
normativen Bestimmungen freihält. hen sie von der Unabhängigkeitsthese aus, um dar-
Unter skeptischen Vorzeichen haben Schopen- aus im Weiteren praktische Folgen für Einstellungen
hauer und Nietzsche zugespitzte Ausdeutungen bzw. moralischer Ernsthaftigkeit abzuleiten. Sie beziehen
Überbietungen der Unabhängigkeitsthese entworfen dabei Autonomie sowohl auf Moralität bzw. prakti-
(s. Kap. V.6–7). Schopenhauer verbindet mit dem sche Vernunft als auch auf den moralischen Stand-
Glück keine emphatische Bestimmung mehr. In An- punkt der einzelnen Person.
lehnung an das hedonistische Kalkül sieht er einen Die Vertreter der Theorie des moralisch ernsthaf-
glücklichen Zustand bei Abwesenheit von Schmerz ten und glückswürdigen Lebens teilen die skeptische
und Langeweile als erreicht an. Die Annahme, dass Überzeugung, dass menschliche Praxis sich immer
wir existierten, um glücklich zu sein, hält er für einen unter der Bedingung epistemischer Unsicherheit
angeborenen Irrtum (Schopenhauer 1819–1844/ vollziehe und moralisches Verhalten mit keinen
1916, 729). Er spricht auch von der »Chimäre des Glücksgarantien einhergehe. Auch räumen sie ein,
positiven Glücks« (1851/1916, 433). Gegen die plato- dass man lebenspraktisch nie sicher über moralische
nischen, aristotelischen und stoischen Abhängig- Gründe verfügen könne und immer der Gefahr der
keitsthesen wendet er ein, dass die Erfahrung den Selbsttäuschung über das, was die einzelnen Hand-
Zusammenhang von Moralität und Glück nicht lungen letztlich bestimmt habe, ausgesetzt sei. Dieser
belege. Schopenhauer bezieht im Rahmen seiner Sachverhalt ist aber kein Anlass für eine generelle
Überlegungen zum Glück auch zeitphilosophische Moralitätsskepsis. Trotz der unbestreitbaren Fallibi-
Aspekte mit ein, wie sie für die Theorie des authenti- lität von Personen halten sie an der normativen Kraft
schen und glücklichen Augenblicks (s. u.) kennzeich- von Moralität sowohl ethisch als auch lebensprak-
nend sind (Schopenhauer 1819–1844/1916, 376 ff., tisch fest. Der epistemischen Unsicherheit begegnen
657 ff.). sie mit moralischer Ernsthaftigkeit, die sich nicht
Auch bei Nietzsche erfasst die Moralitätskritik den von eudaimonistischen Folgen abhängig macht. Der
Stellenwert des Glücks für das Leben von Personen. obsessiven Suche nach dem Glück begegnen sie mit
Von Zarathustra heißt es, dass er nicht nach dem dem Vorbehalt, dass diese praktisch ohnehin nur zu
Glück, sondern nach dem Werk trachte (Nietzsche Selbstbefangenheit führe und allein schon deshalb
1883–85/1980, 295 ff., 405 ff.). Den traditionellen Tu- nicht im Mittelpunkt der Lebensführung stehen
gendlehren hält er entgegen, dass sie den Menschen dürfe.
davon abhielten, ihre Potenziale zu entwickeln. Von Unabhängig von den Unwägbarkeiten des Schick-
Glück könne allenfalls im Sinne eines Gefühls des sals sieht Rousseau vor allem in den herrschenden
Anwachsens der Macht und der Überwindung von Sozialverhältnissen die Quelle menschlichen Un-
Widerstand die Rede sein (Nietzsche 1895/1980, glücks. Auch wenn erst eine tiefgreifende Revision
170). Glück folge entsprechend keinesfalls der Mora- der Sozialverhältnisse etwas an diesem Sachverhalt
lität, allenfalls bestimme der Mächtige seinen glück- verändern könne, bleibe der einzelnen Person keine
lichen Zustand als Tugend. andere Wahl, als auch unter den herrschenden Be-
dingungen Gerechtigkeit gegen sich und andere aus-
zuüben. Unter den Bedingungen epistemisch und
3. Glück und Moralität. Zusammenhänge, Verbindungen und Abgrenzungen 47

moralisch fragiler Sozialverhältnisse biete allein die standsbereich der Moralphilosophie. Diese könne in
Vernunft praktische Orientierung, zumal man das der Perspektive des moralischen Gesetzes nur Be-
Glück nicht suchen könne, ohne zu wissen, wo es dingungen für das gelingende Leben einer Person
sich befinde (Rousseau 1762/1979, 588). Letztlich vorgeben. Für das Verhältnis von Glück und Morali-
stehe Glück nur denjenigen offen, die gerecht seien. tät im engeren Sinne setzt Kant in der Kritik der rei-
Den Wunsch nach eigenem Glück hält Rousseau nen Vernunft deshalb das Kriterium der Würdigkeit
im Rahmen moralischer Vorgaben als Ausdruck ei- an: »Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu
nes gerechtfertigten Selbstinteresses für zulässig. Für sein« (KrV, A 809 f./B 837 f.).
die jeweilige Person sei die Sorge um das eigene Die Unabhängigkeitsthese tritt konturiert im Rah-
Glück unhintergehbar. In der Lebensführung sei ein men der Analyse der Antinomie der praktischen
unverfälschtes Glück (vrai bonheur) durch den prak- Vernunft hervor (Kant 1788/1968, 113 ff.). Nach die-
tischen Ausgleich zwischen Fähigkeiten und Mög- ser Antinomielehre ist der Satz, dass das Streben
lichkeiten auf der einen Seite sowie Bedürfnissen nach Glückseligkeit eine tugendhafte Gesinnung
und Wünschen auf der anderen Seite erreichbar. Da- hervorbringe, genauso falsch wie der Satz, dass tu-
bei könne es nicht darum gehen sich einzuschrän- gendhafte Gesinnung Glückseligkeit hervorbringe.
ken, weil das dazu führen würde, dass nicht ausge- Allerdings gelte für letzteren, dass er nicht schlech-
schöpft werde, was dem Individuum von Natur aus terdings, sondern nur unter der Bedingung falsch
möglich sei (Rousseau 1762/1979, 68 ff.). sei, dass die Existenz in Raum und Zeit als die ein-
Nach Kants Argumentation in der Grundlegung zige Daseinsart von Personen bestimmt werde.
zur Metaphysik der Sitten gilt nur für den guten Wil- Fichte zieht aus der Antinomie der praktischen Ver-
len einer Person, dass er ohne Einschränkung gut sei. nunft die Konsequenz, dass nicht das gut sei, was
Diese Auszeichnung sei darin begründet, dass der glücklich mache, sondern nur das glücklich mache,
Wille einer Person – wenn er denn gut ist – allein was gut sei. Ohne Moralität könne es kein Glück ge-
durch praktische Vernunft konstituiert werde (Kant ben (Fichte 1794/1971, 299).
1785/1968, 393 ff.). Entsprechend habe für Glück Die Theorie des moralisch ernsthaften und glücks-
bzw. Glückseligkeit sowie für Inhalt, Funktion und würdigen Lebens ist dadurch gekennzeichnet, dass
Wirkungen des Willens zu gelten, dass sie aufgrund sie moralische Bewertungen von Fragen des persön-
der mit ihnen verbundenen Bedingungen bestenfalls lichen Glücks unabhängig macht. Sie ist dabei von
bedingt gut seien. Kants moralphilosophische Aus- einem skeptischen Grundzug bestimmt, der als Re-
grenzung darf nicht als Kritik menschlichen Glücks aktion auf die Entfremdungen der modernen Sozial-
missverstanden werden. Es geht ihm um die gel- verhältnisse Einstellungen moralischer Ernsthaftig-
tungstheoretische Eingrenzung einer moralischen keit nahelegt, die in den Wechselfällen des eigenen
Ordnung, von der er keineswegs annimmt, dass sie Schicksals eine autarke Instanz repräsentieren. Weil
das Leben von Personen insgesamt ausfüllt. Das ei- sie moralisches Verhalten als notwendige Bedingung
gene Glück ist Kant zufolge bei ethischen Geltungs- für Glückswürdigkeit ausweist, führt sie allerdings
fragen in Abzug zu bringen, lebenspraktisch ist es mittelbar wieder eine Abhängigkeitsthese ein.
dagegen von höchstem Interesse. Ohnehin gebe es in
der menschlichen Lebensführung viel seltener Kon- Die Theorie des glücklichen
flikte zwischen gutem Willen und Glück als gemein-
und authentischen Augenblicks
hin angenommen werde. Kant geht genauso wie
Rousseau davon aus, dass eine Vielzahl von alltägli- Eine Sonderstellung im Kontext der philosophischen
chen Glücksvorstellungen und Glücksstrategien oh- Auslegungen des Verhältnisses von Glück und Mo-
nehin vordergründigen Präferenzen folge, die unab- ralität nimmt die Theorie des glücklichen und au-
hängig von ethischen Bewertungen allein schon le- thentischen Augenblicks ein. Sie unterscheidet sich
benspraktisch nicht angeraten seien. von den anderen Ansätzen darin, dass sie nicht mehr
Auf den Umstand, dass die Natur- und Sozialver- das geglückte Leben über die Zeit hinweg anstrebt,
hältnisse nicht im Einklang mit den Zwecken der sondern sich auf den erfüllten Augenblick eines un-
einzelnen Person stehen, kann nach Kant für die Be- bedingten Glücksmoments konzentriert und ent-
lange der Alltagswelt mit Klugheitsregeln reagiert sprechend auch von vornherein auf normative Vor-
werden (Kant KrV, A 806/B 834). Das persönliche gaben verzichtet.
Glück als solches falle aber nicht in den Gegen- In seinem Spätwerk entwickelt Rousseau – weitge-
48 II. Systematik des Glücksdenkens

hend unabhängig von seiner Theorie der morali- zeit. Als systematisch besonders anspruchsvolle Aus-
schen Ernsthaftigkeit und Glückswürdigkeit – Refle- deutung gilt die im Anschluss an Henri Bergson
xionen zum Glück als einem in sich geschlossenen (1859–1941) von Marcel Proust (1871–1922) entfal-
Aufmerksamkeitszustand. Die Kritik des Alltags- tete Konzeption. Proust beschreibt in Auf der Suche
lebens, nach der Personen in oberflächlichen sozia- nach der verlorenen Zeit die unwillkürliche Erinne-
len Beziehungen keinen Zugang zu authentischen rung als ein Erlebnis aufgehobener Zeit, welches die
Selbstverhältnissen finden, ist zunächst der gemein- gewohnten Abläufe des Alltagslebens durchbricht.
same Ausgangspunkt beider Ansätze. Rousseau wirft Dieses Erlebnis verbindet er mit einem unerhörten
dann aber die Frage auf, wie man einen flüchtigen Glücksgefühl, das mit einem Schlag alle Wechselfälle
Zustand Glück nennen könne, der uns nur in innere des alltäglichen Lebens als unbedeutend erscheinen
Unruhe versetze, weil er uns Vergangenes vermissen und sogar die eigene Sterblichkeit verblassen lasse.
und noch Zukünftiges verlangen lasse. Er entwickelt Den Grund des Glücks bestimmt Proust als Über-
im Gegenzug die Glückskonzeption einer andauern- griff der Vergangenheit auf die Gegenwart, der die
den Gegenwart, die durch die Abwesenheit von zeit- Gemeinsamkeit von gegenwärtigem und entferntem
lichen Abfolgen und Gefühlsschwankungen be- Augenblick kenntlich werden lasse. Diese Identität
stimmt ist. Ein solcher Zustand sei nicht exaltiert, zwischen Gegenwart und Vergangenheit falle nicht
aber ausreichend, das Bewusstsein zu erfüllen, ohne mehr in die Ordnung der Zeit und erzeuge das Er-
»Leere in der Seele« zu hinterlassen (Rousseau lebnis einer Existenz außerhalb der Zeit (Proust
1782/1978, 701 ff.). 1927/1976, 267 ff.).
Das Glück einer andauernden Gegenwart macht Auch bei Ludwig Wittgenstein (1889–1951; s. Kap.
Rousseau an besonderen Fällen der Naturerfahrung VI.3) finden sich Überlegungen zu Glückszustän-
aus. In ihnen herrsche existenzielle Aufmerksamkeit den, die nicht unter die Zeiterfahrungen des Alltags-
(le sentiment de l’existence), die weder von ausdrück- lebens fallen. Er verweist in diesem Zusammenhang
lichem Selbstbewusstsein überformt noch von Af- allerdings nur auf die immanente Ewigkeit außer-
fekten, Neigungen oder Interessen irritiert werde. halb der zeitlichen Ordnung: Nur wer nicht in der
Rousseau entwirft ein Erlebnis, das die Präsenz der Zeit, sondern in der Gegenwart lebe, sei glücklich
Dinge umfasst, ohne die eigene Existenz im selbstre- (Wittgenstein 1984, 167). Dem Verhältnis von Ge-
ferenziellen Sinne zu thematisieren. Er lässt sich da- genwart und Vergangenheit im glücklichen Augen-
bei auf eine Gratwanderung zwischen Erleben und blick geht Wittgenstein nicht nach.
Selbstvergessenheit ein. Er gesteht ein, dass Selbst-
vergessenheit letztlich Annäherung an den Tod be- Moralischer Zufall
deute. Ein Bewusstsein, das nichts von sich wisse,
drücke kein Leben mehr aus. Eine vollkommene Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts haben
Stille mache traurig und zeige uns das Abbild des To- Bernard Williams (1929–2003) und Thomas Nagel
des. (geb. 1937) eine Diskussion über moralischen Zufall
Rousseau ist sich über den eskapistischen Zug des (moral luck) eröffnet, an der sich eine Reihe von
Glücks der andauernden Gegenwart im Klaren, das namhaften Vertretern der angloamerikanischen Phi-
ersichtlich Aspekte von Weltflucht und Selbstverges- losophie beteiligt haben (Nagel 1979; Williams 1981;
senheit zeigt. Er sieht in ihm denn auch eine Kom- Statman 1993; s. Kap. VI.9). In dieser Diskussion geht
pensation für die unglücklichen Zustände, die aus es nicht nur um das Verhältnis von Glück und Mora-
den entfremdenden Sozialverhältnissen hervorge- lität, sondern vor allem um die Frage, ob Glück im
hen. Aus der Reaktion auf die Entfremdungserfah- Sinne des glücklichen Zufalls unmittelbare Wirkun-
rungen ergibt sich ein sehr mittelbares Verhältnis zur gen auf die Moralität einer Person und die ethische
Moralität, das nicht aus einer indifferenten oder ei- Bewertung ihrer Handlungen habe. Ist es in den
gennützigen Haltung hervorgeht, sondern von ei- Hauptströmungen der Ethik bis dahin im Wesentli-
nem Authentizitätsgedanken beherrscht wird, der chen um den möglichen Einfluss der Moralität auf
normative Fragestellungen in den Hintergrund das Glück gegangen, wird die Problemstellung nun-
drängt. mehr grundsätzlich geändert. Jetzt wird erwogen,
Für das Motiv des glücklichen und authentischen dass sich Glück in der Gestalt des glücklichen oder
Augenblicks als Aufhebung der Zeit finden sich etli- unglücklichen Zufalls intern auf das moralische Be-
che Belege in der Philosophie und Literatur der Neu- wusstsein und die ethischen Bewertungen auswirkt.
3. Glück und Moralität. Zusammenhänge, Verbindungen und Abgrenzungen 49

Der Ausdruck ›moralischer Zufall‹ ist allein schon tofahrer, der trotz seines Verhaltens niemanden schä-
vom semantischen Zuschnitt eine Herausforderung, digt, wird moralisch und rechtlich anders behandelt,
weil gemeinhin angenommen wird, dass Zuschrei- als derjenige, der in einer vergleichbaren Situation
bungen des Prädikats ›moralisch‹ gerade nicht in zu- einen Unfall verursacht. Insofern erzeugt der mora-
fälligen Umständen begründet seien. Mit dem Be- lische Zufall in unserer Bewertungspraxis eine skep-
griff des moralischen Zufalls soll der Sachverhalt tische Haltung hinsichtlich des gemeinhin angenom-
angesprochen werden, dass wir Personen unter be- menen Bedingungsverhältnisses zwischen Verant-
stimmten Bedingungen auch dann zum Gegenstand wortung und Einflussmöglichkeiten.
moralischer Bewertungen machen, wenn sie die Die Debatte um den moralischen Zufall hat sich
Handlungssituation nicht beherrscht haben. von Anbeginn auf grundsätzliche moralphilosophi-
Williams meldet grundsätzliche Zweifel an, dass sche Fragestellungen konzentriert. Dabei ist in der
Moralität gegenüber dem Zufall immun sei. Er ver- Regel von einer durch den moralischen Zufall er-
tritt insofern eine Abhängigkeitsthese, die aber – an- zeugten Konfrontation zwischen Glück und Morali-
ders als in den klassischen Versionen – zulasten der tät ausgegangen worden. Die angeführten skepti-
Moralität formuliert wird. Der Nachweis, dass Mora- schen Haltungen sind aber in ihrer Reichweite be-
lität gegenüber moralischem Zufall nicht immun sei, grenzt, weil sie nicht das gesamte Spektrum des
ist für ihn Anlass zur Revision des Stellenwerts von Glücksbegriffs, sondern nur einen Ausschnitt seines
Moralität. Sie dürfe nicht länger als Instanz letzter semantischen Felds – den glücklichen Zufall – be-
Gerechtigkeit angesehen werden. Von ihr könnten handeln. Letztlich betrifft der moralische Zufall nur
auch weiterhin Entscheidungen und Wertungen ih- unsere Bewertungspraxis und ist insofern noch kein
ren Ausgang nehmen, ihr normatives Gewicht müsse Anlass für prinzipielle ethische Revisionen. Aller-
aber deutlich reduziert werden (Williams 1981). dings kann die Rolle des glücklichen oder unglückli-
Auch Thomas Nagel räumt ein, dass Moralität auf chen Zufalls im Leben von Personen Aufschluss über
tiefgreifende Weise dem moralischen Zufall ausge- die conditio humana geben (Rescher 1995).
setzt sei. Er zeigt, dass eine umfassendere Analyse
von Handlungssituationen zur Erosion moralischer Erträge
Beurteilungen führen könne. Moralische Beurteilun-
gen seien in weit größerem Maße von nicht unter der Die Frage nach dem Glück ist genauso wie die Frage
Kontrolle des Beurteilten stehenden Vorgängen ab- nach der Moralität eine philosophische Herausfor-
hängig als es zunächst den Anschein habe. Die ver- derung, welche die Üblichkeiten der alltäglichen Le-
antwortliche Person als solche verschwinde gera- benswelt überschreitet. Das dauerhafte Glück, der
dezu, wenn man sich auf die Faktoren der Hand- glückliche Zufall sowie der glückliche und authenti-
lungssituation konzentriere, die nicht unter ihrer sche Augenblick sind gleichermaßen Aspekte des
Kontrolle gestanden haben (Nagel 1979). Die Be- philosophischen Verständnisses von Glück wie von
rücksichtigung von Handlungsfolgen scheine uns in Verläufen personalen Lebens. Für den moralischen
einer Weise zu einem Teil derjenigen Welt zu ma- Standpunkt stellen sie jeweils unterschiedliche Her-
chen, über die wir nicht verfügen können und die ausforderungen dar. Auch wenn Fragen nach dem
keinen Anhalt dafür bietet, uns als Subjekte zu ver- glücklichen Zufall und die Reflexion über den au-
stehen. thentischen Augenblick verstärkt das Interesse der
Nagel unterscheidet in diesem Zusammenhang neueren Philosophie geweckt haben, ist es die Ausei-
zwischen dem konstitutiven Zufall von Neigungen, nandersetzung mit dem dauerhaften Glück, welche
Eigenschaften und Fähigkeiten, zufälligen Umstän- die philosophische Interpretation des Verhältnisses
den oder Situationen, denen eine Person jeweils aus- von Glück und Moralität beherrscht.
gesetzt ist, sowie dem zufälligen äußeren Umstand, Für das Verhältnis von Glück und Moralität erge-
in eine moralisch herausfordernde Situation zu gera- ben sich aus den verschiedenen Begriffs- und Theo-
ten – wie etwa in Deutschland zur Zeit der national- riekonstellationen zwei Ansatzpunkte: Es ist entwe-
sozialistischen Herrschaft. Es sei ein auffälliges der von einem sachlichen bzw. phänomenalen Zu-
Kennzeichen des moralischen Zufalls, dass er Be- sammenhang oder von einer semantischen und
wertungen der moralischen Situation von den Fol- systematischen Unabhängigkeit auszugehen. Wäh-
gen bzw. dem Eintreten oder Nichteintreten eines rend in den Hauptströmungen der älteren Philoso-
Ereignisses abhängig macht. Ein rücksichtsloser Au- phie die erste Option vorherrschend ist, werden in
50 II. Systematik des Glücksdenkens

der modernen Philosophie zunehmend Reflexions- für Alle und Keinen [1883–85]. In: Ders.: Sämtliche
modelle entwickelt, welche die Frage nach dem Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 4 (Hg. G.
Glück von moralphilosophischen Erwägungen frei- Colli/M. Montinari). München 1980.
halten. Dabei sind Verschiebungen in der jeweils un- –: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1895]. In:
terstellten Glückssemantik zu beobachten. Bestim- Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe.
mungen des dauerhaften Glücks kommen vorrangig Bd. 6 (Hg. G. Colli/M. Montinari). München 1980,
in Theorien zur Anwendung, die Glück und Morali- 165–254.
tät intern zueinander in Beziehung setzen. Ansätze, Platon: Politeia. Der Staat. Werke in 8 Bänden. Grie-
chisch-deutsch. Vierter Band. Darmstadt 1971.
die sich konzeptionell am glücklichen Zufall oder
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
am authentischen Augenblick orientieren, verzich-
Bd. 13: Die wiedergefundene Zeit [1927]. Frankfurt
ten in der Regel auf moralphilosophische Akzentuie-
a. M. 1976.
rungen. Es ist auffällig, dass in der modernen Philo- Rescher, Nicholas: Luck: The Brilliant Randomness of
sophie Glück in sehr fragiler Gestalt erscheint. Seine Everyday Life. New York 1995.
Flüchtigkeit lassen die Momente der Subjektivität, Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder Von der Erziehung
Einsamkeit und Endlichkeit im personalen Leben [1762]. In: Ders.: Werke. Bd. III. München 1979,
schärfer hervortreten. Moralität wird nicht zuge- 3–641.
traut, gegen die Blindheit des Schicksals eine eigen –: Die Träumereien des einsamen Spaziergängers
geartete Ordnung zu etablieren, die eine Form von [1782]. In: Ders.: Werke. Bd. II. München 1978, 647–
›höherer‹ Gerechtigkeit ermöglicht. 755.
Vor dem Hintergrund der schicksalsbedingten Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstel-
Fragilität des Glücks dürfte es unvermeidlich sein, lung [1819–1844]. In: Ders.: Sämtliche Werke (Hg.
Bestimmungen des Glücks und der Moralität von- Julius Frauenstädt). Bd. 2 und 3. Leipzig 1916.
einander abzusetzen. Daraus müsste noch keine –: Aphorismen zur Lebensweisheit [1851]. In: Ders.:
strikte Unabhängigkeitsthese folgen. Der moralische Sämtliche Werke (Hg. Julius Frauenstädt). Fünfter
Standpunkt kann sich bei aller Fragilität des Schick- Band: Parerga und Paralipomena, Erster Band. Leip-
sals als die lebenspraktisch vorzugswürdige Option zig 1916, 329–530.
erweisen, weil mit eigennützigen Glücksstrategien Seneca, Lucius Annaeus: De vita beata. In: Ders.: Philo-
das flüchtige Glück nicht besser zu fassen ist. sophische Schriften. Lateinisch und deutsch. 2. Bd.
Darmstadt 1971, 1–77.
Statman, Daniel (Hg.): Moral Luck. Albany 1993.
Literatur Williams, Bernard: Moral Luck. Cambridge 1981.
Annas, Julia: The Morality of Happiness. New York Wittgenstein, Ludwig: Tagebücher 1914–1916. In: Ders.:
1993. Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1984, 87–187.
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Dieter Sturma
Düsseldorf/Zürich 2001.
Epikur: An Menoikeus. In: Ders.: Wege zum Glück.
Griechisch-lateinisch-deutsch. Düsseldorf 2003.
Fichte, Johann Gottlieb: Einige Vorlesungen über die
Bestimmung des Gelehrten [1794]. In: Ders.: Werke.
Bd. VI. Berlin 1971, 291–346.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781].
Hamburg 1998.
–: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. In:
Ders.: Werke (Akademieausgabe). Bd. IV. Berlin 1968,
387–463.
–: Kritik der praktischen Vernunft [1788]. In: Ders.:
Werke (Akademieausgabe). Bd. V. Berlin 1968,
1–163.
La Mettrie, Julien Offray de: Discours sur le bonheur
[1748]. Banbury 1975.
Nagel, Thomas: Mortal Questions. Cambridge 1979.
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch
51

4. Glück und Schönheit. die ihnen die Phantasie gewohnheitsmäßig verleiht,


in dankbarer Erinnerung an alle schon früher ge-
Zwischen Anschauung währten Genüsse« (36). Ihr setzt Stendhal entgegen,
und Rausch was er das »Ideal der Schönheit« (34) oder die »wirk-
liche«, die »strahlende Schönheit« (36, 39) nennt; das
ist die Schönheit »vom künstlerischen Standpunkt«
»Die Schönheit ist nur ein Versprechen des Glückes«, (38) her. Die Wirkung dieser Schönheit wird gerade
hat Stendhal 1822, im Auslauf der Romantik, in sei- von den Menschen am lebhaftesten erfahren, »die
nem Buch Über die Liebe geschrieben (1822/1911, zur Liebe aus Leidenschaft« nicht fähig oder willens
35; s. Kap. V.11). Diese Formel benutzen heute Auto- sind (40). Ganz im Gegensatz zur postmodernen In-
ren wie Winfried Menninghaus (2003) und Alexan- tegration von Schönheit und Glück, Kunst und Le-
der Nehamas (2007), um gegen die Entzweiung von ben, Ästhetik und Ethik gehört Stendhals berühmte
Schönheit und Leben in der modernen Ästhetik zu Formel daher in eine Theorie der Entzweiung. So hat
polemisieren. So meint Nehamas (Nehamas 2007, sie Charles Baudelaire erläutert: Wenn Stendhal
Kap. I), zuerst habe die ästhetische Moderne den »sagt, daß das Schöne nur die Verheißung des Glücks
Glauben an die Schönheit zerstört, denn Schönheit sei« (Baudelaire 1863/1989, 216), dann stellt er damit
sei an die Attraktivität der Erscheinung gebunden, eine »geschichtliche Theorie des Schönen« auf, der
während die Moderne allein an den Fragen der sogleich eine »Theorie des einzigen und absoluten
künstlerischen Form interessiert sei. Im zweiten Schönen« gegenübergestellt werden muss, »um dar-
Schritt habe die ästhetische Moderne sodann jede zulegen, daß das Schöne jederzeit unweigerlich ein
Verbindung zwischen der künstlerischen Form und Doppeltes ist« (215). »Das Schöne besteht aus einem
den Erfüllungen und Vergnügungen, die zum Glück ewigen, unveränderlichen Element […] und einem
eines erfüllten Lebens gehören, durchtrennt. Nach relativen, von den Umständen abhängigen Element«
Nehamas schaut die ästhetische Moderne mit Ver- (215), das das Glück erfüllter Leidenschaft ver-
achtung auf das Glück herab, in dem sie nur niedrige spricht. Diese »Zweiheit« der Schönheit versteht
Sinnlichkeit (Kant) oder kulturindustriell produzier- Baudelaire als »eine unausweichliche Folge der
tes Einverständnis (Adorno) zu sehen vermöge. Da- menschlichen Gespaltenheit« (216). Sie bewirkt, dass
gegen setzt Nehamas Stendhals Formulierung – die das Verhältnis zwischen Schönheit und Glück in sich
Schönheit als Versprechen des Glücks – als die Pro- selbst in Einheit und Gegensatz gespalten ist: auf der
grammformel eines Denkens, das sich vornimmt, einen Seite steht das »geschichtliche« Schöne, das
den positiven Zusammenhang zwischen der Schön- den Liebenden als Erinnerung oder Versprechen ih-
heit und dem Glück erfüllten Lebens zu rehabilitie- res Glücks erscheint, auf der anderen Seite das »wirk-
ren (Nehamas 2007, 62 f.). Dass die Schönheit ›Ver- liche« (Stendhal) oder »absolute« (Baudelaire)
sprechen des Glücks‹ ist, versteht Nehamas so: Schöne, das wir »vom künstlerischen Standpunkt«,
Schönheit und Glück, das ästhetische und das ethi- jenseits der Genüsse der Leidenschaft erfahren. Die
sche Gelingen, müssen als Elemente einer umfassen- Schönheit entzweit sich in das Schöne in Einheit mit
den, integrativen Lebenskunst gedacht werden. Aus dem Glück des Lebens und das Schöne im Gegensatz
Stendhals Aperçu wird bei Nehamas das Motto einer zum Glück im Leben.
postmodernen Versöhnungslehre (mit ein bisschen
Restrisiko; Nehamas 2007, 133). Damit entgeht ihm Platon: Die Antinomie des Eros
die kritische Einsicht, die Stendhals antiromantische
Formulierung auf den Punkt bringt. Indem Stendhal das Verhältnis von Schönheit und
›Antiromantisch‹ kann Stendhals Formulierung Glück in einem Traktat Über die Liebe behandelt,
genannt werden, weil sie – ganz im Sinne seiner folgt er dem platonischen Muster, als dessen Reaktu-
Pointe »In der Liebe genießt man immer nur die Il- alisierung auch Nehamas seine integrative Lebens-
lusion, die man sich selbst schafft« (Stendhal 1822/ kunst versteht. Platon wird zum Anknüpfungspunkt
1911, 19) – auf Desillusionierung zielt. Wenn Sten- für alle antimodernen Versuche, Schönheit und
dhal schreibt: »Die Schönheit ist nur ein Versprechen Glück wieder zu verknüpfen, weil er im Symposium
des Glückes«, dann spricht er darin von der Schön- eine Theorie vorstellt, die den inneren Zusammen-
heit der oder des Geliebten – bloß der Schönheit also, hang von Schönheit und Glück aus der Erfahrung
so wie sie den Liebenden erscheint: »die Schönheit, der Liebe, als Eros, erläutert. Nach Diotimas Rede
52 II. Systematik des Glücksdenkens

über die Liebe, auf die Sokrates sich beruft (Sympo- ander entgegengesetzte Elemente. – Von der Seite
sion 201d–212c), gilt alle Liebe dem Schönen: Wir des Schönen her: Das Schöne ist zum einen Gegen-
lieben nur, was uns schön erscheint; man kann nicht stand eines Begehrens, das ihm selbst gilt und sich in
lieben, was man hässlich findet. Die Liebe »begehrt« ihm erfüllt, und zum anderen Medium, wenn nicht
das Schöne: Sie ist gebunden an die Schönheit der gar bloßer Anlass eines Begehrens, dessen Erfüllung
Erscheinung. Zugleich aber geht das Begehren der über den schönen Gegenstand hinausgeht und der
Liebe immer über die schöne Erscheinung hinaus. gelingenden Betätigung der menschlichen Vermö-
Die Liebe, so Diotima nach Sokrates, »geht gar nicht gen gilt; das Schöne ist erst Telos, dann wieder bloßes
auf das Schöne«, sondern auf »die Erzeugung und Mittel. – Von der Seite des Glücks her: Platon be-
Ausgeburt im Schönen«. Der Mensch begehrt das stimmt das Glück als Zustand fruchtbarer Erzeu-
Schöne, weil er nur im Schönen »erzeugen« und gung im Schönen, die eine »göttliche Sache« sei. Was
»fruchtbar« sein kann und dies eine »göttliche Sa- garantiert aber, dass das Glück derjenigen Erzeu-
che« ist. »Eine einführende und geburtshelfende gung, die im Schönen möglich ist, zugleich das Glück
Göttin also ist die Schönheit für die Erzeugung« als Inbegriff eines gelingenden Lebensvollzugs, in
(Symposion 206c-e). Das Begehren der Liebe ist mit- der Betätigung der menschlichen Vermögen ist? Was
hin ein Zweifaches: Begehren des Schönen und Be- stellt sicher, dass das doppelte Begehren der Liebe
gehren des Erzeugens, das nur im Schönen möglich nicht einem zweifachen, vielleicht inkommensura-
ist und in dem das Gute, das Glück besteht. Im lie- blen Glück, im Schönen und durchs Schöne, gilt? Die
benden Begehren sind das Schöne und das Glück Liebe scheint mit sich selbst entzweit: präsentisch, in
nur so verknüpft, dass sie voneinander unterschie- der Hingabe an die Gegenwart des schönen Gegen-
den bleiben. standes oder Gegenübers; futurisch, in Erwartung
In der traurigen Welt der evolutionären Ästhetik, auf, ja in der Suche nach den Möglichkeiten eigenen
die Platons Liebestheorie biologisch zu ›validieren‹ Glücks, die sich dadurch eröffnen.
behauptet, besteht das Glück der Erzeugung, die nur
im Schönen möglich ist, im reproduktiven Erfolg Zweierlei Platon: Selige Anschauung
(vgl. Menninghaus 2003, Kap. II–III): Wir lieben
und rauschhafte Selbststeigerung
demnach das Schöne, weil es uns eine Erzeugung in
Aussicht stellt, deren Hervorbringungen die beste Entlang dieser Bruchlinie zerfällt die platonische
Chance haben sollen, sich gegen andere im Wett- Liebestheorie und hinterlässt der Tradition zwei
kampf um knappe Ressourcen durchzusetzen. Pla- ganz verschiedene Möglichkeiten, den Zusammen-
ton hingegen versteht das Begehren der Liebe nicht hang von Glück und Schönheit zu denken. Diese bei-
nur so, dass es ebenso die Schönheit des Körpers wie den Möglichkeiten sind in der Moderne in den ein-
der Seele umfasst, sondern dass das Glück der »Er- ander schroff entgegengesetzten Ästhetiken Scho-
zeugung«, auf das das Begehren des Schönen gerich- penhauers und Nietzsches am entschiedensten
tet ist, im Hervorbringen des Guten, des Gelungenen vertreten worden (Simmel 1907/1990).
besteht. Das gilt für alle Formen fruchtbaren Her- Arthur Schopenhauer (s. Kap. V.6) knüpft an die
vorbringens, vom Zeugen eines Kindes bis zu dem, Bestimmung des Schönen an, in der die präsentische
»was der Seele ziemt zu erzeugen und erzeugen zu Seite der platonischen Theorie ihren deutlichsten
wollen. Und was ziemt ihr denn? Weisheit und jede Ausdruck gefunden hat: die Bestimmung aus dem
andere Tugend, deren Erzeuger auch alle Dichter Symposium und dem Phaidros, nach der das Schöne
sind und alle Künstler denen man zuschreibt erfin- Gegenstand eines Schauens ist, das ihn »anschauend
derisch zu sein« (Symposion 209a). verehrt« und sich in ihm erfüllt (Symposion 211c-e;
Platons Theorie des Doppelbegehrens der Liebe, Phaidros 250e). Dieses Motiv verknüpft sich mit dem
das dem Schönen und durchs Schöne dem Glück aristotelischen Begriff der theoria (Ritter 1953/1977)
fruchtbarer Erzeugung gilt, ist so ingeniös wie fragil; und wird darüber zur zentralen Idee derjenigen Äs-
sie ist von Anfang an, schon in Platons Text, von ei- thetik des Christentums, nach der das höchste Glück
ner Spannung durchzogen, an der sie zerbrechen in der Schau der Schönheit Gottes besteht, die erst
musste (zum Folgenden vgl. Spaemann 1989, 85–95, nach dem Tod, im Jenseits, in aller Reinheit möglich
über »Die Antinomien des Glücks« bei Aristoteles). ist (Eco 1987/1991; Rentsch 1987; s. Kap. III.4 und
Beide Begriffe, das Schöne wie das Glück, die in der IV.1). Das nimmt Schopenhauer auf: Der ästhetische
Liebe verbunden sein sollen, spalten sich in zwei ein- »Zustand« ist »reine Kontemplation, Aufgehn in der
4. Glück und Schönheit. Zwischen Anschauung und Rausch 53

Anschauung, Verlieren ins Objekt, Vergessen aller das Schöne, so Nietzsche in größter Nähe zu Platons
Individualität, Aufhebung der dem Satz vom Grunde Lehre vom dichterischen Enthusiasmus (vgl. Menke
folgenden und nur Relationen fassenden Erkennt- 2008, Kap. 4 und 6), ebenso aus dem Rausch erschaf-
nißweise« (Schopenhauer 1819/1977, 253, § 38). Da- fen wird wie es seinen Betrachter in Rausch versetzt.
rin besteht das Erfassen des Schönen, und dieses Er- »Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der
fassen ist, gerade weil in ihm alles Begehren, alles Kraftsteigerung und Fülle« (Nietzsche 1889/1988,
»Wollen« erstirbt und es mithin in sich selbst jenseits 116): Das Schöne ist nur dadurch und dazu da, dass
des Gegensatzes von Leiden und Lust steht, Gegen- die Kräfte des Lebens zu Tun und Ausdruck so ge-
stand eines rein ästhetischen Genusses (257). Soweit steigert werden, dass sie alles gewöhnliche Maß und
man, in Abweichung von Schopenhauers eigener Re- Maßhalten überschreiten und im eminenten Sinn
deweise, diese »ästhetische Freude« über das An- des Wortes glücken; »exuberance is beauty« (William
schauen des Schönen als »ästhetisches Glück« be- Blake, zit. Bataille 1949/1975, 34).
zeichnen kann, ist es dem Glück als gelingender Ver- Nietzsche versteht seine Zurückweisung von Scho-
wirklichung menschlicher Ziele und Vermögen penhauers Ästhetik der Kontemplation als direkte
kategorial entgegengesetzt (vgl. Seel 1995, 101–114; Fortführung seiner Kritik an Kants Lehre von der
Theunissen 1991): Die Einheit von Schönheit und »Interesselosigkeit« der Lust am Schönen, die er als
Glück zu denken bedeutet – das ist die radikale Kon- ästhetische Indifferenz gegenüber dem Leben deutet.
sequenz aus Schopenhauers Reformulierung der ei- »Kant oder Stendhal?« lautet daher für Nietzsche die
nen Hälfte der platonischen Liebestheorie –, das Grundalternative der Ästhetik (Nietzsche 1887/1988,
Glück ästhetisch zu denken und dem Leben, dem 347). Kant jedoch versteht unter Interesselosigkeit,
Erfolg oder dem Gelingen der Praxis gegenüber zu dass die Lust am Schönen nicht, wie die am Ange-
stellen. Die Einheit von Schönheit und Glück zu den- nehmen, von der »Vorstellung der Existenz eines Ge-
ken, heißt zu verstehen, dass es Glück nur im oder genstandes« abhänge (Kant 1790/1983, 280), son-
am Betrachten des Schönen und nicht im Vollzug des dern allein davon, »was ich aus dieser Vorstellung in
Lebens gibt. mir selbst mache« (281). In der Lust am Schönen gilt:
Das hat Friedrich Nietzsche (s. Kap. V.7) als Scho- »kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der
penhauers »bosärtig geniale[n] Versuch« bezeichnet, Vernunft, zwingt den Beifall ab« (287). Daher ent-
»zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwer- spricht bei Kant der negativen Bestimmung der äs-
thung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die thetischen Lust, dass sie interesselos ist, die positive
grossen Selbstbejahungen des ›Willens zum Leben‹, Bestimmung, dass sie die Lust an einer »Belebung«
die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu füh- der eigenen Vermögen und Kräfte in ihrem ästheti-
ren« (Nietzsche 1889/1988, 125): Schopenhauer be- schen »Spiel« ist (297 f.), die über alle Zweckmäßig-
nutzt die platonische Idee des Glücks im Anschauen keit in praktischen und theoretischen Vollzügen
des Schönen, um die Möglichkeit des Glücks im Le- hinausgeht (vgl. Avanessian/Menninghaus/Völker
ben ›nihilistisch‹ zu bestreiten. Dagegen greift Nietz- 2009). Diesem Motiv der kantischen Ästhetik steht
sche die andere platonische Idee auf: die Möglichkei- Nietzsche viel näher als seine pauschale Kritik am
ten ›fruchtbarer Erzeugung‹, die durch die Anschau- kantischen »désintéressement« vermuten lässt
ung des Schönen eröffnet werden. Gegen die Lehre (1887/1988, 347), wenn er die Lust am Schönen so
vom l’art pour l’art setzt Nietzsche die Behauptung: deutet, dass sie auf eine Idee des Glücks führt, das
»Die Kunst ist das grosse Stimulanz zum Leben« nicht bloß im Erfolg des Überlebens oder der Befrie-
(127). Dafür zitiert Nietzsche zustimmend Stendhal, digung von Bedürfnissen (Thomä 2003, 143–169; s.
»der das Schöne einmal une promesse du bonheur Kap. V.8), sondern in der ungeahnten Steigerung –
nennt« (1887/1988, 347): »Schopenhauer hat Eine »Belebung« (Kant) – seiner Möglichkeiten besteht.
Wirkung des Schönen beschrieben, die willen-cal- Das sind die beiden einander antinomisch gegen-
mirende, – ist sie auch nur eine regelmässige? Sten- überstehenden Modelle für den Zusammenhang von
dhal, wie gesagt, eine nicht weniger sinnliche, aber Glück und Schönheit, zu denen die Moderne jeweils
glücklicher gerathene Natur, hebt eine andere Wir- einen der beiden Züge der platonischen Liebestheo-
kung des Schönen hervor: ›das Schöne verspricht rie radikalisiert: Entweder erfüllt sich im seligen An-
Glück‹, ihm scheint gerade die Erregung des Willens schauen des Schönen ein Glück, das dem Leben
(›des Interesses‹) durch das Schöne der Thatbestand« grundsätzlich verstellt ist, oder durch das Schöne er-
(348 f.). Das Schöne leistet die Willenserregung, weil öffnen sich Möglichkeiten einer Steigerung des Le-
54 II. Systematik des Glücksdenkens

bens, die es über seine gewöhnlichen Beschränkun- tischen Tätigkeit, zwar von denjenigen Tätigkeitsfor-
gen hinausführen. Beide Varianten des modernen men strikt unterschieden zu sein, die gültige Wir-
Platonismus sind sich in einem einig (und darin dem kungen hervorbringen und insofern die »Wirklich-
postmodernen Rückgriff auf Platons Liebestheorie keit« ausmachen (Schiller 1795/1980, 656 f.), zugleich
gleichermaßen entgegengesetzt): dass das ästheti- aber, in ihrer Unwirklichkeit, gerade die Erfüllungs-
sche Glück das des gewöhnlichen Lebens nicht be- oder Gelingensform und insofern der »Grund der
stätigt und verdoppelt, sondern unterbricht und Möglichkeit« (637) der wirklichen Tätigkeitsformen
radikal transformiert. Zugleich aber zeigt sich im zu sein. Diese Dialektik des ästhetischen Scheins re-
Gegensatz beider Varianten des ästhetischen Plato- formuliert Theodor W. Adorno (s. Kap. VI.7) im
nismus die grundsätzliche, unauflösbare Spannung, Bruch mit der Tradition einer idealistischen Ästhetik
die im ästhetischen Denken der Moderne zwischen symbolischer Bedeutungen im Rückgang auf das
zwei Grundmotiven herrscht: entweder das Schöne platonische Motiv des (erotischen) Strebens nach
als es selbst und um seiner selbst willen (um des dem Schönen: »Die unstillbare Sehnsucht angesichts
Glücks willen, das sich in seiner Betrachtung ein- des Schönen, der Platon mit der Frische des Zum
stellt) ernst zu nehmen oder das Schöne durch seine ersten Mal die Worte fand, ist die Sehnsucht nach der
verändernden Wirkungen in unserem Leben (durch Erfüllung des Versprochenen. Es ist das Verdikt über
das Glück, das es uns zu erlangen verspricht) zu die idealistische Philosophie der Kunst, daß sie die
rechtfertigen. Formel von der promesse du bonheur nicht einzu-
holen vermochte« (Adorno 1970/1974, 128). In der
Ästhetische Utopie: Glück im Schein Erfahrung der Schönheit geht es nicht um Bedeu-
tungen, sondern um »Erfüllung«. Zugleich bleibt die
Die Ästhetiken Schopenhauers und Nietzsches bil- Erfüllung in der Erfahrung der Schönheit ein Ver-
den eine Antinomie, weil beide eine gültige Einsicht sprechen. Deshalb ist »der Fleck der Lüge von Kunst
formulieren. Nietzsches Einsicht besagt, dass das nicht wegzureiben; nichts bürgt dafür, daß sie ihr ob-
Glück der Schönheit darin besteht, die Vollzüge des jektives Versprechen halte« (129). »Kunst ist das Ver-
Lebens in ungeahnter Weise gelingen zu lassen: Nur sprechen des Glücks, das gebrochen wird« (205); sie
weil das Leben in der Erfahrung der Schönheit seine ist die »Allegorie scheinlos gegenwärtigen Glücks,
eigenen Möglichkeiten erfüllt sieht, ist die ästheti- mit der tödlichen Klausel des Schimärischen: daß es
sche Erfahrung eine Erfahrung des Glücks. Schopen- nicht ist« (197). Erfüllung, Glück ist in der Schönheit
hauers Einsicht besagt, dass das Glück der Schönheit (der Kunst) ebenso an- wie abwesend, ebenso gegen-
darin besteht, die Vollzüge des Lebens in radikaler wärtig wie aufgeschoben. Das definiert die ästheti-
Weise zu suspendieren: Nur weil das Glück die Wirk- sche Wirklichkeit des Glücks als Schein oder »appa-
lichkeit des Lebens übersteigt, ist die Erfahrung des rition«: Das Glück erscheint in der Schönheit. »Sein
Glücks eine ästhetische Erfahrung. Beide Einsichten Anspruch zu sein erlischt im ästhetischen Schein,
zusammen formulieren das Paradox, durch das was nicht ist, wird jedoch dadurch, daß es erscheint,
Glück und Leben in der Erfahrung der Schönheit versprochen. Die Konstellation von Seiendem und
verbunden sind: das Paradox, dass es Glück nur jen- Nichtseiendem ist die utopische Figur von Kunst«
seits des Lebens gibt, während doch Glück die Erfül- (347). Die Erfahrung der Schönheit ist die Erfahrung
lungsform des Lebens ist. Dieses Paradox definiert wirklichen, »scheinlos gegenwärtigen« Glücks, die
die Erfahrung der Schönheit als Schein. Oder: Weil aber nur im Schein gemacht werden kann: die ein
das Verhältnis von Leben und Glück ein Paradox bil- bloßes Versprechen bleibt, von dem man niemals
det, ist die Erfahrung des Glücks an die der Schön- weiß, ob es eingelöst werden kann – ob es eine Lüge
heit gebunden – eine ästhetische Erfahrung. ist.
Die Grundzüge der Kategorie des ästhetischen Das enthält zwei Seiten. Erstens: Die Erfahrung
Scheins (die weder in Schopenhauers noch in Nietz- der Schönheit ist die Erfahrung des Glücks als Erfah-
sches später Ästhetik eine Rolle spielt) haben Schil- rung der Erfüllung. ›Erfüllung‹ heißt, dass etwas
lers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Men- glückt. Ohne Bezug auf die Erwartungen, die unsere
schen umrissen und Adornos Ästhetische Theorie Versuche, unsere Praktiken antreiben, kann nichts
ausgeführt (vgl. Düttmann 2008). Dabei bezeichnet als Erfüllung erfahren werden. Zugleich geht die
bereits bei Friedrich Schiller der Begriff des glückliche Erfüllung über jede Erwartung hinaus;
»Scheins« den eigentümlich Doppelstatus der ästhe- die glückliche Erfüllung ist eine Übererfüllung der
4. Glück und Schönheit. Zwischen Anschauung und Rausch 55

Erwartungen, die unsere Praktiken antreibt. Solchem Place of Beauty in a World of Art. Princeton/Oxford
Glücken begegnen wir im Schönen: Schön sind 2007.
Dinge, die unsere praktischen Erwartungen über un- Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine
sere praktischen Vorhaben hinaus erfüllen. Zweitens: Streitschrift [1887]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kriti-
In der Schönheit übererfüllen sich unsere Praktiken sche Studienausgabe. Bd. 5. Berlin/New York 21988,
nur deshalb über alle Erwartung hinaus, weil die 245–412.
Schönheit über alle Praxis hinausgeht. Die Erfah- –: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Ham-
rung der Schönheit ist die eines ästhetischen Tuns. mer philosophirt [1889]. In: Ders.: Sämtliche Werke.
Kritische Studienausgabe. Bd. 6. Berlin/New York
Ein ästhetisches Tun ist ein Tun im oder zum Schein: 2
1988, 55–161.
kein wirkliches Tun, keine Praxis, die von unseren
Platon: Phaidros. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt
Erwartungen und Vorhaben gesteuert ist, sondern
a. M./Leipzig 1991, Bd. VI, 9–149.
ein Tun, in dem sich Kräfte spielerisch-selbsttätig –: Symposion. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt
entfalten, ohne vom Subjekt der Praxis gesteuert zu a. M./Leipzig 1991, Bd. IV, 53–183.
sein. Die Augenblicke des ästhetischen Glücks sind Rentsch, Thomas: Der Augenblick des Schönen. Visio
solche »des Überwältigtwerdens, der Selbstverges- beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee. In:
senheit«, »eigentlich Augenblicke, in denen das Sub- Helmut Bachmeier/Thomas Rentsch (Hg.): Poetische
jekt sich selber auslöscht und sein Glück hat an die- Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und
ser Auslöschung« (Adorno 1958/59/2009, 197). Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins.
Also ist die Erfahrung der Schönheit die Erfah- Stuttgart 1987, 329–353.
rung des Glückens unserer Praktiken durch die Äs- Ritter, Joachim: Die Lehre von Ursprung und Sinn der
thetisierung der Praxis. In der Schönheit erfahren Theorie bei Aristoteles [1953]. In: Ders.: Metaphysik
wir das Glück der Übererfüllung unserer Praktiken und Politik. Frankfurt a. M. 1977, 9–33.
unter der Bedingung der Aussetzung unserer Prakti- Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des
ken: Die Praxis glückt nur im Schein. Deshalb gibt es Menschen in einer Reihe von Briefen [1795]. In:
keine Erfahrung der Schönheit, in der sich nicht das Ders.: Werke. Bd. 5. München 1980.
Glück der Erfüllung mit der Trauer über seine Un- Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstel-
wirklichkeit berührte. lung. 1. Band. 1. Teilband [1819]. Werke in 10 Bänden
(Hg. A. u. A. Hübscher), Bd. 1. Zürich 1977.
Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frank-
Literatur furt a. M. 1995.
Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche [1907].
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [1970].
Hamburg 1990.
Frankfurt a. M. 21974.
Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Versuch
–: Ästhetik [1958/59]. Frankfurt a. M. 2009.
über Ethik. Stuttgart 1989.
Avanessian, Armen/Menninghaus, Winfried/Völker, Jan
Stendhal: Über die Liebe [1822]. Jena 1911.
(Hg.): Vita Aesthetica. Szenarien ästhetischer Leben-
Theunissen, Michael: Freiheit von der Zeit. Ästhetisches
digkeit. Zürich/Berlin 2009.
Anschauen als Verweilen. In: Ders.: Negative Theolo-
Bataille, George: Der verfemte Teil [1949]. In: Ders.: Das
gie der Zeit. Frankfurt a. M. 1991, 285–298.
theoretische Werk. Bd. 1. München 1975, 33–236.
Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt
Baudelaire, Charles: Der Maler des modernen Lebens
a. M. 2003.
[1863]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5. München/
Christoph Menke
Wien 1989, 213–258.
Düttmann, Alexander García: Der Schein. In: Inaesthe-
tik Nr. 0 (2008), 149–157.
Eco, Umberto: Kunst und Schönheit im Mittelalter
[1987]. München/Wien 1991.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790]. In:
Ders.: Werke. Bd. V. Darmstadt 1983.
Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer
Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008.
Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schön-
heit. Frankfurt a. M. 2003.
Nehamas, Alexander: Only a Promise of Happiness. The
56 II. Systematik des Glücksdenkens

5. Glück und Sinn. Leben von Menschen abspielt, schränken die


menschliche Freiheit ein. Natürlich können Men-
Das Problem von Einheit schen sowohl auf ihre Biologie, wie auf die gesell-
und Vielheit schaftlichen Verhältnisse, in denen sie existieren, re-
agieren, sofern sie den entsprechenden Mut, die
dafür nötigen Distanzierungskompetenzen, Reflexi-
Die Ideologie des Glücks vität und Interventionsfähigkeiten entwickelt haben
– Fähigkeiten, deren Entwicklungen selbst wieder
Es gibt eine Ideologie des Glücks, die gelegentlich unter gesellschaftlichen Bedingungen stehen. Die
in dem Gemeinspruch ›Jeder ist seines Glückes Einsicht in die Beschränktheit menschlicher Macht
Schmied‹ zusammengefasst wird. Es ist dies die Ideo- bedeutet also nicht, die Möglichkeit menschlicher
logie der sich als freie, gestaltungsfähige Individuen Selbstbestimmung und Freiheit zu leugnen. Doch
verstehenden Menschen, die aus einer technischen der Gedanke, dass man als Einzelner sich nur ›auf-
Einstellung dem eigenen Leben gegenüber dieses Le- zuraffen‹ habe, um sein Leben zu gestalten, dann
ben selbst als Resultat ihres Handelns ansehen. Ray- könne es auch ein glückliches werden, kann besten-
mond Geuss hat Sicherheit, Freiheit und Glück als falls als naiv, angesichts der Schicksale von Men-
die drei Großziele menschlicher Praxis festgehalten, schen, die in Naturkatastrophen, Hungersnöte und
deren Verwirklichung aufeinander aufbaut (Geuss Kriege geraten, Opfer von chronischen Krankheiten,
2004, 15 f.): Ohne Sicherheit keine Freiheit, denn wer Gewaltverbrechen oder des Terrors in totalitären
um sein Leben fürchten muss, kann nicht darüber Staaten werden, jedoch wohl nur als zynisch be-
nachdenken, wie er sein Leben frei gestalten kann. zeichnet werden.
Ohne Freiheit kein Glück, denn wer seine Lebens- Tatsächlich dürften die Verhältnisse von Aktivität
gestaltung von anderen vorgeschrieben bekommt, und Passivität, Macht und Machtlosigkeit, Individu-
kann nicht seine eigenen Vorstellungen von einem alität und Freiheit, die für die Möglichkeit eines
glücklichen Leben verwirklichen. Die Ideologie, dass glücklichen Lebens bedeutsam sind, komplizierter
jeder seines Glückes Schmied sei, ignoriert diese Be- sein als die oben genannte Ideologie es nahelegt. Be-
dingungsverhältnisse. Denn Sicherheit und Freiheit trachtet man Personen als psychisch komplexe Indi-
stehen nicht allein in der Macht von Individuen, son- viduen mit unterschiedlichen Wünschen, Willenszu-
dern betreffen naturale, soziale und politische Fakto- ständen, kognitiven Vermögen und Handlungsdis-
ren, die kein Einzelner kontrollieren kann. positionen, so ist die erste Frage, die sich angesichts
Begreift man Menschen als in ihrer Macht be- dieser Komplexität stellt, wie sich überhaupt eine
grenzte »Teile der Natur« (im Sinne von Spinozas einheitliche Vorstellung vom eigenen Leben als ei-
Ethik, IVp4), die immer in ihrer Selbsterhaltung be- nem glücklichen ausbilden kann. Nach der geschil-
droht und deshalb notwendigerweise Leiden ausge- derten Ideologie scheint Individuen von vornherein
setzt sind, und denen ferner Handlungsfreiheit nicht klar zu sein, wie ihr glückliches Leben auszusehen
einfach als intelligible Wesen im Sinne Kants gege- habe, so als wäre die Vorstellung von Glück etwas
ben ist, sondern die sich diese immer wieder in Pro- Allgemeines, quasi Angeborenes, das alle Menschen
zessen der Selbstreflexion und Welterkenntnis zu er- miteinander teilen und über das sie immer schon
arbeiten haben und sie entsprechend auch wieder verfügen. Zwar mögen Hunger und Durst, Körper-
verlieren können (vgl. Bieri 2001, 418 f.), dann muss verletzungen, Schmerzen und Lebensbedrohungen
der unter dem Titel »Jeder ist seines Glückes etwas sein, das alle Menschen tatsächlich als etwas
Schmied« firmierende Vorstellungszusammenhang zu vermeidendes betrachten. Insofern könnten die
als eine kollektive Selbsttäuschung gedeutet werden. Bewertungen bestimmter Empfindungen als leidvoll
Tatsächlich findet die menschliche Macht zur Selbst- tatsächlich biologisch vorgegeben sein. Doch wenn
gestaltung nicht nur in den biologischen Verhältnis- man umgekehrt auch nur Zustände des Wohlfüh-
sen ihre scharfe Grenze, weil es noch niemanden – lens, Konstellationen, in denen sich momentane
trotz der cartesischen und transhumanistischen Pro- Glücksgefühle einstellen, miteinander vergleicht,
jektionen (Descartes 1637/1960, 100 f.; Bostrom wird schnell klar, dass hier Differenzen bestehen und
2005) bisher gelungen ist, Krankheit, Alter und Tod zwar sowohl zwischen den verschiedenen Entwick-
zu entgehen, sondern auch die gesellschaftlichen lungsstadien ein- und desselben Individuums, wie
Verhältnisse, in denen sich das biologisch begrenzte auch zwischen verschiedenen Individuen.
5. Glück und Sinn. Das Problem von Einheit und Vielheit 57

Im Folgenden werde ich versuchen, einen forma- Glück werden (Adorno 1966/1973, 366). Zwei grund-
len und auf die Individualität von menschlichen Le- legend verschiedene Entwicklungsprozesse von Per-
bensläufen bezogenen Glücksbegriff zu entwickeln. sonen sind vor diesem Hintergrund denkbar: einer,
Dieser ist nicht der einzig mögliche. Es soll damit der dazu führt, dass die Person die »metaphysische
kein ›copyright‹ auf einen angeblich ›wahren‹ Erfahrung« der Kindheit als eine Illusion abtut und
Glücksbegriff erhoben, noch so etwas wie eine Norm sie sich an die vermeintlicher Weise die Wirklichkeit
gerechtfertigt werden. Das, was im Folgenden über beherrschenden Allgemeinheiten anpasst, die das
ein mögliches glückliches Leben gesagt wird, wider- kindlich geahnte Glück als unverwirklichbar er-
spricht sogar teilweise der Geussschen Vorstellung, scheinen lassen. In einem anderen Entwicklungs-
dass Sicherheit und Freiheit Bedingungen des Glücks prozess wird sich die betreffende Person einen
sind, sofern es, wie noch deutlich werden wird, denk- »utopischen Impuls« des Glücks bewahren und den
bar ist, dass eine Person, die ihr Lebensglück gefun- Allgemeinheiten der Welt weiterhin die Frage entge-
den hat, dies trotz des Verlusts ihrer Sicherheit und genhalten »Ist das denn alles?« (368).
Freiheit nicht als Möglichkeit verlieren kann, auch In einer unauflöslich individuierten Wirklichkeit
wenn sie nicht mehr in der Lage ist, es als Wirklich- sind die Unterschiede und nicht vermeintlich geteilte
keit zu realisieren. Gleichzeitig geht es jedoch auch Allgemeinheiten, die bestenfalls auf Vereinfachun-
nicht um empirische Sozialforschung über Glück, gen, schlimmstenfalls auf Beherrschung oder Leug-
die jeder befragten Person ihren eigenen Glücksbe- nung von wirklichen Unterschieden verweisen, so-
griff lässt, ohne dass sie ihn explizieren müsste (vgl. wohl für die Erkenntnis wie für die Lebensführung
Frey/Stutzer 2001; Frey/Frey Marti 2010; s. Kap. und das Glück das entscheidende. Adorno beschreibt
VIII.6 und VIII.7). Mein Augenmerk gilt jedoch we- dieses Leben mit Unterschieden als einen Zustand
der einer allgemeinen Norm für das menschliche Le- des »Frieden[s]«, als »Stand eines Unterschiedenen
ben (deren Möglichkeit ich eher in Frage stellen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat
möchte) noch der tatsächlichen allgemeinen aneinander« (Adorno 1969/1977, 743). Dazu passt
›Glücksrealität‹, sofern sie statistisch erfassbar ist, Walter Benjamins Prägung aus der Mitte der 1920er
sondern den möglichen begrifflichen Zusammen- Jahre, wonach »Glücklich sein heißt, ohne Schrecken
hängen von ›Glück‹, ›Sinn‹, ›Wirklichkeit‹ und ›Indi- seiner selbst innewerden können« (Benjamin 1928/
vidualität‹. 1980, 113). Zustände der Harmonie, Verschmelzung
oder abstrakt der Identität gehören sicher zu vielen
Glück im Umgang mit Unterschieden Glückskonzeptionen, während solche des Entzwei-
ung, Fremdheit und des Krieges als Chiffren für Un-
Vorstellungen von einem vorgegebenen Wesen oder glück angesehen werden können. Die Beobachtung,
einer Natur des Menschen, die als Möglichkeit in ei- dass es eine Differenzen auflösende und eine sie ohne
nem Lebenslauf entweder verborgen bleibt (was Un- Herrschaft erhaltenden Verschmelzung geben kann,
glück bedeute) oder realisiert werde (was das Glück ist insofern wichtig, als sie eine Orientierung für
zur Folge habe), haben lange das Denken über misslingendes und gelingendes Streben nach Glück
menschliche Entwicklungen bestimmt. Auch die ur- geben kann. Glück hat es in diesem Sinne mit der Er-
sprünglich marxistische Vorstellung, Menschen haltung einer Vielheit innerhalb einer herrschafts-
könnten unter den bisherigen unfreien Umständen, freien personalen oder sozialen Einheit zu tun.
in denen sie einander beherrschen, ihre Natur weder Allerdings setzt die Erhaltung der Vielheit oder
erkennen noch realisieren, gehört in diese human- der Differenzen voraus, dass sie erkannt sind. Man
essentialistische Tradition. Mit diesem Essentialis- findet diesen Gedanken auch in Whiteheads Wert-
mus brach u. a. der Individualismus der Kritischen theorie, in der die Bildung von Kontrasten eine wich-
Theorie Adornos (s. Kap. VI.7), der alle allgemeinen tige Rolle spielt (Whitehead 1929/1978, Buch III,
Aussagen über die Einzelnen als verfehlt betrachtete. Kap. II.III). Auch Kontraste in der Wahrnehmung
Trotzdem bilden einzelne Personen in dieser Kon- können als Einheiten von Differenzen begriffen wer-
zeption Vorstellungen vom Glück aus, im Sinne von den und die Erfahrung des glücklichen Lebens kann
vagen Imaginationen etwa mit Bezug auf Orte, an de- als eine spezielle Kontrasterfahrung gedacht werden,
nen alles zusammenpasst. Adorno spricht auch von in der sich die differierenden Erfahrungen unter-
der »metaphysischen Erfahrung« der Kindheit, in schiedlicher Lebensalter zu einer wirklichen Einheit
der Namen von Orten zu Chiffren für mögliches fügen. Dies gilt nicht nur für die Differenzen, die sich
58 II. Systematik des Glücksdenkens

in der Komplexität einer einzelnen Person finden, Es ist unschwer zu erkennen, dass hier Glück nicht
sondern vor allem für die zwischen verschiedenen allein mit der Realisierung einer herrschaftsfreien
Menschen. Der amerikanische Philosoph Stanley Vereinigung von Unterschieden in Zusammenhang
Cavell sagt deshalb: »Es ist eine schreckliche und gebracht wird, sondern auch mit einem Konzept von
Ehrfurcht einflößende Wahrheit, dass die Anerken- Authentizität. Der Gedanke der Authentizität, der
nung der Andersheit der anderen, der unvermeidli- richtigen Fortsetzung des eigenen Lebens, setzt voraus,
chen Getrenntheit die Bedingung menschlichen dass das eigene Leben überhaupt als Einheit wahrge-
Glücks ist. Gleichgültigkeit ist die Leugnung dieser nommen wird. Schematisch und auf das Glück bezo-
Bedingung« (Cavell 2004, 381). Man kann jetzt be- gen ausgedrückt: Ein Lebenslauf soll in einem for-
grifflich festlegen, dass ein Leben oder eine Gemein- malen Sinne dann als ein glücklicher bezeichnet
schaft von Lebenden als umso wirklicher anzuspre- werden, wenn es einer Person gelingt, die im Prozess
chen ist, je mehr es diesem Leben oder dieser Ge- ihres Lebens entstandene Verschiedenheit von ande-
meinschaft gelingt, eine Einheit von partikularen, ren für sich und für die anderen fortzusetzen und sie
individualisieren Lebensprozessen darzustellen. Je- dabei trotz ihrer inneren Differenziertheit und Ver-
der Herrschaftsbeziehung, die die Differenzen der schiedenheit von den anderen in der Lage ist, noch
Lebensprozesse zum Verschwinden bringt, ist als ein gemeinsames Leben mit den anderen zu führen.
eine ›Entwirklichung‹ zu deuten und deshalb nor- Das Interesse an einer solchen Fortsetzung des eige-
mativ abzulehnen. Doch eine solche Verschränkung nen Lebens ist nicht eines nach bloßer Selbsterhal-
von hypothetisch theoretischer und praktischer Per- tung, sondern nach Vereinheitlichung des eigenen
spektive löst noch nicht das praktische Problem, wie Lebens entsprechend der dauernd in ihm entstehen-
die Einheit einer Mannigfaltigkeit von differieren- den neuen Erfahrungsmuster.
den Partikularitäten zu erzeugen ist. Jonathan Lear spricht im Anschluss an die Psy-
choanalyse davon, Aristoteles wolle mit seiner Cha-
Glück und Vereinheitlichung rakterisierung des Glücks als dem einzigen letzten
Handlungsziel im menschlichen Leben zu einer ver-
Zunächst ist zu sagen, dass der Gedanke der Verein- änderten, eben vereinheitlichten Lebenseinstellung
heitlichung des Lebens von Anfang an in der philo- »verführen« (Lear 2004, 56). Geht man davon aus,
sophischen Reflexion über das Glück gegenwärtig dass auch ein menschliches Leben möglich ist, in
ist, nämlich seit der Ethik des Aristoteles (s. Kap. dem verschiedene Dinge um ihrer selbst willen und
II.2). Um zu verstehen, was hier unter ›Vereinheitli- nicht als Mittel zum Zweck erstrebt werden, wie bei-
chung‹ gemeint ist, muss man sich das menschliche spielsweise Lust, Ehre, Reichtum, Macht, die aber
Leben als einen Prozess denken. Nehmen wir an, ei- vielleicht nicht immer miteinander vereinbar sind,
ner Person seien in einer bestimmten Phase ihrer sondern zu schmerzhaften und eventuell fatalen
Entwicklung zwei Weisen auf eine in ihrer Welt ge- Konflikten innerhalb einer Person führen können,
gebene Situation zu reagieren gegeben: eine, die ihr dann zielt der Vorschlag, bei allem, was man tut, sich
von außen als die angemessene Form zu reagieren zu fragen, ob es zu einem glücklichen Leben führt,
nahegelegt wird und eine andere, davon abwei- auf eine spezifische Vereinheitlichung des Lebens.
chende, die sich ihr selbst aufgrund ihrer bisherigen (Hier wird im Westen durch Aristoteles offenbar
Geschichte als die angemessene Fortsetzung ihrer ei- nachvollzogen, was im Osten durch den Buddhis-
genen Geschichte aufdrängt. Sofern ein Individuum mus, der zwischen dem kurzfristigen Sinnenglück
auf die Weise reagiert, die ihm von außen nahegelegt und dem eigentlich zu erstrebenden Glück der Erlö-
wird, die jedoch von dem, was sich aus seiner eige- sung unterschied, bereits als Gestaltungsprinzip des
nen Geschichte ergibt, abweicht, können wir sagen, menschlichen Lebens benannt worden war; vgl. Paul
dass dieses Individuum sich in seiner Reaktion selbst 1998, 47–69. Auch Epikur scheint das Glück in die-
verbirgt. Sofern die Person trotz der abweichenden sem Sinne als ein Gestaltungsprinzip des Lebens ge-
Erwartung in seiner Welt so reagiert, wie es sich für deutet zu haben als er sagte: »Wir halten die Lebens-
sie selbst aus ihrer bisherigen Geschichte ergibt, kann entwürfe für vulgär und plump, die nicht auf ein
man sagen, dass sie sich mit ihrer Geschichte nicht glückliches Leben zielen«; Epikur 2003, 14 f.).
verbirgt oder in der Welt öffentlich sichtbar als ein ab- Aristoteles existenzphilosophisch weiterführend,
weichendes, differierendes Wesen vorkommt, dessen kann man sagen, dass alle Handlungen, die die Le-
Individualität kenntlich wird. bensgeschichte der Person auf eine nicht angemes-
5. Glück und Sinn. Das Problem von Einheit und Vielheit 59

sene Weise in der betreffenden Situation fortsetzen, das Resultat eines technischen Prozesses hervorbrin-
unauthentisch sind, nicht als Handlungen verstan- gen. Wie also hat man sich die Entstehung von Sinn
den werden können, die eigentlich zu dieser Person oder Lebensglück zu denken? Als erstes ist festzuhal-
gehören. Eine bisher furchtsame Person, die sich in ten, dass Sinn etwas ist, was sich zwischen den erleb-
einer Auseinandersetzung übermütig gibt, ist unau- ten und erinnerbaren Episoden eines Lebens entwi-
thentisch, ebenso wie eine mutige Person, die sich ckelt. Die Alternative von Entstehen oder Herstellen
einem Streit nicht stellt, obwohl sie ihn bestehen ist hier insofern falsch, als es bei dieser Entwicklung
könnte. Handlungsempfehlungen unabhängig von um einen Prozess der Aufmerksamkeit geht.
der Lebensgeschichte der Person, die im Sinne der Ein bestimmtes Körpergefühl, etwa ein Kopf-
Kantischen praktischen Philosophie (s. Kap. II.3 und schmerz oder ein Geräusch in meiner Umgebung,
V.3) und der aus ihr entstandenen Tradition ledig- oder ein Gespräch am Nebentisch in einem Restau-
lich allgemeine Regeln, die für alle Vernunftwesen zu rant, kann eine ganze Weile schon präsent sein, ohne
gelten haben, auf die Situation appliziert und dazu dass ich es aufmerksam wahrgenommen habe. Eine
auffordert, dass sich jeder Mensch in einer moralisch Episode des Lebens kann auf die andere folgen, ohne
relevanten Situation als Vernunftwesen so zu verhal- dass ich der Abfolge weiter Aufmerksamkeit schenke,
ten habe, stehen in einem Kontrast zu dieser, die in- d. h. ohne dass ich darüber nachzudenke, was für ein
dividuelle Lebensgeschichte betonenden Lehre, die Leben ich eigentlich führe. Ich kann jedoch auch auf
darauf zielt, die vielfältigen Anlagen und Bestrebun- die Abfolge dessen, was ich tue und was mir wider-
gen einer Person in jeder Handlung zu einer Einheit fährt, achten, darüber nachdenken, was hier eigent-
zu integrieren. lich geschieht und von mir getan wird und dann ein
Muster in ihm erkennen.
Sinn als Lebensglück Diese Muster-Erkennung ist nicht wie die Erken-
nung der Regel in einer Zahlenfolge, etwa bei 2, 5, 11,
Man kann die Einheit, die auf nicht abstrakte Weise, 23, 47,… wo ich die Regel y = 2x+1 als das erkenne,
unter Erhaltung der inneren Differenziertheit eines was diese Folge festlegt. Der Prozess unserer Exis-
Lebens herbeigeführt wird, ›Sinn‹ nennen. Erfahrun- tenz ist nicht durch eine Erzeugungsregel festgelegt,
gen von Sinn sind selbst Glückserfahrungen. Sofern auch wenn Formulierungen wie der »Begriff eines
sie das ganze Leben betreffen, können wir sie als Er- Individuums« oder »das individuelle Gesetz« bei
fahrung von Lebensglück kennzeichnen, wenn bei- Leibniz, Spinoza, Goethe und Simmel so etwas nahe-
spielsweise der Prozess der eigenen Existenz in der zulegen scheinen (vgl. dazu Hampe 2007, III. 10).
Retrospektive als ein sinnvoller erscheint. Doch auch Was man erkennt, wenn man einen Sinn in der eige-
auf Momente bezogen ist die Erfahrung von Sinn als nen Existenz sieht, ist eher so etwas wie eine Gestalt
Glück wichtig. Denn eine Lebenssituation, in der in einem regennassen Mauerwerk, in dem es helle
Wohlfühlglück empfunden wird, erhält dadurch, und dunkle Flecken gibt. Der eine mag einen Hund,
dass sie Teil eines Sinnzusammenhanges ist, der ein der anderen ein Kaninchen in den Flecken sehen.
Lebensglück konstituiert, eine ihre Intensität stei- Diese Erkenntnis hängt einerseits von der eigenen
gernde Bedeutung. So mag ein Fußballer, der ein Tor Aufmerksamkeit, andererseits vom Regen und vom
schießt, im Moment des Erfolgs einfach über die Verputz der Mauer ab. Welche Muster hier an Präg-
Situation glücklich sein. Ist dieses Tor jedoch Teil ei- nanz gewinnen, ergibt sich aus einem Zusammen-
ner Lebensgeschichte, in der die betreffende Person spiel von Passivität und Aktivität. Die Erkennung des
lange mit ihren Kameraden auf den Gewinn einer eigenen Musters kann durchaus im Sinne einer indi-
Meisterschaft hingearbeitet hat und besiegelt dieses viduellen Wesenheit, einer »differentia ultima« oder
Tor den Gewinn der Meisterschaft, so steigert die »haecceitas« im Sinne von Duns Scotus gedacht wer-
Bedeutung der Situation in dem größeren Sinnzu- den (Duns Scotus 1962, 4). Doch bei Duns Scotus
sammenhang, in dem sie eine bestimmte Relevanz muss dieses individuelle Wesen streng von der Ge-
hat, die Intensität der Wahrnehmung. schichte des Wesens unterschieden werden.
Nun ist Sinn jedoch nicht etwas, was sich von Wenn wir jedoch die folgenden drei Vorausset-
selbst in einem Leben einstellt. Es ist aber auch nicht zungen machen, ändert sich dieses Bild: Erstens kön-
etwas, was wie ein Artefakt hergestellt werden kann. nen wir voraussetzen, dass die Wirklichkeit aus
Denn wir sind als Personen ja der Prozess unserer nichts anderes als einer Mannigfaltigkeit von indivi-
Existenz und können ihn nicht als etwas Äußeres wie duellen Wesen besteht, dass sie mehrseitig im Sinne
60 II. Systematik des Glücksdenkens

von Dilthey ist (1907/1984, 80 f.). Zweitens können eigenen Leben entdeckt zu haben, aus dem sich die
wir diese individuellen Wesen als etwas deuten, das, entsprechende Evidenz ergibt, führt in der Regel
um zu existieren, notwendig Zeit braucht, wie alles dazu, dass man sich dem Zwang einer Konvention
Wirkliche (Whitehead 1929/1978, 68; Collingwood unterwirft und sie für notwendig erachtet. Das führt
1945/1960, 146). Drittens schließlich können wir den zu einer Schauspielerei von Notwendigkeit des eige-
Prozess der Verwirklichung dessen, was Zeit braucht nen Handelns und Glücks, dem keine Selbst- und
um zu existieren, als einen potentiell unendlichen Glückserfahrung entspricht. Peter Bieri hat dieses
deuten, der nur kontingenterweise abbricht, so wie Phänomen mit dem treffenden Begriff des »Willens-
man bei einer irrationalen Zahl die Aufzählung ihrer kitsches« charakterisiert: »Ein Wille ist kitschig,
Ziffern kontingenterweise irgendwo abbricht. Einen wenn er seinen Gehalt einem Klischee verdankt […].
Sinn in der eigenen Existenz zu erkennen würde Wie wird etwas zu einem Klischee? Indem es aus
dann – in der eben gebrauchten Metapher der irrati- dem konkreten Zusammenhang, in dem es ur-
onalen Zahlen – bedeuten, in der Lage zu sein, die ei- sprünglich stand herausgelöst und als etwas propa-
gene Ziffernfolge zumindest partiell wirklich werden giert wird, das auch auf andere passt, obwohl deren
zu lassen, auch angesichts der Tatsache, dass dies Lebensgeschichte eine ganz andere ist« (Bieri 2001,
kontingenterweise irgendwann nicht mehr möglich 426). Der Begriff des »Willenskitsches« ist hier des-
ist. Dies ist sicher nicht bei vielen Menschen der Fall. halb so hilfreich, weil er den Kontrast zur Authenti-
Wenn jedoch jemand in diesem Sinne seine ›eigene zität deutlich macht; nennen wir doch auch ein
Stimme‹ gefunden hat, dann weiß er, was zu tun ist, Kunstwerk, dem wir eine Grundlage in einer authen-
auch wenn ihn vielleicht äußere Umstände daran tischen Erfahrung absprechen und von dem wir den
hindern, das zu tun, was er meint tun zu müssen. Eindruck haben, dass es ein Schema bedient, ›kit-
Bei der eigenen Existenz handelt es sich deshalb schig‹.
nicht um eine räumliche, sondern um eine zeitliche An dieser Stelle wird die Frage dringlich, inwie-
Gestalt. Beim Nachdenken über die Abfolge der Er- fern die Fähigkeit, sein Leben richtig fortzusetzen, in
fahrungen im eigenen Leben ergibt sich, wenn sich einem Wissen begründet ist. Raymond Geuss hat zu
Sinn ergibt, eine Gestalt, aus der dann idealerweise Recht bezweifelt, dass wir heute noch von einem ob-
auch die Fortsetzung des eigenen Lebens folgt, so wie jektiven Wissen über unseren eigenen Lebenslauf
man als Künstler vielleicht das Muster in einer re- ausgehen können (Geuss 2004, 39). Geuss scheint
gennassen Mauer durch einen eigenen Farbstrich vorauszusetzen, dass die glücksrelevante Erkenntnis
fortsetzen könnte. Wichtig ist, dass überhaupt die des eigenen Lebens ein objektives Wissen von einem
Aufmerksamkeit auf die Abfolge der Ereignisse des bestimmten Standpunkt sein muss. Dies ist jedoch
eigenen Lebens gelenkt und dass ein Zusammen- nicht der Fall. Es handelt sich eher um ein Hand-
hang in ihm gesucht wird, den ich dann als den Zu- lungswissen im Sinne des: »Jetzt weiß ich weiter«.
sammenhang meines Lebens anerkenne. Wenn das Die Erkenntnis eines Musters macht es möglich, dies
gelingt, dann gibt es einen Ansatz, von dem aus die mit großer Sicherheit fortzusetzen. Diese Muster-Er-
Fortsetzung des eigenen Lebens so geführt werden kennung in der zeitlichen Gestalt des eigenen Lebens
kann, dass die eine Handlung richtig und die andere ist nicht als eine zu konstruieren, die mit Allgemein-
falsch, etwas als zum eigenen Leben gehörend oder begriffen operiert, die wir gewöhnlich mit objekti-
ihm fremd erscheinen kann. Das hier nicht etwas vem Wissen verbinden. Adorno hat in diesem Zu-
einfach gegeben ist, jedoch auch nicht konstruiert sammenhang in der Negativen Dialektik den Begriff
wird, weist auf ein spezifisches Zusammenspiel von der »Konstellation« verwendet, als er schrieb: »der
Person und Welt hin, das sich der einfachen Zutei- reale Gang der Geschichte nötigt zum Aufsuchen
lung von Aktivitäten und Passivitäten entzieht. Die von Konstellationen« (Adorno 1966/1973, 168). Und
Person muss in aufmerksamer Zuwendung zum ei- die eigene Lebensgeschichte ist als eine »reale Ge-
genen Leben in der Lage sein, etwas entstehen zu las- schichte« zu begreifen.
sen und den Mut besitzen, auf das, was da entsteht, Man kann diese Metapher eines konstellativen
zu reagieren. Dieses Entstehen-lassen ist ein Gesche- Denkens auch wie folgt deuten: Die gegebene Man-
hen, das nur mit einer gewissen Gelassenheit erfah- nigfaltigkeit von Handlungen im Zeitlauf des eige-
ren werden kann. nen Lebens oder der in diesem Leben aufgespei-
Sich dagegen mit Anstrengung in einer Gewissheit cherte Prozess werden hinsichtlich unterschiedlicher
fortsetzen zu wollen, ohne tatsächlich ein Muster im Gestalten gedeutet, die Aufmerksamkeit wird gelas-
5. Glück und Sinn. Das Problem von Einheit und Vielheit 61

sen immer wieder verschoben, so dass sich unter- Sinn zu behaupten, dass das Leben eines Menschen,
schiedliche Konstellationen einstellen. Im idealen der oft verzweifelt sein musste oder der zum Tode
Fall stellt sich in diesem ›freien Spiel‹ dann eine Kon- verurteilt worden ist, unmöglich ein glückliches ge-
stellation ein, die evident als die erscheint, die man wesen sein kann, er also sein Leben unter den fal-
fortsetzen kann und will, als eine, die Handlungssi- schen Begriff subsumiert hat. Die Teile des Musters,
cherheit verleiht. Diese Erfahrung der Handlungs- das Wittgenstein, Sokrates und Jesus in ihrem Leben
sicherheit in der Fortsetzung dessen, was in der entstehen lassen konnten, können als Elemente in
Verschiebung von Elementen einer Konstellation den Lebensläufen anderer Personen diese vielleicht
aufgetaucht ist, ist die Evidenz gegenüber dem indi- zu unglücklichen machen, bei Wittgenstein, Sokrates
viduellen Leben, die an die Stelle des begründeten und Jesus jedoch eine ganz andere Bedeutung haben.
Wissens aus Allgemeinbegriffen tritt, es ist die prak- Die Wahrnehmung des eigenen Lebenslaufes kann
tische Evidenz des »So muss ich weitermachen«. Mit man hier deshalb eher mit der Arbeit eines Künstlers
Alain Badiou kann man hier auch von einem »Ereig- vergleichen, der sich plötzlich darüber klar wird, wie
nis« sprechen. Das Ereignis der Erkenntnis des eige- er handelnd ein bestimmtes Material, ein angefange-
nen Lebensmusters ist mit der Evidenz verbunden, nes Bild, ein Gedicht oder eine Komposition fortzu-
mit der eigenen partikularen Wirklichkeit in Kon- setzen und zu beenden hat, indem er einem be-
takt gekommen zu sein. Dieses Evidenzgefühl, das, stimmten Element in der Fortsetzung des Werkes die
was die eigene partikulare Wirklichkeit ist, »berührt« und die Relevanz und Bedeutung gibt. Adorno
zu haben, kann man dann auch als Glücksgefühl be- spricht in diesem Zusammenhang ebenfalls von
zeichnen (vgl. Badiou 1997/2009, 102). »Komposition« und dem subjektiv Erzeugtem als ei-
Über die Kontemplation der möglichen Konstella- nem »Zeichen der Objektivität« (Adorno 1966/1973,
tionen des eigenen Lebens hier mit Kant als von ei- 167). Die Fähigkeit zu dieser Komposition der eige-
nem »freien Spiel« zu sprechen, ist kein Zufall. Kant nen Existenz ist jedoch nicht an eine bestimmte nar-
geht es in der Rede vom »freien Spiel« ja darum zu rative oder sonstige technisch-kompositorische
benennen, dass die Wahrnehmung des Kunstwerkes Kompetenz gebunden. Der große Erzähler kann un-
begrifflich nicht festgelegt ist, nicht »gesetzlich, unter glücklich sein, weil er nicht wagt, das eigene Leben
dem Zwange bestimmter Begriffe« steht, sondern ge- zu betrachten und der einfache Schuster oder Zim-
genüber der Kunst »die Einbildungskraft in ein re- mermann können glücklich sein, auch wenn sie von
gelmäßiges Spiel« versetzt wird, in dem der vorge- ihrem Glück nicht erzählen.
stellte Gegenstand weniger in Form von »Gedan- Man darf sich dies so vorstellen, dass die eigene
ken«, sondern durch ein »inneres Gefühl« gegeben Subjektivität an eine gewisse Grenze geführt wird:
ist (Kant 1790/1974, § 40, 161/159). Analoges ist von eine Grenze der Handlungsevidenz, an der der Aus-
der Kontemplation der eigenen Lebensgeschichte zu druck jener Komposition oder jenes Musters das,
sagen. Weder der Begriff des Menschen noch ein in was zu tun ist, nicht mehr als beliebig darstellt, son-
irgendeiner Theorie geformter Begriff des Glücks dern es notwendig und selbstverständlich aus dem
kann die Erkenntnis einer Lebensgeschichte unter Handelnden folgen lässt und es damit zu etwas nicht
ein Gesetz (im Sinne Kants) zwingen. Auch wenn Si- mehr rein Subjektivem, sondern zu einem »Zeichen
cherheit und Freiheit Bedingungen sind, die es wahr- der Objektivität« macht. Diese Vorstellung korre-
scheinlicher machen, dass jemand oder viele ein spondiert mit dem Gedanken Stanley Cavells, dass
glückliches Leben führen können, so ist doch nicht die Person, die es geschafft hat, eine eigene Stimme
auszuschließen, dass ein Leben in Unsicherheit oder zu finden, sich auf etwas Allgemeines bezieht, das
Unfreiheit ein glückliches sein kann. (Was jedoch von öffentlichem Interesse ist. Im Anschluss an
den Gemeinspruch, jeder sei seines Glückes Schmied, Emerson beschreibt Cavell die Rezeption dieser Ver-
nicht bestätigt.) allgemeinerung der partikularen Individualität im
Wenn der oft im Laufe seines Lebens verzweifelte authentischen Ausdruck als den Eindruck, dass ei-
Wittgenstein auf dem Totenbett sagt, dass er ein nem in der Sprache des »genialen Dichters« das ei-
wundervolles Leben hatte oder wir Sokrates als gene Unbewusste entgegentritt (Cavell 2004, 19–34).
glücklichen Menschen bezeichnen, obwohl er die Die Möglichkeit, mit einer eigenen Stimme auf die
Todesstrafe hinnahm und wir Jesus als einen glückli- Welt zu reagieren, sich selbst authentisch fortzuset-
chen Menschen ansehen, obwohl er den Foltertod ei- zen, ist meist nur gegeben, wenn die Selbsterhaltung,
nes Verbrechers sterben musste, so hat es keinen das heißt die organische Kontinuität des Lebens be-
62 II. Systematik des Glücksdenkens

reits gewährleistet ist. Es muss auch eine gewisse Re- Literatur


flexionsfähigkeit, Ruhe und Mut gegeben sein, um Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik [1966]. In:
die Aufmerksamkeit auf die Vorkommnisse des eige- Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Frankfurt a. M.
nen Lebens richten zu können. Man könnte das viel- 1973, 7–412.
leicht eine ›seelische Grundgesundheit‹ nennen, die –: Stichworte [1969]. In: Ders.: Gesammelte Schriften.
in der Regel (nicht immer!) die Voraussetzung der Bd. 10.2. Frankfurt a. M. 1977, 595–782.
Suche nach Lebensglück ist. Wenn beides gegeben ist Aristoteles: Eudemische Ethik (Übers. Franz Dirlmeier).
– und oft ist das ja gar nicht der Fall –, wenn also or- Berlin 1963.
ganische und seelische Gesundheit gegeben sind, –: Nikomachische Ethik (Übers. Franz Dirlmeier). Ber-
dann mag eine Mischung aus ruhiger Rezeptivität lin 1979.
und kreativer Konstruktivität oder Antwortfähigkeit Badiou, Alain: Paulus. Die Begründung des Universa-
dazu führen, dass man ein Muster in der zeitlichen lismus [1997] (Übers. Heinz Jatho). Berlin/Zürich
2
Abfolge der Geschehnisse des eigenen Lebens ent- 2009.
deckt und weiß, wie man es fortsetzen muss, damit Benjamin, Walter: Einbahnstraße [1928]. In: Ders.: Ge-
alles einen Sinn erhält. In dem Moment erhalten sammelte Schriften. Werkausgabe. Bd. IV.1: Kleine
auch die vergangenen Erfahrungen vor dem Hinter- Prosa, Baudelaire Übertragungen (Hg. Tillmann Rex-
grund dessen, was jetzt zu tun ist, ihre eigene Not- roth). Frankfurt a. M. 1980, 83–148.
Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. München
wendigkeit, ganz im Sinne von Adornos Vorstellung,
2001.
dass das Unterschiedene aneinander teilhat. Dies ist
Bostrom, Nick: A History of Transhumanist Thought.
sicher nicht bei vielen Menschen der Fall. Die meis-
In: Journal of Evolution and Technology 14/1 (2005),
ten von uns finden kein Lebensglück, sondern nur 1–25.
das Glück der Momente, die punktuelle Euphorie Cavell, Stanley: Cities of Words. Pedagogical Letters on
und das Wohlgefühl. Das glückliche Leben ist schwer a Register of the Moral Life. Cambridge, MA/London
zu finden und deshalb sehr selten. Die meisten von 2004.
uns finden keine eigene Stimme, bleiben stumm ge- Collingwood, Robin George: The Idea of Nature [1945].
genüber ihrer Welt. Wenn jedoch jemand in diesem Oxford 1960.
Sinne seine ›eigene Stimme‹ gefunden hat, dann Descartes, René: Discours de la Méthode [1637]/Von
weiß er, was zu tun ist, auch wenn ihn vielleicht äu- der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und
ßere Umstände daran hindern, das zu tun, was er der wissenschaftlichen Forschung. Französisch-
meint tun zu müssen. Deutsch. (Hg. u. Übers. Lüder Gäbe). Hamburg 1960.
Die Erfahrung von Sinn oder Lebensglück ist also Dilthey, Wilhelm: Das Wesen der Philosophie [1907].
nicht mit einem Freiheitsgefühl in dem Sinne ver- Hamburg 1984.
bunden, dass man dieses oder jenes tun könnte. Im Duns Scotus, John: Philosophical Writings. Latin/Eng-
Gegenteil, wer einen Sinn in seinem Leben erschaf- lish (Hg. Allan Wolter, O.F.M.). Edinburgh/London/
fen oder das Lebensglück entdeckt hat, weiß, was er Melburne 1962.
aus der individuellen Notwendigkeit der eigenen Epikur: Wege zum Glück. Griechisch-Lateinisch-
Existenz zu tun hat. Er mag jedoch nicht die äußere Deutsch (Hg. u. Übers. Rainer Nickel). Düsseldorf/
Freiheit besitzen, es auch tatsächlich tun zu können, Zürich 2003.
Frey, Bruno S./Stutzer, Alois: Happiness and Economics:
er mag durch andere, mächtigere Instanzen daran
How the Economics and Institutions Affect Human
gehindert werden, dass zu machen, was für ihn not-
Well-Being. Princeton 2001.
wendig ist. Deshalb sind auch diejenigen, die einen
Frey, Bruno S./Frey Marti, Claudia: Glück: Die Sicht der
Sinn gefunden haben, nicht ihres Glückes Schmied, Ökonomie. Zürich 2010.
sondern den Kontingenzen ausgesetzt, denen alle Geuss, Raymond: Glück und Politik. Potsdamer Vorle-
Wesen mit endlicher Macht unterliegen. sungen (Hg. Andrea Kern/Christoph Menke). Berlin
2004.
Nachbemerkung: Für die Diskussion und hilfreiche –: Politics and Imagination. Princeton 2010.
Kritik an früheren Versionen dieses Artikels danke Gugerli, David u. a.: Nach Feierabend. Die Suche nach
ich Manuel Dries, Martin Eichler, Burno S. Frey, der eigenen Stimme. Zürcher Jahrbuch für Wissens-
Fabian Freyenhagen, Raymond Geuss, Richard geschichte. Berlin/Zürich 2006.
Raatzsch, Jörg Schaub, Donata Schöller und Chris- Hampe, Michael: Eine kleine Geschichte des Naturge-
tian Skirke. setzbegriffs. Frankfurt a.M 2007.
6. Glück und Zeit. Erfüllte Zeit und gelingendes Leben 63

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790]. Ham-


burg 1974.
6. Glück und Zeit. Erfüllte Zeit
Lear, Jonathan: ›Glück‹. In: Susan Neiman/Matthias und gelingendes Leben
Kroß (Hg.): Zum Glück. Berlin 2004, 43–78.
Paul, Gregor: Buddhistische Glücksvorstellungen. In:
Joachim Schummer (Hg.): Glück und Ethik. Würz- Unser problematisches Verhältnis zur Zeit
burg 1998, 47–69.
Spinoza, Baruch de: Ethica more geometrico demons- Erfüllte Augenblicke wie Erfahrungen des Leidens
trata [1677]. Heidelberg 1929.
an der Zeit sind in jedem Leben präsent. Momente
Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay
der Langeweile, in denen das, womit man gerade be-
in Cosmology [1929]. Corrected Edition (Hg. David
schäftigt ist, die Aufmerksamkeit nicht mehr zu fes-
Ray Griffin/Donald W. Sherburne). New York 1978.
seln vermag und das Vergehen bzw. Nicht-Vergehen
Michael Hampe von Zeit spürbar wird, gehören ebenso zum mensch-
lichen Leben wie Augenblicke erfüllter Hingabe, die
aus dem chronologischen Ablauf der Zeit heraustre-
ten, in denen die Zeit stillsteht. Gleichermaßen fin-
den sich – mehr oder weniger ausgeprägt – in jedem
Leben nostalgische Erinnerungen an vergangenes
Glück, Freude an gegenwärtig zu verrichtenden Tä-
tigkeiten, Vorfreude auf kommende Ereignisse und
Sorgen angesichts künftig zu bewältigender Heraus-
forderungen. In all diesen Phänomenen zeigt sich
die Verwobenheit des menschlichen Glücks in die
Zeit. Genauer wird sich zeigen, dass das Glück der
Zeit ›abgetrotzt‹ ist. Um dies zu verstehen, gilt es zu-
nächst einzusehen, dass die Zeit kein neutrales Me-
dium darstellt, in dem menschliches Leben stattfin-
det, sondern vielmehr als Macht auftritt, der das
menschliche Leben ausgesetzt ist (vgl. Theunissen
1991, 37 ff.).
Die Zeit greift auf das Gelingen menschlichen Le-
bens auf zwei Ebenen über. Zunächst stellt das Ver-
gehen der Zeit eine Herausforderung an die mensch-
liche Lebensführung dar. Gegenüber anderen –
pflanzlichen wie tierischen – Lebensformen zeichnet
sich das menschliche Leben durch eine spezifische
Selbstdistanz aus. Es gehört zum Menschsein, im
Vollzug des eigenen Lebens nicht vollständig aufzu-
gehen, sondern immer noch hinter sich selbst, bzw.
den eigenen, leiblich verankerten Lebensmittelpunkt
zurücktreten zu können, im Ausgang von dem das
Leben vollzogen wird (vgl. Plessner 1928/1981,
360 ff.). In dieser Selbstdistanz heben sich für den
Menschen seine Vergangenheit und Zukunft von der
Gegenwart seines Lebensvollzugs ab. Damit zugleich
kommt ihm zu Bewusstsein, dass sein Leben einen
Anfang und ein Ende in der Zeit hat. Derart gehört
das Wissen um die zeitliche Befristetheit nicht nur
des Lebensganzen, sondern auch einzelner Episoden
des Lebens zur Verfasstheit des Menschseins. Vor
diesem Hintergrund stellt sich dem philosophischen
64 II. Systematik des Glücksdenkens

Nachdenken die ethische Frage, wie zu leben sei, da- die Zeit zielt darauf, die Möglichkeit von Glück ange-
mit das eigene Leben trotz seines Ausgeliefertseins sichts des menschlichen Unterworfenseins unter die
an das zeitliche Vergehen gelingen, bzw. glücklich Zeit zu begreifen. Sie fordert, die Zeit selbst anders
werden könne. zu denken, der das menschliche Leben ausgesetzt ist.
Darüber hinaus konfrontiert die Zeit das mensch- Wenn sich nämlich im Leben Sinn ereignen soll, der
liche Leben mit einem Sinnproblem. Dies lässt sich von den – dem zeitlichen Wandel unterworfenen –
mit Blick auf die bisherigen Überlegungen verständ- Bedeutungszuschreibungen des Selbst unabhängig
lich machen. Wenn bisher gefragt wurde, wie ange- ist, dann darf die Zeit nicht im bloßen Wandel bzw.
sichts des Vergehens von Zeit zu leben sei, so ist in Vergehen aufgehen. Es muss sich vielmehr verstehen
dieser Frage das zeitliche Vergehen vom Subjekt des lassen, dass die Zeit selbst von Sinn durchdrungen
Lebens noch ferngehalten. Es wird ein dem zeitli- ist, der dem Selbst, seinem Leben und den Ereignis-
chen Wandel entzogenes Subjekt angenommen, das sen seines Lebens die Bedeutung verleiht, die das
trotz der zeitlichen Veränderungen in seinem Leben Selbst nicht hervorzubringen vermag.
und angesichts seines künftigen Todes ein glückli- Beide Fragen, die die Verwobenheit des menschli-
ches Leben haben will. Die menschliche Fähigkeit, chen Glücks in die Zeit provoziert, beschäftigen das
hinter sich zurücktreten zu können, macht jedoch philosophische Nachdenken seit der Antike. Auf der
vor dem eigenen Selbst nicht halt. Derart gehört es einen Seite wird vom zeitlichen Wandel bzw. vom
zum Menschsein, auch noch das eigene Selbst als Vergehen der Zeit als einer Tatsache im menschli-
dem zeitlichen Vergehen ausgeliefert reflektieren zu chen Leben ausgegangen, um die ethische Frage zu
können. Die Macht der Zeit ist damit im menschli- stellen, wie zu leben sei, damit das Leben angesichts
chen Leben nicht nur als Macht über das Leben und seines Dem-zeitlichen-Wandel-Ausgesetzt-Seins ge-
seine Episoden, sondern darüber hinaus auch als linge. Auf der anderen Seite wird hinter die Möglich-
Macht über das Subjekt des Lebens präsent. Dass die keit gelingenden Lebens in der Zeit zurückgegangen
Perspektive auf die Ereignisse des Lebens vom zeitli- und die metaphysische Frage gestellt, wie der Sinn
chen Wandel betroffen ist, zeigt sich daran, dass ge- überhaupt in die Welt kommt. Während die ethische
rade wegweisende Ereignisse im Leben – etwa die Frage im Fokus einer Tradition steht, die ihren Aus-
Begegnung oder die Entzweiung mit einem Men- gang in der griechischen Antike nimmt, wirkt in Be-
schen – zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben zug auf die metaphysische Frage, wie Sinn in die Zeit
häufig sehr verschieden beurteilt werden. So kann kommt, das Christentum traditionsbildend. Auch
z. B. eine Trennung, die als Ende allen Lebensglücks wenn historisch in vielen Epochen eine der beiden
erfahren wird, später als Beginn eines neuen, seiner- Fragerichtungen dominiert, haben sich bis in die Ge-
seits erfüllenden Lebensabschnitts aufgefasst werden genwart hinein Autoren auch immer wieder für
– ohne freilich dass dies nun die objektive Sicht auf beide Aspekte des Problems glückenden Lebens in
das Ereignis darstellte. Zwar mag man – und dies mit der Zeit interessiert.
gutem Recht – auch den zeitlichen Wandel des Selbst
noch als eine ethische Herausforderung begreifen Die ethische Frage nach dem Gelingen
und in der Auseinandersetzung mit der Frage be-
des menschlichen Lebens unter den
rücksichtigen, wie zu leben sei, um unter den Bedin-
gungen des Vergehens von Zeit glücklich zu werden.
Bedingungen des zeitlichen Vergehens
Das Übergreifen des zeitlichen Wandels auch auf
das Selbst konfrontiert allerdings darüber hinaus mit Das Vergehen von Zeit tritt auf vielfache Weise ins
einem weiteren, metaphysischen Problem: der Frage, menschliche Leben und stellt darin das Streben nach
wie Sinn überhaupt in die Zeit kommt. Seinerseits einem glücklichen Leben infrage: als Verblassen von
dem zeitlichen Wandel unterworfen, ist es dem Selbst Glückserfahrungen bei ihrer Wiederholung, als Hän-
nicht möglich, einen archimedischen Standpunkt genbleiben in bestimmten Lebensphasen, als Ab-
der Wahrheit einzunehmen, von dem aus es seinem bruch eines eingeschlagenen Lebensweges, als Zu-
eigenen Dasein Bedeutung verleihen könnte. Die Be- Ende-Gehen von Episoden des Glücks und des Le-
stimmungen, die es den Ereignissen in seinem Leben bens selbst. Angesichts dieser Erfahrungen des
zuspricht, sind immer nur relativ auf seinen jeweils Übergreifens des Vergehens und Wandels von Zeit
in der Zeit eingenommenen Standpunkt. Die meta- auf das menschliche Glück stellt sich dem philoso-
physische Frage nach dem Einbrechen von Sinn in phischen Nachdenken die Frage, ob und wie sich der
6. Glück und Zeit. Erfüllte Zeit und gelingendes Leben 65

Zeit ein glückliches Leben abtrotzen lasse. In der schließen könne und auf diese Weise gelinge. Sie ste-
zeitgenössischen Philosophie wird diese Frage sehr hen dabei für die konkurrierenden Wege, Beständig-
breit und mit Fokus auf unterschiedliche Unteras- keit und damit ein in sich rundes Leben durch das
pekte diskutiert. Bevor auf die gegenwärtigen Dis- Transzendieren bzw. die Überformung des zeitlichen
kussionen eingegangen wird, soll zunächst ein Blick Wandels anzustreben. Bei Platon (428/427 v. Chr.–
auf die Tradition philosophischer Ethik geworfen 348/347 v. Chr.) ist das gelingende Leben das Leben
werden, von der sie zehren. des Philosophen, der mit den ewigen, unwandelba-
In der Antike bringt Solon (um 640 v. Chr.–um 560 ren Ideen verkehrt und insofern in einer Sphäre jen-
v. Chr.) das Problem auf, dass das Glück des Men- seits des zeitlichen Wandels lebt (vgl. Phaidros 248a
schen durch den permanenten Wandel bedroht ist, ff.). Die Bedrohung des menschlichen Glücks durch
dem der Mensch in seinem Leben ausgesetzt ist (s. den Tod – als dem Inbegriff des zeitlichen Vergehens
Kap. III.2). In seinem berühmten, von Herodot – wird nach Platon in der philosophischen Lebens-
(490/480 v. Chr.–424 v. Chr.) überlieferten Gespräch haltung überwunden. Dementsprechend bestreitet
mit Krösus, der hofft aufgrund seines Reichtums Sokrates – Platon zufolge – nicht nur, dass der Tod
vom weisen Solon als glücklichster Mensch der Welt für den Philosophen »ein Übel« darstelle, sondern
gepriesen zu werden, verweigert er ihm die begehrte bestimmt darüber hinaus das Philosophieren als
Wertschätzung (vgl. Herodot 1971, 12 ff.). Solon be- »Sterbenlernen« (vgl. Apologie 40c; Phaidon 81a ff.).
gründet seine Haltung mit Verweis auf die Unbe- Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.) steht in der
ständigkeit der Glücksgüter, auf die Krösus sein klassischen Antike für den alternativen Weg, Bestän-
Glück gründet, die ihm jedoch durch eine unvorher- digkeit im menschlichen Leben nicht durch das
gesehene Wendung seines Schicksals genommen Transzendieren, sondern durch die Gestaltung des
werden könnten – und ihm im weiteren Verlauf von zeitlichen Wandels zu erreichen. Hierfür ist entschei-
Herodots Historien auch genommen werden. Solon dend, dass Aristoteles das gelingende Leben als ein
zufolge können die Wandlungen des Schicksals die Leben begreift, das durch die tugendhafte Tätigkeit
Glücksbilanz eines Lebens erst nach dem Tod nicht der Seele bestimmt ist (vgl. Nikomachische Ethik
mehr beeinträchtigen. Deswegen könne über das [NE] 1098a). Als Tätigkeit verwirklicht sich das tu-
Glück eines Menschen erst nach dessen Tod und un- gendhafte Leben in der Zeit und erreicht nach Aris-
ter Berücksichtigung des Lebens seiner Kinder ent- toteles auf diese Weise Beständigkeit in den Wechsel-
schieden werden. fällen des Lebens (vgl. 1100b). Insofern das tugend-
Am Paradox des Solon, dass nur darüber geurteilt hafte Leben allerdings auf Glücksgüter als Mittel für
werden könne, ob ein Mensch glücklich war, nicht seinen Vollzug angewiesen sei, bleibe es immer noch
aber darüber, ob er gegenwärtig glücklich ist – und zu einem gewissen Grad von den Wechselfällen des
dies unabhängig davon, wie glücklich sich seine Lage Lebens abhängig (vgl. 1101b). Dementsprechend ha-
zu Lebzeiten präsentieren mag –, hat sich in der An- ben die Wechselfälle des Lebens vermittels der
tike eine Diskussion über die Frage entzündet, wie Glücksgüter zwar Macht über das Gelingen des
zu leben sei, damit das eigene Leben angesichts des menschlichen Lebens, seien in ihrer Macht jedoch
zeitlichen Wandels gelinge. Von Platon über Aristo- begrenzt. Da »der wahrhaft Gute und Verständige
teles bis zu den Philosophen des Hellenismus be- die Wechselfälle des Lebens alle in guter Haltung
mühte man sich um ein Verständnis eines glücken- trägt und immer das Angemessenste aus der Situa-
den Lebens, das dem zeitlichen Wandel gewachsen tion macht […] wird [er] niemals unglücklich wer-
ist – wodurch zugleich das Paradox des Solon ver- den können; er wird allerdings auch nicht selig sein,
mieden wäre. Dabei waren sich die Philosophen der wenn ihn Schicksalsschläge treffen, wie sie Priamos
klassischen Antike und des Hellenismus darin einig, erlitten hat« (1101a). Unter den Formen des tugend-
dass der Besitz von Glücksgütern als Maßstab haften Lebens ist nach Aristoteles das theoretische
menschlichen Glücks aufzugeben sei. Uneinigkeit Leben das glücklichste (vgl. 1177a). In der Begrün-
herrschte zwischen ihnen in Bezug auf die Frage, wie dung dieser Auszeichnung verweist Aristoteles nicht
man die Emanzipation vom zeitlichen Wandel errei- nur darauf, dass das kontemplative Leben die höchste
chen könne. Tätigkeit sei und das höchste Maß an Lust und Aut-
In der klassischen Antike fragen Platon und Aris- arkie vermittle, sondern auch darauf, dass es die
toteles danach, wie sich das menschliche Leben trotz größte Kontinuität in der Zeit aufweise, das zeitliche
des Wandels der Zeit zu einem Ganzen zusammen- Vergehen also am besten überforme (1177a).
66 II. Systematik des Glücksdenkens

Im Hellenismus rückt am Vergehen der Zeit neben Der Philosoph führe dagegen ein selbstbestimmtes
dem Zu-Ende-Gehen von erfreulichen Lebensperio- Leben und nutze seine Lebenszeit für die Erkenntnis
den das Sterben in das Zentrum des philosophischen und damit für den Umgang mit den ewigen Dingen.
Nachdenkens. Sowohl die Epikureer als auch die Derart hänge das Gelingen seines Lebens nicht von
Stoiker entwickeln Praktiken der Lebenskunst, deren künftigen Ereignissen ab, sondern sei bereits in der
Ziel darin besteht, sich in ein Leben einzuüben, des- Gegenwart erfüllt – und deswegen lang genug.
sen Glück durch die menschliche Endlichkeit nicht Unter dem Einfluss des Christentums tritt seit der
gefährdet ist. Uneins sind sie sich allerdings in Bezug Spätantike die ethische Frage, wie der Mensch das
auf das angestrebte Glück und damit einhergehend Gelingen seines Lebens angesichts des Vergehens
auch in Bezug auf die Praktiken, um es zu erreichen. von Zeit erreichen könne, hinter die – im zweiten
Während Epikur an einer Gegenwart in Freude inte- Teil des Artikels behandelte – metaphysische Frage
ressiert ist, verfolgen die Stoiker das Ideal eines durch nach der Erfüllung zurück, die der Mensch durch
vernünftige Selbstbestimmung zusammengeschlos- den Einbruch des Sinns in die Zeit erfährt. Dennoch
senen Lebens. finden sich im Mittelalter und in der Neuzeit Philo-
Das Leben in Freude bzw. Lust (gr. hedoné), dem sophen, die an die verschiedenen Aspekte und Posi-
sich Epikur (um 341 v. Chr.–271/270 v. Chr.) ver- tionen der antiken Diskussion anknüpfen. So über-
schreibt, bestimmt er als ein Leben, das frei von Un- nimmt etwa Thomas von Aquin (um 1225–1274) –
lust ist (vgl. Epikur 1967, 279–286). Angesichts der im Rahmen seiner Unterscheidung der beatitudo
Wechselfälle des Lebens rät Epikur zu einer asketi- perfecta des ewigen und der beatitudo imperfecta des
schen Lebensführung, die die Zufriedenheit mit der diesseitigen Lebens – die aristotelische Auszeich-
eigenen Lebensgegenwart dadurch sichere, dass sie nung des theoretischen als des kontinuierlichsten
sich an einen bescheidenen Lebenswandel gewöhne Lebens. Aufgrund seiner Beständigkeit weise das
und deswegen von keiner Entbehrung bedroht sei. theoretische Leben auf das ewige Leben in der Ein-
Um die Beunruhigung durch den Tod zu überwin- heit mit Gott voraus, in dem das zeitliche Vergehen
den, empfiehlt er, den Tod zu vergessen. Wer den Ge- überwunden sei (vgl. Thomas von Aquin: Summa
danken an sein zeitliches Vergehen ausschalte, dem theologiae 1273/1985, II, q 5 a 4, 41 ff.; Forschner
werde es nach Epikur möglich, die Gegenwart in 1993, 82 ff.).
Freude zu genießen. In dieselbe Richtung weist Ho- Michel de Montaigne (1533–1592) verändert seine
raz’ (65 v. Chr.–8 v. Chr.) sprichwörtlich gewordene Haltung zum Glück, das unter den Bedingungen der
Maxime carpe diem (Horaz 1964, 25). Anders als Zeit zu erreichen sei, im Laufe seines Lebens und re-
vom Alltagsgebrauch häufig missverstanden, fordert flektiert diese Veränderung in einem späten Essay als
der Epikureer Horaz in der Lebensregel, der diese An- Janusköpfigkeit des Lebens: dass sich die Jungen am
weisung entnommen ist, nicht dazu auf, die Gegen- Alter und die Alten an der Jugend orientierten (vgl.
wart zu nutzen, um an der Sicherheit der Zukunft zu Montaigne 1580/1998, 419l). In seinen frühen Essays
bauen. Er rät vielmehr, sich der Gedanken über die vertritt er mit Bezug auf Solon noch die These, dass
ungewisse Zukunft zu enthalten und damit die ei- man deswegen erst nach dem Tod eines Menschen
gene Vergänglichkeit auszublenden, um den gegen- über dessen Glück urteilen solle, da der Tod den
wärtigen Tag in Freude erleben zu können. »Prüfstein« darstelle, »an dem sich alle Handlungen
Demgegenüber möchte der Stoiker Seneca (um unsres Lebens messen lassen müssen« (45r). Um sich
1–65) das Sterben nicht vergessen, sondern – im auf diese Prüfung vorzubereiten, gelte es, zu philoso-
Sinne Platons – erlernen. Ausgangspunkt seiner phieren, was Montaigne – abermals in Tradition der
Überlegungen ist die verbreitete Klage über die Antike – als Sterbenlernen versteht. Am Ende seines
Kürze des menschlichen Lebens (vgl. Seneca 2008). Lebens relativiert er den Status des Philosophierens
Die Erfahrung, dass das eigene Leben – zu – kurz sei, für das menschliche Glück. Mit dem Philosophieren
hat nach Seneca ihre Ursache in einem misslunge- gelte es genauso wenig zu übertreiben wie mit dem
nen Umgang mit der eigenen Lebenszeit. Das Leben Streben nach sinnlicher Lust. Das menschliche Glück
erscheine der Menge deswegen als zu kurz, weil sie findet er nun weniger in einem runden Leben als in
sich den Leidenschaften hingebe, dadurch von ande- Zuständen der Lust und der Freude, die es auszukos-
ren Menschen und dem Lauf der Dinge abhängig ten gelte (vgl. 418r ff.; 561r ff.; s. Kap. IV.2).
werde und infolgedessen nur noch Zeit für die Ver- Mit Bezug auf Epikur wird das menschliche Glück
pflichtungen und nicht mehr für sich selbst habe. auch im französischen Materialismus und in der eng-
6. Glück und Zeit. Erfüllte Zeit und gelingendes Leben 67

lischen Moralphilosophie der frühen Neuzeit als – z. T. Ursprung in einer Instanz der Transzendenz jenseits
nur sinnlich, z. T. auch geistig bestimmte – Lust bzw. des menschlichen Lebens und der menschlichen
Freude verstanden (s. Kap.V.1–2). Allerdings wird Vernunft hat.
Lust – im Sinne des Alltagsverständnisses – als ein Die im weiten Sinn des Wortes lebensphilosophi-
unmittelbar sich einstellender Zustand verstanden sche Strömung schlägt den alternativen Weg ein, auf
und Epikurs Verständnis eines lustvollen Lebens, das die Herausforderung durch die Endlichkeit der Ver-
gerade angesichts der Wechselfälle des Lebens zu be- nunft zu reagieren, und diskutiert das Gelingen
stehen habe, nicht übernommen. Wenn in diesen menschlichen Lebens im Ausgang vom diesseitigen
Strömungen der neuzeitlichen Philosophie das Vollzug des Lebens. Friedrich Nietzsche (1844–1900)
Glück in seinem Verhältnis zur Zeit thematisiert betont, dass Handeln und damit das Gelingen des
wird, so stellt es sich jetzt – wie es Hobbes (1588– menschlichen Lebens von der Fähigkeit abhänge, die
1679) ausdrückt – als »ein ständiges Fortschreiten er zunächst als »plastische Kraft« und später als
des Verlangens von einem Gegenstand zu einem an- »Wille zur Macht« bezeichnet: das Wirkliche, bzw.
deren«, bzw. – bei Voltaire – als eine Folge von Lust- das aus der Vergangenheit Überkommene, in den
zuständen dar (vgl. Hobbes 1651/1984, 75; Voltaire Dienst des gegenwärtigen Lebensvollzugs zu stellen
1764/1838, 483). (1874/1980, 225 ff.). Martin Heidegger (1889–1976)
Vor eine grundsätzlich neue Herausforderung ge- denkt gelingendes Leben als das »eigentliche« Leben
stellt sieht sich das philosophische Nachdenken über des Einzelnen, der sich durch den Bezug auf den ihm
das Gelingen menschlichen Lebens unter den Bedin- bevorstehenden Tod der Konventionalität der Le-
gungen der Vergänglichkeit erst durch die Reflexion bensführung – bzw. der Verfallenheit an das Man –
auf die Endlichkeit der Vernunft. Seit dem 19. Jahr- entwunden habe (1927/1993, 255–267). Albert Ca-
hundert wird die Bezogenheit der Vernunft auf die mus (1913–1960) treibt die Strömung, das Gelingen
vorgängige Wirklichkeit menschlichen Lebens be- des Lebens im Ausgang vom individuellen Lebens-
dacht. Die Endlichkeit der Vernunft stellt das philo- vollzug zu verstehen, mit seiner Behauptung auf die
sophische Glücksdenken sowohl vor ein inhaltliches Spitze, dass man sich Sisyphos als einen glücklichen
als auch vor ein methodisches Problem. Auf inhaltli- Menschen vorzustellen habe (1942/1959, 101; s. Kap.
cher Ebene hat die Relativierung der Vernunft zur V.6 und VI.5).
Konsequenz, dass sie keine Beständigkeit in den Die zeitgenössische Diskussion der Frage nach
Wechselfällen des Lebens mehr vermitteln und also dem Gelingen des Lebens unter den Bedingungen
auch das Gelingen des menschlichen Lebens nicht menschlicher Endlichkeit fokussiert sich auf drei
mehr sichern kann. Auf methodischer Ebene schlägt Problemkomplexe. Zum einen hat John Rawls (1921–
die Einsicht in die Endlichkeit der Vernunft auf den 2002) mit seiner These, dass ein vernünftiger Le-
Wahrheitsanspruch des philosophischen Erkennens bensplan das Gelingen des Lebensganzen sichere,
selbst zurück, das seinen archimedischen Stand- eine Diskussion über die Verschränkung von Lebens-
punkt der Wahrheit verliert und seine orientierende plan und Ereignissen des Lebens ausgelöst (1971/1975,
Kraft einbüßt. Beide Herausforderungen bestimmen 445 ff.). Nach Rawls sichert der Lebensentwurf des-
das Glücksdenken bis in die Gegenwart. wegen Beständigkeit im zeitlichen Wechsel der Le-
Die Konsequenz aus der Endlichkeit der Vernunft bensabschnitte, weil er den individuellen Sinnhori-
für das Glücksdenken hat der späte Schelling (1775– zont darstelle, unter dem alle Werturteile gefällt und
1854) auf sehr eindrückliche Weise gezogen, wenn er untereinander abgestimmt würden. Zwar sei der Le-
in dem Dialog Clara die Protagonistin ausrufen lässt: bensplan unter Bedingung der je aktuellen Lebenssi-
»Philosophen können wohl sagen: Es gibt keinen tuation zu konkretisieren, dies schlage gewöhnlich
Tod […]. Das aber, was wir anderen Menschen so jedoch nicht auf den Gesamtplan zurück. Gegen
nennen, bleibt deswegen doch da, und lässt sich mit Rawls’ Lebensplantheorie wurde von verschiedener
Worten so wenig hinwegschaffen, als es auf diese Seite eingewandt, dass sie die immanente Zeitstruk-
Art erklärt wird« (Schelling 2009, 71 f.). Schelling tur, die dem Vollzug menschlichen Lebens zukomme,
und mit ihm eine ganze Reihe moderner Philoso- verkenne (vgl. Williams 1981/1984, 43; Seel 1995,
phen ziehen aus diesem Umstand die Konsequenz, 100; Thomä 1998, 73 ff.; Spaemann 1996, 125 ff.). Für
menschliches Glück – in Anknüpfung an die im die weitere Diskussion ergibt sich dadurch die Her-
zweiten Teil des Artikels dargestellte christliche Tra- ausforderung, einzusehen, wie sich aus dem Hori-
dition – als eine Erfülltheit zu verstehen, die ihren zont menschlichen Lebens sein Gelingen begreifen
68 II. Systematik des Glücksdenkens

lasse. Dabei kommt der Frage nach der Verschrän- werde und das aufgrund seiner Nachträglichkeit sehr
kung des gefassten Lebensplans und der einbrechen- täuschungsanfällig sei.
den Ereignisse des Lebens besonderes Gewicht zu. Darüber hinaus wird in den letzten Jahrzehnten
Annemarie Pieper (geb. 1941) betont die Wechselbe- die Diskussion über die Kürze des menschlichen Le-
ziehung von Lebensplan und Lebenserfahrung bens wieder aufgenommen. Hans Blumenberg (1920–
(2001, 26 ff.). Ein an der Lebenserfahrung bewährter 1996) greift dieses Problem im Ausgang von der
Lebensentwurf umgreife die Dimensionen der Ver- Spannung zwischen Weltzeit – zur Bezeichnung der
gangenheit, der Gegenwart und der Zukunft und Gesamtdauer weltlichen Seins – und menschlicher
könne deswegen unglückliche Lebensphasen inte- Lebenszeit – zur Bezeichnung der Spanne menschli-
grieren und auf diese Weise das Gelingen des chen Lebens – auf (1986; Thomä 2003, 109 ff.). Die-
menschlichen Lebens als Ganzes sichern. Nach Mar- ser anthropologische Grundkonflikt berge die de-
tin Seel (geb. 1954) stellt die Verschränkung von ei- mütigende Erfahrung eigener Endlichkeit in sich:
nem Lebensplan, der auf langfristige Ziele ausgerich- dass sich im Horizont der eigenen Lebenszeit nicht
tet ist, und der Offenheit für unerwartete Ereignisse alle Lebensmöglichkeiten auskosten lassen, die sich
des Glücks die Herausforderung dar, die es in einem in der Gesamtheit der Weltzeit bieten, bzw. bereits
selbstbestimmten Leben zu bewältigen gelte, damit geboten haben, oder erst noch bieten werden (vgl.
das Leben gelinge (1995, 113 f.). Robert Spaemann Blumenberg 1986, 71 ff.). Dementsprechend gehöre
(geb. 1927) tritt dafür ein, dass sich das Ganzwerden es zur Verfasstheit des Menschseins, danach zu stre-
des menschlichen Lebens nicht an seinem zeitlichen ben, den Konflikt von Lebenszeit und Weltzeit zu
Ende, sondern mitten im Leben ereigne (1996, entschärfen. Zeitgewinn sei solcherart das »Radikal
125 ff.). Das Leben werde in seinem Vollzug ganz, in- aller Wünsche auf Erweiterung und Zugewinn an
dem die in ihm geschehenden Ereignisse als etwas Lebensqualität« (74). Die kulturellen Wege, die Riva-
erfahren werden, das nicht nur innerhalb des indivi- lität von Lebenszeit und Weltzeit zu entschärfen,
duellen Lebenszusammenhangs bedeutsam, sondern reichten von der Abkoppelung der Lebenszeit von
in sich sinnhaft sei. Sein logisches Pendant habe der der Weltzeit durch die Behauptung ihrer Unverhält-
gegenüber dem Lebensvollzug eigenständige Le- nismäßigkeit, die die Philosophie der Neuzeit aufge-
benssinn im futurum exactum, das das künftige Ge- stellt habe, bis zur gewaltsamen Reduktion der Welt-
wesen-Sein von Ereignissen der Gegenwart aus- zeit auf die Spanne des eigenen Lebens, die Hitler
drückt (vgl. 171). Dieter Thomä (geb. 1959) formu- unternommen habe. Hermann Lübbe (geb. 1926) un-
liert die Kritik an der Vorstellung einer das ganze tersucht die spezifische Verschärfung, die die Erfah-
Leben überblickenden Lebensbilanz als Einspruch rung von der Kürze des menschlichen Lebens durch
gegen die Lebenserzählung. »Die Gegenwart ist der die Beschleunigung der Zeit in der Neuzeit erfahren
blinde Fleck, von dem aus Erzählungen in die Ver- habe (vgl. Lübbe 1992). Aufgrund der Zunahme von
gangenheit und in die Zukunft fortgesponnen wer- technischer Innovation pro Zeiteinheit schrumpft
den« (1998, 255). Aus dieser Rückgebundenheit an nach Lübbe die Gegenwart als der Zeithorizont, in-
einen Augenblick im Leben zieht Thomä – in der nerhalb dessen die eigenen Lebensverhältnisse kon-
Tradition von Nietzsches »plastischer Kraft« – den stant bleiben (305 ff.). Kulturell haben sich nach
Schluss, dass die in der Erzählung vollzogene Rück- Lübbe unterschiedliche Formen herausgebildet, um
wendung auf das eigene Leben kein Selbstzweck sei, unter den Bedingungen schrumpfender Gegenwart
sondern »im Dienst eines weltbezogenen Lebens- ein gelingendes Leben führen zu können. Der rasche
vollzugs« stehe (255). Dieter Birnbacher (geb. 1946) Wandel werde u. a. durch Erinnerung der Vergan-
reagiert schließlich auf das Problem, dass das Nach- genheit und Betonung des Zeitlos-Klassischen kom-
denken über gelingendes Leben selbst in den Hori- pensiert und in einem eklektizistischen Gemisch
zont des menschlichen Lebens rückgebunden ist, in- von Elementen aus verschiedenen Epochen indivi-
dem er die philosophische Erkenntnis zur Wahrung duell angeeignet. Neben Lübbe richten auch viele
ihrer Wissenschaftlichkeit auf die Untersuchung der Ansätze der Modernekritik ihre Aufmerksamkeit auf
Urteile beschränkt, die über das Gelingen menschli- die Beschleunigung der Zeit in der Moderne, um ihr
chen Lebens gefällt werden (2006, 10 ff.). Derart be- Kulturen der Langsamkeit gegenüberzustellen (vgl.
stimmt er »das periodische Glück« als ein normati- u. a. Jünger 1954/1979, 101–250).
ves Urteil, das im Rückblick über die Bilanz eines Schließlich wird in der Gegenwart die hellenisti-
Lebensabschnitts oder des Lebensganzen gezogen sche Tradition der Lebenskunst (s. Kap. VI.10) – häu-
6. Glück und Zeit. Erfüllte Zeit und gelingendes Leben 69

fig mit Bezug auf die Beschleunigung von Zeit – wie- die von Sinn durchdrungene Zeit vom christlichen
dererinnert. Hans Krämer (geb. 1929) entwirft eine Verständnis der ›Erfüllung der Zeit‹ bestimmt. Da-
»präskriptive Zeitethik«, in deren Zentrum das Ziel bei wird insbesondere auf die Erfahrungen des er-
steht, die Gegenwart als Selbstzweck zu behandeln füllten Augenblicks einerseits und der sinnentleer-
(1992, 299 ff.). Wenn Einzelziele in bestimmten Le- ten Momente der Langeweile andererseits Bezug ge-
bensabschnitten einer übertriebenen Vergangen- nommen. Um den Hintergrund der zeitgenössischen
heitsbezogenheit oder Zukunftssorge geopfert wür- Diskussion auszuleuchten, sollen im Folgenden in
den, hätte dies Defizite zur Folge, die wiederum zu typologisierender Kürze zunächst das griechische
Kompensationszwängen führten. Beides schlüge auf Ewigkeitsverständnis, gegen das sich die christliche
die Gesamtbilanz des Lebens durch. Die Endbilanz Tradition absetzt, diese selbst und ihre säkulare An-
des gesamten Lebens falle dagegen positiv aus, wenn eignung seit der frühen Neuzeit dargestellt werden.
Einzelziele in unterschiedlichen Lebensphasen er- Das Ewigkeitsverständnis der antiken Metaphysik
reicht worden seien. In eine ähnliche Richtung weist tritt charakteristisch in Platons Ideenlehre hervor
Ferdinand Fellmanns (geb. 1939) Ansatz, »mit der (vgl. z. B. Phaidros 248c ff.). Das zeitliche Werden er-
Zeit befreundet [zu] sein« (2009, 208 ff.). Odo Mar- scheint hier als in ewige, da unbewegte, Strukturen
quard (geb. 1928) beschäftigt sich mit den Heraus- des Kosmos integriert. Das irdische Leben des Men-
forderungen, vor die die menschliche Lebensfüh- schen versteht Platon als die Episode, während derer
rung durch die in der Moderne radikalisierte Erfah- die unsterbliche Seele einem sterblichen Körper
rung der Endlichkeit menschlichen Lebens gestellt »eingepflanzt« und dadurch dem zeitlichen Wandel
wird (1993, 64 ff.). Einerseits zwinge die Kürze des ausgesetzt sei. Quelle allen Sinns – in und jenseits
Lebens den Menschen zur Schnelligkeit, um das An- des zeitlichen Lebens – sind die ewigen Ideen; Organ
gestrebte binnen gesetzter Frist zu erlangen; ande- ihrer Anschauung ist die unsterbliche Seele. Das
rerseits zwinge sie ihn zur Langsamkeit, da sie die menschliche Lebensglück steht damit bei Platon in
Möglichkeiten zur Veränderung begrenze und den der Spannung zwischen dem Genuss, den die kör-
Menschen dadurch an seine Vergangenheit zurück- perlichen Begierden versprechen, und der höchsten
binde. In der Moderne sei gefordert, der Schnellig- Glückseligkeit, die der philosophischen Erkenntnis
keit der Lebensabläufe durch kompensatorische entspringt, in der die Seele die vor ihrer irdi-
Langsamkeit entgegenzuwirken. Wilhelm Schmid schen Geburt geschauten Ideen wiedererinnert. Ein
(geb. 1953) verfolgt mit seinem Ansatz der Lebens- Mensch, der im diesseitigen Leben philosophiere,
kunst ein ähnliches Ziel (1998, 88 ff.). nach der Schau der Wahrheit strebe und sich um die
Reinheit der eigenen Seele sorge, nähere sich unter
Die metaphysische Frage den Bedingungen des zeitlichen Lebens der Teilhabe
am Ewigen an (vgl. Phaidon 83b, 114c). Auf diese
nach der erfüllten Zeit
Weise verdiene er sich nach Platon den Zutritt zur
In der bisher dargestellten ethischen Diskussion wird »Insel der Glückseligen« und damit die Rückkehr
die Macht der Zeit als Macht über das menschliche zur ewigen Glückseligkeit, nachdem seine Seele im
Leben reflektiert und gefragt, wie zu leben sei, um Tod den sterblichen Körper verlassen habe (vgl. Gor-
angesichts des Vergehens von Zeit glücklich zu wer- gias 523a).
den. Die jetzt zu rekonstruierende, metaphysische Für die christliche Tradition gewinnt das biblische
Diskussion geht davon aus, dass das Vergehen der Verständnis der Ewigkeit als »Fülle« bzw. »Erfüllung
Zeit auch noch auf das Selbst als dem Subjekt des Le- der Zeit« zentrale Bedeutung (vgl. Gal 4,4; sowie für
bens und den Sinn übergreift, den es den Ereignissen das Folgende Theunissen 1991, 300 ff.). Darin wird
seines Lebens zuspricht. Angesichts dieser Relativität mit der einfachen Gegenüberstellung von Ewigkeit
der Bedeutungen, die das Selbst hervorzubringen und Zeitlichkeit gebrochen, die für das antike Ver-
vermag, stellt sich die Frage nach einem vom Selbst ständnis des Ewigen, wie es sich in der platonischen
unabhängigen Sinngeschehen, das in die Zeit ein- Ideenlehre ausdrückt, kennzeichnend war. Das Ver-
bricht und auf diese Weise nicht nur das zeitliche hältnis des Ewigen zum Zeitlichen wird jetzt als
Vergehen mit Sinn überformt, sondern zugleich die Durchdringung verstanden. Das Ewige bildet damit
Bedingung darstellt, die menschliches Glück – und nicht mehr das schlechthin Andere der Zeit, son-
Unglück – ermöglicht. Bis heute und noch in seine dern »deren eigene Tiefenschicht, in der die Zeit
säkulare Aneignung hinein ist das Nachdenken über sich selbst entrückt ist« (vgl. 62). Für die menschli-
70 II. Systematik des Glücksdenkens

che Perspektive bedeutet dies, dass sich der Hori- Auch Kierkegaard (1813–1855) bedenkt die Bedeu-
zont der Zeitlichkeit nicht einfach zum Ewigen hin tung, die dem erfüllten Augenblick im diesseitigen
transzendieren lasse, sondern dass das Ewige in die Leben zukommt. Dieser steht nach Kierkegaard des-
Zeit einbricht, bzw. die Zeit erfüllt. Zur weiteren Be- wegen im Zentrum des Christentums, da er »der
stimmung dieses Verständnisses von Ewigkeit wird erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Ver-
– seit Plotin (um 205-um 270) – auf Platons Spätdia- such, die Zeit sozusagen zum Stillstand zu bringen«
log Timaios zurückgegriffen (vgl. Schnarr 1984, sei (1844/1984, 96). Dem erfüllten Augenblick steht
989–991). Hier begreift Platon die Gegenwart des bei Kierkegaard – wie bei Pascal – die Langeweile als
Lebensganzen – aion – als die »in dem Einen ver- die Erfahrung sinnloser Leere in einem dem Ewigen
harrende Gegenwart«, in der die Zeit versammelt ist entfremdeten Leben gegenüber.
(vgl. Timaios 37d). An diesem Verständnis der blei- Seit der Neuzeit kommt es allerdings auch zu einer
benden Gegenwart orientiert sich der scholastische Säkularisierung der erfüllten Zeit in ihren beiden Di-
Begriff des nunc stans zur Auszeichnung der Ewig- mensionen als Zustand der Erlösung am Ende der
keit als der Gegenwart Gottes. Als stillgestellte Zeit Zeiten und als erfüllter Augenblick der Gegenwart.
wird die göttliche Gegenwart solcherart von der lau- Dabei wird ein von der neuzeitlichen Physik beein-
fenden Zeit – currens tempus – der menschlichen flusstes Verständnis von Zeit in Anspruch genom-
Gegenwart abgegrenzt. Die erfüllende Stillstellung men, das die Zeit vom Ewigen abkoppelt und als ei-
der Zeit wird sowohl als vollständige Überwindung nen linearen Ablauf in der Spannung von Zeitdauer
des zeitlichen Vergehens und damit als Ende der und Zeitpunkt versteht. Die Vorstellung vom Reich
Zeiten als auch als Konzentration der Zeit im erfüll- der Erlösung am Ende der Zeiten, das die Befreiung
ten Augenblick des Diesseits gedacht. Das Glück, von Leid und ewige Glückseligkeit verspricht, wird
das der Mensch in der Erfüllung der Zeit sowohl am von zwei Theorietypen angeeignet: der Utopie und
Ende als auch im Augenblick erfährt, wird von der der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie. Gemein-
Patristik und der Scholastik in Anschluss an die Bi- sam ist beiden Theorietypen, dass die Zukunft nicht
bel als unmittelbare Schau Gottes bestimmt. Zu- mehr als das schlechthin Andere gegenüber der
gleich werden beide Zustände stillgestellter Gegen- menschlichen Gegenwart, sondern vielmehr als de-
wart aufeinander bezogen. So wird die mystische ren Verlängerung verstanden, damit ins Diesseits
Schau seit Pseudo-Dionysios Areopagita (um 500) als versetzt und meist als Werk des Menschen angese-
affektive Erfahrung der Vereinigung mit Gott – der hen wird. In Anschluss an Thomas Morus (1478–
unio mystica – jenseits aller geistigen Erkenntnis 1535) werden politische Utopien eines vollkomme-
und z. B. bei Meister Eckhart (um 1260–1328) als nen Zusammenlebens der Menschen entworfen, die
Vorwegnahme der künftigen Seligkeit verstanden an einem räumlicher und zeitlicher Bedingtheit ent-
(vgl. Heidrich 1984, 268–273; Meister Eckhart 1963, rückten ›Un-Ort‹ angesiedelt sind (vgl. Nipperdey
269 f.). 1975; Saage 1991; s. Kap. II.11). Nach einer letzten
In der Neuzeit machen Pascal und Kierkegaard Blüte im 19. Jahrhundert mit den Entwürfen der uto-
dieses christliche Verständnis des Glücks der Erfül- pischen Kommunisten – z. B. von Charles Fourier
lung für das Verständnis des diesseitigen Lebens (1772–1837) – schlägt die Reflexion auf die Endlich-
fruchtbar. In diesem Zusammenhang kommen beide keit der menschlichen Vernunft auch auf die literari-
zu maßgeblichen Darstellungen der Phänomene des sche Gattung der Utopie und deren Vertrauen in die
erfüllten Augenblicks und der Langeweile. Pascal Planbarkeit des menschlichen Gemeinwohls zurück
(1623–1662) zeichnet einen Kreislauf aus sinnloser (vgl. Fourier 1977). Im 20. Jahrhundert entstehen
Arbeit und langweiliger Muße (s. Kap. II.2 und IV.2). Dystopien – z. B. von Aldous Huxley (1894–1963) –,
Die Arbeit bedrücke, so dass man sich nach Ruhe die das geplante Glück der Gemeinschaft als Unter-
sehne, hätte man diese erreicht, wisse man die zur drückung des Einzelnen darstellen (vgl. Huxley
Verfügung stehende Zeit nicht zu füllen, langweile 1932/1976).
sich, fühle die eigene Unzulänglichkeit und sehne In den Ansätzen der neuzeitlichen Geschichtsphilo-
sich wieder nach dem Sich-vergessen-Können in der sophie werden säkulare Interpretationen der escha-
Arbeit. Transzendieren lasse sich dieser Zirkel aus tologischen Annäherung an das künftige Reich der
Sinnlosigkeit und Langeweile allein im erfüllten Au- Erlösung entworfen (vgl. Löwith 1953). Die ewige
genblick religiöser Kontemplation, die dem Leben Glückseligkeit tritt in den geschichtsphilosophischen
wahren Lebenssinn vermittele (1670/1997, 484, 364). Ansätzen der Neuzeit als zeitlich gedachte Zukunft
6. Glück und Zeit. Erfüllte Zeit und gelingendes Leben 71

der menschlichen Gegenwart auf. Während Giam- lichem Ewigkeitsverständnis. Die Ewigkeit steht bei
battista Vico (1668–1744) noch den Plan der Vorse- Nietzsche nicht mehr für eine in sich verharrende
hung und ›die ewige Güte Gottes‹ geschichtsphiloso- Gegenwart, in der das zeitliche Vergehen überwun-
phisch aufweisen wollte, wird der geschichtliche den ist, sondern für das In-Sich-Kreisen der Zeit als
Fortschritt in der französischen Aufklärung zum ›Ewige Wiederkehr des Gleichen‹. Damit einherge-
Werk des Menschen. So stellt etwa Condorcet (1743– hend sieht Nietzsche den glücklichen Augenblick
1794) den von der Aufklärung hervorgebrachten nicht mehr als dem Einbruch von Transzendenz ge-
Fortschrittsprozess als eine Entwicklung dar, in der schuldet an, sondern stellt ihn als die Erfahrung von
die Menschen zur geistigen und moralischen Ver- der Überwindung von Widerständen und eigenem
vollkommnung gelangen und einem künftigen »Ely- Machtzuwachs dar (1895/1980, 170). Der lusterfüllte
sium« entgegenstreben (1795/1963, 399). In den ge- Augenblick bezieht sich in der Sehnsucht nach un-
schichtsphilosophischen Ansätzen der klassischen begrenzter Dauer bzw. nach Wiederholung allein
deutschen Philosophie wird der Versuch unternom- noch auf die Ewigkeit unendlicher Wiederholung:
men, die Vorstellung der Aufklärung vom geschicht- »spracht ihr jemals ›du gefällst mir, Glück! Husch!
lichen Fortschritt menschlicher Freiheit mit der Augenblick!‹ so wolltet ihr Alles zurück! – Alles von
theologischen Vorstellung vom Ewigen, das sich neuem, Alles ewig […], oh so liebtet ihr die Welt, –
›hinter dem Rücken‹ der Menschen nach eigenen […] Denn alle Lust will – Ewigkeit!« (1883–85/1980,
Gesetzen verwirklicht, zu verbinden. So behaupten 402; Hervorhg. orig.).
Kant (1724–1804) und Hegel (1770–1831) eine ›List‹ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemühen sich ver-
der Natur bzw. der Vernunft, die den vernünftigen schiedene Autoren – ähnlich wie bereits Pascal und
Endzustand der Geschichte – den Zustand Ewigen Kierkegaard – entgegen der neuzeitlichen Tenden-
Friedens bzw. geistiger Versöhnung – selbst durch zen zur Säkularisierung erneut darum, das diessei-
das ›ungesellige‹ Handeln der Menschen hindurch tige Leben des Menschen auf die Gegenwart des Ewi-
verwirklicht. Hegel greift explizit auf die christliche gen hin durchsichtig zu machen. Dabei verzichten
Terminologie zurück und spricht davon, dass mit der die meisten Autoren auf ein monotheistisches Ver-
Vollendung der geschichtlichen Entwicklung des ständnis des Ewigen, bleiben jedoch der Vorstellung
Geistes »die ruhe- und haltlose Zeit […] in sich des beglückenden Einbruchs des Ewigen in die Ge-
zusammen[fällt]« (1807/1986, 587). Die sich im 19. genwart verbunden. Eine Ausnahme bildet Franz Ro-
Jahrhundert ausbreitende Geschichtswissenschaft senzweig (1886–1929), der aus dem Horizont der jü-
macht diesen Ansätzen ein Ende. dischen Offenbarung das Verständnis der ewigen
Parallel zur Säkularisierung des Reichsgedankens Glückseligkeit am Ende der Zeiten als unmittelbare
findet in der Neuzeit eine Säkularisierung des erfüll- Schau Gottes wieder aufgreift (1921/1988, 281 f.).
ten Augenblicks statt, der aus dem Zusammenhang Den erfüllten Augenblick versteht er als die »reinste
mit dem christlichen Ewigkeitsverständnis heraus- Gegenwart«, die das Offenbarungsereignis göttlicher
gelöst wird. Von Pascal angeregt, jedoch unter Auf- Liebe im menschlichen Leben zeitige (183). Ludwig
gabe von dessen theologischer Haltung, kommt es in Wittgenstein (1889–1951) versteht ein glückliches
Frankreich zu einer breiten Diskussion der Lange- Leben als das »in Übereinstimmung sein mit der
weile als eines Dekadenzphänomens (vgl. Lessing Welt« bzw. mit dem Schicksal, an dem wir teilhaben,
1980, 28–32). So heißt es bei Montesquieu (1689– ohne uns seiner bemächtigen zu können (1960/1984,
1755): »Alle Fürsten langweilen sich« und später bei 169; s. Kap. VI.3). Ein glückliches Leben ist nach
Rousseau (1712–1778): »das Volk langweilt sich Wittgenstein nicht in der Zeit, sondern allein in der
nicht« (zitiert nach Lessing 1980, 29). Kant stellt sich Ewigkeit zu erreichen, die er im Sinne des nunc stans
in diese Tradition und übernimmt die Gegenüber- als »unzeitliche« Gegenwart jenseits des zeitlichen
stellung zwischen der Langeweile des müßigen und Vergehens bestimmt. Der Mensch hat an dieser un-
der Kurzweiligkeit des tätigen Lebens. Er interpre- zeitlichen Gegenwart nach Wittgenstein in der Kon-
tiert das Leiden der Langeweile als List der Natur, templation teil.
mit der diese den Zweck verfolge, den Menschen zur Marcel Proust (1871–1922) beschreibt den erfüll-
Tätigkeit anzutreiben, »um immer zum Bessern fort- ten Augenblick als Einbruch einer vergangenen Zeit
zuschreiten« (1798/1983, B 172 ff.; vgl. Seel 2007, in die Jetztzeit, der sich als Erinnerung ereigne
181–200). Nietzsche (1844–1900) radikalisiert die (1927/1964, 267–298). Eine für sich genommen un-
Entkoppelung von erfülltem Augenblick und christ- bedeutende Erfahrung – wie der Geschmack einer in
72 II. Systematik des Glücksdenkens

den Tee getauchten Madeleine – motiviere eine Erin- In ihrem Nachdenken über den erfüllten Augen-
nerung und bilde damit die Brücke zwischen der blick knüpft die zeitgenössische Diskussion sowohl
Jetztzeit und einer vergangenen Zeit. Das Erinne- an die theologische als auch an die säkulare Tradi-
rungsgeschehen durchbreche solcherart den chro- tion an. Hans-Georg Gadamer (1900–2002) tritt mit
nologischen Ablauf der Zeiten und vermittle eine dem Anspruch auf, eine säkulare Interpretation des
Erfahrung des Ewigen. Diese Teilhabe am Ewigen sei Lebensganzen – des aion – und des erfüllten Augen-
die Ursache dafür, dass die Augenblicke der Erinne- blicks zu liefern (1969/1987, 137–153). Er über-
rung als beglückend erlebt würden. Walter Benjamin nimmt Nietzsches Verständnis des Lebensganzen als
(1892–1940) knüpft in seiner »materialistischen« ewiger Wiederkehr des Gleichen, um mit dem anti-
Geschichtstheorie an diese Proustsche Überlegung ken Arzt Alkamaion zu betonen, dass der Mensch aus
zum verewigten Augenblick der Erinnerung an diesem In-sich-Kreisen des Lebens herausfalle und
(1942/1974, 691–704). Die »Konstellation«, in die die deswegen ein in Etappen gegliedertes Leben führe,
Gegenwart des Historikers und eine Epoche der Ver- das schließlich in den Tod münde. Den erfüllten Au-
gangenheit treten, eröffne dem Historiker den Zu- genblick bezeichnet er zwar als Umkehr, er versteht
gang zur Einzigartigkeit der vergangenen Epoche. darunter jedoch allein den qualitativ unbestimmten
Der »materialistische« Historiker begreife diese »Übergang« von einer Lebensphase in eine andere,
Konstellation der Epochen als »das Zeichen einer an dem man sich von Altem freimache und für Neues
messianischen Stillstellung des Geschehens« und öffne. Nach Martin Seel gilt ein Augenblick nicht
nutze sie, »um eine bestimmte Epoche aus dem ho- deshalb als erfüllt, weil sich in ihm die Fülle der Zeit
mogenen Verlauf der Epoche herauszusprengen« konzentriere, sondern weil er dem erlebenden Sub-
(703). Er erreiche auf diese Weise ein Verständnis jekt eine spezifische »Erfahrung der Freiheit« ver-
verharrender Gegenwart, bzw. »einen Begriff der Ge- mittle: die Freiheit, von der Lebensführung Abstand
genwart als der ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der zu nehmen und in der aktuellen Situation zu verwei-
messianischen eingesprengt sind« (704). Ernst Bloch len. Dementsprechend stelle die Zeitenthobenheit
(1885–1977) beerbt mit seinem utopischen Denken keine Bestimmung der Gegenwart, sondern allein
das Nachdenken über die ewige Glückseligkeit am eine subjektive Deutung desjenigen dar, der in einer
Ende der Zeiten. Zur Bestimmung des künftigen Zu- Situation auf deren Gegenwart achte (1995, 105).
stands »ohne jede mögliche Entfremdung«, auf den Dieter Birnbacher gibt schließlich jede Qualifizie-
die utopischen Hoffnungen aller Zeiten gerichtet ge- rung durch eine Beziehung zur äusseren Wirklich-
wesen wären, greift Bloch auf den Begriff des nunc keit auf und begreift den glücklichen Augenblick als
stans zurück (1954–59/1982, 1540, 1627 f.). »episodisches Glück«, das einen inneren Zustand des
Wie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht Subjekts darstelle (2006, 9 f.). Das episodische Zu-
im Zentrum der zeitgenössischen Diskussion des standsglück gehöre seinerseits der »Kategorie der
Ewigkeitsglücks der erfüllte Augenblick. Über das Empfindungen oder Stimmungen« an und unterteile
Reich der Erlösung bzw. seine säkularen Substitute sich nochmals in die beiden Unterklassen des akuten
wird kaum noch diskutiert. Allein Francis Fukuyama Glücksgefühls und der Hingabe.
(geb. 1952) hat – wenn auch viel beachtet – die These Robert Spaemann und Michael Theunissen ver-
vom Ende der Geschichte wieder aufgegriffen. An teidigen in der zeitgenössischen Glücksdiskussion
seinem Ansatz fällt die Spannung auf, in der er einer- auf unterschiedliche Weise die Dimension des Ewi-
seits die politische Ordnung und andererseits den gen. Spaemann sieht im erfüllten Augenblick einen
Menschentyp, den diese Ordnung hervorbringt, Augenblick erhöhter Aufmerksamkeit. Diese Auf-
setzt. Das Ende der Geschichte versteht er – mit Be- merksamkeit versteht er als Konzentration aus der
zug auf Hegel – als vollständige Verwirklichung von Zerstreutheit des Alltags, so dass »das Leben sich zu
Freiheit und Gleichheit in der politischen Ordnung einem Ganzen sammelt« (1978, 18). Im Unterschied
der westlichen Gesellschaften (1992, 11–26). Den zu Seel und in der Nähe zum traditionellen Ver-
Typ Mensch, den die westlichen Gesellschaften her- ständnis der Schau Gottes spricht Spaemann dem
vorbringen, sieht er allerdings sehr kritisch. Mit Be- konzentrierten Aufmerken im erfüllten Augenblick
zug auf Nietzsche zeichnet er das Bild von »letzten allerdings eine spezifische Einsicht zu: die Einsicht
Menschen«, die sich den geistigen Dingen nicht in das tatsächliche und vom menschlichen Tun un-
mehr verpflichtet fühlen und ihr Glück allein in der abhängige Stattfinden von Sinn im eigenen Leben,
Bequemlichkeit finden (vgl. 405 ff.). bzw. die Einsicht in den Umstand, »dass wir immer
6. Glück und Zeit. Erfüllte Zeit und gelingendes Leben 73

schon glücklich waren, dass Leben Glücklichsein Fortschritte des menschlichen Geistes [1795] (Hg. W.
heißt« (19). Theunissen (geb. 1932) geht von der Alff). Frankfurt a. M. 1963.
Überlegung aus, dass das Gelingen menschlichen Epikur: Brief an Menoikeus. In: Diogenes Laertius: Le-
Lebens durch die Herrschaft von Zeit, und d. h. nicht ben und Meinungen berühmter Philosophen (Hg. K.
nur von ihrem Vergehen, sondern auch von ihrem Reich). Hamburg 1967, 279–286.
Nicht-Vergehen – bzw. der von Nietzsche bis Gada- Fellmann, Ferdinand: Philosophie der Lebenskunst zur
mer propagierten ewigen Wiederkehr des Gleichen Einführung. Hamburg 2009.
– infragegestellt werde (1991, 37–89). Dieses Nicht- Forschner, Maximilian: Über das Glück des Menschen:
vergehen von Zeit werde im Alltag als Langeweile er- Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant.
Darmstadt 1993.
lebt und könne sich zum pathologischen Leiden an
Fourier, Charles: Aus der Neuen Liebeswelt (Hg. D.
der Zeit steigern. Trotz dieser Herrschaft der Zeit
Guérin). Berlin 1977.
könne das menschliche Leben allerdings dann gelin-
Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo ste-
gen, wenn es von Sinn erfüllt werde. Neben dem
hen wir? München 1992.
praktischen Lebensglück, das aus der Nutzung der
Gadamer, Hans-Georg: Über leere und erfüllte Zeit
Zeit zur Realisierung des eigenen Lebenswegs ent- [1969]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Tübingen
springe und dem theoretischen Glück, das sich von 1987, 13–153.
der Zeit abwende und sich einer erfüllenden An- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des
schauung hingebe, kennt Theunissen eine dritte Geistes [1807]. In: Ders.: Werke. Bd. 3 (Hg. E.
Form gelingenden Lebens, die den beiden ersten Moldenhauer/K. M. Michel). Frankfurt a. M. 1986.
Formen überlegen sei: die Hinwendung bzw. Mime- Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen
sis an die Zeit, »um ihr die Ewigkeit zu entlocken« 1993.
(62). Solche Mimesis vollziehe sowohl die Proust- Heidrich, Peter: Mystik, mystisch. In: Joachim Ritter u. a.
sche Erinnerung, in der eine vergangene Zeit in der (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.
Jetztzeit wiedergefunden werde, als auch die gläubige 6. Basel 1984, 268–273.
Hoffnung auf eine von der gewöhnlichen Gegenwart Herodot: Historien (Hg. H. W. Haussig). Stuttgart 1971.
prinzipiell unterschiedene Zukunft (vgl. 63 ff.). Die Hobbes, Thomas: Leviathan [1651] (Hg. I. Fetscher).
gläubige Erwartung der Zukunft steht bei Theunis- Frankfurt a. M. 1984.
sen solcherart für die Haltung, die zu hoffen wagt, Horaz: Sämtliche Werke (Hg. H. Färber). München
»dass nicht nur alles anders werde in der Zeit, son- 1964.
dern die Zeit selbst eine andere werde« (65). Im An- Huxley, Aldous: Schöne Neue Welt [1932]. München
schluss daran hat sich Theunissen (2000) mit der 1976.
Zeitenwende beschäftigt, die die Werke der frühgrie- Jünger, Ernst: Das Sanduhrbuch [1954]. In: Ders.: Sämt-
chischen Dichter – insbesondere Pindars – reflek- liche Werke. Zweite Abteilung. Bd. 12. Stuttgart 1979,
tierten. 101–250.
Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hin-
sicht [1798]. In: Ders.: Werke. Bd. 10 (Hg. W. Weische-
Literatur del). Darmstadt 1983, 395–690.
Aristoteles: Nikomachische Ethik [NE] (Hg. U. Wolf). Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst [1844] (Hg. H.
Reinbek 2006. Rochol). Hamburg 1984.
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte –: Philosophische Bissen [1844] (Hg. H. Rochol). Ham-
[1942]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2 (Hg. burg 1989.
R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser). Frankfurt a. M. Krämer, Hans: Integrative Ethik. Frankfurt a. M. 1992.
1974, 691–704. Lessing, Hans-Ulrich: Langeweile. In: Joachim Ritter
Birnbacher, Dieter: Philosophie des Glücks. In: Infor- u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie.
mation Philosophie 1 (2006), 7–22. Bd. 5. Basel 1980, 28–32.
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung [1954–59]. Frank- Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die
furt a. M. 1982. theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilo-
Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt sophie. Stuttgart 1953.
a. M. 1986. Lübbe, Hermann: Im Zuge der Zeit. Berlin 1992.
Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch Marquard, Odo: Zeit und Endlichkeit. In: Hans Michael
über das Absurde [1942]. Düsseldorf 1959. Baumgartner (Hg.): Das Rätsel der Zeit. Philosophi-
Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der sche Analysen. Freiburg/München 1993, 363–377.
74 II. Systematik des Glücksdenkens

Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate (Hg. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstel-
J. Quint). München/Wien 1963. lung [1819]. Leipzig 1938.
Montaigne, Michel de: Essais [1580] (Hg. H. M. Enzens- Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Studien
berger). Frankfurt a. M. 1998. zur Ethik. Frankfurt a. M. 1995.
Morus, Thomas: Utopia [1516] (Hg. H. Oncken). Berlin –: Rhythmen des Lebens. Kant über erfüllte und leere
1922. Zeit. In: Wolfgang Kersting u. a. (Hg.): Kritik der Le-
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der His- benskunst. Frankfurt a. M. 2007, 181–200.
torie für das Leben [1874]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Seneca: Von der Kürze des Lebens (Hg. M. Giebel).
Kritische Studienausgabe. Bd. 6 (Hg. G. Colli/M. Stuttgart 2008.
Montinari). München 1980, 243–334. Spaemann, Robert: Glück, Neuzeit. In: Joachim Ritter
–: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Kei- u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie.
nen [1883–85]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Bd. 3. Basel 1974, 697–707.
Studienausgabe. Bd. 4 (Hg. G. Colli/M. Montinari). –: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben. In:
München 1980. Günther Bien (Hg.): Die Frage nach dem Glück. Stutt-
–: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1895]. In: gart 1978, 1–19.
Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. –: Personen. Versuch über den Unterschied zwischen
Bd. 6 (Hg. G. Colli/M. Montinari). München 1980, ›etwas‹ und ›jemand‹. Stuttgart 1996.
165–254. Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit.
Nipperdey, Thomas: Reformation, Revolution, Utopie. Frankfurt a. M. 1991.
Göttingen 1975. –: Pindar. München 2000.
Pascal, Blaise: Gedanken [1670] (Hg. J.-R. Armogathe). Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte
Stuttgart 1997. als philosophisches Problem. München 1998.
Pieper, Annemarie: Glückssache. Die Kunst, gut zu le- –: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt a. M. 2003.
ben. Hamburg 2001. Thomas von Aquin: Summa theologiae. Bd. 2 [1273]
Platon: Timaios. In: Ders.: Werke, Bd. 7 (Hg. G. Eigler). (Hg. J. Bernhardt). Stuttgart 1985.
Darmstadt 1972, 1–210. Voltaire: Dictionnaire philosophique [1764]. Paris 1838.
–: Apologie. In: Ders.: Werke. Bd. 2 (Hg. G. Eigler). Williams, Bernard: Moralischer Zufall [1981]. König-
Darmstadt 1973, 1–69. stein 1984.
–: Gorgias. In: Ders.: Werke. Bd. 2 (Hg. G. Eigler). Darm- Wittgenstein, Ludwig: Tagebücher 1914–1916 [1960].
stadt 1973, 269–503. In: Ders.: Werke. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1984, 87–187.
–: Phaidon. In: Ders.: Werke. Bd. 3 (Hg. G. Eigler).
Olivia Mitscherlich-Schönherr
Darmstadt 1974, 1–207.
–: Phaidros. In: Ders.: Werke. Bd. 5 (Hg. G. Eigler).
Darmstadt 1981, 1–193.
Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der
Mensch [1928]. In: Ders.: Gesammelte Schriften (Hg.
G. Dux u. a.), Bd. IV. Frankfurt a. M. 1981.
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Bd. 13 [1927]. Frankfurt a. M. 1964.
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit [1971].
Frankfurt a. M. 1975.
Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung [1921].
Frankfurt a. M. 1988.
Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit. Darm-
stadt 1991.
Schelling, Friedrich Wilhelm Josef: Clara (Hg. K. Dietz-
felbinger). Königsdorf 2009.
Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine
Grundlegung. Frankfurt a. M. 1998.
Schnarr, Hermann: Nunc stans. In: Joachim Ritter u. a.
(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.
6. Basel 1984, 989–991.
75

7. Glück, Schicksal, Zufall. das äußere Geschehen andererseits so fügen, dass


der Mensch das, was ihm zustößt, als sinnvoll er-
Das Glück haben, glücklich fährt, bzw. dass er es als ihm selbst zugehörig bejahen
zu sein kann.
Im Bestreben, die Übereinstimmung des mensch-
lichen Wünschens und des äußeren Geschehens zu
Das Glück der Übereinstimmung erreichen, scheinen sich zunächst die beiden entge-
mit der Welt gengesetzten Wege aufzudrängen, die häufig in pro-
blematischer Vereinfachung der Antike bzw. der
Das deutsche Wort ›Glück‹ bezeichnet die heteroge- Neuzeit zugesprochen werden: sich dem äußeren
nen Aspekte des Glückhabens und des Glücklich- Geschehen einzufügen oder sich seiner durch Ratio-
seins, die in anderen europäischen Sprachen – als eu- nalisierung zu bemächtigen. Aufgrund der histori-
tychia und eudaimonia, fortuna und beatitudo, schen Dominanz dieser Gegenüberstellung soll die
chance und bonheur oder luck und happiness – un- folgende Darstellung ihren Ausgang von ihr neh-
terschieden werden (vgl. Spaemann 2001, 95; s. Kap. men. Dabei wird mit der Stoa und dem neuzeitlichen
I.3). Um in dieser eigentümlichen Situation die sub- Rationalismus von den idealtypischen Extrempositi-
jektive Verfasstheit des Glücklichseins eindeutig zu onen in der Antike und in der Neuzeit ausgegangen,
bezeichnen, wird häufig auf den Begriff der ›Glück- auf die die Gegenüberstellung – von der Macht des
seligkeit‹ zurückgegriffen. Allerdings ist in der Dop- Schicksals und der rationalistischen Selbstermächti-
peldeutigkeit des deutschen ›Glücks‹ auch eine Ein- gung – allein passt. Allerdings weisen beide antago-
sicht aufbewahrt: dass immer auch Glück dazu ge- nistischen Ansätze die gemeinsame Schwäche auf, in
hört, um glücklich zu sein. Diese Verwiesenheit auf einen Kausaldeterminismus zu kippen, der keinen
glückliche Umstände betrifft die Glückseligkeit in Raum für menschliche Freiheit und menschliches
der Bedeutung sowohl als gelingendes Leben als Glück lässt. Aus diesem Grund ist die Gegenüber-
auch als Gefühl der Lust oder Freude. Dies zeigt sich stellung von der Macht des Schicksals und der Macht
insbesondere dann, wenn sich die Glückseligkeit menschlicher Vernunft selbst zu unterlaufen und
nicht einstellt. Wie Schicksalsschläge die Macht ha- nach solchen Positionen zu fragen, die von diesem
ben, das Gelingen des menschlichen Lebens infrage Gegensatz überdeckt werden: nach Positionen, die in
zu stellen, kann das Gefühl der Freude, das gewöhn- ihren Nachdenken über das menschliche Glück von
lich bestimmte Tätigkeiten begleitet, – unter Um- der Verwobenheit des äußeren Schicksals und der
ständen aus unbegreiflichen Gründen – plötzlich menschlichen Lebensführung ausgehen. Dabei soll
ausbleiben. Wenn man Glück haben muss, um glück- der Akzent auf die Positionen gelegt werden, die sich
lich zu sein, dann offensichtlich deswegen, weil dem unter den Bedingungen der Neuzeit darum bemü-
subjektiven Zustand der Glückseligkeit ein Aspekt hen, am Geschehen den Aspekt des für das mensch-
der Erfüllung zueigen ist, die dem Menschen von au- liche Denken und Handeln Unverfügbaren mit in
ßen zuteil wird (vgl. Hammacher 1973, 606–614). Im den Blick zu nehmen, um menschliche Freiheit und
Folgenden soll die philosophische Diskussion über menschliches Glück denken zu können.
das Verhältnis dargestellt werden, in dem das subjek-
tive Glücklichsein zu dem Geschehen steht, in dem Das Schicksalsdenken der Stoa
sich der Einzelne vorfindet und dem sein Glücks-
streben seine Erfüllung verdankt. Dabei wird die Di- Der Glaube an ein von jeher verhängtes Schicksal –
mension der Widerfahrnisse von unterschiedlichen moira – entstammt der antiken Volksfrömmigkeit.
Ansätzen als Schicksal, Vorsehung oder Zufall aufge- Hinter den Widerfahrnissen des Lebens und insbe-
fasst. sondere dem Tod hat die antike Volksfrömmigkeit
Angesichts dieser Verwiesenheit auf Erfüllung von eine Schicksalsmacht vermutet, die diese Ereignisse
außen kommt an der Glückseligkeit ihre kosmologi- von jeher festgelegt habe (vgl. Theunissen 2004, 20).
sche Dimension in den Blick, die im deutschen Das vielleicht berühmteste Zeugnis von diesem der
Idealismus auf den Begriff der »Übereinstimmung Volksfrömmigkeit entstammenden Schicksalsglau-
mit der Wirklichkeit« gebracht wurde (s. Kap. V.4). ben ist der Mythos des Ödipus. So spricht Homer (8.
Menschliches Glück meint derart, dass sich das Jh. v. Chr.) in seiner Fassung dieses Mythos von »der
menschliche Wünschen und Wollen einerseits und Götter verderbliche[m] Ratschluß« über Ödipus; So-
76 II. Systematik des Glücksdenkens

phokles (497/96 v. Chr.–406/5 v. Chr.) lässt einen hältnisse verflechten, in die es ihm beliebt«, und
Hirten dem Ödipus offenbaren: »So wisse, daß un- Epiktet empfiehlt: »Verlange nicht, daß das, was ge-
glückselig du geboren bist« und Ödipus selbst ausru- schieht, so geschieht, wie du es wünschst, sondern
fen: »Und gibt’s ein Übel, das alles Übel übertrifft: wünsche, daß es so geschieht, wie es geschieht, und
das hat sich Ödipus erlost!« (Homer 1970, Elfter Ge- dein Leben wird heiter dahinströmen« (Marc Aurel
sang, V. 276, 160; Sophokles 2002, 55 bzw. 62). 1984, 4,34, 53; Epiktet 1992, Aph.18, 15). Zu solcher
Im Unterschied sowohl zu den Philosophen der freiwilligen Übernahme des eigenen Loses ist nach
klassischen Zeit als auch zu den Epikureern distan- stoischer Auffassung allein der Weise fähig, so dass
ziert sich die Stoa von diesem Schicksalsglauben nur ein Leben, das durch vernünftige Einsicht be-
nicht, sondern entfaltet die im Mythos tradierte stimmt ist, gelingen könne. Während die guten Men-
Schicksalsvorstellung philosophisch unter den Be- schen dem Schicksal nämlich – wie es bei Seneca
griffen der griechischen heimarmene bzw. des latei- heißt – aus Einsicht folgen, werde die unwissende
nischen fatum (vgl. Kranz 1992, 1275; s. Kap. III.3). Menge von ihm mitgeschleift (Seneca 1999, 31).
Das Schicksal tritt bei den Stoikern als der »Logos Bereits in der Antike werden die beiden zentralen
des Kosmos« und damit als die Macht auf, die über Probleme des stoischen Schicksalsdenkens disku-
die Ordnung des Kosmos herrscht, den Gang der tiert. So wird gegen den Kausaldeterminismus eines
Dinge von jeher ursächlich festlegt und der selbst die von jeher festgesetzten Schicksals eingewandt, dass
Götter unterworfen sind (vgl. Seneca 1999, 33). Maß- er keinen Raum für die menschliche Freiheit lasse
geblich für diesen stoischen Kausaldeterminismus und die ethische Konsequenz des Fatalismus zeitige,
ist das Schicksalsverständnis Chrysipps (281/76 den Menschen von jeder Verantwortung für sein
v. Chr.–208/4 v. Chr.), des langjährigen Leiters der Handeln freizusprechen (vgl. Gellius 1965, VII,2,
stoischen Schule. Dieser bestimmt das Schicksal als 375; Kranz 1992, 1277). Darüber hinaus wird bereits
»eine geordnete, aus der Weltallvorschrift entsprin- von Epikur (um 341 v. Chr.–271/70 v. Chr.) gegen die
gende Reihenfolge aller […] von Ewigkeit an unter stoische Vorstellung einer wohlwollenden Vorse-
einander zusammenhängender Vorgänge […] und hung auf das tatsächliche Bestehen des Bösen ver-
ihre beständig unwandelbare Selbstverkettung« wiesen und damit das Problem benannt, das in der
(Gellius 1965, VII,2, 375). Die innere Ausrichtung Neuzeit in Anschluss an Leibniz unter der Begriff
des Schicksals wird von den Stoikern auf die Vorse- der Theodizee diskutiert wird (vgl. Lorenz 1998,
hung der Natur bzw. der Weltseele zurückgeführt. 1066).
Die Vorsehung – pronoia bzw. praedestinatio – ga-
rantiere die harmonische Ordnung des Kosmos.
Wenn den Menschen vieles dennoch als zufällig – als Der Kampf des neuzeitlichen Rationa-
der tyché bzw. der fortuna unterworfen – erscheine, lismus gegen die Mächte des Schicksals
so hätte dies – wie Seneca (1 n. Chr.–65 n. Chr.), der und des Zufalls
prominenteste Vertreter der jüngeren, römischen
Stoa ausführt – seine Ursache in den Grenzen der Die allgemein verbreitete Gegenüberstellung von
menschlichen Erkenntnis (vgl. Seneca 1999, 5). Tat- antiker Schicksalsverfallenheit und neuzeitlicher
sächlich sei auch die Fortuna durch das Fatum ge- Selbstermächtigung arbeitet auf beiden Seiten mit
lenkt. Extremen, die auch zeitgenössische Kritik auf sich
Ein zentrales Problem der stoischen Ethik ist die gezogen hat. Hinzu kommt, dass der neuzeitliche Ra-
Frage, wie das menschliche Leben unter der Herr- tionalismus im Unterschied zur Stoa keine einheitli-
schaft des Schicksals gelingen könne. Die Stoiker che philosophische Schule darstellt. Wenn im Fol-
sind sich darin einig, dass das Glück der Überein- genden ein Idealtypus des neuzeitlichen Rationalis-
stimmung mit der Wirklichkeit dadurch erreicht mus skizziert wird, wird eine in der Neuzeit
werde, dass die Wünsche dem Lauf der Dinge ange- bestehende Tendenz ins Extrem getrieben. Es soll
passt werden. In diese Richtung weisen u. a. die Ma- darunter die Haltung verstanden werden, die das
ximen, die der freigelassene Sklave Epiktet (um 50- Glück der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit
um 125) und der römische Kaiser Marc Aurel (121– dadurch anstrebt, dass die Wirklichkeit durch Ratio-
180) – beides Vertreter der jüngeren Stoa – aufstellen. nalisierung beherrschbar gemacht wird.
So rät Marc Aurel: »Überlaß dich ohne Widerstand Ihre Quellen findet diese Haltung der instrumen-
dem Geschick und laß dich von diesem in die Ver- tellen Vernunft im Methodenideal der neuzeitlichen
7. Glück, Schicksal, Zufall. Das Glück haben, glücklich zu sein 77

Wissenschaft. Ebenfalls in typisierender Vereinfa- Aufgrund seines Bestrebens, die Wirklichkeit


chung dargestellt, zeichnet dieses sich dadurch aus, durch Wissenschaft und Technik in den Griff zu be-
angesichts eines zu begreifenden Phänomens nicht kommen, wird für den neuzeitlichen Rationalismus
mehr – wie die aristotelische Tradition – nach dessen der Zufall zu einer entscheidenden Herausforde-
Wesen, sondern nach den in ihm wirkenden Kräften rung. Der Zufall steht als Leerstelle für die Grenzen
zu fragen. Ein Phänomen gilt dann als wissenschaft- des Wissens und der Verfügungsgewalt des Men-
lich erklärt, wenn es sich auf die es hervorbringen- schen. Seit der Renaissance wird der Zufall und sein
den Ursachen zurückführen und im Experiment Einfluss auf das menschliche Leben – in Bildern der
nachkonstruieren lässt. Vernünftige Ordnung soll launigen Fortuna oder des Schicksalrads – zu einem
der – durch Zufall und Unvorhersehbarkeiten be- verbreiteten Gegenstand menschlichen Nachden-
stimmten – Wirklichkeit mit Hilfe der experimentel- kens (vgl. Reichert 1985, 19–35). Man stellt sich die
len Methode abgezwungen werden (vgl. Kant KrV, B Frage, ob sich auch das Zufallsglück bzw. die unstete
XIII). Fortuna noch bezwingen lasse. So tritt etwa Machia-
Angeleitet durch dieses Wissenschaftsverständnis velli (1469–1527) für die Bändigung der Fortuna
gestaltet sich das Streben nach dem Glück der Über- durch Tüchtigkeit ein und gibt den – berühmt ge-
einstimmung mit der Wirklichkeit als Unternehmen, wordenen – Ratschlag, dass es »besser [sei], unge-
sich der Mächte der Natur durch Rationalisierung zu stüm, als vorsichtig zu sein, weil das Glück ein Weib
bemächtigen, denen das menschliche Leben ausge- ist, mit dem man nicht auskommen kann, wenn man
setzt ist. Während die Stoa die menschlichen Wün- es nicht prügelt und stößt« (1532/2000, 482). Der
sche dem äußeren Geschehen unterstellt hat, um die Ort, an dem das Glück des Zufalls in unbegrenzter
beglückende Übereinstimmung mit der Wirklichkeit Weise herrscht, ist das Glücksspiel, und so rückt das
zu erreichen, steigen die menschlichen Bedürfnisse Spiel in den Fokus des neuzeitlichen Bestrebens, die
jetzt zu Bezugsgrößen auf, an die das äußere Gesche- Macht des Zufalls durch Rationalisierung zu brechen
hen angepasst werden soll. Dabei umfasst der Pro- (s. Kap. IV.3). Blaise Pascal hat zur Lösung von Pro-
zess der Rationalisierung – durch das experimentelle blemen, die sich im Glücksspiel gestellt haben – die
Verständnis von Erkenntnis nahegelegt – die beiden Aufteilung des Gewinns bei einem vorzeitig abge-
Aspekte der theoretischen Entzauberung und der brochenen Spiel – die Grundlagen der Wahrschein-
technischen Manipulation des äußeren Geschehens. lichkeitsrechnung entwickelt (vgl. Devlin 2008/
Die Bedrohung des Überlebens und Wohlbefindens 2009).
durch die unberechenbaren Mächte der Natur soll Von Anfang an wurden mit dem Prozess der Rati-
dadurch gebannt werden, dass die begegnende Wirk- onalisierung utopische Hoffnungen verbunden (s.
lichkeit sowohl rational durch die sie hervorbringen- Kap. II.11). Bereits Francis Bacon knüpft an ihn die
den Ursachen erklärt, als auch im Ausgang von die- Hoffnung, »die Herrschaft über die Geschöpfe« zu-
sen Ursachen technisch zum Wohl des menschlichen rückzugewinnen, die der Mensch durch seinen Sün-
Überlebens verändert wird. In diesem Sinne spricht denfall verloren habe (1620/1990, II,611 f.). Als End-
Francis Bacon (1561–1626) im Novum Organon – ziel des Prozesses der wissenschaftlich-technischen
das als eines der Gründungstexte des neuzeitlichen Rationalisierung werden in vielen Wissenschaftsuto-
Rationalismus angesehen werden darf – von der pien bis in die Gegenwart hinein die Überwindung
»menschliche[n] Wissenschaft und Macht« als oder zumindest die starke Zurückdrängung des To-
»Zwillingsziele[n]« (1620/1990, I,65). In der Wissen- des und die künstliche Erschaffung von Leben – und
schaft gehe es »nämlich nicht bloß um das Glück der mit der Macht über Leben und Tod der Sieg über das
Betrachtung, sondern in Wahrheit um die Sache und Schicksal überhaupt – angenommen (vgl. z. B. Bo-
das Glück der Menschheit und um die Macht zu al- strom 2007; Kurzweil 2005). Dazu gehört jeweils ein
len Werken« (I,65). Das zweckrationale Denken hat Glücksbegriff, der sich an der Befriedigung der Be-
sich nicht auf den Umgang mit der Natur beschränkt. dürfnisse orientiert und dem Schicksal direkt entge-
Vielmehr wurde auch im Politischen versucht, das gengesetzt ist. Im Bestreben, die Macht des Zufalls
Gemeinwohl durch Rationalisierung zu befördern. im Politischen zu überwinden, wurden schon früh
Der das Gemeinwohl bedrohende und deswegen zu utopische und geschichtsphilosophische Ansätze
tilgende Zufall wurde im politischen Kontext in der entworfen. In Staatsutopien in der Tradition von
Macht von Privilegien, sozialer Ungleichheit gefun- Thomas Morus’ (1478–1535) Utopia wurden Vor-
den (vgl. z. B. Morus 1516/1960, 23 ff.; s. Kap. V.2). stellungen von Gemeinwesen gezeichnet, die an ›Un-
78 II. Systematik des Glücksdenkens

Orten‹ jenseits von Raum und Zeit und damit auch Lebensführung im Rücken liegt. Die Diskussion
jenseits des Zufalls situiert und deren Ordnung auf nimmt ihren Ausgangspunkt bei Ereignissen, die im
rationale Planung gegründet wurden (vgl. Morus Leben zustoßen und für den folgenden Lebensweg
1516/1960). In geschichtsphilosophischen Ansätzen des betroffenen Menschen und damit auch für seine
wurde – prominent von Marquis de Condorcet Formung zu der Person, die er ist, bestimmend wer-
(1743–1794) – der wissenschaftlich-technische Fort- den. Diskutiert wurde, wie die schicksalhafte Dimen-
schritt als der Prozess dargestellt, in dem die Macht sion dieses Geschehens zu fassen sei. Eine Vielzahl
des Zufalls im Sittlichen überwunden und damit zu- von Ansätzen versucht, die Erfahrung schicksalhaf-
gleich das Wohl der Menschheit befördert werde ter Begebenheiten mit menschlicher Selbstbestim-
(vgl. Condorcet 1795/1963). mung zusammenzudenken, indem sie das Selbst
Die Hauptstoßrichtung der Kritik am neuzeitli- bzw. den Charakter als Ursache für das Schicksal ei-
chen Streben, die Macht des Schicksals und des Zu- nes Menschen begreift. Damit wird der Charakter
falls durch Rationalisierung zu überwinden, richtet seinerseits zu einer Instanz des Schicksals, die über
sich – im Rückgriff auf die neu gebildeten Begriffe den menschlichen Lebensweg herrscht. So verkün-
des ›Determinismus‹ und ›Fatalismus‹ – gegen die det Johann Gottfried Herder (1744–1803) seinem
Spannung zwischen dem Ziel menschlicher Befrei- Leser: »dein Schicksal ist der Nachklang, das Resul-
ung vom Schicksal und der Rationalisierung als In- tat deines Charakters« (1800/1998, 244). Und Georg
strument, um dieses Ziel zu erreichen (vgl. Kranz Simmel (1858–1918) behauptet, dass nicht die in-
1992, 1281). Kant (1724–1804) thematisiert dieses haltliche Bestimmtheit eines begegnenden Ereignis-
Problem als Widerstreit zwischen dem theoretischen ses, sondern die individuelle Lebensrichtung des be-
und dem praktischen Interesse der Vernunft (vgl. troffenen Menschen darüber entscheide, ob dieses
Kant KrV, B 490 ff.). In der zeitgenössischen Philoso- Ereignis für ihn zu einem Schicksalsschlag werde
phie wird der Determinismus- und Fatalismusein- (1913/2001, 484 f.). Bei Max Scheler (1874–1928)
wand in der Diskussion über das szientistische Men- wird der individuelle Lebensweg durch die Wechsel-
schenbild und die darin angelegte Naturalisierung wirkung von Charakter und widerfahrenden Ereig-
des Menschen erhoben (vgl. z. B. Hampe 2006, 123). nissen bestimmt (1913/1923, 227 ff.).
Von der Gefahr, dass der neuzeitliche Rationalis- Diesen Positionen stehen solche Ansätze gegen-
mus seinerseits in Kausaldeterminismus umkippt, ist über, die die Charakterbildung als Schritt aus den
unmittelbar auch das menschliche Glück betroffen. Verstrickungen des Schicksals begreifen. Walter Ben-
Indem der neuzeitliche Rationalismus danach strebt, jamin (1892–1940) kritisiert den Versuch, das indi-
alle gegebenen Phänomene auf vorgängige Ursachen viduelle Lebensschicksal auf den Charakter des Men-
zurückzuführen, verschließt er die Zukunft als schen zurückzuführen, mit der Begründung, dass
Sphäre des Unvorhersehbaren und Unverfügbaren. darin der Begriff des Schicksals verfehlt werde
Damit gefährdet er die Möglichkeit, menschliche (1919/1977, 173). Die Welt, in der das Schicksal
Freiheit sowie auch menschliches Glück zu denken. herrscht, charakterisiert er als »Überrest der dämo-
In Verteidigung sowohl der menschlichen Freiheit nischen Existenzstufe der Menschen, in der Rechts-
als auch des menschlichen Glücks wurde seit der setzungen nicht deren Beziehungen allein, sondern
Neuzeit von unterschiedlichen Ansätzen nach den auch ihr Verhältnis zu den Göttern bestimmten«
Dimensionen des äußeren Geschehens gefragt, die (174). So sei der Mensch aufgrund seines bloßen Le-
sich der rationalen Beherrschung entziehen. Im Fol- bens in Schuldverhältnisse verstrickt (1921/1977,
genden sollen in systematischer Abfolge vier Grund- 200). In der Ausbildung eines eigenen Charakters
positionen dargestellt werden, die für eine Öffnung werde es dem Menschen allerdings möglich, sich
des neuzeitlichen Rationalismus für sein – von ihnen vom bloßen Leben zu distanzieren und auf diese
je unterschiedlich bestimmtes – Anderes eingetreten Weise von den Zusammenhängen schuldhafter Ver-
sind. strickung zu emanzipieren (1919/1977, 178). Cha-
rakterbildung macht damit für Benjamin die Bedin-
Charakter als individuelles Schicksal gung gelingenden Lebens aus. Historisch habe dieses
Heraustreten aus den Schuldzusammenhängen des
Eine erste Strömung des neuzeitlichen Schicksals- Lebens und damit aus dem Schicksal durch die For-
denkens diskutiert den menschlichen Charakter als mung zum Charakter in der antiken Tragödie und
eine Instanz des Schicksals, die der menschlichen Komödie stattgefunden (174, 178). Auf einem ähn-
7. Glück, Schicksal, Zufall. Das Glück haben, glücklich zu sein 79

lich gelagerten Verständnis von Emanzipation beru- chen Rationalitätstypus als instrumentelle Vernunft
hen die therapeutischen Versuche – an prominentes- einig (vgl. Horkheimer/Adorno 1944/1994; Heideg-
ter Stelle ist hier natürlich die Psychoanalyse zu nen- ger 1953/2000; s. Kap. VI.7 und VI.5). Horkheimer
nen (s. Kap. VI.6) –, die schicksalhafte Wiederholung und Adorno sehen den – bereits in der Antike einset-
von immer gleichen Erfahrungen im Leben eines zenden – Rationalisierungsprozess in der Neuzeit
Menschen durch reflexive Selbstaneignung zu durch- Gefahr laufen, sich gegen seine eigene Intention auf
brechen. Im Nachklang der Diskussion über das in- Befreiung zu richten und dadurch selbst in eine
dividuelle Schicksal bricht Michael Landmann Schicksalsmacht zu verkehren (1944/1994, 9–49). In-
(1913–1984) »eine Lanze für das Schicksal« und be- dem historisch alle äußeren Schicksalsmächte auf
hauptet das Hineingeborensein in die Schicksalszu- die in ihnen wirkenden Kräfte abgebaut worden
sammenhänge des Lebens als Bedingung der indivi- seien, fehle der rationalen Erkenntnis nämlich ein
duellen Freiheit, sich selbst zu transzendieren (1971, letzter Sinnhorizont, der sie ihrerseits anleite. Der
208 ff.). normativen Ausrichtung beraubt verkehre sich die
In den auf die individuelle Lebensführung bezo- Vernunft in instrumentelle Rationalität und damit in
genen Überlegungen zum menschlichen Charakter ein Machtinstrument für die gesellschaftlich jeweils
als Schicksal ist von der Verfasstheit der Wirklich- herrschenden Eliten. Heidegger bejaht das mensch-
keit, in die das menschliche Leben eingelassen ist, liche Ausgesetztsein an das Schicksal als spezifisch
weitestgehend abstrahiert worden. Mit der Reduk- menschliche Offenheit für ein von außen einbre-
tion von Wirklichkeit auf Wirkkausalität zieht der chendes Sinngeschehen. In der instrumentellen Ver-
neuzeitliche Rationalismus jedoch die kosmologi- nunft sieht er nun allerdings gerade eine Bedrohung
sche Grundlage von menschlicher Freiheit und glü- dieser menschlichen Offenheit, weil allein noch eine
ckendem Leben ein. Wenn man die wirkkausale Be- Sphäre möglichst gut zu besorgender und zu verwer-
dingtheit nicht zum neuzeitlichen Schicksalsver- tender Kräfte zugelassen sei (1953/2000, 29).
ständnis verabsolutieren, sondern die Möglichkeit Sowohl Adorno und Horkheimer als auch Heideg-
von beglückender Übereinstimmung mit der Wirk- ger eignen sich zur Beantwortung der Frage, wie
lichkeit denken will, muss man die kosmologische menschliches Leben unter den Bedingungen der
Bedingung hierfür ausweisen können. Die im Fol- Moderne gelingen könne, die stoische Haltung der
genden – wiederum in systematischer Abfolge – zu Kontemplation an. Adorno und Horkheimer finden
skizzierenden Grundhaltungen haben sich dieser in der philosophischen Reflexion auf die instrumen-
Herausforderung angenommen. telle Vernunft als dem Schicksal der Moderne einen
Ausweg aus der von ihr ausgehenden Bedrohung der
Die instrumentelle Vernunft menschlichen Freiheit. Im Vollzug der Selbstaufklä-
rung der Aufklärung könne die schicksalhafte Be-
als Schicksalsmacht
dingtheit durch die instrumentelle Rationalität über-
Mitte des 20. Jahrhunderts bildet sich eine ge- wunden und die Freiheit der Erkenntnis festgehalten
schichtsphilosophische Strömung heraus, die die werden, die im instrumentellen Gebrauch der Ver-
Moderne als die Epoche begreift, in der der neuzeit- nunft für von außen diktierte Zwecke verlorengehe.
liche Rationalismus Gefahr laufe, sich seinerseits in Heidegger entzieht sich den Verstellungen des Sinn-
eine Schicksalsmacht zu verkehren, und die versucht, geschehens durch die instrumentelle Vernunft, in-
dieser Gefahr durch Aneignung einer stoischen Hal- dem er eine fragende Haltung zur Technik einnimmt.
tung der Kontemplation zu begegnen. Die bekann- Auf diese Weise lasse sich die Technik selbst als ein
testen Vertreter dieser Haltung sind auf der einen Sinngeschehen, bzw. als das Geschick begreifen, in
Seite die Väter der kritischen Theorie – Theodor W. dem sich die Wirklichkeit dem Menschen in der Mo-
Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895– derne offenbart (1953/2000, 36).
1973) – und auf der anderen Seite Martin Heidegger Das Schicksalsdenken sowohl von Adorno und
(1889–1976). Horkheimer, Adorno und Heidegger Horkheimer als auch von Heidegger hängt an der ge-
sind sich sowohl in Bezug auf die geschichtsphiloso- schichtsphilosophischen Annahme, dass die Zweck-
phische These von dem in der Moderne drohenden rationalität in der Moderne drohe, total – und inso-
Umschlag der Rationalisierung in eine Schicksals- fern zum Schicksal – zu werden. Die beiden im Fol-
macht als auch in Bezug auf die erkenntnistheoreti- genden darzustellenden Positionen machen es sich
sche These von der Beschaffenheit dieses neuzeitli- demgegenüber zur Aufgabe, an der Wirklichkeit
80 II. Systematik des Glücksdenkens

überhaupt die Dimension aufzuzeigen, die sich ihrer Mit der Unüberwindbarkeit des Zufalls verbinden
vollständigen Bemächtigung durch Rationalisierung die Tychisten insofern ethische Konsequenzen, als
widersetzt – und verteidigen auf diese Weise die sie den Zufall als die kosmologische Bedingung be-
Möglichkeit von Freiheit und Glück. haupten, die überhaupt erst den Raum für die Frei-
heit und das Glück des Menschen eröffne (vgl. Peirce
Der Tychismus der Moderne 1892/1970, 251; Rescher 1995/1996, 190; Hampe
2006, 123). Indem sich durch den Zufall Brüche und
Mit dem Begriff des Tychismus greife ich auf eine Lücken in der Regelmäßigkeit auftun, lässt sich die
Wortbildung von Charles S. Peirce (1839–1914) zu- menschliche Freiheit, einen Anfang zu setzen, nach
rück, um die philosophische Haltung zu bezeichnen, Peirce in das Verständnis der Wirklichkeit überhaupt
die in Verteidigung der menschlichen Freiheit für integrieren (vgl. Peirce 1892/1970, 251, 268). In Be-
die Unüberwindbarkeit eines »Element[s] realen Zu- zug auf das Glück unterstreicht Rescher, dass die zu-
falls« eintritt (Peirce 1892/1970, 216; vgl. Deuser fälligen und nicht zu kontrollierenden Ereignisse die
2003, 81–97; s. Kap. VI.2). Diese Haltung, gegen den ontologische Ursache dafür darstellen, dass Men-
Kausaldeterminismus auf den Zufall zu setzen, schen Glück – im Sinne des englischen luck – und
wurde in der Antike bereits von Epikur im Streit mit Pech haben können (1995/1996, 40 f.). Michael
der Stoa eingenommen (vgl. Hossenfelder 1991/ Hampe (geb. 1961) zeichnet den »subjektive[n] Zu-
2006, 131 ff.). In der Neuzeit bezieht sich Peirce zur fall« darüber hinaus als anthropologische Bedingung
Begründung der These von der Unüberwindbarkeit von Sinnerfahrung – der Fähigkeit, dem Leben »ei-
des Zufalls auf die empirischen Wissenschaften. nen Wert zumessen« zu können – und damit als Be-
Nach Peirce beruht der Kausaldeterminismus, in den dingung eines glücklichen Lebens aus (2006, 123; s.
der neuzeitliche Rationalismus umschlägt und der Kap. II.5).
bei ihm unter dem Begriff des »Nezessarismus« läuft, Albert Camus (1913–1960) hat schon früh das
auf einem Fehlschluss. Dieser Fehlschluss, der durch moderne Zufallsdenken radikalisiert. Die Inkompa-
die Forschungspraxis nahegelegt werde, betreffe den tibilität von begrifflichen Bestimmungen und der
Status der Regelmäßigkeit des Wirklichen, d. h. der Wirklichkeit überhaupt, die Peirce zufolge die Reali-
Bestimmung eines einzelnen Faktums durch ein all- tät des Zufalls verbürgt, macht nach Camus die Ab-
gemeines Gesetz. Da alles, was erkannt werde, auf- surdität der menschlichen Lebenssituation aus
grund von Regelmäßigkeit erkannt werde, neige man (1942/1993, 21 ff.). Menschliches Sinnstreben und
dazu, die Regelmäßigkeit zur Grundbestimmung der die Irrationalität der Wirklichkeit stünden in einem
Wirklichkeit überhaupt zu hypostasieren und da- nicht zu versöhnenden Konflikt. Die Reflexion auf
durch in den Kausaldeterminismus zu rutschen das Absurde eröffnet nach Camus nun allerdings
(1893/1995, 164). Gegenüber dem Determinismus eine neue Dimension von Freiheit und Glück: die
als verabsolutierter Regelmäßigkeit beharrt Peirce Freiheit, das Leben, das ohne Rückhalt an einer sinn-
auf der Heterogenität von allgemeiner Regel und stiftenden Instanz zu führen ist, als das eigene Werk
einzelnem Fall und damit auf der Wirklichkeit des hervorzubringen, und dabei das Glück zu erreichen,
Zufalls (vgl. 225). Nicholas Rescher (geb. 1928) ver- die ganze Breite der Erfahrungen, die es bietet, aus-
folgt das philosophische Zufallsdenken weiter und zukosten (vgl. 47 ff.; s. Kap. II.1 und VI.5).
verweist auf die Entwicklung der modernen Wissen-
schaft, die sich »Schritt für Schritt […] vom Deter- Das Vertrauen, dass das Schicksal
minismus fort – auf eine Lehre des eingeschränkten
selbst ein Anderes werde
Zufalls zubewegt habe« (1995/1996, 57). Methodisch
zeige sich die Bedeutung, die dem Zufall zuerkannt Die Haltung des Vertrauens auf Versöhnung in der
werde, an der Verbreitung von probabilistischen und Tradition christlicher Eschatologie ist sich mit dem
statistischen Techniken. Entscheidend ist es dabei Tychismus darin einig, dass der neuzeitliche Ratio-
für Rescher, dass auch der Wahrscheinlichkeitskal- nalismus in Determinismus bzw. schicksalhafte Be-
kül den Zufall nicht zu eliminieren vermag. Um ihn dingtheit durch vorgängige Ursachen kippe. (Be-
anzuwenden, müsse nämlich zunächst das Feld des rühmt ist Friedrich Heinrich Jacobis Polemik im
Möglichen abgesteckt werden, was auf Gebieten, auf ›Pantheismus-Streit‹; vgl. Sandkaulen 2000, 53 ff.).
denen nicht vorhersehbare Ereignisse vorherrschen, Sie zieht jedoch das tychistische Vorgehen in Zweifel,
gerade nicht möglich sei (vgl. 146). auf den Zufall zu setzen, um den Determinismus zu
7. Glück, Schicksal, Zufall. Das Glück haben, glücklich zu sein 81

durchbrechen und einen Freiraum für Freiheit und In der Neuzeit sind die von dieser theologischen
Glück zu schaffen. Der Zufall lasse sich als Zufall Tradition bestimmten Ansätze von der Überlegung
nämlich nur als Ausnahme von der Regel denken ausgegangen, dass selbst die Versuche der Weltflucht
und setze insofern Ordnung voraus. In diesem Sinne – der junge Hegel (1770–1831) führt dies am Ur-
hält Friedrich Wilhelm Josef Schelling (1775– christentum vor – der eignen Verstrickung in die
1854) dem antiken Zufallsdenken Epikurs entgegen: schicksalhaften Zusammenhänge der Schuld nicht
»[W]enn Freiheit nicht anders als mit der gänzlichen entkommen könnten (Hegel 1798–1800/1986,
Zufälligkeit der Handlungen zu retten ist, so ist sie 397 ff.). Die Befreiung vom Schicksal kann deswegen
überhaupt nicht zu retten« (1809/1860, 382 f.). Inso- Hegel zufolge nur – und darin stellt er sich in die
fern der Begriff des Zufalls ein bloßer Grenzbegriff Tradition christlicher Eschatologie – vom Schicksal
sei und als solcher von der in ihm vorausgesetzten selbst ausgehen: Es muss ein anderes werden, sich
Ordnung abhängig bleibe, wird gefordert, das Ganze gegen sich wenden und zu einem Geschehen der Be-
der Wirklichkeit selbst anders als der neuzeitliche freiung wandeln (vgl. Rosenzweig 1920/2010, 128).
Rationalismus zu denken. Um die Menschheitsgeschichte als Geschichte der
Zur Bewältigung dieses Problems wird im An- Befreiung aus den schicksalhaften Verstrickungen zu
schluss an die christliche Eschatologie der Versuch begreifen, wurde in der klassischen deutschen Philo-
unternommen, die geschichtliche Entwicklung, die sophie – aber nicht nur dort – der Gedanke einer
die Wirklichkeit überhaupt bestimmt, als Prozess der ›List‹ der Natur bzw. der Vernunft entwickelt: dass
Befreiung aus der schicksalhaften Bedingtheit zu sich hinter dem Rücken der historischen Akteure
denken. Im Hintergrund dieser Bemühungen steht und durch ihr ›ungeselliges‹ Handeln hindurch der
die Unterscheidung zwischen dem Schicksal und der Zustand des Friedens bzw. Versöhnung verwirkliche.
göttlichen Vorsehung, die in der christlichen Tradi- Eine andere Version dieses Gedankens findet sich
tion seit den Kirchenvätern gegen die Stoa ins Feld bei Adam Smith (1723–1790), wenn er an einer be-
geführt, jedoch vom neuzeitlichen Rationalismus rühmten Stelle aus dem Wohlstand der Nationen da-
sehr wirkmächtig wieder eingezogen worden ist (vgl. von spricht, dass jeder Einzelne, indem er sein Indi-
Klaer 1999, 110–116). In dieser Unterscheidung von vidualinteresse verfolge, mittelbar das Gemeininter-
der Vorsehung wird die schicksalhafte Verstrickung esse befördere, und dies damit begründet, dass der
in Bedingtheit und Schuld nicht als Los oder Ver- Einzelne »von einer unsichtbaren Hand geleitet
hängnis, das von einer göttlichen Macht über die [werde], um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen
Menschen gekommen wäre, sondern vielmehr Aus- er in keiner Weise beabsichtigt hat« (1776/1978, 371).
druck der menschlichen Gefallenheit – und insofern In der zeitgenössischen Philosophie bemüht sich
als kompatibel mit Freiheit – gedacht (vgl. Schelling Michael Theunissen (geb. 1932) darum, die ge-
1809/1860, 381 f.; Theunissen 2004, 15 ff.). Die Gefal- schichtliche Bewegung des Sich-gegen-sich-selbst-
lenheit meint dabei die »natürliche« Lebenshaltung Wendens des Schicksals als Umkehr der Zeit zu den-
des Menschen, sich selbst als Zentrum der Wirklich- ken, in der die Macht der chronologischen Bedingt-
keit zu setzen, danach zu streben, die Welt so einzu- heit durch das je Vorausgehende vergehe (1991, 65; s.
richten, dass sie den eigenen Vorstellungen entspre- Kap. II.6). Vor dem Hintergrund dieser heilsge-
che und dadurch den anderen Menschen und der schichtlichen Vorstellungen wurde versucht, die ethi-
Welt die eigenen Selbstverständnis aufzuzwingen sche Haltung des Vertrauens auf die künftige Ver-
(vgl. Augustinus 426/2007, 545 f.; Schelling 1809/1860, söhnung gegen die stoische Übernahme des Schick-
381; Spaemann 1977, 125 ff.). Die Befreiung aus der sals zu profilieren – und auf diese Weise ein
schicksalhaften Verstrickung in Schuld, könne der christliches Verständnis gelingender Übereinstim-
Mensch nicht selbst hervorbringen – hierin würde er mung mit der Wirklichkeit vorzustellen. Søren Kier-
nur seine Selbstverabsolutierung fortsetzen –, sie sei kegaard (1813–1855) stellt den Ethos des Glaubens
ihm jedoch durch die Menschwerdung Gottes eröff- an der Haltung Abrahams bei der Bindung Isaaks
net (vgl. Schelling 1809/1860, 380). Ein Leben im dar (1843/1923, 7–19). Abraham habe auf die göttli-
Glauben bzw. in der Nachfolge Christi nehme in der che Verheißung vertraut, dass er einen Sohn haben
Gegenwart die künftige Erlösung vorweg, in der die und Stammvater des Hauses Israel sein werde. Der-
die Befreiung vom Schicksal und damit zugleich ein art habe er sich auch mit dem Anspruch Gottes, ihm
Zustand des Friedens bzw. der Versöhnung erreicht den eigenen Sohn zum Opfer zu bringen, nicht als
seien (s. Kap. II.6 und VIII.12). einem Schlag des Schicksals abgefunden und seine
82 II. Systematik des Glücksdenkens

Hoffnung, den eigenen Sohn aufwachsen zu sehen, keit überhaupt verspricht, steht im Zusammenhang
preisgegeben – wie dies der stoische Weise getan weiterer Glaubensüberzeugungen, zu denen nicht
hätte. Vielmehr habe Abraham selbst noch bei seinen zuletzt die menschliche Freiheit gehört.
Vorbereitungen zur Erfüllung der göttlichen Forde-
rung, den eigenen Sohn zu opfern, vertraut, dass ihm
sein Sohn nicht genommen, sondern sich die göttli- Literatur
che Verheißung erfüllen werde. Allein aufgrund sei- Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat [426] (Hg. C.
nes Vertrauens sei es ihm möglich gewesen, den Um- Andresen). München 2007.
stand, dass er seinen Sohn zurückerhalten habe, als Aurel, Marc: Selbstbetrachtungen (Hg. A. Wittstock).
Erfüllung der göttlichen Verheißung zu erfahren und Stuttgart 1984.
auf diese Weise ein Leben in Frieden mit sich und Bacon, Francis: Neues Organon [1620]. 2 Bde. (Hg. W.
Gott zu führen. In der zeitgenössischen Philosophie Krohn). Hamburg 1990.
betont Robert Spaemann (geb. 1927), dass das Glück Benjamin, Walter: Schicksal und Charakter [1919]. In:
der Sinnerfülltheit, das einem Leben im Vertrauen Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1 (Hg. R. Tiede-
auf die göttliche Vorsehung zukomme, die differentia mann u. Hermann Schweppenhäuser). Frankfurt
specifica zur stoischen Übernahme des äußeren Ge- a. M. 1977, 171–179.
–: Zur Kritik der Gewalt [1921]. In: Ders.: Gesammelte
schehens als einer bloßen Notwendigkeit ausmache
Schriften, Bd. II.1 (Hg. R. Tiedemann/Hermann
(1977, 122 ff.).
Schweppenhäuser). Frankfurt a. M. 1977, 179–203.
Bostrom, Nick: The Future of Humanity. Online: www.
Ausblick nickbostrom.com/papers/future.pdf (2007).
Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch
Nach dem Schicksal zu fragen, heißt die metaphysi- über das Absurde [1942]. Reinbek 1993.
sche Frage danach zu stellen, wie die Wirklichkeit in Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der
Wahrheit ist. Insofern es zum Menschsein gehört, Fortschritte des menschlichen Geistes [1795] (Hg.
über keinen archimedischen Standpunkt der Wahr- D.W. Alff). Frankfurt a. M. 1963.
heit zu verfügen, wird sich in jeder Antwort auf diese Deuser, Hermann: Gott: Geist und Natur. Theologische
Frage eine Glaubensposition ausdrücken. Und inso- Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilo-
fern zur menschlichen Lebensführung eine An- sophie. Berlin/New York 2003.
nahme über den Status der im eigenen Leben wider- Devlin, Keith: Pascal, Fermat und die Berechnung des
fahrenden Ereignisse gehört, ist im Umgang mit die- Glücks. Eine Reise in die Geschichte der Mathematik
ser Frage – und dies gilt auch für den vorliegenden [2008]. München 2009.
Artikel – keine Neutralität möglich. So ist selbst der Epiktet: Handbüchlein der Moral (Hg. K. Steinemann).
Tychismus mit seinem Verzicht auf eine positive Stuttgart 1992.
Theorie über das Ganze der Wirklichkeit nicht me- Gellius: Die attischen Nächte. Bd. 1 (Hg. F. Weiss).
taphysisch neutral. Die tychistische These von der Darmstadt 1965.
Irreduzibilität des Zufalls gibt nicht einfach die em- Hammacher, Klaus: Glück. In: Hermann Krings u. a.
pirische Tatsache wider, dass Abweichung von der (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe.
Studienausgabe. Bd. 3. München 1973, 606–614.
Regel stattfindet, sondern schließt daraus vielmehr
Hampe, Michael: Die Macht des Zufalls. Berlin 2006.
in einer metaphysischen Überlegung auf den Status
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Der Geist des Chris-
sowohl der Regel als auch der Abweichung. Nietz-
tentums [1798–1800]. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Hg. E.
sche hat dies reflektiert – »nur neben einer Welt von
Moldenhauer/K. M. Michel). Frankfurt a. M. 1986,
Zwecken hat das Wort ›Zufall‹ einen Sinn« – und vor 274–418.
diesem Hintergrund die metaphysische Position ver- Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik [1953].
treten, dass »der Gesammt-Charakter der Welt […] In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 7 (Hg. F. W. von Herr-
in alle Ewigkeit Chaos« sei (1882/1980, 468). Welche mann). Frankfurt a. M. 2000, 5–36.
der oben dargestellten Haltungen zum Schicksal – Herder, Johann Gottfried: Das eigene Schicksal [1800].
der Rationalismus, die Theorie der Moderne als un- In: Ders.: Schriften zu Literatur und Philosophie
seres Schicksals, der Tychismus oder die Eschatolo- 1792–1800 (Hg. H. D. Irmscher). Frankfurt a. M. 1998,
gie – als überzeugend angesehen wird und von wel- 241–256.
cher ethischen Haltung man sich damit einhergehend Homer: Odyssee (Übers. J. H. Voss). Stuttgart 1970.
das Glück der Übereinstimmung mit der Wirklich- Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der
7. Glück, Schicksal, Zufall. Das Glück haben, glücklich zu sein 83

Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944]. Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12 (Hg. R. Kramme u. a.).
Frankfurt a. M. 1994. Frankfurt a. M. 2001, 483–491.
Hossenfelder, Malte: Epikur [1991]. München 2006. Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Unter-
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781] suchung seiner Natur und seiner Ursachen [1776].
[KrV]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3 und 4 (Hg. München 1978.
W. Weischedel). Darmstadt 1983. Sophokles: König Ödipus (Hg. K. Steinmann). Stuttgart
Kierkegaard, Sören: Furcht und Zittern [1843] (Hg. Chr. 2002.
Schrempf). Jena 1923. Spaemann, Robert: Über den Sinn des Leidens. In: Ders.:
Klaer, Ingo: Schicksal, systematisch-theologisch. In: Einsprüche. Christliche Reden. Einsiedeln 1977, 116–
Gerhard Krause u. a. (Hg.): Theologische Realenzy- 133.
klopädie. Bd. 30. Berlin/New York 1999, 110–116. –: Die Zweideutigkeit des Glücks. In: Ders.: Grenzen.
Kranz, Margarita: Schicksal. In: Joachim Ritter u. a. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart
(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2001, 95–107.
8. Basel 1992, 1275–1289. Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit.
Kurzweil, Ray: The Singularity Is Near. New York 2005. Frankfurt a. M. 1991.
Landmann, Michael: Eine Lanze für das Schicksal. In: –: Schicksal in Antike und Moderne. München 2004.
Ders.: Das Ende des Individuums. Stuttgart 1971,
Olivia Mitscherlich-Schönherr
208–214.
Lorenz, Stefan: Theodizee. In: Joachim Ritter u. a. (Hg.):
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Ba-
sel 1998,1066–1073.
Machiavelli, Niccolò: Vom Fürsten [1532]. In: Ders.:
Hauptwerke (Hg. A. Ulfig). Köln 2000, 401–486.
Morus, Thomas: Utopia [1516]. In: Der utopische Staat
(Hg. K. J. Heinisch). Hamburg 1960, 7–110.
Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft [1882].
In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe.
Bd. 3 (Hg. G. Colli/M. Montinari). München 1980,
343–652.
Peirce, Charles S.: Eine Überprüfung der Lehre des Ne-
zessarismus [1892]. In: Ders.: Schriften. Bd. II (Hg.
K.-O. Apel). Frankfurt/Main 1970, 250–274.
–: Wissenschaft und Religion [1893]. In: Ders.: Religi-
onsphilosophische Schriften (Hg. H. Deuser). Ham-
burg 1995, 79–281.
Reichert, Klaus: Fortuna oder Die Beständigkeit des
Wechsels. Frankfurt a. M. 1985.
Rescher, Nicholas: Glück. Die Chance des Zufalls [1995].
Berlin 1996.
Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat [1920] (Hg. F.
Lachmann). Frankfurt a. M. 2010.
Sandkaulen, Birgit: Grund und Ursache. Die Vernunft-
kritik Jacobis. München 2000.
Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie [1913].
Bonn 1923.
Schelling, Friedrich Wilhelm Josef: Philosophische Un-
tersuchungen über das Wesen menschlicher Freiheit
[1809]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. I,7 (Hg. K. F.
A. Schelling). Stuttgart/Augsburg 1860, 331–416.
Seneca: De Providentia. In: Ders.: Philosophische
Schriften. Bd. 1 (Hg. M. Rosenbach). Darmstadt 1999,
3–41.
Simmel, Georg: Das Problem des Schicksals [1913]. In:
84 II. Systematik des Glücksdenkens

8. Glück in der Liebe. eros, agapè und philia –, die regelmäßig oder gele-
gentlich mit ›Liebe‹ übersetzt werden. Dass die Liebe
Die Bereitschaft vielgestaltig ist, muss auch in den Formen des Glücks
zur Hingabe zum Ausdruck kommen, die philosophisch unter-
schieden werden können.
Allgemein lässt sich sagen: Wer liebt, ist dem An-
Liebe als Bewegung und Bindung deren – nach der schönen deutschen Wendung – zu-
getan, fühlt sich zu ihm hingezogen, hat ihn bei sei-
»Wem gefiele nicht eine Philosophie«, so fragte No- nen Gefühlen, Gedanken und Handlungen im Sinn.
valis um 1800, »deren Keim ein erster Kuß ist?« Dem Liebenden liegt am Geliebten (diese Partizi-
(1965, 541). Wenn ein Kuss der Keim der Philoso- pien mögen maskulin sein, sie stehen hier und im
phie sein kann, so ist damit die Frage noch nicht be- Folgenden aber für Menschen, nicht für Männer).
antwortet, auf welche Weise sie den Kuss oder die Der Liebende bejaht das Sein und Wohlsein des An-
Liebe zu ihrem Gegenstand machen kann. Zweifellos deren. Insoweit gehört zur Liebe – neutral gesagt –
gehört die Liebe zu den Erfahrungen im Leben, die eine Bewegung, die eher aktiv als Streben, gegebe-
man durchlebt, ohne zu wissen, wovon genau man nenfalls auch als Verlangen, oder eher passiv als Hin-
gebeutelt wird. Sie versetzt uns öfter mal ins Staunen gabe auftreten kann.
– in das Staunen, mit dem die Philosophie als Liebe Diese Bewegung, die zur Liebe – markant zum
zur Weisheit bekanntlich beginnt. Entsprechend griechischen eros – gehört, kann sich in einer Bin-
könnte sie in der Liebe ihr ureigenes Thema erken- dung oder einem Gefühl der Zusammengehörigkeit
nen. verfestigen, wenn eine geliebte Person sich auf den
Doch wie liebevoll ist die Philosophie mit der Liebenden einlässt. Entsprechend sind die Bilder des
Liebe umgegangen, seit sie in Platons Symposion zum Liebesglücks in der Tradition einerseits von Bewe-
ersten Mal ins Zentrum gerückt wurde? Friedrich gung und Ekstase, andererseits von Vorstellungen
Schiller erklärte, das »Getriebe« der Welt werde der Harmonie und des Friedens gezeichnet. Zu die-
»durch Hunger und durch Liebe« bewegt – aber ge- sem Spiel von Bewegung und Bindung in der Liebe
fälligst nur so lange, bis endlich »den Bau der Welt / gehören verschiedene Formen der Ferne und Nähe,
Philosophie zusammenhält« (1987, 223). Die Philo- des Unverhofften und Vertrauten. Nicht in all diesen
sophie ist, so scheint es, versucht, mit der Liebe in Spielarten ist glückende Liebe symmetrisch; darauf
Konkurrenz zu treten und sie auszustechen. Doch wird noch zurückzukommen sein. Doch wenn Liebe
weder die eine noch die andere können als Kitt der erwidert wird, geschieht dies jedenfalls nicht so lapi-
Gesellschaft reüssieren. Bleibt die Philosophie bei dar wie etwa bei einem Gruß. Es geht dann vielmehr
der bescheidenen Aufgabe, das menschliche Leben um eine Bejahung des Geliebtwerdens und Liebens,
zu beschreiben, so darf sie sich wieder oder weiter- durch die man sich in einen anderen Zustand ver-
hin der Liebe annehmen (Stewart 1995; Lamb 1997; setzt sieht. Man wird als Geliebter und Liebender ir-
Meier/Neumann 2000; Thomä 2000; Buchholz gendwie verwandelt – sei es durch den Überschwang
2006). Deren Schicksal scheint in dem von Max We- der Empfindungen, sei es durch das Gefühl, nicht
ber beschriebenen »liebeleeren und erbarmungs- voneinander lassen zu können.
fremden Kampf ums Dasein« bedroht zu sein (1916/
1988, 144; s. Kap.VI.1). Die Liebe im Licht ihrer Krise
Wer sieht, wie sich Dichter in ihren größten Wer-
ken und Menschen in ihren größten Wünschen der Die Liebe lässt sich genauer erkunden, wenn man
Liebe gewidmet haben, wird von Verzagtheit befal- der Grenze zwischen Glück und Unglück nachgeht,
len, wenn er sie nüchtern und sachlich abzuhandeln die sich durch sie hindurchzieht. Mit dieser Grenze
hat. Zahllose Fragen drängen sich auf: Was eint die ist hier nicht der Umschlag von Liebe in Liebeskum-
erotische Liebe mit der Liebe der Eltern für ihr Kind? mer gemeint, sondern ein Unglück, in das man gera-
Von der Liebe zu Gott, von Vaterlandsliebe, Nächs- ten kann, wenn man eine Liebe auslebt, die krisen-
tenliebe und auch Selbstliebe ist die Rede – aber was hafte, selbstzerstörerische Züge annimmt. Verdeutli-
haben sie gemeinsam? Trägt auch die Freundschaft chen lässt sich dies an einer Form der Liebe, die
Züge der Liebe? Auch das Vokabular der Liebe ist notorisch der »Übersteigerung« (Luhmann 1982,
vielfältig: Das Griechische stellt drei Worte bereit – 182) verdächtigt wird: nämlich der romantischen
8. Glück in der Liebe. Die Bereitschaft zur Hingabe 85

Liebe. Sie soll wohlgemerkt nicht als solche diskre- zung fürs eigene Leben und er verliert sich in Illusio-
ditiert werden, sondern dient als Anhaltspunkt, an nen über die geliebte Person. Das Bild, das er sich
dem Grundzüge der Liebe überhaupt scharf heraus- von ihr macht, hat vielleicht nur noch entfernte –
treten – Grundzüge, die vom Zauber der Liebe wie wenn überhaupt irgendeine – Ähnlichkeit mit ihr: Er
auch von deren Anfälligkeit, von den »Gründen der liebt nicht den Anderen, sondern ein Phantasma
Liebe« (Frankfurt 2004/2005) wie auch von deren oder Phantom.
Abgründen zeugen. Es ist leicht zu erkennen, warum die romantische
An der romantischen Liebe springt zuallererst ins Liebe, wenn sie von diesen Pathologien befallen wird,
Auge, dass die Hingabe, also das Bedürfnis nach glücklos wird. Zum Ersten fehlt die emotionale Qua-
Identifikation, aufs Äußerste gesteigert und zugleich lität, wonach die Liebe, die man verspürt, doch als ei-
derjenige, dem das liebende Sinnen und Trachten genes Gefühl, als Auszeichnung des eigenen, selbst-
gilt, in eine schier unerreichbare Ferne gerückt wird. haften Lebens zu registrieren ist. Zum Zweiten fehlt
Damit bekommt die emotionale Abhängigkeit, die die kognitive Qualität, wonach die Erfüllung in der
zur Hingabe gehört, etwas Schmerzliches, Quälen- Liebe davon abhängt, dass deren Bezugspunkt, der
des. Diese Abhängigkeit ist strikt unterschieden etwa Mensch, auf den sie sich richtet, für den Liebenden
von ökonomischer Abhängigkeit oder auch von dem kenntlich wird. Es besteht zum Dritten die Gefahr,
Zustand eines Patienten, der am Tropf hängt, also dass die soziale Qualität der Liebe als einer besonde-
von ihm ›ab-hängig‹ ist. In diesen Fällen weiß der ren Beziehung zwischen Menschen, die diesseits ih-
Abhängige genau, worauf er angewiesen ist – näm- rer Zugehörigkeit zur Gesellschaft als ganzer (s. Kap.
lich auf bestimmte Ressourcen. Diese sichere Aus- II.9) liegt, nicht zur Entfaltung kommt.
kunft fehlt bei der Abhängigkeit, in der man sich als Statt nun aber vor diesen Pathologien erschreckt
romantisch Liebender befindet. In diesem Fall macht Reißaus zu nehmen, lohnt die Frage, ob hier Züge
man sich abhängig von einer geliebten Person, von der Liebe ans grelle Licht treten, die auch jenseits
der man ein vom Überschwang gezeichnetes Bild dieses Sonderfalls von Belang sind. Zu denken ist an
entworfen hat. Man ist abhängig von etwas, das die Bejahung von Abhängigkeit oder Hingabe sowie
Grenzen sprengt. Anders und paradox gesagt: Man an den großzügigen, wohlwollenden Blick auf den
ist auf ein Nicht-Festgestelltes festgelegt, von einem Anderen. Zu fragen ist nach der Glücksträchtigkeit
Sich-Entziehenden angezogen, an ein Ungebunde- der Liebe mit Bezug auf (1) den Seelenhaushalt des
nes gebunden. Je ferner dieser geliebte Mensch im Liebenden, (2) das Bild des Geliebten und (3) die Ei-
romantischen Schwelgen rückt, desto stärker gerät genart der liebenden Beziehung zwischen Menschen.
das Bild des Geliebten in eine gefährliche Schwebe. Diese drei Aspekte sollen im Folgenden erhellt wer-
Die romantische Liebe setzt sich aus zwei Elemen- den.
ten zusammen: zum einen aus dem Hingerissensein
des Liebenden, zum anderen aus einem Bild des Ge- Liebe jenseits der Selbstbestimmung
liebten, das gewissermaßen den (Bilder-)Rahmen
sprengt, das ihm also einen Status zuweist, der sich Der Dichter und Orientalist Friedrich Rückert
gegen vergegenständlichende Festlegung sperrt. Ent- (1788–1866) hat in einem Gedicht, das auf eine Vor-
sprechend kann man nun beschreiben, wie sich hier lage des persischen Dichters Mewlana Dschelaled-
Glück in Unglück verkehren kann. Die Pathologien, din Rumi aus dem 13. Jahrhundert zurückgeht, einen
die sich bei der romantischen Liebe ergeben können, gewagten Vergleich zwischen der Liebe und dem Tod
entspringen einer ins Negative umschlagenden Ab- gezogen (1882, 207):
hängigkeit und einem ins Ungefähre entgleitenden Wohl endet Tod des Lebens Noth,
Bild des Geliebten. Man ist dann einem Menschen, Doch schauert Leben vor dem Tod
den man gar nicht richtig kennt, verfallen, und weist Das Leben sieht die dunkle Hand,
Symptome auf, die man auch von anderen Formen Den hellen Kelch nicht, den sie bot.
des Verfalls kennt: Man droht zugrundezugehen, So schauert vor der Lieb’ ein Herz
man kann im Denken an den geliebten Menschen Alswie von Untergang bedroht,
keinen klaren Gedanken mehr fassen, gerät in einen Denn wo die Lieb’ erwachet, stirbt
selbstzerstörerischen Kreisel hinein, in dem man Das Ich, der dunkele Despot.
sich immer weiter demütigt und erniedrigt. Am Du laß ihn sterben in der Nacht,
Ende entfleucht diesem Liebenden die Wertschät- Und atme frei im Morgenroth.
86 II. Systematik des Glücksdenkens

Rückert greift hier ein altehrwürdiges Motiv auf, das ten. Weiter heißt es bei ihm: »Jedoch verstehe ich un-
sich u. a. auch in Goethes (1749–1832) West-östli- ter dem Wort Wollen hier […] die Zustimmung,
chem Divan findet (1819/1994, 71 f.). Dort antwortet durch die man sich in der Gegenwart mit dem, was
Hatem auf Suleikas Vorhaltung »Höchstes Glück der man liebt, als verbunden derart betrachtet, daß man
Erdenkinder / Sei nur die Persönlichkeit« mit den sich vorstellt, nur ein Ganzes zu sein, von dem man
Worten: der eine Teil ist und die geliebte Sache der andere«
(1649/1984, 123 [Art. 79 f.]; zur Kritik vgl. Baier
[…] ich bin auf andrer Spur:
1991/2000, 70). Offen zu Tage liegt hier der Wider-
Alles Erdenglück vereinet
spruch, in den diese Rückführung der Liebe auf den
Find’ ich in Suleika nur.
Wie sie sich an mich verschwendet,
Willen gerät: Die Liebe erscheint als ein Willensakt,
Bin ich mir ein werthes Ich; der freilich von einer Instanz ausgeführt wird, die
Hätte sie sich weggewendet, sich durch die Erfahrung der Liebe verwandelt und
Augenblicks verlör’ ich mich. selbst Teil einer neuen Einheit geworden ist. Die Au-
ßenposition des willentlich Entscheidenden ist da-
Wenn Rückert und Goethe gleichermaßen im An- mit eigentlich hinfällig.
gewiesen- oder Ausgeliefertsein des liebenden Men- Die Liebe wird nicht dadurch geadelt oder erhöht,
schen ein Glück erkennen, so besteht doch Dissens dass sie als Ausdruck eines autonomen Selbst verein-
zwischen ihnen bezüglich der Folgen, die die Liebe nahmt wird; vielmehr zeichnet sie sich gerade da-
für das ›Ich‹ hat. Rückert bringt den Tod eines Des- durch aus, es in seine Grenzen zu verweisen. Deut-
poten (›Ich‹) mit der Möglichkeit, frei zu atmen, zu- lich wird dies in Hegels (1770–1831) Kritik an Kants
sammen: Bei ihm ähnelt die Liebe einer geradezu (1724–1804) Theorie der Liebe. Während letzterer
revolutionären Erfahrung, sie steht für nichts Ge- die »Liebe« als »freie Aufnahme des Willens eines
ringeres als den Befreiungsschlag gegen einen inne- andern unter seine Maximen« bestimmt (Kant
ren Feind. Imaginiert wird ein Leben jenseits eines 1794/1983, 188 [A 518]), wehrt sich Hegel gegen die-
despotischen Ichs, das im inneren Seelenhaushalt sen Freiheitsvorbehalt und bemerkt, man beschränke
seine Herrschaft ausübt; verworfen wird eine innere sich als Liebender »gern in Beziehung auf ein ande-
Zerrissenheit, die letztlich einer dualistischen An- res«, wisse »sich aber in dieser Beschränkung als sich
thropologie (s. Kap.II.1) anzulasten ist. Das Bild, das selbst« (Hegel 1821/1970, 57 [§ 7 Zusatz]; vgl. Hon-
Goethe entwirft, rückt das Ich an eine andere Stelle: neth 2001, 27; Seel 2002, 282).
Es erscheint – nicht bei Suleika, wohl aber bei Ha- Mit dem Glück hat die Liebe demnach die wich-
tem – als ein Geschenk, das sich dem liebenden An- tige Eigenschaft gemeinsam, dass an ihr etwas Un-
deren verdankt. Dass diese Differenz auf Debatten verfügbares ist, dass sie dem Menschen dann ge-
um die Autonomie des Subjekts (s. Kap. VI.7 und währt wird, wenn er sich der Welt aussetzt und auf
VI.9) sowie um die Konstitution des Selbst in der sie einlässt, ohne dabei die Zügel in der Hand behal-
Sozialität zurückgeführt werden kann, liegt auf der ten zu wollen. Ihre Glücksträchtigkeit beweist die
Hand. Liebe auch fern ihrer romantischen Version – als el-
Was Rückerts und Goethes Beschreibungen ge- terliche oder eheliche Liebe ebenso wie in der Form
meinsam haben, ist die emphatische Bejahung der der tiefen Freundschaft, dem unverbrüchlichen Ver-
Hingabe, die bis zur Selbstaufgabe oder mindestens trauen. Das Glück, das sich aus diesem Aufeinander-
bis zur Aufgabe eines ›alten‹ und zum Neugewinn ei- Angewiesensein, dieser besonderen Abhängigkeit
nes ›neuen‹ Ich führt. Erahnen lässt sich damit die ergibt, gehört zu den Erfahrungen der »Selbsttran-
Provokation, die die Liebe prinzipiell enthält: Sie szendenz« (Joas 1997, 10 ff., 123 ff.), in denen sich die
richtet sich gegen eine Lebenshaltung, die Abhängig- in sich verhauste Subjektivität, die des Pochens auf
keit diskreditiert, weil sie ihr mit Selbstbestimmung den eigenen Interessen müde ist, von jemandem in
unverträglich erscheint. Die Philosophie des Ratio- der Welt aufgenommen und willkommen geheißen
nalismus hat sich mit dieser Provokation traditionell fühlt. Die emotionale Abhängigkeit, in die man hin-
schwergetan. Deutlich wird dies u. a. bei René Des- eingeraten kann, ergibt sich aus der Innigkeit, in der
cartes (1596–1650). Ihm zufolge wird man durch die man mit einem anderen Menschen verbunden ist;
Liebe »dazu an[ge]reizt«, sich »willentlich« mit der diese Abhängigkeit wird glücklich bejaht, sie wird
geliebten Sache oder Person »zu verbinden«. Mit die- nicht erzwungen oder erlitten. Zu streiten ist – dies
sem Willen soll das Ich die Zügel in der Hand behal- nur als Hinweis – allenfalls darum, ob die Liebe eher
8. Glück in der Liebe. Die Bereitschaft zur Hingabe 87

zur Flucht, zum Ausweichen vor der Freiheit, zu der Nun traut man den Liebenden, was ihre kogniti-
wir verurteilt sind, verführt, oder ob sie bei der Kor- ven Fähigkeiten betrifft, in der Regel nicht viel zu.
rektur einer falschen Theorie menschlicher Ent- Der verklärte Blick auf den Anderen ist oft genug
scheidung und Handlungsmotivation einen wichti- kein geklärter, sondern ein getrübter Blick. Geläufig
gen Beitrag leistet. Entsprechend stellt sich die Frage, ist der Satz »Liebe macht blind«, der sich schon bei
ob das moderne Insistieren auf Autonomie eine Platon findet (Nomoi 731e), von ihm aber wohlge-
strukturelle Liebes- (und Glücks-)Feindlichkeit mit merkt nicht auf die höheren Formen des eros und
sich bringt oder jedenfalls dazu führt, dass man sich der philia bezogen wird. Geläufig ist aber auch die
mit der liebenden Bindung an einen anderen Men- umgekehrte These. So widerspricht Max Scheler
schen schwer tut. (1874–1928) dem »spezifisch modernen Bourgeois-
Man kann in der Liebe auch die Abwehr oder Ne- urteil, dass Liebe eher ›blind‹ als sehend mache«
gation einer Verunsicherung erkennen: »Indem uns (1915/1963, 77), und in einer Vorlesung Martin Hei-
das geliebte Wesen gefangen nimmt […], lassen sich deggers (1889–1976) vom Sommer 1925 heißt es:
Gleichgültigkeit und instabile Ambivalenz […] über- »Liebe dagegen macht gerade sehend« (1979, 410).
winden. Die Tatsache, dass wir nicht anders können Gemäß dieser Devise soll am geliebten Menschen
als zu lieben und dementsprechend auch nicht an- etwas zu finden sein, was der eigenen Liebe einen
ders können als durch die Interessen des von uns ge- Grund gibt. Damit bekommt das Liebesglück einen
liebten Wesens geleitet zu werden, stellt sicher, dass Anhaltspunkt, einen Halt am Anderen. Dieses Glück
wir [nicht] […] ziellos herumirren« (Frankfurt zergeht, wenn man sich dabei vertut, also einem
2004/2005, 72). Insofern ist die Liebe keineswegs nur Traumgespinst nachjagt. ›Sehende‹ Liebe soll einen
ein Freibrief für Hingabe und Hingerissensein, sie besonderen Zugang zu einem anderen Menschen er-
kann vielmehr den Menschen zu einer Selbstschät- öffnen. So sehr man auch damit lieb(!)äugeln mag,
zung verhelfen, die ihm Sicherheit im eigenen Tun den geliebten Anderen etwa zum ›Fels in der Bran-
gibt. dung‹ zu küren oder ihm sonst einen Vorzug zuzu-
schreiben, so schwer ist allerdings verständlich zu
Das Bild des geliebten Menschen machen, wie sich mittels der Liebe ein Bild vom An-
deren entwerfen lässt. Bei Luce Irigaray heißt es: »ich
Im Mittelpunkt stand bislang die Liebe als eine emo- liebe dich richtet sich normalerweise oder üblicher-
tionale Erfahrung, die sich in die Psychologie und weise an ein Rätsel: ein Anderes. […] Ich liebe dich:
Praxis der liebenden Person einfügt. Man würde aber ich weiß nicht sehr genau wen, noch sehr genau was.
ein verkürztes Bild vom Glück der Liebe zeichnen, Ich liebe zerfließt, verströmt, ertrinkt, verbrennt, ver-
wenn man es nur als eine Erfahrung verstünde, die liert sich im Abgrund« (1977/1979, 211 f.). Es ergeht
man dank einer anderen Person mit sich selbst macht. einem bei der Liebe offenbar anders als bei der
Mit einem solch instrumentalistischen Bezug auf Hochschätzung für einen verlässlichen Kollegen
den Anderen wird man der Liebe zu einem anderen oder bei der Bewunderung für einen großartigen
Menschen nicht gerecht. Es ist ja nicht so, dass man Musiker. Wenn das Bild, das man von einem gelieb-
an den Anderen nur um seiner selbst willen dächte, ten Menschen hat, irgendwie gehaltreich, also quali-
dass man sich mit dessen Hilfe in der eigenen Hinge- fiziert sein soll, muss man dessen Qualitäten oder Ei-
rissenheit erginge. Man ist dem geliebten Menschen genschaften angeben können. Da das Dilemma, das
zugetan in dem Sinne, dass man um ihn besorgt ist, sich in diesem Verhältnis von Person und Eigen-
sich für ihn stark macht, im Grenzfall vielleicht sogar schaften ergibt, für das Liebesglück von Bedeutung
opfert. Harry Frankfurt meint sogar, die Bereitschaft, ist, sei es an dieser Stelle kurz skizziert.
in der Sorge für einen anderen Menschen aufzuge- Wenn man sich an die Eigenschaften des geliebten
hen, komme dem »Verständnis von Liebe am nächs- Menschen hält, dann hebt man hervor, was an ihm
ten«. Als Paradefall dafür nennt er die »liebende liebenswert ist und woran man im Miteinander
Sorge von Eltern für ihre kleinen Kinder« (1999/2000, Freude hat oder Glück empfindet. So geht etwa Pla-
208). Diese praktische Bereitschaft ist letztlich bezo- ton vor, wenn er das Liebenswerte auf das Gute zu-
gen auf das Bild, das man vom geliebten Menschen rückführt (Lysis 220b; s. Kap. III.1). Damit droht aber
hat. Zu verhandeln ist damit – nach der emotionalen die Person als ›Träger‹ der Eigenschaften hinter den
und vor der sozialen Dimension des Liebesglücks – Eigenschaften selbst zu verschwinden. Eigentlich
die kognitive Seite der Liebe. wäre man dann nämlich gezwungen, alle Menschen
88 II. Systematik des Glücksdenkens

zu lieben, die als liebenswert gelten (vgl. gegen Pla- Die Liebes-Formel »Volo ut sis« (»Ich will, dass du
ton Vlastos 1973/2000). Zugleich müsste man zulas- seist«), die Heidegger (s. Kap. VI.4) in Briefen an ver-
sen, dass eine Person, die man selbst liebt und für lie- schiedene (!) Frauen verwendet hat, bringt dies in
benswert hält, auch von anderen einsichtigen Men- Kurzform zum Ausdruck (Arendt/Heidegger 1998,
schen geliebt werden dürfte oder gar müsste. Das 31; Heidegger/Blochmann 1989, 23; Arendt 2002,
Glück bekäme etwas Auswechselbares. Die Intuition, 284; vgl. zum »dilectum, ut sit« Heidegger 1995,
die dieser Lesart entgegensteht, ist schnell artikuliert: 291 f.). Der Liebende bezieht sich auf den Geliebten,
Sie besagt, dass man jemanden nicht wirklich liebt, indem er dessen offene Zukunft bejaht. Diese Beja-
wenn man nur seine Nase, sein Geld oder sein Kla- hung ist der Liebe in all ihren Spielformen eigen; in
vierspiel – oder aber auch seine Güte – liebt. Kierkegaards Philosophie der Ehe wird sie als Bereit-
Will man die Liebe nicht an einen Set von Eigen- schaft zur Stetigkeit interpretiert (1843/1957, 100; s.
schaften, sondern an die Person selbst binden, dann Kap. V.6). Das Versprechen der Treue, das in der ehr-
handelt man sich aber ein umgekehrtes Problem ein. würdigen Formel ›bis dass der Tod euch scheidet‹
Deutlich wird es in William Butler Yeats’ (1865– zum Ausdruck kommt, kann aber auch als Bereit-
1939) Gedicht »For Anne Gregory«: »Never shall a schaft zum Mitgehen von Veränderungen verstan-
young man« – so heißt dort ein warnender Ratschlag den werden – eine Bereitschaft, die das Risiko ein-
für »Anne« – »Love you for yourself alone / And not schließt, dass solche Veränderungen die Beziehung
your yellow hair.« Und »Anne« erwägt dann, sich die zwischen den Liebenden gefährden. Die Liebe eröff-
Haare zu färben, um sicherzugehen, dass der junge net auf diesem Wege eine besondere Glücksquelle:
Mann sie wirklich nur »for myself alone« liebe, ihr Sie geht über die Bejahung des Augenblicks, der häu-
also auch ohne blonde Haare zugetan bleibe (Yeats fig für die Zeitform der Liebe gehalten wird, hinaus
1996, 245). Annes Entschluss trägt freilich absurde und schließt die Bejahung des Werdens des Anderen,
Züge. Leicht lässt sich ausmalen, dass sie bis zur kör- das über den Augenblick hinausgeht, mit ein. So stellt
perlichen und auch geistigen Entstellung gehen die Liebe eine Lebensführung in Aussicht, die eine
müsste, um sicherzugehen, dass sie nicht nur wegen Antwort auf die Frage enthält, wie man in der Zeit
dieser oder jener Eigenart geliebt werde. glücklich sein kann (Theunissen 1991; s. Kap.II.6).
Wie eine Auflösung dieses Dilemmas aussehen Im Sinne dieser vorbehaltlosen Bejahung des An-
und die Verbindung zwischen Liebe und Glück wei- deren wird der Wandel, den die Zukunft bringen
ter erschlossen werden könnte, sei hier kurz im Aus- kann, nicht nur als Gefahrenquelle gesehen, sondern
gang von einem nur scheinbar banalen Beispiel ange- begrüßt oder gar bekräftigt. Darin liegt eine beson-
zeigt. Man kennt die Grußkarten, die mit der Wen- dere Herausforderung der Liebe: »Dear to us are
dung ›Liebe ist, wenn…‹ beginnen und dann eine those who love us«, sagt der amerikanische Philo-
bevorzugt banale Erläuterung folgen lassen. Sie sind soph Ralph Waldo Emerson (1803–1882), »the swift
halb falsch, halb wahr. In der Tat ist die Liebe in einer moments we spend with them are a compensation
Vielzahl kleiner Begebenheiten zu Hause; sie ist dar- for a great deal of misery; they enlarge our life«.
über nicht erhaben. Und doch ist es nicht schon Liebe, Doch kaum hat er dies gesagt, spricht Emerson wei-
wenn jemand dem anderen Frühstück macht etc. ter: »But dearer are those who reject us as unwor-
Man würde nie an ein Ende kommen, wenn man ver- thy«. Diejenigen nämlich, die uns zurückweisen,
suchte, die Liebe zu einer Person verlustfrei in einer »add another life: they build a heaven before us,
Kette solcher Aussagen zum Ausdruck zu bringen. whereof we had not dreamed, and thereby […] urge
Die Liebe steht vielmehr für den Anspruch, sich ei- us to new and unattempted performances« (1983,
nem Anderen in seinen Eigenarten offen zuzuwen- 604). Was Emerson hier gegeneinanderstellt, sind im
den, aber nicht an ihnen festzuhängen. Man sieht ihm Glücksfall nur zwei Seiten eines liebenden Umgangs
gewissermaßen an, dass er über sich selbst oder über mit dem Anderen, in dem sich die Bejahung seiner
die Beschreibung seines Status quo hinausgeht. Zum Gegenwart und die Bejahung seiner Zukunft ergän-
Glück der Liebe gehört die Bereitschaft, den Lebens- zen.
Wandel des Anderen großzügig und neugierig will- Dieser liebende Umgang mit dem Anderen spie-
kommenzuheißen oder gar selbst herauszufordern. gelt sich in einem liebenden und zukunftsoffenen
Das Bild, das man von einem geliebten Menschen hat, Umgang mit sich selbst. Wie man dem Anderen in
entsteht im Zuge einer Liebes-Geschichte, einem Le- seiner Veränderbarkeit zugeneigt ist, so kann man
ben, das man mit ihm teilt (Marten 1993, 31 ff.). auch sich selbst in seinem eigenen Lebenswandel be-
8. Glück in der Liebe. Die Bereitschaft zur Hingabe 89

jahen. Diese Selbstbejahung ist traditionell (u. a. von 1156a 3) den Anderen symmetrisch als ein »zweites
Aristoteles und Rousseau; vgl. Thomä 1998, 173– Selbst« (oder einen anderen Selben, allos autos)
212) als Selbstliebe bezeichnet und einer Eigenliebe sucht, lässt der eros das Aufblicken des Liebenden zu
entgegengestellt worden, die auf den Vergleich und einem höheren Sein zu oder lädt gar dazu ein.
das Sich-Messen mit dem Anderen versessen ist. Die Eine Typologie der verschiedenen Spielarten der
Selbstliebe, die zu Unrecht als narzisstisch kritisiert Liebe kann sich insbesondere an den Kriterien der
wird, ist in Analogie zur Liebe zum Anderen Teil ei- Nähe (Intimität) und der Gegenseitigkeit (Symme-
ner plausiblen Beschreibung der Selbstbejahung und trie) orientieren. So lassen sich die Liebesarten etwa
der praktischen Selbstbeziehung (zur »Rehabilitie- im Ausgang von der Freundschaft, die in den Bereich
rung der Selbstliebe« vgl. Thomä 2003, 270–291). der Liebe im weiteren Sinne einzubeziehen ist, durch
zusätzliche Differenzierungen unterscheiden. Bei
Lieben als Zusammensein der Freundschaft geht in der Regel die Symmetrie
mit einer gewissen Zurückhaltung, was die Enge die-
Das Bild, das sich der Liebende vom Anderen macht, ser Beziehung betrifft, einher. Schon bei Freund-
wird in der Interaktion, die zur Liebesbeziehung ge- schaften aber wird deutlich, dass die Menschen nur
hört, auf die Probe gestellt; auf diese Interaktion, in eine beschränkte Zahl von Beziehungen pflegen, die
der erst der volle Begriff – und die volle Erfahrung – ihnen den vorbehaltlosen Austausch sowohl ihrer
der Liebe erreicht wird, ist abschließend einzugehen. Stärken wie ihrer Schwächen erlauben. Das Glück
Zunächst ist dabei festzuhalten, dass im Rahmen der der Freundschaft liegt in einer Beschränkung, die
Liebe ganz verschiedene Formen der Beziehung zwi- nicht als solche empfunden wird. Wenn man über
schen Menschen zur Entfaltung kommen. Denk- die Freundschaft hinausgeht und die Intimität an-
und lebbar ist eine Liebe, die aus der Ferne Anteil wachsen lässt, gelangt man zur geschlechtlichen
nimmt, ohne dass man etwa darauf erpicht wäre, mit Liebe. Wenn man dagegen die Asymmetrie anwach-
dem geliebten Menschen zusammenzuleben; die sen lässt, gelangt man zur rückhaltlosen Liebe, die
Liebe von Eltern zu ihren erwachsenen Kindern ist von der Bereitschaft der Hingabe geprägt ist. Die
dafür das nächstliegende Beispiel. Auch die soge- größte Asymmetrie, die in der Liebe denkbar ist, be-
nannte Nächstenliebe ist dadurch bestimmt, dass ei- steht zwischen Gott und Mensch.
nem dieser Nächste, für den man sich einsetzt, oft Statt nun die Glücksträchtigkeit all dieser Varian-
ganz fremd und unvertraut ist. Am anderen Ende des ten der Liebe einzeln durchzugehen, möchte ich
Spektrums steht die geradezu symbiotische Bezie- mich mit Anmerkungen zum Ideal liebender Zwei-
hung, die etwa beim liebenden »Paar« anzutreffen ist samkeit begnügen, welches sowohl Intimität wie
(Fellmann 2005). auch Symmetrie für sich beansprucht. Keineswegs
Analytisch zu unterscheiden vom Anspruch auf hat diese Zweisamkeit zu allen Zeiten als Ideal gegol-
Gemeinschaftlichkeit oder Zusammengehörigkeit ten, doch immer wieder hat es hohe Erwartungen
ist derjenige auf Gegenseitigkeit oder Gleichheit. geschürt und Hoffnungen genährt. Berühmt ist etwa
Auch hier tritt die Liebe in verschiedenen Spielfor- der Liebes-Mythos des Aristophanes, der in Platons
men auf. Eine symmetrische Erwiderung von Ge- Symposion erzählt wird. Hier erscheint die Zweisam-
fühlen ist nicht schlechterdings erforderlich, um keit als Wiederherstellung einer Einheit, in der die
Liebe glücken zu lassen. Wiederum taugt die Liebe Menschen ihre jeweils andere passende Hälfte, von
zwischen Eltern und Kindern hier als Beispiel. So be- der sie einst gewaltsam getrennt worden sind, wieder
merkt Hegel zu Recht, »daß im ganzen die Kinder finden und sich zu Kugelwesen vereinigen (Sympo-
die Eltern weniger lieben als die Eltern die Kinder, sion 189a–194e). Man mag darüber spekulieren, auf
denn sie gehen der Selbständigkeit entgegen und er- welche Quellen der in vielen Versionen verbreitete
starken, haben also die Eltern hinter sich« (1821/1970, Mythos von einer ursprünglich gegebenen, dann
329 [§ 175 Zusatz]). Es gibt keinen guten Grund, verlorenen Einheit zurückgeht. Auch mag man be-
diese Asymmetrien, wie sie im Generationenverhält- merken, dass Aristophanes jene Kugelwesen gewis-
nis auftreten, als glücksfeindlich zu verdächtigen. sermaßen auf den Arm nimmt und beschreibt, wie
Schon in der Antike treten mit philia und eros For- sie ob ihrer Hingabe handlungsunfähig werden.
men der Liebe auf, die sich hinsichtlich der Symme- Doch selbst wenn man den einzelnen (halbierten?)
trie stark unterscheiden: Während man in der philia Einzelwesen nicht von vornherein einen Defekt zu-
nach Aristoteles (Nikomachische Ethik 1166a 31, schreibt, den sie erst in der Paarung überwinden, be-
90 II. Systematik des Glücksdenkens

hält die Erfüllung, die die Zweisamkeit zu gewähren meint, sie schwäche sich selbst, weil ihr der sittliche
verspricht, ihre Anziehungskraft; sie nimmt ver- Ernst fehle (1821/1970, 310, 317 [§ 161 Zusatz, § 164
schiedenste Formen an, zu denen – brüsk gesagt – Zusatz]). In seinen Frühschriften teilt Hegel mit
der Geschlechtsverkehr ebenso zählt wie der Blick- Schlegel immerhin die Annahme, die »eigentliche
wechsel. Das Glück der Liebe entfaltet sich dabei in Liebe« gedeihe zwischen Menschen, die »sich gleich«
Raum und Zeit gleichermaßen. Zu der räumlichen sind (1971, 245). Nach Hegel muss die Liebe solche
Vorstellung, dass sich das Leben zu zweit rundet, ge- Gleichheit und Gegenseitigkeit deshalb zur Entfal-
sellt sich die zeitliche Vorstellung, dass in der De- tung bringen, weil andernfalls in den Beziehungen
ckung von Wunsch und Wirklichkeit die Sehnsucht zwischen Liebenden eine scharfe Grenze zwischen
gestillt wird und das Leben zur Ruhe kommt. Paul Bestimmen und Bestimmtwerden, Subjekt und Ob-
Celan (1920–1970) schreibt (1952/2003, 50): jekt, Lebendigem und Totem erhalten bliebe (246).
Hegel versetzt die liebende Zweisamkeit aber nicht –
unsere Blicke, wie Schlegel – auf einen Schauplatz, auf dem sich die
getauscht um getröstet zu sein, Individuen spielerisch entfalten, sondern sieht sie als
tasten sich vor Zielpunkt, an dem sich »das Getrennte […] als Eini-
winken uns dunkel heran.
ges […] fühlt« (246) und die »Vernichtung der Ent-
Blicklos
gegensetzung in der Vereinigung« gelingt (247). Der
schweigt nun dein Aug in mein Aug sich,
Wunsch, »keine selbständige Person mehr sein« zu
wandernd
wollen, geht demnach nicht durch ein romantisches
heb ich dein Herz an die Lippen,
hebst du mein Herz an die deinen: Spiel in Erfüllung, mit dem sich die Individuen der
was wir jetzt trinken, stillt den Durst der Stunden. Zufälligkeit des »Launenhafte[n]« aussetzen würden,
sondern durch den Zugang zur Zweisamkeit als ei-
Von den Szenarien geglückter Zweisamkeit seien die ner sittlichen Einheit, mit der sie sich selbstbewusst
konkurrierenden Modelle herausgegriffen, die bei identifizieren (1821/1970, 308, 310 [§ 159 Zusatz,
Schlegel und Hegel zu finden sind und in denen die § 161 Zusatz]).
Themen der Bewegung und der Bindung, von de- Wie streng sich Hegel auch gegen Schlegel und die
nen eingangs die Rede war, wiederkehren. Friedrich Romantiker verwahren mag, es drängt sich doch der
Schlegel (1772–1829) setzt in seiner Lucinde gegen Eindruck auf, dass sie verschiedenen, aber gleicher-
die »nordische Unart« des »Streben[s] und Fort- maßen berechtigten Ambitionen Ausdruck verlei-
schreiten[s] ohne Stillstand und Mittelpunkt« den hen, die in der Liebe untrennbar – als Rivalen oder
»hohen Leichtsinn unsrer Ehe«, mit dem sich die auch als Verbündete – zusammenhängen. Hier wie
»Lücken der Sehnsucht« schließen. Liebe ist hier dort kehrt nämlich der doppelte Blick auf den ge-
durch Symmetrie und Nähe gekennzeichnet: »Es liebten Menschen wieder, auf den bereits hingewie-
gibt eine reine Liebe, ein unteilbares und einfaches sen worden ist. Auf der einen Seite steht dieser Blick
Gefühl ohne die leiseste Störung von unruhigem für die Einladung an den geliebten Menschen, den
Streben. Jeder gibt dasselbe, was er nimmt, einer wie Status quo zu überschreiten und sich für die Zukunft
der andere, alles ist gleich und ganz und in sich voll- frei zu geben. Auf der anderen Seite steht er für eine
endet wie der ewige Kuss der göttlichen Kinder. […] Verbindlichkeit, in der die Zukunft vom aktuellen
Nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine Liebesversprechen her festgeschrieben werden soll.
unendliche Einheit ganz fühlen« (1799/1962, 26 f., In welcher Form auch immer die Liebe auftreten
11, 60 f.). Schlegel deutet diese Einheit in einer mag: Indem sie den Menschen die Verbindung zwi-
durchaus ausschweifenden Weise, er will also die schen dem, was ist, und dem, was wird, nahebringt,
Fantasie nicht bezähmen, sondern aus der Selbst- gibt die Liebe zu kühnsten Hoffnungen Anlass, be-
verständlichkeit des Zusammengehörens heraus ein hält aber auch tiefste Enttäuschungen in der Hinter-
Experimentieren mit Lebensmöglichkeiten eröff- hand. Was übrigens Schlegel und Hegel allen Unter-
nen, zu dem etwa der spielerische Rollentausch zwi- schieden zum Trotz gleichfalls gemeinsam haben, ist
schen Mann und Frau gehört: nach Schlegel »die die emphatische Feier der liebenden »Vereinigung«,
schönste« unter den »Situationen der Freude« die nicht nur im geteilten Leben, sondern auch in ei-
(1799/1962, 12). nem gemeinsamen Kind ihren Ausdruck finden und
Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat gegen Schle- ins Dasein treten kann (Hegel 1971, 249; Schlegel
gels Deutung der Liebe Einspruch eingelegt und ge- 1799/1962, 61 ff.).
8. Glück in der Liebe. Die Bereitschaft zur Hingabe 91

Will man den bindenden, verbindlichen Charak- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Phi-
ter der Liebe in Worte fassen, so gelangt man unwei- losophie des Rechts [1821]. Werke 7. Frankfurt a. M.
gerlich zum 116. Sonett William Shakespeares (1998, 1970.
37), in dem es heißt: –: Frühe Schriften. Werke 1. Frankfurt a. M. 1971.
Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des
love is not love Zeitbegriffs. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 20. Frank-
Which alters when it alteration finds […]. furt a. M. 1979.
O no, it is an ever-fixed mark, –: Phänomenologie des religiösen Lebens. In: Ders.: Ge-
That looks on tempests, and is never shaken. samtausgabe. Bd. 60. Frankfurt a. M. 1995.
Heidegger, Martin/Blochmann, Elisabeth: Briefwechsel
Lässt man dagegen die Verwandlung zu, die sich die
1918–1969. Marbach 1989.
Liebenden bei der Bejahung ihres Werdens gegensei-
Honneth, Axel: Leiden an Unbestimmtheit. Stuttgart
tig gönnen, so muss man ertragen, dass sich die Liebe
2001.
selbst wandeln (d. h. wachsen oder aber schwinden)
Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist [1977].
kann. Man legt damit nach Amélie Rorty Wider-
Berlin 1979.
spruch gegen Shakespeares Beschreibung der Liebe Joas, Hans: Die Entstehung der Werte. Frankfurt a. M.
ein und sagt: »Love is not love which alters not when 1997.
it alteration finds« (1986/2000, 175). Es würde je- Kant, Immanuel: Das Ende aller Dinge [1794]. In: Ders.:
doch zu kurz greifen, die sich wandelnde Liebe nur Werke in 10 Bänden. Bd. 9. Darmstadt 1983, 173–190.
als Leidtragende äußerer Veränderungen anzusehen, Kierkegaard, Søren: Entweder/Oder. Zweiter Teil [1843].
die sie »findet« und die sie hinzunehmen hat. Viel- Düsseldorf 1957.
mehr gehört es zu den Vorzügen der Liebe, dass sie Lamb, Roger E. (Hg.): Love Analyzed. Boulder/Oxford
solche Veränderungen selbst anzustoßen und auch 1997.
auszukosten vermag. Mit dieser Gabe wird die Liebe Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Frankfurt a. M.
zu einem der stärksten Verbündeten des Glücks. 1982.
Marten, Rainer: Lebenskunst. München 1993.
Meier, Heinrich/Neumann, Gerhard (Hg.): Über die
Literatur Liebe. München 2000.
Arendt, Hannah: Denktagebuch 1950–1973. München Novalis: Schriften. Zweiter Band. Stuttgart 21965.
2002. Platon: Lysis. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt
– /Heidegger, Martin: Briefe 1925–1975 und andere a. M./Leipzig 1991, Bd. I, 369–421.
Zeugnisse. Frankfurt a. M. 1998. –: Nomoi. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt a. M./
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hamburg 1985. Leipzig 1991, Bd. IX, 9–1031.
Baier, Annette C.: Unsichere Liebe [1991]. In: Dieter –: Symposion. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt
Thomä (Hg.): Analytische Philosophie der Liebe. Pa- a. M./Leipzig 1991, Bd. IV, 53–183.
derborn 2000, 65–84. Rorty, Amélie O.: Die Historizität psychischer Haltun-
Buchholz, Kai (Hg.): Liebe. Ein philosophisches Lese- gen [1986]. In: Dieter Thomä (Hg.): Analytische Phi-
buch. München 2006. losophie der Liebe. Paderborn 2000, 175–193.
Celan, Paul: Mohn und Gedächtnis [1952]. In: Ders.: Rückert, Friedrich: Gesammelte Poetische Werke in 12
Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Frank- Bänden. 5. Bd. Frankfurt 1882.
furt a. M. 2003, 25–53. Scheler, Max: Liebe und Erkenntnis [1915]. In: Ders.:
Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele [1649]. Gesammelte Werke. Bd. 6. Bern/München 1963, 77–
Hamburg 1984. 98.
Emerson, Ralph Waldo: Essays & Lectures. New York Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. 1. Band. München/
1983. Wien 1987.
Fellmann, Ferdinand: Das Paar. Berlin 2005. Schlegel, Friedrich: Lucinde [1799]. In: Ders.: Kritische
Frankfurt, Harry G.: Vom Sorgen oder: Woran uns liegt Ausgabe. 5. Bd. München u. a. 1962, 1–82.
[1999]. In: Dieter Thomä (Hg.): Analytische Philoso- Seel, Martin: Sich bestimmen lassen. Frankfurt a. M.
phie der Liebe. Paderborn 2000, 195–224. 2002.
–: Gründe der Liebe [2004]. Frankfurt a. M. 2005. Shakespeare, William: Complete Works. Walton-on-
Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan Thames 1998.
[1819]. Werke (Hamburger Ausgabe). Bd. 2. Mün- Stewart, Robert M. (Hg.): Philosophical Perspectives on
chen 1994. Sex and Love. New York/Oxford 1995.
92 II. Systematik des Glücksdenkens

Theunissen, Michael: Können wir in der Zeit glücklich


sein? In: Ders.: Negative Theologie der Zeit. Frank-
9. Glück in Gesellschaft
furt a. M. 1991, 37–86. und Politik. Die fragilen
Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte
als philosophisches Problem. München 1998.
Bedingungen gelingenden
– (Hg.): Analytische Philosophie der Liebe. Paderborn Lebens
2000.
–: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt a. M. 2003.
Vlastos, Gregory: Das Individuum als Gegenstand der
Menschen leben nicht allein, ja sie könnten nicht
Liebe bei Platon [1973]. In: Dieter Thomä (Hg.): Ana-
einmal allein leben, selbst wenn sie wollten. Es ist da-
lytische Philosophie der Liebe. Paderborn 2000, 17–
her fast eine Tautologie zu sagen, dass zu einem ge-
44.
Yeats, William Butler: Collected Poems. New York 1996.
lingenden Leben gute soziale Beziehungen gehören.
Weber, Max: Zwischen zwei Gesetzen [1916]. In: Ders.: Da der Mensch ein soziales Lebewesen ist (ein zoon
Gesammelte Politische Schriften. Tübingen 1988, politikon oder animal sociale), gehört Gesellschaft-
142–145. lichkeit zu seiner Natur und ist damit ein »Glücks-
Dieter Thomä gut« (Aristoteles: Politik, I.2; ähnlich denken selbst
Skeptiker wie David Hume). Doch mit dieser Fest-
stellung fangen die Fragen erst an. Denn in welchem
Umfeld, in welcher Gemeinschaft Menschen leben,
ist nur zum Teil in ihr Belieben gestellt. Wir sind in
kleine und große Zusammenhänge hineingeboren
(›geworfen‹, so Martin Heidegger) und können, so-
weit sie über unser unmittelbares Umfeld hinausge-
hen, nur über den Umweg politischen Handelns Ein-
fluss auf diese nehmen (zum Glück in der Liebe s.
Kap. II.8). Damit entstehen die Fragen, in welchem
Maße es Aufgabe der Politik ist, die Gesellschaft auf
eine glücksförderliche Weise zu gestalten, und wie
das vorzustellen wäre.
Glück wird dabei traditionell nicht nur Indivi-
duen, sondern auch Gesellschaften zugesprochen
(etwa Staël-Holstein 1797). Dieses ›Glück einer Ge-
sellschaft‹ oder eines Landes (salus publicus, civic
oder public happiness, félicité publique, ›Gemeinwohl‹
oder general welfare genannt) ist von Bedingungen
abhängig, die – soweit sie zu beeinflussen sind – als
Aufgabe der Politik betrachtet werden können. Al-
lerdings ist der Zusammenhang zwischen individu-
ellem und gesellschaftlichem Glück nicht eindeutig.
Systematisch gibt es drei Wege, ihn zu betrachten:
Entweder steht das Glück der Gemeinschaft norma-
tiv höher und das Individuum muss sich unterord-
nen (1). Es zieht sein Glück dann aus dem Blühen
der Gemeinschaft (›Gemeinschaft‹ dient hier als
Oberbegriff, ›Gesellschaft‹ hingegen meint eine spe-
zifisch moderne Form der Vergemeinschaftung).
Oder das Individuum hat einen eigenen Glücksan-
spruch, ist jedoch auf das Blühen der Gemeinschaft
als Bedingung angewiesen (2). Individuum und Ge-
meinschaft können so nur zusammen ›glücken‹ (was
einzelne Unglücksfälle nicht ausschließt). Politische
9. Glück in Gesellschaft und Politik. Die fragilen Bedingungen gelingenden Lebens 93

Philosophie muss dann zeigen, wie beides möglich geht, wird daher schnell ideologisch, wenn Früchte
ist. Eine dritte Variante konstruiert schließlich einen gemeinsamen Aufwands aufgrund von Machtasym-
Gegensatz zwischen individuellem und kollektivem metrien nur von wenigen angeeignet werden (vgl.
Glück – wie die erste, nur mit umgekehrten Vorzei- Fehr/Schmitt 1999). Der Tod eines Soldaten, der für
chen: Das Glück der Individuen ist so nur unter Ver- einen Diktator oder eine kleine Elite in den Krieg
nachlässigung kollektiver Bemühungen denkbar (3). zieht, hat nur wenig Heroisches an sich. Zwar kön-
Diese drei Betrachtungsweisen lassen sich – wenn nen kulturelle Narrative auch ihm ein individuelles
auch nur grob – historischen Phasen des Denkens Glück im ›Jenseits‹ – oder zumindest ein Angeden-
über Glück zuordnen. Dabei ist die gegenwärtige Re- ken an sein heldenhaftes Leben – versprechen, doch
naissance politischer Konzeptionen des Glücks (im überzeugt dies aufgeklärte Menschen nicht mehr
Überblick vgl. Mann 2009; Bok 2010) als Rückwen- (Friedländer 1984). Auch wenn Arbeiter Einbußen
dung von der dritten zur zweiten Variante zu lesen. in Kauf nehmen müssen, um ihre Firma zu ›retten‹,
während Eigentümer und Manager sich Boni geneh-
Das ›höhere‹ Glück der Gemeinschaft migen, verliert der Vorrang des Gemeinwohls schnell
an Legitimität, und angesichts fehlender Gleichheit
Die Ausgesetztheit gegenüber Zufällen und Gefah- stellen Individuen eher ihr eigenes Wohlergehen in
ren der Natur (Unwetter, Dürren, wilde Tiere, Feinde den Mittelpunkt (›Jeder ist seines Glücks Schmied‹).
etc.) macht es nachvollziehbar, dass in der frühen Individualismus kann also auch eine Reaktion auf
Menschheitsgeschichte zunächst ein kollektives Den- fehlende Gleichheit sein und stellt damit keineswegs
ken dominierte (klassisch Durkheim 1912/2005); eine ›Naturgegebenheit‹ dar.
immerhin konnte ein Individuum nur in seiner Ein weiterer Faktor, der kollektivistische Positio-
Gruppe überleben. Daher kam es in manchen Kultu- nen heute problematisch macht, ist die Entwicklung
ren vor, dass alte Menschen in Notzeiten zugunsten der Privatsphäre, die in der Neuzeit zwar nicht er-
der Gemeinschaft aus dem Leben schieden. Das geht funden, aber doch größer wurde (Ariès 1989). Wie
nicht notwendig mit einer Missachtung des einzel- schon die Helden Homers veranschaulichen, ist In-
nen Lebens einher. Ethnologischen Forschungen dividualismus grundsätzlich mit Opfern für die
zufolge hatten viele frühe Gesellschaften vielmehr Gemeinschaft verträglich. Doch nimmt mit zuneh-
einen erstaunlich egalitären Charakter: Alle Indi- mendem individuellen Gestaltungsspielraum die
viduen konnten vom Gelingen des Gemeinschaftsle- Wertigkeit von Kategorien wie dem »Ruhm des Va-
bens profitieren, und es war verpönt, Eigentum oder terlandes« ab (Inglehart/Welzel 2005), wenn auch
Macht auf Kosten der Gemeinschaft anzuhäufen keineswegs automatisch. Wenn in individualisierten
(vgl. Sober/Wilson 1999; Woodburn 2005). Einem Gesellschaften organizistische Modelle der Gesell-
Jäger wäre es also kaum eingefallen, ein gejagtes Wild schaft (Spencer 1860) Selbstopfer der Individuen
für sich zu behalten oder damit gewinnbringend zu verlangen – ›Du bist nichts, dein Volk ist alles‹ –, ist
handeln. ›Glück‹ meint hier folglich nicht ›private‹ daher von einer »Reprimitivisierung« zu sprechen,
Erfüllung (von lat. privare: rauben), sondern gute Le- die Freiheitsspielräume zurücknimmt (Mannheim
bensbedingungen für alle. Dergleichen wurde später 1930/1996). In der Moderne ist es dem Glück der In-
»Wohlfahrt« oder »Gemeinwohl« genannt (Münkler dividuen zuträglicher, sich nicht vorschnell unterzu-
u. a. 2001). Der amerikanische Soziologe E. A. Ross ordnen und etwa sinnlose Kriege zu führen (vgl.
sah dieses Ideal in den »mining camps« von 1849 Feldhoff 1989).
verwirklicht (Ross 1901, 41 ff.), und Egalitaristen Gemeinschaftsethiken greifen oft auf Platon zu-
kennen solch kommunitäre Motive noch heute: Ein rück (so noch Badiou 2003), da schon er das Glück
Beispiel bei G. A. Cohen ist das Campen, bei dem auf der Ebene des Staates festmachen wollte. Ziel des
man in der Regel alles teilt (Cohen 2009). idealen Staates sei es, dass »nicht nur ein Stand aus-
Ein Gedanke lässt sich hier bereits festhalten: Ein nehmend glücklich wird, sondern, soweit das mög-
handlungsleitender Vorrang des Gemeinwohls ist lich ist, die ganze Stadt« (Politeia 420). Philosophisch
nur dann als glücksrelevant für die Individuen hin- vertritt Platon damit eine kollektivistische Konzep-
zustellen, wenn die entsprechende Gesellschaft nicht tion, zumal er später forderte, »daß die wahre Staats-
durch politische und soziale Ungleichheit ›zerrissen‹ kunst unbedingt zunächst das allgemeine Wohl und
wird, sondern Güter gemeinsam angeeignet werden. nicht das der Einzelnen im Auge haben muß – denn
Die Überzeugung, dass ›Gemeinwohl vor Eigennutz‹ das allgemeine Wohl hält die Staaten zusammen, das
94 II. Systematik des Glücksdenkens

Interesse der Einzelnen dagegen wirkt trennend« Selbstliebe (mit sofortiger Einschränkung): »Strebe
(Nomoi 875). Ihm stand der drohende Zerfall von nach deinem Besten, aber lasse dieses Streben ande-
Gesellschaften (stasis), der allein eine solche Vorord- ren so wenig wie möglich zum Nachteil gereichen«
nung berechtigen kann, noch nahe vor Augen. Doch (Rousseau 1755/1965, 152). Dieser Einschränkung
das erreichte Ausmaß individueller Freiheitsspiel- wird eine Minimierung des gesellschaftlichen Ver-
räume im Athen jener Zeit – zumindest für männli- kehrs am besten gerecht. Das Ideal heißt: individu-
che Bürger (Arweiler/Möller 2008) – ließ diese Posi- elle Autarkie.
tion bereits zu Platons Lebzeiten antiquiert erschei- Zweitens hat sich auch die Vorstellung von der
nen. Sein Schüler Aristoteles nahm daher eine Wirkweise der Gesellschaft verändert. Aufgrund ei-
vermittelnde Position ein, die bis heute beeindruckt. ner Idealisierung von Marktprozessen, die sich all-
Betrachten wir aber zunächst, gegen die Chronolo- mählich zu »entbetten« begannen (Polanyi 1944/
gie, die moderne Gegenthese, um anschließend die 2001), meinte man nun, dass sich durch das je indivi-
Konturen des vermittelnden Denkens besser hervor- duelle Streben nach Glück (pursuit of happiness) das-
treten zu lassen. jenige der Gemeinschaft wie von selbst einstellen
würde: Entweder, weil es – wie bei Jeremy Bentham
Das alleinige Glück des Individuums – nur aus der Summe der ›Einzelglücke‹ bestünde,
oder weil es einen mephistophelischen Mechanis-
Als Kronzeugen einer individualistischen Moderne mus gäbe, der die gesammelten Egoismen in einen
gelten Autoren wie Adam Smith oder Immanuel Nutzen der Gemeinschaft umwandle (jene »Kraft,
Kant. Das heißt nicht, dass ihnen das ›Glück‹ oder die stets das Böse will und stets das Gute schafft«;
›Wohl‹ des Gemeinwesens nicht am Herzen lag – Goethe: Faust I, Vers 1336). Smiths »unsichtbare
Smith thematisierte ja gerade den Reichtum der Nati- Hand« (Smith 1776/2000, 485) brachte diesen Ge-
onen, wobei ›Reichtum‹ und ›Glück‹ oft äquivok ge- danken prägnant auf den Punkt; bekannt war er je-
braucht wurden (Forster 1664; Malthus 1798/1992). doch schon zuvor. In einem Buch über die Glückse-
Doch hatte sich die Vorstellung vom Weg dorthin ge- ligkeit der Staaten versprach schon J.H.G. von Justi,
radezu umgekehrt. Smith wandte sich explizit dage- dass Individuum und Gemeinschaft gleichermaßen
gen, das Glück der Gemeinschaft überhaupt anzu- profitierten, würde den Individuen nur freier Lauf
streben, da dies nachteilige Folgen habe: »By pursu- gelassen: »die natürlichen Triebfedern, Bewegungs-
ing his own interest he [der Kaufmann] frequently gründe und Eigenschaften der Menschen sind also
promotes that of the society more effectually than beschaffen, daß daraus allemal die vortrefflichste
when he really intends to promote it. I have never Übereinstimmung, sowohl zur Wohlfahrt der einzel-
known much good done by those who affected to nen Familien, als zum gemeinschaftlichen Besten
trade for the public good« (Smith 1776/2000, 485). entstehet, wenn keine Hindernisse im Staat vorhan-
Hier hat sich zweierlei verändert: Erstens steht nun den sind, welche die natürliche Wirkung dieser
das Individuum normativ im Vordergrund. Das Dinge hemmen« (Justi 1760, 690; vgl. Henning 2008;
›bürgerliche‹ Prinzip, dass Eigennutz vor Gemein- Foucault 2004, Bd. I, 464 ff.).
nutz gehe, wurde von den Sozialisten bald heftig an- Nun war diese Glückspolitik nicht – oder nur sel-
gegriffen. So bemängelte der junge Marx an den libe- ten (Godwin 1793/1985) – anarchistisch. Ein regeln-
ralen Modellindividuen: »Das einzige Band, das sie der Staat wurde nach wie vor vorausgesetzt, nur
zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Be- sollte ihm die aktive und als »despotisch« empfun-
dürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ih- dene Sorge um das »Glück der Menschheit« abge-
res Eigentums und ihrer egoistischen Person« (Marx nommen werden (Forster 1794/1991, 88). Wilhelm
MEW 1, 366). Grundlage dieses Prinzips war die An- von Humboldt kleidete diesen Gedanken in die Un-
nahme, dass das radikal subjektiviert gedachte Glück terscheidung zwischen negativem und positivem
alleinige Sache der Individuen sei und jeder staatli- »Wohl der Bürger«: Der Staat dürfe nicht das »Glük
che Eingriff im Namen des Glücks despotisch werde: befördern«, er solle lediglich »Uebel verhindern«
»Niemand darf mich zwingen, auf seine Art […] (1792/1995, 70), also die Individuen vor Eingriffen
glücklich zu sein« (Kant 1793/1977, 145). Selbst der schützen und zugleich ein privatisierendes free-ri-
junge Rousseau, der wenig später den Republikanis- ding Einzelner auf Kosten der Gemeinschaft (getrie-
mus erneuerte, verwarf die Orientierung an den Er- ben durch pleonexia, dem Streben nach immer mehr;
wartungen Anderer und propagierte eine Ethik der 94) unterbinden.
9. Glück in Gesellschaft und Politik. Die fragilen Bedingungen gelingenden Lebens 95

Diese empfindliche Balance hängt natürlich auch terstützt, was er kritisiert (vgl. Thomä u. a. 2011).
davon ab, was als Übel bestimmt wird. Es ist ein Doch muss man keineswegs zwischen diesen beiden
Kennzeichen des liberalen Individualismus von Kant Übeln wählen, es gibt ja noch eine dritte Position.
bis Hayek, dass wirtschaftliche Einschränkungen
Einzelner nicht als Übel gelten, da niemand sie je-
mandem willentlich zufügt. Diese Leerstelle wurde Das Glück von Individuum
bei Green durch die Idee einer »positiven Freiheit« und Gemeinschaft: Aristotelische Anfänge
korrigiert, deren Ermöglichung eine Aufgabe sozial-
staatlicher Politik sei (Green 1881/1969; bereits John Kollektivistische Ansätze passen nicht recht in die
Dewey sprach dabei von »real freedom«, Dewey/Tuft Moderne, weil sie dem Eigenwert des Individuums
1908/1978, 473; vgl. Van Parijs 1995, 28). nicht gerecht werden. Rein individualistische An-
Das François Guizot zugeschriebene Motto ›Be- sätze hingegen laufen sich tot, da die Bedingungen
reichert euch!‹ gibt dieses Denken also nicht falsch, individuellen Glücks nicht selbst wieder individuell
sondern nur verkürzt wieder. Was im Zuge der Ver- sind und daher durch Individualismus allein nicht
kürzung unkenntlich wird, sind die Grenzen der Be- garantiert werden können. (Zudem geht der Libera-
reicherung, die selbst Adam Smith gezogen hat; dazu lismus implizit von der Existenz privilegierter Grup-
gehörten auch Marktschranken (»the liberty, reason, pen aus, was den Zugang zu den gewährten Frei-
and happiness of mankind, […] can flourish only heiten sehr ungleich gestaltet.) Welche vermittelnde
where civil government is able to protect them«; Position gibt es nun?
Smith 1776/2000, 862). Infolge dieser Verkürzung Platons kollektivistische Sicht auf das Glück der
lässt sich eine Privatisierung öffentlicher Glücksgü- Gemeinschaft, das nicht nur eine starre hierarchi-
ter selbst dann als gemeinwohlförderlich darstellen, sche Gliederung, sondern z. B. auch gemeinsame
wenn nur Verluste ›sozialisiert‹ und Gewinne privat Mahlzeiten vorsah, wurde bereits von seinem Schü-
angeeignet werden. In solchen Fällen erweist sich die ler Aristoteles relativiert. Den Grund der Differenz
Annahme einer automatischen Verwandlung indivi- sieht Aristoteles im Verständnis des Glücks Aller:
duellen Glücks in gemeinschaftliches Glück durch »Das Wort ›alle‹ ist nämlich doppelsinnig. Soll es
Marktprozesse (Variante 2) als eine wenig plausible heißen: jeder einzelne, so möchte, was Sokrates erst
ad-hoc-Annahme. Das vermittelnde Denken (Vari- bewirken will [den Gemeinbesitz; vgl. Politeia 462c;
ante 3) versucht daher, diese Verwandlung institutio- d. Verf.], vielmehr schon vorhanden sein« (Aristote-
nell sicherzustellen. les: Politik 1261b 20) – dann nämlich, wenn jeder
Der liberale Freibrief für ein individuelles Streben Einzelne seinen Besitz habe. Im Fall kollektiven Be-
nach Glück blieb also nicht unwidersprochen, ja es sitzes können hingegen nur »alle zusammen« von
konnte sogar als Ursache neuer Übel begriffen wer- ihrem Besitz reden, »aber nicht jeder von ihnen, so-
den. Für konservative Autoren beispielsweise galten fern er für sich spricht« (1261b 27).
Ehe, Familie, Religion und Vaterland als höhere Wenn bei Aristoteles das Individuum gegenüber
Werte, die durch individuelle Ziele bedroht würden. dem Staat »für sich« sprechen soll (eine frühe Form
Aus dieser Sicht mehrte die Individualisierung nicht der Mündigkeit), dann hat es einen deutlichen Ei-
das Glück, sondern eher das Unglück: »Weit ausein- genwert. Der Staat darf die Eigenheiten der Men-
ander bauen sie die ländlichen Wohnungen […] da- schen daher nicht aufheben oder angleichen (»die-
mit jeder bequem und produktiv im Mittelpunkt sei- selben sind auch der Art nach verschieden; aus ganz
ner Grundstücke wohne, zerschneiden sie die natür- gleichen Menschen kann nie ein Staat entstehen«,
lichen Bande der nachbarlichen Geselligkeit und 1261a 24). Aristoteles kritisiert also den Kollektivis-
zerstören alle die höheren Erzeugnisse, welche von mus Platons, doch er wechselt darum nicht in das in-
diesem Bande abhängen« (Müller 1809/1991, 273). dividualistische Lager. Vielmehr fordert er für die
Diese Kritik ist noch heute zu finden, etwa an der Politik »Gleichheit« und ausgleichende Gerechtig-
›Gier der Manager‹. Doch droht hier ein Dilemma: keit, denn erst diese hielten die Gemeinschaft zu-
Entweder weist diese Kritik auf die wenig attraktive sammen (1261a 31). Diese dritte Position ist also be-
kollektivistische Ethik zurück (Variante 1), oder sie strebt, sich mit Platon für das Glück der Gemein-
ist selbst nur ein versteckter Individualismus (Vari- schaft einzusetzen, dabei aber gegen Platon das je
ante 2), der soziale Beziehungen als individuelle Res- eigene und unabgeleitete Glück der Individuen zu
sourcen instrumentalisiert und damit genau das un- wahren. Beides tritt gleichrangig nebeneinander, und
96 II. Systematik des Glücksdenkens

das ist Aristoteles’ Vermächtnis für nachfolgende Diese Konstellation blieb für Europa bis in die
Glücksphilosophien (Ricken 2004, 88 ff.). Neuzeit, stellenweise sogar bis ins 20. Jahrhundert
Die Frage ist nun, wie Glück der Individuen und prägend (klassische Bildung bestand ja vor allem in
Glück der Gemeinschaft genau zu vermitteln sind. der Kenntnis lateinischer ›Klassiker‹; vgl. Faber
Bei Aristoteles sieht dies einfach aus: er meint, dass 1975). In ihr konnte es dem individuellen Glück zu-
sich beide Glückstypen durch ähnliche Maßnahmen träglicher sein, sich von den politischen Weltläuften
fördern ließen (»Daß also für den einzelnen Men- abzukoppeln oder sich zumindest emotional davon
schen wie für die Staaten […] dasselbe Leben das unabhängig zu machen, wie am stoischen Glücks-
beste sein muß, liegt amtage«; Politik 1235b 30). Es ideal des Gleichmuts (ataraxia) deutlich wird. Das
gibt also Glücksgüter, die dem Glück der Individuen sich ausbreitende Christentum tat das seine hinzu:
und des Staates zugleich förderlich sind; etwa eine Es lieferte eine zusätzliche Rechtfertigung, das ›Glück
ausreichende Versorgung mit äußeren Gütern (die des Staates‹ von den Individuen zu entkoppeln und
jedoch kein Selbstzweck werden darf), eine politi- zur Sache der Herrscher (oder ›Lenker‹, wie noch
sche Selbstregierung (die das individuelle Leben wie Heidegger sagte) zu machen, die dafür einen göttli-
das der Gemeinschaft erblühen lässt) sowie genü- chen Auftrag hätten. Thomas von Aquin etwa konnte
gend Freizeit und Bildung, um einer ›höheren Muße‹ sagen: »die Aufgabe des Königs ist [es], das Wohl der
nachgehen zu können (s. Kap. II.2).Vor allem aber Gesellschaft zu suchen«, und dafür dürfe er »seinen
geschehe dies durch Erziehung zur Tugend, denn das Lohn von Gott« erwarten (Thomas von Aquin
als Glück vorgestellte Ziel des individuellen wie des 1256/1981, 27, 31). Das musste natürlich ein höherer
politischen Lebens sei das »Leben nach der Tugend Lohn sein als der für die gewöhnlichen Sterblichen,
[…], die der äußeren Mittel genug besitzt, um sich in sonst wäre es ja kein ›Anreiz‹, ein guter Herrscher zu
tugendhaften Handlungen betätigen zu können« sein. Hier wird also eine glückshinderliche Ungleich-
(1324a 1). heit religiös legitimiert.
Obgleich Aristoteles’ Vermittlung einfach aussah, Auf der anderen Seite wurde das Glück der Indivi-
erwies sich die Bedingung, unter der allein sie mög- duen auf ihr Seelenheil ausgerichtet und so entwelt-
lich war – die attische Demokratie – als Sonderfall licht (ein »Akosmismus«, wie es Max Weber mit He-
(und selbst hier war sie nur für wenige möglich). Es gel nannte; vgl. Weber 1920/1988, 545). Damit war es
folgte Alexanders Imperialismus, und auch das Rö- entpolitisiert, wie etwa an Martin Luther ersichtlich:
mische Reich bediente sich seit der Kaiserzeit auto- »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht al-
kratischer Herrschaftsformen. Wenn hier vom Glück ler Dinge und jedermann untertan« (Luther 1520/
der Gemeinschaft die Rede war, war es Sache der 1924, 295). Die antike Glücksquelle einer politischen
Herrschenden, dafür zu sorgen. Römische Münzen Selbstregierung ist ausgetrocknet. In dieser Konstel-
mit der Inschrift felicitas publica trugen das Konter- lation hatte die liberale Glückskritik ihre Berechti-
fei des Herrschers (McMahon 2006, 69). Das hatte gung; sie wandte sich gegen eine entmündigende
zur Folge, dass das Glück der Individuen etwa in der Vor- und Fürsorgepolitik, die die Freiheit der Bürger
Philosophie der Stoa und der Epikureer privater ge- nicht achtete: »eine väterliche Regierung (imperium
zeichnet wurde. Zwar blieb für Angehörige höherer paternale), wo also die Untertanen als unmündige
Schichten das Regieren eine glücksrelevante Tätig- Kinder […] sich bloß passiv zu verhalten genötigt
keit – Cicero etwa bezeichnet die »Lenkung des Staa- sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß vom dem
tes« als Gipfel sittlicher Vollkommenheit (Cicero: De Urteile des Staatsoberhaupts […] zu erwarten, ist der
re publica, 89). Allerdings ist dies keine Selbstregie- größte denkbare Despotismus« (Kant 1793/1977,
rung der Gemeinschaft mehr wie bei Aristoteles. 145 f.; s. Kap. V.3; vgl. Rawls 1993, 190 f.). Die vermit-
Glück wird oben ›erzeugt‹ und unten passiv empfan- telnde dritte Position sah also theoretisch einfach
gen. Cicero ist sogar stolz darauf, dass sein politi- aus, doch praktisch war sie nicht leicht zu haben.
sches Engagement »Ruhe als gemeinsamen Besitz Eine ganze Reihe von Faktoren – allen voran Unfrei-
für alle übrigen« gebracht habe (95). Aktives und heit und Ungleichheit – standen ihr entgegen.
passives politisches Glück sind also säuberlich nach
Ständen getrennt (und der ›Frieden‹, den die Herr-
scher versprachen, konnte allzu oft als Vorwand für
einen Krieg dienen – die pax romana ist dafür gera-
dezu sprichwörtlich; man denke auch an Hobbes).
9. Glück in Gesellschaft und Politik. Die fragilen Bedingungen gelingenden Lebens 97

Das Glück von Individuum und Gemein- gion wurde irdisches Glück im 18. Jahrhundert (vor-
schaft: Der normative Katalog der Moderne bereitet u. a. durch John Locke) nicht länger als Hin-
dernis, sondern als Vorstufe der ewigen Seligkeit in-
Diese paternalistische Konstellation brach im 18. terpretiert; militärisch war das 18. ein vergleichsweise
Jahrhundert auf, und so konnte Antoine de Saint- ruhiges Jahrhundert, und ökonomisch hatte sich
Just 1794 vor dem Pariser Konvent sagen: »Das durch die Ausbreitung von Handel und technischem
Glück ist eine neue Idee in Europa« (Saint-Just 2004, Fortschritt (was sich in ein Mehr an Waren bei weni-
673; s. Kap. V.8 und V.11). Zwar hatte sich schon im ger Arbeitsaufwand übersetzte) bereits die »Kon-
Reformationsdenken eine individualistische Per- sumgesellschaft« angekündigt, in der man zuvor un-
spektive Bahn gebrochen, die dem Eigennutz einen geahnte »Lüste« einfach kaufen konnte – etwa Kolo-
Vorrang vor dem Gemeinwohl einräumte und damit nialwaren, aufwendige Kleidung oder Unterhaltung
dem entstehenden »Geist des Kapitalismus« zuarbei- wie einen Besuch im »Lustgarten« (McMahon 2006,
tete (Biehler 2009). Doch erst die Aufklärung machte 197 ff.; s. Kap. VIII.9). Zudem hatte schon die italie-
das Glück der Menschen wieder zu einem Haupt- nische Renaissance die republikanische Selbstregie-
thema, mit großen Folgen für die Politik. Diese auf- rung wiederentdeckt, die ein politisiertes Glücksver-
klärerischen Glücksideen unterschieden sich zwar in ständnis transportierte (Arendt 1963/1990, 115 ff.).
verschiedenen Ländern (vgl. Mauzi 1960 zu Frank- Die Aufklärung insistierte nun darauf, dass weni-
reich; Engelhardt 1981 zu Deutschland; Bruni 2006 ger Glück verwirklicht sei als prinzipiell möglich
zu Italien; zur Aufklärung als Gesamtphänomen vgl. wäre, da in vielen Regierungen noch an veralteten
Israel 2006), doch gab es einen gemeinsamen Kern: Methoden festgehalten werde und ein obrigkeitlich-
Das Glück war, kurz gesagt, in den Bereich menschli- verzopftes und lustfeindliches Denken herrsche. Je-
cher Machbarkeit geraten. Da es einmal als möglich der aber habe »das Recht, auf seine Weise glücklich
erschien, konnte es nicht länger künstlich verknappt zu werden« (Diderot/D’Alembert 1751–60/1972,
werden. Es wurde daher zur legitimen Forderung, 171). Die historisch neuen Glücksquellen führten so
möglichst viel davon zu gewähren, auch in der Poli- zu neuen Forderungen an die Politik. Diese finden
tik, als deren Zweck und Ziel – wie einst bei Aristote- sich in politischen Glücksphilosophien verschie-
les – das Glück der Menschen galt: »Die Menschen dener Länder lediglich in unterschiedlichen Mi-
haben sich nur deshalb zur Gesellschaft zusammen- schungsverhältnissen. Dieses europäische ›Projekt
geschlossen, um glücklicher zu sein; die Gesellschaft der Moderne‹ verdichtet sich in vier Kernpunkten:
hat sich nur deswegen Souveräne gewählt, um wirk- Wenn es möglich ist, allen mehr Glück zu gewäh-
samer für ihr Glück und ihre Erhaltung zu sorgen« ren (›das größte Glück für die größte Zahl‹, wie es
(Diderot/D’Alembert 1751–60/1972, 949). Leibniz in Deutschland, Francis Hutcheson in
Solche Wendungen gibt es in verschiedenen Strö- Schottland, Cesare Beccaria in Italien, Helvétius in
mungen, etwa bei Chastellux (»Every authority that Frankreich und Bentham in England ausdrückten;
is not exercised for the happiness of all can only be vgl. McMahon 2006, 212), ist es nicht länger zu recht-
founded on imposture and force«; Chastellux 1772, fertigen, Menschen durch politische Unterdrückung
II.10, nach McMahon 2006, 217), bei Godwin (»The daran zu hindern. Glück erfordert also erstens Frei-
true object of moral and political disquisition is plea- heit. Hatte bereits John Locke Toleranz zu einer we-
sure or happiness«; Godwin 1793/1985, 75) oder sentlichen Bedingung individuellen Glücks erklärt
Robert Owen (»The end of government is to make (»everyone does not place his happiness in the same
the governed and the governors happy«; Owen thing«; Locke 1689/1975, 268; ähnlich noch Kant), so
1813/1993, 77). Erfüllten Regierungen diese Aufgabe wurde diese Tendenz durch die ökonomische Ein-
nicht oder zu wenig, verlor ihre Herrschaft an Legiti- sicht gefördert, dass der gesellschaftliche Reichtum –
mität und es konnte zur Revolution kommen. So ar- die Quelle des Genusses – anstieg, je mehr Freiheit
gumentierte die Unabhängigkeitserklärung der USA den Menschen gelassen werde. Dies war schon den
von 1776 mit dem Recht auf ein ungehindertes »pur- ›Policeywissenschaften‹ bekannt: »Es ist gemeinig-
suit of happiness« unter der bezeichnenden An- lich weiter nichts nöthig, als daß die Regierung die
nahme, dieses Recht sei »self-evident« (McMahon Hindernisse aus dem Wege räumet, welche die freye
2006, 313 ff.; s. Kap. V.2). Wirkung dieser Triebfedern aufhalten« (Justi 1760,
McMahon hat die historischen Voraussetzungen 690; gemeint sind »Eigenliebe« und »Verlangen nach
für diesen Wandel treffend beschrieben: In der Reli- dem Vorzuge«). Natürlich muss dann die Ausformu-
98 II. Systematik des Glücksdenkens

lierung dieses Glücks bei den Individuen liegen, was durch ein erbliches Prärogativ […] nicht im Wege
in der Konsequenz zu einer Formalisierung führt stehen, um ihn und seine Nachkommen unter dem-
(Sumner 1996). selben ewig niederzuhalten« (Kant 1793/1977,
Als ein Bollwerk dieser Freiheit, zumal in Verbin- 147 f.). Es kann also im Interesse des Glücks angera-
dung mit der sich »entbettenden« Wirtschaft, gilt ten sein, Bedingungen dieses Glücks (etwa das glei-
zweitens die Möglichkeit, durch eigene Arbeit Eigen- che Recht auf Eigentum) politisch zu garantieren.
tum zu erlangen und zu behalten (McMahon 2006, Deutlicher als Kant hat Helvétius diesen Punkt
317 f.). Wenn große Teile eines Landes im Besitz we- ausbuchstabiert. Es geht nicht primär um wirtschaft-
niger sind, ist dies eine radikale Forderung (wie die liche Gleichheit, was eine unmögliche Forderung
brasilianische Landlosenbewegung noch heute wäre (»Keine Gesellschaft, in der alle Bürger gleich
zeigt). Sie konnte etwa dazu führen, dass republika- an Macht und Reichtum sein können«; Helvétius
nische Politiker wie Thomas Jefferson im Interesse 1772/1972, 362), wohl aber um ein gleiches Recht auf
des kleinen Landbesitzes die Industrialisierung ab- Glück. Die Sache ist einfach: »Haben alle Bürger ir-
lehnten, da sie der breiten Streuung des tugend- und gendwelches Eigentum, befinden sie sich in einem
glücksförderlichen Eigentums entgegenwirke (San- gewissen Zustand der Wohlhabenheit und können
del 1996, 123 ff.). Die Forderung nach einem Recht sich durch einen Arbeitstag von sieben oder acht
auf Eigentum ist also modern, aber nicht uneinge- Stunden ihre Bedürfnisse und die ihrer Familie im
schränkt kapitalistisch (der Frühsozialismus etwa Überfluss befriedigen, dann sind sie so glücklich, wie
forderte zunächst ›gleiches Eigentum‹). Selbst Adam sie nur sein können« (362). Eine massive soziale Un-
Smith sah das Streben nach immer mehr individuel- gleichheit steht diesem Recht entgegen, folglich gelte
lem Reichtum nicht als Weg zum Glück, sondern es, sie zu verringern.
vielmehr als »deception« an (»wealth and greatness Diese Umverteilung ist ohne Glückseinbußen
are mere trinkets of frivolous utility«; Smith möglich, denn: »Das Maß unseres Reichtums ist
1759/2006, 179). Es sei aber zu begrüßen, weil die nicht […] das Maß unseres Glücks« (366). Damit
kindische Eitelkeit der Individuen zum Glück der wäre sowohl den reichen wie den armen Bürgern ge-
Gemeinschaft beitrage: »A revolution of the greatest dient, wie Helvétius – erstaunlich aktuell – ausführt:
importance to the public happiness, was in this man- »Ein geringes Vermögen reicht zum Glück des täti-
ner brought about by two different orders of people, gen Menschen aus [und zu den Tätigkeiten zählt
who had not the least intention to serve the public. auch die Teilhabe an der Regierung, d. Verf.]. Das
To gratify the most childish vanity was the sole mo- größte reicht nicht aus zum Glück eines Müßiggän-
tive of the great proprietors. The merchants and arti- gers. Zehn Dörfer müssen zugrundegerichtet wer-
ficers, much less ridiculous, acted merely from a view den, um einen Müßigen zu vergnügen« (371). Die
to their own interest, and in pursuit of their own »allzu ungleiche Verteilung des Reichtums« führe
pedlar principle of turning a penny wherever a also dazu, dass die Einen »nur durch exzessive Arbeit
penny was to be got« (Smith 1776/2000, 447 f.). für ihre Bedürfnisse sorgen« können, während die
Eine dritte Forderung der neuen Glücksphiloso- anderen in ihrem Überfluss von der »Langeweile«
phie an die Politik ist die Gleichheit. Zwar ist diese geplagt würden: »ein fast ebenso schreckliches Übel
verschieden auszulegen, doch klar ist, dass diese For- wie die Armut« (367), das zu einem »übermäßigen
derung in der Aufklärung über die rein formale Wunsch nach Reichtum« führe (370).
Rechtsgleichheit (die bereits eine radikale Forderung Die Bindung des Glücks an das Maßhalten, die
sein kann, heute etwa erhoben von Alain Badiou) schlechte Unendlichkeit des Strebens nach Reichtum
weit hinausgeht. So folgerte selbst der gemäßigte sowie die zentrifugalen Kräfte großer Ungleichheit
Kant aus der Rechtsgleichheit als apriorischen Prin- sind klassisch republikanisches Gedankengut und
zips des bürgerlichen Zustands eine weitergehende waren schon Aristoteles (Politik I.9, IV.11, VII.1) und
Forderung nach Chancengleichheit: »Aus der Idee Rousseau bekannt (Rousseau 1755/1965; vgl. Ander-
der Gleichheit der Menschen im gemeinen Wesen son 2008). Die neuere Glücksforschung hat wieder-
[…] geht nun auch die Formel hervor: Jedes Glied entdeckt, dass soziale Ungleichheiten zu Unduld-
desselben muß zu jeder Stufe eines Standes […] ge- samkeit und übersteigerten Ansprüchen oben, zu
langen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und Distinktions- und Abstiegsstress in der gesellschaft-
sein Glück [im Sinne der fortuna, d. Verf.] hinbrin- lichen »Mitte« und zu Defiziten in Gesundheit und
gen können, und es dürfen ihm seine Mituntertanen, Bildung unten führen (Wilkinson 2005). Soziale Un-
9. Glück in Gesellschaft und Politik. Die fragilen Bedingungen gelingenden Lebens 99

gleichheit tut niemandem gut, weder den Individuen Wirtschaftsliberalismus mit seinem Bildungselitis-
noch der Gemeinschaft, und ist im Interesse des mus ist. Die politische Philosophie ist darum weiter-
Glücks zu verurteilen. hin um ein Gleichgewicht aus kulturellem und wirt-
Eine vierte politische Forderung der Aufklärung schaftlichem Liberalismus, Egalitarismus und Per-
in Sachen Glück ist die Förderung des menschlichen fektionismus bemüht (vgl. Nussbaum 2003).
Blühens (»flourishing«; Kraut 2007, 131 ff.). Dieser
Perfektionismus findet sich sowohl bei Christian Das Glück von Individuum und Gemein-
Wolff, für den der Begriff der ›Vollkommenheit‹ zen-
schaft: Neue Probleme, neue Disziplinen
tral ist (Schwaiger 1995; Rüdiger 2010), wie im fran-
zösischen und englischen Denken, etwa bei Condor- An dieser Stelle lässt sich noch keine Summe ziehen.
cet oder Rousseau (Marks 2005), den Denkern der Denn auch wenn das 18. Jahrhundert die normative
»perfectibilité«, oder bei Ferguson, Godwin und Problematik der Moderne ans Licht gebracht hat,
Franklin. Das Glück ist hier nicht bestimmt durch waren die folgenden Jahrhunderte alles andere als
möglichst viel Genuss oder Selbstaufopferung, son- eine »Verwirklichung der Philosophie« (Marx MEW
dern durch ein Leben in erfüllenden Tätigkeiten und 1, 391). Was stand dem entgegen? Es lässt sich in der
›beglückenden‹ Gemeinschaften. Ausgedrückt wird Folge beobachten, wie eine Orientierung am Glück
dieser Gedanke auch bei dem Freimaurer Adam allmählich aus dem Horizont der politischen Philo-
Weishaupt: »Die ungehinderte Thätigkeit unseres sophie verschwand (klassisch dazu Maier 1966). Ei-
Geistes, die Glückseligkeit, welche aus der Vollkom- nerseits war es durch zu breite Verwendung zu unbe-
menheit, aus der höchsten Entwicklung unserer hö- stimmt geworden – bereits Kant hatte ja moniert,
heren Kräfte entspringt, […] wird daher ausschließ- »daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbe-
licherweise das höchste Gut des Menschen, und der stimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu
Maßstab aller übrigen Güter sein« (Weishaupt 1797, dieser zu gelangen wünsche, er doch niemals be-
III, 101). Aus dieser Perspektive kann es zur politi- stimmt […] sagen kann, was er eigentlich wünsche
schen Aufgabe werden, diese Entwicklung zu ermög- und wolle« (Kant 1785/1977, 47), und Bentham hatte
lichen und zu fördern, soweit es die anderen Forde- 54 voneinander abweichende Ausdrücke für »happi-
rungen (Freiheit, Gleichheit und Sicherung eines ness« gefunden (McMahon 2006, 219). Andererseits
auskömmlichen Eigentums) zulassen. Der politische war das Glück im Kontext der Politik in den Ruf des
Perfektionismus ist solange mit dem Liberalismus Despotismus gekommen. Das war sowohl durch den
und dem Egalitarismus verträglich, wie verschiedene Fokus der älteren Polizeywissenschaften auf dem
Möglichkeiten der Entwicklung offengehalten und Fürsten (darauf führt Kaufmann 1999, 36 ff. Kants
ohne Zwang gefördert werden (Henning 2009). Wil- Glücksskepsis zurück) wie durch die befremdliche
helm von Humboldt, der eigentlich mit dem perfek- Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechten
tionistischen Grundsatz die »positive« Tätigkeit des auf Seiten des Utilitarismus begründet (Bentham
Staates zugunsten des Glücks der Bürger einschrän- nannte sie »Unsinn auf Stelzen«; vgl. McMahon 2006,
ken wollte (Humboldt 1792/1995, 70), konnte daher 217). Dies ließ es – wie in der Eugenikbewegung
später zu einem wichtigen Akteur der preußischen nach Francis Galton – denkbar erscheinen, das Glück
Bildungspolitik werden. der Gemeinschaft auf Kosten Einzelner zu ›erzeu-
Diese vier Forderungen sind noch nicht die Lö- gen‹.
sung der Probleme der Moderne. Sie stellen aller- Man kann nun das Glück als Klammer begreifen,
dings die Aufgabe normativ klar heraus: Solange die die den normativen Aufgabenkatalog der Aufklä-
politische Selbstregierung einer Gesellschaft um das rung zusammenhält (Henning 2008; vgl. Geuss
Glück der Bürger besorgt ist, gilt es, zwischen diesen 2004). Fehlt diese Klammer, können die Werte ge-
vier Forderungen (Freiheit, Gleichheit, freier und geneinandergestellt werden. Genau dies geschah im
gleicher Zugang zu Eigentum und die bestmögliche 19. Jahrhundert, als der Kapitalismus, der sich die
Entwicklung der Bürger) ein Gleichgewicht herzu- zwei Werte der Freiheit und des Eigentums auf die
stellen. Dem Glück abträglich ist es, eine dieser Sei- Fahnen schrieb, in der Industrialisierung begann, ge-
ten zu verabsolutieren. Das war bei der Uniformie- gen die soziale Gleichheit und das Bildungsverspre-
rung im Realsozialismus ebenso zu beobachten, wie chen zu wirken. Bereits Bentham legte die prinzipi-
es das in einer wohlmeinenden Erziehungsdiktatur elle Rangordnung der Liberalen fest: »When security
wäre oder wie es das heute im radikal ungleichen [vor allem die Sicherung des Eigentums] and equa-
100 II. Systematik des Glücksdenkens

lity are in opposition, there should be no hesitation: Kritik Max Stirners am Kollektivismus der Junghe-
equality should give way« (Bentham 1786, Kapitel gelianer (›Volks-Glück = Nicht Mein Glück‹ hatte
11; Hervorhg. d. Verf.). Stirner geschrieben; MEW 3, 260; s. Kap. V.5) zu
Die Kritik, die schon lange vor Marx am Kapitalis- durchaus individualistischen Positionen (Henning/
mus geübt wurde, stellte sich konsequent hinter die Thomä 2009). Dennoch ließ er den Glücksbegriff
anderen beiden Werte. Einerseits, hieß es nun, führe fallen. In der Folge hat dieser seinen Rang in der kri-
der Kapitalismus zu einer ›Entfremdung‹ der Men- tischen Theorietradition nur gelegentlich gehalten
schen (so bereits Thomas Carlyle, nicht zuletzt be- (etwa in der Konsumkritik, vgl. Scitovsky 1976/
einflusst von Hegel und Goethe) und hintertreibe 1992; s. Kap. VI.7).
damit ihre Entwicklung; andererseits beute er die Erst mit der neueren Glücksforschung (s. Kap.
Arbeiter aus und erzeuge damit soziale Ungleichheit. VIII.6 und VIII.7) ist eine Kritikvariante zurückge-
Die Werte der Gleichheit und der Selbstvervoll- kehrt, die das Glück der Individuen in den Mittel-
kommnung werden im Namen des Glückes gegen punkt stellt, ohne die negativen Effekte der indi-
den Kapitalismus gewandt. Wie schon in der Aufklä- vidualisierten Gesellschaft und ihrer intendierten
rung wird eine »equal distribution of the means of Nichtintendierung des Gemeinwohls zu übersehen.
happiness to all« (Gray 1825, 6; vgl. Owen 1813/1933) Sie konnte zeigen, dass privat angeeignete wirtschaft-
sowie eine breitere Partizipation der Bevölkerung an liche Zuwächse sich irgendwann nicht mehr in zu-
Kultur und Bildung gefordert – nicht nur in ihrer sätzlich empfundenes Glück übersetzen, und dass
Aneignung, auch in der Erarbeitung einer »Wissen- weniger ›entwickelte‹ Länder mit weit weniger Ein-
schaft vom Glück« (Thompson 1824, I, 9 f., 362 ff.; kommen ähnliche Glücksniveaus erreichen können
die Sozialdemokratie setzte sich später ebenfalls für wie reiche Länder (Layard 2005). In reichen Ländern
Arbeiterbildung ein). Schon Adam Ferguson hatte hört nicht nur das subjektiv empfundene Glück zu
den Zusammenhang zwischen den Kritikpunkten steigen auf, zugleich sammelt sich eine negative Bi-
bemerkt: Da mit der sozialen Ungleichheit die Gier lanz an: Aggressivität, Fettleibigkeit und Magersucht
nach Reichtum zunehme (siehe Helvétius), führe sowie Depressionserkrankungen nehmen gerade in
dies zu einer Verzerrung der perfektionistischen individualisierten Gesellschaften zu (Rustin 2007).
Ethik (später ›Verdinglichung‹ genannt), weg vom Wachsende Zeitarmut, Konsumismus, die Erosion
Menschen, hin zu Gütern: »we have transferred the sozialer und ökologischer Ressourcen und ein Ge-
idea of perfection from the character to the equi- fühl von Sinnleere und Entfremdung sind die sozia-
page« (Ferguson 1767, VI.3). len Kosten (Hirsch 1976/2005; Bauman 2008).
Die Kategorie des Glücks ist allerdings auch aus Ein Denken, das methodologisch und normativ
dem Gegendiskurs allmählich verschwunden (s. nur Individuen kennt, kann solche Pathologien
Kap. VI.7). Vielleicht lag das an der konsequenten schwer erklären, denn gerade das Abblenden sozialer
Vermeidung dieses Wortes bei Karl Marx, der eine Bezüge und Effekte hat ja ihre Entstehung begüns-
Abneigung gegenüber unklaren Worten hatte, die in tigt. Der soziale Imperativ, sich selbst zu verwirkli-
der Praxis alles Mögliche bedeuten konnten – chen und besonders glücklich sein zu müssen, po-
›Glück‹ war ja durch Gleichheit und Selbstverwirk- tenziert den Identitätsstress in der flexibilisierten
lichung ebenso codiert wie durch bürgerliche Frei- Moderne eher als dass er ihn mindert (Ehrenberg
heit und Sicherung des Eigentum (zur Kritik an der 2004; Illouz 2006) – es gibt also keinen individualis-
vagen Glückssemantik vgl. Marx MEW 3, 460 ff.). tischen Ausweg aus den Kehrseiten des Individualis-
Nur in seiner Anfangsphase sprach er wie die Auf- mus, auch nicht in der Lebenskunst (die nur Symp-
klärung von der Verhinderung möglichen Glücks tome kuriert, solange sie die soziale Dimension
durch falsches Denken, nicht nur in der Religion ausblendet; vgl. Kersting/Langbehn 2007). Daher
(»Die Aufhebung der Religion als des illusorischen kommt es im Zuge der Glücksforschung zu einer
Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirkli- Wiederkehr politischer Konzeptionen des Glücks.
chen Glücks«; MEW 1, 378 f.), sondern auch in der Die Rückkehr der Glücksforschung koinzidiert
politischen Ökonomie. Doch wurde Marx durch die nicht zufällig mit der Wendung des ordnungspoli-
(implizite) Parteinahme für Gleichheit und Perfek- tisch ›gezähmten‹ Kapitalismus zu einer ungehemm-
tionismus und gegen die Phrasen von »Freiheit« ten Marktausweitung, auch in Bereichen, die vormals
und »Eigentum« (MEW 23, 190) keineswegs zum aus guten Gründen kulturpolitisch oder sozialstaat-
vormodernen Kollektivisten. Vielmehr trieb ihn die lich geschützt worden waren. Wenn heute die Wich-
9. Glück in Gesellschaft und Politik. Die fragilen Bedingungen gelingenden Lebens 101

tigkeit politischer Mitbestimmung (Frey/Stutzer Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiö-
2000; Lane 2000, 231 ff.), sozialer Gleichheit (Wil- sen Lebens [1912]. Frankfurt a. M. 2005.
kinson 2005; Layard 2005, 135 f.) und der persönli- Dutt, Amitiva K./Radcliff, Benjamin (Hg.): Happiness,
chen Entwicklung (»flourishing«; Kraut 2007; Hay- Economics and Politics. Towards a Multi-Discipli-
bron 2008, 177 ff.) für das Glück wiederentdeckt nary Approach. Cheltenham 2009.
wird, kann man darin eine berechtigte Rückwen- Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression
dung von der primär individualistischen zur einer und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M./
›vermittelnden‹ Glücksphilosophie sehen, die indivi- New York 2004.
duelle und gesellschaftliche Bedingungen des Glü- Engelhardt, Ulrich: Zum Begriff der Glückseligkeit in
der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts
ckes wieder stärker aufeinander bezieht (synoptisch
(J.H.G. v. Justi). In: Zeitschrift für historische For-
vgl. Dutt/Radcliff 2009; Posner/Sunstein 2010).
schung 8 (1981), 37–79.
Faber, Richard: Die Verkündigung Vergils. Reich – Kir-
Literatur che – Staat: Zur Kritik der ›politischen Theologie‹.
Anderson, Elizabeth: How Should Egalitarians Cope Hildesheim 1975.
with Market Risks? In: Theoretical Inquiries in Law Fehr, Ernst/Schmitt, Klaus M.: A Theory of Fairness,
9.1 (2008), 61–92. Competition, and Cooperation. In: The Quarterly
Arendt, Hannah: On Revolution [1963]. London 1990. Journal of Economics 114 (1999), 817–868.
Ariès, Philippe u. a.: Geschichte des privaten Lebens. Feldhoff, Heiner: Vom Glück des Ungehorsams. Die Le-
5 Bde. Frankfurt a. M. 1989. bensgeschichte des Henry David Thoreau. Weinheim
Aristoteles: Politik. Hamburg 1981. 1989.
Arweiler, Alexander/Möller, Melanie (Hg.): Vom Selbst- Ferguson, Adam: An Essay on the History of Civil Soci-
Verständnis in Antike und Neuzeit. Berlin/New York ety [1767]. http://oll.libertyfund.org/title/1428 (12.9.
2008. 2010).
Badiou, Alain: Metapolitik. Zürich 2003. Forster, Georg: Über die Beziehung der Staatskunst auf
Bauman, Zygmunt: The Art of Life. Cambridge 2008. das Glück der Menschheit [1794]. In: Eckart Pankoke
Bellebaum, Alfred u. a. (Hg.): Staat und Glück. Politische (Hg.): Gesellschaftslehre. Frankfurt a. M. 1991, 84–
Dimensionen der Wohlfahrt. Opladen 1998. 116.
Bentham, Jeremy: Principles of the Civil Code [1786]. Forster, John: Englands Happiness increased, or A sure
http://www.laits.utexas.edu/poltheory/bentham/pcc and easie remedy against all succeeding dear years.
(15.9.2010). London 1664.
Biehler, Birgit: Der Eigennutz: Feind oder ›wahrer Be- Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität. 2
gründer‹ des Gemeinwohls? Zur Bewertung des Ei- Bde. Frankfurt a. M. 2004.
gennutz im 16. Jahrhundert. Tübingen 2009. Frey, Bruno/Stutzer, Alois: Happiness Prospers in De-
Bok, Derek: Politics of Happiness: What Government mocracy. In: Journal of Happiness Studies I (2000),
Can Learn from the New Research on Well-Being. 79–102.
Princeton 2010. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des
Bruni, Luigino: Civil Happiness. Economics and Hu- Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1984.
man Flourishing in Historical Perspective. London/ Geuss, Raymond: Glück und Politik. Potsdamer Vorle-
New York 2006. sungen. Berlin 2004.
Chastellux, François J. de: De la félicité publique, ou Godwin, William: Enquiry Concerning Political Justice
considérations sur le sort des hommes dans les diffé- and its Influence on Modern Morals and Happiness
rentes époques de l’histoire. 2 Bde. Amsterdam 1772. [1793]. London 1985.
Cicero: De re publica/Vom Gemeinwesen. Lateinisch/ Gray, John: A Lecture on Human Happiness. London
Deutsch. Stuttgart 2001. 1825.
Cohen, Gerald A.: Why not Socialism? Princeton 2009. Green, Thomas H.: Lecture on Liberal Legislation and
Dewey, John/Tufts, James: Ethics [1908]. In: John De- Freedom of Contract [1881]. In: Works III. New York
wey: The Middle Works, Bd. 5. Carbondale 1978. 1969, 365–386.
Diderot, Denis/D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond: En- Gronemeyer, Matthias: Profitstreben als Tugend? Zur
zyklopädie [1751–1760]. Auszüge in Manfred Nau- Politischen Ökonomie bei Aristoteles. Marburg 2007.
mann (Hg.): Artikel aus der von Diderot und Haybron, Daniel M.: The Pursuit of Unhappiness. The
D’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie. Leipzig elusive Psychology of Well-being. Oxford 2008.
1972. Helvétius, Claude Adrien: Vom Menschen, seinen geis-
102 II. Systematik des Glücksdenkens

tigen Fähigkeiten und seiner Erziehung [1772] (Hg. Malthus, Thomas Robert: An Essay on The Principle of
Günther Mensching). Frankfurt a. M. 1972. Population, or A view of its past and present effects
Henning, Christoph: Soziale Sicherheit und Freiheit. on Human Happiness [1798]. Cambridge 1992.
Zur Kritik eines begrifflichen Antagonismus aus der Mann, Stefan: Markt, Glück und Staat. Wie Wirtschaft
Idee des Glücks. In: Philipp Juchli u. a. (Hg.): Sicher- und Politik zu unserem Glück beitragen können.
heit als wirtschaftliches, rechtliches und kulturelles Moers 2009.
Phänomen. Bern 2008, 419–434. Mannheim, Karl: Allgemeine Soziologie (Vorlesung von
–: Perfektionismus und liberaler Egalitarismus. Ein Ver- 1930). In: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1996,
such ihrer Vermittlung. In: Deutsche Zeitschrift für 19–125.
Philosophie 57 (2009), 845–860. Marks, Jonathan: Perfection and Disharmony in the
– /Thomä, Dieter: Was bleibt von der Deutschen Ideo- Thought of Jean-Jacques Rousseau. Cambridge 2005.
logie? In: Harald Bluhm (Hg.): Karl Marx/Friedrich Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke [MEW]. Berlin
Engels: Die Deutsche Ideologie. Klassiker Auslegen 1956 ff.
36. Berlin 2009, 205–222. Mauzi, Robert: L’idée du bonheur dans la littérature et la
Hirsch, Fred: Social Limits to Growth [1976]. London pensée françaises au XVIIIe siècle. Paris 1960.
2
2005. McMahon, Darrin M.: Happiness: A History. New York
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die 2006.
Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen Müller, Adam: Streit zwischen Glück und Industrie
[1792]. In: Werke I: Schriften zur Anthropologie und [1809]. In: Eckart Pankoke (Hg.): Gesellschaftslehre.
Geschichte. Stuttgart 1995, 56–233. Frankfurt a. M. 1991, 272–276.
Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frank- Münkler, Herfried u. a. (Hg.): Gemeinwohl und Ge-
furt a. M. 2006. meinsinn. Bd. 2. Berlin 2001.
Inglehart, Ronald/Welzel, Christian: Modernization, Nussbaum, Martha: Capabilities as Fundamental En-
Cultural Change and Democracy. New York 2005. titlements. Sen and Social Justice. In: Feminist Eco-
Israel, Jonathan: Enlightenment Contested. Philosophy, nomics 9.2/3 (2003), 33–59.
Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752. Owen, Robert: A New View of Society [1813]. In: Ders.:
Oxford 2006. Selected Works I (Hg. Gregory Claeys). London 1993,
Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Die Grundfeste zu 23–100.
der Macht und Glückseligkeit der Staaten. Königs- Platon: Politeia (Der Staat). Werke in 8 Bänden. Bd. 4.
berg/Leipzig 1760. Darmstadt 1971.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten –: Nomoi (Gesetze). Werke in 8 Bänden. Bd. 8 (2 Teil-
[1785]. In: Werkausgabe Bd. VII. Frankfurt a. M. 1977. Bde.). Darmstadt 1977.
–: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie Polanyi, Karl: The Great Transformation [1844]. Frank-
richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793]. furt a. M. 2001.
In: Werkausgabe Bd. XI. Frankfurt a. M. 1977, 127– Posner, Richard A./Sunstein, Cass R. (Hg.): Law and
172. Happiness. Chicago 2010.
Kaufman, Alexander: Welfare in the Kantian State. Ox- Rawls, John: Political Liberalism. New York 1993.
ford 1999. Ricken, Friedo: Gemeinschaft, Tugend, Glück. Platon
Kersting, Wolfgang/Langbehn, Claus (Hg.): Kritik der und Aristoteles über das gute Leben. Stuttgart 2004.
Lebenskunst. Frankfurt a. M. 2007. Ross, Edward A.: Social Control: A Survey of the Foun-
Kraut, Richard: What is Good and Why. The Ethics of dations of Order. New York 1901.
Well-being. Cambridge, MA 2007. Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ur-
Lane, Robert: The Loss of Happiness in Market Demo- sprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter
cracies. New Haven 2000. den Menschen [1755]. In: Ders.: Frühe Schriften.
Layard, Richard: Happiness: Lessons from a New Sci- Leipzig 1965, 97–246.
ence. London 2005. Rüdiger, Axel: Produktive Negativität: Die Rolle des Per-
Locke, John: An Essay Concerning Human Understan- fektionismus im deutschen Aufklärungsdenken zwi-
ding [1689]. Oxford 1975. schen Pufendorf und Kant. In: Deutsche Zeitschrift
Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmen- für Philosophie 58 (2010), 721–740.
schen [1520]. In: Luthers Werke für das christliche Rustin, Michael: What’s Wrong with Happiness? In:
Haus. Bd. 1. Leipzig 41924, 295–316. Soundings 36 (2007), 67–84.
Maier, Hans: Die ältere deutsche Staats- und Verwal- Saint-Just, Antoine-Louis de: Œuvres complètes. Paris
tungslehre. Neuwied 1966. 2004.
10. Glück im Sport. Zwischen Kulturkritik, Spiel und Fest 103

Sandel, Michael: Democracy’s Discontent. America in


Search of a Public Philosophy. Harvard 1996.
10. Glück im Sport. Zwischen
Schwaiger, Clemens: Das Problem des Glücks im Den- Kulturkritik, Spiel und Fest
ken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und
entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbe-
griffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. Wenn man zu bestimmen sucht, was der Sport zu
Scitovsky, Tibor von: The Joyless Economy: The Psy- glücklichen Momenten oder einem gelingenden Le-
chology of Human Satisfaction [1976]. New York ben beiträgt, dann stößt man auf drei definitive Di-
1992.
mensionen dieses Zusammenhangs: Kulturkritik,
Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments [1759].
Spiel und Fest.
Mineola, NY 2006.
Eine kulturkritische Kommentierung ist hier mehr
–: The Wealth of Nations [1776] (Hg. Edwin Cannan).
New York 2000.
als bloße Begleitmusik. Es ist in unserer Kultur nicht
Sober, Elliot/Wilson, David S.: Unto Others. Evolution möglich, den lustvollen Vollzug körperlicher Bewe-
and Psychology of Unselfish Behaviour. Harvard gungen gänzlich unaufgeregt, rein analytisch auf sei-
1999. nen Beitrag zum Glück zu befragen. Immer schon ist
Spencer, Herbert: The Social Organism. In: Westminster eine solche Analyse nämlich situiert in einer Art
Review Januar 1860. Reizklima in Bezug auf den Körper, sei dieses nun,
Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de: Über den traditionell, eher körperfeindlich oder, heutzutage,
Einfluss der Leidenschaften auf das Glück ganzer Na- eher körperkultig geprägt. Jede Analyse zu ›Sport
tionen und einzelner Menschen. Zürich 1797. und Glück‹ ist immer schon eine Verurteilung, eine
Sumner, Lawrence: Welfare, Happiness, and Ethics. Ox- Verteidigung, ein Lob des Sports. Den Gegenpol
ford 1996. dazu stiftet die simple Tatsache, dass der Olympische
Thomä, Dieter/Henning, Christoph/Schmid, Hans- Sport rein konstatierend, gänzlich unaufgeregt für
Bernhard (Hg.): Social Capital, Social Identities: sich in Anspruch nimmt, einen Beitrag zum gelin-
From Ownership to Belonging (in Vorb. für 2011). genden Leben zu leisten: Die Olympischen Spiele
Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten seien, so die Olympische Charta als Verfassung des
[1256]. Stuttgart 1981. Olympismus, ein Fest. Zwischen diesen beiden Polen
Thompson, William: An Inquiry into the Principles of ›Kulturkritik‹ und ›Fest‹ vermittelt der spielerische
the Distribution of Wealth most conductive to Hu- Charakter des Sports, der jedoch notorisch Stein des
man Happiness. London 1824.
Anstoßes ist. Sport muss gesellschaftlich und indivi-
Van Parijs, Philippe: Real Freedom for All: What (if
duell Sinn machen, aber ihn zu treiben ist, nimmt
anything) Can Justify Capitalism? Oxford 1995.
man ihn als Spiel ernst, kein Mittel für einen außer-
Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssozio-
logie [1920]. Tübigen 91988.
sportlichen Zweck. Er taugt nicht für Instrumentali-
Weishaupt, Adam: Über Wahrheit und sittliche Voll- sierungen. »Sportler sind Nichtsnutze. Sport ist über-
kommenheit. 3 Bde. Regensburg 1797. flüssig. […] Wo immer man Nutzen und Notwendig-
Wilkinson, Richard G.: The Impact of Inequality: How keit herbeizwingt, da beginnt der Mißbrauch«
to Make Sick Societies Healthier. London 2005. (Krockow 1972, 92).
Woodburn, James: Egalitarian Societies Revisited. In:
Thomas Widlok/Wolde G. Tadesse (Hg.): Property Sport, Glück, (Anti-)Kulturkritik
and Equality. Ritualization, Sharing, Egalitarianism.
New York 2005, 18–31. Der Zusammenhang von Sport und Glück ist zu-
Würtenberger, Thomas: Staat und Glück. Die politische nächst ein sehr schlichter, der auch nicht durch Ideo-
Dimension des Wohlfahrtsstaates. In: Manfred Reh- logie- oder Kulturkritik wegdiskutierbar ist: »Men-
binder/Martin Usteri (Hg.): Glück als Ziel der Rechts- schen sind (oft) glücklich, wenn sie sich bewegen«
politik. Bern 2002, 233–244. (Müller-Koch 2007, 46). Menschen, die sich sport-
Christoph Henning lich betätigen, erleben, so kann und muss man wohl
sagen, überzufällig oft Augenblicke des Glücks. Das
ist zunächst an den je individuellen Vollzug körperli-
cher Bewegungen gebunden. Glücksmomente im
Sport sind in erster Linie Momente des Genießens
sinnlicher Lust. Gelegentlich hat das sogar eine an-
104 II. Systematik des Glücksdenkens

gebbare biochemische Grundlage: Die berühmten Glücklichsein respektive eine »Glücksformel« (www.
Endorphine, die bei bestimmten Arten des Joggens, gluecksformel.de): Sport zu treiben, um glücklich zu
Radfahrens etc. ausgeschüttet werden. Körperliche werden. Dass ein glückliches/gelingendes Leben
Aktivität ist ein Anti-Depressivum (Hollmann u. a. mehr ist als eine Ansammlung glücklicher Momente
2005; Koch 2002), steigerbar zum Rausch, aber na- − dass es der aktiven Gestaltung glücklicher und un-
türlich auch zur Sucht. Vermittelter als solcherart glücklicher Momente bedarf −, ist das Eine (Seel
Autoerotik, aber nicht weniger relevant, sind Glücks- 1995). Das ganz Andere ist es, dem gelingenden Le-
momente im Sport dort, wo sie an das mit- und ge- ben samt seiner glücklichen Momente die Unverfüg-
geneinander Sporttreiben gebunden sind – seien es barkeit rauben zu wollen. Es »ist selbst kein Zufall«
jene ›schönen Stunden‹ heiterer Geselligkeit beim (55), dass es im Deutschen nur ein Wort gibt, wenn
sportlichen Spielen, seien es jene intensiven Erleb- wir sagen wollen, ›that you need luck to be happy‹.
nisse von Sieg und Niederlage beim sportlichen Wie immer es mit dem heutzutage real praktizierten,
Wettkampf. Angesichts dessen kann man, im Nach- und häufig vermutlich immer noch schlicht genos-
hinein, sagen: Dieser oder jener Mensch war glück- senen, Sport aussehen mag: Der ausgestellte, in zahl-
lich, weil er Sport getrieben hat. losen Kampagnen propagierte und wissenschaftlich
Hier könnte man, kommentarlos, einen Punkt traktierte Sport will ein Instrument sein – für ein ge-
machen – wenn es nicht eine Unzahl von Kommen- sundes, erfolgreiches, geselliges, kurz: für ein glückli-
taren, eben jenes unvermeidbare Reizklima in Bezug ches Leben. Dieser Sport ist ein Subphänomen allge-
auf den Körper, dazu gäbe. Traditionell wird hier meinerer Körpertechnologisierung. Instrumentali-
›falsches‹ Glück gewittert: Beim Sporttreiben schlicht sierter Sport ist nur ein, wenn auch ein prominentes,
glücklich zu sein galt, wahlweise, als zu egoistisch, zu Beispiel für die Versicherungsideologie der Ham-
hedonistisch, zu geistlos oder, in der Variante des burg-Mannheimer: ›Glück ist planbar‹. Und: Immer
DDR-Bezichtigungsbegriffs des ›Nur-Sportlertums‹, ist schon jemand da, der daran verdient, für uns ›den
als zu wenig engagiert in Sachen gesellschaftlicher Weg frei zu machen‹. Komplementär gibt es dann die
Veränderung. Neuerdings dreht sich hier das Vorzei- Gegenreaktionen: Der Gesundheitswahn. Vom Glück
chen eher um: Augenblicke des Glücks beim Sport- des Unsportlichseins (Dekkers 2008).
treiben kann man weiterhin nicht einfach so, kom- Exemplarisch kann man solch ideologische Über-
mentarlos und still genießend, erleben, sondern man formung eines Phänomens, das man ohne alle Frage
muss sie offenbar auch noch als solche ausstellen jedermann wohl gönnen kann, an Csikszentmihalyis
und als ›wahres‹ Glück stilisieren. Kritik ist insofern Bestseller des flow beobachten (Csikszentmihalyi
unvermeidbar, muss aber ein Kommentar zu sol- 1991). Die Phänomene, die dort thematisiert werden,
cherart Kulturkritik sein: Solche an den Sport ge- sind zweifellos gute Kandidaten, für Momente des
bundenen Glücksmomente taugen nicht als Ziel- Glücks angesehen zu werden. Allein bereits ihre Er-
scheibe für kritische oder affirmierende Kommen- klärung gerät zu einer Formel ihrer wünschbaren
tare, und dazu hat, wie so oft, Wilhelm Busch schon Herstellung, selbstverständlich begleitet von den
alles gesagt: Dass man solche Momente des Glücks Versicherungen, dass man den flow nicht erzwingen
»ohne alle Frage / Nach des Tages Müh und Plage / könne. Im Konzept des flow ist das propagierte Las-
Einem guten, alten Mann / Auch von Herzen gönnen sen-Können einfach ein Ausschalten der Kontrollin-
kann.« stanz ›Ich‹ (dagegen etwa Kobusch 2009; Seel 2002);
Eine kritische Begleitung ist freilich dort angesagt, und das könne man erreichen, wenn man die Kon-
wo solche erlebten Augenblicke des Glücks einen trollschraube, die das Verhältnis von Anforderungen
Aufforderungscharakter bekommen, wiederholt und eigenen Fähigkeiten justiert, feinfühlig be-
werden zu wollen. »Alle Lust will Ewigkeit« (Nietz- herrscht – also durch eine simple Technik. Eine dy-
sche 1885/1999, 404) – das mag schon sein. Das ist namische Entwicklung ist dort, sehr schlicht, ein
auch so lange ganz harmlos und allzu menschlich, »spiralförmiges Höherschrauben« (Csikszentmiha-
solange beim nächsten Mal erlebbar die Maxime re- lyi 1991, 44). Es wird ›Harmonie im Selbst hergestellt‹
giert: ›Neues Spiel, neues Glück‹. Genau das ist aber (vgl. 47) und »die üblichen Sorgen des Alltagslebens
heutzutage, in Zeiten eines dominanten Körperkults [dringen] nicht länger ins Bewußtsein« (47).
überzufällig oft, gerade nicht der Fall. Vielmehr wird
aus einem nachträglichen ›Jemand war glücklich,
weil er Sport getrieben hat‹ eine Anweisung zum
10. Glück im Sport. Zwischen Kulturkritik, Spiel und Fest 105

Sport als Spiel gelingenden Lebens (s. Kap. II.2). Diese liegt in der
Unverfügbarkeit eines solchen Gelingens und damit
Instrumentalisierter Sport verkennt, ja verrät den in der Erfahrbarkeit eines Glücks des Sich-bestim-
spielerischen Charakter des Sports. Der spielerische men-Lassens (Schürmann 2002, 197–250; Seel 2002).
Charakter des Sports hat im Wesentlichen zwei Di- Oder programmatisch für den Sport: »Im Sport fei-
mensionen, nämlich die des Schauspiels und die des ert der Mensch mit seinen physischen Fähigkeiten
nicht-ernsten Spielerischen. zugleich die Grenze dieser Fähigkeiten – und damit
Sportstadien sind, bei relevanten Unterschieden eine Grenze seiner Macht über sich und die Welt«
(Gebauer 2002, 122–134), einer Theaterbühne ver- (Seel 1993/1996, 199).
gleichbar, auf der sich ein Schauspiel vollzieht. Das
ist jene ›Weltausgrenzung‹, die mit Krockow und an- Sport als Fest
deren definitiv ist für Sport, die den Sport in eine
strukturelle Nähe zu den Künsten bringt und die Das Anliegen des klassisch-modernen Olympischen
auch noch der »Präsenzkultur« Sport (Gumbrecht Sports war ein ganz anderes als seine Instrumentali-
2005) ihr mimetisches Moment sichert (Gebauer sierung. Die Olympischen Spiele als praktiziertes
2002; Schürmann 2010; Wetzel 2003). und ideelles Zentrum des Olympismus sind erklär-
Solcherart Weltausgrenzung ist nicht spezifisch termaßen ein Fest. Das ist nicht nur eine schöne Idee,
für den Sport, nicht einmal für die Künste. Funktio- ersonnen in den Hinterzimmern von Sportorganisa-
nale Differenzierung ist geradezu ein Charakteristi- toren und Geschäftsleuten, sondern hat gleichsam
kum der Moderne, und in diesem Sinne besteht die Verfassungsrang. Die Festlichkeit der Spiele ist in der
Weltausgrenzung des modernen Sports auch nur da- Olympischen Charta, der Verfassung der Olympi-
rin, analog zur Wirtschaft, zum Recht, zur Wissen- schen Bewegung, deklariert.
schaft, zur Religion etc. ein eigenes Subsystem in Die wesentlichen Charakteristika eines Festes
modernen Gesellschaften zu bilden (Bette 1999). sind, dass (1) Festlichkeit eine, durchaus wiederhol-
Spezifischer für den Sport ist dann, dass es auf den bare, Ausnahme ist – dass sie am ›Feiertag‹ stattfin-
Bühnen des Sports, wie etwa auch auf den Bühnen det; dass (2) ein Fest auf dem Grunde eines Alltags
der Künste, spielerisch zugeht – in dem Sinne, dass beruht, den es unterbricht; dass (3) ein Fest einen
auf einer Theaterbühne kein Krieg stattfindet, son- Anlass hat oder eine Gelegenheit benötigt, aber kein
dern Krieg gespielt wird. Mittel ist, kein Instrument für einen äußeren Zweck;
Ist der spielerische Charakter des Sports also eine dass Festlichkeit (4) nicht hergestellt werden kann,
Einschränkung im weiten Feld der Formen von sondern radikal unverfügbar ist – die Riten und Ri-
Weltausgrenzung, so ist umgekehrt das mimetische tuale, die es braucht, um in ein Fest ›hineinzukom-
Moment von Schauspielen definitiv für den beson- men‹, verbürgen noch keine Festlichkeit; und dass
deren spielerischen Charakter des Sports. Orientiert (5) Feste mehr sind als bloß das Andere des Alltags.
man sich an einer alten aristotelischen Unterschei- Im Unterschied zu nicht-festlichen Spielen, die den
dung, dann ist der Sport kein bloßes Spiel im Sinne Ernst und die Mühen des Alltags ausgleichen (so sie
der Kompensation des Ernstes des Alltags, sondern gelingen), beziehen sich Feste mimetisch, spiele-
hat Muße-Charakter: »Die Muße dagegen scheint risch-darstellend, auf das Ganze dessen, wozu sie sel-
Lust, wahres Glück und seliges Leben in sich selbst ber noch als Ausnahme gehören (Fink 1957; Pieper
zu tragen. Das ist aber nicht der Anteil derer, die ar- 1963). Die Formulierungen der Olympischen Charta
beiten [und auch nicht derer, die sich vom Arbeiten sind hier durchaus treffend: Die Olympischen Spiele
erholen], sondern derer, die feiern« (Aristoteles: Poli- bilden als Fest den erklärten Höhepunkt der alltägli-
tik 1337bf.). chen Olympischen Bewegung.
Hier liegt dann auch der rationale Kern aller oben Feste gehören damit zu den Spielen, sind aber, wie
zurückgewiesenen Kulturkritik am Sport: Man blen- man mit Josef König (1994, 75–190) sagen kann, als
det eine wesentliche Dimension aus, wenn man ihn Spiele andere. Sie sind kultische Spiele, wie man ter-
als bloßen Ausgleich, als Kompensation des Alltags minologisch sagen könnte. Feste finden nicht nur
betrachtet oder praktiziert. In einem solchen, nur neben dem Alltag statt, auf den sie sich spielerisch
schwer von einem Bezichtigungsbegriff unterscheid- beziehen, sondern stellen das Ganze dieses Alltags
baren Sinn, verweisen Glücksmomente im Sport dar. Kultisches Spiel ist ein Grund-Phänomen, das
über sich hinaus auf die festliche Dimension eines allen anderen Grundphänomenen »gleichsam gegen-
106 II. Systematik des Glücksdenkens

über [steht] – um sie darstellend in sich aufzuneh- nem anderen Zweck außerhalb ihres eigenen Voll-
men. Wir spielen den Ernst, spielen die Echtheit […]. zugs dienen. Dass sie in Wettkampfform stattfanden,
Und wir spielen sogar noch das Spiel« (Fink 1957, steigerte die Spannung und insofern das Vergnügen.
25; vgl. 1960; 1979). Damit haben Feste eine Dimen- Es war verpönt, sich auf einen Wettkampf vorzube-
sion der Selbstvergewisserung. Sich auf ein Spiel ein- reiten. Wer ernsthaft für einen Wettkampf ›trai-
zulassen und ins Spiel hineinzukommen, bedeutet nierte‹, der bekundete damit, dass es ihm nicht auf
nicht, so zu tun als ob – Kinder unterliegen keiner das Vergnügen des Spielens, auf einen vergnüglichen
Täuschung, wenn sie Feuer spielen, und sie sind auch Wettkampf-Vollzug ankomme, sondern auf den Sieg.
nicht in eine ideale andere Welt entflohen. Schon Dort aber, wo es vergnüglich zugeht, mussten sich
deshalb ist kultisch-spielende Darstellung keine Ab- Adlige nicht(s) gegeneinander beweisen – und an-
bildung, wohl aber eine Spiegelung (Fink 1957, 46). ders herum: Dort, wo es ernsthaft um den Beweis
Oder mit und gegen Gumbrecht (2004; 2005): Auch von Ehre ging, stand das Duell als ›Wettkampf‹-
eine Präsenzkultur ist noch eine Darstellung von et- Form zur Verfügung, nicht aber die sports. Vergnü-
was und insofern hermeneutisch zugänglich. Eine gen bereitete also die Leichtigkeit des Wettkämpfens
kultisch-spielende Darstellung hat − so Fink − inso- – die nötige Ernsthaftigkeit, ›mit aller Leidenschaft‹
fern Glückscharakter, als sich der Mensch hier ›ver- um den Sieg zu kämpfen, stellte sich im damaligen
suchend‹ zu seinem Alltag verhält. Versuchend in England typischerweise dadurch her, dass die sports
einem doppelten Sinne: Als Offenheit für eine ein Wett-Vergnügen waren. Voraussetzung dafür war
nicht-alltägliche Möglichkeit des Alltags, und als die erfahrbare Zufälligkeit des Wettkampfausgangs:
Einlassen-Müssen auf etwas, das der eigenen Kon- Auf etwas zu wetten ist ein Glücksspiel – die Vorher-
trollierbarkeit entzogen ist. ›Oasen des Glücks‹ sind sagbarkeit des Ausgangs zerstört den Wett-Spaß. Das
Spiele in und mit dem Unverfügbaren des Kulti- Glücksspiel Wette ist von anderer Art als etwa die
schen. All das ist konstitutiv an ein Wir, an eine Fest- Glücksspiele Lotto oder Roulette, was sich auch darin
gemeinde, gebunden. dokumentiert, dass die Eigenleistung der Spielenden
einen anderen Status hat. Bei Glücksspielen (alea im
Die Besonderheit des Spielerischen Sinne von Caillois) liefern sich die Spielenden einer
Schicksalsentscheidung aus; bei Wetten ist der Aus-
im Sport
gang zugleich eine Frage des glücklichen Zufalls und
Der Olympische Sport steht prototypisch für den der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten (vgl.
modernen Sport. Das zu sagen, hat primär einen me- Zollinger 1997, 41 ff., 189 ff.). Letzteres bilden sich
thodischen Sinn – es ist nicht ganz klar, was alles die Beteiligten wenigstens ein: Dass Ihre Fachkennt-
zum Sport zählt, aber klar ist, dass die olympischen nis gefragt sei, wenn sie auf den Ausgang eines Pfer-
Sportarten dazu zählen; ›prototypisch‹ heißt aber derennens wetten (vgl. Schimank/Kron 2002, 164 f.).
auch, dass dort in besonderer Weise etwas sichtbar Man kann also nicht sagen, dass die frühneuzeitli-
wird, was durchaus generell gilt. Und insofern ist be- chen sports zu denjenigen Spielen gehören, die »agôn
merkenswert, dass sich der Olympische Sport diese und alea miteinander [verbinden]« (Caillois 1982,
festliche Dimension von Spielen programmatisch zu 25), denn es ist keine Mischung aus reiner Hingabe
eigen macht. Er entspringt aus dem durchaus kon- an den Zufall (alea) und Eigenverantwortung (agôn),
fliktreichen Zusammentreffen ganz verschiedener sondern eine Art eigenverantwortliche Herausforde-
Körperkulturen. Im Wesentlichen sind das die rung des Zufalls. Hier ist es dann gerade nicht so,
Schwedische Gymnastik, das Deutsche Turnen und dass ein Lebensvollzug, in dem es »nichts Klares und
− dominant − die Englischen athletics. Die athletics Eindeutiges [gibt]«, ersetzt würde durch eine »per-
waren ihrerseits aus den frühneuzeitlichen sports fekte Situation«, in der »der Anteil des persönlichen
hervorgegangen (Eisenberg 1999), worin ganz we- Verdienstes oder des Zufalls klar und unwiderleglich
sentlich die Nicht-Instrumentalisierbarkeit des hervortritt« (27).
Sports gründet. Dieses historische Merkmal wird dann, sogar zu-
Jene sports waren – im Wesentlichen und unter gespitzt, systematisch bestimmend für den Sport der
sehr spezifischen Bedingungen – ein Vergnügen des Moderne. Der Ausgang eines modernen sportlichen
Adels. Damit waren sie gegen ihre Instrumentalisie- Wettkampfs muss offen, d. h. für die Wettkampfgeg-
rung geschützt. Die Güte der sports maß sich daran, ner unverfügbar sein, damit die je eigene Leistung
Vergnügen zu bereiten – sie mussten, ja durften kei- über Sieg und Niederlage entscheiden kann. Wäre
10. Glück im Sport. Zwischen Kulturkritik, Spiel und Fest 107

vorher klar, wer gewinnt, wäre der Witz des Sports eine schöne Idee: dass der Zufall prinzipiell und un-
zerstört, und deshalb gibt es Regeln, Gewichtsklas- aufhebbar dort ins Spiel des gemeinsam gelingenden
seneinteilungen, Dopingverbot, kurz: Maßnahmen Lebens kommt, wo wir gemeinsam deklarieren, den
aller Art, diese Offenheit organisatorisch abzusi- anderen als Person gleicher Rechte und gleicher
chern. Chancen zu würdigen. Freilich kann auf der Bühne
Die athletics sind ein Spiel der englischen Bürger. des modernen Sports auch nur das aufgeführt wer-
Die sich herausbildende middle class spielt, wie in den, was das Leben der bürgerlichen Gesellschaft
England üblich, sports, ändert dabei aber wesentlich ausmacht. In seinen Anfängen war der moderne
deren Charakter. Alles soll jetzt von eigener Leistung Sport noch, z. B. im Arbeitersport, mit der Vermu-
abhängen, nicht mehr von althergebrachtem Stand – tung konfrontiert, die bürgerliche Gesellschaft könne
und das gilt auch und erst recht für den Olympi- aus strukturellen Gründen keine Gerechtigkeit ga-
schen Sport. Dieser ist ohne harte Vorbereitung auf rantieren. Heutzutage liest sich das als Verdacht, das
den Wettkampf schlechterdings nicht mehr vorstell- Leben selber könne ein Glücksspiel sein (Schimank/
bar, da der Wettkampf eine Situation sein soll, die Kron 2002, 168 ff.). In beiden Fällen hilft keine bloße
rein die je eigene Leistung der wettkämpfenden Bür- Pädagogisierung des Wettkampfvollzugs – und hier
ger dokumentieren und belohnen möge. Damit ist liegt die eingebaute Beschränkung des Glücks, das
das Einfallstor für die Instrumentalisierung des Aus- im und mit dem modernen Sport erreichbar ist.
gangs des Wettkampfs geöffnet, weil auch noch der
Zufall des Ausgangs durch eigene Leistung domesti- Glück im Sport
ziert werden soll. Hier gründen alle Probleme des
modernen Sports: Doping, Kommerzialisierung, Wenn es denn so ist, dass im Sport Situationen der
Korruption, Wettskandale, die Vorstellung der tota- eigenverantwortlichen Herausforderung des Zufalls
len Verfügungsgewalt über den eigenen Körper – inszeniert werden, dann geht es offenbar darum, mit
hier beginnt der »Mißbrauch« (Krockow). Freilich den Grenzen der eigenen Verfügungsgewalt über
will auch der moderne Olympismus keine ›Mi- sich und andere(s) zu spielen, und damit – der Mög-
schung‹ von agôn und alea sein. Den sportlichen lichkeit nach – diese Grenze nicht als Beschränkung,
Gegner zu achten, heißt keineswegs – das ist die gar als Kränkung zu erleiden, sondern als konstitu-
Grundidee eines olympischen Wettkampfes –, alles tive Grenze zu erleben und zu bejahen. Wäre alles
für den eigenen Sieg zu tun, dabei aber ›aufzupas- Tun verfügbar, gäbe es keine Entwicklungen und
sen‹, dem Gegner nichts Böses anzutun respektive könnte uns nichts mehr überraschen – Stagnation
sich dabei nicht erwischen zu lassen. Ein sportlicher und Langeweile aber sind mit modernen Ideen eines
Wettkampf ist kein agôn interruptus, sondern ein gelingenden Lebens nicht vereinbar. Der Beitrag des
sportlicher Sieg ist dann und nur dann ein sportli- Sports liegt, über die kleinen und großen Glücksmo-
cher, wenn er auf faire Weise zustande kommt. mente hinaus, darin, uns dieser Grundvoraussetzung
Auch ein olympischer Wettkampf ist keine ›per- eines glücklichen Lebens je neu zu vergewissern.
fekte Situation‹, d. h. er ist nicht idealer als das bür- »Die moderne Welt feiert im Sport ihre Mysterien
gerliche Leben, sondern auch hier soll das bürgerli- der Kontingenz« (Seel 1993/1996, 198).
che Leben (selber) gespielt werden: Das Beste für den Die besondere Pointe des Sports liegt darin, dass
Sieg zu geben, ist Ausdruck und Dokumentation des solche Kontingenzbejahung nicht eine reine Hin-
Prinzips, die Stellung im Leben hänge von eigener gabe an den Zufall (alea) ist, sondern, im Durchgang
Leistung ab – den Gegner zu achten, d. h. als einen durch das den Wettkampf vorbereitende Training,
Gleichwertigen zu behandeln, ist Ausdruck und Do- eine eigenverantwortliche Herausforderung des Zu-
kumentation des Prinzips, dass das Leistungsprinzip falls. Aber eben eine eigenverantwortliche Heraus-
kein Selbstzweck sei, sondern die gerechtere Weise forderung des Zufalls: In wesentlicher Hinsicht muss
sein möge, die Würde des Einzelnen zu respektieren. der Sieg einem zufallen, gleichsam geschenkt wer-
Der moderne Olympismus hat daher die hier ent- den, sonst hätte er bereits vorher festgestanden und
scheidende Relevanz des Ausgangs des Wettkampfs wäre keine eigene Leistung gewesen. Dieses unauf-
durch eine Pädagogisierung des Vollzugs des Wett- hebbare Kontingenz-Versprechen der Offenheit des
kampfs zu balancieren gesucht, und er hat die Leis- Wettkampfs macht eine Grundbedingung des ›irdi-
tung des Einzelnen dadurch zu würdigen gesucht, schen‹, des menschenmöglichen Glücks erfahrbar –
dass das Dabeisein doch alles sei. Das ist immerhin im Unterschied zum grenzenlosen paradiesischen
108 II. Systematik des Glücksdenkens

Glück, das die leibliche Gebundenheit des eigenen bella S. & Mihaly Csikszentmihalyi (Hg.): Die außer-
Tuns meint, außerkraft setzen zu sollen. »Jede Reli- gewöhnliche Erfahrung im Alltag oder die Psycholo-
gion verspricht eine Aufhebung der Kontingenz. Ri- gie des flow. Stuttgart 1991.
tuale der Kontingenzbejahung dagegen sind nicht Dekkers, Midas: Der Gesundheitswahn. Vom Glück des
religiös« (198). Unsportlichseins. München 2008.
Ein sportlicher Wettkampf ist in insofern eine Eisenberg, Christiane: ›English sports‹ und deutsche
»Grenzreaktion« in dem Sinn, den Plessner in La- Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939. Pa-
chen und Weinen herausgestellt hat. Eine solche derborn 1999.
Grenzreaktion liegt noch in eigener Macht, aber Fink, Eugen: Oase des Glücks. Gedanken zu einer Onto-
logie des Spiels. Freiburg/München 1957.
nicht mehr in eigener Verfügungsgewalt. Sie ist an
–: Spiel als Weltsymbol. Stuttgart 1960.
sich selbst bedingtes, durch ein passives Moment
–: Grundphänomene des menschlichen Daseins (Hg. E.
konstituiertes Tun, also nicht reduzierbar auf ein
Schütz/F. A. Schwarz). Freiburg i. Br./München 1979.
Körper-Haben, sondern »Verselbständigung des Lei-
Gebauer, Gunter: Sport in der Gesellschaft des Spekta-
bes« (Seel 1993/1996, 196), zu dem die Person es
kels. Sankt Augustin 2002.
kommen lassen muss. Etwas, das mit dem eigenen Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik.
Körper geschieht, ist mehr und anderes als all das, Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004.
woran der Wille zur Beherrschung immer auch –: Lob des Sports. Frankfurt a. M. 2005.
scheitern kann. Die Verwandlung einer absichtsvol- Hollmann, Wildor/Strüder, Heiko K./Tagarakis, Chris-
len Handlung »in den absichtslosen Schwung [d]es tos V.M.: Gehirn und körperliche Aktivität. In: Sport-
Leibes« (196) ist gerade nicht eine geglückte Mani- wissenschaft 35 (2005) 1, 3–14.
pulation einer spezifischen Fähigkeit, sondern eine Kobusch, Theo: Apologie der Lebensform. In: Allge-
Reflexion der Sphäre des bisherigen Könnens: Hier meine Zeitschrift für Philosophie 34 (2009) 1, 99–
»verliert zwar die menschliche Person ihre Beherr- 115.
schung, aber sie bleibt Person, indem der Körper ge- Koch, Michael: Beiträge der Hirnforschung zum Ver-
wissermaßen für sie die Antwort übernimmt« (Pless- ständnis des menschlichen Glücks. In: Alfred Belle-
ner 1941/1982, 237). Solcherart Distanzierung des baum (Hg.): Glücksforschung: Eine Bestandsauf-
Lassen-Könnens gegenüber der eigenen Verfügungs- nahme. Konstanz 2002, 79–93.
gewalt manifestiert sich als (gegebenenfalls un- König, Josef: Der logische Unterschied theoretischer
scheinbares) Erzittern der Gesamtperson, die danach und praktischer Sätze und seine philosophische Be-
als andere zur Tagesordnung übergeht. Freilich ist deutung (Hg. F. Kümmel). Freiburg/München 1994.
dieser Unterschied nur dann erfahrbar, wenn die Krockow, Christian Graf von: Sport und Industriege-
Person gelernt hat, über ihr Erzittern zu staunen, also sellschaft. München 1972.
sich ihrerseits reflexiv zu dieser reflexiven Struktur Müller-Koch, Uta: Körperlichkeit, Glück und Sport −
zu verhalten – ansonsten bleibt es einfach ein belie- philosophische Perspektiven. In: Sportwissenschaft
biges schönes Erlebnis. Nicht jedes schöne Erlebnis 37 (2007) 1, 38–51.
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra IV [1885].
aber ist bereits ein Fest, und deshalb ist nicht schon
In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe
jede Kritik am falschen Glück des Nur-Sportlertums
(Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari). Bd. 4. Mün-
bereits miesepetrige Kulturkritik oder gar Ausdruck
chen 1999, 293–408.
eines bezichtigenden Zwangs zum vermeintlich
Pieper, Josef: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des
wahren Glück der Individuen – ein Glück, das, zum
Festes. München 1963.
Glück, unverfügbar ist und bleibt. Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersu-
chung der Grenzen menschlichen Verhaltens [1941].
In: Ders.: Gesammelte Schriften (Hg. Günter Dux
Literatur
u. a.)., Bd. 7. Frankfurt a. M. 1982, 201–387.
Aristoteles: Politik (Übers. E. Rolfes). Hamburg 1981. Schimank, Uwe/Kron, Thomas: Glücksspiele und der
Bette, Karl-Heinrich: Systemtheorie und Sport. Frank- Ernst des Lebens − Fortuna in Aktion. In: Alfred Bel-
furt a. M. 1999. lebaum (Hg.): Glücksforschung: Eine Bestandsauf-
Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske nahme. Konstanz 2002, 157–176.
und Rausch. Frankfurt a. M. 1982. Schürmann, Volker: Heitere Gelassenheit. Grundriß ei-
Csikszentmihalyi, Mihaly: Das flow-Erlebnis und seine ner parteilichen Skepsis. Magdeburg 2002.
Bedeutung für die Psychologie des Menschen. In: Isa- –: Bewegungsvollzüge verstehen. Bausteine einer Her-
11. Glück in der Utopie. Gegenwelten als Genuss- und Ordnungsfantasien 109

meneutik des Sports. In: Zeitschrift für Kulturphilo-


sophie 4/1 (2010), 55–64.
11. Glück in der Utopie.
Seel, Martin: Die Zelebration des Unvermögens − Zur Gegenwelten als Genuss-
Ästhetik des Sports [1993]. In: Ders.: Ethisch-ästheti-
sche Studien. Frankfurt a. M. 1996, 188–200.
und Ordnungsfantasien
–: Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik.
Frankfurt a. M. 1995. Die Utopie und ihre Verwandten
–: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen
und praktischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2002.
Im Wort ›Utopie‹ steckt eine Verneinung: Es steht
Wetzel, Tanja: Spiel. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Äs-
bekanntlich für einen Nicht-Ort, einen ou-topos.
thetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in
Diese Negation bezieht sich freilich nicht auf das
7 Bänden. Bd. 5. Stuttgart/Weimar 2003, 577–618.
Zollinger, Manfred: Geschichte des Glücksspiels. Vom
Räumliche schlechthin, sondern nur darauf, dass der
17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Wien Raum, um den es sich handelt, hier und jetzt (noch)
1997. nicht existiert. Tatsächlich ist gerade den großen lite-
Volker Schürmann (unter Mitarbeit von Tijana rarischen und politischen Utopien eine starke räum-
Müller-Sladakovic) liche Qualität eigen. Das Glück verorten sie in einem
Raum, der anderswo liegt – in der Ferne oder in der
Zukunft, gerne auch auf einer Insel. Utopien mögen
in die zeitliche Dimension des Noch-nicht gehören,
doch sie unterscheiden sich von geschichtsphiloso-
phischen Fortschritts- oder auch Zerfallsszenarien
dadurch, dass sie nicht eine zeitliche Entwicklung
oder Veränderung, sondern eine von der Gegenwart
unterschiedene Gegenwelt umreißen. Weil die Uto-
pie ihre Attraktion aus dieser strikten Unterschei-
dung bezieht, bekommt sie etwas Abgeschiedenes.
Dies bringt die Utopie in die Nähe zum Idyll: Wie
man nämlich das Idyll als eine Art von Utopie be-
zeichnen darf, welche sich in den Nischen der Jetzt-
zeit ansiedelt und isoliert, so gleicht die Utopie ei-
nem in die Ferne verlegten Idyll. Sie zelebriert »Ab-
geschlossenheit« (Seibt 2001, 30) in einem Raum, in
dem sich die Menschheit neu und ganz anders einge-
richtet hat.
Ein formales Merkmal von Utopien ist demnach,
dass in ihnen nicht Glück und Zeit, sondern Glück
und Raum zusammengedacht werden; man kann so-
gar sagen, dass das Glück selbst in Utopien eine
räumliche Qualität erhält. Die Utopie ist durchaus
topisch – doch dabei eigentlich u-chronisch, also un-
zeitlich (Touraine 2000, 20). Zu ihr gehört, wie schon
Gustav Landauer bemerkt hat, die »Tendenz, […]
eine tadellos funktionierende Topie zu gestalten«
(Landauer 1907/1919, 13), also eine Ordnung, Siche-
rung oder gar Stillstellung des Lebens zu erwirken.
Die Einrichtung eines solchen Raumes oder »Glücks-
bau[s]« (Bloch 1954–59/1973, 654) verträgt sich
nicht mit der Vorstellung, man könne daran weitere
Änderungen vornehmen. Es sind besonders solche
zeitlichen Abläufe geschätzt, die sich wiederholen.
Die erreichte Utopie soll das Ende der Geschichte
110 II. Systematik des Glücksdenkens

besiegeln. Sie ist nicht nur gegen die Gegenwart, son- lobten Land prospektiv die Mühsal und Bewährung,
dern auch gegen eine noch weiter entfernte Zukunft die auf dem Weg dorthin auf sich zu nehmen sind.
»weitgehend abgedichtet« (555): »Unendlichkeit des Im Zuge einer weitgehenden Säkularisierung und
Strebens ist Schwindel, Hölle« (366). Entsprechend Pluralisierung der Vorstellungen des gelobten Lan-
muss das in einer Utopie zu erlangende Glück von des werden für diese Gegenwelt diverse Orte (außer-
Dauer sein. Es steht in entschiedenem Gegensatz halb Israels) angegeben, die als Zielpunkte für kleine
zum Glück des Augenblicks oder des kairos (s. Kap. und große Fluchten taugen. Der prominenteste un-
II.6, VII.6 und VIII.13). ter ihnen ist Amerika oder die ›Neue Welt‹.
Die Kluft zwischen Utopie und Realität ist auch als Zwischen der Utopie einerseits, dem Paradies und
Gegenüberstellung von »Fiktion« und »Aktion« aus- dem gelobten Land andererseits besteht freilich ein
gelegt worden (Schaer 2000, 5). Nicht nur ist dem Unterschied, der die Eigenart der Utopie schärfer he-
utopischen Entwurf eine ästhetische Qualität eigen, rauszustellen hilft. Verdeutlichen lässt sich dies etwa
man kann darüber hinaus sagen, dass das absolute am Unterschied zwischen Augustinus’ Entwurf einer
Kunstwerk als künstliches Paradies mit der Utopie civitas Dei, eines idealen Staates, der Gott zu verdan-
verwandt ist. Stefan Georges Gedichtzeile »ich fühle ken ist, und Thomas Morus’ Entwurf einer Utopie, in
luft von anderem planeten« (George 1907/1983, 73) der die Menschen ihr Leben selbst einrichten und
darf auf die Kunst als Gegenwelt bezogen werden. eine neue, eigene Ordnung der Gesellschaft begrün-
Auch ein Kunstwerk (s. Kap. II.4) zieht seine Anzie- den (vgl. Touraine 2000, 19). Das gelobte Land ist ty-
hungskraft teilweise daraus, sich gegen zeitlichen pischerweise etwas, das sich dem Suchenden – wie
Wandel zu immunuisieren, also ›u-chronisch‹ zu auch immer lang und mühsam sein Weg dorthin ge-
sein. wesen sein mag – gewissermaßen auf einen Schlag,
Die Utopie fordert das alltägliche Handeln mit der wie eine sich plötzlich dem Blick eröffnende Land-
Vorstellung heraus, alles könnte ganz anders sein – schaft, offenbart; es wird wie ein Geschenk gefun-
und versucht diese Vorstellung dann mit Inhalt zu den, und nur, wenn es sich derart unverhofft einstellt,
füllen. Eine allzu penible Beschreibung des Über- kann es zu größten Hoffnungen Anlass geben. Dage-
gangs zwischen Welt und Gegenwelt würde Gefahr gen entspringt die Utopie einem konstruktiven Zu-
laufen, die befreiende Wirkung dieser Gegenwelt zu griff. Sie ist ausgedacht, entworfen, gebaut, gemacht,
schwächen und letztlich die Utopie zu kompromit- sie stammt von Menschenhand. Entsprechend rich-
tieren. Diese Gegenstellung hat die Utopie mit dem tet sich an die Utopie auch die Ambition, aus eigener
Paradies gemeinsam: Paradies wie Utopie sind Ge- Kraft eine durch und durch vernünftige, tugendhafte
genwelten, die ihre Kraft daraus schöpfen, dass sie und glückliche Ordnung zu errichten.
durch eine Kluft von der Welt getrennt sind, die sich Der Entwurf, der dieser Konstruktion zugrunde
auf sie bezieht. Vom Paradies ist allerdings zuerst als liegt, stützt sich häufig auf ein Bild natürlicher Ord-
einem verlorenen, nur in zweiter Linie (etwa bei John nung oder kosmischer Harmonie (s. Kap. IV.2), zu
Milton) als einem wiedergefundenen, wiedergewon- der sich die Utopie mimetisch verhält. Es wird kur-
nenen oder zu schaffenden die Rede. Den raffinier- zerhand der Sprung gewagt von einer der Vergan-
ten Aus- und Umweg Heinrich von Kleists, wonach genheit zugeordneten natürlichen Unschuld zu einer
man das Paradies, aus dem man einst vertrieben Zukunftswelt, welche dem historischen Schuldzu-
worden sei, erreichen könne, indem man die »Reise sammenhang entrinnen kann, in welchem – wie es
um die Welt« mache und schaue, »ob es vielleicht bei Goethe heißt – »Glück auf Glück im Zeitenstru-
von hinten irgendwo wieder offen« sei (Kleist del scheitert« (Goethe: Faust I, v. 643, 1808–33/1994,
1810/1994, 342), kann man sich bei der Utopie spa- 42). Das Glück, das in dieser Welt gefunden werden
ren. Sie ist, wenn überhaupt, von vorne – und zwar soll, verdankt sich demnach einer Verwandlung von
nur von vorne – zugänglich. Geschichte in Natur. So avanciert auch der »edle
Entsprechend empfiehlt sich als nächster Ver- Wilde« zur Leitfigur (vgl. Saage 1991, 100); Tahiti
wandter der Utopie neben dem Paradies das gelobte wird zum Sehnsuchtsort für so verschiedene Figuren
Land. Der Zugang zu ihm erscheint machbar, es ist wie Denis Diderot (1796/1984), Charles Fourier
das Fernziel einer Reise oder quest, in der die Glücks- (1977, 18) und Paul Gauguin, der die Inselwelt nicht
suche fast die Form einer Schatzsuche annimmt. nur in Bildern, sondern auch in seinem Buch Noa
Während auf das Paradies retrospektiv der Schatten Noa feiert.
von Störung und Zerstörung fällt, gehören zum ge- Wenn Utopien sich häufig auf einen natürlichen
11. Glück in der Utopie. Gegenwelten als Genuss- und Ordnungsfantasien 111

Urzustand berufen, so funktionieren sie doch nie strakte Gegenstellung zu den realen Verhältnissen,
nur nostalgisch. Vielmehr kommen in ihnen – ge- die etwa bei den Frühsozialisten zu finden ist, zog
wissermaßen in geronnenem Zustand – konkrete deshalb auch die beißende Kritik von Marx und En-
politische Forderungen, ökonomische Wünsche und gels auf sich. Die Utopie führt zwei Tendenzen ins
persönliche Sehnsüchte zum Ausdruck. So brüsk Extrem: den konstruktiven Furor, dem sie sich ver-
sich die Utopie der schnöden, jetztzeitigen und dies- dankt, und die Vision eines abgeschlossenen Raums,
seitigen Wirklichkeit entgegenstellt, so sehr sie von der als Bedingung für das Glück, welches in ihr gesi-
den religiösen Bildern der heilen Welt oder des Para- chert werden soll, etabliert wird. Beide Aspekte ge-
dieses zehrt: In dem Anspruch, eine Welt aus eigener hören zusammen, denn das eine Element – der Kon-
Kraft zu entwerfen oder gar zu verwirklichen, mel- struktivismus – zieht direkt die Vergegenständli-
det sich ein durch und durch diesseitiges oder gar chung, also die Fixierung einer zu konstruierenden
blasphemisches Selbstbewusstsein. Es manifestiert Welt nach sich. Die Fantasie der Machbarkeit, in der
sich in der Übertrumpfung der Präsenz durch die man schalten und walten kann, wie man will, steht in
Repräsentation einer anderen Welt. Die Beziehung direktem Bezug zu der Geschlossenheit, der Immu-
zwischen Ideologie und Utopie, auf die Karl Mann- nität einer Welt, die eingerichtet und auf Dauer ge-
heim in seiner bahnbrechenden Studie hingewiesen stellt werden soll. Geriete diese Ordnung ins Schwan-
hat, lässt sich genau an diesem Verhältnis zwischen ken, fiele ein Schatten auf die Macht, die sie generiert
Präsenz und Repräsentation erläutern: Während die hat.
Ideologie Szenarien entwickelt, die sich verzerrend Auch wenn diese zwei Aspekte zusammengehören
über die Wirklichkeit legen, also die Differenz von und in verschiedenen Gewichtungen in allen Uto-
Präsentem und Repräsentiertem kollabieren lassen, pien auftreten, muss man in deren Beziehung doch
sind utopische Szenarien der Wirklichkeit radikal auch ein Spannungsverhältnis erblicken. Dies wird
entgegengestellt (Mannheim 1929, 169–183). gerade mit Blick auf die Glückserfahrungen deutlich,
Indem die geschlossene Utopie der Welt entgegen- die mit ihnen assoziiert sind. Der Reiz von Utopien
gehalten wird, erzeugt sie den Schein, sie sei ein liegt demnach einerseits in Visionen der Macht und
schlechthin Anderes. Doch »neue Welten« werden, der Machbarkeit, der Neugestaltung des Lebens, an-
wie Flaubert in einem Brief vom September 1850 dererseits in Szenarien, in denen das Leben von einer
spöttisch anmerkte, aus »den Scherben des Nacht- heilen Welt umfangen ist. Die fiktionale Machtfanta-
topfs« gebaut (Flaubert 1977, 155). Utopien bleiben sie konkurriert mit Einordnung und Unterordnung;
gebunden an zeitbezogene, zeitverhaftete Nöte, mit beiden Seiten sind Vorstellungen von Glück as-
Ängste und Sehnsüchte, die durch kühn entworfene soziiert.
Traumwelten, aber auch düster gezeichnete negative Diese verschiedenen Perspektiven werden in der
Zukunftsentwürfe hindurchscheinen. Man erfährt Utopie häufig auf verschiedene Figuren verteilt:
aus ihnen oft mehr über gegenwärtiges Unglück als Nicht nur frönt der Autor selbst einer Machtfantasie,
über zukünftiges Glück. Ungeachtet dieser Anhäng- wenn er seine Utopie entwirft, oft etabliert er inner-
lichkeit ans Bestehende, ungeachtet auch der kurio- halb der von ihm entworfenen Welt eine Rollenver-
sen Vorschläge, die Utopien zu entnehmen sind, er- teilung, in der einerseits ein master of ceremony auf-
klärt sich deren große Anziehungskraft daraus, dass tritt, der sein Glück aus dem Machtgefühl ableitet,
sie das Bewusstsein der radikalen Veränderbarkeit und andererseits Menschen, die sich in Reih’ und
der Verhältnisse wach halten. So sagt Oscar Wilde: Glied begeben und ihr Glück bei der Einordnung in
»A map of the world that does not include Utopia is eine von höherer Warte geregelte Ordnung finden.
not worth even glancing at, for it leaves out the one Anhand dieser Rollenverteilung wird verständlich,
country at which Humanity is always landing. And warum sich Utopien im 20. Jahrhundert häufig in
when Humanity lands there, it looks out, and, seeing Dystopien verwandelt haben. Diese negativen Uto-
a better country, sets sail. Progress is the realisation pien dienen dazu, den Machtmissbrauch an den
of Utopias« (1890/1997, 1051). Pranger zu stellen, sie wenden sich also gegen den
Die Utopie als Gattung tut sich gleichwohl schwer konstruktivistischen Furor.
damit, sich mit dieser Übergänglichkeit des Fort- Grundsätzlich verorten Utopien das Glück in ei-
schritts und des Fortschreitens zu arrangieren. Da- ner naturhaften und in einer sozialen Dimension.
gegen steht – wie dargestellt – deren prinzipielle Zum Ersten gilt es, Erfahrungen des Mangels und der
Wendung gegen Zeitlichkeit (s. Kap. II.6). Die ab- Entbehrung, denen der Mensch als Naturwesen aus-
112 II. Systematik des Glücksdenkens

gesetzt ist, zu überwinden. Dazu gehört nicht nur die satz gelingen soll. In der Sicherung der Bedürfnisbe-
äußere Bereitstellung von Gütern, sondern auch eine friedigung erschöpft sich das »Glück des Lebens« je-
Auslegung der ihnen zugeordneten menschlichen doch nicht; es vollendet sich vielmehr erst in der
Bedürfnisse. Zum Zweiten sollen Konflikte, die nicht »geistigen Weiterbildung« und den »seelischen Freu-
nur im Streit um natürliche Ressourcen, sondern den«, die zu der »Lust« dazugehören, auf die das Le-
auch unabhängig davon im sozialen Raum auftreten, ben als »Endzweck« und »eigentliche Glückselig-
zur Ruhe kommen. Hier steht die vernünftige, tu- keit« ausgelegt ist (55, 76, 72). Zur Entfaltung dieser
gendhafte Ordnung der menschlichen Lebensver- seelischen Freuden ist nach Morus auch individuelle
hältnisse in Frage. Konflikte entbrennen häufig um Freiheit erforderlich.
politische oder erotische Ambitionen. Utopien stel- Zwar greifen weitere berühmte Utopien der Frü-
len demnach Modelle für natürliche Befriedigung hen Neuzeit wie Campanellas Sonnenstaat und Fran-
und soziale Befriedung bereit. Das ihnen zugeord- cis Bacons Fragment über Neu-Atlantis Motive auf,
nete Glück trägt dabei eine Spannung aus, die zwi- die bei Morus vorkommen; hervorzuheben ist neben
schen dem Pol der Bedürfnisse, Lüste und Leiden- der Betonung der Gleichheit die weit verbreitete Kri-
schaften und dem Pol der Regulierung herrscht. tik am Privateigentum. Doch während Morus durch-
Charakteristisch für die utopischen Beschreibungen aus einen Sinn für das »Festliche« oder gar Ausgelas-
des Glücks ist die Figur des Metabolismus, des Stoff- sene des utopischen Lebens hat – die Utopie soll
wechsels mit der Natur, auf den sich Modelle der Be- nach Morus’ vollständigem Buchtitel auch »festivus«
dürfnisbefriedigung und der ökonomischen Wohl- sein (vgl. Ginzburg 2000, 2 ff.) –, verselbständigt sich
fahrt stützen. Die damit verbundene Balance oder bei Campanella und Bacon die Absicht auf Siche-
Harmonie wird dann auch für die Gestaltung des rung der Ordnung; die Mehrung des Glücks bleibt
ökonomischen und politischen Lebens leitend. – dessen indirekte Folge. Im Mittelpunkt steht bei
Eine kleine Auswahl des reichhaltigen Materials, das Tommaso Campanella (1568–1639) die »gute Veran-
die Geschichte der Utopien bietet, soll nun mit Blick lagung«, die durch die richtige Zuteilung von Sexual-
auf die darin enthaltenen Bilder des Glücks vorge- partnern und durch strenge Erziehung generiert und
stellt werden. kultiviert werden soll (Campanella 1602/1960, 132).
Diese gesellschaftliche Optimierung ist durchaus
Bilder des Glücks in Utopien wehrhaft: So steht auf das Schminken des Gesichts
und andere individuelle Extravaganzen, die die all-
der Frühen Neuzeit
gemeine Ordnung stören könnten, die Todesstrafe
Die oben erwähnte Doppelung aus Befriedigung und (135).
Befriedung tritt bereits in der Schrift besonders Francis Bacon (1561–1626) verschreibt sich wie
deutlich zu Tage, die den Ausdruck ›Utopie‹ im Morus und Campanella dem Ziel, das »Heil« der
Sprachgebrauch etabliert hat: Thomas Morus’ Utopia »Seelen und Leiber« zu sichern (Bacon 1638/1960,
von 1516. Diesem Werk sind diverse Zukunftsent- 183). Gleichwohl konzentriert sich Bacon in dem
würfe von Platons »Atlantis« (4. Jh. v. Chr.) bis zum unvollendet gebliebenen Text Neu-Atlantis auf jene
»Dritten Reich« des Joachim von Fiore (12. Jh.) vor- Aspekte, die auch in seinem Novum Organum im
ausgegangen, auf die hier nicht weiter eingegangen Mittelpunkt stehen: Plädiert wird für die Verbesse-
werden kann. Morus (1478–1535) lässt jedenfalls rung materieller Lebensverhältnisse durch die »Er-
keinen Zweifel daran, dass das Glück ins Zentrum weiterung der menschlichen Herrschaft« über die
seines Entwurfs gehört. In einem der ersten Auflage Natur, die »bis an die Grenzen des überhaupt Mögli-
vorangestellten Gedicht erteilt er gewissermaßen der chen« gehen soll (205). In einer Kaskade von Absät-
Utopie selbst das Wort – und sie sagt von sich: »Ver- zen, die jeweils mit der Wendung »Wir haben auch«
dientermaßen müsste ich Eutopie«, also glückliches einsetzen, werden die technischen Errungenschaften
Land, »genannt werden« (More 1516/2002, 117). dieser neuen Welt gepriesen. Das Gemein-»Wohl«
Das von Morus in Aussicht gestellte Glück ergibt und entsprechend auch das Glück der Individuen (s.
sich aus einer Sicherung der materiellen Versorgung Kap. II.9) ist nach Bacon abhängig von der »Erleich-
aller Menschen, die durch einen Kampf gegen die terung« ihrer »Lage« (215; vgl. Bacon 1605/1982,
»Verschwörung der Reichen« (Morus 1516/1960, 234). Seine Utopie bewährt sich am Verhältnis des
108), durch massive Umverteilung und im Anschluss Menschen zur äußeren Natur; der Frage, wie mit der
daran durch gleichmäßigen, gemäßigten Arbeitsein- inneren Natur des Menschen und der Gestaltung ih-
11. Glück in der Utopie. Gegenwelten als Genuss- und Ordnungsfantasien 113

res sozialen Lebens umzugehen sei, schenkt Bacon in Zeiten stehen. In Folge des technischen Fortschritts
Neu-Atlantis – in der unvollendeten Form, in der erwartet man eine Koppelung der Arbeit an Selbst-
diese Schrift vorliegt – weniger Aufmerksamkeit als entfaltung statt an Selbsterhaltung und eine immer
Morus und Campanella. – Auf die vor allem im großzügiger zu genießende, freilich für Dekadenz
Frankreich des 18. Jahrhunderts entstehenden utopi- anfällige Muße; die (De-)Regulierung des Konsums
schen Entwürfe (Restif de la Bretonne u. a.), in denen stellt sich neu als Herausforderung nicht nur für pri-
Bacons Empirismus materialistisch und sensualis- vilegierte Schichten, sondern für die Massen (s. Kap.
tisch radikalisiert wird, kann hier nur hingewiesen VIII.9).
werden. Philosophische Aufmerksamkeit verdienen insbe-
sondere die frühen Entwürfe Robert Owens und
Sozialistische Utopien Charles Fouriers. Owens Gesellschaftsutopie geht di-
rekt aus dem Utilitarismus der Glücksmaximierung
Die Bandbreite der Utopien des 19. Jahrhunderts de- Jeremy Benthams hervor (s. Kap. V.1), während Fou-
finiert sich im Wesentlichen durch zwei Eckpunkte. rier vor allem das Erbe des französischen Materialis-
Auf der einen Seite kommt es im Zuge der sich im- mus des 18. Jahrhunderts antritt (s. Kap. V.2). Ihren
mer weiter ausbreitenden Technik-Euphorie zu ei- utopischen Entwürfen ist gemeinsam, dass sie nicht
ner vorsichtigen Rehabilitierung von Überfluss, Lu- nur auf dem Papier standen, sondern dass heftig an
xus und Konsumismus (vgl. Saage 1991, 194 f.). ihrer Umsetzung gearbeitet wurde.
Heinrich Heines Invektive gegen »das alte Entsa- Robert Owen (1771–1858) verfolgte wie Bentham,
gungslied« gehört in diesen Zusammenhang, doch dem er zeitweise als Geschäftspartner verbunden
wahrt er (zum Glück!) einen spielerischen, übermü- war, das Ziel, die Reform der Gesellschaft an der
tigen Ton: »Wir wollen auf Erden glücklich sein, / Mehrung des Glücks auszurichten. Was die Folge der
Und wollen nicht mehr darben […]. / Es wächst hie- von ihm skizzierten »second creation or regenera-
nieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch tion of man« sei, benannte er kurz und knapp: »joy
Rosen und Myrten, Schönheit und Lust / Und Zu- will be increased a thousand-fold« (Owen 1842/1970,
ckererbsen nicht minder« (1844/1981, 577 f.). In den Bd. 1, 75 f.). Diese Glücksmehrung wird nach Owen
eigentlich utopischen Entwürfen wird die materielle auch dadurch begünstigt, dass die Lebenserwartung
Fülle in der Regel kanalisiert und kontrolliert; Schla- der Menschen, wenn nur äußere Not abgeschafft ist,
raffenländer bleiben Mangelware, ein Loblied der auf 140 Jahre ansteigen kann (vgl. Pitzer 1997, 98).
Deregulierung hört man eher selten. Neben die affir- Da Owen das Glück von der Freiheit abkoppelte und
mative Fortschreibung laufender Entwicklungen tritt nicht nur dem Egoismus, sondern überhaupt der in-
auf der anderen Seite eine kritische Abwehr moder- dividuellen Selbstbestimmung misstrauisch gegen-
ner Verhältnisse. Sie reicht vom Kampf gegen die überstand (Owen 1813–16/1991, 43, 64), glich seine
ökonomische Ungleichheit, welche dem allgemeinen Utopie einem Erziehungsmodell mit einem »aggres-
Gütergenuss entgegensteht (Kropotkin 1892/1973), siven Paternalismus« (Pitzer 1997, 95). Er trat als
über die Warnung vor der Entfremdung von der Na- Konstrukteur einer neuen Glücksordnung auf, deren
tur (Morris 1890/1980) bis zur Kritik an sozialer Mitglieder ein strenges Vorbereitungsprogramm zu
Anomie (Saint-Simon 1821) und emotionaler Kon- durchlaufen hatten. Seinem Gesellschaftsexperiment
fusion (Fourier 1808/1966). im schottischen »New Lanark« waren Anfangser-
Häufig begegnet man einer Kombination positiver folge beschieden, seine Siedlungsgründung »New
und negativer Bezüge auf den Status quo. Verbreitet Harmony« im US-Bundesstaat Indiana scheiterte
ist die Bejahung der technischen und die Verneinung spektakulär.
der ökonomischen Moderne: Der Technik verdankt Charles Fourier (1772–1837) wollte wie Owen, auf
sich die radikale Verbesserung der natürlichen Le- den er sich berief, eine stabile soziale Ordnung er-
bensbedingungen, in deren Genuss man freilich nur richten. Anders als Owen stützte er seine Idealgesell-
kommt, wenn die sozialen Lebensverhältnisse umge- schaft der »phalanstère« nicht in erster Linie auf ein
wälzt und die egoistische Konkurrenzgesellschaft Erziehungsmodell, sondern auf eine »mechanische
abgeschafft wird (Bellamy 1888/1960). Die Herauf- Theorie der Leidenschaften« (1977, 116). Die Unter-
kunft des Glücks wird von Robert Bellamy zusam- drückung der Sinnlichkeit ist nach Fourier nicht nur
mengebracht mit der Abschaffung der Regen- glücksfeindlich, sie zerstört auch die positiven An-
schirme, die als Symbol für alte individualistische triebe zur Vergemeinschaftung (1808/1966, 378). Er
114 II. Systematik des Glücksdenkens

empfahl ein quasi-szientistisches Sozialexperiment, senschaftliche Zukunft in Aussicht gestellt. Luc Fro-
in dem die 810 Persönlichkeitstypen, die er meinte ment, Held und Haupt der am Ende siegreichen Ge-
unterscheiden zu können, jeweils in einem männli- nossenschaft, lässt sich bei der Verwandlung der
chen und einem weiblichen Exemplar vertreten sein »von Egoismus durchseuchten Stadt in ein glückli-
sollten. Daraus errechnete sich auch die exakte ches Gemeinwesen« von einem Buch inspirieren, »in
Größe seiner »phalanstère«. Deren 1620 Mitglieder dem ein Schüler Fouriers die Lehre des Meisters kurz
repräsentierten ein vollständige Spektrum von Tem- zusammengefaßt« hat (Zola o.J., 159, 161; Zola be-
peramenten und Tätigkeiten und gelangten damit zu zieht sich auf Hippolyte Renauds Solidarité von 1842;
einem vollkommenen »Gleichgewicht der Leiden- vgl. Thomä 2009).
schaften« (1977, 111). Die kollektive oder kommu- Zolas Roman Arbeit illustriert eine Transformation
nale Rahmung des Glücks führte Fourier zu einer der Lehren Fouriers, mit der sie für die Indus-
scharfen Kritik privatistischer und besitzindividua- trialisierung im großen Stil nutzbar werden sollen.
listischer Haltungen, zu denen er – ähnlich wie Ro- Sein Roman gehört in eine Reihe von Texten, die um
bert Owen – an vorderer Stelle die Ehe zählte. die Idee einer antikapitalistischen Industrialisierung
Hervorzuheben ist nicht nur die Popularität Fou- kreisen; auf diese im späten 19. Jahrhundert beson-
riers in den USA, die diejenige Robert Owens über- ders populäre Kombination wurde bereits kurz hinge-
traf (Guarnieri 1997, 161), sondern auch dessen be- wiesen. Zu beobachten sind hier verblüffende Verbin-
trächtliche literarische Wirkung. Deren eindrucks- dungen zwischen verschiedenen weltanschaulichen
vollstes Zeugnis ist der Roman The Blithedale Lagern. So rückt der »Kristallpalast«, der die Londo-
Romance, in dem Nathaniel Hawthorne (1804–1864) ner Weltausstellung 1851 schmückt, ins Zentrum der
seine eigenen Erfahrungen auf »Brook Farm« in kei- gleichfalls von Fourier beeinflussten sozialistischen
neswegs defätistischer Weise zum Thema macht. Utopie, die Nikolaj Černyševskij (1828–1889) in sei-
Hawthorne beschreibt die isolationistischen und nem Roman Was tun? entwirft (Tschernyschewskij
idiosynkratischen Tendenzen des Utopismus, er mo- 1863/1954, 517). Als Sinnbild vollständiger Ordnung
kiert sich auch über Fouriers Fantasie, dass sich eines und Transparenz wird dieser Palast zum Zentrum ei-
Tages das Meerwasser in Limonade verwandeln nes Lebens, das aus der privaten Nische heraustritt
könne, hält es aber für »good fortune«, dass er selbst und sich einer technischen Harmonie ohne Schwulst
einige Zeit in einer Kommune verbringen konnte und Pomp fügt. Hierzu muss der Kristallpalast aller-
(Hawthorne 1852/1983, 677, 633). Die Utopien dings von dem Verdacht gereinigt werden, er diene
gelten ihm keineswegs als »the rubbish of the mind«: der Verherrlichung des Kommerzes (s. Kap. V.14 mit
»If ever men might lawfully dream awake, and give Hinweisen auf Dostoevskijs Kritik am »Kristallpa-
utterance to their wildest visions […] – yes, and last«; vgl. Thomä 2008).
speak of earthly happiness, for themselves and man-
kind, as an object to be hopefully striven for, and Das Leben der Utopie nach ihrem Ende
probably attained – we […] were those very men. We
had left the rusty iron frame-work of society behind Von Tschernyschewskij aus lässt sich eine Brücke
us« (648). – Auf die spätere gleichfalls von Fourier schlagen zu den Dystopien des 20. Jahrhunderts.
inspirierte Technik des Glücks von Franz Jung, der die Während der Kristallpalast bei ihm zum Ideal taugt,
»Erneuerung des Menschlichen« vorantreiben will, wird er in Jewgeni Samjatins (1884–1937) Roman
und auf André Bretons Ode an Charles Fourier, in Wir zum Schreckbild. Beschrieben wird hier eine kli-
der die Entfaltung der Sinnlichkeit gepriesen wird, nisch saubere Welt, in der die Menschen in »durch-
sei hier nur nebenbei verwiesen (Jung 1921/1987, 81, sichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häu-
63; Breton 1947/1982). sern, ewig vom Licht umflutet« leben und allseitiger
Ein gleichfalls eher lautstarkes Echo auf Fourier Kontrolle ausgesetzt sind (1920/1984, 22, vgl. 123,
findet sich in Émile Zolas (1840–1902; s. Kap. V.11) 126). Mit Samjatins Wir schließt sich der Kreis, der
spätem Roman Arbeit (1901). Entworfen wird hier um 1800 mit Owen und Fourier seinen Anfang ge-
eine heile Welt, die über die Konkurrenzgesellschaft nommen hat. An den Pranger gestellt wird nun eine
des Kapitalismus den Sieg davonträgt. Zola schildert Glücksherstellung, die auf technische Vollversorgung
in Arbeit, anders als im Vorgänger-Roman Frucht- und pharmazeutische Steuerung des natürlichen Le-
barkeit (1899), keine agrarische Utopie, vielmehr bens setzt. Der Automatismus tritt an die Stelle der
wird der Welt der Stahl- und Bergwerke eine genos- Autonomie (vgl. Thomä 2003, 35–47). Zwar bleibt
11. Glück in der Utopie. Gegenwelten als Genuss- und Ordnungsfantasien 115

offen, ob dieser Automatismus Glück garantiert: »Die spältigkeit sind die zeitgenössischen Utopien Symp-
absolute, endgültige Lösung des Problems Glück«, so tome einer Verunsicherung in der modernen Gesell-
wird zugegeben, »haben selbst wir noch nicht gefun- schaft, die zugleich den Weg in die Zukunft und den
den.« Doch der Außenseiter, der aus diesem Raum Weg in die Vergangenheit beschreiten will.
heraustreten will, sieht sich vor die folgende Alterna-
tive gestellt: »Glück ohne Freiheit – oder Freiheit
Literatur
ohne Glück« (Samjatin 1920/1984, 15 f., 61).
Aldous Huxley (1894–1963) operiert in Nachfolge Bacon, Francis: The Proficience and Advancement of
zu Samjatin fast epigonal, sein Gegner in Brave New Learning Divine and Humane [1605]. In: Ders.: A Se-
World ist freilich nicht die kommunistische Glücks- lection of His Works. New York 1982, 197–271.
utopie, sondern Henry Fords (s. Kap. VIII.8) Opti- –: Neu-Atlantis [1638]. In: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der
mierung der Mensch-Maschine, welche immerhin in utopische Staat. Reinbek 1960, 171–215.
der jungen Sowjetunion begeisterte Anhänger fand Bellamy, Edward: Looking Backward 2000 – 1887
(vgl. Stites 1989, 145 ff.). Huxley stellt seinen Helden [1888]. New York/Scarborough 1960.
vor die übersichtliche Alternative zwischen einem Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung [1954–59]. Frank-
vollautomatischen Glück und einer Freiheit, die zu- furt a. M. 1973.
Breton, André: Ode an Charles Fourier [1947]. Berlin
gleich »das Recht auf Unglück« einschließt (1932/
1982.
1953, 174; zum Glück vgl. auch 65, 74 f., 156 f., 160,
Campanella, Tommaso: Sonnenstaat [1602]. In: Klaus J.
165). Es liegt freilich eine eigene Beschränktheit in
Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. Reinbek 1960,
dem Ansatz, das Glück gegenüber der Freiheit in 111–169.
Misskredit zu bringen. Diese Haltung wirkt mit an Diderot, Denis: Nachtrag zu ›Bougainvilles Reise‹
dem »Verrat der Freude«, über den sich Max Scheler [1796]. In: Ders.: Philosophische Schriften. Bd. II.
beklagt hat (s. Kap. VI.5 und Scheler 1922/1976). Berlin 1984, 195–237.
Die topische Qualität, die der Utopie eigen ist, hat Flaubert, Gustave: Briefe. Zürich 1977.
in den Dystopien Samjatins und Huxleys klaustro- Fourier, Charles: Theorie der vier Bewegungen und der
phobische Effekte. Der Raum, in dem man sich be- allgemeinen Bestimmungen [1808]. Frankfurt a. M.
findet, ist ein Gefängnis. Es verwundert nicht, dass 1966.
diese topische Qualität der Utopie – im Guten wie –: Aus der Neuen Liebeswelt. Berlin 1977.
im Schlechten – auch die Aufmerksamkeit eines Me- George, Stefan: Der siebente Ring [1907]. In: Ders.:
diums angezogen hat, das für die Darstellung des Werke. Ausgabe in 4 Bänden. Bd. 2. München 1983,
Raumes viel besser geeignet ist als die narrative 5–122.
Form: Gemeint ist der Film (s. Kap. VI.13). In der Tat Ginzburg, Carlo: No Island Is an Island. Four Glances at
sind die frühen utopischen Filme ganz und gar von English Literature in a World Perspective. New York
Architektur (s. Kap. VIII.10) beherrscht: Dies gilt für 2000.
Fritz Langs Metropolis (1927) ebenso wie für Frank Goethe, Johann Wolfgang von: Faust [1803–33]. Sämtli-
Capras Lost Horizon (1937), in dem der ferne, fast che Werke. Bd. 7/I. Frankfurt a. M. 1994.
unerreichbare Glücksort »Shangri La« mit gleißend- Guarnieri, Carl J.: Brook Farm and the Fourierist Pha-
lanxes. In: Donald E. Pitzer (Hg.): America’s Commu-
weißen Gebäuden im harmonischen Zusammen-
nal Utopias. Chapel Hill/London 1997, 159–180.
spiel mit der Natur dargestellt wird.
Hawthorne, Nathaniel: The Blithedale Romance [1852].
Es fehlt hier der Raum, um die Glücksbilder, die in
In: Ders.: Collected Novels. New York 1983, 629–848.
weiteren Science-Fiction-Filmen entworfen worden Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen
sind, zu analysieren. Auffällig ist, dass sich in ihnen [1844]. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd. 7. Frank-
häufig technische Fantasien totaler Verfügungs- furt a. M./Berlin/Wien 1981, 571–644.
macht in virtuellen Welten mit nostalgischen Ele- Huxley, Aldous: Schöne neue Welt [1932]. Frankfurt
menten des einfachen Lebens, familiärer Intaktheit a. M. 1953.
und ursprünglicher Güte vermischen. Dies gilt für Jung, Franz: Die Technik des Glücks [1921]. In: Ders.:
James Camerons Terminator ebenso wie für George Die Technik des Glücks. Mehr Tempo! Mehr Glück!
Lucas’ Star Wars-Serie und die Matrix-Trilogie der Mehr Macht! Hamburg 1987, 7–84.
Brüder Wachowski. Die dort zum Ausdruck kom- Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater
menden Glücksvorstellungen schwanken zwischen [1810]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. München
Allmacht und Geborgenheit. Mit ihrer inneren Zwie- 1994, 338–345.
116 II. Systematik des Glücksdenkens

Kropotkin, Petr: Die Eroberung des Brotes [1892]. In: ciety in the Western World. New York/Oxford 2000,
Ders.: Die Eroberung des Brotes und andere Schrif- 3–7.
ten. München 1973, 57–277. Scheler, Max: Vom Verrat der Freude [1922]. In: Ders.:
Landauer, Gustav: Die Revolution [1907]. Frankfurt Gesammelte Werke. Bd. 9. Bern/München 1976, 120–
a. M. 1919. 145.
Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Bonn 1929. Seibt, Ferdinand: Utopica. Zukunftsvisionen aus der
More, Thomas: Utopia [1516]. Cambridge u. a. 2002. Vergangenheit. München 2001.
Morris, William: Kunde von Nirgendwo. Eine Utopie Stites, Richard: Revolutionary Dreams. Utopian Vision
der vollendeten kommunistischen Gesellschaft and Experimental Life in the Russian Revolution.
[1890]. Reutlingen 1980. New York/Oxford 1989.
Morus, Thomas: Utopia. In: Klaus J. Heinisch (Hg.): Der Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt
utopische Staat [1516]. Reinbek 1960, 7–110. a. M. 2003.
Owen, Robert: A New View of Society; or Essays on the –: Sprung im Kristall. Zu einem Motiv bei Dostojewskij
Principle of the Formation of Human Character, and und Wittgenstein. In: Felix Philipp Ingold/Yvette Sán-
the Application of the Principle to Practice [1813– chez (Hg.): Fehler im System. Göttingen 2008, 265–
16]. In: Ders.: A New View of Society and Other Wri- 280.
tings. London 1991, 1–92. –: Ankunft und Abenteuer. Philosophische Anmerkun-
–: Book of the New Moral World in Seven Parts [1842]. gen zu Zeiterfahrungen um 1900 im Ausgang von
New York 1970. Émile Zola und Georg Simmel. In: Aage A. Hansen-
Pitzer, Donald E.: The New Moral World of Robert Löve u. a. (Hg.): Ankünfte. An der Epochenschwelle
Owen and New Harmony. In: Ders.: America’s Com- um 1900. München 2009, 21–40.
munal Utopias. Chapel Hill/London 1997, 88–134. Touraine, Alain: Society as Utopia. In: Roland Schaer
Renaud, Hippolyte: Solidarité. Vue synthétique sur la u. a. (Hg.): Utopia. The Search for the Ideal Society in
doctrine de Ch. Fourier [1842]. Paris 1845. the Western World. New York/Oxford 2000, 18–31.
Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit. Darm- Tschernyschewskij, Nikolaj G.: Was tun? Aus Erzählun-
stadt 1991. gen von neuen Menschen [1863]. Berlin 1954.
Saint-Simon, Henri de: Du système industriel. Paris Wilde, Oscar: The Soul of Man Under Socialism [1890].
1821. In: Ders.: Collected Works. Ware, Hertfordshire 1997,
Samjatin, Jewgeni: Wir [1920]. Köln 1984. 1039–1066.
Schaer, Roland: Utopia: Space, Time, History. In: Roland Zola, Émile: Arbeit [1901]. Berlin (o. J.).
Schaer u. a. (Hg.): Utopia. The Search for the Ideal So- Dieter Thomä
117

III. Glück in der Antike

1. Glück bei Platon. Lebensführung interessiert war. Dennoch kulminiert


dieses Interesse nicht im Glücksbegriff. Die von Aris-
Moralischer tipp begründete Schule der Kyrenaiker bildet viel-
Intellektualismus mehr eine Ausnahme, indem sie anders als die an-
deren antiken Philosophenschulen der eudaimonia
und Ideentheorie nicht den Stellenwert des höchsten Lebensziels bei-
maß. Die Kyrenaiker nahmen stattdessen eine hedo-
Vorbemerkungen nistische Position ein, die der modernen Bevorzu-
gung des Empfindungsglücks gegenüber dem Erfül-
Seit dem historischen Sokrates und seit Demokrit lungsglück noch am nächsten kommt.
besteht in der antiken Philosophie eine Tendenz zur Fundamental für die Glückstheorien der antiken
Verinnerlichung, Intellektualisierung und zur Mora- Philosophie, und so auch für Platon, ist ferner der
lisierung des Glücksverständnisses. Damit verbindet Begriff des Guten oder des Gutes (agathon, bonum).
sich die Vorstellung, dass das Glück von Menschen Ein Gut ist das, was für einen Akteur vorteilhaft und
grundsätzlich erreichbar ist. Im platonischen Gor- wählenswert ist (vgl. für die moderne Nachfolgedis-
gias scheint Sokrates beinahe auf die Kroisos-Erzäh- kussion Kap. VI.9). Wie bereits die klassische griechi-
lung aus Herodot (Historiae I, 29 ff.) anzuspielen, sche Philosophie sah, gibt es zwei Möglichkeiten, den
wenn er sagt, ein reicher und mächtiger König sei Charakter von etwas als ›Gut‹ zu interpretieren: Ent-
dann, aber auch nur dann glücklich, wenn er über weder ergibt sich das Gutsein von etwas aus seinen
sittliche Bildung und Gerechtigkeit verfüge (Gorgias objektiven Eigenschaften sowie aus den objektiven
470e). Allein der, der ein sittlich gutes Leben führe, Eigenschaften des Akteurs, für den es ein Gut ist;
könne als gesegnet und glücklich gelten (507c). Für oder aber sein Gutsein kommt durch einen Wunsch
das gute und glückliche Leben soll allein entschei- zustande, den der Akteur auf das betreffende Objekt
dend sein, ob jemand Weisheit erlangt (Platon: Eu- richtet. Im ersten Fall ist Gutsein dasjenige, was den
thydemos 282a). Bei Demokrit findet sich wohl un- Wunsch im Subjekt hervorruft; der Akteur nimmt
abhängig von Sokrates die These, der Unrechttuende das Gute wahr. Im zweiten Fall ist es das Subjekt, das
sei unglücklicher (kakodaimonesteros) als der Un- einem Objekt Gutsein zuspricht; es verfährt dabei
rechtleidende (DK 68B45). Glück lässt sich nach De- nach seinem Geschmack. Im Wahrnehmungsmodell
mokrit nicht in äußeren Gütern finden, sondern nur ist der Zusammenhang zwischen dem Gegenstand
in der Seele: »Die eudaimonia wohnt nicht in Her- und dem Wunsch eines Individuums einer Außenbe-
den noch in Gold: die Seele ist der Wohnsitz des schreibung fähig, im Geschmacksmodell dagegen von
daimôn« (DK 68B171; s. Kap. I.1). Von Demokrit und interner Art. Der Kern der Unterscheidung liegt in
Sokrates ausgehend ist die zentrale Stellung dieses der Antithese »gewünscht, da wertvoll« (desired be-
verinnerlichten, intellektualistisch und moralisch cause valuable) und »wertvoll, da gewünscht« (valu-
verstandenen Glücksbegriffs bei nahezu allen nach- able because desired; vgl. Griffin 1986). In dieser Ge-
folgenden Philosophen anzutreffen, nämlich bei Pla- genüberstellung eines Objektivismus und eines Sub-
ton und Aristoteles, bei den Kynikern, den Stoikern, jektivismus in der Theorie des gelingenden Lebens
den Epikureern, den Skeptikern, den Akademikern gehören die antiken Modelle auf die objektivistische
und Peripatetikern sowie bei den hellenistischen und Seite. Sie bevorzugen ein »Werde der du bist«-
kaiserzeitlichen Platonikern. Erwähnenswert ist al- Schema (basierend auf Essentialismus und Perfekti-
lerdings eine markante Opposition gegen das verin- onismus) gegenüber einer »Erfinde dich selbst«-
nerlichte Glücksverständnis bei Aristipp von Kyrene. Konzeption (der Autopoiesis und des subjektiven
Aristipp war Schüler des Sokrates und wie dieser ein Präferentialismus), welche modernitätstypisch ist.
Philosoph, der vornehmlich an Fragen der richtigen Daraus ergeben sich einige grundlegende Thesen
118 III. Glück in der Antike

des philosophischen Eudämonismus der Antike, zugleich der glücklichste, der schlechteste der un-
nämlich: (1) Glück ist das, was sich alle Menschen glücklichste (580c). Besser soll es nämlich sein, ge-
abschließend wünschen; Glück ist das, um dessent- recht als ungerecht zu leben (357a f.). Platon bemüht
willen man alles andere wünscht, das telos. (2) Es ist sich in erheblichem Umfang darum, diese These phi-
das, worin alle natürlichen Strebenstendenzen zur losophisch zu rechtfertigen; sein zentrales Werk Po-
Ruhe kommen. (3) Glück ist das, was sich aus allen liteia dient in seiner Rahmenargumentation genau
Gütern zusammensetzt (entweder im Sinn eines Gü- dieser Aufgabe. Noch der späte Platon will das
termonismus oder aber eines Güterpluralismus). (4) Glücksproblem dadurch bewältigen, dass er be-
Die Kompetenz für die Bestimmung und Herbeifüh- stimmt, welche »Haltung oder Beschaffenheit der
rung des Glücks liegt bei der Philosophie: Sie spielt Seele« dem Menschen angemessen ist (hexin psychês
die Rolle einer Lebenskunst (technê tou biou, ars vi- kai diathesin; Philebos 11d). Die Antwort auf die
vendi). Frage »Welches Leben soll man führen, um glücklich
Der Ausdruck ›Lebenskunst‹ steht für einen Typ zu werden?« soll also in der Gerechtigkeit liegen. Pla-
von Moralphilosophie, welcher zwischen Sokrates ton widerspricht damit der Auffassung einiger So-
und den spätantiken Neuplatonikern, ja sogar bis ins phisten, der Gerechte sei ein Schwächling oder ein
13. Jahrhundert hinein vorherrschte. Er bezeichnet gutmütiger Trottel (euêthês; Politeia 349b). Gerech-
den Umstand, dass antike Ethiken biographieorien- tigkeit, so die provokative Dialogfigur Thrasyma-
tiert waren und auf eine Transformation der Einstel- chos, wirke sich zum fremden Vorteil (allotrion aga-
lungen und existenziellen Haltungen ihrer Adressa- thon) und zum eigenen Schaden aus (oikeia blabê;
ten hinzielten (vgl. Hadot 1991; 1995; Horn 1998). 343c). Thrasymachos empfiehlt folgerichtig die Un-
Wie wir wissen, wurde Philosophie im Altertum vor- gerechtigkeit und lobt das Verhalten eines konse-
nehmlich als Lebenskunst verstanden, nämlich als quent eigennützigen Tyrannen. Bei Platons Gegen-
praxistaugliches und als lebensdienliches Unterneh- these muss man sich klarmachen, dass es ihm nicht
men, nicht als ein akademischer Fachdiskurs. Die um den Nachweis geht, moralisches Handeln sei al-
Philosophie besitzt also die Kompetenz, zum Glück len Nachteilen zum Trotz verbindlich oder geboten.
zu führen. In antiken philosophischen Texten finden Er will zeigen, dass es im wohlverstandenen Inter-
wir häufig Bemerkungen von der Art, die Philoso- esse eines jeden liegt: Gerechtigkeit zahlt sich aus.
phie und nur sie führe zum glücklichen Leben, weil Es wirkt zunächst alles andere als klar, worin der
»allein sie das richtige Urteil und die unfehlbare, Zusammenhang von richtiger seelischer Verfassung,
handlungsleitende Einsicht einschließt« (Aristoteles: Moralität und Glück für Platon bestehen mag. Führt
Protreptikos B9). Bei Platon heißt es, das schönste die aretê zum Glück wegen der sozialen Achtung, die
und wichtigste Wissen sei die Erkenntnis, »wer sie einbringt? Dann würde es sich um eine äußere
glücklich sei und wer nicht« (Gorgias 472c). In eine Form von Belohnung handeln. Man kann diese Mög-
ähnliche Richtung geht Epikurs Definition der Phi- lichkeit definitiv ausschließen; nach Platons Ansicht
losophie als einer »Tätigkeit, die durch Argumenta- darf Gerechtigkeit gerade nicht wegen ihrer sozialen
tion und Diskussion das glückliche Leben herstellt« Folgen gepriesen werden (366e; 368b–d). Der plato-
(Epikur 1966, 219) oder Ciceros Ansicht aus dem nische Gerechte ist also keineswegs deswegen glück-
Hortensius, wer ein glückliches Leben führen wolle, lich, weil seine äußeren Lebensumstände dauerhaft
müsse philosophieren (bei Quintilian: Institutiones günstig wären. Platon geht es darum, zu zeigen, dass
V, 14,13). sich die These vom Nutzen der Gerechtigkeit selbst
bei extremen sozialen Nachteilen, die ein Gerechter
Platons Glücksbegriff unter Umständen hinnehmen muss, aufrecht halten
lässt (360e ff.). Meint Platon mit dem Glück des Tu-
Platon vertritt in der Nachfolge des Sokrates die An- gendhaften dann eine Belohnung nach dem Tod, wie
sicht, Glück ergebe sich allein aus einer angemesse- wir sie besonders aus der christlichen Tradition ken-
nen seelischen Verfassung des Menschen. Auch er nen? Diese religiöse Vorstellung enthält zwar auch
versteht darunter eine gerechte, sittlich orientierte eine äußere Form von Belohnung; für Platon bildete
Lebensführung. Maßgeblich bleibt für ihn die Über- sie aber eine akzeptable Idee, die er in seinen Mythen
zeugung, dass glücklich ist, wer »gut lebt« (eu zôn), vom Totengericht wiederholt dargestellt hat. Wer
und entsprechend unglücklich, wer ein schlechtes sein Leben gerecht und heilig geführt hat, so heißt es
Leben führt (Politeia 353e f.). Der beste Mensch ist im Gorgias, der gelangt nach seinem Tod zu den »In-
1. Glück bei Platon. Moralischer Intellektualismus und Ideentheorie 119

seln der Seligen«, wo er in vollkommener Glückse- erstrebenswert sein soll, wie sie sich tatsächlich als
ligkeit frei von allen Übeln lebt (Gorgias 523a f.; ähn- gut erweisen lässt (Gorgias 499b ff.). Man wird nicht
lich Politeia 608c ff.). Allerdings liegt in der ewigen behaupten können, Platon sei anti-hedonistisch;
Glückseligkeit des Gerechten eher eine nachgescho- wohl aber hält er Lust nicht für ausnahmslos erstre-
bene und sekundäre, nicht die zentrale Begründung, benswert. Wenn Platon also zeigen will, dass Gerech-
die Platon im Sinn hat. tigkeit etwas intrinsisch Wertvolles ist, darf er es we-
Besteht diese Begründung darin, dass sich das der bei bestimmten jenseitigen Belohnungen bewen-
Glück bei der gerechten Persönlichkeit im Sinn einer den lassen noch bei der Lust an der seelischen
seelischen Lustempfindung einstellt? Dies wäre eine Harmonie. In beiden Fällen würde es sich ja um An-
innere Form von Belohnung, die von allen Außen- nehmlichkeiten handeln, die der Gerechte als Beloh-
umständen unberührt bliebe. Tatsächlich meint Pla- nung, d. h. als Folge seiner Gerechtigkeit, erhielte. Die
ton, der Gerechte zeichne sich durch eine maximale Lustempfindung als Verbindungsmoment zwischen
seelische Harmonie und Selbstübereinstimmung aus Tugend und Glück kennzeichnet eine hedonistische
(Politeia 443c ff.). Platon parallelisiert die Gerechtig- Position, etwa diejenige Epikurs. Platon muss den in-
keit der Seele mit dem, was Gesundheit für einen trinsischen Wert der Gerechtigkeit folglich auf an-
Körper bedeutet (444c–e). Allerdings zeigt sich erst dere Weise zeigen. Tatsächlich stellt sich bei näherem
im Buch IX der Politeia, inwiefern in diesem Punkt Hinsehen heraus, dass der innere Lustgewinn für
ein wichtiger Teil des Zusammenhangs zwischen den Gerechten nur eine Zugabe ist. Entscheidend ist
Gerechtigkeit und Glück liegt. Platon kommt erst das erste platonische Argument, das auf dem Ver-
dort auf das Thema einer Gegenüberstellung des gleich eines gerechten und eines ungerechten Lebens
vollkommen Gerechten und des vollkommen Unge- beruht (580a–c), nämlich darin, dass der Gerechte –
rechten zurück (576b–592b) und entwickelt dabei der Philosoph – seine Gerechtigkeit durch die Be-
drei Argumente für die These vom Glück des Ge- trachtung und Nachahmung der Ideenordnung er-
rechten. Die Argumente 2 und 3 stellen dem Gerech- hält. Der Philosoph, so Platon, wird dadurch gerecht,
ten oder Philosophen, gleichgültig wie sein äußeres dass er auf die Ideen, also etwas Wohlgeordnetes und
Leben verläuft, eine höchst positive Lustbilanz in Gleichbleibendes schaut und deren Ordnung imi-
Aussicht, und zwar im Sinn eines geistigen Genusses. tiert (500c; vgl. Kraut 1992). Inwiefern aber macht
Platon sagt nämlich zum einen, der Tugendhafte die Ideenordnung die Gerechtigkeit zu etwas intrin-
oder Philosoph führe das lustvollste Leben, weil sein sisch Wertvollem, und inwiefern führt ihre Betrach-
an der Erkenntnis orientiertes Leben den höchsten tung und Nachahmung zum Glück?
Grad von Lustempfindung mit sich bringe (580d– Zur Klärung dieser Fragen trägt eine Passage aus
583a). Zum anderen ergibt eine Betrachtung der dem Symposion entscheidend bei. In diesem Dialog
Qualitätsgrade verschiedener Vergnügungen, dass lässt Platon die Priesterin Diotima den Eros durch
der Philosoph eine »729mal größere Lust« als der dessen »Verlangen nach dem Schönen« kennzeich-
Nichtphilosoph empfinde (583b–588a). Der Philo- nen; die Liebe richte sich stets auf etwas Schönes
soph kann mit dieser überlegenen Lustempfindung (Symposion 204d). Platons Interesse gilt dieser Stre-
offenbar jeden sozialen Nachteil und andere widri- bensrelation; ›Streben‹ bedeutet, etwas erreichen zu
gen Außenumstände ausgleichen. wollen. Was aber bedeutet es für den, der etwas an-
Dennoch hat Platon noch eine andere Begrün- strebt, das Erstrebte zu erreichen? Die Frage wird all-
dung im Sinn, wie sich am ersten der drei Argumente gemeiner formuliert, indem der Begriff des Schönen
aus Politeia IX zeigt. Dieses gründet sich nicht auf durch den Ausdruck »das Gute« oder »die Güter«
eine Belohnung durch Lust; um das Argument ver- (tagatha; 204e) ersetzt wird. Unter einem agathon ist
ständlich zu machen, ist ein kleiner Umweg nötig. nicht etwas moralisch Richtiges, sondern etwas Vor-
Am Beginn des zweiten Buchs der Politeia stellt Pla- teilhaftes oder Wertvolles zu verstehen. Streben be-
ton fest, die Gerechtigkeit gehöre zu jenen Gütern, deutet also grundsätzlich, etwas Vorteilhaftes anzu-
die nicht allein um ihrer Folgen willen, sondern streben; der Inbegriff des Vorteilhaften ist so gese-
überdies um ihrer selbst willen anzustreben sei hen »das Gute«. Angenommen, jemand würde etwas
(358a). Man weiß aber, dass Platon die Auffassung, schlechterdings Wünschenswertes erreichen: Was
Lust sei etwas in sich Gutes, also ›intrinsisch wert- hätte er davon? Platon antwortet, dass der Betref-
voll‹, abgelehnt hat. Er macht geltend, dass es auch fende glücklich sei; denn es sei der Besitz des Guten,
schlechtes Vergnügen gebe, so dass Lust nur soweit der die Glücklichen glücklich mache (205a, vgl. 202c;
120 III. Glück in der Antike

Gorgias 478c). Die Strebensrelation kommt nun in Macht, Wissen oder Reichtum würde diese Pointe
dem, was schlechthin erstrebenswert ist, zu einem verderben. Zwar bietet das Erlangen der Idee des Gu-
Abschluss (telos). Denn, so lässt Platon Diotima sa- ten nach Platon auch erhebliche Vorteile. Von der
gen, man kann nicht weiterfragen, weshalb jemand ›geistigen Lust‹ des Philosophen abgesehen ist etwa
glücklich sein wolle. Was immer unter Glück zu ver- davon die Rede, die Idee des Guten bilde insofern die
stehen ist, es ist eben das, worin jedes Streben, Be- »größte Einsicht« (megiston mathêma), als sie »erst
gehren, Wünschen usw. ein Ende hat. das Gerechte […] vorteilhaft und nützlich macht«.
Die Stelle ist deshalb so bedeutend, weil Platon Wer diese Einsicht nicht besitze, dem könnten auch
hier erstmals in der Philosophiegeschichte eine ›te- alle anderen Einsichten nicht helfen (Politeia 505a
leologische Glückstheorie‹ skizziert. Diese Konzep- f.). Auch das Höhlengleichnis betont den zentralen
tion bildet das Zentrum der meisten späteren Versio- Wert der Idee des Guten für ein vernünftiges Han-
nen des Eudämonismus. Das Glück wird als ein Ziel deln (517c). Aber da die Idee des Guten für dasjenige
erwiesen, das man nicht als nur teilweise gut auffas- steht, »was jede Seele anstrebt und um dessentwillen
sen kann; es ist schlechterdings gut. Deshalb kann es sie alles tut« (505e; vgl. Gorgias 468b, 499e), bedeutet
auch nicht als Mittel oder Instrument zu einem wei- ihre Erlangung eo ipso die Erfüllung des menschli-
teren Ziel begriffen werden; vielmehr handelt es sich chen Strebens. Man kann dies leichter verstehen,
um ein letztes oder abschließendes Ziel. Daraus folgt: wenn man es mit Platons Ethik der ›Angleichung an
Was immer dafür in Betracht kommt, das Glück in- Gott‹ (homoiôsis theô) in Zusammenhang bringt. Die
haltlich zu bestimmen (z. B. Reichtum, Macht, Lust, gemeinte Angleichung bezeichnet dann die Nachah-
Erkenntnis, Tugend), muss ebenfalls unter allen Um- mung der Ideenordnung und besonders die Nachah-
ständen gut sein, und es darf ebenfalls keine Instru- mung der obersten Idee in religiöser Ausdrucks-
mentalisierung zulassen. Folgt man dem Gorgias, so weise.
kann Platon die Lust nicht für eine geeignete Glücks- Aber so interessant sich Platons ideentheoretische
kandidatin gehalten haben, und zwar weil es nicht Glücksethik auch ausnimmt, es legt sich der Ein-
von vornherein klar sei, ob eine bestimmte Lust gut wand nahe, dass sie andere Personen in kontraintui-
oder schlecht, also vorteilhaft oder nachteilig ist. tiver Weise aus dem Blick lässt. Gregory Vlastos hat
Platon bringt das Glück als höchstes und abschlie- einen solchen Impersonalismus-Vorwurf mit Blick
ßendes Strebensziel mit der ›Nachahmung‹ der Ideen auf Platons Liebeskonzeption im Symposion erhoben
in Verbindung, und zwar besonders mit der höchs- (Vlastos 1981). Eine geliebte Person scheint dort nur
ten Idee, der »Idee des Guten« (idea tou agathou), als Trägerin einer idealen Eigenschaft – also nur in-
von der die Bücher VI und VII der Politeia handeln. strumentell und intermediär – geschätzt zu werden.
Platons Glückstheorie basiert also nicht auf der Ähnlich könnte man den Vorwurf formulieren, dass
Überzeugung, dass Gerechtigkeit glücklich macht, Platon den moralischen Gedanken einer Selbst-
weil das Leben des Philosophen die größtmögliche zwecklichkeit des Menschen in seiner Ethik nicht
Lust mit sich bringt, sei es in diesem Leben, sei es unterbringen kann. Ob Platon diesen Einwand ent-
nach dem Tod – obwohl er dem Gerechten beide kräften könnte, hängt davon ab, ob sich intrinsisch
Formen der Lust als Belohnung in Aussicht stellt. Wertvolles auch als Zwischenziel menschlichen Han-
Vielmehr ist Platon der Ansicht, unter dem Glück delns auffassen lässt oder ob es als Endziel aufgefasst
des Gerechten sei die endgültige Erfüllung des ge- werden muss. Dieses Problem wird uns gleich noch
samten menschlichen Strebens zu verstehen, näm- bei Aristoteles beschäftigen.
lich die Erlangung des höchsten Guts. Darunter soll
nicht Lust, sondern ein oberstes Prinzip der Wirk- Literatur
lichkeit verstanden werden. Die Pointe dieser Theo- Annas, Julia: The Morality of Happiness. New York/Ox-
rie liegt nun darin, dass es sinnlos wäre, Platon zu ford 1993.
fragen, welchen Nutzen man davon hat, das oberste Aristoteles: Der Protreptikos des Aristoteles (Übers. I.
Prinzip zu erlangen, ob sich daraus z. B. ein Lustge- Düring). Frankfurt a. M. 21979.
winn ergebe. Indem der Gerechte sich für ein Leben Cicero: Hortensius, Lucullus, Academici libri. Lat.-Dt.
nach den Ideen entscheidet, erfüllt er genau die in (Übers. u. Hg. L. Straume-Zimmermann u. a.). Zü-
ihm angelegte Strebenstendenz. Das Kennzeichen rich/München 1990.
des höchsten Strebensziels ist es also, das Glücksstre- Diels, Hermann/Kranz, Walter (Hg.): Die Fragmente
ben zu beenden; eine Belohnung durch Vergnügen, der Vorsokrater [DK]. Hamburg 1952.
2. Glück bei Aristoteles. Der Güterpluralismus und seine Deutungen 121

Epikur: Epicurea (Hg. H. Usener). Stuttgart 1966.


Griffin, James: Well-being. Oxford 1986.
2. Glück bei Aristoteles.
Hadot, Pierre 1991: Philosophie als Lebensform. Geis- Der Güterpluralismus
tige Übungen in der Antike. Berlin 1991.
–: Qu’est-ce que la philosophie antique? Paris 1995.
und seine Deutungen
Herodot: Historiae/Historien (Hg. J. Feix). Griech.-Dt.
Bd. 1: Bücher I–V; Bd. 2: Bücher VI–IX. München Die Glückskonzeption des Aristoteles scheint auf
5
1995. den ersten Blick anti-platonisch zu sein. Für Platon
Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. Glück und Moral
vermag der Philosoph jeden sozialen Nachteil durch
von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. München
sein inneres Lustempfinden auszugleichen. Aristote-
1998.
les hingegen schreibt: »Wenn aber manche Leute sa-
–: Klugheit, Moral und die Ordnung der Guter: Die an-
tike Ethik und ihre Strebenskonzeption. In: Philoso-
gen, der Gefolterte oder der von Schicksalsschlägen
phiegeschichte und logische Analyse 6 (2003), 75–95. Betroffene sei glücklich, wenn er nur gut sei, so be-
Irwin, Terence H.: Plato’s Moral Theory, Oxford 1977. haupten sie mit oder ohne Absicht Unsinn« (Niko-
–: Plato’s Ethics, New York 1995. machische Ethik [NE] 1153b 19–21). Während Pla-
Kraut, Richard: Two Conceptions of Happiness. In: Phi- ton den Philosophen gegen alle äußeren Widrigkei-
losophical Review 88 (1979), 167–197. ten immunisiert, schließt Aristoteles in seine Liste
–: The Defense of Justice in Plato’s »Republic«. In: Ders. der Glücksbedingungen auch äußere Güter ein (ek-
(Hg.): The Cambridge Companion to Plato. Cam- tos chorêgia). Bei Aristoteles heißt es: »Es gibt ferner
bridge 1992, 311–337. gewisse Güter, deren Fehlen die reine Form des
Nehamas, Alexander: Die Kunst zu leben. Sokratische Glücks beeinträchtigt, etwa vornehme Geburt, wohl-
Reflexionen von Platon bis Foucault [1998]. Ham- geratene Kinder oder Schönheit; denn mit dem
burg 2000. Glück eines Menschen ist es schlecht bestellt, wenn
Platon: Politeia. In: Ders.: Werke in 8 Bänden. Griech.- er ein ganz abstoßendes Äußeres oder eine niedrige
Dt. (Hg. G. Eigler). Bd. 4. Darmstadt 1971. Herkunft hat oder ganz allein im Leben steht und
–: Philebos. In: Werke. Bd. 7. Darmstadt 1972. kinderlos ist. Noch weniger kann man von Glück
–: Euthydemos. In: Werke. Bd. 2. Darmstadt 1973. sprechen, wenn jemand ganz schlechte Kinder oder
–: Gorgias. In: Werke. Bd. 2. Darmstadt 1973. Freunde besitzt oder gute durch den Tod verloren
–: Symposion. In: Werke. Bd. 3. Darmstadt 1974. hat. Wie gesagt, gehören also zum Glück auch solche
Quintilian: Institutio oratoria/Ausbildung des Redners.
günstigen Umstände, weshalb denn manche die
Zwölf Bücher. Teil 1, Buch I – VI (Übers. und Hg. H.
Gunst der äußeren Umstände auf eine Stufe stellen
Rahn). Darmstadt 2006.
mit dem Glück – während andere der sittlichen Tu-
Russell, Daniel: Plato on Pleasure and the Good Life.
Oxford 2005.
gend diesen Platz einräumen« (NE 1099b 2–8; vgl.
Vlastos, Gregory: The Individual as an Object of Love in Rhetorik 1360b 19 ff.). Offenkundig enthält das Zitat
Plato. In: Ders.: Platonic Studies. Princeton 21981, eine gewisse Rehabilitation des frühen und populä-
3–42. ren Glücksverständnisses, als dessen Repräsentanten
–: Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Ithaca 1991. man die Figur des Solon bei Herodot ansehen kann.
Wolf, Ursula: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Nach Aristoteles gehören auch soziale Güter und
Frühdialoge. Reinbek 1996. günstige äußere Umstände zu den relevanten Glücks-
Christoph Horn faktoren; sie sind zwar nicht maßgeblich für das
Glück, ihr Fehlen schließt aber aus, dass man jeman-
den glücklich (eudaimôn) nennt. An anderer Stelle
bezeichnet er Vermögen, Gesundheit, Ehre, Vergnü-
gen, Geist usw. sogar als »Teile des Glücks« (NE
1129b 18). Übrigens rehabilitiert Aristoteles auch
Solons Ansicht, jemand könne auch noch nach sei-
nem Tod das Prädikat eudaimôn einbüßen, indem
nämlich seine Nachkommen ein widriges Schicksal
erleiden (NE 1100a 10 ff.).
Doch auch wenn sich Aristoteles gegen Aspekte
der sokratisch-platonischen Glückstheorie wendet,
122 III. Glück in der Antike

steht er dieser dennoch näher als der Position des Aristoteles ist aber eine Analyse des logischen Ver-
Solon. Aristoteles räumt materiellen, körperlichen hältnisses, in dem Güter oder Ziele relativ zueinan-
oder sozialen Gütern anders als Solon nur den Status der gewählt werden, von zentraler Bedeutung für die
von notwendigen, nicht von hinreichenden Glücks- inhaltliche Bestimmung des Glücks. Aristoteles for-
faktoren ein. Wiederholt stellt er fest, äußere Güter muliert drei teleologische Merkmale, die das Glück
und günstige Umstände seien allein von instrumen- auszeichnen (NE 1097a 25–b 22): Es ist (1) das voll-
tellem Wert (NE 1096a 5–7; Politik 1323b 7 f.). Nach kommenste oder auch vollständigste Gut (teleiota-
aristotelischer Auffassung entfalten solche Güter zu- ton), es ist (2) für sich hinreichend (autarkes), und es
dem nur dann eine glücksfördernde Wirkung, wenn ist (3) das wählenswerteste Gut (hairetôtaton).
sie im richtigen Umfang zur Verfügung stehen. Ein 1. Das ›vollkommenste‹ Gut ist das Glück deswe-
Übermaß an Reichtum soll sich ebenso schädlich gen, weil es nicht um eines anderen Gutes oder Zie-
auswirken wie ein Mangel an Wohlstand (z. B. NE les willen gewählt wird. Aristoteles schreibt: »Denn
1153b 21–25; Politik 1295b 5 ff.; vgl. Nussbaum 1986, dieses [sc. das Glück] wählen wir immer um seiner
343 ff.). Als zentrales Gut erscheint bei Aristoteles selbst willen, nie um einer anderen Sache willen.
nicht anders als bei Platon die theoretische Existenz Ehre, Vergnügen, Geist und die gesamte Tugend
(bios theôrêtikos), also besonders das Leben des Phi- wählen wir dagegen sowohl um ihretwillen […] als
losophen, sowie sekundär eine moralisch-politische auch um des Glückes willen, weil wir annehmen,
Lebensführung. Ganz abgelehnt wird dagegen ein durch sie glücklich zu werden. Niemand wählt aber
genussorientiertes Leben (bios apolaustikos; NE das Glück um ihretwillen und überhaupt auch um
1095b 19 ff.) sowie ein geldorientiertes Leben (chrê- keiner anderen Sache willen« (NE 1097b 1–6). Das
matistês bios; NE 1096a 5 ff.). Aristoteles bringt also Glück wird also ebenso wie einige andere Güter als
die Frage nach der eudaimonia mit der nach dem intrinsisches Gut erstrebt; es unterscheidet sich von
besten Leben in Zusammenhang (aristos bios; z. B. allen anderen Zielen aber darin, dass es nur um sei-
Politik VII 1). Er legt sich die Frage vor, welche Arten netwillen erstrebt werden kann. Das teleiotaton-
von Tätigkeit in der menschlichen Natur liegen und Merkmal besagt also, dass das Glück das letzte oder
wie diese zu bewerten sind. Seine Urteile über bioi abschließende Ziel darstellt.
ergeben sich dann aus der Vorstellung, Menschen 2. ›Für sich hinreichend‹ ist ein Gut dann, wenn es
besäßen glücksrelevante Anlagen unterschiedlichen ein bestimmtes Leben »wählenswert und in keiner
Niveaus, die sie zudem in verschiedenen Graden ent- Hinsicht mangelhaft« macht (NE 1097b 14 f.). Dass
wickeln könnten. das Glück etwas In-sich-Hinreichendes ist, heißt
Aristoteles will also die Bedingungen eines guten also, dass es als Faktor genügt, um ein Leben gelin-
oder gelingenden menschlichen Lebens (eu zên) im gen zu lassen. Dabei ist allerdings auszuschließen,
Unterschied zu den Umständen des bloßen Lebens dass das autarkes-Merkmal ein Plädoyer gegen äu-
(zên) aufdecken. Ein gelungenes Leben kommt da- ßere Güter bedeutet; denn dann wäre Aristoteles’ Po-
durch zustande, dass jemand möglichst häufig und sition sicherlich inkonsistent. Gemeint ist wohl, dass
intensiv die bestmögliche in der menschlichen Natur die eudaimonia immer dann, wenn sie zu einem gut
angelegte Tätigkeit ausführt; von dieser Tätigkeit soll ausgestatteten Leben hinzukommt, dieses Leben ab-
die Lebensführung insgesamt geprägt sein. Soweit schließend gelungen macht.
beruht das aristotelische Modell auf einer Anthro- 3. Als ›wählenswertestes‹ Gut gilt das Glück
pologie typischer menschlicher Grundfähigkeiten. schließlich, weil es zu anderen Gütern »nicht hinzu-
Noch wichtiger für die Frage nach dem Glück sind gezählt« werden kann; wäre es mit anderen Gütern
aber die Elemente einer Strebenstheorie; sie finden verrechenbar, so müsste es durch Hinzufügung des
sich bei Aristoteles mit einer ähnlichen Intention wie geringsten Gutes wählenswerter werden (NE 1097b
bei Platon. Beide Philosophen stützen ihre Lösung 16–20). Erneut kann nicht gemeint sein, dass das
des Glücksproblems auf eine Untersuchung teleolo- Glück nicht der Ergänzung durch äußere Güter be-
gischer Handlungsstrukturen. Ebenso wie im Sym- dürfe. Das hairetôtaton-Merkmal bedeutet stattdes-
posion gilt auch für Aristoteles die eudaimonia als sen, dass das Glück in sich bereits alles Wertvolle ein-
höchstes, abschließendes Gut. Damit ist das Glück schließt und nicht verbesserungsfähig ist.
zwar nur formal charakterisiert. Es bleibt zu klären, Aristoteles charakterisiert also die eudaimonia als
worin es inhaltlich besteht, d. h. welche Güter in wel- abschließendes Strebensziel, als hinreichend für ein
chem Maß glücksfördernd sind. Nach Platon und gutes Leben und als nicht verbesserungsfähig. Er er-
2. Glück bei Aristoteles. Der Güterpluralismus und seine Deutungen 123

klärt andererseits auch andere Güter für intrinsisch chen Möglichkeiten (vgl. NE 1176a 33 ff.). Aristoteles
wählenswert, z. B. Lust, Ehre oder moralische Tu- meint, es gebe eine arttypische menschliche Leistung
gend. Dazu sagt er, diese würden immer zugleich um (ergon tou anthrôpou; NE I 6), nämlich die Tätigkeit
der eudaimonia willen gewählt. Wie aber kann etwas der Vernunft gemäß einer der beiden genannten Tu-
ein intrinsisches Gut sein und doch um des Glücks genden.
willen gewählt werden? Nach dem hairetôtaton- Das Leben eines Menschen soll also in dem Maß
Merkmal ist Glück nicht als Gut neben anderen Gü- glücklich ausfallen, in dem es von theoretischer Tä-
tern zu verstehen; es enthält bereits in sich alles Er- tigkeit geprägt ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass
strebenswerte. Aristoteles sagt zudem, die eudaimo- Aristoteles ein einseitig intellektualistisches Glücks-
nia setze sich aus bestimmten Gütern zusammen; sie verständnis verträte. Denn zum einen sieht Aristote-
sei nicht etwas von diesen Güter Getrenntes, son- les natürlich, dass niemand ein ausschließlich theo-
dern mit ihnen identisch (vgl. Magna Moralia 1184a retisches Leben führen kann (NE 1177b 34 f.); auch
26–29). Der Zusammenhang zwischen intrinsischen das Leben eines Philosophen schließt sinnliche,
Gütern und Glück lässt sich also wie folgt erläutern: emotionale oder soziale Anteile ein. Zum anderen
Wir wählen einige Güter instrumentell, andere dage- hält Aristoteles theoretische Aktivitäten zwar für
gen um ihrer selbst willen. Die ersteren können al- erstrangig glückstauglich, gesteht aber einer morali-
lenfalls indirekt glücksrelevant sein. Nur die letzte- schen Lebenspraxis ebenfalls einen hohen Wert für
ren kommen als eigentliche Glückkonstituentien in das Glück zu (NE 1117b 9–11). Aristoteles hätte es
Betracht. Denn dasjenige Gut, das zum Glück führt, wohl kaum für richtig gehalten, in einem Moment
muss ein intrinsisches, kein instrumentelles Gut sein; Philosophie zu betreiben, in dem man einen Ertrin-
sonst würde es dem formalen Charakter der eudai- kenden aus einem Fluss retten kann. Dennoch bleibt
monia nicht entsprechen. Glück ist so betrachtet kein eine Bevorzugung des bios theôrêtikos, auch wenn sie
Gut neben anderen Gütern, sondern der Inbegriff nicht kategorisch gemeint ist, einigermaßen be-
dessen, was intrinsisch erstrebenswert ist. fremdlich. In der Forschung gibt es daher eine breite
Aristoteles’ inhaltliche Lösung des Glückspro- Diskussion darüber, ob Aristoteles die philoso-
blems orientiert sich also an der Frage, welche Güter phisch-kontemplative Lebensform direkt mit dem
und Ziele um anderer willen gewählt werden (d. h. ethisch-politischen Ideal verbinden wollte und ob er
für die Klärung der Glücksfrage uninteressant sind) vielleicht daran dachte, auch die anderen intrinsi-
und welche sich als intrinsisch wählenswert erwei- schen Güter in eine dann ›ganzheitliche‹, holistische
sen. Er kennt eine ganze Reihe solcher Güter; neben Glückskonzeption als Bestandteile einzubeziehen.
den genannten sind das etwa der Besitz von Freun- Eine denkbare Lösung ist von John Ackrill (1995)
den oder eine gute Gesundheit (vgl. Rhetorik, I 6). vorgeschlagen worden. Folgt man Ackrill, so be-
Aber natürlich sind nicht alle intrinsischen Güter zeichnet Aristoteles das Glück deshalb als wählens-
gleichermaßen glücksrelevant. Aristoteles nimmt wertestes Ziel und als nicht verbesserungsfähig, weil
pointierte Wertungen vor. Es gibt für ihn unter- und es alles oder zumindest vieles, was in sich selbst wün-
übergeordnete Anlagen, Neigungen und Tendenzen, schenswert ist, in einer geeigneten Weise einschließt.
und folgerichtig gibt es auch unterschiedliche Digni- Man spricht hier von einer ›inklusiven Interpreta-
tätsgrade intrinsischer Güter. Den Besitz von zwei tion‹ der aristotelischen Glückstheorie. Aristoteles
Tugenden zeichnet er vor allen anderen Gütern aus. betont, wie wir sahen, dass die eudaimonia nicht im
Zum einen betrachtet er die intellektuelle Tugend, Sinn eines Produkts oder Resultats als das Ziel
die sophia, als höchstes in sich wählenswertes Gut, menschlichen Lebens zu verstehen sei. Zwischen
und zum anderen erklärt er die praktische Einsicht höchstem Gut und verschiedenen Einzelgütern be-
(phronêsis) für das zweithöchste Gut dieser Art; die stehe vielmehr ein Zusammenhang des Ganzen zu
phronêsis soll sekundär sein, weil sie sich lediglich seinen Teilen. Daraus kann man mit Ackrill schlie-
auf den Teil der rationalen Seele bezieht, der es mit ßen, dass alle einzelnen Güter, die ihr Ziel in sich tra-
beweglichen Gegenständen zu tun hat (NE 1139a gen, an einem insgesamt gelingenden Leben mitwir-
3–17). Wie wir bereits sahen, gehen solche Wertun- ken. Gemeint ist Folgendes: Angenommen, jemand
gen darauf zurück, dass Aristoteles die eudaimonia wollte die konstitutiven Faktoren eines geglückten
mit der Erfüllung der spezifischen Anlagen des Men- Urlaubs zusammenstellen. Dann könnte er beispiels-
schen in Verbindung bringt. Er interpretiert das weise den Genuss einer schönen Landschaft oder
Glück als ein Aktivieren der arttypischen menschli- eine angenehme Lektüre als solche Faktoren verste-
124 III. Glück in der Antike

hen (Teil-Ganzes-Relation). Die Frage, aus welchen Literatur


weiteren Bestandteilen sich ein gelungener Urlaub
Ackrill, John: Aristotle on Eudaimonia [1974]. In: O.
zusammensetzt, ob z. B. ein angenehmes Tennisspiel
Höffe (Hg.): Aristoteles. Nikomachische Ethik. Klas-
dazugehört, wäre dann von gänzlich anderer Art als
siker Auslegen. Bd. 2. Berlin 1995, 39–62.
die Frage, was ich tun muss, um tatsächlich ein er- Aristoteles: Magna Moralia. In: Ders.: Werke in deut-
freuliches Tennisspiel zu erreichen; eine Frage der scher Übersetzung. Bd. 8 (Übers. u. erl. von F. Dirl-
zweiten Art wäre etwa, wie ich den Tennisschläger meier). Berlin 51983.
richtig halten muss (Zweck-Mittel-Relation). Gemäß –: Nikomachische Ethik [NE]. In: Ders.: Werke in deut-
dieser Unterscheidung hätte Aristoteles nur sagen scher Übersetzung. Bd. 6 (Übers. u. erl. von F. Dirl-
wollen, dass theoretische Aktivitäten den wichtigs- meier). Berlin 101999.
ten Glücksbeitrag leisten, ohne dass er die Meinung –: Politik. In: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung.
vertreten hätte, die anderen intrinsischen Güter seien Bd. 9, I–IV (Übers. u. erl. von E. Schütrumpf). Berlin
wenig relevant oder gar unerheblich. Ein vollständig 1991 ff..
glückliches Leben müsste alle wesentlichen Güter –: Rhetorik. In: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung.
einschließen und miteinander verbinden; falls ein Bd. 4, I–II (Übers. u. erl. von Ch. Rapp). Berlin 2002.
zentrales menschliches Gut überhaupt nicht vor- Buddensiek, Friedemann: Die Theorie des Glücks in
käme, läge kein glückliches Leben vor. Aristoteles’ »Eudemischer Ethik«. Göttingen 1999.
Dem Wortlaut der Texte nach lässt sich allerdings Heinaman, Robert: Eudaimonia and Self-Sufficiency in
auch eine ›dominante Interpretation‹ gut verteidi- Aristotle’s »Nicomachean Ethics«. In: Phronesis 33
gen. Folgt man dieser Auffassung, so zeichnet Aristo- (1988), 31–53.
teles den bios theôrêtikos stark gegenüber den ande- Irwin, Terence H.: Aristotle’s Conception of Morality.
In: Proceedings of the Boston Area Ancient Philoso-
ren Glücksgütern aus (z. B. Heinaman 1988). Tat-
phy Colloquium 1 (1985), 115–143.
sächlich betont er den Vorrang intellektueller
Nussbaum, Martha C.: The Fragility of Goodness. Luck
Aktivität an einigen Stellen mit Nachdruck (beson-
and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cam-
ders in NE X 6–8). Die Tätigkeit des Geistes ist dem-
bridge 1986.
nach allein konstitutiv für die eudaimonia; aus ihr Christoph Horn
ergibt sich das »vollkommene Glück« (NE 1177a
12 ff.). Nur sie – und in viel geringerem Maß die mo-
ralische Lebensführung – erweist sich als tatsächlich
glückserzeugend. Glücklich soll jemand also primär
nach der Häufigkeit und der Intensität theoretischer
Aktivitäten sein. Auch wenn viele andere Güter, etwa
die Lust, unverzichtbar sein mögen, tragen sie zum
Glück dennoch nicht maßgeblich bei (vgl. NE 1153b
17 ff., 1178a 23–25; Politik 1329a 34–39). Auch zwi-
schen theoretischer und moralischer Aktivität soll
genau hierin der Unterschied liegen: Erstere beruhe
anders als letztere nicht auf äußeren Gütern; so brau-
che man etwa Geld, um großzügig sein zu können
(NE 1178a 28–34). Für Aristoteles liegt darin ein be-
deutender Nachteil ethischer Tugend; denn das
Glück ist ja von der Art, dass es durch die Hinzufü-
gung weiterer Güter nicht verbesserungsfähig ist.
Die ethische Tugend entspricht dem nur einge-
schränkt. Im Sinn der dominanten Interpretation
bedeutet dies, dass nur das Glück der theoretischen
Lebensführung vollkommen ist, weil weitere Güter
es nicht steigern können. Sollte die dominante Inter-
pretation richtig sein, wäre der Unterschied zwi-
schen den Positionen Platons und Aristoteles’ viel
kleiner, als es auf den ersten Blick schien.
125

3. Glück im Hellenismus. zudem für das Glück keinerlei Rolle spielen, ebenso
wenig Schmerzfreiheit, Gesundheit, Lust oder ange-
Zwischen Tugend und Lust nehme Gefühlszustände. Ein solches Glücksideal
wirkt reichlich unrealistisch und nahezu unmensch-
lich. Schon Cicero lässt einen Gegner der Stoiker mit
Stoisches Glück der Bemerkung auftreten, dass deren Bestimmung
des höchsten Gutes nicht einmal für ein reines Geist-
Von den drei großen nach-klassischen philosophi- wesen geeignet sei (De finibus IV 27).
schen Schulen, der Stoa, den Epikureern und den Die stoische Position scheint einerseits zu opti-
Skeptikern, seien zunächst die Stoiker herausgegrif- mistisch zu sein: Denn dass wir uns nur um einen
fen. Ihr Glücksbegriff entspringt einer dezidierten vernunftgemäßen Einstellungswandel und sonst um
Rückwendung zum sokratischen Intellektualismus. nichts kümmern müssen, also etwa nicht um materi-
Tatsächlich hat sich das stoische Glücksverständnis elle Güter, wirkt wie ein unglaubwürdiges Verspre-
historisch gesehen in direkter Auseinandersetzung chen. Andererseits wirkt sie zu moralistisch. Sie wird
mit dem aristotelischen Standpunkt entwickelt (vgl. scheinbar der Erfahrung nicht gerecht, dass es tu-
Irwin 1986); bis in die römische Kaiserzeit finden gendhaften Personen keineswegs besser geht als Leu-
sich Debatten zwischen Peripatetikern und Stoikern ten mit einem üblen Charakter. Man kann einwen-
zur Glücksfrage, besonders zur Relevanz äußerer den, dass erfahrungsgemäß kein moralischer Tun-
Güter. Die älteren Stoiker, also Zenon von Kition, Ergehens-Zusammenhang besteht, sondern allenfalls
Kleanthes und Chrysipp, wollen mit ihrer Glücks- ein nicht-moralischer. Der Verdacht – der bei Platon
konzeption zu Sokrates zurückkehren. Sie vertreten in der Figur des Thrasymachos in Szene gesetzt
also sowohl die Suffizienz- als auch die Identitäts- wurde – drängt sich auf, dass jemand umso besser
und die Vernunftthese. Anders als Platon stützen dasteht, je ungeschminkter er seinen Vorteil sucht.
sich die Stoiker dabei aber nicht auf eine metaphysi- Dass alle äußeren Güter gleichgültig sein sollen, wie
sche Ideen- und Prinzipientheorie. die Stoiker meinen, ist ein Postulat, das in einer
Für die Glückskonzeption der Stoiker sind also Pflichtethik des kantischen Typs einen Sinn haben
wiederum die pointierten sokratischen Ansichten mag, aber innerhalb einer Glücksethik befremdlich
maßgeblich. Zunächst soll die Tugend dazu ausrei- wirkt.
chen, das Glück zu erzeugen; weitere Güter sind dazu Es wäre aber voreilig, die stoische Glückskonzep-
nicht erforderlich (Suffizienzthese; SVF III 30, 49). tion vom Standpunkt des common sense aus zurück-
Sodann vertreten die Stoiker die Auffassung, dass zuweisen. Denn die Stoiker entwickeln ihre Auffas-
Tugend und eudaimonia identisch sind; zwischen ih- sung vom Glück nicht aus moralischer Schwärmerei,
nen besteht lediglich eine begriffliche, keine sachli- sondern vor dem Hintergrund einer komplexen und
che Differenz (Identitätsthese; SVF III 39, 41 f., 53). reflektierten Theorie. Ebenso wie die platonische
Und schließlich nehmen die Stoiker die aristoteli- und die aristotelische Konzeption basiert das stoi-
sche Differenzierung ethischer und intellektueller sche Glücksverständnis auf einem Strebensmodell.
Tugenden wieder zurück: Unter der ethischen Tu- Danach ist die eudaimonia das höchste menschliche
gend ist nichts anderes als »aufrechte Vernunft« oder Handlungsziel (telos), nämlich das, was um keiner
»vollendete Vernunft« zu verstehen (Vernunftthese; anderen Sache willen erstrebt wird, während alles
SVF III 198, 200a). Auf den ersten Blick wirkt ein sol- andere um seinetwillen gewählt wird (SVF III 2, 16).
ches Modell außerordentlich unplausibel. Die von Die ethische Tugend ist für die Stoiker eben dieses
den Stoikern ausgehende Provokation für ein land- höchste und zudem das einzige Gut (SVF I 190, III
läufiges Glücksverständnis liegt einmal darin, dass 76). Zwar müssen sie folgerichtig behaupten, es gebe
die Tugend für die Erlangung der eudaimonia das nichts, was geeignet wäre, dieses einzige Gut zu er-
zentrale Mittel darstellen soll; mehr noch, Tugend weitern oder zu verbessern. Genaugenommen be-
und Glück sollen schlechterdings deckungsgleich streiten sie aber nicht, dass es bestimmte äußere so-
sein. Überdies ist der Tugendbegriff ausschließlich wie körperliche Vorzüge gibt; sie sagen nur, solche
intellektualistisch gemeint; das Zentrum der Tugend Vorzüge vergrößerten das höchste Gut nicht. Es gibt
bilden keineswegs moralische Eigenschaften wie Vorziehenswertes; nur verblasst es im Vergleich zur
Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft, sondern eine Tugend. Cicero erklärt diesen Punkt so: »Denn wie
angemessene Vernunfthaltung. Äußere Güter sollen das Licht einer Laterne vom Licht der Sonne verdun-
126 III. Glück in der Antike

kelt und überstrahlt wird und wie ein Tropfen Honig sind davon überzeugt, der Kosmos stelle eine voll-
sich in der Weite der Ägäis verliert, wie ein Pfennig kommene Vernunftordnung dar; die menschliche
mehr in den Reichtümern des Kroisos und ein einzi- Glücksfähigkeit ist somit bereits im Kosmos ange-
ger Schritt auf dem Weg von hier nach Indien keine legt. Der Weltverlauf wird als determiniert gedacht;
Rolle spielt, so muss, wenn das das höchste Gut ist, das Schicksal (heimarmenê) erzwingt aber nichts
was die Stoiker so nennen, jede Wertschätzung kör- Unvernünftiges oder Anstößiges. Man kann die stoi-
perlicher Dinge angesichts des Glanzes und der Be- sche Position also nicht so wiedergeben, als ließe sie
deutung der Tugend verblassen, verschwinden und dem Menschen nichts anderes übrig, als dem Schick-
vergehen« (De finibus III 45). Etwas später im Text salslauf zuzustimmen. Ihre Pointe liegt vielmehr da-
lässt Cicero einen Gesprächsteilnehmer sagen: »Es rin, dass der Mensch mit ›Zeus‹, d. h. der Weltver-
scheint mir manchmal ein Witz zu sein, wenn die nunft, aufgrund seiner eigenen Vernunft überein-
Stoiker behaupten, falls zu dem tugendhaft verbrach- stimmt. Daher lautet die zentrale stoische Lebensregel
ten Leben ein Salbfläschchen und ein Striegel hinzu- seit dem Schulgründer Zenon, man solle »in Ent-
komme, so werde der Weise eher das Leben wählen, sprechung mit der Natur« oder »in Harmonie mit
zu dem dies noch hinzugekommen sei, glücklicher dem Kosmos« leben (homologoumenôs tê physei zên;
werde er deshalb jedoch nicht sein« (IV 30). Konse- SVF I 179, III 12). Die erstrebte Affektfreiheit soll zu
quenterweise sind die Stoiker der Auffassung, dass einem »Wohlfluss des Lebens« führen (euroia biou;
dem, der die Tugend besitzt, alle anderen Güter feh- SVF III 16). Anders ausgedrückt, der Mensch ist von
len können, ohne dass er eine Einbuße erleidet. Der der Natur oder der göttlichen Vorsehung (pronoia)
Tugendhafte ist auch auf der Folterbank glücklich. so eingerichtet, dass er nur braucht, was er tatsäch-
Denn für die Stoiker handelt es sich bei solchen Fak- lich erreichen kann; deshalb hat er allen Grund, sich
toren wie Gesundheit, Körperkraft und Schönheit an die Weltordnung aus freier Einsicht anzupassen.
(körperliche Güter) oder Reichtum, Macht und An- Den Zustand einer freiwilligen Übereinstimmung
sehen (äußere Güter) nicht um wirkliche Güter. Sie mit der Welteinrichtung erreicht er freilich erst dann,
ordnen solche Größen, denen man gewöhnlich Wert wenn sein Leben ausschließlich vernunftbestimmt
zuschreibt, vielmehr in die Kategorie des Indifferen- ist. Erst dann befindet sich sein Leben mit den Prin-
ten oder Gleichgültigen (adiaphora) ein und geste- zipien des Kosmos in Einklang. Die Götter verwei-
hen ihnen lediglich zu, gegenüber Krankheit, Häss- gern keinem Menschen die Möglichkeit einer ebenso
lichkeit, Armut und Abhängigkeit etwas ›Vorzie- vollständigen eudaimonia, wie sie selbst sie besitzen.
henswertes‹ (proêgmenon) zu sein. Man kann also Die These von Glück und Tugend als Affektfrei-
kaum behaupten, es handle sich um eine rigoristi- heit besitzt aber auch ohne ihren kosmologisch-
sche Position, in der alle Güter entwertet würden. theologischen Hintergrund einige Plausibilität. Die
Man muss sich zudem klarmachen, dass die Stoi- Stoiker nehmen vier hauptsächliche Affekte (pathê)
ker unter Tugend und Glück so viel wie Affektfrei- an, nämlich Furcht (phobos), Begierde (epithymia),
heit (apatheia) verstehen. Da die Vernunft durch die Lust (hêdonê) und Unlust (lypê). Dass jemand bei
Wirkung der Affekte zu falschen Urteilen veranlasst sich diese Affekte feststellt, soll ein sicheres Kennzei-
wird, ist sie erst dann ganz bei sich, wenn die Seele chen dafür sein, dass er von Tugend und Glück weit
affektfrei ist. Warum aber sollte jemand glücklich entfernt ist. Denn Furcht, Begierde und ein übertrie-
sein, wenn seine Vernunft ganz bei sich ist? Die Stoi- benes Empfinden von Lust und Unlust treten immer
ker antworten: Solange jemand affektgeleitet han- nur dann auf, wenn jemand einem Gegenstand, der
delt, bewertet er seine Lebensumstände falsch. Er für ihn genaugenommen unverfügbar ist, besonde-
setzt sich also z. B. unerreichbare Handlungsziele ren Wert beimisst. Wer z. B. Reichtum für ein großes
oder nimmt verfehlte Unterscheidungen zwischen Gut hält, wird gierig, neidisch und geizig sein, so-
Gütern und Übeln vor, die sich auf sein seelisches lange er nicht wohlhabend ist. Kommt er überra-
Wohlbefinden verheerend auswirken. Indem er als schend zu Geld, freut er sich maßlos und wird unbe-
Tugendhafter zur apatheia gelangt, wird er frei von sonnen. Und als Reicher empfindet er ständige
allen falschen Urteilen und hält nur noch das für er- Furcht vor dem Verlust seines Vermögens und ver-
strebenswert, was tatsächlich erreichbar ist. Denn sucht, es abzusichern oder zu vergrößern. Nach der
unverfügbare Güter erweisen sich zugleich als nicht stoischen Affekttheorie sind Triebe und Emotionen
notwendig. Diese These hat zunächst einen kos- also keineswegs nur die Folgen falscher Wertungen.
mologisch-theologischen Hintergrund. Die Stoiker Sie sind vielmehr unmittelbarer Ausdruck eines fal-
3. Glück im Hellenismus. Zwischen Tugend und Lust 127

schen Vernunfturteils oder sogar dieses selbst. Tu- Lebensführung durch die Aufdeckung der wahren
gend oder Glück werden also nur erreicht, wenn sich Güter und die Verwerfung falscher Ziele und führt
jemand die richtige Vernunft (orthos logos) zur stabi- auf diese Weise zum Glück. Weiter gibt es enge Paral-
len persönlichen Haltung oder Überzeugung (dia- lelen zwischen den therapeutischen Praktiken von
thesis) gemacht hat. Dabei kommt es allein auf die Stoikern und Epikureern. Und schließlich besteht
Durchsetzung der Einsicht an, dass äußere sowie die eudaimonia nach epikureischer Auffassung eben-
körperliche Güter gleichgültig sind; man müsse von falls in einer bestimmten vernünftigen ›Charakter-
ihnen Abschied nehmen. Die Stoiker bezeichnen haltung‹ (diathesis), nämlich in der vollkommenen
die Tugend daher konsequenterweise als Einsicht inneren Ruhe. Epikur wählt zur Kennzeichnung die-
(phronêsis). ser Ruhe den Begriff ataraxia (›Unaufgeregtheit‹),
Zu den oft betonten Unterschieden zwischen der der sinngemäß dem stoischen apatheia-Begriff ver-
Glücksethik der klassischen Periode und der der hel- gleichbar ist. Soweit die Ähnlichkeiten zwischen den
lenistischen und römischen Zeit gehört, dass die Po- Positionen. Epikurs Glückskonzeption beruht je-
lis vergleichsweise an Bedeutung verloren hat. An- doch auf einer anderen theoretischen Basis. Hinter
ders als bei Platon und Aristoteles ist das menschli- den ähnlichen Auffassungen stehen divergierende
che Glück für die Stoa nicht an die Polis geknüpft. philosophische Grundannahmen, so dass es immer
Zwei Momente sind hier hervorhebenswert: Zum ei- wieder zu stoisch-epikureischen Schulkontroversen
nen bildet eher das isolierte als das sozial kontextua- kam. Epikur bestimmte das erstrebte telos, also das
lisierte Individuum den Adressaten und den Gegen- Glück, als die Lust (Brief an Menoikeus, 128).
stand stoischer Ethik. Zum anderen vertreten die Grob gesprochen stützt sich das epikureische
Stoiker einen moralischen Universalismus, wonach Glücksideal auf zwei Elemente: auf die Idee einer
nicht nur die eigenen Angehörigen und Mitbürger, souveränen Weltorientierung und auf die einer re-
sondern alle Menschen gleichermaßen zählen, und flektierten Genussfähigkeit. Beides soll man durch
zudem einen politischen Kosmopolitismus, dem zu- philosophische Einsicht und durch gezielte Übung
folge politisches Engagement (das nachdrücklich ge- erlangen können. Epikur tritt also einerseits für eine
fordert wird) nicht nur auf die eigene Polis be- aufgeklärt-selbstbewusste und andererseits für eine
schränkt sein darf. überlegt-hedonistische Lebensform ein. Er ist der
Überzeugung, dass das Haupthindernis für das
Epikurs Glück menschliche Glück in den überzogenen Sorgen be-
steht, die Menschen sich gewöhnlich machen. Der
Epikur und seine Schule (die man als kêpos, also Kern seiner Position liegt in der Ansicht, dass das
›Garten‹, bezeichnete) bilden die andere große phi- Glück mit der Empfindung von Lust (hêdonê) iden-
losophische Richtung der hellenistischen Zeit. Epi- tisch ist. Epikur denkt freilich nicht an jede Spielart
kur steht der Stoa mit seiner Auffassung von der eu- von Vergnügen; vielmehr schenkt er einer Theorie
daimonia im Grunde nahe. Auch er vertritt eine te- der glückserzeugenden Kultivierung angemessener
leologische Glückskonzeption, und er lehrt ebenfalls Lust besonders große Aufmerksamkeit. Um sein
eine asketische Lebenspraxis. Epikureer und Stoiker Glücksverständnis plausibel zu machen, muss man
teilen die Auffassung, das höchste Gut des Menschen sich Epikurs Abwehr falscher Formen von Besorgnis
sei das Glück (Epikur: Brief an Menoikeus, 128 f.). verdeutlichen. Er hält besonders vier Typen von Sor-
Sodann verbindet sie mit diesen – und darüber hin- gen wegen ihrer weitreichenden Konsequenzen für
aus auch mit den Kynikern und den Pyrrhoneern – lustmindernd: (1) die Furcht vor Erscheinungen am
die Ansicht, das Lebensglück hänge allein vom Men- Himmel (moderner ausgedrückt: die Furcht vor be-
schen selbst ab. Stoiker und Epikureer sind davon unruhigenden Naturphänomenen), (2) die Angst vor
überzeugt, dass das Glück ›in unserer Macht liegt‹. dem Tod, (3) die Furcht vor einer Unstillbarkeit und
Epikur legt großen Wert auf die Feststellung, das Rastlosigkeit der eigenen Begierden und (4) die
Glück sei tatsächlich erreichbar. Er selbst soll für sich Furcht vor maßlos großen Schmerzen. Er entwickelt
in Anspruch genommen haben, dieses Ziel erreicht zu ihrer Therapie eine Art von wissenschaftlicher
zu haben. Wie bei den anderen hellenistischen Schu- Disziplin, die abschließende und verlässliche Er-
len spielt auch für die Epikureer die Vernunft die kenntnisse über die Stellung des Menschen in der
Schlüsselrolle beim Übergang vom unglücklichen Welt vermitteln soll und er bezeichnet sie als ›Kano-
Zustand zur eudaimonia. Die Vernunft korrigiert die nik‹. Diese wendet sich in aufklärerischer Absicht
128 III. Glück in der Antike

gegen das, was Epikur als ›Mythologie‹ bezeichnet, 2. Epikurs Wendung gegen die Todesangst steht
zudem gegen eine verfehlte Form von ›Physiologie‹ mit Punkt (1) in enger Verbindung. Alle beängsti-
(Naturlehre). genden Todesvorstellungen sollen zurückgewiesen
1. Epikurs Interpretation von Himmelserscheinun- werden, und zwar in der Absicht, ihre irritierende
gen und seine Deutung anderer Naturphänomene und glücksmindernde Wirkung aufzuheben. Nach
antizipieren zwar inhaltlich kaum die modernen Na- einer verbreiteten antiken Vorstellung müssen die
turwissenschaften, weisen aber eine vergleichbare Seelen der Verstorbenen in der Unterwelt mit erheb-
sachliche Nüchternheit auf. Himmelserscheinungen lichen Strafen für ihre Fehlhandlungen und ›Befle-
kündigen beispielsweise keine göttlichen Strafen an. ckungen‹ während des irdischen Lebens rechnen.
Für Epikur ist die Zurückweisung abergläubischer Unsere Todesfurcht ruft nach Epikur ein unbegrenz-
Weltbilder so wichtig, dass er den Sinn seiner eigenen tes Vorteils- und Sicherheitsstreben in uns hervor.
Physiologie allein darin sah, sich um seines Glückes Sie führt zu falschen Gütervorstellungen und damit
willen nicht weiter irritieren zu lassen (Epikur: Kyriai zu einer Verfehlung des Glücks. Epikur liegt daher
doxai [KD] 11). Auch nach stoischer Auffassung viel daran, die Seele als feinstoffliche Größe zu er-
weist der Kosmos nichts Anstößiges oder Vernunft- weisen, die beim Tod zusammen mit dem Körper
widriges auf; aber anders als bei Epikur ergibt sich zugrunde geht. Folgerichtig könne uns der Tod voll-
dies bei den Stoikern aus anspruchsvollen metaphy- kommen gleichgültig sein, denn er werde von uns
sischen Hintergrundannahmen von der Harmonie nicht empfunden – weder als Gut noch als Übel. Epi-
des Kosmos, während er im Gegenteil spekulative kur sagt: »Gewöhne dich an den Gedanken, dass uns
Annahmen dieser Art – etwa Platons Astronomie im der Tod nichts angeht. Denn jedes Gut und Übel liegt
Timaios – zurückweist. Damit hängt ein weiterer Dif- in der Empfindung, der Tod aber bedeutet den Ver-
ferenzpunkt gegenüber den Stoikern zusammen: Epi- lust der Empfindung […]. Daher ist töricht, wer sagt,
kur lehnt den stoischen Schicksalsbegriff, die heimar- er fürchte den Tod nicht deshalb, weil er schmerzen
menê, vehement ab. Der Mensch ist für ihn kein werde, wenn er da sei, sondern weil er schmerze,
Schauspieler in einem Theaterstück, das von höheren wenn er bevorstehe. Denn was nicht weh tut, wenn
Mächten inszeniert wird; der Weltlauf ist nicht gött- es da ist, das schmerzt in der Erwartung grundlos.
lich determiniert. Glück lässt sich folglich nicht auf Das schaurigste der Übel also, der Tod, geht uns
dem Weg einer Anpassung des Menschen an die kos- nichts an, denn solange wir sind, ist der Tod nicht da,
mische Vernunft und Ordnung erreichen, sondern wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr.
einzig dadurch, dass der Mensch sich selbst aus sei- Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten,
ner bestehenden Unmündigkeit herausführt. Der denn bei den einen ist er nicht, und die anderen sind
epikureische Philosoph erreicht eine solche Souverä- nicht mehr« (Brief an Menoikeus, 124 f.).
nität zumindest in den zentralen Lebensfragen: »Nur 3. Wer wie Epikur den Lustbegriff in den Mittel-
in unbedeutenden Dingen kommt dem Weisen der punkt der Ethik rückt, sieht sich dem Einwand aus-
Zufall in die Quere; die größten und wichtigsten aber gesetzt, er befürworte ein maßloses Anwachsen der
hat die vernünftige Überlegung geregelt, regelt sie Begierden. Tatsächlich gibt es eine lange Tradition
unaufhörlich im Leben und wird sie immer regeln« der Fehldeutung Epikurs als eines grobschlächtigen
(KD 16). Gemeint ist ein Souveränitätsideal, das im Hedonisten. Diese Hedonismus-Kritik bezieht ihre
Vergleich zu seinem stoischen Gegenstück beschei- Plausibilität daher, dass grenzenlos wachsende Be-
dener und einfacher ausfällt. Insbesondere ist die gierden (die platonische pleonexia) mit dem Begriff
Theologie Epikurs vom Volksglauben der Antike wei- eines seelischen Gleichgewichts oder inneren Frie-
ter entfernt als die stoische Auffassung. Abgelehnt dens unvereinbar wären. Epikur muss seine Vorstel-
wird die Vorstellung, die Götter vergäben Glück oder lung von Genuss oder Lust also von einem Lustbe-
Unglück an die Menschen (KD 1). Epikurs Götter- griff der Begehrlichkeit absetzen, wenn er am Ideal
vorstellung wirkt beinahe rationalistisch konstruiert; der ataraxia festhalten will. Er tut dies, indem er be-
die Götter sind weder für die Welteinrichtung noch hauptet, es gebe ein wohlbestimmtes Höchstmaß
für den Weltlauf verantwortlich, und sie kümmern an Lust, nämlich die vollkommene Unlustfreiheit
sich nicht um menschliche Angelegenheiten (vgl. Lu- (aponia); sie ist ein maximaler Erfüllungszustand
krez: De rerum natura III 14–24). Götter gelten bei (plêrôma). Ein bestimmtes Maß an Wohlbefinden
Epikur als unsterbliche Wesen von unbeirrbarer Hei- lässt sich nach Epikur also nicht steigern, sondern al-
terkeit und teilnahmsloser Gelassenheit. lenfalls verlängern oder wiederholen. Glück kann al-
3. Glück im Hellenismus. Zwischen Tugend und Lust 129

lerdings nicht durch Dauer wachsen, so dass auch seinen Durst zu stillen. Da der Epikureer weiß, dass
die Götter keinen höheren Grad von Lust erreichen; die Lust nicht im Prozess der Unlustminderung liegt,
sie haben als unsterbliche Wesen nur den Vorteil, im- verzichtet er darauf, diesen Prozess als solchen zu
mer glücklich zu sein. kultivieren. Lebenspraktisch gesehen liegt hier der
Dieser Bestzustand eines Menschen soll sich aus zentrale Unterschied zwischen Epikurs Auffassung
einer harmonischen Seelenverfassung und aus kör- und einem populär verstandenen Luststreben. Der
perlicher Schmerzfreiheit ergeben. Hieraus folgt eine philosophische Hedonist Epikur lebt gerade nicht
zunächst unplausibel wirkende Lusttheorie. Epikur wie ein Schlemmer oder Genießer, sondern wie ein
meint, Lust bestehe nicht im Prozess der Reduzie- Asket. Einfache Güter wie Brot und Wasser haben
rung von Unlust, sondern in dessen Resultat. Die zudem den Vorteil, leicht beschaffbar zu sein. Wer an
wirkliche Lust werde erst im Zustand nach dem Ver- einfache Güter gewöhnt ist, kann fast immer und
schwinden von Unlust erreicht. Epikur bevorzugt die überall lustvoll leben. So erklärt sich Epikurs Dik-
katastematische, die gleichförmig-ruhige, gegenüber tum: »Dank sei der seligen Natur, dass sie das Not-
der kinetischen, d. h. der veränderlichen Lust. Das wi- wendige leicht zu beschaffen gemacht hat, das schwer
derspricht aber unserer alltäglichen Wortverwen- zu Beschaffende aber nicht notwendig« (469). Auch
dung, nach der wir sagen würden, der Durstige emp- die Lebenslust der Götter könne unmöglich daraus
finde beim Trinken wirkliche Lust. Für Epikurs Per- resultieren, dass sie ihren Hunger oder Durst stillen,
spektive spricht aber zum einen, dass es merkwürdig sich dem Liebesleben hingeben oder sich mit kurz-
wäre, wollte ein Hedonist behaupten, die Lust werde weiligen Unterhaltungen die Zeit vertreiben. Denn
geringer, je mehr man tue, um sie zu realisieren. Eben so angenehm solche Tätigkeiten auch sein mögen:
das wäre aber die Konsequenz, wollte man Lust nach Ihr Lustgewinn beruht insgesamt darauf, dass zuvor
dem Vorbild des Durstlöschens verstehen. Zum an- ein Mangel oder Defizit bestand, nämlich Hunger
deren wäre es für den Hedonismus bedenklich, oder Durst, sexuelles Verlangen oder Langeweile.
müsste man sich, um Lust zu empfinden und damit Bereits in der Antike hat man gegen Epikurs Lust-
das Glück zu erreichen, zunächst in einem Zustand begriff allerdings eingewandt, er setze die Begrif-
der Unlust befinden. Denn dann wäre man ja nur so- fe Lust und Schmerzfreiheit zu Unrecht gleich;
weit glücksfähig, wie man zugleich unglücklich wäre. Schmerzfreiheit sei allenfalls etwas Mittleres zwi-
Das Glück der Lust wäre so betrachtet nur im perio- schen Lust und Schmerz (Cicero: De finibus II 6 ff.).
dischen Wechsel mit seinem Gegenstück, der Unlust, Eine solche ›Lust‹ sei nicht besser als der Zustand ei-
möglich. Beide Schwierigkeiten vermeidet der He- nes Schlafenden oder gar eines Toten. Schmerzfrei-
donismus Epikurs. Das Problem der Maßlosigkeit heit ist jedoch bei Epikur keineswegs als Empfin-
der Begierden, das Epikur zu lösen sucht, dürfte mit- dungslosigkeit zu verstehen: Gemeint ist ein Zustand
tels einer Obergrenze des Lustempfindens angemes- intensiv empfundener Freude. Wie Platons Philebos
sen beantwortet sein. Wenn eine bestimmte Lust das lehrt auch Epikur, dass Lust weder allein in der Be-
Maximum an Lustmöglichkeit darstellt, wäre es un- seitigung eines Mangels noch in der bloßen Empfin-
vernünftig, ein höheres Maß an Annehmlichkeit er- dungslosigkeit bestehen kann. Es muss daneben viel-
reichen zu wollen. Eben dieses Missverständnis, so mehr eine »reine Lust« geben, die auch Epikur mit
Epikur, ist die Ursache maßloser Begierden. Er meint einem Moment geistiger Aufmerksamkeit verbindet
daher: »Keiner der Unvernünftigen begnügt sich mit (Epikur 1966, 423; vgl. Platon: Philebos 51a–53b). Mit
dem, was er hat, vielmehr quält ihn das, was er nicht dieser Konzeption richtet sich Epikur gegen die Lust-
hat« (Epikur 1966, 471). Die Selbstgenügsamkeit (au- theorie des Kyrenaikers Aristipp.
tarkeia) gilt ihm als »der allergrößte Reichtum« 4. Epikur betrachtet die Lust als höchstes Gut und
(476). den Schmerz als größtes Übel (Cicero: De finibus I
Epikur bedient sich noch eines damit zusammen- 29). Jedes abgeleitete Gut geht folglich darauf zurück,
hängenden Arguments, das seinen Lustbegriff von dass es zur Lust beiträgt. Und ebenso lässt sich jedes
dem maßloser Begierden unterscheiden soll. Da Lust abgeleitete Übel auf Schmerz zurückführen. So gese-
nicht im Vorgang der Beseitigung von Unlust be- hen müsste es aus epikureischer Sicht angebracht
stehe, sei die Art ihrer Beseitigung gleichgültig. Ein sein, sich vor großen Schmerzen, etwa vor Krankheit
reflektierter Hedonist greift daher nach epikurei- oder Folter, zu fürchten. Doch will auch Epikur da-
scher Überzeugung nur auf Brot und Wasser, nicht ran festhalten, dass die menschliche Glücksfähigkeit
auf Fisch und Wein zurück, um seinen Hunger und in (nahezu) allen Situationen bestehen bleibt. Er geht
130 III. Glück in der Antike

darin annähernd so weit wie die Stoiker, indem er zeugung, man könne entgegengesetzte Meinungen
nämlich behauptet, der Weise könne sein Glück un- stets gleich gut begründen (isostheneia). Tatsächlich
ter allen Lebensumständen aufrecht erhalten, also findet sich denn auch bei dem Pyrrhoneer Sextus
auch dann, wenn er gefoltert oder lebendig verbrannt Empiricus eine Zurückweisung jeglicher Lebens-
werde (Epikur 1966, 600 f.). Anders als die Stoiker kunst (technê tou biou; PH III 239–279): Für ihn
kann Epikur aber nicht behaupten, das Glück sei für kann es kein positiv formulierbares Wissen von der
den Weisen deshalb konstant, weil es immer von des- richtigen Lebensführung geben. Dennoch verstehen
sen Entscheidung abhänge, tugendhaft zu sein. Viel- die Pyrrhoneer ihre eigene philosophische Position
mehr kann er nicht bestreiten, dass auch der Weise als einen Weg zur eudaimonia. Sie bezeichnen das
von unverfügbaren Wirkungen der Außenwelt be- Glück sogar als das telos des menschlichen Lebens
troffen ist. Sein Glück ergibt sich aus einer Mischung (M VII 158), nehmen also eine Glücksfinalisierung
von Einstellungs-, Körper- und Umweltfaktoren. im Sinn einer Naturanlage oder Naturausrichtung
Epikur ist daher gezwungen, zwischen göttlichem des Menschen an. Seinem Inhalt nach wird das Glück
und menschlichem Glück zu differenzieren: Wäh- wie bei Epikur als ›Unaufgeregtheit‹ (ataraxia) be-
rend die Götter permanent das vollkommene Glück stimmt. Bei Sextus ist zudem von einer »Mittellage
der Schmerzfreiheit genießen, soll es für den Begriff der Affekte« (metriopatheia) die Rede (Sextus Empi-
eines menschlichen Glücks ausreichen, dass die Lust ricus: PH I 25 f.). Die skeptische Terminologie ist also
ständig die Unlust überwiegt. Mehr lässt sich in ei- durchaus eudämonistisch geprägt. Auffällig ist über-
nem menschlichen Leben nach Epikur nicht errei- dies, wie sehr die Schilderung der Lebenshaltung des
chen. Das freilich soll vollkommen genügen. In der Pyrrhon von Elis, der Gründerfigur der antiken
Tat handelt es sich auch hierbei noch um eine an- Skepsis, auf einen vollendeten ›Weisen‹ hindeuten
spruchsvolle Forderung: Es geht für Epikur nicht nur will; Pyrrhon soll alle Widrigkeiten des Alltags mit
darum, im gesamten Leben eine positive Lustbilanz vollendeter Gelassenheit hingenommen haben (vgl.
zu erreichen; er zielt zudem auf den Nachweis, man DL IX 63, 68, 107).
könne in jedem Augenblick mehr Lust als Unlust Übrigens ist die Nähe zum Eudämonismus keine
empfinden. Wie kann der epikureische Weise der Besonderheit des Sextus oder der pyrrhonischen
Lust immer ein Übergewicht verschaffen? Schule. Sextus bestätigt vielmehr, dass auch der Aka-
Epikur will die Vorstellung, man müsse unter Um- demiker Arkesilaos und damit die zweite skeptische
ständen maßlos große Schmerzen erleiden, ins Reich Schule der Antike in der Erlangung der ataraxia die
der irrigen Überzeugungen verweisen. Das führt zu wichtigste Wirkung skeptischer Urteilsenthaltung
der berühmten Feststellung, entweder dauere der erblickte (Sextus Empiricus: PH I 232 ff.). Die akade-
Schmerz nur kurze Zeit oder er sei gering. »Der mische Skepsis vertritt allerdings eine anders gela-
Schmerz bleibt nicht lange Zeit ununterbrochen im gerte, weniger strikte Erkenntniskritik. Sie hält ein
Fleisch, sondern der äußerste dauert ganz kurze Zeit, objektives Wahrheitskriterium für unerweisbar, ak-
derjenige, der das Lustvolle im Fleisch bloß über- zeptiert aber andererseits Grade von Glaubwürdig-
wiegt, tritt nicht viele Tage auf, und bei den Langzeit- keit oder Wahrscheinlichkeit. Lebenspraktisch gese-
leiden dominiert das Lustbetonte im Fleisch über hen ist damit der akademische Gewissheitszweifel
den Schmerz« (KD 4). viel weniger einschneidend als der pyrrhonische.
Wie kommt es dann unter pyrrhonischen Prämissen
Das Glück der Skeptiker überhaupt zu einer Glückskonzeption? Nach Sextus’
Darlegungen lässt sich folgender Zusammenhang
Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass neben herstellen: Die eudaimonia ergibt sich, wenn jemand
den Platonikern, Aristotelikern, Stoikern und Epiku- auf der Basis einer skeptischen Urteilsenthaltung
reern auch die skeptischen Philosophen eine Glücks- vorurteilsfrei wird, nämlich wenn man ihn »von der
konzeption vertreten haben sollen. Man würde zu- Einbildung und Voreiligkeit der Dogmatiker durch
nächst vermuten, dass die Skeptiker aufgrund ihrer Argumentation heilt« (PH III 280 f.). Zwar sind die
erkenntniskritischen Prämissen unmöglich zu einer pyrrhonischen Skeptiker etwas zurückhaltender, was
affirmativen Glückstheorie gelangen konnten. Denn die Erreichbarkeit und Verfügbarkeit des Glücks an-
ihr Charakteristikum ist ja gerade die strikte Zurück- geht; aber in der Überzeugung vom therapeutischen
haltung gegenüber jedem ›dogmatischen‹ Theorie- Charakter der Philosophie stimmen sie mit den an-
anspruch (epochê). Diese gründet sich auf die Über- deren hellenistischen Schulen überein. Die beson-
3. Glück im Hellenismus. Zwischen Tugend und Lust 131

dere Pointe der Skeptiker liegt in der These, das Natur weder ein Gut noch ein Übel gibt« (M XI 140)
Glück werde nicht nur durch ›falsche Überzeugun- – genau das soll aber die Skepsis leisten. Wegen der
gen‹ behindert, sondern durch den Besitz von Über- Angst, die aus dem intensiven Streben hervorgehe,
zeugungen generell. Das wirkt nicht gerade einleuch- erzeuge ein theoretischer Dogmatismus persönliches
tend. Warum sollte man dadurch glücklich werden, Unglück. Unglück ergibt sich für Sextus nicht erst
dass man bezüglich eines strittigen Sachproblems, daraus, dass jemand sein Leben durch Sorgen um äu-
z. B. des Götter- oder Schicksalsglaubens, unent- ßere Güter belastet, sondern bereits daraus, dass er
schieden bleibt? Selbst wenn einem Skeptiker der überhaupt auf etwas ›objektiv Gutes‹ ausgerichtet ist
Nachweis gelänge, dass weder Stoiker noch Epiku- und diesem nachjagt. Auf die pyrrhonische Skepsis
reer in der Schicksalsfrage im Recht sind, ergäbe sich geht so gesehen die Überzeugung zurück, Glück lasse
daraus allenfalls eine Desillusionierung über falsche sich paradoxerweise nur anstreben, indem man es
Glückskonzeptionen und kein eigenständiger Weg nicht anstrebt; jedes willentliche Intendieren des
zum Glück. Sextus meint jedoch keineswegs, das Glücks verfehlt sein Ziel. Zur Illustration dieser
Glück ergebe sich aus Indifferentismus; nach seiner These erzählt Sextus die Anekdote vom Maler Apel-
Auffassung stellt es sich bei einer aktiven Zurück- les. Dieser habe sich vergeblich bemüht, den Schaum
weisung aller dogmatischen Theorien ein. eines Pferdes auf einem Gemälde nachzubilden. Dar-
Der Schlüssel zum Verständnis der skeptischen aufhin habe Apelles einen Schwamm gegen das Bild
Position liegt in der These des Sextus, es gebe einen geschleudert, um die Farben abzuwischen; und erst
Zusammenhang zwischen dem Anspruch, über ob- der auftreffende Schwamm habe den Pferdeschaum
jektives Wissen zu verfügen, einer objektiven Wert- richtig dargestellt. Sextus fährt fort: »Auch die Skep-
orientierung und einer falschen Lebensführung (PH tiker hofften, die Seelenruhe dadurch zu erlangen,
I 25–30). In Sextus’ Beispiel gesprochen: Wenn je- dass sie über die Ungleichförmigkeit der erscheinen-
mand ein besonderes Interesse daran hat, medizini- den und gedachten Dinge entschieden. Da sie das
sches Wissen zu erwerben, dann sucht er dieses Wis- nicht zu tun vermochten, hielten sie inne. Als sie aber
sen meist nicht um des Wissens willen, sondern weil innehielten, folgte ihnen wie zufällig die Seelenruhe
er den Tod für ein schlimmes Übel hält und sich ein wie der Schatten dem Körper« (PH I 28 f.).
langes Leben wünscht. Setzt man nun die Möglich- Die hellenistische Glücksethik erweist sich in ih-
keit objektiven Wissens außer Kraft, so suspendiert ren drei hauptsächlichen Schulen – der Stoa, dem
man gleichzeitig die Objektivität aller inhärenten Epikureismus und der Skepsis – als Konzeption an-
Gütervorstellungen: In diesem Fall wird also die Ein- gemessener innerer Grundhaltungen. In allen dreien
schätzung des Todes als eines Übels aufgehoben und spielt die rationale Kritik verfehlter Einstellungen
ebenso der Wunsch, ein hohes Alter zu erreichen. und Affekte eine bedeutende Rolle; alle drei revidie-
Das heißt nicht, dass alle Gütervorstellungen nun- ren unsere gewöhnliche Lebenseinstellung. Hervor-
mehr wertlos wären; gezeigt ist nur, dass die Anset- hebenswert ist, dass es sich bei diesen Einstellungen
zung objektiver Güter (äußerer oder innerer Art) um höherstufige Güter handelt, insofern sie die Aus-
kein hinreichendes theoretisches Fundament besitzt. wahl niedrigstufiger Güter anleiten und regulieren.
Der Skeptiker schließt von hier aus weiter auf den Zu ihnen zählt beispielsweise das, was man als Her-
nicht-absoluten, individuellen Charakter solcher ausbildung von Strategien des persönlichen Krisen-
Präferenzen und Abneigungen. Sextus lässt also per- managements und der Frustrationsresistenz oder
sönliche Gütervorstellungen weiterhin gelten, aber auch als Zufriedenheitskompetenz bezeichnen
nur als subjektive ›Erscheinungen‹ (phainomena). könnte. Hierin scheint die bleibende Bedeutung die-
Sobald aber jemand weiß, dass sein Wunsch nach ei- ser Ansätze zu liegen.
nem langen Leben bloß einer subjektiven Vorstellung
entspringt, verfolgt er nach Sextus den Wunsch ohne
intensives Verlangen, gleichsam mit innerer Distanz. Literatur
Eben jene Intensität (syntonos), die für das Festhalten Armin, Hans F. A. von: Stoicorum Veterum Fragmenta
an dogmatischen Überzeugungen charakteristisch [SVF]. 4 Bde. Leipzig 1903 ff.
ist, erweist sich nach dieser Auffassung als verant- Brennan, Tad: The Stoic Life. Oxford 2005.
wortlich für die Ausrichtung des Lebens nach star- Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das
ken Gütervorstellungen. »Die seelische Unruhe ist höchste Gut und das größte Übel. Lat.-Dt. (Übers. u.
nur zu vermeiden, wenn wir zeigen […], dass es von Hg. H. Merklin). Stuttgart 1989.
132 III. Glück in der Antike

Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter


Philosophen [DL] (Hg. O. Apelt). Hamburg 1998.
4. Glück bei Augustinus
Epikur: Epicurea (Hg. H. Usener). Stuttgart 1966. und im Neuplatonismus.
–: Brief an Menoikeus. In: Malte Hossenfelder (Hg.):
Antike Glückslehren. Stuttgart 1996, 173–176 [zitiert
Der Bezug zur göttlichen
im Text nach der Zählung von Diogenes Laertius]. Realität
–: Kyriai doxai (Hauptlehren) [KD]. In: Ders.: Ausge-
wählte Schriften (Hg. Ch. Rapp). Stuttgart 2010, 11–
22.
Das neuplatonische Verständnis von eudaimonia
Forschner, Maximilian: Die stoische Ethik [1981].
stützt sich zentral auf das platonische Diktum von
Darmstadt 21995.
der »Angleichung an Gott« (homoiôsis theô; Plotin:
Frede, Dorothea: Der Begriff der ›eudaimonia‹ in Platos
»Philebos«. In: Zeitschrift für philosophische For-
Enneade I 2 [19] 1, I 4 [46] 16). Diese ›Angleichung‹
schung 53 (1999), 329–354. soll als ein Aufstieg des Individuums zum ersten
Gigon, Olof (Hg.): Epikur. Von der Überwindung der Prinzip zu verstehen sein. Zur Erläuterung dieser
Furcht, Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Auffassung muss man auf Plotins anspruchsvolle
Fragmente. Zürich 21968. spekulative Metaphysik zurückgreifen. Danach lässt
Inwood, Brad: Ethics and Human Action in Early sich die gesamte Wirklichkeit als Derivat eines einzi-
Stoicism. Oxford 1985. gen, höchsten und unüberbietbaren Prinzips, des
Irwin, Terence H. 1986: Stoic and Aristotelian Concep- ›Einen‹ (hen), verstehen. Dieses soll einen stufenarti-
tions of Happiness. In: M. Schofield/G. Striker (Hg.): gen Kosmos erzeugt haben, der sich grob gesprochen
The Norms of Nature. Studies in Hellenistic Ethics. in die beiden Bereiche intelligible Welt (kosmos
Cambridge/Paris 1986, 205–244. noêtos) und sensible Welt (kosmos aisthêtos) gliedert.
Lukrez: Von der Natur. Lat.-Dt. (Übers. u. Hg. H. Diels). Dem höheren, geistigen Bereich des Kosmos gehö-
Darmstadt 1993. ren näherhin der ›Geist‹ und die ›Seele‹ an, dem un-
Mitsis, Philip: Epicurus’ Ethical Theory. The Pleasures teren, wahrnehmbaren Bereich hingegen die sicht-
of Invulnerability. Ithaca 1988. bare, materielle Welt mit ihren belebten und unbe-
Nussbaum, Martha C.: The Therapy of Desire. Theory lebten Entitäten. Unter dem Geist (nous) ist hier
and Practice in Hellenistic Ethics. Princeton, NJ nicht ein menschliches Vermögen, sondern eine kos-
1994. mische Realität zu verstehen, nämlich die zweit-
Platon: The Philebus of Plato (Hg. R. G. Bury). Cam-
höchste Entität nach dem ersten Prinzip. Ebenso
bridge 1897.
steht der Ausdruck Seele (psychê) hier nicht für das
–: Philebos (Übers. u. Hg. D. Frede). Göttingen 1997.
Lebens- und Bewegungsprinzip des Menschen, son-
Sextus Empiricus: Pyrrhoneioi hypotyposeis [PH]. Dt:
Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (Übers. M. Hos-
dern meint die drittrangige geistige Entität, die Welt-
senfelder). Frankfurt a. M. 21993. seele. Plotins Zweiteilung der Wirklichkeit in eine
–: Adversus Mathematicos [M]. Dt.: Gegen die Wissen- geistige und eine sinnliche Realität ist allerdings
schaftler (Hg. F. Jürß). Würzburg 2001. nicht dualistisch zu verstehen: Vielmehr soll es eine
Voelke, André-Jean 1993: La philosophie comme théra- lückenlose Kontinuität zwischen allen Realitätsgra-
pie de l’âme. Etudes de philosophie hellénistique. Fri- den sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrem
bourg/Paris 1993. Wiederaufstieg geben. Auch wird die sichtbare Welt
Warren, James: Epicurus and Democritean Ethics. An immer nur relativ geringer bewertet und nicht als
Archeology of ›ataraxia‹. New York 2002. ein intrinsisches Übel betrachtet.
Der Mensch nimmt nach Plotin eine charakteris-
Christoph Horn
tische Zwischenstellung ein. Er ist einerseits ein sinn-
lich-körperliches Wesen und hat andererseits Anteil
an der geistig-seelischen Realität. Wie jedes andere
Seiende weist er nach plotinischer Auffassung ›Spu-
ren‹ (ichnê) seiner Herkunft vom ersten Prinzip auf,
und wie jedes andere Seiende tendiert er zur Rück-
kehr (epistrophê) zu seinem Ursprung. Für den Men-
schen bedeutet dies, dass er über eine unverlierbare
geistige Ausstattung verfügt, mit deren Hilfe er eine
4. Glück bei Augustinus und im Neuplatonismus. Der Bezug zur göttlichen Realität 133

solche Rückkehr, seine zentrale Lebensaufgabe, voll- Lektüre der Neuplatoniker beurteilt noch Augusti-
ziehen kann: Das metaphysische Eine ist das höchste nus das Glücksstreben als grundlegendes und unver-
Strebensgut. Der Mensch soll der irdischen Realität änderliches menschliches Merkmal: Die Feststellung
in Richtung auf das Eine »entfliehen« (VI 9 [9] 11). »Wir wollen glücklich sein« (beatos nos esse volumus;
Unter eudaimonia versteht Plotin also jenen gradu- Augustinus: De beata vita 2,10; De trinitate XIII 4,7)
ellen Erfüllungszustand, der sich aus der Wendung bildet auch für ihn den Ausgangspunkt der Moral-
zur höheren Welt und einem schrittweisen Aufstieg philosophie. Wie Plotin versteht er unter dem
zum höchsten Prinzip ergibt. Der Ausgangspunkt ei- Glücksstreben die Tendenz, ›zu Gott zurückzukeh-
nes Aufstiegs liegt darin, dass jemand auf seinen – ren‹ (ad deum reditus). Das Glück, nämlich ein Le-
gewöhnlich der Vergessenheit anheimgefallenen – ben bei Gott, bildet für ihn das höchste Ziel mensch-
geistigen Ursprung aufmerksam wird (V 1 [10] 1, V lichen Handelns. In seiner Frühschrift De beata vita
5 [32] 12). Der Mensch soll nämlich einen Seelenteil verteidigt er diese christlich-neuplatonische Kon-
besitzen, der »nicht mit abgestiegen« ist, sondern zeption gegenüber den konkurrierenden Schulmei-
sich ständig in der oberen Welt aufhält (IV 8 [6] 8). nungen. Glück ist demnach das, worin alles Handeln
Unter dem Aufstieg des Menschen ist dann folge- und Begehren zum Stillstand kommt; niemand
richtig dessen »Geistwerdung« zu verstehen (V 3 könne glücklich sein, wenn er etwas Begehrtes nicht
[49] 4), also der schrittweise Übergang zu einer theo- habe. Nun mache aber nicht alles, was begehrt und
retischen Existenzform verbunden mit einer mora- erlangt werde, tatsächlich glücklich. Deshalb bedürfe
lisch-asketischen Lebensführung. es der Philosophie, die eine kritische Betrachtung
Der plotinische Weise ist somit durch eine »gestei- der Glücksrelevanz von Strebensgütern unternimmt.
gerte Intensität des Lebens« charakterisiert (to agan So insistiert Monnica – Augustinus’ Mutter, die als
zên; I 4 [46] 3), zudem durch einen festen Zustand Dialogfigur in De beata vita auftritt –, Glück ergebe
von Ruhe und Ausgeglichenheit (I 4 [46] 12) weil er sich erst aus dem Besitz von etwas Gutem. Doch
Platons Idee des Guten immer präsent hat (vgl. das auch der Besitz des jeweiligen Guten ist nur vorüber-
megiston mathêma in I 4 [46] 13). Von den hellenisti- gehend. Will man von wirklichem Glück sprechen,
schen Glückskonzeptionen unterscheidet sich der so muss die Dauerhaftigkeit dieses Besitzes garan-
plotinische Standpunkt also dadurch, dass sein Be- tiert sein. Also muss das Gute ständig im Besitz des-
sitz des Guten aus metaphysischen Gründen unan- sen sein, den man glücklich nennen kann, und zu-
greifbar ist (vgl. Bussanich 1990; Schniewind 2003); dem muss das Gut, das ein gleichbleibendes Glück
es bleibt aber bei einer philosophisch begründeten sicherstellen soll, ewig und unwandelbar sein (De be-
Glückskonzeption. Plotin gesteht die Möglichkeit ei- ata vita 2,11). Als das Gute, das ein permanentes
ner Vergöttlichung jedem zu, wobei sich die höhere Glück herbeiführt, kommt daher allein Gott in Be-
Welt niemandem aufdrängen oder verweigern soll. tracht; erst die Unveränderlichkeit Gottes kann das
Sie erschließt sich exakt nach Maßgabe des philoso- menschliche Glück dauerhaft machen (2,11; vgl. De
phischen und moralischen Entwicklungsniveaus ei- libero arbitrio II 9,27).
nes Menschen. Offenkundig ist Plotins Konzeption Güter wie Genuss oder Reichtum sind wegen ihrer
in ihrem moralischen Intellektualismus mit den klas- zeitlichen Unbeständigkeit und ihrer häufigen Un-
sischen und hellenistischen Glücksphilosophien eng verfügbarkeit nicht wirklich glückstauglich. Zudem
verwandt. Auch die zentrale Funktion der teleologi- stellen sie, selbst wenn man sie ständig besäße, das
schen Deutung des Glücksbegriffs findet sich bei Glücksbedürfnis nicht dauerhaft zufrieden: Ihre
Plotin wieder. In seinen Argumentationen gegen Glückswirkung hält selbst bei permanenter Präsenz
konkurrierende Glücksauffassungen, etwa gegen die nur vorübergehend an. Als glücksrelevantes Gut
Stoiker (I 4 [46] 2), die Epikureer (II 9 [33] 15) und kommt nur etwas in Frage, das alles Handeln und
die Peripatetiker (I 4 [46] 15), stützt er sich auf die Begehren zum Stillstand bringt; niemand könne
Überlegung, dass abgeleitete oder instrumentelle glücklich sein, wenn er immer noch etwas Weiteres
Güter als inhaltliche Bestimmungen des Glücks begehre. Augustinus insistiert darauf, Glück ergebe
nicht in Betracht kommen. sich erst aus dem Besitz eines höchst wertvollen und
Mit seiner ähnlichen Position gehört auch noch zugleich unerschöpflichen Gutes. Doch kann selbst
der christliche Kirchenvater Augustinus zur Tradi- der Besitz eines vollständig und dauerhaft beglü-
tion der antiken Glücksphilosophie. Unter dem Ein- ckenden Gutes noch gefährdet sein, nämlich durch
druck von Ciceros Hortensius und aufgrund seiner die Wandelbarkeit des betreffenden Gutes. Soll man
134 III. Glück in der Antike

also von Glück sprechen können, so muss überdies Diese Ausrichtung der Seele ist mit den berühmten
die Dauerhaftigkeit dieses Gutes garantiert sein. Au- Aussagen am Beginn der Confessiones gemeint, Gott
gustinus stellt also mindestens fünf Teilforderungen habe den Menschen »auf sich hin geschaffen«, und
auf: Erstens muss das gesuchte Gut immer existieren. unser Herz sei unruhig, bis es Ruhe in Gott finde.
Zweitens muss es ständig und unverlierbar im Besitz Das antike Strebensmodell ist damit in christliche
dessen sein können, den man glücklich nennen kann, Begriffe übersetzt, seinem Geist nach aber präzise
d. h. es muss unter allen Lebensbedingungen zugäng- beibehalten (vgl. Beierwaltes 1981).
lich und festhaltbar sein. Drittens muss es den, der es
hat, sozusagen wunschlos glücklich machen (er darf Literatur
nichts darüber hinaus erstreben wollen). Viertens
Augustinus: De beata vita/Über das Glück. Lat.-Dt.
muss das Gut, das ein gleichbleibendes Glück sicher-
(Übers. I. Schwarz-Kirchenbauer u. W. Schwarz).
stellen soll, unerschöpflich sein (seine Glückswir-
Stuttgart 1989.
kung darf nicht nachlassen). Dazu kommt fünftens,
–: De trinitate (Bücher VIII–XI, XIV–XV, Anhang: Buch
dass das gesuchte Gut in sich ewig und unwandelbar V). Lat.-Dt. (Übers. M. Schmaus u. J. Kreuzer). Darm-
sein soll. Als das Gute, das ein solches permanentes stadt 2002.
Glück herbeiführt, kommt dann klarerweise allein –: Confessiones/Bekenntnisse. Lat.-Dt. (Übers. W.
Gott in Betracht – nur die Unveränderlichkeit Gottes Thimme). Düsseldorf/Zürich 2004.
soll das menschliche Glücksstreben zufriedenstellen –: De libero arbitrio/Der freie Wille. Lat.-Dt. (Übers. J.
können. Brachtendorf). Paderborn u. a. 2006.
Auf den Gedanken, dass das menschliche Glücks- Beierwaltes, Werner: Regio beatitudinis. Zu Augustins
streben zum Postulat eines ewigen Betrachtungsob- Begriff des glücklichen Lebens. Sitzungesberichte der
jekts führt, dessen ›Schau‹ oder ›Genuss‹ das ge- Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Philo-
suchte Glück darstellt, kommt Augustinus immer sophisch-historische Klasse). Bericht 6. o.O. 1981.
wieder zurück. Das neuplatonische Motiv des Gott- Bussanich, John: The Invulnerability of Goodness: The
Habens oder Gott-Genießens erlangt bei ihm eine Ethical and Psychological Theory of Plotinus. In:
bleibende und für die spätere christlich-metaphysi- Proceedings of the Boston Area Colloquium in An-
sche Tradition zentrale Bedeutung. Nach diesem cient Philosophy 6 (1990), 151–184.
Modell geht nicht nur alles aus dem ersten Prinzip Plotin: Plotins Schriften. Griech.-Dt. (Übers. R.
hervor, sondern es hat überdies die Tendenz, zu die- Harder/W. Theiler/R. Beutler). Hamburg 1956.
sem Ausgangspunkt zurückzukehren. Daran an- Schniewind, Alexandrine: L’éthique du sage chez Plotin.
Le paradigme du ›spoudaios‹. Paris 2003.
knüpfend sagt auch Augustinus, es gebe in allen Ge-
schöpfen eine Tendenz zur Rückkehr in den göttli- Christoph Horn
chen Ursprung (omnia in unum tendunt). Augustinus’
Version der neuplatonischen Rückkehr-Konzeption
versteht den Gedanken einer im Menschen angeleg-
ten Tendenz ganz wörtlich: In allen Geschöpfen be-
stehe eine Art Schwerkraft oder Gewicht (pondus),
das in eine bestimmte Richtung ziehe. Dieses Ge-
wicht wird im Fall der menschlichen Seele als Freude
(delectatio) bestimmt. Nach dieser Theorie versucht
der Mensch zunächst, auf einer noch vormoralischen
Ebene, Unlust zu vermeiden und seine Lust zu stei-
gern, indem er sinnliche Güter anhand des Kriteri-
ums der delectatio prüft. Beim Gebrauch der Ver-
nunft stoße er zudem auf die Tatsache, dass eine tie-
fere Freude mit einem rationalen und moralischen
Leben verbunden sei. Schließlich mache er die Ent-
deckung, dass seine Seele wesentlich auf Gott zu-
strebe. Genau betrachtet erweist sich die Liebe zu
Gott, so Augustinus, als das Gewicht der Seele (vgl.
pondus meum amor meus; Confessiones XIII 9,10).
135

5. Figuren des Glücks in nicht zu viel!‹ (mäden agan!, lateinisch: ne quid ni-
mis!).
der griechischen Literatur. Es sind aber in Wahrheit nicht die Chöre, d. h.
Glück als Ausdruck nicht die Freundinnen der Medea, nicht die Matro-
sen des Neoptolemos (des Sohnes von Achill), nicht
vollendeter Selbst- der Kronrat des Kreon oder des Ödipus, die zeigen,
verwirklichung im Handeln wie und warum die großen tragischen Figuren ihr
Glück verfehlen – oder am Ende nur gerade noch er-
reichen. Verfolgt man das Handeln dieser Figuren
Es gibt sicher kein Thema, über das in der Philoso- selbst, zeigt sich schnell, dass die Verfehlung einer
phie und Literatur der Antike mehr und differen- maßvoll vernünftigen Lebensplanung kaum das Pro-
zierter nachgedacht wurde als über die Fragen, blem ist, das die tragischen Dichter zur Diskussion
warum menschliches Handeln gelingt oder scheitert, stellen wollten. Durch die Beschränkung auf maß-
und wie der Mensch sein mögliches Glück erreicht volle oder völlig vermiedene Lüste ein bescheidenes,
oder verfehlt. in den Wechselfällen des Lebens beständiges Glück
Wenn trotzdem viele überzeugt sind, eine auch zu genießen, ist weder bei Homer noch in der Tragö-
heute noch verbindliche Einsicht in das, was den die die Botschaft, die man aus dem Scheitern der
Menschen glücklich macht, könne man von der An- großen Handelnden gewinnen soll.
tike nicht mehr erwarten, so liegt das vor allem da- Alle diese Personen streben nach einer Höchst-
ran, dass wir der Antike insgesamt ein zu sehr nach form von Glück oder versuchen, einem extremen
außen gerichtetes Denken unterstellen. Die Inner- Unglück zu entgehen. In diesem Streben liegt aber in
lichkeit des Subjekts, die nur aus einem unmittelba- keinem Fall der Grund ihres Scheiterns. Sie scheitern
ren ›Beisichselbstsein‹ und ›Sichselbstfühlen‹ kom- vielmehr – wenn sie scheitern – aus Gründen, die
men kann, schien noch gar nicht entdeckt zu sein. angesichts der großen Herausforderungen, vor die
Für uns ist Glück eine ›Empfindungsqualität‹, eine sie gestellt waren, sehr verständlich erscheinen, ja es
subjektive Hochgestimmtheit, Ergebnis eines erfüll- sind meistens Gründe, von denen man sich auch in
ten Augenblicks, der sich einer rationalen oder gar der kleineren Dimension des eigenen Lebens mit be-
methodischen Kontrolle entzieht. Für die Antike troffen fühlt. Dazu kommt, dass diese Gründe nicht
scheint das Glück eher eine Frage vernünftiger Le- in einer ungenügend ›prudentiellen‹ Lebensplanung,
bensplanung gewesen zu sein, für die rational ge- nicht in Leidenschaften, die zu groß waren, als dass
lenktes Handeln und Glück zusammenfallen. sie von der Vernunft noch hätten gebändigt werden
Sich von Gefühlen und Leidenschaften überhaupt können, gefunden werden können (und auch nicht
nicht verwirren zu lassen, sondern allein der Ver- gesucht werden sollen). Im Zentrum scheint viel-
nunft gemäß zu leben, war für die Stoiker Garant für mehr ein Konflikt innerhalb der Lüste und Unlüste
den Genuss einer selbstbestimmten Autarkie, in der selbst zu stehen, die von den Handelnden in gleicher
allein sie ein dem Menschen gemäßes Glück sahen. Weise erstrebt respektive gemieden werden, die sie
Für Aristoteles soll die Mäßigung der Affekte (Me- aber in ihrer Bedeutung für sich selbst oft perspekti-
triopathie) Voraussetzung für ein der Vernunft ge- visch verzerrt wahrnehmen.
mäßes, tugendhaftes und dadurch glückliches Leben Ein besonders deutliches Beispiel bietet die Medea
gewesen sein (das ist trotz ihrer Verbreitung eine des Euripides. Seine Medea setzt mit kluger Rationa-
vermutlich falsche Deutung). Aber auch für die lität und souveräner Beherrschung aller Gefühle, die
›Lustphilosophie‹ der Epikureer galt ein maßvoll ihre Ziele behindern könnten, ihren Plan, Jason für
vernünftiges Handeln, das der Lust nicht abgeneigt seine schändliche Untreue büßen zu lassen, durch.
ist, aber jeden Exzess meidet, als Garant der Opti- Man muss aber nur an ihren großen Monolog den-
mierung menschlichen Glücks. ken, in dem sie sich vor der Ermordung ihrer Kinder
Viele halten diese Auffassung auch für die Bot- (die sie für nötig hält, um Jason ganz zu vernichten)
schaft der griechischen Tragödie. Dort sind es die das ganze Unglück vor Augen führt, das sie für den
Chöre, die das Scheitern der großen tragischen Fi- Rest ihres Lebens werde ertragen müssen, um zu be-
guren oft mit dem Wunsch kommentieren, ihnen greifen, dass hier der klug erzielte Handlungserfolg
möge eine solche Überschreitung des richtigen nicht mit dem subjektiven Glücksempfinden zusam-
Maßes erspart bleiben. Die Formel lautet: ›Nur menfällt.
136 III. Glück in der Antike

Wenn man noch genauer prüft, kann man feststel- Jason war, wie Medea zu Beginn des Dramas sagt,
len, dass es Euripides in erster Linie um das Ausein- der Mann, auf den sie ihr ganzes Glück gebaut hatte
anderfallen von zwei verschiedenen Glücksgefühlen (Euripides: Medea, 228). Verraten von ihm, sieht sie
in Medea geht und dass der Handlungserfolg als äu- sich einsam in einer feindlichen, fremden Umwelt
ßeres Geschehen für dieses Darstellungsziel eine nur allen Glücks beraubt. Der Genuss des Gefühls, ihn
dienende Funktion hat. Zum Handlungserfolg im vernichtet vor sich zu sehen, wird deshalb zum alles
äußeren Sinn trägt z. B. bei, dass Medea etwas von bewegenden Handlungsmotiv für sie. Dennoch ist
Giftrezepturen versteht und sie so anwenden kann, dieses Motiv nicht das einzige in ihr noch lebendige
dass der Erfolg sicher ist. Dieses Können steht ihr zur Handlungsziel. Im Gegenteil: In außergewöhnlicher
Verfügung, für die dramatische Handlung ist ent- Bewusstheit stellt sie sich selbst vor Augen, dass sie
scheidend, was diese Anwendung für sie persönlich um dieses Genusses willen das eigentliche Glück ih-
bedeutet: Sie wird dadurch den Triumph über Jason res Lebens opfert (1021–1080). Denn dieses Glück
genießen können, aber zugleich den Verlust der Kin- sieht sie im Leben mit den Kindern, deren Glück sie
der beklagen müssen. mit genießen (1025, 1059) und von dem sie auch für
Das gilt analog für alle ihre Ziele, die sie mit ratio- sich selbst Gewinn haben möchte. Aber der augen-
naler Überlegenheit methodisch planvoll und blickliche Schmerz bei dem Gedanken an Jasons
schrittweise aufeinander aufbauend verwirklicht. Niedertracht ist so stark, der Wunsch, ihn geschlagen
Die hohe Intelligenz, durch die es Medea gelingt, vor sich zu sehen, so groß, dass sie für den Genuss
Kreon, den König von Korinth, zu überreden, sie der Rache alles spätere Unglück meint in Kauf neh-
trotz der Verbannung noch einen Tag in Korinth men zu müssen. Als Jason ihr sagt, dass doch auch sie
bleiben zu lassen, und mit der sie ihrem einfältigen durch den Tod der Kinder unglücklich geworden sei
Mann Zustimmung und Harmonie vorspielt – dieses und am gemeinsamen Leid teilhabe, antwortet sie:
ganze erfolgreiche Tun ist für Medea nur Mittel, das »der Schmerz löst sich, wenn Dir der Hohn vergeht«
schmerzliche Gefühl der Erniedrigung und Bloßstel- (1361 f.).
lung durch den Mann, der ihr ganzes Glück bedeutet Das, was Euripides in seiner Medea darstellt, ist
hatte und der es vernichtet hat, nicht mehr empfin- nicht der planvolle Weg, auf dem sich Medea unter
den zu müssen. Das ist das bewegende Moment Einsatz aller Mittel den Triumph über Jason er-
schon bei jedem einzelnen Teilschritt ihres Han- kämpft, der Akzent liegt vielmehr auf etwas Innerli-
delns, sie genießt ›das schöne Bild der Hoffnung‹ auf chem: auf dem maßlosen Schmerz über den Verrat
das subjektive Gefühl der zurückgewonnenen Über- einer außergewöhnlichen Liebe und dem daraus re-
legenheit in jedem Stadium. Dass es die subjektive sultierenden inneren Konflikt Medeas zwischen dem
›Empfindungsqualität‹ und nicht eine ›prudentielle‹ beinahe bedingungslos gewordenen Streben, die im
Lebensgestaltung ist, die Medeas Handeln motiviert, Augenblick gefühlte Enttäuschung und Erniedri-
ist mehr als deutlich. gung in einen Triumph zu verwandeln, und dem
Aristoteles hat später begrifflich unterschieden Wissen, dass sie für diesen Triumph ihr ganzes Le-
zwischen dem, was man bei einem Handeln (in unse- bensglück opfert.
rem Sinn) ›macht‹ und der subjektiven Lust, die man Es geht also um den Verlust einer Ordnung der
durch es erreichen, bzw. der Unlust, die man vermei- Lüste, allerdings nicht irgendeiner Ordnung, son-
den möchte. Nur das, was man im Blick auf diese sub- dern um den Verlust der Ordnung, die für das Glück
jektiven Lust- bzw. Unlustempfindungen tut, nennt er eines Menschen im Ganzen verantwortlich ist. Die
überhaupt ein Handeln (praxis). Das auf Äußeres ge- Darstellung und Problematisierung eines solchen in-
richtete Tun, durch das man etwas herstellt oder be- neren Rangstreits unter den Lüsten ist keine Neue-
wältigt, nennt er ein ›Machen‹ (poiein, poiesis). rung des Euripides, sie bildet im Gegenteil ein Zen-
In diesem terminologisch strengen Sinn ist das, tralthema der griechischen Literatur seit Homer.
was Euripides in seiner Tragödie darstellt, das Han- Auch Homer demonstriert das mögliche Ausein-
deln Medeas. Von ihm her, d. h. von der erstrebten anderfallen der erstrebten Glücksempfindungen des
Glücksempfindung her, erhält alles, was Medea tut, Menschen, und zwar an allen seinen großen Figuren.
seine Funktion und seine Stellung im Verlauf der Hektor z. B. möchte der Verteidiger und Retter Trojas
dramatischen Handlung. Aber gerade das bedeutet, sein. Die Vorstellung, dass er dieses Ziel verfehlen,
dass es um ihre subjektiven Gefühle und nicht um und vor allem: durch eigene Schuld verfehlen könne,
ihr Handeln im heutigen Sinn des Wortes geht. ist für ihn das größte Unglück, das er fürchtet. Sein
5. Figuren des Glücks in der griechischen Literatur 137

ganzes Glück erkennt er darin, der Schutz seiner nug auf ihn berufen) und in ihnen die Botschaft er-
Heimatstadt und seiner Angehörigen, vor allem sei- kennen: Wer sich nicht von der Vernunft leiten lässt
ner Frau zu sein. Als sich die beiden Heerführer der und dem Affekt nicht widersteht, wird vom Schick-
Griechen, Agamemnon und Achill, im Streit über- sal bestraft.
werfen, hat Hektor die Hoffnung, dieses Ziel zu er- Da sich bedeutende Unterschiede im Ganzen oft
reichen, greifbar vor Augen. Achill hatte sich vom aus kleinen Details ergeben, soll hier auf ein solches
Kampf zurückgezogen, und Hektor hatte in zwei Ta- Detail hingewiesen werden: Hektor beklagt zwar tat-
gen das griechische Heer beinahe bis auf die Schiffe sächlich, dass er nicht der Vernunft gefolgt sei, er be-
am Meer zurückgeworfen. Bei diesen Kämpfen aber dauert dies aber nicht aus einem ›moralischen‹
hatte Hektor den liebsten Freund Achills, Patroklos, Grund (in unserem oder einem stoischen Sinn), son-
getötet. Das bringt Achill so auf, dass er seinen Streit dern aus einem subjektiven. Es wäre, so sagt er, viel
mit Agamemnon vergisst und wieder in den Kampf vorteilhafter (d. h. für ihn) gewesen, dem Rat des Pu-
zurückkehrt. In dieser Situation lässt Homer einen lydamas zu folgen (22, 103).
Freund und Ratgeber Hektors auftreten, der ihn Ganz ähnlich ist es bei Medea. Wenn sie in ih-
warnt. Pulydamas, so heißt dieser Warner, erinnert rem berühmten Monolog sagt: »Ich erkenne das
Hektor daran, dass Achill im offenen Kampf unbe- Schlimme, das ich tun will, aber mein Thymos [d. h.
siegbar ist, und rät dringend, sich wieder hinter die hier: meine zornige Empörung] ist der Herr meiner
sicheren Mauern der Stadt zurückzuziehen. Dass Pu- Rachepläne«, dann ist ›das Schlimme‹, von dem sie
lydamas Recht hat, weiß Hektor. Er selbst hatte fast spricht, nicht die mögliche moralische Verwerflich-
zehn Jahre lang die Strategie verfolgt, einen direkten keit ihrer Tat, sondern das dauerhafte Unglück, das
Kampf mit Achill zu vermeiden, und hatte so einen sie sich durch den Tod der geliebten Kinder selbst
Sieg der Griechen verhindert. zufügt. Euripides und Homer scheinen nicht zwi-
An diesem Abend aber (dieser »verhängnisvollen schen Neigung und Pflicht, sondern zwischen einer
Nacht«, wie er später sagen wird; Homer Ilias 22, richtigen und einer falschen Form der Selbstliebe zu
192) will er von dieser Bedrohung nichts hören. Er unterscheiden. Hektor und Medea haben sich nicht
kann seinen Blick von dem fast schon errungenen zuerst an der Pflicht, sondern an ihrem eigenen wah-
Sieg nicht abwenden und hält eine scharfe Gegen- ren Vorteil versündigt und so ein kurzfristiges,
rede, die in der verwegenen Hoffnung endet, auch scheinbares gegen ihr eigentlich erstrebtes Glück
von Achill könne sich das Kriegsglück einmal ab- eingetauscht. Dass es die Aufgabe der Vernunft ist,
wenden (18, 284–309). Und er hat Erfolg mit seiner das, was für einen selbst wirklich vorteilhaft ist, zu
Rede. Nicht den klugen Worten des Pulydamas, son- erkennen und festzuhalten, spricht bei Homer die
dern den euphorischen des Hektor stimmen die Tro- Göttin der Vernunft, Athene, selbst aus.
janer mit Begeisterung zu (18, 310–313). Als Odysseus nach zwanzig Jahren endlich nach
Dass er mit seiner Rede, d. h. mit dem, was er ge- Ithaka zurückgekehrt ist, macht er es nicht wie Aga-
tan, ›gemacht‹ hat, erfolgreich war, bedeutet aber memnon, der sich von seiner Frau einen roten Tep-
nicht, dass er seinem Handlungsziel – das Glück, der pich ausrollen und im Bad erschlagen lässt (so bei
Verteidiger Trojas zu sein, genießen zu können – nä- Aischylos: Agamemnon, 905–957), sondern versucht,
her gekommen ist. Im Gegenteil, er hat es verspielt, sich erst ein Bild von der Lage in seinem Palast zu
und er hat es verspielt, nicht weil er seine Ziele plan- machen. Dafür lobt ihn Athene und sagt ihm, eben
los und uneffektiv ›umgesetzt‹ hat, sondern weil ihm dies sei der Grund, weshalb sie ihn nicht im Stich las-
die Lust an einer verblendeten Hoffnung den Blick sen könne. Er habe unter den Menschen eben die
auf das, was ihm wirklich Erfolg und das größte Vorzüge, für die sie unter den Göttern gerühmt sei.
Glück bringen würde, verstellt hat. Das spricht er we- Beide seien sie durch ihre auf den wahren Vorteil be-
nig später selbst aus, als er vor den Mauern Trojas dachte Klugheit ausgezeichnet (Homer: Odyssee 13,
steht, um auf Achill zu warten. Seinen Erfolg gegen 296–299, 330–336).
Pulydamas beurteilt er nun als sein eigentliches Un- Diese Art des Denkens nennt Homer nóos (später
glück, das er durch sein vermessenes Vertrauen auf nous, lateinisch: intellectus) und spricht ihm die Fä-
seine Kräfte selbst herbeigeführt habe (22, 99–104). higkeit zu, »nach vorne und nach hinten zu sehen«
Man könnte, wenn man diese Sätze liest, Homer (Ilias 18, 250), d. h. die Freiheit, sich nicht von einem
doch für einen frühen Vertreter einer stoischen Mo- Aspekt des Augenblicks gefangen nehmen und ein-
ral halten (die Stoiker haben sich tatsächlich oft ge- engen zu lassen, sondern eine Sache rundum, von al-
138 III. Glück in der Antike

len Seiten zu beurteilen. Dieser nóos ist für Homer In einer Pflichtenethik ist das Glück eine Zugabe
zugleich ein Ort der Freude. Aristoteles behauptet zur Freiheit der Selbstbestimmung, die durch die
später sogar, dass die Tätigkeit des Intellekts die ›lust- Unabhängigkeit von jeder Art Verwirrung durch Ge-
vollste‹ aller möglichen Tätigkeiten sei s. Kap. II.1 fühle errungen ist. Auch das homerische Glück setzt
und III.2). Nicht aufgrund einer Reflexion auf eine eine Art Freiheit voraus, ja es besteht in ihr. Diese
philosophische theoria, wohl aber aufgrund guter Freiheit aber meint nicht die Freiheit von Lust über-
Beobachtung der Verfassung, in der sich diejenigen haupt, sondern von einer erstarrten, fixierten Suche
seiner Figuren befinden, die ihren nóos betätigen, nach Lust. Homer beschreibt sie in einem zu Recht
scheint Homer bereits zu seiner ähnlichen Auffas- gerühmten Bild. Menelaos ist im Wagenrennen von
sung gekommen zu sein. einem jungen Mitstreiter schamlos betrogen worden
Die wohl bekannteste Demonstration dieser Auf- und tief verletzt. Als dieser sich aber besinnt und sei-
fassung findet sich in der Odyssee. Odysseus sitzt als nen Fehler eingesteht, macht Menelaos das, was Ho-
Bettler verkleidet in seinem Palast und muss zuse- mer von allen Leuten, denen er nóos zugesteht, sagt.
hen, wie die Mägde mit den Freiern die Nacht durch- Er wendet seinen Kopf und sagt: »Das war frevle-
feiern. Das erregt seinen Zorn, am liebsten würde er risch von dir, aber du bist noch jung, du hast schon
sie erschlagen, aber er beherrscht sich, um sich nicht viele Mühen und Leiden meinetwegen auf dich ge-
zu verraten. Diesen Sieg der Vernunft über den Af- nommen, ebenso deine Brüder und dein Vater […],
fekt stellt Homer mit einem Vergleich dar. Wie ein so will ich nicht hochfahrend und verhärtet sein.«
Mann, der auf heftig loderndem Feuer einen (Zie- Und, so kommentiert Homer: »Wie wenn sich Tau
gen-)Magen, schon voll von Duft nach Braten und um die Halme der sprießenden Saat der in der
Blut, hin und her wendet und nicht abwarten kann, Nachtkälte erstarrten Felder legt, so wurde Menelaos
bis er durchgebraten ist, so habe sich Odysseus in das Herz im Inneren warm und belebt von Freude«
Gedanken hin und her gewendet, wie er gegen die (Ilias 23, 566–611). Diese belebende Freude fällt
schamlosen Freier vorgehen könne, er allein gegen Menelaos nicht in den Schoß, sie ist, wie Homer ihn
so viele (Odyssee 20, 5–30). gezeichnet hat, Frucht seiner Lebenserfahrung und
Es dürfte deutlich sein, dass diese Vernunft nicht seiner Fähigkeit, sich mit sich selbst in Übereinstim-
mit der uns gewohnten Vorstellung von Vernunft mung zu bringen. Und Übereinstimmung mit sich
identisch ist, die nach-denkt, re-präsentiert, mit ab- selbst meint hier: Seinen wahren Vorteil so im Auge
strakten Begriffen ›arbeitet‹. Odysseus unterdrückt haben, dass die mit ihm verbundenen Lustgefühle so
nicht mit der Vernunft seine Gefühle, sondern folgt präsent sind, das man sie schon als gegenwärtig emp-
der größeren Lust, die er in Gedanken vor Augen hat findet.
und gleichsam schon mit allen Sinnen empfindet. Für die meisten sind diese Lusterfahrungen, deren
Diese homerische Vernunft ist wie die Sinneser- Präsenz erst einen wirklich glücklichen Zustand aus-
kenntnis direkt bei der Sache, und zwar aktiv, selbst- macht, gerade nicht präsent, sondern verborgen. Zur
tätig, nicht nur passiv beeindruckt. Sie ist etwas Prä- ›Produktion der Präsenz‹ dieses Verborgenen haben
sentes und unmittelbar von einer Lust erfüllt, die Homer und die ihm darin folgende attische Tragödie
stärker und größer als die Lust an der Bestrafung der viele Wege gesucht und gefunden, besonders erfolg-
Frauen ist. Hier siegt die größere über die geringere reich z. B. durch die Ausnützung der Differenz zwi-
Lust, allerdings keine irrationale Lust, sondern dieje- schen der Perspektive der Handelnden und der des
nige, die mit dem weiteren Blick, der das Ganze ins Lesers oder Zuschauers. Wer liest, wie Hektor im Sie-
Auge fasst, verbunden ist. gestaumel die Warnung vor Achill nicht hören will,
Und Odysseus wird für diese Vernunft belohnt. Im hat in eben diesem Augenblick den Hektor vor Au-
Gegensatz zu fast allen anderen Figuren bei Homer gen, den schon beim Anblick Achills alle Wider-
verspielt er nicht das, was ihn tatsächlich mit der standskraft verlassen wird. Genauso ist es bei Aga-
größten Freude und Lust erfüllt. Das 23. Buch, das memnon. Wenn er in arroganter Verblendung be-
berichtet, wie sich die beiden Liebenden, Penelope hauptet, er brauche Achills Hilfe gar nicht, er werde
und Odysseus, endlich wiedergefunden haben, ist von Zeus selbst geehrt, sieht ihn der Leser schon wei-
voll von Ausdrücken der Freude und des Glücks und nend vor dem Heer stehen, das ohne Achill durch die
der Beschreibung, wie die beiden es miteinander ge- Trojaner fast ins Meer getrieben ist. Und auch bei
nießen. Das abschließende 24. Buch schildert noch, Achill selbst weiß jeder Leser Homers, dass er zu spät
wie sie diese neu gewonnene Situation absichern. und zu halbherzig nachgibt, als er seinen geliebten
5. Figuren des Glücks in der griechischen Literatur 139

Patroklos an seiner Stelle in den Kampf ziehen lässt. müsste, wenn man erfolgreich sein wollte. Sie hat
Er wird dieses ›Zu spät‹ durch den Verlust des Freun- ganz ähnlich wie Odysseus als Bettler in seinem ei-
des und des eigenen Lebens büßen. genen Palast das große Glück, das sie erreichen
Ähnlich ist es in den Tragödien. Wer Ödipus den möchte, so präsent vor Augen, dass alles, was sie tut,
Mörder des Laios verfluchen hört, hört in diesem seine funktionale Stellung aus dem Dienst an diesem
Augenblick schon einen Ödipus, der sich selbst ver- Ziel gewinnt: die souveräne Art, wie sie einem Se-
flucht; wer hört, wie Kreon auf die Drohung seines natsvertreter eine Lektion in Ökonomie erteilt, wie
Sohnes Haimon, er werde mit Antigone sterben, ge- sie ihre Freundin Myrrhinne dazu bringt, ihren
ringschätzig reagiert (Sophokles: Antigone, 762–769), Mann beinahe zu verführen und doch selbst nicht
hat in diesem Augenblick vor Augen, wie bald Kreon schwach dabei zu werden usw. Das alles genießt der
erfahren wird, dass er selbst »sein Glück mit Füßen Zuschauer, der mit Lysistrate die überlegene Per-
zertreten« hat (1275); wer mit ansieht, wie Deianeira, spektive teilt, mit und zieht, wenn er über den über-
die junge Frau des Herakles, mit einem ›Zaubermit- tölpelten Senator lacht, seine Freude daraus, dass er
tel‹ seine Liebe zurückerobern will, weiß in diesem von jedem einzelnen Handlungsschritt an jeder
Augenblick, dass sie sich (nicht böswillig, aber) un- Stelle begreift und mitempfindet, wie er zu dem von
bedacht einer Täuschung überlassen hat, die Hera- den Frauen erstrebten Glück beiträgt. Die ›Ordnung
kles und mit ihm auch ihr das Leben kosten wird, der Lüste‹, die man in sich herstellen muss, um sich
weil sie kein Glück mehr in einem Leben erkennen selbst so zu verwirklichen, dass man sich dabei
kann, in dem sie sich als Mörderin ihres Mannes füh- glücklich fühlen kann, wird nicht durch abstrakte
len muss; oder, um auch auf ein Beispiel aus Aischy- Maximen, sondern durch verstehendes Miterleben
los zu verweisen, wer miterlebt, wie Agamemnon, konkret sichtbar.
vor die Entscheidung gestellt, den Zug nach Troja Über die Bedingungen, diese Übereinstimmung
aufzugeben oder seine Tochter zu opfern, sich bedin- mit sich selbst zuwege zu bringen, haben Dichter
gungslos und mit Affekt für die Opferung Iphigenies und Philosophen von Homer bis Aristoteles nachge-
entscheidet, der weiß bereits in diesem Augenblick, dacht. Die grundlegende Antwort ist: »Man muss
dass sich die Drohung, die der Seher Kalchas eben das wirklich Angenehme schmecken lernen« (in die-
ausgesprochen hatte, erfüllen und Agamemnon von sem Sinne Aristoteles: Nikomachische Ethik 1172a,
der Mutter seiner Tochter bei der Heimkehr erschla- 16–26). An dieser Findung des eigenen Selbst ist
gen werden wird. auch die Kunst maßgeblich beteiligt. Ihre Aufgabe ist
In allen diesen Fällen ist das, was dem Handeln- keine dem Inhalt gegenüber gleichgültige Ästhetik,
den verborgen ist, dem Leser oder Zuschauer prä- eher besteht sie in der Erzeugung eines ästhetischen
sent, intellektuell und emotional. So gewinnt man Schreckens, der den ergreift, der miterlebt und mit-
eine nicht abstrakte, sondern konkrete, konkret er- empfindet, wie jemand seine Selbstverwirklichung
lebte und gefühlte Einsicht in die vielfältigen Weisen, durch falsche Ziele oder falsche Wege zu ihnen ver-
die Übereinstimmung mit dem, was die eigene spielt – oder in der Erzeugung des Vergnügens an
Selbstverwirklichung ermöglicht, zu erreichen oder der gelungenen Verwirklichung des eigenen Glücks
zu verfehlen. (s. Kap. II.4). Die Intensität des Gefühlserlebnisses
Wie diese Konkretheit zustande kommt, kann zusammen mit der Wiederholung von immer ande-
auch ein Blick auf die Komödie des Aristophanes ren, aber großen und für Glück und Unglück bedeu-
zeigen. Anders als in der Tragödie scheitern die Han- tenden Handlungen bringen, mehr als dies eine äs-
delnden der Komödie nicht, sie erreichen ihre Ziele, thetisch ›versüßte‹ Belehrung könnte, eine kulti-
aber oft nur auf eine eher utopische Weise. Das gilt vierte Festigkeit in der Unterscheidung der Lüste mit
auch für Komödien, die keinen Mistkäfer, mit dem sich.
man zur Friedensgöttin in den Himmel fliegen kann, Aus der Perspektive einer Selbstbestimmungsethik
und kein Wolkenkuckucksheim benötigen, wie etwa erschien vielen dieses griechische Literaturverständ-
für die Lysistrate. Diese junge Athenerin setzt im nis als zu moralisch. Es sollte aber deutlich geworden
Bund mit einer ›Kollegin‹ aus Sparta den Frieden sein, dass die hier gesuchte Ordnung der Lüste nicht
zwischen den beiden Städten auf eine Weise (sie durch eine Vernunftgöttin Minerva erzwungen wird,
bringt die Frauen dazu, sich ihren Männern zu ver- die den Kentaur der Lüste wie im Bild Botticellis am
weigern) durch, die ›real‹ sicher nicht durchführbar Haar zurückreißt, sondern so, wie es einem die Vor-
gewesen wäre. Aber sie tut das so, wie man es tun freude auf eine große Lusterfahrung leicht macht,
140 III. Glück in der Antike

kleinere Lüste zu übergehen oder gar nicht mehr zu Euripides: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Grie-
bemerken. Das Analoge gilt bei der Unlust. chisch-deutsch (Übers. Ernst Buschor; Hg. Gustav
Die Überzeugung, immer schon ein selbstbe- Adolf Seeck). 6 Bde. München 1972 ff.
stimmtes Wesen zu sein und den eigenen Werten ge- Homer: Ilias (Übers. Wolfgang Schadewaldt). Frankfurt
mäß leben zu können, überfordert viele, wenn sie a. M. 1975.
dieses vermeintlich angeborene Recht ›realisieren‹ –: Die Odyssee (Übers. Wolfgang Schadewaldt). Düssel-
wollen. Die Einsicht, dass der Mensch auch in seinen dorf 22004.
Lusterfahrungen endlich und begrenzt ist und das Schmitt, Arbogast: Die Intelligenz der Gefühle und ihre
Kultivierung durch Literatur bei Aristoteles. In: Di-
tatsächlich Angenehme erst schmecken lernen muss,
ana Bormann/Frank Wittchow (Hg.): Emotionalität
führt dazu, eine Kultur der Gefühle zu suchen. In-
in der Antike. Zwischen Performativität und Diskur-
dem jeder seine Fähigkeiten erprobt und so findet,
sivität. Berlin 2008, 249–263.
welche Entfaltung ihm am meisten gemäß und da- –: Handeln in Abhängigkeit. Determination und Frei-
durch am lustvollsten ist, wird das Glück nicht zu ei- heit im Verhältnis von Gott und Mensch bei Homer.
ner kontingenten Augenblickserfahrung, sondern In: Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer (Hg.): Werk
zum Ausdruck einer gelingenden Selbstverwirkli- und Diskurs. Festschrift Karlheinz Stierle. München
chung, die den Anspruch, selbstbestimmt zu sein, 1999, 11–32.
überhaupt erst einlösen kann. –: Leidenschaft in der Senecanischen und Euripidei-
schen Medea. In: Storia, poesia e pensiero nel mondo
Literatur antico. Studi in onore di Marcello Gigante (Fest-
schrift). Neapel 1994, 573–599.
Aischylos: Die Tragödien (Übers. Oskar Werner). Mün-
Sophokles: Tragödien (Übers. von Wolfgang Schade-
chen 1990.
waldt; Hg. Bernhard Zimmermann). Zürich 2002.
Aristophanes: Lustspiele (Übers. Johannes Minckwitz).
2 Bde. Stuttgart 1881. Arbogast Schmitt
Aristoteles: Nikomachische Ethik (Übers. Franz Dirl-
meier). Stuttgart 1969.
141

IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen


Neuzeit

1. Glück in der Scholastik. Glückstheologie in der Gesamtdarstellung seiner


Theologie, der Summa Theologiae (im Folgenden
Vorgeschmack der Ewigkeit STh). Die Abfassung von theologischen ›Summen‹
dieser Art entspricht den Formvorgaben scholasti-
scher Theologie, die von Thomas ragt jedoch an wir-
Die Scholastik verkörpert die theologische Aus- kungsgeschichtlicher Bedeutung heraus – sie steigt
drucksform einer Entwicklung, die für die europäi- ab dem 19. Jahrhundert zum regelgebenden Typus
sche Kulturgeschichte von größter Bedeutung ist. einer katholischen Dogmatik auf. Es bedarf der aus-
Seit dem 11. Jahrhundert durchlebte Europa einen drücklichen Erwähnung, dass sich darin eine aus-
wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg. Sei es in führliche Glückslehre befindet.
Handel, Handwerk, Recht oder Medizin – die sich Thomas beginnt seine Glückslehre mit einem
immer mehr durchsetzende rationale Planbarkeit Blick auf die anthropologischen Voraussetzungen.
und Gestaltung der verschiedenen Lebensverhält- Mit Aristoteles teilt er die Grundauffassung, dass alle
nisse gewährleistete ein höheres Maß an Sicherheit Menschen nach Glück streben (s. Kap. III.2), d. h.
und stellte damit einen großen Fortschritt dar. Als dass sie ihre Lebensführung an einem letzten Ziel
Begründer der theologischen Scholastik gilt Anselm ausrichten, das noch vor ihnen liegt und das es erst
von Canterbury (1033–1109). Unter dem Motto ›Fi- noch zu verwirklichen gilt (STh I–II, 1). Das Glücks-
des quaerens intellectum‹ versuchte er die gestiege- streben ist somit der entscheidende Bewegungsim-
nen Rationalitätsstandards seiner Zeit in die Theolo- puls der menschlichen Lebensführung. Das Glück
gie zu integrieren, um so den Glauben vernünftig ab- gibt den Horizont ab, der die konkreten Einzelziele
sichern zu können. Dazu gehört auch der Versuch, in des Menschen umgreift. Damit ist ausgeschlossen,
der Schrift Proslogion aus der Definition des Gottes- das Glück mit der Erfüllung bestimmter Wünsche
begriffs die Existenz Gottes zu beweisen. oder dem Besitz materieller Güter zu identifizieren.
Im Klima dieses kulturellen und insbesondere Dagegen spricht zudem, dass Thomas auch hier ganz
auch philosophischen und theologischen Auf- im Anschluss an Aristoteles die Glückseligkeit als
schwungs erfährt das Glücksthema eine neue Bear- Verwirklichung der Tugend und somit als eine Tä-
beitung. Drei Strömungen lassen sich unterscheiden: tigkeit des Menschen, nicht als einen Zustand be-
Die Mystik zielt darauf, das Glück als das Erlebnis stimmt (vgl. STh I–II, 3, 2). Der aristotelische Tu-
der Gotteserfahrung zu bestimmen. Die franziskani- gendbegriff und der Gesamtzusammenhang seiner
sche Tradition adaptiert das platonische und neupla- Philosophie legen es nahe, die Realisierung des
tonische Aufstiegsmodell und entfaltet den Weg zum Glücks als eine Verwirklichung menschlicher Anla-
Glück als Aufstieg der Seele und des Geistes durch gen im Diesseits zu begreifen. Damit gerät die aristo-
die Welt der Sinne und Erscheinungen hindurch zur telische Glückslehre in Konflikt mit zwei tragenden
reinen Transzendenz Gottes. Die dominikanische christlichen Überzeugungen: der Einsicht in die un-
Tradition hingegen nimmt in der Gestalt ihres be- zureichenden Kräfte des Menschen, sein Heil aus ei-
rühmtesten Vertreters, Thomas von Aquin (vgl. gener Kraft zu gewinnen und dem Glauben an eine
Pesch 1988), die aristotelische Glückslehre mit dem jenseitige Vollendung.
Ziel auf, eine vernünftige Summe aus christlichem Um zu einer Lösung dieses Konflikts zu gelangen,
und antikem Erbe zu bilden. Thomas von Aquin hat nimmt Thomas eine folgenreiche Unterscheidung
daraus eine der größten Glückslehren des Christen- vor: »Die Glückseligkeit ist zweifach: es gibt eine un-
tums geformt. vollkommene, die in diesem Leben zu haben ist; und
Nach Vorstudien in seinen Bibelkommentaren es gibt eine andere, vollkommene, die in der Schau
und einer Kommentierung der Nikomachischen Gottes besteht« (STh I–II, 4, 5). Von einer unvoll-
Ethik findet sich die reife Gestalt von Thomas’ kommenen Glückseligkeit (beatitudo imperfecta),
142 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

die der Mensch aus eigener Kraft mit der Realisie- bei Thomas Formulierungen finden, die einem sol-
rung seiner sittlichen Vermögen in diesem Leben chen Missverständnis Vorschub leisten, etwa wenn
verwirklichen kann, hebt er das vollkommene Glück er ausführt, die unvollkommene Glückseligkeit
der Gottesschau ab (beatitudo perfecta), das dem könne der Mensch mit seinen natürlichen Vermö-
Menschen als göttliches Gnadengeschenk in einer gen, die vollkommene hingegen nur durch göttliche
jenseitigen Erfüllung zukommt. In seinen Beschrei- Gnade erreichen (vgl. STh I–II, 5, 5). Doch liegt auch
bungen des diesseitigen Glücks nimmt Thomas eine hier die eigentliche Pointe in einem anderen Aspekt.
Reihe der aristotelischen Überlegungen auf. Er teilt Das, was Thomas als natürliches Vermögen bezeich-
darin Aristoteles’ pragmatische und erfahrungsnahe net, ist selbst schon als eine Wirksamkeit Gottes in
Einsicht, dass es zum Erreichen des Glücks bestimm- der Seele zu begreifen. Die Ausrichtung der Vernunft
ter Rahmenbedingungen bedarf. Dazu zählt er die auf das höchste Gut und die orientierende Kraft des
körperliche Disposition ebenso wie äußere Güter Glücks als letztes Ziel der Lebensführung sind im-
und die Gemeinschaft der Freunde (vgl. STh I–II, 4, mer schon natürliche Realisierungsformen göttli-
5–9). Die vollkommene Glückseligkeit beschreibt er cher Gnade im Menschen, während die gnadenhafte
im Anschluss an die augustinische Tradition als Got- Vollendung nicht als Gegensatz, sondern als eschato-
tesschau: »Die letzte und vollkommene Glückselig- logische Erfüllung der bereits im Menschen angeleg-
keit kann nur in der Schau der göttlichen Wesenheit ten Möglichkeiten zu verstehen ist. Auf dieser
bestehen« (STh I–II, 3, 8). Doch versucht er auch hier Grundlage gilt für beide Formen des Glücks: »Der
Elemente des aristotelischen bios theoretikos zu inte- Mensch wird glücklich allein durch das Tun Gottes«
grieren. (STh I–II, 5, 6). Auch das Glücken des diesseitigen
Praktiziert Thomas hier die dem Christentum Lebens ist an den Bezug zu Gott gebunden.
häufig untergeschobene Vertröstungsstrategie, die Das Streben nach Glück ist demnach für Thomas
das Glück in einen erfahrungsfernen Ort außerhalb selbst schon sinnbildlicher Ausdruck dafür, dass der
der Geschichte verlegt? Eine solche Lesart wäre ein Mensch Gottes Ebenbild ist (vgl. Leonhardt 1998,
grobes Missverständnis. Die Unterscheidung von 154 ff.). Denn in diesem Streben drückt sich eine
immanentem und transzendentem Glück ist für Zielbezogenheit der menschlichen Lebensführung
Thomas Glückslehre konstitutiv, doch liegt die ei- aus, die für Thomas nur zu erklären ist als die Sehn-
gentliche Pointe darin, dass er zwischen beiden kei- sucht des Menschen, zu dem Grund zurückzukeh-
nen Gegensatz annimmt, sondern vielmehr von ei- ren, aus dem er stammt. Dieser Sachverhalt lässt sich
nem inneren Zusammenhang ausgeht. Er bestimmt so beschreiben, »dass wir im Akt der Erschaffung,
das Verhältnis zwischen unvollkommenem und voll- ohne gefragt worden zu sein, ja, ohne auch nur ge-
kommenem Glück als ›Teilhabe‹ (participatio) (STh fragt werden zu können, auf unser Ziel hin, wie ein
I–II, 5, 3). Im unvollkommenen Glück entwirft sich Pfeil, abgeschossen worden sind und dass also in un-
somit die Vollendung des Menschen »als Beginn, un- serem Glückseligkeitsverlangen eine Schwerkraft
vollkommene Teilhabe, Abbild, Gleichnis, Annähe- wirkt, über die wir deshalb keine Gewalt haben, weil
rung in diesem Leben voraus«. An dem Gedanken wir selber diese Schwerkraft sind« (Pieper 1972/1992,
der jenseitigen Vollendung hält Thomas fest. Zu sehr 125).
ist das irdische Leben von unvermeidlichen Übeln Dieses Musterbeispiel scholastischer Glückslehre
begleitet, die die unausgesetzte Kontemplation des gleicht der Erhabenheit einer gotischen Kathedrale.
göttlichen Wesens unmöglich machen und die Kräfte Mit klaren Linien zeichnet Thomas das Glück in den
der Lebensführung in eine andere Richtung lenken göttlichen Heilsplan von Schöpfung und eschatolo-
(vgl. STh I–II, 5, 3), doch deutet er die augenblicks- gischer Vollendung ein. Damit macht er es möglich,
haften und fragmentarischen Glückserfahrungen als im Anschluss an die große Tradition der aristoteli-
Vorschein einer ausstehenden Erfüllung. Die Vollen- schen Glückslehre einerseits das menschliche Stre-
dung des menschlichen Glücks steht noch aus, sie ben nach Glück auch theologisch als Ausrichtung
hat aber schon begonnen. auf eine dem Menschen noch zukommende Bestim-
Damit ist im Grunde bereits abzusehen, dass in mung zu würdigen und andererseits die fragmenta-
der Frage, wie der Mensch das Glück erreichen kann, rischen und vergehenden Erfahrungen eines diessei-
eine schematische Entgegensetzung zwischen eige- tigen Glücks zu diesem Ziel in Beziehung zu setzen.
ner Kraft und göttlichem Geschenk, also zwischen
Natur und Gnade, die Sache nicht trifft. Man kann
2. Glück in der Philosophie der Renaissance und der Frühen Neuzeit 143

Literatur 2. Glück in der Philosophie


Kluxen, Wolfgang: Glück und Glücksteilhabe. Zur Re- der Renaissance
zeption der aristotelischen Glückslehre bei Thomas
von Aquin. In: G. Bien (Hg.): Die Frage nach dem und der Frühen Neuzeit.
Glück. Stuttgart-Bad Canstatt 1987, 77–91.
Leonhardt, Rochus: Glück als Vollendung des Mensch-
Kosmische Ordnung
seins. Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im und individuelle Freiheit
Horizont des Eudämonismus-Problems. Berlin/New
York 1998.
Pesch, Otto Hermann: Thomas von Aquin. Grenzen Zwischen Mittelalter und Neuzeit
und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einfüh-
rung. Mainz 1988. Gemäß einer Grundstellung, die für das Mittelalter
Pieper, Josef: Über die Liebe [1972]. München 71992. bestimmend ist, ergibt sich das Glück als richtiges
Thomas von Aquin: Summa Theologiae [STh]. Editio- Leben aus dem richtigen Auffassen der Verfassung
nes Paulinae [1962]. Rom 21987. des menschlichen Lebens. Diese Verfassung wird
Jörg Lauster im Zuge der Zusammenführung platonischer und
christlicher Lehren dualistisch gedacht. Entspre-
chend richtet sich an den Menschen die Anforde-
rung, sich als natürliches und geistiges Wesen zu be-
währen (s. Kap. IV.1). Nur wenn der Mensch dieser
Anforderung genügt, kann er »glücken« (Korff
1985). Wenn dieser Schulterschluss von Ontologie
und Ethik die Vorgabe ist, die der Renaissance-Phi-
losophie vorausgeht, so bietet die Zeit, die ihr nach-
folgt, ein ganz anderes Bild. Als Ausgangspunkt gilt
dann – grob gesagt – ein ›Ich‹, ein Individuum, eine
Person oder ein Subjekt. In theoretischer Hinsicht
(René Descartes) sowie in praktischer – d. h. politi-
scher (Thomas Hobbes), technischer (Francis Ba-
con), ökonomischer (Adam Smith) und moralischer
(Immanuel Kant) – Hinsicht werden Ziele gesetzt
und verfolgt. Das Glück wird am Erreichen dieser
Ziele festgemacht, und ob diese nun empiristisch aus
den Bedürfnissen oder Wünschen von Individuen
oder rationalistisch aus der Selbstgesetzgebung von
Subjekten abgeleitet werden – so oder so wird damit
das Band zwischen Ethik und Ontologie, d. h. zwi-
schen dem richtigen, also auch glücklichen Leben
und der richtigen Einsicht in die Verfassung des Le-
bens zerschnitten.
In der Philosophie der Renaissance kommt es zu
einer Verunsicherung über das Glück, weil weder die
erste der genannten Positionen beibehalten noch die
zweite schon eingenommen wird. Das Glück gerät
ins Schwanken. Man sollte die Renaissance aller-
dings nicht als bloße Übergangszeit stigmatisieren;
es gilt vielmehr, deren Eigenständigkeit zu würdigen.
Das Einfallstor, durch das die Demontage der mittel-
alterlichen Ordnung beginnt, lässt sich jedenfalls
identifizieren. Es trägt die Inschrift Freiheit. Diese
Freiheit ist in jener alten Ordnung vorgesehen als
144 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

Anlage des Menschen, das Richtige einzusehen oder trachtung oder gar eigenmächtigen Verfügung über
zu verfehlen, gut oder böse zu handeln. Mit der wei- die Natur – kommt in der Folgezeit jedoch immer
tergehenden Verselbständigung menschlicher Frei- stärker zur Entfaltung, und zentral betroffen davon
heit ergeben sich neue, wechselnde Bezüge auf das ist der Primat des Bildes vom »seligen Leben«. Auf
Glück. Einige ausgewählte Stationen dieser Entwick- ganz andere Weise deutet sich diese Wendung im
lung, die von der Renaissance bis in die Frühe Neu- Ackermann aus Böhmen an, den Johannes von Tepl
zeit hineinreicht, sollen hier vorgestellt werden. (1350[?]–1414) in den ersten Jahren des 15. Jahrhun-
derts verfasste. Zu bemerken ist zunächst die unver-
Die Verselbständigung des Geschöpfs: hohlene Bejahung des Irdischen: »Sollte Freude,
Liebe, Wonne und Kurzweil aus der Welt vertrieben
Petrarca und Johannes von Tepl
werden, übel stünde da die Welt« (Tepl 1980, 66,
Die Stellung des Menschen im Kosmos ist eine Son- 24 f.). Vor allem aber wird hier der Mensch als ein
derstellung. Der Mensch ist wie alles andere auf der Geschöpf, als »Werkstück Gottes« dargestellt, das
Welt ein Geschöpf Gottes, aber er ist dazu auserse- doch zugleich als »das allergeschickteste und das al-
hen, diese Schöpfung mittels seiner geistigen Fähig- lerfreieste« gilt (69, 27). Hier klingt an, was Johann
keiten zu betrachten und zu bewundern. Die Stel- Gottfried Herder im späten 18. Jahrhundert sagen
lung, die er hierzu einzunehmen hat, muss derjeni- wird: dass der Mensch »der erste Freigelassene der
gen Gottes ähnlich sein, denn nur wenn der Mensch Schöpfung« sei (Herder 1784–85/1989, 145). Ernst
einen Hochsitz bezieht, hat er den gehörigen Über- Cassirer erkennt in Tepls Herausstellung der Freiheit
blick. Francesco Petrarca (1304–1374) schildert den und der »Eigenkräfte« des Menschen »deutlich die
Weg zu einem solchen über die Welt erhabenen Ort Grundanschauung der kommenden Renaissance«
in seinem Bericht von der Besteigung des Mont Ven- (Cassirer 1927/1987, 99).
toux, die er am 26. April 1336 (das Datum ist freilich Der Mensch folgt Gott nicht nur in dessen Kreati-
strittig) unternommen hat. Ausdrücklich wird dieser vität, sondern auch in der Erhebung über die Natur.
Anstieg als Annäherung an Gott gekennzeichnet, als So kann das Körperliche etwa in der Bildhauerei der
»Pilgerreise« zum »seligen Leben« (ad beatam vitam; Renaissance nur deshalb so stattlich auftreten, weil
Petrarca 1995, 12 f., vgl. 14 f.); auch die Assoziation es der Formgebung unterliegt, weil es ›in Form‹ zur
mit dem platonischen Aufstieg zur Schau der Ideen Schau gestellt wird (zur Feier des Körperlichen etwa
drängt sich auf. Insoweit bewegt sich Petrarca im in Michelangelos Medici-Kapelle in Florenz und de-
Rahmen der vorgegebenen Glückseligkeitslehren. ren Beziehung zur Renaissance-Philosophie vgl. Pa-
Doch ihm unterläuft eine Unbotmäßigkeit. Sie nofsky 1939/1997, 270 ff.). Der Form gebende und
deutet sich schon beim Beginn der Wanderung an, schaffende Mensch kann sich freilich nur partiell mit
als er die Warnung eines »uralten Hirten« in den dem Welt-Schöpfer identifizieren. Er bleibt Geschöpf
Wind schlägt, der ihn vor den Risiken des Aufstiegs (und sei es auch sein eigenes). Die Rolle des »zweiten
warnt; dieses »Verbot« habe, so schreibt Petrarca, nur Gottes« (secundus deus), die Nikolaus von Kues
sein »Verlangen« gesteigert (8 f.), und so steht der (1401–1464) für den Menschen vorsieht (2002, 9
Aufstieg auch für die Anmaßung wachsenden Selbst- [Kap. 6]; vgl. Flasch 2008, 461), oder die Rolle des
vertrauens. Dieses gipfelt buchstäblich auf dem Gip- »sterblichen Gottes«, von der Giannozzo Manetti
fel – nämlich in jenem Moment, da sich Petrarca im (1396–1459) spricht (1452/1990, 91), sind nicht ver-
Vollgefühl der erbrachten Leistung der Betrachtung lustfrei auszufüllen. Die Identität des Menschen steht
der Natur hingibt, die ihm nun zu Füßen liegt. Für neu in Frage, die »einzigartige Stellung des Men-
einen Moment »widersetzt« sich dieser ästhetische schen […] ist so erhaben wie problematisch« (Pa-
Genuss der Natur dem Junktim zwischen der An- nofsky 1939/1997, 209).
sicht des Irdischen und dem Lob von dessen Schöp-
fer (Ritter 1974, 142). Eine Erinnerung an Augus- Tugend und Freiheit: Von Giannozzo
tinus’ Warnung vor der Selbstgenügsamkeit des
Manetti bis Giordano Bruno
»Irdischen« (Petrarca 1995, 18 f., 22 f.) bringt den
Wanderer jedoch schnell wieder zur Besinnung Die göttliche creatio wird vom Menschen in der con-
(26 f.). Man könnte sagen: Damit ist der Spuk vorbei. templatio gespiegelt und auch in eigener Aktivität
Was bei Petrarca nur für einen Moment aufscheint nachgeahmt. Beide Motive kommen modellhaft in
– die Möglichkeit der sich selbst genügenden Be- Manettis Traktat Über die Würde und Erhabenheit
2. Glück in der Philosophie der Renaissance und der Frühen Neuzeit 145

des Menschen zum Ausdruck. Zum einen koppelt er zwischen humanitas und humus (Cassirer 1927/1987,
»die Möglichkeit zu einem glücklichen Leben« an 101). Der Mensch ist von Desorientierung bedroht
die Bereitschaft, durch die »sichtbaren Dinge« hin- und bedarf der Anleitung und Erleuchtung; entspre-
durch Gott »mit unserem Geist zu schauen«, ihn »zu chend muss er sich in seinem sterblichen Leben an
verehren und zu achten«. Zum anderen sagt er, Gott die Unsterblichkeit der Seele erinnern, um im Vor-
befehle dem Menschen, »über all diese vorher ge- griff auf die Gewissensprüfung nach dem Tode seine
schaffenen Dinge zu herrschen und sie so, wie er Tugendhaftigkeit zu festigen (Kristeller 1976, 120).
wolle, zu seinem Nutzen zu gebrauchen« (1452/1990, Das gute Leben und das Glück verdanken sich dem-
90–92). In den utopischen Entwürfen aus der Re- nach der Spannung zwischen diesseitigem und jen-
naissance-Zeit wird diese kosmologische Vorstellung seitigem Leben.
zum Leitbild für eine im Geiste Gottes wiederherzu- Eine von Ficino abweichende Position bezieht Pie-
stellende harmonische Ordnung (s. Kap. II.11 zu tro Pomponazzi (1462–1525). Er erlaubt mit Blick
Morus und Campanella). auf Glück und Tugend eine Aufwertung des diessei-
Die doppelte Identität, die sich der Mensch als Ge- tigen Lebens: »Die wesentliche Belohnung für die
schöpf Gottes und zugleich als Schöpfer eigenen Tugend ist die Tugend selbst; sie macht den Men-
Rechts zutraut, entfaltet eine erhebliche Sprengwir- schen glücklich« (1516/1990, 191 [Kap. XIV]). »Man
kung, denn in dem Maß, wie dem Menschen Origi- sollte beachten, dass der tugendhaft Handelnde,
nalität zukommt, wird der Bruch mit der geistigen nicht der, der außer der Tugend noch eine Beloh-
Schau des Kosmos vorbereitet. Im Zuge dieser Eman- nung erwartet, offenkundig weitaus tugendhafter
zipation wetteifert der homo artifex mit Gott (Blu- und edler handelt als der, der über die Tugend hinaus
menberg 1957). Cassirer beschreibt die Bejahung der noch eine Belohnung erwartet« – als etwa eine Be-
Schöpferkraft als eine Umstellung vom »Adam-« lohnung im Himmelreich (223 [Kap. XIV]). »Wenn
zum »Prometheus-Motiv« (1927/1987, 100; Cassirer jeder Mensch ein Theoretiker wäre, [hätte] die
u. a. 1948, 191); Erwin Panofsky hat hierzu Ergän- menschliche Gemeinschaft keinen Bestand mehr.
zungen geliefert (Panofsky 1939/1997, 73, 89 f.). […] Das Glück besteht also nicht in der theoreti-
Dieses Motiv findet sich zwar auch schon im Mit- schen Haltung aufgrund eines Beweises, als käme es
telalter, die Renaissance hebt sich jedoch von diesen in allgemeiner Weise dem Menschengeschlecht zu,
früheren Deutungen ab, indem sie Prometheus vom sondern insofern, als es seinem ersten, seinem vor-
Vorwurf des Aufstands gegen Gott entlastet. Er wird rangen Teil zukommt. […] Ob Bauer oder Schmied,
mit seiner Schöpferkraft Sinnbild einer legitimen Bedürftiger oder Reicher – führt einer ein der Mora-
Kreativität des Menschen. Diese Deutung steht um- lität gemäßes Leben, kann er als glücklich bezeichnet
gekehrt auch im Kontrast zum Sturm und Drang, der werden, und zwar zu Recht, und kann mit seinem
nach Goethes berühmtem Prometheus-Gedicht den Los zufrieden sein. Darüber hinaus kann man auch
menschlichen Gestaltungswillen als Affront gegen außerhalb des Bereichs von an der Moralität orien-
göttliche Autorität auslegt. In den von Cassirer und tiertem Glück von einem glücklichen Bauern oder
Panofsky angeführten Deutungen des Prometheus- einem glücklichen Architekten sprechen« (179, 181
Motivs von Boccaccio, Ficino, Charles de Bovelles [Kap. XIV]). Pomponazzi hält sich im Anschluss an
und anderen wird jeweils in unterschiedlichem Aus- Aristoteles (s. Kap. III.2; vgl. Kristeller 1974, 189 ff.)
maß einer Verselbständigung menschlicher Freiheit im diesseitigen Gemenge auf und sucht genau dort
das Wort geredet. das menschliche Gute und das Glück. Damit wird
In direktem Zusammenhang mit der Verselbstän- die Güte in die innerweltliche Bewährung und Be-
digung des handelnden Menschen verschiebt sich stätigung überführt.
der Glücksbegriff. Marsilio Ficino (1433–1499) be- Von dieser sozialen Einbindung der Freiheit fin-
jaht in Nachfolge Platons und des Neuplatonismus det sich im wohl berühmtesten Text der Renais-
die kosmologische Einbettung des Menschen und sance-Philosophie kaum eine Spur: Gemeint ist der
beschreibt dessen diesseitige Existenz zugleich als Traktat Über die Würde des Menschen, den Pico della
eine Art Exil, aus dem er im Aufschwung zu Gott he- Mirandola, kaum erwachsen geworden, verfasste.
rausfindet (Ficino in Cassirer u. a. 1948, 209). Der Pico (1463–1494) erteilt dem Menschen eine Lizenz
Mensch ist gemäß Ficinos Platonismus ebenso Geist- zur Selbstgestaltung; er bezeichnet ihn als »Chamä-
wesen wie Naturwesen – neben die Gottähnlichkeit leon«, wobei dieses Tier als Symbolfigur der Freiheit
tritt bei ihm die volksetymologische Verbindung nur taugt, wenn dessen biologisches Verhalten ins
146 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

Gegenteil verkehrt wird: Die Wandelbarkeit ist nicht dann kann man die Ordnung der Welt nach Belieben
als bloß adaptives Verhalten zu verstehen, sondern umdeuten; die Harmonie wird zum prekären Pro-
als Fähigkeit, mit der der Mensch heraussticht, sich dukt. Die Anfälligkeit individuellen Glücks kommt
hervortut, sich selbst gestaltet als »Bildhauer seiner auch darin zum Ausdruck, dass es häufig in die Nähe
selbst« ([s]ui ipsius […] plastes et fictor): »Wer wollte der fortuna (s. Kap. II.7) gerückt wird – einer fortuna,
dies unser Chamäleon nicht bewundern?« (1486/ die über den Schicksalsbegriff auf eine höhere Welt-
1990, 6 f.). ordnung verweist, aber auch auf die Unwägbarkeiten
Der Mensch kann genau nur deshalb alles aus sich des Zufalls anspielt.
machen, weil er von sich aus nichts ist, weil ihm nicht Zwar ist bei Pico die Allseitigkeit und Allfähig-
schon eine Bestimmung zugeteilt geworden ist. Er keit des wandlungsfähigen Menschen weiterhin an
bezieht sich, wie Charles de Bovelles (Carolus Bovil- eine Welt-Harmonie gekoppelt. Doch es ist nur ein
lus, 1469[?]–1553[?]) formuliert, auf die Natur als kleiner Schritt von dem ›Alles-sein-Können‹ Picos
ein aus ihr Herausgestellter, er gilt in diesem Sinne zum ›Alles-haben-Wollen‹, also zur Entgrenzung
gar als das »Nichts von allem« (1510–11/1987, 353). des Strebens, von dem Niccolò Machiavelli (1469–
Man muss aus dieser Beschreibung nur den Auftrag, 1528) als Altersgenosse Picos ausgeht (Kersting
das All zu spiegeln und zu bewundern, herauskür- 1988, 37). Bei Machiavelli tritt die Freiheit im Vor-
zen, dann ergibt sich das Bild einer radikalen Unbe- griff auf Thomas Hobbes (s. Kap. V.1) als Fähigkeit
stimmtheit des Menschen. »alles [zu] begehren« heraus (Machiavelli 1532/
In direkter Nachfolge zu dem »Chamäleon« von 2007, 105 [I. 37]). Entsprechend ergibt sich ein Bild
Pico della Mirandola steht Rameaus Neffe, der sich des individuellen Lebens und der politischen Ord-
seinem Erfinder Diderot zufolge virtuos in alle Men- nung, das permanent in Unruhe und im Umbruch
schen und Dinge hineinversetzen kann und »ganz ist. In Abhängigkeit von der unablässig treibenden
außer sich« als »verwirrter Mensch« endet (Diderot »Kraft« des Menschen kommt es zu einem Wechsel
1981, 263). Und in indirekter Nachfolge zu Charles zwischen »Vollkommenheit« und »Zerrüttung«;
de Bovelles’ Mensch als »Nichts« stehen Schillers das ›Glück‹ wird in Machiavellis Perspektive zum
These, der Mensch gleiche im »ästhetischen Zu- Übergangsphänomen (Machiavelli 1525/1925, 241;
stand« einer »Null« (1795–96/1993, 635), Nietzsches vgl. Heller 1988, 375). Mit wohlgemerkt ironischer
Bestimmung des Menschen als eines »nicht festge- Absicht wird dieses in Unordnung geratene Glück
stellte[n] Thier[s]« (1886/1988, 81) und Sartres These von Erasmus von Rotterdam (1466[?]–1536) in sei-
vom Menschen als einem »Nichts«, das »außerhalb nem Lob der Torheit aufgespießt: »Je reicher die
des Seins« steht (1943/1991, 83). Narrheit, desto größer das Glück« (1511/1975, 89
Mit Picos Selbstbejahung des Schöpferischen wird [Kap. 39]).
das Glück in neuer Weise zum Problem. Das Bild Ende des 16. Jahrhunderts kommt Giordano
vom seligen, glückseligen Leben droht gewisserma- Bruno (1548–1600) auf Picos Auszeichnung des
ßen seinen Rahmen zu verlieren. Natürlich verlässt Handelns als Kriterium gelungenen Menschseins zu-
sich Pico weiterhin auf die Vorstellung, es gebe eine rück. (Es verdient Erwähnung, dass Picos Traktat
Ordnung in der Welt, also auch eine ethische Ord- von Papst Innozenz VIII. als häretisch verurteilt
nung, die das »Chamäleon« umgibt; an einer Stelle, wurde und Giordano Bruno in Rom als Ketzer ver-
die im Vergleich zur »Chamäleon«-Metapher gran- brannt wurde.) Bruno unterscheidet im Dialog Von
dios unterschätzt wird, sagt er, wir Menschen wür- den heroischen Leidenschaften zwei Bezüge des Men-
den dank unserer Kreativität die »himmlische Har- schen zu Gott, zwei Formen »göttliche[r] Entrückt-
monie […] einsaugen« (caelestem armoniam […] heit«. Zu deren Unterscheidung zieht er nicht ir-
combibemus;1486/1990, 24 f.). Mittels dieser Verin- gendeine inhaltliche Qualifikation heran, sondern
nerlichung der Harmonie soll man in der Lage sein, allein die Frage, ob die Entrücktheit passiv erfahren
seine Freiheit glücklich auszuleben und dabei ein oder aktiv betrieben wird. Entscheidend ist nach
Spiegelbild kosmischer Harmonie zu bleiben. Bei Bruno, ob man als bloßes »Gefäß«, als ein die Heilig-
Pico geht die Selbstbejahung mit einer ekstatischen tümer tragender »Esel« fungiert oder ob man –
Gottesbejahung zusammen (24 f.). Doch birgt die »selbst göttlich« – die »Vortrefflichkeit« als etwas,
Rede von Verinnerlichung oder »Einsaugung« eine das im »eigenen Menschsein liegt«, erst hervorbringt
akute Gefahr: Wenn man sich die Harmonie, die man (1585/1989, 49 f.). Bruno hält allein die zweite Op-
für sein Glück für nötig hält, ganz zu eigen macht, tion für sinnvoll. Würde der Mensch die göttliche
2. Glück in der Philosophie der Renaissance und der Frühen Neuzeit 147

Eingebung oder Anleitung nämlich nur passiv, ge- nach Montaigne nun in der Kunst, sich auf dieses Le-
horsam empfangen, verstieße er gegen seine Bestim- ben, das nicht ein »Sein«, sondern ein »Übergang«
mung, denn er ist von Gott als aktives Wesen ge- (passage; 623) ist, einzulassen und ihm gerecht zu
schaffen worden. Man kann Brunos Haltung mit werden. So wendet er sich auch gegen die »Verächter
Hans Blumenberg aber auch in einem »nachkoperni- und Feinde« des Körpers und gegen das »Wegwer-
kanische[n] Universum« situieren, in dem man sich fen« der Gegenwart (874, 879).
aufs eigene Tun konzentrieren muss, weil kein Man würde Montaigne allerdings falsch verstehen,
»designierte[r] Ort und kein ausgezeichnetes Sub- nähme man diese Voten als eine Vorwegnahme des-
strat« für die »göttliche Heilstat« mehr zu finden ist sen, was etwa die französischen Materialisten (s. Kap.
(Blumenberg 1966/1996, 642). Es bleibt demnach V.2) im 18. oder Feuerbach (s. Kap. V.5) im 19. Jahr-
nichts anderes, als sich die eigene Tugend, das eigene hundert sagen werden. Man muss wörtlich nehmen,
Glück, ja letztlich alles, was man ist, selbst zu erarbei- was Montaigne sagt: »Ich studiere mich mehr als ir-
ten. Die dezisionistische Umkehrung dieser Auffas- gend einen Gegenstand. Das ist meine Metaphysik,
sung lautet, dass tugendhaft und glücklich genau das ist meine Physik« (851). Es geht demnach nicht
derjenige sei, der dem Aktionismus frönt. um eine Rückführung individuellen Lebens auf des-
sen natürliche (physische) Bedingungen, sondern
Leben als Übergang: Montaigne, Bacon, um einen ganz neuen Ansatz, die menschliche Le-
bensform, also auch den formenden Zugriff des In-
Gracián, Pascal
dividuums zu denken. Das Leben als »Übergang«
Michel de Montaigne (1533–1592) ist ein Zeitge- wird dabei weder aktivistisch angeeignet oder ver-
nosse Giordano Brunos, doch er nimmt Anstoß an einnahmt, noch überlässt sich Montaigne dem Fluss
dem »heroische[n] Individualismus«, der ihm von des Lebens oder verliert sich in Klagen über die Ver-
Pico della Mirandola und anderen überliefert wor- gänglichkeit.
den ist (Cassirer 1927/1987, 101). Montaigne ver- Für Montaigne ist das Leben im Übergang eine
wirft den mimetischen Kurzschluss, wonach dem In- Folge von »Lebensversuchen« (essais de ma vie; 856
dividuum schier unbegrenzte Schöpferkraft zukom- [Übers. geänd., d. Verf.]); entsprechend fällt die vom
men soll. In einem argumentativen Kabinettstück ihm gewählte oder geradezu erfundene literarische
liebäugelt er etwa mit der Idee, die »Schöpfung« ei- Form des Essays mit der von ihm gesuchten Lebens-
nes Textes, bei der man Vollkommenheit erreichen form zusammen. Die Seelenruhe wird nicht in ei-
könne, sei der Hervorbringung von Kindern, die nem Kampf gegen die Bewegung des Lebens durch-
auch missraten könnten, vorzuziehen. Das klingt so, gesetzt, denn dieser brächte wiederum nur Unruhe
als wolle Montaigne am Menschen-Schöpfer festhal- mit sich. Vielmehr ergibt sich nach Montaigne eine
ten, doch mit feiner Ironie verweist er dann darauf, eigene Art von Ruhe dann, wenn die Bewegung des
dass er über seine eigenen Essais gar keine »Verfü- Lebens gelingt. Was das Glück dieses Lebens sei, er-
gung« habe (Montaigne 1588/1953, 383). Selbst die schließt sich ihm beim Blick auf die »Kannibalen«,
Autorschaft, das sicherste Refugium des Schöpfer- denen er ein berühmtes Stück seiner Essais widmet:
tums, wird von Montaigne also infrage gestellt. Die »Sie [haben] keinen Mangel an all den Dingen […],
Verbindung zwischen Schöpfer-Gott und schöpferi- deren sie bedürfen, und auch keinen Mangel an die-
schem Menschen wird ebenso verworfen wie die ser großen Kunst, sich ihrer Lage in glücklicher Zu-
Einbettung des Menschen in die göttliche Schöpfung friedenheit zu erfreuen« (238).
als kosmische Ordnung. Bei fast allen Denkern, die sich nach Montaigne
Was bleibt, ist ein Leben im Ungewissen und Un- der Grenze zwischen der Renaissance und der Frü-
gefähren, ein Leben in einer Welt, die »nichts [ist] als hen Neuzeit nähern oder sie überschreiten, kehrt das
eine nimmer ruhende Schaukel«, ein Individuum, von ihm herausgestellte Motiv des Lebens als Über-
das sich »nicht festhalten« kann (623), ein »Handeln gangs oder als Bewegung wieder. Die Offenheit oder
[…] in unaufhörlichem Wechsel« (844). Die stoi- Unbestimmtheit des menschlichen Lebens, die in
schen Anrufungen der Seelenruhe, die sich vor allem der Hochrenaissance als Freisetzung des Menschen,
im (frühen) ersten Buch der Essais finden (vgl. 120, als Eröffnung eines immensen Handlungsraums ge-
123), treten in den später entstandenen Texten im- dacht war, wandert in die Lebensführung, den Le-
mer stärker zurück; das Glück, das »große und herr- benslauf, die Geschichtlichkeit des Lebens hinein.
liche Meisterwerk« (875), richtig zu leben, ergibt sich Dabei finden sich sehr unterschiedliche Auffassun-
148 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

gen dieser Bewegung, die jeweils auch mit Glücks- kundet werden; dieser Prozess gelingt nur, wenn der
vorstellungen gekoppelt sind. Anspruch auf die Unergründlichkeit des Lebens auf-
Francis Bacon (1561–1626) sagt: »Der menschli- recht erhalten wird (154).
che Verstand ist ständig im Gleiten […]. Daher ist es Für Blaise Pascal (1623–1662; s. Kap. IV.3) ist
undenkbar, dass es etwas Letztes und Äußerstes in die »Unbeständigkeit« – wie für Montaigne – eine
der Welt gibt« (1620/1990, 109 [Aph. 48]). Er ordnet »Seinslage«, ein »Zustand, der uns natürlich« ist.
diesem »Gleiten« einen fortlaufenden Erkenntnis- Nach Pascal ist er aber auch »der gegensätzlichste
prozess zu, der von der Wissenschaft »zur Wohltat unserer Wünsche«: »Wir brennen vor Gier, einen
und zum Nutzen fürs Leben« vorangebracht wird wirklich beständigen Grund zu finden […]; aber alle
(33). Mit der »Herrschaft über die Natur« schließt Fundamente zerbrechen, und die Erde öffnet sich bis
Bacon nach Kristeller bei Ficino an (Kristeller 1976, zu den Abgründen« (1670/1948, 46, 75). Pascal leidet
122). Entfaltet wird dieses glücksdienliches Fort- an der Unbeständigkeit, die er nicht – wie Montaigne
schrittsmodell in Bacons utopischem Entwurf Neu- – positiv umdeutet; doch er hält an ihr fest und ver-
Atlantis (s. Kap. II.11). weigert sich der Sehnsucht, »Sicherheit und Bestän-
Balthasar Gracián (1601–1658) erkennt in der digkeit« zu suchen (46). Bei Pascal bekommt deshalb
Übergänglichkeit des Lebens eine Kette von Situatio- die Tatsache, dass »alle Menschen ohne Ausnahme
nen, die jeweils Gelegenheiten zum Eingreifen bie- […] danach [streben], glücklich zu sein« (192), einen
ten. Wie schon Montaigne die Gegenwart beim tragischen Zug. »Trotz dieses Elends will der Mensch
Schopfe greifen will, so nun auch Gracián: »Unser glücklich sein und nichts als glücklich sein, und er ist
Handeln, unser Denken, alles muss sich nach den nicht fähig, zu wollen, dass er es nicht sei; wie aber
Umständen richten. […] Der Weise […] weiß, dass kann er es sein?« (93). Für das Glück gibt es hienie-
der Leitstern der Klugheit darin besteht, dass man den nach Pascal gewissermaßen nur falsche Adres-
sich nach der Gelegenheit richte« (1647/1993, 226 f.). sen. Er findet Zugang zum Glück – wenn überhaupt
Gracián stellt das Individuum aber – anders als Mon- – in Erfahrungen, in denen das Irdische immer
taigne – in eine Gegenwart hinein, die immer auch schon über sich hinausweist: im reinen Denken, im
eine Situation des Kampfs, des Sich-Durchsetzens ist. Glauben und in der Liebe zu Gott (169, 224, 195).
Sein »Weltbild« ist, wie Werner Krauss bemerkt, Mit seinem berühmten Diktum, das »Ich« sei
»agonal«, er präsentiert eine »Person« mit »Kampf- »hassenswert« (214), wirft Pascal vorab einen Schat-
charakter« (Krauss 1947, 137, 108, 113, 119). Das Da- ten auf die zu seinen Lebzeiten aufkommenden Vor-
rüberstehen, die erhabene Position, die Ficino, Pico stellungen, die das Glück an die Befriedigung egois-
und andere dem Menschen zuschreiben, kehrt bei tischer Bedürfnisse binden; mit seiner pauschalen
Gracián wieder als Absicht, »sich selbst genug zu Invektive gegen das Ich verstellt er sich aber den
sein« und damit »dem höchsten Wesen zu gleichen« Blick auf Wege, wie das Ich und sein Verhältnis zur
(Gracián 1647/1993, 111). Die »Glückseligkeit«, die Welt auf neue Weise beschrieben werden können.
diesem Zustand zugeschrieben wird (234), verdankt Das Glück kommt dabei in der Renaissance und in
sich bei Gracián einem aktiven Einsatz in der Welt. der Frühen Neuzeit auf unterschiedliche Weise ins
Er gibt der Unendlichkeit und Offenheit des Men- Spiel. Zum einen bindet es sich an die Kreativität des
schen eine überraschende Wende, indem er sie auf Ich oder an die behutsame, fragile Bewegtheit und
dem Kampfplatz der Gesellschaft in Erscheinung Übergänglichkeit des menschlichen Lebens (s. Kap.
treten lässt. Der Mensch wahrt demnach seine Frei- II.5). Zum anderen ist das Glück gebunden an Har-
heit dadurch, dass er sich entzieht oder – wie Gra- monie-Vorstellungen der Welt und der sozialen Ord-
cián zugespitzt sagt – nicht »sehen lässt, dass er ein nung, in die der Mensch eingebettet ist. Mit dieser
Mensch sei« (227). »Der Übermensch Graciánscher Doppelung werden die Spannungen vorweggenom-
Prägung« versucht, das »Unergründliche, Unfassli- men, von denen die Moderne gezeichnet ist.
che, Unbegreifliche« (Krauss 1947, 138), das aus der
Renaissance-Philosophie bekannt ist, zu einem Al-
leinstellungsmerkmal zu machen. Es handelt sich da- Literatur
bei aber um mehr als um eine plumpe Machtde- Bacon, Francis: Neues Organon [1620]. Hamburg 1990.
monstration. Vielmehr ist das Glück des Menschen Blumenberg, Hans: »Nachahmung der Natur«. Zur Vor-
nach Gracián darauf angewiesen, dass im Leben die geschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In:
eigenen Fähigkeiten immer weiter ausgelotet und er- Studium Generale 10 (1957), 266–282.
2. Glück in der Philosophie der Renaissance und der Frühen Neuzeit 149

–: Die Legitimität der Neuzeit [1966]. Frankfurt a. M. Pomponazzi, Pietro: Abhandlung über die Unsterblich-
1996. keit der Seele [1516]. Hamburg 1990.
Bovillus, Carolus: Liber de Sapiente [1510–11]. In: Ernst Ritter, Joachim: Subjektivität. Frankfurt a. M. 1974.
Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philoso- Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts [1943]. Rein-
phie der Renaissance. Darmstadt 1987, 299–412. bek 1991.
Bruno, Giordano: Von den heroischen Leidenschaften Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des
[1585]. Hamburg 1989. Menschen in einer Reihe von Briefen [1795–96]. In:
Cassirer, Ernst: Individuum und Kosmos in der Philo- Ders.: Sämtliche Werke. 5. Bd. München/Wien 1993,
sophie der Renaissance [1927]. Darmstadt 1987. 570–669.
– /Kristeller, Paul Oskar/Randall, John Herman (Hg.): Tepl, Johannes von: Der Ackermann aus Böhmen. Stutt-
The Renaissance Philosophy of Man. Chicago/Lon- gart 1980.
don 1948. Dieter Thomä
Diderot, Denis: Rameaus Neffe. In: Ders.: Erzählungen
und Gespräche. Frankfurt a. M. 1981, 182–288.
Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit [1511]. Aus-
gewählte Werke. 2. Bd. Darmstadt 1975.
Flasch, Kurt: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Ent-
wicklung. Frankfurt a. M. 2008.
Gracián, Balthasar: Hand-Orakel und Kunst der Welt-
klugheit [1647]. Zürich 1993.
Heller, Agnes: Der Mensch der Renaissance. Frankfurt
a. M. 1988.
Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit [1784–85]. In: Ders.:
Werke. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1989.
Kersting, Wolfgang: Niccolò Machiavelli. München
1988.
Korff, Wilhelm: Wie kann der Mensch glücken? Mün-
chen/Zürich 1985.
Krauss, Werner: Graciáns Lebenslehre. Frankfurt a. M.
1947.
Kristeller, Paul Oskar: Humanismus und Renaissance I.
München 1974.
–: Humanismus und Renaissance II. München 1976.
Machiavelli, Niccolò: Geschichte von Florenz [1525].
München 1925.
–: Discorsi [1532]. Stuttgart 2007.
Manetti, Giannozzo: Über die Würde und Erhabenheit
des Menschen [1452]. Hamburg 1990.
Montaigne, Michel de: Essais [1588]. Zürich 1953.
Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse [1886].
In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe.
Bd. 5. München/Berlin/New York 1988, 9–243.
Nikolaus von Kues: De beryllo/Über den Beryll. Ham-
burg 2002.
Panofsky, Erwin: Studien zur Ikonologie der Renais-
sance [1939]. Köln 1997.
Pascal, Blaise: Pensées [1670]. Tübingen 1948.
Petrarca, Francesco: Die Besteigung des Mont Ventoux.
Stuttgart 1995.
Pico della Mirandola, Giovanni: De hominis dignitate
[1486]/Über die Würde des Menschen. Hamburg
1990.
150 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

3. Glück und Kalkülisierung. mit doch als sensibler Rezipient der ersten Ansätze
zur Kalkülisierung des Glücks.
Pascal und die Folgen In England wurde diese Kalkülisierung damals vor
allem von Abraham de Moivre propagiert, der mit
The Doctrine of Chances (1718) ein einschlägiges
Bis ins 17. Jahrhundert war das Glück der Inbegriff Standardwerk vorlegte. Seine Arbeit, deren Titel im
des Unberechenbaren. Wenn in der Antike oder im zeitgenössischen Deutsch als »die Lehre von den
Mittelalter Aussagen über zukünftiges Glück ge- Glücks=Fällen« übersetzt wurde (Zedler 1732–54,
macht wurden, beruhten diese auf bloßen Meinun- Bd. 38, 1627), hatte die Chancenverteilung in ver-
gen, nicht auf wissenschaftlich quantifizierenden schiedenen Glücksspielen zum Gegenstand, denn
Verfahren (s. Kap. II.7). Solche Aussagen gehörten diese Spiele boten die Möglichkeit, das Glück gleich-
in der aristotelischen Wissenschaftstradition zum sam unter Laborbedingungen zu untersuchen. Am
Bereich der bloßen opinio, nicht zum Bereich der Spieltisch konnten alle möglichen glücklichen und
strengen scientia. In der frühen Neuzeit aber wurde unglücklichen Spielverläufe a priori überschaut wer-
die strikte Grenze zwischen diesen beiden Berei- den, während im Blick auf die Verteilung von Glück
chen durchlässig (Hacking 1975/2006, 18–30). Es und Unglück im Leben nur auf der Grundlage von
entwickelte sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung, statistischen Datensammlungen a posteriori Progno-
welche mögliches zukünftiges Glück einer quantifi- sen gemacht werden konnten. Zudem konnten sich
zierenden Planung erschloss, und es kam zur soge- im Leben die relevanten Wirkungsfaktoren verän-
nannten »probabilistischen Revolution« (Krüger dern, während im Spiel die Rahmenbedingungen
u. a. 1987), in deren Verlauf sich der Umgang mit unveränderlich blieben. Vor diesem Hintergrund
Zufall und Zukunft grundlegend veränderte: Nun wird verständlich, weshalb sich die Pioniere der
konnte jedem möglichen Glücks- oder Unglücks- »Lehre von den Glücks-Fällen« zunächst ausschließ-
fall eine bestimmte Eintretenswahrscheinlichkeit lich der Erforschung der Hasardspiele zuwandten –
zugeschrieben werden, und immer mehr Unwäg- so auch derjenige Mathematiker, der in den 1650er
barkeiten des Lebens konnten dank der neuen ma- Jahren die ersten Schritte zur Begründung jener
thematischen Möglichkeiten versicherungstech- Lehre machte: Blaise Pascal.
nisch gezähmt werden. Es begann das Zeitalter der
Statistik und der Versicherung, in dem wir noch Die unberechenbare Fortuna
immer leben: ein Zeitalter, dessen zentrale, früher
noch undenkbare Frage lautet: »What are the Das Problem, welches Pascal zu seinen ersten ein-
odds?« schlägigen Überlegungen anregte, war an sich ein ur-
Vormoderne Abenteurer wie Odysseus oder Par- altes: Immer wieder war Streit darüber entbrannt, wie
zival hätten nie den Versuch unternommen, die im Falle eines vorzeitigen Spielabbruchs und bei ei-
Wahrscheinlichkeit bestimmter glücklicher Fügun- ner ungleichen Anzahl gewonnener Spielrunden die
gen in ihrem Leben zu beziffern. Anders hingegen von beiden Spielern zu gleichen Teilen eingezahlte
der Protagonist von Daniel Defoes Robinson Crusoe Gewinnsumme gerecht aufgeteilt werden sollte. Das
(1719): Er, der paradigmatische Abenteurer der her- lässt sich wie folgt konkretisieren: Angenommen,
aufkommenden Moderne, steht schon ganz im zwei Spieler A und B einigen sich darauf, ein Glücks-
Banne jener Frage, wenn er nach seinem Schiffbruch spiel wie Kopf oder Zahl so lange zu spielen, bis einer
über sein unwahrscheinliches Glück im Unglück rä- von ihnen sechsmal gewonnen hat. Nun werden sie
soniert und meint, die Chance, dass sein Schiff – beim Stand von 5:3 für Spieler A gestört und können
nachdem es weit draußen vor der Insel auf Grund die Partie nicht zu Ende spielen. Wer erhält dann wie
gelaufen war – noch einmal hochgehoben und so viel von der Gewinnsumme? Diese Frage kann nur
nahe an den Strand getrieben wurde, dass es ihm beantwortet werden, wenn man eine Voraussage dar-
möglich wurde, alle lebensnotwendigen Dinge dar- über wagt, wem das Glück in den verbleibenden Run-
aus zu retten, habe nicht mehr als 1 zu 100.000 betra- den eher gewogen wäre, würden sie denn noch ge-
gen (Defoe 1719/1994, 47). Auch an anderen Stellen spielt. Man muss sich also in das dunkle Reich der
seines Lebensberichts spricht Robinson in dieser Art unberechenbaren Fortuna vorwagen. Aber wie?
von Chancenverteilungen, und obschon er selbstver- Schon lange vor Pascal hatten Mathematiker ver-
ständlich nicht wirklich rechnet, erweist er sich da- sucht, dem Glück im Spiel auf die Spur zu kommen
3. Glück und Kalkülisierung. Pascal und die Folgen 151

und eine tragfähige Lösung für das Problem des un- Die »Geometrie des Zufalls«
terbrochenen Spiels zu finden. Doch der Blick auf
ihre Lösungsvorschläge zeigt anschaulich, wie sie Pascal nun erzählt die Geschichte des unterbroche-
letztlich immer wieder vor der Macht der Glücksgöt- nen Spiels ganz anders. Für ihn zerfällt sie nicht in
tin kapitulierten: So machte Luca Pacioli bereits im eine abgeschlossene Vergangenheit und eine von
ausgehenden 15. Jahrhundert einen Lösungsvor- dieser radikal unterschiedene Zukunft, die sich dem
schlag, wonach die Gewinnsumme beim Stande von rechnenden Zugriff verweigert. Vielmehr behandelt
5:3 in eben diesem Verhältnis aufgeteilt werden er sie als eine Geschichte, deren Vergangenheit und
müsse (Schneider 1988, 11–14). Niccolo Tartaglia Zukunft vermittelbar sind über das Kontinuum der
kritisierte diese Rechenmethode einige Jahrzehnte berechenbaren Chancen. Er stellt zuversichtlich die
später mit dem Verweis darauf, dass sie bei gewissen Frage nach den noch ungespielten Runden und stellt
Spielständen ganz offensichtlich absurde Resultate fest, dass beim Stande von 5:3 mindestens noch eine
zeitigen würde (18 f.). Nähme man nämlich an, das (falls A die nächste Runde gewinnen würde), höchs-
Spiel würde bereits nach einer einzigen von sechs tens aber drei (falls B dreimal hintereinander gewin-
Runden unterbrochen, müsste die Gewinnsumme nen würde) zu spielen sind. Nun beträgt bei einem
im Verhältnis 1:0 verteilt werden, und so würde dem gerechten Spiel die Gewinnchance der beiden Spie-
Gewinner dieser ersten und einzigen Runde der ler in jeder Runde 0.5, und der Spieler A könnte das
ganze Preis zugesprochen. Tartaglia plädierte des- Spiel in der ersten, zweiten oder dritten weiteren
halb für eine Lösung, die von der Punktedifferenz Runde für sich entscheiden. Addiert man aber die
zum Zeitpunkt des Spielabbruchs ausgeht. Ausge- drei Wahrscheinlichkeiten, die sich aus diesen mög-
blendet bleibt dabei freilich die Frage, ob das Spiel in lichen Spielverläufen ergeben, resultiert für A die
einer frühen oder späten Phase unterbrochen wird, Gesamtwahrscheinlichkeit 0.5 + 0.52 + 0.53 = 0.875,
ob A also zum Beispiel 2:0 oder 5:3 in Führung liegt. und er erhält demnach 87,5 % der Gewinnsumme.
Tartaglia berücksichtigte nicht die Entwicklung des Mit diesem Ausgriff in die Spielzukunft zeichnet
Spiels in der Zeit, sondern fasste das Geschehen in sich eine folgenreiche Emanzipation von der Macht
der Spielvergangenheit in einem abstrakten Verhält- der Fortuna ab, die noch bei Forestani eine so läh-
nis zusammen und ließ die möglichen Entwicklun- mende Wirkung auf die mathematische Untersu-
gen in der noch nicht gespielten Zukunft außer Acht. chung des unterbrochenen Spiels hatte. Und Pascal
Noch einmal anders ging dann um 1600 Lorenzo machte bei der Präsentation seiner Forschungsarbei-
Forestani das Problem an (Coumet 1965, 257–259): ten vor der Akademie im Jahre 1654 auch keinen
Er stellt zunächst fest, dass ein Spiel, das bis auf 6 Ge- Hehl daraus, für wie bedeutend er seine Kalkülisie-
winnpunkte gespielt werde, maximal 11 Runden rung des Spielglücks hielt. Stolz verkündete er, er
dauern könne. Beim Stande von 5:3 hat A also 5/11 habe eine Rechenmethode gefunden, mittels der »die
und B 3/11 der möglichen Runden gewonnen, und wankelmütige Fortuna« durch die »Ausgeglichen-
entsprechend sollen A 5/11 und B 3/11 der Gesamt- heit der Vernunft unterdrückt« werden könne:
gewinnsumme gegeben werden. Dabei bleiben frei- »anceps fortuna aequitate rationis […] reprimitur«
lich 3/11 des Preisgeldes übrig, und Forestani meint, (Pascal 1998, Bd. 1, 172). Nun sei das vermeintlich
dieser Rest müsse zu gleichen Teilen an die beiden ganz wissenschaftsfremde Wirken der Glücksgöttin
Spieler verteilt werden. Er ist sich zwar bewusst, dass endlich der mathematischen Behandlung zugänglich
gegen diese Aufteilung eingewendet werden könnte, geworden, womit ein ganz neues Forschungsgebiet
sie trage dem Umstand nicht Rechnung, dass A nä- eröffnet worden sei; ein Gebiet, das »für sich mit
her am Erreichen der nötigen 6 Gewinnpunkte sei Recht den erstaunlichen Titel beansprucht: Geome-
als B. Doch dieser Einwand ist für ihn gegenstands- trie des Zufalls« – »stupendum hunc titulum jure sibi
los, denn »Fortuna« könne sich schnell gegen denje- arrogat: Aleae geometria« (172).
nigen wenden, der in Führung liege; schließlich habe Die Begeisterung Pascals über die mathematische
sich das immer wieder sowohl im Spiel als auch im Zähmung der Glücksgöttin ist unübersehbar, und
Krieg gezeigt, wie er mit dem Hinweis auf entspre- das Bild von der Unterwerfung der Fortuna wurde in
chende Verse Ariosts über die unzuverlässige For- den frühen Arbeiten zur Glücksspielrechnung – von
tuna und das wechselnde Schlachtenglück bemerkt Christiaan Huygens’ De ratiociniis in ludo aleae
(259). Er streckt mithin seine mathematischen Waf- (1657) bis zu Pierre Rémond de Montmorts Essay
fen vor der unberechenbaren Macht des Glücks. d’Analyse sur les Jeux de Hazard (1708) – zum festen
152 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

Topos. Die neue Theorie erlaubte es zwar nicht, vor- Glücksmoment und Durchschnittsglück
auszusagen, was jeweils tatsächlich geschehen würde.
Doch mit der Entdeckung, dass die »Glücks-Fälle« Wer im probabilistischen Sinne vernünftig plant,
einer »Lehre« und damit einer Ordnung unterwor- glaubt erstens nicht an Glücksbringer und Glücks-
fen werden können, wurde deutlich, dass die Vertei- pilze. Er zählt bei seiner Planung aber zweitens – und
lung von Glück und Unglück bestimmten Regelmä- das ist grundlegender – auch nicht darauf, dass er bei
ßigkeiten gehorcht und dass es deshalb unvernünftig einem einzelnen großen Wagnis sein Glück machen
wäre, zu glauben, das Glück im Spiel könne irgend- kann. Er vertraut nicht auf das Glück, das sich im
wie beeinflusst werden durch das Setzen auf ›Glücks- Kairos eines intensiven Einzelmoments einstellt,
karten‹, durch die Wahl von bestimmten ›Glücksor- sondern versucht auf der Grundlage von statistisch
ten‹ für eine Partie oder gar durch ein ›Glück‹, das abgestützten Wahrscheinlichkeitstabellen langfristig
einem wie eine Qualität anhängen würde. Dazu be- seine Lebensziele zu erreichen und damit glücklich
merkt Moivre in seiner Doctrine of Chances, die neue zu werden. Er wagt nicht, sondern wägt ab, denn er
Theorie könne entscheidend dazu beitragen, einen hat die zentrale Lektion der neuen Theorie gelernt,
alten Aberglauben zu heilen, nämlich: »that there is wonach – wie es Pierre Simon de Laplace 1814 for-
in Play such a thing as Luck, good or bad.« Dank der mulieren sollte – kein Mensch glauben dürfe, er stehe
Glücksspielrechnung werde endlich klar, »dass der im »Mittelpunkte einer mehr oder minder ausge-
Begriff des Glücks bloß eine Täuschung« sei – »that breiteten Sphäre« und der »Zufall« würde ihn in ir-
the Notion of Luck is meerly Chimerical« – und dass gendeiner Weise bevorzugen (Laplace 1814/1996,
es so etwas wie einen Glückspilz nicht gebe: »[I]f the 127). Der Probabilist gewinnt mithin mehr Pla-
Word good Luck be understood to signifie a certain nungssicherheit, doch er bezahlt diese Sicherheit mit
predominant quality, so inherent in a Man, that he einer Dezentrierung seiner Existenz: Sein Lebens-
must win whenever he Plays, or at least win oftner schicksal ist nur noch ein Datenbündel, und damit
than lose, it may be denied that there is any such ist es aus allen transzendenten, Geborgenheit ver-
thing in nature« (Moivre 1718, IV). mittelnden Bezügen herausgelöst.
Die Kalkülisierung des Glücks, wie sie sich damit Diese Dezentrierung wird noch augenfälliger, wo
seit der Mitte des 17. Jahrhunderts abzeichnete, blieb die neue Theorie nicht nur als Hilfsmittel zur Le-
bald nicht mehr auf den Bereich der Hasardspiele bensplanung für den Einzelnen in Betracht kommt,
beschränkt. Schon früh wurde in der Logik von Port- sondern als Steuerungsinstrument zur Verwaltung
Royal (1662) darauf hingewiesen, wie die Erkennt- und Regierung von Kollektiven (s. Kap. II.9). Hier
nisse aus dem Spiel auch in anderen Lebenszusam- zeigt der kühle statistische Blick, wie sich Glück und
menhängen fruchtbar gemacht werden könnten; bei- Unglück der Einzelnen nach bestimmten Mustern
spielsweise, um den Menschen zu zeigen, wie verteilen und wie diese Einzelschicksale durch ge-
unwahrscheinlich das Unglück sei, durch einen Blitz- eignete Maßnahmen so miteinander verrechnet wer-
schlag zu sterben (Arnauld/Nicole 1662/85/1972, den können, dass das Kollektivglück des Staats ge-
348). Doch eine wissenschaftlich tragfähige Grund- zielt gefördert wird. Besonders anschaulich kommt
lage zur Übertragung der Erkenntnisse aus der dies gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den Arbei-
Glücksspielrechnung auf andere Weltzusammen- ten Condorcets (s. Kap. V.2) zum Ausdruck, wo be-
hänge wurde erst durch Jakob Bernoulli geschaffen, geistert davon die Rede ist, wie Glück und Unglück
der im vierten Teil seiner Ars conjectandi (1713) de- der Menschen in Versicherungen und Rentenkassen
monstrierte, wie die Zufallsereignisse im Leben zum Nutzen des Gesamtglücks miteinander verrech-
ebenso »wissenschaftlich« (»scientifice«) untersucht net werden könnten; wie »Zufall gegen Zufall« ge-
werden könnten »wie bei den Hasardspielen« (Ber- setzt und damit die »Herrschaft des Zufalls« gebro-
noulli 1713/1975, 249). Auf dieser Basis wurden in chen werden könne, so dass die Menschheit »sicher
der Folge immer mehr »Glücks-Fälle« statistisch er- und tüchtig auf dem Weg der Wahrheit, der Tugend
fasst und versicherungstechnisch unter Kontrolle ge- und des Glücks [bonheur]« vorwärts schreiten
bracht. Es begann die umfassende und spezifisch könne (Condorcet 1795/1976, 201, 221). Das Glück
moderne »Zähmung des Zufalls« (Hacking 1990), des Probabilisten ist das Glück des Durchschnitts. Es
die eben auch als eine Zähmung des Glücks verstan- ist nicht das Glück, das in einem glücklichen Einzel-
den werden kann. fall ganz unvermutet hereinbrechen kann, denn wer
im Zeitalter von Statistik und Versicherung mit die-
3. Glück und Kalkülisierung. Pascal und die Folgen 153

sem »Glücke« rechnet, erscheint – wie es im frühen Literatur


19. Jahrhundert in der Enzyklopädie von Ersch und
Arnauld, Antoine/Nicole, Pierre: Die Logik oder Die
Gruber heißt – »thöricht, seltsam« (Ersch/Gruber
Kunst des Denkens [1662/85]. Darmstadt 1972.
1818 ff., Bd. 1, 86).
Bernoulli, Jakob: Ars conjectandi [1713]. In: Ders.:
Trotz oder gerade wegen der immer weiter um Werke Bd. 3. Basel 1975, 107–286.
sich greifenden Zähmung des Zufalls setzte aller- Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur
dings schon früh eine Gegenbewegung ein, die ge- und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttin-
gen den Imperialismus des Durchschnittsglücks auf- gen 2002.
begehrte. Ihre Anhänger rebellierten gegen die Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der
Maximen probabilistischer Vernünftigkeit und bür- Fortschritte des menschlichen Geistes [1795] (Hg. W.
gerlicher Sekurität, und nicht selten verdichtete sich Alff). Frankfurt a. M. 1976.
ihre Kritik in einem Bekenntnis zum Glücksspiel: Coumet, Ernest: Le problème des partis avant Pascal. In:
Am Spieltisch war die Wahrscheinlichkeitsrechnung Archives internationales d’histoire des sciences 18
entwickelt worden, in deren Lichte sich freilich un- (1965), 245–272.
missverständlich zeigte, dass es in einem emphati- Defoe, Daniel: Robinson Crusoe [1719] (Hg. M. Shina-
schen Sinne ›irrational‹ wäre, sein Glück an jenem gel). New York/London 1994.
Tisch zu suchen. Der Erfolg ist zu unwahrscheinlich. Devlin, Keith: Pascal, Fermat und die Berechnung des
Umso entschiedener wandten sich deshalb die Geg- Glücks [2008]. München 2009.
ner des Durchschnittsdenkens immer wieder pro- Dostojewski, Fjodor: Der Spieler [1866]. In: Ders.: Der
grammatisch dem Hasardspiel zu, denn, so bemerkte Spieler. Späte Prosa. Berlin/Weimar 1994, 348–530.
beispielsweise Baudelaires Zeitgenosse Edouard Ersch, Johann Samuel/Gruber, Johann Gottfried (Hg.):
Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und
Gourdon: »Eine Folge glücklicher Spielcoups gibt
Künste. Leipzig 1818 ff.
mir mehr Genuss, als ein Mann, der nicht spielt, in
Gourdon, Edouard: Les faucheurs de nuit. Joueurs et
Jahren haben kann« (Gourdon 1860, 14). Am promi-
joueuses. Paris 1860.
nentesten kommt diese Haltung aber wohl in
Hacking, Ian: The Emergence of Probability [1975].
Dostoevskijs (s. Kap. V.14) Roman Der Spieler (1866) Cambridge 22006.
zum Ausdruck, wo die Polemik gegen den Durch- –: The Taming of Chance. Cambridge 1990.
schnitt, die der Autor bereits in den Aufzeichnungen Kavanagh, Thomas M.: Enlightenment and the Shadows
aus dem Untergrund (1864) lanciert hatte, im Zei- of Chance. Baltimore/London 1993.
chen des Glücksspiels fortgesetzt wird: Der Prot- Krüger, Lorenz u. a.: The Probabilistic Revolution. Cam-
agonist Alexej Iwanowitsch weiß, dass er sich mit sei- bridge, MA 1987.
nem Glauben ans Glück im Roulette bei den soge- Laplace, Pierre Simon de: Philosophischer Versuch über
nannten Vernünftigen lächerlich macht. Noch die Wahrscheinlichkeit [1814]. Thun/Frankfurt a. M.
»lächerlicher« kommt es ihm allerdings vor, »das zu 1996.
meinen, was alle meinen: es sei dumm und sinnlos, Moivre, Abraham de: The Doctrine of Chances. London
etwas vom Spiel zu erwarten. […] Es stimmt schon, 1718.
von hundert gewinnt einer. Doch was geht mich das Pascal, Blaise: Œuvres complètes (Hg. M. Le Guern). Pa-
an?« (Dostojewski 1866/1994, 360). In diesem »Doch ris 1998 ff.
was geht mich das an?« erscheint die Absage an das Schneider, Ivo: Die Entwicklung der Wahrscheinlich-
normalistische Diktat des Durchschnitts in größter keitsrechnung von den Anfängen bis 1933. Einfüh-
Verdichtung. Hier begehrt einer entschieden auf ge- rungen und Texte. Darmstadt 1988.
gen die Kalkülisierung des Glücks (zum utilitaristi- Schnyder, Peter: Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen
des Glücksspiels 1650–1850. Göttingen 2009.
schen Kalkül Benthams s. Kap. V.1) und will sich die
Zedler, Johann Heinrich: Großes Universal-Lexicon.
Möglichkeit bewahren, einen unvergleichlich inten-
Halle/Leipzig 1732–54.
siven, dionysischen Glücksmoment zu erleben –
Peter Schnyder
auch wenn er dabei zu Grunde geht. Spricht man
also von der Kalkülisierung des Glücks, ist immer
auch jene antinormalistische Gegenbewegung im
Auge zu behalten, die auf der Unberechenbarkeit
und Unverrechenbarkeit des Glücks insistiert.
154 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

4. Glück bei Spinoza. Die ihm ist, danach, in seinem Sein zu verharren« (Ethik
III, Lehrsatz 6). Diese Bestimmung sagt, dass das Sei-
Freiheit der Selbsterhaltung ende nicht über sein Sein verfügt, sondern sich da-
rum bemühen muss, es zu erhalten. Dem entspricht,
dass dem Seienden vieles widerfahren kann, was sei-
Baruch de Spinozas (1632–1677) Philosophie, ent- ner Selbsterhaltung zuwiderläuft. Spinozas Ontolo-
sprungen aus scholastischen, cartesianischen, jüdi- gie ist mithin die Lehre vom Seienden, das sich in-
schen und republikanischen Traditionen, galt zu sei- mitten von Widerfahrnissen in seinem Sein zu erhal-
ner Zeit als skandalös. Die Auffassung, dass es kei- ten sucht. Im Rahmen dieser Ontologie wird der
nen transzendenten Gott gebe, dass der Mensch im Mensch begriffen. Hieraus ergibt sich eine erste For-
Zusammenhang der Natur durchgängig bestimmt derung für den Begriff des Glücks: Er hat die Selbst-
sei, dass unsere normativen Begriffe von gut und erhaltung des Menschen inmitten von niemals aus-
schlecht nichts als Instrumente der menschlichen schaltbaren Widerfahrnissen als seine Achse zu neh-
Selbsterhaltung darstellten, dass anderslautende Auf- men. Glück wäre folglich der Zustand, in dem die
fassungen bloß Projektionen aus dem Glauben der Selbsterhaltung des Menschen gelingt, ohne den Wi-
Menschen, alles geschehe um ihretwillen, seien, – sie derfahrnischarakter seines Lebens zu verleugnen.
erregte den Zorn des Theismus und des Deismus der Wie ein solcher Zustand aussieht, wird durch ein
Neuzeit noch lange über Spinozas Tod hinaus. Die zweites Moment erhellt. Die Formulierung »in sei-
meisten seiner Schriften konnten nur anonym er- nem Sein zu verharren« klingt statisch: Das Seiende
scheinen. »Spinozismus« war daher lange Jahre eine strebt, so scheint es, danach zu ruhen. Der Gedan-
klandestine Angelegenheit. Spätestens aber seit in kengang, den Spinoza an die Grundbestimmung
der klassischen deutschen Philosophie Spinozas anschließt, zeigt jedoch, dass das Sein, in dem zu
Überlegungen diejenigen bewegten, die gerade Gott verharren ein jedes Seiendes strebt, durch das Ver-
und die Freiheit auf neue Weise zu begreifen such- mögen gekennzeichnet ist, mehr und mehr zu verur-
ten, war Spinoza wieder in den Hauptstrom des eu- sachen. Das Streben danach, in seinem Sein zu ver-
ropäischen Denkens zurückgekehrt. Und so konnte harren, ist dementsprechend das Streben danach,
sich nach und nach auch der im engeren Sinne ethi- mehr und mehr zu verursachen. Ein Seiendes kann
sche Gehalt seiner Philosophie neu entfalten. aber dann mehr und mehr verursachen, wenn es sein
Gegen Ende seines Hauptwerkes, der Ethik, sagt Wirkvermögen steigert. Damit erweist sich das Stre-
Spinoza, was Glück (beatitudo) sei. »Es besteht […] ben nach Selbsterhaltung als das Streben danach,
in der beständigen und ewigen Liebe zu Gott oder in sein Wirkvermögen zu entfalten. Das Wirkvermögen
der Liebe Gottes zu den Menschen« (Ethik V, Lehr- eines Seienden stellt wiederum dessen Macht (poten-
satz 36, Anm.). Der Argumentationsgang der Ethik tia) dar. Das Streben nach Selbsterhaltung ist somit
zeigt, dass Spinozas Satz in vier andere Sätze über- das Streben eines Seienden nach der Behauptung
setzt werden kann, die auf den ersten Blick wenig mit und der Entfaltung seiner Macht, etwas zu verursa-
ihm und ebenso wenig miteinander zu tun zu haben chen.
scheinen: (1) Glück besteht in der menschlichen Auch das menschliche Streben nach Selbsterhal-
Selbsterhaltung; (2) Glück besteht in der steten Ver- tung besteht deshalb darin, die menschliche Macht
ursachung neuer Wirkungen; (3) Glück besteht in zu entfalten, etwas zu bewirken. Hieraus ergibt sich
der Kontemplation der Wahrheit; (4) Glück besteht sogleich die politische Natur des Menschen. Auf-
in der Freiheit des Menschen. Um den Zusammen- grund des Widerfahrnischarakters seines Lebens
hang dieser Sätze zu verstehen, sind zunächst die Be- wäre nämlich die Macht eines Menschen in dem Zu-
griffe ›Selbsterhaltung‹, ›Verursachung‹, ›Kontem- stand seiner Isolation »gleich null« (Tractatus Politi-
plation‹, ›Gottesliebe‹ und ›Freiheit‹ in ihrem Ver- cus II, 15). Isoliert würde er nicht einmal die ersten
hältnis zu verstehen. Stunden seines Daseins überleben. Menschen müs-
sen folglich mit anderen Menschen zusammenleben,
Selbsterhaltung und Verursachung um überhaupt eine wirksame Macht zu besitzen. Das
notwendige Zusammenleben der Menschen bedeu-
Das Streben nach Selbsterhaltung ist für Spinoza das tet folglich eine Machtvermehrung des Einzelnen.
Prinzip dessen, was ist. Seine Grundbestimmung des Zugleich ist mit dem Zusammenleben der Indivi-
Seienden lautet: »Ein jedes Ding strebt, soweit es in duen allerdings auch ein Machtverlust verbunden.
4. Glück bei Spinoza. Die Freiheit der Selbsterhaltung 155

Denn es erfordert, dass die Individuen ihre Hand- gungen, unter denen einem nur verstümmelte Infor-
lungen aufeinander abstimmen, indem sie die Ent- mationen über das zur Verfügung stehen, was man
scheidung darüber, was erlaubt und was zu lassen sei, mit jenen Ideen zu erfassen sucht. Im Rahmen einer
auf die Gesamtheit der zusammengeschlossenen In- Ontologie, die das Seiende in Ursachen und Wirkun-
dividuen übertragen. Diese Gesamtheit, die Spinoza gen ordnet, heißt das: Sie sind Bedingungen, die die
»Menge« (multitudo) nennt (Tractatus politicus II, Verursachung von adäquaten Informationen über
16), bildet die Macht, auf der das Zusammenleben eine Sache verhindern. Dies ist dann der Fall, wenn
der Menschen und mit ihm die Selbsterhaltungs- die Verursachung von Informationen über eine Sa-
macht des Einzelnen gründet. che nicht vollständig von dieser Sache bewirkt wird.
Wenn also Glück der Zustand ist, in dem die Die Sache stellt dann nur eine Teilursache der Infor-
Selbsterhaltung des Menschen gelänge, ohne den mationen über sie dar, und andere Ursachen wirken
Widerfahrnischarakter seines Lebens zu verleugnen, bei der Bildung einer Idee von dieser Sache mit. Da
so stellt diese gelingende Selbsterhaltung zugleich diese anderen Ursachen andere Sachgehalte beisteu-
eine Entfaltung seiner – körperlichen und geistigen ern, enthält die so gebildete Idee einen zusammenge-
– Macht dar. Das Glück des Menschen ist also kein mischten Sachgehalt. Die Idee erfasst die Sache mit-
Zustand, sondern die stete Verursachung neuer Wir- hin durch andere Sachgehalte getrübt. Spinoza sieht
kungen inmitten unaufhabbarer Widerfahrnisse. Sie eine solche ›Trübung von Ideen‹ in den Affekten vor-
kann nur dann stattfinden, wenn der Mensch mit liegen. Die Bildung von adäquaten Ideen muss hin-
anderen Menschen zusammenzuleben imstande ist. gegen nach den Bedingungen einer vollständigen
Um das Glück des Menschen aber tatsächlich zu er- Verursachung von Informationen durch die Sache
möglichen, muss die Vergesellschaftung eine solche streben – und folglich die Affekte therapieren. Dann
sein, die die Selbstentfaltung der Macht des Men- wäre die Kontemplation der Wahrheit erreicht. Als
schen inmitten aller Widerfahrnisse über das Über- unverstümmelte Entfaltung der geistigen Macht des
leben hinaus befördert. Freilich wird sich zeigen, Menschen birgt sie deren Glück.
dass das Glück selber die Vergesellschaftung über- Nun stehen Menschen inmitten von Widerfahr-
steigt. nissen. Das gilt auch für ihre Ideenbildung: Sie un-
terliegt ständig Widerfahrnissen, die von Kontexten
Kontemplation, Affekte und Gottesliebe verursacht werden, die nicht zur Sache gehören.
Menschliches Bewusstsein ist unwiderruflich affekt-
Mittels des Begriffes der Verursachung erfolgt nun gebunden, und die Therapie der Affekte kann die Af-
der Schritt zum Begriff der Kontemplation. In Spi- fekte niemals über Bord werfen. Wie aber kann dann
nozas allgemeiner Ontologie, die die Ordnung des die vollständige Verursachung des Sachgehaltes ei-
Seienden in die Begriffe von Ursache und Wirkung ner Idee durch deren Sache erfolgen? Zunächst gilt
fasst, wird die Bildung von Ideen als deren geistige festzuhalten, dass der Widerfahrnischarakter alles
Verursachung begriffen. Wenn nun die Selbsterhal- Seienden auch die vollständige Verursachung be-
tung des Menschen in der Entfaltung seiner Macht, trifft. Die Bildung adäquater Ideen ist selber ein Wi-
etwas zu verursachen, besteht, dann schließt sie die derfahrnis und also mit einem Affekt verbunden.
Entfaltung seiner geistigen Macht, Ideen zu bilden, Zugleich aber ist sie mehr als ein Widerfahrnis, weil
ein. Des Weiteren stellen fehlerhafte Ideen den Aus- sie die geistige Macht des Menschen und also sein
druck einer eingeschränkten geistigen Macht dar, Vermögen entfaltet, selber etwas zu bewirken. Der
während adäquate und wahre Ideen die Entfaltung fragliche Affekt tritt also bei der Steigerung des
der Macht des Geistes bedeuten. Fehlerhafte Ideen Wirkvermögens ein. Spinoza nennt diesen Affekt der
sind Ideen, deren Bildung unvermögend war, ad- Machtentfaltung »Freude« (laetitia; Ethik III, Lehr-
äquate Ideen zu hervorzubringen: Sie sind Zeichen satz 11, Anm.). Die Doppelung von Widerfahrnis
geistiger ›Impotenz‹. Die Entfaltung der geistigen und Selbstverursachung im Affekt der Freude ver-
Macht besteht also darin, adäquate und wahre Ideen mag nun dadurch erreicht zu werden, dass der Kon-
zu bilden. text der Ideenbildung so beschaffen ist, dass der Ge-
Wie aber kann man dies tun? Spinozas Antwort genstand der Idee den mit seinem Kontext verbun-
lautet: Indem man die Bildung von Ideen möglichst denen Widerfahrnischarakter in sich aufnimmt.
weit den Bedingungen entzieht, unter denen sie ver- Denn dann können die Widerfahrnisse, in denen der
stümmelt werden. Diese Bedingungen sind Bedin- Mensch steht, die Idee nicht verstümmeln, sondern
156 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

tragen im Gegenteil zu deren Adäquatheit bei – sie mente, und er liebt darum auch das Moment, das ja
sind ja Momente des Gegenstandes, dessen man sich ein Moment seiner selbst darstellt. Die intellektuelle
bewusst wird, und müssen ihren Sachgehalt zu der Liebe zu Gott ist deshalb auch die Liebe Gottes zu
Idee beisteuern. Eine Implikation aller kontextuellen den Menschen. Aus der Perspektive des Menschen
Sachgehalte in seinem eigenen Sachgehalt weist aber gesprochen aber ist sie dessen höchste Machtentfal-
nur ein einziger Gegenstand auf: der Gesamtzusam- tung und sein Glück.
menhang alles Seienden selber. Weil in ihm alle ver-
stümmelnden Kontexte, die einer Ideenbildung wi- Freiheit
derfahren können, enthalten sind, verstümmeln die
Sachgehalte dieser Kontexte die Ideenbildung nicht In dieser intellektuellen Liebe zu Gott besteht zu-
länger, sondern ermöglichen sie im Gegenteil. gleich die Freiheit des Menschen. »Frei heißt ein
Sonach erfolgt die Kontemplation der Wahrheit, Ding, das nur […] durch sich selbst zum Handeln
zu der die Therapie von verstümmelnden Affekten bestimmt wird (Ethik I, Def. 7). Wenn nun der
führen will, in der freudigen Erkenntnis des Gesamt- Mensch Einsicht in den Gesamtzusammenhang er-
zusammenhanges. Sie stellt alle Entfaltung seiner langt, dann unterliegt seine geistige Macht keinen
körperlichen Macht in den Schatten. Denn die kör- äußeren Widerfahrnissen mehr, sondern handelt
perliche Macht des Menschen kann sich niemals auf selbstbestimmt. Das heißt nicht, dass sie außerhalb
den Gesamtzusammenhang des Seienden erstrecken der Kausalordnung des Seienden stünde, in der sie
und unterliegt daher immer den Widerfahrnissen Widerfahrnisse erleidet. Vielmehr gelangt sie inner-
der physischen Natur. Die geistige Macht des Men- halb dieser Ordnung zu Ideen, die die Ordnung be-
schen hingegen vermag ihre Widerfahrnisse zu be- greifen und daher fremdbestimmte Sachgehalte in
wältigen, indem sie sie erfasst. Hier entfaltet sich die ihren eigenen Sachgehalt zu integrieren vermögen.
Macht des Menschen daher am umfassendsten. Die Fremdbestimmung als Struktur des Gesamtzusam-
Vergesellschaftung des Menschen ist die notwendige menhanges einzusehen therapiert so die Fremdbe-
Voraussetzung dieser Entfaltung. Die in ihr ange- stimmtheit des Denkens. Es bestimmt sich nun selbst
legte Machtentfaltung des Menschen aber erfüllt sich als etwas, das sich als fremdbestimmt weiß. Die intel-
erst in der individuellen Einsicht in den Gesamtzu- lektuelle Liebe zu Gott verwirklicht die Freiheit des
sammenhang des Seienden. Aus diesem Grund stellt Menschen.
dessen freudige Erkenntnis das Glück des Menschen So beruht das Glück des Menschen auf der Entfal-
dar. tung seiner Selbsterhaltungsmacht zur liebenden Er-
Spinoza nennt den Gesamtzusammenhang des kenntnis Gottes. Diese Entfaltung, seine Freiheit in-
Seienden »Gott« (Ethik I, Lehrsatz 15). Die Freude, mitten der Widerfahrnisse, bereitet ihm die höchste
die seine Erkenntnis beinhaltet, ist mit der Idee von Freude. Wie die Stoa setzt Spinoza bei der Selbster-
deren vollständiger Ursache verbunden: Das Wissen haltung und der Affekttherapie an – um beides durch
um den Gesamtzusammenhang beinhaltet, seine sein Paradigma der Verursachung, das von aller Te-
Idee – als eines von dessen Momenten – vollständig leologie Abschied nimmt, grundsätzlich zu verwan-
von ihrem Gegenstand verursacht zu wissen. Die deln. Selbsterhaltung und Affekttherapie bedeuten
Freude freut sich ihrer Ursache. Eine solche Freude, nun: kausale Produktion. Und wie viele ältere Den-
die mit der Idee ihrer Ursache verbunden ist, nennt ker identifiziert Spinoza das Glück mit der Schau
Spinoza »Liebe« (Ethik III, Definition der Affekte 6). Gottes – um auch diese durch seine radikale Imma-
Die freudige Erkenntnis des Gesamtzusammenhan- nenz in ein neues Licht zu tauchen. Die Erkenntnis
ges besteht mithin in der Liebe zu Gott. Sie ist eine und Liebe Gottes besteht nunmehr in der Einsicht in
intellektuelle Liebe (Amor Dei intellectualis; Ethik V, den Gesamtzusammenhang alles Seienden: in das,
Lehrsatz 32, Zusatz) und zuletzt die Liebe Gottes zu »worin alles ist« (Ethik I, Lehrsatz 15). Spinozas
sich selbst. Gott erkennt sich durch den Geist des Glück bleibt immer prekär, weil es den Zusammen-
Menschen als einem seiner Momente. Die intellektu- hang der Widerfahrnisse nicht übersteigt. »Aber al-
elle Liebe zu Gott entpuppt sich hier als eine Binnen- les Herrliche ist ebenso schwierig wie selten« (Ethik
relation des Gesamtzusammenhanges. Dessen Relate V, Lehrsatz 42, Anm.).
stehen – unter den genannten Bedingungen – in dem
Verhältnis der Liebe zueinander: Der Mensch liebt
Gott, Gott liebt sich selbst durch eines seiner Mo-
5. Figuren des Glücks in der Alltagskultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 157

Literatur 5. Figuren des Glücks in der


Baruch de Spinoza: Opera omnia (Hg. Carl Gebhardt). Alltagskultur des Mittel-
Heidelberg 1925 [Zitate aus der Ethik und dem Trac-
tactus Politicus werden nach dieser Ausgabe zitiert, alters und der Frühen
mit Angabe von Buch und Textabschnitt, in Übers.
von Gunnar Hindrichs].
Neuzeit. Von Himmels-
–: Politischer Traktat. Lateinisch-deutsch (Hg. und sehnsucht und Erden-
Übers. Wolfgang Bartuschat). Hamburg 1994.
–: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Latei-
schwere
nisch-deutsch (Hg. und Übers. Wolfgang Bartuschat).
Hamburg 1999.
Hampe, Michael: Baruch de Spinoza – rationale Selbst- Für das ›Märchenglück‹, das sich in der Vormoderne
befreiung. In: Dominik Perler/Ansgar Beckermann zutrug, kann jedes Kind Beispiele nennen: Zunächst
(Hg.): Klassiker der Philosophie. Stuttgart 2004, 230– muss die Hauptfigur Leiden ertragen, dann Aufga-
250. ben lösen; als Lohn heiratet sie am Schluss den jun-
Hindrichs, Gunnar: Die Macht der Menge – der Grund- gen Prinzen oder die liebreizende Prinzessin und er-
gedanke in Spinozas politischer Philosophie. In: Ders. hält den Thron eines großen Reiches dazu (s. Kap.
(Hg.): Die Macht der Menge. Über die Aktualität ei- V.10). Seit dem Mittelalter seien diese Erzählungen
ner Denkfigur Spinozas. Heidelberg 2006, 13–40. über viele Generationen oral tradiert worden, so die
Moreau, Pierre-François: Spinoza. L’expérience et l’éter- verbreitete Annahme, und sie spiegelten die Sehn-
nité. Paris 1994. süchte der Menschen, die in einer statischen Stan-
Rocca, Michael della: Spinoza. New York 2008.
desgesellschaft nach sozialem Aufstieg, Anerken-
Wiehl, Reiner: Die Vernunft in der menschlichen Un-
nung und Einfluss streben. Lebensglück realisierte
vernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas
sich demnach in einer Eheschließung, die zugleich
Affektenlehre. Hamburg 1983.
mächtig und reich machte. Umgekehrt wird aber
Gunnar Hindrichs
auch vermutet, gerade in dieser Zeit sei Glück an all
diese Faktoren nicht gebunden gewesen.
Die beiden genannten Leitbilder entsprechen frei-
lich Projektionen auf die vorindustrielle Epoche, die
aus dem 18./19. Jahrhundert stammen. Die in dieser
Zeit entstandenen Märchensammlungen kanalisie-
ren unbewältigte Fortschrittsängste und Obsessio-
nen der eigenen Gegenwart. Die Handlung wird in
die Distanz einer weit zurückliegenden Zeit verscho-
ben und in der Formel ›Es war einmal‹ als unwieder-
bringlich vergangen erklärt. So zeigt die Geschichte
vom naiven »Hans im Glück«, der seine Verluste als
Gewinne (um)deutet, typisch neuzeitliche Facetten
eines dialektischen gedanklichen Spiels mit den
Möglichkeiten, sich den als dominant und bedroh-
lich wahrgenommenen Gesetzmäßigkeiten von
Handel und Markt zu entziehen. Als ›Märchen‹ in
die populäre Grimmsche Sammlung aufgenommen,
weist der Text auf die Irrealität des hier vorgestellten
Lebensmusters: Seine völlige Ignoranz gegenüber
den Relationen der Tauschwirtschaft kennzeichnet
Hans als lebensuntauglichen Versager, der auch sei-
nen Angehörigen, zu denen er zurückkehrt, Armut
und Leid bringt. Er ist daher ein Antiheld, vor dem
gewarnt wird. Zugleich aber kommt gerade in der
entfalteten Geldwirtschaft der Vorstellung ein hohes
158 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

Faszinationspotential zu, ein besitz- und arbeitsloser Neben diesem Leitbild der vita activa, dem ent-
Mensch könne völlig unbekümmert um seine Zu- behrungsreichen Schaffen in der Welt, steht die vita
kunft sein und sein Wohlbefinden jenseits aller ge- contemplativa, die religiöse Versenkung zur Ehre
sellschaftlicher Wertekataloge individuell und spon- Gottes. In Nachfolge des leidenden Christus versu-
tan selber definieren. Der so konstruierte Lebens- chen Menschen sich durch strenge Askese in extre-
raum der glücklichen Märchenhelden wird teils mer Selbstisolierung und Geißelung zu läutern und
sozialromantisch verklärt, teils als rückständig gegen dadurch Gott zu gefallen sowie ein inneres Gleichge-
die erfahrene Realität abgegrenzt. Dafür, dass solche wicht zu gewinnen. In neugegründeten Bettelorden
bis heute als typisch vormodern bezeichnete Ge- wird seit dem 12. Jahrhundert das Ideal persönlicher
schichten schon vor dem 18. Jahrhundert kursierten, Besitzlosigkeit kultiviert. Eine populäre Symbolfigur
gibt es freilich keine Belege. für diese Bewegung ist Franz von Assisi (1181/2–
Sowohl vom Glück des Reichtums als auch von 1226), ein Kaufmannssohn aus reicher Familie, der
der Seligkeit der Armut berichten freilich auch zahl- sich dem Wohlstand und Prunk der italienischen
reiche Geschichten aus dem Mittelalter. Beispiele Städte entgegenstellte, auf sein Erbe verzichtete und
für letztere Option finden sich seit dem 13. Jahrhun- dem Ideal der Weltflucht ein neues Gesicht verlieh,
dert in Predigt- und Exempelsammlungen von indem er die brüderliche Tätigkeit unter den Men-
Mönchen wie Jacques de Vitry, Etienne de Bourbon, schen in den Mittelpunkt rückte. Tägliches Glück
Johannes Gobi Junior. Die variierenden Handlun- zog er aus seiner Verbundenheit mit den Mitge-
gen folgen alle demselben Grundmuster. Ein Rei- schöpfen des Tierreiches, mit denen er wie mit
cher gibt einem Armen Geld, weil er ihn in seinen menschlichen Freunden kommunizierte. Sein »Son-
kargen Lebensumständen leiden sieht; die neuen nengesang« ist das sprudelnde Plädoyer des damals
Sorgen um die unvertraute Habe verstärken aber Schwerkranken, Gott in seiner wunderbaren Schöp-
noch das Elend des Beschenkten; daher gibt er den fung zu finden und zu lobpreisen.
Reichtum zurück und ist nach dieser Erfahrung erst Anstelle der Weltverneinung wird hier der Jubel
recht »bey der sauren Arbeit lustig und fröhlich«, über das Dasein anempfohlen. Oft schlägt die strikte
wie es in der Frühen Neuzeit einmal heißt (Moser- Jenseitszugewandtheit um in ihr Gegenteil. Eine
Rath 1984, 94). Wahres Glück, so die Moral, kann Reihe religiöser Gruppen hielt trotzig daran fest, be-
nicht im irdischen Dasein, sondern erst im Jenseits reits auf Erden einen Zustand der Vollkommenheit
erlangt werden. Das Paradies zu gewinnen, setzt erreichen zu können. Nach traditioneller Lehre der
aber ein sündenfreies Leben auf Erden voraus. Spon- katholischen Kirche ist ein solcher nur in Gott selber
tane Bedürfnisbefriedigung aber, wie sie kennzeich- realisiert bzw. den Heiligen in seiner Nähe vorbehal-
nend ist für Hans, würde von dieser Perspektive ab- ten, von deren außerordentlichem Wirken die Le-
lenken, zum Unrecht verleiten und das Ziel in Frage genden berichten. Konzepte irdischer Selbstheili-
stellen. Gekleidet in anschauliche Exempel wird da- gung werden daher als häretisch gebrandmarkt.
her die religiös-didaktische Lehre von der Kanzel Doch waren die Ketzergruppen von ihrem alternati-
verkündet: Der Gerechte schickt sich in demütiger ven spirituellen Heilsweg zutiefst überzeugt, so dass
Selbstbescheidung in sein gottgewolltes Schicksal. sie die mörderischen Verfolgungen auf sich nahmen.
Nur so wird ihm bereits zu Lebzeiten ein gewisser Solche Bewegungen hatten einen gewaltigen Zulauf,
Anteil an der Freude zugestanden, die ihn dereinst darunter befanden sich auffallend viele weibliche
erwartet (s. Kap. IV.1). Während der mittelalterli- Mitglieder. Denn anders als in der Amtskirche konn-
chen Jahrhunderte wird das harte Tagwerk in der ten auch Frauen innerhalb der internen Hierarchie
Regel nicht als Quelle des Glücks, sondern eher als den priesterähnlichen Status der perfecti erlangen.
Plackerei und Mühsal betrachtet, denn nach bibli- Eine von der offiziellen Lehre der Kirche abwei-
schem Verständnis ist Arbeit eine göttliche Strafe chende Position nahm auch die Mystik ein, denn sie
für den Ungehorsam des ersten Menschenpaares (s. ging davon aus, der Mensch könne sich durch Ver-
Kap. II.2). Gerade deshalb ist dieses Erzählmotiv in senkung unmittelbar mit dem Göttlichen verbinden.
unterschiedlichen klerikalen Sammlungen immer In diesem Zustand der völligen Einheit mit dem Gu-
wieder anzutreffen, dient es doch dazu, die für das ten, Schönen, Rechten kann er nicht sündig werden.
Überleben notwendige harte Arbeit in Armut als Einige Vertreter der mystischen Richtung genießen
den steinigen Pfad zu ewiger Glückseligkeit zu legi- großes Ansehen. Meister Eckhart (um 1260–1328)
timieren. etwa gilt vielen als ein Leitbild, denn er verheißt eine
5. Figuren des Glücks in der Alltagskultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 159

Gelassenheit und innere Ruhe, die ein Mensch durch xus sind dort allgegenwärtig, es wird eine tabufreie
seinen eigenen »Seelenfunken« gewinnen könne: das Sexualität praktiziert, ein Jungbrunnen verschafft
Erlebnis der Gottesnähe entrückt ihn aus der schäbi- Regeneration und ewige Jugend.
gen Welt mit ihren Aggressionen und Feindseligkei- Ein systematisches Programm mit einem eigenen
ten: »so weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit Katalog an Tugenden entwickelte die aufblühende
[…] geht Gott ein mit all dem Seinen. Da findest du Hofkultur: Der in die Welt hinausreitende Ritter, so
wahren Frieden und nirgends sonst« (Quint 1963, beschreiben es Versromane, sucht saelde, sein Glück,
1–26, 57). Als problematisch in solchen Vorstellun- in der Bewältigung von aventiuren, damit er seinen
gen wird von der Kirche die fehlende Bedeutung des Platz unter den erfolgreichen Rittern einnehmen
eigenen Gewissens betrachtet. Doch entzog sich kann. Vreude (Freude) und êre (Ruhm, Ansehen)
Meister Eckhart einer Verurteilung seiner Lehren, winken als Belohnung für ein angemessenes Verhal-
indem er die beanstandeten Sätze wiederrief, die ten. Die Hofgesellschaft definiert sich über ein dau-
freilich nach seinem Tode auf dem Index landeten. erhaftes Hochgefühl. Dem jungen Tristan wird da-
Anders als er hielt die Begine Marguerite Porete (um her bei seiner Schwertleite ans Herz gelegt: »wis ie-
1250–1310) an dem Inhalt ihrer Schrift fest, und sie mer höfsch, wis iemer frô« (Sei immer höfisch, sei
wurde mit dem Tod für ihre Botschaft bestraft, die immer froh; Gottfried von Straßburg um 1210/1969,
vollkommene Vereinigung mit Gott in der Liebe be- Vers 5043). Im Glanz eines prächtigen Festes wird
deute vollkommene Freiheit. Gleichwohl werden diese Haltung kollektiv präsentiert, doch bleibt der
aber einige Personen, die behaupten, Visionen zu ha- sinnliche Genuss bei den ritualisierten Formen der
ben, durch die Gott sich ihnen unmittelbar mitteile, Inszenierung gruppenbezogen kontrolliert, auch Se-
auch offiziell als Seher anerkannt, ja die Verschriftli- xualität wird nicht hedonistisch ausgelebt. Ein kulti-
chung ihrer Gesichte im Interesse aller Menschen viertes literarisches Spiel widmet sich der minne, der
wurde ihnen geradezu nahegelegt. Dies gilt etwa für Gunst der mit dem Burgherren verheirateten Dame,
Hildegard von Bingen (um 1098–1179), deren Kopf um die die jungen Ritter konkurrieren. Die Isolation
auf zeitgenössischen Bildern von himmlischen Flam- eines glücklichen Paares kann die Stimmung der Ge-
men umwabert und erleuchtet wird. Das Licht, das sellschaft sogar trüben, so im Falle von Erec, dem
sie schon als Kind sah, beschreibt sie selber als zu- Helden des zwischen 1180 und 1190 entstandenen
nächst beunruhigend, doch ist sie bald von einer tie- Epos des Hartmann von Aue: Erec vernachlässigt
fen Gewissheit erfüllt, für eine besondere himmli- wegen der Liebe zu seiner Frau seine Herrschafts-
sche Mission auserwählt zu sein. pflichten. Auch für diese Lebenswelt ist eine religiöse
Neben dem Ringen um einen religiös fundierten Basis maßgeblich, die sich vor allem in dem Grals-
Lebenssinn auf Erden oder im Himmel existieren symbol ausdrückt, einem unerreichbaren Objekt,
auch profane Gegenbilder von einem erreichbaren nach dem auch die tüchtigsten Repräsentanten der
Dasein ohne Arbeit, Hunger und Verzicht auf leibli- Tischrunde vergeblich streben.
che Freuden: Eine Erzählung aus dem 13. Jahrhun- Um 1160 taucht in der höfischen Literatur ein
dert zeigt, wie ein armer norwegischer Bauernsohn neues Wort auf: mhd. ›gelücke‹ (s. Kap. I.3). Dieser
so lange Wertloses zu seinem Vorteil tauscht, bis er Begriff kennzeichnet den Ausgang eines Geschehens
die Königstochter zur Ehe erhält; dieser Erfolgreiche zunächst als offen und ambivalent: Die Handlung
braucht sich nicht mehr mit dem schweren Pflug zu kann sich vorteilhaft wie auch nachteilig für den
plagen. Umgekehrt wie im Falle von Hans winkt das Protagonisten entfalten. Denn Fortuna dreht das Rad,
Glück hier dem Listigen, der die Dummheit der an- das den Menschen willkürlich zu seligen Höhen hin-
deren zu seinem Vorteil ausnutzt (»Der vorteilhafte aufschleudert und gleich wieder in dumpfe Tiefen hi-
Tausch«, vgl. Uther 1990, 492). Aus den verbreiteten nabwirft. Die launische Schicksalsgöttin ist, neben
Hungersnöten erwächst die Utopie vom ›Schlaraf- der Vernunft sowie amor, Liebe und Trieb, eine der
fenland‹, von dem zum ersten Mal in einem altfran- drei zentralen Triebkräfte des Daseins. In seinem ein-
zösischen Fabliau zu Beginn des 13. Jahrhunderts flussreichen Werk Decameron (entstanden 1349–51)
berichtet wird (Fabliau vom Land Coquaigne, über- diskutiert Boccaccio die Möglichkeiten des Men-
setzt in Richter 1989, 130–134). Wer diese traum- schen, diese Kräfte zu steuern. Auch amor ist eine un-
hafte Region erreicht, kann sich ungehemmt ausle- zuverlässige Macht, denn Liebe kann Unglück, Täu-
ben und allen Verlockungen frönen, die ihm zu schung, Wahnsinn bedeuten; daher setzt der Frühhu-
Hause versagt sind. Speise und Trank sowie jeder Lu- manist auf die dritte Komponente: die Weisheit.
160 IV. Glück im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

In der italienischen Frührenaissance ist die antike straft er sie (das Exempel »Tentamina« taucht auch
Stoa mit ihrem Ideal der Standhaftigkeit aus innerer in den altfranzösischen Versionen seit dem 13. Jahr-
Stärke maßgeblich, wie sie die Gestalt der Griselda hundert und später im »Ritter von Thurn« auf; vgl.
repräsentiert: Das mit einem Adligen verheiratete Lundt 2002, 394–400).
Bauernmädchen erträgt geduldig die Demütigungen Oft verfehlen solche Schlusssentenzen freilich ihr
seines Mannes, der das in dem Eheversprechen ent- didaktisches Ziel und scheinen angehängt. Ohnehin
haltene Gelöbnis von Unterwerfung, Liebe und Ge- liegt die Sympathie des Lesepublikums häufig bei
duld extrem auf die Probe stellt, bevor er zufrieden den Opfern, die für ihren Vorwitz unangemessen lei-
erklärt: »es gebe keinen anderen Mann auf der Welt, den müssen. So sorgen solche unterhaltenden Texte
der mit seiner Frau so glücklich sein kann wie ich« eher für die Verbreitung des Protestes gegen die
(Decameron X, 10. Novelle; Flasch 2002, 124). Der Pflichten der Ehegemeinschaft als für ein Einver-
Triumph der Frau äußert sich auch hier in ihrer ge- ständnis in die Notwendigkeit des weiblichen Ge-
sellschaftlichen Aufwertung und kollektiven Aner- horsams. Sagen und Geschichten von Fabelwesen
kennung ihrer Seelengröße: »Sie führten sie als Ge- und anderen Phantasiegestalten erfüllen oft die
bieterin in den Festsaal […], sie, die auch in Lumpen Funktion, überreale Partnerbindungen zu entwerfen.
ihr herrschaftliches Wesen gewahrt hatte«. Freilich Auch unter diesen Gestalten findet sich freilich kein
wird in dem Text der Ehemann wegen der Härte der dauerhaft glückliches Paar: Häufig neugeschrieben
Prüfungen, die er seiner Frau zumutet, scharf kriti- wird die Geschichte von Melusine. Sie erweist sich in
siert. Offenbar ist das erreichte Glück mit einem sol- der Ehe als besonders fruchtbar und kreativ, doch ist
chen Peiniger nach Ansicht des Autors nun doch das Familienglück von einem Verbot überschattet.
nicht perfekt. Als der neugierige Mann es übertritt, entpuppt sich
Auch in der stadtbürgerlichen Literatur wird die ihre dämonische Herkunft. Sie verwandelt sich in
Hoffnung auf ein dauerhaftes Liebesglück in der Ehe eine Schlange oder einen Drachen und verlässt ihn.
oft zerschlagen. Die »Suche nach dem glücklichen Erst mit der Reformation gewinnen Ehegemein-
Ehepaar«, so ein Märe von Heinrich Kaufringer schaft und Hauswirtschaft eine besondere Hoch-
(Märe 8, überliefert in nur einer Schrift von 1464; schätzung, die Ideale von Jungfräulichkeit und As-
vgl. Fischer 1968, 114) ist nicht von Erfolg gekrönt. kese werden kritisch diskutiert. Aus der zunächst
Das hier dargestellte Paar etwa streitet sich um die vorherrschenden selbstgenügsamen Subsistenzwirt-
Frage des Aufwandes im Lebensstil – der Mann prä- schaft entwickelt sich eine veränderte Arbeitsmenta-
sentiert seine effektive Haushaltsführung und die lität, die durch den Wunsch nach persönlicher Teil-
Harmonie seiner Ehegemeinschaft gerne vor seinen habe am Gewinn gekennzeichnet ist. Im Sinne der
Mitbürgern: »sein herz in grossen fräuden swebt / ›calvinistischen Prädestinationslehre‹ wird materiel-
wenn die guoten gesellen sein / komen in sein haus ler Erfolg als Zeichen einer Auserwähltheit auch zu
hinein«. Seine Frau verweigert den von ihr erwarte- ewigem Leben äußerst positiv bewertet. Der Über-
ten Arbeitseinsatz zur Bewirtung der Honoratioren. gang zu einem solchen frühkapitalistischen Wertbe-
Für ihre »kargheit« rächt sich ihr Gatte, indem er ihr wusstsein vollzieht sich freilich langwierig und die
Ehebruch unterstellt. Auch in anderen Geschichten neue Orientierung am Gut ist heiß umstritten. Zwar
kreisen konkurrierende Glücksvorstellungen der widmet Sebastian Brant in seiner Streitschrift Das
beiden Geschlechter um Fragen nach der hausväter- Narrenschiff 1494 geschäftsuntüchtigen Verlierern
lichen Gewalt und der hauswirtschaftlichen Ord- ein eigenes Beispiel »Vom törichten Tausche« und
nung. Was hat den Vorrang: die Platzierung des Man- fordert damit mehr Aufmerksamkeit für das gerechte
nes innerhalb der urbanen Hierarchie oder die Pri- Ziel des Profits. Doch gilt auch hier noch unmissver-
vatheit der persönlichen Geschlechterbeziehung? ständlich, dass sich die eigentliche Seligkeit in einer
Solche Kontroversen werden in Narrationen nicht transzendenten Welt entfaltet: »größre Narren wur-
verbal verhandelt, sondern als Machtkampf symbo- den nie / Denn die Glück hatten allzeit hie!« (Brant
lisch ausgetragen. In einer Erzählung des Ministeria- 1494/1964, 89).
len Hans von Bühel (entstanden 1412) nutzt die Frau Auch im 16. Jahrhundert noch wird darum gerun-
den Besuch der hochgestellten Gäste, um ihren gen, ob Reichtum wirklich unter die Glücksgüter zu
Mann bloßzustellen: Scheinbar unabsichtlich zieht rechnen sei, die ein Mensch sich wünschen mag.
sie das Tischtuch herab und ruiniert so Festmahl, Konfrontiert mit verschiedenen Angeboten ent-
Gewänder und die Reputation ihres Gatten. Blutig scheidet sich der Held in dem beliebten Prosaroman
5. Figuren des Glücks in der Alltagskultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 161

Fortunatus zwar für das Geldsäckel – eine für das tet es positiv, ja geradezu als ein Lob Gottes, sich vol-
Mittelalter ganz undenkbare Option – doch kann er ler Wissenslust seiner Schöpfung zuzuwenden.
sich nicht dauerhaft seiner Entscheidung freuen. Schon im 12. Jahrhundert wird also wohl begründet,
Die Frühe Neuzeit bringt auch einen Glückssu- was stets als Kennzeichen der Neuzeit gilt: die Freude
cher hervor, dessen individualistische Sehnsüchte so an selbständiger Welterkundung und aktiver Teil-
stark sind, dass er sich dem Teufel verschreibt, der habe an der Vielfalt der Religionen und Kulturen, die
ihre Erfüllung verheißt. Es ist Faust, der stets als Pro- Europa kennzeichnet.
totyp der Moderne bezeichnet wird. 1587 wird die
erste von zahlreichen populären Auflagen des soge- Literatur
nannten ›Volksbuches‹ gedruckt: Historia von D.
Brant, Sebastian: Das Narrenschiff [1494] (Hg. Hans-
Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und
Joachim Mähl). Stuttgart 1964.
Schwartzkünstler. Schon der Titel zeigt, so wird häu-
Bühel, Hans von: Dyocletianus Leben (Hg. A. Keller).
fig argumentiert, dass es sich um eine Warnge-
Quedlinburg/Leipzig 1841.
schichte handelt, die, möglicherweise aus protestan- Dinzelbacher, Peter (Hg.): Europäische Mentalitätsge-
tischer Sicht, gnadenlos das verbreitete magische schichte. Stuttgart 22008.
Weltbild einer Lebenserfüllung ohne kirchlichen Se- Fischer, Hans: Studien zur deutschen Märendichtung.
gen diskreditieren sollte, denn Faust bezahlt seine Il- Tübingen 1968.
lusionen mit dem Leben, ja schlimmer noch: mit sei- Flasch, Kurt: Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschich-
ner Seele. Doch wird die Novität dieses Motivs auch ten aus dem Decameron. München 2002.
bestritten. Denn seit der Antike gibt es narrative Tra- Gottfried von Straßburg: Tristan [um 1210] (Hg. Karl
ditionen, die auf die Hybris des persönlichen Glücks- Marold). Berlin 1969.
gewinns hinweisen. Menschen fordern Natur, Göt- Hartmann von Aue: Erec (Hg. und Übers. Thomas Cra-
terwelt und Jenseitsschwelle heraus und werden für mer). Frankfurt a. M. 1987.
den Versuch bestraft: Orpheus wie Ikarus können Le Goff, Jacques: Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden
ihre Wünsche nicht realisieren, die sie in Übertre- und Wunder des Mittelalters. München 2005.
tung von Schranken, die den Menschen errichtet Lundt, Bea: Neugier. In: Enzyklopädie des Märchens.
sind, zu erfüllen trachten. Bd. 9. Berlin 1999, 1408–1416.
Das Glücksstreben der Symbolfiguren aus Mittel- –: Weiser und Weib. Weisheit und Geschlecht am Bei-
alter und Früher Neuzeit erfüllt sich also auf vielfa- spiel der Erzähltradition von den »Sieben Weisen
che Weise; die Unterschiede zwischen den beiden Meistern« (12.–15. Jh.). München 2002.
–: Aufbruch Europas in die Neuzeit 1500–1800. Eine
Epochen bestehen eher in Verschiebungen der Wert-
Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2009.
kataloge als in mentalen Brüchen. Während oft die
Moser-Rath, Elfriede: Lustige Gesellschaft. Schwank
völlige Fixierung der mittelalterlichen Epoche auf
und Witz des 17. und 18. Jahrhunderts in kultur- und
die kirchlichen Normenkataloge behauptet wird, hat
sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart 1984.
Jacques le Goff gezeigt (Le Goff 2005, 6–13), wie tief Müller, Ulrich/Wunderlich, Werner (Hg.): Mittelalter-
bereits in dieser Phase die Bereitschaft verwurzelt ist, Mythen. Bd. 1–5. St. Gallen 1996–2008.
der Wunder dieser Welt teilhaftig zu werden, selber Quint, Josef: Meister Eckhart. Deutsche Predigten und
Außerordentliches zu erproben und hervorzubrin- Traktate. München 1963.
gen (etwa durch den Dombau) und sich dabei indi- Richter, Dieter: Schlaraffenland. Geschichte einer popu-
viduell und mutig den Mahnungen zu widersetzen, lären Phantasie. Frankfurt a. M. 1989.
die etwa die Befriedigung der Neugierde als Trieb- Uther, Hans-Jörg: Hans im Glück. In: Rolf Wilhelm
sünde wider Gottes Offenbarung bezeichnen (Lundt Brednich u. a. (Hg.). Enzyklopädie des Märchens. Bd.
1999). Ein rationaler Schub richtet sich spätestens 6. Berlin 1990, 487–494.
um 1100 auf die Wirklichkeit dieser Welt und bewer- Bea Lundt
163

V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

1. Glück in der britischen mus – wie noch genauer darzustellen sein wird –
vielgestaltiger dar.
Moralphilosophie des Dass in der britischen Moralphilosophie des 18.
18. und 19. Jahrhunderts. und 19. Jahrhunderts ein hedonistischer Glücksbe-
griff vorherrscht, darf nicht darüber hinwegtäu-
Aufstieg und Niedergang schen, wie sehr die Vorstellungen darüber divergie-
des Hedonismus ren, was den Menschen Lust bereite. Hier gilt es, eine
egoistische von einer altruistischen Fraktion zu un-
terscheiden. Altruistischer und egoistischer Hedo-
Grundlinien der Entwicklung nismus sind sich zwar darin einig, dass in einem
glücklichen Leben positive Erfahrungen (Glückser-
Von der Mitte des 17. bis weit in die zweite Hälfte lebnisse, pleasure) negative Erfahrungen (Unglücks-
des 19. Jahrhunderts sind Lust (pleasure) und Un- erlebnisse, pain) überwiegen. Sie haben aber unver-
lust (pain) Leitbegriffe der britischen Moralphiloso- einbare Auffassungen darüber, was Menschen glück-
phie. Es war – zugespitzt gesagt – das Zeitalter der lich oder unglücklich macht, was sie als freudvoll
hedonistischen Glücksphilosophie. Bei allen Unter- oder schmerzlich erleben.
schieden in den jeweiligen theoretischen Ausformu- Die egoistische Traditionslinie wird prominent
lierungen galt den britischen Philosophen jener vertreten durch Thomas Hobbes, Bernard Mande-
Phase ein Leben als gut und glücklich in dem Maße, ville (1670–1733) und Jeremy Bentham (1748–1832),
in dem die angenehmen Gefühle (pleasure) die un- dem Gründervater des modernen Utilitarismus. Ver-
angenehmen (pain) überwiegen. Die ideenge- treter des altruistischen Flügels sind auf der anderen
schichtlichen Wurzeln des britischen Hedonismus Seite Anthony Ashley Cooper (1671–1713), besser
liegen in der Wiederentdeckung Epikurs (s. Kap. bekannt als der dritte Earl of Shaftesbury, Francis
III.3) durch den Franzosen Pierre Gassendi (1592– Hutcheson (1694–1746) und David Hume (1711–
1655; vgl. Mayo 1934; Sarasohn 1996). Die beiden 1776), der von vielen als der größte britische Philo-
führenden englischen Philosophen des 17. Jahrhun- soph aller Zeiten angesehen wird. Obwohl mit Man-
derts, Thomas Hobbes (1588–1679) und John Locke devilles Fable of the Bees: Private Vices, Publick Bene-
(1632–1704), waren stark durch dessen Epikur-Re- fits die vielleicht berühmteste Schrift der egoistischen
zeption beeinflusst und entwickelten sowohl in Traditionslinie 1714 erscheint, sind es die Altruisten,
werttheoretischer als auch in psychologischer Hin- die den Zeitgeist des 18. Jahrhunderts bestimmen.
sicht hedonistische Positionen. Der werttheoreti- Dessen Schlüsseltext ist Shaftesburys Inquiry Con-
sche Hedonismus besagt, dass angenehme Gefühle cerning Virtue and Merit (1699).
das einzige in sich selbst wertvolle Gut darstellen; Wohl unter dem Eindruck der politischen und in-
der psychologische Hedonismus vertritt hingegen dustriellen Revolutionen in Europa verschob sich
die These, dass die Suche nach Lust und die Vermei- um 1800 herum das Interesse auf die Frage der Be-
dung von Unlust die einzigen Endzwecke des Han- wertung gesellschaftlicher Ordnungen; mit ihm
delns sind. Psychologischer und werttheoretischer dringt auch die egoistische Traditionslinie des briti-
Hedonismus ergänzen sich gut, können aber auch schen Hedonismus wieder in den Vordergrund und
unabhängig voneinander vertreten werden. Wäh- findet unter anderem Eingang in das Homo-Oecono-
rend der werttheoretische Hedonismus (also das he- micus-Modell der Wirtschaftswissenschaften. Das
donistische Glücksverständnis) über mehr als zwei Modell des eigennützig handelnden Individuums
Jahrhunderte unbestritten blieb und erst Ende des entspricht dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden
19. Jahrhunderts an Einfluss verlor, stellt sich die Geschmack für materialistische Weltanschauungen
Lage mit Blick auf den psychologischen Hedonis- und harten Realismus. Die altruistischen Theoreti-
164 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

ker des vorangegangenen Jahrhunderts, wie Shaftes- Die Ausgangssituation: Glück und Moral
bury und Hutcheson, galten nun als anachronisti- bei Hobbes und Locke
sche Tugendschwätzer und Sprecher einer unterge-
gangenen Feudalordnung. Um die Revolution der Denkungsart zu verstehen,
Eine wichtige Gegenstimme zur Gleichsetzung die sich um das Jahr 1700 herum vollzog, muss man
von Glücksstreben und erfolgreicher Verfolgung sich das Bild von Motivation und Moral vergegen-
materieller Interessen, wie sie Jeremy Bentham fak- wärtigen, das die vorangegangenen Dekaden be-
tisch vornahm, gehört John Stuart Mill (1833/1969, stimmt hatte. Das Erscheinen des Leviathan von
14). Mill (1806–1873) entwickelte eine komplexere Thomas Hobbes im Jahr 1651 ist in diesem Zu-
Glückskonzeption, ohne aber auf Theoretiker des sammenhang ein Schlüsseldatum. In dezidierter Ab-
vorangegangenen Jahrhunderts zurückzugreifen. Bei wendung von der antiken Moralphilosophie hatte
Henry Sidgwick (1838–1900), dem Vollender des Hobbes gelehrt, der Mensch sei unabänderlich durch
klassischen Utilitarismus, rücken schließlich Fragen eigensüchtige Leidenschaften getrieben. Es gibt ihm
der praktischen Vernunft in den Vordergrund. So ge- zufolge kein Endziel des Lebens und daher auch kei-
riet die Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts, die nen erfüllten Zustand der Seele. Glück sei das stän-
in besonderem Maße auch Philosophie des Glücks dige Fortschreiten von einer (erfüllten) Begierde zur
war, mehr und mehr in Vergessenheit. Diese Ent- nächsten: »Felicity is a continuall progresse of the
wicklung wurde dadurch weiter verstärkt, dass die desire, from one object to another« (Hobbes
Ende des 19. Jahrhunderts aufkeimende Opposition 1651/1968, Kap. XI, 160). Da die menschliche Trieb-
gegen Hedonismus und Utilitarismus sich auf die natur zu einer Konkurrenz um knappe Güter führt,
deutsche Philosophie berief. Zu den wichtigsten Ver- muss sie gezügelt werden. Die Moral bestimmt Hobbes
tretern dieser kurzlebigen Liaison zwischen deut- als eine Menge von Regeln, deren Einhaltung das
schem Idealismus und angelsächsischer Philosophie menschliche Handeln in friedliche Bahnen lenkt. Die
zählen Thomas Hill Green (1836–1882) und Francis Moralwissenschaft ist entsprechend die Wissenschaft
Herbert Bradley (1846–1924). Das Erscheinen der der friedensstiftenden Regeln, die Hobbes als natür-
Principia Ethica von George Edward Moore im Jahr liche Gesetze bezeichnet. Für sich genommen, haben
1903 läutet dann die Ära der (sprach)analytischen die natürlichen Gesetze allerdings weder motivie-
Moralphilosophie ein, die das 20. Jahrhundert be- rende Kraft noch Verbindlichkeit. Dafür bedarf es ei-
stimmt. Für das philosophische Fragen nach dem nes staatlichen Sanktionsapparates, der für die Kon-
Glück bedeutete dies eine viele Jahrzehnte währende gruenz von moralischem Verhalten und Eigeninter-
Latenzzeit. esse sorgt. Im Kriegszustand, der ohne Staatsgewalt
Aus heutiger Perspektive erscheint das lange Zeit herrscht, ist das Leben »solitary, poor, nasty, brutish,
eher übersehene 18. Jahrhundert als eine ungewöhn- and short« (1651/1968, Kap. XIII, 186), während der
lich fruchtbare und dynamische Periode der briti- Friedenszustand Aussicht auf erwünschte Güter wie
schen Moral- und Glücksphilosophie. Das starke Kunst, Wohlstand und Wissenschaft eröffnet. Erst im
Interesse an Fragen der Moralpsychologie, das den Staat binden die natürlichen Gesetze das Verhalten
altruistischen Flügel des Britischen Moralismus (die der Menschen. In ihm können sich Tugenden bilden,
Periode von 1640 [Darwall 1995] oder 1650 [Ra- die Hobbes als die gewohnheitsmäßige Neigung de-
phael 1969/1991] bis 1800) kennzeichnet, macht ihn finiert, den natürlichen Gesetzen zu entsprechen.
zugleich zu einer ergiebigen Quelle für Fragen der Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hobbes
Philosophie des Glücks. Moral als eine rationale, durch das aufgeklärte Ei-
Was Carlyle mit charakteristischer Schärfe als geninteresse motivierte Einschränkung der mensch-
»tumid sentimental vapouring about virtue, bene- lichen Triebnatur versteht. Tugendhaftes Handeln
volence« (Carlyle 1841/1993, 150) abkanzelte, wird trägt für sich genommen nichts zum Lebensgelingen
heute als der Versuch sichtbar, zu einem neuen und bei. Die Einhaltung der natürlichen Gesetze ist je-
angemesseneren theoretischen Modell menschlicher doch eine notwendige Bedingung dafür, dass Wohl-
Motivation und menschlichen Lebensgelingens vor- stand und Sicherheit erlangt werden können und
zudringen. dass damit den Menschen jene Güter zugänglich
werden, die ihnen die größte Lust bereiten.
Ein in vielen Hinsichten vergleichbares Bild des
Verhältnisses von Moral und Glück zeigt sich bei
1. Glück in der britischen Moralphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts 165

John Locke (1632–1704): Im Essay Concerning Hu- Als Shaftesburys Hauptwerk gelten die Characteris-
man Understanding (1689) erklärt er, Dinge seien gut ticks of Men, Manners, Opinions, Times (1711). Der
und schlecht nur mit Blick auf Lust und Unlust. Wir Grundgedanke der Theorie des moralischen Sinns
nennen gut, was uns Lust bereitet oder Unlust ver- lautet, dass unser moralisches Wissen nicht in der
mindert (1689/1997, Buch II, Kap. XX, § 2, 216). Kenntnis von Regeln besteht, die durch Vernunft er-
Glück besteht in dem höchsten Maß an Lust, Un- mittelt oder durch Gott offenbart werden. Vielmehr
glück in einem Höchstmaß an Unlust. Die Begriffe sind wir in der Lage, moralische Unterschiede un-
›moralisch gut‹ (oder ›moralisch schlecht [böse]‹) sind mittelbar wahrzunehmen und affektiv zu bewerten,
nach Locke bezogen auf die Übereinstimmung mit vergleichbar mit unserer Fähigkeit, ästhetische Un-
(oder die Abweichung von) einem Gesetz. Dieses terschiede sinnlich aufzufassen. Die Moralphiloso-
Gesetz muss uns von einem Gesetzgeber auferlegt phie dient nicht der Formulierung und Begründung
sein, in dessen Macht es liegt, Zuwiderhandlungen von moralischen Gesetzen; sie ist vielmehr und vor
zu bestrafen und Befolgungen zu belohnen. Morali- allem Theorie im Sinne einer Ursachenforschung.
sche Gesetze sind somit nach Locke mit Sanktions- Der moralische Sinn informiert uns über das mora-
drohungen versehene Vorschriften einer mit Sank- lisch Zustimmungsfähige und Abzulehnende, so dass
tionsmacht ausgestatteten Instanz. Sie beruhen der Moraltheorie die Aufgabe zukommt, heraus-
letztlich auf Gottes Macht. Menschen sind seine Ge- finden, welche Gemeinsamkeiten den moralischen
schöpfe. Moralisch richtiges Handeln wird seinem Urteilen zugrunde liegen – warum wir bestimmte
Willen gerecht. Wenn wir seinen Gesetzen nicht fol- Handlungsweisen verurteilen und andere loben.
gen, verhängt er Strafen von unendlicher Dauer und Anders als die meisten seiner Zeitgenossen war
Schwere (1689/1997, Buch II, Kap. XXVIII, § 8, 317). Shaftesbury überzeugt, dass Moral weder hinsicht-
Bei allen Unterschieden stimmen Locke und lich ihres Gehaltes noch hinsichtlich ihrer motivati-
Hobbes in zwei wesentlichen Hinsichten überein: onalen Kraft auf dem monotheistischen Gottesglau-
Beide vertreten ein Sanktionsmodell moralischer ben beruht. Nur ein vollkommener Atheismus –
Verbindlichkeit. Dass eine moralische Norm das nach Shaftesbury der Glaube, dass alles auf Zufall
Handeln bindet, bedeutet, dass deren Befolgung be- beruhe – sei mit der Tugend unvereinbar. Gemäßigte
lohnt, deren Verletzung bestraft wird. Und beide Atheisten und Polytheisten können ihm zufolge
sind, damit zusammenhängend, überzeugt, dass Mo- ebenso gute und glückliche Menschen sein wie
ral und Glück in einem äußerlichen Verhältnis zuei- Mono- oder Pantheisten. Shaftesburys Naturalisie-
nander stehen. Bei Hobbes vermag das Individuum rung der Moral, sein Gedanke, dass moralische Er-
zu erkennen, dass die Tugenden Voraussetzung eines kenntnis und Motivation in der Natur des Menschen
vorteilhaften innergesellschaftlichen Friedens sind; wurzeln, hat zudem unmittelbare Konsequenzen für
sie selbst tragen jedoch nichts zum Lebensglück bei. die ›Glücksökonomie‹, die nun nicht mehr domi-
Ihr Wert ist rein instrumentell. Locke bestimmt niert wird von der Frage, wie sich diesseitiges Han-
Glück als höchste Lust. Tugendhaftes, d. h. dem gött- deln auf das jenseitige Wohlergehen auswirkt.
lichen Gesetz entsprechendes Verhalten, ist ihm zu- Noch in einer anderen Hinsicht brach Shaftesbury
folge das notwendige und hinreichende Mittel, um radikal mit den Voraussetzungen seiner Vorgänger.
eine unendliche Belohnung durch den Allmächtigen Hobbes und Locke hatten die Tugenden als mit
zu erlangen. Wie bei Hobbes ist ihr Wert rein instru- Sanktionen bewehrte Vorschriften betrachtet. Shaf-
mentell. Tugend macht für sich genommen nicht tesbury lehrte dagegen, dass Menschen Erfüllung
glücklich, jedenfalls nicht in dieser Welt. finden können in den Freuden, die mit einem tu-
gendhaften und geselligen Leben verbunden sind.
Die Entdeckung des moralischen Sinns: Ohne diese Freuden sei das Leben erbärmlich. Ihr
Fehlen wiege genauso schwer wie das von Erinne-
Anthony Earl of Shaftesbury
rung und Verstand – sie gehörten zu einem spezi-
Anthony Earl of Shaftesbury ist Begründer der für fisch menschlichen Leben. Er gab damit den Ton vor
das 18. Jahrhundert kennzeichnenden Lehre vom für eine ganze Reihe von Theoretikern des 18. Jahr-
moralischen Sinn (moral sense), die sowohl den ego- hunderts, die zwischen Glück und Tugend (s. Kap.
istischen Hedonismus (die These, dass alles Handeln II.3) keinen Gegensatz sahen, sondern ein harmoni-
auf Eigenlustgewinn zielt) als auch das Sanktions- sches Verhältnis. Moralisches Handeln habe nicht
modell moralischer Verbindlichkeit in Frage stellte. den Charakter einer von einer externen Instanz auf-
166 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

erlegten Einschränkung, sondern entspreche dem we shou’d all agree«), sondern wie wir dieses Glück
Wesen des Menschen. verstehen: als privaten Vorteil und selbstsüchtiges
Nicht nur die Tugend, auch das Glück werden von Eigeninteresse oder als ein geselliges, den anderen
Shaftesbury somit aus dem christlich-religiösen Be- zugetanes und tugendhaftes Leben (Shaftesbury
zugsrahmen herausgelöst. Die Inquiry Concerning 1709/2001, 76). Selbstsorge – Sorge um das eigene
Virtue and Merit und später die Characteristicks of Lebensgelingen – und Sorge um andere sind nicht
Men, Manners, Opinions, Times sind insofern wich- voneinander zu trennen (s. Kap. V.2).
tige Stationen auf dem Weg der Säkularisierung der
modernen Glücks- und Moralvorstellung. Sie legen Francis Hutcheson: The Greatest
die Grundlage für ein Verständnis von religiöser To-
Happiness
leranz, das weit über Locke hinausging, in dessen
Letter Concerning Toleration (1689) die Toleranz be- Mit Francis Hutcheson betritt bald darauf ein so in-
kanntlich bereits beim Katholizismus endet. novativer wie systematischer Denker die philosophi-
Im Hintergrund von Shaftesburys Moral- und sche Bühne. Seine Inquiry into the Original of our
Glücksphilosophie steht eine platonisch geprägte Ideas of Beauty and Virtue. The Principles of the late
Metaphysik von der Wohlordnung des Weltganzen, Earl of Shaftesbury are Explained and Defended,
in das sich der tugendhafte Mensch einfügt. Shaftes- against the Author of the Fable of the Bees (1725)
burys Hintergrundmetaphysik erwies sich als wir- nimmt eine für die Theorien des moralischen Sinns
kungsgeschichtlich weniger nachhaltig als seine typische Engführung von Ethik und Ästhetik vor. In
Analogie zwischen moralischen und ästhetischen der Verfahrensweise und inhaltlichen Ausrichtung
Urteilen (s. Kap. II.4). Ähnlich wie die ästhetische Hutchesons macht sich der Einfluss John Lockes be-
Lust am Schönen zählt die moralische Lust am Gu- merkbar, insbesondere dessen Zurückweisung des
ten zu den geistigen Freuden (mental pleasures), die Gedankens angeborener Ideen, den Shaftesburys
mit den Freuden des Körpers in Konkurrenz stehen Theorie beansprucht. Anders als sein Vorgänger, der
können und oftmals stehen. Wer das moralisch Un- den Menschen als Teil eines wohlgeordneten Uni-
schöne an Handlungen wie Hinterlist oder Gier versums begreift, verzichtet Hutcheson auch auf ei-
wahrnimmt, mag im Wettbewerb um knappe Güter nen teleologischen Interpretationsrahmen und be-
ins Hintertreffen geraten. Doch ist nach Shaftesbury freit die Theorie des moralischen Sinns damit von
das Bewusstsein, moralisch schön zu handeln, als metaphysischem Ballast. Hutcheson ist an einer auf
geistige Freude unabhängig von äußeren Umständen Beobachtung beruhenden Analyse der menschlichen
und Unwägbarkeiten und daher vorzugswürdig – Natur interessiert, nicht an ihrer Einordnung ins
hier zeigt sich Shaftesbury als Schüler antiker Weltganze, wie der neoplatonisch beeinflusste Shaf-
Glückslehren (s. Kap. III). Moralisch schön sind da- tesbury. Er versteht den moralischen Sinn als das
bei ihm zufolge Handlungen, die Wohlwollen (bene- Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung normati-
volence) zum Ausdruck bringen. Handlungen, die ver Aspekte einer Situation. Indem er Wahrnehmun-
auf Eigennutzstreben (self-love) beruhen, sind dage- gen zur Grundlage unserer moralischen Urteile er-
gen ohne moralischen Wert. Seine Moraltheorie steht klärt, meint er, den Verdacht Mandevilles abwehren
damit in scharfem Kontrast zu der ein Jahrhundert zu können, dass Menschen sich selbst täuschten,
später zur Dominanz gelangenden utilitaristischen wenn sie glaubten, auf die Interessen anderer Rück-
Auffassung, der zufolge der moralische Wert einer sicht nehmen zu können oder zu wollen (vgl. etwa
Handlung nicht von ihrem Motiv, sondern von ihren Mandeville 1714/1988, 55–56). Wahrnehmungen
Konsequenzen abhängt. unterliegen nicht unserer willentlichen Kontrolle. Sie
Shaftesburys Lehre vom Wohlwollen bestreitet enthüllen Aspekte der uns umgebenden Welt (Schra-
nicht, dass wir an Freundschaft und Tugend interes- der 1984, 76 ff.).
siert sind, weil sie zu unserem eigenen Glück beitra- Nach Hutcheson sind alle moralisch wertvollen
gen; aber er tritt gleichwohl der reduktionistischen Handlungen durch Wohlwollen motiviert – das Um-
These des Egoismus entgegen, dass sich das mensch- gekehrte gilt nicht: Nicht alle wohlwollenden Hand-
liche Interesse an Freundschaft und Tugend auf das lungen sind moralisch wertvoll. Das Beurteilungs-
Motiv der Selbstliebe zurückführen ließe. Der Streit- kriterium für die Moralität einer Handlung ist ihm
punkt mit den egoistischen Lehren sei nicht, dass wir zufolge eine Art von moralischem Kalkül. Dieser Ge-
alles um des eigenen Glücks willen tun (»[f]or in this danke findet sich im Ansatz bereits bei Shaftesbury
1. Glück in der britischen Moralphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts 167

angelegt, der in seinen Characteristicks von einer schen Egoismus. Psychologische Hedonisten be-
»Moral Arithmetick« (1699/2001, 99) spricht. Doch haupten, die Förderung des Wohlergehens anderer
erst bei Hutcheson erlangt dieser Gedanke systema- geschehe nur, wenn der Handelnde damit eigene
tische Tragweite. In seiner Inquiry into the Original Lust hervorrufen oder eigene Unlust vermeiden will.
of our Ideas of Beauty and Virtue heißt es: »that Ac- Dass es einer anderen Person gut gehe, sei einem
tion is best, which procures the greatest Happiness selbst angenehm oder mache einen glücklich, und
for the greatest Numbers; and that, worst, which, in eben deshalb sei man motiviert, das Wohlergehen
like manner, occasions Misery« (1725/2004, 125). anderer zu fördern. Butler setzt dem die Frage entge-
Hutcheson gibt hier die erste englischsprachige For- gen, wie es denn komme, dass die Förderung des
mulierung des utilitaristischen Prinzips, das ein Wohlergehens anderer als lustvoll erlebt werde. Dies
Vierteljahrhundert zuvor bereits von dem Philoso- sei offenbar nur möglich, wenn das Wohl anderer
phen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in la- Personen als etwas an sich Wertvolles und Erstre-
teinischer Form vorgetragen worden war. benswertes angesehen werde. Das Handlungsziel sei
Anders als die späteren Utilitaristen, grenzt Hut- für die Lust am Erreichen des Ziels schon vorausge-
cheson jedoch nicht scharf den Wert der Handlung setzt. Insofern zeige die Freude am Wohlergehen an-
von dem Wert des Handelnden ab. Moralischen Wert derer nicht, dass die Handlung eigentlich egoistisch
hat eine nützliche Handlung nur dann, wenn sie aus sei. Denn die Freude werde ja nur von denen erlebt,
Wohlwollen geschieht. Eine äußerst nützliche Hand- die das Wohl anderer wünschten. Nächstenliebe ist
lung, der nur ein geringes Maß an Wohlwollen zu- somit laut Butler nicht auf Selbstliebe zu reduzieren.
grunde liegt, kann daher einen geringeren morali- Die wohl bedeutendste Innovation Butlers be-
schen Wert haben als eine weniger nützliche Hand- stand aber in seiner Theorie rationaler Motivation.
lung, die durch ein sehr hohes Maß an Wohlwollen Während Richard Cumberland (1631–1718), Shaf-
motiviert ist. Ist eine wohlwollende Handlung indes tesbury und Hutcheson davon ausgingen, dass Men-
ohne Nutzen (lediglich gut gemeint, aber zu nichts schen aufgrund ihrer wohlwollenden Motive ›gut‹
Gutem führend), so hat sie auch keinen moralischen genannt werden, diese Motive aber nicht selbst her-
Wert. Der von einer Person hergestellte allgemeine vorbringen können, meinte Butler, der Mensch ver-
Nutzen (publick good) lässt sich nach Hutcheson als füge über ein Gewissen (conscience), das es ihm er-
Produkt aus ihrem Wohlwollen (benevolence) und mögliche, an Gründen orientiert zu handeln. Er ist
ihren Fähigkeiten (abilitys) berechnen. Das Wohl- damit ein wichtiger Vorläufer der kantischen Vor-
wollen einer Person ergibt sich entsprechend mathe- stellung, dass die Vernunft selbst praktisch sein, d. h.
matisch als Bruch des von ihr produzierten allgemei- Handeln auslösen könne (Darwall 1995, 286). Damit
nen Nutzens und ihrer Fähigkeiten (Hutcheson gab er zwar den psychologischen Hedonismus preis,
1725/2004, 125). Es stellt sich nun aber die Frage, hielt aber gleichwohl daran fest, dass menschliches
wonach eine handelnde Person streben soll: Soll sie Leben durch Lust gut und durch Unlust (Schmerz)
die Handlung mit dem größten moralischen Wert schlecht wird. Diese Loslösung des werttheoreti-
(abhängig vom Motiv und dem Nutzen) oder die schen vom psychologischen Hedonismus ermög-
Handlung mit den besten Folgen vollziehen? Da lichte eine wirkungsgeschichtlich bedeutsame philo-
Hutcheson für die erste Option plädiert, ist er zwar sophische Entdeckung: dass wir unser Glück in der
der erste Brite, der das Nutzenprinzip formuliert, Regel am meisten fördern, indem wir uns nicht di-
aber kein Utilitarist im üblichen Sinne des Wortes, rekt auf die Förderung unseres Glücks konzentrie-
da für Utilitaristen das Motiv unbedeutend ist für ren. Henry Sidgwick (1838–1900) sprach später von
den Wert der Handlung. einem »Paradox des egoistischen Hedonismus«, das
darin bestehe, dass man das eigene Glück am besten
Joseph Butler: Das Wohl anderer verfolge, indem man es nicht verfolge. Dass unser ei-
genes Glück und Wohlergehen Nebenprodukt unse-
als Endzweck
res Strebens nach anderen Dingen sei, wurde zu ei-
Nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Mo- nem zentralen Bestandteil der Glücksphilosophie
ral- und Glücksphilosophie hatten auch Joseph But- nicht nur Sidgwicks, sondern auch John Stuart Mills
lers (1692–1752) Fifteen Sermons Preached at the (1806–1873).
Rolls Chapel (1726). Zum einen entwickelte Butler
ein einflussreiches Argument gegen den psychologi-
168 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

David Hume: Die Moral des Nutzens nen menschlichen Gemütern sei die Abneigung ge-
gen Schurkereien so ausgeprägt, dass sie durch keine
David Hume hat seine moral- und glücksphilosophi- Aussicht auf finanzielle oder sonstige Vorteile über-
schen Überlegungen in zwei Werken niedergelegt: wogen werde (283).
zum einen im dritten Teil seiner monumentalen
Treatise of Human Nature (1739–1740), die nicht sel- Adam Smith: Eigeninteresse
ten als das bedeutendste philosophische Werk in
und Wohlwollen
englischer Sprache bezeichnet wird; zum anderen in
der Enquiry Concerning the Principles of Morals Auch wenn Adam Smiths Ruf als Philosoph im
(1751), die Hume persönlich als sein bei weitem bes- Schatten seiner Reputation als Ökonom steht, hat er
tes Buch einschätzte. zweifellos in beiden Bereichen Außerordentliches
Anders als Butler sah Hume die Vernunft als un- geleistet. In der Literatur ist viel darüber gestritten
vermögend an, Handlungen eigenständig auszulö- worden, ob das Menschen- und Gesellschaftsbild
sen. Sie informiert den Handelnden über Zweck- seines ökonomischen Jahrhundertwerks Inquiry into
Mittel-Relationen und die relevanten Gesetzmäßig- the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776)
keiten; sie beeinflusst auch unsere Wünsche, indem mit dem seines wichtigsten philosophischen Buches
sie auf mögliche Unvereinbarkeiten hinweist. Doch A Theory of Moral Sentiments (1759) zusammen-
generiert die Vernunft nach Hume keine Handlungs- stimmt. Die Frage der Einheit und Vereinbarkeit bei-
gründe. Seine Vorstellung menschlicher Motivation der Werke – auch unter dem Namen »Adam-Smith-
steht insofern Hutcheson entschieden näher als But- Problem« bekannt – bezieht sich auf das Span-
ler. Von ersterem unterscheidet ihn jedoch vor allem nungsverhältnis einer ökonomischen Analyse, die
seine Auffassung über die Eigenschaften, die unser Wohlstand auf die rationale Verfolgung des Eigenin-
moralischer Sinn gefühlsmäßig als vorzüglich er- teresses im System natürlicher Freiheit zurückführt,
kennt. Hutcheson war überzeugt, unsere Zustim- und einer philosophischen Untersuchung, die – in
mung gelte dem Motiv des Wohlwollens, während der Tradition der Theorien des moralischen Sinns –
Hume meinte, wir hielten all diejenigen Handlungs- den Menschen als zu Wohlwollen und Mitgefühl be-
dispositionen für moralisch löblich, die nützlich fähigtes Wesen sieht. Die plausibelste Lösung des ex-
seien – wobei Nützlichkeit im Sinne der Förderung egetischen Problems liegt in einer »Sphärenunter-
menschlichen Wohlergehens zu verstehen ist. Da- scheidung«, die Smith vornimmt (Nieli 1986).
durch ergibt sich zum einen ein viel reicheres Bild Marktinteraktionen werden durch aufgeklärtes Ei-
von Tugenden, die der moralische Sinn gutheißt – geninteresse reguliert, während Freundschaften und
wir loben eben nicht nur das Wohlwollen, sondern Familienbindungen durch wechselseitige Zuneigung
auch die Treue, die Ehrlichkeit, die Gerechtigkeit und Wohlwollen bestimmt sind. Auf eine Kurzfor-
oder die Zuverlässigkeit. Zum anderen bewegt sich mel gebracht: Nach Smith ergibt sich das Glück als
Hume mit dem Nützlichkeitsbegriff einen großen Summe aus materiellem Wohlstand, der in einer auf
Schritt in Richtung des Klassischen Utilitarismus, Egoismus beruhenden Marktsphäre erwirtschaftet
der im 19. Jahrhundert seine Blüte erlebt. Aus glücks- wird, und emotionaler Nähe, die sich aus der von
philosophischer Sicht ist vor allem festzuhalten, dass Sympathie geprägten Privatsphäre schöpfen lässt.
Hume die Harmonie von Tugend und Glück betont.
Einen Nachweis über die Nützlichkeit der Mäßigung Das Zeitalter des Klassischen Utilitarismus:
zu führen, erscheint ihm als ebenso überflüssig, wie
Bentham, Mill, Sidgwick
die Glücksträchtigkeit der geselligen Tugenden zu
belegen. Kein Mensch habe es jemals freiwillig an Wie erwähnt, tauchte die Nutzenformel des Utilita-
Liebenswürdigkeit, Witz oder gutem Benehmen rismus vom größtmöglichen Glück der größtmögli-
mangeln lassen. Da keine wahre Freude außerhalb chen Zahl schon bei Francis Hutcheson auf. Doch
der menschlichen Geselligkeit denkbar sei, wolle waren sich die Theoretiker des moralischen Sinns
letztlich jeder Mensch anderen angenehm sein: »[…] darin einig, dass im Handeln zum Ausdruck kom-
no society can be agreeable, or even tolerable, where mende Motive oder Charaktereigenschaften der vor-
a man feels his presence unwelcome, and discovers rangige Gegenstand moralischer Beurteilung sind.
all around him symptoms of disgust and aversions« Der Klassische Utilitarismus nimmt in dieser Hin-
(Hume 1751/1963, 280–281). In allen wohl gerate- sicht einen radikalen Kurswechsel vor. Die Richtig-
1. Glück in der britischen Moralphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts 169

keit oder Falschheit einer Handlung bemisst sich tion Vorstellungen bestimmter Handlungsweisen
ihm zufolge einzig und allein an dem Nutzen, dem mit Lust oder Unlust besetzt werden. Durch diesen
allgemeinen Glück, das sie hervorbringt. Rückgriff wurde es Mill möglich, im Rahmen eines
Jeremy Bentham, der Gründervater des Klassi- psychologischen Hedonismus zu erklären, warum
schen Utilitarismus, wird zugleich als der letzte briti- unser Handeln nicht strikt auf eigenen Lustgewinn
sche Moralist gezählt. Bentham war ein systemati- orientiert ist. Lust ist nicht nur ein Handlungsziel,
scher Kopf, der das Nutzenprinzip mit großer Kon- sondern auch eine Handlungsursache. Die Sozialisa-
sequenz auf Recht und Moral anwendete und in tion kann eine große Bandbreite von Vorstellungen
mehrfacher Hinsicht mit den Theorien des morali- mit Unlust oder Lust assoziieren. Menschen sind da-
schen Sinns brach. Er ging erstens davon aus, dass her nach Mill keine reinen Eigennutzmaximierer,
moralisches Urteilen auf der Anwendung von Re- sondern auch (in hohem Maße) ›programmgesteu-
geln beruht. Diese Anwendung ist eine Sache der erte‹, durch erlernte Regeln und erworbene Disposi-
Vernunft, insofern sie Kalkulation und Subsumtion tionen gesteuerte Wesen.
verlangt. Zweitens belebte er den psychologischen Eine zweite wichtige Weiterentwicklung, die Mill
Hedonismus wieder und verknüpfte ihn mit dem gegenüber Bentham vornahm, betraf nicht den psy-
werttheoretischen. »Nature has placed mankind un- chologischen, sondern den werttheoretischen Hedo-
der the governance of two sovereign masters, pain nismus. Während Bentham davon ausging, dass
and pleasure. It is for them alone to point out what Lust- und Unlustquanten aller Art miteinander ver-
we ought to do, as well as to determine what we shall rechenbar sind, nahm Mill an, dass aus Sicht der Ak-
do«, heißt es gleich zu Beginn seiner An Introduction teure gewisse Lustarten absoluten (lexikographi-
to the Principles of Morals and Legislation (1789/1962, schen) Vorrang genießen; das heißt, Menschen sind
1). Und drittens interpretierte er, was Menschen als nicht bereit, auf den Zugang zu gewissen Formen
Lustgewinn erleben, in der Tradition von Mandeville von Lust zugunsten beliebiger Mengen anderer Lust-
und Hobbes, der zufolge die Menschen primär nach arten zu verzichten. Mill fasste diesen Punkt in dem
der Kontrolle über materielle Güter streben. Der Er- oft zitierten Satz: »It is better to be a human being
werb dieser Güter ist mit Lust- und Unlustquanten dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates
verbunden, die sich hinsichtlich ihrer Intensität, dissatisfied than a fool satisfied« (1861/1969, 212).
Dauer, Eintretenswahrscheinlichkeit und zeitlichen Für diese Position hat sich der Name ›qualitativer
Entfernung unterscheiden können. Nach Bentham Hedonismus‹ eingebürgert; passender wäre die Be-
verrechnet der Akteur die Erwartungen über Lust- zeichnung perfektionistischer Hedonismus, war Mill
und Unlustquanten miteinander und bildet so Mo- doch überzeugt, dass Menschen ein tiefes Interesse
tive (1781/1962, 46 ff.). Handeln wird somit durch an der Nutzung ihrer höher entwickelten Fähigkei-
die Erwartung über den Erwerb einer homogenen, ten haben (vgl. Kuenzle/Schefczyk 2009, 37 ff.).
quantifizierbaren und daher auch maximierbaren Als zentrale Quellen menschlichen Unglücks be-
Größe ausgelöst: Menschen sind Eigennutzmaximie- zeichnet er – neben äußeren Umständen, wie Zwang,
rer. Diese Sichtweise hat großen Einfluss auf das öko- Krankheit und Armut – Selbstsucht und Gleichgültig-
nomische Denken ausgeübt (s. Kap. VIII.7). keit (»want of mental cultivation«); wer zu Empathie
Benthams Verkürzungen und Entdifferenzierun- und Interesse an den Dingen der Welt fähig ist, hat
gen des Glücksbegriffs rückgängig zu machen, war nach Mill die wesentlichen Voraussetzungen, um ein
eines der dringlichsten Anliegen John Stuart Mills, gelingendes Leben zu führen: »A cultivated mind – I
des ältesten Sohns von James Mill, einem Gelehrten do not mean a philosopher, but any mind to which
und Freund Jeremy Benthams. Der junge Mill kriti- the fountains of knowledge have been opened […] –
sierte, dass Bentham zufolge Handlungen ausschließ- finds sources of inexhaustible interest in all that sur-
lich durch Erwartungen (über maximalem Lustge- rounds it; in the objects of nature, the achievements
winn) motiviert würden. Mill meinte dagegen, dass of art, the imaginations of poetry, the incidents of
der Gedanke an bestimmte Handlungsweisen selbst history, the ways of mankind past and present, and
Lust oder Unlust nach sich ziehen kann und dass their prospects in the future« (1861/1969, 216). Vor-
diese Lust- oder Unlustzustände Handlungen auszu- aussetzung des Glücks ist daher, wie Mill immer wie-
lösen vermögen (Mill 1833/1969, 12). Im Hinter- der betont, Erziehung im Sinne einer Kultivierung
grund dieser Überlegung steht die assoziationspsy- der Fähigkeit zu Empathie und Anteilnahme an den
chologische Annahme, dass im Laufe der Sozialisa- Dingen der Welt. Diese Kultivierung soll es den Indi-
170 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

viduen ermöglichen, sich den ihnen innewohnen Shaftesbury bis Mill zugunsten der Sympathie und
Tendenzen gemäß zu entwickeln (»according to the des Wohlwollens vorgetragen worden sind: »the sel-
tendency of the inward forces«; 1859/1977, 263). Die fish man misses the sense of elevation and enlarge-
menschliche Natur sei nicht wie eine zu konstruie- ment given by wide interests; he misses the more se-
rende Maschine, sondern wie ein Baum, der sich in- cure and serene satisfaction that attends continually
dividuell entfalten will. Die Ausübung von äußerem on activities directed towards ends more stable in
Zwang und Konformitätsdruck, sei es durch den prospect than an individual’s happiness can be; he
Staat oder die öffentliche Moral, ist daher nach Mill misses the peculiar rich sweetness, depending upon
unglücksträchtig. Zwang ist entsprechend nur dann a sort of complex reverberation of sympathy, which
legitim, wenn er dazu dient, Dritte vor Schaden zu is always found in services rendered to those whom
bewahren. we love and who are grateful« (1874/1907, 501).
Henry Sidgwicks im Jahr nach Mills Tod erschie- Doch ändert all dies ihm zufolge nichts daran, dass
nenen Methods of Ethics (1874) sind ein für seinen keine vollständige Koinzidenz zwischen den Forde-
Tief- und Scharfsinn bewundertes Werk, das in einer rungen des egoistischen und des universalistischen
Aporie endet: dem unauflöslichen Konflikt zwischen Hedonismus besteht – und damit bleibt die Frage of-
dem, was Sidgwick egoistischen und universalisti- fen, ob das Individuum in derartigen Fällen (einen
schen Hedonismus (Utilitarismus) nennt. Sidgwick vernünftigen) Grund hat, im Sinne des Utilitarismus
war werttheoretischer, aber nicht psychologischer zu handeln und das allgemeine Glück zu fördern.
Hedonist. Das Leben einer Person ist in dem Maße
gut, in dem freudvolle Erfahrungen leidvolle über- Britischer Idealismus: T. H. Green
wiegen; jedoch unterstellte Sidgwick nicht, dass jede
und das Glück der Selbstentwicklung
Person stets nur ihr eigenes Glück fördern wolle. Das
von ihm so genannte »Paradox des hedonistischen Während Sidgwick in Cambridge die Entwicklung
Egoismus« besagt, dass unser Glück in der Regel Ne- des Klassischen Utilitarismus vollendet und die
benprodukt von Tätigkeiten sei, die nicht auf das Reihe der großen Philosophen-Ökonomen fortsetzt,
Glück abzielten. ist das damalige Oxford eine Hochburg des Briti-
Anders als die Philosophen des 18. Jahrhunderts, schen Idealismus. Dessen wohl herausragendster
behandelt Sidgwick es als offene Frage, welches rela- Vertreter war Thomas Hill Green (1836–1882; vgl.
tive Gewicht egoistische und altruistische Wünsche Brink 2003). In seinem postum erschienenen Haupt-
für das Handeln einer Person haben und worin das werk Prolegomena to Ethics (1883) vollzieht er einen
Endziel eines vernünftig handelnden Individuums bewussten Bruch mit der empiristisch-naturalisti-
liegen sollte. Wird es bestrebt sein, seinen eigenen schen Tradition. Empirismus und Naturalismus lau-
oder den allgemeinen Nutzen zu maximieren? Zwar fen nach Green geradewegs auf eine unhaltbare he-
kann jedes Individuum einsehen, dass sein eigenes donistische Konzeption menschlichen Glücks zu. So
Glück »vom Standpunkt des Universums« aus be- wie Hume seine Treatise of Human Nature mit dem
trachtet, nicht mehr zählt als das Glück einer beliebi- Abschnitt »Of the Understanding« beginnt, eröffnet
gen anderen Person. Sidgwick erwägt und verwirft Green die Prolegomena mit einem durch Kant und
in diesem Zusammenhang ein Argument, das Derek Hegel inspirierten Abschnitt über die »Metaphysics
Parfit in seinem legendären Reasons and Persons of Knowledge«. Dem Wissen und der Natur, so
(1984) aufgegriffen und zu verteidigen versucht hat: Green, liegt ein spirituelles (materialistisch nicht zu
dass wir mit unterschiedlichen Lebensphasen unse- erklärendes) Prinzip zugrunde: Natur ist das Pro-
rer selbst nicht notwendigerweise stärker verbunden dukt mentaler Operationen. Wenn es die Erkenntnis
sind als mit anderen Personen innerhalb einer Le- einer objektiven Natur geben soll, so muss es nach
bensphase. Im Gegensatz zu Parfit kommt Sidgwick Green ein Subjekt der Erkenntnis, ein Selbst, geben,
aber zu dem Schluss, dass der hedonistische Egois- das nicht – wie Hume meinte – ein bloßes Bündel
mus nicht durch die Analogie zwischen inter- von Wahrnehmungen darstellt. Diesem Selbst sind
temporaler und interpersoneller Nutzenverteilung alle Tatsachen und Beziehungen zwischen Tatsachen
ausgehebelt werden kann (Sidgwick 1874/1907). bewusst, welche die Welt insgesamt bilden. Das
Sidgwick geht es hier um einen Punkt, der die Ver- menschliche Wissen ist der schrittweise und unvoll-
nünftigkeit eines Strebens nach dem allgemeinen kommene Nachvollzug eines bereits ewig bestehen-
Glück berührt. Er teilt alle Erwägungen, die von den Bewusstseins, in dem die Natur gegeben ist.
1. Glück in der britischen Moralphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts 171

Green schwebt eine Form von Absolutem Idealismus Carlyle, Thomas: On Heroes, Hero-Worship, & the He-
vor, die Ähnlichkeiten mit demjenigen Hegels auf- roic in History [1841]. Berkeley u. a. 1993.
weist. Seine Konzeption von einem Selbst, das nicht Darwall, Stephen: The British Moralists and the Internal
die Summe von Vorstellungen und Wünschen ist, ›Ought‹: 1640–1740. Cambridge 1995.
sondern eine evaluierende und reflektierende In- Green, Thomas Hill: Prolegomena to Ethics [1883]. (Hg.
stanz, bestimmt auch seine Theorie des Guten. Ihr David O. Brink). Oxford 2003.
zufolge ist das Endziel des menschlichen Lebens die Hobbes, Thomas: Leviathan or The Matter, Forme, &
Vervollkommnung der Fähigkeit zu vernünftiger Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Ci-
Überlegung und Kontrolle. Ähnlich wie Mill, dessen vill [1651]. London 1968.
Hume, David: A Treatise of Human Nature [1739–40].
psychologischen und werttheoretischen Hedonis-
New York 2000.
mus er in den Prolegomena einer detaillierten Kritik
–: An Enquiry Concerning the Principles of Morals
unterzieht, ist Green Perfektionist. Doch argumen-
[1751]. In: Ders.: Enquiries Concerning Human Un-
tiert er, dass der Perfektionismus mit dem Hedonis-
derstanding and Concerning the Principles of Mo-
mus unvereinbar ist und Mill folglich eine inkonsis-
rals. Reprint der postumen Edition von 1777. Oxford
tente Position entwirft, die zugunsten eines idealis- 1963, 167–323.
tischen Perfektionismus aufgelöst werden kann und Hutcheson, Francis: Inquiry into the Original of our
muss. Einer seiner wesentlichen Kritikpunkte am Ideas of Beauty and Virtue [1725] (Hg. Wolfgang
Hedonismus lautet, dass – bei genauer Betrachtung – Leidhold). Indianapolis 2004.
das hedonistische Kalkül aufgrund des ephemeren Kuenzle, Dominique/Schefczyk, Michael: John Stuart
Charakters von Lust- und Unlustzuständen nicht Mill zur Einführung. Hamburg 2009.
sinnvoll ist (Green 1883/2003, 268 ff.). Locke, John: An Essay Concerning Human Understan-
So lässt sich, vereinfachend und zuspitzend, sagen, ding [1689]. London 1997.
dass mit Green die mehr als zweihundertjährige Do- Mandeville, Bernard: The Fable of the Bees: or, Private
minanz der hedonistischen Glücksphilosophie an Vices, Publick Benefits [1714]. Faksimile der von F. B.
ihr Ende gelangt. Jedoch erwies sich der von Green Kaye kritisch edierten und kommentierten Ausgabe
angebotene Gegenentwurf eines metaphysisch ge- von 1924. Indianapolis 1988.
stützten Perfektionismus als nicht tragfähig. Der Mayo, Thomas Franklin: Epicurus in England 1650–
analytisch-antimetaphysische Stil, der sich bereits 1725. Dallas, TX 1934.
bei Sidgwick abzuzeichnen beginnt, radikalisiert sich Mill, John Stuart: Remarks on Bentham’s Philosophy
zu Beginn des 20. Jahrhunderts in mehreren Schrit- [1833]. In: Ders.: Collected Works. Bd. X (Hg. J. M.
ten und entzieht damit nicht nur dem moralischen Robson). Toronto 1969, 3–18.
Perfektionismus Greens, sondern phasenweise der –: On Liberty [1859]. In: Ders.: Collected Works. Bd.
gesamten praktischen Philosophie den Boden. Erst XVIII (Hg. J. M. Robson). Toronto 1977, 213–310.
gegen Mitte des 20. Jahrhunderts öffnet sich die ana- –: Utilitarianism [1861]. In: Ders.: Collected Works. Bd.
lytische Tradition wieder für den unvergleichlichen X (Hg. J. M. Robson). Toronto 1969, 203–259.
Nieli, Russel: Spheres of Intimacy and the Adam Smith
Reichtum der britischen Moralphilosophie im 18.
Problem. In: Journal of the History of Ideas 47 (1986),
und 19. Jahrhundert (Darwall 1995).
611–624.
Parfit, Derek: Reasons and Persons. Oxford 1984.
Raphael, David Daiches (Hg.): British Moralists 1650–
Literatur
1800. 2 Bd. [1969]. Indianapolis/Cambridge 1991.
Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of –: The Impartial Spectator. Adam Smith’s Moral Philo-
Morals and Legislation [1789]. In: The Works of Je- sophy. Oxford 2007.
remy Bentham. Volume I. Basierend auf der Bowring Sarasohn, Lisa T.: Gassendi’s Ethics. Freedom in a Me-
Edition von 1838–1843. New York 1962, 1–154. chanistic Universe. Ithaca/London 1996.
Brink, David O.: Perfectionism and the Common Good. Schrader, Wolfgang H.: Ethik und Anthropologie in der
Themes in the Philosophy of T. H. Green. Oxford Englischen Aufklärung. Der Wandel der Moral-
2003. Sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Studien
Butler, Joseph: Five Sermons Preached at the Rolls Cha- zum Achtzehnten Jahrhundert. Bd. 6. Hamburg 1984.
pel and a Dissertation upon the Nature of Virtue Selby-Bigge, Lewis Amherst (Hg.): British Moralists:
[1726] (Hg. und ausgewählt Stephen Darwall). India- Being a Selection from Writers Principally of the
napolis 1983. Eighteenth Century. 2 Bd. Oxford 1897.
172 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

Shaftesbury, Anthony (Third Earl of): An Inquiry Con-


cerning Virtue and Merit [1699]. In: Ders.: Characte-
2. Glück, Revolution
risticks of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 2. Ba- und revolutionäres Denken
sierend auf der 6. Auflage (1737–1738). Indianapolis
2001, 1–100.
im 18. Jahrhundert.
–: Sensus Communis: an Essay on the Freedom of Wit Philosophisch-politische
and Humour [1709]. In: Ders.: Characteristicks of
Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 1. Basierend auf
Diskurse in den USA
der 6.Auflage (1737–1738). Indianapolis 2001, 37– und in Frankreich
93.
Sidgwick, Henry: Methods of Ethics [1874]. Chicago
7
1907.
Revolutionäre Koinzidenz des Glücks
Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments [1759].
Amherst 2000.
–: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth Zu den merkwürdigen Koinzidenzen der Philoso-
of Nations [1776]. (Hg. R. H. Campbell/A. S. Skinner). phie und Politik des 18. Jahrhunderts gehören die
2 Bde. Indianapolis 1976. Anrufungen des Glücks, die sich bei Thomas Jeffer-
Willey, Basil: The English Moralists. London 1965. son und Saint-Just finden. 1776 bezeichnete Jeffer-
son in seinem Entwurf zur Unabhängigkeitserklä-
Michael Schefczyk rung der USA den »pursuit of happiness« neben
»life« und »liberty« als ein unveräußerliches Recht
des Menschen. Nah und fremd neben dieser Formel
steht der Ausruf des Jakobiners Saint-Just wenige
Monate vor dessen Enthauptung in einer Rede vom
3. März 1794: »Le bonheur est une idée neuve en Eu-
rope!« – »Das Glück ist eine neue Idee in Europa!«
(Saint-Just 2004, 673; Fischer 1977, 377 [Übers. ge-
änd.; d. Verf.]).
Jefferson hat sich rückblickend darüber gewun-
dert, dass Napoleon, der »Millionen von Armen« in
den Tod geführt habe, einen besseren Ruf habe als
Robespierre, zu dessen Opfern »Tausende von Rei-
chen« gehört hätten (Jefferson 1785/1984, 1272).
Doch gibt es wenige Gemeinsamkeiten zwischen
dem Politiker, Philosophen und Plantagen-Besitzer
Jefferson (1743–1826) und Saint-Just (1767–1794),
dem Weggefährten Robespierres, Poeten und Kriegs-
mann. Es drängt sich die Frage auf, welche theoreti-
schen Voraussetzungen jenen verschiedenen Anru-
fungen des Glücks zu Grunde liegen. Die Devise, an
die man sich zu halten hat, lautet: »In Zeiten der Re-
volution, in denen Verderbtheit und Tugend so große
Bedeutung haben, ist es entscheidend, alle Prinzipien
und alle Definitionen präzise zum Ausdruck zu brin-
gen« (Saint-Just 2004, 1090). Gemäß dieser Empfeh-
lung – sie entstammt einem Fragment Saint-Justs von
1793/94 – sollen die philosophisch-politischen De-
batten rekonstruiert werden, die im 18. Jahrhundert
diesseits und jenseits des Atlantiks, vor allem – aber
nicht nur – in Frankreich und den USA um das Glück
geführt worden sind (für die Diskussion in Großbri-
tannien s. Kap. V.1 und in Deutschland Kap. V.3).
2. Glück, Revolution und revolutionäres Denken im 18. Jahrhundert 173

Jeffersons »pursuit of happiness« wörtlich findet Jefferson hier vorformuliert, was von
im Kontext ihm zum »pursuit of happiness« verdichtet wird (vgl.
als immer noch instruktive Materialsammlung Gan-
Der amerikanische Dichter Robert Frost (1874– ter 1936; sowie Wills 1978, 241–255; Lewis 1991).
1963) bezieht sich in seinem Gedicht The Black Cot- Kein Zweifel: Wenn in den USA individuelle
tage auf »the hard mystery of Jefferson’s«: »What did Rechte ausgerufen werden, so geschieht dies immer
he mean?« Und er schreibt weiter: »Of course the auch mit Bezug auf Locke. Jefferson zählt ihn neben
easy way / Is to decide it simply isn’t true. / It may not Bacon und Newton zu den »three greatest men that
be. I heard a fellow say so. / But never mind, the have ever lived« (Jefferson 1785/1984, 939; zum
Welshman got it planted / Where it will trouble us a Streit um Lockes Einfluss auf Jefferson vgl. Becker
thousand years. / Each age will have to reconsider it« 1922; Howard 1986/2001, 112, 123, 339; Wills 1978,
(Frost 1963, 22). Die langlebige Faszination der For- XXVI, 169 ff., 240 ff.). Auch ist Jefferson dem Eigen-
mel vom »pursuit of happiness« hängt mit dem Ort tum keineswegs abgeneigt: In einem Brief an Madi-
zusammen, an dem Jefferson sie deponiert hat. In ei- son, geschrieben im revolutionären Paris des Sep-
nem politischen Dokument erster welthistorischer tember 1789, heißt es nüchtern: »Persons and pro-
Güte wird in direkter Verbindung zu ›Rechten‹ etwas perty make the sum of the objects of government«
angesprochen, was notorisch schwer zu greifen und (Jefferson 1785/1984, 963). Gleichwohl wandelt Jef-
festzuschreiben ist: das Glück. Es ist in einer Weise ferson Lockes Dreiklang ab und lässt das Streben
auslegungsbedürftig, wie man sich dies bei einem nach Glück an die Stelle des Eigentums treten. Zwei-
Dokument dieser Art eigentlich verbitten möchte. fellos steht dahinter auch ein Vorbehalt gegen die
Die schier unübertreffliche »Wirkung«, die schon ökonomistische Einengung individueller Rechte. Jef-
John Adams dem »Coup de Theatre« (sic!) Jeffer- ferson zieht es offenbar vor, sich mit dem »pursuit«
sons, also der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli in den reich entfalteten Diskurs zur Vervollkomm-
1776, zuerkannte (vgl. Ellis 2000, 212), verbreitet den nung oder ›Perfektibilität‹ des Menschen einzuglie-
Anschein, die Formel vom »pursuit of happiness« sei dern, zu dem Rousseau, Benjamin Franklin, später
dessen eigene Erfindung. Dieser Anschein verfliegt auch Condorcet und andere Beiträge geleistet ha-
freilich, wenn man den intellektuellen Nährboden ben.
untersucht, von dem Jefferson gezehrt hat. Freilich ist Lockes ursprüngliche Formel von Le-
Schaut man sich im Vorfeld der Unabhängigkeits- ben, Freiheit und Eigentum so vielfältig variiert und
erklärung um, so gelangt man statt an »life, liberty, abgewandelt worden, dass Jeffersons neue Version
and the pursuit of happiness« zunächst an einen an- keineswegs als direkter Affront gegen Locke inten-
deren Dreiklang, nämlich – im Originalton von John diert gewesen sein muss. Dieser Affront würde im
Locke (1632–1704) – an »Life, Liberty, and Estate« Übrigen deshalb ins Leere gehen, weil Locke selbst
(Locke 1690/1988, 323) oder, wie es in der Nachfolge die Formel vom »pursuit of happiness« gar nicht
häufig heißt, ›life, liberty, and property‹. Sichtet man fremd ist; er verwendet sie sogar selbst – freilich
die Verfassungen der Einzelstaaten der USA, so er- nicht mit Blick auf politische Rechte, sondern im Es-
klingt mal der eine, mal der andere Dreiklang, say Concerning Human Understanding bei der Cha-
manchmal auch ein Vierklang aus Leben, Freiheit, rakterisierung des individuellen Lebens. Das Indivi-
Eigentum und Streben nach Glück (Jones 1953, 25). duum soll demnach nicht auf kurzfristige, quasi-ani-
Dieser Vierklang findet sich auch in der nächsten malische Befriedigung setzen, sondern sich durch
Vorlage, die Jefferson bei der Abfassung der Unab- bewusste Abwägungen und Absichten hervortun:
hängigkeitserklärung bekannt ist, nämlich in der Den »pursuit of happiness« wird, wie Locke schreibt,
»Bill of Rights« seines Heimatstaates Virginia, die am niemand als »abridgment of Liberty« ansehen: »The
12.6.1776 in Williamsburg verabschiedet wird. In stronger ties, we have, to an unalterable pursuit of
diesem Text, der nach Jeffersons Abreise nach Phila- happiness in general, which is our greatest good, […]
delphia vor allem von George Mason verfasst wird, the more are we free […] from a necessary compli-
heißt es »that all men […] have certain inherent ance with our desire, set upon any particular, and
rights […]; namely, the enjoyment of life and liberty, then appearing preferable good, till we have duly
with the means of acquiring and possessing property, examin’d, whether it has a tendency to, or be incon-
and pursuing and obtaining happiness and safety« sistent with our real happiness« (Locke 1689/1975,
(Jones 1953, 11 f.; Jefferson 1989, 464). Fast wort- 265 f.). Mit Locke kann man demnach das Glück em-
174 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

piristisch oder sensualistisch an die Steigerung von insgesamt (s. Kap. II.9). Diese Wohlfahrt firmiert
›pleasure‹ und die Minderung von ›pain‹ knüpfen, auch in der Präambel der US-amerikanischen Ver-
darüber hinaus kann man es, wie die zitierte Stelle fassung des Jahres 1787: »We the People of the Uni-
zeigt, liberalistisch an die individualistische Selbst- ted States […] promote the general Welfare«.
bestimmung knüpfen, die mit dem »pursuit« assozi- Auch Jefferson selbst beschränkt sich nicht darauf,
iert ist. das Glück im Horizont des Individuums zu verorten
Tatsächlich ist nicht nur bei Locke, sondern bei und dessen möglichst ungestörte Entfaltung im klas-
vielen anderen vor Jefferson vom »pursuit of happi- sischen liberalen Sinne vor dem staatlichen Zugriff
ness« die Rede, so etwa bei Samuel Johnson und zu schützen. Er kennt das Glück in zwei Varianten:
Francis Hutcheson (vgl. Ganter 1936, 564 ff.). In ei- als »particular« oder »private happiness«, aber auch
nem Gedicht »Upon Happiness« von James Thom- als »general happiness« (Jefferson 1785/1984, 587,
son aus dem Jahr 1720 ist die Rede vom »pursuit of 85; zu Individualismus und Gemeinschaftsgeist in
bliss« (zit. nach Wills 1978, 246); Adam Smith spricht, den USA vgl. Tocqueville 1835–40/1987, Bd. 2,
etwas umständlicher, vom »wise and prudent pur- 147 ff., 206 ff., 460 ff.).
suit of our own real and solid happiness« (Smith Die Berufung auf ein allgemeines, kollektives oder
1759/2002, 314). All diese Formulierungen – auch öffentliches Glück ist in der Politik, im Naturrechts-
die Jeffersons – haben ihre Pointe darin, das Glück denken und in der Staatswissenschaft des 18. Jahr-
an den »pursuit« als eine reflektierte, intentionale hunderts insgesamt sehr verbreitet; doch sehr unter-
Gestaltung des individuellen Lebens zu binden. Von schiedliche Dinge werden damit bezeichnet. So
hier aus führt gar eine Linie zurück zu der sokrati- schreibt Justi als Vertreter der deutschen »Policey-
schen These, das Nachdenken über das Gute habe als wissenschaft« im Jahr 1756, die »Policey« habe die
wesentlicher Bestandteil des guten Lebens selbst zu Aufgabe, »die Glückseeligkeit des gemeinen Wesens
gelten. [zu] beförder[n]« (Justi 1756, 4; mit dem »gemeinen
Dieser Ansatz steht gegen eine Deutung des »pur- Wesen« ist das Gemeinwesen und nicht, wie Fou-
suit of happiness«, wonach das Glück als Bedürfnis- cault zu meinen scheint, der Untertan gemeint; vgl.
befriedigung konzipiert wird und man zwischen ei- Foucault 2004, 471). Die Rede ist bei Justi auch von
nem glücklosen, auf das Glück nur ausgerichteten der »gemeinschaftlichen Glückseeligkeit« (Justi
»pursuit« und einem Zustand, in dem man das Glück 1756, 7; zu dessen »grundlegende[r] Umorientierung
erreicht hat und also den »pursuit« einstellen kann, des staatlichen Handelns« gemäß dem »Glückselig-
hin und her schwankt. Dass diese Deutung eher dazu keitspostulat« vgl. Simon 2004, 510). Die »Glückse-
führt, dass der »pursuit« immer wieder ins Leere ligkeit des Ganzen« wird mit dem »Wolseyn der Pri-
läuft und die Zustände der Erfüllung fadenscheinig vatpersonen« zusammengedacht (Scheidemantel
werden, hat Alexis de Tocqueville (1805–1859) in 1775, 95; vgl. Klippel 2005, 127). Hinter dieser Aus-
seinem Amerika-Buch auf treffende und bedrü- richtung am Glück steckt die Kritik an feudalisti-
ckende Weise beschrieben: Er trifft dort auf Men- scher Willkür, von der sich auch Jefferson leiten lässt,
schen, die »in den glücklichsten Verhältnissen der wenn er dem Adel eine »inconsistence with reason
Welt leben« und doch von Rastlosigkeit, »Unruhe« and right« vorwirft (Jefferson 1785/1984, 83).
oder einer seltsamen Traurigkeit umgetrieben wer- Auch die französischen Physiokraten, die für Jef-
den (Tocqueville 1835–40/1987, Bd. 2, 201 f.). fersons Kombination von landwirtschaftlicher Aut-
Es ist wohlgemerkt das Streben nach Glück, das arkie und politischer Autonomie (Jefferson 1785/
die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zum 1984, 290; 1989, 342) eine wichtige Inspirations-
Recht erhebt; es wird nicht (wie häufig in utopischen quelle sind, halten sich an Gemeinwohl und Glück.
Gesellschaftsentwürfen s. Kap. II.11) das Glück zum Morelly entwirft einen »automate de la société«, in
Staatsziel erklärt. Diese Zurückhaltung gegenüber dem »Harmonie« herrschen soll, das »Gemeinwohl«
dem Glück wird in den USA aber nicht durchweg (»bien commun«) gesichert wird und die Menschen
aufrechterhalten. In der bereits erwähnten »Bill of »sich gegenseitig zum Glück verhelfen« (Morelly
Rights« des Staates Virginia von 1776 wird von der 1755, 26, 28). In der französischen Variante der Poli-
Regierung gefordert, sie solle »capable of producing zeiwissenschaft, die u. a. von Nicolas Delamare ent-
the greatest degree of happiness and safety« sein. wickelt worden ist, wird die »félicité« der Untertanen
Dieses Glück steht über die individuelle Lebensfüh- mit »utilité commune«, »bien public« und »bonheur
rung hinaus für die Wohlfahrt des Gemeinwesens des Estats« zusammengenommen (Delamare 1705,
2. Glück, Revolution und revolutionäres Denken im 18. Jahrhundert 175

o. Pag. [aus der einleitenden Epistel an den König]; and domestic enjoyment« wie auch zu »political hap-
vgl. Guéry 1997, 4563; Foucault 2004, 470). Noch piness«: »At this auspicious period, the United States
weitere Stimmen zur Verbindung von Staat und came into existence as a Nation, and if their Citizens
Glück wären anzuführen, so etwa die des Staatstheo- should not be completely free and happy, the fault
retikers Giovanni Antonio Palazzo (vgl. Guéry 1997, will be intirely [sic!] their own« (Washington 1997,
4566; Foucault 2004, 369–377). 516 f.; vgl. Thomä 2003, 132).
All diese Konzeptionen gemeinschaftlicher Glück- Wie Jeffersons eigene Erläuterungen und Wa-
seligkeit taugen als Gegenentwurf zur Willkür feu- shingtons heute sperrig klingende Rede vom »politi-
daler Potentaten. Doch sie laden auch ein zu einer schen Glück« belegen, steht der »pursuit of happi-
Bevormundung, mit der das individuelle Wohlerge- ness« nicht für eine Entpolitisierung oder Privatisie-
hen allgemeinen Vorgaben unterworfen wird; oft rung des Glücks. Besonders entschieden hat sich
enthält die Berufung auf das Gemeinwohl eine Spitze Hannah Arendt (1906–1975) zur Verteidigung des
gegen den Freiheitsspielraum oder das vermeintliche politischen Glücks aufgerufen gefühlt. Zugleich hat
Fehlverhalten des Individuums. sie beklagt, dass die Formel vom »pursuit of happi-
Wenn nun Jefferson, wie erwähnt, von »general ness« seit ihrer Proklamation als Freibrief für das
happiness« spricht, so ist ihm jene etatistische oder »Erwerbsstreben«, für das »sinnlose Treiben einer
paternalistische Tendenz freilich fremd. Was er da- Konsumgesellschaft«, für individualistische Nutzen-
mit im Sinn hat, lässt sich rekonstruieren, indem maximierung ausgelegt worden sei. Dagegen ver-
man auf einen Vorläufer Jeffersons zurückgeht, näm- weist sie darauf, »dass die ›freien Einwohner‹ Eng-
lich auf James Wilsons Considerations on the Nature lands nicht nur und nicht primär nach Amerika ka-
and Extent of the Legislative Authority of the British men, um ihr Glück, sondern um ihr öffentliches
Parliament aus dem Jahr 1774. Darin heißt es lako- Glück zu machen […]. Diese Männer wussten, dass
nisch: »the happiness of the society is the first law of ihr Glück im Leben nicht vollkommen war, wenn es
every government« (Wilson 1774/2007, 5). Wilson nur in einem von Glück gesegneten Privatleben be-
folgt dabei nicht der etatistischen Idee einer Glücks- stand« (Arendt 1963/1974, 163 f., 178). Arendt be-
herstellung von oben herab, vielmehr unterstellt er klagt, dass der private »Wohlstand« in den USA der
die Bestimmung des Glücks dem »consent« und der politischen »Freiheit« und dem mit ihr assoziierten
Kontrolle der Betroffenen. Im Lichte dieser Revision Glück den Rang abläuft (176). Was sie in Amerika als
lässt sich auch Jeffersons »general happiness« ein- eine Geschichte der »Verkümmerung und Deforma-
ordnen. Neben das »private happiness«, das im libe- tion« (285), des Verfalls oder Abfalls von der wahren
ralen Sinne durch Individualrechte geschützt wird, Lehre beschreibt, ist aus ihrer Sicht in Frankreich
tritt demnach die republikanische Idee des gemein- von Anfang an auf unerquickliche Weise verschränkt:
schaftlichen Zusammenwirkens der Bürger. Die revolutionäre Bewegung, auch die Demokrati-
Jefferson wehrt zum einen die staatlichen Zu- und sierung in Frankreich sieht sie von vornherein mit
Übergriffe auf die Individuen ab, die ungestört in der sozialen Frage kontaminiert. Arendt entgeht da-
den Genuss des »blessing of existence« kommen sol- bei die Einsicht, dass auch die Befriedigung materiel-
len: »the giver of life […] gave it for happiness & not ler Bedürfnisse im Rahmen einer Theorie der Frei-
for wretchedness«, schreibt er 1782 (Jefferson 1785/ heit reformuliert werden kann – eine Einsicht, die
1984, 779). Zum anderen gehört zum Glück derer, etwa in Franklin Delano Roosevelts berühmter Rede
welche »das Band der Gesellschaft vereint«, die Fä- vom 6. Januar 1941 über die »vier Freiheiten« zum
higkeit, um der gemeinsamen Sache willen zu »har- Ausdruck kommt, zu denen neben der Religions-
monisieren« (1785/1984, 211; 1989, 197). Das allge- und Meinungsfreiheit sowie neben der Sicherheit als
meine Glück wird auf die kooperative Initiative der »freedom from fear« auch die »freedom from want«,
Bürger, auf »manners and spirit of a people« (1785/ die »Freiheit von Not« zählt (Hunt 1995, 200 f.). Wie
1984, 291; 1989, 343) zurückgeführt. Auf der einen auch immer man dies bewerten mag, es hat sich ein-
Seite also werden die Individuen im liberalen Geist gebürgert, in Jeffersons Glücksbegriff eine Spannung
vom Staat abgerückt. Auf der anderen Seite fußt das zwischen »Privatinteressen und […] Gemeinwohl«
allgemeine Glück auf der republikanischen Teil- am Werk zu sehen (Arendt 1963/1974, 172), die mit
nahme der Bürger. Zugespitzt findet sich diese Dop- der Doppelung liberaler und republikanischer Tra-
pelung bei George Washington, der im Jahr 1783 ver- ditionen in den USA in Verbindung gebracht wird
kündet, die USA böten die Möglichkeit zu »private (McMahon 2006, 324 f., 330).
176 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

Das geschilderte liberal-republikanische Doppel- dert, vielmehr folgt er Hutchesons »moral sense«
porträt des »pursuit of happiness« bedarf jedoch ei- und verbindet im »pursuit of happiness« individu-
ner brisanten Korrektur. Es ist irreführend, Jeffer- elle und allgemeine Perspektiven. Das Glück wird
sons Lob des »öffentlichen Glücks« allein auf das re- nicht kollektiviert, es bleibt auf das Individuum be-
publikanische Bild einer Identifikation des Bürgers zogen; dieses befindet sich bei der Verfolgung seines
mit der Allgemeinheit zurückzuführen. Das nicht- Glücks auf einem Weg, den es mit anderen teilt.
private Glück verweist auf einen anderen Bezugs-
rahmen und führt über die erwähnte liberal-republi- Saint-Justs »neue Idee« des Glücks
kanische Doppelung hinaus. Erkennbar wird dieser
im Kontext
Bezugsrahmen, wenn man auf zwei Autoren zurück-
geht, die von Jefferson rezipiert worden sind. Zu den- Wenn man nun den Blick nach Frankreich wirft, so
ken ist an den Genfer Calvinisten und Naturrechtler sind zunächst im Vergleich mit den USA zwei Punkte
Jean-Jacques Burlamaqui (1694–1748), der die Herr- festzuhalten. Zum Ersten ist zur Kenntnis zu neh-
schaft des Souveräns nur dann als legitim ansieht, men, dass in der Französischen Revolution Glück,
wenn er sich auf das Ziel der »felicité des Peuples« Wohlfahrt und Gemeinwohl stärker auf materielle
(Burlamaqui 1764, Bd. 2, 44) verpflichtet; zu denken Not und Bedürftigkeit bezogen werden als dies bei
ist vor allem an den von Jefferson (Wills 1978, den gutsituierten Wortführern der amerikanischen
250) wie auch von Burlamaqui intensiv rezipierten Revolution der Fall ist (Furet/Richet 1966/1987, 112).
schottischen Moralphilosophen Francis Hutcheson Zum Zweiten stellt sich in der Französischen Revolu-
(1694–1747; s. Kap. V.1). Mit Hutcheson eröffnet sich tion dringlicher als in den USA die Frage nach den
ein alternativer Weg zum Verständnis jenes »general Institutionen, die zu der neuen politischen Ordnung
happiness«, von dem bei Jefferson die Rede ist. Es passen. Während in den USA die Institutionen erst
steht demnach nicht für ein letztlich abstraktes En- im Entstehen sind und gar schon Jefferson entschie-
gagement für die Allgemeinheit, sondern basiert auf den vor einer zu starken Regierung warnt, kommen
der Neigung, die die Menschen zu Wohlwollen und die Revolutionäre in Frankreich gar nicht umhin,
Teilhabe untereinander anstiftet. Hutcheson be- sich offensiv mit den etablierten Institutionen und
stimmt »benevolence« als »the Desire of the Happi- deren Verwandlung zu befassen. Die Neukonzeption
ness of another« (Hutcheson 1725/2004, 219; 1725/ staatlicher Souveränität steht spätestens seit Rous-
1986, 34). In einer von der Forschung sträflich igno- seau, eigentlich schon seit Montesquieu auf der poli-
rierten, geradezu elektrisierenden Wendung spricht tischen Tagesordnung.
er sogar von »our Pursuit of their Happiness« (1725/ Gleichwohl wirkt Jeffersons Formel vom »pursuit
2004, 223; 1725/1986, 42). of happiness« in der französischen Diskussion kei-
In der Konsequenz der Generalisierung dieses neswegs wie ein Fremdkörper. Am einfachsten lässt
»moral sense« liegt die Sorge nicht nur für das Glück sich dies zeigen, indem man die erste französische
des anderen, sondern für – wie Hutchesons u. a. von Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung, die von
dem Utilitaristen Jeremy Bentham übernommene La Rochefoucauld nach Absprache mit Benjamin
Formel lautet – »the greatest Happiness for the grea- Franklin herausgebracht worden ist, mit einem Satz
test Numbers« (1725/2004, 125; 1725/1986, 71). Der aus dem »Encyclopédie«-Artikel über das Glück ver-
»pursuit of publick good« ist für Hutcheson ein genu- gleicht. Zu Jeffersons Formel »la vie, la liberté et le
iner Bestandteil des »promoting his own happiness« desir du bien-être« (Anon. 1778, 4) gesellt sich dann:
(Hutcheson 1728/2002, 143; vgl. Taylor 1989, 261). »Tous les hommes se réunissent dans le désir d’être
Man muss sich davor hüten, daraus eine pauschale heureux« – »Alle Menschen sind sich einig in dem
Harmonisierung des Konflikts zwischen Eigeninter- Wunsch nach Glück« (Naumann 1984, 136).
esse und Gemeinwohl abzuleiten. Doch Hutcheson Man hat behauptet, die Amerikaner hätten nur
zeigt, dass die Sorge um das Gemeinwohl nicht schon »ausgeführt«, was von französischen Schriftstellern
gleich – republikanisch – als Identifikation mit der vorgedacht worden sei (Tocqueville 1856/1969, 130),
Allgemeinheit ausgelegt werden muss, sondern in oder die Franzosen hätten bei der Lektüre von Jeffer-
individuellen Bezügen, ja sogar privaten Beziehun- sons Formel direkt »die Ideen« ihrer eigenen »Philo-
gen enthalten ist und in ihnen heranwächst. So argu- sophen« wiedererkannt (Mornet 1933/1967, 394).
mentiert Jefferson nicht geradewegs republikanisch, Diese Behauptungen sind ebenso übertrieben wie
wenn er die Beachtung des »public happiness« for- umgekehrt die Auskunft des Girondisten Brissot,
2. Glück, Revolution und revolutionäres Denken im 18. Jahrhundert 177

wonach die amerikanische die »Mutter« der Franzö- at Calais on the very eve / Of that great federal day;
sischen Revolution sei (zit. nach Echevarria 1957, […] / we […] found benevolence and blessedness /
167). Doch man darf von einer engen transatlanti- Spread like a fragrance everywhere, when spring /
schen Verschränkung der verschiedenen Diskurse Hath left no corner of the land untouched« (Words-
ausgehen (vgl. die Beiträge »Amerikanische Revolu- worth 1969, 532; vgl. Ozouf 1976, 95 f.).
tion«, »Menschenrechte« und »Revolution« in Furet/ In den zitierten politischen Gründungstexten geht
Ozouf 1988/1996, 961–978, 1180–1198, 1289–1307). es um das Glück eines Kollektivs, welches freilich
Jefferson hat Lafayette im Sommer 1789 bei dessen von der Beteiligung der Individuen abhängt. In sei-
Entwurf einer Erklärung der Menschenrechte bera- nen Reden vom 28. Januar 1793 und vom 13. März
ten und Condorcet entwirft unter dem Eindruck der 1794 versieht Saint-Just den Glücksbegriff zusätzlich
amerikanischen Revolution sowie nach dem Aus- mit einer Spitze gegen das Individuelle oder Private:
tausch mit Franklin und Jefferson eine politisch- »Einzelnes Glück und Eigeninteresse sind ein Ver-
rechtliche Ordnung, die er in den Dienst des stoß gegen die soziale Ordnung, wenn sie nicht Teil
»Glücks« stellt (Condorcet 1786/1847, 7, 21). des öffentlichen Interesses und Glücks sind« (Saint-
Wenn man mit Blick auf die USA Jeffersons be- Just 2004, 527). »Plötzlich wurde […] der Wunsch
rühmte Formel als Dreh- und Angelpunkt nutzen nach jenem Glück wiedererweckt, das im Vergessen
kann, so bietet sich mit Blick auf Frankreich ein an- der anderen und im Genuss des Überflüssigen be-
derer exponierter Satz als Ausgangspunkt an: Saint- steht. Das Glück! das Glück! hörte man rufen. Aber
Justs Ausruf vom 3. März 1794 »Das Glück ist eine wir haben Ihnen nicht das Glück von Persepolis ge-
neue Idee in Europa!« (s. Kap. V.8) Dieser Satz gibt boten; dieses Glück gehört auf die Seite der Verder-
Rätsel auf. Nicht nur fehlt in dem Zusammenhang, ber der Menschheit. Wir haben Ihnen das Glück von
dem er entstammt, eine nähere Begründung oder Sparta und Athen zu ihren besten Zeiten geboten,
Erläuterung, er wirkt überhaupt ziemlich abwegig. […] das Glück, […] die Republik zu begründen«
Saint-Just kann nicht im Ernst meinen, frühere Zei- (687). Saint-Just sucht hier wie auch sonst den Schul-
ten hätten vom Glück keine Ahnung gehabt. Er will terschluss mit Robespierre (1758–1794), der in sei-
wohl eigentlich sagen, dass es sich bei diesem Glück ner Rede vom 7. Mai 1794 sagt: »Es gibt zwei Arten
um eine »neue Idee« handle, weil es zum ersten Mal von Egoismus. Die eine ist gemein und grausam, iso-
in der Geschichte zu einem handlungsleitenden Ideal liert den Menschen von Seinesgleichen und trachtet
für die politische Praxis eines ganzen Volkes avan- ausschließlich nach einem Wohlbefinden, das nur
ciert ist (vgl. in diesem Sinne Hirschman 1986, 105 auf Kosten des Nächsten erlangt werden kann. Die
[»it was then novel to think that happiness could be andere ist großmütig und wohltuend und verbindet
engineered«]; Boulad-Ayoub 1989, 133; Linton 1999, unser Glück mit dem Glück aller […]. Das Ziel aller
47; Geuss 2002, 21). Bestätigt wird diese Lesart durch sozialen Einrichtungen ist es, die Leidenschaften des
die Formel vom »bonheur de tous« in der Präambel Menschen auf die Gerechtigkeit zu lenken, die das
der französischen Erklärung der Menschenrechte Glück der Allgemeinheit mit dem des Einzelmen-
vom 26. August 1789 und durch Artikel 1 der Verfas- schen verbindet« (Robespierre 1910–67, Bd. 10, 446;
sung vom 24. Juni 1793: »Le but de la société est le 1989, 659 f.; vgl. Vetter/Marin 2005).
bonheur commun.« – »Das Ziel der Gesellschaft ist Auch wenn Saint-Just, Robespierre sowie auch Ba-
das allgemeine Glück.« Die Idee des Glücks wird beuf und manch anderer das »Glück der Individuen
zum neuen Leitfaden der Bürger, die die Gestaltung und der ganzen Gesellschaft« (Robespierre 1910–
ihres Lebens und ihrer Lebensverhältnisse in die 1967, Bd. 5, 208) auf ziemlich brachiale Weise zu-
Hand nehmen. sammenzwingen, erschöpft sich darin – zum Glück!
Wie die Wirkung von Jeffersons Formel »pursuit – nicht der Beitrag Frankreichs zum Nachdenken
of happiness« weniger an deren Inhalt als vielmehr über das Glück im 18. Jahrhundert. Das Glück in sei-
an der Performanz eines politischen Aktes hängt, so ner individuellen Gestalt wird keineswegs nur igno-
verdankt sich Saint-Justs neues Glück der Perfor- riert oder okkupiert. Es ertönen so viele verschie-
manz, dem Ereignis der Revolution. Unversehens dene Stimmen zum Glück, dass Saint-Just in einem
liegt das Glück gewissermaßen in der Luft wie – mit Werk mit über 700 Seiten zu diesem Thema über-
William Wordsworth gesprochen – ein Duft. Im 6. haupt nicht erwähnt werden muss (Mauzi 1979). Im-
Buch seines Prelude beschreibt dieser seine Ankunft merhin zitiert der Autor aber eine Passage aus dem
in Calais am 13. Juli 1790: »[…] we chanced / To land Werk De la Sociabilité des Abbé Pluquet, in dem von
178 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

einer im 18. Jahrhundert einsetzenden »Revolution Auf die Verbindung von Genuss und Glück im
des menschlichen Geistes« die Rede ist, die nichts Zeichen der Diesseitigkeit stößt man beim engli-
anderes als das »Glück der Menschheit« zum »Ge- schen Empirismus ebenso wie beim französischen
genstand« habe (Pluquet 1767, Bd. 1, IX–XI; vgl. Materialismus des 18. Jahrhunderts. Zwar lehnt Hel-
Mauzi 1979, 256). Gemeint ist hier eine Offensive, vétius die Moral-Sense-Philosophen ab, er über-
die der Verbesserung der Lebensverhältnisse gewid- nimmt aber von Hutcheson die Devise vom »Glück
met ist und ihren gültigen Ausdruck in Condorcets der größten Zahl« (Helvétius 1772/1972, 271) sowie
These von den zwei Glücksquellen gefunden hat. von Locke den Sensualismus. Es gibt Entsprechun-
Condorcet schreibt: »Die generellen Quellen des gen zwischen Holbachs und Helvétius’ »utilité« und
Glücks, die dem Menschen in der Gesellschaft zur »intérêt« (Holbach 1770/1960, 229–233; Helvétius
Verfügung stehen, lassen sich in zwei Klassen auftei- 1772/1972, 113) und den entsprechenden Konzep-
len. Die erste umfasst all das, was die freie Ausübung ten in England. Jeremy Bentham (s. Kap. V.1) beruft
seiner natürlichen Rechte sicher stellt und ausweitet. sich in seiner Theorie der Glücksmaximierung aus-
Die zweite umfasst die Mittel, […] die unsere ersten drücklich auf Helvétius (Bentham 1962, Bd. 3,
Bedürfnisse verlässlicher und mit geringerem Auf- 286; vgl. Helvétius 1772/1972, 199). Die komplexe
wand befriedigen hilft und uns mit einer größeren Ordnung und Hierarchie von Handlungszielen und
Zahl von Genüssen versieht« (Condorcet 1786/1847, -bewertungen, wie sie etwa in der aristotelischen
5). Glücks-Teleologie vorgesehen ist (s. Kap. III.2), hat
Wenn man nun weiter auf die Vorgeschichte der sich, wie man sieht, in eine Beschreibung individuel-
Französischen Revolution, also auf die Genese jener ler Interessenlagen verwandelt.
»neuen Idee« des Glücks zurückgeht, so stößt man in Die Theorien, die das Glück an das Interesse und
erster Linie auf den Materialismus u. a. von Helvétius den Nutzen binden, fallen in zwei Gruppen ausein-
(1715–1771) und Holbach (1723–1789) sowie auf ander. Als Vertreter der ersten konventionalistischen
Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Gruppe legt Bernard de Mandeville (1670–1733) in
seiner Fable of the Bees höchsten Wert darauf, dass
Französischer Materialismus das individuelle Glück beliebig festlegbar und wan-
delbar ist. Es ergibt aus seiner Sicht keinen Sinn, ei-
Der revolutionäre Enthusiasmus einer Neugestal- nen festen Satz natürlicher Bedürfnisse festzulegen,
tung der Welt ist in Frankreich – wie auch in den vielmehr verdankt sich die ökonomische sowie auch
USA – nicht denkbar ohne eine Wertschätzung die- soziale und psychologische Dynamik der modernen
ser hiesigen Welt selbst. Der Herausgeber von Claude Gesellschaft der Tatsache, dass Bedürfnisse, Wün-
Adrien Helvétius’ großem, aus dem Nachlass veröf- sche und Interessen unendlich modellierbar und raf-
fentlichten Gedicht Le Bonheur lobt dessen Verfasser finierbar sind und die Menschen ihre »primitive
dafür, das Glück nicht ins »Exil des Himmels zu schi- simplicity« hinter sich gelassen haben: »The Com-
cken«, sondern es auf Erden suchen und sichern zu forts of Life are […] so various and extensive that no
wollen (Helvétius 1795, Bd. 13, 9 f.). Der Marquis de body can tell what People mean by them« (Mande-
Sade sekundiert: »Gib den Gedanken an eine andere ville 1714/1924, Bd. 1, 107 f., 145; 1714/1988, 94 f.,
Welt auf; es gibt keine; aber verzichte dagegen nicht 152).
auf die Freude, in dieser Welt glücklich zu sein und Gegen diesen konventionalistischen Ansatz setzt
andere glücklich zu machen« (de Sade 1989, 38). die zweite naturalistische Gruppe der französischen
Diese Hinwendung zum Diesseits, die die zahllosen Materialisten auf die Wissenschaft von der Natur
Traktate über das Glück in der Literatur des 18. Jahr- menschlicher Bedürfnisse. »Der Mensch ist nur da-
hunderts beflügelt und die Tatkraft der Revolutio- rum unglücklich, weil er die Natur verkennt«, so be-
näre stärkt, muss nicht zwingend mit dem Atheismus ginnt Paul Thiry d’Holbach sein System der Natur,
einhergehen, den etwa Helvétius vertritt. »Genie- und er beschließt es mit einer Predigt, die er die Na-
ßen« bedeutet nach Saint-Lambert, dem oben er- tur selbst halten lässt. Darin heißt es: »Ihr, die ihr auf
wähnten Helvétius-Herausgeber, nichts anderes, als Grund des Antriebs, den ich euch gebe, in jedem Au-
Gott zu »ehren«: Im Genuss tut man nur, was er »be- genblicke eures Lebens nach Glück strebt […], wi-
fiehlt« (»Jouir c’est l’honorer: jouissons, il l’ordonne«; dersetzt euch nicht meinem höchsten Gesetz. Seid
Saint-Lambert 1769, 55; vgl. Mornet 1933/1967, 110; auf Glückseligkeit bedacht; genießt ohne Furcht, seid
vgl. auch Blumenberg 1976, 196). glücklich […]. Kehre denn zurück, abtrünniges Kind;
2. Glück, Revolution und revolutionäres Denken im 18. Jahrhundert 179

kehre zurück zur Natur« (Holbach 1770/1960, 5, Es soll ein Prozess eingeleitet werden, in dem der
551). Weg zum Glück durch die Einsicht in natürliche
Holbach und seine Mitstreiter geben der Verbin- Notwendigkeiten gebahnt wird. Zu diesen Notwen-
dung zwischen dem individuellen und dem gesell- digkeiten gehören u. a. materielle Ressourcen, was
schaftlichen Glück eine Deutung, die sich sowohl direkt die politischen Forderungen der Umvertei-
von der Idee republikanischen Gemeinwohls wie lung von Reichtümern etc. nach sich zieht. Zu kurz
auch von der Idee sympathetischer Gemeinschaft- kommt in dieser Perspektive jedoch die Frage nach
lichkeit unterscheidet. Wenn der Mensch ein Natur- dem Verhältnis zwischen Glück und menschlicher
wesen oder auch eine »Maschine« ist (La Mettrie Freiheit. Es ist die Rückbiegung der Freiheit auf die
1748/1990), dann hängt er mit seinen Sinnen und Einsicht in eine Naturnotwendigkeit, die dieser Ma-
Bedürfnissen auf Gedeih und Verderb von den na- terialismus forciert; sie ist freilich schon früh z. B.
türlichen Gesetzen ab, denen sein Verhalten in der von Denis Diderot in seiner Helvétius-Kritik zu-
Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen un- rückgewiesen worden (Diderot 1961, Bd. 1, 176 f.).
tersteht (Helvétius 1772/1972, 112). Das Zusammen- Im jakobinischen »Wohlfahrtsausschuss« ist die
spiel von »intérêt personnel« und »intérêt général« Rückbiegung von Freiheit auf Natur präzise nachzu-
funktioniert nur dann, wenn diese Gesetze eingehal- vollziehen. Robespierres »Enthusiasmus der Frei-
ten werden (Helvétius 1795, Bd. 2, 249). So tritt heit« führt ihn zu der Absicht, ein »Meisterwerk der
das allgemeine Glück nicht etwa im Horizont von Gesellschaft« zu schaffen (Robespierre 1910–67, Bd.
Handelnden auf, die über eine republikanische Ge- 10, 459, 452; 1989, 675, 690 [Übers. geänd.; d. Verf.]),
sinnung verfügen oder zur ethischen Anteilnahme in dem das Glück nach den Vorgaben der Wissen-
bereit sind; vielmehr setzt es sich aus vielen mitein- schaft generiert und stabilisiert werden soll.
ander verbundenen physischen Glücks- oder Ge- Wenn die Revolutionäre sich auf die Natur einer-
nusszuständen zusammen. seits, die Freiheit andererseits berufen, dann drängt
Aus dem Szientismus der französischen Materia- es sich auf, auf denjenigen zurückzugehen, der beide
listen ergibt sich nicht automatisch die Vorstellung, Begriffe im 18. Jahrhundert so stark geprägt hat wie
man könne für alle Menschen die gleiche Art Glück kein anderer: auf Jean-Jacques Rousseau. Zu prüfen
vorsehen. Vielmehr sind natürliche Varietäten, also ist, wie das Glück im Spannungsfeld von Natur und
auch unterschiedliche Kombinationen von Genüs- Freiheit bei ihm verhandelt wird.
sen anzutreffen; auch wenn das Glück naturhaft be-
stimmbar ist, ergibt sich demnach eine Pluralität von Jean-Jacques Rousseau
Lebensverhältnissen und Glücksumständen (vgl.
Holbach 1770/1960, 231). Dem hat eine Verfeine- Rousseau behauptet in der Abhandlung über den Ur-
rung der Analyse dieser Lebensverhältnisse Rech- sprung und die Grundlagen der Ungleichheit von
nung zu tragen; sie kann damit das Glück der Men- 1755, »dass der wilde Mensch […] in Wäldern her-
schen befördern helfen. Diese Erwartung leitet auch umirrt […], ohne seinesgleichen zu bedürfen«
Saint-Just in seinen theoretischen Überlegungen, die (Rousseau 1959–95, Bd. III, 159 f.; 1978, Bd. 1, 225).
u. a. in seinen Fragmenten »De la nature« niederge- Denjenigen, die diese Spekulation kritisieren und
legt sind. Er meint in den materiellen Lebensum- sich überdies darüber mokieren, dass Rousseau den
ständen Determinanten für das Glück erkennen zu zivilisierten Menschen zurück zur Natur treiben
können (Saint-Just 2004, 1084). Im Unterschied zu wolle, ist entgangen, dass Rousseaus Rekurs auf die
Philosophen wie Montaigne, die sich mit der »Un- Natur keineswegs mit einer historischen Agenda ver-
ordnung« menschlicher Angelegenheiten arrangie- sehen ist. Seine Absicht ist vielmehr, einen »Zustand
ren, sieht er sich autorisiert, die »Gesundung« der zu ergründen, der nicht mehr zu finden, vielleicht
Gesellschaft voranzutreiben: »Ich überlasse mich niemals dagewesen ist, und künftig auch, allem An-
keineswegs dem Stolz oder den Vorurteilen, wenn sehen nach, nie vorkommen wird. Dessen ungeach-
ich das Mittel finde, eine Gesellschaft zu errichten, tet aber muss man richtige Begriffe von demselben
zu erhalten und glücklich zu machen« (1065). haben, wenn man über unseren gegenwärtigen Zu-
Helvétius, Holbach und die anderen Materialisten stand urteilen will« (1959–95, Bd. III, 123; 1978,
des 18. Jahrhunderts bereiten den Boden dafür, die 182 f.). Die Referenz auf das natürliche Leben dient
revolutionäre Veränderung der Gesellschaft am Leit- in erster Linie dazu, dem Leben in einer Gesellschaft
faden einer Maximierung des Glücks auszurichten. die Selbstverständlichkeit zu nehmen. Rousseau er-
180 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

schüttert den Status quo, er hält ihm nicht eine voll- 652). Nicht nur die Natur, auch die Gesellschaft hält
kommene Gegenwelt entgegen. Vielmehr ergibt sich das Potential für solche Erfahrungen der Hingabe
aus dem Kontrast zwischen Natur und Gesellschaft bereit (Thomä 2002, 319). Gerade weil Rousseau die
die Einsicht in die Veränderbarkeit oder das »Ver- Sozialität des Menschen nicht von vornherein als ge-
mögen« des Menschen, »sich vollkommener zu ma- geben annimmt, kann sie sich unter Umständen als
chen« (1959–95, Bd. III, 142; 1978, 204; zu dieser etwas Kostbares herausstellen.
Lehre von der Perfektibilität vgl. Mauzi 1979, 575 f.). Rousseau trifft eine Unterscheidung zwischen
Das »Glück« tritt bei Rousseau nun aber nicht ein, dem Glück als »öffentliche Wohlfahrt« und dem »ab-
indem man sich einem höchsten »Punkte […] gesonderten Glück« des Individuums (Rousseau
näher[t]« (Condorcet 1795/1976, 204), welcher ge- 1959–95, Bd. I, 1066; 1978, Bd. 2, 721 f.), er bricht also
mäß der Logik des Fortschritts ans Ende der ge- mit dem Junktim zwischen privatem und öffentli-
schichtlichen Entwicklung gerückt wird. Vielmehr chem Glück, das im Republikanismus sonst häufig
ist »die glücklichste […] Zeit für die Menschen« bei anzutreffen ist. Die Absonderung, von der Rousseau
Rousseau einer Situation zugeordnet, in der man in den späten Träumereien des einsamen Spaziergän-
»unabhängigen Umgang« miteinander pflegt und gers spricht, ist vielfach als Resultat einer persönli-
»natürliches Mitleid« auslebt (Rousseau 1959–95, chen Enttäuschung gedeutet worden, zumal im Ge-
Bd. III, 171; 1978, 238). Es handelt sich hier nicht um sellschaftsvertrag noch andere Töne zu hören sind.
ein Glück, das machbar wäre, vielmehr behält es et- Doch unabhängig von biographischen Wechselfällen
was Flüchtiges, Transitorisches; bei Rousseau ist die ist Rousseaus Unterscheidung sinnvoll. Es handelt
Rede von einem »frêle bonheur« oder »zerbrechli- sich hierbei nicht um eine Gegenüberstellung zwi-
chen Glück«; Tzvetan Todorov hat dies in den Titel schen dem Glück des Eigeninteresses und dem Wohl
seines Rousseau-Buches erhoben (Rousseau 1959– des Staates, sondern um eine Unterscheidung zwi-
95, Bd. IV, 503; Todorov 1985, 87). Das Glück »hängt schen verschiedenen Dimensionen des Glücks, zu
von all dem ab«, was uns »umgibt«, es ist »immer be- denen jeweils verschiedene Formen des Sich-Einlas-
droht« und durch »konstitutive Unvollständigkeit« sens auf die Welt gehören. So steht neben dem Glück
gezeichnet (Todorov 1998, 292; vgl. Mauzi 1979, in der Natur etwa das Glück der Feste, in denen sich
596). Rousseau ist nahe bei Montaigne (s. Kap. IV.2), eine Gemeinschaft selbst feiert und die Menschen
wenn er bemerkt: »Das Glück ist ein immerwähren- »die sanften Bande des Vergnügens und der Freude
der Zustand, der für den Menschen hier auf Erden […] knüpfen« (1959–95, Bd. V, 114; 1978, Bd. 1, 462).
nicht gemacht zu sein scheint. […] Alles verändert An dieser Stelle stößt man auf die Verbindung zwi-
sich um uns her. Wir selbst verändern uns, und kei- schen dem Glück und der Freiheit, die bei Rousseau
ner ist sicher, morgen das noch zu lieben, was ihm in durchaus verschiedenen Formen auftreten kann.
heute gefällt« (Rousseau 1959–95, Bd. I, 1085; 1978, Entscheidend ist für ihn, dass die zerrüttende Wir-
Bd. 2, 744). Mittels der »Natur« und dem »natürli- kung der Unselbständigkeit des Individuums, dessen
chen Leben« baut Rousseau eine Distanz auf, die ihm Abhängigkeit von oder Konkurrenz mit anderen
die Kritik seines Zeitalters ermöglicht; er verwahrt zum Erliegen kommt. Denkbar ist dies einerseits im
sich zugleich dagegen, die »Natur« des Glücks posi- Sinne republikanischer Freiheit, wenn die Bürger
tiv über die Logik von Bedürfnis und Befriedigung sich für ihre gemeinsame Sache einsetzen, anderer-
zu definieren. An einem solchen Ansatz, der zu sei- seits im Sinne einer romantischen Freiheit, in der das
ner Zeit nicht weniger populär war als heute, übt er Individuum die Unruhe sozialer Rivalitäten hinter
immer wieder Kritik: »Glück ist nicht Genuss« sich lässt und das »Gefühl der Existenz« genießt
(1959–95, Bd. III, 510; vgl. 1959–95, Bd. I, 1046; 1978, (1959–95, Bd. I, 1047; 1978, Bd. 2, 699 [Übers. geänd.;
Bd. 2, 699). d. Verf.]; vgl. Thomä 2002).
Wenn Rousseaus »einsamer Spaziergänger« sich So bereitwillig sich die Jakobiner auf Rousseau be-
auf seine berühmte »Insel« zurückzieht, so findet er rufen, so wenig passt dessen »frêle bonheur«, dessen
dort nicht selbstgenügsam oder selbstgefällig sein »zerbrechliches Glück« in ihr politisches Beglü-
Glück (so aber McMahon 2006, 234). Vielmehr ckungsprogramm. Man könnte meinen, dass dieses
macht er dort die Erfahrung, über keinen abgegrenz- Programm kollektiven Glücks nach der Schreckens-
ten »Begriff von meinem Individuum«, also über herrschaft desavouiert wäre. Doch es kommt in der
keine von den Umständen abgelöste Identität zu ver- Folgezeit weiter in den Genuss vieler Fürsprecher.
fügen (Rousseau 1959–95, Bd. I, 1005; 1978, Bd. 2, Nicht jeder von ihnen ist über allen Zweifel erhaben.
2. Glück, Revolution und revolutionäres Denken im 18. Jahrhundert 181

So verspricht das »Direktorium«, das nach dem Ende –: Entwurf einer historischen Darstellung der Fort-
der Jakobinerherrschaft die Macht übernimmt, in schritte des menschlichen Geistes [1795]. Frankfurt
seiner Gründungserklärung vom 5. November 1795 a. M. 1976.
gleich wieder »le prompt établissement du bonheur Delamare, Nicolas: Traité de la police. Paris 1705.
public«; diese Erklärung hält dessen radikalsten Geg- Diderot, Denis: Philosophische Schriften. Bd. 1/2. Ber-
ner Gracchus Babeuf nicht davon ab, die Gesellschaft lin 1961.
auf das höchste Ziel eines – ganz anders gemeinten! Echevarria, Durand: Mirage in the West. A History of
– »bonheur commun« einschwören zu wollen, das the French Image of American Society to 1815.
als »grundlegende Maxime« zur »Mutter aller ge- Princeton 1957.
Ellis, John J.: Founding Brothers. New York 2000.
rechten Grundsätze« erklärt wird (vgl. Riviale 2001,
Fischer, Peter (Hg.): Reden der Französischen Revolu-
34).
tion. München 1977.
So oder so steht der graue Morgen nach dem Ende
Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I:
der Revolution also im Zeichen eines kollektiven
Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt a. M.
Glücksmodells, das doch nicht hält, was es verspricht.
2004.
Dagegen schlägt dann im 19. Jahrhundert zunächst Frost, Robert: Gedichte. Ebenhausen 1963.
die Stunde einer Individualisierung des Glücks (s. Furet, François/Ozouf, Mona (Hg.): Kritisches Wörter-
Kap. II.5 und II.9). Deren Verfechter verweisen dar- buch der Französischen Revolution [1988]. Frankfurt
auf, dass das Glück nur von einzelnen Menschen er- a. M. 1996.
fahren werden könne, und verwahren sich gegen Furet, François/Richet, Denis: Die Französische Revolu-
dessen allgemeine Festlegung. Doch da zum Glück tion [1966]. Frankfurt a. M. 1987.
immer auch ein Moment der Hingabe, des Sich-der- Ganter, Herbert Lawrence: Jefferson’s »Pursuit of Hap-
Welt-Aussetzens gehört, reicht es unwiderstehlich piness« and Some Forgotten Men. In: William and
über das Individuum hinaus. Eine der kostbaren Ein- Mary Quarterly 16 (1936), 422–434, 558–585.
sichten, die den Glücksdiskursen im Umfeld der Re- Geuss, Raymond: Happiness and Politics. In: Arion 10
volutionen des 18. Jahrhunderts zu entnehmen sind, (2002), 15–33.
besteht darin, dass dem Glück nicht gedient ist, wenn Guéry, Alain: L’État. In: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de
es ganz dem Kollektiv zugeschlagen oder ganz auf mémoire. Bd. 3. Paris 1997, 4545–4587.
das Individuum und dessen Eigeninteresse reduziert Helvétius, Claude Adrien: Vom Menschen [1772]. Ber-
wird. lin 1972.
–: Œuvres Completes. Paris 1795.
Hirschman, Albert O.: Rival Views of Market Society
Literatur and Other Recent Essays. New York 1986.
Anonym (Hg.): Recueil des Loix Constitutives des Co- Holbach, Paul Thiry d’: System der Natur [1770]. Berlin
lonies Angloises, Confédérées sous la Dénomination 1960.
d’Etats-Unis de l’Amérique-septentrionale. Philadel- –: Systême social. Bd. I–III. London 1773 [anonym ver-
phia 1778. öff.].
Arendt, Hannah: Über die Revolution [1963]. München Howard, Dick: Die Grundlegung der amerikanischen
1974. Demokratie [1986]. Frankfurt a. M. 2001.
Becker, Carl: The Declaration of Independence. A Study Hunt, John Gabriel (Hg.): The Essential Franklin De-
in the History of Political Ideas. New York 1922. lano Roosevelt. New York u. a. 1995.
Bentham, Jeremy: The Works. Bd. 1–11. New York 1962. Hutcheson, Francis: Eine Untersuchung über den Ur-
Blumenberg, Hans: Selbsterhaltung und Beharrung. In: sprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend.
Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhal- Über moralisch Gutes und Schlechtes [1725]. Ham-
tung. Frankfurt a. M. 1976, 144–207. burg 1986.
Boulad-Ayoub, Josiane: Le plus grand bonheur pour le –: An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty
plus grand nombre. In: Études françaises 25 (1989), and Virtue in Two Treatises [1725]. Indianapolis
131–151. 2004.
Burlamaqui, Jean Jacques: Principes du droit naturel et –: An Essay on the Nature and Conduct of the Passions
politique. Bd. I/II. Genf 1764. and Affections, with Illustrations on the Moral Sense
Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de: De [1728]. Indianapolis 2002.
l’influence de la révolution d’Amérique sur l’Europe Jefferson, Thomas: Betrachtungen über den Staat Virgi-
[1786]. In: Ders.: Œuvres. Bd. 8. Paris 1847, 2–113. nia [1781–82]. Zürich 1989.
182 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

–: Writings [1785]. New York 1984. Saint-Lambert, Jean-François: Les saisons, poëme. Ams-
Jones, Howard Mumford: The Pursuit of Happiness. terdam 1769 [anonym veröff.].
Cambridge 1953. Scheidemantel, Heinrich Gottfried: Das allgemeine
Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Grundsätze der Po- Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform.
liceywissenschaft. Göttingen 1756. Jena 1775.
Klippel, Diethelm: Familienpolizei. Staat, Familie und Simon, Thomas: »Gute Policey«. Ordnungsleitbilder
Individuum in Naturrecht und Polizeiwissenschaft und Zielvorstellungen politischen Handelns in der
um 1800. In: Sibylle Hofer u. a. (Hg.): Perspektiven Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2004.
des Familienrechts. Bielefeld 2005, 125–141. Smith, Adam: A Theory of Moral Sentiments [1759].
La Mettrie, Julian Offray de: L’homme machine [1748]. Cambridge u. a. 2002.
Die Maschine Mensch. Hamburg 1990. Taylor, Charles: Sources of the Self. Cambridge u. a.
Lewis, Jan: Happiness. In: Jack P. Greene/J. R. Pole (Hg.): 1989.
The Blackwell Encyclopedia of the American Revolu- Thomä, Dieter: Das »Gefühl der eigenen Existenz« und
tion. Cambridge, MA/Oxford 1991, 641–647. die Situation des Subjekts. Mit Rousseau gegen Der-
Linton, Marisa: Robespierre’s Political Principles. In: rida und de Man denken. In: Andrea Kern/Christoph
Colin Haydon/William Doyle (Hg.): Robespierre. Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion.
Cambridge u. a. 1999, 37–53. Frankfurt a. M. 2002, 311–330.
Locke, John: An Essay Concerning Human Understan- –: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt a. M. 2003.
ding [1689]. Oxford 1975. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika
–: Two Treatises on Government [1690]. Cambridge [1835–40]. Zürich 1987.
1988. –: Der alte Staat und die Revolution [1856]. Reinbek
Mandeville, Bernard de: The Fable of the Bees: or, Pri- 1969.
vate Vices, Publick Benefits [1714]. Bd. I/II. Oxford Todorov, Tzvetan: Frêle bonheur. Essai sur Rousseau.
1924. Paris 1985.
–: Die Bienenfabel oder Private Laster als gesellschaftli- –: Le jardin imparfait. La pensée humaniste en France.
che Vorteile [1714]. München 1988. Paris 1998.
Mauzi, Robert: L’idée du bonheur dans la littérature et la Vetter, Cesare/Marin, Marco: La nozione di felicità in
pensée françaises au XVIIIe siècle. Paris 1979. Robespierre. In: Cesare Vetter (Hg.): La felicità è
McMahon, Darrin M.: Happiness. A History. New York un’ idea nuova in Europa. Contributo al lessico della
2006. rivoluzione francese. Bd. 1. Triest 2005, 22–79.
Morelly, Étienne-Gabriel: Code de la nature, ou le Washington, George: Writings. New York 1997.
véritable ésprit de ses loix. o.O. 1755 [anonym ver- Wills, Gary: Inventing America. Jefferson’s Declaration
öff.]. of Independence. New York 1978.
Mornet, Daniel: Les origines Iintellectuelles de la révo- Wilson, James: Considerations on the Nature and Ex-
lution française (1715–1787) [1933]. Paris 1967. tent of the Legislative Authority of the British Parlia-
Naumann, Manfred (Hg.): Artikel aus der von Diderot ment [1774]. In: Ders.: Collected Works. Bd. I. India-
und d’Alembert herausgegeben Enzyklopädie. Leip- napolis 2007, 3–31.
zig 1984. Wordsworth, William: Poetical Works. Oxford 1969.
Ozouf, Mona: La fête révolutionnaire. Paris 1976. Dieter Thomä
Pluquet, François-André: De la sociabilité, Bd. I/II. Paris
1767.
Riviale, Philippe: L’impatience du bonheur. Apologie de
Gracchus Babeuf. Paris 2001.
Robespierre, Maximilien: Œuvres complètes. Bd. I–X.
Paris 1910–67.
–: Ausgewählte Texte. Hamburg 1989.
Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres complètes I–V. Paris
1959–95.
–: Schriften. Bd. 1/2. München/Wien 1978.
Sade, Donatien Alphonse François Marquis de: Kurze
Schriften, Briefe und Dokumente. Hamburg 1989.
Saint-Just, Antoine-Louis de: Œuvres complètes. Paris
2004.
183

3. Glück bei Kant. Der Bruch ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität«
(KpV, A 4). Dass auch das Gebäude der theoretischen
mit dem Eudämonismus Philosophie in der Freiheit ihren Abschluss findet,
zeigt die transzendentale Deduktion der Kritik der
reinen Vernunft (vgl. KrV, B 129 ff.). Hier behauptet
Der Primat des Praktischen Kant die »transzendentale Einheit des Selbstbewußt-
seins« als Bedingung der Möglichkeit des Zusam-
In der zeitgenössischen Diskussion über das Kanti- menstimmens von sinnlich gegebenen Anschauun-
sche Glücksdenken ist man sich mehr oder weniger gen und Verstandesbegriffen und damit von Er-
darüber einig, dass Immanuel Kant (1724–1804) ei- kenntnis überhaupt (vgl. KrV, B 131 ff.). Dabei mache
nen Bruch mit der eudämonistischen Tradition in – und dies ist hier das Entscheidende – die transzen-
der Philosophie vollzieht. (Eine Ausnahme bildet dentale Einheit des Selbstbewusstseins kein Seiendes
Himmelmann 2003) Situiert wird dieser Bruch – im traditionellen Verständnis der Seele – aus, son-
durchwegs in der Kantischen Ethik (vgl. Forschner dern finde im praktischen Vollzug des »Ich denke«
1993, 107–150; Seel 1995, 20–26; Spaemann 2001, und damit in einem »Actus der Spontaneität« statt
96 f.; Thomä 2003, 25 ff.). Dies verwundert insofern (KrV, B 132). Insofern auch die Befriedigung des the-
nicht, als Kant an verschiedenen Stellen fordert, dass oretischen Interesses der Vernunft an Erkenntnis
nicht – mehr – Glückseligkeit, sondern Freiheit bzw. durch den spontanen Vollzug des »Ich denke« er-
Autonomie das oberste Prinzip der Sittlichkeit und möglicht werde, kann Kant behaupten, »daß alles
damit zugleich der praktischen Philosophie ausma- Interesse zuletzt praktisch ist« und insofern der
chen solle (vgl. z. B. Kant KrV, B 833 ff.; oder 1785/ praktische Vernunftgebrauch den Primat über den
1983, BA 87). Mit etwas Distanz erscheint jedoch theoretischen hat (KpV, A 219; vgl. Hutter 2003, 68).
auch diese Begrenzung des Glücks auf die Ethik his- Mit dieser Rückführung des theoretischen auf den
torisch noch dem Kantischen Bruch mit dem Eudä- praktischen Vernunftgebrauch löst Kant die Ver-
monismus geschuldet. Die Kluft, die Kant von der nunft aus einem sie tragenden Gesamtzusammen-
eudämonistischen Tradition trennt, wird erst dann hang der Wirklichkeit heraus. Indem das »System
ganz offenbar, wenn man sich in die Tradition stellt, der reinen Vernunft« seinen »Schlußstein« in der
gegen die sich Kant wendet. Vor dem Hintergrund Freiheit des Vernunftvollzugs findet, ist die Idee ei-
der eudämonistischen Tradition zeigt sich erst die ner vorgängigen, teleologisch ausgerichteten Wirk-
Radikalität von Kants Bekenntnis zur Freiheit. Kant lichkeit zugunsten der Selbstfundierung des prakti-
wendet die Freiheit nämlich nicht nur innerhalb der schen Vernunftvollzugs aufgegeben (vgl. KdU, B
Ethik gegen die Glückseligkeit, sondern weit grund- 267 ff.).
sätzlicher in der Anlage seiner Transzendentalphilo- Der Primat des Praktischen mitsamt seiner Verab-
sophie gegen das teleologische Verständnis von schiedung einer teleologischen Ausrichtung der
Wirklichkeit überhaupt, das die Glückseligkeit als Wirklichkeit zwingt Kant zum Bruch mit der eudä-
oberstes Prinzip der Ethik seit Platon getragen hat. monistischen Tradition. Indem Kant die begegnende
Von dieser Verabschiedung der teleologischen Be- Wirklichkeit als Reich der Erscheinungen denkt, gibt
stimmung der Wirklichkeit zugunsten der Freiheit er – gegenüber der traditionellen Metaphysik – die
ist neben dem Glück des praktischen Lebensvollzugs ontologische Grundlage auf, die im Theoretischen
auch das Glück betroffen, das die Theoria vermittelt. die metaphysische Einsicht in die Sinnhaftigkeit der
Zugleich zeigt sich vor dem Hintergrund von Kants Wirklichkeit und das damit einhergehende Glück
Bruch mit den teleologischen Grundlagen der eu- der Erfülltheit und im Praktischen die Identifikation
dämonistischen Tradition aber auch sein Bemühen von Wollen und Sollen und damit das Glück des ge-
darum, sich viele Aspekte des eudämonistischen lingenden Lebens tragen könnte.
Glücksdenkens im Rahmen seiner auf Freiheit ge-
stellten Philosophie anzueignen. Die Subjektivierung des kontemplativen
»Der Begriff der Freiheit« mache »den Schlußstein
Glücks
von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen,
selbst der spekulativen, Vernunft aus, und alle ande- Die eudämonistische Tradition vor Kant hat der me-
ren Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit) […] taphysischen Einsicht in die letzten Zwecke, die die
schließen sich nun an ihn an, und bekommen mit Wirklichkeit bestimmten, eine spezifische Glücks-
184 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

qualität zugesprochen. Die metaphysische Erkennt- nimmt das Subjekt nach Kant eine Haltung ein, die
nis vermittle insofern Augenblicke beglückender Er- nicht durch den Begriff des Gegenstands festgelegt
füllung, als der Erkennende die Welt als letzten En- sei, weshalb in ihm die Erkenntniskräfte – die Einbil-
des nicht durch Kontingenz, sondern durch Sinn dungskraft und der Verstand – in ein freies Spiel ge-
bestimmt und sich mit den eigenen Fragen nach rieten. In diesem freien Spiel werden nun ihr Zusam-
Wahrheit in der Welt als geborgen erfahre (s. Kap. menstimmen und damit ihre Angemessenheit für
II.6). Die Möglichkeit solcher metaphysischen Ein- ihre Aufgabe, Erkenntnis überhaupt zu verschaffen,
sicht in die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit gibt Kant erfahren. Diese Erfahrung der Zweckmäßigkeit der
innerhalb seiner auf den spontanen Akt des »Ich Erkenntniskräfte erzeuge ein Gefühl der Lust (vgl.
denke« gestellten theoretischen Philosophie auf. An- KdU, B 28 ff.). Die Zweckmäßigkeit, die im Schön-
schauung kennt er nur als sinnliche Anschauung, die heitsurteil erfreut, verortet Kant folglich im Subjekt
ihr Material von außen aufnimmt, deren Ordnung und nicht im Objekt des Urteils (vgl. KdU, B 17 ff.).
aber der ›transzendentalen Apperzeption‹ des Ver- Dementsprechend weist Kant auch eine realistische
standes entspringt. Weder gibt es für ihn Übersinnli- Interpretation der Erfahrung des menschlichen In-
ches – die platonischen Ideen oder den christlichen die-Welt-Passens, die angesichts des Naturschönen
Gott – noch die zweckmäßige Einrichtung des Kos- gemacht wird, zurück. »Die Eigenschaft der Natur,
mos zu schauen. Zwar kennt Kant das teleologische dass sie für uns Gelegenheit enthält, die innere
Urteil, er begreift dessen Zweckstruktur jedoch als Zweckmäßigkeit in den Verhältnisse unserer Ge-
ein allein subjektives Prinzip zur Beurteilung von mütskräfte in Beurteilung gewisser Produkte dersel-
Organismen und nicht als Verfasstheit der Wirklich- ben wahrzunehmen, […] kann nicht Naturzweck
keit selbst. Folglich muss Kant auch das Glück der sein, oder vielmehr von uns als ein solcher beurteilt
Erfüllung fremd bleiben, das die Einsicht in die sinn- werden; weil sonst das Urteil, das dadurch bestimmt
hafte Verfasstheit der Wirklichkeit begleitet (vgl. wurde, Heteronomie, aber nicht, wie es einem Ge-
Scheler 1922/1963, 73 ff.). So betont er, dass das te- schmacksurteil geziemt, frei sein, und Autonomie
leologische Urteil »keine unmittelbare Beziehung zum Grunde haben würde« (KdU, B 253).
auf das Gefühl der Lust und Unlust« habe (KdU, B Mit dieser idealistischen Interpretation des Wohl-
IX; vgl. Brandt 2008, 41–58). Die Muße kennt er – gefallens angesichts schöner Gegenstände vertritt
wie die französische Aufklärung – nur als leere Zeit Kant ein Verständnis des kontemplativen Glücks, das
und bezeichnet die Langeweile, die angesichts dieser sich in dem Rahmen bewegt, den die Selbstfundie-
Leere empfunden wird, als eine List der Natur, durch rung der Vernunft gesteckt hat. Die Kraft, den Men-
den sie den Menschen zur Tätigkeit antreibe (vgl. schen als einer ganzen – auch leiblich verfassten –
Kant 1798/1983, B 172 ff.; sowie Seel 2007, 181–200; Person zu erfassen und seinem individuell zu füh-
s. Kap. II.2). renden Leben Sinn und Orientierung zu vermitteln,
Eine Schrumpfform des kontemplativen Glücks ist der Kontemplation freilich genommen.
findet sich in Kants Ästhetik (vgl. KdU, B III–B 73; s.
Kap. II.4). Hier tritt es als interesseloses Wohlgefallen Der Bruch mit dem ethischen
auf, das wir angesichts schöner Gegenstände emp-
Eudämonismus
finden (vgl. KdU, B 3 ff.; sowie Ginsborg 2008, 59–
77.). In seiner Interesselosigkeit, der jeder Bezug auf Die Aufgabe des teleologischen Verständnisses der
das Begehren fehlt, steht das Wohlgefallen am Schö- Wirklichkeit überhaupt, die aus dem Primat des
nen in der Tradition der Freude, die die theoretische Praktischen folgt, steht hinter Kants vieldiskutiertem
Schau des Wahren vermittelt. Die Sinnerfahrung des Bruch mit dem Eudämonismus in der Ethik. In Be-
kontemplativen Glücks macht Kant am Naturschö- zug auf die ethische Frage nach dem guten Leben
nen fest. Das Naturschöne vermittle die Erfahrung, muss Kant die Vorstellung von einer natürlichen
dass – wie es in einer nachgelassenen, handschriftli- Ausrichtung des menschlichen Wollens auf ein
chen Notiz heißt – »der Mensch in die Welt passe« durch Vernunft bestimmtes Leben fremd bleiben.
(vgl. Kant 1924, Reflexion 1820a, 127). Vor dem Hintergrund der – mit der Aufgabe der Te-
Um die Sinnerfahrung, die im Urteil über das leologie einhergehenden – Abwertung der Natur
Schöne – der Natur wie der Kunst – erfreut, in Ein- zum Reich der Bedingtheit stellt sich ihm das natür-
klang mit seiner Freiheitsmetaphysik zu bringen, be- liche Wollen des Menschen vielmehr als Gegenkraft
grenzt Kant sie in ihrem Status. Im Schönheitsurteil zur Vernunftbestimmung dar. Dies hat unmittelbare
3. Glück bei Kant. Der Bruch mit dem Eudämonismus 185

Konsequenzen für Kants Verständnis beider Dimen- müssen für Kant Glückseligkeit und Tugend als un-
sionen des Ethischen: für sein Verständnis sowohl vereinbare ethische Prinzipien erscheinen. Dement-
des Glücks als auch der Tugend (s. Kap. II.3). sprechend lautet sein Haupteinwand gegen den ethi-
Auf der einen Seite erscheint das Glück als Gegen- schen Eudämonismus, dass weder das Streben nach
stand des bloß natürlichen Wollens des Menschen Glückseligkeit zur Tugend, noch das Bemühen um
und damit als Inbegriff von Heteronomie (vgl. Kant Tugend zur Glückseligkeit führten, da beides grund-
1785/1983, BA 89 ff.). In seiner Abgrenzung gegen sätzlich verschiedene Dinge seien (vgl. 1785/1983,
die Vernunft stellt sich die »Glückseligkeit« für Kant BA 90). Infolge seines auf Bedürfnisbefriedigung be-
als »die Befriedigung aller unserer Neigungen« dar schränkten Glücksverständnisses stellt sich für Kant
(KrV, B 834). Ein Leben, in dem nach dem eigenen das menschliche Glücksstreben als instrumentelle
Glück gestrebt wird, begreift Kant – vor dem Hinter- Klugheit dar, in der der Mensch »auf seinen eigenen
grund dieses allein sinnlich bestimmten Glücksbe- Vorteil abgewitzt« sei (BA 90). Als solch ein instru-
griffs – als wesentlich fremdbestimmt, da abhängig mentelles Kalkül trage das menschliche Glücksstre-
von den Gegenständen der eigenen Neigung. »Der ben nicht nur »nichts zur Gründung der Sittlichkeit
Wille gibt alsdenn sich nicht selbst, sondern das Ob- bei«, sondern unterlege »der Sittlichkeit Triebfedern
jekt durch sein Verhältnis zum Willen gibt diesem […], die sie eher untergraben und ihre ganze Erha-
das Gesetz« (1785/1983, BA 87). benheit zernichten« (BA 90). Umgekehrt werden
Auf der anderen Seite bestimmt Kant Tugend als aber auch die Neigungen eines tugendhaften Men-
Teilhabe an der Autonomie der praktischen Ver- schen nicht notwendigerweise erfüllt, so dass ein tu-
nunft, die durch Distanzname von den eigenen Nei- gendhaftes Leben nach Kant nicht glücklich sein
gungen erreicht werde. So besteht »der sittliche Ge- muss. Vielmehr stellt sich die Launenhaftigkeit des
halt« einer guten Handlung nach Kant darin, diese Schicksals als Einwand gegen das Glück eines tu-
»nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun« (BA gendhaften Lebens dar. Da nicht jeder tugendhafte
10). Allein ein Handeln aus Pflicht könne nämlich Mensch auch immer Glück hat, behauptet Kant dem-
von der Bedingtheit durch die eigenen Neigungen entsprechend, dass »die Erfahrung dem Vorgeben,
befreien, so dass sich in ihm die Selbstgesetzgebung als ob das Wohlbefinden sich jederzeit nach dem
der praktischen Vernunft verwirkliche. Damit verab- Wohlverhalten richte, widerspricht« (BA 90). Wie
schiedet Kant die Vorstellung vom spezifischen das Glücksstreben nicht tugendhaft mache, so ma-
Glück tugendhaften Handelns, die die eudämonisti- che ein tugendhaftes Leben nicht notwendigerweise
sche Tradition seit der Antike bestimmt hat. Die bei- glücklich.
den »Gemütszustände«, die Kant mit einem tugend-
haften Leben in Verbindung bringt – die Achtung Die moraltheologische Idee
vor dem Moralgesetz und die Selbstzufriedenheit –,
des höchsten Guts
in denen diese Tradition fortwirkt, begrenzt er so
weit, dass sie die Selbstgesetzgebung der Vernunft Kant weiß um die Gefahr, die von diesem Dualismus
nicht in Frage stellen können (vgl. KpV, A 130, A von Tugend und Glückseligkeit in der Ethik ausgeht.
212). Nicht nur die Achtung vor dem Gesetz, son- Unter Bedingung eines transzendentalen Bruchs von
dern auch die Selbstzufriedenheit des tugendhaften Tugend und Glückseligkeit würde ihre Koppelung in
Menschen habe ihren Ursprung nämlich nicht in der Lebenswirklichkeit zu einer Sache des Schick-
den Neigungen, sondern in der Vernunft. Die Selbst- sals. Hinterrücks gewänne die Fortuna, der sich der
zufriedenheit stelle allein das »negative Wohlgefal- ethische Eudämonismus zu entwinden vermocht
len« an einer Existenz dar, die sich durch die »Unab- hat, Macht über die faktisch stattfindende Verbin-
hängigkeit von Neigungen« auszeichne (KpV, A 212). dung von Tugend und Glück im menschlichen Le-
Beides – das Gefühl der Achtung und die Selbstzu- ben und damit über den kosmologischen Horizont,
friedenheit – seien damit vom Moralgesetz abgelei- innerhalb dessen sich das ethische Streben des Men-
tete Gemütszustände. Als solche betreffen sie nach schen nach einem guten Leben bewegt (s. Kap. II.7).
Kant nicht den ganzen Menschen, sondern allein das Kant begegnet dieser Gefahr des transzendentalen
rationale Subjekt und vermitteln dem Menschen Auseinanderbrechens von Tugend und Glückselig-
deswegen keine Erfahrung des Glücks. keit mit der Idee von einem »System der mit der Mo-
In dieser Gegenüberstellung als sinnliche Befrie- ralität verbundenen proportionierten Glückselig-
digung einerseits und Pflichterfüllung andererseits keit« (KrV, B 837). Verwirklicht wäre dieses System
186 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

sich auszahlender Tugend nach Kant in der morali- In der näheren Beschäftigung mit diesem Problem
schen Welt, die den Anforderungen des Sittengeset- nimmt Kant eine Umstellung vor. Zunächst legt er
zes in jeder Hinsicht Genüge leistete (vgl. B 836). In die Gefahr der Entwirklichung des Moralgesetzes als
der moralischen Welt wäre nämlich »die durch sittli- motivationale, später als eschatologische Schwäche
che Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit aus. In der Kritik der reinen Vernunft begründet er
selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die Notwendigkeit, die Idee des höchsten Guts anzu-
die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung nehmen, noch mit der motivationalen Schwäche des
solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zu- Moralgesetzes. Unter den Bedingungen der Endlich-
gleich anderer dauerhaften Wohlfahrt« (B 837). keit könne das Moralgesetz – das nur die Glückwür-
Die Grenzen des Systems sich lohnender Tugend digkeit zu garantieren vermöge – nicht allein zum
sind die Grenzen der moralischen Welt: Sie stellt pflichtgemäßen Handeln motivieren. Aus diesem
Kant zufolge eine Idee der praktischen Vernunft dar, Grund stellen für Kant die Hoffnung auf das höchste
die für ihre Verwirklichung in der Sinnenwelt auf Gut und der Glaube an den göttlichen Richter not-
das Tun der Menschen angewiesen ist. Da nicht alle wendige Bedingungen für ein tugendhaftes Leben
Menschen nach dem Sittengesetz leben, ist die mora- dar. »Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt
lische Welt nach Kant im Hier und Jetzt nicht ver- nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrli-
wirklicht – und folglich zahle sich Tugend nicht mit chen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des
Notwendigkeit aus. Unter den Bedingungen der End- Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfe-
lichkeit lohnt sich Tugend nach Kant nicht, das Glück dern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht
bleibt unverfügbar. Indem der tugendhafte Mensch den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen
den Anforderungen entspricht, die »die Menschheit Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Ver-
in seiner Person« an ihn stellt, erwerbe er sich allein nunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen«
»die bloße Würdigkeit, glücklich zu sein« (B 841): die (KrV, B 841).
Würde an der moralischen Welt und dem in ihr ge- Während der Ausarbeitung seiner Moralphiloso-
nerierten Glück teilzuhaben. phie muss Kant zu der Einsicht gelangt sein, dass
Hätte sich Kant allerdings mit dieser Reflexion auf diese Interpretation des höchsten Guts als diesseitige
die durch Tugend erworbene Glückswürdigkeit zu- Motivationsquelle die Gefahr berge, die Selbstgesetz-
frieden gegeben, hätte er den Bruch von Tugend und gebung der praktischen Vernunft zu untergraben.
Glück nur zum Bruch von Glückswürdigkeit und Seit der Grundlegung betont Kant das Moralgesetz
tatsächlich erfahrenen Glück verschoben. Wiederum als einzige Quelle der Motivation für pflichtgemäßes
würde sich die Fortuna als die Macht über die Kop- Handeln. Das Moralgesetz mache den »alleinige[n]
pelung von Tugend bzw. Glückswürdigkeit und tat- Bestimmungsgrund des reinen Willens« aus (KpV, A
sächlich eintreffendem Glück darstellen. Auch wäre 136). Zugleich wendet er sich jetzt gegen die von ihm
dann nicht mehr zu verstehen, was unter dem Be- früher selbst vertretene Vorstellung der sich im Jen-
griff der Glückswürdigkeit zu verstehen ist, wenn seits auszahlenden Tugend als »pfäffisch«, da sie das
seine Beziehung zum tatsächlich eintreffenden Befolgen des Sittengesetzes dem heteronomen Inter-
Glück ganz durchtrennt wäre. Um der Gefahr eines esse an jenseitigem Lohn unterstelle. (Er greift damit
transzendentalen Bruchs von Tugend und Glückse- auf eine ältere, u. a. in der Renaissance zwischen Fi-
ligkeit endgültig zu entgehen und der Fortuna das cino und Pomponazzi geführte Debatte zurück; s.
letzte Wort in der Verteilung des Glücks zu entzie- Kap. IV.2.) Dennoch sieht Kant auch jetzt noch die
hen, erschließt Kant mit dem Begriff des »höchsten Gefahr der Entwirklichung des Moralgesetzes. Er in-
Guts« die christliche Hoffnung auf Erlösung für terpretiert diese Gefahr nun allerdings eschatolo-
seine Moralphilosophie (vgl. Düsing 1971, 5–42; gisch als Gefahr eines moralisch unerträglichen Wi-
Forschner 1993, 127–150). So bildet die Forderung, derspruchs zwischen den Ansprüchen des Moralge-
dass derjenige, der »sich als der Glückseligkeit nicht setzes und dem Lauf der Dinge und damit als die
unwert verhalten hatte, hoffen können [muss], ihrer Gefahr, dass das Moralgesetz an den Mächten der
teilhaftig zu werden«, den Ausgangspunkt seiner Welt zerschelle. Die Idee des höchsten Guts versteht
»Moraltheologie« (Kant KrV, B 841 f.). Aus morali- er jetzt nicht mehr als eine Idee, die dem Moralgesetz
schen Gründen müsse das »höchste Gut«, bzw. die vorausgehe und zu seiner Befolgung motiviere, son-
gerechte »Abmessung« von Tugend und Glückselig- dern als eine Idee, die aus dem Moralgesetz selbst
keit, erhofft werden (vgl. 1793/1983, B VIII). entspringe. Das Moralgesetz bringe das »Ideal des
3. Glück bei Kant. Der Bruch mit dem Eudämonismus 187

höchsten Guts« als einen Zweck hervor, den es prak- Friedens voranzutreiben (vgl. Kant 1795/1983, BA
tisch zu befördern gelte, um dem Moralgesetz selbst 47 ff.). Wiederum wahrt Kant die Vorgängigkeit der
seinen Bestand zu sichern (vgl. KpV, A 198 ff.). autonomen Vernunft gegenüber der Zukunft des
Wie die praktische Beförderung des höchsten Guts Ewigen Friedens, indem er die Idee des Ewigen Frie-
aussehen soll, führt Kant in seiner Tugend- und dens auf den Status einer Idee in allein praktischer
Geschichtsphilosophie aus. In der Tugendlehre der Absicht begrenzt. Wie das Glück der Kontemplation
Metaphysik der Sitten versucht er, die praktische Be- und die diesseitige Glückseligkeit eignet sich Kant
förderung des Zustandes, in dem Tugend und Glück- damit auch die Zwecke der eigenen Vollkommenheit
seligkeit versöhnt sind, im menschlichen Zweckver- und der fremden Glückseligkeit sowie die Zukunft
folgen zu verankern. Hierfür übernimmt er von der Erlösung im Rahmen seiner auf den Primat des
der eudämonistischen Tradition die Vorstellungen Praktischen gestellten Systems der Philosophie an.
der »eigenen Vollkommenheit« und der »fremden »Bestand und objektive Realität« bekommen diese
Glückseligkeit« als solche Zwecke, die »zugleich Glücksbegriffe allein, wie man in Anlehnung an das
Pflichten sind« (1793/1983, A 13). Das Moralgesetz Eingangszitat dieses Artikels folgern kann, vom Be-
verpflichtet nach Kant zu diesen Zwecken, weil der griff der Freiheit bzw. der Selbstgesetzgebung der
Mensch, der sie verfolgt, daran mitwirkt, dass er Vernunft (vgl. KpV, A 4).
selbst und die Welt besser werden und auf diese
Weise das höchste Gut verwirklicht wird. Das Stre-
ben nach eigener Vollkommenheit befördert nach Literatur
Kant die Realisierung des höchsten Guts, indem es
Brandt, Reinhard: Von der ästhetischen und logischen
auf die Kultivierung des eigenen Menschseins und Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur. In: Ot-
damit auf die Verinnerlichung des Moralgesetzes zur fried Höffe (Hg.): Immanuel Kant, Kritik der Urteils-
habitualisierten Triebfeder des eigenen Handelns kraft. Klassiker Auslegen. Bd. 33. Berlin 2008, 41–58.
hinwirkt. Das Streben nach fremder Glückseligkeit Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Gutes in
verfolgt denselben Zweck, indem es sich um die Zu- Kants praktischer Philosophie. In: Kant-Studien 62
friedenheit der Mitmenschen mit ihrer Situation be- (1971), 5–42.
müht, sofern deren Glücksvorstellungen sittlich ak- Forschner, Maximilian: Über das Glück des Menschen:
zeptabel seien. Abermals verhindert Kant den Rück- Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant.
schlag der aus der eudämonistischen Tradition Darmstadt 1993.
übernommenen Prinzipien auf die Selbstgesetzge- Ginsborg, Hannah: Interesseloses Wohlgefallen und All-
bung der Vernunft, indem er sie in ihrem Status be- gemeinheit ohne Begriffe. In: Otfried Höffe (Hg.):
grenzt. Die eigene Vollkommenheit und die fremde Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Klassiker
Glückseligkeit stellen nach Kant nämlich keine Zwe- Auslegen. Bd.33. Berlin 2008, 59–77.
cke dar, zu denen der Mensch eine natürliche Nei- Himmelmann, Beatrix: Kants Begriff des Glücks. Ber-
gung habe und die insofern der willentlichen Selbst- lin/New York 2003.
bestimmung vorausgehen – wodurch Heteronomie Hutter, Axel: Das Interesse der Vernunft. Kants ur-
entstünde. Vielmehr gründen sie erst im Moralge- sprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den tran-
setz, das zu ihrer Befolgung verpflichtet. szendentalphilosophischen Hauptwerken. Hamburg
2003.
Parallel zu dieser individuellen Beförderung des
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781]
höchsten Guts kennt Kant auch dessen Verwirkli-
[KrV]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3 und 4 (Hg.
chung durch den Lauf der Menschheitsgeschichte. In
W. Weischedel). Darmstadt 1983.
seiner Geschichtsphilosophie entwirft er eine säku- –: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerli-
lare Eschatologie, die in einen Zustand Ewigen Frie- chen Absicht [1784]. In: Ders.: Gesammelte Werke.
dens auf Erden münden soll, in dem die objektiven Bd. 9 (Hg. W. Weischedel). Darmstadt 1983, 31–50.
Bedingungen dafür gegeben sind, dass ein tugend- –: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. In:
hafter Mensch mit seinem subjektiven Zustand zu- Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6 (Hg. W. Weischedel).
frieden sein kann (1784/1983; 1795/1983; vgl. Reath Darmstadt 1983, 7–101.
1988, 593–619; und Pinkard 2001, 74–87). Hier führt –: Kritik der praktischen Vernunft [1788] [KpV]. In:
er den Gedanken einer »List der Natur« ein, die sich Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6 (Hg. W. Weischedel).
auch noch das zwieträchtige Verhalten der Men- Darmstadt 1983, 103–283.
schen zu Nutzen mache, um den Zustand Ewigen –: Kritik der Urteilskraft [1790] [KdU]. In: Ders.: Ge-
188 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

sammelte Werke. Bd. 8 (Hg. W. Weischedel). Darm-


stadt 1983, 235–620.
4. Glück im Deutschen
–: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver- Idealismus. Das Glück
nunft [1793]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7 (Hg.
W. Weischedel). Darmstadt 1983, 645–879.
der Versöhnung
–: Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf
[1795]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9 (Hg. W. Das Glück der Übereinstimmung
Weischedel). Darmstadt 1983, 191–251. mit der Wirklichkeit
–: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In: Ders.: Gesam-
melte Werke. Bd. 7 (Hg. W. Weischedel). Darmstadt
Auf den ersten Blick scheinen sich die drei großen
1983, 303–634.
Idealisten – Johann Gottlieb Fichte (1762–1814),
–: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In:
Ders.: Werke. Bd. 10 (Hg. W. Weischedel). Darmstadt
Friedrich Wilhelm Josef Schelling (1775–1854) und
1983, 395–690. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) – in ih-
–: Kant’s handschriftlicher Nachlaß. In: Kant’s gesam- rem Glücksdenken nicht nur untereinander, sondern
melte Schriften. Bd. XVI (Hg. Königlich Preußische auch selbst zu widersprechen. Während der frühe
Akademie der Wissenschaften). Berlin/Leipzig 1924. Fichte das Glück nur als Trieb nach sinnlichem Ge-
Pinkard, Terry: Tugend, Moral und Sittlichkeit. Von Ma- nuss kennt und es zugunsten freier Selbstbestim-
ximen zu Praktiken. In: Deutsche Zeitschrift für Phi- mung überwinden will, schreibt der späte Fichte eine
losophie 49/1 (2001), 74–87. Anweisung zum seligen Leben (vgl. Fichte 1798/1995,
Reath, Andrews: Two Conceptions of the Highest Good 126 ff.; 1806/2001). Schelling ruft in seinen jungen
in Kant. In: Journal of the History of Philosophy 28 Jahren aus, dass er »um alles in der Welt willen nicht
(1988), 593–619. seelig werden« möchte und dichtet in seinem »Epi-
Scheler, Max: Vom Verrat der Freude [1922]. In: Ders.: kureisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerpors-
Gesammelte Werke. Bd. 6: Schriften zur Soziologie tens«: »Meine einzig Religion ist die, Daß ich liebe
und Weltanschauungslehre. Bern/München 1963, ein schönes Knie. Volle Brust und schlanke Hüften,
73–76. Dazu Blumen mit süßen Düften, Aller Lust volle
Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frank- Nahrung, Aller Liebe süße Gewährung« – um in sei-
furt a. M. 1995. ner zweiten Lebenshälfte festzustellen, dass selbst
–: Rhythmen des Lebens. Kant über erfüllte und leere das höchste geistige Glück im Diesseits nicht an die
Zeit. In: Wolfgang Kersting/Claus Langbehn (Hg.):
jenseitige Seligkeit, die der Einheit mit Gott ent-
Kritik der Lebenskunst. Frankfurt a. M. 2007, 181–
springt, heranreiche (vgl. Schelling 1795/1982, 96;
200.
1799/1869, 284; 1810/1860, 482). Und Hegel spricht
Spaemann, Robert: Grenzen. Zur ethischen Dimension
des Handelns. Stuttgart 2001.
schließlich von der »eigene[n] Langeweile in diesen
Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt Begriffen des Wohls und der Glückseligkeit« und
a. M. 2003. stellt die nüchterne wissenschaftliche Philosophie
Olivia Mitscherlich-Schönherr über die beseligende Schau der Wahrheit (vgl. Hegel
1821/1986, § 125 Anm., 236; 1830/1986, 395).
Mit etwas Abstand lässt sich allerdings durchaus
von einem gemeinsamen Glücksverständnis der
Deutschen Idealisten sprechen. Gemeinsam vertre-
ten sie das Verständnis von Glück als »Übereinstim-
mung mit der Wirklichkeit überhaupt«. Hinter die-
ser zunächst abstrakt klingenden Formel steht die
Reflexion auf das Verhältnis des Menschen zum äu-
ßeren Geschehen, in dem er sich vorfindet, bzw. in
das er hineingeboren ist (s. Kap. II.7). Beglückend ist
das Verhältnis zur äußeren Wirklichkeit für den Ein-
zelnen dann, wenn er das Geschehen, das ihm zu-
stößt, als sinnvoll erfährt, es bejahen kann und sich
insofern in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit
befindet. Dabei unterscheiden die Idealisten begriff-
4. Glück im Deutschen Idealismus. Das Glück der Versöhnung 189

lich zwischen ›Glückseligkeit‹ und ›Seligkeit‹ zur Be- gen der Endlichkeit. Eine moralische Welt, in der alle
zeichnung der sinnlich bzw. der geistig vermittelten Handlungen den Ansprüchen des Sittengesetzes ge-
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Das sinnli- nügten, stellte dagegen einen durch Freiheit hervor-
che Glück werde direkt durch die Befriedigung der gebrachten Zustand allgemeiner Glückseligkeit dar
Neigungen, Triebe und Bedürfnisse angestrebt. In (vgl. Kant KrV, B 837). Unter den Bedingungen des
ihr werde die natürliche Verfasstheit des Menschen Diesseits könne jedoch allein auf das höchste Gut,
zum Bezugspunkt der Übereinstimmung mit der als jenseitige Versöhnung von Tugend und Glückse-
Wirklichkeit und damit zum Maßstab des Glücks er- ligkeit, gehofft werden (vgl. B 841). Im Rahmen des
hoben. Die geistig vermittelte Übereinstimmung mit Kantischen Ansatzes lässt sich nun allerdings die
der Wirklichkeit überhaupt, um die es den Idealisten Frage nicht mehr beantworten, worin das Beglü-
primär geht, lasse sich dagegen allein indirekt durch ckende dieses jenseitigen Zustands bzw. der morali-
die Versöhnung mit dem Absoluten, Gott bzw. dem schen Welt für den Einzelnen bestehe, der daran teil-
Sein erreichen. Durch die Rückkehr in die Einheit habe. Seine Definition als »Befriedigung aller unse-
mit dem Absoluten wird den Idealisten zufolge eine rer Neigungen« passt kaum zu dem Glück, das der
Lebenshaltung eingenommen, die sich in den Ur- verallgemeinerten Tugend entspringen soll, zugleich
sprung der Wahrheit und damit der beglückenden kann er kein geistig vermitteltes Glück annehmen,
Übereinstimmung von Mensch und Welt stellt. Die wenn er seine ethische Grundunterscheidung von
Versöhnung mit dem Absoluten stellt für die Idealis- Tugend und Glückseligkeit nicht unterminieren will.
ten solcherart das höchste Gut dar, das es anzustre- Daran interessiert, das Auseinanderbrechen von
ben gelte, um ein seliges bzw. sinnerfülltes Leben in Wollen und Sollen zu unterlaufen, spitzt sich für die
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit überhaupt Idealisten die Frage nach dem Verhältnis von Glück
zu erreichen. und Freiheit auf die Frage zu, wie sich die Seligkeit
denken lasse, die beide Aspekte in sich versöhnt. So
wenig wie sie sich mit der Kantischen Lösung zufrie-
Zur Genese des idealistischen Glücksver- den geben, wollen die Idealisten hinter Kant zurück
ständnisses in der Auseinandersetzung und d. h. in diesem Zusammenhang: das geistig be-
mit Kant stimmte Glück der Seligkeit als die Sinnerfahrung zu
verstehen, die der Schau Gottes entspringt. Dieses
Die philosophische Frage, auf die die Deutschen Verständnis von Erfüllung beruhte nämlich auf der
Idealisten mit ihrem Glücksdenken antworten, ent- Annahme einer den Vernunftvollzügen vorausge-
stammt ihrer Auseinandersetzung mit der Kanti- henden Instanz der Transzendenz, die die Autono-
schen Philosophie. Es handelt sich um die von Kant mie der Vernunft beschränkte. Die Idealisten stehen
aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Glück folglich vor der Herausforderung, ein Verständnis
und Freiheit (s. Kap. V.3). Im Umgang mit diesem beglückender Sinnerfahrung zu entwerfen, das auf
Problem werden die Idealisten allerdings von der ei- Freiheit beruht (s. Kap. II.5).
gentümlichen Ambivalenz des Kantischen Glücks- Der frühe Fichte bewältigt diese Herausforderung
denkens über die Kantische Lösung hinaus getrie- noch nicht, gibt jedoch mit seinen Überlegungen zur
ben. sittlichen Annäherung an das höchste Gut die Bah-
Wie die Idealisten nach ihm hatte bereits Kant die nen vor, in denen sich die weiteren Überlegungen
Glückseligkeit sinnlich als »Befriedigung aller unse- der Idealisten bewegen werden. Das höchste Gut, in
rer Neigungen« verstanden (Kant KrV, B 834; s. Kap. dem Tugend und Glückseligkeit versöhnt sind, be-
II.1). Als ethisches Prinzip lehnt er die Glückseligkeit greift er als das Ideal der vollständigen Übereinstim-
ab, da das Streben nach Bedürfnisbefriedigung durch mung eines vernünftigen Wesens mit seiner Ver-
die natürlichen Bedürfnisse bedingt und insofern nunftnatur. Im Unterschied zu Kant geht er davon
heteronom sei (s. Kap. II.3). Autonomie sei allein in aus, dass sich das höchste Gut vom Menschen hier
der Befolgung des von der Vernunft gegebenen Sit- und jetzt aus eigener Kraft – durch sittliche Vervoll-
tengesetzes zu erreichen. Um die in der Entgegenset- kommnung bzw. »Kultur« seiner selbst und der äu-
zung von sittlicher Pflicht und natürlicher Neigung ßeren Wirklichkeit – anstreben lasse (vgl. Fichte
angelegte Gefahr des Auseinanderbrechens des 1794/1966, 31). Aufgrund der menschlichen End-
menschlichen Wollens und Sollens zu unterlaufen, lichkeit sei es jedoch nie vollständig zu erreichen.
begrenzt Kant diesen Widerstreit auf die Bedingun- Ethische Vervollkommnung macht damit für Fichte
190 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

nicht nur ein vernunftbestimmtes Leben aus, son- nen Freiheit und Seligkeit willen anzunähern habe.
dern stellt zugleich den Weg zur Seligkeit dar. »Nicht Im Unterschied zu Fichte verfügt er jedoch mit der
– das ist gut, was glückseelig macht; sondern – nur das Idee der Selbstgenügsamkeit über den Begriff, der es
macht glückseelig, was gut ist« (32). Der Umstand al- ihm erlaubt, den Prozess der Annäherung an das ab-
lerdings, dass das höchste Gut nach Fichte ein nie zu solute Ich nicht nur als ethische Vervollkommnung,
erreichendes Ideal darstellt, bedeutet einen unendli- sondern zugleich auch als Glückszuwachs zu verste-
chen Aufschub der Glückseligkeit (vgl. Düsing 2000, hen. Die Annäherung an das absolute Ich bedeutet in
21 ff.). Damit stellt sich Fichtes Verständnis von der Schellings Perspektive für das endliche Ich eine Stei-
sittlichen Annäherung an das höchste Gut als eine gerung an Selbstgenügsamkeit und deswegen eine
Radikalisierung der Kantischen Pflichtethik dar, Steigerung seiner befreienden Tugend und sinnstif-
hatte diese dem tugendhaften Menschen doch noch tenden Übereinstimmung mit der Wirklichkeit über-
die Hoffnung auf jenseitiges Glück zugestanden. haupt. Im Sinne dieses Zuwachses an Selbstgenüg-
Den entscheidenden Durchbruch in der Frage, wie samkeit bzw. an Sein fordert Schelling: »Sei! Im
das höchste Gut der mit Freiheit versöhnten Selig- höchsten Sinne des Wortes: höre auf, selbst Entschei-
keit zu denken sei, leistet der frühe Schelling. In ei- dung zu sein: strebe ein Wesen an sich zu werden!«
ner subjektivitätsphilosophischen Aneignung von (1796/1982, 139).
Spinozas Substanz als absolutes Ich kann er den in- Der durch die Annäherung an das absolute Ich
neren Zusammenhang von Tugend und Seligkeit und dessen Selbstgenügsamkeit vermittelte Zusam-
verständlich machen und vor diesem Hintergrund menhang von Glück und Tugend führt Schelling nun
über Fichte hinausgehen und die Kultivierung seiner sogar – in Anschluss an Spinozas Ethik – zu der Be-
selbst nicht nur als ethische Selbstvervollkomm- hauptung, dass »unglücklich seyn oder sich zu füh-
nung, sondern zugleich als Zuwachs an Seligkeit be- len die wahre Unsittlichkeit selbst ist« (vgl. Spinoza
greifen. 1677/1949, 295; Schelling 1795/1982, 91; 1804/1860,
Die Versöhnung von Freiheit und Seligkeit spricht 55). Unglücklichsein als Erfahrung der Sinnleere ist
Schelling dem absoluten Ich selbst zu, indem er es als damit für Schelling genauso einer Abgrenzung des
»ein Wesen« bestimmt, »das schlechthin selbstge- endlichen Ich gegen das absolute Ich geschuldet, wie
nügsam nur seines eigenen Seins genießt, ein Wesen, die beglückende Sinnerfahrung der Übereinstim-
in welchem alle Passivität aufhört, das gegen nichts, mung mit der Wirklichkeit ihre Ursache in der Be-
selbst gegen Gesetze nicht, sich leidend verhält, das wegung seines Eingehens in das absolute Ich hat. Wie
absolutfrei nur seinem Sein gemäß handelt und des- Glück und befreiende Sittlichkeit für Schelling zu-
sen eigenes Gesetz sein eigenes Wesen ist« (1795/ sammengehören, so folglich auch Unglück und eine
1982, 93; vgl. Gamm 1997, 183). Das entscheidende die subjektive Freiheit beschränkende Unsittlichkeit.
Verbindungselement zwischen der Freiheit und der Entsprechend schroff reagiert er in einem Brief an
Seligkeit, das Schelling von Spinoza übernimmt, ist Hegel auf dessen Bericht von seinen Berner Depres-
die Selbstgenügsamkeit (s. Kap. IV.4). Indem das Ab- sionen: »Erlaube mir, daß ich Dir noch etwas sage:
solute keine fremde Wirklichkeit außer sich hat, ist Du scheinst gegenwärtig in einem Zustand der Un-
es sowohl in seiner Selbstbestimmung ohne Bedin- entschloßenheit und – nach Deinem lezten Briefe an
gung und insofern absolutfrei, als auch in vollkom- mich – sogar – Niedergeschlagenheit zu seyn, der
mener Übereinstimmung mit der Wirklichkeit über- Deiner ganz unwürdig ist. Pfuy! ein Mann von Dei-
haupt und insofern absolut selig. Damit hat Schelling nen Kräften muß diese Unentschloßenheit nie in
einen Begriff des geistigen Glücks der Seligkeit er- sich aufkommen lassen. Reiße Dich bald möglichst
reicht, der mit der Freiheit nicht konfligiert, und be- los. […] Noch einmal, Deine jezige Lage ist Deiner
hauptet denn auch: »wo absolute Freiheit ist, ist abso- Kräfte und Ansprüche unwürdig!« (Brief vom
lute Seligkeit, und umgekehrt« (1795/1982, 94). 20.6.1796, Schelling 2001, 79 f.).
Indem Schelling das Absolute als absolutes Ich be- Hegel seinerseits geht in dieser Zeit – wie ein Frag-
stimmt, vertritt er im Unterschied zu Spinoza ein ment, das auf den Sommer 1797 datiert wird, belegt
Verständnis des Absoluten, das dem Ich nicht als – auch davon aus, dass einer »Trennung zwischen
freie Macht entgegentritt und dadurch seine Freiheit dem Trieb und der Wirklichkeit«, aus der »wirkli-
beschränkt. Wie Fichte kann er deswegen die Einheit cher Schmerz entsteht«, eine Entfremdung mit der
mit dem Absoluten als das höchste Gut des endli- Ursache des zu erleidenden Geschehens zugrunde-
chen Ich begreifen, dem sich dieses um seiner eige- liegt (Hegel 1986b, 243). Er weist diese Entfremdung
4. Glück im Deutschen Idealismus. Das Glück der Versöhnung 191

allerdings dem antiken Pantheismus zu und unter- weshalb es auf die Zwecke angewiesen bliebe, die
scheidet zwischen verschiedenen Verhältnissen, in dem natürlichen Begehren entstammten, das im
die sich ein Mensch zur Ursache seines Leidens stel- Namen der vernünftigen Selbstbestimmung gerade
len könne (243). In Abhängigkeit von den Erfahrun- hatte überwunden werden sollen (vgl. Hegel 1807/
gen, die er bisher mit ihr gemacht hätte, könne ein 1986, 442 ff.).
Mensch in der Antike die Macht »hinter« dem zu er-
leidenden Geschehen als »feindliche Natur«, als Die idealistischen Theorien der Selbst-
»strafende Hand Gottes« angesichts eigener Verfeh-
vervollkommnung
lungen oder als blindes »Schicksal« erfahren (243; s.
Kap. II.7). Dem natürlichen Konflikt von Mensch Wie im bisherigen gesehen, gehen die Idealisten da-
und Wirklichkeit im Pantheismus stellt er die Vor- von aus, dass die Seligkeit der Sinnerfahrung und das
stellung von ihrer Vereinigung im Absoluten entge- Gelingen menschlichen Lebens nicht direkt wie die
gen, wie der Monotheismus sie ausgebildet habe Befriedigung der Bedürfnisse und Neigungen, son-
(244). Das Verhältnis von Mensch und Absolutem dern nur indirekt – durch Versöhnung mit dem Ab-
begreift er analog zum Geschehen der Liebe, in der soluten – angestrebt werden könne. Vor diesem Hin-
die Liebenden – auf nicht zu begreifende Weise – tergrund rückt für die Idealisten die Frage ins Zen-
eins sind und doch zwei (244). trum ihres Glücksdenkens, wie die Versöhnung mit
Gegenüber Kant stellt diese idealistische Selig- dem Absoluten zu erreichen ist. Alle drei Autoren
keitskonzeption – die Fichte und Hegel von Schel- entwerfen Ansätze der Selbstvervollkommnung, die
ling übernehmen werden – nicht nur eine Aufwer- die gelingende Teilhabe am Absoluten zum Maßstab
tung des Glücks, sondern vielmehr eine Revision der für die sittliche Vollkommenheit und das Gelingen
Grundstruktur praktischer Philosophie dar. Mit dem menschlichen Lebens machen. Sie stellen sich darin
höchsten Gut des Eingehens in das Absolute, das zu- in die Tradition des christlichen Gedankens von dem
gleich Glück und Freiheit vermittle, behaupten die Abfall, der Umkehr und der Rückkehr des Menschen
Idealisten einen material bestimmten Endzweck zu Gott (s. Kap. VI.6). So gehen sie in ihrem Selbst-
menschlichen Lebens. Damit geben sie Kants for- vervollkommnungstheorien davon aus, dass die Ent-
male Ethik der Erfüllung sittlicher Pflicht zugunsten zweiung von endlichem und absolutem Ich Resultat
des material bestimmten Verständnisses gelingen- der Selbstverabsolutierung des endlichen Ich ist, das
den Lebens auf, das auf die Versöhnung mit dem Ab- seinen partikularen Standpunkt zum Zentrum der
soluten ausgerichtet ist. Dies gibt auch ihrer Kritik Wirklichkeit überhaupt verabsolutiert und darin
an der Kantischen Ethik die Richtung vor: dass Kant seine Abkünftigkeit vom Absoluten aus dem Blick
mit seiner Pflichtenmoral vom sensualistischen verliert, und dass die Versöhnung mit dem Absolu-
Glücksverständnis abhängig bleibe, von dem er sich ten durch die Überwindung der Selbstverabsolutie-
gerade hatte abgrenzen wollen. So behauptet Schel- rung – der späte Fichte spricht von »Selbstvernich-
ling, dass das sensualistische Glücksverständnis und tung« – anzustreben sei (vgl. Fichte 1806/2001,
das formale Tugendverständnis zwei Seiten dersel- 130).
ben Medaille seien: der anthropozentrischen Le- Die Unterschiede in der Durchführung ih-
benshaltung, die das endliche Leben des Menschen rer Selbstvervollkommnungstheorien haben ihren
verabsolutiere und deswegen Glück nur noch als Be- Grund in Differenzen bei der Bestimmung des Ver-
dürfnisbefriedigung und Tugend nur noch als hältnisses von endlichem Ich und Absoluten. Diese
Pflichterfüllung verstehen könne (vgl. z. B. Schelling Differenzen strahlen sowohl auf die Anlage des
1800/2005, 273 ff.). Der späte Fichte wendet gegen jeweils vorgestellten Selbsterkenntnisprozesses als
die praktische Philosophie des Kritizismus, die er auch auf die konkretere Gestalt und Beurteilung
ehemals selbst vertreten hat, ein, dass sie kein Ver- der unterschiedlichen Dimensionen menschlichen
ständnis für die Liebe zum Geistigen habe, sondern Glücks aus.
Liebe nur sinnlich verstünde und deswegen Sittlich- Der frühe Fichte bahnt mit seiner Vorstellung von
keit als Pflicht verordnen müsse (vgl. Fichte der Kultivierung seiner selbst und der äußeren Natur
1806/2001, 114). Und Hegel betont die Abhängigkeit als der Bewegung der unendlichen Annäherung an
eines Lebens der Pflichterfüllung von den Neigun- die vollkommene Übereinstimmung des vernünfti-
gen, gegen die es sich bestimmt. Einem Leben reiner gen Wesens mit sich selbst den Weg, auf dem sich die
Pflichterfüllung fehle die inhaltliche Ausrichtung, idealistischen Theorien der Selbstvervollkommnung
192 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

bewegen und Gestalten des Glücks finden werden Prozess der Rückkehr aus der Entzweiung der ver-
(vgl. Fichte 1794/1966, 32). gegenständlichenden Bewusstseinshaltung. Dieser
Wie Fichte begreift auch der frühe Schelling in Selbsterkenntnisprozess setzt mit der sinnlichen An-
den 1790er Jahren die Bewegung der Selbstvervoll- schauung bzw. der »Empfindung« ein und mündet
kommnung noch als einen unendlichen Prozess. Das in die intellektuelle Anschauung bzw. die »reine
vollständige Eingehen in das absolute Ich würde Selbstanschauung« des Ich. Organ der reinen Selbst-
nach Schelling das endliche Ich vernichten. Die »in- anschauung, in der die vergegenständlichende Be-
tellektuelle Anschauung« – als kontemplative Verei- wusstseinshaltung überwunden ist, ist für Schelling
nigung mit dem absoluten Ich – bedeute nur deswe- zu diesem Zeitpunkt die Kunst (324 ff.; s. Kap. II.4).
gen nicht den Tod des endlichen Ich, weil dieses Die beglückende Erfahrung, die die vollkommene
durch die sinnliche Anschauung aus diesem Zustand Selbstanschauung begleitet, bezeichnet Schelling im
der Sinnerfüllung immer wieder herausgerissen System des transzendentalen Idealismus als »Gefühl
und ins Leben zurückgeholt werde (vgl. Schelling einer unendlichen Befriedigung« (615). In der Schrift
1791/1992, 95). In Bezug auf das Gelingen menschli- Bruno (1802) spricht er weit emphatischer davon,
cher Lebensführung zeitigt diese Gefahr der Ver- dass die intellektuelle Anschauung – die »die Natur
nichtung durch die Vereinigung mit dem Absoluten in Gott, Gott aber in der Natur sehen« gelernt habe –
nach Schelling die paradoxe Konsequenz, dass das den Schauenden über die Grenzen seiner Endlich-
endliche Ich das höchste Gut absoluter Seligkeit und keit hinaussetze, ihn vervollkommne und ihm auf
Freiheit nicht erreichen wollen könne. In diesem diese Weise die Teilhabe am »seligsten Sein« der Göt-
Sinne bekennt sich Schelling zum Lessingschen Plä- ter eröffne (vgl. 1802/2005, 124).
doyer für das diesseitige Glück: »Ich möchte um alles Der späte Fichte folgt dem Schellingschen Ansatz
in der Welt willen nicht seelig werden!« (1795/1982, der Selbsterkenntnis und -vervollkommnung und
96) Da auch die Autonomie der Vernunfterkenntnis erschließt sich damit in seiner Anweisung zum seli-
nur innerweltlich zu erreichen sei, bezeichnet Schel- gen Leben ein positives Verständnis des geistig ver-
ling die Bejahung der Endlichkeit zugleich als die mittelten Glücks (vgl. Asmuth 2008; zur Diskussion
einzig wahrhaft philosophische Haltung: »Wer nicht um Bruch und Kontinuität der Anweisung mit dem
so denkt, für den sehe ich in der Philosophie keine Frühwerk vgl. u. a. Verweyen 2001, XVIII–XXXI;
Hilfe!« (96). Düsing 2000, 33 ff.; Traub 1995, 163 ff.). Er legt jetzt
Mit dem System des transzendentalen Idealismus sogar weit größeres Gewicht als Schelling auf das
legt Schelling 1800 die erste Theorie eines mehrstufi- Glück, das der Prozess der Selbsterkenntnis in sei-
gen Selbsterkenntnisprozesses vor, die Fichte und nem Verlauf vermittelt.
Hegel beerben werden. Darin hat er sein früheres Das Verhältnis von Absoluten und Bewusstseins-
Beharren auf der Kluft zwischen endlichem und ab- vollzügen bestimmt Fichte – mit den Begriffen des
solutem Ich aufgegeben und will jetzt die durch Ent- Seins und des Daseins – als nicht vollständig zu
zweiung und Verdinglichung gekennzeichnete Hal- überwindende »Urspaltung« (vgl. Fichte 1806/2001,
tung des endlichen Ich überwinden. Ausschlagge- 72; Asmuth 2008, 153 f.). Das Sein ist nach Fichte in
bend für seine neue Konzeption eines auf Vollendung den »Bildern« des Daseins verwirklicht, geht darin
ausgerichteten Prozesses der Selbsterkenntnis ist der jedoch nicht vollständig auf. Umgekehrt ist das Da-
– in Anschluss an Platons Ideenlehre formulierte – sein in seinem Selbstverständnis auf das Sein bezo-
Gedanke vom Verlust einer ursprünglichen Einheit, gen, von dem es herkommt, das sich seinerseits aber
die durch Selbsterkenntnis zurückgewonnen werde. einer direkten Vergegenständlichung entzieht. Dabei
Nach Schelling ist es der Selbsterkenntnis möglich, durchzieht seine jeweils eingenommene Haltung
die ursprüngliche Einheit zurückzugewinnen, da in zum Sein alle Dimensionen des Daseins: seines Erle-
ihr die Intelligenz zugleich Subjekt und Objekt der bens, Liebens und Genießens. Sie entscheidet – so
Erkenntnis ist (1800/2005, 350 f.). Die Intelligenz Fichte – sowohl über die Art seiner Erfahrungen und
wendet sich von der äußeren Wirklichkeit ab und Erkenntnisse als auch über die Art seiner Genüsse
dem eigenen Tätigsein zu und macht sich darin zum und Glücksvorstellungen, so dass »Leben, Liebe, und
Objekt, ist zugleich aber auch das subjektive Tätig- Seligkeit Eins sind und dasselbe« (Fichte 1806/2001,
sein, das dieses Sich-selbst-zum-Objektmachen 12). Diese Identifikation von Leben und Seligkeit
trägt. Auf diese Weise erscheint der Prozess der An- bietet Fichte die Möglichkeit, über Anweisungen zur
näherung des endlichen an das absolute Ich jetzt als Lebensführung zugleich – wie er bereits im Titel ver-
4. Glück im Deutschen Idealismus. Das Glück der Versöhnung 193

spricht – eine Anweisung zum seligen Leben zu ge- diese überhaupt erst ermöglichen. Im Sinne dieser
ben. Umstellung behauptet Hegel, dass sich der absolute
Den Ausgangspunkt für den Selbsterkenntnispro- Geist in den Gestalten des Bewusstseins entäußert
zess des Daseins bildet die Spannung, in der sich das und aus dieser Selbstentäußerung dadurch wieder
Dasein mit seiner unmittelbar zum Sein eingenom- zurückkehrt, dass er sich selbst als Gegenstand und
menen Haltung zur Wahrheit seiner Abkünftigkeit Subjekt des gesamten Selbsterkenntnisprozesses ein-
vom Sein befindet. Die Einsicht in seine Abkünftig- sieht. Den Haltungen des endlichen Bewusstseins
keit vom Sein macht den telos des Selbsterkenntnis- kommt allein noch der Status zu, die Gestalten des
prozesses aus. Insofern die Grundhaltungen des Da- Geistes auszumachen, in denen sich dessen Selbstent-
seins zum Sein die Art seines Erkennens, Liebens äußerung und -erkenntnis vollzieht. Die höchste Be-
und Genießens bestimmen, ist der Prozess seiner wusstseinsgestalt – das absolute Wissen bzw. die wis-
Selbsterkenntnis zugleich ein Prozess der Vervoll- senschaftliche Philosophie –, in die die Selbster-
kommnung seiner Tugend und seiner Seligkeit. Je- kenntnis des Geistes mündet und in der diese sich
der Stufe innerhalb dieses Selbsterkenntnisprozesses vollendet, zeichnet sich dadurch aus, dass sich in ihr
kommt ein spezifisches Glücksverständnis zu. Die das endliche Bewusstsein als Besonderes in die
drei höchsten Gestalten des Daseins, die sich über Selbsterkenntnis des Geistes zurückgenommen hat
ihre Abkünftigkeit vom Sein bestimmen, findet (vgl. Hegel 1807/1986, 575).
Fichte in Kunst, Religion und Philosophie. In ihnen Hegels methodische Grundentscheidung, den
hätte das Dasein seine Selbstverabsolutierung gegen Selbsterkenntnisprozess nicht des endlichen Be-
das Sein – auf der sowohl das sensualistische Ge- wusstseins, sondern des absoluten Geistes zu be-
nussstreben als auch die Pflichtethik beruhten – trachten, führt zu Verschiebungen seines Glücksden-
»vernichtet«, das Sein als seinen Grund eingesehen kens gegenüber Schelling und Fichte. Zunächst kennt
und auf diese Weise ein Selbstverständnis erreicht, in zwar auch Hegel die Seligkeit, die der Versöhnung
dem Tugend und Seligkeit versöhnt seien. Zugleich mit dem Absoluten entspringt, aber da es sich in sei-
stellen sie ihrerseits nochmals drei Stufen innerhalb ner Perspektive um die Selbstversöhnung des Abso-
der Rückkehr des Daseins ins Sein dar. In ihnen stei- luten handelt, attestiert er auch die dieser Versöh-
gert sich die Durchgeistigung des Daseins. Die Kunst nung entspringende Seligkeit dem Absoluten selbst.
verklärt die äußere Wirklichkeit, die Religion die Er stellt sie als die Verfasstheit der Bewegung dar, die
zwischenmenschlichen Beziehungen und die Philo- die geistige Selbsterkenntnis vollzieht. »Das Wahre
sophie – die Fichte aus seiner Wegweisung zum seli- ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied
gen Leben ausschließt, da sie nicht jedermann zu- nicht trunken ist; und weil jedes, indem es sich ab-
gänglich sei – die Vollzüge der Erkenntnis (vgl. sorbiert, ebenso unmittelbar [sich] auflöst, ist er
1806/2001, 83 f.). Damit einhergehend vollendet sich ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe«
in ihnen die Seligkeit des Daseins. Während das Ge- (1807/1986, 46).
nie der Kunst in seiner Seligkeit noch von äußerem Das endliche Bewusstsein erfährt Erfüllung, in-
Erfolg abhängt, ist nach Fichte die Religiosität über dem es an der Seligkeit des Absoluten teilhat. An den
diese äußerliche Bedrohung ihrer Seligkeit hinaus, aus dem endlichen Lebenshorizont entworfenen
da sie die göttliche Liebe und nicht die eigenen Kraft Vorstellungen von Glück und Seligkeit ist Hegel –
als Grund ihres Tuns und als Quelle ihres Genusses wie an allen Haltungen des endlichen Bewusstseins
begreift (vgl. 146 ff.). – nur als Gestalten interessiert, in denen sich die
1807 zieht schließlich Hegel mit der Phänomeno- Selbsterkenntnis des Geistes vollzieht. Insofern es
logie des Geistes als seiner Fassung des Prozesses geis- sich bei dem Prozess geistiger Selbsterkenntnis nach
tiger Selbsterkenntnis nach. Von ihrer methodischen Hegel um kein rein theoretisches, sondern um ein
Anlage her unterscheidet sich die Phänomenologie gleichermaßen historisches Geschehen handelt, be-
von den Ansätzen seiner Vorgänger insofern, als He- tont er in seiner Philosophie der Weltgeschichte, dass
gel den Selbsterkenntnisprozess nicht des endlichen die Leidenschaften und Interessen der Menschen die
Bewusstseins, sondern des absoluten Geistes ent- Instrumente darstellten, vermittels derer sich der
wirft. Er stellt damit die geistigen Prozesse ins Zen- Weltgeist verwirkliche (vgl. 1955, 86 ff.; s. Kap. II.6).
trum seiner Überlegungen, die hinter dem Rücken Im Sinne dieser Relativierung des menschlichen
des endlichen Bewusstseins ablaufen, bzw. sich durch Glücks auf die historische Entwicklung des Geistes
dessen Erkenntnisprozesse hindurch vollziehen und ist auch Hegels viel zitierte These zu verstehen, dass
194 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

die »Zeiten des Glücks […] leere Blätter« der Weltge- schauen, die Begeisterung des Künstlers bleibe in ih-
schichte darstellten (92). rer Gebundenheit an die Anforderungen von Tech-
Die nächste Eigentümlichkeit der Hegelschen nik und Begabung »ein unfreies Pathos« (1830/1986,
Rückbindung der menschlichen an die geistige Selig- § 560, 369). Die eigentliche Geisteshaltung, in der das
keit besteht darin, dass das absolute Wissen bzw. die endliche Bewusstsein an der Seligkeit des Absoluten
wissenschaftliche Philosophie als die Bewusstseins- teilhabe, ist nach Hegel die Offenbarungsreligion
haltung, in die der Selbsterkenntnisprozess des abso- (vgl. 1807/1986, 572 ff.; 1821–27/1993, 32). Dabei
luten Geistes als sein telos mündet, für das einzelne stellt der religiöse Kultus – und innerhalb der christ-
Bewusstsein, das sie einnimmt, nicht beglückend ist. lichen, als der vollendeten Religion, die Eucharistie –
Indem das endliche Bewusstsein seine besondere den Ort dar, an dem die erfüllende Versöhnung mit
Perspektive in die Selbsterkenntnis des Geistes zu- dem absoluten Geist »vollbracht […], gefühlt und
rücknimmt, vermag es im Rückblick auf den Prozess genossen« werde (1821–27/1993, 248).
geistiger Selbsterkenntnis Wissen von diesem Pro- Die Rückbindung der menschlichen an die geis-
zess zu erreichen. So kann es auch einsehen, dass der tige Seligkeit hat schließlich auch Konsequenzen für
Prozess geistiger Selbsterkenntnis in sich Zustände das methodische Selbstverständnis von Hegels
des ekstatischen Rauschs und der seligen Ruhe ver- Glücksphilosophie. Hegel schreibt deswegen keine
söhnt. Mit seinem Eingehen in das Selbstwissen des Anleitung zum seligen Leben, weil er darauf reflek-
absoluten Geistes hat das endliche Bewusstsein je- tiert, dass sich die sinnstiftende Übereinstimmung
doch zugleich den besonderen Standpunkt aufgege- mit der Wirklichkeit überhaupt einem Geschehen
ben, von dem aus es die eigene Versöhnung mit dem verdankt, das das einzelne Bewusstsein nicht aus ei-
Absoluten als erfüllend erfahren könnte. Wie am gener Kraft hervorbringt, sondern das sich vielmehr
Ende der Phänomenologie verzichtet er auch am durch die individuelle Selbstverständigung hindurch
Ende der Enzyklopädie und in seiner Berliner An- vollzieht: der Selbsterkenntnis des Geistes, in der das
trittsvorlesung, in der er ein emphatisches Plädoyer Absolute zugleich Substanz und Subjekt ist und auf
für die Philosophie als »Sonntag des Lebens« hält, diese Weise die Übereinstimmung von Bewusstsein
auf ihre Auszeichnung als beglückend (1818/1997, und Wirklichkeit hervorbringt, die das ästhetische
55; 1830/1986, 395). und das religiöse Bewusstsein als erfüllend erfahren.
Die Seligkeit des Absoluten können nach Hegel Schellings Spätphilosophie beruht auf der Kritik
nur solche Bewusstseinshaltungen erfahren, die be- an dem Anspruch auf philosophische Selbstbegrün-
wusst an der Selbsterkenntnis des absoluten Geistes dung, dem sich die – von Hegel und ihm selbst – ver-
teilhaben, für die aber zugleich die Besonderheit des tretene Identitätsphilosophie verschrieben hatte. Die
endlichen Bewusstseins noch konstitutiv ist. Das Identitätsphilosophie könne nämlich den Akt des
sind in der Phänomenologie die Kunstreligion und Denkens selbst nicht mehr in das Denken aufheben,
die offenbarte Religion und in der Enzyklopädie die sondern nehme ihn vielmehr als uneingeholte Vor-
Kunst und die Religion (vgl. 1830/1986, §§ 556–571, aussetzung in Anspruch (vgl. Schulz 1975, 21 ff.).
367–378; 1807/1986, 512–575). Dabei betont Hegel Nicht nur scheitere die Identitätsphilosophie an
wie Fichte, dass die Seligkeit, die in der Kunst bzw. in ihrem eigenen Anspruch auf voraussetzungslose
den Kunstreligionen erreicht werde, defizitär sei. In Selbstbegründung, sondern sie bleibe auch nur ›ne-
der Phänomenologie zeigt er, dass in den vor-mono- gativ‹: sie kreise im Gesamtzusammenhang der
theistischen Gestalten der »Kunstreligion« ihr be- Denkbestimmungen, ohne diesen auf die Tatsachen
schränktes Verständnis des Absoluten auf die For- hin transzendieren zu können. Sie sei deswegen zu-
men von Seligkeit durchschlage, die sie vermittelten gunsten eines Ansatzes ›positiver Philosophie‹ auf-
und die nur einseitig entweder als bachantischer zugeben, die vom unvordenklichen Ereignis der
Taumel oder als einfache Ruhe oder als Wohlsein ›freien Tat‹ ausgehe.
der Selbstgewissheit erlebt würden (vgl. 1807/1986, Für sein Glücksdenken hat diese Wende zur posi-
527 f., 544). In seiner späteren Philosophie der Kunst tiven Philosophie zur Konsequenz, dass Schelling die
behauptet er, dass die erfüllende Übereinstimmung Ursache für die Entzweiung und die Versöhnung von
mit der Wirklichkeit allein an der idealen Kunstge- endlichem Ich und Absoluten – bzw. wie er jetzt sagt:
stalt vorgestellt, aber weder vom Betrachter noch von Seele und Gott – nicht mehr in Haltungen des
vom Künstler geteilt werde (vgl. 1823/2003, 82). Der Denkens, sondern in Akten der Freiheit sucht. Die
Betrachter könne nur das Glück der Kunstgestalt an- Entzweiung begreift er jetzt im Sinne der christli-
4. Glück im Deutschen Idealismus. Das Glück der Versöhnung 195

chen Tradition als ›Abfall‹ aus der unmittelbaren Reichs versteht Schelling damit als Akt göttlicher
Einheit mit Gott (vgl. Jürgensen 2000, 128 f.). Von Gnade und die künftige Seligkeit als einen Zustand
Gott mit der Freiheit der Selbstbestimmung ausge- unbeschränkter Erfüllung, für den es, da er unver-
stattet, ergreife sich die Seele in ihrer ›Selbstheit‹. Sie dient sei, »in unserer bisherigen Erfahrung nichts
wende ihre Freiheit darin gegen die Einheit mit Gott Analoges« gebe (1831–32/1992, 602).
und hypostasiere ihre Selbstheit »zum Herrschen-
den und zum Allwillen« (Schelling 1809/1860, 389). Das Glück der Versöhnung
Der Abfall bildet nach Schelling den Ursprung des
mit den Anderen
Unglücks bzw. der Zerstörung in der Welt. Auf ihn
sei die menschliche Abgründigkeit – die Krankhei- Ausgeklammert hat das Bisherige die zwischen-
ten des Gemüts und des Geistes, die Schwermut, die menschliche Dimension am Glück der Versöhnung.
unstillbare Begierde und der Wahnsinn –, die Zwie- Die Versöhnung mit dem Absoluten wird von den
tracht zwischen den Menschen und der unerlöste Idealisten als Grund der Übereinstimmung nicht
Zustand der Natur mitsamt ihrer Aspekte der Ver- nur mit der Wirklichkeit überhaupt, sondern auch
nichtung bis hin zum Tode zurückzuführen (vgl. mit den anderen Menschen – und damit als Grund
1810/1860, 460 ff.). von Gemeinschaft und zwischenmenschlichem Frie-
Die »Rückkehr« zum Absoluten versteht Schelling den – verstanden (s. Kap. II.9). Das Eingehen in das
nach seiner positiven Wende nicht mehr als Prozess Absolute umfasst für sie dementsprechend einen As-
der Selbsterkenntnis, sondern als einen in der Le- pekt zwischenmenschlicher Versöhnung, den Fichte
bensführung zu leistenden Prozess der Reinigung und Hegel als Anerkennungsprozess begreifen. Da-
von »dem Zufälligen, das der Leib, die Erscheinungs- bei sind sich Fichte und Hegel einig, dass den Aner-
welt, das Sinnenleben zu ihm gebracht haben« kennungsprozessen eine wesentliche Funktion in-
(1804/1860, 26). Allerdings könne sich der Mensch nerhalb des Prozesses der Selbsterkenntnis zu-
aufgrund seiner Verstricktheit in die eigenen Ab- kommt. Grundlegende Differenzen resultieren aus
gründigkeiten die Rückkehr zu Gott nicht aus eige- den oben bereits thematisierten Unterschieden in
ner Kraft bahnen. Solch ein Selbstverständnis würde der Bestimmung des Verhältnisses von endlichem
nur die Fortsetzung der menschlichen Selbstverab- Ich und Absoluten: während Fichte das Anerken-
solutierung darstellen (vgl. 1809/1860, 389; Jacobs nungsgeschehen aus dem Horizont seiner Theorie
1995, 131 f.). Frei zur Rückkehr zu Gott sei der sittlicher Kultivierung thematisiert, entwickelt es He-
Mensch, da Gott selbst ihm – durch die Menschwer- gel im Rahmen seiner Philosophie des Geistes als
dung – die Möglichkeit dazu eröffnet habe (vgl. Bewegung des Geistes. Fichte bestimmt Anerken-
Schelling 1810/1860, 463). So stellt Christus für den nung derart als ein sittliches Geschehen, Hegel dage-
späten Schelling den »Vorgänger und Anführer zum gen als Selbstverhältnis des Geistes, das – auch – die
ewigen Leben« dar (1831–32/1992, 597). Philoso- sittlichen Beziehungen trägt (vgl. Siep 2008).
phisch ist die individuell zu vollziehende Umkehr – Der frühe Fichte gilt als derjenige, der die erste
insofern sie ein tatsächliches Geschehen im Leben Theorie der Anerkennung entworfen hat (vgl. Dü-
eines Menschen darstelle – dem späten Schelling zu- sing 2006; Siep 1979, 26 ff.). In der – nie vollständig
folge nicht mehr durch eine Theorie über die Ge- zu erreichenden – Übereinstimmung des endlichen
setzmäßigkeiten der Vernunft zu bestimmen, son- Ich mit dem absoluten Ich bzw. seiner Vernunftnatur
dern allein nachträglich zu erzählen. Solch eine wäre nach Fichte mit der Vervollkommnung des ei-
erzählende Darstellung eines individuellen Umkehr- genen Menschseins zugleich die vollständige Über-
geschehens findet sich in dem posthum veröffent- einstimmung mit den Anderen, als Vernunftwesen,
lichten Dialog Clara, der in der Forschung auf das erreicht (vgl. Fichte 1794/1966, 35 ff.). Die Überein-
Jahr 1810 datiert und als literarische Verarbeitung stimmung mit dem absoluten Ich stellt solcherart
von Schellings eigener Lebenskrise angesichts des nicht nur das Ziel der individuellen Lebensführung,
Tods seiner ersten Frau Caroline im Jahr 1809 ge- sondern zugleich – als absolute ›Vereinigung‹ – auch
deutet wird (vgl. 2009). das Ziel des menschlichen Miteinanders dar. Ent-
Die Auferstehung Christi – in der der Vater das scheidend ist für Fichte nun, dass der sittliche Pro-
Menschsein wieder angenommen habe – berechtige zess der Annäherung an die absolute Vereinigung
nach Schelling schließlich zu der Hoffnung auf das seinerseits durch zwischenmenschliche Anerken-
künftige Reich der Erlösung. Das Kommen des nung vermittelt ist. Im Anerkennungsgeschehen bil-
196 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

det sich nach Fichte sowohl individuelles Selbstbe- auf die unmittelbare Vereinigung auf und unter-
wusstsein als auch zwischenmenschliche Gemein- scheidet am Anerkennungsgeschehen des Geistes die
schaft und in letzter Konsequenz die absolute drei Beziehungen der unmittelbaren Vereinigung,
Vereinigung der Menschen heraus (vgl. 1794/1966, der Entgegensetzung und der die Entgegensetzung
38 ff.). Zunächst gehe nämlich vom Anderen der not- integrierenden Einheit. Das geistige Anerkennungs-
wendige »Anstoß« aus, der das Subjekt dazu nötige geschehen bildet jetzt für Hegel die substantielle
zu handeln, worin es sich überhaupt erst als ein freies Grundlage der zwischenmenschlichen Anerken-
Vernunftwesen erfahre (vgl. 1796/1845, 33 ff.). In nungsprozesse. Letztere denkt er derart nicht als von
dieser »Wechselwirkung« mit einem Anderen werde den Individuen selbst initiiert, sondern als Ausdruck
es sich zugleich seines Gegenübers als Seinesglei- des geistigen Prozesses, der sich durch das individu-
chen bewusst. Im Ergreifen der eigenen Freiheit gehe elle Denken und Handeln hindurch vollziehe. Im
dann jeder seinen je eigenen Weg und grenze sich Durchlaufen des mehrstufigen Anerkennungspro-
darin als Individuum gegen den Anderen ab (vgl. zesses begreift das einzelne Bewusstsein Hegel zu-
41 ff.). Vermittels dieser Abgrenzung gegen einen folge, dass es in den Prozessen des Geistes, an denen
Anderen konstituiere sich ein Ich als Individuum. es teilhat, immer schon als geistiges Wesen aner-
Zugleich sei es in dieser Abgrenzung auf den Ande- kannt ist. Entsprechend der Dreistufigkeit des geisti-
ren nun seinerseits als Individuum bezogen, so dass gen Anerkennungsgeschehens gliedert sich nun für
sich in dieser Wechselbeziehung eine »Gemein- Hegel auch das zwischenmenschliche Anerken-
schaft« herausbilde (48). Schließlich streben die in nungsgeschehen in drei Sphären der Anerkennung:
ihrer Verschiedenheit aufeinander bezogenen Indi- die Liebe als das unmittelbare Sich-Wiederfinden im
viduen nach Fichte danach, die Anderen von ihrem Anderen, in dem sich der Einzelne als Selbst erfährt;
jeweiligen Verständnis menschlichen Lebens zu den Kampf um Anerkennung mit einem anderen
überzeugen (vgl. 1794/1966, 38 ff.). In dem hieraus Selbstbewusstsein, in dem beide ihr individuelles
entstehenden »Ringen der Geister mit Geistern« Selbstsein als Gesetz der Wirklichkeit anerkannt wis-
wirken die Menschen wechselseitig aufeinander ein, sen wollen, im Vollzug des Kampfes ihr Anerkannt-
so dass sich ein gemeinsames Verständnis vom werden allerdings gerade als Aufhebung ihrer Parti-
menschlichen Leben konstituiere (38). Da sich in kularität erfahren; und schließlich die Ordnung des
diesen Anerkennungskämpfen immer der Bessere Volks bzw. die Rechtsordnung als die geistige Welt, in
durchsetze, vervollkommne sich das gemeinsame der die Einzelnen als freie Vernunftwesen anerkannt
Selbstverständnis. Auf diese Weise strebe die und in ihrer Verschiedenheit vereint sind (vgl. 1803–
menschliche Gattung der absoluten Vereinigung ent- 04/1975, 315–326; 1805–06/1976, 223–236). Die sitt-
gegen. liche Welt stellt damit eine gemeinsame Wirklichkeit
Hegel stellt in seinen frühen Fragmenten über des »Anerkanntseyns« jenseits der einzelnen Aner-
Liebe und Religion, die auf die Jahre 1797 und 98 da- kennungsakte dar, die sich die Einzelnen gewähren
tiert werden, das Geschehen zwischenmenschlicher oder auch nicht (vgl. 1805–06/1976, 236).
Anerkennung als Liebe dar (vgl. Hegel 1986a; 1986b; Ab der Phänomenologie des Geistes entkoppelt He-
s. Kap. II.8). Dabei beschränkt er – im Unterschied gel die Gestalten der Liebe, des Anerkennungskamp-
zu Fichte und seinen eigenen späteren Überlegun- fes und des Rechtszustands einerseits und die Ge-
gen – den Anerkennungsprozess auf den Aspekt der nese des vernünftigen Selbstbewusstseins anderer-
Vereinigung. Die individualisierende Bestimmung seits (vgl. Siep 1979, 143 ff.). Er hält jedoch daran fest,
gegeneinander geht dem Geschehen der Liebe dem dass geistige Selbsterkenntnis durch die Anerken-
frühen Hegel zufolge voraus und wird in ihm über- nungsverhältnisse – der unmittelbaren Einheit, der
wunden. Indem aus der Vereinigung der Liebe ein besondernden Entgegensetzung und der die Beson-
Kind entstehe, bedeute die Überwindung der Ent- derheit integrierenden Einheit – hindurch verläuft.
zweiung in der Liebe zugleich die Teilhabe am un- Dementsprechend stellt er auch weiterhin sowohl
sterblichen Leben (vgl. 1986a, 248 f.). das einzelne Selbstbewusstsein als auch die sittliche
Seit seiner Jenaer Zeit begreift Hegel das Anerken- Welt – in denen sich die Selbsterkenntnis des Geistes
nungsgeschehen im Sinne seiner Philosophie des verwirklicht – als durch Anerkennungsbeziehungen
Geistes als Medium geistiger Selbsterkenntnis. »An- bestimmt dar. Das besondere Bewusstsein erfährt
erkanntseyn ist das geistige Element« (1805–06/1976, die höchste Form der Anerkennung, seine Anerken-
278). Dabei gibt er die Begrenzung der Anerkennung nung als Geist, in der Darstellung der Phänomenolo-
4. Glück im Deutschen Idealismus. Das Glück der Versöhnung 197

gie allerdings erst jenseits der Sphären zwischen- dem »Weltlauf« – erst gar nicht zur Umsetzung, da
menschlicher Beziehungen: in der religiösen Bezie- dies für sie einer Korruption ihrer eigenen Vernunft-
hung zum absoluten Wesen, in dem es sich schaut ideale gleichkäme (vgl. 289 ff.; vgl. auch 1830/1986,
(Hegel 1807/1986,546, 554; vgl. Siep 2008). Der geis- § 479, 299 f.).
tige Anerkennungsprozess selbst mündet – im Sinne Im Unterschied zu den subjektiven Glücksvorstel-
des Gedankens von der Rückkehr des Geistes zu sich lungen und im Sinne seiner Anerkennungstheorie
selbst – in die Selbstanerkennung des Absoluten (vgl. behauptet Hegel, dass das Glück der praktischen Le-
Hegel 1807/1986, 561). bensführung in der sittlichen Welt aufgehoben sei
Hegels Anerkennungstheorie hat schließlich auch (vgl. 1830/1986, § 469 Zus., 289 f.). Dies meint zu-
Konsequenzen für sein Verständnis des im prakti- nächst, dass der Einzelne als sittliches Subjekt eine
schen Lebensvollzug zu erreichenden Glücks (s. Kap. Lebenshaltung einnimmt, die sich nicht auf subjek-
II.2). Die verschiedenen Institutionen der sittlichen tive Glücksvorstellungen als handlungsorientierende
Welt – die Grundlinien unterscheiden die Institutio- Zwecke ausrichtet. Es meint aber zugleich, dass das
nen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und individuelle Glück als Unteraspekt eines sittlichen
des Staats – bilden für Hegel nämlich nicht nur un- Lebens aufbewahrt ist. In der sittlichen Welt ist näm-
terschiedliche Sphären der Anerkennung, sondern lich die beglückende Übereinstimmung mit der
zugleich die Welt, in der das praktische Streben des Wirklichkeit bereits realisiert. Wie das sittliche Sub-
Einzelnen nach einem gelingenden Leben aufgeho- jekt keine abstrakten Vorstellungen von Lust, Wohl-
ben ist (vgl. 1821/1986, §§ 142 ff., 292 ff.). befinden oder Glückseligkeit überhaupt, sondern
Wenn Hegel – wie eingangs zitiert – die Begriffe sittlich geformte und konkretisierte Glücksvorstel-
der Glückseligkeit und des Wohls für unendlich lungen verfolgt, tritt ihm umgekehrt nicht mehr die
langweilig hält, so weil sie Vorstellungen einer fremde Wirklichkeit überhaupt, sondern mit den
»unbestimmte[n], hole[n] Reflexion« darstellen, die sittlichen Institutionen eine Welt entgegen, die sei-
die subjektiven Erfahrungen aus der sittlichen Welt nem Streben nach einem gelingenden Leben Rück-
herauslösen, die sie trägt und ihnen überhaupt erst halt gewährt. In der Familie ist die Lust als Liebe, in
ihre konkrete inhaltliche Bestimmtheit vermittelt der bürgerlichen Gesellschaft das Streben nach Be-
(vgl. 1821/1986, § 125 Anm., 236). Damit bleiben dürfnisbefriedigung als wirtschaftliches Handeln
nach Hegel die subjektiven Vorstellungen der beglü- und im Staat die Tugend als patriotische Gesinnung
ckenden Übereinstimmung mit der Wirklichkeit – aufgehoben. Damit zugleich sind die Zwecke, die das
die er in der Phänomenologie als Lust, Gesetz des sittliche Subjekt verfolgt, keine Ansprüche äußerli-
Herzens und Tugend und in der Enzyklopädie als cher Pflicht, sondern durchaus Ziele seines eigenen
praktisches Gefühl, Triebe, Neigungen, Leidenschaf- Wollens (vgl. 1807/1986, 454 ff.). Folglich ist das sitt-
ten und als Glückseligkeit bestimmt – ohne Rückbe- liche Handeln bereits in seinem Vollzug für das sittli-
zug auf die Welt, von der sie ihre Erfüllung erwarten che Subjekt beglückend. In diesem Sinne spricht He-
(vgl. 1807/1986, 263 ff.; 1830/1986, § 469 ff., 288 ff.). gel davon, dass in der sittlichen Welt die Versöhnung
In der Phänomenologie zeigt Hegel, dass diese bloß von Glückseligkeit und Tugend verwirklicht sei, und
subjektiven Vorstellungen, wenn sie zu Zwecken bezeichnet die Kantische Idee des höchsten Guts als
praktischer Lebensführung gemacht werden, an den Projektion dieses sittlichen Zustands in die diffuse
Prozessen des Geistes zerschellen, die ihnen als Sphäre des Jenseits, in der alle begrifflichen Bestim-
fremde Wirklichkeit entgegentreten – so dass das ge- mungen verschwimmen (vgl. 454 f.; Pinkard 2001,
suchte Glück der Übereinstimmung mit der Wirk- 74–85).
lichkeit gerade nicht gefunden wird. Die Hingabe an Der späte Schelling nimmt das Anerkennungsge-
die »Lust« bedeute für den Einzelnen seinen Selbst- schehen in das Verhältnis von Mensch und Gott zu-
verlust, da die Einheit, der er sich hingebe, in bloße rück (vgl. Sturma 2004). Damit denkt auch er ein in-
Notwendigkeit umschlage (vgl. 1807/1986, 273). Die terpersonales, jedoch weder zwischenmenschliches
Realisierung des individuell gefühlten Menschheits- noch wechselseitiges Anerkennungsgeschehen.
wohls führe zu einem Zustand »allgemeine[r] Be-
fehdung«, in dem sich »die einzelnen Versuche Ausblick
der Menschheitsbeglückung gegenseitig aufheben«
(282). Die Tugend komme schließlich aufgrund ih- Das Glücksdenken der deutschen Idealisten ist in
rer abstrakten Kritik an allem positiv Bestehenden – seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Um-
198 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

stellungen durch das Bestreben bestimmt, das christ- H. Schrader (Hg.): Die Spätphilosophie J. G. Fichtes.
liche Verständnis des sinnstiftenden Aufgehoben- Fichte-Studien. Bd. 18. Amsterdam/Atlanta 2000, 19–
seins in Gott bzw. dem Absoluten – mit seinen 48.
Aspekten des gelingenden Lebens, der Übereinstim- –: Monologisches oder dialogisches Dasein des Ich bei
mung mit dem äußeren Geschehen und des Friedens Fichte? In: Hans Georg von Manz/Günter Zöller
– unter den Bedingungen der Moderne, und d. h. ins- (Hg.): Fichtes praktische Philosophie. Eine systemati-
besondere unter den Bedingungen subjektiver Frei- sche Einführung. Hildesheim 2006, 73–91.
heit, zugänglich zu machen. Inwieweit man den Idea- Fichte, Johann Gottlieb: Einige Vorlesungen über die
listen in ihrem Bemühen um das von der Beziehung Bestimmung des Gelehrten [1794]. In: Ders.: Ge-
samtausgabe. Bd. I,3 (Hg. R. Kauth/H. Jacob). Stutt-
zum Absoluten gestiftete Glück bereit ist zu folgen,
gart-Bad Canstatt 1966, 1–68.
hängt wesentlich von der eigenen Einschätzung des
–: Grundlegungen des Naturrechts nach Prinzipien der
Verhältnisses von christlichem Glauben und Mo-
Wissenschaftslehre [1796]. In: Ders.: Sämmtliche
derne ab.
Werke. Bd. 3 (Hg. I. H. Fichte). Berlin 1845, 1–385.
Versuche in der jüngeren Philosophie, Aspekte des
–: System der Sittenlehre [1798] (Hg. H. Verweyen).
idealistischen Glücksdenkens im Rahmen eines sä- Hamburg 1995.
kularen Selbstverständnisses anzueignen, richten –: Die Anweisung zu einem seligen Leben [1806] (Hg.
sich v. a. auf die Hegelsche Theorie der Anerkennung. H. Verweyen). Hamburg 2001.
Das Anerkennungsgeschehen wird – sehr früh be- Gamm, Gerhard: Der Deutsche Idealismus. Eine Ein-
reits von Alexandre Kojève (1947/1975) – aus dem führung in die Philosophie von Fichte, Hegel und
geistesphilosophischen Rahmen herausgelöst und Schelling. Stuttgart 1997.
als ein intersubjektiver Prozess gedacht, dessen Trä- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Das System der speku-
ger die Subjekte selbst sind. Intersubjektive Anerken- lativen Philosophie. Fragmente aus den Vorlesungs-
nung wird als Grund von gelingender Individualge- manuskripten der Philosophie der Natur und des
nese (z. B. Honneth 1992; 1997), von gelingender Ge- Geistes [1803–04]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd.
meinschaft (vgl. z. B. Margalit 1996/1999), sowie VI (Hg. K. Düsing/H. Kimmerle). Hamburg 1975.
gelingendem interkulturellen Zusammenleben (vgl. –: Systemfragment von 1805/1806. In: Ders.: Gesam-
z. B. Taylor 1993) verstanden. Axel Honneth, der pro- melte Werke. Bd. VIII (Hg. R.-P- Horstmann). Ham-
minenteste Anerkennungstheoretiker in der deutsch- burg 1976.
sprachigen Philosophie der Gegenwart, entwirft eine –: Phänomenologie des Geistes [1807]. In: Ders.: Werke.
auf Anerkennung gegründete Moralphilosophie. Zu- Bd. 3 (Hg. E. Moldenhauer/K. M. Michel). Frankfurt
nächst unterscheidet er in Anschluss an Hegel zwi- a. M. 1986.
schen den Anerkennungssphären der Liebe, des –: Antrittsrede [1818]. In: Ders.: Berliner Schriften
Rechts und der Solidarität, die dem Einzelnen Selbst- (1818–1831) (Hg. W. Jaeschke). Hamburg 1997, 43–62.
vertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung ver- –: Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821]. In:
mittelten (vgl. Honneth 1992, 66, 127, 209). Störun- Ders.: Werke. Bd. 7 (Hg. E. Moldenhauer/K. M. Mi-
chel). Frankfurt a. M. 1986.
gen innerhalb dieser Beziehungen begreift er als so-
–: Vorlesungen über die Philosophie der Religion
ziale Pathologien (vgl. 1990, 1046–1050). Aus der
[1821–27]. Teil 1 und 3 (Hg. W. Jaeschke). Hamburg
wechselseitigen Angewiesenheit auf die Anerken-
1993 und 1995.
nung durch den Anderen schließt er im Weiteren auf
–: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst [1823]
eine »Pflicht« der Subjekte, »sich als Personen zu re-
(Hg. A. Gethmann-Siefert). Darmstadt 2003.
spektieren und zu behandeln« (1997, 39). –: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
im Grundrisse. Dritter Teil [1830]. In: Ders.: Werke.
Bd. 10 (Hg. E. Moldenhauer/K. M. Michel). Frankfurt
Literatur
a. M. 1986.
Asmuth, Christoph: Das Verhältnis von Philosophie –: Liebe. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Hg. E. Moldenhauer/K.
und Religion zur Religionsphilosophie Fichtes. In: M. Michel). Frankfurt a. M. 1986a, 244–250.
Alfred Denker/Holger Zaborowski (Hg.): F.W. J. –: Liebe und Religion. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Hg. E.
Schelling. Philosophie und Religion. Freiburg/Mün- Moldenhauer/K. M. Michel). Frankfurt a. M. 1986b,
chen 2008, 143–154. 243–244.
Düsing, Edith: Umwandlung der Kantischen Postula- –: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte.
tenlehre in Fichtes Ethik-Konzeption. In: Wolfgang Bd. I (Hg. J. Hoffmeister). Hamburg 1955.
4. Glück im Deutschen Idealismus. Das Glück der Versöhnung 199

Honneth, Axel: Integrität und Missachtung. Grundmo- –: Stuttgarter Privatvorlesungen [1810]. In: Ders.:
tive einer Moral der Anerkennung. In: Merkur 44 Sämmtliche Werke. Bd. I, 7 (Hg. K. F. A. Schelling).
(1990), 1043–1054. Stuttgart/Augsburg 1860, 419–484.
–: Der Kampf um Anerkennung. Frankfurt a. M. 1992. –: Urfassung der Philosophie der Offenbarung [1831–
–: Anerkennung und moralische Verpflichtung. In: 32] (Hg. W. E. Ehrhardt). Hamburg 1992.
Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (1997), –: Briefe 1. In: Ders.: Historisch-kritische Ausgabe. Bd.
25–41. III, 1 (Hg. I. Möller/W. Schieche). Stuttgart-Bad Can-
Jacobs, Wilhelm G.: Die Entscheidung zum Bösen und statt 2001.
zum Guten im einzelnen Menschen. In: Otfried –: Clara (Hg. K. Dietzfelbinger). Königsdorf 2009.
Höffe/Annemarie Pieper (Hg.): Klassiker Auslegen. Schulz, Walter: Die Vollendung des deutschen Idealis-
Bd. 3: F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschli- mus in der Spätphilosophie Schellings. Pfullingen
chen Freiheit. Berlin 1995, 125–146. 1975.
Jürgensen, Sven: Schellings logisches Prinzip: Der Un- Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen
terschied in der Identität. In: Christoph Asmuth/Al- Philosophie. Freiburg/München 1979.
fred Denken/Michael Vater (Hg.): Schelling zwischen –: Anerkennung in der »Phänomenologie des Geistes«
Fichte und Hegel. Amsterdam 2000, 113–141. und in der praktischen Philosophie der Gegenwart.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781] In: Information Philosophie 1 (2008), 7–19.
[KrV]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3 und 4 (Hg. Spinoza, Baruch: Die Ethik nach geometrischer Me-
W. Weischedel). Darmstadt 1983. thode dargestellt [1677] (Hg. O. Baensch). Hamburg
Kojève, Alexandre: Hegel. Eine Vergegenwärtigung sei- 1949.
nes Denkens. Kommentar zur ›Phänomenologie des Sturma, Dieter: Person sucht Person. In: Thomas Buch-
Geistes‹ [1947]. Frankfurt a. M. 1975. heim/Friedrich Hermanni (Hg.): Alle Persönlichkeit
Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und ruht auf einem dunklen Grunde. Berlin 2004, 55–70.
Verachtung [1996]. Frankfurt a. M. 1999. Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der
Pinkard, Terry: Tugend, Moral und Sittlichkeit. Von Ma- Anerkennung. Frankfurt a. M. 1993.
ximen und Praktiken. In: Deutsche Zeitschrift für Traub, Hartmut: Vollendung der Lebensform. Fichtes
Philosophie 1 (2001), 74–85. Lehre vom seligen Leben als Theorie der Weltan-
Schelling, Friedrich Wilhelm Josef: Philosophische schauung und des Lebensgefühls. In: Klaus Hamma-
Briefe über Dogmatismus und Kritizismus [1795]. In: cher/Richard Schottky/Wolfgang H. Schrader (Hg.):
Ders.: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 3 (Hg. H. Religionsphilosophie. Fichtestudien. Bd. 8. Amster-
Buchner/W. G. Jacobs/A. Pieper). Stuttgart-Bad Can- dam/Atlanta 1995, 161–191.
statt 1982, 47–112. Verweyen, Hansjürgen: Einleitung. In: Johann Gottlieb
–: Neue Deduktion des Naturrechts [1796]. In: Ders.: Fichte: Die Anweisung zu einem seligen Leben [1806]
Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I,3 (Hg. H. Buch- (Hg. H. Verweyen). Hamburg 2001, XIII–LXVI.
ner/W. G. Jacobs/A. Pieper). Stuttgart-Bad Canstatt Olivia Mitscherlich-Schönherr
1982, 137–175.
–: Epikureisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerpors-
tens [1799]. In: Aus Schellings Leben in Briefen. Bd. I
(Hg. G. L. Plitt). Leipzig 1869, 282–289.
–: System des transzendentalen Idealismus [1800]. In:
Ders.: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 9.1 (Hg. W.
G. Jacobs/J. Jantzen/H. Krings). Stuttgart-Bad Can-
statt 2005.
–: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip
der Dinge. Ein Gespräch [1802] (Hg. M. Durner).
Hamburg 2005.
–: Philosophie und Religion [1804]. In: Ders.: Sämmtli-
che Werke. Bd. I, 6 (Hg. K. F. A. Schelling). Stuttgart/
Augsburg 1860, 12–70.
–: Philosophische Untersuchungen über das Wesen
menschlicher Freiheit [1809]. In: Ders.: Sämmtliche
Werke. Bd. I, 7 (Hg. K. F. A. Schelling). Stuttgart/Augs-
burg 1860, 331–416.
200 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

5. Glück im Junghegelianis- III) mit dem Ergebnis, jenen Riss nicht nur als ein
wie immer problematisches Verhältnis von theoreti-
mus. Die Unverfügbarkeit scher und praktischer Vernunft zu bestimmen, son-
des Glücks zwischen dern als prinzipielle, und philosophisch relevante,
Nicht-Identität von Vernunft einerseits und ›Praxis‹
Willkür und gemeinsamem bzw. ›Leben‹ andererseits. Der Junghegelianismus
Maß diagnostiziert und kritisiert – ob zu Recht oder zu
Unrecht muss nicht interessieren – an der klassi-
schen deutschen Philosophie (prominent Kants und
Der folgenden Darstellung liegt eine These zu- Hegels), das gute/gelingende Leben als bloßes Ratifi-
grunde: Die junghegelianischen Philosophie-Ent- zieren des richtigen Philosophierens zu bestimmen.
würfe, die bei aller Kritik an Hegel (s. Kap. V.4) noch Gegen solch diagnostizierte Scholastik setzt er eine
überzeugt waren, die eigene Konzeption nur im »Philosophie der Tat« (Stuke 1963) oder, durchaus
Durchgang durch die Philosophie Hegels gewinnen nicht dasselbe, eine »Verwirklichung der Philoso-
zu können, sind eine ganz eigene, wenn auch indi- phie« (Schürmann 2001). Die Marxsche Auseinan-
rekte Herausforderung für eine Philosophie des dersetzung mit der hellenistischen Philosophie in
Glücks. Der spezifische Beitrag ›des‹ Junghegelianis- dessen Dissertation ist insofern symptomatisch für
mus liegt darin, den für jede Theorie/Philosophie den Junghegelianismus. »Not tat eine völlig neue
des Glücks virulenten systematischen Punkt der Un- Philosophie, die nach den bisherigen Begriffen keine
verfügbarkeit des Glücks − sowohl der Glücksmo- mehr war, die dem Übergang zur Praxis Rechnung
mente als auch des gelingenden Lebens − radikali- trug« (Sannwald 1956, 62).
siert zu haben. Nach dem Junghegelianismus könnte Notwendigerweise schlägt sich das auch im Stil
die akademische Philosophie anders als vorher da- des junghegelianischen Philosophierens nieder, das
rum wissen, dass eine Philosophie des Glücks eine gerade auch für das eigene Philosophieren keine fest-
»Logik der Praxis« (Bourdieu 2001) des Glücks aus- stehende Wahrheit der Vernunft in Anspruch neh-
zumachen hat, während es vorher noch unanachro- men kann; notwendigerweise ist dieses Philosophie-
nistisch möglich und vielfach suggestiv war, eine ren ironisch und polemisch, zelebriert, exemplarisch
Philosophie des Glücks in einer »Logik der Theorie« bei Bruno Bauer, bis zur Karikatur kritische Kritik
des Glücks zu fundieren. (Röttgers 1975, 216–218), will »Humor in die Philo-
sophie« bringen (Feuerbach 1839/1982, 10 f.), sprich:
Der junghegelianische Stachel wird notwendigerweise selbstbezüglich und insofern
selbstrelativierend. Formulierungen werden gele-
Die alltagsweisheitliche Einsicht, dass wir Glück ha- gentlich überschießend, weil etwas auf dem Spiel
ben müssen, um zum Glück zu gelangen, hat sich in steht, wie etwa: Philosophie habe mit der Nicht-Phi-
der hellenistischen Philosophie artikuliert. Damals losophie zu beginnen (Feuerbach 1843/1982, 254).
ist – ob zu Recht oder zu Unrecht muss nicht interes- Solcher Überschuss wird von der akademischen Phi-
sieren – an der klassischen griechischen Philosophie losophie dankbar auf- und angegriffen – wie sollte
(prominent Platons und Aristoteles’) diagnostiziert Philosophie philosophisch mit der Nicht-Philosophie
und kritisiert worden, das Gute lediglich als Umset- beginnen? –, um eine derartige Herausforderung als
zung einer Einsicht, als bloßes Ratifizieren des Wah- toten Hund behandeln zu können (exemplarisch Ga-
ren zu deuten (Hossenfelder 1985/1995). Demge- damer 1960/1965, 326 f.).
genüber wird in der hellenistischen Philosophie ein Dass diese These zugrunde liegt, hat für die Dar-
systematisch ernstzunehmender Riss im Verhältnis stellung einen doppelten Preis: Zum einen geht es im
des Guten und des Wahren zugrunde gelegt und pro- Folgenden nicht um Texte, die explizit vom ›Glück‹
pagiert. handeln, sondern um Texte, die den bis dato herr-
Ein zentrales Medium junghegelianischen ›Philo- schenden Rahmen thematisieren, innerhalb dessen
sophierens‹ (wenn man davon noch reden kann und über wichtige Dinge, u. a. das Glück, philosophiert
will; vgl. Balibar 1995; Brudney 1998) ist die Ausein- wurde. Zum anderen geht es nicht um die einzelnen
andersetzung mit der hellenistischen Philosophie. Junghegelianer. Die verschiedenen junghegeliani-
Der Junghegelianismus ist reflektierte hellenistische schen Konzepte des Verhältnisses von Philosophie
Philosophie (Sannwald 1956, 46 f., 48 f., 49 ff.; s. Kap. und (gelingendem) Leben unterscheiden sich durch-
5. Glück im Junghegelianismus 201

aus grundsätzlich, insbesondere hinsichtlich ihrer denke etwa an Goethes »individuum est ineffabile«.
Diagnose des Theorie-Praxis-Verhältnisses bei He- Er richtet sich gegen theoretische Gegner, in seinem
gel. Nötig wären hier eigenständige Darstellungen zu Selbstverständnis durchaus auch und gerade gegen
den individuellen Positionen, die gewöhnlich zum andere junghegelianische Konzepte, etwa gegen Feu-
Junghegelianismus gezählt werden (Löwith 1941/ erbachs Wesen des Christentums. Man kann folglich
1995; Stuke 1976; Eßbach 1988)‚ also etwa zu Bruno trefflich streiten, ob es die benannten Gegner zu
Bauer (1809–1882), Edgar Bauer (1820–1886), zum Recht trifft, was daran so neu und provokativ sei,
jungen Engels (1820–1895), zu Ludwig Feuerbach nicht zuletzt, ob nicht schon Hegel (oder sonstwer)
(1804–1872), zu Moses Heß (1812–1875), zum jun- dasjenige überwunden oder unterlaufen habe, woge-
gen Marx (1818–1883), zu Arnold Ruge (1802– gen sich Stirner richtet. Allein, schon zeitgenössisch
1880). Was ›den‹ Junghegelianismus aber eint, ist war die Wirkgeschichte dieses Buches nicht von sol-
eine, wie immer unterschiedlich begründete und cher Normalität. Und das wiederum hat mit der ty-
durchgeführte, Kritik an scholastischem Philoso- pisch junghegelianischen Position als solcher zu tun.
phieren. Statt die Welt durch eine ›bessere‹ Interpre- Wer auf der Unableitbarkeit des Individuellen aus
tation in ihrem (schlechten) Zustand zu stabilisieren, allgemeinen Vorstellungen beharrt, der kann kein
komme es darauf an, sie zu verändern (Marx 1845/ Konzept von Kritik haben, das den theoretischen
1983, 7). Gegner von allgemein-richtigen Vorstellungen über-
In diesem Sinne ist die folgende Darstellung in zeugen will, schon gleich gar nicht allein durch rein
doppeltem Sinne symptomatisch, nicht aber im enge- intellektuelle Einsicht. Es »handelt […] sich nicht da-
ren Sinne philologisch, zu nehmen. Sie thematisiert rum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein inter-
erstens nicht, was zum Glück gesagt wurde, sondern essanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu
wie zum Glück geredet wurde bzw. noch geredet wer- treffen« (Marx 1844/1983, 381).
den kann, und konzentriert sich zweitens auf symp- Stirners ›Lösung‹ bestand darin, die sachliche
tomatisch genommene Einzelpositionen, an denen These der Unableitbarkeit des individuellen Glücks
ein systematischer Aspekt besonders deutlich wird. aus allgemeinen Glücksvorstellungen in der Weise
einzubringen, dass er sich selbst als Egoist stilisierte.
Vielstimmigkeit Die sachliche Analyse ist, dies die Konsequenz der
sachlichen Analyse selber, kein bloß sachliches Kon-
Die Provokation für eine Philosophie des Glücks, die statieren, sondern ein Appell: Man solle die Einma-
das gute Leben von einer »Logik der Theorie« ab- ligkeit des Individuums nicht nur verbal-philoso-
hängig macht, ist Stirners Schrift Der Einzige und phierend bekennen, sondern sie als »Egoismus«
sein Eigentum (1844). Der je konkrete, strikt gegen- (Stirner) geltend machen. Eine Philosophie, der es
wärtige Lebensvollzug könne solange nicht als freier, ernsthaft um ein gutes/gelingendes Leben geht, kann
selbstbestimmter gelten, solange er als Umsetzung nicht nur aussagen, sondern muss im Aussagen et-
von guten Gedanken vorgestellt wird. Gelingender was vorführen, ein Anliegen geltend machen. Die
Lebensvollzug sei nicht Ver-Wirklichung guter Ge- ›Einsicht‹ in die Unableitbarkeit des individuellen
danken (Stirner 1844/2009, 22 f., 105, 354 f. u. pas- Glücks war nicht neu und insofern nicht provokant;
sim) – logisch: keine Subsumtion unter ein Allge- provokant ist es, in der Konsequenz dieser Einsicht
meines –, sondern finde das Maß seines Gelingens den Stil des Philosophierens zu ändern.
im wirklichen Lebensvollzug. Stirners Gegenbegriff Diese Provokation wurde jedoch nicht wirkmäch-
zu einem bloß allgemeinen, noch nicht leibhaftigen tig, sondern allein die verstörenden Wortlaute (Kast
Geist ist die Einzigartigkeit und Unverwechselbar- 2009). Aus Stirners philosophierendem Geltend-
keit des Individuums: Glück ist je meiniges, oder es machen der je individuellen Unverwechselbarkeit
ist nicht Glück. »Was soll nicht alles Meine Sache wurde ein Streit, ja ein Gezänk über die gemachten
sein! Vor allem die gute Sache […]. Nur Meine Sache Aussagen oder gar die Wortlaute dieser Aussagen.
soll niemals Meine Sache sein« (13). »›Mir geht nichts über Mich.‹ Wer so etwas denkt,
Worin soll die Provokation bestehen? Zunächst sagt es besser nicht laut« (Eßbach 2008, 58). Und weil
handelt es sich um eine ganz normale theoretische nur über Aussagen, nicht über den Stil des Philoso-
Debatte: Stirner bringt einen bestimmten Punkt ein phierens und also nicht über das geltend gemachte
und steht mit diesem Insistieren auf der Einmalig- Anliegen gestritten wurde, konnten die Aussagen
keit des Individuums durchaus nicht alleine da; man Stirners eine vielfach unrühmliche Rolle spielen,
202 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

nämlich die einer Legitimationsfolie sozialer Kälte nicht heißt, dass man den Atomismus nur theore-
(Helms 1966). Stirner selber konnte es nicht mehr tisch aufheben müsse, um wahrer genießen zu kön-
verhindern, obwohl er in seinem Text Rezensenten nen. Gegen den Atomismus selber und gegen eine
Stirners ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht bloß theoretische Reparatur hält Heß fest: »Wenn
hat, dass das, was ein Text sagt oder meint, nicht re- ich [lebe und] liebe, um zu genießen, dann liebe ich
duzierbar ist auf das Ausgesagte (Stirner 1845/2009, nicht nur nicht, dann genieße ich auch nicht« (Heß
406). Was Stirner damit sagen will, wissen wir von je- 1845/1980, 386). Derselbe Gedanke bei Feuerbach:
dem Witz oder jeder ironischen Aussage; ganz offen- »Der Grundmangel der Monadologie« – wahrlich
kundig war den Junghegelianern die unreduzierbar kein ontologischer Atomismus, ist doch jede Mo-
rhetorische Dimension des Philosophierens bewusst. nade Spiegel der Welt – liege darin, dass die Monade
Auch Feuerbachs Antwort auf Stirner bekundet ex- »kein an Ort und Stelle sich befindender Augen- und
plizit in Bezug auf seinen eigenen Text, »es immer Ohrenzeuge von den Weltbegebenheiten« ist; sie sei
nur mit ihrem Gegenstande, ihrem Wesen, ihrem »nur aus der Ferne« dabei, und eine »Vergegenwärti-
Geiste zu tun [zu haben]. Die Beschäftigung mit ih- gung ohne wirkliches Dasein ist eine Vorstellung.
rem Buchstaben überlasse ich den Kindern Gottes […] Mit einem Worte – die Monade ist nicht mit-
oder des Teufels« (Feuerbach 1845/1982, 427 [Fußn. handelnde Person, nur Zuschauer des Welttheaters«
zur 2. Aufl. von 1846]). (Feuerbach 1837/1984, §12). Dezidiert auch im
Etwas spitz − ist das schon altes, hegelsches Philo- Nachlass: »Ich bin Ich nur durch Dich und mit Dir«
sophieren? − könnte man sagen, dass Stirners Provo- (Feuerbach 1867–69/1960, 269).
kation untergehen musste, weil es philosophisch In Stirners Sicht ist freilich jeder Bezug auf ein Wir
falsch ist, das berechtigte junghegelianische Anlie- von vornherein verdächtig. In seiner Sicht kann ein
gen der Unableitbarkeit des individuellen Glücks als Wir nur eine Instanz allgemeiner Vorstellungen sein,
Egoismus geltend zu machen: Glück ist je meiniges, aus denen individuelles Glück vermeintlich ableitbar
wohl wahr; aber das Maß dessen, was dabei als Glück wäre; praktisch ausgedrückt: Individuen könnten
gilt, ist je unseres. Glückseligkeit und Tugend fallen vermeintlich zu ihrem Glück gezwungen werden.
nicht zusammen. Um diesem Verdacht zu begegnen, müsste nicht nur
Moses Heß war es, der den Akzent auf das Wir ge- mit Heß und Feuerbach überhaupt ein Wir konzi-
legt hat. Sein Grundgedanke ist ein sozialontologi- piert werden, sondern, vor allem, das Verhältnis von
scher: Genau so, wie in Newtons Physik die Natur- Wir und Ich als ein Nicht-Subsumtionsverhältnis ge-
körper nicht je für sich über eine Eigenschaft dacht werden können – und zwar im junghegeliani-
›Schwere‹ verfügen, sondern nur gegeneinander schen Namen der Einzigartigkeit des Individuums.
schwer sind, genau so sind Menschen nur gegenein- Feuerbach macht in dieser Hinsicht einen wesent-
ander gesellschaftliche Wesen. Heß beklagt, dass die lichen Schritt, und zwar zunächst ex negativo. Wer
Philosophie die »Kategorie Für-einander-sein« (Heß die Philosophie/Theorie genügsam mit sich selbst –
1845/1980, 390) nicht kenne (Wahsner 1987/1992; und nicht mit der Nicht-Philosophie – beginnen
1993; 1999). So lasse sich »philosophisch nicht aus- lasse, der nehme nicht Maß am konkret gelebten Le-
drücken«, was praktisch Not tut, und anders herum: ben konkreter Menschen, sondern messe umgekehrt
Alle Versuche bisheriger Philosophie, »den Unter- dieses Leben an abstrakten, vermeintlich überindivi-
schied zwischen den einzelnen Menschen und der duell und übersituativ gültigen Prinzipien. Glückse-
Menschengattung theoretisch aufzuheben«, müssten ligkeit sei jedoch gerade nicht in der Form eines ›im-
scheitern, weil seine Vereinzelung »nicht praktisch mer dann, wenn‹ zu haben, sondern »was der Anti-
aufgehoben« ist (Heß 1845/1980, 381 f., 390). So ist gone bei ihrem Sinn und Charakter möglich [war],
ein von Heß diagnostizierter grundsätzlicher Defekt war der Ismene unmöglich« (Feuerbach 1866/1972,
in der Logik des Wir-Denkens Ausdruck und Vehi- 59). Feuerbach teilt das Anliegen, und es kann hier
kel, »niemals sich hingeben« zu wollen. Auf der Basis offen bleiben, ob ihm Stirners Kritik auf die Sprünge
eines sozialontologischen Atomismus ist der Mit- geholfen hat oder ob auch der frühe Feuerbach schon
mensch nicht konstitutiv, sondern beschränkende ein anderes Wir kannte als das, gegen das Stirner po-
Bedingung des je eigenen Tuns (dagegen auch Feu- lemisierte (Stirner 1845/2009; Feuerbach 1845/1982).
erbach 1845/1982, 429); dort braucht der Einzelne Und weiter ex negativo:
den anderen nicht, sondern gebraucht ihn gegebe- Würde der Einzelne den Mitmenschen nicht brau-
nenfalls für den egoistischen Genuss. Was wiederum chen, sondern gegebenenfalls zu eigenem Genuss ge-
5. Glück im Junghegelianismus 203

brauchen, dann wäre u. a. das Ausdruck einer Vor- schon philosophisch nicht. Hierin sind sich ›die
stellung unbestimmter Freiheit des Menschen (die Junghegelianer‹, hier exemplarisch Stirner, Heß und
selbstverständlich in jeder konkreten Handlung be- Feuerbach, einig. Mit Heß und vor allem Feuerbach
grenzenden Bedingungen unterworfen ist). Eine sol- redet das gleichwohl keinem »Egoismus« das Wort:
che Vorstellung einer unbestimmten Freiheit zeige Wer den Mitmenschen braucht, und nicht nur ge-
sich u. a. dort, wo der Selbstmord als Beweis der braucht, der hat kein bloß eigenes, sondern ein mit-
menschlichen Freiheit gelte: Das Tier habe nicht die einander geteiltes Maß eines gelingenden Lebens.
Freiheit, seinem Selbsterhaltungstrieb nicht zu fol- Auf dieser Basis kann man über je konkretes Glück
gen (Feuerbach 1845/1982, 54). Gerade am Fall des streiten und gegebenenfalls einig werden − ohne
Selbstmordes versucht Feuerbach zu zeigen, dass solch geteiltes Maß lebt man ›aneinander vorbei‹,
diese Vorstellung einer unbestimmten Freiheit falsch wie wir dann so sagen.
ist. Freiheit bestehe nicht darin, beliebig zwischen al- Hinsichtlich der Realisierung dieses Anliegens
len möglichen Alternativen zu wählen, sondern war der frühe Feuerbach von Marx massiv kritisiert
»Ich« kann immer nur zwischen bestimmten Alter- worden. Die 4. Feuerbachthese bekundet – in der
nativen wählen – und eben deshalb sei das je kon- Phase der Abrechnung mit »unserm ehemaligen phi-
krete gelebte Leben gerade nicht »ohne Maß und losophischen Gewissen« (Marx 1859/1975, 10), dass
Ziel« (54). Insofern tauge der Selbstmord nicht als Marx Feuerbach als Entfremdungstheoretiker liest
Beweis einer abstrakten, unbedingten Freiheit des und als einen solchen kritisiert. Entfremdungstheo-
Menschen oder als Verletzung universell gültiger retiker kennen einen Zustand der Eigentlichkeit –
Pflichten gegen sich selbst (analog zum Verhältnis die sog. wahren menschlichen Verhältnisse − und in-
von Glückseligkeit und Selbstliebe vgl. Feuerbach sofern eine »Verdopplung der Welt« (Marx 1845/
1867–69/1960). Das tatsächlich gelebte Leben setzt 1983, 6). Solche Dualismen von entfremdet Beste-
vielmehr ein Maß, das jedes vermeintlich bloß for- hendem und unentfremdet Eigentlichem gelten jetzt
male Prinzip je an sich selbst schon material be- als »unschuldige und kindliche Phantasien«, die
stimmt sein lässt. In der Sprache der Leibniz-Kritik: »den Kern der neuern junghegelschen Philosophie«
Jede (Glücks-)Vorstellung ist immer schon das An- ausmachen (Marx/Engels 1845/46/1983, 13). Auch
liegen einer beteiligten, einer verstrickten, einer in der Rückschau noch betont Engels die »befreiende
»mithandelnden Person« (s.o.). Daraus folgt, dass ge- Wirkung« (Engels 1886/1984, 272) Feuerbachs, ist
lingendes individuelles Leben ohne Wir-Dimension dann aber gleichwohl »frappiert« von der »erstaun-
nicht auskommt; dies jedoch mit der Emphase, dass liche[n] Armut Feuerbachs verglichen mit Hegel«
dieses Wir kein eigenständiges holon (Ganzes) über (286). Die Diagnose ist eindeutig: Das Feuerbach-
oder hinter wechselseitig verstrickten mithandeln- sche Wir bleibe unterbestimmt. »Die Möglichkeit
den Individuen ist, sondern in dem wechselseitigen rein menschlicher Empfindung im Verkehr mit an-
Geltendmachen der je eigenen Anliegen besteht. Un- deren Menschen wird uns heutzutage schon genug
ter dieser Voraussetzung kann man die Moral einer verkümmert durch die auf Klassengegensatz und
Wir-Sphäre nicht gegen das Glücksstreben der Ein- Klassenherrschaft gegründete Gesellschaft, in der
zelnen ausspielen: »Die eigene Glückseligkeit ist al- wir uns bewegen müssen: Wir haben keinen Grund,
lerdings nicht Zweck und Ziel der Moral, aber ihre sie uns selbst noch mehr zu verkümmern, indem wir
Grundlage, ihre Voraussetzung« (Feuerbach 1867– diese Empfindungen in eine Religion verhimmeln«
69/1960, 275, vgl. 266 f.). Oder, um jene Materialität (285). Es sei Verdunkelung, die realen geschichtli-
des Maßes an einem Beispiel plakativ zu machen: chen Auseinandersetzungen um ein gelingenderes
»So wenig ich die Freiheit habe, eine Person, die ich Leben, diese »Kampfesgeschichte«, in einen »bloßen
wirklich liebe, nicht zu lieben, so wenig habe ich die Anhang der Kirchengeschichte« zu verwandeln
Freiheit, das Gegenteil des Lebens zu wollen, solange (285). Das Stirner-Feuerbachsche Anliegen der Un-
ich das Leben liebe« (Feuerbach 1866/1972, 60). ableitbarkeit individuellen Glücks ist nicht Thema,
In Bezug auf die Frage des Glücks heißt das nun: wenn auch programmatisch geteiltes Anliegen: eine
Ein je konkretes Leben hat, mit Feuerbach, das Maß »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines je-
seines Gelingens an sich selber, und eine solche den die Bedingung für die freie Entwicklung aller
Norm des Gelingens muss einem solchen Lebens- ist« (Marx/Engels 1848/1974, 482).
vollzug nicht von außen beigebracht werden. Die Le- Dem entfremdungstheoretischen Kern stellt Marx
gitimationsbasis der Glücks-Erzwinger (s.o.) stimmt eine andere Logik entgegen: Statt »vom Faktum« ei-
204 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

nes Dualismus von weltlicher Welt und einer Welt Aktualität der Philosophie Max Stirners (Der Ein-
entfremdeter Vorstellungen auszugehen, sei die Zer- zige. Jahrbuch der Max Stirner Gesellschaft, Bd. 1).
rissenheit von »weltliche[r] Grundlage« und Vorstel- Leipzig 2008, 57–78.
lungswelt »aus der Selbstzerrissenheit und Sich- Feuerbach, Ludwig: Gesammelte Werke [GW]. Hg. W.
selbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu Schuffenhauer. 22 Bde. Berlin 1969 ff.
erklären« (Marx 1845/1983, 6). Das Bestehende, der –: Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Ent-
konkrete gesellschaftliche Lebensvollzug, ist sozusa- wicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie
gen in eigenem Namen, nicht aber von überfliegen- [1837]. In: GW 3 (31984).
der Warte aus, zu kritisieren, also beim Wort zu neh- –: An Karl Riedel. Zur Berichtigung seiner Skizze
[1839]. In: GW 9 (21982), 3–15.
men.
–: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie
Dass das konkret gelebte Leben sein Maß an sich
[1843]. In: GW 9 (21982), 243–263.
selber habe, das muss man, philologisch gesehen,
–: Über das ›Wesen des Christentums‹ in Beziehung auf
nicht gegen Feuerbach, ja nicht einmal gegen Hegel
den ›Einzigen und sein Eigentum‹ (Replik) [1845].
einklagen. Solch philologische Ungerechtigkeiten
In: GW 9 (21982), 427–441.
haben das ihre dazu beigetragen, junghegelianische –: Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in
Konzepte zu den bloßen Geburtswehen der Partei- Beziehung auf die Willensfreiheit [1866]. In: GW 11
engeschichten zu rechnen. Dass die Marx-Engels- (1972), 53–186.
sche Kritik ihren Gegner gleichwohl trifft, muss dem –: Zur Ethik: Der Eudämonismus [1867–69; aus dem
nicht widersprechen. Die gesellschaftstheoretische Nachlass]. In: L. Feuerbach, Sämtliche Werke [1903–
Konkretion jenes Wir, prominent beginnend mit 1911] (Hg. W. Bolin/F. Jodl). Bd. X. Stuttgart-Bad
Marx und Engels nach deren radikalem Bruch mit Cannstatt 21960, 230–293.
entfremdungstheoretischen Konzeptionen (Althus- Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grund-
ser 1968), gehört in der Tat zur nach-junghegeliani- züge einer philosophischen Hermeneutik [1960]. Tü-
schen Geschichte. Hinsichtlich der hier mit Stirner, bingen 21965.
Heß und Feuerbach thematisierten Aspekte – hin- Helms, Hans G.: Die Ideologie der anonymen Gesell-
sichtlich der Einsicht, dass in unableitbar je meini- schaft. Max Stirners ›Einziger‹ und der Fortschritt
gen Glücksvorstellungen bereits ›unsere‹ Maßstäbe des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz
eines gelingenden Lebens sowie konkreter Glückser- bis zur Bundesrepublik. Köln 1966.
lebnisse im Spiel sind, sowie, vor allem, hinsichtlich Heß, Moses: Die letzten Philosophen [1845]. In: Ders.:
der Ausarbeitung einer Logik der Verschränkung, Philosophische und sozialistische Schriften 1837–
und nicht Subsumption, persönlicher und gesell- 1850. Eine Auswahl (Hg. W. Mönke). Vaduz 21980,
schaftlicher Glücksvorstellungen − muss man diese 379–393.
Geschichte wohl als unabgeschlossen charakterisie- Hossenfelder, Malte: Die Philosophie der Antike. 3. Stoa,
ren. Epikureismus und Skepsis [1985]. München 21995.
Kast, Bernd: Nachwort des Herausgebers [2009]. In:
Stirner 1844/2009, 370–394.
Literatur Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre
Althusser, Louis: Für Marx. Frankfurt a. M. 1968. Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts
Balibar, Étienne: The Philosophy of Marx (Übers. Ch. [1941]. Hamburg 1995.
Turner). London/New York 1995. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphiloso-
Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholas- phie. Einleitung [1844]. In: MEW 1 (1983), 378–391.
tischen Vernunft. Frankfurt a. M. 2001. –: Thesen über Feuerbach [1845]. In: MEW 3 (1983),
Brudney, Daniel: Marx’s Attempt to Leave Philosophy. 5–7.
Cambridge/London 1998. –: Zur Kritik der Politischen Ökonomie [1859]. In:
Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang MEW 13 (1975), 3–160.
der klassischen deutschen Philosophie [1886]. Nach Marx, Karl/Engels, Friedrich: Marx-Engels-Werke, 42
dem revidierten Sonderdruck 1888. In: Karl Marx/ Bde. [MEW]. Berlin 1956 ff.
Friedrich Engels: MEW 21 (1984), 259–307. –/–: Die deutsche Ideologie [1845/46]. In: MEW 3
Eßbach, Wolfgang: Die Junghegelianer. Soziologie einer (1983).
Intellektuellengruppe. München 1988. –/–: Manifest der Kommunistischen Partei [1848]. In:
–: Auf Nichts gestellt. Max Stirner und Helmuth Pless- MEW 4 (1974), 459–493.
ner. In: Bernd Kast/Geert-Lueke Lueken (Hg.): Zur Röttgers, Kurt: Kritik und Praxis. Zur Geschichte des
6. Glück bei Schopenhauer und Kierkegaard. Vom richtigen Umgang mit Negativität 205

Kritikbegriffs von Kant bis Marx. Berlin/New York


1975.
6. Glück bei Schopenhauer
Sannwald, Rolf: Marx und die Antike. Einsiedeln 1956. und Kierkegaard.
Schürmann, Volker: Verwirklichung der Philosophie.
In: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörter-
Vom richtigen Umgang
buch der Philosophie. Bd. 11. Basel/Darmstadt 2001, mit Negativität
1009 f.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum [1844].
Ausführlich kommentierte Studienausgabe (Hg. B. Schopenhauers und Kierkegaards Frage
Kast). Freiburg/München 2009. nach dem gelingenden Leben
–: Rezensenten Stirners [1845]. In: Stirner 1844/2009,
405–446.
Stuke, Horst: Philosophie der Tat. Studien zur ›Verwirk-
Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Søren Kier-
lichung der Philosophie‹ bei den Junghegelianern kegaard (1813–1855) kommt das Verdienst zu, das
und den Wahren Sozialisten. Stuttgart 1963. philosophische Interesse an der Frage nach dem
–: Junghegelianismus. In: Joachim Ritter u. a. (Hg.): His- Glück auf neuartige Weise wiedererweckt zu haben,
torisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel/ nachdem die Glücksfrage lange Zeit im Schatten der
Darmstadt 1976, 658–660. erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophi-
Wahsner, Renate: Nicht die Einzelheit herrscht in der schen Großentwürfe des Deutschen Idealismus (s.
Natur der Dinge. Zum Wissenschaftsprinzip des kol- Kap. V.4) stand. Ihre Leitfrage nach dem Glück er-
lektiven Individuums [1987]. In: Dies.: Prämissen wächst aus einer zwiespältigen Transformation des
physikalischer Erfahrung. Berlin 1992, 57–96. Deutschen Idealismus. Einerseits knüpfen sie an des-
–: Gott arbeitet nicht. Zur Notwendigkeit, Karl Marx ei- sen Leitgedanken an, demzufolge der Wirklichkeit
ner optimalen Messung zu unterziehen. In: Berliner ein einheitliches Prinzip zugrunde liegt. Das Grund-
Debatte Initial (1993/3), 25–38. prinzip wird von Schopenhauer als der Wille zum
–: Die fehlende Kategorie. Das Prinzip der kollektiven Leben – als principium individuationis – beschrie-
Einheit und der philosophische Systembegriff. In: ben. Kierkegaard bestimmt das Wirklichkeitsprinzip
Wiener Jahrbuch für Philosophie XXX (1999), 43– in Anschluss an die Selbstbewusstseinstheorien von
60. Fichte, Schelling und Hegel als das Selbst. Anderer-
Volker Schürmann seits geben sie dem Prinzip eine anthropologische
Wendung (vgl. Hühn 2009). Die Frage nach dem
Wirklichkeitsprinzip wird auf einen lebensweltli-
chen Boden gestellt und in die Frage nach dem Ge-
lingen menschlichen Lebens übersetzt, die den indi-
viduellen Menschen in seiner existentiellen, sozialen
und historischen Realität betrifft. Nach Kierkegaard
kommt es auf ein Verständnis dessen an, »was es
heißt, Mensch zu sein, und zwar nicht, was es heißt,
überhaupt Mensch zu sein […], sondern was es
heißt, daß du und ich und er, daß wir jeder für sich
Menschen sind« (Kierkegaard 1846/1988, Teil 1,
113).
Jeder Person stellt sich unvertretbar die Frage, wo-
rauf es im Leben ankommt. Die Besonderheit von
Schopenhauers und Kierkegaards Metaphysikkritik
besteht dabei darin, dass Personen die Frage nach
dem Glück nicht zwangsläufig von sich aus stellen
und dass eine Antwort keineswegs allein aufgrund
von unvermeidbaren Irrtümern verfehlt wird. Sie
können ohne Not und Zwang sich mit einfachen
Antworten zufriedengeben und sich von einem wei-
teren Nachfragen entlasten. Zielpunkt ihrer stilbe-
206 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

wussten Schriften ist deshalb, Lesern die vermeintli- Die augenfälligste Gemeinsamkeit von Schopen-
che Gewissheit ihrer Glücksvorstellungen zu neh- hauer und Kierkegaard besteht in dem sog. Negati-
men und sie für das unbeirrte Fragen nach dem vismus, die Frage nach dem Gelingen von einer Ana-
Glück zugänglich zu machen. Schopenhauer und lyse des Misslingens aus zu beantworten (vgl. Theu-
Kierkegaard stellen deshalb ihre Überlegungen zum nissen 1993; Wesche 2003). Der Negativismus
gelingenden Leben in Schriften dar, die einen exote- unternimmt den Versuch, dem Leiden, Scheitern
rischen Charakter haben und ihre Wirkkraft in der und der Sterblichkeit in jeder ihrer Fasern Rechnung
alltäglichen Praxis entfalten sollen. Schopenhauer zu tragen, um sie dann so weit wie nur möglich ein-
bedient sich dafür eines ausgeprägt literarischen Stils zudämmen – ohne sie zum Verschwinden bringen
und der aphoristischen Form, die sein Werk mit Gra- zu können. Gelingendes Leben hängt nicht beiläufig,
ciáns (s. Kap. IV.2) Handorakel und Kunst der Welt- sondern wesentlich vom vernünftigen Umgang mit
klugheit (das von ihm übersetzt wurde) verbindet. Negativität ab. Schopenhauer und Kierkegaard neh-
Kierkegaards Schriften wohnt eine Methode der in- men zu den Erfahrungen des Misslingens eine zwei-
direkten Mitteilung inne. Diese zielt auf die unver- fache Stellung ein: die der Anerkennung und der
tretbare Aneignung einer Lebensdeutung, die jede Überwindung. Weder also entwerfen sie eine Vor-
Person in Auseinandersetzung mit den dargestellten stellung vom menschlichen Glück auf Kosten einer
Formen misslingenden Lebens und in Bezug auf das verleugneten Negativität, die als verdrängte umso
eigene endliche Leben in die Hand zu nehmen hat. gewaltsamer wiederkehrt – noch geben sie den Ent-
Schopenhauers und Kierkegaards gemeinsame wurf eines gelingenden Lebens zugunsten des Trüb-
Leitfrage zielt auf ein Verständnis dessen, was gelin- sinns oder Fatalismus preis. Tod und Sterblichkeit
gendes Leben heißt. Das Gelingen des Lebens im bilden die hartnäckigste Kraft, die einem anspruchs-
Ganzen oder des Lebens selbst steht als ein Name für vollen Glücksverständnis widerstrebt. Je größer das
das, was wir letztlich wollen. Wir wünschen uns letz- Glück im Leben scheint, desto feindlicher begegnet
ten Endes und noch vor allem anderen, dass unser der Tod, der dieses Glück raubt. Ganz gleich deshalb
Leben gelingt. Von diesem ganzheitlichen Gelingen wie man sich zum Phänomen des Todes – der be-
grenzen sie das Glück ab. Der Glücksbegriff hat bei grenzten Lebenszeit und -kraft – verhält, jede Theo-
beiden einen pejorativen Sinn und wird für eine Le- rie des Glücks muss sich zu ihr verhalten. Der Nega-
bensweise reserviert, deren Gelingen in der Erfül- tivismus hat das geläufige Vorurteil begünstigt, Scho-
lung gesteckter Lebensziele besteht. Als glücklich penhauer und Kierkegaard seien sauertöpferisch nur
zählt das Leben, in dem sich die Lebenspläne ver- an der Nachtseite des Daseins interessiert. Im Ge-
wirklicht haben; sei es, weil man seines eigenen Glü- genteil zielt ihr Denken auf nichts so sehr wie das,
ckes Schmied ist oder im Leben Glück hat. Unter was angesichts einer begrenzten Lebenszeit und
Glück verstehen Schopenhauer und Kierkegaard kri- -kraft des Menschen außerdem noch bleibt.
tisch die Erfüllung von Erkenntnis- oder Handlungs-
zielen, die wir in unseren Einstellungen des Wissens, Schopenhauer – Die Verneinung
Willens und Wünschens verfolgen. Bei ihnen treten
des Willens zum Leben
an die Stelle des Glücksbegriffs andere Begriffe für
das Gelingen: Freude, Verneinung, Selbstverhältnis, Schopenhauer unterscheidet zwischen einem ganz-
Gegenwart und andere mehr. Gelingendes Leben heitlichen Glück – dem Gelingen des Lebens selbst –,
zeichnet sich laut Schopenhauer und Kierkegaard dessen Möglichkeit er bestreitet, und einem negati-
durch ein Paradox aus, das dem Leben innewohnt ven Glück, dem eine Mangelerfahrung innewohnt.
und das dessen Gelingen in Glück – der Erfüllung In Schopenhauers nachgelassenen Überlegungen
von Zielen – nicht aufgehen lässt. Leben gelingt un- heißt es über das ganzheitliche Glück: »Die Defini-
ter der Bedingung einer Abstandhaltung zum tion eines glücklichen Daseins wäre: ein solches, wel-
Glücksstreben. Aus der gemeinsamen Diagnose zie- ches, rein objektiv betrachtet, – oder (weil es hier auf
hen beide nun unterschiedliche Konsequenzen. ein subjektives Urtheil ankommt) bei kalter und rei-
Während Schopenhauer die Distanznahme unter fer Ueberlegung, – dem Nichtsein entschieden vor-
dem Namen einer Verneinung des Willens zum Le- zuziehn wäre. Aus dem Begriff eines solchen folgt,
ben als eine weltabgewandte Entsagung beschreibt, daß wir daran hiengen seiner selbst wegen; nicht
stellt Kierkegaard sie als eine christliche Lebensform aber bloß aus Furcht vor dem Tod; und hieraus wie-
weltzugewandter Nächstenliebe dar. der, daß wir es von endloser Dauer sehn möchten.
6. Glück bei Schopenhauer und Kierkegaard. Vom richtigen Umgang mit Negativität 207

Ob das menschliche Leben dem Begriff eines sol- 390). Die anthropologische Bedürftigkeit, die zu je
chen Daseyns entspricht oder entsprechen kann, ist neuen Befriedigungen drängt, wird von Schopen-
eine Frage, die bekanntlich meine Philosophie ver- hauer der »Wille zum Leben« genannt und die ent-
neint« (Schopenhauer 1985, 600). Das im Leben sprechende Lebensführung des Glücksstrebens die
praktizierte Glücksstreben besitzt dagegen eine Bejahung des Willens zum Leben (zu Nietzsches
Mangelstruktur (Sigmund Freud wird dieses Motiv Umkehrung des Willensbegriffs in kritischer Scho-
aufgreifen, s. Kap. VI.6). Schopenhauer nennt seine penhauer-Nachfolge s. Kap. V.7).
Lehre über dieses negative Glück auch Eudämonolo- Schopenhauer unterscheidet drei Lebensformen,
gie und Eudämonik. »Alle Befriedigung, oder was in denen in Distanz zur Bedürftigkeit zu treten mög-
man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und we- lich ist. Die Kunsterfahrung (erstens) gewährt ein
sentlich immer nur negativ und durchaus nie posi- Verweilen in aestheticis, das den Betrachter für den
tiv« (1819/1977, 399). Als negatives Glück beschreibt ästhetischen Augenblick vom Strebenszwang entlas-
Schopenhauer das endlose Streben nach Erfüllung tet. Im Mitleid (zweitens) dispensiert sich der Han-
einzelner Lebensziele oder nach Geld, das ein allge- delnde für die Dauer des moralischen Handelns von
mein-äquivalentes Mittel zum Erreichen einzelner seinem egozentrischen Streben. Allerdings stabili-
Lebensziele sei. »Geld allein ist das absolut Gute: weil siert sich die Befreiung vom Strebenszwang vorab
es nicht bloß einem Bedürfniß in concreto begegnet, (drittens) in der Verneinung des Willens zum Leben,
sondern dem Bedürfniß überhaupt, in abstracto« die sich in einer meditativen Lebensform der Gelas-
(1851/1977, 380). Im Leben werden zwar einzelne senheit und Resignation ausdrückt (zu Tolstojs Scho-
Einsichten gewonnen, Wünsche erfüllt und Bedürf- penhauer-Rezeption s. Kap. V.14). In meditativer
nisse befriedigt, aber nicht die Bedürftigkeit selbst Weltabgewandtheit wird das Leiden ohne praktische
gestillt (zum utilitaristischen Junktim von Glück und Folgerungen betrachtet. Unter gelingendem Leben
Bedürfnisbefriedigung dagegen s. Kap. V.1). Der Le- versteht Schopenhauer eine nicht willenlose, aber
bensvollzug ist unauflösbar im Drang verstrickt, willensfreie Gelassenheit gegenüber dem Leiden, die
überhaupt Wünsche zu haben, nach gesicherter Er- in reiner Betrachtung seiner selbst auf keine Be-
kenntnis zu streben und Grundbedürfnisse (Hunger, kämpfung drängt.
Sexualität, Sozialität, etc.) zu befriedigen. Bedenkenswert sind drei Einsichten Schopenhau-
Diese Bedürftigkeit bleibt innerhalb der Lebens- ers, deren Umsetzung in seiner Philosophie aller-
zeit unabgegolten und treibt zu einem endlosen Stre- dings auch Anlass zur Kritik bietet (vgl. Wesche
ben nach gesichertem Wissen, realisierten Absichten 2006). Bestand hat erstens sein Negativismus. Zum
und erfüllten Wünschen. Das Bestreben des Wissens, einen führt er einen Begriff des Gelingens von Leben
Willens und Wünschens kommt punktuell, aber nur über einen Begriff des Misslingens ein. Zum anderen
vorübergehend zum Stillstand. Denn jede Erfüllung legt er menschliches Leben auf nicht mehr als eine
mündet zwangsläufig in Langeweile und Leere, die Tätigkeit der Verneinung fest: auf die Abstandgewin-
weniger aus einem Verfehlen – dem Unerfülltbleiben nung zum Strebensdrang. Man kann diesen Gedan-
– hervorgehen als eine den kognitiven, voluntativen ken aus heutiger Sicht etwa so weiterführen: Akteu-
und optativen Einstellungen interne Struktur sind. ren gelangt aus der Teilnehmerperspektive ein Ver-
Das Bewusstsein einer Bedürftigkeit, deren Befriedi- ständnis dessen, was gelingendes Leben heißt, nur
gung unentwegt verfolgt werden muss, ohne sie er- dann in den Blick, wenn sie zunächst verstehen,
reichen zu können, wird von Schopenhauer als ein warum es misslingen kann. Indes sind Vorbehalte
Leiden betrachtet, das dem Menschen vorbehalten gegen Schopenhauers Konzeption des Misslingens,
ist. Im besten Fall verhängt das endlose Streben den d. h. des negativen Glücks und des Leidens berech-
Zwang, stets neue Ziele verwirklichen zu müssen. Im tigt. Es ist eine Übertreibung, jegliches Glück als ein
schlechtesten Fall entfesselt sie die Überbietungsdy- vermeintliches zu entlarven und zu einem kreatürli-
namik, stets mehr zu wollen. In beiden Fällen jagen chen Leiden zu naturalisieren.
Menschen der Schimäre eines erfüllten Lebens nach. Schopenhauers zweite Einsicht betrifft die para-
»Wir setzen indessen unser Leben mit großem An- doxe Struktur eines Gelingens, das sich durch argu-
theil und vieler Sorgfalt fort, so lange als möglich, mentative Erklärung nicht restlos auflösen lässt. Der
wie man eine Seifenblase so lange und so groß als Verzicht auf eine lebenszeitliche Verwirklichung von
möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewißheit, Erkenntnis- und Handlungszielen mündet in keine
daß sie platzen wird« (Schopenhauer 1819/1977, Leere, sondern ermöglicht – scheinbar paradox –
208 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

eine erfüllte Lebenszeit. Diese erschließt sich nicht Erreichen ihrer Ziele, die von beruflicher, familiärer,
als gedachter Gedanke, sondern als Erfahrungsge- intellektueller, ökonomischer oder sonstiger Art sein
halt einer Lebensform. Berechtigt ist allerdings der können. Nun ist die lebenszeitliche Verwirklichung
Einwand, dass die Verständnisschwierigkeit dieses solcher Lebensinhalte nicht von derselben Natur wie
Erfahrungsgehalts nicht dadurch gelöst wird, dass die der Handlungen selbst. Eine die Lebenszeit im
argumentative Rede in Mystik überführt wird. Ganzen umfassende Tätigkeit kann sich nicht wie
Blanke Mystifikation etwa ist der Glaube an die jene Handlungen erfüllen, weil sie sich erst im Le-
Selbstüberwindung des Leidens, als müsste Leiden bensende vollendet. Wäre die lebenszeitliche Tätig-
nur rückhaltlos vor Augen geführt werden, um in keit selbst eine Handlung, würde sich das Leben erst
heilende Gelassenheit ihm gegenüber umzuschla- im Tod erfüllen und damit die Frage unbeantwortet
gen. bleiben, ob wir in der Zeit glücklich sein können. Für
Anerkennung verdient drittens die Einsicht, dass den Ästhetiker, Ethiker und Dogmatiker bleibt diese
gelingendes Leben hinreichend als Selbsterkenntnis Frage solange unbeantwortet, wie sie Glück als ei-
beschrieben wird. Die Frage nach dem gelingenden nem Besitz oder Erwerb oder einer Erwartung nach-
Leben wird nicht mit Handlungsanweisungen, Sinn- jagen.
angeboten oder Bedürfnislisten beantwortet, son- Den Kontrast zur Verzweiflung – einem »Missver-
dern mit eben diesem Fragecharakter menschlichen hältnis« (Kierkegaard 1849/1997, 15) – bildet eine
Lebens. Damit greift Schopenhauer ein sokratisches Freude über die gelingende Selbstvergewisserung
Motiv auf (s. Kap. III.1). Leben gelingt im Verstehen, dessen, was wir letztlich wollen. »Der Mensch ist
dass man je sein Leben zu verstehen habe. Kritik- Geist. Doch was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch
würdig ist jedoch, dass die gesuchte Selbsterkenntnis was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das
nur in meditativer Weltabgewandtheit zu finden sei sich zu sich selbst verhält, oder es ist in diesem Ver-
und nicht vielmehr in einer mitunter sozialen Le- hältnis jenes, […] dass das Verhältnis sich zu sich
benspraxis. selbst verhält« (13). Die Selbstvergewisserung bein-
haltet dreierlei: ein Selbstverständnis, die Selbstbe-
Kierkegaard – Heiterkeit auf dunklem fragung und Selbsttätigkeit. Es kommt erstens auf
ein Selbstverständnis an, wie der Einzelne sein eige-
Grund
nes Leben (sei es auch in Gemeinschaft) leben will.
Bei Kierkegaard tritt der Begriff ›Freude‹ an die Stelle Hierfür muss der Einzelne zweitens sich seiner Le-
des Glücksbegriffs. Den Gegensatz zur Freude nennt bensgeschichte zuwenden und eigene Erfahrungen
Kierkegaard Verzweiflung. Verzweiflung bezeichnet deuten. Selbstvergewisserung ist drittens eine an den
eine allgemeine Struktur verfehlter Lebensdeutung, Einzelnen delegierte Aufgabe des eigenen Fragens,
unter die eine Vielzahl von negativen Erfahrungen dem gegenüber bereits ausgesprochene Antworten
fällt. Sie widerfährt in den sog. Stadien der ästheti- ungehört verhallen. In der Selbstvergewisserung
schen, ethischen und (dogmatisch-)religiösen Exis- wird jedoch, wie Kierkegaard an den Verzweiflungs-
tenz als Verlust einer gesicherten Lebensdeutung. Als formen des Ästhetikers und Ethikers ausführt, keine
die wichtigsten Werte im Leben gelten hier diejeni- gesicherte Erkenntnis gewonnen. Die Selbstverge-
gen Inhalte, die man unmittelbar besitzt (Schönheit, wisserung bleibt ein offenes Fragen und gelingt zu-
Lust, Reichtum) oder erwirbt (Erfolg, Bewunderung, gleich im unbeirrten Suchen nach Antworten. Die
glatter Lebenslauf) oder erwartet (eine mit religiö- Lebensverständigung gelingt soweit auf einem dunk-
sen Regeln konforme Lebensführung). Solche Sinn- len Grund, der sich einer Selbstvergewisserung ent-
angebote werden für Leitwerte gehalten, weil ihre si- zieht. Das Selbst gründet auf einem »Andere[n]«
chere Verwirklichung die Gewissheit eines erfüllten (14 f.) – so Kierkegaards Formulierung des parado-
Lebens verspricht. Nicht dass es keinen Lebensmit- xen Gelingens.
telpunkt, keine Personen oder Tätigkeiten, die einem Die Lebenszeit dient keiner Verwirklichung eines
viel bedeuten, geben darf; nur ist davon kein erfülltes bestimmten Lebensinhalts, sondern wird laut Kier-
Leben zu erwarten. Nach Kierkegaard machen we- kegaard von einer Tätigkeit ausgefüllt, die um ihrer
der solche partikulare Formen des Glücks noch de- selbst willen vollzogen wird. Lebenszeit realisiert
ren Gesamtheit ein Gelingen des Lebens aus. sich in ihrem selbstzweckhaften Vollzug. Dem Le-
Seine Kritik stützt sich auf ein zeittheoretisches bensvollzug als Selbstzweck entspricht die Lebens-
Argument (s. Kap. II.6). Handlungen erfüllen sich im führung, »jeden Tag zu leben, als wäre es der letzte
6. Glück bei Schopenhauer und Kierkegaard. Vom richtigen Umgang mit Negativität 209

und zugleich der erste in einem langen Leben« (Kier- Entweder/Oder das großartige Bild seiner Version
kegaard 1845/1981, 199). Die praktische Tätigkeit, vom »unglücklichen Bewusstsein« (Kierkegaard
deren Selbstzweck das Leben ist, wird von Kierke- 1843/1985, 236) Hegels geliehen. Freude ist zudem
gaard als Liebe (caritas) beschrieben, d. h. als Bei- die intensive Erfahrung von Fülle, Präsenz und Ge-
standspflicht, Menschen in Not zu helfen. Taten der lassenheit. »Das in Wahrheit Existieren, also mit Be-
Liebe werden nicht in Erwartung einer Gegenleis- wusstsein seine Existenz durchdringen, zugleich
tung (sei es auch nur der Gegenliebe) vollführt, son- ewig gleichsam über sie hinaus sein und doch in ihr
dern deshalb, weil sie für sich gut sind. Grund und gegenwärtig und doch im Werden: das ist wahrlich
Ziel der Liebe ist ihre Tätigkeit. Für Kierkegaard schwierig« (1846/1988, Teil 2, 8). Eine solche Erfah-
stellt die Nächstenliebe die einzige Form eines selbst- rung von Gegenwart stabilisiert sich im Gegenzug
zweckhaften Lebensvollzugs dar, sofern sie einerseits zur Prozessualität der ästhetischen und ethischen
das einzige Handeln – im Unterschied zum Moralis- Lebensform, in der Zielerfüllungen stets wieder ver-
mus des Ethikers – aus einem Selbstzweck ist und gehen und sich als ausstehende Ziele aufs Neue auf-
andererseits – in Abgrenzung zur vita contemplativa drängen. Die Leichtigkeit (dän. lethed) steht der
oder zum selbstreflexiv werdenden Genuss des Äs- Schwermut (dän. tungsind) entgegen, einer wort-
thetikers – der einzige Selbstzweck ist, der sich in wörtlichen Schwere, die das Handeln und Denken
Handlungen objektiviert. Die Lebenszeit erstreckt lähmt. Diese Schwere geht von dem Druck aus, unter
sich als Zeit eines leibgebundenen Lebens, das sich dem Lebensziele verfolgt, eingeholt und erneuert
nicht in reine Gedanken, sondern im Umgang mit werden müssen. Während der Ethiker diesem Druck
eigenen Bedürfnissen und in Interaktionen mit der nachgibt und ihn zur (protestantisch gefärbten) Le-
Umwelt objektiviert. Kierkegaards Verbindung von bensanschauung erhebt, ergreift der Ästhetiker in
Liebe und Freude bleibt von jeglicher Eudämonis- seiner Haltung des Leichtsinns (dän. letsind) vor ihm
muskritik unberührt, weil Taten der Liebe keinem die Flucht. Werden vermeintliche Gewissheiten über
anderen Zweck – einschließlich des Glücks – dienen Lebensinhalte, deren Verwirklichung ein erfülltes
als sie selbst. Leben zeitigen soll, preisgegeben, dann stellt sich
Ein gelingendes Leben ereignet sich demnach auf entgegen aller »menschlichen Berechnung« nicht
paradoxe Weise. Eine erfüllte Lebenszeit wird unter Verzweiflung über das unbestimmte Leben ein, son-
der Bedingung erfahrbar, dass eine lebenszeitliche dern »Freude« (1843/1986, 32 ff.). Es gibt insofern
Verwirklichung des (vermeintlich) Wichtigen aufge- keine Leichtigkeit schlechthin, sondern nur das
geben wird. Das Gelingen widerfährt als eine unin- Leichtwerden eines Lebens, dessen Unbestimmtheit
tendierte Freude, weil sie kein Ziel einer Absicht, man auf sich genommen hat.
Handlung oder eines Wunsches sein kann. Kierke-
gaard nennt sie eine »unaussprechliche Freude« Literatur
(1846/1988, Teil 1, 212), deren Besonderheit, ihre
Unsagbarkeit, vor dem Hintergrund des Paradoxes Hühn, Lore: Kierkegaard und der Deutsche Idealismus.
leicht einleuchtet. Die Freude, die sich wider Erwar- Tübingen 2009.
ten ereignet, lässt sich nicht hinsichtlich ihres Grun- Kierkegaard, Sören: Entweder/Oder [1843]. 1. Band. 1.
Teilband. Gütersloh 21985.
des begreifen. Die ausnehmende Freude widerfährt
–: Furcht und Zittern [1843]. Gütersloh 21986.
als ein Sinnüberschuss des Handelns, der weder Ziel
–: An einem Grabe. In: Ders.: Drei Reden bei gedachter
des Handelns noch eine Laune des Zufalls – des
Gelegenheit [1845]. Gütersloh 1981, 173–205.
Glücks, das man hat – ist.
–: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu
Kierkegaard beschreibt die Freude, die aus dem den philosophischen Brocken [1846]. Teil 1 und Teil
selbstzweckhaften Vollzug der Lebenszeit hervor- 2. Gütersloh 21988.
geht, als Daseinsfreude. Eigenschaften dieser »Freude –: Christliche Reden [1848]. Gütersloh 1981.
am Sein« (1848/1981, 38) oder »Freude am Existie- –: Die Krankheit zum Tode [1849]. Stuttgart 1997.
ren« (1846/1988, Teil 2, 33) sind Lebendigkeit, Ge- Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstel-
genwart und Leichtigkeit. Die Lebendigkeit steht der lung. 1. Band. 1. Teilband [1819]. Werke in 10 Bänden
Verzweiflung – einer Art Seelentod – entgegen, in (Hg. Arthur u. Angelika Hübscher). Zürich 1977, Bd.
der ein Leben, ohne zu wissen, worin es sich erfüllt, 1.
bloß gelebt, aber nicht erlebt wird. Diesem Verlust –: Aphorismen zur Lebensweisheit [1851]. Werke in 10
von Gegenwart und Lebendigkeit hat Kierkegaard in Bänden. Zürich 1977, Bd. 8.
210 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

–: Der handschriftliche Nachlaß. Bd. 3. München 1985.


Theunissen, Michael: Das Selbst auf dem Grund der
7. Glück bei Nietzsche.
Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode. Abenteuer des Erkennens
Frankfurt a. M. 1991.
–: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierke-
gaard. Frankfurt a. M. 1993. Eine Philosophie des individuellen Glücks
Wesche, Tilo: Kierkegaard. Eine philosophische Einfüh-
rung. Stuttgart 2003. Eine Philosophie des Glücks ist nach Nietzsche das
–: Leiden als Thema der Philosophie? Korrekturen an
Persönlichste eines Philosophen. Sie verrät ihn.
Schopenhauer. In: Lore Hühn (Hg.): Die Ethik Scho-
Nietzsche hat keine Philosophie des Glücks als be-
penhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus
sondere Disziplin entwickelt. Doch seine Philoso-
(Fichte/Schelling). Würzburg 2006, 133–145.
phie im Ganzen ist auch eine Philosophie des Glücks,
Tilo Wesche die Philosophie eines neuen Glücks. Er hatte schon
als 13-Jähriger in einem langen Gedicht die Frage
gestellt, ›was glücklich heißt‹: Ein Ritter Alfonso zieht
aus, um eine Antwort auf die Frage zu finden, verein-
samt darüber, kommt in ein Kloster, wo er einen Pa-
ter, dann ans Meer, wo er Schiffer vom Glück spre-
chen hört, schließlich zu einem Einsiedler im wilden
Gebirge, der ihm aber auch nur die Worte des grie-
chischen Weisen wiederholt, niemand könne vor sei-
nem Tod glücklich gepriesen werden. Glück, stand
für den erwachsenen Nietzsche bald fest, kann Ge-
genstand weder des Handelns noch des Erkennens
sein; man kann es weder gezielt erwerben noch all-
gemein bestimmen. Es stellt sich von Fall zu Fall ein
und jedes Mal anders. Man kann den Bedingungen
nachgehen, unter denen es sich einstellt, darf sie sich
aber nicht vorab durch eine Theorie oder ein System
verstellen. Nietzsche überließ es auch in seinem
Werk glücklichen Gelegenheiten, um die Bedingun-
gen des Glücks zu erkunden und auf sie aufmerksam
zu machen. Glück brauchte für ihn Glück, um sicht-
bar zu werden. Folgt man den Spuren des Glücks in
seinem Werk, ergibt sich dennoch ein erstaunlich
stimmiges und geschlossenes Bild – vom individuel-
len Glück.

Augenblicke des Glücks


Wenn, so Nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil
der Historie für das Leben (HL), »ein Haschen nach
neuem Glück in irgend einem Sinne das ist, was den
Lebenden im Leben festhält und zum Leben fort-
drängt,« dann gehört zu ihm vor allem die Kraft zu
vergessen, nicht an vergangenes und künftiges Leid
zu denken (HL 1). Auf diese Weise stellen sich nach
Menschliches, Allzumenschliches (MA) »auch dem
bedrängtesten Menschenleben« jeden Tag »Mo-
mente des Behagens« ein (MA I, 49), einfach weil es
sie nötig hat. Lebendiges schafft sich auch in den
7. Glück bei Nietzsche. Abenteuer des Erkennens 211

widrigsten Umständen so viel Glück, wie es braucht, Quellen des Glücks


um sich am Leben zu erhalten: »Dicht neben dem
Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Bo- Mit seinem nach Menschliches, Allzumenschliches
den, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glü- zweiten Aphorismen-Buch, das er Morgenröthe (M)
ckes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke überschreibt, kündigt Nietzsche seine Philosophie
Dessen betrachtet, der vom Dasein Erkenntniss al- des Vormittags an. Nun formuliert er »Thesen« zum
lein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, Glück, um den Thesen der Moralphilosophen zu
oder Dessen, der an der überwundenen Schwierig- entgegnen. Moral ist danach nicht auf Glück ausge-
keit sich freut, – überall wird er etwas Glück neben richtet und fördert es auch nicht: »Dem Indivi-
dem Unheil aufgesprosst finden – und zwar um so duum«, so die Leitthese, »sofern es sein Glück will,
mehr Glück, je vulcanischer der Boden war« (MA I, soll man keine Vorschriften über den Weg zum
591). Als die Philosophie darum »die Frage stellte: Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus
welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen, es kann
Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten mit Vorschriften von Aussen her nur verhindert, ge-
lebt?«, wurde sie zum »Störenfried in der Wissen- hemmt werden« (M 108). Glück ist kontingent, indi-
schaft«: Um das Leben der Menschen auf ein Ziel viduell und situativ, es gibt, »welches es auch sei, […]
auszurichten, lenkte sie von dessen individuellen Luft, Licht und freie Bewegung«, Spiel- und Lebens-
Umständen ab, »unterband […] die Blutadern der räume gerade gegenüber drückenden Moralen (M
wissenschaftlichen Forschung – und thut es heute 136). Doch auch die Moral lässt durchaus Glück zu.
noch« (MA I, 7). Jenes Ziel sollte für Sokrates und Im Blick auf die »mächtige Schönheit und Feinheit
die sokratischen Schulen die Tugend und die Tugend der Kirchenfürsten« unterscheidet Nietzsche (bei-
die Quelle des Glücks sein. Glück aber kann gerade läufig) »zwei Arten des Glückes (des Gefühls der
in der zeitweiligen Befreiung von Zielen, Zwecken Macht und des Gefühls der Ergebung)« (M 60).
und Zwängen, beim »Umwerfen der Erfahrung in’s Beide sind Weisen, mit der Kontingenz zurechtzu-
Gegentheil, des Zweckmässigen in’s Zwecklose, des kommen und sie zu genießen: indem man sie ent-
Nothwendigen in’s Beliebige«, ja in der »Freude am weder beherrscht oder ihr gehorcht. Und beide
Unsinn« aufkommen, solange dabei kein Schaden kommen in der Erkenntnis zusammen, dem Glück
entsteht (MA I, 213). Und solche umwerfenden Er- der Philosophie und Wissenschaft. Hier stimmten
fahrungen können dann, zumal für Künstler, selbst ebenso Platon und Aristoteles wie Descartes und
zum Bedürfnis werden, zum Verlangen »nach einer Spinoza überein: »Das Glück der Erkennenden
seligen, ruhigen Bewegtheit« (MA I, 611). mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was
Nietzsche setzt damit ganz auf den kairós, den da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schönheit
glücklichen Augenblick, in dem unvermutet alles sich nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in
zum Guten fügt. Solche Augenblicke aber haben die Dinge« (M 550).
wiederum ihre guten und schlechten Zeiten. Nietz-
sche unterscheidet Tageszeiten des Glücks, die Mor- Abenteuer des Glücks
genröte, den Vormittag, den Mittag, den Nachmittag,
die Dämmerung und die Mitternacht. Zunächst ent- Schon dies macht die Wissenschaft fröhlich, heiter,
deckt er das Glück des Wanderers, der ohne Ziel die glücklich, und Nietzsches drittes Aphorismen-Buch,
Augen dafür offen hat, »was Alles in der Welt eigent- Die fröhliche Wissenschaft (FW), spricht am beredets-
lich vorgeht«, am Vormittag, wenn ihm nach bösen ten vom Glück. Nietzsche vertraut sich nun ent-
Nächten aus »Wipfeln [der Bäume] und Laubverste- schlossen seinem Geschick an, von Fall zu Fall sein
cken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen Glück zu entdecken, und erzählt davon in einem
werden« und der Tag ein »reines, durchleuchtetes, »Vorspiel« aus Liedern wie diesem: »Mein Glück. /
verklärt-heiteres Gesicht« bekommt: Erfährt er es so, Seit ich des Suchens müde ward, / Erlernte ich das
wird sich ihm eine »Philosophie des Vormittages« ab- Finden. / Seit mir ein Wind hielt Widerpart, / Segl’
zeichnen (MA I, 638). Als Philosoph wird er aber ich mit allen Winden« (FW, »Scherz, List und Rache«
auch in solchen Stunden noch gegen »die goldene 2; vgl. das spätere Lied des Prinzen Vogelfrei »Mein
Wolke der Schmerzlosigkeit« misstrauisch bleiben; Glück!« über die Piazza San Marco in Venedig). Und
sie könnten ihm nur die Müdigkeit seines Willens wi- der Leser muss seinerseits mit Glück dieses Glück
derspiegeln (MA II, »Vermischte Meinungen«, 349). entdecken (vgl. »Meine Rosen«, FW, »Scherz, List
212 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

und Rache«, 9). Wer andere mit seinem Glück beglü- her sich selber wohlzuthun, sich selber Etwas anzu-
cken kann, hat »Ueberglück« (47). Es sollte das Glück thun«, sich ihre eigene Not und mit ihr auch ihr eige-
Zarathustras sein, doch Nietzsche ließ es ihn nicht nes Glück zu schaffen (FW 56).
finden. Jeden macht seine eigene »Sonne«, die »philoso-
Die Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft brin- phische Gesammt-Rechtfertigung seiner Art, zu le-
gen die vielfältigsten Analysen der Bedingungen des ben und zu denken, […] freigebig an Glück und
Glücks in Nietzsches Werk. Er weist dort noch ein- Wohlwollen« (FW 289). Nietzsche erlebt seine Not
mal die sokratische Formel ›Tugend = Glück‹ zurück und sein Glück nun so, dass er »inmitten des Brandes
(FW 12), bringt das Glück der passionierten Liebe der Brandung« stehend, »deren weisse Flammen bis
ins Spiel (FW 14), aber auch »das Bedürfniss, sich ir- zu meinem Fusse heraufzüngeln«, auf dem dunklen
gendwie gegen die furchtbaren Schwankungen des Meer »ein grosses Segelschiff, schweigsam wie ein
Glückes sicherzustellen« (FW 23). Das Äußerste hät- Gespenst dahergleitend«, auftauchen sieht und sich
ten hier, nach einem damals gängigen Klischee, die selbst darin erkennt, als »ein geisterhaftes, stilles,
Chinesen vollbracht. Nietzsche wird nun mit Vor- schauendes, gleitendes, schwebendes Mittelwesen«:
liebe dem »chinesischen ›Glücke‹«, sich so wenig wie »Ja! Ueber das Dasein hinlaufen! Das ist es! Das wäre
möglich Unzufriedenheit zu erlauben (FW 24), und es!« (FW 60). Es ist das Philosophen-Glück nicht nur
dem »englische[n] Glück mit comfort und fashion« des Staunens, sondern des Schauderns und Entset-
(Nachlass [N] 1884, KSA 11.276) für die größtmögli- zens, und nur der »erste Musiker« »der besten Zu-
che Zahl das alte, griechische, »dionysische Glück« (N kunft« wäre imstande, von der »Traurigkeit des tiefs-
1885/86, KSA 12.116) entgegenstellen, das auch und ten Glückes« einen Begriff zu geben (FW 183). Es ist
gerade aus der Erkenntnis kommt, einer Erkenntnis, in Nietzsches bevorzugtem Bild das abenteuerliche
die den tiefsten Abgründen des menschlichen Da- Glück eines Seefahrers, der sich ohne Ziel auf ’s hohe
seins standhält, und das bei Epikur, seiner Wildheit Meer hinaustreiben lässt, um am eigenen Leib das
entwöhnt und von vorsichtiger Schonung umhegt, Äußerste an Halt- und Grenzenlosigkeit zu erfahren,
bereits still und bescheiden geworden ist. Nietzsche der der Mensch nach dem ›Tod Gottes‹ ausgesetzt
genießt bei ihm »das Glück des Nachmittags des Al- ist. Nietzsche würde, schreibt er, wenn er sich ein
terthums«: »ich sehe sein Auge auf ein weites weissli- Haus bauen würde, »gleich manchem Römer, es bis
ches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die in’s Meer hineinbauen«, um »mit diesem schönen
Sonne liegt, während grosses und kleines Gethier in Ungeheuer einige Heimlichkeiten gemeinsam« zu
ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie diess Licht haben (FW 240). Er erlebt seine »Glückseligkeit da-
und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein rin, einmal den fliegenden Fischen zu gleichen und
fortwährend Leidender erfinden können« (FW 45). auf den äussersten Spitzen der Wellen zu spielen«
Wir können diese Freude am flüchtigen Lichtspiel (FW 256), immer des Todes gewärtig, ohne sich von
kaum mehr nachempfinden. Jetzt liegt schon »ein ihm entmutigen zu lassen (FW 278). Denn »das Ge-
tiefes und gründliches Glück darin, dass die Wissen- heimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den
schaft Dinge ermittelt, die Stand halten und die im- grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: ge-
mer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen ab- fährlich leben!« (FW 283). Gefährlich leben heißt, zu
geben: – es könnte ja anders sein!« (FW 46). Aber je mehr Leben, zu mehr Experimenten mit seinem Le-
mehr die Welt der Erkenntnis und in der Praxis ben bereit zu sein, um weiter »in die Höhe der
standhält, desto mehr tritt auch Langeweile ein, und Menschlichkeit hinauf« zu wachsen. Dabei wächst
so ist eine neue Begierde nach neuen Leiden aufge- »der höhere Mensch« nach allen Seiten, er »wird im-
kommen: »Noth ist nöthig! Daher das Geschrei der mer zugleich glücklicher und unglücklicher« (FW
Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten, über- 301; vgl. FW 338). Und so wird man auch mit dem
triebenen ›Nothstände‹ aller möglichen Classen und »Glücke Homer’s in der Seele« »im tiefsten Genusse
die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese des Augenblicks überwältigt werden von Thränen
junge Welt verlangt, von Aussen her solle – nicht etwa und von der ganzen purpurnen Schwermuth des
das Glück – sondern das Unglück kommen oder Glücklichen« und »das leidensfähigste Geschöpf un-
sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus ter der Sonne« sein (FW 302). Der eine wird dann in
geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sicherer »Improvisation des Lebens« »keinen Fehl-
sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne.« griff« tun, »ob er schon fortwährend das gewagteste
Solchen »Nothsüchtigen« fehlt die »Kraft, von Innen Spiel spielt«, ein anderer dagegen, der auf Pläne setzt,
7. Glück bei Nietzsche. Abenteuer des Erkennens 213

wird nicht unglücklich sein, wenn sie misslingen; Gleichniss-Glück für höheres Glück« (Za III, »Von
beide wissen und haben »mehr vom Leben« (FW den drei Bösen« 2), genest von seinem abgründlichs-
303). ten Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen
Moralprediger »haben um das überreiche Glück und, »gedrängt und gedrückt von [s]einem Glücke,
dieser Art von Menschen recht wohl gewusst, aber es wartend vor Überflusse« (Za III, »Von der grossen
todtgeschwiegen, weil es eine Widerlegung ihrer Sehnsucht«), singt er schließlich dem Leben das
Theorie war, nach der alles Glück erst mit der Ver- »Tanzlied« der Mitternacht ins Ohr, das Lied seines
nichtung der Leidenschaft und dem Schweigen des neuen Glücks (»Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht
Willens entsteht!« (FW 326). Dagegen kann der die tiefe Mitternacht? / ›Ich schlief, ich schlief –, /
neu erwachte »›historische Sinn‹« die »zukünftige Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – / Die Welt ist
›Menschlichkeit‹« um neue Glücksmöglichkeiten be- tief, / Und tiefer als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh
reichern. Er lässt »diess Alles auf seine Seele nehmen, –,/ Lust – tiefer noch als Herzeleid: / Weh spricht:
Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberun- Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe,
gen, Siege der Menschheit: diess Alles endlich in Ei- tiefe Ewigkeit!‹«, Za III, »Das andere Tanzlied«). Er
ner Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrän- liegt nun, so seine Tiere, »in einem himmelblauen
gen: – diess müsste doch ein Glück ergeben, das bis- See von Glück«. Doch Zarathustra lässt sie wissen,
her der Mensch noch nicht kannte, – eines Gottes dass sein Glück »schwer ist und nicht wie eine flüs-
Glück voller Macht und Liebe, voller Thränen und sige Wasserwelle«, sondern ihn drängt und ihm an-
voll Lachens« (FW 337). hängt wie Pech (Za IV, »Das Honig-Opfer«). Es wird
noch einmal getrübt vom »Nothschrei« der »höhe-
Zarathustras Übermaß an Glück ren Menschen«, die es suchen, doch ebenfalls nicht
verstehen (Za IV, »Der Nothschrei«). Es kommt
und Unglück
schließlich »um die Stunde des vollkommnen Mit-
Auch Nietzsches Zarathustra (Za) ist übermäßig tags«, als er sich einsam hinlegt, um zu schlafen, als
glücklich und unglücklich zugleich, glücklich wie die »goldene Traurigkeit« und »[w]ie ein Schiff, das in
Sonne, die allen und allem ihren Überfluss an Licht seine stillste Bucht einlief«, »der Erde nahe, treu, zu-
und Wärme und mit ihm immer neues Leben gibt, trauend, wartend, mit den leisesten Fäden an ihr an-
und unglücklich, weil er niemanden findet, der die gebunden«, vollkommen still, und Zarathustra glaubt
Gabe seiner Reden annehmen kann, wie sie es ver- tief »in den Brunnen der Ewigkeit« zu fallen, bis
langen. Sein Glück der Gabe verunglückt auf dem er wirklich schläft – und wieder vom »heitere[n]
Markt der Menschen, die in ihrem kleinen Glück an- schauerliche[n] Mittags-Abgrund […] wie aus einer
einanderhängen und »blinzeln« (Za, »Vorrede« 5). fremden Trunkenheit« erwacht (Za IV, »Mittags«).
So will er nur noch den »Einsiedlern […] und den Als er sein Tanzlied später den höheren, nun gelehri-
Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für Unerhör- geren Menschen erläutert, redet er vom Sterben vor
tes […] sein Herz schwer machen mit [s]einem Glü- Glück, »von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke«
cke« (Za, »Vorrede« 9). Bald auch von seinen Jün- (Za IV, »Das Nachtwandler-Lied« 6). Zuletzt aber
gern enttäuscht, sucht auch er sein Glück, »ein kom- verabschiedet er, wieder allein, sein Glück: »Trachte
mendes Glück«, das ihn beseligt, verwundet und ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem
kommt wie ein Sturm (Za II, »Das Kind mit dem Werke!« und harrt an einem neuen Morgen neu dem
Spiegel«). Aber »des Geistes Glück ist diess: gesalbt »grosse[n] Mittag« entgegen (Za IV, »Das Zeichen«).
zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier«
(Za II, »Von den berühmten Weisen«). Am »Nach- Das Glück des Erkennens
mittag [s]eines Lebens« sucht Zarathustra für sein
Glück eine neue Herberge: die Meere. Doch um Für den »Denker« bedeutet, nach seinem Werk zu
»Mitschaffender und Mitfeiernder« willen bietet er trachten, wie Nietzsche im später hinzugefügten V.
sich noch einmal »allem Unglücke an – zu [s]einer Buch der Fröhlichen Wissenschaft erläutert, dass er
letzten Prüfung und Erkenntniss«, misstraut dem »zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in
»Glück vor Abend« und wartet »auf sein Unglück die ihnen sein Schicksal, seine Noth und auch sein bes-
ganze Nacht« (Za III, »Von der Seligkeit wider Wil- tes Glück hat« (FW 345). Sein Glück wächst mit dem
len«). Nun gewappnet gegen den Neid des kleinen Werk und lässt es seinerseits wachsen. Aber mit dem
Glücks, bekennt er sich zur Wollust, dem »grosse[n] Werk des Erkennenden wächst, so Nietzsche, auch
214 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

wieder der Schmerz. Er hatte seine eigenen notori- ist auch seine »Formel für die Grösse am Men-
schen Schmerzen ein Leben lang körperlich wie geis- schen[,] ist amor fati: dass man Nichts anders haben
tig als »Tyrannei« erfahren (FW, »Vorrede« 1), unter- will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit
brochen nur von kurzen Zeiten der Erleichterung. nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch
Doch erst »der grosse Schmerz, jener lange langsame weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit
Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam vor dem Nothwendigen –, sondern es lieben …« (EH,
wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns »Warum ich so klug bin« 10). Mit ihm hat er, nach
Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und al- dem ›Tod Gottes‹, Spinozas amor Dei intellectualis
les Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, neu erfahren (s. Kap. IV.4). Es ist das Glück des
Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem Leichtwerdens der schwersten Erkenntnis und ein
unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu Glück nur für den, der sie kennt und ihr standhält.
thun«. Erst in der Not schwerster Schmerzen werden Dies traute Nietzsche noch nicht einmal seinem
Philosophen offen für die »Noth des Problemati- engsten Freund und Weggefährten Franz Overbeck
schen« – und können dann erfahren, dass über diese zu, dem er schrieb: »Dafür, daß Einer (wie ich) diu
Not der »Reiz des Problematischen, die Freude am noctuque incubando von frühester Jugend an zwi-
X« obsiegen kann, das beseligende Glück des Erken- schen Problemen lebt und da allein seine Noth und
nenden, der gewagt hat, das Tiefste zu sehen und zu Glück hat, wer hätte dafür ein Mitgefühl!« (14. Juli
denken, und ihm standhält: »Wir kennen ein neues 1886).
Glück …« (FW, »Vorrede« 3). Die Welt wird dann il-
lusionslos klar, gut und schön. Gegen Kants und Literatur
Schopenhauers »Fehlgriff«, die Schönheit in die
Bertino, Andrea Christian: Nietzsche und die hellenisti-
»Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit« zu ver-
sche Philosophie. Der Übermensch und der Weise.
legen, pries Nietzsche in Zur Genealogie der Moral
In: Nietzsche-Studien 36 (2007), 95–130.
(GM) Stendhals »glücklicher gerathene Natur«, die
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studi-
ihn in der Schönheit »une promesse de bonheur« er- enausgabe in 15 Bänden [KSA] (Hg. Giorgio Colli/
kennen ließ, nicht nur ein moralisches, sondern Mazzino Montinari). München/Berlin/New York
durchaus auch erotisches Glücksversprechen (GM 1980.
III 6; s. Kap. II.4 und V.11). Schneider, Ursula: Grundzüge einer Philosophie des
Glücks bei Nietzsche. In: Günther Abel/Josef Simon/
Das Glück des amor fati Werner Stegmaier (Hg.): Monographien und Texte
zur Nietzsche-Forschung. Bd. 11. Berlin/New York
Zuletzt, als er immer mehr zu kämpferischen Zuspit- 1983.
zungen neigte, hat auch Nietzsche in Der Antichrist Thomä, Dieter: Glück und Person. Eine Konstellation
(AC) das Glück noch definiert, in diesem Sinn: »Un- bei Nietzsche und Max Weber. In: Nietzschefor-
ser Fatum – das war die Fülle, die Spannung, die schung 7 (2000), 357–381.
Stauung der Kräfte. Wir dürsteten nach Blitz und Wienand, Isabelle: Was ist Glück? In: Dies. (Hg.): Neue
Thaten, wir blieben am fernsten vom Glück der Beiträge zu Nietzsches Moral-, Politik- und Kultur-
Schwächlinge, von der ›Ergebung‹ […] Ein Gewitter philosophie. Fribourg 2009, 52–66.
war in unsrer Luft, die Natur, die wir sind, verfins- Werner Stegmaier
terte sich – denn wir hatten keinen Weg. Formel uns-
res Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel
…« (AC 1). Das Ziel ergibt sich aus dem Ereignis des
Werks, und die Größe des Werks bemisst sich an den
dafür überwundenen Widerständen: »Was ist Glück?
– Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein
Widerstand überwunden wird« (AC 2). Das äußerste
Werk, das ein Denker vollbringen kann, ist dann der
amor fati, die Liebe zum Geschick, das Glücksgefühl
bei allem, was geschieht, weil er erkannt hat, dass es
nur so und nicht anders geschehen konnte. Nietz-
sches letzte Formel für sein Glück in Ecce homo (EH)
215

8. Figuren des Glücks ler anders, als man anhand seiner Dramen und an-
deren Dichtungen vermuten könnte. Er reicht ihnen
in der frühen Moderne. keine helfende Hand, er ruft nicht dazu auf, sie auf-
Melancholie – die Heiter- zunehmen. Im Gegenteil, wer sich nicht in die Ge-
meinschaft eingliedern will, der möge sich weinend
keit der Schwermut davonstehlen (Schiller 1987, 133):

Wem der große Wurf gelungen,


Das neuzeitliche Europa hat schon viele Parolen ge- Eines Freundes Freund zu sein;
hört. Seit der Französischen Revolution ließe sich Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
sogar vom Zeitalter der Parolen sprechen; sie griffen
Ja – wer auch nur eine Seele
in einem früher nie gekannten Ausmaß um sich, um
Sein nennt auf dem Erdenrund!
als Kompass zu dienen. Die großen Parolen des 18.
Und wers nie gekonnt, der stehle
Jahrhunderts eröffnen bis heute Debatten etwa über Weinend sich aus diesem Bund!
recht verstandene Freiheit und Gleichheit, sie funkti-
onieren teilweise aber auch wie die Werbung heute. Aber wohin sollten sie sich davonstehlen, wenn das
Wenn sie den Dialog übertönen, werden sie ideolo- Glück und die Freude ein alles überdeckendes Ster-
gische Gebilde. nenzelt sind, das sich wie ein universeller Schleier
Zu den Parolen des 18. Jahrhunderts gehört auch über alles legt? Es bleibt nur das Nichts. Im Grunde
das Glück. »Le bonheur est une idée neuve en Eu- des Kollektivismus lauert der Wunsch nach Aus-
rope.« Saint-Just (s. Kap. V.2) sprach diesen Satz am schluss: Was nach einer konformistischen Universa-
3. März 1794 in einer Rede vor dem Pariser Konvent, lität strebt, wird alles, was für das individuelle Wohl
deren Titel für sich spricht: »Sur le mode d’exécution Partei ergreift, unweigerlich ausklammern, für nich-
du décret contre les ennemis de la Révolution« tig erachten und, wenn es sein muss, vernichten.
(Saint-Just 2004, 673). Das Glück: eine Idee, die es zu Schiller spricht in seiner Ode die Freude und das
verteidigen gilt, und zwar gegen die Feinde der Re- Glück all jenen ab, die auf der Schattenseite des Le-
volution – eine Idee, um die gekämpft werden muss. bens stehen, und die von der großen Mehrheit ge-
Denn wenn sich das Glück einmal zu einer Parole wöhnlich als Melancholiker bezeichnet werden. Das
kristallisiert hat, muss es auch um jeden Preis ver- ist eines der großen Ziele des ausgehenden 18. Jahr-
wirklicht werden – selbst um den Preis des Unglücks hunderts: das Glück von der Melancholie zu reini-
anderer. Auf dem Altar der kollektiven Freude müs- gen. Das neue Glücksideal, das auch Saint-Just ver-
sen alle geopfert werden, die sich jenem universellen kündet, basiert auf der Vorstellung einer aktiven Ge-
Gebot verweigern, das eine der geläufigsten, despo- staltung, Verwirklichung oder Umsetzung des
tischen Parolen unserer Tage vorwegnimmt: ›Be Glücks, die mit dem Sich-Verlieren in Stimmungen –
happy!‹ (s. Kap. VI.11). Sobald das Glück zu einem also auch mit der Melancholie – prinzipiell unver-
ideologischen Gebot geworden ist, wirft es einen träglich ist. Früher hatten sich die beiden Phäno-
dunklen Schatten auf all jene, die sich dieser Ideolo- mene nicht gegenseitig ausgeschlossen. Erst im 18.
gie verweigern – in diesem Fall nicht den Schatten Jahrhundert beginnt man sie voneinander zu tren-
des Unglücklichseins, sondern den der Vernichtung. nen, was auch eine Einengung ihrer Bedeutung nach
Einige Jahre zuvor, 1785, skizzierte auch Schiller in sich zieht. Wenn das Glück als praktisches Postulat
seiner Ode »An die Freude« jene Ambivalenz des aufgestellt wird, ist es auch moralischen Bewertun-
Glücks, ohne ihr allerdings besondere Aufmerksam- gen zugänglich. Saint-Just setzt in seiner Rede die
keit zu schenken. Zu Beginn der Ode beschwört Liebe zum Glück mit der Liebe zu den Tugenden
Schiller das göttliche Heiligtum der Freude und des gleich und bietet damit eine andere Version jenes
Glücks, das sich als universelles Sternenzelt über die Junktims zwischen Glück und Moral, das von der
Sterblichen wölbt. Unter diesem Zeltdach findet je- moral sense-Philosophie des 18. Jahrhunderts vor al-
der seinen Gefährten, seinen Freund, seine treue lem in Schottland formuliert worden ist (s. Kap. V.1–
Gattin. Aber nicht jeder kann oder möchte am gro- 2). Diese Tradition reicht von Shaftesbury bis Adam
ßen Zusammenspiel von Freiheit, Gleichheit und Smith, dessen Theory of Moral Sentiments von eben
Brüderlichkeit teilnehmen. Was soll mit ihnen ge- jenem Ludwig Gotthard Kosegarten ins Deutsche
schehen? Erstaunlicherweise entscheidet sich Schil- übersetzt wurde (Theorie der sittlichen Gefühle, Leip-
216 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

zig 1791–95), der als Pastor von Rügen auch mit Cas- phische Untersuchungen über das Wesen der mensch-
par David Friedrich in Kontakt stand. Mit jenem lichen Freiheit (1809) bereits als Faktum festhält,
Friedrich, der nicht nur der melancholischste Maler nämlich dass dieser Schleier aus dem Stoff der ewi-
der Kunstgeschichte ist, sondern der auch das Glück gen Melancholie gewoben ist: »Daher der Schleier
nicht in erster Linie in der Tugend suchte als viel- der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebrei-
mehr mit der Melancholie assoziierte. Zum Aus- tet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles
druck kommt diese Assoziation etwa auch bei Cha- Lebens. Freude muß Leid haben, Leid in Freude ver-
teaubriand, der Religion und Melancholie zusam- klärt werden« (Schelling 1809/1860, 399). Kleist
menbrachte und davon schwärmte, dass sie »im reduziert das Glück auf das Bewusstsein, den ver-
Herzen einen Quell voll gegenwärtigen Übels und standesmäßig überschaubaren Bereich, und macht
ferner Hoffnungen entspringen [lässt], aus dem un- es von der Tugend abhängig. Das Glück ist für ihn
erschöpfliche Träumereien perlen« (zit. nach Kopp also letztlich eine allgemeingültige Forderung, ein
2006, 330). kategorischer Imperativ: etwas, was jederzeit von je-
Die Fallgruben auf dem durch die Tugendphiloso- dem eingefordert werden kann. Und wer dieser all-
phie des 18. Jahrhunderts vorgegebenen Weg zum gemeingültigen Forderung nicht Genüge leistet, der
Glück zeigen sich am Schicksal Heinrich von Kleists. verhält sich nicht nur unvernünftig, sondern ver-
Als fleißiger Schüler der Lehren der Aufklärung ver- dient es gar nicht, ein Mitglied der menschlichen Ge-
fasste Kleist im Frühjahr 1799 seine erste Abhand- meinschaft zu sein.
lung über das Thema Glück: »Aufsatz, den sichern Das Gebot, um jeden Preis glücklich zu sein, ist
Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch un- derart despotisch, dass man sich damit innerlich gar
ter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu ge- nicht identifizieren kann. Auch Kleist vermochte es
nießen!« In diesem mit einem gebieterischen Titel nicht. Er musste alsbald die Erfahrung machen, dass
versehenen und in einem naiven Ton gehaltenen Es- er gar nicht in der Lage war, das, was er sich als
say ist das Glück die Folge einer bewussten Entschei- ›Glück‹ zurechtgelegt hatte, zu verwirklichen. Zwei
dung: Da der Mensch über Verstand und Wissen ver- Jahre später, am 5. Februar 1801, zu Beginn seiner
fügt, vermag er sein Leben so zu lenken, dass die Si- sogenannten Kant-Krise, schreibt er in einem Brief
cherheit seines Glückes durch nichts erschüttert an seine Schwester Ulrike: »Ach, Du weißt nicht, wie
wird. Kleists Studie, die, hätte er seine späteren Werke es in meinem Innersten aussieht«, und klagt ihr an-
nicht geschrieben, zu Recht für immer in Vergessen- schließend seine innere Unbeschreiblichkeit: »Daher
heit geraten wäre, ist ein gutes Beispiel für die Bestre- habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen,
bung des 18. Jahrhunderts, Glück und Melancholie wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll;
voneinander zu trennen. Glück setze voraus, so nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber
Kleist, dass man seinen Instinkten, den der Ratio un- weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, und
zugänglichen Bereichen, also allem, was in der Ge- daher fürchten muss, aus den Bruchstücken falsch
schichte der europäischen Kultur vornehmlich mit verstanden zu werden« (Kleist 1993, 626). Und es
dem Dunklen assoziiert wurde und, da es sich durch folgt die tragische Erkenntnis: »Ach Du weißt nicht,
nichts aufhellen ließ, dem Menschen nur Schwer- Ulrike, wie mein Innerstes oft erschüttert ist […] ich
mut, Melancholie und Verzweiflung bereithielt, keine passe nicht unter die Menschen, es ist eine traurige
Macht über sich einräumt. Und wie lassen sich Wahrheit, aber eine Wahrheit« (628).
Schwermut und Melancholie vermeiden? Indem Als Kleist sich dem Bankrott einer rationalisti-
man stets die richtigen Schlüsse zieht, sich nicht täu- schen Tugend- und Glücksphilosophie gegenüber-
schen lässt. Wenn wir dazu in der Lage sind, werden sieht, fällt er einer tiefen Verzweiflung anheim. »Mein
wir nicht nur glücklich sein, »wir durchschauen einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe kei-
dann die Geheimnisse der physischen wie der mora- nes mehr« (636). In gewissem Sinn wird er deshalb
lischen Welt, bis dahin, versteht sich, wo der ewige Schriftsteller, weil er sich nicht in der Lage sieht,
Schleier über sie waltet« (Kleist 1993, 310). seine rationalistisch begründete Glücksvorstellung
Für den jungen Kleist dient »der ewige Schleier« – aufrechtzuerhalten. Seine späteren Schriften handeln
als eine Art Schillersches Sternenzelt – nur dazu, nicht nur von dem bedingungslosen Verlangen nach
Gott vor uns zu verhüllen. Noch gänzlich fremd ist Glück, sondern auch von dessen Nichtrealisierbar-
ihm der Gedanke, den zehn Jahre später Friedrich keit. Kleist erkannte, dass im Grunde des Glücks stets
Wilhelm Joseph Schelling in seiner Studie Philoso- die Melancholie lauerte, aber er sah auch das gewal-
8. Figuren des Glücks in der frühen Moderne. Melancholie – die Heiterkeit der Schwermut 217

tige Glückspotential, das die Melancholie in sich Zeitpunkt bereits im Scheiden aus dem Leben. Das
barg. Damit kehrte er zu jener großen europäischen, höchste Glück ist die Annahme des Todes aus eige-
mit Aristoteles einsetzenden Tradition zurück, die nem Entschluss, was in Kleists Fall nicht nur das
Glück und Melancholie nie scharf voneinander tren- Scheiden aus dem Leben bedeutete, sondern auch
nen wollte. Die enge Verbindung beider ist eines der den Eintritt in ein Reich, das größer ist, als es der
großen, wiederkehrenden Themen der europäischen menschliche Verstand, in den er in seiner Jugend
Kultur. noch soviel Vertrauen gesetzt hatte, jemals kartogra-
Robert Burton, der im 17. Jahrhundert eines der phieren könnte.
umfangreichsten Werke aller Zeiten über die Melan- Das Glück ist eine neue Idee in Europa, verkün-
cholie geschrieben hat (The Anatomy of Melancholy, dete Saint-Just. Er irrte sich. Das Glück war eine
1621), schildert in einem in Versform gehaltenen Teil überaus alte Idee in Europa. Neu daran war höchs-
seines Werks die beiden unterschiedlichen Stim- tens, dass Saint-Just als erster ein von aller Melan-
mungen, die die Melancholie mit sich bringt. Der Re- cholie ›gereinigtes‹, von aller Schwermut befreites
frain der Abschnitte, die die fröhlichen und freudi- Glück forderte.
gen Momente seines Lebens beschwören, lautet: »All Ein von Melancholie gereinigtes Glück ist weniger
my joys to this are folly, / Naught so sweet as melan- eine metaphysische als vielmehr eine politische Ka-
choly.« Der Refrain der Abschnitte, die seine trauri- tegorie: Sie basiert auf der Überzeugung, dass der
gen und düsteren Augenblicke beschreiben, lautet Mensch über sich verfügen und ihm dieses Vorrecht
dagegen: »All my griefs to this are jolly, / None so sad von niemandem abspenstig gemacht werden kann.
as melancholy« (Burton 1621/1968, 79). Das Glück, das Saint-Just vorschwebte, war die
Einen ähnlichen Standpunkt vertritt zwei Jahr- Freude über die Fortentwicklung der Welt, etwas,
hunderte später auch John Keats, der Burtons Werk was ausnahmslos jeder, der sich um die Perfektionie-
vermutlich gekannt hat. Sein Gedicht Ode on Melan- rung der Welt bemühte, empfinden musste. An die-
choly ist das bekannteste literarische Zeugnis für die sem Punkt brachten die Romantiker ihren Zweifel
These, dass sich Melancholie und Heiterkeit oder zum Ausdruck. Denn wer Glück und Melancholie
Glück nicht gegenseitig ausschließen, im Gegenteil. miteinander verbindet – wie es Caspar David Fried-
Die Melancholie hat, wenn sie sich in diesem Ge- rich oder der den Tod heiter akzeptierende Kleist tun
dicht aus dem Himmel herablässt, zwei Begleiter auf –, der hat kein Vertrauen in die restlose Selbstbe-
Erden: die Schönheit (beauty), die früher oder später stimmung; für ihn ist das Sein nicht erkennbar und
sterben muss, und die Freude (joy), die ihre Hand nicht beherrschbar. Denn die Melancholie überdeckt
ewig an ihre Lippen hält. Und wo richten sie sich ein? nicht nur die Welt, sondern öffnet dem Menschen
Im Tempel der Heiterkeit (delight): »Ay, in the very auch die Augen für etwas, was seine Kompetenz weit
Temple of Delight / Veil’d Melancholy has her sovran überschreitet: für die unaufhebbare Gebrechlichkeit
shrine« (Keats 1994, 248). des menschlichen Lebens.
»Delight« lässt sich in diesem Zusammenhang als Als man im 18. Jahrhundert versuchte, Glück und
Freude, Lust, Heiterkeit oder auch Glück übersetzen. Melancholie voneinander zu trennen, wollte man
Es hilft dem Melancholiker, sich eine innere Welt zu damit das Erlebnis der Transzendenz zurückdrän-
schaffen, von der aus betrachtet die irdischen Dinge, gen und die Tatsache verschleiern, dass der Mensch
die konkreten Tatsachen, also alles, was zu jener Zeit seiner Größe und seinen Fähigkeiten zum Trotz kei-
als die prosaische Welt bezeichnet wurde, neue Di- nesfalls allmächtig war. Denn die Melancholie ist ge-
mensionen hinzugewinnen. nauso ein Hinweis auf die intensive Gegenwart eines
Die Verbindung von »Delight« und Melancholie transzendenten Erlebnisses wie das Glück – nur mit
verschönert nicht einfach den Alltag, gewährt keine umgekehrten Vorzeichen. Beim transzendenten Er-
sentimentale Rast, sondern steht für eine metaphysi- lebnis nimmt das, was in der Sprache der europäi-
sche Initiation, wie man sie auch von der Verbindung schen Kulturtradition üblicherweise als ›göttlich‹ be-
zwischen Manie und Melancholie bei den Griechen zeichnet wird, im Menschen selbst Gestalt an. Gott
kennt (vgl. Demont 2006). Etwas Ähnliches muss scheint dann gleichsam zum Leben zu erwachen, der
auch in Kleist vorgegangen sein, als er in seinem vom Mensch beginnt sich selbst als göttlich zu empfin-
Morgen seines Todes datierten letzten Brief an Marie den. In den Augenblicken des Glückes ist dieser in-
von Kleist versicherte: »Ich bin ganz selig« (Kleist nere Gott in Auferstehung befindlich und nähert
1993, 887). Dieses Glück bestand für ihn zu diesem sich. In den Augenblicken der Melancholie ist dieser
218 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

Gott in Auflösung befindlich und entfernt sich, ist je- kündete: Das Glück ist ein Zustand der Gesundheit,
doch noch lebendig genug, um seine Wirkung spü- der mit Klugheit und den geeigneten Rezepten auf-
ren zu lassen. Und wenn seine Kraft ihren Höhe- rechterhalten werden kann. Der andere behauptete:
punkt erreicht und sich weder nähert noch entfernt, Die Schwermut, der Missmut, also die Melancholie
sondern gegenwärtig ist, dann wird der Mensch von entspringen nicht der Einsicht in die Gebrechlich-
einem Gefühl erfüllt, in dem Melancholie und Glück keit des Seins, sondern sind eine Krankheit, die auf
nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Das Fehldiagnosen zurückzuführen ist.
wird in der Sprache der europäischen Tradition mal Die große Tat der Romantiker bestand darin, dass
als Erschütterung, mal als Reinigung (Katharsis) be- sie von neuem jenem Drängen auf Glück Geltung
zeichnet. Es sind Augenblicke der Gegenwart. Das la- verschafften, das den gleichen Wurzeln entsprang
teinische Wort praesens (Gegenwart) konnte sich ne- wie die Melancholie. Auf diese Weise emanzipierten
ben der verbalen Gegenwart auch auf die Macht der sie gleichsam auch die Melancholie. Sie verknüpften
Götter beziehen (vgl. Steiner 1990). In der Antike beide wieder mit dem Wissen um die Transzendenz.
wurde nur in Bezug auf die Götter und Heroen von Hinzu kommt, dass der Mensch in solchen Momen-
Gegenwart gesprochen. Denn die Gegenwart vermit- ten nicht nur um die Transzendenz ›weiß‹, sondern
telt ein Gefühl von Göttlichkeit: In dem Moment, in auch in aller Intensität erlebt, dass sie sein ganzes
dem der Mensch eine einmalige Gegenwart erlebt, Wesen beseelt; er findet Selbsterfüllung in etwas, was
wird er auch dem Druck der Verhältnisse entrissen. streng genommen außerhalb von ihm liegt. Gleich-
Die Gegenwart ist kein physisch bestimmbarer Zu- sam schwindelnd verliert er sich in etwas, was jen-
stand. Eher ist sie eine Ausstrahlung, die wie ein Blick seits von ihm liegt – in jenem Unendlichen, das we-
oder ein Lächeln, das sein Ziel erreicht, eine in sich der mit den Mitteln der Politik noch der Wirtschaft
geschlossene Welt zu erschaffen vermag. Es verwun- noch der Technik jemals zu fassen ist. Diese Bereiche
dert nicht, dass eine so verstandene Gegenwart in schreiben ein nüchternes Glück vor; das Glück hin-
der modernen Massengesellschaft ein Störfaktor ist: gegen, das mit der Melancholie verwandt ist, macht
Sie stellt die Wichtigkeit gerade dessen in Frage, was den Menschen schwindelig.
in modernen Gesellschaften am wichtigsten zu sein Man hat die Melancholie in den vergangenen zwei
scheint – die Macht über die Verhältnisse. Jahrhunderten so lange bezähmt, bis man sie schließ-
Melancholie und Glück gehören für den Denker, lich von einem Zustand, der einem tiefe und existen-
der die Dimension der Transzendenz offen halten tielle Erkenntnisse vermitteln konnte, zur unver-
will, in der Erfahrung der Gegenwart zusammen. In- bindlichen Sentimentalität reduziert hat. Dasjenige
dem man sie voneinander trennt, werden sie beide Glück wiederum, das von Platon über die großen,
säkularisiert. Die Melancholie wird auf ein senti- westlichen Mystiker bis zu den Romantikern stets
mentales ›Schönheitsgefühl‹ reduziert, etwas, was für die Verbindung mit der Transzendenz stand, ver-
nur an schönen Herbstabenden, beim Sonnenunter- suchte man auf das Erlebnis der Zufriedenheit zu re-
gang oder beim Sehen tränenseliger Filme erlaubt duzieren. Das führte oft zu einem Verlust der Dis-
und ansonsten eher zu belächeln ist. Das Glück tanz zu den bestehenden Verhältnissen, auch wenn
wiederum wird zu einer Funktion der entsprechend die Verweltlichung des Glücks programmatisch auf
eingerichteten und geregelten ökonomischen, politi- die Veränderung dieser Verhältnisse angelegt war.
schen und technischen Verhältnisse. Die wirtschaftlichen und politischen Implikationen
Es ist kein Zufall, dass Saint-Just das Glück etwa dieser Haltung sind allzu offensichtlich – und zwar
zu jener Zeit, nämlich an der Wende vom 18. zum 19. nicht nur im Zeitalter totalitärer Diktaturen, son-
Jahrhundert, zu einer neuen Idee in Europa erklärte, dern auch in der Zeit danach, in der die Übermacht
als der französische Psychiater Jean-Étienne Domi- der Wirtschaft derart maßlos wurde, dass sich Slavoj
nique Esquirol die Melanchiolie als »falsche Idee« Žižeks Annahme zu bestätigen scheint, das Leben
brandmarkte und, da er den Begriff zu allgemein auf Erden könne irgendwann erlöschen und der Ka-
fand, auf »Monomanie« umtaufte (Esquirol 1838/ pitalismus dennoch wie geschmiert weiterfunktio-
1845, 200). Der eine verwies das Glück in den Wir- nieren. Wenn dem so ist – und momentan deutet
kungsbereich des Menschen und behauptete, das noch nichts auf dessen Gegenteil –, dann ist das
Ausmaß unseres Glücks hänge von uns selbst ab. Der Junktim von Melancholie und Glück tatsächlich ein
andere beäugte die Melancholie argwöhnisch und Störfaktor. Wolf Lepenies hat die Melancholie des-
stritt ihr jede Größe, jede Kreativität ab. Der eine ver- halb im Anschluss an Robert Merton als ein Symp-
9. Figuren des Glücks in der Romantik. Wanderung ins Anderswo 219

tom von »Non-Konformität« beschrieben, das frei- 9. Figuren des Glücks in


lich immer auch unter dem Verdacht steht, einen
seinerseits fragwürdigen Kult des Rückzugs zu in- der Romantik. Wanderung
szenieren (Lepenies 1969, 17). Doch indem die Ver- ins Anderswo
teidiger des Junktims von Glück und Melancholie
der Logik des Kapitals und des Kapitalismus wider-
sprechen, bejahen sie ein anderes Leben. Auf dem Weg zuhause

Literatur »An einem prächtigen Morgen, den er halb verschla-


fen, dehnte sich Klarinett, daß ihm die Glieder vor
Burton, Robert: The Anatomy of Melancholy [1621].
Nichtstun knackten; ›nein‹, sagte er, ›nichts langwei-
Vol. 1. London/New York 1968.
liger als Glück!‹« So heißt es irritierend nüchtern in
Demont, Paul: Der antike Melancholiebegriff: von der
Joseph von Eichendorffs (1788–1857) später, 1841
Krankheit zum Temperament. In: Jean Clair (Hg.):
Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst. Ost- erschienenen Erzählung Die Glücksritter (1970, Bd.
fildern-Ruit 2006, 34–37. 2, 894). Die Formel vom langweiligen Glück passt
Esquirol, Jean-Étienne Dominique: Mental Maladies. A nicht in das gängige Bild, das wir uns von Figuren
Treatise on Insanity [1838]. Philadelphia 1845. der romantischen Literatur machen. Und doch er-
Keats, John: The Works. Ware/Hertfordshire 1994. schließt sich die Wendung Eichendorffs schnell, viel-
Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. leicht ein wenig zu schnell. Romantiker sind Wande-
München 91993. rer, Suchende, fahrende Gesellen, von Sehnsucht
Kopp, Robert: Die unauslotbaren Höllenkreise der Umgetriebene. Wenn sie ihr Ziel erreicht haben, hö-
Trauer. Erscheinungsformen der romantischen Me- ren sie auf, Romantiker zu sein; sie fangen dann an,
lancholie von Chateaubriand bis Sartre. In: Jean Clair Philister zu werden. Für diesen Verrat müssen Ex-
(Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Romantiker einen hohen Preis zahlen: sie vergessen,
Kunst. Ostfildern-Ruit 2006, 328–340. was Glück ist; sie sind nicht einmal mehr unglück-
Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frank- lich, sondern schlicht zufrieden. Wer angekommen
furt a. M. 1969. ist, und sei es am Ziel seiner Sehnsucht, etwa in arka-
Saint-Just, Antoine-Louis de: Œuvres complètes. Paris dischen Gefilden oder im Reich des Glücks, ist am
2004. Ende. Dass der Weg das Ziel ist, wissen schon lange
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophische vor dem Motorrad fahrenden Neo-Zen-Buddhisten
Untersuchungen über das Wesen der menschlichen
Robert M. Pirsig die romantischen Wanderer.
Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegen-
Années de pèlerinage (Wanderjahre) heißt der Kla-
stände [1809]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I/7.
vierzyklus, den Franz Liszt um 1850 komponierte.
Stuttgart/Augsburg 1860, 331–416.
Und Der Wanderer lautet der Titel eines der berühm-
Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. 1. München
1987. testen Lieder Franz Schuberts (1816), auf das Liszts
Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Spre- spätes Werk mehrfach anspielt. Vertont und dadurch
chen Inhalt? München/Wien 1990. unsterblich gemacht hat Schubert seltsam unbehol-
László F. Földényi fene Verse von Georg Philipp Schmidt von Lübeck
(aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma) (Schmidt von Lübeck, Der Wanderer; von Schubert
vertont, op. 4, Nr. 1, 1816):

Ich wandle still, bin wenig froh,


Und immer fragt der Seufzer: wo?
Immer wo?
Im Geisterhauche tönt’s mir zurück:
›Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!‹
Diese Auskunft darf man getrost als unbefriedigend
bis deprimierend charakterisieren. Kafka, der nicht
als verspäteter Romantiker gilt, hat strukturell ähn-
lich wie Schmidt von Lübeck formuliert, als er, wie
sein Freund Max Brod überliefert, konstatieren zu
220 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

können glaubte: »[Es gibt] unendlich viel Hoffnung gegen kursierenden Klischeevorstellungen über das,
–, nur nicht für uns« (Brod 1974, 95). Es gibt das was ›romantisch‹ heißen soll – die Fragen nach dem
Glück – allerdings nur dort, wo wir gerade nicht sind. Ursprungs- und dem Zielort dieser Reise weniger
Eben deshalb ist die prototypisch romantische Figur akzentuiert gestellt als die nach dem Zwischenraum
des Glücks der Wanderer. Das Wandern ist nicht nur, und der Zwischenzeit.
um den wohl populärsten Vers der deutschen Ro-
mantik zu zitieren, des Müllers Lust, sondern das Die Gegenwart des Glücks
Glück all der Romantiker, die wissen, dass das Glück
nicht dort ist, wo sie sind. Glück ist ortlos, und Ortlo- Diese romantische Umakzentuierung hat weitrei-
sigkeit ist der nüchterne deutsche Begriff für das so chende Auswirkungen auf das Glücksverständnis.
positiv aufgeladene Wort aus der Fremde, für das Wenn sich die überstrapazierten Fragen ›woher
Fremdwort ›Utopie‹ (s. Kap. II.11). kommen wir, wohin gehen wir?‹ in einem zuneh-
Die europäische Romantik ist ohne die Französi- mend postmetaphysischen Zeitalter romantischen
sche Revolution von 1789 und ihr utopisches Pathos Ironisierungsstrategien ausgesetzt sehen, wenn also
nicht zu verstehen. Dieses welthistorische Ereignis, die ›woher‹- und die ›wohin‹-Fragen inflationär ent-
das utopische Schwingungen auf schlagkräftige wertet werden, weil das Vertrauen, dass Religion und
Begriffe wie ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ Metaphysik darauf verlässliche Antworten bereithal-
brachte und diese Leitbegriffe dann zu verwirklichen ten können, aus nachvollziehbaren Gründen schwin-
ansetzte, war ein einziges pathetisches Glücksver- det, gewinnt die ›wo‹-Frage umgekehrt an Wert. Wo,
sprechen. Zurückhaltender waren zuvor die Formu- in welcher Sphäre, an welchem Ort, kann ich jetzt
lierungen der amerikanischen Unabhängigkeitser- glücklich sein? Dies wird zu einer Leitfrage all der
klärung ausgefallen, deren Verfasser klug genug wa- klugen (früh-)romantischen Köpfe, die die spezifi-
ren, nicht unmittelbar Glück, sondern das Recht auf sche Zukunftsunrast der Moderne als Säkularisie-
Streben nach Glück zu versprechen: »pursuit of hap- rung christlicher Eschatologie durchschauen. Und
piness« (s. Kap. V.2). Wer nach Glück strebt, muss ei- so bilden sich mit Eichendorffs Taugenichts und
nen Weg zum Ziel seines Strebens finden. Metho- dem Hans im Glück der Grimmschen Märchen (s.
denlehren (und das griechische Wort ›Methode‹ Kap. V.10 und IV.5) ebenso populäre wie tiefsinnige
meint nichts anderes als den rechten Weg), aufge- romantische Glücksfiguren aus. Sie pflegen zum Hier
klärte Lehren der Glücksfindung hatten vor und und Jetzt ein bemerkenswert entspanntes Verhältnis.
nach der Französischen Revolution Konjunktur. Sie sind oberflächlich aus Tiefe, sie fragen nicht nach
Noch der junge Kleist gibt seinem Glücksessay von dem Woher und dem Wohin, sondern sind dort, wo
1799 den Titel Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks sie sind, diejenigen, die sie sind – nämlich immer an-
zu finden und ungestört – auch unter den größten dere. Das Wort ›anderer‹ ist vom Wort ›Wanderer‹
Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen (s. Kap. V.8). nur durch einen Buchstaben geschieden. Der Wan-
Er steht damit in der Tradition der Aufklärung, die derer ist derjenige, der stets ein anderer werden kann
Glück für einen methodisch erreichbaren Zustand und sich genau dadurch treu bleibt (Nietzsche wird
hält (so argumentiert etwa Christoph Martin Wie- sich selbst im späten 19. Jahrhundert als »Wanderer«
land in seinem 1756 erschienenen Versuch eines Be- identifizieren, s. Kap. V.7).
weises, daß Glückseligkeit in der Tugend liege und aus So differenzieren sich in der europäischen Ro-
derselben, als ihre natürliche Folge, entspringe). Die mantik zwei unterschiedliche Wanderer-Figuren aus.
Romantik setzt einen entschieden anderen Akzent. Die eine entspricht dem traurigen Bild, das Schmidt
Danach ist Glück gerade nicht ein methodisch er- von Lübeck gezeichnet hat. Dieser Wanderer ist un-
reichbarer Zielzustand, sondern die Verfassung de- glücklich, weil er sich suggeriert bzw. suggerieren
rer, die den Weg als Ziel verstehen. lässt, dass das Glück stets dort ist, wo er nicht ist. Der
Wer nach Glück strebt, begibt sich auf einen wei- andere Wanderer ist glücklich, weil er fühlt und weiß,
ten, ebenso reizvollen wie steinigen Weg. Der Le- dass es keine bessere, weil keine andere Zeit als die
bensweg, das curriculum vitae, der homo viator, die Zwischenzeit und keinen besseren Ort als den Zwi-
Lebensreise, die letzte große Reise – das sind auf an- schenraum gibt. Zwei Prunkzitate aus der romanti-
tike Motive und Muster zurückgehende, von fast al- schen Literatur sind häufig gewaltsam missverstan-
len Kulturepochen aufgegriffene und je neu besetzte den worden – nämlich als Verklärung des Ursprungs
Topoi. In der europäischen Romantik werden – ent- statt als Lob des Glücks der Lebensreise. »Wo gehn
9. Figuren des Glücks in der Romantik. Wanderung ins Anderswo 221

wir denn hin? Immer nach Hause«, heißt es in Nova- dass Zugewinne (etwa an Geld, Macht, Einfluss)
lis’ (Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) Roman kurzfristig als glückssteigernd erfahren werden, aber
Heinrich von Ofterdingen (Novalis 1987, 373). Wohin alsbald verrinnen und gar in Verlusterfahrungen
auch immer wir gehen, dieses Gehen ist, wohin auch umschlagen können, weil neue Vergleichsdimensio-
immer es führt, unser mobiles Zuhause. Eine ähnli- nen den Gewinn als Verlust zu verrechnen auferle-
che Intuition bewegt die Verse aus Friedrich Hölder- gen. Wer einen Karrieresprung macht, deutlich mehr
lins (1770–1843) später Fassung der Elegie Brod und Geld als zuvor verdient und danach aus dem Mittel-
Wein (1992, 381, 383): schichtwohnviertel in das Oberschichtviertel um-
zieht, wird bald erfahren, dass dort Leute leben, die
nemlich zu Hauß ist der Geist
am Umzug ins Villenviertel arbeiten, dem dann ein
Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die
Umzug in die bessere Stadt etc. folgen muss. Dort,
Heimath.
wo du nicht bist, dort ist das Glück.
Kolonien liebt, und tapfer Vergessen der Geist.
Glücklicher Romantiker sein, heißt deshalb: dies-
Affinität und Differenz zu Motiven des Glücksdis- oder jenseits einer Vergleichs- und Tauschlogik auf
kurses der Aufklärung werden deutlich, wenn man der Wanderschaft zu sein – sei es als Wilhelm Meis-
diese romantischen Wendungen mit einer dichten ter, der seine Lehrjahre mit den Worten beschließt
Zeile aus Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) »Ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich
Gedicht Die Religion vergleicht: »Warum? Wer? Wo nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt
bin ich? Zum Glück. Ein Mensch. Auf Erden« (1998, vertauschen möchte« (Goethe 1976, 640; vgl. Hö-
267). Auf Erden, wo sonst, weilen der aufgeklärte risch 1983, 83; s. Kap. V.12), sei es als Sisyphus, den
wie der romantische Glückliche; der Romantiker wir uns nach Camus’ berühmter Wendung als glück-
aber ist exzentrischer und umtriebiger als der aufge- lichen Menschen vorzustellen haben (s. Kap. VI.5).
klärte Kopf, denn er weiß, die Aufklärung noch über Die häufig geäußerte Kritik, die Romantik neige zu
sich selbst aufklärend, dass das Ich ein (W)anderer einer Verklärung des Bestehenden, ist nicht ganz
ist. falsch. Die Figuren in Friedrich Schlegels Lucinde, in
Wer sich auf dem exzentrischen Weg weiß, der als Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, in Tiecks, Arnims,
Weg das Zuhause ist, wer tapfer vergisst, also nicht Brentanos und Eichendorffs Prosa oder in Heines
immer Daten abwägt, wer nicht auf Ursprung und Lyrik sind allen unheimlichen und melancholischen
Ziel fixiert ist, kann, wird und will zwischen dem Irritationen zum Trotz von geradezu penetranter
früheren, dem jetzigen und dem zukünftigen Zu- Glückstauglichkeit – Eichendorffs Taugenichts vo-
stand nicht vergleichen. Hans im Glück ist deshalb ran. Davon zeugen die Worte, mit denen Eichen-
die klügste Inkarnation der romantischen Glücks- dorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts von
verheißung. Seine beglückende Weisheit besteht im 1826 schließt: »Sie lächelte still und sah mich recht
Verzicht auf Wertvergleiche. Er, der immer erneut vergnügt und freundlich an, und von fern schallte
seine Güter tauscht, dabei aber deren Tauschwert immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flo-
ignoriert und nur auf ihren hier und jetzt gegebenen gen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gär-
Gebrauchswert achtet, ist der Gegentypus zum be- ten, und die Donau rauschte dazwischen herauf –
trogenen Betrüger. Er weiß nicht nur, er erfährt in und es war alles, alles gut!« (1970, Bd. 2, 647). Dass
beglückender Weise, dass gewinnt, wer verliert. In die Liebenden sich zuvor entschlossen haben, auf
der Perspektive seiner Tauschpartner lässt er sich re- eine Reise zu gehen, versteht sich gewissermaßen
gelmäßig täuschen; in seiner vergleichstranszenden- von selbst; auch Goethe lässt den Protagonisten sei-
ten Perspektive sind seine Tauschpartner nicht ein- nes Bildungsromans nach Lehrjahren Wanderjahre
mal Täuschende, sondern Gebende, die ihm eine erfahren. Romantiker tendieren, um eine Wendung
Last nehmen. Der wandernde, sich ›verandernde‹ aus Hölderlins Patmos-Hymne zu bemühen (vgl.
Romantiker, der nicht den status ante mit dem status 1992, 456), dazu, Bestehendes gut zu deuten. Auf die
post vergleicht, ja, der sich überhaupt dem Ver- Frage, ob es ein Glück sei, geboren zu werden und
gleichsfuror der Moderne verweigert (um vom ge- die Lebensreise anzutreten, geben sie eine entschie-
genwärtigen Ranking-Wahnsinn zu schweigen), ist den positive Antwort; der Klage-Topos ›o wär ich nie
ironischerweise mindestens auf der Höhe neuerer geboren‹ löst barocke, realistische, naturalistische
empirisch ausgenüchterter Glücksforschung (s. Kap. und expressionistische, nicht aber romantische Re-
VIII.7). Diese findet bekanntlich stets erneut heraus, sonanzen aus.
222 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

Die Fremde, die der wandernde Romantiker zwi- tische Tragödie mitgegeben. In ihr findet sich die pro-
schen Ursprung und Ziel erfährt, wird als schöne toromantische Liebesblick-Szene schlechthin (1981,
Fremde erfahrbar. Wenn Eichendorffs berühmtes 770): »Er [Lionel] dringt auf sie [Johanna] ein, nach
Gedicht Schöne Fremde (1970, Bd. 1, 71 f.) noch mit einem kurzen Gefecht schlägt sie ihm das Schwert aus
Restbeständen des Schemas ›alt-zukünftig‹ arbeitet, der Hand. Treuloses Glück! Er ringt mit ihr. JO-
so macht Schumanns Vertonung dieser Zeilen voll- HANNA ergreift ihn von hinten zu am Helmbusch und
ends unüberhörbar, dass das »künftige, große Glück« reißt ihm den Helm gewaltsam herunter, daß sein Ge-
sich hier und jetzt oder nirgends eingefunden hat. Es sicht entblößt wird, zugleich zuckt sie das Schwert mit
kommt nur darauf an, es nicht zu übersehen und zu der Rechten. Erleide, was du suchtest, / Die heilge
überhören, weil Vergleiche profane Erleuchtungen Jungfrau opfert dich durch mich! In diesem Augen-
verdunkeln: blick sieht sie ihm ins Gesicht, sein Anblick ergreift sie,
sie bleibt unbeweglich stehen und läßt dann langsam
Es rauschen die Wipfel und schauern,
den Arm sinken.« Das ist eine ausführliche Regiean-
Als machten zu dieser Stund
Um die halbversunkenen Mauern weisung zu einem sehr knappen Text. Sie moduliert
Die alten Götter die Rund. den Übergang vom »treulosen Glück« des kriegeri-
Hier hinter den Myrtenbäumen schen Kampfes zum euphorischen Liebesglück (mit
In heimlich dämmernder Pracht, bekanntlich unglücklichem Ausgang). Die Blicke
Was sprichst du wirr wie in Träumen von Lionel und Johanna versenken sich ineinander,
Zu mir, phantastische Nacht? so dass ein »glühender Liebesblick« entsteht. Aus
Es funkeln auf mich alle Sterne zwei wird eins.
Mit glühendem Liebesblick, Richard Wagner (1813–1883) hat dieses Motiv in
Es redet trunken die Ferne Tristan und Isolde, also in dem Werk, das zu Recht als
Wie von künftigem, großem Glück! Höhepunkt romantischer Musikdramatik gilt, aufge-
nommen und ausgestaltet. Isolde schildert ihrer Ver-
Der Augenblick der Liebe trauten Brangäne, dass sie unfähig war, Tristan zu tö-
ten und so den Mord an ihrem Verlobten Morold zu
Als größtes, höchstes und zugleich am stärksten be- rächen, weil sie der Blick des Verwundeten traf
drohtes Glück gilt, wie selbst Romantikkritiker kon- (1871–73, Bd. 7, 17):
zedieren werden, das Liebesglück (s. Kap. II.8). Es
Von seinem Bette
beginnt damit, dass sich zwei Blicke treffen und so
blickt’ er her, –
ineinander verlieren, dass die Grenzen zwischen
nicht auf das Schwert,
dem Ich und dem Anderen bzw. der Anderen schwin-
nicht auf die Hand, –
den. Die Liebe liebt das Wandern auch und gerade
er sah mir in die Augen.
dann, wenn die von ihr ergriffenen und dadurch an- Seines Elendes
dere gewordenen Liebenden einander treu sind. Der jammerte mich; –
glühende Liebesblick war schon vor der Romantik das Schwert – das ließ ich fallen.
ein Topos. Wenn sich zwei Augen-Blicke treffen und
augenblicklich ineinander versenken, können eine Auffallend ist es nun, dass Romantiker wie Eichen-
beglückende Leidenschaft und also ein besonders in- dorff oder Richard Wagner das liebestechnische
tensiver Abschnitt der Lebensreise beginnen. So be- Schema aus Ovids Ars amatoria großzügig generali-
schreibt und beschwört es bereits Ovids Lehre von sieren, also kosmologisch und ontologisch wenden.
den »quinque lineae amoris« (Metamorphosen, Buch Es sind nicht weniger als »alle Sterne«, die einen
X, Vers 342 ff.), von den fünf Stationen der liebevol- »glühenden Liebesblick« auf den nächtlichen Wan-
len Annäherung, die mit visus (dem Liebe entzün- derer werfen. Er erfährt nicht nur das Sternenzelt als
denden Blick) beginnt, mit allocutio bzw. colloquium Ferment einer erotischen Lebenssteigerung, sondern
(Anrede bzw. Gespräch) weitergeht, zu tactus (Be- auch die ihn umgebende nächtliche Natur als eine,
rührung) führt, danach oscula (Küsse) wagt und in die ihm Zuspruch gewährt. Auch in dieser Hinsicht
der erotischen Vereinigung (coitus) endet bzw. im knüpft die Romanik an einen Topos an, den sie so-
glücklichen Fall nicht endet. dann überbietet: natura loquitur. Die Natur spricht,
Friedrich Schiller (1759–1805) hat seinem Drama ja, sie redet trunken und wirr wie in Träumen. Und
Die Jungfrau von Orleans den Untertitel Eine roman- diese Rede ist, folgt man Eichendorffs oben zitiertem
9. Figuren des Glücks in der Romantik. Wanderung ins Anderswo 223

Gedicht, so adressatenbezogen (»zu mir«) wie unbe- Eichendorff, Joseph von: Werke. Nach den Ausgaben
stimmt (»was sprichst du […] zu mir?«). Die Unbe- letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke (Hg.
stimmtheit des Liedes, das in allen Dingen schläft, ist Ansgar Hillach). Bd. 1–3. München 1970–76.
aber nicht als Mangel, sondern vielmehr als beglü- Fontane, Theodor: Romane und Erzählungen in 8 Bän-
ckendes Geschenk zu erfahren. Denn ohne diese Un- den (Hg. P. Goldammer/G. Erler/A. Golz/J. Jahn). Bd.
bestimmtheit gäbe es die Freiheit nicht, ein halb ge- 5. Berlin/Weimar 1973.
fülltes Glas als halbvolles oder halbleeres zu deuten Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Berliner Ausgabe.
– und ein Leben voll Glück und Unglück als ein Bd. 10. Berlin 1976.
Henrich, Dieter: Glück und Not. In: Ders.: Selbstver-
glückliches oder unglückliches Leben.
hältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grund-
Vor dem Problem, erkennen zu müssen, dass die
lagen der klassischen deutschen Philosophie. Stutt-
Welt des Glücklichen eine andere ist als die des Un-
gart 1982, 131–141.
glücklichen, stehen auch die Liebenden in Theodor Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1.
Fontanes (1819–1898) 1888 erschienenem roman- München/Wien 1992.
tisch-realistischen Roman Irrungen, Wirrungen. Die Hörisch, Jochen: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der
Lebenswege von Lene und Botho müssen sich tren- Liebe in den Bildungsromanen von Goethe, Keller
nen, nachdem sie sich für einen Sommer so gekreuzt und Thomas Mann. Frankfurt a. M. 1983.
haben wie ihre Blicke und nachdem beide dadurch Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe. Bd. 2.
zu anderen geworden sind (1973, Bd. 5, 101 f.): Frankfurt a. M. 1998.
Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe. Bd. 1. München
›Ich hab es so kommen sehn [sagt Lene beim 1987.
Abschied zu Botho, J. H.], von Anfang an, und es Ovid: Metamorphosen (Hg. G. Fink). Zürich/München
geschieht nur, was muß. Wenn man schön geträumt 1989.
hat, so muß man Gott dafür danken und darf nicht Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. 2. München
klagen, daß der Traum aufhört und die Wirklichkeit 1981.
wieder anfängt. Jetzt ist es schwer, aber es vergißt Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtun-
sich alles oder gewinnt wieder ein freundliches gen. Leipzig 1871–73.
Gesicht. Und eines Tages bist du wieder glücklich Wellbery, David E.: Prekäres und unverhofftes Glück.
und vielleicht ich auch.‹ Zur Glücksdarstellung in der klassischen deutschen
›Glaubst du’s? Und wenn nicht? was dann?‹ Literatur. In: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück.
›Dann lebt man ohne Glück.‹ München 2008, 13–50.
›Ach, Lene, du sagst das so hin, als ob Glück nichts Jochen Hörisch
wäre.‹

»Ach« gesagt haben neben vielen anderen literari-


schen Figuren auch Faust (»Habe nun, ach, […]«),
die Automate aus E.T.A. Hoffmanns Novelle Der
Sandmann und Alkmene in Kleists Amphitryon, der
Komödie über das unübertroffene Liebesglück einer
göttlichen Nacht. Diese und zahllose andere literari-
sche wie unliterarische Figuren haben die protoro-
mantische Erfahrung gemacht, dass »Glücklich sein
heißt ohne Schrecken seiner selbst« als eines ande-
ren und eines Wanderers »innewerden [zu] können«
(Benjamin 1928/1980, 113; s. Kap. II.5 und VI.7).

Literatur
Benjamin, Walter: Einbahnstraße [1928]. In: Ders.: Ge-
sammelte Schriften. Werkausgabe. Bd. IV.1: Kleine
Prosa, Baudelaire Übertragungen (Hg. Tillmann Rex-
roth). Frankfurt a. M. 1980, 83–148.
Brod, Max: Über Franz Kafka. Frankfurt a. M. 1974.
224 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

10. Figuren des Glücks das in der Märchensprache synonyme Wort ›ver-
gnügt‹, das im älteren Wortsinn ›zufrieden‹ meint
im Märchen. »Es ist mir, (vgl. im »Allerleirauh«-Märchen, KHM 65: »Darauf
als wäre mein Glück ward die Hochzeit gefeiert, und sie lebten vergnügt
bis an ihren Tod«; ähnlich in KHM 1, 12, 31, 50, 64,
noch nicht zu Ende« usw.). Das sprichwörtliche finale Märchenglück ist
kein Ausdruck von Glücklichsein oder von Glücks-
gefühlen, sondern sozusagen nur das Gütesiegel, das
Wunscherfüllung statt Glücksgefühl den Erfolg bei Prüfungen, das Bestehen aller mögli-
chen Abenteuer oder den Abschluss eines gelunge-
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, nen Reifeprozesses des Märchenhelden bestätigt.
die zwischen 1812 und 1857 in sieben divergieren- Angesichts eines solchen Finales kann sich eine
den Auflagen erschienen, dienen hier als Textmate- Märchenfigur auch einmal über den Status ihrer Be-
rial, und zwar weil diese Sammlung die wichtigsten findlichkeit irren: »So glücklich wie ich […] gibt es
Typen der Märchen der Weltliteratur enthält, weil sie keinen Menschen unter der Sonne!«, ruft der »Hans
die national wie international am weitesten verbrei- im Glück« (KHM 83), nachdem er durch eigne
tete und bekannteste ist, sowie vor allem wegen ihres Dummheit und Betrügereien der ihn Ausplündern-
unikalen Charakters, der sich den Textbearbeitun- den alles verloren hat. Der törichte Junge im »Mär-
gen Wilhelm Grimms verdankt, wodurch aus anony- chen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«
men Volksmärchen die Grimmschen Buchmärchen (KHM 4) täuscht sich eine beglückende Erfahrung
wurden. (Zitiert werden sie im Folgenden mit KHM vor, wenn er meint, die Applizierung einer Gänse-
und der jeweiligen Nr. des Märchens.) haut habe ihn das Fürchten gelehrt und damit sein
Von ›Figuren des Glücks‹ kann man im strengen Wunschziel erreichen lassen. Glückliche Menschen
Sinn nicht sprechen, auch wenn es auf den ersten oder von diesen als beglückend empfundene Bege-
Blick anders aussieht: Der sprichwörtliche Hans im benheiten in des Wortes eigentlicher Bedeutung
Glück (KHM 83) oder die drei Glückskinder (KHM schildert das Märchen nicht. ›Figuren des Glücks‹
70) scheinen oder sind zwar vom Glück begünstigt, muss also etwa im Sinn von ›Konstellationen des
aber ob sie selbst wirklich glücklich sind, berichtet Glücks‹ verstanden werden, wenn man dem Thema
der Märchenerzähler nicht. Der Märchenrezipient unter Beachtung der Gattungseigentümlichkeiten
kann und mag den Figuren Gefühle wie Liebe, Hass, etwas abgewinnen will.
Furcht, Tapferkeit oder eben auch Glücklichsein zu- Die Spannweite des in der deutschen Literatur nur
schreiben – die Märchentexte bieten dazu Anlass, vereinzelt begegnenden Begriffs ›Märchenglück‹ (im
aber keine beweiskräftige Aussage. So kann man Grimmschen Wörterbuch findet er sich nicht) kön-
meinen, der Prinz im »Aschenputtel«-Märchen nen zwei Belege verdeutlichen: Im 1880 entstande-
(KHM 21) sei unglücklich, so lange er der ersehnten nen Gedicht Die Schlittschuhe von Conrad Ferdi-
Braut nicht habhaft wird, und er fühle sich glücklich, nand Meyer (1963, 98 f.) umschreibt er ein ganz real
wenn er sie entdeckt und zur Hochzeit führt; tat- erlebtes Glücksgefühl, an das sich ein alter Mann er-
sächlich nimmt er aber zweimal die Erstbeste, um je- innert, nämlich das einmalige »Märchenglück« einer
weils mit dieser »glücklich« zu sein, wenn denn nur Schlittschuhpartie mit einem jungen Mädchen in ei-
die äußerlichen Zeichen auf sie passen: Auf diese al- ner zauberhaften Atmosphäre; derweil entlarvt Berta
lein – und nicht etwa auf seelische Zuneigung oder von Suttner in ihren 1909 erschienenen Memoiren
Glücksgefühle – kommt es an. Die relativ seltene die zweimal mit dem Wort »Märchenglück« um-
Schlussformel, dass zwei, die sich gesucht und gefun- schriebenen Träumereien als luftige Utopien (Sutt-
den haben, fortan »glücklich lebten« (vgl. KHM 1, ner 1909, 22–27).
123, 141, 155), bezieht sich ganz äußerlich auf die Es gibt im Grimmschen Märchen Figuren, die
Tatsache, dass der Märchenheld sein Ziel erreicht, schon während ihrer Geburt von geradezu unent-
z. B. einen Partner erobert hat, und fortan in unge- gehbarem Glück in Beschlag genommen werden,
störtem ehelichen Leben vorzustellen ist. Bezeich- und dazu gehören nicht nur die Dummlinge, wie es
nenderweise begegnet anstelle des Adverbs ›glück- in Grimms Vorrede heißt (»der Dummling, von al-
lich‹ in sehr viel mehr Märchenschlussformeln nach len verlacht und hintangesetzt, aber reines Herzens,
dem obligatorischen Happyend einer Eheschließung gewinnt allein das Glück«; Grimm KHM, Vorrede):
10. Figuren des Glücks im Märchen. »Es ist mir, als wäre mein Glück noch nicht zu Ende« 225

»Es war einmal eine arme Frau, die gebar ein Söhn- nende Diener im Märchen »Der treue Johannes«
lein, [das …] eine Glückhaut umhatte […]. Was so (KHM 6): »Herr Gott, was will daraus werden!«
einer unternimmt, das schlägt ihm zum Glück aus« Denn Johannes betet nicht etwa zu Gott, damit die-
(KHM 29). »›Ich muss in einer Glückshaut geboren ser Unglück abwende, nein, er traut Gott nicht ein-
sein‹, rief er aus, ›alles, was ich wünsche, trifft mir ein mal Lenkung des Geschicks zu – »was will daraus
wie einem Sonntagskind‹« (KHM 83). Diese perma- werden«, was wird das »Es«, das Schicksal oder wel-
nente Wunscherfüllung (statt Gold wünscht er sich ches numinose Neutrum auch immer, was wird »es«
ein Pferd, statt des Pferdes eine Kuh usw.) führt aber bescheren?
wie in den meisten vergleichbaren Grimmschen Ein bisschen mag man bei der Frage nach den jen-
Märchen schließlich eher ins Unglück: Als all seine seitigen Bewirkern von Glück und Unglück an die
Wünsche in Erfüllung gegangen sind, kehrt er so arm Homerischen Götter denken, die zwar gern der Men-
wie er einst ausgezogen war, zu seiner Mutter zurück, schen Opfer und Bittgebete für das Glück anneh-
und im Märchen ist solche restitutio des eigentlich men, aber letztlich doch alles dem Schicksal, der
für immer in die Fremde Gezogenen in der Regel ein anankè, anheim stellen müssen, oder an den germa-
Zeichen für eine nicht geglückte Reife. Ähnlich er- nischen Wotan (wie ihn am schärfsten in seiner
geht es dem Reichen im Märchen »Der Arme und Ohnmacht Richard Wagner gezeichnet hat): Die
der Reiche« (KHM 87) oder der sich unersättlich im- ›Wurt‹, wie die Altdeutschen sagten, das Schicksal,
mer neues Glück wünschenden Ilsebill (»Von dem macht, was es will. Denn so findet man noch in der
Fischer un syner Fru«, KHM 19). »In den alten Zei- ältesten deutschsprachigen Dichtung selbst den
ten, wo das Wünschen noch geholfen hat« (KHM 1) christlich aufgefassten Gott der Wurt nachgeordnet:
halfen die den Märchenhelden gewährten drei Wün- »Welaga nu, waltant got, wewurt skihit« (O weh, all-
sche nur selten zum Glück; wohl aber ging jede Ver- mächtiger Gott, nun geschieht das Wehschicksal,
wünschung sofort und meist verhängnisvoll in Er- nun nimmt das vom Schicksal bescherte Unglück
füllung (etwa der unbedachte Fluch des Vaters zu seinen Anfang), heißt es im »Hildebrandslied«. Goe-
Beginn von »Die sieben Raben«, KHM 25). Ob das the hat das in seinem Prometheus noch einmal so ge-
Märchenglück nicht eher mit der Möglichkeit des fasst: Nicht die Götter schaffen des Menschen Glück
Wünschens als mit der Wunscherfüllung zu tun hat? oder Unglück, sondern »das ewige Schicksal«.
Wer wunschlos ist, wer sich nichts mehr zu wün- Bleibt es im Märchen schon unentschieden, wer
schen weiß, der wäre dann der eigentlich Unglückli- Glück oder Unglück und gegebenenfalls unter wel-
che. chen Bedingungen beschert, so finden sich auf die
Frage, inwieweit der Märchenheld für sein Glück
Gnade, Fortuna und der Einfluss oder Unglück selbst verantwortlich ist, keine einheit-
lichen Antworten. Ein drastisches Beispiel ist der al-
des Menschen
lerdings nur vorübergehend in die Grimmsche
Es ist zu fragen, wer denn Wünsche gewährt, und vor Sammlung (nämlich in der vierten bis sechsten Auf-
allem wer das Märchenglück beschert. Die Grimm- lage) aufgenommene Text »Das Unglück« (KHM
schen Texte geben darauf zuweilen sibyllinische Ant- 175a), der mit folgendem Motto beginnt: »Wen das
worten. In einem Fall (KHM 83) scheint die Glücks- Unglück aufsucht, der mag […] fliehen, es weiß ihn
verheißung zunächst eine blinde Schicksalsfügung doch zu finden.« Ein Mann wird im Wald von einer
(Glückshaut, Sonntagskind) zu sein, aber am Ende Schar Wölfe überfallen; auf der Flucht kommt er an
dankt Hans, auf Knien betend, ausdrücklich Gott eine Brücke, die jedoch ausgerechnet in dem Augen-
und dessen Gnade für sein Märchenglück. Das ist blick zusammenfällt, als er sie betreten will; er springt
genau die Verbindung, wie sie im Märchen »Die bei- ins Wasser, droht aber als Nichtschwimmer zu er-
den Wanderer« (KHM 107) formuliert ist: »Wer auf trinken; Fischer retten ihn und lehnen ihn zum
Gott vertraut und nur Glück hat, dem kann nichts Trocknen an eine alte Mauer: »Als er aber aus der
fehlen.« Wird das Märchen-Happyend durch Gottes Ohnmacht erwachte […], fiel das Gemäuer über ihm
Gnade oder durch die Gunst der Fortuna gewährt? zusammen und erschlug ihn.« Bittere Quintessenz
Das Märchen weicht einer Entscheidung dieser Frage dieser kruden Geschichte scheint zu sein, dass man
aus und sagt »und«. Diese Unentschiedenheit bei der keineswegs seines Glückes oder Unglückes Schmied
Frage nach dem Glücksspender oder Unglückssen- ist, sondern dass das Unglück einen in solcher Folge-
der ist märchentypisch. So seufzt der unglückah- richtigkeit und Konsequenz verfolgt, dass man ihm
226 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

im wörtlichen Sinn nicht entgehen kann. Eine Menge und der Reiche« gehört zum weltweit und seit alters
scheinbarer Zufälle reiht sich zu einer anscheinend verbreiteten Typus der Volkserzählungen von den
zielgerichteten Folge, hinter der man das personifi- drei törichten Wünschen, die allesamt in vielen Vari-
zierte Unglück oder das Schicksal wahrnimmt. War anten festschreiben, dass einem das Glück nicht
die Handlungskette, in der sich das nur scheinbare durch bloßes Wünschen in den Schoß fällt und dass
oder das tatsächliche Glück des törichten Hans forciertes Wünschen in der Regel Unglück bringt. Ri-
(KHM 83) manifestierte, noch zum Teil durch des- chard Volkmann-Leander hat das in einem Kunst-
sen eigne Wünsche und Entscheidungen bedingt, so märchen einmal witzig zum Ausdruck gebracht: Ein
scheint in dieser erstmals 1563 in Hans Wilhelm wegen seiner räumlichen Trennung unglückliches
Kirchhoffs Wendunmuth veröffentlichten Geschichte Liebespaar bekommt von Gott einen Wunsch frei; er
orientalischen Ursprungs das Unglück völlig außer- wünscht sich auf ihre Gänseweide, sie wünscht sich
halb der Willensentscheidung des Märchenhelden auf seine Schweineweide – und so bleiben beide ge-
zu agieren und sozusagen über diesen herzukom- trennt und sind um eine weitere Enttäuschung rei-
men. cher.
Betrachtet man textübergreifend die einzelnen
Unglücksfälle in den Grimmschen Märchen im Zu- Sein Glück ver-suchen
sammenhang, so ist unübersehbar, dass der Mensch
denn doch zu einem guten Teil auch selbst die Schuld Geradezu leitmotivisch wird die Frage, wie man
an den ihn überkommenden Widerwärtigkeiten denn nun sein Glück machen oder finden könne, im
trägt, und zwar merkwürdigerweise gerade durch Märchen »Der Ranzen, das Hütlein und das Hörn-
sein eignes Wünschen. Das menschliche Wünschen chen« (KHM 54) gestellt. Es geht um drei Brüder, die
im Allgemeinen und das Wünschen im Märchen im durch irgendein nicht genanntes Unglück »in Armut
Besonderen zielen, ganz allgemein gesprochen, aufs geraten« waren, so dass sie sogar »Hunger leiden
Glück. Man wünscht sich Glück im Bezug auf den mussten«, das heißt, sie sind in einer für viele Mär-
erstrebten Partner, Wohlergehen, Reichtum, Macht chenanfänge typischen Mangellage, die zu überwin-
usw. Doch zeitigen – wie gesagt – überraschend viele den und womöglich überreich zu kompensieren, der
Märchenwünsche Unglück. Dem Reichen rät der auf Weg der Märchenhelden ist, auf dem die Märchenre-
Erden wandernde liebe Gott im Märchen »Der Arme zipienten ihnen denn auch alles Glück wünschen,
und der Reiche« sogar davon ab, sich der Erfüllung und zwar im Sinn der ›naiven Moral‹, die dem zu un-
dreier Wünsche zu versichern: »Ja, sagte der liebe recht Leidenden am Ende alles Gute gönnt. Solche
Gott […], es wäre aber nicht gut für ihn, und er sollte Mangellagen kennt man etwa im »Hänsel und
sich lieber nichts wünschen. Der Reiche meinte, er Gretel«-Märchen in Form von Hungersnot (KHM
wolle sich schon etwas aussuchen, das zu seinem 15), als Kinderlosigkeit (»Dornröschen«, KHM 50),
Glück gereiche« (KHM 87). als bösartige Unterdrückung und Ausbeutung
Nachdem das Stichwort ›Glück‹ gefallen ist, brin- (»Aschenputtel«, KHM 21); im Märchen »Die Nixe
gen die drei Wünsche nur Unglück: Zuerst wünscht im Teich« wird das ausdrücklich verbalisiert: »Un-
sich der Reiche unbedacht im Unwillen über sein glück kommt über Nacht: Wie ihr Reichtum gewach-
bockiges Pferd, dass es den Hals breche. So geschieht sen war, so schwand er von Jahr zu Jahr wieder hin«
es. Auf seinem weiteren Heimweg schleppt er sich (KHM 181). Die drei Brüder (KHM 54) wollen ihrer
mit dem Sattelzeug und wird dabei auf seine Frau Mangellage entgehen und machen sich auf die mär-
neidisch, die es sich zu Hause wohl sein lässt. Er chentypische Suchwanderung – nach dem Glück.
wünscht das Sattelzeug in sein Haus und seine Frau »Da sprachen sie: ›Es kann so nicht bleiben: es ist
darauf fest klebend. Auch das geschieht. Den dritten besser wir gehen in die Welt und suchen unser
Wunsch muss er aufwenden, um seine keifende Frau Glück.‹ Sie […] waren schon weite Wege […] gegan-
vom Sattel zu erlösen. Also haben ihm die drei gen, aber das Glück war ihnen noch nicht begegnet.«
Wunscherfüllungen nur Unglück gebracht: Er hat Endlich finden sie einen Berg aus Silber. »Da sprach
sein Pferd verloren und sich neben dem lebensläng- der Älteste: ›Nun habe ich das gewünschte Glück ge-
lichen Ärger über die vertanen Chancen (vergleich- funden und verlange kein größeres.‹ Er nahm von
bar mit des Fischers Frau am Ende des KHM 19) dem Silber, soviel er nur tragen konnte, kehrte dann
wohl auch einen nicht nur kurzzeitigen Ehekrach um und ging wieder nach Haus.« Eine Märchenfigur,
eingehandelt. Das Grimmsche Märchen »Der Arme die kurz nach dem obligatorischen Aufbruch zur
10. Figuren des Glücks im Märchen. »Es ist mir, als wäre mein Glück noch nicht zu Ende« 227

Suchwanderung wieder nach Hause zurückkehrt scherte den Brüdern Grimm Geschichten, die gern
und zumal eine, die sich mit dem ersten besten und auffällig häufig in solchen soldatischen Gewalt-
Glücksfund schon zufrieden gibt, ist kein rechter phantasien schwelgen. Nicht dass Krause diese Mär-
Märchenheld – auch in diesem Text erweist sich als chen oder einzelne Motive erfunden hätte; aber sol-
solcher ausschließlich der jüngste Bruder, während che Text haben ihn fasziniert, er hat sie sich einge-
die andern, trotz ihres scheinbar glücklichen und zu- prägt und gern weitererzählt. Im etwas fragwürdigen
friedenstellenden Status, zu seinen infamen Gegen- Happyend – nicht nur – dieses Krauseschen Beitrags
spielern mutieren. Der zweite Bruder verlangte zwar stellt sich das Märchenglück als handfeste Macht-
zunächst »vom Glück noch etwas mehr«, gibt sich übernahme dar, und es ist wohl eher die Glücksvor-
dann aber auch sofort mit einem reichen Goldfund stellung des Erzählers als die des Märchenhelden er-
zufrieden. »Der dritte aber sprach: ›Silber und Gold, füllt.
das rührt mich nicht; ich will meinem Glück nicht Das glückliche Finale besteht hier (im Übersprin-
absagen, vielleicht ist mir etwas Besseres beschie- gen der traditionellen Motive von Reichtum und
den‹.« Ehepartner, aber auch des Erwerbs von Gold und
Es gibt Märchen, in denen die Glückserfüllung Silber sowie der Königstochter) ausschließlich in un-
durch übermäßigen Reichtum an Gold und Silber umschränkter Macht. Das Glücksstreben des Mär-
symbolisiert ist – dann aber immer erst am Ende der chenhelden richtet sich in erster Linie auf das Errin-
Geschichte und nach Abenteuern, Prüfungen, Hilfen gen eines Partners hohen Standes (Prinz, Prinzes-
durch Dies- und Jenseitige. Was den beiden Ältesten sin), auf ausgefallene Fähigkeiten, hohe Tapferkeit,
hier gleich zu Beginn der Geschichte in den Schoß unermesslichen Reichtum, auf Macht (männliche
gefallen ist, kann nicht das eigentliche Märchenglück Märchenhelden) oder auf Schönheit (weibliche Mär-
sein. Das spürt der Dritte instinktiv, und deswegen chenhelden), aber auch auf unerschöpfliche Ess- und
setzt er seine Suchwanderung fort. Er findet ein Trinkgenüsse, auf Erlangen eines prächtigen Hauses,
Tischleindeckdich und erwirbt durch einen miesen Schlosses oder Palasts. So gewinnt etwa der dritte
Trick noch einen Tornister dazu, aus dem nach sei- Sohn im Märchen vom »Tischchendeckdich« (KHM
nem Wunsch Soldaten herausmarschieren. Aber 36) den Goldesel (Reichtum), den Knüppel (Macht)
seine Wünsche wollen nach dem Motto ›alle guten und den Zaubertisch (Ess- und Trinkgenüsse). Je-
Dingen sind drei‹ noch höher hinaus: »Er […] hoffte, denfalls ist das einmal am Ende der Geschichten er-
das Glück würde ihm noch heller scheinen«. Und reichte Märchenglück, von dem man nie sagen kann,
tatsächlich, er gewinnt als drittes Wundergerät ein ob es den Märchenhelden wirklich glücklich macht,
Hütlein, das schießfertige Kanonen herbeizaubern ein nunc stans, ein dauerhaftes und unwandelbares,
kann: »Es kommt eins zum andern, dachte er, und es meilenweit von der dichterischen Einsicht in die Un-
ist mir, als wäre mein Glück noch nicht zu Ende. fassbarkeit und Flüchtigkeit des Glücks entfernt, wie
Seine Gedanken hatten ihn auch nicht betrogen.« sie etwa Nikolaus Lenau in seinem Gedicht Frage re-
Damit hat er indes nach den Märchengesetzlichkei- signierend in die Verse gefasst hat (1880, 127):
ten überzogen. Er erlangt noch ein wundertätiges
O Menschenherz, was ist dein Glück?
Hörnlein, aber die Heimkehr zu seinen Brüdern er-
Ein räthselhaft geborner,
weist sich als verhängnisvoll und bringt ihm Un-
Und, kaum gegrüßt, verlorner,
glück. Er gewinnt zwar die Königstochter zur Frau,
Unwiederholter Augenblick!
doch die listet ihm wie die biblische Dalila seine Zau-
bergeräte bis auf das Hörnlein ab; damit bläst er zor- Wilhelm Grimm hat im Verlauf der sieben Auflagen
nig alles zusammen: »Mauern, Festungswerke« fal- des Märchenbuchs zahlreiche Sprichwörter und Re-
len ein und erschlagen seine Frau samt dem königli- densarten in die einzelnen Märchen eingefügt, die
chen Schwiegervater. »Da widerstand ihm niemand nur selten direkt etwas mit der Erzählung selbst zu
mehr, und er setzte sich zum König über das ganze tun haben, in vielen Fällen aber ein vorläufiges Resü-
Reich.« Das finale, gewalttätig herbeibombardier- mee oder eine Zusammenfassung des Themas bie-
te Märchenglück wird dem Märchenhelden selbst ten. Unter den weit über dreihundert Belegen dieser
wie immer nicht recht bewusst. Wohl aber mag es Art finden sich auch einige wenige, die Glück und
sich um die Glücksvorstellung des originellen Bei- Unglück thematisieren und in ihrer konzisen Strin-
trägers dieses Textes zu Grimms Märchen handeln: genz besonders aussagekräftig sind. Wilhelm Grimm
Der pensionierte Dragonerwachtmeister Krause be- hat selbst mehrfach geäußert, dass solche Sprichwör-
228 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

ter in knappster Form Lebenserfahrungen und Weis- 8. Das Kind wird von Müllersleuten adoptiert; da die
heiten tradieren und daher einen hohen Wahrheits- Müller in der Volksliteratur in der Regel Bösewichte
gehalt haben. oder gar Verbrecher sind – ein Unglück.
Die Wendung »sein Glück versuchen« begegnet 9. Diese Müller sind ausnahmsweise fromme Leute,
in den Märchen »Der Ranzen, das Hütlein und das die das Kind als ein Gottesgeschenk ansehen und
Hörnchen« (KHM 54), in dessen Vorform »Von der seiner wohl pflegen – ein Glück.
Serviette, dem Kanonenhütchen und dem Horn« 10. Der König trachtet dem inzwischen vierzehn Jahre
(beides Märchen von Wunsch-Dingen) sowie in den alten Kind erneut nach dem Leben – ein Unglück.
11. Der König gibt dem Jungen für eine kleine Dienst-
Geschichten »Der treue Johannes« (KHM 6), »Ra-
leistung eine fürstliche Entlohnung – ein Glück.
punzel« (KHM 12), »Die vier kunstreichen Brüder«
12. Der Junge trägt in einem verschlossenen Umschlag,
(KHM 129) und »Die sechs Diener« (KHM 134). Im
ohne es zu wissen, sein Todesurteil zum Königshof
Märchen »Der Geist im Glas« (KHM 99) wird je- (Uriasbrief) – ein Unglück.
mand »sein Glück verscherzen«. »Das Glück steht 13. Der Junge tritt seine märchenhafte Suchwanderung
oft vor der Tür, man braucht sie nur aufzumachen« an, an deren Beginn traditionell eine Mangellage
(»Die Erbsenprobe«, KHM 182a); »Unglück kommt steht; er verirrt sich heillos im Wald – ein Unglück.
über Nacht«, heißt es im Märchen »Die Nixe im 14. Der Junge findet Unterkunft in einem zufällig von
Teich« (KHM 181). Die Quintessenz dieser Redens- ihm gefundenen Häuschen – ein Glück.
arten besagt, dass das Glück in erster Linie unberu- 15. Das Häuschen erweist sich als Räuberhöhle, und
fen erscheint, dass man selbst es nur »hereinzulas- die Räuber töten jeden Fremden, der ihren Unter-
sen«, anzunehmen oder es eben zu »versuchen«, schlupf entdeckt – ein Unglück.
auszuprobieren braucht. So gesehen, zieht fast jeder 16. Eine alte Frau bittet erfolgreich um Gnade für den
Märchenheld aus, sein Glück zu versuchen. Dabei sorglos schlafenden Jungen – ein Glück.
kann man sein Glück allerdings auch »verscher- 17. Die Räuber schreiben den Uriasbrief um: Aus dem
zen«. königlichen Todesurteil wir der scheinbar königli-
che Befehl, den Jungen mit der Prinzessin zu ver-
mählen. Dann führen sie den Verirrten auf den
Das Wechselbad von Glück und Unglück richtigen Weg zurück, so dass er zum Hof gelangt
Nachdem nun einige Spielarten von Glück und Un- und die Prinzessin heiratet – ein dreifaches Glück.
glück in den Grimmschen Märchen diskutiert wor-
Der Märchenheld nimmt sein Wechselschicksal mit
den sind, sei zum Abschluss der erste Teil des Mär-
Gleichmut hin, ohne jede Verwunderung, furchtlos
chens »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«
und ohne sich über die unverdienten Unglücksfälle
(KHM 29) im Hinblick auf seine Figurationen von
zu beklagen, ohne für die Glücksgaben zu danken,
Glück und Unglück vorgestellt, denn der schier
die ihm immer wieder in den Schoß fallen. Sein drei-
atemberaubende und klug durchkomponierte Wech-
faches Glück am Ende der Abenteuergeschichte er-
sel zwischen märchengerechten Extremsituationen
weist unübersehbar das märchengerechte Happyend.
ist für das in Rede stehende Thema besonders si-
Am Ende des zweiten Teils des Märchens wird das
gnifikant.
ausdrücklich bestätigt: »Endlich langte das Glücks-
1. Eine arme Frau gebiert ein Söhnlein – ein Glück. kind daheim bei seiner Frau an, die sich herzlich
2. Das Neugeborene hat den pileus naturalis (Teil der freute, als sie ihn wiedersah und hörte, wie wohl im
Embryonalhaut) über seinem Kopf – seinerzeit, alles gelungen war«.
medizinisch gesehen, ein fast todsicheres Unglück.
3. Das Kind kommt durch, und der pileus wird als
Literatur
»Glückshaut« gedeutet – ein Glück.
4. Der König will das Kind töten, weil diesem die Bausinger, Hermann: Märchenglück. In: Zeitschrift für
Thronfolge prophezeit ist – ein Unglück. Literaturwissenschaft und Linguistik 50 (1983), 17–
5. Der König bietet den armen Eltern schweres Geld 27.
für das Kind – ein Glück. Bluhm, Lothar/Rölleke, Heinz: »Redensarten des Volks,
6. Der König wirft das Kind in einem Kästchen in ei- auf die ich immer horche«. Märchen – Sprichwort –
nen reißenden Fluss – ein Unglück. Redensart. Stuttgart/Leipzig 1997.
7. Ein Müllerknecht angelt das Kästchen und rettet Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen [KHM,
dem Kind das Leben – ein Glück. 1812] (Hg. Heinz Rölleke). Göttingen 21996.
11. Figuren des Glücks im französischen Roman des 19. Jahrhunderts 229

–: Kinder- und Hausmärchen [KHM, 71857] (Hg. Heinz


Rölleke). Stuttgart 62006.
11. Figuren des Glücks
Lenau, Nikolaus: Sämmtliche Werke (Hg. Anastasius im französischen Roman
Grün). 1. Bd. Stuttgart 1880.
Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Werke (Hg. Hans
des 19. Jahrhunderts.
Zeller/Alfred Zäch). Bd. 1. Bern 1963. Rousseaus unglückliche
Pulmer, Karin: Vom Märchenglück zum Bürgeridyll. In:
Skandinavistik 10 (1980), 104–117.
Kinder
Suttner, Bertha von: Memoiren. Stuttgart/Leipzig 1909.
Heinz Rölleke Rousseau und de Sade

Saint-Just sagte, das Glück sei eine moderne Idee (s.


Kap. V.2 und V.8), aber die Zeit hat ihm nicht unbe-
dingt Recht gegeben. Eher scheint das Glück eine
Idee des 18. Jahrhunderts zu sein; jedenfalls verdankt
sich die Vorstellung vom Glück, die sich die französi-
schen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts machen,
dem vorangegangenen Jahrhundert und vor allem
Rousseau. Man kann sogar sagen, dass dieser die we-
sentlichen Parameter der Reflexion über das Glück
gesetzt hat, die die Romane des 19. Jahrhunderts
strukturieren. Insbesondere verdankt man ihm die
in verschiedensten Variationen existierende funda-
mentale Opposition zwischen der korrupten Stadt,
Ort des Bösen, der Sünde und des Unglücks einer-
seits und dem erholsamen Land, Ort des Guten und
des Glücks, der platonischen Idylle und natürlichen
Sanftheit andererseits. Das heisst nicht, dass das 19.
Jahrhundert rousseauistisch wäre, weit gefehlt. Aber
alles scheint darauf hinzudeuten, dass das Glück
nunmehr zu einem Gemeinplatz geworden ist, gera-
dezu zu einem Klischee, das die Schriftsteller wie-
derholt aufgreifen, mit kritischer Distanz betrachten
oder umkehren.
Diese Tendenz zeichnet sich bereits Ende des 18.
Jahrhunderts ab, vor allem bei de Sade, der die rous-
seauschen Figuren des Glücks auf besonders brutale
Weise in ihr Gegenteil wendet. Die tugendhafte Julie
(Julie oder Die Neue Héloïse, 1761) spaltet sich bei de
Sade in die unglückliche Justine, Rekordhalterin für
erlittene Vergewaltigungen in der französischen Li-
teratur (Justine oder das Unglück der Tugend, 1791),
und in die glückliche und erfolgreich lasterhafte Juli-
ette. Der Saint-Preux aus der Neuen Héloïse weicht
dem monströsen Saint-Fond und die Gärten, als em-
blematisches Bild des reinsten Glückes, verwandeln
sich in Friedhöfe, auf denen die kriminellen Libertins
ihre Opfer begraben (Die neue Justine, sowie die Ge-
schichte der Juliette, ihrer Schwester 1797).
230 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

Balzac das Glück für eine Handvoll Auserwählter reserviert,


die hinter dem Rücken der Gesellschaft, in einer par-
Die Debatte wird im 19. Jahrhundert vielfach neu allelen Geheimwelt außerhalb der gesetzlichen Spiel-
belebt – vor allem von Honoré de Balzac (1799– regeln an die äußerste Grenze ihrer Leidenschaft ge-
1850), der für den Ausspruch bekannt ist, dass man hen. Dieses Universum ist nicht annähernd so wild
mit tugendhaften Figuren keine guten Romane ma- wie dasjenige von de Sade, aber manchmal doch
chen könne. Er hätte auf die gleiche Weise sagen kön- ziemlich brutal, vor allem im Fall von Das Mädchen
nen, dass man mit glücklichen Figuren keine guten mit den Goldaugen (1835). So lautet der Titel einer
Romane machen könne, so sehr gehen Tugend und von drei den »Treize« gewidmeten Erzählungen, ei-
Glück Hand in Hand, ebenso wie Laster und Un- ner Geheimgesellschaft souveräner Individuen, die
glück, zumindest in einer rousseauschen Perspektive. sich gegenseitig bei der Befriedigung ihrer erotisch-
Sein Werk, aber zum grossen Teil auch dasjenige sei- kriminellen Gelüste unterstützen. Das Glück? Es ist
ner Nachfolger, zeichnet sich durch ein Figurenper- nicht den Naiven vergönnt, die auf dem Land vor
sonal aus, das in seiner überwältigenden Mehrheit sich hin schmachten, sondern denjenigen, die es ver-
dem Unglück und dem erduldeten oder zugefügten stehen, mitten in Paris einen heimlichen Harem ein-
Laster verschrieben ist, oder zumindest durch eine zurichten.
Dialektik zwischen Unglück und Glück, bei der Letz-
teres meistens als Illusion erscheint. Barbey d’Aurevilly
Das Glück und die Idylle sind also meistens nicht
von Dauer. Ihr Ende ist vorprogrammiert und nur Jules Barbey d’Aurevilly (1809–1889), einige Jahre
eine Frage der Zeit. Dies entspricht bei Balzac so- jünger als Balzac und ebenfalls lange Zeit Royalist
wohl einer professionellen Notwendigkeit (das Glück und Dandy mit anarchistischen Tendenzen, ist, was
lässt sich nicht gut erzählen und rentiert sich kaum) das Glück angeht, auf der gleichen Wellenlänge. Min-
als auch seiner eigenen Überzeugung. Die längste destens eine der Novellen aus seinem berühmtesten
Idylle der Menschlichen Komödie findet man in dem Erzählband Diabolische Geschichten (1874) legt dies
Roman Die Lilie im Tal (1836): die Geschichte einer nahe. Diese Novelle trägt den Titel »Glück im Verbre-
keuschen Liebe zwischen dem jungen Félix de Van- chen« und erzählt die Geschichte der Tochter eines
denesse und der mütterlichen Auserwählten seines Waffenmeisters, Hauteclaire Stassin, die nach dem
Herzens, Henriette de Mortsauf, der tugendhaften Tod ihres Vaters dessen Waffenkammer in einer klei-
Gattin des jähzornigen Comte de Mortsauf, einer nen Provinzstadt während der Restauration über-
Liebe, die in der berühmten ›Sprache der Blumen‹ nimmt. Die im Fechten unbesiegbare Hauteclaire ist
ihren Ausdruck findet (weil Félix, der Glückliche, für die Aristokraten, die kein Schwert mehr tragen
seiner Angebeteten unentwegt Blumen schenkt). Das dürfen, eine ebenso faszinierende Figur wie heute
Glück liegt hier in der Vereinigung der Seelen, die Lara Croft für Amateure des Videospiels: schön, an-
sich ohne fleischliches Verlangen ihre unglücklichen drogyn, phallisch. Sie verpasst vielen eine Abreibung,
Kindheiten erzählen und der Roman ähnelt, zumin- auch dem Comte Serlon de Savigny, dem es dennoch
dest diesen Teil betreffend, einem autobiographi- gelingt, sie zu verführen, ohne dass es jemand merkt.
schen remake von Die neue Heloise. Die Dinge ver- Hauteclaire verschwindet und man findet sie als Die-
schlechtern sich, als Vandenesse mit Henriettes gön- nerin verkleidet im Schloss des Comte wieder, des-
nerhafter Unterstützung nach Paris geht. Er erliegt sen heimliche Mätresse sie nun ist. Das vom Fechten
dort den sinnlichen Reizen einer gewissen Lady besessene Liebespaar muss nur noch die Gattin des
Dudley. Diese Liaison ist gewiss Teil seiner sozialen Comte vergiften, auf die Gefahr hin, einen Skandal
und gesellschaftlichen Pflichten, aber unglücklicher- zu verursachen, um glücklich und kinderlos zu le-
weise bringt sie Henriette buchstäblich um, und als ben. Vielleicht resultiert diese glückliche Sterilität
er sich dessen bewusst wird, ist es zu spät. Die Lilie daraus, dass sie sich dem androgynen Vergnügen des
im Tal lässt sich als Widerlegung der rousseauschen Fechtens hingeben, das nicht nur die sexuellen Diffe-
Version eines Glückes lesen, das auf sozialem Rück- renzen auslöscht, sondern auch den sexuellen Akt
zug und dem Verzicht auf fleischliches Verlangen ba- selbst. Das Glück liegt im Verbrechen oder im (Ver-)
siert. In Balzacs Perspektive, der während der Re- Fechten und die Bedingung seiner Existenz ist das
stauration bekanntermassen eher ein ›imaginärer‹ Geheimnis als Refugium einer verlorengegangenen
Royalist als tatsächlich politisch engagiert war, ist aristokratischen Souveränität: Wie bei Balzac impli-
11. Figuren des Glücks im französischen Roman des 19. Jahrhunderts 231

ziert das Glück die Missachtung der Gesetze und lich mit seiner Geliebten Clélia, der Tochter des Ge-
ihrer gleichmacherischen Effekte. Das literarische fängnisvorstehers, korrespondiert. Das Unglück be-
Frankreich wählt 1874 immer noch nicht mehrheit- ginnt für ihn an dem Tag, an dem man ihn aus dem
lich die Republik, die seit vier Jahren proklamiert Turm entkommen lässt.
wird. Das Glück definiert sich bei Stendhal als Moment
des Bruchs oder der ödipalen Regression, indem der
Stendhal Sohn sich der Überwachung des tyrannischen Vaters
entzieht. Dies geschieht mittels geheimer Kommuni-
Stendhal (Henry Beyle, 1783–1842) ist bekannt für kationsformen, das Glück findet in diesen Kommu-
den Ausspruch, dass die Schönheit ein Versprechen nikationsformen statt: geschmuggelte Botschaften in
des Glücks sei. Viele Autoren (s. Kap. II.4, V.12 und der Kartause, Spiele mit kodierten Blumensträußen
V.7) haben Spekulationen über diesen Satz ange- in Die Äbtissin von Castro (1839), eine der posthum
stellt, der alles in allem enigmatisch bleibt, außer in der Sammlung Italienische Chroniken (1855) ver-
wenn man ihn, ziemlich trivial, darauf bezieht, was öffentlichten Novellen. Man kann diese Lösung als
ein Mann von einer Frau erwartet und umgekehrt. Kompromiss zwischen dem rousseauistischen Rück-
Jedenfalls tritt das literarische Werk Stendhals nicht zug zu Mutter Natur und dem Balzacschen Zynis-
den Beweis für seine These an, denn die Schönheit mus ansehen. Aber es ist auch eine der romantischs-
der Romane von Stendhal beruht wie die Balzacs ten Lösungen, die je erfunden wurde, oder zumin-
mehr auf der Traurigkeit und dem Unglück als auf dest eine derjenigen, die am besten der modernen
dem Glück. Julien Sorel, der Protagonist in Rot und Form des Romans, die Stendhal erfindet, entspricht:
Schwarz (1830), endet auf dem Schafott und Fabri- Es ist der Roman als geheimer, indirekter Ausdruck
zio del Dongo, die Hauptfigur des Romans Die Kar- des Individuums, der Roman als Inszenierung oder
tause von Parma (1839) zieht sich nach dem Tod Artikulation eines einzigartigen phantasmatischen
von Clélia, seiner einzigen unerfüllten Liebe, in ein Universums, in dem das Begehren durch die Hinder-
Kloster zurück. Stendhals Universum widerlegt un- nisse, die ihm in den Weg gestellt werden, immer
aufhörlich die Idee des Glücks. Es ist ein gewalttäti- wieder neu aufflammt.
ges, bedrückendes Universum, in dem die Partie für
die Söhne (und manchmal auch die Töchter) von Flaubert
vornherein verloren ist. Unterstützt von mächtigen
Polizeikohorten triumphieren die tyrannischen, Ist es die Aufgabe des Romans das Glück auszuma-
grausamen Väter über die verliebten, schönen, für len? Gustave Flaubert (1821–1880) beantwortet
die Freiheit entflammten, kurz gesagt, romantischen diese Frage ebenfalls vehement negativ. Seine größ-
Söhne; dies gilt im Gegensatz zum rousseauschen ten Romane (Madame Bovary 1857; Lehrjahre des
Lösungsweg bis in die entferntesten Landstriche Gefühls 1869; Bouvard und Pécuchet 1881) sind Ge-
hinein. In diesem leicht paranoiden Kontext liegt schichten vom Scheitern. Jenseits ihrer außereheli-
die einzige Möglichkeit, das Glück zu erreichen, im chen Illusionen ist Emma Bovarys Suche nach einem
Unglück selbst; der ideale Ort hierfür ist das Ge- glücklichen Leben ein absoluter Misserfolg. Und
fängnis. Die Gefängnisszenen — diejenige, in der Frédéric Moreau, der Held der Lehrjahre des Gefühls,
sich Julien Sorel nach dem Mordversuch an Ma- erlebt das Glück allenfalls in der ironischen ländli-
dame de Rênal befindet, seiner mütterlichen Ju- chen Idylle, in die er sich mit der käuflichen Ro-
gendliebe aus der Provinz, die seine Heiratspläne sanette während der Massaker von 1848 zurückzieht,
durchkreuzt hat, oder vor allem diejenige im Turm oder vielleicht, viel früher, bei der jugendlichen Ex-
in Parma, in dem Fabrizio del Dongo aufgrund per- pedition ins lokale Bordell mit seinem Freund Des-
fider erotisch-politischer Intrigen am Hof von lauriers, auch wenn die beiden Jugendlichen dort
Parma eingesperrt ist – sind bei Stendhal berühmte nur gleich die Flucht ergreifen.
Szenen des intensiven Glücks. Der zum Tode verur- Seitens des Glücks gibt es bei Flaubert nichts zu
teilte Julien Sorel erlebt hier endlich eine besänftigte vermelden, wäre da nicht Félicité, die großherzige
Liebesbeziehung mit Madame de Rênal, die ihm in Dienerin aus »Ein schlichtes Herz« (einer der Drei
seiner Zelle einen täglichen Besuch abstattet. Und Erzählungen, 1877). Sie opfert sich für alles und je-
im Turm von Parma verbringt Fabrizio del Dongo den auf und hat ein Hundeleben, aber sie ist erfolg-
die glücklichsten Tage seines Lebens, weil er heim- reich, wo Emma Bovary kläglich scheitert: in der
232 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

Ekstase, einer mystischen Vereinigung mit dem Hei- Die glücklichen Wochen auf dem Land, die Claude
ligen Geist, im Genuss ihrer eigenen Dummheit. Lantier, die Figur des Künstlers aus Das Werk (1886)
René Girard hätte sie ob ihrer Fähigkeit würdigen verbringt, verhindern das tragische Ende dieser Epi-
können, auf das mimetische Begehren und seine ver- sode aus dem Romanzyklus Rougon-Macquart nicht.
heerenden Auswirkungen zu verzichten (während Die idyllischen Spaziergänge der Prostituierten Nana
Emma und Frédéric dieser Sucht andere nachzuah- (1880) schützen sie in dem gleichnamigen Roman
men, mit ihnen gleichzuziehen oder an deren Stelle nicht vor den qualvollen Pocken, denen sie erliegt.
zu treten zum Opfer fallen). Flaubert avanciert mit Auch hier sind die ländlichen Idyllen zuweilen fixe
seiner eigenen Verweigerungshaltung zum Modell (immer noch von Rousseau stammende) Ideen, iro-
des modernen Schriftstellers: Der Gipfel des Glücks nische Zitate, in denen das zukünftige Unglück
wird in der Aufopferung erreicht, die aus dem Schrei- schon zu erahnen ist. Es kommt aber auch vor, dass
ben ein Priesteramt und aus dem Schriftsteller einen das paradiesische Klischee bei Zola ohne jegliche
Heiligen macht. In »Herodias«, einer der beiden an- Ironie reaktiviert wird, insbesondere in Die Sünde
deren Erzählungen, bemerkt Johannes der Täufer im des Abbé Mouret (1875). In diesem Roman wird der
Moment seiner Enthauptung: »damit sie wachsen, Abt Mouret, der an seinem sexuellen Verzicht krankt,
muss ich kleiner werden.« Flauberts Auffassung vom von Blandine, einer freien, wilden und schönen jun-
Glück lässt sich genau so verstehen: Es entspricht der gen Frau in eine Art paradiesischen Garten gelockt
Zurücknahme des ›ich‹ und ist verkörpert in einem (das Paradou). Dort wird er geheilt, vergisst seinen
Autor, der dem omnipräsenten und allwissenden Er- priesterlichen Abschwur, ernährt sich von Luft und
zähler bei Balzac entgegengesetzt ist, einem Autor, Liebe, bis sein Über-Ich – und ein alter Vorgesetzter
der, wie Félicité, sein Verschwinden und seine eigene – ihn zur Ordnung zurückruft. Er verlässt das Para-
Idiotie genießt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr- dou, und Blandine geht daran zugrunde. Nur das
hunderts wird dies eine ebenso moderne Idee des Ende ist in diesem ganz dem Glück gewidmeten Ro-
Glücks (oder zumindest desjenigen des Schriftstel- man schlecht; hier taucht die Figur des Doktor Pas-
lers) sein wie es diejenige von Stendhal im Laufe der cal auf – Stellvertreter des Schriftstellers selbst in den
ersten Hälfte war. Rougon-Macquart –, der Mouret als kriminellen
Dummkopf behandelt. Derselbe Pascal kehrt in Dok-
Zola tor Pascal (1893) zurück, wo er in der zweiten Hälfte
des Romans eine Idylle in seinem provenzalischen
Nach so vielen Romanen, die dem Glück alles in al- Landhaus mit seiner Nichte Clotilde, die er adoptiert
lem so wenig Platz einräumen, muss man auf Émile hat, erlebt: Glücklicher Quasi-Inzest ohne perverse
Zola (1840–1902) und das letzte Viertel des 19. Jahr- Hintergedanken, denn Pascal und Clotilde schlafen
hunderts warten, bis das Glück wieder auf die Tages- nur miteinander, weil sie sich ein Kind wünschen.
ordnung kommt. Es zeigt sich nunmehr mit einer Hundert Jahre nach Rousseau ist der glückliche
rousseauistischen Ader, die durch ein wenig Positi- Mensch immer noch derjenige, der seinen Bedürf-
vismus, gemischt mit einer Prise humanistischen So- nissen folgt – und nicht seinen Begierden, die immer
zialismus, überarbeitet und korrigiert worden ist. zerstörerisch sind.
Aus dieser Perspektive kann man sogar von einem
Positivismus des Glücks bei Zola sprechen. Das Pa- Utopien
radies der Damen (1883) ist denn auch die Ge-
schichte einer jungen Frau, die ihrem Vorgesetzten, Von Zola gilt es auch die Evangelien zu erwähnen,
dem Besitzer des Kaufhauses »Das Paradies der Da- die man als utopische Romane oder erzählte Utopien
men«, nicht nur das eheliche Glück aufbürdet, weil bezeichnen kann. Arbeit (1901) stellt ein ur-natura-
sie sich heiraten lässt, anstelle sich ihm als Geliebte listisches Werk dar, das das Land als idealen Ort für
hinzugeben, sondern auch noch die soziale Wohl- ein proletarisches Stelldichein und eine fourieristi-
fahrt, indem sie ihn verpflichtet, all seine Angestell- sche Kommune verherrlicht. Fruchtbarkeit (1899) ist
ten gut zu behandeln. Balzac jedenfalls hätte diesen ein 700-seitiger Roman, dessen Moral sich wie folgt
Roman sicher nicht autorisiert. Natürlich ist bei Zola zusammenfassen lässt: Wenn Sie glücklich sein wol-
auch nicht alles rosig und einige Idyllen dauern nicht len, pflanzen Sie etwas in die Erde und machen Sie
an, sind nichts als eine vorübergehende Erholung auf viele, viele Kinder; wenn Sie unglücklich sein wollen,
dem Weg in die finale Katastrophe. lassen Sie die Erde verdorren und huren um des pu-
12. Figuren des Glücks in der deutschen Erzählprosa des 19. Jahrhunderts 233

ren Vergnügens willen herum. Die Evangelien gehö- 12. Figuren des Glücks in
ren zu den weniger bekannten Romanen von Zola,
nicht zuletzt deshalb, weil sie keine guten Romane der deutschen Erzählprosa
sind. Es scheint, als ob zu viel Glück, oder vielmehr des 19. Jahrhunderts.
mit zu viel Nachdruck beschriebenes Glück mit der
Form des Romans unvereinbar sei. Zola hat sich be- Das Zeitalter bürgerlicher
müht, Balzac zu widerlegen, er engagiert sich für Glücksbestrebungen
seine glücklichen, tugendhaften Figuren, aber der
Roman (und Balzac) rächt sich dafür. Das Glück der
Figuren geht zulasten des Plots und des Spannungs- Biedermeier (1815–1848)
bogens der Erzählung. Es kann ihnen nichts passie-
ren, außer dass sie noch glücklicher werden. Die Zeit der Restauration beginnt 1815 mit dem
Diese Behauptung lässt sich verallgemeinern: Untergang der napoleonischen Herrschaft in Eu-
Grundsätzlich ist das Glück in Reinform, also jen- ropa und geht mit der bürgerlichen Revolution, der
seits der den Roman bestimmenden Dialektik von sog. ›Märzrevolution‹ von 1848, zu Ende. Das Bie-
Glück und Unglück, nicht für den Roman geschaf- dermeier zeichnet sich durch ein Misstrauen gegen
fen, sondern für den utopischen Diskurs. Die ›Evan- die Glücksversprechen der großen Politik, durch
gelisten‹ oder Kreuzritter des Glücks sind also auf Entsagung und durch die Zuwendung zum Kleinen
der Seite der Utopisten und Erzieher zu suchen, an aus. Im Unterschied zum subjektiv-dynamischen
denen es in Frankreich im 19. Jahrhundert wahrlich Glücksverständnis der Früh- und Hochromantik
nicht mangelt: allen voran natürlich Zola, aber vor (1795–1803; 1804–1816; s. Kap. V.9), das im Bann-
ihm bereits Jules Michelet (1789–1874), der als Ver- kreis von Fichtes eudämoniekritischer Ethik des
fasser historischer Werke bekannter ist denn als ›na- Wollens stand, schätzt das Biedermeier das stille
tionaler Pädagoge‹ oder als Autor quasi-literarischer Glück der Behaglichkeit, der Häuslichkeit, der Ge-
Abhandlungen über die Liebe und das Eheleben (Die selligkeit im Freundeskreis sowie des (geistigen)
Liebe, 1858; Die Frau, 1859), die in gewisser Weise an Rückzugs in die konservative Privatheit. Die Privat-
Werke wie Emil von Rousseau (1762) anschließen. sphäre des ›Glücks im Winkel‹ wird in ganz neuen
Und vor ihnen gilt es die echten, heute kaum mehr Formen kultiviert. Allgemeine bürgerliche Tugen-
gelesenen Utopisten zu erwähnen, die sich dem ro- den wie Fleiß, Treue, Ehrlichkeit und Pflichtgefühl
mantischen Sozialismus verschrieben haben: die erhebt man zu erstrebbaren Idealen. Die biedermei-
Saint-Simonisten als weltliche Missionare im Diens- erzeitliche Belletristik thematisiert die Zufrieden-
te der Verkündigung einer neuen Gesellschaft und heit mit einem diesseitigen kleinen Glück sowie das
Charles Fourier (1772–1837), den unermüdlichen glückbringende Potenzial der Gefühlswelt im Fami-
Programmgestalter des Glücks, besonders mit seiner lienkreis.
Schrift Aus der neuen Liebeswelt (1816), die die fried- Im Spätwerk Eduard Mörikes (Maler Nolten, 1832)
liche und glückliche Koexistenz aller Arten der kör- und Joseph von Eichendorffs (Dichter und ihre Ge-
perlichen Liebe verherrlicht (s. Kap. II.8). Aus der sellen, 1834) etwa wird das Glück nicht mehr in der
Sicht des Romans erscheint das Glück schnell als romantischen Überwindung des Alltags, sondern in
langweilig, oft traurig und manchmal sogar düster. dessen Beschränktheit bzw. im engen Familienzirkel
Vincent Kaufmann gesucht. Bei Adalbert Stifter (1805–1868), der trotz
(aus dem Französischen übersetzt von Sophie Rudolph) der späten Erscheinungsdaten einiger seiner Prosa-
dichtungen dennoch als Exponent des literarischen
Biedermeiers (der Wiener Klassik) gilt, ist die Vor-
liebe für Orte individueller, beglückender Geborgen-
heit ein beliebter Topos in seinem Erzählwerk (Bunte
Steine, 1853; Der Nachsommer, 1857). Die ahistori-
sche bescheidene Glückswelt der Stifterschen Figu-
ren besteht größtenteils in der Bejahung der Schön-
heit und Güte der Natur, in die darüber hinaus mehr-
fach nostalgische Reminiszenzen an eine verlorene
Kindheitsidylle hineinprojiziert werden. Von der
234 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

kollektiven Sozialutopie ist beim politisch reaktionä- chen Liebes- und Eheglücks verankerten, bürgerli-
ren Stifter nie die Rede. chen Weiblichkeitsideal des 18. Jahrhunderts, hin zur
Die Problematik der sich ausbreitenden Industria- emanzipatorischen Vorstellung des Glücks als freier
lisierung Mitteleuropas und der damit verknüpften Selbstverwirklichung im gesellschaftlichen Leben (s.
sozialökonomischen Umbrüche wird bereits im frü- Kap. V.13 und V.11). (Eine kritische Bestandsauf-
hen 19. Jahrhundert in Literatur und Theorie reflek- nahme dieser Glückshoffnungen bieten dann im
tiert; man denke nur an Goethes Wilhelm Meisters späten 19. Jahrhundert die Dramen Hendrik Ibsens
Wanderjahre (1821), an Johann Gottlieb Fichtes und August Strindbergs.) Hinzu treten Erzähltexte
Traktat Der geschloßne Handelsstaat (1800) oder an aus weiblicher Feder, darunter Fanny Lewalds Frau-
Adam Müllers Elemente der Staatskunst (1809). In enroman Clementine (1843), worin die wahre
der Biedermeierzeit rückt dieses Thema weiter in Glücksbestimmung der Frau nicht mehr an die Nor-
den Vordergrund. Exemplarisch für die Thematisie- men einer konventionellen Pflicht- und Tugendethik
rung der Spannungen zwischen altem Feudaladel gekoppelt bleibt, sondern im nuancierteren Affekt-
und neuem Industriekapitalismus steht der in der bereich eigener Neigungen und Triebe angesiedelt
Form von Familienmemoiren verfasste historische wird. Gemeinsam ist den Texten vieler schreibenden
Roman Die Epigonen (1836) von Karl Immermann Frauen des Vormärz, darunter Louise Aston und Ida
(1796–1840). Hier schildert der Autor das unglück- von Hahn-Hahn, dass sie für ihre Protagonistinnen
selige Verstricktsein seines innerlich zerrissenen keine glücklichen, gleichberechtigten Liebesbezie-
Helden Hermann in die unlösbaren Gegensätze von hungen entwerfen, selbst wenn sie diese in die Lage
Restauration und Revolution, Großstadt und Land- versetzen, ihre (Lebens-)Partner selbst auszuwählen.
leben, materiell-pekuniärem Glück (prosperitas) und Wenn sich die Jungdeutschen auch für eine im
seelischem Wohlsein (felicitas). Sogar die Behaglich- Zeichen des Saint-Simonismus stehende Liberalisie-
keit eines arkadischen Hirtenlebens, von dem der rung der politischen Machtverhältnisse aktiv enga-
melancholische Halbaristokrat etwas flüchtig mitbe- gieren, so wird doch zugleich das Scheitern solcher
kommt, tut dieser »Sohn [s]einer Zeit« (Immermann utopischen Heilserwartungen, wie etwa in Heinrich
1836/1971–77, 646), wie er später genannt wird, als Laubes (1806–1884) dreibändigem Roman Das junge
brüchig ab: »[W]enn ihm die Weise dieser Leute frei- Europa (1833–1837), vor Augen geführt. Im zweiten
lich etwas eng und einförmig vorkommen wollte, so Teil legt der Erzähler dem ermüdeten und desillusio-
fühlte er doch, daß auf so schlichtem Denken und nierten Freiheitskämpfer Valerius folgende Glücks-
Empfinden eigentlich das Glück des Daseins ruhe. aussage in den Mund: »Ist es denn wirklich größer,
Aber auch dieser Idylle waren die düstern Farben der ein Held zu sein, Nationen zu bewegen, Völker-
entsetzlichen Welterschüttrung zugeteilt, auch in sie schicksale gestalten zu helfen, als daheim zu bleiben
ragte eine fremde unheimliche Gestalt hinein« (179). bei den Seinen und ihrem kleinen Glücke, ihren un-
Erst am Ende des Romans, der gewisse weltanschau- scheinbaren Freuden Kraft und Tätigkeit zu wid-
liche Ähnlichkeiten mit Goethes Wilhelm Meisters men? Haben die sogenannten Philister nicht am
Lehrjahre (1795/96) aufweist, wird Graf Hermann, Ende recht, dass wir uns um keine anderen Dinge
wie im Falle des Goetheschen Romanhelden, mit ei- kümmern sollen, als um jene, die uns zunächst be-
nem standhaften Liebesglück belohnt. treffen? Während ich kämpfe und ringe für eines
Volkes Freiheit, weil ich den Begriff der Freiheit für
Junges Deutschland und Vormärz etwas Großes halte, verschmachten vielleicht die
Meinen in Angst und Mangel und Kummer – ist
(1830–1850)
denn nun auch wirklich dieser Begriff der Freiheit
Die jungdeutschen Literaten brechen die Tabus der größer als alle anderen? Ist es tugendhaft, alles an-
herrschenden Sexualmoral durch die Inszenierung dere darüber zu vernachlässigen?« (Laube 1833–
des Glücks der freien Liebe. Damit vollzieht sich in 37/1908, 73–74).
Karl Gutzkows (1811–1878) Frauenroman Wally die Kein Wunder also, dass der Roman mit dem resi-
Zweiflerin (1835), der einen Skandal auslöste, sowie gnierten Rückzug dieser Hauptfigur in ein stilles,
in Theodor Mundts (1808–1861) religionsfeindli- idyllisches Tal endet, wo sie sich an der Seite eines
chem Roman Madonna (1835), der das männliche geliebten Mädchens mit einem bürgerlichen Glück
Wunschbild einer sinnesfreudigen Frau entwirft, ein und einer unpolitischen Existenz abseits der Gesell-
Paradigmenwechsel von dem im Begriff des häusli- schaft begnügt. Andererseits aber wird in der belle-
12. Figuren des Glücks in der deutschen Erzählprosa des 19. Jahrhunderts 235

tristischen und dokumentarischen Auswanderungs- räume in der geographischen Ferne liegen, wie etwa
und Reiseliteratur der 1830er Jahre Amerika als das in der Novelle Pankraz der Schmoller (1855), tauscht
Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Ort der der Heimkehrer die exotischen Gefilde seiner Reise-
Erfüllung sozialpolitischer Glücksverheißungen an- abenteuer gern gegen die Provinz und die wiederge-
gepriesen. Beispielhaft hierfür ist Ernst Willkomms wonnene Gemütlichkeit des kleinbürgerlichen Her-
Roman Die Europamüden (1838), zu dem später Fer- des ein.
dinand Kürnbergers Roman Der Amerika-Müde Eine der bekanntesten Novellen Kellers, Romeo
(1855), der die Enttäuschungen des Dichters Niko- und Julia auf dem Dorfe (1855), variiert das bei ihm
laus Lenau literarisch verarbeitet, ein Gegenstück lie- wiederkehrende Thema der Verhärtung des Men-
fert. schen durch spekulative Geldgier, die sich als Folge
der reformpolitischen Liberalisierungstendenzen in-
Bürgerlicher Realismus (1850–1890) nerhalb der Schweizer Agrar- und Handelswirtschaft
abzeichneten. Hier ernten die Hauptfiguren Sali und
Der Realismus reicht von der Märzrevolution über Vrenchen, die auf nachbarlichen Höfen gemeinsam
die Reichsgründung bis hin zum Rücktritt Bis- aufgewachsen sind und jetzt als Heranwachsende
marcks; er entwickelt sich parallel zum Materialis- eine tiefe Zuneigung zueinander verspüren, die un-
mus von Ludwig Feuerbach und Karl Marx, deren heilbringenden Konsequenzen eines bitteren Recht-
Glücksdoktrinen jegliche theologische Vorstellung streits zwischen ihren Vätern um den Erwerb eines
von Glückseligkeit (beatitudo) ausklammern zu- brachliegenden Stückes Ackerland. Der auf beiden
gunsten – zumindest bei Marx – planbarer, gemein- Häusern lastende Fluch vereitelt ein gegenseitiges
schaftlicher Wohlfahrtsmodelle in Bezug auf die Lebensglück, das nur außerhalb der sturen Dorfge-
Einrichtung einer klassenlosen Gesellschaftsutopie meinschaft in einer eheähnlichen Beziehung eta-
(s. Kap. II.9 und II.10). Im Schnittpunkt der Moder- bliert werden könnte. Doch ist bei dem von Schuld-
nisierung des Glücksverständnisses des 19. Jahrhun- gefühlen befallenen Liebespaar der verinnerlichte
derts liegen die naturwissenschaftlichen Theorien, Widerstand gegen eine Auflockerung der bürgerli-
darunter insbesondere der Darwinismus, ähnlich chen Sexualmoral so stark, dass Keller ihren Freitod
wie im 18. Jahrhundert die Philosophie die utilitaris- als einzigen Ausweg aus dem seelischen und ethi-
tischen Eudämoniediskurse und die Glücksästhetik schen Dilemma konstruiert. Gotthelf variiert das
geprägt hatte. Die schriftstellerischen Vertreter/in- Thema vom Einbruch der Geldgier in eine heile Welt
nen des (poetischen) Realismus stellen die Gültig- in seinem Roman Geld und Geist (1846).
keit der zeitgenössischen Moralpostulate in Frage Ähnlich wie der späte Goethe in Faust II (1832)
und wenden sich gegen jegliches Festhalten an über- setzt auch Keller den Begriff des Glücks in Relation
holten Tugenden, die das Lebensglück des Einzelnen zu einem produktiven Tätigkeitsethos – ohne frei-
gefährden. Zugleich stehen sie als harte Realisten lich diese Tätigkeit ökonomisch einzuengen. Im
allen unrealistischen Glücksansprüchen, die wenig stark autobiografisch geprägten Roman Der grüne
Aussicht auf Verwirklichung haben, skeptisch gegen- Heinrich wird die Irrfahrt eines aus einfachen Fami-
über. lienverhältnissen stammenden Möchtegern-Künst-
Die Schweizer Romanciers Gottfried Keller (1819– lers nachgezeichnet, den der Wille zum Glück im
1890) und Jeremias Gotthelf (1797–1854) stehen aristotelischen Sinne eines gelungenen Lebens an-
stellvertretend für einen Trend zur Regionalisierung treibt, auch wenn seine tatsächliche Lage dessen Ver-
in der Belletristik des bürgerlichen Realismus, der in wirklichung entgegensteht. Dem Pechvogel bleibt
England schon mit Walter Scott einsetzte. In seinem Glück in der Liebe so gut wie ganz versagt, und auch
zweibändigen Novellenzyklus Die Leute von Seld- seine Glücksfantasien, die um den Traum einer Be-
wyla (1856; 1873/74) zielt Keller in seiner Handha- rufung zum Malen kreisen, finden kaum Erfüllung.
bung von Heimatmotiven jedoch keineswegs auf Ging Kunst in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre
eine Verklärung und Idyllisierung des dörflich-bäu- (1795/96) noch mit dem Bewusstsein einer erhabe-
erlichen Glücks ab. Vielmehr scheint weitgehend nen Sendung einher, so sieht sich der künstlerisch
eine sozialkritische Haltung durch, wenn er die be- unbegabte Heinrich gezwungen, der Malerei letzt-
grenzten Horizonte des meist spießbürgerlichen endlich zu entsagen. Schlimmer noch: Er geht in der
Wohlbehagens an seinen Figuren mit mildem Hu- ersten Romanfassung (1846–1855) daran zugrunde,
mor persifliert. Selbst dort, wo die ersehnten Glücks- dass er seine Schuld am gescheiterten Lebensglück
236 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

seiner Mutter, die er seit Jahren nicht mehr besucht zählt. Storms historische Novelle Der Schimmelreiter
hat, erkennt. Ein Ausgleich zwischen Ich und Welt, (1888) zeigt am Beispiel des Deichgrafen Hauke
der für den klassizistischen Bildungsroman maßge- Haien, der im Unterschied zu den abergläubischen
bend war, ist erst dann vollziehbar, wenn Heinrich – und visionslosen Dorfbewohnern technisch fort-
wie in der zweiten Version (1879/80) – die Bezie- schrittlich eingestellt ist und unter dem inneren
hung zu der aus Amerika zurückgekehrten Judith Konflikt zwischen selbstopfernder Hingabe an die
wieder aufnimmt. Der Grüne Heinrich ließe sich als Heimat und persönlichen Ambitionen leidet, wie das
Anti-Bildungsroman bzw. als Desillusionierungsro- große Glück des Gemeinwohls sowie auch das kleine
man bezeichnen, insofern der Werdegang des green- familiäre Glück in einem Zug zerstört werden kann,
horn keine lineare, zielorientierte Richtung verfolgt, Der Keim der Zerstörung liegt in der Diskrepanz
sondern sich vielmehr als kreisförmige Entwick- zwischen technischem Fortschritt und ländlicher
lungskurve erweist. Überdies hat die Diskontinuität Ordnung – eine Diskrepanz, die die Dorfbewohner
von Heinrichs Erfahrungsbereichen nur noch wenig am gemeinsamen Handeln hindert und der andrän-
mit der Verfolgung eines humanistischen Bildungs- genden Sturmflut zum Opfer fallen lässt.
ziels zu tun. In den Gesellschaftsromanen des brandenburgi-
Ein Großteil der umfangreichen Novellistik des schen Schriftstellers Theodor Fontane (1819–1898)
norddeutschen Realisten Theodor Storms (1817– erreicht der bürgerliche Realismus seine literarische
1888) ist ebenfalls dem Subgenre Heimatliteratur zu- Zuspitzung. Wohl kein deutschsprachiger Autor des
zurechnen, insofern dieser die Glücksansprüche sei- 19. Jahrhunderts hat mehr Reflexionen über die Be-
ner Figuren im diesseitigen, weitgehend ortsgebun- schaffenheit und die Grenzen des Glücks in seine
denen Familienleben und in der Einbindung in eine Prosadichtungen eingeflochten als Fontane. Hier be-
fortlaufende Generationenkette ansiedelt. Wohl gegnen wir einer erneuten Literarisierung des seit
kaum ein anderer Dichter ist so tief in seiner Heimat dem Vormärz variantenreich dargestellten Konflikts
verwurzelt wie Storm. Wie negativ sich das Verlassen zwischen milieubedingten Verhaltensmaximen und
der Heimat auf das Lebensglück eines Einzelnen aus- individuellem, meist weiblichem Glücksanspruch
wirken kann, wird in der Novelle Immensee (1851) (Mittelmann 1980). Im Ehebruchsroman Cécile
am Beispiel zweier junger Leute, Reinhard und Elisa- (1886) begeht die Titelheldin Selbstmord, weil das
beth vom selben Landgut veranschaulicht. Ihre un- gesellschaftliche Idealbild der Frau jener Art des Lie-
ausgesprochene Liebe zueinander geht nie in Erfül- besglücks, die Cécile als das Wahre erkannt hat, total
lung, da Reinhard wegen seines von Elisabeth grund- zuwiderläuft. Im Berlinroman Irrungen Wirrungen
verschiedenen Lebensentwurfs einem Glück in der (1888; s. Kap. V.9) scheitert die treue Liebe der warm-
Großstadt nachjagt. Als er nach zweijähriger Abwe- herzigen Arbeiterfrau Lene zum Adligen Botho von
senheit bei seiner Rückkehr feststellt, dass Elisabeth Rienäcker an den unüberbrückbaren Standesunter-
für ihn unwiederbringlich verloren ist, entsagt er sei- schieden innerhalb der bestehenden preußischen
ner Liebe zu ihr und kehrt der Heimat den Rücken. Gesellschaftsordnung. Im Gründerzeitroman Frau
Ihm bleibt allein die Erinnerung an das ungetrübte Jenny Treibel (1892) entpuppt sich das materielle
Glück seiner Kindheit. Glück, das von Corinna, einer Repräsentantin des
In anderen Texten Storms werden Rückerinne- Bildungsbürgertums, angestrebt wird, als letztend-
rungen an gute Zeiten nicht mit bedauerlichem Ver- lich unvereinbar mit ihrem emanzipatorischen Stre-
lust assoziiert, sondern als Kontinuum eines geglück- ben nach weiblicher Selbstverwirklichung. Und in
ten Daseins bejaht. Das trifft etwa auf Pole Poppen- dem zum Kanon der Weltliteratur gehörigen Ehe-
späler (1874) zu, die Geschichte der dauerhaften bruchsroman Effi Briest (1895) schließlich, dessen
Liebe des Ehepaars Paul und Lisei, deren volles Men- Glücksproblematik ergiebige Vergleiche zu Flauberts
schenglück sich bis ins hohe Alter aus einer seeli- Madame Bovary (1857), Tolstojs Klassiker Anna Ka-
schen Verträglichkeit und aus Gefühlen der Zusam- renina (1873/1877) oder Ibsens Nora oder ein Pup-
mengehörigkeit speist und entwickelt. Die doppelte penheim (1879) nahelegt, fällt die Heldin der Un-
Erzählperspektive, die für Storms Prosawerk so ty- zulänglichkeit der bestehenden gesellschaftlichen
pisch ist, ermöglicht es, dass der Binnenerzähler die Glücksauffassung zum Opfer, welche auf einen er-
heitere Zufriedenheit, die sich auf Pauls Gesicht ab- starrten Sitten- und Ehrenkodex fixiert ist. Dem ge-
bildet, aufzeichnet, während der Rahmenerzähler samten Romanwerk Fontanes liegt die ernüchternde
gleichsam diese fortlaufende Glücksgeschichte er- Erkenntnis zugrunde, dass die Utopie des weiblichen
12. Figuren des Glücks in der deutschen Erzählprosa des 19. Jahrhunderts 237

Glücks nur dort realisiert werden könne, wo Men- Décadence gehörigenden Autoren, darunter Leopold
schen als Gleichgestellte geschätzt und entsprechend von Andrian (Der Garten der Erkenntnis, 1895) und
behandelt würden. die Mitglieder der Jung-Wiener-Gruppe Hugo von
Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, das Erleben
Naturalismus und Gegenströmungen des Glücks bzw. Unglücks ihrer Figuren von anderen
dispositionellen Charaktereigenschaften wie Intro-
(1880–1900)
vertiertheit oder nervöser Gereiztheit abhängig. Zu
Der konsequente Naturalismus in Deutschland wen- den häufig thematisierten epochentypischen Er-
det sich von der Beschönigung und der Verklärung scheinungen der Jahrhundertwende zählen u. a. Äs-
der Realität entscheidend ab, insofern er sich nicht thetizismus, Realitätsflucht, Identitätsverlust, Morbi-
scheut, auch das Elende, Hässliche und Böse als Be- dität und Lebensunfähigkeit. Zum Beispiel bereitet
standteile der sozialen und wirtschaftlichen Miss- in Hofmannsthals Erzählung »Das Märchen der 672.
stände des Zeitalters zu protokollieren. Demgemäß Nacht« (1895) dem introspektiven 25-jährigen Kauf-
lässt sich in der Literatur – besonders unter dem Ein- mannssohn die Tatsache, dass er ganz in der Betrach-
fluss des französischen Naturalisten Émile Zola tung seiner mit schönen Kunstgegenständen einge-
(1840–1902) – eine epochale Hinwendung zur Ver- richteten Wohnung lebt, das höchste Glück. Die
arbeitung von sozialen Phänomenen wie Prostitu- Flucht in ästhetische Glücksräume und -träume bzw.
tion, Kriminalität, Armut, Wahnsinn und Alkoholis- in den Genuss materieller Glücksgüter kann aber
mus konstatieren, die das durch das 19. Jahrhundert nicht über die Leere einer selbstsüchtigen Existenz
hindurch als sakrosankt empfundene Konzept des hinwegtäuschen. Der Weg, der den Protagonisten in
natürlichen Glücks der Familie untergraben bzw. die Zeitlichkeit der Außenwelt und die rettende Ge-
zerstören können. Im Naturalismus büßt das Schick- sellschaft seiner Mitmenschen zurückbringt, führt
sal seine tradierten metaphysischen Konnotationen entsprechend in den Tod. Die Vorstellung von der
ein und tritt stattdessen in den Dienst eines auf zeit- Schönheit als promesse du bonheur (Stendhal; s. Kap.
genössischen Vererbungs- und Milieutheorien (Hip- II.4, V.7 und V.11) schlägt um in die Hässlichkeit ei-
polyte Taine, Ernst Haeckel) basierenden Determi- nes schmerzvollen Sterbens in der Anonymität einer
nismus, der die autonome Willensfreiheit bzw. den dunklen Innenstadtgasse. Nicht minder auf die
Willen des Einzelnen zum Glück als Illusion entlarvt. Nachzeichnung existentiell-ästhetischer Glückser-
Kein Wunder also, dass fortan der Darstellung von fahrung hin ausgerichtet sind die Stimmungsbilder
Unglücksszenarien infolge erbbiologischer oder mi- und Fantasie- und Traumwelten, die Schnitzler vor
lieuspezifischer Faktoren mehr Bedeutung beige- dem Hintergrund Freudscher Psychoanalyse und
messen wird als der Auseinandersetzung mit religiö- nach der Devise »Glück ist alles, was die Seele durch-
sen oder metaphysischen Vorstellungen vom Glück. einander rüttelt«, in seinen frühen Erzählungen um
Die Porträtierung des Menschen als Spielball von 1900 heraufbeschwört.
Triebkräften und unklaren Bewusstseinszuständen
ist das Sujet der novellistischen Studie Bahnwärter Zusammenfassendes Fazit
Thiel (1888), dem Debütwerk Gerhart Hauptmanns
(1862–1946). Der verwitwete Thiel, dessen zweite Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird der in deutsch-
Ehe mit der rohen und herrschsüchtigen Kuhmagd sprachigen Erzähltexten thematisierte Glücksbegriff
Lene ihm nur kurzlebige Augenblicke des Glücks ge- aus der Transzendenz der Romantik in das Hier und
schenkt hat (womit das triebhafte Glück der sexuel- Jetzt des historischen Realismus herübergeholt.
len Bedürfnisbefriedigung gemeint ist), tötet Lene Kurzum: Das Glück büsst seine metaphysisch veror-
und ihren Säugling, nachdem sein geistig und kör- tete bzw. religiöse Bindung (beatitudo) ein und ba-
perlich zurückgebliebener Erstgeborener Tobias an- siert zunehmend auf sinnlich-diesseitiger Erfüllung
geblich durch Lenes Verschulden von einem Schnell- sowie auf einer guten Ökonomie, der Geldwirtschaft.
zug überfahren worden ist. Der dem Wahnsinn Ver- Zugleich geht diese Säkularisierungstendenz einher
fallene wird in eine Irrenanstalt gebracht. mit einer endgültigen Abkehr von dem schon von
Legt Hauptmann in seiner psychopathologischen Kant diskreditierten Nexus zwischen Tugendethik
Fallstudie den Akzent auf die Determiniertheit des und Glückerlangung, was für die Konzeptualisierung
Menschen(un)glücks durch Anlage und Umwelt, so und literarische Darstellung weiblicher Selbstver-
machen die zur Gegenbewegung der literarischen wirklichungshoffnungen und Glücksverhandlungen
238 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

bedeutende Konsequenzen hat (Corkhill/von Ham- 13. Figuren des Glücks im


merstein 2011, 123–140). Fortan wird das Recht bei-
der Geschlechter auf Glück mit gesellschaftlicher englischen und amerika-
Verantwortung eng verknüpft, auch wenn gleichzei- nischen Roman des
tig sozialutopische Glücksversprechen und -visionen
immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden. 19. Jahrhunderts.
Mit dem Einsetzen des Symbolismus und der Neu- Zwischen Gefühlsnorm
romantik schwingt das Pendel zurück in Richtung
der Resubjektivierung und Reästhetisierung des und Gefühlserleben
Glücks. An der Schwelle zur literarischen Moderne
hinterlässt die starke Relativierung eines ontologi-
schen und ethischen Glücksverständnisses Zweifel Glückskonstruktionen im historischen
an der Darstellbarkeit des Glücks in belletristischen Kontext
Texten überhaupt (Gerigk 2010, 7), wie am Beispiel
der Fiktionen von Franz Kafka, Thomas Mann und Das 19. Jahrhundert, das in Großbritannien, aber
Hermann Hesses deutlich wird. auch in den USA nach der von 1837 bis 1901 regie-
renden britischen Königin Viktoria als Victorian age
Literatur bezeichnet wird, ist in diesen Ländern das Jahrhun-
dert des Übergangs von der Agrar- zur modernen
Béhar, Pierre (Hg.): Glück und Unglück in der österrei-
städtischen Industriegesellschaft, symbolisiert durch
chischen Literatur und Kultur. Bern/Berlin 2003.
den Eisenbahnbau seit den 1830er Jahren. Während
Corkhill, Alan: Glückskonzeptionen im deutschen Ro-
diese Entwicklungen in Großbritannien bereits Mitte
man von Wielands »Agathon« bis Goethes »Wahl-
verwandtschaften«. St. Ingbert 2003. des 18. Jahrhunderts einsetzen, laufen sie im ameri-
–: Good Fortune Maketh the Man? Notions of ›Glück‹ kanischen Nordosten, gefolgt vom mittleren Westen,
in the »Seldwyla Novellas«. In: Hans Joachim Hahn/ ab dem zweiten Drittel des Jahrhunderts zeitlich ge-
Uwe Seja (Hg.): »Die Leute von Seldwyla«. 150 Years drängt ab. Getragen werden diese Prozesse, die Groß-
On. Oxford/Bern 2007, 25–46. britannien in der Jahrhundertmitte zur ›Werkstatt
– /von Hammerstein, Katharina (Hg.): Reading Female der Welt‹ machen, hauptsächlich vom fortschrittsbe-
Happiness in Eighteenth- and Nineteenth-Century wussten Bürgertum, dessen obere Schichten in der
German Literature: Texts and Contexts. In: Seminar. englischen Revolution des 17. Jahrhunderts erfolg-
A Journal of Germanic Studies 47, 2 (2011), 123–299. reich individuelle Freiheiten und politische Mitbe-
Gerigk, Anja (Hg.): Glück paradox. Moderne Literatur stimmung errungen hatten. Das amerikanische Bür-
und Medienkultur – theoretisch gelesen. Bielefeld gertum löst sich mit der Unabhängigkeitserklärung
2010. von 1776 politisch von Großbritannien und fordert
Hörisch, Jochen: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der mit Jeffersons (von englischen und schottischen Phi-
Liebe. Frankfurt a. M. 1983. losophen inspirierten) Formulierung »life, liberty
Immermann, Karl: Die Epigonen [1836]. In: Benno von and the pursuit of happiness« (s. Kap. V.2) auch das
Wiese (Hg.): Karl Immermann. Werke. Bd. 2. Frank- Streben nach Glück als unveräußerliches Menschen-
furt a. M./Wiesbaden 1971–77. recht ein. Die Literatur der USA, wie ihre Verfasser
Laube, Heinrich: Das junge Europa [1833–37]. In: Ders.:
und Leser v. a. im Nordosten des Landes, bleibt trotz
Gesammelte Werke in 50 Bänden. Bd. 2. Leipzig 1908.
aller Abgrenzungsversuche bis zum Ende des Jahr-
McInnes, Edward/Plumpe, Gerhard (Hg.): Bürgerlicher
hunderts noch eng mit dem britischen Literatur-
Realismus und Gründerzeit 1848–1890. München/
Wien 1996.
markt verbunden.
Mittelmann, Hanni: Die Utopie des weiblichen Glücks Im 19. Jahrhundert ist der realistische Roman z. B.
in den Romanen Theodor Fontanes. Bern 1980. von Charles Dickens, den Brontë-Schwestern,
Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus. Fin de siècle. George Eliot oder Thomas Hardy, das für die Denk-
Expressionismus. München/Wien 2000. figuren des Glücks wichtigste Genre der englischen
Sautermeister, Gerd/Schmid, Ulrich (Hg.): Zwischen und auch der amerikanischen Literatur. Letztere ent-
Revolution und Restauration 1815–1848. München/ wickelt diese Form seit den 1870er Jahren mit Wil-
Wien 1998. liam Dean Howells, Henry James und später Stephen
Alan Corkhill Crane sowie Frank Norris eigenständig weiter. Der
13. Figuren des Glücks im englischen und amerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts 239

Roman steht im Dialog mit der immer zahlreicheren Selbstreform (self-improvement) anzuregen. Das sich
Ratgeberliteratur, die eindeutige Gefühlsanleitungen im Laufe des Jahrhunderts abschwächende evangeli-
zur Erlangung und zum Ausdruck von Glück bereit- kale Paradigma zielt auf selbstverleugnende Demut
stellt. Grundsätzlich gelten Gefühle in den nicht-fik- und Bescheidenheit im Dienste der Gemeinschaft
tionalen Diskursen als rational steuerbar, weshalb sie und motiviert diese nun mit der Aussicht auf Gottes
zum Nutzen sowohl des Einzelnen als auch der Ge- Liebe und auf wahres Glück im Himmel. Das verhal-
meinschaft geformt und eingesetzt werden können. tensorientierte Paradigma hingegen normiert haupt-
Fiktionale Texte thematisieren die Spannungen zwi- sächlich das Ausdrucksverhalten für Glück und
schen kollektiven Gefühlsanleitungen und individu- der mit ihm verbundenen Wohlbefindens- und
ellem Gefühlserleben unter den Bedingungen einer Bindungsgefühle wie Freude, Liebe und Zuneigung.
sich wandelnden Gesellschaft. Das geschieht auf un- Der bevorzugte Ort der Produktion und alltagsprak-
terschiedliche Weise: zum einen in direkter oder me- tischen Einübung dieser (mit heiterer Gelassen-
taphorischer Rede über Gefühle, zum anderen aber heit und permanenter Freundlichkeit assoziierten)
in den narrativen Strategien, die die Leser dekodie- Glücksgefühle ist die bürgerliche Familie.
ren müssen. So wird über das Figurenensemble, die
Handlungsführung und die Art der Konfliktlösung Glück im Spannungsfeld von Geschlechter-
Glück als ganzheitliches Erlebnis gestaltet, das aus
rollen und Familienvorstellungen
der Erfüllung des Anspruchs auf individuelle Selbst-
verwirklichung resultiert. Als Teil der Modernisie- Die bürgerliche Familie gilt als Gesellschaft im Klei-
rungsprozesse des 19. Jahrhunderts gibt sich das nen mit stabilisierender Funktion für das große
Bürgertum auch durch den Roman einen emotiona- Ganze. Gemäß der geschlechtsspezifischen Arbeits-
len Habitus, der in geschlechtsspezifischen Unter- teilung, die Männern die öffentliche Sphäre und
schieden entfaltet wird und es den Individuen ge- Frauen die Privatsphäre als hauptsächliche Aktions-
stattet, die Erfolge und Misserfolge der eigenverant- bereiche zuweist, sind die Frauen verantwortlich für
wortlichen Glückssuche zu verarbeiten. In diesem die Familiengefühle. Für diese Aufgabe müssen sie
Kontext stellen Glückserleben und Lebensglück eine sich einen emotionalen Habitus erarbeiten, der den
Beziehung her »zwischen positiven Lebensbedin- Verzicht auf eigene Ansprüche, die Bereitschaft zu
gungen und positivem subjektiven Befinden« (May- selbstloser Unterordnung und stillem Dienen mit
ring 1991, 92 f.). Aus den Familien- und Verhaltens- der Freude am Glück anderer verbindet, das zugleich
ratgebern, die ihre Leser in die Regeln bürgerlichen ihr Glück ist.
Alltagslebens einführen, lassen sich mit dem moral- Die seit dem 18. Jahrhundert und bis zum Ende
philosophischem, dem evangelikalen und dem ver- des 19. Jahrhunderts sowohl in England als auch den
haltensorientierten Paradigma drei Konstruktions- USA weit verbreiteten sentimentalen Romane und
anweisungen von Glück herausarbeiten, die sich das Genre des (gehobenen) Familienromans (An-
in vielfacher Brechung im Roman wiederfinden thony Trollope, Margaret Oliphant und Charlotte
(Gohrisch 2005, 61–164). Yonge sowie Louisa May Alcott und Elizabeth Stod-
Das moralphilosophische Paradigma (z. B. bei John dard in den USA) versorgt eine ständig wachsende
Stuart Mill; s. Kap. V.1) betrachtet in der Nachfolge weibliche Leserschaft mit immer neuen Anregungen
der Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts Glück für glücksförderndes Verhalten. Zugleich bieten sie
vom Standpunkt der Gesamtgesellschaft aus und be- den Leserinnen die Gelegenheit, ihre – von dieser
stimmt deren Wohlergehen als zentrale Dimension Norm abweichenden – Wünsche nach Selbstver-
individuellen Glücksstrebens. Im Glauben an die la- wirklichung wenigstens im Prozess der Lektüre aus-
tent vorhandenen, aber noch auszubildenden mora- zuleben. In den 1860er Jahren entwickelt sich in
lischen Gefühle des Individuums als einer Grund- Großbritannien mit dem Sensationsroman (Wilkie
lage gesellschaftlicher Bindung werden die Leser Collins, Mary Elizabeth Braddon) ein weiteres trivi-
angehalten, Dispositionen wie Nächstenliebe und alliterarisches Genre, das diesem Zweck durch spek-
Uneigennützigkeit auszuprägen. So legen die Werke takuläre Rollendurchbrechungen noch besser ge-
z. B. von Charles Dickens und George Eliot immer recht wird, die bürgerliche Geschlechterordnung
wieder die zerstörerischen Folgen egoistischer Ver- aber immer wieder herstellt. Wie in der Ratgeberlite-
haltensweisen bloß und entwerfen altruistische und ratur (Dinah Mulock Craik) so treten auch in den
damit potentiell glückliche Figuren, um die Leser zur Romanen (u. a. der Brontës) immer mehr selbstbe-
240 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

wusste berufstätige Frauen auf, die vom Ideal der tellosen Frau Wohlstand und damit soziale Ebenbür-
häuslichen Existenz abweichen. tigkeit. Während Emily Brontë (1818–1848) in Wu-
Am Jahrhundertende werden mit der (auch in fe- thering Heights (1847) die bürgerliche Norm der
ministischen Schriften präsenten) New Woman in Mäßigung von Leidenschaft (vgl. Stedman 2002)
England und den tatkräftigen Frauen der amerikani- verwirft und eine Liebe ins Zentrum ihres viel-
schen Regionalliteratur (Mary Wilkins Freeman, Sa- schichtigen Romans stellt, die in ihrer Unbedingtheit
rah Orne Jewett) sowohl der Zwang zur Selbstdiszi- (auch) an sozialen Schranken scheitert, bedient die
plinierung als auch die möglichen Alternativen dazu dritte Brontë-Schwester Anne (1820–1849) mit Ag-
kritisch hinterfragt. So beschreibt Kate Chopins nes Grey (1847) das moderierende evangelikale Pa-
(1850–1904) einst als Provokation empfundener, radigma. Sie interpretiert aber über die dargestellte
heute kanonischer Roman The Awakening (1899) Gefühlsarbeit den Verzicht auf Partnerliebe zugleich
das sinnliche und sexuelle Erwachen einer Frau, die als Quelle weiblichen Selbstbewusstseins, das einer
ihren Wunsch nach persönlicher Erfüllung und Berufstätigkeit ebenso dienlich ist wie einer gleich-
Glück weder als aufopferungsvolle Mutter noch als berechtigten Partnerschaft (mit der die Titelfigur
unabhängig-selbstbezogene Künstlerin verwirkli- schließlich belohnt wird).
chen kann. Thematisch und erzähltechnisch erin- Ein weltliches Konversionserlebnis schildert der
nert The Awakening an Flauberts Madame Bovary auktoriale, abwechselnd auf verschiedene Figuren
(1856/57; s. Kap. V.11), vermittelt jedoch ein zupa- fokussierte Erzähler in Charles Dickens’ (1812–1870)
ckenderes, handlungsorientiertes Bild der Frau. So Roman Dombey and Son (1846/48). Es bekehrt den
wählt Chopins Heldin bewusst den Freitod im Meer, hartherzigen und hochmütigen Geschäftsmann
das als mehrdeutiges Sinnbild von Leben und Zer- Dombey vom materiellen Gewinnstreben zu den
störung Teil jener impressionistischen Bildlichkeit immateriellen, auf gegenseitiger Zuneigung beru-
ist, über die der Text die Möglichkeiten weiblicher henden Familiengefühlen, wofür er allerdings seine
Selbsterfahrung auslotet. Firma und damit seine bürgerliche Existenz opfern
Am Anfang des 19. Jahrhunderts thematisieren muss. Der (in kontrastierenden Charakteren präsen-
Jane Austens (1775–1817) im Landadel und gehobe- tierte) weibliche emotionale Habitus schwankt zwi-
nen Bürgertum angesiedelte Romane exemplarisch schen Protest gegen und demütiger Unterwerfung
das Streben nach (weiblichem) persönlichem Glück, unter das Rollenideal. Eine ähnliche Handlungsfüh-
wobei erlebte Rede und Ironie sentimentalen Über- rung findet sich auch in dem Roman The Rise of Silas
schwang verhindern. Sense and Sensibility (1811), Lapham (1884/85) des Amerikaners William Dean
besonders aber Pride and Prejudice (1813) bieten ein Howells (1837–1920), der (mit an Austen geschulter
Modell vernunftgesteuerter Gefühlserziehung, das Komik) den Geschäftsmann jedoch deutlich ideali-
Glück in Liebe und – unaufdringlich unverzichtbar sierter zeigt als Dickens. William Makepeace Tha-
– in Wohlstand verortet. Die Spannung zwischen ckerays (1811–1863) Roman Vanity Fair. A Novel
Verlangen und Befriedigung erfreut bis heute Millio- without a Hero (1847/48) zieht die Gültigkeit der
nen (meist weiblicher) Zuschauer immer wieder bürgerlichen Glücksvorstellungen durch seine iro-
neuer Verfilmungen und Adaptionen dieses Textes; nisch-distanzierte Haltung in Zweifel, apostrophiert
zur Erscheinungszeit wurde er freilich nur von weni- seine Figuren als Marionetten und deren Suche nach
gen Gebildeten geschätzt. Charlotte Brontë (1816– Glück als ein Spiel mit vorher festgelegten Rollen.
1855) legt 1847 mit Jane Eyre einen weiteren ein- Alle für Frauen und Männer definierten Gefühlsdis-
flussreichen (ebenfalls wiederholt verfilmten) Ent- positionen werden ausgestellt, ohne jedoch ein Iden-
wurf weiblichen Glücks vor. Darin formuliert die tifikationsmodell anzubieten. Mit viel Sentiment
(zuvor durch Lektionen der Emotionskontrolle er- klagt Charles Dickens in seinem Industrieroman
zogene) Ich-Erzählerin ihren Anspruch auf Glück Hard Times (1854) den einst demokratisch gedach-
durch Liebe mit einer Leidenschaft, die dem bürger- ten Utilitarismus an, der aus seiner Sicht zu einem
lichen Frauenbild etwas von seiner selbstverleugnen- bloßen ökonomischen Kalkül geworden ist, nur ge-
den Unterordnung nimmt. Ehe die Liebe jedoch in fühlsfeindlichen Eigennutz hervorbringt und damit
eine glückliche Ehe münden kann, zügelt der Text Phantasie und Glücksempfinden unmöglich macht.
(durch dramatische Ereignisse) das potentiell erdrü-
ckende männliche (sexuelle) Begehren und verleiht
durch den günstigen Zufall einer Erbschaft der mit-
13. Figuren des Glücks im englischen und amerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts 241

Grenzen des bürgerlichen Glücks persönlichem Glück die amerikanische Literatur


durchzieht. Glück ist der weiblichen Hauptfigur in
In der gehobenen Trivialliteratur triumphiert der- Hawthornes Roman The Scarlet Letter nicht be-
weil der Mythos vom heroischen Aufstieg der Mittel- schieden, der mit seinen Elementen des Imaginären
klasse, versinnbildlicht in Dinah Mulock Craiks und Übernatürlichen dem Genre der romance zuge-
(1826–1887) internationalem Erfolgsroman John hört. Über die Geschichte eines Ehebruchs im Bos-
Halifax, Gentleman (1856), der in den 1850er und ton des 17. Jahrhunderts setzt sich der Autor mit
60er Jahren auf den amerikanischen Bestsellerlisten dem Erbe eines patriarchalischen und heuchleri-
an zweiter Stelle hinter Uncle Tom’s Cabin stand. John schen Puritanismus auseinander, der Glück (für die
Halifax ist der perfekte Selfmademan, der sich aus wahrhaft Gläubigen) nur im Leben nach dem Tod
einfachen Verhältnissen zum wohlhabenden Unter- für möglich hält, nicht aber in diesseitiger sinnlich-
nehmer hocharbeitet und eine glückliche Familie körperlicher Liebe. Wie schon in Catharine Sedg-
sein eigen nennt. Die zeitgenössischen Leser rezipie- wicks Hope Leslie (1827) wirken die Geschlechter-
ren den Roman als Lob des bürgerlichen Selbsthilfe- rollen, die die Texte trotz allem bestätigen, beson-
ideals und schätzen an ihm die neue, gefühlsorien- ders für die Frauen als erdrückend, aber auch die
tierte und damit für Lebensglück prädestinierte Ehe erscheint nicht als unbedingt notwendig für
Männlichkeit. Mit ihren zufriedenen Figuren bestä- weibliches Selbstwertgefühl und Glück.
tigt Craik die Zufriedenheit ihrer Leser mit den sie Wie Dickens in seinem düsteren Bleak House
umgebenden gesellschaftlichen Strukturen, Normen (1852/53) stellt George Eliot (1819–1880) in Middle-
und Werten. march (1871/72) die Gesellschaft als ein dicht ge-
In den 1850er Jahren erscheinen in den USA Har- knüpftes Netz gegenseitiger Abhängigkeiten dar, des-
riet Beecher Stowes (1811–1896) Weltbestseller sen Wahrnehmung die Chancen auf Erfüllung indi-
Uncle Tom’s Cabin (1851/52), Nathaniel Hawthornes vidueller Glücksansprüche entscheidend beeinflusst.
(1804–1864) The Scarlet Letter (1850) sowie Her- Der Text kontrastiert gelungene und misslungene
man Melvilles (1819–1891) monumentaler Walfän- Lebensentwürfe und rückt durch seine Fokalisie-
ger-Roman Moby Dick (1851), welcher das Bewusst- rungstechnik besonders die Psyche der Gescheiter-
sein einer schweren Krise der amerikanischen kul- ten in den Vordergrund. Glück entsteht für die weib-
turellen Werte an Schauplätzen fern der bürgerlichen liche Hauptfigur (und einige Nebenfiguren) aus dem
Gesellschaft verhandelt. Edgar Allan Poe (1809– Verzicht auf Unerreichbares, das folglich als nicht
1849) beleuchtet bereits in seinen ortlosen Erzäh- mehr wünschenswert gedeutet wird. Middlemarch
lungen der 1830er und 40er Jahre, in denen Glück ist der letzte große englische Roman, der individuel-
eine Leerstelle bildet, die psychisch-dunkle Kehr- les Glück und emotionale Ganzheitlichkeit als lebbar
seite materialistischer Fortschritts- und Aufstiegs- gestaltet, aber der melancholische Ton deutet die
gläubigkeit. In Uncle Tom’s Cabin, or, Life among the Wandlung dieses Erzählmusters bereits an. Der vor-
Lowly, das Züge des sentimentalen und des realisti- nehmlich in England und Europa lebende Amerika-
schen Romans, der Satire und Burleske trägt, ent- ner Henry James (1843–1916) entwickelt Eliots psy-
wirft Beecher Stowe im Dienst des Kampfes um die chologischen Realismus weiter und macht (wie sein
Abschaffung der Sklaverei ein evangelikal geprägtes berühmter Bruder William als Psychologe und Phi-
Bild eines treu ergebenen, duldsamen Schwarzen, losoph) die Darstellung des Bewusstseins zu seinem
der durch seine Konversion zur Gottesliebe innere eigentlichen Gegenstand. So nehmen die Leser sei-
Stärke und Heilsgewissheit gewinnt. Glücksstreben nes frühen Erfolgs The Portrait of a Lady (1880/81)
ist unter den Bedingungen der Sklaverei zwar un- die detailreiche, ereignisarme Welt der weiblichen
denkbar, aber die ausführlich dargestellten Famili- Hauptgestalt zunehmend aus deren Sicht wahr und
engefühle (die schon im Verweis auf Toms Hütte erkennen mit ihr das erstrebte Glück als Lebenslüge.
präsent sind) belegen die Menschlichkeit der Er- Der späte realistische Roman bestätigt hier ironisch-
niedrigten des Romanuntertitels. Schon seit den desillusioniert die dominanten Normen weiblicher
1840er Jahren fordern Schwarzamerikaner wie Fre- Emotionalität und macht zugleich die Grenzen des
derick Douglass (1817–1895) ihre Freiheit und Teil- Strebens nach Freiheit und persönlichem Glück in-
habe am American Dream ein, der, ausgehend von nerhalb der bürgerlichen Werte beiderseits des At-
der Unabhängigkeitserklärung, als literarischer To- lantiks sichtbar.
pos vom Aufstieg des Einzelnen zu Wohlstand und Werden in Howells’ (1837–1920) Roman A Haz-
242 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

ard of New Fortunes (1890), der die zerstörerischen Control in the Victorian Discourses on Emotions,
Folgen rasch erworbenen Reichtums im Amerika 1830–1872. Aldershot 2002.
der 1880er Jahre thematisiert, nur die Rücksichtslo- Zapf, Hubert (Hg.): Amerikanische Literaturgeschichte.
sen glücklich, so gelingt das in Hardys (1840–1928) Stuttgart/Weimar 22004.
The Mayor of Casterbridge (1886) lediglich den als Jana Gohrisch
durchschnittlich und leidenschaftslos geschilderten
Figuren; deren Liebe wirkt in dem Maße blass und
farblos, wie die unbedingte Emotionalität der männ-
lichen Titelfigur beeindruckt. Durch diesen Kontrast
mutet deren Forderung nach Zuneigung übertrieben
an, ist immer zur Unzeit am falschen Objekt ausge-
richtet und versinnbildlicht damit die unmöglich
gewordene Ganzheitlichkeit emotionalen Erlebens.
Hardys letzte Romane, Tess of the d’Urbervilles (1891)
und Jude the Obscure (1895) artikulieren den An-
spruch auf Selbstverwirklichung und (sexuelles)
Glück aus der Perspektive armer, am bürgerlichen
Aufstiegsideal orientierter Landbewohner und zei-
gen, wie dieser Anspruch an der unerbittlichen Wirk-
lichkeit scheitert.
Zum Jahrhundertende hin ist (auch in Stephen
Cranes naturalistischem Erstling Maggie, A Girl of
the Streets von 1893) Glück mehr als Erwartung prä-
sent denn als Erleben. Die (Nicht-) Erfüllung dieser
Erwartung hängt zunehmend nicht mehr vom Ein-
zelnen ab, sondern wird von Zufall (luck) und
Schicksal (fate) bestimmt, die dennoch als von Men-
schen gemacht erscheinen. Parallel dazu werden
happy endings, die normgerechtes Verhalten beloh-
nen, immer seltener, wendet sich die Handlung im-
mer häufiger zum Negativen, während die vielfach
angedeuteten verheißungsvollen Möglichkeiten
nicht realisiert werden. Wenn Glück als ein positives
Lebensgefühl Auskunft gibt über eine als positiv
wahrgenommene Realität, so signalisiert dessen
Leerstelle im Roman ein Problembewusstsein, das
zum einen auf die (nicht-fiktionalen) Konstruktio-
nen von Glück zurückwirkt und zum anderen auf
den veränderten Umgang der (Hoch-)Literatur mit
ihnen im 20. Jahrhundert hindeutet.

Literatur
Gohrisch, Jana: Bürgerliche Gefühlsdispositionen in der
englischen Prosa des 19. Jahrhunderts. Heidelberg
2005.
Mayring, Philipp: Psychologie des Glücks. Stuttgart/
Berlin/Köln 1991.
Seeber, Hans Ulrich (Hg.): Englische Literaturge-
schichte. Stuttgart/Weimar 42004.
Stedman, Gesa: Stemming the Torrent: Expression and
243

14. Figuren des Glücks Fehlendes Glück im frühen russischen


Roman
im russischen Roman
des 19. Jahrhunderts. Es ist bezeichnend, dass der erste ästhetisch eigen-
ständige Roman in der russischen Literatur den stol-
Utopie und Entsagung zen Untertitel »Roman in Versen« trägt. Aleksandr
Puškin (1799–1837) zeichnet in seinem Evgenij One-
gin (1821–1830) das Porträt eines gelangweilten
Der russische Roman des 19. Jahrhunderts themati- Dandys, der aus nichtigem Anlass seinen besten
siert im Wesentlichen die problematische Existenz Freund im Duell tötet und zu spät erkennt, dass er
des Individuums in der starren adligen Regelkultur. die Liebe eines Mädchens eigentlich erwidert. Glück
Ganz im Sinn von Hegels Definition des Romans ist für Onegin nicht zu haben, weil er ganz auf seine
steht hier die »Poesie des Herzens« der »Prosa der eigene Befindlichkeit konzentriert ist. Mit anderen
Verhältnisse« gegenüber (Hegel 1970, 393). Die Vor- Worten: Einen Ausgleich zwischen der Poesie des
aussetzungen für eine glückliche Existenz des Ein- Herzens und der Prosa der Verhältnisse kann es hier
zelnen in der Gesellschaft waren gerade in Russland gar nicht geben, weil Onegin alles Prosaische ganz
denkbar schlecht. Die russische Misere war sprich- ausblendet. Jeder Kompromiss mit der Wirklichkeit
wörtlich: Napoleons Feldzug von 1812 hatte weite erscheint aus Onegins Perspektive als drohende Ver-
Landstriche verwüstet, die dreißigjährige Regie- bürgerlichung seiner Existenz. Letztlich schildert
rungszeit von Zar Nikolaj I. (1796–1855) brachte Puškin in Evgenij Onegin nicht eine gescheiterte Lie-
eine strenge Disziplinierung von Kunst und Wissen- besbeziehung, sondern das Fehlschlagen eines ästhe-
schaft, die verspätete Abschaffung der Leibeigen- tisierten Lebensentwurfs. Konsequenterweise ist der
schaft im Jahr 1861 verwandelte die juristische Ab- Roman als Fragment komponiert: Ganze Kapitel
hängigkeit der Bauern nur in eine ökonomische. werden nur durch Auslassungspunkte markiert. Da-
1866 leitete ein Attentat auf Aleksandr II. (1818– bei bleibt die narrative Folgerichtigkeit des Plots
1881) eine prekäre Terrorepoche ein, die erst durch zwar gewährleistet, gleichzeitig signalisiert die Un-
den Ersten Weltkrieg beendet wurde. vollständigkeit der literarischen Ausarbeitung, dass
Die repressive Grundhaltung der russischen Re- sich eine Biographie mit rein poetischen Mitteln
gierung führte zu einer Verschiebung des Glücksdis- nicht sinnvoll konstruieren lässt (Ebbinghaus 2004,
kurses von der Philosophie auf die Literatur. Russi- 95–258).
sche Denker hatten sich darüber gestritten, ob die Auch Michail Lermontovs (1814–1841) Ein Held
Gesellschaft nach den Prinzipien westlicher Ratio- unserer Zeit (1841) kann nur bedingt als Roman gel-
nalität oder orthodoxer Spiritualität organisiert wer- ten. Der Text setzt sich zusammen aus sechs Novel-
den sollte. Die philosophischen Lehrstühle in Russ- len, die nur lose durch die Figur des dämonischen
land waren immer wieder den Übergriffen eines Protagonisten Pečorin zusammengehalten werden.
konservativen Obskurantismus ausgesetzt; nach den Puškins und Lermontovs Helden sind in der russi-
europäischen Revolutionen von 1848 wurde die uni- schen Literatur zu Prototypen des sogenannten
versitäre Philosophie für fünfzehn Jahre ganz verbo- ›überflüssigen Menschen‹ geworden. Sie empfinden
ten. Die Debatten über persönliche Ethik, Gesell- zwar ein deutliches Ungenügen an der Gesellschaft
schaftsstrukturen und das Verhältnis von individuel- und an ihrer eigenen Lebensführung, bleiben aber in
lem und allgemeinem Glück wurden deshalb nicht der starren Konvention des militärischen Ehrenko-
in theoretischen Abhandlungen, sondern vor allem dex und in der romantischen Gefühlsmaximierung
im literarischen Genre des Romans geführt, der im stecken (Chances 1978).
19. Jahrhundert innerhalb von wenigen Jahrzehnten Nikolaj Gogol’s (1809–1852) Hauptwerk Die toten
zum Leitmedium der Selbstreflexion der russischen Seelen (1842) wird oft fälschlich als Roman bezeich-
Kultur aufstieg. net, dabei hat der Autor bewusst die Genrebezeich-
nung »Poem« als Untertitel gesetzt. Die Handlung
beschreibt zwar vordergründig die Fahrt eines Be-
trügers durch die russische Provinz, die Komposi-
tion macht aber deutlich, dass man es hier mit einer
allegorischen Reise durch die verderblichen Leiden-
244 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

schaften der Menschen wie Wollust, Neid, Zorn, hat Gončarov seinem Roman eine retrograde
Herrschsucht und Geiz zu tun hat (Heftrich 2004, Glücksvision eingeschrieben, die als einziges der
131–176). Interessanterweise hat Gogol’ versucht, ei- sonst nur durchnummerierten Kapitel eine Über-
nen zweiten Teil zu verfassen, in dem ein positiver schrift trägt: »Oblomovs Traum«. Der Protagonist
Held auftritt. Die Heilsgestalt trägt den türkischen träumt von seiner eigenen Kindheit in einem locus
Namen Kostanžoglo – damit zeigt Gogol’ an, dass er amoenus, wo sogar die Natur ihre Gefährlichkeit ab-
den Russen eine solche Erleuchtung noch nicht zu- gelegt hat. Jeder Tag ist von reichen Gaben erfüllt, die
traut. Das Gute kommt von außen; es muss nur er- Zeit bringt keinen Fortschritt, sondern wiederholt
kannt und akzeptiert werden. Allerdings fiel dieser das märchenhafte, ländliche Glück unentwegt. Das
Text bis auf wenige Kapitel einem Autodafé zum Op- Alte, Bekannte ist das Gute, das Neue kann sich gar
fer. Wahrscheinlich hatte Gogol’ erkannt, dass sich nicht im gewohnten Lauf der Dinge festsetzen.
der entlarvende Furor des ersten Teils nicht ohne Es ist allerdings bezeichnend, dass der Roman
Weiteres in eine positive Vision umwandeln ließ seine Ausgangsdichotomie selbst problematisiert.
(Gerigk 2007). »Oblomovs Traum« ist ganz im Modus des Irrealis
beschrieben; aber auch alternative Glücksentwürfe
Kritische Gesellschaftsromane wie wirtschaftlicher Erfolg oder glänzende Karrieren
im bürokratischen Apparat werden diskreditiert. Das
Der kritische Gesellschaftsroman etabliert sich in Wertdilemma des Romans lässt sich auf folgende
Russland erst gegen Mitte des Jahrhunderts. Am An- Formel bringen: Das idyllische Glück der unbe-
fang dieser Tradition stehen Ivan Gončarovs (1812– schwerten ländlichen Existenz ist hoffnungslos ver-
1891) Alltägliche Geschichte (1847) und Aleksandr loren, das moderne Glück der Integration in die
Gercens (1812–1870) Wer ist schuld? (1847). Wäh- neuen gesellschaftlichen Prestigebereiche hingegen
rend Glück bei Puškin, Lermontov und Gogol’ über- ist nicht wünschbar. Einen Ausweg gibt es nicht: Der
haupt nicht als eigene Kategorie auftaucht, wird es Protagonist versinkt in Apathie und richtet sich sein
hier wenigstens in der Negation erkennbar. Gončarov Leben so bequem wie möglich ein, »wenn auch ohne
und Gercen schildern das Scheitern ihrer Helden, Poesie, ohne jene Strahlen, in die damals seine Phan-
die ihren Lebensweg zwar mit den besten Absichten tasie den breit angelegten, herrschaftlichen, sorglo-
beginnen, sich dann aber in die starre herrschende sen Ablauf seines Lebens auf dem heimatlichen Gut
Ordnung einfügen müssen. inmitten der Bauern und des Hofgesindes getaucht
Besonders deutlich zeigt sich dieser fortschrei- hatte« (688). Eine Lösung wird erst für die nächste
tende Verlust des Lebensglücks in Gončarovs zwei- Generation in Aussicht gestellt: Oblomovs Sohn er-
tem Roman Oblomov (1859). Der Held erscheint auf hält bei dem tüchtigen Freund des Vaters eine euro-
den ersten Blick als Verkörperung der russischen Le- päische Erziehung und wird seine positive Charak-
thargie und ist den Anforderungen einer ökonomi- teranlagen mit einer neuen Tätigkeit verbinden.
sierten Realität nicht gewachsen. Oblomov träumt Ein ähnliches Glücksdilemma präsentiert Nikolaj
von einem idyllischen Leben, das mit einem mor- Pomjalovskij (1835–1863) in dem Doppelroman
gendlichen Spaziergang beginnt, gefolgt von einem Kleinbürgerglück und Molotov (1861). Sein Prot-
Frühstück mit »Kringeln, Sahne und frischer But- agonist sucht im ersten Teil nach sozialer Gerechtig-
ter«. Dann macht man sich zu einer Lustfahrt mit keit, bescheidet sich dann aber im zweiten Teil mit
der Gemahlin auf dem Fluss auf, empfängt am Abend einem Privatglück in trauter Zweisamkeit. Si-
liebe Gäste, dazu gehören »Bratpfannen voller Pilze gnifikant sind die Epiloge der beiden Romanhälften,
und Koteletts«, anschließend unbedingt »Mokka in denen sich der Autor direkt an seine Leser wendet:
und Havanas«. Der ideale Tag klingt dann mit Musik »Und wo ist nun das Glück? wird der Leser fragen.
aus, der Arie »Casta Diva« aus Bellinis Oper Der Titel verheißt doch Glück!«. Der Autor antwor-
»Norma«. Oblomov beschreibt das Glück gerade als tet: »Es liegt vor uns, liebe Leser. Das Glück liegt im-
diametrales Gegenstück zu den Gratifikationen der mer vor uns – das ist ein Naturgesetz« (1861/1981,
modernen Zivilisation: »Man würde keine Sorge 113). Der zweite Teil endet pathetisch mit der Umar-
kennen, nichts von Senat, Börse, Aktien, Meldungen, mung des Liebespaars, das sich endlich gefunden
Ministerempfängen, Rängen, Spesenzulagen hören. hat. Der Autor fügt lapidar hinzu: »Damit wäre das
Alle Gespräche würden der Seele entspringen!« Kleinbürgerglück zu Ende. Tja, meine Herrschaften,
(Gontscharow 1859/1981, 142). Konsequenterweise es hat etwas Fades …« (1861/1981, 302). Der Rück-
14. Figuren des Glücks im russischen Roman des 19. Jahrhunderts. Utopie und Entsagung 245

zug ins Private steht mithin in der Werthierarchie nen Willen durchzusetzen. Das Ideal menschlichen
dieser Romane keineswegs an erster Stelle. Glücks erblickt Dostoevskij in Claude Lorrains idyl-
Glück wird in der russischen Literatur also nicht lischem Gemälde »Acis und Galathea«, das er in der
als Erfüllung, sondern entweder als Utopie oder als Gemäldegalerie Dresden mehrmals bewundert hatte.
Entsagung konzeptualisiert. Als berühmtestes Bei- Im Roman Die bösen Geister (1873) bildet dieses Bild
spiel für die erste Spielart lässt sich Fedor Dostoevs- schließlich den Ausgangspunkt für eine Glücksvi-
kijs (1821–1881) Erzählung Traum eines lächerlichen sion, die den »Traum eines lächerlichen Menschen«
Menschen (1877) anführen. Geschildert wird die präfiguriert.
Traumvision eines Paradieses, in dem sündenfreie Die zweite Spielart – Glück als Entsagung – hat
Menschen leben: »Sie waren ausgelassen und fröh- Ivan Turgenev (1818–1883) in seinen frühen Roma-
lich wie Kinder. Sie schweiften in ihren schönen Hai- nen gestaltet. Hier leuchtet das Glück zwar am Hori-
nen und Wäldern umher; sie sangen ihre schönen zont auf, es verschwindet aber wieder und bleibt nur
Lieder; sie nährten sich von leichter Kost, von den noch als dunkle Ahnung von etwas Vergangenem im
Früchten ihrer Bäume, dem Honig ihrer Wälder und Bewusstsein der Handlungsfiguren. In Rudin (1855)
der Milch der sie liebenden Tiere. Für ihre Nahrung und Ein Adelsnest (1859) kann das Glück nicht in-
und für ihre Kleidung wendeten sie nur wenig und stalliert werden, weil es gleichzeitig sowohl für das
nur leichte Arbeit auf. Es gab bei ihnen Liebe, und es eigene Leben als auch für die Allgemeinheit herbei-
wurden Kinder geboren; aber niemals bemerkte ich gesehnt wird. Die Einrichtung des schönen Liebes-
bei ihnen Ausbrüche jener grausamen Wollust, die paars in einer gerechten Gesellschaftsordnung er-
fast allen Menschen auf unserer Erde eigen ist, allen weist sich in beiden Romanen als hoffnungsloses
und jedem, und die die einzige Quelle fast aller Sün- Unternehmen. Mehr noch: Gerade Turgenevs männ-
den unserer Menschheit ist« (Dostojewski 1877/1986, liche Protagonisten scheitern bereits bei der Durch-
346). Das durchaus infantile Glück der Paradiesbe- setzung ihrer privaten Liebesbeziehung gegen fami-
wohner wird jedoch durch das Eindringen von Wis- liäre Widerstände und flüchten sich in tragische Rol-
senschaft und Reflexion zerstört. Das Glück löst sich lenmodelle, in denen sie entweder in einem sinnlosen
gerade dadurch auf, dass man darüber nachsinnt, wie Heldentum untergehen oder in mönchischer Ein-
es zu erreichen sei. Die naiven Glückseligen werden samkeit dahinvegetieren (Moleva 2008).
zu unglücklichen Theoretikern: »Das Wissen steht
höher als das Gefühl, die Erkenntnis des Lebens steht Religion und Natur im Roman
höher als das Leben. Die Wissenschaft wird uns all-
wissend machen; die Allwissenheit wird die Gesetze Die narrativen Erklärungsversuche des russischen
aufdecken; die Kenntnis der Gesetze des Glückes Romans richten sich also nicht so sehr auf die Beant-
aber steht höher als das Glück« (Dostojewski 1877/ wortung der Frage, wie Glück erreicht werden könne,
1986, 351). sondern wie ein potenziell bereits vorhandenes
Damit findet Dostoevskij die kürzeste Formel für Glück zu erkennen und zu bewahren sei. Dabei spielt
die Verfehlungen der modernen Zivilisation, die er vor allem die Religion eine wichtige Rolle, die im
vor allem in Gestalt des Kristallpalastes der Londo- Spätwerk einiger Autoren sogar ins Zentrum der li-
ner Weltausstellung verdammt. Dieses gigantische terarischen Wahrheitsentwürfe rückt.
Spiegellabyrinth könne nur der Phantasie des euro- Fedor Dostoevskij hat seine großen Romane, die
päischen Kleinbürgers entspringen, dessen höchste nach seiner sibirischen Verbannung entstanden sind,
Ziele Gewinnmaximierung, small talk, Tourismus als umfassende Diagnose der russischen Misere an-
und eine biedere Naturanbetung seien (1861/1976, gelegt. Alle Romane spielen in der Gegenwart ihrer
85). Implizit polemisiert Dostoevskij gegen die me- Entstehungszeit und skizzieren das falsche Verhalten
chanistischen Glücksvorstellungen von Nikolaj der russischen Gesellschaft angesichts der Wieder-
Černyševskij (1828–1889), der in seinem Roman kunft Christi, die nach Dostoevskijs Überzeugung
Was tun? (1863) behauptet hatte, der Mensch sei fä- unbedingt in Russland erfolgen müsse und auch
hig, sein Glück rational zu erkennen, es zu wollen unmittelbar bevorstehe (Gerigk 2003). Rodion
und es auch ins Werk zu setzen. In seinen Aufzeich- Raskol’nikov, der mörderische Protagonist aus Ver-
nungen aus dem Untergrund (1864) hatte Dostoevs- brechen und Strafe (1866), ist kein Bösewicht, son-
kij beschrieben, wie der Mensch oft wider besseres dern eine nationale Lichtgestalt, die durch verderbli-
Wissen sein Unglück wähle, nur um seinen eige- che Theorien vom Pfad des rechten Lebens abge-
246 V. Glück im 18. und 19. Jahrhundert

kommen ist. Er vergöttert Lykurg, Solon, Napoleon, schönheit und der elementaren Bedrohung durch
die sich mit ihren ambitiösen Projekten gerade über den Krieg mit den Tschetschenen ein intensives
die geltenden Gesetze hinweggesetzt und damit eine Glückserlebnis.
neue Rechtsordnung geschaffen haben. Wichtig ist Die Begegnung mit der Natur wird bis in Tolstojs
dabei für die symbolische Kodierung von Dostoevs- Spätwerk hinein ein wichtiger Ort des Glücks blei-
kijs Axiologie, dass es sich bei Raskol’nikovs falschen ben. In den 1860er Jahren kommt als neuer, zumin-
Vorbildern ausschließlich um Ausländer handelt. dest ersehnter Schauplatz das Eheleben hinzu. Im
Genauso zweifelhaft wie der europäische Weg zur Kurzroman Familienglück (1859) taucht das Thema
Herrschaft ist auch der Genuss, der sich auf dem bereits im Titel auf; ebenso wichtig sind in diesem
Gipfel der Macht einstellt. Raskol’nikovs Tat bleibt Zusammenhang aber auch zentrale Handlungslinien
zwar unentdeckt, aber das erhoffte Bewusstsein der aus den großen Romanen Krieg und Frieden (1869)
eigenen Überlegenheit bleibt aus. Raskol’nikov irrt und Anna Karenina (1878). Familienglück zeigt ge-
halluzinierend durch St. Petersburg und gesteht wissermaßen die Dialektik der Paarbeziehung, wie
schließlich ohne äußere Not den Mord. Zwar folgt sie sich aus Tolstojs Sicht präsentiert: Eine junge
ihm die Geliebte Sonja in die sibirische Verbannung, Ehefrau kann das ländliche Dasein auf dem Gut ih-
allerdings findet die Schilderung ihrer Zweisamkeit res Mannes erst schätzen, nachdem sie beinahe den
keinen Platz im Wertsystem des Romans. Der be- Verlockungen der adligen Hofgesellschaft erlegen ist.
rühmte, oft auch als zu pathetisch kritisierte letzte Glück erscheint in diesem Bildungsroman zunächst
Absatz lautet: »Aber hier beginnt eine neue Ge- als unbestimmte Erwartung (»Was kann ich dazu,
schichte, die Geschichte der allmählichen Erneue- dass ich glücklich bin? Wie kann ich mein Glück tei-
rung eines Menschen, die Geschichte seiner allmäh- len, wie und wem kann ich mich und mein Glück
lichen Wiedergeburt, des allmählichen Übergangs ganz hingeben?«, Tolstoi 1859/2004, 42). Glück ist
aus einer Welt in eine andere, der Entdeckung einer zunächst Leidenschaft, die nach außen drängt und
neuen, bisher gänzlich ungekannten Wirklichkeit. dadurch den Menschen mitreißt. Allerdings zerstört
Das könnte das Thema der neuen Geschichte wer- der impulsive Versuch, die leidenschaftliche Glücks-
den – aber unsere jetzige Geschichte ist zu Ende« erwartung ins Werk zu setzen, das Glück selbst. Im
(Dostojewski 1866/1994, 745). Höher als das private Roman Familienglück gelingt die Verwandlung von
Glück steht in Verbrechen und Strafe die Einsicht in Leidenschaft in Selbstbescheidung: »Das alte Gefühl
die Falschheit westlicher Gesellschaftsordnungen, wurde zu einer teuren, unwiederbringlichen Erinne-
die auch eine Abwertung der bürgerlichen Ehe ein- rung, und ein neues Gefühl der Liebe zu den Kin-
schließt. Deshalb wird bei Dostoevskij ganz im Ge- dern und zum Vater meiner Kinder begründete ein
gensatz zu Tolstoj auch nicht geheiratet. Liebe zeigt anderes, aber auf ganz andere Weise glückliches Le-
sich entweder als weibliches Mitleiden mit dem tra- ben« (178). In der Handlungskonstruktion des Ro-
gischen männlichen Helden oder als hysterischer mans Familienglück kündigt sich bereits der morali-
amour fou. Auch alternative glücksträchtige Güter sche Rigorismus des späten Tolstoj an: Jeder Mensch
wie Geld oder Macht werden von Dostoevskij radi- ist den verderblichen Leidenschaften ausgesetzt; nur
kal abgewertet. Den Roman Idiot (1868–69) kann durch strenge Selbstdisziplinierung und Askese kann
man nachgerade als narrative Diskreditierung der man sich vor den Gefahren eines aufgewühlten Ge-
verderblichen Glückssysteme lesen, die mit der reli- fühlslebens retten.
giösen Erlösung konkurrieren. Die Russen jagen hier Eine ähnliche Lösung präsentiert das Romanepos
der erotischen Leidenschaft, der Herrschaftssucht Krieg und Frieden. Der Sucher und Zweifler Pierre
oder dem Mammon nach und bleiben darüber blind Bezuchov und die positive weibliche Hauptfigur
für den wahren Retter, der bereits gekommen ist, Nataša Rostova führen am Ende eine erfüllte Ehe.
aber nicht erkannt wird. Der ganze Epilog ist durchzogen von einem Windel-
Vielleicht am prominentesten kommt das geruch, der das Versprechen des ursprünglich vorge-
Glücksthema bei Lev Tolstoj (1828–1910) vor. Einen sehenen Titels »Ende gut, alles gut« einlösen könnte
zentralen Ort nehmen Überlegungen zum menschli- – Tolstoj weist in seiner Vorliebe für Konkretes sogar
chen Glück im frühen Kurzroman Die Kosaken auf die Farbe des Windelinhalts hin (Tolstoi
(1863) ein. Der Protagonist ist ein typisch russischer 1869/2005, 1526).
Dandy, der aus dem Moskauer Leben in den Kauka- Tolstoj modifiziert seine eigene Glückskonzeption
sus entflieht. Dort erfährt er in der herben Natur- im Jahr 1869 durch eine intensive Schopenhauer-Re-
14. Figuren des Glücks im russischen Roman des 19. Jahrhunderts. Utopie und Entsagung 247

zeption. Das Leben wird nun auch für Tolstoj zum Literatur
Jammertal, in dem der Mensch zwischen Sehnsucht
Chances, Ellen: Conformity’s children. An Approach to
und Langeweile schwankt: Entweder ist das Ge-
the Superfluous Man in Russian Literature. Colum-
wünschte nicht da oder es verliert schnell den Reiz
bus 1978.
des Neuen. In seiner Beichte (1882) wiederholt Tols- Dostojewski, Fjodor: Über Literatur [1861]. Leipzig
toj Schopenhauers Mantra des unglückseligen Le- 1976.
bens: »Glücklich, wer nicht geboren ist. Der Tod ist –: Verbrechen und Strafe [1866]. Zürich 1994.
besser als das Leben; man muss sich von diesem be- –: Der Traum eines lächerlichen Menschen und andere
freien« (1882/1990, 69). Erzählungen [1877]. Frankfurt a. M. 1986.
Unter dem Eindruck von Schopenhauer wendet –: Tagebuch eines Schriftstellers [1876–1881]. Berlin
sich Tolstoj dann auch vom Optimismus des Romans 2003.
Familienglück ab. Anna Karenina geht zwar von der Ebbinghaus, Andreas: Puškin und Russland. Zur künst-
gleichen Grundkonstellation aus, endet aber nicht lerischen Biographie des Dichters. Wiesbaden 2004.
im Happy End, sondern in der Katastrophe. In die- Gerigk, Horst-Jürgen: Nikolaj Gogol’: Mertvye duši (Die
sem Roman stellt Tolstoj dem leidenschaftlichen toten Seelen). In: Bodo Zelinsky (Hg.): Der russische
Eros der Titelheldin die ruhige Agapè des zweiten Roman. Köln 2007, 117–129.
Handlungsstrangs gegenüber. Zwar verspricht das –: Das Russland-Bild in den fünf großen Romanen
Eheleben Erfüllung vieler Lebenswünsche, gleich- Dostojewskijs. In: Uta Gerhardt (Hg.): Zeitperspekti-
wohl erscheint aber die Leidenschaft trotz oder viel- ven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus
leicht gerade wegen ihrer Gefährlichkeit als das ei- der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Litera-
gentlich authentische Liebesglück. Der erste Satz die- turwissenschaft. Stuttgart 2003, 49–79.
Gontscharow, Iwan: Oblomow [1859]. Frankfurt a. M.
ses Romans ist zugleich sein berühmtester: »Alle
1981.
glücklichen Familien ähneln einander; jede unglück-
Heftrich, Urs: Gogol’s Schuld und Sühne. Versuch einer
liche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich«
Deutung des Romans »Die toten Seelen«. Hürtgen-
(1878/1994, 7). Darin kommt Tolstojs Auffassung
wald 2004.
zum Ausdruck, dass Glück letztlich Monotonie be- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die
deutet, im Unglück aber dramatische Entwicklungs- Ästhetik III. Werke in 20 Bänden. Bd. 15. Frankfurt
möglichkeiten angelegt sind. Genau diese Besonder- a. M. 1970.
heit veranlasste auch Vladimir Nabokov, den ersten Moleva, Nina: Prizrak Viardo. Nesostojavšeesja sčast’e
Satz aus Anna Karenina an den Anfang seines In- Ivana Turgeneva. Moskau 2008.
zestromans Ada (1969/1985) zu stellen. Nabokov, Vladimir: Ada oder Das Verlangen [1969].
Der russische Roman des 19. Jahrhunderts ent- Reinbek 1985.
wirft also Glück als strahlende Erwartung, die aber Pomjalowski, Nikolai: Kleinbürgerglück. Molotow
sogleich entwertet wird, sobald sie verwirklicht wird. [1861]. Berlin 1981.
Zwar enden einige Texte auf einer optimistischen Tolstoi, Leo: Familienglück [1859]. Roman. Zürich
Note; es ist aber bezeichnend, dass das erreichte 2004.
Glück nur benannt, aber nicht beschrieben werden –: Krieg und Frieden [1869]. München 2005.
kann. Wenn das Glück da ist, wird es entweder nicht –: Anna Karenina [1878]. München 1994.
erkannt oder nicht geschätzt. Letztlich gilt für die –: Meine Beichte [1882]. München 1990.
meisten Autoren, was Dostoevskij für sich in An- Ulrich Schmid
spruch genommen hat: »Je suis un homme heureux
qui n’a pas l’air content« – »Ich bin ein glücklicher
Mensch, der aber unzufrieden aussieht« (Dostojewski
1876–1881/2003, 87).
249

VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

1. Glück in der klassischen zu ermöglichen, während die Glückssoziologen häu-


fig das Elend ausklammern, um die Zufriedenheit
Soziologie. Eine Disziplin ausgewählter Gruppen zum allgemeinen Zustand
zwischen Optimismus, des modernen Menschen zu erheben. Das Glück
wird von den Glückssoziologen im Sinne Schulzes
Kritik und Distanz beschränkt auf das subjektive Glücksempfinden be-
stimmter sozialer Gruppen, während die Elendsso-
ziologen das Glück negativ, als das verstellte Glück
Abhandlungen über das Glück sind in der klassi- oder das noch nicht erreichte bzw. unerreichbare
schen Soziologie selten. Darin kamen auf einer Ta- Glück thematisieren. Dabei wird indirekt auf das
gung, die 1996 über Glücksvorstellungen. Ein Rück- wahre Glück und/oder das Glück aller Bezug genom-
griff in die Geschichte der Soziologie stattfand, fast alle men. In dieser Hinsicht können fast alle Soziologen
Teilnehmer überein (Bellebaum/Barheier 1997). Es als Glückssoziologen gelten, der Unterschied besteht
wird deswegen über die Geschichte des Glücksbe- nur darin, was unter ›Glück‹ verstanden wird und
griffes in der Soziologie als von der »Geschichte sei- wie man sich darauf bezieht: ob positiv oder negativ,
ner zunehmenden Irrelevanz« (Göbel 1997, 106) ge- ob engagiert oder distanziert. Die folgende Darstel-
sprochen oder davon, dass Glück eher als Anathema lung verfolgt die Strategie, einige Klassiker der So-
denn als Thema galt (Zingerle 1997, 131). Trotz die- ziologie verschiedenen Idealtypen zuzuordnen, mit
ser Enthaltsamkeit der klassischen Soziologie kann der bekannten Warnung, dass durch diese Zuord-
der Versuch unternommen werden, das Glück zu ei- nungen Simplifizierungen in Kauf genommen wer-
nem zentralen Gegenstand der Soziologie zu erhe- den müssen.
ben, wenn man nicht den Anspruch hat, explizite Ab- In der Tradition der Aufklärung stellten sich ei-
handlungen darüber zu finden. Die Frage ist also: nige Soziologen zum Beginn dieser Disziplin die
Wie haben die Klassiker der Soziologie das Glück Aufgabe, durch wissenschaftlichen Erkenntnisge-
thematisiert, ohne es explizit zum Forschungsgegen- winn das Unglück aller Menschen (Armut, Unwis-
stand zu machen? senheit und Krankheiten) zu beseitigen. Die Soziolo-
gie wurde als eine Wissenschaft angesehen, die durch
Glückssoziologen und Elendssoziologen? wissenschaftliche Analyse Erklärungen liefert und
darauf basierend Vorschläge macht, um den Zustand
Der Soziologe der Erlebnisgesellschaft Gerhard der Gesellschaft zu verbessern. Die Soziologie ent-
Schulze hat in einer Erwiderung an seine Kritiker stand als eine neue wissenschaftliche Disziplin mit
geschrieben, dass die meisten Soziologen sich mit einer politischen und sozialen Mission. Die Klassi-
dem »Elend der Welt« befassten (vgl. Bourdieu ker der Soziologie waren sich über die Bestimmung
1993/1997), während nur wenige das Glück zu ihrem ihrer Disziplin aber nicht immer einig. Während ei-
Thema machten (Schulze 2005, VI, XVII). Er habe nige die soziale und politische Mission der Soziolo-
sich mit dem Glück in der modernen Wohlfahrtsge- gie stark machten, plädierten andere dafür, die So-
sellschaft auseinandersetzen wollen, und genau das ziologie als eine wertfreie Wissenschaft auszuüben,
hätten ihm seine Kritiker, die Elendssoziologen, übel die sich zugunsten ihrer neutralen wissenschaftli-
genommen. Nach Schulzes Argumentation ist zwi- chen Analyse keine Bewertung und keine missiona-
schen Glücks- und Elendssoziologien zu unterschei- rische Aufgabe vornehmen solle. Die Konsequenzen
den. Diese Unterscheidung kann aber relativiert wer- sollten die gesellschaftlichen Akteure selber ziehen
den, wenn man bemerkt, dass die Elendssoziologen (Weber 1917/1991). Herbert Spencer (1820–1903)
dieses Elend oft nur deswegen beschreiben, um es zum Beispiel strebte nach einer Soziologie, die als
aus der Welt räumen zu können und dadurch Glück Wissenschaft die Evolution der Gesellschaft erklären
250 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

sollte, ohne aber in die politische Praxis einzugrei- Wünsche der Menschen, die zu einem kranken Zu-
fen. Er vertrat eine liberale laissez faire-Philosophie, stand von Unersättlichkeit führten (Durkheim
nämlich die Einstellung, dass die Gesellschaft als ein 1925/1973, 93; 1897/1973, 281; vor allem aber in
selbstregulatives System nach Naturgesetzen ver- 1893/1992, 2. Buch). Das »Kollektivbewusstsein«
laufe, die nicht vom Menschen beeinflusst werden gebe den Menschen Halt in ihren Wünschen, aber
sollen. Nach Spencers Utilitarismus (s. Kap. V.1) wenn es an seiner disziplinierenden Kraft verliere,
strebt der Mensch nach Glücksmaximierung, doch dann werde den menschlichen Begierden und Lei-
solle jeder einzeln nach seinen Möglichkeiten seine denschaften kein Halt mehr gegeben und es entstehe
Wünsche verwirklichen, ohne dass die Soziologie eine ständige Qual der Frustration. Durkheim war
oder andere Instanzen eingreifen dürften. Andere der Meinung, dass das wirtschaftliche Leben in der
Soziologen seiner Zeit versprachen sich aber von der modernen Gesellschaft eine übertriebene, fieber-
Soziologie eine soziale und politische Relevanz, zum hafte Betriebsamkeit ausgelöst habe, die sich dann
Beispiel als eine Kontrollinstanz gegen die übertrie- auf alle übrigen Sektoren ausgedehnt hätte (Durk-
benen Wünsche des modernen Menschen, und von heim 1897/1973, 292 f.). Die Unersättlichkeit und
staatlicher Seite wurde die frühe Soziologie durchaus ständige Unzufriedenheit verstand er als Krankheits-
als Kontrollinstanz wahrgenommen und gefördert symptom, das sich in eine totale »Anomie« verwan-
(Wagner 1990). deln könne, in einen Zustand übertriebener Angst
und Unzufriedenheit aufgrund fehlender sozialer
Auguste Comte und Emile Durkheim: Normen. Den Selbstmord, dem Durkheim 1897
seine berühmte soziologische Studie widmete, er-
Glücksfindung durch die Soziologie
kannte er als extreme Konsequenz dieser Anomie
Der Vater der Soziologie und Vertreter des Positivis- (296). Die Soziologie sollte für Durkheim durch wis-
mus Auguste Comte (1798–1857) war der Meinung, senschaftliche Untersuchungen diese Umstände ana-
dass die Wissenschaft nicht nur eine erklärende lysieren und dabei versuchen, den Menschen neue
Funktion habe, sondern den Menschen durch die Gewissheiten zu vermitteln, an denen nicht gezwei-
Erklärung auch die Glücksfindung ermögliche. Mit felt werden könne, um damit das Glück in der mo-
seiner physique sociale wollte er der modernen Ge- dernen Gesellschaft zu ermöglichen.
sellschaft, die sich für Comte seit der Französischen
Revolution in einem anarchistischen Zustand be-
fand, zur Heilung verhelfen (Comte 1830–43/1969, Karl Marx: Das falsche Glück als »Opium
44). Aus Comtes Sicht konnte dem Menschen das des Volkes« und das richtige Glück
Glück nur in einer neuen Ordnung zuteil werden – in der kommunistischen Gesellschaft
einer Ordnung, die Stabilität vermittelt und gleich-
zeitig die Möglichkeit eröffnet, die eigene Spon- Zwar verstand sich Karl Marx (1818–1883; s. Kap.
taneität zu entwickeln. Die neue Wissenschaft der V.5), wie nach ihm auch Max Weber, Vilfredo Pareto
Soziologie sollte klären, in welchen Bereichen Not- oder Werner Sombart, wissenschaftlich vorwiegend
wendigkeiten herrschen und in welchen Feldern als politischer Ökonom, doch vermittelte sein Werk
Modifizierungen möglich sind. Dem Menschen der Soziologie bedeutende Einsichten in die Struktur
wurde das Glück demnach durch ein freies und rati- und Dynamik moderner Gesellschaften. Auch er sah
onales Bejahen eines Weltgesetzes zuteil – ein Glück die Sozialwissenschaften mit einer missionarischen
also, das hauptsächlich durch ein Resignieren, resi- Aufgabe verknüpft. Im Unterschied aber zu Comte
gnation positive (Plé 1997, 50), gegenüber den Not- und Durkheim beabsichtigte Marx, die versteckten
wendigkeiten erreicht wird. Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft kri-
Auch Émile Durkheim (1858–1917) sah die Auf- tisch zu hinterfragen, um die moderne Gesellschaft
gabe der Soziologie darin, die Gesetzmäßigkeiten zu nicht zu stabilisieren, sondern durch ihr revolutionä-
erkennen, denen die Gesellschaften unterliegen, und res Sprengen eine neue Gesellschaft möglich zu ma-
auf diese Weise den Menschen zu helfen, durch die chen. Marx’ Theorie und Gesellschaftsanalysen führ-
Erkenntnis ihrer sozialen Umwelt in dieser glücklich ten daher zu einer anderen Soziologie, welche auf
zu werden bzw. sich ihr freiwillig unterzuordnen (s. Kritik und Emanzipation aufbaut (s. Kap. VI.7).
Kap. II.9). Quelle des Unglücks in der modernen Ge- Marx’ politische Ökonomie war verknüpft mit einer
sellschaft waren nach Durkheim die unbegrenzten Theorie des sozialen Wandels, nach der die Ge-
1. Glück in der klassischen Soziologie. Eine Disziplin zwischen Optimismus, Kritik und Distanz 251

schichte bestimmte Etappen durchläuft, getrieben zu demaskieren, welche die Menschen blenden, das
von einem Klassenkampf, der zu immer neuen Re- richtige Glück nicht erfassen lassen bzw. nur einigen,
volutionen führt. In einer nahen Zukunft sollte für den Herrschenden, ein ideologisches Glück ermögli-
den jungen Marx eine neue Gesellschaft, die kom- chen, während dem Rest, den Unterdrückten und in
munistische, entstehen, in der keine Klassengegen- Elend Lebenden, durch irgendein »Opium« (etwa
sätze mehr herrschen, sondern alle Menschen im die Religion als Opium des Volkes, oder auch die
Glück miteinander leben. In einer kommunistischen »Ware« mit ihren Liebesblicken und theologischen
Gesellschaft sollte die Arbeitsteilung, für Marx wie Mucken) ein illusorisches Glück für das richtige ver-
für Durkheim einer der Gründe des Unglücks in der kauft wird (vgl. Haug 1971/2009; s. Kap. VIII.9).
kapitalistischen Gesellschaft, abgeschafft werden.
Die Menschen würden ihr Leben nicht auf be-
stimmte Tätigkeiten einengen, sondern hätten die Max Weber, Werner Sombart und Georg
Freiheit, jederzeit, je nach Bedürfnissen, alle Tätig- Simmel: Das Glück im Akkumulieren
keiten auszuüben: »morgens zu jagen, nachmittags und Ausgeben von Geld
zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem
Essen zu kritisieren« (Marx/Engels 1846/1969, 33). Die Frage, ob der moderne Mensch sich mit einem
Auch das gemeinschaftliche Leben, das glückliche verstellten Glück zufrieden gibt oder den Weg in das
Zusammensein zwischen Menschen, werde in einer »richtige« Glück erkämpfen soll, darf laut Max We-
kommunistischen Gesellschaft möglich und diene ber (1864–1920) von einem Soziologen nicht gestellt
nicht mehr als Mittel, sondern als zentraler Selbst- oder behandelt werden. Weber gilt als Verteidiger ei-
zweck – so wenn man »sozialistische französische ner wertfreien Disziplin, die bewertende Urteile aus
ouvriers vereinigt sieht: Rauchen, Trinken, Essen etc den wissenschaftlichen Abhandlungen ausklammert,
sind nicht mehr da als Mittel der Verbindung […]. um den Individuen eine eigene Wahl zu ermögli-
Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die chen. 1914 trat Max Weber aus der Deutschen Ge-
wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen sellschaft für Soziologie aus, weil er merkte, dass sein
hin« (Marx 1844/1973, 554). Programm der Soziologie als einer wertfreien Wis-
Diese und andere Glücksszenarien einer kommu- senschaft von den meisten Mitgliedern nicht geteilt
nistischen Gesellschaft treten in Marx’ Spätwerk zu- wurde. Einige Mitglieder, wie zum Beispiel der Sozi-
gunsten der kritischen Analysen der Funktionsme- alreformer Franz Oppenheimer, standen für eine So-
chanismen des Kapitalismus zurück – als hätte Marx ziologie, welche an einer Verbesserung der Gesell-
sich einem Utopieverbot unterzogen, um nicht ein schaft arbeitete. Oppenheimer stellte seine wissen-
gewünschtes Zukunftsszenarium zu malen, sondern schaftliche Forschung in diese Dienste, indem er sich
nur dem Elend des Diesseits auf den Grund zu ge- unter anderem für den Aufbau von Mustersiedlun-
hen. Für diese Wendung haben die Interpreten un- gen (wie die »Obstbausiedlung Eden«) engagierte,
terschiedliche Erklärungen geliefert. Eine von diesen die dem Ziel einer glücklichen Gesellschaft näher
lautet, dass die utopische Abstinenz des späteren kommen sollten (vgl. Vogt 1997, 151 ff.). Andere Mit-
Marx aus einer selbstkritischen Haltung entsteht: glieder der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Marx wird bewusst, dass seine Visionen und norma- (etwa Max Adler) sahen die Wissenschaft des Sozia-
tiven Bestimmungen mit Anspruch auf »Allgemein- len gekoppelt an die Aufforderung, die Gesellschaft
gültigkeit« als ideologisch gesehen werden können, durch eine Revolution in neue Bahnen zu bringen.
gerade so wie er selbst die Ideologiehaftigkeit der Sie wollten nicht partielle Reformen, weil sie mein-
bürgerlichen Gleichheits- und Menschenrechtstheo- ten, nur durch die Umwälzung der sozialen Verhält-
rien oder der sozialistischen Utopisten aufgedeckt nisse könne das Ziel einer glücklichen Gesellschaft
hatte (Göbel 1997, 122 f.). Deswegen konzentriert er für alle erreicht werden.
sich in seinem späteren Werk auf eine »wirkliche, Im Gegensatz zu diesen reformerischen oder re-
positive Wissenschaft«, um nicht »vom wirklichen volutionären Forderungen wollte Max Weber die So-
geschichtlichen Boden auf den Boden der Ideologie« ziologie als eine Wissenschaft etablieren, welche nur
zurückzufallen (Marx/Engels 1846/1969, 27). Analysen, Erklärungen und fundierte Prognosen lie-
Marx haben wir die Grundlagen der Ideologiekri- ferte. Er übernahm zwar politische Tätigkeiten als
tik des Kapitalismus zu verdanken. Die Ideologiekri- Berater, wollte diese aber von seiner wissenschaftli-
tik hat die Aufgabe, alle ideologischen Mechanismen chen Arbeit trennen. Trotzdem finden wir in seinen
252 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

wissenschaftlichen Abhandlungen viele Passagen 1913/1983). In der ersten Auflage seines großen Wer-
mit bewertenden Andeutungen. Max Weber zeigte, kes Der moderne Kapitalismus scheint Sombart im
dass der moderne rationale Kapitalismus sich par- Sinne Webers die Sparsamkeit und Genussfeindlich-
allel mit der Entwicklung der Wirtschaftsethik des keit des deutschen Bürgertums hervorzuheben, aber
Protestantismus entwickelte (Weber 1904–05/2004). eigentlich handelt es sich hier aus seiner Sicht um
Er analysierte nicht nur die Wechselwirkung zwi- eine Zwischenphase im 19. Jahrhundert (1902, Bd. 2,
schen Wirtschafts- und Religionsgesinnung, son- 294 ff.). Indem er schon in der frühen bürgerlichen
dern prognostizierte außerdem die Verbreitung die- Gesellschaft »immer breitere Schichten der Bevölke-
ser Wirtschaftsethik: Die Arbeitsmoral und die As- rung« von der »Sehnsucht nach materiellem Wohlle-
kese des Protestantismus werde sich weiterhin als ben« ergriffen sah, führte Sombart die ökonomische
Wirtschaftsgesinnung der kapitalistischen Gesell- Dynamik, anders als Webers Askese-Theorie, auch
schaft verbreiten und durch eine Durchrationalisie- auf expandierende Wünsche und daran gebundenen
rung alle anderen Lebensbereiche erobern. Die Pro- Glücksvorstellungen zurück (1902, Bd. 1, 383). Diese
gnose, dass sich die moderne Gesellschaft zu einem Überlegungen mündeten später in die pointierte
»stahlharten Gehäuse« (153) entwickeln werde, These von der »Geburt des Kapitalismus aus dem
bringt zum Ausdruck, dass Weber in dieser Entwick- Luxus« (1913/1983, 135). Doch das Glück des Bür-
lung nicht gerade den Weg in eine glückliche Gesell- gertums beschränkt sich nach Sombart nicht auf
schaft sieht. Aber die von Friedrich Nietzsche aufge- eine Fortführung des feudalistisch vorgegebenen
griffene Prognose, dass in diesem Gehäuse die »letz- Konsums, es wird vielmehr ergänzt durch eine von
ten Menschen«, als »Fachmenschen ohne Geist, Nietzsche inspirierte Feier tätiger Dynamik, die bei
Genussmenschen ohne Herz« leben würden (zitiert Sombart im »Unternehmungsgeist« gipfelt (1913,
in Weber 1904–05/2004, 154), wird von Weber als 29–134), welcher wiederum in Webers an der Büro-
Frage offen gelassen. Obwohl Weber von Nietzsches kratie orientiertem Bild eine geringere Rolle spielt.
apokalyptischen Endzeitvisionen Gebrauch macht Sombart prophezeite, dass die Enkelkinder der frü-
und diese dadurch zu teilen scheint (so die These hen Kapitalisten nicht in der Profitmaximierung und
u. a. von Peukert 1989, 28 ff.), schreibt er am Ende Sparsamkeit ihr Glück finden, sondern von dem ak-
seines Buches, dass er sich einer Bewertung gerade kumulierten Reichtum der Eltern und Großeltern
entziehen möchte: »Doch wir geraten damit auf das verschwenderisch Gebrauch machen würden (1902,
Gebiet der Wert- und Glaubensurteile, mit welchen Bd. 2, 302). Die kapitalistische Gesellschaft würde
diese rein historische Darstellung nicht belastet wer- auf diesem Weg die asketische Kultur vollends durch
den soll« (1904–05/2004, 154). Die Aufgabe der So- eine sinnliche Kultur ersetzen, in der nicht mehr Ar-
ziologie sei es nur, festzustellen, welche Werte und beit und Akkumulation des Geldes glücklich ma-
Glücksvorstellungen eine Gesellschaft etabliert hat, chen, sondern der Konsum und das Geldausgeben
wie diese Werte entstanden sind und wohin diese (ähnlich noch Daniel Bell).
führen werden (zur Beziehung Weber/Nietzsche in In der zweiten Auflage von Der moderne Kapitalis-
diesem Punkt vgl. Oexle 1996, 73 ff.; Rehmann 1998, mus (Sombart 1916–27/1987) revidierte Sombart je-
175 ff.). doch seine Diagnose und die Prognose des Anbruchs
Während Max Weber in der asketischen Haltung einer neuen sinnlichen Kultur. Nicht mehr eine neue
des Protestantismus die Grundlage des Glücksstre- verschwenderische und sinnliche Kultur sah er den
bens der kapitalistischen Gesellschaft sieht (im Vor- Spätkapitalismus beherrschen. Stattdessen meinte er,
dergrund stehen hier die Arbeit, die Akkumulation dass sich eine Pluralität von Tendenzen breit mache,
des Geldes und die Sparsamkeit), hebt sein Kollege in denen je nach sozialen Gruppen verschiedene
und Konkurrent Werner Sombart (1863–1941) in Werte und Glücksvorstellungen Geltung hätten.
seinen Forschungen andere Zusammenhänge her- Während einige soziale Gruppen nach Profitmaxi-
vor. Für Sombart ist nicht nur die Askese des neuen mierung und Geldakkumulation strebten, verfolgten
Bürgertums, sondern die verschwenderische Gesin- andere das Verlangen nach einer bürokratischen
nung, die Neigung zu Konsum und Luxus, die das Uniformierung, während wieder andere sich dem
aufsteigende Bürgertum vom Adel übernimmt und Konsum widmeten. Sombarts Bild des Spätkapitalis-
transformiert, ein zentraler Faktor für das Florieren mus nähert sich dem Modell einer modernen plura-
der Wirtschaft und für die daraus folgende Entwick- len Gesellschaft, das heute überwiegend von Sozio-
lung einer kapitalistischen Gesellschaft (Sombart logen vertreten wird, die mit dem Milieu- und Le-
1. Glück in der klassischen Soziologie. Eine Disziplin zwischen Optimismus, Kritik und Distanz 253

bensstilbegriff arbeiten. Dieses pluralistische Bild das ginge vielleicht zu weit – Simmel formuliert in
der Moderne, dem auch Sombarts zahlreiche Erklä- seinen philosophischen Schriften eher eine dialekti-
rungen über die Genese des Kapitalismus geschuldet sche Lösung des Glücksproblems: Das Leben macht
sind, wurde von Sombart wieder aufgegeben, als er für ihn gerade die Verflechtung zwischen Glück und
sich in den 1930er Jahren dem Nationalsozialismus Unglück aus, welche er als zwei Aspekte »eines
annäherte. Damit verließ er das Konzept einer wert- und desselben, geheimnisvoll ungetrennten Lebens«
freien Soziologie, um das Aufkommen eines neuen (Simmel 1911/1919, 14) begreift.
Menschentums, das in einem »glücklichen« Führer- Fassen wir zusammen: Die Klassiker der Soziolo-
staat des »Deutschen Sozialismus« lebt, zu feiern gie haben das Glück nicht als unmittelbaren Unter-
(Sombart 1934). suchungsgegenstand thematisiert, aber die Disziplin
Ebenfalls im Sinne eines pluralistischen Bildes der hat sich indirekt im Grunde immer damit beschäf-
Moderne hatte bereits Georg Simmel in seinem Buch tigt. Einige Soziologen haben das Glück thematisiert,
Philosophie des Geldes verschiedene, oft entgegenge- indem sie die Aufgabe der Soziologe darin sahen,
setzte Strömungen untersucht, welche die moderne durch wissenschaftliche Analyse und fundierte Er-
Gesellschaft bewegen (Simmel 1900/1995, 641 ff.). kenntnisse ein glückliches Leben in der modernen
Die moderne Gesellschaft sei nicht nur durch die Gesellschaft zu ermöglichen. Andere untersuchten
Vielheit der Stile und Schnelligkeit des Wechsels, eher Ursachen des Unglücks der Menschen, um
sondern auch durch Paradoxien gekennzeichnet Missstände aufzudecken und verstellte Glücksvor-
(602 ff.). Simmel wird deswegen ein historischer und stellungen zu entlarven und damit einem »richtigem
soziologischer Relativismus vorgeworfen (Troeltsch Glück« in einer zukünftigen Gesellschaft näher zu
1922, 574), der die Pluralität von Stilen heraushebt kommen. Wieder andere Klassiker der Soziologie
und damit auch die Pluralität von Glücksvorstellun- verstanden die Disziplin als nicht wertende Wissen-
gen: »eines sinnlichen und geistigen, eines epikurei- schaft und konzentrierten ihre Arbeit auf die Unter-
schen und asketischen, eines egoistischen und suchung verschiedener Glücksvorstellungen, ihre
mitfühlenden Glücks« (Simmel 1900/1995, 570). In- Genese und ihre künftige Weiterentwicklung. Damit
teressant dabei ist für heutige Leser, dass die Aner- sind drei mögliche idealtypische Haltungen erwähnt:
kennung eines Pluralismus des Glücksdenkens durch der optimistische Sozialplaner, der kritische Sozio-
eine Kritik an ökonomistisch-utilitaristischen Ver- loge und der nüchtern-distanzierte Wissenschaftler.
kürzungen des Glücksbegriffs eingeleitet wird (Sim- Natürlich finden sich in der Realität diese Idealtypen
mel 1892/1989; vgl. Zingerle 1997, 141 f.). Ähnlich nie in Reinform, sondern meistens in Variationen.
wie seine Zeitgenossen Max Weber und Werner Außerdem kommt es vor, dass ein Soziologe im
Sombart umging Simmel in seinen soziologischen Laufe seines Lebens von einer Haltung zu einer an-
Schriften jede Bewertung. Er plädierte nicht nur für deren überwechselt. So wurde Karl Marx in seinem
eine Soziologie, die nicht normativ sei, sondern auch späteren Werk mit den Schilderungen einer glückli-
für eine Soziologie, welche die verschiedenen »For- chen Gesellschaft vorsichtiger. Auch Comte verließ
men des Miteinanders und Füreinanders« (Simmel in einer Etappe seines Lebens den optimistischen
1908/1992, 19) analysiert, unabhängig von den In- Glauben an die Wissenschaft, als er sich unglücklich
halten, welche die Menschen zu solchem Zusam- in Clotilde de Vaux verliebte (Lepenies 1985, 25).
menkommen motivieren. Max Weber, der eine wertfreie Soziologie vertrat,
In seinen philosophischen Schriften entwarf Sim- konnte wiederum seine Werturteile nicht immer ver-
mel eine kritische Zeitdiagnose, die heute auch als bergen. Er »entdeckte« wie Comte in einer Zeit, in
Soziologie rezipiert wird: Simmel diagnostizierte der Frauen und die Erotik eine wichtige Rolle spiel-
eine »Tragödie« der modernen Kultur und sah diese ten, die Möglichkeit der Realisierung eines glückli-
darin, dass die Güter und Stilmöglichkeiten so stark chen Lebens an einem Ort, der sich dem »stahlhar-
gewachsen seien, dass der Mensch sich von diesen ten Gehäuse« sehr entfernte – in einer Siedlung von
›überflutet‹ fühle und sich nicht mehr darin erkenne Anarchisten auf dem Berg Monte Verità bei Ascona
(1911/1996, 411 f.). Aus dieser Zeitdiagnose ließe in Italien (Radkau 2005, 590 f.). Er scheint damit zu-
sich ableiten, dass der moderne Mensch für Simmel mindest performativ Oppenheimers Siedlungsphan-
dann nicht mehr in diesem Konflikt leben würde tasien recht gegeben zu haben (s. Kap. II.4).
und daher glücklich wäre, wenn seine Seele in der
Kultur den Weg »zu sich selbst« finden könnte. Aber
254 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Literatur –: Der Begriff und die Tragödie der Kultur [1911]. In:
Ders.: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophi-
Bellebaum, Alfred/Barheier, Klaus (Hg.): Glücksvorstel-
sche Kultur. Frankfurt a. M. 1996, 385–416.
lungen: Ein Rückgriff in die Geschichte der Soziolo-
Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus. 2 Bde.
gie. Opladen 1997.
Leipzig 1902.
Bourdieu, Pierre u. a.: Das Elend der Welt. Zeugnisse
–: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen
und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesell-
Wirtschaftsmenschen. München/Leipzig 1913.
schaft [1993]. Konstanz 1997.
–: Liebe, Luxus und Kapitalismus [1913]. Berlin 1983.
Comte, Auguste: Cours de philosophie positive. 6 Bde.
–: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische
[1830–43]. Bd. IV. Paris 1969.
Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftsle-
–: Système de politique positive ou traité de sociologie:
bens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart [1916–
instituant la religion de l’humanité. 4 Bde. [1851–54].
27]. München 1987.
Paris 1969–1970.
–: Deutscher Sozialismus. Berlin 1934.
Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie
Troeltsch, Ernst: Der Historismus und seine Probleme.
über Organisation höherer Gesellschaften [1893].
Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichts-
Frankfurt a. M. 1992.
philosophie. Gesammelte Schriften III. Tübingen
–: Der Selbstmord [1897]. Neuwied/Darmstadt 1973.
1922.
–: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der
Vogt, Bernhard: Franz Oppenheimer. Wissenschaft und
Sorbonne 1902/1903 [1925]. Neuwied/Darmstadt
Ethik der sozialen Marktwirtschaft. Bodenheim
1973.
1997.
Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung. Frank-
Vowinckel, Gerhard: Ein unstillbarer Durst ist ein im-
furt a. M. 1983.
merwährendes Strafgericht. Émile Durkheims sozio-
Göbel, Andreas: Unser Glück gehört Millionen. Karl
logische Moralpolitik. In: Bellebaum/Barheier 1997,
Marx und das antike Glück der Gemeinschaft. In:
56–72.
Bellebaum/Barheier 1997, 106–128.
Wagner, Peter: Sozialwissenschaften und Staat. Frank-
Haug, Wolfgang Fritz: Zur Kritik der Warenästhetik
reich, Italien, Deutschland 1870–1980. Frankfurt
[1971]. Berlin 2009.
a. M. 1990.
Lepenies, Wolf: Die Drei Kulturen. Soziologie zwischen
Weber, Max: Die protestantische Ethik und der »Geist«
Literatur und Wissenschaft. München/Wien 1985.
des Kapitalismus [1904–05]. München 2004.
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte
–: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und
[1844]. In: Ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 40. Ber-
ökonomischen Wissenschaften [1917]. In: Ders.:
lin 1973, 465–588.
Schriften zur Wissenschaftslehre. Stuttgart 1991,
– /Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie [1846]. In:
176–236.
Dies.: Werke. Bd. 3. Berlin 1969, 5–530.
Zingerle, Arnold: Zwischen den Niederungen des Eudä-
Oexle, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zei-
monismus und der »Feierlichkeit des Lebens«: Georg
chen des Historismus. Göttingen 1996.
Simmel über das Glück. In: Bellebaum/Barheier 1997,
Peukert, Detlev J. K.: Max Webers Diagnose der Mo-
131–148.
derne. Göttingen 1989.
Amalia Barboza
Plé, Bernhard: Aus der Krise zum neuen Glück. Gegen-
wartsanalysen und Zukunftserwartungen im Positi-
vismus. In: Bellebaum/Barheier 1997, 36–53.
Radkau, Joachim: Max Weber. Die Leidenschaft des
Denkens. München 2005.
Rehmann, Jan: Max Weber. Modernisierung als passive
Revolution. Hamburg 1998.
Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursozio-
logie der Gegenwart. Frankfurt a. M./New York 2005.
Simmel, Georg: Einleitung in die Moralwissenschaften
[1892]. Frankfurt a. M. 1989.
–: Die Philosophie des Geldes [1900]. Frankfurt a. M.
1995.
–: Soziologie [1908]. Frankfurt a. M. 1992.
–: Das Abenteuer [1911]. In: Ders.: Philosophische Kul-
tur. Leipzig 21919, 7–24.
255

2. Glück im Pragmatismus. eine solche Philosophie fehle, führte ihn zur Grün-
dung des »metaphysischen Clubs«, in dem er mit
Selbstverwirklichung James zusammentraf (Richardson 2007, 135; vgl.
und Ganzheit Menand 2001, 201 ff.; noch Dewey beschrieb den
Pragmatismus emphatisch als ›amerikanisch‹; vgl.
Mead 1930; Baumgarten 1938; kritisch Tenbruck
Unter Pragmatismus wird eine Richtung der Philo- 1985). Was aber ist amerikanische Philosophie? Dies
sophie verstanden, die im Wesentlichen von Charles meint, grob gesagt, ein Denken, das im Rahmen des
S. Peirce (1839–1914), William James (1842–1910) Selbstverständnisses der USA formuliert wird. Und
und John Dewey (1859–1952) ausgearbeitet und ver- eben dieses Selbstverständnis hat mit Glück zu tun,
treten wurde und die, der Name sagt es schon, den beginnt doch die Unabhängigkeitserklärung von
Handlungsbegriff in den Mittelpunkt stellt. Was hat 1776 mit der Evozierung eines Rechts darauf, sein
der Pragmatismus mit dem Glück zu tun? Antwor- Glück zu suchen (pursuit of happiness; s. Kap. V.2).
ten auf diese Frage finden sich dort, wo sich der Diese Verbindung ist es wert, ausbuchstabiert zu
Pragmatismus, von seinen erkenntnistheoretischen werden: Die Idee eines politischen Neuanfangs jen-
und logischen Grundlagen ausgehend, der phänome- seits europäischer Altlasten kann mit einer prakti-
nalen Analyse tatsächlicher Handlungen zuwendet. schen Art von Glück assoziiert werden – nennen wir
Dabei geht es dem Pragmatismus nicht einfach um es: Handlungsglück (s. Kap. II.2) –, denn sie verheißt
ein ›pragmatisches‹ Durchwurschteln, wie man es große Bewegungs- und Gestaltungsspielräume. Ei-
aus dem Alltag kennt, auch wenn diese Assoziation genes Handeln war in den USA möglich und sogar
nicht immer falsch liegt (James etwa forderte dazu nötig: Man konnte das Land bewohnen und gestal-
auf, von theoretischen Prinzipien wegzublicken, was ten ohne Geburtseliten aus Monarchie und Adel, die
an einen bewussten Verzicht auf Theorie grenzt; die Gesellschaft immer schon – und für die meisten
James 1907/1959, 47; vgl. kritisch Diggins 1998). unvorteilhaft – vorstrukturieren; ohne politische
Seine philosophiehistorischen Lehrformeln lauten, Macht der Kirchen, welche die freie politische Ge-
dass der Sinn oder Wahrheitswert einer Aussage staltung in Europa stark gehemmt haben; ohne eine
nicht von ihren Voraussetzungen, sondern von ihren abhängige und politisch zuweilen explosive Unter-
praktischen Konsequenzen abhänge, und dass das schicht von Paupern, da in den USA, zumindest bis
Denken erst in dem Moment einsetze, wo die nor- zum Erreichen der final frontier, jeder seines Glückes
male Praxis, die wahrheitskonstitutive Gewohnheit, Schmied werden konnte und sich nicht von anderen
unterbrochen werde. »The irritation of doubt causes abhängig machen musste (im Selbstbild der USA
a struggle to attain a state of belief«, sagt Peirce, wo- spielte diese self-reliance eine große Rolle; vgl. Emer-
bei »belief« nicht als abgespaltene Theorie, sondern son 1841/1993; de facto sah es oft anders aus; vgl.
als Umweg zum Handeln gilt: »belief is a rule for ac- Katz 1996); und schließlich auch ohne ein verkruste-
tion« (Peirce 1972, 126, 143; ähnlich Dewey 1896, tes Denken, in dem sich Besitzstände und Herr-
mit wichtigen Konsequenzen für die Psychologie). schaftsansprüche von Eliten symbolisch eingelagert
Damit wird der Praxis, insbesondere dem Experi- und damit verewigt hatten. Weder eine monarchisti-
mentieren, ein hoher Wert zugestanden, im gleichen sche oder sozialistische Partei noch eine Kirche
Maße wie der bloß theoretischen Spekulation der al- konnte in den USA auf die Idee kommen, die Macht
ten Metaphysik zunächst der Rücken gekehrt wird. begrenzen oder selbst übernehmen zu wollen. Diese
Diese wenigen Worte markieren noch nicht ganz praktische Offenheit reflektiert sich nun im Pragma-
klar den Unterschied zu verwandten Richtungen – tismus: Es geht darum, sich im pursuit of happiness
auch für den Utilitarismus, die Praxisphilosophie der nicht blind auf vorgefasste Meinungen zu verlassen,
Junghegelianer oder für Nietzsche und Kant war der sondern sein Glück einfach selbst zu versuchen.
Handlungsbegriff bereits zentral (Kaulbach 1978). Vor allem Dewey hat, worauf noch zu kommen ist,
Doch die Vertreter des Pragmatismus, speziell James diese spezifisch US-amerikanische Konstellation im
und Dewey, kommen durchaus zu eigenständigen Rahmen der Demokratietheorie gegen neue Ver-
Konzeptionen des Glücks. Diesen kann man sich krustungstendenzen verteidigt (vgl. Joas 2000). Denn
durch die Beobachtung annähern, dass der Pragma- natürlich gab es auch in den USA rasch wieder erbli-
tismus von Geburt an als »amerikanische Philoso- che Elitenpositionen, und dadurch sah sich der Prag-
phie« auftritt (West 1989): Peirces Diagnose, dass matismus herausgefordert. Das Glück des Neube-
256 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

ginns garantiert ja nicht, dass die Ergebnisse nicht Denn Peirce hatte, wie sich schnell herausstellte,
den alten europäischen Beständen ähnlich sehen nichts Geringeres im Sinn als eine neue Metaphysik
konnten – die neuen Eliten sind dafür nur ein Bei- (und das war ja schon bei Kant das Motiv). Er wollte
spiel. Vergleichbar entstand in der Philosophie etwa eine ›kosmogonische‹ Gesamtphilosophie entwer-
bei Peirce wieder eine Metaphysik, die der alten nicht fen, derzufolge die Evolution so lange wirke, »until
allzu fern war (Henning 2005, 526 ff.). Der Reiz des the world becomes an absoluteley perfect, rational,
Pragmatismus ist allerdings noch heute, dass dieses and symmetrical system« (Peirce 1972, 173 f.). Das
›Neudenken‹ selbst da, wo man auf Altes zurückkam, erinnert durchaus an den vorkantischen Rationalis-
die Relevanz dieses Alten auf neue Weise deutlich mus, etwa von Leibniz. Neu daran war allerdings der
machen konnte. Kommen wir damit auf einzelne Weg, das Prozedurale: Wie schon Apel deutlich ge-
Vertreter zu sprechen. macht hat, legte Peirce Wert darauf, dass Wahrheit,
auch die metaphysische, niemals ex cathedra, etwa
Peirce und das Glück des Abschieds durch ›heilige‹ Philosophen oder autoritätsgestützte
Machtworte zu haben ist, sondern nur durch sach-
von der alten Metaphysik
liche Übereinstimmung der Kommunikationsge-
Bereits Immanuel Kant, der ›Zertrümmerer der Me- meinschaft, in diesem Fall der Forschenden. Dieser
taphysik‹, hatte das Selbstdenken zum Programm er- »logische Sozialismus« (Wartenberg 1971) erinnert
hoben. Peirce, dessen Philosophie zu weiten Teilen nicht nur von fern an das Partizipationsprinzip der
als Auseinandersetzung mit Kant rekonstruiert wer- amerikanischen Demokratie. Bereits darin kann
den kann (Apel 1975), hat diese Frontstellung gegen man den Aufbruchsgeist einer ›fröhlichen‹, weil
Lebensbeengung durch morsche und dunkle Denk- selbsttätigen und kommunikativen Wissenschaft se-
gebäude übernommen. Seine pragmatistische Ma- hen. (Ein solches Ethos gab es natürlich schon in Re-
xime lautete wie folgt: »Überlege, welche Wirkungen, naissance und Aufklärung, aber das war den Prag-
die denkbarerweise praktische Bedeutung haben matisten bewusst.)
können, wir dem Gegenstand unseres Begriffes zu- Einen zweiten glücksrelevanten Aspekt der neu-
schreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen alten Peirceschen Metaphysik könnte man mit Hans
der ganze Umfang unseres Begriffs des Gegenstan- Joas (2004), der wie Apel viel für die Verbreitung des
des« (Peirce 1972, 300 [geschrieben 1902]). Sie wurde Pragmatismus im deutschen Sprachraum getan hat,
eingeleitet mit den Worten, der Pragmatismus sei das Glück der »Selbsttranszendenz« nennen. Im Ge-
diejenige »opinion that metaphysics is to be largely gensatz zum anti-essentialistischen Neopragmatis-
cleared up« (300). Es gehe darum, metaphysischen mus etwa von Richard Rorty (1989), der eine Selbst-
Bauschutt wegzuräumen, um klarem Denken und erschaffung nur dann denken kann, wenn ihr keine
damit dem richtigen Handeln Luft zu verschaffen. äußeren Dinge im Weg stünden (etwa eine dem Er-
Beim Gedanken an »Qualm von Weihrauch« hatte kennen vorgegebene Welt oder gar ein ›Wesen‹ der
zu ähnlicher Zeit auch Nietzsche geschrieben: »Ich Dinge), war für Peirce individuelle Erfüllung nur
habe Lust, ein wenig die Fenster aufzumachen. Luft! dann zu haben, wenn das Individuum auf anderes,
Mehr Luft!« (Nietzsche 1888/1999, 21; s. Kap. V.7). Größeres als sich selbst, ausgreift. Zwar ist auch
Die Metaphern von Abbruch und frischem Wind Peirce Konstruktivist und verlässt damit den Rah-
kehren nicht zufällig in einem Peirce gewidmetem men der alten theoria als Kontemplation des Gege-
Buch wieder, in dem William James über traditio- benen (s. Kap. II.1–2). Doch findet der Forschende
nelle Glaubensgemeinschaften erklärt: »What such nach Peirce zumindest die Symbole bereits vor; in
audiences most need is that their faiths should be ihrem Gebrauch gehört er einer größeren Gemein-
broken up and ventilated, that the northwest wind of schaft von Denkenden an. Ein Versuch, sich als
science should get into them« (James 1897/1956, X). selbsterschaffender Einzelner gegen diese Zusam-
Diese Orientierung am Neubau erinnert an eine ver- menhänge zu stellen, erscheint so schlicht als »Irr-
wandte Bewegung, die an der »Rekonstruktion« der tum« (Hampe 2006, 172; vgl. ähnlich Taylor 1991 ge-
amerikanischen Gesellschaft arbeitete: den Progres- gen Michel Foucault sowie unten zu Dewey).
sivismus (vgl. Dewey 1920/1950).
Allerdings kommt hier keineswegs Metaphysik-
Feindschaft zum Ausdruck, sondern vielmehr eine
kreative Zerstörung im Sinne Joseph Schumpeters.
2. Glück im Pragmatismus. Selbstverwirklichung und Ganzheit 257

James und das vitale Glück religiöser wirkt haben – etwa auf Georg Simmel oder Ludwig
Erfahrungen Wittgenstein. James fragt hier, was die Früchte der
Religion sind (»fruits for live«, James 1902/1958, 191,
In Sachen Glück expliziter als Peirce ist William vgl. 30 f.; s. Kap. VIII.13). Das ist ein typisch pragma-
James, der zuweilen als Popularisator geschmäht tistischer Zugang, denn traditionell fragte man eher
wurde. James brachte allerdings durch seine Exper- nach dem sog. ›Wahrheitsgrund‹ der Religion (eine
tise in Psychologie, in der ja auch Dewey einige Jahre Frage, auf die allerdings nicht-zirkuläre Antworten
unterrichtete, völlig neue Aspekte hinein. Ein be- kaum möglich sind). Damit ist James der Religion
kanntes Lehrbuch von James wartete mit der natura- vielleicht näher, als spekulative Theologie es je sein
listischen These auf: »Emotion is the consequence, kann, ist doch die pragmatische Dimension in den
not the cause, of the bodily expression« (James meisten Religionen selbst von zentraler Bedeutung
1890/1981, 1058 ff.; deutlich hier die Wende von Ur- (»An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«, Mat 7,
sachen zu Wirkungen). Dieser Fokus auf den Emoti- 16; vgl. den Ausspruch von Rabbi Chanina ben Do-
onen, der zentral ist für James’ Version des Pragma- sas aus dem Pirke Avot [Sprüche der Väter, 3.12]: »Je-
tismus, beeinflusste ganze Scharen progressiver Au- der, dessen Taten mehr sind als dessen Weisheit, des-
toren (inklusive Dewey), die fortan im Namen von sen Weisheit hat Bestand; aber jeder, dessen Weisheit
Sympathiegefühlen gegen das egoistische Dogma mehr ist als dessen Taten, dessen Weisheit hat keinen
des damaligen Wirtschaftsliberalismus aufbegehrten Bestand«).
(Henning 2010). Unter jenen Früchten versteht der Psychologe
Was James zur ›Wahrheit‹ schrieb, war problema- James allerdings kein Ergebnis im Sinne der Werkge-
tisch und führte dazu, dass Peirce sich distanzierte rechtigkeit, als würde man durch gute Werke einen
(übrigens auch von Dewey). Es erlaubte ihm aller- Eintritt ins Paradies erkaufen oder das Kommen ei-
dings ein in Sachen Glück ertragreiches Forschungs- ner ›besseren Welt‹ erzwingen können (s. Kap. II.11).
programm. Wie geht das zu? Seine Fassung der prag- Solche religiösen Sätze wertet James als »Hypothe-
matistischen Wahrheitstheorie besagt, dass wahr ge- sen«, über die sich kaum verlässliche Aussagen tref-
nau die Annahme ist, deren langfristige Folgen sich fen lassen (James 1907/1959, 329; obgleich wir nicht
als gut für das Leben herausstellen. Das hatte eine ausschließen sollen, dass eine dieser Hypothesen
voluntaristische Schlagseite. Wenn gilt: »what is bet- wahr sein könnte, vgl. 1897/1956, XII–XIII). Die
ter for us to believe is true« (James 1907/1959, 60), Früchte, um die es James geht, betreffen das Hier und
kann man das nämlich auch so lesen, dass es keine Jetzt (er spricht von der Innenseite der Erlebnisse,
unangenehmen Wahrheiten geben kann (»if there über deren ›Außenseite‹ er kaum Aussagen trifft).
were no good for life in true ideas […] our duty Und als zentrales Thema des hiesigen menschlichen
would be to shun truth«, 59). Dann würde Theorie Lebens bestimmt er eben das Glück: »If we were to
aufhören, kritisches Korrektiv der Praxis zu sein. Ein ask the question: ›What is human life’s chief con-
solcher Pragmatismus hätte irrationalistische Züge, cern?‹ One of the answers we should receive would
und dagegen gab es berechtigte Einwände (»Why be: ›It is happiness‹« (1907/1959, 76). Diese Idee, die
should truth be at the service of our interest, yield sa- Güte einer Religion an ihren innerweltlichen Glücks-
tisfaction rather than frustration, pleasure rather effekten abzulesen, ist originell, muss mit den Religi-
than pain?« fragt etwa Diggins 1998, 220; vgl. Hen- onen aber keineswegs auf Kriegsfuß stehen, denn sie
ning 2005, 529 ff.). Für das Glücksthema relevanter selbst erheben ja, jedenfalls in weiten Teilen, schon
als die erkenntnistheoretischen Details ist aber die für das Hier und Jetzt einen solchen Anspruch: »das
Konzeption des Lebens, die darin steckt. Denn woran Reich Gottes ist mitten unter euch« (Luk 17, 21; die
merken wir überhaupt, ob etwas gut für ›das Leben‹ bedrückenden und Angst allererst schürenden Seiten
ist? Wir merken es, kurz gesagt, am Gefühl des der Religionen fallen bei James seltsam aus der Be-
Glücks. Glück wird auf diese Weise zu einem Krite- trachtung).
rium weniger der Wahrheit als vielmehr der Güte ei- Was für eine Glücksphilosophie lässt sich nun aus
ner Sache. Und damit sind wir mitten in der Glücks- diesen Gedanken ziehen? Zunächst unterscheidet
philosophie. James, ganz im Sinne J. S. Mills (s. Kap. V.1), ein nie-
In beeindruckender Weise ausgeführt hat James deres, eher hedonistisch-körperliches Glück (»ani-
diesen Gedanken in seinen Vorlesungen über religi- mally happy«, James 1907/1959, 77, vgl. 116) von ei-
öse Erfahrungen, welche auch in Europa stark ge- nem höheren Glück (»gladness«, »joy«, 74; »inner
258 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

excitement«, 285), das durch eine angstfreie Balance Dewey als Denker der Synthese
mit sich – und mit der Welt (»union with the divine«,
77) – entstehe. Dabei geht es weniger um theoreti- Die philosophischen Konsequenzen dieses Ansatzes
sche Gehalte als darum, »clear, right, sound, whole, hat am deutlichsten John Dewey gezogen. Aufgrund
well« zu werden (97). Es ist also kein nur ›geistiges‹, seines Bestrebens, eingespielte Dualismen zu über-
sondern ein ganzheitliches Glück. winden (Subjekt/Objekt, Natur/Geist, Gefühl/Ver-
Daneben unterscheidet James zwei Grunddisposi- stand, Sein/Sollen, Ethik/Politik, Individuum/Gesell-
tionen: Manche Menschen sind von Haus aus eher schaft, Mittel/Zweck oder Glück/Moral; vgl. Dewey
optimistisch (»healthy-minded«, 76 ff.; also auch 2004, 370), wird er mit Hegel verglichen (z. B. Suhr
›naiv‹ im Sinne Schillers), manche eher leidend (»the 2005, 31 f.). Wenn Rorty (2000) jedoch meint, Dewey
sick soul«, 112 ff.; charakterisiert durch Melancholie stehe zwischen Hegel und Darwin, ist das zu präzi-
und »neurotic constitution«, 124). Religion ist für sieren: Der idealistische Geist kam auf Dewey eher
erstere, zumal sie die beiden Glückstypen verbinden aus den Händen von Neoidealisten wie T.H. Green
können, eher Bestätigung und Feier des Lebens (s. (s. Kap.V.1), der Fokus auf naturale Grundlagen eher
Kap. II.2), für letztere – die Zerrissenen (»the divided aus den Schriften von James (zu Darwin äußert sich
self«, 140 ff.) – ist sie eher eine Art Entschädigung für Dewey erst spät; Dewey 2004, 31 ff. [von 1909]). Das
erlittenes Unglück. Glück entsteht hier vor allem als macht einen Unterschied:
Befreiung von Angst und Leid. Um eine solche psy- Dass Dewey eher auf angelsächsischen als auf
chische Entschädigung zu erwirken, wenden Religi- preußischen Traditionen aufbaut, zeigt sich schon an
onen allerdings auch fragwürdige Praktiken an (»re- seinem Umgang mit dem Utilitarismus: Bei aller Kri-
vivalistic, orgiastic, with blood and miracles and su- tik lobt er doch dessen emanzipatorisches Potential
pernatural operations«, 137). (Dewey/Tufts 1932/2008, 156). Zudem war Dewey
Diese differenzierte Typologie entgeht – nebenbei seiner Umwelt gegenüber kritischer als Hegel es war,
gesagt – der eher eindimensionalen Religionskritik das verbindet ihn mehr mit der Sozialkritik des Bri-
etwa von Feuerbach und Nietzsche. Doch James be- tischen Idealismus. Speziell von Green übernimmt
lässt es nicht bei einer solchen Statik. Ein pragmati- Dewey die Forderung nach Selbstverwirklichung als
sches ›Handlungsglück‹ muss dynamisch angelegt Weg zum Glück, die allerdings nur im Handeln für
sein und hat daher vor allem mit Übergängen zu tun das Gemeinwohl wirklich gelingen könne – und da-
(s. Kap. IV.2). Im Rahmen der Religion kennt James mit nicht selbst intendiert werden dürfe (Dewey
davon gleich zwei: Bekehrung und mystische Ver- 1894/1971; Dewey/Tufts 1908/1978, 351 ff.). In Ver-
senkung. Beide vollziehen einen Übergang in einen bindung mit der Naturphilosophie spricht er von
anderen Zustand. Als beglückende Erfahrungen »happiness of a development of human nature«
nennt er beim Bekehrten Erleichterung, Einsicht und (Dewey 1922/2002, 3) oder schlicht von »growth«
Ekstase (»loss of all the worry«, »mysteries of life be- (1920/1950, 141; kritisch dazu Honneth 2000).
come lucid«, 198 f.; »ecstasy«, 203), beim Mystiker Von James nimmt Dewey noch mehr als von
hingegen Einheit, Sicherheit und Ruhe (328). Green. Man könnte sogar zuspitzen, dass ein Groß-
Doch selbst den Wert eines Lebens als Heiliger teil seiner Systematik auf Ideen von James beruht
(»saintliness«, 207 ff.), das als Fernziel solcher Über- (Joas 1997, 172): Dewey spannt sein Denken auf zwi-
gänge gelten kann, buchstabiert James noch in inner- schen den zwei Polen Gewohnheit (habit, eingespielte
weltlichen Glückstermini aus: Es zeichne sich gerade Handlungsweisen, später ›Kultur‹ genannt) und Im-
nicht durch Lebens- und Weltabgewandtheit, son- puls (natürliche Handlungsimpulse; vgl. bereits
dern durch eine Verstärkung des Lebens aus (»en- James 1890/1981, 1004 ff.). Das klingt banal, hat es
largement of life«, 217; in Worten von James Leuba: aber in sich, denn gegenüber älterem Denken wer-
»growth«, 198). James hat damit seine vitalistische den die Karten hier neu gemischt:
Glückskonzeption, die in anderen Werken ebenfalls Was Menschen in der Welt immer schon vorfin-
durchscheint (Skowroński 2009, 59 ff.), in seinen den, beruht in dieser Sicht auf eingespielten Selbst-
Schriften zur Religion am deutlichsten ausgespro- verständlichkeiten des Handelns – Kultur ist also
chen. »gemacht« und damit kontingent (vgl. Rorty 1989 –
das bezieht Dewey sogar noch auf die Naturwissen-
schaften). Anders aber als in der üblichen Sicht (etwa
bei Kant oder Hegel) stellt Dewey die menschliche
2. Glück im Pragmatismus. Selbstverwirklichung und Ganzheit 259

Freiheit weniger auf die Seite der Kultur, denn Tradi- Welche Rolle spielt nun das Glück in alldem? Zu-
tionen können sehr hart sein – und Unfreiheit ist nächst ließe sich allgemein, analog zu Peirce und
nur ein anderer Name für erstarrte Gewohnheiten, James, von einer glücksfunktionalen Anlage der Phi-
die die Spontaneität ersticken. Der Impuls, sich da- losophie sprechen: Indem Dewey versucht, alles in
von zu befreien und sich »Luft« zu verschaffen (s.o. einer Philosophie abzuhandeln, ermöglicht er den
zu Peirce), entstammt für Dewey eher der menschli- Menschen Orientierung und einen angstfreien Welt-
chen Natur. Indem Dewey den Zwangscharakter der bezug: Es gibt bedeutend weniger Äußeres, Fremdes,
Kultur und die naturale Seite der menschlichen Frei- Bedrohliches, das Angst machen oder Verzweiflung
heit betont, überwindet er zugleich den naturalisti- bereiten könnte (was Naturkatastrophen oder den
schen Determinismus wie einen repressiven, weil Tod natürlich nicht abschafft, soviel sollte klar sein).
normierenden Kulturalismus (»it is precisely custom Deweys Philosophie umfasst ungewöhnlich viel: Ei-
which has greatest inertia, which is least susceptible nerseits werden auch scheinbare Banalitäten des All-
of alteration; while instincts are most readily modi- tags berücksichtigt. Dewey kritisiert ein Wissen-
fiable through use, most subject to educative direc- schaftsverständnis, welches die konkreten Phäno-
tion«, Dewey 1922/2002, 107; vgl. Henning 2010; mene, die die Menschen beschäftigen, nicht zu
vom somatisch-moralischen ›Impuls‹ sprach übri- erfassen vermag (in Bezug auf das Glück vgl. den
gens auch Adorno). Aufsatz zu Tolstoj, Dewey 1910–11/2008, 387; vgl.
Das ist ihm deswegen möglich, weil er wie James Shusterman 1997). Andererseits versucht Dewey
von keiner fixierten Triebnatur ausgeht, die den selbst noch, die Religionen einzuholen: Er kritisiert
Menschen auf bestimmte Handlungsmuster festle- zwar statuarische und metaphysische Religionen,
gen würde, sondern ihn als plastisches und weitge- weil sie theoretische Gehalte von der Praxis abson-
hend – doch nicht unbegrenzt – flexibles Wesen be- derten und einem vermeintlichen Sonderbereich
stimmt. Menschliches Leben spielt sich also zwi- vorbehielten; den Namen des »Religiösen« will er je-
schen den bewährten Üblichkeiten, die jedoch zu doch auf alle Aktivitäten ausdehnen, die ein Ideal
eng werden können, und dem kreativen Neuentwurf verfolgen (Dewey 2004, 248 f., vgl. 235 ff.; Joas 1997,
von Praxen ab, die dann wieder Üblichkeiten wer- 171 ff.). Im Rahmen des Hegel-Vergleichs könnte
den. (Deweys »instrumental logic of inquiry« kennt man diese allzuständige Philosophie einen Versuch
eine ähnliche Abfolge von »conflict«, »problem« und der ›Versöhnung‹ nennen, wären da nicht Hegels
»reconstitution«; vgl. Bernstein 2010, 145). hinsichtlich Staat und Religion recht affirmativen
Wie leicht zu sehen ist, ist dieses Kreislaufmodell Obertöne, die Dewey stets fremd blieben (vgl. De-
auf ein ständiges Fortschreiten angelegt – ein ›Melio- wey 1929/2001, 303).
rismus‹ mit deutlicher Nähe zum Progressivismus Nehmen wir als Beispiel für diese handhabbar-
(Dewey 2004, 265; 1920/1950, 142; s. Kap. II.9). Zu- machende Tendenz die Werte: Vorgegebene, starre
mindest besteht, wenn es keine Absicherung in ei- und lebensferne Ziele beschreibt Dewey als etwas
ner fixen Natur oder einer Transzendenz mehr gibt, Bedrohliches und Beengendes. Deutet man sie aller-
die Möglichkeit zu einem permanenten Fortschritt; dings pragmatisch als »ends-in-view« (1922/2002,
doch könnte man Deweys reformerische Ambitio- 225), als erreichbare und selbst gesteckte Ziele, die
nen – Kant karikierend – mit ›du sollst, denn du wieder Mittel werden können (Baumgarten 1938,
kannst‹ wiedergeben: Ist es möglich, sollte man es 281 nennt das »Vermitteln«), entgeht man dieser Ge-
tun. (Oder: Was möglich ist, ist auch vernünftig.) fahr. Am Zweckbegriff hält er jedoch fest, denn Zwe-
Dewey macht sich zum entschiedenen Fürsprecher cke oder Ziele selbst formulieren und erreichen zu
dieses Fortschreitens. Da sein pragmatischer Ansatz können, bereitet den Menschen ja Glück (s. u.; vgl.
Individuum und Gesellschaft zusammendenkt, Baumgarten 1938, 291; s. Kap. II.2). Das menschliche
meint das sowohl eine Verbesserung der Individuen Leben erscheint aus dieser Sicht also als Aufgabe,
(genauer: der Qualität ihrer Erfahrungen und der aber eine, die man bewältigen kann. So ein Denken
Entwicklung ihrer Anlagen, Dewey 1920/1950, 147; kann »Seins-Vertrauen« geben (Bohnsack 2005, 57).
Bohnsack 2005, 43) wie der Gesellschaft insgesamt. In seinem umfangreichen Werk äußert sich De-
Seine Schwerpunkte auf der Erziehung einerseits (s. wey auch im Besonderen zum Glück. Neben den äs-
Kap. VIII.11), der gesellschaftlichen Rekonstruktion thetischen Schriften, in denen es ihm um die Ret-
andererseits sind aus diesem Horizont nur konse- tung möglichst unverstellter Erfahrung im Medium
quent. ästhetischen Genusses geht (Dewey 1934/1980), ist
260 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

die wichtigste Quelle dafür seine Ethik (verfasst mit are just alike because they have the same name«
James Tufts, zuerst 1908/1978 und überarbeitet (1932/2008, 247, vgl. 197 f.; Dewey 1908/2008, 45).
1932/2008). Nach dem Vorigen überrascht es nicht, Kurzum, Glück werde von diesen Ethiken systema-
dass diese auch Glück und Politik behandelt. tisch verfehlt.
Zunächst werden hier die asketischen Ideale der Wenn Glück nicht die Summe der Genüsse oder
älteren, vor allem der religiösen Moral zurückgewie- das Erreichen eines fixen Ziels ist, bleibt die Frage,
sen (Dewey selbst wurde ja puritanisch erzogen). was es dann ist. Dewey zufolge ist Glück »an active
Aus dem bloßen Verzicht auf natürliche Regungen process, not a passive outcome« (1920/1950, 143; vgl.
resultiere noch kein Glück. »Self-denial« oder »self- Pappas 2008, 143). Darin kommt er Aristoteles wie-
restraint« könne zwar der Ausbildung höherer Zwe- der nahe (auch zu Erich Fromm sowie überhaupt zur
cke dienen, dürfe aber nicht selbst zum Zweck wer- Kritischen Theorie in deren Verdinglichungskritik
den. Wer dies behaupte, schrecke nur Menschen von und deren Fokus auf unverstellte Erfahrung gibt es
der Moral ab. »Instead of making the subjugation of eine Nähe; s. Kap. VI.7). Formal betrachtet ist Glück
desire an end in itself, it should be treated as a neces- für Dewey »fulfillment« (Dewey/Tufts 1932/2008,
sary function in the development of a desire which 247); genauer eine Erfüllung selbstgesetzter Hand-
will bring about a more inclusive and enduring lungsziele, sowie – darüber vermittelt – eine Ent-
good« (Dewey/Tufts 1932/2008, 205 f.; 1908/1978, wicklung der individuellen Anlagen (»the satisfac-
328 ff.). tion, realization, or fulfillment of some purpose and
Glück ist für Dewey, wie schon für James, ein Maß- power of the agent«, 1908/1978, 246). Der Postmo-
stab der Handlungsbewertung, auch der moralischen dernismus bezieht sich also zu Unrecht auf Dewey,
(»persons who profess no regard for happiness as a wenn er sagt, das Selbst und seine Ziele konstituier-
test of action have an unfortunate way of living up to ten sich erst in einer individuellen Handlung
their principle by making others unhappy«, Dewey (»agent« und »purpose« gibt es ja schon vor ihr; vgl.
1915, 58). Doch damit schließt Dewey nicht einfach Dewey 1931/2003, 286). Doch sie lassen sich nicht
an die alten Glücks-Ethiken an (s. Kap. II.3). Auch unabhängig von diesen Handlungsvollzügen denken.
diese kritisiert Dewey, vorrangig in Gestalt von Aris- (Dadurch erst entstünden die Dualismen – etwa von
toteles und Bentham, weil sie die Handlungsziele zu Sein und Sollen –, die Dewey vermeiden will.)
wenig aus der Handlung selbst nähmen, sondern sie Damit ist der Rahmen beschrieben, in dem sich
ihr als verdinglichte Entitäten vor- und damit entge- Glück ereignen kann. Beim Emotionstheoretiker
gensetzten (Dewey/Tufts 1908/1978, 240 ff.; Dewey Dewey darf man allerdings näher fragen: Wie fühlt
1922/2002, 173 f.). An Aristoteles adressiert ist die sich dies eigentlich an? Die Empfindungsdimension
Polemik gegen stehende Werte oder Prinzipien und dieses Glücks der Praxis wird einerseits synchron be-
die Wende zur konkreten Situation, dem praktischen schrieben als Einverständnis mit der Welt, wie wir sie
oder »experimentellen« Vollzug (1920/1950, 139 f.). selbst gestaltet haben (»agreement […] of the objec-
Am Utilitarismus hingegen stört Dewey, dass die- tive conditions brought about by our endeavours«,
ser von einer fertigen Entität, dem ›Selbst‹ ausgehe, Dewey/Tufts 1908/1978, 256), andererseits diachron,
das sich mit anderen fertigen Entitäten, den Genüs- über längere Zeit hinweg, als Erweiterung des Selbst
sen, lediglich ›anfülle‹. Das sei ein falsches Besitzden- (»harmony, reenforcement, expansion«, 259). Mit
ken (»possessive« oder »acquisitive instinct«), das al- diesem Gedanken nähert Dewey das Glück an mo-
lerdings zum Kapitalismus allzugut passe. Der Utili- ralische und politische Überlegungen an: Da Ich und
tarismus übersehe zudem das »hedonistische Welt in der Handlung zusammengehen, ist ein Glück
Paradox«, dass sich Glück – ähnlich wie Selbstver- desto höher zu bewerten, je ›besser‹ unsere Hand-
wirklichung und Tugend – nicht direkt intendieren lungsziele und damit die gestaltete Welt werden.
lasse (Dewey/Tufts 1932/2008, 246). Dafür sei der (Hier kommt wieder der Meliorismus ins Spiel.)
Begriff des Glücks viel zu unbestimmt (»indetermi- Moralisch relevant ist dieses Glücksverständnis
nate«, hier eine Nähe zu Kant): Ein bloßer Sammel- deswegen, weil die besten Ziele für Dewey, darin
begriff könne keinen handlungsleitenden »sentimen- erneut Mill folgend, moralische sind: Setzen wir »so-
tal state« hervorbringen: »It is a mistake to suppose cialized interests as central springs of action«, erle-
that there is homogeneity of material or content, just ben wir eine »supreme or final happiness« von un-
because there is the single name ›happiness‹. One vergleichlichem Wert (1908/1978, 274; zu Mill vgl.
might as well suppose that all persons named Smith 255 f.; 1932/2008, 242 f.). Politisch relevant wird dies,
2. Glück im Pragmatismus. Selbstverwirklichung und Ganzheit 261

weil für Deweys moralisches Denken eigenes und das Majoritätsprinzip gegen Henry Maine verteidigt
fremdes Glück eng zusammengehen – ein nur egois- hatte (Dewey 1888/1967) oder wie er die Idee des
tisches Streben wäre eine Verengung des Horizonts, »melting pot« kritisierte (eine reichhaltige Kultur
die den Egoisten nicht glücklicher macht, da er sich sollte aus heterogenen Individuen bestehen und
so von den anderen abtrennt (Dewey 1922/2002, nicht aus einem Einheitsbrei mit möglichst vielen
132 f.). In individueller Freiheit sieht auch Dewey die Zutaten, die alle verkocht werden; Bernstein 2010,
Basis des Liberalismus. Individuelles und gesell- 65 f.). Dewey zog es vor, dass eine Gemeinschaft
schaftliches Glück sind daher nicht identisch (De- selbstbestimmt irrt, als dass sie fremdbestimmt auf
wey/Tufts 1932/2008, 248). Doch ein ontologischer den ›richtigen‹ Weg gesetzt wird. Das sind die politi-
Individualismus, der die Einzelnen radikal vonein- schen Konsequenzen der Verortung des Glücks im
ander trennt, wäre für ihn ein falsches Denken (»the eigenen Tun statt im Ergebnis. Und so bleibt der
non-social individual is an abstraction arrived at by proto-kommunitaristische Gedanke einer Einheit
imagining what man would be if all his human quali- von individuellem und gemeinschaftlichem Glück
ties were taken away«, Dewey 1888/1967, 232; ähn- bei Dewey liberal. Er möchte die Glückspolitik nur
lich Dewey/Tufts 1908/1978, 204 ff.; Dewey 1922/ auf die Bedingungen eines glücklichen Lebens, nicht
2002, 85). auf das Ergebnis erstrecken.
Diese proto-kommunitaristische Annahme rekur- Hierin aber ist Dewey sehr bestimmt: Wenn Glück
riert auf keine Gruppenseele oder dergleichen. Man durch Handlungen erfahren wird, in denen wir uns
erreiche nicht schon durch »theoretical demonstra- durch das Erreichen selbstgesteckter Ziele weiterent-
tion that what gives others happiness will also make wickeln, wird es zur moralischen Forderung, ande-
him happy«, dass der Handelnde sein persönliches ren Menschen ein solches Leben zu ermöglichen:
Glück mit dem der Gemeinschaft verbinde und da- »Regard for the happiness of others means regard for
mit vergrößere (Dewey/Tufts 1932/2008). Die Ver- those conditions and objects which permit others
bindung zwischen den Individuen läuft für Dewey freely to exercise their own powers from their own
nur über gemeinsames Handeln, geteilte Gefühle initiative, reflection, and choice« (Dewey/Tufts
und »Kommunikation« (1925/1995, 201 f.). Diese 1908/1978, 275; vgl. Dewey 1922/2002, 293 f.). Dazu
begünstigen eine Verhaltensdisposition, die persön- gehört auch, ihnen notfalls – im Sinne von Greens
liches Glück und Glück der Gemeinschaft verbin- ›positiver Freiheit‹ – zu den nötigen Ressourcen und
den. Solche Dispositionen müssen durch Erziehung Kompetenzen zu verhelfen. Dewey gehört also nicht
eingeübt und durch ein entsprechendes soziales Um- nur zu den Verteidigern partizipativer Demokratie,
feld auch politisch begünstigt werden. Es bleibt aber seine Glücksphilosophie führt ihn letztlich auch zu
stets eine individuelle Entscheidung (»By personal einer Grundlegung des Wohlfahrtsstaats als Garant
choice among the ends suggested by desires of ob- der Chancengleichheit (»the full freedom of the hu-
jects which are in agreement with the needs of social man spirit and of individuality can be achieved only
relations, an individual achieves a kind of happiness as there is effective opportunity to share in the cultu-
which is harmonious with the happiness of others. ral resources of civilization«, 1946, 140; vgl. bereits
This is the only sense in which there is an equation Dewey/Tufts 1908/1978, 473 ff., 490 ff.).
between personal and general happiness. But it is Es ist fast unmöglich, aus der reichhaltigen Glücks-
also the only sense which is morally required«, De- philosophie des Pragmatismus ein kurzes Fazit zu
wey/Tufts 1932/2008, 248). ziehen. In dessen ›experimentellem‹ Geist sollte man
Wir gehören also zusammen und müssen uns da- es dennoch versuchen – vielleicht so: Die Verortung
her auch für das Glück der anderen einsetzen. Die des Glücks im selbstbestimmten Handeln erlaubt es
anderen sind dabei nicht als amorphe oder unifor- dem Pragmatismus, scheinbare theoretische Sonder-
mierte Masse gedacht, sondern jeder Einzelne ist als welten ins Leben zurückzubinden, indem Selbstden-
Individuum einzigartig, wie Dewey vor allem gegen ken vor das bloße Wiederholen von Formeln gesetzt
den in den 1930er Jahren anhebenden Totalitaris- und das Denken als Moment der Praxis begriffen
mus hervorhebt. Deswegen widersetzte sich Dewey, wird; sie erlaubt ihm den Entwurf eines neuen Indi-
der dem sozialplanerischen Ethos der Progressivis- vidualismus durch seine Öffnung gegenüber den vi-
ten eigentlich nahestand (Eisenach 1994, 188 f.), der talen Impulsen und der Kreatürlichkeit; und da
technokratischen Vision von Walter Lippmann (De- kaum eine philosophische Frage nicht pragmatis-
wey 1927/1996) ebenso, wie er schon 40 Jahre vorher tisch behandelt werden kann, erlaubt sie auch die
262 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Perspektive eines Aufgehobenseins im »Ganzen« dernism and the Crisis of Knowledge and Authority.
(Dewey 1922/2002, 330 f.). Selbst wenn einige seiner Chicago 1994.
Formulierungen vage blieben – das muss man ihm –: Pragmatism and its Limits. In: Morris Dickstein
erstmal nachmachen. (Hg.): The Revival of Pragmatism. New Essays on So-
cial Thought, Law, and Culture. Duke 1998, 207–231.
Eisenach, Eldon J.: The Lost Promise of Progressivism.
Literatur Lawrence, KS 1994.
Apel, Karl Otto: Der Denkweg von Charles Sanders Emerson, Ralph Waldo: Self-Reliance and other Essays
Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Prag- [1841]. Mineola, NY 1993.
matismus. Frankfurt a. M. 1975. Hampe, Michael: Erkenntnis und Praxis. Zur Philoso-
Baumgarten, Eduard: Die geistigen Grundlagen des phie des Pragmatismus. Frankfurt a. M. 2006.
amerikanischen Gemeinwesens II: Der Pragmatis- Henning, Christoph: Philosophie nach Marx. 100 Jahre
mus. R.W. Emerson, W. James, J. Dewey. Frankfurt Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie
a. M. 1938. der Gegenwart in der Kritik. Bielefeld 2005.
Bernstein, Richard J.: The Pragmatic Turn. Cambridge/ –: Natur und Freiheit im Perfektionismus. Zum Ver-
Malden 2010. ständnis der Natur des Menschen in progressiven
Bohnsack, Fritz: John Dewey: Ein pädagogisches Por- Traditionen. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5
trait. Weinheim/Basel 2005. (2010), 759–775.
Dewey, John: The Ethics of Democracy [1888]. In: Ders.: Honneth, Axel: Zwischen Prozeduralismus und Teleo-
The Early Works. Bd. 1. Carbondale/Edwardsville logie. Ein ungelöster Konflikt in der Moraltheorie
1967. von John Dewey. In: Hans Joas (Hg.): Philosophie der
–: Self-Realization and the Moral Ideal [1894]. In: Ders.: Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey.
The Early Works. Bd. 4. Carbondale/Edwardsville Frankfurt a. M. 2000, 139–159.
1971, 42–53. James, William: The Principles of Psychology [1890].
– The Reflex Arc Concept in Psychology [1896]. In: Cambridge, MA 1981.
Ders.: The Early Works. Bd. 5. Carbondale 2008, 96– –: The Will to Believe [1897]. In: Ders.: The Will to Be-
109. lieve and other Essays in Popular Philosophy. New
–: Intelligence and Morals [1908]. In: Ders.: The Middle York 1956.
Works. Bd. 4. Carnondale 2008, 31–49. –: The Varieties of Religious Experience [1902]. New
–: Tolstoi’s Art [1910–11]. In: Ders.: The Later Works. York 1958.
Bd. 17. Carbondale 2008, 381–392. –: Pragmatism [1907]. In: Ders.: Pragmatism and four
–: German Philosophy and Politics. New York 1915. Essays from The Meaning of Truth. New York 1959.
–: Reconstruction in Philosophy [1920]. New York Joas, Hans: Die Entstehung der Werte. Frankfurt a. M.
1950. 1997.
–: Human Nature and Conduct. An Introduction to So- – (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum
cial Psychology [1922]. New York 2002. Werk von John Dewey. Frankfurt a. M. 2000.
–: Erfahrung und Natur [1925] (Hg. Martin Suhr). –: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der
Frankfurt a. M. 1995. Selbsttranszendenz. Freiburg 2004.
–: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme [1927] (Hg. H.- Katz, Michael B.: In the Shadow of the Poorhouse. A So-
P. Krüger). Bodenheim 1996. cial History of Welfare in America. New York 101996.
–: Die Suche nach Gewissheit [1929] (Hg. M. Suhr). Kaulbach, Friedrich: Das Prinzip Handlung in der Phi-
Frankfurt a. M. 2001. losophie Kants. Berlin 1978.
–: Philosophie und Zivilisation [1931] (Hg. M. Suhr). Mead, George Herbert: The Philosophy of Royce, James
Frankfurt a. M. 2003. and Dewey in their American Setting. In: Internatio-
–: Kunst als Erfahrung [1934]. Frankfurt a. M. 1980. nal Journal of Ethics 40 (1930), 211–31.
–: Problems of Men. New York 1946. Menand, Louis: The Metaphysical Club. New York 2001.
–: Erfahrung, Erkenntnis und Wert (Hg. M. Suhr). Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner [1888]. In: Ders.:
Frankfurt a. M. 2004. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 6.
– /Tufts, James: Ethics [1908]. In: John Dewey: The München 1999, 9–53.
Middle Works. Bd. 5. Carbondale/Edwardsville 1978. Pappas, Gregory F.: John Dewey’s Ethics. Democracy as
– /Tufts, James: Ethics [Neuausgabe 1932]. In: John De- Experience. Bloomington 2008.
wey: The Later Works. Bd. 7. Carbondale 2008. Peirce, Charles Sanders: The Essential Writings. New
Diggins, John Patrick: The Promise of Pragmatism: Mo- York 1972.
3. Glück bei Wittgenstein und im Wiener Kreis. Wahres Glück liegt außerhalb von Raum und Zeit 263

Richardson, Robert D.: William James: In the Mael-


strom of American Modernism. A Biography. Boston,
3. Glück bei Wittgenstein
MA 2007. und im Wiener Kreis.
Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität.
Frankfurt a. M. 1989.
Wahres Glück liegt außer-
–: Dewey zwischen Hegel und Darwin. In: Hans Joas halb von Raum und Zeit
(Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum
Werk von John Dewey. Frankfurt a. M. 2000, 20–43.
Shusterman, Richard: Practicing Philosophy: Pragma- Wittgensteins Glück als Übereinstimmung
tism and the Philosophical Life. New York/London
mit der Welt
1997.
Skowrońsky, Krzysztof Piotr: Values and Powers. Re-
reading the Philosophical Tradition of American
Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Bemerkungen
Pragmatism. Amsterdam, New York 2009. zum Glück kreisen um einige wenige Hauptgedan-
Suhr, Martin: John Dewey zur Einführung. Hamburg ken, die sich fast unverändert durch das Gesamtwerk
2005. ziehen. Dabei ist es häufig nicht möglich, philoso-
Taylor, Charles: The Ethics of Authenticity. Cambridge phische und private Bemerkungen voneinander zu
1991. trennen. Eine ausgearbeitete Philosophie oder syste-
Tenbruck, Friedrich: George Herbert Mead und die Ur- matische Theorie des Glücks hat Wittgenstein frei-
sprünge der Soziologie in Deutschland und Amerika. lich nicht vorgelegt. Charakteristisch für Wittgen-
In: Hans Joas (Hg.): Das Problem der Intersubjektivi- steins Sicht ist die enge Verknüpfung des Glücks mit
tät: Neuere Beiträge zum Werk von George Herbert einer asketischen Ethik der unablässigen Selbstüber-
Mead. Frankfurt a. M. 1985, 179–243. windung und -verleugnung sowie der (christlich ge-
Wartenberg, Gerd: Logischer Sozialismus. Die Transfor- prägten) Idee der persönlichen Erlösung von exis-
mation der Kantschen Transzendentalphilosophie tentieller Schuld. Damit erkennt Wittgenstein das
durch Ch. S. Peirce. Frankfurt a. M. 1971. Glücksstreben als ein zentrales Motiv des mensch-
West, Cornel: The American Evasion of Philosophy. A lichen Handelns an, und in seinen zahlreichen
Genealogy of Pragmatism. Madison 1989. Lebenskrisen hat er das schmerzvoll empfundene
Christoph Henning Ausbleiben eines tieferen und nachhaltigen Glücks-
(unter Mitarbeit von Michael Festl) erlebens auf eigene Charakterdefizite, mangelnde
Selbstdisziplin oder Verfehlungen zurückgeführt, die
er durch Beichten gegenüber Bekannten und Freun-
den, in schonungslosen Selbstanklagen (in den zu-
meist in Geheimschrift abgefassten Passagen seiner
Tagebücher) und durch unablässige »Arbeit an Ei-
nem selbst« (Vermischte Bemerkungen, Wittgenstein
1984, Bd. 8, 472) zu beheben versuchte. Auch wenn
Wittgenstein wohl nie von seiner eigenen Würdig-
keit zum Glück (Kant; s. Kap. V.3–4 und II.3) über-
zeugt gewesen sein dürfte, bekannte er doch auf dem
Totenbett, ein glückliches Leben geführt zu haben
(Malcolm 1987, 132). Ähnliche Äußerungen werden
vom jungen Wittgenstein berichtet (Leavis 1987, 85;
Wittgenstein/Engelmann 2006, 38).
Wittgensteins philosophische Überlegungen zum
Glück sind strikt nicht-kognitivistisch und lassen
(trotz fehlender direkter Textevidenz) eine Prägung
durch Gedanken von Paulus und Augustinus (Erlö-
sung und Konversion als Voraussetzung des Glück-
lichseins; s. Kap. III.4 und IV.1), von Søren Kierke-
gaard (Glück als göttlicher Gnadenerweis; s. Kap.
V.6) sowie, mitunter direkt nachweisbar, stark von
264 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Lev Tolstoj und Fedor Dostoevskij (Verfolgung as- der »Ewigkeit des Augenblicks« eine sinnhaft-verklä-
ketischer Lebensideale als Weg zum Glück; s. Kap. rende Weltschau eröffnet. »An Gott glauben heißt se-
V.14) erkennen. Auch dürften ihm Williams James’ hen, daß das Leben einen Sinn hat«. Auch wenn für
(James 1902/1997; s. Kap. VI.2) Beschreibungen reli- den Gläubigen der Gottesglaube bedeutet, dass seine
giöser Erweckungserlebnisse, Konversionen und be- Welt nicht von seinem eigenen, sondern von einem
seelter Gottesschau (Glückseligkeit der beatitudo) »fremden Willen« abhängt, der sich als das Insgesamt
nachhaltig beeindruckt haben (vgl. Wittgenstein der Welt oder »einfach« als Schicksal erweist, so be-
1980, 18). Inwieweit Wittgenstein bei der Formulie- deutet dieses Leben in Gott laut Wittgenstein zu-
rung seines Glücksbegriffs von Autoren wie Scho- gleich die »Übereinstimmung […] mit der Welt«:
penhauer, Kant oder Spinoza beeinflusst ist, wie zu- »Und dies heißt ja ›glücklich sein‹. Ich bin dann sozu-
weilen in der Forschung angenommen wird, lässt sagen in Übereinstimmung mit jenem fremden Wil-
sich nicht eindeutig ermitteln, auch wenn er mit der len, von dem ich abhängig erscheine. Das heißt: ›ich
abendländisch-metaphysischen Tradition die enge tue den Willen Gottes‹« (Tagebucheintrag 8.7.1916;
Anbindung des Glückserlebens an das ethisch Gute 1984, Bd. 1, 169).
teilt (vgl. Glock 2000, 102 ff.). Hingegen lehnte er die Das glücksverheißende Leitbild der Verbindung
Überlegungen seines ansonsten zeitweise hochge- von a-zeitlicher sinnhafter Weltschau und der allen
schätzten Lehrers und Mentors Bertrand Russell körperlichen Annehmlichkeiten entsagenden, nur
zum Glück grundsätzlich ab (vgl. McGuinness 1988, der reinen Erkenntnis verpflichteten Willensenthal-
180 ff.). tung entnimmt Wittgenstein vor allem der Kurzen
Für den Glücksbegriff der Logisch-philosophischen Darlegung des Evangelium Lev Tolstojs (zu Wittgen-
Abhandlung (Tractatus logico-philosophicus, 1921) steins Tolstoj-Lektüre vgl. die Einträge ins geheime
ist die strikte Trennung von empirischer Tatsachen- Tagebuch 3.9, 4.9. und 11.10.1914, Wittgenstein 1991,
feststellung und normativ-ethischen Tatsachenbe- 20, 29; vgl. auch Tetens 2009, 101 ff.). Das Christen-
wertungen bzw. Handlungen zentral: Die Ethik ist tum erscheint folgerichtig als »der einzig sichere Weg
»transzendental« und lässt sich nicht aussprechen zum Glück« (Eintrag ins geheime Tagebuch
(Tractatus 6.42–421, 1984, Bd. 1, 83). Im Unterschied 8.12.1914, Wittgenstein 1991, 47), weil es dem Gläu-
zum Empirismus wird diese Trennung allerdings bigen das Gefühl der »absoluten Geborgenheit« ver-
nicht aufgrund sachlicher Argumente, sondern (im mittelt (1965/1989, 14). Wittgenstein übernimmt da-
Anschluss an Frege und Russell) aussagenlogisch her- mit Tolstojs Ablehnung sowohl der institutionell-
geleitet. Da der Begriff ›Glück‹ zur Ethik gehört, kön- dogmatischen als auch der historisch-kritischen
nen sich Aussagen über das Glück niemals auf Tatsa- Deutung der christlichen Heilslehre (vgl. Tolstoi
chen in der Welt beziehen, sondern nur Stellungnah- 1892, 13–15), die ihn bereits bei der Ausarbeitung
men zur Welt von deren ›Grenze‹ her sein: Sie des Tractatus zu einer grundlegenden Kritik an der
verändern die »Grenzen der Welt« derart, dass die von Wissenschaftsglauben und Fortschrittsoptimis-
Welt »dadurch eine andere« wird. »Sie muß sozusa- mus geprägten »westlichen Zivilisation« gelangen
gen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt lässt. Deren progressistischer »Geist« ist ihm zutiefst
des Glücklichen ist eine andere als die des Unglückli- »fremd […] & unsympathisch« (Vermischte Bemer-
chen« (Tractatus 6.43, 1984, Bd. 1, 85). kungen, 5.11.1930, 1994, 29 f.).
Glück lässt die Welt wachsen, Unglück schrump- Mit solchen Überlegungen führt Wittgenstein
fen, weil sie entweder als sinnvoll und zweckhaft oder auch Gedanken weiter, die durch die Lektüre des Ro-
aber als problematisch und sinnentleert erscheint, mans Die Brüder Karamasoff von Fedor Dostoevskij
ganz wie sie durch den Verlust eines Körpersinns angeregt wurden und zu fast wörtlichen Übernah-
»kleiner« bzw. durch dessen Wiedergewinn »größer« men führten (vgl. Tagebucheintrag 6.7.1916, 1984,
wird. In einem Tagebucheintrag vom 6.7.1916 heißt Bd. 1, 168). Dostoevskij lässt in seinem Roman den
es: »Der, welcher glücklich ist, […] erfüllt den Zweck Starezen Sossima über das Glück reflektieren: »Denn
des Daseins«, indem er »keinen Zweck außer dem die Menschen sind geschaffen, um glücklich zu sein,
Leben mehr braucht. […] Die Lösung des Problems und wer vollkommen glücklich ist, der darf sagen:
des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Pro- ›Ich habe Gottes Gebot auf dieser Erde erfüllt.‹ Alle
blems« (1984, Bd. 1, 168; vgl. Tractatus 6.521, 1984, Gerechten, alle Heiligen, alle Heiligen Märtyrer, alle
Bd. 1, 85). Dieses Verschwinden indiziert eine erlö- waren glücklich« (Dostojewskij 1879–80/2003, 92).
sende Konversion und in der Folge ein Glück, das in Diese Verbindung hat Wittgenstein auch mit Blick
3. Glück bei Wittgenstein und im Wiener Kreis. Wahres Glück liegt außerhalb von Raum und Zeit 265

auf sich selbst im Sinn, wenn er das Glück der Er- freilich weniger in unmittelbarer sinnlicher Befriedi-
kenntnis preist, das sich mit dieser Unterwerfung gung, als im nachhaltigen »großen Glück der großen
unter den Willen Gottes einzustellen vermag, aller Liebe« zum Mitmenschen und zur Erkenntnis be-
»Not der Welt zum Trotz« (Tagebucheintrag steht (317, mit Bezug auf Augustinus). In seinen Fra-
13.8.1916, 1984, Bd. 1, 176). gen der Ethik, die auch Wittgenstein kannte, bezeich-
Von den in der Spätphilosophie (ab 1929) vorge- net Schlick »Glück und Leid« als gegenüber dem
nommen Revisionen des Tractatus blieb der Glücks- »psychologisch streng definierten« Paar Lust-Unlust
begriff so gut wie unberührt. Wittgenstein verweist »ganz verschwommene« Termini für komplexe seeli-
zumeist auf die bereits für die Frühphilosophie rele- sche »Mischzustände«. Vielfältige historische, kultu-
vanten Autoren (vgl. Drury 1987), wobei sich aller- relle und religiöse Momente können zur Ausbildung
dings – wie in der Spätphilosophie insgesamt – sein eines ›absoluten‹ Glücksbegriffs mit entsprechender
Fokus von der Ontologie zur Erkundung von Sprach- metaphysischer oder religiöser Aufladung und Über-
spielen verschoben hat: »Ich kann wohl die christli- steigerung führen. Schlick verweist zur Illustration
che Lösung des Problems des Lebens (Erlösung, Auf- dieser Position auf jene Glücks-Lehre des Starezen
erstehung, Gericht, Himmel, Hölle) ablehnen, aber Sossima in Dostoevskijs Brüder Karamasoff, auf die
damit ist ja das Problem meines Lebens nicht gelöst, sich wohl auch Wittgenstein 1916 bezogen hatte
denn ich bin nicht gut & nicht glücklich. Ich bin (s.o.), so dass anzunehmen ist, dass Dostoevskij in
nicht erlöst. Und wie kann ich also wissen, was mir, den Gesprächen des Wiener Kreises mit Wittgen-
wenn ich anders lebte, ganz anders lebte, als einzig stein erörtert wurde (vgl. 1930/2006, 469 f.). Eine
akzeptables Bild der Weltordnung vorschweben Korrelation zwischen tugendhaftem Handeln und
würde. Ich kann das nicht beurteilen. Ein ganz ande- Glück lässt sich laut Schlick jedoch nicht aus (kate-
res Leben rückt ja ganz andere Bilder in den Vorder- gorischen) Imperativen, sondern aus empirisch zu
grund, macht ganz andere Bilder notwendig. Wie Not beobachtenden, anthropologischen Grundtatsachen
beten lehrt. […] Lebt man anders, so spricht man an- (vgl. 516 f.) ableiten. Daher ist das anzustrebende
ders. Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprach- ethische Fernziel eine »Sittlichkeit ohne Entsagung«,
spiele« (Tagebucheintrag 4.2.1937, Wittgenstein die ein tugendhaft-pflichtgemäßes sowie gütiges
1997, 75). Verhalten honoriert. In der eudämonistischen For-
mel »Mehre dein Glück!« wird laut Schlick die mit-
Wittgenstein und der Wiener Kreis telalterliche Idee der beatitudo (Beseeltheit) zeitge-
mäß reformuliert (528 ff., s. Kap. IV.1).
Wittgensteins Zurückweisung der kognitivistischen Wittgenstein musste in dieser Vorstellung von
Ethik entsprach den metaphysik- und sprachkriti- Glücksmehrung eine abwegige Vorstellung von
schen Bestrebungen des Wiener Kreises. In den zahl- »Fortschritt« erblicken (Wittgenstein 1984, Bd. 3,
reichen Diskussionen mit Wittgenstein über den 116). Er hat Schlicks Gedanken eines Glücks ohne
Tractatus stießen dessen religiöse Motive allerdings Unterwerfung unter den absoluten und unerforsch-
auf Unverständnis und führten dazu, dass sich Witt- lichen Willen Gottes als »flach« und verfehlt zurück-
genstein der Diskussion verweigerte und stattdessen gewiesen und sich dezidiert gegen jeden theore-
Gedichte von Rabindranath Tagore rezitierte (vgl. tischen Erklärungsversuch des Wesens der Ethik
McGuinness 1988, 184; Monk 1992, 263). ausgesprochen (vgl. 1984, Bd. 3, 115 f.). Eine Verstän-
Während sich die meisten Vertreter des Wiener digung zwischen beiden Philosophen über Fragen
Kreises zunächst nur am Rande mit Fragen der Ethik der Ethik und des Glücks war daher von vornherein
beschäftigten und erst mit den Arbeiten von Victor ausgeschlossen.
Kraft (1935) Probleme einer »wissenschaftlichen
Wertlehre« diskutiert wurden, hat v. a. Moritz Schlick
(1882–1936) das Glück als Zentralbegriff seiner Literatur
Ethik herausgestellt. In Lebensweisheit wird die von Dostojewskij, Fjodor: Die Brüder Karamasoff [1879–
Nietzsche inspirierte Grundeinsicht formuliert, dass 80]. Zürich 2003.
der »Wille zum Glück« mit dem »Willen zur Lust« Drury, Maurice O’Connor: Bemerkungen zu einigen
identisch ist (Schlick 1908/2006, 94). Ziel des Gesprächen mit Wittgenstein. Gespräche mit Witt-
menschlichen Lebens ist die Erzielung eines körper- genstein. In: Rush Rhees (Hg.): Wittgenstein. Porträts
lichen und geistig-seelischen Glücksmaximums, das und Gespräche. Frankfurt a. M. 1987, 117–235.
266 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Glock, Hans-Johann: Stichwort ›Ethik‹. In: Ders.: Witt-


genstein-Lexikon. Darmstadt 2000, 102–106.
4. Glück in den zwanziger
James, William: The Varieties of Religious Experience. A Jahren. »Tragisches Gefühl
Study in Human Nature [1902]. New York 41997.
Kraft, Victor: Die Grundlagen einer wissenschaftlichen
des Lebens«: Über das Exil
Wertlehre. Wien 1935. des Glücks
Leavis, Frank Raymond: Wittgenstein – einige Erinne-
rungsbilder. In: Rush Rhees (Hg.): Wittgenstein. Por-
träts und Gespräche. Frankfurt a. M. 1987, 84–106.
Was wir bis heute mit dem dritten und kulturell wohl
Malcolm, Norman: Erinnerungen an Wittgenstein.
markantesten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts
Frankfurt a. M. 1987.
assoziieren, ist das bewegte Bild von den Roaring
McGuinness, Brian: Wittgensteins frühe Jahre. Frank-
furt a. M. 1988.
Twenties als einer ebenso explosiven wie intensiven,
Monk, Ray: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. als einer damals tabubrechenden und uns noch heute
Stuttgart 1992. in vieler Hinsicht provozierenden Zeit. Das neue Le-
Schlick, Moritz: Lebensweisheit. Versuch einer Glückse- ben der Großstädte, wie es sich plötzlich in New York
ligkeitslehre [1908]. In: Ders.: Kritische Gesamtaus- vor allem, aber auch in Berlin, Buenos Aires, Mos-
gabe. Bd. I, 3. Wien/New York 2006, 43–334. kau, Tokio und (man kann diesen Namen nicht aus-
–: Fragen der Ethik [1930]. In: Ders.: Kritische Gesamt- lassen) in Chicago überstürzend, mit Exuberanz und
ausgabe. Bd. I, 3. Wien/New York 2006, 347–536. Brutalität entwickelte, scheint alle anderen Zonen
Tetens, Holm: Wittgensteins »Tractatus«. Ein Kommen- der Welt in Bann gehalten zu haben, unbeirrt und
tar. Stuttgart 2009. obsessiv, so als seien schon Anflüge von Reflexion
Tolstoi, Leo: Kurze Darlegung des Evangelium. Leipzig Boten des Todes. Wie ein frenetischer Tanz wirken
1892. diese Roaring Twenties – dazu macht sie jedenfalls
Wittgenstein, Ludwig: Briefe. Briefwechsel mit B. Rus- ein bis heute nicht ganz verblasstes Bild von ihrer
sell, G.E. Moore, J.M. Keynes, F.P. Ramsey, W. Eccles, P. Gegenwart; vielleicht ist es ein Tanz auf einem kaum
Engelmann und L. von Ficker. Frankfurt a. M. 1980. sichtbaren Vulkan. Aber weil wir Tanz mit Lebendig-
–: Werkausgabe. 8 Bde. Frankfurt a. M. 1984. keit gleichsetzen und Lebendigkeit, eher unbegrün-
–: Vortrag über Ethik. In: Ders.: Vortrag über Ethik und det, mit Glück, bedarf es eines zweiten Blickes, um zu
andere kleine Schriften [1965]. Frankfurt a. M. 1989, ahnen, dass sich jenes Jahrzehnt in einer Stimmung
9–19.
von verzweifelter Unsicherheit und tiefer Orientie-
–: Geheime Tagebücher 1914–1916. Wien 1991.
rungslosigkeit befand.
–: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem
Sie war, auch dies ist bemerkenswert und kaum je
Nachlaß (Hg. Georg Henrik von Wright/Heikki Ny-
man; Neubearbeitung des Textes durch Alois Pich-
bemerkt worden, eine Orientierungslosigkeit, welche
ler). Frankfurt a. M. 1994. sich vor allem in der existentiellen Dimension breit
–: Denkbewegungen. Tagebücher 1930–1932, 1936– machte, das heißt: in der individuellen Lebenserfah-
1937. Bd. 1. Innsbruck 1997. rung und ihren vielfachen philosophischen und
– /Engelmann, Paul: Briefe, Begegnungen, Erinnerun- künstlerischen Brechungen – und zwar vor dem
gen. Innsbruck/Wien 2006. Kontrast-Hintergrund eines damals trotz der sowje-
Matthias Kroß tischen Revolution vielleicht schon in Ansätzen ab-
gelebten Sozialismus und eines eben heraufkom-
menden Faschismus, also vor den massivsten Ideolo-
gien und den ihrer selbst am deutlichsten gewissen
kollektiven Überzeugungen, welche die Neuzeit her-
vorgebracht hat. Doch obwohl Sozialismus und Fa-
schismus, neben verschiedenen Initiativen zur Er-
neuerung der christlichen Lehre, Massenbewegun-
gen blieben oder zu solchen anwuchsen, erreichten
ihre aus ganz verschiedenen Gründen optimisti-
schen Botschaften kaum die Sphäre des individuel-
len Lebens. Sie stifteten, wenn man den Zeugnissen
aus den Jahren zwischen 1920 und 1930 trauen darf,
4. Glück in den zwanziger Jahren. »Tragisches Gefühl des Lebens«: Über das Exil des Glücks 267

kaum noch Glück. Selbst als entfernter Horizont des krieg‹ gemacht hatte, gar nicht mehr unmittelbar evi-
wirklichen Lebens oder als Thema philosophischer dent, welche Veränderungen der Welt schockierend
Spekulationen hatte Glück weitgehend seinen Status genug gewesen waren, um solche Wirkungen auf das
als Bezugspunkt und Möglichkeit verloren. Nicht zu- individuelle Lebensgefühl zu haben. Die Frage ist
fällig setzte Max Scheler schon 1922 in einem Essay umso faszinierender, als die Zerstörungsgewalt des
unter dem Titel »Vom Verrat der Freude« zu einer Zweiten Weltkriegs – vor allem unter der Zivilbevöl-
Invektive auf die glücksvergessene Philosophie sei- kerung – weitaus einschneidender war als die des
ner Gegenwart an. Immer wieder sollte die Evakuie- Ersten, während die intellektuellen und existentiel-
rung der Existenz vom Glück solche trotzigen An- len Reaktionen nach den Waffenstillständen von
sätze des Protests heraufbeschwören – doch sie blie- 1945 uns heute erstaunlich verhalten erscheinen.
ben Ansätze und Gesten. Wenn auch eine umfassende Erklärung dieses Kon-
trasts nicht gelingen kann, wird er doch zuerst an ein
Verlust von Subjekt und Welt millionenfach vollzogenes Erleben erinnern, das ei-
nige der großen Literaten unter den Kriegsteilneh-
Wie war die Welt, die westliche Welt wenigstens, vom mern, wie Ernst Jünger oder Louis-Ferdinand Cé-
glücklichen Beginn des Jahrhunderts, der sich so line, schon in den zwanziger Jahren – neben allen
gerne und oft ›Belle Epoque‹ genannt hatte, in solche weltanschaulichen Ambivalenzen und Abgründen –
Verunsicherung und glücklose Verzweiflung gera- in literarische Form gesetzt haben. Es war das von
ten? Kaum ein Erwachsener der zwanziger Jahre den sogenannten Materialschlachten seit 1915 und
hätte auf diese Frage nicht zuerst mit der Erwähnung von neuen Waffensystemen, wie etwa dem Maschi-
des ›Weltkriegs‹ geantwortet – erstaunlicherweise, nengewehr, ausgelöste Gefühl, dass individueller
da der Weltkrieg (vor allem in Russland und auf dem Mut, individuelle Tapferkeit und individuelle Intelli-
Territorium des ehemaligen Habsburger Reiches) zu genz nicht einmal mehr die Überlebenschance der
jenen Ereignissen nationaler und sozialer Befreiun- Soldaten verbesserten. Darin vollzog sich wohl der
gen geführt hatte, deren Agenten schon die perma- allererste Tod des Subjekts als Heldengestalt der
nente Selbstfeier der ›Belle Epoque‹ verunsichert Neuzeit. Man hatte vorausgesagt und ist zumal heute
hatten. Doch ein Vergleich von Photographien aus schnell geneigt zu bemerken, dass im Ende des Hel-
dem Sommer 1914 und dem Winter 1918/1919 zeigt dentums eine glücksstiftende Entlastung der Exis-
tatsächlich dieselben Männer und Frauen nicht um tenz gelegen habe. Von den so selbstverständlich so-
Jahre, sondern um Jahrzehnte gealtert, verhärmt und zialdemokratischen Werten und Idealen der europä-
verhärtet. Die Leere in den Gesichtern der deutschen ischen Mittelklasse unserer Zeit her gesehen, ist diese
Soldaten, die geschlagen, aber in Marschformation Deutung nicht von der Hand zu weisen, aber in den
nach Berlin zurückkehrten, unterscheidet sich dort Jahren nach 1918 wäre sie wohl nicht einmal sozia-
kaum von den Blicken der Soldaten aus der siegrei- listischen Intellektuellen plausibel gewesen – oder
chen französischen Armee beim Triumphzug durch eben anders formuliert: heroisch genug.
Paris. Fast niemand in Europa schien die Kraft ha- Hinzu kam – vor allem, aber nicht ausschließlich
ben zu wollen, an den vor allem von Woodrow Wil- in der Donaumonarchie und in Deutschland – ein
son, der so sehr akademischen Präsidenten-Figur zentraler Effekt der Implosion aller ständischen
der Vereinigten Staaten, lancierten hochherzigen Hierarchien, und dies war die Auflösung bis dahin
Projekten (etwa zur Schaffung eines südslawischen garantierter Formen von Autorität. Sie betraf ohne
Staates) mitzuarbeiten. Auf der anderen Seite gab es Unterschied den Adel und das höhere Bürgertum,
nur wenige Veteranen des Weltkriegs, die nicht be- Richter, Geistliche, Professoren und viele andere so-
sessen waren vom dem Drang, ihr individuelles Le- ziale Rollen, und ist in so verschiedenen Werken wie
ben von Grund auf zu verändern – so wie Ludwig den letzten Bänden von Marcel Prousts Suche nach
Wittgenstein, der sich seines auch nach 1918 riesigen der verlorenen Zeit oder Heinrich Manns Professor
ererbten Vermögens entledigte, um Kräfte und Auf- Unrat beschrieben. Diese beiden Einbrüche wurden
merksamkeit ausschließlich philosophischen Pro- intensiviert durch die wie unvermeidlich hereinbre-
blemen und philanthropischen Projekten zu wid- chende Naturereignisse erlebten Wirtschaftskata-
men. strophen, in Gestalt der Inflationen der frühen zwan-
Nun ist es, zumal der Krieg zwischen 1939 und ziger Jahre und des Schwarzen Freitags 1929 an der
1945 den der Jahre 1914 bis 1918 zum ›Ersten Welt- Wall Street. All diese Schauplätze der Krise hielten
268 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

wie eine Klammer eine Stimmung zusammen, deren rückfinden, indem er einen Satz aus Platons Sophis-
Grund epistemologisch war. Es war das Gefühl, dass tes zitiert, welcher seiner eigenen Gegenwart vor-
sich Erkenntnis-Subjekt und Welt der Objekte über wirft, das Verständnis für das verloren zu haben, was
das neunzehnte Jahrhundert immer weiter vonein- sie »seiend« nenne: »Denn offenbar seid ihr doch
ander entfernt hatten, bis zu einem Grad, wo selbst schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich
die vor-theoretische Gewissheit, überhaupt mit der meint, wenn ihr den Ausdruck ›seiend‹ gebraucht,
Welt und ihren Dingen in Berührung zu sein, aufge- wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt
zehrt war. aber sind wir in Verlegenheit gekommen.« Hinter
dem Wort »seiend«, bemerkt Heidegger, stehe »die
Die Konservative Revolution Frage nach dem Sinn von Sein« (Heidegger 1927/
2006, 1), und diese Frage wird seine Philosophie für
Genau diese Stimmung, die sich in der seit Kriegs- die kommenden fünfzig Jahre zu einer Ontologie
ende immer wieder bemühten Metapher artikulierte, machen – und beherrschen. »Seinsvergessen« ist
man ›habe den Boden unter den Füßen verloren‹, nicht nur ein Leben ohne Antwort auf diese Frage,
provozierte die Reaktionen und Denkstile, welche sondern schon Leben ohne ein Gefühl für ihre ele-
bald schon mit Hugo von Hofmannsthal (Hof- mentare, unhintergehbare Wichtigkeit.
mannsthal 1927/1980, 41) und anderen »Konserva- Wenn die Philosophie des 19. Jahrhunderts auf
tive Revolution« genannt werden sollten und heute den Eindruck eines immer schnelleren Auseinander-
zu Unrecht ausschließlich als Ursprungsdimension driftens zwischen Subjekt (im Sinn von Bewusstsein)
des Faschismus in der historischen Erinnerung ge- und Objekt (im Sinne von Dinge der Welt) fixiert
blieben sind. Denn der Horizont dieser Bewegtheit war, wenn die Phänomenologie seines Mentors Ed-
und der von ihr ausgehenden Bewegungen war viel mund Husserl versprochen hatte, von diesem Ausei-
weiter als der Horizont des Faschismus – und hatte nanderdriften zu einem neuen Gewissheitsbezug
weniger spezifische, weil viel grundsätzlichere Ziele. zwischen Subjekt und Objekt zu gelangen, so mus-
Die Konservative Revolution war angetrieben von terte Heidegger die zweipolige epistemologische
der Intuition, dass eben die minimalste Bedingung Grundstruktur einfach aus. Er ersetzte das Subjekt-
für die fortgesetzte Möglichkeit menschlicher Exis- Objekt-Schema durch das »In-der-Welt-sein« des
tenz, nämlich die Gewissheit ihres Bezugs zu einer »Daseins«. »Dasein« stand für menschliche Existenz,
Welt außerhalb ihrer selbst, wenn überhaupt, dann und der Partikel »Da-« deutete an, dass der Begriff
nur in einer Abkehr von der Gegenwart, in einem entgegen der cartesianischen Tradition sehr wohl
Rückgriff auf Archaisches und Elementares zu errei- Raum und Körper einschließen sollte. Das Wort »In-
chen sei. Das war eine dramatischere Selbstinszenie- der-Welt-Sein« mit seinen obsessiven Bindestrichen
rung als die des in den zwanziger Jahren durch die hob hervor, dass solches Dasein schon immer mit
Oktoberrevolution noch sehr zukunftsoptimistisch der umgebenden Welt vertraut war, statt sich von ihr
gestimmten Sozialismus, eine Selbstinszenierung in wachsender Distanz zu entfernen. Fast nicht mehr
auch, deren Stimmung mit der Stimmung konver- metaphorisch und im Bezug auf die historische
gierte, welche die wirtschaftlichen Weltkatastrophen Situation gesagt: Heideggers eigene Philosophie
auslösten. Die Frage nach individuellem oder kollek- setzte mit dem Angebot ein, der menschlichen Indi-
tivem Glück war in weite Ferne gerückt. vidualexistenz den verlorenen Boden unter den Fü-
ßen zurückzugeben. Das war eine Voraussetzung für
Heideggers Intervention Glück, freilich noch nicht Glück selbst (das in Sein
und Zeit selbst gewissermaßen ›nichts verloren‹ hat).
Martin Heideggers 1926 niedergeschriebenes und
im Frühjahr 1927 veröffentlichtes Werk Sein und Konfrontation mit dem Tod
Zeit, in dem der Begriff »Stimmung« übrigens eine
zumindest quantitativ erstaunliche Rolle spielt, war In diesem primären Rahmen, den Heideggers Inter-
die philosophische Kondensation jener Problem- vention von einem epistemologischen in einen exis-
struktur und zugleich eine Resonanz auf eben ihre tentiellen verwandelte, wurden nun eine Reihe von
Stimmung. Buchstäblich in den ersten Sätzen des »Existentialen« – vielleicht könnte man sagen: von
Buchs will Heidegger – sozusagen in zwei histori- unvordenklichen Grunddynamiken der menschli-
schen Stufen – zu einer archaischen Situation zu- chen Existenz – identifiziert und beschrieben. Ganz
4. Glück in den zwanziger Jahren. »Tragisches Gefühl des Lebens«: Über das Exil des Glücks 269

im Gegensatz zur Philosophie der Aufklärung nahm schinen-Feuerwaffen der Formel vom »Vorlaufen in
Heidegger nicht in Anspruch, dass diese Dynamiken den Tod« einen spezifisch wörtlichen Sinn gaben.
zum Glück oder gar zu einer Erfüllung innerhalb des Allein der Entschluss, sich solchen Herausforde-
individuellen Lebens führen sollten. Aber sie kamen rungen ohne Schonung seiner selbst zu stellen, kann
einer Vorstellung und sogar einer Verschreibung von nach Sein und Zeit bedeuten, den Möglichkeiten des
menschlichem Glück so nahe, als es in ihrem histori- Daseins gerecht zu werden. Zunächst sieht dies aus
schen Kontext überhaupt denkbar war. Denn durch wie ein Sich-Einfinden in ein unerfreuliches, eben
die Identifizerung von Existentialien wurde es mög- mit dem Dasein übernommenes Schicksal. Erstaun-
lich, vor Verhaltensformen zu warnen, die sich gegen licherweise jedoch kommt dann in dem Mut zur
diese Dynamiken stellten – und dadurch Unglück Konfrontation mit dem Tod eine Möglichkeit von
heraufbeschwören konnten. Aus der Auffassung des Freiheit zum Vorschein: »Das Vorlaufen [in den Tod]
Daseins, das heißt: der individuellen Existenz, als In- aber weicht der Unüberholbarkeit nicht aus wie das
der-Welt-Sein und mithin auch als primärem Mit- uneigentliche Sein zum Tode, sondern gibt sich frei
sein mit anderen Menschen (die ihrerseits »Dasein« für sie. Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen
sind) entfaltet Heidegger zunächst die Dynamik Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich
(oder das Existential) der Sorge, welche vor allem in andrängenden Möglichkeiten, so zwar, dass es die
verschiedenen Modalitäten der Fürsorge für andere faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren
liegt: die »einspringende, die ›Sorge‹ abnehmende vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und
Fürsorge bestimmt das Miteinandersein in weitem wählen läßt. Das Vorlaufen erschließt der Existenz
Umfang, und sie betrifft zumeist das Besorgen des als äußerste Möglichkeit die Selbstaufgabe und zer-
Zuhandenen. Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit bricht so jede Versteifung auf die je erreichte Exis-
einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr tenz« (264). Näher kommt die Existentialontologie
einspringt, als dass sie ihm in seinem existentiellen der zwanziger Jahre wohl den Dimensionen von
Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ›Sorge‹ Glück und Erfüllung nicht. In einem Brief vom
abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zu- 7.10.1926 an Elisabeth Blochmann will Heidegger
rückzugeben« (Heidegger 1927/2006, 122). Berühmt eine »Existenzfreudigkeit« aus deren Bereitschaft
geworden ist unter den von der Existentialanalyse in vernehmen, sich auf die existentiellen Möglichkeiten
Sein und Zeit identifizierten Motiven vor allem das und Herausforderungen der Weiblichkeit einzulas-
»Man« (und das »Gerede« als seine kommunikative sen (Heidegger/Blochmann 1989, 17). Doch damit
Aggregatform), in das sich zu verlieren das Selbst soll nur die Gefahr des Verfallens an uneigentliches
ständig bedroht ist: »Das Selbst des alltäglichen Da- Dasein abgewendet werden, es zeigen sich keine
seins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, Wege oder Ziele, in denen sich Glück erschließt.
das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. Als
Man-Selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zer- Das tragische Gefühl des Lebens
streut und muss sich erst finden« (129).
Letztlich scheinen alle Versuchungen, sich abzu- Miguel de Unamunos schon 1913 veröffentlichtes
wenden vom Ergreifen des eigenen Selbst, ob es nun Buch Del sentimiento trágico de la vida, welches das
die Versuchung des Geredes, der Zerstreuung oder Lebensgefühl der zwanziger Jahre offenbar so genau
der Neugierde ist, zurückzugehen auf die Angst, sich traf, dass seine Rezeption und sein Einfluss nicht ab-
mit dem Tod in seiner Jemeinigkeit zu konfrontie- ebben wollten, entwickelt aus einem einzelnen, sehr
ren. Denn aus der Perspektive des individuellen Da- spezifischen Erfahrungstyp einen breiten Horizont
seins ist der Tod ein gnadenloses, absolutes, alle jen- von Anlässen und Situationen der Dysphorie. Dieser
seits der von ihm gesetzten Grenze liegenden Mög- Ausgangspunkt ist die Sehnsucht, ja die Begierde
lichkeiten nichtendes Ende. Und gewiss liegt es nahe, nach der den Menschen versperrten Dimension der
in dieser Denkfigur eine doppelt kondensierte Er- Ewigkeit. Ihr habe das Christentum im Mythos von
fahrung des Weltkriegs zu sehen. Die Ahnung, dass der Auferstehung des Menschensohnes, der den Tod
sich die klassische Konvergenz zwischen Heldentum überwindet, ein Zeichen der Hoffnung geschenkt.
und dem Triumph des Vaterlands aufgelöst hatte, re- Doch schon dieser – vitalistische – Impuls des Chris-
duzierte den Tod im Schützengraben oder im Sturm- tentums werde immer wieder durch Strategien der
angriff von einem nationalen Opfer zur Nichtung Rationalität und Vernunft durchkreuzt und entkräf-
des Individuums. Hinzu kam, dass die neuen Ma- tet, beginnend mit der Interpretation des Kreuzesto-
270 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

des und der Auferstehung als Erlösung von der Erb- sexuell, organisierte der Filmschauspieler Rodolfo
sünde. Eben die Spannung zwischen Vitalismus und Valentino einen Schauboxkampf gegen den Schwer-
Vernunft ist Ausgangspunkt für eine Vielfalt von täg- gewichtsweltmeister – dieser Kampf musste auf ei-
lichen Enttäuschungen, die Unamuno unter dem Ti- nem Dachgarten in New York stattfinden. In keiner
tel des »tragischen Lebensgefühls« subsumiert. Da- anderen Gattung populärer Kunst verdichtete sich
bei ist eigentlich keines seiner Motive tragisch im das Motiv der Konvergenz von erotischer Erfüllung
komplexen Sinn der griechisch-antiken Begriffstra- und Tod zu intensiverer Aktualität als im Berg-Film;
dition. Eher fasst die Formel eine nicht eliminierbare Länder wie Spanien oder Norwegen, die man als Pe-
Prämisse der Dysphorie für jegliches Erleben und ripherie der europäischen Welt erfuhr, weckten hy-
jegliche Erfahrung in seiner Zeit. Was an positiven perbolische Sehnsucht nach Schönheit, Heldentum
Momenten und Möglichkeiten der Existenz identifi- und Erfüllung, die nachwirken sollten sowohl im na-
ziert wird, kann also nie prinzipiell ihre negative tionalsozialistischen Ideologem vom ›hohen Nor-
Grundbedingung und Grundstimmung ändern, son- den‹ wie im Engagement der sozialistischen und
dern konstituiert sozusagen ein Exil im tragischen kommunistischen Brigaden während des spanischen
Lebensgefühl. Schon die Zeitgenossen spekulierten Bürgerkriegs. Der Nordpol und bald auch die Ant-
immer wieder über Anregungen aus der philosophi- arktis wurden zu magnetischen Zentren lebensge-
schen Tradition, welche hinter den Stimmungen und fährdender und oft tödlich endender Abenteuer-
Gesten dieses und anderer Bücher Unamunos stehen phantasien.
könnten – Schopenhauer und Kierkegaard waren
wohl die am liebsten genannten Kandidaten (s. Kap. Oszillation zwischen Nüchternheit
V.6). Dabei hüllte sich der Autor in eine so viel- wie
und Ekstase
nichtssagende Vagheit, welche ihm – wenigstens au-
ßerhalb der Welt der akademischen Philosophie – In dieser sich mit tragischem Lebensgefühl, Existen-
den Ruf des umfassend Belesenen eintrug. Was die tial-Ästhetik und einem Drang zur Peripherie insze-
Stimmung seiner Zeit jedenfalls traf und zugleich nierenden Welt entstanden nun zwei Stile des Le-
verdichtend artikulierte, war viel elementarer als sol- bens, deren Verhältnis zwischen extremer wechsel-
che Bezüge auf den philosophischen Kanon. Es war seitiger Spannung und harmonischer wechselseitiger
die Spannung zwischen einer nie aussetzenden Komplementarität oszillierte. Ich möchte sie als
Glücksbegierde und der – wie immer motivierten – ›Nüchternheit‹ und ›Ekstase‹ charakterisieren. In
Prämisse von der Unmöglichkeit ihrer Erfüllung. den Gesten der Nüchternheit (oder, das war ein al-
Dieser Situation entspricht zum Beispiel die Se- ternativ programmatisches Prädikat: in den Gesten
mantik des damals so beliebten Begriffs der ›Tat‹. der ›Sachlichkeit‹) lag bei aller möglichen Eleganz
Von Taten sprach man, wenn Handlungen nicht meist ein Gefühl der Desillusion und der Resigna-
nach dem bewertet wurden, was sie bewirken sollten tion. Wo der Existenz jede Grundlage für monumen-
und vielleicht bewirkten, sondern nach ihrer Zuge- tale Ansprüche oder monumentale Formen entzo-
hörigkeit zu einer Konzeption der Existenz, die sich gen war, schien wenigstens ein Rückzug in jene Di-
im Widerstand gegen alles Uneigentliche bewährte. mensionen offen, die es schon immer gegeben hatte.
Mit anderen Worten: Der Begriff der Tat war Teil ei- Genau dies sollte wohl Martin Heideggers so de-
ner Ästhetik der Existenz, wie sie sich unter dem monstrativ privater Rückzug in seine Schwarzwald-
Vorzeichen des »tragischen Lebensgefühls« abzeich- hütte anzeigen und sein Vertrauen in den Schwarz-
nete. Schließlich gehörte zu diesem historischen Rhi- waldbauern, der ihm mit einem bloßen Kopfschüt-
zom von Existential-Prämissen aus den zwanziger teln verstehen ließ, wie falsch es wäre, eine Zukunft
Jahren, dass die positiven Möglichkeiten des Daseins in der Metropole Berlin zu suchen. Davon und von
assoziiert wurden mit exotischen Zonen an der Peri- der ›Gelassenheit‹ als existentieller Haltung war der
pherie. Auf Dachgärten oder auf Berggipfeln wollte Gedanke von Paul Klee und anderen Künstlern des
man Existenzfreude spüren; das damals noch exzen- Bauhauses nicht weit entfernt, im Gestalten von Bil-
trische Spanien, Norwegen, Afrika, für dessen ver- dern, Gebrauchsgegenständen und Gebäuden zu-
meintlich primitive Kunst man zu schwärmen be- rückzukehren zu elementaren, von ihren primären
gann, und vor allem die Polregionen waren Orte, die Funktionen angeblich auferlegten Formen und Far-
nach Taten verlangten. Um die damals synonymen ben. Freilich konnten Gelassenheit und Sachlichkeit
Gerüchte zu bannen, er sei verweichlicht und homo- stets – und oft ganz unerwartet – umschlagen in Mo-
4. Glück in den zwanziger Jahren. »Tragisches Gefühl des Lebens«: Über das Exil des Glücks 271

mente von Ekstase und sogar Epiphanie. Dies war cken und steigern. So wurde die Welt der Metropo-
nicht allein eine Möglichkeit des Sich-Berauschens len in den zwanziger Jahren auch zur Szene einer he-
an der Landschaft, sondern ebenso ein extremes Re- rausfordernden sexuellen Freiheit, die sich ohne
gister des auf die Erfahrung der Großstadt konzen- physisches und affektives Risiko kaum genug war.
trierten Surrealismus, welches etwa Aragon und Bre- Wie ein Tanz auf dem Vulkan wirkte all diese Extase
ton in Ihren Büchern Le paysan de Paris und Nadja tatsächlich, weil sie, statt von primärer Energie be-
erschlossen hatten. Auch für die damals so anzie- lebt zu sein, einem fahlen Gefühl der Resignation
hende Gestalt des Ingenieurs wie für die frühen De- entsprang. Doch sie war auch und gerade der Tanz
signer bedeutete die Entdeckung der ›richtigen‹ For- auf einem erloschenen Vulkan – und mithin nicht
men mehr als nur intellektuellen Erfolg, sie galt – zu- bloß der extreme Gegenpol zu Nüchternheit, Gelas-
mindest latent – immer als eine Annäherung oder senheit und Anonymität, sondern zugleich ihr ande-
gar ein Einswerden mit den Gesetzen der Materie. res, oft dramatisches, vor allem ihr vexierbildhaft
Sachlichkeit, Gelassenheit und Ekstase als ihre ge- komplementäres Gesicht. Eben in dieser komplexen
genstrebig-komplementäre Möglichkeit verbanden Gegenstrebigkeit ist das Exil des Glücks in den zwan-
sich freilich nicht ausschließlich mit Landschaft oder ziger Jahren ein Symptom und Emblem für ihre be-
Technik. Es gab eine Ästhetik der Gelassenheit und sondere individual-existentielle Stimmung.
vor allem der Anonymität auch in der erst von den
zwanziger Jahren erfundenen Rolle des ›Angestell- Faszination der Ideologien
ten‹ oder in der betont ent-individualisierten Figur
der Tänzerin für eine chorus line. Zu funktionieren, Zugleich gilt jenes Jahrzehnt nicht zu Unrecht als
ohne glänzen und im Zentrum stehen zu müssen, eine Zeit der massiven Ideologien. Freilich erfüllten
das war ein der Alltäglichkeit der Großstadt ange- diese Ideologien vor allem die Funktion von Kulis-
passter Modus von Nüchternheit, dem sich auch ei- sen, vor denen sich das Schauspiel der existentiellen
nige der ambitionierten Filme jenes Jahrzehnts zu Gesten entfaltete – und vielleicht am Ende er-
nähern suchten. Subjektiv wurden solche Konfigura- schöpfte, denn ab den 30er Jahren sollten dann der
tionen von gelassen ertragener Pluralität und Ano- Faschismus und erneut auch der Sozialismus noch
nymität wohl nicht als Orte des Glücks erlebt – aber einmal Faszination und Kraft gewinnen. Eine andere
vielleicht als Zonen des Entspannens von dem ande- Reaktion auf den Schock des Weltkrieges war die
ren, Ekstase fordernden Existenzgestus derselben Rückkehr zu Formen und theologischen Tröstungen
Zeit. des Christentums gewesen, welche vor allem in
Denn jenes Jahrzehnt, das kaum an seine eigenen Frankreich als Renouveau catholique eine kurze Stre-
Möglichkeiten des Gelingens, des Erfolgs und des cke kultureller Lebendigkeit eröffnete. Doch Auto-
Glücks zu glauben vermochte, war ja – auf der ande- ren wie Bernanos oder Claudel waren nie wirklich
ren Seite von Nüchternheit und Gelassenheit – süch- mehr als ein Teil der Bewegung von Bescheidung
tig nach Situationen, welche Gefahr, Intensität und und Nüchternheit, sie erneuerten eine Tradition des
Erregung versprachen. Dem Tod ins Auge zu blicken, christlichen Existentialismus, welche die Philosophie
zeichnete sich beileibe nicht nur als ein Motiv philo- naturgemäß nie um eine Dimension irdischer Erfül-
sophischer Reflexion ab. Die zwanziger Jahre wur- lung bereichern konnte. Der Sozialismus hatte sich
den auch zur großen, vor allem im Grad der Erre- nach der Oktoberrevolution auf jenen vermeintlich
gung nie mehr erreichten Zeit in der Geschichte des notwendig langen Weg hin zum Kommunismus ge-
Boxens und des Stierkampfs (Gumbrecht 2001, 66 ff., macht, welcher vielfältige Mühen der Ebene, vielfäl-
231 ff.). Daneben waren jene Sportarten besonders tig überraschende Enttäuschungen, aber keine neuen
beliebt und bewundert, welche wie Marathonlauf, Werte und Erfahrungen erschloss. Konstruktive ›In-
Sechstagerennen, Bergsteigen oder das Durch- genieure‹ der Gesellschaft, der Kultur, der Erziehung
schwimmen des Ärmelkanals die Körper der Athle- wollten die Revolutionäre von 1917 nun werden –
ten an die absoluten und mithin lebensgefährdenden und hatten dem bald aufkommenden Staatsterroris-
Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit brachten. Auch mus nicht mehr entgegenzusetzen als die Bereit-
erotisch – oder in der noch während der Belle Epo- schaft zum Freitod aus Desillusionierung oder eine
que so reglementierten Welt des Gesellschaftstanzes blasse Melancholie des Exils, wie sie etwa Leo Trotz-
– konnte nun das, was vermeintlich naturgegeben kis mexikanische Jahre durchweht.
war, die Begierde nach größerer Intensität nur we- Vor allem der Faschismus bot eine für viele Zeit-
272 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

genossen anziehende Zukunft. Mussolinis Revolu- 5. Glück in der Philoso-


tion des Herbsts 1922 inszenierte sich als Erlösung
von der Dekadenz einer Nation mit imperialer Beru- phischen Anthropologie
fung, welche im Marsch der Schwarzhemden auf und im Existenzialismus.
Rom ihre Erfüllung und einen rückwärtsgewandten
Neubeginn fand. Denn Erlösung war die im diskon- Skeptische Philosophien
tinuierlichen Moment nationaler Umkehr vollzo- des gelingenden Lebens
gene Rückkehr zu einer verlorenen Welt des Glücks,
und in dieser Gestalt bot sie ein Versprechen, wel-
ches Glück nicht wie der Sozialismus auf eine histo- Vordergründig nehmen Philosophische Anthropo-
rische Zukunft oder wie das Christentum auf die Zu- logie und Existenzialismus die Kritik Nietzsches (s.
kunft nach dem Tod verschob. Solche Gegenwär- Kap. V.7) am modernen Streben nach Glück auf und
tigkeit des Glücksversprechens mag die fatale setzen sie fort. Versteht man unter Glück sinnliches
Attraktivität des Faschismus in jener Welt der zwan- Wohlergehen oder die Erfahrung von sinnlicher Lust
ziger Jahre ausgemacht haben, die sich sonst zum und Freude, dann sind sich die Autoren der Philoso-
Glück kaum berufen fand. phischen Anthropologie und des Existenzialismus
tendenziell einig: Der Mensch strebt nicht nach die-
Literatur sem Glück, wo er auf dieses Glück schielt, verfehlt er
seine Natur, sein Wesen. Die Kritik richtet sich glei-
Aragon, Louis: Der Pariser Bauer [1926]. Frankfurt a. M.
3
chermaßen gegen Lehren, die auf individuelle
2006.
Glückssuche (utilitaristische Spielarten des Libera-
Bernanos, Georges: Unter der Sonne Satans [1926].
lismus; s. Kap. V.1), als auch gegen Lehren, die auf
Freiburg i. Br. 2009.
Breton, André: Nadja [1928]. Frankfurt a. M. 32007. kollektive Glückssuche ausgerichtet sind (z. B. einige
Céline, Louis-Ferdinand: Reise ans Ende der Nacht sozialistische und kommunistische Utopien; s. Kap.
[1932]. Reinbek 52004. II.11).
Claudel, Paul: Der seidene Schuh [1925]. Salzburg Aber es ist Vorsicht angebracht: Diese Perspektive
11
1986. ist einseitig. Zwar finden sich bei den Autoren beider
Gumbrecht, Hans Ulrich: 1926. Ein Jahr am Rand der Denkrichtungen zahlreiche Beiträge, in denen Skep-
Zeit. Frankfurt a. M. 2001. sis gegenüber Lehren artikuliert wird, die das Ziel
Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen menschlichen Lebens im Streben nach Glück (zu-
19
2006. meist verstanden als physisches Wohlergehen; s. Kap.
– /Blochmann, Elisabeth: Briefwechsel 1918–1969. II.1) sehen, aber es finden sich auch zahlreiche An-
Marbach 21989. sätze, die als positive Beiträge zu einer Lehre des ge-
Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger lingenden bzw. guten Lebens angesehen werden kön-
Raum der Nation [1927]. In: Ders.: Gesammelte nen, sowie im Falle Max Schelers auch ein wesent-
Werke. Reden und Aufsätze III. Frankfurt a. M. 1980, licher Beitrag zu einer allgemeinen Theorie des
24–41. Glücks. So unterschiedlich die einzelnen Autoren ar-
Jünger, Ernst: In Stahlgewittern [1920]. Stuttgart 462007. gumentieren, eines ist ihnen gemeinsam: Die Frage
Mann, Heinrich: Professor Unrat [1905]. Frankfurt a. M. nach dem Glück ist für sie die Frage nach dem gelin-
2006.
genden Leben. Was zu einem gelingenden Leben ge-
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
hört, ist allerdings umstritten. Einig sind sich die Au-
[1923–1927]. Frankfurt a. M. 2009.
toren nur in der Annahme, dass eine Antwort auf die
Scheler, Max: Vom Verrat der Freude [1922]. In: Ders.:
Frage nach dem gelingenden Leben beim Vollzug
Gesammelte Werke. Bd. 6: Schriften zur Soziologie
und Weltanschauungslehre. Bern/München 21963, der menschlichen Lebensführung ansetzen muss.
73–76. Da sich sowohl die Autoren der sogenannten Phi-
Trotzki, Leo: Verratene Revolution [1936]. Essen 32009. losophischen Anthropologie (Max Scheler, Helmuth
Unamuno, Miguel de: Del sentimiento trágico de la vida Plessner, Arnold Gehlen) als auch die Autoren, die
en los hombres y en los pueblos. Madrid 1913. als Existenzialisten bezeichnet werden (Martin Hei-
Hans Ulrich Gumbrecht degger, Jean-Paul Sartre, Albert Camus), in ihren
erkenntnistheoretischen und ontologischen Grund-
annahmen stark voneinander unterscheiden, ist es
5. Glück in der Philosophischen Anthropologie und im Existenzialismus 273

sinnvoll, ihre Theorien des Glücks bzw. des guten Le- Guten, das nicht durch irgendwelche Schlüsse, son-
bens einzeln vorzustellen. Beide Strömungen sind in dern unmittelbar erfasst, d. h. erfühlt werden muss.
einer Abkehr von philosophischen Positionen ent- Dieses Fühlen hat immer intentionale und zuständ-
standen, die das philosophische Geschäft entweder liche (sinnliche) Momente. Je nach Gegenstand be-
auf erkenntnistheoretische Fragen reduziert hatten stimmt sich das Verhältnis von sinnlichen und inten-
oder nur rationalistische Zugänge zu Fragen der tionalen Momenten unterschiedlich. Vermöge dieser
praktischen Lebensführung gelten ließen. Beide Unterscheidung lassen sich auch die verschiedenen
wenden sich der menschlichen Lebenswelt zu, gehen Formen des Glücks unterscheiden. So gibt es ein rein
von der menschlichen Lebenspraxis als nichthinter- sinnliches Glück, das wir dem Wohlgeschmack einer
gehbarem Fundament allen philosophischen Fra- Speise verdanken. Aber ebenso gibt es ein Glück, das
gens aus und suchen nach universalen Strukturen keine bzw. kaum noch sinnliche Momente hat, z. B.
der condition humaine. Ihre normativen Stellung- die rein geistige Liebe Gottes.
nahmen zu Problemen der menschlichen Lebens- Gegen Kant und alle Kritiker einer eudaimonisti-
führung haben einen therapeutischen Charakter, der schen Ethik argumentiert Scheler: Die Kritik, die im
Theorien des guten Lebens insofern ähnlich ist, als Streben nach Glück keine ethisch wertvolle Einstel-
Fragen des menschlichen Zusammenlebens nicht lung sieht, verwechselt Glück mit sinnlicher Lust, mit
unter ein starkes Sollen, sondern unter ein schwa- einer Lust an bloß sinnlichen Zuständen, so als ob
ches Sollen gestellt werden, das mit der Annahme ei- sich alles Fühlen – einem schlechten Sensualismus
ner Natur bzw. eines Wesens des Menschen expliziert zufolge – auf sinnliche Zustände zurückführen lasse.
wird. (Scheler ist hier die Ausnahme, denn er spielt Aristoteles’ Begriff der eudaimonia (s. Kap. III.2), so
in seiner materialen Wertethik die Idee eines aus un- Scheler, sei ein ganz anderer gewesen: »Wohl- und
mittelbarer Erkenntnis des Guten folgenden starken Schönbeschaffenheit der Seele« (Scheler 1923, 105).
Sollens gegen das starke Sollen des Regelbefolgens Versteht man Tugend als Pflichterfüllung, dann be-
aller Pflichtethiken aus.) Diese Bestimmung ist frei- raubt man die Tugend ihrer eigentlichen Quelle: der
lich sehr allgemein, ebenso allgemein wie der Hin- Einsicht bzw. des Erkennens des Guten, das als Gutes
weis auf die gemeinsame Kritik an bestimmten libe- an sich erkannt wird.
ralen und utopistischen Perspektiven auf die Ziele Das sinnliche Glück ist für Scheler nur eine Form
des menschlichen Lebens: Alle Autoren eint eine ge- neben vielen anderen Formen des Glücks, deren
wisse Skepsis, die mitunter pessimistisch-misanthro- ethische Bedeutung fundamental ist, denn: Nur der
pische Züge annimmt (Gehlen und Sartre). Glückliche handelt gut und nur der gute Mensch ist
glücklich. Der Mensch strebt nicht nach Glück und
Philosophische Anthropologie tut deshalb das Gute, weil er glaubt, so glücklich zu
werden, sondern: Indem er das Gute tut, wird er selig
Der Autor, der sich am meisten mit dem Glück als und glücklich. Die gute Person ist notwendig die
Gefühl beschäftigt hat, ist zweifellos Max Scheler glückliche Person, die böse Person notwendig ver-
(1874–1928). In seiner materialen Wertethik (Sche- zweifelt (Scheler 1913/1916, 361 ff.).
ler 1913/1916), die er als Kritik an allen deontologi- Der Anschluss an Aristoteles ist auch in einer an-
schen Ethiken kantischen Typs entwickelt, kommt deren Hinsicht deutlich – wenngleich nicht explizit
dem Glück wesentliche Bedeutung zu. Scheler geht als solcher gekennzeichnet. Schelers Anthropologie
es in seiner materialen Wertethik nicht so sehr da- und Ethik stehen in der Tradition von Aristoteles’
rum, zu zeigen, welche Werte die richtigen sind, son- Ethik als einer Theorie des guten Lebens. In seiner
dern erst einmal darum, die erkenntnistheoretische Sozialphilosophie (Wesen und Formen der Sympa-
Frage zu beantworten, was wir eigentlich tun, wenn thie, 1913/1923) entwickelt Scheler verschiedene Ty-
wir moralisch urteilen. Die Beantwortung dieser pen menschlicher Begegnung, die verschiedenen So-
Frage führt Scheler zu einer Theorie der Gefühle zialformen entsprechen, nämlich Masse, Gesellschaft
(bzw. des Fühlens), denen bestimmte Werte in einer und Gemeinschaft. In der Sozialform der Masse gibt
hierarchischen Ordnung korrespondieren. Seine es kein Verstehen des Anderen, sondern ein Mitein-
Grundthese lautet, dass moralisches Urteilen keine ander nur durch Gefühlsansteckung; in der Gesell-
rein kognitive Verstandesleistung ist, sondern ein schaft ein Verstehen des Anderen ohne Teilnahme
Wertfühlen: Das Motiv jeder ethischen Handlung ist an den Gefühlen Anderer; in der Gemeinschaft
nicht eine Orientierung am Richtigen, sondern am schließlich Verstehen und Teilnahme an den Gefüh-
274 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

len Anderer. Die Unterscheidung der drei möglichen der Gemeinschaft (1924/1981), unterscheidet er zwi-
Sozialformen benennt drei Möglichkeiten menschli- schen der Sphäre der Gemeinschaft (der Sphäre der
cher Begegnung. Jede Vereinseitigung, die zu einem Intimität) und der Sphäre der Gesellschaft (der
Übergewicht der einen oder anderen Sozialform Sphäre der Öffentlichkeit): Auf der einen Seite haben
führt, stellt die menschliche Natur vor Probleme. In Menschen das Bedürfnis nach Nähe, auf der anderen
einer normativen Perspektive, die an die Lehre von Seite das Bedürfnis nach Distanz. Weil sich Men-
der vernünftigen Mitte (mesotes) bei Aristoteles (s. schen verstehen können, weil sie verstehen können,
Kap. III.2) erinnert, erklärt Scheler, dass idealerweise was der andere denkt und fühlt, muss es auch eine
ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Sozial- Sphäre der Begegnung geben, in der sich Menschen
formen hergestellt werden müsse. Anthropologische wechselseitig voreinander verbergen können, um
und geschichtsphilosophische Perspektiven werden ihre Intimsphäre, ihre Würde zu schützen. In einer
hier zusammengeführt. Der Ausgleich ist nach Sche- Welt, in der jeder immer vom Anderen wüsste, was
ler einerseits in der menschlichen Natur angelegt, dieser denkt und fühlt, würde sich, so Plessner, Welt-
andererseits bezeichnet er ihn als Schicksal und zu- raumkälte zwischen den Menschen ausbreiten
gleich als Aufgabe seines Zeitalters. Er spricht daher (Plessner 1924/1981, 107). Ging es Plessner in der
auch von einem »Weltalter des Ausgleichs«, eines aktuellen Situation der 1920er Jahre vornehmlich
Ausgleichs nicht nur zwischen den verschiedenen darum, sich gegen den herrschenden Gemeinschafts-
Formen menschlicher Begegnung, sondern auch kult zu stellen, so argumentierte er der Sache nach
zwischen Mann und Frau, Alter und Jugend, zwi- für die Idee einer »Mitte geistig-sittlicher Art«, aus
schen asiatischen Seelentechniken und westlicher der heraus »die Grundmomente gesellschaftlichen
Verstandeskultur (Scheler 1928b). Den alle Wesens- Lebens« verständlich würden (41). Es gibt Grenzen
möglichkeiten des Menschen in einem Gleichge- der Gemeinschaft, aber auch Grenzen der Gesell-
wicht haltenden Menschen nennt Scheler den »All- schaft. Zu einem gelingenden Leben braucht man
menschen«. Der Allmensch ist derjenige Mensch, beide, weshalb der Mensch stets versuchen sollte, ein
der alle positiven Anlagen in sich verwirklicht. Diese Gleichgewicht der beiden Sphären herzustellen.
Verwirklichung ist Schelers Ideal eines gelungenen Aufgabe der Philosophischen Anthropologie ist
Lebens. Schelers Anthropologie hat zweifellos thera- für Plessner, wie das eben geschilderte Beispiel zeigt,
peutischen Charakter, aber in einem schwachen Sinn die philosophische Reflexion auf die Grundbedin-
– worauf er selbst explizit hinweist, wenn er sagt, gungen der menschlichen Situation; eine Reflexion,
dass »Metaphysik keine Versicherungsanstalt […] die darauf abzielt schlechten lebensweltlichen Ent-
für schwache, stützungsbedürftige Menschen« sei wicklungen kritisch entgegenzutreten, nicht darauf,
(Scheler 1928a, 112). den Menschen das große Glück zu versprechen:
Eine skeptische Haltung gegenüber allen Utopien, »Wem das zu wenig ist, und wer von der Anthropo-
die dem Menschen die Möglichkeit eines wider- logie Anweisungen zum seligen oder auch nur Di-
standsfreien Lebens und eines auf Dauer gesicherten rektiven für das täglich allzu tägliche Leben erwartet,
kollektiven Glücks versprechen, findet sich auch bei hat sich in der Adresse geirrt« (Plessner 1975/1985,
Helmuth Plessner (1892–1985). Dass die Idee des Pa- 328).
radieses oder eines goldenen Zeitalters für den Men- Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entste-
schen so attraktiv ist, gilt ihm als Beweis dafür, dass hen, Arnold Gehlen (1904–1976) führe das Projekt
der menschlichen Natur von Natur aus etwas fehlt: der Philosophischen Anthropologie Schelers und
Keiner menschlichen Kultur, so Plessner in seinem Plessners fort. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich je-
systematischen Hauptwerk Die Stufen des Organi- doch, dass Gehlen ausgesprochen geschickt die von
schen und der Mensch, ist es letztlich gelungen, die Scheler und Plessner gemachten Vorgaben umdeu-
Offenheit und Unsicherheit der menschlichen Exis- tet. Im Hinblick auf die Frage nach der Rolle des
tenz zu überwinden (Plessner 1928, 309). Alle Versu- Glücks in Gehlens Denken zeigt sich dies weniger
che in diese Richtung müssen notwendig in Terror darin, dass sich Gehlen gegen die für Scheler und
münden, weil sie sich gegen die Natur des Menschen Plessner zentrale Idee eines Schichtenaufbaus der
stellen. Auch bei Plessner findet sich eine normative Natur wendet, sondern vielmehr in der ganz anders
Idee der menschlichen Natur, die mit dem Gedanken ansetzenden Frage nach den Grundbedingungen der
eines idealen Gleichgewichts verbunden ist. In sei- menschlichen Situation. Scheler und Plessner fragen
nem sozialphilosophischen Frühwerk, den Grenzen nach den Möglichkeiten eines gelingenden bzw. gu-
5. Glück in der Philosophischen Anthropologie und im Existenzialismus 275

ten Lebens. Sie versuchen ex negativo zu zeigen, was Laufe der Geschichte erfahren haben, nachzuzeich-
der Verwirklichung der menschlichen Natur förder- nen. Diese Geschichte erweist sich für Gehlen als
lich ist. hochproblematisch, da sich der Humanitarismus, die
Ganz anders Gehlen: Der Grundzug seiner An- zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose
thropologie (Der Mensch, erstmals 1940) ist ein Menschenliebe, und der Masseneudaimonismus,
hobbesianischer Pessimismus. Gehlens leitende Frage d. h. die Ethisierung des Ideals des Wohllebens und
lautet: Wie kann der Mensch sein Leben sichern, sein das vermeintliche kollektive Recht auf Glück und
Dasein fristen, »seine bare Existenz durchhalten« physisches Wohlergehen, zu einer hypertrophen Mo-
(Gehlen 1940/1993, 12)? Seine Antwort lautet: Der ral entwickelt haben, die das Ethos der Institutionen
Mensch ist, wie der Vergleich mit dem Tier zeigt, or- zunehmend aushöhlt. Die notwendige Stabilisierung
ganisch unspezialisiert, er hat kaum Instinkte und ist des Innenlebens ist nicht mehr gewährleistet, die in-
nicht an eine bestimmte Umwelt angepasst, in der nersoziale Reizbarkeit nimmt zu und eine überstei-
ihm kein anderes Lebewesen sein Terrain streitig gerte Subjektivität führt zu Anspruchsdenken ohne
macht. Gehlen deutet die Unspezialisiertheit als Un- Verpflichtung gegenüber Anderen, weil die zur allge-
terprivilegiertheit und nennt den Menschen daher meinen Pflicht gemachte Menschenliebe den Einzel-
ein Mängelwesen. Aus seiner besonderen Situation nen überfordert und ihn keine Institution mehr ent-
ergibt sich seine besondere Aufgabe. Der Mensch lastet.
muss als Mängelwesen die Mängelbedingungen sei- Gehlen interessiert sich für Fragen der individuel-
ner riskanten Existenz eigentätig in Chancen seiner len Lebensführung also nur insoweit, als es darum
Lebensfristung umgestalten. Weil die menschliche geht, Subjektivierung und Individualisierung entge-
Instinktarmut tendenziell zu Reizüberflutung und genzuwirken und eine Stabilisierung des Innenle-
haltloser Subjektivität führt, bedarf der Mensch sta- bens durch funktionierende Institutionen zu ge-
biler Institutionen, die ihn entlasten, indem sie künst- währleisten. Für die Lebensführung bedeutet das ei-
lich die tierische Verhaltenssicherheit wiederherstel- nen klaren Primat der unbedingten Forderung nach
len (35 ff.). Pflichterfüllung, um die Stabilität menschlicher Be-
Gehlens Anthropologie ist normativ: Der Mensch ziehungen zu gewährleisten: »Sich von den Instituti-
brauche starke Institutionen. Das Streben nach Glück onen konsumieren zu lassen gibt einen Weg zur
und die Ideen der Selbstverwirklichung und des gu- Würde für jedermann frei, und wer seine Pflicht tut,
ten Lebens sind für Gehlen gefährliche moderne hat ein Motiv, das von jedem anderen her unbestreit-
Ideen, die sich ausgehend von ersten ›Dekadenz‹- bar ist« (Gehlen 1969, 75).
Erscheinungen in der Antike vor allem seit der Auf-
klärung immer stärker entwickelt haben und die Existenzialismus
Entlastungsleistungen der Institutionen gefährden.
In seinem Spätwerk Moral und Hypermoral (1969) Es ist nicht leicht, dem weiten Begriff Existenzialis-
versucht er einen anthropologischen Beitrag zur mus eine Bestimmung zu geben, bei der die Gemein-
Ethik zu leisten (vgl. auch Gehlen 1976). Grundan- samkeiten von Heidegger, Sartre und Camus heraus-
nahme ist die Unterscheidung von vier Ethosformen, gestellt werden und dennoch ein Unterschied zu an-
die nicht aufeinander zurückführbar seien, weshalb deren philosophischen Strömungen deutlich wird:
Gehlen seine Ethik im Untertitel eine »pluralistische Wie der Philosophischen Anthropologie geht es dem
Ethik« nennt. Er unterscheidet: (1) das Prinzip der Existenzialismus um eine Philosophie der menschli-
Gegenseitigkeit, (2) instinktive verhaltensphysiolo- chen Situation, d. h. um Selbstverständigung in Fra-
gisch greifbare Regulationen, einschließlich der gen der Lebensführung; das gilt auch für Heideggers
Ethik des Wohlbefindens und des Glücks (Eudaimo- Fundamentalontologie. Dennoch gibt es Unter-
nismus), (3) das familienbezogene Verhalten mit sei- schiede: Wesentlich für den Existanzialismus ist der
nen historischen Veränderungen bis zum Humanita- Ausgang von der konkreten individuellen Subjekti-
rismus, (4) das Ethos der Institutionen einschließlich vität und – damit unmittelbar zusammenhängend –
des Staates. Die vier Ethosformen sind zunächst als die Annahme, das menschliche Wesen bestehe in ei-
universale historisch durchlaufende Kategorien zu ner prinzipiellen Offenheit; der Mensch mache sich
verstehen. Gehlens eigentliches Anliegen besteht je- durch Selbstentwurf, durch eine Wahl, eine Entschei-
doch darin, in historisch-soziologischer Perspektive dung erst zu dem, was er ist. Die Idee eines glückli-
den Wandel, den die vier Verhaltensregulationen im chen, guten oder gelingenden Lebens transformiert
276 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

der Existenzialismus in die Idee eines authentischen Begegnung mit dem Anderen nämlich gar nicht
Lebens. Das Leben mag absurd sein (Camus), voller mehr stattfinden. Plausibler erscheine hingegen die
Ekel (Sartre) oder voller Angst (Heidegger, Sartre): Annahme, die Erschließung der Sphäre der Intersub-
Normative Maßstäbe sind Authentizität oder Eigent- jektivität werde nicht durch die Angst, sondern durch
lichkeit bzw. – negativ gewendet – Uneigentlichkeit glückliche Stimmungen geleistet: »Alle tragenden
und Entfremdung. Lebensbezüge im allgemeinen und alle Gemein-
Der Ausgang von der konkreten menschlichen schaftsbezüge im besonderen erschließen sich dem
Situation führt bei Martin Heidegger (1889–1976) zu Menschen allein durch das Medium der glücklichen
der These, dass der Mensch immer schon irgendwie Stimmung« (Bollnow 1941/1943, 86; s. Kap. II.2).
›gestimmt‹ ist. Der Mensch lebt immer schon in ei- Jean-Paul Sartre (1905–1980) schließt in man-
ner Welt mit Anderen, in einer von Anderen gepräg- cherlei Hinsicht an Heidegger an. Auch bei ihm fin-
ten Atmosphäre, d. h. er ist zunächst verfallen an das det sich eine starke Betonung der Angst. Sartre geht
Man, das Mitdasein der Anderen und die besorgte von einer existenziellen Einsamkeit aus, die dem
Welt. Verfallenheit an das Man bedeutet: Das Dasein, Menschen deutlich macht, dass er verurteilt ist, frei
d. h. das Seiende, das ich je selbst bin, lebt die Befind- zu sein. Stärker noch als Heidegger betont er den
lichkeit der Anderen mit, fühlt und sieht, was die An- Entwurfscharakter der menschlichen Existenz: Der
deren sehen. Erst durch die Angst offenbart sich das Mensch existiert nur in dem Maße, in dem er sich
Sein zum eigensten Seinkönnen, befreit es sich aus selbst verwirklicht bzw. sich selbst erfindet (Sartre
seiner Uneigentlichkeit – wie es in Sein und Zeit 1945/1994, 125, 130). Die immer wieder geäußerte
(1927) heißt – zum Freisein »für die Freiheit des Behauptung, der Mensch sei nicht definierbar, weil
Sich-selbst-wählens«. Die Angst hat eine fundamen- er zunächst nichts sei und sich erst schaffen müsse,
tale welterschließende Funktion, »weil sie vereinzelt« steht wie bei Heidegger in einer gewissen Spannung
und durch die Vereinzelung dem Menschen Eigent- mit den konkreten Analysen. Auch bei Sartre bestim-
lichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten sei- men vorwiegend negative Gefühle die menschliche
nes Seins deutlich macht (Heidegger 1927/1986, Situation: In Das Sein und das Nichts (1943) ist es das
188 ff.). Uneigentlichkeit, d. h. Verfallenheit an das Gefühl der Scham, das den Eintritt in die Sphäre der
Man, und Eigentlichkeit sind normative Kategorien: Anderen ermöglicht, indem ich durch den Blick der
Es gilt die Verlorenheit in das Man zu überwinden. Anderen beschämt werde. Die Begegnung mit den
Die Überwindung des Man, d. h. der Schritt zum ei- Anderen wird so beschrieben, dass ein gelingendes
gentlichen Selbstsein muss durch das Nachholen ei- Leben nur in Distanz zu den Anderen möglich
ner Wahl erreicht werden: »Im Wählen der Wahl er- scheint: »Das Faktum des Anderen ist unbestreitbar
möglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches und trifft mich mitten ins Herz. Ich realisiere es
Seinkönnen« (268). Die Überwindung des Man läuft durch das Unbehagen« (Sartre 1943/1994, 494).
nicht auf einen heroischen Individualismus hinaus, Sollte das Wesen des Menschen so offen sein, wie
sondern ist Bedingung für einen sorgenden Umgang Heidegger und Sartre behaupten, dann sind viel-
mit den Anderen als Anderen. In seiner Entschlos- leicht Angst und Scham nicht die einzigen Gefühle,
senheit wird das Dasein nicht zu einem freischwe- die welterschließende Funktion haben.
benden Ich, sondern es zeigt sich die Möglichkeit ei- Bei Albert Camus (1913–1960) liegt schließlich
nes In-der-Welt-Seins, in dem das Dasein fürsor- ein anderer, ganz eigener Existenzialismus vor, was
gend mit Anderen ist. sich v. a. in seiner Bewertung und Thematisierung
Heideggers Antwort auf die Frage nach dem gelin- des Glücks in der Analyse des berühmten Mythos
genden Leben ist beklemmend, da die Angst das eine von Sisyphos zeigt. Sisyphos kehrte von den Toten
bestimmende Gefühl ist, das allein die Uneigentlich- aus der Unterwelt zurück. Er hatte seiner Frau be-
keit zu überwinden in der Lage ist. Hier setzte denn fohlen, seinen Leichnam unbestattet auf den Markt-
auch häufig Kritik an. Otto Friedrich Bollnow argu- platz zu werfen. Diese handelte, wie ihr befohlen, was
mentierte, dass Heidegger seine Idee, das menschli- Sisyphos so sehr erzürnte, dass er die Erlaubnis er-
che Weltverhältnis sei ursprünglich durch Stimmun- bat, auf die Erde zurückzukehren. Da ihm das Leben
gen getragen, einseitig auf die eine Stimmung Angst so gut gefiel, wollte er nicht mehr zurück. Die Götter
eingeengt habe. Eine Verengung, die erst wieder auf- zürnten, Merkur brachte ihn zurück. Der Preis für
gelöst werden müsse: Aufgrund der vereinsamenden seinen Lebenswillen und seinen Ungehorsam ist die
Effekte der Angst, so vermutet Bollnow, könne eine bekannte Strafe: Sisyphos müht sich an seinem Fels-
5. Glück in der Philosophischen Anthropologie und im Existenzialismus 277

block ab, ohne etwas zu vollenden. Sein Schicksal ist Rehberg, Karl-Siegbert: Die Angst vor dem Glück. An-
tragisch, weil ihm sein Tun bewusst ist. Worin be- thropologische Motive. In: Alfred Bellebaum/Karl
stünde seine Strafe, wenn Hoffnung auf Erfolg be- Barheier (Hg.): Glücksvorstellungen. Ein Rückgriff in
rechtigt wäre? Er kennt sein Schicksal, aber es gibt die Geschichte der Soziologie. Opladen 1997, 153–
kein Schicksal, das nicht durch Verachtung über- 173.
wunden werden könnte. Camus sieht hier einen Aus- Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch ei-
weg, denn wenn der Mensch sein Schicksal erkennt ner phänomenologischen Ontologie [1943]. Reinbek
und selbst in die Hand nimmt, dann kann der 1994.
–: Der Existenzialismus ist ein Humanismus [1945]. In:
Schmerz auch von Freude begleitet sein: »Man ent-
Ders.: Gesammelte Werke. Philosophische Schriften
deckt das Absurde nicht, ohne in Versuchung zu ge-
I. Reinbek 1994, 117–155.
raten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben.
Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die ma-
[…] Glück und Absurdität sind Kinder ein und der- teriale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung
selben Erde. Sie sind untrennbar. Ein Irrtum wäre es, eines ethischen Personalismus. Halle a.d.S. 1913/
wollte man behaupten, daß das Glück zwangsläufig 1916.
der Entdeckung des Absurden entspringe. Ebenso –: Wesen und Formen der Sympathie [1913]. Bonn
kommt es vor, daß das Gefühl des Absurden dem 2
1923.
Glück entspringt. […] Wir müssen uns Sisyphos als –: Vom Verrat der Freude. In: Ders.: Schriften zur So-
einen glücklichen Menschen vorstellen« (Camus ziologie und Weltanschauungslehre I. Moralia. Leip-
1942/1999, 158 ff.; s. Kap. II.1). zig 1923, 104–109.
–: Die Stellung des Menschen im Kosmos [1927]. Darm-
stadt 1928a.
Literatur –: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs. Berlin-Gru-
Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen newald 1928b.
[1941]. Frankfurt a. M. ²1943. Matthias Schloßberger
Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos [1942]. Frank-
furt a. M. 1999.
Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine
Stellung in der Welt [1940]. Gesamtausgabe. Bd. 3.
Frankfurt a. M. 1993.
–: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik.
Frankfurt a. M. 1969.
–: Das entflohene Glück. Deutung der Nostalgie. In:
Friedrich Georg Jünger u. a.: Was ist Glück? Ein Sym-
posion. München 1976, 26–39.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen
1986.
King, Matthew: Heidegger and Happiness: Dwelling on
Fitting and Being. London 2009.
Lepenies, Wolf: Melancholisches Klima und anthropo-
logische Reduktion – Die Philosophie Arnold Geh-
lens. In: Ders.: Melancholie und Gesellschaft. Frank-
furt a. M. 1969, 232–256.
Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine
Kritik des sozialen Radikalismus [1924]. In: Ders.:
Gesammelte Schriften. Bd. V. Frankfurt a. M. 1981,
7–133.
–: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einlei-
tung in die philosophische Anthropologie. Berlin/
Leipzig 1928.
–: Selbstdarstellung [1975]. In: Ders.: Schriften zur So-
ziologie und Sozialphilosophie. Gesammelte Schrif-
ten. Bd. X. Frankfurt a. M. 1985, 302–341.
278 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

6. Glück in der Psycho- (Obgleich nach Freuds eigenem Bekunden gerade


Arthur Schopenhauers Lehre vom unbewussten Wil-
analyse. Wider das Unglück len und seine Hervorhebung der Rolle der Sexualität
in der Kultur psychoanalytische Konzepte teilweise vorwegge-
nommen haben.)
Glück gilt in engerem Sinn als episodisches Erle-
Sigmund Freud begründete die Wissenschaft vom ben starker Lustgefühle (vgl. 434). Da die Fähigkeit,
Unbewussten (1) als eine Methode zur Untersu- überhaupt Glück und Lust empfinden zu können,
chung und Deutung unbewusster psychischer Vor- beschädigt sein kann, besteht der Zweck der Thera-
gänge, die der Introspektion nicht unmittelbar oder pie in der Wiederherstellung der Leistungs- und Ge-
prinzipiell nicht zugänglich sind; (2) als Grundlage nussfähigkeit (vgl. 1923/1999, 226). Illusionäre Er-
für ein Verfahren zur Heilung neurotischer Erkran- wartungen an die therapeutische Technik seien nicht
kungen; (3) als eine metapsychologische Theorie der angebracht; realistisch betrachtet kann und will die
Genese und Struktur der menschlichen Persönlich- psychoanalytische Behandlung zwanghaftes, neuro-
keit; erwartete von ihr aber auch (4) Beiträge zu einer tisches Leiden in ›normales‹ und damit bewältigba-
geisteswissenschaftlichen Gesellschafts- und Kultur- res Unglück umwandeln.
theorie (vgl. Freud 1923/1999). Obwohl das auf
Freud zurückgehende Vokabular der Psychoanalyse Metapsychologie der Psychogenese
in seiner technischen Färbung und nüchternen Me-
taphorik dem alltäglichen Selbstverständnis weitge- Freud zufolge wird das psychische Geschehen von
hend fremd bleibt, bildet es doch die Grundlage für zwei Prinzipien beherrscht: dem Lust- und dem Rea-
eine Praxis methodisch-kritischer humaner Selbst- litätsprinzip. Beide sollen dem Organismus Luster-
erkenntnis. lebnisse verschaffen und Unlust vermeiden. Dafür
Entsprechend taucht der Begriff des Glücks in bezwecken sie als positives Ziel Luststeigerung und
Freuds Œuvre zwar nur selten auf, nichtsdestoweni- als negatives Leidabwehr. Der psychische Apparat
ger steht diese Thematik implizit im Zentrum der wird durch beide Prinzipien zum Teil unbewusst re-
psychoanalytischen Forschung, die den Schlüssel guliert, indem unlustvolle libidinöse Spannungen
zum Verständnis von Träumen, Fehlleistungen und des Triebhaushalts abgeführt oder vermieden wer-
Symptomen in der entstellten Wiederkehr verdräng- den. Als prinzipielles Ziel nimmt dieses ökonomi-
ter Wunschvorstellungen sieht. 1899 schreibt Freud: sche Modell an, dass die quantitativ vorgestellte Er-
»Glück gibt es nur als Erfüllung eines Kinderwun- regung des Organismus auf einem möglichst nied-
sches« (Freud 1962, 242), doch erst viel später wen- rigen oder zumindest konstanten energetischen
det er sich in seinem kulturkritischen Essay Das Un- Niveau gehalten werden soll.
behagen in der Kultur ausdrücklich dem Glück und Zu Beginn der Ontogenese bestimmt dieser Theo-
den verschiedenen »Lebenstechnik[en]« (im Sinne rie zufolge das Lustprinzip das psychische Gesche-
von Lebenskunst) zu, mit denen Menschen es erstre- hen. Das frühkindliche Ich geht völlig in seinen
ben (1930/1999, 443). Der Begriff des Glücks wird Wünschen und Fantasien auf und strebt nach unbe-
dort in Anlehnung an die aristotelische Ethik als dingtem und unmittelbarem Lustgewinn und eben-
Zweck und Absicht des menschlichen Lebens ver- solcher Unlustvermeidung. Mit der im Fortgang der
standen: Die Menschen »streben nach dem Glück, Individualentwicklung bewusster erfahrenen Ge-
sie wollen glücklich werden und so bleiben« (433). genüberstellung von Ich und Außenwelt wird die Al-
Dieser gewöhnliche Sprachgebrauch wird allerdings leinherrschaft des Lustprinzips durch das Realitäts-
in die psychoanalytische Terminologie überführt, prinzip modifiziert. Die Befriedigung der Triebbe-
und das ›Glücksstreben‹ reduziert auf »das Pro- dürfnisse geschieht zunehmend nicht mehr auf
gramm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt« kürzestem Wege, sondern passt sich den Bedingun-
(343). Glück ist folglich nur ein anderes Wort für gen der Außenwelt und den Ansprüchen der sozia-
Wunscherfüllung oder libidinöse Triebbefriedigung len Umwelt an. Zwar behält das Lustprinzip auch
(vgl. 437). Indem die Psychoanalyse die metapsycho- weiterhin seine Geltung, doch muss das Ich lernen,
logischen Grundlagen und Bedingungen des Glücks- für seine Befriedigung Kompromisse einzugehen:
empfindens erklärt, will sie sich von philosophischen Begehren muss abgewandelt oder zurückgestellt und
und religiösen Weltanschauungen emanzipieren. die Befriedigung einiger Bedürfnisse aufgeschoben
6. Glück in der Psychoanalyse. Wider das Unglück in der Kultur 279

oder auf passend gewählte Triebziele und -objekte und deren Institutionen verstärkt. Das anfänglich in
umgelenkt werden; auf die Erfüllung einiger Wün- jedem Menschen angelegte bisexuelle Interesse wird
sche muss ganz verzichtet werden. (Dies ist bereits durch Normen und Verbote der Sexualerziehung
der Fall, wenn ein geliebtes Objekt Liebe nicht erwi- und Sexualmoral beschränkt und muss unter diesen
dert.) Die libidinöse Energie, die anfangs als frei und Bedingungen nach Möglichkeiten der Befriedigung
beweglich vorgestellt wird und nach schnellstmögli- suchen. Einerseits findet für Freud diese Entwick-
cher Abfuhr verlangt, wird durch das Realitätsprin- lung ihren Abschluss in der Ausprägung der genita-
zip gebunden, die Abfuhr wird aufgehalten und kon- len Sexualität und der Wahl einer geeigneten Objekt-
trolliert. Damit einher geht eine zunehmende Dif- besetzung, gemeinhin in der monogamen, heterose-
ferenzierung des psychischen Apparats in drei xuellen Paarbeziehung. Andererseits weist er bereits
Instanzen, welche die zum Teil verdrängten Triebre- früh darauf hin, dass die Gegenüberstellung einer an
gungen (»Es«), die bewusste Orientierung und Fortpflanzung orientierten, ›natürlichen‹ und ›nor-
Handlung in der Außenwelt (»Ich«) und das morali- malen‹ Heterosexualität und einer ›perversen‹, ›de-
sche Gewissen (»Über-Ich«) repräsentieren. Diese generierten‹ Homosexualität ein ungerechtes und
Instanzen werden entsprechend dem sogenannten repressives moralisches Konstrukt ist, das aus medi-
›zweiten topischen Modell‹ als ineinander überge- zinischer Sicht destruiert und kritisiert werden muss
hend verstanden, wobei sie alle partiell un- oder vor- (vgl. 1905/1999, 33–72). So ergibt sich als Ziel der ge-
bewusst bleiben können. Gelingt dem Ich kein Aus- glückten Sozialisation (bzw. der therapeutischen
gleich zwischen den Triebansprüchen des Es und Nacherziehung) ein selbstbestimmtes Verhältnis
den Forderungen von Über-Ich und Außenwelt, zum eigenen Begehren und damit die Emanzipation
droht eine neurotische Erkrankung. zur Autonomie, die als Überwindung infantiler All-
Hinsichtlich der lebensweltlichen Praxis be- machtsfantasien zu verstehen ist und die Grenzen
schreibt dieses metapsychologische Konzept die Ent- möglicher Selbsterkenntnis reflektiert.
wicklung der Persönlichkeit vom Säugling zum Er-
wachsenen. Das Kind, das anfänglich in einer ›sym- Leidabwehr und Trauerarbeit
biotischen‹ Beziehung zur Mutter lebt, wird mit dem
Spracherwerb, durch die elterliche Erziehung und Zwar sei es »das Programm des Lustprinzips, das den
später durch den Umgang mit anderen Menschen Lebenszweck setzt«, dieses befinde sich jedoch »im
mit normativen Anforderungen konfrontiert, denen Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos
es auf verschiedene Weise entsprechen muss. Diese ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist über-
Kulturleistung muss in jeder psychogenetischen Ent- haupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des
wicklung bewältigt werden. Sie verlangt den Austritt Alls widerstreben ihm; […] die Absicht, daß der
aus der symbiotischen Einheit, die Verarbeitung des Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹
ödipalen Konflikts – d.i. die Gesamtheit der ambiva- nicht enthalten« (1930/1999, 434). Daraus spricht
lenten Liebeswünsche und feindseligen Tendenzen, kein Kulturpessimismus, sondern das psychoanaly-
die das Kind gegenüber seinen Eltern empfindet – tische Programm der anti-idealistischen Desillusio-
und das Erlernen von Triebverzicht und Verantwor- nierung und damit einhergehenden »Kränkung«
tung. Die frühen erotischen Wünsche gegenüber den (1917/1999, 7) des menschlichen Narzissmus. Mit
(elterlichen) Primärobjekten und die später erfolg- der Konzentration auf die Leidabwehr erlangen
reiche libidinöse Besetzung eines Sekundärobjekts Aspekte der Endlichkeit und Unverfügbarkeit ge-
sind entscheidend für das individuelle Triebschick- meinsam mit gesellschaftlich tabuisierten und ver-
sal. Die spätere Objektwahl ist zum Einen bestimmt drängten Themen der menschlichen Existenz ei-
durch die konservative Tendenz der Triebe, wobei pa- ne entscheidende Bedeutung. Es offenbart sich die
thologisch regressives Verhalten frühkindliche Kon- irreduzible Bedeutung der negativen Aspekte des
flikte reproduzieren und zu einem unbewussten menschlichen Daseins für ein gelingendes Leben.
Wiederholungszwang führen kann. Zum Anderen Freud zufolge ist der Mensch zahlreichen Bedro-
erlaubt die Plastizität der Triebe, eine libidinöse Be- hungen und Quellen der Unlust und des Leids aus-
setzung auch jenseits von regressiver Fixiertheit auf- gesetzt: Leiden droht »vom eigenen Körper her, der,
zubauen. zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz
Während der Adoleszenz werden die Anforderun- und Angst als Warnsignale nicht entbehren kann,
gen der Realität durch die gesellschaftliche Praxis von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbitt-
280 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

lichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, ten Sitten‹ unterworfen. Um überhaupt »Glücksbe-
und endlich aus den Beziehungen zu anderen Men- friedigung« (460) erfahren zu können, wird »Kultur-
schen« (1930/1999, 434). Ein Erfolg versprechendes versagung« (457) in Form von Triebaufschub und
Streben nach Glück und Genuss wird überhaupt erst -verzicht zur notwendigen Bedingung. Es ist jedoch
durch die Anerkennung dieser Leidensquellen mög- auch möglich, gewissermaßen Kulturarbeit zu leis-
lich. Von dieser Erkenntnis geht konsequenterweise ten: Künstlerische, wissenschaftliche und intellektu-
keine lähmende Wirkung aus, sie ist vielmehr konsti- elle Tätigkeiten und ästhetischer Genuss ermögli-
tutiv für eine authentische Orientierungspraxis (vgl. chen sublimierten Lustgewinn. Aber diese höheren
444). Neben dem Streben nach Luststeigerung und und feineren Befriedigungserlebnisse treffen auf
der Unlustvermeidung gewinnt damit die Verarbei- Grenzen, denn »ihre Intensität ist im Vergleich mit
tung von erfahrbarem und erfahrenem Leid an Be- der aus der Sättigung grober, primitiver Triebregun-
deutsamkeit. Paradigmatisch zeigt Freud dies an- gen gedämpft; sie erschüttern nicht unsere Leiblich-
hand der »Trauerarbeit« (vgl. 1916/1999, 429–431), keit« (438).
die nach dem Verlust eines geliebten Objekts die Be- Es ist zwar ein grundsätzliches Merkmal jeder
ziehung zur Außenwelt wieder herstellen soll. Mit Kultur, dass »ein Stück Glücksmöglichkeit für ein
dieser Hervorhebung der oft unterschätzten, tatsäch- Stück Sicherheit eingetauscht« (474) wird, jedoch
lich jedoch konstitutiven sozialen Bedingtheit steigert eine lustfeindliche Sexualmoral das Unbeha-
menschlichen Daseins eröffnet Freud eine Per- gen in und an der Kultur. Weil die Gewissensinstanz
spektive auf die Konstruktion von Normalität, die des Über-Ichs sämtliche seelischen Regungen über-
für Sozialpsychologie und -wissenschaften von blei- wacht und schon die bloße Wunschvorstellung mit
bender Bedeutung ist. Schuldgefühlen straft, können selbst erfolgreich un-
terdrückte Triebwünsche ein andauerndes ›schlech-
Kulturverzicht und Sublimierung tes Gewissen‹ verursachen. Die überstrenge Sexual-
moral schlägt so in eine Pathologie der Moral um.
Die kulturellen Lebensbedingungen und die norma- Derart repressive Sexualmoral führt nach Freud zu
tiven Forderungen, sexuelle und aggressive Triebäu- Beschädigungen, wie der ›Flucht‹ in die Neurose, in
ßerungen zu unterdrücken, verursachen das von den religiösen Wahn oder zur chronischen Intoxika-
Freud so genannte »Unbehagen in der Kultur«. Freud tion und befördere eine gesellschaftliche Doppelmo-
hatte ursprünglich erwogen, seinen Essay »Das Un- ral. Mit seiner Kultur- und Moralkritik fordert Freud
glück in der Kultur« zu nennen (Gay 1989, 611). Der deshalb eine Reform der ›kulturellen‹ Sexualmoral
überarbeitete Titel spricht dafür, dass die Kultur ge- (vgl. 1908/1999, 167; Vollmann 2010).
rade nicht als Ort der Verunmöglichung von Glück
und Verhinderung von Triebbedürfnissen gedacht Maßvolles Glück
wird. Kultur ist vielmehr die Bedingung der Mög-
lichkeit eines gesicherten, dafür gemäßigten und ver- Auf der Grundlage der psychoanalytischen Trieb-
mittelten Glücksanspruchs. Kultur steht im Dienste theorie schließt Freud: »Das Glück in jenem ermä-
der Leidvermeidung als »die ganze Summe der Leis- ßigten Sinn, in dem es als möglich erkannt wird, ist
tungen und Einrichtungen […], in denen sich unser ein Problem der individuellen Libidoökonomie. Es
Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt gibt hier keinen Rat, der für alle taugt« (1930/1999,
und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Men- 442). Daran scheitern die vielfältigen Versuche über-
schen gegen die Natur und der Regelung der Bezie- kommener philosophisch, weltanschaulich oder reli-
hungen der Menschen untereinander« (Freud 1930/ giös fundierter Lebenskunstlehren, denen Freud als
1999, 449). »Schulen der Lebensweisheit« (435) vorwirft, zur
Die geschlechtliche Liebe vermittelt nach Freud unangemessenen Verallgemeinerung entweder des
»die stärkste Erfahrung einer überwältigenden Lust- positiven oder negativen Glückszieles zu neigen. Die
empfindung« und wird so zum »Vorbild für unser Rücksichtslosigkeit des radikalen Hedonismus ist
Glücksstreben« (441). Gleichzeitig sind wir als Lie- ebenso einseitig und unrealisierbar, wie das »Glück
bende hilflos und ungeschützt dem möglichen Ver- der Ruhe« (437), das die asketische Isolation ver-
lust des geliebten Menschen ausgesetzt. Zudem ist spricht. Ähnlich beurteilt Freud die Religion, die er
die Sexualität traditionell weitreichenden Einschrän- zum lebensfeindlichen »Massenwahn« erklärt, der
kungen durch Tabuisierungen, Gesetze und die ›gu- zwar »vielen Menschen die individuelle Neurose«
6. Glück in der Psychoanalyse. Wider das Unglück in der Kultur 281

(444) erspare, als gegenaufklärische Denkhemmung In den ebenfalls gesellschaftskritischen und ethi-
jedoch einen »psychischen Infantilismus« (443) pro- schen Arbeiten Erich Fromms (vgl. 1947/1954) sieht
duziere. Marcuse eine revisionistische und idealistische Ver-
Freuds Kulturkritik wendet sich strikt gegen eine flachung der Psychoanalyse, die in einen ethischen
Ablehnung der Kultur. Sie bezweckt vielmehr Auf- Konformismus münde. Jacques Lacan kritisiert im
klärung über die Entstehungsbedingungen des weit- Vollzug seiner ›Rückkehr‹ zu Freuds Werken die ich-
verbreiteten Kulturpessimismus und der Kultur- psychologischen Verkürzungen besonders der ame-
feindschaft, die Freud (zwischen zwei Weltkriegen) rikanischen nach-freudschen Psychoanalyse. Gegen
zum drängendsten Problem zivilisierter Gesellschaf- konformistische Glücksvorstellungen entwirft er
ten erklärt (vgl. 457). Die Vorstellung, außerhalb der eine Ethik des Mangels und unternimmt eine Reha-
Kultur sei ein größeres Maß an Glücksbefriedigung bilitation des subjektiven Begehrens (vgl. Lacan
zu erreichen, entlarvt er als Regression auf die Stufe 1973/1996, 289). Auch Gilles Deleuze und Félix Gu-
bloßer animalischer Sexualität, die das kulturelle attari stehen mit ihrem Anti-Ödipus (1972/1997) in
Wesen des Menschen missversteht. Freud erkennt der subversiven Nachfolge Freuds, wenn sie inner-
die Schicksalsfrage der Menschheit darin, ob es ge- halb der kapitalistischen Gesellschaft die anarchisch-
lingt, »einen zweckmäßigen, d. h. beglückenden Aus- vitale Pluralität des Begehrens der Ordnung des
gleich zwischen [den] individuellen und kulturellen Grundes und der Identität unterworfen sehen (s.
Massenansprüchen zu finden, […] ob dieser Aus- Kap. VI.8). Dagegen erblicken sie in der Schizophre-
gleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur nie das Bild eines möglichen revolutionären Be-
erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist« wusstseins, das diesen Zurichtungen mittels akate-
(456), dabei kann »Auflehnung gegen eine beste- gorialer und polymorpher Wunschproduktionen
hende Ungerechtigkeit […] einer weiteren Entwick- entgeht.
lung der Kultur günstig werden« (455). Auch wenn
das Programm des Lustprinzips innerhalb der kultu-
rellen Sphäre niemals unbedingt und unvermittelt Literatur
realisierbar ist, sollen und können Menschen das Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalis-
Streben nach Glück und einer gerechten Gesellschaft mus und Schizophrenie I [1972]. Frankfurt a. M.
keinesfalls aufgeben. 8
1997.
Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
[1905]. In: Ders.: Gesammelte Werke [GW]. 18 Bde.
Freud-Rezeption
Frankfurt a. M. 1999, Bd. V, 29–145.
Mit dem Ziel einer Politisierung der Psychoanalyse –: Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Ner-
erklärt der Freud-Schüler Wilhelm Reich die ›orgas- vosität [1908]. In: GW VII, 143–167.
tische Potenz‹ befreiter Sexualität zum Kriterium für –: Trauer und Melancholie [1916]. In: GW X, 428–446.
psychische Gesundheit (vgl. Reich 1927/1987). Als –: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917]. In: GW
Begründer des Freudomarxismus forderte er, neben XII, 3–12.
der individuellen Therapie die gesellschaftlichen –: »Psychoanalyse« und »Libidotheorie« [1923]. In: GW
XIII, 211–233.
Entstehungsbedingungen zu revolutionieren, um
–: Das Unbehagen in der Kultur [1930]. In: GW XIV,
Massenneurosen und sexueller Unterdrückung vor-
421–506.
zubeugen. Auch Herbert Marcuse verstärkte im Um-
–: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wil-
feld der Kritischen Theorie (s. Kap. VI.7) die bei helm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jah-
Freud noch unspezifischen sozialkritischen Forde- ren 1887–1902. Frankfurt a. M. 21962.
rungen. Er kennzeichnet das »Leistungsprinzip« Fromm, Erich: Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu
(Marcuse 1955/1971, 40) als konkrete historische einer humanistischen Charakterologie [1947]. Stutt-
Ausprägung des Realitätsprinzips unter den Bedin- gart/Konstanz 1954.
gungen kapitalistischer Ökonomie. Im Gegenzug Gay, Peter: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit (engl.
entwirft er die Konzeption einer libidinösen Moral, 1988). Frankfurt a. M. 1989.
die jenseits von Konsumismus, ideologischer Mani- Lacan, Jacques: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch
pulation, repressiver Entsublimierung und allumfas- XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse
sender Herrschaft eine Kultur der Triebbefreiung [1973]. Weinheim/Berlin 41996.
und der sozialen Arbeit ermöglichen soll (vgl. 154). Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein
282 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud [1955].


Frankfurt a. M. 1971.
7. Glück in der Kritischen
Reich, Wilhelm: Die Funktion des Orgasmus. Sexual- Theorie. Befreite
ökonomische Grundprobleme der biologischen Ener-
gie [1927]. Köln 1987.
Individualität und ihre
Vollmann, Morris: Freud gegen Kant? Moralkritik der Hindernisse
Psychoanalyse und praktische Vernunft. Bielefeld
2010.
Zwiebel, Ralf: Freud und das Glück. Eine psychoanalyti-
Das Label ›Kritische Theorie‹ bezeichnet Denkan-
sche Perspektive. In: Timo Hoyer (Hg.): Vom Glück
sätze, die im Rahmen der sog. Frankfurter Schule
und glücklichen Leben. Sozial- und geisteswissen-
entstanden sind. Darunter wiederum werden die
schaftliche Zugänge. Göttingen 2007, 15–36.
Morris Vollmann
Philosophen Max Horkheimer (1895–1973) und
Theodor W. Adorno (1903–1969) sowie ein wech-
selndes Umfeld weiterer Autoren gefasst, auf die
noch zu kommen ist. Diese Gruppe hat von 1931,
dem Antritt Horkheimers als Direktor des Instituts
für Sozialforschung, bis in die 1970er Jahre pronon-
cierte Thesen vertreten, die noch heute bedeutsam
sind (Honneth u. a. 2006). Ihr Bezug auf das Glück
hat einen pragmatischen Aspekt, der zuerst benannt
wird; ein Problem, das anschließend und eine origi-
nelle Mischung positiver Glücksvorstellungen, die
abschließend behandelt werden.

Das Glück des Kritischen Theoretikers


Wenn die Kritische Theorie hier mit einem eigenen
Eintrag firmiert, so hat das erst in zweiter Linie mit
ihren spezifischen Glücksideen zu tun. Denn solche
wurde von ihr selten explizit erarbeitet – und streng
genommen gab es viele dieser Theorien schon zuvor
(die wichtigsten Quellen sind Nietzsche, Freud, Marx
und Max Weber). Die emotionale Bedeutung hinge-
gen, die sie für viele Menschen noch immer hat –
und das verleiht Texten über sie oft einen bekennt-
nishaften Charakter –, kann erst ermessen, wer das
›Beglückende‹ an der Kritischen Theorie selbst be-
rücksichtigt. Mehreres gilt es hier zu nennen:
Zunächst war es ein Glück für die frühe Bundesre-
publik, dass mit dem 1950 neu gegründeten Institut
für Sozialforschung (es war ursprünglich 1922 ge-
gründet, 1933 aber von der Gestapo aufgelöst wor-
den) wenigstens ein kleines Stück der reichhaltigen
linksintellektuellen und in vielen Fällen deutsch-jü-
dischen Kultur tradiert werden konnte, die es in der
Weimarer Republik gegeben hatte (Albrecht 1999).
Dieses Glück ist im Sinne eines unverdienten Ge-
schenks an eine Gemeinschaft zu verstehen. Doch
gab es bei dieser Theorie auch individuell gefühlte
Glücksdimensionen. Um sie heute zu sehen, muss
man sich die Bedeutung, die eine Begegnung mit der
7. Glück in der Kritischen Theorie. Befreite Individualität und ihre Hindernisse 283

Neuauflage der Kritischen Theorie gehabt haben chung« (Adorno GS 7, 252). Das besagt, dass die Welt
muss, wissenssoziologisch zurückerschließen. Schon gewaltige Probleme habe, aber im Grunde niemand,
die Umstände eines Studiums, das in den 1960er Jah- kein Politiker und kein Theoretiker, sie richtig ver-
ren immer mehr Menschen möglich wurde, waren stehen könne, da der Kapitalismus wahre Erkenntnis
emotional sicher positiv besetzt – weil es damals unmöglich mache – niemand, mit Ausnahme der
noch gesellschaftlichen Aufstieg verhieß und vielen Kritischen Theorie (sonst wüsste sie ja nicht, dass die
durch die Abnabelung vom Elternhaus, das in den anderen verblendet sind). Damit schrieb sie sich und
1950er und 1960er Jahre oft noch arg rigide war, neue ihren Adepten eine grandiose Bedeutung zu. Mit
Freiheiten ermöglichte. Diese Abnabelung ging in je- Adorno gesprochen: »Ist die verwaltete Welt als eine
ner Zeit über das Familiäre hinaus, sie überlagerte zu verstehen, in der die Schlupfwinkel verschwinden,
sich mit den Generationskonflikten hinsichtlich der so vermöchte sie dafür auch wiederum, kraft der
kulturellen Verarbeitung des Nationalsozialismus Verfügung Einsichtiger, Zentren von Freiheit zu
(Albrecht 1999, 523). Es verschaffte nun Bestätigung, schaffen, wie sie der blinde und bewusstlose Pro-
wenn sich diese Abnabelung in den Inhalten des Stu- zess bloßer gesellschaftlicher Selektion ausmerzt«
diums wiederfand: Die beklagte Ortlosigkeit des In- (Adorno GS 8 I, 145). Sich in einem solchen »Zen-
tellektuellen in der »verwalteten Welt« entsprach in trum der Freiheit« zu wissen, konnte der eigenen in-
gewisser Weise der lebensabschnittstypischen Nicht- tellektuellen Tätigkeit Legitimation und Bedeutung
festgelegtheit des Studenten, die Betonung auf verleihen.
»Mündigkeit« und der »emanzipierten Gesellschaft« Dies erklärt vielleicht die starke emotionale Beset-
(Adorno GS 4, 178) entsprach dem Selbstbehaup- zung der Kritischen Theorie seitens ihrer Anhänger.
tungswillen der neuen Generation (ähnlich wie der Ihre Glücksfunktionalität ist also eine dreifache: Sie
Zynismus Luhmanns und Foucaults der Gemütslage bot Orientierung und historische Anknüpfungs-
folgender Generationen entsprochen haben muss). punkte, soziale Distinktionsgewinne sowie eine Auf-
Diese Art von Glück könnte man als Erfahrung des wertung des intellektuellen Selbstgefühls. All das sagt
»erlösenden Einklangs« (Henrich 2001, 151) be- noch nicht viel über ihre Inhalte aus, doch vermag
zeichnen, die mit dem Erlebnis einhergeht, dass man die selbstbildstabilisierende Funktionalität einen Teil
auch als aneckender Student ›in die Welt passt‹. ihres Erfolgs zu erklären, der auch auf einer eigenen
Doch es kam mehr hinzu. Der Nimbus des Beson- Art von Glück beruhte: dem »Glück der Erkenntnis«
deren ging dem Institut für Sozialforschung voraus, (Adorno GS 7, 30; vgl. Steinert 2007) – einer Er-
vermittelt auch durch die Rückkehr aus dem ameri- kenntnis, von der man meinte, dass sie den meisten
kanischen Exil. Wer den Eindruck erwecken konnte, anderen versagt war.
Texte dieser Schule nicht nur zu lesen, sondern auch
zu verstehen, konnte sich wohl eines Distinktionsge- Warum Kritische Theorie nicht
winns sicher sein, denn ihre Texte blieben aufgrund
von »Glück« reden kann
ihres speziellen Idioms nicht wenigen Lesern ein
Buch mit sieben Siegeln – Adornos Syntax war ei- Dieser heroisch anmutende Anspruch auf privile-
genwillig, und die technoide Ausdrucksweise von gierte Erkenntnis war zugleich das Problem der Kri-
Habermas wurde bald von ›Phrasendreschmaschi- tischen Theorie. Wie konnte man in einer »totalen
nen‹ karikiert (der eingängigere Stil etwa von Her- gesellschaftlichen Verblendung« (Adorno GS 4, 235)
bert Marcuse oder Erich Fromm, die übrigens nicht überhaupt wissen, dass es sie gab? Wäre sie wirklich
zurückgekehrt waren, wurde dagegen eher belä- total, könnte man sie nicht erkennen; konnte man sie
chelt). Wer sich dieser Theorien zu bedienen ver- jedoch durchschauen, war sie nicht universal (»Gibt
mochte, durfte sich also als etwas Besonderes fühlen. es wirklich kein richtiges Leben im falschen, so kann
Das trifft zwar auch auf andere philosophische es eigentlich auch kein richtiges Bewusstsein darin
›Jargons‹ zu, doch bargen die Inhalte dieser Theorie geben«; Adorno GS 10.2, 591); und dann sollte sich
noch ein drittes beglückendes Moment. Angehenden angeben lassen, wie Gesellschaft besser funktionie-
Akademikern wurde in den Schriften des Instituts ren könnte, oder zumindest, was die ›normative Fo-
ihre eigene Lage nicht nur gespiegelt; sie wurde zu- lie‹ (Habermas) der Kritik war – d. h. gemessen an
dem enorm aufgewertet. Warum? Eine Kernthese welchem Ideal die Gegenwart überhaupt als schlecht
der Kritischen Theorie behauptete einen »universa- erschien.
len Verblendungszusammenhang von Verdingli- Die Kritische Theorie wollte zwar das eine: Kriti-
284 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

sieren, scheute sich aber vor dem anderen: dem Auf- nur individuelle Eigenheiten, sondern theoretisch
weis von Alternativen oder zumindest ›Idealen‹. Als gewissermaßen stringent.
ein solches Ideal hat Jürgen Habermas später die An dieser Stelle stellen sich nun zwei Fragen: Was
›ideale Kommunikationsgemeinschaft‹ und Axel ist eigentlich mit der totalen Verblendung gemeint,
Honneth die ›wechselseitige Anerkennung‹ einge- die argumentativ so hohe Lasten trägt, dass man sich
führt, aber damit kamen sie wieder der idealistischen sogar von wichtigen Mitgliedern wie Erich Fromm
Moralphilosophie nahe, von der sich ihre Vorgänger trennte, wenn sie diese steile These nicht länger mit-
gerade hatten absetzen wollten. Horkheimer brachte tragen mochten? Und welche Vorstellungen von
das so auf den Punkt: »Ich bekenne mich zur kriti- Glück wurden dem totalen »Verhängnis« (Adorno
schen Theorie; das heißt, ich kann sagen, was falsch GS 3, 256) in der erwähnten indirekten oder ›dialek-
ist, aber ich kann nicht definieren, was richtig ist« tischen‹ Weise gleichwohl abgerungen und entge-
(Horkheimer GS 8, 331). genstellt?
Diese Position mag zunächst nach einer trotzigen
Weigerung klingen, die eigenen Kriterien systema- Mächte der Glücksverhinderung
tisch offenzulegen (eine »Weigerung« hatte Marcuse
in der Tat ausgerufen, doch meinte sie das Gegenteil: »Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an
Er verweigerte die Anerkennung der »Beschränkun- der Idee des Glücks« (Benjamin GS II, 203). Benja-
gen des Glücks« und benannte es daher klar; Mar- mins Pointierung von 1920 ist für die Rolle der
cuse Schr. 5, 130). Biographisch spricht einiges dafür, Glücksidee in der Kritischen Theorie kennzeich-
dass dieses Schweigen über die eigenen Kriterien nend. Ganz im Rahmen von Aufklärung und Frühso-
auch äußere Gründe hatte: Flucht und Exil ließen zialismus ging sie davon aus, dass es Aufgabe der Ge-
»wenig Zeit […], die Theorie zu schärfen« (Hork- sellschaft sei, das Glück der Individuen zu ermögli-
heimer GS 4, 211), und die wechselnden politischen chen. Das in dieser Tradition angezielte Glück hatte
Bedingungen ließen es strategisch als ungünstig er- verschiedene Dimensionen (s. Kap. II.9 und V.2),
scheinen, eine allzu klare Position zu beziehen (was etwa die ausreichende Versorgung aller Menschen,
Marcuse Horkheimer mehrfach vorgehalten hat; eine »ungehinderte Entfaltung« (Horkheimer GS 4,
Horkheimer GS 17, 213). Hinzu kam eine Entfrem- 221) sowie eine – auch sexuelle – Freiheit, die es er-
dung von radikaleren früheren Positionen und eine lauben würde, »ohne Angst verschieden« zu sein
– wenn auch späte – Akzeptanz der Demokratie (Adorno GS 4, 116). Die Berücksichtigung dieses po-
nach westlichem Muster, was klar mit den revolutio- litischen Auftrags sollte den Unterschied zwischen
nären Ambitionen brach (Albrecht 1999, 108 ff., traditioneller und Kritischer Theorie markieren: Nur
290 ff.). letztere habe »das Glück aller Individuen zum Ziel«
Trotzdem entbehrt diese Weigerung nicht der (Horkheimer GS 4, 221) – eine fragliche These, ge-
Konsequenz. Wenn von einer fugendichten Verblen- rade in Bezug auf den Positivismus, gegen den sie ge-
dung und einer »Totalität der Kulturindustrie« richtet war (s. Kap. VI.1).
(Adorno GS 3, 158) auszugehen war, dann konnten Nun ist für die Kritische Theorie gerade die Über-
Ideale nicht artikuliert werden, ohne ihr Verderben zeugung charakteristisch, dass der Weg zu diesem
zu riskieren. Sie mussten dann zur ›Ideologie‹, zur Glück im Kapitalismus radikal verstellt sei (»Es gibt
›Lüge‹ oder zum ›Kitsch‹ verkommen (Worte, die kein richtiges Leben im falschen«, Adorno GS 4, 43;
insbesondere Adorno oft gebrauchte: »Wer sagt, er »Unter den gegebenen Verhältnissen werden die
sei glücklich, lügt«, GS 4, 126). Es musste also ein Glücksgüter selbst zu Elementen des Unglücks«, GS
Weg gefunden werden, sie nicht unmittelbar explizit 3, 15). Dies ging über ältere Thesen weit hinaus:
zu machen, sondern nur anzudeuten oder durch ge- Marx hatte eingeschränkt, dass Glück im Kapitalis-
schickte Kollagen ›aufscheinen‹ zu lassen (eine Tech- mus nicht für alle möglich sei; Freud hatte gemahnt,
nik, die Walter Benjamin vorgeführt hatte). So er- dass individuelles Glück nicht anhalten könne;
klärt sich auch die starke Rolle der Ästhetik in dieser Nietzsche und Weber erwarteten eine kalt durchrati-
Schule, hin und wieder kokettierte man sogar mit onalisierte Welt; doch keiner hatte gefolgert, dass
der Religion (obwohl nur Außenseiter wie Leo Lö- Glücksmomente oder ein gelingendes Leben ganz
wenthal, Fromm oder Benjamin einen inneren Be- unmöglich seien. Woher also dieser radikalisierte
zug zu ihr hatten). Die stilistischen Eigenheiten in Negativismus?
Horkheimers und Adornos Werk sind somit nicht Es finden sich mehrere Erklärungsversuche für
7. Glück in der Kritischen Theorie. Befreite Individualität und ihre Hindernisse 285

die These einer nahtlosen Abriegelung aller Glücks- glückte Neurotiker auch noch das letzte bisschen an
ansprüche der Individuen im Kapitalismus, von de- Vernunft preisgeben, das ihm Verdrängung und Re-
nen sich aber keiner durchhalten ließ. Erich Fromm gression übrig ließen, und dem Psychoanalytiker zu-
etwa, den das Institut 1930 eigentlich auf Lebenszeit liebe […] wahllos sich begeistern«, Adorno GS 4, 69)
angestellt hatte, verband in frühen Aufsätzen die bis zu Marcuses erneuter Kritik am »Revisionismus«,
marxistische Gesellschaftsanalyse mit Freudschen sprich: an Fromm (»in einer repressiven Gesellschaft
Elementen (s. Kap. VI.6). Dafür musste zunächst steht das Glück und die produktive Entwicklung der
Freuds Biologismus sozial und kulturell aufgebro- Einzelnen im Widerspruch zur Gesellschaft: werden
chen werden. In Fromms Augen ging der Charakter sie als Werte definiert, die innerhalb dieser Gesell-
der Individuen nicht länger nur auf eine ahistorische schaft zu verwirklichen sind, dann werden sie selbst
Triebnatur, sondern auch auf ihre Prägung durch die repressiv«, Marcuse Schr. 5, 208). Wenn Horkheimer
Gesellschaft zurück. Diese theoretische Innovation in den 1940er Jahren von »Zerfall« und »Auflösung
war für spätere Schriften aus diesem Umkreis prä- des Individuums« sprach (Horkheimer GS 5, 334; GS
gend, doch folgte aus ihr auch eine erste Version der 6, 161), folgte er der hermetischen Amalgamierung
Verhängnisthese: Wenn die ökonomischen Zwänge von Marx und Freud ebenfalls (»Die Individualität
des Kapitalismus, gegen die die Kritische Theorie ja verliert ihre ökonomische Basis«, Horkheimer GS 6,
aufbegehrte, sich über die Instanz der Familie in die 147). Doch dies war nur eine Variante.
Triebstruktur der Individuen hinein verlängerten Eine zweite Version der Abriegelungsthese ist di-
(ein Thema, das sich durch die großen Untersuchun- rekter ökonomisch. Wenn Adorno Horkheimer im
gen des Instituts zog: Autorität und Familie, 1936; zitierten Brief schrieb, er würde Fromm »dringend
The Authoritarian Personality, 1950), verschwand für raten, Lenin zu lesen« (in Horkheimer GS 15, 498),
diese Theorie der Ansatzpunkt, von dem aus Oppo- so spiegelt dies die Position radikaler Revolutionäre,
sition überhaupt denkbar war. Fromm selbst hat die gegen politische Reformen eintraten, damit der
diese aporetische Position bald geräumt und rückte Leidensdruck nicht gemindert werde und es zur ge-
schon 1935 in der Psychoanalyse die »Ansprüche des wünschten Revolution komme. Vorausgesetzt war
Patienten auf Glück« in den Mittelpunkt (Fromm hier die Überzeugung, dass es keinen schrittweisen
GA 2, 115 ff.; genau dies nahmen ihm Adorno und (reformistischen) Ausstieg aus dem Kapitalismus ge-
Marcuse übel). Die später entwickelte ›positive Psy- ben könne. Diese These konnte sich zwar auf Marx
chologie‹ maß explizit (und unter Verweis auf den berufen, doch war Marx deswegen keineswegs gegen
Perfektionismus des jungen Marx) Möglichkeiten Reformen eingetreten, da diese ja die Lage verbesser-
des Glücks aus – zwar gegen die »Marketing-Orien- ten und die Arbeiter politisch schulten. Friedrich
tierung« des Kapitalismus, aber durchaus noch in Pollock, der Ökonom des Instituts, entwarf 1932 hin-
ihm: »Glück deutet darauf hin, dass der Mensch die gegen eine Theorie, die eine Hermetik des Kapitalis-
Lösung des Problems der menschlichen Existenz ge- mus zur Konsequenz hatte: Werde dieser richtig re-
funden hat: die produktive Verwirklichung seiner guliert, gebe es keine Aussichten auf Schwächen des
Möglichkeiten« (Fromm GA 2, 120). Das setze ob- Kapitalismus mehr, so dass er »auf zunächst unab-
jektiv politische Freiheit und subjektiv Mut zum sehbare Zeit weiter zu existieren vermag« (Pollock
Freisein voraus, zu dem Fromm – ähnlich wie der 1975, 28).
einstige Kollege Paul Tillich – ermutigen wollte. Diese für Marxisten schwarze Sicht übertrugen
Zwar hatte auch Horkheimer die »freie Entwick- Pollock und Horkheimer in den 1940er Jahren auf-
lung der Individuen« als Moment des Glücks ange- grund einer »Ableitung« des Nationalsozialismus
sprochen (Horkheimer GS 4, 219) und dafür »Mög- aus dem Kapitalismus auf jenen, so dass es so aussah,
lichkeiten des Menschen« in Anspruch genommen als könne auch der Nationalsozialismus unbegrenzte
(221; vgl. Marcuse Schr. 8, 237 ff.). Doch in der Kriti- Zeit herrschen (zur Kritik vgl. Henning 2005, 350 ff.).
schen Theorie überwog die negativistische Grundli- Die These von der Reform- und Krisenresistenz des
nie – sie zog sich von einem Brief Adornos an Hork- Systems blieb damit erhalten, allerdings entfielen
heimer von 1936, indem er sich über die »Güte« bei nun die Revolutionshoffnungen. Dies war eine ent-
Fromm mokierte (in Horkheimer GS 15, 498; vgl. mutigende Aussicht, in der von ›Glück‹ zu reden im-
Wiggershaus 1986, 298 ff.), über die Therapiekritik mer weniger möglich schien. Dies war zwar zeithis-
von 1951 (»Das verordnete Glück sieht denn auch torisch plausibel, nicht aber theoretisch – doch da
danach aus; um es teilen zu können, muss der be- Ökonomie, Politik und Psychologie durcheinander-
286 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

gingen, waren die misslichen ökonomischen Wur- durch ihre Verankerung in den Subjekten behauptet:
zeln dieser Sicht kaum mehr korrigierbar. Im Ergeb- »die totale Vergesellschaftung […] widerfährt dem
nis wurden die Ursachen für den Nationalsozialis- bloßen biologischen Einzelwesen Mensch nicht län-
mus so tief in der Grundstruktur der Rationalität ger bloß von außen, sondern ergreift die Individuen
verankert, dass es keinen ›vernünftigen‹ Ausweg aus auch im Innern und schafft sie um zu Monaden der
ihm mehr zu geben schien (»die praktische Tendenz gesellschaftlichen Totalität« (GS 8 II, 149). »Verwal-
zur Selbstvernichtung gehört der Rationalität seit tung […] vervielfacht sich« in den Menschen selbst
Anfang zu. […] Aufklärung ist totalitär«, Adorno GS (GS 8 I, 137). Diese – undialektische – Gegenüber-
3, 17, 22). Ökonomische Annahmen wurden in sol- stellung von Individuum und Gesellschaft weist the-
che über ›die Vernunft‹ transformiert, das Verhäng- oretisch auf den Zynismus Foucaults vor, der im
nis wurde transzendental. (Nicht geteilt hat diese Po- »Neoliberalismus« eine Verwandlung von Herr-
sition übrigens der 1940 verstorbene Walter Benja- schaft in erzwungene Selbstbeherrschung sah. Prak-
min, dessen Bezug zur Religion daher markante tisch ließ sie dem ›wahren‹ Glück kaum mehr einen
Unterschiede zu derjenigen von Horkheimer und Raum.
Adorno aufweist; Henning 2005, 400 ff.).
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich daran Und dennoch: Bilder vom Glück
erstaunlich wenig. Adorno, der in der Bundesrepu-
blik bald zur Hauptfigur der Frankfurter Schule Gleichwohl repräsentierte das Glück das Ziel, dessen
wurde, unterstellte nach wie vor ein totales Verhäng- Berücksichtigung die eigene Theorie erst zu einer
nis, etwa wenn er (in Verkennung des politischen kritischen machen sollte – die Kritik an Kapitalis-
Engagements von Künstlern wie Joan Baez; vgl. da- mus und totalitärer Herrschaft lief ja darauf hinaus,
gegen Honneth/Kemper 2007) die Protestkultur ge- dass sie Glück verhinderten; also musste man auch
gen den Vietnamkrieg kritisierte, da sie das Grässli- irgendwann etwas über das Glück sagen. Je ferner
che konsumierbar mache. Kulturprodukte im Kapi- ein Autor dem inneren Kreis stand, desto freimütiger
talismus seien nur als marktfähige möglich und geschah das – Aussagen dazu findet man eher bei
fielen damit, so heißt es in Anlehnung an Georg Benjamin, Fromm oder Marcuse. Bei Horkheimer
Lukács, einer universalen »Verdinglichung« anheim: und Adorno kann man immerhin aus den »Negati-
»Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch ven« lesen (Sona 2004; Rath 2008; vgl. auch Schwep-
verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, die davon penhäuser 1993). Drei Fragen sind dabei zu unter-
lernten« (Adorno GS 3, 223; vgl. Henning 2010). In scheiden: Welches Glück ist gemeint? Wie lässt es
dieser »Ableitung aus […] dem Fetischcharakter der sich – trotz Verblendung – erkennen? Und wie ließe
Ware« (Adorno GS 8, 559) erschien jedes erlebte es sich möglicherweise verwirklichen?
Glück als ›falsch‹: »die Verwandlung der Subjekte in Zur ersten Frage gibt es drei Antworten. Horkhei-
gesellschaftliche Funktionen [ist] so differenzlos ge- mer und Adorno hatten das Unglück vor allem im
lungen, dass die ganz Erfassten, keines Konflikts »Verhältnis zum Körper« lokalisiert (Adorno GS 3,
mehr eingedenk, die eigene Entmenschlichung als 265). Damit ist die erste Glücksdimension der Be-
Menschliches, als Glück der Wärme genießen« (GS dürfnisse benannt (vgl. Adorno GS 8, 392 ff.). Welche
4, 235) – oder kurz: »kein Glück ohne Fetischismus« sind gemeint? Da sind zunächst ökonomische Be-
(GS 4, 137). Erstaunlich schnell wird hier ein angreif- dürfnisse, ein sozialistisches Erbe. Doch auch wenn
bares Geschmacksurteil in eine differenzmüde ge- sich Horkheimer für den »Genuss« stark machte
schichtsmetaphysische Generalthese verlängert. (Horkheimer GS 4, 8 ff.), stehen diese nicht im Mit-
Als traue Adorno dieser abstrakten theoretischen telpunkt, denn die Art ihrer Erfüllung im Kapitalis-
›Basis‹ selbst nicht ganz, untermauert er sie durch mus gilt als »unrichtig«, weil nicht selbstbestimmt.
Zusatzthesen. Erstens wird auch der Politik eine Anders gesagt: Die Kritische Theorie beklagte zwar
Rolle zugeschrieben: Die verwaltete Welt organisiere den ›Mangel‹, wenn er das Nötige betraf (»dass kei-
eine »Kulturindustrie«, um die Menschen nicht auf ner mehr hungern soll« forderte Adorno, GS 4, 178),
dumme, d. h. eigene Gedanken zu bringen – noch aber sie interessierte sich kaum für Verteilungsge-
1961 heißt es etwa, die Gesellschaft werde »zentral rechtigkeit. Hier überschnitt sich der revolutionäre
gesteuert« (Adorno GS 8 I, 312). Die Differenz zwi- Restreflex übrigens mit der rechten Konsumkritik
schen Ökonomie und Politik verschwimmt. Zwei- etwa von Arnold Gehlen (Thies 1997; s. Kap. VI.5).
tens wird erneut eine Versiegelung der Glückssperre Vielmehr zielte sie auf »wahre Bedürfnisse« (Mar-
7. Glück in der Kritischen Theorie. Befreite Individualität und ihre Hindernisse 287

cuse Schr. 7, 25) und »Objektivität des Glücks« ab gab es allerdings zwei Haken: Einmal basierte auch
(Marcuse Schr. 3, 262; Adorno GS 6, 19), die es nur in der Utilitarismus als zentrales Legitimationsnarrativ
einer »befreiten Gesellschaft« geben könne (Adorno des Kapitalismus auf einem – wenn auch modifizier-
GS 6, 294). So drohte die genauere Bestimmung des ten – Hedonismus (s. Kap. V.1). Von ihm musste man
Glücks durch geschichtsphilosophische Spekulatio- sich abgrenzen, und das misslang, sofern man dem
nen über das »Glück der Menschheit« (Adorno GS Bürgertum schlicht Lustfeindlichkeit unterstellte
10.2, 798) verdrängt – oder besser: vertagt – zu wer- (»Lust erscheint, nach der bürgerlichen Arbeitsmo-
den (»Erst gegenüber der geschichtlichen Möglich- ral, als vergeudete Energie«, Adorno GS 10.1, 382;
keit der allgemeinen Freiheit wird es sinnvoll, auch ähnlich Horkheimer GS 4, 9 ff. – der ›bürgerliche‹
das faktische, wirklich empfundene Glück in den Sinn der Arbeit ist ja Produktion für Profit, somit
bisherigen Daseinsverhältnissen als unwahr zu be- Konsum, und somit letztlich Lust, wenn auch weni-
zeichnen«, Marcuse Schr. 3, 278). ger die der Arbeitenden). Ein weiteres Problem ent-
Zu fragen ist daher: Was genau sollte in einer be- stand, als sich in den 1960er Jahren mit der Pille und
freiten Gesellschaft eigentlich geschehen? Einerseits der Freizügigkeit der Medien die Sexualmoral lo-
ging es, getreu dem revolutionären Erbe, um eine ckerte, ohne dem Kapitalismus Abbruch zu tun (im
»Verfügung der Allgemeinheit über die Produkti- Gegenteil: ›sex sells‹). Beides war nicht die Befreiung,
onsmittel« (Marcuse Schr. 3, 279; von Horkheimer die die Kritische Theorie wollte – aber was wollte sie
als »höheres wirtschaftliches Organisationsprinzip« dann?
euphemisiert, GS 4, 222 f.). Auf das Dilemma, dass Besonders Marcuse und Fromm bemühten sich
diese Umwandlung nicht demokratisch sein kann, hier um Klarheit (und lagen nicht so weit auseinan-
solange die realen Bedürfnisse der Bevölkerung der, wie sie glaubten). Ihre These lautete in etwa: Es
noch ›falsch‹ sind, hatte die Kritische Theorie keine ist zwar richtig, in einer unvernünftigen Gesellschaft,
Antwort, jedenfalls keine theoretische – ihr Schwei- die die sinnliche Lust verdrängt, auf diese Lust zu
gen über Strategien in späterer Zeit hatte wohl auch setzen. Doch das pure Freisetzen dieser Lust bleibt
damit zu tun. Nach 1945 allerdings suchte sie die öf- unfrei, solange es die Gesellschaft ist, in der dies ge-
fentliche Debatte (am effektivsten Fromm und Mar- schieht (das wäre »repressive Entsublimierung«,
cuse, deren Bücher recht populär wurden; zu nennen Marcuse Schr. 7, 76 ff.; vgl. Schr. 5, 170 ff.). Es gelte
sind daneben die Einlassungen zur Erziehung, Al- vielmehr, den Gegensatz von Vernunft und Lust zu
brecht 1999, 387 ff.). Auch das lässt sich als Antwort überwinden. So gewinnen sie Distanz zur Sexindus-
lesen – und so hat Habermas diese Praxis konse- trie und zugleich ein Glücksverständnis, das auch
quent theoretisiert, zunächst als ›Repolitisierung‹, höhere Formen von Lust erfasst (etwa das »Glück
dann als ›kommunikative Ethik‹. Dabei traten aller- des Geistes«, Adorno GS 6, 243). Als Altmarxisten
dings die alten Inhalte zugunsten des Prozeduralen versprechen sie sich davon zugleich ein neues, ›eroti-
immer mehr zurück (Henning 2005, 414 ff.) und siertes‹ Verständnis von Arbeit – für Marcuse als
vom Glück war kaum mehr die Rede (als Ausnahme »spielerische« Tätigkeit, und für Fromm ist Glück
Schmidt 1977, 135 ff.). Unausgesprochen wird hier- »eine aus der inneren Produktivität der Menschen
mit jedoch republikanisches Glücksdenken fortge- entstehende Leistung« (Marcuse Schr. 5, 168 f., 186 f.;
setzt, welches politische Teilnahme (von Benjamin Fromm GA 2, 120; Adorno spielte dagegen mit einer
als Erwachen des »träumenden Kollektivs« um- Idealisierung der »Ferien«, GS 4, 127; vgl. 179: »auf
schrieben, GS V, 678 f.) als wichtigen Aspekt des dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel
Glücks bestimmt hatte. Das erste zentrale Element schauen«; s. Kap. II.2). Die Idee der freien Aneignung
Kritischen Glücksdenkens ist also das gemeinsame der eigenen Natur gab es übrigens ähnlich bei John
Glück der politischen Selbstbestimmung, auch über Dewey (s. Kap. VI.3), den Marcuse und Horkheimer
Fragen der Wirtschaft. aber nur verzerrt zur Kenntnis nahmen (vgl. Dahms
Zweitens ging es getreu dem Freudschen Erbe um 1994, 191 ff.; anders Adorno GS 7, 498; GS 8, 555).
befreite Sexualität (da »alles Glück auf sinnliche Er- Der Wunsch nach Versöhnung betrifft neben der
füllung abzielt« und seine Idee »die geschlechtliche inneren auch die äußere Natur. Walter Benjamin, der
Vereinigung« sei, Adorno GS 6, 202; GS 4, 248). Da nie zur Frankfurter Schule gehörte, aber auf dessen
Freuds Lustprinzip als wichtige Quelle des Glücks Ideen die Hauptvertreter nachhaltig – wenn auch se-
galt, lehnten die Kritischen Theoretiker seine Unter- lektiv – zurückgegriffen haben, hat ihn poetisch um-
drückung zugunsten der falschen Kultur ab. Dabei schrieben: »Der befreiende Zauber, über den das
288 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Märchen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die lich entkommen wollte, noch weiter zurückgreifen,
Natur ins Spiel [wie bei Konservativen, d. Verf.], son- etwa in die Lust vor-individuierter Selbstlosigkeit:
dern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit »Glück ist nichts anderes als das Umfangensein,
dem befreiten Menschen. Diese Komplizität empfin- Nachbild der Geborgenheit in der Mutter« (Adorno
det der reife Mensch nur bisweilen, nämlich im GS 4, 126; vgl. GS 3, 65, Fn. 5 und öfter). Solche und
Glück; dem Kind aber tritt sie zuerst im Märchen ähnliche Stellen sind von hoher Ambivalenz und da-
entgegen und stimmt es glücklich« (Benjamin GS her bis heute umstritten: Einerseits wenden sie sich
II.2, 458). Die Kindheit bzw. die Erinnerung an sie ist zu Recht gegen zwanghafte Domestikation und
also auch deswegen ein Statthalter des Glücks, weil Selbstbeherrschung, die in »Freuds Jahrhundert«
in ihr ein nicht-instrumenteller Naturbezug auf- (Zaretsky 2009) wohl ein größeres Problem war als
scheint. Dieses Glücksmotiv eines »Einssein mit der heute. Andererseits droht sich diese verbale Radika-
Welt« (Fromm GA 2, 120; s. Kap. V.4) auf der Grund- lität über moralische Maßstäbe zu erheben, da auch
lage einer geteilten Kreatürlichkeit zog sich von diese der verhängnisvollen Vernunft entstammten.
Schelling über Marx bis auf Ernst Bloch und Benja- Zwar hat die Moralkritik insbesondere Adornos in
min und schwang noch in der Kritischen Theorie letzter Zeit wohlwollende Interpretationen erfahren
mit, wenn sie sich gegen die äußere wie innere »Na- (Knoll 2002, 146 ff.; vgl. bereits Schweppenhäuser
turbeherrschung« stark machte (vgl. Link 1986, 86 ff.; 1993, 64 ff.). Doch bleibt es gewagt, wenn die Dialek-
Becker 1997, 228 ff.). tik der Aufklärung ausgerechnet Kants Ethik mit dem
Eine dritte Glücksdimension betrifft den Status Totalitarismus zusammenbringt, da beide universa-
der Individualität. Wiederum Benjamin hatte bereits listisch und formal seien und damit keinen Sinn
als Aphorismus formuliert: »Glücklich sein heißt mehr für das Besondere hätten (Adorno GS 3, 100 ff.;
ohne Schrecken seiner selbst inne werden können« für Kant sollten eigentlich nur moralische Begrün-
(Benjamin GS IV.1, 113; das berührt nochmals die dungen, nicht aber die Gegenstände der Ethik uni-
Ebene der inneren Natur). Doch wann und wie so et- versalisierbar sein; s. Kap. V.3).
was vollzogen werden könnte, das näher auszubuch- In diesen ambivalenten Partien transportiert die-
stabieren erwies sich als schwierig. Hier gab es einen ses Buch ein gutes Stück irrationaler Lebensphiloso-
Dissens in der Zielvorstellung: Forderte Fromm »das phie (vgl. Stauth/Turner 1992). Darin erinnert es er-
Bewahren der Integrität seines Selbst« (Fromm GA neut an die Poststrukturalisten: Foucault ermunterte
2, 120) und Marcuse mehr »Selbstbestimmung« ja ebenfalls zum Ausbruch aus allzu stabilen Vorstel-
(Marcuse Schr. 3, 285; Schr. 7, 262 etc.), war Adornos lungen vom Selbst und Deleuze verteidigte das »De-
Negativismus auch in dieser Frage rigider. Wenn das lirium« sogar gegen Freud vgl. (s. Kap. VI.8). Damit
individuelle Selbst erst durch die Unterdrückung der gedanklich zu spielen, hat seinen Reiz; doch wenn es
Triebe möglich wurde, war nicht nur die Triebunter- ernst wird, wäre dies ein fragwürdiges Glück, das nur
drückung, sondern schon das Selbst von Übel: »Die um den Preis der Aufgabe von Autonomie zu haben
Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein ist. Gottfried Benn sprach daher halb-ironisch vom
Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung »Klümpchen Schleim in einem warmen Moor«
des Subjekts« (Adorno GS 3, 73). (Benn 1913/1996, 25), Crisp vom Glück der Auster
Benjamin hatte, wie gesehen, Vorstellungen vom (Crisp 2006, 112 f.). Die Alternative an dieser Stelle
Glück mit Erinnerungen an die Kindheit in Verbin- ist, Lust und Hingabe entweder als das ›Andere‹ der
dung gebracht; wohl auch deswegen, weil Träume Vernunft zu stilisieren, welches ein ›Selbst‹ auflösen
hier weniger klar von der ›Realität‹ abgespalten und würde, oder eine reife Individualität anzustreben, die
gesellschaftliche Zwänge noch durch die Eltern ›ge- auch solche Momente zu integrieren vermag – denn
puffert‹ werden (Benjamin GS IV.1, 114 f., 235 ff.; zu »ohne Schrecken seiner selbst inne werden« (Benja-
diesen Bild- und Traumwelten vgl. Brüggemann min GS IV.1, 11, s. o.) kann nur, wer keine Desinte-
2007). Adorno ist auch hier radikaler: Schon die gration des Selbst befürchten muss, sobald er seinen
Kindheit sei mit Vernunft infiziert (»Furchtbares hat Impulsen nachgibt. Fromm hat daher die aktuellere
die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der Vision artikuliert (vgl. Honneth 2006, 152 f.), denn
identische, zweckgerichtete, männliche Charakter die von ihm – und offiziell ja auch von Adorno
des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird (1970) – angepeilte Mündigkeit ist dem Erwachse-
noch in jeder Kindheit wiederholt«, Adorno GS 3, nen vorbehalten; selbst wenn Erwachsenwerden weh
50). Daher müsse, wer dem »Identitätszwang« wirk- tut und dem sprichwörtlichen ›Kind im Manne‹
7. Glück in der Kritischen Theorie. Befreite Individualität und ihre Hindernisse 289

manchmal »unerträglich« scheint (Adorno GS 4, 22). – darin mehr der akademischen Welt verhaftet –, wie
Die Rolle von Kindheitserinnerungen ist also limi- diese noch möglich seien: Adorno sprach von »geis-
tiert, weil ambivalent (nicht zuletzt Horkheimer tiger« oder »metaphysischer« Erfahrung (Adorno
wehrte sich daher gegen das »sentimentale Verhim- GS 6, 171, 366 und öfter); Marcuse war eher auf »die
meln des Kindes«, GS 4, 60): Sie stehen sowohl für Erfahrung einer libidinösen Einheit« aus (Marcuse
eine noch »unreglementierte Erfahrung« (Adorno Schr. 5, 196, vgl. 137 f., 175). Die Ästhetik als Wissen-
GS 6, 128) wie für verführerische Verantwortungslo- schaft von der sinnlichen Erfahrung rückte dabei all-
sigkeit. mählich an die Stelle einer Grundlagenwissenschaft;
Wie aber wäre Glück als befreites Selbstsein trotz nicht weil der Kunstgenuss selbst Glück verschaffen
Verblendung zu denken? Erinnerungen an die Kind- sollte (das wäre ästhetischer Hedonismus, den sich
heit spielen insofern eine Rolle, als in ihr wie in einer allerdings selbst Adorno hin und wieder erlaubte; s.
mythischen Frühe vieles noch ungeschieden war. Kap. II.4), sondern weil im Rahmen der Kunst Erfah-
Solche Erinnerungen geben einen ›Vorschein‹ (Ernst rungen möglich seien, die erahnen lassen, was Glück
Bloch) auf die Versöhnung mit der Natur: die sein könnte (»Um des Glücks willen wird dem Glück
»Schlupfwinkel der Kindheit« sind daher »solche der abgesagt«, Adorno GS 7, 26; vgl. Marcuse Schr. 9,
Hoffnung« (Adorno GS 10.1, 286). In einem prosai- 81 ff.). Der Kunst trauten die Autoren dieser Genera-
scheren Sinne gehören Kindheitserinnerungen zu- tion eine solche Leistung zu, da sie mit Schiller – und
dem zur Integrität eines ›Selbst‹, denn ohne sie wä- Georg Lukács – als einziges Medium galt, das in ei-
ren wir nicht wir. Benjamin, der das Glück stark an ner zerrissenen Welt noch »Ganzheit« darzustellen
das persönliche Erleben bindet (»Glück, das Neid in vermochte (Henning 2011). Die Ästhetik als Reflexi-
uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir onsform der Kunst war allerdings mit der Mission
geatmet haben«, Benjamin GS I.2, 693), nennt das überfordert, politische Theorie nicht nur anzuleiten,
Glück der Erinnerung daher »elegisch« (GS II.1, sondern zu ersetzen.
313). Es ist bei ihm allerdings nicht auf das eigene Nun ist ein gedachtes oder reflexiv erschlossenes
Leben beschränkt, sondern kann sich auch solida- ja noch kein wirkliches Glück. So bleibt die Frage zu
risch ausweiten ins historische Eingedenken – dem beantworten, wie man zu einem derart gedachten
»Tigersprung ins Vergangene« (GS I.2, 701), der sich oder erfahrenen Glück in der Lebenspraxis gelangen
mit unabgegoltenen Hoffnungen von einst ver- sollte – will man nicht bei den Erfahrungen seiner
schwistert (zum verwandten ›Glück des Historikers‹ Kontemplation stehenbleiben (dazu Seel 2004). Der
bei Nietzsche s. Kap. V.7). politische Aktivismus etwa von Lukács, dem mit Karl
Von diesem reflexiven Glück unterscheidet Benja- Wittfogel oder in anderer Form Benjamin einige
min die seltenere »hymnische Glücksgestalt« des er- Theoretiker des äußeren Kreises folgten, war mit der
füllten Augenblicks: »das Unerhörte, Niedagewe- Verhängnisthese unverträglich – noch 1968 distan-
sene« (GS II.1, 313). Auch solchen momenthaft-ek- zierten sich Horkheimer und Adorno ja (anders als
statischen Erfahrungen war Benjamin auf der Spur, Marcuse) von der Studentenbewegung (»Ein wirk-
etwa in Rauschgiftexperimenten (»ein sehr versun- lich fasslicher Zusammenhang zwischen dem gegen-
kenes Glücksempfinden«, GS IV.1, 414) und Analy- wärtigen Aktionismus, den ich für höchst problema-
sen der modernen Kunst (auch hier sei »eine andere tisch halte, und unseren Gedanken ist mir noch von
Wahrnehmung« am Werk, GS I.2, 478). Das beson- keinem Menschen aufgezeigt worden«, Adorno GS
dere an Benjamins Schriften ist dabei – gerade im 20.1, 398; vgl. Kraushaar 1998). Es war allerdings am-
Unterschied zu Adorno oder Gershom Scholem –, bivalent, von Befreiung zu reden, ohne sich um ihre
dass Glückserfahrungen von Ekstase und Erinne- Umsetzung zu bekümmern – vielleicht war es daher
rung in einen politischen Horizont gelesen werden konsequenter, wenn Fromm als Therapeut Möglich-
(Raulet 2004) und damit über sich hinausweisen – keiten der Einzelnen auslotete und Horkheimer sich
nicht auf ein überweltliches Jenseits (s. Kap. II.6), zuletzt auf die alte bürgerliche Ethik von Geld und
sondern auf bessere irdische Möglichkeiten, die auch Genuss besann, weil er der Auffassung war, damit
die rechtverstandene Religion anzielt (das ist der würden die psychologischen Wurzeln des Neids tro-
Witz von Benjamins politischer Theologie; vgl. Hen- ckengelegt (»Wer aber glücklich ist, bedarf nicht der
ning 2005, 400 ff.). Bosheit, um sich schadlos zu halten für das, was ihm
Marcuse und Adorno hingegen beschrieben weni- entgeht. Das ist die Wahrheit der Wirtschaft des
ger konkrete Erfahrungen, sondern fragten vielmehr Überflusses gegen die der Bürokratie«, Horkheimer
290 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

GS 8, 142 [1960]. »Von Kant und Goethe sagt man, ven« (Rath 2008) ablesbar waren, in der heutigen ge-
daß sie große Weinkenner gewesen sind, das heißt wandelten Situation einlösen ließen, darüber ist
aber, daß, wenn sie allein waren, sie wirklich nicht längst noch nicht alles gesagt. Das kann man als Ein-
von Neid gequält waren, sondern die Möglichkeiten ladung zum Weiterdenken verstehen. Nach wie vor
des Genusses hatten, Erfahrungsbreite«, GS 8, 149 käme es darauf an, die Glücksversprechen einer be-
[1960]). Die Frage ist nur, ob das für alle möglich ist. freiten Individualität (durchaus im Sinne Fromms,
War Horkheimer in seiner Jugend gegenüber un- so auch Honneth 2006, 152 f.) und einer Gesellschaft
gleich verteiltem Besitz – und damit der ungleichen mit weniger Herrschaft und Zerstörung (Marcuse
Chance auf Genuss – noch kritisch eingestellt, wird Schr. 9, 170) gegen ihre Scheinverwirklichungen
diese Ambivalenz beim älteren Horkheimer schwä- etwa in der Sozial-, Umwelt- oder Betriebspolitik (s.
cher: Gerechtigkeit schien ihm in einem Aphorismus Kap. VIII.8) wieder stark zu machen.
sogar nur noch für jene denkbar zu sein, die eben
Geld hatten (»Einer erbt viel Geld. […] Da kreischen
sie: ›Wie ungerecht!‹ Ahnt ihr denn, daß dies das Literatur
bißchen Gerechtigkeit ist, das auf dieser Welt übrig-
bleibt? Glück – ohne Verdienst?«, GS 6, 235 [ca. Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften [Adorno
GS]. 20 Bde. Taschenbuchausgabe. Frankfurt a. M.
1954]). Die psychologische Einsicht, dass Glück nicht
1997.
erzwungen werden kann, kommt hier einem Einver-
–: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche
ständnis mit den bestehenden Eigentumsverhältnis-
mit Hellmut Becker 1959 bis 1969. Frankfurt a. M.
sen erstaunlich nahe (dass der Reichtum unverdient
1970.
war, war ja der Hauptangriff der alten Sozialkritik). Albrecht, Clemens u. a.: Die intellektuelle Gründung der
Vielleicht hat diese Spannung zur Entfremdung zwi- Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frank-
schen dem älteren Horkheimer und den jüngeren furter Schule. Frankfurt a. M./New York 1999.
Lesern seiner früheren Schriften mit beigetragen. Becker, Mathias: Natur, Herrschaft, Freiheit. Das Recht
Einen anderen, bis heute wegweisenden Ausweg der ersten Natur in der zweiten: Zum Begriff eines
suchte Jürgen Habermas (der anfangs ebenfalls Vor- negativen Naturrechts bei Theodor Wiesengrund
behalte gegenüber dem Sozialstaat hatte, sofern er Adorno. Berlin 1997.
nämlich ›entpolitisierte‹), indem er nun theorieim- Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften [Benjamin
manent aufzeigte, auf welchen Vorannahmen die GS]. 14 Bde. Frankfurt a. M. 1991.
Kritik aufruhte. Diese veränderte sich durch ihre Benn, Gottfried: Gesänge [1913]. In: Ders.: Gesammelte
Neubegründung (oder ›Rekonstruktion‹) allerdings Werke. Bd. I: Gedichte. Stuttgart 101996, 25.
gehörig. Einerseits wurde der Anschluss an die sozi- Brüggemann, Heinz: Walter Benjamin über Spiel, Farbe
alkritischen Anfänge wiedergewonnen, indem Fra- und Phantasie. Würzburg 2007.
gen der sozialen Gerechtigkeit wieder stärker in den Crisp, Roger: Reasons and the Good. Oxford 2006.
Mittelpunkt rückten. Andererseits geriet durch die Dahms, Hans-Joachim: Positivismusstreit. Die Ausein-
Übernahme einer rigiden Trennung zwischen Fra- andersetzungen der Frankfurter Schule mit dem lo-
gen des Gerechten und Fragen des Guten (s. Kap. gischen Positivismus, dem amerikanischen Pragma-
tismus und dem kritischen Rationalismus. Frankfurt
VI.9) die Glücksthematik etwas außer Sichtweite.
a. M. 1994.
Wenn Benjamin einmal festgestellt hat: »Denn Glück
Fromm, Erich: Gesamtausgabe [Fromm GA]. 10 Bde.
und Ideal sind oft Gegensätze« (Benjamin GS II.1,
Stuttgart 1980.
11), kann man das folglich als vorwegnehmende
Henning, Christoph: Philosophie nach Marx. 100 Jahre
Aufforderung zur erneuten Einholung des Glücks- Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie
begriffs auch in der Kritischen Theorie verstehen. der Gegenwart in der Kritik. Bielefeld 2005.
Die Verortung der Kriterien in moralischen oder po- –: Charaktermaske und Individualität bei Marx. In:
litischen Idealen (ideale Kommunikation, wechsel- Marx-Engels-Jahrbuch 2009. Berlin 2010, 100–122.
seitige Anerkennung oder reziproke Rechtfertigun- –: Ästhetik und Politik: Zur Gegenwartsbedeutung des
gen) hat einen enormen Komplexitätsgrad erreicht. ästhetischen Werkes von Georg Lukács. Erscheint im
Doch wie von hier aus ein Bogen zum gelebten Le- Georg-Lukács-Jahrbuch 2011.
ben der Individuen zu schlagen ist und wie sich die Henrich, Dieter: Versuch über Kunst und Leben. Sub-
Glücksansprüche der Individuen, die in der alten jektivität, Weltverstehen, Kunst. München/Wien
Kritischen Theorie ja zumindest an ihren »Negati- 2001.
8. Glück bei Foucault, Deleuze und Guattari 291

Honneth, Axel u. a. (Hg.): Schlüsseltexte der Kritischen


Theorie. Wiesbaden 2006.
8. Glück bei Foucault,
– /Kemper, Peter (Hg.): Bob Dylan: Ein Kongress. Deleuze und Guattari.
Frankfurt a. M. 2007.
Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften [Horkheimer
Zwischen Staatsräson,
GS]. 18 Bde. Frankfurt a. M. 1988. Selbsttechnologie
Knoll, Manuel: Theodor W. Adorno. Ethik als erste Phi-
losophie. München 2002.
und Subversion
Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Frankfurter Schule und Stu-
dentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molo-
Die Weisen, wie Michel Foucault (1926–1984) einer-
towcocktail, 1946–1995. Berlin 1998.
seits, Gilles Deleuze (1925–1995) und Félix Guattari
Link, Thomas: Zum Begriff der Natur in der Gesell-
schaftstheorie Theodor W. Adornos. Köln/Wien
(1930–1992) andererseits das Glück thematisieren,
1986. lassen sich als komplementär verstehen. Während
Marcuse, Herbert: Schriften [Marcuse Schr.]. 9 Bde. Foucault in kritischer Absicht aufzeigt, wie das Glück
Frankfurt a. M. 1979 ff. Gegenstand und Effekt humanwissenschaftlicher
Pollock, Friedrich: Stadien des Kapitalismus. München und politischer Macht ist, interessieren sich Deleuze
1975. und Guattari für einen emphatischen Begriff der
Rath, Norbert: Negative: Glück und seine Gegenbilder Freude. Alle drei Denker verbindet die Ablehnung
bei Adorno. Würzburg 2008. eines Glücksverständnisses, das auf anthropologi-
Raulet, Gérard: Positive Barbarei. Kulturphilosophie schen Prämissen beruht.
und Politik bei Walter Benjamin. Münster 2004.
Rüsing, Karl-Heinz: Das Glücksmotiv bei Walter Benja-
Michel Foucault
min. Für eine Theorie des Erwachens. Essen 1991.
Schmidt, Alfred: Drei Studien über Materialismus. Foucaults Auseinandersetzung mit dem Glücksbe-
München 1977. griff (frz. bonheur, félicité) lässt sich entsprechend
Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Auschwitz. seiner drei Werkphasen – der archäologischen, ge-
Adornos negative Moralphilosophie. Hamburg 1993. nealogischen und ethisch-ästhetischen – nach drei
Seel, Martin: Adornos Philosophie der Kontemplation. Zugängen unterscheiden. Ihnen allen ist gemeinsam,
Frankfurt a. M. 2004. dass sie Vorstellungen vom Glück radikal historisie-
Sona, Rufus: Der Begriff des Glücks bei Adorno. Magis-
ren. Es geht Foucault nicht um das Glück, sondern
terarbeit FU Berlin. Berlin 2004.
um Glücksdiskurse. Diese sind Ausdruck von Wis-
Stauth, Georg/Turner, Brian: Ludwig Klages and the
sensordnungen (1), politischen Rationalitäten (2)
Origins of Critical Theory. In: Theory, Culture and
Society 9/3 (1992), 45–63.
und Technologien des Selbst (3). Daneben finden
Steinert, Heinz: Das Verhängnis der Gesellschaft und sich in allen Werkphasen versteckte Ansätze eines
das Glück der Erkenntnis. Dialektik der Aufklärung emphatischen Glücksverständnisses, das Foucault
als Forschungsprogramm. Münster 2007. jedoch nicht vertieft thematisiert (4).
Thies, Christian: Krise des Individuums. Zur Kritik der 1. Humanismuskritik: »Das Glück gibt es nicht«: In
Moderne bei Adorno und Gehlen. Reinbek 1997. seiner archäologischen Phase der 1960er Jahre kriti-
Wiggerhaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, siert Foucault den Glücksbegriff als ›humanisti-
Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung. schen‹ Irrtum. Drei Aspekte hält er am Glücksden-
München/Wien 1986. ken für problematisch: erstens die Unterstellung, es
Zaretsky, Eli: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der gebe ›den Menschen‹, um dessen Glück es geht; zwei-
Psychoanalyse. München 2009. tens die Suche nach dem wahren Wissen von diesem
Christoph Henning Menschen, und drittens die Forderung, es sei die
Aufgabe von Politik und Philosophie, das Glück der
Menschen zu sichern.
In Die Ordnung der Dinge von 1966 analysiert und
kritisiert Foucault erstmals ausführlich den moder-
nen Diskurs vom Menschen. Seit Kant, so schreibt er,
herrsche in der Philosophie der »anthropologische
Schlaf« (Foucault 1966/1995, 410), in dem davon ge-
292 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

träumt werde, durch das Wissen vom Menschen zur analysiert und gesteuert werden (791). Foucault ver-
Wahrheit zu gelangen, das heißt Wahrheit begrün- gleicht diesen Perspektivenwechsel mit der Emanzi-
den zu können. In dieser Fundierungsperspektive pation vom Gottesbegriff, der lange als unverzicht-
werde ein Menschenbild geformt, das den Menschen bar gegolten habe, um eine vermeintlich richtige Po-
zwar in seiner Endlichkeit und Begrenztheit denke, litik begründen zu können. So wie dieser theologische
aber diese Bestimmung ahistorisch verallgemeinere. Bezug heute irrelevant geworden sei, so werde auch
Dem Menschen werde eine Essenz zugesprochen, in der gegenwärtigen Politik der Glücks- und Men-
die zu erkennen, zu befreien und zu beschützen sei. schenbegriff überflüssig. Es sei gerade die Aufgabe
Gegen diese anthropologische Figur behauptet Fou- einer linken Politik, so Foucault, das soziale Funktio-
cault, dass die moderne Vorstellung vom Menschen nieren der Menschen ohne humanistische Rechtfer-
durch eine bestimmte Wissensordnung, eine Epis- tigungsfiguren zu sichern (790).
teme, konstituiert sei, die wie ein »historische[s] Offen lässt Foucault allerdings, wie sich dieser
Apriori« funktioniere (413). Wenn sich diese Ord- linke Funktionalismus vom humanistischen Funkti-
nung auflöse, dann verschwinde auch der Mensch onalismus der staatlichen Technokraten abgrenzt
»wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (462). (790). Dass diese Abgrenzung vage bleibt, hängt da-
Diese Kritik an der Anthropologie verbindet Fou- mit zusammen, dass Foucaults Analyse zeitgenössi-
cault in zahlreichen Interviews jener Jahre mit der scher Politik knapp ausfällt. Foucault interessiert sich
Kritik an humanistischen Glücksversprechen (vgl. in dieser Werkphase noch primär für die epistemi-
besonders der Text »Wer sind Sie, Professor Fou- sche Logik des Glücksdiskurses und betont deren
cault?«, Foucault 1994/2001–05, Bd. 1, 770–793). Hu- anthropologisierende, mythisierende und essentiali-
manistisch nennt Foucault die Politik und Philoso- sierende Dimension. Die komplexe Verbindung zwi-
phie, die sich zum Ziel setzen, den Menschen glück- schen den Glücksdiskursen und der politischen Ra-
lich zu machen (667 f., 791, 831). Nach Foucault ist tionalität der Moderne wird Foucault erst in der ge-
diese Haltung für die politischen Irrtümer der letz- nealogischen Phase genauer untersuchen.
ten fünfzig Jahre verantwortlich, denn sie habe dazu 2. Glück im gouvernementalen Staat: Wohlstand,
gedient, alle möglichen politischen Operationen zu Gesundheit, öffentliche Ordnung: Im Rahmen seiner
rechtfertigen (so argumentiert Foucault übrigens genealogischen Untersuchungen zur Verbindung
noch 1984; vgl. Bd. 4, 874). Dagegen behauptet er de- von Wissen und Macht untersucht Foucault ab Mitte
zidiert, es sei weder die Aufgabe der Politik noch der der 1970er Jahre, welche Bedeutung der Glücksbe-
Philosophie, dem Menschen Glück zu versprechen griff für die Herausbildung moderner staatlicher Po-
(Bd. 1, 701; Bd. 2, 188 f.). Denn: »Das Glück gibt es litik hat. Nach Foucault wird das Glück in frühmo-
nicht, und das Glück der Menschen erst recht nicht« dernen politischen Diskursen mit Vorstellungen von
(Bd. 1, 791). Welchen Sinn hätte es also, sich damit zu Gesundheit, Wohlstand und öffentlicher Ordnung
befassen (832)? verbunden, deren Sicherung zur Aufgabe des von
Foucaults Kampfstellung gegen das Glück ist also ihm so genannten »gouvernementalen« Staates wird.
primär ideologiekritisch ausgerichtet. Er kritisiert Bereits in Die Geburt der Klinik beschreibt Fou-
nicht nur, dass der Glücksbegriff die Historizität und cault, wie die Medizin unmittelbar vor und nach der
Kontingenz des Menschen verdecke und den Men- Französischen Revolution die Aufgabe erhält, den
schen in ein falsches, essentialistisches Menschen- Menschen gesund, tugendhaft und glücklich zu ma-
bild einschließe, sondern auch, dass Glücksdiskurse chen. Ihre Aufgabe sei es, ein »leises, leidenschafts-
zur Legitimation jedwelcher Politik herangezogen loses und muskulöses Glück« mit der Ordnung des
werden können. Was aber setzt Foucault diesen hu- Staates zu verbinden (1963/2002, 52), und sie werde
manistischen »Mythen« (790) entgegen? Was ist die dadurch zu einem integralen Teil staatlicher Fürsor-
Aufgabe der Politik und Philosophie, wenn sie nicht gepolitik und Sozialkontrolle. Diesen thematischen
das Glück des Menschen zum Ziel haben können? Faden nimmt Foucault zehn Jahre später wieder auf.
Statt vom »Herzen des Menschen« zu sprechen, so Allerdings nähert er sich dem Glück in seinem ers-
Foucault, müsse die Philosophie das System erken- ten genealogischen Hauptwerk, in Überwachen und
nen, das die Menschen wie auch die Wissenschaft Strafen von 1975, primär negativ. Er interessiert sich
und Technik konstituiere (670). Soziale und politi- vor allem dafür, wie der Staat und die Gesellschaft
sche Probleme sollten nicht »aus der Sicht des mit jenen umgeht, die zu den »Unglücklichen« ge-
Glücks, sondern aus der Sicht des Funktionierens« zählt werden: die Verbrecher, die Armen, die Waisen-
8. Glück bei Foucault, Deleuze und Guattari 293

kinder und die Kranken. Foucault zeigt, wie die Ge- len politischen Tätigkeitsfeld vor allem der po-
setzgeber im 18. Jahrhunderts versuchen, den »zwei- litischen Ökonomie. Damit eröffnet sich in der
felhaften Ruhm der Verbrecher« zu vernichten und gouvernementalen Regierung ein Spannungsfeld
das Verbrechen nur noch als ein »Unglück« er- zwischen der (humanwissenschaftlichen) Sicherung
scheinen zu lassen (1975/1977, 144). Dabei würden des Glücks und der Steigerung der (ökonomischen)
zunehmend sogenannte wohlfahrtsstaatliche Insti- Freiheit. Auch wenn Foucault den Glücksbegriff in
tutionen wie Asyl, Schule, Arbeitslager und Spital seiner Vorlesungsreihe Die Geburt der Biopolitik
etabliert, in denen das Bild der Delinquenz als indi- (2004, Bd. II) terminologisch nicht weiter verfolgt,
viduelles, soziales und moralisches Unglück verfes- lässt sich behaupten, dass die wechselseitige Versöh-
tigt und die straffälligen Individuen zu arbeitswilli- nung von Freiheit und Glück ein zentrales Thema
gen Subjekten diszipliniert werden (388). des »biopolitischen« Liberalismus des 19. und 20.
Diese Entwicklung, so meint Foucault in seinem Jahrhunderts wird (2004, Bd. II, 97 ff.; vgl. zur Biopo-
Vortrag »Omnes et singulatim« (1994/2001–05, Bd. litik erstmals 1996/2001, 286). Anhand von Fou-
4, 165–198) und in seiner Vorlesungsreihe Sicherheit, caults Darstellungen lassen sich ordoliberale Kon-
Territorium, Bevölkerung von 1978 (2004, Bd. I), zepte der sozialen Marktwirtschaft, die in Deutsch-
hänge aufs Engste mit der Entstehung der Staatswis- land nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurden,
senschaft und der sogenannten Polizeiwissenschaft als Versuche verstehen, das Glück im Sinne der För-
im 18. Jahrhundert zusammen (s. Kap. II.9). Foucault derung von Wohlstand, Gesundheit und öffentlicher
definiert die Polizeiwissenschaft nach einer zeitge- Ordnung zur Stärkung der freien Marktwirtschaft
nössischen Quelle als Theorie dessen, »›was die einzusetzen. Diese Verbindung wird in den Konzep-
Macht des Staates zu stärken und zu mehren, seine ten des US-amerikanischen Neoliberalismus, so wie
Kräfte sinnvoll einzusetzen und das Glück der Bür- sie Foucault analysiert, von der gesellschaftlichen auf
ger zu fördern vermag‹« (1994/2001–05, Bd. 3, 904; die individuelle Ebene übertragen. Es wird demnach
vgl. dazu bereits 1975/1977, 218). Die Polizei erhalte zu einem neoliberalen Postulat, dass jedes Indivi-
demnach die Aufgabe, für das »Glück der Unterta- duum die Förderung seiner Gesundheit, Bildung, fa-
nen« zu sorgen (2004, Bd. I, 471), das heißt die äuße- miliärer Fürsorge u. a.m. als Investition in sein »Hu-
ren Annehmlichkeiten des Lebens zu garantieren mankapital« zu begreifen und selbstunternehme-
und so das Glück im Sinne von »Überleben, Leben risch zu verwalten habe (2004, Bd. II, 319 f.). In dieser
und besseres Leben« zu fördern (195). Diese Aufgabe Perspektive werden das individuelle Glück und die
wiederum hänge zentral davon ab, wie das Leben in Steigerung von Freiheit vollständig in die Währung
den Städten organisiert werde, das heißt wie Künste, der kapitalistischen Ökonomie übersetzbar.
Handel, Gesundheit und Mobilität geregelt seien. So 3. Glück als »Technologie des Selbst«: In seiner letz-
werde die Sicherung des individuellen Glücks als Teil ten Werkphase untersucht Foucault anhand antiker
des Allgemeinwohls verstanden und zu einer um- philosophischer Texte, was es bedeutet, ein Subjekt
fassenden Regierungsaufgabe. Foucault bezeichnet ethischen Handelns zu sein. Seine zentrale These
diese mit dem Begriff der »Gouvernementalität«. lautet, dass ein Individuum erst dann zu einem ethi-
Gouvernemental sei diejenige Regierungsform, die schen Subjekt wird, wenn es zu sich selbst ein Ver-
das Leben jedes Individuums und dasjenige der gan- hältnis der Sorge entwickelt. In den Vorlesungen zu
zen Bevölkerung produktiv und nutzbringend ver- den »Technologien des Selbst« von 1984 fasst er dar-
walten könne (2004, Bd. I, 162 ff.). unter die Aufgabe, sich an Seele und Körper selbst zu
Die Bedeutung des Glücks wird allerdings in der bearbeiten, zu verändern und zu vervollkommnen,
weiteren historischen Entwicklung der Gouverne- wobei Glück, Weisheit oder Reinheit mögliche Mo-
mentalität, so wie sie Foucault skizziert, relativiert. tive für diese Arbeit am Selbst sind (1994/2001–05,
Zweifellos ist das Glück der Untertanen ein wichti- Bd. 4, 968). Vor allem die in Die Sorge um sich unter-
ges Kriterium in der frühen Phase der Gouverne- suchten stoischen Texte von Seneca bis zu Epiktet
mentalität, die Foucault mit dem »Polizeistaat« stellen die Forderung nach Selbstbeherrschung, Mä-
gleichsetzt (486). Dieser gouvernementale Polizei- ßigung und vernünftiger Einsicht in den Dienst der
staat wird nach Foucault im letzten Drittel des 18. Einübung ins Glück (1984/1989, 67 f., 91; s. Kap. III.3
Jahrhunderts durch die »rationale Gouvernementa- und VI.10). Foucault geht allerdings auf das spätan-
lität« abgelöst (492, 498). Im Zuge dieser Transfor- tike Glücksverständnis nicht näher ein. Wichtiger als
mation wird die Steigerung der Freiheit zum zentra- die ethischen Zielsetzungen sind für Foucault die
294 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

handlungslogischen Effekte des ethischen Selbstver- Motiv seiner Arbeit die Neugier an allem nennt, das
hältnisses. Das ethische Subjekt, das sich um sich es erlaube, »sich von sich selber zu lösen« (1984/
selbst sorgt, sich lenkt und führt, beherrscht und sti- 2000, 15).
lisiert, entwickelt demnach eine Form von Freiheit Die Ablösung vom gewohnten Selbst und die Ver-
innerhalb von Machtspielen (vgl. den Text »Die schiebung der Perspektiven auf neue Praktiken und
Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit«, Fou- Denkweisen scheinen somit dem Glück näher als
cault 1994/2001–05, Bd. 4, 875–902). Für Foucault ist jede Konsolidierung eines Ich. So lässt sich auch
es die zentrale Herausforderung des modernen Sub- Foucaults Antwort auf die Frage deuten, ob er glück-
jekts, dieses Machtspiel der Freiheit so zu spielen, lich sei: »Ich bin mit meinem Leben glücklich […],
dass es einerseits Herrschaftseffekte vermeide (899) nicht so sehr mit mir selbst« (Miller 1993/1995, 416).
und andererseits schöpferisch wirke. Es gehe darum, Foucaults Misstrauen gegenüber dem essentialisie-
»aus uns selbst ein Kunstwerk [zu] machen« (474). renden Effekt des Glücksbegriffs bleibt somit durch
Obwohl Foucault den Glücksbegriff in diesem Zu- alle Werkphasen hindurch virulent. Glücklich ist für
sammenhang nicht erwähnt, lässt sich fragen, ob Foucault nie ›der Mensch‹, sondern höchstens jene
diese schöpferische Aktivität Momente des Glück Bewegung des Lebens, mit der sich ein Individuum
bergen kann. Foucaults wenige positive Äußerungen von sich selbst und seinen epistemologischen Zwän-
zum Glück schließen diese Möglichkeit zumindest gen zu lösen vermag. Unter diesen Voraussetzungen
nicht aus. erscheint es nur konsequent, dass Foucault darauf
4. Sind Sie glücklich, Professor Foucault? Trotz sei- verzichtet, das ekstatisch-befreiende Element des
ner kritischen Analysen der humanwissenschaftli- Glücks theoretisch fassen zu wollen. Die Erfahrung
chen und politischen Glücksdiskurse verfügt auch von Glück im Sinne eines widerständigen und be-
Foucault über ein Verständnis von Glück, das er em- freiten Denkens und Erlebens ist kein Gegenstand in
phatisch gebraucht und das in einzelnen, sehr ver- Foucaults Texten, sondern wird höchstens erfahrbar
knappten Äußerungen, die über sein Werk verstreut durch deren Lektüre, indem sie die Perspektiven auf
sind, aufblitzt. Vor allem in seinen frühen Texten er- das eigene Selbst verschiebt und Neues erfahrbar
scheint dieses emphatische Glück eng an ästhetische macht. Foucaults historisch-positivistische Analysen
Formen geknüpft. Glück findet sich gebunden an werden dadurch als Versuch lesbar, sich dem Glück
»Ausdruck« (1994/2001–05, Bd. 1, 274, 320), »Bild« zu nähern, ohne davon sprechen zu müssen.
(1966/1995, 45) und »Werk« (1994/2001–05, Bd. 1,
275) und steht für eine ästhetische Qualität, die von Gilles Deleuze und Félix Guattari
jeder subjektiven Erfahrung abgelöst erscheint. Da-
neben findet sich eine zweite positive Bedeutungs- »Freude« (frz. joie) ist ein zentraler und durchwegs
ebene von Glück im Zusammenhang mit Foucaults positiv gefasster Begriff in den Hauptwerken von
Interesse an ›anderen‹ Formen des Denkens. In Deleuze und Guattari (1). Gemeinsam ist seinen ver-
diese Richtung weist Foucaults Satz »ich bin ein schiedenen Ausprägungen, dass er Glückserfahrun-
glücklicher Positivist« aus der Archäologie des Wis- gen denkbar machen will, die nicht anthropologisch
sens (1969/1994, 182), mit dem er sich provokativ und individuell fundiert sind (2). Die kritische Ab-
vom transzendentalen Begründungsdenken der setzung von humanistischen Glücksdiskursen ver-
zeitgenössischen Phänomenologie abgrenzt. Im bindet demnach das Denken von Deleuze, Guattari
Sinne von Nietzsche und Deleuze fordert er im Text und Foucault.
»Theatrum philosophicum«, es sei dem Denken ein 1. Die fröhliche Wunschmaschine: Bereits in seinen
»Abgrund« zu eröffnen, an den heranzutreten frühen, noch vor seiner Zusammenarbeit mit Félix
»Glück und Ekel« bedeute (1994/2001–05, Bd. 2, Guattari verfassten Werken über Nietzsche und Spi-
121) und der zugleich ein neues Denken möglich noza interessiert sich Deleuze für den Begriff der
mache. Die Kraft dieses befreienden und befreiten Freude als Ausdruck von Macht und intensivem Le-
Denkens begegnet nicht nur in Der Wille zum Wis- ben. Er deutet Nietzsches »Wille zur Macht« als Fi-
sen, wo Foucault davon träumt, dass man eines Ta- gur einer produktiven und Freude schenkenden
ges »in einer anderen Ökonomie der Körper und Kraft, die von keinem individuellen Willen abhängig
der Lüste« das jetzige Sexualitätsdispositiv nicht ist, sondern diesen Willen durchdringt (Deleuze
mehr verstehen werde (1976/1999, 190), sondern 1962/1991, 92 ff.; Deleuze/Parnet 1977/1980, 98; s.
auch in Der Gebrauch der Lüste, in dem Foucault als Kap. V.7). Bei Spinoza findet er den Gedanken, dass
8. Glück bei Foucault, Deleuze und Guattari 295

sich jedes Sein in Freude vollendet, so dass Freude die Kunst. Sie zeige sich z. B. am »Schizo-Lachen«
ein Begriff für das Sein wird, das sich von seiner Pas- (511), das einen bei den Maschinen von Jean Tingu-
sivität befreien kann: Der »freie Mensch« erkenne ely erfasse und an denen deutlich werde, dass die
sich in seinen Freuden (Deleuze 1968/1993, 241; s. »Ordnung der Wunschmaschinen […] in produkti-
Kap. IV.4). Diese aktivistischen Denkfiguren werden ver, endlich glücklich gewordener allgemeiner Schi-
in den gemeinsam mit Guattari verfassten Werken zophrenie« bestehe (515).
weitergeführt. Auch in Tausend Plateaus, dem zweiten Band von
Der Anti-Ödipus von 1972 ist eine kritische, pro- Kapitalismus und Schizophrenie, verfolgen Deleuze
vozierende Auseinandersetzung mit der Psychoana- und Guattari das Ziel, Lebensweisen zu bestimmen,
lyse und dem Kapitalismus als zwei ineinander ver- die nicht in subjektivierten Formen münden, son-
schränkten gesellschaftlichen Funktionslogiken. Ge- dern ein ent-subjektiviertes Begehren realisieren, das
gen die Psychoanalyse (s. Kap. VI.6), die das Begehren als »Prozess des Werdens« beschreibbar sei (De-
als Mangel deute und die Sexualität zu einem leuze/Guattari 1980/2005, 371). Entscheidend an
schmutzigen Geheimnis mache, setzen Deleuze und diesem Werden sei nicht die Vorstellung kontinuier-
Guattari die »Schizo-Analyse«, die den Wunsch als licher Entwicklung, sondern die Erfahrung ereignis-
eine produktive Kraft deutet. Sie führen den Wunsch hafter Einzigartigkeit (215). In Dialoge setzt Deleuze
nicht auf eine individuelle Psyche zurück, sondern diesen Begehrensprozess explizit mit »Freude« gleich
auf die Funktionslogik von »Wunschmaschinen« (Deleuze/Parnet 1977/1980, 73, 108).
(Deleuze/Guattari 1972/1977, 33). Wunschmaschi- 2. Freude versus Glück? Es gibt vereinzelte Stellen
nen sind gesellschaftliche Produktionskräfte, die bei Deleuze und Guattari, in denen Glück und
Wirklichkeiten produzieren, indem sie in einem Freude terminologisch unterschieden und einander
»kontinuierlichen materiellen Strom« Einschnitte entgegen gesetzt werden (z. B. Deleuze/Guattari
und Spaltungen vornehmen (47). Der Kapitalismus 1980/2005, 408). Dies mag helfen, den Begriff der
erscheint in dieser Perspektive als eine spezifische Freude bei Deleuze und Guattari von einem ihnen
Form, diese Energien zu leiten und zu begrenzen: Ei- als Kontrast dienenden Glücksverständnis abzu-
nerseits produziert er durch die Logik des Mehr- grenzen. ›Freude‹ erscheint demnach als Name für
werts eine Ladung ›deterritorialisierter‹ Ströme, die Befreiung vom Ich, während ›Glück‹ nach De-
gleichzeitig aber ›reterritorialisiert‹ er diese Bewe- leuze/Guattari auf individuelle Luststeigerung und
gung durch den Staat, in dem Mehrwert absorbiert Persönlichkeitsentfaltung ziele (in diesem Sinn
wird. Dagegen mobilisieren Deleuze und Guattari Colebrook 2004; 2007). Auch wenn dieser Gegensatz
das befreiende Potential der Schizo-Analyse: Es gehe bei Deleuze und Guattari vor allem im Anti-Ödipus
darum, die Ströme des Lebens fließen zu lassen, statt terminologisch nicht haltbar ist, trifft er auf inhaltli-
sie zu unterbrechen und zu unterdrücken. Das be- cher Ebene ein Grundmotiv, das ihr ganzes Werk
deute, dem Wunsch seine reale Kraft zurückzugeben durchzieht: Das Ziel der Menschen ist demnach
und ihn aus der psychoanalytischen Ordnung zu be- nicht ein Glück, das diskursiv erfasst und praktisch
freien (492 ff.). angestrebt werden kann und eben damit der Formie-
Obwohl ›Glück‹ in diesem Zusammenhang kein rung durch Staat und Kapitalismus ausgesetzt ist,
zentraler Begriff ist, gehört er zu einem Assoziati- sondern das Ziel des Menschen liegt darin, sich sol-
onshof von Freude und Fröhlichkeit, an denen sich chen Mächten durch ein dem Anspruch nach sub-
das befreiende Potential von Kunst und Wissenschaft versives ›Werden‹ zu entziehen. Dieses Werden lässt
ermessen lässt: Im Gegensatz zur Psychoanalyse, die sich als eine vitale Kraft und Lebendigkeit denken, in
das Glück durch die ödipale Logik von Schuld und der politische Widerständigkeit, Freude und künstle-
Scham unterdrücke (»Schämst du dich nicht, glück- rische Kreativität zusammenfinden. Stärker noch als
lich zu sein?«, 347), fördert die Schizo-Analyse nach Foucault, bei dem das Glück des Subversiv-Werdens
Deleuze/Guattari die Ablösung vom ödipalen My- nur zwischen den Zeilen anklingt, versuchen De-
thos und kann dadurch »in die Psychoanalyse ein leuze und Guattari, dieser Freude durch eine eigene
wenig Fröhlichkeit, ein wenig offenes Gelände ein- Sprache Ausdruck zu geben. Damit laufen sie zwar
bringen« (145): »Die kleine Freude ist die Schizo- Gefahr, die in ihr angelegte Verheißung von Vitalität
phrenisierung als Prozess« (146). Diese Freude sei und Singularität begrifflich zu überhöhen, zugleich
nicht auf die Wissenschaft der Schizo-Analyse be- aber entwickeln ihre Texte eine eigene Kraft, die da-
schränkt, sondern wirke vornehmlich auch durch rin liegt, jenseits und gegen alle systemisch-diskursi-
296 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

ven Zwänge Freude und Glück lebendig und begeh- 9. Theorien des guten Lebens
renswert zu halten.
in der neueren
Literatur (vorwiegend) analytischen
Colebrook, Claire: The Real and the Phantom of Happi- Philosophie. Wünsche,
ness. In: Journal of the British Society for Phenome-
nology 35/3 (2004), 246–260. Freuden und objektive
–: Narrative Happiness and the Meaning of Life. In: Güter
New Formations 63 (2007), 82–102.
Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie [1962].
Hamburg 1991.
–: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Phi- Trotz beachtlicher Vorläufer (z. B. Wright 1963, 5.
losophie [1968]. München 1993. Kap.) ist in der analytischen Philosophie erst seit den
– /Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schi- 1970er Jahren eine verstärkte Beschäftigung mit Fra-
zophrenie I [1972]. Frankfurt a. M. 1977. gen des guten Lebens zu verzeichnen (vgl. Steinfath
– /Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und 1998). Anschließend an die einflussreiche Kategori-
Schizophrenie II [1980]. Berlin 62005. sierung von Parfit (1984, 493–502) dient vielen die
– /Parnet, Claire: Dialoge [1977]. Frankfurt a. M. 1980. Einteilung in Wunscherfüllungstheorien, in hedo-
Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäo- nistische Ansätze und in Theorien, die mit Listen ob-
logie des ärztlichen Blicks [1963]. Frankfurt a. M. jektiver Güter arbeiten, zur groben Orientierung
6
2002. (vgl. Fenner 2007). Aus Gründen der Übersichtlich-
–: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Hu- keit folge ich diesem schematischen Vorgehen. Die
manwissenschaften [1966]. Frankfurt a. M. 131995. Erörterung der drei Theorievarianten wird durch
–: Archäologie des Wissens [1969]. Frankfurt a. M. eine kritische Schlussreflexion ergänzt. Voran stelle
6
1994. ich Bemerkungen zur schwierigen Eingrenzung der
–: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnis-
Rede vom ›guten Leben‹.
ses [1975]. Frankfurt a. M. 1977.
–: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1
[1976]. Frankfurt a. M. 111999. Gutes Leben und Glück
–: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2
[1984]. Frankfurt a. M. 62000. Wir können eigenes und fremdes Leben nach ver-
–: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3 [1984]. schiedenen Hinsichten als gut bewerten. Jemand
Frankfurt a. M. 1989. kann ein moralisch gutes Leben führen oder sich in
–: Schriften in 4 Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 1–4 [1994]. religiöser oder politischer Hinsicht vorbildlich ver-
Frankfurt a. M. 2001–2005. halten. In Grenzen mögen wir ein Leben auch als äs-
–: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am thetisch gelungen auszeichnen und wir können je-
Collège de France (1975–76) [1996]. Frankfurt a. M. mandes Lebensleistung bewundern. Außerdem gibt
2001. es Menschen, die unserer Vorstellung davon, was es
–: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. I: Sicherheit, heißt, ein Mensch zu sein, in exemplarischer Weise
Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de genügen. Alle diese Bewertungsdimensionen kön-
France 1977–1978. Bd. II: Die Geburt der Biopolitik. nen in Theorien des guten Lebens aufgegriffen wer-
Vorlesung am Collège de France 1978–1979. Frank- den. Ihr primäres Interesse gilt jedoch der Frage, was
furt a. M. 2004. es heißt, dass ein Leben (als Ganzes oder zu wichti-
Miller, James: Die Leidenschaft des Michel Foucault gen Teilen) gut (bzw. in sich gut) für die Person ist,
[1993]. Köln 1995. die es führt.
Katrin Meyer Der genaue Sinn des ›gut für‹ ist umstritten (vgl.
Sumner 1996, 2. Kap.; Kraut 2007, 66 ff.). Gängige
Umschreibungen besagen, dass ein Leben gut für je-
manden ist, wenn es ihm zuträglich ist, ihm zum
Vorteil gereicht oder in seinem Interesse liegt. Vor
dem Hintergrund der eudämonistischen Tradition
kann es naheliegen, das für eine Person gute Leben
9. Theorien des guten Lebens in der neueren (vorwiegend) analytischen Philosophie 297

mit einem glücklichen Leben gleichzusetzen. Unser che Wünsche und Ziele haben, kann die Wunscher-
heutiger Glücksbegriff wird jedoch so verwendet, füllungstheorie auch gut die Pluralität von Möglich-
dass für die Beantwortung der Frage, ob jemand keiten, ein gutes Leben zu führen, erklären. Zugleich
glücklich oder unglücklich ist, allein maßgeblich ist, muss sie nicht bestreiten, dass es Voraussetzungen
wie er selbst sein Leben empfindet und bewertet (vgl. wie ein Minimum an Gesundheit, Sicherheit und
Birnbacher 2005). Ob das Leben, das jemand lebt, Freiheit gibt, auf die alle Menschen unabhängig von
gut für ihn ist, scheint sich dagegen nicht ebenso of- ihren konkreten Wünschen und Zielen angewiesen
fensichtlich ganz an seinen eigenen Empfindungen sind, und dass es sehr allgemeine Ziele geben kann,
und Einschätzungen zu bemessen, sondern Spiel- an denen allen Menschen gelegen ist. Die Wunscher-
raum für stärker externe Faktoren zu lassen, in deren füllungstheorie scheint zudem geeignet, den Sinn, in
Licht die subjektiven Bewertungen der betroffenen dem ein Leben ›gut für‹ jemanden ist, zu erhellen. Sie
Person unzulänglich erscheinen können. Allerdings deutet ihn als Verweis auf die Bewertungsperspek-
kann damit zugleich fraglich werden, ob Theorien tive des Subjekts selbst, die im Kern eine volitive sei.
des guten Lebens überhaupt eine eigenständige Be- Und schließlich harmoniert der Rekurs auf das je ei-
wertungsdimension zugrunde liegt. Als Anhalts- gene Wünschen und Wollen mit dem in liberalen po-
punkt dient ihnen eine Reihe von alltagsweltlich ver- litischen Theorien vorwaltenden Autonomie-Ideal
trauten Fragen wie ›Ist dies auch wirklich gut für sowie mit ökonomischen Theorien, die Nutzen auf
dich?‹, ›Tue ich ihm damit etwas Gutes?‹ oder ›Bringt Präferenzen zurückführen.
mir ein solches Leben etwas?‹. Faktisch orientieren Indessen kann die Wunscherfüllungstheorie in
sich nicht wenige Autoren aber an einer anderen keiner ihrer zahlreichen Varianten als umfassende
Frage, nämlich der Frage, welches Leben insgesamt Theorie des guten Lebens überzeugen. Die simple
am wählenswertesten ist oder für welches alles in al- Version, die das Gelingen eines Lebens als Funktion
lem am meisten spricht; darauf soll am Ende zurück- von Anzahl und Gewicht der erfüllten Wünsche der
gekommen werden. Person begreift, geht offenkundig in die Irre. Viele
unserer Wünsche sind zu flüchtig, um die Qualität
Wünsche und Ziele unseres Lebens zu beeinflussen. Unsere Wünsche
können sich auf alles Mögliche beziehen, auch auf
Auf die Frage, welches Leben gut für jemanden ist, solches, das nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat
geben heute viele Autoren Antworten, die die unmit- (wie die Zukunft der eigenen Enkel, die man nicht
telbar motivierenden Einstellungen von Personen in erleben wird, oder den Schutz einer bedrohten Tier-
den Mittelpunkt stellen. Da solche Einstellungen oft art, mit der man nie in Kontakt kommt). Ihre Erfül-
unter einen sehr weiten (und reichlich irreführen- lung kann für unser Leben gleichgültig oder desas-
den) Wunschbegriff (desire) subsumiert werden, hat trös sein, und ein Leben ganz nach Wunsch und
es sich eingebürgert, entsprechende Ansätze als Wille wäre ein wunschloses Leben ohne offene Zu-
›Wunsch-‹ oder ›Wunscherfüllungstheorien‹ zu be- kunft und inneren Antrieb. Darüber hinaus sind uns
zeichnen. Varianten dieser Theorie dominieren die manche unserer Wünsche lästig oder peinlich, so
analytisch geprägte Literatur und werden z. B. von dass wir uns von ihnen distanzieren.
Rawls (1971, 7. Kap.), Brandt (1979), Griffin (1986) Die Schwächen der simplen Version werden von
und Seel (1995) vertreten. In einer ersten Annähe- den heutigen Vertretern der Wunscherfüllungstheo-
rung behaupten sie, dass ein Leben gut für die Per- rie einhellig anerkannt und haben sie zu zahlreichen
son ist, wenn sie bekommt, was sie wünscht und will, Reparaturmaßnahmen veranlasst. Dem Problem,
oder wenn es ihr im Leben, wie Kant sagt, »nach dass sich Wünsche auf alles Mögliche richten kön-
Wunsch und Willen« geht (Kant KpV, A 224). nen, wird mit einer Umstellung von lokalen Wün-
Fragen des guten Lebens in dieser Weise anzuge- schen, die einzelnen Zuständen in der Welt gelten,
hen, ist aus verschiedenen Gründen attraktiv. Wir auf globale Wünsche begegnet, die sich auf größere
verstehen uns als aktive Wesen, die ein Leben nicht Einheiten des eigenen Lebens oder darauf, wie man
nur haben, sondern es führen und gestalten, indem insgesamt leben möchte, beziehen (vgl. Parfit 1984,
sie ihren Wünschen und ihrem Wollen entsprin- 497). Diverse Informationsanforderungen sollen
gende Ziele und Projekte verfolgen. Ob wir errei- verhindern, dass Wünsche fehlgeleitet sind und ihre
chen, was wir uns vornehmen, ist für unser Wohl Erfüllung dem Betroffenen selbst schadet. ›Infor-
und Wehe wichtig. Da Menschen ganz unterschiedli- miert‹ oder ›rational‹ sollen etwa solche Wünsche
298 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

sein, an denen man festhalten oder die man neu he- chen. Ein einseitig aktivisches und rationales Bild
gen würde, wüsste man über die Umstände ihrer Re- zeichnen insbesondere jene, die Rawls folgen und
alisierung hinreichend Bescheid (informed preferen- das Gelingen eines Lebens von der Realisierung um-
ces). Daraus ergibt sich eine Reihe von Folgeproble- fassender Lebenspläne abhängig machen (Rawls
men. Stark idealisierte Informationsanforderungen 1971, 7. Kap.). Nicht jeder plant sein Leben, und
können sich so weit von den faktischen Wünschen mancher verplant es. Richtig ist indes, dass unsere
der Person entfernen, dass undeutlich wird, inwie- einzelnen Ziele und Pläne in der Regel Teil umfas-
fern das Leben, das die Person führen würde, hätte senderer Orientierungen sind und dass von diesen
sie aufgrund viel größeren Wissens ganz andere wesentlich abhängt, wie es uns ergeht. Einige Auto-
Wünsche, noch ihr Leben wäre. Andere Informa- ren versuchen dem entweder durch einen sehr wei-
tions- und Rationalitätskriterien arbeiten mit Ad- ten (und so abermals irreführenden) Zielbegriff (so
äquatheitsvorstellungen, die unter der Hand Bewer- Raz 1986, 12. Kap.) oder durch Umschreibungen ge-
tungsstandards heranziehen, die nicht mehr die der recht zu werden. Wohl am besten passt es, von dem
Person selbst sind. So wird beispielsweise verlangt, zu sprechen, was einer Person wichtig ist, was für sie
dass sich ein informierter Wunsch dem richtigen zählt oder worum sie sich sorgt (vgl. Frankfurt 1988).
Verständnis der Natur seines Gegenstands verdan- Wir können so u. a. berücksichtigen, dass uns nicht
ken müsse (Griffin 1986, 14). Andere möchten neu- nur am Was, sondern auch am Wie unseres Tuns
rotische Wünsche ausschließen und Wünsche in an- liegt. Wir möchten im Leben nicht nur bestimmte
gemessenen Werturteilen fundiert sehen (Fenner Dinge erreichen, sondern auch eine bestimmte Art
2007, 63 ff.). Wieder andere begreifen rationale Wün- von Person sein (vgl. Steinfath 2001, 7. Kap.). Das,
sche als Teil »sinnvoller Lebenskonzeptionen« (Seel was uns am meisten am Herzen liegt, kann sich frei-
1995, 93) oder empfehlen, solche Wünsche zu favori- lich als etwas entpuppen, das nicht gut für uns ist.
sieren, »deren Verwirklichung die reichere Erfüllung Genau besehen sagt uns die Wunscherfüllungs-
verspricht« (92). Doch damit werden die Grenzen theorie nicht, was es heißt, dass ein Leben gut für je-
von Wunscherfüllungstheorien entweder in Rich- manden ist. Vielmehr macht sie uns in ihren einsich-
tung auf stärker objektive Konzeptionen oder auf tigsten Varianten auf unverzichtbare Quellen eines
hedonistische Ansätze überschritten. guten Lebens aufmerksam. Sie erinnert uns daran,
Die Bestimmung eines guten Lebens über die Ver- dass niemand ein gutes Leben im Vollzug von Tätig-
wirklichung aufgeklärter Wünsche läuft in ein Di- keiten finden kann, an denen ihm nicht liegt. Inso-
lemma. Entweder führt sie Maßstäbe wie Werthaf- fern lässt sich niemandes Leben gegen dessen Willen
tigkeit, Normalität oder affektive Befriedigung ein, verbessern. Aber er kann das Falsche wollen.
die dem Wünschen als solchen äußerlich bleiben.
Oder sie stellt es tatsächlich dem Einzelnen anheim, Lust und Freude
wie er mit zusätzlichen Informationen über die Ge-
genstände seines Wünschens umgeht. Dann gibt es Wunschtheorien kranken daran, dass uns die Befrie-
jedoch keine Garantie dafür, dass die Erfüllung sei- digung unserer Wünsche und Ziele selbst unbe-
nes informierten Wünschens ihm zuträglich ist. friedigt lassen kann. Diese Lücke zwischen Wunsch-
An diesem Dilemma ändert sich nichts, wenn statt erfüllung und eigener Erfüllung versprechen he-
von Wünschen von Zielen ausgegangen wird (vgl. donistische Theorien zu schließen. Hedonisten
Raz 1986, 12. Kap.; Fenner 2007, Kap. 4.2). Da wir beantworten die Frage nach dem für den Einzelnen
uns unsere Ziele selbst setzen oder sie zumindest guten Leben in erster Näherung so, dass sie das gute
gutheißen müssen, wird ihre Hervorhebung besser Leben mit dem lustvollen Leben oder dem Leben,
dem aktiven Charakter unseres Lebens gerecht. Wir dessen wir uns erfreuen, gleichsetzen. Diese Antwort
vollziehen unser Leben wesentlich in zielgerichteten findet sich schon in der Antike (s. Kap. III.1–5), sie
Tätigkeiten, die unserem Leben eine gewisse Einheit ist von den Klassikern des Utilitarismus (s. Kap. V.1)
verleihen und die wir oft gerade als zielgerichtete um vorausgesetzt worden und hat auch heute versierte
ihrer selbst willen schätzen. Aber natürlich können Vertreter (z. B. Feldman 2004).
auch unsere Ziele fehlerhaft sein, und ihr Erreichen Wie Wunschtheoretiker stehen Hedonisten zu-
kann uns unglücklich machen. Außerdem kann uns nächst vor der Schwierigkeit, die mentalen Zustände
die Fixierung auf Ziele blind für die weniger aktiven und Einstellungen, die sie in den Mittelpunkt rücken,
und zukunftsbezogenen Seiten unseres Lebens ma- genauer fassen zu müssen. Die einfacheren Versio-
9. Theorien des guten Lebens in der neueren (vorwiegend) analytischen Philosophie 299

nen des Hedonismus rekurrieren auf Lust und obwohl es andererseits ein Kurzschluss ist zu mei-
Schmerz als distinkte Empfindungen, die sich auf nen, uns müsse immer mehr an der Wahrheit als an
eine besondere, nur aus der Innenperspektive erfahr- der Illusion liegen. Der Film The Matrix der Brüder
bare Weise anfühlen. Das in sich Gute soll die Ge- Wachowski führt diese Abwägung in aller Anschau-
fühlsqualität der Lustempfindung sein, die sich ganz lichkeit durch.
unterschiedlichen Ursachen – einem guten Essen, Selbst der simple Hedonist trifft etwas Richtiges:
dem Hören von Musik, der Beschäftigung mit philo- Ein Leben, das keinerlei Lustempfindungen kennt,
sophischen Problemen usw. – verdanken können. ist schwerlich ein gutes, und kein Leben kann gut für
Die Güte eines Lebens soll sich dem schlichten He- jemanden sein, das ganz im Schatten chronischer
donismus zufolge an seiner Lustbilanz bemessen, Schmerzen steht. Wichtiger ist aber, dass eine hedo-
also grob daran, wie viel, wie dauerhafte und wie in- nistische Theorie nicht allein Lustempfindungen zur
tensive Lustempfindungen es enthält. Dagegen wird Basis eines guten Lebens erklären muss. Stattdessen
manchmal angeführt, dass sich Lustempfindungen kann sie unsere intentionalen (also objektgerichte-
oft erst im Verlauf von Tätigkeiten einstellen, die wir ten) emotionalen Reaktionen betonen. Entscheidend
aus anderen Gründen ausüben, und dass ein ganz ist dann nicht, wie viel Lust wir empfinden, sondern
auf die sensorische Lust abgestelltes Leben schnell dass unser Leben von Tätigkeiten und Konstellatio-
seinen Tribut in Form von Überdruss und innerer nen geprägt ist, an denen wir uns freuen, und dass
Verödung fordert. wir dieses Leben selbst als erfüllt und befriedigend
Tiefer reichen Bedenken, die die Einsichten der erleben.
Wunschtheorie aufnehmen. Verstanden als rein Das Urteil über diese differenzierte Form des He-
mentale Zustände sind Lust und Schmerz solipsisti- donismus, die Feldman »attitudinal« im Unterschied
sche Empfindungen, die sich nicht auf Gegenstände zum »sensory hedonism« nennt (Feldman 2004, 4.
und Situationen in der Welt beziehen und sich ge- Kap.) und die eine offenkundige Nähe zu Wunsch-
genüber der Art ihrer Verursachung gleichgültig ver- theorien aufweist, entscheidet sich nicht zuletzt am
halten. Uns liegt jedoch nicht nur an unseren Emp- Verhältnis von Glück und gutem Leben. Ein glückli-
findungsqualitäten, sondern an unserem Verhältnis ches Leben zu haben, setzt voraus, sich seines Lebens
zur Welt und der Gestalt unseres Lebens. Für das, zu freuen, und diese Freude über das eigene Leben
was uns wichtig ist, können wir erhebliche Schmer- ist nicht sensorischer Natur, sondern eine intentio-
zen in Kauf nehmen, ohne es später bereuen zu müs- nale Werthaltung zum Leben. Von daher fällt eine
sen. Meist sind gerade die Tätigkeiten, mit denen wir solche Theorie des Glücks unter einen erweiterten
uns am stärksten identifizieren, mit Anstrengungen Hedonismus. Es ist aber schwer vorstellbar, dass ein
verbunden. Sigmund Freud wollte am Ende seines für die Person selbst gutes Leben ein unglückliches
Lebens lieber bei klarem Bewusstsein bleiben, als ist; zumindest muss es eines sein, das sie als befriedi-
sich durch Morphium von seinen Schmerzen zu be- gend erlebt und beurteilt. Andernfalls bliebe uner-
freien (vgl. Griffin 1986, 8); der Asket verzichtet frei- findlich, was Aussagen über das Leben, das gut für
willig auf Lustempfindungen, die nicht zu seiner jemanden ist, noch von Aussagen über die morali-
Auffassung vom Leben passen. Der Hedonist, der sche, ästhetische oder religiöse Qualität des Lebens
beiden vorwirft, etwas zu tun, was nicht gut für sie unterscheiden sollte. Dass ein gutes Leben ein halb-
ist, wird zum Paternalisten, der die Bewertungssou- wegs glückliches sein muss, heißt freilich nicht, dass
veränität des Subjekts hinsichtlich des eigenen Le- jedes halbwegs glückliche Leben ein gutes ist. Der
bens radikal in Frage stellt. Zugleich muss er bereit »attitudinale« Hedonismus streicht insofern zu-
sein, jede Form von Täuschung und Manipulation nächst nur ein notwendiges, nicht auch schon ein
zu billigen, sofern sie nur die richtige Menge an Lust- hinreichendes Moment eines für den Einzelnen gu-
empfindungen stimuliert. Robert Nozick hat dage- ten Lebens heraus.
gen das Gedankenexperiment einer Maschine ent- Was kann einem glücklichen Leben zu einem gu-
worfen, die uns die aufregendsten und befriedi- ten Leben fehlen? Als Antwort wird üblicherweise
gendsten Erlebnisse durch die Erzeugung perfekter auf Defizite verwiesen, die im Rahmen der Wunsch-
Illusionen bereiten könnte (Nozick 1974, 42 ff.). Da theorie zur Qualifizierung von Wünschen als ›infor-
wir den Kontakt zur Realität suchen und für uns miert‹, ›rational‹, ›nicht neurotisch‹ usw. nötigen.
zählt, worauf sich unser Erleben gründet, würde sich Wer in den sein Leben prägenden Tätigkeiten und
kaum einer an diese Maschine anschließen wollen, Konstellationen Erfüllung findet und sein Leben ins-
300 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

gesamt als glücklich erachtet, kann Irrtümern und unsere Ziele (so konzipiert Rawls seine »Grundgü-
Täuschungen aufsitzen. Vielleicht ist man nur glück- ter«) oder verbreitete Quellen von Zufriedenheitsge-
lich, weil man glaubt, von Anderen geliebt und ge- fühlen zusammenzustellen.
achtet zu werden, während man in Wirklichkeit Op- Theoretisch fruchtbarer sind teleologische und
fer ihres Spotts is. Und vielleicht können sich Men- perfektionistische Ansätze, die Lebens- und Glücks-
schen an ein Leben der Unterdrückung, Manipulation güter in der Nachfolge von Aristoteles’ Begriff des
und Armut so anpassen, dass sie damit zufrieden menschlichen ergon auf die Entfaltung exemplari-
sind. Weder im einen noch im anderen Fall müssen scher Fähigkeiten beziehen, die das Wesen oder die
diejenigen, die über ihre Lage aufgeklärt werden, be- Natur des Menschen ausmachen sollen. In dieser
streiten, dass sie glücklich waren; ihr Glück mag auf Sicht führt ein Mensch etwa dann ein gutes Leben,
Illusionen beruht haben, es wird deswegen aber nicht wenn seine für Menschen typischen sensorischen
zu einem ›illusionären‹ Glück. Aber sie können fin- Fähigkeiten nicht beeinträchtigt sind, sein emotio-
den, dass der Preis für ihr Glück zu hoch war und so nales Leben hinreichend differenziert ist, er die für
das Leben, das sie führten, kein für sie gutes war. Menschen charakteristischen sozialen Kompetenzen
erworben hat und seine kognitiven Leistungen das
Güter und menschliche Lebensform bei Menschen Übliche zumindest erreichen. Von ei-
nem solchen Menschen könne gesagt werden, er ›ge-
Wunscherfüllungstheorien und hedonistische An- deihe‹, so wie auch eine Pflanze oder ein Tier gedei-
sätze sind in dem Sinn subjektivistische Theorien hen, wenn sie den Anforderungen ihrer artspezifi-
des guten Lebens, dass sie das Gutsein eines Lebens schen Lebensform gerecht werden (vgl. Kraut 2007,
von den Einstellungen dessen, der es führt, abhängig 3. Kap.; Foot 2001). Diese Grundidee lässt sich in
machen. Objektivistische Konzeptionen kappen verschiedene Richtungen variieren. Statt auf die Ent-
diese Verbindung oder schwächen sie erheblich ab. faltung der Gattungsmerkmale zu setzen, kann die
Sie sind heute mehrheitlich lose an Aristoteles orien- Realisierung und Differenzierung der je individuel-
tiert (s. Kap. III.2). Grob besagen sie, dass es den Ein- len Potentiale – mithin die ›Selbstverwirklichung‹ –
stellungen des Subjekts vorgängige Maßstäbe gibt, an zum Kern eines guten Lebens erklärt werden (vgl.
denen sich bemisst, ob ein Leben gut für jemanden z. B. Gewirth 1998). Oder es können die Tätigkeiten,
ist oder nicht. in denen jemand sein Leben vollzieht, im Licht nicht
Eine Reihe von Autoren arbeitet mit Listen von der allgemein menschlichen, sondern der spezifisch
Gütern, die in einem guten Leben vorhanden zu sein kulturellen Lebensform, also anhand sozial geteilter
hätten. So hat Amartya Sen gegen utilitaristische Maßstäbe beurteilt werden (so in der Tendenz z. B.
Wohlfahrtskonzepte die Wichtigkeit von Funktio- MacIntyre 1981; Raz 1986, 307 ff.).
nen (functions) und Befähigungen (capabilities) für Anders als manchmal behauptet wird, sind auch
jemandes Wohl ins Feld geführt (Sen 1993). Funktio- die naturteleologischen Varianten dieser Theorie
nen sind die Tätigkeiten und Seinsweisen, die eine nicht an obsolete Vorstellungen von einer objektiven
Person realisiert, Befähigungen die Freiheiten oder Teleologie gebunden. Wir können ohne Anleihen bei
Möglichkeiten zur Ausübung von Funktionen. Ba- einer überkommenen Metaphysik von einer mensch-
sale Funktionen sind z. B. wohlgenährt zu sein, ge- lichen Lebensform und dem für Menschen Typi-
sund zu sein und sich selbst zu achten. Martha Nuss- schen, das sich nicht mit dem statistisch Normalen
baum hat eine anspruchsvollere Liste erstellt, in der decken muss, sprechen. Und richtig ist auch, dass in
Güter wie die Ausübung der praktischen Vernunft, die Bewertung von eigenem und fremdem Leben
die Verbundenheit mit anderen Menschen, die An- Vorstellungen von der menschlichen Natur wie auch
teilnahme an der Natur, Humor und Spiel auftau- von der individuellen Natur und von sozialen Erfor-
chen (Nussbaum 1993). Auf dieser Ebene benennen dernissen eingehen. In besonderem Maß gilt dies für
objektivistische Konzeptionen des Guten jedoch al- die Perspektive von wohlwollenden Eltern bzw. ge-
lenfalls notwendige Voraussetzungen für ein gutes nerell von Menschen, die für Heranwachsende Sorge
Leben und stehen nicht notwendig in Konkurrenz tragen. Eltern, die die geistige Entwicklung ihrer
zu Wunschtheorien und zum Hedonismus. Solange Kinder künstlich beschränkten, weil diese so ein
sie keine Auskunft über den Grund der Güteraus- lustvolleres Leben hätten oder weniger unter der
wahl geben, können sie auch als Versuche verstan- Frustration ihrer Wünsche zu leiden hätten, würden
den werden, typische Realisierungsbedingungen für selbst dann als grausam und irregeleitet verurteilt
9. Theorien des guten Lebens in der neueren (vorwiegend) analytischen Philosophie 301

werden, wenn ihre Annahmen über Lust und wir uns freuen und worin wir Erfüllung finden,
Wunscherfüllung zuträfen. Das deutet darauf hin, hängt aber wesentlich von unseren Zielen und weite-
dass subjektivistische Theorien des guten Lebens ren praktischen Orientierungen ab, die in Wunsch-
unreflektiert Normalitätsvoraussetzungen machen. theorien thematisiert werden. Doch ist deren Ausbil-
Doch umgekehrt kommen noch die gängigen objek- dung und Verwirklichung erstens an soziale Bedin-
tivistischen Konzeptionen, die auf teleologisches gungen gebunden, vor allem an soziale Rollen als
und perfektionistisches Gedankengut zurückgreifen, Sinnangebote. Zweitens kommt die menschliche Na-
nicht über die Formulierung allenfalls notwendiger tur ins Spiel, und zwar zum einen über Grundbe-
Bedingungen für ein gutes Leben hinaus. Implizit dürfnisse, ohne deren Befriedigung niemand errei-
sind sie (wie schon Platon) am Modell physischer chen kann, was er sich vornimmt, und zum anderen
Gesundheit ausgerichtet. Jemand kann sich gesund über Vorstellungen von einer menschlichen Lebens-
fühlen, ohne es doch zu sein, und er kann sich krank form, die sehr allgemeine Normalitätsstandards ge-
wähnen, obwohl er kerngesund ist (s. Kap. VIII.5). nerieren. Insoweit treffen auch Objektivisten etwas
Aber ein Mensch, der die menschentypischen Fähig- Richtiges. Dabei bleiben mindestens zwei gravie-
keiten in großer Breite und ungewöhnlicher Höhe rende Probleme.
verwirklichte, sich dabei aber unglücklich fühlte, Objektivistische Theorien leben davon, dass we-
führte kein gutes Leben (man denke etwa an eine der das Leben, das sich einer wünscht, noch das Le-
vielseitig begabte und weithin bewunderte Person, ben, mit dem er zufrieden ist, ein für ihn gutes Leben
die ihr Leben dennoch als leer empfindet). Und je- sein muss, weil seine Wünsche, Gefühle und Selbst-
mand, der zufrieden ist, kann ein gutes Leben füh- bewertungen das Resultat von Irrtümern und Täu-
ren, obwohl seine Kompetenzen recht eingeschränkt schungen sein können. Doch Verweise auf die
sein mögen; dass er notwendig ein besseres Leben menschliche Natur oder soziale Wertungsstandards
führte, würde er seine Potentiale ganz ausschöpfen liefern nur unzulängliche Kriterien für das Gutsein
oder hätte er überhaupt größere Fähigkeiten, er- eines Lebens, weil sie entweder zu allgemein sind
scheint zweifelhaft (man denke z. B. an Menschen, oder der Subjektivität des Einzelnen nicht gerecht
die sich in einem sehr beschränkten Tätigkeitskreis werden. Nötig wären Anhaltspunkte, die die Mängel
bewegen, sich aber in der Natur oder einer Tradition subjektiver Bewertungen zu durchschauen erlaubten
aufgehoben fühlen). Hier ist die subjektive Bewer- und gleichwohl nicht die Bewertungssouveränität
tung, die ihrerseits entscheidend von den generellen des Einzelnen radikal in Frage stellten. Es ist vorge-
Wertorientierungen der Person bestimmt wird, schlagen worden, das Gutsein eines Lebens an die
selbst konstitutiv für das Gutsein des eigenen Le- autonomen und authentischen Bewertungen des
bens. Solange wir es mit Pflanzen und Tieren zu tun Subjekts selbst zu binden (vgl. Sumner 1996, 156 ff.;
haben, mögen die Urteile darüber, ob ein Wesen ein Steinfath 2001, 9. Kap.). Aber es ist unklar, ob damit
gutes Exemplar seiner Art ist, und die Einschätzung die Suche nach objektivierbaren Kriterien nicht nur
dessen, was gut für es ist, nahtlos ineinandergreifen. verschoben und das gute Leben außerdem an ein
Bei Wesen mit eigenem subjektiven Standpunkt, ei- strittiges Selbstbestimmungsideal geknüpft wird.
genen Wünschen und Gefühlen, Zielen und Werten, Das zweite Problem enthüllt eine Ambivalenz in
kann beides auseinandertreten (vgl. Sumner 1996, der Rede vom ›Guten‹. Wir mögen eine ungefähre
79). Vorstellung davon haben, was es heißt, dass ein Le-
ben gut für die Person ist, die es führt. Wir überlegen
Offene Fragen oft, was für jemanden gut oder schlecht ist, vielleicht
am stärksten, wenn wir uns um andere sorgen. Aber
Es dürfte sinnvoll sein, alle drei angeführten Theo- es ist nicht selbstverständlich, dass wir unsere prakti-
rievarianten in eine hybride Konzeption des guten schen Überlegungen darauf fokussieren (vgl. Scan-
Lebens zusammenzuziehen. Ausgangspunkt könnte lon 1998, 3. Kap.). Wenn mit dem für uns Guten ein
ein erweiterter Hedonismus sein (vgl. Sumner 1996, distinkter Wert gemeint ist, dann ist offen, ob das
6. Kap.). In einem ersten Schritt wäre festzuhalten, insgesamt wählenswerteste Leben auch das Leben
dass ein gutes Leben ein hinreichend glückliches sein ist, was gut für uns ist. Unser eigenes Glück, Wohl
muss. Glück wiederum bemisst sich daran, wie je- oder Gut ist erst einmal ein Ziel unter anderen. Es ist
mand sein Leben erlebt und affektiv bewertet, ob er nicht ausgemacht, dass diejenigen, die sich für an-
mit ihm zufrieden ist und sich an ihm freut. Woran dere opfern oder ihr Leben einem Gott weihen oder
302 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

alles der Ehre unterordnen, damit nur auf ihre Weise [KpV]. In: Ders.: Werke in 12 Bänden (Hg. W. Wei-
dem nachstreben, worin sie das für sie Gute sehen. schedel). Bd. VII. Frankfurt a. M. 1968.
Und wenn wir uns selbst überlegen, welchen Tätig- Kraut, Richard: What Is Good and Why. The Ethics of
keiten wir nachgehen sollten, ist für uns in der Regel Well-Being. Cambridge, MA 2007.
eine Vielzahl von Bewertungsdimensionen (morali- MacIntyre, Alasdair: After Virtue. London 1981.
sche, ästhetische usw.) von Belang. In vielen Theo- Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. Oxford
rien des guten Lebens bleibt die Differenz zwischen 1974.
dem für mich Guten und dem, was ich (gegebenen- Nussbaum, Martha: Menschliches Tun und soziale Ge-
rechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Es-
falls zu Recht) für erstrebenswert halte, verborgen,
sentialismus. In: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst
weil sie mit den antiken Ethiken davon ausgehen,
(Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt
dass das (eigene) Glück das höchste Gut ist. Wenn
a. M. 1993, 323–361.
wir diese Annahme aufgeben, ist zunächst unklar, wo Parfit, Derek: Reasons and Persons. Oxford 1984.
wir Antworten auf die Frage zu finden hoffen dür- Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge, MA 1971.
fen, wie wir leben sollten. Raz, Joseph: The Morality of Freedom. Oxford 1986.
Aber wir stehen damit nicht vor einem unauflös- Scanlon, Thomas: What We Owe to Each Other. Cam-
baren Rätsel, sondern werden nur an die Schwierig- bridge, MA 1998.
keiten erinnert, die uns aus allen nicht rein instru- Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frank-
mentellen praktischen Überlegungen und Orientie- furt a. M. 1995.
rungen vertraut sind. In der Philosophie ist immer Sen, Amartya: Capability and Well-Being. In: Martha
wieder versucht worden, die mit ihnen verbundenen Nussbaum/Ders. (Hg.): The Quality of Life. Oxford
Unsicherheiten durch die Festlegung eines letzten 1993, 30–53.
Ziels wie das Glück oder eines unhintergehbaren Steinfath, Holmer: Die Thematik des guten Lebens in
Rahmens wie die Moral aufzuheben. Doch können der gegenwärtigen philosophischen Diskussion. In:
wir, wie es scheint, in unserem Leben auch ohne Ders. (Hg.): Was ist ein gutes Leben? Frankfurt a. M.
letzte Bezugspunkte zurechtkommen, indem wir uns 1998, 7–31.
für neue Erfahrungen offen halten und uns mit tem- –: Orientierung am Guten. Frankfurt a. M. 2001.
porären Situations- und Sinndeutungen zufrieden Sumner, Lawrence: Welfare, Happiness, and Ethics. Ox-
geben. Es gibt keine unumstößlichen Vorrangregeln, ford 1996.
die Konflikte zwischen persönlichen Glücksansprü- Wright, Georg Henrik von: The Varieties of Goodness.
London 1963.
chen, moralischen Prinzipien, politischen und per-
Holmer Steinfath
sönlichen Idealen oder religiösen Überzeugungen
stets zugunsten eines Werts zu entscheiden erlaub-
ten. Eine eigene Tragik liegt darin wohl nur für dieje-
nigen, die nach einem vollkommen guten Leben
streben und dieses Streben der conditio humana zu-
rechnen.

Literatur
Birnbacher, Dieter: Philosophie des Glücks. In: e-Jour-
nal Philosophie der Psychologie (März 2005), 1–16.
Brandt, Richard: A Theory of the Good and the Right.
Oxford 1979.
Feldman, Fred: Pleasure and the Good Life. Oxford
2004.
Fenner, Dagmar: Das gute Leben. Berlin 2007.
Foot, Philippa: Natural Goodness. Oxford 2001.
Frankfurt, Harry: The Importance of What We Care
About. Cambridge 1988.
Gewirth, Alan: Self-Fulfillment. Princeton 1998.
Griffin, James: Well-Being. Oxford 1986.
Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft [1788]
303

10. Glück in Theorien gelt (Werle 2000). Die folgende Darstellung will al-
lerdings keine historischen Detailanalysen liefern,
der Lebenskunst. Zwischen sondern Idealtypen der Lebenskunst in systemati-
Spiel und Erfüllung scher Absicht entwerfen.

Antike Lebenskunst: teleologisch


Der Ausdruck ›Lebenskunst‹ (gr. technê tou biou, lat.
ars vivendi) bezeichnet prägnant die Lebensnähe der Die antike Lebenskunst zeigt unterschiedliche Ge-
antiken Tugendethik. Obwohl die moderne Ethik sichter. Für die klassische Zeit gilt ein objektiver
mit der Tugendethik gebrochen hat und die unbe- Glücksbegriff, in dem Glück und Tugend zusam-
dingte Geltung allgemein verbindlicher Normen menfallen, so dass Ethik und Lebenskunst nicht in
postuliert, ist seit der Rehabilitierung der prakti- Opposition treten (Hadot 1995/1999; Horn 1998; s.
schen Philosophie in den 1970er Jahren die Lebens- Kap. III.1–5). Die teleologische Denkform der An-
kunst im Ansehen gestiegen (Riedel 1972). Sie hat tike ist auf Teilhabe des Bürgers an der politischen
sich zu einer neuen Synthesis entwickelt, die antike oder kosmischen Ordnung ausgerichtet und garan-
und moderne Aspekte der ethischen Reflexion zu tiert so die Realisierung objektiver Glücksmodelle
integrieren versucht (Krämer 1992; Horn 2009). Als (vgl. Schälike 2004). Anders verhält es sich mit dem
integrale Disziplin formuliert sie Regeln, wie die Glücksbegriff im Hellenismus. Durch die Auflösung
Menschen ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellun- der Polis sieht sich der einzelne Mensch auf sich
gen und zugleich moralisch verantwortlich führen selbst gestellt, so dass Glück zu einem subjektiven
können. Der logische Status bewegt sich im Bereich Gut wird. Die Privatisierung des Glücks hält sich bei
zwischen deskriptiven und präskriptiven Theorien. den Stoikern noch im Rahmen der kosmischen Ord-
Die Zwischenstellung der Lebenskunst ergibt sich nung, die Epikureer hingegen verlegen das Glück in
daraus, dass sie von mehreren Parametern abhängt. die Lust, wobei Epikur unter Lust Freiheit von Un-
Der wichtigste Parameter ist das menschliche Streben lust versteht (Hossenfelder 1985).
nach Glück. Allerdings ist der Glücksbegriff eine un- Trotz der Glückssubjektivierung halten die helle-
bestimmte Variable, so dass als Ziel der Lebenskunst nistischen Schulen an allgemeinen Regeln der Le-
häufig alternative Qualifikationen genannt werden: bensführung fest (Hossenfelder 2004). Allein die Art
›gutes Leben‹, ›erfülltes Leben‹, ›gelungenes Leben‹. der Regeln ist unterschiedlich. Epikur formuliert diä-
Aus dem Glücksbegriff folgt, welches Verständnis von tetische Rezepte für den Umgang mit Bedürfnissen,
›Kunst‹ der Theorie zugrunde liegt. Das gesamte die Lebenskunst der Stoa hingegen zielt auf Einstel-
Spektrum von handwerklicher Technik bis zur ästhe- lungen gegenüber den unabänderlichen Dingen des
tischen Gestaltung steht zur Verfügung. Entsprechend Lebens. Da nach Meinung der Stoiker die Menschen
variieren die Regeln zum Glücklichwerden. Sie rei- mehr von Meinungen als von Fakten geleitet werden,
chen von objektiven Klugheitsregeln bis zu subjekti- lassen sich die Affekte durch Einsicht steuern. Inso-
ven Ratschlägen (Luckner 2005; Zimmer 2008). fern ist der Unterschied zwischen stoischer Apathie
Die genannten Parameter, von denen die Theorien und epikureischer Ataraxie so groß nicht, wie er auf
der Lebenskunst abhängen, haben ihren letzten Be- den ersten Blick erscheinen mag.
zugspunkt im Menschenbild. Die Antike ging vom Die antike Lebenskunst verbindet verschiedene
Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand aus, mit Modelle der Kunst: die Hebammenkunst bei Sokra-
dem die Tugendethik gut arbeiten konnte. Die Mo- tes, die Handwerkskunst bei Aristoteles, die Kunst
derne begreift den Menschen dagegen als komplexes der ›Abrichtung‹ bei Epikur und die Kunst der Ur-
System widerstreitender Emotionen und Überzeu- teilsbildung in der Stoa. So verschieden diese Künste
gungen, die sich nur schwer in Einklang bringen las- auch sein mögen, es handelt sich um erlernbare
sen. Hinzu kommt, dass das Menschenbild sich nicht Techniken, die mit Sicherheit zum Glück als höchs-
objektivistisch aus den Wissenschaften vom Men- tem Gut und letztem Zweck des menschlichen
schen ergibt, sondern aus der Art resultiert, wie die Lebens führen. Anders als moderne Begriffe von
Menschen das Wissen auf sich selbst beziehen. Diese Ästhetik, die ein hohes Maß an Unbestimmtheit ent-
Faktoren machen die Komplexität der Lebenskunst halten, bestätigen die antiken Techniken die teleolo-
aus, wie sie sich in ihrer wechselvollen Geschichte gische Denkform der vorgängigen Übereinstim-
von der griechischen Antike bis zur Gegenwart spie- mung von Mensch und Welt.
304 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Neuzeitliche Lebenskunst: rationalistisch kanon der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft


spiegeln (Knigge 1788/1975).
Als Reaktion auf die mittelalterliche Entwertung des
irdischen Lebens greift die Entdeckung des Men- Spätromantische Lebenskunst:
schen und der Welt in der Renaissance auf antike
voluntaristisch
Denkformen zurück. Mit dem Primat der Vernunft
vertritt auch die Neuzeit einen objektiven Glücksbe- Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist ein neuer Typus
griff, aber in der Vorstellung vom Glück besteht doch von Lebenskunst entstanden, der seinen Anfang mit
ein wesentlicher Unterschied. Die Teleologie des an- Arthur Schopenhauer nimmt. In seinem Hauptwerk
tiken Logos weicht einem dynamischen Lebenskon- Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) weist er
zept, das dem kapitalistischen Gesellschaftssystem Kants Sollensethik als unverträglich mit der Natur
entspricht. So entwickelt Condorcet eine Sozialtech- des Menschen zurück. Schopenhauer geht vom Pri-
nologie (»art social«) und Friedrich Schiller in sei- mat des Willens aus, dessen in sich zerrissene Trieb-
nen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Men- haftigkeit das Leben zum dauernden Leiden macht.
schen ein Programm der Vereinigung von Leben und In der Mitleidsethik sieht Schopenhauer den einzi-
Gestalt (1795). Immanuel Kant schließlich verwirft gen Weg der Erlösung vom Leiden durch radikale
den antiken Eudämonismus und trennt die Pflicht- Verneinung des Willens zum Leben (s. Kap. V.6).
ethik von der Lebenskunst, die als empirische Klug- Nun ist sich auch Schopenhauer darüber im Kla-
heitslehre nur einen untergeordneten Platz in der ren, dass Askese kein Weg ist, den die Masse der
Anthropologie in pragmatischer Absicht (1789) ein- Menschen gehen kann. Als Surrogat seiner philoso-
nimmt (Sommerfeld-Lethen 2004; s. Kap. V.3). phischen Ethik entwickelt Schopenhauer einen Ty-
Im Zeitalter der Aufklärung ist der Glücksbegriff pus von Lebenskunst, den er als Aphorismen zur Le-
natürlich nicht ganz verschwunden. Nur wird Glück bensweisheit in Parerga und Paralipomena (1851)
nicht mehr als Gefühl geschätzt, sondern als Denk- vorgestellt hat. Unter »Lebensweisheit« versteht er
form. Glück liegt in der Klarheit der Gedanken, die die Kunst, ein möglichst glückliches Leben zu füh-
dem Menschen gleich welchen Standes Sicherheit ren, wobei »Lebensglück« nur das bescheidene Glück
und Selbstbewusstsein vermittelt. Aufgabe der ver- der Unglücksvermeidung sein kann. Die Lebens-
nünftigen Lebenskunst ist es daher, Regeln zu entwi- regeln, die Schopenhauer aus seinem negativen
ckeln, die Orientierung im Denken ermöglichen, so Glücksbegriff ableitet, entsprechen inhaltlich den
dass Lebenskunst als rationale Affektregulierung Prinzipien der stoischen Ethik. Sich von den Unver-
auftritt. Darin gleicht die neuzeitliche Lebenskunst fügbarkeiten der äußeren Umstände durch Reduk-
der stoischen Theorie, freilich mit dem Unterschied, tion der Erwartungen frei zu machen, erzeugt die
dass praktische Vernunft more geometrico eingesetzt Gelassenheit, die den Menschen von der tierischen
wird. Die Affektenlehre in Spinozas Ethik (1677; s. Gedankenlosigkeit unterscheidet (SW I, 139). For-
Kap. IV.4) ist ein Beispiel dafür, wie stark der Tu- mal haben die Lebensregeln den Charakter von Ein-
gendbegriff formalisiert und das Streben nach Glück sichten, die nicht begrifflicher Erkenntnis, sondern
rationalisiert werden können. der Intuition entspringen. Damit geht Schopenhauer
Der rationalistische Typus der Lebenskunst folgt über den Intellektualismus der Stoiker hinaus. Die
der einflussreichen Logique de Port Royal (1662) von Aufdeckung unbewusster Motive wird zur Quelle
Arnauld und Nicole. Gefragt sind Regeln des Ver- der Selbsterfahrung, die falsche Erwartungen dämpft
nunftgebrauchs zur realistischen Beurteilung von Si- und den Menschen zur Übereinstimmung mit sich
tuationen, in denen man sich befindet. Dabei ist zu selbst verhilft.
beobachten, dass die Regeln vorrangig gegenüber Aus dem Willen zum Leben, der immer Leiden er-
den Zwecken werden, ja die Beherrschung von Re- zeugt, wird bei Friedrich Nietzsche der »Wille zur
geln wird zum Selbstzweck. Die Verschiebung von Macht«, in dem sich das Leben in seiner ganzen Fülle
den Zwecken auf die Mittel hat zur Folge, dass die entfaltet. Nach dem Vorbild von Richard Wagners
sozialen Theorien der Lebenskunst einem politi- Gesamtkunstwerk begreift Nietzsche in Die Geburt
schen Kunstverständnis folgen. Für den Umgang mit der Tragödie (1872; s. Kap. V.7) Leben und Kunst als
anderen Menschen, aber auch für den Umgang mit Einheit, wodurch Lebenskunst einen neuen Sinn er-
sich selbst hat Adolph Freiherr von Knigge im deut- hält. Es handelt sich nicht mehr um Strategien der
schen Sprachraum Regeln kodifiziert, die den Werte- Lebensklugheit, sondern um die schöpferische Dar-
10. Glück in Theorien der Lebenskunst. Zwischen Spiel und Erfüllung 305

stellung des Willens zum Leben. In der unerfindli- Die gesellschaftskritische Weiterentwicklung der
chen Weise, wie das Genie ein Kunstwerk hervor- Psychoanalyse, wie sie Herbert Marcuse in seinem
bringt, soll der Mensch sich dem Leben als schöpfe- Werk Eros and Civilization (dt. Triebstruktur und Ge-
rischem Prinzip hingeben (KSA 1, 109). Damit wird sellschaft 1955/1973) vorschwebte (s. Kap. VI.7), hat
Lebenskunst zu einer Poetik des Lebens, die sich einen neuen Typus von Lebenskunst hervorgebracht.
nicht auf Prinzipien der Vernunftmoral bringen lässt. Indem der Andere als gleichberechtigter Partner ins
Nietzsche folgt der entlarvenden Psychologie der Spiel kommt, verschieben sich die Regeln in Rich-
französischen Moralisten, die den egoistischen Mo- tung auf intersubjektive Kommunikation. Diesen
tiven hinter den sozialen Tugenden auf der Spur sind Weg hat nach dem Zweiten Weltkrieg Erich Fromm
(vgl. Zimmer 1999). Das höchste Gut und der letzte mit seinem Weltbestseller Die Kunst des Liebens
Zweck der Moral werden in den Vollzug des Lebens (1956) beschritten. Er geht von einer Kritik an Freuds
selbst verlegt, das im Schein seine Rechtfertigung Sexualtheorie aus, die dem Wesen der Liebe als wech-
findet (KSA 1, 47). selseitiges Geben und Nehmen nicht gerecht werde.
Für Nietzsches lebensphilosophische Gleichset- Wahre Liebe zeige sich in einem dialogischen Verste-
zung von Kunst und Leben ist kennzeichnend, dass hen, das unvermeidliche Entfremdungen überwin-
Glück in seinen Schriften kein zentraler Begriff ist. det. Im Glauben an die Kunst des Liebens als Königs-
Bürgerliches Glück, das bei Schopenhauer noch mit weg zum Glück ist Erich Fromm sicherlich ein Kind
Zufriedenheit konnotiert ist, weicht bei Nietzsche seiner Zeit. Der Wunsch nach Befreiung von gesell-
der Vitalität und Authentizität, die ein Maximum an schaftlichen und moralischen Zwängen hat den Weg
Selbstgenuss gewähren. Selbst Leiden kann die In- für meditative Praktiken bereitet, wie sie von ostasia-
tensität des Lebensgefühls steigern. Nicht stoische tischen Weisheitslehren entwickelt worden sind. Al-
Vermeidung des Unverfügbaren, sondern Auspro- lerdings ist hier die Gefahr des Absinkens der Le-
bieren neuer Lebensformen steht auf dem Pro- benskunst in zweifelhafte Formen der Selbstverwirk-
gramm. Die Lebenskunst ist daher kein Weg zur See- lichung unübersehbar (s. Kap. VI.11). Trotz dieser
lenruhe, sondern eine Aufforderung, das Leben um Gefahr hat die Kunst des Liebens der Kunst des Le-
der Kunst willen zu riskieren. So weit sich Nietzsche bens neue Impulse gegeben, die bis heute in der po-
von Schopenhauers stoischer Lebensweisheit auch pulären Ratgeberliteratur weiterleben.
entfernt, es handelt sich um zwei Gesichter desselben
voluntaristischen Typus, der Lebenskunst auf Arti- Postmoderne Lebenskunst: autopoetisch
kulation des Willens zum Leben, sei es in der Resi-
gnation, sei es im Rausch, festlegt. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat
mit der Postmoderne die praktische Philosophie ei-
Moderne Lebenskunst: therapeutisch nen unerwarteten Aufschwung erfahren. Während in
Deutschland die Tugendethik des Aristoteles im Vor-
Im Anschluss an Sigmund Freud (s. Kap. VI.6) ist die dergrund steht (Überblick bei Rapp 2010), hat sich in
Lebenskunst immer mehr in die Hände von Psycho- Frankreich das Interesse stärker auf die hellenisti-
logen und Therapeuten übergegangen, eine Entwick- schen Praktiken der Selbsterfahrung konzentriert.
lung, die sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhun- Der Durchbruch dieser Tradition erfolgte durch Mi-
derts erstreckt. Für Freud hängen die Glückserwar- chel Foucault, der mit dem dritten Band seiner Ge-
tungen und Glücksmöglichkeiten des Menschen von schichte der Sexualität, Die Sorge um sich (1984–
der Entwicklung seiner Sexualität ab. Die Sexualität, 1989), die antike Selbstsorge im Lichte der sexuellen
die Lust als Hochgefühl erzeugt, betrachtet er als Lust an den postmodernen Erfahrungshorizont an-
Vorbild für das menschliche Glück (Freud 1930/1976, gepasst hat (vgl. Schmid 1987/1994). Foucault ersetzt
441). Da die Kultur ein hemmungsloses Ausleben Glück durch erotische Lust als Medium ethischer
der Sexualität nicht zulässt, ist laut Freud das Pro- Selbsterkenntnis. Die antiken Techniken der Selbst-
gramm des Lustprinzips prinzipiell nicht zu erfüllen. sorge erfahren eine transzendentale Steigerung zur
Wenn Neurosen zur Normalität werden, kann es Selbstkonstitution, die neben der Vernunft die kör-
keine Selbstheilung nach allgemeinen Regeln des perlichen und emotionalen Momente berücksichtigt.
Glückserwerbs geben. Zur Herstellung einer ausge- Dahinter steht das biologische Konzept der Selbstor-
wogenen Libidoökonomie bedarf es der Hilfe von ganisation, der Autopoiesis, die ohne ein Steuerungs-
ausgebildeten Therapeuten (Kohut 1981). zentrum auskommt. Die Dezentrierung des Subjekts
306 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

verbindet Foucault mit einem Begriff von Freiheit, zur Lebenskunst, die sich damit wesentlich vom
die vielfältigen Möglichkeiten individueller Lebens- formallogischen Theorieverständnis unterscheidet
entwürfe zu entdecken. Dazu bedürfe es keiner ob- (Scheler 1913–16/1980).
jektiven Regeln, sondern der Bereitschaft, seine sinn-
lich-erotischen Bedürfnisse zu artikulieren. Ausblick
Foucaults autopoietischen Ansatz der Selbstsorge
im Medium der Sexualität hat Wilhelm Schmid im Der historisch-systematische Überblick hat ergeben,
deutschen Sprachraum zu einer integralen Philoso- dass die Regeln der Lebenskunst als Wege zum Glück
phie der Lebenskunst (1998) entwickelt, die alle Be- je nach dem vorherrschenden Menschenbild variie-
reiche der menschlichen Lebenswelt umfasst (vgl. ren. Die fortschreitende Individualisierung der Le-
bereits Krämer 1988). Das »gute« bzw. »schöne Le- bensformen und die Virtualisierung der Lebenswel-
ben« wird wie bei Foucault formal als Autopoiesis ten deuten darauf hin, dass sich Lebenskunst im 21.
bestimmt, die ein Modell des reflektierenden Sub- Jahrhundert an der Metapher des Spiels orientiert,
jekts selbst beinhaltet. In diesem Sinne spricht wobei die Improvisation als musikalische Figur an
Schmid von »reflektierter Lebenskunst«, womit so- erster Stelle steht. Trotz aller Betonung des »My way«
wohl der Lebensvollzug als auch die ihn leitende beschränkt sich Improvisation nicht auf unkontrol-
Theorie gemeint ist. Motor dieser Entwicklung ist lierte Selbstdarstellung, sondern wird vom Streben
ein neues Bild vom Menschen, das sich vom substan- nach formaler Gestaltung geleitet. Lebenskunst ent-
tiellen Begriff personaler Identität verabschiedet hat. wickelt sich so zum »Lebensdesign« (Shusterman
An seine Stelle ist der multizentrische Mensch getre- 1994). Das macht den logischen Status der Lebensre-
ten, der verschiedene Identitäten lebt. Entgegen der geln ambivalent. Sie sind objektiv und subjektiv zu-
traditionellen Vorstellung, die Glück mit Dauer ver- gleich, verbinden Wirklichkeit und Fiktion und ste-
bindet, wird das temporäre Glück der Übergänge hen quer zum klassischen Dualismus von Leben und
hoch eingeschätzt. Entsprechend zielen die Regeln Kunst (Thomä 2008).
der Lebenskunst darauf ab, sich alle Optionen offen Obwohl die Lebenskunst in letzter Zeit seitens der
zu halten. Dass aus dieser Einstellung kein soziales normativen Ethik massive Kritik erfahren hat, wird
Chaos entsteht, dafür bürgt bei Schmidt ein ökologi- sie als Komplement der Ethik ihre Berechtigung be-
sches Weltmodell, das jedem Menschen einen Platz halten (Kersting/Langbehn 2007). In einer Welt, in
auf dem Planeten sichert (Schmid 1998, 399–460). der die Suche nach Glück nicht mehr von traditio-
Auf der Suche nach Wegen, die autopoietische nellen Werten geleitet wird, wächst der Bedarf nach
Selbstkonstitution als soziales Lebensmuster zu individueller Beratung. Für den Menschen als recht-
rechtfertigen, hat Dieter Thomä die Biographie ent- fertigungsbedürftiges Wesen gehören zum Glück
deckt, die den praktischen Lebensvollzug begleitet auch die Mittel, mit denen er seine Erfolge erringt
(Thomä 1998). Permanente Arbeit an der eigenen (Fellmann 2005). Was in Kants Pflichtethik »Glücks-
Biographie ist mit Möglichkeiten befasst, die in ei- würdigkeit« heißt, wird in der Glücksethik als fair
nem höheren Maße wirklich sind als die brutalen play gehandelt. Insofern ist die Lebenskunst der Zu-
Fakten. Wenn die Kunst des Lebens darin besteht, kunft mehr als eine Anwendung rigoroser ethischer
sich selbst zu erzählen, so verlangt Lebenskunst nach Normen, sie ist Ausdruck ethischer Kreativität, wel-
einer Poetik, deren Regeln freilich nicht als Impera- che die geistige Dynamik multikultureller Gesell-
tive formuliert werden können. Es kann sich nur um schaften ausmacht.
hermeneutische Verfahren handeln, die den Men- Glück in der Moderne, das auch das Scheitern in
schen dazu anleiten, seine jeweilige Situation im die Erfolgsgeschichten integriert, hängt wie nie zu-
Kontext des gesamten Lebens zu betrachten und zu vor vom Zeiterleben ab (Theunissen 1991; Fellmann
bewerten. Lebenskunst geht schließlich in »Lebens- 2009; s. Kap. II.5–6). Selbstkonstitution kann nur als
politik« über, die individuelle Lebensentwürfe so sinnvolle Antwort auf die unhintergehbaren Phasen
kombiniert, dass sozialverträgliche Orientierungs- des menschlichen Lebens gelingen. Wenn die Men-
muster sichtbar werden (Krüger 2009). Legt man die schen auch vieles überspielen, das Spiel des Lebens
kantische Einteilung zugrunde, so unterliegen die stößt durch die Zeitlichkeit an die Grenzen der
Regeln der Lebenskunst der Logik der Urteilskraft, Machbarkeit. Im Nachdenken über die Zeitlichkeit
die alle Erfahrungen auf das Lebensgefühl bezieht erweist sich die Lebenskunst als hermeneutische
und danach bewertet. Der Wertbezug gehört somit Disziplin, die vom Erkennen und Anerkennen der
10. Glück in Theorien der Lebenskunst. Zwischen Spiel und Erfüllung 307

Conditio Humana (Plessner 1961) abhängt. Das Plessner, Helmuth: Conditio Humana. In: Propyläen
Glück, das sie gewährt, liegt darin, dem Leben Sinn Weltgeschichte. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1961, 33–86.
abzuringen und so die Menschen vor der Verzweif- Rapp, Christof: Was heißt ›Aristotelismus‹ in der neue-
lung zu bewahren. Hier liegt der Punkt, an dem sich ren Ethik? In: Information Philosophie 1 (2010), 20–
Lebenskunst und religiöser Glaube berühren. 30.
Riedel, Manfred (Hg.): Rehabilitierung der praktischen
Philosophie. Freiburg 1972.
Literatur Roth, Michael: Zum Glück. Glaube und gelingendes Le-
ben. Gütersloh 2011.
Fellmann, Ferdinand: Das Paar. Eine erotische Rechtfer-
Schälike, Julius: Willensschwäche und Selbsttäuschung.
tigung des Menschen. Berlin 2005.
Über die Rationalität des Irrationalen und das Ver-
–: Philosophie der Lebenskunst zur Einführung. Ham-
hältnis von Motivation und Evaluation. In: Deutsche
burg 2009.
Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), 362–380.
Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und
Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die
Wahrheit 3 [1984]. Frankfurt a. M. 1989.
materiale Wertethik [1913–16]. Bern 1980.
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur [1930].
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des
In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Frankfurt a. M.
5 Menschen in einer Reihe von Briefen [1795]. Frank-
1976, 419–506.
furt a. M. 2009.
Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens [1956]. München
Schmid, Wilhelm: Die Geburt der Philosophie im Gar-
2001.
ten der Lüste. Michel Foucaults Archäologie des pla-
Hadot, Pierre: Wege zur Weisheit – oder Was lehrt uns
tonischen Eros [1987]. Frankfurt a. M. 1994.
die antike Philosophie? [1995]. Frankfurt a. M. 1999.
–: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung.
–: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne
Frankfurt a. M. 1998.
Exerzitien der Weisheit [1981]. Frankfurt a. M. 2002.
Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. 5 Bde. Frank-
Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. Glück und Moral
furt a. M. 1986 [SW].
von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. München
Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frank-
1998.
furt a. M. 1995.
–: Zwischen Antike und Moderne. Was können wir von
Shusterman, Richard: Kunst Leben. Die Ästhetik des
der antiken Philosophie der Lebenskunst lernen? In:
Pragmatismus. Frankfurt a. M. 1994.
der blaue reiter – Journal für Philosophie 28 (2009),
Sommerfeld-Lethen, Caroline (Hg.): Lebenskunst und
6–12.
Moral. Gegensätze und konvergierende Ziele. Berlin
Hossenfelder, Malte: Die Philosophie der Antike 3. Stoa,
2004.
Epikureismus und Skepsis. München 1985.
–: Wie moralisch werden? Kants moralistische Ethik.
–: Gibt es eine Lebenskunst? In: Hans Friesen/Karsten
Freiburg/München 2005.
Berr (Hg.): Angewandte Ethik im Spannungsfeld von
Spinoza, Baruch: Ethik nach geometrischer Methode
Begründung und Anwendung. Frankfurt a. M. 2004,
dargestellt [1677]. Hamburg 1976.
383–404.
Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit.
Kersting, Wolfgang/Langbehn, Claus (Hg.): Kritik der
Frankfurt a. M. 1991.
Lebenskunst. Frankfurt a. M. 2007.
Thomä, Dieter: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte
Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit
als philosophisches Problem. München 1998.
Menschen [1788]. Leipzig 1975.
–: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt a. M. 2003.
Kohut, Hans: Die Heilung des Selbst. Frankfurt a. M.
–: Ästhetisierung. In: Steenblock, Volker (Hg.): Kolleg
1981.
Praktische Philosophie Bd. 3: Zeitdiagnose. Stuttgart
Krämer, Hans: Plädoyer für eine Philosophie der Le-
2008, 133–166.
benskunst. In: Information Philosophie 3 (1988),
Werle, Josef M.: Klassiker der philosophischen Lebens-
5–17.
kunst. Von der Antike bis zur Gegenwart. München
–: Integrative Ethik. Frankfurt a. M. 1992.
2000.
Krüger, Hans-Peter: Philosophische Anthropologie als
Zimmer, Robert: Die europäischen Moralisten. Ham-
Lebenspolitik. Berlin 2009.
burg 1999.
Luckner, Andreas: Klugheit. Berlin 2005.
– (Hg.): Glück und Lebenskunst. In: Aufklärung und
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft
Kritik, Sonderheft 14 (2008), 220–227.
[1955]. Frankfurt a. M. 1973.
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studi- Ferdinand Fellmann
enausgabe [KSA]. 15 Bde. München 1988.
308 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

11. Figuren des Glücks 2003), sie umfasst eher meditativ-spirituelle (Wolf
2010) bis hin zu technisch-instrumentellen Varian-
in aktuellen Lebenshilfe- ten. So singen die ca. 300 Bücher des Bestsellerautors
ratgebern. Vom Glück und Benediktiner-Mönches Anselm Grün, in denen
sich Wissensbestände christlicher Mystik mit Esote-
durch sich selbst rik und Psychologie mischen, ein Lob auf das einfa-
che Leben aus den »Quellen innerer Kraft« (Grün
2007) und die Bücher des Dalai Lama oder des bud-
Expertengeleitete Beratung zu einem geglückten Le- dhistischen Mönchs Thich Nhat Hanh weisen den
ben ist so aktuell wie uralt. Antike Philosophen un- Weg zum wahren Glück durch Meditation und Acht-
terrichteten ihre Schüler; im frühen Christentum ga- samkeitsübungen. Auch der Bestseller Simplify your
ben ›geistliche Väter‹ und ›geistliche Mütter‹ ihren Life. Einfacher und glücklicher leben (Küstenmacher
Klienten im unmittelbaren Gespräch konkrete Weg- 2001) bemüht die Metapher des Weges, der zu neuer
weisungen in ein ›geistliches Leben‹ (Müller 2010). innerer Erfahrung und vereinfachter Lebenspraxis
Mit der Entwicklung des Buchdruckes und -marktes einlädt. Dazu gibt er praktische Tipps, sein Leben,
verbreitete sich zunehmend auch das spezifische Li- seine Beziehungen und seinen Haushalt zu ›entrüm-
teraturgenre der Ratgeberliteratur: Die Hausväterli- peln‹ und einen Sinn im Leben zu finden. Weniger
teratur, die sich ab dem Ende des 17. Jahrhunderts pragmatisch gehen Ratgeber aus der Sparte des Posi-
auch an Hausmütter richtete, stellte Regeln für die tiven Denkens vor, wie beispielsweise Glücks-Gesetze:
Haus- sowie Familien- und Eheführung auf (exem- Die Botschaften des Lebens verstehen (Tepperwein
plarisch im Werk von Franz Philipp Florinus: Oeco- 2008). Dem Grundgedanken folgend, alles sei abhän-
nomus prudens et legalis. Oder Allgemeiner Klug- und gig von den eigenen Gedanken, ist Autosuggestion
Rechtsverständiger Hausvater von 1702), Diätetiken die zentrale Methode dieser Bücher. Mit Sprüchen
leiteten an zur Hygiene von Körper und Seele (wie wie »Lache – und die Welt lacht mit dir! Schnarche –
beispielsweise die Makrobiotik, oder die Kunst, das und du schläfst allein!«, Bastelbögen und den neus-
menschliche Leben zu verlängern von Christoph Wil- ten Forschungsergebnissen aus der Hirn- und
helm Hufeland, 1796), Sitten- und Anstandsratgeber Glücksforschung bringt der Kabarettist Eckhart von
lehrten angemessenes Benehmen anderen und sich Hirschhausen (2009) einen neuen Ton in die Ratge-
selbst gegenüber (als bekanntestes, aber keineswegs ber – auch wenn die konkreten Tipps letztlich nur
erstes Buch erschien 1788 das Buch Über den Um- origineller verpackt sind als in anderen Büchern.
gang mit Menschen von Adolph Franz Friedrich Frei- Zu welcher Variante des Glücksdiskurses das je-
herr von Knigge). Thematisiert wird dabei meist weilige Buch auch gehört, dem Genre der Lebenshil-
auch die Frage nach dem geglückten Leben, zumeist feratgeber ist ein Streben nach Optimierung eigen,
allerdings im Lichte einer christlichen Lebensfüh- das durch das inhaltliche Versprechen auf Glück
rung (z.B bei Johann Samuel Bail: Über Zufriedenheit noch gesteigert wird. Glück wird zu etwas, das im-
und Lebensglück, 1820). mer optimierbar und somit permanent anfällig für
Mit zunehmender Modernisierung wird das Glück Beratung ist. Damit postulieren Glücksratgeber ei-
immer mehr in Reichtum und Erfolg gefunden. Un- nen notorischen Mangel an Glück und bieten zu-
zählige Bücher wie das von Samuel Smiles propagie- gleich konkrete Maßnahmen gegen diesen Mangel
ren Self help (erstmals 1859; vgl. dazu z. B. Illouz an. Sie generieren einen dynamisierenden Effekt, in-
2006; Zimmermann 2006). Eng mit der Entwicklung dem sie Krise und Ratsuche auf Dauer stellen und so
des Taschenbuchmarktes bzw. jüngst mit dem Inter- plausibel machen wollen, dass man sich unablässig
netbuchhandel verknüpft, gibt es aktuell für jedes um sein Glück bemühen muss.
psychische, körperliche oder praktische Problem ei- Um diesen Zusammenhang auszuführen, wird im
nen Ratgeber. Ein Boom der Glücksratgeber wird Folgenden kurz die kommunikative Form der Bera-
seit den 1980er Jahren konstatiert und ist bis heute tung vorgestellt. In einem zweiten Schritt werden die
ungebrochen. Die einschlägigen Sektionen US-ame- Figuren des Glücks beschrieben, die aktuell in dieser
rikanischer Buchhandlungen firmieren unter den Form entworfen werden. Abschließend werde ich
Titeln self-improvement oder personal growth und eine Interpretation dieser Figur vor dem Hinter-
benennen damit präzise ihren Inhalt. grund aktueller Formen der Vergesellschaftung vor-
Die Spannweite der Ratgeber ist groß (Thomä schlagen (vgl. Duttweiler 2007a).
11. Figuren des Glücks in aktuellen Lebenshilferatgebern. Vom Glück durch sich selbst 309

Das Wissen vom Glück Dieser Fokus auf die Selbstbestimmung impliziert
auch die Grundannahme, die Welt sei offen für Ein-
Die Form der verschriftlichten Lebenshilfe schreibt wirkungen durch gezieltes Handeln. Damit ist auch
sich ein in eine spezifische Form der Kommunika- die Vorstellung eines Subjekts impliziert, das nicht
tion: die Beratung (lat. consilium). Als kommunikati- vollständig von seinen Umständen determiniert ist
ves Arrangement von Ratsuche und Ratgeben zielt und dessen Handlungen Wirkungen zeitigen. So
sie auf optimierende Umgestaltung und zeigt die werden die Ratsuchenden durch die Bedingungen
Veränderungsbereitschaft der Ratsuchenden. Von dieser kommunikativen Form als selbstbestimmte
vielen Autoren wird daher schon das Lesen eines und wirkmächtige Subjekte adressiert – mehr noch:
Ratgebers als Wendepunkt der Lebensführung mar- Sie werden auf die Position eines selbstbestimmten
kiert: Wer sich auf den Ratgeber einlässt, so der Te- Subjektes verpflichtet (vgl. Duttweiler 2007b).
nor vieler Bücher, hat den ersten Schritt zur Verbes- Aufgrund dieser Prämissen eröffnen Lebenshilfe-
serung seines Lebens bereits getan. Damit etablieren ratgeber Freiheits- und Entscheidungsräume, die
die Ratgeber zugleich eine weitreichende Unter- nicht zuletzt dadurch ausgebaut werden, dass ein ge-
scheidung: Sie markieren ein Davor und ein Danach gebener Rat nicht als verbindlich angesehen werden
der Beratung, die sie als Unterscheidung ›unglückli- muss – er kann auch verworfen werden. In aktuellen
che Vergangenheit – glückliche Zukunft‹ darstellen. Lebenshilferatgeber wird die Freiheit im Umgang
Dementsprechend gehen Glücksratgeber jeder mit dem Rat geradezu gefordert: »Probieren Sie aus,
Couleur davon aus, dass die (expertengeleitete) Ar- was Sie auf irgendeine Weise anspricht. Mit dem, was
beit am Glück auch tatsächlich zu einer positiven Sie mögen, spielen Sie, bis Sie es lieb gewinnen oder
Veränderung führt. Was Glück genau ist, wird dabei langweilig finden. Dann hat es seinen Dienst getan«
gerade nicht allgemeinverbindlich definiert, viel- (Seiwert 2002, 10). Hierin unterscheiden sich die
mehr der individuellen Deutung überlassen. Einig Ratgeber fundamental von den Büchern zu Beginn
sind sich jedoch alle Autoren in zwei Punkten: Zum des Jahrhunderts: Statt den Anspruch zu erheben,
einen wird Glück als körperlicher Zustand ausgewie- eine objektive Wahrheit zu besitzen, verweisen die
sen, der im Gefühl von Aktivität, Energie, Stärke oder Ratgeber nun auf die je subjektive Wahrheit der Le-
Lebendigkeit sowie Wohlbehagen, Entspannung und ser/innen. Das bietet zwar keine letzte Gewissheit
Genuss sinnlich erlebbar ist. Folglich kennt die Kon- über die richtige, d. h. Glück bringende Lebensfüh-
zeption des Glücks nur eine Stelle in der Zeit: »Glück rung, doch gibt es die Erlaubnis (und forciert damit
findet immer nur in der Gegenwart statt, es kann we- die Zumutung), eigene Maßstäbe zu etablieren – die
der auf die Zukunft verschoben noch aus der Ver- dann, so die Logik, zum Glück führen sollen.
gangenheit übernommen werden« (Schmiede/Mie- Auch wenn kaum ein aktueller Ratgeber behaup-
the 1999, 102). Zentraler Angriffspunkt der Verände- tet, es gebe einen einzigen Weg zum Glück, betonen
rungen ist daher für viele Autoren der ›gelebte doch alle: Zum Erreichen des Glücks bedarf es spezi-
Augenblick‹. Zum anderen scheint klar, dass Glück fischen, oft als Geheim- oder Expertenwissen ausge-
nicht in ›Äußerlichkeiten‹ zu finden ist. Das ›wahre wiesenen Wissens. Glück wird so als etwas figuriert,
Leben‹ wird gegenüber dem ›falschen Leben‹ abge- das aus dem Bereich des Nichtwissens und damit der
grenzt. Glück, so heißt es, entspringt einem ›inneren Kontingenz in den Bereich des systematisierbaren
Reichtum‹ und zeigt sich darin, ob das Leben als Wissens eingezogen ist: Man kann nun wissen, wie
sinnvoll erlebt wird und die eigenen Ziele erreicht Glück entsteht – auch wenn die Quellen dieses Wis-
werden. Sinn bezeichnet dabei das subjektiv Wesent- sens teilweise dunkel bleiben. Dies erklärt die offene
liche, das von den Einzelnen selbst bestimmt werden Grenze zwischen eher pragmatisch angelegten Le-
muss: »Den Sinn Ihres Lebens kann Ihnen niemand benshilfe-Büchern wie Eckhart von Hirschhausens
von außen geben, sondern er liegt in Ihnen« (Küs- Glück kommt selten allein … und auf Spiritualität set-
tenmacher 2001, 11). Das Leben gilt somit dann als zenden Traktaten wie die Bücher von Anselm Grün
ein ›wahres Leben‹, wenn es den eigenen Maßstäben oder dem Dalai Lama.
folgt (s. Kap. VI.9). So radikalisieren Glücksratgeber Das Wissen über das Glück ist gekennzeichnet
»die erstaunliche Zumutung von Originalität, Ein- durch die Hybridisierung verschiedener Wissensfor-
zigartigkeit, Echtheit der Selbstsinngebung, mit der men (Duttweiler 2007a): Erfahrungs-, Weisheits-
das moderne Individuum sich konfrontiert findet« und wissenschaftliches Wissen werden miteinander
(Luhmann 1998, 1019). zu einem je eigenen System der Glücksanweisung
310 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

des Autors verwoben. In den letzten Jahren wird da- oder sie sich zunutze macht. Mit anderen Worten:
bei vor allem auf naturwissenschaftliches Wissen, Ob man glücklich ist und Glück hat, wird als Frage
insbesondere das der Neurowissenschaften rekur- von Wahl und Entscheidung ausgewiesen. Glück
riert. Auch wenn sie im Hinblick auf Glückstechni- wird mithin so figuriert, als wären Glück und Un-
ken nichts Neues präsentieren können, so künden glück Alternativen, die »wie jede Unterscheidung,
die Ergebnisse der Hirnforschung doch von Plastizi- zwei Seiten vor[sehen], [sie] setzen aber voraus, dass
tät und Flexibilität sowie von Selbststimulation und beide Seiten der Unterscheidung erreichbar sind,
Selbstregeneration. »Wer also die schönen Momente also beide Seiten bezeichnet werden können« (Luh-
des Lebens so sehr auskostet wie irgend möglich, mann 2000, 133). Damit wird Glück als etwas ausge-
handelt vernünftig: Er prägt sein Gehirn wahr- wiesen, das zwar nicht selbstverständlich, aber für je-
scheinlich zum Guten« (Klein 2002, 87). Damit legi- den, zu jeder Zeit, an jedem Ort und in jeder Tätig-
timieren sie die Idee der Veränderbarkeit und Ver- keit möglich ist – unabhängig von der Existenz oder
besserungsfähigkeit des Menschen, die auch für die Nichtexistenz von Ressourcen, Privilegien oder Han-
aktuellen Figurationen des Glücks konstitutiv ist. dicaps der Einzelnen.
Denn Glück, so die zentrale Aussage des aktuellen Die Figur des Glücks lebt mithin von der Vorstel-
Diskurses, ist machbar – wenn auch nicht unbedingt lung einer Potentialität, die – trifft man die richtigen
auf direktem Wege und nicht auf Dauer. Entscheidungen für das Glück – jederzeit in Aktuali-
Konturen gewinnen die Figuren des Glücks zu- tät umschlagen kann. Dennoch beinhaltet die Figur
nächst durch ihre Abgrenzung gegenüber dem Un- des Glücks ebenso das Gegenteil: Glück gilt auch als
glück: Gesellschaftliche Bedingungen, Stress oder Überraschung, als Beigabe. Am deutlichsten wird
Selbstblockaden wie beispielsweise negative Einstel- das im Konzept des flows (Csikszentmihalyi 1992).
lungen, passive Haltungen (insbesondere beim Fern- Doch auch hier ist nicht der Inhalt der Tätigkeiten,
sehen) oder die Jagd nach dem falschen Glück wer- sondern das Einnehmen einer bestimmten Haltung
den als Bedrohungen des Glücks vorgestellt. »Das entscheidend: Das Selbst gerät außer sich mittels ei-
einzige«, bringt Prather die diversen Selbstblocka- ner Tätigkeit, der es sich gewachsen fühlt und emp-
den auf den Punkt, »was oftmals zwischen einem findet gerade diese Erfahrung als ein ›ganz bei sich
selbst und dem eigenen Glück steht, ist man selbst« sein‹ – Anstrengung, Selbstvergessenheit und Identi-
(Prather 2001, Klappentext). Unzureichendes Glück tätserfahrung fallen im ›gelebten Augenblick‹ zu-
gilt als ebenso normal wie moderates Unglück. Doch sammen. Die Selbstvergessenheit darf allerdings ge-
›Glücksverhinderer‹ zu identifizieren, so die Argu- wisse Grenzen nicht überschreiten: Rausch, Ekstase
mentation der Ratgeber, ermöglicht erst die Arbeit oder blinde Leidenschaft sind ausgeschlossen. So
am eigenen Glück. kann die Arbeit am Glück eine Lust nicht verschaffen
– die Freiheit von sich selbst.
Techniken des Glücks Je nach Ratgeber wird eher eine Figur der Selbst-
verfügung oder eine der (notwendigen) Flüchtigkeit
Um Glück zu erleben, werden in den Ratgebern ne- des Glücks gezeichnet, einig sind sich jedoch alle
ben dem Wissen über das Glück auch unzählige Ratgeber darin, dass das Glück beeinflussbar ist –
Glückstechniken vorgestellt, die es erlauben, am ei- und sei es über Kontextsteuerung. Entsprechend die-
genen Glück systematisch zu arbeiten. Sie zielen auf ser Konstellation des Glücks wird alles zum mögli-
Selbsterkenntnis, steigern die (Möglichkeiten zur) chen Ansatzpunkt der Veränderung erklärt. Jede
Selbstgestaltung und geben nicht zuletzt Anleitun- kleine Veränderung, so die Logik dieses ganzheitli-
gen, sich selbst – auch unabhängig von anderen – zu chen Modells, adressiert zugleich die komplette Le-
beglücken. Am Glück zu arbeiten heißt also unwei- bensführung. Ob es darum geht mehr Farben ins Le-
gerlich, an sich selbst zu arbeiten. Als wichtiges Mit- ben zu bringen, sich mehr zu bewegen (»Bewegung
tel zum Erreichen des Glücks wird stets der richtige und Sex sind nachweislich die sichersten Mittel, die
Umgang mit dem Gegebenen genannt. Welche Ge- Stimmung zu heben«, Klein 2002, 282) oder Selbst-
danken man denkt, wie man auf einen Schicksals- blockaden aufzulösen, entscheidend ist vor allem die
schlag reagiert, welche Ziele man sich steckt, wie die bewusste Unterscheidung zwischen glücksfördern-
Beziehung zu sich, anderen Menschen oder Gott ge- den und glücksverhindernden Haltungen und Hand-
staltet sind – entscheidend ist, wie man auf die äuße- lungen. So sind auch Nahrungsmittel, Gewürze und
ren Umstände reagiert, wie man sie abwehren kann Getränke nach Maßgabe ihrer glücksfördernden
11. Figuren des Glücks in aktuellen Lebenshilferatgebern. Vom Glück durch sich selbst 311

Wirkung auszuwählen. »Seien Sie wählerisch mit spricht ein erfülltes Leben – auch jenseits der Markt-
dem, was Sie in Ihren Körper hineinlassen« (Küsten- logik: Die Vorstellung eines jederzeit und für alle er-
macher 2001, 196). Das sinnlich erlebte Glück fun- reichbaren Glücks und die weitreichenden Möglich-
giert dabei als Orientierungshilfe und Maßstab der keiten, auf sich und die Welt einzuwirken, zeigen,
geglückten Lebensführung – als erfüllt gilt das Leben dass Glück keiner spezifischen Ressourcen oder
erst dann, wenn es mit dem Gefühl der Freude ein- Qualifikationen bedarf, keine Zugangsbeschränkun-
hergeht und energiegeladen und lebendig ist. Glücks- gen und Exklusionsmechanismen kennt und auf-
gefühle erweisen sich so als zuverlässige Indikatoren grund seiner individuellen Bestimmung keine di-
für die Selektion von Handlungen einer glückenden rekte Konkurrenz hervorruft. Mit dieser Bestim-
Lebensführung. mung verspricht die Figur des Glücks eine gerechte
Welt, in der jeder dieselben Voraussetzungen mit-
Das Subjekt des Glücks und seine Utopie bringt. Darüber hinaus setzt die Orientierung am
Glück antimaterielle Akzente und stiftet Sinn, der
Diese Figuration des Glücks entwirft also ein Sub- sich unter Umständen einer ökonomischen Verein-
jekt, das sich selbst vollständig gegeben ist. Nichts nahmung widersetzt. Die Kopplung von Sinnorien-
steht außerhalb seiner Einsichts- und Einwirkungs- tierung und Selbstbestimmung präsentieren darüber
möglichkeiten. Es ergibt sich eine theoretische und hinaus die Arbeit am Glück als Arbeit an der Ent-
praktische Umstrukturierung des Subjekts, die ei- wicklung eines authentischen Selbst und an der
nem kybernetischen Modell der Rückkopplung und Emanzipation von äußeren Umständen.
Steuerung folgt. Das zeigt sich nicht zuletzt am Ver- Mit anderen Worten: Diese Figuration des Glücks
hältnis zwischen Innen- und Außenwelt, das nicht errichtet als Ausdruck von Gerechtigkeit, Sinn, Au-
als eine undurchlässige Gegenüberstellung, sondern thentizität und Emanzipation eine ›Bastion‹ gegen
als konstitutives Wechselwirkungsverhältnis konzi- die Abhängigkeit von einer hochdynamischen Wirt-
piert ist. Strukturiert wird es durch die ›Problemati- schaft, die Arbeit und Leben entgrenzt, auf die Sub-
sierungsformel‹ Glück: Das Individuum wählt dieje- jektivität der Einzelnen zugreift und grundlegende
nigen Einflüsse der Außenwelt aus, die es benötigt, Existenzsicherheiten in Zweifel zieht. Die ›Proble-
um sich positiv zu stimulieren, sich mit Energie auf- matisierungsformel‹ Glück sowie die Glückstechni-
zuladen oder sich zu motivieren, und es wehrt in sich ken ermöglichen es, sich von diesen Anforderungen
und in der Umwelt jene Einflüsse ab, die der Förde- bei Bedarf flexibel zu distanzieren. Doch arbeiten
rung des Glücks und seiner Selbstbestimmung ent- sie genau diesen Anforderungen zugleich auch zu:
gegenstehen. Darüber hinaus wird dem Individuum Zum einen auf sehr direkte Weise, indem die Tech-
zugeschrieben, die Außenwelt nach Maßgabe der ei- niken der Selbstoptimierung wesentlich dazu beitra-
genen Glücksvorstellungen beeinflussen zu können. gen, produktiver zu werden (s. Kap. VIII.8). Opti-
Am deutlichsten kommt dies in den Büchern des Po- mismus, Aktivität, Energie, Lebendigkeit, Verände-
sitiven Denkens zum Ausdruck: »Die Wirklichkeit rungsbereitschaft und Sinnorientierung sind ja auch
ist so, wie ich sie sehe, ihr Zustand ist von meinem Ressourcen zur Erhaltung der Gesundheit, des Um-
Zustand abhängig« (Kruppa 1999, 34). Diese Sub- gangs mit Stress oder der Verbesserung der Bezie-
jektkonstitution etabliert eine spezifische Vorstel- hungsfähigkeit – und mithin der Optimierung der
lung individueller Autonomie, die die Freiheit und Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Zum anderen ar-
Möglichkeit eröffnet, sich selbst zu erfinden, ohne beitet die ›Problematisierungsformel‹ Glück den ak-
auf interne oder externe Bedingungsfaktoren Rück- tuellen Anforderungen von Wirtschaft und Gesell-
sicht zu nehmen. »Autonomie ist heute nicht mehr schaft auch eher indirekt zu, indem sie auf vielerlei
›in sich reflektiertes Gesetztsein‹ (Hegel), sondern Weise die Einzelnen auf Selbstbestimmung, Selbst-
Selbstprogrammierung« (Bolz 1998, 215). verantwortung und Selbstverwirklichung verpflich-
Wenn jegliche innere und äußere Determination tet und dabei Techniken an die Hand gibt, sie auch
abgestritten wird, geht mit der Arbeit am eigenen zu verwirklichen. Denn das Diktum, eigeninitiativ
Glück die Möglichkeit einher, den eigenen Anspruch für sich selbst zu sorgen, Verantwortung zu tragen
auf Glück auch gegen äußere Anforderungen zu re- und in eigener Sache das Beste aus sich zu machen,
klamieren und ihn zu verwirklichen. Hierin liegt an- ist ein entscheidendes Moment der aktuellen Regie-
scheinend ein wesentliches Moment des aktuellen rungsweise, in der soziale Sicherheiten und Bindun-
Glücksbooms. Diese Konzeption des Glücks ver- gen abgebaut, gesellschaftliche und ökonomische
312 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Risiken der Selbstverantwortung der Einzelnen Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frank-
übergeben und Initiative, Aktivität und Eigenverant- furt a. M. 2006.
wortung zu gesellschaftlichen Inklusionskriterien Klein, Stefan: Die Glücksformel. Oder: Wie die guten
werden (Rose 1992; Bröckling 2007). Diese Ord- Gefühle entstehen. Hamburg 2002.
nung erscheint dem Individuum nicht zuletzt des- Knigge, Adolph Franz Friedrich Freiherr von: Über den
halb plausibel, weil es sich in ihr auf das eigene Umgang mit Menschen. Hannover 1788.
Glück meint ausrichten zu können. Weniger durch Kruppa, Hans: Wegweiser zum Glück. Freiburg 1999.
die unmittelbare Affirmation dieses Diskurses als Küstenmacher, Werner: Simplify your life. Einfacher
und glücklicher leben. Frankfurt a. M. 2001.
vielmehr durch konkrete, erfahrungsbildende Tech-
Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft.
niken und Verfahren, die selbstverantwortliche und
Frankfurt a. M. 1998.
selbstbestimmte, flexible und sich selbst befriedi-
–: Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesba-
gende Subjekte produzieren. Anders ausgedrückt: den 2000.
Die Diskurse, Verfahren und Praktiken zur Herstel- Müller, Andreas: Die Suche nach Glückseligkeit. Ratge-
lung des Glücks konstruieren Bedingungen, die die ber-Literatur in der Geschichte des Christentums. In:
›neoliberale‹ Transformation des Sozialen nicht nur Praktische Theologie 45/1 (2010), 31–38.
diskursiv plausibilisieren, sondern sie auch konkret Prather, Hugh: Loslassen und glücklich sein. Der Weg
mitproduzieren. zum entspannten Leben. München 2001.
Rose, Nikolas S.: Governing the Enterprising Self. In:
Literatur Paul Heelas/Paul Morris (Hg.): The Values of the
Enterprise Culture. The Moral Debate. London/New
Bail, Johann Samuel: Über Zufriedenheit und Lebens-
York 1992, 141–164.
glück. Berlin 1820.
Schmiede, Sylvia zur/ Miethe, Manfred: Wer glücklich
Bolz, Norbert: Selbsterlösung. In: Ders./Willem van Rei-
ist, kann glücklich machen. Von der Freude, die in
jen (Hg.): Heilsversprechen. München 1998, 209–
unseren Herzen singt. Freiburg 1999.
220.
Seiwert, Lothar: Das Bumerang-Prinzip: Mehr Zeit fürs
Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Sozio-
Glück. München 2002.
logie einer Subjektivierungsform. Frankfurt 2007.
Smiles, Samuel: Self help. London 1859 (Selbst ist der
Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. Das Geheimnis des
Mann. Charakterskizzen und Lebensbilder. Kolberg
Glücks. Stuttgart 1992.
1859; Selbsthilfe. Halle a.d. Saale 1890).
Dalai Lama: Der Weg zum Glück. Sinn im Leben finden.
Tepperwein, Kurt: Glücks-Gesetze: Die Botschaften des
Freiburg 2007.
Lebens verstehen. München 2008.
Duttweiler, Stefanie: Sein Glück machen. Arbeit am
Thomä, Dieter: Die lange Nacht des Glücks. Mit neuen
Glück als neoliberale Regierungstechnologie. Kons-
Ratgebern unterwegs zu Wonne und Happiness. In:
tanz 2007a.
Literaturen 12 (2003), 30–35.
–: Beratung als Ort neoliberaler Subjektivierung. In:
Wolf, Bernhard: Sehnsucht, die ins Unendliche reicht.
Roland Anhorn/Frank Bettinger/Johannes Stehr
Zur Spiritualität von Glücks-Ratgebern. In: Prakti-
(Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit.
sche Theologie 45/1 (2010), 17–23.
Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme.
Zimmermann, Christian von: Biographische Anthropo-
Wiesbaden 2007b, 261–276.
logie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Dar-
Florinus, Franz Philipp: Oeconomus prudens et legalis.
stellung (1830–1940). Berlin 2006.
Oder Allgemeiner Klug- und Rechtsverständiger
Stefanie Duttweiler
Hausvater. Nürnberg/Frankfurt/Leipzig 1702.
Fuchs, Peter/Mahler, Enrico: Form und Funktion von
Beratung. In: Soziale Systeme 6 (2000), 349–368.
Grün, Anselm: Quellen innerer Kraft. Freiburg 2007.
Hanh, Thich Nhat: Alles, was du tun kannst für dein
Glück. Übungen für Körper, Seele und Geist. Freiburg
2010.
Hirschhausen, Eckart von: Glück kommt selten allein … .
Reinbek 2009.
Hufeland, Christoph Wilhelm: Makrobiotik, oder die
Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Jena
1796.
313

12. Figuren des Glücks lange die Kameras der Coen-Brüder dabei sind, nicht
die Rede ist. Aber der Song wird im Film oft genug so
in der frühen Popmusik. weit gespielt, dass wir es erfahren: »Don’t you want
Acht Meilen über somebody to love, don’t you need somebody to love,
wouldn’t you love somebody to love – you better find
der Schule schweben somebody to love.«
Dass es sich um somebody handeln muss, also ei-
nerseits einen unspezifischen, andererseits aber kör-
Somebody To Love perlich konkreten Menschen, ist ein in der kulturre-
volutionären Phase der Popmusik oft vertretenes
Der Schädel des alten Rabbi scheint zu knirschen, Wissen. Gerade das war ja der Unterschied zu der
der ganze Körper des alten Mannes steht unter Liebe, die auch frühere populäre Musik immer schon
Hochspannung. Den Gläubigen steht er schon seit versprochen hat. Wenn man massenkulturell kom-
Jahren aus Altersgründen für seelsorgerische Ge- muniziert, ist man auf ›Shifter‹ angewiesen, auf deik-
spräche nicht mehr zur Verfügung. Mehr schlecht als tische Zeichen: an jedem Ort muss einer das ›Du‹
recht nehmen die mit seinen beiden Nachfolgern finden können, von dem der Sänger singt. Doch die-
vorlieb: einem viel zu jungen Mann, der die spirituell ses Du des Schlagers tendiert zur Entmaterialisie-
Bedürftigen damit nervt, Gottes Präsenz in nahelie- rung. Es bleibt auf innere Dialoge beschränkt. Some-
genden alltäglichen Dingen zu beschwören (»Der body funktioniert in der appellativen Rede des Songs
Parkplatz! Der Parkplatz!«) und einem schlaumeie- sozusagen wie ein konkreter Shifter, es meint eine
rischen Anekdoten-Rabbi, dessen bizarre Geschich- körperlich anwesende Person, nicht nur einen wo-
ten (»Die Zähne des Goi«) nirgendwohin führen. möglich nur grammatisch existierenden Gesprächs-
Der alte Rabbiner beschränkt sich darauf, die Jungs partner. Später radikalisierte und vereindeutigte eine
nach der Bar Mitzvah zu sich zu bitten. In dieser andere, musikalisch leider weniger zupackende ›Hip-
Situation erleben wir ihn in A Serious Man, einem in pie-Hymne‹ diese Idee: »Love The One You’re With!«
den 1960er Jahren in der US-Provinz spielenden (1970) von Stephen Stills. Genau diese Person aber –
Film von Joel und Ethan Coen, wie er die Namen der the one you’re with – war mit somebody gemeint. Da-
Mitglieder von Jefferson Airplane aufsagt, sein ju- mit war nicht in erster Linie ein körperlich erweiter-
gendlicher Schützling hilft ihm, wenn diese zu kom- tes Gebot der Nächstenliebe gemeint, sondern die
pliziert werden: Jorma Kaukonen. Verschränkung von Sex und kairós, das moment-
Der Kern dieser Situation: Der Rabbi, maximal hafte, aufbrechende Glück kurzer, intensiver Begeg-
weise Person und der unverständige Jugendliche, im- nungen, aus denen schon die individuellen Utopien
pliziter Erzähler (und vermutlich auch empirische der Beatnik-Literatur bestanden (und auch einige
Quelle) der Filmhandlung, beugen sich konzentriert ihrer Dystopien), die in der Popmusik aber zu einem
über das Wissen, dass nämlich in einem Song von (politischen) Programm des Glücks erweitert wur-
Jefferson Airplane das ganze, sehr ernste und hoch- den.
wichtige Geheimnis der biblisch vertrackten Lage In den 1960er Jahren lernte eine Generation von
stecke, an der wir Zuschauer dieses Spielfilms teil- Kindern und Jugendlichen einen anderen Begriff
nehmen. »When the truth is found to be lies«, lautet von Glück – und zwar im Wesentlichen von der Pop-
der erste Satz des hymnischen Songs. Dies ist der Fall musik. Popmusik nicht verstanden als populäre Mu-
für den Vater des Jugendlichen, der vergeblich ver- sik an sich, sondern eine sehr spezielle Form davon,
sucht, beim Rabbi einen Termin zu bekommen. Seine die seit den mittleren 50er Jahren kursiert, mit einer
ganze Welt bricht unter Hiobsbotschaften zusam- anderen Form von Rezeption und Publikumsbeteili-
men, was sein Sohn kiffend von außen beobachtet. gung operiert und bei der vor allem die hochauflö-
»And all the joy within you dies […]«. Der Rabbiner sende, indexikale Übertragung von Sound immer
zitiert falsch: »And all the hope within you dies« – verbunden ist mit und verweist auf: Bilder – Bilder,
aber der Unterschied ist nicht entscheidend. Die ab- die von den Jugendlichen entweder eingesetzt wer-
solute Glücklosigkeit eines Lebens ohne Wahrheit den, um zu sagen: So will ich sein. Oder um zu
und ohne joy ist auch ein Leben ohne hope und dope. träumen: Den/die will ich haben. Mit LSD, Exotika
Dagegen gibt es nur ein Gegenmittel, von dem zwi- und Space-Religionen kamen später noch die Bilder
schen dem Rabbi und seinem Zögling, jedenfalls so- von Phantasielandschaften und Immersionsstrudeln
314 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

hinzu, die bedeuten sollten: Da will ich hin. Popmu- nomische Sicherheit. Im englischsprachigen Raum
sik also als Medienverbund und Kooperation ver- ist fortune ja auch ein Vermögen.
schiedener Formate hat zur globalen Verbreitung 3. Körperlich empfundenes Glück als Konkretisie-
zweier Versprechen als Glücksversprechen beigetra- rung und Realisierung genau des Anteils an Glück,
gen: Körperliche Liebe und Arbeitsverweigerung, dessen Schmied der Bürger nicht sein kann/konnte:
Schwänzen, Blau machen. Beide Versprechen gibt es Lernen von Katzen und Pop-Songs. Das war die Ent-
noch heute, noch heute sind sie mit Glück verbun- wicklung der 1960er und 70er Jahre, die sich an Pop-
den. Doch nur für kurze Zeit sind sie zuweilen wie- Songs zeigen lässt: gladness, felicity, happiness. An ih-
der der Verwirklichung so nahe wie zwischen 1964 rem Ende steht freilich – nicht erst in der Gegenwart,
und 1974. Und darum haben so viele, die damals aber da natürlich besonders deutlich – die Instru-
lernten, diese Vorstellung von Glück gelernt. mentalisierung und Beherrschung nun auch dieses
Dass Glück erlernt werden will, muss man in kon- Glücks, nicht durch lernende Kinder, sondern durch
struktivistischen Zeiten wohl niemanden mehr er- professionelle Glückstechniken und -imperative.
klären. Glücklich zu sein, ebenso wie zu verstehen, Hier stellt sich dann auch die Nähe zu Machtaus-
was das Wort bedeutet, heißt jeweils, etwas zu üben übung, Verfügung über sich und andere nicht mehr
und irgendwann auswendig zu können – so wie Ler- nur aus Versehen ein, verspielt oder verführt, son-
nen eben geht. Hier soll es natürlich nicht darum ge- dern wird zum Bestandteil dieser Techniken – zu-
hen, Methoden zu beschreiben, wie man glücklich gleich verfügen heutige Kinder über ein viel feiner
werden kann. Dafür wird das Gegenteil gestreift: Je abgestuftes Sensorium, eine viel größere Bandbreite
näher man den historischen Methoden kommt, an möglichen Körper-Glückstechniken.
Glück als körperliches Genießen, als Genuss an Sex Pop-Songs und die englischen Wörter, die darin
und Faulheit zu erlernen, wird man sehen, dass die- vorkommen, waren für mich – als Kind/Jugendli-
ses Glück keine Sache ist, die sich sauber von ande- cher der 60er und 70er Jahre – das, was für andere
ren unterscheiden lässt. Es sind viele verwandte La- Kinder etwa Haustiere oder Teletubbys sind oder
gen, die aber immer auch, oft aufs Komischste, mit waren. Kleine Versuchsballons des libidinösen La-
anderen Zuständen verbunden sind, die man eher boratoriums. Alles, was man im jungen Leben an
dem Gegenteil des Glücks zurechnen würde: Lange- Möglichkeiten erlernt, um sich Glücksgefühle zu
weile, Elend, Bosheit, Triumphe über andere. verschaffen – das ist ein entscheidender Vorteil
Das lernt man aber erst später. Bevor Glück sich fremdsprachiger Pop-Songs –, bekommt in englisch-
sozialisiert, wächst es an Beobachtung und Nachah- sprachigen Songs nicht nur die motorische Mobili-
mung. Kleine Kinder, die mit Katzen aufwachsen, sierungsenergie und die emotionale Speichersoft-
probieren das Glück aus, das die Katzen offensicht- ware der elektrisch verstärkten Musik geliefert, son-
lich empfinden, wenn sie tun, was Katzen so tun; an- dern darüber hinaus neue Wörter für diese Zustände,
dere Kinder lernen das nie, weil sie mit Hunden auf- die nicht schon andere Bedeutungen in der Alltags-
wachsen. Wieder andere probieren es aus, aber es be- sprache haben. Zweifelsohne funktioniert es auch
deutet ihnen nichts. Dieses Glück ist sozusagen der dann, wenn diese Wörter eine Bedeutung in der All-
Urfall von Konstruktivismus, von Anti-Substanzia- tagssprache haben. Denn auch die haben sie ja für
lismus und Anti-Essenzialismus, von Geschmack, die jungen SprecherInnen erst kurze Zeit. Der Rabbi,
von Individualität – deswegen so leicht zu missbrau- der mit dem Jungen die Namen der Bandmitglieder
chen (hier kann man den Einzelnen bei seiner selbst von Jefferson Airplane durchbuchstabiert, ist von
erworbenen Einzelheit zu packen kriegen). Die Ge- diesen Wörtern genauso weit weg, weil schon so alt,
schichte des Glücks vor dem Begriff, um den es hier wie der Junge, der erst so kurze Zeit überhaupt
geht und den ich hier in sein nur englisch formulier- spricht und noch nicht so viele Namen kennt.
bares Bedeutungspanorama auffächern möchte, lässt Aber schon habe ich sehr unterschiedliche Bedeu-
sich vielleicht so skizzieren (s. Kap. I.4): tungen des Wortes ›Glück‹ verwendet: die sexuelle
1. Schicksal/Los: Das dem Einzelnen Zugeteilte ist Libido, die ungehetzte Faulheit der Katze, die poly-
in dem Maße, in dem es nur dem Einzelnen gilt, kon- morph-perverse Regression des Teletubby, die kon-
tingent. Sein Glück ist sein luck. tingente Konstellation als Kippfigur, das Glück des
2. Das Glück, das man macht, dessen Schmied Begriffs oder des Namens: über ein Konzept oder
man ist, das bürgerliche Glück als erste Stufe der wenigstens ein Zeichen zu verfügen, das Zustände
Emanzipation vom Los – am Ende meist eine öko- benennen, abrufen oder gar magisch aktivieren
12. Figuren des Glücks in der frühen Popmusik. Acht Meilen über der Schule schweben 315

kann. Das deutsche Wort ›Glück‹ hat aber auch in überwältigendes Glück wäre für mich damals wohl
Erwachsenen-Sprache und Philosophen-Argot we- noch zuviel gewesen.
der die Trennschärfe noch das Denotationspano- Dennoch bereitet das Herauszögern und die Wie-
rama zu bieten, das die verschiedenen englischspra- derholbarkeit des Versprechens dieses Songs rund
chigen Terme evozieren können: happiness, felicity, um das happy auf ein anderes – körperliches – Glück
gladness, luck, zuweilen auch fate (s. Kap. I.4). Es ist vor, das sich nicht hinter dem »Nur« des Tanzens zu
also nicht nur meine persönliche Erfahrung mit die- verstecken braucht. Schon wenn man nur tanzt, kann
sen durch keine Alltagsverwendung verschmutzten man das spüren: Da gibt es etwas, das auch immer
Zeichen, mit diesen englischen Wörtern für nicht wiederholt werden will und zwar gerade, weil es kein
englischsprachig aufwachsende Kinder, die für die ›nur‹ ist. Ein gutes Jahr später wird es schon prakti-
Vorteile des Glück-Lernens auf Englisch sprechen. scher.
Es sind auch in der korrekt beherrschten englischen
Sprache Feinheiten der Glücksunterscheidungen zu Too Beautiful: Schule schwänzen
finden, die für dessen Systematisierung von Vorteil
sind. Eine Seufzerbrücke – a bridge of sighs – überqueren
hier der Ich-Erzähler und sein Gesprächspartner.
Happy Dann werden sie high. Das führt zu einer Überwälti-
gungserfahrung, einer der berühmtesten: »It’s all too
Zurück in meine Kindheit. Ich beginne am Beginn. beautiful!« Die Rede ist von »Itchycoo Park« von den
Ich bin sechs, sieben Jahre alt. Die Beatles singen und Small Faces, am besten zu betrachten als Perfor-
spielen, wie man damals im Radio sagte: »I Am mance, etwa im deutschen Beat Club, verfügbar über
Happy Just to Dance with You«. YouTube. Die Überwältigungserfahrung wird aller-
Dieser Song ist eine Anmache. Er will ja nur mit dings von Anfang im Gespräch aufbereitet, das Steve
ihr tanzen. Das »nur« bezieht sich auf eine strikt nor- Marriott und Ronnie Lane hier führen. Sie reizen
mierte machistische Eroberungslogik. Der Mann sich gegenseitig mit wunderbaren Aussichten, wie
greift an, die Frau verteidigt sich und gibt unter be- man sich den Tag einrichten könnte. Schließlich
stimmten Bedingungen und nach genau fest geleg- macht es klick, als Steve mit verschlagenen Gesichts-
ten Regeln ihr Territorium Schritt für Schritt auf. ausdruck vorschlägt: »Du könntest die Schule
Solche ›Dating-Logiken‹, wie sie z. B. in den USA schwänzen!«, »Wäre das nicht cool!« antwortet Ron-
heute wieder verbreitet sind und sich in Europa nicht nie.
zuletzt durch eine immer stärker mit Anpassungs- Es ist wie bei der klassischen Erhabenheit: Man
und Unterwerfungsidealen operierende Früh-Teen- muss darüber reden, man erfährt nicht einfach nur.
ager-Kultur langsam restaurieren, waren 1964 die Aber man kann auch nichts anderes sagen als: wie
absolute, gnadenlose Regel. John Lennon schlüpft geil das denn nun ist. Das Weitere übernimmt auch
hier in die Rolle eines Boys, der davon säuselt, nur hier die Musik. Der Dialog steht für die sich gegen-
Tanzen zu wollen. Er übergibt diese Rolle für den seitig aufschaukelnde Euphorie eines gemeinsam er-
Film A Hard Day’s Night lieber an George Harrison. lebten Abenteuers, hier das sich ineinander Verlie-
Aber wie so oft bei den frühen Beatles: Eine ganz be- ben auf Trip; die langsame Phase für das Abschlaffen
sonders fiese Situation wird durch die Musik in ihr der Euphorie in die Entspannung hinein und die
Gegenteil gekippt. Sie setzt ganz auf das Vor und Zu- Vorbereitung auf einen neuen rush, die vom Text mit
rück, die Betonung des Binären des Tanzens, aber den reizenden Worten untermalt wird: »Ich würde
eben nicht durch einen Tanzbeat, sondern durch ein mich unter Umständen geneigt sehen, mir das Ge-
merkwürdig-meditatives und nicht songhaft zielfüh- hirn wegblasen zu lassen« – »I feel inclined to blow
rendes Schwanken zwischen Dur- und Moll-Stro- my mind«. Das berühmte durch den Leslie gejagte
phen. Es könnte dann irgendwann endlos so weiter- Drum-Break wirkt wie ein Neustart eines Jahrmarkt-
gehen und genau dieses ›könnte‹, das dieses Verwei- karussells, nach dem man sich vorher mit dem Ab-
gern oder besser: Hinauszögern des Endes unter schlaffen für einen Pop-Song der 60er Jahre ausge-
Umgehung des normalerweise geradlinig auf ein Fi- sprochen lange Zeit gelassen hat. Das ist das Großar-
nale zumarschierenden AABA-Lied-Schemas, er- tige: Überwältigung in völlig freier Entscheidung des
möglicht, ist das »happy«, das bei mir damals ange- zu Überwältigenden. Sozialisierung der zutiefst indi-
kommen ist. Ein richtig aufbrechendes, radikales, viduellen – »my mind« – asozialen Trip-Erfahrung
316 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

im abgleichenden Dialog. »What do we do there? We Schlaffheit in Ray Davies’ säuselnden Singsang über-
do get high!« An den Fernsehbildern des Beat Club windet diese Deckerzählung: der Luxus, die Segel-
kann man sehen, dass auch diese Glücksidee noch yacht, das Eheleben sind gar nicht erst erstrebens-
aus einer ganz konventionellen Musikdarbietungs- wert, wenn man die Sonne genießt (s. Kap. II.2).
welt aufsteigt. Besonders schön ist hier, wie der Dia- Im »Waterloo Sunset« wird aber der Zustand der
log, den Steve Marriott und Ronnie Lane singen, Nichtbeteiligung auf Dauer gestellt. Nur die nicht
durch Gegenschüsse der Beat-Club-Regie aufgefan- teilnehmende Beobachtung des Sonnenuntergangs
gen wird. Noch setzt Regisseur Mike Leckebusch über der Themse und der kleinen Liebesaffären, die
nicht seine legendären psychedelischen Kamera-Ef- sich dort unten abspielen, bereiten dem Ich das Ge-
fekte ein, wenn es darum geht, eine LSD-induzierte, fühl, im Paradies zu sein. Beteiligung, körperliche
selbst gebaute Überwältigungserfahrung vorzufüh- Präsenz macht ihm Angst, kühle Winde drohen.
ren. Diese Perspektive ist natürlich wie die Parkbenut-
Hier geht es nicht darum, dem Zuschauer ein Ab- zung im vorletzten Beispiel ein Element der Erobe-
bild der Rauscherfahrung durch bald sehr klischee- rung der Stadt durch neue jugendliche Subjektivitä-
haft fixierte Bilder zu liefern, sondern, viel wesentli- ten, wie sie in den 1960er Jahren imaginär und real
cher, zu zeigen, wie der Trip aus der Verabredung stattfand. Die Stadt als unendlicher Möglichkeits-
hervorgeht, wie das high-Sein sich gemeinsamem raum bleibt nur als Potenzial unendlich groß, die mit
Glück-Machen verdankt. Der einsame rush ist übri- ihm verbundene Angst ist nicht nur die vor der
gens kein Glück, sondern heroisch, selbstzerstöre- Überwältigung, die man überwinden kann, indem
risch, natürlich auch völlig großartig, aber schon man in eigener Regie high wird, sich seine Überwäl-
während man ihn genießt, tödlich. Man fühlt sich, tigung selbst organisiert und seinen Itchycoo Park
Lou Reed und Velvet Underground informieren dar- findet, sondern auch die Angst, dieser sich öffnende
über, wie Jesus’ Sohn – also wie eine Steigerung von Stadtraum könne sich verengen, wenn man mit ihm
Golgatha. Der Schriftsteller Dennis Johnston hat die- anders als durch Überblicke Kontakt aufnimmt. Das
sen Gedanken in seinem Roman Jesus’ Son aufgegrif- Bekenntnis, keine Freunde zu brauchen, ist also hier
fen. sowohl das trotzige Bekenntnis des Einsamen, der in
Wirklichkeit gerade mit diesem Satz um Freunde
Lazy: faul, schüchtern und überlegen wirbt, wie es »I am a Rock« von Simon & Garfunkel
zur selben Zeit auf die Spitze trieb, aber auch das
mit den Kinks
Wissen des Dandys, dass mit anwesenden Freunden
Die Small Faces hatten auch eine Ode an die Faulheit nichts schöner wird, das schon durch die Beobach-
im Programm, »Lazy Sunday Afternoon«, aber die tung von Menschen schön ist.
Kinks loteten deren Dimensionen umfassender in
zwei Songs aus, in denen sie sich eben auch nicht High. 16 Meilen
mehr vom fordistischen Regime auf den dafür zu-
ständigen Tag beschränken ließen. In »Sunny After- Das high-Sein haben wir schon kennen gelernt: Es ist
noon« imaginiert sich der Ich-Erzähler in eine luxu- ein Gefühl der glücklichen Überwältigung, die nicht
riöse Einsamkeit: Die Steuer hat ihm seinen Reich- passivierend und niederschmetternd wirkt, weil man
tum genommen, seine Frau, die ihm Suff und es gemeinsam inszeniert, abgleicht, kommuniziert.
Misshandlung vorwirft, hat ihm sein Auto genom- Doch kann man nicht immer wieder von dem Sel-
men und er genießt faul die Abwesenheit des Luxus ben überwältigt werden, das funktioniert vor allem
und der Bindung als Luxus. Das ist ziemlich kom- dann nicht, wenn man die selbst herbeigeführten
plex, weil beide Szenarios sowohl als ironische oder Anteile wieder erkennt, wenn man sich selbst er-
illusionäre mind games des lyrischen Ichs verstanden kennt. Das gilt vor allem dann, wenn man alleine
werden können, wie zugleich auch als authentische high zu werden versucht. So wie die Faulheit und ihre
Bekenntnisse. Nur der Faulheitsgenuss in der Sonne Freuden ohne das gemeinsame high-Sein in eine sich
löst diese Ambiguitäten in etwas auf, was das lyrische selbst unklare Verklärung der Einsamkeit führen –
Ich mit den Rezipienten teilt. Der Faulheitsgenuss wie bei »Waterloo Sunset« –, so hat auch das abge-
braucht noch die Krücke, dass man alles, was der koppelte high-Sein ein Problem. Es gelingt nur, wenn
Fleiß verspricht, Luxus und legitime Ehefrau, schon es sich steigern lässt (s. Kap. VIII.9). Wenn nicht,
hinter sich hat. Das sonnige Wetter, die Feier der sucht man schlechten Ersatz.
12. Figuren des Glücks in der frühen Popmusik. Acht Meilen über der Schule schweben 317

Ich will hier aber das gelungene high-Sein vorfüh- vor dem Tempo ab, das zu körperlosem ›Speedfres-
ren, indem ich eine gelungene Steigerung vorführe. sergehampel‹ gehört – und das man bei bestimmten
Die erste Hymne ans high schreiben die Byrds, denn Spielarten von Death Metal und Techno später an-
die können bekanntlich fliegen. Immer wieder hat treffen konnte –, und bestehen auf Harmonie. Die
Roger McGuinn ganz buchstäblich das Fliegen und schweren Körper von Bob Mould und Grant Hart,
die Geräusche der Düsenflugzeuge als Inspirationen die im Gesang harmonieren, deren Blicke sich im-
benannt. Hier spricht eine Generation, ein unbe- mer wieder treffen, holen aus diesem Programm das
stimmtes Kollektiv von Personen oder Subpersonen Maximum heraus.
in der einen, längst vielstimmig gewordenen Person:
ein dialogisches Abenteuerteam. Aber es ist bezeich- Sünde
nend, dass die Byrds diese Großeuphorie nur noch
durch unfassbar ausgedehnte Live-Versionen ihres Zwei Songs der späteren Velvet Underground: »Pale
»Eight Miles High« aufrecht erhalten können. Sie Blue Eyes« und »Beginning to See the Light« von
müssen noch higher werden. 1969. Erste erwachsene Gedanken dazu, was es heißt,
In diesem Zusammenhang wird einmal mehr klar, das pubertäre Glück von erstem high und dem Kör-
dass die Punk-Bewegung dem Glück-Lernen der per eines somebody to love in einen Lebensstil einzu-
1960er Jahre vor allem die fehlende Steigerung nach- tragen, auf Dauer zu stellen, sich so kennenzulernen,
reicht, den Speedrausch, den zu oft individuelle dass man Hochgefühl und body-attraction zu erlern-
Schwächeanfälle und biographische Zusammenbrü- ten und erlernbaren Künsten und Techniken verfei-
che, die sich dem Steigerungszwang entgegen stell- nert. Lou Reed ist der Erwachsene vom Dienst in der
ten, im Laufe der 70er abgebrochen hatten; mancher Popmusikgeschichte. Schon drei Jahre später wird er
interessierte sich etwa für Country-Rock. Und man amüsiert und distanziert von der »Wild Side« be-
kann vieles zugunsten des Country-Rocks der 70er richten, er wird von einem perfekten Tag schwär-
sagen, vor allem, wenn einen Melancholie, amerika- men, der den Exzess durch erwachsene Sublimie-
nisch domestizierte Erhabenheitserfahrungen, die rungsfreuden (»Sangria in a bar, and later a movie
Tiefe des Truckergeistes interessieren, aber es gibt too, and then home«) ersetzt; dennoch ist er kein
keinen einzigen Country-Rock-Song, der glaubhaft simpler Konvertit, er wird immer wieder versuchen,
von Glück handelt. Country-Rock und Singer-/ sich auf das Glück von Rausch und Körperlichkeit
Songwriter-Musik verzichten so komplett auf alle zu beziehen. Er wird sich das Heroin durch Alkohol
musikalischen Euphorisierungsmöglichkeiten und entziehen (»The Power of Positive Drinking«) und
sind so sehr von der Sprache und der Narration do- schließlich von Drag Queens und Drogen nur noch
miniert, dass das nicht mehr ging. Das Euphorisie- so sprechen wie ein Politiker über soziale Brenn-
rungsprogramm, das zumindest ein Teil schon der punkte, an denen der Staat endlich was unterneh-
britischen Punk-Bewegung ins Leben rief (vor allem men müsse – aber er wird nicht aufhören, von ihnen
The Buzzcocks), schloss erst im zweiten Durchlauf zu sprechen.
seit den frühen 1980ern und vor allem in den USA Zuerst wäre in unserem Zusammenhang aber ein
an die Glückskultur der 1960er an. Hüsker Dü ge- Glück zu nennen, das auf high und Faulheit logisch
lingt mit ihrer Coverversion von »Eight Miles High« folgt, weil es sozusagen ihrer beider Begriff ist: die
die Steigerung von high nicht nur durch Beschleuni- Abweichung, das Verbrechen oder besser – die
gung, wie das Punk generell versuchte, sondern auch Sünde. In »Pale Blue Eyes« wird die – sexuelle – Liebe
durch eine intensivierende Wiederaufnahme des zwischen zwei Personen auf sehr unterschiedliche
dialogischen Spielens, harmonischen Singens nicht Weise geschildert, in ganz wunderbaren Metaphern-
zwischen Gitarristen (wie bei den Byrds), sondern Vignetten und allegorischen Bildern, aber am erin-
zwischen dem Drummer Grant Hart und dem Gitar- nerlichsten blieb mir doch immer diese Zeile: »It was
risten Bob Mould – die auch privat ein Liebespaar good what we did yesterday. And I am sure we do it
waren – das über die üblichen Jungsabenteuer hin- again. The fact that you are married only proves
ausging. Dies ist natürlich die Lösung des high-Pro- you’re my best friend. And it’s truly truly sin«. Ein
blems, es muss in eine Affäre übergehen. Hüsker Dü, Lied, das seinen Rahmen in Bezug auf das Glück,
man kann das besonders schön beim Live-Mitschnitt von dem es redet, allerdings durch die einführende
ihrer »Eight Miles High«-Version vom Pink-Pop- Bemerkung einschränkt: »Sometimes I feel so happy
Festival sehen, beschleunigen immens, bremsen aber and sometimes I feel so sad.« Jugendliche ergreifen
318 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

die Chance zu Sünde und Übertretung, obwohl et- amerkanischen Künstlern übernommen haben, die
was verboten ist; Erwachsene empfinden die ent- sie oft anders entworfen haben und dafür nicht ent-
sprechenden Ermächtigungsschübe nur noch, weil lohnt wurden. Zweitens: In fast allen Beispielen ist
das, was sie tun, verboten ist. Zwischen diesen Zu- von Frauen die Rede, nie kommen diese selber zu
ständen spielt der Song: Er entfaltet in postkoitaler Wort – und das geschah vor der Punk-Bewegung,
Ungehetztheit das ganze Spektrum der Spannungs- von den Ausnahmen Laura Nyro, Nico, Grace Slick
zustände dieses Paares. Der Erzähler lässt das alles und Julie Driscoll abgesehen, im Rahmen der Pop-
vor seinem sogenannten inneren Auge vorbeiziehen musik auch fast gar nicht und wenn dann in be-
– und dann fällt ihm ein, dass das alles eine Sünde ist. stimmten Rollen, die bereits alles Sagbare und Dar-
Und wenn er dann sagt, dass dies die Sache beson- stellbare vorbestimmten: Cheerleader und sensible
ders schön macht, spricht in dieser Sekunde zum ers- Schwester mit akustischer Gitarre. Beide Befreiungs-
ten Mal sein Erwachsenen-Ego, das jetzt nämlich be- defizite wiegen schwer, weil sie auch klar machen,
griffen zu haben glaubt, dass man über die Sünde die dass mindestens bis zu einem gewissen Grade das
Dinge wiederholbar machen kann, die bisher in hei- hier beschriebene Glück immer eines war, an dem
liger Kontingenz sich ereignet haben. nicht genannte, nicht vertretene Andere für die Sti-
Ähnlich funktioniert das im selben Jahr entstan- mulanz, um die es geht ganz entscheidend waren.
dene Lied »Beginning To See the Light«. Auch hier In den 1930er Jahren jubelt der afroamerikanische
begreift der Künstler, dass es paradoxerweise Regeln Bluessänger Skip James, fast ohne Erklärung, aber
der Abweichung, Regeln der Übertretung gibt: paradoxerweise auch ohne rechte Euphorie, er sei so
»Wine in the morning / and breakfast at night / Well glücklich. Nur en passant erwähnt er, dass er des Jam-
I am beginning to see the light«. Da klingt auch ein merns und Klagens müde sei, daher eben glücklich.
bisschen Selbstironie darüber an, dass die bloße Das Ganze ist aber weder eine glaubwürdige Perfor-
Umkehrung der Regeln des Spießerlebens schon für mance, noch geht sein Vortrag in einem ironischen
ein ganz anderes bürgen solle, schließlich ist auch oder sarkastischen Gegensinn auf: Ich sage, dass ich
der Songtitel ein Fall von Übertreibungsironie. Die glücklich bin, bin es aber nicht wirklich – wie es eine
Musik widmet diese aber um in etwas Hymnen- und klassische Figur des Soul zum Ausdruck brachte:
Manifestartiges. Heute klingen die Freuden eines »Don’t let my glad expression give you the wrong
Lebens außerhalb der Familienmahlzeiten wie die impression« (Smokey Robinson, »The Tears of a
gewerkschaftsfeindlichen Lieblingsvorstellungen ei- Clown«). Die irre Ambivalenz des müden, lakoni-
nes neoliberalen Stadtmarketings. Damals war das schen, gelangweilten oder zermürbten Glücks von
der Beginn eines Aha-Effektes: Ich kann alles ganz James verweist auf ein prinzipiell anderes Verhältnis
anders machen, auch das, was meine Konditionie- des von sich selbst redenden Subjekts im Vergleich
rung am tiefsten steuert, die regelmäßigen Mahlzei- zu den anderen von sich selbst redenden Subjekten,
ten. Doch ist das nicht nur der Beginn einer nicht von denen bisher die Rede war.
mehr vor allem spielerischen, sondern fast systema- Skip James hat »I’m So Glad« in den 1930ern aus
tischen Erleuchtung und Selbstaufklärung: »I met einem anderen Stück gebaut, das »I Am So Tired«
myself in a dream and I tell you it was alright«. Der hieß. Es ist eines über Müdigkeit und Erschöpfung
Wahnsinn: Im Traum ist alles in Ordnung. Das ist geblieben, die in ein völlig irres, rammdösiges Glück
der Beweis, keine Schmutzwäsche mehr im Unbe- der Wiederholung kippt. 30 Jahre später haben Leute
wussten. Man kann sich nicht nur im Spiegel an- wie Harry Vestine, der Gitarrist von Canned Heat,
schauen, man kann sich sogar im Traum begegnen Albert Ayler und John Fahey Skip James wieder ent-
ohne rot zu werden. deckt, und zwar buchstäblich als Person, die verges-
sen in einem Krankenhaus arbeitete, und als unfass-
So glücklich baren Gitarristen. Und natürlich hat die Gruppe
Cream, durch die ich auf dieses Glück gestoßen bin,
Vor den nächsten beiden Beispielen nur ein kurzer dieses Glücklichsein als ein volles Verfügen über
Hinweis auf etwas, was eigentlich viel ausführlicher Glück inszeniert. Aber so sehr sie den irren, unklaren
beschrieben werden müsste. Erstens: In fast allen Song von James irgendwie stumpf rockig vereindeu-
Beispielen benutzen weiße Jungs aus der britischen tigen, so wahnsinnig ist dann doch ihre Euphorie,
und amerikanischen Mittelschicht künstlerische Me- denn auch sie geben keine Begründung. Auch sie
thoden, Materialien und Techniken, die sie von afro- wiederholen fast nur wie glad, glad, glad sie sind. Das
12. Figuren des Glücks in der frühen Popmusik. Acht Meilen über der Schule schweben 319

Phänomen der Ansteckung durch unbegründete, os- Ja, und zum anderen zum Pech. Das Leben im
tentative Eindeutigkeit; die nicht auszutreibende Pop-Song besteht aus Aufbrüchen (die immer Glück
afro-baptistische Gottesdiensthaftigkeit; und das enthalten) und Katastrophen (Verlassenwerden),
Glück, im kollektiven Improvisieren immer nur Syn- dem ganz großen Blues. In den 1970er Jahren wird
onyme für die immer gleiche Bedeutung und die im- der Pop-Song erwachsen und biographisch. Singer/
mer gleichen Akkorde ›Glück‹ rüberzubringen, ist Songwriter und Soul-Balladeure betreten die Büh-
auch in ihrer Version deutlich. nen und zeichnen nun Entwicklungen und Lebensli-
nien nach. Eddie Harris sei beispielhaft mit seinem
Theorie des Glücks: Felicity »Bad Luck Is All I Have« genannt. In dieser Situation
überlebt das Glück, gegen alle erwachsenen Planun-
Zum Schluss zwei Grenzen. Zum einen: Was können gen und narzisstischen Biographien des Scheiterns
die selber sagen, was haben die gesagt, die so mit die- und des Genusses am eigenen Scheitern, durch sein
sen Glückssemantiken der Popmusik aufgewachsen Gegenteil, durch Pech, bad luck. Im bad luck steckt
sind? Zum anderen: Wo Glück auf Glück, nun im immer noch die Weigerung ›sich etwas selber zuzu-
Sinne von Kontingenz, angewiesen ist, gibt es auch schreiben‹, ›Verantwortung für sich zu übernehmen‹.
Pech, und zwar meistens. Wer Gegenkräfte nur als Pech erlebt, wird weder sich
Zum einen: Mein Lieblingsstück in dieser Zusam- zur Verantwortung ziehen, noch sich verantwor-
menstellung. Jemand – genauer die maßgeblichen tungsvoll politisieren. Beides würde den Hedonis-
Mitglieder der Gruppe Orange Juice, James Kirk und mus ja relativieren und behindern. Nur wer an sein
Edwyn Collins im Song »Felicity« – hat in der glei- bad luck glaubt, ergreift sein Glück. Genau diese
chen Weise Glücksvorstellungen aus Popmusik ge- ›Glücksergreifer‹ wurden dann allerdings später die
lernt und versucht diese in einer neuen Popmusik, ›Pimps‹ und ›Gangster‹, die ›Hip-Kapitalisten‹ und
nach dem Punk in den frühen 1980ern, zu reprodu- ›Me-Generation-Typen‹. Die Weigerung, Verantwor-
zieren, nun aber auf einer begrifflich höheren, ab- tung zu übernehmen, entwickelte sich zur gezielten
strakteren Ebene. Wozu noch etwas erzählen, am Verantwortungslosigkeit. Eine Weile schleppte diese
Anfang wird das kurz versucht, dann wird aber das noch den Charme jener mit sich herum.
Wesentliche unabhängig von den konventionellen Der Versuch, dann wiederum den ›Kinder-Hedo-
Verfahren des Songwritings angestrebt. Der Harmo- nismus‹ seinerseits direkt und ohne aufschiebende
niegesang tritt einem gleich zu Beginn in einer Weise Umwege zu politisieren, ist natürlich auch unter-
zu nahe, die man nur ablehnen kann oder sich ihr nommen worden: von Norman O. Browns Revolu-
unterwerfen. Das andere klassische Element, die tion des Eros (»Love’s Body«) bis zum Living Theatre.
klingelnden Gitarrenakkorde, gereichen zur Steige- Später wurde daraus das schon therapeutisch tin-
rung – und nachdem das beides da ist, ohne konven- gierte »Be here now«, das diverse Gurus den längst
tionelle Begründung durch die Elemente der Song- Beschädigten der 1970er und 80er anboten und das
form, wird der kurze Versuch der Erzählung abge- heute im Mittelpunkt einer Esoterik-Industrie steht,
brochen und nur noch das Ding beim Namen die alles andere als Schule schwänzen und Verant-
genannt: »Happiness ohoh Happiness«. Schließlich wortungslosigkeitsethik lehrt, sondern im Rahmen
ist es eine auf die Musik bezogene Aufforderung aus der Konkurrenzfähigkeit homöopathische Mengen
der Soul-Musik, die auch diese Dynamik nochmal von Erinnerungen an den alten Hedonismus auf die
steigert: »Take me to the bridge!« Bridge – so nennt Seele träufelt. Natürlich verdanken auch diese Tink-
man den Übergang zweier Songteile. Nachdem wir turen, so sie überhaupt wirken, ihre Kraft den Rest-
aber diese Brücke überquert haben, nicht unähnlich beständen der alten ›Hippie-Techniken‹, ein be-
der Brücke aus Seufzern, die in den »Itchycoo Park« stimmtes Glück direkt zu ergreifen, so direkt und
führt, wird das Wort »Happiness« zum Begriff, in- ohne Angst vor Folgen, wie es einem nur ein Drei-
dem es durch ein Synonym ersetzt wird, ein seltene- Minuten-Song anbieten kann, der nach diesen drei
res zum Begriff taugendes Wort: »Felicity«. Ein Wort, Minuten nicht mehr zuständig ist. Alles, was sonst so
das wie ein Begriff die anderen Einzelfälle enthält, mit seinen Anrufungen angerichtet wurde, ist nicht
die anderen Glücksformeln der Popmusik, dessen sein Problem. Das ist nur bad luck – und zwar unse-
Allgemeines aber der gemeinsame Anteil all dieser res.
Fälle und Zustände ist – jedenfalls in dem Moment
ist, wo sie in Pop-Songs auftauchen.
320 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Discographie 13. Figuren des Glücks


(Da es in diesem Beitrag um Songs und spezifische Vi- im Film. Medienspezifik
deos geht, wird auf eine förmliche Liste von Publikatio-
nen verzichtet; stattdessen werden die Songs gemäß der und Formenvielfalt
Reihenfolge im Beitrag angeführt – ergänzt mit den
Youtube-Links, die genau auf die Aufnahmen verwei-
sen, die im Beitrag diskutiert werden. Die Lebensdauer Aspekte des Filmglücks
dieser Links und ihre Erreichbarkeit in einzelnen Staa-
ten mit unterschiedlichen und veränderlichen Urheber- Der Titel dieses Beitrags ruft spontane Assoziatio-
rechtsvereinbarungen zwischen Rechtevertretern und nen hervor: Zwei Liebende küssen sich in Nahauf-
Internetplattformen ist naturgemäß unvorhersehbar.) nahme, Crescendo, Happy End, und danach »wird
jewöhnlich abjeblendt« (Tucholsky 1952). Tornato-
Jefferson Airplane: Somebody To Love (http://www. res Cinema Paradiso endet mit einer Montage derar-
youtube.com/watch?v=kWMyQ7OMM5c&feature= tiger Filmküsse; zwei Drittel aller »klassischen« Hol-
related). lywoodfilme klingen mit der romantischen Vereini-
Stephen Stills: Love The One You’re With (http://www. gung eines Paars aus (Bordwell 1985, 159). Solche
youtube.com/watch?v=_5IVuN1N6-Y). Happy Ends als Prototypen des Filmglücks anzuse-
The Beatles: I Am So Happy Just To Dance With You hen, ist daher nicht falsch.
(http://www.youtube.com/watch?v=WLCQeId-m98). Und doch bilden sie nur einen kleinen Teil der ›Fi-
The Small Faces: Itchycoo Park (http://www.youtube. guren des Glücks im Film‹. Um diese besser in den
com/watch?v=VJzcF0v1eOE). Blick zu bekommen, helfen begriffliche Präzisierun-
The Velvet Underground: Heroin (http://www.youtube.
gen. Mit ›Film‹ können neben dem abendfüllenden
com/watch?v=6xcwt9mSbYE&feature=related).
Spielfilm weitere Formen audiovisueller Bewegtbil-
The Kinks: Sunny Afternoon (http://www.youtube.
der in Kino, Fernsehen oder Internet gemeint sein,
com/watch?v=1h1oRP7FfBw).
darunter Dokumentar-, Kurz-, Amateur-, Experi-
The Kinks: Waterloo Sunset (http://www.youtube.com/
watch?v=fvDoDaCYrEY&feature=related). mental-, Industrie- und Lehrfilme; im weiteren Sinn
The Byrds: Eight Miles High (http://www.youtube.com/ auch Serien oder YouTube-Clips. Solche Film-For-
watch?v=HKhI09XO5R0&feature=related). men dienen diversen Zwecken – Kunst, Unterhal-
Hüsker Dü: Eight Miles High (http://www.youtube. tung, Bildung, Werbung, Propaganda –, und sie ent-
com/watch?v=NeqyCwAeT3I). stehen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten.
The Velvet Underground: Pale Blue Eyes (http://www. Entsprechend heterogen sind ihre Glücksbilder.
youtube.com/watch?v=PK4DeMYtumc). Grundsätzlich können Filme sich sämtlichen Phäno-
The Velvet Underground: Beginning To See The Light menen zuwenden, die als ›Glück‹ bezeichnet werden:
(http://www.youtube.com/watch?v=J3gWi9bBkHQ). flüchtiger Lust oder dauerhafter Lebenszufrieden-
Cream: I Am So Glad (http://www.youtube.com/watch? heit, unbewusstem flow oder reflexiver Kontempla-
v=H2S3XVQebXs&feature=related). tion, äußeren Glücksgütern oder innerer Harmonie,
Skip James: I Am So Glad (http://www.youtube.com/wa eutyche oder eudaimonia (Zirfas 1997; s. Kap. II.5–6
tch?v=QPXjuD8sH_Q&feature=related). und III.2). Film kann ein Mittel des audiovisuellen
Orange Juice (Edwyn Collins): Felicity (http://www. Miterlebens und Weiterdenkens all dieser Glücks-
youtube.com/watch?v=ADBap1THSSc). konzepte sein. Dabei haben sich im Verlauf der Ge-
Diedrich Diederichsen schichte des Films – dem »Auge des 20. Jahrhun-
derts« (Casetti 2005) – spezifische Schwerpunkte
und Konventionen herausgebildet. Da es kaum An-
sätze einer Forschung dazu gibt (vgl. Frölich u. a.
2003; Kleiner 2006), konzentriert sich dieser Beitrag
auf den Spielfilm und entwirft nur einen vorläufigen
Überblick über inhaltliche und ästhetische Grund-
strukturen.
Die Besonderheiten der ›Figuren des Glücks im
Film‹ beruhen letztlich auf dessen Medialität (vgl.
Eder 2009): Bewegtbilder werden mit Sprache, Ton
13. Figuren des Glücks im Film. Medienspezifik und Formenvielfalt 321

und Musik verbunden und in ihrer Vermittlung Das übergreifende Glückskonzept eines Films er-
durch bestimmte Apparate und Institutionen, Pro- gibt sich dabei keineswegs nur aus der direkten Dar-
duktions- und Rezeptionspraktiken geprägt. Filmi- stellung der Hochgefühle einzelner Protagonisten.
sche Glücksdarstellungen weisen daher charakteris- Es ergibt sich eher indirekt, über die Zeit hinweg, aus
tische Tendenzen auf: Ein vielstimmiges Gefüge von dem Zusammenspiel diverser Faktoren: dem Wech-
Bildern und Tönen entfaltet das Glück in Bewegung selspiel unterschiedlicher Motive, Handlungen und
und zeitlicher Dramaturgie, verleiht ihm Konkret- Beziehungen; den Dialogen der Charaktere und ei-
heit und Detailliertheit im Wechsel der Räume und ner Ahnung von ihren Bedürfnissen; der dramatur-
Perspektiven. Der Produktionsaufwand des Films gischen Anordnung von Glücks- und Unglückssze-
legt dabei eine Orientierung an der Emotionalisie- nen; der Perspektivierung und Kommentierung des
rung größerer Publika nahe. Aus diesen Gründen ist Geschehens durch Erzählinstanzen; nicht zuletzt der
das stille Glück im Film seltener als das mitreißende, Harmonie von Schauplätzen und Bewegungen, Far-
sinnlich wahrnehmbare, körperlich expressive. ben und Formen, Texturen und Rhythmen, Bildern
Eine grundlegende Frage besteht darin, wo ›Figu- und Tönen.
ren des Glücks‹ im Film überhaupt verortet sind.
Vier Aspekte sind hier zu unterscheiden: Filme kön- Das Glück der Figuren und der audio-
nen erstens das Glück von Figuren darstellen; sie
visuelle Ausdruck von Glücksgefühlen
können zweitens Glücksvorstellungen von Erzählern
oder Filmemachern ausdrücken; sie können drittens Beginnen wir beim Nächstliegenden, der Darstel-
thematische Glückskonzepte vermitteln; und sie lung des Glücks einzelner Figuren. Im Verlauf der
können viertens Glücksgefühle bei ihren Zuschau- Filmgeschichte haben sich hier Standardsituationen
ern auslösen. Im typischen Happy End fallen meh- herausgebildet, die stets aufs Neue variiert werden
rere dieser Aspekte zusammen: Indem die Zuschauer (vgl. Koebner 2003). Viele von ihnen gehören der
glücklich darüber sind, dass die Liebenden glücklich Liebesthematik an und finden sich vor allem in ro-
sind, wird die romantische Liebe als besonders er- mantischen Komödien, Melodramen oder Musicals:
strebenswerte Form des Glücks propagiert. erste Begegnungen, Liebeserklärungen, Küsse, Hoch-
Das Glück der Zuschauer, Figuren und Filmema- zeiten, Wiedervereinigungen – boy gets girl. Nicht
cher muss sich jedoch keineswegs decken. In Komö- selten sind solche Darstellungen glücklicher Liebe
dien lachen wir über Pechvögel. In Satiren beobach- mit einem zweiten motivischen Feld verknüpft, den
ten wir, wie Bösartige lustvoll triumphieren (A Clock- sinnlichen Genüssen: lustvollem Sex, ausgelassenen
work Orange). Science Fiction-Filme thematisieren Festen, Essen und Trinken, Tanz und Rausch. Ein
den Horror künstlicher ›Glücks‹-Manipulationen drittes Feld von Standardsituationen umfasst Motive
(z. B. Abre los ojos; The Matrix). In Liebesfilmen fol- der Aktivität, des flow und des Wettstreits: den
gen Figuren falschen Vorstellungen vom Glück, stre- Triumph der Sieger in Sportfilmen, den geglückten
ben etwa ein Single-Leben an, obwohl sie ›füreinan- Coup in ›Caper Movies‹. Road Movies beginnen,
der bestimmt sind‹ (When Harry Met Sally). Als Psychodramen enden oft mit dem Aufbruch ins
Zuschauer empfinden wir also die Glücksgefühle neue, glücklichere Leben. In Melodramen können
mancher Figuren mit (Empathie), können aber die Gesundung von Schwerkranken oder andere
auch als wissende Beobachter über ihr trügerisches Wunder Glücksgefühle hervorrufen (Il miracolo a
Glücksgefühl verstört sein (Sympathie) oder ihr Milano). Seltener werden andere Formen des Glücks
Glück missbilligen (Antipathie; vgl. Eder 2008, 561– dargestellt: das stille Glück der Kontemplation, reli-
706). Das Unglück der Figuren kann sogar zum giöse Ekstase, unverhoffte Glücksmomente im All-
Glück des ästhetischen Genusses beitragen (vgl. Anz tag, die kollektive Euphorie beim Erreichen politi-
2003). Unter anderem mittels so vielschichtiger Ge- scher Ziele, die heitere Stimmung bei einer Arbeit,
fühle gewähren Filme uns einen anschaulichen Ein- die Erlösung von Leistungszwang und Entfremdung,
druck davon, was Glück bedeutet und welche seiner etwa durch Flucht in ländliche Idyllen (vgl. Wulff/
Erscheinungsformen angemessen sind. Widerspricht Wulff 2008).
die filmische Glücksideologie eigenen Überzeugun- Für beinahe jede vorstellbare Form des Glücks
gen, können wir sie auch als falsch empfinden – als lässt sich ein Filmbeispiel finden; am häufigsten und
kitschig, einengend, antisozial usw. – und uns von ihr eindrucksvollsten sind allerdings Spielarten des
distanzieren. Glücks, bei denen Filme ihre Vorteile gegenüber an-
322 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

deren Medien ausspielen: Glücksformen, die einen Zeitlichkeit und Dramaturgie des Glücks
sichtbaren, hörbaren, körperlichen, bewegten, farbi- im Film
gen Ausdruck finden und im Fluss der Zeit verge-
hen. Filmische Glücksszenen ähneln sich nicht nur So endet das Filmglück nach wenigen Minuten. Die
strukturell, viele haben auch Inszenierungsformen zeitliche Form des Films, die Kopplung der Rezep-
gemeinsam, die den Zuschauern einen sinnlichen tion an die unaufhaltsame, knappe Projektionszeit,
Eindruck von Glück vermitteln, indem sie auf ange- führt dazu, dass Filme den Zuschauern einen unter-
nehme Sinnesempfindungen, Harmonie, Intensität schwelligen Eindruck von der Vergänglichkeit allen
sowie auf Empathie mit glücklichen Figuren zielen Glücks vermitteln, der durch die Scheinewigkeit ei-
(s. Kap. II.1). Auf der visuellen Ebene überwiegen nes Happy Ends nicht aufgehoben werden kann.
warme Farben, weiche Formen, angenehme Textu- Spielfilme stehen in einem ambivalenten Verhältnis
ren, ausgewogene Kompositionen und Bewegungen. zum Glück: Einerseits erlauben sie es, sich in Glücks-
Sound Design und Musik unterstützen heitere Stim- fantasien zu versenken, andererseits lassen ihre Wir-
mungen durch harmonische Durklänge oder fröhli- kungsstruktur und ihr Unterhaltungsziel dies nur
che Stimmen. Kamera und Montage betonen Aus- vorübergehend zu. Da es langweilt, Figuren in per-
drucksbewegungen des Glücks, Lächeln im Close- manenten Glückszuständen zu beobachten, erzäh-
up, Ausgelassenheit in der Totalen. »Szenen der len Spielfilme meist weniger vom Glück als von der
Empathie« (Plantinga 1999) lassen glückliche Ge- Sehnsucht und dem Streben danach (was sich übri-
sichter auf die Zuschauer einwirken, während Musik gens auch im Roman zeigt; s. Kap. V.11). Erfolgrei-
sie einlädt, mit den Figuren zu fühlen. Solche Einzel- che Geschichten sind auf Konflikte der Figuren an-
momente einer Ästhetik, Ikono- und Audiographie gewiesen, auf ihr – zumindest vorübergehendes –
des Filmglücks fügen sich zu einem Ganzen; Glück Unglück; Drehbuchratgeber empfehlen Figuren mit
kann als sinnliche Erfahrung perfekter Harmonie leicht psychopathologischem Profil (Seger 1990,
auf mehreren Ebenen vermittelt werden. 82).
Ein gutes Beispiel hierfür ist die titelgebende Tanz- Die oben skizzierten Glücksszenen sind also nur
szene im Musical-Klassiker Singin’ in the Rain. Der vorübergehende Momente in einer zeitlichen An-
Filmstar Don Lockwood (Gene Kelly) hat sich ge- ordnung, einer Dramaturgie des Glücks. In Main-
rade mit einem Kuss von seiner Liebsten verabschie- streamfilmen variiert diese Dramaturgie häufig ein
det, nachdem er mit ihr den Plan für ein Musical ent- klares Grundmuster: Probleme entstehen und wer-
wickelt hat. Überglücklich geht er durch den Regen, den gelöst, Fragen werden aufgeworfen und beant-
die nächtliche Straße wird belebt durch Licht- und wortet, auf dem Weg zu einem Ziel werden Hinder-
Farbakzente. Der Regen strömt, doch es ist ein wei- nisse überwunden (vgl. Eder 1999/2007). Dazwi-
ches Plätschern, das Lockwood sichtlich genießt. Er schen: ein emotionales Wechselbad. Glücksszenen
beginnt zu trällern: »I’m singin’ in the rain / just finden sich am häufigsten an Schlüsselpositionen
singin’ in the rain / what a glorious feeling / I’m happy solcher Plots: Als Anfangsglück, dessen Zerbrechen
again«. Seine beschwingten Schritte, sein Spiel mit den Helden zur Aktion treibt (z. B. in Rachegeschich-
dem Regenschirm steigern sich zu einem ausgelasse- ten). Als labiles Zwischenglück an Wendepunkten
nen Tanz. Mal nähert sich die Kamera seinem fröhli- der Geschichte, als Kontrastmoment nach der Be-
chen Gesicht, mal lässt sie seinem virtuosen Körper wältigung einer Krise. Oder eben als Schlussglück
Raum. Lockwoods Verhalten strahlt zugleich Elan, des Happy End, das von den Zuschauern oft schon
Übermut und Selbstironie aus, freundlich wendet er von Beginn an ersehnt wird (Christen 2005). Dass
sich verwunderten Passanten zu. Dass das kindliche jedoch das ungetrübte Happy End seltener ist als ge-
Spritzen in den Pfützen auch ein befreiender Norm- dacht, macht ein Blick auf die erfolgreichsten Filme
verstoß ist, wird zum Schluss der Szene deutlich, als deutlich: In Titanic opfert sich der Protagonist für
dem glücklichen Tänzer ein misstrauischer Schutz- seine Geliebte. In The Lord of the Rings verhindern
mann begegnet. die Helden die Weltherrschaft des Bösen, doch ihr
Gemüt verdüstert sich. Schon Fritz Lang (1948/2003)
machte darauf aufmerksam, dass für den Erfolg nicht
ein glückliches Ende entscheidend ist, sondern eines,
dessen Wertestruktur die Zuschauer befriedigt. Die
Guten kommen durch, aber das macht sie nicht un-
13. Figuren des Glücks im Film. Medienspezifik und Formenvielfalt 323

bedingt glücklich. Und selbst wenn sie es sind, kann Die Ausformungen solcher Grundmuster sowie
das Happy End als konstruiert empfunden werden viele andere Arten von Erzählungen sind jedoch so-
(Bordwell 1982) wie in Douglas Sirks Melodramen, ziokulturell spezifisch. Die Glückskonzepte von Fil-
die als Beispiel subtiler Sozialkritik gelten. men verraten etwas über die Gesellschaft, innerhalb
der sie entstanden sind: über verbreitete Vorstellun-
Glück, Genres und Gesellschaft gen vom Glück, Normen des Glückserlebens und
nicht zuletzt gesellschaftliche Widerstände, die dem
Wie unscharf das verbreitete Bild vom Film als Glück entgegenstehen. Audiovisuelle Glückskon-
Glücksmaschine ist, zeigt bereits die Unterschied- zepte sind mit Politik, mit Ideologien verknüpft.
lichkeit populärer Genres. Einige könnte man als Viele Mainstreamfilme reagieren mit komplementä-
Glücksgenres bezeichnen: Insbesondere in der ro- ren Utopien auf verbreitete Defizite der Realität
mantischen Komödie, im Heimatfilm und im Musi- (Dyer 1977): Wo im Alltag Erschöpfung, Chaos, Ar-
cal spielen das Glück der Figuren und die empathi- mut und Vereinzelung herrschen, sind Filme voller
schen Glücksgefühle der Zuschauer eine zentrale Intensität, Klarheit, Luxus und Gemeinschaft. In ka-
Rolle, hier werden Liebe und Erfolg gesucht und ge- pitalistischen Gesellschaften verbinden sich Glücks-
funden. Andere Genres betonen dagegen gerade die figuren häufig mit dem Versprechen, durch Konsum
Schwierigkeiten eines oft erfolglosen Glücksstre- erreichbar zu sein – am deutlichsten in der Fernseh-
bens: Im Melodram und im Sozialdrama scheitert werbung. Vieles spricht für die These von Robert
das individuelle Glück an gesellschaftlichen Umstän- Warshow (1948/1962): Da moderne Staaten sich
den; Westernhelden reiten einsam in den Sonnenun- durch Glücksversprechen legitimieren, wird Glück
tergang; Science Fiction-Filme entwerfen Dystopien. zum Politikum, sein Ausdruck zur impliziten Norm.
Einige ›Unglücksgenres‹ lassen wenig Raum für hap- Das gilt insbesondere für ›massenkulturelle‹ Pro-
piness: In Thrillern, Horror-, Kriegs- und Katastro- dukte. So bestärken comedies of remarriage, in denen
phenfilmen können die Figuren froh sein, wenn sie getrennte Ehepaare wieder zusammenfinden, den
mit dem Leben davonkommen (die Zuschauer aller- Eindruck, dass der pursuit of happiness in der US-
dings können sich im Vergleich dazu glücklich füh- Gesellschaft Erfolg verspricht (Cavell 1981). Zu-
len). Jenseits der Genres hat das Glück es noch gleich entwickeln sich Gegenströmungen, die vom
schwerer: Autorenfilmer wie Antonioni oder Berg- Unglück (in) einer Gesellschaft erzählen wie Holly-
man studieren die Zerbrechlichkeit des Glücks und woods Gangsterfilme der 1930er Jahre oder wider-
stellen gesellschaftliche Glückskonzepte in Frage. In ständige Filmproduktionen im Independent-Bereich
Todd Solondz’ Happiness erscheinen Glücksideale (vgl. Vogel 1974). Vereinfacht könnte man sagen,
als unerreichbare Forderungen, die individuelles dass der Mainstream überwiegend gängiges Glück
Leid verschlimmern. Und wer sieht, wie Alex in Ku- verspricht, während seine Gegenströmungen Zweifel
bricks A Clockwork Orange ein Paar terrorisiert und nähren, Alternativen anbieten. Kritische Theorien,
dabei »Singin’ in the Rain« anstimmt, wird die Musi- etwa die feministische Filmtheorie, weisen darauf
cal-Szene fortan anders wahrnehmen. hin, wie ungleich das Glück verschiedener sozialer
In ganz unterschiedlicher Form also erscheint das Gruppen – Frauen und Männer, Majoritäten und
Glück in filmischen Bildern und Tönen, Szenen, Ge- Minoritäten – im Mainstream behandelt wird.
schichten, Dramaturgien und Genres. Thematisch
ist es allemal präsent. Die Internet Movie Database Eine kurze Geschichte des Filmglücks
(www.imdb.com) listet weit über 500 Filme und
Fernsehsendungen auf, die die Worte ›Glück‹ oder Die Figuren des Glücks im Film sind dabei stetem
›happiness‹ schon im Titel tragen. Grundmuster des Wandel unterworfen. Ihre Geschichte ist noch nicht
Erzählens, die sich sowohl in Hollywoodfilmen als geschrieben, und so beschränke ich mich auf einige
auch in altindischen Mythen wiederfinden (Hogan exemplarische Hinweise zum Film in Deutschland
2003), handeln vom Streben nach Glück, das empa- (vgl. Hake 2004). Die allerersten Filme konnten auf-
thisch mitvollzogen werden kann: In romantischen grund ihrer Kürze kaum mehr zeigen als Moment-
Geschichten geht es um Vereinigung in der Liebe, in aufnahmen des Glücks in Form von ›Aktualitäten‹
heroischen Geschichten um soziale Anerkennung, in und Attraktionen: Tänze, Küsse, das Lächeln von Kai-
Opfergeschichten um das Wiedererlangen materiel- sern oder Kindern. Dann begann die Einbindung von
ler Fülle. Glücksmomenten in einfache Geschichten; in den
324 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

1910er Jahren kristallisierten sich die ersten Genres dene Filmbewegungen wieder soziokulturellen Vor-
heraus. Die frühen Stummfilme zeigten Alltagsglück, aussetzungen des Glücks zu, wenn etwa Regisseure
Liebeseuphorie, wundersame Rettung in der Hyper- mit Migrationshintergrund die institutionalisierte
expressivität melodramatischer Schauspielstile und Zerstörung individuellen Glücks thematisieren (z. B.
mit schlichten filmtechnischen Verfahren. Spätestens Yüksel Yavuz’ Kleine Freiheit) oder Filmemacher der
mit den 1920er Jahren entwickelten sich im Weima- Berliner Schule sich mit Sinnverlust und sozialen
rer Kino vielfältigere Formen der Glücksdarstellung: Lähmungserscheinungen befassen (z. B. Ulrich Köh-
Die düsteren Welten des Expressionismus schlossen lers Bungalow). Die Pluralisierung gesellschaftlicher
Glück weitgehend aus, die Filmemacher der Neuen Glückskonzepte zeigt sich in Filmen wie Oskar
Sachlichkeit rückten materielle Glücksvoraussetzun- Roehlers Agnes und seine Brüder, der das Glücksstre-
gen in den Blick (etwa in Pabsts ›Straßenfilmen‹), Re- ben unterschiedlicher Sozialtypen sarkastisch hin-
gisseure wie Lubitsch und Murnau entwarfen indivi- terfragt. Einen vorläufigen Höhepunkt erreicht der
duelle Bilder des Glückserlebens (vgl. Kleiner 2006). Trend zu multiperspektivischen Glücksdarstellun-
Im NS-Kino orientierten sich Glücksvisionen an gen in Fernsehserien wie Six Feet Under, die im Ver-
ideologischen Strategien: Während ein Großteil der lauf ihrer mehrjährigen Erzählzeit überaus differen-
Filmproduktion – Komödien, Musik- und Heimat- zierte Sozialstrukturen und Glückskonzepte entfal-
filme – eskapistisches Glück im privaten Bereich ver- ten. In einer spätmodernen Gesellschaft, in der
sprach, sollten propagandistische Staatsauftragsfilme Zuschauer zunehmend selbst zu Produzenten von
(z. B. Jud Süß) die Bedrohung kollektiven Glücks Internet-Clips werden, spiegeln audiovisuelle Me-
durch Feinde vor Augen führen und den heroischen dien die Vervielfältigung und Vielschichtigkeit indi-
Verzicht auf das individuelle Glück zugunsten der vidueller Glücksentwürfe.
›Volksgemeinschaft‹ einfordern. Nach dem Unter- Die bisherigen Beobachtungen relativieren die
gang des ›Dritten Reiches‹ beschäftigten sich ›Trüm- verbreitete Annahme, dass audiovisuelle Medien
merfilme‹ mit der Verhinderung privaten Glücks dem individuellen und kollektiven Glück im Wege
durch Schuld und Entbehrung. Bald jedoch traten in stünden, weil sie trügerische Glücksvorstellungen
den Heimatfilmen der jungen BRD Natur, Gemein- verbreiteten, von realen Problemen ablenkten und
schaft und Liebe als Glücksfaktoren in den Vorder- zum Verlust konkreter Welterfahrung führten (vgl.
grund, in den Komödien und Reisefilmen des Wirt- zur »Kulturindustrie« Horkheimer/Adorno 1944/
schaftswunderlandes der Konsum. Dagegen vermit- 1988, 128–176; zur »Welt als Phantom und Matrize«
telten die Filme der DDR andere Vorstellungen vom Anders 1956/1987, 97–211). Inzwischen haben sich
Glück zwischen Sozialismus und Privatleben (z. B. differenziertere Positionen durchgesetzt, die die Un-
Die Legende von Paul und Paula). terschiedlichkeit des Mediengebrauchs berücksichti-
Seit den 1970er Jahren ist die Pluralisierung filmi- gen (vgl. Staiger 2005): Es kommt darauf an, was, wie
scher Glückskonzepte unübersehbar: So steht das viel und auf welche Weise man sieht. Filme können
Bemühen des Neuen Deutschen Films, gesellschaft- positive Glücksfaktoren sein, nicht nur im flüchtigen
liche Gegenkräfte des Glücks zu entlarven (z. B. in Glück der Unterhaltung. Sie sind nicht nur emotio-
Fassbinders Angst essen Seele auf) neben der kom- nale Ventile, eskapistische Traumfabriken, ihre Stars
merziellen Ausbeutung sexueller Glücksversprechen, nicht nur Idealfiguren glücklichen Lebens. Sie kön-
etwa in der Schulmädchen-Report-Serie. Das Fernse- nen Ziele definieren, Kritik formulieren, Wissen ver-
hen entwickelt sich zum Leitmedium audiovisueller breiten, auf Lebenssituationen vorbereiten, morali-
Glücksdarstellungen, die in Soaps und Werbesen- sche Überzeugungen klären, bei Sinnsuche und
dungen an den Konsum gebunden sind. In den Identitätsbildung helfen und Empathie einüben (vgl.
1980er und 1990er Jahren setzt sich dieser Trend Wuss 1993, 210–212; Herrmann 2007). Auf verschie-
fort, während sich US-Blockbuster endgültig die denen Wegen kann Filmglück so zum Lebensglück
Vorrangstellung im Kino erobern. Ähnlich wie sie beitragen.
sind deutsche Beziehungskomödien dieser Zeit ge-
prägt durch postmoderne Auffassungen vom Glück,
Literatur
durch die Feier von fun, Oberflächenästhetik, Künst-
lichkeit und materiellen Werten, aber auch die refle- Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.
xive Ironisierung bisheriger Glücksformeln. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriel-
Seit der Jahrtausendwende wenden sich verschie- len Revolution [1956]. München 1987.
13. Figuren des Glücks im Film. Medienspezifik und Formenvielfalt 325

Anz, Thomas: Gesetze des Glücks und des Unglücks in Vogel, Amos: Film as a Subversive Art. London 1974.
der psychologischen Ästhetik. In: Frölich/Middel/Vi- Warshow, Robert: The Gangster as Tragic Hero [1948].
sarius 2003, 57–70. In: Ders.: The Immediate Experience: Movies, Co-
Bordwell, David: Happily Ever After. Part Two. In: The mics, Theatre, and Other Aspects of Popular Culture.
Velvet Light Trap No.19 (1982), 2–7. Garden City 1962, 85–88.
–: Narration in the Fiction Film. London 1985. Wulff, Hans J./Wulff, Ina: Film-Idyllen zwischen Sehn-
Casetti, Francesco: L’occhio del novecento. Cinema, es- sucht und Käuflichkeit. In: Ta Katoptrizómena 51
perienza, modernità. Mailand 2005. (2008); http://www.theomag.de/51/hjw5.htm (2.10.
Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness. The Hollywood 2009).
Comedy of Remarriage. Cambridge, MA 1981. Wuss, Peter: Filmanalyse und Psychologie. Strukturen
Christen, Thomas: Happy Endings. In: Matthias Brütsch des Films im Wahrnehmungsprozess. Berlin 1993.
u. a. (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität und Film. Zirfas, Jörg: Glück. In: Christoph Wulf (Hg.): Vom Men-
Marburg 2005, 189–204. schen. Handbuch Historische Anthropologie. Wein-
Dyer, Richard: Entertainment and Utopia. In: Movie 24 heim/Basel 1997, 812–821.
(1977), 2–13.
Eder, Jens: Dramaturgie des populären Films. Dreh- Filme und Fernsehsendungen
buchpraxis und Filmtheorie [1999]. Hamburg 32007.
Amenábar, Alejandro: Abre los ojos (Virtual Nightmare
–: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse.
– Open Your Eyes). E/F/I 1996.
Marburg 2008.
Ball, Alan: Six Feet Under. USA 2001–05.
–: Zur Spezifik audiovisuellen Erzählens. In: Hannah
Cameron, James: Titanic. USA 1997.
Birr/Maike Reinerth/Jan-Noël Thon (Hg.): Probleme
Carow, Heiner: Die Legende von Paul und Paula. DDR
filmischen Erzählens. Berlin 2009, 7–32.
1973.
Frölich, Margrit/Middel, Reinhard/Visarius, Karsten
De Sica, Vittorio: Il miracolo a milano. I 1951.
(Hg.): Alles wird gut. Glücksbilder im Kino. Marburg
Donen, Stanley/Kelly, Gene: Singin’ in the Rain. USA
2003.
1952.
Hake, Sabine: Film in Deutschland. Geschichte und Ge-
Fassbinder, Rainer Werner: Angst essen Seele auf. D
schichten seit 1895. Reinbek 2005.
1974.
Hermann, Jörg: Medienerfahrung und Religion. Eine
Harlan, Veit: Jud Süß. D 1940.
empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion.
Hofbauer, Ernst: Schulmädchen-Report: Was Eltern
Göttingen 2007.
nicht für möglich halten. D 1970, weitere Teile der Se-
Hogan, Patrick Colm: The Mind and Its Stories. Narra-
rie bis 1980.
tive Universals and Human Emotions. Cambridge
Jackson, Peter: The Lord of the Rings. Teil I–III. USA/
2003.
Neuseeland 2001–03.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der
Köhler, Ulrich: Bungalow. D 2002.
Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944].
Kubrick, Stanley: A Clockwork Orange. GB/USA 1971.
Frankfurt a. M. 1988.
Reiner, Rob: When Harry Met Sally. USA 1989.
Kleiner, Felicitas: Paradise Lost. Glücksvisionen bei Roehler, Oskar: Agnes und seine Brüder. D 2004.
Friedrich Wilhelm Murnau. In: Susanne Marschall/ Solondz, Todd: Happiness. USA 1998.
Fabienne Liptay (Hg.): Mit allen Sinnen. Gefühl und Tornatore, Giuseppe: Cinema Paradiso. I/F 1988.
Empfindung im Kino. Marburg 2006, 89–94. Wachowski, Andy/Wachowski, Larry: The Matrix. USA/
Koebner, Thomas: Das Glück im Kino. In: Frölich/Mid- Australien 1999.
del/Visarius 2003, 9–40. Yavuz, Yüksel: Kleine Freiheit. D 2003.
Lang, Fritz: Und wenn sie nicht gestorben sind… [1948]. Jens Eder
In: Montage/AV 12/2 (2003), 141–148.
Plantinga, Carl: The Scene of Empathy and the Human
Face on Film. In: Ders./Greg Smith (Hg.): Passionate
Views. Film, Cognition, and Emotion. Baltimore/
London 1999, 239–255.
Seger, Linda: Creating Unforgettable Characters. New
York 1990.
Staiger, Janet: Media Reception Studies. New York 2005.
Tucholsky, Kurt: Danach. In: Ders.: Zwischen gestern
und morgen. Hamburg 1952, 131.
326 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

14. Figuren des Glücks in der lassen sich konzeptionelle Übereinstimmungen da-
bei kaum verzeichnen.
zeitgenössischen Kunst. Vor diesem Hintergrund stellen die nachfolgen-
Wellnessübungen den Ausführungen eine Typologie zu heuristischen
Zwecken vor, welche prominent diskutierte künstle-
und Neuroapparaturen, rische Positionen der letzten 20 Jahre unter dem Fo-
Süßigkeiten und Drag kus ins Auge fasst, wie hier Glück reflektiert und fi-
guriert wird. Fünf kunstfeldspezifische Ausprägun-
Queens gen werden dabei identifiziert. Über die typologische
Differenzierung hinaus wird abschließend auf ge-
meinsame Grundtendenzen verwiesen. Diese bezie-
Betrachtet man die bildende Kunst als eine Praxis, in hen sich sowohl auf die Produkte künstlerischer Ar-
der sich moderne Gesellschaften auf sinnliche und beit wie auch auf das gesellschaftliche Rollenver-
expressive Weise selbst darstellen und reflektieren, ständnis von Künstlern und den hier wirksamen
so liegt auf der Hand, dass dabei auch ein reicher Zusammenhang von Glück, Erfolg und well-being.
Fundus eigener Glückssemantiken und -empfindun- Mit dem Befund, dass die Kunst der 1990er Jahre als
gen profiliert wird. Dies schlägt sich jedoch nicht in neue Episode wahrgenommen wurde (vgl. Schave-
einer systematischen Glücksdebatte innerhalb des maker/Rakier 2007), hängt auch ein mentalitätsge-
Kunstfeldes nieder. Gegenwärtige Ausstellungen, schichtlicher Wandel zusammen.
künstlerische Œuvres und kunsttheoretische Unter-
suchungen, die explizit auf den Glücksbegriff rekur- Kitsch und konsumistische Glücks-
rieren, sind bislang eher Einzelphänomene geblie-
metaphern
ben. Als einschlägig erweisen sich allenfalls die Aus-
stellungen »Glück« des Künstlers Carsten Höller Der Kunst der letzten Jahrzehnte wird ein gewandel-
(Höller 1996), »Health and Happiness in 20th-Cen- tes Verhältnis zwischen Kunst und Kitsch sowie zwi-
tury Avant-Garde Art« (Kuspit/Gamwell 1996), schen High and Low Culture nachgesagt (vgl. Danto
»Happiness: A Survival Guide for Art and Life« im 1992). Als Hauptgewährsmann für diesen Trend gilt
Mori Art Museum in Tokyo (Elliott/Tazzi 2003) und der 1955 geborene US-amerikanische Künstler Jeff
»Glück – Welches Glück« im Deutschen Hygiene Koons, der zu den ebenso furios gefeierten wie um-
Museum in Dresden (Hentschel/Staupe 2008). Doch strittenen Protagonisten im Kunstfeld der beginnen-

Abb. 1: Jeff Koons: Jeff and


Ilona made in Heaven, 1990
© Jeff Koons / Sammlung
Nordrhein-Westfalen
14. Figuren des Glücks in der zeitgenössischen Kunst 327

den 1990er Jahre zählt – nicht zuletzt, weil er allen


tiefgründig-ernstnehmerischen und politisch kor-
rekten Tendenzen der Nachkriegskunst eine provo-
zierend kommerzielle Oberflächlichkeit entgegen-
hält. Bekannt wurde er mit seiner 1990/91 entstan-
denen Serie »Made in Heaven« (s. Abb. 1), in der er
sich selbst beim Sex mit der Pornodarstellerin Cic-
ciolina aufnehmen lies. Mit einer Staffage aus Blu-
menkränzchen, Schmetterlingen, Versatzstücken von
Paradieslandschaften und pornographischen Posen
präsentiert Koons hier ein Arsenal massenindustriell
verbreiteter Glücksmetaphern und stellt so religiöse
Heilserwartungen mit Pornographie gleich (Kellein
2002). So vollzieht er zugleich auch einen deutlichen
Bruch mit der gesamten künstlerischen Tradition
erotischer Darstellungen, denn nicht nur im Unter-
schied zu den frivolen Szenen etwa des Rokokoma-
lers François Boucher, sondern auch in Differenz zur
Abb. 2: Takashi Murakami: And then, and then and
erotisch geladenen neoexpressiven Malerei der then, 1995 © Murakami / Queensland Art Gallery
1980er Jahre stellt Koons eine Form sexueller Erfül-
lung vor Augen, die ohne jede emotionale Emphase
oder existentielle Note bleibt. Auch in anderen Ar- sen spezifischen Mix den treffenden Begriff »Easy-
beiten führt er mit mannshohen Teddys, Maskott- fun-Ethereal«. Er verbindet trivialisierte Bilder arka-
chen, Engelchen und Glückschweinen die banalsten discher Bedürfnislosigkeit mit der temporären
Platzhalter einer hübscheren und einfacheren Welt Glückseligkeit unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung
ins Kunstfeld ein. Typisch ist dabei die Einhaltung und negiert durch seine bis zur Peinlichkeit ausge-
sämtlicher Kitschkriterien: das Banale, das Süßliche, reizte Banalität jede Vorstellung eines empfindsa-
das »too much«, das Anachronistische, die Massen- men Künstlersubjekts. Entscheidend ist hierbei, dass
produktion wie auch die falschen »second-hand es ›hinter‹ diesen gleichsam desillusionierten Illusio-
emotions« (Berg 2006). Koons selbst liefert für die- nen nichts zu entdecken gibt.

Abb. 3: AES+F: The Feast of


Trimalchio, 2009 © AES+F /
Triumph Gallery, Moscow
328 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Abb. 4: Félix González-


Torres: Untitled (Placebo),
1991 © Museum of
Modern Art New York

Einen noch marktaffineren und radikal unsenti- Reichtum verbunden. Insofern erinnern diese Bilder
mentalen Haushalt massenindustrieller Glücksme- auch an die Rückseite eines derartigen Glücks: Ar-
taphern bietet der 1962 in Tokio geborene Takashi mut und soziale Ungleichheit. Auf verdeckte Weise
Murakami. Unter dem Label »Superflat Strategies« wird in diesen scheinbar affirmativen Bildwelten so
(Murakami 2000) produziert er endlose Blümchen- auch eine überraschend doppelbödige Form der So-
mustertapeten, Smilies und monumentale Parallel- zialkritik mitgeführt.
welten aus mangaartigen Figuren (Abb. 2, S. 327). Er
verknüpft jugendkulturelle Glückssymbole mit der Geteiltes Glück und Endlichkeit
Luxusgüterindustrie, indem er etwa mit Louis Vuit-
in der »relationalen Ästhetik«
ton eine eigene Produktlinie entwickelt. In ebenso
niedlichen wie psychedelischen Mustern werden Unter dem Begriff »relationale Ästhetik« subsumiert
Pop, Konsum, Schönheit und Glück in einen affir- der französische Kurator Nicolas Bourriaud partizi-
mativen Zusammenhang gebracht. Dabei führen pative Kunstpraktiken, die auf neue Formen kollekti-
Murakamis Arbeiten auf provokativ arglose Weise ver Bedeutungsproduktion setzen (Bourriaud 1998/
vor, dass die ostentative Verweigerung von Tiefe und 2002). Zu den von ihm genannten Künstlern zählt
Sinn einhergeht mit der endlosen Produktion von u. a. der Kubaner Félix González-Torres (1957–1996),
Substituten. der mit dekorativen Arbeiten bekannt wurde, die
Einen ironisch-kritischen Blick zeigt hingegen die zum Mitnehmen oder Verzehren bestimmt waren.
russische Künstlergruppe AES+F, die in einer mo- Er offerierte in Ausstellungshäusern stapelweise Pos-
numental-perfektionistischen Filmprojektion »The ter oder legte Galerieböden mit tausenden silbernen
Feast of Trimalchio« (2009; Abb. 3, S. 327) ein Heer Bonbons aus, die man verspeisen durfte. Auf diese
von jungen, schönen Weltbürgern in Traumschiff- Weise inszenierte er eine denkbar schlichte Form der
Ambientes und artifiziellen Palästen zeigt, die merk- Einverleibung von Kunst: hübsch verpackte, gratis
würdig gelangweilt Wellnessaktivitäten nachgehen angebotene Leckereien versprachen scheinbar harm-
(Mongayt 2009, 32 ff.). Mit dieser elaborierten Fanta- losen leiblichen Genuss – weswegen an der »relatio-
sie vollends säkularisierter Übungstechniken des nalen Kunst« auch ein Mangel an Widerständigkeit
Life-Enhancement wird ein käufliches Arkadien vor beanstandet wurde (Scanlan 2005). Anregend ist an
Augen geführt. Für eine neue Generation von Mo- González-Torres’ Arbeiten die Art, wie hier Vergäng-
dels und Milliardärskindern erscheint die Idee des lichkeit, Schönheit und Genuss einhergehen und da-
Glücks nur mehr Triebfeder eines Trainingspro- bei das radikal Ephemere jedes noch so simplen
gramms (s. Kap. VI.11). Auf merkwürdige Weise sind Glücksmoments gegenwärtig wird. Erfährt man, dass
hier Askese und Überdruss, Selbstvergessenheit und der Künstler das Körpergewicht von Freunden als
14. Figuren des Glücks in der zeitgenössischen Kunst 329

Abb. 5: Rikrit Tiravanija:


Untitled, 1996 (tomorrow is
another day) © Kölnischer
Kunstverein

Maß für die Menge der Bonbons benutzte (vgl. zum freien Wohnen auf Zeit, zum Essen, Baden und
Cherry in Schavemaker/Rakier 2007), gewinnt ge- Diskutieren in den Kölner Kunstverein einlud und
rade die scheinbare Leichtigkeit eine existentielle als ständig reisender, vorwiegend abwesender Gast-
Dimension und ruft die eigene Endlichkeit ins Be- geber dennoch Gemütlichkeit bot, ging es nicht nur
wusstsein. So sind González-Torres’ schillernde In- um eine Neuauslotung institutioneller Grenzen, son-
stallationen letztlich auf einen entscheidenden As- dern auch um das Exponieren des Faktums, dass kei-
pekt hin angelegt: ihr eigenes Verschwinden. ner dieser vertrauten und glücklichen Momente kol-
Unter ähnlichen Vorzeichen fanden auch die Ak- lektiven Austauschs je wiederkehrt (vgl. Jetzer 1998).
tionen des 1961 geborenen Thailänders Rirkrit Tira-
vanija starke Beachtung. Als dieser etwa durch den Apparaturen für das Glück
Nachbau seines Appartements im Ausstellungsraum
Neben den kollaborativen Strategien ist in der Ge-
genwartskunst zudem eine Tendenz hin zu interdis-
ziplinär ausgerichteten Arbeitsweisen zu verzeich-
nen. Der 1961 in Brüssel geborene Agrarwissen-
schaftler und habilitierte Phytopathologe Carsten
Höller kann hierfür ebenso als beispielhaft gelten wie
die 1965 in Ljubljana geborene Architektin und
Künstlerin Apolonija Šušteršic. Carsten Höller zählt
mit seiner mehrfach gezeigten Ausstellung »Glück«
zu denjenigen Künstlern, die sich am systematisch-
sten mit der Glücksthematik befasst haben (Grosz/
Höller/Kittelmann 1997). So wundert es nicht, dass er
ebenso wie Koons und Murakami mit Arbeiten in der
Tokioter Ausstellung zum Thema (s.o.) vertreten war.
Seiner Ausbildung entsprechend gleichen seine
Werke Versuchsanordnungen, bei denen nicht Skulp-
turen zum Ansehen präsentiert, sondern Instrumente
zur Benutzung bereitgestellt werden. Massagesessel,
Fluggeräte oder legale Drogen ermöglichten Erfah-
Abb. 6: Carsten Höller: Flugapparat, 1996 rungen ganz eigener Art. Auch seine monumentale
© VG Bildkunst Röhrenrutsche (1997) macht sinnfällig, dass es ihm
330 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

auch nicht um ein imaginäres Glücksbegehren wie


bei Koons und Murakami –, sondern um das rein
sinnliche Glück, das nach John Stuart Mill
(1863/1976) als »Schweineglück« gelten kann (s. Kap.
II.1 und V.1). Für Höller ist dabei entscheidend, eine
Befreiung von der biologisch funktionalen Zweckge-
richtetheit des Glücks hin zu einem freien, »gelösten
Glück« zu erreichen. Glück ist für ihn »nicht ein Re-
sultat der Lebens-, sondern der Chemotechnik« (Höl-
ler 1996, 39). Die Nähe zu neurowissenschaftlichen
Stimulationsexperimenten mit Psychopharmaka, in
denen Glück häufig funktionalistisch dem Schmerz
gegenübergestellt wird, bleibt hier unverkennbar.
Scheinbar verwandt mit Höllers Arbeiten sind die
Raumarrangements von Apolonija Šušteršic. Die
Künstlerin verwandelte 1999 den Galerieraum im
»Moderna Museet Stockholm« in einen Ort für
Lichttherapie (s. Abb. 7; Blazwick 2000, 592). Anders
als Höllers Apparaturen steht bei ihr jedoch die gast-
liche und harmonische Atmosphäre wie auch das
optisch ansprechende Design im Vordergrund, und
Abb. 7: Apolonija Šušteršic: Light Therapy, 1999 © damit der Versuch, eine künstlerische Antwort auf
Apolonija Šušteršic das basale Bedürfnis nach Wohlbefinden zu entwi-
ckeln. Im Unterschied zu Höller inszeniert sie eine
soziale Situation, in welcher nicht der kick, sondern
vor allem darum geht, Besucher in die Rolle von Pro- vielmehr Entspannung geboten wird. Beiden Künst-
banden oder Experimentatoren zu versetzen und ih- lern gemeinsam ist allerdings die Zurückführung
nen temporäre, physiologisch ausgelöste Glücksge- des Glücks auf seine sinnlich-leibhafte Erlebniskom-
fühle zu verschaffen. Glück kommt so als kleiner ponente.
Schwindel oder Rausch daher, als stimulierbares leib-
liches Phänomen. Es geht mithin nicht um Lebens-
glück, bzw. das gewählte oder widerfahrende Glück –

Abb. 8: Andrea Fraser: Still


from Untitled, 2003,
Courtesy Friedrich Petzel
Gallery
14. Figuren des Glücks in der zeitgenössischen Kunst 331

»Kontext Kunst« – Recht und Pflicht


auf Glück

Um ganz andere Fragen geht es bei jenen Künstlern,


die von Peter Weibel unter dem Label »Kontext
Kunst« (Weibel 1994) zusammengefasst werden und
deren Arbeiten sich vorwiegend auf eine Reflexion
sozialer, ideologischer und institutioneller Rahmen-
bedingungen des eigenen Tuns beziehen oder eine
erneute Politisierung der Kunst unternehmen. Als
eine Protagonistin gilt hier die 1965 geborene US-
Amerikanerin Andrea Fraser. Ihre Arbeiten zielen
sehr direkt auf die Befragung gängiger rolemodels im
Kunstfeld und die Konstitution von Schaffensglück
und Erfolg. Mehr als einmal nutzte sie dafür die Me-
thode der Selbstentblößung coram publico. So geht
sie etwa in dem Video »Untitled« (2003), einer vor-
geblichen »Auftragsarbeit« für einen Sammler, vor
laufender Kamera – ganz offenbar wenig begeistert –
mit eben diesem Sammler ins Bett (Graw 2008,
223 ff.). Mit solchen Aktionen verweist sie in drasti-
scher Form auf die Unmöglichkeit, Glück und Erfolg
haben zu können, ohne einen Preis dafür zahlen zu
müssen. Dem Glück steht in der hier angesproche- Abb. 9: Thomas Locher: Universal Declaration of
nen karriereorientierten Kontrollgesellschaft allein Human Rights, Article 14/1, Everyone has the right to
das angeblich selbstverschuldete Scheitern entgegen. seek and to enjoy in other countries asylum from
persecution, 2002/03 © Thomas Locher
An die Stelle einer Glücksvorstellung als erhoffter
Unverfügbarkeit, deren Widerpart das Pech wäre,
tritt hier ein hart erkämpftes Glück, getrieben von artigen Anmerkungen ins Bewusstsein, dass Men-
Erfolgsversprechen, denen wir uns unterwerfen (s. schenrechte nicht nur durch ihre Übertretungen ge-
Kap. I.5 und II.6–7). fährdet sind, sondern schon dadurch, dass sie sich
Ganz anders, wenngleich in einem benachbarten nicht letztgültig formulieren lassen. Locher insistiert
Diskursfeld, arbeitet der 1956 geborene Thomas Lo- mittels vielfacher Kommentierungen, aber auch mit-
cher, der sich in seinen überwiegend textbasierten tels der eindrücklichen Größe der Tafeln darauf, dass
Arbeiten zunächst auf die Reichweite von Sprache die grundsätzliche Unmöglichkeit einer endgültigen
bezieht. Dabei geht es um grundlegende Fragen der Verständigung über Fragen der Humanität nicht An-
gesellschaftlichen Legitimität von Aussagen. Auf das lass zum Schweigen bietet, sondern – im Gegenteil –
Thema ›Glück‹ bezieht er sich z. B. in seinen lebens- eine Aufforderung darstellt, die Auseinandersetzung
großen Texttafeln mit Kommentierungen zur »Uni- hierüber nicht abreißen lassen.
versal Declaration of Human Rights« von 2002/03
(Schmidt 2003), die in der Dresdner Glücksausstel- Glück am anderen Ende des sozialen
lung zu sehen waren. In den hier präsentierten Ge-
Raumes
setzestexten sind die humanitären Voraussetzungen
eines menschenwürdigen Lebens formuliert. Der Auf die Frage nach den normativen Annahmen über
Künstler zeigt durch Anstreichungen und Kommen- eine soziale, ökonomische und biologische Fundie-
tare, dass schon in der Syntax der Gesetzestexte rung des well-being verweisen auch Nan Goldin und
selbst offenbar wird, wie fragil die scheinbar so un- Richard Billingham mit ihren Arbeiten. Es ist des-
hintergehbaren Vereinbarungen über die Vorausset- halb nicht abwegig, ihre autobiografischen Fotogra-
zungen eines guten und würdevollen menschlichen fien vor dem Hintergrund der in jüngerer Zeit durch
Lebens sind. So kritzelt er auf die Tafel zum Asyl- Giorgio Agamben (1995/2002) angestoßenen De-
recht »who or what ist ›everyone‹?« und ruft mit der- batte um die rechtliche Konzeption der conditio hu-
332 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Abb. 10: Nan Goldin: Jimmy


Paulette and Taboo! In the
bathroom, NYC 1991
© Nan Goldin

mana zu betrachten, in welcher auf die Gefahr ver- und Verlorenheit, aber eben auch von flüchtigen Mo-
wiesen wird, Humanität nur auf die Ermöglichung menten der Geborgenheit und Nähe – und schließ-
des nackten Lebens zu reduzieren. lich: von einer Sehnsucht nach einem schönen Leben
Die 1953 geborene US-Amerikanerin Nan Goldin (Armstrong/Keller 1993). Doch erblickt man dabei
fotografierte über Jahre hinweg Menschen in ihrem alles andere als eine gute, geregelte Existenz in Si-
direkten sozialen Umfeld, einem Milieu aus Drogen- cherheit; man sieht stattdessen ein Leben voller schil-
abhängigen, Künstlern, Drag Queens und Bohemi- lernder, prekärer Schönheit, das eine gefährliche
ens. In ihren Fotoserien zeigt sie Freunde, Geliebte Nähe zu Gewalt und Tod aufweist.
und flüchtige Bekannte in intimen Situationen: im Ähnlich ergreifend sind auch die Fotografien des
Bett, vor dem Spiegel, auf der Toilette. Bilder vom 1970 geborenen Briten Richard Billingham, der mit
Tod einer an Aids verstorbenen Freundin im pom- schnappschussartigen Aufnahmen seiner Eltern be-
pös geschmückten Sarg, Aufnahmen des verprügel- kannt wurde. Sein Vater, ein dementer Alkoholiker,
ten Gesichts der Künstlerin oder glamourös gestylter und seine übergewichtige, ständig rauchende Mutter
Partygäste zeugen von Abgründen der Einsamkeit leben mit Katzen und Hunden in einer ramponier-

Abb. 11: Richard


Billingham: Untitled, from
Ray’s a Laugh, 1995
© Anthony Reynolds
14. Figuren des Glücks in der zeitgenössischen Kunst 333

ten Sozialwohnung (Collin/Germain 1996). Sie wer- ten Beispiele belegen, dass die kritischen Reflexe der
den gezeigt beim Essen, Streiten, Trinken und nach Nachkriegskunst, mit denen die Glücksvorstellun-
dem Erbrechen vor der verdreckten Toilette. Doch gen in den Bereich der Werbung und Konsumkultur
so erschütternd und nahegehend diese Szenen zu- exterritorialisiert wurden, gegenwärtig nicht mehr
nächst sein mögen, auch hier geht es nicht zuletzt dominieren. Ein exklusiv auf das Leiden an der
um die Möglichkeit des Glücks. Die vergilbten schä- Wirklichkeit, auf Kritik und Tiefsinnigkeit verengter
bigen Tapeten voller Nippes, die Nachbildungen von Begriff von Kreativität und Sensibilität (vgl. Sloter-
venezianischen Masken sowie die bunten Blümchen- dijk 1983, 21 f.), der bis in die 1980er Jahre als cha-
kleider und Tätowierungen der Mutter offenbaren – rakteristisch für das abendländische Künstlerbild
bei allem offensichtlichen sozialen Elend – durchaus galt (Paglia 2008), ist in der Gegenwartskunst nicht
eine spezifische Ästhetik, Träume und Bilder von ei- mehr vorherrschend. In den 1990er Jahren wurde
nem anderen, besseren Leben. Dabei haben Billing- selbstbewusst das Ende der Avantgarde ausgerufen,
hams Fotografien nichts Voyeuristisches oder An- und damit schien auch die Fokussierung auf eine
klagendes. Dem Künstler gelingt auf erstaunliche utopische Zukunftsbezogenheit der Künste fraglich.
Weise, dieses Leben einfach nur zu zeigen. Ange- Zugleich hat sich aber der kunsttheoretische Diskurs
sichts des fotografischen Blicks auf seine Eltern er- erneut auf den Begriff der Schönheit besonnen (Gil-
scheint die – eine Formulierung Adornos (1951/1980, bert-Rolfe 1996). Dieser Neuorientierung entspre-
19) variierende – Behauptung überaus fragwürdig, chend wird auch das Glück nun nicht mehr »nur als
es könne kein richtiges Glück im falschen Leben ge- verlorenes« gedacht (Sloterdijk 1983, 23), gelten doch
ben. das heroische Scheitern und das Unverstandenblei-
ben kaum noch als konstitutives Moment des künst-
Tendenzen lerischen Selbstverständnisses (vgl. Roh 1993). Viel-
mehr lässt sich beobachten, dass der ehedem su-
Insgesamt lässt sich in der Gegenwartskunst ein zwar spekte (Markt-)Erfolg heute für viele sogar zum
affirmativer, aber keineswegs harmloser Bezug zum künstlerischen Güteausweis geworden ist (Graw
Glück verzeichnen. Kennzeichnend für den in den 2008).
Beispielen artikulierten Glücksbegriff scheint eine
gleichermaßen postutopische wie postheroische
Literatur
Fundierung. Hierin unterscheidet sich die gegenwär-
tige künstlerische Perspektive zugleich auch von den Adorno, Theodor W.: Minima Moralia [1951]. Gesam-
frühen Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhun- melte Schriften, Bd. 4. Frankfurt a. M. 1980.
derts, in denen Glück zumeist mit einer Hinwen- Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht
dung zu neuen geistigen Räumen und großen Zu- und das nackte Leben [1995]. Frankfurt a. M. 2002.
kunftsversprechen verbunden war. Ansätze, wie sie Armstrong, David/Keller, Walter: Nan Goldin. The
sich in der frischen, optimistischen Malerei von Klee Other Side. Manchester 1993.
oder der heiteren Poesie von Henri Matisse formu- Berg, Karen van den: Agenten der Peinlichkeit. Über
lierten, scheinen im Unterschied zu den genannten Kitsch, Avantgarde und Jeff Koons. In: Berliner De-
heutigen Positionen vergleichsweise abstrakt und batte Initial 7/1–2 (2006), 137–46.
Blazwick, Iwona u. a.: Fresh Cream: Contemporary Art
allgemein. Zwar wurde die lebensbejahende Seite der
in Culture. London 2000.
beginnenden Moderne in den 1990er Jahren wieder
Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics [1998]. Dijon
aufgegriffen; ihr fortschrittsgläubiger Zukunftsopti-
2002.
mismus hatte jedoch schon in der Nachkriegskunst Collin, Michael/Germain, Julian (Hg.): Richard Billing-
an Glaubwürdigkeit verloren. Der heutige, erneut af- ham. Ray’s a Laugh. Zürich/Berlin/New York 1996.
firmative Glücksbezug ist deshalb weniger von einer Danto, Arthur C.: Beyond the Brillo Box. The Visual
für die frühe Moderne typischen Nähe zu utopischen Arts in Post-Historical Perspective. New York 1992.
Vorstellungen von befreiten, glücklichen Zukünften Elliott, David/Tazzi, Pier Luigi (Hg.): Happiness. A Sur-
inspiriert. Vielmehr scheint sich die neuere Glücks- vival Guide for Art and Life. Tokyo 2003.
thematisierung dem Umstand zu verdanken, dass Gilbert-Rolfe, Jeremy: Das Schöne und das Erhabene
man sich vom »Schmerz Apriori« (Sloterdjik 1983, von heute. Berlin 1996.
19) der hochsensiblen Spät-Avantgarde der 1960er Graw, Isabell: Der große Preis. Kunst zwischen Markt
und 1970er Jahre entlasten wollte. Die hier genann- und Celebritykultur. Köln 2008.
334 VI. Glück im 20. und 21. Jahrhundert

Grosz, Andreas/Höller, Carsten/Kittelmann, Udo (Hg.): Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion. Mün-
Glück: Ein Symposium. Ostfildern 1997. chen/Zürich 2008, 195–219.
Hentschel, Beate/Staupe, Gisela (Hg.): Glück – Welches Roh, Franz: Der verkannte Künstler. Studien zur Ge-
Glück. München 2008. schichte und Theorie des kulturellen Missverstehens.
Höller, Carsten: Glück/Skop. Köln 1996. Ostfildern 1993.
Jetzer, Jean-Noel (Hg.): Rikrit Tiravanija. Supermarket. Scanlan, Joe: Traffic Control. In: Artform.June 22 (2005),
Zürich 1998. 23.
Kellein, Thomas: Die Bilder. Jeff Koons 1980–2002. Schavemaker, Margriet/Rakier, Mischa (Hg.): Right
Köln 2002. About Now. Art & Theory since the 1990s. Amster-
Kuspit, Donald/Gamwell, Lynn: Health and Happiness dam 2007.
in 20th-Century Avant-garde Art. Ithaca 1996. Schmidt, Johann-Karl (Hg.): Thomas Locher. Politics of
Mill, James Stuart: Der Utilitarismus [1863]. Stuttgart Communication. Ostfildern 2003.
1976. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1.
Mongayt, Anna (Hg.): Unconditional Love. Arsenale Frankfurt a. M. 1983.
Novissimo, Nappa 89, Venice. Moskau 2009. Weibel, Peter (Hg.): Kontext Kunst. Kunst der 90er
Murakami, Takashi: Superflat. Tokyo 2000. Jahre. Köln 1994.
Paglia, Camille: Agonie und Ekstase. Das flüchtige Karen van den Berg
Glück des abendländischen Künstlers. In: Heinrich
335

VII. Glück in den Religionen

1. Glück im Taoismus ten auf den rechten Augenblick – nichts erzwingen


zu wollen ist diese oft als ›bäuerlich‹ bezeichnete
und Konfuzianismus I. Haltung: »Ein Mann aus Song war traurig darüber,
Wunschlos im diesseitigen dass sein Korn nicht [schnell genug] wachsen wollte,
und so zog er es, Sprössling für Sprössling, in die
Wohlstand Höhe. Ganz zerschlagen kam er nach Hause und
sagte: ›Heute bin ich aber müde, ich habe dem Korn
beim Wachsen geholfen!‹ Sein Sohn rannte hinaus
Glück zwischen Diesseitigkeit aufs Feld und da sah er, dass alle Sprösslinge verwelkt
und Erlösung dalagen« (Mengzi IIA2; Wilhelm/Mong Dsï 1982,
70).
Den bäuerlichen Lebenswelten, aber auch frühen Wie in allen Religionen nimmt auch in den Religi-
hierarchisch strukturierten Vergemeinschaftungs- onen Chinas die Erfahrung der Kontingenz einen
formen verdankt sich in China der spezifische Bezug zentralen Platz ein, das heißt die Erfahrung, dass es
aller religiösen Vergewisserungsbedürfnisse auf die nicht von einem selbst und auch nicht von der Befol-
Frage nach Glück und Wohlstand. Fruchtbarkeit, Ge- gung von Regeln oder Geboten abhängt, ob es einem
fahrenabwehr und Deutung des Unerklärlichen wa- gut geht, oder ob man ins Unglück gerät. Was in
ren zunächst die Bezugsgrößen. Die darauf basie- China als Glück empfunden wurde, war nicht so ver-
rende Weltsicht der religiös-philosophischen Sys- schieden von Glücksvorstellungen anderer Men-
teme hat entsprechende Glücksbegriffe formuliert. schen in anderen Kulturen, doch gibt es ein spezi-
Dabei standen Wohlstand und langes Leben im Vor- fisch chinesisches Glücksstreben, das mit einem ge-
dergrund. Dieser Grundhaltung suchten die meisten lingenden Leben verknüpft ist. Selbst im glückhaften
Lehren zu entsprechen, wobei die sich auf Konfuzius Rückzug in die Natur oder in der Jenseitserfahrung
berufende Regierungslehre das Glück des Volkes waren die sozialen Bindungen nicht hinderlich.
zum leitenden Prinzip erklärte (Lunyu 13.16), wäh- Glück war immer auch Glück im sozialen Kontext.
rend der Taoismus in der Hinwendung zu den Glück war in der Gesellschaft, zugleich aber auch in
Rhythmen des Kosmos die Grundlage für alles Wohl- der Idylle, in der Einheit des Menschen mit der Na-
ergehen sah und sich gegen jede Gestaltungsabsicht tur ebenso wie im gelingenden Austausch mit den
und jegliches Streben als störende Einmischung ver- Göttern erfahrbar. Es war auch im Vergessen und in
wahrte, denn »höchstes Glück ist Abwesenheit des der Überwindung der Grenzen des eigenen Verstan-
Glücks« (Wilhelm/Dschuang Dsï 1951, 136). Bei al- des zu finden, wie es im Chan (Zen) zur Grundhal-
ler Verschiedenheit zwischen den Denkschulen wa- tung wurde.
ren die Glückskonzepte im Grunde ähnlich, wie Dabei hängt das Glück aber ersichtlich nicht nur
überhaupt die Religionen und Schulen weniger al- von der eigenen Leistung ab, sondern vom Wohlwol-
ternativ als komplementär zueinander standen. Da- len der Götter und/oder der Ahnen. Hierfür galt es
her sind Taoismus und Konfuzianismus auch keine zu danken und die Verantwortlichkeit zuzurechnen.
Gegensätze, und seit der Mitte des 1. Jahrtausends Wer angerufen werden musste, ist daher unter-
wurden beide zudem durch die Begegnung mit bud- schiedlich. Früh schon findet sich die Instanz des
dhistischen Lehren verändert. Der Harmonie statt Himmels (tian). Daneben gab und gibt es vielerlei
Dissens befördernden Komplementarität entsprach Geister und Götter, deren Zuwendung erstrebt wer-
in der Bewusstseinshaltung des Einzelnen die Nei- den kann. Und doch wird der Mensch nie ganz aus
gung zu einer als positiv angesehenen Ambivalenz, der Verantwortung entlassen, wie eine Passage in den
die ihren Ausdruck auch in dem Charakterzug der im Jahr 239 v. Chr. kompilierten »Annalen des Lü
Geschmeidigkeit fand. Dazu gehörte auch das War- Buwei« (Lüshi chunqiu; Unger 2002, 19) betont. Wie
336 VII. Glück in den Religionen

sehr das Glücksverständnis eingebunden war in die Mittelalters mit ähnlichen Transzendierungen der
soziale Vorstellung, zeigt auch ein im Buch Liezi eigenen Begrenztheit und Bestimmtheit, die dann
überlieferter Dialog zwischen Konfuzius und einem besonders im Meditationsbuddhismus seit der Tang-
Einsiedler, in dem schon Gedanken von Reinkarna- Zeit eine neue Ausprägung erfahren hat (21). Die
tion anklingen und der bereits unter buddhistischem Bildungsexpansion und die Einführung von auf Bil-
Einfluss formuliert worden sein dürfte (Wilhelm/Liä dung und Literarität fußender Beamtenrekrutierung
Dsï 1974, 38 f.). Die insgesamt starke Weltzugewandt- trugen mit dazu bei, dass in China immer größere
heit der chinesischen Lebensorientierung war dabei Teile der chinesischen Bevölkerung an solchen me-
durchaus vereinbar mit dem Wunsch nach der An- ditativen Erfahrungen partizipieren konnten. Dieser
teilnahme an diesem stets mehr oder weniger gelin- spirituelle Freiraum hat dann umgekehrt seinen An-
genden Wandlungsprozess. Neben einer ganz dies- teil daran, dass sich Volkskulte immer nur begrenzt
seitigen und als skeptisch zu bezeichnenden Tradi- durchsetzten.
tion gab es daher immer auch die Vorstellung einer
Himmelsreise, wie sie uns u. a. in den Chuci, den Entsprechungsdenken und Unsterblich-
»Gesängen aus Chu«, überliefert ist. Die skeptische
keitssuche
Tradition scheint sich aber selbst in jenem Ritual
niedergeschlagen zu haben, das sich als »Zurückru- Viele der Volkskulte sind mit dem institutionalisier-
fen der Seele« (Zhaohun) im Zusammenhang mit ten Taoismus verknüpft und haben dort vor allem in
bestimmten Totenzeremonien in der Späteren Zhou- Lebensverlängerungstechniken ihren Ausdruck ge-
Zeit herausgebildet hatte (Erkes 1914) und in dem funden. Dabei spielten die Suche nach bestimmten
die Seele vom Verlassen der Welt zurückgehalten Drogen und deren Anwendung sowie Atemtechni-
werden soll. Die nachhaltige Entwertung des Jenseits ken und sonstige Körperübungen eine Rolle (Kohn
zugunsten des Diesseits manifestiert sich in der Häu- 1989). Es gab sowohl die flüchtige, gewissermaßen
figkeit des Zhaohun-Motivs in der Grabikonogra- ekstatische ›Reise ins All‹ und in paradiesische Sphä-
phie der Östlichen Han-Zeit. Die Seelen werden auf- ren, als auch die Stabilisierung und Selbstbewahrung
gefordert, in ihrem irdischen Bereich zu bleiben bzw. im Hier und Jetzt, in ruhigem Allumfassen. Beson-
dahin zurückzukehren. Dabei werden die Gefahren ders bekannt wurde die als Qigong bezeichnete Kör-
geschildert, denen sie sich in den vier Weltgegenden, perübung, deren neuerliche Praxis auf eine Renais-
im Himmel und im Jenseits aussetzen würden. Da- sance des Buddhismus und bestimmter reformisti-
gegen werden die Annehmlichkeiten und Freuden scher und vitalistischer Strömungen an der Wende
des irdischen Daseins ausgemalt. Solche Glücksschil- vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückgeht.
derung fand Eingang in alle Bereiche der bildenden Die Grundlage für das darin zum Ausdruck kom-
Künste (Finsterbusch 2006). mendes Entsprechungsdenken war schon früh ge-
Diese Spannung zwischen innerweltlicher Glücks- legt worden, wie bei Dong Zhongshu (179–104
suche und Hoffnung auf Erlösung hat bis in die Ge- v. Chr.), dem großen Systematiker, der in seinem
genwart die Gemüter immer wieder erregt, und bis Chunqiu fanlu die Beziehung der Yin-Yang-Lehre zu
heute ist die Vorstellung vorherrschend, dass Glück der Fünf-Wandlungsphasen-Theorie (wuxing) im
und langes Leben auch etwas mit der Gunst der Geis- Hinblick auf die menschlichen Gefühle darlegt
ter und Götter, nicht zuletzt aber auch etwas mit der (Chunqiu fanlu, 46). So können sich Himmel und
eigenen moralischen Persönlichkeit zu tun hat. Mit- Menschen aufeinander beziehen. Durch die Synergie
teilungen wie der Bericht vom Schmetterlingstraum der zeitlich geordneten Kräfte des Kosmos entsteht
bei Zhuangzi haben gelegentlich einen melancholi- die Kultur und wandelt sich. In diesem Horizont
schen Unterton, doch zumeist sind sie wie ganz be- wurden auch ältere Traditionen gedeutet. Die Berei-
sonders die Rede von der Freude der Fische (Wil- sung des Kosmos, wie sie in den »Gesängen des Sü-
helm/Dschuang Dsï 1951, 134) hoch gestimmt, dens« (Chuci) und bald dann auch in der Gattung
berichten von Himmelsreisen oder sonstigen kosmi- der Reimprosa (fu) beschrieben wird, wird als Aus-
schen Erlebnissen und beerben auf diese Weise jene druck einer Praxis der Selbstkultivierung angesehen.
Transzendenzerfahrungen, die in der Frühzeit wohl Die als kulturkritisch zu bezeichnende Haltung
nur den Spezialisten zugänglich waren. Dabei geht bei Zhuangzi, der von einem goldenen Zeitalter
die Vorstellung einer unio-mystica-Erfahrung weit spricht, in dem alle glücklich und selbstzufrieden
zurück, und sie verbindet die daoistische Mystik des waren, propagiert eine zwangfreie Existenzform
1. Glück im Taoismus und Konfuzianismus I. Wunschlos im diesseitigen Wohlstand 337

(Wilhelm/Dschuang Dsï 1951, 67). Traditionskritik für Langlebigkeit und Unsterblichkeit. In: Monu-
verwies auf die Verantwortung des Einzelnen in der menta Serica 54 (2006), 47–74.
Welt. So verkündete Wang Chong (27–100 n. Chr.; Han Feizi: Jishi. Shanghai 1974.
Wang Chong 1969, 414), es bedürfe keiner glückver- Jullien, François: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück.
heißender Zeichen, was sich an den vorbildlichen Berlin 2006.
Herrschern des Altertums zeige, die den Großen Karlgren, Bernhard: The Book of Documents. Stock-
Frieden erreichten, ohne dass es himmlische Vorzei- holm 1950.
chen gegeben hätte. Kern, Iso: Das Wichtigste im Leben. Wang Yangming
(1472–1529) und seine Nachfolger über die ›Ver-
wirklichung des ursprünglichen Wissens‹. Basel
Wohlbefinden des Volkes 2010.
Knauer, Elfriede R.: The Queen Mother of the West. A
Weil auch in China Glück immer »von dem Hori- Study of the Influence of Western Prototypes on the
zont, unter dem der einzelne oder die Gesellschaft Iconography of the Taoist Deity. In: Victor H. Mair
die Welt erblickt« (Bauer 1976, 173) abhing, haben (Hg.): Contact and Exchange in the Ancient World.
sich Glücksvorstellungen gewandelt und verscho- Honolulu 2006, 62–115.
ben. Das 20. Jahrhundert ließ in China viele nach ei- Kohn, Livia: Taoist Meditation and Longevity Tech-
nem Neuen Menschen und damit auch nach einem niques. Ann Arbor 1989.
neuen Glück fragen. Doch nach wie vor wird bei al- Möller, Hans-Georg: In der Mitte des Kreises. Daoisti-
lem Vorrang, den die je eigenen Interessen ein- sches Denken. Frankfurt a. M. 2002.
schließlich der inzwischen vielfältigen Konsuminte- Schmidt-Glintzer, Helwig: Vom gelungenen Leben der
ressen haben, dem Wohlbefinden des Volkes, so der Vielen. Das Glück der Massen und das Leiden des
Ausdruck yue bei Konfuzius, die oberste Priorität ge- Einzelnen in China. In: Venanz Schubert (Hg.): Aus
geben; ihm soll jede gute Regierung verpflichtet sein. dem Ursprung leben. Lebenskunst – neu bedacht. St.
Als Voraussetzung für gutes Leben gilt weiterhin, Ottilien 1997, 171- 197.
dass jeder seinen Platz innerhalb der Gemeinschaft –: Wohlstand, Glück und langes Leben. Chinas Götter
kennt. Hierzu dienen weiterhin Rituale, die eben da- und die Ordnung im Reich der Mitte. Frankfurt a. M.
durch befriedigend sind, dass sie von geteilten An- 2009.
nahmen ausgehen. Solcher Konsens macht Rituale Unger, Ulrich: Das Glück der alten Chinesen. In: mi-
auch dann noch vollziehbar, wenn sie unter dem nima sinica 1 (2002), 1–26.
Wang Chong: Lunheng jiaoshi (Hg. Huang Hui). Taibei
Vorbehalt des ›als ob‹ stehen, wenn es also die Hei- 2
1969.
ligtümer, auf die sie sich beziehen, schon lange nicht
Wilhelm, Richard/Dschuang Dsï: Das Wahre Buch vom
mehr gibt und vielleicht niemals gegeben hat. In die-
Südlichen Blütenland. Düsseldorf 1951.
ser im Rahmen der vor mehr als zweitausend Jahren Wilhelm, Richard/Liä Dsï: Das wahre Buch vom Quel-
organisierten ersten Reichseinigung gewonnenen lenden Urgrund. Düsseldorf 1974.
Nüchternheit und Rationalität liegt bis heute in Wilhelm, Richard/Mong Dsï: Die Lehrgespräche des
China die Basis für die Ermöglichung des Glückes Meisters Meng K’o. Köln 1982.
für den Einzelnen. Helwig Schmidt-Glintzer

Literatur
Bauer, Wolfgang: China und die Hoffnung auf Glück.
Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen. München
1971.
–: Ackerbau im Paradies. Glücksvorstellungen im Alten
und im Neuen China. In: Friedrich Georg Jünger u. a.:
Was ist Glück? Ein Symposion. München 1976, 171–
204.
Erkes, Eduard: Das ›Zurückrufen der Seele‹ (Chao-
Hun) des Sung Yüh. Leipzig 1914.
Finsterbusch, Käte: Zur Ikonographie der Östlichen
Han-Zeit. Chao Hun, Pforte zum Jenseits, Symbole
338 VII. Glück in den Religionen

2. Glück im Taoismus das Glück eines Menschen daran, wie viele Generati-
onen mit ihm unter einem Dach – besser, chinesisch:
und Konfuzianismus II. in einem Gehöft – wohnten, als er starb.
Zur politischen Ökonomie Über den alten Konfuzius haben schon alte Kom-
mentatoren bemerkt, dass er, sobald er den Mund in
des Glücks im alten China seinen Gesprächen aufmachte, schon das Wort lè , alt-
chinesische Aussprache wohl etwa »glak«) ›Glück‹
gebrauchte. Ihm ist im ersten Abschnitt des ersten
Die Enzyklopädie Huáinánzı̌ aus der Mitte des 2. Buches seiner Gespräche dann die alte Freundschaft
Jahrhunderts vor Christus zehrt von den Vorbildern eine Quelle des Glücks und ein höheres Vergnügen
des Dàodéjīng und des Buches Zhuāngzı̌, um einen (vgl. auch Gespräche 16.5). Bei solchem höheren Ver-
umfassenden, ja fast enzyklopädischen Fürstenspie- gnügen vergaß er alle Sorgen (Gespräche 7.19).
gel zu konstruieren. Das Wohl des Staates nimmt in Konfuzius wusste genau, dass dem bitter armen
dieser Enzyklopädie seinen Ausgangspunkt in einer gemeinen Volk zunächst einmal vielleicht nicht so
mystischen Glückseligkeit seines Herrschers, dem sehr das Geld, sondern der materielle Wohlstand,
der Mystizismus dann zur Staatskunst gerinnt. Die der Reichtum als Maßstab der Glückseligkeit vor-
glückselige Vereinigung des Herrschers mit den kos- schwebte. Fú war ›Wohlstandsglück‹, eng verwandt
mischen Kräften, die diese Welt durchwalten, wird mit fù ›Reichtum‹. Hiervon setzt sich Konfuzius ganz
zur kosmo-politischen Grundlage für die höhere bewusst ab. In Armut glücklich zu sein (Gespräche
Harmonie zwischen Staat und Universum. Und die 1.15), das war ihm durchaus ein Ideal. Das war ein
Glückseligkeit des Herrschers liegt dann genau in Ziel, das seines Erachtens der Lieblingsschüler Huí
seinem höheren Sinn für diese höhere Harmonie. in mustergültiger Weise erreicht hatte (Gespräche
Auch der normale Bürokrat hatte, in diesem Zu- 6.11). Ein hohes Vergnügen war es dem Konfuzius in
sammenhang, im Staat eine höhere Rolle zu spielen, der Tat, fleischlos zu essen, Wasser zu trinken und
sofern er durch mystische, glückselige Sensibilisie- ohne Kopfkissen zu schlafen (Gespräche 7.15; ver-
rung für die höhere Harmonie der Sphären von Yin mutlich hat es die Bequemlichkeit nicht allzu sehr
und von Yang, vom Weg, von dem natürlichen Gang beeinträchtigt, auf die steinharten Kopf›kissen‹ der
der Welt, von den fünf phasenhaft verknüpften Ele- alten Chinesen zu verzichten). Als originaler Mora-
menten (wúxíng) in jenen höheren Kontext eintrat, list setzt Konfuzius sich notgedrungen vom Gängi-
für den der Kaiser hauptverantwortlich, die Könige gen und Selbstverständlichen bewusst ab. Ohne in
und Herrscher nebenverantwortlich und die Büro- dieser Weise zum Selbstverständlichen auf Distanz
kraten unterverantwortlich zeichneten. Wir haben es zu gehen, wäre er ja eben auch nie als Denker be-
also, in dieser Phase der historischen Entwicklung in rühmt geworden.
China, mit einer Hierarchie der Glückseligkeiten zu Wissen von einer Sache reicht nicht heran an
tun, in der allerdings auch das gemeine Volk, wie- Freude an dieser Sache; und diese Freude an der Sa-
wohl kaum noch hörbar, leise mitsingt und auch ri- che ist wieder gar nichts im Vergleich zu jenem hö-
tuell mitschwingt. heren Vergnügen an der Sache, das in den Bereich
Die Glückseligkeit des Herrschers wird zur Staats- der Glückseligkeit gehört (Gespräche 6.20). Selbst
grundlage hochstilisiert. Die Glückseligkeit des ge- seine oberste Tugend, die Gutherzigkeit oder Mit-
meinen Menschen bleibt weitgehend außerhalb der menschlichkeit (rén), stellt er scheinbar gelegentlich
Diskussion, aber eben die mystische Glückseligkeit in den Dienst dieses höheren Vergnügens. Ohne gut-
des Herrschers ist es, die das Glück der Menschen in herzig (rén) zu sein, unterstreicht er, wird es nie et-
einer kosmo-harmonischen Gesellschaft möglich was mit der langewährenden Glückseligkeit (Gesprä-
macht. Das Glück des Herrschers als solches, ganz che 4.2).
abgesehen von dieser mystischen Glückseligkeit, Allgemein bezog sich die Glückseligkeit nicht auf
bleibt dann allerdings wenig überraschend im Fami- das isolierte Individuum in seinem Privatleben, son-
liären und Sozialen befangen: Ein langes Leben in dern auf das Individuum in seiner Eingebundenheit
Friedlichkeit und Wohlstand stehen da an erster in Familie, Gesellschaft und – oft deutlich entfernter
Stelle, vor allem aber immer im Schoße einer viel- – in einen Staat. Die asymmetrisch Hierarchie zele-
gliedrigen Familie in der möglichst viele Generatio- brierende Liebe zwischen Kindern und Eltern, und
nen unter einem Dach leben. Man misst geradezu die ebenso hierarchische Liebe zwischen den jünge-
2. Glück im Taoismus und Konfuzianismus II. Zur politischen Ökonomie des Glücks im alten China 339

ren Brüdern einerseits und dem großen Bruder, dem die doch eher prosaische Glückseligkeit des Men-
Ältesten der Bande, dem die Nachfolge als pater fa- schen bestand ihnen zufolge im gelebten Dienst an
milias zustand, darum ging es. Glückseligkeit liegt eben diesem Volkswohl. Schlicht gesagt ging es da-
also nicht in der Symmetrie von Gegenseitigkeit, rum, dem Volk zu nützen. Die Glückseligkeit lag in
sondern in der emotionalen Beseligung von vorge- der Praxis der symmetrischen Gegenseitigkeit der
gebenen hierarchischen Strukturen: Trifft man in Menschenliebe, dem enthusiastischen, ethischen
China jemanden zum ersten Mal, muss bis auf den Universalismus, dem verinnerlichten und vergeist-
heutigen Tag zunächst einmal entschieden werden, lichten Widerstand gegen jeglichen Lokalpatriotis-
wer denn hier der ›größere Bruder‹ ist. Dieser mo- mus und Familienpatriotismus oder Tribalismus.
derne Brauch ist ins scherzhafte oder spielerische ge- Kein Wunder, dass diese Tradition des Mohismus in
sunkenes, gewichtiges Kulturgut. In alten Zeiten war der chinesischen Tradition links liegen gelassen
dies oft bitterer Ernst. Die hierarchische Struktur der wurde, samt ihrer hochentwickelten Logik und Ar-
Gesellschaft wurde überall inszeniert. Glückseligkeit gumentationskunst. Weder die buddhistische Logik
bestand gerade darin, seinen Ort in dieser immer noch Euklids Beweise haben in China glückhei-
wieder sozial bestätigten Hierarchie mit echtem, tief schende Bewunderung erleben dürfen. Grau ist den
gefühltem emotionalen, ja oft fast sentimentalem In- Chinesen alle bloße Theorie immer gewesen und ge-
halt zu füllen: auch die unerträglich aufdringliche blieben, sehr im poetischen Geist Goethes (vgl. je-
Mutter und den grausamen Vater als liebevoll zu er- doch Engelfriet 1998).
leben, den völlig vertrottelten ältesten Bruder als
vielversprechenden Nachwuchs, den elenden Tyrann Literatur
als edlen Herrscher und so fort. Zu all diesem rituali-
Bauer, Wolfgang: China und die Hoffnung auf Glück.
sierten Emotionalismus würde Konfuzius sagen:
München 1971.
›Darin liegt ein hohes Vergnügen‹ (lè zài qí zhōng).
–: Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdar-
Dieses ist die Glückseligkeit des Konfuzianers, die
stellung in der chinesischen Literatur von ihren An-
wieder weit über das hinausgeht, was Wohlstand, fängen bis heute. München 1990.
Wollust, Ruhm, Macht und Ehre dem Konfuzianer –: Das Stirnrunzeln des Totenkopfes. Über die Parado-
zu bieten haben. xie des Todes in der frühen chinesischen Philosophie.
Und noch eines ist von zentraler Wichtigkeit für In: Constantin von Barloewen (Hg.): Der Tod in den
den Konfuzianer im alten China: Das Glück ist für Weltkulturen und Weltreligionen. München 1996,
ihn sozial nicht nur im Sinne der sozialen Einbet- 247–281.
tung. Die Glückseligkeit ist fast immer als gemein- Bodde, Derk: Festivals in Classical China. New Year and
schaftliche gedacht und gewünscht, im Kreis nicht Other Annual Observances during the Han Dynasty
nur von geschätzten Kollegen (péng) sondern gerade 206 B.C.-A.D. 220. Princeton 1975.
von Gleichgesinnten (yǒu). Glück wird vor allem als Engelfriet, Peter M.: Euclid in China. The Genesis of the
Gemeinwohl, Glück einer Gemeinschaft verhandelt, First Chinese Translation of Euclid’s Elements, Books
erhofft, gesucht, und politisch mit mehr oder weni- I–VI and Its Reception up to 1723. Leiden 1998.
ger Erfolg zuwege gebracht. Dann ist es die Glückse- Güntsch, Gertrud: Ko Hung. Das Shen-hsienchuan und
ligkeit des typisch doch anderen übergeordneten das Erscheinungsbild eines Hsien. Frankfurt a. M.
Konfuzianers, dass er die Bedingungen für solches 1988.
Gemeinwohl schafft. Und doch wird dieses Gemein- Schmidt-Glintzer, Helwig: Wohlstand, Glück und langes
wohl, diese soziale Glückseligkeit, nicht etwa als sum- Leben. Chinas Götter und die Ordnung im Reich der
Mitte. Frankfurt a. M. 2009.
mum bonum diskutiert oder auch nur thematisiert.
Unger, Ulrich: Grundbegriffe der antiken chinesischen
Diese idée fixe der westlichen (aristotelisch inspirier-
Philosophie. Münster 1998.
ten) Philosophie, es müsse ein Etwas geben, dessent-
–: Das Glück der alten Chinesen. In: minima sinica 1
wegen alles andere Wünschenswerte wünschenswert
(2002), 1–26.
sei, hatte bei den Konfuzianern kein pendant. Christoph Harbsmeier
Wohl aber doch bei der von einem abtrünnigen
Konfuzius-Schüler gegründeten Schule der Mohis-
ten, bei denen sehr viel mehr argumentiert und be-
gründet wurde als bei den Konfuzianern selbst. Bei
ihnen sollte nun alles dem Volkswohl dienen, und
340 VII. Glück in den Religionen

3. Glück im Hinduismus. dischen Götter ähneln denen der Griechen und Ger-
manen, repräsentieren aber nicht schon die Götter,
Wege der Erleuchtung die später zu Hauptgöttern des Hinduismus werden.
und Erlösung Eine Ausnahme ist der Schöpfergott Brahma, dem
auch heute noch eine gewisse Verehrung zuteil wird,
der allerdings nicht zu verwechseln ist mit dem (neu-
Als drittgrößte Weltreligion mit ca. 900 Millionen tralen) schöpferischen Urgrund Brahman (zuerst in
Anhängern grenzt sich der Hinduismus von einem Rigveda X, 121 als das Ureine formuliert), wie er in
für Buchreligionen charakteristischen doktrinalen den Upanishaden formuliert wurde und später Fun-
Verständnis von Religion ab. Seinen Namen erhielt dament des Yoga und der Advaita-Philosophie des
er nicht von einem Gott oder einem Lehrer oder Hinduismus wurde. So wird in Rigveda I, 4.2 der
Propheten, sondern von einer Region, dem Flussge- Gott Indra mit dem erleuchteten Bewusstsein und
biet des Indus (Hindus ist der iranische Name für In- dem Somagenuss (Konsum berauschender Substan-
dus), der im Himalaya seine Quellen hat und heute zen) in Verbindung gebracht. Glück wird zugleich als
in Pakistan liegt. Hier entstand um 4500 v. Chr. die körperlich und geistig gedacht. Das Glückssymbol
Induszivilisation (mit den Städten Harappa und Mo- Swastika (Hakenkreuz) entstammt der Kultur der
henjo Daro). Der Hinduismus ist daher als räumlich eingewanderten Indoarier. Das rechtsdrehende
definierte religiöse Tradition des indischen Subkon- Swastika verheißt Glück und Wohlbefinden für Hin-
tinentes aufzufassen und konstituierte sich wohl ab dus, Jains und Buddhisten. Das linksdrehende sym-
dem 5. Jahrhundert v. Chr., als sich durch die Lehrtä- bolisiert das Böse, wird häufig mit Kali Durgha in
tigkeit Mahaviras mit dem Jainismus und Buddhas Verbindung gebracht und wurde 1920 von Adolf
mit dem Buddhismus räumlich und zeitlich nicht Hitler zum Parteiabzeichen gemacht.
weit voneinander entfernt im heutigen Bihar alter- Die Hauptgötter sind zum einen Vishnu, zum an-
native religiöse Angebote entwickelten. Der Charak- deren Shiva. Vishnu als Weltenschöpfer und Welter-
ter des kollektiven Individualismus der in Kasten ge- halter mit seinem weiblichen Koprinzip Lakshmi
gliederten Volksgemeinschaft bleibt traditionsbe- sind freundliche Götter. Lakshmi insbesondere trägt
wusst und zugleich anpassungsfähig. Die Autonomie Aspekte der Verheißung von Reichtum und Glück,
der Dörfer in der Verbindung mit individuellen Le- genauso wie der elefantenköpfige Gott Ganesh. Diese
bensmustern ist eine Lebensform, die auch von Ma- beiden Götter sind hinduistische Glückssymbole
hatma Gandhi aufgenommen wurde, aber in die schlechthin. Shiva ist das Prinzip der kosmischen
Mühlen eines europäisch inspirierten Nationalismus Kraft und Macht sowie der Gegensätze, wird häufig
geriet, der den indischen Subkontinent in einen Staat in Gestalt des Lingam (das männliche Zeugungs-
der Moslems und einen der Hindus aufspaltete. Auf glied) verehrt und zerstört das Alte, um für das Neue
der einen Seite gibt es von jetzt an eine Einheitsspra- Platz zu bekommen. Kali, Shivas weibliches Koprin-
che in der Verwaltung und in der Ökonomie, auf der zip, trägt die schöpferischen kreativen wie destrukti-
anderen Seite zumindest rudimentäre Ansätze zur ven Aspekte offen zur Schau, im positiven Sinne als
Entwicklung einer Infrastruktur. Indien umfasst sehr kulturschaffendes Prinzip im Kampf gegen die Dä-
unterschiedliche Ethnien und Sprachen. Der Hindu- monen, als dämonisch-schreckliches Prinzip in Ge-
ismus hat sich hauptsächlich unter brahmanischer stalt der Kali Durgha, die in jedem ihrer acht Arme
Führung über den gesamten Subkontinent verbrei- (Zeichen der Macht der indischen Götter) eine an-
tet. Er weist regionale Eigentümlichkeiten auf. dere Waffe trägt. Neben den beiden Hauptgöttern
und Brahma, dem Schöpfergott, gibt es eine Vielzahl
Götter und Symbole von kleineren Gottheiten, die in unzähligen Tempeln
verehrt werden.
Die hinduistische Religion umfasst zum einen die
vedische Tradition. Diese besteht aus indogermani- Verständnis gelingenden Lebens
schen Göttern und Schöpfungsmythen der Einwan-
derer, die sich zwischen 1200 und 800 v. Chr. insbe- Im Zentrum des Hinduismus steht das Dharma, das
sondere in das Gangesgebiet und Nordindien aus- religiöse Gesetz der Ordnung des eigenen Lebens
breiteten und ältere Formen einer in Indien vorher und der kosmischen Ordnung. Die Früchte, die der
fremden Sprache mitbrachten, das Sanskrit. Die ve- Mensch durch sein Tun erntet, sind das Ergebnis sei-
3. Glück im Hinduismus. Wege der Erleuchtung und Erlösung 341

ner persönlichen Fähigkeit, seiner Kompetenz, sein wie in der Philosophie. Es bildet sich in nachvedi-
Leben gut und richtig (auch unter Berücksichtigung scher Zeit heraus und gehört in die Zeit der Upani-
der religiösen Riten und Zeremonien) zu führen. Die shaden, der Entstehung der altindischen Philosophie.
Karmalehre entsteht aus allgemeinen Seelenwande- Im Shattapattabrahmana (Brahmana der tausend
rungsvorstellungen in der Zeit der Upanishaden als Lotosblüten) wird der Begriff erstmals im philoso-
Konzeption der Wiedergeburt in einem anderen Le- phischen Kontext erwähnt und wird sehr bald zur
bewesen aufgrund des Handelns in früheren Exis- Bezeichnung des Zustandes der Vereinigung mit
tenzen (Karma: Tun und Wiedergeburt seiner Taten dem Urgrund (Brahman). Die Chandogya-Upani-
inklusive dem Wunsch nach einer glücklichen Wie- shad expliziert Ananda als die Identität von Indivi-
dergeburt), als Anweisung nicht zu einem Leben des dualseele (Atman) und Weltengrund (Brahman).
Müßiggangs, sondern zur Selbstgestaltung des eige- Später bezeichnet der Begriff die Vereinigung mit
nen Lebens eingebunden in ein Ideal der Männlich- dem höchsten Gott. Die durch die Vereinigung mit
keit. Allerdings muss man sein Glück auch nicht er- dem höchsten Gott erreichte Existenzform wird
zwingen, da einem mehrere Gelegenheiten geboten nicht nur als Ananda (Glück), sondern zugleich als
werden. Es gibt keine eskapistische Weltflucht und Sat (Sein) und (Wissen) bezeichnet und macht sol-
keine Zurückgezogenheit in die Einsamkeit der Me- cherart die höchste Form menschlicher Existenz aus.
ditation. Arjuna, der Held der Bhagavad Gita, muss In der Advaita-Tradition (Nicht-Zweiheitslehre) der
lernen, seiner Bestimmung gemäß zu kämpfen, auch Vedanta-Philosophie, der klassischen spiritualisti-
gegen die eigene Verwandtschaft. Das Töten von na- schen Philosophie als Grundlage einer vom klassi-
hen Verwandten wird durch den Gedanken der See- schen Yoga inspirierten Methode und Übung der
lenwanderung relativ bedeutungslos. Allerdings wer- Meditation, wird die Dreieinigkeit von Sein, Wissen
den Kampfesregeln zum Schutz der Kämpfenden vor und Glückseligkeit zur Bezeichnung des höchsten
dem Beginn des Kampfes von den streitenden Par- Zustandes des Meditierenden in der Vereinigung mit
teien ausgemacht. In der Bhagavad Gita wird der dem Urgrund (unio mystica), in der Vishnu-Tradi-
kantisch anmutende Gedanke ausgeführt, dass tion (Vaishnava-Philosophie) zu den drei funda-
Pflicht um ihrer selbst willen erfüllt werden muss, mentalen Attributen des Gottes Vishnu selbst.
ohne Streben nach ihren Früchten, also nicht orien- Im Kontext buddhistischer Traditionen wird der
tiert am Erfolg oder Misserfolg. Tätigkeiten und Wis- Impuls des Yoga unter Einbezug insbesondere der
sen gehören zusammen und werden erläutert durch sexuellen Lebensenergie in der Tantristik (Yoga und
die Pflichten, die durch Kastenzugehörigkeit defi- Tantra) zu einer Lehre, mithilfe geistig-körperlicher
niert werden. Die schlimmsten Feinde für einen Übungen und Meditationen Glück, Liebe und geis-
Hindu sind Gier und Zorn. Die einzelnen Menschen tige Entwicklung in universale Lebensenergie umzu-
sind Werkzeuge des göttlichen Willens, eingeteilt in wandeln. In der Chandogya-Upanishad XII.1 wird
Kasten. Individuelles und kosmisches Gesetz (reprä- eine Methode erwähnt, das Körperbewusstsein von
sentiert in der Kastenordnung) konvergieren. Jede den Sinnen abzuziehen. Es gibt vier Stufen des Be-
Kaste hat ihre eigenen Aufgaben und ihre eigenen wusstseins: Wachen, Träumen, Schlafen und das
Pflichten, die zu erfüllen sind. Pflichterfüllung steht Selbst (Turiya-Zustand). Das Selbst, wenn man die-
über persönlichem Glück. Glück ist in der Hindu- sen Zustand erreicht, gilt als höchste Wonne und als
Tradition so nicht der zentrale Begriff der Heilslehre, höchstes Glück. Der Weg der Meditation führt in der
sondern Moksha (Erlösung) durch Hingabe an einen Überwindung der sinnlichen Welt zur Erleuchtung
Gott oder durch Befreiung aus den Banden des und zum Glück. Später werden daraus verschiedene
Samsara (dem Leiden, das der Alltagsbetrieb hervor- Wege der Meditation (Yoga, Tantra). Damit können
ruft), oft symbolisiert im Rad der Wiedergeburten, wir als Grundzug hinduistischen Glücksempfindens
nicht zuletzt durch Meditation. die (meditative oder philosophische) Rückkehr zum
eigenen Selbst nach Abarbeitung des körperlichen
Philosophische Begründung der bzw. sinnlichen Anteils identifizieren.
Meditation und der Meditationspraxis
Moderne und Hinduismus
Das Wort Ananda meint im Sanskrit Lust, Wollust,
Wonne, Glück, Seligkeit, Ekstase und wird zu einem Die religiöse Einstellung der Massen verändert sich
Zentralbegriff in der hinduistischen Frömmigkeit trotz vielfältiger äußerer Einflüsse zumindest auf
342 VII. Glück in den Religionen

dem Land nur langsam. Nur eine zwar wachsende tigt, neue Orientierungen in sich aufgenommen hat
Minderheit ist modernisiert und säkularisiert und und heute über die Grenzen Indiens hinauswirkt.
lebt überwiegend in den großen Städten. Im Dharma Der Neuhinduismus steht also im Gegensatz zur Or-
manifestieren sich die karmatisch festgelegten Qua- thodoxie, die sich an die traditionellen Formen und
litäten und Eigenschaften eines Menschen. Es ist sozialen Strukturen der Vergangenheit klammert
letztendlich die Lehre von der Erlösung des Men- (Neuner 1964, 162). Modernisierungskonzepte ha-
schen, die zu einer Veränderung der Menschen Hoff- ben es schwer in Indien. Denn diese setzen eine Ge-
nung gibt. Die Karmakonzeption geht von dem schichtsphilosophie und ein Konzept irreversibler
Grundgedanken aus: Wer Gutes tut und sein Leben Zeit voraus. Indien kennt aber keine elaborierte Phi-
richtig lebt, wird glücklich, im schlimmsten Fall bei losophie der Geschichte, nicht den für Europäer fun-
der nächsten Wiedergeburt in einem nachfolgenden damentalen Unterschied zwischen Gestern und
Leben. Dharma als Grundlage einer Kastenordnung Morgen. Entwicklung muss hier wohl viel traditions-
stellt das je eigene Gesetz eines Menschen in den bezogener und mit Rücksicht auf die kulturelle Di-
Mittelpunkt. Die Kastenordnung garantiert Verhal- mension von Entwicklung konzipiert werden. Auf-
tensregulierung und geordnete Tagesabläufe. Die klärung wird in Europa und Indien ganz unter-
Mythen als Erzählungen vom Wandel der Götter auf schiedlich verstanden.
der Erde, die Ursprungslegenden von Tempeln, das
Spiel der Götter und ihr Genießen umschreiben auf Literatur
dieser narrativen Basis den Kern indisch-weltan-
Bareau, André u. a.: Die Religionen Indiens. Bd. III: Bud-
schaulicher Kultur, nicht die Selbstverwirklichung
dhismus, Jinismus, Primitivvölker. Stuttgart 1964.
als atomisiertes westliches Individuum (Subrama-
Gonda, Jan: Die Religionen Indiens. Bd. II: Der Jüngere
nian 2003, 12), sondern in Gemeinschaft und ver-
Hinduismus. Stuttgart 1963.
bunden durch Tradition. So lässt sich Glück realisie- Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.): Panorama der neuen
ren; das größte Glück liegt aber in der Erlösung Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Be-
(Moksha) aus dem Rad der Wiedergeburten ginn des 21. Jahrhunderts. Gütersloh 2001.
(Samsara). Es wird erreicht durch bestimmte Taten Irrgang, Bernhard: Technologietransfer transkulturell.
(Wallfahrten) und durch die Erfüllung bestimmter Komparative Hermeneutik von Technik in Europa,
Riten (z. B. rituelle Bestattung im Ganges). Indien und China. Frankfurt a. M. u. a. 2006.
In Indien blieben Altes und Neues oft nahezu kon- Neuner, Josef: Der Hinduismus im Ansturm der techni-
fliktlos nebeneinander bestehen. Der Hinduismus schen Welt. In: Armin Spitaler/Alfred Schieb (Hg.):
versuchte nicht, fremde Lebensstile zu assimilieren, Wissen und Gewissen in der Technik. Graz/Wien/
sondern er ließ sie neben sich bestehen. Es fand keine Köln 1964, 137–169.
Missionierung statt (Bareau u. a. 1964, 245–268). Der Subramanian, Balasundaram: Anarchist Apartheid to-
populäre Hinduismus, die religiösen Zeremonien wards a Study of the Weltanschauung of Indian Uni-
der Familien, die Feste, die Pilgerfahrten zu heiligen pluralism. In: Yearbook of the Goethe Society of In-
Flüssen und Tempeln und die großen Massenver- dia 2001/2002. Madras 2003, 3–26.
sammlungen bei besonderen Anlässen wie Sonnen- Bernhard Irrgang
oder Mondfinsternissen sind bis heute tief mit dem
Volksleben verbunden – trotz rauchender Fabrik-
schlote und moderner Bildungszentren.
Mit der 1857 durch die Britische Krone begonne-
nen Bildungsreform setzte auch in Indien umfas-
sende Säkularisierungs- und Modernisierungspro-
zesse ein, die zu Reformbewegungen im Hinduismus
führten (Irrgang 2006). Neben dem populären Hin-
duismus gibt es den geistigen Hinduismus, der sich
aus den Upanishaden ableitet und sich in den großen
Systemen der Philosophie ausdrückt. Dieser Hindu-
ismus ist eine Macht, die sich im letzten Jahrhundert
in der Auseinandersetzung mit dem westlichen Den-
ken und namentlich mit dem Christentum gekräf-
343

4. Glück im Buddhismus. werden kann. Gleiches gilt für das Glückskapitel Nr.
30 in derselben Schrift, wo der Zusammenhang des
Glück als Bewusstseins- Schicksals aller Lebewesen bedacht wird; demnach
zustand kann man Glück nicht auf Kosten anderer, sondern
nur in Gemeinschaft mit denselben gewinnen. Glück
ist hier eine Lebensgestaltung entsprechend dem
Zwei Begriffe im Sanskrit kommen vor allem in Weltgesetz (dharma), und dies könne im Familienle-
Frage, um das im indischen Buddhismus entwickelte ben ebenso wie im Asketentum erfüllt werden (Uda-
semantische Spektrum des Begriffes ›Glück‹ zu er- navarga, Kap. 30, 20 ff.). Glück ist das Erscheinen ei-
fassen, mangala und sukha. (Wenn nicht zusammen- nes Buddha, der lehrt, die Gemeinschaft der Mönche
hängende Textabschnitte aus dem Pali – der Sprache, ermöglicht und das gemeinsame Streben inspiriert
in der der buddhistische Kanon verfasst ist – wieder- (Kap. 30, 22). Fast wertungsfrei werden hier noch äs-
gegeben werden, erfolgt die Zitation der buddhisti- thetische und spezifisch buddhistisch-spirituelle As-
schen Begriffe in Sanskrit.) Mangala bezeichnet pekte von ›Glück‹ miteinander verbunden: »Glück
ursprünglich eher ein allgemeines Wohlsein, das ist ein Fluss mit schönen Badeplätzen, Glück ist ein
freilich in kosmischen – vor allem astrologischen – Buddha, siegreich durch die Lehre, stets ein Glück ist
Zusammenhängen wurzelt und auf der Gunst über- der Gewinn von Weisheit, Glück ist, wenn der Glaube
menschlicher Mächte beruht, sowie den günstigen an ein Ich verschwindet« (Kap. 30, 24).
Umstand, das (karmisch bedingte) Schicksal und die Das »Mangala-Sutta« (Kuddakapatha und Sutta
auf Gelübden (vrata) beruhende Kraft, die Wunsch- Nipata) enthält eine Zusammenfassung der Stan-
erfüllungen ermöglicht. Dagegen ist sukha als bud- dards für das rechte Verhalten der Laien, wobei das
dhistischer Terminus technicus zu verstehen, der das Glück (mangala) in Aussicht gestellt wird, wenn man
Ziel des buddhistischen Befreiungsweges (marga) als sich entsprechend verhält und nicht auf Rituale, Di-
Gegenbegriff zu duhkha, dem Grundbegriff der bud- vinationen, Rezitationen usw. vertraut, die sonst üb-
dhistischen Existenzanalyse, bezeichnet. Freilich ist lich waren, um Glück zu erlangen. Dazu zählen die
der Gebrauch beider Begriffe in den kanonischen allgemeinen Tugenden der Wahrhaftigkeit, Mäßi-
Texten keineswegs konsistent, es handelt sich eher gung, Unterstützung der Eltern, Freigiebigkeit, De-
um unterschwellige semantische Tendenzen, die be- mut, Zufriedenheit, Geduld, ebenso Askese (tapas)
reits im frühen Buddhismus verschmolzen sind. und enthaltsamer Lebenswandel (brahmacarya) usw.
In den indischen Traditionen (keineswegs nur im Vor allem aber gilt: Wer sich von den acht Wechsel-
Buddhismus) ist Glück die Zufriedenheit (samtosa) fällen des Lebens (atthakadhamma) nicht erschüt-
der Wunschlosigkeit, die sich einstellt, wenn alle tern lässt, wird hoch gepriesen. Diese sind (nach An-
Wünsche befriedigt sind oder die Erkenntnis gereift guttara Nikaya, Kap. 8,6 u. a.): Gewinn und Verlust,
ist, dass alles Wünschen durch mentale Praxis über- Ehre und Verachtung, Lob und Tadel, Glück und Un-
wunden werden kann, so dass sich geistiger Friede glück. ›Glück‹ also, das im Wechselspiel mit Unglück
(santi) einstellt, in dem alle Bewusstseinsbewegun- erlebt wird, weil es abhängig ist von äußeren Bedin-
gen zur Ruhe gekommen sind. Letzteres ist (wie z. B. gungen, ist kein wahres Glück. Diese allgemeinen
auch im Yoga) Ziel aller buddhistischen Praxis und und auch außerhalb des Buddhismus (bis hin zur
Theorie. Stoa; s. Kap. III.3) propagierten Tugenden werden
Im Buddhismus ist Glück zentral, so dass maßgeb- wiederum kommentarlos und direkt neben das Er-
liche Einführungen in den Buddhismus in deutscher langen des nirvana gestellt. Am Ausgang jeder Stro-
Sprache Titel tragen wie Das Glück – die Botschaft phe, die solche Lebenspraxis preist, heißt es jeweils:
des Buddho (Grimm 1932/1960, in der 3. Auflage Das ist das höchste Glück (etam mangalamutta-
1960 ergänzt durch die bezeichnende Bestimmung mam). Vor allem in den Mahayana-Schulen werden
»des aus den Träumen Erwachten«) oder Der Weg ›weltliche‹ und ›spirituelle‹ Aspekte des Glücks als
zum Glück. Sinn im Leben finden (Dalai Lama 2002). Einheit betrachtet, wie es besonders an den acht klas-
Im Udanavarga wird von einem dreifachen Glück sischen Glückssymbolen deutlich wird, die sich bis
gesprochen (Udanavarga, Kap. 6, 1): ein guter Leu- heute in der tibetisch-buddhistischen Kultur großer
mund, hinreichendes Vermögen und nach dem Tod Beliebtheit erfreuen: der Schirm (chattra) als Symbol
des Himmels Freuden. Dies ist sprichwortartiges königlicher Macht, die zwei goldenen Fische (su-
Wissen, das durchaus vorbuddhistisch interpretiert varnamatsya), wohl Symbol für die lebendige Wach-
344 VII. Glück in den Religionen

heit und Einheit von Dualitäten (denn Fische schlie- spirituelle Praxis, und nur durch sie, prinzipiell von
ßen ihre Augen nicht), die Schatzvase (kalasa) als jedem Menschen erlangt werden kann. Um das
Symbol für Reichtum, der Lotos (padma) als Symbol Heilsziel (nirvana) selbst nicht wieder zum Gegen-
für Schönheit und Reinheit, das rechtsdrehende stand von Wunschprojektionen werden zu lassen,
Schneckengehäuse (daksinavartasankha), das als bedient sich der Buddhismus vorwiegend einer ne-
Horn geblasen wird und zur Lehrpredigt des Bud- gativen Sprachform, d. h. das, was Glück ist, wird aus
dha ruft, der endlos verschlungene Knoten (sriva- seinem Gegenteil erschlossen: sukha ist der Zustand
tsa), der Symbol für die Unendlichkeit der Buddha- des Aufhebens von duhkha. Duhkha als Signatur al-
weisheit ist, das Siegeszeichen (dhvaja), das für den len Daseins wird meist mit ›Leiden‹ übersetzt. Dies
Sieg der Weisheit über die Unwissenheit steht, das ist missverständlich, da auch alle lustvoll erlebten
Rad (cakra), das die buddhistische Lehre und Praxis Zustände als duhkha bezeichnet werden, insofern sie
symbolisiert. vergänglich und ichbezogen sind. Glück ist also nicht
Der Wunsch nach Glück (sukha wie auch man- die lustvolle Empfindung im Unterschied zur Un-
gala) für alle Lebewesen durchzieht die gesamte lust, sondern das Aufhören von Empfindung über-
buddhistische Literatur von Anfang an. So heißt es haupt. Denn Empfindungen sind wechselhaft, sie
im »Metta-Sutta« refrainartig: »Die Wesen alle! sind an die Perspektive des Egos gebunden, das sich
Glück erfüll’ ihr Herz!« Die katechismusartige als Subjekt der Welt gegenüberstehend und damit
Schrift Dhammapada enthält ein ganzes Kapitel un- isoliert empfindet. Durch logische Analyse und me-
ter dem Titel »sukhavaggo« (Abschnitt über das ditative Erfahrung gelangt der Buddhismus hinge-
Glück), wo das Freisein von Hass und Gier, von jeder gen zur Einsicht in das Nicht-Ich (anatta/anatman).
Illusion als Glück (susukha) gepriesen wird; es gibt (Dies bedeutet: Das ›Ich‹ ist eine Bezeichnung, es
kein Glück, das größer wäre als der Frieden des Be- existiert nicht unabhängig von den Grundkonstitu-
wusstseins (n’atthi santiparam sukham). Abgeschie- enten der Person – Körper, Denken, Gefühl usw. –, es
denheit, Gesundheit, Zufriedenheit, Zuversicht – all ist ›leer‹ in Bezug auf inhärente Existenz, denn alles,
dies ist sukha, vor allem aber der Umgang mit wei- was ist, ist nicht aus sich selbst, sondern entsteht in
sen und erwachten Menschen (sadhu dassanam ari- wechselseitiger Anhängigkeit und ist ständiger Ver-
yanam sannivas sada sukho). In der weiteren Ausfor- änderung unterworfen.) Sowohl die Analyse als auch
mulierung der systematischen Philosophie des Bud- die Erfahrung gehen auf den Buddha (›der Er-
dhismus ist dies erweitert worden zu den glücklichen wachte‹, der alle Wunsch-Projektionen hinter sich
Umständen, in die ein Mensch geboren wird, z. B. in gelassen hat, die den Menschen traumhaft verne-
einem Land geboren zu sein, in dem der Buddhis- beln) und seine Erfahrung selbst zurück.
mus blüht, mit einem Körper ausgestattet zu sein, Was aber ist der ›Inhalt‹ der Erfahrung des Erwa-
der Meditation und Einsicht ermöglicht, in einer Fa- chens, mithin das Wesen von Glück (sukha)? Gewiss
milie zu leben, die spirituelle Praxis zulässt usw. All mehr als die bloße Beruhigung des Bewusstseins,
diese Umstände sind abhängig vom karman, d. h. nämlich Weisheit (prajña), die zur Ruhe hinzu kom-
von den positiven Bewusstseinsformungen (punya), men muss, weil es sich sonst nur um eine Form von
die ein Mensch im Laufe vieler Leben erworben hat. Trance handeln würde, was der Buddhismus aus-
Glück ist, wie jede Existenzweise überhaupt, ab- drücklich ablehnt. Beim ›Inhalt‹ des Erwachens han-
hängig vom Bewusstsein bzw. Ausdruck eines Be- delt sich um eine Erfahrung, in der dem Buddha das
wusstseinszustandes (alles entsteht im Bewusstsein Entstehen und die Existenz aller Dinge und Erschei-
als Ausdruck wirkmächtiger Bewusstseinszustände: nungen in gegenseitiger Abhängigkeit (pratityasam-
manopubbangama dhamma manosettha manomaya; utpada) klar geworden ist, und zwar eher intuitiv,
Dhammapada, Kap. 1,1). Bewusstseinszustände aber während die rationale Ausformulierung später in
sind abhängig von vorigen Bewusstseinszuständen, den »Vier Edlen Wahrheiten«, dem »Achtfachen
d. h. die karmische Kette von Ursachen und Wirkun- Pfad« und der »12-er nidana-Kette« erfolgte. Die ge-
gen muss durchbrochen werden, damit der Mensch genseitige Abhängigkeit aller Erscheinungen wahr-
von den selbstverursachten Projektionen des Wün- zunehmen heißt, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich
schens, die auf der Illusion des Ich beruhen, frei wer- sind ohne subjektive Projektionen und Begehren,
den kann. ohne die Welt der Objekte einem daraus isolierten
Spezifisch buddhistisch ist nun aber die Bestim- Subjekt einander gegenüberzustellen. Das ist Glück.
mung des Glücks als mentaler Zustand, der durch Spekulative Fragen nach der ersten Ursache der
4. Glück im Buddhismus. Glück als Bewusstseinszustand 345

Welt, auch nach dem metaphysischen Grund des Bö- Grundelementen (skandhas) nach den Strukturmus-
sen, lehnt der Buddha als irrelevant ab. Er verweigert tern des karman dauernd zusammensetzt, auflöst,
die Antwort darauf, ob die Welt endlich oder unend- wieder zusammensetzt usw. Aus egozentrischer
lich sei, ob ›Seele‹ und Körper identisch oder ver- Selbstbehauptung verkennt der Mensch diese Tatsa-
schieden seien, ob ein Buddha nach dem Tod exis- che und schafft sich die Illusion, beständig zu sein.
tiere oder nicht, weil jede mögliche Antwort nicht Um diese Illusion aufrechtzuerhalten, giert er in
zur Praxis des Befreiungsweges beitrüge. Dennoch einem unstillbaren Durst (trsna) nach Dasein, wobei
spricht der Buddha vom nirvana, dem Inbegriff von ihm alles zum Objekt dieser Gier werden kann, die
höchstem Glück (sukha), als dem »Todlosen« (Pali: ihn stabilisiert. Da diese Haltung auf einer falschen
amata, Sanskrit: amrta, Majjhima Nikaya, Kap. 26), Grundannahme beruht und dem Weltgesetz wider-
das nicht geboren (ajatam), nicht geworden (ab- spricht, muss sie misslingen und immer wieder frus-
hatam), nicht-gemacht (akatam) und unbedingt triert werden. Diese Frustration ist duhkha. Duhkha
(Pali: asankhatam, Sanskrit: asamskrta; Udana, 8,3), ist also weniger ein moralisch-wertender und schon
d. h. dem Entstehen und Vergehen nicht unterworfen gar nicht ein ontologischer, sondern ein epistemisch-
sei. Es ist keineswegs eine Auslöschung von »allem« psychologischer Begriff. Dabei sind das Erleiden von
(Samyutta Nikaya, Kap. 22, 85; Itivuttaka, 49), son- duhkha und die Verursachung von duhkha für an-
dern ein »Ausblasen der Ich-Verhaftung«. Allerdings dere unvermeidlich miteinander verbunden, denn
wird auch der Kreislauf der Wiedergeburten im Bud- beide wurzeln in der Gier bzw. dem Durst (trsna),
dhismus anfangslos gedacht, mithin hat auch das die sowohl bei der Aneignung von Objekten wie
Übel bzw. Leiden keinen Anfang, wohl aber ein Ende. auch bei dem Hass, der entsteht, wenn das Begehren
Der Buddha analysiert: frustriert wird, Gewalt und Leiden freisetzt. Nur
1. Alles, was als Wirklichkeit erscheint, ist zusam- durch Einsicht (prajña), die in meditativer Versen-
mengesetzt (samskrta). kung gründet, kann diese Wurzel des Leidens über-
2. Alles Zusammengesetzte löst sich wieder auf, ist wunden werden. Das vollkommene Freiwerden in
also vergänglich (antiya). diesem Sinne ist das Glück, das der Buddhismus nir-
3. Die Strukturmuster, nach denen sich Zusammen- vana, das ›Verwehen‹ der Egozentrizität und ihrer
setzung und Auflösung vollziehen, sind sich selbst leidhaften Illusionen, nennt. Da die gesamte buddhis-
erzeugende reziproke Kausalitätsketten (karman). tische Lebenspraxis darauf ausgerichtet ist, Leiden
4. Das karman bewirkt, dass alle vergänglichen für andere und für sich selbst zu vermindern, um
Dinge in gegenseitiger Abhängigkeit entstehen Glück zu erlangen, wurzelt die Ethik unmittelbar in
und vergehen (pratityasamutpada). der meditativen Erfahrung, die anzuleiten und zu
5. Alles Vergängliche (anitya) aber ist ›leidvoll‹ (duh- kultivieren das Bestreben jeder buddhistischen
kha). Übung ist.
Das Glück wird, vor allem im ›Mahayana-Bud-
Diese Leidhaftigkeit des Vergänglichen wird unter- dhismus‹ Zentral- und Ostasiens und dort wiederum
teilt in drei Grundformen des Leidens (z. B. Digha im ›Buddhimus des Reinen Landes‹ (sukhavati), als
Nikaya, Kap. 3, 216): Geschenk des Buddha Amitabha (jap. Amida) in-
– Leiden als solches (duhkhaduhkhata), terpretiert. Dieser Buddha hat in vorigen Leben
– das aus dem Fluss der Ereignisse entstehende Lei- aufgrund seiner positiven Bewusstseinsformungen
den (samskaraduhkhata), (punya), karmisch bedingt also, ein reines Land ge-
– das aus der Vergänglichkeit entstehende Leiden schaffen, in dem diejenigen wiedergeboren werden,
(viparinamaduhkhata). die ihm gläubig vertrauen. Dieses Glücksland (su-
khavati) enthält alle Merkmale paradiesischen Le-
Nicht die Vergänglichkeit als solche allerdings ist das bens, vor allem aber ist es der geeignete Ort, zum
Leiden, denn diese ist ein wertneutrales Naturgesetz. nirvana im oben genannten Sinne zu gelangen. Su-
Leidvoll ist vielmehr der Versuch des Menschen, dem khavati ersetzt also nicht das nirvana, d. h. die Be-
Augenblick Dauer zu verleihen (s. Kap. II.6), um sich wusstseinsformung, die Inbegriff des höchsten
selbst Stabilität und Identität (atman) zu geben. Da Glücks ist, sondern verbessert die Voraussetzungen,
der Mensch genauso zusammengesetzt ist wie alle zu jenem Zustand zu gelangen.
anderen Dinge, hat er keine ewige und unzerstörbare Glück ist im Buddhismus ein Bewusstseinszu-
Identität, sondern er ist ein System, das sich aus stand, der durch Übung der Achtsamkeit und Medi-
346 VII. Glück in den Religionen

tation, durch allmähliche oder plötzliche Transfor- 5. Glück im Judentum.


mation des äußeren Bedingungen anhaftenden Be-
wusstseins also, erlangt werden kann und wird. Menschenbild als Ebenbild
Glück ist also nicht abhängig von äußeren Bedin- Gottes
gungen, sondern die Freiheit von jeder möglichen
Bedingtheit. Glück ist die Entwicklung der tieferen
Potentiale des eigenen Bewusstseins, und der Mensch Die Frage, ob die Religion als Weg zum guten Leben
selbst trägt – im Bewusstsein der unauflöslichen Ver- dienen könne, ist keine originäre Frage der jüdischen
bindung mit allen anderen Lebewesen – selbst die Religion. Im Judentum sind Erörterungen darüber,
Verantwortung für die Entwicklung dieses Glücks. was zum guten Leben tauge oder nützlich sei, erst im
Glück ist die wirkliche Bestimmung eines jeden Le- Mittelalter unter dem Einfluss der griechisch-arabi-
bewesens. schen Philosophie aufgekommen. Erst jetzt hört man
von den jüdischen Philosophen oder Theologen Ar-
Literatur gumente dafür, das jüdische Gesetz diene der Glück-
seligkeit (dem Gelingen, hazlacha; s. Kap. I.8) des
Brück, Michael von: Einführung in den Buddhismus.
Menschen. Für die ältere Literatur wie auch für das
Frankfurt a. M. 2007.
traditionelle Judentum bis heute ist dies keine legi-
Dalai Lama: Der Weg zum Glück. Freiburg Br. 2002.
time Fragestellung. Für die biblische und rabbinische
Eimer, Helmut: Buddhistische Begriffsreihen als Skiz-
zen des Erlösungsweges. Wien 2006. Religion sind das Gesetz, das Gebet und die Riten
Govinda, Lama Anagarika: Die psychologische Haltung nicht Dienst am Menschen, sondern Gottesdienst im
der frühbuddhistischen Philosophie. Zürich 1962. buchstäblichen Sinn – sie dienen Gott. Religion dient
Grimm, Georg: Das Glück, die Botschaft des Buddho nicht dem guten Leben des Menschen, sondern sie
[1932]. München 31960. ist die vom Menschen erwartete Reaktion auf die
Keown, Damien: The Nature of Buddhist Ethics. New Forderung Gottes. Die Religion, die Gottheit und die
York/London 1992. von ihr geschaffene Welt sind Gegebenheiten, auf die
Loden Sherab Dagyab Rinpoche: Buddhistische Glücks- der Mensch sich nur einlassen kann, Gehorsam und
symbole im tibetischen Kulturraum. München 1992. Unterwerfung sind die einzig richtigen und mögli-
Pye, Michael/Triplett, Katja: Streben nach Glück. Schick- chen Reaktionen oder Antworten auf das, was durch
salsdeutung und Lebensgestaltung in japanischen die Schöpfung und die Offenbarung Gottes vorgege-
Religionen. Berlin 2007. ben ist, ihnen zu entsprechen ist das Gute für den
Zotz, Volker: Geschichte der buddhistischen Philoso- Menschen, das Glück des Lebens. Die von jüdischen
phie. Reinbek 2003. Denkern oft nur implizit gegebene Antwort auf die
Michael von Brück Frage nach dem Glück ist bestimmt vom jeweiligen
Menschenbild. Glück, das gute Leben, ist demnach
die Erfülltheit dieses Lebens. Es gibt in der jüdischen
Religion nicht die eine Antwort auf die Frage, was ein
gutes Leben sei, weil es nicht ›das‹ jüdische Bild vom
Menschen und vom guten Leben gibt (Grözinger
2005; 2009).
Trotz der durchaus großen Vielfalt ganz individu-
eller und auch allgemeinmenschlicher Antworten
auf die Frage nach dem richtig gelebten Leben und
dem persönlichen Glück durch einzelne Juden, kann
man in der jüdischen Religionsgeschichte dennoch
mehrere Phasen mit charakteristischen Auffassun-
gen vom Wesen des Menschen und seiner Aufgaben
in dieser Welt erkennen. Hier sollen nur einige un-
terschiedliche, aber repräsentative Positionen aus
verschiedenen Epochen herausgegriffen werden, die
biblische, die rabbinisch-antike, die mittelalterlich-
religionsphilosophische, eine frühneuzeitliche, eine
5. Glück im Judentum. Menschenbild als Ebenbild Gottes 347

Sicht aus der Zeit der Nachaufklärung im 19. Jahr- heißt auch in der von Gott gegebenen Ordnung, der
hundert und als Abschluss eine mystische aus dem Schöpfungsordnung wie auch der am Sinai gegebe-
osteuropäischen Chassidismus. nen Bundesordnung.

Glück und Menschenbild Glück und Menschenbild im rabbinischen


in der Hebräischen Bibel Judentum
Die Hebräische Bibel setzt zwei Grunddaten für die In der rabbinischen Theologie, deren Blütezeit auf
Frage nach dem glücklichen Leben, welche für das die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung da-
gesamte Judentum bis in die Gegenwart zentral ge- tiert werden kann, werden die beiden genannten bi-
blieben sind und mit wenigen gnostisch geprägten blischen Grundpfeiler der conditio humana einer
Ausnahmen (Grözinger 2005, 89–186, 568–589, 638– grundlegenden Neudeutung unterzogen (Grözinger
646) die Antworten auf die Frage nach dem Wesen 2004, 263–298). Die neue Sicht der Qualität dieser
und Ziel des menschlichen Lebens prägen. Das erste Welt zeigt sich z. B. an der Neudeutung des bibli-
Grunddatum zur Beurteilung des menschlichen Da- schen Mottos, dass die Schöpfung tov me’od, sehr gut,
seins in dieser Welt ist der Schlusssatz des biblischen sei. Dies deuten die rabbinischen Schriftgelehrten
Schöpfungsberichts: »Und Gott sah alles, was er ge- einmal so: »tov me’od bedeutet: gut ist der Tod (tov
macht hatte, und siehe es war sehr gut« (Gen 1,31). mot)« (Midrash Bereshit Rabba 9.5, I, 70).
Damit ist die Welt, zu welcher der Mensch hinzuge- Der Tod, nach biblischem Verstand noch das
hört und in der er lebt, als »sehr gut« (tov me’od) qua- größte Übel, und der Gegensatz zum guten Leben,
lifiziert – ein grundlegender Optimismus. Für das wird nun selbst sehr gut. Dies ist möglich, weil die
biblische Denken bedeutet dieses Urteil, dass das Welt nun aus zwei Teilen besteht, aus ›dieser Welt‹
menschliche Leben in dieser Welt, und nur in dieser, und aus ›der kommenden Welt‹. Das Urteil von der
im Angesicht des Schöpfers, als grundsätzlich gutes Güte der Schöpfung gilt nur, wenn man beide Welten
Leben gilt. Ein Danach gibt es nicht, zumindest kein zusammensieht. Und dies gilt sodann auch für das
gutes. Das zweite Grunddatum ist die Lehre von der menschliche Leben. Das gute Leben ist ein Komposi-
Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26–28). tum aus dem irdischen und aus dem jenseitigen Le-
Die Gottebenbildlichkeit ist Ausdruck der Erfüllung ben. Nur beide zusammengenommen verdienen das
des menschlichen Daseins auf dieser Erde. Zu ihr ge- Urteil ›sehr gut‹. Das heißt alle Defizite dieser irdi-
hört die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als schen Welt und dieses irdischen Lebens werden im
Mann und Frau, auch dass er fruchtbar ist und sich glückhaften jenseitigen Leben ihren Ausgleich erfah-
mehrt. Zu diesem guten irdischen Leben gehört das ren. Nur beide zusammen machen das gute Leben
Zusammenleben mit den übrigen Wesen der Schöp- aus. Die diesseitige Welt alleine verdient dieses Prä-
fung, denen der Mensch zumindest überlegen ist dikat nicht mehr. So weit zur Deutung des ersten
und über die er Herrschaft besitzt. Grundsatzes.
Es ist diese biblische Lehre von der Gottebenbild- Auch der zweite genannte Grundsatz hinsichtlich
lichkeit des Menschen, die sodann für die gesamte der Situation des Menschen hat eine grundlegende
weitere jüdische Religionsgeschichte entscheidend Neudeutung erfahren. Die Gottebenbildlichkeit des
für die Vorstellung vom guten Leben wird. Für den Menschen gilt von nun an nicht mehr als ein Gna-
biblischen Menschen erscheint diese Gottebenbild- dengeschenk Gottes, sondern als eine lebenslange
lichkeit als ein Geschenk Gottes, das der Mensch in Aufgabe des Menschen. Der Mensch soll durch sein
dieser Welt inmitten der Geschöpfe Gottes, auch der eigenes lebenslanges Streben erst zum Ebenbild Got-
menschlichen Gesellschaft, genießen darf. Die Erfül- tes werden. Diese Anstrengung wird hinfort zum Si-
lung und das Ende dieses guten irdischen Lebens gnum des guten Lebens. Es ist die imitatio dei, die
tritt ein, wenn man kinderreich, alt und lebenssatt den Menschen zum Ebenbild Gottes macht und das
aus dieser Welt scheidet und zuvor im Frieden unter gute Leben charakterisiert, sie ist es auch, die dem
seinem ›Weinstock und Feigenbaum sitzen‹ konnte. Menschen den zumindest schnelleren Anteil an der
Eine vom Leib getrennte Seele, die nach dem Tod anderen Hälfte der guten Welt schenkt, den Eintritt
weiterleben könnte, gibt es einstweilen nicht. Das in das ewige Leben.
gute Leben erscheint demnach als ein Leben, das die Für die Rabbinen besteht die imitatio dei im ethi-
Gaben des Schöpfers in dieser Welt genießt, und das schen Handeln, im Erlangen der Gerechtigkeit im
348 VII. Glück in den Religionen

Gehorsam gegen den Willen Gottes. Darum tritt nun zur intellektuellen Welt- und Gotteserkenntnis. Die
die Befolgung der Gebote zur Erlangung des Lebens- Erfüllung der Gebote, das Zentrum der rabbinischen
glückes in den Vordergrund, sie ist das Signum des Frömmigkeit, wird für ihn nur zu einer hilfsweisen
guten Lebens. Zu ihr gehört – im Gegensatz zum Vorstufe für das Eigentliche, das intellektuelle Leben.
mittelalterlichen Denken – in eminenter Weise auch Diese grundlegende Verschiebung des guten Lebens
das körperliche Handeln. Folglich sind, gemäß dem auf das Intellektuelle hin zeigt sich auch bei der Er-
nunmehr etablierten dichotomischen Bild vom Men- wartung der Erfüllung dieses guten Lebens nach
schen als einem Kompositum von Seele und Leib, dem physischen Tod. Danach liegt das höchste Glück
beide von gleicher Wichtigkeit für das Führen des des Menschen nicht in der Wiederauferstehung des
guten Lebens. Und so erfolgt die Vollendung des gu- Leibes, sondern gerade im Gegenteil. Es ist die Be-
ten Lebens dereinst nicht nur in der Unsterblichkeit freiung vom Leiblichen und die rein intellektuelle
der Seele, sondern in der Auferstehung des Leibes. Anschauung.
Erst dies ist die Vollendung des gesamten guten Le-
bens. Glück und Menschenbild in der italienisch-
Der Gehorsam gegenüber Gott ist der Gehorsam
jüdischen Renaissance
gegenüber den Geboten der Tora. Darum steht im
Zentrum des guten Lebens das Studium der Tora, Das Menschenbild der italienisch-jüdischen Renais-
das zum Tun der Gebote führt. Das Studium der sance ist in ganz neuem Maß wieder auf das irdische
Tora trägt das individuelle gelingende Leben. Zur Er- Diesseits konzentriert, auf dessen Erforschung und
füllung dieses guten Lebens gehört darum das rabbi- Genuss (Grözinger 2009, 93–135). Das Vorbild für
nische Lehrhaus nicht nur im diesseitigen sondern diesen Menschen der Renaissance ist nicht länger die
auch im jenseitigen Leben. Das Lernen ist Lebens- leiblose ewige Welt der Intellekte oder Engel, son-
aufgabe und Lebensziel – allerdings nur der Tora. dern die Vielfalt und die Buntheit der irdischen
Schöpfung. Das paradigmatische Beispiel für einen
Glück und Menschenbild im philoso- in dieser Weise denkenden Renaissance-Juden ist
der venezianische Rabbiner Leone Modena (1571–
phischen Mittelalter
1648). Er selbst war nicht nur der Wissenschaft, den
Das von der griechisch-arabischen Philosophie ge- schönen Künsten, der Musik und der Dichtung und
prägte jüdische Mittelalter hat die rabbinische Di- dem Theater verfallen, sondern auch dem ebenfalls
chotomie des Menschenbildes aufgenommen, aber bei Juden verbreiteten Glücksspiel. Leone Modena
im Sinne der griechischen Philosophie zu einem an- empfand das nachbiblische rabbinische Recht als
thropologischen Dualismus umgeprägt (Grözinger eine Fessel, die Israel von den übrigen Völkern ab-
2004, 414–418, 462–467, 514–524, 542–565). Der grenze und ihm so als ein Hemmnis für ein wirklich
Körper wird nunmehr zum nur vorübergehenden gutes Leben eines Juden in dieser Welt erschien. Die-
Gehäuse des eigentlichen Menschen, nämlich der ses neue Lebensgefühl musste Modena natürlich
Seele oder des Intellekts erklärt – je nach Zugehörig- gleichfalls in die alte Formel von der Gottebenbild-
keit zu den Platonikern oder den Aristotelikern. lichkeit des Menschen gießen. Und er tat dies in der
So erörtert z. B. Moses Maimonides (1135–1205) Weise, dass er neu über den Zweck der göttlichen
die Frage nach dem Wesen des Menschen traditions- Schöpfung nachdachte. Er meinte, der Zweck der
gemäß, an der Lehre der Gottebenbildlichkeit des Schöpfung und die dem Menschen zugedachte Rolle
Menschen. Für ihn besteht die Ebenbildlichkeit des in ihr sei, der Gottheit Vergnügen zu bereiten. Das
Menschen – wider die rabbinische Auffassung – aber bedeutet, dass Gott vom Menschen nicht in erster Li-
nur in dessen Intellekt (1972, 27–30). Damit ist für nie Gehorsam und Gerechtigkeit erwartet, sondern
dieses mittelalterliche Denken auch der Weg zum dass er ihm mit der Begabung des freien Willens Ver-
guten Leben festgelegt. Der Mensch soll zur Voll- gnügen bereitet.
kommenheit streben. Sie aber besteht in erster Linie Während nun aber der freie Wille sich nach rabbi-
in der intellektuellen Vollkommenheit. Die physisch- nischer Auffassung gerade im Ethischen, am Willen
leibliche Vollkommenheit hat demgegenüber nur Gottes, zu bewähren hat, sieht Leone Modena die
dienende und vorübergehende Funktion. Für Mai- Willensfreiheit als Möglichkeit des Menschen, sich
monides ist das gute Leben das Leben der umfassen- zu verändern und das Unerwartete zu tun, was ja al-
den, nicht nur rabbinischen, Wissenschaft, der Weg leine dem Schöpfer Vergnügen bereiten könne. Es ist
5. Glück im Judentum. Menschenbild als Ebenbild Gottes 349

nicht der einheitlich toratreue Mensch, der es Mo- erschließt, welche der Vernunft nicht zugänglich
dena angetan hat, sondern die Abweichung, die bunte sind. Der Glaube muss sich nicht vor das Forum der
Vielfalt des menschlichen Handelns, die unerwartete Vernunft zerren lassen und er darf die Vernunft
Veränderung des menschlichen Tuns, in Kunst, Er- nicht hindern. Das gute Leben ist nach Ascher da-
findungen, neuen Erkenntnissen und gar in ver- rum ein Leben, das auf diesen beiden Beinen steht,
schiedenen Religionen (Modena: Kol Sachal I, 3). auf der Vernunft und auf dem Glauben, und auf kei-
Der von der Gottheit gewollte Mensch ist dem- nes von beiden verzichtet. Das gute Leben des Juden
nach nicht der gradlinig strebende Mensch, der ge- ist nach Ascher das selbstbestimmte Leben aus Ver-
horsame Gottesknecht, der nur das von ihm Erwar- nunft und Glaube, ohne heteronome Verpflichtung
tete tut oder nur nach der Vervollkommnung seines auf ein göttliches Gesetz.
Intellektes strebt. Gesucht ist vielmehr die Vielfalt
der Menschheit, in der es fromme Gottsucher neben Glück und Menschenbild – ein Beispiel
Forschern, Künstlern und einfachen Landarbeitern
aus der jüdischen Mystik
gibt und nicht nur den durch die Halacha (Gebote)
gegängelten Menschen, der allem Weltlichen absagt. Zur Abrundung des Bildes soll wenigstens eine mys-
Das gute und glückliche Leben ist hier das, wel- tische Position angeführt werden, die eine völlig an-
ches Modena tatsächlich lebte, das des kulturell inte- dere Akzentuierung der Lehre von der Gotteben-
ressierten und vergnüglichen Juden, der die rabbini- bildlichkeit und damit des zu erreichenden Le-
sche Halacha verachtet aber toleriert, wo es dem benszieles des Menschen vorsieht (Grözinger 2005,
Frieden des menschlichen Miteinanders dient. Er 809–852). Ich wähle ein Beispiel aus dem osteuropä-
fühlte sich allenfalls dem biblischen Gesetz ver- ischen Chassidismus, Dov Ber, den Maggid aus Mes-
pflichtet, soweit es eben noch praktizierbar ist. Das ritsch (1704–1772). Nach Auffassung des Maggid be-
gute und glückliche Leben erscheint hier als kultu- steht die Welt und mit ihr der Mensch nur dank ei-
relles und wissenschaftliches Streben nach stets ner uranfänglichen felix culpa. Nach der Lehre des
neuen Zielen. Maggid liegt die kreative Fülle der Gottheit, welche
die Welt hervorgebracht hat, in der Einheit des abso-
Glück und Menschenbild im ›Glaubens- luten göttlichen Nichts. Hier im göttlichen Nichts, in
der Fülle der Schöpferkraft, besteht absolute Einheit.
judentum‹ zur Zeit der Aufklärung
Dies ist das Ideal, die absolute Gottesgegenwart, der
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sind im Gefolge Zustand der Schuldlosigkeit. Aber diese Schuldlosig-
der Aufklärung neue Konzeptionen des Judentums keit ist eben Einheit und nicht weltliche Vielheit. Soll
aufgekommen, die das religiöse Leben vor allem eine Welt der Vielheit und der Individuen entstehen,
durch den Glauben ohne Gesetz definieren (Grözin- so muss die Einheit des göttlichen Nichts in die Viel-
ger 2009, 417–443). Entscheidend für diese neue heit der seienden Individuen zerbrechen – und dies
Entwicklung, die hernach die Grundlage für das Re- ist eigentlich der Zustand der Sünde, der Entfernung
formjudentum wurde, war der Berliner Schriftsteller aus der göttlichen Einheit.
Saul Ascher (1767–1822). Er machte im Nachgang Für den Menschen bedeutet dies, dass er, sobald er
zu Baruch de Spinoza (s. Kap. IV.4) entgegen der mit- ›ich‹ sagt, sich von der göttlichen Einheit trennt und
telalterlichen Auffassung eine klare Trennung zwi- in Sünde fällt. Daraus folgt: Der sündige Stand des
schen Vernunft und Glaube. Er meinte aber mit Da- Menschen kann nicht das gute und erstrebenswerte
vid Hume, dass der Glaube neben der Vernunft ein Leben sein, das gottferne Leben ist der Stand, in wel-
unverzichtbares Erkenntnisinstrument des Men- chem er sich als aktives Ich versteht und verhält. Das
schen sei und ewig bleiben werde (Ascher 1792, Ziel des Menschen muss es deshalb sein, dass er nicht
172 f.). Der Glaube ist es, der nach seiner Auffassung nur die gesamte Welt, sondern auch sich selbst, kon-
die Offenbarung erst ermöglicht, wodurch dem templativ und emotional in die Einheit des göttli-
Menschen Erkenntnisse zuteil werden, die der Ver- chen Nichts zurückführt. Und es ist diese mystische
nunft verschlossen bleiben müssen. Und gerade dar- Selbstauflösung, so sagt der Maggid, in welcher der
auf setzt nach seiner Auffassung die Religion. Der Mensch mit dem göttlichen Nichts eins wird – und
Mensch muss daher auf zwei Beinen stehen, auf der dies ist es, was den Menschen erst zum Menschen
Vernunft, die ihm die Erkenntnisse der Wissenschaf- macht (Dov Ber 1976, 38 f.). Die Erfüllung des
ten ermöglicht, und auf dem Glauben, der ihm Dinge Menschseins geschieht in der kontemplativen Selbst-
350 VII. Glück in den Religionen

nichtung und in der mentalen Nichtung der Welt wie Gott des Aristoteles. Frankfurt a. M./New York 2004.
der Gesellschaft – dies ist das gute und glückliche –: Jüdisches Denken, Bd. 2: Von der mittelalterlichen
Leben. Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt a. M./New York
Abschließend darf man sagen: Die angeführten 2005.
Beispiele für jüdische Auffassungen vom guten Le- –: Jüdisches Denken, Bd. 3: Von der Religionskritik der
ben zeigen, dass es die schlechthin jüdische Position Renaissance zu Orthodoxie und Reform im 19. Jahr-
nicht gibt. Jede Generation konnte sich eine oder hundert. Frankfurt a. M./New York 2009.
auch mehrere Definitionen vom Menschsein, dessen Jacobs, Louis: Principles of the Jewish Faith. London
1964.
Zielen und damit vom guten Leben (oder vom
Loretz, Oswald: Die Gottesebenbildlichkeit des Men-
Glück) geben. Die jüdische Religion verfährt nicht
schen. München 1967.
anders als die Philosophie. Die Menschen suchen
Midrash Bereshit Rabba (Hg. Julius Theodor/Chanoch
nach einem ihnen entsprechenden Menschenbild Albeck). 3 Bde. Jerusalem 1965.
und richten ihr Leben danach ein. Der Unterschied Modena, Leon: Kol Sachal. Examen Traditionis (Hg. I.S.
zur Philosophie besteht allerdings darin, dass alle im Reggio). Gorizia 1852 (dt.: Das antitalmudische Werk
Judentum vorgetragenen Lösungen aufs Engste mit Leons »Kol sakhal« (Stimme des Thoren) in deut-
der Gotteslehre und mit der Schöpfungslehre ver- scher Übersetzung. In: Simon Stern: Der Kampf des
bunden sind. Die Verbindung mit der Gotteslehre Rabbiners gegen den Talmud im XVII. Jahrhundert.
wurde im Judentum durch die Lehre von der Gott- Breslau 1902, 188–344).
ebenbildlichkeit gefordert, Gott ist stets das Urbild Karl Erich Grözinger
des Menschen. Und so wie beide Seiten der imago-
Lehre einem steten Wandel unterzogen waren, so
wandelte sich auch die jüdische Schöpfungslehre.
Denn der jeweils beschriebene Schöpfungsprozess
ist mit dem Gottesbild verbunden. Das bedeutet für
die jüdischen Menschenbilder, dass auch sie mit den
kosmologischen Vorstellungen sehr eng verknüpft
sind. Das Bild des Menschen und des guten Lebens
erscheint demnach stets als ein Bezugspunkt in dem
Dreieck, Schöpfer, Schöpfung und Mensch. In dieses
Dreieck wird das Menschenbild eingezeichnet, und
aus ihm ergeben sich die Lebensziele und die Vor-
stellungen vom Glück.
Die Verankerung des menschlichen Lebens in ei-
ner göttlichen Ontologie scheint den religiösen Men-
schen eine Sicherheit zu geben, ohne die ihre Wahl
schwanken könnte. Es ist vielleicht die Furcht vor ei-
nem solchen möglichen Schwanken, welche Religio-
nen auch für gewaltsame Verteidigungsmaßnahmen
ihrer Positionen anfällig machen.

Literatur
Ascher, Saul: Leviathan oder über Religion in Rücksicht
des Judenthums. Berlin 1792.
Belkin, Samuel: In His Image. London/New York/To-
ronto 1960.
Ben Maimon, Moses (Maimonides): Führer der Un-
schlüssigen (Hg. Adolf Weiss). Hamburg 1972.
Dov Ber: Maggid Devaraw le-Ja’akov (Hg. Schatz-Uf-
fenheimer, Rivka). Jerusalem 1976.
Grözinger, Karl Erich: Jüdisches Denken. Theologie,
Philosophie, Mystik, Bd. 1: Vom Gott Abrahams zum
351

6. Glück im Christentum. Testament dargestellt werden, um dann wichtige Sta-


tionen theologischer Reflexionen über das Glück
Gerechtigkeit und die von der Patristik bis zur Gegenwart zu skizzieren.
Hoffnung auf Vollendung
Glück in der Bibel
Von Beginn an hatte das Christentum ein ambiva- Im Alten Testament dominiert ein Verständnis von
lentes Verhältnis zum Begriff des Glücks: Auf der ei- Glück, in dem das gelingende Leben mit gelingender,
nen Seite gehört zum Evangelium vom Reich Gottes, erfüllter Gottesbeziehung gleichgesetzt wurde. Das
vom »Leben in Fülle« und von Heil, Befreiung und Lebensglück hängt letztlich vom Bezug auf einen
Erlösung für alle in der Vollendung der Geschichte unbedingten, transzendenten Grund ab, den die Tra-
auch der Aspekt des Glücks hinzu. Auf der anderen ditionen des Alten Testaments nicht im Sinne eines
Seite aber ist neben der Heilsbotschaft auch das alleinen, apersonalen, ichlosen Absoluten verstehen,
»Wort vom Kreuz« unaufgebbarer Teil des christli- sondern explizit personal bestimmen. Der Grund,
chen Glaubens und damit auch Leid, Unrecht, Schuld der auch das Glück einer jeden Existenz zu garantie-
und Tod als Kennzeichen endlicher Existenz. Die ren vermag, ist in der Perspektive des Alten Testa-
christliche Botschaft vom Heil ist mit der Botschaft mentes JHWH, der eine und einzige Gott (Ex 3,
vom Gekreuzigten unauflöslich verknüpft, der sich 1–16; Dtn 5, 6–10; Dtn 6, 4). Er ist freier Schöpfer,
in seinem Leiden und Sterben mit allen Opfern der Erhalter und Vollender der Welt: »Gelingt oder
Geschichte identifizierte. glückt das Leben, so sprechen die Texte von einer er-
Es kommt hinzu, dass das zu erwartende und er- füllten Gottesbeziehung. Sie bezeichnen diesen Zu-
hoffte Heil niemals nur individuelles Heil bedeutet, stand mit dem Wort schalom […], oder sie sprechen
sondern die Befreiung, Erlösung und Vollendung al- davon, dass dem Menschen Gutes widerfährt (tob)«
ler Menschen und der ganzen Schöpfung. Daraus er- (Lauster 2004, 21; vgl. auch Lang 1994).
wuchs eine tiefgreifende Skepsis gegen den Begriff Schalom und tob im Sinne vollendeten, erfüllten
der eudaimonia, weil er zum einen als Begriff für Glücks jedoch kann der Mensch aufgrund seiner
rein individuelles Glück interpretiert wurde, das wo- Unvollkommenheit und Endlichkeit weder aus sich
möglich noch durch eigenes Vermögen wie etwa das selbst erlangen, noch selbst durch Einsatz eigener
Einüben in Tugenden erreicht werden kann, und Anlagen bzw. Vermögen herstellen; sie sind unge-
weil er zum anderen eher hedonistisch im Sinne blo- schuldetes Geschenk und Gabe Gottes, der aus
ßer Lusterfüllung und eigenen Wohlergehens gedeu- freiem Entschluss seiner ganzen Schöpfung Heil und
tet wurde (s. Kap. III.2–3). Aus diesem Grund grenz- Befreiung zusagt und schenkt, so wie er in ebenso
ten sich viele christliche Autoren von der eudaimo- freiem Entschluss im Akt der Schöpfung aus Nichts
nia ab. Etwas hat entstehen lassen. Allerdings gibt es im
Dennoch aber gab und gibt es in den christlichen Vollzug der endlichen Existenz immer wieder Mo-
Traditionen eine Auseinandersetzung mit dem Be- mente, in denen jenes vollendete Glück aufscheint
griff des Glücks, die sich nicht einfach vom Begriff und so fragmentarisch, gebrochen erfahren werden
des Glücks verabschiedet, sondern ein eigenes, kann. Dennoch aber, so stellt v. a. die Weisheitslitera-
christliches Verständnis des Glücks herauszuarbei- tur heraus, ist das Glück unverfüglich und uner-
ten sucht und dabei neben den Gemeinsamkeiten gründbar, so wie der transzendente Grund der Wirk-
mit philosophischen Reflexionen über das Glück lichkeit, Gott selbst als Geber und Garant des Glücks,
auch die differentia specifica des christlichen Glücks- als Geheimnis der Welt unverfüglich und uner-
verständnisses markiert. Dabei spielen v. a. die Ver- gründbar bleibt (vgl. Rad 1985, 245 ff.), auch wenn er
hältnisbestimmungen von Glück und Heil, von be- sich immer wieder in bestimmten Geschehnissen
dingtem und unbedingtem, vollkommenen Glück, der Geschichte zeigt und so in seiner Offenbarung
von individuellem und kollektivem Glück, von Glück nie rein transzendent, sondern stets durch Welt und
und Verantwortung und von gelingender Lebens- Geschichte vermittelt ist. Hier wird der Glaube als
führung aus eigenem Vermögen und göttlicher Gottvertrauen entscheidend, um angesichts von Leid
Gnade und dem Geschenk vollendeten Glücks eine und Tod nicht an Gott und seiner Schöpfung zu ver-
entscheidende Rolle. Im Folgenden sollen zunächst zweifeln und seine ganze Hoffnung auf Gott und
das biblische Glücksverständnis im Alten und Neuen seine Heilszusage zu setzen (Hiob 42, 1–6).
352 VII. Glück in den Religionen

Im Neuen Testament setzt sich diese Bestimmung Weise wird der Begriff des Glücks in doppelter Hin-
des Glücks fort, denn der Jude Jesus stand unbe- sicht konkretisiert.
schadet seines Vollmachtsanspruches und unbe- Erstens sind Glück und Heil zwar allen verheißen,
schadet eigener Akzentuierungen seiner Verkündi- nicht nur allen Menschen, sondern der ganzen
gung in Kontinuität zu den Überlieferungen des Ju- Schöpfung, in der Gott in der Fülle der Zeit alles in
dentums (vgl. Ebner 2007, 25 ff.; Theißen/Merz allem sein wird. Doch unbeschadet der Universalität
1996; Theißen/Winter 1997, 175–217). Er verkün- des Heils gilt die Heilszusage Gottes, die Jesus be-
dete keinen anderen Gott als JHWH und kein ande- zeugt, vorrangig den Armen und Marginalisierten.
res Heil als das im Bund mit Israel Zugesagte, also Dadurch wird das Glücksverständnis aus einer rein
schalom und tob. Dennoch aber werden im Neuen individualistischen Glücksvorstellung herausgelöst;
Testament zwei entscheidend neue Akzente hin- Glück im Sinne erfüllter Gottesbeziehung und um-
sichtlich des Glücks- und Heilsverständnisses ge- fassenden Heils ist nicht nur das Glück der Einzel-
setzt: Zum einen erfolgt eine Konkretion der Heils- nen, sondern es ist kollektives, ja strukturelles Glück,
zusage in Jesu Botschaft vom nahen Gottesreich, weil es an die Überwindung von Schuld und Tod,
verbunden mit der Aufforderung zur Umkehr (Mk auch von struktureller Schuld und strukturellem Un-
1, 14 f.), und eine Konkretion des Heilsverständnis- recht, gebunden ist. In der Zuwendung Jesu zu den
ses als Leben in Fülle für alle, insbesondere für die Armen und in seinem solidarischen Handeln für
Armen und Benachteiligten, die Schwachen, Sünder und mit den Armen und Schwachen, so die Über-
und Ausgegrenzten (Mt 11, 5 f.). Zum anderen wird zeugung der Autoren des Neuen Testamentes, scheint
das Heil durch die Autoren des Neuen Testaments jenes umfassende Heil mitten in der Geschichte auf.
an die Person Jesu selbst gebunden: In ihm ist das Zweitens wird das Glück zu moralischer Verant-
Gottesreich schon nahegekommen, in seinem Le- wortung in ein Entsprechungsverhältnis gesetzt:
ben und seiner Verkündigung, in seinem Leiden Glückseligkeit ist nicht nur den Armen verheißen,
und Sterben am Kreuz und seiner Auferweckung sondern denen, die ›Recht und Gerechtigkeit‹ üben,
von den Toten ist dem Zeugnis der Evangelien ge- die solidarisch und barmherzig handeln. So gesehen
mäß das Reich Gottes schon antizipiert, in der Ge- werden sie so des Glückes würdig, und ›Glück‹ wird
schichte vorweggenommen. In dieser Hinsicht ver- so von rein egoistischem Wohlergehen, von bloßer
binden sich präsentische und futurische Eschatolo- Lusterfüllung der Einzelnen unterschieden, weshalb
gie: Schon in diesem Leben gibt es Glücksmomente auch der Begriff makarios gewählt wird, nicht der in
und Glückserfahrungen, und Heil und Befreiung den Augen christlicher Autoren so missverständliche
sind nicht erst in der Fülle der Zeit realisiert, son- Ausdruck eudaimonia. Glück und Moral sind sol-
dern anfanghaft in geschichtlicher Kontingenz, cherart unauflöslich miteinander verbunden; das
wenn sie auch der Vollendung durch Gott bedürfen. gute Leben steht unter der Perspektive der Gerech-
Dennoch aber besteht eine Differenz zwischen tigkeit und der Solidarität und erfährt so eine inhalt-
Glück im Sinne konkreter immanenter Glückser- liche Bestimmung, und mit ihm auch das Glück als
fahrungen und dem vollendeten, vollkommenen Lebensziel.
Glück im Sinne des allein von Gott geschenkten Allerdings wird in den Texten auch betont, dass
Heils. Nicht Glück und Heil werden so voneinander das Glück trotz der Aufforderung zur Moralität und
unterschieden, sondern bedingtes, immanentes, mo- damit zum Versuch größtmöglicher Realisierung des
menthaftes Glück und vollendetes, vollkommenes Glücks schon in der Geschichte nicht vom Menschen
Glück, welches mit Heil, letztlich mit der Realisie- selbst vollkommen verwirklicht werden kann. Seine
rung des Gottesreiches identisch ist. Realisation gehorcht nicht dem Kausalitätsprinzip
Eine besondere Bestimmung des Glücks findet von Ursache-Wirkung bzw. Tun-Ergehen. Ebenso
sich im Neuen Testament in den Makarismen (Mt 5, wenig kann es durch noch so moralisches Verhalten
3–10): Das dort verwendete griechische Wort maka- erwirkt, verdient werden. Vollendetes Glück, umfas-
rios wird häufig mit ›selig‹ übersetzt, kann aber auch sendes Heil sind nicht an menschliche Leistung ge-
›glücklich‹ bedeuten (s. Kap. I.1; vgl. Lauster 2004, bunden, sondern sie ergehen allein als ungeschulde-
26 ff.). Die Makarismen preisen die Armen, die Lei- tes Gnadengeschenk Gottes, der das Glück vollendet.
denden, die Sanftmütigen, die Gerechten, die Barm- Das Glück bleibt letztlich unverfügbar, ja unbere-
herzigen, diejenigen, die reinen Herzens sind, die chenbar, wie etwa in den Gleichniserzählungen ver-
Friedfertigen, die Verfolgten. Auf diese Art und deutlicht wird (vgl. Lauster 2004, 29 ff.): Auf Gott
6. Glück im Christentum. Gerechtigkeit und die Hoffnung auf Vollendung 353

kann vertraut und sein Heil kann erhofft, jedoch mische Philosophie anschlussfähig zu machen, an-
nicht erzwungen werden, und seine Glücksvorstel- dererseits aber zugleich das ›entscheidend und un-
lung übersteigt jedes menschliche Glücksverständ- terscheidend Christliche‹ zu markieren. Diejenigen,
nis wie auch die menschlichen Vorstellungen von die einer ›Inkulturation‹ des Christentums in die hel-
Gerechtigkeit (Mt 20, 1–16; Lk 15, 11–32). Diese Un- lenistische Welt offen gegenüber standen, griffen
geschuldetheit und den Gnadencharakter des Heils meist auf den Platonismus und Neuplatonismus zu-
und damit des vollendeten Glücks stellt denn auch rück, um die Kernmotive des Christentums ver-
Paulus etwa im Römerbrief heraus und unterschei- ständlich zu machen. Das galt auch für die Ausein-
det daher stärker als noch die Autoren der Evange- andersetzung der Kirchenväter mit der Glücksthe-
lien zwischen Glück und Heil. matik. Hier sind v. a. die Reflexionen über das Glück
Durch die neutestamentliche Bindung des Heils von Gregor von Nyssa (340–395) und Augustinus
an die Person Jesu und das Bekenntnis zur Selbstof- (354–430) wirkungsgeschichtlich bedeutsam gewor-
fenbarung, ja zur Menschwerdung Gottes in Jesus den.
von Nazareth, wird das Glück im Sinne sowohl er- Gregor von Nyssa leitet in seiner Auslegung der
füllter Gottesbeziehung als auch der Entsprechung Makarismen ›Glück‹ nicht von eudaimonia, sondern
von Glück und Moralität nochmals und über die Be- von makarios ab und spricht richtungsweisend von
stimmung in den Makarismen hinaus in einem wei- der Glückseligkeit (makaristes, lat. beatitudo) als
teren, für das Christentum zentralen Aspekt material Endziel allen Strebens und als Erfüllung allen frag-
bestimmt: Glücklich ist derjenige, der sich auf Jesus mentarischen Glücks. Sie ist zugleich das summum
bezieht, da er sich in ihm bereits auf Gott selbst be- bonum, und dies wiederum ist nichts anderes als
zieht, und glücklich ist derjenige, der nicht nur mo- Gott selbst. Dadurch wird das Glück letztlich mit
ralisch ist, sondern der sich explizit in seiner ganzen Gott selbst gleichgesetzt, es gehört zum Wesen Got-
Existenz in die Nachfolge Jesu stellt. Dabei wird tes (vgl. Gregor von Nyssa 1927, 155 ff.). Glücklich ist
erneut ein rein individualistisches wie eudämonisti- der Mensch daher in vollendeter Weise in der visio
sches Glücksverständnis durchbrochen, denn Nach- beatifica, der Schau Gottes als Resultat eines stufen-
folge kann auch und gerade bedeuten, dass persön- förmigen Aufstiegs der Seele zu Gott, wobei die voll-
liches Unglück, dass Leid, Verfolgung und Tod dro- kommene Schau nicht durch den Menschen selbst
hen. hergestellt, sondern allein von Gott in zuvorkom-
Abschließend lassen sich folgende Kennzeichen mender Gnade geschenkt werden kann. Gregor ver-
des biblischen Glücksverständnisses festhalten: die knüpft hier das Vermögen des Menschen, das ihm
Bindung des Glücks an Gott als Geber und Garant von Natur aus zu eigen ist, mit der Gnade Gottes, die
des Glücks, die Unterscheidung von bedingtem und nicht durch menschliche Leistung erworben und
vollendetem Glück, der Bezug wie die Differenz von durch kein menschliches Vermögen realisiert wer-
Glück und Heil, die Unverfüglichkeit und Unge- den kann.
schuldetheit von Glück und Heil, die Konkretisie- Das Streben des Menschen nach Glück wie auch
rung des Glücks durch die Reich-Gottes-Botschaft die prinzipielle Fähigkeit zu Glückserfahrungen und
und durch die Identifizierung der Person Jesu mit die momenthafter Schau Gottes sucht Gregor durch
der Selbstoffenbarung Gottes und die Bestimmung Bezug auf den platonischen Gedanken der participa-
Jesu als Antizipation des eschatologischen Heils, die tio zu erläutern: Durch das Einwohnen Gottes im
Verknüpfung von Glück und Moralität bzw. von Grund der Seele ist der Mensch Bild Gottes und so
Glück und Nachfolge und der damit verbundene auch Gottes und seines Glücks teilhaftig (vgl. 197).
nicht-individualistische und nicht-eudämonistische, Aufgrund ihrer Endlichkeit jedoch können die Men-
genauer nicht-hedonistische Begriff des Glücks. schen Glück nur fragmentarisch erfahren, sie blei-
ben in Leiderfahrungen, ja auch in Erfahrungen des
Glück in der Theologie der Patristik, eigenen Unvermögens und Scheiterns verstrickt (vgl.
179 ff., 214 ff.). Deshalb ist es dem Menschen nicht
der Scholastik und der Reformation
möglich, vollendetes Glück zu realisieren, noch im
Die Theologen der Frühen Kirche standen vor der Bemühen der Angleichung an Gott wird der Mensch
Herausforderung, einerseits den christlichen Glau- immer wieder auf sich selbst und seine Sündenstruk-
ben in einen hellenistisch geprägten Kontext hinein tur sowie seine Sterblichkeit zurückgeworfen. Das
zu vermitteln und ihn so auch an griechische und rö- Glück ist nur ein Glück des Augenblicks, nie aber
354 VII. Glück in den Religionen

von Dauer. Von Dauer ist es allererst in der Vollen- Menschen nach Glück streben (vgl. Thomas von
dung, die Gott schenkt. Zudem drohen eine Ver- Aquin, STh I–II, 1), unterschied dann aber zwei Be-
wechslung von Glück und purer Lusterfüllung und griffe des Glücks bzw. Glückseligkeit: die unvollkom-
die Konzentration nur auf das eigene, nicht aber das mene Glückseligkeit (beatitudo imperfecta) und die
fremde Glück. Die Sorge um sich ist aber Gregor zu- vollkommenen Glückseligkeit (beatitudo perfecta)
folge immer auch auf die Sorge um die anderen ver- (vgl. STh I–II, 4, 5). Doch trotz der Unterscheidung
wiesen, der neutestamentlichen Verknüpfung von zwischen endlichen und unendlichem Glück suchte
Glück und Moralität entsprechend (vgl. 198 ff.; s. Thomas eine Verbindung zwischen beiden herzu-
Kap. II.3; zu ähnlichen Motiven bei Shaftesbury und stellen und griff dabei auf den platonischen Partizi-
Hutcheson s. Kap. V.1). pationsgedanken zurück: Das bedingte Glück ist
Augustinus (s. Kap. III.4) schreibt diese platoni- Abbild des unbedingten, vollkommenen Glücks, um-
sche Deutung des christlichen Glücksverständnisses gekehrt hat der Mensch auch jetzt schon am voll-
weiter und setzt das Glück mit dem Besitz Gottes kommenen Glück teil (vgl. STh I–II, 5, 3). Gerade
gleich: »Wer Gott hat, ist glücklich« (Augustinus deshalb strebt der Mensch nach Glück im Streben
1982, 11, 25). Damit ist Gott zugleich Endziel allen nach seinem eigenen Ursprung und nach seinem ei-
menschlichen Strebens nach Glück und insofern genen Ziel: Gott. Thomas nannte dies das desiderium
auch das höchste Gut. Wie Gregor bestimmte Augus- naturale des Menschen nach Glückseligkeit, das erst
tinus die Gottesschau als denjenigen Zustand, in in Gott seine Erfüllung findet (STh I–II, 3, 8). Dem-
dem das Glück erlangt werden kann. Diese vollzieht entsprechend findet sich bei Thomas noch kein
sich in der Einkehr zu sich und der intelligiblen strikter Gegensatz zwischen Natur und Gnade: Die
Schau des der Seele einwohnenden Gottes in der me- göttliche Gnade setzt das menschliche Vermögen vo-
moria, dem Grund und der Spitze der Seele (vgl. Au- raus und vollendet das, was im Menschen selbst an-
gustinus 1983, X, 20). Darin genießt der Mensch Gott gelegt ist. Erst in der Spät- und Barockscholastik
als das höchste Gut (frui), weil er um seiner selbst wurde die thomasische Unterscheidung von Natur
willen genossen wird, während alle anderen äußeren und Übernatur bzw. natürlicher und übernatürlicher,
Güter nicht genossen, sondern nur gebraucht wer- gnadenhafter Ordung zu einem ›Gnadenextrinsezis-
den (uti) (vgl. 2002, I, 5). Doch diese Schau und da- mus‹ aufgeladen, wonach die Gnade als etwas gegen-
mit das höchste Glück ist dem Menschen unverfüg- über der Natur Äußerliches betrachtet wird. Das Heil
lich, es bedarf der göttlichen Gnade, auch wenn diese wird allein von Gott geschenkt und ist zudem erst im
an das Vermögen, die Disposition des Menschen ge- Jenseits verwirklicht.
knüpft ist, nach Glück zu streben und Gott im Inne- Jener Gnadenextrinsezismus wurde auch in der
ren seiner selbst zu erkennen. In den Spätschriften Theologie der Reformation zu einem zentralen Mo-
jedoch radikalisiert Augustinus dieses Gnadenver- tiv, der Rechtfertigungslehre Martin Luthers (1483–
ständnis: Glück und Heil kann allein von Gott in 1546) entsprechend: Luther, vom späten Augustinus
Freiheit geschenkt werden, der Mensch dagegen ist sowie von der paulinischen Briefliteratur, v. a. dem
verstrickt in die Verdunkelung seines Erkenntnisver- Römerbrief, beeinflusst, betonte die Sündhaftigkeit
mögens wie seines Willens durch die Sünde (vgl. des Menschen, die auch seine Vernunft verdunkle.
1979, XIX). Daher ist der Mensch Luther zufolge auf die Gnade
Anders als in der Patristik war in der Scholastik Gottes angewiesen, der ihm Heil und Erlösung
nicht Platon, sondern der wiederentdeckte Aristote- schenkt. Diese Gnade ergeht unverdient und unge-
les derjenige Philosoph, an den in theologischen Re- schuldet und ohne Voraussetzung menschlicher
flexionen angeschlossen wurde. Es kam allerdings zu Leistung, weshalb sie auch nicht durch gute Werke
Modifikationen dort, wo die aristotelische Philoso- bzw. gesetzmäßiges Handeln erwirkt werden kann.
phie christlichen Grundüberzeugungen entgegen- Allein durch die gläubige Annahme des göttlichen
stand; hier wurden aristotelische und platonische Wortes und des Erlösungsgeschehens in Jesus von
Motive miteinander verbunden. Dies galt auch für Nazareth ist der Mensch gerettet und vor Gott ge-
die Glückslehre. Ausgezeichnetes Beispiel der scho- rechtfertigt. Den Glücksbegriff lehnt Luther ab, weil
lastischen Überlegungen sind die Reflexionen über er Glück mit egoistischer Lusterfüllung gleichsetzt
das Glück und das gute Leben in der Summa Theolo- und mit etwas, was der Mensch selbst zu realisieren
giae Thomas von Aquins (1225–1274; s. Kap. IV.1). vermeint, wobei er dann sein Herz im Streben nach
Der Aristoteliker Thomas ging davon aus, dass alle Glück an endliche Güter hängt, nicht aber an Gott.
6. Glück im Christentum. Gerechtigkeit und die Hoffnung auf Vollendung 355

Hinzu kommt auch, dass Luthers theologia crucis den szendenz hin ausgerichtet sei. Das Glück werde erst
Akzent auf das ›Wort vom Kreuz‹ setzt und damit im Bezug zu Gott erfüllt, scheine aber momenthaft
auf den Aspekt der Kreuzesnachfolge. Das aber wi- schon in immanenten Glückserfahrungen auf. Voll-
derspricht der Bestimmung von Glück als pure Lust- endetes Glück stehe daher in auflöslichem Zusam-
erfüllung. Luther unterscheidet daher strikt zwi- menhang mit Heil und Erlösung (vgl. Lauster 2004,
schen Glück und Heil und macht darauf aufmerk- 188 ff.).
sam, dass das Heil im Sinne der Erfüllung,Vollendung In der katholischen Theologie spielte die Entde-
und Erlösung nur von Gott gegeben werden und so ckung der präsentischen Eschatologie und die damit
allein erwartet, erhofft und erbeten werden kann verknüpfte Betonung des Anbruchs des Gottesrei-
(vgl. Luther 1515/16/1938). Phillip Melanchthon ches ›schon jetzt‹ mitten in geschichtlicher Kontin-
(1497–1563) übernimmt diese Unterscheidung von genz bei gleichzeitigem Ausstehen der Vollendung in
Glück und Heil bzw. Gesetz und Evangelium (vgl. der Fülle der Zeit (›noch nicht‹) eine wichtige Rolle:
Melanchthon 1989). Anders als Luther misst er dabei Momente jetzt schon erfahrenen Glücks verweisen
aber der menschlichen Freiheit einen wichtigen An- auf das eschatologische Glück, welches in jenen Er-
teil bei, denn kraft der Freiheit ist der Mensch erst fahrungen bereits in den Alltag eingebrochen ist.
dazu fähig, sich für das Evangelium und damit für Umgekehrt kann es nur Glücksaugenblicke geben,
die Heilsbotschaft zu entscheiden und allen Leis- wenn es vollkommenes Glück gibt, das von Gott
tungsansprüchen zu entsagen, wenn er auch nicht kommt, und jenes dient als Kriterium der nicht-eu-
Glück und Heil aus eigener Anstrengung und eige- dämonistischen Bestimmung wahren Glücks im
nem Wollen erwirken kann. Glück im Sinne voll- Sinne einer Entsprechung von Glück und solidari-
kommener Glückseligkeit und damit auch im Sinne schem Handeln (vgl. Boff 1978). Zugleich wird nun
von Heil bleibe ein Akt göttlicher Gnade (vgl. Me- aber auch in der katholischen Theologie die Unver-
lanchthon 1529/1850, 300 ff.). fügbarkeit des Heils und der Gnadencharakter voll-
kommenen Glücks herausgestellt, ohne dabei aber in
Glück in der Theologie von der Neuzeit den Gnadenextrinsezismus der Neuscholastik zu-
rückzufallen (vgl. Greshake 1986, 18 f.). Vor allem im
bis zur Gegenwart
katholischen moraltheologischen Diskurs wird die
In der Neuzeit lassen sich in der Theologie kaum he- Glücksthematik gegenwärtig wieder entdeckt. Dabei
rausragende Überlegungen zum Glücksverständnis wird auf die Verknüpfung von Glück und Moralität
finden; im Katholizismus blieb noch bis ins 20. Jahr- bzw. sittlicher Verantwortung in der christlichen
hundert hinein die neuscholastische Verengung der Ethik hingewiesen und darauf, dass das christliche
thomasischen Glückseligkeitslehre auf einen Gna- Verständnis des Glücks stets die wechselseitige Ver-
denextrinsezismus und auf die Reservierung der strickung von Glücks- und Leiderfahrung betone.
Glückseligkeit für das Jenseits leitend, im Protestan- Jede Rede vom Glück ist durch das »Wort vom
tismus dominierte die altprotestantische Glücks- Kreuz« bestimmt (vgl. Demmer 1991; Arntz 2003,
skepsis. Erst Paul Tillich (1886–1965) rehabilitierte 285 ff.). Insofern sind die Erinnerung des Glücks
den Begriff des Glücks: Das Streben nach Glück so- (memoria beatitudinis) und das Leidensgedächtnis
wie Glückserfahrungen gehörten ihm zufolge zum (memoria passionis) unauflöslich miteinander ver-
Wesen des Menschen und damit auch zur Selbstge- bunden: Kraft der Glückserwartung kann die Über-
staltung der Person in Freiheit, wobei für Christin- windung des Leidens erhofft werden, kraft des Lei-
nen und Christen das Glück letztlich auf Gott als densgedächtnisses verkommt diese Hoffnung nicht
unbedingten Grund allen Seins bezogen sei und da- zur puren Jenseitsvertröstung. Glück und Heil müs-
rin auch sein Maß habe (vgl. Tillich 1968). Damit sen schon jetzt mitten in der Geschichte anbrechen
ebnete er den Weg für protestantische Reflexionen und vorweggenommen werden, eben weil es nie nur
über das Glück. Hier ist v. a. Jörg Lausters Entwurf individuelles Glück, sondern kollektives, strukturel-
einer Theologie des Glücks zu nennen (s. Kap. les Glück meint (vgl. Gruber 1998, 32 ff.). Entspre-
VIII.13). Lauster betont, dass das Streben nach chend wird der Begriff des Glücks auch in einen en-
Glück ein menschliches Vermögen sei, welches den gen Konnex zu dem der Gerechtigkeit gestellt, um so
Geschenkcharakter vollendeten Glücks nicht in Ab- nochmals die Zusammengehörigkeit von Glück und
rede stellt. Kraft seiner Gottebenbildlichkeit strebe Solidarität zu betonen (vgl. Mack 2002), ohne dabei
der Mensch nach Glück, so wie er zugleich auf Tran- die grundlegende Einsicht des Christentums, das
356 VII. Glück in den Religionen

vollkommenes Glück niemals Ergebnis menschli- rien und theologisch-ethische Reaktionen. Eine his-
cher Leistung sein kann, preiszugeben. torisch-systematische Annäherung an das Thema des
Glücks. Berlin 2007.
Theißen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus.
Literatur Ein Lehrbuch. Göttingen 1996.
Theißen, Gerd/Winter, Dagmar: Die Kriterienfrage der
Arntz, Klaus: Melancholie und Ethik. Eine philoso-
Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausi-
phisch-theologische Auseinandersetzung mit den
bilitätskriterium. Fribourg/Göttingen 1997.
Grenzen sittlichen Subjektseins im 20. Jahrhundert.
Thomas von Aquin: Summa theologica [STh]. Vollstän-
Regensburg 2003.
dige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe (Hg.
Augustinus: Über den Gottesstaat. 2 Bde. Paderborn
Katholischer Akademikerverband). Salzburg 1934 ff.
1979.
Tillich, Paul: Freiheit im Zeitalter des Umbruchs. In:
–: De beata vita/Über das Glück. Lat.-Dt. (Übers. Inge-
Ders.: Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schrif-
borg Schwarz-Kirchenbauer/Willi Schwarz). Stutt-
ten zur Zeitkritik. Gesammelte Werke. Bd. X. Stutt-
gart 1982.
gart 1968, 181–201.
–: Bekenntnisse. München 21983.
Saskia Wendel
–: De doctrina christiana/Über die christliche Bildung
(Übers. Karla Pollmann). Stuttgart 2002.
Boff, Leonardo: Erfahrung von Gnade. Entwurf einer
Gnadenlehre (Übers. Horst Goldstein). Düsseldorf
1978.
Demmer, Klaus: Das vergeistigte Glück. Gedanken zum
christlichen Eudämonieverständnis. In: Gregoria-
num 72 (1991), 99–115.
Ebner, Martin: Jesus von Nazareth. Was wir von ihm
wissen können. Stuttgart 2007.
Gregor von Nyssa: Des heiligen Bischofs Gregor von
Nyssa Schriften. Bibliothek der Kirchenväter. Bd. 56.
München 1927.
Greshake, Gisbert: Geschenkte Freiheit. Einführung in
die Gnadenlehre. Freiburg i. Br. u. a. 31986.
Gruber, Franz: Religion als memoria beatitudinis. Zum
Verhältnis von Glück und Heil. In: Theologisch-prak-
tische Quartalsschrift 146 (1998), 25–34.
Lang, Bernhard: Religion und menschliche Glückser-
fahrung. Zur alttestamentlichen Theorie des Glücks.
In: Alfred Bellebaum (Hg.): Vom guten Leben.
Glücksvorstellungen in Hochkulturen. Berlin 1994,
59–110.
Lauster, Jörg: Gott und das Glück. Das Schicksal des gu-
ten Lebens im Christentum. Gütersloh 2004.
Luther, Martin: Vorlesung über den Römerbrief
[1515/16]. In: Ders.: Werke. Weimarer Ausgabe 56.
Weimar 1938.
Mack, Elke: Gerechtigkeit und gutes Leben. Christliche
Ethik im politischen Diskurs. Paderborn u. a. 2002.
Melanchthon, Phillip: Glaube und Bildung. Texte zum
christlichen Humanismus. Lat.-Dt. (Übers. Günter R.
Schmidt). Stuttgart 1989.
–: Ennarationes aliquot librorum ethicorum Aristotelis
[1529]. In: Corpus Reformatorum. Bd. XVI. Halle
1850, 276–415.
Rad, Gerhard von: Weisheit in Israel. Neukirchen 31985.
Schlögl-Flierl, Kerstin: Das Glück – Literarische Senso-
357

7. Glück im Islam. Das Glück (wörtlich: gegen sie) gewalttätig. Und wir gaben ihm
so viele Schätze, dass die Schlüssel dazu von einer
der Sinne und das Glück (ganzen) Schar kräftiger Männer kaum getragen
der Spiritualität werden konnten. (Damals) als seine Leute zu ihm
sagten: ›Freue dich nicht (zu sehr)! Gott liebt diejeni-
gen nicht, die sich (ihres Glückes) freuen‹« (Koran
Wie in den anderen monotheistischen Religionen ist 28,76). Und: »Dabei freuen sie sich über das, was
auch im Islam ›Glück‹ kein terminologischer Leitbe- Gott ihnen von seiner Huld gegeben hat, und sind
griff, der außerhalb der scholastischen Theologie froh über diejenigen, die hinter ihnen (nachkommen
(kalâm) und der Philosophie systematisch ausfor- und) sie (noch) nicht eingeholt haben (in der Ge-
muliert wurde (Daiber 1995; Heine 2007). In der ko- wissheit), dass (auch) sie (wegen des Gerichts) keine
ranischen Offenbarung kann die Segnung des Gläu- Angst zu haben brauchen und (nach der Abrech-
bigen insofern mit dem Glückbegriff in Verbindung nung am jüngsten Tag) nicht traurig sein werden«
gebracht werden, als sie auf das Versprechen Gottes (3,170). Der zweite Glückszustand führt nach dem
auf das von jedem Elend freie Leben im Paradies Koran zu wahrer, innerer Freude (surûr): »Da be-
verweist. Grundsätzlich ist das Ziel des Menschen wahrte Gott sie vor dem Unheil jenes Tages und bot
nach seinem Tode als Ewige Glückseligkeit definiert. ihnen Glückseligkeit und Freude dar« (76,11).
Zugleich bestimmt der Koran auch das gute Leben In der Offenbarung findet sich keines der konven-
im Diesseits als Lohn Gottes für die, die den Glau- tionellen arabischen Wörter für das Abstraktum
bensweg befolgen. Theologisch erscheint das Glück ›Glück‹ wieder, mit Ausnahme der Bezeichnung Got-
als die Bestimmung der Glücklichen (ahl as-sa‘âda; s. tes als Jadd (›Glück‹) unter Verwendung eines alten
Kap. I.7) und Elend als die Bestimmung der Elenden Idolnamens (Koran 72,3). Immerhin aber gibt es
(ahl ash-shaqwa), wobei beide Konzepte zukünftig Leitlinien für das, was das Glück im postexistentiel-
sind und den Status der Menschen nach ihrem Tode len Leben auszeichnet: Der Gläubige, der nach der
beschreiben. Sie gehören dann zu den Seligen oder Auferstehung ins Paradies eintritt, wird eine Welt er-
zu den Verdammten; das Jüngste Gericht, das über fahren, in der der Mangel fehlt und die für ihn einen
diesen Status entscheidet, erhielt so schon in frühen ›Gewinn‹ (fawz) darstellt: »Denen aber, die glauben
Korankommentaren die Bezeichnung »Tag des und tun, was recht ist werden Gärten zuteil, in deren
Glücks/Seligkeit« (yawm as-sa‘âda). Im Hadith, also Niederungen (wörtlich: unter denen) Bäche fließen.
in der Überlieferung der Traditionen des Propheten Das ist (dann) das große Glück« (85,11). Diese Welt
Muhammad, wird diese eschatologische Deutung ist absolut gut, insofern der Mangel an Gutem, der –
des Glücks meist in der Exegese einzelner Koran- wie die muslimischen Philosophen später sagen wer-
verse aufgenommen. Zugleich wird hier auch vom den – das Böse definiere, fehlen werde. Das Leben
profanen Glück des Menschen (hazz) gesprochen, nach dem Leben werde vollkommen sein, und in
das oftmals semantisch mit Reichtum im materiellen dieser Vollkommenheit liege das Glück. Koranisch
wie ideellen Sinne gleichgesetzt erscheint. Sa‘âda be- gesehen ist das von Gott gestiftete Gute das Glück
zeichnet in dem Korpus der Prophetentraditionen und damit auch Lebensziel des Menschen. Dieses
neben der grundsätzlichen koranischen Bestim- Gute ist zugleich eine Segnung des gläubigen Men-
mung vom Glück als ewiges Leben im Paradies zu- schen durch Gott. Daher werden die Menschen, die
gleich allgemein glückliche Lebensumstände, das im Paradies weilen werden, mit der passivischen Ver-
Widerstehen der Versuchung und ein unerwartetes balform su‘idû (›die gesegnet wurden‹; Koran 11,108)
langes Leben. Indem der Mensch die göttliche Vor- bezeichnet.
herbestimmung anerkennt und den Glaubensweg Der hier implizierte alte arabische Begriff sa‘d ver-
im Kult beschreitet, ist ihm das Glück im Jenseits wies in vorislamischer Zeit auf das Geschick, das den
versprochen. Menschen ereilt. Insofern der islamische Monotheis-
In der koranischen Offenbarung selbst werden mus Glück als Segnung Gottes deutete, kritisierte er
zwei Glückszustände des Menschen unterschieden. jene Kultpraktiken, in denen bestimmten Idolen
Der erste führt zu falscher Freude und kurzfristigem (Sa‘d, Jadd u. a.) als Glücksbringer gehuldigt wurde.
Glück (farah) über irdische Annehmlichkeiten. So In Koran 72,3 wird dies deutlich: »Und (mir ist ein-
heißt es beispielsweise im Koran: »Korah gehörte gegeben worden, dass die Jinne sagten): ›Unser Herr,
zum Volk Moses. Und er war gegen seine Leute der Inbegriff von Glück (und Segen), ist erhaben. Er
358 VII. Glück in den Religionen

hat sich weder Gefährtin noch ein Kind (oder: Kin- rierte die platonischen Kardinaltugenden und die
der) zugelegt.‹« Somit wird Jadd zu einem Prärogativ Lehre von der tugendhaften ›Mitte‹ (mesotês) des
Gottes (jaddu rabbinâ: ›das Glück unseres Herren‹). Aristoteles. Der arabische Terminus für den griechi-
In der Prophetentradition findet sich zugleich die schen philosophischen Glücksbegriff eudaimonia
Benennung Muhammads als Sa‘d Allâh (›Glück/Seg- war sa’âda (Rosenthal 1971). Mit ihm konnte nun
nung Gottes‹); hier wurde offensichtlich eine alte der Seelenzustand beschrieben werden, der das Ziel
vorislamische Namensgebung (Sa‘d Lâh) wieder auf- des Lebens, die Glückseligkeit, vertrat. Wie schon
genommen. Platon erkannten arabische Philosophen (z. B. Abû
Die Implikation des Glücks als von Gott bestimm- Bakr ar-Râzî, gest. 925) die Gerechtigkeit als die Tu-
tes Geschick führte dazu, dass in der frühen islami- gend, durch die das Glück gemeinschaftlich werden
schen Theologie dann von Glück die Rede war, wenn könne. In der direkten Rezeption der Nikomachi-
es in einem Zusammenhang mit der Diskussion um schen Ethik des Aristoteles bestimmte al-Farâbî (gest.
die göttliche Prädestination stand. Daher findet sich 950) drei Handlungsebenen des Glücks (Parens
der Begriff sa‘âda bei muslimischen scholastischen 2006): die rein theoretische Aktivität, die rein prakti-
Theologen vor allem dort wieder, wo es um die Frage sche Aktivität und die Mischung von theoretischer
der Bestimmung zum Glück, also allgemein um die und praktischer Aktivität. Das höchste Gute, das als
Theodizee, geht. Hier erscheint Gott als das Subjekt, Handlungsziel dieser Ebenen gilt, ist natürlich nie-
das den Menschen beglücken kann. Es handelt sich mals gleich, so dass Glückseligkeit je nach Hand-
so um eine Segnung des Menschen, genauso wie das lungsweise einen anderen Inhalt haben könne (Pa-
Elend seine Verdammung darstellen kann. Theolo- rens 2006). Hierarchisch stehe die politische Glück-
gisch gesehen war Glück eine Folge von Frömmig- seligkeit an oberster Stelle, weshalb Glück immer
keit. Glück, von der islamischen Theologie als objek- doppeldeutig ist: es umfasst die Glückseligkeit in der
tiv verstanden, wurde dadurch innerlich, als es in der Erkenntnis wie die Glückseligkeit der hierdurch in
Frömmigkeit in einem Zustand der Seligkeit erlebt einer Polis vereinten Menschen. Islamisiert erscheint
werden konnte. diese Tradition in der Vorstellung, dass der Prophet
Die koranische Bestimmung des Paradieses als Muhammad selbst das Ideal von Tugend, Mitte und
Ort der Sinne und der Spiritualität bewirkte, dass die Gerechtigkeit vertrete, so dass die Befolgung seiner
mit der Seinsbestimmung des Menschen verbun- Lebensweise glücksbringend sei. Da koranisch das
dene Glückseligkeit nicht nur als Spiritualität ge- Glück sowohl auf das Diesseits wie auf das Jenseits
dacht war, sondern auch als sinnliches Erleben. bezogen erscheint, ließ sich die aristotelische Tradi-
Durch die Rückkopplung an das irdische Leben er- tion leicht auf den Inhalt der Offenbarung beziehen.
scheint das Glück stets auch in Abhängigkeit von der Allerdings galt für die Philosophen, dass die blinde
tugendhaften Lebensführung, durch die das Le- Befolgung dieser Lebensweise selbst keineswegs zum
bensziel des Menschen gelingen könne. Diese ist nie Glück führe, da sie nicht auf dem verstandesmäßi-
allein spirituell oder theoretisch-spekulativ gedacht, gen Erfassen des geistig Erkennbaren beruhe. Neu-
sondern auch materiell in der Weise, dass sie sinnlich plantonisch gedacht (z. B. bei den ›Lauteren Brü-
gestaltbar erscheint. Über das Wie dieser Lebensfüh- dern‹, ikhwân as-safâ, 10./11. Jahrhundert) sei die
rung waren sich Theologen genauso wenig einig wie Erkenntnis, die zur Glückseligkeit führe, die Klimax
die Philosophen oder Mystiker. des Aufstiegs der Seele aus der Verbundenheit mit
In der islamischen Tradition erfolgte eine termi- dem Irdischen zur Einheit mit dem Göttlichen. Sie
nologische Verdichtung des Begriffsfelds ›Glück‹ im gelinge aber nur im Kontext Gleichgesinnter, was da-
Rahmen der Rezeption der griechischen Philosophie rauf hindeutet, dass muslimische Philosophen stets
seit dem frühen 9. Jahrhundert (Ansari 1964; Murâd auch einen gemeinschaftlichen Aspekt des Glücks
2001). Zwei Bestimmungen der griechischen Philo- im Sinne hatten. Allerdings betonten andere (z. B.
sophie waren maßgeblich. Frühe muslimische Philo- Miskawaih, gest. um 1030) den Vorrang individuel-
sophen (z. B. al-Kindî, gest. 873) definierten Glück len Glücksstrebens, das zwar eben wegen der zu-
einerseits als eine von der Tugend abhängige Katego- grunde liegenden Tugendhaftigkeit anderer bedürfe,
rie, anderseits als das Verstehen des geistig Erkenn- doch letztendlich immer nur individuell real werden
baren. Beides führe aus dem Elend hin zu Gott, der könne. Die Progression zur endgültigen Gleichung
in diesem Glück erkennbar werde. Diese oft mit dem mit dem göttlichen Intellekt sei eine Stufung von
Namen Sokrates identifizierte Sichtweise inkorpo- Glückszuständen (sa‘âdât), die schließlich im ›voll-
7. Glück im Islam. Das Glück der Sinne und das Glück der Spiritualität 359

kommenen Glück‹ der Erkenntnis münde. Praktisch ten in der Weise, dass der Lauf der Epochen und Zei-
bedeutete dies eine Absonderung von der Gemein- ten ihr nichts anhaben kann« (al-Ghazzâlî 2006,
schaft, da der Weg zum Glück stets nur in der Tren- A12).
nung von der physikalischen Welt beschritten wer- Die rationalistische Spekulation über das Glück
den könne. In späteren philosophischen Entwürfen schwankte so zwischen Individualität und Gemein-
(z. B. Ibn Tufayl, gest. 1185) wurde die Glückserfah- schaftlichkeit. (Dieses Schwanken entspricht in vie-
rung radikal individualisiert und vom platonischen len Punkten dem Schwanken zwischen Polis-Den-
Ideal einer ›politischen‹ Bedingtheit des Glücks ge- ken, stoischem Individualismus, kosmologischen
trennt. und neuaristotelischen Modellen sozialer und natür-
Glück in diesem Sinne war für muslimische Philo- licher Ordnung in Antike und Mittelalter.) Der Ge-
sophen schlechthin Gegenstand philosophischen schichtsdogmatiker Ibn Khaldûn (gest. 1406) erach-
Strebens. Für Ibn Rushd (Averroes, gest. 1198) aber tete das Glück als einen Zustand der Gesellschaft,
galt, dass dieses Streben abstrakt zu verstehen sei, der von der Politik des Herrschers herzustellen sei,
also nicht an eine bestimmte Person gebunden ist. da Glück und Wohlfahrt untrennbar miteinander
Vielmehr sei Glück, also philosophische Weisheit, so verbunden seien. Dabei unterschied er deutlich zwi-
universalistisch zu verstehen, dass sich daraus das schen irdischem und ewigem Glück. Während er ers-
Glück der Gesamtheit der Menschheit ergebe; zwar teres als existent erachtet, insofern es in der Welt
erstrebe die Philosophie die Kenntnis der Glückse- erreicht werden könne, sei letzteres außerhalb des
ligkeit nur durch einige Menschen (d. h. die Elite), rational Erkennbaren, also weder sensibel noch in-
doch würde sich ihr Wirken als Stellvertretung der telligibel, sondern schlicht ›spirituell‹. Ibn Khaldûns
Lebensaufgabe der Menschheit entfalten. Zudem sei Kritik der Philosophie bezieht sich auf deren teleolo-
die göttliche Ordnung für jeden verständlich, sofern gisches Selbstverständnis. Indem das Glück aus der
er sich an ihre Gebote hält; dass heißt für jeden – Zielgerichtetheit der Philosophie herausgenommen
und nicht nur die Philosophen und Wächter der po- wird, wird das Philosophische zu einem methodi-
lis – sei Glück erstrebbar und erreichbar. Philosophie schen Prinzip der Erkenntnis, ohne aber ein spezifi-
und göttliche Rechtsetzung (shari‘a) seien zwei Wege sches Erkenntnisziel zu haben. Das Glück, befreit
hin zur selben Glückseligkeit; dem philosophischen von sinnlichen Wahrnehmungen und geistig defi-
Weg komme aber das Privileg zu, den Weg argumen- nierten Abstraktionen, wird so bei Ibn Khaldûn zum
tativ herzuleiten. erlebten Gefühl von Spritualität.
Für al-Ghazzâlî (gest. 1111), den Kritiker der Phi- Diese Stufung, Spiritualisierung und Individuali-
losophen, hingegen ergibt sich das Glück der Ge- sierung des Glücks war primärer Gegenstand su-
samtheit der Menschheit aus den die Handlungen fischer Kontemplationslehren. Allerdings trat hier
des Propheten Muhammad charakterisierenden Ei- Rationalität als Mittel der Erkenntnis in den Hinter-
genschaften, nämlich Mysterien kundzutun und Re- grund, stattdessen wurden emotionale Seelenzu-
ligionsgesetze aufzustellen, die mit der Wahrheit stände betont. Für al-Ghazzâlî galt Liebe als die
(Gott) übereinstimmten. Während Averroes die Grundlage von Glückserkenntnis. Allerdings aner-
Glückseligkeit als Ziel sowohl der Philosophie als kannte er sehr unterschiedliche Zugänge zum Glück,
auch der göttlichen Rechtsetzung festschrieb und da nicht jeder als Sufi privilegiert war. Für den ge-
wie frühere Philosophen das Glück in die Sphäre der wöhnlichen Menschen galt, »dass der Schlüssel zum
polis einbettete, unterschied al-Ghazzâlî – hier indi- Glück [sa‘âda] darin liegt, der Sunna zu folgen und
rekt Ibn Sina (Avicenna, gest. 1037) folgend – zwi- dem Leben des Gesandten Gottes nachzueifern, in
schen dem jenseitigen, universellen Glück des Men- allem, was von ihm herkommt, und in all seinem
schen und dessen diesseitigem Glück, das er vor al- Tun, selbst wenn es die Art seines Essens, Aufstehens,
lem in der Lebenswelt, also dem oikos, verortete. Das Schlafens und Sprechens betrifft. Ich sage dieses
absolute Glück beschrieb al-Ghazzâlî wie folgt: »Das nicht nur in Bezug auf Rituale der Verehrung, weil es
jenseitige Glück, das wir meinen, ist Verweilen ohne keinen Weg gibt, die Sunna, die von ihm berichtet
Ende, Genuss ohne Plage, Freude ohne Trauer, Reich- wurde, zu vernachlässigen, was ich aber sage, schließt
tum ohne Armut, Vollkommenheit ohne Mangel und jeden Aspekt unseres täglichen Lebens ein« (al-
Würde ohne Erniedrigung. Kurz gesagt ist alles, was Ghazzâlî 1934). Für den Sufi hingegen ging es um
jeder Suchende sich als Ziel und jeder Wünschende die mühevolle Kontemplation der seelischen Erfah-
sich als Wunsch vorstellt, die Ewigkeit aller Ewigkei- rung, die gestuft letztendlich zur Erfahrung der Ei-
360 VII. Glück in den Religionen

gentlichkeit in/bei Gott führe; die Auflösung aller Stuart Mill; s. Kap. V.1) wurde das Glücksstreben
Seelenzustände schafft den Raum für die spirituelle weiterhin anthropologisch mit der Zwecksetzung
Erfahrung der Glückseligkeit im Erkennen der Eins- der Schöpfung identifiziert. Das Glück bleibt univer-
heit Gottes. salistisch und absolut in dem Sinne, dass es in der
Theologische oder philosophische Spekulation einmaligen und endgültigen Seinsbestimmung des
wie sufische Erkenntnislehren bezogen sich kaum Menschen durch Gott definiert ist und nicht als
auf diesseitige Konkretisierungen des Glücks und bloße Strategie der »Lustvermehrung« begriffen
dessen Spiegelung in profanem Glücksempfinden. werden dürfe (Dijwî 1929). Letztere sei zwar im
Für manchen Sufi war es wichtig, das an Irdisches Diesseits gegeben und moralisch legitim, solange sie
gebundene Glücklich-Sein der Seele zu überwinden, tugendhaft bleibe, doch sei sie erst als konstantes
um so zur Erfahrung der eigentlichen Glückseligkeit Glücksgefühl erfahrbar, wenn sie in ihrer Abhängig-
gelangen zu können. Allerdings anerkannten musli- keit von dem ontologischen Ziel des Menschen, der
mische Theologen ein Wirkungsfeld des Glücks im Glückseligkeit nach dem Tode, erkannt wird.
Diesseits, das durchaus der jenseitigen ›ewigen Selig- In der zeitgenössischen islamischen Dogmatik
keit‹ vorausgehen könne. Das diesseitige Glück ist wird der Islam selbst als Glück beschrieben, das
aber konzeptionell deutlich von der ewigen Seligkeit durch die Glaubenshaltung, die Kultpraxis und das
getrennt, insofern es zeitlich begrenzt sei und verge- Leben nach moralischen Grundsätzen erreicht wird
hen könne. Sachlich wurde dieses Glück auf die Zu- (Qâbîl 1984; Al-Attas 1993; ‘Âmirî 2005; ‘Abd Allāh
friedenheit der Seele, der Gesundheit des Körpers 2007). Glück wird auch hier als heteronom erachtet,
und den materiellen Reichtum in den sogenannten d. h. es gründet nicht auf des Menschen Fähigkeit
›äußeren Angelegenheiten‹ eines Menschen bezo- zum Glück und damit auf einem anthropologischen
gen. In zahlreichen Texten der arabisch-islamischen Glücksgefühl, sondern auf dem Streben des Men-
schöngeistigen Literatur (adab) wurde das Erlangen schen nach Glück. Entsprechend wird der Islam kon-
wie der Verlust des irdischen Glücks behandelt, oft ventionell als Glücksbringer aufgefasst. Eine heute
natürlich unter dem moralischen Verweis auf das ei- verbreitete Sichtweise lässt sich wie folgt zusammen-
gentlich anzustrebende jenseitige Glück. fassen: Das Glücksstreben ist universell, da jedes Le-
Dort, wo sich in der islamischen Tradition eine ra- ben teleologisch sei. Eigentlich habe es nur ein Ziel,
dikale Trennung von Philosophie und Theologie das mit seiner Bestimmung identisch sei. Jedes Lebe-
vollzog, wurden die theologischen orthodoxen Be- wesen sei dadurch gekennzeichnet, dass es sein Le-
stimmungen über das Glück nicht weiter ausgearbei- bensziel verwirklichen wolle. Das Erreichen des Le-
tet. Spekulationen über das Wesen des Glücks traten bensziels sei Glück, insofern dann Leben und Ziel
in den Hintergrund, stattdessen wurden vor allem in zusammenfallen. Das Privileg des Menschen (wie
der Poesie und der schöngeistigen Literatur die Um- der Jinne) sei es, dass Gott ihm sein Lebensziel offen-
stände des Glücks verhandelt. Im 19. Jahrhundert bart habe. Daher könne der Mensch sein Lebensziel
wurde das Glück dann auch in der islamischen Tra- wissen und sein Leben durch tugendhaftes Handeln
dition säkularisiert, insofern zwischen dem Glück mit diesem Ziel gleichsetzen; hierdurch sei es dem
des Individuums und dem der ›Nation‹ unterschie- Menschen möglich, einen Seelenzustand zu finden,
den wurde. Letzteres unterliege zwar auch der Hete- der innere Ruhe und Zufriedenheit (tuma’nîna) ver-
ronomie, da die gute Ordnung durch Gott offenbart heiße. Das im Lebensziel objektiv erreichte Glück er-
sei, doch vollzieht sich das Glück der Nation stets scheint so durch Vorwissen in der Seele subjektiv ge-
auch als Gemeinschaftshandeln, dessen Zweck in der spiegelt, sofern es auch im tugendhaften Handeln
Bereitstellung der Bedingungen individuellen Glücks ausgedrückt erscheint.
vorrangig durch fachliche Unterweisung und mora-
lischer Erziehung besteht (vgl. z. B. Muhammad ‘Ab- Literatur
duh, gest. 1905, und Muhammad Rashîd Ridâ, gest. ‘Abd Allāh, Wisām: as-sa‘âda fî l-Islâm [Das Glück im
1935). Unter Nutzung der Differenzierung zwischen Islam]. Beirut 2007.
irdischem und jenseitigem Glück, die vor allem von Ansari, Muhammad Abdul Haqq: The Conception of
al-Ghazzâlî ausformuliert worden war, wurde das Ultimate Happiness in Muslim Philosophy. In: Stu-
›Glück der Nation‹ grundsätzlich auf das Diesseits dies in Islam 1 (1964), 165–173.
bezogen, doch in deutlicher Abgrenzung von damals Al-Attas, Muhammad Naguib: The Meaning and Expe-
dominanten utilitaristischen Traditionen (v. a. John rience of Happiness in Islam. Kuala Lumpur 1993.
7. Glück im Islam. Das Glück der Sinne und das Glück der Spiritualität 361

Al-Ghazzâlî, Abû Hâmid: kitâb al-arba‘în fî usûl ad-dîn Leben. Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge.
[Buch der Vierzig über die Grundlagen der Religion]. Göttingen 2007, 162–171.
Kairo 1353/1934. Koran (Übers. Rudi Paret). Stuttgart 1966.
–: Das Kriterium des Handelns = Mîzân al-‘amal Murâd, Sa’îd: nazariyat as-sa‘âda ‘inda falâsifat al-Islâm
(Übers. Abd-Elsamad ‘Abd-Elhamid Elschazli). [Die Theorie des Glücks bei den Philosophen des Is-
Darmstadt 2006. lam]. Kairo 2001.
‘Âmirî, ‘Abdallâh Muhammad Ghânim: as-sa‘âda fî l- Parens, Joshua: An Islamic Philosophy of Virtuous Reli-
manzûr al-islâmî [Das Gück aus islamischer Sicht]. gions: Introducing Alfarabi. Albany 2006.
Beirut 2005. Qâbîl, ‘Abdalhayy Muhammad: al-madhâhib al-akhlâq-
Daiber, Hans: Sa‘ada. In: Enyclopaedia of Islam 8 (1995), iya fî l-Islâm. Al-wâjib – as-sa‘âda [Ethische Lehrmei-
657–660. nungen im Islam. Die Pflicht. Das Glück]. Kairo
Dijwî, Yûsuf: sabîl al-sa‘âda fî falsafat al-akhlâq ad- 1984.
dînîya wa-asrâr ash-sharî‘a al-islâmîya [Der Weg zum Rosenthal, Erwin I. J.: The Concept of ›Eudaimonia‹ in
Glück in der religiösen Moralphilosophie und die Medieval Islamic and Jewish Philosophy. In: Ders.:
Geheimnisse der islamischen Sharî’a]. Kairo 1929. Studia semitica. Bd. II. Cambridge 1971, 127–134.
Heine, Peter: Glück und Glücksvorstellungen im Islam.
Reinhard Schulze
In: Timo Hoyer (Hg.): Vom Glück und glücklichen
363

VIII. Aktuelle Debatten

1. Glück der Tiere. Lernen aus der Welt des Tieres und aus der Welt des Men-
schen miteinander verschränken. Glück ist für
zu verstehen, wie Tiere Hearne eine Frage der ›Freundlichkeit‹ (kindness),
sich ausdrücken d. h. es hängt zusammen mit einer Achtung vor der
Art von Wesen, der ein bestimmtes Geschöpf zuge-
hört. Das tiefste Verstehen ergibt sich aus einer na-
Können Tiere glücklich sein? Was brauchen sie, um türlichen Nähe, aus der Verbindung des eigenen Da-
glücklich zu sein? Ist es sinnvoll, hier von ›Glück‹ zu seins mit dem der Kreatur, ausgedrückt vielleicht in
sprechen, oder ist dieser Begriff eher anthropomor- freundlicher Zuneigung. Glück ist also aufs engste
phistisch und metaphorisch, dient er eher unseren verbunden mit dem Ausleben von Offenheit und
eigenen Bedürfnissen, statt der Sicht des Tieres auf Verbundenheit, mit dem gemeinsamen Dasein emp-
seine Welt Rechnung zu tragen? Schon lange wird findungsfähiger und kommunizierender Wesen.
intensiv darüber nachgedacht, was eigentlich Glück- Viele Autoren haben beschrieben, wie sie mit ein-
lichsein für den Menschen bedeuten könnte. Bereits zelnen Tieren Umgang hatten, und sie haben Zeug-
in diesem Kontext ist der Glücksbegriff mehrdeutig nis abgelegt von deren Charakter, kreativer Intelli-
– umso interessanter ist der Versuch, ihn auf die Welt genz und Empathie (z. B. Gaita 2002; Young 2003;
der Tiere anzuwenden. Woolfson 2008). Zahlreiche Wissenschaftler emp-
In gewisser Weise beinhaltet die Formulierung der fanden die Beschäftigung mit dem Glück und allge-
eingangs genannten Fragen bereits ihre Antwort. Es meiner mit der Intelligenz von Tieren bis vor kur-
geht hier nicht um eine detaillierte begriffliche Erör- zem noch als allzu riskant. Die Forscher fürchteten,
terung der Frage, was Glück für Tiere faktisch ist – als naiv zu gelten, weil sie zwangsläufig menschliche
Befriedigung ihrer Bedürfnisse, Erwartung von Be- Wertvorstellungen auf vermeintlich geistlose Tiere
lohnung, Vergnügen, Freude, Zufriedenheit oder projizieren, wie in den Cartoons lächelnder ›glückli-
eine Kombination aus allem. Vielmehr will ich dar- cher‹ Schweine, mit denen für industriell erzeugtes
über nachdenken, was es überhaupt bedeuten Fleisch geworben wird. Inzwischen hat sich die Lage
könnte, vom Glück der Tiere in einem ganz alltägli- aber verändert. Seit etwa 20 Jahren hat sich ein rela-
chen Sinn zu sprechen. Ein sehr guter Ausgangs- tiv neues Forschungsfeld etabliert, das sich mit dem
punkt hierfür ist das Buch Animal Happiness der Wohlergehen und den kognitiven Fähigkeiten von
Philosophin, Dichterin und Tiertrainerin Vicki Tieren beschäftigt. Das ermöglicht den Wissen-
Hearne (1994). Hearne beginnt ihr Buch, indem sie schaftlern, Fragen nach den Emotionen von Tieren
sich ausdrücklich von der Auffassung absetzt, Glück zu stellen und deren Gefühle zu untersuchen, ohne
sei vor allem eine menschliche Erfahrung: »Ein damit ihren Ruf aufs Spiel zu setzen. Es fragt sich
Mensch kann Freude an etwas empfinden, das dem nun, was wir aus solchen Untersuchungen lernen
Tier nicht zugänglich ist, zum Beispiel an der Kon- können und ob sie im Einklang mit den persönliche-
struktion eines schönen mathematischen Beweises, ren Darstellungen von Vicki Hearne und anderen
aber letzten Endes ist jedes Glück ein tierisches stehen, die davon handeln, wie Tiere Erfahrungen
Glück, selbst das Entdeckerglück des Philosophen, machen.
Dichters oder Wissenschaftlers« (Hearne 1994, XV).
Das Buch enthält eine Reihe komplexer und subtiler Glück und die wissenschaftliche
Überlegungen zu den Fertigkeiten und Wesensarten
Erforschung des Wohlergehens von Tieren
von Tieren, und zwar vorwiegend im Zusammen-
treffen und in der Zusammenarbeit von Mensch und Mit der Evolutionstheorie wuchs im 19. Jahrhundert
Tier, in dem sich, wie Hearne sagt, der unabsehbare das Bewusstsein, dass empfindungsfähige, emotio-
Reichtum an Empfindungen und Glücksgefühlen nale Erfahrungen vielleicht nicht exklusiv dem Men-
364 VIII. Aktuelle Debatten

schen vorbehalten sind, sondern sich wohl in einem Merkmal seines Wohlergehens galt (Broom 1988;
Kontinuum durch das ganze Tierreich ziehen. Ge- Barnett/Hemsworth 1990). In einem solchen Kon-
wiss war Charles Darwin selbst davon überzeugt, text hat das Glück natürlich keinen Platz – man küm-
dass Tiere zu Gefühlen fähig sind. In seinem Buch mert sich um den Schmerz, den Stress und die
Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Men- Krankheiten, denen ein Tier ausgesetzt ist, und da-
schen und den Thieren (1872) schreibt er beispiels- rum, ihm unnötiges Leid zu ersparen, aber jede Rede
weise: »Gezähmte Wölfe und Schakale springen, vom Glücklichsein eines Tieres wäre als Phantasterei
wenn sie von ihren Herren geliebkost werden, vor abgelehnt worden.
Freude umher, wedeln mit ihren Schwänzen, lassen Die Situation begann sich jedoch mit der Gegen-
ihre Ohren herabhängen, lecken die Hände ihrer wehr gegen den strikten Behaviorismus in Wissen-
Herren, ducken sich nieder und werfen sich selbst schaftsdisziplinen wie der Verhaltensforschung und
auf den Boden, mit dem Bauche nach oben«. Oder: Kognitiven Verhaltensforschung zu ändern. Diese
»Selbst wenn Kühe aus Vergnügen umherspringen, Disziplinen sind zwar im Ansatz nach wie vor me-
werfen sie ihre Schwänze in einer lächerlichen Art in chanistisch, gehen aber davon aus, dass Verhalten
die Höhe« (Darwin 1872/1877, 113, 106). nicht bloßes Mittel zur Garantie von Umwelttaug-
Doch es war George Romanes (1885), Zeitgenosse lichkeit und zur Verwirklichung funktionaler Gleich-
und Freund Darwins, der das Wagnis einging, das gewichte ist, sondern für die Tiere einen Eigenwert
Studium der Tierpsychologie als ernsthafte wissen- besitzt. Insbesondere der Aufstieg der Kognitiven
schaftliche Disziplin zu etablieren. Für Romanes wa- Verhaltensforschung mit einem Höhepunkt in Do-
ren Erörterungen über das Gefühlsleben der Tiere, nald Griffins Buch Wie Tiere denken. Ein Vorstoß ins
sofern sie auf sorgfältiger Beobachtung und Re- Bewußtsein der Tiere verdeutlichte, wie komplex und
flexion beruhten, kein unzulässiger ›Anthropo- intelligent sich das Verhalten von Tieren darstellt,
morphismus‹, der auf unbegründeten Projektionen wenn wir sie angemessen beobachten und die richti-
menschlicher Eigenarten auf Tiere basiert. Ange- gen Fragen stellen. Forscher, die mit Tieren in deren
sichts der evolutionären Kontinuität der Emotionen natürlicher Umwelt zusammenlebten wie z. B. Jane
war die Anwendung dieser Konzepte auf Tiere für Goodall (1971) und Cynthia Moss (1988), zögerten
ihn vielmehr legitim und wünschenswert. Diese Auf- ebenfalls nicht, Tiere als intelligente Individuen mit
fassung hat seither die Arbeit namhafter Biologen komplexen Persönlichkeiten zu beschreiben. Nach
geprägt (z. B. Jennings 1962; Griffin 1976). Die Über- diesen Entwicklungen führten die Wissenschaftler
zeugungskraft dieser Position hat aber dennoch grundlegende Konzepte wie ›Motivation‹ und ›Ver-
durch den Aufstieg des Behaviorismus im frühen 20. haltensbedürfnisse‹ in ihre Untersuchungen des
Jahrhundert ernsthaft gelitten, einer Denkrichtung, Wohlbefindens von Tieren ein (Dawkins 1990; Jen-
die eine strikt mechanistische Sicht des Verhaltens sen/Toates 1993) und diskutierten erneut über die
vertrat. Diese Denkschule, die Objektivität mit me- Bewusstseinsfähigkeit und die emotionalen Erfah-
chanistischer Analyse gleichsetzte, wollte alles Reden rungen von Tieren (Fraser/Duncan 1998; Mendl/
von subjektiver Erfahrung (ob menschlicher oder Paul 2004; Duncan 2006). Der Unterschied zur Tier-
tierischer) aus der Wissenschaft verbannen; Erfah- psychologie des 19. Jahrhunderts bestand jedoch da-
rung war für sie nichts anderes als der Bereich des rin, dass nun die sich rasch entwickelnde Neuro- und
Privaten und Introspektiven, der in wissenschaftli- Informationswissenschaft einbezogen wurde. Damit
chen Erklärungen nichts zu suchen hatte (Watson erhielten die Untersuchungen zum Gefühlsleben der
1913). Tiere eine ganz neue Legitimität: Bewusstsein und
Vor diesem Hintergrund kann der Wunsch, das Emotionen konnten nun als komplexe ›neuronale‹
Wohlergehen von Tieren in der industrialisierten oder ›mentale Zustände‹ verstanden werden, die der
Landwirtschaft und Medizin zu untersuchen, leicht konventionellen wissenschaftlichen Analyse zugäng-
als unbegründet und sentimental erscheinen. Daher lich sind (Burgdorf/Panksepp 2006).
vermied die Mehrheit der Wissenschaftler, die sich Diese Einbeziehung subjektiver Erfahrung ins me-
als erste mit dem Wohl der Tiere befassten, subjek- chanistische Denken und Vokabular ebnete den Weg
tive Vorstellungen und konzentrierte sich auf phy- für die weitergehende Erforschung des Gefühlsle-
siologische, stressbasierte Modelle des Wohlerge- bens der Tiere. Die Forscher konnten sich nun auf
hens, nach denen die Fähigkeit eines Tieres, mit spezifische Konzepte wie Angst, Frustration, Lange-
seiner Umwelt zurechtzukommen, als eigentliches weile oder Vorlieben konzentrieren und Modelle,
1. Glück der Tiere. Lernen zu verstehen, wie Tiere sich ausdrücken 365

Tests und Parameter zur Untersuchung dieser Zu- E. King (1999) berichtet in seinem Aufsatz »Persona-
stände entwickeln (z. B. Wemelsfelder 1993; Boissy lity and the Happiness of the Chimpanzee« – gefolgt
1995; van Loo u. a. 2004). Indes lag der Schwerpunkt von anderen, wie Alex Weiss u. a. (2006) – von Unter-
der Untersuchungen, ganz wie in den Jahrzehnten suchungen, die zeigen, dass das Glücksbefinden in
davor, weiterhin auf den Auswirkungen von Mangel- Gefangenschaft lebender Menschenaffen, wie es von
situationen. Die Frage war: Fehlt Tieren das, was sie deren Betreuern wahrgenommen wird, mit be-
vielleicht brauchen oder wollen, aber in Gefangen- stimmten Aspekten der Persönlichkeitsstrukturen
schaft wohl nie kennengelernt haben? Erst seit kur- dieser Tiere zusammenhängt. Und schließlich wei-
zem befasst man sich dagegen ganz explizit mit den sen Alain Boissy u. a. (2007) in ihrer jüngsten kriti-
positiven Aspekten des Wohlergehens von Tieren schen Betrachtung positiver Emotionen bei Tieren
(Boissy u. a. 2007; Balcombe 2009). Diese Verschie- darauf hin, dass die Forscher, die sich mit dem Wohl-
bung der Fragestellung wurde wahrscheinlich vom ergehen von Tieren befassen, sich auch ganz aus-
wachsenden Bemühen der Philosophen und Ethiker drücklich um die Frage nach dem Glück kümmern
beeinflusst, Tiere als »Subjekte eines Lebens« mit ei- sollten, da der Begriff des Glücks einen langfristig
gener Integrität zu begreifen, die weit über Verhal- »stabilen affektiven Zustand« bezeichne, in dem man
tensbedürfnisse und sogar über das Wohlbefinden das »höchste Maß an Wohlergehen« oder »Lebens-
hinausgeht (Regan 1983; Verhoog 2007). qualität« eines Tieres sehen könne (Boissy u. a. 2007).
Über das Empfinden von Wohl- oder Unwohlsein Damit kommt die wissenschaftliche Erforschung des
hinaus ist es demnach für Tiere wichtig, aktiv zu sein, Gefühlslebens der Tiere langsam in Schwung, und es
ein Leben zu besitzen, d. h. selbst handeln, Kompe- steht nunmehr zu erwarten, dass ›das Glück der
tenzen einsetzen und wählen zu können, wie sie ihre Tiere‹ bald auch Gegenstand der Mainstream-For-
täglichen Bedürfnisse und Wünsche erfüllen wollen. schung zum Wohlergehen von Tieren werden wird.
Gelegentliche Stresssituationen und Frustrationen
verwehren ihnen nicht notwendig ein solches Eigen- Wie lässt sich das Glück bei Tieren
leben, ja man kann sogar sagen, dass deren Über-
erkennen?
windung wesentlicher Bestandteil der Lebensquali-
tät ist (Wemelsfelder/Birke 1997; McFarland/Hedi- Zweifellos sind Fortschritte in der wissenschaftli-
ger 2009). In einem solchen Kontext erscheint es chen Untersuchung des Gefühlslebens der Tiere
dann auch angebracht, über das Glück der Tiere wichtig und sehr hilfreich für die Verbesserung der
nachzudenken und dieses Glück nicht bloß als ein Lebensumstände gefangener Tiere. Liegt hierin aber,
bestimmtes Gefühl, sondern als Lebensweise zu be- wie viele annehmen, tatsächlich der einzige legitime
greifen. Weg, etwas über die Erfahrungswelt eines Tieres her-
Für die Tiere sind diese Entwicklungen vielver- auszufinden? Alles hängt davon ab, was wir in die-
sprechend. In der wissenschaftlichen Literatur wird sem Zusammenhang unter ›Wissen‹ verstehen. In
der Begriff des Glücks in Bezug auf Tiere jedoch der Biologie ist das herrschende Erkenntnispara-
nach wie vor nur sehr ungern verwendet und über- digma mechanistisch. Das bedeutet im Kern, dass
wiegend auf positive Gefühle wie ›Freude‹ oder auf die Wissenschaftler Tiere aus einer unbeteiligten Po-
›positive Valenzen‹ bezogen. Manchmal erscheint sition heraus als Objekte studieren, indem sie sie als
das Wort ›glücklich‹ im Titel eines Vortrags oder Es- komplex gegliederte funktionale Systeme beschrei-
says, um die Auffassung des Laienpublikums aufzu- ben. In solchen Systemen werden, wie wir sahen, Ge-
greifen (z. B. »Happy Pigs are Dirty! Conflicting Per- fühle zu ›affektiven Zuständen‹, die sich von außen
spectives on Animal Welfare«; Lassen u. a. 2006), es einschätzen und mit anderen Prozessen oder Zu-
spielt dann jedoch im Text selbst keinerlei Rolle. Es ständen in Körper und Gehirn in Verbindung brin-
gibt aber Ausnahmen. In seinem Aufsatz »Happy gen lassen. Dieses externalisierte, mechanistische
Animals Make Good Science« (1997) vertritt Trevor Wissen hat jedoch seinen Preis: Unvermeidlich ver-
Poole die Auffassung, dass ein glückliches Tier »auf- lieren wir das Tier selbst aus dem Blick, das diese Ge-
merksam und aktiv ist (ein breites Verhaltensreper- fühle hegt und für das diese Gefühle eine innere Be-
toire an den Tag legt), sich entspannen kann, zutrau- deutung besitzen. Wir können vielleicht etwas über
lich ist (sich nach außen wendet und keine Furcht ›Gefühlszustände‹ in Erfahrung bringen, lernen da-
vor harmlosen Stimuli zeigt) und kein abnormes bei aber sehr wenig – wenn überhaupt etwas – über
Verhalten an den Tag legt« (Poole 1997, 116). James die Erfahrungen, die das Tier macht. Die mechanis-
366 VIII. Aktuelle Debatten

tische Sprache tendiert zur Abstraktion und be- sen jedoch ausdrücklich darauf hin, dass solche
schreibt biologische Systeme in technischen Spezial- Kommunikationsfähigkeiten von Tieren für die
termini; je technischer sich eine Beschreibung an- meisten Wissenschaftler nicht zur ›wirklichen Spra-
hört, desto bereitwilliger wird sie als objektiv und che‹ gehören; sie sind vielmehr darauf bedacht, sie
substantiell betrachtet. Eine solche Sprache vertreibt aus ihren Forschungen auszuschließen.
jedoch das Tier als Subjekt und kann niemals dessen Mehr und mehr Forscher und Philosophen su-
Freude und Begeisterung gerecht werden, wie sie von chen nach Wegen, kommunikative Beziehungen
Vicki Hearne und Charles Darwin bezeugt worden zwischen verschiedenen Lebewesen in ihrer Arbeit
ist. Hierzu müssen wir eine umfassendere und weni- zu berücksichtigen. Das betrifft, um nur einige Be-
ger distanzierte Haltung einnehmen (Midgley 1983; reiche zu nennen, die Arbeitsfelder der Sprachphilo-
2001; Wemelsfelder 1997; 2007). sophie, der Phänomenologie, der Biosemiotik, der
In unserem Alltagsleben erscheinen uns Tiere gar Ethno-Anthropologie und der ökologischen Psycho-
nicht als komplexe Systeme, sondern als ganze, emp- logie (z. B. Abram 1997; Wheeler 2006). In unserer
findungsfähige Wesen. Wir haben den Eindruck, eigenen Forschungsarbeit haben wir uns der beste-
dass da ›jemand ist‹, oder, wie der Philosoph Thomas henden Tradition der qualitativen Verhaltensein-
Nagel (1974) sagt, wir erkennen, dass da etwas ist, schätzung (Stevenson-Hinde 1983) bedient, um ei-
von dem man sich fragen kann: Wie wäre es, dieses nen »ganzheitlichen« Ansatz in der Untersuchung
Individuum zu sein? Und jemanden kennenzuler- des Wohlergehens von Tieren zu entwickeln
nen ist nicht in erster Linie eine Sache von Messun- (Wemelsfelder 1997; 2007). Dieser Ansatz gilt der
gen, sondern bedarf einer Einstellung der Geduld, Frage, »wie es wäre«, in einer bestimmten Situation
der aufmerksamen Beobachtung und Zuwendung, dieses oder jenes Tier zu sein (z. B. ein Schwein in
um dem anderen die Möglichkeit zu geben, sich zum Freiland- oder aber in Massentierhaltung), indem
Ausdruck zu bringen. »Erkennen« ist also, so gese- bestimmte Beobachtergruppen gebeten werden, in
hen, ein Akt der Kommunikation, ein respektvolles eigenen Worten die expressive »Körpersprache« der
Zusammentreffen von Individuen (Goodall/Bekoff betreffenden Tiere zu beschreiben (Wemelsfelder
2002). Genau das, scheint mir, meint Vicki Hearne u. a. 2001; 2009). Bei der Suche nach Worten zur
mit ›Freundlichkeit‹ (das Englische kindness ist se- Charakterisierung der Ausdrücke der Tiere kommen
mantisch auch auf die ›Art‹ oder kind bezogen, was Beobachter mit sehr unterschiedlichem Hintergrund
im Deutschen nur blass in der ›Artigkeit‹ nach- immer wieder zu Begriffen wie »entspannt, zufrie-
klingt). Um ›Freundlichkeit‹ umzusetzen, brauchen den, lebhaft« und »glücklich« oder »angespannt,
wir eine angemessene Sprache, die das Subjekt nicht ängstlich, aufgeregt« und »gestresst«, und sie können
ausschließt, sondern es vielmehr zum Leben erweckt. anschließend mit diesen Begriffen auch das Aus-
Hearne ist eine Dichter-Philosophin und beschreibt drucksverhalten der betreffenden Tiere auf einer
sehr schön das Glücksbefinden ihrer Tiere – aber es Messskala quantifizieren. In langjähriger Forschung
bleibt die Frage, was dies für die Wissenschaft bedeu- mit einer Vielzahl von Spezies haben wir festgestellt,
tet. dass solche »ganzheitlichen« Einschätzungen durch-
Sprachphilosophen wie Ryle (1949) und Wittgen- gehend wissenschaftlich gültig und belastbar sind.
stein (vgl. Hacker 2003) haben die These vertreten, Wenn der Ansatz angemessen umgesetzt wird, be-
dass unsere Alltagssprache das Verhalten anderer steht daher kein Grund, weshalb die Behandlung
ganz natürlich als psychologisch ausdrucksvoll dar- von Tieren als ganzheitliche empfindungsfähige We-
stellt und dass diese Eigenart das epistemologische sen nicht Bestandteil einer gültigen wissenschaftli-
Fundament der wissenschaftlichen Forschung bildet chen Forschungsarbeit sein sollte. Forschungen die-
und als solches wertgeschätzt werden sollte. In ihrem ser Art können uns, anders als mechanistisch ange-
Buch Kanzi’s Primal Language. The Cultural Initia- legte Untersuchungen, unmittelbarer und in Hinblick
tion of Primates into Language (2005) dokumentie- auf die Ausdrucksdetails umfassender die Erlebnis-
ren Pär Segerdahl und seine Mitarbeiter ausführlich, welt von Tieren vermitteln. Natürlich können auch
dass eine informelle ›Privatkultur‹ der expressiven hier Fehler gemacht und kann das Ausdrucksverhal-
Interaktion und des Austauschs zwischen dem Bo- ten von Tieren missdeutet werden, wenn man das
nobo Kanzi und seinen menschlichen Betreuern betreffende einzelne Tier oder seinen Arthinter-
Kanzis Leistungen in formalen wissenschaftlichen grund nicht gut genug kennt. Das ist aber kein
Spracherwerbstests zugrunde liegt. Die Autoren wei- Grund, den gesamten Ansatz als anthropomorphis-
1. Glück der Tiere. Lernen zu verstehen, wie Tiere sich ausdrücken 367

tisch zu verwerfen; das Verständnis der Körperspra- Dawkins, Marian S.: From an Animal’s Point of View –
che als Akt der aufmerksamen Kommunikation ist Motivation, Fitness, and Animal Welfare. In: Behavio-
eine Fertigkeit, die geübt und mit der Zeit verbessert ral and Brain Sciences 13/1 (1990), 1–61.
werden kann. Duncan, Ian J.H.: The Changing Concept of Animal
Um also vom Glück der Tiere sprechen zu kön- Sentience. In: Applied Animal Behaviour Science 100
nen, müssen wir die Tiere zu uns sprechen lassen. (2006), 11–19.
Glück ist nichts, Glück entsteht in Wesen, die sich Fraser, David/Duncan, Ian J. H.: ›Pleasures‹, ›Pains‹ and
ausdrücken. In den Worten der Umweltschutzphilo- Animal Welfare: Toward a Natural History of Affect.
sophin Freya Matthews: »Wo die Erkenntnis im her- In: Animal Welfare 7/4 (1998), 383–396.
Gaita, Raimond: The Philosophers’s Dog. London 2002
kömmlichen Sinne erklären will, engagiert sich die
(dt.: Der Hund des Philosophen. Berlin 2003).
Begegnung. Die Erkenntnis will das Geheimnis eines
Goodall, Jane: In the Shadow of Man. Boston 1971.
Anderen aufbrechen; die Begegnung lässt dieses Ge-
– /Bekoff, Marc: The Ten Trusts: What we Must Do to
heimnis intakt. Wenn ich der Meinung bin, das Ge-
Care for the Animals we Love. San Francisco 2002.
heimnis meines Gegenübers in herkömmlicher
Griffin, Donald R.: The Question of Animal Awareness.
Weise aufgedeckt zu haben, dann verschwindet auch New York 1976 (dt.: Wie Tiere denken. Ein Vorstoß
mein Gefühl für dessen Anderssein, und jede Mög- ins Bewusstsein der Tiere. München 1998).
lichkeit einer wahrhaftigen Begegnung löst sich in Hacker, Peter M.S.: Wittgenstein: Meaning and Mind.
nichts auf. Achte ich jedoch die Undurchdringlich- Part I. Oxford 2003.
keit meines Gegenübers, bleibt mir auch der Sinn für Hearne, Vicki: Animal Happiness. New York 1994.
sein Anderssein und damit die Chance auf eine Jennings, Herbert Spencer: Behavior of the Lower Or-
wahrhafte Begegnung erhalten« (Matthews 2003, ganisms. Bloomington 1962.
78). Solche Begegnungen erfüllen uns mit Staunen, Jensen, Per/Toates, Frederick M.: Who needs ›Beha-
belehren uns – und machen uns glücklich. vioural Needs‹? Motivational Aspects of the Needs of
Animals. In: Applied Animal Behaviour Science 37
(1993), 161–181.
Literatur King, James E.: Personality and the Happiness of the
Abram, David: The Spell of the Sensuous. Perception Chimpanzee. In: F.L. Dolins (Hg.): Attitudes to Ani-
and Language in a More-than-Human World. Lon- mals. Views in Animal Welfare. Cambridge 1999,
don 1997. 101–114.
Balcombe, Jonathan: Animal Pleasure and its Moral Sig- Lassen, Jesper/Sandoe, Peter/Forkman, Björn: Happy
nificance. In: Applied Animal Behaviour Science 118 Pigs are Dirty! Conflicting Perspectives on Animal
(2009), 208–216. Welfare. In: Livestock Science 103 (2006), 221–230.
Barnett, John L./Hemsworth, Paul H.: The Validity of Matthews, Freya: For the Love of Matter. A Contem-
Physiological and Behavioural Measures of Animal porary Panpsychism. Albany 2003.
Welfare. In: Applied Animal Behaviour Science 25 McFarland, Sarah E./Hediger, Ryan: Animals and
(1990), 177–187. Agency. An Interdisciplinary Exploration. Leiden
Boissy, Alain: Fear and Fearfulness in Animals. In: Quar- 2009.
terly Review of Biology 70/2 (1995), 165–191. Mendl, Michael/Paul, Elizabeth S.: Consciousness, Emo-
– u. a.: Assessment of Positive Emotions in Animals to tion and Animal Welfare: Insights from Cognitive
Improve their Welfare. In: Physiology & Behavior Science. In: Animal Welfare 13 (2004), 17–25.
92/3 (2007), 375–397. Midgley, Mary: Animals and Why They Matter. Athens,
Broom, Donald M.: The Scientific Assessment of Ani- GA 1983.
mal Welfare. In: Applied Animal Behaviour Science –: Science and Poetry. London 2001.
20 (1988), 5–19. Moss, Cynthia J.:1988. Elephant Memories: Thirteen
Burgdorf, Jeffrey/Panksepp, Jaak: The Neurobiology of Years in the Life of an Elephant Family. New York
Positive Emotions. In: Neuroscience and Biobehavio- 1988.
ral Reviews 30 (2006), 173–187. Nagel, Thomas: What is it like to be a Bat? In: Psycholo-
Cabanac, Michel: Pleasure: The Common Currency. In: gical Review 83 (1974), 435–451.
Journal of Theoretical Biology 155 (1992), 173–200. Poole, Trevor: Happy Animals make good Science. In:
Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemüthsbewegun- Laboratory Animals 31 (1997), 116–124.
gen bei dem Menschen und den Thieren [1872]. Regan, Tom: The Case for Animal Rights. Berkeley
Stuttgart 1877. 1983.
368 VIII. Aktuelle Debatten

Romanes, George John/Darwin, Charles: Mental Evolu- Woolfson, Esther: Corvus. A Life with Birds. London
tion in Animals. Montana 1885. 2008.
Ryle, Gilbert: The Concept of Mind [1949]. Harmonds- Young, Rosamund: The Secret Life of Cows. Preston
worth 1990 (dt.: Der Begriff des Geistes. Stuttgart 2003.
1986). Françoise Wemelsfelder
Segerdahl, Pär/Fields, William/Savage-Rumbaugh, Sue: (aus dem Englischen übersetzt von Reiner Ansén)
Kanzi’s Primal Language. The Cultural Initiation of
Primates into Language. Basingstoke 2005.
Stevenson-Hinde, Joan: Individual Characteristics: A
Statement of the Problem. In: R. A. Hinde (Hg.): Pri-
mate Social Relationships: An Integrated Approach.
Oxford 1983, 28–34.
van Loo, Pascalle L.P./Van de Weerd, Heleen A./van Zut-
phen, Bert L.F.M./Baumans, Vera: Preference for So-
cial Contact versus Environmental Enrichment in
Male Laboratory Mice. In: Laboratory Animals 38/2
(2004), 178–188.
Verhoog, Henk: The Tension between Common Sense
and Scientific Perception of Animals: Recent Devel-
opments in Research on Animal Integrity. In: NJAS-
Wageningen Journal of Life Sciences 54/4 (2007),
361–373.
Watson, John B.: Psychology as the Behaviorist Views it.
In: Psychological Review 20 (1913), 158–177.
Weiss, Alexander/King, James E./Perkins, Lori: Persona-
lity and Subjective Well-being in Orangutans (Pongo
pygmaeus and Pongo abelii). In: Journal of Persona-
lity and Social Psychology 90 (2006), 501–511.
Wemelsfelder, Françoise: The Concept of Animal Bore-
dom and its Relationship to Stereotyped Behaviour.
In: A.B. Lawrence/J. Rushen (Hg.): Stereotypic Ani-
mal Behaviour: Fundamentals and Applications to
Animal Welfare. Wallingford 1993, 65–95.
–: The Scientific Validity of Subjective Concepts in Mo-
dels of Animal Welfare. In: Applied Animal Behav-
iour Science 53 (1997), 75–88.
–: How Animals Communicate Quality of Life: The
Qualitative Assessment of Animal Behaviour. In: Ani-
mal Welfare 16/S (2007), 25–31.
– /Birke, Lyndia I.: Environmental Challenge. In: M.C.
Appleby/B.O. Hughes (Hg.): Animal Welfare. Wal-
lingford 1997, 35–47.
– /Hunter, Tony E.A./Lawrence, Alistair B./Mendl, Mi-
chael T.: Assessing the ›Whole-animal‹: A Free-
Choice-Profiling Approach. In: Animal Behaviour 62
(2001), 209–220.
– /Nevison, Ian/Lawrence, Alistair B.: The Effect of Per-
ceived Environmental Background on Qualitative
Assessments of Pig Behaviour. In: Animal Behaviour
78 (2009), 477–484.
Wheeler, Wendy: The Whole Creature: Complexity, Bio-
semiotics and the Evolution of Culture. London
2006.
369

2. Glück durch Biotechnik? oft kontextlose Behandlung bzw. Isolierung einer


Perfektionierung eher zugänglich sein sollen.
Die Debatte über die Im Rahmen von biomedizinischen Technologien
biologische Verbesserung ergeben sich zahlreiche neue Möglichkeiten, den
Menschen zu einem ›Anderen‹, ›Besseren‹ oder ei-
des Menschen nem ›Optimum‹ hin zu verändern, auch jenseits des-
(enhancement ) sen, was gemeinhin als Krankheit, Behinderung, psy-
chische Beeinträchtigung oder Altersdemenz ver-
standen wird (s. Kap. VIII.5). Historisch betrachtet,
Vorüberlegungen hat der Mensch immer schon vergleichbare Versu-
che unternommen. Die aktuellen Fragen nach Mög-
Die Perfektionierung des Menschen ist die Zielset- lichkeiten und Wünschbarkeiten einer Perfektionie-
zung unterschiedlicher, heute zumeist wissenschaft- rung des Menschen lassen zuweilen vergessen, dass
lich gestützter Bemühungen in verschiedensten Be- sie stets von Religion, Philosophie, Politik, Gesell-
reichen der individuellen Lebensgestaltung und der schafts- und Naturwissenschaften thematisiert wur-
Gesellschaft. Die Bandbreite solcher Bemühungen den. So sind in der Antike Züchtungsideen auch für
reicht gegenwärtig von der Reduzierung von Krank- den Menschen geäußert worden, das Mittelalter
heit, Verlängerung des Lebensalters und Leidverrin- kennt Verbesserungsbestrebungen vor allem im
gerung bis hin zu Erziehungsmodellen (s. Kap. Rahmen von religiösen Anstrengungen, die Verfas-
VIII.11), von der Prothetik bis zur Sozialpolitik. Sol- ser von Utopien operieren oft auch mit Vorstellun-
che Verbesserungsstrategien basieren in der Regel gen von einer Verwandlung des Menschen (s. Kap.
auf der Diagnose des faktischen Zustands des Men- II.11).
schen, der als verbesserungsbedürftig gilt und bei In den vergangenen beiden Jahrhunderten waren
dem sich eine Möglichkeit auf wissenschaftlich-tech- solche Vorstellungen und Praktiken unter dem Stich-
nischem Wege anbietet, diesen Zustand zu verbes- wort der ›Eugenik‹ oftmals eng mit gesellschaftspoli-
sern. Ein zumeist, wenn auch nicht immer als defizi- tischen Großideologien verbunden, während sie ge-
ent diagnostizierter Ist-Zustand soll also mittels wis- genwärtig fast ausschließlich im Rahmen individuell
senschaftlich gestützter (d. h. in ihren Methoden anwendbarer und mit informierter Zustimmung
transparenter und überprüfbarer, in ihren erwünsch- versehener Verbesserungspraktiken diskutiert wer-
ten und unerwünschten Ergebnissen zumindest teil- den. Damit bleiben sie freilich nicht auf die indivi-
weise prognostizierbarer) Maßnahmen verbessert duelle Ebene begrenzt, sondern besitzen in ihrer
werden, so dass ein gewünschter, besserer Soll-Zu- Gesamtheit, nicht zuletzt über sozio-ökonomische
stand erreicht wird. Begleitumstände, durchaus eine gesellschaftliche Di-
Dieser Soll-Zustand hat etwas mit Glücksvorstel- mension.
lungen zu tun, die vom privaten, ›individuellem‹ Formen der Selbstgestaltung gehören unausweich-
Glück bis in die Versorgung mit Glücksmöglichkei- lich zur conditio humana. Auch alltägliche Handlun-
ten reichen. Einerseits folgt der Einzelne seinem gen wie Bildung, Selbsttechniken im Kontext von Le-
Glücksstreben (»pursuit of happiness« laut der ame- bensstil und Spiritualität oder systematisches Trai-
rikanischen »Declaration of Independence«; s. Kap. ning im Sport bemühen sich – strenggenommen
V.2), andererseits darf er nicht in der Nutzung von – um eine Verbesserung bestimmter Eigenschaften
Gelegenheiten, die das Verbundsystem von Wissen- des Menschen. Nicht zuletzt können auch Ethiken
schaft, Technik und Ökonomie herbeiführt, gehin- und religiöse Bemühungen als Mittel zu diesem
dert oder eingeschränkt werden. Auf der negativen Zweck verstanden werden.
Seite steht die Vermeidung von Glückseinschrän-
kungen, auf der positiven Seite steht eine Vielfalt von Begriffsklärungen
Perfektionierungen. Diese Vielfalt unterscheidet sich
freilich von der umfassenden Fülle, die in älterer Tra- In Bezug auf die Perfektionierung des Menschen
dition als totum bene vivere (gut in jeder Hinsicht le- sind unterschiedliche Möglichkeiten gegeben, deren
ben, Thomas von Aquin; s. Kap. IV.1 und VII.6) be- Begrifflichkeit zuvor geklärt werden muss:
zeichnet wurde. Das Glück scheint vielmehr in einer 1. Perfektionierung kann als ein umfassendes Pro-
Summe von Einzelheiten zu bestehen, die durch ihre gramm verstanden werden, das eine neue Gestalt des
370 VIII. Aktuelle Debatten

Menschen anstrebt. Das Hervorbringen eines neuen zwischen Verheißungs- und Warnutopien oder in
Menschen wäre hier die weitestreichende Form des der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen natura-
angestrebten Produktes. Für diese – derzeit theoreti- len und sozialen Teleologien nieder. Eine solche
schen – Vorhaben besteht eine zwingende Bindung Konkurrenz besteht zudem auf einer anderen Ebene,
an anthropologisch weit ausgreifende Vorstellungen nämlich zwischen Teleologien überhaupt und einer
vom Menschen. Diese Vorhaben dürften vermutlich anti-teleologischen Kultur des ›Imperfekts‹. Eine sol-
nur im Zusammenhang mit Überschreitungen zahl- che anti-teleologische Kultur im Sinne einer histori-
reicher, derzeit kulturell verankerter Grenzen zu rea- schen Erfahrung bleibender Imperfektheit vertrat
lisieren sein. z. B. der Philosoph Michael Landmann mit der
2. Perfektionierung kann aber auch als einzelne These: »die optima sind inkompossibel« (Landmann
(oft mit dem Wort ›Optimierung‹ verbundene) Me- 1955, 73). Angewandt auf die Biotechnik: Die Ver-
liorisierung einer einzelnen Eigenschaft oder Mög- besserung im Einzelnen führt nicht zur Verbesse-
lichkeit des Menschen verstanden werden. Dann rung im Ganzen. In der angloamerikanischen ethi-
geht es um Einzelprogramme oder Einzelprozesse, in schen Debatte wird deshalb die Beschränkung auf
denen ein Fortschritt entweder in der Beseitigung ei- das Wohl des Einzelnen betont. Verbesserungen im
nes Defektes oder in der Verbesserung einer Fähig- Einzelnen müssen dann im Hinblick auf ihre Folgen
keit oder von Befähigungen beim Menschen gesucht und Begleiterscheinungen betreut werden. Zum Bei-
wird. In diesem Fall kann es auch um Überschrei- spiel: Werden die Roboter besser, müssen deren Ein-
tung bisher wirkender Grenzen gehen, freilich als satz-Kontrolleure besser werden, ein Argument, das
Einzelheit und im einzelnen, ohne Bindung an wei- Stephen Hawking für ›enhancement‹ in Feld führt.
ter reichende Vorstellungen vom Menschen als nur Die ›Enhancement‹-Debatte hat zwei philosophi-
derjenigen, dass der Mensch ›perfektibel‹ etwa im sche Fraktionen entstehen lassen. Man kann für eine
Sinne von entwicklungsfähig sowie im Sinne positi- befürwortende Position neben John Harris und Ju-
ver Einzelheiten änderbar ist. lian Savulescu Allen Buchanan benennen, der keine
Bei der Frage nach dem Modus der Umgestaltung entscheidende Differenz zwischen »education and
ergibt sich überdies ein Spektrum, das von kreativer other productivity-increasing traditional enhance-
Umgestaltung über Kompensation von Defekten, ment« und »biomedical enhancements« sieht, die
Krankheiten oder Behinderungen bis zu Überkom- der Staat aus allgemeinen Interesse fördern sollte
pensation von Defekten, Krankheiten oder Behinde- (Buchanan 2008). Auf der anderen Seite hat Michael
rungen reicht. Hierbei gilt es jedoch zu berücksichti- Sandel betont, dass Sicherheitsrisiken und Probleme
gen, dass die Orientierungspunkte ›Defekt‹, ›Krank- gerechter Verteilung sowie die Zuordnung von Leis-
heit‹ oder ›Behinderung‹ keineswegs eindeutig und tungen zu individuellen Personen moralische Be-
unveränderlich vorgegeben sind, sondern vor allem denken unterstützen, und er befürchtet, in diesem
an ihren Rändern unscharf sind, überdies wandelbar Punkt nahe bei Jürgen Habermas, »a Promethian as-
und ihrerseits ein Spektrum an möglichen Definitio- piration to remake nature, including human nature,
nen bieten. Auch die Unterscheidungen zwischen to serve our purposes and satisfy our desires« (San-
Meliorisierung und Optimierung bzw. Perfektionie- del 2007, 26). Nicht die Suche nach Perfektion als
rung dienen als Markierungspunkte in einem Konti- solche sei jedoch das Problem, sondern die mensch-
nuum. liche Disposition, die dabei reklamiert werde. Es geht
Die beiden oben genannten Optionen (1) und (2) um den Zweifel daran, dass der historisch als imper-
sind auf unterschiedliche Weise mit der Frage nach fekt erwiesene Mensch mitsamt seiner unleugbaren
der Verbesserbarkeit bzw. Perfektibilität des Men- Kontingenz und Imperfektheit in der Lage ist, den
schen verbunden. Im ersten Fall – bei einem um- perfekten Menschen hervorbringen, ohne dass die-
fassenden Programm zu einer neuen Gestalt des sem Menschen etwas von der imperfekten Ausgangs-
Menschen – entsteht neben der Frage nach den tech- position anhaftet. Die Vertreter eines biotechnischen
nischen Risiken dieses Vorhabens eine Auseinander- Perfektionismus überschätzen den Menschen. Das
setzung über die fundamentale Frage, ob der Mensch ist freilich ein sehr ›dickes‹ Argument, das seinerseits
im Ganzen und endgültig ein anderer werden kann wenig Differenzierung, wenn es um einzelne Fort-
und soll und ob es sich bei dem Angestrebten tat- schritte geht, gestattet. Enhancement-Befürworter
sächlich um eine Verbesserung handelt. fragen aber ihre Kritiker oft: Würden Sie nicht zu-
Dies schlägt sich z. B. in der Auseinandersetzung stimmen, wenn alles, was umgesetzt wird, kontrol-
2. Glück durch Biotechnik? 371

lierbar, korrigierbar und rückführbar wäre? Aber, so zeitgenössische Leistung darin, dass der Einzelne
lautet die Gegenfrage, ist das denn erreichbar, wer »sich operiert« und damit perfektioniert, indem er
kann das garantieren? In der Technikfolgenabschät- seine Entscheidungskompetenz wahrnimmt, »sich
zung gilt ohnehin: ›to expect the unexpected‹. Au- operieren zu lassen« (vgl. Sloterdijk 2009, 590); da-
ßerdem: Man soll Probleme nicht so lösen, dass die mit ist die Entscheidung für einen Eingriff zugleich
Probleme, die aus der Problemlösung entstehen, grö- eine delegierte Eigenleistung.
ßer sind als die Probleme, die gelöst werden. Mit die- Perfektionierung kann also als umfassendes und
ser Regel kann man zwar nicht den Abwägungen im fundamentales Programm verstanden werden, das
Einzelnen ausweichen, aber sie ist bei jeder Abwä- eine Endgestalt in der Form der Allseitigkeit an-
gung zu berücksichtigen. strebt. Das Hervorbringen eines neuen Menschen
In die ›Enhancement‹-Debatte gehören auch die wäre hier die kompletteste Form des angestrebten
Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Produktes. Dieser Begriff ist mit einer totalen Objek-
Welt- und Menschenbildern im Beziehungsfeld von tivierung des Menschen durch den Menschen ver-
Natur- und Geisteswissenschaften, sowie eine Dis- bunden. Er setzt ein teleologisches Welt- und Men-
kussion der Fragestellung, ob der Mensch im Gan- schenbild voraus, das entweder vorgegeben ist, so
zen durch den Menschen »vergegenständlicht« (Mi- dass es der Mensch nachvollzieht, oder das vom
chel Foucault) werden kann oder gar werden muss Menschen gesetzt wird, indem er die ihm bisher von
(vgl. Jäger 2001). ›Natur‹ oder ›Tradition‹ (›Evolution‹?) usw. gesetz-
Im zweiten Fall – der Modifikation von Einzelei- ten Grenzen überschreitet. An einem Denkspruch
genschaften – sind die Fragestellungen zunächst be- am Eingang des US-Nationalmuseums in Washing-
grenzter und relativer. So geht es darum, wie ein ton wird dies deutlich: »Der Mensch ist bestimmt,
Fortschritt in einer Defektbegrenzung oder -behe- den Menschen zu schaffen«.
bung sowie in der Ermöglichung, Steigerung oder
Änderung einer Fähigkeit angesichts eines Verlust- Perfektionierung und Perfektibilität
und/oder Risikopotentials zu bewerten ist. Ein Pro-
des Menschen
blem wird gestellt, in einen wissenschaftlichen Rah-
men gefasst und in diesem Rahmen ›gelöst‹. Doch in Die beiden Spuren, die bisher unterschieden wurden,
der Regel begrenzt sich dieses Vorhaben in seinen wirken sich auch auf eine Unterscheidung im Begriff
Auswirkungen nicht auf einen engen Bereich: Es der ›Perfektibilität‹ des Menschen aus: Inwiefern und
bringt spätestens, sobald der Rahmen oder Horizont inwieweit kann der Mensch überhaupt ›vollkom-
erweitert wird, auch neue Probleme – nicht nur tech- men‹ oder ›perfekt‹ werden? Fundamentale und re-
nische – mit sich, ebenso wie es neue Felder durch lative Problematiken sind durch Begriffe ›der per-
Fortschritt nicht nur in der positiven Kenntnis oder fekte Mensch‹ auf der einen Seite und ›der im Ein-
Anwendung, sondern auch in der Nichtwissens- zelnen fortschreitende, also singulär perfektible
kenntnis und in der Kenntnis von ambivalenten Fol- Mensch‹ auf der anderen Seite gekennzeichnet. Die
gen erschließt. Es darf für den zweiten Fall auch Quer- und Gegenmodelle sind ebenfalls fundamen-
nicht übersehen werden, dass mit konsequenter und taler oder relativer Art. Der Unterschied zwischen
mehrfacher Verfolgung von Einzelzielen die Grenze biowissenschaftlich initiierten und skeptischen Men-
zum ersten Fall überschritten werden kann. schenbildern besteht darin, dass seitens der letzteren
So einfach es erscheint, von einer ›Verbesserung‹ philosophisch und theologisch vor allem gefragt
des Menschen zu sprechen, so schwierig erweist es wird, woraus der Mensch seine Perfektibilität be-
sich bei genauer Betrachtung, diese Vorgabe mit In- zieht, während in der neuzeitlichen Wissensgesell-
halt zu füllen bzw. – noch öfter – die Entscheidung schaft vor allem gefragt wird, woraufhin der Mensch
an den Patienten zu delegieren: Sofern man davon zu optimieren wäre.
ausgeht, dass in den gegenwärtigen biomedizini- Historisch gesehen, ist dieser Wechsel im Novum
schen Bemühungen grob gesprochen eine Tendenz Organon von Francis Bacon greifbar. Das Woraufhin
von der Therapie zur transindividuellen Optimierung erhielt den Vorzug vor dem Woraus, indem das
zu finden ist, eröffnet sich die Frage nach den Ziel- ›Neue‹ wichtiger wurde als das Alte, das Alte wichtig
vorgaben. Sloterdijk sucht einen Ausweg in einem blieb, insofern es Neues vorbereitete. Daraus resul-
Prozess, den er »auto-operative Krümmung des Sub- tiert, was H. M. Sass den »Fortschritt ohne morali-
jekts« nennt: So besteht die ethisch anzuerkennende schen Rückwärtsgang« nannte (Sass 1989). Ethische
372 VIII. Aktuelle Debatten

Fragen in diesem Spannungskreis könnten sich auf schließende Gegensätze? Die Typisierung sowohl
folgende Felder beziehen: der vorneuzeitlichen, als auch der humanistisch-auf-
– auf die ›Operabilität‹ des Menschen: Die condition klärerischen und der gegenwärtig technikbegleiten-
humaine wird nicht als auferlegte Natur, sondern den Modelle steht bisher noch aus (vgl. Passmore
als Fähigkeit zur Selbstüberschreitung gesehen; 1970).
– auf die Individualisierung einer Ethik des guten Nikolaus von Kues (1401–1464) wird häufig als
Lebens in Abhebung von der normativen Ethik ein früher Wegbereiter der neuzeitlichen Perfektibi-
und vom Recht; litätsvisionen gelesen, insbesondere als Vorläufer der
– auf die Transparenz von Wissen und mit dem Wis- Leibnizschen Philosophie und der von Leibniz und
sensfortschritt zugleich fortschreitender Nicht- Newton als Perfektionsmodell entwickelten Integral-
wissenskenntnis; rechnung. Neuere Arbeiten zur cusanischen Philo-
– auf die Reichweiten, Folgen, Ungewissheiten und sophie der Mathematik weisen indes nach, dass Ni-
Revidierbarkeit von Veränderungen; kolaus von Kues den Gedanken unbegrenzter Per-
– auf die Einsicht, dass es immer der ›alte‹ Mensch fektionierbarkeit mit einem rationalitätskritischen
ist, der seine Begrenzung überwinden will, der Vorbehalt verbindet (vgl. Hoff 2007). Die für die
aber gerade dabei als Planender der ›alte‹ bleibt; moderne Perfektibilitätsidee seit Leibniz charakte-
– auf den Unterschied zwischen dem Ideal des gu- ristische Idee eines kontinuierlichen Übergangs
ten Lebens im Ganzen oder in der Fülle und der zwischen differenten Größen bleibt allein Gott vor-
Vereinzelung der Perfektionierungsfortschritte, behalten, von dem – im Unterschied zu den Gegen-
etwa in der Biotechnik oder in der digitalen Kom- ständen rationaler Wissenschaften – nur in symboli-
munikation. scher Weise gesprochen werden kann. Die Idee der
Vollkommenheit lässt sich nicht in die Sprache der
Die Entwicklung der Philosophie des ›guten Lebens‹ exakten Wissenschaften übersetzen. Dieser Vorbe-
reicht über das religiöse Streben nach Perfektion bis halt ergibt sich bei Cusanus nicht aus metaphysi-
zur heutigen Frage nach dem Glück durch Lebens- schen, sondern aus wissenschaftstheoretischen
kunst (s. Kap. VI.10). Mit einem Blick in die Geistes- Gründen.
geschichte kann man fragen: Sind die Typen histo- Die Genese des neuzeitlichen Perfektibilitätsge-
rischer Modelle religiöser perfectio Vorzeichnungen dankens lässt sich vor diesem Hintergrund nicht
transhumaner Perfektionierungsmodelle im Kontext mehr als eine zwingende Konsequenz eines kontinu-
neuer Technologien? Die Antwort auf diese Frage ist, ierlichen abendländischen Wissenschaftsideals deu-
dass moderne Perfektion in der sehr unterschied- ten. Die Erforschung der historischen Grundlagen
lichen Wahl (choice) des Einzelnen zu erfolgen einer Wissenschaftskonzeption, die in den vermeint-
scheint. Gerade deshalb wendet sich ja das Glücks- lich religiösen Diskursen der Spätmoderne wieder-
streben der Lebenskunst zu und trägt dabei Religion belebt wird, erlaubt es, die Tendenz zu einer Über-
im Erbe. frachtung naturwissenschaftlicher Sprachspiele mit
Es gibt also Konkurrenzen zwischen Modellen der quasi-religiösen Sinnerwartungen und mit bio-phi-
Perfektionierung in christlich-religiöser vorneuzeit- losophischen Gedankenspielen zu unterlaufen. Auf
licher Tradition und den heutigen wissenschaftsge- der anderen Seite sind auf Lebenskunst gestützte
stützten Perfektionierungsmodellen. Solche Perfek- Glücksmodelle mit der Frage nach der Kontingenz
tionierungsmodelle tauchen heute begleitend zu und mit der der darüber hinausgehenden Frage nach
technologischen Fortschrittsschüben u. a. in der Phi- der Endlichkeit des Menschen zu konfrontieren (vgl.
losophie des sog. Transhumanismus auf, der mit der Kersting 2006).
Neuschöpfung des Menschen durch den Menschen
rechnet. Auf der Basis der Analyse historischer Mo-
delle religiöser Perfektion (z. B. der Stufenlehren zur Literatur
Vollkommenheit und der Lehre vom ›Durchbruch‹ Buchanan, Allen: Enhancement and the Ethics of De-
zum neuen Menschen) ist zu untersuchen, in wel- velopment. In: Kennedy Institute of Ethics Journal 18
cher Beziehung humanistische und aufklärerische (2008), 1–34.
Modelle am Beginn der Neuzeit zu vorneuzeitlichen – / Dan W. Brock/Norman Daniels/Daniel Wikler:
Modellen stehen: Fortsetzung mit anderen Mitteln, From Chance to Choice: Genetics and Justice. Cam-
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zugleich, sich aus- bridge 2001.
2. Glück durch Biotechnik? 373

Fukuyama, Francis: Our Posthuman Future. Conse- chia. In: Gianfranco Fioravanti u. a. (Hg.): Il com-
quences of the Biotechnology Revolution. New York mento filosofico nell’occidente latino. Turnhout 2002,
2002 (dt.: Das Ende des Menschen. München 2004). 359–377.
Gräfrath, Bernd: Es fällt nicht leicht, ein Gott zu sein. Dietmar Mieth
Ethik für Weltenschöpfer von Leibniz bis Lem. Mün-
chen 1998.
Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Na-
tur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frank-
furt a. M. 2001.
Hoff, Johannes: Kontingenz, Berührung, Überschrei-
tung. Zur philosophischen Mystik nach Nikolaus von
Kues. Freiburg/München 2007.
Horn, Christoph: Antike und Lebenskunst. München
2001.
Jäger, Siegfried: Dispositiv. In: Marcus S. Kleiner (Hg.):
Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken.
Frankfurt a. M./New York 2001, 72–89.
Kersting, Wolfgang (Hg.): Kritik der Lebenskunst.
Frankfurt a. M. 2006.
Krüger, Oliver/Sariönder, Refika/Deschner, Annette
(Hg.): Mythen der Kreativität. Das schöpferische zwi-
schen Innovation und Hybris. Frankfurt a. M. 2003.
Landmann, Michael: Philosophische Anthropologie.
Berlin 1955.
–: Was ist Philosophie? Bonn 41984.
Lang, Bernhard: Glück. In: Neues Handbuch Theologi-
scher Grundbegriffe. Neuausgabe (Hg. Peter Eicher).
München 2005, 40–50.
Mieth, Dietmar: Was wollen wir können? Ethik im Zeit-
alter der Biotechnik. Freiburg/Wien 2002.
–: Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst. Düssel-
dorf 2004.
–: Die Sehnsucht nach dem Leben ohne Leiden. Ein
Recht auf Nichtleiden? In: Konrad Hilpert/Dietmar
Mieth (Hg.): Kriterien biomedizinischer Ethik. Frei-
burg/Basel/Wien 2006, 133–157.
Passmore, John: The Perfectibility of Man. New York
1970.
Possenti, Vittorio: Die Natur des Menschen ändern? Die
Biotechnologie und die anthropologische Frage. In:
Thomas S. Hoffmann/Walter Schweidler (Hg.):
Normkultur vs. Nutzenkultur. Berlin 2006, 471–506.
Sandel, Michael: The Case against Perfection. In: The
Atlantic Monthly April (2004) (http://theatlantic.
com.issues/2004/04/sandel.htm).
–: The Case against Perfection: Ethics in the Age of Ge-
netic Engeneering. Cambridge, MA/London 2007.
Sass, Hans-Martin: Medizin und Ethik. Stuttgart 1989.
Sloterdijk, Peter: Du sollst dein Leben ändern. Frankfurt
a. M.2009.
Wieland, Georg: The Perfection of Man. On the Case,
Mutability, and Permanence of Human Happiness in
13th Century Commentaries on the Ethica Nicoma-
374 VIII. Aktuelle Debatten

3. Glück in den Neurowissen- schen Atlas übertragen werden (meist wird der
»Talairach-Atlas« verwendet, Talairach/Tournoux
schaften. Was zeigen 1993).
bildgebende Verfahren? Angefangen haben solche Untersuchungen mit
Läsionsstudien. Läsionen sind Verletzungen des Ge-
hirns. Ihre häufigste Ursache beim Menschen sind
Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen zu Unfälle (z. B. Aufprallen des Kopfes beim Sturz),
Beginn der 1960er Jahre hielt die ›Glücksfrage‹ Ein- Schlaganfälle (bei denen die Blutversorgung be-
zug in die Psychologie. In den letzten beiden Jahr- stimmter Hirnareale vermindert oder unterbrochen
zehnten fand dann eine Vermählung zwischen Psy- ist) und Hirnoperationen (z. B. bei schweren Fällen
chologie und Neurowissenschaften statt. Das Feld von Epilepsie). In Tierexperimenten werden Läsio-
der sozialen und der »affektiven Neurowissenschaf- nen auch gezielt operativ erzeugt. Ein frühes Beispiel
ten« (Dalgleish u. a. 2009) war geboren, und mit ihm war die Arbeit von Paul Broca (1824–1880). Er be-
die Frage, ob sich das erlebte menschliche Glück in richtete über zwei Patienten, die plötzlich die Fähig-
neuronale Aktivierungsmuster des menschlichen keit zu sprechen verloren hatten. Eine Obduktion
Gehirns übersetzen lässt. Was können die Neurowis- beider Hirne nach deren Tod zeigte eine Verletzung
senschaften zum Verständnis des Glücks beitragen? in einem spezifischen Teil des Gehirn, der »Broca’s
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, sollen zu- area«, die als Sitz des Sprachzentrums im Gehirn an-
nächst die neurowissenschaftlichen Methoden be- gesehen wurde.
leuchtet werden. Noch heute ist der Wert von Läsionsstudien un-
umstritten. Der Ausfall einer Funktion (z. B. das
Möglichkeiten und Grenzen neuro- plötzliche Fehlen der Fähigkeit, positive Emotionen
zu empfinden) nach Ausfall einer bestimmten Hirn-
wissenschaftlicher Methoden
region gilt als starker Hinweis darauf, dass die ent-
Generell ist zu sagen, dass neurowissenschaftliche sprechende Hirnregion ein essentielles Korrelat die-
Methoden entweder Orte neuronaler Aktivierung ser Funktion ist. Allerdings sind Läsionsstudien beim
im Gehirn lokalisieren (sie fragen, wo sich die neuro- Menschen nur beschränkt durchführbar, da Läsio-
nale Entsprechung eines bestimmten Ereignisses im nen nur selten auf eine einzige Hirnregion be-
Gehirn befindet) oder den zeitlichen Verlauf solcher schränkt sind. Wenn weitere Strukturen in Mitlei-
neuronalen Aktivierungen bestimmen (sie fragen, denschaft gezogen wurden, können keine genauen
wann eine neuronale Aktivierung nach einem be- Aussagen über die Funktion einer Hirnregion ge-
stimmten Ereignis auftritt). Bei allen Verfahren wird troffen werden. Zudem ist es schwierig, eine genü-
über die Aktivität verschiedener Messzeitpunkte ge- gende Anzahl von Patienten mit hinreichend ähnli-
mittelt, d. h. man braucht viele verschiedene Ereig- chen Läsionen zu rekrutieren, die für die Anwen-
nisse (engl. trials), die in gleicher Art einen Ereignis- dung valider statistischer Verfahren notwendig ist
typ repräsentieren (z. B. Präsentation verschiedener (vgl. Hein/Knight 2008).
Bilder, die alle einen Glückszustand hervorrufen). Neuerdings werden Läsionsstudien mit anderen
Die Aneinanderreihung dieser verschiedenen Ereig- Lokalisationsmethoden, etwa der funktionellen Ma-
nisse, z. B. der glücksinduzierenden Bilder, wird als gnetresonanztomographie (fMRT), ergänzt. Weil
experimentelle Bedingung bezeichnet. sich deren Ergebnisse in Bildern von Gehirnen mit
Räumliche wie zeitliche neuronale Veränderun- »Aktivierungsblobs« auf intuitive Art darstellen las-
gen in Reaktion auf ein Ereignis werden als Korre- sen, werden sie gern von den Medien aufgegriffen.
late bezeichnet. Sie geben Aufschluss darüber, ob Allerdings erfordert das Lesen und Interpretieren
eine bestimmte Hirnregion mit der Verarbeitung von fMRT-Aktivierungen genaueste Kenntnisse über
des Ereignisses in Verbindung steht und wann dies die Methodik und über den Aufbau des Gehirns.
geschieht, können jedoch keine direkten Aussagen Dem wird in populärwissenschaftlichen Abhandlun-
darüber machen, wie ein bestimmter Zustand (z. B. gen nicht immer Rechnung getragen, was zu Über-
glücklich sein) erzeugt wird. Die räumliche Lokali- interpretationen der Aussagekraft solcher Studien
sation basiert auf Koordinaten, die die Lage der Ak- geführt hat (zur Kritik vgl. Gehring 2004).
tivierung im drei-dimensionalen Raum des Gehirns Ein fMRT-Scanner erzeugt ein starkes Magnetfeld,
beschreiben und die dann auf einen neuroanatomi- was es erlaubt, aktivierte Hirnregionen, in denen das
3. Glück in den Neurowissenschaften. Was zeigen bildgebende Verfahren? 375

Blut mit Sauerstoff gebunden ist, von nicht aktivier- zumindest nicht, wenn man an interpretierbaren Re-
ten Regionen zu unterscheiden (für Details vgl. Ca- sultaten interessiert ist.
beza/Kingstone 2001). Erst nach der Auswertung
dieser fMRT-Daten mit elaborierten statistischen Neurowissenschaftliche Studien zum Glück
Verfahren kann die Aktivierung visuell dargestellt
werden. FMRT erlaubt also keine direkte Messung Glück ist eines der komplexesten Zustände im Re-
neuronaler Aktivität. Auf den Aktivierungsgrad be- pertoire menschlicher Gefühle. Es bleibt eine Her-
stimmter Hirnareale wird aus Veränderungen in ausforderung, es im experimentell kontrollierten
Blutfluss und Oxygenierung geschlossen, und die Ak- Rahmen messbar zu machen (s. Kap. VIII.6). Ein
tivierung in einem Hirnareal wird in einer experi- Problem ist z. B. die Verzerrung der menschlichen
mentellen Bedingung immer relativ zu einer gerin- Wahrnehmung durch einen Negativitätsbias (Taylor
geren Aktivierung in einer anderen Bedingung, z. B. 1991; Cacioppo/Gardner 1999): Unser Organismus
einer Ruhephase (»baseline«) bestimmt. FMRT ist reagiert wesentlich stärker auf negative als auf posi-
damit zwar gut geeignet, Kontraste zwischen A und tive Ereignisse – vielleicht aufgrund der evolutionä-
B zu messen, Aussagen über A oder B allein sind ren Notwendigkeit, Gefahren zu vermeiden (die
jedoch nur schwer interpretierbar. Erschwerend Kosten, umsonst davon zu laufen, sind wesentlich
kommt hinzu, dass das fMRT-Signal die neuronale geringer als die Kosten, eine Gefahr zu unterschät-
Aktivierung in einer bestimmten Situation nicht in zen). Dennoch wurden in den letzten Jahren interes-
»Echtzeit« aufzeichnen kann. Nach dem auslösen- sante Erkenntnisse gewonnen, die zum Verständnis
den Ereignis dauert es etwa 6 Sekunden, bis sich eine des menschlichen Glücks beitragen können.
Signaländerung zeigt – eine lange Zeit für unser Dabei kristallisieren sich einige Hirnregionen her-
Gehirn, welches verschiedene Informationen im aus, denen eine besonders wichtige Rolle zukommt.
Millisekunden-Bereich verarbeitet. Gefühltes oder Zum einen sind dies sogenannte subkortikale Hirn-
Wahrgenommenes wird also wie in Zeitlupe aufge- regionen (subkortikal, weil tief unter der Kortex-
zeichnet und im gemessenen Signal können sich ver- rinde liegend) wie der Nucleus accumbens, ein Teil
schiedene Zustände überlagern. des ventralen Striatums, und das ventrale Tegmen-
Dieser Nachteil lässt sich durch die Verwendung tum (Burgdorf/Panksepp 2006). Ebenfalls tief unter
komplementärer Methoden wie der Elektroenzepha- dem Kortex verborgen liegt die Amygdala, eine
lografie (EEG) umgehen. EEG basiert auf der Auf- Gruppe von Kernen (nuclei), die zum limbischen
zeichnung von Spannungsschwankungen an der System gehören (s. Kap. VIII.4). An der Verarbeitung
Kopfoberfläche, die durch elektrische Zustandsän- von positiven Emotionen beteiligt sind auch zur
derungen (Potentiale) der Hirnzellen verursacht Hirnrinde (Kortex) gehörende Strukturen. Eine be-
werden, wenn diese aktiviert sind. Die Summe der sondere Bedeutung kommt hier Subregionen des
Potentiale wird aufgezeichnet und gibt Auskunft da- Frontallappens zu, wie z. B. dem präfronalen und
rüber, wie Information im Gehirn weitergeleitet dem orbitofrontalen Kortex. All diese Hirnregionen
wird, und zwar im Millisekunden-Bereich. Im Ge- sind auf komplexe Art miteinander verbunden. Dies
gensatz zu fMRT ist das EEG-Signal zeitlich sehr ist nur eine Auswahl relevanter Strukturen – für eine
präzise. Allerdings ist die Lokalisierung der neuro- erschöpfende Diskussion sei auf die Fachliteratur
nalen Aktivität schwierig, was mit fMRT wiederum verwiesen.
hervorragend gelingt. Ein Vorgänger von fMRT ist
das Verfahren der Positron-Emissions-Tomographie Belohnung in den subkortikalen Tiefen
(PET), bei der leicht radioaktive Substanzen injiziert
des Gehirns: Der Nucleus accumbens
werden, die es erlauben, Stoffwechselprozesse im Ge-
hirn sichtbar zu machen. Die Lokalisation neurona- In letzter Zeit erlangte vor allem der Nucleus accum-
ler Aktivität ist dabei nicht so gut möglich wie bei bens Berühmtheit als das »Belohnungszentrum« des
fMRT, aber besser als bei EEG. Gehirns. Kann eine Aktivierung dieser Hirnregion
Alle diese neurowissenschaftlichen Methoden er- tatsächlich mit Glück in Verbindung gebracht wer-
fordern gewitzte Experimente und einen großen sta- den – und falls ja, mit welcher Art von Glück?
tistischen Aufwand, bevor sich überhaupt Hirnakti- Nachweisen lässt sich eine neuronale Aktivierung
vierungen erkennen und deuten lassen. Man kann im Nucleus accumbens im Kontext von Belohnun-
nicht ›mal eben nachsehen was im Gehirn passiert‹, gen verschiedenster Art. Frühe Studien zeigten eine
376 VIII. Aktuelle Debatten

Aktivierung dieser Hirnregion bei monetärer Beloh- Dopaminstoffwechsel des Gehirns an. Kokain etwa
nung im Vergleich zu Bestrafung (Knutson u. a. blockiert den Abbau von Dopamin, d. h. es erhöht
2001a und b). Dabei war die Aktivierung am stärks- die Dopaminkonzentration (z. B. Volkow u. a. 1997).
ten, wenn die Probanden die Belohnung erwarteten, Alkohol führt unter anderem zur verstärkten Aus-
und nahm wieder ab, wenn sie die Belohnung tat- schüttung von Dopamin im Nucleus accumbens
sächlich erhielten. Doch nicht nur Geld, sondern (Boileau u. a. 2003). Im Lichte der Erkenntnisse zur
auch das Hören eines Lieblingsmusikstückes (Blood/ Wirkweise von Dopamin ist davon auszugehen,
Zatorre 2001) oder das Einschätzen der Attraktivität dass der durch den Drogenrausch hervorgerufene
junger Frauen durch heterosexuelle Männer (Aha- Glückszustand der freudigen Erwartung imaginier-
ron u. a. 2001) löste subkortikale Aktivität aus. Darü- ter Belohnungen ähnelt, also dem Gefühl, dass die
ber hinaus wurde gezeigt, dass das ventrale Striatum Welt Belohnungen bereithält (auch wenn diese Er-
auch dann aktiv ist, wenn Männer im PET-Scanner wartung gar nicht realistisch ist). Auf diese Weise las-
sexuell erregende Bilder sahen (Redouté u. a. 2000). sen sich vielleicht die z. T. grandiosen Selbstüber-
Sogar wenn Männer von ihrer Partnerin zur Ejaku- schätzungen im Drogenrausch verständlich machen.
lation gebracht wurden, zeigte sich unter anderem Die bisher aufgeführten Ergebnisse sind ambiva-
verstärkte Aktivierung im ventralen Tegmentum, ei- lent: Einerseits legen sie nahe, dass subkortikale Ak-
ner anderen subkortikalen Struktur, die eng mit dem tivierungen, hervorgerufen durch Geld, Sex und
Nucleus accumbens in Verbindung steht (Holstege Drogen, vor allem mit hedonistischem Glück assozi-
u. a. 2003). iert sind. Andererseits deuten sie darauf hin, dass die
Noch bevor sie mit PET und fMRT im beim Men- durch Dopamin vermittelte Aktivierung dieser Regi-
schen untersucht wurden, waren diese subkortikalen onen nicht die Belohnung selbst repräsentiert, son-
Areale bereits aus Studien an Ratten bekannt, denen dern eher die Antizipation eines positiven Ereignis-
euphorisierende Drogen verabreicht wurden. Wurde ses. Dies ist kaum mit dem hedonistischen Glücks-
Ratten zum Beispiel Morphin in das ventrale Stria- begriff (s. Kap. II.3, III.3, V.1, VI.9, VIII.7, VIII.9)
tum injiziert, entwickelten sie eine Präferenz für den vereinbar, der den unmittelbaren Moment der Lust
Ort, an dem dies geschah (Olmstead/Franklin 1997; in den Vordergrund stellt.
Terashvili u. a. 2004). Eine Injektion von Kokain in Neuere fMRT-Studien zeigten außerdem, dass das
das ventrale Striatum und den frontalen Kortex hatte ventrale Striatum auch in Situationen aktiviert wird,
zur Folge, dass die Tiere sich im Anschluss diese Sub- die nicht mit Geld oder primären Belohnungen wie
stanzen selbst verabreichten (Goeders/Smith 1993). Sex assoziiert sind, sondern als sozial belohnend an-
Ähnliches wurde bei Alkohol und Nikotin beobach- gesehen werden. So zeigten Probanden verstärkte
tet, aber wiederum nur, wenn es in subkortikale Nucleus accumbens-Aktivität, wenn sie mit einer
Hirnregionen (das ventrale Tegmentum) der Ratten Person interagierten, die sich in der Vergangenheit
injiziert wurde (Laviolette/van der Kooy 2003; Rodd fair verhielt, d. h. die eine Reputation für Fairness
u. a. 2004). Solche Befunde legen nahe, dass diese hatte (Phan u. a. 2010). Erhöhte Nucleus accumbens-
subkortikalen Regionen maßgeblich daran beteiligt Aktivierung wurde auch dann gefunden, wenn be-
sind, ein Ereignis (hier die Gabe einer Substanz) mit obachtet wurde, wie einem Mitglied einer ungelieb-
einer zu erwartenden Belohnung zu assoziieren. ten sozialen Gruppe (Hein u. a. 2010) oder jeman-
Die neurophysiologischen Prozesse, die dieser dem, der sich unfair verhalten hatte (Singer u. a.
Funktion zugrunde liegen, stehen eng mit dem Neu- 2006), Schmerz zugefügt wurde. Ähnliches wurde
rotransmitter Dopamin in Verbindung, der in sub- beobachtet, wenn einer als überlegen angesehenen
kortikalen Hirnregionen gebildet wird und der im Person ein Missgeschick passierte – dieses Ergebnis
ventralen Striatum, aber auch im ventralen Tegmen- wurde im Sinne der »Schadenfreude« interpretiert
tum gehäuft auftritt. Im Einklang mit den oben zi- (Takahashi u. a. 2009). Eine weitere Studie zeigte er-
tierten Studien (z. B. Knutson u. a. 2001a und b) höhte Aktivierung im Nucleus accumbens, wenn
zeigte sich, dass die Ausschüttung von Dopamin mit Probanden freiwillig Geld für einen wohltätigen
der Erwartung von Belohnung, nicht aber mit der Zweck spendeten, im Vergleich zu einer Situation, in
Belohnung selbst assoziiert ist (Schultz 2000, 2010). der sie aufgrund von Steuern dieselbe Geldmenge
Dies ist eine wichtige Erkenntnis, gerade wenn es um für wohltätige Zwecke abführen mussten (Harbaugh
das Verstehen von Glücksgefühlen geht, die durch u. a. 2007). Diese Befunde weisen darauf hin, dass
Drogen verursacht werden. Viele Drogen setzen am sich der Nucleus accumbens nicht auf ein kurzfristi-
3. Glück in den Neurowissenschaften. Was zeigen bildgebende Verfahren? 377

ges hedonistisches Lustempfinden reduzieren lässt, Andere Modelle postulieren, dass die Amygdala
sondern auch in die Evaluation sozial relevanter durch schwer einzuordnende (engl. ambigue) Ereig-
Handlungen involviert ist. nisse aktiviert wird, die Handlungsbedarf signalisie-
ren, da sie potentiell gefährlich sein könnten (Davis/
Unglück im Kontrast zum Glück: Whalen 2001; Adolphs 2008). Allgemein wird ange-
nommen, dass ein geringer Aktivierungslevel der
Die Amygdala
Amygdala mit subjektivem Wohlbefinden einher-
Aristipp wies bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. darauf geht (Davidson 2004), während eine verstärkte Akti-
hin, dass sich Glück über Kontraste definiert. Glück vität dieser Hirnregion eine der neuronalen Entspre-
ist demnach nicht Wohlbefinden per se, sondern chungen von ›subjektivem Unglück‹ sein könnte,
Wohlbefinden im Kontrast zu Unglück, Angst oder also den Kontrast der Glücksmomente intensiver
Schmerz. Negative Emotionen wie Angst werden be- macht.
vorzugt in der Amygdala verarbeitet, einem Teil des
limbischen Systems, der auch als Mandelkern be- Erinnern und Bewerten von Glücks-
kannt ist. Sie steht eng mit dem Erlernen negativer
momenten: Der Frontallappen
Assoziationen in Verbindung, z. B. mit dem Wissen,
dass ein bestimmtes Ereignis, ein Geruch, eine Melo- Einen großen Teil des menschlichen Kortex nimmt
die, eine bestimmte Person »Unglück bringt«, z. B. der Frontallappen ein. Er ist in verschiedene Subre-
Schmerz nach sich zieht (LeDoux 1996). gionen untergliedert, denen unterschiedliche Funk-
Daneben scheint die Amygdala maßgeblich in das tionen zugeschrieben werden. Eine bedeutende Sub-
Erkennen von negativen Emotionen wie Angst bei region ist der präfrontale Kortex, eine andere der or-
anderen involviert zu sein. So zeigten Patienten mit bitofrontale Kortex. Der dorsale Teil des präfontalen
Läsionen der Amygdala in beiden Gehirnhälften Kortex (dorsal meint oben; als allgemeiner anatomi-
eine Beeinträchtigung beim Erkennen ängstlicher scher Begriff bezieht er sich auf die Anatomie vier-
Gesichtsausdrücke (Adolphs u. a. 1996; Adolphs beiniger Tiere und bedeutet »rückenwärts«) wird
2008; Calder u. a. 1996). Eine ähnliche Einschrän- mit Gedächtnisfunktionen in Verbindung gebracht,
kung zeigte sich auch beim Erkennen von Ärger oder z. B. dem Erinnern positiver oder negativer Zustände
Angst in den Stimmen anderer Personen (Scott u. a. (Watanabe 1996). Läsionen in diesem Teil des Ge-
1997). Solche Patienten schätzten unbekannte Perso- hirns verschlechtern die Fähigkeit, emotionale Kon-
nen als vertrauenswürdiger ein und näherten sich sequenzen zukünftiger Ereignisse einzuschätzen.
ihnen eher als Personen mit einer intakten Amyg- Man kann nicht mehr einschätzen, welche Handlun-
dala (Adolphs u. a. 1998). Ohne Amygdala stellt sich gen in der Zukunft glücklich oder unglücklich ma-
die Welt also in einem positiveren Licht dar: Eventu- chen könnten, und ist daher unfähig, seine Handlun-
elle negative Konsequenzen einer Begegnung mit gen daran zu orientieren. (Interessanterweise ist die
anderen werden nicht in Betracht gezogen. (Ein frag- Reaktion auf unmittelbare Belohnung und Bestra-
würdiges, weil unrealistisches ›Glück‹.) fung nicht beeinträchtigt, da diese wie oben disku-
Diese Befunde wurden in neueren fMRT-Studien tiert hauptsächlich von subkortikalen Arealen verar-
bestätigt, die gleichzeitig die Wirkung des Neuropep- beitet wird.)
tids Oxytocin untersuchten. Probanden, die Oxyto- Eine Hauptfunktion des orbitofrontalen Kortex
cin einatmeten, zeigten eine geringere Aktivierung besteht in der Bewertung von Ereignissen und Zu-
der Amygdala als Personen, die eine Placebo-Sub- ständen. Studien aus dem Bereich der Neuroökono-
stanz bekamen (vgl. Kirsch u. a. 2005). Personen, die mie zeigen, dass der subjektive Wert, der z. B. einer
Oxytocin einatmeten (also eine geringere Aktivie- Süßigkeit beigemessen wird, sich in der Aktivierung
rung der Amygdala zeigten), waren eher bereit, an- dieser Hirnregion niederschlägt (Rangel/Hare 2010;
deren zu vertrauen, selbst wenn diese Personen sie Rangel u. a. 2008). Somit kommt ihre Funktion dem
vorher unfair behandelt hatten (Baumgartner u. a. subjektiven Glücksempfinden am nächsten: Eine
2008). Im Einklang mit den oben zitierten Studien Aktivierung in dieser Region spiegelt wider, wie viel
weist dies darauf hin, dass bei einer Unterfunktion Wert jemand einem bestimmten Ereignis beimisst,
der Amygdala die Relevanz (Salienz) negativer Reize ob ihn oder sie eine bestimmte Süßigkeit glücklicher
abnimmt. Der Kontrast zwischen Glück und Un- macht als eine andere etc.
glück wird schwächer. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass der orbito-
378 VIII. Aktuelle Debatten

frontale Kortex maßgeblich daran beteiligt ist, den dem Ziel, Spiegelneurone auch beim Menschen
Wert eines Ereignisses zu aktualisieren, d. h. einmal nachzuweisen, auch unter Anwendung von fMRT.
gelernte Assoziationen zwischen einem Ereignis und Die Ergebnisse zeigten vor allem Aktivierungen im
einer Belohnung wieder zu tilgen, wenn diese sich als frontalen und parietalen Kortex, z. B. wenn Proban-
nicht gültig oder gar schädlich erweisen (Rolls 1999; den eine Bewegung sahen oder diese imitierten (be-
Beer u. a. 2003). Das Aufrechterhalten einer positiven sprochen in Rizzolatti/Craighero 2004).
Stimmung auch nur während eines einzigen Tages Die Existenz und Funktion des »Spiegelneuron-
erfordert eine ständige Aktualisierung der Assoziati- Systems« beim Menschen ist bis heute Gegenstand
onen zwischen einem Ereignis und dessen Konse- heftiger Debatten. Für manche Wissenschaftler sind
quenzen. Bei Patienten mit Läsionen in dieser Hirn- Spiegelneurone die Grundlage des Verstehens ande-
region findet dieses Neulernen nicht statt. Sie halten rer überhaupt (Iacoboni/Dapretto 2006). Andere be-
an alten Gewohnheiten fest, selbst wenn diese durch zweifeln, dass sie beim Menschen überhaupt existie-
geänderte Umstände vielleicht extrem negative Fol- ren (z. B. Lingnau u. a. 2009; Grafton 2009). Eine Zwi-
gen haben. Es ist unschwer zu erkennen, dass dies fa- schenposition postuliert, dass Spiegelneurone eine
tale Folgen für die Regulation positiver und negati- wichtige Funktion für das Verstehen von Bewegun-
ver Emotionen hat. Der Weg, den jemand zur Arbeit gen anderer haben, aber nicht unbedingt für das Ver-
nimmt, mag lange der schnellste gewesen sein; in- stehen von Emotionen (besprochen in Singer/Hein
nerhalb weniger Stunden kann die Straße jedoch ge- 2011). Dies wird von Befunden gestützt, die distinkte
sperrt sein, womit die vormals positiven Assoziatio- neuronale Aktivierungen zeigten, je nachdem ob
nen mit dieser Route dann nicht mehr gültig sind. sich der Proband auf die Bewegung der Gesichts-
Nur wenn es gelingt, diese zu überschreiben und sich muskulatur eines anderen oder auf die emotionale
für eine andere Route zu entscheiden, entgeht man Bedeutung des Gesichtsausdrucks konzentrierte
dem ›Unglück‹, stundenlang im Stau zu stehen. Die- (Jabbi/Keysers 2008). Der Fokus auf Gesichtsmoto-
ses glücksrelevante Überschreiben von Assoziatio- rik führte zu Aktivierungen in frontalen und parie-
nen zum Zweck der Aufrechterhaltung des Wohlbe- talen Hirnarealen, in denen auch beim Menschen
findens kann als eine Funktion des orbitofrontalen Neurone mit »Spiegelfunktion« vermutet werden.
Kortex angesehen werden. Dagegen wurden beim Versuch, die Emotionen der
anderen Person zu entschlüsseln, Hirnregionen akti-
Glücklich durch das Glück anderer: viert, die mit dem Verarbeiten eigener Emotionen in
Verbindung stehen und in denen bislang keine Spie-
Das empathische Gehirn
gelneurone nachgewiesen werden konnten.
Die bisher beschriebenen Befunde behandeln die Dies legt nahe, dass Spiegelneurone allein nicht
Verarbeitung von positiven Ereignissen, die einem ausreichen, um die Emotionen anderer zu erschlie-
selbst widerfahren. Der Mensch ist jedoch ein sozia- ßen. Sie werden wahrscheinlich parallel mit anderen
les Wesen. »No man is an island« stellte bereits der Hirnregionen aktiviert, die sowohl für die Verarbei-
Poet John Donne fest (1624, XVII. Meditation). Un- tung eigener wie auch für die Verarbeitung der Emo-
sere Gefühle werden nachhaltig vom Leid und Glück tionen anderer rekrutiert werden. So zeigten eine
anderer beeinflusst. Doch wie verarbeitet unser Ge- Reihe von fMRT-Studien, dass Empathie für den
hirn das Glück anderer? Und kann sich das Glück Schmerz anderer solche Gehirnregionen aktiviert,
anderer auf unser neuronales System übertragen? die auch an der Verarbeitung eigenen Schmerzes be-
Erste Befunde, die nahelegten, dass das Primaten- teiligt sind, aber außerhalb der Regionen liegen, in
gehirn unmittelbar auf den Einfluss anderer reagiert, denen Spiegelneurone beim Menschen vermutet
kamen aus motorischen Studien an Affen. Den Affen werden (besprochen in Decety/Jackson 2004; Hein/
wurden Elektroden ins Hirn implantiert, um die Ak- Singer 2008; Singer/Lamm 2009). Das Gehirn simu-
tivität einzelner Neurone (Nervenzellen) zu messen liert die Emotionen anderer also in Hirnregionen,
(Rizzolatti/Craighero 2004; vgl. Iacoboni/Dapretto die es für die Verarbeitung eigener Emotionen ein-
2006). Es zeigte sich, dass das Beobachten von Bewe- setzt.
gungen ähnliche Neurone aktiviert, die aktiv sind, Man kann sich aber auch ohne Simulation, näm-
wenn sich ein Affe selbst bewegt. Diese Neurone lich auf kognitivem Weg, in die Gefühle anderer hin-
wurden fortan »Spiegelneurone« (mirror neurons) einversetzen. Ein solches theory of mind-basiertes
genannt. Es folgten eine Vielzahl von Studien mit Verstehen anderer wurde in einer Vielzahl von neu-
3. Glück in den Neurowissenschaften. Was zeigen bildgebende Verfahren? 379

rowissenschaftlichen Studien untersucht (bespro- und geleckt wurden, als erwachsene Ratten eine er-
chen in Frith/Frith 2006; Saxe 2006). Es zeigte sich, höhte Dichte von Benzodiazepin-Rezeptoren in der
dass die Simulation von Emotionen, z. B. bei Empa- Amygdala aufwiesen (Caldji u. a. 1998). Benzodiaze-
thie für den Schmerz anderer, und das kognitive Er- pin hat eine muskelentspannende und angstreduzie-
schließen des emotionalen Zustandes eines anderen rende Wirkung und ist ein Hauptbestandteil vieler
im Sinne der theory of mind distinkte neuronale Schlafmittel. Daraus kann man schließen, dass diese
Netzwerke aktivieren, und somit als zwei verschie- Ratten entspannter und angstresistenter sind –
dene Routen für das Verstehen der Gefühle anderer ›glückliche Ratten‹ also (s. Kap. VIII.1). Gibt es ver-
angesehen werden können (Hein/Singer 2008 und gleichbare Effekte in der Entwicklung des menschli-
2009). chen Gehirns?
Macht uns das Beobachten des Glücks anderer Bisher wurden vor allem negative Faktoren unter-
aber glücklich? Diese Frage rückte in den Neurowis- sucht, die die neuronale Entwicklung von Kindern
senschaften erst in jüngster Zeit ins Blickfeld. In ei- hemmen. So wurde gezeigt, dass Kindergartenkinder
ner kürzlich publizierten fMRT-Studie (Mobbs u. a. aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Sta-
2009) wurden die Versuchspersonen zuerst mit an- tus Defizite in Aufgaben aufweisen, die mit präfron-
deren Personen ›bekanntgemacht‹, d. h. sie erfuhren talen Hirnaktivierungen in Verbindung stehen (Fa-
deren Meinung zu wichtigen Fragen, die sehr ähn- rah u. a. 2006). Noch direktere Evidenz stellt eine
lich oder sehr unähnlich zu ihrer eigenen Meinung EEG-Studie bereit, die elektrische Potentiale maß,
in den betreffenden Punkten sein konnte. Im An- welche durch präfrontale Aktivierung erzeugt wer-
schluss beobachteten die Probanden, wie die ähnli- den (Kishiyama u. a. 2009). Bei Kindern aus sozial
chen oder unähnlichen Personen in einem Spiel benachteiligten Familien zeigten sich dramatische
Geld gewannen oder verloren. Die Ergebnisse zeig- Veränderungen in diesen Potentialen, bereits wenn
ten verstärkte Aktivierung im ventralen Striatum es nur darum ging, die Aufmerksamkeit auf ein be-
(s.o), wenn eine der Versuchsperson ähnliche Person stimmtes Ereignis zu richten. Umwelteinflüsse wir-
gewann. Diese Hirnregion wurde auch aktiviert, ken sich besonders auf präfontale Regionen aus, da
wenn die Versuchsperson selbst der Gewinner war. diese erst mit Abschluss der Pubertät voll ausgereift
Das weist auf eine ›neuronale Übertragbarkeit‹ von sind (Blakemore 2008). Ihre Beeinträchtigung hat
Glück hin. Wenn einer Person, die uns zudem noch dramatische Auswirkungen auf viele Bereiche –
ähnlich ist, Gutes widerfährt, wird dies im Gehirn nicht zuletzt auf Aspekte des Glückserlebens, in de-
ähnlich verarbeitet, wie es bei eigenem Glück der Fall nen der Frontallappen eine Rolle spielt (s.o.).
ist. Wenn negative Umwelteinflüsse so gravierende
Folgen haben, sollten auch positive Emotionen unser
Trainiertes Glück: Plastizität Gehirn formen. (Darauf beruht die Weisheit vieler
Ratgeber.) Doch wie soll dies im hektischen Alltag
des glücklichen Gehirns
des 21. Jahrhunderts geschehen? Die Suche nach
Ein verbreitetes Vorurteil unterstellt der Hirnfor- dem Glück in unserer westlichen Zivilisation (unter-
schung ein deterministisches Menschenbild. Das ist haltsam geschildert bei Lelord 2002/2006, 157 f.),
aber nicht der Fall. Gerade unser Gehirn zeichnet führte u. a. auf fernöstliche Meditationstraditionen
sich durch Plastizität aus: Die ererbte neuronale (s. Kap. VII.4), die nun im Rahmen der Contempla-
Grundstruktur wird lebenslang durch Interaktion tive Neuroscience untersucht werden. Eine ihrer
mit der Umwelt ausgeformt. Damit stellt sich die Hauptfragen ist, ob regelmäßiges Meditationstrai-
Frage, ob sich Glück trainieren lässt (s. Kap. VI.11) ning nachhaltig die Aktivierungsmuster unseres Ge-
und ob sich ein solches Glückstraining in neurona- hirns ändert.
len Veränderungen nachweisen lässt. Ziehen viele Diese Frage ist leichter zu stellen als sauber empi-
positive Emotionen in einem glücklichen Leben eine risch zu untersuchen. Es gibt eine Vielzahl unter-
plastische Veränderung des Gehirns nach sich? schiedlicher Meditationsverfahren, von eher körper-
Hinweise darauf, dass wiederholtes Erleben von betonten Entspannungsverfahren wie z. B. Yoga bis
positiven Emotionen oder Glück dauerhafte Verän- zu rein spirituellem Training, bei dem z. B. Empathie
derungen im Gehirn hervorrufen können, kommen und der Wunsch für das Wohlergehen anderer kulti-
aus Studien an Ratten. Hier zeigte sich, dass Ratten- viert und damit negative Gefühle abgebaut werden
babies, die von ihren Müttern regelmäßig gekrault (Compassion and Loving-kindness Meditation).
380 VIII. Aktuelle Debatten

Daneben gibt es Meditationsformen, die auf der In einer fMRT-Studie wurden Experten der Fo-
Kontrolle des Aufmerksamkeitsfokus basieren, in- cused Attention Meditation mit Novizen verglichen
dem sie diesen entweder auf ein ausgewähltes Objekt (Brefczynski-Lewis u. a. 2007). Die Resultate zeigten
beschränken (Focused Attention Meditation) oder bei den Experten eine geringere Aktivierung in Hirn-
ihn erweitern, indem die Umwelt nur erfahren oder regionen, die mit der Verarbeitung störender Um-
beobachtet wird, ohne die Aufmerksamkeit auf spe- weltreize und Emotionen in Verbindung stehen. Sie
zifische Aspekte zu richten (Open Monitoring Medi- konnten also störende Umweltreize besser ausblen-
tation). Das Erreichen von fokussierter wie von all- den. Die Stärke der neuronalen Unterschiede zwi-
umfassender Aufmerksamkeit wird von Experten als schen Experten und Novizen korrelierte dabei mit
positive und entrückte Erfahrung beschrieben, wel- der Anzahl an Meditationsstunden: Je mehr Medita-
che negative Gedanken und Gefühle bannt (Lutz u. a. tionsstunden ein Experte absolviert hatte, desto stär-
2008). ker unterschied sich seine neuronale Aktivierung
Der empirischen Erforschung der Auswirkung von der eines Meditations-Neulings. Dies weist auf
von Meditation auf das Gehirn (wie auch auf andere einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen neu-
empirische Parameter) stellen sich vier Probleme: ronaler Plastizität und Meditationspraxis hin.
Erstens ist sicherzustellen, dass potentielle Unter- Andere Studien untersuchten Experten und Novi-
schiede zwischen Meditationsexperten und Novizen zen der Compassion and Loving-Kindness Medita-
tatsächlich auf die Meditation und nicht auf andere tion. Sie zeigten neuronale Unterschiede in Arealen,
Faktoren (wie Ernährung, Lebenstempo, Schlafge- die in den Verarbeitung von Empathie und positiven
wohnheiten etc.) zurückzuführen sind. Zweitens gilt Emotionen involviert sind (Lutz u. a. 2009a und
es, die allgemeinen Effekte regelmäßiger Meditation 2009b). Dies weist darauf hin, dass Empathie und
von spezifischen Effekten eines bestimmten medita- Mitgefühl erlernbar sind und durch solche Meditati-
tiven Trainings zu trennen. Es bedarf daher einer onsformen kultiviert werden können.
theoretisch begründeten Auswahl des Meditations- Diese Befunde deuten an, dass eine Kultivierung
verfahrens (besprochen in Lutz u. a. 2008). Die Er- positiver Gefühle durch Meditation neuronale Ver-
gebnisse sollten mit den Effekten in einer Kontroll- änderungen nach sich ziehen kann. Wir können un-
gruppe verglichen werden, die mit einem anderen ser Gehirn also darauf trainieren, positiv zu denken
Verfahren trainiert werden. Drittens ist für das Errei- und zu fühlen. Das Erlernen fernöstlicher Meditati-
chen einer entsprechenden Meditations-Expertise onsverfahren ist allerdings so anspruchsvoll wie
eine lange Trainingsdauer nötig, die eher von Pro- langwierig und kann somit nicht die ›Glücksformel‹
banden akzeptiert wird, welche ohnehin an Medita- für jedermann sein. Die Suche nach dem Glück
tion interessiert sind (selection bias). Viertens ist frag- bleibt individuell und ist ebenso einzigartig wie un-
lich, ob sich Ergebnisse von Studien mit Meditati- ser Gehirn.
onsexperten (etwa buddhistischen Mönchen, die seit
Jahrzehnten täglich in der Abgeschiedenheit eines Ein vorläufiges Fazit
Klosters meditieren) einfach auf Manager/innen
oder Verkäufer/innen übertragen lassen, die das glei- Glücksempfindungen sind mit Aktivierungen im
che Meditationsverfahren nach einem profanen Ar- Gehirn korreliert, doch ›erzeugt‹ das Gehirn sie nicht
beitstag praktizieren. von sich aus. Die Neurowissenschaften sind ein viel-
Gleichwohl haben jüngste Studien interessante versprechender Zugang, Glückserfahrungen empi-
Resultate erbracht. So konnte in einer EEG-Studie risch zu erfassen. Dass die meisten der bisher be-
gezeigt werden, dass tibetanische Mönche, die zwi- nutzten Paradigmen Glück eher im hedonistischen
schen 15 und 40 Jahren lang eine bestimmte Form als im eudaimonistischen Sinne operationalisieren
der Open Monitoring Meditation praktizierten, eine (s. Kap. II.3), ist den Messprinzipien der klassischen
stärkere Synchronisation von Gamma-Wellen (ein neurowissenschaftlichen Methoden geschuldet und
bestimmtes Frequenzband im EEG-Signal) aufwie- sollte nicht als Hinweis auf einen reduktionistischen
sen als Novizen. Das wies auf eine erhöhte Inte- Glücksbegriff verstanden werden. Es ist experimen-
gration verschiedener neuronaler Prozesse hin (Lutz tell wesentlich einfacher, einen Kontrast zwischen
u. a. 2004) und legt nahe, dass Langzeitmeditation kurzen Lustmomenten und ihrem Gegenstück zu er-
eine Veränderung grundlegender Hirnparameter zeugen (z. B. durch Belohnung und das Fehlen einer
(des default mode) nach sich ziehen kann. solchen), als ein gelingendes und tugendhaftes Le-
3. Glück in den Neurowissenschaften. Was zeigen bildgebende Verfahren? 381

ben im Sinne eudaimonistischer Ansätze im Experi- Cabeza, Roberto/Alan Kingstone: Handbook of Func-
ment zu untersuchen. Eine Herausforderung zu- tional Imaging of Cognition. Cambridge, MA 2001.
künftiger Forschung besteht darin, neue Paradigmen Cacioppo, John T./Wendi L. Gardner: Emotion. A. Re-
und Methoden zu entwickeln, die die unterschiedli- view. In: Psychology 50 (1999), 191–214.
chen Aspekte von Glück erfassen und in ihrer Kom- Calder, Andrew J. u. a.: Facial Emotion Recognition after
plexität darstellen können. Der Versuch, das Myste- Bilateral Amygdala Damage: Differentially Severe
rium des menschlichen Glücks zu erfassen, bedarf Impairment of Fear. In: Cognitive Neuropsychology
der Integration natur- und geisteswissenschaftlicher 13/5 (1996), 699–745.
Ansätze – ein Potential, das zukünftig stärker ausge- Caldji, Christian u. a.: Maternal Care during Infancy Re-
gulates the Development of Neural Systems Media-
schöpft werden sollte.
ting the Expression of Fearfulness in the Rat. In: Pro-
ceedings of the National Academy of Sciences USA
Literatur 95 (1998), 5335–5340.
Adolphs, Ralph u. a.: Impaired Recognition of Emotion Dalgleish, Tim u. a.: Affective Neuroscience: Past, Pre-
in Facial Expressions Following Bilateral Damage to sent, and Future. In: Emotion Review 1/4 (2009),
the Human Amygdala. In: Nature 372 (1994), 669– 355–368.
672. Davidson, Richard J. u. a.: Alterations in Brain and Im-
– u. a.: Cortical Systems for the Recognition of Emo- mune Function Produced by Mindfulness Medita-
tion in Facial Expression. In: Journal of Neuroscience tion. In: Psychosomatic Medicine 65 (2003), 564–
16 (1996), 7678–7687. 570.
– u. a.: The Human Amygdala in Social Judgment. In: –: Well-being and Affective Style: Neural Substrates and
Nature 393 (1998), 470–474. Biobehavioural Correlates. In: Philosophical Trans-
– u. a.: Fear, Faces, and the Human Amygdala. In: actions of the Royal Society B 359 (2004), 1395–
Current Opinion in Neurobiology 18/2 (2008), 166– 1411.
172. Davis, Michael/Paul J. Whalen: The Amygdala: Vigi-
Aharon, Itzhak u. a.: Beautiful Faces Have Variable lance and Emotion. In: Molecular Psychiatry 6 (2001),
Reward Value: fMRI and behavioral evidence. In: 13–34.
Neuron 32 (2001), 537–551. Decety, Jean/Philip L. Jackson: The Functional Architec-
Baumgartner, Thomas u. a.: Oxytocin Shapes the Neural ture of Human Empathy. In: Behavioral and Cogni-
Circuitry of Trust and Trust Adaptation in Humans. tive Neuroscience Reviews 3 (2004) 71–100.
In: Neuron 58 (2008), 639–650. Donne, John: Devotions upon Emergent Occasions
Beer, Jennifer S. u. a.: The Regulatory Function of Self- [1624], zit. nach www.online-literature.com/donne/
Conscious Emotion: Insights From Patients With Or- 409.
bitofrontal Damage. In: Journal of Personality and Farah, Martha J. u. a.: Research Report: Childhood Po-
Social Psychology 85 (2003), 594–604. verty: Specific Associations with Neurocognitive De-
Blakemore, Sarah-Jayne: The Social Brain in Adoles- velopment. In: Brain Research 1110 (2006), 166–174.
cence. In: Nature Reviews Neuroscience 8 (2008), Frith Chris D./Uta Frith. The Neural Basis of Mentali-
267–277. zing. In: Neuron 50 (2006), 531–534.
Blood, Anne.J./Robert J. Zatorre: Intensely Pleasurable Gehring, Petra: Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden
Responses to Music Correlate with Activity in Brain und weltbildgebenden Verfahren der Neurowissen-
Regions Implicated in Reward and Emotion. In: Pro- schaft. In: Philosophische Rundschau 51/4 (2004),
ceedings of the National Academy of Sciences 98 273–295.
(2001), 11818–11823. Goeders, Nick E./James E Smith: Intracranial Cocaine
Boileau, Isabelle u. a.: Alcohol Promotes Dopamine Re- Self-administration into the Medial Prefrontal Cor-
lease in the Human Nucleus Accumbens. In: Synapse tex increases Dopamine Turnover in the Nucleus Ac-
49 (2003), 226–231. cumbens. In: Journal of Pharmacology and Experi-
Brefczynski-Lewis, Julie A. u. a.: Neural Correlates of At- mental Therapeutics 265 (1993), 592–600.
tentional Expertise in Long-term Meditation Practi- Grafton, Scott T.: Embodied Cognition and the Simula-
tioners. In: Proceedings of the National Academy of tion of Action to Understand Others. In: The Year in
the Sciences USA 104 (2007), 11483–11488. Cognitive Neuroscience: Annals of the New York
Burgdorf, Jeffrey/Jaak Panksepp: Review: The Neuro- Academy of Sciences 1156/1 (2009), 97–117.
biology of Positive Emotions. In: Neuroscience and Haber, Suzanne N./Brian Knutson: The Reward Circuit:
Behavioral Reviews 30 (2006), 173–187. Linking Primate Anatomy and Human Imaging. In:
382 VIII. Aktuelle Debatten

Neuropsychopharmacology Reviews 35 (2010), 4– LeDoux, Joseph: The Emotional Brain. The Mysterious
26. Underpinnings of Emotional Life. New York 1996.
Harbaugh, William T. u. a.: Neural Responses to Taxa- Lelord, François: Hectors Reise und die Suche nach dem
tion and Voluntary Giving Reveal Motives for Chari- Glück [2002]. München 2006.
table Donations. In: Science 316 (2007), 1622–1625. Lingnau, Angelika u. a.: Asymmetric fMRI Adaption re-
Hein, Grit/Robert Knight: Superior Temporal Sulcus – veals no Evidence for Mirror Neurons in Humans. In:
It’s my Area: Or is it? In: Journal of Cognitive Neuro- Proceedings of the National Academy of Sciences in
science 12 (2008), 2125–2136. the USA 24/106 (2009), 9925–9930.
– /Tania Singer: I feel how you feel but not always: The Lutz, Antoine u. a.: Long-term Meditators Self-induce
Empathic Brain and its Modulation. In: Current High-amplitude Gamma Synchrony During Mental
Opinion in Neurobiology 18 (2008), 1–6. Practice. In: Proceedings of the National Academy of
– /Tania Singer: Neuroscience meets Social Psycho- Sciences of the United States of America 101 (2004),
logy: An Integrative Approach to Human Empathy 16369–16373.
and Prosocial Behavior. In: Mario Mikulincer/Philip – u. a.: Attention Regulation and Monitoring in Medi-
R. Shaver (Hg.): Prosocial Motives, Emotions, and tation. In: Trends in Cognitive Sciences 12/4 (2008),
Behavior. The Better Angels of Our Nature. Washing- 163–169.
ton 2009, 109–125. – u. a.: Regulation of the Neural Circuitry of Emotion
– u. a.: Neural Responses to Ingroup and Outgroup by Compassion Meditation: Effects of Meditative Ex-
Members’ Suffering Predict Individual Differences in pertise. PLoS ONE 3 (2009a), e1897.
Costly Helping. In: Neuron 68 (2010), 149–160. – u. a.: BOLD Signal in Insula is Differentially Related
Holstege, Gert u. a.: Brain Activation During Human to Cardiac Function During Compassion Meditation
Male Ejaculation. In: Journal of Neuroscience 23 in Experts vs. Novices. In: NeuroImage 47 (2009b),
(2003), 9185–9193. 1038–1046.
Iacoboni, Marco/Mirella Dapretto: The Mirror Neuron Mobbs, Dean u. a.: A Key Role for Similarity in Vicari-
System and the Consequences of its Dysfunction. In: ous Reward. In: Science 324 (2009), 900.
Nature Reviews Neuroscience 7 (2006), 942–951. Olmstead, Mary C./Keith B. Franklin: The Development
–: Mirroring People: The New Science of How We Con- of a Conditioned Place Preference to Morphine: Ef-
nect with Others. New York 2008. fects of Microinjections into Various CNS Sites. In:
Jabbi, Mbemba/Christian Keysers: Inferior Frontal Gy- Behavioral Neuroscience 111 (1997), 1324–1334.
rus Activity Triggers Anterior Insula Response to Phan, K. Luan u. a.: Reputation for Reciprocity Engages
Emotional Facial Expressions. In: Emotion 8 (2008), the Brain Reward Center. In: Proceedings of the Na-
775–780. tional Academy of Science of the United States of
Kirsch, Peter u. a.: Oxytocin Modulates Neural Circuitry America 107 (2010), 13099–13104.
for Social Cognition and Fear in Humans. In: Journal Rangel, Antonio u. a.: Review: A Framework for Study-
of Neuroscience 25 (2005), 11489–11493. ing the Neurobiology of Value-based Decision Ma-
Kishiyama, Mark M. u. a.: Socioeconomic Disparities king. In: Nature Reviews Neuroscience 9 (2008), 545–
Affect Prefrontal Function in Children. In: Journal of 556.
Cognitive Neuroscience 21/6 (2009), 1106–15. – u. a.: Value Computations in Ventral Medial Prefron-
Knutson, Brian u. a.: Anticipation of Monetary Reward tal Cortex during Charitable Decision Making Incor-
Selectively Recruits Nucleus Accumbens. In: Journal porate Input from Regions Involved in Social Cogni-
of Neuroscience 21/RC159 (2001), 1–5 [2001a]. tion. In: The Journal of Neuroscience 30/2 (2010),
– u. a.: Dissociation of Reward Anticipation and Out- 583–590.
come with Event-related fMRI. In: Neuroreport 12 Redouté, Jérôme u. a.: Brain Processing of Visual Sexual
(2001), 3683–3687 [2001b]. Stimuli in Human Males. In: Human Brain Imaging
– u. a.: Nucleus Accumbens Activation Mediates the In- 11 (2000), 162–177.
fluence of Reward Cues on Financial Risk Taking. In: Rizzolatti, Giacomo/Laila Craighero: The Mirror-neu-
Neuroreport 19/5 (2008), 509–513. ron System. In: Annual Revue of Neuroscience 27
Laviolette, Steven R./Derek van der Kooy: The Motiva- (2004), 169–192.
tional Valence of Nicotine in the Rat Ventral Tegmen- Rodd, Zachary A. u. a.: Intracranial Self-administration
tal Area is Switched from Rewarding to Aversive Fol- of Ethanol within the Ventral Tegmental Area of Male
lowing Blockade of the Alpha7-subunit-containing Wistar Rats: Evidence for Involvement of Dopamine
Nicotinic Acetylcholine Receptor. In: Psychopharma- Neurons. In: Journal of Neuroscience 24 (2004),
cology 166 (2003), 306–313. 1050–1057.
4. Glück in der Psychopharmakologie. Affektives und kognitives Enhancement 383

Rolls, Edmund T.: The Brain and Emotion. New York


1999.
4. Glück in der Psycho-
Saxe, Rebecca: Uniquely Human Social Cognition. In: pharmakologie.
Current Opinion in Neurobiology 16 (2006), 235–239.
Schultz, Wolfram: Review: Multiple Reward Signals in
Affektives und kognitives
the Brain. In: Nature Reviews Neuroscience 1 (2000), Enhancement
199–207.
–: Dopamine Signals for Reward Value and Risk: Basic
and Recent Data. In: Behavioral and Brain Functions
Unter dem Titel Beyond Therapy: Biotechnology and
6/24 (2010), 1–9
the Pursuit of Happiness veröffentlichte der Ethikrat
Scott, Sophie K. u. a.: Impaired Auditory Recognition of
des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Ame-
Fear and Anger Following Bilateral Amygdala Le-
sions. In: Nature 385 (1997), 254–257.
rika 2003 seinen Abschlussbericht über die Chancen
Singer, Tania u. a.: Empathic Neural Responses are Mo- und Risiken neuer Verfahren zur »Verbesserung«
dulated by the Perceived Fairness of Others. In: Na- des Menschen (The President’s Council on Bioethics
ture 439 (2006), 466–469. 2003). An dieser Überschrift überrascht die Ver-
– /Claus Lamm: The Social Neuroscience of Empathy. knüpfung des historischen Abschnitts aus der Unab-
In: The Year in Cognitive Neuroscience: Annuals of hängigkeitserklärung der USA von 1776, in der von
the New York Academy of Science 1156 (2009), 81– einem »unveräußerlichen Recht« auf »Leben, Frei-
06. heit und das Streben nach Glück« (s. Kap. V.2) die
– /Grit Hein: Empathy in Humans and Animals: An In- Rede ist, mit den Möglichkeiten modernster Bio-
tegrative Approach. In: Frans de Waal/P.F. Ferrari technologie, worunter sehr breit beispielsweise Prä-
(Hg.): The Primate Mind. Cambridge 2011 (im implantationsdiagnostik, Genetik und Pharmakolo-
Druck). gie verstanden werden. Dieser eher kritische Bericht
Takahashi, Hidehiko u. a.: When Your Gain Is My Pain stand auch unter dem Eindruck des Psychiaters Pe-
and Your Pain Is My Gain: Neural Correlates of Envy ter Kramer, der in den 1990er Jahren die Erfahrun-
and Schadenfreude. In: Science 323 (2009), 937–939. gen mit Klienten beschrieb, die seiner Meinung nach
Talairach, Jean/Pierre Tournoux: Co-planar Stereotaxic zwar nicht wirklich psychisch krank waren, jedoch
Atalas of the Human Brain. Stuttgart/New York 1993. ungemein von Psychopharmaka – insbesondere
Taylor, Shelley E.: Asymmetrical Effects of Positive and neueren Antidepressiva zur Beeinflussung des Sero-
Negative Events: The Mobilization-minimization
toninspiegels im Gehirn – profitierten (Kramer
Hypothesis. In: Psychological Bulletin 110 (1991),
1993). Beschreibungen wie diese legten den Schluss
67–85.
nahe, dass moderne, weit verbreitete Medikamente
Terashvili, Maia u. a.: Differential Conditioned Place
Preference Responses to Endomorphin–1 and Endo-
selbst gesunden Menschen bei der Überwindung
morphin–2 Microinjected into the Posterior Nucleus persönlicher Probleme behilflich sein könnten. Ein
Accumbens Shell and Ventral Tegmental Area in the glücklicheres Leben schien – zumindest in manchen
Rat. In: Journal of Pharmacology and Experimental der dargestellten Fälle – psychopharmakologisch
Therapeutics 309 (2004), 816–824. machbar.
Urry, Heather L. u. a.: Making a Life Worth Living. Neu- Der Fokus der Diskussion um psychopharmako-
ral Correlates of Well-Being. In: Psychological Sci- logisches Enhancement hat sich zwischenzeitlich et-
ence 15/6 (2004), 367–372. was verschoben. Stand vorher die Beeinflussung des
Volkow, Nora D. u. a.: Relationship between Subjective Gemütszustands oder von Persönlichkeitseigen-
Effects of Cocaine and Dopamine Transporter Occu- schaften im Vordergrund, dominiert in den letzten
pancy. In: Nature 386 (1997), 827–830. Jahren die Idee der geistigen Leistungssteigerung
Watanabe, Masataka: Reward Expectancy in Primate (Schleim 2010a, b). Vor allem mithilfe von Analogien
Prefrontal Neurons. In: Nature 382 (1996), 629–632. zu konventionellen Verbesserungstechniken setzte
Grit Hein sich das vielbeachtete Positionspapier von Henry
Greely u. a. für einen liberalen Umgang mit psycho-
pharmakologischer Leistungssteigerung ein; ange-
strebt war die Maximierung des Nutzens bei gleich-
zeitiger Minimierung des Schadens. Die Autorinnen
und Autoren waren sich darin einig, dass diese Mittel
384 VIII. Aktuelle Debatten

in zunehmendem Maße zu einer besseren Lebens- wird dieser im Volksmund auch als ›Glückshormon‹
qualität und erhöhter Produktivität am Arbeitsplatz bezeichnet. Das System ist mit zahlreichen weiteren
führten (Greely u. a. 2008, 705). Eine ähnliche Mei- anderen Hirnregionen verbunden, beispielsweise
nung vertrat jüngst auch ein deutsches Expertengre- Amygdala und Pallidum, ebenfalls im limbischen
mium (Galert u. a. 2009). System, aber auch mit dem orbitofrontalen Kortex
Anhand dieses Perspektivenwechsels von dem, im Frontallappen. Die belohnende Wirkung von na-
was man manchmal als ›affektives‹ oder ›emotiona- türlichen Stimuli wie Nahrung oder sexueller Inter-
les‹ Enhancement bezeichnet, zur ›kognitiven‹ oder aktion aber auch von modernen Genussmitteln und
›geistigen‹ Leistungssteigerung wird eine wichtige Drogen kann durch Interventionen im mesolimbi-
Unterscheidung deutlich: Wenn wir die Möglichkei- schen Dopaminsystem blockiert werden (vgl. Wise
ten von Psychopharmaka diskutieren, dann kann das 2002, 235). Umgekehrt wird durch elektrische Sti-
Mittel direkt auf eine Steigerung des Glücks zielen mulation im Nucleus accumbens versucht, Men-
oder indirekt Glück versprechen, indem es eine an- schen mit einer auf andere Weise nicht therapierba-
dere Größe beeinflusst, die wiederum zu mehr Glück ren schweren Depression zu helfen (z. B. Schlaepfer
führt. Im Folgenden sollen daher die Aspekte disku- u. a. 2008). Dieses Verfahren befindet sich aber noch
tiert werden, (1) ob und wie Glück in psychophar- in der klinischen Entwicklung und die bisherigen
makologischer Forschung operationalisiert wird, (2) Ergebnisse sind uneindeutig.
ob die zurzeit verfügbaren Medikamente das Glück Ungeachtet der zentralen Rolle des Nucleus ac-
steigern, (3) wie verbreitet die Tendenz des psycho- cumbens und des Dopamins ist dieses Modell des
pharmakologischen Enhancements ist und (4) wie Belohnungssystems aufgrund der unterschiedlichen
plausibel es psychologisch ist, dadurch nachhaltig Bedeutungen von ›Belohnung‹ und vieler unter-
sein Glück zu steigern. schiedlicher experimenteller Operationalisierungen
in die Kritik geraten. So weisen etwa Berridge und
Glück in der Psychopharmakologie Kringelbach darauf hin, dass die Selbststimulations-
experimente bei Ratten und Menschen nicht eindeu-
Ein Blick in die Forschungsliteratur macht schnell tig als Hinweise auf erfahrene Belohnung im enge-
deutlich, dass ›Glück‹ keine pharmakologische Kate- ren Sinn verstanden werden könnten, sondern auch
gorie ist. In Studien ist stattdessen von ›Belohnung‹ als Hinweise auf gesteigertes Verlangen (2008,
(im weiten Sinn; engl. reward) die Rede. Daran wird 469 ff.). Inzwischen klassischen und häufig zitierten
ein breites Spektrum subjektiver Erlebnisse oder be- Experimenten zufolge wollen Menschen zwar im-
obachtbaren Verhaltens gekoppelt, das Gesichtsaus- mer wieder die Hirnregion im mesolimbischen Sys-
drücke, Inkaufnahme von Mühe oder vermehrte tem stimulieren, sie protestieren auch, wenn man ih-
Selbststimulation nach der Implantation von Elek- nen den Knopf dafür wegnimmt, und empfinden
troden einbezieht. Als Beispiele für begriffliche Spe- starke sexuelle Erregung, doch äußern sie nie Anzei-
zifizierungen und wissenschaftliche Operationalisie- chen echter Befriedigung. Daher wird zukünftige
rungen, die indirekt mit dem Glück verbunden sind, Forschung idealerweise in Zusammenarbeit mit the-
seien Lust, positive Verstärkung oder Verlangen ge- oretischer und begrifflicher Ausarbeitung klären
nannt (vgl. die Diskussion in Berridge/Kringelbach müssen, inwiefern man wirklich von einem ›Beloh-
2008, 473 f.). Insbesondere unter dem Eindruck von nungssystem‹ sprechen kann und wie dies mit Glück
Experimenten in den 1950er Jahren, in denen Ratten in einem umfassenderen Sinn zusammenhängt.
Elektroden ins Gehirn implantiert wurden, die sie
selbst stimulieren konnten, sowie durch die Erfor- Enhancement-Medikamente und Glück
schung der Wirkungsweise verschiedener Drogen ist
ein heute weithin bekanntes Modell entstanden, in Die eingangs erwähnten Fallbeispiele des Psychiaters
dem das mesolimbische Dopaminsystem im Zen- Peter Kramer haben den Eindruck erweckt, Men-
trum steht. schen könnten durch Antidepressiva glücklicher
Für dieses System sind vor allem der Nucleus ac- werden oder mithilfe dieser Mittel Persönlichkeitsei-
cumbens sowie das ventrale Tegmentum von Bedeu- genschaften so beeinflussen, dass sie ihren Idealvor-
tung, beides Strukturen tief im Inneren und am un- stellungen näherkommen und auf diese Weise indi-
teren Ende des Großhirns (s. Kap. VIII.3). Aufgrund rekt glücklicher werden könnten. Selbst wenn also
der wichtigen Rolle des Neurotransmitters Dopamin der theoretische Hintergrund zu Glück und Gehirn
4. Glück in der Psychopharmakologie. Affektives und kognitives Enhancement 385

noch nicht vollständig bekannt ist, könnte es sein, fühlten. Bei nur einmaliger Einnahme ließ sich im
dass verfügbare Medikamente die Menschen wirk- Vergleich zu Placebo allerdings kein Unterschied
lich glücklicher machen, auch ohne dass man genau finden. Die 14 Studien, die einen Zeitraum von sie-
wüsste, wie sie funktionieren. Allerdings haben jün- ben bis 56 Tagen untersuchten, zeigten eine leichte
gere Meta-Analysen, die mehrere Einzelstudien über positive Tendenz, die am Ende der untersuchten
depressive Erkrankungen zusammenfassen und da- Zeiträume statistisch signifikant wurde (Repantis
her ein genaueres Bild des Forschungsstands geben u. a. 2009, 156). Allerdings ziehen die Autoren die
können, selbst den Erfolg neuerer Medikamente wie Schlussfolgerung, dass es unzureichende Hinweise
der Antidepressiva der Klasse der selektiven Sero- auf eine verbessernde Wirkung von Antidepressiva
toninwiederaufnahmehemmer hinterfragt. bei Gesunden gebe, unter anderem auch deshalb, da
Eine Besonderheit einer dieser Meta-Untersu- Daten aus Experimenten mit negativem Ausgang
chungen war es, nicht nur die in wissenschaftlichen fehlten.
Zeitschriften publizierten Studienergebnisse zu be- Im Fokus der neueren Diskussion um psycho-
rücksichtigen, sondern auch diejenigen, deren Er- pharmakologisches Enhancement befinden sich vor
gebnisse von Amts wegen bei Regierungsstellen ge- allem Stimulanzien, die auch zur Behandlung von
meldet, aber nicht veröffentlicht wurden. Dieser Un- Aufmerksamkeitsstörungen oder Schlaferkrankun-
terschied ist deshalb wichtig, weil von vielen eine gen eingesetzt werden. Einer verbreiteten Idee
›Publikationsverzerrung‹ (engl. publication bias) ver- zufolge können entsprechende Präparate mit den
mutet wird, das heißt, dass positive Befunde eher an- Wirkstoffen Methylphenidat, Modafinil oder Am-
erkannt werden als negative Befunde, selbst wenn phetamin sowie die verbotene Droge Kokain auch
ein negativer Befund einen Sachverhalt akkurater bei gesunden Menschen zu einer Steigerung der
darstellt. Die Analyse der umfassenderen Daten er- Leistungsfähigkeit führen. Pharmakologisch führen
brachte das überraschende Ergebnis, dass allein bei diese Substanzen zu einer Erhöhung von Dopamin
sehr schweren Fällen von Depressionen ein leichter und Noradrenalin. Bei gesunden Versuchspersonen
Unterschied im Wohlbefinden klinisch relevant scheint dies aber nicht das Denken selbst zu verbes-
blieb, obwohl die neueren Antidepressiva in größe- sern, sondern eher Wachheit und Motivation zu er-
rem Umfang verschrieben werden (Kirsch u. a. 2008). höhen, weswegen der Pharmakologe Boris Quednow
Aufgrund mangelnder Erfolge und hoher Kosten bei sie als »kognitive Enhancer zweiter Ordnung« be-
der Entwicklung psychopharmakologischer Medi- zeichnet (Quednow 2010, 21).
kamente haben jüngst mehrere international füh- Entsprechend uneindeutig ist das Bild der phar-
rende Pharmakonzerne sogar ihren Rückzug aus makologischen Forschung: Bei manchen Denkauf-
diesem Forschungsgebiet bekanntgegeben (Miller gaben führen die Substanzen zu einer leichten Ver-
2010). besserung, bei anderem zu keinem Unterschied und
Wenn also schon bei kranken Menschen wie De- bei wieder anderen sogar zu einer Verschlechterung
pressiven, denen die Lebensfreude verlorengegangen (für ein Beispiel vgl. Agay u. a. 2010; vgl. die Diskus-
ist, die Medikamente häufig nicht helfen, sollte man sion in Schleim/Walter 2007). Letzteres wird damit
bei Gesunden erst recht keine Wunder erwarten. erklärt, dass manche der Stimulanzien auch die Im-
Schließlich geschieht die psychopharmakologische pulsivität erhöhen und daher Versuchspersonen bei
Intervention im Gehirn psychisch Kranker ja unter manchen Aufgaben reagieren, bevor sie die für eine
der Annahme, in ihrem Gehirn gebe es eine krank- richtige Lösung nötige Information vollständig ver-
hafte Veränderung in der Konzentration wichtiger arbeitet haben. Relevant ist auch die mehrmals ge-
Neurotransmitter. Allerdings gibt es nur wenige Stu- machte Beobachtung, dass sich Versuchspersonen
dien, welche eine Verbesserung der Stimmung durch unter dem Einfluss von Stimulanzien zwar selbst für
die Einnahme von Antidepressiva zum Gegenstand besser halten, sich in ihrer Leistung aber gar nicht
haben. In einer Meta-Analyse haben Dimitris Re- von der Kontrollgruppe unterscheiden. In einer neu-
pantis u. a. jüngst die Ergebnisse von 65 Untersu- eren Meta-Analyse kommen Repantis u. a. zu dem
chungen mit elf verschiedenen Wirkstoffen ausge- Fazit, dass Methylphenidat die Leistung in manchen
wertet, in denen die Effekte auf Gesunde untersucht Gedächtnisaufgaben verbessern und Modafinil die
wurden. Ein häufiges Instrument zur Erhebung der Aufmerksamkeit steigern könne; wiederholte Ein-
Stimmung war dabei, dass die Teilnehmer auf einer nahme des letzteren würde bei zunehmendem
analogen Skala einzeichnen mussten, wie gut sie sich Schlafentzug zwar ein Gefühl der Wachheit aufrecht-
386 VIII. Aktuelle Debatten

erhalten, jedoch nicht die normale Abnahme der vor allem dann der Fall sein dürfte, wenn die Lebens-
geistigen Leistungsfähigkeit verhindern (Repantis qualität von Menschen erst herabgesetzt wurde, in-
u. a. 2010). Diese moderaten Effekte müssen gegen- dem ihnen das Gefühl vermittelt wurde, den gestell-
über den zahlreichen bekannten und vor allem für ten Anforderungen nicht zu genügen (vgl. Ehrenberg
den längerfristigen Konsum noch unbekannten Ne- 1998/2004). Im Einklang damit befinden sich Unter-
benwirkungen abgewogen werden. suchungen, denen zufolge psychopharmakologisches
Enhancement dort tendenziell verbreiteter ist, wo ein
Die Verbreitung des psychopharma- größerer Leistungsdruck vorherrscht (McCabe u. a.
2005). Auch der Behauptung, Menschen hätten schon
kologischen Enhancement
immer nach Verbesserung gestrebt, daher sei En-
Die Diskussion um psychopharmakologisches En- hancement nichts Neues, möchte ich entgegenstellen,
hancement lebt von der Unterstellung, dass diese vor dass viele Menschen auch schlicht den Wunsch ha-
allem von Skeptikern auch als ›Gehirndoping‹ be- ben dürften, mit ihren Fähigkeiten den gesellschaftli-
zeichnete Praxis bereits weit verbreitet sei. Vor allem chen Ansprüchen zu genügen.
nordamerikanische Collegestudenten werden dafür Wenn Befürworter des psychopharmakologischen
gerne als Beleg angeführt und sowohl Fachkollegen Enhancement von einer Steigerung der Lebensquali-
als auch Medienberichte übertreiben häufig mit Be- tät oder des Glücks der Menschen ausgehen, dann
hauptungen wie derjenigen, bereits 16 oder gar 25 scheinen sie zwei psychologische Befunde aus der
Prozent der Studierenden würden die oben disku- Glücksforschung zu übersehen: Erstens können sich
tierten Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung Menschen erstaunlich schnell an veränderte Um-
oder Verbesserung der Befindlichkeit gebrauchen stände gewöhnen, so dass beispielsweise Quer-
(vgl. die Diskussion in Schleim 2010a, 182 ff.). Insge- schnittsgelähmte schon kurz nach ihrem Unfall nicht
samt deutet die wissenschaftliche Datenlage aber auf weniger glücklich oder Lotteriegewinner schon kurz
eine wesentlich bescheidenere Verbreitung im ein- nach ihrem Gewinn nicht glücklicher sind als andere
stelligen Prozentbereich, die zudem aus zwei Grün- Menschen (vgl. die Diskussion in Schkade/Kahne-
den mit Vorsicht zu interpretieren ist: Erstens fallen man 1998). Zweitens fallen wir oft einer ›Fokussie-
unter diese Zahlen häufig auch Personen, die einmal, rungs-Illusion‹ (focusing illusion) zum Opfer, wenn
selten oder gelegentlich eine jener Substanzen neh- wir beurteilen sollen, was andere Menschen glückli-
men; zweitens werden häufig Verhaltensweisen hin- cher macht. Das heißt, wir geben vor dem Hinter-
zugezählt, die nicht auf affektives oder kognitives grund der Diskussion um das Enhancement der
Enhancement zielen, sondern beispielsweise auf Ap- geistigen Leistungsfähigkeit oder emotionalen Ver-
petitzügelung oder schlicht auf das Erleben von fassung eine größere Bedeutung und vernachlässi-
Rauschzuständen. Eine repräsentative Untersuchung gen dadurch andere Aspekte, die für ein glückliches
mit Angestellten in Deutschland kam jüngst zu dem Leben wichtig sind. Abgesehen von den erwähnten
Ergebnis, dass knapp zwei Prozent der Befragten re- Beispielen der Querschnittsgelähmten oder Lotterie-
gelmäßig bei ihrer Arbeit Gehirndoping einsetzen gewinner konnten Kahneman u. a. dies mittels einer
(DAK 2009). Untersuchung der Fragen nachweisen, ob Menschen
durch ein Leben in Kalifornien (Schkade/Kahneman
Nachhaltiges Glück durch Psycho- 1998) oder ein höheres Einkommen (Kahneman u. a.
2006) glücklicher werden (s. Kap. VIII.7).
pharmakologie?
Insgesamt bestätigt die Diskussion daher den Ein-
Die vorangegangene Diskussion deutet darauf hin, druck, dass die neuere psychopharmakologische und
dass – zumindest zurzeit – noch kein ›Glück auf Re- psychologische Forschung zwar interessante Ideen
zept‹ oder ›Glück durch Pillen‹ verfügbar ist. Der ein- zur Diskussion um das Thema ›Glück‹ beisteuern
gangs erwähnten optimistischen Einschätzung von kann, jedoch auch keine ›Patentrezepte‹ anzubieten
Greely u. a. kann ich mich nach Sichtung der phar- hat. Auf der Suche nach einem glücklichen Leben
makologischen Forschung und Befunden zur Ver- sollte man daher seine intuitiven Eindrücke, seine
breitung des Substanzkonsums daher nicht anschlie- Lebenserfahrung sowie den vorhandenen Schatz an
ßen. Der Idee, Menschen könnten ihre Lebensquali- mehr als zweitausend Jahren Literatur zum Thema
tät pharmakologisch aufwerten, möchte ich daher nicht vorschnell zugunsten neuerer wissenschaftli-
eine Befürchtung entgegenstellen: dass dies nämlich cher Ergebnisse aufgeben.
4. Glück in der Psychopharmakologie. Affektives und kognitives Enhancement 387

Literatur Schleim, Stephan: Cognitive Enhancement – Sechs


Gründe dagegen. In: H. Fink/R. Rosenzweig (Hg.):
Agay, Nirit u. a.: Non-specific Effects of Methylpheni-
Künstliche Sinne – Gedoptes Gehirn. Neurotechnik
date (Ritalin) on Cognitive Ability and Decision-ma-
und Neuroethik. Paderborn 2010a, 179–207.
king of ADHD and Healthy Adults. In: Psychophar-
–: Second Thoughts on the Prevalence of Enhancement.
macology (Berlin) 210/4 (2010), 511–519.
BioSocieties 5 (2010b), 484–485.
Berridge, Kent C./Kringelbach, Morten L.: Affective
– /Walter, Henrik: Cognitive Enhancement: Fakten und
Neuroscience of Pleasure: Reward in Humans and
Mythen. In: Nervenheilkunde 26 (2007), 83–87.
Animals. In: Psychopharmacology (Berlin) 199/3
The President’s Council on Bioethics: Beyond Therapy:
(2008), 457–480.
Biotechnology and the Pursuit of Happiness. Wa-
DAK: Gesundheitsreport 2009. Analyse der Arbeitsun-
shington 2003.
fahigkeitsdaten. Schwerpunktthema Doping am Ar-
Wise, Roy A.: Brain Reward Circuitry: Insights from
beitsplatz. Hamburg 2009.
Unsensed Incentives. In: Neuron 36/2 (2002), 229–
Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst [1998]. Frank-
240.
furt a. M./New York 2004.
Stephan Schleim
Galert, Thorsten u. a.: Das optimierte Gehirn. In: Ge-
hirn & Geist 11 (2009), 40–48.
Greely, Henry u. a.: Towards Responsible Use of Cogni-
tive-enhancing Drugs by the Healthy. In: Nature
456/7223 (2008), 702–705.
Kahneman, Daniel u. a.: Would You be Happier if You
were Richer? A Focusing Illusion. In: Science 312/
5782 (2006), 1908–1910.
Kirsch, Irving u. a.: Initial Severity and Antidepressant
Benefits: A Meta-analysis of Data Submitted to the
Food and Drug Administration. In: Public Library of
Science Medicine 5/2 (2008), e45.
Kramer, Peter D.: Listening to Prozac: A Psychiatrist Ex-
plores Antidepressant Drugs and the Remaking of
the Self. New York 1993.
McCabe, Sean Esteban u. a.: Non-medical use of
Prescription Stimulants Among US College Students:
Prevalence and Correlates from a National Survey. In:
Addiction 100/1 (2005), 96–106.
Miller, Greg: Is Pharma Running out of Brainy Ideas?
In: Science 329/5991 (2010), 502–504.
Quednow, Boris B.: Neurophysiologie des Neuro-En-
hancements: Möglichkeiten und Grenzen. In: Sucht-
Magazin 2 (2010), 19–26.
Repantis, Dimitris u. a.: Antidepressants for Neuroen-
hancement in Healthy Individuals: A Systematic Re-
view. In: Poiesis & Praxis 6 (2009), 139–174.
– u. a.: Modafinil and Methylphenidate for Neuroen-
hancement in Healthy Individuals: A Systematic Re-
view. In: Pharmacological Research 62/3 (2010), 187–
206.
Schkade, David A./Kahneman, Daniel: Does Living in
California Make People Happy? A Focusing Illusion
in Judgments of Life Satisfaction. In: Psychological
Science 9/5 (1998), 340–346.
Schlaepfer, Thomas E. u. a.: Deep Brain Stimulation to
Reward Circuitry Alleviates Anhedonia in Refractory
Major Depression. In: Neuropsychopharmacology
33/2 (2008), 368–377.
388 VIII. Aktuelle Debatten

5. Glück in der Sozial- schreibbar ist, sondern auch subjektiv erlebt wird.
Mit der Gesundheitsdefinition der WHO verbindet
psychologie. Subjektive sich ein neuer Blick auf diagnostische Klassifikation
Gesundheit und gesund- und therapeutisches Handeln: Im Vordergrund steht
die Person mit ihrer individuellen Wahrnehmung,
heitsbezogene Lebens- ihren Erfahrungen, Bedürfnissen und Erwartungen
qualität bezüglich der Gesundheit.

Zeit zu leben statt Lebenszeit


Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und
Glück wurde bereits in der Antike kommentiert. Mit dem Nachdenken über den Gesundheitsbegriff
Schon der griechische Philosoph Aristoteles hat er- verband sich ein Wandel im Selbstverständnis der
kannt (s. Kap. III.2), was Jahrhunderte später in der Medizin. Bedingt durch die Veränderung der Bevöl-
empirischen Sozialforschung belegt wurde: dass kerungsstruktur und die Zunahme an längerfristig
nämlich Gesundheit Voraussetzung für Lebensglück zu behandelnden chronischen Erkrankungen, ver-
ist und fehlende Gesundheit durch materielle Werte änderte sich das Spektrum in der Medizin von der
nicht zu kompensieren ist. Was aber ist Gesundheit, akuten Intervention hin zur Langzeitversorgung der
wie wird sie subjektiv erlebt, und in welchem Ver- älter werdenden Patientinnen und Patienten. Aber
hältnis steht dieses Erleben zum Glück? nicht nur die Veränderung im Erkrankungsspek-
trum, sondern auch die zunehmende Skepsis gegen-
Gesundheit als Wohlbefinden über den bisher genutzten Gesundheitsindikatoren
wie Symptomfreiheit und Überlebenszeit führten zu
Während in der öffentlichen Diskussion und medi- einer Veränderung im Denken über die Möglichkei-
zinischen Fachblättern Gesundheit mit der Abwe- ten und Grenzen der modernen Medizin (Bullinger
senheit von Krankheit bzw. mit reibungslos ablau- 2002).
fenden und körperlichen Vorgängen gleichgesetzt Die Frage, ob Mortalität und Morbidität die einzi-
wird, hat sich die Weltgesundheitsorganisation gen und relevanten Maße zur Beurteilung des Krank-
(WHO) bereits im Jahr 1948 mit ihrer Gesundheits- heitsgeschehens und Genesungsverlaufs sind, stellte
definition ganz anders positioniert. Demnach bein- sich besonders in der Onkologie. Erstmals wurde
haltet Gesundheit mehr als die Abwesenheit von hier ganz implizit die Quantität des Überlebens der
Krankheit und Gebrechen, nämlich vollständiges Qualität des Überlebens gegenübergestellt und der
psychisches, körperliches und mentales Wohlbefin- Sinn einer Lebensverlängerung – manchmal um we-
den (WHO 1995). Die Frage nach dem Glück ver- nige Monate – durch hoch belastende Therapiever-
schiebt sich in diesem disziplinären Rahmen also – fahren in Frage gestellt (Bitsko u. a. 2008).
ähnlich wie in der empirischen Sozialforschung (s. Nach und nach schlossen sich andere klinische
Kap. VIII.6) – auf die Frage nach dem Wohlbefinden Fächer der Debatte darüber an, was Ziel und Sinn
und der Lebensqualität der Person. therapeutischer Interventionen ist, besonders dann,
An der mit der Definition des Wohlbefindens ver- wenn nicht Heilung im Vordergrund stehen kann.
bundenen Vorstellung optimaler Gesundheit hat sich Während die kurative Medizin Einbußen in Wohler-
eine intensive Diskussion entzündet. Aber obwohl in gehen und Funktionsfähigkeit der Patienten für den
diesem Sinne wahrscheinlich nur sehr wenige Men- therapeutischen Erfolg in Kauf nehmen muss, stellte
schen ganz gesund sind, ist mit ihr ein Durchbruch sich diese Frage in der palliativen Medizin ganz an-
im Verständnis von Gesundheit in der Medizin ge- ders: nämlich in Form der Frage, welche Beeinträch-
lungen: die Hinwendung zum Subjekt und die Be- tigung der Lebensqualität durch die Therapie eine
rücksichtigung des Erlebens (Camfield/Skevington Patientin oder ein Patient in Kauf nehmen würde
2008). und um welchen Preis (Morrogh u. a. 2010). Damit
Dass es sich bei Gesundheit um mehr handelt als wandelten sich die Zielkriterien von rein klinisch de-
um Symptome oder Überleben, hat zum einen die finierten ›Outcomes‹ hin zu einer subjektiven Sicht
Befindlichkeit und Funktionsfähigkeit des Men- von Krankheit und Therapie.
schen in den Fokus gerückt. Zum anderen wurde
deutlich, dass Gesundheit nicht nur objektiv be-
5. Glück in der Sozialpsychologie. Subjektive Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität 389

Öffnung gegenüber Krankheitsfolgen alisierten, auf Funktionsfähigkeit zielenden und psy-


statt Krankheitsentitäten chosoziale und mentale Aspekte einbeziehenden
Gesundheitsverständnis. Damit rückte auch das sub-
Angeregt wurde dadurch eine Reflexion über die jektive Erleben in den Vordergrund und es wurde
Systematik gesundheitlicher Einschränkungen. Wäh- klar, dass eine adäquate Diagnostik und Therapie
rend die Klassifikation der Erkrankungen nach dem sich auch darauf gründen muss, wie betroffene Pa-
ICD Diagnoseschlüssel (International Classification tienten ihre aktuelle Situation wahrnehmen und be-
of Diseases) immer weiter verfeinert und differen- werten und wie sie in ihr handeln (Patrick/Erickson
ziert wurde, mehrten sich auf der anderen Seite die 1992).
Bemühungen, Gesundheitsstörungen nicht nur hin-
sichtlich der ihnen zugrundeliegenden Krankheits- Subjektive Gesundheit und gesundheits-
entitäten zu klassifizieren, sondern deren Konse-
bezogene Lebensqualität
quenzen für die Betroffenen zu beschreiben, also
eine alternative Taxonomie der Krankheitsfolgen zu Subjektive Gesundheit kann als subjektive Repräsen-
entwickeln. tation gesundheitlicher Erfahrungen von Personen
Diese Taxonomie, die zunächst unter dem Begriff gesehen werden. Der Begriff »gesundheitsbezogene
der International Classification of Diseases Impair- Lebensqualität« geht aber etwas weiter und reprä-
ment and Handicap ICDIH entwickelt wurde, und sentiert inhärent eine positive normative Bewertung,
dann als International Classification of Functioning nämlich die Verknüpfung des Qualitätsbegriffs mit
(ICF Disability and Health) weitergeführt wurde, Gesundheit (Bullinger 2000). Die gesundheitsbezo-
nimmt die Krankheitsfolgen zum Ansatzpunkt und gene Lebensqualität bezieht sich demnach auf einen
nicht die Symptome oder Syndrome (WHO 2001). Beurteilungsprozess, der die Zielvorstellungen der
Das Besondere an dem Krankheitsfolgenansatz, auch beurteilenden Person mit einbezieht. Dieser Prozess
noncategorial approach genannt, ist, dass es nicht nur kann als die Wahrnehmung von Individuen bezüg-
eine einzige Ursache für eine Funktionsstörung gibt. lich ihrer Position im Leben im Kontext der Kultur
So kann eine Funktionsstörung, beispielsweise die und der Wertsysteme, in denen sie leben und in Be-
Unfähigkeit den Arm zu heben, von einer Reihe pa- zug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Inte-
thologischer Faktoren ausgelöst sein (Muskelent- ressen verstanden werden (Szabo 1996).
zündung, Unfall, Geburtstrauma, degenerativer Pro- Andere Ansätze sehen die Lebensqualität als psy-
zess). Die Kausalität ist für die richtige Behandlung chologisches Konstrukt, das über mehrere Kompo-
zwar wichtig, aber für die Patienten stehen die moto- nenten von Wohlbefinden und Funktionsfähigkeit
rischen Beeinträchtigungen im Vordergrund (Na- erfassbar ist. Operationalisierbar ist es über körperli-
geswaran u. a. 2008). che, emotionale, mentale, soziale und verhaltensbe-
Begreift man gesundheitliche Einschränkungen zogene Komponenten von Wohlbefinden und Funk-
also auf körperlicher, psychischer, emotionaler, ko- tionsfähigkeit aus der Sicht von Patienten und/oder
gnitiver und sozialer Ebene, dann ist es durchaus Beobachtern (Bullinger 1991).
nachvollziehbar, dass unterschiedliche Erkrankun- Die gesundheitsbezogene Lebensqualität kann
gen zu vergleichbaren funktionalen Einschränkun- spezifisch für bestimmte Erkrankungen (targeted)
gen führen, unterschiedliche Ursachen also ähnliche oder über bestimmte Erkrankungsgruppen hinweg
Symptome haben. Die ICF bezieht nicht nur körper- und damit unabhängig vom allgemeinen Gesund-
liche Strukturen und mentale Funktionsweisen (body heitszustand (generic) betrachtet werden. Man kann
structure and function) ein, sondern berücksichtigt sich dabei auf den Selbstbericht der Befragten stüt-
auch die Teilhabe und Aktivität (participation and zen oder auch auf die Auskunft anderer Personen
activity) und darüber hinaus Umweltfaktoren und (Selbst-versus Fremdurteil). Darüber hinaus können
persönliche Faktoren; sie stellt ein in sich geordnetes verschiedene zugrundeliegende Dimensionen des
holistisches Gebäude und Modell zum Verständnis Konstrukts erfasst oder es kann eine generelle Be-
von Gesundheit dar. wertung mit einer Maßzahl vorgenommen werden
Mit der Gesundheitsdefinition der WHO und der (Index; vgl. Daig/Lehmann 2007). Diskutiert werden
ICF wandelte sich der Gesundheitsbegriff insgesamt die Fragen, ob die gesundheitsbezogene Lebensqua-
von der objektiven Feststellung symptom- und syn- lität ein Abbild der allgemeinen Lebensqualität mit
dromalbezogener Störungen hin zu einem individu- Bezug auf Gesundheit ist oder ob es sich um einen
390 VIII. Aktuelle Debatten

normativen Begriff handelt, der mit Vorstellungen qualitätsforschung, die die Diversität der Lebens-
über gute Lebensqualität und guter Gesundheit ope- qualitätsdefinitionen und Erfahrungen sowohl
riert. Wenn diese subjektive Bewertung explizit mit- konzeptuell als auch in der psychometrischen Prü-
einbezogen wird, dann erscheint der Unterschied fung respektiert (Bullinger u. a. 1996). Viele Messin-
zwischen hoher gesundheitsbezogener Lebensquali- strumente sind inzwischen für den interkulturellen
tät und Lebenszufriedenheit als relativ gering. Ein Vergleich vorhanden und nach klassisch psychome-
Bezug zur Glücksdefinition im Sinne hohen Wohl- trischer oder probabilistischer Testtheorie geprüft.
befindens und selbstzugeschriebener funktionaler Sie umfassen meistens wenige Fragen zu verschiede-
Kompetenz ist gegeben (Bartels/Boomsma 2009). nen Dimensionen der Lebensqualität und stehen im
Selbstbericht (aber auch im Fremdbericht) für Kin-
Messung der Lebensqualität als der, aber auch für Erwachsene zur Verfügung.
Eingesetzt werden die Verfahren in epidemiologi-
methodische Herausforderung
schen Studien zur Beschreibung von Wohlbefinden
Wie kann ein so komplexes Phänomen wie subjek- und Funktionsfähigkeit der Bevölkerung oder spezi-
tive Gesundheit oder auch gesundheitsbezogene Le- fischer Subgruppen, zur Erfassung der Veränderun-
bensqualität in Maß und Zahl umgesetzt werden? In gen der Lebensqualität im Zusammenhang mit einer
psychologischer Terminologie ist Lebensqualität wie klinischen Intervention als Prä-Post-Studie oder im
z. B. auch Intelligenz, Angst, Zufriedenheit oder Rahmen randomisierter klinischer Prüfungen zum
Glück ein Konstrukt, das prinzipiell über die Identi- Vergleich verschiedener Therapiestrategien, in der
fikation relevanter Komponenten (Dimensionen ei- Qualitätssicherung zur Überprüfung der Güte der
nes Modells oder auch einer Theorie) erfasst werden Versorgung und der Gesundheitsökonomie zur Spe-
kann. Es geht darum, diese Komponenten messbar zifizierung des Nutzens in Kosten- oder Risiko-Nut-
zu machen, zu operationalisieren und dann einen zen-Analysen (Radoschewski 2000).
Messansatz zu wählen, der es ermöglicht, die metho-
dische Güte des Instruments zu prüfen (Ware 2003). Befunde zur Lebensqualität
Für die testtheoretische Konstruktion von Mess-
instrumenten zur Lebensqualität und die Prüfung Ein Vergleich der Literatur zur Lebensqualität in der
der psychometrischen Gütekriterien ist wichtig, dass Medizin mit der sozialwissenschaftlichen Lebens-
komplexe Konstrukte, für die eine operationale Defi- qualitätsliteratur zeigt, dass sie sich in Forschungs-
nition naheliegt, mit klassischen, aber auch moder- methodik und Operationalisierung des Konstrukts
nen psychometrischen Methoden geprüft und er- unterscheiden. In den Sozialwissenschaften standen
fasst werden können. Da es kein externes Kriterium zunächst soziostrukturelle Indikatoren der Lebens-
für das Erleben einer Person gibt, ist die Erfassung qualität, wie zum Beispiel das Bruttosozialprodukt
der Lebensqualität radikal subjektiv: Es existiert we- oder Kindersterblichkeit, im Vordergrund. Die sub-
der ein Goldstandard noch ein äußeres Korrektiv. jektive Perspektive wurde seit ca. 1970 einbezogen.
Die Expertin oder der Experte für die eigene Befind- Vorwiegend wurden hier sogenannte Lebenszufrie-
lichkeit und Funktionsfähigkeit ist die befragte Per- denheits-Skalen eingesetzt, die die Zufriedenheit in
son. Fremdurteile zur Befindlichkeit, Tests der Funk- einzelnen Lebensbereichen erfragen und aufsum-
tionsfähigkeit von Kindern oder Fremdurteile über mieren (Wirtz u. a. 2009).
die Lebensqualität von sehr jungen oder sehr alten In der Medizin entwickelte sich die Lebensquali-
(z. B. dementen) Menschen können aber nicht das tätsforschung seit ca. 1980 und fokussierte von An-
Lebensgefühl der Befragten wiedergeben. Sie stellen fang an auf die subjektive Perspektive der Befragten
eine zusätzliche Informationsquelle dar und sind im Rahmen krankheitsübergreifender oder spezifi-
kein Ersatz für die eigene Beurteilung (Ravens-Sie- scher Messinstrumente, wobei testtheoretische Kri-
berer u. a. 2005). terien wie Reliabilität, Validität und Veränderungs-
Eine weitere Herausforderung bei der Messung sensitivität beachtet wurden (Ware 1987). Die For-
der Lebensqualität liegt darin, dass je nach Kultur- schungsergebnisse zur Lebensqualität repräsentieren
kreis, Sprache und nationalen Unterschieden sowohl epidemiologische, klinische und versorgungsbezo-
die Grundlagen als auch die Dimensionen der Le- gene Ansätze. Prototypisch sind die folgenden Frage-
bensqualität verschieden sein können. Dieser Dif- stellungen: Wie lässt sich die gesundheitsbezogene
ferenzierung widmet sich die interkulturelle Lebens- Lebensqualität der Bevölkerung insgesamt beschrei-
5. Glück in der Sozialpsychologie. Subjektive Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität 391

ben? Wie steht es um die Lebensqualität von Perso- Landes mit einer Erkrankung und höheren Alters in
nen mit spezifischen Gesundheitsbeeinträchtigun- ihrer Lebensqualität am meisten beeinträchtigt sind.
gen? Wie lassen sich Veränderungen der gesund- Im Rahmen der sogenannten Kindergesundheits-
heitsbezogenen Lebensqualität im Verlauf einer studie KIGGS wurde 2003 erstmals ein bevölke-
Erkrankung darstellen und welche Faktoren beein- rungsrepräsentativer Survey zur Gesundheit von
flussen diese Entwicklung? Wie lassen sich Unter- Kindern in Deutschland durchgeführt (Ravens-Sie-
schiede in der Lebensqualität in Bezug auf Behand- berer u. a. 2008a). Auch hier zeigte sich ein deutlicher
lung und Versorgung von Personen beschreiben und Zusammenhang zwischen Lebensqualität und sozia-
was folgt daraus für therapeutische Strategien im ler Schicht. Auch anderen internationalen Studien ist
Einzelfall und für die Gesundheitsversorgung? Wie zu entnehmen, dass die soziale Schicht stärker noch
effektiv sind die Versorgungsangebote für Gesund- als andere soziale Charakteristika mit der Lebens-
heitsprobleme in einer Bevölkerung? Wie ist der qualität der Befragten verbunden ist (Ravens-Siebe-
Kosten-Nutzen-Vergleich der Behandlungsmaßnah- rer u. a. 2007). In epidemiologischen Studien zur
men zu werten und gesundheitspolitisch einzuord- Kindergesundheit zeigt sich, dass weit verbreitete Er-
nen? krankungen wie Asthma in ihren Lebensqualitätsef-
Für jede dieser Fragestellungen sollen im Folgen- fekten nicht so durchschlagen wie das ebenfalls häu-
den beispielhaft Forschungsergebnisse zur subjekti- fige Übergewicht oder besonders die psychischen
ven Gesundheit und gesundheitsbezogenen Lebens- Störungen von Kindern und Jugendlichen (Ravens-
qualität skizziert werden. Sieberer u. a. 2008b).
Aus bevölkerungsrepräsentativen epidemiologi-
Gesundheitbezogene Lebensqualität schen Studien lassen sich auch Angaben zur Lebens-
qualität von Menschen mit chronischen Erkrankun-
in der Bevölkerung
gen ableiten, insbesondere zu den in der Bevölke-
Während sich die Gesundheitsberichterstattung in rung häufigsten Erkrankungen wie Diabetes oder
Deutschland und anderen Ländern bisher vorwie- kardiovaskuläre Erkrankungen. Indem die Lebens-
gend an klinisch-medizinischen Indikatoren des Ge- qualitätswerte dieser klinisch diagnostizierten Grup-
sundheitszustandes orientiert hat, zog mit der Erfas- pen mit denen der Bevölkerung verglichen werden,
sung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität eine kann der Grad der Lebensqualitätseinbußen in Be-
neue Dimension in die Gesundheitsberichterstat- zug auf die alters- und geschlechtsentsprechenden
tung und epidemiologischen Forschung ein. Im um- Normwerte identifiziert werden.
fassenden Bundesgesundheitssurvey von 1998 wurde
die subjektive Gesundheit erstmals mit berücksich- Lebensqualität im Kontext von Krankheit
tigt und mit dem SF–36 Health Survey als Messin-
und Behandlung
strument erfasst (Keller u. a. 1998; Bullinger/Kirch-
berger 1998). In diesem Survey wurden über 7000 Zur Erfassung der Lebensqualität von Menschen mit
erwachsene Personen aus der deutschen Bevölke- chronischen Erkrankungen findet sich eine Reihe
rung sowohl klinisch-medizinisch untersucht als von Forschungsergebnissen zur Lebensqualität, die
auch zu ihrer Lebensqualität befragt (Thefeld u. a. mit methodisch adäquaten psychometrischen In-
1999). Die Daten haben nicht nur Norm- und damit strumenten erhoben wurden und die die Lebensqua-
Referenzwerte für die gesundheitsbezogene Lebens- lität dieser Personen im Zeitverlauf, meist unter Be-
qualität in der Bevölkerung geliefert, sondern sie zei- rücksichtigung der aktuellen Behandlung, beschrei-
gen auch sehr deutlich den Einfluss der sozialen Un- ben. Ein Beispiel im Erwachsenenbereich sind
gleichheit auf die subjektive Gesundheit (s. Kap. II.9). Studien, bei denen Menschen mit chronischen Er-
Wobei die Personen aus sozial benachteiligten, unte- krankungen aus Versorgungseinrichtungen über
ren Bevölkerungsschichten die schlechteste subjek- längere Zeit hinsichtlich ihrer Lebensqualität befragt
tive Gesundheit berichten. Dieser Effekt bleibt bei wurden, wobei sowohl der Schweregrad der Erkran-
der Prüfung des Einflusses alternativer Faktoren be- kung, als auch die therapeutische Versorgung mit
stehen. Im Gesundheitssurvey zeigten sich zudem einfloss. Es zeigte sich hier ein starker Zusammen-
Unterschiede entsprechend des Wohnorts (Ost ver- hang zwischen dem Schwergrad der Störung und der
sus West) und dem Geschlecht und Alter der Befrag- Lebensqualitätsbeeinträchtigung. Ein durchgehen-
ten. Diese Daten zeigen, dass Frauen im Osten des der Befund ist, dass Geschlechtsunterschiede bei
392 VIII. Aktuelle Debatten

Menschen mit chronischen Erkrankungen sehr viel prüft werden. Inzwischen gibt es eine kaum mehr
weniger mit Lebensqualitätsmaßen verbunden sind überschaubare Fülle von Studien, die darauf hinwei-
als in bevölkerungsrepräsentativen Studien, in denen sen, dass zusätzlich zum medizinischen Effekt der
Frauen ihre Lebensqualität durchgängig niedriger Therapien die Lebensqualität der Behandelten einen
bewerten als die Männer (Franz u. a. 2008). wichtigen Parameter darstellt, der mit dem Thera-
Multinationale Studien, in denen sich bei nach de- pieerfolg korreliert.
finierten klinischen Kriterien einbezogenen Patien- Im Gegensatz zu den Erwachsenen sind randomi-
tengruppen und unter Konstanthaltung aller hypo- sierte Studien bei Kindern seltener vorhanden. Ran-
thetischen Einflussfaktoren deutliche Länderunter- domisierte kontrollierte klinische Studien, zum Bei-
schiede in der Lebensqualität zeigten, repräsentieren spiel im Bereich der Versorgung mit Wachstumshor-
die Versorgungsspezifika des jeweiligen Landes. Dies monen bei kleinwüchsigen Kindern, zeigten, dass bei
wurde zum Beispiel in einer europäischen Studie zur Wachstumshormonmangel die Zuführung des Hor-
Lebensqualität und Versorgung von Patienten mit mons bei Kindern mit Wachstumshormondefizit kli-
Hämophilie (ESCHQoL) gefunden, bei der sich die nisch zu einem substantiellen Größenwachstum
Lebensqualität von Erwachsenen und Kindern in führt, das auch zu einer Zunahme der Lebensqualität
Abhängigkeit von der Güte der Versorgung im Her- führt (Brütt u. a. 2009).
kunftsland unterschied (Bullinger/von Mackensen
2008). In Ländern, in denen die notwendige Versor- Gesundheitbezogene Lebensqualität
gung mit dem Blutgerinnungsfaktor VIII gewähr-
und Gesundheitsökonomie
leistet war, war die Lebensqualität der Befragten sehr
viel höher als in Ländern, in denen dies nicht der Fall Im Rahmen der Gesundheitsökonomie werden Le-
war. bensqualitätsindizes eingesetzt, um den Nutzen ei-
In einer großangelegten Studie zur Lebensqualität ner Behandlung oder eines Versorgungsangebotes
von Kindern mit Übergewicht und Adipositas in gegenüber den Kosten zu prüfen. Der Nutzen kann
Deutschland wurden Versorgungscluster definiert, durch spezifische gesundheitsökonomische Lebens-
die Kinder im Verlauf von 3 Jahren sowohl vor als qualitätsindizes geprüft werden, wie zum Beispiel
auch nach Besuch von Versorgungseinheiten befragt EQ–5D, und kann dann auf einer weiteren Ebene
und zusammen mit ihren Eltern und medizinisch umgerechnet werden in qualitätsadjustierte Lebens-
untersucht. Es zeigte sich hier, dass Versorgungsclus- jahre (quality-adjusted life years, QALYs), die durch
ter mit einer starken Fokussierung auf die individu- eine Behandlung zusätzlich gewonnen werden (Ra-
elle Situation der Patienten und verhaltensmodifi- vens-Sieberer u. a. 2010).
zierenden Therapiemethoden die besten Ergebnisse Die gesundheitsökonomische Lebensqualitätsfor-
hinsichtlich medizinischer Daten (z. B. Gewicht), vor schung versucht damit, den Zugewinn an Lebens-
allem aber auch hinsichtlich von Lebensqualitätsin- qualität zu beziffern und mit den Gesundheitskosten
dikatoren zeigten (Hoffmeister u. a. 2010). in Relation zu setzen. Im Vergleich verschiedener
In einer internationalen Studie konnten Kinder Versorgungsstrategien innerhalb einer Erkrankung
mit chronischen Erkrankungen aus verschieden oder über verschiedene Erkrankungen hinweg kann
Ländern untersucht werden (Asthma, Diabetes, Epi- so geprüft werden, inwieweit sich eine Maßnahme
lepsie, Zerebralparese, Arthritis und Neurodermitis). gesundheitsökonomisch auch vertreten lässt, was
Hier zeigten sich ebenfalls deutliche Unterschiede in dann zutrifft, wenn der Nutzen hoch ist. Die vielen
der Lebensqualität der Kinder sowohl in Abhängig- Studien aus dem Bereich der Gesundheitsökonomie
keit der Art der Erkrankung, aber auch vom Wohn- zeigen, dass es sinnvoll ist, Lebensqualität in Kosten-
ort (die Lebensqualität der Kinder und ihrer Eltern Nutzen-Berechnungen mit einzubeziehen, weil nicht
war mit krankheitsspezifischen und sogenannten nur die Länge, sondern auch die Qualität des Lebens
chronisch generischen Verfahren erfasst worden; vgl. in einer gesundheitlichen Versorgung der Bevölke-
Schmidt u. a. 2006). rung eine Rolle spielt (Bailey/Kind 2010).
Die meisten Forschungsergebnisse entstammen Zusammengenommen zeigen die exemplarisch
klinischen Studien, in denen entweder in einem kon- vorgestellten Studien zur Lebensqualitätsforschung
trollierten Design oder im Rahmen einer randomi- in der Medizin, dass die Ergänzung klinischer Indi-
sierten klinischen Studie Behandlungsverfahren in katoren um Maße zur Erfassung der Lebensqualität
ihren Auswirkungen auch auf die Lebensqualität ge- inhaltlich sinnvoll und nützlich ist. Es stellt sich al-
5. Glück in der Sozialpsychologie. Subjektive Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität 393

lerdings die Frage, von welchen Faktoren die Lebens- reichen Anpassungsstrategien (die Menschen haben
qualität der befragten Personen abhängt. sich um eine Anpassung an ein Leben mit Einschrän-
kungen bemüht; vgl. Carver/Scheier 2005).
Determinanten der gesundheitsbezogenen Ein weiterer Umstand, der die Lebensqualität bzw.
die subjektive Gesundheit beeinflusst, ist das Ver-
Lebensqualität – wovon hängt sie ab?
hältnis zwischen Ressourcen und Belastungen im
Der Stand der Forschung zur gesundheitsbezogenen Leben einer Person. Antonovsky (1997) hat mit sei-
Lebensqualität – von der Epidemiologie bis zur Ge- nem Modell zur Salutogenese darauf hingewiesen,
sundheitsökonomie – lässt bisher die Frage offen, dass die Frage danach, wie eine Person gesund bleibt,
wovon jenseits von klinisch medizinischen Einfluss- sehr viel interessanter ist als die, warum sie erkrankt.
größen die Lebensqualität eigentlich abhängt. Hierzu Dieser Ansatz der Salutogenese geht einerseits davon
gibt es in der soziologischen und psychologische Le- aus, dass es Bedingungen gibt, die dem Erhalt der
bensqualitätsliteratur einige interessante Befunde, Gesundheit zugrunde liegen, wie zum Beispiel Ver-
auf die im Folgenden etwas genauer eingegangen stehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Beeinflussbarkeit,
werden soll (s. Kap. VIII.6). andererseits aber auch, dass für die Gesundheit das
Wie bereits erwähnt sind sozioökonomische Indi- Vorhandensein von Ressourcen von hoher Bedeu-
katoren, nämlich Bildung, Einkommen und Beruf, tung ist (Auhagen 2008; Bullinger/Brütt 2009).
wichtige Größen, die die Lebensqualität der Befrag- Daraus hat sich in der Gesundheitsforschung ein
ten beeinflussen. Insofern spiegelt sich hier der aus Paradigmenwechsel ergeben, der Gesundheit und
der klinischen Epidemiologie bekannte Befund wie- Krankheit nicht als Gegenpole, sondern als Konti-
der, dass auch die subjektive Gesundheit schichtab- nuum versteht und der den Einfluss des Verhältnis-
hängig ist und soziale Ungleichheit reflektiert (Be- ses von Belastungsfaktoren und Ressourcen oder auf
nach u. a. 2010). diesem Kontinuum abwägt. Solche Ressourcen kön-
Beim Alter zeigen Ergebnisse wie die aus Gesund- nen sowohl im Individuum (z. B. Coping) wie im
heitssurveys, dass mit zunehmendem Alter die Le- Umfeld des Individuums (soziale Unterstützung)
bensqualität im körperlichen Bereich sinkt, im psy- oder in strukturellen Lebensbedingungen (z. B. Zu-
chischen Bereich allerdings erhalten bleibt. So gang zu Versorgung) liegen und beeinflussen ganz
konnte im deutschen Bundesgesundheitssurvey ge- wesentlich die subjektive Gesundheit von Personen
zeigt werden, dass die körperliche Summenskala sich (Erhart u. a. 2007).
mit zunehmendem Alter verschlechtert, die psychi- Entsprechende Forschungsergebnisse finden sich
sche Summenskala aber fast unverändert bis ins meist in größeren Studien, in denen mit Hilfe von
hohe Alter positiv bewertet wird (Thefeld u. a. 1999). Strukturgleichungsmodellen der relative Einfluss
Zusätzlich zu soziodemographischen Faktoren von Ressourcen und Belastungen auf die subjektive
sind aber auch psychosoziale Einflüsse zu berück- Gesundheit thematisiert wird. Ein Beispiel hierzu ist
sichtigen. Aus der Literatur zu Belastung und Belas- die Nutzung des Datensatzes aus dem Deutschen
tungsbewältigung ist bekannt, dass Stressbelastung Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS). Bei
einerseits und Bewältigungsbemühungen anderer- der querschnittlichen Modulierung von Einflussfak-
seits die Lebensqualität von Menschen stark modifi- toren auf die subjektive Gesundheit zeigte sich, dass
zieren. Angesichts von Belastungen werden Strate- sowohl die psychische Gesundheit (mental health)
gien mobilisiert, die den Effekt der Belastung abpuf- als auch das Vorhandensein von Risikofaktoren die
fern oder die Situation verändern, sogenanntes subjektive Gesundheit von Kindern wesentlich be-
emotions- bzw. problembezogenes Coping (Jeske einflusst. In der für die nächsten Jahre geplanten
u. a. 2009). Fortführung dieser Studie im Längsschnitt wird sich
Es gibt paradox erscheinende Befunde, dass Men- zeigen, inwiefern den beobachteten Beziehungen
schen mit chronischen oder lebensbedrohlichen Er- auch eine Kausalität zugrunde liegt (Fiedler 2007).
krankungen eine höhere Lebensqualität berichten Die Kenntnis solcher Einflussfaktoren auf die sub-
als gesunde Personen aus der Bevölkerung. Dies ist jektive Gesundheit ist notwendig, um einerseits zu
einerseits aus der Perspektive der Lebensqualitätsbe- verstehen, wie Urteile zur gesundheitsbezogenen Le-
urteilung zu erklären (Menschen die nach einer bensqualität zustande kommen, andererseits, um
Transplantation uneingeschränkter leben als zuvor, Versorgungsbedarfe bei der Bevölkerung oder bei
bewerten ihre Situation neu), aber auch aus erfolg- Menschen mit bestimmten Erkrankungen zu erken-
394 VIII. Aktuelle Debatten

nen und diesen dann durch die Schaffung adäquater nen Lebensqualität ergibt sich der Hinweis darauf,
Versorgungsstrukturen auch zu begegnen. Diese wie wichtig Wohlbefinden und wahrgenommenes
eher analytische als deskriptive Qualitätsforschung Funktionsvermögen sind. Beide, so lässt sich postu-
hat erst in den letzten Jahren Aufschwung genom- lieren, sind mit Glück nicht gleichzusetzen, aber
men, von ihr ist aber sowohl ein theoretischer Bei- wahrscheinlich zumindest Voraussetzungen für
trag zum Verständnis von subjektiver Gesundheit Glück.
und deren Regulation zu erwarten als auch ein prak-
tischer Beitrag zur Frage, wie gesundheitliche Ver-
Literatur
sorgungsstrukturen beschaffen sein müssten, um die
gesundheitsbezogene Lebensqualität von gesunden Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizie-
und erkrankten Patienten optimal zu fördern (Frank rung der Gesundheit. Tübingen 1997.
2010). Mit der Berücksichtigung der subjektiven Ge- Auhagen, Ann Elisabeth (Hg.): Positive Psychologie.
sundheit hat sich hier ein neues Feld für Interventio- Anleitung zum besseren Leben. Weinheim 2008.
nen ergeben, die auch psychologische Ansätze mit Bailey, Henry/Kind, Paul: Preliminary Findings of an
einschließen, z. B. Training von Fertigkeiten der Be- Investigation into the Relationship between National
lastungsbewältigung oder auch Veränderung des Ge- Culture and EQ–5D Value Sets. In: Quality of Life Re-
sundheitsverhaltens. search 19/8 (2010), 1145–1154. Epub 2010 May 23.
Bartels, Meike/Boomsma, Dorret I.: Born to be Happy?
The Etiology of Subjective Well-Being. In: Behavior
Schlussfolgerungen Genetics 93/6 (2009), 605–615.
Benach Joan u. a.: The Importance of Government Poli-
Die Lebensqualitätsforschung hat trotz ihres relativ cies in Reducing Employment Related Health In-
jungen Alters eine Reihe von Ergebnissen zur equalities. In: Bundesministerium der Justiz (2010),
subjektiven Gesundheit sowohl von Bevölkerungs- 340.
gruppen als auch von Menschen mit akuten bzw. Bitsko, Matthew J. u. a.: Happiness and Time Perspective
chronischen Erkrankungen erbracht, die sich sowohl as Potential Mediators of Quality of Life and Depres-
theoretisch-inhaltlich als auch praktisch-gesund- sion in Adolescent Cancer. In: Pediatric Blood & Can-
heitspolitisch nutzen lassen. Es bleibt allerdings die cer 50 (2008), 613–619.
kritische Frage bestehen, inwieweit die subjektive Brütt, Anna L. u. a.: Assessment of Health-Related Qua-
Gesundheit mit den beschriebenen Ansätzen ad- lity of Life and Patient Satisfaction in Children and
äquat zu erfassen ist, wie sie sich theoretisch von an- Adolescents with Growth Hormone Deficiency or
deren Bereichen abgrenzt und was die Implikatio- Idiopathic Short Stature – Part 1: A Critical Evalua-
nen einer so verstandenen Forschung zur Gesund- tion of Available Tools. In: Hormone Research 72/2
heit als Glück sind. So ist der Begriff des Glücks von (2009), 65–73. Epub 2009 Aug 18. Review.
dem Begriff der Gesundheit zu unterscheiden. Dies Bullinger, Monika: Quality of Life – Definition, Con-
liegt nicht nur an den philosophischen Hintergrün- ceptualization and Implications: A Methodologists
den und den Begriffsräumen, sondern auch daran, View. In: Theoretical Surgery 6 (1991), 143–148.
dass Gesundheit wie Glück nicht leicht in Maß und –: Lebensqualität – Aktueller Stand und neuere Ent-
wicklungen der internationalen Lebensqualitätsfor-
Zahl zu erfassende Phänomen sind.
schung. In Ulrike Ravens-Sieberer/Alarcos Cieza
Nicht nur weitere Forschung, sondern auch bes-
(Hg.): Lebensqualität und Gesundheitsökonomie in
sere theoretische Konzepte sind notwendig, um Ge-
der Medizin. Konzepte – Methoden – Anwendungen.
sundheit in ihrer subjektiven Repräsentation zu be-
Landsberg 2000, 13–24.
greifen und ihren Stellenwert gemeinsam mit ande- –: Assessing Health Related Quality of Life in Medicine.
ren Facetten des Glücks zu beleuchten. Dennoch hat An Overview over Concepts, Methods and Applica-
die Diskussion um die subjektiv erlebte Gesundheit tions in International Research. In: Restorative Neu-
als Glück methodisch insofern einen Beitrag geleis- rology and Neuroscience 20 (2002), 93–101.
tet, als sie zur Entwicklung von Indikatoren subjek- – u. a.: Creating and Evaluating Cross-Cultural Instru-
tiver Gesundheit geführt hat. Nur dann, wenn ein ments. In: B. Spilker (Hg.): Quality of Life and Phar-
theoretisch interessantes Thema auch empirisch ad- maeconomics in Clinical Trials. Philadelphia/New
äquat angehbar ist, sind Ergebnisse zu erwarten, und York 1996, 659–668.
dies ist für den Bereich subjektiver Gesundheit der – /Brütt, Anna L.: Lebensqualität und Förderung der
Fall. Aus der Erforschung der gesundheitsbezoge- Lebensqualität. In: Michael Linden (Hg.): Salutothe-
5. Glück in der Sozialpsychologie. Subjektive Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität 395

rapie in Prävention und Rehabilitation. Köln 2009, sociation of Functional Limitation with Health Care
17–29. Needs and Experiences of Children with Special
– /Kirchberger, Inge: SF–36 Fragebogen zum Gesund- Health Care Needs. In: Pediatrics 121 (2008), 994–
heitszustand. In: Zeitschrift für medizinische Psycho- 1001.
logie 7/4 (1998), 190–191. Patrick, Donald L./Erickson, Peniffer: Health Status and
– /von Mackensen, Sylvia: Psycho-social Determinants Health Policy. New York 1992.
of Quality of Life in Children and Adolescents with Radoschewski, Michael: Gesundheitsbezogene Lebens-
Haemophilia – a Cross-Cultural Approach. In: Clini- qualität – Konzepte und Maße. Entwicklungen und
cal Psychology & Psychotheraphy. May 15/3 (2008), Stand im Überblick. In: Bundesgesundheitsblatt –
164–72. Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 43
Camfield, Laura/Skevington Suzanne M.: On Subjective (2000), 165–89.
Well-Being and Quality of Life. Journal of Health Ravens-Sieberer, Ulrike u. a.: Lebensqualität chronisch
Psychology 13 (2008), 764–775. kranker Kinder und Jugendlicher in der Rehabilita-
Carver, Charles S./Scheier, Michael F.: Optimism. In: tion. In: Zeitschrift Medizinische Psychologie 14
C.R. Sydner/J. Lopez (Hg.): Handbook of Positiv Psy- (2005), 5–12.
chology. Oxford/New York 2005, 231–243. – u. a.: Measuring Subjective Health in Children and
Daig, Isolde/Lehmann, Anja: Verfahren zur Messung Adolescents: Results of the European KIDSCREEN/
der Lebensqualität. In: Zeitschrift für Medizinische DISABKIDS Project. In: Psycho-Social-Medicine Jul
Psychologie 16 (2007), 5–23. 12/4 (2007), Doc08.
Erhart, Michael u. a.: Der Kinder- und Jugendgesund- – Kurth, Bärbel-Maria (KiGGS study group; BELLA
heitssurvey (KiGGS): Risiken und Ressourcen für die study group): The Mental Health Module (BELLA
psychische Entwicklung von Kindern und Jugendli- study) within the German Health Interview and Exa-
chen. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsfor- mination Survey of Children and Adolescents
schung – Gesundheitsschutz 50 (2007), 800–809. (KiGGS): Study Design and Methods. In: European
Fiedler, Peter: Ressourcenorientierte Psychotherapie. In: Child & Adolescent Psychiatry 17 (Dec. 2008a), Suppl
Renate Frank (Hg.): Therapieziel Wohlbefinden. Res- 1, 10–21.
sourcen aktivieren in der Psychotherapie. Heidelberg – u. a. (BELLA study group): Prevalence of Mental
2007, 19–31. Health Problems among Children and Adolescents in
Frank, Renate: Wohlbefinden fördern. Stuttgart 2010. Germany: Results of the BELLA Study within the Na-
Franz, Matthias u. a.: Alexithymia in the German Gene- tional Health Interview and Examination Survey. In:
ral Population. In: Social Psychiatry & Psychiatric Epi- European Child & Adolescent Psychiatry 17 (Dec.
demiology. Jan 43/1 (2008), 54–62. Epub 2007 Oct 12. 2008b), Suppl 1, 22–33.
Hoffmeister, Ulrike u. a.: Treatment of Obesity in Pedia- – u. a.: Feasibility, Reliability, and Validity of the EQ–
tric Patients in Germany: Anthropometry, Comorbi- 5D-Y: Results from a Multinational Study. In: Quality
dity and Socioeconomic Gradients Based on the of Life Research 19/6 (2010), 887–897.
BZgA Observational Study. In: Klinische Padiatrie Schmidt, Silke u. a. (European DISABKIDS Group): The
222/4 (2010), 274–278. DISABKIDS Generic Quality of Life Instrument
Jeske, Jana u. a.: Risikofaktor Krankheitsverarbeitung. Showed Cross-Cultural Validity. In: Journal of Clini-
Zusammenhänge zwischen der Krankheitsverarbei- cal Epidemiology. June 59/6 (2006), 587–98. Epub
tung einer elterlichen psychischen Erkrankung und 2006 May 2.
der gesundheitsbezogenen Lebensqualität der Kin- Szabo, Silvija (The WHOQOL-Group): The World
der. In: Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Health Organization Quality of Life (WHOQOL) As-
Psychotherapie 57/3 (2009), 207–213. sessment Instrument. In: Bert Spilker (Hg.): Quality
Keller, Susan D. u. a.: Use of Structural Equation Mode- of Life and Pharmaeconomics in Clinical Trials. Phil-
ling to Test the Construct Validity of the SF–36 Health adelphia/New York 1996, 355–362.
Survey in ten Countries: Results from the IQOLA Pro- Thefeld, Wolfgang/Stolzenberg, Heribert/Bellach, Bär-
ject. International Quality of Life Assessment. In: Jour- bel-Maria: Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zu-
nal of Clinical Epidemiology 51/11 (1998), 1179–1188. sammensetzung der Teilnehmer und Non-Respon-
Morrogh, Mary u. a.: A Prospective Evaluation of the der-Analyse. In: Gesundheitswesen 61, Sonderheft 2
Durability of Palliative Interventions for Patients (1999), 57–61.
with Metastatic Breast Cancer. In: Cancer 116/14 Ware, John E.: Standards for Validating Health Mea-
(2010), 3338–47. sures. Definition and Content. In: Journal of Chronic
Nageswaran, Savithri/Silver, Ellen J./Stein Ruth E.K.: As- Diseases 40 (1987), 503–512.
396 VIII. Aktuelle Debatten

–: Conceptualization and Measurement of Health-Rela-


ted Quality of Life: Comments on an Evolving Field.
6. Glück als subjektives
In: Archives of Physical Medicine and Rehabilitation Wohlbefinden: Lehren aus
84/2 (2003), 43–51.
Wirtz, Derrick u. a.: What Constitutes a Good Life? Cul-
der empirischen Forschung
tural Differences in the Role of Positive and Negative
Affect in Subjective Well-Being. In: Journal of Perso- Glück ist in modernen Gesellschaften ein vorrangi-
nality 77 (2009), 1167–1196. ges Gut; die meisten von uns streben nach einem
World Health Organization (WHO): The World Health
glücklichen Leben und schreiben dem Glücksbefin-
Organization Quality of Life Assessment (WHO-
den großen Wert zu (Harding 1985). Die Unterstüt-
QOL): Position Paper from the World Health Orga-
zung für jenen moralphilosophischen Ansatz, dem
nization. In: Social Scientific Medicine 41 (1995),
1403–1409.
zufolge wir mehr Glück für mehr Menschen anstre-
–: International Classification of Functioning, Disabi- ben sollten (Bentham 1789/1970), nimmt stetig zu.
lity and Health. Resolution 54.21. Genf 2001. Entsprechend gewinnt das Glück auch auf der Ta-
Monika Bullinger gesordnung der Politik weiter an Bedeutung (Bok
2010; Donovan et. al 2002; Frey/Stutzer 2002).
Um dieses Streben nach Glück besser nachvollzie-
hen zu können, müssen wir die Bedingungen des
Glücklichseins besser verstehen lernen, und das er-
fordert systematische Untersuchungen. Das Studium
des Glücks ist schon seit langem Tummelplatz für
philosophische Spekulationen, die jedoch zu keiner
soliden Forschungsgrundlage geführt haben. Erst in
den vergangenen Jahrzehnten haben Erhebungsme-
thoden der Sozialwissenschaften hier einen Durch-
bruch gebracht. Es wurden verlässliche Messparame-
ter für das Glück entwickelt, die inzwischen zu
umfangreichen Erkenntnissen auf diesem Gebiet ge-
führt haben. Diese Literatur zum Forschungsgegen-
stand ›Glück‹ lässt sich in Hinblick auf wenige
Schlüsselfragen einordnen, die jeweils als Einzel-
schritte bei der Schaffung von mehr Glück für eine
größere Zahl betrachtet werden können: (1) Was ge-
nau ist Glück? (2) Ist Glück messbar? (3) Wie glück-
lich sind wir derzeit? (4) Was macht uns glücklich
bzw. unglücklich? und (5) Lässt sich das Glücksbe-
finden dauerhaft steigern?

Was ist ›Glück‹?


Das Wort ›Glück‹ wird auf unterschiedlichste Wei-
sen verwendet. Im weitesten Sinn handelt es sich um
einen Oberbegriff für alle Vorstellungen vom guten
Leben. In dieser Bedeutung wird der Begriff oft syn-
onym mit Ausdrücken wie ›Wohlbefinden‹ oder ›Le-
bensqualität‹ gebraucht und bezeichnet sowohl indi-
viduelles wie soziales Wohlergehen. Zudem wird das
Wort im spezifischeren Sinn zur Bezeichnung der
subjektiven Wertschätzung des Lebens verwendet,
und eben darum geht es auch hier.
Definiert wird Glück demnach wie folgt: Glück ist
6. Glück als subjektives Wohlbefinden: Lehren aus der empirischen Forschung 397

das Maß oder der Grad, in dem ein Mensch mit der sondern nur um die subjektive Wahrnehmung des/
Qualität seines eigenen Lebens insgesamt zufrieden der Betreffenden. Eine ausführlichere Erörterung
ist. Anders ausgedrückt bezeichnet Glück das Maß, dieser Konzeptualisierung des Glücks habe ich an-
in dem man das eigene Leben mag. In diesem Sinn dernorts vorgelegt (Veenhoven 1984, 22–25).
kann man nicht glücklich sein, ohne es auch zu wis- Immer mehr Belege sprechen für die Annahme,
sen, und in diesem Sinn ist auch illusorisches Glück dass affektive Erfahrungen maßgeblich die Gesamt-
immer noch Glück. bewertung des Lebens bestimmen; das entspricht
der Theorie, nach der Gefühle das grundlegende
Komponenten des Glücks Orientierungssystem der Säugetiere bilden und ko-
gnitive Fähigkeiten evolutionär jünger sind und eher
Menschen können ihr Leben auf zweierlei Weise be- ergänzende Fähigkeiten als Ersatzfähigkeiten dar-
werten. Mit den höher entwickelten Tieren teilen stellen (Veenhoven 2009).
wir die Fähigkeit zur gefühlsmäßigen Wertschät-
zung unserer Lage. Wir fühlen uns in bestimmter Ist Glück messbar?
Hinsicht gut oder schlecht, und unsere Stimmungs-
lage trägt dem jeweils aufs Ganze gesehen Rech- Da Glück als etwas definiert wird, das wir ›im Sinn‹
nung. Genau wie bei den Tieren (s. Kap. VIII.1) ent- haben, lässt es sich mithilfe von Fragen messen. Eine
wickeln sich diese affektiven Wertschätzungen auto- gebräuchliche Frage lautet:
matisch; anders als andere Tiere können Menschen Wie zufrieden sind Sie derzeit alles in allem mit Ihrem Leben?
diese Erfahrung jedoch reflektieren. Wir wissen un- 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
gefähr, wie wir uns vor einem Jahr gefühlt haben; ausgesprochen unzufrieden ausgesprochen zufrieden
eine Katze weiß das nicht. Zudem können Men-
schen das Leben kognitiv beurteilen, indem sie die Diese und ähnliche Fragen werden zwar in Erhebun-
faktische Lage mit einer gewünschten vergleichen. gen wie dem World Values Survey (Inglehart/Welzel
Ich bezeichne diese Einschätzungen als hedonische 2005) und dem Gallup World Poll verwendet, sind
Gefühlsniveaus und Zufriedenheitsniveaus und be- aber auch Gegenstand heftiger Kritik.
trachte sie als Bestandteile der Gesamteinschätzung
des Lebens, die ich als Gesamtglücksniveau bezeich- Gültigkeit: Obgleich die Fragen recht klar sind, kön-
nen möchte. nen die Antworten doch auf verschiedene Weise ir-
reführend sein. Die Antworten bringen unter Um-
Hedonisches Gefühlsniveau: Das hedonische Ge- ständen eher zum Ausdruck, wie glücklich die Be-
fühlsniveau ist der Grad, in dem unterschiedliche fragten glauben, sein zu sollen, statt wiederzugeben,
Gefühle ihrer Art nach als angenehm erfahren wer- wie glücklich sie sich tatsächlich fühlen; möglich ist
den, was sich im Regelfall in der ›Stimmung‹ nieder- auch, dass Befragte sich als glücklicher darstellen, als
schlägt. Das durchschnittliche Gefühlsniveau einer sie es tatsächlich sind. Diese Befürchtungen waren
Person lässt sich über verschiedene Zeitspannen be- Anlass zu zahlreichen Untersuchungen der Gültig-
werten: eine Stunde, eine Woche, ein Jahr, sogar über keit der entsprechenden Befragungsresultate. Ich
die Spanne eines ganzen Lebens (s. Kap. II.6). Unser habe diese Untersuchungen andernorts geprüft und
Augenmerk gilt dem ›charakteristischen‹ hedo- bin zu dem Schluss gekommen, dass keine Belege
nischen Niveau, das heißt dem Durchschnitt über dafür vorliegen, dass diese Fragen etwas anderes
eine lange Zeitspanne, etwa über einen Monat oder messen als was sie messen sollen (Veenhoven 1984,
ein Jahr. Das Konzept setzt kein subjektives Gewahr- Kap. 3). Das ist zwar keine Garantie gegen Mängel,
sein dieses Durchschnittsniveaus voraus. aber wir können diesen Glücksmessungen wohl bis
auf Weiteres vertrauen.
Zufriedenheitsniveau: ›Zufriedenheit‹ bezeichnet
den Grad, in dem ein Individuum seine Bestre- Verlässlichkeit: Die Forschung hat ferner ergeben,
bungen als erfüllt betrachtet. Das Konzept geht da- dass die Antworten durch geringfügige Variationen
von aus, dass der/die Betreffende bestimmte be- der Wortwahl und der Reihenfolge der Fragen sowie
wusste Ziele und bestimmte Vorstellungen zu deren durch situative Faktoren wie die ethnische Zugehö-
Verwirklichung entwickelt hat. Dabei geht es nicht rigkeit des Interviewers oder das Wetter beeinflusst
um die faktische Richtigkeit dieser Vorstellungen, werden. Ein und dieselbe Person kann also in der ei-
398 VIII. Aktuelle Debatten

nen Studie eine Punktzahl von 6 und in einer ande- gerungen in der Frage nach dem Glück weltweit sel-
ren eine Punktzahl von 7 angeben. Diese mangelnde ten festzustellen (Veenhoven 2010b).
Präzision beeinträchtigt Analysen auf individueller Ein weiterer Einwand besagt, dass Glück eine ein-
Ebene. Weniger schwerwiegend ist dieses Problem, zigartige Erfahrung ist, die sich nicht auf einer Äqui-
wo das durchschnittliche Glücksbefinden in Grup- valenzskala mitteilen lässt. Dieser Einwand gründet
pen verglichen wird, da Zufallsfluktuationen dabei unter anderem auf einem konstruktivistischen Men-
zum Ausgleich neigen. Typischerweise ist das dort zu schenbild. Aus evolutionärer Sicht sind große Unter-
beobachten, wo Glück als Kriterium in der Politikbe- schiede zwischen uns jedoch unwahrscheinlich. Wie
wertung verwendet wird. beim Schmerz gibt es wohl auch hier ein gemeinsa-
mes menschliches Erfahrungsspektrum. Nach der
Vergleichbarkeit: Dennoch wird eingewendet, Ant- ›Signal‹-Theorie der Affekte ist die Annahme, Glück
worten auf derartige Fragen seien nicht vergleichbar, sei etwas jeweils Einzigartiges, ebenfalls nicht plausi-
weil eine Punktzahl beispielsweise von 6 eben nicht bel. Auch die Daten ergeben hier ein anderes Bild.
für alle Befragten das Gleiche bedeute. Wenn sich Glücksbefinden nicht auf einer Äquiva-
Ein oft angeführtes philosophisches Argument für lenzskala mitteilen lässt, kann auch kaum eine Kor-
diese Position lautet, dass Glück auf der Befriedi- relation zwischen subjektivem Glück und objektiven
gung von Wünschen beruht und dass diese zwischen Lebensbedingungen bestehen. Die Forschungser-
Personen und Kulturen variieren (Smart/Williams gebnisse weisen jedoch mehrere beträchtliche Kor-
1973). Es ist indes alles andere als sicher, dass Glück relationen aus, von denen einige in den nachfolgen-
von der Verwirklichung spezifischer Wünsche ab- den Grafiken dargestellt sind.
hängt. Die verfügbaren Daten sprechen eher für die Und schließlich bestehen methodologische Vor-
Theorie, dass Glück von der Befriedigung universel- behalte in Bezug auf mögliche kulturelle Einseitig-
ler Bedürfnisse abhängig ist (Veenhoven 1991; 2009). keiten in der Messung von Glück, die etwa auf Pro-
Ähnliche Bedenken werden dahingehend geäußert, bleme bei der Übersetzung von Schlüsselwörtern
dass ›Glück‹ ein typisch westliches Konzept sei, das und auf kulturelle Variationen in den Antwortge-
in anderen Kulturen so nicht anerkannt wird. Den- wohnheiten zurückgehen. Ich habe an anderer Stelle
noch scheint Glück ein universelles Gefühl zu sein, nach empirischen Belegen für solche Verzerrungen
das man im Gesichtsausdruck auf der ganzen Welt gesucht, jedoch keine gefunden (Veenhoven 1993,
erkennen kann und für das es überall sprachliche Kap. 5).
Ausdrücke gibt. Entsprechend sind Antwortverwei-

30

25

20
Percentages

15

10

0
extremely 1 2 3 4 5 6 7 8 9 extremely
dissatisfied satisfied

Life satisfaction
Grafik 1: Glücksbefinden in Deutschland (Quelle: European Social Survey 2006)
6. Glück als subjektives Wohlbefinden: Lehren aus der empirischen Forschung 399

Wie glücklich sind wir? fahrungen als geistige Reaktion auf Ereignisse des
Lebensverlaufs. Hierzu gehören wichtige einmalige
Nachfolgend die Antwort auf diese Frage in Deutsch- Ereignisse wie Hochzeiten oder Wohnortwechsel so-
land. Überwiegend wurden die Optionen 7, 8 und 9 wie immer wiederholte alltägliche Abläufe wie mor-
gewählt; nur 14 Prozent der angegebenen Punktzah- gendliches Aufstehen oder Geschirrspülen. Die Er-
len lagen unter dem Wert von 5. Der Durchschnitt eignisse eines Lebens sind zum Teil eine Sache von
lag bei 7,2. Aus diesem Ergebnis geht hervor, dass die Glück oder Pech, wie beispielsweise bei Unfällen.
meisten Deutschen sich die meiste Zeit über glück- Ferner hängt der Eintritt von Lebensereignissen von
lich fühlen müssen. gegebenen Umständen und Möglichkeiten ab. Ver-
Wie verhalten sich die deutschen Werte zu denen kehrsunfälle sind in wohlgeordneten Gesellschaften
anderer Länder? Einige verdeutlichende Ergebnisse unter aufmerksamen Personen weniger häufig. Da-
sind in Grafik 2 dargestellt. Obgleich Deutschland her ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines po-
sich im Mittelfeld dieser Liste befindet, rangiert das sitiv bzw. negativ ausschlagenden Ereignisses nicht
Land tatsächlich weltweit mit an der Spitze. Wie er- für jeden die gleiche. In der Regel spricht man hier
sichtlich wird, variiert das durchschnittliche Glücks- von ›Lebenschancen‹, wie etwa Max Weber (1922),
befinden zwischen 8,3 (Dänemark) und 3,3 (Zim- der Unterschiede im Zugang zu knappen Ressour-
babwe); mit einem Wert von 7,2 befindet sich cen betont. Die aktuellen Lebenschancen wurzeln in
Deutschland im oberen Bereich dieses Intervalls von vergangenen Ereignissen und in Möglichkeitsstruk-
5 Punkten. turen, in der Gesellschaftsgeschichte sowie im indi-
viduellen Entwicklungsverlauf.
• Dänemark 8,3 Ein Beispiel kann das Vierstufenmodell verdeutli-
• Schweiz 8,1 chen: Die Lebenschancen eines Menschen können
• Schweden 7,7 schlecht sein, weil dieser Mensch in einer rechtlosen
• USA 7,6
• Deutschland 7,2
Gesellschaft lebt, ohne Einfluss und weder sonder-
• Frankreich 6,5 lich klug noch sonderlich anziehend ist (Schritt 1).
• Japan 6,4 Dieser Mensch wird auf zahlreiche Widrigkeiten sto-
• Türkei 5,5 ßen; er wird beraubt, betrogen, gedemütigt und aus-
• Russland 4,4 geschlossen (Schritt 2). Daher wird sich dieser
• Zimbabwe 3,3
Mensch oft ängstlich, wütend und einsam fühlen
Grafik 2: Glücksbefinden in einzelnen Ländern 2006; (Schritt 3). Auf der Grundlage dieses Erfahrungs-
Mittelwerte auf einer Skala von 0–10 (Quelle: kontinuums wird dieser Mensch das Leben insge-
Veenhoven 2010a, Datensammlung Happiness in samt negativ bewerten (Schritt 4).
Nations, Rangfolgeliste Durchschnittliches
Glücksbefinden).
Qualität der Gesellschaft: Weshalb variiert das Glücks-
befinden im Ländervergleich so stark? Grafik 4 stellt
Was macht uns glücklicher einige der zugrundeliegenden Gesellschaftsmerk-
oder unglücklicher? male dar. Viele dieser Faktoren sind Teil des
›Moderne‹-Syndroms. Je weiter modernisiert ein
Nachdem feststeht, dass es Unterschiede im Glücks- Land ist, desto glücklicher sind seine Bewohner. Diese
befinden gibt, fragt sich nun, weshalb es diese Unter- Feststellung wird die Untergangspropheten überra-
schiede gibt. Hier spielen mehrere Faktoren eine schen, für die die Moderne einen Niedergang bedeu-
Rolle: kollektives und individuelles Verhalten, einfa- tet, und sie widerspricht auch den intuitiven Ein-
che Sinneserfahrungen und höhere kognitive Vor- schätzungen gleich mehrerer führender Sozialwis-
gänge, stabile Merkmale einzelner Personen und ih- senschaftler. In seinem Text Das Unbehagen in der
rer Umwelt, unvorhergesehene Ereignisse. Grafik 3 Kultur (1930) vertrat Freud die Auffassung, die ge-
zeigt eine versuchsweise Anordnung solcher Fakto- sellschaftliche Fortentwicklung gehe mit der Unter-
ren und Vorgänge in einem Sequenzmodell. drückung primitiver Triebe einher, in deren Ausleben
Dem Modell liegt die Annahme zugrunde, dass er das Wesen des Glücks sah. Ebenso wandte sich
sich Lebensbeurteilungen aus Erfahrungen über Durkheim in seinem Buch De la division du travail
kürzere oder längere Lebensspannen hinweg erge- social gegen Wirtschaftswissenschaftler, die den Nut-
ben, insbesondere aus positiven oder negativen Er- zen der Arbeitsteilung priesen, indem er feststellte:
400 VIII. Aktuelle Debatten

LEBENSCHANCEN EREIGNISVERLAUF ERFAHRUNGSSTROM LEBENSBEWERTUNG

Qualität der Gesellschaft


Wirtschaftl. Wohlergehen
Soziale Gleichheit
Politische Freiheit
Kultureller Reichtum
Moralische Ordnung Konfrontation mit: Erfahrung von: Schätzung des
etc. durchschnittlichen
Mangel oder Überfluss Sehnsucht oder Gefühlszustandes
Soziale Stellung Angriffen oder Schutz Befriedigung
Materieller Besitz Einsamkeit oder Angst oder Sicherheit
Politischer Einfluss Gemeinschaft Einsamkeit oder Liebe Vergleich mit Standards des
Soziales Ansehen Demütigung oder Ehrung Abweisung oder Achtung guten Lebens
Familienbindungen Routine oder Langeweile oder Spannung
etc. Herausforderungen Widerwille oder
Hässlichkeit oder Schönheit Begeisterung Gesamtbewertung des
Individuelle Fähigkeiten etc. etc. Lebens
Körperliche Fitness
Psychische Stärke
Soziale Fähigkeiten
Geistige Fähigkeiten
etc.

Glücksbedingungen Bewertungsprozess

Grafik 3: Lebensbewertung: Sequenzmodell für Bedingungen und Abläufe

»Diese Auffassung geht davon aus, dass wir tatsäch- Soziale Stellung: Neben diesen Befunden zu Unter-
lich glücklicher werden. Nichts ist jedoch weniger ge- schieden im länderübergreifenden durchschnittli-
wiss« (Durkheim 1893/1992, 230). Die Modernisie- chen Glücksbefinden liegen auch zahlreiche Unter-
rung mag zwar Probleme mit sich bringen, aber ihr suchungsergebnisse zu Unterschieden im individu-
Nutzen überwiegt doch deutlich (Veenhoven 2005). ellen Glücksbefinden innerhalb einzelner Länder
vor. Da die meisten dieser Studien von einer gleich-
Gesellschaftsmerkmale Korrelation mit dem heitsorientierten Sozialpolitik inspiriert sind, liegt
Glücksbefinden
ihr Schwerpunkt häufig auf sozialen Unterschieden
Wohlstand +.69 etwa bei Einkommen, Bildung und Beschäftigung.
Entgegen den Erwartungen wirken sich diese Posi-
Rechtssicherheit
Bürgerrechte +.50 tionsunterschiede kaum auf das Glücksbefinden aus,
Korruption .69 jedenfalls nicht in modernen Überflussgesellschaf-
Freiheit
ten. Zusammengenommen erklären Positionsvaria-
Wirtschaftlich +.63 blen höchstens 10 Prozent der Varianz im Glücksbe-
Politisch +.53 finden. Die wichtigsten Befunde sind in Grafik 5 zu-
Persönlich +.41
sammengefasst.
Gleichheit
Einkommensungleichheit –.08 Lebensfähigkeit: Die stärksten Korrelationen finden
Geschlechtergleichstellung –.21
sich auf psychologischer Ebene. Glückliche Men-
Pluriformität schen verfügen in der Regel über bessere Möglich-
Anteil Migranten +.29
Toleranz gegenüber Minderheiten +.49
keiten als die unglücklichen. Die normale Varianz,
die durch diese Variablen erklärt werden kann, liegt
Modernität bei ca. 30 Prozent. Einige wichtige Ergebnisse sind in
Schulsystem +.56
Urbanisierung +.58 Grafik 6 zusammengefasst.
Zahlreiche Befunde zur individuellen Variation
Erklärte Varianz (Berichtigt R2) 75%
des Glücksbefindens konzentrieren sich letztlich auf
Grafik 4: Glück und Gesellschaft in 146 Ländern um Unterschiede in der Möglichkeit, das eigene Umfeld
das Jahr 2006 (Quelle: Veenhoven 2010b, Data file zu kontrollieren; dieses Muster scheint universell zu
States of Nations) gelten (Veenhoven 2010b).
6. Glück als subjektives Wohlbefinden: Lehren aus der empirischen Forschung 401

Soziale Stellung
befinden auf demselben Niveau zu verharren scheint
Einkommen + (z. B. Easterlin 1995; s. Kap. VIII.7). Diese Forscher
Ausbildung +– irren sich jedoch, und zwar sowohl empirisch wie
Berufliches Ansehen +
theoretisch.
Soziale Partizipation
Beschäftigung +–
Empirische Indikationen: Es besteht ein eindeutiger
Mitgliedschaft in Verbänden +
Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen
Primäres Sozialnetz Glücksbefinden und der Qualität der Gesellschaft.
Ehepartner ++
Kinder 0
Denken wir an den Fall Zimbabwe in Grafik 1, ein
Freunde + Land, das mit einem Durchschnittswert von 3,3 ganz
Korrelation: ++ = Sehr positiv, + = Positiv, 0 = Kein Bezug, – =
unten rangiert. Offensichtlich können Menschen in
Negativ einem gescheiterten Staat nicht glücklich leben, auch
wenn es ihren Nachbarn genauso geht. Die Korrela-
Grafik 5: Glück und soziale Stellung: Untersuchungs-
ergebnisse im Überblick (Quelle: Veenhoven 2010a, tionen in Grafik 4 zeigen, dass dies keine Ausnahme
Erhebung Korrelationsbefunde) ist; Differenzen in der Qualität einer Gesellschaft er-
klären ca. 75 Prozent der Variation im durchschnitt-
lichen Glücksbefinden der Welt von heute.
Ausstattung Das durchschnittliche Glücksbefinden hat sich in
Körperliche Gesundheit + den meisten Ländern tatsächlich verändert, und
Geistige Gesundheit ++
IQ 0 zwar in der Regel zum Besseren (Veenhoven/Ha-
gerty 2006). Grafik 7 zeigt einen graduellen Anstieg
Persönlichkeit
Selbstbeherrschung +
in Dänemark im Verlauf der letzten 30 Jahre und ei-
Weltoffenheit + nen dramatischen Rückgang in Russland nach der
Pflichtbewusstsein + Krise des Rubels im Jahr 1995. Das Glücksbefinden
Lebensweise ist eindeutig nicht an einem Set-Point fixiert!
Genussbereitschaft + Grafik 7 verdeutlicht ferner, dass ein Glückszu-
Geselligkeit ++ wachs in den meisten Ländern der Erde möglich ist.
Korrelation: ++ = Sehr positiv, + = Positiv, 0 = Kein Bezug, – = Das durchschnittliche Glücksbefinden liegt derzeit
Negativ in Dänemark mit einem Schnitt von 8,3 am höchs-
Grafik 6: Glück und Lebensfähigkeiten: Befunde im ten. Was in Dänemark möglich ist, sollte auch in an-
Überblick (Quelle: Veenhoven 2010a, Erhebung deren Ländern möglich sein. Der Einwand, das
Korrelationsbefunde) Glück in Dänemark sei genetisch oder durch den
Nationalcharakter bedingt, ist hinfällig, da Grafik 7
Möglichkeiten der Glückssteigerung zeigt, dass sich das Glücksbefinden in Dänemark seit
1973 gesteigert hat.
Kann die Politik für mehr Glück sorgen? (s. Kap. II.9) Das heutige Glücksbefinden in Dänemark mag
Etliche Wissenschaftler verneinen diese Frage. Man- dem möglichen Maximum nahekommen. Wenn
che Psychologen sind der Auffassung, Glück sei im dem so ist, haben die meisten Länder dieser Erde
Wesentlichen angeboren oder zumindest Teil einer noch einen langen Weg vor sich, denn der weltweite
stabilen Persönlichkeit. Eine bessere Gesellschaft Durchschnitt liegt bei 5,5. Selbst wenn wir das Maxi-
wird demnach keine glücklicheren Bürger hervor- mum je erreichen, bleibt immer noch die Möglich-
bringen. Diese Auffassung ist als »Set-Point-Theo- keit, dessen Dauer auszudehnen und für mehr glück-
rie« bekannt (z. B. Lykken 1999). Manche Soziologen liche Jahre für eine größere Zahl von Menschen zu
kommen zum selben Schluss aufgrund der Auffas- sorgen (Veenhoven 2005).
sung, dass Glück auf sozialem Vergleich basiert und
dass man selbst nicht besser dasteht als die Nach- Theoretische Untermauerung: Die irrige Auffassung,
barn, wenn sich die Bedingungen für alle gleicher- eine Steigerung des Glücksbefindens sei nicht mög-
maßen verbessern. Hier werden gern die Vereinigten lich, basiert auf fehlerhaften Theorien über die Natur
Staaten als Beispiel angeführt: Der materielle Wohl- des Glücks. Einer dieser Irrtümer lautet, dass Glück
stand hat sich in den USA seit den 1950er Jahren lediglich eine Frage der Lebenseinstellung sei und
verdoppelt, während das durchschnittliche Glücks- dass diese von vornherein sowohl in der individu-
402 VIII. Aktuelle Debatten

10

9
Danmark
8

6 West-Germany
East-Germany
5

4 Russia

1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005

Grafik 7: Trend des durchschnittlichen Glücksbefindens in drei Ländern (Quelle: Veenhoven 2010a, Datengruppe
TrendsInNations_2007)

ellen Persönlichkeit wie im jeweiligen Nationalcha- terschiede aus, was sowohl das durchschnittliche
rakter festgelegt sei. Eine weitere falsche Theorie Glücksbefinden über Ländergrenzen hinweg wie im
folgt der Annahme, Glück resultiere aus kognitiven Vergleich der Einwohner einzelner Länder betrifft.
Vergleichen, insbesondere in Hinblick auf die soziale Schon unser derzeitiger Kenntnisstand in Hinblick
Position. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass auf das Glück zeigt, dass mehr Glück für eine grö-
diese Theorien falsch sind (Veenhoven 1991). ßere Zahl von Menschen grundsätzlich möglich ist,
Meine alternative Glückstheorie geht davon aus, und es zeichnen sich auch schon bestimmte Wege zu
dass wir das Leben in erster Linie auf der Grundlage diesem Ziel ab.
affektiver Informationen einschätzen. Wir erfahren
positive und negative Affekte, und wenn wir ein-
schätzen, wie sehr wir unser Leben mögen, bewerten Literatur
wir, inwieweit die positiven Gefühle die negativen
überwiegen. Diese Theorie entspricht auch Ben- Bentham, Jeremy: An Introduction Into the Principles
of Morals and Legislation [1789]. London 1970.
thams Konzeption des Glücks als ›Summe von Lust
Bok, Derek: The Politics of Happiness. What Govern-
und Schmerz‹. Meiner Ansicht nach signalisieren
ment Can Learn From the New Research on Well-
positive und negative Affekte die Befriedigung
Being. Princeton 2010.
grundlegender menschlicher Bedürfnisse; das Glück Diener, Ed: Assessing Subjective Well-Being. Progress
hängt somit letzten Endes von der Befriedigung die- and Opportunities. In: Social Indicators Research 31
ser Bedürfnisse ab. Ich habe diese Theorie an ande- (1994), 103–157.
rer Stelle eingehender erörtert (Veenhoven 2009). Donovan, Nick/Halpern, David/Sargeant, Richard: Life
Satisfaction: The State of Knowledge and Implica-
Schlussbemerkung tions for Government. Discussion Paper, Strategy
Unit, British Government. 2002.
Glück lässt sich als subjektiver Genuss des eigenen Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie
Lebens insgesamt definieren. Empirische Untersu- über die Organisation höherer Gesellschaften [1893].
chungen des Glücksbefindens weisen erhebliche Un- Frankfurt a. M. 1992.
6. Glück als subjektives Wohlbefinden: Lehren aus der empirischen Forschung 403

Easterlin, Richard A.: Will Raising the Incomes of All Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen
Increase the Happiness of All? In: Journal of Econo- 1922.
mic Behavior and Organization 27 (1995), 35–47. Ruut Veenhoven
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur [1930]. (aus dem Englischen übersetzt von Reiner Ansén)
In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Frankfurt a. M.
5
1976, 419–506.
Frey, Bruno S./Stutzer, Alois: Happiness and Economics.
Princeton, NJ 2002.
Gallup: World Poll. www.gallup.com/consulting/world-
poll/24046/about.aspx.
Harding, Stephen D.: Values and the Nature of Psycho-
logical Wellbeing. In: MarkAbrams/David Gerard/
Noel Timms (Hg.): Values and Social Change in Bri-
tain. London 1985, 227–252.
Inglehart, Ronald F./Welzel, Christian: Modernization,
Cultural Change, and Democracy. The Human De-
velopment Sequence. New York 2005.
Lykken, David T.: Happiness: What Studies on Twins
Show Us About Nature, Nurture and the Happiness
Set-Point. New York 1999.
Saris, Willem E./Scherpenzeel, Annette C./Veenhoven,
Ruut (Hg.): A Comparative Study of Satisfaction with
Life in Europe. Budapest 1996.
Smart, John J.C./Williams, Bernard: Utilitarianism For
and Against. London 1973.
Veenhoven, Ruut: Conditions of Happiness. Dordrecht/
Boston 1984.
–: Is Happiness Relative? In: Social Indicators Research
24 (1991), 1–34.
–: Happiness in Nations: Subjective Appreciation of Life
in 56 Nations 1946–1992. Studies in Social and Cul-
tural Transformation 2. Rotterdam 1993.
–: Is Happiness a Trait? Tests of the Theory that a Better
Society Does Not Make People any Happier. In: So-
cial Indicators Research 32 (1994), 101–160.
–: Is Life Getting Better? How Long and Happy Do
People Live in Modern Society? In: European Psy-
chologist 10 (2005), 330–343.
–: How Do we Assess how Happy we are? In: A. K.
Dutt/B. Radcliff (Hg.): Happiness, Economics and
Politics: Towards a Multi-disciplinary Approach.
Cheltenham 2009, 45–69.
–: World Database of Happiness: Continuous Register
of Scientific Research on Subjective Enjoyment of
Life. Website hosted at Erasmus University Rotter-
dam. Available at: http://worlddatabaseofhappiness.
eur.nl (2010a).
–: How Universal is Happiness? In: Ed Diener/John F.
Helliwell/Daniel Kahneman (Hg.): International Dif-
ferences in Well-Being. New York 2010b, 328–350.
– /Hagerty, Michael R.: Rising Happiness in Nations,
1946–2004. A Reply to Easterlin. In: Social Indicators
Research 79 (2006), 421–436.
404 VIII. Aktuelle Debatten

7. Glück und Wirtschaft. Wachstum geht, will sie indirekt zu einer Wirtschafts-
politik beitragen, die das nationale Wohlergehen för-
Die Rückkehr des Sozialen dert. Adam Smiths Wahl des Begriffs »Wohlstand«
(abgeleitet von ›Wohl‹) anstelle von ›Reichtum‹ ver-
weist ebenso auf die tiefreichende Verknüpfung von
Einleitung Wohlstand und Gemeinwohl oder Glückseligkeit des
Gemeinwesens.
Das Glück ist in die Wirtschaftswissenschaft zurück- Neuere empirische Befunde scheinen diese An-
gekehrt. Die Wiederkehr des Glücks gehört zu den nahme indes zu widerlegen und den Ökonomen
bedeutendsten methodologischen Neuerungen in Grund genug zu bieten, den Gegenstand der Wirt-
den heutigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. schaftswissenschaft neu zu überdenken. Hier sollen
Den Untersuchungen zum Glück ist es zu verdan- im Wesentlichen diese empirischen Befunde, die als
ken, dass die heutige Wirtschaftswissenschaft sich ›Glücksparadoxon‹ oder als ›Easterlin-Paradox‹ be-
auch wieder für die Analyse zwischenmenschlicher zeichnet werden, vorgestellt und ihre Folgen für die
Beziehungen interessiert, denn es liegen umfangrei- Aufgabenstellung der Ökonomen diskutiert werden.
che empirische Belege dafür vor, dass ein authenti- Mit der Vorstellung rivalisierender Erklärungsan-
sches, d. h. nicht instrumentelles oder interessenge- sätze wird sich zeigen, wie das Paradoxon in diesem
leitetes Gemeinschaftsleben wesentlicher Teil des Zusammenhang zur Wiederanknüpfung an den aris-
subjektiven Glücksbefindens ist (Bruni/Stanca 2008). totelischen oder eudämonistischen Ansatz führt.
Zugleich ist die derzeitige Wirtschaftswissenschaft
jedoch schlecht gerüstet, um den Zusammenhang Das Easterlin-Paradox
zwischen Glück und authentischem Gemeinschafts-
leben zu begreifen. Dem Mainstream der Wirt- Die Wiederentdeckung des Glücks in der Wirt-
schaftswissenschaft gilt das authentische Gemein- schaftswissenschaft ist im Wesentlichen Nebeneffekt
schaftsleben sogar als außerökonomischer Faktor eines von der Psychologie untersuchten Prozesses.
oder als Element, das lediglich als externer Effekt zu Der 1971 von Brickman und Campbell veröffent-
berücksichtigen ist (Gui/Sugden 2005). lichte Aufsatz mit dem sprechenden Titel »Hedonis-
Andrew J. Oswald, einer der drei Verfasser der Ru- tischer Relativismus und die Planung der guten Ge-
brik »Controversy« des Economic Journal 1997, sellschaft« kann als Ausgangspunkt der neuen Un-
bringt das neue Interesse der Wirtschaftswissen- tersuchungen zum Glück und seinen Paradoxa in
schaft am Thema Glück sehr gut auf den Punkt, Bezug auf die Wirtschaftssphäre gelten. In ihrer Stu-
wenn er schreibt: »Die Bedeutung der wirtschaftli- die erweitern die Verfasser die sog. Niveauanpas-
chen Leistung liegt darin, dass sie Mittel zu bestimm- sungstheorie (Adaptation Level Theory) auf das indi-
ten Zwecken sein kann. Wirtschaftsfragen interessie- viduelle und kollektive Glück und kommen zu dem
ren nur, sofern sie die Menschen glücklicher ma- Schluss, dass Verbesserungen der objektiven Lebens-
chen« (Oswald 1997, 1815). Den gleichen Gedanken bedingungen (Einkommen oder Wohlstand) keine
formuliert auch der dritte Autor, Yew-Kwang Ng: dauerhaften Auswirkungen auf das persönliche
»Wir wollen Geld (oder sonst etwas) lediglich als Wohlbefinden haben. Eine solche These hätte ei-
Mittel zur Vergrößerung unseres Glücks. Wenn uns gentlich zu ernsthaften methodologischen Debatten
mehr Geld nicht wirklich glücklicher macht, spielt zur Bedeutung der Analyse von Natur und Ursachen
Geld keine große Rolle, sehr wohl aber das Glück« des Wohlstands der Nationen führen müssen. Das
(Ng 1997, 1849). geschah indes nicht, vielmehr blieb die Untersu-
Ökonomen wie Oswald und Ng sind der Meinung, chung im Mainstream der Wirtschaftswissenschaft
Glück sollte in ihrer Disziplin wieder einen breiteren lange praktisch unbekannt.
Raum einnehmen. Damit knüpfen sie an eine der Mit empirischen Forschungen zum Glücksbefin-
Grundannahmen der Wirtschaftslehre seit ihren Ur- den konnte Richard Easterlin eine Debatte um das
sprüngen im 18. Jahrhundert an, nämlich an den po- »Glücksparadox« anstoßen, das heute auch als ›Eas-
sitiven und unmittelbaren Nexus zwischen Wohl- terlin-Paradox‹ bezeichnet wird. Er nutzte zwei Ar-
stand und Wohlergehen oder ›Glückseligkeit des Ge- ten empirischer Daten. Es handelte sich zum einen
meinwesens‹. Die Wirtschaftswissenschaft befasst um die Antworten auf eine Befragung nach dem
sich direkt mit dem Wohlstand, und indem es ihr um Gallup-Muster, bei der eine direkte Frage gestellt
7. Glück und Wirtschaft. Die Rückkehr des Sozialen 405

wurde, eine Frage, die noch heute die Grundlage für mit einer Steigerung des Glücksbefindens insgesamt
die meisten empirischen Analysen des Glücksbefin- einhergeht. […] Insgesamt ist für die vergangenen 50
dens ist: »Als wie glücklich würden Sie sich ganz all- Jahre weder in den USA noch in Japan und seit 1973
gemein bezeichnen: – sehr glücklich, einigermaßen (Beginn der Erfassung) in Europa ein Zuwachs beim
glücklich oder nicht besonders glücklich?« (Easterlin Glücksbefinden festzustellen« (Layard 2005, 148).
1974, 91). Der zweite Datensatz Easterlins stammt Zahlreiche Ökonomen bestätigen Easterlins Er-
aus komplexeren Untersuchungen des humanisti- gebnis, wonach eine stabile Kausalbeziehung zwi-
schen Psychologen Hadley Cantril (1965), eines wei- schen Einkommen und Glück innerhalb eines je ein-
teren Pioniers der heutigen Glücksforschung. Diese zelnen Landes zu einem je bestimmten Zeitpunkt
Daten betrafen die Ängste und Hoffnungen und die besteht (siehe Punkt 1 oben). Ein Beispiel: »Wenn
Zufriedenheit von Menschen in 14 Ländern. Die Be- wir das durchschnittliche Glücksbefinden und das
fragten hatten ihre »Lebenszufriedenheit« auf einer durchschnittliche Einkommen für bestimmte Grup-
Skala von 1 bis 10 anzugeben. pen in einem gegebenen Land zu einem gegebenen
Auf der Basis dieser beiden Datensätze gelangte Zeitpunkt vergleichen […] zeigt sich, dass Reiche in
Easterlin in seinen bahnbrechenden Analysen zu der Tat sehr viel glücklicher sind als Arme. Die Diffe-
mehreren konsistenten Ergebnissen: renz ist tatsächlich erstaunlich deutlich. Es ist keine
1. Die Korrelation zwischen Einkommen und Einzelveränderung denkbar, die das Leben auf der
Glück ist innerhalb eines je einzelnen Landes zu ei- Glücksskala so stark verbessern würde wie der Auf-
nem je bestimmten Zeitpunkt deutlich und stabil. stieg aus der unteren 5-Prozent-Einkommensgruppe
»In jeder einzelnen Erhebung waren die Einkom- in die obere 5-Prozent-Einkommensgruppe« (Frank
mensstärksten im Durchschnitt glücklicher als die 2005, 67). Und: »In einem einzelnen Land sind die
Einkommensschwächsten« (Easterlin 1974, 100). Reichen natürlich immer glücklicher als die Armen«
2. Die länderübergreifenden Querschnittsdaten (Layard 2005, 148). Uneins sind sich die Forscher
zeigten jedoch, dass die Korrelation von Wohlstand hingegen in Bezug auf Easterlins Resultate in Punkt
und Glück zwar gegeben, aber keineswegs verallge- 2, d. h. in Bezug auf die länderübergreifende Ein-
meinerbar oder besonders stabil ist und dass ärmere kommen-Glück-Korrelation. Mit Verweis auf Daten
Länder nicht immer weniger glücklich als reichere des World Values Survey argumentieren manche
zu sein scheinen. Anders gesagt: »[S]oweit zwischen Wissenschaftler, dass entgegen Easterlins These doch
den Ländern eine positive Verbindung zwischen eine Korrelation besteht: »Verschiedene Untersu-
Einkommen und Glück besteht, ist diese Verbindung chungen belegen, dass Menschen in reichen Ländern
nicht sehr eindeutig. […] Die Resultate sind mehr- im Durchschnitt glücklicher sind als Menschen in
deutig« (Easterlin 1974, 108). Cantrils Daten zeigten armen Ländern« (Frey/Stutzer 2002, 19). Hagerty
beispielsweise, dass die Zufriedenheit in Kuba und und Veenhoven (2003) behaupten ebenfalls eine Ver-
Ägypten größer war als in Westdeutschland (Cantril bindung zwischen steigendem BIP und zunehmen-
1965, 258). Sein Vergleich der Zufriedenheit mit dem dem Glücksbefinden. In seiner Erwiderung auf die-
Einkommensniveau ergab keine Korrelation. sen Aufsatz verteidigt Easterlin (2005b) seine klassi-
3. Nationale Langzeitdaten aus 30 Erhebungen sche These und übergeht Veenhovens Kritik an
über den Zeitraum von 25 Jahren (1946 bis 1970 in seiner eigenen These zu internationalen Vergleichen.
den Vereinigten Staaten) zeigen, dass das Pro-Kopf- Veenhoven verglich – unter Verwendung der glei-
Realeinkommen um über 60 Prozent wuchs, wäh- chen Skala auf beiden Achsen – dieselben Daten wie
rend die Quote der Befragten, die sich selbst als »sehr Cantril und zeigte, dass die Beziehung einem konve-
glücklich«, »einigermaßen glücklich« bzw. »nicht be- xen Muster des abnehmenden Ertrags folgt (Veen-
sonders glücklich« einstuften, praktisch unverändert hoven 1991; s. Kap. VIII.6). Eine vergleichbare Kritik
blieb. wurde von Oswald vorgebracht (Oswald 1997, 1817;
Heute sind sich die meisten Wissenschaftler unab- vgl. auch die neueren Analysen bei Clark u. a. 2008).
hängig von ihrem jeweiligen Forschungshintergrund Ungeachtet aller Einwände vertreten nach wie vor
in der dritten der o.g. Thesen einig, d. h. sie gehen viele Ökonomen, die sich mit dem Glücksbefinden
nicht von einer langfristigen Korrelation zwischen befassen, den Gedanken einer sehr niedrigen Korre-
Glück und Einkommen aus. Tatsächlich gibt es Be- lation zwischen Glück und Einkommen. Layard bie-
lege dafür, dass »der Anstieg des Gesamteinkom- tet ein Beispiel für neuere Forschungen, die diese
mens im Zeitverlauf in den OECD-Ländern nicht These bestätigen: »[W]enn wir Länder miteinander
406 VIII. Aktuelle Debatten

vergleichen, finden wir keine Belege dafür, dass rei- gie begann die Untersuchung des Glücksbefindens
chere Länder glücklicher sind als ärmere – solange in den 1950er Jahren, und die Psychologen verwen-
wir uns dabei auf Länder mit Pro-Kopf-Einkommen den den Begriff generell mit größerer Präzision als
von über 15.000 US-Dollar beschränken. […] Bei die Ökonomen. Die Psychologie unterscheidet (1)
Einkommensniveaus von unter 15.000 US-Dollar ›Lebenszufriedenheit‹ als kognitives Element, (2)
Pro-Kopf-Einkommen sieht die Sache anders aus, da ›Liebe‹ als affektives Moment und definiert (3) ›sub-
die Menschen in diesen Ländern näher an der abso- jektives Wohlbefinden‹ (SWB) als »Zustand des all-
luten Armutsgrenze leben. Auf diesen Einkommens- gemeinen Wohlergehens, bestehend aus verschiede-
niveaus sind reichere Länder glücklicher als ärmere. nen Komponenten, von langer Dauer, der sowohl die
Und in Ländern wie Indien, Mexiko und den Philip- affektive als auch die kognitive Komponente mit ein-
pinen belegen langfristige Daten einen Zuwachs des schließt« (Ahuvia/Friedman 1998, 153).
Glücksbefindens mit steigendem Einkommensni- Zu beachten ist, dass in diesen Studien zum Glück
veau« (Layard 2005, 149). Bei den Psychologen ist zwei Ansätze miteinander rivalisieren. Der erste An-
die Beziehung zwischen Einkommen und Glücksbe- satz bezieht sich auf die hedonistische/utilitaristi-
finden sogar noch strittiger. Einige von ihnen be- sche Sicht von Epikur und Jeremy Bentham auf
streiten auf der Grundlage anderer Daten als jener Menschsein und Gesellschaft (Kahneman u. a. 1997;
des Word Values Survey (auch bei kontrollierten s. Kap. V.1). Genauer gesagt bezeichnet »Hedonis-
sonstigen Variablen) Korrelationen zwischen Ein- mus« (Kahneman u. a. 2004) hier die Auffassung,
kommen und Glücksbefinden ganz generell (zwi- dass Wohlbefinden äquivalent zum Gefühl des
schen Ländern, innerhalb einzelner Länder und im Glücklichseins, d. h. der Lusterfahrung ist: »Der He-
Zeitverlauf; vgl. hierzu die Übersicht bei Diener u. a. donismus als Auffassung vom Wohlbefinden […]
2004). hat viele Formen und reicht von der relativ eng ge-
fassten Konzentration auf körperliches Lusterleben
Zur Definition des Glücks bis hin zu einem weiteren Fokus auf Strebungen und
Eigeninteressen« (Deci/Ryan 2001, 144). Dieser An-
Vor der Erörterung von Erklärungen für das Glücks- satz wird hier und da auch als ›subjektivistisch‹ oder
paradoxon ist festzuhalten, dass die Ökonomen nicht ›psychologistisch‹ charakterisiert, weil er sich fast
über eine klare Konzeption des Glücksbegriffs im ausschließlich auf das stützt, was Menschen über
Verhältnis zu ähnlichen Begriffen verfügen. Ng defi- ihre eigenen, subjektiv erfahrenen Gefühle zu Proto-
niert Glück als »Wohlergehen« (Ng 1997); Oswald koll geben (s. Kap. VI.9).
versteht unter Glück »Freude« oder »Zufriedenheit« Der zweite Ansatz orientiert sich an Aristoteles’
(Oswald 1997). Am deutlichsten wird Easterlin: »Ich Ethik, insbesondere an seinem Verständnis von
verwende die Begriffe Glück, subjektives Wohlbefin- Glück als eudaimonia. Für Aristoteles geht es beim
den, Zufriedenheit, Nützlichkeit, Wohlergehen und Glück um das gute Leben und das menschliche Ge-
Wohl als austauschbare Begriffe« (Easterlin 2001, deihen, d. h. um die Verwirklichung der menschli-
465). Darüber hinaus gehen die Ökonomen in ihren chen Potentiale durch intrinsisch motiviertes Tun im
Untersuchungen zum Glück überwiegend empirisch Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen (s. Kap.
vor; ihre Forschung hängt von der Verfügbarkeit von III.2). Bis vor kurzem war dieser Ansatz in den De-
Selbstauskünften zum Komplex ›Glück‹ oder ›Le- batten der Ökonomen über Wohlstand und Glück so
benszufriedenheit‹ ab. Sie verlassen sich auf subjek- gut wie gar nicht vertreten (vgl. im Überblick Gui/
tive Antworten auf Fragebögen, die schlicht wissen Sugden 2005). Wir werden zu dieser Glücksauffas-
wollen: »Wie glücklich sind Sie?« (in den Fragebö- sung zurückkehren, nachdem wir einige Erklärun-
gen des Word Values Survey sind ferner Angaben zur gen des Easterlin-Paradoxes auf der Grundlage der
»Lebenszufriedenheit« auf einer numerischen Skala hedonistischen/utilitaristischen Glückskonzeption
von 1 bis 10 vorgesehen). Die Angaben sind reine erörtert haben.
Selbstauskünfte ohne jedes Erfordernis, zuvor zu de-
finieren, was überhaupt unter Glück verstanden wird Individuelle und soziale Tretmühlen
oder verstanden werden sollte.
Um Glück konkreter zu definieren und seine Der erste Ökonom, der sich an einer Erklärung des
Messparameter besser verstehen zu können, müssen Paradoxons versuchte, war Richard Easterlin selbst
wir uns an die Psychologie wenden. In der Psycholo- in seinem bahnbrechenden Aufsatz von 1974. Seine
7. Glück und Wirtschaft. Die Rückkehr des Sozialen 407

Erklärung stützt sich auf Duesenberrys Hypothese mühle, in der man sich bewegt, immer dieselbe Ge-
des ›Relativen Einkommens‹. Nach Duesenberry schwindigkeit besitzt oder sogar schneller läuft als
vergleichen wir uns ständig mit irgendeiner Gruppe man selbst. Zu den Schlüsselbegriffen der Erklärun-
von Menschen, und was andere kaufen, beeinflusst gen nach dem Modell der Tretmühle gehören das
unsere eigenen Kaufentscheidungen (1949, 32). Das Konzept der »hedonistischen Anpassung« und das
Szenario lautet: »Mit den Jones’ mithalten«. Die Kon- Konzept des »Set-Point« (vgl. die kritische Darstel-
sumfunktion wird nach der Hypothese konstruiert, lung in Easterlin 2005a).
dass unsere Konsumentscheidungen nicht von unse- Nach der Theorie des Set-Point gibt es ein Glücks-
rem absoluten, sondern von unserem relativen Ein- niveau, das praktisch während des gesamten Lebens
kommen abhängen, d. h. der Differenz zwischen un- eines Menschen konstant bleibt, da Variablen wie
serem eigenen Einkommensniveau und dem Ein- Persönlichkeit und Temperament eine wichtige Rolle
kommensniveau anderer Rechnung tragen. Der bei der Festlegung des individuellen Glücksniveaus
Nutzen, den Individuen aus einem bestimmten Kon- zu spielen scheinen. Merkmale dieser Art sind im
sumniveau ziehen, hängt von ihrem Budget im Ver- Kern angeboren. Anders gesagt sind wir langfristig
gleich zum Budget anderer ab (s. Kap. VIII.9). auf hedonistische Neutralität festgelegt und unsere
Hier soll nicht auf die einschlägigen klassischen Bemühungen, durch Verbesserung unserer Lebens-
Autoren zurückgegangen werden, die die Bedeutung umstände glücklicher zu werden, sind bloß kurzfris-
der sozialen Dimensionen des Konsums betonten. tige Lösungen. Daher tragen Lebensumstände wie
Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls führte Veblen Gesundheit und Einkommen oftmals nur einen ge-
das Konzept des »auffälligen Konsums« (conspicuous ringen Prozentsatz zu den Veränderungen unseres
consumption) oder der »auffälligen Güter« ein, wo- subjektiven Wohlbefindens bei. Menschen reagieren
mit er Güter meinte, die gekauft werden, um andere zunächst auf (positive oder negative) Ereignisse,
mit dem eigenen Wohlstand zu beeindrucken kehren dann aber wieder zu bestimmten Grund-
(Veblen 1899/2007). Schließlich erfolgen die wich- niveaus des Wohlbefindens zurück, die durch Per-
tigsten Konsumhandlungen in der Regel öffentlich sönlichkeitsfaktoren determiniert sind (Argyle 1987/
unter dem Blick anderer. Später befasste sich Tibor 2001; Lucas u. a. 2002). Empirische Untersuchungen
Scitovsky (1976) mit der Beziehung zwischen Kon- (Lykken/Tellegen 1996) kommen beispielsweise zu
sumverhalten und Status, und Fred Hirsch (1977) dem Schluss, dass über 80 Prozent der Varianz lang-
prägte den Begriff des »Positionsgutes« (positional fristig stabiler Niveaus des subjektiven Wohlbefin-
good). Die heutige Theorie der gesellschaftlichen dens auf angeborene Temperamentsfaktoren zu-
Stellung (positional theory) konzentriert sich auf das rückzuführen sind. Auf dieser Basis haben Forscher
Konzept der Externalität: Auffällige Güter weisen dann behauptet, dass Menschen angeborene ›Set-
auch Eigenschaften ›demeritorischer‹ Güter auf (da Points‹ oder ›Sollwerte‹ des subjektiven Wohlbefin-
es sich um private Güter handelt, die negative ex- dens besitzen (zur Kritik dieser Theorie vgl. Lucas
terne Effekte erzeugen), woraus sich (wegen Über- u. a. 2004). Die verschiedenen Erschütterungen, die
konsum) die typische Folge einer Pareto-Ineffizienz wir im Laufe unseres Lebens erleiden, berühren
ergibt. Anders ausgedrückt haben wir es mit einem demnach unser Glücksbefinden nur vorübergehend.
Problem der Selbsttäuschung zu tun: Aus Selbsttäu- Unvermeidlich kehren wir nach kurzer Zeit zu unse-
schung wird eine übermäßige Menge auffälliger Gü- rem Set-Point zurück, d. h. es findet eine hedonisti-
ter konsumiert, wodurch die für den »unauffälligen«, sche Anpassung statt.
freilich lebenswichtigen Konsum aufgewendete Zeit Die Theorie des Set-Point ist in der Wirtschafts-
ineffizient (zu kurz) wird (Easterlin 2005a). wissenschaft recht populär. Die Vertreter dieses Er-
Neben Erklärungen auf der Grundlage der relati- klärungsmusters gehen davon aus, dass Glück im
ven Konsumhypothese (Frank 1997; 1999; Ng 1997; Wesentlichen angeboren ist und von unveränderli-
Höllander 2001; Layard 2005) gibt es noch andere chen individuellen Gegebenheiten wie Charakter,
Erklärungen, die auf dem Konzept der ›Tretmühle‹ Genen oder der ererbten Fähigkeit abhängt, mit den
basieren, das aus der psychologischen Glücksfor- Härten des Daseins zu leben und zurechtzukommen.
schung stammt. Die von Brickman und Campbell Anders gesagt ist von einem ganz bestimmten
(1971) ins Spiel gebrachte Metapher der Tretmühle Glücksniveau als Gravitationszentrum auszugehen,
besagt, dass man unaufhörlich in Bewegung ist und um das herum sich die verschiedenen Lebenserfah-
dennoch nicht vom Fleck kommt, weil die Tret- rungen einpendeln. Dieser Ansatz ist nicht allzu weit
408 VIII. Aktuelle Debatten

von der konservativen These von Herrnstein und nistischen/utilitaristischen Verständnis des Glücks:
Murray (1994) entfernt, die in ihrem Buch The Bell Glück gilt als Effekt des Arbeitseinkommens, das
Curve den Nutzen von Sozialprogrammen mit der zum Erwerb von Gütern eingesetzt werden soll. Aus
Behauptung bestreiten, angeborene Intelligenz lasse aristotelisch-eudämonistischer Sicht greift dieses
sich durch Bildung nicht dauerhaft verändern. Konzept zu kurz und ist einseitig. Das Geldverdie-
Kahneman und seine Mitarbeiter schlugen vor, nen und der Erwerb von Gütern im Kontext einer
eine andere Art von Tretmühle in Betracht zu ziehen, Marktwirtschaft ist bestenfalls ein Aspekt dessen,
nämlich die der Zufriedenheit. Während die ›hedo- was mit Eudämonie gemeint ist, nämlich ein sinn-
nistische Tretmühle‹ auf die Anpassung verweist, volles Leben oder Wohlergehen im Sinne der Ver-
konzentriert sich die Theorie der »Zufriedenheits- wirklichung menschlicher Potentiale durch intrin-
tretmühle« auf Ansprüche und Erwartungen, die sisch motiviertes Tun im Kontext zwischenmensch-
»die Grenze zwischen zufriedenstellenden und nicht licher Beziehungen.
zufriedenstellenden Resultaten ziehen« (Kahneman Der Gedanke, dass Glück im Kern relational ist,
u. a. 1999, 14). Frey und Stutzer treffen eine ähnliche verweist auf eine andere Erklärung des Easterlin-Pa-
Unterscheidung zwischen den beiden Tretmühlenef- radoxes: Höheres Einkommen trägt nicht zu einem
fekten: »Dieser Prozess oder Mechanismus, der die glücklicheren Leben bei, wenn höheres Einkommen
hedonistischen Effekte eines konstanten oder wie- mit der Tendenz zum Überkonsum von Gütern ein-
derholten Stimulus schmälert, wird als Adaption be- hergeht, die im Kontext des Marktes hergestellt und
zeichnet. […] Nach der Theorie der wachsenden An- verkauft werden, während zugleich ein Unterkon-
sprüche oder Aspiration-Level-Theory hängt das in- sum relationaler Güter eintritt. So verweisen etwa
dividuelle Wohlbefinden von der Kluft zwischen Lane (2000) und Putnam (2000) darauf, dass die
Anspruch und Erfüllung ab« (Frey/Stutzer 2005, für zwischenmenschliche Beziehungen aufgewandte
125). Zeit abnimmt und durch die Erweiterung der Märkte
Mit steigendem Einkommen werden kontinuierli- und insbesondere durch die Marktwirtschaft selbst
che und immer intensivere Befriedigungen erstrebt, beschränkt wird. Letztere steigert die Arbeitsplatz-
um ein bestimmtes Zufriedenheitsniveau aufrecht und Wohnortmobilität, beschneidet jedoch den
zu erhalten. Die Zufriedenheitstretmühle oder Satis- Raum für zwischenmenschliche Beziehungen, in-
faction Treadmill bewirkt, dass das subjektive Glücks- dem sie etwa die Betreuung von Kindern und Älte-
befinden (Selbstbewertung) konstant bleibt, auch ren von der Familie zum Markt verlagert (vgl. Gui/
wenn sich die objektiven Glücksparameter verbes- Sugden 2005). Antoci u. a. (2008) wollen den Unter-
sern. So erfährt Mr. Brown eine Steigerung des ob- konsum an relationalen Gütern dadurch erklären,
jektiven Wohlergehens, weil er sich ein neues Auto dass sie diese als öffentliche Güter begreifen. Dem-
kauft, aber zugleich hat sein gestiegenes Einkommen nach konsumieren die Menschen in den entwickel-
auch seine Ansprüche hinsichtlich des für ihn idea- ten Ländern ganz bewusst zu wenige relationale Gü-
len Autos steigen lassen, womit sein subjektives Zu- ter und sorgen damit (wie im Gefangenendilemma)
friedenheitsniveau unverändert bleibt. Das gilt auch, für ein suboptimales Gleichgewicht.
wenn er sich ganz objektiv mit seinem neuen Auto Scitovsky hat dieses Problem schon in seinem
wohler fühlt. Frank (2005) und Layard (2005) plä- Buch The Joyless Economy (1976) erörtert. Er argu-
dieren politisch für eine Verrechnung der Verzerrun- mentiert, dass Menschen in Überflussgesellschaften
gen, die aufgrund solcher Selbsttäuschungen entste- zu viele Komfortgüter und zu wenige stimulierende
hen; demnach könnten beispielsweise Güter, auf die Güter wie relationale Güter erwerben, da der relative
sich unauffälliger, d. h. nicht der sozialen Positionie- Preis der Komfortgüter niedriger ist und durch Mas-
rung dienender Konsum richtet, niedriger besteuert senproduktion und technologisch bedingte Produk-
werden als solche, die Gegenstand auffälligen Kon- tivitätssteigerung, die es für stimulierende Güter
sums sind. nicht gibt, sogar weiter sinkt. Inzwischen verweisen
unter anderem Bruni und Stanca (2008) auf zusätzli-
Erklärungen aus eudämonistischer Sicht che Faktoren für die Verdrängung relationaler Güter
durch Komfortgüter, etwa die Präsentation von
des Glücks
Komfortgütern als Ersatz für relationale Güter, z. B.
Erklärungen nach den Modellen des relativen Kon- in Form von Fernsehangeboten oder sozialen Netz-
sums oder der Tretmühle basieren auf einem hedo- werken.
7. Glück und Wirtschaft. Die Rückkehr des Sozialen 409

In den Untersuchungen zum Glücksbefinden ist findet sich diese Grundeinstellung in der Wirt-
die Spannung zwischen dem ›hedonistischen‹ und schaftswissenschaft, sofern sie sich auf die Untersu-
dem ›eudämonistischen‹ Ansatz zentral. Der eudä- chung von Natur und Ursachen des Wohlstands der
monistische Ansatz von der Antike bis zur Gegen- Nationen konzentriert, weil sie davon ausgeht, dass
wart (etwa bei Martha C. Nussbaum) geht davon aus, Wohlstand zur Verbesserung des gesellschaftlich-so-
dass Wohlbefinden mehr ist als nur hedonistisches zialen Wohlbefindens beiträgt. Die Belege, die das
oder subjektives Glücklichsein. In den beiden Tradi- Glücksparadox gegen diese Annahme liefert, erfor-
tionslinien werden unterschiedliche Antworten in dern dementsprechend eine Neubewertung ihrer
Bezug auf die Frage gegeben, welche Auswirkungen ethischen Grundlagen (s. Kap. II.3). Das Glückspara-
Entwicklungsprozesse und gesellschaftlich-soziale doxon erfordert darüber hinaus vielleicht auch, dass
Prozesse auf das Wohlbefinden haben, und es wer- die gegenwärtige Wirtschaftswissenschaft ihre mo-
den implizit oder explizit verschiedene Lebensan- ralische Grundlage neu definiert, wenn sie auch wei-
sätze vertreten. Die Psychologen Ryff und Singer terhin zum Wohlbefinden der Menschen (und nicht
(1998; 2000) knüpfen gleichfalls an Aristoteles an nur zum ›Wohlstand der Nationen‹) einen Beitrag
und beschreiben das Wohlbefinden nicht als Luster- leisten will.
werb, sondern als »Streben nach Vollkommenheit, Die Neuausrichtung der ethischen Fundamente
das für die Verwirklichung der wahren eigenen Po- der Wirtschaftswissenschaft kann nicht ohne Aus-
tentiale steht« (Ryff 1995, 100). wirkungen auch auf die anderen Elemente des wirt-
In der Wirtschaftswissenschaft gibt es ein ganz schaftswissenschaftlichen Bezugssystems insgesamt
ähnliches Spannungsverhältnis zwischen objektiven bleiben. Das Glücksparadoxon berührt die Grund-
und subjektiven Erklärungsmustern für das Glück annahme der modernen Wirtschaftswissenschaft,
bzw. Wohlbefinden (vgl. Bruni u. a. 2008). Auf der ei- wonach die Güter, die zur Steigerung sowohl des in-
nen Seite befinden sich Sen (1999), Nussbaum (1986; dividuellen wie des gesellschaftlichen Wohlergehens
2005) und der an Ressourcen/Fähigkeiten orientierte beitragen, im Kern Waren sind. Diese Grundan-
Ansatz de facto in großer Nähe zur aristotelischen nahme mag für Gesellschaften der ersten Industriel-
Eudaimonia-Lehre (obgleich Sen der Literatur zum len Revolution und für fordistische Gesellschaften
Glück generell skeptisch gegenübersteht), ebenso ist ihre Berechtigung gehabt haben, da die eigentlich
der Ansatz der meisten Ökonomen, die sich mit ›re- knappe Ressource in diesen Gesellschaften tatsäch-
lationalen Gütern‹ befassen, aristotelisch. Anderer- lich materielle Güter, physisches Kapital und Finanz-
seits ist die Herangehensweise der meisten heutigen kapital waren. In den heutigen Gesellschaften sind
Ökonomen, die sich mit dem Glück befassen, eher die zunehmend knapper werdenden Güter jedoch,
hedonistisch und an Bentham orientiert; Glück wird was nicht zuletzt durch das Glücksparadoxon deut-
hier eher als Lusterwerb verstanden. lich wird, ›relationale Güter‹, nicht instrumentelle
Beziehungen (s. Kap. II.8–9). Die Neukonzeption des
Schlussbemerkungen Glücks nach dem eudämonistischen Ansatz, d. h. un-
ter zentraler Berücksichtigung relationaler Güter
Das Glücksparadoxon oder ›Easterlin-Paradox‹ stellt und intrinsischer Motivationen, könnte eine neue
die ethische Begründung der Wirtschaftswissen- Phase des Dialogs zwischen Wirtschaftswissenschaft
schaft infrage. Die Wirtschaftswissenschaft erwarb und Ethik einleiten.
sich als Politische Ökonomie und damit als Bestand-
teil der Moralphilosophie eine autonome ethische Literatur
Stellung gegenüber der Moraltheologie des 18. Jahr- Ahuvia, Aron/Friedman, Douglas: Income, Consump-
hunderts, als die Ansicht Common Sense wurde, eine tion, and Subjective Well-being: Toward a Composite
Steigerung des ›Wohlstands der Nationen‹ sei gleich- Macromarketing Model. In: Journal of Macromarke-
bedeutend mit einem Zuwachs des ›Wohlergehens ting 18 (1998), 153–168.
der Nationen‹, ja mit der ›öffentlichen Glückselig- Antoci, Angelo/Sacco, Pier/Zarri, Luca: Social Preferen-
keit‹. Hierin bestand der zugrundeliegende ethische ces and the Private Provision of Public Goods: A
Anspruch der Politischen Ökonomie im klassischen ›Double Critical Mass‹ Model. In: Public Choice
Zeitalter von Smith bis Mill, der sich in gewisser 135.3/4 (2008), 257–276.
Weise bis zu John Maynard Keynes, Joseph Schum- Argyle, Michael: The Psychology of Happiness [1987].
peter und John Hicks durchhielt. Auch heute noch New York 2001.
410 VIII. Aktuelle Debatten

Brickman, Philip/Campbell, Donald T.: Hedonic Relati- Frey, Bruno S./Stutzer, Alois: Testing Theories of Happi-
vism and Planning the Good Society. In: M. H. Apley ness. In: Bruni/Porta 2005, 116–146.
(Hg.): Adaptation-Level Theory: A Symposium. New Gui, Benedetto/Sugden, Robert: Economics and Social
York 1971, 287–302. Interactions. Cambridge, UK 2005.
Bruni, Luigino: Civil Happiness: Economics and Human Hagerty, Michael R./Veenhoven, Ruut: Wealth and Hap-
Flourishing in Historical Perspective. London 2006. piness Revisited: Growing National Income does go
– /Comim, Flavio/Pugno, Maurizio (Hg.): Capability with Greater Happiness. In: Social Indicators Re-
and Happiness. Oxford 2008. search 64 (2003), 1–27.
– /Porta, Pier Luigi (Hg.): Economics and Happiness: Herrnstein, Richard J./Murray, Charles: The Bell Curve:
Framings of Analysis. Oxford 2005. Intelligence and Class Structure in American Life.
– /Stanca, Luca: Watching alone: Relational Goods, New York 1994.
Happiness and Television. In: Journal of Economic Hirsch, Fred: Social Limits to Growth. London 1977.
Behavior and Organization 65 (2008), 506–528. Höllander, Heinz: On the Validity of Utility Statements:
Cantril, Hadley: The Pattern of Human Concerns. New Standard Theory versus Duesenberry’s. In: Journal of
Brunswick, NJ 1965. Economic Behaviour and Organization 45 (2001),
Carlyle, Thomas: Letter-Day Pamphlets [1850]. London 227–249.
1898. Inglehart, Ronald: The Diminishing Utility of Econo-
Clark, Andrew E./Paul Frijters/Michael A. Shields: Rela- mic Growth. In: Critical Review 10 (1996), 508–531.
tive Income, Happiness, and Utility: An Explanation Kahneman, Daniel: Objective Happiness. In: D.
for the Easterlin Paradox and Other Puzzles. In: Jour- Kahneman/E. Diener/N. Schwarz (Hg.): Well-Being:
nal of Economic Literature 46 (2008), 95–144. Foundations of Hedonic Psychology. New York 1999,
Deci, Edward L./Ryan, Richard M.: On Happiness and 3–25.
Human Potentials: A Review of Research on Hedonic – /Diener, Ed/Schwarz, Norbert (Hg.): Well-Being:
and Eudaimonic Wellbeing. In: Annual Review of Foundations of Hedonic Psychology. New York 1999.
Psychology 52 (2001), 141–146. – /Krueger, Allen B./Schkade, David A./Schwarz, Nor-
Diener, Ed/Scollon, Christie N./Lucas, Richard E.: The bert/Stone, Arthur A.: A Survey Method for Charac-
Evolving Concept of Subjective Well-being: The Mul- terizing Daily Life Experience: The Day Reconstruc-
tifaceted Nature of Happiness. In: Advances in Cell tion Method (DRM). In: Science 306 (2004), 1776–
Aging and Gerontology 15 (2004), 187–219. 1780.
Dixon, Huw D.: Controversy: Economic and Happiness. – /Wakker, Peter P./Sarin, Rakesh: Back to Bentham?
Editorial Note. In: Economic Journal 107 (1997), Explorations of Experienced Utility. In: Quarterly
1812–1814. Journal of Economics 112 (1997), 375–405.
Duesenberry, James: Income, Saving and the Theory of Lane, Robert E.: The Loss of Happiness in the Market
Consumer Behaviour. Cambridge, MA 1949. Democracies. New Haven 2000.
Easterlin, Richard: Does Economic Growth Improve the Layard, Richard: Rethinking Public Economics: The
Human Lot? Some Empirical Evidence. In: Paul A. Implications of Rivalry and Habit. In: Bruni/Porta
David/Melvin W. Reder (Hg.): Nation and Households 2005, 147–169.
in Economic Growth: Essays in Honor of Moses Lucas, Richard E./Clark, Andrew E./Georgellis, Yannis/
Abromowitz. New York/London 1974, 89–125. Diener, Ed: Unemployment Alters the Set-point for
–: Income and Happiness: Towards a Unified Theory. Life Satisfaction. In: Psychological Science 15/1
In: Economic Journal 111 (2001), 465–484. (2004), 8–13.
–: Towards a Better Theory of Happiness. In: Bruni/ Lykken, David/Tellegen, Auke: Happiness is a Stochastic
Porta 2005, 29–64 [2005a]. Phenomenon. In: Psychological Science 7 (1996),
–: Feeding the Illusion of Growth and Happiness: A Re- 186–189.
ply to Hagerty and Veenhoven. In: Social Indicators Ng, Yew Kwang: A Case for Happiness, Cardinalism, and
Research 74.3 Dezember (2005), 429–443 [2005b]. Interpersonal Comparability. In: Economic Journal
Frank, Robert H.: The Frame of Reference as a Public 107 (1997), 1848–1858.
Good. In: Economic Journal 107 (1997), 1832–1847. Nickerson, Carol/Schwarz, Norbert/Diener, Ed/Kahne-
–: Luxury Fever. New York 1999. man, Daniel: Zeroing the Dark Side of the American
–: Does Absolute Income Matter? In: Bruni/Porta 2005, Dream: A Closer Look at the Negative Consequences
65–90. of the Goal for Financial Success. In: Psychological
Frey, Bruno S./Stutzer, Alois: Happiness in Economics. Science 14 (2003), 531–536.
Princeton 2002. Nussbaum, Martha C.: The Fragility of Goodness: Luck
8. Glück in der Organisationstheorie. Eine unauflösbare Ambivalenz? 411

and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy [1986].


Cambridge 22001.
8. Glück in der Organi-
–: Mill Between Aristotle and Bentham. In: Bruni/Porta sationstheorie. Eine
2005, 170–183.
Oswald, Andrew J.: Happiness and Economic Perfor-
unauflösbare Ambivalenz?
mance. In: Economic Journal 107 (1997), 1815–1831.
Putnam, Robert: Bowling Alone. New York 2000.
Einleitung
–: Psychological Well-being in Adult Life. In: Current
Directions in Psychological Science 4 (1995), 99–104.
Wenn wir das Verhältnis zwischen bezahlter Arbeit
– /Singer, Burton: The Contours of Positive Human
und Glück pauschal in einem Satz zusammenfassen
Health. In: Psychological Inquires 9 (1998), 1–28.
müssten, würde dieser lauten: ›Es geht nicht ohne
– /Singer, Burton: Interpersonal Flourishing: A Positive
Health Agenda for the New Millennium. In: Persona-
und nicht miteinander‹. Wiederholt wurde gezeigt,
lity and Social Psychology Review 4 (2000), 30–44. dass sich Arbeitslosigkeit negativ auf das Befinden
Ryff, Carol D.: Psychological Well-being in Adult Life. von Menschen auswirkt, andererseits ist einer be-
In: Current Directions in Psychological Science 4 zahlten Tätigkeit nachzugehen auch kein Garant für
(1995), 99–104. Glückseligkeit (s. Kap. II.2).
– /Singer, Burton: The Contours of Positive Human Bevor wir uns der Beziehung zwischen Glück und
Health. In: Psychological Inquiry 9/1 (1998), 1–28. Arbeit widmen, wollen wir unsere eigene Ausgangs-
– /Singer, Burton: Interpersonal Flourishing: a Positive lage reflektieren. Kann die Organisationstheorie als
Health Agenda for the New Millennium. In: Persona- interdisziplinäres Feld, welches das organisatorische
lity and Social Psychology Review 4 (2000), 30–44. Leben in all seinen Facetten erforscht, Licht auf diese
Scitovsky, Tibor: The Joyless Economy: An Inquiry into Problematik werfen? Zunächst einmal stellt der
Human Satisfaction and Consumer Dissatisfaction. glückliche Arbeiter keinen thematischen Schwer-
Oxford 1976. punkt der Organisationstheorie dar. Der Begriff
Sen, Amartya K.: Development as Freedom. New York ›Glück‹ hat z. B. keinen Eintrag im Themenindex
1999. und im Glossar aktueller Handbücher der Organisa-
Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine Un- tionstheorie wie der International Encyclopedia of
tersuchung der Institutionen [1899]. Frankfurt a. M. Organization Studies (Clegg/Bailey 2008) oder dem
2007. New Approaches in Management and Organization
Veenhoven, Ruut: Is Happiness Relative? In: Social Indi-
(Barry/Hansen 2008). Bedeutet dieser Umstand
cators Research 24 (1991), 1–34.
etwa, dass die meisten Wissenschaftler der Organisa-
–: Happiness in Hardship. In: Bruni/Porta 2005, 243–
tionstheorie es nicht für sinnvoll erachten, das Kon-
266.
Luigino Bruni
zept ›Glück‹ zu erforschen? Bei genauerer Analyse
(aus dem Englischen übersetzt von Reiner Ansén) können wir erkennen, dass es, selbst wenn Glück kei-
nes der Hauptthemen darstellt, dennoch ein lang an-
haltendes Interesse an den positiven und negativen
Auswirkungen von Emotionen im Arbeitsleben gibt.
Der Begriff ›Glück‹ taucht meist in Gestalt ande-
rer, verwandter Begriffe auf wie zum Beispiel ›Zu-
friedenheit‹, ›positiver und negativer Affekt‹, ›psy-
chische Gesundheit‹, ›Wohlbefinden‹ oder ›Flow‹.
Wird der Glücksbegriff verwendet, dann meist im
Zusammenhang mit Unzufriedenheit, was den Um-
stand widerspiegelt, dass ein Großteil der Glücksfor-
schung sich auf Aspekte des unglücklichen Arbeiters
konzentriert hat. Der Grund hierfür liegt darin, dass
sich die Auswirkungen negativer Gefühle unmittel-
bar in Symptomen wie Fehlzeiten, negativem Ar-
beitsverhalten oder Mitarbeiterfluktuation abbilden
lassen. Aktuell wird der Glücksbegriff auch als auto-
nomes Konzept verwendet, so zum Beispiel im Rah-
412 VIII. Aktuelle Debatten

men des Forschungsprogramms der ›Positiven Psy- liegen kam, wo das neu erworbene Geld ausgegeben
chologie‹ und von einigen Pionieren in der Arbeits- werden konnte (Braverman/Sweezy/Foster 1974).
psychologie. Dieses vermehrte Interesse kann Unsere zweite Momentaufnahme spielt sich eben-
teilweise durch den Bruch der Organisationstheorie falls in einer Fabrik ab, nämlich in den Hawthorne-
mit den traditionellen rationalistischen Theorien des Werken in der Nähe von Chicago, wo meist weibli-
organisationalen Verhaltens und einer verstärktem che Arbeiterinnen Telefonanlagen herstellen. Hier
Zuwendung hin zu Theorien, die von Emotion, Af- modifizierten Forscher der Harvard Business School
fekt und dem Körper handeln, erklärt werden. im Zeitraum von 1927 bis 1932 systematisch die Ar-
Im folgenden Text gehen wir auf sechs verschie- beitsbedingungen der Arbeiterinnen, um die ent-
dene Konzepte des Glücksbegriffs in der Organisati- scheidenden Wirkfaktoren der Produktivität zu
onstheorie ein, die zu insgesamt drei Paaren zusam- identifizieren. Zur Überraschung der Forscher nahm
mengefasst sind. Wir werden den Glücksbegriff in die Produktivität der Arbeiterinnen über den Verlauf
den Spannungsfeldern (1) zwischen Rationalität und der gesamten Studie hinweg stetig zu, unabhängig
Relationalität, (2) zwischen Zufriedenheit und Wohl- von den Modifikationen der Arbeitsbedingungen.
befinden und (3) zwischen emotionaler Arbeit und Nach Ende der Studie fiel die Produktivität jedoch
positivem menschlichem Funktionieren diskutieren. auf das Ausgangsniveau zurück. Diese Effektivitäts-
Um die sechs unterschiedlichen organisationstheo- steigerung erklärten die Wissenschaftler durch die
retischen Perspektiven anschaulich zu gestalten, ver- besondere Aufmerksamkeit, welche die Arbeiterin-
wenden wir bildhafte Momentaufnahmen. nen durch die Studie erhielten, sowie durch die Ent-
wicklung enger zwischenmenschlicher Beziehungen
Zwischen Rationalität und Relationalität innerhalb der Gruppen. Elton Mayo (1933) interpre-
tierte diese Ergebnisse im Zusammenhang mit der
Wir beginnen unsere kurze Reise in einer US-ameri- zwischenmenschlichen Gruppendynamik und be-
kanischen Fabrik in den 1920er Jahren, in der Arbei- tonte die motivationale Rolle, die informelle Be-
ter an einem Fließband Automobilteile zusammen- ziehungen bei der Arbeitsleistung einnehmen. Die
bauen. Jeder Arbeiter hat eine klar umschriebene, »Hawthorne-Studien« waren ein entscheidender
einfach auszuführende Aufgabe und muss sich dabei Meilenstein in Richtung Glücksforschung, da sie die
an die fest vorgegebenen Arbeitsabläufe halten. Die emotionalen und sozialen Bedürfnisse von Men-
Arbeiter werden von Managern, welche die Aufga- schen in den Mittelpunkt der Organisationsfor-
ben planen und koordinieren, überwacht. Diese Or- schung stellten.
ganisation stellt eine extreme Form der Arbeitstei-
lung zwischen Produktion und Management dar. Zwischen Zufriedenheit und Wohlbefinden
Der Ingenieur Frederic Taylor (1856–1915), nach
dessen einflussreichen Prinzip des scientific manage- Die Human Relations-Bewegung entwickelte die
ment (Taylor 1911) die Fabrik organisiert war, sah Ideen der »Hawthorne-Studien« weiter und adelte
Arbeitnehmer als quasi austauschbare Teile in der die informelle Kommunikation zum Schlüsselkrite-
betrieblichen Maschinerie. Einer rationalen Logik rium des betrieblichen Erfolges. Unsere dritte Mo-
folgend, bekamen die Arbeiter überdurchschnittlich mentaufnahme ist deshalb das Bild eines Großraum-
hohe Löhne, ihnen wurde dafür aber auch abver- büros einer Verwaltungsabteilung Mitte der 1960er
langt, sich während der Arbeitszeit einzig auf die Tä- Jahre, in dem die Angestellten eifrig Berichte verfas-
tigkeit zu konzentrieren, damit keine Störungen im sen, mit Kollegen plaudern und sich frei zwischen
fein abgestimmten Arbeitsverlauf auftreten. Taylor Arbeitsplatz und Kaffeemaschine bewegen können.
glaubte, dass die damit einhergehende Steigerung Das Großraumbüro erlaubt nicht nur eine größere
der Arbeitseffektivität zum Wohle aller und so letzt- Dichte an Arbeitsplätzen, sondern soll darüber hin-
lich dem Glück förderlich sei. Tatsächlich stellt für aus die Kommunikation zwischen den Arbeitenden
viele Arbeiter Taylors System eine Überwindung der fördern und sich so positiv auf die Arbeitsmotiva-
Willkür und einen Schritt in Richtung Gerechtigkeit tion und die organisationale Effektivität auswirken
dar. Die erbrachte Arbeitsleistung wurde als wichti- (Herzberg/Mausner/Snyderman 1959).
ger erachtet als der ethnische Hintergrund oder das Zusammenhänge wie dieser wurden intensiv im
soziale Netzwerk. Dennoch lässt sich hier feststellen, Rahmen der Forschung zur Arbeitszufriedenheit un-
dass die ›happy hour‹ auf die Zeit nach der Arbeit zu tersucht. Diese konzentriert sich auf die Evaluation
8. Glück in der Organisationstheorie. Eine unauflösbare Ambivalenz? 413

der äußeren Arbeitsbedingungen und stellt diese ins Mitarbeitenden zu maximieren. In jedem Fall hat
Verhältnis mit der Zufriedenheit der Mitarbeiten- der Begriff des Wohlbefindens zu einer fortlaufen-
den. Eine Reihe von psychologischen Messinstru- den Diskussion über das richtige Verhältnis zwi-
menten wurde hierzu entwickelt, beispielsweise der schen Arbeit und Freizeit im Sinne des work-life ba-
»Job Description Index« (Hanisch 1992), der die Zu- lance beigetragen (Cartwright/Cooper 2008). Mit
friedenheit misst, indem er nach der Tätigkeit, der Themen des psychischen Wohlbefindens auf der ei-
Qualität der Betreuung, der Bezahlung und den Be- nen Seite und der psychischen Belastung auf der an-
ziehungen zu den Mitarbeitenden fragt. Die zu- deren Seite beschäftigen sich auch die porträtierten
grunde liegende Hypothese, dass glückliche Arbeiter Forschungsgebiete unseres nächsten Abschnittes.
besser arbeiten, wird bis heute kontrovers diskutiert
(Zelenski/Murphy/Jenkins 2008). Zwischen Emotionsarbeit und Positiver
Nach Sichtung der Literatur zu dem Thema
Psychologie
kommt Warr (2007) zu dem Schluss, dass finanzielle
Entlohnung, physische Sicherheit, eine sozial aner- Stellen Sie sich das folgende Szenario vor: Sie sitzen
kannte Stellung, wertschätzende Betreuung, positive im engen Raum eines Flugzeugs und werden Zeuge,
Karriereaussichten und organisationale Gerechtig- wie eine Stewardess versucht, einen aufgebrachten
keit stets eine positive Auswirkung auf die Arbeits- Passagier zu beruhigen. Der Passagier wurde gerade
zufriedenheit haben. Während sich persönliche Kon- darüber informiert, dass sein Gepäck verlorengegan-
trolle, die Möglichkeit eigene Fähigkeiten zu erwer- gen ist. Er wird laut und beschimpft die Stewardess.
ben und einzusetzen, von außen herangetragene Diese bleibt ruhig, lächelt gewinnend und versichert
Ziele, Abwechslung, klare Grenzen und der Kontakt dem Passagier, dass sein Gepäck ersetzt werden
zu anderen nur bis zu einem bestimmten Maß posi- wird.
tiv auf die Zufriedenheit auswirken, verringert eine Die Soziologin Arlie Hochschild hat in ihrem weg-
weitere Verstärkung dieser Faktoren die Arbeitszu- weisenden Buch Das gekaufte Herz (1983) Situatio-
friedenheit sogar. nen wie diese zum Ausgangspunkt einer kritischen
In unserer vierten Momentaufnahme sehen wir Analyse gemacht und hebt hervor, dass in vielen
eine Gruppe von Managern, die an einem dreitägi- Dienstleistungsberufen die Darstellung sozial er-
gen Seminar im Rahmen einer betrieblichen Orga- wünschter Emotionen zum Teil der Arbeitsanforde-
nisationsentwicklung (OE) teilnehmen. Neben einer rungen geworden ist. Hochschild hat dieses Phäno-
Verbesserung der Kommunikation im Team soll die men »Emotionsarbeit« genannt, was deutlich wer-
Intervention bewirken, dass sich die Mitarbeitenden den lässt, dass Emotionen einen Tauschwert erhalten
in der Organisation wohl fühlen, ihre Lebensqualität und zum Gegenstand ökonomischer Interessen ge-
steigt und sie auf ihre Gesundheit achtgeben (Cum- worden sind. Dabei werden Emotionen entspre-
mings/Worley 2008; s. Kap. VIII.5). Das in diesem chend (organisationaler) Normen und Werte regu-
Bild vertretene Konzept des Wohlbefindens (s. Kap. liert. Die wirtschaftliche Logik, die hinter einer sol-
VIII.6) macht es dabei schwerer, die Grenzen zwi- chen Ökonomisierung der Gefühle steckt, lässt sich
schen dem Arbeits- und dem Privatleben aufrecht- damit erklären, dass Kunden durch positive Erfah-
zuerhalten. Die Gefühle und das Glück der Mitarbei- rungen an das Dienstleistungsprodukt gebunden
tenden werden dadurch zum zentralen Anliegen der werden sollen. Für die Arbeitenden ergeben sich
Organisationen. hierdurch zwei mögliche Symptome, die das emotio-
Tatsächlich sehen sich viele OE-Berater als Orga- nale Wohlbefinden herabsetzen. Einerseits eine Zer-
nisationstherapeuten, die mit Hilfe von Techniken setzung des authentischen Selbstgefühls (Selbstent-
aus den Verhaltenswissenschaften positive organisa- fremdung) und andererseits eine psychische Belas-
torische Veränderungen bewirken, indem sie zum tung, ausgelöst durch das Darstellen von Gefühlen,
Beispiel dysfunktionale Kommunikationsmuster welche die Person nicht wirklich spürt (emotionale
korrigieren oder das Zeitmanagement verbessern. Dissonanz). Ein solches Verständnis von Emotionen
Während Befürworter solcher Maßnahmen die geht davon aus, dass Emotionen sozial konstruiert
Vorteile sowohl für das individuelle Wohlbefinden werden und bricht mit essentialistischen Theorien,
als auch für die organisatorische Produktivität beto- die Emotionen als objektive, innerpsychische Varia-
nen, stellen Kritiker fest, dass Organisationen hierin blen beschreiben und messen. Diese Sichtweise wird
einen weiteren Weg entdeckt haben, die Leistung der der machtpolitischen Dimension der Emotionsar-
414 VIII. Aktuelle Debatten

beit gerecht, denn das Management von Gefühlen source beim Aufbau eines glücklichen (Arbeits-)Le-
hat längst einen zentralen Stellenwert bei der Unter- bens (Snyder/López 2002).
nehmensführung erlangt. Nun wird aber auch die Seligman (2002) hat drei Mechanismen vorge-
Mehrdeutigkeit der Idee des ›glücklichen Arbeiters‹ schlagen, mit denen sich ein glückliches Arbeitsle-
im Angesicht der potentiell toxischen Wirkung von ben und überhaupt ein glückliches Leben erreichen
Macht und Führung deutlich. lässt: durch Genuss, durch Engagement und durch
Die beschriebene Dynamik ist nicht auf den Sinnhaftigkeit. Archetypen dieser Lebensweisen
Dienstleistungssektor beschränkt und die kritische könnten die folgenden Beispiele sein: (a) ein hedo-
Organisationsforschung konnte aufzeigen, wie eine nistischer Rockstar, der versucht seine Lust zu maxi-
große Bandbreite von Organisationen durch Kon- mieren (›I can’t get no satisfaction‹), (b) ein enga-
trollmechanismen die Gefühle ihrer Mitarbeiter zu gierter Wissenschaftler, der bis tief in die Nacht ar-
beeinflussen und steuern versuchen (Alvesson/Will- beitet und alles um sich herum vergisst und (c) ein
mott 1992). Dabei sind Organisationen im Wesentli- sozialer Unternehmer, der eine tiefe Sinnhaftigkeit
chen daran interessiert, negative Emotionen zu un- in seinem Tun verspürt. Für ein glückliches Leben
terdrücken und positive Emotionen zu fördern. Die sollten alle drei Qualitäten vorhanden sein, jedoch
soziotechnischen Mechanismen derer sich die Orga- geht Seligman davon aus, dass deren Beitrag unter-
nisationen bedienen, sind häufig verhaltenswissen- schiedlich gewichtet ist. Menschen, die sinnstiften-
schaftlichen Lernmodellen entliehen, wie zum Bei- den Handlungen nachgehen, sind insgesamt am
spiel die Konditionierung durch Sanktionen oder glücklichsten, gefolgt von Menschen, die engagiert
positive Verstärkung. Dabei spielen positive Anreiz- einer Tätigkeit nachgehen. An letzter Stelle kommen
systeme wie die Einführung eines ›Mitarbeiters des Menschen, bei denen ein hedonistischer Lebensstil
Monats‹ oder positives Feedback vom Vorgesetzten in Vordergrund steht.
eine bedeutende Rolle. Andere, weniger offensichtli- Wenn wir diese Grundgedanken auf die Organisa-
che Mechanismen zur Steuerung der Emotionen tionsforschung übertragen, müssen wir feststellen,
sind Interventionen, die unter Coaching, Mentoring dass der hedonistische Aspekt von Arbeit im Gegen-
oder Teamtraining laufen. In diese Formen der Kon- satz zu den beiden anderen Formen am intensivsten
troll- und Machtausübung investieren Unternehmen erforscht wurde. Die Forschung von Csikszentmiha-
derzeit beträchtliche Ressourcen. lyi (2004) stellt dabei eher eine Ausnahmeerschei-
Von einer kritischen Perspektive betrachtet lässt nung dar. Csikszentmihalyi hat den populär gewor-
sich nachvollziehen, wie diese Interventionen orga- denen Begriff »Flow« geprägt und beschreibt damit
nisationale Normen und eine »leistungskonforme das positive Gefühl des vollständigen Aufgehens in
Affektregulation« (Neckel 2005) im persönlichen einer Tätigkeit. Die Wahrscheinlichkeit, ein Flow-Er-
Wertesystem des Arbeitenden zu verankern versu- lebnis bei der Arbeit zu erfahren, steht im engen Zu-
chen. Es scheint, dass Emotionen und damit ein inti- sammenhang mit organisatorischen Bedingungen,
mer Bereich der persönlichen Identität zum Gegen- wie etwa klaren Arbeitszielen, angemessenen Rück-
stand wirtschaftlicher Interessen geworden sind. meldungen, einer Balance zwischen Herausforde-
Während die oben genannte Position versucht, die rung und Fähigkeiten, einem flexiblen Zeitmanage-
kritischen Seiten einer zunehmenden Emotionalisie- ment und der Möglichkeit, Kontrolle über das Ar-
rung der Arbeit zu reflektieren, wendet sich die Posi- beitsfeld auszuüben. Schwerer zu erfassen ist
tive Psychologie (Seligman/Csikszentmihalyi 2000) sicherlich die Idee einer sinnstiftenden Arbeit, da
von den traditionellen pathologischen Modellen der hier die einzigartige Qualität individueller Bedeu-
Psychologie bewusst ab. Sie setzt sich dafür ein, dass tungskonstruktionen betont werden muss – was
bestehende Ressourcen und Stärken der Mitarbei- sinnvoll für den einen ist, mag irrelevant für den an-
tenden hervorgehoben werden. Diese neue For- deren sein.
schungsrichtung beschäftigt sich direkt mit Fragen Die Positive Psychologie, als überwiegend indivi-
des Glücks und versucht physiologische und homöo- dualistischer Ansatz, übersieht dabei, dass Bedeu-
statische Modelle, die häufig auf der Idee von positi- tungsstrukturen und Diskurse aus lokalen Kulturen
vem und negativem Affekt beruhen, zu überwinden. und Gemeinschaften heraus gestaltet werden. Inner-
In diesem Modell kann Arbeit als mögliche Quelle halb der Organisationsforschung könnte die Positive
für Zufriedenheit, Engagement und Sinnhaftigkeit Psychologie in Zukunft von der Anlehnung an nar-
verstanden werden und damit als potenzielle Res- rative Konzepte profitieren. Diese fragen danach, wie
8. Glück in der Organisationstheorie. Eine unauflösbare Ambivalenz? 415

Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen ge- relationalen Ansatz orientiert. Glück kann auf eine
meinsam Sinn durch kollektive Bedeutungskon- messbare Variable der Arbeitszufriedenheit redu-
struktionen herstellen (Bauer/McAdams/Pals 2008). ziert werden oder im umfassenderen Konzept des
Die Prämisse eines solches Ansatzes ist, dass Bedeu- Wohlbefindens aufgehen; Glück kann als harte Ar-
tungen im sozialen Kontext erzeugt werden. Das in- beit mit toxischen Folgen oder als positive Ressource
dividuelle Glück ist damit im Kontext von sozialen verstanden werden. Das Glück im organisationalen
Werten und Normen zu sehen und in organisatori- Kontext liegt im Spannungsverhältnis dieser Sicht-
sche, professionelle und lokale Kulturen eingebettet. weisen und führt zur ambivalenten Besetzung des
Anstelle einer Hinwendung zu einer Haltung des Begriffs.
›Positiven Denkens‹ könnte die bejahende Haltung Der Brennpunkt der aktuellen Diskussion zum
der Positiven Psychologie an Tiefe gewinnen, wenn Thema ›Glück und Arbeit‹ ist zwischen Positiver
sie ihre eigene Position reflektiert und zur Kenntnis Psychologie (und der positiven Organisationswis-
nimmt, wie Machtstrukturen das Arbeitsleben be- senschaft) und den kritischen Ansätzen der Organi-
einflussen. Möglicherweise könnte ein narratives sationstheorie anzusiedeln. Die Positive Psychologie
Verständnis von Glück sowohl die kritischen wie die erforscht, wie spezifische Organisationsstrukturen
positiven Aspekte in der organisationstheoretischen und Arbeitstätigkeiten positive subjektive Erfahrung
Forschung miteinander vereinbaren. fördern können. Kritische Ansätze beleuchten hin-
gegen, in heterogener Weise, die politischen und ne-
Zusammenfassung und Ausblick gativen Effekte der Arbeit. Eine kritische Perspektive
betont auch die zunehmende Kommerzialisierung
Abschließend möchten wir einige allgemeine Ent- der Gefühle und privater Lebenswelten. Die Symp-
wicklungen beschreiben. Während vor hundert Jah- tome einer solchen Entwicklung sind Selbstentfrem-
ren rationale Modelle das Verständnis der Organisa- dung durch die künstliche Inszenierung von Glück
tionstheorie dominiert haben, greift man heute zu- und die Zunahme innerer Zwänge durch die gesell-
nehmend auf relationale und emotionale Modelle schaftliche Erwartung, dass Gefühle normkonform
zurück, um die Komplexität organisationalen Han- und nach ökonomischen Zielen gestaltet werden
delns erklären und steuern zu können. Die aktuelle müssen (Henning 2008).
Zunahme des Interesses könnte teilweise durch den Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie einen
Wechsel von einer Produktions- zur Dienstleistungs- Glücksbegriff überwunden haben, der Glück als re-
gesellschaft erklärt werden, denn Dienstleistungsor- duktionistische Variable versteht, die zum Zwecke
ganisationen versuchen, ihre Kunden über freundli- der Leistungssteigerung manipuliert werden soll.
che Mitarbeitende langfristig zu binden. In jedem Letztlich könnte der Dialog zwischen Positiver Psy-
Fall sollte die Wandlung der Theorien im engen Zu- chologie und den kritischen Ansätzen dazu beitra-
sammenhang mit der Veränderung der Arbeitswelt gen, dass die mit dem Themenkomplex ›Arbeit und
gesehen werden, die im Zeichen einer Beschleuni- Glück‹ verbundene Ambivalenz deutlicher heraus-
gung, Technisierung und Globalisierung steht. gearbeitet werden kann. Eine solche Ambivalenz
Des Weiteren können wir feststellen, dass die zahl- muss sich nicht zwangsläufig auflösen lassen. Das
reichen Forschungsbemühungen in der Organisati- folgende Zitat mag dies widerspiegeln: »Ich liebe die
onsforschung weitgehend fragmentiert sind, was sich Arbeit nicht – niemand mag sie –, aber ich liebe das,
in den wenigen Versuchen widerspiegelt, die For- was in der Arbeit steckt – die Möglichkeit, sich selbst
schung unter dem Glücksbegriff zusammenzufas- zu finden« (Conrad 1902/2001, 54).
sen. Auch haben sich die vorgestellten Glücksmo-
delle gegenseitig nie vollständig verdrängt, sondern Literatur
sie existieren nebeneinander, sind ineinander aufge- Alvesson, Mats/Willmott, Hugh: Critical Management
gangen und miteinander verflochten. Den beschrie- Studies. Thousand Oaks, CA 1992.
benen Modellen liegen jedoch auch unterschiedliche Barry, Daved/Hansen, Hans: The SAGE Handbook of
ontologische Paradigmen zugrunde, wodurch unter- New Approaches in Management and Organization.
schiedliche Perspektiven auf den Themenkomplex Thousand Oaks, CA 2008.
›Glück und Arbeit‹ erzeugt werden. Die Bedeutung, Bauer, Jack/McAdams, Dan/Pals, Jennifer: Narrative
die man Glück in der Arbeitswelt zuschreibt, ist da- Identity and Eudaimonic Well-being. In: Journal of
von abhängig, ob man sich an einem rationalen oder Happiness Studies 9/1 (2008), 81–104.
416 VIII. Aktuelle Debatten

Braverman, Harry/Sweezy, Paul/Foster, John: Labor and


Monopoly Capital: The Degradation of Work in the
9. Glück in der Soziologie
Twentieth Century. New York 1974. des Konsums. Formen
Cartwright, Susan/Cooper, Carr: Oxford Handbook of
Organizational Well-being. Oxford 2008.
des Hedonismus
Clegg, Stewart/Bailey, James: International Encyclope-
dia of Organization Studies. Thousand Oaks, CA Die schichtenübergreifende Zunahme von Konsum-
2008. chancen und Freizeit ist seit Mitte des 20. Jahrhun-
Conrad, Joseph: Heart Of Darkness [1902]. Mineola,
derts eines der auffälligsten sozialpolitischen und
NY 2001.
kulturellen Phänomene in den westlichen Industrie-
Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow im Beruf [2003]. Stutt-
ländern. Die psychischen und gesellschaftlichen
gart 2004.
Cummings, Thomas/Worley, Christopher: Organiza-
Konsequenzen dieses Vorgangs werden in Sozialphi-
tion Development and Change. Mason 2008. losophie und Sozialwissenschaften in unterschiedli-
Hanisch, Kathy: The Job Descriptive Index Revisited: cher Weise mit dem Glücksbegriff in Verbindung ge-
Questions About the Question Mark. In: Journal of bracht. Die Antwort auf die häufig gestellte Frage, ob
Applied Psychology 77/3 (1992), 377–382. die Vergrößerung der Konsumchancen die Men-
Henning, Christoph: Vom Systemvertrauen zur Selbst- schen – und/oder die Gesellschaft – denn glückli-
verantwortung: Der Wandel kapitalistischer Gefühls- cher oder unglücklicher mache, hängt wesentlich da-
kultur und seine seelischen Kosten. In: Ludger Heid- von ab, ob unter ›Glück‹ ein gutes, erfülltes Leben,
brink/Alfred Hirsch (Hg.): Verantwortung als markt- ein glückliches Geschick oder die Verfügung über
wirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral Güter und Genüsse verstanden wird und ob dabei
und Ökonomie. Frankfurt a. M. 2008, 373–394. von einem objektiven oder subjektiven Glücksbe-
Herzberg, Frederick/Mausner, Bernard/Snyderman, griff ausgegangen wird – allein deshalb ist von die-
Barbara: The Motivation to Work. New York 1959. sem Überblick kaum ein eindeutiges Ergebnis zu er-
Hochschild, Arlie: The Managed Heart: Commerciali- warten. Inwiefern diese schon seit der Antike unter-
zation of Human Feeling [1983]. Berkeley/London scheidbaren Glücksvorstellungen (vgl. Ritter 1974)
2
2003. in die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Kon-
Mayo, Elton: The Human Problems of an Industrial Ci- sum eingehen, wird im ersten Teil des Beitrags skiz-
vilization. New York 1933. ziert. Hervorzuheben ist dabei, dass ›Glück‹ hier nur
Neckel, Sighard: Emotion by design. Das Selbstmanage-
selten explizit als tragendes Konzept eingeführt wird;
ment der Gefühle als kulturelles Programm. In: Berli-
gleichwohl lassen sich in den verschiedenen Ansät-
ner Journal für Soziologie 15/3 (2005), 419–430.
zen durchaus implizite Glücksvorstellungen feststel-
Seligman, Martin: Authentic Happiness: Using the New
Positive Psychology to Realize Your Potential for Las-
len. Explizit und prominent ist der Glücksbegriff
ting Fulfillment. New York 2002. hingegen bei solchen soziologischen Konzepten des
– /Csikszentmihalyi, Mihaly: Positive Psychology. An Konsums, welche einen Zusammenhang zwischen
Introduction. In: American Psychologist 55/1 (2000), der Zunahme von Konsumchancen und der Verbrei-
5–14. tung hedonistischer, also genussorientierter Haltun-
Snyder, Charles/López, Shane: Handbook of Positive gen herstellen; ihre Einordnung und Bewertung un-
Psychology. Oxford 2002. terscheidet sich dabei stark. Im zweiten Abschnitt
Taylor, Frederick: The Principles of Scientific Manage- werden einige auch in der Soziologie wirksame, äl-
ment. New York/London 1911. tere Motive aufgreifende Vorbehalte gegenüber dem
Warr, Peter: Work, Happiness, and Unhappiness. Mah- hedonistischen Konsum dargestellt. Der dritte Ab-
wah, NJ 2007. schnitt geht dann auf Arbeiten ein, die sich vor allem
Zelenski, John/Murphy, Steven/Jenkins, David: The für den Formenwandel des Hedonismus unter den
Happy-Productive Worker Thesis Revisited. In: Jour- Bedingungen des modernen Konsums interessieren.
nal of Happiness Studies 9/4 (2008), 521–537.
Chris Steyaert und Florian Schulz Explizite und implizite Glücksvorstellungen
in der Soziologie des Konsums
Versteht man unter ›Glück‹ einen qualitativ be-
stimmten, verallgemeinerbaren und deshalb objekti-
9. Glück in der Soziologie des Konsums. Formen des Hedonismus 417

ven – also normativen – Begriff vom guten, erfüllten standard, also den Konsumchancen wächst (Lane
Leben, so ist es zweifelhaft, ob die subjektiven 2000; s. Kap. VIII.7).
Glücksempfindungen und Wünsche von Konsumen- Die Soziologie betrachtet den Bereich des Kon-
ten ein Maß für ein derartiges ›wahres Glück‹ abge- sums häufig unter dem Aspekt der sozialen Un-
ben können. Kritiker des Konsums wie die Kritische gleichheit, wobei ›Glück‹ nicht den Rang eines tra-
Theorie (s. Kap. VI.7) sehen im Konsumglück bloß genden Konzepts einnimmt; es lassen sich allerdings
eine »kompensatorische« Illusion, welche davon ab- einige implizite Annahmen der Ungleichheitsfor-
lenke, dass ein erfülltes Leben unter der Herrschaft schung auf die verschiedenen Glücksbegriffe bezie-
des Kapitalismus unmöglich sei. Die Glücksgefühle, hen. Deutlich ist, dass für sie die Idee des guten, er-
die Konsumenten vom Konsum erhoffen und auch füllten Lebens wenig Bedeutung hat und stattdessen
dabei erleben, so meint Herbert Marcuse, seien des- die sozial ungleich verteilte Verfügung über Güter
halb das eigentliche Gegenteil von Glück, nämlich und Genüsse oder – im Sinne des glücklichen Ge-
eine »Euphorie im Unglück«, welche die Einsicht in schicks – ungleiche Zugangschancen zu sozialen Po-
die »Krankheit des Ganzen« verstelle (Marcuse sitionen in den Mittelpunkt treten. Die soziologische
1964/1970, 25). In ähnlicher Weise merken Max Ungleichheitsforschung interessiert sich dabei in
Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialek- erster Linie dafür, inwieweit bestimmte Merkmale
tik der Aufklärung an, dass die »Glücksgüter selbst zu von Individuen (Einkommen, Vermögen, Bildungs-
Elementen des Unglücks« würden (Adorno GS 3, grad, soziale und ethnische Herkunft, Geschlecht,
15). Diese Argumentation speist sich aus dem Ge- Alter etc.) die soziale Lage sowie die Lebensverläufe
gensatz zwischen einem subjektiven, aus dem Ge- bestimmen und welche sozialen Mechanismen dafür
brauch von ›äußeren‹, also Konsumgütern erwach- verantwortlich sind, dass diese ungleichen Bedin-
senden Glück und einer kritischen Analyse der ka- gungen dauerhaft reproduziert werden (Hradil
pitalistischen Gesellschaft, die dem Ideal eines 2001). Versucht wird also eine Objektivierung der
›glücklichen‹ Gesellschaftszustandes verpflichtet ist, Faktoren, die den Zugang zu Gütern, Anerkennung
in dem subjektives und objektives Glück zusammen- und sozialen Positionen bedingen und gegebenen-
fallen. falls einschränken – also die Chancen auf Glück,
In starkem Kontrast dazu steht die sogenannte wenn man darunter die Verfügung über Güter und
›empirische Glücksforschung‹, die als ein Zweig der Genüsse oder ein glückliches Geschick versteht. Die
empirischen Sozialforschung von einem subjektiven Konsumpraktiken kommen dabei deshalb in den
Glücksbegriff ausgeht, um dann objektivierbare Aus- Blick, weil in ihnen ›soziale Distinktion‹ wirksam
sagen über das Glücksniveau von Gesellschaften zu wird: Das heißt, dass statushöhere Gruppen ihre Rei-
treffen: Auch sie versteht zwar unter ›Glück‹ einen hen gegenüber Aufstiegswilligen abschotten, indem
Zustand des guten, erfüllten Lebens, lässt diesen aber sie als gleichrangig nur diejenigen anerkennen, die
qualitativ unbestimmt. Sie führt vielmehr repräsen- in der Lage sind, bestimmte, prestigeträchtige Güter
tative Befragungen durch, in denen die Probanden zu konsumieren. Diese sind nicht nur teurer und
in skalierter Weise Auskunft darüber geben sollen, in müssen oft erneuert werden, ihre adäquate Auswahl
welchem Maße sie ihre eigene Lage oder ihr bisheri- und Verwendung erfordert zudem Kenntnisse, Er-
ges Leben als ›glücklich‹ beurteilen. Die empirische fahrung und Geschmack. Auf diese Weise können
Glücksforschung nutzt dieses Datenmaterial dann, sich privilegierte Milieus auch in sozial hochmobi-
um die durchschnittliche Zufriedenheit von Bevöl- len Gesellschaften auf mehr oder weniger informelle
kerungen zu ermitteln (s. Kap. VIII.6). Das Urteil Weise gegenüber Aufsteigern schließen (Veblen
über das Ausmaß ihres Glücklichseins kommt also 1899/1971; Hirsch 1976/1980; Bourdieu 1979/1987).
den Befragten zu, und was sie unter ›Glück‹ verste- Der Konsum wird also als Mittel subtiler Mechanis-
hen, bleibt ihren kulturell geprägten Verständnissen men des Anerkennens und Ausschließens sowie als
vorbehalten. Die Glücksforschung selbst erfasst le- Indikator sozialer Lagen untersucht – nicht aber dar-
diglich die Verteilung dieser Urteile, um sie auf an- aufhin, ob die von ihm erhofften oder erlangten Ge-
dere Größen – wie etwa den Lebensstandard – zu be- nüsse tatsächlich Glück oder Unglück bewirken.
ziehen und in Längsschnittanalysen auf Verände- Ein auf Lust und Genuss bezogenes Verständnis
rungen hin zu untersuchen. Ihre Ergebnisse machen von Glück führt demgegenüber zu einer weiteren,
dabei deutlich, dass das in den Umfragen bekundete für viele aktuelle Ansätze einer Soziologie des Kon-
Glücksniveau nicht kontinuierlich mit dem Lebens- sums charakteristischen Diagnose: Sie besagt, dass
418 VIII. Aktuelle Debatten

die Ausweitung der Konsumchancen mit Mentali- sah man die Gefahr noch in der Sündhaftigkeit der
tätsveränderungen einhergehe, die als Zunahme he- Luxurierenden sowie darin, dass die dem Adel vor-
donistischer, also genussorientierter Haltungen be- behaltene Art der Lebensführung von zu Geld ge-
schrieben werden können. Anders als die Kritik des kommenen Bürgern nachgeahmt und die ständische
Konsums aus der Warte eines objektiven Glücksbe- Ordnung so unterminiert werden könnte (Bulst
griffs, der rein quantifizierende Zugang und auch 2003; Hirschman 1977/1987). Im 20. Jahrhundert
die spezifische Fragestellung der Ungleichheitsfor- wird der Hedonismus hingegen vornehmlich aus
schung erfordern diese Diagnosen theoretische zwei Gründen als ein Problem angesehen:
Annahmen über die Wechselwirkungen zwischen Ein soziologisches Argument lautet, dass das Stre-
subjektivem Glücks- oder Unglücksempfinden, fak- ben der Einzelnen nach immer neuen Genussmög-
tischen Konsumchancen und -praktiken sowie ge- lichkeiten und damit ihre Orientierung an eigenen
sellschaftlichen Prozessen und Strukturen. Zuerst Wünschen und Begehrlichkeiten dazu führe, dass sie
aber gehe ich auf die Vorbehalte gegenüber dem die für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung
Konsum-Hedonismus ein, in denen sich – wenn nötigen sozialen Normen aus dem Blick verlören:
auch nicht immer explizit – eine Reihe älterer Das auf den Konsum gerichtete Begehren werde also
Glücksvorstellungen erhalten haben, die auch in der sozial entbunden. Dieses Argument ist – wenn auch
Soziologie des Konsums wirksam bleiben. nicht explizit auf den Konsum bezogen – bereits von
Émile Durkheim formuliert und die daraus resultie-
Kontinuitäten in den Vorbehalten rende gesellschaftliche Desintegration als »Anomie«
benannt worden (Durkheim 1897/1983, 292 f.; s.
gegenüber dem Konsum-Hedonismus
Kap. VI.1).
Die psychischen und sozialen Folgen neuer Mög- Eine ähnliche Diagnose stellt achtzig Jahre später
lichkeiten und Spielarten des Konsums werden Daniel Bell: Er konstatiert eine fundamentale, gleich-
schon lange und regelmäßig wiederkehrend darin sam anomische Diskrepanz zwischen den Erforder-
gesehen, dass Konsumenten – verführt durch die nissen der ökonomisch-technischen Ordnung und
sinnlichen Reize der Dinge und als Käufer weitge- dem Streben nach Selbstverwirklichung, das für ihn
hend ungehindert von sozialen Einschränkungen ih- Züge des Hedonismus trägt und die Kultur der
res Erwerbs – ihr Glück in den diesseitigen und »postindustriellen Gesellschaft« präge. Die Wirt-
schnelllebigen Vergnügungen suchen, die der Wa- schaftsordnung erfordere einerseits, so Bell, »dass
renkonsum bietet. Voraussetzung dafür ist, dass es der Mensch hart arbeitet, eine Karriere anstrebt,
sich um den Konsum von Gütern und Dienstleistun- Aufschub von Befriedigungen hinnimmt«, während
gen handelt, die man nicht zwingend braucht – etwa Werbung und Konsumgüter zu »Lust und Vergnü-
aufgrund physiologischer Notwendigkeit. Bei der gen, sofortige[m] Spaß, Erholung und Sichgehenlas-
Bewertung dieses Hedonismus kommen oft Vorbe- sen« verführten (Bell 1976, 90). Ein mehr auf die in-
halte gegenüber dem Luxus zum Tragen, der seit der nerpsychische Dynamik des modernen Konsum-
Antike als eine der verurteilenswerten Leidenschaf- Hedonismus zielender Vorbehalt lautet, dass die
ten gilt, weil er das Subjekt zu tugendwidrigen Aus- ständige Suche nach lustvollen Erlebnissen und
schweifungen anreizt und sowohl seine psychische Glücksmomenten im Konsum rasch zu Enttäu-
Konstitution als auch die gesellschaftliche Ordnung schungen, zu Langeweile und zur Suche nach neuen
untergrabe (Vogl 2001). Weder die ökonomische Er- Konsumerlebnissen führe, welche die bereits gehab-
kenntnis des 18. Jahrhunderts, dass die Produktion ten überbieten sollen – dass der Hedonismus also
von Überschüssen und der Konsum von ›Überflüssi- eine nie endende, »nach außen gerichtete« Jagd nach
gem‹ volkswirtschaftlich durchaus wünschenswerte dem Glück darstelle, die suchtähnliche Züge auf-
Effekte haben können, noch die Erfahrung des für weise (Bauman 2008/2010, 178; Scitovsky 1976/
eine längere Zeit steigenden Lebensstandards im 20. 1977).
Jahrhundert haben dazu geführt, die moralischen Beide Diagnosen ziehen recht verschiedene The-
Bedenken gegenüber dem Luxus und der mit ihm rapievorschläge nach sich: Durkheim schlug Ende
historisch verbundenen Haltung des Hedonismus des 19. Jahrhunderts vor, den aus seiner Sicht ent-
abzubauen (Schrage 2009). Allerdings haben sich in grenzten Individualismus mit Hilfe von Berufsver-
den letzten Jahrhunderten die Begründungen für bänden wieder an eine erneuerte Sozialmoral zu-
diese Vorbehalte verschoben: In der Frühen Neuzeit rückzubinden – die Integration in solche im Ver-
9. Glück in der Soziologie des Konsums. Formen des Hedonismus 419

gleich zu Märkten überschaubareren Gruppen könne sollen hier daraufhin befragt werden, inwieweit heu-
disziplinierend wirken und den Individuen jene as- tige Formen der Glückssuche im Konsum mit den
ketische Haltung vermitteln, die sie aus sich selbst klassischen Vorbehalten in Einklang zu bringen
heraus nicht zu entwickeln vermögen (Durkheim sind. Eine historische Untersuchung des britischen
1893/1988, 28). Bells erwähnte Diagnose ist pessi- Soziologen Colin Campbell soll den Ausgangspunkt
mistischer und konservativer als Durkheims kor- bilden.
poratistischer Vorschlag, da er eine solche sozial- Campbell unterscheidet zwischen einem traditio-
moralische Disziplinierung nur religiösen Glaubens- nellen und einem modernen Hedonismus; den For-
gemeinschaften zutraut, deren Grundlage jedoch menwandel des Hedonismus macht er an der ›ro-
aufgrund eines verallgemeinerten Selbstverwirkli- mantischen Ethik‹ fest, die Ende des 18. Jahrhun-
chungsstrebens schwinde. derts entsteht und die Grundlage auch des in der
Die beim Suchtmoment des Konsum-Hedonis- Gegenwart wirksamen spirit of consumerism dar-
mus ansetzende Diagnose führt hingegen zumeist stelle (Campbell 1987). Diese moderne Einstellung
dazu, dass als Therapie auf die Vorstellung eines gu- gegenüber Konsumobjekten sei grundlegend vom
ten, erfüllten und maßvollen Lebens, also auf einen traditionellen Hedonismus verschieden, den Werner
alternativen Glücksbegriff verwiesen wird und die Sombart als das Streben nach der Verfeinerung sinn-
Subjekte selbst dazu aufgerufen werden, ihr Glücks- licher Genüsse beschrieben und dabei primär auf
verständnis zu reflektieren. Das Erreichen dieses vom Luxusgüter bezogen hatte (Sombart 1913/1996).
hedonistischen unterschiedenen Glücks wird zu- Sombart sah in diesem sinnesbezogenen Hedonis-
meist von einer gefestigten Haltung des Subjekts ab- mus ein Zeichen der Verbreitung individualistischer
hängig gemacht, die es ihm erlaubt, sich den äußeren Haltungen. Dies gilt auch für Campbells modernen
Reizen des Konsums zu entziehen: Der Psychologe Hedonismus, für den allerdings nicht sinnliche Sti-
Scitovsky legte etwa den US-Amerikanern nahe, sich muli, sondern emotionale, als beglückend erlebte
die – recht klischeehaft gezeichnete – nonchalante Zustände charakteristisch sind – im späten 18. Jahr-
Lebensweisen der Südeuropäer und des Adels zum hundert waren dies etwa die Empfindung des phil-
Vorbild zu nehmen (Scitovsky 1976/1977, 129 ff.); anthropischen Mitleids (›Empfindsamkeit‹, ›empa-
auf eine stärker philosophisch begründete, reflexive thy‹) oder der Grusel der Schauerromane. Diese
Haltung zielt das Konzept der »Lebenskunst« Glückszustände können aber ebenso aus dem Kon-
(Schmid 1998; s. Kap. VI.10) sowie viele Glücksrat- sum standardisierter Massenprodukte resultieren,
geber (s. Kap. VI.11). denn es kommt nicht auf außergewöhnliche Sinnes-
Ein auffälliges Merkmal der sich am Konsum-He- reize an, sondern vielmehr auf die Bedeutungen, die
donismus festmachenden Krisendiagnosen und das Subjekt mit den Dingen verbindet: Während die
Therapievorschläge ist, dass die klassischen Topoi Stimuli des traditionellen Hedonismus also aus der
des Glücksdenkens – Hedonismus oder Askese; äu- Konfrontation mit die Sinne reizenden Gegenstän-
ßerliche, kurzfristige und sinnliche Vergnügungen den gewonnen werden, behandeln moderne Hedo-
oder inneres, erfülltes Leben – auch unter den Be- nisten ihre eigenen psychischen Zustände als Ge-
dingungen der stark gewandelten Situation der nussmittel, und diese beziehen sich wesentlich auf
hochmodernen Überfluss-Gesellschaft immer wie- das Spiel mit Bedeutungen, welche die Konsumob-
der aufleben. Das liegt sicher auch an der Grundsätz- jekte evozieren (Campbell 1987, 69). Damit ist das
lichkeit und, wenn man so will, Zeitlosigkeit der da- Genießen von der direkten Bindung an physiologi-
bei aufgeworfenen Fragen. sche Reize entkoppelt und lässt sich gar nicht mehr
als ›äußerlicher Reiz‹ ansprechen; gerade deswegen
Formenwandel des Konsum-Hedonismus ist es auch in seiner Eigenlogik unabschließbar und
darf nicht mit der Befriedigung von Bedürfnissen
Um aber zu erfahren, wie es um Form und Funktion verwechselt werden, wie Campbell formuliert: »Sollte
des Hedonismus unter den Bedingungen der heuti- ein Individuum je einen Zustand dauerhafter und
gen Konsumgesellschaft bestellt ist und inwiefern vollkommener Befriedigung erleben, so wäre es auch
seine scheinbar zeitlosen Probleme möglicherweise des Genusses beraubt« (65).
unter gewandelten Umständen anders beurteilt wer- Campbells Analyse des modernen, emotionalen
den müssten, ist es sinnvoll, einige Befunde der neu- Hedonismus unterläuft damit die in den älteren Vor-
eren Soziologie des Konsums hinzuzuziehen. Sie behalten zentrale Ansicht, der Hedonismus impli-
420 VIII. Aktuelle Debatten

ziere per se die Hingabe an ›äußere‹, auf die Sinne für die in den soziologischen Begriffsverwendungen
wirkende Reizquellen – eine räumlich-psychologi- nicht eindeutig geklärte Beziehung zwischen Emo-
sche Metaphorik, die den genussbezogenen Glücks- tion und Sinnlichkeit beim Hedonismus. Es gilt aber
begriff gut platonisch in einem ›Außen‹ und das auch, wenn objektive Glücksvorstellungen in die
Glück als erfülltes Leben in einem ›Inneren‹ des Sub- Analysen eingehen, weil die normativen Gehalte der
jekts verortet. Beim modernen Hedonismus wäre klassischen Glückbegriffe unbesehen mitbestimmen,
das ›Außen‹ hingegen, nimmt man Campbells Argu- was bezüglich aktueller Glücksvorstellungen als pro-
ment ernst, nicht als Reizquelle, sondern vielmehr blematisch und was als erstrebenswert gilt. Beson-
als ein kommunikatives Umfeld zu denken, dem das ders deutlich wird dies an dem ungeklärten Verhält-
Subjekt emotional besetzbare Bedeutungen ent- nis von Hedonismus und Selbstverwirklichung: Bells
nimmt – das Konsumobjekt wird also nicht als rei- Ineinssetzung des Strebens nach Selbstentfaltung
zendes Ding, sondern als emotionalisierbarer Be- mit Hedonismus betont etwa beider Partikularismus
deutungsträger genossen. und lässt Selbstverwirklichung als Auflösung eines
Diese Entmaterialisierung des Hedonismus löst universalistischen Wertesystems erscheinen – die
das Konsum-Glück einerseits von der Materialität Unterscheidung Emotion/Sinnlichkeit tritt hier ge-
des Dings als Reizquelle, es erweitert sich aber der genüber einer Individualismuskritik zurück. Dem-
Bereich dessen, was durch den Konsum vermittelbar gegenüber setzen die Philosophien der Lebenskunst
wird: Letztlich fallen damit auch die Grenzen zwi- auf ein vom Konsum-Hedonismus unterschiedenes
schen ›authentischen‹ und warenförmig angeeigne- Glück, auf das Streben nach erfülltem Leben, das
ten Emotionen. Eva Illouz hat am exemplarischen Subjekte von den Verlockungen der Konsumreize
Fall der romantischen Liebe gezeigt, wie die solche emanzipieren soll und in dieser Hinsicht dezidiert
Liebesgefühle evozierenden Waren einerseits in den individualistisch, als eine ›wahre Selbstverwirkli-
Liebesverhältnissen selbst unentbehrlich werden chung‹ verstanden werden muss. Der klassische Ge-
und andererseits auch eine enorme ökonomische gensatz von Hedonismus und Askese scheint hier im
Bedeutung erlangen: Romantische Momente werden alltäglichen Konsumgeschehen selbst als eine Leit-
von entsprechenden Waren erzeugt (Wein, Kerzen, unterscheidung wiederzukehren, die nicht von sozi-
Dinner), wovon auch deren Absatz wiederum ab- alphilosophischen Kritikansprüchen ausgeht, son-
hängig ist (Illouz 1997/2003). dern vielmehr Konsumentscheidungen in sehr prak-
Diese Entmaterialisierungstendenz lässt sich auch tischer Weise mit Modellen des Selbst und mit
mit empirischen Befunden in Einklang bringen, die Werthaltungen vermittelt und dabei zwischen Hedo-
in der Soziologie unter dem Begriff des Wertewan- nismus und Askese sortiert – denn was, von Lebens-
dels bekannt sind und eine tiefgreifende Verände- kunst über Wellness bis Kulinarik, wäre nicht im Mo-
rung von Werthaltungen seit den 1970er Jahren kon- dus des Konsums verfügbar?
statieren, insbesondere die wachsende Verbreitung
»postmaterialistischer« Werte gegenüber »materia- Literatur
listischen« (Inglehart 1977, 262–290). Als ›materia-
listisch‹ gilt dabei die Hochschätzung von ökonomi- Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften [GS]. Bd. 3.
scher Sicherheit und sozialer Ordnung, während Frankfurt a. M. 1981.
Bauman, Zygmunt: Wir Lebenskünstler [2008]. Frank-
Selbstverwirklichung und Kommunikation als ›post-
furt a. M. 2010.
materialistisch‹ fungieren. Selbstverständlich sind
Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur
dabei auch ›postmaterialistische‹ Werthaltung für
und Technologie im Widerstreit. Frankfurt a. M.
ökonomische Verwertungen offen. 1976.
–: The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in
Fazit Social Forecasting. New York 1973.
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der
Der Fall des konsumbezogenen Hedonismus macht gesellschaftlichen Urteilskraft [1979]. Frankfurt a. M.
exemplarisch deutlich, auf welche Schwierigkeiten 1987.
Versuche stoßen, Glück soziologisch zu bestimmen, Bulst, Neithart: Vom Luxusverbot zur Luxussteuer:
seine Zu- oder Abnahme zu erfassen oder diese gar Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte von
von einzelnen Faktoren wie dem Konsum abhängig Luxus und Konsum in der Vormoderne. In: Michael
zu machen. Das gilt, wie im letzten Abschnitt gezeigt, Prinz (Hg.): Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge
10. Glück und Architektur. Vom prekären Aufbau des Glücks 421

und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der


Vormoderne. Paderborn u. a. 2003, 47–60.
10. Glück und Architektur.
Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Vom prekären Aufbau
Modern Consumerism. Oxford 1987.
Durkheim, Émile: Der Selbstmord [1897]. Frankfurt
des Glücks
a. M. 1983.
–: Über soziale Arbeitsteilung [1893]. Frankfurt a. M. Architektur ist diejenige Kunst, die traditionell am
1988. stärksten mit dem umfassenden Anspruch belegt
Hirsch, Fred: Die sozialen Grenzen des Wachstums.
wird, das Glück des Einzelnen herzustellen. Zudem
Eine ökonomische Analyse der Wachstumskrise
wird ihr zugetraut, die glückliche Verfasstheit ganzer
[1976]. Reinbek 1980.
Gemeinschaften zu befördern oder sogar zu generie-
Hirschman, Albert O.: Leidenschaften und Interessen.
Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg
ren. Schließlich betrachten Architekturtheoretiker
[1977]. Frankfurt a. M. 1987. sie häufig, im Grunde schon seit Vitruv (Zehn Bücher
Hradil, Stefan: Soziale Ungleichheit in Deutschland. über Architektur, I, 1), auch als Mittel, eine glückliche
Wiesbaden 82001. Balance zwischen dem Streben des Einzelnen und
Illouz, Eva: Der Konsum der Romantik. Liebe und die den Ansprüchen des Kollektivs herzustellen. Sie ist
kulturellen Widersprüche des Kapitalismus [1997]. daher als Einzelarchitektur, aber auch im Ensemble,
Frankfurt a. M./New York 2003. auf höchster Ebene als Stadtbaukunst, nicht nur dar-
Inglehart, Ronald: The Silent Revolution. Princeton auf programmiert, Mängeln abzuhelfen und Miss-
1977. stände zu vermeiden. Vielmehr soll Architektur aktiv
Lane, Robert E.: The Loss of Happiness in Market De- dauerhafte oder wiederholt verfügbare Glückszu-
mocracies. New Haven 2000. stände herstellen.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Stu- Der Hauptgrund dafür, dass Architektur immer
dien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriege- wieder mit diesem hohen Anspruch aufgeladen wird,
sellschaft [1964]. Neuwied/Berlin 1970. ist vor allem der sozialgestaltende Charakter der
Ritter, Joachim: Glück, Glückseligkeit I. In: Ders. u. a. Baukunst. Da sie nur sehr bedingt mimetisch ope-
(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. riert, wohnt der Architektur, anders als der stets illu-
3. Basel 1974, 679–691. sionistisch oder narrativ perspektivierten Malerei
Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst: Eine oder Skulptur, zumindest in der Vormoderne stets
Grundlegung. Frankfurt a. M. 1998.
ein ›harter‹ Realitätskern inne. Aktiver gesprochen:
Schrage, Dominik: Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine
Die evidente Kraft der Architektur, eigene Realitäten
historische Soziologie des Konsums. Frankfurt a. M./
zu entwerfen, befördert ihre Wahrnehmung als
New York 2009.
Scitovsky, Tibor: Psychologie des Wohlstands. Die Be-
›Glücksmaschine‹ par excellence. Gerade diese Ver-
dürfnisse des Menschen und der Bedarf des Verbrau- ankerung der Architektur in der Wirklichkeit durch
chers [1976]. Frankfurt a. M./New York 1977. ihre ›Schwerkraft‹ bzw., konstruktiver formuliert,
Sombart, Werner: Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über ihr buchstäblicher Beitrag zum Wirklichkeitsaufbau
die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der sind dafür verantwortlich, dass Glücksträume und
Verschwendung [1913]. Berlin 1996. -phantasmen sich besonders an ihr auskristallisie-
Veblen, Thorstein B.: Theorie der feinen Leute. Eine ren. Wie Einzelne oder ganze Gemeinschaften sich
ökonomische Theorie der Institutionen [1899]. Mün- entwerfen, welche Identität sie sich für sich wün-
chen 1971. schen, medialisiert sich vornehmlich architekto-
Vogl, Joseph: Luxus. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Wör- nisch, sei es nun in realisierter oder in nicht gebauter
terbuch Ästhetischer Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart/ Form (Bahrdt 1961). Als ›Glücksmittel‹ rangiert die
Weimar 2001, 694–708. Baukunst somit an vorderster Stelle der Kulturpro-
Dominik Schrage dukte. Ihr Gestaltungsradius kann – man denke an
die Planung ganzer Metropolen schon der frühen
Hochkulturen – immens, ja vom Anspruch her um-
fassend sein.
422 VIII. Aktuelle Debatten

Architektur und Leiblichkeit den Menschen in seiner körperlichen und geistigen


Beziehung zur Umwelt, historisch gesprochen, zum
Wiederholt, am stärksten von Gottfried Semper, ist ›Kosmos‹, auszutarieren. Bauwerke schaffen, so der
daher mit Bezug auf das hohe Identitäts- und Glücks- Anspruch vom archaischen Sakralmonument bis zur
versprechen von der Architekturtheorie herausge- modernen, säkularen Privatwohnung, Balancekon-
stellt worden, dass eine funktionale wie symbolische stellationen: In ihnen vermeinen Menschen sich
Analogie zwischen Architektur und der den Körper nicht nur bequemer und mit erhöhter (spiritueller
einhüllenden Bekleidung besteht (Arburg 2001). Vor oder physischer Sicherheit) einrichten, sondern auch
allem in Phasen, die Architekturen als Oberflächen zu ihrem Glück finden zu können. Dafür reduzieren
oder Images begriffen haben wie der Historismus Architekturen, auch das ist eine ihrer tradierten
und die Postmoderne, wurde dieser Bezug der fest- Funktionen, Komplexität. Mit Blick auf moderne
gefügten Körperhüllen auf die flexiblen Häute her- Entfremdungszusammenhänge wird deshalb (de
ausgestellt. Er konnte und kann emphatisch oder kri- Botton 2008) davon gesprochen, dass Individuen in
tisch betrachtet werden (rekonstruiert wurde dieser entsprechenden Entlastungsarchitekturen wieder ›zu
Zusammenhang von Pehnt 1989; 2009). sich selbst‹ finden könnten.
Unabhängig von der Bewertung dieses Zusam-
menhanges wird deutlich, dass sowohl Bau- als auch Architektur und Heilsversprechen
Bekleidungskunst nicht nur schützende Funktionen
übernehmen. Vielmehr kommunizieren sie auch Aber schon der archaische oder vormoderne Stress,
Selbst- und Gruppenentwürfe und die damit ver- an die natürlichen Elemente ausgeliefert zu sein, ge-
knüpften Vorstellungen eines glückenden Lebens – nerierte nicht nur ebenso elementare shelter. Er
etwa, indem sie dem (Bau-)Körper ein harmonisches brachte auch Räume hervor, die diese Freistellung
Auftreten verpassen und ihn somit als ›glückliche‹ vom physischen oder aufmerksamkeitstechnischen
Figur erscheinen lassen. Aber anders als die leicht Stress in symbolischer und spiritueller Weise über-
bewegliche, schnell auszuwechselnde Textilkunst höhten. In ihnen nimmt die neuerdings von Gerd de
macht die Architektur dabei nicht nur räumlich, son- Bruyn (2008) überzeugend vertretene These, Archi-
dern auch zeitlich einen weiter reichenden Anspruch tektur sei eine der mächtigsten Versöhnungsmaschi-
geltend. Er wird seit der Antike (z. B. Horaz: Oden, nen überhaupt, besonders plastische Gestalt an. Ein
III, 30) mit der Kategorie des Monumentalen be- gutes Beispiel dafür ist ein Bautyp wie das Bad, das
nannt. Verbindend ist allerdings die – ebenfalls ein sowohl physischer Annehmlichkeit und Erholung
rekurrenter Topos von den Anfängen der Architek- wie auch rituell einer spirituellen Reinigung dienen
turtheorie bis hin zur Moderne – elementare Rolle, und dafür entsprechend bausymbolisch überhöht
die der Architektur als erweiterter, auf die Kleidung werden kann (Grötz/Quecke 2006). Auch kann die
folgende oder diese sogar vertretende, Körperhülle Möglichkeit, wieder ›zu sich selbst zu finden‹ und ei-
zugesprochen wird. nen Modus der glücklichen Balance zu initiieren, ar-
Notwendige, aber nicht hinreichende Basis für den chitektonisch sozial exklusiv zugeschnitten werden:
Glücksanspruch an die Architektur ist die nicht zu Bautypen wie die Villa oder der Landsitz sind archi-
leugnende Schutzfunktion von Bauten. Sie kann als tektonische Statussymbole dafür, dass man diesen
rein überlebensnotwendige Kulturtechnik des Män- Modus einer glücklichen Balance, in diesem Falle die
gelwesens ›Mensch‹ gelten, ist dann aber kaum mehr Villegiatura, kultiviert zu genießen vermag (Böde-
als eine bloße Voraussetzung zum Glück. Tatsächlich feld/Hinz 1998).
ist mit Bauwerken stets auch ein darüber hinaus rei- Schon eine der nachweislich frühen menschli-
chender Anspruch bezeichnet: Sie sollen die nähere chen Behausungen, die Höhle, war vermutlich auch
Umwelt räumlich und zeitlich nicht nur sichtbar be- ein kultischer Ort, in dem das (Jagd-)Glück be-
setzen, sondern auch sinnhaft strukturieren und ihre schworen wurde. Wie viele rituelle Stätten, an denen
symbolische Aneignung ermöglichen. Dies wird Demut und Ermächtigung sich berühren, konnte
etwa deutlich, wenn man Architekturen als räumlich die Höhle zudem auch zu einem Ort des Unheim-
artikulierte Rhythmen begreift (wie etwa Adolf Loos lich-Unbekannten, ja des Anti-Glücks (Hölle) avan-
und Le Corbusier), auch wenn Architekturen nicht cieren. Sie war und ist insofern hochgradig ambiva-
in dieser Definition aufgehen mögen. So wird klar, lent konnotiert (Kegler/Ley/Naujokat 2004, 159–
warum Architektur als ein wichtiges Mittel gilt, um 172). Als architektonischer Archetypus ist die Höhle
10. Glück und Architektur. Vom prekären Aufbau des Glücks 423

ein Gebilde, das (noch) nicht-euklidischen Gesetz- Damit verweisen sie vermittelt auf ein weiteres
mäßigkeiten folgt und das sein Innenleben nicht re- Konstituens des Architektonischen, das entschei-
präsentativ nach außen kommuniziert. In diesem dend für die Frage des menschlichen Glückes ist:
Sinne einer Noch-nicht-Architektur wurde die Als elementare Grenzziehung zwischen Natur und
Höhle für Entwürfe interessant, die im Zuge der Zi- menschlicher Kultur, zwischen äußerem Kosmos
vilisationskritik auch das Architektonische auf den und Innenwelt ist Architektur grundsätzlich ambiva-
Prüfstand stellten, weil es nun als eingeschränkt hin- lent. Einerseits schafft sie Räume entlastender Aus-
sichtlich seiner Fähigkeit galt, Glück zu initiieren. koppelung und des Strebens nach bzw. der Beschwö-
Das kennzeichnet nicht erst die Karriere des Höh- rung von Glück; andererseits trennt sie aber auch
lenmotivs in der Architektur des Expressionismus von einer präkulturellen Einheit und Harmonie, die
(Pehnt 1994) und des Surrealismus (Vidler 1992, eigentlich ohne künstliche Grenzziehung zwischen
151): Aus einer ganzen Reihe weiterer, bis heute rei- Mensch und Natur auskommen soll. Dem architek-
chender Versuche, das Architektonische zu entgeo- turtheoretischen Problem, dass in der alttestamenta-
metrisieren oder seine materielle Schwere und rischen Paradies-Schilderung wohl gerade deshalb
transtemporale Monumentalität zu unterlaufen, ragt nicht von Architektur die Rede ist, hat zu einer Viel-
der aufklärerisch inspirierte, kunstvoll aufgelockerte zahl von Versuchen geführt, diese Leerstelle durch
Landschaftsgarten inklusive seiner ›naturnahen‹ Ursprungsmythen aufzufüllen (Rykwert 2008). Sol-
Staffagearchitekturen (sog. Folies) heraus (Tabarasi che Konstruktionen hatte schon Vitruv kolportiert
2007). Er knüpft im Gegensatz zum formalen, als (Zehn Bücher über Architektur, I, 1); zu den exponier-
veritable Landschaftsarchitektur zugeschnittenen testen Beispiele dafür zählen wohl die auf vier Baum-
Barockgarten an die Vorstellung eines paradiesi- stämmen aus Naturmaterial errichtete sog. Urhütte,
schen oder arkadischen Zustandes an (Schulze vom aufklärerischen und den Klassizismus einläu-
2006). Sie war stets schon mit dem Gartenmotiv ver- tenden Architekturtheoretiker Marc-Antoine Lau-
bunden, wobei allerdings fast durchweg dessen Ord- gier auf dem Papier ersonnen, und das aus Holz und
nungsleistung betont worden war (Bianca 1991, in ›harmonischen‹ Maßen errichtete Cabanon Le
108–123). Der Landschaftsgarten nun schien, an- Corbusiers an der französischen Riviera. Diese ›Ur-
ders als der Barockgarten als Kulmination dieser Bauten‹ sollen Architektur als Teil einer anfängli-
›Herrschaftsästhetik‹, (noch) nicht den strengen chen, im Verlauf der (Bau-)Geschichte aber unglück-
Gesetzmäßigkeiten des Architektonischen zu unter- licherweise verlorenen Einheit von Mensch und Na-
liegen: So konnte er einen scheinbar unreglemen- tur wiedereinsetzen. Bis in die Realisierungen der
tierten Glückszustand verheißen. Selbstverständlich Moderne (Frank Lloyd Wrights berühmtes Haus Fal-
ist auch die gartenkünstlerische Darstellung dieses lingwater etwa lässt sich als Synthese von herrschaft-
Ideals im Landschaftspark strategisch in besonders licher Villa und Hütte am Bach/im Wald deuten) und
subtiler Weise durchgeplant – man denke nur an die der Gegenwart hinein reichen derartige Mythen.
genau kalkulierte Wegregie. Die Rede von einer in- Aufgrund des modernen Strebens nach radikaler
szenierten Natürlichkeit oder ›Kultürlichkeit‹ er- Elementarität werden sie hier sogar wieder beson-
scheint daher besonders gerechtfertigt (Hunt 2004). ders virulent. Als Teil eines Versöhnungswunsches
Vor allem aber kam diese antigeometrische Sonder- wollen diese Ursprungs- und Einheitsmythen Archi-
zone einer anti-architektonischen Landschaftsar- tektur aus dem Paradigma der technoiden Naturbe-
chitektur ihrerseits nicht ohne eine architektonische herrschung lösen – so sehr die Moderne diese Er-
Einfassung aus, etwa durch eine Parkmauer: Über rungenschaft feiert – und damit vom Stigma reini-
deren Ersetzung durch Vegetabiles (etwa durch das gen, das Bauen sei die erste, elementare Verletzung
sog. Aha, eine grabenförmige, unsichtbare Barriere) einer glücklichen, uranfänglichen Einheit. Selbst
machten die Theoretiker des Landschaftsgartens führende Modernisten wie Le Corbusier oder Adolf
sich folglich viele Gedanken. Diese Phänomene lie- Loos sahen architektonische Rationalität noch in ih-
gen gleichsam ›unterhalb‹ des Architektonischen rer abstraktesten Form, nämlich ihrer geometrischen
und/oder sind als bewusster Ausstieg aus dem – Gestalt, im Bauplan der Natur verankert. Der erstge-
auch auf das Landschaftliche ausgedehnte – archi- nannte glaubte sie sogar von einem natürlichen ›In-
tektonischen Paradigma konzipiert; dies trifft übri- stinkt‹ zur formalen Setzung hin getragen, also na-
gens auch noch für Gartenstadt des 19. und 20. Jahr- turhaftes Gebaren und architektonische Form eng
hunderts zu (Pongracz 2008). aufeinander bezogen.
424 VIII. Aktuelle Debatten

Bereits die klassischen ordo- und Proportionsleh- konkret ›verbautes‹ Glück (Bonacker 1996). Aller-
ren, deren als einengend konventionell und unaktu- dings kann der Beitrag von Architekturen zum Un-
ell empfundenen Rahmen Vertreter der konstruktiv- glück, das nicht immer durchschaubare Scheitern ih-
funktionalistischen Moderne wie etwa (der frühe) res Glücksversprechens, auch für ästhetisch interes-
Mies van der Rohe sprengen wollen, versuchen nicht sant befunden und bewusst ausgereizt werden: Die
nur, die Komplexität der baulichen Möglichkeiten in Wahrnehmung und Inszenierung von Architekturen
einem geringen Varianzrahmen und damit be- als unheimlich besitzt seit dem 18. Jahrhundert eine
herrschbar zu halten sowie buchstäblich Überschau- ganz eigenen Faszination; dies kann man nirgends
barkeit zu stiften (Rykwert 1996). Ihre eigentliche deutlicher als an Giovanni Battista Piranesis Carceri-
Hauptmotivation war es, die architektonische Ord- Radierungen erkennen.
nung eng auf die ›Natur am Menschen‹, den mensch- Entgleitet der Baukunst die Absicht, Glück zu pro-
lichen Körper, zu beziehen (Dodds/Tavernor 2004). duzieren, kann dies zunächst, in polemischen (etwa
Darüber wollten sie wieder eine glückliche Einheit biblischen) Zusammenhängen, auf die allgemeine
oder Harmonie stiften. Von ihr träumten, allerdings Sündhaftigkeit und Dekadenz der Bewohner zu-
abstrakter, auch Vertreter der Moderne wie Frank rückgeführt werden (Babylon). Darüber hinaus wer-
Lloyd Wright, der gleichermaßen einen ›organi- den aber auch die Verfehlungen in der Architektur
schen‹ Ortsbezug realisieren wie eine Übereinstim- und vor allem in der Stadtbaukunst selbst dafür ver-
mung von technisch-konstruktiver Bauform und antwortlich gemacht (wie das hybride Ansinnen
menschlicher Individualität im gestalteten Raum beim Turmbau zu Babel). Sog. Dystopien verdichten,
herbeiführen wollte, oder Adolf Behne, der für eine ja überspitzen diese Kritik zu düsteren Szenarien,
Aussöhnung von Formalismus und Funktionalismus häufig mit zeitdiagnostischem Anspruch.
im Dienste einer harmonischen Bau-Körper-Gestal- Einen solchen formulieren aber auch die schon
tung eintrat. angesprochenen utopischen Entwürfe unter umge-
kehrten Vorzeichen: Sie kontrastieren nämlich ideale
Architektur und Utopie Visionen mit einer fragwürdigen Realität (s. Kap.
II.11). In keinem anderen Genre wird das Glücks-
Gerade dass Architektur immer wieder Versöh- streben derart deutlich architektonisch und vor al-
nungsmedium oder sogar ›Glücksmaschine‹ sein lem urbanistisch medialisiert. Hier wird aber auch
soll, verweist darauf, dass sie stets auch als Symbol deutlich, dass man Glückzustände, selbst wenn man
von oder sogar als Beitrag zur Entfremdung wahrge- ihren Rahmen möglichst realistisch und detailreich
nommen wird. Diese Ambivalenz gilt sowohl im entwirft, stets für prekäre bzw. ephemere Balancen
kleinen Maßstab, mit Bezug auf Haus oder Hütte, hält. In ihrer räumlich ›suspendierenden‹ Auskoppe-
wie auch im großen oder größten, mit Bezug auf die lung reflektieren nicht nur Inselphantasmen (Robin-
Metropole: Sie kann real oder metaphorisch Himmel sonaden), sondern auch Wolkenutopien (Aristopha-
oder Hölle auf Erden sein. Die Stadt gilt schon in re- nes’ Wolkenkuckucksheim) und sogar die häufig ma-
ligiösen Kontexten einerseits als Ort der Sünde und nichäisch strukturierten Raumschiff-Fiktion (Star
des Elends (Sodom und Gomorrha), anderseits der Trek, Star Wars) genau diese Labilität der idealen
glückseligen Erlösung; man denke an das himmli- Glücksorte, die als gefährdete Sphären gelten. Ihre
sche Jerusalem sowie seine symbolischen Nachbau- ultimative Bedrohung stellt bezeichnenderweise die
ten in Form von Domen oder Stadtanlagen (s.u.; zeit-räumliche Dystopie des Schwarzen Lochs dar
auch Sturm 1982). Die Architektur selbst kann dabei (vgl. den Disney-Film The Black Hole, USA 1979).
schließlich nicht nur als Symbol für Dekadenz und Das Problem der dauerhaften Realisierbarkeit von
Elend eingesetzt, sondern auch als Generator der Be- Glück polarisiert auch die architekturhistorische
drohung und des Schrecklichen wahrgenommen Forschung (Unterscheidungskriterien und Vermitt-
werden. Sie erfüllt dann gerade nicht die Erwartung, lungsansätze bei Kruft 1989; Maaß/Berger 1990; Ea-
glückliche Zustände zu schaffen, sondern gerät im ton 2001). Die analytische Unterscheidung der sog.
Gegenteil in den Verdacht, eine dauerhaft schlechte Idealstadt und Utopie gilt trotz der scheinbar klaren
Ordnung zu zementieren. Die Kritik an der moder- Differenz als hinterfragbar – da das Realitätsverhält-
nen Betonarchitektur etwa, vor allem in hoher Ver- nis der beiden Phänomene Idealstadt und Utopie
dichtung, kämpft ja nicht nur gegen ein falsches Bild stets schon komplex ist: Erstere gelten als auf Reali-
des Zusammenlebens, sondern auch gegen ein ganz sierung angelegt, häufig im Schulterschluss mit
10. Glück und Architektur. Vom prekären Aufbau des Glücks 425

mächtigen Trägern (Antonio di Pietro Averlino, gen. kreisförmig gedachten – Insel löst diese Spannung
Filarete, entwarf um 1465 seine Idealstadt Sforzinda auf, indem der Kontext (das Meer) hier selbst eine
für Francesco Sforza, den Herzog von Mailand); der- unbestimmte Leere bleibt, die das glücklich schwe-
artige Projekte wurden teilweise auch umgesetzt (so bende Insulare trägt (vgl. auch Francis Bacons Nova
das toskanische Pienza, von Bernardo Rosselino ab Atlantis von 1627/1986). Werden aber im Rahmen
1459 für Papst Pius II. entworfen). Utopien hingegen eines ›utopischen Realismus‹ Abweichungen vom
schweben trotz aller konkreten Ausschmückung Glück, etwa als Kriminalität oder negative Eigen-
doch im unbestimmten ›Nichts‹ – schließlich be- schaften der Bewohner, systematisch als zu bekämp-
zeugt nichts dies besser als die nicht abzustellende fende oder ausweisende Größen mit einkalkuliert,
Suche nach dem mythischen Atlantis, dieser von Pla- dann bringt das einen scharfen Widerspruch hervor:
ton im Timaios und Kritias (um 360 v. Chr.) entwor- Gerade das ideale Gemeinwesen, das buchstäblich
fenen, wirkmächtigsten aller Utopien. Aber seit im ›umfassendes‹ Glück realisieren soll, ist dann auf
Zuge der Neuzeit und Moderne das Realisierungs- eine scharfe normative Exklusion angewiesen (Slo-
potential für Utopieprojekte stieg, die ehemals als terdijk 2008). Die Außengrenzen des utopischen
reine Gedankenexperimente konzipiert worden wa- Raumes werden deshalb, so kann man exemplarisch
ren, erschien die Unterscheidung immer mehr gra- etwa an Morus’ Utopia (1516) lernen, stark befestigt
dueller Natur. Dass die Grenzziehung von ›realisier- – darin besteht ein Anschluss zur Defensivarchitek-
bar‹ und ›phantastisch‹ also historisch wandelbar ist tur. Aber auch Innengrenzen werden, so schon bei
und auch theoriegeschichtlich fluktuiert, spiegelt Platons Atlantis, multipliziert und diversifiziert: So
noch einmal die Problematik der Verortbarkeit und kann eine abgestufte Idealität, aufsteigend zum
Herstellbarkeit von Glück: Es erweist sich gerade in räumlichen Zentrum als Kern des glücklichen Ge-
architektonischer und stadtplanerischer Hinsicht meinwesens, als Ausweg aus dem Dilemma realisiert
buchstäblich als Grenzphänomen. werden.
Für die utopischen und revolutionären Entwürfe Diese Problematik der Grenzziehung betrifft aber
selbst stellt sich die Frage nach den Grenzen des nicht nur das Verhältnis zwischen dem guten Innen
Glücks daher immer räumlich. Das Grundparadox bzw. den Kernzonen und dem schlechtem Außen
besteht dabei darin, dass am Ort grenzenlosen bzw. der Peripherie. Sie erfasst, teilweise quer dazu,
Glücks eigentlich keine störenden Abweichungen, auch das Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und
die Unglück induzieren könnten, als existent gedacht Privaten, wie es etwa von Thomas Morus’ Utopia,
werden können. Zwei Faktoren sind somit konstitu- Tommaso Campanellas Civitas solis (1634) oder
tiv für den Modus des Utopischen: erstens die Prä- noch Tony Garniers Cité industrielle (ab 1899) pro-
misse einer vorausgesetzten anthropologischen Bo- blematisiert wird. Gerade mit Blick auf Letzteres
nität; zweitens die damit zusammenhängende Tatsa- wird deutlich, dass die Frage räumlicher Grenzen des
che, dass den allermeisten Utopien ab der Antike, seit Glücks stets mit derjenigen von guten, legitimen,
Platons Atlantis, Kreis oder Kugel als ideale Formen und schädlichen, dem Glück abträglichen Bedürf-
gelten. Noch Charles Fouriers sozialreformerisches, nissen und Leidenschaften verknüpft ist, also eine
auf die Perfektibilität des Menschen setzendes Mo- genuin moralphilosophische Frage aufwirft.
dell (ab 1808), typisch für den Progressismus und Der antike Utopismus, genrebildend für die Ent-
utopischen Frühsozialismus des beginnenden 19. wurfstradition von Glückssphären, war auch gerade
Jahrhunderts, folgt dieser Tradition. deshalb auf die tatsächliche Polisgestaltung (die hel-
Grundsätzlich gilt dabei aber nicht nur, dass zir- lenische bzw. hellenistische Kolonisation) mit ihrer
kuläre Entwürfe als formal besonders einprägsame Identität von Stadt und Staat bezogen. Hier tauchen
Ikonen wirken oder die soziale Idee einer hierarchi- auch orthogonale Rasterformen auf (Hippodamos
schen Verpflichtung auf ein Zentrum, oder, umge- von Milet), die mit einer bewusst antihierarchischen
kehrt, der Egalität symbolisieren: Noch vor jeder iko- Semantik belegt sein konnten. Noch in der Moderne
nographischen und sozialstrukturellen Lesbarkeit (Le Corbusiers Plan voisin für Paris von 1925; vgl.
suggerieren diese ›perfekten‹, ja ›idealen‹ Formen als auch das omnipräsente grid der amerikanischen
maximale ›Containermetaphern‹ vor allem auch Stadtplanung) waren derartige Raster, zunächst im
eine unendliche Fülle des Guten – und zwar, ohne Dienste sektorieller Entzerrung und Funktionstren-
dass ein Außerhalb überhaupt denkbar wäre. Der nung, letztendlich vor allem der neuen Leitidee der
utopische Ort der – seit Atlantis letztendlich immer verflüssigenden Mobilität verpflichtet, die jetzt al-
426 VIII. Aktuelle Debatten

lein als selbständiges Glücksversprechen angesehen Chaux von Claude-Nicolas Ledoux, die 1789 von ei-
wurde. ner halbkreisförmigen noch zu einer ovalen Anlage
Der Beitrag des Mittelalters zum utopischen Den- erweitert werden sollte.
ken besteht, räumlich weniger konkret, vor allem in Generell generierten die revolutionären Planungs-
der schon erwähnten Topologie des himmlischen phantasien ihrerseits wieder Architekturen und En-
Jerusalems, die ursprünglich apokalyptisch-escha- sembles, deren Zuschnitt in Dimension und For-
tologisch aufgeladen war. Sie inspirierte, in symbo- mensprache deutlich an archaische Mythen (Höhle,
lisch codierter Weise bzw. auf rituelle Performanzen kosmische Sphäre, Firmament) gemahnte. Zugleich
bezogen, Kirchenbauprogramme, ja Stadt- oder konnte, diesen mythischen Naturalismus sekundie-
Burgdarstellungen, schließlich auch deren tatsächli- rend, eine radikale geometrische Abstraktion betrie-
che planmäßige Anlage. In der Neuzeit nahmen ben werden: Sie generierte allegorische Formen der
dann die städtischen Intellektuellen wie Leon Bat- Vernunft, diese Garanten des Glückes aller. Damit
tista Alberti in einer komplexen Absetzungsbewe- waren gleichsam ornamentale Leerformen des Rati-
gung vom monastischen Balance- und Rückzugs- onalismus geschaffen, die dann die Großbauten und
ideal, das spirituelles Glück versprach, das urbane -programme des Historismus mit ihren retrospekti-
Glücksversprechen beim Wort. Sie entwarfen so ide- ven Glücksversprechen ausfüllen konnten. Monu-
ale oder utopische Gemeinwesen – teilweise mit den mentale Eklektizismen wie etwa beim Brüsseler
Machthabern, teilweise gegen diese und den entste- Justizpalast (ab 1866) und beim Berliner Reichstags-
henden modernen Flächenstaat (de Bruyn 1996). gebäude (ab 1884) versuchten, vernunftbasierte in-
Antiker Utopismus und christliche Ethik wurden stitutionelle Glückgarantien und die nostalgische
dabei schon zu regelrechten Emblemen der Ver- Sehnsucht nach historischen Phasen unvermittelten
nunft verdichtet, deren martialischer Reflex die Mi- Lebens in die Mauern massiger Baukörper bzw. Na-
litärarchitektur der Frühen Neuzeit war. Die häufig tionalmonumente zu zwingen (Dauss 2007).
sternförmig projektierten Anlagen, wie sie etwa Jac- Auch wenn sie sich vom Zuschnitt dieser historis-
ques Perret (1601) oder Vincenzo Scamozzi (1615) tischen Großprojekte absetzen wollten, fühlten sich
entwarfen, waren bereits der Entwicklung der Bal- doch viele Wortführer der modernistischen Avant-
listik geschuldet, die ein neues Innen-Außen-Ver- garde wie Le Corbusier, der ein neues goldenes Zeit-
hältnis mit sich brachte; sie lassen sich letztendlich alter einleiten zu können glaubte, oder Walter Gro-
als buchstäbliche ›Quadratur des Kreises‹ verstehen. pius wiederum im Vollbesitz unbegrenzter techni-
Zudem präsentieren sie sich aber auch schon als scher und planerischer Möglichkeiten und damit am
Embleme der Rationalität – vor allem wohl einer in- glücklichen Ende der Geschichte. Konstruktion, Ty-
strumentellen (Thomsen 1994). pisierung, Standardisierung bzw. Rationalisierung
Insbesondere im Umkreis der Französischen Re- und Maschinenästhetik wurden euphorisch als
volution, deren Geschichtsbild generell ein eigen- Werkzeuge einer bisher ungekannten Perfektion ge-
tümliches Ineinander von radikalem Fortschrittsop- feiert. Modernisten wie die ab 1926 im Ring organi-
timismus und mythischer Zirkularität kennzeichnet, sierten wollten sowohl dem Einzelnen, von der Woh-
verschmolzen Perfektibilitätsglaube und ein kulti- nung für das Existenzminimum bis hin zur avancier-
scher Rationalismus zu groß angelegten Visionen. ten Villa, als auch dem ›modernen‹ Kollektiv in
Von ihnen wurden die wenigsten gebaut. Aber ihre umfassender Weise architektonische Realisierungen
Realisierung rückte nun doch erstmals – nicht nur des Glücks zur Verfügung stellen. Auch die Stadtpla-
angesichts veränderter soziopolitischer, sondern nung, die nun gar nicht groß genug denken konnte
auch ökonomischer und technischer Bedingungen – (Le Corbusier/Oscar Niemeyer), vermeinte die Mit-
in greifbare Nähe. Die Entwürfe Louis-Étienne Boul- tel zu besitzen, um Utopien einer glücklichen Ar-
lées (ab 1778 entstanden), von hoher graphischer beits- und Freizeitgesellschaft, ›endlich‹ ohne Rück-
Qualität, aber auch eindrückliche Ikonen von höchs- sicht auf historische Rückversicherung, herbeizufüh-
tem politischem Anspruch, vermögen diese Konstel- ren.
lation zu verdeutlichen. Vor allem über megalomane In Postmoderne und Dekonstruktion wird dieses
Institutionsbauten für das neue Kollektiv sollte der progressive Pathos des architektonischen und urba-
bonheur de tous realisiert werden. Vorläufer waren nistischen Glücksdiskurses skeptisch gesehen oder
schon im Ancien Régime erprobt worden, etwa in der ironisch unterlaufen: Systemische Paradoxien, über-
ab 1773 geplanten modellhaften Salinenanlage in zogene Ansprüche und gescheiterte Versprechen
10. Glück und Architektur. Vom prekären Aufbau des Glücks 427

werden nun ironisiert (›dekonstruiert‹). Emphati- Dauss, Markus: Identitätsarchitekturen. Öffentliche


scher Stilpluralismus und unbekümmerte Mehrspra- Bauten des Historismus in Paris und Berlin (1871–
chigkeit des anything goes, aber auch das wild er- 1918). Dresden 2007.
scheinende Ineinanderschieben etablierter Ordnun- de Botton, Alain: Glück und Architektur. Von der Kunst,
gen des Konstruktiven setzen ein Versprechen von daheim zu Hause zu sein. Frankfurt a. M. 2008.
scheinbar unreglementierter Vitalität frei. Sie sym- de Bruyn, Gerd: Die Diktatur der Philanthropen. Ent-
bolisieren zugleich aber auch ein Bewusstsein für die wicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Den-
Kontingenz und Relativität von Glücksordnungen. ken. Braunschweig/Wiesbaden 1996.
Fern dieser trotz aller Poppigkeit und Hybridität –: Die enzyklopädische Architektur. Zur Reformulie-
rung einer Universalwissenschaft. Bielefeld 2008.
letztendlich hochkulturellen Zumutungen hat sich
Dodds, George/Tavernor, Robert: Body and Building.
schon mit dem Aufkommen des bürgerlichen Indivi-
Essays on the Changing Relation of Body and Ar-
dualismus auch ein resistenter Habitus des Privat-
chitecture. Cambridge, MA 2004.
mannes etabliert. Dessen ›My home is my castle‹-
Eaton, Ruth: Die ideale Stadt. Berlin 2001.
oder ›Trautes Heim, Glück allein‹-Haltung glaubt
Grötz, Susanne/Quecke, Ursula (Hg.): Balnea. Architek-
sich gegenüber einer rationalistischen oder obrig- turgeschichte des Bades. Marburg 2006.
keitlichen Durchplanung des persönlichen Lebens- Horaz: Oden und Epoden (Hg. und Übers. G. Fink).
umfeldes verwahren zu können; vermutlich ist dies Düsseldorf/Zürich 2002.
angesichts institutioneller und kommerzieller Über- Hunt, John Dixon: Der malerische Garten: Gestaltung
formung eine Selbsttäuschung. Die privatistisch ge- des europäischen Landschaftsgartens. Stuttgart 2004.
meinte Devise ›Es gibt immer was zu tun‹ zeigt an, Kegler, Karl R./Ley, Karsten/Naujokat, Anke: Utopische
dass sich heute das modernistische Tat- und Fort- Orte. Utopien in Architektur- und Stadtbauge-
schrittsethos in den Baumarkt als Zentralort des schichte. Aachen 2004.
Glücks, meist in Nachbarschaft zu einer schwedi- Kruft, Hanno-Walter: Städte in Utopia. Die Idealstadt
schen Möbel-Selbstaufbau-Kette, verschoben hat. vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zwischen Staatsuto-
Ein archaischer Basteltrieb und der Wunsch, sich im pie und Wirklichkeit. München 1989.
sowohl heimeligen wie stets leicht und offen wirken- Maaß, Michael/Berger, Klaus W. (Red.): Planstädte der
den Interieursortiment zu verlieren, liegen dicht bei- Neuzeit: vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Ausstel-
einander. Dass die schwedischen SB-Märkte mit der lungskatalog). Karlsruhe 1990.
genau geplanten Irrgarten-Struktur ihrer Ausstel- Pehnt, Wolfgang: In der Vorratskammer der Kostüme.
lung übrigens Kennzeichen des Utopischen repro- Architektur als Mode betrachtet. In: Ders. (Hg.): Die
duzieren, vermag gut zu illustrieren, dass der ›Auf- Erfindung der Geschichte. Aufsätze und Gespräche
bau‹ des Glücks stets zwischen den Polen der Kon- zur Architektur. München 1989, 9–16.
trolle und des Sich-Verlierens verspannt ist. –: Turm und Höhle. In: Vittorio Magnago Lampugnani/
Romana Schneider (Hg.). Moderne Architektur in
Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und
Literatur Neue Sachlichkeit (Ausstellungskatalog). Frankfurt
Arburg, Hans-Georg von: Kleider(bau)kunst. Die a. M./Stuttgart 1994, 50–67.
Grundlegung einer Ästhetik der Oberfläche in der –: Das Prinzip der Bekleidung. Architektur und Mode.
Mode bei Gottfried Semper (1803–1879). In: Plurale. In: Deutsche Bauzeitschrift 7 (2009), 86–88.
Zeitschrift für Denkversionen 1 (2001), 49–70. Pongracz, Alexander: Leitbild Gartenstadt – Lebensmo-
Bacon, Francis: Neu Atlantis [1627]. Ditzingen 1986. dell Gartenstadt. Zu einem historischen städtebauli-
Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Großstadt: soziologi- chen Phänomen vor dem Hintergrund aktueller Pla-
sche Überlegungen zum modernen Städtebau. Rein- nungsfragen. Saarbrücken 2008.
bek 1961. Rykwert, Joseph: The Dancing Column. On Order in
Bianca, Stefano: Hofhais und Paradiesgarten. Architek- Architecture. Cambridge, MA 1996.
tur und Lebensformen in der islamischen Welt. Mün- –: Adams Haus im Paradies. Die Urhütte von der Antike
chen 1991. bis Le Corbusier. Berlin 2008.
Bödefeld, Gerda/Hinz, Berthold: Die Villen im Veneto: Schulze, Sabine (Hg.): Gärten. Ordnung – Inspiration –
Baukunst und Lebensform. Darmstadt 1998. Glück (Ausstellungskatalog). Frankfurt a. M./Ostfil-
Bonacker, Kathrin: Beton – ein Baustoff wird Schlag- dern 2006.
wort. Geschichte eines Imagewandels von 1945 bis Sloterdijk, Peter: Sphären I–III. Bd. 2: Globen. Frankfurt
heute. Marburg 1996. a. M. 2008.
428 VIII. Aktuelle Debatten

Sturm, Hermann (Hg.): Stadt und Utopie. Modelle idea-


ler Gemeinschaften. Berlin 1982.
11. Glück in der Pädagogik.
Tabarasi, Ana-Stanca: Der Landschaftsgarten als Le- »Children, be happy«?
bensmodell. Zur Symbolik der Gartenrevolution in
Europa. Würzburg 2007.
Thomsen, Christian W.: Architekturphantasien. Von Ba- Die junge englische Schriftstellerin Rosalind Her-
bylon bis zur virtuellen Architektur. München 1994. schel Wade (1910–1989) brachte es 1931 auf den re-
Vidler, Anthony: The Architectural Uncanny. Essays in formpädagogischen Punkt: »Children, be happy!« So
the Modern Unhomely. Cambridge, MA 1992.
hieß ein Roman, der als heftige Anklage gegen die
Vitruv: Zehn Bücher über Architektur (Übers. und mit
unhaltbaren Zustände in einer Mädchenschule ge-
Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch).
schrieben war. Die Aufforderung, glücklich zu sein,
Darmstadt 1996.
Markus Dauss
war gepaart mit Erziehungskritik; sie setzte Kinder
voraus, die nicht glücklich sein können, weil sie von
unnachsichtigen Lehrerinnen und Lehrern unter-
drückt werden. In diesem Sinne vertrat Rosalind
Wade ein progressives Anliegen, das viele Autoren in
der Zwischenkriegszeit teilten. Das englische Erzie-
hungssystem stand unter Anklage und das ›glückli-
che Kind‹ war der Slogan für die Alternative.
Kinder sollen glücklich sein – heute schlägt sich
dieses Postulat in unzähligen Ratgebern nieder,
ganze pädagogische Dienstleistungszweige werden
damit am Leben erhalten, und niemand kann dem
Postulat so recht widersprechen. »Children, be
happy!« ist eine unbedingte Forderung der Ratge-
berindustrie und wird gemeinhin auch so verstan-
den. Die Forderung erlaubt keine Dialektik, man
kann und darf nicht vom Gegenteil ausgehen, denn
das ›Unglück‹ von Kindern wäre nichts weniger als
eine pädagogische Katastrophe. Allerdings gibt es
auch dafür Ratgeber, die Eltern erklären, was sie
falsch machen und wie es besser geht. So geht etwa
Condrell (2006) davon aus, dass Millionen Kinder
unglücklich sind und die Eltern das nicht wissen, so
dass ihnen geholfen werden muss.
Was genau ›glückliche Kinder‹ sind, ist dagegen
ganz unklar. Der heutige Blick auf sie ist psycholo-
gisch, es geht darum, was Kinder erleben und wie sie
sich fühlen, also in welchem seelischen Zustand sie
sich selbst beschreiben oder gesehen werden. Oft
wird ›glücklich‹ auf einen allgemeinen Status des
Wohlbefindens bezogen und soll dann mehr als nur
einen besonderen Augenblick kennzeichnen. Wohl-
befinden ist eine Art Glück auf Dauer. Die Beförde-
rung des Wohlbefindens von Kindern (Collins/Foley
2008) ist zu einem psychologischen Anliegen gewor-
den, das sich sogar schon in Länder-Vergleichen und
Rankings ausdrückt, mit denen internationale Erzie-
hungspolitik gemacht wird (UNICEF 2007).
11. Glück in der Pädagogik. »Children, be happy«? 429

Die Entdeckung der Kindheit straft werden, vor allem dann, wenn ihm beigebracht
werden muss, dem Bösen oder den Versuchungen
In der klassischen Ratgeberliteratur des 18. Jahr- des Satans zu widerstehen.
hunderts war das ›glückliche‹ das wohlerzogene
Kind, das sich gegenüber seinen Eltern als dankbar Das Glück in Erziehungsratgebern
erweist und Ehrfurcht zeigt, im Unterschied zu Kin-
dern, die sich auch beim besten Willen nicht erzie- Die heutigen Ideale des glücklichen Lebens eines
hen lassen und daher auch nicht glücklich sein kön- Kindes zeigen sich in Erziehungsratgebern, die an-
nen. Anders als heute rechnete die Literatur mit sol- ders als zuvor ein weit größeres Angebot bieten und
chen Kindern, sie nahm sie als gegeben an. Sie leichter zugänglich sind. Der Plausibilität der Formel
werden, schrieb der Zittauer Arzt und Schriftsteller des ›glücklichen Kindes‹ tut das keinen Abbruch, sie
Christian August Peschek (1760–1833) zu »bösen«, kann sich auch schlecht abnutzen, weil sie auf immer
weil »in der Erziehung verwahrlosten Weltbürgern« neue Kinder angewendet wird. Mit ›Glück‹ sind da-
ohne wirkliches Zuhause (Peschek 1786, 147). Nur bei meist psychische Erlebnisse gemeint, die sich zu
wohlerzogene Kinder sind eine Zierde ihrer Eltern, einer dauerhaften Disposition oder zu einem Zu-
heißt es in zahllosen Beiträgen, und nur sie sind ein stand verdichten sollen. In einem deutschen Eltern-
»Segen des Himmels«, wie Ludwig Tieck (1829, 71) Blog heißt es etwa: »Glückliche Kinder lenken den
anmerkte. Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf schöne Erleb-
Die Formel des ›glücklichen Kindes‹ löste sich von nisse« (http://www.blog-elternzeit.de, 16.6.2009).
der Fixierung auf Wohlerzogenheit und wurde in der Aber die Bandbreite der Glücksempfehlungen ist
Erziehungsliteratur des 19. Jahrhunderts allmählich wesentlich größer. Erziehungsratgeber beziehen sich
zu einem Postulat, das den Kindern selbst galt. Der auf Zielgruppen, die sich nach ihren pädagogischen
Ausgangspunkt war ihre reale Lage: Sie galten schon Grundüberzeugungen unterscheiden, also eher libe-
dann als ›glücklich‹, wenn sie halbwegs gesund, ohne rale oder eher autoritäre Positionen vertreten und
Tränen und frei von Angst aufwachsen konnten. Von religiös mehr oder weniger gebunden sind. So gibt
grausamen Eltern war im 19. Jahrhundert sowohl in es für die Erziehung von »happy, healthy children«
der Literatur als auch in den Gerichtsakten häufig auch familienzentrierte Ratgeber, die den Eltern die
die Rede, und dass Kinder körperlich bestraft wer- »voice of authority« nahelegen und den großen Wert
den müssen, um zur Einsicht zu gelangen, war ein der glücklichen Frustration im Lernen der Kinder
Gemeinplatz nicht nur in vielen Ratgebern, sondern betonen (Rosemond 2006). Das Gegenteil soll zum
auch in der alltäglichen Kommunikation mit Sinn- gleichen Effekt führen und Kinder ebenfalls glück-
sprüchen und Sprichwörtern. lich machen durch die elterliche Zurückhaltung als
Frei von Furcht sind die Kinder auch nicht mehr »true listening«: Raum geben zum Wachstum, Feh-
einfach die ›Kinder Gottes‹, sie werden also nicht al- lertoleranz und unbedingte Liebe zu den Kindern
lein von der christlichen Erziehung her wahrgenom- (Loomans/Goody 2005). So etwas ist dreißig Jahre
men. In der Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts zuvor unter dem Stichwort »antiautoritäre Erzie-
wurden sie zunehmend als Leserinnen und Leser mit hung« diskutiert worden.
eigenen Bedürfnissen angesehen, die sich in den Die ständige mediale Aufforderung, Kinder glück-
neuen Helden Oliver Twist, Huckleberry Finn oder lich zu machen, hat Folgen: Eltern und Erzieher, die
auch Alice in Wonderland wiederfinden können. sich darauf einlassen, müssen unablässig für das
Der Topos der ›Wohlerzogenheit‹ wurde aufgeweicht Glück ihrer Kinder tätig sein. Nichts bleibt dann un-
durch Erzählungen von Glück und Unglück der Pro- versucht, das Glück der Kinder zu befördern, und je
tagonisten selbst; sie durchleben Kindheit und Ju- weniger Kinder es gibt, desto mehr scheint ihr Glück
gend, die deutlich als subjektiver Lebensabschnitt zur Maxime ihrer Erziehung zu werden, egal ob sie
verstanden werden. In der Erziehungstheorie kann liberal oder autoritär ausgerichtet ist. Dabei wird pa-
zur gleichen Zeit gesagt werden, dass nur diejenigen radoxerweise meistens vorausgesetzt, dass Kinder
als ›glückliche Kinder‹ anzusehen seien, die bereits glücklich sein müssen, um es werden zu können.
wahrhaftig und tugendhaft sind, was die Ausnahme Wann das der Fall ist, also wann Kinder glücklich
von der Regel ist, weil sich sonst Erziehung erübri- sind und wann nicht, ist empirisch kaum erfasst, zu-
gen würde (Ramsauer 1846, 40 f.). Nur ein generali- mal erst ältere Kinder mit dem abstrakten Begriff
siertes Kind ohne eigenes Gesicht kann beliebig be- ›Glück‹ etwas anfangen können. Man nimmt gerne
430 VIII. Aktuelle Debatten

Zuflucht zu dem Begriff ›well-being‹, der sich fakto- trachtet wie früher Erziehung und Luxus, nämlich
renanalytisch angeblich leichter bearbeiten lässt. als Weg in den Abgrund der Verführung.
Was Kinder demgegenüber wirklich glücklich
Das Glück in der Erziehungsrealität macht, ist in der Erziehungsliteratur eine ungebro-
chene Größe, die als historisch sehr langlebig ange-
Was heute so unbedingt angestrebt wird, nämlich nommen werden muss. Ruhige Stunden des unge-
das ›Glück des Kindes‹, deckt sich nicht mit der all- störten Spiels, Begegnungen mit der Natur, Tiere,
täglichen Erfahrung von Erziehung, die eher durch Freunde, Abenteuer, Reisen und nützliche Beschäfti-
Stress und ständigen Beziehungsdruck gekennzeich- gungen heißt es in einem religiös durchwirkten Rat-
net ist, zumindest aber nicht als harmonisches Kon- geber der englischen Religious Tract Society, der
tinuum angesehen werden kann, während vom überschrieben ist mit Play Hours, or: The Happy
›Glück‹ oft genau dies erwartet wird. Das Konzept Children (1842). Diese Liste ist auch ohne die christ-
von Glück als einem vernünftigen Ausgleich, der ge- liche Erziehungsabsicht sehr stabil und sie erklärt,
tragen wird von Bescheidenheit angesichts der tägli- warum andere Tätigkeiten, etwa Medienkonsum, der
chen Notwendigkeiten und der sich bewährt im Um- pädagogischen Literatur zufolge nicht glücklich ma-
gang mit den Kontingenzen des Lebens, wie es in den chen. Dasselbe gilt für Aussehen, Kleidung oder Er-
Ratgebern des 17. und 18. Jahrhunderts steht, wich folg; Wer in der Schule Erfolg hat, ist ein begabtes,
einem Wunsch, Glück als Harmonie leben zu kön- nicht unbedingt jedoch ein glückliches Kind. Sie hei-
nen. Zugleich weiß man jedoch, dass das nicht mög- ßen ›Streber‹ und werden eher bedauert als benei-
lich ist, aber auch – wenn es denn möglich wäre – je- det.
den überfordern würde.
Die Beziehung zwischen Kindern und Eltern muss Das Glück in der pädagogischen Theorie
immer neu eingestellt werden und steht nicht ein für
allemal fest, während die vorgegebenen Ideale nicht Wie kommt dann aber ›Glück‹ in die moderne Er-
selten dazu führen, die Schwierigkeiten der ständi- ziehungstheorie? Die Forderung, Erziehung sei nur
gen Neuanpassung zu unterschätzen und den Ver- dann sinnvoll, wenn sie zum Glück oder zur Glück-
schleiß im Alltag zu ignorieren. Erziehung setzt feine seligkeit des Menschen und so des Kindes beitrage,
und fragile Justierungen voraus, die schneller gestört ist auf breiter Basis erst im 18. Jahrhundert entstan-
sind, als die Sprache der Ratgeber ahnen lässt. Stö- den. Vorher war die Verbindung von Erziehung mit
rungen aber dürfen nicht sein oder werden nur not- Glück kein Anliegen, das in Journalen, Ratgebern
gedrungen akzeptiert, weil sie die Selbstdarstellung oder eigenen Theorien einem größeren Publikum
nach innen wie außen beeinträchtigen. Jede Erzie- mitgeteilt werden konnte. Einerseits war Erziehung
hung hat daher mit der Rhetorik von glücklichen auf die Sphären der Religion und des Hauses be-
Paaren und Kindern zu tun. Unter allen Belastungs- schränkt, andererseits wurde das Leben selbst als
faktoren ist vermutlich dieser Zwang zur Fassade der Glück verstanden, auf das die Erziehung nur sehr be-
am schwersten zu handhabende. grenzt vorbereiten konnte. Fortuna als Lebensrad ist
Kinder erleben Glück sehr verschieden, und dies unberechenbar, darauf nahmen auch die Erziehungs-
unter der historischen Voraussetzung, dass materi- erwartungen Rücksicht. Cicero etwa schrieb unter
elle Knappheit in vielen Milieus westlicher Konsum- Bezug auf Theophrast: »Vitam regit fortuna, non sa-
gesellschaften kein Thema mehr ist. Die Glückser- pientia« (»Das Schicksal, nicht die Weisheit bestimmt
lebnisse sind nicht mehr gebunden an Vorsorgeleis- das Leben«; Cicero: Tusculanae disputationes, liber 5,
tungen, mit denen sich die Erfüllung von Wünschen XIX, 25).
in die Zukunft verlagert, sie stellen auch keine Ver- Das änderte sich in der Breite erst im Jahrhundert
zichtserfahrungen dar. Kinder sparen nicht für die der Aufklärung. 1784 konnte man im Damen-Jour-
eigene Zukunft und bauen Glückserwartungen auf, nal, eine der ersten Wochenschriften im deutschen
sondern sie erleben die Gegenwart und nennen oft Sprachraum, die sich für Frauenbildung einsetzte
nur das ›glücklich‹, was sie konsumieren. Auf der an- (die Zeitschrift erschien in zwei Jahrgängen 1784
deren Seite wird genau das massiv unter Anklage ge- und 1785), lesen: »Eine gute Erziehung ist die Haupt-
stellt, wobei die Kinder als Opfer, seltener auch als quelle der menschlichen Glückseligkeit, so wie eine
Täter der Konsumgesellschaft hingestellt werden. üble Erziehung die Hautquelle von allen Unordnun-
Glück und Konsum werden pädagogisch ähnlich be- gen, Irrthümern und Lastern ist, die wir täglich auf
11. Glück in der Pädagogik. »Children, be happy«? 431

der Weltbühne beobachten« (Damen-Journal 1784, stimmten Ertrag, ›habits of mind‹, wie es in zahllo-
55). Diese starke Kausalannahme brauchte theoreti- sen Publikationen des 19. und 20. Jahrhunderts
sche und praktische Stützen, wenn sie plausibel sein heißt; weil sie gelernt sind, können sich Gewohnhei-
sollte. Die bloße Wiederholung der Behauptung in ten ändern, aber nie alle auf einmal und nur dann,
den Journalen genügte nicht und Eudämonismus wenn sich weiteres Lernen anschließt.
war – und ist – gerade in der Erziehung alles andere Die Alternative zur Theorie der gezielten ›Einwir-
als selbstevident. kung‹ stammt bekanntlich von Jean-Jacques Rous-
Die Beförderung der Glückseligkeit durch Erzie- seau (s. Kap. V.2), der im Émile von 1762 die Ent-
hung bis zu einem bestimmten Punkt ist vorstellbar, wicklung der Natur in den Mittelpunkt gestellt wis-
wenn sich darunter eine gezielte und erfolgreiche Be- sen wollte. Aber daraus entstand eine ganz künstliche
einflussung verstehen lässt. ›Glück‹ wäre dann ab- Erziehungswelt, eine konstruierte Natürlichkeit, die
hängig von der Wirksamkeit pädagogischer Maß- die Reinheit und Unschuld des Kindes, in diesem
nahmen, die einem Plan folgen und Widerständig- Sinne ihr Glück, so lange wie möglich bewahren
keit ausschließen. Denkbar war das mit einer für die wollte. Der Ort der Kindheit wird als ein paradiesi-
Erziehungsabsicht extrem günstigen Psychologie, die scher Landschaftsgarten konzipiert. Die natürliche
der auf Locke zurückgehenden sensualistischen ta- Erziehung ist der Garant, Kinder vor Sünde und Las-
bula rasa, die annimmt, dass nichts in die Seele des ter zu bewahren, solange, bis sie stark genug sind, ih-
Kindes hinein gelangen kann, was nicht zuvor durch nen zu widerstehen. Und Rousseau negierte den Zu-
die Sinne gegangen ist und so den Filter der Erzie- kunftsbezug der Erziehung, sie soll wie das Erleben
hung passiert hat. Sie schafft dann die Dispositionen des Kindes ganz Gegenwart sein, also keine aufbau-
des Glücks, die ohne Erziehung keine seelische oder ende Folge von Lernerfahrungen darstellen, die zu
soziale Realität hätten. festen Gewohnheiten führt. Die beste Gewohnheit
Tatsächlich hat die sensualistische Psychologie die ist die, keine zu haben. Dabei wird ›Glückseligkeit‹
Erziehungstheorie des ausgehenden 18. und 19. Jahr- durch die gute Erziehung hervorgebracht, die also
hunderts nachhaltig bestimmt, einhergehend mit deutlich kausal wirksam sein soll. Noch die amerika-
der Erwartung, den Aufbau des Denkens und der nische Philosophin Nel Noddings (2003) hat ›Glück‹
Empfindungen methodisch steuern zu können. Das in diesem Sinne als oberstes Ziel der Erziehung be-
gilt in besonderer Hinsicht für die progressive Päd- zeichnet. Das Ziel soll verstanden werden als allge-
agogik des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhun- meine Lebenshaltung, die sowohl auf das persönli-
derts von Mary Wollstonecraft bis Robert Owen (s. che Leben als auch auf das Leben in der Gemein-
Kap. II.11), die das Glück des Menschen mit der bes- schaft bezogen wird (s. Kap. II.9). Happiness betrifft
seren Gesellschaft in Verbindung brachte. Sie ging also das Heim ebenso wie den Arbeitsplatz, die El-
aus von einer radikalen Milieutheorie und wollte das ternschaft, das Naturerleben, die spirituelle Erfah-
Lernen durch die Beeinflussung der Sinne steuern. rung, den Dienst an der Gemeinschaft und nicht zu-
Erziehung, schreibt Jeremy Bentham (s. Kap. V.1) in letzt die Schule. Das Ziel der Erziehung wird vom
einer frühen Notiz, ist gleichzusetzen mit einer Ver- möglichen Effekt nicht unterschieden, letztlich geht
haltensserie, die auf ein Ziel hinführt. Und: »The es darum, ein gutes Leben zu entwerfen und als päd-
common end of every person’s education is happi- agogisches Ideal aufzubauen, die Erreichbarkeit
ness« (Bentham 1828, 71). bleibt dann offen. Was damit begründet werden soll,
Die meisten pädagogischen Wirkungsannahmen ist die Möglichkeit eines Strebens nach Glück, nicht
sind in der einen oder anderen Weise auf diese The- das Glück selbst.
orie zurückzuführen, die die Erzeugung von Glück Schon Herbert Spencer hatte allerdings bezweifelt,
nahelegt und dafür nur ›Erziehung‹ als zielgerichtete dass Staatserziehung glücklich machen könne, ge-
Einwirkung konzipieren muss. Auf diesem Wege lässt rade wenn man Erziehung auf Gesellschaft bezieht.
sich auch von ›Herstellung‹ sprechen, als sei Erzie- Gesellschaft ist keine Fabrik, so Spencer, sondern
hung ein steuerbarer Produktionsvorgang mit klarer spontanes Wachstum, »a thing that makes itself, and
Richtung und sicherem Ausgang, also nicht ein not a thing that can be artificially made« (Spencer
höchst ungewisses Geschäft. Auch wer sich nicht auf 1851, 9). Staatliche Institutionen der Erziehung sind
Locke beruft – die Gleichsetzung von Erziehung mit künstliche Eingriffe, die das Leben in ein pädagogi-
dem Aufbau von stabilen Gewohnheiten geht auf ihn sches Schema pressen; wer ihnen Kontrolle über die
zurück. Eine wirksame Erziehung hat einen be- Bildung des Volkes gibt, zwingt zur Uniformität und
432 VIII. Aktuelle Debatten

beschneidet die Kreativität (14). Staatspädagogen Ausblick


misstrauen den natürlichen Kräften des Kindes und
gehen davon aus, dass Kinder nicht selbst glücklich Die Theorie der pädagogischen Beförderung des
sein können, sondern auf ihre Hilfe angewiesen sind menschlichen Glücks impliziert drei bis heute popu-
(15). Spencer schließt daraus, dass genau darin eine läre Elemente der Erziehungsreflexion, die sich all-
grandiose Selbstüberschätzung liege: »If hopes of gemein so bestimmen lassen: Erziehung ist eine sin-
eternal happiness and terrors of eternal damnation guläre und dauerhaft wirksame Kraft: Jeder Mensch
fail to make human beings virtuous, it is hardly likely hat nur eine Erziehung. Gelingt die Erziehung, dann
that the commendations and reproofs of school- summiert sich an ihrem Ende eine positive Erfah-
masters will succeed« (19). rung zum Glück des Menschen. Scheitert die Erzie-
Dieser effektvoll formulierte Standpunkt eines hung, dann ist sie die Ursache für das Unglück.
viktorianischen Liberalen spiegelte auch im 19. Jahr- Aber ›Erziehung‹ ist zunächst nur ein Begriff, eine
hundert bei weitem nicht die Mehrheitsmeinung in Formel oder eine Erwartung, die mit ganz unter-
der pädagogischen Literatur, für die eigene Zeit- schiedlichen Erfahrungen verknüpft werden kann,
schriften zur Verfügung standen und die allmählich ohne daraus am Ende eine positive oder eine nega-
aufgebaut wurde. Ein Beispiel ist die Zeitschrift The tive Summe ziehen zu können. Zudem ist ›Glück‹
Philanthropist, die von 1811 an in London erschien nicht einfach steigerbar. Mehr und bessere Erzie-
und von dem Quäker William Allen (1770–1843) hung, was immer darunter verstanden werden mag,
herausgegeben wurde. Ihr Zweck war »to promote erhöht nicht einfach die Qualität der Glückseligkeit.
the comfort and happiness of man«. Meistens wurde Auch wenn der Begriff ›Glück‹, weil zu anspruchs-
relativ umstandslos angenommen, die Erziehung sei voll, durch Wohlbefinden ersetzt wird, handelt es
dazu da, das Streben nach Glück zu befördern, und sich nicht um eine stabile Größe, die stetig anwach-
zwar gleichermaßen in der Familie wie in der Gesell- sen kann. Und schließlich: Das Glück des Kindes
schaft. »Education increases human happiness«, kann nur dann als autonome Größe erscheinen,
schrieb Ira Mayhew (1814–1894), ein bekannter wenn es nicht die Voraussetzung ist für das Glück des
Schriftsteller und zugleich langjähriger Superinten- Erwachsenen. Die ›glückliche Kindheit‹ wird nach-
dent der öffentlichen Schulen von Michigan (May- träglich von den Erwachsenen über sich konstruiert;
hew 1867, 311). Mayhew, der von 1845 bis 1849 und sie ist nie das empfundene Glück des Kindes, das sie
von 1854 bis 1859 Superintendent der öffentlichen einmal gewesen sind, wie immer dieses gefasst wer-
Schulen von Michigan war, formulierte die Mehr- den mag.
heitsmeinung der Lehrerinnen- und Lehrerprofessi- Kinder erleben nicht mehr Glück, je älter sie wer-
onen in den Vereinigten Staaten, die sich auf nichts den, darin sind sie nicht unterschieden von Erwach-
weniger als die amerikanische Unabhängigkeitser- senen. ›Glück‹ ist nicht steigerbar, so dass die Erzie-
klärung berufen konnte. hung auch nicht fortschreitendes Glück oder gar
›Glück‹ sollte verstanden werden als dauerhafter Glücklichsein auf Dauer hervorbringen kann. Wenn
Zustand des selbst gestalteten Lebens, das ohne Hilfe Kinder Glück anders wahrnehmen als Erwachsene,
durch Dritte auskommt und bestimmte moralische dann vor allem im Blick auf ihr Zeiterleben, das erst
Anforderungen der Zivilgesellschaft erfüllt. Glück langsam Planungshorizonte eröffnet. Kinder lernen
ist im utilitaristischen Verständnis nicht einfach nur allmählich und durchaus mühsam, dass es sinnvoll
ein erfüllter Augenblick oder eine leicht vergängliche ist, nach Glück zu streben, versteht man darunter
Phase des Wohlbefindens. Das Lebensglück muss den Horizont des eigenen Lebens und nicht das Erle-
durch eigene Leistung verdient werden, aber dabei ben herausgehobener Momente. Aber Kinder sind
hilft eine gute Erziehung, die nicht unbedingt selbst gerade im Blick auf ihr Glück keine besseren Men-
als ›glücklich‹ empfunden werden muss. Erst die Psy- schen, wie oft angenommen wird. Sie sind nicht nä-
chologisierung und Verankerung des ›glücklichen her am Glück als die Erwachsenen, weil sie dann nä-
Kindes‹ als literarischer Topos hat das geändert, der her beim Paradies sein müssten, was – zu ihrem
in und mit der Wohlstandsgesellschaft plausibel ge- Glück – ausgeschlossen ist.
worden ist. Mit Konsum allein ist es nicht getan; als
Zustand setzt Glück Verdienst voraus, das wusste
nicht erst der Earl of Shaftesbury (1699/1968).
11. Glück in der Pädagogik. »Children, be happy«? 433

Literatur Tieck, Ludwig: Schriften. XIII. Band: Märchen, Drama-


tische Gedichte. Fragmente. Berlin 1829.
Allen, William: The Philanthropist. Or Repository for UNICEF: An Overview of Child Well-Being in Rich
Hints and Suggestions Calculated to Promote the Countries. A Comprehensive Assessment of the Lives
Comfort and Happiness of Man. London 1811. and Well-Being of Children and Adolescents in the
Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Economically Advanced Nations (Hg. UNICEF In-
Morals and Legislation. A New Edition, Corrected by nocenti Research Centre). Florence 2007.
the Author. Werke, Bd. 1, London 1828. Wade, Rosalind H.: Children, be Happy! London 1931.
Cicero, Marcus Tullius: Fünf Bücher vom höchsten Gut
und Uebel. Werke, Bd. 6. Berlin 1861. Jürgen Oelkers
Collins, Janet/Foley, Pam (Hg.). Promoting Children’s
Wellbeing. Policy and Practice. Bristol 2008.
Condrell, Kenneth N.: The Unhappy Child. What Every
Parent Need to Know. Amherst, NY 2006.
Damen-Journal von einer Damen-Gesellschaft. Der
Schönsten in Deutschland gewidmet. Erster Jahrgang
1. Band. Januar, Februar und März. Frankfurt a. M./
Leipzig 1784.
Hufnagel, Erwin: Erziehung zum Glück. Logos, Spiel
und Heiterkeit. In: Alfred Bellebaum (Hg.): Glücks-
forschung. Eine Bestandsaufnahme. Konstanz 2002,
279–300.
Locke, John: An Essay Concerning Human Understan-
ding [1690] (Hg. Peter H. Nidditch). Oxford 1975
(repr. 1990).
Loomans, Diana/Godoy, Julia: What All Children Want
Their Parents to Know: 12 Keys to Raising a Happy
Child. Novato, CA 2005.
Mayhew, Ira: The Means and Ends of Universal Educa-
tion. New York 1867.
Noddings, Nel: Happiness and Education. Cambridge/
New York 2003.
Oelkers, Jürgen: Rousseau. London/New York 2008.
Peschek, Christian August: Liebe und Ehe in der Nar-
renkappe und im Philosophenmantel. Von einem
Greise. Breslau/Bieg/Leipzig 1786.
Ramsauer, Johannes: Die Liebe in Erziehung und Un-
terricht. Elberfeld/Meurs 1846.
Rosemond, John: The New Six-Point Plan for Raising
Happy, Healthy Children. Kansas City, MO 2006.
Rousseau, Jean-Jacques: Émile. Education – morale –
botanique. Œuvres complètes (Hg. Bernard Gagne-
bin/Marcel Raymond). Bd. IV. Paris 1969.
Shaftesbury: An Inquiry Concerning Virtue and Merit.
The Moralists: A Philosophical Rhapsody [1699].
Farnborough 1968.
Spencer, Herbert: State Education Self-Defeating. A
Chapter from Social Statistics: Or, the Conditions Es-
sential to Human Happiness Specified, and the First
of Them Developed. London 1851.
The Religious Tract Society (Hg.): Play Hours or the
Happy Children: Intended for Those under Ten Years
of Age [1842]. London 2008.
434 VIII. Aktuelle Debatten

12. Glück in der Theologie I. technischen Beherrschbarkeit vergänglicher Materie


beantworten, mithin aus der Naturwissenschaft, so
Glauben als Glück nützlich sie auch im alltäglichen Leben sein mag.
Nein, die Antwort auf diese beiden Sinnfragen ergibt
sich nicht aus der Materie, sondern nur aus dem
In der Moderne und ihrer Auseinandersetzung mit Geist des Menschen, näherhin aus der geistigen
dem Christentum ist immer wieder die Rede vom Möglichkeit des Menschen, mehr zu denken und zu
christlichen Menschenbild. Wozu aber – und diese ersehnen als nur die bloße Bedürfnisbefriedigung.
Frage wird leider häufig gar nicht gestellt – braucht Genauer: Gott zu denken und zu ersehnen, sich ein
man überhaupt ein Bild vom Menschen oder gar ein Bild von ihm zu machen. Ist Gott aber dann nicht,
›christliches Menschenbild‹? Vielleicht hilft eine wie einst im 19. Jahrhundert der scharfsinnige Reli-
kleine Geschichte weiter: Vom russischen Dichter gionskritiker Ludwig Feuerbach bemerkte (s. Kap.
Dostoevskij wird berichtet, er habe anlässlich seiner V.5), bloß ein menschlicher Wunschtraum, eine
Besuche in Dresden stets Stunden vor dem Bild der Sehnsucht des menschlichen Geistes, ein Gedanke
berühmten, himmlisch schönen Sixtinischen Ma- und nichts weiter? Oder gar, wie schärfer und bösar-
donna von Raffael im Zwinger verbracht. Als ihn ei- tiger Friedrich Nietzsche zuspitzte (s. Kap. V.7), das
nes Tages ein Museumswärter erstaunt fragte, warum Ressentiment der Zukurzgekommenen, die Le-
er immer so lange vor dem Bild der Madonna ver- benskrücke der Lebensuntüchtigen? Oder schließ-
weile, antwortete der berühmte Dichter: Damit ich lich, mit Lenin, das Opium des in dumpfer Lebens-
nicht am Menschen verzweifle! Das genau ist der qual dahinbrütenden Volkes, das man nur aus mate-
Grund, warum der Mensch sich, seit es Menschen riellem Elend befreien muss, damit es seine geistigen
gibt, Bilder macht. Freilich, jedem von uns klingt Wolkenkuckucksheime umso bereitwilliger aufgibt,
noch aus dem Deutschunterricht in der Schule die getreu der Devise des großen Spötters Heinrich
schier unverwüstliche Warnung von Max Frisch im Heine: Den Himmel überlassen wir den Engeln und
Ohr: Du sollst dir kein Bildnis machen! Und nicht den Spatzen? Was aber, wenn der Mensch, dieser
zufällig klingt ja in diesem Satz das alttestamentliche scheinbar nackte Affe, der immerhin zu 98 Prozent
Bilderverbot an, eines der ersten Gebote im Dekalog: sein genetisches Erbgut mit dem nächsten Verwand-
Du sollst dir kein Bildnis von Gott machen! Aber – ten unter den Primaten, mit dem Bonobo-Schim-
der Mensch braucht Bilder und schafft sich Bilder, pansen teilt, doch nur ein höher entwickeltes Tier
um sich Rechenschaft zu geben über seine Wünsche wäre? Und wenn er in Wirklichkeit (die freilich sich
und Sehnsüchte, über seine Träume und Hoffnun- in der Wirklichkeit immer nur höchst beschränkt
gen, kurz: um sich Antwort zu erhoffen auf die bei- zeigt) ein Zwitterwesen aus vergänglicher Materie
den großen und einzig wichtigen Fragen des Lebens, und unvergänglichem Geist (wofür im Abendland
nämlich ›Woher komme ich?‹ und ›Wohin gehe der Begriff ›Seele‹ sich einbürgerte) wäre?
ich?‹. Wäre das der Fall – und wäre es etwa nicht denk-
bar angesichts der erstaunlichen Leistungen des
Der Mensch als Bild Gottes menschlichen Geistes in Form von Mozart-Sympho-
nien und Schiller-Balladen? – und könnte das als
Jüdisch-christliche Theologie beantwortet diese bei- gleichsam unsichtbare Wirklichkeit geglaubt und als
den großen Fragen mit den Begriffen von Schöpfung Bild vor dem inneren geistigen Auge festgehalten
und Erlösung, die das Bild Gottes im Menschen be- werden, dann käme alles darauf an, richtig zu denken
gründen (Lorberbaum 2000), will heißen: mit dem und geistig zu leben, bevor man sodann materiell
Glauben an Gott, der vor aller Zeit und außerhalb lebt und überlebt, sich gute Gedanken über Ethik zu
von Raum und Zeit ist, und der den Menschen er- machen, bevor man sich richtige Gedanken über die
schafft und ihm die Möglichkeit gibt, ein solches Le- Technik macht (vgl. Kos 2006). Anders ausgedrückt,
ben zu führen, das ihn auf ewig, bei Gott und in sei- ganz anders als Bertolt Brecht es sich dachte: Erst
ner ewigen Liebe, glücklich sein lässt. Etwas anders kommt die Moral und dann das Fressen. Das aber
ausgedrückt: Jüdisch-christliche Theologie ist der hieße dann auch: Erst kommt das Menschenbild,
festen Überzeugung, dass sich die beiden wesentli- dann die technische Forschung. Und nach christli-
chen Fragen des menschlichen Lebens nach dem cher Überzeugung, die in diesem Punkt bereits in
›Woher‹ und ›Wohin‹ nicht aus der Analyse und der der platonischen Philosophie zu finden ist, ist der
12. Glück in der Theologie I. Glauben als Glück 435

Mensch eben weit mehr Metaphysik als Physik, mehr durch seine geistigen Tätigkeiten oder, in der Spra-
im Raum der Ethik nach gutem und geglücktem Le- che der griechischen Philosophie, durch den Unter-
ben strebend als im Raum der Technik um möglichst schied von Handeln (praxis) und Machen (poiesis):
langes und gesundes Überleben besorgt. Freilich: Je- »Machen besitzt nur eine indirekte moralische Qua-
der ist um langes und gesundes Leben besorgt, aber lität, weil es seine Wertigkeit vom hergestellten Ge-
doch nur unter der Voraussetzung eines letzten Sin- genstand her bezieht. Dem Handeln kommt dagegen
nes, eines Zieles, einer Antwort auf die Frage ›Warum per se moralische Bedeutung zu, weswegen Aristote-
bin ich überhaupt auf der Welt?‹ Christlicher Glaube les auch eine hierarchische Ordnung annimmt, der
antwortet darauf mit dem Glauben an Gott und seine zufolge Praxis höher zu bewerten ist als Poiesis« (Be-
Offenbarung in Jesus Christus: So ist Gott, so lie- cker 2006, 303; s. Kap. III.2). Der Mensch ist das We-
benswert und menschenfreundlich. Und so soll und sen des Handelns, und jedes Machen steht im Dienst
darf der Mensch sein, so liebenswert und menschen- des Handelns: »Am deutlichsten zeigt sich die Do-
freundlich. Und jede Forschung muss diese innere minanz der Praxis, wenn Aristoteles behauptet, das
Qualität des Menschen – jedes Menschen als Person Leben als Ganzes habe den Charakter einer Praxis,
– achten und voraussetzen, ohne doch ein Urteil denn schließlich liege der Zweck des menschlichen
über diese Qualität fällen zu dürfen. Das letzte Ziel Lebens darin, gut zu leben« (303).
ist die gute Gesinnung und das gute Gewissen der Gut meint hier das, was wir modern das Glück
Person – und diese Person entzieht sich einem letz- nennen, und zwar im Sinn einer umfassenden und
ten Zweck und lebt ganz zweckfrei. Einfach, weil sie vollkommenen Beglückung des eigenen Lebens im
es darf und Gott es so will. Das genau meint christli- Zusammenleben mit anderen Menschen. Dieses
ches Menschenbild. Und es widersetzt sich vom ers- Glück trägt in einer langen abendländischen Tradi-
ten Ansatz her jedem Versuch der künstlichen Züch- tion den Namen Liebe (s. Kap. II.8). Beglückt durch
tung oder gar der technischen Herstellung, es steht den anderen Menschen vor dem Glück des eigenen
allein der Bildung und Ausbildung und Erziehung Lebens stehen dürfen, genau das ist mit dem Begriff
zur Verfügung (Schallenberg 1999). der Schöpfung als Geschenk und Gabe des eigenen
Lebens gemeint. »Was naturhaft geschieht, das ge-
Die Güte des Menschen schieht von Schöpfungs wegen, auf Grund der Er-
schaffung; und das heißt, es geschieht einerseits aus
Ein solches christliches Menschenbild könnte man dem innersten und eigensten Impuls der Kreatur, an-
skizzenhaft kennzeichnen mit dem, was der katholi- dererseits stammt der allererste Anstoß dieses Im-
sche Münchner Kabarettist Karl Valentin einmal so pulses nicht aus dem Herzen dieses gleichen geschaf-
auf den Punkt brachte: ›Der Mensch an sich ist gut, fenen Wesens, sondern aus dem alle Dynamik in der
aber er wird immer seltener!‹ Genau das ist mit der Welt in Gang bringenden Akt der creatio« (Pieper
alttestamentlichen Rede vom sagenhaften Garten 1992, 13). Natur und ihre Zufälligkeit wird als Schöp-
Eden, dem vergangenen Paradies der Idealität, und fung und göttliche Notwendigkeit interpretiert.
mit der Rede von der ursprünglichen Gotteseben- Der Mensch hat gerade durch seine Möglichkeit
bildlichkeit des Menschen im Schöpfungsbericht ge- (oder Verweigerung) der Aktuierung seiner sittli-
meint (Steck 1981): Der Kern des Menschen, sein ur- chen Freiheit zum vollkommenen Glück eine Son-
sprüngliches Wesen also, ist als Ideal gedacht. Es ist derstellung im Kosmos inne (s. Kap. IV.2 und VI.5).
gut infolge der Teilhabe an Gottes vollkommener Aber: Der Mensch erlebt sich zugleich auch als Män-
Gutheit – das meint der christlich-jüdische Begriff gelwesen, als durch Defekt und ›Ursünde‹ je schon in
der Schöpfung und der Erschaffung der Welt – und seiner Freiheit zum Guten und zum vollkommenen
damit vom Wesen her auf das Gute und – christlich Glück eingeschränkt. Die Schöpfung Gottes als in-
gedacht – auf Gott hin ausgerichtet. Mit dem hl. Tho- nerste Wesensnatur des Menschen ist eingeschränkt
mas von Aquin (s. Kap. IV.1) gesagt: Das Gute ist durch die ebenso zur faktischen Natur des Menschen
wirklich, das Böse ist eigentlich ›unwirklich‹, ›priva- gehörende Fähigkeit zur Verfehlung, zum Bösen und
tio boni‹, Abwesenheit von Gutem – was seiner zur Sünde. Gegen diese tiefsitzende innere geistige
Grausamkeit keinen Abbruch tut, wohl aber tröstlich Verzweiflung und Verödung des Menschen muss die
ist im Blick auf seine mögliche Überwindung! Für wesenhafte, aber gebrochene Freiheit zum Guten
das theologische Denken der Scholastik wird die und zum Besten gefördert und angereizt werden. Mit
Gottesebenbildlichkeit des Menschen verwirklicht anderen Worten: Es braucht Anreizsysteme für den
436 VIII. Aktuelle Debatten

Menschen, damit er im Gewissen sich auf das Gute Grenze des Könnens und das Beste der menschli-
hin ausbildet und ausstreckt, damit er das Gute in chen Möglichkeiten ist in diesem Begriff Gott brenn-
konkreter Gestalt in seinem Leben für attraktiv hält glasartig gebündelt. Hier kommt der Begriff der Hei-
und es in die Tat des Alltags umsetzt. Dies charakte- ligkeit, der in der deutschen Sprache nicht zufällig an
risiert den christlichen Begriff von Bildung: Aus-Bil- den Begriff ›heil‹ im Sinne von Ganzheit erinnert,
dung des ursprünglichen Gottesebenbildes durch ins Spiel: Denn solche Heiligkeit meint gerade das
entschiedene Gewissens- und Herzensbildung, da- Ausschöpfen der besten menschlichen Möglichkei-
mit das Bild des Guten konkrete Gestalt im Denken ten, als Gegenstück zum Fragment und zum Unvoll-
und Handeln gewinnt. Solche Bildung ist aber kei- kommenen.
neswegs nur eine Aufgabe von Personen, sondern Die menschliche Wesensnatur verwirklicht sich
ebenso von Institutionen, näherhin von Staat und im Raum gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung
Wirtschaft (s. Kap. II.9): Dem Menschen fehlen in- und Zivilisation. Es bilden sich ethische Traditionen
stinktive und unfehlbare Neigungen zum Guten und aus, die Wege zu gelungenem und geglücktem Leben
zum Besten, er neigt zu Fremd- und Selbstzerstö- erhoffen lassen. Insofern steht die Kultur im Dienst
rung, er hält ein nur scheinbar Gutes für ein wirklich einer nach vollkommener Vollendung strebenden
Gutes und verstrickt sich auf der suchtartigen Suche menschlichen Natur, die ihrerseits nur schwach vor-
nach dem Guten im Vorletzten, in der Sünde, im Bö- gezeichnete Wege zu dieser Vollendung in den In-
sen. Nach christlichem Glauben gehört das zum Erbe stinkten findet. Das Zueinander von Natur und Kul-
des Menschen; so spricht er von der Ursünde oder tur zu bestimmen und zugleich die Grenze zwischen
Erbsünde des Menschen. Albert Görres unterstreicht einer Ausbildung und einer Zerstörung der ur-
prägnant und kurz: »Die Antriebe werden narziss- sprünglichen Natur immer neu in den Blick zu neh-
tisch und egoistisch. Sie neigen zum gewaltsamen men, ist die vornehmste Aufgabe der Ethik, nicht zu-
Sichdurchsetzen« (1991, 18). letzt der katholischen Sozialethik. Kultur erscheint
dann als notwendiger Humus einer menschenwür-
Das Heilige digen Gesellschaft und einer menschenwürdigen
Wirtschaft; Kultur bildet die notwendige Ergänzung
Die genauere Beschreibung des christlichen Men- und Überformung einer in sich gebrochenen Natur.
schenbildes gipfelt in der zunächst vielleicht staubig Diese menschliche Natur trägt zwar noch eine
und weltfremd klingenden Behauptung, der Mensch schwache Erinnerung an das Beste (an das ursprüng-
sei zur Heiligkeit berufen. Damit ist der positive Ge- liche Paradies des geglückten Lebens) in sich, ist aber
genbegriff zur Sünde und zur Bosheit benannt. Ge- aus sich heraus nicht in der Lage, dieses Glück zu er-
meint ist: Gott wird als höchstes Ideal guten und ge- reichen.
glückten Lebens gedacht, und der Mensch ist dazu Das Paradies ist auf Erden nicht zu konstruieren;
berufen, wie Gott zu werden – freilich nicht einfach das war noch der Irrtum der neomarxistischen Be-
durch eigene vergebliche und sich verstrickende wegung nach dem Zweiten Weltkrieg und auch etwa
Anstrengung, sondern befördert und befähigt durch der von Rousseau inspirierten deutschen Reformpä-
die zuvorkommende Gnade und Liebe Gottes. Gott dagogik (s. Kap. VIII.11). Aber auch Thomas Hobbes
fungiert als prägende Form der eigenen und immer mit dem berühmt-berüchtigten Wort ›Homo homini
schon gebrochenen, unvollkommenen Lebensge- lupus est‹ – ›Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf‹
schichte: »Die Lebensgeschichte wird in den Sog die- – ist aus christlicher Sicht zu widersprechen, wenn er
ses seelischen Erlebens hineingezogen, sie kommt im die Natur des Menschen einfach für böse und ver-
Grunde auf eine Geschichte der Seele hinaus. Das derbt hält und nur durch den staatlichen Leviathan
verwirrende Vielerlei an Tatsachen und Begebenhei- meint bändigen zu können: Das Paradies ist auf Er-
ten, das den eigenen Lebensweg kreuzt und biswei- den, im Geist des Menschen nämlich und in guten
len durchkreuzt, ist kein zusammenhangloses Nach- Gedanken, bruchstückhaft zu erkennen und auch
einander und Nebeneinander, vielmehr wird es un- durch Anreize zum Guten zu fördern. Das Streben
ter eine prägende Form gestellt, und diese stammt jedes Menschen nach Glückseligkeit führt, kantia-
aus einer zugeschriebenen oder zugewiesenen Be- nisch (s. Kap. V.3) gesprochen, zu der Variante des
deutung« (Demmer 2003, 435). Kategorischen Imperativs, wonach zu tun ist, wo-
Menschliches Leben wird mit Hilfe des Gottesbe- durch der Mensch würdig ist, glücklich zu sein. Ge-
griffs gedeutet und damit geprägt; die äußerste dacht sei hier auch an den Begriff der unveräußerli-
12. Glück in der Theologie I. Glauben als Glück 437

chen Menschenwürde, die der Staat zu garantieren letzte Stück Natur sein, das vor dem Menschen kapi-
hat: Es ist das Recht des Individuums auf ein würdi- tuliert« (Lewis 1943/1983, 62). Es ist gewiss kein Zu-
ges, seiner Vernunft und seinen Neigungen ange- fall, dass diese Auseinandersetzung heute besonders
messenes Glücksstreben. Daher unterstreicht Ot- heftig auf dem sensiblen Feld der Bioethik tobt, be-
fried Höffe: »Die Neigungen sind übrigens nicht rühren sich doch hier biologisch-empirische und
glücksunwürdig, vielmehr für sich genommen un- philosophisch-theologische Paradigmen, nicht zu-
schuldig. Nur die Mittel und Wege sind des Glückes letzt im ethischen Grundbegriff der Selbstverwirkli-
würdig (z. B. Ehrlichkeit) oder aber unwürdig (z. B. chung (s. Kap. V.1; vgl. Mieth 2010; Schallenberg
Betrug)« (2004, 294). 2010).
Für das Menschenbild von Staat und Wirtschaft
heißt das aus Sicht der christlichen Theologie: Dem Personalität und Gnade
Individuum und seiner gebrochenen Freiheit zum
Guten gebührt der ständige Vorrang vor dem Kol- Eine der stillschweigend Staat und Gesellschaft vor-
lektiv, der Person gebührt der Primat vor der Gesell- ausgesetzten Grundlagen, von denen etwa das be-
schaft. Daher unterstreicht die katholische Sozial- rühmte Böckenförde-Diktum (Böckenförde 2007,
lehre den zentralen Wert von Personalität und Subsi- 71) spricht, ist jener primäre Personbegriff, der zur
diarität und spricht von Ehe und Familie als der Ausbildung einer Persönlichkeit und zur geglückten
Keimzelle des Staates. Nicht der Staat hat ursprüng- Selbstverwirklichung hin drängt (vgl. Hilpert 1987;
lich ein Recht, sondern jede Person hat unveräußer- Kreppold 1988). Nicht der physische Tod ist das ei-
liche Grundrechte, und der Staat hat nur insoweit gentliche Unglück des Menschen, sondern der geis-
Recht (einschließlich des Gewaltmonopols), als er tige Tod, verstanden als dauerhafte Verstockung im
bedrohte Rechte von Personen zu schützen hat. Je- Unrecht. Schon bei Plato heißt es daher lapidar im
dem offenkundigen oder klandestinen Unterjochen Gorgias: »Denn das Sterben an sich fürchtet nie-
der Person durch einen philosophischen oder öko- mand, er müßte denn keine Spur von Verstand und
nomischen Utilitarismus oder durch totalisierende Mannhaftigkeit in sich haben, aber das Unrechttun
Gesellschaftssysteme ist entschieden zu widerspre- fürchtet er; denn daß die Seele übervoll von Frevel
chen und zu widerstehen. Aber umgekehrt gilt auch: in den Hades kommt, das ist das größte aller Übel«
Die Heiligung und Vervollkommnung des Menschen (Gorgias 522e, Platon 1993, 158). Daraus folgt dann
im Blick auf ein gelungenes Bild vom Glück ist von auch der klassische Grundsatz jeder menschlich ge-
Staat und Gesellschaft entschieden zu fördern. Es glückten Existenz, »daß man sich mehr hüten müsse
braucht Anreize zur Heilung und zum Guten durch vor dem Unrechttun als vor dem Unrechtleiden und
Bildung und Leitbilder. Wenn alles gleich gültig ist daß ein Mann vor allem anderen danach trachten
aus Sicht des Staates, wenn der Staat sich selbst als müsse, nicht gut zu scheinen, sondern gut zu sein,
gleichgültig gegenüber allen Werten und in diesem im öffentlichen wie im privaten Verkehr« (Gorgias
letztlich absurden Sinn als wertneutral empfindet, 527b, Platon 1993, 165). Das ganze menschliche Le-
wenn jede Lebensentscheidung und jede Lebens- ben ist ein ununterbrochener und schier vergebli-
form als vor dem Gesetz und vor der Gesellschaft als cher Weg der Scheidung und Entscheidung zwi-
gleich gültig betrachtet wird, dann wird auf Dauer schen Gott und Vergänglichkeit, zwischen Heilig-
auch der Mensch gleichgültig gegenüber dem wirk- keit und Genüsslichkeit, zwischen Glück und
lich Guten, dann geht es letztlich nur noch um unter- Zufriedenheit, zwischen wirklich hingebender und
schiedliche Optionen höchst unterschiedlicher Indi- bloß scheinbarer, verbrauchender und missbrau-
viduen, die miteinander nicht mehr teilen als den chender Liebe. Und jede Lebensentscheidung wird
entschiedenen Willen zum Überleben um jeden erst ermöglicht durch die Bereitschaft zu einem als
Preis. Dieser Wertrelativismus wäre das Ende der geglückt gedeuteten Verzicht – lebenslange eheliche
Menschheit und die Abschaffung des Menschen, vor Treue und der Zölibat stehen für solche Entschei-
der C. S. Lewis schon 1943 hellsichtig warnte: »Das dungen (Schallenberg 2002). Diese unverwechsel-
Endstadium ist da, wenn der Mensch mit Hilfe von bare Berufung eines jeden Menschen zur Selbstbil-
Eugenik und vorgeburtlicher Konditionierung und dung und zur Lebensentscheidung ist zuletzt auch
dank einer Erziehung, die auf perfekt angewandter der Kern jeder Solidarität von Menschen in Staat
Psychologie beruht, absolute Kontrolle über sich und Gesellschaft: Jeder Mensch wird ungeachtet sei-
selbst erlangt hat. Die menschliche Natur wird das ner Leistungen und Fähigkeiten als Gottes Ebenbild
438 VIII. Aktuelle Debatten

und mit Würde ausgestattet erkannt, anerkannt und den und doch sein Leben prägenden Wirklichkeit zu
geschützt. erinnern« (Lauster 2004, 190). Es ist mithin der
Fassen wir zusammen: Das Christentum denkt schleichenden Versuchung zu wehren, der Mensch
das menschliche Streben nach umfassendem Glück sei im Grunde nur ein effizient anreizbares konsu-
unter der Signatur von Leiden und Fragment, daran mierendes Kaninchen oder eine technisch optimier-
erinnert die Rede von der Erbsünde. Dennoch kann bare arbeitsame Ameise. Dem tritt das christliche
aus der Perspektive Gottes und im Licht der Aufer- Menschenbild und seine Idee vom Glück entgegen.
stehung Christi jedes menschliche Leben und jede Wir sind in der Tat jenseits von Eden – aber nicht
noch so fragmentarische Lebensgeschichte vom unrettbar verloren, sondern auf dem Weg zu einem
Kern und vom Wesen her als geglückt gedeutet wer- neuen Eden, zur noch ausstehenden Vollendung, zu
den; theologisch drückt sich dies in den sieben Sa- einem Glück unvordenklicher Vorstellung. Dieses
kramenten aus, die nicht von ungefähr an die ge- Glück trägt nach christlichem Glauben den Namen
glückten sieben Schöpfungstage Gottes erinnern. Gott.
Das verlangt aber vom Menschen (jenseits von Eden)
einen beherzten Mut zum Vorletzten und eine nüch- Literatur
terne Tapferkeit im Angesicht vorläufigen Scheiterns.
Becker, Marcel: Praxis/Poiesis. In: Jean-Pierre Wils/
Klaus Demmer unterstreicht daher: »Wer mit vieler-
Christoph Hübenthal (Hg.): Lexikon der Ethik. Pa-
lei Grenzen zu leben hat, muß den Mut zum Glück
derborn 2006, 302–305.
besitzen, sonst verliert er Schritt für Schritt seine
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat.
Selbstachtung, er gibt sich auf und wird zusehends
München 2007.
zum Spielball seiner unkontrollierten Wünsche, Demmer, Klaus: Das vergeistigte Glück. Gedanken zum
Empfindungen und Gedanken. Er stilisiert sich in christlichen Eudämonieverständnis. In: Gregoria-
der inneren Welt seiner Vorstellungen zum Opfer num 72 (1991), 99–115.
hoch, nicht bedenkend, daß sich so auf Dauer nicht –: Die Moraltheologie und das Sakrament der Versöh-
leben lässt« (Demmer 1991, 108). nung. Einige Notizen zu einem vernachlässigten
Es lässt sich von einer im Kern versöhnten Le- Thema. In: Theologie und Glaube 93 (2003), 433–
bensgeschichte sprechen, weil Gottes zuvorkom- 446.
mende Gnade einen nicht messbaren Erfolg indivi- Görres, Albert: Psychologische Bemerkungen über die
dueller Berufung garantiert, ohne dass jedoch in vor- Erbsünde und ihre Folgen. In: C. Schönborn (Hg.):
dergründiger Weise die Rede davon sein kann, Gott Zur kirchlichen Erbsündenlehre. Freiburg i. Br. 1991,
mache glücklich, gleichsam wie ein mildtätiges Me- 13–35.
dikament: »Macht biblisch begründete Religion in Hilpert, Konrad (Hg.): Selbstverwirklichung. Chancen
diesem Sinn glücklich? Schenkt sie gelassene Selbst- – Grenzen – Wege. Mainz 1987.
versöhntheit, ein Innewerden unserer selbst ohne Höffe, Otfried: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die
jegliches Erschrecken und Aufbegehren, ein Wissen Grundlegung der modernen Philosophie. München
um uns selbst, ohne etwas zu vermissen? Beantwor- 2004.
tet sie die Fragen? Erfüllt sie die Wünsche, wenigs- Kos, Elmar: Glück. In: J.-P. Wils/C. Hübenthal (Hg.): Le-
xikon der Ethik. Paderborn 2006, 136–141.
tens die glühendsten? Ich zweifle« (Metz 1991, 33).
Kreppold, Guido: Selbstverwirklichung oder Selbstver-
Mit Recht kann aber davon gesprochen werden, der
leugnung? Münsterschwarzach 1988.
Gedanke an Gottes Ewigkeit erhöhe »die Komplexi-
Lauster, Jörg: Gott und das Glück. Das Schicksal des gu-
tät des Glücks, um die Übersicht über das, was sich
ten Lebens im Christentum. Gütersloh 2004.
Menschen unter dem Glück und seiner Erreichbar- Lewis, Clive Staples: The abolition of Man, or Reflec-
keit vorstellen, in Frage zu stellen« (33). Das letzte tions on education with special reference to the
Glück ist dann nicht verabschiedet, sondern redi- teaching of English in the upper form of schools. Ox-
mensioniert: »Einem religiösen Verständnis zufolge ford 1943 (dt. Die Abschaffung des Menschen. Ein-
begegnet der Mensch vielmehr im Glück einem siedeln 1983).
Überschuss an Wirklichkeit und einem Mehrwert Lorberbaum, Ysak: Imago Die im Judentum: Früh-Rab-
des Lebens, der ihn ahnen lässt, dass dieses Glück binische Literatur, Philosophie und Kabbala. Die
nicht nur von dieser Welt ist. Es ist die vornehmliche Lehre von Gott, vom Menschen und vom Anfang im
Aufgabe einer theologischen Glückslehre, an diesen talmudischen und kabbalistischen Judentum. In: P.
Bezug zu einer letzten, den Menschen übersteigen- Koslowski (Hg.): Gottesbegriff, Weltursprung und
13. Glück in der Theologie II. »Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen« 439

Menschenbild in den Weltreligionen. München 2000,


67–87.
13. Glück in der Theologie II.
Metz, Johann Baptist: Gottespassion. Freiburg i. Br. »Mitten in der Endlichkeit
1991.
Mieth, Dietmar: Genetische Frühselektion. In welcher
eins werden mit dem
Gesellschaft wollen wir leben. In: Stimmen der Zeit Unendlichen«
228 (2010), 663–672.
Pieper, Josef: Alles Glück ist Liebesglück. Hamburg
1992. Das religiöse Glück, die Endlichkeit
Platon: Sämtliche Dialoge. Bd. I. Hamburg 1993.
zu durchbrechen
Ricken, Frido: Die Unsterblichkeitsgewissheit in Platons
Phaidon. In: Ders.: Gemeinschaft – Tugend – Glück.
Platon und Aristoteles über das gute Leben. Stuttgart
Das Glück steht in einem wesenhaften Zusammen-
2004, 24–35. hang zur Religion. Lange vor der Rückkehr des
Schallenberg, Peter: Menschenbildung oder Menschen- Glücks in die akademischen und öffentlichen Debat-
züchtung? Zum schwierigen Verhältnis von Mystik ten am Ende des 20. Jahrhunderts und allen Vorwür-
und Politik. In: Ders. (Hg.): »Als wögen Tränen un- fen religiöser Glücksmissachtung zum Trotz hat Wil-
sere Arbeit auf« – Menschliche Arbeit im gesell- liam James in seinem Klassiker Die Vielfalt religiöser
schaftlichen Wandel. Münster 1999, 249–258. Erfahrung auf diesen inneren Zusammenhang hin-
–: Lebensentscheidung in geglücktem Verzicht. In: Die gewiesen. Ausgehend von seiner empirischen Be-
Neue Ordnung 65 (2002), 309–316. schreibung religiöser Erfahrungszustände hält er als
–: Sterbehilfe zwischen Selbstbestimmung und Selbst- Fazit fest: »Noch mehr als im sittlichen scheinen im
verwirklichung. In: Zeitschrift für Lebensrecht 19 religiösen Leben Glück und Unglück die Pole zu sein,
(2010), 49–54. um die sich alles dreht« (James 1902/1997, 110).
Steck, Odil Hannes: Der Schöpfungsbericht der Pries- Ebenso ist in aktuellen Religionsdefinitionen der Be-
terschrift: Studien zur literarkritischen und überliefe- zug zum Glück fest verwurzelt, wenn darin Religion
rungsgeschichtlichen Problematik von Genesis 1, grundlegend definiert wird als »ein kulturelles Zei-
1–2, 4a. Göttingen 1981. chensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung
Peter Schallenberg zu einer letzten Wirklichkeit verheißt« (Theißen
2000, 19). Die Definition bringt bereits das Spezifi-
kum des religiösen Glücks zum Ausdruck. Es liegt in
einer besonderen Art des Transzendenzbezugs.
Glück wird in der Religion als Durchbrechung der
Endlichkeit erlebt, es erzeugt ein »kosmisches Ge-
fühl« (James 1902/1997, 111), das in der Weltüber-
windung gerade eine besondere Art der Weltzuwen-
dung erzeugt, die James eindrücklich als »Daseins-
bereitschaft« (263) beschrieben hat.

Das theologische Verständnis des erfüllten


Augenblicks
Dieser Bezug der Religion zum Glück lässt sich mit
Blick auf die gegenwärtige Diskussion am ehesten an
dem Phänomen des Augenblicksglücks ausweisen (s.
Kap. II.6). In einer eigentümlichen Umkehrung des
antiken Konzepts der eudaimonia unterstreicht die
Debatte um das episodische Glück des Augenblicks-
glücks, dass die Art, wie Menschen ihr Leben führen,
nicht automatisch das Glück selbst garantieren kann.
Häufig stellt sich das Glück als der Einbruch einer
Dimension in die Lebenswirklichkeit dar, die das
440 VIII. Aktuelle Debatten

Wünschen, Wollen und Streben für Augenblicke che, solche augenblickshafte Erfahrungen eines letz-
übersteigt. Damit wird das Glück als etwas erlebt, ten, die Wirklichkeit tragenden Sinns begrifflich zu
was sich keineswegs direkt proportional zum eige- fassen. Und auch die Theologen des Mittelalters und
nen Streben nach Glück verhält. Das Glück des Au- der Renaissance kreisen in ihren Diskussionen über
genblicks ist darum nicht einfach nur in der momen- die Möglichkeit einer diesseitigen Gottesschau um
tanen Erfüllung und Befriedigung von Bedürfnissen dieses Thema und sprechen dabei auch ausdrücklich
und Wünschen zu sehen. Dieser Sachverhalt lässt vom Glück, ebenso wie Theologen der Aufklärung
sich in dreifacher Hinsicht genauer beleuchten. (vgl. Claussen 2005). Einen von diesen mehreren
Zunächst geht es erstens um die Art und Weise, in möglichen Anknüpfungspunkten einer christlichen
der diese Form des Glücks eintritt. Das Glück ist et- Glückslehre stellt die Theologie des jungen Friedrich
was, was sich unverfügbar von selbst ergibt. Es Schleiermacher dar. Seine religiöse Deutung des er-
kommt unverhofft und ungesucht. Damit übersteigt füllten Augenblicks ist in der Sprache der Romantik
das Augenblicksglück die Reichweite menschlicher konzipiert und damit in einem der Moderne prinzi-
Selbstbestimmung. Zweitens verbindet sich mit die- piell zugänglichen begrifflichen Rahmen.
sem unverfügbaren Sich-Einstellen des Glücks eine »Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem
inhaltliche Gestimmtheit positiver Art. Die Unver- Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick«
fügbarkeit des erfüllten Augenblicks wird nicht – was (Schleiermacher 1799/1967, 133), so lautet der
ja auch denkbar wäre – als Ohnmacht oder Bedro- ebenso berühmte wie programmatische Satz Schlei-
hung, sondern als Entlastung und Befreiung emp- ermachers. Der Unendlichkeitsbezug ist für Schlei-
funden. Gerade deswegen wird diese Erfahrung als ermacher das inhaltliche Hauptcharakteristikum des
Glück bezeichnet. Im Augenblick des Glücks wissen erfüllten Augenblicks. Das Aufleuchten der Ewigkeit
Menschen sich in dieser Wirklichkeit ohne ihr eige- durchbricht augenblickshaft die Oberfläche der
nes Zutun geborgen und aufgehoben. Wenn sich ei- Wirklichkeit und legt ihren tieferen Sinn frei.
nem Menschen im Glück des Augenblicks die Wirk- Das »Ewig sein in einem Augenblick« formuliert
lichkeit in einer überraschenden und unverhofft er an anderer Stelle so: »Schnell und zauberisch ent-
neuen Weise erschließt, dann wird dabei immer wickelt sich eine Erscheinung, eine Begebenheit zu
schon mehr erlebt als eine Situation der sinnlichen einem Bilde des Universums« (74). Dabei vergleicht
Erfüllung; es kommt drittens zu einer Sinnerfahrung. Schleiermacher die Anschauung der Unendlichkeit
Sie gleicht einem plötzlichen Aufleuchten und Ge- mit einem »Kuss« (74) des Universums. Die Rede
wahrwerden einer Einsicht und ist doch auch inter- vom Kuss ist eine Metapher der Romantik (s. Kap.
subjektiv kommunizier- und vermittelbar. Es handelt V.9), sie unterstreicht zum einen das Moment des
sich um jene herausgehobenen Augenblicke der Le- Augenblicks, das Bezaubernde, das Vorüberhu-
benserfahrung, in denen sich eine tiefere Deutung schende, sie lenkt aber zum anderen die Aufmerk-
der Wirklichkeit und des eigenen Lebens einstellt, als samkeit darauf, dass es das Universum selbst ist, das
sie dem alltäglichen Lebensvollzug zugänglich ist den Menschen ergreift und nicht umgekehrt. Das
(vgl. Spaemann 1994, 101; 1989/1998, 119). Im Glück Unendlichkeitsgefühl ist nichts, was der Mensch
des Augenblicks stellt sich im Bewusstsein eine Er- selbst herstellen kann. Die Unverfügbarkeit des er-
fahrung von Sinn ein, die das übersteigt, was der füllten Augenblicks wird damit in einer theologisch
Mensch selbst an Sinn herstellen kann (s. Kap. II.5). tiefsinnigen Weise gedeutet.
Das Glück des Augenblicks erweist sich darin als Die Anschauung des Universums ist eine Selbst-
eine Erfahrung von Transzendenz. Die Berührungs- vergegenwärtigung des Unendlichen im Endlichen.
punkte zwischen dem erfüllten Augenblick und ei- Der Mensch verhält sich zu dieser Darstellung des
ner religiösen Erfahrung liegen damit deutlich auf Unendlichen im Endlichen rezeptiv. »Das Univer-
der Hand. Daher sprachen die antiken Philosophen sum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewun-
durchgängig von einer göttlichen Dimension des derer« (143). Diesen Vorgang der Selbsterschließung
Glücks. des Unendlichen beschreibt Schleiermacher in theo-
Die Offenheit erfüllter Momente für eine religiöse logischer Terminologie als Offenbarung. In der Spra-
Deutung durchzieht die gesamte Geschichte des che traditioneller Theologie bedeutet der Unend-
Christentums. In der Theologie der Kirchenväter – lichkeitsbezug der Religion daher, »alle Begebenhei-
man denke etwa an Augustins (s. Kap. III.4) be- ten in der Welt als Handlungen eines Gottes
rühmte Vision in Ostia – finden sich mehrere Versu- vorzustellen« (57).
13. Glück in der Theologie II. »Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen« 441

Der erfüllte Augenblick ist diesem Modell zufolge Das theologische Verständnis
als eine Vergegenwärtigung Gottes im Menschen zu des guten Lebens
begreifen. Schleiermacher bietet damit eine – und
das macht ihn für den vorliegenden Zusammenhang Diese theologische Deutung ermöglicht es ausdrück-
so wertvoll – moderne Fassung eines klassischen To- lich auch, die eudämonistische Seite des Glücks in
pos christlicher Glückslehre. Das, was sich als Glück den Blick zu nehmen. Auch hier ist ein Blick auf die
im menschlichen Bewusstsein ereignet, ist eine Form gegenwärtige philosophische Glücksdiskussion auf-
der Gotteserfahrung. Der Sache nach stellt sich das schlussreich. Es fehlt natürlich nicht an Versuchen,
Glück als eine wohlwollende Entäußerungs- und Zu- das Glück des Menschen ganz mit dem Augenblicks-
wendungsform Gottes selbst dar. Die theologische glück zu identifizieren. Doch stößt die ausschließli-
Tradition nennt diese Art der göttlichen Zuwendung che Betonung der Unverfügbarkeit des Glücks auf
Gnade. Das Handeln des Universums am Menschen, Kosten des Eudämonismus auf heftige Kritik. Zu den
das Sich-Darstellen im Bewusstsein ist Schleierma- bemerkenswerten Entwicklungen der Rückkehr des
cher zufolge theologisch nicht anders zu fassen denn Glücks zählt es, dass trotz aller Hochschätzung des
als »Gnadenwirkungen« (119). Das Glück des Au- Augenblicksglücks nach Modellen gesucht wird, die
genblicks ist keineswegs die einzige, aber immerhin das Streben nach Glück und die Erfahrung des er-
eine Art, eine solche Gnadenwirkung zu erfahren. füllten Augenblicks zu einem umfassenderen Ver-
Ausgehend von Schleiermachers Beschreibung ständnis eines guten Lebens verbinden. Auch von
des Aufleuchtens der Ewigkeit im Augenblick lässt theologischer Seite ist es meines Erachtens erforder-
sich genauer ausmachen, worin das Besondere einer lich, beide Dimensionen, das Strebens- und das Au-
theologischen Deutung des Augenblicksglücks liegt. genblicksglück, in ein Glückskonzept zu integrieren.
Was eine profane Perspektive als Unverfügbarkeit Anthropologisch kann man das menschliche Stre-
interpretiert, muss aus einem religiösen Blickwinkel ben nach Glück als eine unabschließbare Offenheit,
noch als eine Unterbestimmung dessen erscheinen, ja als einen wesenhaft zum Menschen gehörenden
was sich im erfüllten Augenblick ereignet. Es gibt Bezug zu einer transzendenten Dimension der Wirk-
Augenblicke und Begebenheiten, in denen sich im lichkeit beschreiben. Woher, so kann man sich fra-
Menschen unverfügbar, d. h. von ihm nicht irgend- gen, weiß der Mensch überhaupt von jener unendli-
wie herbeiführbar die Gewissheit einstellt, dass es chen Dimension der Wirklichkeit. In dem breiten
die ersehnte Erfüllung des eigenen Lebens erstens Spektrum religiöser Erfahrungen ist das Erleben des
tatsächlich gibt und dass sie zweitens mehr ist, als er Augenblicksglücks ein möglicher Moment, in dem
selbst mit all seinem Tun dazu beitragen kann. Er er- sich dem Menschen Transzendenz erschließt. Denn
fährt die Erfüllung als einen Moment, in dem er sein im erfüllten Augenblick leuchtet in der Lebenswirk-
Leben als ein gutes und gelingendes sieht, bevor er lichkeit plötzlich und unerwartet eine höhere Wirk-
überhaupt versucht, ein gutes und gelingendes Le- lichkeit auf. Es handelt sich hier um eine Transzen-
ben daraus zu machen. Im Lichte ihres eigenen denzerfahrung, die als ein Sich-Zeigen des höchsten
Überlieferungszusammenhanges deutet die christli- Guts beschrieben werden kann. Die Erfahrung des
che Religion diese Ahnung als eine Gotteserfahrung. erfüllten Augenblicks ist so ein entscheidender Mo-
Es ist Gott selbst, der sich im Bewusstsein der Men- tor für das Streben des Menschen nach Glück.
schen vergegenwärtigt. Im Glück erfährt der Mensch Dabei lässt sich erstens zeigen, dass der für die
das Leben von einem Sinn getragen, den er ihm christliche Theologie entscheidende Begründungs-
selbst nicht beilegen kann – und auch gar nicht muss. zusammenhang von Eschatologie und Ethik auch in
Er findet sich absichtslos in der Wirklichkeit, sein der Frage nach dem Glück relevant wird. In den
Dasein dient nicht irgendwelchen Zwecken und Zie- Transzendenzeinbrüchen des Augenblicksglücks
len, sondern ist sich selbst genug. Im unverfügbaren dringt in die Lebenserfahrung von Menschen die
Sich-Einstellen des Glücks, im absichtslosen Sich- Ahnung ein, dass es so etwas wie einen Mehrwert
Finden in der Wirklichkeit und in dem Durchbruch des Lebens überhaupt gibt. Das Bewusstsein hat in
zu einer das Dasein tragenden Sinnannahme zeigt jenen Momenten an diesem Mehrwert und tieferen
sich die Transparenz der lebensweltlichen Erfahrung Sinn des Daseins teil. Schon in diesem Leben lassen
des Glücks auf eine religiöse Deutung hin. sich augenblickshaft Momente eines ewigen Glücks
erleben. Ohne dieses – und sei es nur augenblicks-
hafte – Aufleuchten jener höheren Welt in der Le-
442 VIII. Aktuelle Debatten

benswirklichkeit gäbe es keinen Ausblick auf den Menschliches Glücksstreben


Mehrwert des Lebens, der in einer dieser Welt jensei- und göttliche Gabe
tigen Daseinsweise uneingeschränkte Realität ge-
winnt: »Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits« Damit erweist sich auch für eine theologische
(Troeltsch 1912/1994, 979). Glückslehre von größter Aktualität, was von Ferne
Zweitens äußert sich diese Kraft in einer ganz be- wie ein verstaubter theologischer Gelehrtendisput
stimmten Weise. Es kommt zur Ausbildung von ei- erscheinen mag. Die Frage, ob die Erfüllung des Le-
ner Bewusstseinseinstellung, die zwar nicht das bens in den Händen des Menschen selbst liegt, oder
Glück des Augenblicks selbst auf Dauer stellen kann, ob es eine Gabe Gottes ist, ob also der Mensch oder
die aber gleichwohl das Ergriffensein von diesem Gott des Glückes Schmied ist, stellt theologisch gese-
Augenblick in die Perspektive auf das eigene Leben hen vor eine falsche Alternative. Die Bemühungen
integriert. Diese Perspektive nennt die christliche und Anstrengungen, die Menschen unternehmen,
Tradition Glauben. Es handelt sich um ein zur Kari- um das Glück in ihrem Leben zu finden, sind nicht
katur entstelltes Bild, wenn man unter dem Glauben die Voraussetzung, um dieses Glück dann auch zu
ein bloßes Fürwahrhalten von Dingen versteht, die erreichen. Sie sind vielmehr die Folge davon, dass
die Vernunft übersteigen oder ihr gar widersprechen. Menschen sich von dem, was sie als Glück erleben,
Der Glaube ist vielmehr eine Reaktion des Menschen zutiefst ergriffen wissen. Das Glück, das der Mensch
auf die Begegnung mit einer ihn übersteigenden sucht, liegt ihm immer schon voraus. Es ist größer
Sinndimension des Lebens, eine existentielle Hal- und erhabener als das, was er selbst mit seinen Kräf-
tung, ein Lebensgefühl und eine Lebensdeutung. Die ten in seinem Leben umzusetzen vermag. In den ein-
erfüllten Momente des Augenblicksglücks sind in zelnen Episoden einer Glückserfahrung empfängt
diesem Sinne vertrauensbildende Maßnahmen, die der Mensch die Gewissheit, von der unendlichen Di-
eine ganz bestimmte Lebensdeutung freisetzen. Im mension seines eigenen Lebens und der Wirklichkeit
Unterschied zu Nietzsches (s. Kap. V.7) Lebens-Aus- wohlwollend und erfreulich berührt zu werden.
legung, an die der Existentialismus (s. Kap. VI.5) und Diese Erfahrung hebt das Streben nach Glück jedoch
die Philosophie der Lebenskunst (s. Kap. VI.10) an- keineswegs auf, sondern begründet es erst.
schließen, ist es nicht das Individuum, das den Sinn Glück ist immer auch ein Akt humaner Selbstge-
herstellt, sondern es erfährt sich selbst in einen grö- staltung. Doch ist die Arbeit am Glück – hier tritt die
ßeren Sinnzusammenhang eingeordnet. In der reli- Besonderheit des religiösen Begründungszusam-
giösen Lebensdeutung versteht der Mensch sein Le- menhanges ins Spiel – eine Selbstgestaltung in Frei-
ben vor dem Horizont einer ihn selbst übersteigen- heit und mit Gelassenheit. Der Mensch weiß sich vor
den Dimension der Lebenswirklichkeit. Damit geht all seinem Tun aufgehoben und angenommen in je-
diese vertrauende Lebensdeutung nicht einfach auf ner unendlichen Dimension der Wirklichkeit. Das
in einer bloßen Affirmation der Wirklichkeit. Sie ist befreit ihn davon, als Glück allein das zu begreifen,
vielmehr »als Antizipation des Gelingens« (Rend- was das Produkt seiner Vorstellungen und seiner
torff 1990/1991, 96) zu begreifen. Mit Blick auf das praktischen Verwirklichungsversuche ist. Es stimmt
Unvollendete und die Momente des Scheiterns in ihn gelassen, weil er das Gelingen seines Lebens in
der je eigenen Lebensführung handelt es sich um ein einem viel tieferen Grund schon vorweggenommen
»kontrafaktisches Vertrauen auf das Gelingen des ahnt, als sich dies empirisch an den Erfolgen und
Lebens« (96). Kontrafaktisches Vertrauen besagt, Misserfolgen seiner Lebensführung messen lässt.
dass der Mensch sein Leben von Gott in einer Weise Berührungen zwischen einer theologischen und
angenommen und bejaht weiß, die seine Möglich- philosophischen Glückskonzeption gibt es in der
keiten, das Leben gelingen zu lassen, bei weitem Gegenwart durchaus. So erweist sich z. B. die Philo-
übersteigt. Paul Tillich nannte diese Offenheit für die sophie der Lebenskunst als offen für die Transzen-
Sphäre der Transzendenz »Mut zum Sein« (Tillich denzdimension des Glücks: »Das Glück durchbricht
1952/1991, 117 ff.). Das Glück des Augenblicks ist die Begrenztheit der Endlichkeit und lässt das endli-
eine existentielle Möglichkeit, in der das Vertrauen che Wesen teilhaben an der Erfahrung der Unend-
und der Mut in das Streben nach Glück bestärkt wer- lichkeit« (Schmid 2000, 169). Darin werde der Ein-
den, und genau darin liegt der innere Zusammen- zelne durchdrungen »von einer Kraft, die umfassen-
hang zwischen dem Glück des Augenblicks und dem der ist als die des Individuums selbst« (169).
menschlichen Streben nach Glück. Glückslehren hingegen, die auf einer rein immanen-
13. Glück in der Theologie II. »Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen« 443

ten Dimension des Glücks aufbauen, steht eine Theo- Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Reli-
logie des Glücks als kritische Theorie gegenüber. gion. Reden an die Gebildeten unter ihren Veräch-
Dieses theologische Festhalten an der religiösen Di- tern [1799] (Hg. R. Otto). Göttingen 61967.
mension des Glücks bewahrt zugleich ein Erbe, das Schmid, Wilhelm: Schönes Leben? Eine Einführung in
seit der Antike wesenhaft zum Glücksverständnis die Lebenskunst. Frankfurt a. M. 2000.
gehört. Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Versuch
über Ethik [1989]. Stuttgart 41998.
–: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben. In:
Literatur
Ders.: Philosophische Essays. Erweiterte Ausgabe.
Claussen, Johann Hinrich: Glück und Gegenglück. Phi- Stuttgart 1994, 80–103.
losophische und theologische Variationen zu einem Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Eine
alltäglichen Begriff. Tübingen 2005. Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000.
James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung [1902] Tillich, Paul: Der Mut zum Sein [1952]. Berlin/New
(Übers. von Eilert Herms/Christian Stahlhut). Frank- York 1991.
furt a. M./Leipzig 1997. Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kir-
Lauster, Jörg: Gott und das Glück. Das Schicksal des gu- chen und Gruppen, Teilband II [1912]. Tübingen
ten Lebens im Christentum. Gütersloh 2004. 1994.
Rendtorff, Trutz: Ethik. Grundelemente, Methodologie Jörg Lauster
und Konkretionen einer ethischen Theologie. Bd. I
und II. Stuttgart/Berlin/Köln 21990/1991.
445

IX. Anhang

1. Literaturverzeichnis Einführungstexte und Beiträge


zur aktuellen Diskussion
Wer Literaturhinweise zu Einzelthemen sucht, sei Angehrn, Emil/Baertschi, Bernard (Hg.): Die Philo-
auf die Bibliographien der einzelnen Artikel verwie- sophie und die Frage nach dem Glück / La philoso-
sen. Die dort genannten Titel werden hier in der Re- phie et la question du bonheur. Bern/Stuttgart/Wien
gel nicht noch einmal aufgeführt. Im Folgenden fin- 1997.
den sich Lektüreempfehlungen zu einigen klassi- Annas, Julia: The Morality of Happiness. New York
schen philosophischen Werken sowie Hinweise zu 1993.
Baurmann, Michael/Kliemt, Hartmut (Hg.): Glück und
Texten, die sich als Überblicks- und Einführungs-
Moral. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart
werke bewährt haben oder den aktuellen Diskussi-
1987.
onsstand wiedergeben. Dass mit diesen Angaben nur
Bellebaum, Alfred (Hg.): Glücksforschung. Eine Be-
eine Auswahl aus der relevanten Literatur geboten
standsaufnahme. Konstanz 2002.
wird, versteht sich wohl von selbst. – /Barheier, Klaus (Hg.): Glücksvorstellungen. Ein
Rückgriff in die Geschichte der Soziologie. Opladen
Lektüreempfehlungen zu klassischen 1997.
Bien, Günther (Hg.): Die Frage nach dem Glück. Stutt-
philosophischen Texten
gart 1978.
Platon: Gorgias. Stuttgart 1998. Birnbacher, Dieter (Hg.): Glück. Arbeitstexte für den
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hamburg 1985. Unterricht. Stuttgart 1983.
Epikur: Von der Überwindung der Furcht. München Bruni, Luigino/Porta, Pier Luigi (Hg.): Economics and
1991. Happiness. Framings of Analysis. Oxford 2005.
Seneca, Lucius Annaeus: De vita beata/Über das glück- Bucher, Anton A.: Psychologie des Glücks. Ein Hand-
liche Leben. In: Ders.: Philosophische Schriften. buch. Weinheim/Basel 2009.
Darmstadt 1995, Bd. 1, 1–77. Claussen, Johann Hinrich: Glück und Gegenglück. Phi-
Epiktet/Teles/Musonius: Wege zum Glück. München losophische und theologische Variationen zu einem
1987. alltäglichen Begriff. Tübingen 2005.
Augustinus, Aurelius: De vita beata/Über das Glück. Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. Das Geheimnis des
Stuttgart 1989. Glücks [1990]. Stuttgart 1992.
Shaftesbury, Anthony Earl of: Untersuchung über die Diener, Ed/Eunkook M. Suh (Hg.): Culture and Subjec-
Tugend. An Inquiry Concerning Virtue and Merit tive Well-Being. Cambridge, MA/London 2000.
[1699]. In: Ders.: Der gesellige Enthusiast. München Easterlin, Richard A. (Hg.): Happiness in Economics.
1990, 211–320. Cheltenham/Northampton 2002.
Châtelet, Émilie du: Rede vom Glück. Discours sur le European Foundation for the Improvement of Living
bonheur [1746]. Berlin 1999. and Working Conditions (Hg.): Second European
La Mettrie, Julien Offray de: Über das Glück oder Das Quality of Life Survey. Living Conditions, Social Ex-
Höchste Gut (»Anti-Seneca«) [1749]. Nürnberg clusion and Mental Well-Being. Dublin 2010.
1985. Fellmann, Ferdinand: Philosophie der Lebenskunst zur
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sit- Einführung. Hamburg 2009.
ten [1785]. In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Frank- Forschner, Maximilian: Über das Glück des Menschen:
furt a. M. 1977, Bd. 7, 7–102. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant.
Mill, John Stuart: Utilitarismus [1863]. Stuttgart 1976. Darmstadt 1993.
Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral [1887]. Frey, Bruno S./Stutzer, Alois: Happiness and Economics.
In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. How the Economy and Institutions Affect Human
München/Berlin/New York 1988, Bd. 5, 245–412. Well-Being. Princeton/Oxford 2002.
446 IX. Anhang

Graham, Carol: Happiness Around the World. The Pa- Russell, Bertrand: Eroberung des Glücks. Neue Wege zu
radox of Happy Peasants and Miserable Millionaires. einer besseren Lebensgestaltung [1930]. Frankfurt
Oxford/New York 2009. a. M. 1982.
Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Geistige Scitovsky, Tibor: The Joyless Economy. The Psychology
Übungen in der Antike [1981]. Berlin 1991. of Human Satisfaction [1976]. New York/Oxford
Hampe, Michael: Das vollkommene Leben. Vier Medi- 1992.
tationen über das Glück. München 2009. Schildhammer, Georg: Glück. Wien 2009.
Haybron, Daniel M.: The Pursuit of Unhappiness: The Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine
Elusive Psychology of Well-being. Oxford 2008. Grundlegung. Frankfurt a. M. 1998.
Höffe, Otfried: Lebenskunst und Moral oder Macht Tu- Schneider, Wolf: Glück! Eine etwas andere Gebrauchs-
gend glücklich? München 2007. anweisung. Reinbek 2007.
Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. München 1998. Schnell, Alexander (Hg.): Le bonheur. Paris 2006.
Hoyer, Timo (Hg.): Vom Glück und glücklichen Leben. Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frank-
Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge. Göt- furt a. M. 1995.
tingen 2007. Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Versuch
Kahneman, Daniel/Diener, Ed/Schwarz, Norbert (Hg.): über Ethik. Stuttgart 1989.
Well-Being. The Foundations of Hedonic Psychology. Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt
New York 1999. a. M. 2003.
Kersting Wolfgang/Langbehn, Claus (Hg.): Kritik der Veenhoven, Ruut: Conditions of Happiness. Dordrecht
Lebenskunst. Frankfurt a. M. 2007. et al. 1984.
Lane, Robert E.: The Loss of Happiness in Market De- Weiner, Eric: Geographie des Glücks. Auf der Suche
mocracies. New Haven/London 2000. nach den zufriedensten Menschen der Welt. Berlin
Lauster, Jörg: Gott und das Glück. Das Schicksal des gu- 2008.
ten Lebens im Christentum. Gütersloh 2004. Williams, Bernard: Moral Luck. Cambridge 1981.
Layard, Richard: Die glückliche Gesellschaft. Kurswech-
sel für Politik und Wirtschaft. Frankfurt a. M./New
York 2005.
Lear, Jonathan: Happiness, Death, and the Remainder of
Life. Cambridge, MA/London 2000.
Lelord, François: Hektors Reise oder Die Suche nach
Glück [2002]. München/Zürich 2004.
Marcuse, Ludwig: Philosophie des Glücks. Von Hiob bis
Freud [1948]. Zürich 1972.
Mauzi, Robert: L’idée du bonheur dans la littérature et la
pensée françaises au XVIIIe siècle. Paris 1979.
McCready, Stuart (Hg.): The Discovery of Happiness.
Naperville 2001.
McMahon, Darrin M.: Happiness. A History. New York
2006.
Meck, Sabine: Vom guten Leben. Eine Geschichte des
Glücks. Darmstadt 2003.
Meier, Heinrich (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion.
München 2008.
Neiman, Susan/Kroß, Matthias (Hg.): Zum Glück. Ber-
lin 2004.
Nussbaum, Martha C./Sen, Amartya (Hg.): The Quality
of Life. Oxford u. a. 1993.
Pieper, Annemarie: Glückssache. Die Kunst, gut zu le-
ben. Hamburg 2001.
Reichert, Klaus: Fortuna oder Die Beständigkeit des
Wechsels. Frankfurt a. M. 1985.
Rescher, Nicholas: Glück. Die Chance des Zufalls [1995].
Berlin 1996.
3. Die Autorinnen und Autoren 447

2. Bildquellenverzeichnis 3. Die Autorinnen


und Autoren
Abb. 1: Jeff Koons: Jeff and Ilona made in Heaven, 1990,
Farbig gefasstes Holz, 127 × 272 × 137 cm; Courtesy
Kunstsammlung Nordrhein-Westfahlen, S. 326 Amalia Barboza, geb. 1972, wissenschaftliche Mitar-
Abb. 2: Takashi Murakami: And then, and then and beiterin am Fachbereich für Gesellschaftswissen-
then, 1995, Acryl auf Leinwand, 280 × 300,5 cm; schaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Courtesy Queensland Art Gallery, S. 327o Frankfurt/Main. Veröffentlichungen u. a.: Kunst und
Abb. 3: AES+F: Trimalchio‘s Feast, 2009, 9-Kanal HD
Wissen (2005); Insert. Kooperationen zwischen
Video Installation, 25 min 23 sec, Unconditional Love
Kunst und Wissenschaft (2007); Karl Mannheim
Exhibition, Venedig/Arsenale; Foto: Karen van den
(2009).
Berg; Courtesy AES+F / Triumph Gallery, Moscow,
S. 327u
Abb. 4: Félix González-Torres: Untitled (Placebo), 1991, Karen van den Berg, geb. 1963, Professorin für Kul-
Installationsansicht Williams College Museum of turmanagement und inszenatorische Praxis an der
Art, Image courtesy of the Williams College Museum Zeppelin University Friedrichshafen. Veröffentli-
of Art; photo by Roman Iwasiwka; Courtesy Museum chungen u. a.: Agenten der Peinlichkeit (2007); Der
of Modern Art New York, S. 328 Schmerz des Anderen (2007); Kreativität. Drei Absa-
Abb. 5: Rikrit Tiravanija: Untitled, 1996 (tomorrow is gen der Kunst an ihren erweiterten Begriff. In: Ste-
another day); Courtesy Kölnischer Kunstverein, S. phan Janssen u. a. (Hg.): Rationalität der Kreativität?
329o (2009); Politik des Zeigens (Mithg., 2010).
Abb. 6: Carsten Höller: Flugapparat, 1996, Mixed Media,
Höhe 530 cm, ’ 800 cm; Rechte bei VG Bildkunst, S. Michael von Brück, geb. 1949, Professor für Religi-
329u onswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Uni-
Abb. 7: Apolonija Šušteršic: Light Therapy, 1999, Möbel versität München und Leiter des Interfakultären Stu-
und Mixed Media, Moderna Museet Stockholm; © diengangs Religionswissenschaft.Veröffentlichungen
Apolonija Šušteršic, S. 330o u. a.: Zen. Geschichte und Praxis (2004); Bhagavad
Abb. 8: Andrea Fraser: Still from Untitled, 2003, project Gita (2007); Einführung in den Buddhismus (2007);
and DVD, 60 minutes, no sound; Courtesy Friedrich Ewiges Leben oder Wiedergeburt (2007); Religion
Petzel Gallery, S. 330u und Politik in Tibet (2008); Leben in der Kraft der
Abb. 9: Thomas Locher: Universal Declaration of Hu-
Rituale (2011).
man Rights, Article 14/1, Everyone has the right to
seek and to enjoy in other countries asylum from per-
Luigino Bruni, Associate Professor für Wirtschafts-
secution, 2002/03, C-print/Diasec/Aluminiumrah-
men, 209,3 × 159 cm; © Thomas Locher, S. 331
wissenschaften an der Universität Milan-Bicocca
Abb. 10: Nan Goldin: Jimmy Paulette and Taboo! In the (Italien). Veröffentlichungen u. a.: Civil Happiness
bathroom, NYC 1991, in: David Armstrong/Walter (2006); Civil Economy (Mithg., 2007); A Handbook
Keller (Hg.): Nan Goldin. The other side, Manches- on the Economics of Happiness (Mithg., 2007); Reci-
ter: Cornerhouse Publications 1993, S. 51, S. 332o procity, Altruism and Civil Society (2008).
Abb. 11: Richard Billingham: Untitled, from Ray’s a
Laugh, 1995, c-print, 45 cm × 35 cm; Courtesy An- Monika Bullinger, geb. 1954, Professorin für Medizi-
thony Reynolds Gallery, S. 332u nische Psychologie am Universitätsklinikum Ham-
burg-Eppendorf und approbierte Verhaltensthera-
peutin. Veröffentlichungen u. a.: BELLA Study
Group. Psychometric properties of the KINDL-R
questionnaire (m. A. Brütt, M. Erhart, U. Ravens-Sie-
berer). In: European Child & Adolescent Psychiatry
17 (2008); Psycho-social determinants of quality of
life in children and adolescents with haemophilia
(m. S. von Mackensen). In: Clinical Psychology &
Psychotherapy 15 (2008); Lebensqualität und Förde-
rung der Lebensqualität (m. A. Brütt). In: M. Linden/
448 IX. Anhang

W. Weig (Hg.): Salutotherapie in Prävention und Re- und der Sex. Zum Prozess der Einverleibung sexuel-
habilitation (2009); Lebensqualität von krebsbetrof- len Körperwissens. In: R. Keller/M. Meuser (Hg.):
fenen Familien (m. L. Kröger). In: U. Koch/J. Weis Körperwissen (2010); Der Therapeut. In: S. Moe-
(Hg.): Jahrbuch der medizinischen Psychologie 22 bius/M. Schroer (Hg.): Sozialfiguren der Gegenwart
(2009); Interkulturelle Lebensqualitätforschung (m. (2010).
S. Schmidt). In: F.A. Muthny/O. Bermejo: Interkultu-
relle Medizin (2009). Jens Eder, geb. 1969, Professor für Filmwissenschaft
an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Alan Corkhill, geb. 1948, Associate Professor in Ger- Mithg. von Medienwissenschaft/Hamburg: Berichte
man Studies an der University of Queensland, Bris- und Papiere (Internet). Veröffentlichungen u. a.: Dra-
bane (Australien). Mithg. von Seminar. A Journal of maturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und
Germanic Studies. Veröffentlichungen u. a.: The Mo- Filmtheorie (1999); Oberflächenrausch. Postmo-
tif of Fate in the Works of Ludwig Tieck (1978); Anti- derne und Postklassik im Kino der 90er Jahre (Hg.,
podean Encounters. Australia and the German Li- 2002); Audiovisuelle Emotionen (Mithg., 2007); Die
terary Imagination 1754–1918 (1990); Glückskon- Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse
zeptionen im deutschen Roman von Wielands (2008); Characters in Fictional Worlds. Understan-
»Agathon« bis Goethes »Wahlverwandtschaften« ding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other
(2003); Reading Female Happines in Eighteenth- Media (Mithg., 2010).
and Nineteenth-Century German Literature. Texts
and Contexts. Sonderband. Seminar. A Journal of Ferdinand Fellmann, Professor em. für Philoso-
German Studies (Mithg., 2011). phie an der Technischen Universität Chemnitz. Ver-
öffentlichungen u. a.: Lebensphilosophie. Elemente
Markus Dauss, geb. 1974, wissenschaftlicher Mitar- einer Theorie der Selbsterfahrung (1993); Die Angst
beiter am Institut für Kunstgeschichte der Johann des Ethiklehrers vor der Klasse. Ist Moral lehrbar?
Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main. Ver- (2000); Das Paar. Eine erotische Rechtfertigung des
öffentlichungen u. a.: Identitätsarchitekturen: Öffent- Menschen (2005); Phänomenologie (2006); Philoso-
liche Bauten des Historismus in Paris und Berlin phie der Lebenskunst (2009).
(1871–1918) (2007); Leib/Seele – Geist/Buchstabe.
Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um László F. Földényi, geb. 1952, Professor für Kunstthe-
1800 und 1900 (Mithg., 2009); Das ›neue‹ Frankfurt. orie an der Akademie für Theater und Film Buda-
Innovationen in der Frankfurter Kunst vom Mittel- pest (Ungarn). Mitglied der Deutschen Akademie
alter bis heute (Mithg., 2010). für Sprache und Dichtung. Veröffentlichungen u. a.:
Melancholie (1988); C.D. Friedrich. Die Nachtseite
Diedrich Diederichsen, Professor für Theorie, Praxis der Malerei (1993); Abgrund der Seele. Goyas Saturn
und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Aka- (1995); Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter
demie der Bildenden Künste Wien. Veröffentli- (1999); Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörter-
chungen u. a.: Argument Son (2007); Über den buch (2009).
Mehrwert der Kunst (2008); Kritik des Auges (2008);
Eigenblutdoping (2008); Immediacy and Dissimul- Jana Gohrisch, geb. 1962, Professorin für Englische
taneity: Utopia of Sound (Mithg., 2009); Psicodelia y Literaturwissenschaft und Neue Englischsprachige
ready-made (2010). Literaturen an der Gottfried Wilhelm Leibniz Uni-
versität Hannover. Mithg. von Hard Times: Deutsch-
Stefanie Duttweiler, geb. 1967, wissenschaftliche Mit- Englische Zeitschrift. Veröffentlichungen u. a.: (Un)
arbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Belonging? Geschlecht, Klasse, Rasse und Ethnizität
Basel und Oberassistentin am Institut für Er- in der britischen Gegenwartsliteratur: Joan Rileys
ziehungswissenschaften der Universität Zürich Romane (1994); Bürgerliche Gefühlsdispositionen
(Schweiz). Veröffentlichungen u. a.: Sein Glück ma- in der englischen Prosa des 19. Jahrhunderts (2005).
chen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungs-
technologie (2007); »Fragen Sie Dr. Sex!« Ratgeber- Karl Erich Grözinger, Professor em. für Religionswis-
kommunikation und die mediale Konstruktion des senschaft und Jüdische Studien an der Universität
Sexuellen (Mithg., 2010); Expertenwissen, Medien Potsdam. Affiliated Professor an der Universität
3. Die Autorinnen und Autoren 449

Haifa (Israel). Veröffentlichungen u. a.: Musik und sponses to the suffering of ingroup- and outgroup
Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Lite- members predict individual differences in costly hel-
ratur (1982); Kafka und die Kabbala (1992, 32003); ping. In: Neuron 68 (2010).
Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov (Hg., 1997);
Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie und Mys- Christoph Henning, geb. 1973, Leiter eines SNF-Pro-
tik, 3 Bände, 2004–2009 (Bd. 4 in Vorbereitung); Der jekts zur politischen Philosophie an der Universität
Ba’al Schem von Michelstadt. Ein deutsch-jüdisches St. Gallen (Schweiz). Veröffentlichungen u. a.: Philo-
Heiligenleben zwischen Legende und Wirklichkeit, sophie nach Marx (2005); Marxglossar (Hg., 2006);
2010. Schwerpunkt »Perfektionismus« (Hg.). In: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 5 (2010); Gottfried Salo-
Hans Ulrich Gumbrecht, Professor für Literatur an mon-Delatour, Schriften (Hg., 2011).
der Stanford University (USA). Mitglied der Ameri-
can Academy of Arts & Sciences. Veröffentlichungen Gunnar Hindrichs, geb. 1971, Heisenbergstipendiat
u. a.: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit (2003, engl. der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Privat-
1998); Dimensionen und Grenzen der Begriffsge- dozent an der Universität Heidelberg. Veröffentli-
schichte (2006, engl. 2003); Diesseits der Hermeneu- chungen u. a.: Negatives Selbstbewußtsein (2002);
tik. Über die Produktion von Präsenz (2006, engl. Das Absolute und das Subjekt (2008, 22011).
2004); California Graffiti – Bilder vom westlichen
Ende der Welt (2010); Unsere breite Gegenwart Jochen Hörisch, geb. 1951, Professor für Neuere Ger-
(2010). manistik und Medienanalyse an der Universität
Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: Gott, Geld und
Michael Hampe, geb. 1961, Professor für Philosophie Glück (1983); Ende der Vorstellung – Die Poesie der
an der ETH Zürich (Schweiz). Veröffentlichungen Medien (1999); Es gibt (k)ein richtiges Leben im
u. a.: Die Macht des Zufalls (2006); Erkenntnis und falschen (2003); Vorletzte Fragen (2007); Bedeut-
Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus (2006); samkeit (2009).
Kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs (2007);
Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über Christoph Horn, geb. 1964, Professor für Philosophie
das Glück (2009). an der Universität Bonn. Mithg. des Archivs für Ge-
schichte der Philosophie und der Zeitschrift für phi-
Christoph Harbsmeier, geb. 1946, Professor für Chi- losophische Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Plo-
nesisch an der Universität Oslo (Norwegen). Chief tin über Sein, Zahl und Einheit (1995); Augustinus
Editor des Thesaurus Linguae Sericae (url: tls.uni- (1995); Augustinus, De civitate dei (Hg., 1997); An-
hd.de). Veröffentlichungen u. a.: Wilhelm von Hum- tike Lebenskunst (1998); Politische Philosophie
boldt und die philosophische Grammatik des Altchi- (2003).
nesischen (1978); Konfuzius und der Räuber Zhi
(1978); Aspects of Classical Chinese Syntax (1981); Bernhard Irrgang, geb. 1953, Professor für Technik-
Socialist Realism with a Buddhist Face: the Cartoo- philosophie an der Technischen Universität Dres-
nist Feng Zikai (1984); Language and Logic (1998). den. Veröffentlichungen u. a.: Technologietransfer
transkulturell. Komparative Hermeneutik von Tech-
Grit Hein, Leiterin eines Branco Weiss-Projekts am nik in Europa, Indien und China (2006); Hermeneu-
Laboratory for Social and Neural Systems Research tische Ethik (2007); Philosophie der Technik (2008);
an der Universität Zürich (Schweiz). Veröffentli- Der Leib des Menschen (2009); Grundriss der Tech-
chungen u. a.: G. Hein u. a.: Object familiarity and se- nikphilosophie (2009).
mantic congruency modulate responses in cortical
audiovisual integration areas. In: Journal of Neuro- Vincent Kaufmann, geb. 1955, Professor für franzö-
science 27 (2007); G. Hein/T. Singer: I feel how you sische Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20.
feel but not always: The empathic brain and its mo- Jahrhunderts und der Gegenwart & Medien an der
dulation. In: Current Opinion in Neurobiology 18 Universität St. Gallen (Schweiz). Veröffentlichungen
(2008); G. Hein/R. T. Knight: Superior temporal sul- u.a: L’Equivoque épistolaire (1990); Poétique des
cus – It’s my area: Or is it? In: Journal of Cognitive groupes littéraires. Avant-gardes 1920 – 1970 (1997);
Neuroscience 12 (2008); G. Hein u. a.: Neural re- Guy Debord. Die Revolution im Dienste der Poesie
450 IX. Anhang

(2004; franz. 2001); Ménage à trois. Littérature, mé- Overbeck: Briefwechsel (Mithg., 2000); Gouverne-
decine, religion (2007); La faute à Mallarmé. mentalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Bei-
L’Aventure de la théorie littéraire (2011). träge im Anschluss an Foucault (Mithg., 2008); Kri-
tik der konsensuellen Postdemokratie. Rancière und
Matthias Kroß, geb. 1953, wissenschaftlicher Refe- Arendt über die Paradoxien von Macht und Gleich-
rent am Einstein Forum in Potsdam und Lehrbeauf- heit. In: Leviathan (2011).
tragter für Allgemeine Soziologie an der Universität
Potsdam. Mithg. der Wittgensteiniana. Veröffentli- Dietmar Mieth, geb. 1940, Professor em. für Theolo-
chungen u. a.: Klarheit als Selbstzweck. Ludwig Witt- gische Ethik/Sozialethik an der Katholisch-Theolo-
genstein über Philosophie, Religion, Ethik und Ge- gischen Fakultät der Universität Tübingen. Fellow
wissheit (1993); Wittgenstein und die Metapher und Mitglied der Kollegforschergruppe »Religiöse
(Mithg., 2004); Zum Glück (Mithg., 2004); Ludwig Individualisierung in historischer Perspektive« am
Wittgenstein: Ingenieur – Philosoph – Künstler Max Weber Kolleg der Universität Erfurt. Veröffent-
(Mithg., 2007); »Ein Netz von Normen«: Wittgen- lichungen u. a.: Meister Eckhart: Einheit mit Gott
stein und die Mathematik (Hg., 2008). (Hg., 2008); Grenzenlose Selbstbestimmung? (Hg.,
2008); Solidarität und Gerechtigkeit (2009).
Jörg Lauster, geb. 1966, Professor für Systematische
Theologie und Religionsphilosophie an der Philipps- Olivia Mitscherlich-Schönherr, geb. 1973, Koordina-
Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Gott torin des Graduiertenkollegs »Lebensformen und
und das Glück (2004); Religion als Lebensdeutung Lebenswissen« der Universitäten Potsdam und
(2005); Zwischen Entzauberung und Remythisie- Frankfurt/Oder und Lehrbeauftragte für Philoso-
rung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma (2008). phie an der Universität Potsdam. Veröffentlichungen
u. a.: Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in
Bea Lundt, geb. 1950, Professorin für Geschichte des sich gebrochene Lebensphilosophie (2007); Schwer-
Mittelalters und Didaktik der Geschichte an der Uni- punkt »Glauben und Wissen« (Hg.). In: Deutsche
versität Flensburg. Lehraufträge und Assoziierungen Zeitschrift für Philosophie 2 (2009); Teleologische
an der Humboldt-Universität Berlin. Veröffentli- Grundlagen philosophischer Selbsterkenntnis. In:
chungen u. a.: Lustgarten und Dämonenpein. Kon- Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2 (2009); Der
zepte von Weiblichkeit in Mittelalter und Früher Gleichnischarakter der Liebe. In: Rosenzweig-Jahr-
Neuzeit (Mithg., 1997); Europas Aufbruch in die buch 5 (2010).
Neuzeit. Kultur- und Mentalitätsgeschichte 1500–
1800 (2009). Jürgen Oelkers, geb. 1947, Professor für Allgemeine
Pädagogik an der Universität Zürich (Schweiz).
Christoph Menke, Professor für Praktische Philoso- Mithg. der Zeitschrift für Pädagogik. Veröffentli-
phie am Exzellenzcluster »Die Herausbildung nor- chungen u. a.: Reformpädagogik. Eine kritische Dog-
mativer Ordnungen« und am Institut für Philoso- mengeschichte (2005); Rousseau (2008); John De-
phie der Johann Wolfgang Goethe-Universität wey und die Pädagogik (2009); Handwörterbuch für
Frankfurt/Main. Veröffentlichungen u. a.: Die Souve- Erziehungswissenschaft (Mithg., 2009); Historisches
ränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Wörterbuch der Pädagogik (Mithg., 2010).
Adorno und Derrida (1988); Spiegelungen der
Gleichheit (2000); Die Gegenwart der Tragödie. Ver- Ludwig Paul, geb. 1963, Professor für Iranistik an der
such über Urteil und Spiel (2005); Kraft. Ein Grund- Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Za-
begriff ästhetischer Anthropologie (2008). zaki. Grammatik und Versuch einer Dialektologie
(1998); Vom Kolonialinstitut zum Asien-Afrika-In-
Katrin Meyer, geb. 1962, Koordinatorin des Netz- stitut – 100 Jahre Asien-Afrikawissenschaften in
werks Gender Studies Schweiz an der Universität Hamburg (Hg., 2008); Iranian Language Reform in
Basel und Lehrbeauftragte für Philosophie an der the Twentieth Century: Did the First Farhangestān
Universität St. Gallen (Schweiz). Veröffentlichungen (1935–40) Succeed? In: Journal of Persianate Studies
u. a.: Ästhetik der Historie. Friedrich Nietzsches 3 (2010); Orientalism and Conspiracy. Essays in Ho-
»Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Le- nour of Sadik al-Azm (Mithg., 2010).
ben« (1998); Friedrich Nietzsche – Franz und Ida
3. Die Autorinnen und Autoren 451

Annemarie Pieper, geb. 1941, Professorin em. für Phi- Ulrich Schmid, geb. 1965, Professor für Kultur und
losophie an der Universität Basel (Schweiz). Mitglied Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen
u. a. der Karl Jaspers-Stiftung Basel. Veröffentli- (Schweiz). Veröffentlichungen u. a.: Ichentwürfe.
chungen u. a.: Søren Kierkegaard (2000); Glückssa- Russische Autobiographien zwischen Avvakum und
che. Die Kunst, gut zu leben (32007); Einführung in Gercen (2000); Russische Religionsphilosophen des
die Ethik (62007); Selber denken. Anstiftung zum 20. Jahrhunderts (2003); Russische Medientheorien
Philosophieren (62008). (Hg., 2005); Tolstoi (2010); Literaturtheorien des 20.
Jahrhunderts (Hg., 2010).
Heinz Rölleke, geb. 1936, Professor em. für Literatur-
wissenschaft und Volkskunde an der Bergischen Helwig Schmidt-Glintzer, geb. 1948, Direktor der
Universität Wuppertal. Hg. der Zeitschrift Wirkendes Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und Profes-
Wort und vieler Märchenausgaben. Veröffentli- sor für Sinologie an der Universität Göttingen. Ver-
chungen u. a.: Grimms Märchen und ihre Quellen öffentlichungen u. a.: Geschichte der chinesischen
(22004); Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Ein- Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart
führung (42004); Briefwechsel zwischen J. und W. (21999); Kleine Geschichte Chinas (2008; 22010);
Grimm. 2. Teil (2006); »Und was der ganzen Mensch- Wohlstand, Glück und langes Leben. Chinas Götter
heit«. Aufsätze zu Goethes »Faust« (2009); »Alt wie und die Ordnung im Reich der Mitte (2009).
der Wald«. Aufsätze zu Grimms Märchen (22010).
Arbogast Schmitt, geb. 1943, Professor für Klassische
Peter Schallenberg, geb. 1963, Professor für Moralthe- Philologie an der Universität Marburg. Veröffentli-
ologie und Ethik an der Theologischen Fakultät Pa- chungen u. a.: Selbständigkeit und Abhängigkeit
derborn. Direktor der Katholischen Sozialwissen- menschlichen Handelns bei Homer (1990); Die Mo-
schaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach. Veröf- derne und Platon. Zwei Grundformen europäischer
fentlichungen u. a.: Vom Glück des Glaubens (2008); Rationalität (2003, 22008); Aristoteles, Poetik (Übers.
Gott, das Gute und der Mensch (2009); Wer ist Gott und erläutert; 2008); Denken und Sein bei Platon
und was machen wir wenn es ihn gibt (2010). und Descartes. Kritische Anmerkungen zur ݆ber-
windung‹ der antiken Seinsphilosophie durch die
Michael Schefczyk, geb. 1967, Professor für Praktische moderne Philosophie des Subjekts (2011).
Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg.
Veröffentlichungen u. a.: Umverteilung als Legitima- Peter Schnyder, geb. 1967, Professor für Neuere deut-
tionsproblem (22005); John Stuart Mill zur Einfüh- sche Literaturwissenschaft an der Universität
rung (mit D. Kuenzle, 2009); Verantwortung für his- Neuchâtel (Schweiz). Veröffentlichungen u. a.: Die
torisches Unrecht (2011). Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik
in Friedrich Schlegels Frühwerk (1999); Kollektive
Stephan Schleim, Assistent Professor für Theorie und Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere un-
Geschichte der Psychologie an der Universität Gro- fassbare Körper (Mithg., 2006); Alea. Zählen und Er-
ningen (Niederlande). Barbara Wengeler Preisträger zählen im Zeichen des Glücksspiels 1650–1850
2010. Veröffentlichungen u. a.: Gedankenlesen. Pio- (2009).
nierarbeit der Hirnforschung (2008); Von der Neu-
roethik zum Neurorecht. Vom Beginn einer Debatte Dominik Schrage, Privatdozent für Soziologie an der
(Mithg., 2009); Die Neurogesellschaft. Wie die Hirn- Technischen Universität Dresden. Veröffentli-
forschung Recht und Moral herausfordert (2011). chungen u. a.: Psychotechnik und Radiophonie. Sub-
jektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten
Matthias Schloßberger, geb. 1972, wissenschaftlicher 1918–1932 (2001); Das Management der Kunden.
Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universi- Studien zur Soziologie des Shopping (Mithg., 2007);
tät Potsdam. Redakteur des Internationalen Jahr- Zwischen Methodenpluralismus und Datenhandel.
buchs für Philosophische Anthropologie. Veröffent- Zur Soziologie der kommerziellen Konsumfor-
lichungen u. a.: Die Erfahrung des Anderen. Gefühle schung (Mithg., 2008); Die Verfügbarkeit der Dinge.
im menschlichen Miteinander (2005). Eine historische Soziologie des Konsums (2009).
452 IX. Anhang

Florian Schulz, geb. 1977, Diplom-Psychologe und Entrepreneurship and Regional Development 16
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Or- (2004); The Troubadours of Knowledge: Passion and
ganisationspsychologie an der Universität St.Gallen Invention in Management Education (m. P. Dey). In:
(Schweiz). Aktueller Forschungsschwerpunkt: Die Organization 14 (2007); HRM and Performance: A
Organisation vom Emotionen durch die Überset- Plea for Reflexivity in HRM-studies (m. M. Janssens).
zung therapeutische Praktiken in die Arbeitswelt. In: Journal of Management Studies 1 (2009); The Po-
litics and Aesthetics of Entrepreneurship (m. D.
Reinhard Schulze, geb. 1953, Professor für Islamwis- Hjorth, 2010); Relational Practices, Participative Or-
senschaft und Neuere Orientalische Philologie an ganizing (m. B. van Looy, 2010).
der Universität Bern (Schweiz). Veröffentlichungen
u. a.: Islamischer Internationalismus im 20. Jahrhun- Dieter Sturma, geb. 1953, Professor für Philosophie
dert (1990); Geschichte der islamischen Welt im 20. an der Universität Bonn. Direktor des Instituts für
Jahrhundert (1993, 22002); Die Dritte Unterschei- Wissenschaft und Ethik Bonn, des Deutschen Refe-
dung: Islam, Religion und Säkularität (2010); Islam- renzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften
wissenschaft und Religionswissenschaft (2010); Der Bonn/Düsseldorf und des Instituts für Ethik in den
Islam als politische Religion: eine Kritik normativer Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich.
Voraussetzungen (2010). Veröffentlichungen u. a.: Philosophie der Person. Die
Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität
Volker Schürmann, geb. 1960, Professor für Philoso- (1997, 22008); Jean-Jacques Rousseau (2001); Kants
phie mit Schwerpunkt Sportphilosophie an der Ethik (Hg., 2004); Philosophie des Geistes (2005);
Deutschen Sporthochschule Köln. Redakteur der Philosophie und Neurowissenschaften (Hg., 2006).
Enzyklopädie Philosophie (2010, Hg. Sandkühler).
Veröffentlichungen u. a.: Zur Struktur hermeneu- Dieter Thomä, geb. 1959, Professor für Philosophie
tischen Sprechens [zu Josef König] (1999); Mensch- an der Universität St. Gallen (Schweiz). Mithg. der
liche Körper in Bewegung (Hg., 2001); Heitere Ge- Reihe »Zur Einführung« des Junius-Verlages. Veröf-
lassenheit (2002); Muße (22003); Sprache der Bewe- fentlichungen u. a.: Erzähle dich selbst. Lebensge-
gung (Mithg., 2004). schichte als philosophisches Problem (1998); Vom
Glück in der Moderne (2003); Heidegger-Handbuch
Werner Stegmaier, geb. 1946, Professor für Philoso- (Hg., 2003); Totalität und Mitleid (2006); Väter. Eine
phie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der moderne Heldengeschichte (2008).
Universität Greifswald. Mithg. der Nietzsche-Stu-
dien und der Monographien und Texte der Nietz- Ruut Veenhoven, geb. 1942, Professor em. für Sozio-
sche-Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Substanz. logie an der Erasmus Universität Rotterdam (Nie-
Grundbegriff der Metaphysik (1977); Philosophie derlande). Begründer der World Database of Happi-
der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche (1992); ness und des Journal of Happiness Studies. Veröf-
Nietzsches »Genealogie der Moral« (1994); Emma- fentlichungen u. a.: The four qualities of life. In:
nuel Levinas zur Einführung (2002, Neudr. 2009); Journal of Happiness Studies 1 (2000); Capability
Philosophie der Orientierung (2008). and Happiness. In: Journal of Socio-Economics 39
(2010); Life is getting better: Societal evolution and
Holmer Steinfath, geb. 1961, Professor für Philoso- fit with human nature. In: Social Indicators Research
phie an der Georg-August-Universität Göttingen. 97 (2010); How universal is happiness? In: E. Diener
Veröffentlichungen u. a.: Selbständigkeit und Ein- u. a. (Hg.): International Differences in Well-Being
fachheit. Zur Substanztheorie des Aristoteles (1991), (2010); Greater happiness for a greater number: is
Was ist ein gutes Leben? (Hg., 1998); Orientierung that possible and desirable? In: Journal of Happiness
am Guten (2001). Studies 11 (2010).

Chris Steyaert, geb. 1962, Professor für Organisati- Morris Vollmann, geb. 1974, wissenschaftlicher Mit-
onspsychologie an der Universität St. Gallen arbeiter im interdisziplinären Forschungsprojekt
(Schweiz). Veröffentlichungen u. a.: Reclaiming the »Gutes Leben im hohen Alter angesichts von Verletz-
Space of Entrepreneurship in Society: Geographical, lichkeit und Endlichkeit – eine Analyse von Alters-
Discursive and Social Dimensions (m. J. Katz). In: bildern in öffentlichen Diskursen und Alltagsprak-
4. Personenregister 453

tiken« an der Technischen Universität Dresden. 4. Personenregister


Veröffentlichungen u. a.: Freud gegen Kant? Psycho-
analytische Moralkritik und praktische Vernunft
(2010); Der Sinn des Alterns zwischen Glück und ‘Abd Allāh, Wisām 360
Leiden (mit Th. Rentsch). In: S. Schicktanz u. a. (Hg.): Abduh, Muhammad 360
Altern im Fokus der modernen Medizin (2011). Abram, David 366
Abu Bakr ar-Razi 358
Françoise Wemelsfelder, Reader in Animal Welfare Ackrill, John 123
and Qualitative Science am Scottish Agricultural Adams, John 173
College in Edinburgh (Schottland). Veröffentli- Adelung, Johann-Christoph 13
Adler, Max 251
chungen u. a.: The scientific validity of subjective
Adolphs, Ralph 377
concepts in models of animal welfare. In: Applied
Adorno, Theodor W. 40, 51, 54f., 57, 60–62, 79, 282–290,
Animal Behaviour Science 53 (1997); Assessing the
324, 333, 417
›whole animal‹: a Free-Choice-Profiling approach
Agamben, Giorgio 332
(m. E. A. Hunter, M. T. Mendl, A. B. Lawrence). In: Aharon, Itzhak 376
Animal Behaviour 62 (2001); Animal Boredom: Un- Ahuvia, Aron 406
derstanding the tedium of confined lives. In: F. Mc- Aischylos 137, 139
Millan (Hg.): Mental Health and Well-Being in Ani- Al-Attas, Muhammad Naguib 360
mals (2005); How animals communicate quality of Alberti, Leon Battista 426
life. In: Animal Welfare 16 (2007). Albrecht, Clemens 282–284
Alcott, Louisa May 239
Saskia Wendel, geb. 1964, Professorin für Systema- Alembert, Jean-Baptiste le Rond d’ 39, 97
tische Theologie an der Universität Köln. Vorsit- Aleksandr II., Zar 243
zende von AGENDA – Forum katholischer Theolo- Alexander der Große 96
ginnen. Veröffentlichungen u. a.: Jean-François Lyo- Al-Farâbî, Abu Nasr 358
tard. Aisthetisches Ethos (1997); Affektiv und in- Al-Ghazzâlî, Abû Hâmid 359
karniert. Ansätze Deutscher Mystik als subjekttheore- Al-Kindî 358
tische Herausforderung (2002); Feministische Ethik Allen, William 432
zur Einführung (2003); Christliche Mystik. Eine Ein- Althusser, Louis 204
führung (2004); Religionsphilosophie (2010). Alvesson, Mats 414
‘Amiri, ‘Abdallah Muhammad Ghanim 360
Tilo Wesche, wissenschaftlicher Oberassistent und Anders, Günther 324
Privatdozent an der Universität Basel (Schweiz). Ver- Andrian, Leopold von 237
öffentlichungen u. a.: Kierkegaard. Eine philoso- Ansari, Muhammad Abdul Haqq 358
phische Einführung (2003); Anfang und Grenzen Anselm von Canterbury 141
Antoci, Angelo 408
des Sinns (Mithg., 2006); Was ist Kritik? (Mithg.,
Antonioni, Michelangelo 323
2009, 22010); Wahrheit und Werturteil. Eine Theorie
Antonovsky, Aaron 393
der praktischen Rationalität (2011).
Apel, Karl-Otto 256
Aragon, Louis 271
Arburg, Hans-Georg von 422
Arend, Stefanie 39
Arendt, Hannah 33, 88, 97, 175
Argyle, Michael 407
Ariès, Philippe 93
Ariost, Ludovico 151
Aristipp von Kyrene 117, 129, 377
Aristophanes 89, 139, 424
Aristoteles 1–9, 11f., 25, 27, 33f., 43–46, 52, 58, 65, 89,
92–98, 105, 117–127, 135–139, 141f., 145, 200, 211,
217, 260, 273f., 300, 303, 305, 354, 358, 388, 404–409,
435
454 IX. Anhang

Arkesilaos 130 Bekoff, Marc 366


Armstrong, David 332 Bell, Daniel 252, 418–420
Arnauld, Antoine 152, 304 Bellamy, Edward 113
Arnim, Achim von 221 Bellebaum, Alfred 249
Arntz, Klaus 355 Bellini, Vincenzo 244
ar-Râzî, Abû Bakr 358 Ben Abraham, R. Jizchak 21
Arweiler, Alexander 94 Benach, Joan 393
Ascher, Saul 349 Benjamin,Walter 37, 57, 72, 78, 223, 282–290
Asmuth, Christoph 192 Benn, Gottfried 8, 27, 288
Aßländer, Michael 33 Bentham, Jeremy 34, 97, 99, 113, 153, 163–169, 176, 178,
Aston, Louise 234 260, 396, 402, 406, 409, 431
Augustinus, Aurelius 1f., 35, 81, 110, 1334, 144, 263, 265, Berg, Karen van den 327
353f., 440 Bergman, Frithjof 37
Auhagen, Ann Elisabeth 393 Bergman, Ingmar 323
Austen, Jane 240 Bernanos, Georges 271
Averroes 359 Bernoulli, Jakob 152
Avicenna 359 Bernstein, Richard 259, 261
Ayler, Albert 318 Berridge, Kent C. 384
Bette, Karl-Heinrich 105
Babeuf, Gracchus 177, 181 Bianca, Stefano 423
Bachtin, Michail 38 Biehler, Birgit 97
Bacon, Francis 35, 77, 112f., 143, 148, 173, 371, 425 Bieri, Peter 56, 60
Badiou, Alain 61, 93, 98 Billingham, Richard 332f.
Baeumer, Max 38 Birke, Lyndia I. 365
Bahrdt, Hans Paul 421 Birnbacher, Dieter 68, 72, 297
Baier, Annette C. 86 Bitsko, Matthew J. 388
Bail, Johann Samuel 308 Blake, William 53
Bailey, Henry 392 Blakemore, Sarah-Jayne 379
Bailey, James 407 Blazwick, Iwona 330
Balcombe, Jonathan 365 Bloch, Ernst 72, 109, 288f.
Balibar, Étienne 200 Blochmann, Elisabeth 88, 269
Balzac, Honoré de 230–233 Blood, Anne.J. 376
Barbey d’Aurevilly, Jules 230 Blumenberg, Hans 68, 145, 147, 178
Bareau, André 342 Boccaccio, Giovanni 145, 159
Bargatzky, Thomas 8 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 437
Barheimer, Klaus 249 Bodefeld, Gerda 422
Barnett, John L. 364 Boff, Leonardo 355
Barry, Daved 411 Bohnsack, Fritz 259
Bartels, Meike 390 Boileau, Isabelle 376
Baudelaire, Charles 51, 153 Boissy, Alain 365
Bauer, Bruno 200f. Bok, Derek 93, 396
Bauer, Edgar 201 Böll, Heinrich 37
Bauer, Jack 415 Bollnow, Otto Friedrich 39, 276
Bauer, Wolfgang 337 Bolz, Norbert 311
Bauman, Zygmunt 418 Bonacker, Kathrin 424
Baumgarten, Eduard 255 Boomsma, Dorret I. 390
Baxmann, Inge 40 Bordwell, David 320, 323
Beccaria, Cesare 97 Borkačev, Sergej 17
Becker, Carl 173 Bostrom, Nick 56, 77
Becker, Marcel 435 Boulad-Ayoub, Josiane 177
Becker, Mathias 288 Boullée, Louis-Étienne 426
Beer, Jennifer S. 378 Bourbon, Etienne de 158
Behne, Adolf 424 Bourdieu, Pierre 200, 249, 417
4. Personenregister 455

Bourriaud, Nicolas 328 Cantril, Hadley 405


Bovelles, Charles de 145f. Capra, Frank 115
Braddon, Mary Elizabeth 239 Carlyle, Thomas 34, 100, 164
Bradley, Francis Herbert 164 Carver, Charles S. 393
Brandt, Reinhard 184 Casetti, Francesco 320
Brandt, Richard 297 Cassirer, Ernst 34, 144f., 147
Brant, Sebastian 160 Cavell, Stanley 58, 61, 323
Braverman, Harry 412 Celan, Paul 90
Brecht, Bertolt 1, 27, 434 Céline, Louis-Ferdinand 267
Brefczynski-Lewis, Julie A. 380 Černyševskij, Nikolaj 114, 245
Bremer, Thomas 18 Chances, Ellen 243
Brentano, Clemens 221 Chastellux, François J. de 97
Breschnjew, Leonid 18 Chateaubriand, François René 216
Breton, André 114, 271 Chopins, Kate 240
Brickman, Philip 404, 407 Christen, Thomas 322
Brissot, Jacques Pierre 176 Cicero, Marcus Tullius 96, 118, 125f., 129, 133, 430
Broca, Paul 374 Clark, Andrew E. 405
Bröckling, Ulrich 35, 312 Claudel, Paul 271
Brockmann, Hilke 3 Claussen, Johann Hinrich 33, 440
Brod, Max 219 Clegg, Stewart 407
Brontë, Anne 238, 240 Coen, Ethan 313
Brontë, Charlotte 238, 240 Coen, Joel 313
Brontë, Emily 238, 240 Cohen, Gerald A. 93
Brooks, Richard 40 Cohen, Hermann 7
Broom, Donald M. 364 Colebrook, Claire 295
Brown, Norman O. 319 Collin, Michael 333
Bruckner, Pascal 7 Collingwood, Robin G. 60
Brudney, Daniel 200 Collins, Edwyn 319
Bruni, Luigino 97, 404, 409 Collins, Janet 428
Bruno, Giordano 144, 146f., 192 Collins,Wilkie 239
Brütt, Anna 392 Comte, Auguste 250, 253
Buchanan, Allen 370 Condorcet, Jean-Antoine-Nicolas de 71, 78, 99, 152,
Buchholz, Kai 84 173, 177f., 180, 304
Büchner, Georg 4 Condrell, Kenneth N. 428
Bühel, Hans von 160 Conrad, Joseph 415
Bullinger, Monika 389, 393 Conze, Werner 33
Bulst, Neithart 418 Coumet, Ernest 151
Burgdorf, Jeffrey 364, 375 Cox, Harvey 38
Burton, Robert 217 Craighero, Laila 378
Busch, Wilhelm 104 Craik, Dinah Mulock 239, 241
Bussanich, John 133 Crane, Stephen 239, 242
Butler, Joseph 167f. Crisp, Roger 288
Csikszentmihalyi, Mihaly 36, 104, 310, 414
Cabeza, Roberto 375 Cumberland, Richard 167
Cacioppo, John T. 375 Cummings, Thomas 413
Caillois, Roger 38, 106
Calder, Andrew 377 Daig, Isolde 389
Caldji, Christian 379 Dal’, Vladimir 17
Camfield, Laura 388 Dalai Lama 308f., 343
Campanella, Tommaso 112, 145, 425 Dalgleish, Tim 374
Campbell, Colin 419f. Danto, Arthur C. 326
Campbell, Donald 404, 407 Dapretto, Mirella 378
Camus, Albert 30, 67, 80, 221, 272–277 Darwall, Stephen 164, 167, 171
456 IX. Anhang

Darwin, Charles 235, 258, 364, 366 Ehrenreich, Barbara 7


Dauss, Markus 426 Eichendorff, Joseph von 219–222, 233
Davidson, Richard J. 377 Eisenach, Eldon J. 261
Davis, Michael 377 Eisenberg, Christiane 106
Dawkins, Marian S. 364 Elias, Norbert 38
de Bruyn, Gerd 422 Eliot, George 238f., 241
Decety, Jean 378 Elliott, David 326
Deci, Edward L. 406 Emerson, Ralph Waldo 4, 61, 88, 255
Defoe, Daniel 150 Engelfriet, Peter M. 339
Dekkers, Midas 104 Engelhardt, Ulrich 97
Delamare, Nicolas 174 Engelmann, Paul 263
Deleuze, Gilles 9, 281, 288, 291, 294f. Engels, Friedrich 111, 201, 203f., 251
Delhey, Jan 3 Engler, Wolfgang 34
Demmer, Klaus 438 Epiktet 76, 293
Demokrit 117 Epikur 16, 27, 33, 45, 58, 66f., 76, 80f., 96, 117–119,
Demont, John 217 125, 127–131, 133, 135, 163, 188, 212, 253, 303,
Descartes, René 56, 86, 143, 211, 268 406
Deuser, Hermann 80 Erasmus von Rotterdam 146
Devlin, Keith 36, 77 Erhart, Michael 393
Dewey, John 95, 255–262, 287 Erickson, Peniffer 389
Dickens, Charles 238–241 Erkes, Eduard 336
Diderot, Denis 97, 110, 146, 179 Ersch, Johann Samuel 153
Diener, Ed 406 Esquirol, Jean-Étienne Dominique 218
Diggins, John Patrick 255 Eßbach, Wolfgang 201
Dijwi, Yusuf 360 Euripides 9, 11, 135–137
Dilthey, Wilhelm 60 Even-Schoschan, Abraham 21
Dodds, George 424
Dong Zhongshu 336 Faber, Richard 96
Donne, John 378 Fahd, Toufic 19
Donovan, Nick 396 Fahey, John 318
Dostoevskij, Fedor 114, 153, 245–247, 264f., 434 Farah, Martha J. 379
Douglass, Frederick 241 Fassbinder, Rainer Werner 9, 324
Dov Ber 349 Fehr, Ernst 93
Driscoll, Julie 318 Feldman, Fred 298f.
Drury, Maurice O’Connor 265 Fellmann, Ferdinand 69, 89, 306
Dschuang Dsi s. Zhuangzi Fenner, Dagmar 296, 298
Duesenberry, James 407 Ferdousī, Abolqāsem 22
Duncan, Ian J. H. 364 Ferguson, Adam 99f.
Duns Scotus, Johannes 59 Feuerbach, Ludwig 147, 200–204, 235, 258, 434
Durgha, Kali 340 Fichte, Johann Gottlieb 47, 188–196, 205, 233f.
Durkheim, Émile 39, 93, 250f., 399f., 418f. Ficino, Marsilio 12, 145, 148, 186
Düsing, Edith 190, 192, 195 Fiedler, Peter 393
Düsing, Klaus 186 Fink, Eugen 105f.
Dutt, Amitiva K. 101 Finsterbusch, Käte 336
Duttweiler, Stefanie 308f. Fischer, Hans 160
Dyer, Richard 323 Fischer, Peter 172
Flasch, Kurt 144, 160
Easterlin, Richard 401, 404–409 Flaubert, Gustave 111, 231f., 236, 240
Eaton, Ruth 424 Florinus, Franz Philipp 308
Ebbinghaus, Andreas 243 Foley, Pam 428
Ebner, Martin 352 Fontane, Theodor 223, 236
Eco, Umberto 52 Foot, Philippa 300
Eder, Jens 320 Ford, Henry 35, 115, 316, 409
4. Personenregister 457

Forestani, Lorenzo 151 Gerigk, Horst-Jürgen 244f.


Forschner, Maximilian 66, 183, 186 Germain, Julian 333
Forster, Georg 94 Gessner, Salomon 38
Forster, John 94 Geuss, Raymond 56f., 60, 177
Foucault, Michel 94, 174f., 256, 283, 286, 288, 291–295, Gewirth, Alan 300
305f., 371 Ginsborg, Hannah 184
Fourier, Charles 70, 110, 113f., 232f., 425 Ginzburg, Carlo 112
Frambach, Hans 32 Girard, René 38, 232
Frank, Renate 394 Glock, Hans-Johann 264
Frank, Robert H. 405, 407f. Göbel, Andreas 249, 251
Frankfurt, Harry G. 85, 87, 298 Godoy, Julia 429
Franklin, Benjamin 99, 173, 176f. Godwin, William 94, 97, 99
Franklin, Keith B. 376 Goeders, Nick E. 376
Franz von Assisi 158 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 26, 37, 59, 86, 94, 100,
Franz, Matthias 392 110, 145, 201, 221, 225, 234f., 290, 339
Fraser, Andrea 330f., 364 Gogol’, Nikolaj 243f.
Fraser, David 364 Gohrisch, Jana 15, 239
Freeman, Mary Wilkins 240 Goldin, Nan 331f.
Freud, Sigmund 25, 207, 278–282, 284f., 287f., 299, 305, Goncarov, Ivan 244
399 González-Torres, Félix 328f.
Frey, Bruno S. 33, 57, 62, 101, 396, 405, 408 Goodall, Jane 364, 366
Frey Marti, Claudia 57 Görres, Albert 436
Friedländer, Saul 93 Gorz, André 36
Friedman, Douglas 406 Gottfried von Straßburg 159
Friedrich, Caspar David 216f. Gotthelf, Jeremias 235
Frisch, Max 434 Gourdon, Edouard 153
Frith, Chris und Uta 379 Gracián, Balthasar 147f., 206
Fritz-Schubert, Ernst 2 Grafton, Scott T. 378
Frölich, Margrit 320 Graw, Isabell 331, 333
Fromm, Erich 260, 281, 283–290, 305 Greely, Henry 383f., 386
Frost, Robert 173 Green, Thomas Hill 95, 164, 170f., 258, 261
Fukuyama, Francis 72 Gregor von Nyssa 353f.
Furet, François 176f. Greshake, Gisbert 355
Griffin, Donald R. 364
Gadamer, Hans-Georg 72f., 200 Griffin, James 117f., 297–299
Gaita, Raimond 363 Grimm, Georg 343
Galert, Thorsten 384 Grimm, Jacob 13f.,157, 220, 224–228
Galton, Francis 98 Grimm, Wilhelm 13f., 157, 220, 224–228
Gamm, Gerhard 190 Gronemeyer, Matthias 34
Gamwell, Lynn 326 Gropius, Walter 426
Gandhi, Mahatma 340 Grosz, Andreas 329
Ganter, Herbert Lawrence 173f. Grotz, Susanne 422
Gardner, Wendi L. 375 Grözinger, Karl Erich 346–349
Garnier, Tony 425 Gruber, Franz 355
Gassendi, Pierre 163 Gruber, Johann Gottfried 153
Gauguin, Paul 110 Grün, Anselm 308f.
Gebauer, Gunter 105 Guarnieri, Carl J. 114
Gehlen, Arnold 272–275, 286 Guattari, Félix 281, 291, 294f.
Gehring, Petra 374 Guéry, Alain 175
Gellius 76 Gui, Benedetto 404
George, Stefan 39, 110 Guizot, Francois 95
Gercen, Aleksandr 244 Gumbrecht, Hans Ulrich 105f., 271
Gerigk, Anja 238 Gutzkow, Karl 234
458 IX. Anhang

Habermas, Jürgen 32, 283f., 287, 290, 370 Hicks, John 409
Hacker, Peter M.S. 366 Hildegard von Bingen 159
Hacking, Ian 150 Hilpert, Konrad 437
Hadot, Pierre 118, 303 Himmelmann, Beatrix 183
Haeckel, Ernst 237 Hinz, Berthold 422
Hagerty, Michael R. 401, 405 Hirata, Johannes 7
Hahn-Hahn, Ida von 234 Hirsch, Fred 100, 407, 417
Hake, Sabine 323 Hirschhausen, Eckhart von 308f.
Hammacher, Klaus 75 Hirschman, Albert O. 177, 418
Hampe, Michael 59, 78, 80, 256 Hitler, Adolf 68, 340
Han Feizi 23 Hobbes, Thomas 67, 143, 146, 163–165, 169, 275, 436
Hanisch, Kathy 413 Hochschild, Arlie 413
Hansen, Hans 411 Hoff, Johannes 372
Harbaugh, William T. 376 Höffe, Otfried 437
Hardy, Thomas 238, 242 Hoffmann, E.T.A. 223
Harris, Eddie 319 Hoffmeister, Ulrike 392
Harris, John 370 Hofmann, Johann Baptist 12
Harrison, George 315 Hofmannsthal, Hugo von 237, 268
Hart, Grant 317 Hogan, Patrick Colm 323
Hartmann von Aue 159 Holbach, Paul Thiry d’ 178f.
Haug, Walter 37 Hölderlin, Friedrich 2–4, 221
Haug, Wolfgang Fritz 251 Höllander, Heinz 407
Hauptmann, Gerhart 237 Höller, Carsten 326, 329f.
Hawking, Stephen 370 Hollmann, Wildor 104
Hawthorne, Nathaniel 114, 241, 412 Holstege, Gert 376
Haybron, Daniel M. 101 Homer 9, 75f., 93, 135–139, 212, 225
Hayek, Friedrich A. von 95 Honneth, Axel 86, 198, 258, 282, 284, 286, 288, 290
Hearne, Vicki 363, 366 Horaz 66, 422
Hediger, Ryan 365 Hörisch, Jochen 221
Heftrich, Urs 244 Horkheimer, Max 79, 282, 284–287, 289f., 324, 417
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 71f., 81, 86, 89f., 96, Horn, Christoph 118, 303
100, 170, 188, 190–198, 200–205, 209, 243, 255, 258f., Hossenfelder, Malte 80, 200, 303
311 Howard, Dick 173
Heidegger, Martin 67, 79, 87f., 92, 96, 268–270, 272, Howells,William Dean 238, 240f.
275f. Hufeland, Christoph Wilhelm 308
Heidrich, Peter 70 Hühn, Lore 205
Hein, Grit 374, 376, 378f. Humboldt, Wilhelm von 94, 99
Heinaman, Robert 124 Hume, David 92, 163, 168, 170, 349
Heine, Heinrich 113, 221, 434 Husserl, Edmund 268
Heller, Agnes 146 Hutcheson, Francis 97, 163f., 166–168, 174, 176, 178,
Helms, Hans G. 202 354
Helvétius, Claude Adrien 97f., 100, 178f. Hutter, Axel 183
Hemsworth, Paul H. 364 Huxley, Aldous 70, 115
Henning, Christoph 36f., 94, 99f., 256f., 259, 285–287, Huygens, Christiaan 151
289, 415
Hentschel, Beate 326 Iacoboni, Marco 378
Herder, Johann Gottfried 78, 144 Ibn al-Kalbi 19
Hermann, Jörg 324 Ibn Khaldûn 359
Herodot 65, 117, 121 Ibn Sina 359
Herrnstein, Richard 408 Ibn Tufayl 359
Herzberg, Frederick 412 Ibsen, Hendrik 234, 236
Heß, Moses 201–204 Illouz, Eva 100, 308, 420
Hesse, Hermann 238 Immermann, Karl 234
4. Personenregister 459

Inglehart, Ronald 3, 93, 397, 420 Keller, Walter 332


Innozenz VIII., Papst 146 Kelly, Gene 322
Irigaray, Luce 87 Kern, Iso 24
Irrgang, Bernhard 342 Kersting, Wolfgang 100, 146, 306, 372
Irwin, Terence H. 126 Kertész, Imre 1
Israel, Jonathan 97 Keynes, John Maynard 409
Keysers, Christian 378
Jabbi, Mbemba 378 Kierkegaard, Søren 25f., 31, 70f., 81, 88, 205f., 208f., 263,
Jackson, Philip L. 378 270
Jacobi, Friedrich Heinrich 80 Kind, Paul 392
Jacobs, Wilhelm G. 195 King, James E. 365
Jäger, Siegfried 371 Kingstone, Alan 375
Jamasp-Asana, Jamaspji Minocheherji 22 Kirchberger, Inge 391
James, Henry 238, 241 Kirchhoff, Hans Wilhelm 226
James, Skip 318 Kirk, James 319
James, William 241, 255–260, 264, 439 Kirsch, Peter 377
Jean Paul 4 Kishiyama, Mark M. 379
Jefferson, Thomas 4, 36, 98, 172–177, 238 Klaer, Ingo 81
Jennings, Herbert S. 364 Klatzkin, Jakob 21
Jensen, Per 364 Klee, Paul 270, 333
Jeske, Jana 393 Klein, Stefan 310
Jesus Christus 18, 34, 61, 81, 158, 195, 245, 316, 352–354, Kleiner, Felicitas 320, 324
435, 438 Kleist, Heinrich von 110, 216f., 220, 223
Jetzer, Jean-Noel 329 Kleist, Marie von 217
Jewett, Sarah Orne 240 Kleist, Ulrike von 216
Joachim von Fiore 112 Klippel, Diethelm 174
Joas, Hans 86, 255f., 258f. Knigge, Adolph Franz Friedrich Freiherr von 304,
Johannes Gobi Junior 158 308
Johnson, Samuel 174 Knight, Robert 374
Johnston, Dennis 316 Knodler, Alfred 37
Jones, Howard Mumford 173 Knoll, Manuel 288
Jung, Franz 114 Knutson, Brian 376
Jünger, Ernst 68, 267 Kobusch, Theo 104
Jürgensen, Sven 194 Koch, Michael 104
Justi, Johann Heinrich Gottlob von 94, 97, 174 Kohl, Karl-Heinz 8, 32
Köhler, Ulrich 324
Kafka, Franz 219, 238 Kohn, Livia 336
Kahneman, Daniel 386, 406, 408 Kohut, Hans 305
Kant, Immanuel 6f., 27, 31, 34, 47, 51, 53, 56, 59, 61, 71, Kojève, Alexandre 198
77f., 86, 94–99, 125, 143, 167, 170, 183–187, 189–191, Konfuzius 335–339
197, 200, 214, 216, 237, 255f., 258–260, 263f., 273, König, Josef 105
288f., 290f., 297, 304, 306, 341, 436 Koons, Jeff 9, 326f., 329f.
Karlgren, Bernhard 23 Kopp, Robert 216
Kast, Bernd 201 Korff, Wilhelm 143
Kästner, Erich 37 Kos, Elmar 434
Katz, Michael B. 255 Kosegarten, Ludwig Gotthard 215
Kaufringer, Heinrich 160 Kraft,Victor 265
Kaulbach, Friedrich 255 Krämer, Hans 69
Keats, John 217 Kramer, Peter 383
Kegler, Karl R. 422 Kramer, Stanley 40
Kellein, Thomas 327 Kranz, Margarita 76, 78
Keller, Gottfried 235 Kraushaar, Wolfgang 289
Keller, Susan D. 391 Krauss, Werner 148
460 IX. Anhang

Kraut, Richard 99, 101, 119, 296, 300 Leonhardt, Rochus 142
Kreppold, Guido 437 Lepenies, Wolf 218f., 253
Kringelbach, Morten L. 384 Lermontov, Michail 243f.
Kristeller, Paul Oskar 145, 148 Lessing, Gotthold Ephraim 192, 221
Krockow, Christian Graf von 105 Lessing, Hans-Ulrich 71
Kron, Thomas 106f. Lewald, Fanny 234
Kropotkin, Petr 113 Lewis, Clive Staples 437
Kruft, Hanno-Walter 424 Lewis, Jan 173
Krüger, Hans-Peter 306 Liä Dsi 336
Krüger, Lorenz 150 Lingnau, Angelika 378
Kruppa, Hans 311 Link, Thomas 288
Kubrick, Stanley 323 Linton, Marisa 177
Kuenzle, Dominique 169 Lippmann,Walter 261
Kürnberger, Ferdinand 235 Lissitzky, El 18
Kurzweil, Ray 77 Liszt, Franz 219
Kuspit, Donald 326 Locher, Thomas 331
Küstenmacher, Werner 308–311 Locke, John 33f., 97, 163–166, 173f., 178, 431
Loomans, Diana 429
La Mettrie, Julian Offray de 5, 45, 179 Loos, Adolf 422f.
La Rochefoucauld, Louis-Alexandre 176 Lopez, Shane 414
Lacan, Jacques 281 Lorenz, Stefan 76
Lafayette, Marie-Joseph Motier de 177 Lorrain, Claude 245
Lamb, Roger E. 84 Löwenthal, Leo 284
Lamm, Claus 378 Löwith, Karl 70, 201
Landauer, Gustav 109 Lü Buwei 335
Landmann, Michael 79, 370 Lübbe, Hermann 68
Lane, Robert E. 35, 101, 408, 417 Lubitsch, Ernst 324
Lane, Ronnie 315f. Lucas, George 115
Lang, Bernhard 351 Lucas, Richard E. 407
Lang, Fritz 115, 322 Luckner, Andreas 303
Langbehn, Claus 306 Luhmann, Niklas 84, 283, 309f.
Lange, Ernst Michael 34 Lukács, Georg 286, 289
Laplace, Pierre Simon de 152 Lundt, Bea 160f.
Lassen, Jesper 365 Luther, Martin 96, 354f.
Laube, Heinrich 234 Lutz, Antoine 380
Laugier, Marc-Antoine 423 Lykken, David 407
Lauster, Jörg 351f., 355, 438 Lykurg 246
Laviolette, Steven R. 376
Layard, Richard 100f., 405–408 Machiavelli, Niccolò 77, 146
Le Corbusier 422f., 425f. MacIntyre, Alasdair 300
Le Goff, Jacques 161 Mack, Elke 355
Lear, Jonathan 58 Maimonides, Moses 348
Leavis, Frank Raymond 263 Maine, Henry 261
Leckebusch, Mike 316 Malcolm, Norman 263
Ledoux, Claude-Nicolas 426 Malthus, Thomas 94
LeDoux, Joseph 377 Mandeville, Bernard 163, 166, 169, 178
Lehmann, Anja 389 Manetti, Giannozzo 144
Leibniz, Gottfried Wilhelm 59, 76, 97, 167, 203, 256, Mann, Heinrich 267
372 Mann, Stefan 93
Lelord, Francois 379 Mann, Thomas 6, 238
Lenau, Nikolaus 227, 235 Mannheim, Karl 93, 111
Lenin, Vladimir I. 285, 434 Marc Aurel 76
Lennon, John 315 Marcuse, Herbert 281, 283–290, 305, 417
4. Personenregister 461

Margalit, Avishai 198 Montmort, Pierre Rémond de 151


Marin, Marco 177 Moore, George Edward 164
Marquard, Odo 39, 69 Morelly, Étienne-Gabriel 174
Marriott, Steve 315f. Mörike, Eduard 233
Marten, Rainer 88 Mornet, Daniel 176, 178
Marx, Karl 37, 57, 94, 99f., 111, 200f., 203f., 235, 250f., Morris,William 113
253, 281f., 284f., 287f., 436 Morus, Thomas 70, 77f., 110, 112f., 145, 425
Mason, George 173 Moser-Rath, Elfriede 158
Matisse, Henri 333 Moses Maimonides 348
Matthews, Freya 367 Moss, Cynthia 364
Maurer, Michael 37 Mould, Bob 317
Mauzi, Robert 97, 177f., 180 Mozart, Wolfgang Amadeus 434
Mayhew, Ira 432 Muhammad 357–359
Mayo, Elton 412 Muirhead, Russell 36
Mayo, Thomas Franklin 163 Müller, Adam 95, 234
Mayring, Philipp 239 Müller, Andreas 308
McFarland, Sarah E. 365 Müller-Koch, Uta 103
McGuinness, Brian 264 Mundt, Theodor 234
McMahon, Darrin M. 34, 96–99, 175, 180 Münkler, Herfried 93
Mead, George Herbert 38, 255 Murad, Sa’id 358
Meier, Heinrich 84 Murakami, Takashi 327
Meister Eckhart 70, 158f. Murnau, Friedrich Wilhelm 324
Melanchthon, Phillip 355 Murray, Charles 408
Melville, Herman 241 Mussolini, Benito 271
Menand, Louis 255
Mendl, Michael 364 Nabokov, Vladimir 247
Mengzi (Mong Dsi) 335 Nagel, Thomas 48f., 366
Menninghaus, Winfried 51f. Nageswaran, Savithri 389
Merton, Robert 218 Napoleon Bonaparte 172, 233, 243, 246
Merz, Annette 352 Neckel, Sighard 414
Meyer, Conrad Ferdinand 224 Negt, Oskar 32, 36
Mezger, Werner 38 Nehamas, Alexander 51
Michelangelo Buonarroti 144 Neumann, Gerhard 84
Michelet, Jules 233 Neuner, Josef 342
Midgley, Mary 366 Newton, Isaac 173, 202, 372
Miethe, Manfred 309 Ng,Yew Kwang 404, 406f.
Mill, James 169 Nickel, Rainer 2
Mill, John Stuart 1, 3, 26, 37, 164, 167–171, 239, 257, 260, Nico 318
330, 360, 409 Nicole, Pierre 152, 304
Miller, Greg 385 Nieli, Russel 168
Miller, James 294 Niemeyer, Oscar 426
Milton, John 110 Nietzsche, Friedrich 7, 29–31, 36f., 39, 46, 52–54, 67f.,
Miskawaih, Ahmad bin Muhammad 358 71–73, 82, 104, 146, 207, 210–214, 220, 252, 255f., 258,
Mittelmann, Hanni 236 265, 272, 282, 284, 289, 294, 304f., 434, 442
Mobbs, Dean 379 Nikolaj I., Zar 243
Modena, Leone 348f. Nikolaus von Kues 144, 372
Moivre, Abraham de 150, 152 Nipperdey, Thomas 70
Moleva, Nina 245 Noddings, Nel 431
Möller, Hans-Georg 24 Norris, Frank 238
Möller, Melanie 94 Novalis 84, 221
Mongayt, Anna 328 Nozick, Robert 299
Montaigne, Michel de 35, 66, 147f., 179f. Nussbaum, Martha C. 99, 122, 300, 409
Montesquieu, Charles-Louis 71, 176 Nyro, Laura 318
462 IX. Anhang

Oexle, Otto Gerhard 252 Pollock, Friedrich 285


Oliphant, Margaret 239 Pomjalovskij, Nikolaj 244
Olmstead, Mary C. 376 Pomponazzi, Pietro 145, 186
Oppenheimer, Franz 251, 253 Pongracz, Alexander 423
Oswald, Andrew J. 404–406 Poole, Trevor 365
Overbeck, Franz 214 Porete, Marguerite 159
Ovid 222 Posner, Richard A. 101
Owen, Robert 97, 113f., 431 Prauer, Andreas 35
Ozouf, Mona 177 Proust, Marcel 48, 71–73, 267
Pseudo-Dionysios Areopagita 70
Pabst, Georg Wilhelm 324 Puškin, Aleksandr 243f.
Pacioli, Luca 151 Putnam, Robert 408
Paglia, Camille 333 Pyrrhon von Elis 127, 130f.
Panksepp, Jaak 364, 375
Panofsky, Erwin 144f. Qabil, ‘Abdalhayy Muhammad 360
Pappas, Gregory F. 260 Quecke, Ursula 422
Pareto, Vilfredo 250, 407 Quint, Josef 159
Parfit, Derek 170, 296f. Quintilian 118
Parnet, Claire 295
Pascal, Blaise 70f., 77, 147f., 150f. Rad, Gerhard von 356
Patrick, Donald L.389 Radcliff, Benjamin 101
Paul, Elizabeth S. 364 Radkau, Joachim 253
Paul, Gregor 58 Radoschewski, Michael 390
Paulus 263, 353 Raffael 434
Pehnt, Wolfgang 422f. Rakier, Mischa 329
Peirce, Charles S. 80, 255–257, 259 Ramsauer, Johannes 429
Perret, Jacques 426 Rangel, Antonio 377
Pesch, Otto Hermann 141 Raphael, David Daiches 164
Peschek, Christian August 429 Rapp, Christof 305
Peters, Jörg T. 34 Rashid Rida, Muhammad 360
Petrarca, Francesco 144 Rath, Norbert 286, 290
Peukert, Detlev 252 Rau, Renate 32
Phan, K. Luan 376 Ravens-Sieberer, Ulrike 390–392
Pico della Mirandola, Giovanni 35, 145–148 Rawls, John 67, 96, 297f., 300
Pieper, Annemarie 27, 68 Rawson, Elizabeth 40
Pieper, Josef 33, 39, 105, 142, 435 Raz, Joseph 300
Pindar 73 Reath, Andrews 187
Pinkard, Terry 187, 197 Redoute, Jerome 376
Piranesi, Giovanni Battista 424 Reed, Lou 316f.
Pirsig, Robert M. 219 Regan, Tom 365
Pitzer, Donald E. 113 Rehberg, Karl-Siegbert 275
Plantinga, Carl 322 Rehmann, Jan 252
Platon 8f., 14, 27f., 43–46, 51–54, 65f., 69f., 84, 87–89, Reich, Wilhelm 281
93–95, 112, 117–122, 124f., 127–130, 132–134, 141, Reichert, Klaus 77
143–145, 166, 183f., 192, 200, 211, 218, 229, 268, 301, Renaud, Hippolyte 114
348, 353f., 358f., 420, 425, 434, 437 Rendtorff, Trutz 442
Plé, Bernhard 250 Rentsch, Thomas 52
Plessner, Helmuth 63, 108, 272, 274, 307 Repantis, Dimitris 385f.
Plotin 70, 132f. Rescher, Nicholas 49, 80
Pluquet, François-André 177f. Restif de la Bretonne, Nicolas Edme 113
Pocock, John G.A. 33 Richardson, Robert D. 255
Poe, Edgar Allan 241 Richet, Denis 176
Polanyi, Karl 94 Richter, Dieter 159
4. Personenregister 463

Riedel, Manfred 303 Scamozzi, Vincenzo 426


Riefenstahl, Leni 40 Scanlan, Joe 328
Ritter, Joachim 52, 144, 416 Scanlon, Thomas 301
Riviale, Philippe 181 Schaer, Roland 110
Rizzolatti, Giacomo 378 Schallenberg, Peter 435, 437
Roberts, Kenneth 36 Schavemaker, Margriet 329
Robespierre, Maximilien de 172, 177, 179 Schefczyk, Michael 169
Robinson, Smokey 318 Scheidemantel, Heinrich Gottfried 174
Rodd, Zachary 376 Scheier, Michael F. 393
Roehler, Oskar 324 Scheler, Max 7, 78, 87, 115, 184, 267, 272–274, 306
Rolls, Edmund T. 378 Schelkshorn, Hans 35
Romanes, George 364 Schlaepfer, Thomas 384
Roosevelt, Franklin Delano 175 Schelling, Caroline 195
Rorty, Amélie 91 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 67, 81, 188, 190–195,
Rorty, Richard 256, 258 197, 205, 216, 288
Rosa, Hartmut 37 Schiller, Friedrich 2, 27f., 31, 34, 54, 84, 146, 215f., 222,
Rose, Nikolas S. 311 258, 289, 304, 434
Rosemond, John 429 Schimank, Uwe 106f.
Rosenthal, Erich 358 Schlegel, Friedrich 90, 221
Rosenzweig, Franz 7, 71, 81 Schleiermacher, Friedrich 440f.
Ross, Edward A. 93 Schleim, Stephan 383, 385f.
Rosselino, Bernardo 425 Schlick, Moritz 265
Röttgers, Kurt 200 Schlothfeldt, Stephan 36
Rousseau, Jean-Jacques 37, 39f., 46–48, 71, 89, 94, 98f., Schmid, Wilhelm 37, 69, 305f., 419, 442
173, 176, 178–180, 229–233, 431, 436 Schmidt von Lübeck, Georg Philipp 219f.
Rubin, Gretchen 2 Schmidt, Alfred 287
Rückert, Friedrich 85f. Schmidt, Johann-Karl 331
Rudaki 22 Schmidt, Silke 392
Ruge, Arnold 201 Schmiede, Sylvia zur 309
Ruskin, John 7 Schmitt, Klaus M. 93
Russell, Bertrand 37, 264 Schneider, Ivo 151
Ryan, Richard M. 406 Schniewind, Alexandrine 133
Ryff, Carol D. 409 Schnitzler, Arthur 237
Rykwert, Joseph 423f. Schopenhauer, Arthur 36, 38, 46, 52f., 205–208, 214,
Ryle, Gilbert 366 246f., 264, 270, 278, 304f.
Schrader, Wolfgang H. 166
Saage, Richard 70, 110, 113 Schrage, Dominik 418
Sade, Donatien Alphonse François Marquis de 178, Schubert, Franz 219
229f. Schultz, Wolfram 376
Sahlins, Marshall David 32 Schulz, Walter 194
Saint-Just, Antoine-Louis de 97, 172, 176f., 179, 215, Schulze, Gerhard 37, 249
217f., 229 Schulze, Sabine 423
Saint-Lambert, Jean-François 178 Schumann, Robert 222
Saint-Simon, Henri de 113, 233f. Schumpeter, Joseph 256, 409
Samjatin, Jewgeni 114f. Schürmann, Volker 39, 105, 200
Sandel, Michael 98, 370 Schwarz, Norbert 4
Sandkaulen, Birgit 80 Schweppenhäuser, Gerhard 286
Sannwald, Rolf 200 Scitovsky, Tibor 100, 407f., 418f.
Sarasohn, Lisa T. 163 Scott, Bon 37
Sartre, Jean-Paul 146, 272f., 275f. Scott, Sophie K. 377
Sass, Hans-Martin 371 Sedgwick, Catharine 241
Savulescu, Julian 370 Seel, Martin 5, 53, 67f., 71f., 86, 104f., 107f., 183f., 289,
Saxe, Rebecca 379 297f.
464 IX. Anhang

Segerdahl, Pär 366 Steinert, Heinz 283


Seibt, Ferdinand 109 Steinfath, Holmer 296, 298, 301
Seiwert, Lothar 309 Stendhal 51, 53, 214, 231f., 237
Seligman, Martin 414 Stevenson-Hinde, Joan 366
Semper, Gottfried 422 Stewart, Robert M. 84
Sen, Amartya 300, 409 Stifter, Adalbert 233f.
Seneca 33, 44, 66, 76, 293 Stirner, Max 100, 201–204
Sennett, Richard 37 Stites, Richard 115
Sextus Empiricus 130f. Stoddard, Elizabeth 239
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Storm, Theodor 236
163–167, 170, 215, 243, 354, 432 Stowe, Harriet Beecher 241
Shaked, Shaul 22 Strack, Fritz 4
Shakespeare, William 91 Strindberg, August 234
Shusterman, Richard 259 Stuke, Horst 200f.
Sichler, Ralph 36 Sturm, Hermann 424
Sidgwick, Henry 164, 167f., 170f. Sturma, Dieter 197
Siemens, Werner von 5 Stutzer, Alois 33, 57, 101, 396, 405, 408
Siep, Ludwig 195–197 Subramanian, Balasundaram 342
Simmel, Georg 37, 52, 59, 78, 251, 253, 257 Sugden, Robert 404
Simon, Thomas 174 Suhr, Martin 258
Singer, Burton 409 Sumner, Lawrence 98, 296, 301
Singer, Tania 376, 378f. Sunstein, Cass R. 101
Sirk, Douglas 323 Šušteršic, Apolonija 329f.
Skevington, Suzanne M. 388 Suttner, Berta von 224
Skowrońsky, Krzysztof Piotr 258 Swift, Jonathan 28f.
Slick, Grace 318 Szabo, Silvija 389
Sloterdijk, Peter 333, 371, 425
Smart, John J.C. 398 Tabarasi, Ana-Stanca 423
Smith, Adam 37, 81, 94f., 98, 143, 168, 174, 215, 404, 409 Tagore, Rabindranath 265
Smith, James E. 376 Taine, Hippolyte 237
Snyder, Charles 414 Takahashi, Hidehiko 376
Sober, Elliot 93 Takashi Murakami 327f.
Sokrates 52, 61, 65, 95, 117f., 121, 125, 174, 208, 211f., Talairach, Jean 374
303, 358 Tartaglia, Niccolo 151
Solon 65f., 121f., 246 Tavernor, Robert 424
Solondz, Todd 323 Taylor, Charles 176, 198, 256
Sombart, Werner 250–253, 419 Taylor, Frederic 412
Sommerfeld-Lethen, Caroline 304 Taylor, Shelley E. 375
Sona, Rufus 286 Tazzi, Pier Luigi 326
Sophokles 76, 139 Tellegen, Auke 407
Spaemann, Robert 1, 11f., 52, 67f., 72, 75, 81f., 183, 440 Tenbruck, Friedrich 255
Spencer, Herbert 93, 249f., 431f. Tepl, Johannes von 144
Spinoza, Baruch de 56, 59, 154–156, 190, 211, 214, 264, Tepperwein, Kurt 308
294, 304, 349 Terashvili, Maia 376
Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de 92 Thackeray, William Makepeace 240
Staiger, Janet 324 Thefeld, Wolfgang 391, 393
Stalin, Josif 18 Theißen, Gerd 352
Stanca, Luca 404, 408 Thesing, Josef 18
Staupe, Gisela 326 Theunissen, Michael 53, 63, 69, 72f., 75, 81, 88, 206, 306
Stauth, Georg 288 Thich Nhat Hanh 308
Steck, Odil Hannes 435 Thies, Christian 286
Stedmann, Gesa 240 Thomä, Dieter 6, 53, 67f., 84, 89, 95, 100, 114, 175, 180,
Steiner, George 218 183, 306, 308
4. Personenregister 465

Thomas von Aquin 12, 66, 96, 141f., 354, 369, 435 Volkow, Nora D.376
Thomsen, Christian W. 426 Vollmann, Morris 280
Thomson, James 174 Voltaire 67
Tieck, Ludwig 221, 429 von Mackensen, Sylvia 392
Tillich, Paul 285, 355, 442
Tiravanija, Rirkrit 329 Wachowski, Andy 115, 299
Toates, Frederick M. 364 Wachowski, Larry 115, 299
Tocqueville, Alexis de 174, 176 Wade, Rosalind Herschel 428
Todorov, Tzvetan 180 Wagner, Peter 250
Tolstoj, Lev 207, 236, 246f., 259, 264 Wagner, Richard 222, 225, 304
Tornatore, Giuseppe 320 Wahsner, Renate 202
Touraine, Alain 109f. Walde, Alois 12
Tournoux, Pierre 374 Wang Chong 337
Traub, Hartmut 192 Wang Yangming 24
Trier, Lars von 40 Ware, John E. 390
Troeltsch, Ernst 253, 442 Warning, Rainer 37
Trollope, Anthony 239 Warr, Peter 413
Trotzki, Leo 271 Warshow, Robert 323
Tschernyschewskij, Nikolai s. Černyševskij, Nikolaj Wartenberg, Gerd 256
Tucholsky, Kurt 320 Washington, George 175
Tufts, James 258–261 Watanabe, Masataka 377
Turgenev, Ivan 245 Watson, John B. 364
Turner, Brian 288 Weber, Max 5, 35, 84, 96, 249–253, 282, 284, 399
Weibel, Peter 331
Uertz, Rudolf 18 Weiss, Alex 365
Unamuno, Miguel de 269f. Wells, H.G. 36
Unger, Ulrich 23, 335 Welzel, Christian 3, 93, 397
Uther, Hans-Jörg 159 Wemelsfelder, Françoise 365f.
Wesche, Tilo 206f.
Valentin, Karl 435 West, Cornel 255
Valentino, Rodolfo 270 Wetzel, Tanja 105
van der Kooy, Derek 376 Whalen, Paul J. 377
van der Rohe, Mies 424 Wheeler, Wendy 366
van Loo, Pascalle L.P. 365 Whitehead, Alfred N. 57, 60
Van Parijs, Philippe 95 Wieland, Christoph Martin 220
Varro, Marcus Terentius 1 Wierzbicka, Anna 15
Vaux, Clotilde de 253 Wilde, Oscar 5, 111
Veblen, Thorstein B. 35, 407, 417 Wilhelm, Richard 24, 335–337
Veenhoven, Ruut 397–402, 405 Wilkinson, Richard 101
Verhoog, Henk 365 Williams, Bernard 9, 48f., 67, 398
Verweyen, Hansjürgen 192 Willkomm, Ernst 235
Vestine, Harry 318 Willmott, Hugh 414
Vetter, Cesare 177 Wills, Gary 173f., 176
Vickers, Brian 33 Wilson, David S. 93
Vico, Giambattista 71 Wilson, Eric 7
Vidler, Anthony 423 Wilson, James 175
Vitruv 421, 423 Wilson,Woodrow 267
Vitry, Jacques de 158 Winter, Dagmar 352
Vlastos, Gregory 88, 120 Wirtz, Derrick 390
Vogel, Amos 323 Wise, Roy A. 384
Vogl, Joseph 418 Wittfogel, Karl 289
Vogt, Bernhard 251 Wittgenstein, Ludwig 48, 61, 71, 257, 263–265, 267, 366
Volkmann-Leander, Richard 226 Wolff, Christian 99
466 IX. Anhang

Wollstonecraft, Mary 431 Zaliznjak, Anna 17


Woodburn, James 93 Zaretsky, Eli 288
Woolfson, Esther 363 Zatorre, Robert J. 376
Wordsworth,William 177 Zedler, Johann Heinrich 150
Worley, Christopher 413 Zelenski, John 413
Wright, Frank Lloyd 423f. Zenon 125f.
Wright, Georg Henrik von 296 Zhuangzi 23f., 335–338
Wuss, Peter 324 Zimmer, Robert 303, 305
Wuzurgmihr 22 Zimmermann, Christian von 308
Zingerle, Arnold 249
Yavuz, Yüksel 324 Zirfas, Jorg 320
Yeats, William Butler 88 Žižek, Slavoj 218
Yonge, Charlotte 239 Zola, Émile 114, 232f., 237
Young, Rosamund 363 Zollinger, Manfred 106

Das könnte Ihnen auch gefallen