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Monatsschrift Kinderheilkd 2004 · 152:1111–1122 R. G. Schmid · Zentrum für Kinder und Jugendliche Inn-Salzach, Altötting
DOI 10.1007/s00112-004-1003-3
Online publiziert: 10. September 2004
Lese- und
© Springer Medizin Verlag 2004
Redaktion
Rechtschreibstörung
B. Koletzko · München
W. Sperl · Salzburg
Zusammenfassung
Die Lese- und Rechtschreibstörung gehört mit einer Inzidenz von 4–7% zu den häufigen
Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters. Zur Diagnostik müssen ein allgemeiner In-
telligenztest und ein Test zur Erfassung der spezifischen Rechtschreib- und Leseleistung
durchgeführt werden. Die Leistungen in Letzterem müssen unter einem Prozentrang
von 0–6 liegen. Darüber hinaus ist zur Diagnosestellung eine Diskrepanz zwischen In-
Zertifizierte Fortbildung online
telligenzquotient und Prozentrang des Lese- und/oder Rechtschreibtests von mindestens
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,5–2 Standardabweichungen erforderlich. Zur Einordnung des Krankheitsbildes muss
Mit dem in 2004 in Kraft getretenen GKV-
Modernisierungsgesetz sind Vertragsärzte wie zudem eine umfassende Diagnostik nach dem multiaxialen System der Kinder- und Ju-
auch im Krankenhaus tätige Ärzte verpflichtet, gendpsychiatrie (MAS) oder nach der mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik der Sozi-
sich regelmäßig fachlich fortzubilden. Der alpädiatrie (MBS) durchgeführt werden. Ergeben sich daraus Sekundär- oder Begleiter-
Gesetzgeber fordert, dass der Vertragsarzt krankungen, müssen diese ebenfalls in den Behandlungsplan mit einbezogen werden. In
innerhalb von fünf Jahren 250 Fortbildungs-
punkte erwirbt und der Nachweis erstmalig vielen Fällen sind umfassende therapeutische Kooperationen mit Patient, Angehörigen,
bis zum 30. Juni 2009 zu erbringen ist. Schule, Institutionen, Ärzten und Therapeuten erforderlich.
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schrift und dem Online-Dienst cme.springer.de Schlüsselwörter
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Legasthenie · Dyslexie · Lesestörung · LRS · Rechtschreibstörung
mit wichtige Zertifizierungspunkte zu
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Erlangung des Fortbildungszertifikats bei dence of 4–7%. Prerequisites for diagnosis are performance of a general intelligence test
Ihrer zuständigen Ärztekammer ein. and a test to measure specific orthographic and reading abilities. The scores in the read-
Diese Initiative ist zertifiziert von der Landes-
ing and/or writing test must be below a percent rank of 0–6. In addition, a discrepan-
ärztekammer Hessen und der Nordrheinischen
Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung cy between intelligence quotient and percent rank in the reading and/or writing test of
und damit auch für andere Ärztekammern an- at least .5–2 SD is necessary for the diagnosis. To classify the clinical picture, comprehen-
erkennungsfähig. sive diagnostic tests must also be performed according to the multiaxial system for child
Für Rückfragen stehen wir Ihnen jederzeit and adolescent psychiatry or multidimensional diagnostic work-up of social pediatrics.
zur Verfügung:
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Keywords
cme.springer.de Dyslexia · Reading disorder · Writing disorder
Definition
7 Lese- und Rechtschreibstörung Die 7Lese- und Rechtschreibstörung (Synonyme: Legasthenie, umschriebene Lesestö-
rung, Rechtschreibschwierigkeiten bei einer Lesestörung, Entwicklungsdyslexie) gehört
Synonyme: Legasthenie, umschriebe- zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen der schulischen Fertigkeiten. Diese sind
ne Lesestörung, Rechtschreibschwierig- in ICD-0 unter F8 aufgeführt. F8.0 entspricht der Lese- und Rechtschreibstörung, F8.
keiten bei einer Lesestörung, einer isolierten Rechtschreibstörung, F8.3 einer kombinierten Störung schulischer Fertig-
Entwicklungsdyslexie keiten, z. B. Beeinträchtigung der Lese-, Rechtschreib- und Rechenleistungen.
7 Hohe Komorbidität Zu beachten ist eine 7hohe Komorbidität mit u. a. Aufmerksamkeitsstörung und/oder
Störungen des Sozialverhaltens sowie anderen umschriebenen Entwicklungsstörungen
wie z. B. Störungen motorischer Funktionen oder des Sprechens und der Sprache.
Fallbeispiel
7 Rechtschreibprobleme Anamnese. Der 8 Jahre und Monate alte Junge wurde wegen7 Rechtschreib- und
7 Konzentrationsschwierigkeiten 7Konzentrationsschwierigkeiten im Sozialpädiatrischen Zentrum vorgestellt. Die El-
tern gaben an, dass die Noten des Jungen in Rechnen, Heimat- und Sachkunde sehr gut
bis gut seien. Im Fach Deutsch stehe er zwischen Note 3 und 4, wobei die Rechtschreibleis-
tung im Allgemeinen zwischen Note 5 und 6 liege. Darüber hinaus klagten sowohl Eltern
als auch Lehrer über erhebliche Konzentrationsschwankungen und -störungen: Gleiche
Anforderungen werden innerhalb kürzester Zeitabstände sehr unterschiedlich absolviert.
Der Junge würde in jüngster Zeit auch teilweise den Unterricht stören und Mitschüler von
der Arbeit abhalten. Lehrerin und Schulpsychologe haben den Verdacht auf eine Lese-
und Rechtschreibstörung geäußert und eine Vorstellung beim Arzt vorgeschlagen.
Klinik. Bei der klinischen Untersuchung war der knapp 9 Jahre alte Junge internistisch
und neurologisch gesund. Er war in der Untersuchungssituation aufgeschlossen, aufge-
weckt und psychoemotional unauffällig.
Abb. 1 8 HAWIK-III des 8 Jahre alten Jungen: auffällig: breite Streuung des Intelligenzprofils
bei den 11 Subtests; IQ-Index von 85 bei Unablenkbarkeit weicht deutlich vom Gesamt-IQ und
den anderen IQ-Indizes ab
Intelligenztest mit dem HAWIK-III. Der Junge erreichte mit 8 einen überdurchschnittli-
chen Intelligenzquotienten (IQ) (. Abb. 1). Zwischen dem Verbalteil mit einem IQ von
und dem Handlungsteil mit 22 war eine Differenz nachweisbar, die aber nicht hochsi-
gnifikant war. Bei der Analyse der durchgeführten Untertests des HAWIK-III fiel auf,
dass beim rechnerischen Denken und beim Zahlensymboltest nur 8 Wertpunkte, beim
Zahlennachsprechen nur 7 Wertpunkte und damit deutliche Defizite zur Norm (0 Wert-
punkte) erreicht wurden. Diese 3 Subtests sind sehr stark von der Konzentrationsfähigkeit
abhängig bzw. mit einem Zeitraster unterlegt. Dies drückt sich in dem deutlich abweichen-
den IQ-Index von nur 85 (Prozentrang 6!) bei der Unablenkbarkeit (UA) aus.
DRT 3. Er wurde bei dem Patienten dem schulischen Leistungsstand entsprechend (Ende
der 3. Grundschulklasse) als 7Rechtschreibtest durchgeführt (. Abb. 2). Der Junge er- 7 Rechtschreibtest
reichte einen Prozentrang von 7. Seine Rechtschreibleistung wich damit über 2 Standard-
abweichungen von seiner Grundintelligenz mit einem IQ von 8 und noch stärker von
der sprachfreien Handlungsintelligenz von 22 ab.
Zürcher Lesetest. Es wurde ein Prozentrang von 6–0 unter Berücksichtigung der Zeitkom-
ponente, von 0–25 bei Auswertung der reinen Fehlerzahl erreicht.
Conners-Skala. In ihr, als Prüfinstrument der Aufmerksamkeit und Aktivität, wurden von
Mutter und Vater 8 Punkte, vom Lehrer Punkte bei Verwendung der 30-Punkte-Skala
mit 0 Fragen vergeben (Norm etwa bis 5 Punkte).
Selbstbildnis. Es vermittelte recht gut die psychische Grundsituation des Jungen aus sei-
ner eigenen Sicht. Er war über sein Leistungsverhalten frustriert, zwischenzeitlich demo-
tiviert, beginnend autoaggressiv, aber auch beginnend aggressiv gegenüber seiner Umge-
bung (. Abb. 3).
7 Lese- und Rechtschreibstörung Diagnose. Es wurde die Diagnose einer 7Lese- und Rechtschreibstörung bei norma-
bei normaler Begabung ler bis hoher Begabung gestellt. Darüber hinaus bestand ein Aufmerksamkeitsdefizit-
syndrom mit geringer Hyperaktivitätssymptomatik. Die bei der Vorstellung beschriebe-
ne Verhaltensstörung wurde nach der psychologischen Diagnostik als sekundäre Neuro-
tisierung mit Schulangst und aggressiver Komorbidität eingeordnet.
Epidemiologie
7 Prävalenzwerte Die 7Prävalenzwerte für die Lese- und Rechtschreibstörungen liegen zwischen 4 und
7%. Es besteht eine deutliche Knabenwendigkeit. Eine familiäre Häufung ist zu beobach-
ten. Die Erkrankung tritt bei Verwandten . Grades wahrscheinlicher auf als in der Allge-
Vergleichbar: C-, T-, IQ-Werte und Prozentränge. Die Differenz kann über die Ausprägung
der Standardabweichung definiert werden
meinbevölkerung. Sowohl von den Geschwistern als auch den Eltern eines Kindes mit
Legasthenie sind jeweils etwa 40% selbst betroffen.
Die Lese- und Rechtschreibstörung kommt grundsätzlich in allen sozialen Schichten Lese- und Rechtschreibstörung kommt
vor [8]. Esser [2] beschrieb eine Inzidenz von 6,9% bei Verwendung einer Differenz zwi- in allen sozialen Schichten vor
schen Intelligenz und Lese- und Rechtschreibleistung von ,5 Standardabweichungen,
von 3,7% bei Verwendung einer Differenz von 2 Standardabweichungen. Nur etwa 3%
der Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung wechselten nach der Grundschule
ins Gymnasium, /4 besuchte die Realschule, während die Hälfte auf der Hauptschule ver-
blieb und immerhin /6 der Kinder die Förderschule besuchen mußte.
Der endgültige 7Schulerfolg bleibt damit weit hinter dem normal begabter Kindern 7 Schulerfolg
ohne Entwicklungsstörungen zurück und entspricht im Gesamtniveau exakt dem von
minderbegabten Kindern in einem IQ-Bereich von 70–85. Resultat des geringen Schuler-
folgs ist, dass im Alter von 8 Jahren mit einer um den Faktor 3 (2% vs. 4%) erhöhten Ra-
te von 7Jugendarbeitslosigkeit zu rechnen ist. Bei der weiteren Verlaufsbeobachtung 7 Jugendarbeitslosigkeit
bis zum Alter von 25 Jahren zeigte sich, dass die Zahl der Arbeitslosen bei Personen oh-
ne umschriebene Entwicklungsstörung zwischen 989 und 995 nicht, bei den Lese- und
Rechtschreibgestörten von 2% auf immerhin 26% anstieg [2].
Sie sind nicht mit letzter Sicherheit geklärt. Ursache hierfür ist u. U. auch die heute disku-
tierte 7mehrdimensionale Ätiologie. Relativ sicher sind, wie oben beschrieben, genetische 7 Mehrdimensionale Ätiologie
Einflüsse. Bei Zwillingsuntersuchungen liegt eine erhöhte Konkordanz bei eineiigen Zwillin-
gen vor. Die Störungen werden mit Defekten auf den Chromosomen 0 und 5 assoziiert. 7 Neuroanatomische Abweichun-
Diskutiert werden7 neuroanatomische Abweichungen bei der Hirnsymmetrie. Bei gen der Hirnsymmetrie
funktionellen Untersuchungen (MRT, PET) wurden 7spezifische Muster der Aktivier- 7 Spezifische Muster der
barkeit bei Legasthenikern beschrieben. Defizite bei der Alphagrundaktivität, aber auch Aktivierbarkeit
Diagnostik
Zur Diagnose der Lese- und Recht- Entsprechend der oben angeführten Kriterien sind zur Diagnose der Lese- und Recht-
schreibstörung: 3 Schritte erforderlich schreibstörung 3 Schritte erforderlich:
. Intelligenztestung
2. Die Lese- und Rechtschreibleistung muss durch den Einsatz eines spezifischen
Rechtschreib- und Lesetests (. Tabelle 1) eingeordnet werden.
3. Zwischen dem Intelligenzquotienten und dem Ergebnis des umschriebenen Entwick-
lungstests muss eine Differenz von 2 Standardabweichungen [4] liegen. Im prakti-
schen Gebrauch wird in der Regel eine Differenz von ,5 Standardabweichungen []
akzeptiert. Weiterhin muss der Prozentrang des Lese- und Rechtschreibtests unter
0 (bei hoher Intelligenz auch bei 6) liegen.
Das Ergebnis eines Intelligenztests wird in der Regel mit IQ oder Standardwerten, die Er-
gebnisse der Lese- und Rechtschreibtestverfahren durch Prozentränge, T-Werte und C-
Werte definiert. C-Werte, T-Werte, Intelligenzquotienten, Standardabweichungen und
Prozentränge sind in einem mathematischen System einander zugeordnet. Das Ausmaß
der Abweichung von Testverfahren mit verschiedenen Skalen ist über die Standardabwei-
chung (SD) erfasst (. Tabelle 2).
Der 8-jährige Junge im oben angeführten Fallbeispiel hat einen Gesamt-IQ von 8. Da-
mit liegt die Intelligenz über eine Standardabweichung oberhalb des Mittelwerts. Im DRT
3 wurde ein Prozentrang von 7 erreicht. Dies entspricht einem Defizit von etwa −,25 Stan-
dardabweichungen zum Mittelwert. Die Gesamtdifferenz zwischen IQ und Rechtschreib-
test liegt somit bei über 2 Standardabweichungen. Die Diagnose einer Lese- und Recht-
schreibstörung kann gestellt werden, nachdem einerseits die geforderte Mindestdifferenz
von ,5 Standardabweichungen zwischen Intelligenztest und Rechtschreibtest deutlich
überschritten, andererseits der Prozentrang von 0–6 unterschritten wurde.
Die Definition eines Prozentrangs beim Test der Lese- und Rechtschreibstörung von Prozentrang beim Test der Lese- und
unter 0–6 ergibt in der Praxis bei deutlich überdurchschnittlich begabten Patienten z. T Rechtschreibstörung bei deutlich über-
Probleme. Wird z. B. ein Intelligenzquotient von 25 erreicht, liegt bei einem Defizit von durchschnittlich begabten Patienten
2 Standardabweichungen zum Intelligenztest bei den Lese- und Rechtschreibtests immer mit Problemen behaftet
noch ein PR im Lese- oder Rechtschreibtest von 37 vor (. Tabelle 2), ein Wert weit über
dem Prozentrang von 6. Trotzdem hat dieser Patient eine erhebliche Lese- und Recht-
schreibproblematik.
Bei Patienten mit einem Intelligenzquotienten unter 85 ist eine Rechtschreibschwäche Diagnose Lese- und Rechtschreibstö-
nur diagnostizierbar, wenn im Rechtschreibtest ein Prozentrang < erreicht wird. Durch rung bei niedrigen Intelligenzwerten
die geforderte Differenz von ,5 Standardabweichungen zwischen Intelligenztest und Teil- deutlich eingegrenzt
leistungsverfahren kann somit die Diagnose Lese- und Rechtschreibstörung nur bei ei-
nem IQ deutlich über 70 gestellt werden.
Neben der Definition der Lese- und Rechtschreibstörung ist vor Erstellung eines Be-
handlungsplans die Diagnose im Hinblick auf eine evtl. vorliegende 7Komorbidität zu 7 Komorbidität
überprüfen [, 5]. Hier sind insbesondere anzuführen:
Für den Verlauf ist typisch, dass sich die Komorbidität im Lauf der ersten Schulklasse bzw. Komorbidität verstärkt sich im Verlauf
mit zunehmenden schulischen Anforderungen verstärkt. An Wochenenden oder in den oder mit zunehmenden Anforderungen
Ferien ist die Problematik oft geringer ausgeprägt []. Um sie zu erfassen, ist die Diagnos-
tik über die selektive Testdiagnostik hinaus zu erweitern. Umfassend kann die Fragestel- 7 Multiaxiale Diagnostik der
lung nur beantwortet werden, wenn die Diagnose entweder nach der 7multiaxialen Di- Kinder- und Jugendpsychiatrie
agnostik der Kinder- und Jugendpsychiatrie (MAS) [4] oder der 7mehrdimensionalen (MAS)
Bereichsdiagnostik der Sozialpädiatrie (MBS) [3, 5] erstellt wird. In jedem Fall sind ne- 7 Mehrdimensionale Bereichs-
ben der Intelligenz- und Entwicklungsdiagnostik eine körperlich-neurologische Untersu- diagnostik der Sozialpädiatrie
chung sowie eine Anamnese- und Befunderhebung im psychosozialen Bereich erforder- (MBS)
lich. Die Ableitung eines 7Elektroenzephalogramms, u. a. zum Ausschluss einer benig- 7 Elektroenzephalogramm
nen Epilepsie zentrotemporal (Rolando-Fokus), ist zu empfehlen. 7Seh- und Hörfähig- 7 Seh- und Hörfähigkeit
keit sollten auch bei den geringsten Auffälligkeiten fachärztlich überprüft werden.
Bei dem in diesem Beitrag vorgestellten 8-jährigen Patienten lagen als Komorbidität
ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom vor, außerdem eine sekundäre Sozial- und Verhal-
tensstörung. Letzteres ist als häufiges Komorbiditätsphänomen bei nicht rechtzeitig diag-
Differenzialdiagnose
Sehstörungen, Hörstörungen, neurologi- Sie ist teilweise durch die Definition mit beschrieben. Die Diagnose einer Lese- und Recht-
sche Erkrankungen, Minderbegabung, schreibstörung kann nicht gestellt werden, wenn Sehstörungen, Hörstörungen, neurologi-
mangelhafte Beschulung, psychische sche Erkrankungen, Minderbegabung oder eine mangelhafte Beschulung (Z55.8) vorlie-
Erkrankungen kommen als Differenzial- gen. Auch psychische Erkrankungen, die zur Lernverweigerung oder zum Nichterlernen
diagnosen in Frage des Lesens und Schreibens führen, wie z. B. Verhaltensstörungen, emotionale Störungen
und Hyperkinetik, sind primär über die Grunddiagnose zu definieren. Nach der ICD-0
Verlust einer vorher erworbenen ist von der Diagnose der Lese- und Rechtschreibstörung auch der Verlust einer vorher
Lese- (R48.0) und/oder Rechtschreib- erworbenen Lesefähigkeit (R48.0) und einer vorher erworbenen Rechtschreibfähigkeit
fähigkeit (R48.8) ist von Diagnose (R48.8) aufgrund einer im Lebensverlauf aufgetretenen Erkrankung ausgeschlossen.
Lese- und Rechtschreibstörung
ausgeschlossen Therapie
7 Behandlungsplan Voraussetzung für die Erstellung eines 7Behandlungsplans ist die vorausgegangene
mehrdimensionale oder multiaxiale Diagnostik. Die Therapie ist in der Regel ambulant
durchführbar. Bei vorliegender Komorbidität, schwerer Beeinträchtigung der schulischen
Fähigkeiten, aber auch nicht hinreichenden familiären Ressourcen können eine teilsta-
tionäre oder stationäre Behandlung erforderlich werden. Basis des ambulanten Thera-
piekonzepts ist:
7 Übungsbehandlung Reichen obige Maßnahmen nicht aus, muss eine spezifische 7Übungsbehandlung ein-
geleitet werden. Diese sollte häufig (2–3 Termine pro Woche) in Kleingruppen von 2–
Finanzierung der Übungsbehandlung 4 Kindern (. Abb. 4) erfolgen und ist nach §35a SGB VIII über das Jugendamt zu finan-
nach §35a SGB VIII über Jugendamt zieren. Bei ausgeprägten Krankheitsverläufen kann auch eine Einzeltherapie erforderlich
werden. Die Übungstherapie [2]:
Komorbidität
Sie muss durch dafür qualifizierte Ärzte, Psychologen oder Therapeuten nach den für
die jeweilige Krankheit geltenden Leitlinien behandelt werden. Die Therapie wird in der
Regel von der Krankenkasse zu finanzieren sein. Häufige behandlungsbedürftige Begleit- Behandlung der Komorbidität wird von
erkrankungen sind: Krankenkasse finanziert
F Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivitätssyndrom
F Verhaltensstörungen
F Interaktionsprobleme
F Wahrnehmungsstörungen (visuell, auditiv)
F andere umschriebene Entwicklungsstörungen z. B. der Fein- und Grafomotorik
(. Abb. 5), Grobmotorik
F Sprachentwicklungsstörungen
F sekundäre Neurotisierung
F Schulangst
F Einnässen, Einkoten, Tics
F dissoziale Entwicklung
F Aufbau von Lernmotivation
Das Einüben von 7Bewältigungsstrategien bei sekundärer Neurotisierung, der Aufbau 7 Bewältigungsstrategien
von Lernmotivation sowie das Erlernen von Konzentrations- und Entspannungsverfah-
ren können notwendig werden.
Fallbeispiel
Für den 8-jährigen Jungen wurde ein7 Legastheniegutachten zur Vorlage beim Schul- 7 Legastheniegutachten
psychologen erstellt. Auf dessen Basis bestätigte dieser eine Lese- und Rechtschreibstö-
7 Umfassendes Die Therapie der Lese- und Rechtschreibstörung besteht in einem 7umfassenden Be-
Behandlungskonzept handlungskonzept, das nur auf der Basis einer 7umfassenden mehrdimensionalen Di-
7 Umfassende mehrdimensionale agnostik entwickelt werden kann.
Diagnostik Die Lese- und Rechtschreibstörung selbst ist nur beschränkt durch entsprechende
Übungsmaßnahmen beeinflussbar. Von höchster Bedeutung ist die Verhinderung bzw.
7 Günstige psychosoziale Behandlung der Begleit- und Sekundärerkrankungen. Unabhängig vom Erfolg der eigent-
Entwicklung lichen Therapie der Lese- und Rechschreibstörung ist damit eine 7günstige psychosozia-
le Entwicklung der Patienten bei an sich hohem Risikopotenzial zu erreichen.
Korrespondierender Autor
Prof. Dr. R. G. Schmid
Zentrum für Kinder und Jugendliche Inn-Salzach, Vinzenz-von-Paul-Straße 10–14, 84503 Altötting
E-Mail: mail@kinderzentrum.de
Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma,
deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt,
bestehen.
Literatur
1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u. a. (Hrsg) (2003) Leitlinien zur
Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 2. überarbeitete
Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln
2. Esser G (2002) Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Thieme,
Stuttgart New York, S 137–143
3. Hollmann H, Schmid RG, Kretzschmar C (2003) Qualität in der Sozialpädiatrie, Bd 1, Altöttinger Papier. Bundesar-
beitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren, Altötting, S 30–31
4. Remschmidt H, Schmidt M (2001) Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und
Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Huber, Bern
5. Schmid RG, Kühne H (2003) Diagnostik von umschriebenen Entwicklungsstörungen – der Weg zu therapeuti-
schen Konsequenzen. Kinderarztl Praxis 4:220–230
6. Schmid RG, Tirsch WS (1995) Klinische Elektroencephalographie des Kindes- und Jugendalters. Springer, Berlin
Heidelberg New York, S 139–146
7. Schmid RG, Tirsch WS, Scherb H (2002) Correlation between spectral EEG parameters and intelligence test varia-
bles in school-age children. Clin Neurophysiol 113:1647–1656
8. Warnke A (2000) Umschriebene Entwicklungsstörungen (Teilleistungsstörungen). In: Remschmidt H (Hrsg) Kin-
der- und Jugendpsychiatrie; eine praktische Einführung. Thieme, Stuttgart New York, S 113–138
1. Welche Krankheit entspricht 5. Im Lesetest und Rechtschreibtest 9. Zur Behandlung der Lese- und
keinem Synonym für den Begriff wird ein PR von 9 erreicht. Bei wel- Rechtschreibstörung selbst ist
Lese- und Rechtschreibstörung? chem IQ können Sie die Diagno- nicht primär erforderlich:
a) Legasthenie se einer Lese- und Rechtschreib- a) Erläuterung der Diagnose
b) Entwicklungsdyslexie störung stellen? b) Methylphenidat
c) Umschriebene Lesestörung a) IQ 70 c) Erstellung eines LRS-Gutachtens
d) Erworbene Lesestörung b) IQ 80 d) Berücksichtigung in der Schule
e) Rechtschreibschwierigkeiten c) IQ 90 e) Übungsbehandlung
bei Lesestörung d) IQ 100
e) IQ 110 10. Bei dem vorgestellten Jungen war
2. Wie hoch ist die Prävalenz für die folgende Behandlungsmethode
Lese- und Rechtschreibstörung? 6. Welche Störung tritt nicht gehäuft nicht indiziert:
a) 1–2% zusammen mit einer Rechtschreib- a) Förderung in der Schule
b) 2–7% störung auf? b) Psychotherapie
c) 8–10% a) Störung der Sprache c) Förderung nach §35 SGB VIII
d) 11–13% b) Aufmerksamkeitsstörung d) Methylphenidat
e) 14–16% c) Epilepsie e) Valproinsäure
d) Schulangst
3. Was trifft auf die Lese- und e) Kopfschmerzen
Rechtschreibstörung nicht zu?
a) genetische Faktoren 7. Welche Untersuchung ist zur
b) Abweichungen bei der Hirnsymme- Diagnosestellung der Legasthenie
trie in der Regel nicht erforderlich?
c) Abweichungen bei der Kohärenz im a) Lesetest
EEG b) Rechtschreibtest
d) Verminderte Alphagrundaktivität c) Magnetresonanztomographie
e) Auftreten im höheren Alter d) Intelligenztest
e) EEG
4. Welches Kriterium schließt eine
Lese- und Rechtschreibstörung 8. In den meisten Fällen ist die The-
aus? rapie der Lese- und Rechtschreib-
a) IQ = 65 störung durchführbar:
b) Prozentrang von 8 im Rechtschreib- a) ambulant
test b) teilstationär
c) Prozentrang von 5 im Lesetest c) stationär
d) Differenz zwischen IQ und Recht- d) Rehabilitationsverfahren
schreibtest von 2 SD e) Spezialkliniken
e) IQ 125
Wichtige Hinweise:
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Online-Einsendeschluss ist am 3.12.2004
Die Lösungen zu dieser Fortbildungseinheit erfahren Sie in der übernächsten Ausgabe an dieser Stelle.
Beachten Sie bitte, dass per Fax, Brief oder E-Mail eingesandte Antworten nicht berücksichtigt werden können.
Die Lösungen der Zertifizierten Fortbildung aus Ausgabe 08/2004 lauten:
1b, 2b, 3c, 4d, 5b, 6c, 7b, 8*, 9c, 10d
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