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Ergebnisse internationaler strategischer Studien 291

Gesetzen und die Ausarbeitung von Kompromissen. ten Staaten bezieht, wäre es sicherlich spannend zu analy-
Mechanismen und Strukturen, die parteiübergreifendes sieren, inwiefern viele dieser Entwicklungen auch andere
Arbeiten und Initiativen fördern, beruhten nur auf den liberale Demokratien bedrohen – und wie eine Strategie
persönlichen Bemühungen einzelner Abgeordneter und zur Bewältigung dieser großen Herausforderungen ausse-
wären nicht institutionell verankert. Die stetig wiederkeh- hen könnte. Wenn die USA bislang ein weltweites Model
rende Gefahr eines Shut down verdeutliche die Ineffizienz, für demokratische Systeme waren, bleibt die Hoffnung
die diese Polarisierung mit sich bringt sehr eindrucksvoll. bestehen, dass sie nun auch ein Model für andere liberale
Auch die Medien spielten eine entscheidende Rolle. Demokratien und ihren Umgang mit diesen Herausforde-
Um mehr Aufmerksamkeit und höhere Einschaltquoten rungen werden könnten.
oder Klickzahlen zu bekommen, konzentrierten sie sich http://www.atlanticcouncil.org/publications/reports/
in ihrer Berichterstattung eher darauf zu provozieren, als whither-america
sachlich und ausgewogen zu informieren. Besonders im
Zeitalter digitaler Medien gehe Schnelligkeit häufig vor
Genauigkeit. Eine Vielzahl verschiedener, aber häufig ein- Europäische Sicherheit und Verteidigung
seitig berichtender Informationsquellen führe ferner zur
Bildung von Echokammern, in denen Nutzern nicht mehr Sir David Omand: From Nudge to Novichok. The Res-
mit unterschiedlichen Betrachtungsweisen und einer Mei- ponse to the Skripal Nerve Agent Attack Holds Lessons
nungsvielfahrt konfrontiert werden. Eine zu große Nähe for Countering Hybrid Threats. Helsinki: The European
zwischen Journalismus und Politik verspiele darüber Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats. April
hinaus das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger. Ein 2018
Wechseln zwischen politischen Ämtern und journalisti- Besprochen von Prof. Dr. em. Leo Bamberger, non-resident fellow,
schen Aufgaben sei häufig problemlos möglich. ISPK; E-Mail: bamberger@ispk.uni-kiel.de
John Raidt beobachtet darüber hinaus aber auch kul-
https://doi.org/10.1515/sirius-2018-3012
turelle und soziale Faktoren, die zum Verfall des demokra-
tischen Systems beitragen würden. Um das demokratische Die vorliegende Studie des Hybrid Centre of Excellence,
System durch Spaltung und Polarisierung zu gefährden, eines gemeinsam von EU und NATO unterhaltenen Think-
benötige es eine Bevölkerung, die dem nicht viel entge- tanks in Helsinki, befasst sich mit der Frage warum Russ-
gensetzt und sich polarisieren lässt oder sogar aktiv zu land den Anschlag gegen den ehemaligen Geheimdienst-
weiteren Spaltungen beiträgt. So fördere die Nachfrage agenten Sergej Skripal geplant hat und wie die russische
nach schnellen Nachrichten und Sensationen eine ober- Reaktion auf die öffentlich vorgebrachten Anschuldigun-
flächige Berichterstattung und belohne reißerische Wahl- gen seitens der britischen Regierung zu verstehen sind.
kämpfe. Der große Zynismus, mit dem oft verächtlich auf Der Verfasser, David Omand, ist derzeit Gastprofessor
Politik und Politiker geschaut wird, untergrabe ferner das am King’s College in London und war früher Nachrich-
Vertrauen in das demokratische System und seine Vertre- tendienstlicher Koordinator im britischen Kabinett und
terinnen und Vertreter. Direktor der Regierungskommunikationszentrale GCHQ,
Der Autor belässt es allerdings nicht bei einer genauen die sich vor allem mit Fernmeldeaufklärung befasst.
Analyse der Faktoren, die den Kern der amerikanischen Der Anschlag von Salisbury weist für Omand aus zwei
Demokratie allmählich aushöhlen, sondern gibt den Gründen auf Russland als den Urheber. Zum einen sei er
Lesern auch gleich verschiedene, kurze Vorschläge, wie ein weiteres, extremes Beispiel für sogenannte aktive Maß-
eine Strategie aussehen könnte, mit der diesen alarmie- nahmen, die Russland in der Vergangenheit immer wieder
renden Entwicklungen zu begegnen sei. Obwohl diese gegen Dissidenten oder frühere eigene Agenten durchge-
nur als stichpunktartige Gedanken aufgeführt und nicht führt habe, die in Großbritannien oder in anderen west-
näher ausgeführt werden, könnten dies erste, aussichts- lichen Ländern leben. Die Tatsache, dass dieses Mal der
reiche Schritte sein, um einen Diskurs zur Kurskorrektur Nervenkampfstoff Novičok angewandt wurde, welcher in
anzustoßen. Russland entwickelt und produziert worden war und nur
John Raidt präsentiert in seinem Strategy Paper einen dort in dieser Reinheit vorkommen könne, sei ein weite-
sehr spannenden Blickwinkel. Die Erosion des politischen rer Hinweis auf den russischen Staat als Urheber dieses
Systems und der Demokratie sei auch eine Bedrohung für Anschlags. Ziel derartiger Anschläge – von denen der
die nationale, äußere Sicherheit sowie die Glaubwürdig- bislang bekannteste derjenige gegen Alexander Litvenko
keit und Handlungsfähigkeit der USA auf internationaler im Jahr 2006 war – sei es, Verunsicherung unter den Dis-
Ebene. Obwohl er sich dabei explizit nur auf die Vereinig- sidenten zu schaffen und vor allem eigene Agenten oder

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Mitglieder des russischen Sicherheitsapparates davon Łukasz Kulesa: Envisioning a Russia-NATO Conflict.
abzuhalten die Seiten zu wechseln. Implications for Deterrence Stability. London: European
Es gäbe, so Omand, keine alternative Erklärung für Leadership Network (Euro-Atlantic Security Report),
diesen Anschlag. Diese Überzeugung habe auch die an- Februar 2018
deren Mitgliedstaaten der NATO dazu gebracht sich mit Besprochen von Sebastian Feyrock, AK Junge Sicherheitspolitiker
Großbritannien zu solidarisieren. Der Verfasser beschreibt der BAKS, E-Mail: sebastian.feyock@gmail.com
die Reaktionen der westlichen Staatengemeinschaft auf
das „verbrecherische und rücksichtslose Verhalten der https://doi.org/10.1515/sirius-2018-3013
russischen Regierung“ und erklärt die Heftigkeit der Reak-
In dem Bericht Envisioning a Russia-NATO Conflict: Impli-
tion (Ausweisung von über hundert russischen Diploma­
cations for Deterrence Stability setzt sich Łukasz Kulesa
ten) damit, dass für Viele der Anschlag von Salisbury
mit der Frage auseinander, wie ein zukünftiger Konflikt
der berühmte Tropfen sei, der das Fass zum Überlaufen
zwischen Russland und der NATO ausbrechen könnte,
gebracht habe.
wie dieser eingedämmt bzw. beendet werden müsste und
Für Omand ist der Anschlag von Salisbury ein weite-
welche Auswirkungen sich daraus für die strategische Sta-
res Beispiel für die hybride russische Bedrohung, der die
bilität in Europa ergeben. Als Grundlage des Berichts dient
westliche Welt derzeit ausgesetzt sei. An der russischen
ein gemeinsamer Workshop des European Leadership Net-
Reaktion auf die Anschuldigungen lasse sich zudem ein
works (ELN) mit dem Center for Security Studies (CSS) im
klares Muster erkennen: Anstatt die Kooperation zu offe-
Dezember 2017.
rieren und zur Klärung der Sachlage beizutragen, habe
Im Sinne des Berichts definiert Kulesa einen mögli-
die russische Regierung nur Aktionen übernommen, die
chen Konflikt als die Anwendung physischer Gewalt, auf
Verwirrung schaffen sollten. Zu diesem Zweck wurden
welche die Gegenseite mit der Anwendung von physi-
völlig unterschiedliche, sich gegenseitig widerspre-
scher Gewalt oder anderer Mittel reagiert. Diese Definition
chende Informationen und Behauptungen gestreut, die
umfasst den Einsatz von regulären Streitkräften, Spezi-
die Glaubwürdigkeit der britischen Regierung in Frage
aleinsatzkräften und „kleinen grünen Männchen“ ebenso
stellen sollten. Dabei sei nach dem Muster vorgegangen
wie die Anwendung von Sabotage und Cybermaßnahmen,
worden: je abstruser desto wirkungsvoller. Die russische
die physischen Schaden nach sich ziehen. Maßnahmen
Regierung habe nicht einmal Wert daraufgelegt, selber
wie (Des-)Informationskampagnen oder politischer und
ein durchgängiges und widerspruchsfreies Narrativ zu
wirtschaftlicher Druck in Form von Sanktionen bleiben
produzieren. Dies zeige wie zynisch der Kreml hier vor-
von dieser Definition unberücksichtigt.
gegangen sei.
Kulesa stellt fest, dass weder die russische Regierung
Für den Verfasser folgen daraus zwei Anforderungen
noch das NATO-Bündnis ein Interesse daran hätten, den
an westliche Politik. Zum einen muss man sich auf mehr
Konflikt zu suchen und physische Gewalt gegeneinander
derartige Anschläge einstellen und größere Resilienzen
anzuwenden. Daher ist der Ausbruch eines Konfliktes
dagegen entwickeln. Zum anderen muss mehr Aufklärung
zwischen beiden Seiten vermeidbar und derzeit unwahr-
über die russischen Desinformationskampagnen herge-
scheinlich. Allerdings erscheint die Gefahr einer unbe-
stellt werden. Diese seien zu einem erschreckenden Grad
absichtigten Eskalation und eines daraus resultierenden
wirkungsvoll gewesen.
Konfliktes als wahrscheinlicher. Die russische Weltsicht
https://www.hybridcoe.fi/publication-tags/working-
und Gefahrenabschätzung könne zu einem strategischen
paper/
Fehler bzw. einer Fehlinterpretation von NATO-Handlun-
gen führen und einen Konflikt auslösen, so Kulesa.
Der Autor stellt drei Szenarien dar, in denen Russland
den Konflikt mit der NATO suchen könnte: Die wahrge-
nommene Notwendigkeit eines russischen Präventiv-
schlages, eine innenpolitische Legitimationskrise des rus-
sischen Regimes und der unbeabsichtigte Ausbruch eines
Konfliktes.
Die Wahrnehmung, dass ein Präventivschlag gegen die
NATO notwendig sei, könne unter anderem dann entste-
hen, sollte die russische Regierung den Eindruck bekom-
men, der Westen erlange einen bedeutenden strategischen

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