Sie sind auf Seite 1von 25

Reprint

1986 Billy the Hit


Vor den Nazis floh er aus Berlin und wurde schnell einer der besten,
bissigsten und höchstbezahlten Filmemacher Hollywoods. Seine
Spezialität: atemlose Slapstick-Farcen über die verrückten Amis und
schwarze Komödien über seine Ex-Landsleute – die Teutonen, ein Volk
zum Totlachen.

Von Gundolf S. Freyermuth

vol. 2010.06 info billy the hit 1/25 


freyermuth.com

Inhalt

Billy the Hit / 3

Anhang: Ausschnitt Interview (1985) / 20

vol. 2010.06 info billy the hit  2/25 


freyermuth.com

Billy the Hit

Marilyn, ein Abziehbild der Monroe,


wartet in der vollklimatisierten Riesen-
Glitzer-Luxuslobby. Gibt es einen Gott
neben den Hollywood-Göttinnen, so
meint er es gut mit den Bewohnern von
Beverly Hills. Feines Viertel, teures Ap-
partementhaus, bester Service.

Marilyn langweilt sich. Nichts Besonde-


res weit und breit.

Geräuschlos wuseln die bestressten


Portiers über den edlen Teppichboden,
halten Türen auf, parken Luxuskarossen
und laufen möglichst oft und möglichst
dicht am tiefen Silikon-Dekolleté der
wartenden Wasserstoffblondine vorbei.

vol. 2010.06 info billy the hit  3/25 


freyermuth.com

Marilyn verzieht keine Miene, stiert


ungerührt raus ins warme grelle
Licht und übersieht den Rest der
Welt mit leerem Fernsehblick. Sie
wartet geduldig, dass sie gerufen
wird, ebenso apart wie apathisch.

Ein paar Stockwerke höher rutscht


auf einer superkühlen schwarzen
Ledercouch ein total überladenes
Energiebündel herum, das sich als
Mann von neunundsiebzig Jahren
ausgibt. Er kann nicht still sitzen,
und er will es auch nicht. Das Feh-
len von Bewegung scheint ihm eine
Qual. Er ist ungeduldig und irrsinnig
schnell gelangweilt.

Vor drei Jahrzehnten hat er eine


traumhaft weiche Blondine im wei-

vol. 2010.06 info billy the hit  4/25 


freyermuth.com

ten Rock über den Lüftungsschacht einer U-Bahn gestellt, ihr Studio-Wind zwischen die
Schenkel blasen lassen und damit das mythische Monroe-Bild produziert, das Zuschau-
erträume im „Verflixten siebten Jahr“ heute noch genauso nährt wie die Miet-Marilyn
unten in der Lobby.

Doch er hat Bedeutenderes geschaffen. Von den frühen vierziger bis in die frühen
sechziger Jahre war er der beste und böseste Mann des Hollywood-Kinos. Als Autor,
Regisseur und Produzent veränderte er die Welt der Bilder, mit der wir heute auf allen
Kanälen leben, für immer. Und zwar so schnell, dass die Filmkunst-Mischpoke – gewöhnt
an Zeitlupen-Dramaturgie, getragene Dialoge und buchstabierten Tiefsinn, eben an
Filme mit geistiger Gebrauchsanweisung – bis heute noch nicht richtig nachkommt.

„Also, ich quatsche einfach drauflos“, beginnt Billy Wilder das Gespräch, „und Sie“ – er
zeigt auf den eingeschüchterten Reporter aus Deutschland – „Sie schreiben hinterher
die Witze rein.“

„Klar, kein Problem“, wehrt sich der Reporter. „Wir schreiben ja sowieso immer alles
um und erfinden, was wir gerade brauchen ...“

„Gut“, sagt Billy Wilder, der sein Berufsleben vor über sechzig Jahren selbst als Repor-
ter für diverse Wiener und Berliner Boulevard-Blätter begann. „Also los.“

vol. 2010.06 info billy the hit  5/25 


freyermuth.com

Statt sich zurückzulehnen, macht er Anstalten aufzustehen.

Ob er einen Augenblick stillsitzen würde, bittet der Fotograf. Wilder gefriert ge-
krümmt, halb im Sprung hoch.

Sofort stellt der Herr der Bilder sich vor, wie das aussehen könnte.

„Fotografieren Sie mich so nicht“, schnarrt er mit einer Stimme, die an einen Wiener
Oberkellner erinnert, der auch von Stammgästen keinen Widerspruch duldet: „So sehe
ich schwanger aus. Das steht mir nicht.“

„Nur der Kopf ist im Bild“, versichert der Fotograf.

Wilder zieht ein Froschgesicht wie jener Märchenkönig, unmittelbar bevor er an die
Wand geworfen wird.

„Wenn ich bei meinen Filmen so viele Takes hätte machen können, wäre kein schlech-
ter dabei gewesen!“ spottet Wilder nach zehn, zwanzig Sekunden.

Der Fotograf schweigt weise und lässt den Motor der Kamera surren.

Während der Hausherr stillhält, betrachtet der Reporter die kostbaren Gemäldereihen
an den Wänden des Appartements. Und Wände gibt es einige. Wo vor Jahr und Tag noch
ein offener Balkon war, ist jetzt senkrechter, überdachter Beton: Wände mussten her,
um Platz für die Beute von Billy Wilders Sammelleidenschaft zu schaffen.

vol. 2010.06 info billy the hit  6/25 


freyermuth.com

„Ich habe einfach alles gesammelt“, sagt Wilder. „Nennen Sie irgendwas, ich hab‘s mal
gesammelt.“

Vor allem Bilder. In den vierziger Jahren gehörte er zu den der ersten Hollywoodianern,
die europäische Kunst kauften. Heute ist er einer der renommiertesten Sammler auf
dem teuren Pflaster zwischen Hollywood, Bel Air und Beverly Hills. Das in Sichtweite
schönste Stück hängt über der Couch: eine brustfreie Delvaux-Frau vor einem Hoch-
spannungsmast, umgeben von zwei zarten Schwestern.

Aber das wahre Gesamtkunstwerk sitzt darunter, ein trompe l‘œil, dessen Bildinhalt je
nach Lichteinfall und Perspektive wechselt:

Auf den ersten Blick glaubt der Reporter einen faszinierenden Uralt-Jungen zu erken-
nen, den Zeitreisenden aus einer größeren Welt, eine Art lieb-zerknitterter E.T., dann
wieder einen bitteren Siebzigjährigen, der den Pensionierungsschock nicht ganz ver-
wunden hat.

Jetzt scheint es ein rücksichtsloser Fünfzigjähriger zu sein, dessen spitze Ellenbogen


alle Konkurrenten das Fürchten lehren, und im nächsten Augenblick lockt da ein aler-
ter, gutgelaunter Fünfundzwanzigjähriger auf der untersten Sprosse der Karriereleiter.

vol. 2010.06 info billy the hit  7/25 


freyermuth.com

Zwischendurch aber hampelt auf der


schwarzen Ledercouch immer wieder
ein ungeduldiger Fünfjähriger herum,
der beim gesitteten Gespräch der Er-
wachsenen nicht weiß wohin mit seiner
überschüssigen Energie.

All diese Billy Wilder feiern am 22. Juni


ihren achtzigsten Geburtstag.

Ehrfurcht ist angebracht, aber nicht


vor dem Alter. Richtiger wäre ein Schild
unter dem Gesamtkunstwerk: „Vorsicht!
Bissiger Mann!”

Dafür kann der Jubilar natürlich nichts.


Er strengt sich nicht sonderlich an,
sarkastisch und hemmungslos unterhalt-
sam zu sein, egal auf wessen Kosten.
Er ist es ganz einfach. Selbst wenn er

vol. 2010.06 info billy the hit  8/25 


freyermuth.com

meint, friedlich, freundlich und entspannt zu sein, scheucht er, vermutlich aus schierer
Gewohnheit, alles und jeden laut hupend beiseite. Auf die Erfindung der Langsamkeit
kann er verzichten.

„Reicht das immer noch nicht?“ Billy Wilder sitzt jetzt da wie beim Zahnarzt.

Klick, rassscht, klick, rassscht, klick ...

„Es wird ziemlich langweilig, immer auf die Linse zu starren und ‚Nikon’ zu lesen ...„
Er schaut den Fotografen ungeduldig an.

Klick, rassscht, klick, rassscht, klick ...

„‚Nikon, Nikon!’ Nach anderthalb Stunden bin ich mit so einem Wort durch. Dann
wiederholt’s sich ...“

Billy Wilder springt auf und beginnt, hin und her zu laufen.

„Und Sie“, ruft er in Richtung des Reporters, „ein paar Fragen müssen Sie schon stel-
len. Ich kann ja nicht alles von allein erzählen, denn das Thema“ – er meint seine Le-
bensgeschichte – „ist enorm. Wenn jemand blöd genug wäre ...“ Wilder schnappt seine
Lippen zusammen und wirft dem Reporter einen Blick zu, der keinen Zweifel daran
lässt, dass er seinem Gast diese wie auch jede andere Blödheit zutraut. „Also, wenn

vol. 2010.06 info billy the hit  9/25 


freyermuth.com

jemand blöd genug wäre, könnte er glatt ein Buch darüber schreiben, 900 stinklangwei-
lige Seiten.“

Der Reporter schaut auf seine Notizen. Da stehen die wichtigsten Etappen etwas kür-
zer:

Geboren 1906 als Samuel Wilder, Sohn österreichischer Eltern jüdischer Abstammung,
aufgewachsen in Wien, seit frühester Jugend gleichermaßen beeinflusst vom einheimi-
schen Saujuden-Anti-Semitismus und der hemmungslosen Amerika-Liebe seiner Mutter.
Mit zwanzig Jahren fährt Wilder für ein paar Tage nach Berlin und kehrt nie wieder
zurück. 1929 liefert er die Skriptidee zu dem Stummfilm-Klassiker „Menschen am Sonn-
tag“. Danach lukrative Erfolge als Drehbuchautor für die Ufa (u. a. „Der Mann, der
seinen Mörder sucht“, „Emil und die Detektive“).

1933 flieht er vor Berufsverbot und Nazi-Terror nach Paris.

Ein Jahr später kommt der 28jährige nach Hollywood. Dort lässt der Erfolg eine Weile
auf sich warten. Die ersten Monate bewohnen Wilder und Mit-Emigrant Peter Lorre, der
berüchtigte „M“-Mörder, gemeinsam ein Billig-Zimmer. („Jede Nacht habe ich unter den
Kissen geguckt, ob er ein Messer da hatte. Aber dann habe ich ihm gesagt: Ich bin ja
viel zu alt für dich.“)

vol. 2010.06 info billy the hit  10/25 


freyermuth.com

Wilder lernt englisch, bis er amerikanisch träumt. 1939 wird er US-Staatsbürger. Heute
spricht er mal Hollywood-Slang mit Wiener Akzent, mal Wiener Gosche mit „American
accent“. Zu Ehren des deutschen Besuchs garniert er beides mit Berliner Gossenhumor.
(„Kennen Sie den vom alten Mann, der nicht mehr pinkeln kann ...“)

Der Durchbruch gelingt ihm als Co-Autor der Lubitsch-Komödien „Blaubarts achte Frau“
(1938) und „Ninotschka“ (1939). Sein kometenhafter Aufstieg beginnt: 1942 erste Re-
gie, 1943 der Anti-Nazi-Klassiker „Five Graves To Cairo“, danach Zusammenarbeit mit
Raymond Chandler an dem Thriller „Frau ohne Gewissen“. („Chandler hat sich beim
Produzenten über mich beschwert: Ich trank ihm zuviel und bekam zu viele Anrufe von
zu vielen Mädchen. Er war ein Genie, aber immer schlecht gelaunt. Schon in schlechter
Laune geboren!“) .

Im Frühjahr 1945 reist Billy Wilder als Besatzungsoffizier nach Berlin und erfährt, dass
die lieben Ex-Landsleute Mutter und Großmutter in Auschwitz ermordet haben. Er kehrt
nach Hollywood zurück und erhält im selben Jahr seine beiden ersten Oscars für die
Trinker-Studie „Das verlorene Wochenende“. Seine Erlebnisse mit deutscher Unbelehr-
barkeit und amerikanischer Hilflosigkeit verarbeitet er dann 1947 in „Foreign Affair“,
einer Nazi-Restrisiko-Geschichte, zum Teil in den Trümmern von Berlin gedreht und mit
Wilders alter und intimer Mit-Emigrantin Marlene Dietrich in der Hauptrolle.

vol. 2010.06 info billy the hit  11/25 


freyermuth.com

1950 gibt es dann Oscar Nr. drei für „Boulevard der Dämmerung“, eine grandiose
Abrechnung mit Hollywood und vor allem mit der ersten Hälfte von Billy Wilders Holly-
wooder Leben. Denn was den Menschen auf dem kurzen Weg vom mit Sternen gepfla-
sterten Hollywood Boulevard hinunter zum Sunset passiert, setzt sich aus Fragmenten
seines eigenen Schicksals zusammen – dem vergangenen ebenso wie dem, was noch auf
ihn zukommen wird: vom jungen Gigolo, der um des Überlebens willen seine Träume

vol. 2010.06 info billy the hit  12/25 


freyermuth.com

und seine Liebe verkauft, zum alten Gigolo – gespielt von Wilders großem Idol Erich von
Stroheim –, der um seiner Träume und seiner Liebe willen den Rest seines Leben opfert.

Die Krönung seiner Karriere ereilt Wilder schließlich 1960, als er in einer einzigen
Oscar-Nacht Nummer vier, fünf und sechs der goldenen Statuetten kassiert: als Autor,
Regisseur und Produzent von „Das Appartement“, einem Film, der den „american way
of life“ als kollektives Sittlichkeitsverbrechen mit individuellem Happy-End inszeniert,
mündend in den Triumph der unverschämt treffenden Unmoral, dass man als karriere-
geiler Angestellter ganz schön tief sinken muss, um schnell nach oben zu kommen.

Im Feuilleton, dessen Hyänen der Halbbildung sich damals mehrheitlich noch als auf-
rechte Moralisten gebärden, weckt Wilders realistische Zyne allgemein Empörung. Von
der Kritik verrissen und bald auch vom zahlenden Publikum verlassen, beginnen nach
den zwanzig fetten Jahren, die 1942 mit „The Major and the Minor“ begannen, nun die
zwanzig dürren Jahre, eingeläutet ausgerechnet von seinem größten finanziellen Erfolg
„Irma la Douce“ (1963).

Billy Wilder leidet nicht zuletzt darunter, dass es mit dem Geschmack (und dem Durch-
schnittsalter) der Kinogänger rapide bergab geht. So erklärt es sich, dass einer der
besten Filme des hiesigen Kinojahres 1985 ein Vierteljahrhundert alt ist: „Eins, zwei,

vol. 2010.06 info billy the hit  13/25 


freyermuth.com

drei” - die einst ungeliebte Wahrheit über das Leben in Rest-Deutschland, einer Wilder-
Hölle aus untertänigen Demokraten, scheinheiligen Ex-Nazis und geldgierigen Anpas-
sern. Damals ein Superflop, heute ein Kult-Film.

Nicht nur der Platz in der Filmgeschichte ist ihm sicher ist, sondern auch – eins, zwei,
drei – neuer Erfolg beim nachwachsenden Publikum. Vom enfant terrible ist Wilder
zum Grand Old Man avanciert. Im März hat ihm das American Film Institute den Life-
Achievement-Award verliehen für ein Lebenswerk, dessen zentrales Thema die ameri-
kanische Tragödie ist, gesehen aus europäischer Sicht – als Komödie.

Von unserem, dem Land, das ihn vertrieb, Verwandte und Freunde ermordete, erzählt
in Wilders Werk ein gespenstischer Seitenzweig. Sein Thema in „Five Graves to Cairo“,
„Foreign Affair”, „Stalag 17” und „Eins, zwei, drei” sind die komischen Deutschen –
eine Tragödie. Zum Totlachen.

Bevölkert wird die Wilder-Welt von nahezu allen, die Rang und Namen hatten. Allein
die Liste der weiblichen Stars, mit denen er arbeitete, liest sich wie der Spickzettel zur
Quizfrage „Wer war schön und gut in Hollywood“: Greta Garbo und Claudette Colbert,
Ginger Rogers und Anne Baxter, Barbara Stanwyck und Marlene Dietrich, Gloria Swanson

vol. 2010.06 info billy the hit  14/25 


freyermuth.com

und Audrey Hepburn, Shirley MacLaine und Kim Novak. Dazu die beiden heißen Hüb-
schen in den hohen Stöckelschuhen, Walther Matthau und Jack Lemmon.

Und vor allem und über allen MM.

„Wir würden gern ein Foto von Ihnen machen, mit Marilyn,” sagt der Reporter.

Billy Wilder schaut seine Gäste an, als sei es für ihn keine Überraschung, dass der
Wahnsinn überall lauert.

„Mit einem Look-alike natürlich”, nuschelt der Fotograf.

„Einem was?”

„Einem Mädchen, das genauso aussieht.”

„Nein!” sagt Wilder. „Mit der lass ich mich nicht fotografieren. Die Idee ist selten
blöd.“

„Aber das wäre doch ein Hingucker“, bittet der Fotograf.

„Da könnt ihr mich auch nackt fotografieren, dass wäre auch ein Hingucker.“

Billy Wilder rennt auf und davon, bis ihn die Wand am anderen Ende des Zimmer
stoppt.

Dann dreht er sich um und läuft hin und her, als solle er den Bodenbelag testen.

vol. 2010.06 info billy the hit  15/25 


freyermuth.com

Plötzlich bleibt er stehen.

„Wo ist das Mädchen?“ fragt er verdächtig freundlich.

Der Fotograf wittert Morgenluft. „Sitzt schon unten in der Halle.“

„Da soll sie sitzenbleiben und warten.“ Wilder schaut zufrieden aus.

Könnte es sein, dass es ihm gefällt, Marilyn einmal warten zu lassen, und sei es nur ein
Double?

Immer war es schließlich anders herum: Tag für Tag kam „La Monroe“ Stunden zu spät
zu den Dreharbeiten, vergaß ihren Text, tyrannisierte die Crew.

„Oh, die hat mir Schwierigkeiten gemacht ...“

Wilder stöhnt in Erinnerung auf. Marilyn schaffte den gefürchteten Billy. Am Ende der
Dreharbeiten zu „Manche mögen‘s heiß“ (1959) war er ein nervöses Wrack.

„Ich habe wieder Appetit“, freute sich Wilder, als es endlich rum war. „Zum ersten Mal
seit Monaten kann ich schlafen, und ich kann auch meine Frau wieder ansehen, ohne
sie schlagen zu wollen, nur weil sie eine Frau ist.“

„Trotzdem“, sagt Wilder jetzt, „Marilyn war den Ärger wert. Sehen Sie, ich hatte eine
alte Tante in Wien. Die war immer pünktlich. Die hätte mir nie, nie auch nur den ge-

vol. 2010.06 info billy the hit  16/25 


freyermuth.com

ringsten Ärger bereitet. Und obendrein hätte ich sie für lausige 300 Dollar Gage bekom-
men können. Aber wer hätte sich schon einen Film mit meiner Tante angesehen?“

Eine Zehntelsekunde schaut er traurig.

„Ich wünschte, Marilyn würde noch leben und nicht unter der Erde von Forest Lawn lie-
gen, keine zehn Minuten von hier.“

Und schon hat er sie wieder vergessen. Der Meister des Timing hetzt – eins, zwei, drei,
Tempo, Tempo – durch Erinnerungen, denen er selbst nicht recht traut.

„Wenn man alt wird und von Sachen erzählt, die man mal erlebt hat, kann man sich
jede gottverdammte Geschichte ausdenken, was weiß ich, über meine Affäre mit der
Großtochter des Generalfeldmarschalls Ludendorff. Wer kann mir schon auf die Schli-
che kommen? Die Leute, die es besser wissen, sind ja tot!“

Weshalb er zügig zur Gegenwart kommt. Denn die interessiert Billy Wilder nach wie vor
am meisten. Seit kurzem geht er jeden Tag wieder ins Büro arbeiten, als Berater für
United Artists.

„Er hat vollkommen freie Hand“, verkündete der Vorstandsvorsitzende den Vertrag mit
dem großen alten Mann. „Er kann machen, was er will.“

vol. 2010.06 info billy the hit  17/25 


freyermuth.com

Und genau das macht Wilder, denn darin hat er schließlich die größte Erfahrung. Minde-
stens zwei Filme will er noch drehen.

„Es ist sehr schwierig für mich. Ich bin nicht mehr richtig im Rhythmus des Publikums.
Ich komponiere noch Tanzweisen, aber keiner kommt, um zu tanzen – im Moment. Doch
ich mache nicht, was die wollen ...“

Seine Kopfbewegung deutet vage nach draußen, irgendwo da hinten, wo die Hollywood-
Studios liegen und von wo immer mal wieder Angebote kommen.

„Ich brauche das Geld nicht, und ich bin für solche Sachen nicht der richtige Mann. Wir
begraben doch unsere Filme nicht. Man sieht sie immer wieder. In kleinen Kinos, im
Fernsehen. Dreißig Jahre später leidet man noch, wenn man Scheiße gemacht hat. Lie-
ber mache ich also nichts als etwas, das ein Kompromiss oder eine Kopie wäre.”

Genug gesprochen. Bei dem Wort Unterhaltung denkt Wilder sowieso mehr an Enter-
tainment als an Miteinanderreden. Und genug gesessen. Er springt auf, um einmal mehr
dreißig, vierzig neue Runden in seinem Wohnzimmer zu drehen.

Der New York Times hat er einmal erzählt, wie er in einer Studio-Kantine ein Gespräch
vom Nebentisch mithört. Dort saßen ein paar smarte Jungproduzenten, und einer vom

vol. 2010.06 info billy the hit  18/25 


freyermuth.com

coolen Nadelstreifen-Nachwuchs sagt: „Wilders Karriere kann man in einem Wort zu-
sammenfassen: Vorbei.“

Das ist ein paar Jahre her, und derweil dürften die Großschnauzen sogar von ihren ehe-
maligen Sekretärinnen vergessen worden sein. Wilders Werk hingegen wächst.

„Noch eine Frage zu ...“, ruft der Reporter.

„Noch EINE!” schreit Wilder voll wilder Begeisterung. „Ja, noch eine, und dann ist
Schluss, Schluss.“

Aber auch dieser Gedanke wird ihm schnell langweilig. Erst zwei Stunden später verab-
schiedet er seine Gäste.

„Dem armen Mädchen da unten sagen Sie bitte, es ginge nicht, weil ...“

Für einen Augenblick schient Billy Wilder mit aufkeimendem Mitleid zu kämpfen. Doch
die bewährte alte Bosheit siegt. Er strahlt übers ganze Gesicht, als sei er sicher, dass
wir mit dieser guten Nachricht jeder denkbaren Marilyn eine Freude bereiten könnten:

„Sagen Sie ihr bitte, ich hätte Aids!“

vol. 2010.06 info billy the hit  19/25 


freyermuth.com

Anhang: Ausschnitt Interview (1985)

Gundolf S. Freyermuth: Es gibt ja das Gerücht, dass Sie als Eintänzer arbeiteten ...?

Billy Wilder: Da gibt es also zwei Versionen. Als Journalist wurde ich Eintänzer, um dar-
über zu schreiben. Oder weil ich nämlich keinen Job hatte, wurde ich Eintänzer. Und
hab‘ da eine Serie so geschrieben für die BZ am Mittag.

GF: Und welche Version ist die richtige?

BW: So halb und halb. Alles im Leben ist doch so ... Nichts ist schwarz, nichts ist weiß.
Alles ist ein bisschen grau. Und dann ging es bald ganz gut. Dann habe ich also angefan-
gen, so eine Karriere, wie man in Wien sagt: Da haben sie aber ‚ne ganz fesche Karriere
gemacht, Herr Oberregisseur. Ich wurde plötzlich ein Oberregisseur. Und dann schrieb
ich bereits für die UFA, das war also das große Ziel des Filmschriftstellers. Und dann
kam der Hitler.

GF: War das Arbeiten für Sie schwieriger geworden in den letzten Jahren?

BW: Nein, überhaupt nicht. So hin und wieder. Das Leben wurde sehr grim. I better tell
it in English. I want to say that absolutely drove me insane. The time after Hitler came

vol. 2010.06 info billy the hit  20/25 


freyermuth.com

to power, you know, that for me was tragic, absolutely tragic. I was never worried
about my own security, my own safety, but to sit, I remember sitting at the table at the
Romanisches Cafe and fifty, fifty SA-Men in uniform beating up on an 85 year old jew.
They’re beating him to death and you sit there and you cannot do a damn thing. Be-
cause you open your mouth and they beat you to death, too. You just sit there and you
watch it. And that kind of a thing, that was going on continously. That was intolerable,
absolutely intolerable. And the sense of impotence, the sense of being unable to do
anything.

Then I just, I left and went to Paris and stayed there for about ten or eleven months,
made a picture there, first picture I ever directed. But ...

GF: Sie sagten, es war ein Jahr vor Hitlers Machtübernahme. Wieso haben Sie sich
selbst persönlich nicht unsicher gefühlt, es hätte doch auch Sie treffen können?

BW: Nobody quite knew how this is going. Nobody knew ... UFA had a building on
Dönhoff-Platz, and they had a paternoster and there was a man who was sort of regula-
ting it, also you went in and out, you know, this continously moving elevator. And then I
knew the guy very well but who knew, when I came back from Switzerland after Hitler

vol. 2010.06 info billy the hit  21/25 


freyermuth.com

had taken over, that this friend of mine suddenly was in uniform with the Hakenkreuz. I
had no idea.

And somebody else, I had a little office, somebody else was sitting behind my desk and
handed me my papers. Nobody quite knew how well prepared it was, the takeover.

GF: So they fired you when you came back?

BW: That was not firing, I fired myself because ... It was just selfunderstood. They
didn‘t have to tell me: Herr Wilder wir haben gerade herausgefunden, dass Sie von
jüdischer Abstammung sind. They didn‘t have to tell me. Some of them looked at me
with compassion, some of them looked at me with: you had it coming.

But it was, you must remember, it came well prepared, but it did not come, you know,
like turning on a light. That was before the Kristallnacht. Oh, there were already some
windows with the star of David und „Kauft nicht bei Juden“ and stuff like this.

Of course, it is not, you know, that... anti-semitism is just a tremendous surprise.


When I went to school in Vienna there was never a day without somebody and
sometimes myself being called a Saujude. You get used to that. But that it would come
with such vehemence, you know.

vol. 2010.06 info billy the hit  22/25 


freyermuth.com

GF: With what feelings did you leave Berlin? Did you think you would come back very
soon or that it would be forever?

BW: The thing is, I would have gone to America, especially to Hollywood, even without
Hitler. That was just kind of hastening the thing. I left with the conviction that there
would be a war. And I also went to Paris and tried to get away from Paris. No, I was
aware that neither Czechoslovakia nor Austria ..., in fact I even thought that Switzer-
land would go too, you know. I was very pessimistic about that.

My English was just miserable. But I just took a chance. It is not easy for a writer to
leave his tools behind. Many stayed behind because they had parents who had an apart-
ment. I knew a foolish girl, who was an idiot who saved herself to Paris and went back
to Berlin because she had forgotten two fur coats there. Well, she got the fur coats.
But they got her, and the fur coats, and she never made it back. I don‘t know what
happened to her.

But those things were... It did not hit me unexpectedly. The cruelty of it, the sort of
preparation for a takeover, that is what surprised me. And surprised everybody, I ima-
gine, everybody except the ones that were sitting there on Wilhelmstraße and were

vol. 2010.06 info billy the hit  23/25 


freyermuth.com

making their little budget plan just how they’re to go about it. And I would have gone
to Hollywood anyway.

GF: Als Sie aus Deutschland weggingen, hatten Sie es eigentlich geschafft...

BW: Es ging ganz gut. Ich hab‘ gutes Geld gemacht, aber das ist so: Wenn man ein Film-
mensch ist, will man doch, muss man es in Hollywood machen. Natürlich, sehr viele
Deutsche waren bereits hier. Aber ein deutscher Film hat nie the range of popularity als
ein amerikanischer, auch heute noch.

That‘s the tragedy of the great ... If a Bulgarian were the greatest poet, who ever lived
including Shakespeare, people would not know about him, because for some bad luck
it‘s in Bulgarian. It‘s gonna be translated and it‘s gonna be published and nine people
are gonna read it and say: My god, I read the absolutely unbelievable, breathtaking ...
But nobody else will read it.

vol. 2010.06 info billy the hit  24/25 


freyermuth.com

info
Dieses Werk ist unter ei- Impressum
nem Creative Commons
Namensnennung-Keine Druckgeschichte
kommerzielle Nutzung-
Billy the Hit (Porträt Billy Wilder). In: STERN, 26/1986, TV-Magazin, S. 4-9.
Keine Bearbeitung 2.0
Deutschland Lizenzver-
trag lizenziert. Um die
Lizenz anzusehen, ge-
Digitaler Reprint
hen Sie bitte zu http://
Dieses Dokument wurde von Leon und Gundolf S. Freyermuth in Adobe InDesign und Adobe Acrobat erstellt und
creativecommons.org/
am 1. Juni 2010 auf www.freyermuth.com unter der Creative Commons License veröffentlicht (siehe Kasten
licenses/by-nc-nd/2.0/
links). Version: 1.0.
de/ oder schicken Sie
einen Brief an Creative
Commons, 171 Second
Street, Suite 300, San
Über den Autor
Francisco, California Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs Internationale Filmschule
94105, USA. Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.

vol. 2010.06 info billy the hit  25/25

Das könnte Ihnen auch gefallen