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(Erschienen in: Der große Lebenskreis – Ethnotherapien im Kreislauf von Vergehen, Sein
und Werden. Ethnotherapies in the Cycle of Life – Fading, Being and Becoming – 2005,
Ethnomed – Institut für Ethnomedizin e.V. – München S. 135-143
ISBN-13: 978-3833435881)

Katalin Turfitt

Die Ungarn – ein Schamanenvolk?

Jeder Zweite ist ein Surrealist und jeder Dritte ein Schamane

Selbst wenn dieser alte Spruch über die Ungarn wohl etwas übertreibt, so könnten doch siebzig Prozent
aller ungarischen Grundschulkinder sicherlich die Frage beantworten, wer die Táltos (die ungarischen
Schamanen) waren bzw. sind.
Trotz Christianisierung, 160 Jahren osmanischer Herrschaft, Monarchie, Nationalsozialismus, eines
halben Jahrhunderts sozialistischer Regierung bis hin zur heutigen Globalisierung im McDonalds-
Zeitalter suchen die Ungarn nach wie vor Rat und Hilfe bei ihren Táltos. Auch wenn diese je nach
politischer Situation oft nur im Geheimen wirken konnten, sind sie heutzutage – überwiegend in Trance
arbeitend - immer noch als Seher, Chiropraktiker, Geistheiler, Kräutermediziner, Heilpraktiker oder
Totenbeschwörer überall gegenwärtig.

Zu den Quellen ihrer schamanischen Kultur führt uns ein Blick auf die Abstammung der Ungarn.

Ursprünge der Ungarn in Sibirien

Die Ungarn stammen aus dem Uralgebirge in Sibirien, wo sie sich den Lebensraum mit zahlreichen
anderen schamanischen Völkern wie den Finnen, den Lappen, den Türken oder den Karagasen teilten.
Ihr Weg aus Sibirien nach Europa im Verlauf der Völkerwanderung ist bis heute nicht lückenlos
aufgeklärt. Archäologische Funde belegen die Theorie, dass die Ungarn ursprünglich etwa 4000 vor Chr.
im Gebiet zwischen Ural und Ob beheimatet waren und in den Jahrtausenden bis zur Landnahme im
heutigen Siedlungsgebiet etappenweise nach Europa zogen. Als frühere Jäger und Fischer zu
umherziehenden Viehzüchtern geworden, besiedelten sie seit Jahr 896 n. Chr. das Karpatenbecken.

In der alten Heimat hatten die Ungarn ihren urtümlichen schamanischen Glauben – verwandt mit
Totemismus und Animismus - mit den dort lebenden Völkern geteilt. Noch heute finden sich seine
Spuren in Folklore, Brauchtum und Volksseele. Medialität, ausgeprägte Empathiefähigkeit und
introvertierte Lebenseinstellung sind bei den Ungarn wesentlich stärker ausgeprägt als bei westlichen
Europäern. Wie anderen ehemals schamanischen Völkern hat ihnen der ursprüngliche Glaube in
besonderem Maße den Zugang zu individuellem und kollektivem Unbewussten bewahrt.
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Weg der Ungarn vom Ural ins Karpatenbecken

Das schamanische Weltverständnis

Im Glauben der ungarischen Schamanen ist die Welt dreigeteilt in untere, mittlere und obere Welt.
Ohne, dass die schamanische Welt dies je auf einem Kongress vereinbart hätte, findet sich diese von
Mircea Eliade als seelisch-geistiger Archetyp bezeichnete Einteilung überall auf der Welt.

Die ungarische Sprache kennt sogar spezifische Bezeichnungen für die mittlere Welt (evilág), die untere
Welt (alvilág) und für die obere Welt (túlvilág).

Ein weiterer Archetyp findet sich in der Verbindung dieser Welten durch den Lebensbaum, auch der bis
zum Himmel reichende Baum (égigérő fa) genannt.
Wie sehr er noch heute im ungarischen Bewußtsein verwurzelt ist, zeigt sich am Beispiel eines erst seit
wenigen Monaten verbreiteten Mobiltelefon-Spieles, bei dem Feen und Tiere den Lebensbaum (den zum
Himmel reichenden Baum) erklimmen.
Das Symbol des Lebensbaums fand in der Volkskunst immer wieder Verwendung (s. Bild).

Holzschrank mit Lebensbäumen aus dem XVIII. Jh. in Zsámbék in Ungarn / St.Vendel-Haus

Im Gegensatz zu den Schamanen anderer Völker übernahmen die Táltos nur selten die geistige Führung
neben den weltlichen Oberhäuptern ihrer Gemeinschaften. Sie lebten eher zurückgezogen. Ihre
gesellschaftliche Aktivität bestand nicht im Abhalten regelmäßiger Zeremonien, auch wenn sie
gelegentlich Opferungen durchführten.
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Die bei vielen Schamanen anderer Völker anzutreffenden unterhaltenden Elemente von Show und
Entertainment wurden von den Táltos in dieser Form nicht praktiziert.

Die Verehrung der Ahnen und deren Kraft ist ein wesentlicher Teil ihres Weltverständnisses. Durch ihre
heilende Tätigkeit vermitteln sie, dass wir Menschen Überlebende sind und damit eine besondere,
bewusste Qualität der Lebenskraft.
In der ungarischen Folklore sind zahlreiche Lieder von und über Táltos überliefert. Ein häufiger Refrain
„Hej, regö rejtem“ bedeutet so viel wie: Ich bin in Trance.

Die ungarischen Táltos, wie ihre Kollegen, arbeiten inbrünstig im Sinne der Menschlichkeit und Liebe,
ihr kleines Ego ist unwichtig. Sie verlangen Spenden und kein Honorar, wobei Spenden in Ungarn auch
Naturalien bedeuten können.

Wer wird Táltos (Schamane) in Ungarn?

Táltos [Tahltosch] können nur auserwählte Männer oder Frauen werden, die mit besonderen körperlichen
Merkmalen das Licht der Welt erblicken: Sie sollen mindestens einen Knochen oder ein Organ mehr als
andere im Leibe haben, mitsamt Fruchtblase geboren worden sein, schwere Krankheiten überlebt, den
Nahtod erfahren haben oder einen „Schamanenzahn“ (táltosfog) besitzen.
Häufig sind es auch hervorstechende seelische Merkmale wie besondere Empfindsamkeit, Neigung zur
Melancholie, Zurückgezogenheit oder Medialität, durch die sich künftige Schamanen auszeichnen.

Entgegen anderen schamanischen Traditionen wird der ungarische Táltos nicht bereits im Mutterleib als
solcher erkannt. Seine Funktion ist – mit seltenen Ausnahmen - auch nicht vererblich.

Die Tiere der Táltos

Begleiter und Beschützer der ungarischen Táltos auf ihren geistigen Reisen sind ihre Tiere:

Turul

Im Geiste fliegen die ungarischen Táltos auf dem Rücken des riesigen Greiffvogels Turul. Seine
Darstellung finden wir zum Beispiel überlebensgroß in West-Ungarn, wo sie von einem Hügel über die
Stadt Tata wacht. Ein weiteres Beispiel für die Vielzahl von historischen Abbildungen ist der mit einer
Frauenfigur in ekstatischer Körperhaltung auf einem goldenen Krug vorgefundener Turul. (s. Bild).

Fund aus Nagyszentmiklós (Ungarn)


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Stier (Bika)

In der Nacht nahmen die Táltos die gelegentlich die gestalt eines Stieres an, um miteinander
Machtkämpfe auszufechten oder das Wetter zu beeinflussen.

Kranich (Darumadár)

Auch Kraniche begleiteten oder trugen die Táltos auf deren geistigen Flügen. Wegen seiner mythischen
Bedeutung wurde dieser Vogel so hoch geschätzt, dass im Mittelalter eine einzige Feder mitunter so viel
Wert war wie eine Kuh.

Hirsch (Szarvas)

Der Sage nach soll ein Hirsch während der Völkerwanderung dem Führer der Ungarn den Weg ins
Karpatenbecken gezeigt haben. Auch ein vierhundert Jahre jüngere Chronik beschreibt die leitende Kraft
dieses Tieres. Danach soll Wunderhirsch dem Heiligen Ladislaus gezeigt haben, wo er den Dom in Vác
errichten lassen sollte (s. Bild).

Miniatur aus der Bilderchronik (Képes Krónika) um 1370

Schamanenpferd (Táltosló)

Für das Nomadenvolk der Ungarn waren Pferde nicht nur als Fortbewegungsmittel unentbehrlich. Ebenso
große Bedeutung kam ihnen als Zaubertiere oder Begleittiere der Schamanen zu. Schneeweiße Pferde
wurden hochgeschätzt und als Opfertiere bevorzugt.

Pferdemotive auf Trommeln


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Instrumente und Kleidung

Mit Trommeln, Rasseln, Sieben erzeugen die Táltos Klänge zur Erweiterung des Bewusstseins.
Trommelverzierungen sind noch aus dem Ural überliefert (s. Bild).

Trommelverzierung, Ungarisches Völkerkundemuseum

Viele der wiederkehrenden Muster symbolisieren Sonne, Mond oder die Planeten. Noch heute werden
die traditionellen Ostereier in Ungarn häufig mit ähnlichen Mustern bemalt (s. Bild).

Die Mäntel der Táltos sind mit Blumen- oder Tiermotiven bemalt und bestickt.
Ihre Kopfbedeckungen sind angefertigt aus Hirschgeweihen oder Vogelfedern.

Schamanische Heilmethoden in Ungarn

Kurze Beschreibung der wichtigsten Heilmethoden:

Bei der schamanischen Chiropraktik fragen die Táltos zunächst in Trance ihre Hilfsgeister, ob sie den
geplanten Eingriff vornehmen dürfen. Hunderttausende Ungarn lassen sich jährlich von solchen
Chiropraktikern behandeln.
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Geistheilungen werden in Trance (révület) vorgenommen. Entweder wird dabei „gechannelt“ oder mit
den Hilfsgeistern über die Heilung der Kranken verhandelt. Die mächtigeren unter den Schamanen
wagen sich sogar, mit „bösen“ Geistern zu feilschen.

Die schamanische Heilung mit Kräutern unterscheidet sich von der herkömmlichen Methode dadurch,
dass Pflanzen und Kräuter zur Heilung bestimmter Krankheiten nicht auf der Ebene des
Alltagsbewusstseins auswählt, sondern ihm die richtigen Heilmittel in Trance von den Geistern oder
Begleitern telepathisch mitgeteilt werden.

Eine Art der Wahrsagung in Ungarn wird mit Hilfe von Bohnen in einem Sieb durchgeführt, ähnlich wie
man sie aus der nepalesischen schamanischen Reisdiagnose kennt. Eine andere Form ist als
Bohnenwerfen bekannt. Dabei werden die entstehenden Formationen gedeutet.

Zur Heilung wird auch die Sterbebegleitung gezählt. Der Schamane heilt die sog. freie Seele der
Sterbenden. Der Schamane beruhigt den Sterbenden, indem er ihm erklärt, dass die freie Seele seine
Körperseele verlässt, um durch verschiedene Schichten der oberen Welt ins Licht zu gelangen und
irgendwann wiedergeboren zu werden. Der Glaube an Reinkarnation ist in Ungarn weit verbreitet.
Aus der Geschichte ist durch Ausgrabungen belegt, dass Toten oft Geldmünzen ins Grab gelegt wurden,
damit ihre freie Seele dem Torwächter des Jenseits „Torgeld“ zahlen könne.

Bei der Totenbeschwörung. versetzen sich die Táltos dabei in Trance. Sie nehmen Kontakt auf mit den
verstorbenen Seelen und beantworten die Fragen der Klienten. Selbst unter dem Sozialismus lebte die
Totenbeschwörung weiter. In den Siebziger Jahren erschien ein Kinofilm über eine sehr populäre
ungarische Totenbeschwörerin. Niemand wunderte sich, dass so etwas gezeigt wurde. Für Empörung
sorgte nicht etwa die Tatsache, dass die Toten beschwört wurden, sondern lediglich die Spenden für ihre
Leistungen, deren Höhe die Zuschauer mit Neid erfüllte.

Bei Heilungen mit Wasser wird dieses besprochen, dadurch seine Wirksamkeit erhöht. Auch ohne
wissenschaftlichen Nachweis ist Wasser für Schamanen seit jeher ein Energieträger.
- Nach dem ausspülen von Wunden wird das Wasser am Wegesrand auf die Erde gegossen und
besprochen, damit die Benutzer des Weges dieses Wasser mit den Füßen davontragen und es so
entkräften, wodurch die Krankheit besiegt wird.
- Das „stille Wasser“ heilt vor allem kranke Kinder. Sein Name kommt daher, dass nicht gesprochen
werden darf, während es in einem Gefäß von einem Bach oder einer Quelle zum Krankenbett getragen
wird. Danach wird das kranke Kind mit dem heilenden Wasser gewaschen.

Schließlich seien noch einige alte Rezepturen gegen einige Krankheiten genannt:

- Gegen Wechselfieber hilft, in neun halbierte Pflaumen je einen Pfefferkorn zu legen, mit Quellwasser
aufzufüllen und langsam schluckweise, über den Tag verteilt langsam das Wasser Schluck für Schluck
auszutrinken
- Die Verbände von Brand- oder eitrigen Wunden werden an Bäume gehängt, damit der Wind die
Krankheit davonweht.
- Gegen Fieber hilft, unter einem Holunderbaum den Stamm anzufassen und zu sagen: „Lieber
Holunderbaum, ich bringe dir einen Besucher, das Fieber. Bitte nehme es zu dir. Ich verspreche dir dafür,
ich werde dich nie wieder anschauen:“
- Beim Nervenzusammenbruch nimmt der Táltos mit dem für die Krankheit zuständigen bösen Geist
Kontakt auf und flucht lange und ordinär, bis dieser den Körper des Kranken verlässt. Am überaus großen
Reichtum der Ungarn der Flüchen gemessen, müssten eigentlich alle bösen Geister das Land schon lange
verlassen haben.
- Zum Kurieren einer Geschwulst setzt der Táltos das „Schadensei“ ein. Er kreist damit die Geschwulst
ein, wodurch sie energetisch verändert und verkleinert wird.
- Bei Gelbsucht wird für den Kranken ein Becher aus gelber Rübe geschnitzt, aus dem er trinken soll.
- Das Gesicht „verhexter“ Menschen wird mit Kohlenwasser abgewaschen.
- Warzen werden Besprochen, wovon sie sich spurlos auflösen.
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- Puppen erhalten durch Besprechen Heilwirkung und werden nicht nur bei Kindern ins Krankenbett
gelegt.

Renaissance des Schamanismus

Wie überall, so ist auch in Ungarn, die Sehnsucht nach Urtümlichkeit und Heilsein im Zeitalter der
Atomkraftwerke und Genmanipulationen enorm angestiegen. Als Folge schießen in der sogenannten
zivilisierten Welt schamanische Schulen wie Pilze nach dem Regenwetter aus dem Boden.
Auch in Ungarn werden Stadtschamanen – auch Core-Schamanen, Plastikschamanen oder
Seminarschamanen genannt - nach den Methoden von Michael Harner ausgebildet.

Ob es sich um eine Modeerscheinung handelt, die vielleicht sogar belebend auf die Gesellschaft wirken
kann, mag dahingestellt bleiben. Im Grunde ist vollkommen gleichgültig, mit welchen Methoden wir
Menschen versuchen, wieder heil und authentisch zu werden, die Natur im letzten Moment noch für
Menschen bewohnbar zu erhalten - Hauptsache, wir tun etwas dafür.

Literatur:
- Diószegi, Vilmos und Hoppál, Mihály: Folk Beliefs and Shamanistic Traditions in Siberia / Bibliotheca
Shamanistica ISBN 9630569655
- Diószegi, Vilmos und Hoppál, Mihály: Shamanism In Siberia / Bibliotheca Shamanistica ISBN
9630569647
- Hoppál, Mihály: Sámánok, lelkek és jelképek Budapest, 1994 Helikon Verl.
- Hoppál, Mihály: Das Buch der Schamanen / Europa und Asien Ullstein Verl., 2002 (auf Deutsch)
ISBN 355007557
- Diószegi, Vilmos: Samanizmus (Terebess Verl. Budapest, 1998)
- Dömötör, Tekla: Volksglaube und Aberglaube der Ungarn, Corvina Verl. ISBN 9631313034
- Siikala, Anna-Leena und Hoppál, Mihály: Studies On Shamanism / Ethnologica Uralica ISBN
9630574896

Internetseiten:

Horváthné Schmidt Ilona: Sámántechnika /Schamanentechnik/Vortragstext a. d. Seite


www.funyiro.hu/html/saman/samantech.htm auf Ungarisch
Sámánizmus a.d. Seite www.terebess.hu/keletkultinfo auf Ungarisch
http://szintezis.info.hu/samanfuzet.html auf Ungarisch

www.turfitt.de.ms Seminare zur Einführung in Schamanismus und schamanische Psychotherapie


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Katalin Turfitt

Heilpraktikerin (Psychotherapie)
Pädagogische Fachhochschule in Budapest mit Abschluss Diplom

Geboren: Budapest, 1954


Familienstand: verheiratet, 2 erwachsene Söhne

Arbeitsgebiete:
Humanistische Psychotherapien, Core-Schamanismus, schamanische Psychotherapie,
Licht-, Körper- und Energiearbeit, klassische Homöopathie, NLP, Geistheilung, Shiatsu,
Ausdrucksmalen, Familienaufstellungen, die Metamorphische Methode

Seit 1992 Jahren Leitung von Gruppen, Ausbildungen sowie Einzel- und Paarberatung
in eigener Praxis.
Schamanische Gruppenarbeit und Einzelberatungen seit 1996
Forschung des Mundhum-Schamanismus der Kirati Rai in Kathmandu seit 2004

Publikationen: Übersetzungen für verschiedene ungarische und deutsche Buchverlage in


Themen: Kunst, Psychologie, Geschichte, Kulturgeschichte und Belletristik

Gedichte in ungarischen Literaturzeitschriften

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