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Sammelrez: W. Benz u.a.

(Hrsg): Der Ort des Terrors 2006-4-191

Sammelrez: W. Benz u.a. (Hrsg): Der Ort Das Vorhaben ist ebenso mutig wie ge-
des Terrors wagt, denn es geht dem Leiter des Zentrums
Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der für Antisemitismusforschung an der Techni-
Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialis- schen Universität Berlin und der Leiterin der
tischen Konzentrationslager. Bd. 1: Die Organi- KZ-Gedenkstätte Dachau um nichts weniger
sation des Terrors. München: C.H. Beck Verlag als um die Sammlung sämtlicher Informatio-
2005. ISBN: 3-406-52960-7; 400 S., 12 Abb. nen über die insgesamt 24 Hauptlager und
rund 1000 Außenlager des nationalsozialis-
Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der tischen Lagersystems. Eine Zusammenschau
Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialisti- der Forschungsergebnisse ist projektiert, eine
schen Konzentrationslager. Band 2: Frühe Lager; Bestandsaufnahme der Fakten und ihre Kol-
Dachau; Emslandlager. München: C.H. Beck lationierung zu einer Gesamtgeschichte. Dies
Verlag 2005. ISBN: 3406529623. ist zumal deshalb nicht einfach, weil trotz
des in den letzten Jahren immens verbreiter-
Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der ten Forschungsstroms, über den selbst Exper-
Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialisti- ten kaum noch einen Überblick besitzen, auch
schen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhau- große Lager noch nicht monographisch er-
sen, Buchenwald, Flossenbürg. München: C.H. forscht worden sind und mit Blick auf die
Beck Verlag 2006. ISBN: 3-406-52963-1. Außenlager zudem reichlich blinde Flecken
bestehen.1 Dass das Projekt, das ein Novum
Rezensiert von: Sybille Steinbacher, His- darstellt, gleichwohl gelingt, zeigen die be-
torisches Institut der Friedrich-Schiller- reits vorliegenden Bände, und schon jetzt lässt
Universität sich sagen, dass am Ende ein stupendes Nach-
schlagewerk vorliegen wird.2 Wer künftig
Dass in Bremen an einer Uferböschung des wissen will, wo während des Dritten Reiches
Flüßchens Ochtum ein alter – mit Stachel- der Standort eines Lagers gewesen ist, wird
draht bespannter – Schleppkahn als Konzen- nicht mühsam recherchieren müssen, sondern
trationslager gedient hat, erfährt, wer den zu den Büchern greifen und rasch Antwort
„Benz-Distel“ aufschlägt. Drei Bände des finden. Fachexpert/innen an Universitäten,
großen Werkes über die Geschichte der natio- Instituten und Gedenkstätten werden es den
nalsozialistischen Konzentrationslager liegen Herausgeber/innen zu danken wissen, aber
nun vor. Auf ursprünglich sieben, mittlerwei- auch Studierende, Schüler/innen und über-
le neun Bücher, die in halbjährlichem Abstand haupt die breite Öffentlichkeit, denn hier ent-
bis zum Frühjahr 2009 im Verlag C.H. Beck steht eine an Informations-, aber auch an De-
erscheinen werden, ist die Gesamtgeschichte
der Lager angelegt, die Wolfgang Benz und 1 Grundlegend: Herbert, Ulrich; Orth, Karin; Dieck-
Barbara Distel initiiert haben. Das mit dem mann, Christoph, Die nationalsozialistischen Konzen-
Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Her- trationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung, in:
dies. (Hgg.), Die nationalsozialistischen Konzentrati-
ausgeberteam der „Dachauer Hefte“ treibt be- onslager. Entwicklung und Struktur. 2 Bde., Göttingen
reits seit Jahrzehnten die Forschung zu den 1998, S. 16-40. Knapp 1000 selbständige Publikationen
nationalsozialistischen Konzentrationslagern zum Thema kamen in der zweiten Hälfte der 1990er-
Jahren auf den Markt: vgl. Ruck, Michael, Bibliogra-
voran. Im Zentrum des schon wegen sei-
phie zum Nationalsozialismus. 2 Bde. inkl. CD-Rom,
nes schieren Umfangs eindrucksvollen Pro- Darmstadt 2000. Zur jüngsten Zusammenschau der
jekts steht die Topografie der Lager, genau- Forschung: Wachsmann, Nikolaus, Looking into the
er: der Umstand, dass die Nationalsozialisten Abyss: Historians and the Nazi Concentration Camps,
in: European History Quarterly, Bd. 36, Heft 2/2006, S.
Deutschland und das gesamte besetzte Euro- 247-278.
pa flächendeckend mit einem Netz von Haft- 2 Das US-Holocaust Memorial Museum arbeitet gegen-

stätten überzogen haben. „Der Ort des Ter- wärtig an einem ähnlichen Vorhaben. Unter der Lei-
rors“ heißt denn auch die mit Mitteln der Kul- tung von Geoffrey Megargee entsteht dort eine (vor-
aussichtlich siebenbändige) Enzyklopädie der Lager
turstiftung des Bundes und des Auswärtigen und Ghettos im Dritten Reich mit dem Titel „Ency-
Amtes geförderte Gesamtdarstellung der La- clopedic History of Camps and Ghettos in Nazi Ger-
ger. many and Nazi-dominated Territories, 1933-1945“, vgl.
<www.ushmm.org/research/center/encyclopedia>.

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tailfülle kaum zu überbietende lexikalische sammenschau wichtiger, konzeptionell ganz
Sammlung. unterschiedlicher (von den meisten Autoren
Die Chronologie der Entstehung der La- bereits monografisch untersuchter) Aspekte
ger gibt die Organisationsstruktur vor. Jedem der Forschung. Inhaltliche Überschneidungen
Hauptlager sind sämtliche nachzuweisenden und Redundanzen sind bei einem so komple-
Außenlager zugeordnet, wobei ihre alphabe- xen Gegenstand kaum zu vermeiden. Schließ-
tische Reihenfolge Entstehung und Ausbrei- lich wird ein Haftsystem untersucht, unter
tung weniger prägnant zum Vorschein bringt, dem nicht weniger als zwei Millionen Men-
als dies eine chronologische Ordnung wohl schen gelitten haben. Etwa 800.000 bis 900.000
vermocht hätte. Der Auftaktband vermittelt von ihnen sind durch Gewalt und Willkür
einen Überblick über wichtige Themen der ums Leben gekommen oder an Hunger und
Forschung; mit Band 2, der ganz im Zeichen Seuchen gestorben – die Unzähligen nicht ein-
der Lagergründungen steht, setzt mit Blick gerechnet, die in den Vernichtungslagern gar
auf die so genannten frühen Lager, Dach- nicht erst in die Registratur der SS aufgenom-
au und die Emslandlager die Schilderung men worden sind. Ein Thema – das gesell-
der einzelnen Lagergeschichten ein. In Band schaftliche Umfeld der Lager und ihre „Öf-
3 geht es um das 1936 errichtete Sachsen- fentlichkeit“ – bleibt allerdings ausgespart.
hausen und das im Jahr darauf erbaute Bu- Dies ist bedauerlich, denn die Lager breiteten
chenwald. Band 4 behandelt die 1938 ent- sich nicht nur über weite geographische Räu-
standenen Lager in Flossenbürg, Mauthau- me aus, sondern drangen auch tief in die Le-
sen und Ravensbrück. Im Krieg nahm die benswelt der deutschen Bevölkerung ein.
Zahl der Haftstätten zunächst an den Gren- Wolfgang Benz zeigt, dass die Lager einen
zen des Deutschen Reiches, schließlich über- „unübersichtlichen Kosmos“ bildeten, denn
all in den eroberten Ländern abrupt zu, in neben den Konzentrationlagern (deren Merk-
der zweiten Kriegshälfte breiteten sich die La- mal die administrative Unterstellung unter
ger schließlich krakenartig über ganz Euro- die so genannte Inspektion der Konzentra-
pa aus: Band 5 untersucht Hinzert, Ausch- tionslager, ab 1942 die Amtsgruppe D des
witz und Neuengamme, in Band 6 folgen Wirtschaftsverwaltungshauptamtes war) gab
Stutthof, Groß-Rosen und Natzweiler, Band es viele andere, jeweils eigenen Verwaltungs-
7 behandelt Wewelsburg, Majdanek, Arbeits- strukturen zugeordnete Lagertypen, hier kurz
dorf, Herzogenbusch/Vught, Bergen-Belsen „Zwangslager“ genannt. Angelika Königse-
und Dora-Mittelbau. Band 8 beleuchtet mit der, in deren Händen die Gesamtredaktion
Riga, Warschau, Kaunas, Vaivara, Plaszów der Bände liegt, beschreibt die Entwicklung
und Klooga nicht nur Konzentrationslager, des Lagersystems und skizziert, indem sie ei-
sondern richtet den Blick zudem auf die aus- ne schon von Martin Broszat herausgearbeite-
schließlich zum Zweck der Massenvernich- te und seither oftmals bestätigte grundlegen-
tung der Juden errichteten „Lager“ Chelm- de Erkenntnis aufnimmt, den mehrmaligen
no, Belzec, Treblinka und Sobibor. Der Ab- Funktionswandel, dem die Lager unterwor-
schlussband nimmt eine Reihe weiterer La- fen waren.3 Mit der Organisationsgeschich-
gertypen in den Blick, die nicht zur Katego- te der frühen Lager setzt sich Johannes Tu-
rie der Konzentrationslager zählten. Darunter chel auseinander. Günter Morsch beleuchtet
fallen die kleine Festung Theresienstadt, aber die Verwaltungsstruktur, die Theodor Eicke
auch so genannte Jugendschutzlager, Arbeits- als Inspekteur der Konzentrationslager ein-
erziehungslager, Polizeidurchgangslager, Ge- heitlich etablierte. Michael P. Hensle zeigt,
stapohaftlager sowie die Haftstätten von Jase- wie rasch unmittelbar nach der so genannten
novac und Maly Trostinez. Reichstagsbrandverordnung die „Verrechtli-
Der erste Band über Struktur und System chung des Unrechts“ fortschritt.
der Lager bildet das wissenschaftliche Fun- Den Blick in das Innere der Lager eröff-
dament der Reihe. Nicht um eine Präsen- net Annette Eberle, die in einer systemati-
tation neuer Fakten geht es in den knapp 3 Vgl. ihre Forschungsskizze: Königseder, Angelika, Der
zwei Dutzend, von ausgewiesenen Experten Ort des Terrors. Bericht über das Projekt einer Ge-
verfassten Aufsätzen, sondern um eine Zu- schichte aller nationalsozialistischen Konzentrationsla-
ger, in: Dachauer Hefte, Heft 21 (2005), S. 272-282.

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schen Analyse prägnant, differenziert und an- zeigt, wie stark Kontrolle, Willkür und Ein-
hand anschaulicher Tabellen die Bedeutung schüchterung schon in der baulichen Anla-
der (erst ab 1937/38 standardisierten) Häft- ge verwirklicht waren, aber auch, wie seit
lingskategorisierung untersucht. Gleich im Kriegsbeginn Überfüllung und Infrastruktur-
Anschluss gibt Kurt Pätzolds Versuch über mängel Abstriche an den Planungen erfor-
die „Häftlingsgesellschaft“ allerdings Rätsel derten. In einem Beitrag über Häftlingskunst
auf. Denn der Autor spart die intensive For- skizziert sie künstlerische Betätigung im La-
schungsdiskussion über die Rolle der „ro- ger als Überlebensstrategie der Insassen. Da-
ten Kapos“ aus; mit leichter Hand attes- niel Blatman zeigt in seinen Ausführungen
tiert er zudem den so genannten kriminellen über die Phase der so genannten Evakuierung
Häftlingen „mafiaähnliche Strukturen“ und der Lager, dass noch reichlich Potential für
meint, Neues zu bieten, wenn er den SS- künftige Forschungen besteht.
Begriff „Häftlingsselbstverwaltung“ euphe- Um die Befreiung der Lager und die Re-
mistisch nennt. Weitaus klarer nimmt Det- aktion der Weltöffentlichkeit geht es Robert
lef Garbe unter dem Titel „Selbstbehauptung H. Abzug und Juliane Wetzel in ihrem ge-
und Widerstand“ die so genannte Häftlings- meinsam verfassten Beitrag. Jürgen Zarus-
gesellschaft in den Blick. Mit den Kategorien ky liefert in einer konzisen Zusammenschau,
Selbsthilfe, Solidarität, Verweigerung und Ge- die von den frühesten alliierten Militärge-
genwehr stellt er überdies wichtige Analyse- richtsverfahren bis zum Majdanek-Prozess
kriterien zur Diskussion. Dass Strukturverän- reicht, eine ebenso pointierte wie ernüch-
derungen in der SS-Wachtruppe keineswegs ternde Bilanz der juristischen Aufarbeitung
die Überlebenschancen der Häftlinge verbes- der Konzentrationslager-Verbrechen. Um li-
serten, führt Karin Orth aus. Sie konturiert terarische Quellen der Lagerforschung geht
den Kommandanturstab der Lager als „Kern- es bei Mona Körte, die sich mit autobiografi-
truppe des Terrors“ und richtet den Blick auf schen Berichten von Häftlingen auseinander-
das „soziale Netz der Konzentrationslager- setzt. Jürgen Matthäus, der Leiter der For-
SS“. Jan-Erik Schulte stellt den engen Zusam- schungsabteilung des US-Holocaust Memori-
menhang zwischen der (den ökonomischen al Museum in Washington D.C., beklagt die
Erfordernissen der Kriegswirtschaft geschul- zersplitterte und unübersichtliche Archivsi-
deten) Expansion des Lagersystems und dem tuation, mit der sich NS-Forscher/innen in
gleichzeitigen Ausbau der Verwaltungs- und Deutschland offenbar abzufinden haben. Ge-
Wirtschaftsorganisationen der SS dar. Die Ra- rade in Amerika geriet unlängst das Archiv
dikalisierungsschübe, die mit den drei syste- des Internationalen Suchdienstes des Roten
matischen Masseneinweisungen in die Kon- Kreuzes in Bad Arolsen in die Kritik. Für
zentrationslager einhergingen, der „Aktion die Geschichte der nationalsozialistischen La-
Arbeitsscheu Reich“, den Novemberpogro- ger ist Arolsen eine Schlüsselinstitution, denn
men und der noch kaum erforschten „Ak- dort lagern nicht nur nach Kilometern zäh-
tion Gewitter“, untersucht Stefanie Schüler- lende Akten speziell über die Opfer des NS-
Springorum. Regimes, sondern auch Originaldokumente
Den medizinischen Experimenten (Rolf aus vielen Lagern, darunter die Häftlingskar-
Winau), der Zwangsarbeit (Hermann Kaien- teien von Buchenwald und Dachau. Dass das
burg) und den Frauen, die als Insassen, aber Archiv in Arolsen der Wissenschaft noch bis
auch als Bewacherinnen in den Lagern wa- vor kurzem verschlossen gewesen war, ob-
ren (Barbara Distel), sind ebenfalls Beiträge wohl Historiker/innen hierzulande schon seit
gewidmet. Mit den Lagern als Tötungsstät- Jahren massiv für die Öffnung eingetreten
ten beschäftigt sich Wolfgang Dreßen. Brigit- sind, ist ein international zu Recht angepran-
te Kepplinger und Hartmut Reese handeln gerter – mittlerweile endlich Folgen zeitigen-
das unter dem Verwaltungskürzel „14f13“ in der – Skandal. Die Bände schließen jedoch be-
die Lager verlegte Euthanasiemordprogramm reits ein, was das Archiv von Arolsen an ein-
ebenfalls ab. Einen verhältnismäßig neuen schlägiger Information birgt, denn zu den ins-
Aspekt thematisiert Stefanie Endlich, die sich gesamt jeweils über 70 Autor/innen, die die
mit der Architektur der Lager befasst. Sie Herausgeber/innen für die Bände 2 und 3

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verpflichtet haben, zählt auch der dortige Di- le das erste Konzentrationslager des Dritten
rektor Charles-Claude Biedermann.4 Reiches eingerichtet wurde.6 Andere entstan-
Ohne die Mitwirkung einer Phalanx von den beispielsweise in stillgelegten Fabriken,
Archivar/innen, Historiker/innen, Muse- in Gefängnissen, auf einstigen Rittergütern, in
umsfachleuten, Ortschronist/innen, Kreis- Turnhallen – und wie in Bremen auf einem
heimatpfleger/innen, Mitarbeiter/innen an Schleppkahn. Die Lager waren anfangs das
Gedenkstätten, Lehrer/innen, freiberufli- Aktionsfeld von SA und SS, aber auch die Po-
chen Publizist/innen und fortgeschrittenen lizei, die staatliche Verwaltung und kommu-
Studierenden wäre die Gesamtgeschichte nale Träger beteiligten sich an der Ausschal-
der Lager ohne Zweifel nicht zu schreiben. tung politischer Gegner des Regimes. Dach-
Die Quellen- und Literaturverzeichnisse au war das erste von der SS geführte Kon-
zeigen, dass die Verfasser/innen eine Fülle an zentrationslager. Seine Bedeutung lag nicht
Lokal- und Regionalforschungen ausgewertet nur darin, dass es am längsten von allen be-
haben, publizierte Schriften ebenso wie un- stand, sondern auch in der Vorbildfunktion,
veröffentlichte Dokumente. Dies zu eruieren, die es bis zur Errichtung von Sachsenhausen
bleibt allerdings den Leser/innen überlas- innehatte; den Begriff „Dachauer Modell“ hat
sen, denn in den wortkargen Einleitungen Martin Broszat Mitte der sechziger Jahre ge-
werden die Quellen weder skizziert noch prägt. Souverän entfaltet Stanislav Zámečník
einer quellenkritischen Betrachtung unterzo- die Geschichte des Stammlagers. Der Histo-
gen, was gerade mit Blick auf die reichlich riker ist ein Überlebender von Dachau und
genutzten Unterlagen der nach Kriegsende hat erst vor wenigen Jahren die (einzige) mo-
initiierten staatsanwaltschaftlichen Ermitt- nografische Studie über die Lagergeschichte
lungsverfahren gegen ehemalige Bedienstete vorgelegt. Barbara Distel schlägt den zeitli-
der Lager erforderlich gewesen wäre. Die Le- chen Bogen bis in die Gegenwart, indem sie
ser/innen erfahren auch nicht, nach welchen die Nachkriegsgeschichte des Geländes und
konzeptionellen Aspekten die Autor/innen die Entstehung der Gedenkstätte bis zu ihrer
die Geschichte der Lager rekonstruieren. Neukonzeption schildert.
Erst aus der vergleichenden Lektüre der Dass ganz Oberbayern von einem Netz von
jeweils etwa 50 Seiten langen Artikel über Außenlagern überzogen war, die der Verwal-
die Hauptlager und der je nach Bedeutung tung des Stammlagers unterstanden, ist be-
und Überlieferungsstand von wenigen Zeilen kannt. Bei zahlreichen Dienststellen der SS,
bis zu vier Seiten reichenden Abhandlungen der NSDAP, auch bei der Reichsbahn, bei
über die Außenlager lassen sich die Kriterien kommunalen Behörden und nicht zuletzt in
ermitteln. Diese sind: Daten und Organi- den Privathäusern höchster Funktionäre des
sation der Lager, Zusammensetzung und NS-Staates hatten Dachauer Lagerinsassen In-
Lebensbedingungen der Häftlinge, außerdem standsetzungsarbeiten und andere Dienstleis-
Zwangsarbeit, Strafensystem, Bewachung tungen auszuführen. In Kaufering und Mühl-
und Widerstand, schließlich Befreiung und dorf entstanden schließlich große Außenla-
Auflösung der Lager, und am Ende geht gerkomplexe, wo Zehntausende unter mörde-
es um die Gedenkstätten beziehungsweise rischen Verhältnissen Zwangsarbeit in Diens-
privat initiierte Formen der Erinnerung. ten der Kriegswirtschaft leisten mussten. Von
Die chronologische Rekonstruktion der Ge- der zweiten Kriegshälfte an verzichtete nicht
schichte der Lager setzt im zweiten Band mit nur nicht die Großindustrie, sondern auch
den „frühen“ Haftstätten ein. Insgesamt 85 kaum ein mittelständisches Unternehmen der
werden gelistet, auffallend viele entstanden näheren Umgebung auf die billige Arbeits-
in Thüringen, Sachsen, Berlin und Branden- kraft der Häftlinge. Eine Übersicht über die
burg.5 Oftmals existierten sie nur wenige Wo- insgesamt 136 Dachauer Haftstätten fehlte
chen lang – wie das im thüringischen Nohra, aber bislang ebenso wie gründliche Infor-
wo am 3. März 1933 in einer Militärschu-
6 Auf dem Gelände wurde 1988 eine Gedenktafel ange-
4 Sein Name fehlt allerdings im Autor/innenverzeichnis bracht, nach dem Fall der Mauer aber wieder entfernt.
von Band 2; von ihm stammt darin beispielsweise der Heute erinnert nichts mehr an das erste Konzentrati-
Beitrag über Woxfelde auf S. 529. onslager des Dritten Reiches, vgl.: Benz, Wolfgang; Dis-
5 Auf dem Einband wird allerdings die Zahl 93 genannt. tel Barbara (Hgg.), Ort des Terrors, Bd. 2, S. 174ff.

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mationen über die einzelnen Orte.7 Diese hausen im dritten Band dar und vernach-
Lücke schließt der zweite Band, der auf fast lässigt auch die Phase nicht, als das Are-
250 Seiten (begleitet von informativen Karten al nach Kriegsende sowjetisches Spezialla-
und über Register gut erschlossen) das weit- ger wurde. Mindestens 85 Außenlager ge-
verzweigte Dachauer Netzwerk präsentiert. hörten zu Sachsenhausen, besonders wichtig
Gezeigt wird beispielsweise, daß im letzten war jenes in Berlin-Lichterfelde, dem gleich
Kriegsjahr selbst im heutigen Polen ein Au- einige Dutzend so genannte Außenkomman-
ßenlager bestand, was neu und damit zu er- dos unterstanden. Wie präsent die Häftlin-
klären ist, dass ein Berliner Musikverlag von ge im Alltag Berlins gewesen sind, führt der
einem Dachauer Häftling sein im damaligen Band eindrucksvoll vor Augen. Häftlings-
Woxfelde östlich der Oder gelegenes Noten- Außenkommandos waren nicht nur in den
archiv sortieren ließ. Dies ist freilich ein Be- staatlichen Ministerien und den Dienststellen
fund, der die skurrilen Seiten wissenschaft- der SS, sondern auch an vielen Stellen der
licher Systematisieung zeigt, deren Aufwand Stadt tätig, beispielsweise immer dann, wenn
manchen SS-Funktionär charmieren würde. nach Bombenangriffen Aufräumarbeiten zu
Während Dachau in der Hand der SS lag, leisten waren. Zu den Orten solcher Einsätze
war für den im Emsland entstandenen La- zählte auch das Hotel Adlon.
gerkomplex anfangs das preußische Innen- Zum Lagernetz von Buchenwald gehörten
ministerium zuständig. Amtschef Hermann rund 130 Außenlager. Im Westen reichten sie
Göring ließ in Börgermoor, Esterwegen und nicht nur bis Duisburg, sondern fast bis an
Neusustrum, einem Moorgebiet im Nordos- den Atlantik, da Lager im besetzten Frank-
ten des Reiches, Häftlingsbaracken errichten, reich und im eroberten Belgien ebenfalls da-
um in Konkurrenz zu Himmlers SS eine ei- zuzählten. Ganz im Osten bildete Lauenburg
gene Form staatlicher Gegnerbekämpfung zu bei Gdingen nahe der Danziger Bucht den äu-
etablieren. Verwaltung und Justiz spielten im ßerten Außenposten von Buchenwald. Jedes
Emsland eine führende Rolle, ehe nach etwa Außenlager wird im dritten Band ausführlich
einem Jahr die SS schließlich auch dort das beschrieben. Harry Stein schildert zudem die
Kommando übernahm. Habbo Knoch kontu- komplexe Geschichte des Stammlagers von
riert die Ereignisse der Frühphase überzeu- der Standortwahl bis zu den Nachkriegspro-
gend als prototypisch für die internen Span- zessen und bezieht auch das spätere sowjeti-
nungen in den NS-Herrschaftszirkeln. Aller- sche Speziallager ein.
dings unterzieht er die nach 1936 einsetzen- Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Während
de Ausweitung zum weiträumigen, auf viele die Geschichte der Hauptlager bereits weit-
Orte verteilten Lagerkomplex nur einer kur- gehend bekannt ist, wurden die Außenlager
sorischen Betrachtung, weshalb die Geschich- der großen KZ-Anlagen noch nicht in ähnli-
te der Straf- und Kriegsgefangenenlager im cher Dichte, Systematik und Gründlichkeit er-
Emsland recht kurz ausfällt. forscht. In der dargebotenen Informationsfül-
Der Bau von Sachsenhausen im Jahr von le, im gebündelt vermittelten Faktenreichtum
Himmlers Ernennung zum Chef der deut- und nicht zuletzt in der Präsentation mancher
schen Polizei bildete den Auftakt zur Funkti- (kurioser) neuer Details liegen Stärke und
onsausweitung und zentralen Organisierung Verdienst des Werkes von Wolfgang Benz und
der Konzentrationslager. Denn das als „neu- Barbara Distel. Die Bände wollen keine neue
zeitlich“ und „modern“ ausgegebene Sach- Perspektive auf die Geschichte der NS-Lager
senhausen, das der Reichsführer SS erbauen eröffnen. Aber sie profilieren durch die akri-
ließ, als er sein Agitationszentrum von Mün- bische Rekonstruktion der Geschichte der ein-
chen nach Berlin verlegte, war nicht nur das zelnen Stätten die Komplexität des Lagersys-
„Konzentrationslager der Reichshauptstadt“, tems. Über Konzeption, Zielsetzung und Mo-
sondern auch die neue Verwaltungszentrale tivation ihres Unternehmens äußern sich die
und fortan das Vorbild der Lager. Hermann Herausgeber allerdings denkbar knapp; ge-
Kaienburg stellt die (bislang nicht monogra- rade einmal zweieinhalb Seiten füllt die Ein-
fisch untersuchte) Geschichte von Sachsen- leitung des Auftaktbandes. In der Kürze er-
schließt sich nicht, was genau gemeint ist,
7 Dagegen wird auf dem Einband die Zahl 152 genannt.

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wenn das Werk als „sinnstiftendes Projekt“ in Noch eine andere Fehlstelle sticht dem
der erinnerungspolitischen Debatte akzentu- ins Auge, der meint, dass ein solches Groß-
iert wird. Allem Anschein nach ist es als Ge- projekt nicht ganz auf eine historiographi-
gengewicht zu dem als faktenfern und mora- sche Selbstverortung verzichten sollte: In den
lisierend empfundenen öffentlichen Diskurs sechziger Jahren ist schon einmal ein großes
über die NS-Zeit intendiert. Memoriale und Forschungsprojekt zur Geschichte der Lager
Rituale werden denn auch als „emotionale initiiert worden. Martin Broszat hatte 1965
und künstlerische Manifestation der Erinne- im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit für den
rung“ bezeichnet, die es um die gesicherte In- Auschwitz-Prozess die erste zeitgeschichtli-
formation zu ergänzen gelte.8 Aber will das che Darstellung des nationalsozialistischen
große Werk tatsächlich nur eine Ergänzung Lagersystems vorgelegt (die bis weit in die
sein? Und hätte es ohne den öffentlichen Dis- neunziger Jahre auch die einzige blieb und
kurs, von dem es sich distanziert, eine Bedeu- noch heute grundlegend ist).11 An sein Gut-
tung? achten anknüpfend hat Broszat damals ein
Dass die (komplexe) Historiographiege- umfassendes Forschungsvorhaben mit dem
schichte der Konzentrationslagerforschung Ziel initiiert, die „wichtigsten Entwicklungen,
nicht dargestellt werden kann, versteht sich; Daten, Zahlen der Geschichte sämtlicher Kon-
warum jedoch ist selbst für eine Skizze kein zentrationslager im Dritten Reich“ zu unter-
Platz und nicht einmal für einen Hinweis auf suchen.12 Sein Vorstoß war deshalb bedeut-
den Zusammenhang, in dem das Projekt mit sam, weil die Zeitgeschichtswissenschaft bis
einer zweiten, mittlerweile schon sechs Bände dahin kaum Forschungswillen gezeigt und
starken Reihe der Herausgeber steht, die seit das Thema so gut wie ignoriert hatte.13 Dass
2001 unter dem Titel „Geschichte der Konzen- die Ergebnisse am Ende in einen schma-
trationslager 1933-1945“ im Metropol-Verlag len Sammelband passten, lag am damaligen,
erscheint? Allein vier dieser Bände beschäf- von Broszat selbst für „durchaus ungenü-
tigen sich mit den so genannten frühen La- gend“ befundenen Forschungsstand.14 Seine
gern.9 Wer die Bücher zur Hand nimmt, er- Idee hatte aber an Aktualität allem Anschein
kennt, dass der „Ort des Terrors“ einen brei- nach nichts verloren, als Wolfgang Benz und
ten Adressatenkreis anspricht, während die Barbara Distel sich an die Arbeit machten,
Metropol-Reihe vertiefende, eher an ein Fach- und schon deshalb irritiert es, dass sein Name
publikum gerichtete Darstellungen (dersel- fehlt.
ben Autoren) versammelt. Die Bezüge wer- Zu wünschen ist, dass das Werk der beiden
den allerdings nicht erläutert, und dass Johan- Herausgeber zur neuen, intensiven Beschäfti-
nes Tuchels Aufsatz wortgleich in der einen
wie der anderen Reihe erscheint, verwundert Ort des Terrors, Bd. 1, S. 43-57.
nicht minder.10 11 Broszat, Martin, Nationalsozialistische Konzentrati-
onslager 1933-1945, in: Buchheim, Hans, Anatomie des
8 Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hgg.), Ort des Terrors, SS-Staates, München 1994. Vgl. jetzt: Orth, Karin, Das
Band 1, S. 9. System der nationalsozialistischen Konzentrationsla-
9 Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hgg.), Geschichte der ger. Eine politische Organisationsgeschichte, Zürich
Konzentrationslager 1933-1945. Bd. 1: Terror ohne Sys- 2002.
12 Broszat, Martin, Studien zur Geschichte der Konzentra-
tem. Die ersten Konzentrationslager im Nationalsozia-
lismus 1933-1935, Berlin 2001. Bd. 2: Herrschaft und tionslager, Stuttgart 1970, S. 7.
13 Die Geschichte der nationalsozialistischen Lager zu
Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933-1939, Berlin
2002. Bd. 3: Instrumentarium der Macht. Frühe Kon- schreiben war lange Zeit ausschließlich Sache der
zentrationslager 1933-1937, Berlin 2003. Bd. 4: Björn ehemaligen Häftlinge, vgl: Kogon, Eugen, Der SS-
Kooger: Rüstung unter Tage. Die Untertageverlage- Staat. Das System der nationalsozialistischen Konzen-
rung von Rüstungsbetrieben und der Einsatz von KZ- trationslager, Frankfurt 1946 und: Adler, Hans Gün-
Häftlingen in Beendorf und Morsleben, Berlin 2004. ther, Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemein-
Bd. 5: Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager schaft, Tübingen 1955. Der erste Historiker, der zum
in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg 1940- Thema forschte, war: Kolb, Eberhard, Bergen-Belsen.
1945, Berlin 2004. Bd. 6: Carina Baganz: Erziehung zur Geschichte des „Aufenthaltslagers“ 1943-1945, Hanno-
„Volksgemeinschaft“? Die frühen Konzentrationslager ver 1962.
14 Broszat, Studien, 1970; der Band versammelt Fallstu-
in Sachsen 1933-34/37, Berlin 2005.
10 Tuchel, Johannes, Organisationsgeschichte, in: Benz, dien über sechs Lager im Altreichsgebiet: Fuhlsbüt-
Wolfgang; Distel, Barbara (Hgg.), Geschichte der Kon- tel, Neuengamme, Mauthausen, Ravensbrück, Bergen-
zentrationslager 1933-1945, Bd. 1, S. 9-26; dies. (Hgg.), Belsen und Dora-Mittelbau.

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Sammelrez: W. Benz u.a. (Hrsg): Der Ort des Terrors 2006-4-191

gung mit den vielen Facetten der Geschichte


der nationalsozialistischen Lager herausfor-
dern wird. Denn eine „Gesamtgeschichte“ der
Lager im Sinne einer differenzierten struktur-
geschichtlichen Analyse muss nach wie vor
erst noch geschrieben werden. Die Bände lie-
fern ohne Zweifel das Material dafür.

HistLit 2006-4-191 / Sybille Steinbacher über


Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der
Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialisti-
schen Konzentrationslager. Bd. 1: Die Organisati-
on des Terrors. München 2005. In: H-Soz-u-Kult
12.12.2006.
HistLit 2006-4-191 / Sybille Steinbacher über
Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der
Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialisti-
schen Konzentrationslager. Band 2: Frühe Lager;
Dachau; Emslandlager. München 2005. In: H-
Soz-u-Kult 12.12.2006.
HistLit 2006-4-191 / Sybille Steinbacher über
Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der
Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialisti-
schen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhau-
sen, Buchenwald, Flossenbürg. München 2006.
In: H-Soz-u-Kult 12.12.2006.

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